Deutsche Geschichte: Band 6 Vom Bismarck-Reich zum geteilten Deutschland [Reprint 2013 ed.] 9783110826531, 9783110000795


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German Pages 1041 [1044] Year 1960

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Table of contents :
Erstes Buck. DEUTSCHLAND UNTER DER REICHSKANZLERSCHAFT BISMARCKS
Die Verfassung und die Problematik der Reichsgründung
Bismarcks Innenpolitik
Elsaß-Lothringen und die elsaß-lothringisehe Frage 1870–1914
Der Kulturkampf
Ausbau der Reichseinheit
Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik
Sozialpolitik
Bismarck und der Reichstag 1880 bis 1888
Bismarcks Innenpolitik
Außenpolitik
Vom Dreikaiserjahr (1888) zum Sturz Bismarcks
Friedrich III
Wilhelm II. und Bismarck
Zweites Buck. VOM STURZ BISMARCKS BIS ZUM AUSBRUCH DES ERSTEN WELTKRIEGES
Die Reichskanzlerschaft Caprivis
Außenpolitik
Innenpolitik
Die Reichskanzlerschaft Hohenlohes
Innenpolitik
Außenpolitik
Die Reichskanzlerschaft Bülows
Außenpolitik
Innenpolitik
Die Reichskanzlerschaft Bethmann-Hollwegs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges
Innenpolitik
Außenpolitik
Der Ausbruch des Weltkrieges
Drittes Buck. DER ERSTE WELTKRIEG
Deutschland bei Ausbruch des Krieges
Das Kriegsjahr 1914
Das Kriegsjahr 1915
Das Kriegsjahr 1916
Das Kriegsjahr 1917
Das Kriegsjahr 1918
Der Friedensvertrag von Versailles
Rückblick
Viertes Buch. DIE WEIMARER REPUBLIK
Überwindung der Revolution, 1918/1919
Kampfe um die Verhinderung einer Rateherrschaft und die Errichtung einer parlamentarischen Republik
Die Annahme des Versailler Friedensvertrages
Die Weimarer Verfassung
Krise und Konsolidierung der Republik
Der Winter 1919/1920
Vom Kapp-Putsch zur Ruhrbesetzung, 1920—1922
Die Krise von 1923
Die Jahre des Aufstiegs, 1924—1929
Deutschlands Rehabilitierung 1924—1927
Wirtschaftsaufschwung und innere Gegensatze 1925—1929
Youngplan und Wirtschaftskrise 1929/1930. Hitlers Aufstieg
Der Weg in den Untergang der Weimarer Republik
Reichskanzlerschaft Brünings
Reichskanzlerschaft Papens
Reichskanzlerschaft Schleichers
Leistung und Versagen der Weimarer Republik
Funftes Buck. DAS DRITTE REICH
Hitlers Ausbau seiner Macht bis zum Tod Hindenburgs
Die Errichtung der Diktatur
Die Organisation von Staat und Volk
Röhms „Zweite Revolution“
Hindenburgs Tod und Hitlers Nachfolge
Hitlers AuBenpolitik bis 1937
Die Expansionspolitik bis zum Zweiten Weltkrieg
Österreich
Sudetenland
Tschechoslowakei
Danzig und der Beginn des Polenkrieges
Sechstes Buch. DER ZWEITE WELTKRIEG UND DAS ENDE DES DRITTEN REICHES
Deutschlands Kräftepotential
Der Feldzug in Polen
Herbst und Winter 1939/1940
Die Besetzung Dänemarks und Norwegens
Der Westfeldzug
Hitlers Scheitern an England 1940
Vom Herbst 1940 zum Frühjahr 1941
Der Angriff auf Rußland
Greuel
Die letzte Ausweitung der deutschen Macht
Der Rückschlag 1942/1943
Der Rückzug auf die deutschen Grenzen
Die russische Sommeroffensive
Das Ende
Sonderprobleme zur Geschichte des „Dritten Reiches“
Schluß
ANMERKUNGEN UND REGISTER
Anmerkungen
Personenregister
Sachregister
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Deutsche Geschichte: Band 6 Vom Bismarck-Reich zum geteilten Deutschland [Reprint 2013 ed.]
 9783110826531, 9783110000795

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DEUTSCHE GESCHICHTE

SECHSTER BAND

VOM B I S M A R C K - R E I C H ZUM GETEILTEN

DEUTSCHLAND

Von JOHANNES BÜHLER

BERLIN

1960

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG REIMER — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.

DEUTSCHE GESCHICHTE

VOM B I S M A R C K - R E I C H ZUM G E T E I L T E N

DEUTSCHLAND

Von JOHANNES BÜHLER

BERLIN'I960

W A L T E R D E G R U Y T E R & CO. VORMALS G. J. GÖSCHEN'SCHE VERLAGSHANDLUNG — J. GUTTENTAG, VERLAGSBUCHHANDLUNG — GEORG R E I M E R — KARL J. TRÜBNER — VEIT & COMP.

Dieses Buch erscheint auch als Einzel-Veröffentlichung unter dem Titel: „Vom Bismarck-Reich zum geteilten Deutschland. Deutsche Geschichte seit 1871".

©

Archiv-Nummer: 41 05 60 Copyright 1960 by Walter de Gruyter & Co. — vormals G. J. Göschen'sehe Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Berlin W 35 Alle Rechte der Übersetzung, des Nachdrucks, der photomechanischen Wiedergabe und der Anfertigung von Mikrofilmen — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Thormann & Goetsch, Berlin-Neukölln

INHALTSVERZEICHNIS

Erstes

Buch

DEUTSCHLAND UNTER DER REICHSKANZLERSCHAFT BISMARCKS Die Verfassung und die Problematik der Reichsgründung

3

Der erste Reichstag S. 4 — Die Verfassung S. 7 — Nationalismus und Militarismus S. 10

Bismarcks Innenpolitik

15

Verwendung der Kriegsentschädigung S. 15 Elsaß-Lothringen und die elsaß-lothringische Frage

1870—1914

16

Der Kulturkampf

22

Ausbau der Reichseinheit

34

Die Nationalliberalen S. 34 — Rechtseinheit S. 35 — Militärgesetzgebung S. 37 — Reichsämter S. 39 Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik

40

Gründerjahre und Depression, Zweifel am Freihandel S. 40 — Bismarcks Vorbereitungen für die Erhöhung der Reichseinnahmen und die Abkehr vom Freihandel. Die Ereignisse um Bismarcks Urlaub 1877/1878 S. 44 — Die Attentate und das Sozialistengesetz von 1878 S. 46 — Die Zoll- und Steuerreform S. 48 — Das Ende der liberalen Ära. Obrigkeitsstaat und Besitzbürgertum S. 50 Sozialpolitik

53

Sozialdemokratie S. 54 — Sozialpolitische Bestrebungen S. 55 — Bismarcks Sozialpolitik S. 59 Bismarck und der Reichstag 1880 bis 1888

63

Bismarcks Innenpolitik

68

Außenpolitik

70

Dreikaiserabkommen S. 70 — Verhältnis zu Frankreich und Rußland. Der Fall Arnim S. 72 — „Krieg-in-Sicht"-Krisis 1875 S. 75 — Balkankrieg 1876 bis 1878 S. 78 — Der Berliner Kongreß S. 82 — Zweibund mit Österreich 1879 S. 88 — Verhältnis zu England. Dreikaiservertrag 1881 S. 92 — Tunis. Der Dreibund S. 94 — Bismarck und die Ägyptische Frage S. 96 — Erwerb der deutschen Kolonien S. 98 — Die Kongokonferenz und Bismarcks Versuch V

Inhaltsverzeichnis eines Zusammengehens mit Frankreich S. 102 — Deutschland zwischen Österreich und Rußland S. 104 — Gefahr eines deutsch-französischen Krieges S. 105 — Die Erneuerung des Dreibundes und das erste Mittelmeerabkommen S. 106 — Der Rückversicherungsvertrag mit Rußland 1887 S. 110 — Russischfranzösische Annäherung S. 113 — Die bulgarische Königsfrage und das zweite Mittelmeerabkommen S. 116 — Gefahr eines russischen Angriffs S. 119 —· Versuch eines deutsch-englischen Bündnisses 1889 S. 121 — Bismarcks Bündnissystem S. 122

Vom Dreikaiserjahr (1888) zum Sturz Bismarcks

126

Kaiser Wilhelms I. Tod S. 126 Friedrich III.

127

Der Kronprinz S. 127 — Die Krankheit S. 130 — Der Kaiser S. 131 Wilhelm II. und Bismarck

134

Jugend. Erziehung. Charakter S. 134 — Regierungsantritt. Spannungen S. 137 — Außenpolitik S. 139 — Kampf Wilhelms II. mit Bismarck um die Sozialgesetzgebung S. 141 — Die Entlassung Bismarcks S. 148 — Die Ursachen der Entlassung S. 153 — Das Echo im In- und Ausland S. 155

Zweites Buch VOM STURZ BISMARCKS

BIS ZUM AUSBRUCH

DES

ERSTEN

WELTKRIEGES Persönlichkeit und Reden Wilhelms II. S. 161

Die Reichskanzlerschaft Caprivis

164

Caprivi und seine Mitarbeiter Marschall und Holstein S. 164 Außenpolitik

166

Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrags. Abschluß des russisch-französischen Militärabkommens 1894 S. 166 — Sansibarvertrag und andere Kolonialverträge. Gründung des Alldeutschen Verbandes S. 171 ·— Erneuerung des Dreibundvertrages S. 173 — Deutschlands Stellungnahme bei Streitigkeiten in Ägypten, Siam und Kongo S. 175 Innenpolitik

177

Kaiser, Regierung und Reichstag nach Bismarcks Sturz S. 177 — Die großen Parteien S. 179 — Heeresvermehrung 1893 S. 184 —· Arbeiterschutzgesetze S. 186 — Handelsverträge S. 187 — Bismarck nach der Entlassung. Versöhnung mit dem Kaiser S. 191 — Polenpolitik S. 194 — Uberreste des Kulturkampfes. Streit um das Volksschulgesetz S. 195 — Attentate. Streit um ein Sozialistengesetz. Rücktritt Caprivis S. 196

Die Reichskanzlerschaft Hohenlohes

198

Persönlichkeit Hohenlohes S. 198 Innenpolitik Umsturzvorlage. Ära Stumm. Zuchthausvorlage S. 199 —· Stöcker und Naumann. Antisemitismus S. 202 — Feiern S. 204 — Bismarck S. 206 — Gesetzgebung im Reichstag. Lex Heinze S. 210 — Flottenpolitik S. 212

VI

199

Inhaltsverzeichnis Außenpolitik

215

Der Eintritt Deutschlands in die Weltpolitik S. 215 — Der japanisch-chinesische Krieg und seine Folgen S. 217 — Deutschlands Stellung zur Armenierfrage und zu Salisburys Teilungsplan der Türkei S. 220 — Die Krügerdepesche S. 221 — Plan einer Kontinentalliga. Italiens Abessinienkrieg. Verlängerung des Dreibundvertrages S. 224 — Die Kretafrage. Der Artikel der Saturday Review S. 225 — Die Erwerbung von Kiautschou S. 231 —• Wilhelms II. Orientreise S. 233 —• Faschoda. Deutsch-englische Bündnisverhandlungen S. 234 — Kolonialfragen. Eintritt der Vereinigten Staaten in die Weltpolitik S. 237 — Die erste Haager Friedenskonferenz 1899 S. 239 — Der Burenkrieg S. 245 — Der Boxeraufstand S. 247 — Rüdetritt Hohenlohes S. 250

Die Reichskanzlerschaft Bülows

252

Persönlichkeit Bülows S. 252 Außenpolitik

253

Deutsch-englische Bündnisverhandlungen 1901 S. 253 — Beginn der Isolierung Deutschlands S. 257 — Marokkofrage. Kaiserbesuch in Tanger S. 259 — Der russisch-japanische Krieg S. 261 — Das Björkö-Abkommen S. 263 — Der Friede von Portsmouth. Die russische Revolution 1905 S. 265 — Erste Marokkokrisis. Die Konferenz von Algeciras S. 266 — Die zweite Haager Friedenskonferenz 1907 S. 273 — Internationale Abmachungen. Ost- und Nordseeabkommen. Fürstenbesuche S. 278 — Neugruppierung der Mächte. Deutsch-englische Flottenfrage S. 280 — Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina. Bulgarien S. 283 — Deutsch-englische Flottenverhandlungen S. 287 — Die Bagdadbahn S. 288 Innenpolitik

290

Zölle und Handelsverträge. Kleine Finanzreform 1906 S. 290 — Aufstände in Deutsch-Südwestafrika. Reichstagsdebatte über Kolonien S. 294 — Bülow und das Zentrum. Der Bülowblock S. 296 — Die Daily-Telegraph-Affäre 1908. Die Harden-Prozesse S. 302 — Die große Finanzreform. Sprengung des Bülowblodcs S. 308 — Bülows Entlassung S. 312

Die Reichskanzlerschaft Bethmann-Hollwegs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges 314 Persönlichkeit Bethmann-Hollwegs S. 314 Innenpolitik

315

Sozialgesetzgebung S. 315 — Heeresvermehrungen und Novellen zum Flottengesetz S. 317 Außenpolitik

320

Deutsch-englische Verhandlungen. Tod Eduards VII. S. 320 — Deutschrussische Verhandlungen. Potsdamer Abmachungen S. 323 —- Die zweite Marokkokrise 1911 S. 326 — Der Tripoliskrieg S. 335 — Erneuerung des Dreibundvertrages 1912 S. 337 — Die Haldane-Mission 1912 S. 338 — Die Balkankriege 1912/13 S. 343 — Kolonial- und Bagdadbahnabkommen 1913/14 S. 352 — Streit mit Rußland über die deutsche Militärmission in der Türkei

VII

Inhaltsverzeichnis S. 356 — Churchills Vorschlag eines Feierjahres im Schiffsbau S. 359 — Balkanwirren. Italiens Doppelspiel. Rumänien. Türkei und Meerengenfrage S. 361 — Heeresvermehrungen und Kriegsgerede S. 365 Der Ausbruch des Weltkrieges

369

Der Mord von Serajewo und die Reaktion der Großmächte S. 369 — 23./25. Juli: Das österreichische Ultimatum und die serbische Antwort S. 374 — 26./28. Juli: Vermittlungsversuche. Österreichs Kriegserklärung an Serbien S. 377 — 29./30. Juli: „Halt in Belgrad"? Russische Teilmobilisierung S. 378 — 30./31. Juli: Allgemeine russische Mobilmachung und ihre Auswirkung auf die deutsche Diplomatie S. 381 — 1. August: Mobilmachung Deutschlands und Frankreichs. Deutsche Kriegserklärung an Rußland. „Mißverständnis" über ein englisches Neutralitätsangebot S. 383 — England und Frankreich S. 384 — Die belgische Neutralität S. 384 — Neutrale und Verbündete S. 387 — Stimmung in Deutschland. Die Sozialdemokratie S. 388 — Kriegserklärung an Frankreich S. 389 — Kriegserklärung Englands. Österreichs Kriegseintritt S. 390 — Die Kriegssitzung des Reichstages S. 393 — Die Kriegsschuldfrage S. 395

Drittes Buch,

DER ERSTE WELTKRIEG Deutschland bei Ausbrudi des Krieges

401

Das Kriegsjahr 1914

403

Die Kämpfe im Westen S. 403 — Die Kämpfe im Osten S. 407 — Seekrieg. Kolonien S. 409

Das Kriegsjahr 1915

412

Winter- und Frühjahrskämpfe in Galizien. Winterschlacht in Masuren S. 412 — Stellungskrieg im Westen S. 413 — Türkei. Gallipoli S. 413 — Italiens Kriegserklärung an Österreich S. 415 — Osten: Eroberung von Polen und Galizien, Stellungskrieg S. 416 — Bulgarien, Serbien, Griechenland, Isonzofront S. 417 — Krieg zur See. Wirtschaftskrieg S. 419

Das Kriegsjahr 1916

424

Die deutschen Pläne für 1916 S. 424 — Verdun S. 424 — Russische Offensive am Naroczsee. Angriff gegen Italien. Brussilow-Offensive S. 425 — Skagerrakschlacht. Tirpitz' Entlassung. U-Boot-Krieg S. 426 — Sommesdilacht. Hindenburg und Ludendorff ersetzen Falkenhayn S. 428 — Isonzofront. Eroberung Rumäniens. Griechenland. Türkei S. 430 —• Hindenburgprogramm und Hilfsdienstgesetz S. 431 — Polen S. 434 — Friedensbestrebungen und Kriegsziele S. 435

Das Kriegsjahr 1917 Der verschärfte U-Boot-Krieg und der Eintritt der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg S. 440 — Kämpfe im Westen S. 443 —• Die Revolution in Rußland. Krisenerscheinungen in anderen Ländern S. 445 — ReformbestrebunVIII

440

Inhaltsverzeichnis gen. Unruhen. Feindpropaganda S. 447 — Friedensverhandlungen Österreichs. Die Friedensresolution des Reichstages und der Erlaß zur Reform des preußischen Wahlrechts. Bethmanns Sturz, Michaelis Reichskanzler S. 449 — Vermittlungsversuch des Papstes S. 452 — Sozialistenkonferenz. Vaterlandspartei. Meutereien. Hertling Reichskanzler S. 454 — Die zwölfte Isonzoschlacht. Kämpfe in der Türkei S. 456 — Der Zusammenbruch Rußlands und der Friede von Brest-Litowsk, 1917/1918 S. 457

Das Kriegsjahr 1918

461

Wilsons 14 Punkte. Urteile über den Frieden von Brest-Litowsk. Weitere Operationen in Rußland. Friede mit Rumänien S. 461 — Die letzte Offensive im Westen und ihre politischen Begleitumstände S. 463 — September/Oktober: Zusammenbruch Bulgariens, Rüdezug im Westen, Zusammenbruch Österreich-Ungarns und der Türkei S. 468 — 29. September/2. Oktober: Entschluß zum Waffenstillstandsgesuch. Prinz Max Reichskanzler S. 470 — 3-/5. Oktober: Erste Note an Wilson. Bildung einer parlamentarischen Regierung S. 472 — 9./26. Oktober: Weiterer Notenwechsel mit Wilson. Durchführung der Verfassungsreform. Ludendorffs Entlassung S. 474 — 27. Oktober/6. November: Ende des Notenwechsels mit Wilson. Ringen um die Abdankung des Kaisers. Beginn der Revolution S. 478 — Der 9. November und der Waffenstillstand S. 481

Der Friedeiisvertrag von Versailles

485

Rückblick

492 Viertes Buch DIE WEIMARER REPUBLIK

Überwindung der Revolution, 1918/1919

499

Kämpfe um die Verhinderung einer Räteherrschaft und die Errichtung einer parlamentarischen Republik 499 Die Annahme des Versailler Friedensvertrages

506

Die Weimarer Verfassung

512

Krise und Konsolidierung der Republik

520

Der Winter 1919/1920

520

Vom Kapp-Putsch zur Ruhrbesetzung, 1920—1922

523

Der Kapp-Putsch (März 1920) S. 523 — Regierung Kahr in Bayern. Kabinett Müller (März 1920) S. 526 — Wahlen vom Juni 1920. Kabinett Fehrenbach S. 527 — Die Konferenz von Spa und das Problem der Entwaffnung (Juli/August 1920) S. 527 — Seedct und die Reichswehr S. 529 — Pariser Beschlüsse und Londoner Konferenz. Sanktionen (Januar/März 1921) S. 530 — Aufstände in Mitteldeutschland. Abstimmung und Kämpfe in Oberschlesien (März/Mai 1921) S. 531 — Kabinett Wirth (Mai 1921). Erfüllungspolitik. Rathenau S. 532 — Ermordung Erzbergers. Die Fememörder. Ausnahmever-

IX

Inhal tsverzeidinis Ordnungen (August 1921) S. 533 —· Die Teilung Oberschlesiens (Oktober 1921) S. 535 — Cannes/Genua/Rapallo (Januar/April 1922) S. 536 — Ermordung Rathenaus. Verordnungen zum Sdiutze der Republik (Juni/Juli 1922) S. 538 — Inflation und Scheinblüte, Zusammenhang mit der Reparationsfrage S. 540 Die Krise von 1923

541

Kabinett Cuno. Ruhrbesetzung und Ruhrkampf S. 541 — Kabinett Stresemann. Abbruch des Ruhrkampfes (September) S. 545 — Poincaré und die Rückkehr des Kronprinzen Wilhelm (Oktober/November) S. 548— Ausnahmezustand S. 549 — Zweites Kabinett Stresemann. Kämpfe in Sachsen, Thüringen, Hamburg (Oktober) S. 549 — Hitlers Jugend und die Anfänge der NSDAP S. 550 — Der Hitlerputsch in Bayern (November) S. 555 — Die Separatisten im Rheinland (Oktober 1923 bis Februar 1924) S. 559 — Die Stabilisierung der Währung (November 1923) S. 562 — Stresemanns Sturz. Kabinett Marx (November 1923) S. 563 — Ausgleich mit Bayern und das Ende der Krise (Februar 1924) S. 564

Die Jahre des Aufstiegs, 1924—1929 Deutschlands Rehabilitierung 1924—1927

566 566

Das Dawes-Gutachten S. 566 — Neuwahlen im Mai 1924. Zweites Kabinett Marx. Annahme des Dawes-Gutachtens S. 568 — Londoner Konferenz. Zusage der Räumung des Ruhrgebietes S. 569 — Abstimmung im Reichstag über den Dawes-Plan. Seine Auswirkungen S. 570 — Neuwahlen im Dezember 1924. Kabinett Luther S. 571 — Magdeburger Prozeß. Barmat-Skandal. Eberts Tod S. 572 — Hindenburgs Wahl zum Reichspräsidenten S. 574 — Vorverhandlungen über die Aufnahme in den Völkerbund und über weitere Verträge S. 575 — Das Vertragswerk von Locamo S. 576 — Die Rechtsopposition gegen die Verträge. Hugenberg. Die Annahme der Verträge. Zweites Kabinett Luther S. 578 — Verträge mit Rußland. Tiroler Zwisdienfall S. 580 — Die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Das Gespräch von Thoiry. Weitere Erfolge Stresemanns in Genf S. 581. Wirtschaftsaufschwung und innere Gegensätze 1925—1929

584

Der Wirtschaftsaufschwung S. 584 — Streit um die Enteignung der Fürstenhäuser. Flaggenerlaß. Drittes Kabinett Marx S. 586 — Rücktritt Seeckts S. 588 — Viertes Kabinett Marx S. 589 — Das Tannenbergdenkmal. Hindenburgs 80. Geburtstag S. 590 — Skandal um die Reichswehr. Geßlers Rücktritt S. 591 — Kampf um ein Reichsschulgesetz S. 592 — Die Wahlen im Mai 1928. Kabinett Müller S. 593 — Der Kellogpakt. Müller in Genf S. 594 — Haltung der Deutschnationalen. Führerwechsel beim Zentrum S. 596 — Lohnkonflikt. Panzerkreuzerbau S. 597 •—· Verschlechterung der Wirtschaftslage. Staatshaushalt und Arbeitslosenversicherung. Not der Landwirtschaft. Sklarek-Skandal S. 598 Youngplan und Wirtschaftskrise 1929/1930. Hitlers Aufstieg Reparationsprobleme. Völkerbundsratstagung in Lugano S. 599 — Der Youngplan S. 600 — Stellungnahme von Regierung und Reichstag S. 601 — Erste

X

599

Inhaltsverzeichnis Haager Konferenz: Reparationsfrage und Räumung der zweiten Zone S. 603 — Stresemanns Tod S. 604 — Volksbegehren und Volksentscheid S. 605 — Hitlers Neuaufbau der NSDAP nach seiner Haftentlassung S. 608 — Beginn der Weltwirtschaftskrise S. 612 — Zweite Haager Konferenz S. 614 — Die Young-Plan-Gesetze vor dem Reichstag S. 615

Der Weg in den Untergang der Weimarer Republik Reichskanzlerschaft Brünings

617 617

Müllers Rüdetritt. Erwägungen um Präsidialkabinett und Diktaturparagraph S. 617 — Brünings Amtsantritt. Agrargesetze und Deckungsprogramm S. 618 — Räumung von Rheinland-Pfalz S. 620 — Erste Notverordnungen S. 621 — Wahl vom September 1930 und die Entwicklung in der NSDAP S. 622 — Brüning und der neue Reichstag S. 625 —· Prozeß gegen die Ulmer Reichswehroffiziere S. 626 — Die deutsch-österreichische Zollunion S. 627 — Bankenkrach. Hoovermoratorium und Kreditverhandlungen S. 629 — Aktivität der Rechtsradikalen. Die Harzburger Front S. 632 — Zweites Kabinett Brüning und der Reichstag S. 634 —· Heranziehung Hitlers? Das Boxheimer Dokument S. 635 — Notverordnung vom Dezember 1931 S. 637 — Mißerfolge Brünings in der Reparations- und Abrüstungsfrage S. 638 — Zweite Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten S. 639 — Das Ringen um die SA und SS S. 645 — Weiteres Vordringen der NSDAP. Abschluß von Brünings Sozialprogramm S. 647 — Brünings Sturz S. 648 Reichskanzlerschaft Papens

652

Persönlichkeit. Präsidialregierung S. 652 — Das Ende der Reparationen S. 655 — Staatsstreich gegen Preußen S. 656 — Die Reichstagswahlen vom Juli 1932. Hitlers Ablehnung der Vizekanzlerschaft S. 659 — Der Mordfall von Potempa S. 661 — Die Reichs tagsauf lösung vom 12. September. Wahlkampf und Neuwahlen vom 6. November S. 662 — Papens Sturz S. 664 Reichskanzlerschaft Schleichers

667

Versuch einer Spaltung der NSDAP durch Gregor Strasser S. 667 — Reichstagssitzungen. Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage S. 668 — Papens Zusammengehen mit Hitler. Das Gespräch in Köln. Haltung der Parteien S. 669 —• Schleichers Sturz. Ernennung Hitlers zum Reichskanzler S. 671 Leistung und Versagen der Weimarer Republik

675

Fünftes Buch DAS D R I T T E

REICH

Hitlers Ausbau seiner Macht bis zum Tod Hindenburgs Die Errichtung der Diktatur

683 683

Die ersten Maßnahmen S. 683 — Der Reichstagsbrand S. 686 — Die Wahl vom 5. März 1933. Gleichschaltung der Länder. Reichsfarben S. 687 — Der Tag von Potsdam S. 689 — Ermächtigungsgesetz S. 690 — Kabinettsumbildung S. 692

XI

Inhaltsverzeichnis Die Organisation von Staat und Volk

694

Die Länder S. 694 — Parteien und Wehrverbände S. 694 — Arbeit und Betriebe S. 695 — Das Geistesleben S. 696 — Erziehung S. 698 — Die Wirtschaft S. 699 — Staat und Partei S. 703 — Die Juden S. 706 — Die Kirchen S. 708 Röhms „Zweite Revolution"

712

Hindenburgs Tod und Hitlers Nachfolge

718

Hitlers Außenpolitik bis 1937

721

Hitlers außenpolitische Zielsetzung S. 721 — Abrüstungskonferenz S. 722 — Austritt aus dem Völkerbund S. 723 — Vertragsverhandlungen. Deutsch-polnisches Abkommen S. 724 — Verhandlungen um die deutsche Wiederaufrüstung S. 724 — Frankreich: Ostpakt. Der Mord von Marseille S. 725 — Der Juli-Putsch 1934 in Österreich S. 726 — Saargebiet S. 727 — Allgemeine Wehrpflicht S. 727 — Die Antwort des Auslands S. 728 — Flottenabkommen S. 729 — Abessinienkrieg. Annäherung an Italien S. 730 — Remilitarisierung des Rheinlandes S. 731 — Plan für die Sicherung des Friedens S. 733 — Olympische Spiele S. 734 — Der spanische Bürgerkrieg S. 734 — Neuer Vierjahresplan. Entlassung Schachts S. 735 — Antikominternpakt. Das Jahr 1937 S. 736 — Das „Hoßbach-Protokoll" S. 737 — Die Blomberg-FritschKrise S. 738

Die Expansionspolitik bis zum Zweiten Weltkrieg Österreich

740 740

Das Abkommen von Berchtesgaden S. 740 — Die Krise in Österreich S. 742 — Der Anschluß und die Reaktion des Auslandes S. 743 Sudetenland

747

Die Sudetendeutschen S. 747 — Beck und der Widerstand S. 748 — Chamberlain in Berchtesgaden und Godesberg S. 750 — Münchner Abkommen S. 753 — Deutschland nach München S. 756 — Die „Kristallnacht" S. 757 Tschechoslowakei

758

Besetzung der Tschechei und des Memelgebietes S. 758 — Abkehr Englands und Frankreichs von der Beschwichtigungs-Politik S. 760 Danzig und der Beginn des Polenkrieges Das Problem Danzig/Polen S. 761 — Die Bündnisse gegen Deutschland S. 762 — Roosevelts Botschaft und Hitlers Antwort S. 763 — Bündnis mit Italien S. 764 — Die Lagebesprechung vom 23. Mai S. 765 — Zusammenkunft Cíanos mit Hitler S. 766 — Das Werben um Rußland und der deutsch-russische Pakt S. 766 — Hitlers Ansprache auf dem Obersalzberg am 22. August S. 770 — 24. bis 27. August: Henderson bei Hitler. Dahlems. Verschieben des Angriffes S. 771 — 28. bis 31. August: Die letzten Friedensversuche S. 772 — 1. September: Angriff auf Polen S. 775 — 2./3. September: Kriegserklärungen Englands und Frankreichs S. 777

XII

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Inhaltsverzeichnis Sechstes Buch DER ZWEITE WELTKRIEG UND DAS ENDE DES DRITTEN REICHES Deutschlands Kräftepotential

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Der Feldzug in Polen

784

Herbst und Winter 1939/1940

787

Pläne und Abwarten im Westen S. 787 — Das Attentat vom 8. November S. 789 — Seekrieg S. 789 — Der russisch-finnische Winterkrieg S. 790 Die Besetzung Dänemarks und Norwegens

790

Der Westfeldzug

793

Vorgeschichte und Aufmarsch S. 793 — Verlauf des Feldzuges S. 795 — Waffenstillstand S. 799 Hitlers Scheitern an England 1940

802

Der Zwischenfall von Oran. Ablehnung von Hiders Friedensangebot S. 802 — Invasionsplan, Luftoffensive, Blockade S. 803 — Entschluß zum Angriff auf Rußland S. 805 Vom Herbst 1940 zum Frühjahr 1941

805

Pläne und Kämpfe ums Mittelmeer. Italiens Angriff auf Griechenland. Dreimächtepakt S. 805 — Verhältnis zu Rußland. Baltikum. Ringen um Einfluß auf dem Balkan S. 807 — Die Eroberung des Balkans und Kretas S. 808 — Frühjahrskämpfe in Afrika und Vorderasien. Rommel S. 812 — Das Pachtund Leihgesetz. Heß' Englandflug. Untergang der „Bismarck" S. 812 Der Angriff auf Rußland

814

Vorbereitungen und Warnungen S. 814 — Die großen Kesselschlachten S. 816 —• Das Stedcenbleiben des Angriffs. Der erste Winter S. 818 Greuel 822 Behandlung der Ostvölker. Widerstand und Partisanenkrieg S. 822 — Judenvernichtung und „Euthanasie"-Programm S. 824 Der Eintritt Japans und Amerikas in den Weltkrieg

825

Pearl Harbor S. 825 — Die Atlantikcharta. Hitlers Kriegserklärung an die Vereinigten Staaten S. 827 Die letzte Ausweitung der deutschen Macht

829

Anstrengungen im Innern. Die Fremdarbeiter S. 829 — Rommels Vorstoß bis El Alamein S. 830 —• Bis Stalingrad und zum Kaukasus S. 831 — Seekrieg. Der Landungsversuch von Dieppe S. 832 — Triumph, Widerstand und Terror in Deutsdiland S. 833 Der Rückschlag 1942/1943 834 Alliierte Verhandlungen über die „zweite Front" S. 834 — Der Verlust Nordafrikas. Besetzung Südfrankreichs S. 835 — Die Konferenz von Casablanca S. 837 — Stalingrad S. 838 — Deutsdiland nach Stalingrad S. 840 — Bomben-

XIII

Inhaltsverzeichnis krieg S. 842 — Höhepunkt und Scheitern des U-Boot-Krieges S. 842 — Der Beginn des Rückzuges S. 843 Der Rückzug auf die deutschen Grenzen

844

Kampf um Italien 1943/1944 S. 844 — Rückzug aus Rußland S. 849 — Die Konferenz von Teheran S. 850 — Der 20. Juli 1944 und seine Folgen S. 851 — Die Invasion und die Befreiung Frankreichs S. 858 — Die „neuen Waffen" S. 863 — Der „Volkssturm" S. 864 Die russische Sommeroffensive

865

Der Warschauer Aufstand. Hitlers Hoffnung auf Spaltung der Alliierten S. 867 — Der russische Vorstoß auf dem Balkan S. 868

871

Das Ende Morgenthau-Plan und Konferenz von Jaita S. 871 — Der Zusammenbruch der deutschen Verteidigung im Osten. Die Flüchtlingstrecks S. 873 — Die Besetzung Deutschlands durch die Westmächte. Verzicht auf Besetzung Berlins S. 876 — Verlust Österreichs und Norditaliens S. 878 — Der Untergang der Hochseeflotte S. 879 —· Höhepunkt des Bombenkrieges S. 880 — Hitler in Berlin. Der Zerstörungsbefehl S. 880 — Letzte Terror- und Propagandamaßnahmen S. 883 — Die Eroberung Berlins und Hitlers Ende S. 884 — Die Regierung Dönitz S. 889 — Das Ende des Dritten Reiches S. 893

Sonderprobleme zur Geschichte des „Dritten Reiches"

896

Zu Hitlers Persönlichkeit S. 896 — Zur Frage der Kollektivschuld S. 897

Siebentes Buch TIEFSTAND, WIEDERAUFSTIEG UND TEILUNG DEUTSCHLANDS Deutschland am Nullpunkt S. 903 — Vereinte Nationen S. 904 — Potsdamer Konferenz S. 905 — Kapitulation Japans S. 907 — Hungerjahre S. 908 — Demontage S. 910 — Politische Gliederung S. 911 — Parteien S. 912 — Entnazifizierung S. 913 — Kriegsverbrecher-Prozesse S. 915 — Zusammenlegung der englischen und amerikanischen Zone S. 918 — Marshallplan S. 919 — Ende der Viermächteregierung S. 920 — Währungsreform S. 922 — Währungsreform in Berlin, Blockade S. 924 — Die Spaltung Berlins S. 926 — Die Gründung der Bundesrepublik S. 927 — Gründung der „ D D R " S. 932 — Die Eingliederung der beiden Teilstaaten in die westliche und östliche Welt S. 934

Schluß

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ANMERKUNGEN UND REGISTER Anmerkungen ·

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Personenregister

996

Sachregister XIV

·· ·

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Erstes Buch

DEUTSCHLAND UNTER DER REICHSKANZLERSCHAFT BISMARCKS

Die Verfassung und die Problematik der Reichsgründung

Mit der Kaiserproklamation vom 18. Januar 1871 zu Versailles hatte das Zweite Reich der Deutschen seinen Anfang genommen. Die Begeisterung über die 1870/71 erfoditenen Siege und über die endlich erreichte Einheit des Reiches offenbarte sich besonders eindrucksvoll bei dem Einzug der heimkehrenden Truppen in Berlin, Stuttgart, Dresden und München während des Juni und Juli. Am großartigsten gestaltete sich der Empfang der Truppen in Berlin am 16. Juni. Ein Augenzeuge, der Kunstmaler Anton von Werner, berichtet: „Die tapferen Krieger zogen unter dem unbeschreiblichen Jubel der Bevölkerung durch das festlich geschmückte Brandenburger Tor in die nunmehrige Reichshauptstadt ein, mit Kränzen und grünen Zweigen geschmückt, von einem Blumenregen und dem unaufhörlichen Hurrarufen des Publikums, das Unter den Linden dicht gedrängt dahinwogte, enthusiastisch empfangen. Voran die eroberten feindlidien Fahnen und Standarten, dann ein schier endlos scheinender Zug von Gardedragonern und endlich die Heldengestalten der drei, die ihren Namen mit goldenen Lettern nicht nur in die Geschichte, sondern in das Herz jedes Deutschen tief eingegraben haben: Bismarck, Moltke, Roon und hinter ihnen der, bei dessen Anblick der Jubel keine Grenzen mehr kannte, Kaiser Wilhelm der Siegreiche, der vor elf Monaten als König von Preußen hinaus in den Kampf gezogen war und nun als Deutscher Kaiser, umgeben von den geeinigten Deutschen Fürsten und den Führern der deutschen Heere, in seine Hauptstadt zurückkehrte!" So einmütig und vorbehaltlos, wie es bei festlichen Anlässen scheinen mochte, waren die Freude über das Erreichte und die Zuversicht, die weitere Entwicklung des so verheißungsvoll Begonnenen werde ungestört vonstatten gehen, nun freilich nicht. Der große Historiker Ranke zum Beispiel konnte sich nie so recht für das neue Kaisertum erwärmen; das Glück sei nie bei den Kaisern gewesen, meinte er im Hinblick auf die deutsche Vergangenheit. Der Schweizer Jacob Burckhardt, der an deutschen Universitäten studiert und bei Ranke promoviert hatte, erinnerte zwar seine Landsleute nachdrücklich daran, daß sie Deutsche seien, dem neuen Deutschen Reich aber stand er skeptisch gegenüber; er war überzeugt: „Macht ist an sich böse, gleichviel, wer sie ausübt", und Kleinstaaten seien in mancher Hinsicht förderlicher für die Kulturentwicklung als Großstaaten. In weitere Kreise drangen Burckhardt^ Bedenken allerdings erst nach seinem Tode durch die Veröffentlichung der „Weltgeschichtlichen Betrachtungen" (1905) und seiner Briefe (1949 ff.). Stärkere Wirkung hatte noch zu seinen Lebzeiten der ι·

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Deutschland unter Bismarck politische Schriftsteller Konstantin Frantz (1817—1891), der 1865 in seiner Schrift „Die Wiederherstellung Deutschlands" für die Errichtung eines in Südwestdeutschland, Österreich und Preußen dreigeteilten, jedoch föderativ zusammengeschlossenen Deutschland eingetreten war. Diese „Trias" sollte die führende Mitte für einen die Schweiz, Elsaß-Lothringen, Luxemburg, Belgien, Holland, die baltischen Staaten, Polen, Ungarn und den Balkan umfassenden Bund und schließlich für eine gesamtabendländische Völkergemeinschaft bilden; Frantz lehnte deshalb Bismarcks Lösung aufs schärfste ab. Daß einzelne gegen die Reichsgründung Stellung nahmen, ist, wie immer bei großen politischen Entscheidungen, selbstverständlich; doch begannen alsbald auch weiter um sich greifende, die innere Geschlossenheit des deutschen Volkes unmittelbar gefährdende Spannungen sich abzuzeichnen.

Der erste Reichstag Einige Tage nach der Kaiserproklamation hatte Kaiser Wilhelm I. Wahlen zum ersten Reichstag für den 3. März angeordnet. Von den aus diesen Wahlen hervorgegangenen Abgeordneten gehörten 120 der Nationalliberalen Partei an, dem Zentrum 58 und den mit ihm teilweise zusammengehenden Weifen 7, den Konservativen 54, der Fortschrittspartei 45, der Deutschen Reichspartei 37, der liberalen Reichspartei, die schon bei den nächsten Reichstagswahlen keine Kandidaten mehr aufstellte, 30; dazu kamen ein Sozialdemokrat (Bebel) und ein Däne, und 10 Abgeordnete, die sich keiner Gruppe oder Fraktion angeschlossen hatten. Die Nationalliberalen und die Deutsche Reichspartei bildeten die stärkste, die Mittelgruppe; schon von früher her war das Hauptprogramm dieser beiden Parteien der „Ausbau des Reiches", Bismarck konnte zunächst auf gedeihliche Zusammenarbeit mit ihnen rechnen. Die Konservativen verargten ihm, daß er sich auf die Nationalliberalen stützte, und standen zu ihm vielfach in heftiger Opposition. Die linksliberale Fortschrittspartei hielt an ihrer alten Forderung fest, das konstitutionelle durch ein rein parlamentarisches Regime zu ersetzen, und sah ihre Aufgabe vor allem in der „Bekämpfung der Regierung". Einen die innere Einheit des deutschen Volkes gefährdenden Zwist rief indes vorerst weder die Opposition von rechts noch die von links hervor, schon weil sie gegenüber der Mittelgruppe zu schwach waren. Dagegen wiesen die Wahlen bereits auf den kommenden Kulturkampf (S. 22) hin: Das Zentrum, das zwar eine politische Partei sein wollte und war, sich aber in erster Linie für die katholisch-kirchlichen Interessen einsetzte, erhielt aus Schlesien, Westfalen und vom Rhein so viele Stimmen, daß es als die zweitstärkste Partei in den ersten Reichstag einziehen konnte. Am 21. März 1871 eröffnete der Kaiser den ersten deutschen Reichstag und betonte in seiner Thronrede besonders den Friedenswillen des „neuen Deutschland": Das Reich wird, wie „es aus der Feuerprobe des gegenwärtigen Krieges hervorgegangen ist, ein zuverlässiger Bürge des europäischen Friedens sein, weil es stark und selbstbewußt genug ist, um sich die Ordnung seiner eigenen Ange-

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Erster Reichstag legenheiten als sein ausschließliches, aber auch ausreichendes und zufriedenstellendes Erbteil zu bewahren... Möge dem deutschen Reichskriege, den wir so ruhmreich geführt, ein nicht minder glorreicher Reichsfriede folgen, und möge die Aufgabe des deutschen Volkes fortan darin beschlossen sein, sich in dem Wettkampfe um die Güter des Friedens als Sieger zu erweisen. Das walte Gott!" Am gleichen Tage ernannte der Kaiser Bismarck zum Reichskanzler und erhob ihn in den Fürstenstand; drei Monate später übergab er ihm den Sachsenwald im Werte von einer Million Talern in „Anerkennung seiner Verdienste als eine Dotation zum Eigentum". Zu ihrem ersten Präsidenten wählten die Mitglieder des Reichstages Eduard von Simson. Er war bereits vom 18. Dezember 1848 bis Ende Mai 1849 Präsident der Frankfurter Nationalversammlung gewesen, ebenso 1850 des Erfurter Unionsparlamentes, dann wieder 1860/61 des preußischen Abgeordnetenhauses, 1867/70 des Norddeutschen Reichstags und 1868/70 des Zollparlaments. So verfügte Simson über eine reiche parlamentarische Erfahrung, als Leiter leidenschaftlicher Debatten hatte er sich besonders in der Frankfurter Nationalversammlung bewährt. Zunächst befaßte sich der Reichstag, wie nach Thronreden üblich, mit seiner Antwortadresse, wobei es zu dem ersten Zusammenstoß des Zentrums mit der Reichstagsmehrheit kam. Nach Ausbruch des deutsch-französischen Krieges hatte Napoleon die zum Schutze des Papstes gegen die italienischen Einigungsbestrebungen in Rom liegenden Truppen abberufen; im September 1870 waren dann italienische eingezogen. Anfang Oktober wurde gegen den Einspruch des Papstes Pius IX. Rom dem Königreich Italien einverleibt und zu dessen Hauptstadt erklärt. Der Papst zog sich unbelästigt in den Vatikan zurück und lebte hier gewissermaßen als Gefangener, galt aber nach wie vor als Souverän. Kaiser Wilhelm teilte Papst Pius die Reichsgründung mit. Dieser antwortete darauf am 6. März 1871 mit einem Glückwunschschreiben, das in katholischen Kreisen die Hoffnung erweckte, das gute Einvernehmen zwischen Kaiser und Papst werde zum Schutz der Freiheit und der Rechte der katholischen Religion beitragen. Die „Genfer Correspondenz" brachte einen ihr wirklich oder angeblich von einem Deutschen aus Rom zugesandten Artikel, worin es hieß, es sei männlich, christlich und wahrhaft katholisch, wenn die Katholiken sich überall zur Tragung der drückenden Staatslasten unter der Bedingung bereit erklärten, daß ihre Gewissensfreiheit durch die Freiheit ihres obersten Hirten verbürgt sei; es empfehle sich, „daß überall und in allen Kreisen recht klar werde, daß wir Katholiken nur dann Untertanen sein können, wenn der Papst Souverän ist." „Da die ,Genfer Correspondenz' in naher Beziehung zur römischen Kurie stand, machte der Artikel den Eindruck, als ob er von ihr angeregt oder wenigstens im Einverständnis mit ihr veröffentlicht worden sei; durch den „Rheinischen Merkur" wurde die deutsche Öffentlichkeit allgemein auf den Artikel aufmerksam. Der Hinweis in der Thronrede, das neue Deutschland sei stark und selbständig genug, sich nur seinen eigenen Angelegenheiten zu widmen, konnte so aufgefaßt werden, daß die Einmischung des Reiches nicht in Frage käme, weil die Auseinandersetzungen über die päpstliche Souveränität und den Kirchenstaat eine rein italienische Angelegen-

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Deutschland unter Bismarck heit sei, andererseits berührten die Probleme aber auch die deutschen Katholiken und waren insofern auch eine deutsche Angelegenheit. Zentrumsabgeordnete der zweiten preußischen Kammer hatten schon im Februar 1871 an Kaiser Wilhelm nach Versailles eine Adresse gesandt mit der Bitte, für die Wiederherstellung des Kirchenstaates und für die weltliche Souveränität des Papstes einzutreten. So lag es nahe, daß die Antwortadresse auf die Thronrede, in der die Ordnung der eigenen Angelegenheiten als die ausschließliche Aufgabe des neuen Reiches erklärt wurde, direkt oder wenigstens mittelbar zu dem Streit über den Kirchenstaat Stellung nahm. Eine aus Mitgliedern der verschiedenen Parteien zusammengesetzte Kommission arbeitete einen Entwurf für die Adresse aus, nur die Zentrumsfraktion legte einen eigenen vor, der die Intervention des Reiches zugunsten des päpstlichen Besitzrechtes auf die Stadt Rom forderte. Gegen dieses Ansinnen des Zentrums richtete sich der Entwurf der Kommission: „Die Tage der Einmischung in das Leben anderer Völker werden, so hoffen wir, unter keinem Vorwande und in keiner Form wiederkehren." Nach heftigen Debatten entschied sich das Plenum des Reichstages mit 243 gegen 63 Stimmen für den Entwurf der Kommission. Hierauf wandte sich der Reichstag der während seiner ersten Session wichtigsten Aufgabe, der Reichsverfassung, zu. Das Zentrum stellte dabei den Antrag, einige Grundrechte aus der preußischen Verfassung in die des deutschen Reiches aufzunehmen: Preßfreiheit, Vereinsrecht, Religionsfreiheit und Recht der Selbstverwaltung für alle Religionsgesellschaften. Dem Zentrum kam es vor allem auf die letzten zwei Punkte an. Im Deutschen Bund waren 52 vom Hundert der Bevölkerung katholisch gewesen, im Deutschen Reich bildeten die Katholiken mit 37 vom Hundert nur noch eine, wenn auch starke, Minderheit. Da überdies an der Spitze des Reiches ein protestantischer Kaiser stand, worauf der Mainzer Bischof Wilhelm Emanuel von Ketteier in seinem „Ausschreiben" vor den Wahlen hingewiesen hatte, befürchteten viele Katholiken, sie könnten unter Umständen in dem neuen Deutschland nicht „unbeirrt und ungeschmälert" leben. So entstand die Forderung, es müßten in die Grundverfassung des neuen Reiches Gesetze aufgenommen werden, die verhinderten, daß „die katholischen Interessen, ja die Existenz der katholischen Kirche" in Deutschland von den Launen und Schwankungen einer feindlichen Mehrheit abhängig würden. Und obwohl das Zentrum im allgemeinen föderalistisch eingestellt war, wie schon der erste Artikel des Programms der Zentrumsfraktion zeigte, forderte es in diesem Falle ein Reichsgesetz, um das in den verschiedenen Ländern, so auch in dem überwiegend katholischen Bayern, bestehende staatliche Aufsichtsrecht über kirchliche Belange zu beseitigen. In der Debatte über diesen Antrag hielt der Historiker Heinrich von Treitschke, damals Mitglied der nationalliberalen Fraktion, dem Zentrum entgegen: „Was die Herren wollen, ist eine unvollständige Auslese aus der preußischen Verfassung . . . Wo ist der Artikel aus ihr: Die Wissenschaft und ihre Lehre ist frei? Wo ist der Satz, der die Zivilehe statuiert? . . . Der Kern des Antrages ist die Bestimmung, daß die Katholische Kirche ihre Angelegenheiten selbst verwaltet. Ich sehe keine Gefahr in der Freiheit der katholischen Kirche in Preußen . . . Wenn sie ihre

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Verfassung Angelegenheiten selbst ordnet, so bietet dies Redit jedem Bischof in einem kleinen Staat mit katholischer Bevölkerung eine mächtige Handhabe zur Opposition gegen die Regierung; so schwierige Grenzfragen müssen durch eine geordnete, wohl überlegte Gesetzgebung reguliert werden . . . Ich bitte namentlich die Fortschrittspartei: fürchten Sie nicht, daß Ihre demokratischen Wähler Sie desavouieren werden, wenn Sie einen Antrag abweisen, der unter dem Schein der Freisinnigkeit bezweckt, der katholischen Kirche eine selbständige Stellung zu verschaffen." Bischof von Ketteier erwiderte: „Der Abgeordnete von Treitschke hat Sie gebeten, für keine Gesetze zu stimmen, welche die Bischöfe zu Rebellen gegen die Landesgesetze machen. Ich will Ihnen ein Mittel angeben, diese Gesetze zu vermeiden; stimmen Sie nie für Gesetze, welche Rebellen gegen Gottes Gesetze sind, dann werden wir nie gegen Landesgesetze rebellieren." Wilhelm Löwe, Abgeordneter der Fortschrittspartei, warf die Frage auf: „Was ist denn für ihn (Ketteier) Gottesgesetz in dem Augenblick, wo die Infallibilität (S. 23) Gegenstand des Streites innerhalb der katholischen Kirche selber ist?" Nach Schluß der langwierigen Debatte lehnte der Reichstag mit 223 gegen 59 Stimmen den Zentrumsantrag ab. Im übrigen gingen die Beratungen des Reichstags über die Reichsverfassung ohne erhebliche Meinungsverschiedenheiten vor sich. Das Zentrum war keineswegs grundsätzlich reichsfeindlich. Kettelers Programmentwurf vom Februar 1871 für die Zentrumspartei begann: „Rückhaltlose Anerkennung der deutschen Reichsgewalt innerhalb der Grenzen ihres jetzigen Rechtsbestandes", und Punkt III des Entwurfes forderte zwar „redliche Anerkennung der Selbständigkeit der zum Deutschen Reiche gehörigen Einzelländer", aber bloß „soweit es die notwendige Einheit des Reiches zuläßt und nach Maßgabe der Reichsgesetze".

Die Verfassung Der Reichstag stand nicht vor der schwierigen Aufgabe, eine neue Verfassung auszuarbeiten, sondern hatte nur die Verfassung des Norddeutschen Bundes vom 1. Juli 1867, dem im November 1870 unter Vorbehalt einiger Reservatrechte die Länder Baden, Hessen, Bayern und Württemberg beigetreten waren, gemäß den durch die Reichsgründung geschaffenen neuen Verhältnissen abzuändern und zu ergänzen. Am 14. April nahm der Reichstag mit allen gegen sieben Stimmen die Reichsverfassung an; zwei Tage später wurde sie verkündet, am 4. Mai 1871 trat sie in Kraft. Damit war die Reichsgründung in jeder Hinsicht vollendet. Die Art, wie das neue Deutschland entstand, brachte es mit sich, daß für seine Verfassung Begriffe wie Reich, Monarchie, Bundesstaat, konstitutionelles, parlamentarisches Regime in streng staatsrechtlichem Sinne nicht zutreffen. Ein Reith war Deutschland insofern, als ein Kaiser an seiner Spitze stand, von diesem und dem von ihm ernannten Reichskanzler nach außen vertreten wurde und von Reichs wegen erlassene Gesetze für das gesamte Reichsgebiet vor den Ländergesetzen galten. Der Kaiser berief, eröffnete, vertagte und Schloß den Reichstag, er konnte ihn auf Grund eines Bundesratsbeschlusses auflösen. Bei der Ausarbei7

Deutschland unter Bismardc tung der Reichsgesetze hatten die aus allgemeinen, direkten und geheimen Wahlen hervorgegangenen 382 Reichstagsabgeordneten, deren Zahl sidi seit 1874 durch die 15 elsaß-lothringischen Abgeordneten auf 397 erhöhte, mitzuwirken, und ohne ihre Zustimmung trat kein Reichsgesetz in Kraft. Trotzdem wurde das Reich weder konstitutionell noch parlamentarisch regiert, denn der Kaiser stand wohl an der Spitze des Reiches, aber ohne sein Monarch zu sein, es gab auch zunächst kein Reichsministerium, und die Reidisregierung brauchte sich dem Reichstag gegenüber nicht zu verantworten. Die Regierungsgeschäfte, namentlich auch die Außenpolitik führte der allein dem Kaiser verantwortliche Reichskanzler, dem auch die verschiedenen Reichsbehörden unterstanden, andererseits bedurften die Anordnungen und Verfügungen des Kaisers der Gegenzeichnung des Kanzlers, was den Anschein erweckte, als bestünde bis zu einem gewissen Grade ein konstitutionelles Regime; doch hatte dies keine praktische Bedeutung, der Kaiser konnte ja ohne weiteres den Reichskanzler entlassen und dafür einen ihm gefügigen Mann ernennen. Darauf, daß das neue Deutschland von vornherein nicht ein Reich in der nächstliegenden Bedeutung: ein großer einheitlicher Staatskörper unter e i n e m Herrscher, sein sollte, wies schon der Titel des Reichsoberhauptes hin: Kaiser i η Deutschland und nicht Kaiser v o n Deutschland; die Bezeichnung Souverän kam dem deutschen Kaiser nur als König von Preußen zu. Theoretisch war Deutschland seiner Struktur nach in erster Linie ein aus 22 von Monarchen regierten Ländern und den drei Freien und Hansestädten Hamburg, Bremen, Lübeck zusammengesetzter Bundesstaat, der in der Verfassung vom 16. April 1871 offiziell die Bezeichnimg „Deutsches Reich" erhielt. Die Souveränität der Regierungen dieser Staaten sollte im Bundesrat zur Geltung kommen, in dem der Reichskanzler den Vorsitz führte. Von den 58 Stimmen des Bundesrates erhielt Preußen 17, Bayern 6, Württemberg und Sachsen je 4, Baden und Hessen je 3, Mecklenburg-Schwerin und Braunschweig je 2 Stimmen, die übrigen 17 Staaten je eine Stimme. Soviele Stimmen, wie einem Staate zustanden, konnte er Bevollmächtigte in den Bundesrat entsenden; sie wurden nicht gewählt, sondern von ihren Regierungen ernannt und mußten nach deren Instruktion abstimmen. In der Reichstagsrede vom 19. April 1871 führte Bismarck aus: der Bundesrat macht „nun zum ersten Male den Versuch, ohne die Wohltaten der monarchischen Gewalt oder der einheitlichen Obrigkeit dem Einzelstaat zu nehmen, als höchste Spitze ein föderatives Kollegium hinzustellen, um die Souveränität des geeinten Reiches zu üben; denn die Souveränität des Reiches ruht nicht beim Kaiser, sie ruht bei der Gesamtheit der verbündeten Regierungen". Der Bundesrat trat nicht von sich aus zusammen, seine Einberufung, Eröffnung, Vertagung und Schließung erfolgte durch den Kaiser, der ihn aber alljährlich oder auf Verlangen eines Drittels der Stimmenzahl berufen mußte. Reichsgesetze kamen nur durch übereinstimmenden Mehrheitsbeschluß des Bundesrates und des Reichstags nach der Unterzeichnung durch den Kaiser zustande. Für eine Kriegserklärung war der Kaiser an die Zustimmung des Bundesrates gebunden, außer wenn das Reichsgebiet angegriffen wurde. Für auswärtige Angelegenheiten wurde im Bundesrat ein Ausschuß unter dem Vorsitz Bayerns und steter Beteiligung Württembergs 8

Verfassung und Sachsens gebildet. Verfassungsänderungen durften nicht vorgenommen werden, wenn 14 Mitglieder des Bundesrates dagegen stimmten; da Preußen 17 Stimmen hatte, konnte es damit jedes verfassungsändernde Gesetz verhindern. Im Militär- und Zollwesen und in Angelegenheiten für Verbrauchssteuern hatte Preußen allerdings das Vorrecht, daß es gegen jede Änderung der Gesetzgebung ein absolutes Veto einlegen konnte. Die Bestimmungen über die Presse und das Vereinswesen standen der Gesetzgebung des Reiches zu. Laut der Reichsverfassung bildete die gesamte Landmacht ein einheitliches Heer, das in Krieg und Frieden unter dem Oberbefehl des Kaisers stand. Der Kaiser ist „berechtigt, sich jederzeit durch Inspektionen von der Verfassung der einzelnen Kontingente zu überzeugen und die Abstellung der dabei vorgefundenen Mängel anzuordnen . . . alle deutschen Truppen sind verpflichtet, den Befehlen des Kaisers imbedingte Folge zu leisten. Diese Verpflichtung ist in den Fahneneid aufzunehmen", der dem Landesherrn zu leisten ist. „Der Kaiser kann, wenn die öffentliche Sicherheit in dem Bundesgebiet bedroht ist, einen jeden Teil desselben in Kriegszustand erklären." Falls ein Bundesstaat seinen militärischen Pflichten nicht nachkam, durfte gegen ihn der Bundesfeldherr, der Kaiser, nur mit Zustimmung des Bundesrates die Exekution vollstrecken. Den Bundesfürsten stand das Recht zu, soweit mit ihnen keine anderen Vereinbarungen bestanden, die Offiziere ihrer Kontingente zu ernennen; sie waren Chefs aller Truppenteile in ihren Gebieten. Bayern nahm bis zu einem gewissen Grade eine Ausnahmestellung ein; seine Armee bildete einen geschlossenen Teil des Reichsheeres unter der Militärhoheit des Königs, hatte sich aber an die für das Reichsheer geltenden Einrichtungen zu halten und im Krieg den Befehlen des Kaisers unbedingt Folge zu leisten. — Für die Marine bestimmte die Reichsverfassung: „Die Kriegsmarine des Reiches ist eine einheitliche unter dem Oberbefehl des Kaisers. Die Organisation und Zusammensetzung derselben liegt dem Kaiser ob, welcher die Offiziere und Beamten der Marine ernennt." So versuchte die Reichsverfassung — im wesentlichen Bismarcks Werk — den Erfordernissen gerecht zu werden, die sich aus der Zusammenfassung der deutschen Staaten zu einem Reich oder doch wenigstens zu einem reichsähnlichen Gebilde ergaben: die Erhaltung des Eigenlebens der Einzelstaaten, soweit es sich mit der Reichseinheit vereinigen ließ, und der Ausgleich zwischen dem die deutschen Regierungen vertretenden Bundesrat und dem vom Volke gewählten Reichstag. Nach der Lage der Verhältnisse gewann Preußen im neuen Deutschland das Ubergewicht und die Führung. Schon darin lag ein Vorzug, daß der Titel „Deutscher Kaiser" dem König von Preußen erblich zukam und nicht etwa an eine Wahl oder an einen turnusmäßigen Wechsel gebunden war. Im Bundesrat hatte Preußen von den 58 Stimmen 17, dies Schloß eine Majorisierung der übrigen Staaten aus; den Vorsitz und die Leitung der Geschäfte des Bundesrates hatte der vom Kaiser ernannte Reichskanzler, der zugleich preußischer Ministerpräsident war. Trotz des preußischen Vorrangs gestaltete sich die Zusammenarbeit des Bundesrats im ganzen erfreulich; es bewährte sich, daß Bismarck bei den Verhandlungen über die Reichsgründung entgegen den zentralistischen Bestrebungen der

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Deutschland unter Bismarck Liberalen, des preußischen Kronprinzen Friedrich Wilhelm und des Kreises um diesen die Erhaltung des Eigenlebens der Einzelstaaten je nach ihrer Größe und Bedeutung durchgesetzt hatte; die Bundesfürsten und die Senate der drei Freien Städte, nun nicht verstimmt über das, was ihnen an Verzicht auf frühere Rechte zugunsten der Einheit zugemutet worden war, erwiesen sich im Bundesrat und auch sonst als zuverlässige Stützen des Reiches. Die Leitung der Reichsgeschäfte lag ausschließlich beim Kaiser und dem Reichskanzler, also in preußischer Hand; auch für das Militärwesen war Preußen maßgebend. — Von den 541500 Quadratkilometern Deutschlands gehörten 348 000 zum Königreich Preußen, dann folgten Bayern mit 76 000, Württemberg mit 20 000 und so weiter bis herab zur Freien Stadt Bremen mit 255 Quadratkilometern; die Bevölkerung Preußens betrug damals fast zwei Drittel der Gesamtbevölkerung des Reiches; auch fiel für die Stellung Preußens ins Gewicht, daß ihm durch Bismarcks Erfolg ein beträchtliches Prestige zuwuchs, nachdem alle anderen Versuche der letzten drei Jahrzehnte, ein alle Deutschen umfassendes Reich zu gründen oder wenigstens den Deutschen Bund zu reformieren, gescheitert waren.

Nationalismus und Militarismus So ergab sich die Vormacht Preußens unter einem Staatsmann wie Bismarck gewissermaßen von selbst. Der Preußische Einfluß wird vielfach dafür verantwortlich gemacht, daß Deutschland ein Staat geworden sei, in dem „Nationalismus", „Militarismus" und „Imperialismus" überhand genommen hätten und demokratisches Wesen sich nicht frei entfalten konnte. Die neuzeitliche Bewegung der nationalstaatlichen Einigung hatte in Deutschland, ähnlich auch in Italien, schon unter dem Druck Napoleons I. eingesetzt; seit der Mitte des 19. Jahrhunderts griffen, obwohl zeitweise gewaltsam zurückgedrängt, allenthalben, wo ein Volk in verschiedene Staaten aufgespalten war oder unter fremder Herrschaft stand, nationale Idee und Einigungsbestrebungen in steigendem Maße um sich. Die Gründimg des Deutschen Reiches folgte also nur dem Geist der Zeit. Ursprünglich hatte Bismarck bloß die norddeutschen Staaten zu einem großpreußischen Staat zusammenfassen wollen; aber die historische Entwicklung, die immer mehr auf einen deutschen Nationalstaat hindrängte und Preußen an Stelle von Österreich in den Vordergrund rückte, hat Bismarck dann doch im Interesse Preußens und Deutschlands sein Ziel weiter stecken lassen. Völlig fern lag aber Bismarck und Preußen eine Art von Imperialismus, wie ihn etwa der österreichische Abgeordnete Graf Deym in der Frankfurter Nationalversammlung 1849 gegenüber einer kleindeutschen Lösung der nationalen Frage zum Ausdruck gebracht hatte: wir sollen „ein Riesenreich von 70, womöglich von 80 oder 100 Millionen gründen und die Standarte Hermanns (des Cheruskers) in diesem Reich aufpflanzen und dastehen, gerüstet gegen Osten und Westen, gegen die slawischen und lateinischen Völker, die Seeherrschaft den Engländern abringen, das größte, mächtigste Volk auf diesem Erdenrund werden, das ist Deutsch10

Nationalismus und Militarismus lands Zukunft". Einem nationalistischen Überschwang beugte schon der föderalistische Einschlag in der Reichsverfassung vor: man fühlte sich nicht bloß als Deutscher, sondern immer noch, der eine mehr, der andere weniger, auch als Preuße, Bayer, Württemberger, Sachse. Nicht die schwarz-rot-goldene Fahne, über ein halbes Jahrhundert das zum Kampfe für die deutsche Einheit anfeuernde Symbol, wurde übernommen; es gab zunächst überhaupt keine Reichsfahne, sondern lediglich eine schwarz-weiß-rote Flagge für die Kriegs- und Handelsflotte. Bismarck hielt das „Farbenspiel" für ganz „einerlei", nur allmählich wurde dann die schwarz-weiß-rote Fahne als Reichsfahne volkstümlich und erst 1892 offiziell als Reichsflagge anerkannt; auch dies spricht nicht für einen übertriebenen Nationalismus vom Beginn des Reiches an. Wird unter Militarismus eine besonders starke Anspannung der Volkskraft für Heereszwedce und die Ausbildung einer möglichst schlagkräftigen Armee verstanden, dann hat er in Preußen bereits im 17. Jahrhundert durch Friedrich Wilhelm, den Großen Kurfürsten, seinen Anfang genommen und ist dann von Friedrich Wilhelm I. und Friedrich dem Großen noch stark ausgebildet worden. Doch liegt hier das Problem anders als im 19. und 20. Jahrhundert; die absoluten Herrscher des 17. und 18. Jahrhunderts bedienten sich des geworbenen Söldnerheeres durchaus im Rahmen der damaligen allgemeinen Politik zu Macht- und Landgewinnen. Allerdings waren der harte Drill, die strenge Zucht, die Enge und Kulturlosigkeit des preußischen Militärs besonders verrufen. „Militarismus" in dem Sinne, daß das Militär einen allzu einflußreichen Faktor im politischen und zivilen Leben eines Volkes darstellt, geht auf die kriegerischen Auswirkungen der französischen Revolution und der Napoleonischen Herrschaft zurück, die in Frankreich und dann auch in Preußen zur allgemeinen Wehrpflicht führten. Gegen diese Einrichtung wandten sich nach den Befreiungskriegen von 1813/1815 der preußische Adel, weil die allgemeine Wehrpflicht mit der von ihm erstrebten Wiederherstellung des alten Privilegienstaates unvereinbar war, und das höhere Bürgertum, das sich darüber beklagte, daß durch die allgemeine Wehrpflicht der Unterschied zwischen den Gebildeten und Ungebildeten, den Besitzenden und Habenichtsen aufgehoben wurde, was eine allgemeine Mittelmäßigkeit zur Folge haben würde. Dagegen wurde geltend gemacht, die allgemeine Wehrpflicht sei ein das ganze Volk umschließendes Band, dessen Enden sich in den Händen der Monarchen befänden. So hielten König Friedrich Wilhelm III. von Preußen und seine Nachfolger an der allgemeinen Wehrpflicht fest, welche 1867 in die Verfassung des Norddeutschen Bundes, 1871 in die Reichsverfassimg aufgenommen wurde. Dank der ausgezeichneten militärischen Fachkräfte, voran Albrecht von Roon und Helmuth von Moltke, und der preußischen Organisationsfähigkeit war die deutsche Armee von hervorragender Tüchtigkeit; sie brachte aber auch das deutsche Volk in den Ruf, durch und durch militaristisch zu sein. Tatsächlich sprach manches für diesen Vorwurf. Die Kaiserproklamation zu Versailles am 18. Januar 1871 war in einem Heerlager erfolgt und trug im wesentlichen militärischen Charakter. Im Deutschen Reich nahm das Heer, wie schon zuvor in Preußen, eine Sonderstellung ein; es unterstand dem Kaiser als oberstem 11

Deutschland unter Bismarck Kriegsherrn, dessen Verfügungen über die Armee keiner Gegenzeichnung durch den Reichskanzler oder den preußischen Kriegsminister bedurften. Der Oberste Generalstab hatte in Krieg und Frieden das Redit des Immediatvortrages, d. h. sich ohne Fühlungnahme mit der politischen Leitung unmittelbar an den Kaiser zu wenden. Da lag es nahe, daß die Armee von ihren militärischen Gesichtspunkten aus die Außenpolitik zu beeinflussen trachtete. Bismarck allerdings widersetzte sich dem ganz entschieden. Als ζ. B. bei der Boulangerkrise (S. 105) 1887 englische offiziöse Zeitungsartikel einen Durchmarsch der deutschen Armee durch Belgien ohne Antasten von dessen Souveränität, nur als „Wegerecht", erörterten, ließ Bismarck ebenso offiziös in einem Artikel der „Post" erklären, man irre, wenn man glaube, die Leitung der deutschen Politik sei den Gesichtspunkten des Generalstabs unterworfen. Auch war es Bismarck zu verdanken, daß Präventivkriege, zu denen Moltke wiederholt geraten hat, vermieden wurden. Bismarcks Verdienst als Wahrer des europäischen Friedens liegt nicht zuletzt in diesem In-SchrankenHalten des militärischen Einflusses auf die Politik, was seine Nachfolger später versäumten. Am meisten trug zur Verbreitung des Militarismus — nicht nur in Deutschland — die allgemeine Wehrpflicht bei. Um sie, die so tief in das Leben aller Schichten der Bevölkerung eingriff, zu rechtfertigen, wurde nicht nur auf die nationale Notwendigkeit hingewiesen, sondern auch das ehedem von Sittenpredigern verpönte Kriegshandwerk idealisiert. Damit gewann der Offizier die gesellschaftlich angesehenste Stellung. Die früher weit verbreitete Abneigung der Gebildeten gegen eine militärische Dienstpflicht wurde großenteils durch das bereits 1814 eingeführte Einjährig-Freiwilligensystem beseitigt. Zahlreiche Einjährige strebten danach, Reserveoffiziere zu werden; bei Familienanzeigen fehlte neben Titeln wie Oberregierungsrat, Gymnasialdirektor nicht Leutnant oder Hauptmann der Reserve. Man sprach auch bei dem einfachen Soldaten von seiner Uniform als dem Ehrenkleid; Unteroffiziere oder Feldwebel, die sich zu freiwilligem zwölfjährigem Heeresdienst verpflichteten, hatten dann ein Recht auf bevorzugte Anstellung im unteren Staatsdienst. Die zahlreichen Regiments- und Militärvereine sind ein Zeugnis für den über die Dienstzeit hinaus anhaltenden Kameradschaftsgeist und hielten bei den ehemaligen Soldaten den Sinn für das Militärische aufrecht, der sich großenteils auch auf ihre Angehörigen übertrug. Die allgemeine Wehrpflicht militarisierte jedoch nicht nur bis zu einem gewissen Grade das zivile Leben, sondern humanisierte weitgehend das Heerwesen. Die Soldaten des durch die Schamhorst-Boyenschen Reformen entstandenen Volksheeres, in dem der Waffendienst eine Ehre sein sollte, wurden nicht mehr wie bei den Truppen des 17. und 18. Jahrhunderts durch barbarische Behandlung und entehrende Strafen, wie Prügel oder Spießrutenlaufen, in Zucht gehalten, sondern die Offiziere des Volksheeres sollten die ihnen für einige Jahre anvertrauten Landeskinder zwar militärisch drillen, aber doch auch menschlich erziehen. Wurde dies Ideal auch oft nicht erreicht, so war der Fortschritt gegen früher doch sehr groß. Freilich bildeten sich mancherlei Begleiterscheinungen des Militarismus heraus, die zum Spott herausforderten oder Entrüstung hervorriefen. Vor allem wurde das Ein12

Nationalismus und Militarismus dringen der militärfreundlichen Geisteshaltung in weite Bevölkerungskreise und die damit verbundene Idealisierung des Krieges zu einem Gefahrenmoment bei internationalen Verwicklungen. Die Entscheidung über Krieg und Frieden lag jedoch niciit in der Hand des Volkes, sondern in der des Kaisers und des Bundesrates. Seinem ganzen Wesen nach und auf Grund seiner Erfahrungen im Deutschen Bund, im preußischen Abgeordnetenhaus und dann im Reichstag ist Bismarck zu der Überzeugung gekommen, daß nur eine vom Parlament unabhängige Regierung handlungsfähig sei, vor allem im Hinblick auf die Außenpolitik. Bismarck gab sich bei der gefährdeten Lage des neuen Deutschland (S. 70) keiner Täuschung darüber hin, daß es nur durch eine umsichtige, behutsame Friedenspolitik davor bewahrt werden konnte, von einer überlegenen feindlichen Koalition überwältigt zu werden. Hauptsächlich deshalb hat Bismarck gefordert und durchgesetzt, daß sich die Regierung vor dem Reichstag nicht zu verantworten brauchte. So zweckmäßig sich dies für eine ungestörte, fruchtbare Führung der Außenpolitik erwies, waren damit doch auch bedenkliche Folgen verbunden. Grundsätzlich Gegner einer Parlamentsherrschaft, regierte Bismarck autoritär, soweit es sich irgendwie mit der Verfassung vereinbaren ließ. Gewiß standen dem Reichstag für die Gestaltung der Innenpolitik wichtige Befugnisse zu, vor allem das Steuerbewilligungsrecht und die Mitwirkung bei der Gesetzgebung, doch lag für diese die Initiative bei der Regierung. Das Hochkommen des Nationalismus und Militarismus, die Unzulänglichkeiten Bismarcks, wie etwa, daß er kein Verständnis für die Gleichberechtigung aller sozialen Schichten hatte und soweit wie möglich an einem autokratischen Regieren festhielt, erwecken den Anschein, alles Unheil, das später über Deutschland kam, gehe auf Bismarcks Reichsgründung zurück. Konstantin Frantz gilt deshalb manchen als ein großer Prophet; er hatte 1865 unter Ablehnung eines deutschen Einheitsreiches den föderativen Zusammenschluß der Deutschen als führende Mitte in einem Bund aller abendländischen Völker gefordert (S. 4), weil sie sich nur so gegen die Vereinigten Staaten von Amerika und gegen Rußland zu behaupten vermöchten, die eben im Begriff waren, zu Weltmächten aufzusteigen; er hat dann in seiner Schrift von 1871 „Das neue Deutschland" vor dem „Militärkaisertum" gewarnt und von Preußen vorausgesagt: „Scheinbar emporsteigend, geht es vielmehr seinem Sturz entgegen". Nun wäre aber das Zustandekommen eines Bundes, wie er Frantz vorschwebte, höchst zweifelhaft gewesen und noch mehr die Aktionsfähigkeit dieses Bundes; auch läßt sich nicht beurteilen, ob ein Versuch, Frantzens Plan in die Tat umzusetzen, nicht eine schwere Katastrophe heraufbeschworen hätte, denn nur auf dem Wege friedlicher Verhandlungen, wie Frantz meinte, wäre dieses Ziel kaum zu erreichen gewesen. Reales an Irrealem zu messen mag ein mehr oder minder geistreiches Spiel sein, für eine objektive Bewertung dessen, was einst Wirklichkeit gewesen ist, kommt es indes nicht in Betracht. Die Vereinigten Staaten und Rußland haben allerdings das alte Europa nicht bloß überflügelt, sondern großenteils von sich abhängig gemacht; der Militarismus hat sich unheilbringend ausgewirkt, und es gibt kein Preußen mehr. Das heißt 13

Deutschland unter Bismarck aber keineswegs, wie Frantz geglaubt hat und viele besonders seit den beiden Weltkriegen glauben, daß es so kommen mußte. Auch hier führt, wie so oft, die Vorstellung von der Zwangsläufigkeit geschichtlicher Vorgänge zu unzutreffender Urteilsbildung über Vergangenes und läßt daraus für Gegenwart und Zukunft falsche Schlüsse ziehen. Es gibt keine Verfassung, die an und für sich die Wohlfahrt von Volk und Staat verbürgt. Zentralismus und Föderalismus, ein konstitutionelles System, gleichviel wie die Rechte der Monarchen und der Volksvertretung abgestuft sind, ein demokratisch-parlamentarisches Regime, ob mit monarchischen Überresten oder ohne sie, ein die Beteiligung des Volkes vortäuschender Staatsabsolutismus unter einem Diktator, sie alle haben vom Standpunkt der politischen Zweckmäßigkeit aus ihre Vorzüge, schließen Gefahren und Nachteile in sich, wie am Verlauf der Geschichte immer wieder zu beobachten ist. Entscheidend für eine Bewertung sind nicht die Linien, die sich von Verfehltem und Unzulänglichem des Einst zu späteren Mißgriffen und Mißständen ziehen lassen; maßgebend ist vielmehr, was die Gesamtleistung einer Staatsführung für ihre Epoche bedeutet, und ob die Möglichkeit zu weiterer gedeihlicher Entwicklung nicht verschüttet wird. Der größte Teil des deutschen Volkes, auch viele Deutsche außerhalb des Reiches, selbst in der österreichisch-ungarischen Monarchie und die Revolutionäre von 1848/1849, die in die Vereinigten Staaten ausgewandert waren, erkannten das Werk Bismarcks als eine glückliche Lösung der so lange leidenschaftlich umstrittenen Deutschen Frage an. In ihren Einzelheiten konnte diese Lösung freilich nicht endgültig sein, schon weil die Geschichte ihrem ganzen Wesen nach kein Ruhendes ist, sondern fortwährendes Vergehen und Werden. Überdies war das von Bismarck geschaffene Reich ein äußerst kunstvolles, sehr verschiedene Elemente in sich vereinigendes Gebilde, das Ergebnis einer keineswegs gradlinig verlaufenen Entwicklung, die Bismarck berücksichtigt und schließlich in die von ihm erstrebte Richtung gelenkt hat. Wie jedes Menschenwerk Schloß Bismarcks Reichsgründung Unzulängliches in sich, das später unheilvolle Folgen zeitigen konnte und infolge des Unvermögens von Nachfolgern, Überliefertes zu bessern und neu Heraufkommendem Rechnung zu tragen, dann tatsächlich gezeitigt hat. Im großen und ganzen hat sich die Reichsverfassung von 1871 während ihrer achtundvierzigjährigen Geltung als funktions- und entwicklungsfähig erwiesen.

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Bismarcks Innenpolitik

Verwendung der Kriegsentschädigung Am 10. Mai 1871 hatte Bismarck in Frankfurt den Friedensvertrag zwischen Deutschland und Frankreich unterzeichnet. Als er zwei Tage später in Berlin vor den Reichstag trat, erhoben sich die Abgeordneten zum Zeichen der Anerkennung. In seinen Ausführungen gab dann Bismarck auch die mit Frankreich vereinbarten Termine an, zu denen es vom Juni 1871 bis März 1874 die Kriegsentschädigung von fünf Milliarden Franken (4219 Millionen Goldmark) zu bezahlen habe. Der Reichskanzler ließ am 17. Mai 1871 dem Bundesrat eine Vorlage über die Verwendung der Kriegsentschädigung zugehen. Von 1871 bis 1873 berieten und beschlossen der Bundesrat und der Reichstag die einzelnen Punkte in der von der Verfassung vorgeschriebenen Weise. Fast zwei Milliarden wurden für die Kriegskosten, die hauptsächlich durch Anleihen des Norddeutschen Bundes bestritten worden waren, für die Wiederinstandsetzung von Bewaffnung und dergleichen festgesetzt; für den Invalidenfonds 560 Millionen; für Festungen und Kasernen 350 Millionen; für den im Juliusturm in Spandau aufzubewahrenden Kriegsschatz 120 Millionen; verschiedene weitere Beträge für den Ersatz von Kriegsschäden in Elsaß-Lothringen und einigen linksrheinischen Städten, für die Flotte, für Dotationen an 28 Generale und an den Präsidenten des Reichskanzleramtes, Rudolf von Delbrück, der sich als Stellvertreter und Mitarbeiter Bismarcks große Verdienste, besonders auch bei der Reichsgründung, erworben hatte. Die restlichen ungefähr 700 Millionen wurden an die einzelnen Bundesstaaten verteilt, und zwar überwiegend je nach ihren Aufwendungen für den Krieg und ihrer Beteiligung an ihm, zu einem geringeren Teil nach ihrer Bevölkerungszahl. Abgesehen von gelegentlichen Einwendungen gingen die Verhandlungen über die Verwendung der Kriegsentschädigung, die an und für sich reichlich Gelegenheit zu mancherlei Konflikten geboten hätten, im Bundesrat und im Reichstag reibungslos vonstatten. Die ganze Angelegenheit gestaltete sich auch deshalb sehr befriedigend, weil Frankreich wider Erwarten die Zahlungstermine pünktlich einhielt.

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Bismarcks Innenpolitik — Elsaß-Lothringen ELSASS-LOTHRINGEN UND DIE ELSASS-LOTHRINGISCHE FRAGE 1870—1914 Große Schwierigkeiten bereitete dagegen die elsaß-lothringische Frage. Als Frankreich im Sommer 1870 den Krieg erklärt hatte, forderte die öffentliche Meinung in Deutschland die Rückgewinnung des Elsaß und lothringischer Gebiete. — Bis 1681 war das Elsaß zweifellos deutsches Gebiet. Die dann folgenden 200 Jahre französischer Herrschaft und französischer Kultur hatten aber auf die Bevölkerung einen tiefgehenden Einfluß ausgeübt; zwar waren sie im Verlaufe dieser Zeit keine eigentlichen Franzosen geworden, sondern hatten ihre Sprache und Sitte im wesentlichen beibehalten — nur allerlei französische Redensarten waren in die Sprache eingedrungen und in manchen höheren Kreisen wurde französisch gesprochen, trotzdem war es nur ein kleiner Teil, der 1871 die Rückgliederung des Landes an Deutschland als eine „Heimkehr ins Reich" ansah, während die Mehrzahl eine Autonomie des Elsaß der Entscheidung für Deutschland oder für Frankreich vorzog. Bismarck hatte denn auch ursprünglich große Bedenken gegen die Annexion; am 27. Februar 1871 schrieb er an seine Frau: „Gestern haben wir endlich den (Präliminarfrieden) unterzeichnet, mehr erreicht, als ich für meine persönliche politische Berechnung für nützlich halte. Aber ich muß nach oben und nach unten Stimmungen berücksichtigen, die eben nicht r e c h n e n . Wir nehmen Elsaß und Deutsch-Lothringen, dazu auch Metz mit sehr unverdaulichen Elementen." Die „Stimmungen von unten" bezogen sich auf die öffentliche Meinung in Deutschland, die ungestüm die Rückgabe der „urdeutschen" Gebiete verlangte, die „Stimmungen von oben" vor allem auf militärische Erwägungen, wie sie Bismarck in seiner Reichstagsrede vom 16. Mai 1873 darlegte: „Denn nicht aus Besitzsucht nach Land und Leuten, auch nicht aus dem berechtigten Gefühl, altes Unrecht sühnen zu wollen, was uns vor zweihundert Jahren geschehen ist, sondern in der bitteren Notwendigkeit, uns auf weitere Angriffe eines kriegerischen Nachbarn gefaßt machen zu müssen, haben wir die Forderung auf Landabtretung, auf Festungsabtretung so weit ausgedehnt, wie es geschehen ist, damit wir ein Bollwerk haben, hinter dem wir weitere Angriffe von der Art abhalten können, wie sie seit dreihundert Jahren jede Generation in Deutschland erlebt hat." In seiner Reichstagsrede vom 21. März 1879 sagte dann Bismarck: „Ich bin überzeugt, daß unser unverminderter guter Wille mit der Zeit die Sprödigkeit der Kreise, die uns bisher widerstreben, überwinden wird, wenn wir sie ruhig bei ihrer Arbeit lassen. Ich möchte, daß wir es über uns gewinnen, sie nicht zu sehr zu stören, weder durch Einwirkung unserer gesetzgebenden Körperschaften, noch durch Einwirkung unserer Bürokratie. Ich habe noch heute Vertrauen zu dem deutschen Keim, der ungestört, wenn auch überwuchert von dem glänzenden Firnis der französischen hundertjährigen Angehörigkeit, doch unzerstört vorhanden ist, und ich glaube, daß die früher französisch gezogene, von uns frisch gestützte deutsche Eiche kräftig wieder ausschlagen wird, wenn wir Ruhe und Geduld haben, und wenn es uns gelingt, die Fehler unseres eigenen Charakters — am Zuvielregieren 16

Verhalten der Bevölkerung. Staatliche Eingliederung möchte ich sagen, zurückzuhalten und zu mäßigen, sowie uns der ruhigen Beobachtung des Wachstums mehr hinzugeben als dem Bedürfnis, an der Pflanze zu modeln und zu schneiden." Bismarcks Hoffnung ist nicht in Erfüllung gegangen. Das Verhalten der Bevölkerung, namentlich der Elsässer, zu Deutschland, war die Jahrzehnte hindurch außerordentlich schwankend. In einem Grenzgebiet mit einer Geschichte wie der des Elsaß, in dem die Bewohner unter dem wechselnden Einfluß zweier Nationen stehen, ist die nationale Einstellung eines größeren oder geringeren Teiles natürlich weniger eindeutig als in Gebieten mit einer jahrhundertelangen ununterbrochenen nationalen Tradition. Der elsässische Schriftsteller August Schneegans berichtet in seinen Memoiren: Nach der Kapitulation „fügten wir uns in die neue Sachlage, die keinem Angst madite. Ich kann behaupten, daß diese Empfindungen damals in der Straßburger Bürgerschaft außerordentlich verbreitet waren, nur die Eingewanderten, die Welschen, teilten sie nicht. Die Lage änderte sich erst, als Paris seine Tore öffnete und seine Sendlinge schickte". Die Anhänglichkeit einer beträchtlichen Zahl Elsässer und Lothringer, besonders unter dem reichen Bürgertum, an ihr früheres Vaterland, unvermeidliche Schwierigkeiten, wie sie mit der Loslösung von Frankreich und der Einordnung in Deutschland verbunden waren, Unzulänglichkeiten und Fehlgriffe der deutschen Verwaltung, allerlei Zwischenfälle und die internationale politische Lage lieferten der französischen Propaganda reichlich Stoff und ließen auch grobe Entstellungen und frei Erfundenes glaubhaft erscheinen. Auf die Elsässer und Lothringer übte diese Agitation einen starken Einfluß aus; doch hing der Grad ihrer Wirkung zum großen Teil von der jeweils bei ihnen vorherrschenden, mancherlei Schwankungen unterworfenen Stimmimg ab und davon, welche der verschiedenen und auch national verschieden eingestellten Bevölkerungsschichten jeweils betroffen war. Schon die Vereinigung lothringischer Gebiete mit dem Elsaß war in dieser Hinsicht mißlich. Während das Elsaß der Sprache nach deutsch ist, gehörte von dem annektierten Lothringen dagegen die eine Hälfte zum deutschen, die andere zum französischen Sprachgebiet; überdies war ganz Lothringen seit langem weitgehend französiert. Die sich hier großenteils aus der politischen und kulturellen Entwicklung ergebende Opposition gegen das Deutschtum bot auch im Elsaß der französischen Agitation einen festen Rückhalt. Zu mancherlei Unzuträglichkeiten führte, daß innerhalb und außerhalb Deutschlands die Verhältnisse des gesamten Gebietes allzusehr nach denen Lothringens beurteilt wurden, was um so näher lag, als Elsaß und Lothringen, in ihrer ganzen Art und wirtschaftlichen Struktur so sehr von einander verschieden, nicht gesondert verwaltet wurden. Uber die Art der Eingliederung Elsaß-Lothringens bestand zunächst keine Ubereinstimmung. Vorgeschlagen wurden: Aufteilung des Elsaß unter die süddeutschen Staaten Bayern, Württemberg, Baden, Hessen; Zuweisung des Elsaß an Baden, das dafür seine ehemalig wittelsbachisch-kurpfälzischen Gebiete an Bayern abtreten solle; Lothringen oder ganz Elsaß-Lothringen Preußen zu überlassen; die Errichtung eines neutralen Staates wie die Schweiz oder eines neuen Bundesstaates unter einem deutschen Fürsten. Viele, nicht nur Nord17 2

Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Bismarcks Innenpolitik — Elsaß-Lothringen deutsche, hielten die Vereinigung Elsaß-Lothringens mit Preußen für die beste Lösung. Auch Bismarck war ursprünglich dieser Meinung gewesen; aber jetzt erklärte er am 25. Mai 1871 vor dem Reichstag, er habe sich von Anfang an unbedingt dafür entschieden, daß das Elsaß und Lothringen „unmittelbares Reichsland" werden sollten, weil er es für leichter halte, daß die Elsässer sich mit dem Namen der „Deutschen" assimilieren als mit dem Namen der „Preußen". Der Name „Prussien" hat „in Frankreich fast etwas Verletzendes, und überall, wo sie etwas Übles von uns sagen wollen, da heißt es: ,1e gouvernement Prussien' oder ,les Prussiens', und wo sie etwas anerkennen wollen, da sagen sie ,les Allemands'. Dies hat sicher auf die Elsässer abgefärbt, und so wird es den Elsässem leichter, sich ihrer Abstammimg als Deutsche bewußt zu werden als den Namen Preußen anzunehmen". Die Einschließung von Straßburg durch deutsche Truppen während des Krieges hatte am 13. August 1870 begonnen, und schon am nächsten Tag war Graf Friedrich von Bismarck-Bohlen zum Generalgouverneur des Elsaß berufen worden. Ein Reichstagsbeschluß vom 3. Juni 1871 bestimmte: „Die Staatsgewalt im Elsaß und in Lothringen übt der Kaiser aus. Bis zum Eintritt der Wirksamkeit der Reichsverfassung ist der Kaiser bei Ausübung der Gesetzgebung an die Zustimmung des Bundesrates" gebunden. Im September erfolgte die Abberufung des Grafen Bismarck-Bohlen und die Übertragung der Geschäfte des Generalgouvernements sowie des bisherigen Zivilkommissariats an Eduard von Möller als Oberpräsidenten, dem ein Kollegium „Kaiserlicher Rat von Elsaß-Lothringen" beigegeben war. Im Reichskanzleramt zu Berlin wurde eine eigene Abteilung für die „Reichslande" mit einem Unterstaatssekretär eingerichtet. An die Stelle der ehemaligen drei französischen Departements und ihrer Präfekten in Straßburg, Kolmar und Metz traten 1871 drei in 22 Kreise eingeteilte Regierungsbezirke unter je einem Bezirkspräsidenten; die aus Wahlen hervorgegangenen Mitglieder der Bezirks- und der Kreistage sollten den Bezirkspräsidenten und Kreisdirektoren zur Seite stehen. Seit 1874 galt auch in Elsaß-Lothringen die Reichs Verfassung; von da an war es im Reichstag vertreten und der von den Bezirkstagen gewählte Landesausschuß hatte bei der Beratung des Budgets und bei der Gesetzgebung für Elsaß-Lothringen mitzuwirken. Die beratende Tätigkeit wurde 1877 in eine beschließende umgewandelt: Landesgesetze und Budget konnten nun entweder vom Reichstag oder vom Landesausschuß angenommen werden. Ein Gesetz vom 4. Juli 1879 hob die Abteilung für Elsaß-Lothringen am Reichskanzleramt in Berlin und das Oberpräsidium in Straßburg auf, dafür wurden in Straßburg ein vom Kaiser ernannter und ihm verantwortlicher Statthalter und ein Ministerium für Elsaß-Lothringen eingesetzt; an die Stelle des Oberpräsidenten Möller trat als Kaiserlicher Statthalter Generalfeldmarschall Karl Otto von Manteuffel, dem 1885 Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst folgte. Nach einem Reichsgesetz von Ende 1871 war der Oberpräsident ermächtigt, wenn er die öffentliche Sicherheit für bedroht hielt, alle zu ihrer Aufrechterhaltung geeigneten Maßregeln zu ergreifen, selbst unter zeitweiliger Ausschaltung verfassungsmäßiger Rechte. Diesen sogenannten „Diktaturparagraphen" hob auf Veranlassung des 18

Staatliche und wirtschaftliche Eingliederung damaligen Reichskanzlers Bernhard von Bülow im Juni 1902 ein Reichstagsbeschluß auf. Ein Reichsgesetz vom 31. Mai 1911 unter der Reichskanzlerschaft BethmannHollwegs verlieh Elsaß-Lothringen schließlich eine Verfassung, die es nominell als selbständigen Bundesstaat mit drei Vertretern im Bundesrat dem Deutschen Reich eingliederte. Elsaß-Lothringen wurde nun insofern ein autonomer Staat gleich den übrigen Bundesstaaten, als für seine Gesetzgebung nicht mehr Bundesrat und Reichstag zuständig waren, sondern zwei einheimische Kammern. Der ersten gehörten auf Grund ihres Amtes an: die Bischöfe von Straßburg und Metz, je ein Vertreter der beiden protestantischen Konsistorien und der Präsident des Oberlandesgerichtes in Kolmar; gewählt wurden je ein Mitglied von den vier größten Städten, von der Universität Straßburg und von der Judenschaft, zwei Mitglieder von den Handwerkskammern und sechs von der Landwirtschaft; außerdem konnte der Kaiser auf Vorschlag des Bundesrats aus den im Reichsland ansässigen Reichsangehörigen Mitglieder berufen, jedoch nicht mehr als die Hälfte aller Mitglieder. Für die zweite Kammer galt das allgemeine, direkte und geheime Wahlrecht. Ein eigenes Staatsoberhaupt, wie es die übrigen Bundesländer hatten, blieb jedoch Elsaß-Lothringen versagt. Das Mitglied eines der deutschen Herrscherhäuser als Monarchen einzusetzen, hätte den Widerspruch oder wenigstens eine Verstimmung der Übergangenen hervorgerufen und wäre in weiten Kreisen als ein Anachronismus empfunden worden; auf ein freistaatliches Regime aber, wie das der Hansestädte, wollte man sich bei diesem von innen und außen gefährdeten Grenzlande nicht einlassen. So blieb der Kaiser de facto das Staatsoberhaupt von Elsaß-Lothringen und übte die Staatsgewalt im Namen des Reiches aus, nur daß er jetzt verfassungsmäßig Gesetze gemeinsam mit den Kammern erließ; wie bisher ernannte er, nun unter Gegenzeichnung des Reichskanzlers, den Statthalter und dieser das elsaß-lothringische Ministerium. Auch die Verfassung von 1911 wurde von einem großen Teil der elsaß-lothringischen Bevölkerung noch als unzureichend empfunden; erstrebt wurde in weiten Kreisen auch hier, wie im Reiche, ein parlamentarisches Regierungssystem, aber dazu kam es ebensowenig wie im Reiche selbst. Außerdem brach schon drei Jahre später der Erste Weltkrieg aus, der bereits seit längerem seine Schatten vorausgeworfen hatte, was auch nicht ohne Einfluß auf die elsaß-lothringische Verfassung von 1911 geblieben war. Besondere Schwierigkeiten machte die Einführung des deutschen Rechts in Elsaß-Lothringen. Die französischen Gesetze konnten nicht plötzlich aufgehoben werden. Zu einer Reglung, was von ihnen neben der Menge neuer Gesetze einstweilen in Kraft blieb, kam es geraume Zeit nicht. Dies hatte bei dem langwierigen Instanzenweg, bis 1879 Kreis, Bezirk, Oberpräsidium und Reichskanzleramt, und den gelegentlichen Reibereien der Beamten untereinander nicht selten üble Verwirrungen zur Folge. Die Wirtschaft Elsaß-Lothringens nahm nach 1871 einen großen Aufschwung, im Elsaß namentlich die Textilindustrie, der Maschinenbau und seit 1904 die Förderung von Kali, in Lothringen die Eisenindustrie; die elsässischen Winzer erzielten jetzt doppelt oder dreifach höhere Preise, der elsässischen Landwirtschaft 19 2·

Bismarcks Innenpolitik — Elsaß-Lothringen kamen die Fortschritte der deutschen und bald auch die deutsche Schutzzollpolitik sehr zustatten. All das söhnte aber die Elsaß-Lothringer mit ihrer Zugehörigkeit zum Reich nicht so weitgehend aus, wie man deutscherseits gehofft hatte. Zum Teil lag dies an Nachteilen, die bei dem Übergang eines Wirtschaftsgebietes von einem Staat an einen anderen unvermeidlich sind; außerdem wurde die lothringische Erz- und die elsässische Kaliindustrie hauptsächlich von Kapitalisten aus dem übrigen Reich finanziert, und so fiel an diese der größte Teil des Gewinns. Auf die Förderung des Schulwesens als der Grundlage für die Erziehung der Jugend zum Deutschtum war die deutsche Regierung besonders bedacht. Nach einem Antrag des Reichstags und unter Zustimmung des Bundesrates stiftete Kaiser Wilhelm am 29. April 1872 die Universität Straßburg. Die Einführung des Schulzwanges beseitigte allmählich in Elsaß-Lothringen das Analphabetentum, und das Niveau der Volks- und höheren Schulen hob sich beträchtlich. Aber auch die Schulpolitik wurde nicht in dem Maße anerkannt, wie vielfach von deutscher Seite erwartet worden war, sondern des öfteren mehr oder weniger schroff abgelehnt. Zwar besuchten immer mehr Söhne des bürgerlichen und bäuerlichen Mittelstandes die Straßburger Universität und gewannen durch die aus dem ganzen Reich berufenen, meist vorzüglichen und jüngeren Professoren ein positives Verhältnis zum deutschen Geistesleben; vermögende Familien zogen es aber doch vor, ihre Söhne an der Sorbonne in Paris oder an der Universität Grenoble studieren zu lassen. Eine starke Verstimmung in weiten Kreisen hatte die Verfügung zur Folge, mit Ausnahme einiger französischer Sprachgebiete habe für alle Schulen die Unterrichtssprache Deutsch zu sein, Französisch dürfe nur in den Mittel- und Oberklassen in vier Wochenstunden gelehrt werden. Noch mehr erbitterte das Übergreifen des Kulturkampfes auf Elsaß-Lothringen seine zu vier Fünftel katholische Bevölkerung durch Einführung der staatlichen Schulaufsicht auch über die sehr zahlreichen, größtenteils von Ordensleuten und Priestern geleiteten Schulen, Verdrängung der 2000 Schulbrüder aus den Volksschulen bis auf einen geringen Rest und ihre Ersetzung durch weltliche Lehrer, vielfach aus dem Reiche. Da von ihnen, wie unter den übrigen Beamten, namentlich den höheren, zahlreiche Norddeutsche waren, ebenso in leitenden Stellen der Industrie, klagten Elsässer und Lothringer, ihr Land solle völlig verpreußischt werden. Die allgemeine Wehrpflicht ist in Elsaß-Lothringen 1872 eingeführt worden; wer bereits in der französischen Armee gedient hatte, brauchte nicht einzurücken. Die Verteilung der Rekruten auf Regimenter außerhalb des Reichslandes erregte weithin Unwillen; erst als seit 1903 die elsässisch-lothringischen Soldaten in ihrem Heimatlande bleiben durften, trat ein Stimmungsumschwung ein, und nun verpflichteten sich auch viele Elsaß-Lothringer freiwillig zu einer längeren Dienstzeit, die Unteroffiziere aus dem Elsaß galten bald als die besten der Armee; die Offizierslaufbahn schlugen indes nur verhältnismäßig wenige ein, auch dies ein Zeichen dafür, daß sich die höheren Kreise im allgemeinen weniger mit der Eingliederung in das Deutsche Reich abfanden. Zusammenstöße zwischen Militär und Zivilisten, weder in Berlin, noch in München und anderswo selten, wirkten in Elsaß-Lothringen besonders aufreizend; 20

Schulwesen. Stimmungswechsel der Bevölkerung die schlimmste Bedeutung gewann die „Affäre Zabern", zumal da sie sich in der Krisenzeit von 1913 ereignete. In dieser unterelsässischen Stadt war es wiederholt zu Schlägereien mit Soldaten gekommen. In einer Instruktionsstunde schärfte der junge Leutnant von Forstner seinen Soldaten ein, erforderlichenfalls von der Waffe Gebrauch zu machen, falls sie angegriffen würden; wenn sie dabei so einen „Wackes" niederstreckten, „dann bekommt Ihr von mir noch zehn Mark". Alles, was im Elsaß gegen Deutschland und in Deutschland gegen den „Militarismus" war und vor allem die französische Presse bemächtigten sich des Falles Zabern für ihre Zwecke. Auf Anordnung Kaiser Wilhelms II. wurden die beiden in Zabern liegenden Bataillone auf Truppenübungsplätze verlegt. Dies wiederum sahen die Zaberner nicht gern, sie befürchteten, aus ihrer Stadt würde die Garnison für immer entfernt werden, eine empfindliche wirtschaftliche Einbuße. Als daher einige Monate später, Mitte April 1914, die beiden Bataillone zurückkehrten, wurden sie von der Bevölkerung mit großer Freude begrüßt. Von dem Hin- und Hergerissensein der Elsaß-Lothringer zwischen den Stimmungen für und gegen Deutschland geben die Reichstagswahlen ein bezeichnendes Bild. Zum Reichstag von 1873, dem ersten, an dem sich Elsaß-Lothringen beteiligen konnte, wählte es neun Klerikale und sechs „Protestler"; mit Ausnahme des Bischofs von Straßburg, Andreas Roß, einem gebürtigen Elsässer, protestierten sie alle gegen die Annexion; den Text zu ihrem Manifest hatte der französische Staatsmann Gambetta verfaßt. Bei den Wahlen im Januar 1877 erhielt die im wesentlichen deutsch-freundlich eingestellte, aber die Autonomie für ElsaßLothringen anstrebende Autonomistenpartei fast 51 000 Stimmen und gewann damit von den 15 Sitzen, die Elsaß-Lothringen zustanden, sechs; bei den Wahlen im Sommer 1878 verlor sie 2500 Stimmen. Aufs heftigste wegen ihrer maßvollen Haltung angefeindet, gingen die Autonomisten bei den Wahlen von 1881 auf 5800 Stimmen zurück, von nun an waren sie im Reichstag nicht mehr vertreten. Für die Protestler stimmten 1874 rund 190 000, 1878: 130 000, 1881: 147 000. 1887 : 234 000, 1890: 100 000. Seit 1903 gingen die Abgeordneten des Reichslandes teils mit den Nationalliberalen, teils mit der Reichspartei, teils mit dem Zentrum zusammen. Die hohe Stimmenzahl von 1887 verdankten die Protestler den Umtrieben des französischen Kriegsministers George Ernest Boulanger. Er arbeitete zu Anfang dieses Jahres auf einen Revanchekrieg gegen Deutschland hin, um sich dabei zum Diktator von Frankreich aufwerfen zu können. Boulanger mußte bald darauf abdanken, die deutsch-französischen Beziehungen besserten sich, und so büßten die Protestler bei den nächsten Wahlen mehr als die Hälfte ihrer Stimmen von 1887 ein. Die zweite Kammer erklärte im April 1913 trotz der angespannten internationalen Lage mit überwältigender Mehrheit, die zustimmende Haltung der elsässisch-lothringischen Begierung zu der starken Heeresvermehrung (S. 319) entspreche nicht den Anschauungen der Bevölkerung. Als aber im folgenden Jahr der Krieg ausbrach, riß die allgemeine Begeisterung für den als gerecht empfundenen Kampf auch die Elsässer und die Mehrheit der Lothringer mit. Lange hielt diese Stimmung freilich nicht vor. Des Landes unkundige Truppen 21

Bismarcks Innenpolitik — Kulturkampf von rechts des Rheins glaubten sich schon auf französischem Boden, obwohl sie sich noch in Elsaß-Lothringen befanden, und so kam es zu Spannungen mit der Bevölkerung. Während der Kämpfe um Mülhausen brannten deutsche Abteilungen Burtzweiler nieder und erschossen mehrere Einwohner standrechtlich, ohne daß deren Schuld einwandfrei geklärt war. Ähnliches trug sich auch in Lothringen zu. Gerüchte verallgemeinerten solche Vorfälle, und dasselbe galt umgekehrt bei Fällen, in denen Elsässer des Verrates, Uberlaufens oder der Desertion beschuldigt wurden. Mißtrauen und Abneigung nahmen auf beiden Seiten immer mehr überhand. Mit der Dauer des Krieges und mit der Ungewißheit, wie er enden würde, wuchs selbstverständlich die Zahl derer, die sich vorsichtig zurüdkhielten oder ihre „Umstellung" vorbereiteten. Ende November 1918 zogen die Franzosen als Sieger in Straßburg ein. Soweit sich aus nicht wirklich Geschehenem Schlüsse ziehen lassen, wären die Bewohner des Reichslandes in Deutschland wieder heimisch geworden, wenn es den Krieg gewonnen hätte. Nachdem aber der Krieg und die Reichslande verloren waren, galt und gilt ihre Annexion vielfach als ein verhängnisvoller Fehlgriff. Zur Entstehung des Ersten Weltkrieges hat sie allerdings nicht in dem Maße beigetragen, wie die französische Propaganda behauptete und wie meist angenommen wird. Kenner der französischen Mentalität haben betont, daß „der Haß gegen das siegreiche Deutschland und die Begierde nach Revanche ganz ebenso groß gewesen und geblieben wären, selbst wenn man keinen Zoll breit Landes abgerissen hätte" (Bamberger). Immerhin bedeutete die Annexion für das Deutsche Reich namentlich in der Außenpolitik eine schwere Belastung. Die Aneignung von Elsaß-Lothringen wurde, obwohl es nur eineinhalb Millionen Einwohner zählte, als eine Störung des europäischen Gleichgewichts empfunden und späterhin als ein Beweis für den angeblich unersättlichen deutschen Imperialismus angeführt. Das Beste für Elsaß-Lothringen wäre wahrscheinlich eine Autonomie mit von den Großmächten garantierter Neutralität gewesen, ähnlich etwa wie Luxemburg und Belgien; das hätte auch dem Verlangen der Mehrheit der Einwohner entsprochen, aber dazu waren damals die nationalen Leidenschaften auf Seiten Frankreichs und Deutschlands zu stark und die militärischen Interessen zu groß. D E R KULTURKAMPF Die katholische Kirche begann alsbald nach dem Wiener Kongreß (1814/1815) die Schäden zu überwinden, die sie durch die Aufklärung, die französische Revolution und die Säkularisation erlitten hatte. Mit der Neubelebung des innerkirchlichen Lebens ging der Kampf gegen Strömungen, die zu offiziell kirchlichen Auffassungen in Widerspruch standen, Hand in Hand. Dabei war es in vielen Fällen fraglich, ob und inwieweit sich die neu aufkommenden wissenschaftlichen Forschungsmethoden und ihre Ergebnisse, die mannigfachen politischen, wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Theorien und Bewegungen mit der kirchlichen Glaubenslehre vereinbaren ließen. Da hierüber katholische Gelehrte und selbst 22

Konzil von 1869 Bischöfe nicht selten voneinander abweichende Ansichten vertraten, lag es nahe, daß sich schließlich Papst Pius IX. berufen fühlte, grundsätzliche Entscheidungen zu treffen. In seiner Enzyklika vom 9. November 1846 wandte er sich gegen die „Pest des Liberalismus" und betonte die „lebendige Autorität", die von den Päpsten seit Petrus ausgeübt worden sei. Einer weiteren Enzyklika (8. Dezember 1864) fügte Pius IX. den „Syllabus" (zusammenfassendes Verzeichnis) an, worin die achtzig „hauptsächlichen Irrtümer unserer Zeit" verdammt wurden. Als solche Irrtümer sind angeführt: „Mit den Erfordernissen unserer Zeiten und dem Fortschritt der Wissenschaften stimmen Methode und Grundsätze, womit die alten scholastischen Lehrer die Theologie pflegten, ganz und gar nicht überein"; „die Kirche hat keine unmittelbare oder mittelbare weltliche Machtbefugnis"; „bei Konflikten zwischen Kirche und Staat geht das bürgerliche Recht vor"; „der weltlichen Regierung steht das Recht zu, Bischöfen die Ausübimg ihres geistlichen Amtes zu verbieten"; „die Kirche ist vom Staat und der Staat ist von der Kirche zu trennen". Ende Juli 1868 erließ Papst Pius IX. an alle Bischöfe die „Bulla convocationis" für ein allgemeines am 8. Dezember 1869 in Rom zu eröffnendes Konzil. In dieser ausführlichen Einberufungsbulle stützte sich Pius IX. wiederum auf die sich von Petrus, dem Oberhaupte der Apostel und dem Stellvertreter Christi, herleitende Autorität der römischen Päpste, denen die „oberste Gewalt und Gerichtsbarkeit über die ganze Kirche" zustehe. Aufgabe des Konzils ist, „mit größtem Eifer dafür zu sorgen, daß mit gnädiger Hilfe Gottes alles Böse von Kirche und bürgerlicher Gesellschaft entfernt werde. . . . Niemand wird je leugnen können, daß die Wirksamkeit der katholischen Kirche und ihre Lehre nicht bloß das ewige Heil der Menschen betrifft, sondern auch das zeitliche Wohl der Völker fördert... Wir hoffen, daß alle erhabenen Fürsten und Lenker, besonders die katholischen, täglich mehr erkennen, wie von der katholischen Kirche aus auf die menschliche Gesellschaft die höchsten Güter überströmen". In einem Sendschreiben an „alle Protestanten und andere Nichtkatholiken" ermahnte er sie unter Hinweis auf das bevorstehende Konzil, „eilends zu der e i n e n Hürde Christi zurückzukehren". „Wir erwarten sehnlichst mit offenen Armen die Rückkehr der irrenden Söhne zur katholischen Kirche . . . Denn von dieser so sehr ersehnten Rückkehr zur Wahrheit und Gemeinschaft mit der katholischen Kirche hängt am meisten das Heil nicht nur des Einzelnen, sondern auch der ganzen christlichen Gesellschaft ab, und die ganze Welt kann nicht wahren Frieden genießen, wenn nicht zustande kommt Eine Hürde (ovile) und Ein Hirt." In der am 18. Juli 1870 abgehaltenen Schlußsitzung des Konzile verkündete Pius IX., nachdem von den Konzilsteilnehmern 547 dafür und 2 dagegen gestimmt hatten, als einen von Gott geoffenbarten Glaubenssatz das Dogma von dem unfehlbaren Lehramte des römischen Papstes: „Wenn er von seinem Lehnstuhle aus (ex cathedra) spricht, das heißt wenn er des Amtes als Hirt und Lehrer aller Christen waltet und kraft seiner höchsten apostolischen Amtsgewalt endgültig entscheidet, eine Lehre über Glauben und Sitten sei von der ganzen Kirche festzuhalten, eignet ihm auf Grund des göttlichen Beistandes, der ihm im heiligen Petrus verheißen ist, jene Unfehlbarkeit 23

Bismarcks Innenpolitik — Kulturkampf (infallibilitas), mit welcher der göttliche Erlöser seine Kirche bei endgültiger Entscheidung über eine Glaubens- oder Sittenlehre ausgestattet haben wollte; deshalb sind solche endgültigen Entscheidungen des römischen Papstes durch sich selbst, aber nicht durch die Zustimmung der Kirche unabänderlich." Wenngleich die Einberufungsbulle nicht ausdrücklich davon gesprochen hatte, daß auf dem Konzil die alte Streitfrage geklärt werden sollte, ob die Entscheidung in wichtigen Fragen des Glaubens und der Sittenlehre bei einem Konzil oder bei dem Papst liege, waren viele davon überzeugt, Pius IX. werde es auf dem Vatikanischen Konzil besonders um die Suprematie der Päpste über ein Konzil und um die Anerkennung ihrer Unfehlbarkeit gehen. Bald wurden Stimmen, auch unter den Bischöfen, gegen diese Absicht des Papstes laut, mehr weil sie ein derartiges Dogma für unzeitgemäß hielten, als weil sie es grundsätzlich ablehnten. Bedenken, wie sie in Deutschland namentlich der Bischof von Mainz Wilhelm Emanuel von Ketteier und der Bischof Karl Hefele von Rottenburg äußerten, blieben ohne größere Wirkung auf die öffentliche Meinung, zumal sie und andere bischöfliche Opponenten das Dogma der Infallibilität dann doch anerkannten. Weitere Kreise zog dagegen der Widerstand des Professors für Kirchengeschichte und Kirchenrecht an der Universität München, Ignaz von Döllinger. Er hatte sich mit mehreren seiner Werke, besonders mit „Die Reformation, ihre innere Entwicklung und ihre Wirkungen" (3 Bände 1840/1848), „Heidentum und Judentum, Vorhalle zur Geschichte des Christentums" (1857), „Christentum und Kirche in der Zeit der Grundlegung" (1860) den Ruf eines Vorkämpfers des Katholizismus und eines hervorragenden Gelehrten erworben. Seine Meinung, in der katholischen Theologie bestehe ein Neben- und Widereinander zweier Schulen, die so verschieden wären, daß sie sich in ihrer Eigenart kaum ganz zu verstehen vermöchten, und daß die eine, die „deutsche" Schule, in der Wissenschaft viel weiter fortgeschritten sei als die andere, die „römische", brachten Döllinger allmählich mehr und mehr in Gegensatz zu Rom. König Ludwig II. ernannte ihn 1868 zum Reichsrat der Krone Bayern, wodurch er auch als Kirchenpolitiker an Einfluß gewann. Er verfaßte ein Rundschreiben zur Abwehr der „hochpolitischen" römischen Absicht, die päpstliche Unfehlbarkeit zu dogmatisieren, und bewog im April 1869 den bayerischen Ministerpräsidenten Fürst Chlodwig von Hohenlohe-Schillingsfürst, dieses Rundschreiben an die bayerischen Gesandten zu schicken mit einer Anweisung, wie sie dieser Dogmatisierung entgegenwirken sollten. Der Schritt Hohenlohes hatte keinen Erfolg; der Kardinalstaatssekretär Antonelli wußte die Gesandten mit ausweichenden Erklärungen zu beruhigen. In seinen „Erwägungen für die Bischöfe des Conciliums über die Frage der päpstlichen Unfehlbarkeit" suchte Döllinger aus der Uberlieferung der alten Kirche und aus der Konziliengeschichte zu beweisen, daß die These von der päpstlichen Unfehlbarkeit „das Brandmal der Illegitimität an der Stime" trage und daß „sie nie zur Dignität einer Glaubenswahrheit erhoben werden" könne und dürfe. Während des Konzils veröffentlichte Döllinger in der Augsburger Allgemeinen Zeitung „Römische Briefe vom Concil von Quirinus". Sie erregten weithin großes Aufsehen, da ihnen Nachrichten von Konzilsteilnehmern, die vorerst noch gegen die

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Unfehlbarkeitsdogma Dogmatisierung der päpstlichen Unfehlbarkeit waren, und von gut unterrichteten Freunden in Rom zugrunde lagen. Als um die Jahreswende 1869/1870 die Mehrheit der Konzilsteilnehmer Unterschriften sammelte für einen Antrag an Pius IX., die päpstliche Unfehlbarkeit solle vom Konzil verkündet werden, nahm Döllinger dagegen Stellung in seiner Schrift „Einige Worte über die Unfehlbarkeitsadresse". Die „Adreßbischöfe" und ihnen Gleichgesinnte empfanden als Herausforderung Sätze wie: „180 Millionen Menschen — das verlangen die Bischöfe, welche diese Adresse unterzeichnet haben — sollen künftig durch die Drohung der Ausschließung aus der Kirche, der Entziehung der Sakramente und der ewigen Verdammnis gezwungen werden, das zu glauben und zu bekennen, was die Kirche bisher nicht geglaubt, nicht gelehrt hat" und alles ginge schließlich auf das Selbstzeugnis des Papstes über seine Unfehlbarkeit hinaus, während doch vor 1840 Jahren ein Unendlich Höherer (Christus) gesagt habe: „Wenn ich mir selber Zeugnis gebe, so ist mein Zeugnis nicht glaubwürdig". Der Münchner Erzbischof Gregor von Scherr hatte zu den Opponenten gehört, sich aber bald nach Beendigung des Konzils zu dem neuen Dogma bekannt. Er verlangte nicht sofort von Döllinger, sich der Konzilsentscheidung zu unterwerfen, erst im Januar 1871 forderte er ihn hierzu auf und gewährte ihm auf seinen Wunsch noch eine längere Bedenkzeit. Am 28. März richtete dann Döllinger an den Erzbischof einen Brief, der mit der bündigen Erklärung Schloß: „Als Christ, als Theologe, als Geschichtskundiger, als Bürger kann ich diese Lehre nicht annehmen. Nicht als Christ, denn sie ist unverträglich mit dem Geiste des Evangeliums und mit den klaren Aussprüchen Christi und der Apostel; sie will gerade das Imperium dieser Welt aufrichten, welches Christus ablehnte, will die Herrschaft über die Gemeinden, welche Petrus allen und sich selbst verbot. Nicht als Theologe, denn die gesamte echte Tradition der Kirche steht ihr unversöhnlich entgegen. Nicht als Geschichtskenner kann ich sie annehmen, denn als solcher weiß ich, daß das beharrliche Streben, diese Theorie der Weltherrschaft zu verwirklichen, Europa Ströme von Blut gekostet, ganze Länder verwirrt und heruntergebracht, den schönen und organischen Verfassungsbau der älteren Kirche zerrüttet und die ärgsten Mißbräuche in der Kirche erzeugt, genährt und festgehalten hat. Als Bürger endlich muß ich sie von mir weisen, weil sie mit ihren Ansprüchen auf Unterwerfung der Staaten und Monarchen und der ganzen politischen Ordnung unter die päpstliche Gewalt und durch die eximierte Stellung, welche sie für den Klerus fordert, den Grund legt zu endloser, verderblicher Zwietracht zwischen Staat und Kirche, zwischen Geistlichen und Laien. Denn das kann ich mir nicht verbergen, daß diese Lehre, an deren Folgen das alte deutsche Reich zugrunde gegangen ist, falls sie bei dem katholischen Teil der deutschen Nation herrschend würde, sofort auch den Keim eines unheilbaren Siechtums in das eben erbaute Reich verpflanzen würde." Gleichzeitig übersandte Döllinger eine Abschrift dieses Briefes an die Augsburger Allgemeine Zeitung, die ihn am 31. März veröffentlichte. Am 17. April erfolgte die Exkommunikation Döllingers. Den bis zu seinem Tode (1890) fortgesetzten Bekehrungsversuchen von römisch-katholischer Seite gegenüber verhielt er sich ablehnend. Den Altkatholiken stand 25

Bismarcks Innenpolitik — Kulturkampf er einige Zeit beratend bei, ohne sich ihnen anzuschließen. An den kirchenpolitiechen Kämpfen beteiligte er sich nicht mehr, doch führten fortan die Widersacher der päpstlichen Unfehlbarkeit vielfach bewußt und unbewußt, Argumente Döllingers an, dessen „Name Programm geworden war" (Vigener). Die Bezeichnung „Kulturkampf" für die zwischen der katholischen Kirche und dem Staat durch das Vatikanische Konzil, das Vatikanum, namentlich durch das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit hervorgerufenen Konflikte geht auf Rudolf Virchow, den großen Arzt und Politiker, zurück, der am 17. Januar 1873 diesen Ausdruck bei einer seiner Reden im preußischen Landtag prägte. Virchow meinte damit Kampf f ü r die Kultur; die streng katholisch Gesinnten übernahmen das Schlagwort im Sinne von Kampf g e g e n die Kultur. Führend im Kulturkampf war zunächst der bayerische Staat. Schon am 9. August 1870 verbot der bayerische Justiz- und Kultusminister Johann von Lutz die Verkündigung des Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit ohne königliches „Plazet" (S. 33), und als im März 1871 der Erzbischof von Bamberg darum ersuchte, versagte es ihm eine Ministerialentschließung. Der Erzbischof machte nun geltend, das Plazet erstreckte sich nicht auf Glaubenssachen; die Regierung wies dies zurück. Von München ging auch die altkatholische Bewegung aus, der sich ein großer Teil der das Unfehlbarkeitsdogma ablehnenden Geistlichen und Laien anschloß. Ein hier im September abgehaltener Kongreß führte zur Bildung altkatholischer Gemeinden. Mitte Oktober erklärte Lutz in der Kammer der Abgeordneten: „Die Staatsregierung ist gewillt, allen katholischen Staatsangehörigen geistlichen und weltlichen Standes, welche die Lehre von der Unfehlbarkeit nicht anerkennen, den vollen in den Gesetzen des Landes begründeten Schutz gegen den Mißbrauch geistlicher Gewalt zu gewähren, und sie, soweit ihre Zuständigkeit reicht, in ihren wohlerworbenen Rechten und Stellungen zu schützen . . . Sie ist entschlossen, das religiöse Erziehungsrecht der Eltern gegenüber dem Dogma von der Unfehlbarkeit des Papstes anzuerkennen." Demnach blieben Professoren und Lehrer in ihrem Amt auch bei einer Stellungnahme gegen das Dogma, ebenso Pfarrer, die von der römisch-katholischen zur altkatholischen Kirche übergingen, besonders, wenn ihre Gemeinde ganz oder wenigstens überwiegend folgte. Damit waren auch Gotteshäuser und Kirchengut der katholischen Kirche bedroht. Die Bischöfe nahmen dies so wenig wie das Verbot der Verkündigung des neuen Dogmas stillschweigend hin; sie erhoben gegen beides Einspruch und verlangten von ihren Priestern, daß sie in Predigten die Eingriffe des Staates in kirchliche Angelegenheiten verurteilten. Kultusminister Lutz beschloß nun, mit Gewalt vorzugehen. Da nach der Verfassung des Deutschen Reiches die Gesetzgebung über das Strafrecht nur dem Reiche zustand, stellte Lutz als Vertreter Bayerns am Bundesrat den Antrag: „Ein Geistlicher oder anderer Religionsdiener, welcher in Ausübung seines Berufes öffentlich vor einer Menschenmenge oder in einer Kirche oder an einem anderen zu religiösen Veranstaltungen bestimmten Ort vor Mehreren Angelegenheiten des Staates in einer Weise, welche den öffentlichen Frieden zu stören geeignet scheint, zum Gegenstand einer Verkündigung oder einer Erörterung macht, wird mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft." Der Bundesrat 26

Bayern, Preußen und Baden nahm diesen Antrag am 19. November 1871 als Zusatz zu § 167 des Strafgesetzbuches an, ebenso am 28. November der Reichstag mit großer Mehrheit. Ähnlich wie in Bayern war es auch in Preußen und Baden zu ernstlichen Spannungen und Konflikten zwischen Staat und Kirche gekommen, aber erst mit dem Reichstagsbeschluß vom 28. November 1871, mit dem „Kanzelparagraphen", begann der eigentliche Kulturkampf. Er war jetzt nicht mehr bloß eine Angelegenheit der Einzelstaaten, sondern des ganzen Reiches. Lutz hatte dies bei seinem Antrag vor dem Bundesrat und Reichstag als unbedingt notwendig betont. Die Führung im Kulturkampf ging nun von Bayern auf das Reich, besonders Preußen, über. Bismarck hatte ihn bereits mit leidenschaftlicher Erbitterung aufgenommen; nicht etwa aus konfessionellen Gründen, sondern in erster Linie, weil er im Zentrum einen Feind des Reiches und seinen persönlichen Gegner sah, und dann spielten bei Bismarck audi außenpolitische Erwägungen mit, er hoffte, ein Vorgehen gegen die päpstlichen Ansprüche werde zu einem engeren Verhältnis mit den papstfeindlichen Mächten, Italien und Rußland, führen und damit ein Gegengewicht bilden gegen einen von Bismarck befürchteten Zusammenschluß der papsttreuen Mächte, Spanien, Frankreich und vielleicht auch Österreich. Verschärft wurde der Kulturkampf besonders dadurch, daß Bismarck im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus hauptsächlich auf die Unterstützung der Liberalen, der abgesagten Feinde Roms und von Rom als Widersacher des Christentums Verdammten, angewiesen war; und daß andererseits so manche Katholiken wähnten, es ginge nicht bloß um eine Unterordnung der Kirche unter den Staat, sondern um den katholischen Glauben überhaupt, wie dies zum Beispiel in der klerikalen Presse Bayerns Mitte September 1871 zum Ausdruck kam: das frühere Schlagwort „Nicht preußisch werden, bayerisch bleiben" sei nicht mehr zeitgemäß; jetzt müsse es heißen: „Nicht lutherisch werden, katholisch bleiben". Im preußischen Kultusministerium bestand je eine eigene Abteilung für die evangelische und für die katholische Kirche. Als erstes veranlaßte Bismarck durch eine königliche Verfügung vom 8. Juli 1871 die Aufhebung der beiden Abteilungen und die Errichtung einer neuen für die Angelegenheiten beider Konfessionen mit zehn protestantischen und zwei katholischen Räten. In der Thronrede bei Eröffnung des preußischen Landtags Ende November kündigte der König ein „Spezialgesetz über die Beaufsichtigimg der Schulen" an. Unter den Katholiken rief dies eine große Erregung hervor, selbst manche Protestanten waren beunruhigt. Es ging dabei vor allem um die Volksschulen, über die bisher nach dem Landesrecht und den Provinzialgesetzen die Aufsicht katholischen und evangelischen Geistlichen oblag. Adalbert Falk, seit Januar 1872 Kultusminister, legte dem Abgeordnetenhaus einen Entwurf des Schulaufsichtsgesetzes vor. Davon wurde in den Debatten am heftigsten der Paragraph umkämpft: „Die Ernennung der Lokal- und Kreisschulinspektoren und die Abgrenzung ihrer Aufsichtsbezirke gebührt dem Staat allein". Damit war keineswegs eine völlige Neuordnung beabsichtigt, im wesentlichen sollte die Regierung freie Hand erhalten gegen Schulinspektoren, welche die Kirche über den Staat stellten. Falk versprach, nur wenige geistliche Schulinspektoren würden durch weltliche ersetzt werden. Wie sehr

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Bismarcks Innenpolitik — Kulturkampf die Katholiken beunruhigt waren, zeigten ihre Petitionen gegen das Gesetz vor der endgültigen Abstimmung: 2358 mit 248 000 Unterschriften an das Herrenhaus und 19 000 mit 326 000 Unterschriften an das Abgeordnetenhaus. Schließlich wurde das Gesetz am 8. März mit 126 gegen 76 Stimmen des Zentrums, der Polen, Weifen und einiger Konservativer angenommen. Unmittelbarer als dieses Gesetz griff Falks Erlaß, der die Tätigkeit von Ordensmitgliedem als Lehrer und Lehrerinnen an den öffentlichen Volksschulen verbot, in das Schulwesen ein. Der Kaiser unterzeichnete das am 4. Juli nach erbitterten Redekämpfen im Bundesrat und im Reichstag angenommene Jesuitengesetz: „Der Orden der Gesellschaft Jesu und die ihm verwandten Orden und ordensähnlichen Kongregationen sind vom Gebiet des Deutschen Reiches ausgeschlossen. Die zur Zeit bestehenden Niederlassungen sind binnen einer vom Bundesrat zu bestimmenden Frist, welche sechs Monate nicht überschreiten darf, aufzulösen". Diesem Reichsgesetz folgten 1873 in Preußen die am tiefsten in das kirchliche Leben einschneidenden „Maigesetze". Die Theologiestudenten mußten eine Staatsprüfung, das „Kulturexamen" in Philosophie, Geschichte und deutscher Literatur, ablegen und so beweisen, daß sie sich mit der modernen Kultur vertraut gemacht hätten und gut staatsbürgerlich gesinnt wären; tatsächlich unterzog sich kein Theologiestudent diesem Examen. Geistliche Obere, die einem Priester ein Amt übertragen wollten, hatten dies dem Oberpräsidenten zu melden, der den Kandidaten ablehnen konnte mit Begründungen wie: er würde den konfessionellen Frieden stören. Ein geistlicher Oberer, der diesen Einspruch nicht beachtete oder eine Pfarrei über ein Jahr unbesetzt ließ, ebenso Priester, die, ohne gesetzmäßig eingesetzt zu sein, Amtshandlungen vornahmen, wurden mit Geldstrafen bedroht. Weitere Maigesetze bestimmten unter anderem: die kirchliche Disziplinargewalt darf nur von deutschen kirchlichen Behörden ausgeübt werden — damit sollte jedes Eingreifen der päpstlichen Kurie in die kirchlichen Verhältnisse Preußens unterbunden werden, was einer Loslösung der preußischen Katholiken von Rom gleichgekommen wäre; die Errichtung eines königlichen Gerichtshofes in Berlin, bei dem Berufung eingelegt werden konnte gegen Entscheidung kirchlicher Behörden in Disziplinarsachen, und der gegen Staatsgesetze verstoßende Geistliche abzusetzen hatte. Die Bischöfe fügten sich diesen Gesetzen nicht, und so wurden vom königlichen Gerichtshof die Erzbischöfe von Posen und Köln, der Fürstbischof von Breslau, die Bischöfe von Paderborn, Trier und Münster ihres Amtes enthoben und mit Gefängnis bestraft. Da der Staat jetzt kirchliche Trauungen nur anerkannte, wenn sie ein von ihm bestätigter Pfarrer vorgenommen hatte, und da immer mehr Pfarrstellen unbesetzt blieben, erreichten die Liberalen die von ihnen seit 1848 angestrebte Einführung der obligatorischen Zivilehe erst für Preußen (1874) und dann für das Reich (1875) und die Führung der Zivilstandsregister durch Staatsbeamte. Das „Verbannungsgesetz" (Reichsgesetz vom 4. Mai 1874) bedrohte Geistliche, die trotz ihrer Absetzung Amtshandlungen ausübten, mit dem Verlust der Staatsangehörigkeit und der Ausweisung aus dem Reichsgebiet. Preußische Gesetze von 1875 verboten alle Orden, soweit sie sich nicht ausschließlich der Krankenpflege widmeten, verweigerten Bi28

Kulturkampfgesetze. Folgen in Preußen schöfen und Priestern, die sich nicht zur Einhaltung der Staatsgesetze verpflichteten, die bisherigen Staatsbezüge („Brotkorbgesetz"), übertrugen Laien die Vermögensverwaltung der katholischen Kirchengemeinden und hoben die in der Verfassung der Kirche zugesicherten Rechte auf wie: die selbständige Verwaltung der für Kultus-, Unterrichts- und Wohltätigkeitszwecke bestimmten Anstalten durch die Religionsgesellschaften, unbehinderter Verkehr mit den Oberen. Das letzte der Kulturkampfgesetze (7. Juni 1876) machte alle Geschäfte der verwaltenden kirchlichen Organe von einiger Bedeutung, Kirchenbau, Anlage von Friedhöfen, Verkauf von kirchlichem Grundbesitz und dergleichen von der staatlichen Genehmigung abhängig. Der Kulturkampf hatte in Preußen eine fast völlige Desorganisation der katholischen Kirche zur Folge. Schließlich waren „von zwölf Bischöfen noch zwei im Amt, von 8439 geistlichen Stellen 1880 imbesetzt, 601 Pfarreien vollkommen, 584 halb verwaist. Von 8 711 535 Katholiken in Preußen entbehrten 646 697 jede Seelsorge, 1 501 994 besaßen sie nur in geringem Maße" (Seil). Der kirchliche Notstand, die gehässigen Angriffe auf den Papst und die katholische Kirche überhaupt im Herren- und namentlich im Abgeordnetenhaus, die aggressiven Kampfreden Windthorsts und anderer Zentrumsabgeordneter zur Verteidigung der Kirche und bischöfliche Hirtenbriefe brachten den größten Teil der Katholiken in Gegensatz zum Staat. Dies äußerte sich besonders augenfällig bei Vorgängen wie der Pfändung des Bischofs von Münster: „Kein Dienstmann fand sich, der die Möbel tragen wollte, die von der Polizei hierzu Gezwungenen stellten auf Veranlassung ihrer Frauen die Arbeit wieder ein, später wurde dann alles von kirchentreuen Bürgern wieder ersteigert und von der Volksmenge im Jubel in das bischöfliche Palais zurückgebracht. Die Erregung verbreitete sich über die ganze Gegend, täglich kamen Deputationen von Bauern und Bürgern, bis zu 3000 an einem Tag; etwa 30 000 empfing der Bischof im Verlauf von sechs Wochen. Als er hernach ins "Gefängnis nach Warendorf abgeführt wurde, gaben ihm Adlige und Bürger in langem Wagenzug das Geleit, seine Entlassung gestaltete sich zum Triumphzug" (Seil). Die Kulturkampfgesetze erzielten überhaupt das Gegenteil von dem, was beabsichtigt war. Die Erziehung der Katholiken, die man für staatsfeindlich hielt, zu einer loyalen Staatsgesinnung mißlang ganz und gar; sie sahen nun im Staat immer mehr den Feind dessen, was ihnen am höchsten stand, ihrer Kirche. Die Zentrumspartei erlag den Angriffen ihrer Widersacher nicht, vielmehr nahm die Zahl ihrer Sitze im Reichstag von 58 (1871) auf 91 (1874), 93 (1877) und 99 (1884) zu. Die Rechnung Bismarcks, der Kampf gegen den Papst würde sich für die deutsche Außenpolitik förderlich erweisen war nicht aufgegangen; Rußland hatte sich bereits Frankreich genähert (S. 113). Ebenso trog die Hoffnung, der von der preußischen, bayerischen und badischen Regierung unterstützte Altkatholizismus würde der römisch-katholischen Kirche schweren Abbruch tun; nach anfangs beträchtlichen Erfolgen sank er allmählich zu einer Sekte herab. Diese Mißerfolge sowie der Wunsch der Regierung und weiter Kreise der Bevölkerung, auch vieler Protestanten, nach einem Frieden zwischen dem Staat und der katholischen Kirche ließen die Beilegung des Kulturkampfes rätlich er29

Bismarcks Innenpolitik — Kulturkampf scheinen. Günstige Voraussetzungen hierfür begannen sich Ende der siebziger Jahre abzuzeichnen. Nach dem Tode Pius IX. folgte ihm am 20. Februar 1878 Papst Leo XIII., ein feingebildeter Humanist und maßvoller, kluger Diplomat; um dieselbe Zeit bahnte sich Bismarcks Zerwürfnis mit seinen Bundesgenossen im Kulturkampf, den Nationalliberalen, an (S. 51); er sann nun darauf, das Zentrum und die Konservativen, die großenteils, wenn auch nicht in dem Maße wie das Zentrum, die Kampfgesetze gegen die katholische Kirche mißbilligt hatten, als Stützen für seine Innenpolitik zu gewinnen. Der Ausgleich zwischen dem Vatikan und Berlin stieß nun freilich auf große Schwierigkeiten; der Papst konnte und wollte eine in die innerkirchlichen Verhältnisse eingreifende Unterordnung der Kirche unter den Staat nicht zugestehen, und dieser mußte ein Nachgeben vermeiden, das seine Autorität untergraben hätte. So beschränkten sich beide Seiten zunächst auf einen unverbindlichen, aber doch versöhnlichen Meinungsaustausch. Leo XIII. teilte seine Wahl noch am gleichen Tage dem Kaiser mit und bedauerte dabei, daß zur Zeit zwischen Preußen und dem päpstlichen Stuhl nicht die guten Beziehungen wie früher beständen. In seinem von Bismarck gegengezeichneten Antwortschreiben sprach der Kaiser die Hoffnung aus, „Ew. Heiligkeit werde mit dem mächtigen Einfluß, den die Verfassung Ihrer Kirche Ew. Heiligkeit auf alle Diener derselben gewährt, dahin wirken, daß auch diejenigen unter ihnen, welche es bisher unterließen, nunmehr den Gesetzen des Landes, in dem sie wohnen, sich fügen werden". Der Papst erwiderte am 17. April, das frühere gute Einvernehmen sei durch die Abänderung verschiedener in Preußen bestehender gesetzlicher und verfassungsmäßiger Bestimmungen wieder zu erreichen. Nach dem Attentat Nobilings am 2. Juni 1878 auf den Kaiser (S. 47) sprach Leo XIII. seine Teilnahme aus, Kronprinz Friedrich Wilhelm dankte ihm dafür als Stellvertreter seines verwundeten Vaters und kam dabei auch auf Leos XIII. Schreiben vom 17. April zurück: „Dem Verlangen, die Verfassung und die Gesetze Preußens nach den Satzungen der römisch-katholischen Kirche abzuändern, wird kein preußischer Monarch entsprechen können", weil die Unterordnung der Gesetzgebung unter eine außerhalb der preußischen Monarchie stehende Macht die Unabhängigkeit der Monarchie mindern würde, doch „bin ich gerne bereit, die Schwierigkeiten im Geiste der Liebe zum Frieden und der Versöhnung zu behandeln". Nach mehreren ergebnislosen Verhandlungen fand sich schließlich ein Ausweg, der zwar nicht sofort den Kulturkampf beendete, aber doch allmählich zur Versöhnung von Staat und Kirche führte. Mitte Juli 1879 trat Kultusminister Falk zurück. Sein Nachfolger Robert von Puttkammer leitete den Abbau der Kulturkampfgesetze durch ihre gelegentliche mildere Handhabung ein, deren genauere Reglung dann Bismarck in Angriff nahm. Gesetze vom 14. Juli 1880, vom Mai 1882 und April 1884 verliehen der Regierung „diskretionäre Vollmachten", die Befugnis, verschiedene Kulturkampfgesetze zu mildern oder nicht auszuführen. Die Regierung konnte auf diese Weise den Wünschen der Katholiken weit entgegenkommen, ohne etwas vom Prestige des Staates preiszugeben, da ja die Gesetze selbst nicht aufgehoben wurden. 30

Ausgleich zwischen Kirche und Staat Mit dieser Reglung gab sich der Vatikan nicht zufrieden; in mehreren Fällen kam es zu derartigen Meinungsverschiedenheiten, daß ein endgültiger Ausgleich unmöglich schien. Da bot der Streit um die Karolinen, die nach einer Vereinbarung mit England Deutschland zufallen sollten (S. 102), und auf die Spanien Anspruch erhob, Bismarck Gelegenheit, Leo XIII. für sich zu gewinnen. Bismardc ersuchte ihn, zwischen Deutschland und Spanien zu vermitteln und erhob keinen Einspruch, als der Papst im Oktober 1885 die Karolinen Spanien zusprach. Leo XIII. verlieh daraufhin Bismarck Ende Dezember den Christusorden in Brillanten, und der Kaiser dem Kardinalstaatssekretär des Vatikan den Schwarzen Adlerorden. In seinem Dankschreiben redete Bismardc den Papst mit Sire an; über die Anerkennung seiner Souveränität, die in dieser Bezeichnung lag, war Leo XIII. erfreut. Nach diesen Bezeugungen gegenseitigen Wohlwollens bedeutetete die Aufhebung von Kulturkampfgesetzen nicht mehr einen Prestigeverlust des preußischen Staates. Die eingefleischten Kulturkämpfer gingen allerdings von ihrem bisherigen Standpunkt nicht ab und hielten bei den Landtagsdebatten Bismardc seine Worte vom 14. Mai 1872 im Reichstag vor: „Seien Sie ohne Sorge: nach Canossa gehen wir nicht, weder körperlich noch geistig." Es ehrt Bismarck, daß er seinen Irrtum einsah und den durch den Kulturkampf angerichteten Schaden möglichst gutzumachen trachtete, wenig erfreulich ist dagegen die Art, wie er behauptete, die von ihm unterzeichneten Maigesetze nicht gelesen zu haben, wie er seinen Kampfgenossen Falk fallen ließ und überhaupt die Schuld an den Mißgriffen anderen zuschob. Ende April 1887 waren die Kulturkampfgesetze so weit abgebaut, daß Leo XIII. am 23. Mai verkünden konnte: „Dank der Hilfe Gottes ist eine langwierige und mühevolle Aufgabe gelöst, jener erbitterte Kampf, der die Kirche schädigte und dem preußischen Staat keineswegs nützte, ist beendet." In Bayern hatten die zunächst auch hier heftigen kirchenpolitischen Auseinandersetzungen schon mit Rücksicht auf die klerikale Partei im Landtag keine derartigen Ausmaße erreicht wie in Preußen. Als Lutz 1880 Ministerpräsident geworden war, begann er, seine kirchenfeindlichen Anordnungen zurückzunehmen. Ahnlich wie in Preußen hatte die katholische Kirche in Baden gelitten; ein beide Seiten befriedigender Ausgleich zwischen Kirche und Staat kam hier 1880 zustande. Hessen hielt sich teils unter Verschärfung, teils unter Milderung an das preußische Vorbild; großes Aufsehen erregte die wiederholte Verurteilung des Mainzer Bischofs Ketteier zu, wenn auch nur verhältnismäßig geringen, Geldstrafen. Nach seinem Tod im Juli 1877 währte es fast zehn Jahre, bis Ketteier einen Nachfolger erhielt und die Kulturkampfgesetze allmählich abgeschafft wurden. Aufrechterhalten blieb von den Kulturkampfgesetzen nur weniges: die den Kanzelparagraphen, das Verbot des Jesuitenordens und die Zivilehe betreffenden Reichsgesetze, in Preußen außerdem die Anzeigepflicht für endgültig anzustellende Pfarrer und die staatliche Schulaufsicht. Mit der Beendigung des Kulturkampfes waren die Wunden, die er geschlagen hatte, keineswegs geheilt. Vieles von dem, was geschehen war, ließ sich nicht wiedergutmachen. Immer wieder hielten sich alte Gegner in Wort und Schrift die früheren Herausforderungen und Kränkungen vor; lange blieb die Erinnerung 31

Bismarcks Innenpolitik — Kulturkampf lebendig an die schmachvolle Behandlung und Vertreibung beliebter und verehrter Priester und Ordensleute, an die Zeit, als ein großer Teil der Jugend ohne Religionsunterricht aufwuchs und Familienmitglieder ohne geistlichen Beistand sterben mußten. Und so traf Windthorsts Vorhersage (1880) ein: „Wenn man ein Volk zehn Jahre lang so gepeitscht hat, wie wir gepeitscht sind, so wird das in Generationen nicht vergessen." Vergessen wurde ebenfalls nicht der Widerstand des hohen und des niederen Klerus gegen die Kulturkampfgesetze. Bei den mannigfachen Berührungspunkten von Staat und Kirche sind Auseinandersetzungen zwischen ihnen auch späterhin unvermeidlich geblieben; wie ehedem erschienen dann gegenseitige Einwände und Forderungen als priesterliche oder als staatliche Herrschsucht und wurde auf den Widerstand der Geistlichen von einst als nachzuahmendes Vorbild oder als abschreckendes Beispiel hingewiesen. Auch die friedliche Verständigung von Katholiken und Protestanten hat der Kulturkampf erschwert. Obwohl auch unter den Protestanten nicht wenige ganz oder teilweise das Verhalten des Staates abgelehnt hatten, kam bei vielen Katholiken die Meinung auf, der Kulturkampf sei ein Vorstoß des Protestantismus gegen die katholische Kirche gewesen, und die Protestanten wären immer darauf bedacht, sie zu bekämpfen; während Protestanten, besonders liberal gesinnte, durch die Beilegung des Kulturkampfes zugunsten der Katholiken beunruhigt, im August 1886 den noch heute bestehenden „Evangelischen Bund zur Wahrung der deutschen protestantischen Interessen" gründeten. Der Wortlaut des Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit an sich läßt kaum begreifen, weshalb die Verkündigung dieses Lehrsatzes das deutsche Volk derart in seinen Tiefen aufwühlte und einen mit solcher Erbitterung und Leidenschaft geführten Kampf hervorrief. Daß seine Kirche über Fragen des Glaubens und der Moral zu entscheiden hat, ist für den Katholiken selbstverständlich; als eine Neuerung erschien allerdings, daß nun dem Papst die Befugnis zugesprochen wurde, ohne Einwilligung eines Konzils Lehren über den Glauben oder die Moral als für die ganze Kirche verbindliche und unabänderliche Dogmen festzusetzen; sich darüber zu ereifern, lag indes an und für sich nur Geistlichen und sich für theologische Fragen Interessierende nahe. Aber Pius IX. gab als Kennzeichen, daß eine Lehre als Dogma zu gelten habe, an: „wenn der römische Papst als Hirt und Lehrer a l l e r Christen spricht", und zuvor hatte er die Protestanten und andere Nichtkatholiken als „irrende Söhne" ermahnt, zur katholischen Kirche zurückzukehren. Dies kränkte und reizte natürlich die Protestanten, so daß sie in dem Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit nicht bloß eine katholische, sondern auch eine sie berührende Angelegenheit sahen. Die schwersten Bedenken erregte der Anspruch des Papstes auf die Entscheidung in Angelegenheiten der „mores". Denn nach seinen Enzykliken und nach dem Syllabus, die vor dem Vatikanischen Konzil erschienen waren, gab es im Geistesleben, in der bürgerlichen Gesellschaft und in der Politik kaum ein Gebiet, das nicht ganz oder zum mindesten in einigen wesentlichen Punkten unter den Begriff der „mores" fiel; und so befürchteten viele innerhalb und außerhalb der katholischen Kirche eine Flut neuer Dogmen ähnlich den bisherigen Verlautbarungen des Papstes. Davon, daß er selbst und 32

Ausgleich zwischen Kirche und Staat auch seine Nachfolger nur äußerst selten einen Glaubenssatz oder eine Morallehre als ein Dogma im Sinne des Vatikanums bezeichnen würden, hatten nur wenige eine Ahnung. So sind Besorgnisse, wie sie von katholischer Seite namentlich Döllinger äußerte, nicht erstaunlich. Auch das durch die Zeitereignisse stark emporgetriebene deutsche Nationalgefühl spielte mit herein. Nach den Siegen über Frankreich und der Reichsgründung war man gegen Versuche, sich von außen in deutsche Verhältnisse einzumischen, empfindlich geworden. Nun hatten hauptsächlich Protestanten und Liberale schon seit einiger Zeit Anstoß daran genommen, daß wie alle, so auch die deutschen Katholiken den Geboten und Verboten einer Macht unterworfen wären, die außerhalb Deutschlands, „ultra montes", jenseits der Berge, ihren Sitz hatte. Verschiedene programmatische Äußerungen des Papstes Pius IX. besonders in seinem Syllabus und vollends das Dogma von der päpstlichen Unfehlbarkeit schienen darauf abzuzielen, den Staat und die Reglung der bürgerlichen Gesellschaft, ja des ganzen Kulturlebens so sehr dem Papste und der römischen Kurie unterzuordnen, daß man den ihrer Kirche treu ergebenen Katholiken mit der Bezeichnung „Ultramontane" gewissermaßen ihr Deutschtum absprach. Allein schon die Beunruhigung der Bevölkerung gleich bei Ausbruch des Kulturkampfes mußte die Regierungen der deutschen Staaten mit überwiegend oder großenteils katholischer Bevölkerung zur Stellungnahme veranlassen; überdies berührten sich in diesen Ländern Kirchliches und Staatliches in einer Weise, daß in verschiedenen wichtigen Angelegenheiten eher eine Unterordnung der Kirche, und zwar auf Grund von Vereinbarungen mit Rom, bestand; das bayerische Konkordat von 1817 zum Beispiel hatte dem König das Plazet, also die Genehmigung zur Veröffentlichung und zur Durchführung kirchlicher Erlasse, die Ernennung der Bischöfe, der Hälfte der Domkapitulare und dergleichen zuerkannt; eine päpstliche Bulle von 1821 bestimmte für Preußen: die Bischöfe sind von den Domkapiteln zu wählen und vom Papst zu bestätigen, der König kann aus der ihm vorzulegenden Liste der für die Wahl in Betracht Kommenden ihm nicht genehme Kandidaten streichen, neue Domherren werden abwechselnd vom König ernannt oder von dem betreffenden Domkapitel gewählt. Infolge der engen Beziehungen zwischen Staat und Kirche waren im Kulturkampf Religiöses und Politisches von vornherein miteinander verflochten. So stellte die Zentrumsfraktion im Reichstag den Antrag auf eine Intervention des Reiches zugunsten des päpstlichen Besitzrechtes auf die Stadt Rom (S. 6), weil es sich hier, wie Windthorst in der Debatte geltend machte, um vitale Interessen der Katholiken handle; die „katholischen Deutschen haben Anspruch darauf, daß ihr geistliches Oberhaupt selbständig und unabhängig sei". Zwei Jahre später, im August 1873, als der Kulturkampf mit den Maigesetzen seinem Höhepunkt entgegenging, schrieb Pius IX. an Kaiser Wilhelm, falls er als König von Preußen die auf Vernichtung des Katholizismus abzielenden Maßregeln der Regierung billige, möge er bedenken, daß sie „den eigenen Thron seiner Majestät untergraben. Ich rede mit Freimut, denn mein Panier ist die Wahrheit, und ich rede, um eine meiner Pflichten zu erfüllen, die darin besteht, allen die Wahrheit zu sagen, auch denen, die nicht Katholiken sind, denn jeder, der die Taufe empfangen

3 Bühler, Deutsdie Geschichte, VI

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Bismarcks Innenpolitik — Ausbau der Reidiseinheit hat, gehört in irgendeiner Beziehung oder auf irgendeine Weise . . . dem Papste an." In einem Schreiben vom 3. September 1873 erwiderte der Kaiser: „Ich bin erfreut, daß Eure Heiligkeit mir wie in früheren Zeiten die Ehre erweisen, mir zu schreiben . . . Zu meinem tiefen Schmerze hat ein Teil meiner katholischen Untertanen seit zwei Jahren eine politische Partei (das Zentrum) organisiert, welche den in Preußen seit Jahrhunderten bestehenden konfessionellen Frieden durch staatsfeindliche Umtriebe zu stören sucht. Leider haben höhere katholische Geistliche diese Bewegung nicht nur gebilligt, sondern sich ihr bis zur offenen Auflehnung gegen die bestehenden Landesgesetze angeschlossen . . . Meine Aufgabe ist es, in den Staaten, deren Regierung mir von Gott anvertraut ist, den inneren Frieden zu sdiützen und das Ansehen der Gesetze zu wahren. Ich bin mir bewußt, daß ich über die Erfüllung dieser meiner königlichen Pflicht Gott Rechenschaft schuldig bin." „Die Äußerung, daß jeder, der die Taufe empfangen hat, dem Papste angehöre, kann ich nicht ohne Widerspruch übergehen . . . Der evangelische Glaube, zu dem ich mich gleich meinen Vorfahren und mit der Mehrzahl meiner Untertanen bekenne, gestattet uns nicht, in dem Verhältnis zu Gott einen anderen Vermittler als unseren Herrn Jesum Christum anzunehmen." „Zu meinem Bedauern verleugnen viele der Eurer Heiligkeit unterworfenen Geistlichen in Preußen das für Katholiken und Protestanten geltende christliche Gebot des Gehorsams gegen die weltliche Obrigkeit als einen Ausfluß des uns geoffenbarten göttlichen Willens" und „setzen meine Regierung in die Notwendigkeit, gestützt auf die große Mehrzahl meiner treuen katholischen und evangelischen Untertanen, die Befolgung der Landesgesetze durch weltliche Mittel zu erzwingen". So reihen zahlreiche Einzelheiten eines erbitterten Ringens weltanschaulich und politisch einander entgegengesetzter Kräfte und Persönlichkeiten, der Sieg einer von religiösen Beweggründen geleiteten geistigen Macht über die weltliche Mittel anwendende staatliche Gewalt und die sich daraus ergebenden Folgen, den Kulturkampf jenen geschichtlichen Ereignissen ein, die immer wieder die Aufmerksamkeit besinnlicher Menschen auf sich ziehen und je nach dem Standpunkt des Betrachters verschieden beurteilt werden.

AUSBAU DER REICHSEINHEIT Die Nationalliberalen Wie im Kulturkampf war Bismarck auch sonst bis gegen Ende der siebziger Jahre im Reichstag und im preußischen Abgeordnetenhaus auf die Zusammenarbeit mit den Nationalliberalen als der stärksten Partei angewiesen. Eine völlige Übereinstimmung zwischen ihnen und Bismarck in allen wesentlichen Fragen bestand freilich nicht. Während Bismarck darauf bedacht war, aufrechtzuerhalten, was er den Einzelstaaten an Rechten für ihr Eigenleben und für die Mitwirkung bei der Reichsgesetzgebung eingeräumt hatte, wollten die Nationalliberalen das

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Die Nationalliberalen. Reditseinheit ReicJi in einen straff gefügten Einheitsstaat ohne föderalistischen Einschlag umgestalten. Sie begnügten sich dann aber doch unter beiderseitigen Kompromissen mit dem allmählichen Ausbau von Maßnahmen, die, wie etwa im Justiz- und Münzwesen, die Einheit des Reiches förderten. Die von den Nationalliberalen erstrebte Parlamentarisierung der Reichsregierung dagegen bekämpfte Bismarck aufs schärfste. Außerdem war die Nationalliberale Partei nicht in sich geschlossen. Sie zerfiel in einen rechten und einen linken Flügel, die wohl im Grundsätzlichen übereinstimmten, aber nicht immer in ihrem Vorgehen. Den rechten Flügel führte Rudolf von Bennigsen. Er entstammte einem hannoverschen Adelsgeschlecht; mit seiner ruhigen, vornehmen Art, den gediegenen juristischen Kenntnissen, seinem Eintreten schon 1859 für die Einigung Deutschlands, zu der Preußen die Initiative ergreifen müsse, seiner reichen parlamentarischen Erfahrung erst als Abgeordneter in der zweiten Kammer Hannovers, hierauf im preußischen Abgeordnetenhaus und im Reichstag des Norddeutschen Bundes, und mit seiner eindrucksvollen, wenn auch nicht mitreißenden Sprechweise, galt Bennigsen als das Haupt der Nationalliberalen; er hat dann auch im Deutschen Reichstag wiederholt durchgesetzt, daß sie mit Bismarck zusammengingen. Der Führer des linken Flügels, Eduard Lasker aus Jarotschin (Posen), hatte sich 1848, damals neunzehnjährig, als Revolutionär in Breslau an den Straßenkämpfen beteiligt und die Zeitung „Der Sozialist" herausgegeben. Als er seine juristischen Studien beendet hatte, hielt er sich einige Jahre in England auf; nach Deutschland zurückgekehrt, trat er in den preußischen Staatsdienst ein. Von einem Berliner Bezirk wurde er 1865 zum Abgeordneten im preußischen Landtag gewählt. Hier Schloß er sich der Deutschen Fortschrittspartei an. Als diese 1866 auch noch nach dem Siege über Österreich in ihrer unbedingten Gegnerschaft wider Bismarck verharrte, beteiligte sich Lasker an der Gründung der Nationalliberalen Partei. Von jeher rastlos tätig, ging er nun völlig in der Politik auf. Durch seine Sachkenntnis, besonders in Verfassungsfragen, und durch die Meisterschaft, mit der er in weitausholenden wie in knapp gehaltenen Darlegungen und als schlagfertiger, oft bissiger und witziger Debatter das Wort beherrschte, übte Lasker namentlich auf die mehr oder weniger zur Opposition gegen die Regierung neigenden Mitglieder der Nationalliberalen Partei großen Einfluß aus. Lasker und seine Anhänger beschränkten sich jedoch keineswegs auf Kritik. Wie Bennigsen und der rechte Flügel der Nationalliberalen Partei trugen auch Lasker und der linke Flügel wesentlich zu der den Ausbau des Reiches fördernden Gesetzgebung bei. Reditseinheit Eine der vordringlichsten Aufgaben war die Schaffung des für das gesamte Reichsgebiet geltenden bürgerlichen Rechtes. Lasker und sechs weitere Abgeordnete stellten am 9. November 1871 im Reichstag den Antrag, die Kompetenz des Reiches auf das gesamte bürgerliche Recht, auf das gerichtliche Verfahren und auf das Strafrecht auszudehnen. Der Reichstag stimmte dem Antrag mit großer Mehrheit zu, aber der Bundesrat war für Ablehnung des Antrags, weil es nicht rätlich

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Bismarcks Innenpolitik — Ausbau der Reidiseinheit sei, an der eben vereinbarten Rexdisverfassung schon jetzt Änderungen vorzunehmen, und weil eine gleichheitliche Ordnung des Personen-, Familien- und Sachenrechtes den verschiedenartigen Verhältnissen in den einzelnen deutschen Staaten nicht gerecht werden könne. Nachdem sich im April 1873 der Reichstag wiederum für den Antrag Lasker entschieden hatte und ihm acht Monate später diesmal auch der Bundesrat zustimmte, wurde am 20. Dezember der Antrag Lasker im Namen des Kaisers als Reichsgesetz verkündet. Für das deutsche Rechtsleben war diese Verfassungsänderung von weittragender Bedeutung. Im einzelnen bedurfte die Durchführung der Rechtseinheit freilich noch einer zum Teil mit großen Schwierigkeiten verbundenen Reglung. Am langwierigsten gestaltete sich die Abfassung des Bürgerlichen Gesetzbuches. Im Juli 1874 beauftragte der Bundesrat eine Kommission mit der Ausarbeitung eines Entwurfes. Erst 1888 war er soweit fertiggestellt, daß er der Öffentlichkeit vorgelegt werden konnte. Da er wegen seiner keineswegs volkstümlichen Form und wegen seines sich hauptsächlich auf das römische Recht stützenden Inhalts allgemein Anstoß erregte, ernannte der Bundesrat eine neue Kommission. Ihrem Entwurf und dem Einführungsgesetz stimmten 1896 der Bundesrat und der Reichstag nach geringen Abänderungen zu; am heftigsten waren vom Zentrum, allerdings vergeblich, die Paragraphen über die obligatorische Zivilehe und über die Ehescheidung bei unheilbarer Geisteskrankheit eines der Gatten bekämpft worden. Das Einführungsgesetz regelte das gegenseitige Verhältnis von Reichs- und Landesgesetzgebung und bestimmte als Termin für das Inkrafttreten des Bürgerlichen Gesetzbuches den 1. Januar 1900, um den Einzelstaaten zu ermöglichen, daß sie während dieser Frist ihre Ausführungsgesetze zum BGB abschließen konnten. Verordnungen über die Presse standen nach der Reichsverfassung dem Reiche zu; am 10. Mai 1871 beschloß der Reichstag, den Reichskanzler um den Entwurf eines für das ganze Reichsgebiet geltenden Preßgesetzes zu ersuchen. Die Regierung ging nicht darauf ein. Im März 1873 legte der linksliberale Abgeordnete Eduard Windthorst, ein Vetter des Zentrumsführers, einen von dem siebten deutschen Juristentag gebilligten Entwurf dem Reichstag vor und wies dabei darauf hin, daß es um „die Aufhebung der Beschränkungen und Fesseln, die lange genug auf der Presse gelastet haben", gehe. Der Reichstag nahm in seiner Mehrheit den Antrag Windhorsts beifällig auf und gab den Entwurf an eine Kommission von 21 Abgeordneten weiter; die Reichsregierung hüllte sich auch diesmal in Schweigen. Nun reichte die preußische Regierung beim Bundesrat einen Pressegesetzentwurf ein. Als Einzelheiten davon bekannt wurden, erhob sich in der Öffentlichkeit, namentlich in der Presse, ein Sturm der Entrüstung. Der Bundesrat arbeitete daraufhin den preußischen Entwurf in einem mehr liberalen Sinne um, aber auch in dieser Form lehnte ihn der Reichstag ab. Schließlich führten Kompromisse zu dem Ergebnis, daß sich Bundesrat und Reichstag einigten. Das von ihnen angenommene Preßgesetz wurde am 7. Mai 1874 veröffentlicht. Die Bestimmungen wie die Aufhebung von Präventivmaßnahmen, die Unterstellung der Presse lediglich unter die allgemeinen Staats- und Strafgesetze, die Beschränkung der Beschlagnahme von Presseerzeugnissen auf Fälle von Hochverrat, Majestätsbelei36

Militärgesetzgebung digung, öffentliche Aufforderung zu einer strafbaren Handlung, Klassenverhetzung und Anreizung zum Klassenkampf, kamen den Wünschen nach Freiheit der Presse entgegen. Manche ihrer Forderungen haben die Liberalen allerdings nicht durchzusetzen vermocht; so besonders die Überweisung von Vergehen und Verbrechen der Presse ausnahmslos an Geschworenengerichte und die Wahrung des Redaktionsgeheimnisses durch Befreiung der Redakteure vom Zeugniszwang. — Auf ähnliche Weise wie das Preßgesetz kamen das Gerichtsverfassungsgesetz und die Straf- und Zivilprozeßordnung zustande, ihre Verkündigung erfolgte Ende Januar und Anfang Februar 1877. Als oberstes deutsches Gericht wurde 1879 das Reichsgericht in Leipzig errichtet. Das Urheberrecht für die wissenschaftliche und schöngeistige Literatur, für Werke der Tonkunst und für öffentliche Theateraufführungen war bereits durch ein Gesetz des Norddeutschen Bundes festgelegt, das dann vom Deutschen Reich übernommen wurde; von 1874 bis 1877 folgten das Markenschutzgesetz, das Gesetz über den Schutz des Urheberrechts für Werke der bildenden Künste und für photographische Aufnahmen, das Musterschutz- und das Patentgesetz, 1877 die Errichtung des Reichspatentamtes in Berlin für Erteilung, Nichtigkeitserklärung und Zurücknahme von Erfindungspatenten. Gesetze vom 4. Dezember 1871: die Mark als Rechnungseinheit, Reglung der Ausprägung von Goldmünzen; vom 1. Januar 1872: Einführung einheitlicher Hohl- und Flächenmaße und Gewichte nach dem Dezimalsystem; vom 9. Juli 1873: Einführung des einheitlichen Münzsystems auf der Grundlage der reinen Goldwährung, das Verschwinden der einzelnen Landesmünzen aus dem Verkehr bis 1878, brachten große Erleichterungen für das Wirtschaftsleben. Im übrigen jedoch befaßten sich Reichstag und Regierung zunächst verhältnismäßig wenig mit Wirtschaftsfragen, weil man im allgemeinen davon überzeugt war, der Freihandel wäre das beste Wirtschaftssystem, und die Entwicklung unmittelbar nach dem Krieg schien diese Meinung zu bestätigen. Militärgesetzgebung Zu den erbittertsten Kämpfen zwischen dem Parlament und der Reichsregierung führte die M i l i t ä r g e s e t z g e b u n g . Die Artikel 60 und 62 der Reichsverfassung bestimmten: „Die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres wird bis zum 31. Dezember 1871 auf ein Prozent der Bevölkerung von 1867 normiert . . . Für die spätere Zeit wird die Friedenspräsenzstärke des Heeres im Wege der Reichsgesetzgebung festgestellt." „Zur Bestreitung des Aufwandes für das gesamte deutsche Heer und die zu demselben gehörigen Einrichtungen sind bis zum 31. Dezember 1871 dem Kaiser jährlich sovielmal 225 Taler, als die Kopfzahl der Friedensstärke des Heeres nach Artikel 60 beträgt, zur Verfügung zu stellen." Auf Wunsch der Regierung verlängerte der Reichstag diese Reglung um drei Jahre. Mitte Februar 1874 fand dann die erste Lesung des Reichsmilitärgesetzentwurfes statt. In seiner Rede zur Begründung führte Moltke vor dem Reichstag 37

Bismarcks Innenpolitik — Ausbau der Reidiseinheit unter anderem aus: „Vielleicht daß eine spätere, glücklichere Generation, für welche wir im voraus die Lasten mittragen, hoffen darf, aus den Zuständen des bewaffneten Friedens herauszugelangen, welcher nun schon so lange auf Europa lastet. Uns, glaube ich, blüht diese Aussicht nicht. Ein großes weltgeschichtliches Ereignis wie die Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches vollzieht sich kaum in einer kurzen Spanne Zeit. Was wir in einem halben Jahre mit den Waffen errungen haben, das mögen wir ein halbes Jahrhundert mit den Waffen schützen, damit es uns nicht wieder entrissen wird. Darüber dürfen wir uns keiner Täuschung hingeben: wir haben seit unseren glücklichen Kriegen an Achtung überall, an Liebe nirgends gewonnen . . . Ich hoffe, wir werden eine Reihe von Jahren nicht nur Frieden halten, sondern auch Frieden gebieten. Vielleicht überzeugt sich dann die Welt, daß ein mächtiges Deutschland in der Mitte von Europa die größte Bürgschaft ist für den Frieden von Europa. Aber um Frieden zu gebieten, muß man zum Kriege gerüstet sein." Die Auseinandersetzungen bei der ersten und zweiten Lesung gingen nicht so sehr um die Höhe der Friedenspräsenzstärke der Armee und der für sie aufzuwendenden Mittel wie um das sogenannte Aeternat, um die Forderung der Regierung, im Reichsmilitärgesetz die Heeresstärke und die Aufwendungen dafür auf unbegrenzte Zeit festzulegen; denn dies wäre, wie Lasker betonte, „der völligen Vernichtung des Budgetrechtes des Reichstages gleich zu achten" gewesen. Schließlich einigte man sich auf Bennigsens Kompromißvorschlag: Bewilligung der von der Regierung beantragten Heeresstärke und der Mittel dafür in voller Höhe; aber nicht für jeweils nur ein Jahr, wie die Mehrheit des Reichstags ursprünglich gewollt hatte, und nicht für eine unbegrenzte Dauer, sondern auf sieben Jahre (Septennat), so daß sich die Regierung immer wieder nach Ablauf dieser Frist an den Reichstag wenden müsse. Auch der Kaiser gab sich damit zufrieden, da ja, wie er einem Vertrauten Bismarcks gegenüber bemerkte, sieben Jahre heutzutage eine Ewigkeit seien. Als der Reichstag und der Bundesrat dem umfangreichen Militärgesetzentwurf nach verschiedenen Änderungen zugestimmt hatten, von denen das Septennat die wichtigste war, verkündete der Kaiser am 2. Mai 1874 im Namen des Deutschen Reiches das Militärgesetz, dessen erster Paragraph lautete: „Die Friedenspräsenzstärke des Heeres an Unteroffizieren und Mannschaften beträgt für die Zeit vom 1. Januar 1875 bis zum 31. Dezember 1881 401 659 Mann. Die Einjährig-Freiwilligen kommen auf die Friedenspräsenzstärke nicht in Anrechnung." Damit war die von Lasker befürchtete Vernichtung des Budgetrechtes vermieden worden; bildete doch das Heerwesen den wichtigsten Teil des Budgets; von den ordentlichen Ausgaben des Reiches, die 1874 etwas über 344 Millionen Mark betrugen, fielen auf Heer und Flotte 287,5 Millionen. Der Regierungsvorschlag für das zweite Septennat, Erhöhung der Friedenspräsenzstärke auf 427 000 Mann und der jährlichen Heeresausgaben um 27 Millionen, ging hauptsächlich mit den Stimmen der Nationalliberalen durch. Dagegen kam es wegen der Festsetzung der Friedenspräsenzstärke 1887 und dann wieder 1893 zur Auflösung des Reichstages und „damit zu heftigen Wahlkämpfen und schweren Erschütterungen in Deutschland, die längere Bewilligungsperiode (das Septennat) steigerte auf seiten der Regierung die Forde38

Reidisämter rungen, auf Seiten des Reichstags die Bedenken, denselben zu willfahren" (Eugen Richter). Man kann daraus schließen, zu welchen Kämpfen ein jährliches Bewilligungsrecht geführt hätte, und daß dies für die Aufrechterhaltung eines schlagkräftigen Heeres höchst unzuträglich gewesen wäre. Mit dem Verzicht auf die jährliche Diskussion über den Heeresetat gab der Reichstag allerdings ein wichtiges parlamentarisches Recht aus der Hand, was wesentlich dazu beigetragen hat, daß sich in Deutschland bis 1918, bis zum Ende des Ersten Weltkrieges, ein wirklich demokratisches System nicht durchsetzen konnte.

Reidisämter Auf Grund der Reichsverfassung erhielten die höheren Reichsbeamten ihre Bestallung unmittelbar vom Kaiser, die übrigen in seinem Namen. Während der siebziger Jahre wurde eine Reihe von R e i c h s ä m t e r n errichtet, als eines der ersten 1873 das Reichseisenbahnamt, das sich aber gegen die Verkehrsministerien der Einzelstaaten und die Direktionen der Privatbahnen nicht durchzusetzen vermochte; es ist, wie Bismarck einige Jahre später bemerkte, „eine begutachtende, beratende, bittende Behörde geworden, die sehr viel schreibt und tut, ohne daß ihr jemand Folge leistet". Die Reglung des Postwesens war bereits durch die Reichsverfassung dem Reiche übertragen worden, nur Bayern und Württemberg unterstanden auf Grund ihrer Reservatrechte nicht der Reichspostverwaltung. Der Kaiserliche Generalpostdirektor Heinrich von Stephan entfaltete eine großzügige organisatorische Tätigkeit und führte unter anderem als Neuerung die Postkarte, die Postanweisung und den Postauftrag ein, 1874 regte er einen internationalen Postkongreß an, der in Bern tagte und als Ergebnis den Weltpostverein zeitigte; 1876 vereinigte Stephan die Telegraphenverwaltung mit der Post, 1880 wurde er Staatssekretär des neu errichteten Reichspostamtes und damit einer der höchsten Reichsbeamten. Fünf der obersten Reichsbehörden wurden von Staatssekretären unter dem Reichskanzler als Chef geleitet: das Auswärtige Amt, das Reichsamt des Innern (seit 1879 die offizielle Bezeichnung des Reichskanzleramtes), das Reichsjustizamt, das Reichsschatzamt und das Reichspostamt. Der Rechnungshof des Deutschen Reiches mit dem Sitz in Potsdam, als preußische Oberrechnungskammer ursprünglich eine rein preußische Behörde, wurde 1872 zugleich eine der obersten Reichsbehörden, die den Reichshaushalt und unter anderem die Reichsbank zu überprüfen hatte. Von der Reichsregierung war der Rechnungshof unabhängig, sein Präsidium wurde vom Bundesrat ernannt. In Preußen waren Heer und Kriegsmarine unter e i n e m Minister gestanden. Anfang Januar 1872 wurde für die Kriegsmarine die Kaiserliche Admiralität als eine oberste Reichsbehörde geschaffen, für deren Verwaltung der Reichskanzler die Verantwortung zu tragen hatte. Der erste Chef der Kriegsmarine war Albrecht von Stosch, der als Generalintendant des Heeres im deutsch-französischen Krieg das Verpflegungswesen hervorragend geleitet hatte. 39

Bismarcks Innenpolitik — Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik Die Liberalen und die Fortschrittspartei erstrebten die Umwandlung der obersten Reichsbehörden, der Staatssekretariate, in Reichsministerien, deren Vorstände als Reichsminister der Reichstagsmehrheit entnommen werden oder ihr wenigstens nahestehen und dem Reichstag verantwortlich sein sollten. Eine günstige Gelegenheit, auf diese Weise die Parlamentarisierung der Verfassung zu erreichen, schien sich 1878 zu bieten, als Bismarck dem Bundesrat und, nach dessen Zustimmung, dem Reichstag einen Gesetzentwurf über eine Stellvertretung des Reichskanzlers vorlegte. Die Verfechter des Parlamentarismus hofften nun, Bismarck werde auf ihre Forderungen, namentlich die nach einem Reichsfinanzminister, eingehen, um eine sichere Mehrheit für seinen Antrag zu erzielen. Nach erregten Auseinandersetzungen im Reichstag, bei denen Bismarck jeden Versuch, die Verfassung im parlamentarischen Sinne abzuändern, entschieden zurückwies, stimmte der Reichstag trotzdem mit großer Mehrheit für die Vorlage Bismarcks. Am 17. März erfolgte die Verkündigung des Reichsgesetzes: für den gesamten Umfang der Geschäfte und Obliegenheiten des Reichskanzlers kann ein Stellvertreter, Vizekanzler, ernannt werden; außerdem können die Chefs der obersten Reichsbehörden mit der Stellvertretung des Reichskanzlers im ganzen Umfang oder in einzelnen Teñen ihres Amtsbereiches beauftragt werden, doch bleibt es dem Reichskanzler vorbehalten, auch während der Dauer einer Stellvertretung jede Amtshandlung selbst vorzunehmen. — Die in den siebziger Jahren geschaffenen Reichsbehörden bewährten sich im großen und ganzen gut. Der Parlamentarisierung und damit der Demokratisierung leisteten sie allerdings keinerlei Vorschub, sie wirkten eher entgegengesetzt.

VON DEN GRÜNDERJAHREN ZUR SCHUTZZOLLPOLITIK Gründerjahre und Depression, Zweifel am Freihandel Die gespannte internationale Lage gegen Ende der sechziger Jahre hatte nicht nur in Deutschland die Wirtschaft stark beeinträchtigt. Nach dem deutsch-französischen Krieg wurde, zumal da man auf einen langwährenden Frieden rechnete, die Depression durch eine Hochkonjunktur abgelöst. In Deutschland trugen dazu auch die Milliarden der französischen Kriegsentschädigung bei. Ungefähr die Hälfte davon wurde zur Rückzahlung der Anleihen und sonstiger Aufwendungen für den Krieg an die Einzelstaaten verwendet (S. 15). Die von diesen daraufhin herausgegebenen Effekten (Wertpapiere) und die für die Wiederinstandsetzung der Heeresausrüstung und der Festungen und für den Kasernenbau bestimmten Summen bewirkten eine außerordentliche Belebung des Geldmarktes. Von diesem Geld wurde überdies ein beträchtlicher Teil vorerst zu niederen Zinsen an Banken ausgeliehen, weil die Zahlungen aus Frankreich rascher einliefen, als sie für die vorgesehenen Zwecke aufgebraucht werden konnten. Der jetzt einsetzende Ubergang zur Goldwährung schien dem Geldmarkt eine feste Grundlage zu bieten; 40

Gründerjahre und Depression durch die Kriegsentschädigung kam viel Gold nach Deutschland; außerdem hatte es durch Ausfuhr von Erzeugnissen der Industrie und der Landwirtschaft Teil an der Goldgewinnung, die sich infolge neuer Funde, besonders in Alaska und in Südafrika, rasch steigerte. So waren alle Voraussetzungen für eine Hochkonjunktur und für die in der Regel mit ihr verbundene Neugründung wirtschaftlicher Unternehmungen gegeben. Dabei pflegt es zu allerlei bedenklichen Begleiterscheinungen zu kommen. Daß sie in den nun folgenden Gründerjahren derart überhandnehmen konnten, lag an der durch keinerlei gesetzliche Maßnahmen eingeschränkten Gewerbefreiheit und besonders an der maßlosen Uberbewertung der Aktiengesellschaften und an dem seit dem 13. Juni 1870 zunächst für das Gebiet des Norddeutschen Bundes geltenden und dann auch bald von den süddeutschen Staaten übernommenen neuen Aktiengesetz. Es schrieb keine staatliche Genehmigung und Aufsicht der Aktiengésellschaften vor, auch keine Haftpflicht der Verwaltungs- und Kontrollorgane. Verlangt war nur die Eintragung des Gesellschaftsvertrages in das Handelsregister und zuvor die Einzahlung von zehn Prozent des Wertes der Aktien; selbst dieser Verpflichtung, die den Inhabern der Aktien nur eine sehr geringe Sicherheit bot, wußte sich die Mehrzahl der Aktiengesellschaften zu entziehen. Obwohl einen Monat nach Erlaß des Aktiengesetzes der deutsch-französische Krieg ausbrach, wurden in der zweiten Hälfte des Jahres 1870 in Preußen 34 neue Aktiengesellschaften gegründet, im nächsten Jahr 225 und 1872 ungefähr 500. Am meisten begehrt waren schon seit der Mitte der fünfziger Jahre die Eisenbahnaktien gewesen. Dabei hatte sich ein in seinen Folgen verhängnisvolles System herausgebildet, dem dann das Aktienrecht von 1870 noch mehr Vorschub leistete. Nach dem Vorbild des Engländers Peto übertrugen die Aktiengesellschaften den gesamten Bau einer Eisenbahn jeweils einem einzigen Unternehmer und bezahlten ihn nicht in bar, sondern mit ihren Aktien, deren Nennwert in der Regel nicht einmal zum zehnten Teil gedeckt war. Die Unternehmer führten ihren Auftrag möglichst wohlfeil aus und trieben durch mehr oder weniger schwindelhafte Finanzoperationen den Wert der Aktien in die Höhe, um sie dann vorteilhaft zu verkaufen. In Preußen hätte diesem Treiben ein Riegel vorgeschoben werden können, weil hier die Gründung einer Eisenbahnaktiengesellschaft vom Handelsministerium genehmigt werden mußte. Nun war aber seit 1862 der in diesen Dingen völlig versagende Heinrich Graf von Itzenplitz preußischer Handelsminister. Er empfahl das Peto-System und erteilte die Konzession für Eisenbahngesellschaften sehr nach seiner Gunst, besonders an den Geheimrat Hermann Wagener, an Wilhelm Fürst von Putbus und an Gustav Biron Prinz von Kurland. Wagener trieb mit seinen Konzessionen einen gewinnbringenden Handel, der Fürst und der Prinz ließen sich, unerfahren in geschäftlichen Dingen, mit zweifelhaften Elementen ein und beteiligten sich an üblen Machenschaften, ohne sie zu durchschauen. Da hinter diesen so hochangesehene Namen standen, stiegen die Eisenbahnaktien derart, daß ihr tatsächlicher Wert in keinem Verhältnis zu den von Käufern der Aktien erhofften Erträgnissen standen. Nachdem der nationalliberale Eduard Lasker (S. 35) im preußischen Abgeordnetenhaus wiederholt auf 41

Bismarcks Innenpolitik — Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik

die Mißstände im Handelsministerium hingewiesen hatte und seine Angaben durch eine Kommission, welche die Entstehungsgeschichte von 26 Bahnen untersuchte, im wesentlichen bestätigt worden waren, trat Itzenplitz im Mai 1873 von seinem Amte zurück, Wagener mußte seinen Abschied nehmen. Ähnliche Erscheinungen wie beim Eisenbahnwesen zeigten sich in fast allen Zweigen des Wirtschaftslebens. Bereits bestehende angesehene und eine Menge neuer Banken wurden „Gründerbanken", die Unternehmungen mancherlei Art auf einer meist wenig tragfähigen Basis in die Wege leiteten. In einer Reihe größerer Städte, namentlich in Berlin, brach eine förmliche Bauwut aus; errichtet wurden hauptsächlich Miethäuser in geschmackloser und schlechter Ausführung. Die Aktien der „Zentralbank für Bauten" erreichten einen Kurs von 420 und eine Dividende von 43 Prozent. In Preußen nahm die Zahl der Hochöfen, Eisenhütten und Maschinenfabriken so zu, daß ihre Produktionsfähigkeit weit über den deutschen Bedarf und über die Ausfuhrmöglichkeiten hinausging. Bau- und Fabrikarbeiter verdienten wie noch nie, Berliner Bauarbeiter wöchentlich bis zu 30 Talern, und schon suchten Arbeiter der verschiedensten Zweige unter dem Eindruck der Scheinblüte durch Streiks noch höhere Löhne und eine kürzere Arbeitszeit zu erzwingen. Infolge des Mißverhältnisses von fiktiven und realen Werten konnte die Hochkonjunktur nicht lange anhalten und mußte in einer Katastrophe enden. Eingeleitet wurde sie im Mai 1873 durch den schweren Wiener Börsenkrach; in Österreich galt ein dem preußischen ähnliches Aktienrecht; dort hatte gegen Ende der sechziger Jahre das Gründungsfieber um sich gegriffen. Aktien und sonstige Papiere mit einem Nennwert von sechs Milliarden wurden binnen zwei Jahren wertlos. Nachdem es auch noch in New York während des Septembers zu einem Bankkrach, zur Verschleuderung von Wertpapieren und zu Bankrotterklärungen gekommen war, schwand in Deutschland das seit dem Wiener Börsenkrach erschütterte Vertrauen auf die Fortdauer der Hochkonjunktur vollends dahin. Vom Oktober bis Dezember häuften sich in Berlin, Hamburg, Leipzig, Breslau, Köln, München und anderen Städten die Liquidationen und Konkurse von Banken, Eisenbahnen, Fabriken, Baugesellschaften, Brauereien und dergleichen. Dadurch büßten Reiche ihr Vermögen ganz oder zum größten Teil ein, weniger Wohlhabende ihre in Aktien angelegten Ersparnisse, die Aufträge für Gewerbetreibende gingen erschreckend zurück; soweit die Arbeiter nicht ausgestellt wurden, mußten sie bei der nun um sich greifenden Arbeitslosigkeit empfindliche Lohnkürzungen hinnehmen. Die Katastrophenjahre verschlangen natürlich nicht alles, was früher und während der Gründerzeit geschaffen war; abgesehen von den schwindelhaften, konnte sich die Mehrzahl der größeren Unternehmungen, freilich oft unter recht schwierigen Verhältnissen, behaupten, und so manche der von der Gründerzeit ausgegangenen Antriebe des Wirtschaftslebens erwiesen sich als lebensfähig und wirkten weiter. Dem scheinbaren Uberfluß an Geldmitteln folgte nun, allerdings international, Kapitalarmut und damit der Hochkonjunktur eine Depression. Deutschland gelang es erst am Ende der siebziger Jahre, die Wirtschaftskrise völlig zu überwinden. 42

Zweifel am Freihandel

Die Rückschläge des Jahres 1873 vermochten den Glauben an die Vorzüge des Freihandels vorerst nicht zu erschüttern; Regierung und Reichstag beschränkten sich darauf, in der bisherigen Weise die das Wirtschaftsleben fördernde und sichernde Gesetzgebung fortzuführen. In Deutschland gab es 32 zur Ausgabe von Banknoten berechtigte, „Zentralbanken" genannte Notenbanken, was mancherlei Schwierigkeiten und Mißstände im Geldverkehr zur Folge hatte. Eine erzwungene Zentralisierung wäre auf den Widerstand der Einzelstaaten gestoßen. Die Reichsregierung suchte deshalb durch ein Bankgesetz Abhilfe zu schaffen, das die Deckung der Banknoten durch Metall und eine Reichssteuer auf ungedeckte Banknoten vorschrieb. Nachdem der Reichstag und der Bundesrat zugestimmt hatten, konnte am 14. März 1875 das Gesetz verkündet werden. Kurz darauf regten mehrere Einzelstaaten und zahlreiche Abgeordnete des Reichstags die Gründung einer Reichsbank an, von der man sich vor allem eine Belebung der Industrie und damit mehr Beschäftigungsmöglichkeiten für die Arbeiter erwartete. So trat 1876 die Reichsbank an die Stelle der seit 1765 bestehenden Preußischen Bank, sie war ursprünglich eine Staatsbank, wurde später ein im wesentlichen privates Unternehmen, von dessen Gewinn ein beträchtlicher Teil an den preußischen Staat fiel; Preußen und die bisherigen Eigentümer und Aktionäre der aufgelösten Preußischen Bank erhielten angemessene Entschädigungen. Die Reichsbank wurde als Aktiengesellschaft mit ausschließlich privatem Kapital gegründet, unterstand aber der Aufsicht und Leitung des Staates, des Reichskanzlers. Die Reichsbank entfaltete eine sehr rege und vielseitige Tätigkeit; 182 Filialen hatte sie von der Preußischen Bank übernommen, binnen zehn Jahren vermehrten sie sich auf 230. Die Zahl der Notenbanken ging rasch auf 15, ungefähr die Hälfte ihres früheren Bestandes, zurück; sie durften nun insgesamt Banknoten für 135 Millionen Mark ausgeben und zwar nur Noten mit dem Mindestbetrag von 100 Mark, die Reichsbank konnte aber bis zu 250 Millionen Mark in Umlauf setzen. Durch diese und ähnliche Maßregeln besserten sich die Geldverhältnisse erheblich, besonders auch, weil die Reichsbank mit der Hortung von Gold die Währung sicherte. Durch großzügige Beschaffung von Staatskrediten trug die Reichsbank viel zur Überwindung der Depression nach den Gründerjahren bei. Die der Scheinblüte von 1871/1873 folgende Depression erweckte allmählich Zweifel an der Zweckmäßigkeit des Freihandelssystems für die damalige Wirischaftssituation. Der Einfuhrzoll für Roheisen war 1873 aufgehoben worden; die Folge war, daß im Laufe der nächsten Jahre über die Hälfte der Hochöfen ausgeblasen werden mußte, da die größeren Eisenwerke überwiegend aus England eingeführtes Eisen verarbeiteten. Zum 1. Januar 1877 trat die Aufhebung der Einfuhrzölle auch für verarbeitetes Eisen in Kraft. Ein Antrag der Eisenindustriellen, der dies verhindern wollte, wurde vom Reichstag abgelehnt, und nun konnten England, Belgien und Frankreich Eisenwaren in größerem Ausmaße als je nach Deutschland exportieren. Um 1860 hatte die Ausfuhr landwirtschaftlicher Produkte aus Deutschland einen großen Aufschwung genommen, und so hielten die Agrarier am Freihandel noch fest, als die Industriellen sich von ihm abzuwenden begannen; aber in den siebziger Jahren machte sich die Einfuhr landwirtschaft43

Bismarcks Innenpolitik — Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik licher Erzeugnisse in steigendem Maße fühlbar, und als 1879/1880 aus den Vereinigten Staaten von Amerika 324 000 Tonnen Weizen und 160 000 Tonnen Mais, ferner große Mengen Getreide aus Rußland und Ungarn nach Deutschland kamen, waren auch die Landwirte gegen den Freihandel und für eine Schutzzollpolitik. Die seit Ende 1873 anhaltende Depression im gesamten Wirtschaftsleben und der von der massenhaften Einfuhr ausgehende Preisdrude beeinträchtigten die Einkünfte der deutschen Einzelstaaten und des Reiches empfindlich. In Preußen, dem größten mit seiner Industrie im Westen und der Landwirtschaft im Osten wirtschaftlich stärksten Staate, hatte zum Beispiel der Etat von 1873 einen Uberschuß von 83 Millionen Mark, drei Jahre später nur noch 0V2 Millionen, und es war vorauszusehen, daß er vom nächsten Jahre an Fehlbeträge aufweisen werde. Im Reichshaushalt gingen ebenfalls die Einnahmen zurück und stiegen die Ausgaben so, daß hier neue Wege für einen Ausgleich gefunden werden mußten.

Bismarcks Vorbereitungen Abkehr vom Freihandel.

für die Erhöhung der Reichseinnahmen und die Die Ereignisse um Bismarcks Urlaub 1877/1878

Bismarck verschloß sich den Stimmen nicht, die die Abkehr vom Freihandel als einer der Ursachen der Depression forderten. Insbesondere lag ihm natürlich das Problem der Staatseinnahmen mit seiner politischen Seite am Herzen, und indem er die Freihandelspolitik aufgab, verschaffte er nicht nur der deutschen Wirtschaft den nötigen Schutz, sondern eröffnete dem Reich gleichzeitig beträchtliche Einnahmequellen. Bereits im November 1875 hatte er vor dem Reichstag auf die Notwendigkeit einer „totalen Steuerreform inklusive Zollreform" hingewiesen. Er hielt es jedoch nicht für geraten sofort einzugreifen, weil eine Änderung des bisherigen Wirtschaftssystems mit mancherlei Schwierigkeiten verbunden war und zu einem Umschwung der innerpolitischen Verhältnisse, zumal im Reichstag, führen mußte und beides einer gründlichen Vorbereitung bedurfte. Seit der Gründung des Reiches war Rudolf Delbrück Präsident des Reichskanzleramtes. Er war ein ausgesprochener Liberaler und unbedingter Anhänger des Freihandelssystems, nach dessen Rat sich Bismarck in wirtschaftlichen Angelegenheiten zu richten pflegte. Im April 1876 erbat und erhielt Delbrück seinen Abschied, nachdem es zu Meinungsverschiedenheiten gekommen war, wohl hauptsächlich wegen Bismarcks Versuch, das Eisenbahnwesen völlig der Reichsregierung zu unterstellen und ihr so zu reichlichen, vom Budgetrecht des Reichstags unabhängigen Einnahmen zu verhelfen. Bald darauf vollzog sich bei den Konservativen ein grundlegender Wandel. Die Altkonservativen hatten sich seit 1866 gegen Bismarck gestellt: gegen seine auf die Gründung des kleindeutschen Reiches abzielenden Bestrebungen, gegen Preußens Eingliederung in das Reich, gegen die zum großen Teil liberale Gesetzgebung und gegen das im Kulturkampf erlassene Schulaufsichtsgesetz. Erst im Juli 1876 entschloß sich die Konservative Partei zu einer Umorganisation und nannte sich nun Deutsch-Konservative Partei, womit die Konservativen zum Aus44

Abkehr vom Freihandel. Bismarcks Urlaub 1877/78

druck brachten, daß sie ihr Widerstreben gegen das neue Reich aufgaben. Weder das Ausscheiden Delbrücks aus seinem Amt, noch die Umstellung der Konservativen wiesen auf einen Wandel der Wirtschaftspolitik hin. Aber daß nun die Konservativen als Stützen Bismarcks in Betracht kommen konnten, Schloß die Möglichkeit in sich, Bismarck werde künftig im Reichstag nicht mehr so wie bisher auf die Stimmen der Liberalen angewiesen sein, und das Ausscheiden Delbrücks hatte zur Folge, daß sich Bismarck weit mehr als früher selbst mit wirtschaftlichen Fragen befaßte. In diese Zeit fiel auch Bismarcks Streit mit Stosch, seit 1872 Chef der deutschen Kriegsmarine. Schon vorher war es zwischen ihm und Bismarck wiederholt zu Spannungen gekommen. Nun aber gab es ernstere Konflikte, verursacht einerseits durch Anweisungen Bismarcks an die Marine unter dem Gesichtspunkt seiner Außenpolitik, andererseits durch die Rücksicht, die Stosch bei seinen Aufwendungen für den Schiffsbau, für die Errichtung der Marineakademie, der deutschen Seewarte und von Auslandsstationen für die deutschen Kreuzer auf den Reichskanzler zu nehmen hatte. Vor allem aber sah Bismarck in dem mit dem Kronprinzen befreundeten, organisatorisch außerordentlich begabten Stosch seinen gefährlichsten Gegner, der ihn nach dem Tode des hochbetagten Kaisers verdrängen könnte, um selbst Reichskanzler zu werden. Bei Debatten im Reichstag über das Flottenbudget griff Bismarck im März 1877 Stosch in einer Weise an, daß dieser seine Entlassung erbat, die ihm jedoch der Kaiser verweigerte. Nun reichte Bismarck sein Entlassungsgesuch ein — der Kaiser beantwortete es mit „Niemals". Verstimmung über das Verbleiben von Stosch im Amte, angegriffene Gesundheit und das Bedürfnis, sich in Ruhe über den geplanten Umschwung seiner Innenpolitik klar zu werden, veranlaßten Bismarck, den Kaiser um Urlaub zu bitten. Er wurde auf unbestimmte Zeit gewährt. Bismarck verbrachte ihn auf seinem Gut Varzin in Pommern und dehnte ihn auf zehn Monate aus, von Mitte April 1877 bis Mitte Februar 1878. Bismarck hatte schon im Februar 1877 Otto Camphausen, Vizepräsidenten des preußischen Staatsministeriums, preußischen Finanzminister und einen der Vertreter Preußens im Bundesrat, aufgefordert, für eine Steuer- und Zollreform, besonders auch für indirekte Steuern auf Tabak, Bier, Wein und dergleichen einzutreten, und dabei betont, die deutsche Industrie müsse wirksam geschützt werden gegen Benachteiligung, die ihr durch die Zoll- und Steuereinrichtungen der anderen Staaten bereitet werden. Ohne die Zustimmung der Liberalen glaubte indes Bismarck seine Reformpläne vorerst nicht durchsetzen zu können. Er lud deshalb Bennigsen zweimal nach Varzin ein und bot ihm bei den Besprechungen im Juli und Dezember 1877 die Ernennung zum preußischen Innenminister an, um so wenigstens den rechten Flügel, damals die Mehrheit der Nationalliberalen, für sich zu gewinnen. Bennigsen wünschte dagegen Finanzminister zu werden; außerdem verlangte er auf Drängen einiger seiner Parteigenossen, daß zwei weitere preußische Ministerien Nationalliberalen überlassen würden, und schlug dafür in völliger Verkennung der Lage Reichstagsabgeordnete vom linken Flügel seiner Partei vor. Obwohl Bismarck wußte, daß der Kaiser mit einer der-

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Bismarcks Innenpolitik — Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik artigen Neubesetzung der Ministerien keineswegs einverstanden sein würde, und er selbst auch die zwei Linksliberalen ablehnte, rechnete er immer nodi mit der Möglichkeit, Bennigsen werde sich zum Eintritt in das Ministerium bereit finden; zumal da Bismarck ihm gesagt hatte, die Frage, ob er das Innen- oder Finanzministerium übernehmen wolle, sei gleichgültig. Am 22. Februar 1878, kurz nach Beendigung von Bismarcks Urlaub, kamen im Reichstag die von Camphausen ausgearbeiteten Steuerpläne zur Sprache. Es ging dabei um eine wesentliche Erhöhung der Einnahmen des Reiches, namentlich durch die Tabaksteuer, und um die Entlastung der Einzelstaaten von den nach ihrer Bevölkerungszahl aufzubringenden Matrikularbeiträgen an das Reich. Die Nationalliberalen waren nicht abgeneigt, auf Camphausens Vorschläge einzugehen, wobei sie freilich die Einführung eines verantwortlichen Reichsfinanzministers verlangten. Dazu forderten sie, für den Fall der Aufhebung der Matrikularbeiträge und der Uberweisung von Überschüssen der Reichseinnahmen an die Einzelstaaten, die Wahrung des Budgetrechtes nicht nur für den Reichstag, sondern auch für das preußische Abgeordnetenhaus, weil nämlich Preußen bisher die höchsten Matrikularbeiträge hätte leisten müssen und daher den größten Anteil an den Überschüssen erhalten würde. Diese auf eine Parlamentarisierung abzielenden Forderungen wies Bismarck, wie zu erwarten, in der Debatte zurück. Überdies reizte er die Nationalliberalen durch seine Bemerkung, bei der Erhöhung der Tabaksteuer handle es sich nur um einen „Durchgangspunkt", das Endziel sei das staatliche Tabakmonopol. Nun wurde in Deutschland infolge der bisher niederen Besteuerung des Tabaks soviel geraucht, daß über 100 000 Arbeiter in der Tabakindustrie beschäftigt waren, der Großhandel, hauptsächlich in Bremen, sehr gut und Abertausende im Kleinhandel mehr oder weniger gut verdienten. Einen derartigen Wirtschaftskomplex verstaatlichen zu lassen, widersprach den freihändlerischen Grundsätzen des Liberalismus. Bennigsen ersuchte Bismarck schließlich, von ihm bei einer Neubesetzung preußischer Ministerposten abzusehen. Zu diesem Schritt dürfte ihn weniger Bismarcks Bemerkung über das Tabakmonopol, das ja eigentlich nicht zur Debatte stand, veranlaßt haben, als vielmehr die Einsicht, daß die Aufnahme wenigstens noch eines der von ihm vorgeschlagenen zwei Linksliberalen in das preußische Minsterium zunächst ausgeschlossen war. Übrigens glaubten Bennigsen und andere führende Liberale, Bismarck werde im Reichstag auch fernerhin vor allem auf ihre Unterstützung angewiesen sein und deshalb schließlich doch ihren Wünschen entgegenkommen; die innerpolitische Entwicklung nahm jedoch einen von ihnen nicht erwarteten Verlauf.

Die Attentate und das Sozialistengesetz von 1878 Am 11. Mai 1878 gab der zwanzigjährige Klempnergeselle Hödel auf den Kaiser zwei Schüsse ab, die ihr Ziel verfehlten. Hödel, ein völlig haltloser Mensch, in einer Zwangserziehungsanstalt aufgewachsen, war von niemand zu diesem At46

Kaiserattentate. Sozialistengesetz tentât angestiftet worden, doch lag nahe, es auf die Art zurückzuführen, wie die Sozialdemokraten zum Klassenkampf aufforderten. Unmittelbar nach dem Attentat entschloß sich Bismarck, ein Ausnahmegesetz gegen die Sozialdemokratie zu veranlassen, womit er aber zunächst die Liberalen mehr noch als die Sozialdemokraten zu treffen beabsichtigte. Lothar Bucher, Geheimrat im Auswärtigen Amt, verfaßte einen in jeder Hinsicht mangelhaften und, da er sich die englische Parlamentsakte gegen einen irischen Geheimbund zum Vorbild genommen hatte, für deutsche Verhältnisse ganz ungeeigneten Entwurf für das Ausnahmegesetz. Als am 24. Mai schon der erste Paragraph mit 251 gegen 57 Stimmen abgelehnt wurde, verzichtete die Regierung auf jede weitere Abstimmung und damit auf das Gesetz. So war Bismarcks Absicht gescheitert, die Nationalliberalen zu kompromittieren als die, wie er meinte, in der Minderheit bleibenden Gegner des Ausnahmegesetzes. Acht Tage später schoß Karl Nobiling auf den Kaiser. Das rasche Aufeinanderfolgen der Attentate, die schwere Verwundung des Kaisers, der mehrere Tage lang in Todesgefahr schwebte, die Abstammung und der Bildungsgang Nobilings, Sohn eines Domänenpächters, der an der Leipziger Universität den Doktortitel erworben hatte, ließen das zweite Attentat in weit bedenklicherem Licht erscheinen als das erste. Für eine unmittelbare Veranlassung des Verbrechens durch die Sozialdemokratie liegen keinerlei Anhaltspunkte vor, immerhin stand Nobiling stark unter dem Einfluß sozialistischer, kommunistischer und russisch-nihilistischer Ideologien. Gerüchte wie: auch auf den Kronprinzen sei ein Attentat geplant, unter das königliche Schloß seien Minen gelegt worden, Berlin stehe vor einem Aufruhr, fanden bei vielen Glauben. Jetzt konnte Bismarck zu einem entscheidenden Schlag gegen die Nationalliberalen ausholen. In einer Kronratssitzung unter dem Kronprinzen als Stellvertreter des Kaisers und im Bundesrat setzte Bismarck am 11. Juni 1878 die Auflösung des Reichstages, der das Ausnahmegesetz gegen die Sozialisten abgelehnt hatte, und Neuwahlen durch. Die Provinzialkorrespondenz, das halbamtliche Organ der preußischen Regierung, dessen Veröffentlichungen vielfach von den Provinzialzeitungen übernommen wurden, leitete den Wahlkampf mit einem Artikel ein, der auf die von dem kommenden Reichstag zu lösenden Aufgaben hinwies: ein Sozialistengesetz und Maßnahmen für eine Finanz- und Wirtschaftsreform, um, hauptsächlich durch eine Tabaksteuer, dem Reiche unabhängig von Matrikularbeiträgen die nötigen Einnahmen zu verschaffen. Auch die Einführung von Schutzzöllen und für Preußen eine bedeutende Herabsetzung der Gewerbesteuer zugunsten der Handwerker und der kleinen Geschäftsleute wurden in Aussicht gestellt. Infolge der Erregung über die Attentate und der Hoffnungen, die viele auf eine Reform der bisherigen Wirtschaftspolitik setzten, ergab die Reichstagswahl von 1878 gegenüber der von 1877 eine wesentliche Änderung. Die Nationalliberalen verloren 29 Mandate, die Fortschrittspartei 13, die Sozialdemokraten 3 (von 12); die Konservativen gewannen 19 und die Deutsche Reichspartei, die frühere Freikonservative Partei, 18 Mandate. Die 98 Nationalliberalen bildeten immer noch die stärkste Partei, aber sie war keineswegs fest in sich geschlossen und 47

Bismarcks Innenpolitik — Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik konnte nicht sicher auf den Beistand der 31 ihrem linken Flügel nahestehenden Fortschrittler rechnen, während die 59 Konservativen und die 56 Reichsparteiler nun in den wichtigsten Fragen übereinstimmten und ein gelegentliches Zusammengehen der 93 Zentrumsabgeordneten mit den Konservativen jetzt, da sich eben die Versöhnung von Staat und Kirche anbahnte (S. 30), erwartet werden konnte. In dem zum 9. September 1878 einberufenen Reichstag legte die Regierung einen neuen Entwurf für das Sozialistengesetz (S. 54) vor. Anders als der erste war dieser sorgfältig ausgearbeitet. Nach einigen Abänderungen, wie Beschränkung der Gültigkeit auf zweieinhalb Jahre, stimmten am 19. Oktober in der dritten, der entscheidenden Lesung im Reichstag von den anwesenden 370 Abgeordneten 221 für das Gesetz, darunter alle Liberalen, selbst die vom linken Flügel; gegen das Gesetz stimmten von den größeren Parteien nur das Zentrum auf Grund der Erfahrungen vom Kulturkampf her.

Die Zoll- und Steuerreform, Im August hatten sich die Finanzminister der Einzelstaaten auf einer Tagung in Heidelberg für eine Schutzzollgesetzgebung ausgesprochen. Am Tage der Abstimmung über das Sozialistengesetz schlossen sich 87 Mitglieder der Zentrumspartei, 39 von der Reichspartei, 36 Konservative, 27 Nationalliberale, im ganzen 204 Abgeordnete, also die Mehrheit des Reichstags, zur „Freien Wirtschaftlichen Vereinigung" zusammen mit dem Ziele der Einführung von Schutzzöllen. Mitte Dezember richtete Bismarck ein Schreiben an den Bundesrat: „In erster Linie steht für mich das Interesse der finanziellen Reform: Verminderung der direkten Steuerlast durch Vermehrung der auf indirekten Abgaben beruhenden Einnahmen des Reiches." Dabei solle die Gesamtsteuerlast nicht erhöht werden; die für das Reich unbedingt notwendigen Einnahmen seien „auf die relativ leichteste und erfahrungsmäßig minder drückende Weise" aufzubringen, wozu auch die Zollrevision dienen solle. Für diese habe die Festsetzung der Zollpflichtigkeit aller über die Grenze eingehenden Gegenstände die Grundlage zu bilden. Die Stellungnahme der Finanzminister, der Freien Wirtschaftlichen Vereinigung und des Bundesrates kamen Bismarcks Plänen für die Finanz- und Zollreform entgegen, doch war bis zu ihrer Verwirklichung außerhalb und innerhalb des Reichstages eine starke Opposition zu überwinden, die sich gegen die Reform teils als Ganzes, teils gegen Einzelheiten richtete. Kreise, die mehr am Handel als an der Industrie interessiert waren, wollten am Freihandel festhalten; so wandten sich die Handelskammern gegen Einfuhr-, Ausfuhr- und Durchgangszölle; und eine Tagung in Berlin, auf der 72 Städte vertreten waren, trat gegen Lebensmittelzölle auf. In der am 12. Februar 1879 eröffneten Session des Reichstags beharrte, wie nicht anders zu erwarten, die Fortschrittspartei auf ihrem freihändlerischen Standpunkt; ihr Führer Eugen Richter warf dabei Bismarck, den er bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufs heftigste angriff, wegen seines Wechsels vom Frei48

Zoll- und Steuerreform handel zum Schutzzoll widerspruchsvolle Haltung vor und Schloß seine Rede: „Es ist ein Interessenkampf angeregt viel schlimmer als der partikularistische Kampf gegen die einheitlichen Gedanken des Deutschen Reiches. Es wird jetzt eine Propaganda in Szene gesetzt, geeignet, die Einheit der Bevölkerung zu untergraben, die, wenn sie unter dem Namen der Sozialdemokratie angestiftet würde, unter die volle Wucht des Gesetzes gegen die sozialdemokratischen Bestrebungen fallen müßte." Das Zentrum neigte mit Rücksicht auf seine Wähler aus dem Landvolk und aus den rheinischen Industriegegenden zum Schutzzoll, noch entschiedener waren die Konservativen für eine Finanz- und Zollreform im Sinne Bismarcks. Von den Nationalliberalen wollte ungefähr die Hälfte mit Bennigsen an der Spitze eine mittlere Linie einhalten: grundsätzliche Zustimmung zu den Vorschlägen der Regierung unter Reduzierung ihrer Forderungen in den Einzelheiten; fast ein Drittel der Partei verlangte die Annahme der Schutzzölle, die meisten vom linken Flügel, voran Lasker, setzten sich nach wie vor für die unbedingte Aufrechterhaltung des Freihandels ein. Nachdem sich die Stellungnahme der einzelnen Parteien einigermaßen abgezeichnet hatte, vertagte sich der Reichstag auf einige Wochen. Er trat am 3. April wieder zusammen und nun prallten, da es außer um Grundsätzliches auch um die einzelnen Gesetze ging, die Meinungen in einer Überfülle von oft schroffen und langatmigen Reden aufeinander. Selbst die Anhänger des Schutzzolls waren sich nicht in allem einig. So verlangte die Industrie eine über die Vorlage noch hinausgehende Erhöhung der Eisenzölle; die auf möglichst niedrige Preise ihrer Maschinen bedachte Landwirtschaft hätte am liebsten gegen die Eisenzölle gestimmt, gab sich aber schließlich mit einer Verdoppelung des Roggenzolls zufrieden. Bei der Besprechung über die Verwendung der Einkünfte von den Schutzzöllen und von den ausschließlich zum Zweck der Vermehrung der Staatseinkünfte zu erhebenden Finanzzöllen wie auf Tee, Kaffee, Petroleum, stieß Bismarck auf den Widerstand des Zentrums. Er verhandelte nun wieder mit den Nationalliberalen. Sie erklärten sich bereit, seinen Vorschlägen zuzustimmen, wenn dem Reichstag das Budgetrecht für einen wesentlichen Teil der Zolleinnahmen zugestanden werde; Bismarck lehnte dies als einen Schritt zur Parlamentarisierung der Regierung ab. Dagegen bot jetzt Freiherr Georg von Frankenstein, einer der Führer des Zentrums, die Zustimmung seiner Partei unter der Bedingung an: „derjenige Betrag der Zölle und der zu erhöhenden Tabaksteuer, der den dreijährigen Durchschnitt dieser Einnahmen übersteigt, ist in jedem Jahre den Einzelstaaten nach Maßgabe ihrer Bevölkerung zu überweisen." Bismarck war mit der „Frankensteinschen Klausel" einverstanden. Am 12. Juli nahm der Reichstag mit 217 gegen 117 Stimmen nach einigen Abstrichen von der Regierungsvorlage den neuen Schutzzolltarif an und bewilligte die Finanzzölle. Drei Tage später wurde das Zollgesetz und am 16. Juli 1879 das Tabaksteuergesetz verkündet mit Wirkung vom 25. Juli für die Finanz- und vom 1. Januar 1880 für die Schutzzölle. Wieder eingeführt wurden Eisenzölle, erhöht die Zölle auf verschiedene Erzeugnisse der Industrie und die Tabaksteuer, neu waren die Landwirtschaftszölle auf Getreide und Vieh. Im ganzen waren die Zölle mäßig, im Vergleich zu Frankreich niedrig. Später

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Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Bismarcks Innenpolitik — Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik erfuhren namentlich die Agrarzölle allerdings beträchtliche Steigerungen, von 10 Mark je Tonne (1880) für Weizen und Roggen auf 50 Mark (1887). Die Abkehr vom Freihandel fiel zeitlich mit der Uberwindung der 1873 eingetretenen Depression zusammen. Wie diese war der neue Aufschwung des Wirtschaftslebens eine internationale Erscheinung. Ohne Schutzzölle hätten jetzt ausländische Waren Deutschland derart überschwemmt, daß es gegenüber den anderen Großmächten wirtschaftlich und dadurch wenigstens mittelbar auch politisch ins Hintertreffen geraten wäre. Wie sehr bei der Festlegung der Zollsätze 1879 die rechte Mitte eingehalten worden ist, zeigt das Verhältnis von Ausfuhr und Einfuhr im ersten Jahre (1880): 2,977 Milliarden gegen 2,844 Milliarden; später überwog freilich die Einfuhr: 1890 um 0,863 Milliarden, 1900 um 1,290 Milliarden, 1910 um 1,559 Milliarden; mit der raschen Wandlungen unterworfenen wirtschaftlichen Entwicklung vermag eben eine an langwierige parlamentarische Verhandlungen und an meist schwerfällige behördliche Maßnahmen gebundene Reglung nicht Schritt zu halten. Die Hoffnung Bismarcks, die Erhöhung der Zölle und der Tabaksteuer werde das Reich von den Matrikularbeiträgen unabhängig machen, trog infolge der Frankensteinschen Klausel; denn der auf 130 Millionen Mark berechnete Durchschnitt ergänzte die Reichseinnahmen nicht genügend, und so mußten für den Rest weiterhin Matrikularbeiträge erhoben werden. Die Einzelstaaten bezahlten sie aus den die 130 Millionen überschreitenden Beträgen, die ihnen von den Zöllen und den Tabaksteuern zugewiesen wurden, aber nicht ausreichten, die Steuern in den Einzelstaaten herabzusetzen, was Bismarck mit der Wirtschafts- und Finanzreform ebenfalls erstrebt hatte. Bismarck gab sich darüber keiner Täuschung hin, daß auf der Grundlage des Zoll- und des Tabaksteuergesetzes von 1879 ein ausgeglichener Reichshaushalt auf die Dauer nicht gesichert sei; schon im Etatsjahr 1883/84 gab es denn auch einen Fehlbetrag von etwas über fünfeinhalb Millionen. Bismarck versuchte deshalb, durch neue indirekte Steuern dem finanziellen Notstand des Reiches abzuhelfen; dies mißlang ihm allerdings wegen der Widerstände, auf die er dabei stieß. Auf wirtschaftlichem Gebiete, Förderung der deutschen Industrie und Landwirtschaft durch die Schutzzollpolitik, hatte er mehr Erfolg. Dagegen wird eingewendet, die Schutzzölle seien den Industriellen und den Großgrundbesitzern auf Kosten der Verbraucher zugute gekommen; doch trat diese Auswirkung erst seit dem Zolltarif von 1902 (S. 291) stärker in Erscheinung.

Das Ende der liberalen Ära. Obrigkeitsstaat und

Besitzbürgertum

Die Hauptstütze Bismarcks bei seiner Innen- und Außenpolitik bildeten seit 1867 erst im Norddeutschen und dann im Deutschen Reichstag die Nationalliberalen. In der Außen- und in der Wirtschaftspolitik stimmten sie mit Bismarck, der ursprünglich selbst Anhänger des Freihandels war, überein; im übrigen bestanden zwar, vor allem in Fragen der Parlamentarisierung der Regierung, mancherlei Gegensätze, doch waren sie durch Kompromisse einigermaßen über-

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Ende der liberalen Ära brückt worden. Auch als Bismarck 1877 die Steuer- und Zollreform plante, rechnete er auf die Mitwirkung der Nationalliberalen (S. 45). Als sie ihm aber bei dieser Gelegenheit ernsthafte Schwierigkeiten machten, entschloß sich Bismarck zum Kampf. Mit der von ihm veranlaßten Reichstagsauflösung und mit der Ankündigung der Aufgaben des neuen Reichstages (S. 47) bezweckte Bismarck auch die Spaltung der Nationalliberalen Partei. Sie sollte dadurch ihre beherrschende Stellung im Reichstag einbüßen und der linke Flügel den bisherigen Einfluß in der Partei verlieren. Für das Sozialistengesetz stimmten zwar die Nationalliberalen jetzt geschlossen; doch wurde schon da aus ihren Reihen das Bedenken laut, das Ziel der Partei, nämlich weiterer Ausbau des Rechtsstaates, worunter sie die Parlamentarisierung verstanden, sei nun in absehbarer Zeit nicht zu erreichen. Bei den Verhandlungen über den Zolltarif kam es schließlich zu derartigen Meinungsverschiedenheiten unter den Nationalliberalen, daß Treitschke aus der Partei austrat und sich Bismarck am 9. Juli 1879 für die Annahme der Frankensteinschen Klausel entschied. Am gleichen Tag griff er bei der Begründung dieses Schrittes die Nationalliberalen aufs schärfste an: „Alle Unruhe im Reiche und alle Schwierigkeiten, zu gedeihlichen, ruhigen Zuständen zu kommen, kommen meines Erachtens von der Fortschrittspartei und denen, die mit ihr sympathisieren in den anderen Fraktionen (namentlich der linke Flügel der Nationalliberalen) . . . die Kundgebungen, die außerhalb dieses Hauses von sehr hervorragenden Mitgliedern einer großen Partei (der Nationalliberalen) stattgefunden haben, die Reden und Argumentationen, wie sie neulich zur Bekämpfung des Zolls auf Petroleum hier vorgebracht worden sind, ja, meine Herren, die nötigen mich, zu Rat zu gehen mit meinem eigenen Pflichtgefühl gegenüber der Gesamtheit des Reiches. Mit Bestrebungen, die sich dergestalt kennzeichnen, kann ich nicht gehen . . . mit denen kann das Reich nicht bestehen, sie sind Untergrabungen des Reichsbestandes geradesogut wie die sozialdemokratischen Untergrabungen . . . Ich habe daraus die Überzeugung gewinnen müssen, daß, wenn eben Leute, die früher mitunter, sogar häufig, der Reichsregierung ihre Unterstützung geliehen haben, wenn dort latent die zerstörenden Kräfte schlummern, bei einer geringen Anreizung . . . so in zornige Leidenschaftlichkeit umschlagen, ja dann schwindet das Vertrauen, welches ich früher auf die Möglichkeit gesetzt habe, mit Charakteren dieser Art in Zukunft zusammenstehen zu können, in der Weise, daß die Regierung Unterstützung anderer annimmt und ihnen dafür den Einfluß gewährt, der mit dieser Unterstützung notwendig verbunden ist." Dies bedeutete das Ende der liberalen Ära, die, wie sie im Wirtschaftlichen auf dem Freihandel, so im Politischen wesentlich auf der Zusammenarbeit Bismarcks mit den Nationalliberalen beruhte. Einige Tage nach der Rede Bismarcks schieden fünfzehn Abgeordnete aus der Partei aus, im August 1880 trennte sich der linke Flügel mit 28 Abgeordneten von ihr und bildete als „Sezessionisten" eine eigene Gruppe, die sich 1884 mit den Fortschrittlern zur Deutsch-Freisinnigen Partei vereinigte. Die erreichte Spaltung der Nationalliberalen und deren Herabsinken zu einer Mittelpartei erleichterten Bismarck die Verhandlungen mit dem Reichstag nicht. Im März 1884 erkannte Bismarck an, daß die Nationalliberale Partei wäh51 4'

Bismarcks Innenpolitik — Von den Gründerjahren zur Schutzzollpolitik rend der vergangenen Jahre die einzige gewesen sei, „die je einen Anlauf genommen hat, eine Majoritätsfraktion zu werden, das zu werden, was uns fehlt, sie könnte von links oder von redits kommen, es wäre jede Art der Einheitlichkeit besser als die Zerrissenheit unseres Fraktionswesens". Ebenso wie die Nationalliberalen hätte aber dann Bismarck audi eine von links gekommene Majoritätsfraktion zurückgedrängt, denn er widerstrebte grundsätzlich einer Entwicklung zur Parlamentarisierung und Demokratisierung. Das Eintreten des Liberalismus für Freiheit des Denkens und Glaubens war eine der Voraussetzungen für den Aufschwung der Wissenschaft im 19. Jahrhundert, namentlich der Naturwissenschaft; der Liberalismus hat zur Gründung des Deutschen Reiches wesentlich beigetragen, den Wert der Persönlichkeit und des Staates betont, bei der Gesetzgebung der siebziger Jahre in freiheitlichem und fortschrittlichem Sinne mitgewirkt. In vielem verhielten sich jedoch die Liberalen widerspruchsvoll und keineswegs liberal. Nicht wenige von ihnen bekämpften den christlichen Glauben, die Nationalliberalen verstießen als hitzige Kulturkämpfer gegen Menschlichkeit und Toleranz, wollten alles Eigenleben der Einzelstaaten unterdrücken, der zentralistische Machtstaat wurde ihnen zum Abgott, zugleich aber forderten sie auf allen Gebieten weitestgehende individuelle Freiheit. Ob unter einem parlamentarisch-demokratischen Regierungssystem die Entwicklung in Deutschland einen erfreulicheren Verlauf genommen hätte, und ob ihm Katastrophen wie die zwei Weltkriege erspart geblieben wären, weiß natürlich niemand; auch unter den Demokraten, vor und nach 1871, innerhalb und außerhalb Deutschlands, hat es Machtgierige gegeben, die bei internationalen Spannungen auf kriegerische Entscheidung drängten. Bismarck hat am Obrigkeitsstaat und seiner mit weitgehenden Machtbefugnissen ausgestatteten monarchischen Spitze festgehalten. Er war der Überzeugung: „Jedes große staatliche Gemeinwesen, in welchem der vorsichtige und hemmende Einfluß der Besitzenden, materiellen und intelligenten Ursprungs, verlorengeht, wird immer in eine der Entwicklung der ersten französischen Revolution ähnliche, den Staatswagen zerbrechende Geschwindigkeit geraten." Dem Besitz „materiellen Ursprungs" maß Bismarck in dieser Hinsicht die größere Bedeutung zu: „Für die Sicherheit und Fortbildung des Staats ist das Übergewicht derer, die den Besitz vertreten, das nützlichere." Die Entwicklung zum Groß- oder Besitzbürgertum hatte in den dreißiger und vierziger Jahren mit der Gründung des Zollvereins und den Anfängen des Eisenbahnbaus eingesetzt. Der Zollverein, dem sich allmählich fast sämtliche deutsche Staaten anschlossen, die Verträge des Zollvereins mit zahlreichen auswärtigen Staaten und der damit verbundene Freihandel hoben die Hemmungen auf, die den binnen- und außerdeutschen Handel teils erschwert, teils verhindert hatten, und boten mannigfache Gelegenheit zu reichlichem Gewinn. Gleichzeitig nahm das Großunternehmertum einen gewaltigen Aufschwung, vor allem verschaffte die Eisenbahn riesige Aufträge für den Streckenbau, für Lokomotiven und Wagenmaterial. Mit dem Anwachsen von Handel und Industrie ging der Ausbau des Bankwesens Hand in Hand. Wohl kam es 1857 und gegen Ende der sechziger 52

Obrigkeitsstaat und Besitzbürgertum Jahre zu empfindlichen Rückschlägen, aber selbst die Depression von 1873—1879 (S. 42) hat das Besitzbürgertum im großen und ganzen leidlich überstanden, und die nun folgende Wirtschaftsblüte festigte seine wirtschaftlidie und soziale Stellung. Durch die Erwerbung landwirtschaftlicher Güter, durch Verheiratung, durch Mitgliedschaft der Söhne in feudalen Studentenverbindungen und durch den Aufstieg zu hohen Beamtenstellen trat ein großer Teil des Besitzbürgertums in nähere Beziehungen zum Adel und suchte sich ihm möglichst anzugleichen. Mit der Hinwendung zur Schutzzollpolitik kamen die Industriellen in Gegensatz zum Liberalismus. Auch das in seinen Spitzen bisher überwiegend liberale preußische Beamtentum geriet nun in eine extrem konservative Richtung; dies war dem Einfluß Robert von Puttkammers zuzuschreiben, der, dem hinterpommerschen Uradel entstammend, seit 1881 Minister des Innern und Vizepräsident des Staatsministeriums war und bei Kaiser Wilhelm und Bismarck in hoher Gunst stand. Eine Uberspannung des Prinzips des Obrigkeitsstaates war die Folge. Die Söhne der Besitzbürger und Akademiker leisteten ihren Militärdienst in der Regel als Einjährig-Freiwillige und dann als Reserveoffiziere, auch traten viele als Fahnenjunker in die Armee ein, um die Offizierslaufbahn zu ergreifen. So fügte sich zumal in Preußen das Großbürgertum im allgemeinen bereitwillig dem Rahmen eines Obrigkeitsstaates mit stark ausgeprägten konservativen und militaristischen Zügen ein, doch blieben, besonders unter den Intellektuellen, so manche den liberalen Ideen und Idealen treu. Aus den Angestellten der Großkaufleute, Großindustriellen, Bankiers, Direktoren von Aktiengesellschaften ging eine neue Schicht des Mittelstands hervor. Politisch bildeten Besitzbürgertum, Mittelstand, Kleinbürgertum, Großgrundbesitzer und Bauern keine geschlossenen Einheiten, gemeinsam aber war allen Gruppen des Bürgertums mit Ausnahme eines Teils der Kleinbürger und mancher Intellektuellen nur die Angst vor der Sozialdemokratie, von der alle das Schlimmste befürchteten.

SOZIALPOLITIK Deutschland entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts und in steigendem Maße seit der Reichsgründung allmählich zu einem Industriestaat. Zahl und Größe der Betriebe und die Menge der darin beschäftigten Männer und Frauen wuchsen stetig, die Produktionsmethoden wurden durch neue und verfeinerte Maschinen ständig verbessert und die Leistungen dadurch ungemein gesteigert. So erhielten die Arbeiter ein immer größeres Gewicht im Leben des Volkes, sie wurden sich ihrer Macht als vierter Stand unter Führung der Gewerkschaften und der Sozialdemokratischen Partei bewußt. Vorerst war die Lage der Arbeiter noch recht gedrückt, Arbeitszeiten von 12—14 Stunden bildeten die Regel, die geringen Löhne reichten kaum zum Notwendigsten für Wohnung, Kleidung, Nahrung und zwangen deshalb Frauen und Kinder zur Mitarbeit. Bei Arbeitslosigkeit, Krankheit, höherem Alter oder dem Tod des Ernährers herrschte bittere Not in den 53

Bismarcks Innenpolitik — Sozialpolitik Familien. Gemildert wurden diese Zustände nur durch patriarchalische Fürsorge bei einzelnen Arbeitgebern und durch kirchliche und private Hilfstätigkeit. Viele Einsichtige erkannten immer deutlicher, daß hier ein Wandel geschaffen werden müsse sowohl um der Menschlichkeit willen, als auch aus praktischen Erwägungen für Staat und Wirtschaft. Sozialdemokratie Zur Zeit der Reichsgründung waren die deutschen Sozialdemokraten in die auf Karl Marx-Friedrich Engels und die auf Ferdinand Lassalle zurückgehenden Richtungen gespalten; die erste ausgesprochen international mit stark kommunistischem Einschlag, während Lasalle Deutschland als sein „einziges Vaterland" anerkannte und im Gegensatz zu Marx und Engels seine Hoffnung, das Proletariat werde die Macht im Staate erringen und eine sozialistische Gesellschaftsordnung einführen, durch friedliche Agitation verwirklichen zu können glaubte. Nachdem sich die beiden Richtungen längere Zeit bekämpft hatten und die Regierung, soweit sich irgendeine gesetzliche Handhabe bot, gegen beide vorgegangen war, schlossen sie sich im Mai 1875 auf dem Gothaer Kongreß zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" zusammen. In ihrem Gothaer Programm hielt die neue Partei im wesentlichen die von Marx und Engels vorgezeichnete Linie ein; das Programm forderte „die Beseitigung aller sozialen und politischen Ungleichheit"; Erfüllung der Pflichten, die sich aus dem internationalen Charakter der Arbeiterbewegung ergäben, um „die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen", die „Errichtung von sozialistischen Produktionsgenossenschaften mit Staatshilfe unter der demokratischen Kontrolle des arbeitenden Volkes; die Produktionsgenossenschaften sind für Industrie und Ackerbau in solchem Umfang ins Leben zu rufen, daß aus ihnen die sozialistische Organisation der Gesamtheit entsteht"; „direkte Gesetzgebung durch das Volk, Entscheidung über Krieg und Frieden durch das Volk; allgemeine Wehrhaftigkeit, Volksheer an Stelle der stehenden Heere"; Abschaffung „aller Gesetze, welche die freie Meinungsäußerung, das freie Denken und Forschen beschränken; Rechtsprechung durch das Volk, unentgeltliche Rechtspflege"; „allgemeine und gleiche Volkserziehung durch den Staat, allgemeine Schulpflicht; unentgeltlicher Unterricht in allen Bildungsanstalten; Erklärung der Religion zur Privatsache". Hinter diesem Programm stand eine rasch ansteigende Zahl gut organisierter Arbeiter. Bei den Reichstagswahlen von 1871 erhielten die sozialdemokratischen Kandidaten etwas über 100 000, 1874 fast 352 000, 1877 an die 500 000 Stimmen; um diese Zeit verfügte die Partei über 68 ganz oder teilweise von ihr besoldete Agitatoren, 40 politische Presseorgane mit 150 000 Abonnenten, ein illustriertes Unterhaltungsblatt „Die Neue Welt" mit 35 000 und 15 Gewerkschaftsblätter mit 40 000 Abonnenten. Daß unter diesen Umständen, zumal unter dem Eindruck des Nobilingschen Attentats im Oktober 1878, die Mehrheit des Reichstags dem ihm von Bismarck vorgelegten Sozialistengesetz zustimmte (S. 51), ist nicht erstaunlich. Das Gesetz verbot Vereine, Versammlungen und Schriften sozialdemokratischer, sozialistischer und kommunistischer Art, die 54

Gothaer Programm. Sozialpolitische Bestrebungen auf den Umsturz der bestehenden Rechts- und Gesellschaftsordnung abzielen, und das Sammeln von Beiträgen für derartige Zwecke; außerdem wurden Behörden ermächtigt, Agitatoren aus ihrem Wohnsitz oder aus bestimmten Landesteilen auszuweisen, Wirten und Buchhändlern den Betrieb ihres Gewerbes zu untersagen und über Orte und Bezirke, in denen durch sozialdemokratische Umtriebe die öffentliche Sicherheit bedroht schien, den kleinen Belagerungszustand zu verhängen. Die Gültigkeit des Gesetzes wurde bis 1890 mehrmals verlängert; es tat aber nur der offenen Agitation Abbruch und verschärfte im übrigen den Kampf auf beiden Seiten. Führer der Sozialdemokratie veranstalteten während des August 1880 in der Schweiz einen geheimen Kongreß und strichen auf ihm aus dem Satz des Gothaer Programms: die sozialistische Arbeiterpartei erstrebe „mit allen gesetzlichen Mitteln den freien Staat und die sozialistische Gesellschaft" die Worte „mit allen gesetzlichen Mitteln". Die Sozialdemokraten organisierten sich nun trotz des Verbotes im geheimen, und da sie nach wie vor im Reichstag vertreten waren, bot ihnen bei den Wahlreden allein schon der Hinweis auf die harte, schonungslose und oft unkluge Anwendung des Sozialistengesetzes in aller Öffentlichkeit reichlich Gelegenheit zu einer sich bald erfolgreich auswirkenden Agitation. Im Jahre 1881, bei den ersten Wahlen nach Erlaß des Gesetzes, verloren die Sozialdemokraten allerdings etwas über 100 000 Stimmen gegenüber der Wahl von 1878, aber 1884 erhielten sie 550 000 Stimmen, ein Zuwachs von fast 240 000, 1887 etwas über 760 000, 1890 etwas über 1400 000 Stimmen.

Sozialpolitische

Bestrebungen

Um die Lösung der Arbeiterfrage und der mit ihr zusammenhängenden allgemeinen sozialen und wirtschaftlichen Probleme bemühte sich auch eine Reihe außerhalb der Sozialdemokratie stehender Gelehrter und Publizisten. Die sozialliberale Gruppe, an ihrer Spitze Lujo Brentano, trat auf der Grundlage völliger Freiwilligkeit für Arbeitslosen-, Kranken-, Unfall-, Alters-, Invaliditäts- und Sterbegeldversicherungen ein, teils bei schon bestehenden privaten Versicherungsgesellschaften, teils sollte eine allgemeine Gewerkskrankenkasse für die Kranken- und Arbeitslosenversicherung geschaffen werden; für die Prämien hätten die Arbeiter aufzukommen, die Arbeitgeber sollten sich nur an denen der Unfallversicherung beteiligen. Eine zweite, sich in manchen Punkten mit der sozialliberalen berührende Gruppe, die sogenannten Kathedersozialisten, in der besonders Gustav Schmoller, Adolf Wagner und Albert Schäffle hervorragten, hielt grundsätzlich ebenfalls an der Freiwilligkeit fest, betonte aber mehr die ethischen Gesichtspunkte, forderte Mitwirkung des Staates bei der Sozialpolitik und unter Umständen Zwangsmaßnahmen zu ihrer Förderung. So betrachtete Schmoller als die Voraussetzung des sozialen Fortschritts eine gerechte Güterverteilung; Besitzabstufungen könnten wohl geduldet werden, aber nicht große Unterschiede. Gegen die privaten Versicherungsgesellschaften wandte er ein, daß sie für die Verwaltung und für Dividenden hohe Summen ausgäben und aus der Versiche55

Bismarcks Innenpolitik — Sozialpolitik rung ein Geschäft machten; das Versicherungswesen sei deshalb in gemeinwirtschaftlicher und öffentlich-rechtlicher Form zu organisieren. Eine dritte, die sozialkonservative Gruppe, der Karl Rodbertus, Hermann Wagener, Hermann Roesler und Rudolf Meyer angehörten, steuerte auf den Staatssozialismus hin: die Gewerkvereine sollten zu staatlichen Einrichtungen und die Arbeiter als vierter gleichberechtigter Stand dem Staat eingegliedert werden. Das Organ der Sozialkonservativen, die „Berliner Revue" (1868/1873) und der 1872 von Brentano und Kathedersozialisten gegründete „Verein für Sozialpolitik", dem Mitglieder der verschiedenen Gruppen angehörten, erörterten die Arbeiterfrage und machten mancherlei Vorschläge für den Ausbau des Versicherungswesens. Gelang es auch nicht, auf diese Weise die Probleme zu lösen, so wurden doch die Ideen der Sozialreformer in weitere Kreise getragen und für die spätere Sozialgesetzgebung (S. 59) wertvolle Anregungen gegeben. Die Sozialdemokratie war eine Gegnerin der Kirche. Religion galt ihr als Privatsache, und in Lehrsätzen, die auf Karl Marx zurückgingen, hieß es: „Wie der Mensch in der Religion vom Machwerk seines eigenen Kopfes, so wird er in der kapitalistischen Produktion vom Machwerk seiner eigenen Hand beherrscht"; „Die Gesetze, die Moral, die Religion sind für den Arbeiter ebensoviele bürgerliche Vorurteile, hinter denen sich ebensoviele bürgerliche Interessen verstecken"; die Religion ist „das Opium des Volkes". So wurde die schnell wachsende Masse der Arbeiter, welche sich der Sozialdemokratie zuwandten, zugleich der Kirche entfremdet, und zwar der evangelischen wie auch der katholischen. Natürlich blieben die Kirchen nicht müßig; der Kampf der Geistlichkeit und der kirchlich gesinnten Laien gegen die Sozialdemokratie hatte aber nicht nur die engeren kirchlichen Belange im Auge, sondern auch eine Sozialreform. Schon während der Revolution 1848/1849 hatte die katholische Kirche beansprucht, wegweisend für die soziale Reform zu sein, von katholischer Seite wurde „Sicherung einer menschenwürdigen Existenz besonders der arbeitenden Klasse" gefordert. Der Priester Adolf Κ o 1 ρ i η g , ehemaliger Schustergeselle, hatte 1846 den ersten seiner katholischen Gesellenvereine gegründet. Im Laufe der Zeit entstanden über 400 „Kolpinghäuser", in denen, wie noch heute, Gesellen Unterkunft und freundschaftlichen Zusammenschluß in der „Kolpingsfamilie" fanden, dazu in ihrer Freizeit allerlei Unterhaltung und geistige und religiöse Anregungen, wobei sie den marxistischen Einflüssen entzogen wurden. Wilhelm Emanuel von Ketteier verwertete in seinen Predigten, Reden und Schriften über die soziale Frage mannigfache bereits bekannte Pläne und Gedanken, darunter auch solche von Lassalle; die Ausführungen und Forderungen des berühmten Edelmannes, Kirchenfürsten und Politikers fanden in der Öffentlichkeit weitgehend Beachtung. In dem gleichen sozialen Sinn wirkten zahlreiche andere Geistliche, namentlich der Kaplan Franz Hitze, Verfasser von „Kapital und Arbeit und die Reorganisation der Gesellschaft" (1880), Generalsekretär des 1880 in Mönchengladbach gegründeten Verbandes katholischer Industrieller und Redakteur der Zeitschrift „Arbeiterwohl", auch Laien wie Georg von Herding und die seit den dreißiger Jahren rasch zunehmenden katholischen Vereine besonders für karitative Zwedce; 56

Sozialpolitische Bestrebungen später, seit den neunziger Jahren, entwickelten sich dann die christlichen Gewerkschaften. Unter all diesen Einflüssen wählte ein großer Teil der katholischen Arbeiter für den Reichstag und die Landtage Zentrumsabgeordnete. Auf protestantischer Seite haben sich besonders Johann Heinrich Wiehern (1808/ 1881) und Friedrich von Bodelschwingh (1831/1910) durch ihre rege soziale Tätigkeit große Verdienste erworben. Politik im eigentlichen Sinne lag ihnen jedoch ferne. Wiehern stellte dem von ihm 1833 bei Hamburg gegründeten „Rauhen Haus" und der von ihm 1848 ins Leben gerufenen Inneren Mission karitative Aufgaben: Rettung der verwahrlosten Jugend; Betreuung wandernder Handwerksburschen, Arbeitsloser, Strafgefangener, entlassener Sträflinge, gefallener Mädchen; Armenfürsorge und Volksmission. Die Arbeit des Rauhen Hauses hatte mittelbar den Zweck, der die kümmerlichen Verhältnisse des Proletariats für ihre Ziele ausnützenden sozialdemokratischen Agitation den Boden zu entziehen. Bodelschwingh ist vor allem durch die von ihm seit 1872 in Bethel bei Bielefeld gegründeten Wohlfahrtsanstalten berühmt geworden; dem Vagabundenunwesen steuerte er mit Wanderarbeitsstätten und der Wohnungsnot durch seinen Siedlungsverein. Noch in hohem Alter setzte sich Bodelschwingh als preußischer Landtagsabgeordneter für den Ausbau der Gesetzgebung in christlichsozialem Sinne ein. Wichern suchte ebenfalls staatliche Unterstützung sozialer Reformpläne, die freilich so weitausgreifend und wirklichkeitsfremd waren, daß sie sich nicht durchführen ließen. Immerhin haben Wicherns Ideen Männer wie Adolf Stöcker (1835/1909), den ersten Parteipolitiker unter den evangelischen Sozialreformern, stark beeinflußt. Stöckers Großvater war Taglöhner, der Vater erst Schmied, dann Wachtmeister in einem preußischen Kürassierregiment; die Mutter arbeitete auch noch nach der Heirat als Näherin bei reichen Familien, um ihren Kindern eine gute Ausbildung zu ermöglichen. Die Erlebnisse in seiner Kindheit haben Stödcer, wie er später erklärte, „den Sinn für soziale Verhältnisse, Liebe und Interesse am kleinen Mann für immer eingeprägt". Durch die Beziehungen seiner Mutter erhielt er, ein vorzüglicher Schüler, bald Gelegenheit, selbst zu unterrichten und etwas zu verdienen. „Ich kam außerdem durch dies Stundengeben mit manchen gebildeten und vornehmen Familien der Stadt und des Landes in Verkehr, was für junge Leute, die aus kleinen Verhältnissen stammen, immerhin wertvoll ist." Aus der Tätigkeit als Hauslehrer in adligen Familien nach Abschluß des theologischen Studiums, bei dem er nie in Glaubenszweifel verfiel — sie „kommen vom Teufel, es gibt Gedanken, die man einfach totschlagen muß" — erwuchs dann Stöcker die Vorliebe für adlige Kreise und adliges Wesen sowie die Uberzeugung, daß, wie er später schrieb, „das politische Verständnis eines Menschen zum Teil davon abhängt, ob er den Adel in seinem Standesbewußtsein und seiner Lebensweise verstehen und würdigen kann". 1866 wurde Stödcer Pfarrer in Hammersleben. Hier kam er erstmals in nähere Berührung mit Fabrikarbeitern und begann nun, sich in die soziale Frage zu vertiefen. Im Oktober 1874 ernannte ihn Kaiser Wilhelm zum Hofprediger am königlich preußischen Hof in Berlin. Die reichliche Muße, die ihm diese Stellung ließ, benutzte Stödcer zu einer regen außeramtlichen Seel57

Bismarcks Innenpolitik — Sozialpolitik sorgstätigkeit. 1877 übernahm er die Berliner Stadtmission, was ihn wieder in nähere Berührung mit den unteren Schichten der Bevölkerung brachte. Dabei machte er die Erfahrung, daß alles karitative Wirken die Arbeiter nicht von der Sozialdemokratie abbringen konnte: Sie traten vielleicht nicht direkt aus der Kirche aus, sahen aber in ihr nur die „schwarze Polizei" des Kapitalismus, besuchten keinen Gottesdienst und wählten sozialdemokratisch. „Durch die Innere Mission kann die Sozialdemokratie nicht überwunden werden. Es bedarf einer sozialpolitischen Partei". Anfang 1878 gründete Stöcker die Christlichsoziale Arbeiterpartei. Sie „steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland", dies war der erste Punkt ihres Programms. Die Partei „verfolgt als Ziel die Verringerung der Kluft zwischen reich und arm und die Herbeiführung einer größeren ökonomischen Sicherheit". Gefordert werden obligatorische Fachgenossenschaften, deren Kassenwesen der Staat zu kontrollieren hat; obligatorische Witwen-, Waisen-, Invaliden- und Altersversorgungskassen; Verbot der Sonntagsarbeit, der Arbeit von Kindern und verheirateten Frauen in Fabriken; progressive Einkommensteuer; hohe Luxussteuern; gesetzlich geregelte Erhöhung der Löhne und Abkürzung der Arbeitszeit; das Programm Schloß mit den Forderungen: „Hochhaltung der persönlichen und der Berufsehre, Verbannung aller Roheit aus den Vergnügungen und Pflege des Familienlebens in christlichem Geiste". Hinter dem, was die Sozialdemokratie anstrebte, blieb dieses Programm weit zurück; außerdem mißtraute der größte Teil der Arbeiterschaft einem Manne, der zwar in den Reden auf seine proletarische Herkunft hinwies, aber seiner Stellung und seinem Auftreten nach der Oberschicht angehörte, und dessen Orthodoxie in schroffstem Gegensatz zur marxistischen Weltanschauung stand. Die geringe Mitgliederzahl, etwa 1000, und die Reichstagswahlen Ende Juli 1878, bei der die Christlichsoziale Arbeiterpartei 2310, die Sozialdemokraten 437 158 Stimmen erhielten, erwiesen Stödcers Parteigründung als einen Fehlschlag, doch wählte ihn die überwiegend bäuerlich-konservative Bevölkerung eines westfälischen Wahlkreises 1879 in das preußische Abgeordnetenhaus und 1880 in den Reichstag. Seit dem September 1879 richtete Stöcker seinen Kampf in erster Linie gegen die Juden. Er sah in ihnen die Vertreter des radikalen Liberalismus mit ihrem weitreichenden Einfluß in Wirtschaft und Presse, Rassengesichtspunkte lagen ihm ferne. Durch die antisemitische Organisation gewann er seiner Partei, seit 1881 offiziell nur noch Christlichsoziale Partei, nicht mehr Christlichsoziale Arbeiterpartei, zahlreiche Anhänger aus dem Mittelstande, für dessen Schutz durch gesetzliche Maßnahmen er nun ebenso eintrat wie früher für den der Arbeiter. Der evangelische Oberkirchenrat rügte im Oktober 1878 die parteipolitische Tätigkeit Stöckers und gab im Februar 1879 einen Erlaß heraus: „Es ist nicht Sache der Diener der Kirche, im Namen des Christentums volkswirtschaftliche oder sozialpolitische Theorien aufzustellen", besonders sollten sich Geistliche abseits halten von „öffentlichen Parteibildungen wie von der einseitigen Vertretung der Interessen eines einzelnen Standes", denn dadurch würden „die Unzufriedenen mehr gegen die bestehende Ordnimg aufgeregt als für die christliche 58

Sozialgesetzgebung. Versicherungswesen

Wahrheit gewonnen". Ein katholischer Würdenträger dagegen sagte später einmal zu Stöcker: „Wären Sie katholisch, so stände die ganze Kirche hinter Ihnen, da Sie protestantisch sind, wird Ihre ganze Arbeit von Ihrer eigenen Kirche zerrüttet."

Bismarcks Sozialpolitik Bismarck hatte bereits in dem Hungerjahr 1847 begonnen, sich mit sozialen Problemen auseinanderzusetzen, zunächst allerdings vom rein menschlichen und christlichen Standpunkt aus; in einem Brief an seine Braut warf er die Frage auf: „Inwieweit kann ich mich berechtigt halten, das, was Gott meiner Verwaltung anvertraut hat, zu meinem Vergnügen zu verwenden, solange es Leute gibt, die vor Mangel und Frost krank sind, in meiner nächsten Nähe, deren Betten und Kleider im Versatz sind, so daß sie nicht ausgehen können, um zu arbeiten. Verkaufe, was Du hast, gib es den Armen und folge mir! Wie weit kann, wie weit soll das aber führen? Der Armen sind mehr, als alle Schätze des Königs speisen können." Als preußischer Bundestagsgesandter in Frankfurt, als Gesandter in Petersburg und Paris und bei seinem Aufenthalt in England 1862 beobachtete er aufmerksam die wirtschaftlichen und die mit ihnen verbundenen sozialen Verhältnisse und Einrichtungen. Vorübergehend stand er unmittelbar und mittelbar in Verbindung mit den Sozialkonservativen, mit Männern verschiedener Richtung wie Lasalle, Karl von Stumm-Halberg (S. 200), Stöcker, Friedrich von Bodelschwingh. Mit dem Gedanken sozialer Fürsorge hatte sich also Bismarck seit langem beschäftigt. Der offene Kampf gegen die Sozialdemokratie seit den Attentaten gegen den Kaiser und die Erkenntnis, daß sie durch das Sozialistengesetz allein nicht zurückgedrängt werden könne, lenkten die mancherlei sozialpolitischen Erwägungen Bismarcks in eine bestimmte Richtung: dem Arbeiter müsse zu einer Sicherung seiner wirtschaftlichen Existenz verholfen werden. Und zwar nicht durch private Versicherungsgesellschaften, sondern durch den Staat; er hoffte nämlich, dadurch würde der staatsfeindlichen sozialdemokratischen Agitation um so mehr entgegengewirkt, und überhaupt trachtete er ja möglichst alles dem Staat unterzuordnen. Mitte Januar 1881 legte Bismarck also dem Bundesrat den Entwurf zu einer Unfallversicherung vor: die Bergwerks- und Fabrikarbeiter mit einem Jahreseinkommen unter 2000 Mark müssen sich in einer zu schaffenden Reichsversicherungsanstalt gegen Unfall versichern lassen, für die Beiträge haben die Arbeiter je nach ihrem Verdienst zur Hälfte, für die andere Hälfte die Unternehmer aufzukommen oder zu zwei Drittel die Unternehmer und zu einem Drittel das Reich. Nach einigen Abänderungen stimmte der Bundesrat dem Entwurf zu. Die von ihm vorgeschlagene Verbindung von Zwangsversicherung und Staatshilfe bezeichnete Bismarck selbst gelegentlich als „Staatssozialismus". Die Tatsache, daß Bismarcks Sozialpolitik als eine politische Kampfmaßnahme gegen die Sozialdemokratie gedacht war, darf nicht dazu führen, die religiösethische Grundlage in Bismarcks sozialpolitischem Denken zu verkennen, die in seinen Reden zu diesem Thema immer wieder hervortritt. Bei den Reichstags-

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Bismarcks Innenpolitik — Sozialpolitik Verhandlungen zum ersten Entwurf des Unfallversicherungsgesetzes, Anfang April, wurde ihm von linksliberaler Seite vorgeworfen, die Übernahme der Versicherungskosten durch den allgemeinen Steuersäckel sei Kommunismus, ja ein so schlechter „wie ihn noch niemand bisher erfunden hat"; Bismarck antwortete: Die Bezeichnung sei ihm gleichgültig, bereitwillig würde er „den Namen annehmen praktisches Christentum, aber sans phrase". Außer auf die nur geringfügige Beteiligung des Reiches an den Kosten und auf die große praktische Bedeutung des Gesetzes, wies Bismarck auch auf die ethische hin: „Es liegt in diesem Gesetz die Tendenz, das Gefühl menschlicher Würde, welches audi der ärmste Deutsche meinem Willen nadh behalten soll, wadi zu erhalten, daß er nicht rechtlos als reiner Almosenempfänger dasteht... Wir haben das Bedürfnis, in diesem Gesetz auf eine menschenwürdige Behandlung zunächst dieser Sorte von Armen zu wirken". Das Gesetz kam vorerst nicht zustande: Der Reichstag forderte Anstalten der einzelnen Länder anstelle von einer Reichsversicherungsanstalt, Beteiligung zu einem Drittel auch der Arbeiter in der niedersten Lohnklasse an den Versicherungsbeiträgen und Herabsetzung der Karenzzeit. Nun lehnte der Bundesrat die von der Mehrheit des Reichstags angenommene Fassung mit der Begründung ab, sie belaste in dieser Form selbst die ärmsten Arbeiter. Nach den Reichtagswahlen vom Herbst 1881 unternahm Bismarck abermals einen Vorstoß in seiner Sozialpolitik. Bei der Eröffnung des Reichstags verlas er eine von ihm verfaßte kaiserliche Thronrede. Sie kündigte einen neuen Entwurf zur Unfallversicherung an und eine gleichmäßige Ordnung des gewerblichen Krankenkassenwesens. „Aber auch diejenigen, welche durch Alter und Invalidität erwerbsunfähig werden, haben der Gesamtheit gegenüber einen begründeten Anspruch auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als ihnen bisher hat zuteil werden können. Für diese Fürsorge die rechten Mittel und Wege zu finden, ist eine schwierige, aber auch eine der höchsten Aufgaben jeden Gemeinwesens, welches auf den sittlichen Grandlagen des christlichen Volkslebens steht." Der neue Entwurf für die Unfallversicherung und ein Entwurf für Krankenversicherung wurden dem Reichstag im Mai 1882 vorgelegt. Zuerst wurde der für die Krankenversicherung behandelt; nach langwierigen Auseinandersetzungen konnte Mitte Juni 1883 das Krankenkassengesetz veröffentlicht werden: jeder Arbeiter ist in einer Orts- oder Betriebskrankenkasse zu versichern, oder, wo derartige Kassen nicht bestehen, in einer Gemeindekrankenkasse. Ein Drittel der Beiträge haben die Arbeitgeber, zwei Drittel die Arbeiter zu zahlen, die Beiträge dürfen drei Prozent des durchschnittlichen Lohnes nicht überschreiten. Haftbar für die Ablieferung der Beiträge sind die Arbeitgeber, sie müssen ihre Arbeiter anmelden und ziehen die zwei Drittel bei der Lohnzahlung ab. — Die Unfallversicherung kam erst im Juli 1884 auf der Grundlage eines dritten Entwurfes zustande. Für die Beiträge haben die Unternehmer aufzukommen. Die Höhe der Unfallentschädigung, die sich auf die Kosten des Heilverfahrens von der vierzehnten Woche an — bis dahin tragen sie die Krankenkassen —, eine Rente für die Dauer der Erwerbsunfähigkeit und ein Sterbegeld erstreckt, richtet sich nach dem Einkom-

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Sozialgesetzgebung. Versicherungswesen men der Arbeiter. Die Kontrolle obliegt dem Reichsversicherungsamt, doch steht es den einzelnen Bundesstaaten frei, Landesversicherungsämter zu errichten. — Am 22. Juni 1889 erfolgte die Verkündigung des Alters- und Invaliditätsgesetzes. Die entscheidende Initiative hierzu war diesmal von Kaiser Wilhelm II. ausgegangen. Enttäuscht, daß die Arbeiterschaft immer noch an den sozialdemokratischen Bestrebungen festhielt, hatte Bismarck an der sozialen Gesetzgebung nicht mehr dasselbe Interesse wie früher, doch griff er mit einer kurzen Rede, der letzten, die er vor dem Reichstag hielt, in die Debatte ein und forderte „die Annahme des Gesetzes in seiner Gesamtheit". Alle über 16 Jahre alten Lohnarbeiter, auch die Dienstboten, Handlungsdiener und niederen Betriebsbeamten gehören zwangsweise der Versicherungskasse ihres Landes oder ihrer Provinz an, die oberste Instanz dieser Kassen ist das Reichsversicherungsamt. Die Versicherten erhalten vom 70. Jahr ab oder bei Eintritt der Invalidität eine Rente; ihre Höhe bestimmt sich nach der Lohnklasse und nach der Zahl der Beitragswochen. Die Beiträge müssen die Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu gleichen Teilen leisten, außerdem gibt das Reich einen Zuschuß. Vorübergehend hat Bismarck auch den vielerörterten Plan einer Versicherung erwogen, der alle Staatsbürger beitreten müßten, und die jeden in Not Geratenen ausreichend unterstützte, doch ließ Bismarck diesen Gedanken bald wieder fallen, weil das Reich nicht imstande wäre, die hierfür nötigen Mittel aufzubringen. Von der Bedeutung des im wesentlichen auf Bismarck zurückgehenden Versicherungswesens zeugen schon Zahlen wie: zu den bis dahin gegen Unfall und Krankheit versicherten 3 Millionen Fabrikarbeitern kamen 1886 etwas über 7 Millionen land- und forstwirtschaftliche Arbeiter; die für diesen Zwedc in Berufsgenossenschaften eingeteilten Unternehmer mußten für die Unfallversicherung 14 Millionen Mark aufbringen. 1888 waren 10 343 678 Personen versichert, 1890 gegen Krankheit fast 13,5 vom Hundert der Bevölkerung des Reiches. Wohl hatten schon früher Unternehmer eine große Zahl von Arbeitern in Privatversicherungsgesellschaften aufnehmen lassen, aber erst die von Bismarck angeregte und gegen mancherlei Widerstände durchgesetzte Sozialpolitik bot allen Lohnempfängern die Gewähr, daß sie bei Arbeitsunfähigkeit infolge von Krankheit, eines Unfalls oder hohen Alters nicht auf öffentliche und private Mildtätigkeit angewiesen waren. Krankengeld und Rente hielten sich in bescheidenen Grenzen, immerhin schützten sie den Arbeiter vor bitterer Not und befreiten ihn von der steten Sorge, wie es ihm wohl in kranken Tagen und im Alter ergehen werde. Die ärztliche Hilfe, die er nun ohne weiteres in Anspruch nehmen konnte, und die Altersrente besserten den Gesundheitszustand und ließen die Sterbeziffer sinken. Daß auch Mißbrauch mit den Versicherungen getrieben wurde, ist eine selbstverständliche Begleiterscheinimg. Im ganzen hat sich das staatliche Versicherungswesen für Millionen Menschen segensreich ausgewirkt, zumal da es immer weiter ausgebaut wurde. In Einzelheiten haben gelegentlich andere Länder Deutschland in der Sozialfürsorge überflügelt, aber ihm und seinem Reichskanzler Bismarck bleibt das Verdienst, sich als erste in Europa der Arbeiterschaft in dieser Weise angenommen zu haben. 61

Bismarcks Innenpolitik — Sozialpolitik Bismarck plante im Anschluß an die soziale eine noch viel weiter gehende politische Reform-Maßnahme. Der Reichstag bereitete ihm oft große Schwierigkeiten und vereitelte manche seiner Pläne. Bismarck zog deshalb eine den veränderten Verhältnissen Rechnung tragende Erneuerung des alten Ständewesens in Betracht. Die „produktiven Volksklassen" sollten, wie er sich einem seiner Mitarbeiter gegenüber äußerte, in korporativen Verbänden zusammengefaßt werden, damit „man eine Grundlage für eine künftige Volksvertretung gewinne, welche anstatt des Reichstags oder neben ihm ein wesentlich mitbestimmender Faktor der Gesetzgebung werde, wenn auch äußerstenfalls durch das Mittel eines Staatsstreiches". Ansatzpunkte für derartige korporative Verbände hätten die Bestimmungen des Unfallgesetzes ergeben können: die Unternehmer „bilden zur Reglung der Versicherung Versicherungsgenossenschaften auf Gegenseitigkeit in der Form von Berufsgenossenschaften" und „beruhigt sich ein Verletzter nicht bei den Festsetzungen seiner Berufsgenossenschaft, so kann er die Sache an ein Schiedsgericht bringen, bestehend zur Hälfte aus Arbeitgebern und zur Hälfte aus gewählten Vertretern der Arbeiter . . . Von hier ist nochmals Rekurs möglich an das Reichsversicherungsamt, wo ebenfalls Unternehmer und Arbeitervertreter urteilen". Aber selbst wenn es möglich gewesen wäre, die von den verschiedensten Seiten zu erwartenden Schwierigkeiten gegen Bismarcks Plan zu überwinden, hätten sich die Arbeiter in ein unter Bismarcks Führung stehendes korporatives System nicht eingliedern lassen. Die Arbeiterschaft sah in dem Urheber des Sozialistengesetzes immer noch den alten Feind und in der bisherigen Sozialgesetzgebung, von der Bismarck einen Gesinnungswechsel ihrerseits erhofft hatte, eine geringfügige Abschlagszahlung auf das, was ihr von Rechts wegen zustehe. Ihren Unwillen erregte auch Bismarcks Ablehnung der schon im Gothaer Programm geforderten Arbeiterschutz-Gesetzgebung: Einführung der Sonntagsruhe, gesetzlich geregelte kürzere Arbeitszeit, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, Beaufsichtigung der Fabrikbetriebe durch staatliche Inspektoren im Interesse der Arbeiter. Bismarck ging bei seiner Ablehnung von dem Gedanken aus, das Gedeihen des Unternehmers und des Arbeiters bedinge sich gegenseitig. Je kürzer die Arbeitszeit, desto geringer der Gewinn des Fabrikbesitzers, da mehr Tage zur Herstellung der gleichen Warenmenge gebraucht werden, und der Verdienst des Lohnempfängers, weil damals der Stundenlohn gleich blieb; sinkt der Gewinn des Unternehmers zu sehr herab, müssen Arbeiter ausgestellt werden und verlieren ihren Arbeitsplatz. Außerdem beeinträchtige die Schutzgesetzgebung die persönliche Freiheit des Arbeiters, dem die seinen Verdienst schmälernde Sonntagsruhe und kürzere Arbeitszeit aufgezwungen werde, die Freiheit der Frauen, die in die Fabrik gehen wollen, und der Eltern, die ihr Einkommen durch die Arbeit ihrer Kinder zu erhöhen wünschen und oft darauf angewiesen sind. Bismarck legte dies in seiner Reichstagsrede vom 9. Januar 1882 genau dar. Die Arbeiterschaft empfand Bismarcks Stellungnahme zur Schutzgesetzgebung als Hartherzigkeit und Überheblichkeit des reichen Mannes adliger Herkunft, der alles von seinem Herrenstandpunkt aus beurteilt. Tatsächlich fehlte Bismarck ein tieferes Verständnis für das Denken, Fühlen und 62

Hamburg und Bremen im Zollverein die Bedürfnisse des Fabrikarbeiters, mit dem er, der Gutsbesitzer, nicht wie mit dem Landarbeiter in nähere Berührung gekommen ist. Auch mit einer Schutzgesetzgebung hätte er die Arbeiter so wenig für sich gewonnen wie mit der Versicherungsgesetzgebung. Denn viel zu tief hatte die marxistische Lehre mit ihrem Internationalismus und dem Streben nach sozialer und politischer Gleichheit bei der Fabrikarbeiterschaft Wurzel geschlagen, als daß die Sozialdemokratie jetzt durch die Milderung einiger sozialer Härten hätte gewonnen werden können; der ideologische Gegensatz zwischen dem Marxismus und Bismarck war unüberbrückbar.

BISMARCK UND DER REICHSTAG 1880 BIS 1888 Von den innerpolitischen Maßnahmen dieser Jahre erlangten die soziale Gesetzgebung und die Beendigung des Kulturkampfes die größte Bedeutung für das Leben des deutschen Volkes. Bei den dem Reichstag 1880 vorgelegten Anträgen der Regierung ging es hauptsächlich um das 1881 beginnende neue Septennat (S. 38), die Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres, die Verlängerung des Sozialistengesetzes um fünf Jahre, die Verdopplung der Brausteuer und die Einführung einer Stempelsteuer auf Lotterielose. Der Führer der Fortschrittspartei, Eugen Richter, verlangte die Verkürzung des Septennats um vier Jahre, doch stimmte die Mehrheit des Reichstags für die Beibehaltung der sieben Jahre und in Anbetracht der Rüstungen in Frankreich und Rußland für die Erhöhung der Präsenzstärke von 401 000 auf 427 000 Mann, außerdem für Friedensübungen der Ersatzreserve 1. Klasse. Das Sozialistengesetz verlängerte der Reichstag nur um dreieinhalb Jahre; mit den Steueranträgen befaßte er sich erst in der von Mitte Februar bis Mitte Juni 1881 tagenden Session und erklärte unter anderem Aktien und Lotterielose als Stempel- und steuerpflichtig. — Das 1867 in der Verfassung des Norddeutschen Bundes den Hansestädten zugestandene Reservatrecht, daß nur mit ihrer Zustimmung ihre Freihafenstellung, die sich auch auf das zu Preußen gehörige Altona erstreckte, außerhalb des Zollvereins geändert werden dürfe, war auch nach der Reichsgründung in Kraft geblieben. Bismarck forderte 1879 Hamburg und Bremen auf, dem Zollverein beizutreten; die Senate der beiden Städte lehnten dies ab. Bismarck beantragte trotzdem beim Bundesrat die Aufnahme von Altona und eines Teiles von Sankt Pauli in den Zollverein. Im Reichstag mißbilligten die Fortschrittspartei, das Zentrum und der linke Flügel der Nationalliberalen Bismarcks Vorgehen gegen Hamburg und Bremen. Der Bundesrat gliederte nun Altona dem Zollverein ein und beschloß die Zollinie bis Cuxhaven auszudehnen. Dem Druck Bismarcks nachgebend, verstand sich Hamburg 1881 zu der Vereinbarung, im Oktober 1888 dem Zollverein beizutreten; als Gegenleistung wurden ihm zugestanden die Anerkennung seiner Hafen- und Kaianlagen als Freihafendistrikt, für den Ausbau der Dodcanlagen und Speicher ein Beitrag von 40 Millionen Mark, dem der Reichstag 1882 zustimmte, und die Zollverwaltung im Hamburgischen Gebiet. Unter ähnlichen Bedingungen Schloß sich 63

Bismarcks Innenpolitik — Verhältnis zum Reichstag 1880 bis 1888

audi Bremen dem Zollverein an, es erhielt einen Reichsbeitrag von 12 Millionen Mark. Für die Reichstagswahlen vom 27. Oktober 1881 betrieben preußische Beamte eine lebhafte Agitation im Sinne Bismarcks, der im kommenden Reichstag die Invaliden- und Altersversicherung unbedingt durchsetzen und die Mittel hierfür hauptsächlich durch die Einführung der Tabaksteuer aufbringen wollte. Das Eingreifen von Beamten in den Wahlkampf erregte derart Anstoß, daß Wilhelm I. als König von Preußen in einem Erlaß das Verhalten der Beamten zu rechtfertigen suchte: „Mir liegt es fem, die Freiheit der Wahlen zu beeinträchtigen, aber für diejenigen Beamten, die mit Ausführung meiner Regierungsakte betraut sind . . . erstreckt sich die durch den Diensteid beschworene Pflicht auf Vertretung der Politik meiner Regierung auch bei den Wahlen." Soweit der Einfluß der Regierung reichte, schlossen sich Presse und Volksversammlungen der Wahlagitation der Beamten an, wobei das Schlagwort „Patrimonium der Enterbten" eine große Rolle spielte. Aber mit all dieser Agitation wurde das Gegenteil von dem erreicht, was Bismarck von ihr erhofft hatte. Die Bürgerlichen mißtrauten der sozialen Gesetzgebung als einer Brücke zum Staatssozialismus und verwarfen das Tabakmonopol, die Industriellen scheuten die Ausgaben für die Sozialversicherung, außerdem bestanden mancherlei Bedenken wegen Bismarcks Steuerplänen. So gingen viele überhaupt nicht zur Wahl, und die in Opposition stehende Linke zog verstärkt in den Reichstag ein. In den Debatten begründete Bismarck ausführlich und nachdrücklich den Antrag auf das Tabakmonopol, trotzdem lehnte ihn der Reichstag bei der zweiten Lesung im Juni 1882 mit der erdrückenden Mehrheit von 276 gegen 43 Stimmen ab. Im Dezember legte die Regierung den Etat für 1883/1884 vor, den der Reichstag in der üblichen Weise erledigte; dagegen verweigerte er die Beratung des gleichzeitig eingereichten Etats für 1884/1885 als einen verkappten Versuch, die einjährige Budgetperiode in eine zweijährige umzuwandeln. Nach den Neuwahlen vom Herbst 1884 hatten die Regierungsparteien, also Deutschkonservative, Reichspartei und Nationalliberale, insgesamt 160 Abgeordnete; die Oppositionsparteien, also Zentrum, Deutsch-Freisinnige, Sozialdemokraten, die von 10 auf 24 zunahmen, Polen und Elsässer, insgesamt 234 Abgeordnete. Die Nationalliberalen hatten sich im März 1884 unter der Führung Johann Miquels mit der „Heidelberger Erklärung" für ein Programm entschieden, das in den Heeres- und Steuerangelegenheiten und in der Sozialpolitik den Absichten Bismarcks entsprach; die Betonung der Rechte des Reichstags und die Warnung vor reaktionären Bestrebungen richtete sich freilich gegen frühere und spätere Maßnahmen und Äußerungen Bismarcks, die von den Liberalen aller Schattierungen als Herausforderung empfunden wurden. Bismarck hatte 1880 die Bildung eines Volkswirtschaftsrates für Preußen veranlaßt zur Begutachtung von Gesetzen und Verordnungen, die „wichtige volkswirtschaftliche Interessen von Handel, Gewerbe und Land- und Forstwirtschaft betreffen". Die Mitglieder des Rates ernannte der König. Eine derartige Einrichtung wollte Bismarck auch für das Reich schaffen, doch scheiterte sein Vorhaben daran, daß der Reichstag die Mittel für 64

Verschärfung der Spannungen einen „Volkswirtschaftsrat" des Reiches nidit bewilligte. Dieser Plan Bismarcks und dann der, die Budgetperiode auf zwei Jahre auszudehnen, erbitterten die Liberalen als Versuche, den Verfassungsstaat zu untergraben. Besonders reizte Bismarck die Liberalen durch abfällige Beurteilung des Parlamentarismus und Drohungen, wie er sie 1881 dem Fürsten zu Hohenlohe-Schillingsfürst gegenüber aussprach, die Deutschen wüßten mit dem „Nürnberger Spielzeug", das er, Bismarck, ihnen gegeben, nicht umzugehen, sie verdürben es. Wenn es noch so fortgehe, würden die verbündeten Regierungen wieder zum alten Bundestag zurückkehren, nur das militärische und das Zollbündnis behalten, den Reichstag aber aufgeben. In seiner Rede vom 12. Juni 1882 zum Tabakmonopol hielt Bismarck den Abgeordneten vor: „Ich habe zu den deutschen Dynastien das Zutrauen, daß sie den nationalen Gedanken stets hochhalten werden, daß sie ihrerseits die politische und militärische Einheit des Reiches unverbrüchlich bewahren und jeder Versuchung Fremder widerstehen werden und uns dann vielleicht auch über die Gefahren und Krisen hinweghelfen werden, denen das Reich ausgesetzt sein könnte, wenn seine parlamentarische Gestaltung und wenn die Tätigkeit hier im Reichstage vielleicht vorübergehend an dem Marasmus der Fraktionskrankheit leiden sollte, in einer bedenklichen Weise leiden sollte. Darin, meine Herren, habe ich Vertrauen zu der Zukunft unserer Einigkeit. Diese Einigkeit ist die Vorbedingung unserer nationalen Unabhängigkeit. Deshalb hüten Sie sich vor der Zerfahrenheit, der unser deutsches Parteileben bei der unglücklichen Zanksucht der Deutschen und der Furcht vor der öffentlichen Meinung, bei der byzantinischen Dienerei der Popularität, wie sie bei uns eingerissen, ausgesetzt ist." Aus diesen und ähnlichen Äußerungen wurde und wird der Schluß gezogen, Bismarck habe des öfteren allen Ernstes den Umsturz der Verfassung geplant, selbst auf dem Wege eines Staatsstreiches, doch liegen hierfür keine einwandfreien Beweise vor. Uber etwas verärgert oder um etwas durchzusetzen, war Bismarck in der Wahl seiner Worte nicht ängstlich und suchte durch Drohungen einzuschüchtern. Der Ausfall der Herbstwahlen von 1884 und die zunehmende Spannung zwischen Bismarck und den Liberalen, von denen namentlich sein alter Widersacher Eugen Richter jede Gelegenheit zu Vorstößen gegen ihn benutzte, verschärften die Kampfstimmung im Reichstag. Bismarck hatte den Bundesrat veranlaßt, die vom Reichstag wieder einmal beschlossene Zahlung von Diäten für die Abgeordneten und die von der Deutsch-Freisinnigen Partei angeregten verantwortlichen Reichsministerien abzulehnen, worauf der Reichstag kurz nach Eröffnung der ersten Session das Budget des Auswärtigen Amtes kürzte. Derartige, an sich meist geringfügige Zwischenfälle erschwerten die Zusammenarbeit von Regierung und Parlament. Immerhin wurde besonders in der Sozialpolitik, in Zoll- und Steuerfragen eine Reihe positiver Ergebnisse erzielt, schon weil die Oppositionsparteien nicht immer geschlossen vorgingen, und Bismarck eben jetzt in der Kolonialpolitik (S. 100) große Erfolge erzielte. — Kurz nach Beginn der am 19. November 1885 eröffneten zweiten Session reichten die 16 polnischen Abgeordneten im Reichstag eine Interpellation ein wegen der Ausweisung von fast 30 000 aus Rußland und Österreich in Posen und Westpreußen eingewanderten Polen (S. 194). 65 5 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Bismarcks Innenpolitik — Verhältnis zum Reichstag 1880 bis 1888 Dieser Interpellation schlossen sich weitere 155 Abgeordnete verschiedener Parteien an. Der Kaiser und Bismarck waren darüber empört, weil es sich hier an und für sich um eine rein preußische Angelegenheit handelte. Bismarck verlas vor Beginn der Debatte eine Botschaft Wilhelms I.: der Reichsregierung stehe es nicht zu, die „Durchführung von Maßregeln zu hindern, welche von uns in unserem königlichen Preußen bezüglich der Ausweisung ausländischer Untertanen angeordnet worden sind". Dagegen machten alle Parteien mit Ausnahme der Konservativen unter Berufung auf die Reichsverfassung geltend, dem Reich stehe die Beaufsichtigung und die Gesetzgebung über Freizügigkeit, Heimats- und Niederlassungsverhältnisse, Staatsbürgerrecht, Paßwesen und Fremdenpolizei zu. Mitte Januar 1886 beschloß der Reichstag das Tadelsvotum: die Ausweisungen der russischen und österreichischen Staatsangehörigen seien ihrem Umfang und ihrer Art nach nicht gerechtfertigt und widerprächen den Interessen der Reichsangehörigen. Weitere Schritte in dieser Angelegenheit unterließ der Reichstag. Für den Bau des Nordostseekanals bewilligte er 156 Millionen, ein Drittel der Kosten übernahm Preußen. Das Sozialistengesetz verlängerte er nur für zwei, nicht für fünf Jahre, wie Bismarck wieder verlangt hatte, doch kam es deshalb zwischen ihm und dem Reichstag noch nicht zum Bruch, sondern erst bei den Verhandlungen über die Erneuerung des Septennats. Ende November 1886 reichte die Regierung beim Reichstag eine Militärvorlage ein, die eine Erhöhung der Friedensstärke von 427 000 Mann auf 468 000 beantragte und dies wie 1880 mit den Heeresvermehrungen in Frankreich und Rußland begründete. Nach heftigen Auseinandersetzungen, in die Bismarck und auch Moltke eingriffen, ob die außenpolitische Lage wirklich eine derartige Maßnahme erfordere, erklärte sich die Opposition mit dem Regierungsantrag einverstanden, aber nur unter der Bedingung, daß das bisher übliche Septennat (S. 38) in ein Triennat umgewandelt werde, so daß der Reichstag während jeder der drei Jahre dauernden Legislaturperioden zum Heeresbudget und damit zur Stärke der Armee hätte Stellung nehmen können. Bismarck, dem das Budgetrecht des Reichstags in Heeresangelegenheiten schon an und für sich verhaßt war, wies den Vorschlag der Opposition am 11. Januar 1887 mit der grundsätzlichen Erklärung zurück: „Das deutsche Heer ist eine Einrichtung, die von den wechselnden Majoritäten des Reichstags nicht abhängig sein kann. Wer bürgt uns denn dafür, daß eine so heterogene Majorität wie die jetzige eine dauernde sein werde? Daß die Fixierung der Präsenzstärke von der jedesmaligen Konstellation und Stimmung abhängen sollte, das ist eine absolute Unmöglichkeit . . . Der Versuch aus dem Kaiserlichen Heer ein Parlamentsheer zu machen, ein Heer, für dessen Bestand nicht Seine Majestät der Kaiser und die verbündeten Regierungen, sondern die Herren Windthorst und Richter zu sorgen haben, wird nicht gelingen." Vor der zweiten Lesung des Gesetzes über die Militärvorlage und das Septennat legte Bismarck der päpstlichen Kurie nahe, das Zentrum zu veranlassen, daß es für das Septennat stimme, wodurch die endgültige Beilegung des Kulturkampfes sehr erleichtert würde. Die Kurie wies daraufhin die Zentrumsführer Frankenstein und Windthorst durch den päpstlichen Nuntius in München an, den Abgeordneten ihrer Partei die Stimm-

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Neuwahlen von 1887. Wehrgesetz von 1888 abgabe für das Septennat zu empfehlen. Nun hatte das Zentrum dem Vorwurf gegenüber, es wäre keine deutsche, sondern eine ultramontane Partei, welche Befehle von auswärts, vom Papst in Rom empfange und ausführe, immer wieder betont, es gehorche dem Papste nur in religiösen und kirchlichen Angelegenheiten. Frankenstein und Windthorst hielten mit Rücksicht darauf die Mitteilung des Münchner Nuntius geheim. Bismarck ließ jedoch während des Wahlkampfes mit Zustimmung des Papstes dessen Einstellung zur deutschen Heeresverstärkung in der Öffentlichkeit verbreiten. Trotzdem gab das Zentrum entgegen dem Wunsche des Papstes bei der Abstimmung den Ausschlag für die Annahme des Triennats und damit für die Ablehnung des Septennats. Unmittelbar daran anschließend verlas Bismarck eine von ihm vorsorglich bereit gehaltene, die Auflösung des Reichstags anordnende kaiserliche Botschaft. Die endgültige Entscheidung wäre nach dem üblichen Geschäftsgang erst bei der dritten Lesung fällig gewesen; aber Bismarck ließ sich die ihm durch die Abstimmung bei der zweiten Lesung gebotene Gelegenheit, den ihm mit seiner oppositionellen Mehrheit unbequemen Reichstag nach Hause zu schicken, nicht entgehen. An den Neuwahlen im Februar 1887 beteiligten sich fast zwei Millionen mehr als bei den vorigen. Die drei Regierungsparteien, Deutschkonservative, Reichspartei und Nationalliberale, schlossen sich zu einem Wahlkartell zusammen. Dadurch gewannen die „Kartellparteien" die Mehrheit; den größten Zuwachs hatten die Nationalliberalen: mit 99 Abgeordneten zogen sie als stärkste Partei in den Reichstag ein. Anfang März 1887 ging im Reichstag das Gesetz über die Militärvorlage unter Beibehaltung des Septennats mit 227 gegen 31 Stimmen durch. Dieses auffallende Ergebnis kam durch das Verhalten des Zentrums zustande. Der Papst hatte die Stellungnahme des Zentrums in der Frage, ob Triennat oder Septennat, gerügt. Da die Zentrumsabgeordneten nicht abermals den Unwillen des Papstes erregen und auch nicht für das Septennat eintreten wollten, das sie im vorigen Reichstag abgelehnt hatten, beteiligten sie sich bis auf sieben, die jetzt dafür waren, nicht an der Abstimmung. Mit der Genehmigung der Branntweinund der Zuckersteuer und der Erhöhung der Getreidezölle kam dieser Reichstag Bismarck ebenfalls entgegen; auf dessen Monopolpläne ging freilich auch er nicht ein. Außerdem wurde in der ersten Session unter anderem ein Gesetzentwurf zur Reglung der Sonntagsruhe, der Kinder- und Frauenarbeit und eines Maximalarbeitstages vorgelegt und von allen Parteien gebilligt; diesen Antrag für den Arbeiterschutz hatten weder Bismarck noch Mitglieder des Kartells gestellt, sondern zwei Zentrumsabgeordnete. Der Bundesrat versagte jedoch seine Zustimmung. Während der zweiten Session legte die Regierung wieder ein Gesetz über eine Heeresvermehrung vor, die weit über die in der ersten Session vom Reichstag genehmigte hinausging. Seine ausführliche Begründung am 6. Februar 1888, in der er das Verhältnis Deutschlands zu Österreich, Frankreich, Rußland in Vergangenheit und Gegenwart darlegte, Schloß Bismarck: „Wir Deutsche fürchten Gott, aber sonst nichts in der Welt; und die Gottesfurcht ist es schon, die uns den Frieden lieben und pflegen läßt. Wer ihn aber trotzdem bricht, der wird sich über5*

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Bismarcks Innenpolitik zeugen, daß die kampfesfreudige Vaterlandsliebe, welche 1813 die gesamte Bevölkerung des damals schwachen, kleinen und ausgesogenen Preußen unter die Fahnen rief, heutzutage ein Gemeingut der ganzen deutschen Nation ist, und daß derjenige, welcher die deutsche Nation irgendwie angreift, sie einheidich gewaffnet finden wird, und jeden Wehrmann mit dem festen Glauben im Herzen: Gott wird mit uns sein!" Das vom Reichstag ohne Debatte angenommene, am 11. Februar 1888 verkündete Wehrgesetz bestimmte: jeder wehrfähige Deutsche gehört sieben Jahre lang, in der Regel vom vollendeten 20. bis zum beginnenden 28. Lebensjahr dem stehenden Heer an, die ersten drei Jahre bei den Fahnen, die letzten vier in der Reserve, die folgenden fünf Jahre der Landwehr 1. Aufgebots und dann bis zum 39. Lebensjahr der Landwehr 2. Aufgebots. Der Landsturm besteht aus allen Wehrpflichtigen vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 45. Lebensjahr, welche weder dem Heer noch der Marine angehören. Die wichtigste Neuerung war, daß nun die 33—39jährigen, die bisher zum Landsturm gehört hatten, der Landwehr eingegliedert wurden und so im Kriegsfall ungefähr 700 000 Mann mehr ins Feld rücken konnten. Der Kartellreichstag verstand sich auch zur Verlängerung des Sozialistengesetzes bis zum Herbst 1890 und zur Verlängerung der Legislaturperiode von drei auf fünf Jahre; damit sollte verhindert werden, daß die Bevölkerung durch Reichstagswahlen so oft beunruhigt würde und ein neuer, meist anders als der vorige zusammengesetzter Reichstag dieselben Gesetzesvorlagen zu behandeln habe.

BISMARCKS INNENPOLITIK Die Innenpolitik Bismarcks im Reich, deren letzte, unmittelbar von ihm veranlaßte Entscheidungen das Wehrgesetz vom 11. Februar und das Gesetz über fünfjährige Legislaturperioden vom 19. März 1888 waren, wurde und wird vielfach abfällig beurteilt. In so manchen Fällen weist sie tatsächlich Mißgriffe auf und führte zum Gegenteil des Angestrebten. Mit dem Kulturkampf, schon an sich ein schwerer Fehlschlag, wollte Bismarck namentlich auch das Zentrum treffen, das im ersten Reichstag mit 58 Abgeordneten vertreten war; aber gerade als Verteidiger der katholischen Kirche gegen staatliche Übergriffe wuchs es rasch zu einer der stärksten Parteien heran und war bei den Wahlen den geringsten Schwankungen unterworfen, von 1874 bis 1887 zogen jeweils 91 bis 99 Zentrumsabgeordnete in den Reichstag ein. Das Sozialistengesetz erzielte die von Bismarck beabsichtigte Wirkung keineswegs, es verbitterte den größten Teil der Arbeiterschaft nur noch mehr, und die Sozialdemokraten priesen später die Jahre, in denen sie unter dem Sozialistengesetz gestanden waren, als ihre Heldenzeit. Hauptsächlich wird Bismarck zum Vorwurf gemacht, er habe nicht verstanden, die Industriearbeiter von ihrer unbedingten Opposition gegen den Staat und die Gesellschaftsordnung abzubringen, und das Bürgertum durch allmählichen Ausbau des parlamentarischen Systems zu selbständigem, verantwortungsbewußtem 68

Zusammenfassung Denken und Handeln in Staatsangelegenheiten zu erziehen. Nun war freilich bei der damaligen Einstellung des größten Teiles der Fabrikarbeiter zur Politik und Gesellschaftsordnung die Abkehr der Sozialdemokraten von ihrer rein marxistischen internationalen Haltung ausgeschlossen, und ob sich das deutsche Schicksal unter einem mehr parlamentarischen und demokratischen Regime günstiger gestaltet hätte, bleibt wie alles, was nicht Wirklichkeit geworden ist, fraglich. Graf Leo von Caprivi, der Nachfolger Bismarcks, klagte darüber, daß dieser das deutsche Beamtentum schwer geschädigt habe, „indem er jeden Widerspruch persönlich nahm und die Charaktere beugte oder entfernte". Dasselbe gilt aber auch von Wilhelm II., so daß Bismarcks Verhalten für die weitere Entwicklung und ihre Auswirkung nicht allein verantwortlich zu machen ist. Den Mißgriffen und Fehlschlägen von Bismarcks Innenpolitik stehen als große Leistungen gegenüber die Reichsverfassung, eine die Reichseinheit fördernde Gesetzgebung, die sich auf weite Gebiete des Rechtswesens und des Wirtschaftslebens erstreckte, die Errichtung von Reichsbehörden und vor allem die sozialpolitische Versicherungsgesetzgebung. Manche der Unzulänglichkeiten in Bismarcks Innenpolitik erklären sich daraus, daß er der Außenpolitik den Vorrang gab.

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Außenpolitik

Dreikaiserabkommen Durch den deutschen Sieg über Frankreich 1870/71 und die Gründung des Deutschen Reiches wurde die internationale Lage wesentlich geändert. Jetzt war Deutschland, nicht mehr Frankreich, neben Rußland die stärkste Macht auf dem europäischen Festland. Für Bismarck war Deutschland nun „saturiert", womit er ausdrücken wollte, daß Eroberungspolitik ihm fern läge. Im Ausland befürchtete man jedoch, Bismarck würde, wie er 1866 Hannover, Hessen-Kassel und Frankfurt für Preußen und dann 1871 Elsaß-Lothringen für das Reich annektiert hatte, jede sich bietende Gelegenheit zur Vergrößerung Deutschlands benutzen. Mit der Gegnerschaft des über die Schmach der Niederlage und des Verlustes von ElsaßLothringen erbitterten Frankreich, das nach der Zurückgewinnung seiner früheren Stellung unter den europäischen Mächten nach „Revanche" trachtete, mußte stets gerechnet werden. Wenn es etwa wegen ihrer Interessengegensätze auf dem Balkan zwischen Österreich und Rußland zu einem Kriege kam, war zu erwarten, daß sich beide Mächte um die Bundesgenossenschaft Frankreichs bemühen würden; derjenige, dem Frankreich beistehe, würde den Krieg gewinnen, und dann zum Dank für die Unterstützung Frankreich gegen Deutschland beistehen, welches hinwiederum von keiner Seite Hilfe erhalten werde. Die Anbahnung einer Verständigung zwischen Österreich und Rußland war deshalb Bismarcks erste Sorge. Österreich hatte nach der französischen Niederlage jede Hoffnung aufgegeben, Verhältnisse wieder herzustellen ähnlich denen des einstigen Deutschen Bundes, in dem es die Führung hatte, und erstrebte nun gute Beziehungen zum Deutschen Reich. Auf Befehl Kaiser Franz Josefs beteiligte sich General von Gablenz an den Feierlichkeiten bei dem Einzug der Truppen in Berlin am 16. Juni 1871. Bei dieser Gelegenheit versicherte ihm Bismarck, Deutschland wünsche Freundschaft mit Österreich und habe keinerlei Absichten, sich die rein deutschen Gebiete Österreichs anzugliedern, worüber damals mancherlei Gerüchte umgingen; Bismarck betonte aber auch, daß etwaige deutsch-österreichische Vereinbarungen nichts Feindseliges gegen Rußland enthalten dürften. Bald darauf, im August, trafen sich der deutsche Kaiser und der Kaiser von Österreich in Ischl und nochmals in Salzburg, Bismarck und der österreichische Ministerpräsident Graf Friedrich Ferdinand Beust begegneten sich in Gastein. Diese Vorgänge zeigten dem Ausland, daß die früheren Spannungen behoben waren. Schon im nächsten 70

Dreikaiserabkommen Monat kamen Wilhelm I. mit Bismarck und Franz Josef mit Beust und dem ungarischen Ministerpräsidenten Graf Julius Andrassy wieder in Salzburg zusammen. Bismarck erklärte hier, am besten wäre ein österreichisch-deutsch-russisdies Bündnis; Beust wollte statt dessen ein gemeinsames Handeln der drei Mächte auf einzelne besonders wichtige internationale Angelegenheiten beschränken; und Andrassy, als Ungar ein Feind Rußlands, war zunächst überhaupt gegen ein Abkommen mit dem Zaren. Im Frühjahr 1872 äußerte Kaiser Franz Josef den Wunsch, während der Herbstmanöver Kaiser Wilhelm in Berlin zu besuchen. Mitte Juli ließ der Zar in Berlin anfragen, ob man damit einverstanden wäre, daß er zur selben Zeit wie der österreichische Kaiser dorthin komme. Mit Rußland stand Bismarck seit dem Krimkrieg (1853/56) in gutem Einvernehmen. Die russische Neutralität und die Drohung vom Juli 1870 gegenüber Österreich, falls es sich an der Seite Frankreichs am Kriege beteilige, war eine der Voraussetzungen für den deutschen Sieg gewesen, und Bismarck hatte mit der Anregung der Londoner Konferenz (Januar bis März 1871), in der alle Mächte Rußland die Stationierung einer Kriegsflotte im Schwarzen Meer zugestanden, Rußland einen großen Dienst erwiesen. Bei dem freundschaftlichen Verhältnis zu Österreich und Rußland kam der deutschen Regierung die Anfrage Alexanders II. sehr erwünscht, und da der im Juli von Kaiser Franz Josef veranlaßte Besuch eines Erzherzogs in Petersburg die Spannung zwischen Österreich und Rußland gemildert hatte, stand einer Zusammenkunft der drei Monarchen in Berlin nichts mehr im Wege. Im September trafen hier der Zar und der Kaiser von Österreich ein. Die Beratungen führten zu keinem greifbaren Ergebnis; immerhin wurde vereinbart, daß in Zukunft die drei Mächte alle wichtigen Fragen der internationalen Politik miteinander besprechen würden. Anfang Mai 1873 besuchte Kaiser Wilhelm, begleitet von Bismarck und Moltke, den Zaren in Petersburg. Der Kaiser und der Zar schlossen nun eine Militärkonvention ab, in der sie sich verpflichteten, wenn eines der beiden Länder von einer europäischen Macht angegriffen würde, werde ihm das andere mit 200 000 Mann zu Hilfe kommen. Der Vertrag sollte mit zweijähriger Kündigungsfrist weiterlaufen. Während eines Aufenthaltes in Wien wollte der Zar den Kaiser Franz Josef für den Anschluß an die Militärkonvention gewinnen. Der Kaiser ging nicht darauf ein, um zu vermeiden, daß er in einen etwaigen deutschfranzösischen Krieg verwickelt würde, und so wurde am 6. Juni zu Schönbrunn vereinbart: bei Differenzen zwischen Rußland und Österreich sei im Geiste des Friedens zu verhandeln; der Kaiser und der Zar verpflichteten sich zu gegenseitiger Verständigung über ein gemeinsames Vorgehen, falls eine dritte Macht den Frieden in Europa störe; ergebe sich die Notwendigkeit eines militärischen Einschreitens, sei es durch eine Sonderkonvention zu regeln; zweijährige Kündigungsfrist. Als Wilhelm I. im Oktober diesen Vereinbarungen beitrat, erweiterte sich das Zweikaiser- zum Dreikaiser-Abkommen. Dieses hob zwar die deutschrussische Militärkonvention nicht formell auf, praktisch wurde sie aber fraglich durch die einer endgültigen Entscheidung ausweichende Bestimmung, im Ernstfalle habe der Waffenhilfe eine Sonderkonvention der drei Mächte voranzugehen. 71

Bismarcks Außenpolitik Ebenso vermied man bei den Verhandlungen den Versuch einer Klärung der seit langem bestehenden Unstimmigkeiten zwischen Österreich und Rußland und begnügte sich mit der Aufnahme eines Artikels über die Bereitwilligkeit zu Verhandlungen in den Vertrag des Kaiserabkommens. Eine sichere Gewähr für Aufrechterhaltung des Friedens bot dieses Abkommen nicht, da es mit dem Hinweis auf weitere Verhandlungen von Fall zu Fall alles in der Schwebe ließ; aber es trug wesentlich zur Beruhigung der Befürchtungen bei, die der überwältigende deutsche Sieg und der französische Wunsch nach Revanche hervorgerufen hatten. An dem ehrlichen Friedenswillen Deutschlands konnte man nun nicht mehr zweifeln, und für die nächste Zukunft waren ernstliche Konflikte zwischen Österreich und Rußland wie auch ein Revanchekrieg des durch das Dreikaiserabkommen und durch die Annäherung Italiens an die Dreikaisermächte isolierten Frankreich ausgeschlossen. Holland, Belgien und die Schweiz bemühten sich nun um gute Beziehungen mit dem zu einer europäischen Großmacht ersten Ranges aufgestiegenen Deutschland, nachdem sie sich davon überzeugt hatten, daß es nicht an eine Annexion ihrer deutschsprachigen Gebiete denke; auch König Oskar von Schweden stellte sich freundschaftlich zu Deutschland. Verhältnis

zu Frankreich und Rußland.

Der Fall

Arnim

In Frankreich hatte auf die Nachricht von der Kapitulation Sedans im September 1870 ein Teil der Deputierten unter dem Druck einer revolutionären Volksmenge, ohne auf Widerstand zu stoßen, die Republik ausgerufen. Fünf Monate später überwogen bei den Wahlen für die Nationalversammlung die Monarchisten bei weitem; doch hielten die Abgeordneten es für geraten, solange feindliche Besatzungstruppen im Lande ständen, die Entscheidung über die Verfassung zurückzustellen, und ernannten Ende August Adolf Thiers, seit Februar Chef der Exekutivgewalt, auf drei Jahre zum Präsidenten der Republik. Die Monarchisten setzten auf ihn ihre Hoffnung. Thiers hielt jedoch an der Republik fest, weil er mit Recht annahm, unter einem republikanischen Regime ließe sich die innere Einheit des durch den Krieg und seine Folgeerscheinungen wie den Kommuneaufstand zu tiefst erschütterten Frankreich leichter erzielen und die erfolgreiche wirtschaftliche und militärische Aufbauarbeit ungestörter fortsetzen als mit den Monarchisten, die in die drei einander befehdenden Gruppen der Legitimisten (Anhänger der bourbonischen Hauptlinie), der Orleanisten und der Bonapartisten zersplittert waren. Als die Monarchisten in der Nationalversammlung von Thiers am 14. Mai 1873 eine in Widerspruch zu seiner Uberzeugung stehende Umbildung des Ministeriums verlangten, trat er von seinem Amte zurück. Sein Nachfolger wurde Marschall Mac Mahon. Schon schien es, ihm werde gelingen, dem Thronprätendenten der Legitimisten Graf Heinrich von Chambord, für den jetzt auch die Orleanisten eintraten, die Wege zum Throne zu ebnen. Mac Mahons Bemühungen scheiterten jedoch schließlich an der Weigerung Chambords, die 1789 in der französischen Revolution und dann wieder 1830 bei der Julirevolution 72

Verhältnis zu Frankreich und Rußland. Der Fall Arnim von dem „Bürgerkönig" Ludwig Philipp von Orleans eingeführte blau-weiß-rote Fahne zu übernehmen. Chambord konnte sich nicht entschließen, das weiße Lilienbanner seines Hauses, das Symbol des Königtums von Gottes Gnaden, mit der Trikolore, dem Sinnbild der Revolution, zu vertauschen. Die Orleanisten und auch viele Legitimisten forderten das unbedingte Festhalten an der Trikolore; denn die breite Masse des Volkes befürchtete, mit dem Lilienbanner würde das verhaßte ancien régime zurückkehren. So wäre das Hissen des Lilienbanners zum Fanal eines Bürgerkrieges geworden. Mac Mahon stellte deshalb die Frage der Monarchie bis auf weiteres zurück, ohne die Hoffnung auf eine spätere Wiederkehr des Königtums ganz aufzugeben. Um die Jahreswende 1871/72 kamen die normalen diplomatischen Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich wieder in Gang. Graf Harry von Arnim, der seit August als Gesandter in außerordentlicher Mission in Paris weilte, wurde zum Botschafter ernannt und Armand Vicomte de Gontaut-Biron zum französischen Botschafter in Berlin. Während der Franzose hier freundliche Aufnahme fand, hatte der Deutsche in Paris, wie nicht anders zu erwarten, einen schweren Stand. Mißlicher war, daß Arnim den Weisungen Bismarcks entgegen handelte. Der Reichskanzler glaubte, da mit Ausnahme der Schweiz in allen europäischen Staaten Monarchen an der Spitze standen, könne ein monarchisches Frankreich leichter Bundesgenossen finden als ein republikanisches. Bismarck besorgte überdies, wenn Graf Chambord auf den Thron käme, werde er, ein treuer Anhänger des Papsttums, zur Wiederherstellung des Kirchenstaates auf ein Bündnis katholischer Mächte hinarbeiten, das sich auch gegen das protestantische Kaisertum des neuen Deutschen Reiches richten würde — einer der Gesichtspunkte, die Bismarck im Kulturkampf leiteten. Der deutsche Botschafter sollte deshalb Thiers in der Erhaltung der republikanischen Verfassung möglichst unterstützen. Arnim war dagegen der Ansicht, Thiers werde in Kürze dem Druck der auf alsbaldige Revanche Drängenden und der radikalen Linken weichen müssen; die deutsche Politik gegenüber Frankreich sollte sich deshalb mit den Bonapartisten in Verbindung setzen. Arnim besprach sich hierüber mit Vertretern der französischen Regierung und sandte in diesem Sinne Immediatberichte an Kaiser Wilhelm, der Bismarck von ihrem Inhalt verständigte. Als Thiers im Mai 1873 als Präsident zurücktrat und ihm der von den Monarchisten gewählte Mac Mahon nachfolgte, sah Arnim darin die Richtigkeit seiner Auffassung bestätigt. Bismarck warf Arnim aber vor — ob mit Recht oder Unrecht, ist nicht geklärt — er habe mit seinen Umtrieben diesen Wechsel herbeiführen helfen, erteilte Arnim eine offizielle Rüge und beschuldigte ihn, seine Befugnisse überschritten zu haben. Nach weiteren Auseinandersetzungen erfolgte Anfang April 1874 Arnims Abberufung aus Paris. Ein gleichzeitig erschienener Presseartikel „Diplomatische Enthüllungen" erweckte den Anschein, Arnim habe 1870 als preußischer Gesandter in Rom, anders als sein Chef, die Folgen des Dogmas von der päpstlichen Unfehlbarkeit richtig vorausgesehen, und erbitterte Bismarck noch mehr. Auf die Mitteilung von Fürst Chlodwig zu Hohenlohe-Schillingsfürst, Arnims Nachfolger in Paris, im Archiv 73

Bismarcks Außenpolitik der Botschaft fehlten mehrere Akten und Arnim verweigere die Herausgabe, wurde dieser in den einstweiligen Ruhestand versetzt. Mit der Begründung, als Beamter im Ruhestand habe er keine dienstlichen Verpflichtungen, behielt Arnim einen Teil der Akten, worauf der Kaiser einem gerichtlichen Verfahren gegen ihn zustimmte. Am 9. Dezember 1874 wurde vor dem Berliner Stadtgericht der Prozeß eröffnet; er war eine europäische Sensation. Das Stadtgericht verurteilte Arnim in erster Instanz zu drei Monaten Gefängnis wegen vorsätzlicher Beiseiteschaffung amtlicher Urkunden, in zweiter Instanz zu neun Monaten. Arnim war inzwischen nach der Schweiz ausgewichen. In Zürich erschien 1876 anonym die Broschüre „Pro Nihilo! Vorgeschichte des Arnimschen Prozesses". Ob Arnim die Schrift verfaßt hat, ist ungewiß, jedenfalls geht auf ihn die Anführung von Äußerungen des Kaisers und Bismarcks zurück. Ob sie, wie etwa die Bemerkung des Kaisers: die Rancüne sei der vorherrschende Charakterzug Bismarcks, wahrheitsgetreu wiedergegeben sind, erscheint bei der ganzen Art Arnims höchst zweifelhaft. Wenn er auch gelegentlich einzelnes richtiger beurteilte als Bismarck, war Arnim doch nicht der überragende Politiker, für den er sich hielt und von manchen gehalten wurde. Und wenn er etwa zur Zeit des Vatikanischen Konzils vorschlug, ein Gegenkonzil aus Vertretern der Regierungen einzuberufen, so zeigt dies, daß ihm die wichtigste Voraussetzung für einen Diplomaten, der Blick für das Mögliche, fehlte. Bismarcks Bedenken gegen Arnims Ernennung zum Botschafter in Paris wegen dessen „so unsicheren und wenig glaubwürdigen Charakters" erwiesen sich also als durchaus berechtigt. Andererseits hat dann Bismarck nicht nur aus sachlichen, sondern auch aus persönlichen Gründen Arnim, der lange Zeit in der Gunst des Kaisers und noch mehr der Kaiserin stand, und der die Nachfolgerschaft Bismarcks als Reichskanzler anstrebte, rücksichtslos bekämpft. Arnim galt auch anderen bei aller Anerkennung seiner Intelligenz als unzuverlässig, hinterlistig, eitel und überheblich. Gewiß war er in keiner Hinsicht eine überragende Persönlichkeit; für uns aber geben das Aufsehen, das er erregte, und die mannigfachen Intrigen, in die er verwickelt war, einen aufschlußreichen Einblick hinter die Kulissen des damaligen politischen Treibens. Nachdem Mac Mahons Versuch einer Wiederherstellung des Königtums gescheitert war, einigten sich im Januar und Februar 1875 die Republikaner und ein großer Teil der Orleanisten auf grundlegende Verfassungsbestimmungen. Die Verfassung Schloß schwere innerpolitische Krisen nicht aus, blieb aber doch mit geringen Abänderungen über 70 Jahre in Geltung und ermöglichte eine straffere Führung der Innen- und Außenpolitik. Französische Bischöfe hatten 1873 in Hirtenbriefen zum Gebet für die Rückgewinnung von Elsaß-Lothringen aufgefordert und die deutschen Bischöfe zum Ausharren im Kulturkampf ermutigt. An sich hatten diese Äußerungen, gegen die Arnim als Botschafter in Paris protestierte, nicht viel zu bedeuten, aber sie stimmten doch bedenklich in Verbindung mit den mannigfachen Nachrichten, wie sehr alle französischen Parteien auf einen Revanchekrieg sannen. Mehr Besorgnis erregte der Beschluß der französischen Nationalversammlung vom 13. März 1875, die Armee um 144 Bataillone zu verstärken. Am bedrohlichsten 74

„Krieg-in-Sicht"-Krisis 1875 schienen die Nachrichten aus Rußland, es plane eine aktive Politik auf dem Balkan. Ein Konflikt mit österreichischen Interessen und damit eine Gefährdung des Dreikaiserabkommens wären dabei kaum zu vermeiden gewesen. Um sich Klarheit über die Absichten des leitenden russischen Staatsmannes Alexander Michailowitsch Gortschakow zu verschaffen und um gegen sein anmaßendes Verhalten im diplomatischen Verkehr Einspruch zu erheben, sandte Bismardc im Februar Josef Maria von Radowitz, der als einer seiner besten Mitarbeiter in der Außenpolitik galt, nach Petersburg. Die Mahnung zu freundschaftlicherem Entgegenkommen errregte derartigen Anstoß, daß Radowitz von da an als Feind Rußlands in Verruf kam; über ein etwaiges Vorgehen Rußlands auf dem Balkan erhielt er nur unbefriedigende Auskunft, und auf die Anregung, Rußland solle bei seinen guten Beziehungen zu Frankreich der dort herrschenden deutschfeindlichen Stimmung entgegenwirken, ging Gortschakow überhaupt nicht ein. Radowitz' Mission war also erfolglos. Überdies knüpfte sich an sie das in der Öffentlichkeit als bare Münze hingenommene Gerücht, Radowitz habe Gortschakow „freie Hand auf dem Balkan angeboten", falls Deutschland dadurch nicht gehindert werde, „von neuem über Frankreich herzufallen". Anfang April 1875 trafen sich Kaiser Franz Josef und der italienische König Viktor Emanuel in Venedig. Damit wollte der Kaiser den endgültigen Verzicht auf die Rückgewinnung des lombardo-venetianischen Königreichs, das er 1859/ 1866 an Italien hatte abtreten müssen, zum Ausdruck bringen, womit alle Hindernisse für ein etwaiges österreichisch-italienisches Bündnis beseitigt werden sollten. Die Vorbereitungen für diese Zusammenkunft waren geheimgehalten worden. Das erweckte in Bismardc den Verdacht, die beiden Monarchen hätten die Beteiligung Kaiser Wilhelms an ihren Besprechungen vermeiden wollen, da sie, wie Bismarck vermutete, auf eine gegen das die katholische Kirche bekämpfende Deutschland gerichtete französisch-österreichisch-italienische Allianz unter Führung des Papstes und auf einen Ausgleich zwischen dem Vatikan und dem Königreich Italien abzielten. In diesem tatsächlich völlig unbegründeten Verdacht wurde Bismarck bestärkt durch den die Altkatholiken aufs schärfste verurteilenden Hirtenbrief des Wiener Erzbischofs Kardinal Josef Rauscher vom 7. April und vor allem von dem begeisterten Beifall der französischen Presse zu dem Monarchentreffen in Venedig.

„Krieg-in-Sicht"-Krisis

1875

Die durch die französische Heeresvermehrung, die Sondermission des Gesandten Radowitz in Petersburg und die Zusammenkunft des Kaisers von Österreich und des Königs von Italien hervorgerufene Beunruhigung wurde durch mehrere Zeitungsartikel zu einer förmlichen Krisis gesteigert. Den ersten dieser Artikel „Neue Allianzen" in der „Kölnischen Zeitung" vom 5. April 1875 verfaßte der Legationsrat und Leiter des Pressewesens im Berliner Auswärtigen Amt, Ludwig Aegidi. Er wies auf die Verstärkung der französischen Armee hin und erwog 75

Bismarcks Außenpolitik die Möglichkeit einer Aussöhnung des Papstes mit dem Königreich Italien und einer Allianz, wie sie Bismarck befürchtete. Vier Tage später erschien in der Berliner „Post" der Artikel „Ist der Krieg in Sicht?" von Konstantin Rößler; er hat ihn offenbar nicht im Auftrag des Auswärtigen Amtes geschrieben; jedoch gibt der Artikel in verschiedenen Punkten die Auffassung Bismarcks von der damaligen Lage wieder. Die Frage der Uberschrift beantwortete Rößler: „Der Krieg ist allerdings in Sicht, was aber nicht ausschließt, daß die Wolke sich zerstreut. Ob es den ultramontanen Intrigen in Österreich gelingt, Andrassy zu stürzen, ist nur an sich fraglich . . . Dennoch kann man die Möglichkeit nicht ableugnen, daß die Heereskreise, deren Stimmung der kürzlich veröffentlichte Brief des Erzherzogs Salvator abspiegelte, imstande sein könnten, den Staat zu einer Aktion in ihrem Sinne fortzureißen . . . Das Papsttum ist im Grunde nichts anderes als die Weltherrschaft der italienischen Prälatur . . . Um den Preis, daß das Papsttum zugunsten Italiens auf seinen italienischen Landbesitz verzichtet, um seine Weltherrschaft, ungestört von Italien, allein ins Auge zu fassen, wird der größte Teil der höheren Klassen Italiens zu einem Bündnis gegen Deutschland vollkommen bereit sein." Nachdem sich Bismarck davon überzeugt hatte, daß seine Vermutungen über den Zweck der Monarchenzusammenkunft in Venedig nicht zutrafen, erklärte die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" am 10. April, die Berliner „Post" habe die allgemeine Lage zu düster beurteilt, auch träfen die Bemerkungen über Österreich und Italien nicht zu, die militärischen Maßnahmen Frankreichs gäben allerdings zu ernstlichen Befürchtungen Anlaß. Trotz dieses und eines weiteren von Bismarck veranlaßten Artikels in der offiziellen „Provinzialkorrespondenz" hielt im Ausland und in Deutschland die von der Presse geschürte Erregung an, zumal da immer wieder neue beunruhigende Nachrichten auftauchten: Bismarcks Weisung an die deutschen Vertreter im Ausland, sie sollten die betreffenden Regierungen auf die den Frieden gefährdenden französischen Rüstungen aufmerksam machen und darauf, daß Deutschland nicht jede Heeresvermehrung Frankreichs hinnehmen könnte. Am 21. April traf sich Radowitz in Berlin bei dem englischen Botschafter Lord Odo Rüssel mit dem französischen Botschafter Gontaut-Biron. Nach dessen Bericht äußerte Radowitz nach dem Diner: „Können Sie versichern, daß Frankreich, wenn es seinen alten Wohlstand zurückgewonnen und seine Armee reorganisiert hat, nicht Bundesgenossen finden wird, die ihm heute fehlen, und werden es dann nicht seine Ressentiments, die es wegen der Fortnahme der zwei Provinzen (Elsaß und Lothringen) sehr natürlicherweise bewahrt, unvermeidlich dazu drängen, Deutschland den Krieg zu erklären? . . . Wenn die Revanche der geheime Gedanke Frankreichs ist — und es kann nicht anders sein — warum sollen wir mit unserem Angriff warten, bis es erholt ist und Bundesgenossen hat? Geben Sie zu, daß diese Deduktionen vom politischen, philosophischen, ja selbst vom christlichen Standpunkt aus begründet sind?" Radowitz behauptete nachträglich, er habe damit nur die Ansicht der von der Regierung unabhängigen Presse und von Parteiführern wiedergegeben. Gontaut veranlaßt indes seine Regierung, die anderen europäischen Mächte auf die als drohend empfundene Haltung Deutsch76

„Krieg-in-Sidit"-Krisis 1875 lands aufmerksam zu machen. Die Wirkung der Äußerung von Radowitz wurde noch verstärkt durch Bemerkungen Moltkes wie die vom 30. April gegenüber dem belgischen Gesandten in Berlin, die Vermehrung der französischen Armee „ist der Angriff in kurzer Zeit, wir werden ihn nicht abwarten"; ähnlich am 2. Mai bei einem langen Gespräch mit Lord Odo Rüssel. In einem Schreiben vom 3. Mai wies der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Bernhard Ernst von Bülow darauf hin: „Wir können daran erinnern, daß seit drei Jahrhunderten Frankreich, sobald es sich dazu hinlänglich stark fühlte, stets die Initiative des Uberfalls und Angriffs gegen Deutschland genommen hat, und für uns daraus die Lehre ziehen, daß wir einem so händelsüchtigen Nachbarn gegenüber dauernd auf der Hut bleiben müssen"; auch Bismarck könne sich nicht der Wahrnehmung verschließen, daß „das Endziel der französischen Bestrebungen die möglichst baldige Instandsetzung der Armee zu einem Feldzug gegen Deutschland bleibe". Neben solchen fehlten auch friedliche und auf Vermittlung bedachte Stimmen nicht. So hatte Kaiser Wilhelm bereits Mitte April erklärt, die Krise sei beendet, „völlig beendet". Thiers meinte, Frankreich könne durch Zahlung einer hohen Geldsumme Elsaß-Lothringen zurückgewinnen, worauf Bülow später in einem Schreiben an den deutschen Botschafter in Paris, Fürst Hohenlohe-Schillingsfürst, erwiderte: der Besitz von Elsaß-Lothringen „bildet gegenüber einer Nachbarnation von so unruhigem Charakter, und die zugleich über so gewaltige Machtmittel gebietet, für Deutschland die einzig sichere Schutzwehr. Der Besitz von Straßburg und Metz ist für Deutschland eine nationale Notwendigkeit". Der französische Außenminister Louis Herzog von Decazes sagte in diesen Tagen zum Fürsten Hohenlohe, er wünsche, daß Frankreich und Deutschland eine Grundlage fänden, auf der sie in gegenseitigem Verstehen zusammen arbeiten könnten; was diesen Wunsch besonders glaubhaft erschienen ließ, war die Bemerkung des Herzogs, nur an dem Kampfe gegen den Papst könne er sich nicht beteiligen, denn „das wäre der Bürgerkrieg". Bismarck war durchaus bereit, auf Decazes Anregung einzugehen, damit er in der Außenpolitik nicht mehr so wie bisher auf Rußland angewiesen wäre. Decazes aber sandte zur selben Zeit nach London, Petersburg, Wien, Rom, Brüssel und in den Haag Berichte über das Gespräch von Radowitz mit Gontaut vom 21. April, über Moltkes Äußerungen und die deutschen Presseartikel, um die Mächte von den deutschen „Angriffsgelüsten gegen das friedfertige Frankreich" zu überzeugen und forderte sie auf, in Berlin Schritte zur Aufrechterhaltung des Friedens zu unternehmen. In England war man so schon von der deutschen Kriegslust überzeugt und wünschte ein möglichst stark gerüstetes Frankreich, damit es in der internationalen Politik ein Gegengewicht gegen Deutschland bilde und nicht einen engeren Anschluß an Rußland, den Rivalen Englands im Orient, suche. Da ein lange angekündigter Besuch des Zaren in Berlin jetzt unmittelbar bevorstand, wandte sich der englische Außenminister Lord Derby im Einverständnis mit dem Premierminister Benjamin Disraeli an Österreich und Italien, sie sollten gemeinsam mit England Rußlands Bemühungen um Wahrung des Friedens fördern, und sandte an Lord Rüssel ein Telegramm mit dem Auftrag, Bismarck die Vermittlung Englands 77

Bismarcks Außenpolitik für den Ausgleich der deutsch-französischen Mißverständnisse anzubieten und die gleichgerichteten Bemühungen des Zaren zu unterstützen. Österreich beteiligte sich an der von England vorgeschlagenen Friedensaktion nicht, worüber Rußland sehr enttäuscht war. Am 10. Mai trafen der Zar und Gortschakow in Berlin ein. An diesem Tag brachte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" halbamtlich die Erklärung, zwischen Deutschland und Frankreich gebe es nicht den geringsten beunruhigenden Zwischenfall, und Bismarck empfing Lord Rüssel, dem er versicherte, es bestünde keinerlei Anlaß für einen Krieg oder auch nur zur Angst vor einem Krieg; er wünsche und erstrebe die Erhaltung des Friedens ebensosehr wie die englische Regierung. Auch Gortschakow beteiligte sich zeitweise an dieser Besprechung, und am folgenden Tag betonte er dem französischen Botschafter Gontaut gegenüber: „Bismarck ist durchaus friedfertig"; trotzdem hat Gortschakow in Telegrammen an die russischen Botschafter im Ausland den Anschein zu erwecken gesucht, im wesentlichen wäre es der Vermittlung des Zaren und seiner selbst zu verdanken, daß der Ausbruch eines Krieges verhindert wurde. Hierzu veranlaßten Gortschakow persönliche und sachliche Gründe: er hatte die Verstimmung über die Mission von Radowitz noch nicht überwunden; auch wollte er zeigen, daß er Bismarck als Politiker überlegen sei, und seine Popularität beim russischen Volke steigern, welches Deutschland abgeneigt war, gleichviel wie die Regierungen zueinander standen; außerdem hoffte Gortschakow, Frankreich werde nun Rußland in seiner Orientpolitik unterstützen. Im Januar 1876 sagte Odo Rüssel zu Bismarck, das Vorgehen der englischen Regierung im vergangenen Jahre zur Beilegung der Krise wäre ein faux-pas gewesen, und bald darauf suchte Gortschakow den deutschen Botschafter in Petersburg davon zu überzeugen, daß es ihm bei seinem Besuch in Berlin nur darum gegangen sei, die Grundlosigkeit der Angst vor einem drohenden Krieg aufzuzeigen. Derartige nachträgliche Erklärungen änderten indes nichts an der Tatsache, daß nun Frankreich seine Rüstungen ungestört fortsetzen konnte, weil es im Falle eines deutschen Präventivkrieges auf den Beistand Englands und Rußlands rechnen durfte, und daß Bismarcks Vertrauen auf Rußland als Bundesgenossen infolge der Intrigen Gortschakows erschüttert war. Andererseits kamen sich Deutschland und Österreich wegen dessen Weigerung, sich an der englisch-russischen Friedensaktion zu beteiligen, noch näher. Für Bismarck war das Ganze eine Mahnung zu möglichst vorsichtiger Führung der Außenpolitik, um nicht das Mißtrauen anderer Mächte zu erregen; er veranlaßte die Neuorganisation des Pressedienstes im Auswärtigen Amt und bewog Kaiser Wilhelm, dem Generalstab jede Einmischung in die auswärtige Politik zu verbieten.

Balkankrieg

1876—1878

Vor seiner Abreise aus Berlin am 13. Mai hatte der Zar die Mitglieder des Diplomatischen Corps empfangen und ihnen eröffnet, daß der Friede gesichert sei; doch begannen ihn bereits im Sommer dieses Jahres Unruhen auf dem Balkan 78

Balkankrieg 1876—1878 ernstlich zu gefährden. Die Türkei befand sich seit langem in Finanznöten, die sich unter dem verschwenderischen Sultan Abdul Aziz (1861/1876) ins Unermeßliche steigerten. Die sich daraus ergebenden Lasten bürdete die Regierung den Christen auf, die in den türkischen Gebieten westlich des Seihwarzen Meeres den Hauptteil der Bevölkerung bildeten. Am meisten litten unter diesem Druck die Christen in dem unfruchtbaren Karstland der Herzegowina; im Juli 1875 griffen sie zu den Waffen gegen die türkische Regierung und gegen die mohammedanischen Grundherren, ebenso dann im August in Bosnien. Ende April 1876 brachen in Bulgarien Unruhen aus. Von den Vorgängen am Balkan wurden am unmittelbarsten Österreich und Rußland berührt. Geheimbünde, seit 1866 besonders die serbische Omladina (Jugend), strebten die Vereinigung aller Südslawen, auch der in ÖsterreichUngarn, in einem eigenen nationalen Staat unter serbischer Führung an. Damit hätte Österreich-Ungarn nicht nur weite Gebiete eingebüßt, sondern auch den Zugang zum Meer. Der österreichische Außenminister Andrassy wünschte deshalb, daß die Türken ihren bisherigen Besitz auf dem Balkan zu behaupten vermöchten; für den Fall, daß sie dazu nicht imstande wären, dachte er an die Eingliederung Bosniens und der Herzegowina in die österreichisch-ungarische Monarchie, um dadurch die Gefahr eines selbständigen südslawischen Großreiches zu bannen. In Rußland nahm, wenn auch nicht die Regierung, so doch die Bevölkerung von ihrer panslawistischen Einstellung aus von vornherein offen für die Aufständischen Partei. Der Panslawistnus war durch den slowakischen Dichter und Altertumsforscher Jan Kollar um 1820 eingeleitet und verfolgte zunächst für das gesamte Slawentum gemeinsame kulturelle Ziele. Die Wendung zum Politischen erhielt der Panslawismus, als in den vierziger Jahren des 19. Jahrhunderts bei Völkern mit gemeinsamer Sprache und Sitte, aber noch ohne straffe staatliche Einigung, der moderne Nationalismus hochkam, und als der größte der slawischen Stämme, die Russen, auf andere Slawen wie die Slowaken, Slowenen, Kroaten, Serben, Bosnier, Tschechen, eine starke Anziehungskraft auszuüben begann. In Moskau wurde 1858 die „Slawische Wohltätigkeitsgesellschaft" gegründet, mit dem vorgegebenen Zweck der Unterstützung von slawischen Krankenhäusern, Schulen und Kirchen außerhalb Rußlands; unter diesem Programm betrieb die Gesellschaft eine weitausgreifende politische Agitation. In der Politik Rußlands spielte fortan der Panslawismus eine große Rolle, nicht selten eine größere als die offizielle Politik der russischen Regierung. Um einer Ausweitung der Unruhen auf dem Balkan zu einer internationalen Krise vorzubeugen, hatten Deutschland, Österreich und Rußland, welches freilich die Rebellen im geheimen unterstützte, zunächst der Türkei geraten, den Aufstand mit einem starken Heeresaufgebot niederzuschlagen, und dann im Februar 1876, als der Aufruhr immer weiter um sich griff, sie aufgefordert, die Christen in jenen Gebieten den Mohammedanern wirtschaftlich und politisch gleichzustellen. Die Türken versprachen diese und andere Reformen, hielten aber nichts. Am 13. Mai beschlossen die drei Außenminister Gortschakow, Andrassy und Bis79

Bismarcks Außenpolitik marck bei einer Zusammenkunft in Berlin, der türkischen Regierung ein Memorandum vorzulegen, das von ihr einen zweimonatigen Waffenstillstand und Maßnahmen für die Wiederherstellung friedlicher Verhältnisse zugunsten der Aufständischen verlangte. Das Memorandum Schloß mit der Drohung: „Sollte die Frist des Waffenstillstandes verlaufen, ohne daß ein solches Ergebnis erzielt worden wäre, so würden die drei kaiserlichen Höfe nach gemeinsamer Verständigung ihrem diplomatischen Vorgehen wirksamere Maßregeln hinzuzufügen haben, wie sie im Interesse des Allgemeinen und zur Vermeidung des Weitergreifens der Empörung geboten erscheinen". Italien und Frankreich schlossen sich dem Berliner Memorandum an. In England herrschte zu dieser Zeit große Entrüstung über die Greueltaten türkischer und tatarischer Truppen gegen die aufständischen Bulgaren. Trotzdem weigerte sich die englische Regierung, dem Berliner Memorandum beizutreten, und sandte statt dessen eine starke Flotte in die Besikabai am südlichen Eingang der Dardanellen, eine an Rußland gerichtete entschiedene Warnimg. Das Berliner Memorandum sollte am 30. Mai der türkischen Regierung überreicht werden, doch kam es nicht dazu, weil an diesem Tag der zu Rußland hinneigende Sultan Abdul Aziz durdi die Reformpartei der Jungtürken gestürzt wurde. Die Vermutung liegt nahe, daß Engländer dabei die Hand mit im Spiele hatten; einen Tag zuvor schrieb der englische Premierminister Disraeli an die Königin Viktoria: „Hätten wir das Berliner Memorandum angenommen, würde jetzt in Konstantinopel eine russische Besatzung liegen und die türkische Flotte unter russischem Schutz stehen." Einige Wochen nach der Absetzung des Sultans, am 3. Juli 1876, erklärten die Fürsten Milan von Serbien und Nikita von Montenegro der Türkei offiziell den Krieg. Zar Alexander glaubte nun die Zeit für das von ihm seit längerem geplante Vorgehen gegen die Türkei gekommen, wollte es aber nur im Einverständnis mit Österreich tun. Zar Alexander II., Gortschakow, Kaiser Franz Josef und Andrassy trafen sich am 8. Juli im nordböhmischen Reichstädt. Die Vereinbarungen der beiden Mächte für den Fall der Auflösung der Türkei in Europa durch den Sieg der Serben und Montenegriner wurden trotz des Dreikaiserabkommens selbst Deutschland gegenüber geheimgehalten, auch widersprachen sich hemach in manchen Punkten die Angaben Gortschakows und Andrassys; im wesentlichen hatte man beschlossen, daß Österreich den größten Teil Bosniens und der Herzegowina, Rußland Bessarabien nördlich der Donaumündung und kleinasiatische Gebiete annektieren und daß Bulgarien, Rumänien und Albanien selbständige Staaten werden sollten. Die Voraussetzung für die Verwirklichung dieser Abmachung, ein entscheidender Sieg der Serben, erfüllte sich jedoch nicht; die durch fortwährend sich steigernden Zuzug von Russen verstärkten Serben erzielten wohl gelegentlich Erfolge, im großen und ganzen blieben ihnen jedoch die Türken überlegen. Wenn es nun vom serbisch-türkischen zu einem russisch-türkischen Krieg kommen sollte, fragte es sich, wie sich dann das russisch-österreichische Verhältnis gestalten würde. Der Zar dachte bereits an einen Krieg mit seinem Reichstadter Vertragspartner. Gortschakow ließ Anfang Oktober bei Bismarck anfragen, ob Deutschland im Falle eines Krieges gegen Österreich neutral bleiben 80

Balkankrieg 1876—1878 würde. Ein „Nein" hätte den Unwillen des Zaren erregt, ein „Ja" mußte Wien als Verrat empfinden, und so antwortete Bismarck, wie er in seinen „Gedanken und Erinnerungen" berichtet: „Unser erstes Bedürfnis sei, die Freundschaft zwischen den großen Monarchien zu erhalten . . . Wenn dies zu unserem Schmerze zwischen Rußland und Österreich nicht möglich sei, so könnten wir zwar ertragen, daß unsere Freunde gegeneinander Schlachten verlören oder gewönnen, aber nicht daß einer von beiden so schwer verwundet oder geschädigt werde, daß seine Stellung als unabhängige und in Europa mitredende Großmacht gefährdet würde." Uber diesen Bescheid war der Zar verstimmt, und Rußland hat ihn Deutschland dauernd nachgetragen. Die noch folgenden langwierigen Verhandlungen der europäischen Großmächte untereinander und mit der Türkei zur Aufrechterhaltung des Friedens verliefen ergebnislos. Rußland und Österreich kamen bei ihren Besprechungen vom 15. Januar und 18. März 1877 überein: Österreich werde neutral bleiben und einer Einmischung anderer Mächte in den Krieg und in Friedensverhandlungen entgegenwirken. Dafür könne es von ganz Bosnien und von der Herzegowina Besitz ergreifen. Am 24. April erklärte Rußland der Türkei den Krieg, zu dem vor allem die Panslawisten drängten. Die Russen griffen die Türkei von Rumänien und von Armenien aus an. Auf dem europäischen und auf dem vorderasiatischen Kriegsschauplatz gewannen die Russen zunächst die Oberhand, gerieten dann durch Nachsdiubschwierigkeiten und durch die heftige Gegenwehr der Türken in Bedrängnis, konnten sie aber schließlich doch überwältigen; den am 31. Januar 1878 in Adrianopel abgeschlossenen Friedenspräliminarien folgte am 3. März der Friede von San Stefano nahe Konstantinopel. Das Protokoll der Verhandlungen in Adrianopel und die Bestimmungen des Vertrags von San Stefano riefen in Österreich und England stärkste Beunruhigung hervor. Rußland hatte Österreich in Geheimverträgen Bosnien und die Herzegowina zugesagt und versprochen, keinesfalls die Errichtung eines großen südslawischen Reiches zuzulassen, wogegen Österreich wegen seiner slawischen Bevölkerung empfindlich war; jetzt tat Rußland aber nichts, um Österreich die Erwerbung von Bosnien und der Herzegowina zu ermöglichen und wollte Bulgarien zu einem großen südslawischen Staat erweitern. Im Osten sollte Bulgarien 120 Kilometer nordwestlich Konstantinopel bis östlich Silistria an das Schwarze und im Süden an das Ägäische Meer grenzen, und für die nächsten zwei Jahre war eine russische Besatzungsarmee von etwa 50 000 Mann zur Aufrechterhaltung der Ordnung und Sicherheit vorgesehen. Da lag die Vermutung nahe, Rußland werde von Bulgarien aus sich alsbald Konstantinopels und der Meerengen bemächtigen wollen. Zwar hatten die Russen der englischen Regierung schon wiederholt versichert, sie beabsichtigten keine Eroberung türkischer Gebiete, und tatsächlich machte die russische Armee halt, als sie gegen Ende Januar dicht an Konstantinopel herangekommen war, aber die Engländer mißtrauten den Russen nach wie vor. Als die ersten, noch mangelhaften Nachrichten über die Friedenspräliminarien eintrafen, geriet die englische Bevölkerung in maßlose Erregung: „the blood of the Country is up", das Blut des Landes ist in Wallung, Rußland habe England frech ins Gesicht geschlagen und man sang: „We don't

β Bühler, Deutsche Geschichte, VI

81

Bismarcks Außenpolitik want to fight, but by Jingo if we do, / We've got the men, we've got the ships, we've got the money too" (Wir sind nicht aufs Kämpfen aus, aber bei Jingo, wenn wir kämpfen, so haben wir die Männer, die Schiffe und auch das Geld). Obwohl Rußland damals erst über die Nordhälfte der Küsten des Schwarzen Meeres gebot, betrachtete es doch das ganze Schwarze Meer als s e i n Meer und die Meerengen als Schlüssel zu ihm und zum Mittelmeer. Ein Festsetzen der Russen in Konstantinopel und an den Meerengen wollte England auf keinen Fall dulden, weil damit den Russen die Möglichkeit geboten wäre, die englische Schiffahrt im östlichen Mittelmeer zu behindern; das Ostmittelmeer hatte für die Engländer besonders durch den 1869 eröffneten Suezkanal, der den Seeweg von London nach Bombay um 24 Tage verkürzte, sehr an Bedeutung gewonnen. Nachdem Rußland am 10. Februar 1878 den europäischen Mächten offiziell mitgeteilt hatte, eventuell einen Teil seiner Truppen in Konstantinopel einrücken zu lassen, lief eine englische Flotte in die Dardanellen ein; ein ernstlicher Konflikt wurde für den Augenblick durch die Vereinbarung vom 21. Februar vermieden: Rußland verzichtete auf die Besetzung von Gallipoli •—· sie hätte die englische Flotte in den Dardanellen abgeschnitten — und England landete keine Truppen auf der Halbinsel Gallipoli. Unter diesen Umständen, besonders auch im Hinblick auf Bulgarien, war England mit der Reglung der Verhältnisse auf dem Balkan zwischen den Russen und Türken allein nicht einverstanden und verlangte von Rußland, der ganze Vertrag von San Stefano müsse mit allen seinen Bestimmungen der Prüfung und Entscheidung der europäischen Mächte vorgelegt werden. England stellte diese Forderung, um zu verhindern, daß die Durchführung des Vertrages von San Stefano Rußland maßgebenden Einfluß auf dem Balkan sowie in der Türkei gewährte und das Eindringen in Kleinasien, Mesopotamien und Persien ermöglichte, was auf die internationale Politik nicht ohne Einfluß geblieben wäre. Der österreichische Außenminister war bereits im Sommer 1877 mit England übereingekommen, die Reglung der orientalischen Frage dürfe Rußland nicht überlassen werden. Anfang Februar 1878 lud Österreich, dessen Interessen entgegen den russischen Versprechungen in Adrianopel nicht berücksichtigt worden waren, die Großmächte zu einer Botschafterkonferenz nach Wien ein. Gortschakow war ebenfalls für eine derartige Konferenz, lehnte jedoch Wien und auch London als Tagungsort ab. Infolge der Rüstungen Englands drohte dann ein englisch-russischer Krieg, in den auch Österreich hineingezogen worden wäre. Rußland fühlte sich indes nach den Opfern, die ihm der türkische Krieg an Menschen, Material und Geld gekostet hatte, den zwei Großmächten nicht gewachsen und erklärte sich bereit, auf den neuen Vorschlag der österreichischen Regierung vom 5. März einzugehen: Abhaltung eines Kongresses der leitenden Minister der europäischen Großmächte in Berlin. Der Berliner

Kongreß

Die Vorverhandlungen zogen sich bis zum 30. Mai hin, an dem sich England und Rußland über die wichtigsten Punkte im „Londoner Memorandum" einigten. 82

Berliner Kongreß Daraufhin lud die deutsche Regierung die Großmächte und die Türkei am 3. Juni 1878 zum Berliner Kongreß ein. Sie stimmten alle diesem Tagungsort zu, schon weil Deutschland selbst von der Orientfrage am wenigsten unmittelbar berührt war. Bis dahin hatte man von Deutschland und seinem Reichskanzler immer wieder, besonders 1875 während der Kieg-in-Sicht-Krise eine Störung des europäischen Friedens befürchtet; jetzt, da ein Krieg fast unvermeidlich schien, setzte man auf Bismarck die Hoffnung, seiner Staatskunst und seinem guten Willen werde die Rettung des Friedens gelingen — so sehr hatte sich das Mißtrauen von 1875 in Vertrauen gewandelt. Am 3. Juni 1878 wurde der Berliner Kongreß eröffnet. Vertreten waren Deutschland, Österreich, Frankreich, Großbritannien, Italien, Rußland und die Türkei, Italien durch zwei, die übrigen Großmächte durch je drei Bevollmächtigte. Die offizielle Sprache des Kongresses war französisch, den Vorsitz führte Bismarck. Auf der letzten Sitzung vom 13. Juli wurde der Berliner Friedensvertrag abgeschlossen, der Austausch der Ratifikationsurkunden erfolgte am 3. August in Berlin. Von den 64 Artikeln des Friedensvertrages regelten die ersten zwölf die schwierigste, die bulgarische Frage. Bulgarien wurde ein autonomes, der Türkei allerdings immer noch tributpflichtiges Fürstentum; der Fürst ging aus der freien Wahl der Bevölkerung hervor, doch durfte er die Regierung erst nach seiner Anerkennung durch die auf dem Berliner Kongreß vertretenen Mächte antreten. Die Verkleinerung Bulgariens um mehr als die Hälfte des in San Stefano festgesetzten Umfangs, unter anderem durch Schaffung der türkischen Provinz Ostrumelien unter einem christlichen Gouverneur, zerstörte die Hoffnung Rußlands, von einem Großbulgarien aus, für das wenigstens vorübergehend eine starke russische Besatzung vorgesehen war, die Vorherrschaft über die ganze Balkanhalbinsel zu gewinnen. Die Besetzung und Verwaltung Bosniens und der Herzegowina wurde Österreich zugestanden. Die Fürstentümer Montenegro, Serbien und Rumänien erhielten uneingeschränkte Autonomie. Die Türkei mußte die Dobrudscha an Rumänien abtreten und dieses Bessarabien an Rußland. In Asien gewann Rußland von der Türkei die Gebiete der Hafenstadt Batum am Schwarzen Meer, sowie die Städte Ardahan und Kars. Mit den territorialen Neuordnungen waren Vorschriften über ihre Durchführung, die Verfassung, die politischen und die bürgerlichen Rechte verbunden. Außerdem wurden die Höhe der Kriegsentschädigung der Türkei an Rußland, die internationalen Sicherungen für die Freiheit der Donauschiffahrt und viele andere Einzelheiten verschiedenster Art festgesetzt. In manchen Fällen kam die Konferenz über Debatten oder mehr oder weniger allgemeingehaltene Beschlüsse nicht hinaus, die aber doch nicht ohne Einfluß auf die Stimmung der Kongreßteilnehmer und auf die weitere Entwicklung mancher internationaler Probleme blieben. In der Meerengenfrage hielt der Kongreß den Pariser Vertrag von 1856 und den Londoner von 1871 im wesentlichen aufrecht. Der Pariser Vertrag hatte die Schließung der Meerengen für die Kriegsschiffe aller Nationen bestimmt und Rußland verboten, im Schwarzen Meer eine Kriegsflotte zu halten. Der Londoner Vertrag hatte diese zweite Bestimmung aufgehoben und dem Sultan das 83

Bismarcks Außenpolitik Recht eingeräumt, in Friedenszeiten gegebenenfalls den Kriegsschiffen befreundeter Mächte die Durchfahrt zu gestatten. England legte diesen Passus so aus, daß die Schließung der Meerengen allein in der Hand des Sultans liege, während vor allem Rußland und auch die anderen Mächte an der gemeinsamen Garantie der Vertragspartner festhielten. Uber die voneinander abweichende Auslegung der Verträge durch England und Rußland traf der Berliner Kongreß keine Entscheidung. Die auf Betreiben Englands zu einer Sitzung des Kongresses zugelassene griechische Deputation forderte von der Türkei den größten Teil Thessaliens und einige Gebiete von Epirus. So sehr eine Stärkung der griechischen Position gegenüber den zu Rußland hinneigenden Balkanslawen den Engländern erwünscht war, durften sie sich, wenn sie ihren Einfluß auf die Türkei behalten wollten, nicht zu sehr auf deren Kosten für Griechenland einsetzen; so beschränkten sie sich darauf, der türkischen Regierung zu empfehlen, sie solle mit Griechenland ein Abkommen über die Verbesserung der Grenzen treffen und die Mächte boten nur ihre Vermittlung an; der Pfortenrat, eine Art türkisches Parlament von 130 Mitgliedern, lehnte die „Grenzrektifikation" zugunsten Griechenlands bis auf weiteres ab. Während der zweiten Junihälfte erhielten die Kongreßmitglieder inoffiziell Kenntnis von dem am 4. Juni abgeschlossenen englisch-türkischen Geheimvertrag, in dem sich England verpflichtete, bei etwaigem weiterem Vordringen der Russen auf asiatisch-türkischem Gebiet dem Sultan mit Waffengewalt beizustehen, und worin die Türkei die Insel Cypern an England abtrat. Da dieser Vertrag vor Eröffnung des Kongresses unterzeichnet worden war, kam er für dessen Verhandlungen nicht unmittelbar in Betracht, spielte aber in wesentliche Punkte des internationalen Fragenkomplexes und seiner Auswirkungen erheblich mit hinein; besonders verschärfte Englands Besetzung von Cypern die Gereiztheit in der immer stärker in den Vordergrund rüdeenden Mittelmeerpolitik, bei der sich englische, französische und italienische Interessen überkreuzten. Neben den offiziellen, in die Protokolle aufgenommenen Verhandlungen besprachen die Bevollmächtigten mit den eigentlichen Aufgaben des Kongresses nur in losem Zusammenhang stehende Fragen wie die etwaige spätere Zuteilung von Tunis, Tripolis und Ägypten, über die der Sultan noch Hoheitsrechte besaß, an Frankreich, Italien oder England. Bismarck hatte am 19. Februar 1878 im Reichstag auf eine Interpellation, welche Stellung die deutsche Regierung in der geplanten Konferenz einzunehmen beabsichtige, geantwortet: „Die Vermittlung des Friedens denke ich mir nicht so, daß wir nun bei divergierenden Ansichten den Schiedsrichter spielen und sagen: so soll es sein, und dahinter steht die Macht des Deutschen Reiches, sondern ich denke sie mir bescheidener . . . mehr die eines ehrlichen Maklers, der das Geschäft wirklich zustande bringen will." Die Gegensätze, die im Kongreß aufeinander prallten, hatten ihn mehrmals zu sprengen gedroht. Der außerordentlichen Geschicklichkeit, mit der Bismarck die Verhandlungen leitete, gelang, „das Geschäft wirklich zustande zu bringen". Die schlechte Finanzlage der auf dem Kongreß vertretenen Mächte, auch Englands, erleichterte Bismarck seinen Erfolg; man führte die Finanznot auf die Balkankrise zurück, erhoffte von ihrer 84

Berliner Kongreß Uberwindung durch den Kongreß eine Rückkehr der früheren wirtschaftlichen Prosperität und drängte deshalb auf möglichst rasche Einigung. Am zufriedensten mit den Ergebnissen des Kongresses war England. Sein Hauptanliegen war, die Meerengen nicht in die Hände der Russen fallen zu lassen; dadurch, daß der Kongreß an den Meerengenverträgen von 1856 und 1871 festhielt, blieb dem Sultan die Öffnung der Meerengen vorbehalten, und England konnte mit seiner Flotte jederzeit einen Druck auf ihn ausüben. Für die Russen verlor der Gewinn von Batum, Kardahan und Kars an Wert infolge des englisch-türkisdien Vertrages. Die Erwerbung von Cypern, gegen die der Kongreß keinen Einspruch erhob, wurde nach einem Ausspruch Disraelis für England der Schlüssel zu Westasien und erleichterte ihm vier Jahre später die Besitzergreifung von Ägypten. Als ihre größten Erfolge betrachteten die Engländer die Verhinderung eines unter russischer Führung stehenden, bis an das Ägäische Meer reichenden Großbulgarien und die Lockerung des deutsch-österreichisch-russischen Dreibundes infolge der Erbitterimg der Russen gegen Deutschland und Österreich, die sich ihrer Meinung nach auf dem Kongreß zu wenig für die russischen Interessen eingesetzt hätten. In der Genugtuung über die Ergebnisse der Konferenz bereiteten die Engländer ihren Bevollmächtigten nach der Rückkehr aus Berlin einen begeisterten Empfang. Englands Erfolge vereitelten die Hoffnungen Rußlands, mit deren Erfüllung es nach seinem Sieg über die Türkei gerechnet hatte. Sehr verstimmt war Rußland auch über die Ablehnung von Gortschakows Anregung, die auf dem Kongreß vertretenen Mächte sollten gemeinsam die Durchführung ihrer Beschlüsse garantieren. Wenn nun, wie anzunehmen war, die Türkei sich an die Beschlüsse über die religiöse und politische Gleichstellung ihrer christlichen Untertanen nicht hielt, dann hätte Rußland beansprucht, im Namen der Großmächte einzuschreiten und auf diesem Wege seinen alten Plan verwirklicht, eine Art Vormundschaft über die Türkei auszuüben. Dagegen wandte sich Bismarck mit der Erklärung, am einfachsten sei, die Botschafter der Mächte in Konstantinopel mit der Aufsicht über die Einhaltung der Kongreßbeschlüsse zu betrauen. Für die Durchführimg der Grenzregulierungen und eine Reihe weiterer Aufgaben setzte der Kongreß europäische Kommissionen ein. Auch davon konnten sich die Russen keine einseitige Förderung ihrer Interessen erwarten; eine dieser Kommissionen hat dann 1881 Griechenland fast ganz Thessalien und Teile von Epirus zugesprochen und damit Rußlands Einfluß in diesen Gebieten ausgeschaltet. Immerhin bedeuteten trotz des englisch-türkischen Vertrages die von der Türkei zu leistende Kriegsentschädigung, die Erwerbung von Bessarabien, Batum, Ardahan und Kars einen nicht zu unterschätzenden Gewinn, und Bismarck bemerkte in seinen „Gedanken und Erinnerungen", daß „der russische Abschluß auch nach dem Kongresse immer noch einer der günstigsten, wenn nicht der günstigste blieb, den Rußland jemals nach türkischen Kriegen gemacht hat"; aber der Unterschied zwischen dem, was in San Stefano erreicht schien, und dem, was davon auf dem Berliner Kongreß übrigblieb, war zu groß, als daß die Russen damit zufrieden gewesen wären. Und da sie nicht einsahen, daß sie in San Stefano den Bogen 85

Bismardcs Außenpolitik überspannt hatten, gaben sie die Schuld am Scheitern ihrer Pläne und Hoffnungen vor allem Bismarck als dem Leiter des Kongresses und Deutschland überhaupt, obwohl Bismarck bei den Verhandlungen den russischen Wünschen so weit entgegengekommen war, wie es sich mit einer unparteiischen Führung des Vorsitzes auf dem Kongreß vereinbaren ließ. Das Vordringen Österreichs auf dem Balkan durch die Besetzung und Verwaltung Bosniens und der Herzegowina empfand Rußland ebenfalls als eine Schädigung seiner Interessen, wenn auch Österreich durch diese Erweiterung seiner Machtsphäre vor eine schwierige Aufgabe gestellt wurde. Bismarck hatte vor Beginn des Kongresses Österreich-Ungarn die Annexion der beiden Länder vorgeschlagen, aber Andrassy ging nicht darauf ein, weil die deutsche Bevölkerung Österreichs und die madjarische Ungarns einer weiteren Eingliederung slawischer Gebiete in die österreichisch-ungarische Monarchie widerstrebten. So begnügte sich Österreich mit der dann auf dem Berliner Kongreß von England beantragten und von Bismarck befürworteten Okkupation und Verwaltung Bosniens und der Herzegowina mit Beibehaltung der allerdings nur rein nominellen staatlichen Oberhoheit der Türkei. Die Bewohner der beiden okkupierten Länder, ganz überwiegend Serben, widersetzten sich unter der Führung der Omladina gewaltsam der österreichischen Regierung. Diese ließ trotz des Protestes der Türkei ein starkes Truppenaufgebot einmarschieren, das den Aufruhr niederschlug. Österreich konnte in der Folgezeit die Bosnier und Herzegowinen nicht für sich gewinnen, so sehr es dies auch, insbesondere durch Kultivierungsmaßnahmen, zu erreichen suchte. Für die weitere Entwicklung auf dem Balkan wirkte es sich überhaupt verhängnisvoll aus, daß der Berliner Kongreß nur die Politik der Großmächte im Auge hatte und bei den Grenzziehungen die nationalen Strömungen unter den Balkanvölkern unbeachtet ließ. Selbst die jetzt von der Türkei völlig unabhängig gewordenen Staaten Serbien, Montenegro und Rumänien fühlten sich benachteiligt; die beiden ersten, weil sie eine größere Gebietserweiterung erwartet hatten, und Rumänien, weil es Bessarabien gegen die unfruchtbare Dobrudscha eintauschen mußte. — Das Vorgehen der Mächte auf dem Berliner Kongreß faßte der italienische Außenminister Graf Corti in die Worte zusammen: „Jeder sagte jedem, er solle irgend etwas nehmen, was irgendeinem anderen gehört." Und dieser „andere" war immer wieder die Türkei. Doch verfiel sie wenigstens nicht der Zerstückelung, die ihr in San Stefano zugemutet worden war. Von der albanischen Küste des Adriatischen Meeres bis Konstantinopel behielt die Türkei ihr geschlossenes Herrschaftsgebiet, und auch sonst konnte sie, wie unter anderem der Vertrag vom 4. Juni zeigte, versichert sein, daß England im Hinblick auf seine eigenen Interessen viel an dem Weiterbestehen eines lebensfähigen türkischen Staates lag. Da auf dem Berliner Kongreß eine nur England völlig und Österreich einigermaßen befriedigende Lösung der orientalischen Frage zustande kam, und auch dies nicht mit der Gewähr für eine endgültige Bereinigung der den europäischen Frieden bedrohenden Gegensätze auf dem Balkan, begann sofort eine heftige 86

Berliner Kongreß Kritik an dem Kongreß, zunächst von jenen, deren Wünsche er nicht erfüllte; später wurde er von manchen mitverantwortlich gemacht für die Trübung der deutsch-russischen Beziehungen, welcher das russisch-französische Bündnis (S. 169) und schließlich die offene Feindschaft Rußlands gegen Deutschland folgte. Die Balkan-Frage war eben an sich unlösbar; wegen der unentwirrbaren Vermischung der dortigen Völker und wegen ihrer konfessionellen Gegensätze waren keine Grenzziehungen zu finden, die allen nationalen Bestrebungen gerecht geworden wären, und allein schon der Versuch hierzu hätte die Erreichung des Hauptzieles der Kongreßteilnehmer vereitelt: Vermeidung eines seit drei Jahren drohenden und schließlich fast unvermeidbar scheinenden Krieges. Der durch den Berliner Kongreß gerettete europäische Friede währte bis 1914 und die damalige Reglung der Verhältnisse auf dem Balkan blieb im wesentlichen bis zum Balkankrieg von 1912/1913 in Geltung. Bismarck selbst äußerte sich über die Ergebnisse des Berliner Kongresses zunächst sehr befriedigt. Als ihm nach der Unterzeichnung der Kongreßakten die Beamten des Auswärtigen Amtes Glück wünschten, antwortete er: „Jetzt fahre ich Europa vierelang vom Bock." Damit spielte Bismarck auf seine Politik gegenüber England, Frankreich, Rußland und Österreich an, die, wenn sie bei diesen vier Großmächten zum Erfolge führte, seiner Meinung nach für die gesamte europäische Politik maßgebend werden konnte. Bismarck war darauf bedacht, Interessengegensätze zwischen den Großmächten aufrechtzuerhalten, um zu verhindern, daß sie bei irgendwelchen Anlässen zum Nachteil Deutschlands gemeinsam vorgingen, bemühte sich aber auch ebensosehr, diese Interessengegensätze nicht zu einer Störung des europäischen Friedens werden zu lassen, weil dies für Deutschland wegen seiner geographischen Lage und der französischen Revanchebestrebungen schwere Gefahren in sich Schloß. So griff Bismarck nicht ein, als auf dem Kongreß Englands Besitznahme von Cypern bekannt wurde und sich die Franzosen und Italiener darüber entrüsteten; später kamen Auseinandersetzungen wie die italienisch-französischen wegen Marokko und Tripolis (S. 107) Bismarck sehr gelegen. An König Ludwig II. von Bayern schrieb Bismarck am 12. August: „Durch den Kongreß ist die Politik einstweilen zum Abschlüsse gebracht, deren Angemessenheit für Deutschland Eure Majestät in huldreichen Schreiben anzuerkennen geruhten. Der eigene Frieden blieb gewahrt, die Gefahr eines Bruches zwischen Österreich und Rußland ist beseitigt und unsere Beziehungen zu beiden befreundeten Nachbarstaaten sind erhalten und befestigt." Über Rußlands Freundschaft täuschte sich Bismarck allerdings. In der Meinung, der jetzt achtzigjährige, kränkliche, ihm keineswegs gut gesinnte Gortschakow habe in der Führung der russischen Politik nicht mehr viel zu sagen, hatte Bismarck auf dem Kongreß nicht so sehr mit ihm, dem ersten Bevollmächtigten Rußlands, wie mit dem zweiten, Graf Peter Schuwalow, verhandelt, der durchaus anerkannte, was Bismarck als Vorsitzender und erster Bevollmächtigter Deutschlands für Rußland getan hat. Die offensichtliche Zurücksetzung Gortschakows nahm diesen noch mehr gegen Deutschland ein; er benutzte die Gelegenheit, Bismarck und Schuwalow für die Nichterfüllung russischer Wünsche

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Bismarcks Außenpolitik verantwortlich zu machen, welche doch großenteils die Folge seiner eigenen verfehlten Politik vor dem Kongreß war. Während nun Schuwalows offizielle Berichte nach Petersburg über Bismarck und Deutschland günstig lauteten, sandte Gortschakow Geheimberichte, denen Zar Alexander Glauben schenkte. Er ließ sich davon überzeugen, daß der ganze Kongreß eine europäische Koalition gegen Rußland unter der Führung des Fürsten Bismarck sei, der es einzig darauf abgesehen habe, Österreich so viele Vorteile wie nur möglich zu sichern. Die Panslawisten und die russische Presse hetzten, ungehindert von der Regierung, gegen Deutschland. Als die deutschen Mitglieder der europäischen Kommissionen für Grenzregulierungen und andere Aufgaben nicht immer zugunsten Rußlands entschieden, beschwerte sich der Zar bei seinem Oheim Wilhelm in einem eigenhändigen Schreiben vom 15. August 1879: die Kommissionsmitglieder „von Frankreich und Italien stehen in fast allen Fragen auf unserer Seite, während die von Deutschland anscheinend den Befehl erhalten haben, immer die Meinung der Österreicher zu unterstützen, die uns systematisch feindlich ist". Dies könne sich für die guten nachbarlichen Beziehungen verhängnisvoll auswirken, „beide Nationen gegeneinander verbittern, womit die Presse beider Länder schon beginnt. Ich sehe darin die Arbeit unserer gemeinsamen Feinde, derselben, die den Dreikaiserbund nicht verdauen konnten . . . Ich begreife vollkommen, daß Sie Ihre guten Beziehungen zu Österreich wahren wollen, aber ich begreife nicht, daß Deutschland ein Interesse daran haben kann, die guten Beziehungen zu Rußland zu opfern. — Ist es eines wahren Staatsmannes würdig, einen persönlichen Zwist in die Waagschale zu werfen (hier spielt der Zar auf Bismarcks Erbitterung gegen Gortschakow an), wenn es sich um das Interesse zweier großer Staaten handelt, die geschaffen sind, in gutem Einvernehmen zu leben und von denen der eine (Rußland) dem anderen (Deutschland) 1870 einen Dienst erwiesen hat, den Sie, wie Sie selbst erklärt haben, niemals vergessen werden? Ich würde mir nicht erlaubt haben, Sie daran zu erinnern, aber die Begleitumstände werden zu ernst, als daß ich Ihnen die Befürchtungen verhehlen könnte, die mich erfüllen und deren Folgen für unsere beiden Länder ein Unglück werden könnten. Gott möge uns davor bewahren und Sie erleuchten!"

Zweibund mit Österreich, 1879 Die seit längerem fortgesetzte Verstärkung der russischen Armee, der Aufmarsch russischer Truppen an der deutschen und der österreichischen Grenze, die allerdings erfolglosen Versuche der russischen Regierung, Frankreich oder Italien für ein Bündnis zu gewinnen und Klagen des Zaren gegenüber dem deutschen Gesandten in Petersburg hatten Bismarcks Vertrauen zu Rußland in steigendem Maße erschüttert; der Brief Zar Alexanders vom 15. August, die „Briefohrfeige", wie man in Deutschland sagte, ließ nun in Bismarck den Entschluß zu einer entscheidenden Wendung in seiner Außenpolitik reifen. Kaiser Wilhelm nahm den Brief Alexanders nicht so tragisch. Davon überzeugt, in einer persönlichen Aus88

Zweibund mit Österreich 1879 spräche werde sich die Spannung lösen, fuhr der deutsche Kaiser, der Einladung des Zaren folgend, nach Alexandrowo und traf sich hier mit ihm am 3. September 1879. Der Zar, von jeher seinem Oheim sehr zugetan, entschuldigte sich wegen des Briefes und bat, ihn als ungeschrieben zu betrachten; er gab zu, daß die deutsche Politik während des russisch-türkischen Krieges die größte Wohltat gewesen sei; durch diese Anerkennung für Bismarck sollte der Vorwurf zurückgenommen werden, er habe sich bei den Anweisungen für die Grenzregulierungen von persönlicher Gehässigkeit gegen Gortschakow leiten lassen. Am 31. August hatte Bismarck in einem Brief an den Kaiser geschrieben, die Gesamthaltung Rußlands in den letzten Jahren habe bewiesen, daß es Deutschland gegen die Gefahr einer europäischen Isolierung nicht decken werde, nur eines könne Rußland friedlich halten: ein deutsches Verteidigungsbündnis mit Österreich. In dem Immediatbericht vom 7. September warnte Bismarck den Kaiser: „Der Friede Europas ist seit dem Falle Napoleons (III.) von niemand als ausschließlich von dem slawophilen Rußland bedroht", der siegreiche Feldzug gegen die Türken (1877/1878) habe „die panslawistische Kriegslust Rußlands nicht abgekühlt . . . Nur die anspruchsvolle Selbstüberschätzung der Russen hat sich gesteigert und zwingt Europa, gegen die Gefahren auf der Hut zu bleiben, die der Chauvinismus des slawischen Cäsarentums für unseren Frieden heraufbeschwören kann. Diese Gefahren werden täglich größer durch die tägliche Steigerung der an sich schon ungeheuerlichen Ziffern des russischen Heeres, obschon Rußland von keiner Seite bedroht ist . . . Den einzigen sicheren Schutz gegen diese Gefahren sehe ich nicht im Vertrauen auf die unsichere Freundschaft Rußlands, sondern nur in unserer Entschlossenheit, uns zu wehren, und in dem Zusammenschließen der bedrohten Nachbarn Rußlands (Deutschland und Österreich) zu gegenseitiger Verteidigung." Ein Bündnis mit Österreich hinter dem Rücken Rußlands lehnte Kaiser Wilhelm jedoch aus persönlichen und politischen Gründen ganz entschieden ab. Des alten Kaisers Herz hing an Rußland, als junger Offizier hatte er die Waffenbrüderschaft bei der Befreiung von der Napoleonischen Herrschaft miterlebt, verwandtschaftliche Bande hielten die freundschaftlichen Beziehungen zwischen dem Petersburger und dem Berliner Hof aufrecht und dankbar erkannte der Kaiser die wohlwollende neutrale Haltung Rußlands im Krieg 1870/1871 an; außerdem befürchtete er, ein Sonderbündnis mit Österreich werde das Dreikaiserbündnis sprengen und zur völligen Abkehr Rußlands von Deutschland führen. Und so schrieb der Kaiser in seiner schwerfälligen Weise am 10./12. September an Bismarck, er habe dessen Brief und Immediatbericht nicht beantworten können, bevor er mit Zar Alexander gesprochen habe, dies sei nun geschehen. „Wie der Kaiser Alexander die Voten meiner Kommissionäre im Orient auffaßt, habe ich ihm widerlegt, wie Sie sehen werden aus den Aufzeichnungen, und verstand er dies vollkommen . . . Sie werden ferner lesen, wie ich Sie verteidigt habe gegen des Kaisers Passus in seinem Brief. Er räumte vollkommen ein, daß unsere Politik während des orientalischen Krieges von größtem Nutzen für Rußland gewesen sei, also die größte Anerkennung für Sie enthält . . . Bei dieser Gelegenheit sprach der Kaiser 89

Bismarcks Außenpolitik seine Uberzeugung aus, daß nur unser Zusammenhalten à trois, wie es seit der Zusammenkunft 1872 in Berlin stattgefunden habe, Europa den Frieden erhalten könne . . . Die großen Augmentationen, die für den türkischen Krieg in der russischen Armee als Reserven aufgestellt wurden, sind als permanente Verstärkimg auch im Frieden beibehalten worden, weil man sich von einer europäischen Koalition bedroht glaubt, also gerüstet sein müsse, um a l l e i n dieser widerstehen zu können . . . Die Gefahren, welche Sie in Ihren Memoiren auseinandersetzen, will ich nicht unbedingt verneinen, daß sie dereinst eintreten könnten, namentlich bei einem Thronwechsel in Petersburg. Eine nahe Gefahr kann ich aber durchaus nicht einsehen . . . Einer möglichen Eventualität halber mir die Hände zu binden, ist gegen meine politische Uberzeugung und mein Gewissen. Indessen will und darf ich Sie nicht in Ihren bereits getanen Schritten gegen Andrassy und seinen Herrn désavouieren. Sie mögen also in Wien, wohin zu gehen bereits alle Zeitungen erzählen, die Eventualitäten einer sich bis zum möglichen Bruche mit Rußland steigernden Disharmonie und dann gefahrdrohend vorstellen und in Pourparlers über die dann gemeinschaftlich mit Österreich zu treffenden Maßnahmen eintreten. Aber zu irgendeinem Abschluß einer Konvention oder gar Alliance autorisiere ich Sie meinem Gewissen nach nicht." Obwohl auch Bismarck überzeugt war, im Augenblick drohe Deutschland von Rußland keine Gefahr, wünschte er so rasch wie möglich ein deutsch-österreichisches Bündnis zum Abschluß zu bringen. Rußland wollte sich Deutschland und Österreich gefügig machen. Bismarck befürchtete, Österreich würde entweder dem Drucke Rußlands nachgeben oder Rückhalt an Frankreich suchen; mit diesem sympathisierte aber Gortschakow und die Mehrzahl der politisch interessierten Russen, woraus sich ein Deutschland isolierendes russisch-österreichisch-französisches Bündnis ergeben konnte, eine Lage gleich der, wie sie 1756 für Preußen vor Beginn des Siebenjährigen Krieges infolge der Koalition dieser drei Mächte bestanden hatte. Da mit dem baldigen Rücktritt Andrassys, des deutschfreundlichen Außenministers der österreichisch-ungarischen Monarchie, zu rechnen war, bat ihn Bismarck von seinem Kuraufenthalt in Bad Gastein aus um eine persönliche Aussprache, die dann am 27./28. August dort stattfand. Dabei ergab sich, daß Bismarck ein Bündnis zur Abwehr jeden Angriffs auf Deutschland oder Österreich und womöglich den Anschluß Englands an dieses Bündnis wünschte, Andrassy dagegen die ausdrückliche Beschränkung auf einen russischen Angriff forderte. Der Zustimmung Kaiser Franz Josefs zu einem deutsch-österreichischen Bündnis in seinem Sinne konnte Andrassy sicher sein, weil es der österreichischen Balkanpolitik gegenüber Rußland Deckung bot und die guten Beziehungen zu Frankreich und England nicht störte. Kaiser Wilhelm aber war höchstens bereit, einem Verteidigungsbündnis zuzustimmen, das ganz allgemein die Abwehr des Angriffs einer oder mehrerer Mächte vorsah, ohne Rußland eigens zu erwähnen. Bismarck und Andrassy arbeiteten vom 22. bis 24. September in Wien gemeinsam den Entwurf eines Verteidigungsbündnisses aus, über den Bismarck an Kaiser Wilhelm nach Baden-Baden berichtete. Obwohl das Auswärtige Amt, das preußische Staatsministerium, Kaiserin Augusta, Kronprinz Friedrich Wilhelm, Moltke 90

Zweibund mit Österreich 1879 und andere hochgestellte Persönlichkeiten von Anfang an für Bismarcks Plan eines deutsch-österreichischen Bündnisses eingetreten waren, antwortete Kaiser Wilhelm in einem ausführlichen Schreiben vom 2./4. Oktober: „Aus Ihrem Schreiben vom 24. v. M., aus dem beigefügten Memorandum, den Protokollen Ihrer in Wien gepflogenen Verhandlungen und dem daraus entstandenen Vertragsprojekt habe ich leider sehen müssen, daß meine Ansichten über das letztere von keiner Seite acceptiert worden sind . . . Deutschland und Österreich wollen dasselbe Ziel erreichen: Sicherung gegen unmotivierte Angriffe äußerer Feinde; mit spezieller Nennung Rußlands als diesen Feind weiche ich indessen von dem Vorschlage ab, sowie von der sofortigen Ratifizierung des Vertrags. Nachdem ich dem Kaiser Alexander nach Beseitigung von Mißverständnissen von Neuem die Freundschaftshand gereicht habe, soll ich gegen ihn, wenn auch defensiv, eine Allianz schließen, in welcher er allen als der mutmaßliche Feind hingestellt wird und von dieser Absicht soll ihm ein Geheimnis gemacht werden. Diese Illoyalität kann i c h nicht begehen." Als Bismarck und das gesamte Staatsministerium mit dem Rücktritt drohten, gab Kaiser Wilhelm schließlich doch seine Zustimmung. Der Vertrag wurde nun am 7. Oktober 1879 in Wien unterzeichnet, am 17. erfolgte der Austausch der Ratifikationen. Artikel 1 des deutschösterreichischen Bündnisvertrages bestimmte: Sollte eines der beiden Reiche von Seiten Rußlands angegriffen werden, sind die Kontrahenten verpflichtet, einander mit der gesamten Kriegsmacht ihrer Reiche beizustehen und den Frieden nur gemeinsam und übereinstimmend zu schließen; Artikel 2: Würde einer der kontrahierenden Teile von einer anderen Macht angegriffen werden, so verpflichtet sich der andere mindestens zu einer wohlwollenden neutralen Haltung gegenüber dem Mitkontrahenten. Wird in einem solchen Fall die angreifende Macht von Rußland unterstützt, tritt die in Artikel 1 dieses Vertrages festgesetzte Verpflichtung des gegenseitigen Beistandes sofort in Kraft; Artikel 3: Der Vertrag gilt zunächst für fünf Jahre, Artikel 4: Der Vertrag ist geheimzuhalten, eine Mitteilung über ihn an eine dritte Macht darf nur im Einverständnis beider Teile erfolgen. Das deutsch-österreichische Bündnis sollte Österreich von einer Annäherung an Frankreich zurückhalten und Rußland von einem Angriff auf Deutschland oder Österreich abschrecken; außerdem hoffte Bismarck, wie er am 31. August dem Kaiser schrieb, daß England infolge der guten Beziehungen zu Österreich seit dem russisch-türkischen Krieg und dem Berliner Kongreß „an dieses Bündnis der beiden mitteleuropäischen Kaiserreiche sehr gern eine feste Anlehnung nehmen würde". Diese Hoffnung erfüllte sich nicht, doch hat das Bündnis von 1879 für längere Zeit die internationale Stellung Deutschlands gesichert und gestärkt und im Rahmen von Bismarcks Politik zur Wahrung des Friedens wesentlich beigetragen. Kaiser Wilhelm benachrichtigte Anfang November 1879 im Einverständnis mit Bismarck Zar Alexander von dem Abschluß des deutsch-österreichischen Vertrages und von dessen Inhalt. In diesem Schreiben betonte der Kaiser seine durchaus friedliche Absicht, warnte aber auch vor dem zum Kriege hetzenden 91

Bismarcks Außenpolitik Treiben der revolutionären russischen Parteien und vor einem Angriff, der auf die gemeinsame Abwehr Deutschlands und Österreichs stoßen würde. Alexander antwortete mit Versicherungen seiner Freundschaft und Friedensliebe. Die russische Regierung hatte übrigens schon zuvor eingelenkt, und Saburow, als Sonderbotschafter des Zaren, hatte sich einer Erneuerung des Dreikaiserabkommens von 1873 nicht abgeneigt gezeigt, wozu Bismarck bemerkte: „Da habe ich die beste Quittung für meine Wiener Politik. Ich wußte, der Russe würde uns kommen, wenn wir erst den Österreicher festgelegt haben."

Verhältnis zu England. Dreikaiservertrag

1881

Zu einem Angriff gegen Österreich konnten Rußland vor allem Interessengegensätze auf dem Balkan veranlassen, und Deutschland mußte dann auf Grund seines Bündnisses an die Seite Österreichs treten. Auch zwischen England und Rußland konnten die durch den Berliner Kongreß nicht endgültig gelösten Balkanprobleme zu ernsten Konflikten führen. Da lag es nahe, daß Bismarck während seiner Verhandlungen mit Andrassy auch in London anfragte, wie sich die engliche Regierung in einem solchen Fall verhalten würde. Der englische Premierminister Disraeli, 1876 als Lord Beaconsfield in den Adelsstand erhoben, erbot sich nur, Deutschland gegenüber Frankreich zu decken, wenn dieses mit Rußland zusammenginge. Als dann Mitte Oktober der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Marques of Salisbury ein englisch-deutsch-österreichisches Bündnis vorschlug, hielt sich Bismarck bei den nun wieder besseren Beziehungen mit Rußland zurück; ebenso verfolgte England, dem Frankreich an und für sich näher stand als Deutschland, die Angelegenheit nicht weiter, zumal da im nächsten Jahre mit William Ewart Gladstone als Nachfolger Beaconsfields ein ausgesprochener Gegner Österreichs ans Ruder kam, der auch Bismarck mißtraute. Im Gegensatz zu Beaconsfield war Gladstone für Rußland. Damit drohte eine Deutschland unerwünschte Verständigung Englands mit Rußland. Da sie zu einem Bündnis der beiden Mächte und vielleicht zu einer englisch-russischfranzösischen Entente führen konnte, bemühte sich Bismarck jetzt um eine Erneuerung des Dreikaiserbündnisses von 1872. Er stieß dabei auf den Widerspruch des österreichischen Außenministers Heinrich Karl von Haymerle, der, ein Ungar wie sein Vorgänger Andrassy, die russische Balkanpolitik beargwöhnte. Die Drohung Bismarcks, wenn sich Österreich versage, werde er das Bündnis von 1872 mit Rußland allein erneuem, stimmte Haymerle nachgiebig. Als am 13. März 1881 Alexander II. einem Bombenattentat der Nihilisten zum Opfer fiel, schien wieder alles in Frage gestellt, denn sein Sohn und Nachfolger Alexander III. war dem Panslawismus ergeben und weder den Habsburgern noch den Hohenzollern freundlich gesinnt. Er hielt es aber doch für seine Pflicht, die von seinem Vater begonnenen Verhandlungen fortzusetzen, worin ihn bestärkte, daß ein Zusammengehen mit Frankreich nicht in Betracht kam, weil die Attentäter nach Paris geflohen waren und die französische Regierung ihre Auslieferung verweigerte. 92

Verhältnis zu England. Dreikaiservertrag 1881 So wurde am 18. Juni 1881 in Berlin der Dreikaiservertrag unterzeichnet, der, wie ausdrücklich festgesetzt wurde, an Stelle des Dreikaiserabkommens von 1872 trat. Die drei Großmächte verpflichteten sich, falls eine von ihnen mit einer vierten in Krieg geraten würde, zu wohlwollender Neutralität, und daß sie an dem Status quo ante auf dem Balkan nur nach gemeinsamen Vereinbarungen etwas ändern würden. Rußland bestätigte Österreich die ungestörte Ausübung der ihm durch den Berliner Kongreß bewilligten Rechte auf dem Balkan; Bosporus und Dardanellen blieben für Kriegsschiffe unbedingt geschlossen; für den Fall, daß die Türkei der Kriegsflotte einer fremden Macht die Durchfahrt für kriegerische Zwecke erlauben würde, sollten die drei vertragsschließenden Mächte der Türkei mitteilen, daß sie diese als im Kriegszustand mit dem verletzten Teil (Rußland) betrachteten, und daß die vom Berliner Kongreß der Türkei für ihren Territorialbestand gewährten Sicherheiten hinfällig geworden seien. Ein Zusatzprotokoll stellte Österreich die Wahl des Zeitpunktes, wann es Bosnien und die Herzegowina annektieren wolle, anheim; bestätigte ihm die Besetzung und Verwaltung von Nowibasar, versagte ihm jedoch die Annexion dieses Gebietes; bestimmte, die türkische Regierung sei von einer militärischen Besetzung Ostrumeliens abzuhalten, gegen eine etwaige Vereinigung Ostrumeliens mit Bulgarien sei indes nicht einzuschreiten; Angriffe Bulgariens auf die benachbarten Provinzen, namentlich Mazedonien, seien jedoch zu verhindern. Der Dreikaiservertrag vom Juni 1881 wurde zunächst auf drei Jahre abgeschlossen, die vereinbarte Geheimhaltung blieb bis zur Öffnung der Archive nach dem Ersten Weltkrieg gewahrt. Durch den Dreikaiservertrag wollte Bismarck in erster Linie den Frieden zwischen Österreich und Rußland erhalten, weil ein Konflikt dieser Mächte Deutschland gezwungen hätte, sich für eine von ihnen zu entscheiden und sich an dem Krieg gegen die andere zu beteiligen oder sich mit beiden zu verfeinden. Als unerschütterlichen Eckpfeiler seiner Außenpolitik betrachtete Bismarck diesen Vertrag freilich nicht, wie er überhaupt an die ewige Dauer von Verträgen nicht glaubte und Festlegungen für die ja stets unberechenbare fernere Zukunft vermied. Immerhin erfüllte der Dreikaiservertrag für die damalige Lage seinen Zweck. Deutschland brauchte jetzt ein russisch-französisches Bündnis nicht zu befürchten, und Rußland hatte die Isolierung von 1879 überwunden. Die den Balkan betreffenden Bestimmungen beseitigten zwar nicht alle Interessengegensätze zwischen Österreich und Rußland, minderten aber die Gefahr eines Zusammenstoßes. Sehr wesentlich war auch, daß jede der drei Mächte über eine der Vereinbarungen besonders zufrieden sein konnte: Rußland mit der Schließung der Meerengen, die einem Vorstoß Englands in das Schwarze Meer vorbeugte; Österreich mit der Möglichkeit, Bosnien und die Herzegowina zu annektieren; Deutschland, weil die Verhinderung eines französisch-russischen Bündnisses Frankreich die Aussicht auf einen baldigen Revandiekrieg nahm. Am 28. Juni 1881 vereinbarte Österreich in einem Geheimvertrag mit Fürst Milan von Serbien: Serbien soll der Omladina ihre Agitation unter den Südslawen der österreidiisch-ungarischen Monarchie, Bosniens und der Herzegowina ver93

Bismarcks Außenpolitik bieten; in der Außenpolitik sich nach den Weisungen Österreichs richten, sich diesem gegenüber im Falle eines Krieges mindestens wohlwollend neutral verhalten, unter Umständen sich auch aktiv an den Kämpfen der österreichischen Armee beteiligen. Dafür versprach Österreich, dem serbischen Fürsten zum Königstitel zu verhelfen, worauf Milan großen Wert legte, weil das bisherige Fürstentum Rumänien seit kurzem als Königreich anerkannt war; die Dynastie der Obrenowitsch, der Milan entstammte, gegen die mit ihr rivalisierende Dynastie Karageorgiewitsch zu stützen und Serbien beizustehen, wenn es sich im Süden des Landes angrenzender türkischer Gebiete bemächtige. In diesem Punkte widersprach der österreichisch-serbische Vertrag der Bestimmung des vor zehn Tagen abgeschlossenen Dreikaiservertrags, an dem Status quo auf dem Balkan dürfe nur mit Zustimmung der drei Mächte etwas geändert werden. Außerdem war die Hoffnung der österreichischen Regierung, durch den Vertrag mit Milan die gegen Österreich gerichtete Agitation unterbinden zu können, eine schwere Täuschung; die von offen auftretenden und von geheimen Vereinen und Bünden wie der „Schwarzen Hand", seit 1882 namentlich von der stärksten, der „radikalen" Partei getragene Bewegung nahm im Volke immer mehr zu.

Tunis. Der Dreibund Die Begegnung von Kaiser Franz Josef und König Viktor Emanuel im April 1875 hatte Österreich und Italien einander nahe gebracht. Auf dem Berliner Kongreß wurden jedoch die guten Beziehungen empfindlich gestört, weil der Wunsch Italiens nicht erfüllt wurde, die großenteils von Italienern bewohnten österreichischen Provinzen Triest und Trient als Ausgleich für die von ihm anerkannte Besetzung Bosniens und der Herzegowina durch Österreich zu erhalten. Andererseits gab England während des Kongresses den Anstoß, daß Italien drei Jahre später wieder Verbindung mit Österreich und auch mit Deutschland suchte. England hatte damals den über die Besetzung Cyperns verstimmten Franzosen geraten, sich des türkischen Vasallenstaates Tunis zu bemächtigen. Nach mancherlei inoffiziellen Auseinandersetzungen zwischen Italien und Frankreich rückten im April 1881 französische Truppen in Tunis ein mit der Begründung, gegen die zahlreichen Überfälle und Räubereien tunesischer Grenzstämme in Algier müsse Abhilfe geschaffen werden. Der Bei von Tunis leistete keinen Widerstand und schloß einen Vertrag: der Bei bleibt nominell der Landesherr, Frankreich gebietet als Protektor nach außen und innen über Tunis. Proteste des Sultans verhallten wirkungslos, da ihm die Schwäche der Türkei ein bewaffnetes Einschreiten unmöglich machte. Schwerer als die Türkei wurde Italien von dem Vorgehen Frankreichs betroffen. Das übervölkerte Italien hatte gehofft, Tunis als Kolonie erwerben zu können, etwa 20 000 Italiener hatten sich hier im Laufe der letzten zehn Jahre niedergelassen; und nun war Frankreich Italien zuvorgekommen. Daran war nichts mehr zu ändern, zumal England und Bismarck auf der Seite Frankreichs standen; England, weil es verhindern wollte, daß ihm Italien im Besitz von Sizi94

Tunis. Der Dreibund lien u n d Tunis die Durchfahrt durch das Mittelmeer sperren könnte; und Bismarck förderte die koloniale Ausdehnung Frankreichs, weil er glaubte, es so von dem Streben nach Revanche ablenken zu können. Da die Italiener befürchteten, Frankreich würde sich von Tunis aus weiterer nordafrikanischer Gebiete, namentlich des türkischen Vasallenstaates Tripolitanien bemächtigen, bemühten sie sich jetzt um ein Bündnis mit Österreich und Deutschland. Während der letzten Oktobertage 1881 hielt sich der italienische König Humbert in Wien auf, um zunächst ein persönliches Vertrauensverhältnis mit Kaiser Franz Josef anzubahnen. Politische Besprechungen fanden nicht statt; der Leiter der österreichisch-ungarischen Außenpolitik, Haymerle, war vor kurzem gestorben, und der Nachfolger, Graf Gustav Siegmund Kalnoky, trat erst am 21. November sein Amt an. Von den Italienern hielt er wegen ihrer Unzuverlässigkeit und wegen der wenig gefestigten innerpolitischen Verhältnisse nicht viel; aber gerade die Besorgnis, die Radikalen könnten die Oberhand gewinnen, das Königtum stürzen und eine republikanische Verfassung einführen, bewogen Kalnoky, Humberts Annäherungsversuch an die Mittelmächte Österreich und Deutschland zu unterstützen, weil ein Erfolg der Republikaner in Italien die Gegner der Monarchie in anderen Ländern ermutigen würde. Bismarck war derselben Meinung; außerdem hielt er wegen der Umtriebe gegen Deutschland hetzender russischer hoher Offiziere, die von dem Dreikaiservertrag nichts wußten oder sich nicht daran kehrten, einen französisch-russischen Angriff auf Deutschland nicht für ausgeschlossen. Ein deutsch-österreichisch-italienischer Dreibund schien deshalb Bismarck geraten; konnte man von den Italienern zwar keine großen kriegerischen Anstrengungen erwarten, so hatte es allein schon viel für sich, wenn die Grenzen Österreichs nicht gegen die Italiener geschützt werden mußten. Unter ähnlichen Gesichtspunkten war Bismarck auf eine Stärkimg der Türkei bedacht für den Fall eines Konfliktes mit Rußland; deutsche Beamte führten 1881 in der Türkei eine Reform der zerrütteten Finanzen durch, und deutsche Offiziere begannen 1882, die türkische Armee zu reorganisieren. Nach langwierigen Verhandlungen schlossen die Kaiser von Deutschland und Österreich und der König von Italien am 20. Mai 1882 zunächst auf fünf Jahre den Dreibund, „beseelt von dem Wunsch die Garantien für den allgemeinen Frieden zu erhöhen, das monarchische Prinzip zu stärken und damit die Aufrechterhaltung der sozialen und politischen Ordnung in ihren Staaten zu sichern". Dieser Vertrag, „seiner Natur nach wesentlich konservativ und defensiv, verfolgt einzig den Zweck, sie gegen die Gefahren zu schützen, welche ihre Sicherheit und die Ruhe Europas bedrohen könnten" (Präambel). Der Vertrag bestimmt: Die Vertragschließenden versprechen sich gegenseitig Friede und Freundschaft und werden keinem Bündnis oder keiner Vereinbarung beitreten die sich gegen einen ihrer Staaten richten (Art. I). Wird Italien von Frankreich angegriffen, ohne „es direkt provoziert zu haben", sind die beiden anderen Vertragschließenden verpflichtet, mit allen ihren Kräften dem Angegriffenen beizustehen. Dieselbe Verpflichtung besteht für Italien bei einem nicht direkt provozierten französischen Angriff auf Deutschland (Art. II). Werden einer oder zwei der Vertragschließen95

Bismarcks Außenpolitik

den ohne direkte Provokation ihrerseits von zwei oder mehr Großmächten angegriffen, welche diesen Vertrag nicht unterzeichnet haben, ist der Bündnisfall für alle Vertragschließenden gegeben (Art. III). Sollte sich einer von ihnen durch einen NichtUnterzeichner derart bedroht fühlen, daß er sich gezwungen sieht, diesem den Krieg zu erklären, so verpflichten sich die zwei anderen zu wohlwollender Neutralität gegenüber ihrem Verbündeten (Art. IV). Wird der Friede eines der Vertragschließenden bedroht, so werden sie sich über die für eventuelle gemeinsame militärische Operationen zu treffenden Maßnahmen besprechen (Art. V). „Die Hohen Vertragschließenden versprechen sich gegenseitig Geheimhaltung des Inhaltes und der Existenz dieses Vertrages" (Art. VI). Ein Zusatzprotokoll wies noch ausdrücklich darauf hin, daß die Bestimmungen des Vertrags sich in keinem Falle gegen England richten. Mit seinen lang hingezogenen Küsten und den Inseln Sardinien und Sizilien durfte Italien nicht wagen, sich in einen Krieg gegen England verwickeln zu lassen, und so war von vornherein damit zu rechnen, daß sich der Dreibund auflösen würde, wenn England in einem Kriege gemeinsam mit Frankreich oder Rußland gegen eine der Mittelmächte vorging. Ein Moment der Unsicherheit bildete auch die Möglichkeit einer willkürlichen Auslegung der Einschränkung „ohne direkte Provokation". Der Dreibund hat immerhin für die nächste Zukunft zur Aufrechterhaltung des Friedens in Europa beigetragen, und mehr erwartete sich Bismarck nicht davon. Ähnliches gilt für ein österreichischrumänisches Geheimbündnis vom 30. Oktober 1883, dem sich Deutschland am gleichen Tage anschloß. Der Dreibund vom 20. Mai 1882 sollte weder den Zweibund vom 7. Oktober 1879 nodi den Dreikaiservertrag vom 18. Juni 1881 überflüssig machen. Der Zweibund wurde in seiner ursprünglichen Form bis 1914 immer wieder verlängert; der Dreibund blieb mit mehrfachen Abänderungen zugunsten Italiens bis zu dessen Eintritt in den Ersten Weltkrieg (1915) in Kraft. Diese Bündnisse und Verträge, ebenso der österreichisch-serbische Vertrag (S. 93) und das österreichischrumänische Geheimbündnis haben Bismarcks Bemühungen um den Frieden wirkungsvoll unterstützt, konnten aber bei dem reinen Verteidigungscharakter und den teilweise wenig präzisen Bestimmungen nicht ein für allemal die den Frieden bedrohenden Gefahren bannen, wie sie sich aus tiefgreifenden gegensätzlichen Interessen ergaben. Die internationalen Spannungen, hervorgerufen durch die in den siebziger Jahren aufkommende imperialistische Kolonialpolitik verschiedener europäischer Staaten berührten Deutschland zunächst nicht unmittelbar, boten aber doch Bismarck Gelegenheit, sie für seine Zwecke zu benützen.

Bismarck und die Ägyptische Frage Durch den Bau (1859/1869), die teilweise Finanzierung und dann die Verwaltung des Suezkanals erlangten die Franzosen in Ägypten eine starke wirtschaftliche und politische Position. Neben ihnen gewannen die Engländer wachsenden Einfluß, nachdem sie 1875 nahezu die Hälfte der Suezaktien, mehr als in den 96

Bismarck und die Ägyptische Frage Händen der Franzosen waren, dem linter türkischer Oberhoheit stehenden, schwer verschuldeten Khedive (Vizekönig) abgekauft hatten. Trotz des Verkaufes der Anteile nahm die Zerrüttung der ägyptischen Finanzen fortwährend zu. Die zu ihrer Reglung von England und Frankreich eingesetzte Kontrollkommission ordnete die Entlassung zahlreicher Offiziere und die Herabsetzung des Soldes der übrigen an. Aber die Armee wandte sich seit 1881 mit der Forderung: „Ägypten den Ägyptern" unter dem Beifall und der Mitwirkung der Bevölkerung gegen die Ausländer. Als in Alexandrien am 11. Juni 1882 bei einem der militärisch nationalistischen Aufstände etwa fünfzig Europäer ermordet worden waren und die französische Regierung die Beteiligung an einem bewaffneten Einschreiten ablehnte, gingen die Engländer allein vor. Ihre Flotte bombardierte am 11. Juli Alexandrien, und zwei Monate später erfocht General Garnet Wolseley mit 5000 Mann indischer Truppen einen entscheidenden Sieg über die ihm an Zahl weit überlegene ägyptische Armee; am 15. September zog er in Kairo ein. Die Engländer besetzten jetzt Ägypten mit der Versicherung, sie würden ihre Truppen zurückziehen, sobald dies die Lage des Landes zulasse. Da sich die Lage Ägyptens nicht besserte, gab dies den Engländern die Gelegenheit, als Besatzungsmacht die wichtige Position am Suezkanal auf dem Wege nach Indien und zu den Ölquellen bis zum Jahr 1954 in der Hand zu behalten. Der französische Ministerpräsident Léon Gambetta hatte Anfang 1882 in einer Note, der sich die englische Regierung anschloß, verlangt, daß Frankreich und England gemeinsam die Regierung des Khedive stützen und damit die bestehende Ordnung in Ägypten aufrechterhalten sollten. Im Februar überreichten Deutschland, Rußland, Österreich und Italien dem Sultan gleichlautende Noten, auf die sie sich in Berlin geeinigt hatten, am Status quo in Ägypten dürfe nur mit Zustimmung der Großmächte und des Sultans etwas geändert werden. So rief die von England ohne Rücksprache mit Frankreich und mit den Unterzeichnern der Note vom Februar ein halbes Jahr später durchgeführte Okkupation Ägyptens große Erregung hervor. Frankreich vermied einen offenen Konflikt, aber dem guten französisch-englischen Einvernehmen, gewissermaßen ein Gegengewicht zum deutsch-österreichisch-russischen Bündnis, folgte ein durch weitere Gegensätze auf dem kolonialen Gebiet lange Jahre wachgehaltener Antagonismus. Rußland und Italien nahmen gegenüber England eine feindselige Haltung an, doch gelang es Bismarck, die beiden mit Deutschland verbündeten Mächte von einem Vorgehen gegen England abzubringen. Denn Bismarck hatte erkannt, daß die in den Noten vom Februar vorgesehene Reglung der ägyptischen Frage nicht durchzuführen sei, so hielt er es für das beste, wenn England allein handle. Er ließ der englischen Regierung mitteilen, Deutschland werde gegen die Okkupation von Ägypten nichts einwenden, dem englischen Botschafter in Berlin deutete er an, er werde das Eingreifen Österreichs und Rußlands in die ägyptischen Angelegenheiten verhüten. Er unterstützte England überhaupt in einer Weise, daß der englische Innenminister Sir William Harcourt im Januar 1883 zu dem ersten Sekretär bei der deutschen Botschaft in London Graf Herbert Bismarck sagte: „Wir sind dem Fürsten Bismarck ungemein dankbar, denn er hat

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Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Bismarcks Außenpolitik uns durch die freundliche Haltung der deutschen Politik im Sommer einen großen Dienst geleistet. Daß wir mit Ägypten alleingelassen wurden, haben wir lediglich dem Wohlwollen Deutschlands zu verdanken. Wir wissen alle sehr wohl, daß Fürst Bismarck in einem gewissen Augenblick den Wagen hätte umwerfen können, wenn er es gewollt hätte, und daß er das nicht getan, erkennen wir mit großem Danke." Wie aus einer eigenhändigen Aufzeichnung Herbert Bismarcks hervorgeht, war seines Vaters Verhalten von der Überzeugung bestimmt, daß für Deutschland die Freundschaft des britischen Reiches viel wichtiger sei als das Schicksal Ägyptens. Zunächst kam diese Freundschaft für die sich anbahnende Kolonialpolitik in Betracht.

Erwerb der deutschen Kolonien Die der Okkupation folgende französisch-englische Spannung, die Schwierigkeiten, die der Aufruhr der von dem Mahdi geführten Sudanesen den Engländern bereitete, das Vordringen der Russen in die Nähe mittelasiatischer Interessengebiete Englands, der Dreikaiservertrag und der Dreibund schufen eine internationale Lage, die zum Aufbau einer deutschen Kolonialmacht ermutigte. Forschungsreisen wie die der Brüder Schlagintweit in Zentralasien, von Heinrich Barth und von Gerhard Rohlfs in Afrika um die Mitte des 19. Jahrhunderts hatten die Blicke über den europäischen Gesichtskreis hinausgelenkt, ebenso die dem Handel, namentlich dem Absatz deutscher Industrieerzeugnisse dienenden, 1867 abgeschlossenen Verträge des deutschen Zollvereins mit Persien, Japan, China und Siam. In den Jahren 1820/1870 verließen fast zweieinhalb Millionen, 1871 bis 1881 etwas über 800 000 Deutsche ihr Vaterland und suchten hauptsächlich in den Vereinigten Staaten von Nordamerika und in Brasilien eine neue Heimat. All das, besonders die Abwanderung so vieler, meist tüchtiger Arbeitskräfte, oft mit einem kleinen Kapital aus Erspartem oder aus dem Verkauf ihres Besitzes, legte den Gedanken an Kolonien in Ubersee nahe, wie sie andere Staaten seit Jahrhunderten erworben hatten. Vorerst kam es in Deutschland nur zu privaten Unternehmungen. Große Hamburger und Bremer Handelshäuser wie Godeffroy, Lüderitz, Wörmann gründeten Faktoreien auf Inseln der Südsee und an den Küsten von Afrika; 1876/1879 Schloß das Deutsche Reich Verträge mit eingebomen Herrschern vor allem der Tonga-, der Samoa- und der Hawan-Inseln zum Schutz des deutschen Handels mit dem Recht, Marinestützpunkte zu errichten. Als Ende 1879 das Hamburger Haus Godeffroy Bankrott erklärte, drohten seine Besitzungen auf Samoa in englische Hände zu kommen, weil ein Engländer der Hauptgläubiger war. Daraufhin bildete sich die Deutsche Seehandelsgesellschaft. Sie erwarb die Godeffroyschen Plantagen, das Reich sollte für die Verzinsung des Grundkapitals die Garantie bis zu 300 000 Mark jährlich übernehmen. Bismarck trat dafür ein, der Bundesrat stimmte zu, der Reichstag lehnte jedoch im April 1880 ab. Dank der Unterstützung durch die Stadt Hamburg konnte die Deutsche Seehandelsgesellschaft den größten Teil der Godeffroyschen Erwerbungen auf 98

Erwerb der deutschen Kolonien Samoa in deutscher Hand erhalten. Die durch Streitigkeiten der teils von Deutschland, teils von England, teils von den Vereinigten Staaten unterstützten einheimischen Fürsten und durch Mißgriffe des deutschen Konsuls hervorgerufenen Unruhen und Verwirrungen führten 1889 zu einer Konferenz der drei Mächte in Berlin. Sie einigten sich auf die Erklärung der Unabhängigkeit und Neutralität der Samoainseln, auf die Anerkennung gleicher, von den Konsuln der drei Mächte gemeinsam zu überwachender Rechte für die Bürger und Untertanen der Vertragsmächte und auf die Einsetzung eines vom König von Schweden zu bestimmenden Oberrichters. Die Ablehnung der Garantie im Reichstag 1880 trug sehr dazu bei, daß sich die öffentliche Meinung in größerem Maße mit Kolonialfragen beschäftigte. Die kurz zuvor erschienene Schrift des Inspekteurs der evangelischen Rheinischen Missionsgesellschaft Friedrich Fabri „Bedarf Deutschland der Kolonien?" wurde viel gelesen. Seiner Forderung nach Ackerbau- und Handelskolonien lag eine reiche Übersee-Erfahrung zugrunde, wie denn überhaupt die deutschen Missionsstationen für den Überseehandel und die Ausbreitung des Kolonialgedankens eine bedeutende Rolle gespielt haben. Am wirksamsten und erfolgreichsten warb für ihn der 1882 gegründete Deutsche Kolonialverein. Die Unterstützung deutscher Kolonisationsunternehmungen war das Ziel der zwei Jahre später ins Leben gerufenen „Gesellschaft für deutsche Kolonisation", die sich 1887 mit dem Deutschen Kolonialverein zur „Deutschen Kolonialgesellschaft" vereinigte. Bismarcks Kolonialpolitik erscheint oft nicht als ganz konsequent. Er ließ sich eben bei seinen Äußerungen und seinem Verhalten kolonialen Fragen gegenüber, seinem auch sonst praktizierten Grundsatz getreu, in erster Linie von der jeweiligen Lage leiten, so daß er mitunter ganz im Gegensatz zu früheren programmatischen Erklärungen handelte, auch spielten gelegentlich persönliche Verstimmungen und Abneigungen mit hinein; Bismarcks kolonialpolitische Anschauungen haben eine Entwicklung durchgemacht, die, im großen und ganzen gesehen, folgerichtig verlief. Als 1871 Bismarck während der Friedensverhandlungen von französischer und deutscher Seite vorgeschlagen wurde, statt eines Teils von ElsaßLothringen französische Kolonien in Hinterindien zu nehmen, antwortete er: „Ich will gar keine Kolonien", und noch zehn Jahre später versicherte er: „Solange ich Reichskanzler bin, treiben wir keine Kolonialpolitik. Wir haben eine Flotte, die nicht fahren kann, und wir dürfen keine verwundbaren Punkte in fernen Weltteilen haben, die den Franzosen als Beute zufallen, sobald es losgeht." Die Bemerkung über die Flotte war eine der durch Verärgerung hervorgerufenen Entgleisungen Bismarcks, sie richtete sich gegen den ihm verhaßten Chef der Kriegsflotte, Stosch (S. 45); es war eine Anspielung darauf, daß die Flotte der französischen oder englischen Kriegsmarine noch keineswegs gewachsen gewesen wäre. Andererseits hatte Bismarck 1876 zu Uberseekaufleuten gesagt, eine Nation wie die deutsche könne auf die Dauer Kolonien nicht entbehren, aber ohne entsprechende Vorarbeiten und ohne den nötigen Impuls aus dem Volke heraus scheue er sich, an ihre Verwirklichung zu gehen. Als um 1880 die Schrift Fabris und die Verhandlungen im Reichstag über die Angelegenheit Godeffroy diesen 99 7·

Bismarcks Außenpolitik Impuls zur Folge hatten und der Übergang vom Freihandel zur Schutzzollpolitik ein stärkeres Eingreifen des Staates auch in den Überseehandel mit sich brachte, wandte Bismarck den Kolonialfragen mehr als bisher seine Aufmerksamkeit zu und entschloß sich, als die internationale Lage die Möglichkeit hierzu bot, Kolonien zu gründen. Aber audi jetzt hielt Bismarck bis zu einem gewissen Grad an seinem früheren Standpunkt fest: „Schutz den Pionieren, nicht staatlicher Kolonialbesitz", und 1885 wiederholte er: „Mein Ziel ist der regierende Kaufmann in jenen Gegenden, nicht der regierende Militär und der preußische Beamte." Deutschland erwarb von 1884 bis 1888 Togo, Kamerun, Deutsch-Südwest- und Deutsch-Ostafrika, in der Südsee Kaiser-Wilhelmsland auf Neu-Guinea, den Bismarck-Archipel, einen Teil der Salomon- und die Marschallinseln. Unmittelbar der Reichsregierung unterstanden als Kronschutzgebiete Togo, Kamerun und DeutschSüdwestafrika, so daß für sie an Bismarcks Grundsatz vom regierenden Kaufmann nicht festgehalten wurde, während die übrigen Kolonien bis 1890 von der DeutschOstafrikanischen und von der Neuguinea-Gesellschaft verwaltet wurden. Der Übergang verschiedener Staaten vom Freihandel zum Schutzzoll, die wachsende Industrie mit ihrem Bedarf an Rohstoffen und Absatzmärkten und die sich rasch vermehrende Bevölkerung hatten in den siebziger Jahren den neuen Imperialismus, möglichst große Ausdehnung des staatlichen Machtbereiches besonders in Übersee, geweckt. So forderte 1870 John Ruskin, Professor in Oxford, England müsse jedes Stück freien, fruchtbaren Bodens in Besitz nehmen und seine Kolonisten lehren, daß ihr erstes Streben die Förderung von Englands Macht zu Lande und zu Wasser sein müsse. In einer seiner Reden richtete 1883 der französische Ministerpräsident Jules Ferry an die Abgeordneten die Frage: „Können wir sagen, daß diese Kolonialpolitik für moderne Völker ein Luxus ist?" und gab darauf die Antwort: „Keinesfalls, meine Herren, diese Politik ist für uns alle eine Notwendigkeit." Die alten Kolonialmächte, England, Frankreich, Portugal und Spanien, erweiterten nun, wo immer sich ihnen Gelegenheit bot, besonders 1881/1885, ihr Kolonialgebiet; Deutschland und Belgien traten jetzt in die Reihe der Kolonialmächte ein. Natürlich führte dieser Kolonialimperialismus zu mancherlei Interessengegensätzen und zu teilweise erbitterten Auseinandersetzungen. Unter Ausnützung der internationalen Lage gelang es Bismarck, die Schwierigkeiten, die England den Anfängen der deutschen südwestafrikanischen und der ostafrikanischen Kolonien, der Erwerbung von Togo und Kamerun und in der Südsee bereitete, von Fall zu Fall in langwierigen Verhandlungen zu beheben. Nachdem der Bremer Großkaufmann Eduard Lüderitz in Angra Pequeña, dem Ausgangspunkt von Deutsch-Südwestafrika, umfangreiche Besitzungen erworben hatte, erbat er den Schutz des Reiches. Daraufhin fragte Bismarck in London an, ob England auf Angra-Pequena Rechte geltend mache und erhielt den Bescheid, Englands Souveränität erstrecke sich offiziell bisher nur auf die Walfischbai und die Inseln vor Angra-Pequena, doch würde England das Eindringen einer anderen Macht in das Gebiet zwischen der portugiesischen Kolonie Angola und der Kapkolonie als widerrechtlich betrachten. Die Anfrage bei der englischen Regierung, worauf sie diesen Rechtsanspruch stütze, wurde nicht beantwortet. Als die Re100

Erwerb der deutschen Kolonien gierung der Kapkolonie nach London meldete, sie sei bereit, die Küste bis zur Walfischbai und damit auch Angra-Pequena in Besitz zu nehmen, erhob Bismarck Einspruch, Deutschland werde dies nicht anerkennen. Schließlich erklärte sich die englische Regierung mit dem deutschen Vorgehen einverstanden und begnügte sich mit der Walfischbai. Da England in Ostafrika noch keine Hoheitsrechte ausübte, bot sich ihm kein Anlaß, unmittelbar etwas dagegen einzuwenden, daß Karl Peters im Hinterlande des Sultanats Sansibar und am Kilimandscharo von den Eingeborenen im Auftrag der Gesellschaft für Deutsche Kolonisation Land erwarb, dessen Schutz das Reich übernahm. Eine Festsetzung der Deutschen in diesem Gebiet war jedoch den Engländern unerwünscht, weil sie befürchteten, die Deutschen könnten von da aus an die großen Seen und nach dem oberägyptischen Sudan vorstoßen, dessen sich der Mahdi bemächtigt hatte. Engländer veranlaßten deshalb den Sultan von Sansibar, gegen das Vorgehen der Deutschen zu protestieren. Nach dem Erscheinen deutscher Kriegsschiffe wies die englische Regierung ihren Konsul in Sansibar an, vom Sultan die Rücknahme seines Protestes und die Zurückziehung seiner auf das Festland entsandten Truppen zu verlangen; gegen eine reichliche Entschädigung überließ der Sultan 1888 die Verwaltung der ganzen Küste den Deutschen. In Kamerun und Togo suchte England durch Aufwieglung der Eingeborenen die Gründung deutscher Kolonien zu vereiteln. Als deutsche Marinetruppen die Aufständischen zur Ruhe gezwungen hatten, entschloß sich auch hier die englische Regierung zu Verhandlungen und nach längerem Widerstreben zur Anerkennung des deutschen Protektorates über diese Gebiete. In der Südsee hatte das Deutsche Reich 1876 begonnen, zum Schutz des deutschen Handels Verträge mit eingeborenen Herrschern abzuschließen. Auf NordNeuguinea und benachbarten Inseln erwarb um 1880 die Deutsche Handels- und Plantagengesellschaft Land und errichtete Faktoreien. Gegen dieses Vordringen der Deutschen wandte sich am heftigsten Australien; es verlangte von der englischen Regierung, daß sie ganz Neuguinea und alle Inseln nördlich und nordöstlich davon annektiere oder wenigstens als englisches Protektorat erkläre. So weit wollte die englische Regierung nicht gehen, aber eingeschüchtert durch Drohungen der Australier, machte sie jetzt doch größere Ansprüche als früher in Neuguinea geltend. Unter den Gebieten auf Neuguinea, deren Annexion der englische Botschafter in Berlin Mitte Januar 1885 bekanntgab, waren auch solche, über denen bereits die deutsche Flagge wehte. Bismarck protestierte, und England lenkte im Hnblick auf seine Schwierigkeiten in Ägypten und noch mehr wegen der Gefahr eines englisch-russischen Krieges (S. 82) ein. Der englische Premierminister Gladstone erklärte am 12. März im Unterhaus: „Wenn Deutschland sich zu einer Kolonialmacht entwickelt, kann ich nur sagen: Gott schenke ihm guten Erfolg! (God speed her). Es wird bei der Ausführung der großen Ziele der Vorsehung zum Wohle der Menschheit unser Verbündeter und Partner sein." Am 6. April 1886 einigten sich England und Deutschland endgültig auf eine Demarkationslinie zur Abgrenzung ihrer Interessensphären: Deutschland wurden das nördliche Neuguinea und alle Inseln zwischen dem 141. Grad östlicher Länge 101

Bismarcks Außenpolitik und dem 8. Grad südlicher Breite einschließlich der Marschallinseln und der Karolinen zuerkannt; auf Grund eines Schiedsspruchs Papst Leos XIII. (S. 31) kamen jedoch die Karolinen an Spanien.

Die Kongokonferenz und Bismarcks Versuch eines Zusammengehens mit Frankreich Während der Kolonialimperialismus zu Spannungen zwischen Deutschland und England führte, gab er Bismarck die erwünschte Gelegenheit zu freundschaftlicher Annäherung an Frankreich. Um es von dem Verlangen nach Revanche abzulenken, hatte Bismarck Frankreich schon seit längerem, wie etwa bei der Besetzung von Tunis, in seinen kolonialen Bestrebungen unterstützt. Einen besonders günstigen Anlaß hierzu bot ihm die Kongofrage. Angeregt durch den Afrikaforscher Henry Stanley hatte sich 1878 in Brüssel das „Comité d'études du Haut-Congo", seit 1882 „Association Internationale du Congo" mit König Leopold II. von Belgien als Präsidenten gebildet; Zweck der Gesellschaft war die Erschließung des Kongobeckens. Zu dieser Zeit faßte Frankreich Fuß auf dem Nordufer des Kongo und einigte sich 1882 mit dem belgischen König. Ende Februar 1884 erkannte England die zweifelhaften Ansprüche Portugals auf die Kongomündung an und vereinbarte mit ihm gleiches Recht in diesem Gebiet; eine englisch-portugiesische Kommission sollte Schiffahrt, Polizei und Zölle näher regeln. Dies hätte bei der politischen und maritimen Überlegenheit Englands dessen Herrschaft über die Kongomündung zur Folge haben müssen. Frankreich, Deutschland und die Vereinigten Staaten protestierten gegen das britisch-portugiesische Abkommen, worauf England dieses nicht ratifizierte. Gemeinsam mit Frankreich lud Bismarck im Herbst zu einer Konferenz für die Reglung der Kongofrage nach Berlin ein. Sie wurde am 15. November 1884 unter dem Vorsitz von Bismarck eröffnet und tagte bis zum 26. Februar 1885; vertreten waren alle europäischen Staaten außer der Schweiz und Luxemburg sowie die Vereinigten Staaten. Die Beschlüsse der Konferenz wurden in der von allen ihren Mitgliedern unterzeichneten Generalakte, der „ K o n g o a k t e " zusammengefaßt. Sie bestimmte die Grenzen des neuen, für neutral und unabhängig erklärten, unter der Souveränität des Königs von Belgien stehenden Kongostaates, Handelsfreiheit in Zentralafrika, Freiheit der Schifffahrt auf Kongo und Niger und ihren Nebenflüssen, verbot den Sklavenhandel und verpflichtete jeden Staat, der in Afrika bisher herrenlose Gebiete sich anzueignen beabsichtigte, dies den daran interessierten Mächten mitzuteilen und bei etwaigen Einwänden die Angelegenheit einem Schiedsgericht vorzulegen. Als Bismarck mit Frankreich die Kongokonferenz vorbereitete, ließ er Mitte August 1884 dem französischen Botschafter in Berlin, Baron Courcel, mitteilen: „Frankreich kann zu einer mächtigen, vielleicht dominierenden Stellung gelangen, wenn es der maritimen Suprematie Englands gegenüber die Führung der maritimen Politik der Mächte mit Marinen zweiten Ranges erstrebt", und einige Wochen später sagte er selbst zu Courcel: „Mein Wunsch ist, eine Art Gleich102

Kongokonferenz. Versuch eines Zusammengehens mit Frankreich gewicht zur See herzustellen, und Frankreich hat dabei eine große Rolle zu spielen. Früher sprach man von einem europäischen Gleichgewicht, ein Ausdruck des 18. Jahrhunderts; aber ich glaube, es ist nicht veraltet, von einem Gleichgewicht auf den Meeren zu sprechen. Ich wiederhole, ich wünsche keinen Krieg mit England, doch wünsche ich, es möge einsehen, daß, wenn sich die Flotten der anderen Nationen zusammenschließen, sie ihm auf dem Ozean das Gleichgewicht halten und es zwingen werden, die Interessen der anderen zu berücksichtigen. Um das zu tun, muß sich England an den Gedanken gewöhnen, daß ein französischdeutsches Bündnis keine Unmöglichkeit ist." Auch auf französischer Seite fehlte es damals nicht an versöhnlichen Stimmen. So versicherte der französische Diplomat Camille Barrère dem Grafen Herbert Bismarck: „Sie glauben nicht, wieviel Gutes unsere gegenseitige Annäherung schon gewirkt hat." Nach Herbert Bismarcks Bericht führte Barrère weiterhin aus: „Es würde freilich noch eine ziemlich lange Zeit dauern bis die Erinnerung an 1870 nur eine historische würde und keine Empfindlichkeiten mehr wachriefe: es braucht aber nur Geduld angewandt zu werden, um dahin zu gelangen. Sehr glücklich sei es, daß unsere Frankreichs Kolonialbestrebungen begünstigende Politik jahrelang vorgearbeitet habe, um die gemeinschaftliche Basis zu schaffen, auf der wir uns jetzt gefunden hätten, wenn dieselbe auch einstweilen auf Westafrika und China beschränkt sei. Die Annäherung Frankreichs und Deutschlands, welche so ermöglicht und weiterer Ausbildung fähig wäre, sei nicht nur das beste für die beiden Länder, sondern für die gesamte Welt und deren Entwicklung. Man müsse doch auch an spätere Generationen denken und an die Tatsache, daß das stärkste Bündnis auf der Welt das deutsch-französische sein würde; sei dies einmal etabliert, so habe sonst niemand etwas zu sagen." Ähnlich der französische Kriegsminister General Jean Campenon, als ihm gegenüber der preußische General Wilhelm von Heuduck äußerte, eine deutsch-französische Allianz lasse sich nur bei rücksichtsloser Anerkennung des Frankfurter Friedens denken: „Das ist es, was ich (Campenon) alle Tage meinen Kollegen sage. Man soll sich nicht mehr schwächlich mit der Vergangenheit beschäftigen, man muß mit der Gegenwart rechnen. Wenn diese Allianz zustande käme, Frankreich würde mit einem Schlag seine frühere Stellung in der Welt wieder einnehmen. Frankreich und Deutschland vereint würden die Welt beherrschen." Die Kongokonferenz bildete den Höhepunkt der deutschfranzösischen Kolonialentente, die seit dem Sturz des französischen Ministerpräsidenten Ferry Ende März 1885 abbröckelte und nie ernstlich für eine allgemeine deutsch-französische Allianz in Betracht gekommen war. Bemerkungen wie die von Barrère und Campenon waren rein privater Art und standen im Gegensatz zu der in Frankreich noch immer weitaus vorherrschende Meinimg, die Baron Courcel in einem Brief an Ferry Dezember 1884 wiedergab: „Eine Nation, die ein Gebiet verloren h a t . . . darf niemals verzeihen und niemals vergessen." Bismarck hatte sich von der Kolonialentente im Grunde nicht mehr erwartet, als sie geleistet hat, und da ein wirkliches Freundschaftsverhältnis mit Frankreich nicht zu erreichen war, vermied er, sich mit England zu verfeinden.

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Bismarcks Außenpolitik Deutschland zwischen Österreich und Rußland Im März 1884, ungefähr zu derselben Zeit, als die deutsch-französischen Verhandlungen über die Kongofrage begannen, wurde der Dreikaiservertrag vom Juni 1881 erneuert. Zar Alexander III. hätte ihn gerne auf Rußland und Deutschland beschränkt. Nach einem Bericht des deutschen Botschafters in Petersburg, Hans Lothar von Schweinitz, sagte der Zar: „es gereiche ihm zur hohen Befriedigung, den geheimen Vertrag erneuert zu sehen, er erwarte davon großen Nutzen für .beide Staaten'; es sei sehr erfreulich, daß auf diese Weise die Beziehungen und die Ruhe .beider Staaten' gesichert seien... Von Österreich spreche er nicht, weil zwischen diesem und Rußland so viel divergierende Interessen beständen. Ich erlaubte mir zu bemerken, daß gerade in bezug auf Österreich und dessen jene Interessen berührende Politik der Vertrag besonders wertvoll sei. Statt diesen Gedanken aufzunehmen sagte der Zar, er hoffe dringend, daß man das Geheimnis streng bewahren werde. ,Sie kennen Rußland zu genau, um nicht zu wissen, daß jede Abmachung mit Ihnen (Deutschland) gern gesehen werden würde, daß aber das Bekanntwerden eines Abkommens mit Österreich große Unzufriedenheit zur Folge haben müßte'." Der Gegensatz zwischen Rußland und Österreich hatte seinen Grund in dessen Fortschritten auf dem Balkan, den Rußland nach wie vor als seine Domäne betrachtete. Nun war Serbien in seiner Außenpolitik 1881 gewissermaßen ein Vasallenstaat Österreichs geworden, Rumänien hatte 1883 ein Bündnis mit Österreich und Deutschland, aber nicht mit Rußland geschlossen, und Bulgarien, auf das Rußland einst so große Hoffnungen gesetzt hatte, wandte sich immer mehr von ihm ab. Die von Bismarck angeregte Zusammenkunft der von ihren Außenministern begleiteten Kaiser von Rußland, Deutschland und Österreich vom 15. bis 17. September 1884 in Skierniewice bei Warschau schien zu einer Entspannung zwischen Rußland und Österreich geführt zu haben. Besonders befriedigt war der Kaiser von Österreich über das Ergebnis. Der russische Außenminister Giers hatte zugegeben, daß es in der Natur der Verhältnisse liege, wenn das neue Königreich Serbien an Österreich-Ungarn seine Hauptanlehnung suchte und fände, und daß auch an die Person des Fürsten von Bulgarien nicht gerührt werden solle, man wolle russischerseits jene Länder mehr sich selbst überlassen. Aber schon im nächsten Jahre hatten neue Balkanwirren das Wiederaufleben der alten Gegensätze zwischen Rußland und Österreich zur Folge. Auf Wunsch Zar Alexanders II. hatten die Bulgaren den Neffen seiner Gemahlin, Alexander von Battenberg, 1879 zum Fürsten ihres Landes gewählt. Die guten Beziehungen des Fürsten zum Zarenhof erloschen mit dem Tode Alexanders II., zumal da Fürst Alexander die Selbständigkeitsbestrebungen der Bulgaren förderte, denen eine direkte Abhängigkeit von Rußland noch mehr verhaßt war als die durch den Berliner Kongreß festgesetzte, bloß nominelle Oberhoheit des Sultans. Die von Anfang an wenig freundliche Haltung Zar Alexanders III. gegenüber dem Fürsten Alexander steigerte sich zu einer feindseligen, als sich im September 1885 die Ostrumelier von der Türkei lösten und sich mit den ihnen stammesverwandten Bulgaren vereinig104

Rußland und Österreich. Boulanger ten; Fürst Alexander hatte sich nicht zuvor mit Zar Alexander III. verständigt, der diese Vereinigung gerne selbst vorgenommen hätte, um so den früheren starken russischen Einfluß in Bulgarien zurückzugewinnen. Die Serben mißgönnten Bulgarien diese Vergrößerung überhaupt, griffen es an und wurden von Fürst Alexander besiegt. Jetzt nahm Österreich auf Grund des Vertrages von 1881 für Serbien Partei. Das war ein Verstoß gegen die Bestimmung des Dreikaiservertrages, seine Unterzeichner würden an dem Status quo auf dem Balkan nur nach gemeinsamen Vereinbarungen etwas ändern. Wenn nun Österreich seine Drohungen gegen Bulgarien ausführte, war ein russisch-österreichischer Krieg kaum zu vermeiden. Um ihn zu verhindern, ließ Bismarck Österreich wissen, daß sich Deutschland unter diesen Umständen an einem Krieg gegen Rußland nicht beteiligen würde. Daraufhin unterließ Österreich weitere Schritte, und Fürst Alexander Schloß mit Serbien Frieden. Russische Umtriebe in Bulgarien veranlaßten Fürst Alexander im September 1886 zur Abdankung. Die Russen glaubten jetzt, Bulgarien sich völlig gefügig machen und Deutschland von Österreich trennen zu können. Im Oktober brachte der russische Botschafter in Berlin, Graf Paul Schuwalow, während einer zwanglosen Unterredung mit Herbert Bismarck, angeheitert von Champagner, die Verstimmung und den Haß hoher russischer Kreise gegen Österreich zum Ausdruck: „Was erwarten Sie von diesem unsicheren Freunde? Österreich wird Sie immer verraten, sobald es die Gelegenheit und den Mut dazu hat. Wenn Sie zum Beispiel mit Frankreich in Krieg kommen, wird Österreich sicher still sitzen; was haben Sie also von einem Alliierten, der Sie kraft Ihres unglücklichen Vertrages mit Ihnen nötigen kann, mit uns Krieg zu f ü h r e n ? . . . Die einzige vernünftige und feste Allianz ist die zwischen uns beiden; ich verabscheue Österreich, ich habe mich nie mit der Allianz zu dritt abfinden können; es ist unbedingt notwendig, daß wir Österreich von der Karte Europas verschwinden lassen. Sie werden sich dessen deutsche Provinzen aneignen und nichts wird uns mehr politisch trennen können; laßt uns also auf Österreich scheißen (¿hier)." Tatsächlich hat der Dreikaiservertrag seine Bedeutung verloren, als Österreich Bismarcks Vorschlag einer klaren Scheidung der Interessengebiete Rußlands und Österreichs auf dem Balkan Anfang Dezember 1885 und nochmals im November 1886 ablehnte. Die russischen Panslawisten hetzten, angestachelt vor allem durch den Herausgeber der „Moskauer Zeitung", Katkow, auch gegen Deutschland in einer Weise, daß ein Krieg der Russen gegen Österreich und Deutschland unvermeidlich schien. Was die russisch-österreichisch-deutsche Krise so bedenklich machte, war die vielfältige Bindung der europäischen Staaten untereinander, die es kaum möglich machte, eine Frage lokal zu behandeln, ohne daß jeweils andere verbündete Mächte mit hineingezogen würden. Gefahr eines deutsch-französischen Krieges In Frankreich drängten Boulanger (S. 21), von Januar 1886 bis Mai 1887 Kriegsminister, und Paul Déroulède, Führer der Patriotenliga, durch die von 105

Bismarcks Außenpolitik ihnen inspirierte Presse unter dem Beifall breiter Massen auf einen möglichst baldigen Revanchekrieg hin; Boulanger traf hierfür militärische Vorbereitungen: er reorganisierte und vermehrte erheblich die Armee und zog an der Ostgrenze ein starkes Truppenaufgebot zusammen. Um die Jahreswende 1886/87 verlangten russische Journalisten zwar kein Zusammengehen mit Frankreich im Falle eines französisch-deutschen Krieges; immerhin sollte dann Rußland keineswegs seine Neutralität erklären, das würde Deutschland zwingen, etwa 300 000 Mann an seiner Ostgrenze bereitzuhalten; kurz zuvor im November sagte Zar Alexander III. zum französischen Botschafter in Petersburg, die Zeiten seien schwer und brächten vielleicht Drangsale mit sich, deshalb müsse Frankreich auf Rußland und Rußland auf Frankreich rechnen können; was Rußland brauche, sei ein starkes Frankreich. Ende November 1886 beantragte die deutsche Regierung im Reichstag eine Erhöhung der Friedensstärke der Armee und wies dabei auf die Heeresvermehrungen in Frankreich und Rußland hin (S. 66). — Den Wendepunkt der Krise brachte der Zwischenfall Schnäbele: Der französische Polizeikommissar Schnäbele, ein gebürtiger Elsässer, wurde im April 1887 auf deutschem Boden verhaftet, er war Leiter der Spionage an der französisch-deutschen Grenze. Die Festnahme war rechtswidrig, weil Schnäbeies Grenzübertritt in diesem Fall auf Grund der Aufforderung eines deutschen Grenzbeamten zu einer amtlichen Besprechung erfolgt war. Bismarck ordnete deshalb die sofortige Freilassung an; für Deutschland war damit die Angelegenheit erledigt, doch nicht für die französischen Chauvinisten. Boulanger verlangte unter Berufung auf den Ministerpräsidenten René Goblet von dem Präsidenten der Republik, François Grévy, ein Ultimatum an Deutschland und die Entsendung von Truppen an die Grenze. Aber Grévy, der den Frieden nicht weiter gefährden wollte, veranlaßte die Kammer, das Kabinett Goblet zu stürzen. Der Nachfolger Pierre-Maurice Rouvier nahm Boulanger in das neue Kabinett nicht auf.

Die Erneuerung des Dreibundes und das erste

Mittelmeerabkommen

Während der durch Boulanger und Déroulède hervorgerufenen deutsch-französischen Krise, der bedrohlichsten seit 1870, kamen die Verhandlungen über die Erneuerung des Dreibundes zum Abschluß. Der italienische Außenminister Graf Nicolas Robilant hatte sie bereits im Herbst 1885 eingeleitet. Er beklagte sich bei dem österreichischen Außenminister Graf Kalnoki, Italien habe bisher nicht viel Positives von dem Bündnis gehabt; falls es erneuert würde, müßte es für Italien mehr praktischen Nutzen haben, Italien „wäre immer etwas im Vorzimmer geblieben". Kalnoki erwiderte darauf, Italien habe die Unterstützung seiner Politik in Fragen angerufen, die derart außerhalb der österreichischen Interessensphäre lägen, daß Italien nicht verlangen könnte, daß man sich hier dafür erwärme und dadurch etwa in Konflikte mit anderen Großmächten gerate. So blieb die Erneuerung des Dreibundes, soweit sie Österreich und Italien berührte, zunächst in der Schwebe. Im Juli 1886 ersuchte Graf Robilant Bismarck, die Verhandlungen über 106

Erneuerung des Dreibundes. Erstes Mittelmeerabkommen den Dreibund wieder in Gang zu bringen und forderte dabei, der erneuerte Vertrag solle den Status quo im Mittelmeer und in der Adria garantieren. Bismarck war gegen eine derartige Garantie, weil sie eine wesentliche Änderung des 1882 lediglidi zur Wahrung des Friedens in Europa abgeschlossenen Dreibundes bedeute. Nachdem die österreichische Regierung hierin der deutschen zugestimmt hatte, teilten sie dies gemeinsam Robilant mit. In seiner Verärgerung über diesen Bescheid erklärte Robilant, Italien sei nun dieser unfruchtbaren Allianz müde, lenkte aber bald darauf wieder ein. Er war nun zur Erneuerung des bisherigen Bündnisvertrages bereit, wenn Bismarck bei den weiteren Verhandlungen mit einer Erörterung der italienischen Mittelmeerinteressen einverstanden wäre. Italien wollte dabei vor allem verhüten, daß Deutschland nicht wie bei Tunis (S. 94) Frankreich freie Hand zur Erwerbung von Tripolis lasse. Robilant befürchtete außerdem, Rußland und Österreich könnten sich in Balkanfragen ohne Berücksichtigung der italienischen Interessen einigen und verlangte die Aufnahme einer dem vorbeugenden Bestimmung in den Vertrag. Robilant drohte in einem Gespräch mit Botschafter von Keudell: Wenn die französische Fahne „in Tripolis gehißt würde, so müßte man sich sagen, daß dieses Unglück nicht geschehen wäre, wenn man sich an Frankreich statt an die Zentralmächte angeschlossen hätte; leidenschaftlicher Haß gegen die Verbündeten würde im ganzen Lande aufflammen, und ein unwiderstehlicher Druck der öffentlichen Meinung würde die Regierung . . . in Frankreichs Arme treiben, um von der mächtigen Republik möglichst günstige Bedingungen für den italienisch-afrikanischen Handel zu erlangen und wegen anderer Mittelmeerinteressen Verständigung zu suchen". Nun trat Bismarck bei der Wiener Regierung entschieden für Italien ein. Dabei ergaben sich solche Schwierigkeiten, daß sich die drei Regierungen schließlich für die Beibehaltung des bisherigen, jetzt bis zum 30. Mai 1892 verlängerten Dreibundvertrages und für ein deutsch-italienisches und ein österreichisch-italienisches Sonderabkommen entschieden. Am 20. Februar 1887 wurden die drei Verträge in Berlin unterzeichnet. Der österreichisch-italienische Sondervertrag erklärte sich grundsätzlich für den Status quo, bestimmte aber für den Fall, daß dieser sich auf dem Balkan oder den Küsten der Türkei, den Inseln der Adria oder des ägäischen Meeres nicht aufrechterhalten lasse und Österreich oder Italien sich infolge der Aktion einer dritten Macht oder sonstwie zur vorübergehenden oder dauernden Okkupation in diesen Gebieten genötigt sähen, die Okkupation nur vorgenommen werden solle nach einer österreichisch-italienischen Ubereinkunft auf der Grundlage gegenseitiger Kompensation für die Vorteile, die eine der beiden Mächte über den bisherigen Status quo hinaus erlangen würde. — In Artikel 1 des deutsch-italienischen Sondervertrags verpflichteten sich die beiden Mächte, soweit wie möglich den territorialen Status quo an den türkischen Küsten und auf den Inseln des Adriatischen und des Ägäischen Meeres aufrechtzuerhalten. In Artikel II sicherten sich beide Mächte gegenseitig volle Handlungsfreiheit in der ägyptischen Frage zu. Artikel III: „Sollte Frankreich in irgendeiner Form Anstalten treffen seine Okkupation oder sein Protektorat oder seine Souveränität in den Gebieten Nordafrikas auszudehnen 107

Bismarcks Außenpolitik

und Italien infolgedessen glauben, es müsse zur Wahrung seiner Position im Mittelmeer selbst zu einer Aktion in diesen nordafrikanischen Territorien oder vielleicht zu extremen Maßnahmen auf französischem Boden in Europa schreiten, so würde der Kriegszustand, der sich daraus zwischen Frankreich und Italien ergäbe, auf Ersuchen Italiens und zu gemeinsamen Lasten der zwei Verbündeten ipso facto den casus foederis bilden mit all den Auswirkungen, wie sie in den Artikeln II und V des (Drei)bundvertrages vom 20. Mai 1882 vorgesehen sind, als ob eine solche Eventualität dort ausdrücklich ins Auge gefaßt worden wäre." Artikel IV: Würde der Verlauf eines gemeinsam gegen Frankreich geführten Krieges Italien veranlassen, zur Sicherung seiner Grenzen und seiner maritimen Lage territoriale Garantien von Frankreich zu verlangen, dann „wird Deutschland dem kein Hindernis entgegenstellen und, wenn notwendig in einem mit den Umständen vereinbarten Ausmaße die Erreichung eines solchen Zieles fördern". — Ein viertes, von Deutschland, Österreich und Italien unterzeichnetes Dokument betonte, daß der erneuerte Dreibundvertrag und die zwei Sonderabkommen als ein Ganzes zu betrachten seien und die drei Verträge der Erhaltung des Friedens zu dienen hätten. Um der von Frankreich und Rußland her drohenden Kriegsgefahr zu begegnen, hat sich Bismarck nach anfänglichem Zögern zur Erneuerung des Dreibundes entschlossen und ist mehr als Österreich in wichtigen Punkten Italien entgegengekommen. Wenn in den Besprechungen für territoriale Garantien für Italien die Erwerbung von Nizza, Korsika, Tunis und sogar von Albanien in Betracht gezogen wurde und im Sondervertrag die etwaige Beteiligung Deutschlands an einem italienisch-französischen Krieg vorgesehen war, so wollte Bismarck damit nur Bedenken Italiens zerstreuen, es könnte als Mitglied des Dreibundes zu Schaden kommen. Bismarck war davon überzeugt, daß dieser Vertrag Frankreich von einem Krieg abhalten werde; zwar wurden die Einzelheiten des Vertrages erst nach dem Ersten Weltkrieg bekannt, aber man erfuhr schon im allgemeinen von dem Bündnis der beiden Mächte. Daß Italien und Frankreich trotzdem in einen ernstlichen Konflikt geraten könnten, hielt Bismarck allerdings nicht für völlig ausgeschlossen, doch hieß dies für ihn noch nicht, daß Deutschland auch in diesen Krieg mit hineingezogen werden würde. Er gedachte wohl, es so zu halten, wie er kurz vor Abschluß des Dreibundvertrags gewissermaßen als eine diplomatische Regel gegenüber dem deutschen Botschafter in Wien geäußert hatte: „Eine Lücke in einem Vertrage läßt sich immer finden, wenn man ihn auch noch so sorgfältig redigiert, und wenn man auch den klarsten Bestimmungen desselben sich entziehen will, so findet man immer Mittel und Wege, sich zu entschuldigen." Nun, der Absatz in dem Sondervertrag über die Beteiligung Deutschlands an territorialen Garantien für Italien und an einem italienisch-französischen Krieg lautete reichlich unbestimmt. So waren das deutsch-italienische Sonderabkommen und die Erneuerung des Dreibundes überhaupt eine meisterhafte Leistung Bismarckscher Diplomatie: sie förderten wesentlich die Aufrechterhaltung des Friedens, ohne Deutschland in einem ernstlichen Konflikt Italiens oder Österreichs gefährlich zu binden. 108

Erneuerung des Dreibundes. Erstes Mittelmeerabkommen Während der Dreibundverhandlungen verfolgte Bismarck noch ein zweites Ziel ähnlicher Art: eine englisdi-italienisch-österreichische Mittelmeerentente. Ende Dezember 1886 beauftragte Bismarck von Friedrichsruh aus das Auswärtige Amt, den italienischen Botschafter darauf hinzuweisen, daß „Italiens Militärmacht viel gewichtiger und ganz anders verwertbar sein würde, wenn es im Bunde oder doch in gemeinschaftlicher Aktion mit England auftreten würde. Die Beziehungen zwischen England und Frankreich seien keine guten, es herrsche Erbitterung auf beiden Seiten und nach Meinung mancher Leute (so ζ. B. des Pariser Rothschild) werde der nächste europäische Krieg ein englisch-französischer sein. England würde also gerade jetzt voraussichtlich bereit sein, die traditionellen intimen Beziehungen mit Italien stärker zu akzentuieren, und letzteres sollte nachdrückliche Versuche in dieser Richtung bei Lord Salisbury machen". Im Januar 1887 beauftragte Robilant den italienischen Botschafter Conte Corti, dem englischen Premierminister Robert Cecil Marques of Salisbury Vorschläge für eine Entente zwischen Italien und Großbritannien zu unterbreiten: so weit wie möglich Aufrechterhaltung des Status quo im Mittelmeer, in der Adria, im Ägäischen und im Schwarzen Meer; ist dies unmöglich, so sind Änderungen nur nach Verständigung der beiden Mächte vorzunehmen; Italien sagt Großbritannien in Ägypten, Großbritannien bei einem Einfall Frankreichs an der nordafrikanischen Küste, namentlich in Tripolis und in der Cyrenaika, Unterstützung zu; gegenseitiger Beistand bei jedem Krieg (also auch einem aggressiven) mit Frankreich. Auf dieser Grundlage tauschten Lord Salisbury und Conte Corti dann am 12. Februar Noten aus, das sogenannte Erste Mittelmeerabkommen. Salisbury bestand auf dieser Art des Abkommens mit Italien, weil ein eigentlicher Bündnisvertrag der Zustimmung des Parlaments bedurft hätte, die, wie Salisbury zu dem deutschen Botschafter in London, Graf Hatzfeld, sagte, vorläufig schwerlich zu erlangen sei und deshalb jede Verständigung in eine Form gekleidet werden müsse, die „der Regierung im Fall von Interpellationen gestattet, vorläufig jede Allianz in Abrede zu stellen". Auch sonst sah sich Salisbury für alle Eventualitäten vor. In seiner Note hieß es, über den Charakter einer Kooperation von Italien und England „müssen sie je nach den Umständen des Falles einen Beschluß fassen (must be decided by them)". Die Italiener verstanden unter „by them" natürlich beide Mächte, da aber „Her Majesty's Govemement" den Plural bedingt, ließ sich „by them", wie Salisbury zu Hatzfeld sagte, auch allein auf die Regierung von Großbritannien beziehen, die dann erklären konnte, unter diesen Umständen halte sie sich zu keiner Kooperation verpflichtet. Die Methode Salisburys unterschied sich also in keiner Weise von der Äußerung des als skrupellos und machiavellistisch verschrienen Bismarck: man findet immer Mittel und Wege, sich auch den klarsten Bestimmungen eines Vertrags zu entziehen. Mit Zustimmung Salisburys teilte Robilant der österreichischen Regierung das italienisch-englische Geheimabkommen mit. Kalnoki ließ daraufhin Salisbury seine Befriedigung über dieses Abkommen durch den österreichischen Botschafter in London aussprechen und erklären, Österreich sei zur Abschließung einer derartigen Vereinbarung mit England bereit, falls es die Umstände erfordern sollten; 109

Bismarcks Außenpolitik der Regierung seiner Majestät des Kaisers Franz Josef sei es dabei nach wie vor in erster Linie um die Erhaltung des Friedens zu tun. Salisbury versicherte, es handle sich um keine Kriegsallianz, sondern nur um „die Feststellung der Gleichheit in den Prinzipien, nach denen die beiden Regierungen in einem der vorgesehenen Fälle in eine Kriegsallianz eintreten würden" und forderte Österreich auf, sich den englisch-italienischen Abmachungen anzuschließen. Am 24. März 1887 wurden nun zwischen London und Wien die Noten ausgetauscht, durch die Österreich dem englisch-italienischen Abkommen beitrat. Spanien hatte Bismarck Ende November 1886 seine Aufnahme in den Dreibund vorgeschlagen. Sie war ihm wegen der unruhigen inneren Verhältnisse Spaniens und dessen etwaigen Absichten auf die Erwerbung Marokkos unerwünscht, und so verwies er die spanische Regierung an Italien. Anfang Mai 1887 einigten sich Madrid und Rom in einem Notenaustausch; Spanien verpflichtete sich dabei hinsichtlich Frankreichs und besonders der nordafrikanischen Gebiete, keinem Vertrag oder sonst irgendeiner politischen Vereinbarung beizutreten, die sich direkt oder indirekt gegen Italien, Deutschland oder Frankreich richteten, und sich jeden unprovozierten Angriffs und jeder Provokation zu enthalten. Dem spanisch-italienischen Abkommen schlossen sich am 21. Mai Deutschland und Österreich an; im Juni erklärte sich die englische Regierung damit ganz einverstanden.

Der RückversicheTungsvertTag mit Rußland 1887 Viel schwieriger als die Erneuerung des Dreibundvertrags und die ersten Mittelmeerabkommen gestaltete sich die Reglung des deutsch-russischen Verhältnisses. Im Sommer 1887 lief der 1884 erneuerte deutsch-österreichisch-russische Dreikaiservertrag ab. Bismarck wünschte seine Verlängerung, und auch der russische Außenminister Giers äußerte im April 1887 während eines Gespräches mit dem deutschen Geschäftsträger in Petersburg Bernhard von Bülow die Hoffnung, den Zaren davon zu überzeugen, daß Deutschland Österreich nicht preisgeben könne. Kurz darauf teilte dann freilich Giers Bülow mit, daß der Zar „ein festes Bündnis mit Deutschland wünscht", aber „gegen eine Abmachung mit Österreich allerdings eine große Abneigung empfindet". Da diese Abneigung, zumal bei der österreichfeindlichen Gesinnung des russischen Volkes, nicht zu überwinden war, und Bismarck einem russisch-französischen Bündnis unbedingt vorbeugen wollte, beschränkte er sich auf den dann am 18. Juni 1887 in Berlin von dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes Herbert von Bismarck und dem russischen Botschafter Paul Schuwalow unterzeichneten „Rückversicherungsvertrag": Im Falle des Krieges einer der zwei vertragschließenden Mächte mit einer dritten Großmacht wird die andere wohlwollende Neutralität halten und sich um Lokalisierung des Krieges bemühen. Für einen Krieg gegen Österreich oder Frankreich gilt dies nicht, wenn einer der Vertragschließenden der Angreifer ist (Art. I). Deutschland erkennt die historischen Rechte Rußlands auf dem Balkan, namentlich den vorwie110

Rückversicherangsvertrag mit Rußland 1887 genden und entscheidenden Einfluß in Bulgarien und Ostrumelien an. Die beiden Vertragschließenden verpflichten sich, eine Änderung des territorialen Status quo auf dem Balkan nur zuzulassen, wenn sie sich hierüber geeinigt haben, und sich jedem ohne ihre Zustimmung unternommenen Versuch eines Eingriffs in den Status quo zu widersetzen (Art. II). Die beiden Vertragschließenden erkennen den europäischen und gegenseitig (mutuellement) verpflichtenden Charakter des Prinzips der Schließung der Meerengen, des Bosporus und der Dardanellen an, das auf dem Völkerrecht beruht, durch Verträge festgelegt und in einer Erklärung von dem zweiten russischen Bevollmächtigten auf dem Berliner Kongreß kurz zusammengefaßt ist, und werden gemeinsam darüber wachen, daß die Türkei keine Ausnahme von dieser Regel zugunsten irgendeiner Regierung für kriegerische Operationen im Gebiet der Meerengen zuläßt. Verstößt die Türkei dagegen oder ist ein solcher Verstoß vorauszusehen, so werden ihr die beiden Vertragschließenden mitteilen, daß sie die Türkei als im Kriegszustand mit der geschädigten Macht und verlustig der ihr durch den Berliner Kongreß zugestandenen Garantien für die Aufrechterhaltung ihres territorialen Status quo betrachten (Art. III). Dieser Artikel wird drei Jahre in Kraft bleiben (Art. IV). Die Vertragschließenden versprechen sich gegenseitig die Geheimhaltung des Inhalts und der Existenz dieses Vertrages und des ihm beigefügten Protokolls (Art. V). — Das „sehr geheime" Zusatzprotokoll: 1. „Deutschland wird wie früher Rußland in der Wiederherstellung einer regulären und legalen Regierung in Bulgarien unterstützen und verspricht, keinesfalls der Wiedereinsetzung des Fürsten von Battenberg zuzustimmen." 2. Falls der Zar „sich selbst zur Verteidigung des Eingangs zum Schwarzen Meer gezwungen sehen sollte, um Rußlands Interessen zu wahren, verpflichtet sich Deutschland zu wohlwollender Neutralität und zu moralischem und diplomatischem Beistand bei den Maßnahmen, die der Zar für notwendig erachten wird, um den Schlüssel zu seinem Reich zu behalten". Zu früheren Vereinbarungen Bismarcks scheint der Rüdcversicherungsvertrag in Widerspruch zu stehen. Im deutsch-italienischen Sondervertrag verpflichteten sich beide Mächte, den Status quo an den türkischen Küsten des Ägäischen Meeres, wozu auch die Dardanellen gehören, aufrechtzuerhalten. Das italienisch-englische Mittelmeerabkommen war von Bismarck angeregt worden und auf sein Drängen ist ihm Österreich beigetreten; hier war die Aufrechterhaltung des Status quo im Ägäischen sowie im Schwarzen Meer und damit an den Meerengen überhaupt vorgesehen. Im Zusatzprotokoll zum Rüdcversicherungsvertrag gestand dagegen die deutsche Regierung dem Zaren die Entscheidung über die Schließung der Meerengen zu und versprach ihm hierfür moralischen und diplomatischen Beistand. Nachdem die Öffentlichkeit 1896 durch eine Mitteilung Bismarcks in den „Hamburger Nachrichten" erstmals etwas über den Rüdcversicherungsvertrag erfahren hatte, verurteilten ihn Bismarck abgeneigte Kritiker als ein Meisterstück machiavellistischer Diplomatie; besonders wurde dem ehemaligen Reichskanzler vorgeworfen, er habe dadurch, daß er Rußland in Bulgarien, an den Meerengen und damit in Konstantinopel freie Hand ließ, Österreich, Italien und England hintergangen. 111

Bismarcks Außenpolitik Bismarck selbst nannte in einem Schreiben vom 19. August 1888 an Kaiser Wilhelm II. den Rückversicherungsvertrag ein „mit unseren österreichisch-italienischen Verpflichtungen konkurrierendes und unter gewissen Konstellationen deshalb schwieriges Verhältnis"; er habe darum keine längere Dauer des Vertrages als drei Jahre erstrebt. „Ich wollte lieber die Möglichkeit der Verlängerung vorbehalten, bis man besser als damals die Zukunft übersehen konnte. Für uns kam es im Frühjahr 1887 in erster Linie darauf an, für den Fall eines französischen Angriffs der russischen Neutralität versichert zu sein; die Wahrscheinlichkeit, von Frankreich angegriffen zu werden, lag uns damals, wo Boulanger sich noch in aufsteigender Bewegung befand, näher als heut. Ich zweifle nidit an der russischen Absicht, den Vorstoß auf Konstantinopel zu machen und nach Fertigstellung der Schwarzenmeerflotte, also im Anfang der 1890er Jahre, den Zeitpunkt zur Aktion zu wählen, je nachdem die europäische Lage ihn angezeigt erscheinen läßt. Meines alleruntertänigsten Dafürhaltens liegt es nicht in der Aufgabe unserer Politik, Rußland an der Ausführung seiner Pläne auf Konstantinopel zu hindern, sondern dies den anderen Mächten, wenn sie es in ihrem Interesse halten, lediglich zu überlassen; unser Interesse an der Bosporusfrage ist einen so großen Krieg nach zwei Fronten, wie der Bruch mit Rußland nach sich ziehen würde, nicht wert; im Gegenteil, wenn Rußland sich dort einläßt, mindert sich seine Gefährlichkeit für uns durch Abziehung von unserer Grenze und durch die herausfordernde Spannung, in die es zu den Mittelmeermächten, namentlich zu England und auf die Länge auch zu Frankreich tritt. Daß der russische Vorstoß auf Konstantinopel durch Bulgarien mit Benutzung des letzteren geschehen würde, möchte ich kaum annehmen, glaube vielmehr, daß der Seeweg und der durch Kleinasien vorgezogen werden, und daß man vorher und gleichzeitig versuchen wird, die Pforte zur Annahme eines russischen Vertrages zu bewegen, welcher dem Sultan seine Besitzungen, den Russen aber die Verfügung über Schluß und Öffnung des Bosporus durch Besetzung einer festen Position sichert . . . Ist letzteres geschehen, so wird Rußland im Schwarzen Meer gesichert und seine Expansivkraft gegen Persien und Indien verwendbar sein. Damit ist dann für England die Unmöglichkeit gegeben, in seiner bisherigen Fiktion einer kühlen Zuschauerrolle zu verharren, und wir können abwarten, wie die Konstellation unter den übrigen Mächten sich gestaltet, da ein russischer Angriff auf Konstantinopel an sich noch keinen casus foederis zwischen uns und Österreich herstellt." Für die Beurteilung des Rückversicherungsvertrages und die Politik Bismarcks überhaupt ist dieses Schreiben sehr aufschlußreich. Gewiß wird darin ein „Konkurrieren" des Rückversicherungsvertrags mit dem Zweibund und dem Dreibund unumwunden zugestanden, aber das Konkurrieren bedeutet noch keinen Verstoß gegen diese Verträge, denn Bismarck hat Rußland wiederholt erklärt, Deutschland werde auf die Seite Österreichs treten, wenn es angegriffen würde, und diesen* Deutschland würde sich nie für etwaige österreichische Ausdehnungspläne auf dem Balkan einsetzen; außerdem hat Bismarck beide Mächte, freilich vergebens, gemahnt, Österreich solle schiedlich-friedlich Bulgarien als russisches, und Rußland Serbien als österreichisches Interessengebiet anerkennen. Punkt 2 des Zusatz112

Russisch-französische Annäherung Protokolls zum Rückversidierungsvertrag widersprach allerdings dem ersten Mittelmeerabkommen, verpflichtete aber wie dieses, das ja von deutscher Seite nicht mit unterzeichnet war, Deutschland nicht zu irgendwelchem militärischem Beistand und Bismarck hat immer wieder betont, Deutschland habe im Meerengengebiet keinerlei eigene Interessen zu verteidigen. Bei dem Rückversidierungsvertrag ging es Bismarck, wie überhaupt in seinem Bündnissystem (S. 122), darum, Deutschland gegen einen Angriff zu sichern: „Der Haupteffekt unseres deutsch-russischen Vertrages bleibt für vins immer der, daß wir drei Jahre hindurch die Zusicherung haben, daß Rußland neutral bleibt, wenn wir von Frankreich angegriffen werden", schrieb Bismarck Ende Juli 1887 an Kaiser Wilhelm I. Sicher konnte man sich auf Rußlands Neutralität im Falle eines deutsch-französischen Krieges freilich nicht verlassen, zumal die panslawistische Bewegimg dauernd wuchs, und da entgegen Bismarcks Wunsch der Vertrag, wie Rußland forderte, völlig geheimgehalten wurde; immerhin hat er, wenn auch seine allgemeine Bedeutung nicht überschätzt werden darf, wesentlich dazu beigetragen, daß Rußland sich bereits bei Beginn der Verhandlungen über den Rückversidierungsvertrag im Frühjahr 1887 ruhig verhielt, als ein Angriff Frankreichs gegen Deutschland bevorzustehen schien.

Russisch-französische Annäherung Im Mai 1887 waren England und die Türkei übereingekommen, England werde nach Ablauf von drei Jahren seine Truppen aus Ägypten zurückziehen, könne es aber unter Umständen wieder besetzen. Bismarck hatte dabei England unterstützt, doch gelang Frankreich und Rußland in gemeinsamem Vorgehen, den Sultan umzustimmen, so daß er das Abkommen mit England nicht ratifizierte. In diplomatischen Kreisen erweckte dies den Anschein, eine französisch-russische Entente bereite sich vor; so schrieb am 22. Juli der belgische Gesandte in Berlin an seine Regierung: „Der Kanzler (Bismarck) kann sich nicht verhehlen, daß er in Konstantinopel durch die Schlappe mitbetroffen ist, die das russisch-französische Ubereinkommen soeben England zugefügt h a t . . . Durch das Einvernehmen mit Rußland wird für Frankreich eine neue Zeit eröffnet, in der es ihm möglich sein wird, der Vereinigung von Deutschland, Österreich, Italien und England zu widerstehen." Die Vermutung des belgischen Gesandten schienen das ungefähr gleichzeitige Auftreten des Führers der französischen Patriotenliga Déroulède in Rußland und die begeisterte Aufnahme, die er hier fand, zu bestätigen; er legte am Grabe des kurz zuvor verstorbenen Katkow einen Kranz nieder mit der Aufschrift: „Es lebe Frankreich, es lebe Rußland!" Bedenklich stimmte die deutsche Regierung besonders, daß einer der obersten Beamten, die sich an den Kundgebungen für Déroulède beteiligten, in auffallender Weise befördert wurde, daß der verantwortliche Pressechef einen hohen Orden erhielt, und daß Anfang Oktober Großfürst Nikolai Michaelowitsch an Bord eines französischen Dampfers einen Trinkspruch auf Frankreich ausbrachte, der, wie französische Blätter berichteten, auf 113 8

Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Bismarcks Außenpolitik einen baldigen gemeinsamen Krieg Rußlands und Frankreichs gegen Deutschland anspielte. Zar Alexander III. wurde ebenfalls in die deutschfeindliche Bewegung hineingezogen. Rußland war über die Thronbesteigung des Prinzen Ferdinand von Koburg als Fürst von Bulgarien sehr erbittert. Bei einem Verwandtenbesuch in Kopenhagen erhielt der Zar Einbilde in Schriftstücke, die beweisen sollten, daß der Koburger die bulgarische Krone abgelehnt hätte, wenn ihm die deutsche Regierung nicht ihren Beistand zugesagt hätte. Über diese angebliche deutsche Hinterlist war der Zar aufs höchste empört, er besuchte aber doch bei der Rückreise nach Petersburg Kaiser Wilhelm I. in Berlin. Bei dieser Gelegenheit konnte Bismarck den Zaren darüber aufklären, daß es sich bei jenen Schriftstücken um Fälschungen ohne jede tatsächliche Grundlage handle, einzig zu dem Zweck angefertigt, den Zaren gegen Deutschland aufzureizen. Vor der Ankunft des Zaren hatte Bismarck auf Verlangen Kaiser Wilhelms diesem ein ausführliches Exposé für dessen Unterredung mit dem Zaren vorgelegt. Mit der Vollmacht, sich hierüber „vertraulich zu Lord Salisbury auszusprechen", sandte dann Bismarck einen Bericht über den kurzen Aufenthalt Alexanders in Berlin vom Vormittag bis zum Abend des 18. November an den deutschen Botschafter in London: Kaiser Alexander hat bei seinem Besuch dem Kaiser Wilhelm und „in längerer Audienz mir gegenüber seinen friedlichen Gesinnungen, seinem Entschluß, sich auf keine aggressive Koalition einzulassen und Deutschland keinesfalls anzugreifen, den unzweideutigsten Ausdruck gegeben . . . Gegenseitige politische Verpflichtungen sind die beiden Monarchen gestern nicht eingegangen; ob wir nunmehr der Sorge überhoben sein werden, daß infolge der Passivität der russischen Regierung gegenüber den Provokationen russischer Organe und Beamter die Aufregung in Rußland und Frankreich auch ferner anschwellen und schließlich in naher oder femer Zukunft unseren Frieden gefährden werde, oder ob nach der Heimkehr des Kaisers Alexander eine Remedur darin eintreten wird, kann nur die Zukunft lehren". Der Zar hatte also in Berlin versprochen, sich auf keine aggressive Koalition einzulassen, die russischen Annäherungsversuche an Frankreich wurden jedoch fortgesetzt. Der deutsche Botschafter in Paris berichtete hierüber Mitte Januar 1888 dem Reichskanzler Bismarck: „Wenn mich meine Beobachtungen nicht täuschen, liegt die Sache so, daß von russischer Seite in Beziehung auf Frankreichs eventuelle Haltung im Falle kriegerischer Komplikationen hier angefragt worden ist mit der Hoffnung, hier bindende Zusicherungen erlangen zu können. Von russischer Seite ist dabei geltend gemacht, daß die Allianz der Zentralmächte nur zum Schein gegen Rußland, in Wirklichkeit aber gegen Frankreich gerichtet sei, und daß naturgemäß die außerhalb dieser Allianz stehenden Mächte sich zum eigenen Schutz enger verbinden müßten . . . Wie weit die russischen Anerbietungen und Forderungen gegangen sind, habe ich noch nicht ermitteln können, so viel weiß ich aber, daß die Franzosen keine bindenden Verpflichtungen haben übernehmen wollen... Auf der anderen Seite liebäugeln sie doch stets mit den Russen", ein großer Teil der französischen Presse stehe unter ihrem Einfluß. „Die 114

Russisch-französische Annäherung Franzosen fühlen sich isoliert und die Anlehnung an Rußland ist ihnen Bedürfnis: sie sind wie eine kokette Frau, die einen Beschützer sucht, es zum Äußersten aber nicht will kommen l a s s e n . . . alle Annäherungsversuche sind ganz entschieden von Russen ausgegangen. Die Diplomaten vom Fach und Amateurdiplomaten, die stets auf Reisen sind, intrigante Russinnen, Großfürsten und Journalisten arbeiten alle in dem Sinne und würden das nicht tun, wenn sie ernstlich fürchteten, von oben im Stich gelassen zu werden." Und kurz darauf schrieb der deutsche Botschafter in Petersburg dem Reichskanzler, es wäre ihm „recht interessant" gewesen, daß der Zar, als „er über seine Beziehungen zu Frankreich sprach, offen aussprach, seine Regierung habe sich der französischen zu nähern gesucht", Außenminister Flourens und besonders Präsident Grévy hätten aber abgeraten. Auch der deutsche Botschafter in Paris hatte in seinem Bericht darauf hingewiesen, daß außer der Furcht vor einem Krieg mit Deutschland vor allem die Unsicherheit der Regierungsverhältnisse in ihrem Lande die französischen Politiker daran hindere, sich Rußland gegenüber zu binden. Wie die politischen, steigerten wirtschaftliche Gründe das Mißtrauen zwischen Deutschland und Rußland. Ein Ukas vom 26. März 1887 untersagte Ausländern in den westlichen Provinzen Rußlands die Erwerbung von Grundbesitz und Immobilien außer in den Hafenplätzen und Städten, schränkte das Recht der Ausländer auf Vererbung von Immobilien ein und verbot Ausländern, in Polen die Stelle eines Verwalters auf dem Lande zu bekleiden. Besonders dieses Verbot richtete sich gegen die Deutschen, denn polnische und russische Grundbesitzer bevorzugten Deutsche wegen ihrer Tüchtigkeit und Zuverlässigkeit als Verwalter und Administratoren; auch durch die übrigen die Ausländer betreffenden Verbote und Vorschriften in diesem Ukas wurden hauptsächlich Deutsche geschädigt. Führende deutsche Zeitungen beantworteten dieses Vorgehen seit Anfang Juli mit Warnungen vor russischen Staatsanleihen, die sich großenteils in deutschen Händen befanden; innerhalb kurzer Zeit sank der Wert der Anleihen um sechs Prozent. Ohne ein mindestens stillschweigendes Gewährenlassen des Reichskanzlers wären diese bis in den Herbst hinein fortgesetzten Presseäußerungen sicher nicht erschienen. Bismarck begrüßte ihre starke Wirkung auch als Reaktion gegen die von Rußland soeben vorgenommene Erhöhung der Einfuhrzölle auf zahlreiche deutsche Erzeugnisse. Mit der Weisung im November an die Reichsbank, sie dürfe russische Wertpapiere nicht mehr lombardieren, gedachte Bismarck den Russen einen harten Schlag zu versetzen, vor allem wollte er ihnen, wie er sagte, die „Möglichkeit nehmen, auf unsere Kosten Krieg mit uns zu führen". In kurzer Zeit gab es denn auch fast keine russischen Staatspapiere mehr in Deutschland. Damit, daß durch das Lombardverbot in weiten russischen Kreisen die Mißstimmung gegen Deutschland zunahm, mußte Bismarck von vornherein rechnen, aber es hatte außerdem schädliche Folgen, die er nicht voraussah. Die von den Deutschen abgestoßenen russischen Wertpapiere wurden von den Franzosen aufgekauft, die sich auch erboten, russische Anleihen aufzulegen; so wurde Anfang Dezember 1888 in Paris eine Anleihe von 500 Millionen Franken ausgeschrieben und erheblich überzeichnet. Da solche Finanzgeschäfte von nun an zwischen den 115 8"

Bismarcks Außenpolitik beiden Ländern häufig abgeschlossen wurden, war bis zu Beginn des Ersten Weib kriegs Rußland an Frankreich ungeheuer verschuldet, was sidi natürlich audi auf ihr politisches Verhältnis auswirkte.

Die bulgarische Königsfrage und das zweite

Mittelmeerabkommen

Die Bulgaren hatten Prinz Ferdinand von Sachsen-Koburg aus dem katholischen Zweig Kohary, Offizier in der ungarischen Armee, zu ihrem Fürsten gewählt. Keine der europäischen Mächte erkannte ihn an und die Russen, die Ernroth, einen ihrer Generale, zum provisorischen Regenten in Bulgarien ernennen wollten, um es ganz unter ihren Einfluß zu bringen, lehnten den Koburger als Oberhaupt des zur griechischen Kirche gehörenden Landes schroff ab, trotzdem trat Ferdinand am 17. August 1887 die Regierung als Fürst von Bulgarien an. Um den Russen auch in diesem Falle möglichst entgegenzukommen, brach Deutschland die diplomatischen Beziehungen zu Bulgarien ab. Die Russen waren indes damit nicht zufrieden, Deutschland sollte an der Spitze der europäischen Mächte die Initiative zur Absetzung Ferdinands ergreifen; sich derart für eine in erster Linie Rußland berührende Angelegenheit einzusetzen, war jedoch Bismarck nicht bereit. Die Wiener Diplomatie vertrat die Meinung, wenn Rußland in Bulgarien zu einer militärischen Aktion schreite, wäre dies für Österreich ein Kriegsfall. Bismarck ließ dem österreichischen Außenminister durch den deutschen Botschafter in Wien mitteilen: die Verdrängung Rußlands aus Bulgarien läge außerhalb der Zwecke des deutsch-österreichischen Zweibundes. Bei dessen Abschluß (1879) sei Rußland im vollen Besitz des dominierenden Einflusses gewesen, und der Abfall des Fürsten Alexander von Battenberg von seinem Oheim und Patron Zar Alexander III. habe „in der Tragweite unserer Abmachungen nichts geändert. Ein deutscher Krieg gegen Rußland wegen Bulgarien würde sich weder damals vor der öffentlichen Meinung in Deutschland haben vertreten lassen, noch würde ich die Politik Seiner Majestät des Kaisers Wilhelm im Reichstage zu vertreten wissen, wenn wir zur Verhinderung der Wiederherstellung russischen Einflusses in Bulgarien, wie er bis zum Staatsstreich vom 18. September 1885 tatsächlich und von Österreich unwidersprochen bestanden hat, den Frieden mit Rußland stören wollten, sicher, daß der Angriff Frankreichs dem Bruch mit Rußland folgen würde". Das Festhalten Rußlands an der Regentschaft Ernroth sowie Gerüchte, es beabsichtige mit Waffengewalt vorzugehen, veranlaßten Österreich und Italien, die entschiedensten Gegner russischen Einflusses in Bulgarien, zu aktiverem Vorgehen. Der italienische Ministerpräsident und Außenminister Francesco Crispí wandte sich an Österreich und England, um das Mittelmeerabkommen auszubauen. Anfang Oktober 1887 besuchte Crispi Bismarck in Friedrichsruh und erklärte, Italien könne nicht zulassen, daß Rußland über Bulgarien nach Konstantinopel gehe, denn „einmal dort, würde Rußland Herr des Mittelmeeres sein", was die Großmächte verhindern müßten. Bismarck antwortete, er billige den Zusammenschluß Italiens, Österreichs und Englands im Mittelmeerabkommen durchaus, und hoffe 116

Bulgarische Königsfrage. Zweites Mittelmeerabkommen auf nodi engeres Zusammengehen der drei Mächte, um ihre Autorität fühlbar zu machen. „Sollte der Frieden im Osten gebrochen werden, würde sich Deutschland seinen Verbündeten (Italien und Österreich) anschließen, sich aber im Hintergrund halten." Dem Wunsch Crispís nach Verhandlungen über ein Mittelmeerabkommen stand Bismarck wohlwollend gegenüber, ohne sich aber zu binden. Im September 1887 hatten der englische, der österreichische und der italienische Gesandte in Konstantinopel einen Entwurf mit acht Punkten für ein neues Mittelmeerabkommen ausgearbeitet, auf den sich die österreichische und die italienische Regierung einigten; der österreichische Außenminister sandte ihn im November an Salisbury. Er stimmte grundsätzlich zu, wollte sich aber vor einer endgültigen Zusage vergewissern, ob die deutsche Politik den in jenem Entwurf vorgesehenen Maßnahmen direkt widersprechen werde. Bismarck legte in einem aufs sorgfältigste vorbereiteten Brief an Salisbury vom 22. November die jetzige und künftige Richtung der deutschen Politik im allgemeinen dar: „Unsere zwei Nationen haben wirklich so viele gemeinsame Interessen, und es gibt so wenige Punkte, die zu Meinungsverschiedenheiten führen können, daß wir bei unseren gegenseitigen Eröffnungen freimütiger sein können, als die Gepflogenheiten unserer Diplomatie gestatten... Die Publizität Ihrer parlamentarischen Regierungsform bietet uns hinreichend Aufschluß über die englische Politik, während die weniger durchsichtige Art, in der bei uns die Staatsgeschäfte geführt werden, schwer vermeidbare Irrtümer verursachen kann wie zum Beispiel die von Ew. Exzellenz geäußerte Besorgnis, Prinz Wilhelm könnte, wenn er eines Tages die Zügel der Regierung in Händen hält, systematisch zu einer englandfeindlichen Regierung neigen." Wie der Kronprinz Friedrich sich als Kaiser in seiner Politik nicht von England beeinflussen lassen werde, so werde Prinz Wilhelm, wenn er zur Regierung kommt, nicht daran denken und es wäre ihm auch nicht möglich, in seiner Politik Weisungen aus Petersburg zu folgen; beide würden sich als Regenten nur von den Interessen Deutschlands leiten lassen. Die deutsche Armee mit ihren drei bis vier Millionen Mann im Kriegsfall sei vorzüglich eingeübt und ausgerüstet. „Diese große Kriegsausrüstung ist zu furchtbar, als daß sie selbst in unserem Lande mit einem starken monarchistischen Gefühl willkürlich einfach nur nach königlichem Belieben in Bewegung gesetzt werden könnte, vielmehr müßten die Fürsten und die Völker des Reiches einig sein in dem Gedanken, das Vaterland, seine Unabhängigkeit und seine vor kurzem errungene Einheit wären bedroht, um diese Massenaushebung ohne Gefahr vornehmen zu können. Daraus folgt, daß unsere Militärmacht in erster Linie der Verteidigung dient, bestimmt, nur in Aktion zu treten, wenn die Nation zu der Überzeugung gekommen ist, daß es sich darum handelt, einen Angriff abzuwehren. Für einen anderen als einen Defensivkrieg ist Deutschland wenig geeignet . . . Die Reichsregierung könnte einen Krieg, in dem es um anderes geht als um deutsche Interessen, zum Beispiel um die des Orients, vor der Nation nicht verantworten. Der Sultan ist unser Freund und besitzt unsere ganze Sympathie"; aber für ihn Krieg zu führen, könne die Regierung dem deutschen Volk nicht zumuten. Er wolle damit nicht sagen, daß nur ein direkter Angriff gegen unsere 117

Bismarcks Außenpolitik

Grenzen den Aufruf zu den Waffen rechtfertigen würde. „Das Deutsche Reich hat drei Großmächte als Nachbarn, und seine Grenzen sind offen. Es darf deshalb die Frage nach Bündnissen, die sich gegen Deutschland bilden könnten, nicht aus den Augen verlieren. Angenommen, Österreich ist besiegt, geschwächt oder unser Feind geworden, dann sind wir auf dem europäischen Kontinent gegenüber Rußland und Frankreich isoliert angesichts einer möglichen Koalition dieser zwei Mächte. Dergleichen zu verhindern, selbst mit Waffengewalt, liegt in unserem Interesse. Der Fortbestand Österreichs als starke, unabhängige Großmacht ist für Deutschland eine Notwendigkeit, an der persönliche Sympathien des Souveräns nichts ändern können." Österreich, Deutschland und England gehörten zu den saturierten Mächten. „Österreich und England haben den Status quo des Deutschen Reichs loyal anerkannt und haben kein Interesse daran, es geschwächt zu sehen. Frankreich und Rußland dagegen bedrohen uns offensichtlich... Die deutsche Politik wird immer in die Kampflinie sich einreihen müssen, wenn die Unabhängigkeit Österreich-Ungarns von einem Angriff Rußlands bedroht wird, oder wenn England oder Italien Gefahr laufen, von französischen Armeen angegriffen zu werden. Die deutsche Politik geht also einen ihr durch die europäische Politik unbedingt vorgeschriebenen Weg, von dem sie weder die Antipathien noch die Sympathien eines Monarchen oder eines leitenden Ministers abbringen können." Salisbury bedankte sich in seiner Antwort vom 30. November, daß ihm Bismarck kurz zuvor Einblick in den deutsch-österreichischen Bündnisvertrag von 1879 gewährt und nun durch seinen Brief die Bedenken gegen die deutsche Politik zerstreut habe. „Die während dieses Jahres vollzogene Gruppierung der Staaten (England, Italien und Österreich mit Deutschland im Hintergrunde) wird gegen jede mögliche Aggression Rußlands eine Schranke bilden, und ihre Errichtung wird nicht zu den geringsten Verdiensten zählen, die Ew. Durchlaucht der Sache des europäischen Friedens geleistet hat." Dem Abschluß des neuen Mittelmeerabkommens stand jetzt nichts mehr im Wege; er erfolgte wie bei dem ersten in der Form eines Notenaustausches zwischen den drei Mächten am 12. und 16. Dezember 1887. Auf Wunsch Salisburys wurde auch dieses Abkommen mit Rücksicht auf das englische Parlament geheimgehalten, selbst vor der Türkei, deren Indiskretion Salisbury befürchtete. Das zweite Mittelmeerabkommen übernahm die Punkte des im September ausgearbeiteten Entwurfs mit einigen Änderungen und Ergänzungen: Aufrechterhaltung des Friedens unter Ausschluß jeder aggressiven Politik; Aufrechterhaltung des Status quo im Orient auf Grund der bestehenden Verträge unter Ausschluß jeder Kompensationspolitik; Aufrechterhaltung der auf diesen Verträgen beruhenden lokalen Autonomien; Unabhängigkeit der Türkei von jedem fremden überwiegenden Einfluß als Hüterin wichtiger europäischer Interessen. Die Türkei darf ihre Süzeränen Rechte über Bulgarien keiner anderen Macht abtreten oder übertragen; ebenso darf die Türkei keinen Teil ihrer souveränen Rechte über die Meerengen und Kleinasien preisgeben. Falls die Türkei illegale Übergriffe abwehren muß, werden die drei Mächte alsbald die Maßnahmen vereinbaren zur Wahrung der Unabhängigkeit und des Besitzstandes der Türkei. Wenn jedoch diese nach Ansicht der drei Mächte derartige Übergriffe be118

Gefahr eines russischen Angriffs günstigt oder duldet, halten sich die drei Mächte für berechtigt, gemeinsam oder getrennt, bestimmte von ihnen zur Sicherung der Türkei als notwendig erachtete Punkte des türkischen Reiches zu besetzen. — Vom ersten unterschied sich das zweite Mittelmeerabkommen hauptsächlich darin, daß es sich im wesentlichen auf den Balkan beschränkte, auch Kleinasien mit einbezog und mehr auf Einzelheiten einging; im übrigen wurde das erste Mittelmeerabkommen durch das zweite nicht ausdrücklich aufgehoben, bestand also weiter. Die an den Abkommen beteiligten Mächte hofften, was davon trotz der Geheimhaltung bekannt würde, werde so abschreckend wirken, daß sich ein militärisches Einschreiten erübrige, was dann tatsächlich der Fall war.

Gefahr eines russischen Angriffs Um das Zustandekommen der italienisch-österreichisch-englischen Vereinbarungen vom 12./16. Dezember 1887 hatte sich Bismarck besonders wegen der wieder zunehmenden Gefahr eines russisch-österreichischen Krieges und dessen etwaiger Auswirkungen auf Deutschland so sehr bemüht. Während der ersten Novemberhälfte waren in Berlin Nachrichten von der Erregung und von den Befürchtungen maßgebender Wiener Kreise über Verstärkungen der russischen Armee an der österreichisch-galizischen Grenze eingetroffen, außerdem ein Bericht des österreichisch-ungarischen Militârattachés in Petersburg über die dort gegen Österreich und Deutschland herrschende Stimmung: „Mit wem man auch spricht, stets hört man: Rußland werde bedroht von allen Seiten (d. h. von Deutschland und uns). Rußland müsse auf seine Verteidigung gefaßt sein, daher sich rüsten, — darin nur läge die Kriegsgefahr. Nur wenn einem ein Freund wiedererzählt, was diese hohen und minder hohen Herren sprechen, wenn sie unter sich sind, dann merkt man ziemlich deutlich den Pferdefuß. Sollte ich in Kürze fassen, was ich Rußlands allerdings nie ausgesprochene und kaum auszusprechende Direktive nenne? Deutschland muß niedergebrochen werden, weil es zu stark ist, es Rußlands Wort in Europa übertönt und Rußland hindert, seine heilige nationale Mission (diese fängt an der Balkanhalbinsel an und endet südlich von Budweis und nördlich von Illyrien — und Professor Lamansky nennt das ,Rußlands innere Angelegenheit') zu erfüllen. Österreich muß niedergeworfen werden, als Konkurrent und Besitzer dessen, was man selbst besitzen will. Ich bin überzeugt, daß Kaiser Alexander so nicht denkt, aber es fehlt mir jegliches Zutrauen zu seiner geistigen Produktivität, so daß er eigene Gedanken den unter ganz falschen Titeln an ihn gebrachten Vorschlägen entgegenzustellen fähig wäre." Ende November verfaßte der Generalquartiermeister Alfred Graf von Waldersee eine Denkschrift „Die Entwicklung der Wehrkraft Rußlands seit 1878 unter besonderer Berücksichtigung seiner Rüstungen im laufenden Jahr 1887". Die Denkschrift wurde, von Moltke genehmigt und unterschrieben, dem Kaiser und Bismarck vorgelegt und auch nach Wien weitergeleitet. In den sich daran knüpfenden Besprechungen vertraten Moltke und Waldersee die Ansicht: da Rußland 119

Bismardcs Außenpolitik für das kommende Frühjahr gegen Österreich und Deutschland einen Angriff vorbereite, müsse Deutschland ihm mit einem Präventivkrieg zuvorkommen, wenn es gute Aussichten auf Erfolg haben wolle. In einem Sdireiben vom 15. Dezember 1887 an den deutschen Botschafter in Wien betonte Bismarck, für seine politische Auffassung seien die militärischen Auffassungen des Generalstabes nicht maßgebend: „Ich habe dabei (mit der Übersendung der Denkschrift) nur die Absicht gehabt, die österreichische Armeeleitung durch das Feuer der unsrigen zu erwärmen . . . So lange ich Minister bin, werde ich meine Zustimmung zu einem prophylaktischen Angriffe auf Rußland nicht geben, und ich bin auch weit entfernt, Österreich zu einem solchen zu raten, solange es nicht der englischen Mitwirkung dabei absolut sicher i s t . . . Wir werden, sobald casus foederis, d. h. ein russischer Angriff auf Österreich, vorliegt, nicht zögern, auch unsererseits den Krieg gegen Rußland mit allen Frankreich gegenüber entbehrlichen Kräften aufzunehmen; aber den Angriff auf Rußland werden wir weder selbst unternehmen, noch den casus foederis als vorhanden ansehen, wenn Österreich ihn unternimmt . . . Für uns liegt ein Kriegsmotiv niemals in den Balkanfragen, sondern immer nur in dem Bedürfnis, die Unabhängigkeit Österreichs audi unsererseits zu vertreten, sobald sie durch Rußland bedroht w i r d . . . Wir müssen dahin wirken, daß Österreich sich stark macht, um von einem russischen Angriff nicht übergelaufen zu werden, und um uns in solchem Falle ein starker Bundesgenosse zu sein." Bismarck rechnete also nach wie vor mit der Möglichkeit eines russischen Angriffes, und da er befürchtete, den Russen könne es gelingen, Österreich so zu reizen, daß es den ersten Schlag führe und ihm dann Deutschland auf Grund seiner Verträge militärischen Beistand verweigern müsse, drang Bismarck bei Österreich darauf, alle notwendigen Vorbereitungen für einen etwaigen Krieg zu treffen, dabei aber jegliche Provokation zu vermeiden. Ende Dezember wurde mit zwei von dem italienischen Generalstabschef nach Berlin abgeordneten Offizieren die Entsendung italienischer Truppen an den Rhein vereinbart, wenn Frankreich sich an einem russischen Krieg gegen Deutschland beteiligen würde. Um die Jahreswende 1887/88 schien der Frieden so bedroht, daß Bismarck erklärte, falls Rußland weiterhin derartige Kriegsvorbereitungen in Polen treffe, könne man an den aggressiven Absichten der Russen nicht mehr zweifeln; Deutschland werde dann ebenfalls mobilisieren und dies würde zur Folge haben, daß Rußland im gleichen Maße seine Truppen von der österreichischen Grenze zurückziehe. Auf Drängen Bismarcks wurde am 3. Februar 1888 im Reichs- und Staatsanzeiger der deutsch-österreichische Bundesvertrag von 1879 veröffentlicht, „um den Zweifeln ein Ende zu machen, welche an den rein defensiven Intentionen desselben auf verschiedenen Seiten gehegt und zu verschiedenen Zwecken verwertet werden. Beide verbündete Regierungen sind in ihrer Politik von dem Bestreben geleitet, den Frieden zu erhalten und Störungen desselben nach Möglichkeit abzuwehren; sie sind überzeugt, daß die Bekanntgabe des Inhalts ihres Bündnisvertrages jeden Zweifel hierüber ausschließen wird". In der bulgarischen Frage unterstützte Bismarck die Forderung Rußlands, der Sultan solle die Regierung Ferdinands von Koburg als illegal erklären. Anfang März verstand sich der 120

Versuch eines deutsch-englischen Bündnisses 1889

Sultan trotz des Einspruchs von Wien, Rom und London hierzu, damit gab sich Rußland zufrieden, obwohl Ferdinand auf dem Thron blieb; die Stellungnahme Österreichs, Italiens und Englands, der drei Mächte des Mittelmeerabkommens, ließ ein schärferes Vorgehen nicht als rätlich erscheinen. Infolge der Veröffentlichung des deutsch-österreichischen Bündnisvertrages, der daran anknüpfenden mancherlei Mitteilungen in der internationalen Presse über das Mittelmeerabkommen und des Verhaltens der deutschen Regierung in der bulgarischen Frage begann sich nun die gefahrdrohende Lage zu entspannen. Auch das am 11. Februar verkündete Wehrgesetz mit der Vermehrung der deutschen Streitkräfte um 700 000 Mann im Kriegsfall, die Art, wie einige Tage zuvor Bismarck das Gesetz vor dem Reichstag begründet hatte (S. 67), die starke Wirkung seiner Rede im In- und Ausland dämpften in Rußland und Frankreich die Neigung zu einem gemeinsamen Angriff gegen die beiden Mittelmächte. Mit all dem hielt Bismarck den Frieden in Europa, dessen Erhaltung er wegen der geographischen Lage Deutschlands als die Hauptaufgabe seiner Außenpolitik betrachtete, keineswegs schon für ganz gesichert, war er sich doch darüber klar, daß bei den vielerlei Interessengegensätzen unter den europäischen Mächten und bei den chauvinistischen Strömungen in Frankreich und Rußland die Kriegsgefahr nicht ein für allemal gebannt werden könne; die im Februar eingetretene Entspannung reihte sich nur den bisherigen Teilerfolgen des Bündnissystems an. Versudi eines deutsch-englischen Bündnisses 1889 Im Januar 1889 hatte der Reichskanzler an den deutschen Botschafter in London Graf von Hatzfeld ein ausführliches Schreiben gerichtet, Lord Salisbury ein deutsch-englisches Bündnis vorzuschlagen: für beide befreundete Mächte, Deutschland und England, sei ein bedrohliches Element „nur der einzige beiderseitige Nachbar Frankreich". England habe allerdings auch mit Nordamerika und mit Rußland divergierende Interessen, aber „ein Krieg mit einer dieser Mächte, selbst ein gleichzeitiger mit beiden, kann für England lebensgefährlich nur werden, wenn Frankreich der Bundesgenosse der Feinde Englands i s t . . . Die auswärtige englische Politik würde nach allen Seiten freie Bewegung haben, wenn sie nur gegen die französische Kriegsgefahr durch ausreichende Bündnisse gedeckt wäre. Auch dann, wenn solche Bündnisse nur auf die kurze Zeit abgeschlossen würden, die England bedarf, um die Schäden seiner maritimen Wehrfähigkeit auszubessern, sollte ich meinen, daß die in ihnen liegende absolute Friedenssicherheit auf ein Jahr oder mehrere für alle friedliebenden Mächte von großem Nutzen sein könnte. Es handelt sich dabei nicht um ein Stärkersein im Falle des Krieges, sondern um das Verhindern des Krieges. Weder Frankreich noch Rußland werden den Frieden brechen, wenn sie amtlich wissen, daß sie, wenn sie es tun, auch England sicher und sofort zum Gegner haben... Wenn nur festgestellt wird, daß England gegen einen französischen Anfall durch ein deutsches und Deutschland gegen einen französischen Anfall durch ein englisches Bündnis gedeckt sein würde, 121

Bismarcks Außenpolitik so halte ich den europäischen Frieden für gesichert auf die Zeit der Dauer eines solchen öffentlich verlautbarten Bündnisses." Einige Tage später berichtete Hatzfeld, er habe mit Salisbury den Plan durchgesprochen: „Der Premier erkannte sofort die hohe Bedeutung des politischen Gedankens und erblickte darin einen neuen und wertvollen Beweis, daß Eure Durchlaucht ein enges Zusammenhalten der beiden Mächte im Interesse des europäischen Friedens erstreben", doch erbäte sich Lord Salisbury Zeit zu reiflicher Überlegung. Im März kam dieser wieder darauf zurück, als Herbert Bismarck mit ihm im Auftrag des Reichskanzlers verschiedene politische Angelegenheiten besprach und stimmte, wie Herbert seinem Vater meldete, mit „mir durchaus überein, daß eine solche Allianz das Heilsamste für beide Länder und für den europäischen Frieden sein würde. Er habe mit Lord Hartington und seinen Kollegen darüber gesprochen, welche sämtlich seine Ansicht geteilt hätten, die Ausführung der Idee aber für inopportun erklärten, weil die parlamentarische Majorität darüber in die Brüche gehe, mithin das Ministerium gestürzt werden würde. Der Lord fügte hinzu: ,Leider leben wir nicht mehr in den Zeiten Pitts; damals regierte hier die Aristokratie und wir konnten eine aktive Politik treiben, welche England nach dem Wiener Kongreß (1815) zur reichsten und angesehensten europäischen Macht gemacht hatte. Jetzt herrscht die Demokratie, und mit ihr ist persönliches und Parteiregiment eingezogen, welches jede englische Regierung in unbedingte Abhängigkeit von der aura popularis (Volksgunst) gebracht.'... Lord Salisbury schloß, er sei dankbar für diese Anregung und hoffe, daß er noch Zeitumstände erleben würde, welche ihm gestatteten, darauf praktisch einzugehen. Inzwischen lassen wir es auf dem Tisch liegen, ohne ja oder nein zu sagen: das ist unglücklicherweise alles, was ich im Augenblick tun kann."

Bismarcks Bündnissystem Das deutsch-englische Bündnis hätte die Krönung von Bismarcks Bündnissystem sein sollen, aber auch so war es ein Meisterwerk, freilich ein sehr kompliziertes: „Als Firstbalken richtete Bismarck das deutsch-österreichische Bündnis auf. Dann stützte er den First durch ein fünffaches Gespärre von Dreibünden, die das Haus nach allen Richtungen wetterfest machen sollten: das Dreikaiserbündnis von 1881 (84), den Dreibund von 1882 (87), das deutsch-österreichischrumänische Bündnis von 1883, die Entente à trois zwischen Österreich, Italien und England von 1887, den Rückversicherungsvertrag von 1887 (als Ersatz des Dreikaiserbündnisses) und das italienisch-österreichisch-rumänische Bündnis von 1888. Nur eine Seite des europäischen Hauses blieb offen, der Westen. Doch auch diese Seite versuchte Bismarck durch sein Angebot eines deutsch-englischen Bündnisses von 1889 gegen jede Gefahr zu sichern" (Lepsius). Bismarck gestaltete sein Bündnissystem möglichst elastisch. Für die einzelnen Bündnisse vereinbarte er verhältnismäßig kurze Fristen, um nach der jeweiligen Lage Änderungen vornehmen zu können; in einzelnen Fällen, zum Beispiel bei 122

Bismarcks Bündnissystem den Mittelmeerabkommen, beschränkte er sich auf die Förderung des Abschlusses; Deutschland selbst trat dem Bündnis nicht bei, aber durch dessen Auswirkungen wurde Bismarcks System mittelbar gestützt. Wie sehr er von dem „alles fließt" gerade in der Außenpolitik überzeugt war und danach sein Eingreifen oder Gewährenlassen richtete, zeigen unter anderem seine Ausführungen in dem Brief an Kaiser Wilhelm II. vom 19. August 1888 über einen etwaigen Vorstoß Rußlands an den Bosporus und über die internationalen Verwicklungen, die sich zum Vorteil Deutschlands daraus ergeben könnten. So verschlungen die Fäden der Bündnispolitik Bismarcks waren und so ungleiche, zum Teil einander widerstrebende Elemente sie umfaßte, bildete diese Politik doch ein im ganzen tragfähiges und sehr erfolgreiches System, vor allem weil es unter der Führung eines der größten Meister der Politik unverrückbar das eine Ziel verfolgte: die Sicherung des europäischen Friedens durch ein immer wieder den Zeitumständen angepaßtes, wohl abgewogenes Gleichgewicht der Großmächte. Trotz dieses mit Ausnahme Frankreichs alle europäischen Großmächte unmittelbar oder mittelbar umfassenden Bündnissystems rechnete Bismarck immer mit der Möglichkeit eines Angriffes gegen Deutschland, seine Kämpfe im Reichstag um Verstärkung der deutschen Wehrmacht führte er unter diesem Gesichtspunkt, und so ging es ihm auch da im Grunde um Abwehr; überdies hoffte er, den Waffengang mit einer Militärmacht ersten Ranges werde nicht leicht jemand wagen. Natürlich bot eine solche ausgeklügelte Politik den Gegnern und Kritikern Bismarcks eine Fülle von Angriffsflächen. Friedrich von Holstein, Geheimrat im Auswärtigen Amt, vertrat die Ansicht, da auf Rußland kein Verlaß mehr sei, müsse sich Deutschland von ihm abwenden und dafür sich enger an Österreich und England anschließen. Dem Kanzler ist auch sein Standpunkt, Deutschland sei saturiert, und dies ausgerechnet in einer Zeit, da mehr und mehr die Weltpolitik die rein europäische zu überschatten begann, zum Vorwurf gemacht worden. Ebenso wurde Bismarcks Verhalten gegenüber Frankreich bemängelt. Aber daß er darauf bedacht gewesen sei, es zu isolieren, „ist nur eine Vereinfachung seiner Politik und eine halbe Wahrheit" (Langer). Er hat vielmehr Frankreich in dem Streben, ein großes Kolonialreich zu werden, unterstützt, womit er freilich wider Willen dazu beitrug, daß Frankreich durch seinen riesigen Kolonialbesitz nicht nur wirtschaftlich, sondern auch militärisch außerordentlich gestärkt wurde. Besonders wird gegen das Bismarcksche System seine Kompliziertheit angeführt. Kaiser Wilhelm I. hat es treffend gekennzeichnet: Bismarck sei mit einem Zirkusreiter zu vergleichen, der auf einem galoppierenden Pferd stehend mit fünf Kugeln (Österreich, Rußland, Italien, England und Frankreich) jongliert und das Spiel nur beherrscht, indem er diese Kugeln fortwährend in Bewegung hält. Vollkommen war das System Bismarcks gewiß nicht, auch sind ihm in Einzelheiten manche Fehler unterlaufen wie das Lombardverbot (S. 115) und der Glaube, Frankreich lasse sich durch die Hinlenkung auf die Kolonialpolitik von dem Streben nach Revanche abbringen. Aber im großen und ganzen sind die zu seiner Zeit und später vorgebrachten Einwendungen gegen Bismarcks außenpolitisches 123

Bismarcks Außenpolitik System nicht oder nur zu einem geringen Teil berechtigt. Eine Abkehr von Rußland wäre nur in Frage gekommen, wenn Deutschland einer friedlichen Haltung Frankreichs oder eines bewaffneten Beistandes Englands im Falle eines Krieges mit Rußland oder Frankreich sicher gewesen wäre. Von französischer Seite wurde die Rückgabe Elsaß-Lothringens oder wenigstens Lothringens gegen eine hohe Geldsumme als das sicherste Mittel, um der Kriegsgefahr dauernd vorzubeugen, vorsichtig in die Diskussion geworfen (S. 77), aber selbst das hätte wohl nur für einige Zeit beruhigend auf die Franzosen gewirkt, zumal, wenn ein deutschrussischer Krieg Gelegenheit zur Revanche für die Niederlage von 1870/71 geboten hätte; außerdem wäre die freiwillige Preisgabe Elsaß-Lothringens geradezu eine Herausforderung Kaiser Wilhelms, des Generalstabes und der öffentlichen Meinung gewesen, auf die Bismarck mehr, als meist angenommen wird, Rücksicht nehmen mußte und nahm. Die Ansicht, er hätte sich in seiner Politik mehr auf England als auf Rußland stützen sollen, hat zur Voraussetzung, daß England bereit gewesen wäre, ein festes Militärbündnis mit Deutschland zu schließen, was aber, wie sich immer wieder, besonders 1889 zeigte, nicht der Fall war. Die Abkehr von Rußland zugunsten Österreichs erwies sich 1914 ebenso wie die von einer ganz überwiegend defensiven Haltung als verhängnisvoll. Mit seinem System hinterließ Bismarck zweifellos ein nicht leicht zu verwaltendes Erbe, dessen Anpassung an die sich stets wandelnden Verhältnisse und die durch sie bedingte Notwendigkeit, in so manchem ganz neue Wege einzuschlagen, die Nachfolger vor schwer zu bewältigende Aufgaben stellte. Es wäre jedoch unbillig, einen der Größten in seinem Bereiche dafür verantwortlich zu machen, was Spätere, sei es wegen ihrer Unzulänglichkeit, sei es wegen der Unmöglichkeit, neu heraufkommende Schwierigkeiten zu meistern, nicht zu leisten vermochten. Für die Zeit von Bismarcks Reichskanzlerschaft gilt im allgemeinen, was ein amerikanischer Historiker zu einer der schwersten Krisen, die Bismarck zu überwinden hatte, der von 1887, bemerkte: Wenn er „nicht dagewesen wäre, würden die Nationen es auf die gute alte Weise ausgetragen haben. Sie hatten oft unter geringfügigeren Vorwänden gekämpft. Aber um Deutschlands willen wünschte Bismarck jeden Konflikt in Europa zu vermeiden. Er selbst wollte nicht kämpfen, wie günstig auch immer die Lage für Deutschland aussehen mochte, aber zur selben Zeit wollte er auch die anderen nicht kämpfen lassen, wenn er es vermeiden könnte. Wie die Lage Ende 1887 war, konnte keine Macht sich rühren, ohne sich in unendliche Schwierigkeiten und Gefahren zu verwickeln. Die Sicherung des Friedens lag in dem großen Bündnissystem, das sich wie ein ungeheures Spinnennetz über Europa ausbreitete. Bismarck wurde angeklagt und mißverstanden, aber das war ihm die Erhaltung des Friedens wert" (Langer). Nach dem was wir seit 1914 erlebt haben, darf wohl als das größte Verdienst des Reichskanzlers Bismarck gelten, daß er in einer kriegsschwangeren Zeit nicht nur aus politischen, sondern, was man ihm glauben darf, auch aus Gründen der Humanität Wahrer des Friedens gewesen ist. Wie ihm dies gelang und wie sich an seine Außenpolitik teils in ihrem Fortwirken, teils als Folge der Abkehr von ihr so viel von dem weiteren Schicksal Deutschlands knüpfte, ist bei genauerer Kenntnis der Einzelheiten eines 124

Bismarcks Bündnissystem der aufschlußreichsten Kapitel der internationalen Politik. Damals hatte Deutschland die erste Stimme im Konzert der europäischen Mächte. Selbst in England hielt man von Bismarck mehr als von den eigenen Staatsmännern; Prinz Wilhelm bekam 1887 während eines Aufenthaltes in London immer wieder zu hören: „Oh, ich versichere Ihnen, wenn wir den Fürsten Bismarck einen Monat lang bei uns haben könnten, würde er bald alles in Ordnung bringen."

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Vom Dreikaiserjähr (1888) zum Sturz Bismarcks

Kaiser Wilhelms I. Tod Eine wesentliche Voraussetzung für Bismarcks Wirken und Erfolge war sein Rückhalt an Wilhelm I. Der Kaiser ließ indes seinen Reichskanzler keineswegs von vornherein in allem freie Hand, vielmehr nahm er zu allen wichtigeren innen- und außenpolitischen Entscheidungen Stellung, was besonders seine zahlreichen Randbemerkungen zu den Akten, die ihm vorgelegt werden mußten, zeigen. Noch in hohem Alter ließ er sich, als er Entscheidungen über Justizgesetze zu treffen hatte, einen Kursus über die Rechtswissenschaft vortragen, um nicht etwas zu unterzeichnen, wovon er keinerlei Kenntnisse besitze. So konnte es nicht ausbleiben, daß es zwischen ihm und Bismarck öfter zu Meinungsverschiedenheiten kam. Der Kaiser ließ sich schließlich fast immer, oft nach langem Sträuben, von den Gründen des Reichskanzlers überzeugen. Einige Monate vor seinem Tode sagte Kaiser Wilhelm zu Herbert Bismarck: „Vielleicht sehe ich Sie heute zum letzten Male, und da will ich es Ihnen als dem Sohne doch sagen: ich habe Ihren Vater oft nicht verstanden und oft bekämpft, aber schließlich habe ich gesehen: er hat immer Recht gehabt." Dieses Nachgebenkönnen ohne dabei der monarchischen Würde das geringste zu vergeben, befähigte Wilhelm, die großen Wandlungen während seiner Regierung als König von Preußen und dann als Deutscher Kaiser mit herbeizuführen, bestimmte ihn aber auch, sich gemeinsam mit Bismarck dem Ausbau eines parlamentarischen Regimes zu widersetzen. Von genialem Wesen hatte Wilhelm I. nichts an sich, und er mißtraute ihm bei anderen. Seine äußere stattliche Erscheinung und seine ganze Art waren soldatisch im besten Sinne, damit verband sich eine hohe Auffassung vom Gottesgnadentum des legitimen Herrschers; beides, dazu seine echte Religiosität, vertieften das ihm angeborene Pflichtgefühl. Überheblichkeit lag Wilhelm fem, daher fügte er sich auch in ihm widerstrebenden Dingen der besseren Einsicht Bismarcks. Gern erkannte er die Verdienste anderer an, Bismarcks, sowie die der Heerführer und Minister. Bei der Gratulation zum 70. Geburtstag des Kabinettsrates Wilmowski nannte er die Zusammenarbeit mit ihm „eine der vielen Gnadenerweisungen Gottes", und zu seinem Festgeschenk, zwei griffelhaltenden Musen, bemerkte er scherzend: „Die eine schreibt, was Sie leisten, die andere unterschreibt nur, was Sie belieben!" Die menschlich schlichte und zugleich majestätische Art Wilhelms I. und die unermüdliche, umsichtige Hingabe an seine Pflichten haben wesentlich zur Festigung und zum Ausbau des Rei126

Friedrich III.: Der Kronprinz ches beigetragen. Allein schon, daß ein Mann wie er der Kaiser war, förderte die deutsche Einheit, und wenn er bei den Herbstmanövem in Bundesländer mit ehemals starker Opposition gegen ein „preußisches" Deutschland kam, gewann er einst Widerstrebende für sich und damit für das neue Reich. Indem der „alte Kaiser" schon zu seinen Lebzeiten mehr und mehr zu einer fast mythischen Gestalt wurde, trat der Konflikt, den er einst als Prinzregent und König mit dem preußischen Landtag hatte, völlig in den Hintergrund. Für diesen Gesinnungswandel besonders in Kreisen der Gebildeten ist das Bekenntnis Rudolfs von Ihering, eines der größten deutschen Rechtsgelehrten, kennzeichnend: „Nie hätte ich damals (um die Mitte des 19. Jahrhunderts) geglaubt, daß ich noch einmal die tiefste Verehrung und innigste Liebe für ein gekröntes Haupt empfinden und der begeistertste Anhänger der Monarchie werden würde. Diesen Umschwung, den gewaltigsten meines ganzen Lebens, verdanke ich Kaiser Wilhelm." Am 9. März 1888 starb Kaiser Wilhelm I., dreizehn Tage vor Vollendung seines 91. Jahres. Mit der tiefen Trauer in ganz Deutschland über den Tod des Kaisers verband sich das Gefühl, die Epoche, die mit den Freiheitskriegen begonnen hatte, sei nun zu Ende. Als Siebzehnjähriger hatte der Prinz Wilhelm damals mitgefochten; in ihm war 1871 das von den Freiheitskämpfern und von der 1848er nationalen Bewegung so heiß ersehnte deutsche Kaisertum Wirklichkeit geworden. Im In- und Ausland hatte sich der „alte Kaiser" ein Ansehen erworben wie kein anderer Monarch jener Zeit; nun war er tot, und mit ihm schwand die alte Zeit dahin. Neues werde kommen, darüber war man sich seit längerem klar, aber wie es sich gestalten werde, ließ sich bei der tödlichen Krankheit des Thronfolgers und bei der Unberechenbarkeit seines ältesten Sohnes nicht voraussehen.

FRIEDRICH Der

III.

Kronprinz

Die liberal Gesinnten hatten auf den am 18. Oktober 1831 geborenen Prinzen Friedrich Wilhelm, nunmehr Kaiser Friedrich III., große Hoffnungen gesetzt. Seine Mutter, die Kaiserin Augusta, Tochter des Großherzogs Karl Friedrich von Sachsen-Weimar, und noch mehr seine Gemahlin Viktoria, Tochter der Königin Viktoria von England und des Prinzgemahls Albert aus dem Hause Sachsen-Koburg-Gotha, übten auf Friedrich Wilhelm einen starken Einfluß aus. Beide Frauen waren hochgebildet und aufgeschlossen für Wissenschaft und Kunst. Augusta hatte, während sie mit ihrem Gatten Prinz Wilhelm, Generalgouverneur der Rheinlande, 1850/58 in Koblenz lebte, engere Fühlung mit den Liberalen und Katholiken genommen, die zu dem damals in Preußen herrschenden reaktionären System in Opposition standen. Nachdem Wilhelm zur Regierung gekommen war, hoffte Augusta auf seine Politik in liberalem Sinne einwirken zu können, beschränkte sich aber dann, als Bismarck dies vereitelte, auf die Förderung von Kunst, Wissenschaften und, besonders in Kriegszeiten, von Wohltätigkeitsanstal127

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks ten. Die Erziehung Friedrich Wilhelms überließ Wilhelm, soweit sie nicht Militärisches betraf, ganz der Mutter, und Augusta widmete sich ihr mit großem Eifer. Sie sah klar, daß des Prinzen „Charakterstärke und Geistesfähigkeit, namentlich Schärfe und Logik der Gedanken" nicht seinen Eigenschaften des Gemütes, Wahrhaftigkeit, Frömmigkeit, Reinheit des Herzens, gleichkamen. Sorgfältig wählte Augusta für ihren Sohn die Spielkameraden aus, überwiegend Bürgerliche. So wurde Friedrich Wilhelm nach Veranlagung und Erziehung empfänglich für die vielen noch ungeklärten Ideen und Ideale des Liberalismus. Im Januar 1858 heiratete er die englische Prinzessin Viktoria. Seit Jahren hatten Prinzgemahl Albert und sein Berater Stockmar auf diese Verbindung hingearbeitet, um Preußen Rußland zu entfremden; dann sollte Preußen unter dem künftigen König zu einem konstitutionellen Staat in ausgesprochen liberalem Sinne umgewandelt werden, auf diese Weise die öffentliche Meinung des ganzen deutschen Volkes für sich gewinnen, und so die Einigung Deutschlands zu einem Großstaat herbeiführen, woraus sich ein Bündnis mit dem liberalen England gewissermaßen von selbst ergäbe. Albert hatte seine Tochter mit diesem Gedanken vertraut gemacht, und ihr Gemahl stimmte ihnen dann sofort zu, hatte er doch bereits von seiner Mutter eine Denkschrift erhalten, in der seine Aufgaben als König dargelegt waren, und diese Denkschrift hatte Stockmar verfaßt. Man konnte damals damit rechnen, Friedrich Wilhelm werde in absehbarer Zeit zur Regierung kommen. Der schwer erkrankte König Friedrich Wilhelm IV. hatte kurz zuvor seinen Bruder Wilhelm, der das 60. Jahr bereits überschritten hatte, mit der Stellvertretung als König von Preußen betraut, und dieser klagte des öfteren, wie alt er sich fühle, und äußerte gelegentlich die Absicht, auf die Nachfolge zu verzichten. Über ihre und ihres Mannes Gedanken, Hoffnungen und Bestrebungen schrieb nach Friedrichs Tod Viktoria an ihre Mutter: „Wir liebten Deutschland und wünschten es stark und groß zu sehen, nicht nur durch das Schwert, sondern in allem, was Gerechtigkeit, Kultur, Fortschritt und Freiheit bedeutete. Wir wünschten das Volk glücklich und frei, in Wachstum und Entwicklung alles Guten zu sehen. Wir haben uns eifrig bemüht, zu lernen, zu studieren und uns für die Zeit vorzubereiten, die uns zum Werk an der Nation rufen würde." Aber diese Zeit ließ allzulange auf sich warten. Nach dem Tode Friedrich Wilhelms IV. folgte ihm sein Bruder Wilhelm Anfang 1861 auf den Thron. Als Wilhelm wegen der von ihm geforderten Verlängerung der Dienstzeit für die aktiven Truppen auf drei Jahre in einen schweren Konflikt mit dem preußischen Abgeordnetenhaus geriet, wollte er zugunsten seines Sohnes abdanken. Dieser hielt sich jedoch für zu jung und unerfahren, um in solch schwieriger Lage die Regierung zu übernehmen. Damit hatte Friedrich Wilhelm die Chance seines Lebens verpaßt. Im Herbst 1862 ernannte König Wilhelm zum Ministerpräsidenten und Minister des Auswärtigen Bismarck, der in schärfstem Gegensatz zu den liberalen Auffassungen des Kronprinzenpaares stand und eifersüchtig darüber wachte, daß es seine Politik nicht durchkreuzte. Friedrich Wilhelm und seine Gemahlin hielten sich deshalb in politischen Angelegenheiten meist zurück. Als Heerführer in den Kriegen 1866 und 1870/71 war der Kronprinz, „unser Fritz", bei den Sol128

Friedrich III.: Der Kronprinz daten ungemein beliebt, audi lag ihm gegenüber den Offizieren jegliche Überheblichkeit ferne. Bei der Belohnung der Heerführer 1871 (S. 15) lehnte er für sich eine Dotation ab; für die Generale sei es schon mißlich, daß ihnen die Prinzen die oberen Kommandostellen und den Ruhm wegnähmen; übrigens wisse er selbst am besten, daß er kein Feldherr sei und keine Schlachten gewonnen habe; zwinge man ihm eine Dotation auf, so werde er sie an seinen Chef des Generalstabes Blumenthal weitergeben. So sehr Friedrich Wilhelm für liberale Ideen eingenommen war und sogar für eine Reichsverfassung ähnlich der von der Frankfurter Nationalversammlung 1848 ausgearbeiteten, hatte er doch ein ausgeprägtes monarchisches Selbstbewußtsein. Es kränkte ihn, daß der Zar einen Vorrang vor den Hohenzollern habe, nur weil er Kaiser sei. Als sich Friedrich Wilhelm während des deutschfranzösischen Krieges hierüber mit Gustav Freytag unterhielt, hatte dieser durchaus den Eindruck, der Kronprinz sei „erfüllt von dem fürstlichen Stolz, der das Höchste für sich begehrt, und höchste irdische Stellung war für ihn die unter der Kaiserkrone". Dies wird auch durch die Freude bestätigt, die er an der Entfaltung höfischen Prunkes hatte, wobei ihm seine stattliche, gewinnende Erscheinung sehr förderlich war; der plattdeutsche Dichter Klaus Groth äußerte sich begeistert nach einer vom Kronprinzen angeregten Begegnung: „Die Art, wie ich hier empfangen wurde, war so herzlich, freundlich und gütig, daß idi mich ganz und willig dem Eindruck hingab. Ich bin nie in meinem Leben von der Erscheinung eines Mannes so bezaubert gewesen." Sein monarchisches Selbstbewußtsein verleitete den Kronprinzen auch gelegentlich zu sehr unrealistischen Plänen. So 1870/71; damals schrieb er in sein Tagebuch: „Unser Hauptgedanke ist, wie man nach erkämpftem Frieden den freisinnigen Ausbau Deutschlands weiterführe", und dabei dachte er an eine zentralistisch gefügte Einheit des Reiches: an der Spitze sollte der Kaiser stehen und die gesamte Reichsgewalt durch verantwortliche Minister ausüben; das künftige Oberhaus, das er sich nach englischer Art vorstellte, sollte sich aus den bisherigen Souveränen der deutschen Einzelstaaten und dem Adel zusammensetzen, das Unterhaus aus den vom Volke gewählten Abgeordneten; gegen „renitente" Landesfürsten sei mit Gewalt vorzugehen. Derartigen Vorschlägen widersetzte sich Bismarck ganz entschieden; anders als der Kronprinz gab er sich keiner Täuschung hin über die namentlich in Süddeutschland noch stark fortwirkenden föderalistischen Strömungen, deren Mißachtung die Reichsgründung unmöglich gemacht oder wenigstens sehr erschwert und fernerhin höchst wahrscheinlich verhängnisvolle Folgen für die deutsche Innen- und Außenpolitik gezeitigt hätte. Kaiser Wilhelm hörte hier wie auch sonst auf Bismarck, und so vollzogen sich Reichsgründung, Reichsausbau und Reichsregierung entgegen den Wünschen und Hoffnungen des Kronprinzen in den von Bismarck gewiesenen Bahnen. Das Kronprinzenpaar hielt sich nun noch mehr von politischer Betätigung zurück, mußte sich mit Aufgaben der Repräsentation begnügen und widmete sich mit größtem Eifer der Förderung von Kunst, Wissenschaft und sozialen Bestrebungen, wobei es hauptsächlich mit bürgerlichen und akademischen Kreisen verkehrte. So ging Jahr um Jahr dahin, und der Kronprinz zweifelte immer mehr, 129 9

Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks ob, wenn er endlich zur Regierung käme, seine Kräfte zu einer Umgestaltung des Bismarckschen Reiches in seinem Geiste noch ausreichten.

Die Krankheit Die tödliche Krankheit, der Friedrich Wilhelm zum Opfer fiel, kündigte sich mit andauernder Heiserkeit an. Nach vergeblichen Heilversuchen trat am 18. Mai 1887 ein Konsilium der bedeutendsten Berliner Ärzte zusammen, darunter der berühmte Chirurg Bergmann. Sie waren, da es sich zweifellos um Krebs handle, einstimmig für eine durch Bergmann auszuführende Operation. Aber auf Veranlassung Bismacks verbot der Kaiser, die Operation ohne Einwilligung seines Sohnes vorzunehmen. Die Ärzte hielten nun die Heranziehung einer ausländischen Kapazität für geraten und schlugen dem Kaiser und der kaiserlichen Familie zur Auswahl einen Franzosen, einen Österreicher und den Engländer Morell Mackenzie vor. Dieser wurde telegraphisch nach Berlin gerufen; er hatte durch seine große praktische Erfahrung und besonders durch sein auch ins Deutsche übersetztes zweibändiges Lehrbuch über die Krankheiten der Luftwege internationale Berühmtheit erlangt. Nach der ersten Untersuchung erklärte Mackenzie, möglicherweise sei es Krebs, und übergab zu genauerer mikroskopischer Prüfung ein kleines Stück des erkrankten Gewebes dem Professor für pathologische Anatomie in Berlin Rudolf Virchow, der anerkannt ersten Autorität auf diesem Gebiete. Virchow stellte fest, das ihm vorgelegte Stückchen sei ein harmloses Warzengewebe ohne eine Spur von Krebszellen; zu demselben Ergebnis kam Virchow, nachdem er ein zweites, größeres Stück des Gewebes untersucht hatte, betonte aber doch in seinem Gutachten, ob sein „prognostisch sehr günstiges Urteil" auch in bezug „auf die gesamte Erkrankung berechtigt ist, läßt sich aus den beiden exstirpierten Stücken mit Sicherheit nicht ersehen. Jedenfalls ist an denselben nichts vorhanden, was den Verdacht einer weiteren und ernsteren Erkrankung hervorzurufen geeignet wäre". Daraufhin wurde die Operation vorläufig zurückgestellt und die Behandlung Mackenzie übertragen; die deutschen Ärzte bestanden jedoch nach wie vor auf ihrer Diagnose. Zu dem fünfzigjährigen Regierungsjubiläum der Königin Viktoria 1887 begab sich das Kronprinzenpaar nach England und blieb hier zwei Monate. Bei Herannahen des Herbstes suchte es ein milderes Klima auf und entschloß sich nach mehrmaligem Ortswechsel zu längerem Aufenthalt in San Remo. Einige Tage später traf Mackenzie ein, stellte bedeutende Vergrößerung und bösartige Verschlimmerung der Geschwulst fest und antwortete auf die Frage des Kronprinzen „Ist es Krebs?": „Leider sieht es danach aus, aber Gewisses läßt sich nicht sagen." Mackenzie berief nun aus Wien und Berlin je einen Kehlkopfspezialisten nach San Remo, denen sich auf Verlangen des Berliner Hofes ein Frankfurter Laryngologe anschloß. Ubereinstimmend erklärten diese Fachärzte, der Kronprinz leide an Krebs, es gebe für die Behandlung nur zwei Wege: Exstirpation (Herausnahme) des Kehlkopfes; oder warten, bis die zunehmende Geschwulst das Atmen

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Friedrich III.: Der Kaiser verhindere und dann die Tracheotomie (Luftröhrenschnitt), dadurch würde, freilich unter Verlust der Stimme, die Atmung wieder möglich; unter entschiedener Ablehnung der Exstirpation entschied sich der Kronprinz, wenn nötig, für die Tracheotomie. Am 9. Februar 1888 mußte schließlich die Operation vorgenommen werden. Der Kronprinz konnte nach ihr durch eine Kanüle wieder ungehindert atmen, aber er war nun stumm. Seit zehn Monaten hatte die Krankheit des Kronprinzen in steigendem Maße die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf sich gezogen. Zu der menschlichen, sich oft in rührender Weise bezeugenden Anteilnahme der vielen, die ihn liebten und hochschätzten, besonders auch einfacher Leute, kamen die Sensationslust, damals kaum geringer als heute, an allem was die obersten Schichten betrifft, und bei dem hohen Alter des Kaisers die Frage, ob Friedrich Wilhelm doch noch eine längere Regierungszeit beschieden sei, was die Liberalen wünschten und ihre Gegner befürchteten. Außerdem arteten die Meinungsverschiedenheiten zwischen Mackenzie und den deutschen Ärzten zu einem auf weiteste Kreise übergreifenden, die Spalten der Presse füllenden, im Geiste eines leidenschaftlichen Nationalismus geführten Streit aus, ob die englische Heilkunde der deutschen oder diese der englischen überlegen sei. Auf deutscher Seite waren dabei das Übelste die Verdächtigungen gegen die Kronprinzessin. Unter anderem warf man ihr vor, sie habe zugunsten ihres Landsmanns Mackenzie die deutschen Ärzte, die sofort die richtige Diagnose gestellt hatten, ausgeschaltet und dadurch die Operation zu einem noch günstigen Zeitpunkt verhindert, habe, soweit nur möglich, die Schwere der Krankheit verheimlicht, damit der Kaiser nicht schon jetzt einen anderen Thronfolger ernenne und ihr so die heißersehnte Würde einer Kaiserin entgehe; auch die Behauptung des Grafen Waldersee fand bei sehr vielen Glauben: „Traurig ist es, wie alle Nachrichten darin übereinstimmen, daß die Kronprinzessin sich entsetzlich egoistisch und rücksichtslos gegen den kranken Kronprinzen benimmt." Gewiß wünschte Viktoria Kaiserin zu werden, schon um die ihr vorschwebenden Ideale, Fortschritt und Volksbeglückung, verwirklichen zu können, und daß sie den Zustand des von ihr so sehr geliebten Mannes im allgemeinen zu günstig beurteilte, ist menschlich durchaus begreiflich. Für die mannigfachen, einander vielfach widersprechenden Gerüchte und Urteile, wie etwa über das Verhalten der Kronprinzessin, den Erfolg oder Mißerfolg ärztlicher Maßnahmen, bereitete besonders der häufige Wechsel im Befinden des Kronprinzen den Boden. Der Kaiser Einen Monat nach der Operation hatte der Kronprinz sich etwas erholt. Als er sich am Vormittag des 9. März im Garten erging, wurde ihm ein Telegramm mit der Aufschrift: „Seiner Majestät Kaiser Friedrich Wilhelm" überreicht; um 1 Í29 Uhr war sein Vater gestorben. Am Spätabend des 11. März 1888 traf Kaiser Friedrich in Berlin ein. Zwei Tage später veröffentlichten die Zeitungen den ziemlich allgemein gehaltenen Aufruf des Kaisers „An mein Volk" und seinen

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Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks

mehr ins einzelne gehenden Erlaß „An den Reichskanzler". Beide Proklamationen waren bereits vor drei Jahren während einer schweren Krankheit Kaiser Wilhelms I. im Auftrag und unter Mitwirkung des Kronprinzen von einigen seiner liberalen Freunde, namentlich dem Badener Franz Roggenbach, ausgearbeitet worden. Der Erlaß an den Reichskanzler Schloß: „Unbekümmert um den Glanz ruhmbringender Großtaten, werde Ich zufrieden sein, wenn dereinst von Meiner Regierung gesagt werden kann, sie sei Meinem Volke wohltätig, Meinem Lande nützlich und dem Reiche zum Segen geworden." Während der 99 Tage seines Kaisertums bot sich indes dem schwerkranken Monarchen nur wenig Gelegenheit zu Regierungshandlungen. Der Reichstag hatte im Februar das Sozialistengesetz verlängert und im März die Legislaturperiode von drei auf fünf Jahre ausgedehnt (S. 168). Von seiner liberalen Einstellung aus war der Kaiser gegen die beiden Gesetze. Bismarck wandte sich deshalb an die Kaiserin und wußte sie zu überzeugen, daß die Nichtverkündigung der Gesetze durch den Kaiser einen Bruch mit der bisherigen Regierungspolitik bedeute. Viktoria ging sofort zu ihrem Gatten und konnte kurz darauf die von ihm unterzeichneten Gesetze Bismarck zurückgeben. Die Kaiserin wünschte für sich die Stellvertretung oder Regentschaft. Bismarck verhinderte dies im Verein mit ihren Söhnen; Kronprinz Wilhelm erhielt die Stellvertretung, von einer Regentschaft wurde abgesehen. Der Wunsch der Kaiserin, ihre Tochter Viktoria mit Alexander von Battenberg zu vermählen, veranlaßte einen ernsteren Konflikt. Vor vier Jahren hatte sich die Prinzessin im geheimen mit Alexander von Battenberg, damals Fürst von Bulgarien (S. 104), verlobt. Mit Rücksicht auf Rußland war Bismarck von vornherein gegen diese Verbindung gewesen. Im Laufe der Jahre hatten sich die Gefühle des Bräutigams erheblich abgekühlt, die Mutter der Prinzessin steigerte sich dagegen immer mehr in den Gedanken hinein, das ganze Lebensglück der Tochter hänge von dem Zustandekommen der Ehe ab, und das wollte sie nun als Kaiserin trotz des Abratens ihrer Mutter, der Königin von England, sowie des entschiedenen Widerspruchs des Kronprinzen und Bismarcks, unbedingt durchsetzen; zunächst sollte Alexander nach Berlin eingeladen und ihm der Orden Pour le mérite verliehen werden. Der Reichskanzler nahm die Angelegenheit so ernst, daß er mit seinem Rücktritt drohte und dem Kaiser einen Immediatbericht überreichte: „Der Prinz Alexander von Battenberg hat durch seine Vergangenheit eine europäische Stellung erlangt, deren Folge ist, daß man nicht in politische Beziehungen zu ihm treten kann, ohne das Land, von welchem aus es geschieht, den politischen Rückwirkungen auszusetzen, welche eine Annäherung an den früheren Fürsten von Bulgarien zur Folge hat. Das Gewicht dieser Rückwirkungen wird gesteigert durch die Tatsache, daß die politische Rolle des Prinzen Alexander von Battenberg unter gewissen möglichen Umständen keineswegs schon zu Ende gespielt ist. Sobald in Bulgarien Unruhen entstehen von der Art, daß die bulgarische Frage durch die Waffen entschieden werden soll, wird die bulgarische Armee den Prinzen von Battenberg voraussichtlich wieder an ihre Spitze berufen, und sobald ein österreichisch-russischer Krieg ausbräche, würde er einer der Kandidaten für den neu zu errichtenden polnischen Thron werden . . . Aus diesen bulgarischen und pol132

Friedrich III.: Der Kaiser nisdien Erwägungen wird der Kaiser Alexander (von Rußland) aus jeder Annäherung unseres (preußischen) Königshauses an den früheren Fürsten von Bulgarien nach wie vor gegen die Aufrichtigkeit und Friedensliebe der deutschen Politik Rußland gegenüber Verdacht schöpfen . . . Die auswärtige Politik des Deutschen Reiches ist seit dem Frieden mit Frankreich vorwiegend auf die Erhaltung des Friedens und auf die Verhütung antideutscher Koalitionen gerichtet gewesen. Der Brennpunkt dieser Politik liegt in Rußland und in der Aufgabe, dem Kaiser Alexander persönlich das Vertrauen zur deutschen Politik zu gewähren und zu erhalten." Der Kaiser stimmte Bismarck zu, ließ sich aber dann doch von seiner Gemahlin überreden, daß er in seinem Testament verfügte: „Ich lege es Dir (dem Thronfolger Wilhelm) als Kindespflicht auf, diesen meinen Wunsch, den Deine Schwester Viktoria seit so vielen Jahren im Herzen trägt, auszuführen . . . Ich rechne darauf, daß Du Deine Pflicht als Sohn erfüllst, indem Du meinen Wunsch genau achtest und als Bruder Deiner Schwester Deine Hilfe nicht entziehst." Wilhelm hielt sich nach seiner Thronbesteigung jedoch nicht an die Weisung des Vaters. Ein Jahr darauf heiratete Alexander von Battenberg eine Darmstädter Sängerin und zog sich als Graf Hartenau in eine österreichische Garnisonstadt zurück. — Die letzte Regierungshandlung des Kaisers war die Entlassung Robert von Puttkammers. Sie erregte großes Aufsehen, denn Kaiser Wilhelm I. und Bismarck hatten ihm als preußischem Innenminister und Vizepräsidenten des Staatsministeriums besonderes Vertrauen geschenkt. Friedrich wurde zu diesem Schritt durch Puttkammers Wahlbeeinflussung zugunsten der Konservativen veranlaßt, der seine hohe Stellung zu diesem Zweck mißbraucht hatte. Eine Woche später, am 15. Juni 1888, starb Kaiser Friedrich III. Zweifellos wäre die deutsche Geschichte anders verlaufen, falls Friedrich Wilhelm um 1860 König von Preußen oder 1871 deutscher Kaiser geworden wäre und Liberale seiner Generation, die in ihrer Jugend die Ideen und Ideale der Achtundvierziger in sich aufgenommen hatten, als Mitarbeiter hätte heranziehen können. Ob aber seine Regierung im großen und ganzen Deutschland zum Heile geworden wäre, ist eine Frage, die sich wie alle derartigen geschichtlichen WennErwägungen nicht einmal mit einem geringen Grad von Sicherheit beantworten läßt. Friedrich war Zeit seines Lebens keine fest in sich geschlossene, im Denken und Handeln konsequente Persönlichkeit und hätte die für die Durchsetzung seiner Bestrebungen notwendige Mitwirkung eines ins Gewicht fallenden großen Volksteiles kaum gefunden. Die große Masse der Arbeiterschaft kam dafür nicht in Betracht; sie war auch durch die sich, wie etwa in der Mißbilligung des Sozialistengesetzes bekundende Gesinnung Friedrichs nicht zu gewinnen, sondern verfolgte ein in schroffstem Gegensatz zu seiner Auffassung über die Stellung des Monarchen stehendes Ziel: den sozialistischen Staat mit einer sozialistischen Gesellschaftsordnung. Da das Bürgertum keine festgefügte Einheit bildete (S. 53), hätte es, obgleich viele von ihm Liberale waren, den erforderlichen festen Rückhalt für Friedrichs Regierung wohl nicht geboten. — Mag es sich mit den keineswegs übereinstimmenden damaligen und späteren Urteilen über Kaiser Frieddrich III. und mit den etwaigen Möglichkeiten, die sich aus einer längeren Regie133

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks rungszeit ergeben hätten, wie immer verhalten; sein Schicksal war jedenfalls eine ergreifende Tragödie: jahrzehntelanges vergebliches Planen und Hoffen und schließlich die Gewißheit, daß, gleichviel welches Regiment er führe, sein Sohn alles wieder umwerfen würde. Es war wirklich so, wie die Kaiserin kurz nach dem Tode des Kaisers an ihre Mutter schrieb: „Und nun ist alles umsonst gewesen."

W I L H E L M II. U N D Jugend. Erziehung.

BISMARCK Charakter

Die Freude des Kronprinzen Friedrich Wilhelm und seiner Gemahlin Viktoria über die Geburt ihres ersten Sohnes am 27. Januar 1859, den sie nach dem Großvater Wilhelm nannten, wurde etwas getrübt, als sich herausstellte, daß der linke Arm des Kindes gelähmt war. Obwohl alles zur Behebimg des Übels geschah, blieb der Arm verkümmert. Ohne Rücksicht darauf mußte sich der heranwachsende Knabe, da er einmal König von Preußen sein würde, den für einen Prinzen üblichen körperlichen Übungen in einer Weise unterziehen, daß sein jüngerer Bruder Heinrich beim Zusehen, wie Wilhelm unter Aufsicht seines Erziehers Hinzpeter ohne Bügel reiten und, so oft er auch vom Pferde fiel, immer wieder aufsteigen mußte, vor Mitgefühl aufheulte. Auch sonst hielt Hinzpeter, seinem Glauben, Wesen und Auftreten nach ein ausgesprochener Kalvinist, auf strenge Zucht; mit allem Nachdruck suchte er Wilhelm die Überzeugung von der Sündenschuld und der Erlösungsbedürftigkeit jedes Menschen sowie den Sinn für unbedingte Pflichterfüllung und rastloses Arbeiten einzupflanzen. Daß eine derart rigorose Erziehung bei Wilhelm, der das stolze, impulsive Wesen der Mutter geerbt hatte, die Neigung zur Opposition hervorrief, ist nicht erstaunlich, brauchte aber an und für sich zwischen dem Sohn und den Eltern zu keiner ernstlichen, anhaltenden Spannung führen. Zu ihr legte Hinzpeter völlig unbeabsichtigt mit seiner Verachtung des Liberalismus und der Begeisterung für absolutistische Regierungsformen den Grund. Als Offizier des ersten Gardeinfanterieregiments und bei den Gardehusaren in Potsdam kam Wilhelm in eine Umgebung, die ihn dem Gedankenkreis der Eltern völlig entfremdete. Bei jeder Gelegenheit betonte er nun seine Abneigung gegen das liberale England, womit er besonders die Mutter kränkte, und seine Vorliebe für strammes, streng preußisch konservatives Wesen. Da Kaiser Friedrich keinen seiner Reformpläne hatte durchführen können, Wilhelm seinem Großvater Kaiser Wilhelm I. herzlich zugetan und für Bismarck sehr eingenommen war, bedeutete der Regierungswechsel zunächst keinen neuen Kurs, und so manche Eigenschaften des Thronfolgers erweckten die Hoffnung auf eine glückliche Zukunft Deutschlands. Hinzpeter urteilte über seinen Zögling: „An dem wird dereinst die Welt ihr blaues Wunder erleben; er ist ein gut angelegter und edeldenkender Mensch, hat aber einen unbeugsamen Willen, der vor 134

Jugend, Erziehung, Charakter Wilhelms II. nidits zurückschreckt, das durchzusetzen, was er einmal als richtig erkannt hat." Wilhelm hatte denn auch Anlagen, die dem künftigen Herrscher sehr zustatten kommen konnten: Interesse für alles mögliche, die Fähigkeit, rasch aufzufassen, ein gutes Gedächtnis, die Gabe einer blendenden Beredsamkeit; auch als wohlmeinend und gewinnend liebenswürdig hat sich Wilhelm oft erwiesen. Die letzte von Hinzpeter angeführte Eigenschaft bedeutete freilich eine große Gefahr für das Reich und für Wilhelm selbst, wenn er einmal zur Regierung kam. Mit dem schon von seinem Vater erkannten „Hang zur Uberhebung wie zur Uberschätzung" fehlte Wilhelm das Augenmaß, wie weit er jeweils das Richtige zu erkennen vermöge; auch waren sein Studium der Staats- und Rechtswissenschaften an der Bonner Universität und die Einführung in den Verwaltungsdienst durch Vorträge des Potsdamer Oberpräsidenten von Achenbach und in die Geschäfte des Auswärtigen Amtes, obwohl er hier mit Bismarck und dessen Sohn Herbert in nähere Berührung kam, zu oberflächlich, um jeweils so wie er wollte und wie er es dann auch hielt auf allen Gebieten der Staatsführung selbstherrlich zweckmäßige Entscheidungen treffen zu können. Das Gemisch von gutem Willen, von teils bestechenden, teils bedenklichen Ansichten und Bestrebungen führte dazu, daß viele schon damals Wilhelm beurteilten wie der preußische Minister für Landwirtschaft Lucius von Ballhausen, der am 12. Februar 1888 in sein Tagebuch schrieb: Mit der Gewißheit von Friedrichs bevorstehendem Tode „lenkt sich natürlich die Aufmerksamkeit stark auf den Prinzen Wilhelm, welcher hochbegabt, voll Temperament, dodi auch seine eifrigsten Bewunderer mit einiger Sorge erfüllt. So sprach noch gestern Herr von Rochow-Plessow, der Inbegriff des Hochtory und märkischen Junkers, seine Besorgnisse aus über seine mangelnde Reife, ungenügende Vorschule und zu frühe Heirat. Alle Beobachter betonen immer seine mangelnde Reife, was allerdings bei einem Alter von 29 Jahren auffallend ist." Der gegen den Kronprinzen erhobene Vorwurf mangelnder Reife wird durch drei Vorfälle illustriert: Im Mai 1884 hatte Kaiser Wilhelm I. zu einem Familienfest am Zarenhof seinen Enkel Wilhelm nach Petersburg gesandt; bei dieser Gelegenheit sollte er dem Zaren die Gründe für die Aufrechterhaltung des Dreikaiserbündnisses darlegen. Prinz Wilhelm gelang es, den Zaren ganz für sich zu gewinnen, so daß dieser zu dem deutschen Botschafter in Petersburg äußerte: „Alles, was der Prinz mir sagte, hat mir ungeheuer (énormément) gefallen, er sieht die Dinge ganz richtig, hat Interesse und Verständnis für alles und ich bin von der Unterredung, die ich mit ihm hatte, sehr befriedigt." Aber als Wilhelm abreiste, hinterließ er für den Zaren ein flüchtig hingeworfenes Schreiben, worin er ihn vor den beiderseitigen britischen Verwandten und der Abhängigkeit seines Vaters von ihnen warnte. Einige Wochen später sandte er dem Zaren Briefe voll Verdächtigungen der englandfreundlichen und rußlandfeindlichen Gesinnung seiner Eltern. Da zu jener Zeit noch damit zu rechnen war, daß Friedrich Wilhelm zur Regierung kommen werde, bei dem hohen Alter Wilhelms I. vielleicht schon sehr bald und für einige Jahrzehnte, war dieses Verhalten des Prinzen, abgesehen von dem rein Menschlichen, eine nicht zu überbietende politische Torheit, welche die schlimmsten Folgen für Deutschland haben konnte. — Ende November 135

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks 1887 folgte Prinz Wilhelm der Einladung des Generalquartiermeisters Graf Waldersee, in dessen Haus eine Versammlung zur Förderung der von Hofprediger Stöcker geführten Berliner Stadtmission, einem Zweig der Inneren Mission, abgehalten wurde. Nun war Stöcker Gründer der Christlichsozialen Partei und Vorkämpfer des Antisemitismus (S. 58). Die Beteiligung des künftigen Kronprinzen an dieser Versammlung erregte großes Aufsehen, legte er, der über allen Parteien stehen sollte, sich doch damit gewissermaßen parteipolitisch fest und zwar zugunsten der Christlichsozialen, die als Gegner des Kartells (S. 67) von Bismarck bekämpft wurden und zu den Anschauungen von Wilhelms Großvater und Vater in Widerspruch standen. Mit Ausnahme der Kreuzzeitung nahm die Presse aller Richtungen Stellung gegen die „Stöckerei" Wilhelms. Als er daraufhin zu Puttkammer sagte, er werde, wenn er an die Regierung komme, den Juden jede Tätigkeit in der Presse verbieten, und Puttkammer erwiderte, das verstoße gegen die Gewerbeordnung, erklärte der Prinz: „Dann schaffen wir sie ab." — In einem Brief vom 21. Dezember suchte sich Wilhelm vor Bismarck zu rechtfertigen; am 29. November hatte er Bismarck ein Schreiben übersandt, worin er ausführte, wie er sich als Kaiser den deutschen Fürsten gegenüber zu verhalten gedenke: „Man müsse die Fürsten nicht als einen Haufen Vasallen, sondern mehr als eine Art von Kollegen ansehen, deren Wort und Wunsch man ruhig mithören müsse, ob man sie erfülle, das sei etwas anderes. Mir wird es leicht werden per Neffe zu Onkel mit diesen Herren, sie durch kleine Gefälligkeiten zu gewinnen und durch etwaige Höflichkeitsbesuche zu kirren. Habe ich sie erst von meinem Wesen und Art überzeugt und in die Hand mir gespielt, nun dann parieren sie mir um so lieber. Denn pariert muß werden! Aber besser es geschieht aus Uberzeugung und Vertrauen als gezwungen." Am 6. Januar 1888 beantwortete Bismarck beide Briefe. Von einer Beteiligung an der Inneren Mission riet er Wilhelm dringend ab, denn es müsse vermieden werden, daß er schon als Thronfolger „von der öffentlichen Meinung zu einer Parteirichtung gerechnet werde. Das würde nicht ausbleiben, wenn Höchstdieselben zur Inneren Mission in eine organische Verbindung treten . . . Stöcker hat für mich nur den einen Fehler als Politiker, daß er Priester ist, und als Priester, daß er Politik treibt. Ich habe meine Freude an seiner tapferen Energie und an seiner Beredsamkeit, aber er hat keine glückliche Hand . . . Er steht an der Spitze von Elementen, auf die eine Regierung des Deutschen Reiches sich nicht würde stützen können." Hinsichtlich der Äußerungen des Prinzen über die deutschen Fürsten betonte Bismarck, sie seien nicht Untertanen, sondern Bundesgenossen des Kaisers; hätten sie in den letzten 17 Jahren nicht fest zum Reiche gestanden, wäre Deutschland bereits der Parlamentsherrschaft verfallen; werde „ihnen der Bundesvertrag nicht gehalten, so werden sie sich auch nicht dazu verpflichtet fühlen und Anlehnung suchen wie früher bei Rußland, Österreich und Frankreich, sobald die Gelegenheit dazu günstig erscheint". Um dem Unheil vorzubeugen, das ein Bekanntwerden des Schreibens vom 29. November zur Folge haben könnte, schickte es Bismarck mit seinem Brief „untertänigst" dem Prinzen zurück: er „möchte ehrerbietig anheimgeben, es ohne Aufschub zu verbrennen". 136

Regierungsantritt Wilhelms II. Regierungsantritt.

Spannungen

Entgegen mancherlei Befürchtungen und Erwartungen brachten die Erlasse Kaiser Wilhelms II. vom 15. Juni 1888, dem Tag des Regierungsantritts, an das Heer und die Marine, der Erlaß vom 18. Juni an das deutsche Volk und die Thronrede bei Eröffnung des Reichstags am 25. Juli keinerlei Überraschungen. Die Thronrede versprach die Fortsetzung der bewährten Politik Kaiser Wilhelms I.: Aufrechterhaltung der Reichsverfassung als des obersten aller Gesetze; im Anschluß an Wilhelms I. Thronrede vom 14. November 1881 (S. 60); Schutz der Schwachen und Bedrängten im Kampf ums Dasein; friedliche Politik, gestützt auf die Bündnisse mit Österreich und Italien und das freundliche Verhältnis zu Rußland; in „der auswärtigen Politik bin ich entschlossen, Friede zu halten mit jederman, soviel an mir liegt". Nach Verlesving der Rede reichte der Kaiser Bismarck die Hand, der sie, sich tief verneigend, küßte. „Diese Szene wurde mit einem besonderen Bravo begrüßt" (Lucius), da sie die Fortdauer des gegenseitigen Vertrauens zwischen Kaiser und Kanzler, wie es unter Wilhelm I. geherrscht hatte, zu verbürgen schien. In den nun einsetzenden zahlreichen Reisen des Kaisers unter großer Prunkentfaltung — die Berliner nannten ihn bald im Gegensatz zu seinem Großvater, dem „weisen" und „greisen" Kaiser, den Reisekaiser — an die deutschen Fürstenhöfe und an die bedeutenderen unter den ausländischen Höfen, zuerst nach Petersburg, kam zum Ausdruck, daß Wilhelm sehr darauf bedacht war, seine Persönlichkeit als Reichsoberhaupt zur Geltung zu bringen. Seine Besuche sollten die Bundesfürsten davon überzeugen, daß er die ihnen in der Reichsverfassung zugesicherte Stellung anerkenne, und die in der Thronrede betonten guten Beziehungen zum Ausland fördern. Die Erfolge, die Kaiser Wilhelm mit seinen Besuchen offensichtlich hatte, steigerten natürlich sein Selbstbewußtsein, minderten aber vorerst den Einfluß Bismarcks noch nicht entscheidend. Sehr erfreut war Bismarck über die Ernennung seines Sohnes Herbert zum preußischen Minister ohne Portefeuille unter Beibehaltung des Amtes als Staatssekretär im Auswärtigen Amt. Bedenklich erschien aber Bismarck, daß an Stelle von Moltke, der wegen hohen Alters seinen Abschied erbeten hatte, im August 1888 Graf Waldersee Chef des Generalstabes wurde, der ein Gönner Stöckers war, für einen Präventivkrieg gegen Rußland eintrat (S. 119) und in dem nach Verdrängung Bismarcks manche den kommenden Reichskanzler sahen. Mitte des Monats schrieb Stöcker an den Redakteur der Kreuzzeitung, Freiherrn von Hammerstein, den „Scheiterhaufenbrief": „Ich hörte noch gestern, daß der Kaiser ganz für die Kartellpolitik gewonnen ist. Was man meines Erachtens tun kann und muß, ist folgendes: prinzipiell wichtige Fragen wie Judenfrage . . . muß man, ohne Bismarck zu nennen, in der allerschärfsten Weise benutzen, um dem Kaiser den Eindruck zu machen, daß er in diesen Angelegenheiten nicht gut beraten ist, und ihm den Schluß auf Bismarck überlassen. Man muß also rings um das Kartell Scheiterhaufen anzünden und sie hell auflodern lassen, den herrschenden Opportunismus in die Flammen werfen und dadurch die Lage beleuchten. — Merkt der Kaiser, daß man zwischen ihm und Bismarck Zwietracht säen 137

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks will, so stößt man ihn zurück. Nährt man in Dingen, wo er instinktiv auf unserer Seite steht, seine Unzufriedenheit, so stärkt man ihn prinzipell, ohne persönlich zu reizen. Er hat kürzlich gesagt: Sechs Monate will ich den Alten verschnaufen lassen, dann regiere ich selbst. Bismarck selbst hat gemeint, daß er den Kaiser nicht in der Hand behält." Die Kreuzzeitung veröffentlichte mehrere, zum Teil von Stöcker verfaßte Artikel im Sinne des Scheiterhaufenbriefes und rief damit eine heftige Pressepolemik hervor. Seit Anfang Januar 1889 gab dann Stöcker „Das Volk" als Parteiorgan der Christlichsozialen heraus. Bismarck hatte den Kaiser in der Angelegenheit Stöcker mehr und mehr zu beeinflussen vermocht. Mitte April befahl ein kaiserlicher Erlaß Stocker, seine Beziehungen zum „Volk" zu lösen; nachdem schon zuvor Wilhelm in einem Erlaß an den evangelischen Oberkirchenrat erklärt hatte: „Ich bin entschlossen, nicht zu dulden, daß fernerhin einer Meiner Hofprediger durch seine öffentliche Tätigkeit die Würde des geistlichen Amtes kompromittiert und die Rücksichten gegen Meine Person verletzt." Stöcker entschied sich: „Da Seine Majestät eine Tätigkeit wie ich sie bisher im öffentlichen Leben Berlins ausgeübt habe, mit dem Amte eines Hofpredigers für unvereinbar halten, ist es selbstverständlich, daß ich dieselbe aufgebe, solange Seine Majestät mir dieses Amt anvertrauen." Professor Heinrich Geffken, der mit Kronprinz Friedrich Wilhelm befreundet war, veröffentlichte Auszüge aus dessen Kriegstagebuch von 1870/71 im Oktoberheft 1888 der „Deutschen Rundschau". Bismarck sah darin einen Angriff gegen seine Person und gegen seine Politik. Geffken hatte dem Tagebuch offensichtlich mit Vorliebe Bismarck feindliche Stellen entnommen. Mehr als dies mußte den Reichskanzler die Bekanntgabe von Aufzeichnungen des Kronprinzen erregen wie: „Unser Hauptgedanke ist, wie man nach erkämpftem Frieden den freisinnigen Ausbau Deutschlands weiterführt"; die süddeutschen Staaten müßten zur Unterordnung unter die preußische Führung und ohne die Gewährung von Reservatrechten zum Eintritt in das Reich gezwungen werden; Wilhelm I. habe nicht Kaiser werden wollen und Anfang Dezember 1870 „in ,Kaiser und Reich' eigentlich nur ein Kreuz für sich selbst wie auch für das preußische Königtum überhaupt" gesehen; das Konzept zu dem Brief, worin König Ludwig II. von Bayern Wilhelm aufforderte, die Kaiserwürde anzunehmen, habe Bismarck aufgesetzt; die Reichsverfassung, das Werk Bismarcks, sei ein „kunstvoll gefertigtes Chaos". Die Partei der Freisinnigen jubelte, und die ihr nahestehende Zeitung, der Berliner Börsen-Courier, meinte, sie brauche nun keinen Wahlaufruf ausarbeiten, sie könne des Kronprinzen Tagebuch als ihr Programm betrachten. Wenn Prinzregent Luitpold von Bayern sagte: „nach der Veröffentlichung des Tagebuches Kaiser Friedrichs müsse er in Bismarck seinen Schutzpatron sehen" und sich der König von Sachsen und der Großherzog von Baden ähnlich äußerten, bedeutete dies wohl eine Anerkennung Bismarcks, dämpfte aber nicht seinen Zorn und seine Besorgnisse über die Veröffentlichung Geffkens. In dem Bestreben, sie zu diskreditieren, verfiel Bismarck darauf, die Auszüge, wider sein besseres Wissen, als Fälschung zu erklären. In seinem Immediatbericht an Kaiser Wilhelm führte Bismarck unter den Gründen, aus denen hervorgehe, daß es sich um eine Fälschung 138

Außenpolitik Wilhelms II. und Bismarcks handle, an, er habe 1870 dem Kronprinzen von den Verhandlungen über die Reichsgründung nichts Genaueres mitgeteilt, weil zu befürchten war, daß dieser und seine Frau, den „von französischen Sympathien erfüllten englischen Hof" hierüber unterrichten würden. Dem widerstrebenden Kaiser rang Bismarck die Erlaubnis zur Veröffentlichung des Immediatberichtes ab. Er beging in dieser Angelegenheit noch einen zweiten schweren Fehler. Er beantragte, ebenfalls mit Genehmigung des Kaisers, die Einleitung des Strafverfahrens gegen den Herausgeber der Tagebuchauszüge: je nachdem sie edit oder falsdi seien, kämen die einschlägigen Paragraphen des Strafgesetzbuches über den Verrat von Staatsgeheimnissen oder über Beschimpfung des Andenkens Verstorbener zur Anwendung. Daraufhin wurde Geffken verhaftet; das Reichsgericht setzte ihn aber Anfang Januar 1889 wieder außer Verfolgung: Er habe zwar Nachrichten veröffentlicht, deren Geheimhaltung anderen Regierungen gegenüber für das Wohl des Reiches wünschenswert gewesen wäre, jedoch lägen keine genügenden Gründe vor für die Annahme des Bewußtseins einer strafbaren Handlung. Die Mißgriffe im Falle Geffken „haben dem Rufe des Kaisers und seiner Berater in der öffentlichen Meinung geschadet. Wenn der Monarch es sich nicht selbst sagte, so waren genug Leute da, die ihn darauf aufmerksam machten, und darunter solche, die ihm andeuteten, daß er nicht gut beraten gewesen sei. Ich habe den Eindruck gehabt, daß von jener Zeit ab Zweifel bei ihm entstanden sind, ob er des Rates notwendig bedürfe und ob er nicht selbständig das Rechte finden könne" (Raschdau). Hatte die Angelegenheit Stödcer nodi einen Bismarck befriedigenden Lauf genommen, so war jetzt sein Einfluß auf den Kaiser erschüttert, während der des Grafen Waldersee zunahm. Dieser wußte den Kaiser derart von der Notwendigkeit eines Präventivkrieges gegen Rußland zu überzeugen, daß Wilhelm Ende Mai zu Josef von Radowitz, dem deutschen Botschafter in Konstantinopel, sagte: „Wenn Bismarck nicht mit will gegen die Russen, so müssen sich unsere Wege trennen." Allerdings sind die jeweiligen Äußerungen Wilhelms im allgemeinen nicht allzu ernst zu nehmen; das wiederholte Abweichen der Auffassung des Kaisers von der des Kanzlers in der Außenpolitik war nur einer der Gründe, die zu der Trennung Wilhelms von Bismarck führten.

Außenpolitik

Das internationale Vertrauen zu Bismarck wurde durch seine Bemühungen um die Fortsetzung der Friedenspolitik auch unter Wilhelm II. noch gefestigt, woran gelegentliche kleine Zwischenfälle nichts änderten. Am meisten Aufsehen erregten die Affäre Wohlgemut und die deutsche Ablehnung der Teilnahme an der Pariser Weltausstellung. Der Mülhauser Polizeikommissär Wohlgemut, dem die Beobachtung der deutschen Sozialdemokraten im Elsaß und ihre Verbindung mit den im Schweizer Asyl lebenden Genossen übertragen war, wurde am 21. April 1889 auf Schweizer Boden verhaftet und neun Tage in Haft gehalten. Presseartikel, besonders in der 139

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks

halbamtlichen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" verschärften die Lage. In einer Note beschwerten sich die deutsche und die russische Regierung, denen sich später auch die österreichische anschloß, über den „Mißbrauch der Schweizer Neutralität". Als dies nichts nützte, kündigte Deutschland am 20. Juli der Schweiz den Niederlassungsvertrag, schlug aber gleich einen neuen vor, der am 31. Mai 1890 zustande kam. Besonders der Großherzog von Baden hatte gegen die scharfe Behandlung des Falles energisch protestiert, da er ihm zu belanglos schien, um die guten nachbarlichen Beziehungen mit der Schweiz zu stören. — Zu der Weltausstellung in Paris 1889 lud Frankreich auch das Deutsche Reich ein. Staatssekretär Herbert Bismarck lehnte in einer Unterredung mit dem französischen Botschafter in Berlin Herbette eine Beteiligung ab: „Ihre Regierung ist nicht in der Lage, die Verantwortung dafür zu übernehmen, daß deutsche Aussteller oder deren Besitztum in Paris vor Beschädigung bewahrt bleiben werden. Bei der Erregbarkeit der dortigen Massen braucht nur ein gewissenloser Agitator an einem schönen Sonntag Nachmittag mit 10 000 Bewohnern von Belleville in die Ausstellung hinabzusteigen, und es wird ihm ein leichtes sein, in wenigen Minuten eine Beschimpfung unserer Farben und Zerstörungen der etwaigen deutschen Abteilungen ins Werk zu setzen . . . Da wir friedliebend sind und unsere gegenwärtigen Beziehungen nicht getrübt zu sehen wünschen, so wollen wir Ihre Regierung einer solchen Eventualität nicht aussetzen." Das Verbot Bismarcks vom November 1887, russische Wertpapiere zu lombardieren (S. 115), hatte Frankreich wirtschaftlich und politisch Rußland näher gebracht, was zum Abschluß einer den Frieden gefährdenden französisch-russischen Allianz beitragen konnte. Diesen Mißgriff suchte Bismarck wieder gut zu machen, als Wilhelm II. im Juni 1889 verlangte, von Rußland neu ausgegebene Eisenbahnobligationen sollten an der Berliner Börse nicht zugelassen werden; Bismarck bestand dagegen auf der amtlichen Notierung, weil ihre Verhinderung einen Akt der Feindschaft gegen Rußland bedeute. Den Besuch Kaiser Wilhelms II. in Petersburg kurz nach der Thronbesteigung erwiderte der Zar erst im Oktober 1889, ein Zeichen seiner Verstimmung gegen Deutschland. Bismarck gelang es jetzt, während einer längeren Audienz das volle Vertrauen des Zaren wiederzugewinnen, was in der Weise, wie er den Reichskanzler bei dem Festmahl im Berliner Schlosse und bei dem anschließenden Cercle auszeichnete, auffallend zum Ausdruck kam. In der Audienz äußerte sich der Zar mißtrauisch über die von Wilhelm II. geplante Orientfahrt, deren Zweck ein gegen Rußland gerichtetes deutsch-türkisches Bündnis sein könnte. Bismarck versicherte, es handle sich bei dieser Reise um keinerlei politische Angelegenheiten; der Kaiser wolle nur der Vermählung seiner Schwester mit dem griechischen Kronprinzen Konstantin in Athen beiwohnen und von da lediglich, wie man eben berühmte Stätten aufsucht, nach Konstantinopel weiterfahren. Uberraschend fragte der Zar den Reichskanzler: „Sind Sie auch sicher, daß Sie im Amte bleiben werden?" Bismarck allein schien in diesem wie in anderen Punkten dem Zaren eine rußlandfreundliche Politik Deutschlands zu verbürgen. Die Briefe und Telegramme, die Wilhelm während seines viertägigen Aufenthaltes in Konstantinopel Anfang November in 140

Kampf Wilhelms II. um die Sozialgesetzgebung die Heimat schickte, hatten denn audi keinen „politischen Charakter; sie sind mit dem Gefühl geschrieben, wie es jeder junge, lebensfrohe Mann empfinden mag, der jene reizvollen und erinnerungsreichen Gegenden zum erstenmal besucht . . . dagegen gaben sich der Sultan und die türkische Presse alle Mühe, dem Besuch eine besondere Bedeutung beizulegen. Der Herrscher suchte durch die Anlehnung an Deutschland seine Stellung gegenüber den übrigen Mächten zu stärken, während die Presse die freundschaftliche und uneigennützige Haltung Deutschlands dem ewig interessierten und anspruchsvollen Verhalten der anderen Großmächte gegenüberstellte. So ist der Besuch nicht ohne politische Folgen insofern geblieben, als der ohnehin ansehnliche deutsche Einfluß am Bosporus noch höher stieg" (Raschdau). Die Aufnahme Kaiser Wilhelms durch den Sultan mit allem orientalischen Pomp und die türkischen Pressestimmen bestärkten freilich auch Zar Alexander III. in seinen Bismarck gegenüber geäußerten Bedenken und verschärften die Hetze der deutschfeindlichen Kreise Rußlands. Da sich Bismarck über diese Folgen von vornherein klar sein mußte und den Kaiser von der Reise nach Konstantinopel trotzdem nicht abzuhalten suchte, scheint es, er sei damit von dem Kurs seiner bisherigen Außenpolitik abgewichen. Einwände hätten indes Wilhelm II. nur gereizt und erst recht an seinem Entschluß festhalten lassen. Der Reichskanzler beschränkte sich deshalb darauf, die amtlichen Vertreter Deutschlands im Ausland anzuweisen, sie sollten überall den Besuch des Kaisers bei dem Sultan als einfache Höflidikeit kennzeichnen, der ein politisches Ziel fernliege. Bismarcks Zustimmung zum Bau der Anatolischen Bahn (S. 234) durch die Deutsche Bank bedeutete keine Abkehr von dem „alten Kurs", hat die Bank doch die Konzession hierfür vom Sultan Abdul Hamid im Einvernehmen mit England und Italien erworben und war dabei Frankreich ausgeschaltet worden, um eine Stärkung seiner finanziellen und damit der politischen Stellung in der Türkei zu verhindern. So ging es auch hier Bismarck um die europäische Politik und nodi nicht um Fragen der Weltpolitik.

Kampf Wilhelms II. mit Bismarck um die

Sozialgesetzgebung

Bei seinem lebhaften Interesse für alle Gebiete des staatlichen und kulturellen Lebens, dem Drang, in alles persönlich einzugreifen und dem ehrlichen Willen, seine Untertanen zu beglücken, konnte es nicht ausbleiben, daß sich Kaiser Wilhelm II. sozialen Fragen mit besonderem Eifer zuwandte. In seiner Thronrede bei Eröffnung des Reichstags am 22. November 1888 gab Kaiser Wilhelm die entscheidende Anregung zu dem Alters- und Invaliditätsgesetz (S. 61). Bismarck, enttäuscht über die geringe Wirkung der bisherigen Sozialgesetze auf die Arbeiter, verhielt sich dabei zurückhaltend und beschränkte sich darauf, vom Reichstag in einer knappen Rede die Annahme des Gesetzes zu fordern, die dann in der dritten Lesung am 24. Mai 1889 erfolgte. Kurz zuvor, Anfang des Monats, war in Rheinland-Westfalen ein Bergarbeiterstreik ausgebrochen, an dem sich rund 100 000 beteiligten und dem rasch weitere Ausstände im Saargebiet, in Schlesien 141

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks

und im Königreich Sachsen folgten. Den Arbeitern ging es dabei hauptsächlich um die Durchführung der Achtstundenschicht, Abschaffung der Uberschichten und die Bildung von Arbeiterausschüssen zur Verhandlung mit den Arbeitgebern in allen Streitfragen. Bismarck war dafür, nur grobe Ausschreitungen zu verhüten, im übrigen sollte man die Streikenden gewähren lassen, damit das Bürgertum die ihm von der Sozialdemokratie drohenden Gefahren erkenne und sich dementsprechend bei den nächsten Reichstagswahlen verhalte. Der Kaiser erklärte dagegen in einer Sitzung des Staatsministeriums in „lebhaften Ausdrücken, daß die Schuld hier lediglich auf Seiten der Arbeitgeber liege, welche zum Teil ausländische Aktiengesellschaften seien, die mit der größten Rücksichtslosigkeit die deutschen Arbeiter ausnutzten und sich an den für Staat und Provinz entstehenden Ungelegenheiten weideten. Wir würden machtlos und kriegsunfähig dem Auslande gegenüber dastehen, wenn die Sache noch einige Zeit dauere. Wenn er russischer Kaiser wäre, würde er in diesem Moment der Hilflosigkeit über uns herfallen. Das dürfe nicht länger dauern. Die Verwaltungsbehörden hätten schon jetzt kostbare Zeit verloren, wo sie seit Wochen hätten eingreifen müssen, um den Streik zu verhindern. Er habe befohlen, der Sache ein Ende zu machen und die Arbeitgeber zu veranlassen, Lohnkonzessionen zu machen. Er werde seine Truppen nicht dazu hergeben, die Villen und Rosengärten der Fabrikanten zu schützen, welche womöglich Doppelposten vor ihren Betten verlangten" (Lucius). Einige Tage später empfing der Kaiser eine Arbeiterabordnung, deren Wortführer in erster Linie die achtstündige Schicht verlangte. Wilhelm hielt den Arbeitern vor, sie hätten sich ins Unrecht gesetzt durch Nichteinhalten der Kündigungsfrist, den auf Arbeitswillige ausgeübten Zwang und durch tätlichen Widerstand gegen die Obrigkeit, doch würden unter der Voraussetzung, daß weitere Ausschreitungen unterblieben und die Streikenden nicht in Verbindung mit der Sozialdemokratie stünden, die Forderungen der Arbeiter sorgfältig geprüft. Einer Abordnung der Grubenbesitzer schärfte der Kaiser ein, sie sollten für das Wohl ihrer Arbeiter sorgen, auch sei zu verstehen, daß diese eine Beteiligung am Gewinn wünschten. Nachdem sich die Grubenbesitzer und Bergarbeiter auf die achtstündige Schicht und auf weitere Verhandlungen über Lohnerhöhungen und über Arbeiterausschüsse zur Schlichtung von Streitigkeiten zwischen Arbeitnehmern und Arbeitgebern geeinigt hatten, wurde der Streik noch im Mai beigelegt. In der Arbeiterschaft gärte es freilich weiter, immerhin durfte der Kaiser die verhältnismäßig schnelle Beendigung des Streiks zum guten Teil als Erfolg seiner Bemühungen betrachten, und so hoffte er, es werde ihm gelingen, die Gegensätze zwischen den beiden Partnern abzugleichen und damit die soziale Revolution, an deren Ausbruch viele glaubten, zu verhindern. Bismarck hielt es dagegen für geraten, die Revolution zum Ausbruch kommen zu lassen, sie dann niederzukämpfen und dabei der Sozialdemokratie einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Um Reibungen mit dem Kaiser aus dem Wege zu gehen, zog sich Bismarck auf seine Güter in Varzin und Friedrichsruh zurück, fest davon überzeugt, der Kaiser würde bald seines Rates bedürfen. Wilhelm war aber jetzt darauf bedacht, sich unabhängig von Bismarck genauer über die sozialen Fragen zu unterrichten 142

Kampf Wilhelms II. um die Sozialgesetzgebung und wandte sich an Männer, die ihm hierfür kompetent schienen, unter anderem an seinen ehemaligen Erzieher Hinzpeter und den Oberpräsidenten der Rheinprovinz Hans Hermann von Berlepsch. Sie empfahlen eine durchgreifende Erweiterung der Sozialreform, für die auch der König von Sachsen und soviele Mitglieder des Bundesrates eintraten, daß auf dessen Zustimmung gerechnet werden konnte. Anfang Januar 1890 sagte der Kaiser zu Karl Heinrich von Bötticher, preußischem Minister, Staatssekretär im Reichsamt des Inneren und Stellvertreter Bismarcks, in der Thronrede zur Eröffnung des preußischen Landtags solle ein Arbeiterschutzgesetz versprochen werden. Bötticher fuhr nun zum Reichskanzler nach Friedrichsruh und hielt ihm Vortrag im Sinne des Kaisers. Bismarck erwiderte, er „könne keinen Wechsel unterschreiben, der mit seiner ganzen Vergangenheit und seinen wirtschaftlichen Anschauungen im Widerspruch stehe, er vermöge es nicht zu verantworten, dem hungernden Arbeiter und der notleidenden Witwe die Gelegenheit zum Verdienst zu beschränken (durch Einführung der Sonntagsruhe, einer kürzeren Arbeitszeit, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit, vgl. S. 62). Er halte die Beschäftigung Jugendlicher, der Schule Entwachsener, für sie und ihre Familie segensreidi und werde niemals seine Zustimmung dazu geben, daß der Humanitätsdusel zu Zuständen führe, welche die vaterländische Wirtschaft schädigten und Unzufriedenheit innerhalb der arbeitenden Klassen erzeugten; der Kaiser, von unverantwortlichen Ratgebern beeinflußt, übersehe die Tragweite seiner Pläne nicht, und er, der Fürst, werde, sobald er nach Berlin zurückgekehrt sei, ihn hierüber ins klare setzen — das werde ihm unschwer gelingen." Vergebens machte Bötticher Bismarck darauf aufmerksam, daß ein prinzipieller Widerstand den Kaiser verletzen müsse; der Reichskanzler hielt daran fest: „Falls Seine Majestät solche Gesetze wünsche, müsse sie sich einen anderen (preußischen) Ministerpräsidenten suchen; er sei stets der Gegner eines derartigen Eingriffs in das Recht des Arbeiters gewesen, seine Kräfte nach Belieben auszubeuten — man könne ihm also die Heuchelei auch nicht zumuten, für eine Maßregel einzutreten, die er mißbillige" (Gagliardi). Der Kaiser wollte es jetzt noch nicht zum Bruch mit Bismarck kommen lassen und verstand sich deshalb dazu, daß in der Thronrede die Arbeiterschutzgesetzgebung nur in allgemeinen Wendungen berührt werden solle, verfolgte aber sein Ziel weiter und stimmte dem Vorschlag des Königs Albert von Sachsen zu, dessen Regierung solle im Bundesrat ein Arbeiterschutzgesetz, Beschränkung der Frauen- und Kinderarbeit und dergleichen beantragen. Der Aufforderung des Kaisers folgend, kam Bismarck am Mittag des 24. Januar 1890 zu einer für den Abend dieses Tages festgesetzten Kronratssitzung nach Berlin. Am Nachmittag berief er die preußischen Minister zu sich und empfahl ihnen, wie Minister Lucius in seinem Tagebuch vermerkte, bei den Verhandlungen im Kronrat über die Arbeiterschutzgesetzgebung weder „eine zustimmende noch eine ablehnende Haltung anzunehmen, sondern sich Zeit auszubitten zur Beratung entsprechender Vorschläge". Bei der Eröffnung des Kronrates erklärte der Kaiser, er habe ihn hauptsächlich zur Besprechung der Arbeiterfragen einberufen, und warf dann den Fabrikanten vor, sie hätten sich „mit wenigen lobenswerten 143

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Ausnahmen nicht um ihre Arbeiter gekümmert, sie ausgepreßt wie Zitronen und dann auf dem Mist verfaulen lassen . . . Die Frucht dieser Unterlassungen sei das Entstehen und Wachsen der Sozialdemokratie, welche wohl zu unterscheiden sei von den Anarchisten. Die Revolutionen seien überall dadurch entwickelt worden, daß man nicht rechtzeitig die nötigen billigen und vernünftigen Konzessionen gemacht habe. So sei es bei uns auch zu befürchten. Er wolle der roi des gueux (König der Bettler) sein, die Leute müßten wissen, daß sich ihr König um ihr Wohl kümmere. Er müsse in diesen Fragen das Prävenire spielen und täte dies am liebsten bald in Form eines feierlichen Manifestes noch vor den Wahlen. Man erwarte so etwas von ihm. Wir saßen mit steigendem Erstaunen dabei, wer ihm diese Ideen eingeblasen habe. Bötticher verlas nun jene vom Kaiser ausgearbeiteten Grundzüge, welche in Verbot der Sonntagsarbeit und in sehr weitgehender Beschränkung der Frauenarbeit gipfelten" (Lucius). Zu dem vom Kaiser geplanten Manifest bemerkte Bismarck, das sei eine Ankündigung von Gesetzen und müsse deshalb wie diese vorbereitet werden. Wilhelm lehnte zunächst jeden Aufschub ab, war aber nach einigem Sträuben dann doch damit einverstanden, daß für die entsprechenden Gesetzesvorlagen erst Vorbereitungen getroffen würden. Unmittelbar darauf kam es im Kronrat zu einem ernsten Zwischenfall. Auf die Frage Böttichers, ob seine Majestät die zu Ende gehende Reichstagssession persönlich zu schließen gedenke, rieten Bismarck und sein Sohn Herbert davon ab; trotzdem antwortete der Kaiser, „Ja, ich will diesen Reichstag, der sich doch sehr gut benommen hat, selbst schließen", und sprach dabei den Wunsch aus, daß die wiederum fällige Verlängerung des Sozialistengesetzes zustande komme, und zwar unter Verzicht auf den Paragraphen, der bisher die Ausweisung sozialdemokratischer Agitatoren aus dem Reich erlaubte, weil der Ausweisungsparagraph „weniger wichtig sei, wie der Fortbestand des Kartells (S. 67), welches gefährdet werde, wenn die Session mit einem Dissensus in dieser Frage schließe". „Bismarck widersprach immer erregter, zuletzt sagend: Er könne nicht beweisen, daß diese Nachgiebigkeit Sr. Majestät verhängnisvolle Folgen haben werde, glaube es aber nach seiner langjährigen Erfahrung. Wenn Se. Majestät in einer so wichtigen Frage anderer Meinung sei, so sei er wohl nicht mehr recht an seinem Platz. Bleibe das Gesetz unerledigt, so müsse man sich ohne dasselbe behelfen und die Wogen höher gehen lassen. Dann möge es zu einem Zusammenstoß kommen. Se. Majestät wies diese Auffassung ebenfalls erregt zurück: Er wolle ohne den äußersten Notfall solchen Katastrophen so weit wie möglich durch Präventivmaßregeln vorbeugen, nicht seine ersten Regierungsjahre mit dem Blut seiner Untertanen färben . . . Eine Abstimmung und Fragestellung fand nicht statt . . . Man ging mit ungelösten Differenzen, mit dem Gefühl auseinander, daß ein irreparabler Bruch zwischen Kanzler und Souverän erfolgt war. Se. Majestät bemühte sich zwar, gegen den Fürsten freundlich zu sein, aber es kochte in ihm . . . Eine Krisis hat mit diesem Kronrat begonnen, welche einen ernsten Verlauf nehmen wird!" (Lucius). Da der Kronrat zum Sozialistengesetz keine Stellung genommen hatte und deshalb eine Erklärung der Regierung an den Reichstag unterblieben war, wurde 144

Kampf Wilhelms II. um die Sozialgesetzgebung am folgenden Tag die Verlängerung des Gesetzes mit 167 gegen 98 Stimmen abgelehnt. Die Kartellparteien gingen dabei nicht einheitlich vor. Damit war das Kartell gesprengt, was seine vernichtende Niederlage bei den nächsten Wahlen zur Folge hatte. -— In einer Ministerratssitzung am 26. Januar zeigte Bismarck eine völlig veränderte Haltung: mit dem Monarchen müsse man „sich einrichten wie mit dem Wetter. Er liebe ihn als Sohn seiner Vorfahren und als Souverän, bedauere, daß er, vielleicht von der Reise und von der Verhandlung erregt, wohl neulich etwas weiter gegangen wie nötig gewesen sei . . . Er müsse sich entlasten und wolle zunächst das Handelsministerium los sein, was jetzt einen wichtigen Geschäftskreis (Arbeiterschutzgesetzgebung) bekomme. Er wolle nur noch die auswärtige Politik führen und allenfalls Reichskanzler bleiben . . . Am 27., zum Geburtstag hatten wir Gratulationsaudienz bei Sr. Majestät unter Bismarcks Führung. Se. Majestät dankte und sagte, Bismarck herzlich die Hand schüttelnd: er hoffe dabei noch lange die Mithilfe und Unterstützung des Fürsten zu haben, Bismarck akzeptierte das mit der Versicherung, es tun zu wollen, solange die alten Knochen zusammenhielten . . . Genug, es war ein förmliches Versöhnungsfest und offenbar auf beiden Seiten das Gefühl, zu weit gegangen zu sein und es wieder gutmachen zu wollen" (Lucius). Vier Tage später verschärfte sich die Lage abermals. Eine Ministerratssitzung bei Bismarck beschloß gegen dessen Einspruch, dem Kaiser zwei Erlasse zu empfehlen, den einen an den Reichskanzler mit dem Befehl, eine internationale Konferenz über die Arbeiterfrage einzuberufen, den zweiten an den preußischen Minister des Handels und der öffentlichen Arbeiten mit dem Befehl, eine Kommission einzusetzen zur Ausarbeitung von Vorschlägen über die Arbeiterschutzfrage. Während dieser Verhandlungen erschien der Kaiser. Er war mit den beiden Erlassen einverstanden und bemerkte dazu, der König von Sachsen werde wohl einen diesbezüglichen Antrag im Bundesrat veranlassen. Dem sächsischen Gesandten in Berlin, Graf Karl Adolf von Hohenthal, versicherte Bismarck kurz darauf, er werde seinen Abschied nehmen, wenn der König von Sachsen einen Arbeiterschutzentwurf einbringe; ebenso äußerte sich Bismarck dem bayrischen Gesandten in Berlin, Graf Hugo Lerchenfeld, gegenüber. Die beiden E r l a s s e , von Bismarck redigiert, aber als „persönliche Willensmeinung des Monarchen" erklärt und deshalb nicht gegengezeichnet, erschienen am 4 . F e b r u a r im Staatsanzeiger. Der Kaiser empfand die Veröffentlichung, die er gegen Bismarcks Willen durchgesetzt hatte, als einen persönlichen Sieg. Bismarck wollte sich nun am 8. Februar mit der Frage: „Ich fürchte, daß ich Euerer Majestät im Wege bin" Klarheit verschaffen über die Stimmung des Kaisers gegen ihn. Das Ergebnis der Unterredung „teilte uns Bismarck in der Staatsministerialsitzung mit, er werde aus dem preußischen Ministerpräsidium ausscheiden, überhaupt aus dem Ministerium. Se. Majestät habe schweigend seine verschiedenen Vorschläge angehört und dann dem Ausscheiden (aus dem Ministerium) sowohl wie dem Bleiben als Kanzler ohne weiteres Besinnen zugestimmt, der Kaiser sei sehr eilig gewesen! Der Fürst machte einen gedrückten Eindruck, als fühle er sich plötzlich abgetakelt" (Lucius). So schien eine vollendete Tatsache vorzuliegen. Aber noch war 145 10 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks keine Woche vergangen, da schlug Bismarck mit dem Hinweis auf die Schwierigkeiten, die sich ergäben, wenn das preußische Ministerpräsidium und die Leitung der deutschen Außenpolitik nicht mehr in e i n e r Hand wären, dem Kaiser vor, diese Trennung vorläufig zu verschieben, worauf Wilhelm, ohne seine Verstimmung zu verbergen, mißmutig zugab, dann bleibe also einstweilen alles beim alten. Für die durch Bismarcks Verhalten hervorgerufene Beunruhigung ist der Bericht des Grafen Lerchenfeld nach München bezeichnend: „Die Schwankungen des Fürsten werden allmählich ein Rätsel für jedermann, und Ew. Exzellenz (Minister Christoph von Crailsheim) werden sich vorstellen, welche Unruhe in den hiesigen hohen gouvernementalen Kreisen bei der bestehenden Unsicherheit herrscht... Dabei soll, wie ich vernehme, die Spannung zwischen dem Kaiser und dem Reichskanzler unter dem Einfluß von Zuträgereien, welche in solchen unklaren Situationen selbstredend nicht ausbleiben können, noch fortgesetzt wachsen, so daß, wenn auch für diesmal die Krisis überwunden werden sollte, die begründete Befürchtung vor deren Rüdekehr bestehen wird." Für Zwischenträgereien boten reichlich Gelegenheit das Hin und Her, ob und mit welchen Funktionen Bismarck im Amt bleiben werde, seine Versuche, die vom Kaiser gewünschte Abhaltung einer internationalen Konferenz über Arbeiterfragen zu hintertreiben, Bismarcks abfällige Bemerkungen über den Kaiser und sämtliche Minister, seine Klagen der Kaiserin-Witwe Friedrich gegenüber, er passe in die Gegenwart nicht mehr hinein und fühle sich alt und übermüdet, Äußerungen seines Leibarztes Schwenningen der Reichskanzler sei der Arbeit und den Aufregungen seiner Stellung gesundheitlich nicht mehr gewachsen. Die Lage Bismarcks wurde durch den Ausgang der Reichstagswahlen vom 20. Februar 1890 noch verschlimmert. Von den etwas über 10 Millionen Wahlberechtigten gingen nur rund 7 Millionen zur Wahl und von diesen entfielen 4 V2 auf Parteien, die Bismarck bekämpften. Die meisten Stimmen, fast 1 V2 Millionen, erhielt die Sozialdemokratie, ihr folgten das Zentrum mit 1 340 000, die Nationalliberalen mit 1178 000, die Deutsch-Freisinnige Partei mit 1160 000; die Konservativen gingen von 1147 000 (Wahlen 1887) auf 895 000 zurück. Vom Standpunkt der Regierung aus war dieses der schlechteste Reichstag seit 1871, während der vorige, der Kartellreichstag, der beste gewesen war. Bismarck und der Kaiser waren mit dem Ausgang der Wahl nicht unzufrieden; Bismardc glaubte, der Kaiser sei jetzt auf ihn angewiesen, um gemeinsam mit ihm den Kampf für die Autorität des Staates und der Krone zu führen. Der Kaiser hoffte, er könne mit diesem Reichstag die geplante Sozialreform verwirklichen und so der drohenden Gefahr einer Revolution vorbeugen. Vor einem Jahr hatte die Zentrumszeitung „Germania" geschrieben: „Es gelingt nichts mehr!" Einen Tag nach der Wahl erinnerte die Germania an jenen Artikel: tatsächlich habe die Folgezeit für die damalige Feststellung immer weitere Bestätigungen gebracht. „Der Zusammenbruch der Bismarckschen inneren Politik ist gestern besiegelt... Die Vernichtung ist definitiv, denn eine Auflösung des neuen Reichstags würde das gestrige Resultat nicht nur bestätigen, sondern nach unserer festen Uberzeugung sogar noch verschärfen." Die Auffassung der „Germania" teilten viele, auch 146

Kampf Wilhelms II. um die Sozialgesetzgebung außerhalb des Zentrums, zumal da sich das Gegeneinander von Kaiser und Bismarck fortsetzte. Die Schweiz hatte bereits 1889 zu einer internationalen Konferenz über Arbeiterschutzgesetzgebung nach Bern eingeladen und dann diese Einladung zufällig um die Zeit wiederholt, als die kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar veröffentlicht wurden. Im Auftrag seiner Regierung überreichte der Schweizer Gesandte Arnold Roth in Berlin dem Auswärtigen Amt die Einladung mit einer Note, worauf der Kaiser ihn zum Frühstück einlud und dabei die Hoffnung aussprach, die Schweiz werde zugunsten der Berliner Konferenz zurücktreten. Bismarck ließ dagegen durch den deutschen Gesandten in Bern, Otto von Bülow, die Schweiz auffordern, sie möge ihre Priorität geltend machen und dadurch die Berliner Konferenz verhindern. Ähnlich sprach sich Bismarck Roth und Gesandten anderer Staaten in Berlin gegenüber aus, was alle Beteiligten verwirrte und einen denkbar schlechten Eindruck hervorrief. Schließlich verzichtete die Schweiz am 21. Februar offiziell auf die Abhaltung der Konferenz in Bern zugunsten Berlins, was indes die Empörung des Kaisers über die Umtriebe Bismarcks zur Verhinderung der Berliner Konferenz nicht minderte. Bei einem Diner der brandenburgischen Stände am 5. März Schloß Wilhelm die Ausführungen über seine sozialpolitischen Pläne mit der offensichtlich gegen den Reichskanzler gerichteten Drohung: „Diejenigen, welche mir dabei behilflich sein wollen, sind mir von Herzen willkommen, wer sie auch seien; diejenigen jedoch, welche sich mir entgegenstellen, zerschmettere ich." Einen Tag zuvor hatte sich Bismarck in einer Besprechung dem Standpunkt des Kaisers angepaßt, unter den gegenwärtigen Verhältnissen seien Verhandlungen der Regierung mit dem kommenden Reichstag über ein Sozialistengesetz bis auf weiteres zurückzustellen; da Bismarck bisher immer wieder auf ein verschärftes Sozialistengesetz gedrungen hatte, machte dieses plötzliche Nachgeben des Reichskanzlers erst recht mißtrauisch. Dafür suchte Bismarck seine Stellung nun durch das Eintreten für die Heeresvermehrung zu festigen, so daß ein Eindruck erweckt wurde, wie ihn ein preußischer Minister um den 12. März dem badischen Gesandten Marschall darstellte: „Die Politik des Reichskanzlers ist durchsichtig. Nachdem der Kaiser ein Veto gegen das Sozialistengesetz eingelegt hat, soll die Militärvorlage dazu herhalten, um den Reichstag in die Luft zu sprengen, um die sozialpolitischen Pläne des Kaisers zu vereiteln und dasjenige Maß von Verwirrung in Deutschland herbeizuführen, dessen Fürst Bismarck bedarf, um sich für unentbehrlich zu halten." In dieser schroffen Form gingen derartige Äußerungen wohl zu weit, doch wollte Bismarck jedenfalls die Heeresvorlage als Mittel zur Behauptung seiner Macht benutzen. Mit dieser Berechnung täuschte sich Bismarck, denn der Kaiser entschloß sich, vom Reichstag nur die, wie er annahm, unschwer zu erlangende Bewilligung einer Verstärkung der Artillerie zu verlangen und die übrigen Anträge für die Heeresvermehrung bis auf weiteres zu vertagen. Die Hoffnung, die Mehrheit des Reichstags für sich zu gewinnen, trog Bismarck ebenfalls. Die Sozialdemokraten hatten zwar bei den Wahlen von allen Parteien die meisten Stimmen erhalten, konnten aber auf Grund der Bestimmungen des Wahlgesetzes nur 35 Abgeordnete in den Reichstag entsenden. Die io·

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Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks

stärkste Partei war jetzt das Zentrum mit 106 Abgeordneten; gingen mit ihm die 73 Abgeordneten der Konservativen und die 20 der deutschen Reichspartei, die sich rühmte, von jeher die nationale Politik des Reichskanzlers unterstützt zu haben, dann bildeten diese drei Parteien die Mehrheit im Reichstag. Als unter anderem ein Artikel der offiziösen „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" vermuten ließ, Bsmarck beabsichtige, sich dem Zentrum zu nähern — der Konservativen und der Reichspartei glaubte er sicher zu sein — ersuchte ihn Windthorst um eine Unterredung. In der Besprechung am 12. März verlangte der Zentrumsführer die Beseitigung der letzten Reste des Kulturkampfes, doch kam es hierüber zu keinerlei bindenden Vereinbarungen. Dann wandte sich das Gespräch der Kanzlerkrisis zu. Windthorst forderte Bismarck auf, nicht zurückzutreten, obwohl er davon überzeugt war, Bismarck werde nicht mehr lange im Amte bleiben; hinterließ doch die Unterredung bei Windthorst den Eindruck: „Ich komme vom politischen Sterbebett eines großen Mannes." Und noch in einem Punkte täuschte sich der erfahrene Zentrumsführer nicht: den Chef der Reichskanzlei ersuchte er, von seiner Audienz bei Bismarck nichts verlauten zu lassen, weil sich dadurch die Lage des Kanzlers verschlimmern könne. Der Empfang Windthorsts bei Bismarck sprach sich natürlich doch herum und hatte für diesen schwerwiegende Folgen. Die Konservativen befürchteten, Bismarck habe Windthorst Konzessionen namentlich in der Schul- und Jesuitenfrage gemacht und steuere auf ein Zusammengehen des Zentrums mit den Konservativen hin, wozu diese keineswegs bereit waren. Die „Kölnische Zeitung", ein führendes Organ der Nationalliberalen, warf Bismarck vor, er wolle die deutsche Politik in klerikal-konservative Bahnen lenken und die Sozialdemokratie mit Weihwasser und Weihrauchduft bekämpfen. So war das Zustandekommen einer Reichstagsmehrheit, auf die sich Bismarck hätte stützen können, ausgeschlossen.

Die Entlassung

Bismarcks

Auch der Kaiser war über die Zusammenkunft Bismardc-Windthorst sehr verstimmt, allerdings nicht aus sachlichen Gründen, sondern weil der Reichskanzler bei Sr. Majestät nicht angefragt hatte, ob sie diese Besprechung genehmige. Als der Kaiser am 15. März morgens 9 Uhr Bismarck besuchte, kam es hierüber zu erregten Auseinandersetzungen. Der Reichskanzler entgegnete, jeder Abgeordnete habe jederzeit Zutritt zu ihm, es sei für ihn wichtig, den Feldzugsplan des Führes der stärksten Partei zu kennen und es sei ihm willkommen gewesen, daß dieser unerwartet um Empfang gebeten. Der Kaiser warf dann Bismarck vor: „Ich erhalte gar keine Vorträge mehr von meinen Ministern; es ist mir gesagt worden, Sie hätten ihnen verboten, mir ohne Ihre Zustimmung oder Gegenwart Vorträge zu halten, und sich dabei auf eine alte vergilbte Ordre gestützt, die schon ganz vergessen war." Es handelte sich dabei um eine Kabinettsordre König Friedrich Wilhelms IV. von 1852, wonach die Minister Immediatberichte an den 148

Entlassung Bismarcks König zunächst dem Premierminister vorzulegen und diesem, damit er eventuell der Audienz beiwohnen könne, auch mitzuteilen hätten, wenn sie dem König mündlich Vortrag halten wollten. In dem Schreiben vom 4. März, in dem Bismarck die Minister an jene Ordre erinnerte, hatte er darauf hingewiesen, daß er nicht den Anspruch erhebe „auf eine Mitwirkung in dem Immediatverkehr der Herrn Staatsminister in den laufenden und bekannten Geschäften", sondern nur wünsche, vor „der Anregung neuer, eine Änderung der Gesetzgebung und der Rechtsverhältnisse bezweckender Immediatvorträge von denselben rechtzeitig in Kenntnis gesetzt zu werden". Wilhelm, eifersüchtig darauf bedacht, seine Selbständigkeit Bismarck gegenüber zu wahren, hatte sich vielfach mit Übergehung des Reichskanzlers von Ministern Vortrag halten lassen und war keineswegs gewillt, die Neubelebung der Kabinettsordre von 1852 zu dulden. Bismarck fragte den Kaiser, ob er darauf bestehe, ihm die Rücknahme der Ordre zu befehlen, auf der die Stellung des Ministerpräsidenten beruhe. Ein kurzes „Ja" war die Antwort. Bismarck lenkte nun das Gespräch auf den vom Kaiser für den Sommer geplanten Besuch in Petersburg, riet dringend davon ab, der ruhige Behaglichkeit liebende Zar würde ihn als Störung empfinden, und erwähnte ein vom deutschen Botschafter in London übersandtes Schriftstück, das Geheimberichte aus Petersburg mit höchst abfälligen Äußerungen des Zaren über Kaiser Wilhelm enthalte. Bismarck weigerte sich, das Schreiben vorzulesen, weil der Wortlaut Se. Majestät beleidigen würde. Natürlich reizte dies den Kaiser, Bismarck das Schriftstück aus der Hand zu nehmen. Da konnte nun Wilhelm lesen, er sei verrückt, ein schlecht erzogener Junge, der weder Treu noch Glauben kenne (un garçon mal élevé et de mauvaise foi) und dergleichen mehr. Daraufhin beendete der Kaiser die Unterredung und verabschiedete sich von Bismarck mit einem kühlen Händedruck. Wie Bismarck in seinen „Gedanken und Erinnerungen" berichtet, faßte er auf die Antwort des Kaisers hin „noch nicht den Entschluß zum sofortigen Rücktritt, sondern nahm mir vor, den Befehl, wie man sagt, ,ins Sonntagsfach' zu nehmen und abzuwarten, ob die Ausführung moniert wurde, dann eine schriftliche Ordre zu erbitten und diese im Staatsministerium zum Vortrage zu bringen. Ich war also auch damals noch überzeugt, daß ich nicht die Initiative und damit die Verantwortlichkeit für mein Ausscheiden zu übernehmen habe". Wie unhaltbar die Lage bereits war, zeigte sich besonders augenfällig anläßlich der internationalen Arbeiterschutzkonferenz, die in Berlin am 15. März, an demselben Tag eröffnet wurde, an dem das Gespräch Kaiser-Reichskanzler stattfand. Die von dem preußischen Handelsminister von Berlepsch verfaßte Begrüßungsrede enthielt „einen Satz, welcher der Schweiz ein Kompliment machte über die Bereitwilligkeit, vor der Berliner die eigene Einladung zurücktreten zu lassen" (Lucius). Bismarck hatte aber die Schweiz aufgefordert, auf ihrer Einladung zu beharren, und so strich er aus dem ihm als Ministerpräsidenten vorgelegten Entwurf der Rede diesen Satz als „überflüssig", der Kaiser befahl dagegen die Wiederaufnahme als „sachgemäß und nötig". Außerdem weigerte sich Bismarck, die Delegierten der Konferenz offiziell zu empfangen, wie dies der Kaiser von ihm verlangt hatte, und verbot dem Auswärtigen Amt aufs strengste, die zu den Sitzungen der Kon149

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks ferenz nötigen Schreibutensilien, Papier, Federn, Tinte und dergleichen, abzugeben. Da Bismarck auf das „Ja" des Kaisers, er verlange Rücknahme der Ordre, nichts erwidert hatte und zu einem anderen Gesprächsthema übergegangen war, nahm Wilhelm an, der Reichskanzler sei bereit, nachzugeben und sandte am 16. März zu ihm den Chef des Militärkabinetts General Wilhelm von Hahnke, um die Kassation der Ordre zu besprechen. Bismarck erklärte dabei wiederum, ein Ministerpräsidium lasse sich ohne eine derartige Befugnis unmöglich führen. Hahnke verließ den Kanzler mit den Worten, die Sache werde sich sicher vermitteln lassen, und bemühte sich dann auch, freilich vergebens, darum. Außer dem Beharren Bismarcks auf seinem Standpunkt steigerten den Ärger des Kaisers die ihm an diesem Tag auf Veranlassimg des Reichskanzlers übergebenen Berichte des deutschen Konsuls in Kiew. Einige davon konnten den Anschein erwecken, Rußland rüste zum Kriege und werde demnächst gegen Österreich losschlagen. In einem Handbillett hielt der Kaiser dem Reichskanzler vor: „Sie hätten mich schon längst auf die furchtbare, drohende Gefahr aufmerksam machen können! Es ist die höchste Zeit, die Österreicher zu warnen und Gegenmaßregeln zu treffen." Bismarck wies diesen Vorwurf umgehend in einem Immediatbericht zurück: er habe die zum Teil weit zurückliegenden Berichte, die der Konsul erst vor kurzem habe nach Berlin absenden können, nicht zunächst dem Kaiser, sondern dem Generalstabschef übergeben, weil dieser allein die zu ihrer Beurteilung nötige militärische Gesamtübersicht besitze, auch erscheine „das Verhältnis zu Rußland gegenwärtig zu gut und klar, um Mißtrauen zu rechtfertigen". Dies ging auch aus der Mitteilung des in der Nacht vom 16. zum 17. März aus Petersburg zurüdegekehrten russischen Botschafters in Berlin Schuwalow hervor, er sei vom Zaren ermächtigt, mit Bismarck über die Erneuerung des im Sommer 1890 ablaufenden Rückversicherungsvertrages zu verhandeln. Am Morgen des 17. März ging Hahnke wieder zu Bismarck und stellte ihn im Auftrag des Kaisers vor die Alternative: entweder Zurücknahme der Ordre oder Entlassung; entscheide sich der Kanzler für diese, dann solle er am Nachmittag zu Sr. Majestät ins Schloß kommen, um sich den Abschied zu holen. Bismarck erwiderte darauf, er sei dazu nicht wohl genug und werde schreiben. Dem von ihm einberufenen Staatsrat teilte Bismarck am Nachmittag mit, er „habe seinen Abschied von Sr. Majestät gefordert und sei sicher, ihn zu erhalten. Es sei eine Reihe von Vorfällen, welche ihn zu der Überzeugung gebracht hätten, daß er Sr. Majestät im Wege sei". Bismarck wies dann auf die Erneuerung der Kabinettsordre, die Arbeiterschutzfrage, das Verhältnis zu Rußland, die Berichte aus Kiew und den Empfang Windthorsts hin. „Die Arbeiterschutzfrage sei für ihn keine Kabinettsfrage, aber wenn er in den auswärtigen Angelegenheiten nicht mehr die Leitung haben solle, dann müsse er gehen, und er wisse, daß das dem Kaiser recht sei. Er habe Nadelstiche genug erfahren und dürfe sich nicht dem Vorwurf der Klebrigkeit aussetzen" (Lucius). Am Abend erschien der Chef des Zivilkabinetts Hermann von Lucanus bei Bismarck und „richtete zögernd den Auftrag Sr. Majestät aus, zu fragen, ,weshalb das am Morgen geforderte Abschiedsgesuch 150

Entlassung Bismarcks nodi nicht eingegangen sei'. Ich erwiderte, der Kaiser könne mich ja zu jeder Stunde ohne meinen Antrag entlassen, und ich könne nicht beabsichtigen, gegen seinen Willen in seinem Dienste zu bleiben; mein Abschiedsgesuch wolle ich aber so einrichten, daß ich es demnächst veröffentlichen könne. Nur in dieser Absicht entschließe ich mich überhaupt, ein solches einzureichen. Ich gedächte nicht, die Verantwortlichkeit für meinen Rücktritt selbst zu übernehmen, sondern sie Sr. Majestät zu überlassen" (Bismarck). Am 18. März übersandte der Reichskanzler dem Kaiser das Abschiedsgesuch. Bismarck begann mit einem Rückblick auf die Entstehung und Bedeutung der Ordre von 1852, gab dann die Gründe an, weshalb er den Befehl Sr. Majestät nicht ausführen könne. „Nach den Mitteilungen, die mir der Generalleutnant von Hahnke und der Geheime Kabinettsrat von Lucanus gestern gemacht haben, kann ich nicht im Zweifel darüber sein, daß Eure Majestät wissen und glauben, daß es für mich nicht möglich ist, die Ordre aufzuheben und doch Ministerpräsident zu bleiben. Dennoch haben Eure Majestät den mir am 15. dieses Monats gegebenen Befehl aufrechterhalten und in Aussicht gestellt, mein dadurch notwendig werdendes Abschiedsgesuch zu genehmigen." Mit diesen Worten lehnte Bismarck die Verantwortlichkeit für seinen Rücktritt ab und überließ sie dem Kaiser. Bei den Auseinandersetzungen über den Fall Windthorst am 15. März habe Se. Majestät der Ausdehnung der dienstlichen Berechtigung Grenzen gezogen, welche „mir nicht das Maß der Beteiligung an den Staatsgeschäften, der Ubersicht über letztere und der freien Bewegung in meinen ministeriellen Entschließungen und in meinem Verkehr mit dem Reichstag und seinen Mitgliedern lassen, deren ich zur Übernahme der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit für meine amtliche Tätigkeit bedarf . . . Nach den jüngsten Entscheidungen Eurer Majestät über die Richtung unserer auswärtigen Politik, wie sie in dem Allerhöchsten Handschreiben zusammengefaßt sind, mit dem Eure Majestät die Berichte des Konsuls in Kiew gestern begleiteten, würde ich in der Unmöglichkeit sein, die Ausführung der darin vorgeschriebenen Anordnungen bezüglich der auswärtigen Politik zu übernehmen. Ich würde damit alle die für das Deutsche Reich wichtigen Erfolge in Frage stellen, welche unsere auswärtige Politik seit Jahrzehnten im Sinne der beiden hochseligen Vorgänger Eurer Majestät in unseren Beziehungen zu Rußland unter ungünstigen Verhältnissen erlangt hat, und deren über Erwarten große Bedeutung mir Schuwalow nach seiner Rückkehr aus Petersburg bestätigt hat. Es ist mir bei meiner Anhänglichkeit an den Dienst des königlichen Hauses und an Eure Majestät und bei der langjährigen Einlebung in Verhältnisse, welche ich bisher für dauernd gehalten hatte, sehr schmerzlich, aus den gewohnten Beziehungen zu Allerhöchst denselben und zu der Gesamtpolitik des Reiches und Preußens auszuscheiden; aber nach gewissenhafter Erwägung der Allerhöchsten Intensionen, zu deren Ausführung ich bereit sein müßte, wenn ich im Dienst bliebe, kann ich nicht anders, als Eure Majestät alleruntertänigst bitten, mich aus dem Amte des Reichskanzlers, des Ministerpräsidenten und des preußischen Ministers der auswärtigen Angelegenheiten in Gnaden und mit der gesetzlichen Pension entlassen zu wollen . . . Ich würde die Bitte um Entlassung aus meinen Äm151

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tern schon vor Jahr und Tag Eurer Majestät unterbreitet haben, wenn ich nicht den Eindruck gehabt hätte, daß es Eurer Majestät erwünscht wäre, die Erfahrungen und die Fähigkeiten eines treuen Dieners Ihrer Vorfahren zu benutzen. Nachdem ich sicher bin, daß Eure Majestät derselben nicht bedürfen, darf ich aus dem politischen Leben zurücktreten ohne zu befürchten, daß mein Entschluß von der öffentlichen Meinung als unzeitig verurteilt wird." Unterzeichnet war das Abschiedsgesuch lediglich „von Bismarck" ohne die Monarchen gegenüber üblichen, sonst auch von Bismarck eingehaltenen Höflichkeitsformeln wie: „In tiefer Ehrfurcht ersterbe ich Eurer Majestät untertänigster treugehorsamer Diener." — Zum Abend hatte der Kaiser die kommandierenden Generale ins Schloß berufen, eigentlich um ihr Urteil über die neue Militärvorlage zu hören, verbreitete sich aber über die Entlassung Bismarcks. Keiner der Generale nahm dazu Stellung; erst draußen auf der Treppe sagte Moltke: „Das ist ein sehr bedauerlicher Vorgang; der junge Herr wird uns noch manches zu raten aufgeben." Am Nachmittag des 20. März erhielt Bismarck zwei Schreiben des Kaisers. Das eine sollte in der Öffentlichkeit den Anschein erwecken, als ob das Ausscheiden Bismarcks aus den Ämtern nur auf seinen Wunsch erfolgt sei: „Mit tiefer Bewegung habe ich aus Ihrem Gesuch vom 18. dieses Monats ersehen, daß Sie entschlossen sind, von den Amtern zurückzutreten, welche Sie seit langen Jahren mit unvergleichlichem Erfolge geführt haben, ich hatte gehofft, dem Gedanken mich von Ihnen zu trennen, bei unseren Lebzeiten nicht nähertreten zu müssen. Wenn ich gleichwohl im vollen Bewußtsein der folgenschweren Tragweite Ihres Rücktritts jetzt genötigt bin, midi mit diesem Gedanken vertraut zu machen, so tue ich dies zwar betrübten Herzens, aber in der festen Zuversicht, daß die Gewährung Ihres Gesuches dazu beitragen werde, Ihr für das Vaterland unersetzliches Leben und Ihre Kräfte so lange wie möglich zu schonen und zu erhalten. Die von Ihnen für Ihren Entschluß angeführten Gründe überzeugen mich, daß weitere Versuche, Sie zur Zurücknahme Ihres Antrags zu bestimmen, keine Aussicht auf Erfolg haben. Ich entspreche daher Ihrem Wunsche, indem ich Ihnen hierneben den erbetenen Abschied aus Ihren Ämtern . . . in Gnaden und in der Zuversicht erteile, daß Ihr Rat und Ihre Tatkraft, Ihre Treue und Hingebung auch in Zukunft mir und dem Vaterlande nicht fehlen werden. Ich habe es als eine der gnädigsten Fügungen in meinem Leben betrachtet, daß ich Sie bei meinem Regierungsantritt als meinen ersten Berater zur Seite hatte . . . Ihre Verdienste vollwertig zu belohnen, steht nicht in meiner Macht. Ich muß mir daran genügen lassen, Sie meines und des Vaterlandes unauslöschlichen Dankes zu versichern. Als Zeichen dieses Dankes verleihe ich Ihnen die Würde eines Herzogs von Lauenburg. Auch werde ich Ihnen mein lebensgroßes Bildnis zugehen lassen. Gott segne Sie, mein lieber Fürst, und schenke Ihnen noch viele Jahre eines ungetrübten und durch das Bewußtsein treu erfüllter Pflicht verklärten Alters. In diesen Gesinnungen bleibe ich Ihr Ihnen auch in Zukunft treu verbundener, dankbarer Kaiser und König Wilhelm I. R. (Imperator Rex)." Im zweiten Schreiben dankte der Kaiser „als Kriegsherr" Bismarck für seine Verdienste um die Armee und erinnerte daran, wie Bismarck „in den großen Kriegen" seine „Schuldigkeit als 152

Ursachen der Entlassung Bismarcks Soldat" getan habe. „Ich weiß mich eins mit meiner Armee, wenn idi den Wunsch hege, den Mann, der so Großes geleistet, auch fernerhin in der höchsten Rangstellung ihr erhalten zu sehen. Idi ernenne Sie daher zum General-Obersten der Kavallerie mit dem Range eines General-Feldmarschalls und hoffe zu Gott, daß Sie mir noch viele Jahre in dieser Ehrenstellung erhalten bleiben mögen." Bismarck antwortete: „Euer Majestät danke idi in Ehrfurcht für die huldreichen Worte, mit denen Allerhöchstdieselben meine Verabschiedung begleitet haben, und fühle mich hoch beglückt durch die Verleihung des Bildnisses, welches für mich und die Meinigen ein ehrenvolles Andenken an die Zeit bleiben wird, während der Eure Majestät mir gestattet haben, dem Allerhöchsten Dienste meine Kräfte zu widmen." Auch für die militärische Beförderung sprach Bismarck seinen Dank aus; den Titel Herzog von Lauenburg konnte er nicht ablehnen, weil die Verleihung des Titels bereits im Staatsanzeiger veröffentlicht war, jedoch bat Bismarck, ihm die Führung seines bisherigen Namens in Gnaden gestatten zu wollen. Er hatte das richtige Gefühl, daß „Herzog von Lauenburg" in den Hintergrund rücken würde, was sich im geschichtlichen Bewußtsein des In- und Auslandes an den Namen „Fürst Bismarck" knüpfte. — Zu der im ersten Schreiben des Kaisers ausgesprochenen Hoffnung, daß ihm auch in Zukunft der Rat Bismarcks nicht fehlen werde, bemerkt dieser später in seinen „Gedanken und Erinnerungen": „Mein Rat ist seitdem weder direkt noch durch Mittelspersonen jemals erfordert, im Gegenteil scheint meinen Nachfolgern untersagt zu sein, über Politik mit mir zu sprechen." Graf Herbert von Bismarck, Staatssekretär im Auswärtigen Amt, hatte keinen Zweifel daran gelassen, daß er, wenn sein Vater den Abschied erhalte, ebenfalls zurücktreten werde. Der Kaiser wollte indes Herbert, obwohl dieser durch sein leidenschaftliches und schroffes Wesen vielfach Anstoß erregt und zu dem Zerwürfnis zwischen Kaiser und Reichskanzler beigetragen hatte, zunächst als Staatssekretär beibehalten zur Bestätigung der Fiktion, Fürst Bismarck habe die Entlassung selbst gewünscht und mit ihr sei kein Systemwechsel in der Führung der Außenpolitik verbunden; außerdem fand sich für den Augenblick niemand, der Herbert, den engsten Mitarbeiter seines Vaters, ersetzen konnte. Da sich Herbert nicht umstimmen ließ, genehmigte der Kaiser am 26. März auch dessen Abschiedsgesuch.

Die Ursachen der Entlassung Kurz nach der Entlassung Fürst Bismarcks sprach Hermann von Eckardstein, Attaché an der deutschen Botschaft in Washington, darüber mit Carl Schurz. Der meinte, hier habe man sich nicht lange dabei aufgehalten, sondern sei sehr schnell zur Tagesordnung übergegangen und sage sich einfach: der Kaiser und Bismarck sind beide Kerle mit harten Köpfen (hardheaded chaps), sie konnten nicht zusammen arbeiten, einer von ihnen mußte gehen, und da der Kaiser nicht gehen konnte, mußte Bismarck gehen; man konnte auch hören: „Der Kaiser ist ein tüchtiger, 153

Vom Dreikaiseijahr zum Sturz Bismarcks schneidiger junger Bursche; er gab Bismarck einen Fußtritt (kicked out) und wird nodi manchen von den späteren Kanzlern einen geben." Die beiderseitige Hartköpfigkeit war indes nur eine Voraussetzung, daß es zum Brudi kommen konnte, ausschlaggebend wurden die gegensätzlichen Auffassungen über die Sozialpolitik und das Vorgehen gegen die Sozialdemokratie, über die Außenpolitik und über die Befugnisse des Reichskanzlers in der Führung der Regierungsgeschäfte. Im ersten Punkt hatte der Kaiser recht, denn eine soziale Revolution hätte unabsehbares Unheil hervorgerufen, im zweiten Bismarck, da die weitgehende Hinneigung Wilhelms II. zu Kaiser Franz Joseph und Österreich unter Vernachlässigung der Beziehungen zu Rußland große Gefahren für Deutschland in sich barg. Beide Punkte spielten in den dritten, die Entscheidung herbeiführenden mit hinein. Auch da war Bismarcks Auffassung in manchem berechtigt, etwa der Reichskanzler müsse nach seinem Gutdünken Abgeordnete empfangen dürfen und in gewissen Fällen von den preußischen Ministern als Ministerpräsident über von ihnen vorbereitete Immediatvorträge rechtzeitig unterrichtet werden. Aber so umsichtig und vorsichtig Bismarck bei der Reichsgründung vorgegangen war, die Außenpolitik und großenteils auch die Innenpolitik leitete, fehlte ihm doch das Augenmaß dafür, wie Mißhelligkeiten mit Wilhelm II. bei den Regierungsgeschäften einigermaßen vermieden werden könnten. Der im In- und Ausland auf Grund seiner außerordentlichen Erfolge seit 1864 als der größte Staatsmann Europas Anerkannte, dem Kaiser Wilhelm I. trotz mannigfacher Auseinandersetzungen fast immer freie Hand gelassen hatte, hielt es für selbstverständlich, daß er und nicht der 44 Jahre jüngere, noch unerfahrene und unausgegorene Wilhelm II. das Steuer der Regierung zu führen habe. Andererseits hatte dieser eine übertriebene Vorstellung von seiner Würde und seinen Rechten als Monarch, worin ihn Bismarck aus dem Bestreben heraus, den Vorrang der Krone vor dem Parlament zu wahren, ungewollt bestärkte, auch glaubte Wilhelm, er besitze überragende Herrscherfähigkeiten, und war von rastlosem Tatendrang erfüllt. Unter diesen Umständen handelte es sich bei dem Reichskanzler und dem Kaiser nicht bloß um Konflikte, wie sie sich im allgemeinen zwischen alt und jung zu ergeben pflegen. Hat Fürst Hohenlohe in seinen „Denkwürdigkeiten" von Kaiser Wilhelm I. gerühmt: „Auch gehört eine große Selbstverleugnung dazu, die Ovationen, welche Bismarck und Moltke erhalten (1871), ohne Neid mit anzusehen", so sah der Enkel in Fürst Bismarck und dessen Sohn Herbert Rivalen; nach dem Sturz Bismarcks und der Entlassung Herberts sagte Wilhelm II. zu Hohenlohe: „Es handelte sich darum, ob die Dynastie Hohenzollern oder die Dynastie Bismarck regieren solle." Bismarcks Wiedereinschärfung der Kabinettsordre von 1852 bot dem Kaiser die erwünschte Gelegenheit zur entscheidenden Kraftprobe; der Ministerpräsident konnte, sollte sein Amt nicht jede Bedeutung verlieren, unmöglich nachgeben, und wurde damit zur Einreichung seines Abschiedsgesuches gezwungen. Bei dem zur Trennung des Kaisers von Bismarck führenden Konflikt spielten wie immer in dergleichen Fällen mancherlei Einzelheiten mit herein: die Beeinflussung des Kaisers durch Gegner Bismarcks, den Großherzog Friedrich von Baden, Graf Wal154

Edio im In- und Ausland dersee und andere; die Angelegenheit Geffken; daß sich Bismarck gerade, als die soziale Frage im Vordergrund stand, nadi Varzin oder Friedrichsruh zurückzog und glaubte, Herbert werde in seinem Sinne auf den Kaiser einwirken, der indes nun sein Vertrauen Männern zuwandte, die mit seinen sozialreformerischen Plänen übereinstimmten; dazu zahlreiche unerwünschte Mahnungen und Warnungen. All das hat den Kaiser lediglich in dem bestärkt, wozu er bereits entschlossen war. Auffallend dagegen ist das Verhalten des Kanzlers wie des Kaisers bei der Austragung des Konfliktes; keiner wollte zurückweichen, jeder dem anderen die Schuld zuschieben an dem, was durch Beharren beider auf ihrem Standpunkt unvermeidlich geworden war. Bismarck wollte im Amte bleiben und hatte, bis er die Genehmigung des Abschiedsgesuches in Händen hatte, immer wieder gehofft, der Kaiser werde ihn nicht entlassen. Nun pflegt „großen alten Männern" der Ubergang in den Ruhestand schwer zu fallen, und die Befürchtung Bismarcks, was er während eines Menschenalters geschaffen hatte, würde ein Wilhelm II. zugrunde riditen, war nicht unberechtigt. Erstaunlich ist aber doch, daß der Vielerfahrene nicht spätestens nach der Unterredung vom 15. März mit dem Kaiser die Unvermeidlichkeit des Bruches erkannte; der oftmalige Wechsel der Ansichten Wilhelms binnen weniger Tage mochte freilich neben dem „was man wünscht, glaubt man gerne" den Reichskanzler täuschen. — Das Schreiben des Kaisers vom 18. März mit der Versicherung, er habe gehofft, sich nie vom Kanzler trennen zu müssen, tue dies betrübten Herzens nur auf dessen Wunsch und rechne weiterhin auf seinen Rat, entsprach nach dem, was vorausgegangen war und folgte, keineswegs der Wahrheit. Mit dieser unehrlichen Darstellung des Sachverhaltes versuchte sich der Kaiser vor der Mit- und Nachwelt der Verantwortung für die Entlassung Bismarcks zu entziehen, womit er freilich wider seinen Willen ihre Bedeutung unterstrich.

Das Echo im In- und Ausland Die öffentliche Meinung in Deutschland nahm den Sturz Bismarcks so ruhig hin, daß der Kaiser nicht nötig gehabt hätte als Entschuldigung zu bewußter Heuchelei zu greifen. Schon die geringe Beteiligung an den Reichstagswahlen vom Februar und ihr Ergebnis wiesen darauf hin, daß die Mehrheit des deutschen Volkes nicht hinter Bismarck stand. In dem eben tagenden preußischen Abgeordnetenhaus verlas dessen Präsident am 21. März ein Schreiben, worin die Ersetzung des Fürsten Bismarck durch den General Leo von Caprivi als Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten offiziell mitgeteilt wurde. „Das Haus verharrte in eisigem Schweigen vor diesem denkwürdigen Ereignis, und nichts beweist mehr als diese befremdliche Tatsache, daß die politischen Kreise, soweit sie im Hause vertreten waren, keinen anderen Ausweg sahen. Es bestand allgemein das Gefühl, daß sowohl in der Arbeiterfrage als auch in der Behandlung des Sozialistengesetzes und des Kartells der große Staatsmann keine glückliche Hand gezeigt hatte, und daß die vom Kaiser vertretene Politik die sei, die jetzt allein 155

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in Frage kommen könne" (Raschdau). Die Frankfurter Zeitung schrieb am 21. März: „Die Nation ist ruhig; nicht ohne Bewegung, aber ohne Furcht vor der Zukunft sieht das deutsche Volk den gewaltigen Mann aus der Machtfülle scheiden, in der er für die innere Entwicklung seit Jahren ein unüberwindliches Hindernis geworden war . . . Möge auch von ihm gelten, daß nicht wiederkehrt, was einmal gegangen ist; die Nation wird dann den 18. März 1890 bald zu den Tagen zählen, deren man mit Freuden gedenkt." Der „Sozialdemokrat" gab dagegen zu bedenken: „Hohenzollernabsolutismus für Kanzlerabsolutismus, das ist ein sehr zweifelhafter Gewinn." Gleichviel, ob Zeitungen Bismarcks Entlassung mehr oder weniger beifällig besprachen, die meisten stimmten doch darin überein, daß man Bismarck nun entbehren könne; immerhin rühmten gerade die der Freisinnigen Partei nahestehenden „Vossische Zeitung" und das „Berliner Tageblatt" Bismarcks Verdienste in der Außenpolitik. Der durch die kaiserlichen Handschreiben vom 20. März erweckte Anschein, Bismarck sei freiwillig zurückgetreten, spiegelte sich auch in der Presse wider, worauf die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" am 22. März in einem offensichtlich von Bismarck inspirierten Artikel die Gründe seines Ausscheidens offen darlegte. Lerchenfeld berichtete darüber nach München: „Der Artikel hat die schon allenthalben bestehende Sorge vermehrt, daß der im Groll scheidende Staatsmann und sein Sohn ihre künftige Muße dazu benutzen könnten, der neuen Regierung in der Presse Opposition zu machen." Etwas Genugtuung bereiteten dem grollenden Kanzler Zuschriften deutscher Bundesfürsten, namentlich des Prinzregenten Luitpold von Bayern, und die Huldigungen bei der Abreise nach Friedrichsruh am 29. März. Uber die Abreise von Berlin berichtet der Staatsminister Lucius von Ballhausen in seinen „Bismarck-Erinnerungen": „Fürst Bismarck reiste unter ungeheuren Ovationen des Publikums mit seiner ganzen Familie vom Lehrter Bahnhof nach Friedrichsruh ab. Eine Eskadron Gardekürassiere mit Regimentsmusik und Standarte war auf dem Perron des Bahnhofs aufmarschiert. Alle Minister, Botschafter, zahlreiche Generale waren anwesend. Das Publikum schien auch den Kaiser erwartet zu haben. Es war ein betäubendes ,Hurra'- und ,Auf Wiedersehen'-Rufen. Während der Zug sich in Bewegung setzte, stimmte das Publikum die ,Wacht am Rhein' an." Bismarck selbst urteilte später über diesen Abschied: er war ein „Leichenbegräbnis erster Klasse". Alles in allem machte aber das Ausscheiden Bismarcks auf das deutsche Volk keinen so tiefen Eindruck wie auf das Ausland. Bei den Regierungen der europäischen Staaten rief die Entlassung Bismarcks große Beunruhigung hervor. Für alle galt mehr oder weniger das Urteil des der russischen Regierung nahestehenden Journals „Grashdanin": „Jetzt ist alles, was klar war, finster geworden. Alles, worauf Europa rechnete . . . wird nunmehr gleichsam durch Zauberschlag von einer neuen politischen Größe ersetzt." Die Art des jungen Kaisers flößte vielen Bedenken ein. Einer der Artikel des „Grashdanin" nannte Wilhelm II. den „leichtsinnigen und unbedacht handelnden Caesar des deutschen Volkes", und der französische „Intransigeant" „hochfahrend und despotisch, vom Wunsche beseelt, groß zu tun gleich seinen Vorgängern, reizbar, keinen Widerstand von Menschen oder von Dingen duldend und geneigt, von 156

Edio im In- und Ausland heute auf morgen in die Kriegstrompete zu stoßen". So viel auch jetzt noch Franzosen und in Rußland die panslawistischen Kreise gegen die Politik Bismarcks einwandten, erkannten sie doch seine Verdienste um die Erhaltung des Friedens an, zum mindesten ließen sie wie die „Nowoje Wremja" die Frage offen, ob man sich darüber freuen oder ob man es beklagen solle, „daß der große Mann vom Piedestal des europäischen und deutschen Lebens herabsteigt, um dafür auf ein granitnes Piedestal von Bronze oder von Marmor zu treten". In England befürchtete man ebenfalls schlimme Folgen von Bismardcs Entlassung. Salisbury sagte zu dem österreichischen Botschafter in London Graf Deym, die Beziehungen Deutschlands zu den anderen Mächten würden sich ja nicht sofort ändern, da sich aber der Kaiser in einem Zustand der Entwicklung befinde, erscheine die Zukunft unsicher. Ein anderer hochgestellter Engländer schrieb einem Bekannten: „Es eröffnet keinerlei befriedigende Aussicht, Europa einem Hitzkopf überliefert zu wissen, der außerdem ein Narr zu sein scheint" (nach Gagliardi). Die „Times" verband mit dem Lob der außerordentlichen Verdienste Bismardcs um den europäischen Frieden die Sorge für die ganze Zukunft, und die „Daily News" fragten: „Wer wird den Kontinent ohne den Fürsten Bismarck wiedererkennen?" Die offiziöse Presse in Italien mißbilligte zunächst das Ausscheiden des Reichskanzlers, der den Dreibund geschaffen hatte, die klerikale und die liberale Presse begrüßten es. In Österreich überwog die Ansicht, der Sturz Bismardcs sei für die österreichisch-ungarische Monarchie eher von Vorteil, weil Wilhelm II. zu ihr mehr hinneigte als zu Rußland und nicht so wie Bismarck darauf bedacht war, mit beiden Mächten gleichermaßen in gutem Einvernehmen zu stehen. Ganz einheitlich war die Stellungnahme zur Entlassung Bismarcks freilich in keinem Lande, audi trat vielfach mehr oder weniger ein Stimmungswandel ein. Der deutsche Geschäftsträger in Paris Wilhelm von Schoen konnte bereits am 25. März an das Auswärtige Amt nach Berlin berichten: Es ist „anzuerkennen, daß die französische Presse im ganzen weit weniger, als sie zu treiben liebte, S. M. dem Kaiser und König kriegerische Gelüste andichtet, überhaupt der erhabenen Person S. M., wenn auch noch mit einer gewissen Scheu eine Beurteilung entgegenbringt, welche nicht fern von Bewunderung liegt. Die Sinnesänderung in dieser Beziehung ist unzweifelhaft zum größten Teil durch die Erkenntnis der hochherzigen Bestrebungen S. M. in den Arbeiterfragen herbeigeführt. Nicht wenige öffentliche Stimmen sprechen es unverhohlen aus, daß in der Sorge des deutschen Kaisers um friedliche Lösung der weltbedrohenden wirtschaftlichen Fragen eine Gewähr des politischen Friedens liege . . . Sehr beruhigend hat die Kundgebung S. M. gewirkt, daß Allerhöchstderselbe fest entschlossen sei, die bisher innegehaltene Friedenspolitik fortzusetzen". Der Botschafter in Petersburg von Schweinitz schrieb Ende April an den Reichskanzler Caprivi: Auf Wunsch des Zaren „ist der Presseleitung die Weisung erteilt worden, dafür zu sorgen, daß die Zeitungen nicht zu lebhaft Partei für den Fürsten Bismarck ergreifen möchten. Die Haltung der russischen Presse ist seitdem, abgesehen von einigen Ausfällen des ,Grashdanin', maßvoll gewesen und jedenfalls anständiger als die der deutschen freisinnigen und auch anderer Blätter". Neben der Frage, wie sich nun die deut157

Vom Dreikaiserjahr zum Sturz Bismarcks sehe Außenpolitik gestalten werde, suchte der belgische Gesandte in Berlin Baron Greindl die Frage zu beantworten, welche Folgen der Sturz Bismarcks für die Politik der außerdeutschen Mächte haben werde: „Der Rücktritt des Fürsten Bismarck wird, wenigstens für den Augenblick, keinen Wechsel in der Außenpolitik Deutschlands herbeiführen . . . Weniger gewiß ist, ob die Politik der fremden Mächte gegenüber Deutschland unverändert bleibt. Die Interessen, die den Dreibund geschaffen haben, bestehen immer noch; aber es wird nun schwieriger sein, die Politik der drei Großmächte einer einheitlichen Leitung zu unterwerfen, da jetzt das Prestige des Fürsten Bismarck niemandem mehr Gefolgschaft aufnötigt. Auch können die Hoffnungen der Feinde Deutschlands wieder rege werden, wenn sie einen Gegner, dessen Überlegenheit imbestreitbar und unbestritten war, nicht mehr vor sich haben." An die weitere Entwicklung der deutschen Außenpolitik und ihre Folgen für das deutsche Volk knüpfen sich Urteile wie: „Nur wer Bismarcks Sturz, wie es notwendig ist, in direkte Beziehung zum schmachvollen Ende der Wilhelminischen Herrlichkeit (1918) setzt, wird die weltgeschichtliche Bedeutung jenes Ereignisses richtig beurteilen. Ungerecht aber wäre es, wollte man verkennen, daß zugleich eine innere tragische Notwendigkeit die Entlassung herbeiführte. Und in diesem Sinne kann man sagen, daß schon damals der Untergang des Deutschen Reiches in den Sternen geschrieben war und daß sich also alles vollenden mußte" (Schüßler). Derartige Erwägungen verwirren indes das Geschichtsbild, indem sie als zwangsläufig erscheinen lassen, was keineswegs so kommen mußte, wie es kam. Gewiß war die Entlassung Bismarcks bei seiner und des Kaisers Eigenart eine „innere tragische Notwendigkeit"; aber wenn auch in der Geschichte das Folgende mit dem Früheren vielfältig verflochten ist, so bildet dieses zum sehr großen Teil doch nur Voraussetzungen, die das Spätere wesentlich abzuwandeln oder völlig zu verdrängen vermag. Nicht die Entlassung des 75jährigen Reichskanzlers ist das Entscheidende für die verhängnisvollen Mißgriffe Wilhelms II., sondern dessen sprunghafte und dilettantische Art in der Behandlung selbst wichtigster Angelegenheiten.

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Zweites Buch

VOM S T U R Z BISMARCKS BIS ZUM A U S B R U C H DES E R S T E N W E L T K R I E G E S

Persönlichkeit

und Reden Wilhelms

II.

Der Sturz Bismarcks hatte das allmähliche Heraufkommen des „Neuen Kurses" zufolge, zunächst wegen des grundlegenden Wandels in der Reichsleitung. Kaiser Wilhelm I. hatte sie im wesentlichen Bismarck überlassen und dieser sie — jedenfalls die Außenpolitik — mit höchster Meisterschaft und stärkstem Verantwortungsgefühl geführt. Kaiser Wilhelm II. hielt sich während der zwei ersten Jahre seiner Regierung, obwohl es ihm schwer genug fiel, einigermaßen davon zurück, den Kurs der Regierung selbständig zu bestimmen, obwohl ihm dies nach seiner Auffassung vom Gottesgnadentum des Monarchen und von seinen Fähigkeiten eigentlich zustand. Die Entwicklung des Wirtschaftslebens, damit auch der sozialen und politischen Verhältnisse, stellte die Regierungen vor Aufgaben, für deren Bewältigung der noch ganz im 19. Jahrhundert wurzelnde Bismarck kein oder nur geringes Verständnis hatte. Wilhelm II. dagegen war aufgeschlossen für neuzeitliche Ideen und Bestrebungen, doch hatte die Kaiserwürde an der Art des Prinzen nichts geändert, vielmehr die Eigenschaften stärker ausgeprägt, die zu seinem und Deutschlands Unglück so viel beitragen sollten. Egoismus wird des öfteren als der bestimmende Zug in Wilhelms Wesen hervorgehoben, doch war es wohl weniger eigentliche Selbstsucht, die den vielfach für Ideale Schwärmenden, Wohlmeinenden und Hilfsbereiten so häufig in die Irre führte, als die egozentrische Einstellung, die ihn dazu verleitete, daß er sich, gleichviel um was es sich handelte, jedermann überlegen dünkte, worin ihn der bestechende Eindruck, den er gelegentlich selbst auf Staatsmänner des Auslandes machte, und die Erfahrung bestärkten, daß er in manchem tatsächlich klarer sah als seine offiziellen Berater. Infolge seiner egozentrischen Einstellung zog Wilhelm gerne ihm schmeichelnde, zum Teil minderwertige Persönlichkeiten in seine engere Umgebung und ließ sich von ihnen beeinflussen. Durchdrungen von seinem Gottesgnadentum und überzeugt von seinen außerordentlichen Fähigkeiten, liebte es Wilhelm, in zahllosen Reden und Aussprüchen sein Licht leuchten zu lassen. Aber gerade damit richtete er, jeder Selbstkontrolle bar, zu Taktlosigkeiten hinneigend, seinen so oft wechselnden Anschauungen und Stimmungen hingegeben, bald herausfordernd, bald nach Popularität haschend, viel Unheil an. Bei der amtlichen Wiedergabe von Reden des Kaisers mußte man161 11

Bühler, Deutsche Geschiditc, VI

Vom Sturz Bismarcks zum Ausbrudi des Ersten Weltkrieges dies unterdrückt oder anders formuliert werden. So hatte er am 4. Mai 1891 eine Ansprache im Rheinland mit den Worten geschlossen: „Ich habe nach wie vor die Überzeugung, daß das Heil nur im Zusammenhalten liegt. Einer nur ist Herr im Reiche und das bin ich, keinen anderen dulde ich. In dieser Gesinnung erhebe ich mein Glas und trinke auf die Provinz, sie blühe und gedeihe in alle Ewigkeit." Die nachträglich abgeschwächte Version lautete: „Ich bin der festen Uberzeugung . . . daß das Heil im Zusammenwirken aller Teile liegt und deshalb dem Monarchen in dem auf das Wohl des Ganzen gerichteten Streben zu folgen ist. Ich trinke mein Glas deutschen Weins auf die Rheinprovinz, möge sie blühen und gedeihen immerfort bis in Ewigkeit. Die Rheinprovinz lebe hoch! hoch! hoch!" Wie das „Einer nur ist Herr im Reiche und das bin ich" erregten weitere gegen die Reichsverfassimg verstoßende, anmaßende oder zum mindesten geschmacklose Äußerungen des Kaisers bereits in den ersten Jahren seiner Regierung die öffentliche Meinung. So kränkte Wilhelm die Bayern schwer, als er im November 1891 bei einem Besuch in das Goldene Buch der Stadt München schrieb: „Suprema lex regis voluntas esto!" Daß der Wille des Königs von Preußen und deutschen Kaisers für sie das oberste Gesetz sein sollte, empörte die Bayern. Wilhelm suchte sicli später zu entschuldigen, er habe damit gemeint, des Prinzregenten Luitpold Wunsch sei ihm Befehl, was natürlich niemand glaubte. — „Sic volo, sic iubeo" schrieb der Kaiser unter sein Bildnis, das er dem preußischen Kultusminister Gustav von Goßler schenkte. War schon das „so will idi, so befehle ich" an und für sich aufreizend, so noch mehr dadurch, daß es den ganzen Hexameter des römischen Satirendiditers Juvenal mit dem Schluß „sit pro ratione voluntas", „statt eines Grundes gelte mein Wille", in Erinnerung brachte. „Goßler zeigte das Bild erfreut über die Kaisergnade aller Welt, statt über den herrischen Ton ärgerlich zu werden. Das Wort wurde lange Zeit in einer dem Monarchen wenig wohlwollenden Art herumgetragen" (Rasdidau). Zu „suprema lex regis voluntas esto" schrieben die „Preußischen Jahrbücher" Anfang Dezember 1891: „Die Presse ruft die Verfassung an, fragt: wo sind die konstitutionellen Minister, und wettert gegen den Byzantinismus. Die Beamten raunen sich mit finstern Mienen scharfe Bemerkungen zu. Die Professoren flechten in ihre Vorlesungen historische und staatsrechtliche Betrachtungen ein, daß von je der Germane ein Königtum, aber kein unumschränktes gehabt habe. Die Geistlichen haben die Gelegenheit wahrgenommen, am letzten Sonntag zu predigen über den Spruch, daß das höchste Gesetz der Wille Gottes s e i . . . Die Aufregung ist deshalb so groß, weil die öffentliche Meinung jenen Spruch als eine Art Beleidigung empfunden hat, und weil damit eine bereits vorhandene Stimmung zum Ausdruck gebracht worden ist. Man hat das zufällige Wort nur als den Exponenten des subjektiven monarchischen Willens aufgefaßt, dem man sich rüstet, Widerstand zu leisten." So wirkte denn auch die Versicherung und Mahnung Wilhelms in seiner Rede beim Festmahl des brandenburgischen Provinzial-Landtags im Februar 1892 nicht beruhigend, sondern steigerte die allgemeine Verstimmung und die Bedenken: „Zu Großem sind wir noch bestimmt und herrlichen Tagen führe ich Euch noch entgegen. Lassen Sie sich nur durch keine Nörgeleien und durch mißvergnügtes Parteigerede Ihren 162

Persönlichkeit und Reden Wilhelms II. Blick in die Zukunft verdunkeln oder Ihre Freude an der Mitarbeit verkürzen. Mit Schlagwörtern allein ist es nicht getan, und den ewigen mißvergnüglichen Anspielungen über den Neuen Kurs und seine Männer erwidere ich ruhig und bestimmt: Mein Kurs ist der richtige und er wird weiter gesteuert."

163 11·

Die Reichskanzlerschaft Caprivis

Captivi und seine Mitarbeiter

Marschall und

Holstein

Zum Nachfolger Bismarcks als Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten ernannte Kaiser Wilhelm II. am 20. März 1890 den General Graf Leo von Captivi. Mitte April stellte dieser sich dem preußischen Abgeordnetenhaus vor und erklärte dabei, in die durch das Ausscheiden Bismarcks entstandene Lücke trete die Person des jungen Monarchen, doch bleibe der Kurs der alte. Tatsächlich traf dies trotz mancher Änderungen vorerst in höherem Grade zu, als man nach verschiedene Äußerungen des Kaisers und dem Widerhall, den sie fanden, annehmen möchte. Caprivi, 1831 in Berlin geboren, gehörte noch der Generation Bismarcks an; er hatte sich in den Feldzügen von 1864 bis 1870/71 ausgezeichnet, 1883/88 als Chef der Admiralität Tüchtiges geleistet und war dann kommandierender General eines Armeekorps geworden. Für den Charakter Caprivis ist bezeichnend, daß er beim Regierungsbeginn Wilhelms II. vom Amt des Chefs der Admiralität zurücktrat, weil der Kaiser auf den Bau von Schlachtschiffen drängte, Caprivi aber den Bau schneller Kreuzer und die Förderung der Torpedowaffe für vordringlicher hielt. Wie zuvor in das dem Offizier des Landheeres fremde Gebiet der Marine, arbeitete sich Caprivi auch jetzt verhältnismäßig schnell in den neuen Wirkungskreis ein; aber es fehlte ihm die Eigenschaft, die „dem führenden Staatsmann unentbehrlich ist, der Sinn für das Unwägbare". Es „ärgerte ihn, wenn man den Versuch machte, ihm vorzustellen, daß es zwischen Ja und Nein Zwischenstadien, Schattierungen gebe, die im diplomatischen Verkehr oft die Hauptrolle spielten" (Raschdau). Mißlich war auch, daß Caprivis rangältester Mitarbeiter in der Außenpolitik, der Badener Adolf Marschall von Bieberstein, der Nachfolger Herbert von Bismarcks als Staatssekretär im Auswärtigen Amt, ebenfalls ein Neuling in der Außenpolitik war; immerhin besaß Marschall im allgemeinen reiche politische Erfahrung, da er seit 1883 als badischer Gesandter und Bundesbevollmächtigter sein Land in Berlin vertreten hatte, und er hat dann auch in der Außenpolitik Bedeutendes geleistet. Den größten Einfluß auf die Gestaltung der deutschen Außenpolitik hatte von Bismarcks Sturz bis 1906 der Geheime Legationsrat im Auswärtigen Amt, Friedrich von Holstein. Die Ernennung zum Staatssekretär hat er immer abgelehnt, „er war weder dem Reichstag noch der öffentlichen Meinung verantwortlich, und, was noch schwerer wog, er war in letzter Hinsicht nicht in 164

Caprivi und seine Mitarbeiter der Lage, die Ausführung der Politik, die er geplant hatte, zu kontrollieren oder sie vor dem Reichstag zu verteidigen" (Frauendienst). Sich stets im Hintergrund haltend, wollte er den Kurs der Politik lenken. Dies gelang ihm weitgehend, denn Caprivi und Marschall waren auf den Rat und die Mitarbeit des ihnen in der Kunst der Diplomatie und an Erfahrung überlegenen Holstein angewiesen; dank seiner außerordentlichen Arbeitskraft und seines rastlosen Arbeitseifers wußte er über das gesamte Aktenmaterial wie sonst keiner Bescheid, auch verschaffte er sich auf geraden und krummen Wegen genaueste Kenntnis von dem Leben und Tun der für die Regierungsgeschäfte in Betracht kommenden Beamten und konnte so gegebenenfalls einen Druck auf sie ausüben. Er wurde als Sekretär der deutschen Botschaft in Paris in den Fall Arnim (S. 73) verwickelt, ging aber völlig rehabilitiert daraus hervor; das Gerede, er sei danach gesellschaftlich geächtet worden, ist falsch. Seine Feinde brachten ihn in den Ruf, ein nicht normaler Sonderling zu sein, der in seinem Verfolgungswahn jeden, von dem er sich bedroht glaubte, hinterrüdes bekämpfte und zu vernichten trachtete. Seit etwa 1885 wurde aus dem treuen Verehrer seines Meisters und Gönners Bismarck ein bitterer Kritiker, der an dem Menschen wie dem Politiker Bismarck nichts Gutes mehr anerkannte und sich berechtigt glaubte, hinter dessen Rücken eigene Politik gegen Rußland und für ein engeres Zusammengehen mit Österreich und England zu machen. Die Bismarcks, Vater und Söhne, zahlten ihm später seinen Haß mit gleicher Münze heim. Es „findet sich kein Beweis, daß Holstein Bismarcks Entlassung betrieben hätte. Aber indirekt hat er durch die einseitig übertriebene Kritik seiner Außenpolitik, durch die Hervorhebung seiner persönlichen Herrschsucht und durch die Stärkung der Neigung des Kaisers zum Selbstregieren darauf hingewirkt und den Boden bereiten helfen. Kam es zum Konflikt, stand er auf der Seite des Monarchen. . . . Ein halbes Menschenalter hindurch hat der Diplomat in nächster Nähe Bismarcks gearbeitet, ist von ihm dienstlich und privat ganz ungewöhnlich geschätzt und bevorzugt worden, ist in die geheimsten Verhandlungen und Verträge der auswärtigen Politik und die persönlichen und sachlichen Triebkräfte der wichtigsten politischen Vorgänge eingeweiht gewesen, er selbst ein Handlanger eines höheren Willens und zugleich ein Handelnder aus eigener Einsicht. Eine Kritik aus seinem Munde an dem Kanzler hat trotz aller mannigfachen Bedingtheit ihr Gewicht. Ein zweites halbes Menschenalter hindurch stand der Staatsmann und Politiker bestimmend oder doch maßgebend im Mittelpunkt der deutschen Politik; als einer der vornehmsten Ratgeber ihrer Leiter, des Reichskanzlers und des Staatssekretärs des Auswärtigen Amtes, übte er einen Einfluß auf die Regierung und die hohe Personalpolitik aus. Obwohl er längst nicht in allem seinen Willen durchsetzte, längst nicht für alle Entscheidungen die eigentliche Verantwortung trägt, er bleibt die Schlüsselfigur, und zwar auch im deutschen Kräftespiel, in der Auseinandersetzung mit den Anwandlungen des persönlichen Regiments Kaiser Wilhelms II." (Frauendienst).

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Kanzlerschaft Caprivis — Außenpolitik AUSSENPOLITIK Nichterneuerung

des Rückversicherungsvertrags. Abschluß des russischfranzösischen Militärabkommens 1894

Trotz der Versicherung Caprivis, der Kurs bleibe der alte, wich schon die erste Entscheidung, die in der Außenpolitik zu treffen war, von ihm ab. Der geheime Rückversicherungsvertrag mit Rußland vom 18. Juni 1887 war auf drei Jahre abgeschlossen worden. Bereits Mitte Februar 1890 nahm der russische Botschafter in Berlin Schuwalow mit Bismarck die Besprechungen über die Erneuerung des Vertrages auf. Ehe der Botschafter zur Berichterstattung nach Petersburg abreiste, ließ ihm Kaiser Wilhelm durch Bismarck sagen, er sei geneigt, den Vertrag zu erneuern. Sofort nach seiner Rückkehr aus Petersburg am 17. März teilte Schuwalow Bismarck mit, der Zar wolle den Vertrag „auf sechs Jahre verlängern und zwar in der Absicht, die Vereinbarung als eine dauernde anzusehen". Als nun Bismarck auf seine unmittelbar bevorstehende Entlassung hinwies, erklärte Schuwalow, er könne unter diesen Umständen den Vertrag nicht erneuern, sondern müsse neue Befehle seiner Regierung abwarten. Am 21. März telegraphierte Schuwalow von Berlin aus dem russischen Außenminister Giers, Kaiser Wilhelm habe ihn zu sich eingeladen und sein Bedauern darüber ausgesprochen, daß er sich genötigt gesehen hätte, Bismarck wegen dessen Gesundheitszustand zu entlassen; er leide an einer derartigen Überreizung der Nerven, daß man jeden Augenblick sich auf eine schwere Erkrankung gefaßt machen müsse. Der Kaiser sei dann fortgefahren: „Ich wünsche, daß Ihr Souverän, der mein Freund ist, wisse, in unseren Beziehungen werde nichts geändert werden; die Politik des Kanzlers war nicht die seine, sondern sie war die meines Großvaters und ist die meine . . . Bei meiner Thronbesteigung verbreitete sich das Gerücht, ich sei kriegslustig und strebe nach Kriegsruhm; daran ist nichts. Ich will nur Frieden nach außen und Ordnung im Innern." Zu diesem Telegramm machte der Zar die Randbemerkung; „Das ist genau das, was ich will." Schuwalow wurde auch auf Befehl des Zaren sofort telegraphisch aufgefordert, dessen Dank, Befriedigung und Bereitwilligkeit, die Verhandlung zum Abschluß zu bringen, dem Kaiser Wilhelm auszusprechen. Als der russische Außenminister dem deutschen Botschafter Schweinitz in Petersburg am 14. Mai Schuwalows Telegramm vom 21. März vorlas, war in Berlin die Aktion gegen die Erneuerung des Vertrags bereits im Gange; die treibende Kraft dabei war Holstein. Er fand bei Caprivi und Marschall um so leichter Gehör, als beide einer Fortführung von Bismarcks ungemein komplizierter Außenpolitik mit ihrem kompliziertesten Stück, dem Rückversicherungsvertrag, von vornherein abgeneigt und auch gar nicht fähig dazu waren. Eine Konferenz der Legationsräte Holstein und Ludwig Raschdau und des Unterstaatssekretärs Max Graf von Berchem mit Caprivi am 23. März kam zu dem Ergebnis: Gegen eine Erneuerung des Rückversicherungsvertrages sprechen: er „hat den Zweck, kriegerische Ereignisse hervorzurufen, deren Lokalisierung äußerst unwahrscheinlich ist, wir können demnach leicht auf diesem Wege den allgemeinen Krieg herbeiführen . . . Der Ver166

Nichtemeuerung des Rückversidierungsvertrages trag liefert uns schon in Friedenszeiten in die Hand der Russen, sie erhalten eine Urkunde, womit sie jeden Augenblick unsere Beziehungen zu Österreich, Italien, England und der Pforte trüben können . . . Der Vertrag gewährt keine Gegenseitigkeit. Aller Vorteil daraus kommt den Russen zu . . . Die Vereinbarung steht, wenn nicht dem Buchstaben, so jedenfalls dem Geiste des Dreibundes direkt entgegen . . . Wir haben demnach allen Grund die durch russische Initiative gegebene Gelegenheit, von der Abrede zurückzutreten, nicht unbenutzt zu lassen; es muß dies in der freundschaftlichsten Weise geschehen". Ende März hielten Caprivi und der eben in Berlin anwesende Botschafter von Schweinitz dem Kaiser Vortrag und rieten von einer Erneuerung des Vertrages ab. Uber den Inhalt der Unterredung gab Caprivi einen Bericht zu den Akten: der Kaiser befahl „daß der Herr Botschafter bei seiner Rückkehr nach Rußland dort an geeigneter Stelle aussprechen solle, wie diesseits der bestimmte Wille vorliege, nach wie vor die besten Beziehungen zu Rußland zu unterhalten, wie aber in dem Personalwechsel, der sich in Deutschland gegenwärtig vollzogen und der uns das Bestreben nahelege, fürs erste uns ruhig zu verhalten und in keinerlei weitgehende Verhandlungen einzutreten, der Grund liege, weshalb wir für geratener hielten, von einer Erneuerung des Vertrages abzusehen". Bald nach seiner Ankunft in Petersburg teilte Schweinitz Giers mit, die deutsche Regierung beabsichtige gegenwärtig nicht, den am 18. Juni dieses Jahres ablaufenden Vertrag zu erneuern, doch bleibe „alles beim alten, wenn nun auch nichts unterschrieben würde". Giers antwortete mit der Versicherung, daß sein Monarch „auch ohne Vertrag nie daran denken würde, aus der Neutralität, welche dieser uns für gewisse Fälle zusichere, herauszutreten und fügte hinzu, daß nun also vorläufig über diese Angelegenheit weder unter uns beiden, noch zwischen ihm und seinem erhabenen Souverän weiter gesprochen zu werden brauche, und in dieser Weise, in freundschaftlichem Tone, schloß unsere Unterredung, ohne Verstimmung zu hinterlassen". Mitte Mai schrieb Schweinitz an Caprivi, Giers wünsche unbedingt, daß „etwas Schriftliches vorhanden sei, welches die wesentliche Grundlage der jetzt bestehenden guten Beziehungen vom Wechsel der Personen unabhängig mache", und sei bereit, der deutschen Regierung bedenklich erscheinende Bestimmungen des Rückversicherungsvertrages und das „sehr geheime Zusatzprotokoll" fallen zu lassen; Giers habe auch erklärt: „Es bedürfe ja gar keines Vertrages, ein Austausch von Noten würde genügen — vielleicht ein Briefwechsel zwischen den Monarchen." Bei den Beratungen in Berlin über den Vorschlag von Giers nahm man besonders daran Anstoß, daß er im Hinblick auf die öffentliche Meinung in Rußland an der Geheimhaltung des „Schriftlichen" festhielt, gleichviel in welcher Form es zustande käme: eine Abmachung mit Rußland „würde für uns nur als öffentlicher Akt denkbar sein, damit unsere Verbündeten sich überzeugen könnten, daß weder wir noch Rußland vertragsmäßige Rechte zu verkürzen beabsichtigen" (Holstein). Deutschland ist außerstande, zur Zeit auf geheime Abmachungen einzugehen, die, auch wenn sie sich inhaltlich mit den bestehenden Verträgen decken, doch geeignet sind, eben wegen ihrer Geheimhaltung, die deutsche Politik in ein verfängliches Licht zu stellen" (Marschall). Selbst gegen Vereinbarungen 167

Kanzlerschaft Caprivis — Außenpolitik mit Rußland, die veröffentlicht würden, erhob Caprivi Einwände wie: „Eine Annäherung Deutschlands an Rußland würde unsere Verbündeten uns entfremden, England schädigen und unserer eigenen Bevölkerung, die sich in den Gedanken des Dreibundes immer mehr eingelebt hat, unverständlich und unsympathisch sein . . . Der Wert einer Allianz von Regierung zu Regierung reduziert sich erheblich, wenn das Bündnis nicht die Stütze in der öffentlichen Meinung findet. Ob diese in Deutschland dahin zu bringen wäre, ihr Heil im unverbrüchlichen Festhalten an Rußland zu suchen, ist sehr die Frage; daß aber die öffentliche Meinung in Rußland uns nicht als gleichberechtigten Bundesgenossen akzeptieren würde, ist fraglos." Ende Mai legte Caprivi in einem ausführlichen Schreiben an Schweinitz nochmals die Gründe gegen eine Erneuerung des Vertrages dar und Schloß: „Ich nehme an, daß Eure p. p. in der Lage sein werden, an der Hand der vorstehenden Ausführungen die jüngsten Offerten des russischen Ministers (Giers) höflich und freundschaftlich, aber definitiv abzulehnen, ohne daß auf russischer Seite eine Verstimmung zurückbleibt." Schweinitz richtete diesen Auftrag am 4. Juni Giers aus und schrieb noch am gleichen Tage Caprivi: „Herr von Giers war noch zu keinem bestimmten Entschlüsse gekommen, als ich ihn nach einstündigem Gespräch verlassen mußte . . . Ich wiederholte ihm noch beim Abschiede, dasjenige, was ich ihm schon im Laufe der Unterredung angeraten hatte, nämlich das Nächstliegende sei: die unsere Monarchen vereinigenden Bande der Freundschaft noch enger zu gestalten" und hierzu werde sich ja in zwei Monaten die schönste Gelegenheit finden, selbst wenn dabei gar nicht von Politik gesprochen werden sollte. Schweinitz spielte damit auf den für Mitte August geplanten Besuch Kaiser Wilhelms in Petersburg an. Der Besuch, bei dem Caprivi den Kaiser begleitete, verlief dann auch in einer Weise, daß sich der Zar hernach sehr befriedigt äußerte. Giers und Caprivi hatten bei dieser Gelegenheit besonders das Verhalten Rußlands zu Bulgarien und die Meerengenfrage besprochen und dabei festgestellt, daß ihre Ansichten übereinstimmten. Anfang September kam der russische Geschäftsträger in Berlin, Graf Murawiew, zu Caprivi, las ihm eine Fixierung des Gespräches zwischen diesem und Giers vor und bat ihn um eine schriftliche Anerkennung des Inhalts. In seiner Aufzeichnung hierüber bemerkte Caprivi: Obschon ich dies „mit gutem Gewissen gekonnt hätte, habe ich es mit dem Bemerken, Herr von Giers werde sich auch mit einer mündlichen Äußerung meinerseits begnügen, abgelehnt, um nichts Schriftliches zu geben". Bald darauf versicherte Giers dem deutschen Geschäftsträger in Petersburg, Murawiew habe in seinem Ubereifer von sich aus eine schriftliche Bestätigung verlangt, doch es bedürfe ihrer keineswegs. Ihre Unterlassung hat aber doch dazu beigetragen, daß die russische Regierung immer mehr zu der Uberzeugung kam, Deutschland habe sich für Österreich und England entschieden. Rußland fühlte sich isoliert und näherte sich Frankreich. Als am 23. Juli 1891 ein französisches Geschwader unter dem Admiral Gervais in Kronstadt einlief, wurde es von der Bevölkerung und den Mannschaften der russischen Schiffe begeistert begrüßt. Der Zar sandte an den französischen Präsidenten Carnot ein Telegramm: „Die Anwesenheit des glänzenden französischen 168

Nichterneuerung des Rüdcversicherungsvertrages Geschwaders, das in diesem Augenblick vor Kronstadt ankert, ist ein neues Zeichen für die tiefen Sympathien, die Frankreich und Rußland vereinen." Carnot erwiderte in demselben Sinne. Bei einem Besuch in Moskau wurden Gervais und seine Offiziere überschwenglich gefeiert. Der Admiral Schloß seinen Toast: „Auf Sie und uns ist jetzt die Aufmerksamkeit der ganzen Welt gerichtet. Ich trinke auf das heilige Moskau, das erhabene russische Volk und seinen Zaren." General Tschernajew versprach: „Ruft man bei Ihnen: Bürger zu den Waffen!, so geschieht es auch bei uns. Wir werden unsere Bataillone von der Weichsel bis zur Kamschatka formieren. Ich trinke auf das ritterliche Volk! Es lebe Paris, die Hauptstadt der zivilisierten Welt!" Die Erneuerung des Rüdcversicherungsvertrages ist, wie eine Durchsicht der Akten zeigt, an der Ablehnung der deutschen Regierung gescheitert. Abgerissen war der von Bismarck so sorgfältig gespannte „deutsch-russische Draht" mit der Weigerung Caprivis, etwas „Schriftliches zu geben"; mit Bedacht hatte Bismarck darauf gedrungen, es müsse ein schriftlicher Vertrag vorliegen, um in der russischen Politik die Hand mit im Spiele zu haben. Schon zu den Begleiterscheinungen des französischen Flottenbesuches wäre es bei Bestehen eines deutsch-russischen Vertrages nicht gekommen. Die Meinungen über ihre Bedeutung gingen allerdings auseinander. Bei dem Diner in Petersburg zu Ehren der französischen Flotte wurde die Marseillaise gespielt und der Zar hörte, wie in solchen Fällen üblich, stehend zu. Damit schien manchen die Kluft zwischen dem republikanischen Frankreich und dem autokratischen Rußland überbrückt. Andere hoben hervor, daß der Zar auf die Frage von Giers, ob die Marseillaise gespielt werden dürfe, antwortete: kann ich eine andere Hymne erfinden? und dann nach einigen Takten gerufen habe „assez" (genug). Der deutsche Geschäftsträger in Paris, von Schön, berichtete am 20. August 1891 nach Berlin: „Die Freude der Franzosen über die Besieglung der russischen Freundschaft hat die Hitzköpfe zu einem derartigen Übermaß von Kundgebungen der Russenverehrung verführt, daß sie damit auf dem besten Wege waren, die Errungenschaften, die sie feierten, aufs Spiel zu setzen . . . Die französische Regierung hat sich beeilt, in der ihr nahestehenden Presse dringend zu mahnen, bei erwiderten russophilen Kundgebungen Maß und Ziel zu halten . . . Die Presse hat denn auch eine gewisse Mäßigung der Freudenausbrüche erreicht." Man spreche zwar schon von einem russisch-französischen „Bündnis", aber dem Zaren widerstrebe es bestimmt nach wie vor, sich mit einem Staate zu verbünden, der eine solch revolutionäre Vergangenheit und Tendenz habe wie Frankreich. Hierin täuschte sich Schön freilich, denn zu eben dieser Zeit, am 21. und 27. August, fand zwischen Giers und dem französischen Außenminister Ribot ein Schriftwechsel statt, der nach einem Bericht des französischen Diplomaten Lannes, Marquis de Montebello, einem Bündnisvertrag gleichkam. Während des Sommers 1892 trafen sich Giers und Ribot in dem savoyischen Badeort Aixles-Bains und begannen über ein französisch-russisches Militärabkommen zu verhandeln, das nach langem Zögern Zar Alexanders III. Anfang 1894 abgeschlossen wurde. Die Nichterneuerung des Rüdcversicherungsvertrages ist oft als einer der schwer-

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Kanzlerschaft Caprivis — Außenpolitik sten Fehler der deutschen Außenpolitik bezeichnet worden, der Rußland in die Arme Frankreichs getrieben habe. Bei einer Erneuerung des Vertrages oder sonst einer schriftlichen deutsch-russischen Vereinbarung wäre denn wohl auch das Militärabkommen von 1894 unterblieben, das Bestimmungen enthielt wie: Wird Frankreich von Deutschland oder von Italien mit Deutschlands Unterstützung angegriffen, so wird Rußland mit allen seinen verfügbaren Streitkräften Deutschland angreifen, ebenso wird Frankreich Deutschland angreifen, wenn dieses oder Österreich, von Deutschland unterstützt, Rußland angreift; mobilisiert auch nur eine Macht des Dreibundes, so werden Frankreich und Rußland sofort alle ihre Streitkräfte mobilisieren und an die Grenze schicken; dieses französisch-russische Abkommen soll dieselbe Dauer wie der Dreibund haben. Dieser Vertrag stärkte das Selbstbewußtsein und die Stellung Frankreichs innerhalb der Großmächte in hohem Grade, und die Bestimmung der Militärkonvention, im Falle eines Vorgehens Deutschlands oder des Dreibundes gegen Rußland oder Frankreich müßten zu sofortigem Beistand 1 300 000 Mann französischer und 700 000 bis 800 000 Mann russischer Truppen eingesetzt werden, steigerte die Rüstungen Frankreichs und Rußlands und damit den Rüstungswettlauf der Großmächte, was natürlich nicht zur Festigung des europäischen Friedens beitrug. All das berechtigt aber nodi nicht, den Verzicht auf den Rückversicherungsvertrag als den Ausgangspunkt für all die Schwierigkeiten zu betrachten, in die Deutschlands Außenpolitik mehr und mehr geriet und die schließlich zum Ersten Weltkrieg und von da aus zu weiterem Unheil führten. Derartige geschichtliche Entwicklungen und Katastrophen sind nie auf einen einzigen Nenner zu bringen. Zwischen Frankreich und Rußland hatten schon seit längerem freundschaftliche Beziehungen bestanden, deren Ausbau zu einem Bündnis Bismarck durch den Rückversicherungsvertrag vorbeugen wollte. Vielleicht wäre es auch ohne dessen Kündigung irgendwann zu einem russisch-französischen Bündnis gekommen; der tatsächliche Abschluß war jedenfalls die Folge der Nichterneuerung des Vertrages. Vorübergehend bestand dann aber doch ein gutes Einvernehmen zwischen Kaiser Wilhelm II. und Zar Nikolaus II., dem Nachfolger Alexanders. Auch die Vermutung, Rußland sei es bei dem Bündnis mit Frankreich mehr um einen Rückhalt gegen England als gegen Deutschalnd gegangen, hat manches für sich. Immerhin wirkte sich die Ablehnung der von Rußland so dringend gewünschten Erneuerung des Vertrages oder wenigstens sonst einer schriftlichen Vereinbarung für die internationale Stellung Deutschlands nachteilig aus: „Die deutsche Sicherungspolitik in Europa hatte mit der Preisgabe des russischen Drahtes und mit dem Zusammenschluß der beiden kontinentalen Flügelmächte die Bewegungsfreiheit in Europa verloren, die ihr die komplizierte, aber durch ihre Vorsicht starke Bismarcksche Friedenspolitik seit 1871 bisher gewahrt hatte" (Herzfeld).

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Sansibarvertrag und andere Kolonialvertxäge Sansibarvertrag und andere Kolonialverträge. Gründung des Alldeutschen Verbandes Die Abkehr der russischen Regierung von Deutschland und ihre Hinwendung zu Frankreich gingen zum Teil auf die deutsch-englischen Vereinbarungen im Sommer 1890 und auf die Erneuerung des Dreibundes im Mai 1891 zurück. Als Herbert von Bismarck im Herbst 1889 in London war (S. 122), schlug ihm der englische Kolonialminister Josef Chamberlain vor, Deutsch-Südwestafrika gegen Helgoland einzutauschen, das die Engländer 1807 Dänemark entrissen hatten. Herbert berichtete hierüber seinem Vater, doch wurde die Angelegenheit zunächst nicht weiter verfolgt. Anfang Dezember schrieb der deutsche Botschafter in London, Graf Paul von Hatzfeld, an den Reichskanzler, hier habe sich in kolonialen Fragen, bei denen deutsche und englische Interessen „konkurrieren, nicht nur in den beteiligten geschäftlichen Kreisen, sondern im großen Publikum eine gewisse Mißstimmung eingeschlichen". Sie sei in erster Linie auf die Entwicklung in Sansibar zurückzuführen, wo durch uns der englische Handel empfindlich geschädigt worden sei. „Es hat sich im Anschluß hieran der Eindruck festgesetzt, daß England in seinen berechtigten kolonialen Bestrebungen jetzt überall auf deutsche Interessen stoßen werde, und daß jede Verständigung zwischen den beiden Regierungen über Begrenzung ihrer Interessensphären stets zu einer neuen und unbequemen Beschränkung der englischen Expansionsbedürfnisse führen müsse. Diese unberechtigte Auffassung würde an sich wohl keine besondere Beachtung verdienen, wenn sie nicht eine durch die hiesigen Verhältnisse allein erklärliche Rückwirkung auf die Regierung ausübte." Außerdem wies Hatzfeld als Grund für das Mißtrauen maßgebender englischer Kreise auf die „angebliche" Verteilung von Waffen an den Sultan von Witu hin; 1885 hatten die Brüder Denhardt mit ihm einen Handels- und Schutzvertrag abgeschlossen und für das an der ostafrikanischen Küste gelegene Wituland einen kaiserlichen Schutzbrief erhalten. Nun würden dem Sultan von Witu „die feindlichsten Absichten gegen England zugeschrieben und aus der Überlassung von Waffen an ihn wird der Schluß gezogen, daß die Deutsche Ostafrikanische Gesellschaft den Hintergedanken hegt, ihn und seine Macht eventuell später gegen englische Interessen ins Feuer zu schicken". Nach wiederholtem Meinungsaustausch zwischen London und Berlin wurde am 1. Juli 1890 der deutsch-englische Vertrag „über Kolonien und Helgoland", der „Sansibarvertrag" von dem deutschen Reichskanzler und dem britischen Botschafter in Berlin unterzeichnet. Der Vertrag regelte die Grenzen der deutsch-englischen Interessengebiete in Ost- und Südwestafrika und im Togoland; er bestimmte außerdem: Deutschland überläßt seine bisherige Schutzherrschaft über das Wituland und über Uganda England; gesteht ihm das Protektorat über das Sultanat bis auf den von der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft gepachteten Küstenstrich zu; England tritt Helgoland an den deutschen Kaiser ab. Ohne den Besitz von Helgoland hatte der Nordostseekanal im Kriegsfalle keinen Wert und war die Nordseeküste schwer zu verteidigen. Die deutsche Regierung kam deshalb Englands Wünschen in den afrikanischen Kolonialfragen so weit entgegen. 171

Kanzlerschaft Caprivis — Außenpolitik Anders urteilte mit wenigen Ausnahmen die öffentliche Meinung in Deutschland. Man verglich die kleine Insel Helgoland, die in ihrem damaligen Zustand allmählicher Vernichtung durch die Einwirkung des Meeres entgegenzugehen schien, mit dem, was in Afrika an Rechten und vor allem an Zukunftsaussichten preisgegeben wurde; träumten doch schon viele von einem großen deutsch-ostafrikanischen Kolonialreich von Sansibar bis zu den Quellen des Nils; jedenfalls war anzunehmen, daß Deutschand bei zähem Verhandeln von den Engländern mehr hätte erlangen können als den der Insel Sansibar gegenüberliegenden Küstenstrich, immerhin ein nicht zu unterschätzender Gewinn, weil das Hinterland in deutscher Hand war. Der Begründer der deutsch-ostafrikanischen Kolonie, Karl Peters, spottete: „Wir haben die Badewanne Helgoland gegen die drei Königreiche Witu, Uganda und Sansibar eingetauscht." Uber den Sansibarvertrag erbitterte Kreise schlossen sich im Frühjahr 1891 unter dem Vorsitz von Peters in dem „Allgemeinen deutschen Verband", seit 1894 „Alldeutscher Verband" zusammen; bei der Rolle, die dieser während fast fünfzig Jahren in außen- und innenpolitischen Bestrebungen der deutschen Nationalisten spielte, eine bedenkliche Auswirkung des Sansibarvertrages. Gemäß seinen Satzungen hatte sich der Alldeutsche Verband zur Aufgabe gestellt: „1. Belebung des vaterländischen Bewußtseins in der Heimat und Bekämpfung aller der nationalen Entwicklung entgegengesetzten Richtungen. 2. Pflege und Unterstützung deutschnationaler Bestrebungen in allen Ländern, wo Angehörige unseres Volkes um die Behauptung ihrer Eigenart zu kämpfen haben und Zusammenfassung aller deutschen Elemente auf der Erde für diese Ziele. 3. Förderung einer tatkräftigen deutschen Interessenpolitik in Europa und Ubersee, insbesondere auch Fortführung der deutschen Kolonialbewegung zu praktischen Ergebnissen." In Paris rief der deutsch-englische Vertrag „Uber die Kolonien und Helgoland" eine starke Verstimmung hervor. Der französische Außenminister vermutete, es handle sich auch um geheime Abmachungen, bei denen es wohl um deutsche Unterstützung der mit französischen Interessen konkurrierenden englischen in Ägypten gehe. Die französische Regierung wies nun auf einen Vertrag mit England über Sansibar von 1862 hin, dem Deutschland 1886 beigetreten war, und forderte eine Kompensation, weil jetzt die damals festgelegte Unabhängigkeit des Sultans und sein Besitzstand angegriffen würden. Die deutsche Regierung machte dagegen geltend, nur wenn dies gegen den Willen des Sultans geschehe, werde der Vertrag verletzt, Deutschland sei aber bereit, den Sultan ganz nach seinen Wünschen zu entschädigen. Nach einem Notenaustausch zwischen Berlin und Paris einigten sich im November 1890 die beiden Staaten: „Die Regierung der französischen Republik erhebt keinen Einspruch gegen die Erwerbung der festländischen Besitzungen des Sultans von Sansibar und der Insel Mafia durch Deutschland, und letzteres erkennt die Schutzherrschaft Frankreichs über Madagaskar mit allen ihren Folgen an." Bereits Anfang August hatten England dem Protektorat Frankreichs in Madagaskar und Frankreich dem Protektorat Englands in Sansibar zugestimmt. — Ein deutsch-englischer Vertrag von Mitte November 1893 sicherte der im Westen an die englische Kolonie Nigeria grenzenden deutschen Kolonie Ka172

Erneuerung des Dreibundvertrages

merun das Südufer des Tsadsees, „beseitigte die jahrelangen Zwistigkeiten zwischen deutschen und englischen Unternehmern und gewährte dem deutschen Unternehmergeist ein reiches Feld der Tätigkeit" (Marschall). In ähnlicher Weise legte ein Abkommen mit Frankreich Mitte März 1894 Schwierigkeiten bei, die sich aus der Nachbarschaft deutscher und französischer Kolonialgebiete am Tsadsee, im Osten von Kamerun und östlich Togo ergaben. An den Zugeständnissen der deutschen Regierung bei den Verhandlungen mit England und Frankreich nahmen die unbedingten Anhänger kolonialer Ausdehnung Anstoß; diese Vereinbarungen förderten indes trotz verschiedener Aufstände der Eingebornen in Ostafrika, das im Einvernehmen mit der Deutsch-Ostafrikanischen Gesellschaft 1890 Kronkolonie wurde, in Kamerun und Südwestafrika, die innere Festigung und den wirtschaftlichen Aufschwung der Kolonien.

Erneuerung des

Dreibundvertrages

Bei einer Zusammenkunft Caprivis und Crispís in Mailand November 1890 regte der italienische Ministerpräsident eine baldige Erneuerung des Dreibundes an, obwohl er erst am 30. Mai 1892 ablief. Nach Verhandlungen in Wien und Berlin unterzeichneten hier am 6. Mai 1891 Caprivi und die Vertreter Österreichs und Italiens den erneuerten Dreibundvertrag und das ihm angeheftete Protokoll. Dem ursprünglichen Vertrag von 1882 waren 1887 zwei Sonderverträge beigegeben worden. Jetzt wurden die drei Verträge in einem zusammengefaßt. Die wichtigste dieser Ergänzungen enthielt Artikel IX: „Deutschland und Italien verpflichten sich zur Aufrechterhaltung des territorialen Status quo in den nordafrikanischen Gebieten am Mittelmeer: Cyrenaika, Tripolis und Tunis . . . Wenn sowohl Deutschland als auch Italien nach reiflicher Prüfung der Lage unglücklicherweise erkennen, die Aufrechterhaltung des Status quo werde unmöglich, verpflichtet sich nach einem vorausgegangenen formellen Übereinkommen Deutschland, Italien bei jeder Aktion zu unterstützen, sei es Okkupation oder eine andere Art der Garantie, die Italien in diesen Gebieten im Interesse des Gleichgewichtes und einer legitimen Kompensation unternehmen würde; auch werden in einem derartigen Falle sich die beiden Mächte um ein ebensolches Ubereinkommen mit England bemühen." Artikel XIV setzte die Dauer des Dreibundes auf sechs Jahre fest; kündigt ihn keiner der drei Vertragschließenden ein Jahr zuvor, so bleibt er weitere sechs Jahre in Kraft. — Im ersten Punkt des Protokolls versprechen sich die drei Mächte gegenseitig Meistbegünstigung in Wirtschaftsangelegenheiten (Finanzen, Zölle, Eisenbahnen), soweit dies die Erfordernisse des eigenen Staates gegenüber anderen Staaten zulassen. Gemäß Punkt 2 des Protokolls werden sich die Vertragschließenden bemühen, England, nachdem es durch das Mittelmeerabkommen bereits prinzipiell den Forderungen dieses Vertrages (Artikel VI, übernommen aus dem Vertrag von 1887, vgl. S. 108) für die eigentlich orientalischen Gebiete der Türkei beigetreten ist, bei gegebener Gelegenheit zu einem entspre173

Kanzlerschaft Capiivis — Außenpolitik chenden Schritt für die nordafrikanischen Gebiete am zentralen und östlichen Mittelmeer einschließlich Marokkos zu bewegen. „Eurer Majestät melde ich, daß der Vertrag soeben von dem Herrn Reichskanzler und den Botschaftern von Österreich-Ungarn und Italien unterzeichnet wurde", telegraphierte Staatssekretär Marschall am 6. Mai 1891 an Kaiser Wilhelm. „Hurrah, Durch!" bemerkte dazu Wilhelm an dem Rande des Telegramms. Allerdings trug die Erneuerung des Dreibundes viel zur Annäherung und schließlich zum Bündnis Frankreichs und Rußlands bei, besonders auch, weil beide Mächte befürchteten, Großbritannien könnte gegen sie mit dem Dreibund zusammengehen. Für die deutsche Regierung wäre es unter diesen Umständen rätlich gewesen, sich England möglichst enge anzuschließen; Verhandlungen hierüber ließ die Befriedigung, womit der englische Premier Salisbury die amtliche Mitteilung der deutschen, österreichischen und italienischen Regierung durch den deutschen Botschafter Hatzfeld aufnahm, als aussichtsreich erscheinen. Ein eigentlicher Bündnisvertrag kam wegen des parlamentarischen Systems in England allerdings nicht in Betracht, weil jede Neuwahl einen Kurswechsel der englischen Politik zur Folge haben konnte; wenn aber England sicher war, Deutschland werde, soweit es seine Interessen irgendwie zuließen, auf der Seite Großbritanniens stehen, dann konnte Deutschland jeweils wenigstens auf die in der internationalen Politik schwer ins Gewicht fallende diplomatische Unterstützung Englands rechnen. Im Vertrauen, der Dreibund sei stark genug, den Frieden zu sichern oder einen etwaigen russisch-französischen Angriff abzuwehren, entschloß sich die deutsche Regierung jedoch nicht zu einer festen und dauernden Anlehnung an England, bei der Deutschland gewissermaßen der Juniorpartner der Weltmacht England geworden wäre. Der Dreibund war indes nicht so stark, wie Kaiser Wilhelm, Marschall, Holstein und Hatzfeld wähnten und wie es bei der Ausdehnung des Länderkomplexes und der Bevölkerungszahl des Dreibundes scheinen mochte. Der überwiegende Teil der Bewohner von Österreich-Ungarn, Slawen und Magyaren, waren nicht deutschfreundlich gesinnt, und die Nationalitätenkämpfe hatten ein derartiges Ausmaß angenommen, daß bereits von einer baldigen Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie gesprochen wurde, oder mindestens davon, daß das Bündnis mit ihr immer mehr an Wert verliere. Auf Italien war kein rechter Verlaß, hauptsächlich wegen der alten, latent weiterbestehenden, den Trentino, Triest, Trient, die Adria und den Balkan betreffenden Interessengegensätze zu Österreich. Überdies trat Ende Januar 1891 der treu zu Deutschland stehende Crispi zurück. Sein Nachfolger als Ministerpräsident wurde Antonio Marchese di Rudini; er stimmte zwar der von Crispi eingeleiteten Erneuerung des Dreibundes zu, neigte aber zu Frankreich hin. Aus der Nichtemeuerung des Rückversicherungsvertrages mit Rußland und der Erneuerung des Dreibundes ergab sich eine Umklammerung der europäischen Mitte durch Frankreich, in dem der Wunsch nach einem Revanchekrieg nie ganz erlosch und von Zeit zu Zeit jäh aufflammte, und durch Rußland, von dem man nie wußte, ob und wann es wegen Fragen der Balkanpolitik gegen Österreich losschlagen würde, an dessen Seite dann das hierzu vertraglich verpflichtete 174

Stellungnahme bei Streitigkeiten in Ägypten, Siam und Kongo Deutschland ebenfalls den Kampf aufnehmen mußte. Andererseits geriet England bei seiner Kolonialpolitik des öfteren in schwere Konflikte mit Frankreich und Rußland. Deutschland hätte dies wiederholt Gelegenheit geboten, die unmittelbar nach Abschluß des Dreibundvertrages versäumte Gelegenheit einer Annäherung an England nachzuholen oder Rußland und Frankreich soweit entgegenzukommen, daß sich das Verhältnis zu ihnen günstiger gestaltete. Die schwierige Lage, in die sich die deutsche Außenpolitik mehr und mehr verstrickte, ist indes nicht auf diese oder jene einzelnen Fehlgriffe oder Unterlassungen zurückzuführen, sondern war bedingt durch die Preisgabe des von Bismarck eingehaltenen Kurses und durch die Unfähigkeit, einen neuen folgerichtig zu steuern. Die deutsche Außenpolitik pendelte in einem schon damals viel verspotteten Zickzackkurs hin und her. Bei dem In- und Durcheinander der europäischen Politik während der folgenden zwei Jahrzehnte hätte freilich nur ein Staatsmann wie Bismarck das Reich in der Mitte Europas vor dem Unheil, das schließlich darüber hereinbrach, vielleicht bewahren können.

Deutschlands Stellungnahme bei Streitigkeiten in Ägypten, Siam und Kongo Mit der englischen Okkupation Ägyptens 1882 (S. 97) hatte sich Frankreich immer noch nicht abgefunden. Als Führer der Opposition forderte Gladstone die Abberufung der englischen Truppen aus Ägypten. Die Franzosen hofften, dies werde bald geschehen; um so mehr waren sie dann enttäuscht, als Gladstone, nachdem er Ministerpräsident geworden war, am 1. Mai 1893 vor dem Unterhaus erklärte, da die bei der Okkupation übernommene Verpflichtung, am Nil vollkommen geordnete und gesicherte Zustände herzustellen, nicht gelöst sei, könne die segensreiche englische Kontrolle nicht aufhören. Wann es möglich sein werde, Ägypten wieder den Ägyptern zurückzugeben, vermöge er nicht vorauszusagen, in absehbarer Zeit werde es kaum der Fall sein. Der Sultan, nominell nach wie vor Oberherr von Ägypten, beabsichtigte nun, sich in der ägyptischen Angelegenheit an die Großmächte zu wenden, was England sehr unerwünscht war; dem deutschen Botschafter in Konstantinopel gelang es, den Sultan davon abzubringen. Uberhaupt hat wohl Deutschland in der Tat, wie Marschall am 9. Juli dem deutschen Botschafter in London „zur angemessenen Verwertung" bei Besprechungen mit englischen Ministern schrieb, Englands Interessen im Orient „seit langem unterstützt, weil uns ein Gegengewicht gegen eine französisch-russische Verbrüderung im Mittelmeer im Interesse unserer Verbündeten, speziell Italiens, und ebenso im Interesse des allgemeinen Weltfriedens erwünscht erscheint... Den größten moralischen Dienst leisten wir aber den Engländern vor allem durch die Tatsache der Existenz des Dreibundes. Wir werden auch ferner eine zielbewußte englische Politik in Ägypten und in der Levante gern unterstützen". Würde aber England die ihm zugefallene Rolle im Orient „nicht mehr mit der nötigen Energie durchführen und den vereinten russisch-französischen Bestrebungen gegenüber mehr oder weniger abdanken, müßten wir uns nach anderen Mitteln umsehen, 175

Kanzlerschaft Caprivis — Außenpolitik die Entwicklung der russisch-französischen Intimität zu einer aggressiven Verbrüderung zu verhindern". Noch im gleichen Monat, da Marschall diesen Brief an Hatzfeld geschrieben hat, brach zwischen England und Frankreich ein ernster Konflikt aus. Von dem im Osten an die französische Kolonie Annam, im Westen an die britische Kolonie Birma grenzenden Königreich Siam verlangte Frankreich die Abtretung eines beträchtlichen Gebietes. England erhob dagegen Einspruch, es wollte Frankreich nicht näher an Birma heranrücken lassen. Die Lage spitzte sich derart zu, daß mit der Möglichkeit eines französisch-englischen Krieges gerechnet werden mußte, an dem sich vielleicht Rußland an der Seite Frankreichs beteiligen würde. Während einer Besprechung mit dem deutschen Botschafter in London am 26. Juli 1893 äußerte der englische Außenminister Rosebery, das Interesse Deutschlands an der siamesischen Frage werde im Falle eines französisch-englischen Krieges doch wohl zunehmen, weil „eine solche Eventualität Gelegenheit bieten würde, die Quadrupelallianz zustande zu bringen". Wie weit Rosebery damit den Wunsch Englands, sich dem Dreibund anzuschließen, zum Ausdruck bringen wollte, steht dahin; jedenfalls überlegte man sich nun im Auswärtigen Amt, daß Deutschland, wenn es wirklich zu einem englisch-französischen Krieg kommen sollte, und die englische Regierung „die Frage unserer Beteiligung anregt, (wir) mit der direkten Gegenfrage antworten, ob sie in diesem Fall der Tripelallianz beizutreten entschlossen sei". Aber noch im Juli wurde die Siam-Angelegenheit friedlich beigelegt. Der König von Siam überließ Frankreich das von ihm verlangte Gebiet, die englische Regierung fand jetzt, die Franzosen wären immer noch weit genug von Birma entfernt und gab sich damit zufrieden. England traf im Mai 1894 mit König Leopold II. von Belgien als dem Souverän des Kongostaates unter Nichtbeachtung wesentlicher Bestimmungen der Kongoakte von 1885 (S. 102) Vereinbarungen, durch die sich Deutschland und Frankreich benachteiligt fühlten. Deutschland protestierte besonders gegen Artikel III des Vertrages, in dem England zur Durchführung des geplanten Eisenbahnbaues vom Kap nach Kairo einen Teil des ägyptischen Sudans dem Kongostaat für einen Landstrich am Westufer des Tanganjikasees bis zum Albert Edward-See überließ. Damit wäre Deutsch-Ostafrika, das bereits im Norden an Britisch-Ostafrika stieß, auch im Westen in eine bei den immer wiederkehrenden Reibungen der Kolonialmächte unerwünschte Nachbarschaft zu einem englischen Kolonialgebiet geraten; überdies hätte die von England geplante Bahn die wirtschaftlichen Interessen des westlichen Deutsch-Ostafrika geschädigt. Da außer Deutschland auch Frankreich und der Sultan als Oberherr des Sudans auf Grund der Kongoakte Protest einlegten gegen Englands Vereinbarung mit dem König von Belgien, traten dieser und Großbritannien von ihrem Vertrag zurück. Ähnlich wie in der ägyptischen, der siamesischen und der Kongofrage, endeten zur Zeit der Reichskanzlerschaft Caprivis auch sonst zahlreiche internationale Auseinandersetzungen damit, daß keine wesentlichen Änderungen erfolgten; immerhin zeigte sich dabei, wie sehr die gegenseitigen Beziehungen der Großmächte fortwährend im Flusse waren. In der Kongofrage zum Beispiel widersetzte sich 176

Kaiser, Regierung und Reichstag nach Bismarcks Sturz den Bestrebungen Großbritanniens zuerst Deutschland, dann Frankreich. Die englische Regierung war in der fälschlichen Annahme, die beiden Mächte gingen nach gemeinsamer Verabredung vor, besonders ungehalten über Deutschland, das an und für sich zu England in einem besseren Verhältnis stand als zu Frankreich. Rosebery, 1894/95 Premierminister, sagte zu dem österreichischen Botschafter in London, England könne in Europa Deutschlands Freund nicht bleiben, wenn es in Afrika zu Frankreich halte, und drohte, es gebe auch Punkte, in denen England sich mit Frankreich verständigen könne. Die französische Presse äußerte sich sehr befriedigt darüber, daß Deutschland in der Kongofrage nicht auf der Seite Englands stehe. Um so mehr erbost war man dann in Paris, als sich herausstellte, daß die deutsche Regierung nur die Aufhebung des Artikels III des englischbelgischen Vertrags verlangte und sich, als ihr dies zugesichert wurde, mit der Kongoangelegenheit nicht weiter befaßte. Wenn die Nichterneuerung des Rüdcversicherungsvertrages mit Rußland, die Erneuerung des Dreibundes und die mannigfachen Reibungen der Großmächte bis gegen Ende des 19. Jahrhunderts zu keinen tiefgreifenden Änderungen führten, lag dies hauptsächlich daran, daß Rußland vor allem auf die Stärkung und Erweiterung seiner Stellung im Femen Osten ausging, und Frankreichs vordringlichstes Anliegen der Wetteifer des eigenen mit dem englischen Imperialismus war; auch dienten die von Caprivi mit verschiedenen Staaten vereinbarten Handelsverträge (S. 187) neben den innerpolitisch-wirtschaftlichen auch außenpolitischen, die Wahrung des Friedens fördernden Zwecken. So konnte drei Monate nach Abschluß des französisch-russischen Militärabkommens der deutsche Geschäftsträger in Petersburg am 6. April 1894 Caprivi berichten: „Wenige Tage sind erst seit Abschluß des deutsch-russischen Handelsvertrages verflossen, und schon zeigt sich mir in allem, was mich umgibt, die ungeheure Tragweite dieses Vertrages . . . Beispielsweise sagte mir General Schebeko, als ich ihn nach Abschluß des Vertrags (in einer Ausweisungssache) aufsuchte . . . wir sind also neuerdings wieder Freunde. Hervorheben muß ich, daß die Sprache der russischen Blätter seit Abschluß des Vertrages an Begeisterung für Frankreich wesentlich abgenommen hat. Die Indiskretionen die seitens französischer Beamter in letzter Zeit begangen worden sind, haben das ihre dazu beigetragen. Der ,Grashdanin' polemisiert wieder in seinen Leitartikeln gegen die russisch-französische Verbrüderung, der, wie er sagt, der feste Boden fehlt."

INNENPOLITIK Kaiser, Regierung und Reichstag nach Bismarcks Sturz Bismarck hatte, soweit es sich irgenwie mit der Verfassung vereinbaren ließ, autoritär regiert. Wilhelm II. hielt sich ebenfalls an die Verfassung, dessenungeachtet nahm unter ihm das Reich noch mehr den Charakter einer halbabsoluten Monarchie an. Das Unheil, das mit dem Ersten Weltkrieg über Deutschland her177 12 Β übler. Deutsche Geschichte, VI

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik einbrach, wird von vielen auf das starre Festhalten an der Verfassung von 1871 zurückgeführt, die dem Reichstag keine Initiative bei der Gesetzgebung zugestand und ihm die Mitwirkung bei der Außenpolitik versagte; die bereits vorhandenen konstitutionellen Elemente der Bismardcverfassung hätten zu einem dem fortschreitenden Zeitgeist gemäßen parlamentarischen Regime ausgebaut werden müssen. Als hemmend für eine fortschrittliche Entwicklung Deutschlands gilt auch die angeblich starke „Verpreußung" des Reiches. Das an dem Dreiklassenwahlsystem festhaltende Preußen hatte allerdings von vornherein die Führung (S. 9 f.), und das Ubergewicht des an Umfang und Bevölkerung größten und wirtschaftlich stärksten Staates nahm natürlich im Lauf der Zeit etwas zu; gelegentlich kam es auch zu Ubergriffen, nachdem Bismarck ausgeschieden war, der über die Einhaltung der den einzelnen Bundesstaaten zustehenden Rechte gewacht hatte. Die größeren Staaten, zumal Bayern, Württemberg und Sachsen, wußten indes die ihnen durch die Reichsverfassung eingeräumten Rechte entschieden zu wahren, wie überhaupt die föderalistische Gliederung des Reiches aufrechterhalten blieb. Das Entscheidende für Gedeih und Verderb der Staaten sind nicht so sehr die Verfassungsformen wie unberechenbare Ereignisse und vor allem die Menschen, Regierende und Regierte. Wilhelm II. hatte gewiß den besten Willen, auch besaß er so manche Fähigkeiten, die einem Herrscher sehr zustatten kommen konnten; nicht selten hat er eine außen- oder innerpolitische Frage richtiger beurteilt als seine Berater, aber auf das, was er sagte und tat, war kein rechter Verlaß; überraschend oft und schnell änderte er seine Meinung und häufig führte er nicht durch, was er in Angriff genommen. Dies und seine aufreizenden Reden verhinderten eine zielklare, Vertrauen einflößende Außenpolitik und die Auswirkung so mancher vielverheißender Ansätze zu einer fruchtbaren Innenpolitik. Die sich aus all dem ergebenden Schäden wären erheblich geringer gewesen, wenn, wie unter Kaiser Wilhelm I., der Reichskanzler vor der Öffentlichkeit die Verantwortung für die Regierungsmaßnahmen getragen hätte. Wilhelm II. betonte dagegen immer wieder, was von Reichs wegen geschehe, sei sein Werk, und die Reichskanzler leisteten die von der Verfassung vorgeschriebene Gegenzeichnung in der Art, wie man einen Befehl auszuführen hat. Wären die Nachfolger dem Beispiel Bismarcks gefolgt, nur zu unterzeichnen, was sie nach bestem Wissen und Gewissen verantworten konnten, und den Kaiser, falls sie mit seiner Auffassung nicht einverstanden waren, vor die Alternative zu stellen, sie zu entlassen oder auf ihre Unterschrift und damit auf die von ihm geforderte Anordnimg zu verzichten, würde wohl selbst ein Wilhelm II., wenn sich ihm Kanzler um Kanzler versagt hätte, nicht mehr alles nach seinem Belieben entschieden haben. So aber gehorchten die Kanzler, auch wenn sie einen Fehlgriff des Monarchen klar erkannt hatten, und trösteten sich, wie Reichskanzler von Bülow einmal sagte: „Sie ahnen nicht, wie viel ich noch verhindere", und in den mit den Verhältnissen vertrauten Kreisen hieß es: der arme Kanzler muß in minder wichtigen Fragen zehnmal nachgeben, um da, wo die kaiserliche Initiative gefährlich zu werden droht, einmal seinen Willen durchzusetzen. Für die übrigen Regierungsorgane galt großenteils die Äußerung Waldersees: die nächste Umgebung des Kaisers sei so weit, daß 178

Die großen Parteien niemand etwas zu sagen wage. „Jeder fürchtet für seine Stellung. Wir haben darüber geklagt, daß Bismarck die Charaktere unterdrücke, hier sehen wir aber dasselbe nur in stärkerer und gefährlicherer Form." Im Reichstag herrschte Redefreiheit, von der reichlich Gebrauch gemacht wurde, und zwar in einer Weise, daß die oft ausgesprochene Behauptung, Bismarck habe dem Bürgertum das Rüdegrat gebrochen, nicht den Tatsachen entspricht, ging doch die Mehrzahl der Abgeordneten aus dem Bürgertum hervor. Über neue Reichsgesetze hatte neben dem Bundesrat der Reichstag zu entscheiden. Initiativanträge zu stellen, war ihm freilich versagt; er konnte nur Anregungen geben, von der Regierung vorgelegten Gesetzen zustimmen oder sie ablehnen, Abänderungen und Ergänzungen verlangen; in diesem Fall lag es bei der Regierung, ob sie darauf einging, auch stand es ihr frei, ein vom Reichstag abgelehntes Gesetz nach einer Neuwahl dem Reichstag wieder vorzulegen. Zu diesem Zweck hat sie des öfteren den ihr widerstrebenden Reichstag aufgelöst, mußte aber dann die umstrittene Gesetzesvorlage zurückziehen, wenn der neue Reichstag ebenfalls dagegen war. Der auf Anregungen, Zustimmung oder Ablehnung beschränkte Reichstag „verfügte über keine Brüdce zur ausübenden Gewalt hinüber; der ganze Regierungsapparat war seinem Einfluß entzogen" (Hünerwadel). Im Reichstag vorhandene positive Kräfte wurden dadurch weitgehend lahmgelegt; scharfe Kritik und kleinliches Nörgeln traten in den Vordergrund, wozu außer den Debatten über die Gesetzesvorlagen auch die jetzt eingeführten „kurzen Anfragen" reichlich Gelegenheit boten. Von diesem Treiben abgestoßen und wegen der engen Grenzen einer aktiven Tätigkeit im Reichstag ließen sich manche, die imstande gewesen wären, Wesentliches zu sagen und zu raten, nicht als Kandidaten für die Wahl aufstellen, und so sank im großen und ganzen das Niveau der Abgeordneten. Andererseits gewann der Reichstag an Einfluß auf die Regierung, allerdings im negativen Sinne; sie verzichtete des öfteren auf die Einbringung an sich wichtiger Gesetzesvorlagen, weil sie ja doch nur abfällig kritisiert und abgelehnt würden. Unter dem ersten Nachfolger Bismarcks, dem Reichskanzler Caprivi, begannen sich die Schattenseiten des Reichstags stärker geltend zu machen und sich auf die politische Haltung des Bürgertums nachteilig auszuwirken. Die verhältnismäßig geringen Rechte des Reichstags und die Vorgänge in ihm waren nicht angetan zu einer Förderung des Interesses am politischen Geschehen und zu einer großzügigen politischen Schulung in den bürgerlichen Kreisen.

Die großen

Parteien

Infolge der Aufhebung des Sozialistengesetzes (S. 144) konnte die Sozialdemokratie nach zwölf Jahren 1890 erstmals wieder offen hervortreten. Der Parteitag in Halle Mitte Oktober beschloß die Revision des Parteiprogramms, die ein Jahr später auf dem Erfurter Parteitag erfolgte. Dabei kam es zu teilweise heftigen Auseinandersetzungen. Die Vertreter der Berliner Opposition warfen der Parteilei tung vor, sie führe die Partei der Versumpfung entgegen; sie wurden wegen 12·

179

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik Verleumdung aus der Partei ausgeschlossen. Bebel hielt Georg von Vollmar, dem Führer der bayrischen Sozialdemokraten, vor, als wohlhabender Mann empfinde er die Not des Arbeiters nicht und ermahne ihn deshalb zur Geduld. In seiner Erwiderung erklärte Vollmar, er glaube nicht an das Tausendjährige Reich (in dem beglückender Friede und Wohlstand herrsche), wohl aber an den zehnstündigen Normalarbeitstag. „Ich habe mich gefreut, daß Bebel ausdrücklich betont hat, es muß unser Bestreben sein, die Massen zu gewinnen, diese gewinnen wir aber nicht, wenn wir ihnen bloß unsere Endziele versprechen, wir müssen ihnen zeigen, daß wir bestrebt sind, ihnen ihre augenblickliche Lage zu verbessern. Bebel sagte, wir stellen Anträge im Reichstage hauptsächlich im propagandistischen Interesse, unbekümmert darum, ob sie angenommen oder abgelehnt werden. Dem kann ich durchaus nicht beistimmen . . . Bebel sagte, wenn er die Wahl zwischen dem Stürmen und dem langsamen Vorwärtsgehen habe, dann wähle er das erstere. Nun ich muß dem Genossen Bebel sagen: bei den heutigen militärischen Verhältnissen könnten wir uns bei dem Stürmen leicht die Köpfe einrennen . . . Der nächste Krieg, der nicht mehr ferne ist, sagt Bebel, wird zu einem allgemeinen Bankrott der bürgerlichen Gesellschaft führen, dann kommt der große Kladderadatsch und wir werden imstande sein, die bürgerliche Gesellschaft abzulösen und unsere Endziele zu verwirklichen . . . Ich bin der Meinung, daß ein Krieg für die Arbeiterbewegung von den unheilvollsten Folgen wäre, und kann mich der Ansicht keineswegs anschließen, daß der nächste Krieg der letzte sein würde. Deshalb haben wir alles aufzubieten, was geeignet ist, den Krieg zu vermeiden . . . Eine voreilige Verwirklichung unserer Ziele ohne festen Untergrund wäre aufs höchste zu beklagen. Es wäre dies nichts weiter als eine Wiedergeburt der Pariser Kommune mit allen ihren Verkehrtheiten und Rückschlägen." Am 21. Oktober 1891 nahm der Parteitag das Programm an. Vom Gothaer (S. 54) unterschied sich das Erfurter durch die Einfügung verschiedener Ergänzungen und durch den stärker ausgeprägten internationalen Marxismus bei völliger Abkehr von der Lassalleschen Richtung mit ihrem nationalen Einschlag. Das Erfurter Programm Schloß mit einer Reihe von Forderungen zum Schutze der Arbeiterschaft wie: Festsetzung eines höchstens acht Stunden betragenden Normalarbeitstages; Verbot des Trucksystems (S. 186); Überwachung aller gewerblichen Betriebe, Erforschung und Reglung der Arbeitsverhältnisse in Stadt und Land durch ein Reichsarbeitsamt, Bezirksarbeitsämter und Arbeitsämter; durchgreifende gewerbliche Hygiene; rechtliche Gleichstellung der landwirtschaftlichen Arbeiter und der Dienstboten mit den gewerblichen Arbeitern; Sicherstellung des Koalitionsrechtes. — Der Berliner Parteitag vom November 1892 beschloß unter anderem Ablehnung des Antisemitismus und des „Staatssozialismus". „Der sogenannte Staatssozialismus, insoweit er auf die Verstaatlichung zu fiskalischen Zwecken hinzielt, will den Staat an die Stelle der Privatkapitalisten setzen und ihm die Macht geben, dem arbeitenden Volk das Doppeljoch der ökonomischen Ausbeutung und der politischen Sklaverei aufzulegen." — Die rührige Agitation, die straffe Organisation, die mißliche Lage eines beträchtlichen Teiles der Arbeiterschaft, das Anwachsen der Industrie ließen die Zahl der sozialdemokratischen 180

Die großen Parteien Stimmen bei den Reichstagswahlen so stetig zunehmen wie die keiner anderen Partei: von 1 421 000 (1890) auf 1 787 000 (1893) und 2 107 000 (1898), sie hatte von allen Parteien die höchste Stimmenzahl. Die Sozialdemokratische Partei stand in enger Verbindung mit den sozialistischen Gewerkschaften, die nach dem Erlösdien des Sozialistengesetzes rasch wieder Mitglieder gewannen; 1892 waren es bereits etwas über 300 000, Ende 1901 ungefähr 687 000. Der Partei ging es im allgemeinen vor allem um die Erreichung des weitgesteckten politischen Endziels, den Gewerkschaften darum, die jeweilige wirtschaftliche Lage der Arbeiter günstiger zu gestalten. Dies erwartete auch die große Masse der sozialdemokratischen Wähler in erster Linie von ihren Abgeordneten; die meisten von ihnen fühlten sich denn auch im wesentlichen als Vertreter eines bestimmten Standes, des Arbeiterstandes, und handelten demgemäß. Die gesetzliche Grundlage für die Gewerkschaften und für die Vereinigung von Lohnarbeitern zur Wahrung ihrer Interessen überhaupt wurde durch das Koalitionsrecht gebildet, wie es in der vom Reich übernommenen Gewerbeordnung des Norddeutschen Bundes festgelegt war. Dort war in § 153 die Anwendung von körperlichem Zwang, Drohungen, Ehrverletzungen und Verrufserklärungen, um Arbeiter zum Eintritt in eine Organisation zu zwingen, verboten. Die Regierungsvorlage für das „Gesetz betreffend Abänderung der Gewerbeordnung" verlangte, im § 153 solle es auch verboten werden, die in ihm genannten Druckmittel gegen Arbeiter anzuwenden, welche die Beteiligung an einem Streik verweigerten. Die Sozialdemokraten entrüsteten sich, der § 153 hemme schon in seiner bisherigen Fassung den Ausbau der Gewerkschaften, und der Antrag der Regierung zu seiner Erweiterung auf die Streiks bedrohe, obwohl ihn der Reichstag abgelehnt hatte, auch fernerhin das Streikrecht des Arbeiters. Die Behauptung, der § 153 und die Gefährdung des Streikrechtes hebe die Koalitionsfreiheit auf, bildete nun ein zugkräftiges Agitationsmittel für die sozialdemokratische Partei und die sozialistischen Gewerkschaften. Die Sozialliberalen und die Kathedersozialisten (S. 55) wandten sich bei ihren Auseinandersetzungen mit dem Marxismus besonders der Frage zu, ob seine Verelendungstheorie zutreffe, daß nämlich die große Masse des von einer geringen Zahl Reicher ausgebeuteten Volkes, in deren Händen sich die Produktionsmittel anhäuften, immer mehr verarme. Die Beobachtung, daß sich seit etwa 1890 der Lebensstandard auch der Arbeiter hob, sprach dagegen. Die Schlüsse, die zunächst die Kathedersozialisten daraus zogen, machten sich dann auch sozialdemokratische Publizisten wie der Sachse Bruno Schönlank zu eigen, der 1897 schrieb: „Die lange Zeit durch unsere Partei gelaufene, auch im ersten Teil des Erfurter Programms noch aufbewahrte Ansicht von der sich stetig verschärfenden Verelendung ist nicht mehr zu halten." Derartige Feststellungen trugen viel dazu bei, daß die Partei, wenn sie auch weiterhin den Revisionismus prinzipiell ablehnte, dem Verlangen der Gewerkschaften bereitwilliger entgegenkamen: das Augenmerk nicht so starr auf marxistisch-politische Ziele zu richten, deren Erreichung in nebelhafter Ferne lag; sondern mehr auf die sich jetzt als aussichtsreich erweisende wirtschaftliche Förderung der Arbeiter durch gesetzlich beschränkte Arbeitszeit bei möglichst hohen Löhnen, günstige Arbeitsverhältnisse und dergleichen. Darin 181

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik stimmten mit den sozialdemokratischen, den sogenannten „freien" Gewerkschaften die weltanschaulich und politisch im Gegensatz zu ihnen stehenden liberal-demokratischen „Hirsch-Dunckerschen" und die „Christlichen", ganz überwiegend katholischen Gewerkschaften, überein. Den sozialdemokratischen gegenüber blieben diese Gewerkschaften freilich immer in der Minderzahl. Die Christlichen und die Hirsch-Dunckerschen hatten um 1900 ungefähr je 77 000 Mitglieder, die sozialdemokratischen 680 000, zwölf Jahre später die Christlichen 345 000 und die sozialdemokratischen 2 V2 Millionen. Immerhin kam den Christlichen Gewerkschaften politisch insofern eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu, als ihre Mitglieder bei den Reichstags- und Landtagswahlen meist für Kandidaten des Zentrums stimmten. Hatten die Sozialdemokraten seit 1890 unter allen Parteien die meisten Reichstags Wähler für sich, so war das Zentrum, schon seit 1881 mit der höchsten Zahl von Abgeordneten im Reichstag vertreten. Während der Reichskanzlerschaft Caprivis und dann Hohenlohes gingen aus den Reichstagswahlen von 1890 106 Zentrumsabgeordnete und 35 Sozialdemokraten hervor; 1893 96 bzw. 44; 1898 102 bzw. 56. Dieses Mißverhältnis ergab sich aus der Beibehaltung der veralteten Wahlkreiseinteilung, die den stärkeren Bevölkerungszuwachs in den großen Städten nicht berücksichtigte, und aus dem Majoritätswahlrecht: gewählt ist zunächst nur, wer in einem Wahlkreis mehr als die Hälfte aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigt, in den übrigen Wahlkreisen entscheiden Stichwahlen zwischen den zwei Kandidaten, die im ersten Wahlgang die meisten Stimmen erhalten haben; von den bei diesem nicht zum Zug gekommenen Parteien wurde in den Stichwahlen das Zentrum weit mehr unterstützt als die Sozialdemokraten. Mit Recht konnte sich das Zentrum als die Partei der Mitte bezeichnen. Wohl ließ sein Hauptanliegen, die Interessen der katholischen Kirche, es gelegentlich eine Sonder- und Kampfstellung gegen alle einnehmen, die irgendwie zur katholischen Kirche in Gegensatz standen; andererseits hat gerade die Bindung an eine allen Lebensbezirken übergeordnete Macht dem Zentrum Anhänger aus allen Schichten der Bevölkerung zugeführt und ihm außerhalb des kirchlichen Bereiches eine Bewegungsfreiheit gegeben, wie sie keiner der übrigen Parteien eignete, die ja auf bestimmte wirtschaftliche und politische Zwecke festgelegt waren. Diese Bewegungsfreiheit ermöglichte dem Zentrum je nach Umständen in einzelnen Fragen bald mit dieser, bald mit jener Partei zusammen zu gehen, was es bei vielen in den Ruf der Unzuverlässigkeit brachte, zumal es sich bis zu einem gewissen Grad als wandlungsfähig erwies. Während der Kulturkampfzeit zeigte es sich nicht nur dem Reichskanzler, sondern auch dem von ihm geschaffenen Reich abgeneigt. Mit dem Abklingen des Kulturkampfes gewann das Zentrum ein positives Verhältnis zum Reich, so daß Bismarck kurz vor seiner Entlassung Verbindung mit dem Zentrumsführer Windthorst suchte. Von seiner Vergangenheit her, als Syndicus der hannoverschen Ritterschaft und als hoher Staatsbeamter des Königreichs Hannover, blieb der am 17. Januar 1812 geborene Ludwig Windthorst immer etwas aristokratisch gesinnt. Als Reichstags- und preußischer Landtagsabgeordneter war der auffallend kleine, mit außerordentlichem Rednertalent begabte Westfale der 182

Die großen Parteien gefährlichste Gegenspieler des hochgewachsenen, breitschultrigen Bismarck. Nach Windthorsts Tod (14. März 1891) wurde der demokratisch eingestellte Dr. Emst Lieber Führer des Zentrums. Da im Reichstag nie eine einzige Partei die absolute Mehrheit hatte, war die Regierung für das Durchbringen ihrer Anträge jeweils auf die Zustimmung mehrerer Parteien angewiesen; fand sich eine regierungsfreundliche große Partei, mit der andere gingen, so wurde diese kürzere oder längere Zeit gewissermaßen die Regierungspartei. Besonders geeignet war hierfür das Zentrum wegen der eigenen Stärke und seiner Beweglichkeit, die den Anschluß anderer Parteien für bestimmte Zwecke erleichterte. Unter der Führung von Dr. Lieber wurde das Zentrum 1903 Regierungspartei, was noch Windthorst abgelehnt hatte. Auch weiterhin war das Zentrum in seiner Entwicklung und in seiner Politik mancherlei Schwankungen unterworfen; im großen und ganzen hat es aber, wie verschiedene im Laufe unserer Darstellung noch zu erwähnende Ereignisse zeigen, eine Linie eingehalten, die bei Aufrediterhaltung des katholischen Charakters der Partei eine fruchtbare Mitwirkung bei der Reichspolitik ermöglichte. Die Nationalliberalen waren von 1871 bis 1878 Regierungspartei; ihre höchste Abgeordnetenzahl erreichten sie 1874 mit 152 Abgeordneten, 1890 konnten sie nur 42, 1893 53, 1898 47 Abgeordnete in den Reichstag entsenden. Die Deutsch-Konservative Partei war mit 73 (1890), 72 (1893) und 56 (1898) Abgeordneten die zweitstärkste Partei. Mit dem Zentrum hatten die Konservativen manche Ähnlichkeit. Von ihrem preußisch-partikularistischen Standpunkt aus standen sie zunächst der Reichsgründung und damit Bismarck ablehnend gegenüber, auch nahmen sie Anstoß an der während des Kulturkampfes eingeführten obligatorischen Zivilehe und dem Schulaufsichtsgesetz, das der katholischen und der evangelischen Kirche das Aufsichtsrecht über die Volksschulen entzog. Ihr Widerstreben gegen das Reich gaben die Konservativen, die sich nun Deutsch-Konservative nannten, 1876 auf (S. 44) und boten so Bismarck die Möglichkeit, sich auch auf sie zu stützen. Dauernd regierungsfreundlich waren die Konservativen freilich nicht, wie bei jeder der größeren bürgerlichen Parteien wechselte bei der konservativen je nach den Umständen das Verhältnis zur Regierung. Auf dem Parteitag am 8. Dezember 1892 einigten sich die Deutsch-Konservativen auf ein Programm, das „Tivoliprogramm", das „in Anlehnung an die bewährten Grundsätze, welche in ihrem Programm von 1876 ausgesprochen sind, zu den wesentlichen Aufgaben in der Gegenwart" Stellung nimmt. § 1: „Wir wollen die Erhaltung und Kräftigung der christlichen Lebensanschauung in Volk und Staat und erachten ihre praktische Betätigung in der Gesetzgebung für die unerläßliche Grundlage jeder gesunden Entwicklung . . . Wir bekämpfen den vielfach sich vordrängenden und zersetzenden jüdischen Einfluß auf unser Volksleben." § 8: „Wie wir für die Besserung der Lage der Arbeiter, unter erheblicher Belastung der Arbeitgeber eingetreten sind, so halten wir nach wie vor die Stärkung des Mittelstandes in Stadt und Land und die Beseitigimg der Bevorzugungen des großen Geldkapitals für die dringendsten Aufgaben der Sozialpolitik." § 10: „Für die Landwirtschaft, welche unter der Ungunst des Weltmarktes, der internationalen Währungsverhältnisse und der 183

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik inneren wirtschaftlichen Entwicklung leidet, ist der bestehende Zollschutz aufrechtzuerhalten, im weiteren aber ein ausreichender Zollschutz f ü r die Zukunft anzubahnen." Die Forderung des Zollschutzes zugunsten der Landwirtschaft brachte die Konservativen bald nach der Annahme des Tivoliprogramms in Gegensatz zur Regierung.

Heeresvermehrung

1893

Kurz vor seiner Entlassung war Bismarck zur Festigung seiner Stellung f ü r eine starke Vermehrung der Armee eingetreten. Wilhelm II. wünschte zur Vermeidung eines Konfliktes mit dem Reichstag in den Anfängen seiner Regierung vorerst nur eine Vermehrung der Feldartillerie u m 70 Batterien und eine Erhöhung der Friedensstärke um 18 500 Mann; im Juli 1890 bewilligte der Reichstag beides. Der Kaiser ernannte im Februar 1891 Graf Alfred von Schlieffen zum Nachfolger Waldersees als Chef des Generalstabes. Schlieffen gab sich keiner Täuschung darüber hin, daß die deutsche Armee bei einem Zweifrontenkrieg dem Gegner zahlenmäßig nicht gewachsen wäre. Caprivi arbeitete nun eine Denkschrift für die an sich schon vorgesehene weitere Heeresvermehrung aus, und, anders als Bismarck darauf bedacht, Kämpfe mit dem Reichstag möglichst zu vermeiden, suchte Caprivi die Abgeordneten durch Einführung der zweijährigen anstelle der bisher dreijährigen Dienstpflicht günstig zu stimmen; der Kaiser billigte nach längerem Sträuben eine Kürzung der Dienstzeit. Am 23. November 1892 brachte Caprivi im Reichstag die Wehrvorlage ein und warb in einer langatmigen zweistündigen Rede um die Zustimmung der Abgeordneten. Bei den Debatten vertrat Richter, der Führer der Deutsch-Freisinnigen, die Ansicht, die bisherigen Wehrverhältnisse wären ausreichend und die wirtschaftlichen Verhältnisse ließen eine weitere Steigerung des Militäraufwandes nicht zu. In sehr verständiger Weise setzte sich der Zentrums abgeordnete Karl von Huene mit der Vorlage im allgemeinen und mit verschiedenen Einzelheiten auseinander und kam dabei zu dem Ergebnis: „Im großen und ganzen, wie nun einmal die Strömung in der Bevölkerung ist, wird die zweijährige Dienstzeit begrüßt werden als eine wirtschaftliche Erleichterung. Ich möchte auch noch das sagen: gerade f ü r die bürgerlichen Gewerbe ist die dreijährige Abwesenheit eines jungen Mannes, der eben die Anfangsgründe eines Gewerbes erlernt hat oder eines Handwerks und dergleichen, eine weit schädlichere als die zweijährige und auch in dieser Beziehung ist der wirtschaftliche Vorteil nicht zu leugnen." Bei der zweiten Lesung Anfang Mai 1893 stellte Huene einen sorgfältig ausgearbeiteten, die Vorlage in verschiedenen Punkten ergänzenden und abändernden Antrag. Caprivi erklärte sich in der Hoffnung, die Vorlage werde wenigstens in dieser Form angenommen werden, damit einverstanden; aber schon § 1 des Antrags Huene wurde am 6. Mai mit 210 gegen 162 Stimmen der Konservativen, der Reichspartei, der Polen, einiger Mitglieder des Zentrums und der Deutsch-Freisinnigen abgelehnt. Noch am gleichen Tage erfolgte die Auflösung des Reichstags auf Anordnung des Kaisers. Schon beim 184

Heeresvermehrung 1893 Neujahrsempfang der Generale hatte er gedroht, er werde die Opposition zerschmettern. Bei der Reidistagswahl vom 15. Juni mit den ihr folgenden Stichwahlen nahm die Abgeordnetenzahl der Parteien, die für den Antrag Huene gestimmt hatten, im allgemeinen zu, jedoch nicht in dem Maße, daß mit Sicherheit auf die Annahme der Wehrvorlage gerechnet werden konnte. Von den Gegnern der Vorlage erlitt die deutsch-freisinnige Fraktion die stärkste Einbuße. Unmittelbar nach der Auflösung des Reichstags spaltete sie sich in die Freisinnige Volkspartei und die Freisinnige Vereinigung, beide zusammen konnten in den neuen Reichstag nur noch 36 Abgeordnete entsenden, während sie in dem vorausgegangenen mit 70 vertreten gewesen waren. Die Wehrvorlage wurde nun in der von Huene vorgeschlagenen Fassung mit 201 gegen 185 Stimmen vom Reichstag angenommen und am 8. August als Gesetz verkündet. Artikel I § 1 bestimmte: „Die Friedenspräsenzstärke des deutschen Heeres an Gemeinen, Gefreiten und Obergefreiten wird für die Zeit vom 1. Oktober 1893 bis 31. März 1899 auf 479 229 Mann (ungefähr 60 000 mehr als bisher) festgesetzt." Artikel II: „Für die Zeit vom 1. Oktober 1893 bis zum 31. März 1899 treten bezüglich der Dienstpflicht folgende Bestimmungen in Kraft: Während der Dauer der Dienstpflicht im stehenden Heer sind die Mannschaften der Kavallerie und der reitenden Feldartillerie die ersten drei, alle übrigen Mannschaften die ersten zwei Jahre zum ununterbrochenen Dienst bei den Fahnen verpflichtet." Die zeitliche Begrenzung ließ die Möglichkeit der Wiedereinführung der dreijährigen Dienstpflicht nach dem 31. März 1899 offen, der Kaiser hatte sich gegen ihre prinzipielle Abschaffung erklärt; 1905 wurde aber dann doch die zweijährige endgültig eingeführt, als Gegenleistung bewilligte der Reichstag eine Truppenvermehrung um 10 000 Mann. Die Zweckmäßigkeit des Ubergangs von der dreijährigen zur zweijährigen Dienstzeit für die Infanterie ist oft bezweifelt worden. Nun stand aber die allgemeine Wehrpflicht zu einem beträchtlichen Teil nur auf dem Papier, denn es durften nicht mehr Mannschaften eingezogen werden als das jeweils geltende Wehrgesetz bestimmte, und die Abgeordneten waren im allgemeinen aus Rücksicht auf ihre Wähler, die überwiegend die von ihnen aufzubringenden Kosten für die Armee möglichst niedrig halten wollten, Heeresvermehrungen abgeneigt. Da die kürzere Dienstzeit geringere Aufwendungen beanspruchte, bildete sie gewissermaßen den Kaufpreis für die Heeresvermehrung, aber auch so blieb im Verhältnis zu der wachsenden Bevölkerung die Heeresstärke erheblich zurück. Militärisch brachte die Beschränkung auf eine zweijährige Ausbildung keine durchgreifende Änderung mit sich; schon bisher wurden Soldaten, die sich bewährt hatten, nach zwei Jahren entlassen, um neuen Rekruten Platz zu machen. Anfang Juni 1891 erklärte der Reichstagsabgeordnete Georg von Vollmar, Führer der bayrischen Sozialdemokraten, in einer Parteiversammlung zu München: Der Gedanke der internationalen Brüderlichkeit hebe nicht die nationalen Aufgaben auf. Die berühmten „Vereinigten Staaten von Europa" seien zwar ein ganz nettes Zukunftsbild, das aber kein einziger von den Anwesenden erleben werde. Sobald das Vaterland angegriffen werde, gebe es nur mehr eine Partei, und die 185

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik Sozialdemokraten würden nicht die letzten sein, namentlich wenn es einem Feind gelte, der gegen alle Kultur sei, nämlich Rußland. Zwei Jahre später sagte Bebel im Reichstag: „Wir haben die Politik Deutschlands nicht anders gestalten können, aber wenn auswärtige Feinde Deutschland angreifen und einen Teil seines Gebietes zu erobern versuchen sollten, so würden auch wir Sozialdemokraten das nicht dulden. Denn nur wenn Deutschland in seinem vollen Umfange erhalten wird, ist es möglich, seine Kulturaufgaben zu erfüllen." Der Wehrvorlage versagten sich die sozialdemokratischen Abgeordneten allerdings, obwohl der Kaiser seine Sozialpolitik fortgesetzt hatte.

Arbeiterschutzgesetze Im Mai 1891 stimmte der Reichstag den vom Kaiser angeregten und dann am 1. Juni 1891 verkündeten Arbeiterschutzgesetzen zu. Die Gesetze schrieben die Einführung von Arbeitsordnungen vor, um klare Verhältnisse zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer zu schaffen; völlige Sonntagsruhe für die Arbeiter in Fabriken und Bergwerken, Beschränkung der Sonntagsarbeit im Handelsgewerbe auf höchstens fünf Stunden. Kinder unter 13 Jahren durften zur Arbeit in Fabriken nicht mehr herangezogen werden, ältere nur nach Abschluß der Volksschule. Die Arbeitszeit der Kinder unter 14 Jahren durfte sechs Stunden, die der 14- bis 16jährigen zehn Stunden und die von Frauen elf Stunden nicht überschreiten. Frauen sollten nach der Geburt eines Kindes vier Wochen nicht, in den nächsten 14 Tagen nur auf Grund eines ärztlichen Zeugnisses arbeiten. Gegen das Trucksystem, bei dem der Arbeiter vom Arbeitgeber ganz oder teilweise statt des Geldes Waren, hauptsächlich Lebens- und Genußmittel erhielt, richtete sich die Bestimmung, daß der Lohn restlos in bar auszuzahlen sei; Geldstrafen durften die Arbeitgeber nur noch in einem bestimmten Umfange verhängen. In gesundheitsgefährlichen Betrieben mußten Schutzmaßnahmen eingeführt werden; hierüber und in einigen anderen Punkten blieb die genauere Reglung dem Bundesrat vorbehalten, der dann auch eine Reihe zweckmäßiger Anordnungen traf. Nur in ganz geringem Umfang wurde die im Gesetz vorgeschlagene Errichtung von Arbeiterausschüssen durchgeführt, die den Arbeitern in den sie unmittelbar berührenden Angelegenheiten ein Mitbestimmungsrecht eingeräumt hätte. Wenn auch das Gesetz vom 1. Juni 1891 immer noch wesentliche Wünsche der Arbeiter unerfüllt ließ, bedeutete es doch einen erheblichen Fortschritt in der Sozialpolitik des Reiches. Die vom Kaiser erhoffte Wirkung, positivere Einstellung des Arbeiters zum Staate und Schwächung der sozialdemokratischen Partei, trat jedoch nicht ein; das bisher Erreichte spornte vielmehr den größten Teil der Arbeiterschaft an, nun erst recht das Endziel, die sozialistische Gesellschafts- und Staatsordnung, anzustreben.

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Handelsverträge Handelsverträge Da die unter Bismarck abgeschlossenen Handelsverträge großenteils 1892 abliefen und von ihrer Nichterneuerung oder einer Erneuerung ohne ausreichende Vorbereitung eine empfindliche Schädigung des deutschen Wirtschaftslebens zu befürchten war, begann sich Caprivi schon 1890 der Handels- und Zollpolitik zuzuwenden, von der er sich auch günstige Auswirkungen auf die Außen- und Innenpolitik des Reiches versprach. Zunächst verhandelte er mit Österreich und Italien, die wirtschaftlichen Vereinbarungen mit ihnen sollten zur Festigung des Dreibundes beitragen. Am 10. Dezember 1891 legte Caprivi das Ergebnis der Verhandlungen mit Österreich, Italien und Belgien dem Reichstag zur ersten Lesung vor. Bei seinen Darlegungen ging Caprivi davon aus, daß Deutschland jährlich für etwas über 4 000 Millionen Mark fremde Waren ein- und nur für etwas über 3 000 Millionen Mark eigene Waren ausführe. „Was wir vom Ausland einführen, brauchen wir, es sind zum größten Teil unentbehrliche Nahrungsmittel, für unsere Industrie unentbehrliche Rohprodukte und Halbfabrikate. Wir müssen in der Lage sein, diese Dinge zu bezahlen, und um sie bezahlen zu können, haben wir in der Hauptsache nur ein Mittel: indem wir unsere Fabrikate dahin geben, woher wir diese Rohprodukte, diese Nahrungsmittel empfangen haben." Bleibt auch weiterhin unsere Ausfuhr jährlich gegenüber der Einfuhr im Rüdestand, so sind wir „auf die Dauer nicht imstande, das zu bezahlen, was wir brauchen, um zu leben und um unsere Industrie in schwunghaftem Betriebe zu erhalten." Dieser Ubelstand werde sich „von Jahr zu Jahr mehr geltend machen, weil unsere Bevölkerung steigt; wir haben mehr Menschen im Inland zu ernähren, und wir müssen für mehr Hände Arbeit schaffen". Bei den Überlegungen der Regierung erschien es „sehr bald zweifellos, daß auf dem bisherigen Wege fortzugehen, der Ruin nicht nur der Industrie, unseres Arbeiterstandes, sondern vielleicht auch des Staates sein würde". Es geht hier nicht um die früher viel umstrittene Frage, ob durch Schutzzoll oder Freihandel Abhilfe geschaffen werden könne; das seien „doktrinäre, durch die tatsächliche Entwicklung überholte Begriffe" und so bleibe „nur ein Mittel übrig, den Versuch zu machen, Tarifverträge mit anderen Staaten abzuschließen, auf diesem Wege unser Absatzgebiet zu erweitern, neue Märkte zu gewinnen". Die Wirkung der vorliegenden Verträge könne nicht eine plötzliche sein, das „kann nur langsam geschehen: langsam nur werden die Konsumenten hier und da billiger kaufen, langsam nur wird die Industrie neue Wege finden, hier und da andere Maschinen erwerben, sich auf einen veränderten Betrieb einrichten . . . auch muß den Betrieben der Landwirtschaft und der Industrie die Stetigkeit gegeben werden, deren sie unbedingt bedürfen". Diese Gründe hätten die Regierung „veranlaßt, von dem bisherigen Wege abzugehen, zu dem Abschluß von Tarifverträgen überzugehen und für diese Tarife eine zwölfjährige Dauer festzusetzen". In seinen weiteren Ausführungen suchte Caprivi die Landwirte wegen der vorgesehenen Herabsetzung des Roggen- und des Weizenzolles von 5 M auf 3,50 M für den Doppelzentner zu beruhigen. Die Landwirte, schon an sich derartigen Erklärungen nicht zugänglich, mußten durch die nun folgenden Ausfüh187

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik rungen des Reichskanzlers über die Industrie erst recht verstimmt werden: „Der Wert der Industrie für den Staat wächst von Jahr zu J a h r . . . Handel und Industrie sind und bleiben die wesentlichsten Quellen des Wohlstandes und damit politischer Macht, kultureller Bedeutung; denn ohne einen gewissen Grad von Wohlstand werden Kunst und Wissenschaft — ich weiche darin von dem Herrn Abgeordneten Bebel wesentlich ab, wie in manchen anderen Dingen — (Heiterkeit) nicht gedeihen können." Bei der Debatte drohte der konservative Abgeordnete Graf Kanitz: „Bisher ist die Landwirtschaft gewohnt gewesen, in der Regierung ihre beste Freundin zu erblicken; bei jeder Gelegenheit, namentlich auch bei den politischen Wahlen, kam dieses Vertrauen zum Ausdruck. Ich fürchte, daß dies in künftiger Zeit vielleicht etwas anders werden möchte." In der Abstimmung am 18. Dezember 1891 über den Handelsvertrag mit Österreich lehnten denn auch 36 Konservative die Regierungsvorlage ab, nur 18 billigten sie. Im ganzen stimmten 243 mit J a und 48 mit Nein. Die Verträge mit Italien und Belgien wurden ohne Debatte angenommen, weil sie ohne Bedeutung für die Getreidezölle waren. Ihre Herabsetzung wurde von den Arbeitern selbstverständlich und auch von den Industriellen begrüßt, weil die Beibehaltung oder gar Erhöhung der bisherigen die Forderung der Arbeiter nach Lohnerhöhung zur Folge gehabt hätten. — Die Tarife der Zollverträge wurden auf der Grundlage der Meistbegünstigung vom 1. Februar 1892 bis 31. Dezember 1903 festgesetzt und sollten mit einjähriger Kündigungsfrist weiterlaufen. Ohne Widerspruch bewilligte der Reichstag am 25. Januar 1892 den Handelsvertrag mit der Schweiz, am 14. Dezember genehmigte er den mit Serbien. Gegen den rumänischen Vertrag vom 15. Dezember 1893 hatte fast die Hälfte der Abgeordneten gestimmt, weil Rumänien viel Getreide ausführen konnte. Die größten Schwierigkeiten bereitete ein Übereinkommen mit Rußland. Der russische Außenminister Giers hatte im November 1891 bei einem Aufenthalt in Berlin den dringenden Wunsch nach handelspolitischer Einigung geäußert. Die sich lang hinziehenden Verhandlungen zerschlugen sich, nachdem Rußland im Sommer 1893 seine Industriezölle erhöht hatte. Kurz darauf nahm Rußland noch eine beträchtliche Zollerhöhung vor, die sich besonders gegen Deutschland richtete, das jetzt seinerseits einen Zollzuschlag auf die von Rußland kommenden Waren anordnete. Der nun folgende Zollkrieg wirkte sich für Rußland erheblich nachteiliger aus, hatte doch Deutschland 1891 um über 578 Millionen Mark hauptsächlich Agrarprodukte aus Rußland eingeführt und um etwas über 400 Millionen weniger nach Rußland ausgeführt. Bei seinen mißlichen Finanzverhältnissen war Rußland auf die Ausfuhr seiner Agrarprodukte unbedingt angewiesen, und so lenkte es bald ein. Anfang Oktober 1893 nahm es die Verhandlungen mit Deutschland wieder auf, Februar 1894 kamen sie zum Abschluß. In den Reichstagsdebatten Ende Februar bis Mitte März wandten sich die Konservativen heftig gegen den Vertrag. So sagte Graf Mirbach: „Wir bekämpfen die Handelspolitik, weil wir es für ungerecht halten, daß stets und allein die Landwirtschaft die Opfer tragen soll . . . Wir wollen daran festhalten, daß der Landwirt, weil er der größte Produzent und der größte Konsument ist, geschützt werden muß. Wir werden die Notwen188

Handelsverträge digkeit eines solchen Schutzes verteidigen bis zum letzten Atemzug." Die Mehrheit des Reichstags stimmte aber dodi am 16. März 1894 für den Vertrag mit Rußland. Mitte Januar 1893 hatte der schlesische Pächter Rupredit einen Aufruf veröffentlicht: „Wir müssen schreien, daß es das ganze Volk hört, wir müssen schreien, daß es bis in die Parlamentssäle und Ministerien dringt, wir müssen schreien, daß es bis an die Stufen des Thrones vernommen wird! Aber wir müssen, damit unser Geschrei nicht auch wieder unbeachtet verhallt, gleichzeitig handeln, indem wir aufhören, was wir bis jetzt immer für selbstverständlich hielten, für die Regierung in unseren Bezirken die Wahl zu machen." Daraufhin konstituierte sich am 18. Februar in Berlin unter dem Vorsitz eines konservativen Abgeordneten der Bund der Landwirte. Dank der rührigen Agitation durch Wanderredner, eine eigene Presse, die „Deutsche Tageszeitung", ein Korrespondenzblatt zur Beeinflussung der allgemeinen Presse, wuchs die Zahl der Mitglieder bis 1900 auf 250 000 an, meist mittlere und kleine Bauern; auch einen städtischen Anhang gewann der Bund. Er entsandte 1898 sechs und der ungefähr gleichzeitig entstandene Bayrische Bauernbund fünf Abgeordnete in den Reichstag. Größere Bedeutung erlangte der Bund der Landwirte für den Reichstag dadurch, daß infolge seiner Agitation bereits bei den Juniwahlen 1893 sich zahlreiche Landwirte für Kandidaten rechtsstehender Parteien entschieden, und daß bei einem großen Teil der Deutsch-Konservativen Partei die bisher vorwiegend staatspolitische Einstellung gegenüber einer ständischen, der agrarischen, zurücktrat. Das Ergebnis der deutschen Handelspolitik bis Mitte März 1894 war der Abschluß von Verträgen auf der Grundlage gegenseitiger Meistbegünstigung mit 38 Ländern, darunter Argentinien, Chile, China, Frankreich, Griechenland, Großbritannien, Italien, Japan, Korea, Mexiko, Norwegen, Österreich-Ungarn, Persien, Rumänien, Rußland, Schweden, Schweiz, Türkei, Vereinigte Staaten. Das Verhältnis von Ein- und Ausfuhr blieb sich allerdings auch jetzt ungefähr gleich; das deutsche Wirtschaftsleben, namentlich Handel und Industrie, nahm aber doch infolge der Caprivischen Handelspolitik einen gewaltigen Aufschwung: den 4 Milliarden Einfuhr 1893 standen 1906 bei Ablauf der Handelsverträge 9 Milliarden Einfuhr, der Ausfuhr von 3 Milliarden eine Ausfuhr von fast 7 Milliarden Mark gegenüber. Wie sehr sich die Lebensverhältnisse breiter Schichten verbesserten, zeigten der Rüdegang der Auswanderung von etwa 87 000 um 1893 auf 22 000 im Jahr 1900; die Zunahme großindustrieller Unternehmungen und Handelsfirmen, der Einlagen in Sparkassen und Banken, des Steueraufkommens; das Anwachsen der Zahl der Angestellten von 1882 bis 1907 auf das Siebenfache und der Arbeiter um das Doppelte (8 600 000). Die Landwirtschaft erlitt freilich empfindliche Einbußen, der Preis für Roggen zum Beispiel ging im Jahr 1894 fast auf die Hälfte des Standes von 1891 zurück. Dies lag jedoch nicht so sehr an den Handelsverträgen wie an dem Preisrückgang des Getreides auf dem Weltmarkt infolge der rasch in großem Umfang fortschreitenden Erweiterung der Anbauflächen hauptsächlich in Argentinien und den Vereinigten Staaten, an dem Ausbau der Eisenbahnen dort und in Rußland und an der Herabsetzung der Preise für die Schiffsfracht. So 189

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik manche Großgrundbesitzer und Bauern kamen um Haus und Hof. Eine allgemeine Verelendung der Landwirte trat indes keineswegs ein; viele entschlossen sich nun zu Betriebsverbesserungen und verlegten sich stärker als bisher auf die Viehzucht. Das stete Anwachsen der deutschen Bevölkerung von 41 auf 67,7 Millionen zwischen 1871 und 1914, wobei sich die ländliche mit ungefähr 22 Millionen im wesentlichen gleichblieb, beeinflußte die wirtschaftliche Entwicklung maßgebend. Während der Geltungsdauer der Caprivischen Handelsverträge vermehrte sich die Bevölkerung um ungefähr 6 Millionen. Wenn auch in diesen zwölf Jahren die Ernteerträge etwas mehr als die Bevölkerung zunahmen, blieb die deutsche Agrarproduktion doch hinter dem Verbrauch zurück, ebenfalls ein Zeichen der sich verbessernden Lebenshaltung breiter Schichten und für den Landwirt eine Gewähr, daß er seine Erzeugnisse, wenn auch nicht zu den von ihm gewünschten Preisen, absetzen konnte. Die Caprivische Handelspolitik erwies sich also trotz der Nachteile für die Landwirtschaft als ein Fortschritt, ja als eine Notwendigkeit. Kaiser Wilhelm erkannte dies sofort. Unmittelbar, nachdem ihm die Annahme der Handelsverträge mit Österreich-Ungarn, Italien und Belgien gemeldet worden war, rühmte er mit dem ihm eigenen Uberschwang Caprivi, dessen Arbeit dieses Ergebnis zu verdanken sei und der es mit weitem politischem Blick verstanden habe, im richtigen Augenblick das Vaterland vor schweren Gefahren zu behüten. „Es ist selbstverständlich, daß einzelne Interessenten Opfer bringen müssen, damit das Wohl des Ganzen vorwärts gebracht werde. Ich glaube aber, daß die Tat, die durch Einleitung und Abschluß der Handelsverträge für alle Mit- und Nachwelt als eines der bedeutendsten geschichtlichen Ereignisse dastehen wird, geradezu eine rettende zu nennen ist." Noch am gleichen Tage, am 18. Dezember 1891, verlieh der Kaiser dem Reichskanzler Caprivi den Grafentitel. Der Widerstand, auf den Caprivi während seiner Bemühungen um den russischen Handelsvertrag besonders auch von selten adliger Grundbesitzer stieß, ärgerte den Kaiser derart, daß er am 5. Februar 1894 bei einem offiziellen Diner sagte: „Ich habe keine Lust, wegen hundert dummer Junker mit Rußland Krieg zu führen", und behauptete dann, „der Zar nähme eine Ablehnung persönlich sehr übel, das russische Volk, das kein Verständnis für parlamentarisches Wesen habe, werde überzeugt sein, daß er, der Kaiser Wilhelm, doch eigentlich Gegner des Vertrages sei. Auf die russischen Truppenansammlungen an unserer Grenze hinweisend, erklärte er schließlich, bei Ablehnung des Vertrages würden wir sicherlich in längstens drei Monaten Krieg haben" (Waldersee). Zu einem russisch-deutschen Krieg wäre es deshalb wohl kaum gekommen; immerhin war es für Kaiser Wilhelm eine Genugtuung und Beruhigung, daß das Telegramm, in dem er dem Zaren am 16. März die Annahme des Vertrages durch den Reichstag mitteilte, am folgenden Tag durch den Zaren zustimmend beantwortet wurde. Auch in der russischen öffentlichen Meinung hat sich der Vertrag zugunsten Deutschlands ausgewirkt.

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Bismarck nach der Entlassung. Versöhnung mit dem Kaiser Bismarck nach der Entlassung. Versöhnung mit dem Kaiser Für das Verhalten Bismarcks nach seiner Entlassung sind die Worte, die er an eine ihn in Friedrichsruh besuchende Abordnung des Konservativen Vereins von Kiel richtete, sehr aufschlußreich: „Man hat von mir verlangt, ich solle mich um Politik nicht mehr kümmern. Niemals ist mir eine größere Dummheit vorgekommen als diese unerhörte Forderung. Sachverständige haben bei öffentlicher Behandlung von Fragen, die in ihr Fach schlagen, das größte Recht und unter Umständen die Pflicht mitzureden, und ich glaube, nach meiner langen Amtsführung nicht ganz ohne Fachkenntnis zu sein. Meine Mitwirkung kann sich jetzt nur nach der negativen Seite hin äußern, aber einer Maßregel gegenüber, die ich für schädlich halte, mein fachmännisches Urteil auszusprechen, werde ich mir von niemandem verbieten lassen." Seiner ganzen Art nach lag es Bismarck nicht, bei seiner Opposition objektiv und leidenschaftslos vorzugehen, zumal da er seine Entlassung als bitteres Unrecht empfand und ihn bald Verschiedenes neuerdings kränkte. „Ich bin bei dem Kaiser in Ungnade gefallen, und weiß nicht warum . . . das Ausscheiden aus meinem Amte hätte mich nicht geschmerzt, aber tief schmerzt mich die Form, in der es geschehen ist", sagte er noch im Sommer 1892 zu einem Mitarbeiter der „Münchner Neuesten Nachrichten". Die Kabinettsordre von 1852, die so viel zum Sturz Bismarcks beigetragen hatte, wurde durch Caprivi, wie der Kaiser von Bismarck verlangt hatte, aufgehoben; Caprivi erließ aber schon sechs Wochen nach Bismarcks Entlassung unbehindert vom Kaiser eine neue, deren Inhalt sich mit der früheren deckte. Am 24. April 1891 starb Generalfeldmarschall von Moltke. Der Kaiser rühmte in einem Nachruf seinen „treuen Freund und Berater", der „bis zum letzten Atemzug in bescheidener Einfachheit, selbstloser Pflichterfüllung und unwandelbarer Treue meinen erlauchten Vorfahren wie mir gedient hat". An der Trauerfeier für den Feldmarschall beteiligten sich der Kaiser, die Kaiserin und eine Reihe von Prinzen und Bundesfürsten; den Reichskanzler, die kommandierenden Generale und die Minister befahl der Kaiser zur Trauerfeier; Bismarck, der lange Jahre mit Moltke zusammen gearbeitet hatte, war nicht eingeladen, was weithin Aufsehen erregte. In Regierungskreisen entstand nach Bismarcks Entlassung die Besorgnis, daß der im Groll geschiedene Staatsmann und sein Sohn Herbert ihre künftige Muße dazu benützen könnten, der neuen Regierung in der Presse Opposition zu machen. Tatsächlich erschienen in den „Hamburger Nachrichten" Artikel im Sinne Bismarcks, auch empfing er trotz Herberts Abraten zahlreiche Journalisten aus dem In- und Auslande. Ihnen und Abordnungen wie der von Kiel gegenüber verteidigte Bismarck seine Politik, wandte sich gegen die Darstellung des Kaisers, er habe aus Gesundheitsgründen seinen Abschied genommen, und verurteilte nach anfänglicher Zurückhaltung fast alles, was Caprivi sagte und tat. Bei der Reichstagsersatzwahl Ende April 1891 in einem hannoverschen Wahlkreis wurde Bismarck gewählt. Einer Deputation aus dem Wahlkreis erklärte Bismarck, er sei zur Zeit mit Rücksicht auf seine Gesundheit außerstande, Pflichten zu übernehmen, mit denen der Aufenthalt in Berlin verbunden wäre, und abgesehen davon 191

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik bitte er als ihr Abgeordneter, falls im Reichstag nicht noch etwas Neues vorgelegt werde, um Urlaub zur Vermeidung von peinlichen Begegnungen mit früheren Freunden, die solche zu sein seit seinem Abgange aufgehört hätten. „Der Gedanke einer prinzipiellen Opposition gegen meinen Amtsnachfolger und die Regierung liegt mir außerordentlich fern; ebenso fern liegt es mir, still zu sein gegenüber von Vorlagen, die ich für schädlich halte . . . Die Pflicht zu reden, welche sich gerade aus meiner Sachkenntnis dann ergibt, zielt in meinem Gewissen wie mit einer Pistole auf mich." Als am 12. Dezember eine Deputation Bismarck den Ehrenbürgerbrief der Stadt Siegen überreichte, sprach er sich entschieden gegen die Handelsverträge aus, über die in den nächsten Tagen abgestimmt werden sollte. Dabei wies er auf die Bedeutung des Reichstags als unentbehrliches Bindemittel der deutschen Einheit hin; die Autorität des Reichstags dürfe deshalb nicht geschwächt werden, und entschuldigte sich, daß er, so gern er in den jetzt vorliegenden Verhandlungen mitwirken würde, sein Mandat nicht erfülle: gegen den Leiter des Staates „öffentlich so aufzutreten, wie ich müßte, wenn ich im Reichstag überhaupt redete, widerstrebt meinem Gefühl und ist mir peinlich, und es müßten noch stärkere Gründe wie heute vorliegen, daß ich diesen Widerwillen überwinde, die Nötigung dazu läuft mir vielleicht nicht weg, aber ich will es noch abwarten". All das mußte Caprivi persönlich verletzen, ihm die Amtsführung erschweren und weitere, seine Stellung untergrabende Angriffe befürchten lassen, hatte es doch den Anschein, Bismarck wolle wieder Reichskanzler werden oder sonst eines der höchsten Staatsämter erlangen und suche deshalb immer wieder die Unfähigkeit Caprivis zu beweisen. So übte die Nachricht, Bismarck werde im Juni 1892, zur Vermählung Herberts mit einer ungarischen Gräfin, nach Wien fahren und den Kaiser Franz Josef bei dieser Gelegenheit um eine Audienz bitten, auf Caprivi eine Schockwirkung aus, da sich die Folgen einer Begegnung Bismarcks mit dem österreichischen Kaiser nicht absehen ließen. In einer Depesche wies Caprivi den deutschen Botschafter Prinz Reuß in Wien an, „einer etwaigen Einladung zur Hochzeit auszuweichen . . . Ich füge hinzu, daß Seine Majestät von der Hochzeit keine Notiz nehmen werden". Drei Tage später, am 12. Juni, sandte Kaiser Wilhelm an Franz Josef einen Brief, den sogenannten Uriasbrief, mit den schwersten Vorwürfen gegen Bismarck und bat, dem „ungehorsamen Untertan"' keine Audienz zu gewähren, bis er ihm (Wilhelm) gegenüber „peccavi" (ich habe gesündigt) gesagt habe. Franz Josef antwortete darauf, Wilhelm wisse, daß er mit Bismarck bis zu dessen Rücktritt freundschaftlich verkehrt habe, und daß ihn Bismarcks seitherige Haltung in Friedrichsruh, namentlich Österreich gegenüber, nicht bestimmt haben würde, eine erbetene Audienz als einfachen Akt gegenseitiger Höflichkeit zu verweigern. Da „Du jedoch in Anbetracht des Umstandes, daß die gewährte Audienz Deine und Deiner Regierung Lage im Lande erschweren würde, einen so hohen Wert darauf legst, daß ich den Fürsten nicht empfange, so ist es selbstverständlich, daß ich Deinem Wunsche ohne weiteres nachkommen werde". Die Antwort des österreichischen Kaisers war für Wilhelm gewiß nicht schmeichelhaft, und die Reise nach Wien gestaltete sich für Bismarck zu einem 192

Bismarck nach der Entlassung. Versöhnung mit dem Kaiser Triumphzug. Zunächst hatte das deutsche Volk die Entlassung Bismarcks ziemlich gleichgültig hingenommen (S. 155); da aber sein Nachfolger keine überragende Persönlichkeit war, trat der große alte Mann im Sachsenwald, was er geleistet hatte, was er jetzt sagte, was über ihn gesagt und geschrieben wurde, alsbald erst recht wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit; weite Kreise feierten ihn als Gründer des Reiches, als den ersten Staatsmann Europas während zweier Jahrzehnte, den Unverstand und Mißgunst gestürzt hatten. Bei der Fahrt nach Wien wurden Bismarck auf allen Stationen Ovationen bereitet. In Dresden begrüßte ihn der Oberbürgermeister „in voller Übereinstimmung mit unserem König". Vom 18. bis 23. Juni hielt sich Bismarck in Wien auf, wo ihm die Bevölkerung wiederholt Huldigungen darbrachte; ebenso wurde er auf der Rückreise in München und Augsburg gefeiert. Während des sich anschließenden Kuraufenthaltes in Kissingen veröffentlichte der „Reichsanzeiger" mit Zustimmung Kaiser Wilhelms die Depesche Caprivis an den deutschen Botschafter in Wien. Bei der Heimreise aus Kissingen hielt Bismarck am 31. Juli 1892 auf dem Marktplatz in Jena eine seiner bekanntesten Reden. Er erklärte ein starkes Parlament als Brennpunkt des nationalen Einheisgefühles. Als Beispiel, daß die Kritik der Ratgeber des Kaisers keine antimonarchische Politik sei, wies Bismarck auf Goethes Schauspiel „Götz von Berlichingen" hin. Dieser kaisertreue Ritter „trug kein Bedenken, als ihn der Hauptmann zur Ubergabe aufforderte, diesem eine scharfe Kritik aus dem Fenster entgegen zu rufen. (Große Heiterkeit) . . . Man kann ein treuer Anhänger seiner Dynastie, des Königs und des Kaisers sein, ohne von der Weisheit der Maßregeln seiner Kommissare — wie es im Götz heißt — überzeugt zu sein. Ich bin letzteres nicht und werde diese meine Uberzeugung auch nicht zurückhalten". Direkt hat Bismarck den Kaiser nie angegriffen; so lag es nahe, daß Männer wie der Großindustrielle Karl Ferdinand von Stumm, der Reichstagsabgeordnete Wilhelm von Kardorff, der Botschafter Graf Philipp von Eulenburg, der General Graf Alfred von Waldersee, die den Bruch zwischen dem Kaiser und Bismarck aus menschlichen und politischen Gründen bedauerten, sich um eine Versöhnung bemühten. Die Vermittlungsversuche scheiterten jedoch an der Bedingung des Kaisers: „Der erste Schritt muß unter allen Umständen vom Fürsten getan werden. Er muß in ganz unzweideutiger Weise auf schriftlichem Wege direkt an mich seine Bitte oder Wunsch formulieren, wieder mit mir in Beziehung treten zu dürfen. Anders gehe ich auf nichts ein." Waldersee bemerkte dazu in seinem Tagebuch zutreffend: „Was hier vom Fürsten verlangt wird, ist ein Gang nach Canossa, und den tut er nicht." Größeren Eindruck machte auf den Kaiser die Warnung des Prinzen Albrecht von Preußen: „Wenn der Alte im Sachsenwalde stirbt, ohne daß Du Dich vorher mit ihm ausgesöhnt hast, so verzeiht Dir dies das deutsche Volk niemals." Ende August 1893 erkrankte Bismarck in Kissingen schwer an Lungenentzündung und Gürtelrose, am 6. September war er außer Lebensgefahr. Der Kaiser sandte am 19. September an Bismarck ein Telegramm: „Ich habe zu meinem Bedauern jetzt erst erfahren, daß Eure Durchlaucht eine nicht unerhebliche Erkrankung durchgemacht haben. Da mir zugleich Gott sei Dank Nachrichten über die stetig fortschreitende Besserung zugegangen sind, 193 13 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik spreche ich meine wärmste Freude hierüber aus. In dem Wunsche, Ihre Genesung zu einer recht vollständigen zu gestalten, bitte ich Eure Durchlaucht bei der klimatisch wenig günstigen Lage von Varzin und Friedrichsruh für die Winterzeiten in einem meiner in Mittel-Deutschland gelegenen Schlösser Ihr Quartier aufzuschlagen." In seinem Antworttelegramm bedankte sich Bismarck „in tiefster Ehrfurcht für Allerhöchstdero huldreichen Ausdrude der Teilnahme" und für die Einladung in eines der kaiserlichen Schlösser, der er jedoch nicht Folge leisten werde, da sein Leiden nervöser Art sei und er sich deshalb am besten in den ihm gewohnten Umgebungen und Beschäftigung erholen könne. Damit war die Versöhnung angebahnt. Den zweiten, den entscheidenden Schritt tat auf Zureden seines Flügeladjutanten Graf Cuno von Moltke ebenfalls der Kaiser. Er sandte Moltke nach Friedrichsruh mit einer Flasche alten Rheinweins und der Einladung zur Teilnahme an dem 25jährigen Militärjubiläum Wilhelms am 27. Januar 1894. Bismarck sagte zu. Der Kaiser bereitete ihm einen glänzenden Empfang in Berlin. Während Bismarck am Nachmittag bei der Kaiserin Friedrich war, ritt Wilhelm aus. Er wurde dabei von der Bevölkerung mit außerordentlichem Jubel gefeiert. Dies zeigte ihm, daß er den mit dem Bismarckbesuch verfolgten Zweck erreicht hatte: die Wiedergewinnung der Volksgunst. Abgesehen von seinem Verhältnis zum Kaiser änderte sich für Bismarck nichts. Dem Hauptschriftleiter der „Hamburger Nachrichten", der ihn nach seiner Heimkehr besuchte und fragte, ob er jetzt seine politische Stellungnahme ändern werde, antwortete Bismarck: „Ja glauben Sie denn, daß, wenn der Kaiser mir eine gnädige Gesinnung zeigt, seine Minister in Berlin dadurch klüger werden."

Polenpolitik Bismarck hat Caprivi auch in seiner Eigenschaft als preußischer Ministerpräsident angegriffen, namentlich wegen seiner Polenpolitik. An sich in erster Linie eine preußische Angelegenheit, berührte sie doch auch das Reich. Bismarck war als Reichskanzler darauf bedacht gewesen, durch seine Siedlungspolitik das Polentum in Westpreußen und Posen zurückzudrängen, was natürlich die Polen erbitterte. Nach Bismarcks Entlassung fragte ein Pole im preußischen Abgeordnetenhaus Caprivi, ob die jetzige Regierung auch den „haßerfüllten Standpunkt" Bismarcks gegen die Polen einnehme. In seiner Antwort versicherte Caprivi: Wir sehen die Polen „als Mitbürger an, schwierige Mitbürger zu Zeiten, zeitweise auch verirrte Mitbürger von unserem Standpunkt aus, aber immer als unsere Mitbürger, mit denen zusammenwirken zu können zum Besten des Staates uns zu allen Zeiten eine Freude sein wird". Caprivi suchte die Polen hauptsächlich deshalb für sich zu gewinnen, weil sie im Reichstag seit 1890 mit 16 Abgeordneten vertreten waren, 1893 mit 19; sie haben denn auch bei der Annahme der Heeresvorlage im August 1893 den Ausschlag gegeben und für die Handelsverträge gestimmt. Im großen und ganzen mißlang aber doch der Versuch Caprivis, die Polen Westpreußens und Posens wirklich für Preußen und Deutschland zu gewinnen. Ge194

Uberreste des Kulturkampfes. Streit um das Volksschulgesetz

mäßigt war noch der Prälat Florian von Stablewski, dessen spätere Ernennung zum Erzbischof von Posen und Gnesen ein großes Entgegenkommen für die Polen bedeutete; er sagte in seiner Rede auf dem Katholikentag in Thorn, es sei „an der Zeit auszusprechen, daß wir unter allen Umständen für die staatliche und die gesellschaftliche Ordnung einzustehen fest entschlossen sind, wobei wir aber unzweideutig erklären, daß wir um keinen Preis der Welt unsere nationale Eigenart aufgeben werden und stets das erkämpfen werden, daß es uns erlaubt wird, als Polen innerhalb der preußischen Monarchie zu leben". Die Mehrzahl der Polen, soweit sie sich für Politik interessierten, hörten indes lieber auf Männer wie Kußtelan aus Posen, der im September 1894 bei polnischen Kundgebungen in Lemberg ausführte: „Wir kommen aus dem Lande des Unglücks, wo wir kämpfen und durch die Tat beweisen, daß wir uns nicht nationalisieren lassen . . . Das Land ist von dem Schweiß des polnischen Bauern durchtränkt, überall ist polnischer Geist, überall hören wir die Stimme unserer Vorfahren. Haltet Euch und ergebt Euch nicht. Wer in diesem polnischen Lande das Brot essen wird, muß früher oder später Pole werden."

Überreste des Kulturkampfes.

Streit um das

Volksschulgesetz

In seinem Bestreben, Gegensätze auszugleichen, unterstützte Caprivi auch Forderungen der Katholiken. Während des Kulturkampfes war in Preußen vielen Geistlichen das Gehalt gesperrt worden, die Gesamtsumme betrug schließlich 16 Millionen Mark. Der Antrag der Regierung, die Sperrgelder den davon betroffenen Bistümern zurückzugeben, wurde im Juni 1891 vom preußischen Landtag angenommen, ebenso Ende März 1892 ein Gesetz zur Aufhebung der 1868 erfolgten Beschlagnahme des Weifenfonds, die viele Hannoveraner immer noch als schweres Unrecht empfanden. — Ein heftiger, an die Zeiten des schärfsten Kulturkampfes erinnernder Streit entbrannte über das Gesetz zur Reglung des Volksschulwesens, wofür schon die preußische Verfassung von 1850 Richtlinien gegeben hatte. Jetzt sollte, wie es in dem Anfang Dezember 1890 dem Landtag vorgelegten Gesetzentwurf hieß, eine „Grenze für die berechtigten Ansprüche der Religionsgesellschaften auf Mitwirkung bei Gestaltung des Religionsunterrichts gefunden werden". Der Entwurf stieß beim Zentrum und einem Teil der Konservativen derart auf Widerstand, daß der preußische Kultusminister Gustav von Goßler zurücktrat. Der Mitte Januar 1892 von seinem Nachfolger Karl von Zedlitz dem Landtag vorgelegte Entwurf begann: „Aufgabe der Volksschule ist die religiöse, sittliche und vaterländische Bildung der Jugend durch Erziehung und Unterricht." § 14 bestimmte: „Bei der Einrichtung der Volksschulen sind die konfessionellen Verhältnisse möglichst zu berücksichtigen. Der Regel nach soll ein Kind den Unterricht durch einen Lehrer seines Bekenntnisses empfangen." $ 18: Den „Religionsunterricht in der Volksschule leiten die betreffenden Religionsgesellschaften". § 105: „Die zur Vorbildung der Lehrer und Lehrerinnen an öffentlichen Volksschulen dienenden Seminare sind auf konfessioneller Grundlage 195 13·

Kanzlerschaft Caprivis — Innenpolitik einzurichten." Innerhalb und außerhalb des Landtags wurde der Gesetzentwurf fast nur wegen dieser Paragraphen vielfach angegriffen, zahlreiche Petitionen und Resolutionen meist gegen das Gesetz liefen im Abgeordnetenhaus ein. Als sich herausstellte, daß die sogenannten Mittelparteien, die Nationalliberalen, Freikonservativen und Freisinnigen, den Gesetzentwurf ablehnten, und er nur mit den Stimmen des Zentrums und der Konservativen durchgebracht werden könne, ordnete der Kaiser die Zurückziehung des zuvor von ihm gewünschten Gesetzes an, weil es nicht geraten sei, ein derartiges Gesetz ohne Zustimmung auch der Mittelparteien zu erlassen. Daraufhin bat der Kultusminister Zedlitz um seinen Abschied; ebenso auch Caprivi, der im Landtag wiederholt für die Annahme des Gesetzentwurfs eingetreten war. Am 24. März genehmigte der Kaiser den Abschied von Zedlitz; Caprivi wollte er halten, genehmigte schließlich auf sein Drängen den Rücktritt als preußischer Ministerpräsident; Reichskanzler blieb Caprivi jedoch, konnte aber nun im Bundesrat nicht mehr so wie bisher auf die preußischen Stimmen rechnen. Attentate. Streit um ein Sozialistengesetz. Rücktritt Caprivis In Spanien, Frankreich und Italien wurden 1892/93/94 mehrere anarchistische Attentate verübt, oder Pläne hierzu aufgedeckt. Das größte Aufsehen erregte die Ermordung des französischen Staatspräsidenten Carnot am 24. Juni 1894 durch einen italienischen Anarchisten. Die deutsche bürgerliche Presse forderte im Anschluß daran gesetzliche Maßnahmen gegen Sozialdemokratie und Anarchismus. Gewiß waren die deutschen Sozialdemokraten keine Anarchisten, sie standen auch mit ausländischen Anarchisten in keinem Zusammenhang, erkannten vielmehr die Gefahr, die ihrer Sache von der Anwendung solcher Mittel drohte. Aber die sozialdemokratische Presse erregte doch Anstoß, weil sie die Tat zu entschuldigen suchte; so las man etwa im „Vorwärts", das Attentat auf Carnot sei die Tat eines Wahnsinnigen gewesen, oder in dem Wochenblatt „Sozialdemokrat": „Es wäre charakterlose Feigheit nach oben, wollten wir nach der bürgerlichen Presse in billige Entrüstung über den ,Mordbuben' ausbrechen und den Politiker, der in blindem Eifer auf eigne Faust an der heutigen Gesellschaft mit dem Eisen herumkuriert, einfach als einen verächtlichen moralischen Auswurf und nicht als ein bedauernswertes Opfer elendester Verhältnisse behandeln;" der Artikel wies zur Warnung allerdings auch darauf hin, daß alle diese „Taten" sich „in ihrer Wirkung gegen die Arbeiterklasse wenden, schlimmer wie die schlimmsten Anschläge, die je die Feinde der Arbeiter ersannen". Der Kaiser verlangte denn auch von Caprivi, er solle sofort einen Gesetzentwurf gegen das anarchistische Verbrechertum ausarbeiten. Als Caprivi davon abriet, weil der Reichstag solch ein Ausnahmegesetz ablehnen würde, wies der Kaiser Graf Botho Eulenburg, den Nachfolger Caprivis als Ministerpräsident, an, die preußische Regierung solle die Abfassung eines derartigen Entwurfs übernehmen und dabei darauf achten, daß „Anarchisten und Sozialisten in einen Topf geworfen werden". Anfang September sagte der Kaiser zu Eulenburg, die Verschärfung der 196

Attentate. Streit um ein Sozialistengesetz. Rüdetritt Caprivis preußischen Vereinsgesetzgebung zur Bekämpfung der Umsturzbewegungen genüge nicht, das Reich müsse gesetzgeberisch vorgehen; wenn sich der Reichstag ablehnend verhalte, müsse man ihn, wenn nötig, wiederholt auflösen. In diesem Sinne äußerte sich Wilhelm II. zu den Königen Albert von Sachsen und Wilhelm von Württemberg in Königsberg gelegentlich der Kaisermanöver. König Albert sagte dazu: Wenn der Reichstag sich wiederholt gegen Maßnahmen zum Schutz der bürgerlichen Gesellschaft ablehnend verhalte, habe er seine Existenzberechtigung verwirkt. Es sei dann der Moment gekommen, wo die Bombe platzen und der Bundesrat ein neues Wahlgesetz einbringen oder oktroyieren müsse; mit anderen Worten die ultima ratio, ein coup d'Etat (Staatsstreich). Der König von Württemberg wies darauf hin, daß keiner der deutschen Bundesfürsten die Reichsverfassung beschworen habe, also könne sie geändert werden. Der Kaiser unterrichtete Caprivi in einem Telegramm von der Besprechimg mit den beiden Königen und erklärte sich mit ihnen einverstanden. Caprivi las im preußischen Ministerrat aus der Depesche des Kaisers die Erklärung König Alberts vor, der damit den Staatsstreich angeregt habe, und nahm dagegen entschieden Stellung. Die nun folgenden Auseinandersetzungen zwischen dem Kaiser, dem Reichskanzler und dem preußischen Ministerpräsidenten, Zwischenfälle, durch die sich Caprivi und Eulenburg gekränkt fühlten, das Eintreten Eulenburgs für ein möglichst scharfes Vorgehen zum Schutz der bürgerlichen Gesellschaft, während Caprivi verlangte, man solle sich darauf beschränken, dem Reichstag „maßvolle Vorschläge" für einen Ausbau der Strafgesetzgebung zu machen, führten schließlich dazu, daß Kaiser Wilhelm am 26. Oktober 1894 die Entlassungsgesuche Caprivis und Eulenburgs genehmigte. Anders als Bismarck hüllte sich Caprivi nach seiner Entlassung in Schweigen; Aufforderungen, sich über seine Kanzlerschaft zu äußern, lehnte er unter der Begründung ab, mit den Pflichten eines Beamten und Offiziers sei es nicht vereinbar, sich über seine amtliche Vergangenheit öffentlich zu äußern. In seinem Buch „Ereignisse und Gestalten" (1922) sprach sich Wilhelm II. anerkennend darüber aus: „Caprivi ging in stiller, vornehmer Weise . . . Ohne ein Wort der Rechtfertigung hat Caprivi vornehm schweigend den Rest seiner Tage in einsamer Zurückgezogenheit verlebt." Dieses Schweigen ging freilich so weit, daß Caprivi dem Kaiser nicht mehr wie üblich zu Neujahr und zum Geburtstag gratulierte, was „dieser sehr empfand" (Waldersee), rafften sich doch selbst Fürst Bismarck und sein Sohn Herbert trotz allem schon 1891 dazu auf. Caprivi hatte wohl erfahren, daß drei Tage nach seiner Entlassung der Kaiser gesagt hat: „Ich habe mich von ihm trennen müssen, weil er mir immer unbequemer wurde und mich hofmeistem wollte", und dann des öfteren von Caprivi als „diesem unseligen Menschen" sprach. Mit wenigen Ausnahmen rühmte die Presse den Charakter und das redliche Streben Caprivis, die Meinungen über seine politische Leistimg waren allerdings sehr geteilt. „Auch die politischen Gegner des Grafen Caprivi", schrieb die „Freisinnige Zeitung", „können demselben bei seinem Rücktritt das Zeugnis nicht versagen, daß er sich als einen ehrlichen und gesinnungstreuen Staatsmann gezeigt und politische Selbständigkeit auch nach oben hin bewiesen hat." 197

Die Reichskanzlerschaft Hohenlohes

Persönlichkeit

Hohenlohes

Kaiser Wilhelm ernannte am 29. Oktober 1894 Chlodwig Fürst von HohenloheSdiillingsfiirst zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten, da es sich nach dem Rücktritt Caprivis als Ministerpräsident als unzweckmäßig erwiesen hatte, die beiden Ämter nicht in einer Hand zu vereinigen. Hohenlohe besaß eine reiche politische Erfahrung. Von Ende Dezember 1866 bis Anfang März 1870 war er Minister des Äußeren und Vorsitzender des Ministerrates in Bayern, 1866/67 einer der führenden süddeutschen Staatsmänner bei den Auseinandersetzungen über die Reglung des Verhältnisses dieser Staaten zu einander, zu Preußen und dem Norddeutschen Bund; 1871/77 gehörte er dem Reichstag als Mitglied der gemäßigt konservativen Deutschen Reichspartei an. In die internationale Politik gewann Hohenlohe Einblick als deutscher Bevollmächtigter auf dem Berliner Kongreß (1878) und als deutscher Botschafter in Paris (1874/85). Im Juli 1885 wurde Hohenlohe Statthalter von Elsaß-Lothringen; sein umsichtiges und taktvolles Vorgehen milderte die Abneigung der Bevölkerung gegen das deutsche Regime, sie völlig zu überwinden gelang freilich auch ihm nicht. In „Ereignisse und Gestalten" erwähnt Wilhelm II., was ihn für Hohenlohe einnahm: Er „war der Typus des alten vornehmen Grandseigneurs. Sehr urban in seinem ganzen Wesen und in seinen Umgangsformen, von feinem Geist, der einen leichten Beigeschmack von feiner Ironie zuweilen durchblicken ließ, durch sein Alter abgeklärt, ein kühler Beobachter und Beurteiler der Menschen. Trotz unserem großen Altersunterschiede hat er sich sehr gut mit mir eingelebt. Das wurde auch äußerlich dadurch betont, daß er sowohl von der Kaiserin (mit ihr war Hohenlohe weitschichtig verwandt) wie von mir als Oheim behandelt und angeredet wurde, wodurch sich eine gewisse Atmosphäre von familiärer Vertraulichkeit beim Beisammensein um uns wob". Trotzdem hatte Hohenlohe oft „durch das eigenmächtige Eingreifen des Kaisers schwere Stunden" (Waldersee). Mißlich war auch, worauf Hohenlohe den Kaiser vor Annahme der Ämter des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten aufmerksam gemacht hatte: „1. Alter (75 Jahre) und Gedächtnisschwäche, Krankheit. 2. Mangelnde Redegabe. 3. Mangelnde Kenntnis der preußischen Gesetze und Verhältnisse. 4. Nichtmilitär", und daß Hohenlohe sich während seiner Reichskanzlerschaft in der Außenpolitik allzusehr von Holstein beeinflussen ließ. 198

Umsturzvorlage. Ära Stumm. Zuchthausvorlage INNENPOLITIK

Umsturzvorlage. Ära Stumm.

Zuchihausvorlage

Die Weigerung, für Gesetze einzutreten, die sich vor allem gegen die Sozialdemokratie richteten, hatte zur Entlassung Caprivis geführt. Dem Reichstag ging nun am 6. Dezember 1894 die sogenannte Umsturzvorlage zu unter der Bezeichnung „Entwurf eines Gesetzes betreffend Änderungen und Ergänzungen des Strafgesetzbuches, des Militärstrafgesetzbuches und des Gesetzes über die Presse". Wie aus den Aufzeichnungen Hohenlohes hervorgeht, bezweckte er mit der Vorlage keineswegs ein schroffes Vorgehen gegen die Sozialdemokratie, wie es Wilhelm II. von Caprivi verlangt hatte. So bemerkte Hohenlohe zum Kaiser: „Einschreiten gegen die Sozialdemokratie ist nötig, aber nur dann, wenn sie Anlaß dazu gibt. Gesetze gegen die Sozialdemokratie helfen nichts. Sie führen zum Konflikt mit dem Reichstag, zur Auflösung und zum partiellen Staatsstreich und verstärken die Macht und den Einfluß der Sozialdemokratie. Wollen E. M. eine solche Politik befolgen, so habe ich dagegen nichts zu bemerken, aber mitmachen werde ich sie nicht, und in diesem Fall werden E. M. besser tun, einen General zum Reichskanzler zu ernennen. Ich gehe gem ins Privatleben zurück. Ich bin berufen worden, um Beruhigung zu schaffen, nicht aber um Konfliktspolitik zu treiben." Der am 6. Dezember dem Reichstag vorgelegte Entwurf enthielt wohl eine Reihe von Verschärfungen gegenüber dem bisherigen Straf- und dem Militärstrafgesetzbuch, ohne jedoch ausdrücklich eine bestimmte politische Partei oder Richtung zu nennen, sondern verfügte allgemein etwa: „Wer in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedene Klassen der Bevölkerung zu Gewalttätigkeiten öffentlich anreizt, wird mit Geldstrafe bis zu 600 Mark oder mit Gefängnis bis zu zwei Jahren bestraft." „Endlich ist sie da", schrieb der „Vorwärts", „die Umsturzvorlage, deren Geburtswehen bereits einem Reichskanzler und einem preußischen Ministerpräsidenten die Ämter gekostet haben und alle bürgerlichen Parteien monatelang in Aufregung erhielten, nicht aber die Sozialdemokratie." Die Aufregung nahm nach Bekanntwerden der Vorlage in weiten Kreisen noch zu. Wie die Sozialdemokraten war man auch sonst davon überzeugt, daß ihnen dieses Gesetz keinen Abbruch tun werde, dafür würden aber Presseerzeugnisse und öffentliche Reden von Angehörigen anderer Parteien mindestens im gleichen Maße betroffen wie die Sozialdemokraten. Besonders nahm man Anstoß an der Bestimmung, ebenso wie die Aufreizung zu Gewalttätigkeiten der verschiedenen Bevölkerungsklassen gegeneinander werde bestraft, wer „in einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise die Religion, die Monarchie, die Ehe, die Familie oder das Eigentum durch beschimpfende Äußerungen öffentlich angreift". Die Beratung der Umsturzvorlage im Reichstag begann am 8. Januar 1895, am 12. wurde sie zu näherer Prüfung an eine Kommission überwiesen. Die Kommission nahm einige Änderungen vor, gegen zwei davon wurde dann der Vorwurf erhoben, sie bedrohten die Freiheit der Wissenschaft und des deutschen 199

Kanzlerschaft Hohenlohes — Innenpolitik Geisteslebens. Nach der zweiten Beratung lehnte der Reichstag am 10./11. Mai die gesamte Umsturzvorlage ab. Hohenlohe berichtete dies sofort dem Kaiser nach Hohenfinow und erhielt noch am gleichen Tage das Antworttelegramm: „Besten Dank für Meldung. Es bleiben uns somit noch die Feuerspritze für gewöhnlich und Kartätschen für die letzte Instanz übrig!" In der Hoffnung, die Arbeiterschaft für den Staat zu gewinnen und damit der Sozialdemokratie den Boden zu entziehen, hatte Wilhelm II. zu Anfang seiner Regierung die entscheidende Anregung für das Alters- und Invaliditätsgesetz von 1889 gegeben und die Arbeiterschutzgesetzgebung veranlaßt. Bei der Reichstagswahl von 1890 erhielt jedoch die Sozialdemokratie 664 170 Stimmen mehr als 1887, und 1893 nahmen sie nochmals um 359 440 Stimmen zu. Das Verhalten des Kaisers in der Umsturzfrage zeigte, wie weit er sich durch diese Erfahrungen von seinem Optimismus entfernt hatte, er werde auf dem Wege sozialer Gesetzgebung die Arbeiter von ihrer sozialdemokratischen Gesinnung abbringen. Dem stand die grundsätzlich verschiedene Zielsetzung entgegen. Die große Masse der Arbeiter erstrebte eine sozialistische Staats- und Gesellschaftsordnung; der Kaiser forderte, die Arbeiter sollten sich gutwillig der bestehenden einfügen, verstanden sie sich dazu, würde ihnen die Regierung zu möglichst günstigen Lebensbedingungen verhelfen; widersetzten sie sich, dann sollten sie die Macht des von ihnen bekämpften Staates zu fühlen bekommen. In dieser Auffassung bestärkte den Kaiser namentlich Karl von Stumm-Halberg (1836/1901). Sein väterliches Erbe, saarländische Eisenhütten, baute er zu dem bedeutendsten Eisenwerk des Saarlandes und zu dem darüber hinausreichenden, auch Bergwerke umfassenden Stummkonzern aus. Stumm betrachtete sich als Chef und Kamerad seiner Arbeiter; dafür, wie er dies auffaßte, sind Äußerungen kennzeichnend wie: „Wenn ein Fabrikunternehmen gedeihen soll, so muß es militärisdi, nicht parlamentarisch organisiert sein." „Wie der Soldatenstand alle Angehörigen des Heeres vom Feldmarschall bis zum jüngsten Rekruten umfaßt und alle gemeinsam gegen den Feind ziehen, wenn ihr König sie ruft, so stehen die Angehörigen des Neunkirchner Werkes wie ein Mann zusammen, wenn es gilt die Konkurrenz sowohl wie die finsteren Mächte des Umsturzes zu bekämpfen." In der Überwachung des Privatlebens seiner Arbeiter ging Stumm soweit, daß keiner vor Vollendung des 24. Lebensjahres ohne seine Erlaubnis heiraten durfte, auch mußte sich die künftige Frau des Arbeiters vor Erteilung der Heiratserlaubnis vorstellen. Andererseits erhielten in den Stummschen Werken die Arbeiter hohe Löhne; für in Not geratene Arbeiter, für die Arbeiterkinder und für die Beschaffung von Arbeitereigenheimen wurde in großzügigster Weise gesorgt. Als Abgeordneter der Reichspartei und als Mitglied des preußischen Herrenhauses trat Stumm für die Sozialpolitik Bismarcks und dann Wilhelms II. ein und bekämpfte bei jeder sich bietenden Gelegenheit die Sozialdemokratie und die Gewerkschaften. Natürlich haßten und verhöhnten die Sozialdemokraten das „Stummsche System". Ebenso selbstverständlich war Wilhelm II. für den Mann eingenommen, der erklärt hatte: „Ich denke, wir alle werden wie bisher so auch für die Zukunft zeigen, daß im Königreich ,Stumm', wie unsere Gegner spöttisch unser Gemeinwesen nennen, 200

Umsturzvorlage. Ära Stumm. Zudithausvorlage nur ein Wille regiert, und das ist der Wille S. M. des Königs von Preußen." In den Reidistagsdebatten über das Umsturzgesetz verdammte Stumm nicht nur die Sozialdemokratie, sondern audi alle, die ihr wie Naumann und die Kathedersozialisten einigermaßen nahestanden. Stumm übte auf Wilhelm II. einen so starken Einfluß aus, daß man von einer „Ära Stumm" gesprochen hat; vielleicht könnte man in sozialpolitischer Hinsicht die Jahre 1894 bis 1897 so nennen. Seit sein Streit mit Stöcker den Kaiser allzusehr in das Parteiengetriebe gezogen hatte, wandte sich dieser von Stumm ab, und Stumm zog sich die letzten Jahre seines Lebens vom Hofe und von der Politik zurück. Die Vorlage über das Umsturzgesetz hatte Stumm im Reichstag „als ersten Schritt zur Gesundung" begrüßt, aber dazu bemerkt: „Wir brauchen ein schärferes Gesetz, und hätte ich das Gesetz zu machen, so würde ich vorschlagen: § 1. Jedem Sozialisten wird das aktive und das passive Wahlrecht entzogen. Die Agitatoren werden ausgewiesen oder interniert." Obwohl dieser „erste Schritt" infolge der Ablehnung der Vorlage durch den Reichstag nur zu einer Niederlage der Regierung führte, setzten der Kaiser und Stumm ihren Kampf gegen die Sozialdemokratie fort. Unter anderem erklärte Wilhelm II. Ende Februar 1897 in einer seiner Reden: „Diejenige Partei, die es wagt, die staatlichen Grundlagen anzugreifen, die gegen die Religion sicii erhebt und selbst nicht vor der Person des Allerhöchsten Herrn haltmacht, muß überwunden werden", und verkündete Mitte Juni bei einer Besichtigung der Arbeiterkolonien des Pastors von Bodelschwingh als sein Programm: „Schutz der nationalen Arbeit aller produktiven Stände. Kräftigung eines gesunden Mittelstandes, rücksichtslose Niederwerfung jeden Umsturzes und die schwerste Strafe dem, der sich untersteht, einen Nebenmenschen, der arbeiten will, an freiwilliger Arbeit zu hindern." Nachdem der Kaiser im folgenden Jahre ein Gesetz im Sinne dieses Programms angekündigt hatte, wurde am 2. Juni 1899 dem Reichstag der „Gesetzentwurf zum Schutz des gewerblichen Arbeitsverhältnisses" vorgelegt. Darin waren Gefängnisstrafen festgesetzt für Arbeitgeber und Arbeitnehmer, die durch Anwendung von körperlichem Zwang oder durch Drohungen den Arbeitsfrieden störten; besonders richtete sich der Entwurf gegen die Anwendung solcher Mittel, um Arbeiteraussperrungen oder Streiks hervorzurufen. „Ist infolge des Arbeiterausstandes oder der Arbeiteraussperrung eine Gefährdung der Sicherheit des Reiches oder eines Bundesstaates eingetreten oder eine gemeine Gefahr für Menschenleben oder das Eigentum herbeigeführt worden, so ist auf Zuchthaus bis zu drei Jahren, gegen die Rädelsführer auf Zuchthaus bis zu fünf Jahren zu erkennen." Die Presse der Linksparteien und des Zentrums wandte sich gegen die „Zudithausvorlage", wie der ganze Entwurf nach diesem Paragraphen gehässig oder spöttisch genannt wurde, weil sie das Koalitionsrecht aufhebe oder zum mindesten sehr einschränke. Volksversammlungen protestierten gegen die Vorlage, auch die christlichen Arbeitervereine mißbilligten sie, ebenso die Arbeitnehmer und Arbeitgeber im Ausschuß des Berliner Gewerbegerichts. Bei der zweiten Lesung im Reichstag am 20. November wurden zuerst der Antrag, die Vorlage an eine Kommission zu verweisen, und dann alle Paragraphen gegen die Stimmen der Rechten abgelehnt; den Zuchthausparagraphen hatte selbst sie 201

Kanzlerschaft Hohenlohes — Innenpolitik nicht gebilligt. Damit war der Gesetzentwurf endgültig erledigt, denn eine dritte Lesung über ihn fand nicht mehr statt. So sehr der Kaiser über das Scheitern des Gesetzentwurfs erbost war, löste er doch den Reichstag nicht auf, ja, er ließ Hohenlohe, nachdem dieser mit seinem Rücktritt gedroht hatte, in der Aufhebung des Verbindungsverbotes politischer Vereine untereinander freie Hand. Am 6. Dezember stimmte der Reichstag dem Gesetzentwurf zu: „Inländische Vereine jeder Art dürfen miteinander in Verbindung treten. Entgegengesetzte landesgesetzliche Bestimmungen sind aufgehoben." An und für sich hatte das Verbindungsverbot im allgemeinen und so auch für die Sozialdemokratie nur geringe Bedeutung gehabt, doch war es als politische Schikane empfunden worden.

Stöcker und Naumann.

Antisemitismus

Die Ablehnung des Umsturz- und des Zuchthausgesetzes sowie die Zustimmung zur Aufhebung des Verbindungsverbotes politischer Vereine zeigten, daß die Mehrheit des deutschen Volkes nicht gewillt war, den Kaiser in seinem Kampf gegen die Sozialdemokratie zu unterstützen. Dafür war außer der Befürchtung des Zentrums und der Freisinnigen, eine weitgehende Schwächung der Sozialdemokratie würde den rechtsstehenden Parteien das Übergewicht bei Wahlen und Reichstagsverhandlungen sichern, die Überzeugung vieler maßgebend, das Streben der Arbeiterschaft nach Hebung nicht nur ihres Lebensstandards, sondern auch ihrer gesellschaftlichen Stellung sei durchaus berechtigt. Da aber nicht zu erwarten war, daß die Sozialdemokratie von ihrer staats- und kirchenfeindlichen Haltung abgehen würde, lag der Gedanke nahe, neben der sozialdemokratischen eine den Staat und die Kirche bejahende Arbeiterbewegung ins Leben zu rufen. So gründete Stöcker (S. 57) 1878 die Christlichsoziale Arbeiterpartei, der aber nur wenige Arbeiter beitraten. Stöckers Partei wurde im wesentlichen eine kleinbürgerliche, die bis 1896 mit den Konservativen zusammenging. Der bedeutendste Anhänger Stöckers, Friedrich Naumann (1860/1919), ebenfalls evangelischer Geistlicher, schlug bald eigene Wege ein. Stöcker, als Theologe orthodox, als Politiker konservativ, hat das Programm der von ihm gegründeten Partei mit dem Satz eingeleitet: Sie „steht auf dem Boden des christlichen Glaubens und der Liebe zu König und Vaterland". Die Sozialdemokratie war daher Stöcker ein Greuel. Naumann dagegen stand auf der Seite der liberalen Theologie, was auch in den Andachten seiner in mehreren Bänden erschienenen, von tiefer Religiosität zeugenden „Gotteshilfe" zum Ausdruck kam. In Jesus sah er vor allem den „Volksmann"; die Sozialdemokratie lehnte Naumann wegen ihrer Irreligiosität ab, jedoch nicht den politischen Gedanken des Sozialismus. Allmählich kam Naumann zu der Überzeugung, die unter völlig anderen wirtschaftlichen und politischen Verhältnissen entstandene christliche Lehre könne, wenn auch starke Antriebe in ihr hierzu lägen, nicht als Maßstab für die Durchführung einer Sozialpolitik dienen, wie sie die Gegenwart in Deutschland fordere. Auf dem evangelischsozialen Kongreß in Erfurt Anfang Juni 1895 begegnete Naumann dem berühm202

Stöcker und Naumann. Antisemitismus ten Volkswirtschaftler Max Weber und machte sich mit dessen hemmungslosem Nationalismus vertraut. „Der Fehler der Sozialdemokratie wird nicht mehr wie bisher in deren marxistischer Christentumsfeindschaft, sondern in ihrem Versagen der nationalen Machtfrage gegenüber gesehen. Damit war die Schwerpunktverlagerung vom Christentum zum Nationalen in Naumanns sozialpolitischer Tätigkeit eingeleitet, die ihn schließlich zu der Ansicht geführt hat, daß gegenüber der Stoßkraft des modernen nationalen Machtstaatsgedankens sich sein christlicher Sozialismus nicht halten kann und ihm geopfert wird" (Nürnberger). Auf dem Parteitag der Christlichsozialen Ende Februar 1896 löste Stöclcer ihre Verbindung mit den Konservativen, weil sie die Sozialreform vernachlässigten, und erklärte, der Kampf gegen den Umsturz müsse unter der Fahne eines lebendigen Christentums geführt werden, ein Zusammengehen mit der von Naumann geführten jüngeren Richtung der Christlichsozialen sei unmöglich. Im November beschlossen die jüngeren Christlichsozialen auf einer Delegiertenversammlung, von einer eigentlichen Parteibildung abzusehen, unter Naumann als Vorsitzendem sich in dem „Nationalsozialen Verein" zusammenzuschließen, dessen Organ die „Zeit" wurde. Naumann gab außerdem seit 1895 die Wochenschrift „Hilfe" heraus. Zwei Jahre später erschien von ihm der „Nationalsoziale Katechismus", in dem er die Frage: „Was ist das Nationale?" beantwortete: „Es ist der Trieb des deutschen Volkes, seinen Einfluß auf die Erdkugel auszudehnen." Da die Nationalsozialen bei den Reichstagswahlen von 1898 und 1903 keinerlei Erfolg hatten, schlossen sich Naumann und seine unbedingten Anhänger der Freisinnigen Vereinigung an, andere wie der Pastor Paul Göhre, der einige Zeit als Fabrikarbeiter tätig gewesen war, der Sozialdemokratie. Die Ausführungen Naumanns in seinem Buch „Demokratie und Kaisertum" (1900) gipfelten in dem Satz: „Wer will ein Deutschland überwinden, in dem der Kaiser und die Masse sich gefunden haben?" Von dem Redner und Schriftsteller Naumann ging damals und noch mehr später, namentlich von seiner Schrift „Mitteleuropa", eine mitreißende Wirkung aus, obwohl — zum Teil auch gerade deshalb —, weil seine Darlegungen nicht selten der Klarheit und Folgerichtigkeit entbehrten. Wie der Machtstaatsgedanke Naumanns, so nahm auch die von Stöcker eingeleitete antisemitische Bewegung in manchem Hitlers Nationalsozialismus vorweg. „Die antisemitischen Geister, welche Stöcker einst gerufen und welche eine Zeit lang der Konservativen Partei gedient hatten, wandten sich nun (1893) gegen diese und gegen Stöcker. Mit der Parole: ,Gegen Junker und Juden' zog Hermann Ahlwardt (Reichstagsabgeordneter) im Triumphzug durch die pommerschen Lande; Juden, Junker und Pfaffen gehören in einen Topf ergänzte der Abgeordnete Werner" (Frank). Im Reichstag waren die Antisemiten erstmals 1887 mit einem, dann 1890 mit fünf, 1893 mit 16, 1898 mit 13 Abgeordneten vertreten, die konservativ eingestellten als Deutschsoziale Partei, die demokratischen als Deutsche Reformpartei; 1894 schlossen sich die beiden Gruppen zur Deutschsozialen Reformpartei zusammen. Auf dem Norddeutschen Antisemitentag im September 1893 erklärte der Hauptredner: „Eigentum ist nicht Diebstahl, aber das jüdische Kapital ist ein Raub am deutschen Volke, deshalb muß dasselbe auf 203

Kanzlerschaft Hohenlohes — Innenpolitik gesetzlichem Wege eingezogen und zur Tilgung der Hypotheken- und Staatsschulden sowie zur Errichtung von Wohltätigkeitsanstalten verwendet werden.''' Reform der als Judenchristentum bezeichneten christlichen Religion und Aufhebung der Gleichberechtigung der Juden forderten antisemitische Parteitage 1894/ 1895. Gegen antisemitische Anträge im Reichstag Ende Februar 1895, Verbot der Einwanderung ausländischer Juden und Ermächtigung der Regierung zu ihrer Ausweisung, weil „wir mit den im Lande bereits befindlichen Juden die Erfahrung gemacht haben, daß sie auf das gesamte öffentliche Leben nicht günstig eingewirkt und besonders das Erwerbsleben auf das allerungiinstigste beeinflußt haben", wandte ein sozialdemokratischer Abgeordneter ein, es handle sich hier nicht um Rassefragen, sondern um Wirtschaftsprobleme, jüdisches und christliches Großkapital seien identisch und verwerflich; mit 167 gegen 51 Stimmen lehnte der Reichstag die antisemitischen Anträge ab. Von dem 1899 auf dem Hamburger Parteitag der Deutschsozialen Reformpartei beschlossenen Programm sind im Hinblick auf die verhängnisvollen Auswirkungen der zwanzig Jahre später einsetzenden nationalsozialistischen Bewegung besonders bemerkenswert: § 1 „Es ist die Aufgabe der antisemitischen Partei, die Kenntnis vom wahren Wesen des Judenvolkes zu vertiefen und immer weiter zu verbreiten. Wir stehen erst am Anfang dieser Tätigkeit." § 3 „Dank der Entwicklung unserer modernen Verkehrsmittel dürfte die Judenfrage im Laufe des 20. Jahrhunderts zur Weltfrage werden und als solche von den anderen Völkern gemeinsam und endgültig durch völlige Absonderung und, wenn die Notwehr es gebietet, schließliche Vernichtung des Judenvolkes gelöst werden. Der wahre Friedenskongreß wird derjenige sein, der sich mit der Stellung der erdbewohnenden Menschheit zum Hebräer beschäftigt. — Bis dahin aber wird es Sache jeder einzelnen Nation sein, sich der Judenplage zu erwehren, so gut sie es den Umständen nach kann." § 4 „Wer Jude ist ergibt sich ganz allein aus der Abstammimg."

Feiern Zu der Einweihung des Nordostseekanals im Juni 1895 durch Kaiser Wilhelm erschienen alle deutschen Bundesfürsten, Prinzen der englischen, italienischen, russischen, österreichischen und belgischen Kaiser- und Königsfamilie, die höchsten Staatsbeamten und zahlreiche Abgeordnete des Reichstags und der deutschen Länder. Am letzten Tag der Feierlichkeiten vollzog der Kaiser die Schlußsteinlegung mit den Worten: „Zum Andenken an Kaiser Wilhelm I. den Großen, zum Ruhme des Reiches taufe ich Dich Kaiser-Wilhelm-Kanal", und verlas dann eine Urkunde, die in dem Grundstein des bei der Einmündung des Kanals in den Kieler Kriegshafen zu errichtenden Denkmals für Wilhelm I. niedergelegt werden sollte: „Ein beredtes Zeugnis deutscher Tatkraft und vaterländischen Fleißes ist erstanden . . . Nicht nur dem Vaterland und seinem Handel, seiner Schiffahrt und seiner Wehrkraft soll der Kanal förderlich sein. Indem wir ihn in den Dienst des Weltverkehrs stellen, eröffnen wir neidlos allen seefahrttreibenden Völkern 204

Feiern die Vorteile, welche seine Benutzung gewährt. Möge er, ein Friedenswerk, alle Zeit nur dem Wettkampf der Nationen um die Güter des Friedens dienstbar sein." Der Kaiser hat die Bedeutung des Kanals keineswegs überschätzt, schon 1896/97 durchführen ihn 19 960 Schiffe mit 1 848 458 Tonnen. In die Feierlichkeiten zur Erinnerung an die vor 25 Jahren im französisch-deutschen Krieg erfochtenen Siege brachten Schmähungen der sozialistischen Presse und heftige Ausfälle des Kaisers gegen die Sozialdemokratie einen Mißton. Anfang August schrieb der „Vorwärts": „Patriotische Kapitalisten beabsichtigen in inniger und aufrichtiger Liebe zu diesem Staate, den heiligen Sedan diesmal ganz besonders umfassend zu begehen. Sie wollen, wie aus ihren Organen herauszulesen, möglichst unter ,Kontraktbruch', wie sie es bei der Maifeier nennen, und unter Einbehaltung des Arbeitslohns für diesen Tag, ihre Arbeiter in mordspatriotische Feiern hineinpeitschen, damit dem erhabenen Gedenktage des großen Schlachtens auf keinen Fall der volkstümliche Charakter fehle. Wo ist der Mann unter dem deutschen Industrieproletariat, der solcher frechen Betätigung des Mordspatriotismus nicht hohnlachend und mit Ekel erfüllt gegenüberstände? Wo ist der Hanswurst unter den Ausgebeuteten, der sich, ohne Ingrimm im Herzen, durch Beteiligung an solcher Feier entehrte? Welcher klassenbewußte Arbeiter in deutschen Landen reichte im Anblick des mordspatriotischen Geheuls nicht mit doppelter Innigkeit seinen französischen Brüdern und Leidensgefährten die Hand, eingedenk der erzenen Losungsworte, vor denen die Bourgeoisie der ganzen Welt erblaßt als vor einem Menetekel: Proletarier aller Länder vereinigt Euch!" Bei einer der Gedenkfeiern in Berlin forderte der Kaiser das gesamte Volk auf, diese „unerhörten Angriffe zurückzuweisen. Geschieht es nicht, nun dann rufe ich Sie (das Gardekorps), um der hochverräterischen Schar zu wehren, um einen Kampf zu führen, der uns befreit von solchen Elementen". Ein Erlaß des Kaisers vom 8. September 1895 Schloß: „Ein Volk, welches so seine Toten ehrt, wird — das hoffe ich mit Zuversicht — allezeit treu zu Kaiser und Reich stehen und sich auch jener vaterlandslosen Feinde der göttlichen Weltordnung zu erwehren wissen, die selbst in diesen Tagen nationaler Begeisterung dreist ihr Haupt erheben." Mit Illuminationen, Theatervorstellungen und sonstigen Festlichkeiten wurde am 18. Januar 1896 der 25. Jahrestag der Reichsgründung in ganz Deutschland gefeiert. — Gottesdienste überall im Reich eröffneten die Gedenkfeiern zum hundertsten Geburtstag Wilhelms I. Am 22. März 1897 erschien ein Erlaß des Kaisers: „Eine besondere Weihe will ich diesem Jubeltage dadurch geben, daß mein Heer von nun an auch die Farben des gemeinsamen Vaterlandes anlegt: das Wahrzeichen der errungenen Einheit, die deutsche Kokarde, die nach dem einmütigen Beschlüsse meiner hohen Bundesgenossen in dieser Stunde ihren Truppen ebenfalls verliehen wird." Prinzregent Luitpold von Bayern hatte diesem Beschlüsse nicht gerade begeistert zugestimmt, wenn er auch in dem Armeebefehl, daß seine Truppen außer der bayrischen die deutsche Kokarde zu tragen haben, auf die Verdienste Wilhelms I. um die Einigung Deutschlands hinwies. Dem Reichskanzler gegenüber zeigte sich der Prinzregent „wenig erbaut und 205

Kanzlerschaft Hohenlohes — Innenpolitik sagte, dies sei seine letzte Konzession an das Reich". Der bayrische Staatsrat Otto von Völdemdorff schrieb dem Reichskanzler aus München: „Bei der Zentenarfeier hat man sich hier im allgemeinen recht gut verhalten. Man sah, daß der deutsche Gedanke doch ordentlich Wurzel gefaßt hat. Daß die deutsche Kokarde angenommen wurde, ist mehr als ich erwartet habe" (Hohenlohe). Den Höhepunkt der Festlichkeiten bildete die Enthüllung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals in Berlin, bei der zahlreiche Vertreter auswärtiger Souveräne und die deutschen Fürsten zugegen waren. Das „Galatheater" am Abend verstimmte diese freilich sehr. Aufgeführt wurde das zu diesem Zweck gedichtete, phantastisch und opernhaft aufgeputzte Stück Ernst von Wildenbruchs „Willehalm". Es war so geschmacklos, daß man munkelte, der Kaiser habe selbst bei der Abfassung mitgewirkt; der Zentrumsführer Ernst Lieber sagte zu Hohenlohe, die Fürsten hätten das Stück als „die größte Demütigung empfunden, die ihnen seit 1866 zugefügt worden sei". Im großen und ganzen hatten aber die Feiern 1895/97 im deutschen Volk solchen patriotischen Widerhall gefunden, daß Kaiser Wilhelm wieder einmal erwog, mit Ausnahmegesetzen gegen die Sozialdemokraten vorzugehen, das Wahlrecht zu ihren Ungunsten abzuändern, wenn nötig einen Staatsstreich auszuführen, er stieß jedoch auf den entschiedenen Widerstand Hohenlohes; auch der König von Sachsen war jetzt dagegen, weil die Bundesfürsten zustimmen müßten und diese kein Vertrauen auf die Stabilität in dem Vorgehen des Kaisers hätten.

Bismarck Zu Bismarcks 80. Geburtstag am 1. April 1895 bat der Präsident des Reichstags um die Ermächtigung, dem Altreichskanzler die Glückwünsche des Hauses ausdrücken zu dürfen. Der Antrag wurde mit 163 Stimmen des Zentrums, der Sozialdemokraten, der Freisinnigen, der Süddeutschen Volkspartei, der Polen, Weifen und Elsässer gegen 146 der Konservativen, Freikonservativen, Nationalliberalen und der Antisemiten abgelehnt. Daraufhin telegraphierte der Kaiser an Bismarck: „Euer Durchlaucht spreche ich den Ausdruck tiefster Entrüstung über den eben gefaßten Beschluß des Reichstages aus. Derselbe steht in vollstem Gegensatz zu den Gefühlen aller deutschen Fürsten und ihrer Völker." Die Geburtstagsfestlichkeiten in Friedrichsruh begannen schon am 25. März und setzten sich bis Ende April fort. Am 26. März erschien der Kaiser. „Der Reigen der Glückwünschenden ging weiter: Würdenträger des Reiches, Fürsten und Prinzen, Städte und Provinziallandtage, Schullehrer, Künstler, Handwerker, Schiffsreeder, Landwirte, alle Stände und Stämme, Männer und Frauen, ein Strom von Dank, Verehrung und Liebe, der kein Ende nehmen wollte. Der Höhepunkt der Festtage aber, der Geburtstag selbst, blieb den deutschen Universitäten vorbehalten. Ihre ganze Geschichte kennt kein Gegenstück zu dieser gemeinsamen Huldigung für einen Mann" (A. O. Meyer). Ein Engländer, der damals selbst in Friedrichsruh gewesen ist, hatte den Eindruck, Bismarck sei eine nationale Huldigung zuteil geworden, wie sie „wahrscheinlich noch in keinem Lande einem Staatsmann dar206

Bismarck gebracht worden ist". Trotz alledem wurde Bismarck 1896 wieder Gegenstand heftiger Auseinandersetzungen in der Öffentlichkeit. Nachdem die „Vossische Zeitung" behauptet hatte, zwischen Rußland und Deutschland hätten auch nach dem Tode des 1883 gestorbenen russischen Außenministers Gortschakow ungünstige Beziehungen bestanden, erschien am 24. Oktober in den „Hamburger Nachrichten" eine Erwiderung: Daß Gortschakows Politik von dessen Nachfolger und den Zaren, denen sie dienten, fortgesetzt worden sei, sei „absolut unwahr". Das gute Einvernehmen der deutschen und der russischen Politik sei schon 1884 in Skierniewice (S. 104) hergestellt gewesen „und blieb in dieser Verfassung bis 1890. Bis zu diesem Termin waren beide Reiche im vollen Einverständnis darüber, daß, wenn eines von ihnen angegriffen würde, das andere wohlwollend neutral bleiben solle . . . Dieses Einverständnis ist nach dem Ausscheiden des Fürsten Bismarck nicht erneuert worden, und, wenn wir über die Vorgänge in Berlin richtig unterrichtet sind, so war es nicht etwa Rußland in Verstimmung über den Kanzlerwechsel, sondern Graf Caprivi war es, der die Fortsetzung dieser gegenseitigen Assekuranz ablehnte, während Rußland dazu bereit war". Diese größtes Aufsehen erregenden Ausführungen, die das Geheimnis des RückveTsicherungsvertrages preisgaben, rührten offensichtlich von Bismarck her. Zu seiner Stellungnahme veranlaßte ihn vor allem, daß der Artikel der „Vossischen Zeitung" den Anschein des Scheiterns der Bismarckschen Rußlandpolitik erweckte. Kaiser Wilhelm war wütend, fiel doch letzten Endes auf ihn die Schuld der Nichterneuerung des Rückversicherungsvertrages und ihre Folgen. In der ersten Aufregung sagte er, er werde Bismarck wegen Landes- und Hochverrats in Spandau einsperren lassen, wies aber dann Hohenlohe an, er solle den Urheber des Artikels in den „Hamburger Nachrichten" feststellen lassen; sei es Herbert Bismarck gewesen, so sei gegen ihn mit gesetzlichen Mitteln einzuschreiten. In dem betreffenden Paragraphen des Strafgesetzbuches hieß es : „wer vorsätzlich Staatsgeheimnisse . . . öffentlich bekanntmacht, wird mit Zuchthaus nicht unter zwei Jahren bestraft." Hohenlohe riet dem Kaiser ab: für den Sohn werde der Vater eintreten, und gegen diesen mit dem Strafgesetzbuch vorzugehen, würde das Ansehen des Deutschen Reiches gefährden. Der Kaiser folgte dem Rate Hohenlohes. Da von verschiedenen Seiten eine Regierungserklärung zu den Enthüllungen der „Hamburger Nachrichten" gewünscht wurde, ließ Hohenlohe im Reichsanzeiger veröffentlichen: „Wir sind zu der Erklärung ermächtigt, daß dies nicht geschehen wird. Diplomatische Vorgänge der von den ,Hamburger Nachrichten' erwähnten Art gehören ihrer Natur nach zu den strengsten Staatsgeheimnissen; sie gewissenhaft zu wahren, beruht auf einer internationalen Pflicht, deren Verletzung eine Schädigung wichtiger Staatsinteressen bedingen würde." Nun folgte eine Polemik zwischen Bismarck und dem Reichsanzeiger; Bismarck behauptete in den „Hamburger Nachrichten" vom 31. Oktober, diplomatische Vorgänge von der Art des Rückversicherungsvertrags gehörten keineswegs zu den strengsten Staatsgeheimnissen, was der Reichsanzeiger mit guten Gründen zurückwies. An die Auseinandersetzungen in der „Vossischen Zeitung", den „Hamburger 207

Kanzlerschaft Hohenlohes — Innenpolitik Nachrichten" und im „Reichsanzeiger" knüpfte sich eine Pressekampagne größten Ausmaßes. Die Blätter des Zentrums, der Sozialdemokratie und des Freisinns nahmen gegen, die meisten der Mittelparteien und der Konservativen für Bismarck Stellung. Zu seiner Verteidigung wurde unter anderem angeführt, er habe die Enthüllungen veranlaßt „aus patriotischer Sorge um die Bewahrung Deutschlands vor großen Gefahren, und um selbst auf die Gefahr von Mißdeutung hin ein für jedermann sichtbares, warnendes Fanal aufzustecken." Die österreichische und die italienische Presse wiesen darauf hin, daß der Rückversicherungsvertrag nicht in Widerspruch zum Dreibund gestanden habe, an dem die deutsche Regierung auch jetzt festhalte; deren Verweigerung von Erklärungen wurde namentlich von dem offiziösen „Wiener Fremdenblatt" gebilligt: „Bei uns dürfte man sich am allerwenigsten veranlaßt sehen, von den deutschen amtlichen Kreisen eine weitere Erörterung von Angelegenheiten zu wünschen, die abgeschlossene Phasen betreffen und sichtlich zum Zwecke häuslicher Zänkereien zur öffentlichen Besprechung gebracht wurden." Mitte November legte das Zentrum im Reichstag eine Interpellation vor: „Ist der Herr Reichskanzler in der Lage, Auskunft darüber zu geben, 1. ob bis zum Jahre 1890 ein geheimer Vertrag zwischen dem Deutschen Reich und Rußland bestanden hat, 2. im Falle ein solcher Vertrag bestand, welche Vorgänge dazu geführt haben, ihn nicht zu erneuem, 3. welchen Einfluß die jüngsten Veröffentlichungen über diese Angelegenheit auf die Stellung Deutschlands im Dreibund und sein Verhältnis zu den übrigen europäischen Mächten geübt haben." Nach längeren Ausführungen des Reichskanzlers und des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt Marschall gab das Zentrum sich zufrieden. Am Tag nach dieser Reichstagssitzung schrieb Hohenlohe in sein Tagebuch: Dies „hat wieder gezeigt, welche überwältigende Stellung Bismarck noch hat. Es ist gar nicht ausgeschlossen, daß er das benutzen will, um wieder an die Macht zu kommen". In Regierungskreisen befürchteten manche, namentlich Holstein, der unberechenbare Kaiser könnte Bismarck wieder zum Reichskanzler ernennen, und dieser würde die Führung der Geschäfte seinem Sohn Herbert überlassen, der schon früher als Staatssekretär allgemein unbeliebt gewesen war. Immer noch erhielt Bismarck Besuche von politischer Bedeutung wie den des Großherzogs von Weimar und den des Vorstandes des Bundes der Landwirte und äußerte sich über Politik und politische Parteien. Mitte Dezember 1897 besuchte der Kaiser zum letzten Mal Bismarck. Im Sommer hatte sein Arzt Ernst Schwenninger beginnenden Altersbrand festgestellt; am 30. Juli 1898 starb Bismarck. In ganz Deutschland fanden Trauerfeierlichkeiten statt. Bei der Generalversammlung der Katholiken Deutschlands im August wurde zwar auf den Kampf des Reichskanzlers gegen die katholische Kirche hingewiesen, aber auch auf seine „Verdienste um die längst erträumte und ersehnte Einigung des deutschen Volkes" und die Verdienste, „die er sich erworben hat, indem er das deutsche Volk wieder geachtet gemacht hat im Rate der Völker". Den Nachruf im Reichstag hielt Anfang Dezember der Präsident, der Zentrumsabgeordnete Graf Ballestrem: „Einen großen Verlust hat das Reich und mit ihm der Reichstag erlitten . . . Wenn wir hier als Vertreter des deutschen Volkes tagen, so haben wir

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Bismarck dies in erster Linie dem verewigten Kanzler zu danken. Es ist eine geschichtliche Tatsache, daß die Basis, auf welcher der Reichstag beruht, das Wahlgesetz, auf Grund dessen die Abgeordneten gewählt werden, lediglich dem maßgebenden Einfluß des ersten Kanzlers zu danken i s t . . . Das Andenken des Fürsten Bismarck steht vor uns als das des großen Staatsmannes, des hervorragenden Mitbegründers des Reiches, des Vorbereiters und Ausnutzers der unsterblichen Siege unseres unvergleichlichen Heeres und nach diesen Siegen des Erhalters eines jahrzehntelang dauernden segensreichen Friedens . . . Zur feierlichen Ehrung des verstorbenen großen Kanzlers haben Sie sich erhoben. Ich konstatiere, daß der Reichstag sich dieser Ehrung angeschlossen hat." Vor Beginn der Rede hatten die Sozialdemokraten den Saal verlassen. Bismarcks Persönlichkeit und Wirken sind von jeher, wie es der Standpunkt des Betrachters und die eben herrschenden Zeitverhältnisse mit sich bringen, sehr verschieden beurteilt worden, wobei es vielfach zu Ubertreibungen sowohl der Anerkennung wie der Ablehnung gekommen ist. Die innen- und außenpolitischen Leistungen Bismarcks sind in den vorhergehenden Kapiteln gewürdigt; seine Größe als Staatsmann erkennen, wenn auch oft widerwillig und mit manchen Wenn und Aber, auch die meisten seiner Gegner an. Viel umstrittener ist seine Persönlichkeit, und noch keiner seiner Biographen hat sie ganz befriedigend dargestellt. Jedenfalls war Bismarck nicht der „eiserne Kanzler", der alle Probleme skrupellos „mit Blut und Eisen" löste und für den die von ihm gern getragene Uniform samt Kürassierstiefeln charakteristisch wäre. Wenn C. F. Meyer in seiner Dichtung „Huttens letzte Tage" den großen Kämpfer der Reformationszeit von sich sagen läßt: „Ich bin kein ausgeklügelt Buch, ich bin ein Mensch mit seinem Widerspruch", so paßt dieses Wort auch auf Bismarck. In seinem Wesen vereinigten sich Widersprüche aller Art: Wagemut und Vorsicht, Offenherzigkeit und Verschlagenheit, gewinnende Liebenswürdigkeit und abstoßende Härte, Beharren auf der alten Kabinettspolitik und zukünftige Entwicklung ahnende Weitsicht, starres Festhalten an Überkommenem und bewegliches Einschlagen neuer Wege, ausgeprägte Christlichkeit und rücksichtsloses Vorgehen gegen wirkliche oder vermeintliche Widersacher auch unter Anwendung bedenklicher Mittel, gelegentliche Ausnützung seiner Stellung als Reichskanzler für persönlichen wirtschaftlichen Vorteil und ein hohes Pflichtgefühl und starkes Verantwortungsbewußtsein. In seinen Briefen an Braut und Gattin, an seine Geschwister und Freunde treten seine menschlich liebenswertesten Eigenschaften hervor, in seinen Reden die geistige Höhe, die universale Beherrschung der behandelten Materie und die Kunst der formvollendeten Darstellung. Seine Untergebenen, die unter seinem oft launischen und despotischen Regiment geseufzt hatten, erkannten nach seinem Rücktritt, wie vorzüglich es sich nach seinen klaren, wohl durchdachten Anweisungen hatte arbeiten lassen; und Graf Waldersee schreibt 1890 in sein Tagebuch: „Wir haben darüber geklagt, daß Bismarck die Charaktere unterdrückt, hier (d. h. unter Wilhelm II.) sehen wir aber dasselbe, nur in stärkerer und gefährlicherer Form." Was auch immer an Unzulänglichkeiten, Härten und Widersprüchen sich in Bismarcks Charakter zeigte, wie oft er auch über die seiner Einsicht gesetzten 209 14

Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Kanzlerschaft Hohenlohes — Innenpolitik Schranken nicht hinauskam oder auch einmal falsche Wege einschlug, das Überragende seiner Persönlichkeit als Mensch und Staatsmann bleibt bestehen. Der Staat war ihm die Hauptsache, Deutschland in der Mitte des Kontinents sollte in der europäischen Ordnung seinen festen Platz erhalten. Es klingt nach starkem Selbstlob und ist doch richtig, wenn Bismarck in seiner Reichstagsrede am 24. Februar 1881 von sich sagte: „Für mich hat immer nur ein einziger Kompaß, ein einziger Polarstern, nach dem ich steuere, bestanden: das Wohl des Staates. Ich habe von Anfang meiner Tätigkeit an vielleicht oft rasch und unbesonnen gehandelt, aber wenn ich Zeit hatte, darüber nachzudenken, mich immer der Frage untergeordnet: was ist für mein Vaterland, was ist — solange ich allein in Preußen war — für meine Dynastie, und heutzutage, was ist für die deutsche Nation das Nützliche, das Zweckmäßige, das Richtige? Doktrinär bin ich in meinem Leben nicht gewesen, alle Systeme, durch die die Parteien sich getrennt und gebunden fühlen, kommen für mich in zweiter Linie, in erster Linie kommt die Nation, ihre Stellung nach außen, ihre Selbständigkeit, unsere Organisation in der Weise, daß wir als große Nation in der Welt frei atmen können." Für seine Zeit hat Bismarck dies Ziel erreicht; für das, was später kam, ist er nicht verantwortlich zu machen. Sein Ruhm als größter Staatsmann des 19. Jahrhunderts beruht auf der Meisterschaft, mit der Bismarck die der Gründung des Deutschen Reiches und dann die der Wahrung des europäischen Friedens entgegenstehenden Schwierigkeiten überwand.

Gesetzgebung

im Reichstag. Lex

Heinze

Seit 1874 war im Auftrag des Bundesrates von hervorragenden Juristen an dem Entwurf für das Bürgerliche Gesetzbuch gearbeitet worden, am 1. Juli 1896 stimmte der Reichstag der Vorlage zu (S. 36); zur Weiterentwicklung der deutschen Einheit hat das seit 1900 geltende BGB wesentlich beigetragen. — Im Juni 1896 ging das Börsen- und das Depotgesetz zur Abschaffung von Mißständen bei Börsengeschäften und Depositen im Reichstag durch. Die Börse wurde der Aufsicht eines Staatskommissars unterstellt, dem Börsenausschuß sollten jetzt auch Industrielle und Landwirte angehören. — Das Deutsche Reich hatte das Handelsgesetzbuch des Norddeutschen Bundes übernommen und dieser das des Deutschen Bundes von 1861. Mit der Begründung, in den rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnissen hätten sich so tiefgreifende Wandlungen vollzogen, daß eine neue Kodifikation des Handelsrechtes unumgänglich erscheine, legte der Staatssekretär des Reichsjustizamtes Rudolf Arnold Nieberding dem Reichstag einen Entwurf hierfür vor, der am 7. April 1897 einstimmig genehmigt wurde. — Ende März 1897 ging dem Reichstag von der Regierung der „Gesetzentwurf betreffend Abänderung der Gewerbeordnung", die „Handwerkervorlage" zu, am 24. Juni stimmte die Mehrheit des Reichstages nach langwierigen Verhandlungen dafür. Ähnlich wie bei der Industrie standen sich im Handwerkertum zwei einander widerstreitende Richtungen gegenüber. „Die eine strebte nach Befreiung 210

Gesetzgebung im Reichstag. Lex Heinze des Individuums von den aus dem Mittelalter und der Zeit des Merkantilismus (16./18. Jahrhundert) überkommenen Fesseln und Vorschriften; die andere drängte auf eine neue Zusammenfassung mehr oder weniger monopolistischer Art" (Stolper). Das Handwerkergesetz ermächtigte nun die örtlichen Behörden, falls die Mehrheit der Meister eines Handwerkszweiges damit einverstanden war, alle Meister des betreffenden Handwerks in einer Zwangsinnung zusammenzufassen, der es zustand, die Produktion zu regeln, die Preise festzusetzen und für die Ausbildung der Lehrlinge zu sorgen. Damit war die freie Konkurrenz weitgehend ausgeschaltet. — Am 1. Oktober 1900 trat eine neue, vom Reichstag im Mai 1898 angenommene Reichsmilitärstrafgerichtsordnung in Kraft. Sie brachte eine Reihe von Verbesserungen wie Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Verfahrens, Trennung der Aufgaben des Richters, Anklägers und Verteidigers, ein Reichsmilitärgericht als oberste Instanz. Bayern hatte seinen eigenen obersten Militärgerichtshof in München nicht aufgeben wollen. Bei einem Besuch des Kaisers erklärte sich Prinzregent Luitpold einverstanden mit der Errichtung eines bayrischen Senats mit dem Sitz in Berlin beim Obersten Militärgerichtshof, und der Kaiser räumte Bayern das Recht zur Ernennung des Vorsitzenden sowie der Mitglieder dieses Senats ein. Zur Änderung und Ergänzung des Strafgesetzbuches führte die „lex Heinze". Ein Prozeß gegen das Ehepaar Heinze, das wegen Ermordung eines Nachtwächters angeklagt war, bot erschreckende Einblicke in das Berliner Prostituierten- und Zuhälterwesen und damit zusammenhängende Verbrechen. Anfang Februar 1899 ging dem Reichstag ein Gesetzentwurf der Regierung über den Schutz der öffentlichen Sittlichkeit zu; im März wurde erstmals darüber beraten, außer den Strafen für die Zuhälter sollten die Vorschriften über Feilhalten und Verkauf von Druckschriften verschärft werden. Die Vorlage und noch weitergehende Anträge des Zentrums wurden einer Kommission überwiesen. Bei den im Januar 1900 einsetzenden Beratungen über die lex Heinze, wie man nun gemeinhin die vorgesehenen Änderungen des Strafgesetzbuches nannte, stieß die Annahme der die Kuppelei und das Zuhältertum betreffenden Paragraphen nur auf geringe Schwierigkeiten, auf um so größere dagegen die von den konservativen Parteien und dem Zentrum vorgeschlagenen Anträge § 184 a: „Mit Gefängnis bis zu 6 Monaten oder mit Geldstrafe bis zu 600 Mark wird bestraft, wer Schriften, Abbildungen oder Darstellungen, welche ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzen, 1. zu geschäftlichen Zwecken an öffentlichen Straßen, Plätzen . . . in Ärgernis erregender Weise ausstellt oder anschlägt, 2. einer Person unter 16 Jahren gegen Entgelt überläßt oder anbietet." § 184b: „Wer innerhalb öffentlicher Schaustellungen, Aufführungen oder Vorträgen von Gesangs- oder sonstigen Unterhaltungsstücken öffentlich ein Ärgernis gibt durch eine Handlung, welche, ohne unzüchtig zu sein, das Schamgefühl gröblich verletzt, wird mit Gefängnisstrafe bis zu einem Jahre oder mit Geldstrafe bis zu 1000 Mark bestraft." Nach heftigen Debatten wurde die Fassung der Anträge geändert, eine Abstimmung konnte aber nicht stattfinden, weil vor ihr ein Teil der Abgeordneten den Saal verließ und damit das Haus beschlußunfähig machte. Am folgenden Tag, den 16. März, be211 14·

Kanzlerschaft Hohenlohes — Innenpolitik gann eine systematische Obstruktion von Seiten der Freisinnigen und Sozialdemokraten durch Geschäftsordnungsdebatten, Stellung neuer Anträge, Dauerreden und dergleichen. Nicht minder erregt waren weite Kreise außerhalb des Reichstags, Maler wie Lenbach und Liebermann, und Dichter wie Paul Heyse, Wildenbruch, Sudermann voran. Protestversammlungen wurden namentlich in Berlin und München abgehalten. Professoren des Strafrechts von 14 deutschen Universitäten erließen gemeinsam gegen die lex Heinze eine Erklärung: der Gesetzentwurf leide derart an Unbestimmtheit der Begriffe, daß „Verurteilung oder Freisprechung völlig vom subjektiven Empfinden des Richters abhängig wären". Das so schon infolge mangelhaft abgefaßter Strafgesetze schwer erschütterte Vertrauen des Volkes zur Rechtspflege würde durch die Annahme der lex Heinze in erheblichem Maße weiter gefährdet. Als die durch Etatsberatungen unterbrochenen Reichstagsverhandlungen über die lex Heinze am 17. Mai wieder aufgenommen wurden, setzte die Linke ihre, die Beschlußfassung verhindernde Opposition fort. Dies und die zahlreichen öffentlichen Kundgebungen veranlaßten die Mehrheit schließlich, den § 184b, den „Theaterparagraphen", ganz aufzugeben und von § 184 a nur den Punkt 2 zu übernehmen. Daraufhin verzichtete die Linke auf Fortführung der Obstruktion, und so wurde, was von § 184 a übriggeblieben war, gegen die Stimmen der Freisinnigen und Sozialdemokraten angenommen.

Flottenpolitik

Mit der Einführung der Schutzzölle vom Juli 1879 und durch die Caprivische Handelspolitik nahmen Industrie und Handel Deutschlands einen großen Aufschwung, wobei auch der überseeische Warenaustausch immer mehr an Bedeutung gewann, so daß Ende des 19. Jahrhunderts der deutsche Außenhandel nur noch hinter dem englischen zurückstand. Die deutsche Kriegsmarine, als deren erste Aufgabe der Flottengründungsplan von 1873 Schutz des Seehandels auf allen Meeren bezeichnete, hatte mit dieser Entwicklung keineswegs Schritt gehalten. Nun griff Kaiser Wilhelm II. ein; schon kurz nach seinem Regierungsantritt hatte er eine derartige Vorliebe für die Kriegsmarine gezeigt, daß das Heer darüber verstimmt war. Anfang Januar 1896 verlangte der Kaiser von Hohenlohe, er solle im Hinblick auf die momentan vorhandene gehobene Stimmung dem Reichstag den Plan einer notwendigen Flottenvermehrung vermittels einer Anleihe darlegen. Hohenlohe wandte dagegen ein, dem Reichstag gegenüber jetzt von der Absicht einer Anleiheaufnahme von einigen hundert Millionen zu sprechen, würde die Annahme des jährlichen Marineetats in Frage stellen und keinen Erfolg erwarten lassen. In seiner Rede am 18. Januar 1896 zum 25. Jahrestag der Reichsgründung beschränkte sich der Kaiser daher zunächst auf eine Andeutung, wie sehr Deutschland einer starken Kriegsmarine bedürfe: „Aus dem Deutschen Reich ist ein Weltreich geworden . . . Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat. An Sie, meine Herren, tritt die ernste Pflicht heran, mir zu helfen, dieses größere Deutsche Reich auch 212

Flottenpolitik fest an unser heimisches zu gliedern." Schließlich konnte Hohenlohe den Kaiser überzeugen, ehe man an den Reichstag wegen einer umfassenden Verstärkung der Marine herantrete, müsse er im Rahmen des jährlichen Marineetats zur Bewilligung von drei neuen Kreuzern bewogen werden; am 18. März gab der Reichstag seine Zustimmung. Im März 1897 fanden im Reichstag die Beratungen der Budgetkommission über die Marineforderungen der Regierung statt. Von der Vorlage für Schiffsbauten und ihre Armierung strich die Kommission etwas über 12 Millionen Mark, Ende des Monats stimmte der Reichstag den von der Kommission beantragten Abstrichen zu. Der Kaiser war wütend; zu Hohenlohe sagte er, er „sei entschlossen, den Kampf aufzunehmen, und er werde es tun, selbst wenn er darüber zugrunde ginge . . . Dann kam er auf das Wahlgesetz, das man ändern müsse, indem man aus den Landtagen Delegierte in den Reichstag sende und das allgemeine Wahlrecht aufhöbe" (Hohenlohe). Da der Kaiser überzeugt war, der bisherige Staatssekretär des Reichsmarineamtes, Admiral Friedrich von Hollmann, sei für die Durchführung des großen Flottenplanes nicht geeignet, ernannte er am 18. Juni den Konteradmiral Alfred von Tirpitz zum Nachfolger Hollmanns. Tirpitz hatte sich seit 1877 um die Organisation der deutschen Flotte große Verdienste erworben; ein halbes Jahr vor seiner Ernennung zum Staatssekretär qualifizierte ihn der kommandierende Admiral der deutschen Marine Wilhelm von Knorr treffend: „Ein ehrenhafter, energischer, selbständiger und ehrgeiziger Charakter mit gewandten Formen und etwas sanguinischem Temperament, ein reger, findiger Geist mit spekulativer Richtung und idealer Auffassung der Dinge . . . Seiner sonst erfolgreichen Tätigkeit in höheren Stellen haftet noch die Schwäche an, daß er leicht in den Fehler geriet, die Dinge einseitig anzusehen, mit der ganzen Kraft immer nur auf ein einzelnes Ding losging, ohne die allgemeinen Bedingungen des Dienstes dabei hinreichend zu berücksichtigen, so daß häufig der erzielte Gewinn einer anderen Forderung Schaden brachte." Der Einfluß des Staatssekretärs Tirpitz ging dann weit über reine Marineangelegenheiten hinaus und erstreckte sich derart auch auf Politik überhaupt, daß von einer „Ära Tirpitz" gesprochen werden kann. Selbst das Zentrumsblatt „Germania" rühmte ihn; am 15. Jahrestag seiner Ernennung zum Staatssekretär, am 18. Juni 1912 schrieb es: „15 Jahre Minister und erfolgreicher Minister, ohne eine einzige politische oder parlamentarische Niederlage — das kann sonst kein Mann in ganz Europa von sich sagen." Hollmann hatte dem Kaiser dringend abgeraten, dem Reichstag einen auf Jahre hinaus berechneten Flottenplan vorzulegen, weil die Mehrheit einen derartigen Plan bestimmt ablehnen würde. Tirpitz dagegen ging darauf aus, die Stärke der Flotte durch ein Gesetz festlegen zu lassen, damit die Regierung nicht Jahr für Jahr um die Genehmigung der Ausgaben für einzelne Schiffe ringen müsse. Am 27. November 1897 wurde die dem Reichstag zu unterbreitende Vorlage veröffentlicht: bis Ende des Rechnungsjahres 1904 soll die Flotte bestehen aus 17 Linienschiffen, 8 Küstenpanzerschiffen, 9 großen und 26 kleinen Kreuzern, dazu als Reserve 2 Linienschiffe, 3 große und 4 kleine Kreuzer. Davon waren neu zu bauen: 7 Linienschiffe, 2 große und 7 kleine Kreuzer. Neue Steuern oder eine 213

Kanzlerschaft Hohenlohes — Innenpolitik einmalige große Anleihe wurden nicht für erforderlich gehalten. Es wurde vielmehr bestimmt angenommen, daß die Deckung der nötigen Mittel in jedem Jahre auf dem bisherigen budgetmäßigen Wege würde vollzogen werden können. — In der Thronrede zur Eröffnung des Reichstags Ende November betonte der Kaiser bei seinen Ausführungen über die Flottenfrage: „Wenngleich es nicht unsere Aufgabe sein kann, den Seemächten ersten Ranges gleichzukommen, so muß Deutschland sich doch in den Stand gesetzt sehen, auch durch seine Rüstung zur See sein Ansehen unter den Völkern der Erde zu behaupten." Im Dezember folgten bei den Debatten eingehende Reden von Hohenlohe, Tirpitz und anderen Vertretern der Regierung und mancherlei Einwendungen und Bedenken Abgeordneter; für volle Ablehnung sprachen nur je ein Vertreter der Freisinnigen Volkspartei und der Sozialdemokratie. In allgemeinerer Erinnerung sind von all dem die Worte Bülows geblieben, den der Kaiser an Stelle Marschalls zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes ernannt hatte: „Die Zeiten, wo der Deutsche dem einen seiner Nachbarn die Erde überließ, dem anderen das Meer und sich selbst den Himmel reservierte, wo die reine Doktrin thront, diese Zeiten sind vorüber . . . Wir wollen niemand in den Schatten stellen, aber wir verlangen auch unseren Platz an der Sonne." In der dritten Lesung wurde die Vorlage am 28. März 1898 angenommen; den Ausschlag hatte gegeben, daß die weitaus überwiegende Mehrheit des Zentrums dafür stimmte. Schon seit einiger Zeit stand es nicht mehr so wie früher in Opposition zur Regierung; jetzt, da sie mit seiner Hilfe das Flottengesetz durchgebracht hatte, hieß es „das Zentrum herrscht, das Zentrum ist Trumpf". Natürlich war zu erwarten, daß die Regierung bald ein weiteres Flottengesetz beantragen werde. Um Stimmung dafür und überhaupt für die Kriegsmarine im Volke zu machen, wurde am 30. April unter dem Vorsitz des Fürsten Wilhelm zu Wied in Berlin der Deutsche Flottenverein gegründet, der eine großzügige Propaganda entfaltete und reichliche Geldmittel für den Flottenbau sammelte. Die Werbepolitik des Flottenvereins bewährte sich bereits, als nach dem Erscheinen eines offiziösen Artikels in der „Norddeutschen Allgemeinen Zeitung" Ende Oktober 1899 die öffentliche Meinung über die hier geforderte weitere Verstärkung der deutschen Flotte sehr geteilt war, hatte doch Tirpitz im Januar versichert, bei allen in Betracht kommenden Stellen bestehe die festeste Absicht, die im Flottengesetz von 1898 vorgesehene Limitierung innezuhalten. Die vom Flottenverein in allen großen Städten veranstalteten Vorträge über die Aufgaben der deutschen Seemacht trugen wesentlich bei, der neuen Flottenvorlage die Wege im Reichstag zu ebnen, der ja auf die Stimmung seiner Wähler Rücksicht zu nehmen hatte. Bei der Beratung des allgemeinen Etats am 11. Dezember teilte Hohenlohe dem Reichstag mit, daß „sich eine Novelle zum Flottengesetz in Vorbereitung befindet, die auf eine wesentliche Erhöhung des Sollstandes der Flotte abzielt... Dabei ist in Aussicht genommen eine Verdopplung der Schlachtflotte und der großen Auslandsschiffe bei gleichzeitiger Streichung des ganzen Küstengeschwaders". Nach leidenschaftlicher Agitation für und gegen die Flottenvorlage und entsprechend heftigen Debatten im Reichstag wurde am 12. Juni 1900 das neue Flottengesetz mit 201 gegen 103 Stimmen angenommen. Am fol214

Eintritt Deutschlands in die Weltpolitik genden Tag telegraphierte der Kaiser an Hohenlohe: „Du kannst stolz auf das Ergebnis sein. Bürgerliches Gesetzbuch, zwei Flottengesetze. Zwei so wichtige Maßregeln für die innere und äußere Entwicklung unseres Vaterlandes sind noch von keinem Kanzler je gegengezeichnet worden."

AUSSENPOLITIK Der Eintritt Deutschlands in die Weltpolitik Bismarck hatte immer nur die europäische Politik im Auge. Aber schon eineinhalb Jahre nach Bismarcks Entlassung hat Caprivi auf die sich anbahnende Veränderung der bisherigen Grundlagen der internationalen Politik hingewiesen: „Der Schauplatz der Weltgeschichte hat sich erweitert, damit sind die Proportionen andere geworden, und ein Staat, der als europäische Großmacht eine Rolle in der Geschichte gespielt hat, kann, was seine materielle Kraft angeht, in absehbarer Zeit zu den Kleinstaaten gehören." Caprivi zog daraus den Schluß, wenn die europäischen Staaten ihre Weltstellung behaupten wollten, so würden sie „nicht umhin können, soweit sie wenigstens ihren sonstigen Anlagen nach dazu geeignet sind, eng aneinander sich anzuschließen". Wilhelm II. erklärte: „Aus dem Deutschen Reich ist ein Weltreich geworden. Uberall in fernen Teilen der Erde wohnen Tausende unserer Landsleute. Deutsche Güter, deutsches Wissen, deutsche Betriebsamkeit gehen über den Ozean. Nach Tausenden von Millionen beziffern sich die Werte, die Deutschland auf der See fahren hat." Die Unterstellung, er strebe nach Weltherrschaft, wies Kaiser Wilhelm entschieden zurück, dagegen bekannte er sich offen zur Erringung und Wahrung einer Weltgeltung Deutschlands. Auf den doch nicht zu verwirklichenden Plan Caprivis, diese Weltgeltung im Rahmen eines europäischen Staatenbundes zu gewinnen, der den Vereinigten Staaten von Amerika die Waage halten sollte, ging der Kaiser freilich nicht ein; auf eigner Kraft sollte Deutschlands Weltmacht beruhen. Dies war auch der Leitgedanke von Wilhelms Flottenpolitik. Weite, ausschlaggebende Kreise des deutschen Volkes stimmten ihr zu, weil gewichtige wirtschaftliche, politische und ideelle Gründe für sie sprachen. Vereinzelt waren freilich auch Männer dagegen, die nicht, wie etwa die Sozialdemokraten, von vornherein zum Kaiser und zu der Regierung in Opposition standen. So schrieb der bayrische Staatsrat Otto von Völderndorff dem ihm seit langem befreundeten Hohenlohe im November 1897: „Ich kann meine Meinung darüber, daß es den Ruin Deutschlands und die schwierigsten politischen Komplikationen nach sich ziehen muß, wenn die Kolonial- und die Weltmachtpolitik nicht aufgegeben wird, nicht aufgeben. Aber ich gebe zu, daß eine große Anzahl gescheiter und ruhig denkender Männer . . . die Anschauung Eurer Durchlaucht teilt . . . Ich gebe ferner zu, daß wenn man auf dem bisherigen Weg fortgehen will, wenn man die Kolonien nicht aufgeben will, wenn man überall in der Welt die Hände drin haben will, man auch eine Flotte und zwar eine andere als 215

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik bisher haben muß. Aber ich glaube eben, wenn Deutsdiland nicht zugrunde gehen soll, dann muß man umkehren. Wir müssen die Welthändel Welthändel sein lassen, wir müssen uns beschränken, die Sicherheit des Landes gegen die beiden Nachbarn zu wahren." Sich in die Welthändel einzulassen war für das darin wenig erfahrene Deutsdiland gewiß mit großen Gefahren verbunden; sich ihnen auszusetzen schien jedoch durch die Zeitumstände geboten. 1880 war das Zeitalter des Imperialismus angebrochen, mit seinem Streben nach Erweiterung des kolonialen Besitzes aus machtpolitischen und wirtschaftlichen Gründen führte er zur Weltpolitik der Mächte. Sollte Deutschland jetzt, da man glaubte, die Welt werde endgültig aufgeteilt, tatenlos zusehen, wie andere durch ihren gewaltig anwachsenden Kolonialbesitz wirtschaftlich und militärisch erstarkten, England in Afrika und dem zum Kaiserreich erhobenen Indien, Frankreich in Nordafrika, Rußland in Fernost? Sich mit dem bescheiden, was man hat, wenn andere sich bereichem und an Geltung und Macht zunehmen, war damals von einer selbstbewußten Nation kaum zu erwarten; und stillstehen, wenn andere vorwärtsgehen, führt meist zum Rüdegang. Sollte sich der Aufstieg der deutschen Industrie und des Auslandshandels fortsetzen, dann mußte sich die Einfuhr von Rohstoffen und die Ausfuhr von Fertigwaren steigern. So drängte denn der Zeitgeist des Imperialismus mit seinen Begleiterscheinungen: Weltwirtschaft, Welthandel, Weltpolitik und nationalem Ehrgeiz, auch Deutschland zum Wettbewerb mit den Weltmächten. Man hielt sich wirtschaftlich und militärisch für stark genug, wurde doch zum Beispiel eine im April 1894 aufgelegte Reichsanleihe von 120 Millionen Mark zweieinhalbmal überzeichnet, und konnten die Reichsausgaben von 299 Millionen Mark im Jahre 1872 auf 788 Millionen Mark 1895/96 gesteigert werden, allerdings stiegen die Reichsschulden von 72 Millionen 1877 bis 1896 auf etwas über 2 Milliarden, doch war auch dies ein Zeichen der Finanzkraft Deutschlands, das diese Summen aufbrachte. Den Rückhalt, den das deutsche Heer Bismarcks europäischer Politik geboten hatte, sollte nun eine starke Flotte für die weiter ausgreifenden Ziele Deutschlands in der Weltpolitik bieten. Der Gefahren, die man dabei lief, namentlich durch Herbeiführung einer englisch-deutschen Rivalität, waren sich auch Anhänger der Flottenpolitik bewußt. „Als ich zur Leitung der auswärtigen Politik berufen wurde (1897), lag die Situation zwischen dem deutschen Volke und dem englischen Volke schon klar zutage. Die vor uns liegende, unendlich schwierige Aufgabe war, die Flotte, die wir gerade gegenüber England brauchten um der Milliardenwerte willen, die wir dem Meere anvertraut hatten, bis zu der Stärke zu bauen, wo ein Angriff gegen uns zu einem ernstlichen Risiko für den Angreifer wurde, ohne doch gerade durch diesen Flottenbau den Blitz auf uns herabzuziehen." (Bülow). Aufreizend wirkten dagegen Äußerungen Wilhelms II. wie die von 1900 beim Stapellauf des Linienschiffes „Wittelsbach": „Der Ozean ist unentbehrlich für Deutschlands Größe, aber der Ozean beweist auch, daß auf ihm und in der Ferne jenseits von ihm ohne Deutschland, ohne den deutschen Kaiser keine große Entscheidung mehr fallen darf", und so manche andere ungeschickte und taktlose Bemerkungen zu außenpolitischen Ereignissen. 216

Japanisch-chinesischer Krieg und seine Folgen Der japanisch-chinesische

Krieg und seine

Folgen

Das Kaiserreich Korea stand seit dem 17. Jahrhundert unter der Oberhoheit Chinas. Als Japan um 1870 infolge seiner Modernisierung nach europäischem Vorbild wirtschaftlich einen großen Aufschwung nahm, suchte es in Korea festen Fuß zu fassen. Auf Grund eines Abkommens beabsichtigten China und Japan im Mai 1894, gemeinsam gegen Unruhen in Korea vorzugehen; aber noch ehe ihre Truppen eingriffen, hatte die koreanische Regierung den Aufruhr niedergeschlagen. Nun ging China daran, seine Truppen zurückzuziehen und forderte auch Japan dazu auf. Die japanische Regierang erklärte jedoch, zuerst müßten in Korea Reformen durchgeführt werden. Die chinesische Regierung lehnte indes eine derartige Einmischung in rein koreanische Angelegenheiten ab. Daraufhin erklärte Japan am 1. August China den Krieg. Nach einer schweren Niederlage der Chinesen begannen am 19. März 1895 die Friedensverhandlungen und am 17. April willigte China in die Bedingungen des Friedens von Schimonoseki ein: Unabhängigkeit Koreas, Abtretung der Fischerinseln, Formosas, des südlichen Teils der Halbinsel Liautung mit dem Hafen Port Arthur. Ein unabhängiges Korea war für Japan als Auswanderungsgebiet für seine rasch zunehmende Bevölkerung und als Absatzgebiet für seine aufblühende Industrie wichtig; Port Arthur, weil es, zu einer starken Festung ausgebaut, den Zugang zum Golf von Tschili beherrschte. In Europa überraschte der Sieg des im Verhältnis zu China kleinen Japan, auf dessen Fortschritte man erst jetzt aufmerksam wurde. Damit verband sich die Sorge um die weitere Entwicklung der politischen Lage in Ostasien. Während der Friedensverhandlungen telegraphierte der deutsche Gesandte in Peking die Forderungen Japans nach Berlin; Staatssekretär Marschall teilte sie Hatzfeld, dem deutschen Gesandten in London, mit und bemerkte dazu: „Derartig hochgespannte Forderungen werden die Frage des Fortbestands von China, sowie die Frage von Gebietserwerbungen europäischer Mächte aktuell machen, schließen daher für Nächstbeteiligte eine nicht zu unterschätzende Kriegsgefahr in sich." Hatzfeld besprach sich hierüber mit dem englischen Außenminister, der sich für seine Person der deutschen Auffassung anschloß. Einige Tage später entschied jedoch das Kabinett, die „Interessen Englands in Ostasien würden durch die japanischen Friedensbedingungen nicht hinreichend verletzt, um eine Intervention zu rechtfertigen, die sich voraussichtlich nur mit Gewalt würde durchführen lassen". Rußland dagegen sah seine Fernostpläne durch die japanischen Ansprüche ernstlich bedroht; es wollte Nordchina ganz unter seinen Einfluß bringen und die transsibirische Bahn, deren Bau es 1892 begonnen hatte, durch die Mandschurei bis Port Arthur mit seinem eisfreien Hafen führen; Wladiwostok, der einzige Hafen, den Rußland an der Westküste der Japanischen See besaß (seit 1860), war einen großen Teil des Jahres vereist, und damit Rußland der Zugang zum Stillen Ozean monatelang versperrt. Am 17. April 1895 berichtete ein Beamter der deutschen Botschaft in Petersburg nach Berlin über die ihm von dem russischen Außenminister Fürst Lobanow mitgeteilten Absichten der russischen Regierung: „Der Abfall Englands legt Ruß217

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik land die Pflicht auf, selbständig die Wahrung seiner Interessen in Ostasien, die zugleich diejenigen Europas sind, in die Hand zu nehmen. Die russische Regierung ist zu dem Entschluß gelangt, an Japan zunächst in freundschaftlicher Form das Ersuchen zu richten, von einer dauernden Besitznahme chinesischen Festlandes abzustehen. Fürst Lobanow hofft bestimmt, daß sich Deutschland und Frankreich dieser Demarche anschließen werden und hat an die russischen Vertreter in Berlin und Paris gestern entsprechende Instruktionen abgehen lassen. Sollte Japan dem freundschaftlichen Rat nicht folgen, so faßt Rußland eine gemeinsame kriegerische Operation der drei Mächte zur See gegen Japan ins Auge, deren nächstes Ziel die Isolierung der auf chinesischem Festlandsgebiet liegenden japanischen Truppen durch Abschneiden jeden Verkehrs mit dem Mutterlande sein würde." Frankreich sagte seine Mitwirkung zu, um Rußland von dem Wert der 1894 abgeschlossenen Entente zu überzeugen und um zu verhindern, daß Deutschland allein mit Rußland zusammenging. Ebenso wünschte die deutsche Regierung nicht, daß Rußland nur mit Frankreich gegen Japan vorgehe; auch nahm sie den Gedanken Bismarcks wieder auf, Rußlands Druck gegen seine europäischen Grenzen durch die Ablenkung nach dem Fernen Osten zu erleichtern; außerdem hatte man schon seit längerem die Erwerbung Formosas, der Fischerinseln oder der Kiautschou-Bucht als Stützpunkt für die Flotte und den Handel Deutschlands im Fernen Osten beabsichtigt. Am 23. April gaben die Gesandten der drei Mächte in Tokio ihre Erklärungen gesondert ab, die deutsche Freiherr von Gutschmid: „Die Prüfung der japanischen Friedensbedingungen drängt der deutschen Regierung die Uberzeugung auf, daß die von Japan verlangte Besitznahme von Liautung eine konstante Bedrohung der Hauptstadt von China (Peking) sein und gleichzeitig die Unabhängigkeit Koreas illusorisch machen würde, daß sie sich folglich als dauerndes Hindernis für den Frieden Ostasiens darstellt. Deutschland rät daher, auf definitive Besitznahme der Halbinsel zu verzichten. Ich bin beauftragt an vorstehende Erklärung folgende Bemerkungen zu knüpfen: Japan hat im Verlaufe des gegenwärtigen Krieges mehr als einen Beweis der freundschaftlichen Disposition Deutschlands erhalten . . . Japan hat diese uneigennützigen Ratschläge leider nicht beherzigt. Die jetzigen japanischen Friedensbedingungen sind übertrieben, sie verletzen europäische, auch deutsche Interessen, wenn schon letztere in geringerem Maße. Die Regierung Seiner Majestät des Kaisers ist daher jetzt veranlaßt zu protestieren und wird, falls erforderlich, ihrem Protest auch den nötigen Nachdruck zu geben wissen. Japan kann daher nachgeben, da Kampf gegen drei Großmächte aussichtslos." Mit diesen Bemerkungen beging Gutschmid einen groben Fehler; er hat die telegraphische Anweisung des Auswärtigen Amtes nicht, wie von diesem als selbstverständlich angenommen, in eine höfliche diplomatische Form gekleidet, sondern in der äußerst schroff wirkenden Kürze weitergegeben. Damit stachen die deutschen Bemerkungen von den russischen und französischen nach japanischer Auffassung sehr unvorteilhaft ab. Der russische Gesandte hat die japanischen Friedensbedingungen nicht als übertrieben bezeichnet, vielmehr nur betont, wie sehr der Verzicht Japans auf die Halbinsel Liautung die freundschaftlichen Beziehungen 218

Japanisch-chinesischer Krieg und seine Folgen fördern würde, bei dem Hinweis auf die Überlegenheit der drei Mächte das Wort „Kampf" vermieden und statt dessen bloß vom „Widerstand" gegen drei Großmächte gesprochen; der französische Gesandte knüpfte an die Erklärung bloß allgemeine Ratschläge und Freundschaftsbeteuerungen. Die japanische Regierung sah ein, daß sie nachgeben müsse, am 5. Mai ließ sie durch ihre Gesandten in Berlin, Petersburg und Paris mitteilen, sie habe sich „mit Hinsicht auf den freundlichen Rat Deutschlands, Rußlands und Frankreichs entschlossen, auf die dauernde Besitznahme der Halbinsel Liautung einschließlich Port Arthurs zu verzichten". Die Japaner waren natürlich, vor allem gegen Deutschland, sehr erbittert, daß sie durch das Einschreiten der Großmächte um die wertvollste Frucht des Sieges über China gebracht wurden. Zwischen Deutschland und Japan hatten bisher die besten Beziehungen bestanden, Preußen wurde von den Japanern geradezu bewundert und in manchen Dingen, besonders in militärischen, zum Vorbild genommen; nun war das gewaltig aufstrebende Japan Deutschland feindselig gesinnt. Obendrein wurde dieses von Rußland und Japan übervorteilt. China mußte dafür, daß Japan auf Liautung verzichtete, eine höhere als ursprünglich vereinbarte Kriegsentschädigimg zahlen. Dadurch geriet das so schon tief verschuldete China in finanzielle Schwierigkeiten, die nur durch die Aufnahme einer sehr beträchtlichen Anleihe einigermaßen überwunden werden konnten. Es war zu erwarten, daß Rußland, Frankreich und Deutschland auch in dieser Angelegenheit gemeinsam handeln würden, aber Rußland schloß am 6. Juli 1895 für sich allein einen Anleihevertrag mit China ab, garantierte eine vierprozentige chinesische Goldanleihe von 400 Millionen Francs und setzte eine Tilgungsfrist von 36 Jahren fest. Da Rußland keineswegs in der Lage war, eine derartige Summe aufzubringen, zog es Frankreich mit heran; sechs französische und vier russische Bankhäuser wurden mit der Emission beauftragt. Die deutsche Regierung war sehr darüber verstimmt, daß Rußland sie in dieser Angelegenheit übergangen hatte, gab aber doch dem deutschen Botschafter in Petersburg die Weisung: „Es erscheint uns nicht erwünscht, einer Verstimmung über den von Rußland herbeigeführten Zwischenfall jetzt sichtbaren Ausdruck zu verleihen. Wir werden vielleicht gut tun, vorläufig über den Schachzug des Herrn Witte (russischer Finanzminister) hinwegzusehen, seine Folgen auf das rein finanzielle Gebiet zu verweisen und in unserem politischen Verhalten zu Rußland keine Änderung eintreten zu lassen." Im Oktober überbrachte der Flügeladjutant Graf Helmut von Moltke dem Zaren im Auftrag Kaiser Wilhelms eine allegorische Zeidmung mit der Unterschrift: „Völker Europas wahrt Eure heiligsten Güter." Uber seine Audienz beim Zaren berichtete Moltke dem Kaiser: Auf die Frage des Zaren, was das Blatt vorstellen solle, habe er geantwortet: „Die Idee zu der Zeichnung sei von Eurer Majestät gefaßt worden, wie bei Abschluß der Friedenspräliminarien zwischen China und Japan die Gefahr vorgelegen habe, daß das unermeßliche chinesische Reich unter einen bestimmenden Einfluß Japans geraten, von diesem tätigen und nach europäischer Kultur strebenden Volk erschlossen, militärisch reorganisiert 219

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik und zu expansiven Bestrebungen gebracht werden könne, die bei seiner ungeheuren Masse verderblich für das europäische Staatenleben . . . für Handel und Wandel werden könnten, wie mit einem Wort Eure Majestät in der Ferne der Zukunft hätten heraufsteigen sehen den Existenzkampf zwischen der weißen und der gelben Rasse." Derartige Äußerungen Kaiser Wilhelms waren nicht dazu angetan, die Erbitterimg der Japaner gegen Deutschland zu mildern.

Deutschlands

Stellung zur Armenierfrage und zu Teilungsplan der Türkei

Salisburys

Während in den japanisch-chinesischen Auseinandersetzungen, bei denen zum ersten Male europäische Mächte eingriffen und damit eine folgenschwere Fernostpolitik einleiteten, sich England zurückgehalten hatte, übernahm es die Initiative zur Einführung von Reformen in der Türkei. Den Anstoß hierzu gab, daß seit dem Spätherbst 1894 die europäische, besonders die englische Presse Berichte über Grausamkeiten türkischer Truppen gegen die Armenier brachte. Schon seit langem war die Armenierfrage einer der wunden Punkte im türkischen Volkskörper und wie früher kam es auch jetzt zu mancherlei Greueltaten ganz vorwiegend von Seiten der Türken; zum Teil waren die Vorfälle aber auch von Armeniern provoziert, welche die Unabhängigkeit vom türkischen Joch anstrebten. Im Ausland erschien das Vorgehen der Türkei als Christenverfolgung, was ja auch bei dem Haß der Mohammedaner gegen die Christen nahelag. Die öffentliche Meinung der abendländischen Christenheit wurde um so mehr erregt, als Gerüchte über die Vorgänge in der Türkei oft übertrieben waren. Unter dem Drude der öffentlichen Meinung verlangte die englische Regierung gemeinsam mit der russischen und französischen vom Sultan mehrmals die Durchführung von Reformen zugunsten der Armenier, aber immer vergebens. Ende Juni 1895 wurde infolge eines Kabinettwechsels Salisbury wieder Ministerpräsident und Minister des Äußeren. Am 30. Juli empfing er Hatzfeld, den deutschen Botschafter in London, der hierüber an das Auswärtige Amt nach Berlin berichtete: Salisbury sei über die armenische Frage etwas beruhigter, bleibe jedoch dabei, „daß das türkische Reich verfault sei und der Verfall nebst obligater Teilung in absehbarer Zeit kommen müsse". Hierzu bemerkte Hatzfeld in einem Privatbrief an Holstein: „Die Voraussetzungen, mit welchen wir unsererseits in bezug auf die Entwicklung der europäischen Politik zu rechnen haben, werden ebenfalls ganz andere, vielleicht vorteilhaftere, da sich die Möglichkeit ergeben kann, nach welcher Fürst Bismarck lange gesucht hat, daß eine friedliche Verständigung zwischen Österreich und Rußland (Teilung der Interessensphären auf dem Balkan) sich ermöglichen läßt, während der Hauptgrund für die russische Verstimmung gegen uns fortfallen und die französische Freundschaft für Rußland viel weniger wertvoll werden würde." Holstein sah dagegen in Salisburys Plan einen Versuch, den deutsch-österreichisch-italienischen Dreibund zu sprengen, weil sich bei einer Aufteilung der Türkei österreichisch-italienische Interessen 220

Krügerdepesche

kreuzen würden; er riet, der Kaiser, der eben am 3. August zu einem vierzehntägigen Aufenthalt nach England abgereist war, solle bei einer Unterredung mit Salisbury entschieden für eine Erhaltung der Türkei eintreten, worauf der Ministerpräsident das „Balkanbrandprojekt" jetzt wohl nicht weiter verfolgen würde. An diesen Rat hielt sich der Kaiser. Inzwischen hatte Hatzfeld in einem weiteren Bericht an Holstein dessen Bedenken zurückgewiesen und betont, Deutschland müsse in dieser Sache mit England in Fühlung bleiben, da Salisbury versuchen wolle, Rußland durch wesentliche Konzessionen auf dem Balkan und im Orient zu befriedigen und Frankreich zu isolieren. Dadurch wurde Holstein umgestimmt, so daß er an Hatzfeld telegraphierte, dieser Gedanke verdiene Ermutigung. Der Kaiser lud nun Salisbury zu einer zweiten Unterredung ein, bei der er sich über den Aufteilungsplan wohlwollender zu äußern gedachte. Der Kaiser wartete indes drei Stunden vergebens auf Salisbury. Zwei Tage später entschuldigte sich dieser in einem Schreiben an Hatzfeld, eine langdauernde Audienz bei seiner Königin habe ihn an einem rechtzeitigen Erscheinen verhindert, und er habe geglaubt, damit wäre die Einladung „annulliert". Auf den Aufteilungsplan kam Salisbury nicht mehr zurück. Uber die etwaigen Folgen, die das Eingehen des Kaisers auf den Plan Salisburys bei der Unterredung mit ihm gehabt hätte, lassen sich nur Vermutungen anstellen; jedenfalls war es damals für die Aufrechterhaltung des europäischen Friedens besser, daß Salisburys Vorhaben nicht verwirklicht wurde, und an dem bisherigen labilen deutsch-englischen Verhältnis hat sich durch diese Auseinandersetzungen noch nichts wesentliches geändert.

Die Krügerdepesche Mehr als durch Deutschlands zeitweiliges Zusammengehen mit Rußland und Frankreich in dem japanisch-chinesischen Krieg und seine Zurückhaltung in der armenischen Frage wurde England verstimmt durch die Einmischung Wilhelms in die englische Südafrikapolitik. In den 1830er Jahren waren Bauern holländischer Abstammung, Buren, die mit der englischen Herrschaft unzufrieden waren, vom Kapland in Gebiete nördlich des Vaalflusses ausgewandert und hatten hier den Freistaat Transvaal, seit 1884 Südafrikanische Republik, gegründet. Um 1877 annektierten die Engländer Transvaal; nach einem erfolgreichen Aufstand der Buren gestanden sie ihnen Selbstverwaltung zu. Einige Tage nachdem der Präsident der Südafrikanischen Republik Paul Krüger am 27. Januar 1895 zuro Geburtstag Kaiser Wilhelms einen Trinkspruch ausgebracht hatte, teilte der englische Botschafter in Berlin Sir Malet dem Staatssekretär Marschall den Inhalt eines Briefes mit, den er vom damaligen Außenminister Lord Kimberley erhalten hatte: „Die englische Regierung könne sich selbstverständlich nur freuen über eine dem Souverän eines befreundeten Staates gebrachte Ovation, müsse aber darauf hinweisen, daß nach mancherlei Anzeichen die Haltung der deutschen Regierung gegenüber der Südafrikanischen Republik dort eine Stimmung hervorriefe, welche mit der internationalen Stellung der letzteren nicht vereinbar sei. 221

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik Allerdings habe England 1884 seine Suzeränitätsrechte preisgegeben, allein vertragsmäßig sei die Südafrikanische Republik verpflichtet, internationale Verträge nur nach vorher eingeholter Zustimmung der englischen Regierung abzuschließen . . . Sie wünsche die Erhaltung des Status quo, könne sich aber der Wahrnehmung nicht verschließen, daß allmählich in Transvaal die Überzeugung Platz greife, daß man dort unbedingt auf die Unterstützung Deutschlands zählen könne, und es sei zu befürchten, daß diese Überzeugung auf die Politik der Republik einen maßgebenden Einfluß üben werde. In dieser Beziehung sei England sehr empfindlich, und wird der Botschafter daher im Interesse unserer guten Beziehungen beauftragt, die Aufmerksamkeit der kaiserlichen Regierung auf diese Dinge zu lenken." Marschall erwiderte, unsere Politik gehe „einfach dahin, diejenigen materiellen Interessen gegen jeden Eingriff zu schützen, welche sich Deutschland durch Erbauung von Bahnen und die Anknüpfung von Handelsbeziehungen mit Transvaal geschaffen habe". Seit um 1886 reiche Goldadern in Transvaal ausgebeutet wurden, strömten zahlreiche Deutsche dorthin, Ende 1895 lebten 15 000 von ihnen in der „Goldstadt" Johannisburg; an deutschem Kapital waren etwas über eine halbe Milliarde Mark investiert, in der Hauptstadt Pretoria eröffnete die Dresdner Bank eine Zweigstelle mit einer Million Pfund Sterling; deutsche Unternehmer wie Krupp, Siemens und Halske hatten Niederlassungen in Johannisburg; Eisen, Stahl, Chemikalien, Maschinen, Werkzeuge wurden massenhaft von Hamburg aus importiert. Im Herbst 1895 rief die englische Regierung Malet von seinem Berliner Botschafterposten ab; ehe er abreiste, äußerte er sich im gleichen Sinne wie früher zu Marschall: er hinterlasse im ganzen freundliche Beziehungen zwischen England und Deutschland, nur ein schwarzer Punkt bestehe: Deutschlands Haltung bezüglich des Transvaalstaates; es encouragiere die Buren zu einer feindseligen Haltung gegen England, was für dieses auf die Dauer unerträglich werde. Marschall entgegnete, die englische Regierung habe kein Recht, für die wenig freundliche Gesinnung, die gegenwärtig in Transvaal gegen England herrsche, Deutschland verantwortlich zu machen; viel näher läge die Frage, ob nicht England durch eigene Handlungen die Erbitterung der Boers (Buren) hervorgerufen habe. Deutschland beabsichtige nicht, an den Verhältnissen Transvaals, wie sie durch den Vertrag von 1884 mit England fixiert seien, zu rütteln. Deutschland müßte es aber allerdings als eine schwere Verletzung seiner Interessen betrachten, wenn Transvaal die Selbständigkeit, die ihm in jenem Vertrag garantiert sei, verliere. Schon Ende des Jahres wurde die Selbständigkeit der Südafrikanischen Republik ernstlich bedroht. Dr. Leander Starr Jameson, Administrator der südrhodesischen Chartred Company, fiel am 30. Dezember eigenmächtig mit 800 Mann seiner Polizeitruppe in Transvaal ein, am 2. Januar 1896 mußte er sich mit seiner Truppe den Buren ergeben. Am folgenden Tag ging ein Telegramm Kaiser Wilhelms an Präsident Krüger ab: „Ich spreche Ihnen meinen aufrichtigen Glückwunsch aus, daß Ihnen, ohne an die Hilfe befreundeter Mächte zu appellieren, mit Ihrem Volk gelungen ist, in eigner Tatkraft gegenüber den bewaffneten Scharen, welche als Friedensstörer in Ihr Land eingebrochen sind, den Frieden 222

Krügerdepesche wiederherzustellen und die Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen zu wahren." Unmittelbar vor Absendung der Depesche, deren Entwurf vom Direktor der Kolonialabteilung des Auswärtigen Amtes Paul Keyser herrührte, hatte eine Besprechung des Kaisers mit dem Reichskanzler, Staatssekretär Marschall und drei Admirälen stattgefunden. Der Kaiser, in diesen Tagen derart aufgeregt, daß er manchen nicht mehr als normal erschien, entwarf dabei Pläne wie Erklärung eines Protektorats über Transvaal, Mobilisierung der Marineinfanterie, Entsendung von Truppen nach Transvaal. Marschall gelang es, den Kaiser von dem allen abzubringen und bewog ihn zur Unterzeichnung des Telegramms, in das wahrscheinlich auf seine Veranlassung die schärfere Wendung „Unabhängigkeit des Landes gegen Angriffe von außen" statt der ursprünglichen „das Ansehen ihrer Regierung" aufgenommen worden war. Wie Wilhelm II. später in seinen „Erinnerungen und Gestalten" schrieb, hat er die Depesche widerwillig unterzeichnet; ob in der Voraussicht etwaiger schlimmer Auswirkungen, oder weil sie hinter den von ihm erwähnten Plänen weit zurückblieb, läßt sich ebensowenig entscheiden wie, ob ihm die Absendung eines Telegramms nur nahegelegt wurde, um ihn von Plänen abzulenken, deren Ausführung einen Krieg mit England zur Folge haben mußte. Aber auch das Telegramm erregte in England schweren Anstoß. Man hatte dort den Einfall Jamesons in Transvaal mißbilligt, nach dem Bekanntwerden des Telegramms schlug jedoch die Stimmung völlig um. Die englische Regierung nahm allerdings die Depesche an Krüger nicht tragisch; die öffentliche Meinung war indes über sie aufs höchste aufgebracht, wozu auch die jubelnde Begeisterung im deutschen Volk, man habe es den Engländern einmal richtig gezeigt, viel beitrug. Die Engländer vergaßen den Deutschen das Krügertelegramm nicht. Es „muß als einer der größten Mißgriffe in der Geschichte der neueren Diplomatie angesehen werden. Nicht, daß es Salisbury besonders störte oder irgendeinen direkten Einfluß auf die englisch-deutschen Beziehungen im offiziellen Sinn hatte, aber es erbitterte die öffentliche Meinung in England und bot die Gelegenheit zur Kristallisation aller Eifersucht und allen Mißtrauens, die sich allmählich gegen die Deutschen angehäuft hatten" (Langer). Besonders kam Kaiser Wilhelm bei den Engländern in Mißkredit. Bülow, damals deutscher Botschafter in Rom, gibt hierfür in seinen „Denkwürdigkeiten" ein bezeichnendes Beispiel: „Mein englischer Kollege, Sir Clare Ford, sagte zu mir: ,Diese Ohrfeige von selten Ihres Kaisers wird England nicht vergessen.' . . . Als ich von der Liebe und Achtung des Kaisers für England sprach, mit dem ihn nicht nur verwandtschaftliche Bande, sondern auch Gewohnheiten und Passionen verbänden, replizierte mein englischer Kollege: ,Gerade wegen dieser vielen und intimen Beziehungen wird das englische Volk Ihrem Kaiser diesen Affront nicht verzeihen. Der Engländer hat die Empfindung, die ein Gentleman haben würde, dem im Klub ein anderer Gentleman, sein Vetter, mit dem er viele Jahre friedlich Whist gespielt und Brandy und Soda getrunken hat, plötzlich eine Maulschelle appliziert.'"

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Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik

Plan einer Kontinentalliga. Italiens Abessinienkrieg. Verlängerung des Dreibundvertrages Der deutsche Botschafter in Petersburg meldete am 6. Januar 1896 dem Auswärtigen Amt: der Zar „sprach mit Anerkennung von der Haltung der kaiserlichen Regierung in der Transvaalfrage und mißbilligte die englische Politik ziemlich rückhaltlos, die darauf auszugehen scheine, Südafrika mit Ägypten vereinigen zu wollen. Seine Majestät tadelte ferner das englische Vorgehen in der Türkei und verriet wenig Sympathie für die Armenier". Weniger klar war die Stellungnahme in Frankreich; neben Pressestimmen, von denen man auf Sympathie oder wenigstens volle Zurückhaltung schließen konnte, standen Äußerungen führender Politiker, die dem mehr oder weniger widersprachen; immerhin war anzunehmen, daß sich die französische Regierung nach dem Verhalten der russischen richten würde. Die Fortsetzung der von Holstein, dem im Auswärtigen Amt einflußreichsten Mann, seit längerem verfolgten Politik, schien unter diesen Umständen manches für sich zu haben: vorübergehende Isolierung Englands durch den Zusammenschluß Deutschlands, Rußlands und Frankreichs in einer „Kontinentalliga", was England schließlich zur Annäherung an den deutsch-österreichisch-italienischen Dreibund bewegen sollte. Das war nun freilich eine von vornherein verfehlte Rechnung; der Versuch einer Kontinentalliga mußte wegen Elsaß-Lothringen scheitern. Bereits am 7. Januar schrieb Hohenlohe dem Kaiser: „Die französische Presse entflammte im ersten Augenblick in Begeisterung für die Südafrikanische Republik und in Bewunderung für Euer Majestät hochherziges Telegramm. Aber schon nach 24 Stunden ist die erste Regung des Herzens gedämpft worden; schon sprechen die französischen Blätter wieder von Elsaß-Lothringen und lauter wird der Gedanke, daß man abwarten solle, wie sich die Beziehungen zwischen Deutschland und England gestalten werden, um aus ihnen den entsprechenden Gewinn für Frankreich zu ziehen." Etwas später wies der „Temps", das Organ des Auswärtigen Ministeriums, darauf hin, Transvaal sei nicht geeignet, die Aufmerksamkeit Frankreichs von Elsaß-Lothringen abzulenken, und die französische Presse richtete sich nun allgemein nach dem von „Temps" geprägten Schlagwort: „keine unnatürlichen Allianzen." Selbst auf den Dreibund griff die durch das Krügertelegramm hervorgerufene internationale Beunruhigung über. Kaiser Franz Josef sprach von ihm als leichtsinnig und unverantwortlich; irgendwelche Schritte zu unternehmen beabsichtigte die österreichische Regierung allerdings nicht. Italien sah sorgenvoll einem etwaigen ernstlichen deutsch-englischen Konflikt entgegen. Unter den Großmächten die schwächste und doch aus wirtschaftlichen und Prestigegründen von kolonialem Ehrgeiz erfüllt, war Italien auf fremden Beistand angewiesen. Seit Jahren hatte es versucht, seine Kolonie Eritrea auf Kosten Abessiniens zu vergrößern und, wenn möglich, die Schutzherrschaft über ganz Abessinien zu erlangen. Im Herbst 1895 erklärte Italien das an Eritrea anstoßende Gebiet von Tigré als italienische Kolonie, worauf Kaiser Menelik im Dezember gegen die Italiener zu Felde zog; schließlich erlitten diese am 1. März 1896 bei Adua eine schwere Niederlage, 224

Kretafrage Italien mußte nun die Unabhängigkeit Abessiniens anerkennen. Mitte Januar hatte der italienische Außenminister zu Bülow gesagt, daß „eine dauernde Entfremdung zwischen Deutschland und England Italien an die Seite Frankreichs und Rußlands drängen müsse". Lieber hätte sich Italien England angeschlossen, aber dieses hatte ihm jede Hilfe im Kampf gegen Abessinien versagt. Um Italien von derartigen Erwägungen abzulenken, wies Hohenlohe Bülow an, die italienischen Staatsmänner wie bisher in dem Glauben zu bestärken, daß das Ziel des Dreibundes darin bestehe, mit festem Zusammenschluß in sich und mit freier Hand nach außen die Ereignisse ruhig abzuwarten. Holstein gab jetzt den Gedanken einer Kontinentalliga auf. In einem von ihm entworfenen und vom Reichskanzler am 7. März 1896 nach Wien abgesandten Telegramm hieß es: „Für den Dreibund ist nach meiner Ansicht, falls er bestehen bleiben soll, nur eines zu tun: zusammenzuhalten, sich ruhig halten, seiner eigenen Stärke vertrauen und keine anderen Bündnisse zu suchen, sei es, wo es sei." Im Mai 1896, ein Jahr vor dem Ablauf, wäre eine etwaige Kündigung des Dreibundvertrages möglich gewesen, da sie nicht erfolgte, blieb er auf weitere sechs Jahre in Kraft. Vor der Kündigungsfrist hatte die italienische die deutsche Regierung auf das Zusatzprotokoll zum ursprünglichen Vertrag von 1882 (S. 96) hingewiesen, wonach sich die Bestimmungen des Vertrags in keinem Fall gegen England richten, und anschließend betont, wenn England je mit Frankreich zusammengehen sollte, werde Italien den Bündnisfall als nicht gegeben erachten, weil es sich bei seiner geographischen Lage unmöglich an einem Kampf seiner Verbündeten gegen die zwei stärksten Seemächte der Welt beteiligen könne. Deutschland und Österreich nahmen diesen italienischen Vorbehalt zur Kenntnis, wiesen aber seine offizielle Aufnahme in den Vertrag mit der Begründung zurück, er würde sich dann allein gegen Rußland wenden und wäre so nicht mehr objektiv und rein defensiv. Der italienische Außenminister Marchese Visconti Venosta gab nach und versicherte Bülow am 22. Juli 1896, er stehe durchaus auf dem Boden des Dreibundes, in den er nichts hinein- und aus dem er auch nichts herausinterpretieren wolle; der Dreibund sei und bleibe die Grundlage der italienischen Politik. Aber wie schon früher war auch jetzt wegen italienisch-österreichischer Interessengegensätze auf Italien kein rechter Verlaß, und verschiedene Ereignisse der letzten Monate waren nicht dazu angetan, die Vertragstreue der Italiener zu festigen. Ihre Niederlage in Abessinien stand zwar in keiner Beziehimg zum Dreibund, dessen Nutzlosigkeit aber gerade dabei bitter empfunden wurde; mit Sorge beobachteten die Italiener die Wirkung des Krügertelegramms auf das deutsch-englische Verhältnis, und trotz der schönen Worte ihres Außenministers nahmen sie es übel, daß bei der Verlängerung des Dreibundvertrages Deutschland und Österreich auf die italienischen Wünsche nicht eingingen. Die Kretafrage. Der Artikel der Saturday Review Entschiedener als in der Armenierfrage gingen die europäischen Mächte bei den Unruhen auf Kreta vor. Im 17. Jahrhundert hatten die Türken die Insel er-

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Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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obert, die um 1895 ungefähr 300 000 Einwohner zählte, ein Drittel davon waren Mohammedaner, auch sie meist griechischer Abstammung; zwischen ihnen und den Christen kam es des öfteren zu blutigen Zusammenstößen, so besonders 1889 und dann wieder 1896/97. Die Griechen wollten sich die Insel mit ihrer stammverwandten Bevölkerung aneignen, hetzten die Christen gegen die Mohammedaner auf und verstärkten sie durch Zuzug. Bei einem Aufruhr der Christen Mitte Februar 1896 sandte Sultan Abdul Hamid Truppen nach Kreta, dodi nahmen die Unruhen bald wieder zu; im Mai wurden zahlreiche Christen ermordet. England, Frankreich, Rußland und Italien sandten Kriegsschiffe nach Kreta und erzwangen vom Sultan die Zusage von Reformen zugunsten der Christen. Eine Beruhigung trat indes nicht ein, besonders wegen der leidenschaftlichen Erregung in Griechenland, dessen Bevölkerung auf die Annexion Kretas drang. Am 6. Februar 1897 proklamierten die Führer der Aufständischen die Vereinigung Kretas mit Griechenland und forderten den König der Hellenen auf, von der Insel Besitz zu ergreifen. Dem Druck der Bevölkerung nachgebend, schickte die griechische Regierung Kriegsschiffe nach Kreta, Oberst Vassos landete mit 1500 Mann, Schloß sich den Aufständischen an und ergriff im Namen des Königs der Hellenen Besitz von der Insel. Die vier Mächte verstärkten ihre Flotten in den kretischen Gewässern, auch Deutschland beteiligte sich jetzt dabei mit dem Kreuzer „Kaiserin Augusta". Mitte Februar landeten die Mächte je ungefähr 100 Mann in Kamea, der Haupthafenstadt Kretas. Die Mächte waren sich darüber klar, daß ein Gewährenlassen der mit den Aufständischen gemeinsam vorgehenden griechischen Truppen weittragende, den europäischen Frieden ernstlich gefährdende Folgen haben würde, zunächst den Bürgerkrieg auf Kreta und einen türkisch-griechischen Krieg. Die Annexion Kretas durch Griechenland hätte die alte Begehrlichkeit der anderen Balkanstaaten, namentlich der immer unruhigen Serben und Bulgaren, ermutigt, für den Gewinn der Griechen Kompensationen an türkischem Gebiet zu verlangen. Damit wäre die von Salisbury vor zwei Jahren angeregte Aufteilung der Türkei wieder aktuell geworden, die Einigung der Großmächte aber wie damals nicht zu erreichen gewesen. Durch seine Kolonialpolitik in Ostasien war Rußland zu sehr in Anspruch genommen, als daß es sich jetzt in etwaige kriegerische Auseinandersetzungen über eine Aufteilung der Türkei einlassen wollte, wenn es auch sein Ziel nicht aufgab, später einmal von der türkischen Hinterlassenschaft vor allem Konstantinopel und die Dardanellen zu gewinnen. Die österreichisch-ungarische Monarchie mußte wegen der Schwierigkeiten, die ihr aus den Gegensätzen seiner deutschen, madjarischen und slawischen Bevölkerung, seinen finanziellen Nöten und der unzureichenden militärischen Rüstung erwuchsen, alles vermeiden, was zu einem Balkanbrand und einem sich daraus ergebenden Weltbrand führen konnte. Frankreich wollte sich durch Balkanwirren nicht von seinen kolonialen Bestrebungen in Hinterindien und Afrika ablenken lassen und nichts unternehmen, was es in einen Gegensatz zu seinem russischen Bundesgenossen bringen konnte. Italien, so gerne es bei einer Aufteilung des osmanischen Reiches Albanien gewonnen hätte, war nach den Erfahrungen in Abessinien nicht geneigt, sich neuer-

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Kretafrage dings in ein Unternehmen einzulassen, dessen Auswirkungen nicht abzusehen waren. Deutschland und Frankreich befürchteten von einem Zusammenbruch der Türkei eine empfindliche Schädigung ihrer wirtschaftlichen Interessen. Überdies argwöhnten Rußland und Deutschland, England beabsichtigte, den Balkankrieg zu entzünden, um freie Hand in Ostasien und Südafrika zu haben; Ähnliches nahm England von Rußland an. Trotz des gegenseitigen Mißtrauens der Mächte und wohl auch gerade deshalb entschlossen sie sich zu einem gemeinsamen Vorgehen, denn jede von ihnen war gegen die Ausweitung des Aufruhrs zu einem Krieg. Sie besetzten einige Küstenstädte Kretas, vermochten jedoch die Fortsetzung des Kampfes nicht zu verhindern. Kaiser Wilhelm riet deshalb zu einer Blockade des Piräus, des wichtigsten griechischen Hafens, und anschließend daran Hohenlohe zu der aller griechischen Häfen; könnten die Aufständischen von außen keinen Zuzug mehr erhalten, dann würde es auf der Insel bald ruhig. Salisbury wandte gegen den deutschen Vorschlag ein, vor einer Aktion gegen Griechenland müßten sich die Mächte über die zukünftige Verfassung Kretas beraten und dabei eine Autonomie der Insel ins Auge fassen. Bei den Gründen, weshalb England und andere Staaten damals und späterhin Griechenland so weit wie möglich schonend behandelten, spielten auch verwandtschaftliche Rücksichten mit herein. König Georg I. von Griechenland war ein Bruder der Mutter von Zar Nikolaus II. und Sohn König Christians IX. von Dänemark, auf dessen Fürsprache bei allen europäischen Höfen Georg rechnen durfte. Der griechische Kronprinz Konstantin war mit Prinzessin Sophie, einer Sdiwester Wilhelms II. und Enkelin der Königin Viktoria von England, verheiratet; Kaiser Wilhelm stand indes grundsätzlich auf der Seite der Türkei und verübelte seiner Schwester den Ubertritt zur griechisch-orthodoxen Kirche, willigte aber dann doch, um die Einheit nicht zu gefährden, wie die übrigen Mächte in den englischen Plan ein, vorerst nur Kreta zu blockieren. Nach langwierigen Verhandlungen untereinander ließen die Großmächte gemeinsam am 2. März 1897 der griechischen und der türkischen Regierung Noten zugehen. Die für Griechenland hob als die Hauptpunkte hervor: Kreta könne auf keinen Fall unter den gegenwärtigen Umständen von Griechenland annektiert werden. Angesichts der durch die Türkei herbeigeführten Verzögerung in der Anwendung der mit ihr vereinbarten Reformen seien die Mächte entschlossen, unter voller Aufrechterhaltung der Integrität des Ottomanischen Reiches Kreta mit einem vollständig durchgeführten Selbstverwaltungssystem auszustatten, das bestimmt sei, der Insel eine besondere Regierung unter der hohen Suzeränität des Sultans zu sichern. Die Verwirklichung dieser Absichten würde nach Ansicht der Mächte nur zu erreichen sein durch die Zurückziehung der griechischen Schiffe und Truppen aus Kreta. Im Falle einer Weigerung seien die Mächte unwiderruflich entschlossen, vor keinem Zwangsmittel zurückzuschrecken, wenn nach Ablauf einer Frist von sechs Tagen die Zurüdcberufung der griechischen Truppen und Schiffe aus Kreta nicht erfolgt sei. Die Note an die türkische Regierung verlangte, die Integrität des Osmanischen Reiches müsse erhalten bleiben, die Ordnung auf Kreta wiederhergestellt und der Insel Autonomie verliehen werden. Der Sultan er-

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klärte sich mit der Note einverstanden, er war es zufrieden, wenn Kreta nicht in die Hand seiner Widersacher fiel und nominell ein Bestandteil seines Reídles blieb, auf eine eigentliche Regierung über die widerspenstige Bevölkerung legte er keinen Wert. Immerhin rechnete er mit der Möglichkeit eines Krieges und begann sich dafür zu rüsten. Die griechische Regierung beauftragte mit der Beantwortung der Note ihren Außenminister. Unter dem Vorwand, das von den Großmächten vorgeschlagene autonome Regime werde nicht imstande sein, weitere Greueltaten auf der Insel zu verhüten, lehnte er die Forderungen der Großmächte ab und bat, „dem kretischen Volk zu erlauben, sich zu äußern, wie es regiert sein will". So begann am 21. März die Blockade Kretas durch die Großmächte. Einige Tage später beschossen die europäischen Kriegsschiffe die Aufständischen während ihres Kampfes mit türkischen Truppen. Die Beteiligung des Kreuzers „Kaiserin Augusta" erregte in deutschen Kreisen Anstoß: „Mögen die Diplomaten sagen, was sie wollen, es ist eine ewige Schande für die Christenheit, daß ihre Kriegsschiffe zum Besten der Türken auf Christen schießen" (Waldersee). Den Griechen ging es nicht allein um Kreta, schon seit langem beabsichtigten sie, den Türken Mazedonien zu entreißen und nun, durch die Auseinandersetzungen über Kreta aufgereizt, überschritten erst irreguläre, dann auch reguläre griechische Truppen von Thessalien aus die türkische Grenze. Daraufhin erklärte die Türkei am 18. April Griechenland den Krieg. Von den Türken besiegt, geriet die griechische Armee in völlige Auflösung. Die griechische Regierung bat die Mächte um Vermittlung und erklärte sich nun bereit, der Autonomie Kretas zuzustimmen. Unter Mitwirkung der Mächte wurde zunächst ein Waffenstillstand vereinbart und am 4. Dezember 1897 der definitive Friede zwischen der Türkei und Griechenland unterzeichnet. Die Türken hatten während des Feldzugs Thessalien erobert, mußten es jedoch auf Verlangen der Mächte Griechenland wieder überlassen. Nur eine strategische Grenzberichtigung wurde den Türken zugestanden, ebenso die geforderte Kriegsentschädigung von 10 Millionen türkischer Pfund (ungefähr 190 Millionen Goldmark) auf 4 Millionen Pfund herabgesetzt. Auch diese Summe konnte Griechenland nur durch eine Anleihe aufbringen. Da zu befürchten war, daß die Lage der so schon schwer geschädigten deutschen Gläubiger noch mehr verschlechtert würde, drang die deutsche Regierung darauf, daß den alten Gläubigern die Priorität ihrer Ansprüche gesichert und für die zum Dienste der alten und neuen Schuld bestimmten griechischen Staatseinnahmen die Kontrolle durch Delegierte der Mächte eingeführt würde. England widerstrebte einem derartigen Eingriff in die griechische Verwaltung, stimmte indes dem deutschen Vorschlag schließlich zu, als auch die übrigen Mächte dafür eintraten. Eine Klärung der kretischen Frage war im Friedensvertrag nicht enthalten. Kurz nach Unterzeichnung brachen wieder Unruhen auf Kreta aus, immer noch kreuzten europäische Kriegsschiffe vor Kreta. Mitte März 1898 zogen sich Deutschland und Österreich von Kreta zurück, dagegen schickten im September nach einer Revolte der Mohammedaner, bei der mehrere Hundert Christen und 21 englische Soldaten ums Leben kamen, England, Rußland, Frankreich und Italien 228

Kretafrage Verstärkungen. Anfang November übernahmen die vier Mächte die Verwaltung Kretas, die türkischen Truppen mußten es räumen. Am 26. November ernannten die Mächte Georg von Griechenland, den zweiten Sohn des Königs, zum Gouverneur von Kreta unter Anerkennung der Suzeränität des Sultans. Vergebens hatte dieser bis zuletzt widerstrebt, er nahm vor allem an der Wahl eines griechischen Prinzen Anstoß. Die Suzeränität des Sultans kam fortan lediglich darin zum Ausdruck, daß auf einem Fort die türkische Flagge wehte. In allem, was sich der Sultan von dem Sieg über die Griechen erwartet hatte: Erwerbung Thessaliens, hohe Kriegsentschädigung und daß die Verwaltung Kretas der türkischen Regierung überlassen würde, hatte er nichts oder nur wenig erreicht. Und doch war der Sieg für das Osmanische Reich und für die internationale Politik von erheblicher Bedeutung. Die kriegerische Leistung des „kranken Mannes am Bosporus" überraschte, und da der ehemalig preußische Generalstabsoffizier Colmar von der Goltz, vom Sultan zum Pascha ernannt, 1883/95 den Neuaufbau des türkischen Heerwesens geleitet hatte, hob der Sieg der Türken auch das Ansehen der deutschen Armee. Das Verhalten der Mächte und die Einzelheiten der Verhandlungen zwischen den Mächten in der Kretafrage 1896/98 sind dafür bezeichnend, wie in der großen europäischen Politik alles ineinander verflochten und fließend war. So hat Kaiser Wilhelm II. erst in einigen Punkten die Initiative ergriffen und ist dann, wie Österreich, vor der abschließenden Regelung ausgeschieden. Ende April 1897 hatte der Kaiser von Österreich den Zaren in Petersburg besucht. Die Annäherung Österreichs an Rußland, die dabei erfolgte, war nicht geeignet, den Dreibund zu festigen, besonders hinsichtlich Italiens, immerhin haben die beiden Souveräne das Kernproblem der europäischen Politik richtig erkannt: sie zeigten sich unbedingt entschlossen, auf dem Balkan „allgemeinen Frieden, Prinzip der Ordnung und Status quo aufrechtzuerhalten". Übrigens waren sich alle Mächte von vornherein bei Ausbruch der Kretakrise 1896 klar, daß eine weitergehende Änderung des Status quo ernstliche Gefährdung des Friedens in Europa zur Folge haben würde. Dies richtig erkannt und demgemäß gehandelt zu haben, so daß infolge des türkischen Sieges zehn Jahre lang von einer Auflösung des Osmanischen Reiches nicht mehr ernstlich die Rede war, bewahrte Europa vor schwerem Unheil. Die Art und Weise, wie damals trotz der bereits erwähnten schwankenden Haltung und mannigfacher Interessengegensätze ein europäischer Krieg verhütet wurde, konnte ein Vorbild dafür sein, wie ein allgemeiner Friedenswille etwa auch den Weltbrand von 1914 hätte vermeiden lassen. Schon aber wurden Stimmen laut, die auf den europäischen Frieden in naher Zukunft bedrohende Gefahren besonders infolge der wirtschaftlichen Entwicklung hinwiesen. Darlegungen des österreichischen Außenministers Graf Agenor Goluchowski am 20. November 1897 über die politische Lage gipfelten in dem Satz: „Das 20. Jahrhundert sagt sich für Europa als ein Jahrhundert des Ringens ums Dasein auf handelspolitischem Gebiet an, und vereint müssen sich die europäischen Völker zusammenfinden, um in der Verteidigung ihrer Existenzbedingungen erfolgreich wirken zu können." Ein ganz anderer Geist erfüllte den Artikel in der

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Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik deutschfeindlichen Londoner „Saturday Review" vom 11. September 1897: „Frankreich war mit Tunis und Tongking beschäftigt, Rußland stieß in aller Stille nach dem Osten und dem Süden vor, und da blieb für Deutschland die einfache Aufgabe, friedlich auf seinem dicken Geldsack zu sitzen, während seine Kaufleute den englischen Handel wegnahmen und seine Diplomaten die englischen Diplomaten fortwährend zu Zänkereien mit anderen Ländern verleiten. Fürst Bismarck hat längst erkannt, was endlich das englische Volk zu begreifen beginnt, daß es in Europa zwei große, unversöhnliche, einander widerstrebende Mächte gibt, zwei große Nationen, die die ganze Welt zu ihrer Provinz machen und von ihr den Handelstribut erheben möchten. England mit seiner langen Geschichte des erfolgreichen Ausgreifens, mit seiner wundervollen Überzeugung, es verbreite bei Verfolgung seiner eigenen Interessen Licht unter den Völkern, die in der Dunkelheit sitzen, und Deutschland, Bein vom gleichen Bein, Blut vom gleichen Blut, wetteifert mit ihm in jeder Ecke des Globus, vielleicht mit weniger Willenskraft, aber vielleicht mit schärferer Intelligenz. In Transvaal, am Kap, in Zentralafrika, in Indien und im Osten, auf den Inseln der Südsee und im fernen Nordwesten, wo immer — und wo ist das nicht? — der Bibel die Flagge gefolgt ist und der Flagge der Handel folgte, da kämpft der deutsche Handlungsreisende mit dem englischen Hausierer. Ist irgendwo ein Bergwerk auszubeuten, eine Eisenbahn zu bauen, ein Eingeborner von der Brotfrucht zu Fleischkonserven zu bekehren, von der Temperenz zum Branntweinhandel, kämpfen der Engländer und der Deutsche darum der Erste zu sein. Eine Million kleiner Streitigkeiten häufen sich zur größten Kriegsursache, die die Welt je gesehen hat. Wenn Deutschland morgen ausgelöscht wäre, so gäbe es übermorgen keinen Engländer auf der Welt, der nicht um so reicher sein würde. Völker haben jahrelang um eine Stadt oder um ein Erbfolgerecht gerungen; müssen sie nicht um 250 Millionen Pfund jährlichen Handelswertes kämpfen? . . . England ist die einzige Großmacht, die Deutschland bekämpfen kann ohne ungeheures Risiko und ohne Zweifel über den Ausgang . . . Die deutschen Schiffe würden bald auf dem Grund des Meeres liegen oder als Beute in englische Häfen gebracht werden; Hamburg und Bremen, der Kieler Kanal und die Ostseehäfen würden unter den Kanonen Englands liegen und warten bis zur Festsetzung der Kriegsentschädigung. Wenn unser Werk getan wäre, brauchten wir uns nicht einmal die Mühe zu machen, Bismarcks Worte an den französischen Staatsmann Ferry zu ändern und zu Frankreich und Rußland zu sagen: ,Sucht Euch Kompensationen, nehmt Euch von Inner-Deutschland, was Ihr wollt, Ihr könnt es haben!'" Der Artikel Schloß in Abwandlung von Catos des Älteren „Ceterum censeo, Carthaginem esse delendam" mit „Germaniam esse delendam" (Im übrigen meine ich, Deutschland muß vernichtet werden). — Gab dieser Artikel auch nicht schlechthin die englische Meinung wieder, so doch die vieler Engländer, die in ihrer Abneigung und ihrem Haß gegen Deutschland durch diesen Artikel und ähnliche Äußerungen bestärkt wurden. In Deutschland trugen diese Pressestimmen dazu bei, daß der Reichstag die Flottenvorlage der Regierung bewilligte.

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Erwerbung von Kiautsdiou

Die Erwerbung von Kiautschou Nach England hatte von allen europäischen Staaten Deutschland den ausgedehntesten Handel mit China. Kaiser Wilhelm beabsichtigte deshalb seit dem japanisch-chinesischen Krieg die Erwerbung eines Stützpunktes für die deutsche Flotte im Fernen Osten, wobei auch die Kiautschoubucht in Erwägung gezogen wurde. Bei einem Besuch in Petersburg vom 7. bis 10. August 1897 brachte Kaiser Wilhelm dies zur Sprache, worauf von russischer Seite erklärt wurde, Rußland lege „auf den freien Zugang zu der Kiautschoubucht für sich, so lange Wert, als es nicht einen anderen Hafen besitze, daß es aber bis dahin die Mitbenutzung der Bucht durch deutsche Kriegsschiffe gestatten wolle und nach Räumimg der Kiautschoubucht seinerseits gegen ihren Ubergang in deutschen Besitz nichts einzuwenden habe". In Fluß kam die Angelegenheit durch die Ermordung zweier katholischer deutscher Missionare Anfang November in der chinesischen Provinz Süd-Schantung. Als Protektor der Mission befahl der Kaiser dem deutschen Kreuzergeschwader in Ostasien: „Das Geschwader muß augenblicklich nach Kiautsdiou fahren, dort befindliche chinesische Ortsdiaft besetzen und mit schwersten Repressalien drohen, wenn nicht augenblicklich seitens der chinesischen Regierung ein in Geld zu bemessender hoher Schadenersatz geleistet, sowie Verfolgung und Bestrafung der Verbrecher wirklich effektuiert wird." Am 14. November landete das Geschwader Truppen in der Kiautschoubucht. Zur Verstärkung entsandte der Kaiser eine Kreuzerdivision unter dem Befehl seines Bruders Prinz Heinrich. Zum Abschied brachte der Kaiser in Kiel einen Trinkspruch aus, wobei er die Aufgabe des Prinzen schilderte und betonte, sollte es „je irgendeiner unternehmen, uns an unserem guten Recht zu kränken oder schädigen zu wollen, dann fahre darein mit gepanzerter Faust!". „Das eine versichere ich Eurer Majestät", erwiderte der Prinz, „mich lockt nicht Ruhm, mich lockt nidit Lorbeer, mich zieht nur eines: das Evangelium Eurer Majestät geheiligter Person im Auslande zu künden, zu predigen jedem, der es hören will, und auch denen, die es nicht hören wollen." Auf der Fahrt besuchte der Prinz seine Verwandten in England. Er schrieb hierüber dem Kaiser, ihrer beider Reden in Kiel hätten am englischen Hof nicht den erwarteten Beifall erhalten, der englische Kronprinz habe darüber gespottet, andere Verwandte hätten die Reden bedauerlich gefunden. Auch die englische Presse verhöhnte sie. An sich waren Äußerungen des Kaisers wie das Drohen mit der gepanzerten Faust keineswegs überraschend, die Kieler Reden zogen indes die Aufmerksamkeit des Auslandes so sehr auf sich, weil die Ostasienpolitik, ähnlich wie zuvor die Kretafrage, eben im Mittelpunkt der europäischen Politik stand. Nach langwierigen Verhandlungen mit Rußland und China wurde am 6. März 1898 der Pachtvertrag über die Bucht von Kiautschou und der Vertrag über Eisenbahn- und Bergwerkskonzessionen zwischen Deutschland und China abgeschlossen: „In der Absicht den berechtigten Wunsch S. M. des deutschen Kaisers zu erfüllen, daß Deutschland gleich anderen Mächten einen Platz an der chinesischen Küste innehaben möge für die Ausbesserung und Ausrüstung von Schiffen, für die Niederlegung von Materialien und Vorräten für dieselben, sowie für 231

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik

sonstige dazugehörende Einrichtungen, überläßt S. M. der Kaiser von China beide Seiten des Eingangs der Bucht von Kiautschou pachtweise, vorläufig auf 99 Jahre, an Deutschland. Deutschland übernimmt es, in gelegener Zeit auf dem ihm überlassenen Gebiete Befestigungen zum Schutze der gedachten baulichen Anlagen und der Einfahrt des Hafens zur Ausführung zu bringen" (Art. II). China werde in diesem Gebiet keine Hoheitsrechte ausüben und rings um die Bucht eine Zone von 50 km schaffen, in der es „den freien Durchmarsch deutscher Truppen zu jeder Zeit gestatten, sowie daselbst keinerlei Maßnahmen oder Anordnungen ohne vorhergehende Zustimmung der deutschen Regierung treffen" werde (Art. I). In dem Vertrag über Eisenbahn- und Bergwerkskonzessionen genehmigte die chinesische Regierung den Bau von zwei Eisenbahnen in Schantung. „Zur Ausführung der Eisenbahnbauten soll eine deutsch-chinesische Gesellschaft gegründet werden . . . Zweck dieser Eisenbahnlinie ist nur die Entwicklung des Handels . . . Die chinesische Regierung gesteht deutschen Unternehmern das Recht zu, Bergwerkseigentum auf der ganzen Eisenbahnlinie in einer Entfernung von (15 km) auf jeder Seite zu erwerben. Chinesisches Kapital darf sich an der Ausbeutung der Bergwerke beteiligen . . . Wenn die chinesische Regierung oder chinesische Private je zur Entwicklung Sdiantungs irgendwelche Pläne haben sollten, deren Ausführung fremdes Kapital erfordert, so sollen zunächst deutsche Kapitalisten darum angegangen werden. Ebenso sollen deutsche Lieferanten, wenn die Anschaffung von Maschinen oder anderen Materialien notwendig werden sollte, in erster Linie in Betracht kommen. Nur wenn deutsche Kapitalisten bzw. Lieferanten abgelehnt haben, wird man sich chinesischerseits an andere Nationen wenden dürfen." Deutschland gewann so nicht nur eine starke Flottenbasis an der chinesischen Küste, es entfaltete auch eine sehr erfolgreiche Tätigkeit in der vielversprechenden Provinz Schantung. Mit Recht konnte Kaiser Wilhelm in seinen „Ereignissen und Gestalten" rückblickend von Tsingtau, dem Hauptort des neu erworbenen Gebietes, rühmen: „Hier war alles auf die Belebung von Handel und Industrie zugeschnitten und alles wurde gemeinsam mit den Chinesen geschaffen . . . Tsingtau war eine aufblühende deutsche Handelskolonie, von den Chinesen geschätzt und bewundert, und viele Chinesen wirkten in ihr mit. Es war gewissermaßen ein großes Musterlager deutschen Könnens und deutscher Leistungen zur Auswahl und Nacheiferung für die Chinesen, die Deutschland, seine Leistungsfähigkeit und Produkte vorher nicht gekannt hatten." Darüber hinaus leitete die Art, wie das deutsch-chinesische Abkommen entstand, einen neuen Abschnitt in der internationalen Chinapolitik ein. Die Besetzung der Kiautschoubucht im November 1897 war offiziell nur für die Zeit erfolgt, bis „die Angelegenheit betreffend den Mord unserer deutschen Missionare in Schantung geschlichtet ist". In England, Rußland und Frankreich nahm man aber von vornherein an, die Deutschen würden in Kiautschou bleiben und tatsächlich wurden die deutsch-chinesischen Verträge vom 6. März 1898 abgeschlossen, obwohl China die für die Ermordung der Missionare verlangte Genugtuung geleistet hatte. Sein Vorgehen gegen China wurde Deutschland vielfach sehr verübelt. Bisher hatten England und Rußland in China eine Politik der „friedlichen Durch-

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Wilhelms II. Orientreise dringung" verfolgt. England, dem China schon 1842 Hongkong abgetreten hatte, beanspruchte für sich unbehinderte Ausdehnung seines Handels in Mittelchina und „offene Tür" für seine Waren in ganz China, war aber auch bereit, Rußland bei der Durchführung seiner Eisenbahn- und Handelspläne in Nordchina freie Hand zu lassen und ebenso Frankreich in dem Bestreben, von Tongking aus Einfluß auf die südchinesischen Provinzen zu gewinnen. All das hätte die Selbständigkeit des chinesischen Reiches nicht beeinträchtigt und an seinem staatlichen Gefüge nichts geändert. Der Pachtvertrag mit Deutschland aber bedeutete erstmalig eine Annexion chinesischen Territoriums, und nun drängten auch die anderen drei Mächte auf derartige Pachtverträge. Rußland, das bereits 1896 das Recht zum Bau der Mandschurischen Bahn erworben hatte, erzwang Ende März 1898 die Verpachtung des Hafens Port Arthur, der rein militärischen Zwecken diente, und des Handelshafens Talienwan (Dairen); England sicherte sich Weihaiwei, den Eingang zur Bucht von Tschili, und Frankreich Ende April den südchinesischen Hafen Kwangschouwang. Japan erlangte für seine Einwilligung zur Besetzung Port Arthurs von Rußland Zugeständnisse in Korea. Die Mächte beobachteten sich mißtrauisch, wer von ihnen als Nächster ein Stück China für sich beanspruchen würde. Den Hauptgewinn in China hatte vorläufig Deutschland erzielt.

Wilhelms II. Orientreise Im Oktober 1898 reisten Kaiser Wilhelm und seine Gemahlin nach Konstantinopel und anschließend nach Jerusalem und Bethlehem. Im Vordergrund standen religiöse Beweggründe, Besuch der heiligen Stätten und besonders die Einweihung der evangelischen Kirche in Jerusalem, für deren Bau die Geldmittel durch Sammlungen bei Protestanten in ganz Deutschland aufgebracht worden waren. Außerdem übergab der Kaiser das von ihm während seines Aufenthalts in Konstantinopel erworbene Grundstück „la dormition de la Sainte Vierge", wo die Jungfrau Maria in Jerusalem beigesetzt worden sein soll, dem Deutschen Verein vom Heiligen Lande zur freien Nutznießung und telegraphierte dem Vorstand des Vereins: „Ich freue mich, damit einen dringenden Wunsch meiner katholischen Untertanen erfüllen zu können. Dieselben mögen hierin einen Beweis meiner landesväterlichen Fürsorge erblicken, mit welcher ich, obwohl anderer Konfession, stets bestrebt bin, über ihre religiösen Interessen zu wachen." So verband sich schon in dieser Angelegenheit Politisches mit dem Religiösen. Das Ausland sah in der Orientreise des Kaisers überhaupt nur einen politischen Schachzug. Der Plan zu dieser Fahrt des Kaisers war bereits im Sommer 1897 bekannt geworden. Außer den Staaten, die aus politischen und wirtschaftlichen Gründen gegen eine Stärkung des so schon beträchtlichen deutschen Einflusses im Osmanischen Reich waren, gab es auch Türken, die „aus ehrlicher politischreligiöser Überzeugung den prädominierenden Einfluß einer christlichen Macht dem Interesse der Türkei und des Islam als schädlich erachten . . . Die Argumente

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Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik unserer Gegner lassen sich dahin zusammenfassen: die Deutschen wollen die Türkei wirtschaftlich ausnutzen, um möglichst viel Geld zu verdienen, sie haben schöne Worte und gute Ratschläge, wenn aber ernste Komplikationen eintreten, werden sie für die Erhaltung der Türkei keinen Finger rühren" (Marschall). In England und Rußland mußte besonders der Schluß einer Rede, die der Kaiser in Damaskus hielt, Anstoß erregen: „Möge Seine Majestät der Sultan und mögen die 300 Millionen Mohammedaner, welche auf der Erde zerstreut lebend in ihm ihren Kalifen verehren, dessen versichert sein, daß zu allen Zeiten der deutsche Kaiser ihr Freund sein wird"; die weitaus überwiegende Mehrzahl der Mohammedaner lebte aber unter russischer und englischer Herrschaft. Die Franzosen verstimmte, daß das von ihnen seit 1740 beanspruchte Schutzrecht auch über die deutschen Katholiken in Konstantinopel und in der asiatischen Türkei durch die Orientreise Kaiser Wilhelms völlig entwertet wurde. Das wichtigste politische Ergebnis der Reise war, daß sie das Verhältnis zwischen dem deutschen Kaiser und dem Sultan noch freundschaftlicher gestaltete, außerdem hat sie die deutsch-türkischen wirtschaftlichen Beziehungen sehr gefördert. Als „schon erzielte wirtschaftliche Erfolge der Kaiserreise" zählte Staatssekretär Bernhard von Bülow Ende März 1899 auf: „Die Erteilung einer Konzession zum Bau eines Hafens in Haidar Pascha (Stadtteü von Konstantinopel, Ausgangspunkt der anatolischen Eisenbahn) (S. 141), die Konzession eines deutschen Kabels zwischen Konstanza und Konstantinopel, die Befestigung der zwischen der türkischen Regierung und großen deutschen Firmen (ζ. B. Siemens) bestehenden geschäftlichen Beziehungen. Durch die Kabelkonzession gelangen wir in Besitz einer direkten telegraphischen Verbindung mit Konstantinopel, die voraussichtlich den Anfang zu einer neuen Weltlinie bilden wird. Hier ist auch zu verzeichnen der Plan einer Weiterführung der anatolischen Bahn nach Bagdad (S. 288), wodurch hoffentlich die Grundlage gelegt werden wird zu weiterer wirtschaftlicher Erschließung. Die Rüdewirkung der Kaiserreise wird sich hoffentlich bis zu den Ufern des Euphrat geltend machen."

Faschoda. Deutsch-englische

Bündnisverhandlungen

Während der Orientreise Kaiser Wilhelms nahm die englisch-französische Auseinandersetzung eine für die weitere Entwicklung der europäischen Politik entscheidende Wendung. Im Frühjahr 1897 war der französische Offizier Jean Baptiste Marchand vom Ubangi, dem Grenzfluß zwischen Französisch- und BelgischKongo, in der Richtung zum oberen Nil aufgebrochen. Im Dezember legte England Verwahrung dagegen ein, daß eine andere europäische Macht als Großbritannien einen Anspruch darauf habe, in irgendeinem Teil des oberen Niltals, des Ostsudans, einzudringen. Für Ägypten war dieses Gebiet lebenswichtig, eine dort herrschende fremde Macht konnte jederzeit die Wasser des Nils sperren. Ägyptische und britische Truppen stießen deshalb im Frühjahr 1898 unter Lord Kitchener ins obere Niltal vor, um die seit dem Mahdi-Aufstand (1881) selb-

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Faschoda ständigen Sudanesen zu unterwerfen. Als Kitchener sie am 2. September vernichtend geschlagen hatte, erfuhr er, daß Marchand seit dem 10. Juli Fasdioda besetzt halte. Die englische Regierung erklärte daraufhin, der Sudan gehöre Ägypten und Großbritannien und sie werde sich darüber vor der Abberufung Marchands durch seine Regierung in keine Diskussion einlassen. Da Kitchener nach Faschoda zog und die französische Regierung einen Krieg vermeiden wollte, schon mit Rücksicht auf die damaligen inneren Schwierigkeiten Frankreichs im Zusammenhang mit der Dreyfusaffäre, willigte sie Anfang November in die Räumung Faschodas ein. Für Frankreich bedeutete dies zweifellos eine Demütigung, dodi trösteten sich, wie der deutsche Botschafter in Paris nach Berlin berichtete, viele Franzosen: „Ein Fußtritt an den Hintern ist mir lieber als ein Fausthieb ins Gesicht, den uns die Engländer gegeben hätten." Andere beruhigten sich mit der Ausrede, die englischen Rüstungen seien keine Drohung gegen Frankreich gewesen, sondern ein besonders gegen Rußland gerichteter Mobilisierungsversuch. Schließlich schlossen Großbritannien und Frankreich am 21. März 1899 einen beide Teile befriedigenden Vertrag über die Abgrenzung ihrer Interessensphären im Sudan, wobei Frankreich das Gebiet des Tsadsees im mittleren Sudan und England das Nilgebiet erhielt. Frankreich verzichtete damit auf den Versuch einer Einflußnahme auf Ägypten, die es bis dahin angestrebt hatte. Dadurch verlor Deutschland die wiederholt ausgenützte Möglichkeit, die Spannungen zwischen England und Frankreich, die sich aus ihrer Rivalität in Ägypten ergeben hatten, weiterhin zu seinen Gunsten auszuspielen. Die Art, wie Frankreich in der Faschodafrage nachgab, wies überhaupt darauf hin, daß es fortan jeden ernsteren Konflikt mit England vermeiden würde. Faschoda war so ein, wenn auch vorerst nicht klar in Erscheinung tretender und die weitere Entwicklung nicht unbedingt festlegender Wendepunkt in der europäischen Politik. Schon ehe die Sudanfrage durch die Begegnung Kitcheners und Marchands in Faschoda akut geworden war, setzte der englische Kolonialminister Josef Chamberlain Ende März 1898 Hatzfeld, dem deutschen Botschafter in London, in „ausführlicher, ganz vertraulicher Unterhaltung auseinander, daß die politische Situation jetzt eine Wendung genommen habe, welche England nicht länger gestatte, die bisherige traditionelle Politik der Isolierung aufrechtzuerhalten . . . Die Situation sei nicht nur wegen der chinesischen Frage, bezüglich deren die englische Regierung die in der Kammer für künftigen Dienstag in Aussicht gestellten Entschlüsse in kürzester Frist fassen müsse, eine kritische, sondern es seien auch mit Frankreich wegen Westafrika ernstliche Verwicklungen zu befürchten". Deutschland und England „hätten dieselben politischen Interessen und etwa vorhandene koloniale Differenzen ließen sich ausgleichen, wenn man gleichzeitig zu einem Verständnis über die großen politischen Interessen gelangen könnte". Dieser Besprechung folgte ein reger Meinungsaustausch zwischen Berlin und London, an dem sich auch Kaiser Wilhelm, der englische Premierminister Salisbury, der Schatzkanzler Balfour und der englische Botsdiafter in Berlin Sir Frank Lascelles beteiligten. Anfang Juni fragte der russische Gesandte in London nach einer langen Unterredung Salisburys mit Hatzfeld, ob sie auf

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Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik eine englisch-deutsche Allianz deute. Mit der Antwort: „Alliance non, rapprochement oui", keine Allianz, aber Annäherung, kennzeichnete Salisbury treffend das Ergebnis der Verhandlungen seit der ersten Besprechung Chamberlains mit Hatzfeld im März. Der englische Premierminister lehnte grundsätzlich jede feste, dauernde Bindimg und damit auch eine eigentliche Allianz mit Deutschland ab; bei einer Weltpolitik wie der englischen hielt er es für geboten, immer freie Hand zu haben; außerdem war er überzeugt, er werde für einen bestimmten Zweck jeweils einen Bundesgenossen finden, der von einem Zusammengehen in solch einem Falle auch für sich Gewinn erhoffte. Schon diese Unberechenbarkeit der englischen Politik mußte der deutschen Regierung das inoffizielle Bündnisangebot Chamberlains von sehr zweifelhaftem Wert erscheinen lassen. Bülow wies auf die Gefahren hin, die eine Allianz mit England für die in erster Linie zu berücksichtigende Stellung Deutschlands innerhalb Europas heraufbeschwören würde: Selbst „eine allgemeine Abmachung mit England, die keinen ausgesprochen agressiven Charakter trüge, hätte bei der jetzigen Weltlage doch eine Spitze gegen Rußland und wäre also geeignet, die Sicherheit der deutschen Ostgrenze zu vermindern, oder vielmehr, wie die Verhältnisse liegen, die Sicherheit unserer Grenzen nach Osten und Westen. Andererseits ist es allerdings nicht denkbar, daß wir unter den gegenwärtigen europäischen Konjunkturen eine allgemeine oder auch eine spezifisch ostasiatische Abmachung mit Rußland abschlössen, welche nicht eine Spitze gegen England haben und insofern unsere Aussichten auf Kolonialerwerb vermindern würde." Vor allem war die Voraussetzung nicht gegeben, die Bülow mit Recht für unerläßlich hielt: die „Sicherheit müßte vorliegen, daß die gesamte englische Regierung, die gerade in England so mächtige öffentliche Meinung und das Parlament die Allianz ratifizieren würden". Jeden dieser drei Punkte hatte Chamberlain zu optimistisch beurteilt. Die öffentliche Meinung in England war im allgemeinen deutschfeindlich, das Parlament und die Regierung hatten darauf Rücksicht zu nehmen. So handelte Bülow richtig, wenn er sich an den Rat von Lascelles hielt: wir müssen „ohne Hast, aber auch ohne Rast weiter daran arbeiten, zwischen Deutschland und England das Terrain für eine engere, dauernde und auf gegenseitige Gleichberechtigung basierte Freundschaft vorzubereiten. Wir dürfen in dieser Beziehung nichts übereilen, sollten aber vor allem darauf hinwirken, daß das Verhältnis zwischen beiden Ländern jedenfalls vor neuen Trübungen bewahrt bleibe". Das Bündnisangebot Chamberlains ist von der deutschen Geschichtsforschung seit 1918 viel erörtert worden. Zunächst überwog die Ansicht, die Verhandlungen wären hauptsächlich an der Ablehnung von deutscher Seite gescheitert; ernstliche Bemühungen der deutschen Regierung hätten doch wohl zu einem Bündnis mit England geführt und dadurch den Ersten Weltkrieg verhindert. Aus den seit den zwanziger Jahren erschienenen Quellenveröffentlichungen ergab sich jedoch, daß damals ein offizielles englisches Bündnisangebot überhaupt nicht vorlag und bestenfalls ein freundschaftliches Einvernehmen, ohne sich Rußland zu entfremden, erreicht werden konnte. Kaiser Wilhelm hatte trotzdem Ende Mai 236

Kolonialfragen. Eintritt der Vereinigten Staaten in die Weltpolitik 1898 dem Zaren, maßlos übertreibend, geschrieben, enorme Anerbietungen seien ihm gemadit worden, die Deutschland eine weite und große Zukunft versprechen, was „kannst und wirst Du mir bieten, wenn ich ablehne?" Unter völliger Ubergehung dieser Frage antwortete der Zar, vor drei Monaten hätte ihm England ein ähnliches, sehr verlockendes Angebot gemacht, er habe es aber sofort abgelehnt, weil es nur sein Vordringen in China verhindern wollte, der Kaiser müsse selbst entscheiden, was für sein Land das Beste sei; zum Schluß betonte der Zar die treue und bewährte Freundschaft zwischen Deutschland und Rußland, die Gott erhalten möge. Dieser Briefwechsel, von Seiten Kaiser Wilhelms eine leichtfertige Indiskretion, hat den Gang der Ereignisse nidit weiter beeinflußt, als daß die deutsche Regierung gegen England noch mißtrauischer wurde. Immerhin rechnete Bülow mit der Möglichkeit eines deutsch-englischen Bündnisses, wenn etwa Frankreich und Rußland gemeinsam in Ostasien vorgehen würden. „England wird den Kampf ums Dasein auf die Dauer nicht vermeiden können, und andere Alliierte als Deutschland und bessere Freunde wird es dabei nicht finden." Aber gerade darin täuschte sich Bülow, daß er eine Einigung Englands und Rußlands für ausgeschlossen hielt. Bei den damaligen Interessengegensätzen der beiden Länder war sie trotz Chamberlains Drohung eines Zusammengehens von England mit Rußland oder Frankreich freilich nicht vorauszusehen, jedenfalls zeigte sich England auch ohne feste Bindung zu Verhandlungen mit Deutschland in der Kolonialpolitik bereit.

Kolonialfragen.

Eintritt der Vereinigten

Staaten in die

Weltpolitik

Bei den mancherlei Plänen für die Erwerbung von Flottenstützpunkten und Kolonien richtete das deutsche Auswärtige Amt sein Augenmerk auf Portugal und Spanien, die wohl nicht mehr imstande sein würden, ihren großen Kolonialbesitz weiterhin ungeschmälert zu behaupten. Die finanzielle Notlage Portugals veranlaßten England und Deutschland Ende August 1898 zu Vereinbarungen über die Abgrenzung der beiderseitigen Interessensphären in Mozambique, Angola und Portugiesisch-Timor für den Fall, daß Portugal Anleihen aufnehmen wolle und bereit sei, als Sicherheit dafür den Mächten in seinen Kolonien bestimmte Rechte einzuräumen; die Abgrenzung sollte auch gelten, wenn Portugal sich zur Abtretung dieser Gebiete gezwungen sehe. Da Portugal aber auch ohne Verpfändung von Kolonien in Frankreich Kapital aufnehmen konnte, und England im zunächst geheimgehaltenen „Windsorvertrag" Mitte Oktober 1899 unter Erneuerung früherer Verträge Portugal seinen Besitzstand garantierte, war das englisch-deutsche Abkommen über die portugiesischen Kolonien von 1898 gegenstandslos, nur daß England freie Hand gegen die Buren hatte, ohne Deutschlands Eingreifen befürchten zu müssen. — Anfang 1895 war auf der spanischen Insel Kuba eine Revolution ausgebrochen. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika, die hier große wirtschaftliche Interessen hatten, unterstützten die Aufständischen, erkannten sie 1896 als kriegführende Macht an und stellten im April 237

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik Spanien ein Ultimatum, das die Unabhängigkeit der Insel forderte. Die Weigerung Spaniens führte zum Krieg mit den Vereinigten Staaten. Der amerikanische Admiral Devey vernichtete am 1. Mai bei den Philippinen in der Bucht von Manila vor Cavité das ostasiatische Geschwader der Spanier. Vergebens hatte Spanien sich um eine Aktion der europäischen Mächte gegen die Vereinigten Staaten bemüht; England, Rußland und Frankreich neigten mehr zu diesen hin, der deutsche Kaiser als Verfechter des monarchischen Prinzips mehr zu Spanien, er hatte auch an eine, von Spanien allerdings sofort abgelehnte Vermitdung des Papstes gedacht, teilte dann aber doch den Standpunkt der Nichteinmischung seiner Regierung. Nach der Niederlage der Spanier schickte Deutschland in der Hoffnung, die Philippinen erwerben zu können, fünf Kriegsschiffe nach Manila. Da die Vereinigten Staaten selber von den Philippinen Besitz ergreifen wollten, begann Deutschland Verhandlungen mit Spanien über den Kauf der Karolinen und anderer Inselgruppen. Unter französischer Vermittlung wurde am 10. Dezember der spanisch-amerikanische Friedensvertrag abgeschlossen. Spanien trat gegen eine Entschädigung von 20 Millionen Dollar die Philippinen und Guam an die Vereinigten Staaten ab, die auch die Verwaltung von Kuba übernahmen, und ihm allmählich eine gewisse Selbständigkeit gaben. Die Verhandlungen zwischen Deutschland und Spanien über die Karolinen, die Palauinseln und die Marianen (ohne Guam) waren Ende Dezember im wesentlichen abgeschlossen. Das endgültige Abkommen vom 12. Februar 1899 legte Bülow Anfang Juni zur Genehmigung dem Reichstag vor, der die Kaufsumme von 25 Millionen Peseten (17 Millionen Mark) bewilligte. Wie Bülow in seiner Reichstagsrede ausführte, knüpfte er daran „die Erwartung, daß nach Maßgabe der natürlichen Vorzüge dieser Inseln und nach ihrer geographischen und politischen Lage uns ein kolonialer Zuwachs zufällt, der für unseren Handel und unsere Machtstellung segensvoll sein wird. Dies wird eine bedeutsame Etappe auf dem Wege der deutschen Kolonialpolitik bezeichnen". Durch eine Anfrage in Washington hatte sich die deutsche Regierung vergewissert, daß die Vereinigten Staaten keine Einwendungen erheben würden. Das offizielle Verhältnis der Vereinigten Staaten und ebenso das Englands zu Deutschland wurde denn auch zunächst durch dieses weitere Vordringen Deutschlands im Stillen Ozean nicht getrübt, aber die amerikanische und die englische Presse hetzten systematisch gegen Deutschland. England, das allenthalben auf den, oft provozierend und taktlos vorangetriebenen, deutschen Wettbewerb stieß, begann mit dem Hinweis auf die Blutsbrüderschaft und die gemeinsame Sprache ein Zusammengehen mit den Vereinigten Staaten zu propagieren; in London wurde die Anglo-Amerikanische Liga, in New York das Anglo-Amerikanische Komitee gegründet. All das blieb vorerst gefühlsmäßig, doch näherten sich auch die Regierungen einander. England wünschte die Vereinigten Staaten als Partner gegen ein weiteres Vordringen Deutschlands und Rußlands im Stillen Ozean und in Ostasien. Die Vereinigten Staaten suchten die Freundschaft Englands mit seiner starken Flotte. Mit dem Krieg gegen Spanien waren die Vereinigten Staaten 238

Erste Haager Friedenskonferenz 1899 in die Weltpolitik eingetreten, fortan beteiligten sie sich an den großen internationalen Fragen. Deutschland durfte sich davon keinen Vorteil erwarten, hatte doch schon die Besetzung von Kiautschou einen Sturm der Entrüstung in der amerikanischen Presse hervorgerufen; sie schrieb von einem Piratenstück der Deutschen und ihrem Hang zum Länderraub. Uber das ganze Jahr 1899 zogen sich Verhandlungen hin zwischen Deutschland, England und den Vereinigten Staaten über die Samoainseln, die seit 1889 unter der Obhut der drei Mächte standen (S. 99). Unruhen unter den Eingeborenen führten auch zu schweren Streitigkeiten der drei Mächte. Nach langwierigen Verhandlungen setzte sich der deutsche Standpunkt durch: Aufteilung der Inseln unter die drei Mächte. Das von ihren Vertretern am 2. Dezember 1899 in Washington unterzeichnete Samoaabkommen hob alle vorausgegangenen Verträge und Vereinbarungen auf, grenzte die Gebiete der einzelnen Mächte ab und bestimmte in Artikel 3, daß jede der drei Mächte „auch fernerhin für ihren Handel und ihre Handelsschiffe in allen Inseln der Samoagruppe die gleichen Vorrechte und Zugeständnisse genießen soll, welche die souveräne Macht in allen den Häfen genießt, die dem Handel einer dieser Mächte offenstehen". England hatte erst nachgegeben, als es sich das deutsche Wohlwollen für den Burenkrieg (S. 245) erkaufen wollte. — Während der Auseinandersetzungen über die Samoainseln hatten amerikanische Zeitungen wieder gegen Deutschland gehetzt und zu einem Bündnis mit England geraten und zahlreiche Deutsch-Amerikaner dagegen große Protestversammlungen veranstaltet, an denen sich auch viele Iren beteiligten.

Die erste Haager Friedenskonferenz

1899

Im Auftrag des Zaren Nikolaus II. teilte der russische Minister des Auswärtigen Murawiew am 24. August 1898 allen in Petersburg beglaubigten Gesandten mit: „Die Aufrechterhaltung des allgemeinen Friedens und eine mögliche Herabsetzung der übermäßigen Rüstungen, welche auf allen Nationen lasten, stellen sich in der gegenwärtigen Lage der ganzen Welt als ein Ideal dar, auf das die Bemühungen aller Regierungen gerichtet sein müßten . . . Hunderte von Millionen werden aufgewendet, um furchtbare Zerstörungsmaschinen zu beschaffen, die heute als das letzte Wort der Wissenschaft betrachtet werden und schon morgen dazu verurteilt sind, jeden Wert zu verlieren infolge irgendeiner neuen Entdeckung auf diesem Gebiet. Die nationale Kultur, der wirtschaftliche Fortschritt, die Erzeugung von Werten sehen sich in ihrer Entwicklung gelähmt und irregeführt. Daher entsprechen in dem Maße, wie die Rüstungen einer jeden Macht anwachsen, diese immer weniger und weniger dem Zweck, den sich die betreffende Regierung gesetzt hat . . . Diesen unaufhörlichen Rüstungen ein Ziel zu setzen und die Mittel zu suchen, dem Unheil vorzubeugen, das die ganze Welt bedroht, das ist die höchste Pflicht, welche sich heutzutage allen Staaten aufzwingt. Durchdrungen von diesem Gefühl hat S. Majestät geruht mir zu befehlen, daß 239

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik

idi allen Regierungen, deren Vertreter am kaiserlichen Hofe beglaubigt sind, den Zusammentritt einer Konferenz vorschlage, welche sich mit dieser ernsten Frage zu beschäftigen hätte. Diese Konferenz würde mit Gottes Hilfe ein günstiges Vorzeichen des kommenden Jahrhunderts sein." Die Forderung, den Krieg von dem zwischenstaatlichen Leben auszuschalten, war an und für sich nicht neu; unter anderen hatten diesen Gedanken schon vertreten der Franzose Emeric de la Crois (Crucé) mit seiner Schrift „Le Nouveau Cynée" (1623), der erste Verfasser eines echten Weltfriedensplanes, der Quäker William Penn (um 1700), Kant „Zum ewigen Frieden" (1795). Mit dem Hochkommen des Imperialismus und der Weltpolitik gewann die Idee des Pazifismus weitere Verbreitung. 1889 erschien Bertha von Suttners Roman „Die Waffen nieder" (14. Auflage 1896). In verschiedenen Ländern wurden Friedensgesellschaften gegründet und 1891 in Genf das „Internationale Friedensbüro"; 1895 stiftete Alfred Nobel, der Erfinder des Dynamits, den nach ihm benannten Friedenspreis. Die Anregung zur Einberufung einer Friedenskonferenz durch den Zaren überraschte aber doch, und man fragte sich, was ihn wohl dazu veranlaßt habe. Vermutlich hatten der Finanzminister Witte und Murawiew, vor allem, weil sie der Ansicht waren, Rußland könne bei seiner schwierigen Finanzlage mit den übrigen Großmächten in dem Rüstungswettlauf nidit Schritt halten, dem Zaren diesen Gedanken nahegelegt, und der Zar hat ihn nicht aus eigennützigen, sondern aus ideellen Gründen begeistert aufgenommen. Die zur Beteiligung an der Konferenz eingeladenen Staaten standen dem Vorschlag Nikolaus' II. von vornherein skeptisch gegenüber. Bülow schrieb Hatzfeld nach London: „Für Deutschland würde es von Wert sein, wenn dieser FriedensTind Entwaffnungsgedanke, der unter seiner idealen äußeren Form reale Kriegsgefahren birgt, an Englands Ablehnung scheiterte, ohne daß wir dabei in den Vordergrund träten." Der Geschäftsträger an der englischen Botschaft in Berlin meinte, zweifellos würden sich die Mächte über alles Theoretische einigen, aber nicht über einen einzigen positiven Punkt. Ganz unmöglich würde es z. B. sein, die Reduktion der Flotten im Verhältnis zu der der Armeen in eine praktisch brauchbare Form zu bringen. Eine Armee könne man bis zu einem gewissen Grade in verhältnismäßig kurzer Frist aus der Erde stampfen, eine Flotte aber nicht. Und Salisbury bezeichnete dem deutschen Botschafter gegenüber das ganze Programm der Friedenskonferenz im allgemeinen als „pas sérieux" (nicht ernsthaft). Vor allem würde es unmöglich sein, selbst wenn man sich über militärische und maritime Reduktionen usw. einigen könnte, die ehrliche Ausführung der darauf bezüglichen Bestimmungen durch die einzelnen Mächte zu kontrollieren. Auch die Einsetzung eines Schiedsgerichtes für Differenzen zwischen den Mächten würde sich als unausführbar herausstellen, da kein Land prinzipiell darauf eingehen könnte, Streitfragen, welche seine Ehre oder seine Lebensinteressen berühren, der Entscheidung eines Dritten zu unterwerfen. „Ehe nicht das Unrecht von 1871 wieder gutgemacht ist, können die wahren Erben der französischen Revolution die Prinzipien des Grafen Murawiew nicht unterzeichnen", schrieb der „Temps", ähnlich äußerten sich andere Pariser Zeitungen. Aus Wien berichtete

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Erste Haager Friedenskonferenz 1899 der deutsche Botschafter Philipp Eulenburg dem Reichskanzler Hohenlohe, der österreichische Außenminister behandle „den russischen Abrüstungsvorschlag mit wohlwollender Heiterkeit" und später „Seine Majestät der Kaiser Franz Josef berührte bei meiner heutigen Audienz die Haager Konferenz, sich in recht abfälliger Weise über dieselbe aussprechend". Von einer längeren Audienz beim Sultan schrieb der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Marschall, dem Reichskanzler: „Ich fand den Sultan sichtlich präokkupiert von dem jüngsten russischen Abrüstungsvorschlag . . . Einen Gesamteindruck von der neuesten Tat des Grafen Murawiew und ihrer eventuellen Rückwirkimg auf das Ottomanische Reich hatte Abdul Hamid offenbar schon erhalten und der gipfelt in dem Mißtrauen, daß, wie bei so manchen früheren Konferenzen, wiederum Riemen aus türkischem Leder geschnitten werden sollen." Aus Washington meldete der deutsche Botschafter: „Das Abrüstungsprojekt Seiner Majestät des Kaisers von Rußland ist hier mit ebenso großem, mit skeptischen Empfindungen gemischtem Erstaunen aufgenommen worden wie in Europa, nur daß man sich dem Projekt viel objektiver gegenüberstellen kann, als dies in den meisten europäischen Staaten möglich ist. Über die dem Projekt zugrunde liegenden Ursachen vermag man sich keine Vorstellung zu machen und sucht sie deshalb nach gut amerikanischer Weise auf Gebieten, auf denen sie sicher nicht zu finden sind . . . Manche sagen auch, daß solch überraschende Friedensbotschaften schon oft in der Geschichte die Vorboten eines bald ausbrechenden Krieges gewesen und nur zu dem Zweck in Szene gesetzt worden seien, um das Gewissen zusalvieren." Aber so skeptisch auch die einzelnen Mächte die geplante Friedenskonferenz beurteilten, so sehr jede die Einmischung in die eigenen Angelegenheiten ablehnte, stimmten doch alle darin überein, die Konferenz müsse stattfinden, um den Zaren nicht zu kränken, bei der russischen Regierung nicht anzustoßen und um nicht Wasser auf die Mühle der Kriegs- und Rüstungsgegner im eigenen Lande zu lenken. Am 18. Mai 1899 wurde im Haag die Friedenskonferenz eröffnet; der Zar hatte davon abgeraten, die Konferenz in der Hauptstadt einer der von der Konferenz besonders berührten Mächte abzuhalten. Vertreten waren 26 Mächte, Deutschland durch den Botschafter in Paris, Graf Georg Münster, und den Professor für Völkerrecht an der Universität München, Karl von Stengel. Seine Ernennung zum zweiten Delegierten war ein Mißgriff des Auswärtigen Amtes. Von Stengel hatte kurz zuvor die Broschüre „Der ewige Friede" veröffentlicht, in der er die Hoffnung auf ihn als eine Utopie bezeichnete; der Krieg sei, wie aus der Bibel hervorgehe, ein wesentlicher Teil der göttlichen Ordnung und von unermeßlichem kulturellem Wert, Kriegsrüstungen ruinierten keine Nation. Diese Schrift wurde nun von vielen als das Programm der deutschen Regierung für die Haager Konferenz betrachtet. Bei Beginn ihrer Beratungen beschloß die Konferenz, je eine Kommission habe die Einschränkung der Rüstungen, die Festsetzung von Kriegsgesetzen und die dritte die Vermittlung und den fakultativen Schiedsspruch zu behandeln. Zur Einschränkung der Rüstungen schlug Rußland vor: 1. ein internationales Ubereinkommen, für fünf Jahre die Friedenspräsenzstärke der Truppen des Mut241 16 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik terlandes nicht zu erhöhen, 2. Festsetzung der Friedenspräsenzstärke der Armeen aller Mächte, die Kolonialtruppen nidit Inbegriffen, 3. Aufrechterhaltung des gegenwärtigen Militärbudgets für die gleiche Zeit von fünf Jahren. Der militärische Sachverständige der deutschen Delegation, Oberst Groß von Schwarzhoff, legte die Gründe dar, weshalb keiner der drei Punkte durchgeführt werden könne. Mit dieser Angelegenheit befaßte sich dann noch eine Unterkommission, in der Schwarzhoff ebenfalls die Unmöglichkeit einer Verwirklichung der russischen Vorschläge nachwies. Der Vorsitzende der Kommission fragte nun die übrigen Delegierten nach ihrer Meinung, und alle stimmten im wesentlichen der Auffassung Schwarzhoffs zu. Der Vorsitzende stellte schließlich fest, eine Einigungsformel sei nicht gefunden worden und deshalb sei ein vertieftes Studium der Frage durch die Regierungen zu wünschen. Die Hauptkommission erklärte sich einverstanden. Damit entfiel für die Haager Konferenz eine weitere Behandlung des russischen Antrags auf Rüstungsbeschränkung. Da der Wortführer der Antragsgegner ein Deutscher war, wurde damals und noch mehr später Deutschland von seinen Widersachern und von unbedingten Verfechtern des Pazifismus die Schuld am Scheitern des Abrüstungsplanes zugeschoben; immerhin fand er als „voeu" (Wunsch) Aufnahme in das Schlußprotokoll. Ergebnisreicher waren die Verhandlungen über die Humanisierung der Kriegführung. „Es soll verboten sein, Geschosse und Explosivstoffe aus Luftballone herabzuschleudern oder in ähnlicher Weise anzuwenden, ferner soll verboten sein, sich solcher Geschosse zu bedienen, deren einziger Zweck ist, Stickgase oder giftige Gase zu verbreiten oder solche Kugeln zu gebrauchen, die im menschlichen Körper explodieren." Überhaupt sollten die Bestimmungen der Genfer Rotkreuzkonvention von 1864 über die Art der Kriegführung zu Lande, die Behandlung der Kriegsgefangenen und Verwundeten ergänzt und auf den Seekrieg ausgedehnt werden. Vor eine sehr schwierige Lage, die Einführung eines Schiedsgerichtes, sah sich die dritte Kommission gestellt. Ursprünglich war nur ein fakultatives Schiedsgericht zur Vermeidung von Kriegen in Aussicht genommen, doch schlug dann der russische Delegierte der Kommission ein obligatorisches Schiedsgericht für bestimmte Fälle vor und nach ihm der englische Delegierte Pauncefote einen ständigen Schiedsgerichtshof, der „sich auf Anfordern der streitenden Nationen sofort versammeln könne"; vorsichtig fügte der Engländer allerdings hinzu, die Streitfragen dürften weder die Lebensinteressen noch die nationale Ehre der Vertragsmächte berühren. Da jeder Staat hierüber selbst zu entscheiden hatte, war das „obligatorisch" des Schiedsgerichtes im Grunde aufgehoben. An Einzelheiten, die dem Schiedsgericht unterliegen sollten, wurden unter anderem genannt: Auslegung von Staatsverträgen über Post, Telegraph, Eisenbahn, Schiffahrt auf internationalen Flüssen und Kanälen, Patente, Gesundheits- und Veterinärwesen, Münz- und Maßkonventionen, Bekämpfung der Reblaus, Grenzverträge, insoweit es sich bei all dem um rein technische, nicht um politische Fragen handle. Uber die in diesem Vorschlag angeführten und über weitere Anträge kam es zu langwierigen Debatten. Deutschland setzte schließlich durch, daß von dem ganzen 242

Erste Haager Friedenskonferenz 1899 obligatorischen Schiedsgericht Abstand genommen wurde. Von den zehn in der Unterkommission vertretenen Staaten hatten sich sieben für den von Pauncefote eingebrachten Antrag eines ständigen Gerichtshofes erklärt, Deutschland lehnte ihn jedoch ab, allerdings nicht grundsätzlich; es vertröstete auf die Zukunft, in der wohl die Menschheit für den Gedanken eines ständigen Gerichtshofes reif sein würde. Um nun den Plan eines Schiedsgerichtshofes nicht völlig scheitern zu lassen, wurde Deutschland aufgefordert, die Bedingungen anzugeben, unter denen es der Errichtung eines Schiedsgerichts zustimmen würde. Besonders um den Zaren nicht zu kränken, ging Deutschland darauf ein: es solle kein ständiger und kein obligatorischer Gerichtshof geschaffen werden, sondern eine Liste von Schiedsrichtern aufgestellt werden, aus denen jeweils ein Schiedsgericht gebildet werden könne. Kommission und Konferenz einigten sich auf dieser Grundlage. Das Schlußprotokoll der Friedenskonferenz wies darauf hin, daß „die Delegierten beständig von dem Wunsch geleitet waren, in möglichst erschöpfender Weise die hochherzigen Ideen des Urhebers der Konferenz zu verwirklichen", und führte die einzelnen, die Kriegführung usw. betreffenden Konventionen an, die von den bevollmächtigten Delegierten unterzeichnet und von den Regierungen genehmigt werden sollten. Das Protokoll unterzeichneten alle Delegierten, aber nicht die Konventionen, weil sich für sie mehrere Länder ihre Zustimmung für später vorbehielten. Am 29. Juli 1899 Schloß die Haager Friedenskonferenz. Mit Genehmigung Kaiser Wilhelms unterzeichnete der inzwischen zum Fürsten erhobene Botschafter Münster am 28. Dezember im Haag die Konventionen über friedliche Beilegung internationaler Konflikte, die Anwendung der Genfer Konvention auf den Seekrieg, das Verbot von Geschossen mit Stickgasen usw. Das Ergebnis der Konferenz wurde, wie schon ihre Ankündigung, von vielen skeptisch aufgenommen. Tatsächlich sind damals und später die Vereinbarungen der ersten Haager Friedenskonferenz nur in sehr geringem Maße eingehalten worden. Immerhin darf ihre Bedeutung nicht unterschätzt werden. Sie liegt freilich weniger in dem, was zunächst erreicht worden ist, als in dem, was angebahnt wurde. Seit der zweiten Haager Konferenz (S. 273) begann man zu erkennen, daß die Konferenz von 1899 den ersten Schritt in der Richtung auf eine allgemeine Völkerverständigung getan hat. Allerdings hielten sich die Mächte während des Ersten Weltkrieges nicht an den Vorschlag, keine Giftgase zu verwenden, und im Ersten wie im Zweiten nicht an den, daß keine Explosivstoffe aus Luftballons, an deren Stelle Luftschiffe und Flugzeuge getreten waren, herabgeschleudert werden sollten; aber in manchem, wie etwa in der Einhaltung von Bestimmungen des Roten Kreuzes, wurden doch Fortschritte erzielt, und nach Erfindung der Atomwaffen setzten alsbald Bemühungen ein, sie auszuschalten. Wohl sind wir vom „Ewigen Frieden" noch weit entfernt, und „humane" Kriegführung ist bis zu einem gewissen Grad ein Widerspruch in sich selbst, denn ein Krieg bringt nun einmal die Vernichtung von Menschen und Sachen mit sich, und die dabei wachgerufenen Leidenschaften verleiten nicht selten zu Greueltaten. Aber es ist doch ein großer Unterschied und führt zu einem anderen Verhalten in der Innenund Außenpolitik, ob der Krieg mit seinen Schrecken als unvermeidlich im Völ-

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Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik kerleben betrachtet und das Schlachtfeld als die Stätte verherrlicht wird, da sich, wie sonst nirgends, ein Mann bewährt und Ruhm erwirbt, oder ob man ihm grundsätzlich, soweit wie nur irgend möglich, vorbeugt und seine Greuel mildert. Internationale Vereinbarungen und Garantien für ihre Erfüllung sind hierfür Voraussetzung, und die erste Haager Konferenz war ein, freilich kleiner und zögernder, Schritt zu ihr. In der Schiedsgerichtskommission hatte der deutsche Vertreter Philipp Zorn, Professor für Völkerrecht in Königsberg, „ausdrücklich und feierlich betont, daß in dem Bestreben, den Frieden zu erhalten und alle den Frieden unter den Staaten wirklich fördernden Einrichtungen zu unterstützen, das Deutsche Reich sich von keinem Staat übertreffen lassen werde". Zorn gab sich trotzdem keiner Täuschimg darüber hin, daß „es nicht an Leuten fehlt, die nur auf den Moment warten, um Deutschland in der ganzen Welt als den einzigen Störenfried hinzustellen, der die auf Befestigung des Friedens gerichteten Bestrebungen durchkreuze". Nicht bloß Deutschland war davon überzeugt, daß eine allgemeine Rüstungsbeschränkung und ein obligatorisches Schiedsgericht nicht zu erreichen sei, aber Deutschland war der Wortführer bei ihrer Ablehnung und leistete damit der deutschfeindlichen Propaganda Vorschub. So haben die französische, die englische und die amerikanische Presse während des Ersten Weltkriegs der deutschen Regierung vorgeworfen, sie sei Schuld an diesem Kriege, weil sie, um ungestört ihre Weltherrschaftspläne verfolgen zu können, auf der Haager Friedenskonferenz die russische Anregung zu einem Rüstungsstillstand sabotiert habe, und es gab selbst in Deutschland nicht wenige, welche diese Auffassimg teilten. Aus nicht öffentlichen Äußerungen von Konferenzteilnehmern geht indes hervor, daß zwischen den deutschen und den übrigen Delegierten nur ein Unterschied der Taktik bestand, was der deutsche Marinedelegierte Kapitän zur See Siegel richtig erkannte: „Man überläßt anderen Staaten (Deutschland) das Odium der schroffen Ablehnung und behält sich sein eigenes Votum zunächst vor. Wenn dies dann schließlich auch eine Ablehnung ist, so kommt sie doch später, hat an Wirkung verloren und macht deshalb bei dem großen Publikum keinen besonderen Eindruck mehr." Der englische Marinedelegierte Sir John Fisher, so berichtet Siegel über ein Gespräch mit ihm, sei in diesem Gedanken noch weitergegangen: „Selbst wenn politische Gründe seine Regierung dazu führen könnten, dem Vorschlag (über die Unverletzlichkeit des Privateigentums zur See) zuzustimmen, so würde man sich doch im Ernstfall ohne jeden Zweifel nicht für gebunden erachten und über jede Konvention hinwegsetzen"; und ein andermal: „er habe seiner Admiralität von vornherein erklärt, daß er nur den einzigen Grundsatz kenne: might is right (Macht ist Recht)". Verschiedene der dem Abschluß der ersten Haager Konferenz alsbald folgenden Ereignisse ließen erkennen, daß auch die Annahme einer größeren Zahl von Vorschlägen noch keinen wesentlichen Einfluß auf die Entwicklung der internationalen Politik ausgeübt hätte. Schon unmittelbar nach der Konferenz reiste der französische Außenminister Delcassé nach Petersburg, erneuerte und bekräftigte das französisch-russische Militärabkommen von 1894. Dabei wurde jetzt auch die etwaige Aufteilung der durch die Nationa244

Burenkrieg litätenkämpfe schwer erschütterten österreichisch-ungarischen Monarchie beim Tode des hochbetagten Kaiser Franz Josef ins Auge gefaßt, vor allem sollte dann eine Vergrößerung Deutschlands verhindert werden. Vom Geiste der Haager Konferenz war diese Zusammenkunft Delcassés mit Murawiew gewiß nicht getragen, noch weniger das Vorgehen der Engländer gegen die Buren.

Der Burenkrieg Nach Beilegung der durch den Einfall Jamesons in Transvaal hervorgerufenen Zwischenfälle sandte die englische Regierung Lord Alfred Milner als Hochkommissar nach Pretoria. Seine offizielle Aufgabe, Überwachung der Einhaltung des Vertrags von 1884, beabsichtigte Milner von vornherein für eine Umwandlung der Transvaalrepublik in eine englische Kolonie zu benützen. Von allzu schroffem Vorgehen hielt ihn Chamberlain zunächst wegen damaliger außenpolitischer Schwierigkeiten Englands ab. Nachdem sich seine internationale Lage durch die Vereinbarung mit Deutschland Ende August 1898 und den Vertrag mit Frankreich vom 31. März 1899 gebessert hatte, die öffentliche Meinung in England jetzt auch entschiedenes Eingreifen in Transvaal forderte, ließ sich die Regierung dazu bewegen, Anfang September ihre Truppen in der Kapkolonie mit der Begründung zu verstärken, Präsident Krüger plane den Zusammenschluß der Kapkolonie, des Oranjefreistaates und Transvaals zu einem selbständigen Staat. Die Transvaalregierung verlangte am 9. Oktober 1899 in einem Ultimatum die Zurückziehung der ihr Land bedrohenden Truppen. England antwortete, diese Forderung sei indiskutabel, und nun begann der Krieg. Erst waren die Buren siegreich, aber seit Ende Februar 1900 hatten die englischen Truppen völlig die Oberhand, verheerten das Land, brannten die Farmen nieder, trieben die Zivilbevölkerung in Konzentrationslager, wo Tausende ums Leben kamen. Die öffentliche Meinung in den meisten europäischen Staaten, auch in Deutschland und in den Vereinigten Staaten von Amerika, nahm von Anfang an Partei für die Buren, nicht so die deutsche Regierung. Sie wies Mitte August 1899 ihren Konsul in Pretoria an, gegebenenfalls dem Präsidenten Krüger mitzuteilen, Deutschland werde sich in keiner Form in den Transvaalstreit hineinziehen lassen. Ende Oktober erging eine Kabinettsordre an die Generalkommandos: der Kaiser habe infolge eines Einzelfalles erklärt, er wünsche nicht, daß „preußische Offiziere des aktiven und Beurlaubtenstandes zur Zeit nach Südafrika beurlaubt würden. Auch solle möglichst darauf hingewirkt werden, daß verabschiedete preußische Offiziere nicht an den Kämpfen in Südafrika teilnähmen, damit auch jeder Anschein einer Verletzung der deutscherseits zu beobachtenden völligen Neutralität vermieden werde". Gegen Ende November besuchte Kaiser Wilhelm die Königin Viktoria in Windsor. Sein achttägiger Aufenthalt hatte im wesentlichen privaten Charakter; immerhin führte Bülow, der den Kaiser begleitete, eingehende politische Gespräche mit Chamberlain und Lord Balfour. Als Ergebnis dieses Besuches konnte der deutsche Botschafter in London, Hermann von Eckardstein, feststel245

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik len: der Besuch des Kaisers ist „trotz des unoffiziellen Charakters und der durchaus neutralen Stellungnahme S. M. des Kaisers und seiner Regierung zu dem südafrikanischen Kriege als ein erfreuliches Zeichen für die guten Beziehungen beider Mächte begrüßt worden". Die guten Beziehungen wurden freilich bald darauf gestört. Um die Jahreswende 1899/1900 brachten englische Kriegsschiffe deutsche Postdampfer auf, weil sie Konterbande an Bord hätten. Obwohl die deutsche Regierung sofort Einspruch erhob und nichts Verdächtiges gefunden wurde, gab England die Schiffe nur zögernd im Laufe von drei Wochen frei. Die englische Regierung beschwerte sich noch nachträglich über den schroffen Ton der deutschen Noten und gab über den Schriftwechsel ein Blaubuch heraus, das einen Sturm der Entrüstung in der englischen Öffentlichkeit entfachte; man war nun davon überzeugt, daß nicht nur die deutsche Presse, sondern auch die deutsche Regierung gegen England feindselig eingestellt sei. Zu diesem Mißtrauen trugen auch die seit Ausbruch des Burenkriegs fortwährenden Verdächtigungen Deutschlands von Seiten Rußlands und Frankreichs bei; beide versuchten, die schwierige Lage Englands für ein Vorgehen der Kontinentalmächte zugunsten der Buren und damit zu einer Schwächung Englands auszunutzen. Da Deutschland nicht darauf einging, kamen die Verhandlungen über die ersten Anfänge nicht hinaus. Jede der drei Regierungen versuchte nun die anderen bei England als Anstifter eines derartigen Komplottes hinzustellen. Die englische Regierung erkannte aber wiederholt an, daß für sie die ehrlich neutrale Haltung Deutschlands von großem Nutzen gewesen sei. Kaiser Wilhelm bewies sie auch darin, daß er ablehnte, Krüger, der ihn Anfang Dezember 1900 besuchen wollte, zu empfangen. Im Reichstag griffen ihn deshalb die Führer der Konservativen, der Antisemiten, der Alldeutschen und der Sozialdemokraten aufs heftigste an. Krüger versuchte während seiner Europareise, zu der er im Oktober aufgebrochen war, die französische, deutsche und holländische Regierung für eine Intervention bei England zu gewinnen. In Paris empfingen ihn der Präsident der Republik und der Außenminister, sie waren jedoch keineswegs zu einer Intervention bereit. In Köln jubelte die Bevölkerung Krüger zu, konnte aber nichts für ihn tun. In Amsterdam wurde er begeistert empfangen, und die beiden Kammern Hollands sprachen ihm, wie zuvor Abgeordnetenhaus und Senat in Paris, ihre Sympathie aus, wirksam helfen konnten sie ihm indes ebenfalls nicht. So gingen die Kämpfe in Transvaal, von den schwer bedrängten Buren nun als Guerillakrieg geführt, weiter. Die Engländer konnten Transvaal und den Oranjefreistaat besetzen. Im Mai 1902 bewilligten sie den kleinen Gruppen, die in den weiten Ebenen ausgeharrt hatten, einen ehrenvollen Frieden. Großbritannien versprach die Wiederherstellung der zerstörten Farmen, die englische und holländische Sprache sollten gleichberechtigt sein und allmählich völlige Selbstverwaltung unter britischer Flagge zugestanden werden. Die Farmen wurden dann auch wiederhergestellt und 1906 die Selbstverwaltung eingeführt. Vier Jahre später wurde fast der ganze Süden Afrikas in der Südafrikanischen Union zusammengefaßt. Im Ersten Weltkrieg standen Botha und Smuts, die als Burengenerale bis zum letzten Augenblick gegen die Engländer gekämpft hatten, an der Spitze 246

Boxeraufstand der englisch-afrikanischen Truppen, die Deutsch-Südwest- und Ostafrika eroberten, und in deren Reihen auch die Buren standen.

Der

Boxeraufstand

Während Kaiser Wilhelm, gewiß nicht zum Schaden Deutschlands, sich im Burenkrieg klug zurückhielt, ging er im Boxeraufstand höchst unbedacht vor. Die Zugeständnisse an Deutschland, Rußland, England und Frankreich, zu denen sich China 1898 gezwungen sah (S. 233) und deren Erweiterung es befürchtete, riefen eine sich rasch ausbreitende nationale Bewegung hervor. Kaiser Kwang-Shü wollte sein Reich durch Reformmaßnahmen stärken. Die Kaiserinmutter ließ jedoch im September 1898 einige Helfer des Kaisers verhaften, übernahm selbst die Regierung und hob die Reformedikte ihres Sohnes auf. Die lokalen Milizen wurden besser ausgebildet und sollten zur Verteidigimg gegen die Fremden eingesetzt werden. „Der chinesische Name dieser Miliz war I-ho T'uan, was übersetzt die ,gerechte und einträchtige Schar' bedeutet. Daß die jungen Männer, die sich für diesen Dienst anwerben ließen, sich zu sorgfältig ausgearbeiteten gymnastischen Übungen und Geheimriten verpflichteten, verleitete Missionare und Diplomaten zu der irrigen Auffassung, diese Organisation sei ein Teil einer der großen Geheimgesellschaften. Die Bezeichnung I-ho T'uan wurde übersetzt mit ,die Gesellschaft der einträchtigen Fäuste', daher der allgemein übliche Name Boxer" (Langer). Fremdenfeindliche Unruhen hatten schon früher wiederholt stattgefunden, bedrohliche Ausmaße nahmen sie seit Ende Mai 1900 an. Die Boxer überfielen Bahnarbeiter und eingeborne Christen; in den Eisenbahnen sahen die Chinesen, ähnlich wie ein halbes Jahrhundert zuvor viele Europäer, mannigfache Gefahren. Die Verbindung der Gesandten in Peking mit den in chinesischen Häfen liegenden ausländischen Geschwadern wurde abgeschnitten. Chinesische Soldaten von der Leibgarde der Kaiserin ermordeten am 18. Juni den deutschen Gesandten Klemens von Ketteier in Peking auf der Straße. Einige Tage später erließ die Kaiserin ein Edikt: „Wir führen jetzt mit den Ausländern Krieg. Die Boxer, Patrioten und das Volk sind gemeinsam mit den Regierungstruppen wiederholt in ihren Schlachten gegen die ausländischen Feinde siegreich gewesen." Zweifellos war der Kampf der Chinesen gegen die fremden Mächte ein Krieg, diese erklärten ihn jedoch aus taktischen und diplomatischen Gründen nur als einen Aufstand der Boxer, der niedergeworfen werden müsse. Darüber, wie dies geschehen solle, waren sich die Mächte zunächst nicht einig. England, durch den Burenkrieg gehemmt, wollte Japan vorschieben; Deutschland und Rußland, das sich mit China nicht verfeinden, aber auch seine mandschurische Bahn gegen chinesische Angriffe verteidigen mußte, lehnten dies ab. Kaiser Wilhelm hatte schon am 19. Juni an Bülow telegraphiert: „Peking muß regelrecht angegriffen und dem Erdboden gleichgemacht werden . . . Die ganze Aktion muß in eine feste Hand gelegt werden und zwar europäische." 247

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik Am 27. Juli besichtigte der Kaiser die für die Expedition nach Ostasien bestimmten deutschen Truppen und hielt dabei die, wie Biilow in seinen „Denkwürdigkeiten" schrieb, „schlimmste Rede jener Zeit und vielleicht die schädlichste, die Wilhelm II. je gehalten hat", die berüchtigte „Hunnenrede". Sie Schloß: „Kommt ihr vor den Feind, so wird derselbe geschlagen! Pardon wird nicht gegeben! Gefangene werden nicht gemacht 1 Wer Euch in die Hände fällt, sei Euch verfallen! Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, der sie noch jetzt in Uberlieferung und Märchen gewaltig erscheinen läßt, so möge der Name Deutscher in China auf tausend Jahre durch Euch in einer Weise bestätigt werden, daß niemals wieder ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen!" Damals rief diese Rede in deutschen wie in englischen Zeitungen — unter dem Eindruck grausamer Terrorakte russischer und englischer Truppen in der jüngsten Vergangenheit — gar nicht einmal ein solches Aufsehen hervor. Die „Frankfurter Zeitung" meinte nur, unter gewissen Umständen könne man im Kriege so etwas wohl tun, aber man sage es nicht, und der „Daily Telegraph" schrieb unter anderem: „Die Ansprache des deutschen Kaisers wird wahrscheinlich einen heilsameren Einfluß auf die Chinesen haben als mildere Erklärungen von anderer Seite." Nach Ausbruch des Ersten Weltkrieges aber wertete die französische, englische und amerikanische Propaganda diese Rede Wilhelms II. hemmungslos aus, und so entstand das Schimpfwort „Hunnen" für die Deutschen. Anfang August ernannte Kaiser Wilhelm den Feldmarschall Graf Waldersee zum Oberbefehlshaber der deutschen Truppen in China; nach einigem Sträuben waren auch die übrigen Mächte, Rußland, England, Frankreich, Japan, die Vereinigten Staaten, Österreich und Italien, bereit, ihre Kontingente Waldersee zu unterstellen. Als er Ende September in Tientsin, dem Peking am nächsten liegenden Hafen, eintraf, hatten die in China stehenden Truppen der verbündeten Mächte schon am 15. August gemeinsam Peking erobert, die in China stationierten Deutschen allerdings waren erst drei Tage später in die Hauptstadt Chinas eingerückt. Mit der Einnahme Pekings sah Rußland den Krieg als beendet an; ohne Rücksicht auf die anderen Mächte suchte es mit China in ein gutes Einvernehmen zu kommen, um die Mandschurei in seiner Hand zu behalten, die nur noch nominell bei China bleiben sollte. Am 26. August schlug Rußland allen Mächten vor, zur Wiederherstellung geordneter Zustände im chinesischen Reich die Gesandtschaften und alle übrigen Fremden demnächst aus Peking zu entfernen und nach Tientsin übersiedeln zu lassen. Der weitere Aufenthalt fremder Truppen in Peking würde damit überflüssig werden, weil dort niemand mehr zu beschützen wäre. Frankreich und die Vereinigten Staaten waren damit einverstanden. Der entschiedene Einspruch Deutschlands und Englands bewog Rußland, seinen Vorschlag zurückzuziehen, doch setzte es seine Sonderverhandlungen mit China fort. England befürchtete davon seine Zuriickdrängung in China und ging deshalb auf die Anregung Deutschlands ein, mit ihm über das Yangtsegebiet ein Abkommen zu treffen; am 16. Oktober wurde es unterzeichnet und beschränkte sich 248

Boxeraufstand nicht nur auf das Yangtsegebiet und auf Deutschland und England: 1. die Häfen an den Flüssen und an der Küste Chinas sollten den Angehörigen aller Nationen für den Handel und für jede sonstige erlaubte wirtschaftliche Tätigkeit frei und offen bleiben, und beide Regierungen erklärten sich miteinander einverstanden, dies selbst für alles chinesische Gebiet zu beobachten, wo sie einen Einfluß ausüben konnten; 2. die deutsche und die englische Regierung verzichteten darauf, die gegenwärtige Verwicklung zur Erlangung irgendwelcher territorialer Vorteile auf chinesischem Gebiet zu benutzen, sie würden vielmehr ihre Politik auf die unverminderte Erhaltung des Territorialbestandes Chinas richten; 3. falls eine andere Macht die chinesischen Komplikationen benutzen sollte, um unter irgendeiner Form solche territoriale Vorteile zu erlangen, behielten sich beide Kontrahenten vor, über etwaige Schritte zur Sicherung der eigenen Interessen in China sich zu verständigen; 4. die beiden Regierungen beschlossen, diese Übereinkunft den übrigen beteiligten Mächten mitzuteilen und sie einzuladen, den darin niedergelegten Grundsätzen beizutreten. Wesentliche Punkte des Abkommens vom 16. Oktober ließen sich nun freilich verschieden auslegen, so daß es erst recht zu weiteren Auseinandersetzungen in der Ostasienpolitik führen konnte, wodurch die beabsichtigte deutsch-englische Annäherung eher erschwert als erleichtert wurde. Einen Tag nach der Unterzeichnung des sogenannten Yangtseabkommens zog Waldersee in Peking mit großem Gepränge ein unter Beteiligung hoher englischer, amerikanischer, französischer, italienischer und österreichischer Offiziere. Als Oberbefehlshaber über die Truppen aller an der Chinaexpedition beteiligten Mächte stieß Waldersee auf mannigfache Schwierigkeiten; mit großem diplomatischem Geschick gelang ihm die Überwindung der häufigen Unstimmigkeiten und des gegenseitigen Mißtrauens der verschiedenartigen Elemente. Die Kriegführung beschränkte sich im wesentlichen auf heftige, meist mit großer Grausamkeit geführte Kämpfe gegen verschiedene Zentren der Boxer. Schließlich einigten sich die Mächte über die China zu stellenden Friedensbedingungen, welche am 24. Dezember in einer gemeinsamen Note der chinesischen Regierung mitgeteilt wurden. Die Verhandlungen zogen sich aber dann noch monatelang hin; wie der Nachfolger Kettelers als Gesandter in Peking, Mumm von Schwarzenberg, nach Berlin berichtete, sei, so versicherten ihm mit der chinesischen Ausdrucksweise vertraute Kollegen, eine „glatte Annahme irgendwelcher Bedingungen bei Chinesen völlig undenkbar und würde die betreffenden chinesischen Bevollmächtigten in ihren eigenen Augen und in denen ihrer Auftraggeber völlig diskreditieren. Eine lange Verhandlung müsse nach orientalischen Begriffen jedem Vertragsabschlüsse unbedingt vorhergehen und gehöre ,zur Wahrung des Gesichts'. Die meisten erhobenen Einwände seien bloße Phrasen und ließen sich mit Phrasen beantworten; à chinois chinois et demi" (auf einen Chinesen anderthalbe). Ende März 1901 schrieb Waldersee an Kaiser Wilhelm: da in Ostasien „englische und russische Interessen scharf gegenüberstehen, so halte ich die Gefahr nicht für ausgeschlossen, daß Deutschland durch die Anwesenheit seines Expeditionskorps in die Möglichkeit versetzt werden könnte, in Differenzen verwickelt zu werden, und scheint mir die Zurückziehung oder erhebliche Verminderung des 249

Kanzlerschaft Hohenlohes — Außenpolitik

deutschen Expeditionskorps, sobald der Stand der Unterhandlungen es irgend zuläßt, schon aus diesem Grunde sehr wünschenswert. Es sprechen für dieselbe aber auch erhebliche militärische Gründe. Spätestens am 15. Mai steigt die Temperatur auf 30 manchmal schon bis auf 40 Grad Celsius, und tritt mit dem 15. Juni bei weiter anhaltender Wärme in der Regel die Regenzeit ein, die militärische Operationen nahezu ausschließt. Zu den Dysenterien, die sich nach ärztlicher Meinung mit Beginn der Hitze einstellen werden, tritt dann wiederum der Typhus". Als sich die chinesische Regierung Ende Mai unter anderem zur Zahlung der von den Mächten geforderten Entschädigungssumme, zu Sühneleistungen für die Ermordung Kettelers, zur Bestrafung der Urheber des Aufruhrs und zur Überlassung eines ausschließlich für die Fremden bestimmten, verteidigungsfähigen Viertels in Peking verpflichtete, ordnete Kaiser Wilhelm die sofortige Durchführung der von ihm bereits vorgesehenen Befehle zur Auflösung des Oberkommandos und zur Verminderung des Expeditionskorps an. Waldersee fuhr am 3. Juni ab, nach einem elftägigen Aufenthalt in Japan kam er am 5. August in Hamburg an. Ein am 7. September 1901 von den Vertretern der Mächte und den Bevollmächtigten der chinesischen Regierung unterzeichnetes Schlußprotokoll, das die am 27. Mai von China eingegangenen Verpflichtungen bestätigte, stellte endlich den Friedenszustand zwischen den Mächten und China in aller Form wieder her. Über Einzelheiten, wie die Verteilung der chinesischen Kriegsentschädigung und die Räumung der von den Mächten noch okkupierten Gebiete Chinas wurde allerdings weiterhin verhandelt, teilweise bis in das Jahr 1903 hinein. Als positive Ergebnisse der Chinaexpedition konnte Waldersee in einem Bericht an den Kaiser anführen: „Daß die verbündeten Mächte, wenn auch Frankreich und Amerika nur unter gewissen Klauseln, sich einem deutschen Oberkommando untergeordnet haben, hat für Deutschlands Ansehen in ganz Ostasien hervorragenden, in der übrigen Welt immerhin doch einigen Eindruck gemacht." Durch das fast dreivierteljährige Zusammenleben deutscher Truppen mit den verbündeten Kontingenten, sind mancherlei Vorurteile gegen Deutschland, besonders von französischer Seite geschwunden. Das Zusammenleben von Offizieren und Mannschaften aus allen deutschen Staaten im Expeditionskorps während eines ganzen Jahres wird „von nachhaltiger Wirkung auf die Entwicklung eines kräftigen allgemein deutschen Gefühls innerhalb der ganzen Nation bleiben". Die Expedition nach Ostasien habe Armee und Marine „sehr schätzbare Erfahrungen sammeln lassen".

Rücktritt

Hohenlohes

Am 16. Oktober 1900 reichte Fürst Hohenlohe sein Entlassungsgesuch ein. Unter den Gründen, die ihn hierzu bewogen, führt er in seinen „Denkwürdigkeiten der Reichskanzlerzeit" als ersten an: „Die ganze chinesische Angelegenheit ist ohne meine Mitwirkung in Szene gesetzt worden . . . Alles, was auf die auswärtige Politik Bezug hat, wird von Seiner Majestät und Bülow beraten und be250

Rücktritt Hohenlohes schlössen." In seinem offiziellen Gesuch wies Hohenlohe nur auf sein hohes Alter von 81 Jahren und auf den schwankenden Zustand seiner Gesundheit hin. Schon am nächsten Tag bewilligte der Kaiser das Gesuch unter Verleihung des höchsten preußischen Ordens vom Schwarzen Adler mit Brillanten. Hohenlohe fiel der Abschied vom Reichskanzleramt und seinen übrigen Ämtern wie dem des Ministers der auswärtigen Angelegenheiten nicht schwer. Schon 1896 hatte er gelegentlich bemerkt: „Der Zweck meines Daseins im Reichskanzlerpalais ist kein anderer, als übereilte Beschlüsse hintanzuhalten"; ein Jahr später: „Will S. M. selbst regieren, so kann ich nicht als Strohmann figurieren"; und im September 1898: „Ich verliere mehr und mehr die Lust unter diesem Herrn weiter zu dienen." Das Wesentliche im Wirken Hohenlohes als Reichskanzler hatte der Herausgeber der „Deutschen Revue", Richard Fleischer, in einem Glückwunschschreiben zu Beginn des neuen Jahrhunderts hervorgehoben: „Ew. Durchlaucht haben das große und unvergängliche Verdienst, in einer Zeit, in welcher die extremen Elemente nach der Herrschaft streben, und in einer Zeit, in welcher durch die Arbeit mit dem Dampfe und mit der Elektrizität ein zu rasches Vorwärtsstreben und ein fast abenteuerlicher Zug nach neuen großen Taten hervortritt, die Staatsmaschine in ruhigem und geordnetem Gange zu halten." Nach der Entlassung schrieb Fleischer an Hohenlohe: „Für die Gegenwart bleibt vieles und vielleicht das Wichtigste verhüllt, was Ew. Durchlaucht im stillen gewirkt und verhütet hatten . . . Was Ew. Durchlaucht als Reichskanzler getan haben, werden vielleicht erst künftige Geschlechter voll und ganz verstehen." Die Methode Hohenlohes hat der Berliner Vertreter der „Times" in einem Artikel vom 12. März 1900 treffend geschildert: „Fürst Hohenlohe läßt den politischen Sturm rund um sich toben, bis der Augenblick der Entscheidung kommt. Dann schlägt er ein ihm vernünftig erscheinendes Kompromiß vor, und, wenn es nicht angenommen wird, verliert er kein Wort mehr darüber, sondern läßt ruhig den ganzen Gegenstand fallen." Diese Methode war nun freilich nicht dazu angetan, künftigen Geschlechtem das Urteil über die Kanzlerschaft Hohenlohes zu erleichtern. Kurz nach seinem Rücktritt sagte der Chef des kaiserlichen Zivilkabinetts, Hermann von Lucanus, zu Bülow: „Gott gebe, daß Ihre Ehe mit dem Kaiser gut geht. Mit Bismarck kam es nach kaum zwei Jahren zur Scheidung . . . Mit Caprivi ging es gar nicht... Mit Hohenlohe sah es schon besser aus, aber eigentlich doch nur, weil er sich vollkommen passiv verhielt. Eine solche Passivität des Reichskanzlers, des verfassungsmäßig einzig verantwortlichen Beamten im Reich, ist aber auf die Länge bedenklich." Völlig passiv hat sich indes Hohenlohe keineswegs verhalten, wie etwa seine Stellungnahme bei der Umsturzvorlage und bei der Zuchthausvorlage zeigt, auch ist der Kaiser mitunter dem Rate Hohenlohes gefolgt. Allerdings handelte es sich dabei jeweils um die Verhütung von Mißgriffen. Die Entfaltung weitausgreifender Initiative und die Bereitschaft, für das als richtig Erkannte unentwegt zu kämpfen, war von dem schon bei seinem Amtsantritt über Altersbeschwerden klagenden Fünfundsiebzigjährigen nicht zu erwarten. Ob nun schwerer wiegt, was der greise Kanzler an Schädlichem verhindert oder was er an Förderlichem unterließ, ist im Hinblick auf die Unberechenbarkeit Wilhelms, nicht zu entscheiden. 251

Die Reichskanzlerschaft Bülows

Persönlichkeit

Bülows

Kaiser Wilhelm ernannte am 17. Oktober 1900, am Tag der Verabschiedung Hohenlohes, den Grafen Bernhard von Bülow zum Reichskanzler. Geboren 1849, stand er nodi im besten Mannesalter. Mit 25 Jahren war er in das Auswärtige Amt eingetreten. Vom Legationssekretär allmählich zum Botschafter aufsteigend, hatte ihn seine diplomatische Tätigkeit nach Rom, Petersburg, Athen, Paris, Bukarest geführt. Durch die Ernennung zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes war Bülow 1897 zum Leiter der deutschen Außenpolitik geworden. Auf diesem Gebiete besaß er also eine reiche Erfahrung, die ihm um so mehr nützte, weil er eine scharfe Beobachtungsgabe, besonders für die Schwächen anderer, hatte. Das Wort beherrschte er meisterhaft, im ernsten sachlichen Meinungsaustausch und als geistreicher, witziger Unterhalter, ebenso in öffentlicher Rede. Dazu besaß er scharfen Verstand, umfassende Bildung, ein vorzügliches Gedächtnis, gewinnende Liebenswürdigkeit und die Kunst der Menschenbehandlung; Eigenschaften, die ihm auch für die ihm bisher fernerliegende Innenpolitik, bei Besprechungen mit Parteiführern und bei seinen Reichstagsreden sehr zustatten kamen. Dennoch zählt Bülow nicht zu den großen Staatsmännern; dem standen sein oberflächlicher Optimismus und sein ihn völlig beherrschender Ehrgeiz im Wege. Eine der vordringlichsten und schwierigsten Aufgaben der Reichskanzler unter Wilhelm II. bestand darin, den Kaiser vor Fehlgriffen zu bewahren, wozu er bei seiner impulsiven Art neigte. Immerhin war er, so sehr er sich jedermann überlegen dünkte und auf sein Gottesgnadentum als Monarch pochte, gutem Rat zugänglich und ertrug selbst Widerspruch, wenn ihm stichhaltige Gründe in einer sein Selbstgefühl nicht verletzenden Weise vorgelegt wurden. Lieber als auf unbequeme Mahner hörte er freilich auf ihn wirklich oder scheinbar bewundernde Jasager, zumal wenn sie eigene geistige Regsamkeit mit höfischem Wesen zu verbinden wußten. In dieser Hinsicht war Bülow der rechte Mann für den Kaiser, der ihn auch deshalb zum Reichskanzler ernannte. Leider hielt Bülow, wozu er wohl wie kaum ein anderer fähig gewesen wäre und wodurch er den Kaiser günstig hätte beeinflussen können, nicht die Mitte zwischen lobhudelnder Zustimmung und vorsichtiger, ernster Warnung; so daß im dritten Jahr der Kanzlerschaft Bülows der hervorragende Reeder Albert Ballin, der zu dem Freundeskreis Wilhelms II. gehörte, mit einer gewissen Berechtigung zu Waldersee sagen konnte: 252

Persönlichkeit Biilows „ B ü l o w ist ein Unglück für uns, er verdirbt den Kaiser völlig, indem er ihm dauernd die größten Schmeicheleien sagt und ihn so allmählich zu maßloser Selbstüberschätzung bringt."

AUSSENPOLITIK Deutsch-englische Bündnisverhandlungen

1901

Schon als Staatssekretär hatte sich Bülow mit der Frage eines deutsch-englischen Bündnisses auseinanderzusetzen (S. 236). Anfang 1901 nahm sie der englische Kolonialminister Chamberlain wieder auf. Hatzfeld berichtete hierüber am 18. Januar an das Auswärtige Amt, bei einem Zusammentreffen mit dem Botschaftsrat in London, Hermann von Eckardstein, habe der Kolonialminister folgende „bedeutungsvolle Äußerungen gemacht: er und seine Freunde im Kabinett seien sich jetzt darüber klar, daß für England die Zeit einer Politik der .splendid isolation' vorüber sei. England müsse sich für die Zukunft nach Bundesgenossen umsehen. Die Wahl sei zwischen Rußland-Frankreich und dem Dreibund. Sowohl innerhalb des Kabinetts als auch im Volke gäbe es Stimmen, welche einen Ausgleich sowie ein festes Zusammengehen mit Rußland wünschten und eifrig betrieben und bereit seien, zur Erlangung dieses Zieles einen sehr hohen Preis zu zahlen. Er selbst gehöre nicht zu denjenigen, welche einen Anschluß an Rußland wünschten, sondern sei der Überzeugung, daß ein Zusammengehen mit Deutschland sowie Anschluß an den Dreibund vorzuziehen sei. Er persönlich werde alles tun, um eine allmähliche Anbahnung in dieser Richtung herbeizuführen. Zunächst sei er dafür, daß ein geheimes Abkommen zwischen England und Deutschland in bezug auf Marokko auf der bereits früher erörterten Basis zustande käme". Chamberlain hatte, um zu verhindern, daß Frankreich sich Marokkos bemächtigte, Kaiser Wilhelm während dessen Aufenthalt in England Ende November 1899 ein englischdeutsches Abkommen vorgeschlagen, wonach Tanger an England fallen, und Deutschland sich an der atlantischen Küste Marokkos schadlos halten sollte. Die weltpolitische Lage Englands um 1901: Burenkrieg, russisch-englische Interessengegensätze in China, die Besorgnis, Rußland würde sich weiterer persischer Gebiete bemächtigen und die drohende Marokkokrisis, mußten Großbritannien das Ubergehen von seiner bisherigen Politik der „freien Hand" zu einer Bündnispolitik nahelegen; ebenso war es klar, daß dafür vor allem ein Zusammengehen mit Deutschland oder mit Rußland in Betracht käme. Da die deutsch-englischen Bündnisverhandlungen von 1898 zu keinem Ergebnis geführt hatten, beschloß die deutsche Regierung, sich abwartend zu verhalten bis zu einer Aussprache zwischen dem englischen Staatssekretär Lord Henry Charles Lansdowne und Eckardstein. Dazu kam es erst am 18. März. Eckardstein telegraphierte hierüber an das Auswärtige Amt in Berlin: Lord Lansdowne „sagte, daß er sich mit dem Gedanken befasse, ob es möglich sei, ein auf längere Zeit berechnetes Defensivarrangement zwischen England und Deutschland herbeizuführen. Er glaube, daß mehrere sei253

Kanzlerschaft Bülows — Außenpolitik ner einflußreichsten Kollegen einem solchen Gedanken günstig gegenüberstehen würden". Aus dieser Mitteilung Edcardsteins und dem auf ihn zurückgehenden Bericht Hatzfelds vom 18. Januar folgerte die deutsche Regierung, England suche jedenfalls einen Bündnispartner, und sie glaubte, fest davon überzeugt, eine Verständigung Englands mit Rußland über die zwischen ihnen stehenden Interessengegensätze sei ausgeschlossen, England werde auf die deutschen Bedingungen eingehen, so besonders darauf, auch mit Österreich und Italien, also mit dem gesamten Dreibund, ein Bündnis zu schließen. Edcardstein wurde deshalb zur Fortführung der Besprechungen mit Lansdowne in diesem Sinne angewiesen. Die ganze Angelegenheit war indes schon von vornherein dadurch verfahren, daß Eckardsteins Berichte mehr seinen Wunschbildern als der Wirklichkeit entsprachen und daher die ihm erteilten Weisungen von falschen Voraussetzungen ausgingen, deren Richtigstellung erst die 1927 veröffentlichten „British Documents" ermöglichten. Bereits bei Eckardsteins telegraphischem Bericht über seine erste Unterredung mit Lansdowne und dessen in die „British Documents" aufgenommenen Äußerungen zu Edcardstein „springt der Widerspruch zwischen den Berichten in die Augen. Nach Eckardstein hat Lansdowne die Initiative ergriffen und Andeutungen über seinen Wunsch nach einem englisch-deutschen Abkommen gemacht, nach Lansdowne hat Edcardstein das erste Wort gesprochen und zugleich eine klar umrissene Basis des Bündnisses gegeben. Nach Eckardstein wünschte Lansdowne das Bündnis, nach dessem eigenem Bericht ist der (englische) Staatssekretär in höchstem Grade skeptisch. Es ist kein Zweifel, daß Lansdownes Darstellung zutreffend ist" (Roloff). Infolge der Unehrlichkeit Eckardsteins, der Wahres und Falsches miteinander vermengte, bieten die mehrfach unterbrochenen, mit mannigfachen, schwer zu lösenden Problemen belasteten Verhandlungen ein in allen Einzelheiten nicht zu klärendes, widerspruchsvolles Bild. In großen Zügen läßt sich immerhin feststellen: die deutsche Regierung war durchaus zu einem Bündnis mit England bereit, da sie aber auf Grund von Eckardsteins Berichten meinte, der zu diesem Schritt aufgeforderte Teil zu sein, glaubte sie ohne weiteres ihre Bedingungen stellen zu können: das Bündnis müsse von dem englischen und dem deutschen Parlament bestätigt, Österreich und Italien und möglichst auch Japan in irgendeiner Form angeschlossen werden, ohne Rußland vor den Kopf zu stoßen. Von den englischen Regierungsmitgliedern war der Premierminister Salisbury überzeugt, die englische Lage erfordere keineswegs die Preisgabe der splendid isolation. Chamberlain, dem es vor allem auf eine deutsche Unterstützung in Ostasien gegen Rußland ankam, verlor das Interesse an Deutschland, als er merkte, daß es sich nicht gegen Rußland stellen wolle, und als sich die Verhandlungen mit Japan günstig gestalteten. Der Außenminister Lansdowne war einem englisch-deutschen Übereinkommen nicht abgeneigt, und da auf ihn die Unterredungen mit Eckardstein den Eindruck machten, Deutschland dringe auf ein Bündnis mit England, erbat er sich von ihm ein Memorandum über die deutschen Bedingungen und den Text des Dreibund Vertrages. Edcardstein konnte keinen der beiden Wünsche erfüllen, weil er dem Auswärtigen Amt gegenüber immer die Ini-

254

Deutsch-englische Bündnisverhandlungen 1901

tiative der Engländer betont hatte, und die deutsche Regierung deshalb auf die englischen Vorschläge wartete. So kam Lansdowne zu der Ansicht, die Deutschen trieben ein unehrliches Spiel. Selbst durch die Einschaltung des schwerkranken deutschen Gesandten Hatzfeld Ende Mai ging nichts vorwärts. Im Juni/Juli spielte die Marokkofrage mit hinein. Deutschlands Zurückhaltung dabei verstimmte die englische Regierung noch mehr. Dem Kaiser, dessen impulsives Eingreifen er fürchtete, hatte Reichskanzler Bülow von den bisherigen Verhandlungen nichts mitgeteilt; er unterrichtete ihn erst darüber, als im August ein Besuch Eduards VII., der seiner am 22. Januar 1901 gestorbenen Mutter, der Königin Viktoria, in der Regierung gefolgt war, bei dem deutschen Kaiserpaar bevorstand. Obwohl sich der Kaiser sofort mit großem Eifer für ein Bündnis einsetzte, und die Monarchen zwei längere Unterredungen hierüber führten, blieb es dabei, daß der Kaiser den deutschen und der König den englischen Standpunkt darlegte. Ihren Abschluß fanden die fruchtlosen Verhandlungen erst gegen Ende des Jahres. In zwei Denkschriften vom 22. November und 4. Dezember für die englische Regierung faßte Lansdowne die einem Defensivbündnis — nur um ein solches handelte es sich — mit Deutschland entgegenstehenden, unüberwindlichen Schwierigkeiten zusammen: den Bündnisfall jeweils ausreichend zu definieren sei unmöglich, ein Bündnis mit Deutschland würde England sicher Frankreich und Rußland entfremden, die Kolonien seien dem Bündnis abgeneigt, man liefe Gefahr, in eine Verwicklung mit Amerika zu geraten und die gegenwärtige parlamentarische Lage sei für den Abschluß des Bündnisses nicht günstig; immerhin könne man über bestimmte Fragen wie gemeinsame Politik im Mittelmeer und am Persischen Golf (dem geplanten Endpunkt der Bagdadbahn) Abkommen treffen. Das würde auf „wenig mehr als auf eine Erklärung zu gemeinsamer Politik und auf den Wunsch hinauslaufen, enge diplomatische Beziehungen aufrechtzuerhalten". Die deutsche Regierung wünsche wahrscheinlich mehr und werde solch einen Vorschlag ablehnen, was aber „kein großes Unglück wäre, und wir hätten ihr damit das Recht zu dem Vorwurf genommen, wir hätten sie abfahren lassen". Das englische Kabinett stimmte diesen Ausführungen zu. Am 19. Dezember fand die abschließende Besprechung Lansdownes mit dem Grafen Wolff-Mettemich, seit August Nachfolger Hatzfelds als deutscher Botschafter in London, statt. Metternich berichtete hierüber, er habe Lansdowne noch einmal die Vorteile des Bündnisses für England klargelegt und seiner Verwunderung Ausdrude gegeben, daß England im Sommer nicht zugegriffen habe, der Abschluß würde „den allgemeinen Frieden voraussichtlich für eine Generation sichergestellt haben . . . Wir würden also jeder unsere eigenen Wege zu gehen haben, ohne daß sich dieselben deswegen zu kreuzen hätten. Ich wisse vielmehr, daß meine Regierung den aufrichtigen Wunsch habe, in Freundschaft und Frieden mit England zu leben. Ob allerdings jemals eine Gelegenheit, wie sie im letzten Sommer sich geboten hätte, wiederkehren würde, könne niemand voraussagen. In der Politik wie in allem anderen gebe es keinen Stillstand, und wie es in zwei Jahren aussehen würde, wisse niemand". Nach Lansdownes Bericht an seine Regierung hat Metternich auf den Vorschlag, sich über Sonder255

Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik abkommen zu verständigen, ohne Zögern geantwortet, die deutsche Regierung werde nicht darauf eingehen, es handle sich um alles oder nichts. Ende Dezember beauftragte Eduard VII. den englischen Botschafter in Berlin, Kaiser Wilhelm mitzuteilen: „König Eduard wünsche nach wie vor, daß Deutschland und England in allen Punkten zusammengehen; dieses Zusammengehen aber in einem förmlichen Vertrag zu stipulieren, sei schwierig, da ein solcher Vertrag im House of Commons zweifellos auf große Bedenken und Weitläufigkeiten stoßen würde. König Eduard würde aber nicht nachlassen, in Gemeinschaft mit Seiner Majestät für die Wohlfahrt der Welt zu wirken." In seinem Brief vom 30. Dezember antwortete der Kaiser: „Mit Freuden stimme ich allem zu, was Du über unsere persönlichen Beziehungen und die unserer beiden Länder sagst; sie sind vom gleichen Blut, sie haben denselben Glauben und gehören zu der großen teutonischen Rasse, der vom Himmel die Kultur der Welt anvertraut ist; denn — abgesehen von den östlichen Rassen — ist Gott keine andere Rasse außer der unseren geblieben, um Seinen Willen in und auf der Welt auszuführen; das ist, meine ich, Grund genug, um Frieden zu halten und die beiderseitige Anerkennung und die Gegenseitigkeit in allem zu fördern, was uns zusammenführt, und alles zu vermeiden, was uns trennen könnte! Die Presse ist auf beiden Seiten fürchterlich, aber hier hat sie nichts zu sagen, denn ich bin der einzige Herr und Meister der deutschen auswärtigen Politik, und Regierung und Land müssen mir folgen . . . Möge Deine Regierung dies niemals vergessen und mich niemals in die Zwangslage (jeopardy) bringen, daß ich einen Weg wählen muß, der ein Unglück für beide, für Euch und für uns, werden könnte." Zu dem wesentlichen Punkt in der Botschaft König Eduards, der im Grunde einen formellen deutsch-englischen Bündnisvertrag ablehnte, hat sich Kaiser Wilhelm also nicht geäußert, und seine Bemerkung, er sei Herr und Meister der deutschen Außenpolitik, mußte den englischen König reizen, der auf das Parlament weitgehend Rücksicht zu nehmen hatte und seinem Neffen Kaiser Wilhelm so schon abgeneigt war. Mit Rücksicht auf seinen über alle Kontinente sich erstreckenden Kolonialbesitz und die Ausdehnungsbestrebungen der übrigen Mächte entschloß sich Großbritannien nach den ergebnislosen deutsch-englischen Verhandlungen, mit anderen Staaten Abkommen zu treffen, wodurch Reibungspunkte ausgeglichen würden, und was schließlich zu Freundschaftsbündnissen führte. Die 1902 einsetzende Bündnispolitik gewann auf die Entwicklung der Weltpolitik bis zum Ersten Weltkrieg mehr und mehr Einfluß und trug mit ihrer Auswirkung wesentlich zu der deutschen Katastrophe von 1918 bei. Wenn man auf deutscher Seite die Ursachen für dieses Umschwenken der englischen Außenpolitik zu ergründen suchte, kam man vielfach zu dem Ergebnis, daß, wie auch schon bei den Verhandlungen von 1898, das ungeschickte Verhalten der deutschen Regierung schuld gewesen sei an dem Abwenden Englands von Deutschland. Vor allem trug zu diesem Urteil bei das Erscheinen von Eckardsteins „Lebenserinnerungen und politische Denkwürdigkeiten" 1919/21. Eckardstein ging es in diesen Memoiren darum, seine Rolle bei den Bündnisverhandlungen in möglichst günstigem Licht erscheinen zu lassen und die des Auswärtigen Amtes als töricht und schädlich hinzustellen; er gab hier 256

Beginn der Isolierung Deutschlands eine die Wahrheit nodi mehr verzerrende Darstellung als früher in seinen offiziellen Berichten. Der Eindruck seiner „Enthüllungen" in den „Lebenserinnerungen" auf „die deutsche Öffentlichkeit war ungeheuer: welche ungeahnten, von uns selbst verscherzten Zukunftsmöglichkeiten taten sich da vor unseren Augen auf! Nur uns selbst also, das heißt der Diplomatie Bülows und seiner Berater hatten wir unser ganzes Unglück zu verdanken!" (Ritter). Aus der sorgfältigen kritischen Untersuchung der sechs Jahre nach Eckardsteins „Lebenserinnerungen" erschienenen „British Documents" ging jedoch einwandfrei hervor, daß von maßgebender englischer Seite ein Bündnisangebot im eigentlichen Sinne nicht erfolgt ist. Dieses Ergebnis fachwissenschaftlicher Forschung fand in der deutschen Öffentlichkeit allerdings nicht den Anklang wie Eckardsteins selbstgefällige Beschuldigung des Auswärtigen Amtes. Ganz hinwegzuleugnen ist andererseits nicht, daß um die Jahrhundertwende von der deutschen Regierung in ihren Beziehungen zu England doch audi tatsächlich Unterlassungsfehler begangen worden sind. Gewiß standen, wie Lansdowne in den Denkschriften für seine Regierung ausführte, einem „vollentwickelten Defensivbündnis" mit Deutschland „unüberwindliche Hindemisse" im Wege, aber Sonderabkommen für bestimmte Einzelfälle wären England erwünscht gewesen. Audi dazu verstand sich die deutsche Regierung nicht; unter anderem glaubte sie, die Gefahr, die in Asien von russischer und in Afrika von französischer Seite England drohten, werde es eine Annäherung an Deutschland suchen lassen. England aber überwand diese und andere Gefahren, gegen die es Sonderabkommen mit Deutschland hätte schützen sollen, durch seine Bündnispolitik, die sich aber anderen Partnern zuwandte und die für Deutschland so verhängnisvoll wurde.

Beginn der Isolierung

Deutschlands

Durch die Ausdehnung der russischen Interessensphäre in Ostasien fühlten sich England und Japan bedroht. Ende Januar 1902 schlossen sie ein Bündnis: „Unter Anerkennung der Unabhängigkeit und Integrität Chinas und Koreas erkennen beide Mächte sich gegenseitig das Recht zu, zur Wahrung ihrer speziellen Interessen gegen fremde Angriffe oder innere Unruhen alle erforderlichen Maßnahmen zu treffen. Wird bei Wahrung dieser Interessen eine der beiden Mächte in Krieg verwickelt, bleibt die andere neutral. Tritt eine zweite fremde Macht dem Krieg gegen den einen Verbündeten bei, soll ihm der andere zu Hilfe kommen und gemeinsam Krieg führen und Frieden schließen." Anfang August 1905 wurde das Bündnis erneuert und durch die Bestimmung verschärft, wenn der Partner auch nur von einem Feinde angegriffen würde, sollten beide Mächte gemeinsam vorgehen. Für England bedeutete dieses Abkommen eine beträchtliche Entlastung, es brauchte sich jetzt nicht mehr im Stillen Ozean eine gewaltige Flottenbasis zu schaffen, Japans Aufstieg schritt rasch vorwärts. Auf eine deutsche Hilfestellung in Ostasien war also England nicht mehr angewiesen; Deutschland verlor damit einen seiner Trümpfe im Kräftespiel der Großmächte. 257 17 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Kanzlerschaft Bülows — Außenpolitik Gleichzeitig erfuhr der Dreibund eine empfindliche Schwächung. Anfängliche Spannungen zwischen Italien und Frankreich waren durch ein Wirtschaftsabkommen (1898) behoben worden und durch die Vereinbarung von Mitte Dezember 1900, daß Frankreich Tripolis als italienisches und Italien Marokko als französisches Interessengebiet anerkenne. Der deutsche Botschafter in Rom, Graf Karl von Wedel, schrieb hierüber an Bülow: „In diesem wenigstens anscheinenden französischen Entgegenkommen liegt für Italiens Haltung in fernerer Zukunft eine ernste Gefahr." Die italienische Kammer billigte dann doch mit großer Mehrheit die Erneuerung des Dreibundes; befriedigt sagte darauf der italienische Außenminister Prinetti zu Wedel: „Während die Erneuerung des Bündnisses im Jahre 1891 zu heftigen Szenen in der Kammer geführt hätte . . . sei jetzt alles ruhig und friedlich verlaufen, und Eure Exzellenz als Kenner parlamentarischer Verhältnisse würden sicherlich den Wert dieses Ausgangs richtig einzuschätzen wissen." Die Erneuerung des Dreibundes in unveränderter Form wurde denn auch am 28. Mai zu Berlin von den drei Mächten unterzeichnet. Fünf Monate später sicherte Italien in einem Geheimvertrag Frankreich volle Neutralität zu, wenn es von einer dritten Macht, womit Deutschland gemeint war, angegriffen oder derart direkt herausgefordert würde, daß es zur Verteidigung seiner Ehre und Sicherheit den Krieg an Deutschland erklären müßte. Da sich der Fall einer direkten Herausforderung jederzeit unschwer konstruieren ließ, war mit dieser italienisch-französischen Vereinbarung, die erst durch ihre Veröffentlichung in den „Documents Diplomatiques" bekannt wurde, der Dreibund entwertet. Der Geheimvertrag mit Italien bedeutete für die französische Politik einen nicht zu unterschätzenden Erfolg, bald sollte ihr ein weit größerer beschieden sein: die Annäherung Englands an Frankreich, die durch das Faschodaabkommen (S. 235) eingeleitet worden war. Der französische Außenminister Theophile Delcassé war nun darauf bedacht, die so angebahnten guten Beziehungen mit Großbritannien enger zu gestalten, was durch die in England weit verbreiteten Sympathien für Frankreich sehr erleichtert wurde. Anfang Mai 1903 besuchte König Eduard VII. Paris. Zwei Monate später begannen bei dem Gegenbesuch des von Delcassé begleiteten Präsidenten der französischen Republik Emile Loubet in London die „englisch-französischen Verhandlungen über eine allseitige kolonialpolitische Verständigung, während bisher nur von französischen Versuchen, solche Verhandlungen herbeizuführen, die Rede sein kann" (Brenning). Es ging dabei hauptsächlich um Marokko und Ägypten. Am 8. April 1904 kamen die beiden Mächte überein: sie würden an dem Status quo in Ägypten und in Marokko nichts ändern (d. h. sich dieser Länder nicht als Kolonien bemächtigen); Frankreich werde dem Vorgehen Englands in Ägypten keine Schwierigkeiten mehr bereiten; England erkannte Frankreichs Recht an, zum Schutz seiner Kolonie Algier in Marokko die Ruhe aufrechtzuerhalten und den Sultan von Marokko bei der Durchführung von wirtschaftlichen, finanziellen und militärischen Reformen zu unterstützen. Da zugleich auch die übrigen zwischen England und Frankreich schwebenden strittigen Angelegenheiten in verschiedenen Kolonialgebieten Asiens, Amerikas, Afrikas und im Stillen Ozean geschlichtet wurden, stand einer „Entente cordiale" nichts mehr 258

Marokkofrage. Kaiserbesuch in Tanger im Wege. In dem Vertrag vom 8. April war auch vorgesehen, daß Frankreich eine Verständigung mit Spanien anstreben werde. Am 3. Oktober unterzeichneten Delcassé und der spanische Botschafter in Paris eine Erklärung, worin es hieß, die französische und die spanische Regierung hätten ein Abkommen getroffen, das den Umfang der Rechte und die Garantie der Interessen feststellt, die sich für Frankreich auf Grund seiner algerischen Besitzungen und für Spanien auf Grund seiner Besitzungen an der marokkanischen Küste ergeben; an der Integrität Marokkos würden beide Mächte festhalten. Der Wortlaut des Abkommens wurde bis 1911 geheimgehalten.

Marokkofrage.

Kaiserbesuch

in Tanger

Kaiser Wilhelm, der sich eben auf einer Erholungsreise im Mittelmeer befand, zeigte sich über das englisch-französische Abkommen besorgt. Es „gibt mir doch nach mancher Richtung hin zu denken", telegraphierte er am 19. April 1904 abends an Bülow. „Ich finde, daß die Franzosen den Vorteil ihrer augenblicklichen politischen Lage mit bemerkenswertem Geschick ausgenutzt haben. Sie haben es fertiggebracht, ohne das Band mit Rußland zu lockern, sich von England ihre Freundschaft teuer bezahlen zu lassen . . . Da unsere Handelsinteressen in Marokko bedeutend sind, hoffe ich, daß unsererseits für die nötigen Garantien gesorgt worden ist, damit unser Handel dort nicht leidet . . . Es ist nur natürlich, daß die zunehmende Freundschaft mit Frankreich und die sich daraus ergebende Sicherheit, daß von dieser Seite nichts zu befürchten ist, für England jede Rücksichtnahme auf uns mehr und mehr in den Hintergrund treten lassen wird." Der deutsche Geschäftsträger in Tanger, Richard von Kühlmann, machte Bülow Ende November darauf aufmerksam, falls Frankreich die ihm von England in dem Vertrag vom 8. April zugestandenen Rechte unbeschränkt ausübe, käme dies der Etablierung eines Protektorats über Marokko gleich. Eine derartige Schutzherrschaft war jedoch mit der Bestimmung der Madrider Konferenz von 1880 nicht vereinbar, nach der alle an ihr beteiligten Mächte, darunter Deutschland, in Marokko gleichbeteiligt sein sollten; 1890 hatte dann Deutschland einen Handelsvertrag mit Marokko abgeschlossen. Der Sultan war keineswegs gewillt, sich einem französischen Protektorat zu unterwerfen und rechnete dabei namentlich auf deutsche Unterstützung. Ende Januar 1905 berichtete hierüber Kühlmann an Bülow: „Ich habe bisher nirgends feststellen können, daß man in politisch urteilsfähigen marokkanischen Kreisen von Deutschland bewaffnete Hilfe gegen französische Aspirationen erwartet . . . Was die Marokkaner von uns erhoffen, ist eine moralische Anlehnung. Ihr Verteidigungssystem gegen französische Forderungen besteht einerseits in Mobilmachung und Verkörperung der konservativen öffentlichen Meinung: Einberufung der Notabelnversammlung, andererseits in dem Streben, wichtigere Fragen dem Doyen des diplomatischen Korps (dem italienischen Gesandten Malmusi) zur Begutachtung zu überweisen. Im diplomatischen Korps besteht die Majorität, welche so viel als möglich Erhaltung des Status quo und Internationali259 17·

Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik sierung wirtschaftlicher Unternehmungen mit Ausschluß von Monopolbestrebungen wünscht, aus Deutschland, Österreich, Italien, Spanien, Portugal und den Vereinigten Staaten. Die französische Auffassung wird teilweise durch Belgien, manchmal Rußland und England vertreten." Um den 20. März brachten deutsche und englische Zeitungen die Nachricht, Kaiser Wilhelm werde auf seiner Mittelmeerfahrt am 21. März zu einem kurzen Aufenthalt nach Tanger kommen. Die „Times" bemerkte dazu, der französische Gesandte habe dem Sultan zu verstehen gegeben, er vertrete nicht nur Frankreich, sondern in praxi ganz Europa; der Sultan habe daraufhin sofort den deutschen Vertreter um Auskunft ersucht und die deutsche Reichsregierung habe erklärt: „Deutschland sei nicht nur nicht beteiligt an irgendwelchen Abkommen betreffend Marokko, sondern habe offiziell auch nicht Kenntnis von dem Vorhandensein solcher Abmachungen, auch betrachte man es als selbstverständlich, daß die Integrität Marokkos gewahrt bleibe. Hierbei ist Deutschland sicher in seinem Recht, und der Erfolg ist, daß der deutsche Einfluß heute in Marokko der vorherrschende ist. Kaiser Wilhelms bevorstehender Besuch erregt in den Kreisen der Eingebornen große Befriedigung." Der Besuch des Kaisers stand indes noch nicht fest. Er selbst und seine Umgebung hatten Bedenken wegen der unzureichenden Hafenanlagen Tangers. Der Kaiser mußte deshalb zur Landung ausgebootet werden, was bei seinem verkrüppelten Arm, den er möglichst zu verbergen suchte, nicht ganz einfach war, ebenso das Reiten auf einem fremden Pferde in den engen Gassen der Stadt, auch befürchtete man Zwischenfälle, die dem Ansehen des Kaisers abträglich sein könnten, und war sich überhaupt im unklaren, ob der Besuch gute politische Folgen zeitigen würde. Nach mehrtägigem Zögern landete der Kaiser dann doch am 31. März in Tanger. Er wurde von dem Großoheim des Sultans feierlich empfangen. Der nur drei Stunden dauernde Aufenthalt verlief ohne Zwischenfall und befriedigte den Kaiser in jeder Weise. Sein Besuch hat, wie Graf von Tattenbach eine Woche später aus Tanger an das Auswärtige Amt berichtete, auf „die eingeborene Bevölkerung einen tiefen Eindruck gemacht. Sie erblickt im Kaiser den Abgesandten des Himmels, der die Mission hat, die Fremdenherrschaft von Marokko abzuwenden". So schien es, Bülow habe mit seinem wiederholten Drängen, besonders mit dem Hinweis vom 26. März: „Euer Majestät Besuch in Tanger steht augenblicklich im Mittelpunkt des Weltinteresses", den deutschen Kaiser gut beraten, und dieser gut daran getan, dem Rate zu folgen. Bald sollte sich jedoch zeigen, daß in diesem Falle sein Nachgeben, das Wilhelm II. im allgemeinen wenig lag, üble Folgen zeitigte. Zum Großoheim des Sultans hatte der Kaiser bei seinem Empfang gesagt, er „betrachte den Sultan als den Herrscher eines freien und selbständigen, keiner fremden Suzeränität unterworfenen Reiches, er erwarte für deutschen Handel und Verkehr die gleichen Vorteile wie für alle anderen handeltreibenden Nationen; er werde allerhöchst sich stets direkt mit dem Sultan auseinandersetzen". Mußte der Kaiser schon damit in Frankreich und England Anstoß erregen, so noch mehr durch seine Behandlung des französischen Geschäftsträgers in Marokko, Graf Chérisey, der ihn gewissermaßen im Namen Delcassés begrüßte. Auch 260

Russisch-japanischer Krieg Chérisey gegenüber betonte der Kaiser die Unabhängigkeit des Sultans, mit dem er sich direkt verständigen werde; er erwarte, daß seine berechtigten Ansprüche auch von Frankreich gebührend berücksichtigt würden. Da „erbleichte Chérisey, wollte antworten, wurde jedoch durch kurze Verabschiedung verhindert und zog gesenkten Hauptes ab". So wurde also durch den Tangerbesuch Kaiser Wilhelms die an und für sich abseits der großen Politik liegende Marokkoangelegenheit zu einer Machtfrage zwischen Frankreich und Deutschland. Die nächsten Monate waren erfüllt von ernsthaften Besorgnissen, daß es zu einem französisch-deutschen Krieg kommen werde. Vom rein rechtlichen Standpunkt aus ließ sich gegen die deutsche Stellungnahme nichts einwenden. Bülow hatte alle deutschen Gesandten immer wieder angewiesen, im Ausland klarzulegen, daß Deutschland in Marokko keinerlei territoriale Erwerbungen beabsichtige, daß es die englisch-französische Entente cordiale ruhig hingenommen habe, doch könne es nicht dulden, daß Frankreich den Status quo von Marokko ohne Zustimmung aller Vertragsstaaten der Madrider Konferenz von 1880 ändere. Zweifellos bestand auch die Gefahr, Frankreich werde in Marokko, wie zuvor in Tunis und Madagaskar, die Handelsfreiheit der anderen Staaten und vor allem den Erwerb staatlicher Konzessionen für den Bau von Eisenbahnen, Hafenanlagen und Bergwerken unterbinden. Die deutsche Regierung hoffte deshalb, wenn der Sultan, ermutigt durch die deutsche Rückendeckung, zu einer allgemeinen Konferenz einlade, würde ein großer Teil der Mächte Deutschland zur Seite stehen, Frankreich dadurch eine empfindliche Schlappe erleiden und so seine Entente cordiale mit England wertlos werden. Wie falsch diese Beurteilung der Mächte war, auf deren Beistand die deutsche Regierung rechnete, zeigte sich bereits bei den Vorverhandlungen zu der Konferenz von Algeciras. England ließ von vornherein keinen Zweifel, daß es zu Frankreich halten werde; die Vereinigten Staaten von Amerika, auf die Bülow große Hoffnungen gesetzt hatte, äußerten sich zwar entgegenkommend, waren aber im ganzen wenig interessiert; Rußland trat offen für Frankreich ein, auf dessen finanzielle Hilfe es jetzt nach dem verlorenen Krieg mit Japan besonders angewiesen war.

Der russisch-japanische Krieg Seit dem Frieden von Schimonoseki (S. 217) hatte sich der Gegensatz zwischen Japan und Rußland dauernd verschärft. Entgegen früheren Zusagen waren die Russen in der Mandschurei geblieben, an die Korea grenzte. Als Auswanderungsgebiet für seinen Bevölkerungsüberschuß und aus wirtschaftlichen Gründen trachtete Japan darnach, Korea ganz in seine Gewalt zu bringen. Die stetig anwachsende Zahl japanischer Siedler und Truppen beunruhigte Rußland besonders deshalb, weil es ein Vordringen Japans in die Südmandschurei befürchtete, und weil für die russische Flotte der Seeweg von Wladiwostok nach Port Arthur bedroht war, wenn sich Japan Koreas völlig bemächtigte. Nachdem die japanische und die russische Regierung seit August 1903 wiederholt vergebens miteinander 261

Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik verhandelt hatten, übergab der japanische Gesandte in Petersburg am 6. Februar 1904 eine Note seiner Regierung, in der diese erklärte, ihr bleibe nichts übrig, als die zwecklosen Verhandlungen abzuschließen, und sie behalte sich alle Maßregeln zur Verteidigung ihrer bedrohten Lage und Interessen vor. In der Nacht vom 8. zum 9. Februar griffen japanische Torpedoboote das russische Geschwader auf der Außenreede von Port Arthur an und beschädigten drei Schiffe. Damit hatte der Krieg begonnen. Um seiner Ausweitung entgegenzuwirken, überreichten der deutsche, der französische, der englische, der italienische und der amerikanische Gesandte gemeinsam den Vertretern Rußlands und Japans in Peking eine Note, der Krieg solle auf Korea und die Mandschurei beschränkt und nicht auf das eigentlich chinesische Gebiet hinübergespielt werden, was für die gesamte Weltpolitik unabsehbare Folgen haben könne. Im allgemeinen herrschte die Ansicht vor, Rußland werde siegen, hatte es doch 128 Millionen Einwohner gegenüber 48 Millionen Japanern; aber die bald einsetzende Revolution (S. 266) schwächte die russische Wehrkraft, während das ganze japanische Volk von einem fanatischen Nationalismus beseelt war. Das am 23. Februar mit Korea abgeschlossene Bündnis bot Japan wesentliche Vorteile für seine Kriegführung; an dem Kampf gegen die Russen brauchten sich jedoch die Koreaner nicht zu beteiligen, im übrigen wurden sie freilich von den Japanern ganz abhängig. Von kleineren Zwischenfällen abgesehen, siegten die japanischen Streitkräfte zu Lande und zu Wasser. Ende Mai 1904 begann die Einschließung von Port Arthur; nach vergeblichen Ausfällen und Entsetzungsversuchen der Russen eroberten die Japaner am 2. Januar 1905 die Festung. Von Korea aus erzwangen sie sich am 1. Mai 1904 den Übergang über den Jalu und schlugen die Russen Ende August bei Liaojang, Mitte Oktober am Schahofluß. Schwere Verluste in den blutigen Kämpfen um Mukden vom 14. Februar bis 10. März 1905 veranlaßten die Russen zum Rückzug in die Nordmandschurei, wohin ihnen die Japaner nicht mehr folgten; der Landkrieg war damit im wesentlichen beendet. Inzwischen war am 10. August 1904 die russische Fernostflotte teils vernichtet, teils außer Gefecht gesetzt worden, als sie, um der Einschließung im Hafen von Port Arthur zu entgehen, Wladiwostok zu erreichen gesucht hatte. Auf Befehl des Zaren sollte sie durch die baltische Flotte ersetzt werden. Diese befand sich nun freilich in einem Zustand, daß sie die weite Fahrt nicht sofort unternehmen konnte, und als sie nach langwierigen Vorbereitungen Mitte Oktober von Libau auslief, fehlte noch viel daran, daß sie der japanischen Flotte gleichwertig gewesen wäre. In der entscheidenden Seeschlacht vom 27. bis 29. Mai 1905 bei der Insel Tschushima zwischen Korea und Japan erlitten die Russen eine vernichtende Niederlage, von ihren 26 Schiffen entkamen nur vier. Der durch die Nichtemeuerung des Rüdcversicherungsvertrags zwischen Rußland und Deutschland eingetretenen Entfremdung war gelegentlich ein besseres Einvernehmen gefolgt. Der italienisch-französische Geheimvertrag von 1902 und das französisch-englische Abkommen vom 8. April 1904 bestärkten Kaiser Wilhelm und die deutsche Regierung in dem Wunsche, mit Rußland wieder ein Bündnis zu schließen. Im Herbst 1904 schien sich dafür eine Gelegenheit zu bieten. Auf

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Björkö-Abkommen ihrer Fahrt nach Ostasien beschoß die baltische Flotte in der Nordsee an der Doggerbank nahe der Hafenstadt Hull während der Nacht vom 21. zum 22. Oktober eine englische Fischerflotte, deren Dampfer die Russen für japanische Torpedoboote hielten. Englische und französische Zeitungen verdächtigten völlig ungerechtfertigt Deutschland, es habe durch übertriebene Warnungen vor japanischen Angriffen auf die baltische Flotte in der Nordsee die russische Marine absichtlich aufgeregt und dadurch den Zwischenfall bei Hull verschuldet. Die englische Regierung betrachtete ihn bald etwas ruhiger, aber in weiten Kreisen wurde Deutschland, wie der deutsche Botschafter in London nach Berlin berichtete, „wieder als der eigentliche Feind hingestellt". Die Aufregung über die Bekohlung der baltischen Flotte durch deutsche Schiffe legte sich nach kurzer Zeit, denn nicht „die deutsche Regierung lieferte die Kohlen, sondern die HamburgAmerika-Linie machte ein Privatgeschäft, mit dem die deutsche Regierung nichts zu tun hatte. Die englische Regierung soll doch zunächst die Ausfuhr von Cardiffkohle verbieten, wenn sie glaubt, daß durdi die englischen Kohlenlieferungen auf deutschen und englischen Kauffahrteischiffen die Neutralität verletzt wird. Dann hört die Zufuhr von selbst auf. Es ist seltsam, von deutscher Neutralitätsverletzung zu sprechen, wenn man sieht, daß die französischen Häfen der baltischen Flotte auf dem Wege zum Fernen Osten überall und für beliebig lange Zeit offenstehen" (Metternich).

Das Björkö-Abkommen Die durch den Doggerbank-Zwischenfall in England hervorgerufene Erregung veranlaßte Kaiser Wilhelm, Ende Oktober dem Zaren Nikolaus II. ein gegen Großbritannien gerichtetes Defensivbündnis vorzuschlagen, dem beizutreten auch Frankreich aufgefordert werden sollte, wenn die Einzelheiten des deutsch-russischen Bündnisses festgelegt wären. Grundsätzlich war der Zar einverstanden, doch verlangte er, daß Frankreich schon vor Abschluß des Bündnisses zwischen dem Kaiser und dem Zaren ins Vertrauen gezogen würde. Diese Bedingung lehnte Wilhelm II. mit Recht ab, weil zu befürchten war, Frankreich würde hierüber sofort nach England berichten, was die schlimmsten Folgen für Deutschland und Rußland haben konnte. Der Zar beharrte dagegen als Verbündeter Frankreichs auf seinem Standpunkt, was auch aus seinem Weihnachtsbrief an Kaiser Wilhelm hervorging. Resigniert schrieb dieser deshalb am 28. Dezember 1904 an Bülow: der Brief des Zaren „ist eine klare Absage an jeden Gedanken einer Verabredung ohne Vorwissen Galliens. Ein gänzlich negatives Resultat nach zweimonatiger, ehrlicher Arbeit und Verhandlungen. Der erste Mißerfolg, den ich persönlich erlebe". Ein halbes Jahr später erneuerte Kaiser Wilhelm aber doch den Versuch, den Zaren für das Bündnis zu gewinnen. Mit dem Rüdezug der Russen in die Nordmandschurei und der Vernichtung der baltischen Flotte war der russischjapanische Krieg auf einem toten Punkt angelangt. Die Japaner konnten nach den schweren Blutopfern, die sie ihre Siege gekostet hatten, nicht weiter nach Norden 263

Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik vordringen, zumal da die russische Armee jetzt in unmittelbarer Verbindung mit dem Heimatland stand, andererseits war auch die Aktionsfähigkeit der Russen durch die im Innern rasch fortschreitende Revolution gelähmt. Dies veranlaßte Kaiser Wilhelm, dem Zaren eine Zusammenkunft vorzuschlagen. Sie fand am 23./24. Juli 1905 bei Björkö, einer Insel in den finnischen Schären, auf des Zaren Jacht „Polarstern" statt. Die beiden Monarchen unterzeichneten hier ein Abkommen: „Falls eines der beiden Reiche von einer europäischen Macht angegriffen wird, wird ihm sein Verbündeter in Europa mit allen seinen Land- und Seestreitkräften beistehen . . . Dieser Vertrag tritt in Kraft, sobald der Friede zwischen Rußland und Japan geschlossen ist . . . Ist dieser Vertrag in Kraft getreten, wird Seine Majestät der Kaiser aller Reußen die nötigen Schritte tun, um Frankreich von diesem Vertrag in Kenntnis zu setzen und um es zum Beitritt als Verbündeter zu bewegen." Den nächsten Tag schrieb Kaiser Wilhelm begeistert an Bülow, wie er bei der Unterredung mit dem Zaren um einen Erfolg gebangt und wie er sich gefragt habe, als der Zar auf die Frage, ob er gleich unterzeichnen wolle, antwortete „Ja, ich will". „Mir stand das helle Wasser der Freude in den Augen — allerdings rieselte es mir auch von Stirn und Rücken herab — und ich dachte, Friedrich Wilhelm III., Königin Louise, Großpapa und Nicolai I., die sind in dem Augenblick wohl nahe gewesen? herabgeschaut haben sie jedenfalls, und gefreut werden sie sich Alle haben . . . So ist der Morgen des 24. Juli 1905 bei Björkoe ein Wendepunkt in der Geschichte Europas geworden dank der Gnade Gottes; und eine große Erleichterung der Lage für mein teures Vaterland, das endlich aus der scheußlichen Greifzange Gallien-Rußland befreit werden wird." Die Freude des Kaisers war freilich verfrüht. Bülow mißbilligte die Bestimmung des Vertrags, die Verbündeten hätten einander Beistand zu leisten „in Europa". Diese Einschränkung müsse wegfallen, telegraphierte Bülow dem Kaiser; denn wenn man in England erfahre, daß bei einem englischen Angriff die Russen Deutschland nur in Europa unterstützen, würden es die Engländer eher auf einen Zusammenstoß mit uns ankommen lassen, als wenn etwa auch Indien in Gefahr wäre. Bei den Auseinandersetzungen hierüber zwischen dem Kaiser und Bülow, der als Reichskanzler derartige Verträge gegenzuzeichnen hatte, reichte Bülow am 3. August sein Entlassungsgesuch ein. In seinem langen aufgeregten Antwortbrief schrieb Kaiser Wilhelm: „Da senden Sie mir ein paar kühle Zeilen und ihre Entlassung!!! Meinen Seelenzustand Ihnen zu schildern, werden Sie, lieber Bülow, wohl mir erlassen. Vom besten, intimsten Freund, den ich habe, so behandelt zu werden, ohne Angabe irgendeines stichhaltigen Grundes, das hat mir einen solchen fürchterlichen Stoß gegeben, daß ich vollkommen zusammengebrochen bin . . . Ihre Person ist für mich und unser Vaterland 100 000 mal mehr wert als alle Verträge der Welt. Ich habe sofort beim Kaiser (Nikolaus) Schritte getan, die diese beiden Worte (in Europa) abschwächen oder eliminieren sollen! . . . P. S. Ich appelliere an Ihre Freundschaft für mich, und lassen Sie nicht wieder etwas von Ihrer Abgangsabsicht hören. Telegraphieren Sie mir nach diesem Brief ,all right', dann weiß ich, daß Sie bleiben! Denn der Morgen nach dem Eintreffen Ihres Abschieds264

Friede von Portsmouth. Russische Revolution 1905 gesuches würde den Kaiser nidit mehr am Leben treffen! Denken Sie an meine arme Frau und Kinder!" Bülow blieb. Die Auseinandersetzungen zwischen dem Kaiser und dem Auswärtigen Amt über Fortlassung oder Änderung des „in Europa" wurden gegenstandslos, als der Zar am 7. Oktober 1905 Kaiser Wilhelm schrieb, die Unterzeichnung des Friedensschlusses mit Japan stünde nun in wenigen Tagen bevor und damit der Zeitpunkt, an dem der Björkövertrag in Kraft treten solle. Die große Schwierigkeit sei nun aber, Frankreich dafür zu gewinnen; wenn dies nicht gelänge, wäre Rußland verpflichtet gegebenenfalls Deutschland auch gegen Frankreich, den russischen Bundesgenossen, beizustehen. Tatsächlich verlangte der Zar sechs Wochen später, dem Björkövertrag müsse die Deklaration angefügt werden, Rußland sei nicht verpflichtet, Deutschland gegen Frankreich beizustehen. Kaiser Wilhelm erkannte sofort die Tragweite dieser russischen Forderung; am 26. November schrieb er an Bülow: „Die beiliegende Deklaration' ist eine direkte Annullierung des Vertrags im Falle eines Krieges mit Frankreich . . . Da Frankreich allein uns niemals angreifen wird, sondern nur im Verein mit England, von diesem angehetzt, so würde sich der Zar auch im Falle eines Krieges von uns mit England, bei dem wir Gallien angreifen müssen, sofort hinter die Deklaration verschanzen und den beiden Mächten beispringen, weil er seinem Verbündeten treu bleiben muß. Die Coalition ist de facto da! Das hat King Eduard VII. doch fein gefingert. Jetzt stehen den Galliern Landstreitkräfte ad libitum zur Verfügung." Die Hoffnung auf ein deutsch-russisch-französisches Kontinentalbündnis war damit endgültig gescheitert.

Oer Friede von Portsmouth. Die russische Revolution 1905 Seit August 1904 hatte die deutsche Regierung mit dem Präsidenten der Vereinigten Staaten, Theodor Roosevelt, in Meinungsaustausch gestanden über die Notwendigkeit der Aufrechterhaltung und Kräftigung der durch den russischjapanischen Krieg bedrohten Grundsätze: die Integrität Chinas und die Politik der offenen Tür im Fernen Osten im Sinne der Freiheit des wirtschaftlichen Wettbewerbs für alle Nationen. Anfang Januar 1905 ließ Bülow dem Präsidenten vorschlagen, er solle sich von allen in Betracht kommenden neutralen Mächten versichern lassen, sie würden von China keinerlei Kompensationen für irgendwelche Friedensvermittlungen beanspruchen. Roosevelt folgte diesem Rat, und die Regierungen von Großbritannien, Italien und Frankreich legten sich darauf fest. Rußland und Japan zeigten sich erst Anfang Juni, als der Krieg auf einem toten Punkt angelangt war, bereit zu Friedensverhandlungen. Am 5. August traten zu Portsmouth im nordamerikanischen Staat New Hampshire die russischen und japanischen Delegierten zusammen, mittelbar wirkten Roosevelt und Kaiser Wilhelm erheblich auf den Gang der Verhandlungen ein, die am 5. September 1905 zur Unterzeichnung des Friedensvertrags führten, der unter anderem die Bestimmungen enthielt: Rußland anerkennt, daß vom politischen, militärischen und 265

Kanzlerschaft Bülows — Außenpolitik

verwaltungsrechtlichen Standpunkt aus die Interessen Japans in Korea vorherrschend sind; die russischen Unternehmungen in Korea genießen die gleichen Rechte wie die Unternehmungen der Staatsangehörigen anderer Länder. Die russische Regierung erklärt, daß sie in der Mandschurei keine territorialen Vorteile, Vorzugskonzessionen oder ausschließliche Konzessionen besitzt, die die chinesische Souveränität beeinträchtigen oder unvereinbar mit dem Grundsatz der Gleichberechtigung sind. Die russischen Pachtgebiete von Port Arthur und die an Dairen grenzenden Gebiete und Gewässer gehen gänzlich auf Japan über; die von privaten Personen und Gesellschaften erworbenen Rechte sollen unberührt bleiben. Rußland tritt die südliche Hälfte der Insel Sachalin an Japan ab. Auf eine Kriegsentschädigung hatte Japan bereits während der Friedensverhandlungen verzichtet. Der russisch-japanische Krieg hatte für die beiden beteiligten Mächte und für die Entwicklung der Weltpolitik weittragende Folgen. Japan war nun eine Großmacht geworden und wurde als solche allgemein anerkannt. Auf die Dauer begnügte es sich nicht mit der Schutzherrschaft über Korea, 1910 annektierte es Korea und gliederte es sich als Kronkolonie völlig ein. Die Erneuerung seines Bündnisses mit England von 1902 in verschärfter Form (S. 257) ·—• die Klausel über die Unabhängigkeit Koreas war jetzt gegenstandslos geworden — sicherte Japan die Vorherrschaft in Ostasien. Da gegen sie offensichtlich nicht mehr aufzukommen war, wandte sich Rußland, zumal nach dem verlorenen Krieg, in verstärktem Maße der Balkanpolitik zu, wovon besonders Österreich und damit auch Deutschland berührt wurden. Für die Weltpolitik hatte späterhin eine Begleiterscheinung des russisch-japanischen Krieges schwerstwiegende Folgen: die russische Revolution von 1905. Bereits im Oktober 1904 kam es bei Einberufung der Reservisten zu Tumulten; bei Massenansammlungen ertönten aus der Menge Rufe wie „Gott segne Japan!", „Es lebe Japan!", „Nieder mit dem Zaren!". Im Dezember wurden bei gemeinsamen Demonstrationen von Studenten, Studentinnen und Arbeitern rote Fahnen entfaltet. Ende Dezember protestierte eine Versammlung der Intelligenz gegen den japanischen Krieg und forderte eine parlamentarische Vertretung. Mit einem blutigen Zusammenstoß zwischen Arbeitern und Militär in Petersburg am 22. Januar 1905 begann die eigentliche Revolution. Im wesentlichen endete sie um Weihnachten durch die Niederlage der streikenden Moskauer Arbeiterschaft, die hauptsächlich von gerade aus der Mandschurei zurückgekehrten Truppen in einer großen Straßenschlacht überwältigt wurde. Die Führer der Revolution, unter ihnen Lenin und Stalin, wurden nach Sibirien verbannt. Die Russische Sozialdemokratische Arbeiterpartei hatte sich auf ihrem Londoner Kongreß von 1903 in die Gruppen der Bolschewiki (Mehrheit) und der Menschewiki (Minderheit) gespalten; Lenin war seitdem das Haupt der Bolschewiki. Erste Marokkokrisis.

Die Konferenz

von

Mgeciras

Kurz nach dem Tangerbesuch Kaiser Wilhelms hob Bülow im Hinblick auf Delcassés gegen Deutschland gerichtete Bestrebungen als Hauptpunkte für die 266

Erste Marokkokrisis. Konferenz von Algeciras Fortsetzung der Marokkopolitik hervor: „1. Ablehnung territorialer Ansprüche, 2. Verlangen wirtschaftlicher Gleichberechtigung aller Staaten . . 3 . Trumpfkarte in unserer Hand ist aber der Hinweis, daß sämtliche europäische Mächte mitsamt den Vereinigten Staaten von Amerika wiederholt in Konferenzen über marokkanische Angelegenheiten beraten und Verträge abgeschlossen haben." Am 6. April wies Bülow den deutschen Geschäftsträger in Tanger an, darauf zu dringen, daß der Sultan sich an sämtliche Vertragsmächte mit dem Antrag wende, sie sollten auf einer Konferenz die französischen Reformvorschläge begutachten. In Frankreich war man über den Tangerbesuch des Kaisers und die daran anknüpfenden französischen und deutschen Presseäußerungen derart erregt, daß Mitte April mit der Möglichkeit eines französisch-deutschen Krieges gerechnet wurde. Als der französische Sozialistenführer Jean Jaurès in der Kammer Delcassé vorwarf, dieser habe es versäumt, sich mit Deutschland zu verständigen, suchte Delcassé seine Gegner zu beschwichtigen, er habe sich in der marokkanischen Angelegenheit mit dem deutschen Vertreter ausgesprochen. Am gleichen Tag sagte der französische Botschafter in Berlin zu einem Beamten des Auswärtigen Amtes, die Handelsfreiheit in Marokko solle allen Staaten unbeschränkt erhalten bleiben, doch habe Frankreich, durch Algier Nachbar von Marokko, Anspruch auf eine Vorzugsstellung in Marokko, die aber den bestehenden Rechten Deutschlands keinen Schaden zufügen würde. Wirklich beruhigend konnte aber weder diese noch Delcassés Erklärung wirken. Bülow telegraphierte deshalb an den Leiter der Gesandtschaft in Tanger: „Um das in den letzten Monaten allenthalben zutage getretene Gefühl des Mißtrauens und der Unsicherheit zu beseitigen, schiene uns das einfachste und natürlichste Mittel die Herbeiführung eines Gedankenaustausches sämtlicher Mitunterzeichner (der Madrider Konferenz von 1880). Es ist nunmehr hohe Zeit, daß der Sultan sich endlich entschließt, seinen Konferenzantrag zu stellen." Delcassé, dem eine Konferenz höchst unerwünscht war, versuchte durch italienische Vermittlung Sonderverhandlungen mit Deutschland zu erreichen; Bülow lehnte sie jedoch entschieden ab, weil sich die deutsche Regierung den anderen Mächten gegenüber auf die vertragsmäßige Kollektivität festgelegt habe. Ende Mai 1905 erließ der Sultan an alle in Betracht kommenden Mächte die Einladung zu einer Konferenz, um über die Einführung der vom Sultan beschlossenen Reformen und ihre Kosten zu beraten, im Laufe des Juni und Juli nahmen die einzelnen Regierungen, großenteils allerdings sehr zögernd, die Einladung an. Besonders Delcassé sträubte sich gegen die Konferenz; selbst auf einen Krieg mit Deutschland wollte er es ihretwegen im Vertrauen auf englische Waffenhilfe ankommen lassen, hieß es doch, Eduard VII. habe im April vor seiner Reise nach Paris erklärt, England sei bereit, mit seiner ganzen Macht die französische Politik in Marokko und die Ausführung des französisch-englischen Abkommens zu unterstützen, und im Oktober veröffentlichte der „Matin" Enthüllungen Delcassés, wonach „England der französischen Regierung das mündliche Versprechen gegeben habe, im Falle eines deutschen Angriffs auf Frankreich seine Flotte mobil zu machen, den Kaiser-Wilhelm-Kanal zu besetzen und 100 000 Mann in Schles267

Kanzlerschaft Bülows ·— Außenpolitik wig-Holstein zu landen." Nun waren audi damals die Franzosen im allgemeinen gewiß nicht deutschfreundlich gesinnt, aber die meisten scheuten einen Krieg mit Deutschland und hielten nicht viel von dem wirklichen oder angeblichen Hilfsangebot Englands. Delcassé trat am 6. Juni 1905 zurück, weil das Kabinett seine Stellungnahme in der Marokkofrage mißbilligte; Ministerpräsident Rouvier übernahm jetzt auch das Ministerium des Auswärtigen. Mitte Mai hatte der deutsche Botschafter in Paris, Hugo Fürst von Radolin, Rouvier darauf hinweisen lassen, wenn „ihm wirklich daran gelegen sei, unter allen Umständen bessere Beziehungen nachhaltig zwischen Deutschland und Frankreich zu schaffen, dies nur möglich sei, wenn an der Spitze des Auswärtigen Ministeriums eine Persönlichkeit wäre, in die die kaiserliche Regierung volles Vertrauen habe. Dies sei gegenwärtig nicht der Fall". Durch Delcassés Rücktritt und Rouviers Übernahme des Außenministeriums war nun zwar ein wesentliches Hemmnis für eine deutschfranzösische Verständigung in der Marokkofrage beseitigt, der Weg zu ihrer Klärung aber noch nicht geebnet. Schon bei der ersten längeren Unterredung, die Radolin mit Rouvier als Minister des Auswärtigen hatte, erklärte dieser, eine Konferenz könne nur in Betracht kommen, wenn vor ihr eine deutsch-französische Aussprache über die in Marokko einzuführenden Reformen stattgefunden habe. Radolin erwiderte darauf, Deutschland wäre dem Sultan gegenüber gebunden, nachdem es dessen Vorschläge akzeptiert und ihn zur Konferenzeinladung ermutigt hätte. Deutschland würde mit seiner ganzen Macht hinter dem Sultan stehen, um seine Unabhängigkeit zu gewährleisten, falls Frankreich die Beschickung der Konferenz ablehne. Nach weiteren Auseinandersetzungen zwischen Berlin und Paris, dem deutschen Botschafter in Washington mit Roosevelt, Berichten der Vertreter Deutschlands in Rom und London, teilte Rouvier am 1. Juni Radolin mit, er „hätte nach längeren schwierigen Verhandlungen den Entschluß gefaßt, im Sinne unserer Wünsche die bisherigen Bedenken gegen die Konferenz fallenzulassen und die Einladung zu derselben formell anzunehmen". Außerdem überreichte Rouvier eine Note, worin er die Grandsätze für die Konferenz darlegte. Die Verhandlungen über das Programm zogen sich indes fast noch drei Monate lang hin. Schließlich griff der russische Ministerpräsident, Graf Sergej Witte, auf der Rückkehr von den Friedensverhandlungen in Portsmouth um den 20. September vermittelnd ein. Als er in Paris eine Anleihe für Rußland in die Wege zu leiten suchte, äußerten die Bankiers Bedenken wegen der noch immer schwebenden Marokkofrage. Witte wandte sich deshalb an Radolin und an französische Staatsmänner, bei seiner Weiterreise auch an Bülow und Kaiser Wilhelm. Wenn Witte auch nicht, wie er sich rühmte, die Konferenz von Algeciras angeregt und durchgesetzt hat, gelang ihm doch, ein weiteres Entgegenkommen Deutschlands gegenüber Frankreich in der Verfahrensweise des Konferenzprogramms zu erreichen. Am 28. September konnte die deutsch-französische Verständigung über das Programm für die demnächst vom Sultan einzuberufende Konferenz abgeschlossen werden; Anfang Oktober wurde der Sultan von Deutschland und Frankreich aufgefordert, die Konferenz auf Grund des Programms nach Algeciras in Spanien einzuberufen und die Einla268

Erste Marokkokrisis. Konferenz von Algeciras düngen an sämtliche Signatarmächte der Madrider Konferenz von 1880 und auch an die russische Regierung ergehen zu lassen. Jetzt erhob der Sultan eine Reihe von Einwänden, am 22. Oktober erklärte er sich dann dodi mit Algeciras als Verhandlungsort einverstanden und versprach die Ausführung der Konferenzbeschlüsse. Die Konferenz begann am 16. Januar 1906 in Algeciras. Uber die Grundprinzipien einigte man sich rasch: Integrität des marokkanischen Reichsgebietes, Unabhängigkeit des Sultans und Politik der offenen Tür für Handel und Wandel; ebenso konnte bald Übereinstimmung erzielt werden wegen der Unterdrückung des Waffenschmuggels, der Maßregeln zur Hebung und Reform der marokkanischen Staatseinkünfte. Dagegen stießen auf große Schwierigkeiten die Organisation der Polizei, die Errichtung einer Staatsbank, die unter Beteiligung der Konferenzmächte eine sichere Grundlage für die marokkanischen Finanzen bilden sollte. Deutschland war bereit, Frankreich in den an Algier grenzenden Gebieten eine Sonderstellung einzuräumen, forderte aber die Gleichberechtigung aller beteiligten Mächte in den anderen Teilen des Landes. Frankreich suchte dagegen die Leitung des gesamten marokkanischen Finanz- und Polizeiwesens in seine Hand zu bekommen; damit wären die Unabhängigkeit des Sultans und die Gleichberechtigung der übrigen Mächte illusorisch geworden. Bei seinen Bemühungen, dies zu verhindern, konnte Deutschland einzig auf den Beistand Österreichs rechnen. Italien verhielt sich wegen seines Geheimvertrags mit Frankreich von 1902 zurückhaltend. Dem deutschen Geschäftsträger in Madrid erklärte der spanische Unterstaatssekretär d'Ojeda: „Wir können nicht gegen Frankreich vorgehen" und wies dabei auf das spanisch-französische Abkommen von 1904 hin. Frankreich traf bereits Kriegsvorbereitungen, deren Ausmaß die Pariser Presse allerdings stark übertrieb. Die englische Regierung ließ weder Deutschland noch Frankreich in Zweifel, daß sie an der Entente cordiale festhalten und Frankreich bei einem sich aus der Marokkofrage ergebenden Krieg unterstützen würde, auch besprachen sich bereits französische und englische Militär- und Marinesachverständige über ein gemeinsames Vorgehen; immerhin drückte Außenminister Sir Edward Grey wiederholt den Wunsch aus, die Algeciraskonferenz möge nicht ergebnislos verlaufen und sich dann die Beziehung zu Deutschland freundschaftlich gestalten. Rußland hatte an Marokko selbst nur geringes Interesse, aber es war mit Frankreich verbündet und auf dessen finanzielle Hilfe dringend angewiesen; deshalb und wegen seiner inneren und äußeren Lage nach Japans Sieg widerstrebte Rußland jeder kriegerischen Verwicklung; so stellte es sich ganz auf die Seite Frankreichs und riet Deutschland zum Nachgeben. Mit den Vereinigten Staaten stand Bülow in regem Meinungsaustausch, und Präsident Roosevelt machte auch verschiedene zweckmäßige Vermittlungsvorschläge, doch klagte der deutsche Delegierte in Algeciras, daß der amerikanische Vertreter nicht aus seiner Reserve herausträte. Sie war dadurch bedingt, daß in den Vereinigten Staaten die Auffassimg vorherrschte, die Konferenz sei eine europäische Angelegenheit, in die sich nach ihrer Konstitution die Vereinigten Staaten nicht einmischen dürften, doch wüßten sie genau, was sie zu tun hätten, falls ihre vertragsmäßigen Rechte in Marokko angetastet werden sollten. 269

Kanzlerschaft Bülows — Außenpolitik Bei der Plenarsitzung am 3. März 1906, in der das Staatsbankprojekt erörtert wurde, trat der deutschen Delegation erstmals eine fest geschlossene französische, englische, russische und spanische Gruppe entgegen; der italienische und der amerikanische Delegierte vermieden eine direkte Stellungnahme; die kleineren Staaten griffen meistens in die Verhandlungen nicht ein, nur Österreich hielt entschieden zu Deutschland. Nach mannigfachen weiteren Auseinandersetzungen und einem Vermittlungsvorschlag Österreichs konnte schließlich der deutsche Erste Delegierte auf der Konferenz, Botschafter Josef von Radowitz, am 31. März Bülow telegraphieren: „Heute am Jahrestage des Besuchs Seiner Majestät des Kaisers in Tanger ist die Aufgabe der Konferenz in Plenarsitzung durch die definitive Vereinbarung über alle vorliegenden Materien zum Abschluß gelangt. Endgültig genehmigt wurde: Das Reglement über Unterdrückung der Waffenkonterbande, das Zollreglement, die Maßregeln für Verbesserung der Staatseinkünfte, das Bankreglement, die Polizeiorganisation, die Grundsätze für Vergebung der öffentlichen Arbeiten . . . durchweg ist, soweit es nach Lage der Verhältnisse irgend möglich gewesen, unser Standpunkt der Wahrung wirtschaftlicher Gleichberechtigung und wirksamer Kontrolle der Bank- und Polizeiorganisation durchgedrungen." Am 7. April wurde das Schlußprotokoll der Konferenz unterzeichnet. Das Ergebnis der Konferenz wurde alsbald sehr verschieden beurteilt. Bülow Schloß seine Reichstagsrede über die Konferenz von Algeciras: sie „hat, wie ich glaube, ein für Deutschland und Frankreich gleich befriedigendes, für alle Kulturländer nützliches Ergebnis geliefert". Zum deutschen Botschafter in Petersburg sagte sein französischer Kollege: „Er könne die Folgen der Konferenz leider nicht in so günstigem Lichte sehen, wie er möchte . . . Was habe nun die Konferenz von Algeciras, zu welcher Deutschland so sehr gedrängt, ergeben? Zunächst eine Zusammenschweißung Frankreichs und Englands . . . Die Konferenz mit ihrer Vorgeschichte hinterlasse bei der französischen Nation ein gewisses Mißtrauen, das nicht so bald schwinden dürfte und auf Jahre hinaus der aufrichtigen, freundschaftlichen Annäherung im Wege stehe." Das die Ansichten der englischen Regierung am zuverlässigsten wiedergebende Organ der Liberalen, die „Westminster Gazette", nannte das Abkommen von Algeciras fair und befriedigend, obwohl der größte Teil der englischen Presse vor und während der Konferenz nicht weniger gegen Deutschland gehetzt hatte als die französische. Der amerikanische Delegierte auf der Konferenz, Henry White, sagte auf seiner Rückreise zu Graf Monts, dem deutschen Botschafter in Rom: „Der Sieger der Konferenz ist England. Es hat alles eingesteckt, was ihm Frankreich seinerzeit für Marokko gewährte . . . Das Unglück der Konferenz war das Presseungeziefer. Die Delegierten sind auf Schritt und Tritt von diesem Gesindel verfolgt, belästigt und belogen worden. Ohne die 70 Journalisten wäre man sechs Wochen früher zu einer Einigung gekommen." Graf Monts fügte diesem Bericht an Bülow noch an: „Als Hauptsache erscheint das friedliche Endresultat. Herr White ist der Ansicht, daß ohne die Konferenz eine direkte Aussprache zwischen Frankreich und Deutschland schneller zum Ziele geführt hätte. Er hofft, daß sich auf Grund des erreichten Einverständnisses allmählich freundlichere Beziehungen zwischen 270

Erste Marokkokrisis. Konferenz von Algeciras den beiden großen Nachbarreichen (Deutschland und Frankreich) herstellen. Auch für ein besseres englisch-deutsches Verhältnis ist nunmehr die Bahn frei . . . Ende gut, alles gut, möchte man jetzt sagen, und daß sich die Diplomatie um die Ruhe und den Frieden der Welt wohl verdient gemacht hat." Die Wahrung des Weltfriedens war zweifellos ein großes Verdienst der Konferenz von Algeciras, namentlich Deutschlands. Die mannigfachen deutsch-französischen Gegensätze, die sich aus der Frage ergaben, ob zur Reglung der Verhältnisse in Marokko eine Konferenz einberufen werden solle, und aus den Verhandlungen während der Konferenz, rückten zeitweilig die Gefahr eines Krieges sehr nahe. Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt, Holstein, die „treibende Kraft der deutschen Marokkopolitik" (Rassow), stand in enger Beziehung zu dem Chef des Generalstabs, Graf Alfred von Schlieffen, der im Dezember 1905 seinen als „Schlieffenplan" bekannten Plan zu einem „Krieg gegen das mit England verbündete Frankreich" ausarbeitete. Für einen Präventivkrieg schien zu sprechen, daß Frankreich seit einiger Zeit seine militärische Rüstung aus innerpolitischen Gründen vernachlässigt hatte, Rußland durch Krieg und Revolution geschwächt war und England die Folgen des Burenkriegs noch nicht völlig überwunden hatte. Kaiser Wilhelm entschloß sich jedoch unbedingt für Aufrechterhaltung des Friedens, Bülow schreckte davor zurück, den Krieg heraufzubeschwören, und Holstein reichte sein Rücktrittsgesuch ein, das wider sein Erwarten genehmigt wurde. Im übrigen war die Konferenz nicht so erfolgreich, wie Bülow in seiner Reichstagsrede und Monts in seinem Bericht behaupteten, jedenfalls nicht für Deutschland. Schon die Bemerkung in dem Telegramm des Delegierten Radowitz vom 31. März, der deutsche Standpunkt sei durchgedrungen, soweit es nach Lage der Verhältnisse möglich gewesen, weist darauf hin, daß das Erreichte hinter dem Angestrebten zurückblieb. Frankreich wurde nicht bloß in den an Algier grenzenden Gebieten die Polizeigewalt zugesprochen, womit Deutschland von vorherein einverstanden gewesen war, sondern ihre Organisation in den acht bedeutendsten Hafenstädten Frankreich und Spanien übertragen; um den Schein der Neutralität zu wahren, hatte die Schweiz den Generalinspektor der Polizei zu stellen, doch waren seine Befugnisse aufs äußerste eingeschränkt; auch auf das Bankwesen erhielt Frankreich maßgebenden Einfluß. Durch diese Reglung der Hafenpolizei und der Finanzen verlor Deutschland die tatsächliche Gleichberechtigung in Marokko und wurde Frankreich der Weg geöffnet zur allmählichen vollständigen Durchdringung Marokkos; immerhin bedeutete Algeciras für Deutschland vorerst noch keine eigentliche Niederlage. Neben den wirtschaftlichen Interessen war der Leitgedanke der deutschen Marokkopolitik, es dürfe kein Präzedenzfall geschaffen werden, daß Deutschland ausgeschaltet würde bei der Reglung von Angelegenheiten, die mit der Verteilung von Einfluß- und von Schutzherrschaftsgebieten in die Weltpolitik eingreifen. Hierin wenigstens das Gesicht zu wahren, gelang Deutschland, indem es die Anerkennung der Selbständigkeit des Sultans, die Verpflichtung des Generalinspektors, über seine Tätigkeit regelmäßig dem Sultan und dem diplomatischen Korps in Tanger Rechenschaft abzulegen und die Anerkennung der offenen Tür durchsetzte. Die verschiedenen Son271

Kanzlerschaft Bülows — Außenpolitik derbestimmungen über die Finanzverwaltung und dergleichen entwerteten freilich diese Zugeständnisse. Die Hoffnung der deutschen Regierung, durch Aufrollung der Marokkofrage einen Keil zwischen England und Frankreich zu treiben, erfüllte sich nicht, vielmehr festigte Englands Eintreten für Frankreich bei den Vorverhandlungen zur Konferenz und während dieser die Entente cordiale. Das Schlimmste von all dem war für Deutschland, daß seine weitgehende Isolierung offen zutage trat, worüber sich Kaiser Wilhelm und Bülow keiner Täuschung hingaben. Ende Mai 1906 schrieb Bülow dem Kaiser vor dessen Reise nach Wien: „Unsere Beziehungen zu Österreich sind jetzt wichtiger denn je geworden, da der Kaiserstaat unser einziger wirklich zuverlässiger Bundesgenosse ist; unsere relative politische Isolierung müssen wir den Österreichern gegenüber so wenig wie möglich merken lassen. Es liegt nun einmal in der menschlichen Natur, daß, wenn ich jemandem sage, ich brauche sein Pferd, der Betreffende mich dann hochnimmt. Deshalb dürfen wir in Wien weder ein zu starkes Bedürfnis nach Anlehnung an Österreich durchblicken lassen, noch tun, als ob wir uns irgendwie isoliert fühlten. Die Österreicher müssen den Eindruck gewinnen, daß wir volles Vertrauen jeder Eventualität gegenüber zu uns selbst haben. Wir müssen deshalb auch unsere Beziehungen zu Rußland, Italien und England als besser hinstellen, als sie vielleicht in Wirklichkeit sind, und selbst mit begründetem Verdruß z. B. Italien gegenüber zurückhalten." Was Kaiser Wilhelm von Italien hielt, zeigt seine Randbemerkung zu einem Bericht des deutschen Botschafters in Rom: „Niemand kann zween Herren dienen, steht in der Bibel, also drei Herren erst recht nicht! Frankreich, England und dem Dreibund, das ist völlig ausgeschlossen! Es wird darauf hinauskommen, daß Italien sich zur Britisch-Gallischen Gruppe hält! Wir tun gut, damit zu rechnen, und diesen Allüerten in den Rauch zuschreiben!" Und Graf Monts war überzeugt: „Das deutsch-italienische Bündnis ist positiv unfruchtbar, da an aktive Hilfe im Kriegsfälle nicht zu denken ist. Wie weit die diplomatische Hilfe Italiens reicht, hat der Marokkozwischenfall erwiesen." Monts empfahl aber doch, den Dreibund nicht zu kündigen, ebenso der österreichische Außenminister Alois von Aehrenthal, der erklärte, er „wisse wohl, daß es in Italien viele unzuverlässige Elemente gäbe; aber wenn Italien auch formell aus dem Dreibund austrete, würde das nicht nur den Übermut der kriegerischen Elemente in Frankreich und England steigern, sondern auch im gleichen Maße den Irredentismus in Italien". Da keine der drei Mächte den Anfang Juli 1908 ablaufenden Dreibund ein Jahr zuvor kündigte, blieb er gemäß dem Vertrag von 1891 (S. 173) bis 1914 stillschweigend in Kraft, ohne freilich im allgemeinen etwas an der in der Marokkoangelegenheit zutage getretenen Haltung zu ändern. Gegenüber deutschen diplomatischen Vertretern in Paris hatte Rouvier im Juni 1905 wiederholt geäußert, es wäre ihm sehr erwünscht, wenn die deutsche Regierung einen anderen Ausweg fände als eine Konferenz, weil diese eine Demütigung Frankreichs bedeute. Das für Deutschland im wesentlichen ungünstige Ergebnis der Algeciraskonferenz und die teilweise, wenigstens mittelbar damit zusammenhängende, bedenkliche Entwicklung der außenpolitischen Lage Deutschlands legen die Vermutung nahe, die deutsche Regierung hätte gut daran getan, 272

Zweite Haager Friedenskonferenz 1907 auf Rouviers Wunsch einzugehen. Das Verhältnis zu Frankreich und zu dem mit ihm verbündeten England hätte sich vielleicht dadurch zunächst freundlicher gestaltet, ob aber auf weitere Sicht, erscheint bei Erwägung der Ursachen, die in den nächsten Jahren zu Spannungen und Mächtegruppierungen führten, und bei dem geringen Ergebnis der zweiten Haager Friedenskonferenz, wenig wahrscheinlich.

Die zweite Haager Friedenskonferenz 1907 Im Auftrag von Roosevelt richtete John Hay, amerikanischer Staatssekretär des Äußeren, am 21. Oktober 1904 ein Rundschreiben an die Mächte über die Einberufung einer zweiten Friedenskonferenz. Für Roosevelt handelte es sich dabei, wie er dem deutschen Botschafter in Washington, Speele von Sternburg, andeutete, hauptsächlich um ein Wahlmanöver; im November war wieder die Präsidentenwahl fällig, und da hielt es Roosevelt für geraten, sich der pazifistischen, eine Friedenskonferenz fordernden Anregung der Interparlamentarischen Union, die im September während der Weltausstellung in St. Louis getagt hatte, nicht zu entziehen. Die deutsche Regierung erhielt Anfang November 1904 die Einladung zur Konferenz und empfahl, die Einberufung zu verschieben, bis „die Dinge in Ostasien sich geklärt" hätten, also bis nach Beendigung des russisch-japanischen Krieges. Nach Unterzeichnung des Friedensvertrages von Portsmouth lud der russische Geschäftsträger in Berlin am 26. September 1905 im Auftrag des Zaren die deutsche Regierung zur zweiten Haager Friedenskonferenz ein und bemerkte dazu, Präsident Roosevelt habe die „russische Initiative sympathisch begrüßt". Die deutsche Regierung erklärte sich nun bereit, die „Einladung Rußlands zu der bereits von Präsident Roosevelt angeregten Konferenz anzunehmen". Am 21. März 1906 legte der russische Botschafter in Berlin ein 15 Punkte umfassendes, in vier Hauptabschnitte gegliedertes Programm für die Konferenz dem Auswärtigen Amt vor; dieses Programm wurde auch den übrigen Kabinetten überreicht. Wie vor internationalen Konferenzen üblich, setzte alsbald in den verschiedenen Staaten die Stellungnahme von Regierung, Parlament und öffentlicher Meinung zu den in Betracht kommenden Verhandlungsgegenständen ein. Die Vorverhandlungen zur Konferenz befaßten sich hauptsächlich mit Fragen der Abrüstung. Im englischen Unterhaus beantragten die Liberalen, die englische Regierung solle angesichts der übermäßigen Kosten für Kriegsrüstungen dahin wirken, daß die Frage der Einschränkung dieser Rüstungen, unter denen das nationale Einkommen so sehr leide, durch internationales Ubereinkommen in das Programm der bevorstehenden Haager Konferenz aufgenommen werde. Das Unterhaus nahm den Antrag mit großem Beifall an. Zu dem Bericht hierüber bemerkte Kaiser Wilhelm: „Wenn einer seine Rüstungen einschränken kann, ist es nur Englandl Da es eine so kolossale Übermacht hat! Aber weil es dieselbe hat, will es dieselbe in aetemum (Ewigkeit) behalten, und daher dürfen die an273 18 Bühler, Deutsche GesAidite, VI

Kanzlerschaft Bülows — Außenpolitik deren nicht ihre Rüstungen, das heißt Flottenbauten weiter entwickeln. Besonders wir nicht!" Übrigens war der Kaiser überzeugt, England gehe es nicht so sehr um Verminderung der Marinerüstung wie darum, bei den Verhandlungen Näheres über die deutschen Flottenpläne zu erfahren. Mitte August 1906 besuchte König Eduard VII. Kaiser Wilhelm in Schloß Friedrichshof. Zur Überraschung des Kaisers mißbilligte der .englische König den „Humbug" der sogenannten Friedenskonferenz, die nicht nur unnütz wäre, da sich im Ernstfall doch niemand an deren Beschlüsse halten würde, sondern geradezu gemeingefährlich, weil dadurch nur zu leicht weitere Reibungen zwischen den Mächten entstehen. Bei dieser Gelegenheit sprach der Kaiser auch mit dem Berliner englischen Botschafter Frank Lascelles und erklärte ihm dabei, daß „meine Instruktionen für meine Minister dieselben geblieben seien wie für die erste Haager Konferenz: Im Falle des Auftauchens der Abrüstungsfrage in irgendeiner Form unterbleibe die Teilnahme Deutschlands. Da ich sowohl wie mein Volk es niemals dulden würden, uns von Fremden irgendwelche Vorschriften über unsere militärischen und maritimen Verhältnisse machen zu lassen". Sir Frank erwiderte: „Ich verstehe vollständig und stimme ganz mit Ihnen überein, daß dies gar nicht in Frage kommt und unmöglich ist. Bei uns ist es genau dasselbe." Die englische Regierung verfolgte aber nach wie vor ihren Plan weiter, die Abrüstungsfrage der Haager Konferenz vorzulegen; den deutschen Botschafter in London, Metternich, suchte der englische Staatssekretär des Äußeren, Sir Edward Grey, mit der Bemerkung zu beruhigen: „Es sei unrichtig, bei dem in Aussicht stehenden englischen Vorschlag von .Abrüstung' oder .Einschränkung' der Rüstungen zu sprechen. Es werde sich dabei lediglich um die .Ausgaben' für Rüstungen handeln." In seiner Reichstagsrede vom 3. Mai 1907 erklärte Bülow unter Vermeidung jeglichen Ausfalls gegen England, Deutschland werde keinesfalls seine Beteiligung an der Haager Konferenz davon abhängig machen, daß die Abrüstungsfrage nicht berührt werde; an der Diskussion darüber werde es sich allerdings nicht beteiligen, sondern sie allein den Mächten überlassen, die von ihr einen Erfolg erwarteten. Auch die Möglichkeit wies Bülow zurück, auf die er von verschiedenen Seiten aufmerksam gemacht worden war, wir „möchten uns, um kriegerischen Schein zu vermeiden, an der Diskussion über die Abrüstungsfrage beteiligen, da bei einer solchen doch nichts anderes herauskommen werde als allgemeine Betrachtungen . . . Es erschien mir richtiger, klüger und auch würdiger, fair play zu spielen und offen zu sagen: an einer nach unserer Überzeugung wenn nicht bedenklichen so doch unpraktischen Diskussion können wir uns nicht beteiligen". Richtiger als Bülow beurteilte man in Washington die Folgen für Deutschland, wenn es sich in der Abrüstungsfrage ablehnend verhalte. „Man nehme in Washington an", sagte der amerikanische Botschafter in Rom, White, zu dem deutschen, „daß einer etwa ablehnenden Haltung Deutschlands sich Österreich-Ungarn und auch Rußland anschließen wird. Beide Mächte, so glaube man, würden aber nur unter Verklausulierungen und in der Weise zu Deutschland halten, daß das Odium des Scheiterns der Konferenz allein auf Deutschland fällt. Nach des Präsidenten Roosevelt Ansicht würde das Ergebnis 274

Zweite Haager Friedenskonferenz 1907 eine neue Isolierung Deutschlands bedeuten und eine Abkehrung der öffentlichen Meinung in Amerika und Europa von uns." Bei dem weiteren zwischenstaatlichen Meinungsaustausch zeichnete sich die Stellungnahme der einzelnen Mächte zur Abrüstungsfrage immer deutlicher ab. In Wien betrachtete man im Einverständnis mit Deutschland die Abrüstungsfrage „als inakzeptabel sowohl als Programmpunkt wie als Thema einer offiziellen, im Protokoll zu vermerkenden außerprogrammatischen Diskussion". Der russische Außenminister Iswolski sagte Mitte März 1907 zum deutschen Botschafter in Petersburg, alle befragten Mächte, abgesehen von England und Amerika, „seien der Ansicht, daß eine Besprechung der Abrüstungsfrage zu keinem praktischen Ergebnis führen würde, die meisten wären indes dafür, eine unverbindliche Diskussion gelegentlich der Konferenz zuzulassen, um der drängenden öffentlichen Meinung einigermaßen nachzugeben. Der italienische Außenminister Tittoni habe geradezu erklärt, das Kabinett werde sich nicht halten können, wenn es eine Erörterung des Abrüstungsgedankens ablehne. Ähnlich verhalte sich Spanien. Frankreich sei zwar gegen die Abrüstung an sich, nicht aber gegen eine akademische Erörterung". Zwei Monate später erklärte der französische Diplomat Paul Cambon dem österreichischen Botschafter: „Si l'on veut discuter, nous discuterons, si l'on ne veut pas discuter, nous ne discuterons pas." Der japanische Minister des Äußeren sagte zu einem deutschen Sekretär bei der Gesandtschaft in Tokio: „Es sei bedauerlich, daß manche Regierungen mit Rücksicht auf die öffentliche Meinung ihrer Nationen und der gesamten Welt es für notwendig hielten, eine solche Komödie zu inszenieren, wie es die Beratung der Abrüstungsfrage sei." Für ihre Behandlung drang schließlich der Vorschlag durch, man solle sich wie bei der ersten Haager Konferenz mit dem „voeu", dem Wunsch nach einem Abrüstungsplan, begnügen. Eröffnet wurde die zweite Haager Friedenskonferenz am 15. Juni 1907; 45 Staaten mit ungefähr 250 Vertretern beteiligten sich an ihr. Deutschlands Hauptdelegierte waren der Botschafter in Konstantinopel, Freiherr von Marschall, und der Erste Vortragende Rat in der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes, Dr. Johannes Kriege. Entsprechend den im russischen Entwurf für das Programm der Konferenz vorgesehenen Hauptabschnitten wurden je eine Kommission für die das Schiedsgericht und die den Landkrieg betreffenden Fragen und zwei Kommissionen für den Seekrieg eingesetzt. Am schnellsten erledigte sich die außerhalb des ursprünglichen Programms stehende Frage der Rüstungsbeschränkung. Der von dem ersten englischen Delegierten Sir Edward Fry eingebrachte Antrag auf Bestätigung des Beschlusses der ersten Haager Konferenz zur Beschränkung der Ausgaben für das Militär wurde am 17. August durch Akklamation in einer Form angenommen, daß keine Aussicht mehr bestand für die Erfüllung des „voeu". Der „Courrier de la Conférence" schrieb dazu noch am gleichen Tag: „Es wäre zu wünschen, daß alle Pazifisten um drei Uhr im Rittersaal (in dem die Plenarsitzungen abgehalten wurden) der feierlichen Beerdigung der Rüstungsfrage ohne sichere Hoffnung auf eine fröhliche Auferstehung im großen Trauergewande beiwohnen; schwarzer Flor und schwarze Kleidung sind am 275 18·

Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik Rande eines offenen Grabes am schiddidisten." — Der Schiedsgerichtsfrage stand Deutschland nicht wie der Abrüstungsfrage von vornherein ablehnend gegenüber, und so konnten die Richtlinien der ersten Haager Konferenz für ein Schiedsgericht in manchen Punkten verbessert und ergänzt werden, in einem wesentlichen versagte Deutschland allerdings seine Zustimmung. Auf der ersten Haager Konferenz war von russischer Seite für bestimmte Fälle ein obligatorisches Schiedsgerichtsverfahren beantragt worden, und Deutschland hatte seine Annahme verhindert. Jetzt sollte eine für alle Staaten verbindliche Schiedsgerichtsbarkeit eingeführt werden, die abermals an dem Widerstand Deutschlands scheiterte, dem hierin neun Staaten folgten. An sich war Deutschland kein Gegner von Schiedsgerichtsverträgen zwischen einzelnen Staaten mit der Verpflichtung, sich an den Schiedsspruch zu halten, und hatte selbst mit England und den Vereinigten Staaten derartige Verträge abgeschlossen; aber ein allgemein obligatorisches, ein „Weltschiedsgericht", an dessen Entscheidung in einem Streitfalle sich jeder Staat zu halten hatte, verwarf die deutsche Regierung, voran Kaiser Wilhelm, grundsätzlich. Da bei der Abstimmung die für einen solchen Fall erforderliche „unanimité" (Einstimmigkeit) oder wenigstens „quasi unanimité" nicht erzielt wurde,· war das Weltschiedsgericht abgelehnt. Man begnügte sich mit einer „Deklaration", die das Prinzip der obligatorischen Schiedssprechung anerkannte und erklärte, gewisse Streitfälle seien geeignet, ohne weiteres einer schiedsgerichtlichen Rechtsprechung unterworfen zu werden; ein Vertrag hierüber kam freilich nicht zustande. — Dagegen gelang unter eifriger Mitwirkung Deutschlands der weitere Ausbau des Landkriegsrechts, das nun auch eine formelle Kriegserklärung bei Kriegsbeginn und ihre Begründung vorschrieb, damit sich die Welt ein Urteil darüber bilden könne. — Bei den Verhandlungen über das Seekriegsrecht wurde man über das Verbot der Beschießung unverteidigter Häfen und Städte durch Seestreitkräfte, die unbehinderte Ausfahrt von Handelsschiffen, die bei Kriegsausbruch in einem feindlichen Hafen lägen, und dergleichen ohne besondere Schwierigkeiten einig. Über das Seebeuterecht, die Wegnahme von feindlichem Privateigentum auf Schiffen herrschte innerhalb der deutschen Regierung keine einheitliche Auffassung. Das Reichsamt des Innern, das Auswärtige Amt und das Handelsministerium waren für Abschaffung des Seebeuterechts, gegen sie der Kaiser und Tirpitz, der geltend machte, England sei für seine Ernährung und Industrie in hohem Maße von ausländischer Zufuhr abhängig. England trat in der Annahme, mit seiner großen Flotte seine Zufuhr genügend schützen zu können, und je mehr man den Feind schädige, desto eher sei der Krieg zu Ende, für Beibehaltung des Seebeuterechtes ein und darüber hinaus für eine wesentliche Einschränkung der Konterbande, für die unbehinderte Zufuhr durch neutrale Schiffe, soweit sie nicht dem Feind Soldaten, Waffen und sonstiges für die Kriegsführung wichtiges Material lieferten. Die Prisengerichtsbarkeit hatte bisher der die Prisen aufbringende Staat ausgeübt. England und Deutschland beantragten nun die Errichtung eines internationalen Prisenobergerichtshofes; dieser Weltgerichtshof sollte die Berufungsinstanz über die Prisengerichte der einzelnen Staaten bilden. Die hierfür zuständige Kommission billigte den Vorschlag, konnte sich

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Zweite Haager Friedenskonferenz 1907 aber über verschiedene Einzelheiten nicht einigen und begnügte sich deshalb mit der Weisung, jeweils solle „nach den allgemeinen Grundsätzen der Gerechtigkeit und Billigkeit" entschieden werden. Unter diesen Umständen ratifizierte natürlich kein Staat den verschwommenen Beschluß der Kommission. Zwölf Abkommen wurden auf der Konferenz angenommen. Geltung erlangten sie nur für die Staaten, die sie ratifizierten, wozu sich fast alle für die Bestimmungen über die Kriegserklärung und über die Einschränkung des Seebeuterechts vorbehaltlos verstanden. Deutschland, Österreich, Frankreich, Japan und acht kleinere Staaten ratifizierten alle zwölf Konventionen, einen größeren oder geringeren Teil davon England, Rußland, Italien und verschiedene Kleinstaaten, meist jedoch mit Vorbehalten, Deutschland ζ. B. mit fünf. Dieses Ergebnis der zweiten Haager Konferenz erscheint dürftig im Hinblick auf ihre Dauer von vier Monaten (15. Juni bis 18. Oktober 1907), die Vorverhandlungen, die zahlreichen Delegierten, in ihrer Heimat und im Ausland angesehene Diplomaten, und der regen Beteiligung ihrer Regierungen. Am treffendsten hat den Wert und Unwert der Konferenz einige Tage nach ihrem Schluß Marschall beurteilt: es wäre „ungerecht zu bestreiten, daß die Konferenz nicht nur sehr fleißig gearbeitet, sondern auch manches positiv Nützliche geschaffen hat. Wenn sie trotzdem üble Nachrede finden wird, so liegt dies nicht an ihr, sondern an denjenigen, die ihr den Titel .Friedenskonferenz' gegeben haben. Das war — offen gesprochen — eine falsche Etikette, die auf die Täuschung des großen Publikums hinauslief. Denn mit dem Worte ,Frieden' war der Konferenz ein Programm gestellt, das überall und zu allen Zeiten völlig undurchführbar ist. Es ist eigentlich ein Gemeinplatz, wenn ich sage: die Frage, ob zwischen zwei Staaten Frieden oder Krieg sein solle, wird im entscheidenden Augenblicke durch eine solche Fülle von Imponderabilien, Stimmungen, Strömungen und Interessen bestimmt, daß jeder Versuch, alle diese Faktoren im voraus paragraphenweise zu fesseln und in den Dienst des Friedens zu stellen, in das Gebiet des Widersinnes gehört . . . Was wir sein konnten, nämlich eine Völkerrechtskonferenz, das sind wir gewesen. Auf dem Gebiete des Völkerrechts haben wir Nützliches geleistet . . . Mehr als die Pazifisten, die uns schlechte Noten geben, werden sich die Professoren des Völkerrechts freuen, denen unsere Debatten für ihre Bücher und Vorlesungen ein reiches und um so wertvolleres Material bieten als die meisten Fragen nicht nur vom rechtlichen, sondern auch vom praktischen Gesichtspunkte aus behandelt wurden." Ahnlich wie bei der ersten, brachte bei der zweiten Haager Friedenskonferenz die Ablehnung der Abrüstung und einer für alle Staaten verbindlichen Schiedsgerichtsbarkeit Deutschland bei den ihm feindlich oder mißtrauisch Gegenüberstehenden in Verruf, obwohl es auch diesmal, freilich wiederum in unkluger Weise, nur das offen ausgesprochen hat, wovon die meisten überzeugt waren. Das Verhalten Deutschlands eregte namentlich in den Vereinigten Staaten Anstoß, weil sie die erste Anregung zur Konferenz gegeben hatten, und weil hier die überzeugten Pazifisten sehr zahlreich waren. Die Engländer verstimmte die Ablehnung ihres Antrags auf Einschränkung der Rüstungsausgaben namentlich für

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Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik die Marine, und noch mehr die große Gefolgschaft, die Deutschland während der Konferenz fand; dadurch wurden weite Kreise Englands in dem Wahn bestärkt, Deutschland strebe nach Hegemonie, nach Weltherrschaft. Diese üblen Folgen der Konferenz für Deutschland wurden dadurch nicht aufgewogen, daß auf ihr neben Österreich in diesem Falle auch Italien fest zu Deutschland stand, der Dreibund also doch noch eine nicht zu unterschätzende Bedeutung zu haben schien.

Internationale Abmachungen. Ost- und Nordseeabkommen.

Fürstenbesuche

Neben der Haager Konferenz und ihrer Vorbereitung gingen Deutschland mehr oder weniger mittelbar oder unmittelbar berührende zwischenstaatliche Verhandlungen zur Regelung der gegenseitigen Beziehungen her. Mitte Mai 1907 tauschten Spanien, Frankreich und England identische Noten aus über „Die Aufrechterhaltung des territorialen Status quo und ihrer Rechte im Mittelmeer und in dem die Küsten Europas und Afrikas bespülenden Teile des Atlantischen Ozeans", um damit zur Wahrung des allgemeinen Friedens beizutragen und das Einvernehmen der drei Regierungen zu stärken. — Im Juni verpflichteten sich Frankreich und Japan zur Wahrung ihrer Territorialrechte auf dem asiatischen Festland, Ende Juli Rußland und Japan, beiderseits ihre territoriale Integrität zu achten und für die Aufrechterhaltung des Status quo unter Anwendung aller friedlichen Mittel einzutreten. — England und Rußland schlossen am 31. August eine Konvention, die jedem Anlaß zu Mißverständnissen zwischen ihnen auf dem asiatischen Kontinent vorbeugen sollte. Grundsätzlich erkannten sie die Unabhängigkeit Persiens an und offene Tür für den Handel und die Industrie aller Völker. Beides wurde freilich durch die weiteren Bestimmungen entwertet, die den Norden Persiens Rußland als Einflußsphäre zuwiesen und England den Süden. Eine neutrale Zone in der Mitte sollte Reibungen zwischen den beiden Mächten verhindern, doch drang Rußland allmählich immer weiter südwärts vor; die englische Regierung duldete dies, um die Entente mit Rußland nicht zu gefährden. England versicherte, es beabsichtige nicht, in die politischen Verhältnisse dieses Landes einzugreifen, und Rußland erklärte sich als uninteressiert an Afghanistan. Rußland und England erkannten die souveränen Rechte Chinas über Tibet an. Bezeichnend für die Möglichkeiten zur Umgehung eines Vertrages, mit denen die damalige Diplomatie rechnete, ist die Vereinbarung, die englische und die russische Regierung verpflichten sich „auf die Dauer von drei Jahren von jetzt an keiner wissenschaftlichen Expedition irgendwelcher Art das Eindringen in Tibet zu gestatten". Die Verhandlungen über das Ostseeabkommen hatten bereits im Sommer 1905 begonnen. Die deutsche Regierung befaßte sich eifrig damit während der Haager Konferenz, um namentlich England und Rußland zu zeigen, daß Deutschland, wenn es sich auch einer Rüstungsbeschränkung widersetzte, auf friedliche Verständigung bedacht war. Den Anlaß zur Aufrollung der Ostseefrage hatte die 278

Ost- und Nordseeabkommen Kündigung der schwedisch-norwegischen Union von seiten Norwegens gegeben; dadurch wurde der 1855 von dem Schweden und Norwegen umfassenden skandinavischen Königreich mit den Westmächten geschlossene Vertrag hinfällig. Anfang November 1907 hoben Frankreich, England und Norwegen diesen Vertrag auf und unterzeichneten, ebenso Deutschland und Rußland, den „norwegischen Integritätsvertrag". In ihm verpflichtete sich die norwegische Regierung, keiner Macht, gleichviel unter welchem Rechtstitel, irgendeinen Teil des norwegischen Territoriums zu überlassen; Deutschland, Frankreich, Großbritannien und Rußland erkannten Norwegens Integrität an, verpflichteten sich, sie zu respektieren und zu schützen, falls sie bedroht oder verletzt würde. Um vom Bereich der Ostsee den Einfluß anderer als der an ihr liegenden Staaten fernzuhalten, hatten Mitte Oktober 1907 Rußland und Deutschland über die Aufrechterhaltung des Status quo im Ostseegebiet ein Abkommen getroffen, dem im Laufe des November Schweden und Norwegen beitraten. Anfang Dezember 1907 setzte die deutsche Regierung das englische Kabinett von dem Ostseeabkommen in Kenntnis und schlug ähnliche Abmachungen über den Status quo an der Nordsee vor. Eine Aufzeichnung des Staatssekretärs im Auswärtigen Amt, Wilhelm von Schoen, gab die Beweggründe für die deutsche Initiative wieder: „Der Besitz der Nordseeküste hat stets den Gegenstand eifersüchtigen Argwohns unter den Küstenstaaten gebildet. In England ist es eine heute weit verbreitete Ansicht, daß wir nach dem Besitz der holländischen Küste mit ihren für den Handel und den Kriegsfall wichtigen Häfen verlangen. In den Niederlanden selbst scheint dieser Argwohn gegen uns — vielleicht genährt durch das unberufene Treiben alldeutscher Phantasten — sich hie und da geltend zu machen, obwohl wir durch unsere stets korrekte und loyale Haltung hinlänglich bewiesen haben, daß wir derartigen Bestrebungen fernstehen. Wir geben uns der Erwartung hin, daß ein Nordseeabkommen dazu beitragen wird, die Welt über unsere friedliche, nicht auf territoriale Erwerbungen gerichtete Politik aufzuklären und insbesondere auf die öffentliche Meinung Deutschlands und Englands als neues Symptom der Anbahnung eines freundschaftlichen Verhältnisses zwischen beiden Ländern von beruhigender Wirkung sein wird . . . Wir nahmen mit Recht an, daß Holland ein von ihm als gleichberechtigter Kontrahent mit Großmächten abzuschließender Vertrag sehr willkommen sein würde. Ähnliches galt von Dänemark, das durch die Nord- und Ostseeabmachungen die doppelte Sicherung seines Besitzstandes von Osten und Westen erhalten würde . . . Wir haben uns auch bereit erklärt, Frankreich auf seinen Wunsch mit in die Nordseeabmachungen hineinzuziehen. Belgien beabsichtigen wir in das Abkommen nicht einzubegreifen. Dabei gehen wir von der Erwägung aus, daß einerseits ein Staat, dessen Neutralität durch internationalen Vertrag garantiert ist, daneben nicht noch einer Sicherung seines territorialen Status quo bedarf . . . und daß andererseits nach der bisher unseres Wissens herrschenden Anschauung neutralisierte Staaten nicht internationale Verpflichtungen eingehen sollten, die sie in Konflikt mit ihren Neutralitätspflichten bringen könnten." Am 23. April 1908 wurden das Ostseeabkommen von Rußland, Deutschland, Schweden und Dänemark in Petersburg, das 279

Kanzlerschaft Billows — Außenpolitik Nordseeabkommen von Deutschland, England, Dänemark, Holland und Frankreich in Berlin unterzeichnet und kurz darauf veröffentlicht. Die deutsche Regierung knüpfte, wie Schoens Ausführungen erkennen lassen, große Hoffnungen an diese Verträge. Die holländische Presse äußerte sich über das Nordseeabkommen und die „ehrenvolle Weise, wie es zustande gekommen ist", sehr zufrieden. Bei einem Besuch in Berlin sagte der dänische Außenminister Graf Raben zu Schoen, in Dänemark nehme man die im Nord- und Ostseeabkommen ausgesprochenen Zusicherungen „für durchaus ernst und loyal, wenigstens soweit von den Großmächten Deutschland in Betracht komme. Weniger Vertrauen habe man in das loyale Verhalten Rußlands und am wenigsten in das Englands", hatte doch der englische Gesandte in Kopenhagen Raben gegenüber geäußert: „Es würden sich wohl wenige Leute finden, die naiv genug wären, diesen papierenen Abmachungen irgendeinen Wert beizumessen." Ähnlich wie bei den Ententevereinbarungen wurde bei den Besuchen von Monarchen und führenden Politikern der auf Erhaltung des Friedens abzielende Haupt- oder Nebenzweck betont, so während des August 1907 bei der Zusammenkunft des Zaren mit Kaiser Wilhelm in Swinemünde (3./6.), Eduards VII. mit Kaiser Wilhelm in Wilhelmshöhe (14.), dann mit Kaiser Franz Josef in Ischl (21.) und hierauf mit dem französischen Ministerpräsidenten Georges Clemenceau in Marienbad (21.). Im Mai 1908 reiste der Präsident der französischen Republik Fallières nach London, wo ihn König Eduard und mehrere Minister begrüßten. Auf dem Bankett am Abend sprach der König die Hoffnung aus, die Entente cordiale möge eine dauernde sein, da sie für die Wohlfahrt der beiden Länder und für die Erhaltung des Friedens notwendig sei. Das größte Aufsehen erregte der Besuch des englischen Königspaares bei dem Zaren und seiner Gemahlin in Reval (9./10. Juni 1908). Uber die Folgen dieser Zusammenkunft waren die Ansichten in Rußland geteilt; die meisten standen der französisch-englisch-russischen Freundschaft als Mittel zur Lahmlegung der deutschen Ubermacht sympathisch gegenüber, einige hatten Bedenken, die Annäherung laufe auf ein Bündnis hinaus und habe bedauerlicherweise eine Spitze gegen Deutschland.

Neugruppierung

der Mächte. Deutsch-englische

Flottenfrage

Die mit dem französisch-englischen Abkommen vom April 1904 eingeleitete Entente-Politik hat durch die der Algeciras-Konferenz folgenden zwischenstaatlichen Verhandlungen von 1907/08 zu einer Neugruppierung der Mächte geführt. Unerwartet kam dabei Deutschland besonders die von England und Rußland Ende August 1907 abgeschlossene Konvention; daß sich diese beiden Staaten je derart zusammenfinden würden, hatten namentlich Bülow und Holstein für ausgeschlossen gehalten. In seinem Bericht an Bülow vom 30. Juni 1908 über eine längere Unterredung mit dem englischen Unterstaatssekretär Sir Charles Hardinge wies der deutsche Botschafter in London, Graf Metternich, auf die bedrohliche Lage hin, in der sich Deutschland befinde: Die Publizistik in England, Frank280

Neugruppierung der Mächte. Deutsdi-englisdie Flottenfrage

reich und Rußland habe „dafür gesorgt, Deutschland darüber aufzuklären, was wenigstens bei einem einflußreichen und lauten Teil der öffentlichen Meinung dieser Länder mit der gegenseitigen Annäherung, wozu auch die Besuche dienten, bezweckt werde. Es werde klipp und klar gesagt, daß durch die Entente- und Besuchspolitik die aggressive deutsche Macht in Schranken gehalten werden solle, daß ein Gegengewicht gegen den Dreibund geschaffen werden müsse, daß das Gleichgewicht Europas aufrechterhalten werden müsse, und daß aus der Annäherungspolitik, die zwar augenblicklich keine Bündnispolitik sei, doch Bündnisse entstehen würden, sobald die Ereignisse das erforderlich machen sollten . . . Durch die Ententepolitik werde das aggressive Deutsche Reich im Zaume gehalten. Diese rein defensive Politik diene daher dem Frieden und erhalte ihn. Mit der Ausstreuung derartiger Gedanken sei seit Jahren Mißtrauen gegen Deutschland gesät worden. Jetzt zeigten sich allmählich die Früchte. Ließe sich mitten in Friedenszeiten ein gefährlicheres, den Frieden mehr bedrohendes Spiel denken als das Gebaren dieser Leute? . . . Es seien nicht die Besuche und Ententen an sich, sondern die Auslegung, welche der neueren englischen Politik gegeben werde, die die Welt nicht zur Ruhe kommen lasse. So lange sich dies nicht ändere, werde auch die Wirkung die gleiche bleiben. Ohne die Herstellung vertrauensvoller Beziehungen zwischen Deutschland und England werde die von allen gewünschte Beruhigung nicht eintreten". Die wichtigste Voraussetzung dafür war eine beide Teile befriedigende Lösung der deutsch-englischen Flottenfrage, und so kam auch sie im weiteren Verlauf der Unterredung zur Sprache. Metternich meinte, das deutsche Flottenprogramm sei allgemein bekannt und England könne dementsprechend so viele Schiffe bauen, daß es seine bisherige Überlegenheit zu erhalten vermöge. Hardinge erwiderte darauf, die deutsche Küste liege nahe, und jeder Engländer sei überzeugt von der Notwendigkeit und entschlossen, die Vormachtstellung Englands zur See, von der einfach Sein oder Nichtsein abhänge, was es auch koste, zu behaupten, aber daß Deutschland durch seine Flottenbauten England zu neuen ungeheuren Anstrengungen zwinge, berge die Gefahr des deutsch-englischen Gegensatzes in sich. Metternich Schloß seinen Bericht an Bülow: „Nichts und niemand wird den Engländer von der Uberzeugung abbringen, daß eine in der Nähe seiner Küsten erwachsende mächtige Flotte nicht eine Gefahr, die größte, der er ausgesetzt werden könne, für ihn bedeute. Wir sind entschlossen, eine starke Flotte zu besitzen und müssen uns daher auch die Folgen klarmachen." Der nach den Flottengesetzen vom März 1898 und Juni 1900 einsetzende Ausbau der deutschen Flotte hatte die Engländer nicht ernstlich beunruhigt. Sie fühlten sich in der maritimen Überlegenheit völlig sicher, als im Frühjahr 1906 der „Dreadnought" (Fürchtenichts), ein Großkampfschiff von 22 500 Tonnen, in Dienst gestellt wurde, denn diesem ersten sollten bald mehrere Dreadnoughts folgen, mit denen, wie sie glaubten, die Deutschen wegen der hohen Kosten, der hierfür unzureichenden Ausmaße ihrer Docks und des Kaiser-Wilhelm-Kanals nicht wetteifern könnten. Als aber Deutschland im Sommer 1907 vier Dreadnoughts auflegte, die 1910 fertiggestellt sein sollten, wurde man in England be281

Kanzlerschaft Bülows — Außenpolitik

denklich. Seine Flotte war allerdings der deutschen nodi bei weitem überlegen und blieb es voraussichtlich mehr oder weniger. Trotzdem riet der erste Seelord Admiral Sir John Fisher im März 1908 König Eduard, die deutsche Flotte zu überfallen und zu vernichten, wozu sich der König natürlich nicht verstand. Auch sonst fand Fisher mit seinen „wilden Reden" bei den maßgebenden Persönlichkeiten keinen Anklang. Immerhin steigerte sich die Angst und Besorgnis vor der deutschen Gefahr, je mehr sich der Abstand zwischen der englischen und der deutschen Flotte verringerte. Schon Ende Januar 1907 hatte der frühere Ministerpräsident Arthur James Balfour Metternich erklärt, nicht der Handel, sondern die zunehmende maritime Macht Deutschlands flöße England Besorgnis und Mißtrauen ein; auch sonst bekam Metternich in London immer wieder Ähnliches zu hören. Bei einem Gespräch Metternichs mit Sir Edward Grey und Lloyd George Mitte Juli 1907 bemerkte dieser, eine Verlangsamung des Tempos im deutschen Flottenbau würde zur sofortigen Beruhigung der Gemüter mehr beitragen als irgendeine politische Aktion. Deutschland würde das weitestgehende Entgegenkommen Englands zur Schaffung einer gemeinsamen Basis für die beiderseitige Einschränkung des Flottenbaus finden. Bei einer etwas späteren Unterredung mit Metternich kam Lloyd George abermals auf die Verlangsamung im Tempo des Flottenbaus zu sprechen und riet dabei dringend, die Zeit zu benutzen, solange die friedfertige liberale Regierung am Ruder sei, also die nächsten drei bis vier Jahre. Den von englischer Seite immer wieder geforderten Two-Power-Standard, der in Deutschland so sehr Anstoß erregte, fasse die jetzige englische Regierung so auf, daß die englische Flotte zwei beliebigen fremden Flotten gewachsen sein müsse; also der deutschen Flotte plus einer anderen, aber nicht zweimal der deutschen Flotte. Er, Lloyd George, denke sich, daß das Verhältnis zwischen der deutschen und der englischen Flotte etwa so fixiert werden solle wie 2 zu 3. Durch das Verhältnis von 2 zu 3 scheine ihm ein gerechtes Gleichgewicht zur See zwischen uns hergestellt zu werden. Metternichs Bericht über diese Unterredung vom 1. August 1908 gab Bülow wie üblich an Kaiser Wilhelm weiter, der solche Schriftstücke mit Randbemerkungen zu versehen liebte, in diesem Falle mit 51 und mit der Schlußbemerkung: „Diese Art von Conversationen, wie sie zwischen L. George und Metternich geführt wurde, ist geradezu unwürdig und provokant für Deutschland! Ich muß mir ausbitten, daß er in Zukunft dergleichen Expektorationen unbedingt abweist. Hier hat er als Zuhörer ganz geduldig die Ansichten und Befehle englischer Staatsmänner entgegengenommen, und sich nur auf Proteste beschränkt, die keinen Effekt hatten. Er muß mal den Herren, die ,unsere mutwilligen Aufrüstungsgelüste' nicht aufkommen lassen wollen, eine derbe Antwort geben wie ,Lecken Sie mich etc.', damit diese Kerls erst mal wieder vernünftig werden! Daß der L. George überhaupt schon wagte, mit einem Diktat zur Fixierung unseres Bautempos herauszukommen, ist bodenlos, aber die Folge davon, daß Metternich sich in seinen ersten Gesprächen auf die schiefe Ebene der ,Möglichkeit nicht ganz ausgeschlossen' begeben hat . . . Er mußte ab ovo ablehnen mit dem Bemerken: ,Kein Staat läßt sich von einem anderen das Maß und die Art seiner Rüstungen 282

Annexion von Bosnien und der Herzegowina. Bulgarien vorschreiben oder hineinreden, ich lehne ab, solch ein Gespräch zu führen!' Metternich soll einen gehörigen Schwärmer in den H . . . kriegen, er ist zu schlapp!" Bei dieser Haltung von Wilhelm II., Tirpitz und der öffentlichen Meinung in Deutschland blieben weitere englische Versuche, eine Verlangsamung der gesetzlich festgelegten Schiffsbauten herbeizuführen, ergebnislos, so auch ein Gespräch Hardinges mit dem Kaiser gelegentlich eines Besuches König Eduards in Schloß Friedrichshof. Bülow war in der Sorge vor einem Krieg mit England, in dem nur Österreich auf deutscher Seite stehen würde, einem Flottenabkommen nicht abgeneigt, der Kaiser und Tirpitz waren entschieden dagegen; erst sei das Flottenbauprogramm durchzuführen, dann könne man ja mit England verhandeln. Vergebens war auch der Versuch König Eduards bei einem Besuch in Ischl Mitte August 1908, den Kaiser Franz Josef zu veranlassen, er solle Wilhelm II. raten, England in der Flottenfrage entgegenzukommen. In Österreich bestand überhaupt eine starke Verstimmung gegen England wegen der Balkanpolitik.

Die Annexion von Bosnien und der Herzegowina.

Bulgarien

Im Januar 1908 ging der österreichische Außenminister Alois von Ährenthal daran, die österreichisch-bosnische Bahn durch den Sandschak (Regierungsbezirk) von Nowibasar bis zum Anschluß an die von Usküb nach Saloniki führende Bahn zu verlängern und so eine direkte Verbindung von Wien nach Saloniki zu schaffen. Darüber waren Rußland, England und Italien empört. Rußland, weil man es, entgegen dem Abkommen von 1903, nicht zuvor davon in Kenntnis gesetzt hatte und Österreich damit den Status quo auf dem Balkan störe; in England „sah man in dem Projekt Ährenthals nur eine wirtschaftliche Vorstufe machtpolitischer Ausdehnung nach Saloniki, um den ganzen Orient mit Deutschland gemeinsam beherrschen zu können" (Raab); in Italien glaubte man seine Interessensphäre auf dem Balkan gefährdet; in Serbien und Montenegro wurde der Haß gegen Österreich gesteigert. Das Auswärtige Amt teilte dem deutschen Botschafter in Wien, Graf Karl von Wedel, mit: „Wir haben gegen solche Pläne nichts einzuwenden. Eine Stärkung des österreichischen Einflusses im Balkan dem italienisch-französisch-englischen Einflüsse gegenüber kann uns an sich nur erwünscht sein. Auch ist Österreich das Recht zu dem Bahnbau durch den Berliner Vertrag (von 1878) gewährleistet." Noch im gleichen Jahr entschloß sich Ährenthal zu einem Schritt, der ungleich schwerere Folgen als dieser geplante Bahnbau nach sich zog. Im Sommer brach die Revolution der „Jungtürken" aus, der sich das Militär anschloß. Durch Einführung von Reformen und eines parlamentarischen Regimes sollte ein festgefügter großtürkischer Nationalstaat geschaffen werden. Um einer Wiedervereinigung des von Österreich verwalteten Bosnien mit dem türkischen Staatswesen vorzubeugen, bewog Ährenthal Kaiser Franz Josef, Bosnien und die Herzegowina zu annektieren. Der Kaiser vollzog am 5. Oktober 1908 die Annexion; an diesem Tag erklärte auch Fürst Ferdinand nach vorheriger Verständigung mit Ährenthal das bis dahin wie Bosnien und die Herzegowina nominell 283

Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik

unter türkischer Oberhoheit stehende Fürstentum Bulgarien als unabhängiges Königreich. Kurz darauf, am 9. Oktober, äußerte sich Grey sehr abfällig zu Metternich über Österreich, das mit seinem Vorgehen auf dem Balkan den Bestand des gesamten Berliner Vertrages von 1878 in Frage stelle; das Vertrauen in internationale Verträge müsse schwinden, wenn sie von einer Großmacht einseitig zerrissen würden. „Die englische Regierung könne daher weder die österreichische Annexion, noch die bulgarische Unabhängigkeitserklärung anerkennen." Auf die Frage Greys, ob Deutschland der Annexion zugestimmt habe, antwortete Metternich, er habe hierüber noch nichts erfahren, „bestimmt werden wir unseren Bundesgenossen nicht im Stich lassen aber auch darauf bedacht sein, Komplikationen im Orient zu verhindern und den Fortbestand der Türkeit zu sichern". Metternich fragte dann Grey, was er von der vor zwei Tagen im Pariser „Temps" veröffentlichten Erklärung des russischen Außenministers Iswolski halte: die „Annexion Bosniens stelle sich als eine europäische Angelegenheit dar und könne also nur mit Einverständnis aller Berliner Signatarmächte geschehen. Es müsse also eine Konferenz der Mächte berufen werden, die zugleich zur bulgarischen Unabhängigkeitserklärung Stellung zu nehmen habe". Alle Mächte stimmten darin überein, ein Krieg wegen der Annexion Bosniens und der Unabhängigkeitserklärung Bulgariens und eine weitere Schwächung der Türkei müßten vermieden werden. Die Aufstellung eines von allen Beteiligten angenommenen Programms stieß jedoch auf große Schwierigkeiten; Rußland z. B. beantragte, auf der Konferenz sollte die Meerengenfrage in der Weise geregelt werden, daß den russischen Kriegsschiffen die Durchfahrt durch die Dardanellen freigegeben werde, was England von vornherein ablehnte. Ehe sich die Mächte über ein Programm einigten, erkannte am 26. Februar 1909 die Türkei gegen die Bezahlung von zweieinhalb Millionen türkischer Pfund in Gold, ungefähr 46 Millionen Mark, für die in Bosnien liegenden staatlichen Waldungen und Güter die Annexion an. Außerdem räumte Österreich den zwischen Serbien und Montenegro gelegenen Sandschak Nowibasar, den es gemäß einer Bestimmung des Berliner Vertrages besetzt gehalten hatte. Damit verzichtete Österreich auf den Bau der Sandschakbahn, deren Planung so große Aufregung hervorgerufen, erbitterte aber Serbien und Montenegro, die den die beiden Länder voneinander trennenden Sandschak Nowibasar als Kompensation für die Annexion Bosniens und der Herzegowina beanspruchten, um so dem Ziele der Errichtung eines großserbischen Reiches näher zu kommen, dem auch die beiden annektierten Länder mit ihrer überwiegend serbischen Bevölkerung einverleibt werden sollten. Die Errichtung eines großserbischen Staates wollte indes Österreich unbedingt verhindern, hätte er doch auf die Südslawen in der österreichisch-ungarischen Monarchie, die Jugoslawen, eine starke Anziehungskraft ausgeübt und Österreich den Zugang zur Adria und damit zum Meer überhaupt versperrt. Sofort nach der Annexion berief Serbien seine Reserven ein und suchte sich so viel Kriegsmaterial wie möglich zu verschaffen. Im Februar und März 1909 erreichte die Kriegsgefahr ihren Höhepunkt, da auch Österreich auf die andau284

Annexion von Bosnien und der Herzegowina. Bulgarien

ernde serbische Herausforderung hin zu rüsten begann. England, Italien, Frankreich und Deutschland mahnten die Serben zur Besonnenheit. Sie konnten jetzt nur einen Krieg wagen, wenn sie des russischen Beistandes sicher waren. An und für sich stand Rußland hinter Serbien, hatte sich aber von dem Krieg mit Japan noch nicht erholt. So sah sich Iswolski gezwungen, nachzugeben, als Deutschland Mitte März die russische Anerkennung der Annexion verlangte. Inzwischen hatte England eine von Serbien in Wien zu überreichende Note ausgearbeitet: Serbien verpflichtet sich, seinen Widerstand gegen die Annexion aufzugeben und künftig freund-nachbarliche Beziehungen mit Österreich zu pflegen; Serbien wird seine Armee auf den Friedensstand zurückführen. Da es auf Rußland nicht mehr rechnen konnte, kam Serbien am 31. März dieser Aufforderung nach, hinter der sämtliche Großmächte standen. Infolge der Unabhängigkeitserklärung Bulgariens ergaben sich zwischen ihm und der Türkei ernstliche Spannungen. Auf Drängen Frankreichs, Rußlands und Englands versprach König Ferdinand, sich friedlich mit der Türkei zu einigen und ihr für die durch die völlige Loslösung entstandenen Verluste, die von der Türkeit sehr hoch veranschlagt wurden, eine Entschädigung zu zahlen. Rußland, das Bulgarien wieder mehr an sich heranzuziehen trachtete, ermöglichte den Bulgaren die allmähliche Abzahlung der von der Türkei geforderten Summe. Am 21. April erkannte Rußland als erster Staat die Unabhängigkeit Bulgariens als Königreich amtlich an, bis zum 27. April folgten England, Frankreich, Deutschland, Österreich und Italien. — Durch italienische Vermittlung war am 8. April ein Ausgleich zwischen Österreich und Montenegro zustande gekommen; die im Berliner Vertrag von 1878 festgelegte Souveränitätsbeschränkung Montenegros wurde aufgehoben. — Italien hatte im März den Konferenzgedanken noch einmal beleben wollen, doch wurde er nun völlig fallen gelassen. Die Großmächte gaben in gesonderten Noten an Österreich in aller Form die Zustimmung zur Aufhebung des Bosnien und die Herzegowina betreffenden Artikels des Berliner Vertrags und legalisierten damit die Annexion der beiden Provinzen. Die Beilegung der bosnischen Krise schien im wesentlichen ein Erfolg Bülows und der Mittelmächte zu sein. Die Entente hatte sich wenig bewährt; König Eduard VII. soll gesagt haben, England habe feine Freunde, der eine, Rußland, könne nicht, der andere, Frankreich wolle nicht kämpfen. Rußlands Diplomatie hatte entschieden eine Schlappe erlitten, die deutsche Politik von Anfang an eine klare Linie eingehalten. In seiner Reichstagsrede vom 24. März 1909 sagte Bülow zur Rechtfertigimg seiner Außenpolitik: „Wir wahren unsere eigenen Interessen und stehen treu zu Österreich-Ungarn . . . damit tragen wir auch am meisten zur Erhaltung des europäischen Friedens bei." In dieser Rede prägte Bülow auch das später, namentlich 1914 viel zitierte Schlagwort: „Die Nibelungentreue wollen wir aus unserem Verhältnis zu Österreich-Ungarn nicht ausschalten." Uber den Ausbruch der Krise war man in Deutschland allerdings sehr wenig erfreut. Die Gründe hierfür faßte Kaiser Wilhelm am 11. Oktober 1908 in seiner Randbemerkung zu einem Bericht Marschalls treffend zusammen: „Die Tat Ahrenthals gewinnt immer mehr den Schein eines Fähnridisstreiches! Uns hat er nichts gesagt; 285

Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik Iswolski und Tittoni so verschleierte Andeutungen gemacht, daß sie sich als total betrogen vorkommen; den Sultan total unberücksichtigt gelassen, auf den es doch vor allen Dingen ankommt; den Schein der Verabredung mit dem Vertrags- und Friedensbrecher Ferdinand auf seinen Herrn geladen; die Serben zur Siedehitze gebracht; Montenegro aufs äußerste gereizt; die Kretenser zur Empörung veranlaßt; unsere zwanzigjährige, mühsam aufgebaute Türkenpolitik über den Haufen geworfen; die Engländer erbost und in Stambul an unsere Stelle befördert; die Griechen schwer geärgert durch seine Bulgarenfreundlichkeit; den Berliner Vertrag in Stücke geschlagen und das Konzert der Mächte auf das heilloseste verwirrt; die Ungarn aufgebracht, weil Bosnien an sie hätte angegliedert werden sollen; die Kroaten empört, weil sie die Angliederung an sich beabsichtigten!" Trotzdem Schloß sich der Kaiser sofort der Meinung Bülows an, Österreich müsse unbedingt unterstützt werden. Generalstabschef Helmut von Moltke versprach Österreich militärische Hilfe nicht nur, wenn es von Rußland angegriffen würde, sondern auch, wenn Österreich sich zu einem Angriff auf Serbien genötigt sähe und Rußland diesem dann Hilfe leisten würde. Dies ging freilich weit hinaus über die vorsichtige Bismardcsche Formulierung, wann der Bündnisfall gegeben sei, doch schien es bei der Lage im Jahre 1908 unerläßlich, zu zeigen, daß sich der Blodc der Mittelmächte durchzusetzen vermöge. Aber gerade die Erfolge, die er dabei erzielte, veranlaßten die Ententemächte, sich enger aneinanderzuschließen und ihre Rüstungen voranzutreiben. Italien war während der bosnischen Krise mit den beiden anderen Dreibundmächten zusammengegangen, befürchtete aber, daß ihm bei seinen Tripolisplänen Deutschland infolge seiner ausgesprochen türkenfreundlichen Politik jeden Beistand versagen würde. Als der Zar das italienische Königspaar in Racconigi besuchte, traf Italien am 24. Oktober ein Geheimabkommen mit Rußland. Dieses verpflichtete sich zur Förderimg der italienischen Kolonialbestrebungen in Nordafrika, dafür versprach Italien, sich für die Entwicklung der Balkanstaaten im Sinne des Nationalitätenprinzips und für die russischen Interessen an den Dardanellen einzusetzen. In dem russisch-bulgarischen Geheimabkommen vom Dezember dieses Jahres sicherte Rußland seine Unterstützung der bulgarischen Ansprüche auf die Gebiete an der rechten unteren Donau und am Schwarzen Meer zu, und Bulgarien erkannte Rußland als den Vorkämpfer des Panslawismus an. Uber die Absichten der Serben war sich Österreich völlig klar; sie hatten auf ihre nationalen Aspirationen keineswegs verzichtet, der während der Krise gegründete Propaganda- und Kampfverein entfaltete eine rege Spionagetätigkeit in Bosnien und den österreichisch-ungarischen Nachbargebieten. Mit der Türkei versuchte Deutschland das gute Verhältnis aufrechtzuerhalten, aber auch das verschärfte den Gegensatz zu den Ententemächten. Überdies blieb bei allen Beteiligten ein Gefühl des Mißtrauens zurück. England hatte Rußland unterstützt wie zuvor Frankreich bei der Marokkokrise, Deutschland nach einem späteren Äusspruch Bülows „sein Schwert für Österreich in die Waagschale geworfen". Wenn der Friede erhalten blieb, lag dies nicht so sehr an den Bedenken der Politiker gegen das Wagnis eines Krieges wie an der noch unzureichenden Rüstung 286

Deutsch-englische Flottenverhandlungen der Ententestaaten und daran, daß der Kriegsgrund, der serbische Nationalismus, dem deutschen, englischen und französischen Volke nicht eingeleuchtet hätte. Alle Großmächte waren freilich überzeugt, die große Auseinandersetzung werde einmal kommen, vor allem meinten viele Engländer, Deutschland erstrebe nicht nur die Hegemonie auf dem Festland, sondern auch die zur See.

Deutsch-englische

Flottenverhandlungen

Anschließend an die Beilegung der bosnischen Krise kamen wieder einmal die Besprechungen über Beschränkung der Flottenrüstungen in Fluß. Bei der Debatte im englischen Unterhaus über das Marinebudget erklärte Lord Grey am 29. März 1909: „Würde ich gefragt, welche Maßregel am meisten geeignet scheine, die Welt und Europa über die Aussichten des Friedens zu beruhigen, so würde ich ohne Zögern sagen: eine Verminderung der deutschen Rüstungsausgaben und eine korrespondierende Verminderung der unseren . . . Für uns ist die Flotte, was für jenes (Deutschland) die Armee ist. Für Deutschland würde eine starke Flotte Vermehrung des Ansehens, Vermehrung des diplomatischen Einflusses, Vermehrung des Handelsschutzes bedeuten. Sie ist für Deutschland aber durchaus keine so absolute Existenzfrage wie für uns. Die gewaltigste Überlegenheit der englischen Seemacht könnte uns nie in die Lage versetzen, die Unabhängigkeit oder Integrität Deutschlands anzutasten, da unsere Armee ohne Bundesgenossen auf dem Festlande nichts ausrichten könnte. Wäre aber die deutsche Flotte der unseren überlegen, so würde das bei der Stärke des deutschen Heeres unsere Unabhängigkeit und unsere Existenz aufs schwerste bedrohen." Grey schlug dann vor: ein allgemeines Abkommen über Begrenzung oder Verminderung der Flottenausgaben, eine von Jahr zu Jahr im voraus erfolgende Verständigung für die Marinebudgets, Austausch von Nachrichten über den beiderseitigen Schiffsbau mit wechselseitiger Kontrolle. Bülow verschloß sich dem Ernst der Lage nicht. „Unsere Beziehungen zu England sind die einzige schwarze Wolke am Horizont unserer auswärtigen Politik, der im übrigen jetzt heller ist als seit vielen Jahren", sagte Bülow am 3. Juni 1909 in der entscheidenden Sitzung, an der auch Theobald von Bethmann-Hollweg, Tirpitz, Moltke, der Botschafter in London, Metternich, und der Staatssekretär im Auswärtigen Amt, von Schoen, teilnahmen. Bülow wies darauf hin, daß diplomatische Mittel augenscheinlich nicht mehr genügten, um England zu beruhigen. Eine Verständigung mit ihm „über die Flottenbaufrage könnten wir vielleicht erreichen auf der Basis einer gegenseitigen Verlangsamung des Bautempos. Eine solche würde am besten in Verbindung mit einer Verständigung in anderen Fragen, z. B. auf kolonialem Gebiet, in Handelspolitik und allgemein politischer Natur, etwa in Form eines Neutralitätsabkommens erfolgen". Moltke vertrat den Standpunkt, daß „wir keinerlei Chancen haben, einen Konflikt mit England erfolgreich auszufechten". Eine Verständigung etwa auf der Basis einer Verlangsamung des Flottenbaus schien daher auch ihm erstrebenswert. Tirpitz stimmte mit Metternich darin überein, daß „wir einem Zusammenstoß 287

Kanzlerschaft Biilows — Außenpolitik mit England in den nächsten Jahren mit Ruhe nicht entgegensehen könnten", verhinderte jedoch durch das Festhalten an der Durchführung des Flottenbauprogramms das Zustandekommen eines aussichtsreichen Verständigungsvorschlages. Allerdings war Tirpitz bereit, ein Verhältnis der deutschen zur englischen Flotte von 3:4 zuzugestehen, forderte aber, daß die Durchführung des Flottenbauprogramms dadurch nicht gehemmt würde. Die Aufforderung Bülows, Tirpitz solle die Formel für eine Verständigung ausarbeiten, lehnte dieser mit der Begründung ab, England müsse zuerst an Deutschland mit bestimmten Vorschlägen herantreten. Bülow hatte nicht die Energie, sich gegen Tirpitz, auf dessen Seite auch der Kaiser stand, durchzusetzen. So blieb es bei den schon oft wiederholten Versicherungen des guten Willens und der friedlichen Absichten Deutschlands.

Die Bagdadbahn In den deutsch-englischen Beziehungen spielte seit einem Jahrzehnt auch die Frage der Bagdadbahn eine gewisse Rolle. Der Kaiser hatte bei seiner Orientreise 1898 die Zusicherung des Sultans erlangt, Deutschland mit dem Bau einer Bahn von Haidar Pascha über Bagdad-Basra bis zum Persischen Golf zu beauftragen. Die Interessen Deutschlands waren dabei rein wirtschaftlicher und keineswegs politischer Art. Abgesehen von dem Bahnbau selbst handelte es sich um die Erschließung der einst so fruchtbaren mesopotamischen Ebene. Der deutsch-türkische Handel stieg von 66 Millionen Mark im Jahr 1900 auf 172 Millionen im Jahr 1911. Trotz der unzweifelhaften Beschränkung Deutschlands auf wirtschaftliche Beziehungen wurde der Bagdadbahnbau zu einem politischen Faktor in dem Verhältnis Deutschlands zu England, Rußland und Frankreich. Der Bahnbau wurde von der Deutschen Bank finanziert, die schon die Führung der Anatolischen Eisenbahngesellschaft (S. 234) hatte. Ihr Präsident, Dr. Georg von Siemens, förderte bis zu seinem Tode 1901 beide Unternehmen in hervorragender Weise. Freilich ging es damit vorerst sehr langsam, nach dem türkischen Sprichwort „Die Eile kommt vom Teufel, von Gott aber kommt geduldiges Warten". Nach vielen Intrigen nicht nur von türkischer, sondern auch von englischer und französischer Seite, kam durch einen Erlaß des Sultans vom 16. Januar 1903 die endgültige Konzession für 99 Jahre zum Bau und Betrieb der Bahn zustande. Der dabei verteilte landesübliche Bakschisch wurde auf etwa 10 Millionen Francs geschätzt. Die erste Strecke von Konia, dem Abzweigungspunkt von der schon bestehenden anatolischen Bahn, bis Bulgurlu wurde bis zum 25. Oktober 1904 vollendet, dann dauerte es aber bis zum 2. Juni 1908 ehe die nächsten 840 Kilometer finanziell und technisch so weit gesichert waren, daß mit dem Weiterbau dieser schwierigsten und teuersten Strecke der Bahn begonnen werden konnte. Erst Ende 1918 wurde der große Taurustunnel fertiggestellt. In keinem Verhältnis zu diesem langsamen Fortschreiten des Bahnbaus stehen die diplomatischen Verhandlungen mit England, Rußland und Frankreich, die all die Jahre bald mehr, bald weniger intensiv geführt wurden. Jedes der drei Länder 288

Bagdadbahn hatte andere Interessen, aber durch ihre Bindungen untereinander und besonders durch Englands immer stärker hervortretenden Willen, nur gemeinsam mit Frankreich und Rußland zu verhandeln, wurde die Lage kompliziert. Rußland war gegen jede wirtschaftliche und strategische Stärkung des türkischen Reiches, die eine natürliche Folge des Bahnbaus war, außerdem verteidigte es sein Interessengebiet vom Schwarzen Meer bis Nordpersien, was Deutschland ohne weiteres zu respektieren bereit war. Frankreich hatte in der Türkei viel Geld investiert, kontrollierte die Banque Ottomane und befürchtete eine Minderung seines wirtschaftlichen Einflusses. Auch hier wäre eine Einigung zu erreichen gewesen, weil Deutschland gerne bereit war, fremdes Kapital zu beteiligen, solange die deutsche Aktienmehrheit und Führung unangetastet blieb. Die englische Regierung war zunächst froh über die Zurückdrängung Rußlands durch Deutschland, sah sich aber mit dem Anwachsen der deutschfeindlichen Stimmung in England durch den deutschen Flottenbau zu einer immer ablehnenderen Haltung gedrängt. Englands Interesse an diesem Gebiet wurde vor allem durch Indien bestimmt; die Gegend am Persischen Golf, der Endpunkt der Bahn, mußte unter englische Kontrolle kommen; eine Forderung, für die auch die deutsche Diplomatie durchaus Verständnis hatte und für deren Erfüllung sie zu Konzèssionen bereit war. Aber England verlangte die Kontrolle der Bahn bis Bagdad, damit hätte es Mesopotamien in der Hand gehabt, und dagegen wehrte sich die Türkei entschieden. England wollte Deutschland die Festigkeit der französisch-russisch-englischen Entente beweisen und verlangte deshalb immer wieder eine Konferenz der vier Mächte, obwohl sie sinnlos gewesen wäre, da es keine gemeinsamen Interessen zu besprechen gab und sich die Sonderinteressen am besten in Abmachungen mit den einzelnen Ländern berücksichtigen ließen. England hoffte wohl, durch den gemeinsamen Druck der Entente Deutschland zu zwingen, den Bahnbau und den Betrieb völlig zu internationalisieren sowie die Führung des von ihm rechtmäßig erworbenen Unternehmens an einen internationalen Konzern abzutreten, in welchem es in der Minderheit gewesen wäre. Dazu war die deutsche Regierung selbstverständlich nicht bereit, vor allem weil ihr die Finanzierung der Bahn unter Hinzunahme von fremdem, besonders privatem französischem Kapital gelang; England hatte 1903 die zunächst versprochene Beteiligung zurückgezogen. Allzu optimistisch faßte Bülow am 24. März 1908 die Vorteile für die deutsche Industrie und den Handel zusammen, betonte, daß Deutschland keinerlei politische Ziele und Hintergedanken habe, wies die Verdächtigungen des Auslandes zurück und hoffte, allmählich würden alle erkennen, daß wir nichts wollen als „ein im Altertum blühendes Kulturland aus Jahrtausende langem Schlummer wieder erwecken zu helfen und damit uns und anderen ein neues Absatzgebiet zu schaffen".

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Bühler, Deutsche Geschichte, VI

289

Kanzlerschaft Bülows — Innenpolitik INNENPOLITIK Zölle und Handelsverträge.

Kleine Finanzreform

1906

Mitte Oktober 1900 war Reichskanzler Fürst Hohenlohe zurückgetreten, verstimmt, daß Kaiser Wilhelm ohne seine Mitwirkung „die ganze chinesische Angelegenheit in Szene gesetzt" hatte (S. 247). Diese chinesische Angelegenheit veranlaßte dann am 19. November Bülow zu seiner ersten großen Rede als Reichskanzler vor dem Reichstag. Wie Bülow die Kritik verschiedener Abgeordneter an der deutschen Chinaexpedition und den Vorwurf, der Reichstag hätte schon früher einberufen werden müssen, mit sarkastisch-witzigen Bemerkungen und mit sachlichen Gründen zurückwies, und wie er den Reichstag zur nachträglichen Bewilligung der Kosten für die Chinaexpedition bewog, ließ erkennen, daß sich auch auf dem ihm bisher fremden Felde der Innenpolitik seine Kunst der Rede und der Überredung bewährte, zumal da Abgeordnete dergleichen zugänglicher waren als gewitzte Diplomaten und auf ihre militärischen Grundsätze eingeschworene Generale. Eine der vordringlichsten Aufgaben war die Neureglung der Zölle, da die 1891/94 von Caprivi auf je 12 Jahre abgeschlossenen Handelsverträge (S. 188) 1903 abzulaufen begannen und, ehe über ihre Erneuerung verhandelt werden konnte, die deutschen Zollsätze entsprechend der inzwischen eingetretenen Wirtschaftsentwicklung festgesetzt sein mußten. Auf die Schwierigkeiten, die sich daraus für die Regierung ergaben, wies Bülow März 1901 in einer Reichstagsrede hin: „Ich erhalte jetzt jeden Tag eine Reihe von Briefen, Eingaben und Resolutionen, worin ich gebeten werde, beispielsweise einer Erhöhung der Getreidezölle zuzustimmen, und ich erhalte Eingaben, Briefe und Resolutionen, worin ich beschworen werde, einer solchen Erhöhung mich zu widersetzen. Es geht da zu, wie in der Fabel des alten Aesop, wo der Gärtner um Regen bittet und der Töpfer um Sonnenschein. Ich halte es für meine Aufgabe, gemeinsam mit der Volksvertretung, mit Ihnen, meine Herren, eine möglichst richtige und gerechte Diagonale zu finden, die verschiedenen Interessen abzuwägen und die sich widerstreitenden Interessen tunlichst abzugleichen . . . Ich bin der Meinung, daß die Landwirtschaft das wichtigste Glied eines jeden Staates ist, und daß ihr Blühen unerläßlich ist für das Blühen und Gedeihen, die Selbständigkeit und Unabhängigkeit des Landes nach außen und die gesamte Wohlfahrt . . . Ich halte eine Erhöhung der Zollsätze für Getreide und insbesondere für Weizen und Roggen für unerläßlich. Dieser Erhöhung ist eine Grenze gesetzt durch die gebotene Rücksichtnahme einerseits auf die Erhaltung der Leistungsfähigkeit und Exportfähigkeit unserer Industrie, andererseits auf die Wahrung günstiger Bedingungen für den Lebensunterhalt des deutschen Arbeiters . . . Ein enger Zusammenhang zwischen Landwirtschaft und Industrie ist von der allerhöchsten Bedeutung für alle Erwerbsstände für eine gute und gesunde Entwicklung." Bülow betonte dann die Notwendigkeit einer Erneuerung der Handelsverträge, die gegenüber den früheren verbessert werden und Sicherheit auf eine Reihe von Jahren für den Export bieten sollten, der von großer Bedeutung auch für die Landwirtschaft sei: „Die Inter290

Zölle und Handelsverträge essen der steigenden Wohlfahrt der Bevölkerung sind auf den Export angewiesen." Ende Juli wurden die Entwürfe zum Zolltarif und zum Zolltarifgesetz veröffentlicht; sie beruhten auf teilweise bis 1897 zurückreichenden Vorarbeiten. Als wesentlichste Neuerung waren vorgesehen die Erhöhung der Getreidezölle von 3,50 M auf 5 M und die Verpflichtung der Regierung, bei Handelsverträgen unter diese Mindestzölle nicht herunterzugehen. Die Linkspresse lehnte diese Entwürfe entschieden ab. Ein Artikel des „Vorwärts" Schloß: „Auf diesen Wuchertarif gibt es nur eine Antwort: Nieder mit ihm!"; schärfer nodi die „Vossische Zeitung": „Dieser Zolltarif ist ein Alarmruf an die deutsche Nation, auf den deren ungeheure Mehrheit nur eine Antwort haben kann: Auf die Schanzen!" Andererseits schrieb das Organ des Bundes der Landwirte, die „Deutsche Tageszeitung": „Der Tarif kann nicht die bescheidensten Landwirte zufriedenstellen; der Zoll für Roggen, Weizen, Gerste, Hafer muß 7,50 M betragen." Die nationalliberale „Kölnische Zeitung" und das Zentrumsblatt „Kölnische Volkszeitung" hielten die Tarife für tragbar. Die Debatten bei der ersten Beratung des Zolltarifentwurfs im Reichstag während der ersten Dezemberhälfte endeten, wie in derartigen Fällen üblich, mit der Uberweisung an eine Kommission, die sich aus Abgeordneten der verschiedenen Parteien zusammensetzte. Da der Tarif an die tausend Einzelposten umfaßte und Kommissionen häufig nur langsam zu Ergebnissen kamen, mußte an und für sich mit einer langen Dauer bis zu einer endgültigen Entscheidung gerechnet werden. Im Sommer 1903 lief die Legislaturperiode ab; ein Wahlkampf im Zeichen des künftigen Zolltarifs hätte höchst unerfreuliche Begleiterscheinungen durch maßlose Kämpfe der Interessengruppen heraufbeschworen; deshalb drängte die Regierung auf möglichste Beschleunigung und erreichte damit immerhin, daß die Beschlüsse der Kommission dem Reichstag Mitte Oktober 1902 zur zweiten Beratung des Zolltarifs vorgelegt werden konnten. Um die Annahme bis nach den Reichstagswahlen zu verzögern, beantragte die sozialdemokratische Partei eine namentliche Abstimmung über jeden Einzelposten und griff außerdem zu dem Mittel der Obstruktion: die Verzögerung der Beratungen durch Dauerreden über die Geschäftsordnung. Die Konservativen, Nationalliberalen und das Zentrum setzten dagegen Beschränkung der Redezeit durch, und daß jeder Abgeordnete über alle Posten insgesamt abzustimmen hätte. Auf diese Weise entschied sich die Mehrheit des Reichstags in der dritten Lesung Mitte Dezember für eine Reglung, die im wesentlichen teils die Anträge der Regierung, teils die Beschlüsse der Kommission billigte und extreme Forderungen sowohl der Agrarier als auch der Sozialdemokraten ablehnte. Der Ausgang der Reichstagswahl vom 16. Juni 1903 und der ihr folgenden Stichwahlen wurde zum guten Teil durch diese Reglung des Zolltarifs bestimmt, so maßvoll sie war. Die Sozialdemokraten gewannen zu ihren 56 Sitzen noch 26 und vermehrten die Zahl ihrer Wähler von 2 107 000 auf 3 011 000. Der „Vorwärts" triumphierte: „Mit Donnerstimme reden die Zahlen der Stimmen. Der Brotwucher ist gerichtet und alles, was um ihn sich drängt. Die Wahlen sind ein zerschmetternder Schlag für das ganze herrschende System. Wenn die Nacht vollendet, was bis 291 19·

Kanzlerschaft Bülows — Innenpolitik Mitternacht begonnen, dann bereitet sich eine Weltwende der deutschen Politik vor. Deutschland wird zum Lande des Sozialismus, dem unüberwindlich vorwärtsdrängenden. Der Sieg des deutschen Proletariats ist der Sieg der deutschen Kultur. Unser das Reich — unser die Welt!" So überwältigend war indes der Erfolg der Gegner des „Brotwuchers" nicht; hinter ihnen standen nur etwas über 3,8 Millionen Wähler, aber hinter den Abgeordneten, die für den Zolltarif eintraten, ungefähr 5V2 Millionen. Nach Annahme des Zolltarifgesetzes begann das Auswärtige Amt mit den Verhandlungen über die Verlängerung der Handelsverträge. Es hatte dabei teilweise große Schwierigkeiten zu überwinden, weil inzwischen auch einige andere Staaten zur Schutzzollpolitik übergegangen waren und nun ein Ausgleich zwischen ihren und den deutschen Zollsätzen gefunden werden mußte. Am 1. Februar 1905 legte Bülow dem Reichstag die Handelsverträge mit Italien, Belgien, Rußland, Rumänien, der Schweiz, Serbien und Österreich-Ungarn zur Beschlußfassung vor und begründete sie in ausführlichen Darlegungen. Er Schloß: „Die Verträge können nur im ganzen angenommen oder verworfen werden. Von den neuen Verträgen wird kein Erwerbsstand im Deutschen Reich ganz befriedigt werden. Es liegt im Wesen des Vertrags, daß nicht alle Wünsche erfüllt werden können. Die verschiedenen Erwerbsgruppen sollen aber in den Verträgen nicht nur sehen, was sie ihnen nicht bringen, sondern das Gute anerkennen, was sie für sie enthalten, und dann die Vorteile gegen die Nachteile abwägen. Eine gerechte Beurteilung wird zu der Anerkennung führen müssen, daß die neuen Verträge auf einer für uns annehmbaren Grundlage abgeschlossen sind, auf der Grundlage der Wahrung unserer berechtigten Interessen und der vollen Gegenseitigkeit. Die neuen Verträge bringen unserer Landwirtschaft den Schutz, dessen sie unbedingt bedarf, ohne die Interessen der Gesamtheit in unbilliger Weise zu schädigen. Wir schaffen für unsere Industrie und unseren Handel Bedingungen, unter denen sie gedeihen und sich entwickeln können . . . Wir eröffnen dem Reiche neue Einnahmequellen, deren wir bei unserer sehr ungünstigen finanziellen Lage dringend bedürfen." Am 22. Februar billigte der Reichstag in der entscheidenden dritten Lesung die sieben Handelsverträge; 1906 die mit Abessinien und Schweden, 1907 mit den Vereinigten Staaten und mit der Türkei, 1908 den mit Portugal. Die Richtigkeit von Bülows Zoll- und Handelspolitik erwies sich besonders augenfällig während des Krisenjahres 1908 mit seiner allgemeinen Depression und verbreiteten Arbeitslosigkeit. Die Ausfuhr Deutschlands ging erheblich weniger zurück als die anderer Länder. Das vergleichsweise günstige Ergebnis war in erster Linie den mit den wichtigeren europäischen Staaten abgeschlossenen Handelsund Tarifverträgen zu danken. Während die deutsche Gesamtausfuhr gegenüber dem Vorjahr von 6,8 Milliarden auf 6,4 Milliarden Mark, also um 6,5 % zurückging, sank die Ausfuhr nach den zehn europäischen Staaten, mit denen Deutschland Tarifverträge hatte, nur um 1,1%. Uberhaupt nahm der Aufschwung von Industrie und Landwirtschaft überall seinen Fortgang, getrieben durch die Anwendung intensiverer Arbeitsweisen und wissenschaftlicher Methoden, zusätzlich begünstigt durch den Schutz der Zölle und durch die Wirkung der Handelsver292

Kleine Finanzreform 1906

träge. Die Erträgnisse der Landwirtschaft wuchsen erheblich, besonders auf den großen Gütern. Die Löhne der Arbeiter, namentlich der Bergarbeiter, stiegen, so daß sich ihre Lebenshaltung besserte, allerdings nicht in dem Maße, daß ihr Einkommen oder ihre sonstigen Arbeitsverhältnisse der Sozialdemokratie nun keinen Stoff mehr für ihre Agitation geboten hätten; sehr viel wurde, nicht nur von Arbeitern, über die rasch zunehmenden Fleischpreise geklagt. Für die sich stetig günstiger gestaltende Lage eines beträchtlichen Teiles des Mittelstandes ist es bezeichnend, daß der Überschuß der Einzahlungen in die Sparkassen über die Rückzahlungen 1906 734 Millionen betrug, sechs Jahre später 853 Millionen Mark. Der Ausbau des Patentwesens und die Kartellisierung der bedeutendsten Industriezweige begünstigten das Hochkommen großer Vermögen. Der Notenumlauf betrug 1900 1,6 Milliarden Mark, 1913 2,75 Milliarden; der Reichsbankumsatz 1900 189 Milliarden, 1913 422 Milliarden Mark. Um 1913 hatte Deutschland als industrielle Macht „seinen Nachbarn Frankreich hinter sich gelassen, hatte England in wichtigen Punkten erreicht und produzierte ungefähr ebensoviel industrielle Waren pro Kopf der Bevölkerung wie die Vereinigten Staaten von Amerika" (Kuczynski). Die finanzielle Lage des Reiches entsprach keineswegs der wirtschaftlichen Entwicklung und der mit ihr verbundenen Kapitalbildung. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts nahm das Defizit im Reichshaushalt ständig zu, was teilweise daran lag, daß die Ausgaben für Heer und Flotte überwiegend durch Anleihen bestritten wurden, die vom Reich verzinst werden mußten. Bei Eröffnung des Reichstags am 3. Dezember 1903 wies Bülow auf die Notwendigkeit einer besseren Ordnung der Reichsfinanzen und des finanziellen Verhältnisses zwischen dem Reich und den einzelnen Bundesstaaten hin. Dem Reichstag ging dann eine Gesetzesvorlage in diesem Sinne zu. Der Staatssekretär des Reichsschatzamtes, Hermann von Stengel, führte dazu aus: das Etatsjahr 1903 werde mit einem Fehlbetrag von 20 Millionen enden. Der Schwerpunkt der Vorlage liege in der Einschränkung der Frankensteinsdien Klausel von 1879 (S. 49), wonach die Bundesstaaten unter bestimmten Umständen vom Reich einen Teil der Zollerträge und der Tabaksteuer erhalten und an das Reich Matrikularbeiträge zu zahlen haben, so daß „ohne ersichtlichen Zweck heute über eine halbe Milliarde zwischen dem Reich und den Bundesstaaten hin- und hergeschoben wird". Am 9. Mai 1904 genehmigte der Reichstag mit einigen Änderungen die Gesetzesvorlage. Demnach durften den Bundesstaaten von den Reichseinnahmen nur noch die damals 108 Millionen Mark einbringende Branntweinverbrauchssteuer, die Stempelabgaben, die Maischbottichsteuer und die Branntweinmaterialsteuer überwiesen werden. Dem Reich verblieben die Tabaksteuer und der Ertrag der Zölle. Die Forderung der Regierung, für die Matrikularbeiträge eine Grenze festzusetzen, lehnte der Reichstag ab. Wenn so auch die Überweisungen an die Bundesstaaten beträchtlich eingeschränkt wurden und die Überschüsse, die nach Artikel 70 der Reichsverfassung für fortlaufende Ausgaben des Reiches hatten verwendet werden müssen, nunmehr der Deckung außerordentlicher Ausgaben dienen sollten, besserte die „kleine", lex Stengel genannte Reform die Finanzlage des Reiches nur wenig. 293

Kanzlerschaft Biilows —• Innenpolitik Ende November 1905 gab die offiziöse „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" eine Übersicht über die Finanzen. Demnach war für 1905 mit einem Fehlbetrag von 78 Millionen zu rechnen. Die Reichsschuld sei seit 1877 von 72,2 Millionen Mark auf über 3,5 Milliarden emporgeschnellt; der in diesem Wachstum liegenden Gefahr müsse durch gesetzliche Festlegung der Tilgungspflicht gesteuert werden. Die bevorstehenden Aufwendungen für Militär, Flotte, Aufbesserung des Wohnungsgeldzuschusses für die unteren Beamten usw. erforderten mindestens 2 4 5 — 255 Millionen Mark, von denen 220 bis 230 Millionen durch neue Steuern und Zölle aufgebracht werden müßten. Der Bundesrat habe sich deshalb auf eine Reihe von Vorschlägen geeinigt, die als gesetzgeberische Maßnahmen gedacht seien. Der Reichstag befaßte sich in der üblichen Weise mehrmals mit den Vorschlägen des Bundesrats, die Bülow im allgemeinen und Stengel im einzelnen begründete, und nahm am 19. Mai 1906 die in verschiedenen Punkten abgeänderte Vorlage an: Einführung einer Reichserbschaftssteuer und von Steuern auf Eisenbahnfahrkarten, Frachturkunden, Automobile, Zigaretten, Aktien, Erhöhung der Bier- und Börsensteuer und des Ortstarifs für Postsendungen. Die Gesamterträgnisse dieser Steuern waren auf etwa 200 Millionen Mark veranschlagt als Minimum für den Mehrbedarf des Reichshaushaltes im Jahresdurchschnitt, tatsächlich ging aber nur ungefähr die Hälfte davon ein.

Aufstände in Deutsch-Südwestafrika.

Reichstagsdebatte

über

Kolonien

Bei Debatten über die Reichsfinanzen kamen auch die ständig zunehmenden Ausgaben für die Kolonien zur Sprache. An ihrem territorialen Umfang änderte sich, abgesehen von einigen Grenzregulierungen, nichts. Zu einer schweren Krise kam es, als in Südwestafrika im Oktober 1903 die Bondelzwarts und dann im Januar die großen Stämme der Herero sowie im September 1904 der Hottentotten sich gegen die Herrschaft der Weißen erhoben. Wie die Kolonialkriege im allgemeinen wurde auch dieser von beiden Seiten ungemein grausam geführt. Die Engländer suchten Deutschland zunächst dadurch Schwierigkeiten zu bereiten, daß sie die Aufständischen als kriegführende Mächte anerkannten, später kam die englische Regierung davon aber doch ab und gestattete die Verpflegung der deutschen Truppen über die englische Grenze. Die Farmen der Deutschen wurden zerstört, viele Männer, Frauen und Kinder ermordet. Die Schutztruppe, vom Mutterland aus laufend verstärkt, schlug sich tapfer, obwohl sie unter dem Klima, der Natur des wasserarmen Landes und einer Typhusepidemie sehr litt. Die Hereros zogen sich nach verlustreichen Kämpfen in die schwer zugänglichen Gebiete des Waterbergs zurück, wo ihr Widerstand gebrochen wurde, ein Teil schlug sich auf englisches Gebiet durch und wurde hier entwaffnet, andere verhungerten und verdursteten lieber mit Frauen und Kindern in der Wüste, in die sie von den deutschen Truppen gedrängt wurden, als daß sie sich ergaben; die Reste setzten den Bandenkrieg fort, bis sie sich 1905 unterwarfen und die Waffen ablieferten. Der große Viehbestand der Hereros war vernichtet und der Verlust 294

Aufstände in Deutsch-Südwestafrika an Menschenleben in dem dünnbesiedelten Land nur allmählich aufzuholen. Der Aufstand der Hottentotten war im wesentlichen zu Ende, als ihr Führer Hendrik Witboi im Oktober 1905 fiel; der achtzigjährige, christlich getaufte Häuptling soll geglaubt haben, Gott habe ihn mit der Vertreibung der Weißen beauftragt. Die Bandenkämpfe unter Führung verschiedener Häuptlinge zogen sich noch bis 1908 hin. Die Gesamtverluste der deutschen Truppen in Südwestafrika bei den Kämpfen 1903/07 beliefen sich nach der amtlichen Zusammenstellung des Großen Generalstabs auf 96 tote Offiziere und 1395 tote Mannschaften, verwundet wurden 89 Offiziere, 818 Unteroffiziere und Mannschaften. Vom 25. Oktober 1903 bis zum 8. Februar 1907 fanden 295 Gefechte statt, 88 gegen die Herero und 207 gegen die Hottentotten. Die Kriegskosten betrugen ungefähr 250 Millionen Mark. Nebenher gingen 1905/06 Kämpfe zur Unterdrückung eines Aufstandes in Deutsch-Ostafrika und von Unruhen in Kamerun. Im Reichstag, der die Mittel für die Kriegführung und die Entschädigung der Farmer zu bewilligen hatte, kam es seit dem Frühjahr 1904 zu teilweise sehr erregten Auseinandersetzungen über die Zustände in den Kolonien im allgemeinen, über die Behandlung der Eingebornen, über Fehlgriffe und Vergehen der Verwaltungsbeamten und vieles andere. Dabei übte besonders der Zentrumsabgeordnete Matthias Erzberger scharfe Kritik; so lehnte er jede Entschädigung der Ansiedler ab: Wer hinausgehe, um Geld zu verdienen, müsse auch ein Risiko tragen. Der Reichstag bewilligte dann doch mit großer Mehrheit den Antrag der Budgetkommission: 3 Millionen Mark für die Ansiedler, außerdem 15 Millionen zur Wiederherstellung der Eisenbahn Swakopmund-Windhuk. Die Kolonialkriege belebten überhaupt das Interesse des deutschen Volkes an seinen Kolonien. Ihre wirtschaftliche Erschließung schritt rascher voran durch Eisenbahnbauten, größere Kapitalinvestitionen, Erweiterung des Anbaus von Kolonialprodukten wie Baumwolle, Ölfrüchte, Kakao, Kaffee, durch Ausbeutung von Kupferminen und der Diamantfelder von Lüderitzbucht. Wegen der starken Erweiterung des Aufgabenkreises der Kolonialabteilung im Auswärtigen Amt wurde Ende November 1905 von der Regierung die Umwandlung der Kolonialabteilung in ein selbständiges Reichsamt unter einem Staatssekretär gefordert. Bülow begründete am 8. Dezember die Notwendigkeit dieser Umwandlung vor dem Reichstag, der Ende März 1906 die Errichtung des Staatssekretariats bewilligte; aber zwei Monate später, bei der dritten Beratung des Etats, wurde derselbe Punkt im Reichstag zur allgemeinen Überraschung mit 142 gegen 119 Stimmen abgelehnt, die Ablehnung kam überwiegend von Abgeordneten des Zentrums (65) und der Sozialdemokratie (66). Am 10. September wurde der Direktor der Darmstädter Bank, Bernhard Dernburg, zum Leiter der Kolonialabteilung ernannt. Er sollte auf Grund seiner kaufmännischen Erfahrungen die wirtschaftliche Erschließung der Kolonien fördern, für die Beseitigung augenscheinlicher Mißstände in der Kolonialverwaltung sorgen, die „unpraktisch abgeschlossenen Lieferungsverträge revidieren und das Personal schärfer disziplinieren". Als im Reichstag wieder einmal schwere Vorwürfe gegen Kolonialbeamte erhoben wurden, stellten sich Dernburg und Bülow schützend vor die angegriffe-

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Kanzlerschaft Bülows — Innenpolitik nen Beamten und versicherten, die wirklich Schuldigen würden bestraft werden. Die in diesen Vorwürfen zutage getretene Unzufriedenheit des Zentrums und selbstverständlich der Sozialdemokraten mit Bülows Politik fand ihren stärksten Ausdruck am 13. Dezember bei der Ablehnung des Nachtragsetats für Südwestafrika. In dieser Reichstagssitzung wies Bülow die Behauptung zurück, er habe einmal gesagt: „nur keine inneren Krisen" und fuhr dann fort: „Es gibt Situationen, wo ein Zurückschrecken vor Krisen ein Mangel an Mut, ein Mangel an Pflichtgefühl wäre. Wenn Sie wollen, haben Sie diese Krisis! Parteien können Forderungen annehmen oder ablehnen, denn Sie tragen keine Verantwortung. Die Regierung darf sich nicht vor Wünschen und Interessen einzelner Parteien beugen, wenn ihre höchste Aufgabe, die nationale, in Frage steht . . . Es handelt sich um unsere ganze nationalpolitische Stellung, um mehr als das, um unsere Stellung in der Welt. Glauben Sie, meine Herren, daß so was keine Rückwirkung auf das Ausland hat? Was würde es für einen Eindruck machen im Innern und nach außen, wenn die Regierung in einer solchen Lage, in einer solchen Frage kapitulieren und nicht die Kraft in sich finden sollte, ihre nationale Pflicht zu erfüllen? Wir werden unsere Pflicht tun im Vertrauen auf das deutsche Volk." Bei der nun folgenden Abstimmung wurde die Regierungsvorlage mit geringer Mehrheit abgelehnt. Hierauf teilte Bülow die für diesen Fall vorgesehene kaiserliche Verordnung mit, daß hiermit der Reichstag aufgelöst sei.

Bülow und das Zentrum.

Der Bülowblock

Bülow ging es jetzt vor allem darum, das Zentrum aus seiner Schlüsselstellung, die es seit 1881 im Reichstag einnahm, zu verdrängen. Bisher war Bülow mehrfach den Wünschen des Zentrums entgegengekommen. Unter der Leitung Bülows bewilligte der Reichstag im Mai 1901 den ersten Teil des „Toleranzantrags", volle Freiheit des religiösen Bekenntnisses der Reichsangehörigen; im Mai 1903 die Errichtung einer katholisch-theologischen Fakultät in Straßburg; 1904 die Aufhebung des § 2 des Jesuitengesetzes, nach dem ausländische Jesuiten ausgewiesen werden konnten und deutschen Jesuiten der Aufenthalt in bestimmten Bezirken oder an bestimmten Orten versagt oder angewiesen werden konnte, während § 1, der geschlossene Ordensniederlassungen der Jesuiten im Deutschen Reich verbot, weiterhin bestehen blieb; im Februar 1905 den 2. Teil des Toleranzantrages, Religionsfreiheit der staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften wie: „Vorschriften und Anordnungen einer Religionsgemeinschaft, welche sich auf die Religionsübung beziehen, bedürfen zu ihrer Gültigkeit weder einer Mitteilung an die Staatsbehörde noch einer Genehmigung von Seiten der Staatsbehörde." In einem zur Veröffentlichung bestimmten Brief vom 31. Dezember 1906 an den Vorsitzenden des Reichsverbandes gegen die Sozialdemokratie, General Eduard von Liebert, legte Bülow die Gründe für sein früheres und sein jetziges Verhalten gegenüber dem Zentrum dar und seine Ansichten über eine Neugruppierung der Parteien: „Die parlamentarische Lage, die ich bei meinem Amtsantritt vorfand, 296

Bülow und das Zentrum war nicht wesentlich verschieden von der im letzten Reichstag: die bürgerliche Linke in drei, vier Gruppen gespalten, die Rechte einiger zwar, aber an Zahl ebenso schwach wie die Liberalen zusammen; in der Mitte die stärkste Partei, das Zentrum, schon damals nahezu imstande, entweder nebst Polen, Weifen usw. mit den Sozialdemokraten oder den Konservativen und dem rechten Flügel der Liberalen eine Mehrheit zu bilden. Eine andere Möglichkeit als mit dem Zentrum die Geschäfte zu erledigen, gab es namentlich seit den Wahlen von 1903 nicht . . . Jedenfalls darf nicht vergessen werden, daß die wichtigsten Aufgaben, die Verstärkung der Seewehr, die Handelsverträge, die Finanzreform, nur mit Hilfe des Zentrums zu lösen waren und gelöst worden sind. Ich habe diesen Zustand der Abhängigkeit der parlamentarischen Ergebnisse von dem guten Willen e i n e r Partei in dem vielgestaltigen deutschen Parteigetriebe immer als nicht unbedenklich empfunden. Ihn zu ändern hatte ich so lange keinen Grund, als das Zentrum sich bereit zeigte, mit den verbündeten Regierungen (Bundesrat) positive Arbeit zu leisten, und der Versuchung, seine parlamentarische Stärke zu mißbrauchen, nicht nachgab. Aber bereits im Frühjahr des abgelaufenen Jahres wurden drei dringend nötige Forderungen, die Eisenbahn Keetmannshoop (in Südwestafrika), die Entschädigung der Farmer, die Errichtung eines Kolonialamtes durch eine von Zentrum und Sozialdemokratie geführte Oppositionsmehrheit verworfen . . . Es reifte in mir der Entschluß, jedem neuen Versuch solcher Machtproben bei ernsten und wichtigen Angelegenheiten des Reiches mit aller Kraft entgegenzutreten. Neben der dann notwendigen Wahrung der Autorität der Regierung und ihrer Stellung über den Parteien schien mir auch ein gewisser Wandel in den doktrinären Anschauungen der Vertreter des liberalen Bürgertums und der steigende Widerwille gegen das sozialdemokratische Treiben die Hoffnung zu rechtfertigen, daß eine Änderung der parlamentarischen Lage durch das deutsche Volk selbst möglich sei. In Deutschland gibt es keine einheitliche liberale Partei, die den klaren Willen und die Fähigkeit gezeigt hätte, positive Politik zu machen . . . Innere Uneinigkeit, negativer Doktrinarismus, Ubertreibung der Prinzipien und Unterschätzung des praktisch Erreichbaren haben es nicht zu dem vom Liberalismus erstrebten Einfluß auf die Regierungsgeschäfte kommen lassen. Erst im letzten Jahrzehnt hat sich darin manches geändert . . . Manches wird noch zu lernen sein: Maßhalten, richtiges Augenmaß und Blick in die Nähe, Sinn für historische Kontinuität und reale Bedürfnisse. Ich glaube nun keineswegs, daß aus den Wahlen eine große geeinigte liberale Partei hervorgehen und etwa den Platz des Zentrums einnehmen könnte. Wohl aber könnten die Parteien der Rechten, die Nationalliberale Partei und die weiter links stehenden freisinnigen Gruppen, bei zielbewußtem Vorgehen im Wahlkampf soviel Boden gewinnen, um eine Mehrheit von Fall zu Fall zu bilden . . . Je mehr auf der Linken die Bereitschaft zur Befriedigung der großen nationalen Bedürfnisse für den Kolonialbesitz, für Heer und Flotte zunimmt, um so breiter und fester kann die Brücke werden, und wohl würden sich auch die nationalgesinnten Elemente, die im Zentrum vorhanden sind, mit allen anderen bürgerlichen Parteien in solchen Fragen leichter zusammenfinden, wenn mit dem Wegfall der Möglichkeit einer 297

Kanzlerschaft Bülows — Innenpolitik

schwarz-roten Majorität der Fraktionsegoismus des Zentrums der Handhabe beraubt wäre, sich rücksichtslos gegen die Regierung geltend zu machen. Die bedenklichste Folge davon, daß sich das Zentrum der sozialdemokratischen Stimmen zur Bildung eines oppositionellen Blockes bedienen konnte, war die Bedeutung, die dadurch die Sozialdemokratie selbst im verflossenen Reichstag erlangte." Kurz vor der auf den 25. Januar 1907 festgesetzten Neuwahl griff Bülow noch einmal in den heftig entbrannten Wahlkampf ein, wobei er sich besonders mit dem Wahlaufruf und Zeitungsartikeln des Zentrums auseinandersetzte. An der Hauptwahl und den ihr folgenden am 5. Februar abgeschlossenen Stichwahlen beteiligten sich 84,7 % der Wahlberechtigten gegenüber 76,1 % bei den Wahlen 1903. Von den vier größten Parteien zogen in den neuen Reichstag ein 105 Abgeordnete des Zentrums (1903: 100), 62 der Konservativen (52), 55 der Nationalliberalen (52), 43 der Sozialdemokraten (82). Uber die tatsächliche politische Einstellung der Wähler geben indes diese Zahlen keinen Aufschluß. Die Sozialdemokraten haben 1907 gegenüber 1903 fast 300 000 Stimmen gewonnen; im ganzen erhielten 1907 die zur Regierung in Opposition stehenden Parteien, Zentrum, Sozialdemokraten, Polen und einige kleinere Parteien, etwas über 6 Millionen Stimmen, aber nur 176 Sitze; die Regierungsparteien, Konservative, Nationalliberale, Freisinnige und Wirschaftliche Vereinigung, mit ihren über eine Million Stimmen weniger, 221 Sitze. Dieses Mißverhältnis ergab sich aus der völlig veralteten Wahlkreiseinteilung und dem Stichwahlsystem (S. 182), obwohl bei den Stichwahlen 1907 das Zentrum der Sozialdemokratie ausgiebige Hilfe leistete in all den Wahlkreisen, in denen es selbst keine Aussicht hatte, seinen Kandidaten durchzubringen. Wenn auch dem Zentrum die Möglichkeit geblieben war, je nach Umständen mit Rechts- oder Linksparteien zusammenzugehen, die Zahl seiner Abgeordneten um 5 und die seiner Wähler um 300 000 zugenommen hatte, so erreichte Bülow doch das mit der Reichstagsauflösung erstrebte wichtigste Ziel: hinter der Regierung stand nun die Mehrheit der Abgeordneten und in ihr war nicht eine einzelne Partei maßgebend, sondern die gemeinsam die Mehrheit bildenden Parteien, die man nach französischem Vorbild als „Block" bezeichnete. Der Kaiser eröffnete am 19. Februar 1907 den Reichstag mit einer Thronrede, in der er auf die zu erledigenden Aufgaben hinwies und den Wunsch aussprach, „im Gesetze den Bestrafungen wegen Majestätsbeleidigung engere Grenzen gezogen zu sehen". Ende April ging dem Reichstag ein Entwurf zu, der die im Strafgesetzbuch angegebenen Vergehen der Majestätsbeleidigung nur dann als strafbar erklärte, wenn sie „böswillig und mit Vorbedacht" begangen werden. Nachdem der Reichstag den Entwurf einer Kommission überwiesen und diese „böswillig und mit Vorbedacht" durch „in der Absicht der Ehrverletzung und mit Überlegung" ersetzt hatte, nahm der Reichstag im Januar 1908 unter Ablehnung des sozialdemokratischen Antrags, die „Bestrafung der Majestätsbeleidigung sei überhaupt aufzuheben", die Vorlage der Kommission an. Anfang Mai 1907 genehmigte der Reichstag gegen die Stimmen des Zentrums, der Polen und der Sozialdemokraten die 1906 abgelehnte Errichtung des Reichskolonialamtes unter einem Staatssekretär, zu dem Dernburg mit einem Jahresgehalt von 44 000 Mark 298

Biilowblock ernannt wurde, und den erhöhten Etat für Südwestafrika. Zu lebhaften Erörterungen innerhalb und außerhalb des Reichstags führte der am 26. November 1907 veröffentlichte Reichsvereins- und Versammlungsgesetzentwuñ: § 1 Alle Reichsangehörigen haben das Recht, Vereine, die den Strafgesetzen nicht zuwiderlaufen, zu bilden. § 2 Jeder Verein, der eine Einwirkung auf öffentliche Angelegenheiten bezweckt, muß einen Vorstand und eine Satzung haben. Der Vorstand ist verpflichtet, binnen einer Woche nach Gründung des Vereins die Satzung sowie das Verzeichnis der Vorstandsmitglieder der für den Sitz des Vereins zuständigen Polizeibehörde einzureichen. § 3 Wer eine öffentliche Versammlung zur Erörterung öffentlicher Angelegenheiten veranstalten will, hat hiervor mindestens 24 Stunden vor Beginn der Versammlung unter Angabe des Ortes und der Zeit bei der Polizeibehörde Anzeige zu erstatten. § 7 Die Verhandlungen in öffentlichen Versammlungen sind in deutscher Sprache zu führen. Ausnahmen sind mit Genehmigung der Landeszentralbehörden zulässig. § 8 Die Polizeibehörde ist befugt, in jede Versammlung, für die es einer Anzeige, Bekanntmachung oder Genehmigung bedarf, zwei Beauftragte zu entsenden. § 10 a Personen unter 18 Jahren ist die Teilnahme an Vereinen und Versammlungen verboten. Da bisher für das Vereins- und Versammlungswesen die einzelnen Bundesstaaten zuständig waren, woraus sich mancherlei Unzuträglichkeiten ergaben, ließ sich von einer allgemeinen Reglung von Reichs wegen ein Fortschritt erwarten, außerdem zeichnete sich der Reichsgesetzentwurf gegenüber den im größten Teil des Reiches, so besonders in Preußen und Sachsen geltenden Vorschriften, durch eine freiheitliche Gestaltung aus, nur in einigen Ländern wie in Württemberg bedeutete die vorgesehene Neureglung einen Rückschritt. Epochemachend war besonders, daß das neue Gesetz für „alle Reichsangehörigen" gelten sollte, also audi für die Frauen und ihnen damit den Weg zur Beteiligung am politischen Leben frei machte. Die Verhandlungen wurden zu einem Prüfstein für den Bülowblock. Während der ersten Reichstagsberatung vom 9. bis 11. Dezember 1907 trat der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern, Theobald von Bethmann-Hollweg, für das Verbot der nichtdeutschen Sprachen in Versammlungen ein; im Reichstag und in den Landtagen sei die Verhandlungssprache deutsch, also müsse sie auch in öffentlichen Versammlungen herrschen. Die Redner der Rechten und der Nationalliberalen billigten das Gesetz im allgemeinen, schlugen aber vor, den loyalen Fremdvölkern wie Litauern, Masuren und Wenden ihre Muttersprache zu gestatten. Das Zentrum und die Linke erklärten den § 7 für unannehmbar, die Freisinnigen erkannten besonders die Gleichstellung der Frauen an; dann wurde der Entwurf einer Kommission überwiesen. Am 18. Februar 1908 faßten in Berlin 33 sozialdemokratische Demonstrationsversammlungen eine Resolution über das Vereinsrecht: der Regierungsentwurf sei als reaktionär zu verwerfen. Die in ihm vorgesehene Anmeldepflicht sowie die Polizeiaufsicht über Vereine und Versammlungen seien ein Hohn auf das einfachste Recht jedes Menschen, sich mit anderen über die gemeinsam interessierenden Angelegenheiten zu besprechen und gemeinsame Maßregeln zu beschließen. Der Sprachparagraph charakterisiert sich als ein Mittel gewalttätiger Unterdrückungspolitik. In der dritten Lesung nahm der Reichs299

Kanzlerschaft Bülows — Innenpolitik tag am 8. April mit 203 gegen 161 Stimmen das Vereins- und Versammlungsgesetz an; alle Abänderungsvorschläge der Gegner des Gesetzes waren bereits in der zweiten Lesung abgelehnt worden. Am gleichen Tag genehmigte der Reichstag mit 240 gegen 124 Stimmen des Zentrums und der Sozialdemokratie die Novelle zum Börsengesetz, die das Verbot des Börsenregisters und den Terminhandel in Bergwerks- und Industriepapieren, aber nicht in Getreide- und Mühlenfabrikaten aufhob. Die Presse der Blockparteien äußerte sich sehr befriedigt über die Annahme des Vereins- und Börsengesetzes und schloß daraus, daß der Block erheblich gestärkt worden sei. Diese Erfolge konnte Bülow nicht ohne Druck auf die Blockparteien erreichen. Als sich Anfang Dezember 1907 im Zusammenhang mit dem Hardenprozeß (S. 307) Spannungen zwischen Bülow und den Blockparteien und innerhalb dieser ergaben, berief Bülow deren Führer zu sich und drohte mit seinem Rüdetritt, worauf die Blockführer schon am nächsten Tag im Reichstag erklärten, sie würden auch weiterhin an der Blockpolitik Bülows festhalten. Daß Bülow sein Verbleiben im Amte von der Gefolgschaft der Reichstagsmehrheit abhängig machte, konnte in einem wesentlichen Punkte als Übergang zum parlamentarischen System gedeutet werden, denn nach der Reichsverfassung hatte einzig der Kaiser über die Abberufung oder die Annahme des Rücktrittsgesuches eines Reichskanzlers zu entscheiden. Triumphierend schrieb Naumann, Abgeordneter der Freisinnigen Vereinigung, in seinem in der „Hilfe" veröffentlichten Aufsatz „Der Parlamentskanzler": „Es beginnt die Morgendämmerung eines parlamentarischen Ministeriums nach englischer Art." Versuche zur Parlamentarisierung der Verfassung waren schon 1878 und 1879 (S. 46 u. S. 52) unternommen, aber von Bismarck schroff zurückgewiesen worden. Nach seinem Sturz gewannen die Abgeordneten auf die Reichsregierung wenigstens indirekt dadurch etwas mehr Einfluß, daß seine Nachfolger, um für sie unerfreuliche Auseinandersetzungen zu vermeiden, auf die Einbringung so mancher Anträge verzichteten. Noch weit mehr belebte die Genehmigung der seit Beginn des Reiches so oft geforderten Diäten am 15. Mai 1906 die Anteilnahme der Abgeordneten an den Reichstagssitzungen: freie Fahrt auf sämtlichen deutschen Eisenbahnen, eine jährliche Aufwandsentschädigung von 300 Mark; für jeden Tag, an dem ein Mitglied des Reichstags einer Plenarsitzung fernbleibt, wird ihm 20 Mark abgezogen, die Anwesenheit durch Eintragen in eine Liste nachgewiesen. Der Reichstag hatte die Diätenvorlage mit 210 gegen 52 Stimmen angenommen. Zu den Sitzungen erschienen fortan meist viel mehr Abgeordnete als früher, was aber tatsächlich zu einer Parlamentarisierung der Verfassung ebensowenig beitrug wie Bülows Rücktrittsdrohung Anfang Dezember 1907 und die Versicherung der Blockführer, an Bülows Politik festhalten zu wollen. Bülow selbst spottete über Vorwürfe der Zentrumspresse, er sei „zu parlamentarisch", und daß er es nicht war, bewies er bei dem Versuch einer Wahlrechtsreform, in Preußen, wo, abgesehen von geringfügigen Änderungen, immer noch das Dreiklassensystem von 1850 galt. Am 10. Januar beantragten die freisinnigen Parteien im preußischen Abgeordnetenhaus Einführung des allgemeinen, gleichen, geheimen und direkten Wahlrechts für Preußen und Neueinteilung der Wahl300

Bülowblock bezirke mit der Begründung: das Wahlrecht mit seinem plutokratischen Charakter nach dem Maßstab der fünfziger Jahre sei durch die wirtschaftliche Entwicklung längst überholt, es wäre auf einen agrarischen Staat berechnet, während Preußen sich immer mehr industrialisiere. Auch Bismarck habe es scharf verurteilt. Es sei weder gerecht noch nützlich, einem großen Teil der Bürger faktisch das Stimmrecht zu nehmen. Bei seiner Stellungnahme als preußischer Ministerpräsident führte Bülow aus: die königliche Staatsregierung habe seit längerer Zeit in eingehenden Arbeiten erwogen, wie diesen Mängeln abgeholfen werden könnte. Ob dies im Rahmen des bestehenden Wahlrechts oder nur durch seine grundsätzliche Änderung möglich sein wird, lasse sich noch nicht übersehen. „Wie indes schon jetzt erklärt werden muß, steht es für die königliche Staatsregierung nach wie vor fest, daß die Übertragung des Reichstagswahlrechtes auf Preußen, dem Staatswohl nicht entsprechen würde und deshalb abzulehnen ist. Auch kann die königliche Staatsregierung die Ersetzung der öffentliche Stimmabgabe durch die geheime nicht in Aussicht stellen." Bei der Abstimmung wurde die Einführung des Reichstagswahlrechtes gegen Freisinnige, Polen und Zentrum, die Änderung der Wahlbezirke gegen Freisinnige, Polen und die meisten Nationalliberalen abgelehnt. Die Sozialdemokraten veranstalteten in Berlin große Straßendemonstrationen für das allgemeine Wahlrecht, wobei es zu Zusammenstößen mit der Polizei kam, und brachten am 22. Januar im Reichstag eine Interpellation ein, wieso der Reichskanzler im preußischen Abgeordnetenhaus die Übertragung des Reichstagswahlrechtes auf einen Bundesstaat als dem Staatswohl nicht entsprechend bezeichnen könne, und ob der Reichskanzler billige, daß aus Anlaß der in Berlin zur Propaganda dieses Reichstagswahlrechts einberufenen sozialdemokratischen Volksversammlungen zum Zwecke etwaigen Eingreifens Militär in den Kasernen konsigniert war. Die erste Frage beantwortete Bülow: „Ich lehne es ab, auf die Verhandlungen über die Gestaltung des Landtagswahlrechts in Preußen einzugehen, da dieser Gegenstand eine zur Zuständigkeit der gesetzgebenden Organe Preußens gehörende innere Angelegenheit des preußischen Staates darstellt." Ausführlicher ging Bülow auf die zweite Frage ein: die Berliner Polizei habe diejenigen Maßregeln ergriffen, die zur Abwehr von Ausschreitungen auf der Straße notwendig waren, Truppenteile seien in den Kasernen zusammengezogen worden, um jeder Anforderung zum Schutze der gesetzlichen Ordnung genügen zu können. Daran knüpfte Bülow Bemerkungen mehr allgemeiner Art wie: es sei nicht deutsche Art, die Politik auf die Straße zu tragen. Die Parteien bedürften nicht der Straßentumulte, um ihre Stimme vernehmen zu lassen. Man werde nicht dulden, daß Agitatoren einen Anspruch auf die Herrschaft der Straße erhöben. „Ich richte namentlich an die Arbeiterbevölkerung die ernste und aus einem wohlmeinenden Herzen kommende Mahnung (Unruhe und Zwischenrufe bei den Sozialdemokraten) — jawohl, einem Herzen, das es sehr viel besser mit den Arbeitern meint als Sie — sich nicht vom Wege des Gesetzes und der Ordnung abbringen zu lassen und für Parteifanatiker und Hetzer die eigene Haut zum Markte zu tragen." Die Redner der Nationalliberalen lehnten es ab, durch den 301

Kanzlerschaft Biilows — Innenpolitik Reichstag auf die Einzelstaaten einen Druck auszuüben; die freisinnigen Redner forderten das Reichstagswahlrecht für Preußen, aber ohne daraus eine unerläßlidie Bedingung f ü r ihr Festhalten am Block zu machen. Wenn auch die Freisinnigen durch dieses Zugeständnis einen Bruch des Blocks verhinderten, so trat doch in ihrem Verlangen nach der Preußischen Wahlrechtsreform einerseits und der Ablehnung der Reform namentlich durch die Konservativen andererseits deutlich zutage, daß sich der Block aus einander widerstrebenden Parteien zusammensetzte. Gegen den Widerstand des Kaisers und der Konservativen hätte Bülow, selbst wenn er als preußischer Ministerpräsident gewollt hätte, den Antrag der Freisinnigen, das Reichstagswahlrecht f ü r das preußische Abgeordnetenhaus einzuführen, nicht durchsetzen können. Überdies zeigte die Art seiner Ablehnung wie fern ihm ein wirklicher Parlamentarismus lag: das Reichstagswahlrecht entspreche nicht dem Staatswohl Preußens, eine geheime Stimmabgabe käme nicht in Betracht, und es sei festzuhalten an einer „gerechten Abstufung des Gewichts der Wahlstimmen". Etwas verheißungsvoller klang die Thronrede Wilhelms II. bei Eröffnung des preußischen Landtags am 20. Oktober 1908: „Mit dem Erlaß der Verfassung von 1850 ist die Nation in die Mitarbeit auch an den Geschäften des Staates eingetreten. Es ist mein Wille, daß die auf ihrer Grundlage erlassenen Vorschriften über das Wahlrecht zum Hause der Abgeordneten eine organische Fortentwicklung erfahren, welche der wirtschaftlichen Entwicklung, der Ausbreitung der Bildung und des politischen Verständnisses sowie der Erstarkung staatlichen Verantwortungsgefühls entspricht." Aber ehe Kaiser Wilhelm diese Angelegenheit weiter verfolgte, nahm ihn ein die öffentliche Meinung innerhalb und außerhalb Deutschlands in hohem Grade erregender Zwischenfall völlig in Anspruch.

Die Daily-Telegraph-Affäre

1908. Die

Harden-Prozesse

Der Einladung König Eduards folgend, reiste Kaiser Wilhelm im Spätherbst 1907 nach England und begab sich anschließend an den Besuch in Windsor zu einem Erholungsaufenthalt auf das Schloß Highcliffe, mit dessen Besitzer, dem deutschfreundlich gesinnten Oberst E d u a r d Stuart-Wortley, der Kaiser verschiedene politische Gespräche in der Absicht führte, ihn und durch ihn weitere englische Kreise davon zu überzeugen, daß er keineswegs, wie ihm oft vorgeworfen wurde, gegen England feindselig gesinnt sei. E n d e August 1908 nahm StuartWortley als Gast Wilhelms II. an den Kaisermanövern im Elsaß teil, wobei weitere politische Gespräche geführt und ihre Veröffentlichung geplant wurden. Stuart-Wortley sandte dann dem Kaiser eine Zusammenstellung seiner Äußerungen in Form eines Artikels, bat den Kaiser in einem beiliegenden Brief, den Artikel im „Daily Telegraph" als aus der Feder eines alten Diplomaten kommend veröffentlichen zu dürfen und sprach die Hoffnung auf einen guten Erfolg von der Wiedergabe der Worte des Kaisers aus, ersuchte aber gleichzeitig u m strengste Diskretion. Der Kaiser äußerte sich zu dem Rat Martin von Jenisch, der ein Vetter 302

Daily-Telegraph-Affäre 1908 Biilows und Vertreter des Auswärtigen Amtes im Gefolge des Kaisers war, sehr erfreut über den Artikel, fand seine Worte wahrheitsgetreu wiedergegeben und ließ durch Jenisch den Artikel Biilow übersenden, der, wie es seine Aufgabe als Reichskanzler war, ihm gut dünkende Verbesserungen vornehmen sollte. Bülow hielt sich damals in Norderney auf und war gerade mit eiliger und wichtiger politischer Korrespondenz wegen der bevorstehenden Annexion von Bosnien und der Herzegowina durch Österreich beschäftigt. Vermutlich las er den Artikel für die englische Zeitung überhaupt nicht oder schaute nur flüchtig hinein und schickte ihn dann an das Auswärtige Amt, es solle sorgsam prüfen, ob der Inhalt den Akten entspreche, gab aber keinerlei Weisung, sich mit der politischen Wirkung der kaiserlichen Äußerungen im Ausland und im Inland zu befassen. Im Auswärtigen Amt nahm man an, daß der Inhalt des Artikels vom Kaiser und vom Kanzler genehmigt sei, und begnügte sich trotz einiger Bedenken mit verschiedenen sachlichen Korrekturen. Bülow las den Artikel auch nach der Rückgabe nicht, sondern ließ ihn mit den vom Auswärtigen Amt vorgeschlagenen Korrekturen an den Kaiser senden. Als dann nach dem Erscheinen des Artikels der Sturm losbrach, war Bülow in einer sehr mißlichen Lage, er mußte entweder seine grobe Fahrlässigkeit zugeben oder seinen guten Ruf als Staatsmann aufs Spiel setzen, der die Gefährlichkeit und die Taktlosigkeit verschiedener kaiserlicher Äußerungen nicht sofort erkannt hatte. In seinen Memoiren gibt Bülow eine zu seinen Gunsten vielfach entstellte Darstellung dieser Vorgänge. Am 28. Oktober 1908 erschien der Artikel im „Daily Telegraph": große Teile des deutschen Volkes seien englandfeindlich, aber der Kaiser selbst und die besten Elemente des Volkes wünschten nichts sehnlicher als in guter Freundschaft mit England zu leben. Deutschlands Marokkopolitik sei durchaus friedlich und werde nur falsch ausgelegt. Im Burenkrieg habe der Kaiser trotz der Burenbegeisterung des deutschen Volkes getreu zu England gehalten, nicht wie Frankreich und Holland die Burengesandtschaft empfangen, habe die Aufforderung Rußlands und Frankreichs abgelehnt, gemeinsam mit ihnen England zur Beendigung des Krieges zu zwingen und es damit tief zu demütigen. Er habe vielmehr einen auch von seinem Generalstab begutachteten Feldzugsplan ausgearbeitet, der Königin Viktoria geschickt, und der Sieg sei dann nach einem ganz ähnlichen Plan erfochten worden. In seinen Flottenbau könne sich Deutschland von auswärtigen Mächten nicht hineinreden lassen, denn es müsse seinen Handel und seine Überseeinteressen schützen und auch für alle Eventualitäten im Femen Osten gerüstet sein. England möge an den Aufstieg Japans denken und an die Möglichkeit von Chinas nationalem Erwachen, um sich ein Urteil über die weitreichenden Pläne der Völker des Pazifik bilden zu können. Es könnte sogar sein, daß England selbst einmal froh sein werde, daß Deutschland eine Flotte habe, wenn sie erst beide gemeinsam auf derselben Seite in den großen Debatten der Zukunft ihre Stimme erhöben. Bülow ließ sofort nach dem Bekanntwerden des Artikels an den deutschen Botschafter in Tokio, Mumm, ein Telegramm abgehen, er solle dort keinen Zweifel lassen, daß die Äußerung des Kaiser über den Femen Osten keinerlei Spitze gegen 303

Kanzlerschaft Biilows — Innenpolitik

Japan enthalte; Mumm mußte jedoch zurückmelden, die japanische Presse habe „das kaiserliche Mißtrauensvotum gegen Japan und die deutsche Einmischung in Angelegenheiten des Stillen Ozeans" scharf zurückgewiesen. Die englische Presse regte sich über den Artikel sehr auf, vor allem empfand man die Vorstellung des Kaisers von der Wirkung seines Burenkriegsplans so lächerlich und kränkend, daß eine Anfrage im Unterhaus erfolgte. Der Kriegsminister erklärte, in den Archiven seines Ministeriums befände sich kein solches Schriftstück, und der deutsche Generalstab versicherte, er habe nie einen derartigen Plan des Kaisers in Händen gehabt. Da die englische Regierung den Artikel gelassen hinnahm, jede Debatte über ihn ablehnte, hingegen die finanzielle Zusammenarbeit mit Deutschland in der Türkei begünstigte, beruhigten sich die Engländer bald wieder. Der deutsche Kaiser erhielt sogar eine ungewöhnliche Fülle von Zuschriften aus dem englischen Publikum, die dankbar die in dem Daily TelegraphArtikel zutage tretende englandfreundliche Gesinnung des Kaisers anerkannten. Fast in allen diesen bei den Akten des Auswärtigen Amtes liegenden Schreiben wird betont, daß die wahre Meinung des englischen Volkes sich nicht mit den Angriffen der Presse decke. Die stärkste Erregung rief der Artikel in Deutschland hervor. Zunächst erschien am 31. Oktober im „Reichsanzeiger" eine amtliche Darstellung: der Kaiser habe den Artikel dem Reichskanzler vorgelegt und dieser ihn, ohne ihn selbst zu lesen, nach der Prüfung durch das Auswärtige Amt zur Veröffentlichung freigegeben. Bülow betrachte sich aber als allein verantwortlich, decke die ihm unterstellten Ressorts und Beamten und habe dem Kaiser sein Abschiedsgesucht eingereicht, das dieser ablehnte. Den Angriffen auf den Kaiser sollte durch diese Darstellung der Boden entzogen werden, doch befriedigte sie die Öffentlichkeit keineswegs. Die Zeitungen aller Richtungen wandten sich gegen das Auswärtige Amt, den Reichskanzler und den Kaiser. Die „Konservative Korrespondenz" veröffentlichte Anfang November eine parteioffizielle Kundgebung: „Wir sehen mit Sorge, daß Äußerungen Seiner Majestät des Kaisers, gewiß stets von edlen Motiven ausgehend, nicht selten dazu beigetragen haben, teilweise durch mißverständliche Auslegung unsere auswärtige Politik in schwierige Lagen zu bringen. Wir halten, geleitet von dem Bestreben, das kaiserliche Ansehen vor einer Kritik und Diskussion, die ihm nicht zuträglich sind, zu bewahren, sowie von der Pflicht beseelt, das Deutsche Reich und Volk vor Verwicklungen und Nachteilen zu schützen, uns zu dem ehrfurchtsvollen Ausdrude des Wunsches verbunden, daß in solchen Äußerungen zukünftig eine größere Zurückhaltung beobachtet werden möge." Im Reichstag brachten am 10. November fünf Parteien Interpellationen ein, die vom Reichskanzler hauptsächlich Auskunft darüber verlangten, ob er bereit sei, die verfassungsmäßige Verantwortung für die Veröffentlichung des Artikels im „Daily Telegraph" zu übernehmen, und ob er gewillt sei, Vorsorge zu treffen, daß sich ähnliche Vorkommnisse nicht wiederholen. Anschließend begründete je ein Mitglied der Parteien die Interpellationen. Der nationalliberale Abgeordnete Bassermann schilderte erst die „nahezu einmütige ungünstige" Wirkung im Ausland und dann die im Inland: „Die einmütige Meinung des Inlandes hallt wider 304

Daily-Telegraph-Affäre 1908 in Tausenden von Zuschriften und Privatbriefen, die in den letzten Tagen hier in diesem Hause bei den Abgeordneten eingetroffen sind. Es ist geradezu ein einmütiger Protest gegen das Eingreifen des Kaisers in die offizielle Politik Deutschlands, gegen das, was man persönliches Regiment nennt. Ich will nicht sprechen von den Karikaturen der Witzblätter, die sich als Majestätsbeleidigungen darstellen in einer Massenhaftigkeit, daß deren Beschlagnahme nicht rätlich erscheint. Es ist bis in die Kreise der Frauen und des heranwachsenden Geschlechtes das politische Interesse wachgerufen worden, und überall waltet die Ansicht vor, daß die Dinge so nicht weitergehen können . . . Oft ist als dringendster Wunsch wohl beinahe aller Deutschen ausgesprochen worden, auch von uns hier, daß die auswärtige Politik ausschließlich in der Hand des verantwortlichen Reichskanzlers liegen möge." Der Kaiser müsse „die Politik persönlicher Stimmung und impulsiver, temperamentvoller Kundgebungen" aufgeben. In seiner Umgebung müßten Männer „mit fester Meinung und festem Rückgrat sein, die auch auf die Gefahr der Ungnade hin ihre freie Meinung äußern". Das Auswärtige Amt bedürfe einer besseren Organisation und der Reichstag „muß einen größeren Einfluß gewinnen in Beziehung auf die auswärtige Politik in der Richtung, daß eine Kontrolle im verstärkten Maße durchgeführt wird". Der Abgeordnete Wiemer von der Freisinnigen Vereinigimg forderte die Durchführung der Ministerverantwortlichkeit als den Angelpunkt des konstitutionellen Lebens und die Unterordnung des kaiserlichen Zivil- und Militärkabinetts unter dem Reichstag verantwortliche Regierungsbehörden. Der Sozialdemokrat Singer erhob schwere Vorwürfe gegen den Kaiser und warnte: „Ich kann nur wünschen, daß in maßgebenden Kreisen endlich einmal das Licht darüber aufgeht, daß, wenn diese Praxis weitergeführt wird, das deutsche Volk in den Abgrund gerät." Der Abgeordnete der Konservativen Reichspartei, Fürst Hatzfeld, hielt dem entgegen: „Meine politischen Freunde sind der Uberzeugung, daß unser Vaterland durch die Vorgänge der letzten Zeit nicht an Vertrauen und Ansehen verloren hat, wie vielfach gefürchtet wird . . . Nach der Reichsverfassung ist der Reichskanzler die allein verantwortliche Persönlichkeit, und wir fragen ihn, ob er für die Zukunft ähnliche Vorgänge zu verhindern in der Lage ist." Nun ergriff Bülow das Wort. Er lehnte es ab, auf alle von den Vorrednern erwähnten Punkte einzugehen, da er auf die Wirkung seiner Worte im Ausland bedacht sein müsse und nicht neuen Nachteil zu dem großen Schaden hinzufügen wolle, der durch die Veröffentlichung des „Daily Telegraph" schon angerichtet sei. Nachdem er eine Reihe zu starker Ausdrücke und ungenauer Angaben des Artikels richtiggestellt und den guten Willen des Kaisers betont hatte, suchte er die Abgeordneten mit der Versicherung zu beschwichtigen: „Die Einsicht, daß die Veröffenlichung dieser Gespräche in England die von Seiner Majestät dem Kaiser gewollte Wirkung nicht hervorgerufen, in unserem Land aber tiefe Erregung und schmerzliches Bedauern verursacht hat, wird — diese feste Überzeugimg habe ich in diesen schweren Tagen gewonnen — Seine Majestät den Kaiser dahin führen, fernerhin auch in Privatgesprächen jene Zurüdchaltung zu beobachten, die im Interesse einer einheitlichen Politik und für die Autorität der Krone 305 20

Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Kanzlerschaft Bülows — Innenpolitik gleich unentbehrlich ist. Wäre dem nicht so, so könnte weder idi noch einer von meinen Nachfolgern die Verantwortung tragen." In den sich nodi einen zweiten Tag hinziehenden Debatten wiederholten sich die Anklagen und die Forderungen je nach der Parteizugehörigkeit der Redner in schärferem oder gemäßigterem Ton. Nach einem, allerdings oft durch Hohngelächter unterbrochenen Versuch des stellvertretenden Staatssekretärs Alfred von Kiderlen-Waechter, die im Auswärtigen Amt geleistete Arbeit zu rechtfertigen, wurde die Debatte geschlossen, ohne daß irgend ewas Greifbares herausgekommen wäre, aber auch ohne daß Bülow ein zweites Mal das Wort ergriff, um den mit einer bis dahin unerhörten Schärfe angegriffenen Kaiser zu verteidigen. Bülow wollte seine eigene Schuld nicht eingestehen und außerdem einen gewissen Druck auf den Kaiser ausüben, um dessen persönliches Regiment einzusdiränken. Gegen dieses richteten sich ja die Vorwürfe der Redner aus den verschiedensten Parteien; der Daily-TelegraphArtikel war nur der letzte Anlaß, um gegen ähnliche Vorkommnisse in der zwanzigjährigen Regierung des Kaisers vorzugehen, von der die letzten acht Jahre unter die Verantwortung Bülows als Reichskanzler fielen. Ergebnislos verliefen auch die Debatten am 2./3. Dezember über verschiedene vom Zentrum, den Freisinnigen und den Sozialdemokraten beantragte wesentliche Verfassungsänderungen, die besonders die Einführung eines Gesetzes über die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und der Minister vor dem Reichstag betrafen. Die Anträge wurden einer Kommission überwiesen, bei der sie jahrelang liegenblieben. Die Presse äußerte sich überwiegend abfällig zu diesen Vorgängen im Reichstag. Bülow wurde vorgeworfen, er habe keinerlei ausreichende Garantien für die verlangten Reformen gegeben; die konservative Presse griff ihn heftig an, weil er den Kaiser nicht genügend gedeckt habe. Auch dieser selbst fühlte sich dadurch tief gekränkt, hatte er doch bisher Bülow imbedingt vertraut und ihn wie einen Freund behandelt. Wenn er Bülows Rüdrtrittsgesuch jetzt noch nicht bewilligte, so nur aus Rücksicht auf die damalige außen- und innenpolitische Lage. Am 17. November fand zwischen beiden eine Aussprache statt, über die Kaiser Wilhelm in seinen Erinnerungen schrieb: „Der Kanzler hielt mir eine Vorlesung über meine politischen Sünden und verlangte die Unterzeichnung des bekannten Aktenstücks, das nachher der Presse mitgeteilt wurde. Ich unterschrieb das Aktenstück schweigend, wie ich auch schweigend die Presseangriffe über mich und die Krone ergehen ließ." Das Aktenstück, das Bülows Versicherung im Reichstag über die künftige Zurückhaltung des Kaisers bestätigen sollte, wurde noch am gleichen Tage im „Reichsanzeiger" veröffentlicht: „Seine Majestät nahm die Darlegungen und Erklärungen des Reichskanzlers mit großem Ernste entgegen und gab seinen Willen dahin kund: Unbeirrt durch die von ihm als ungerecht empfundenen Ubertreibungen der öffentlichen Kritik, erblicke er seine vornehmste kaiserliche Aufgabe darin, die Stetigkeit der Politik des Reiches unter Wahrung der verfassungsmäßigen Verantwortlichkeit zu sichern. Demgemäß billigte Seine Majestät die Ausführungen des Reichskanzlers im Reichstage und versicherte den Fürsten seines fortdauernden Vertrauens." Tiefer noch als das Verhalten des Kanzlers traf den Kaiser die Erkenntnis, daß sich das deutsche Volk, von dem er glaubte,

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Daily-Telegraph-Affäre 1908 es liebe und verehre ihn, mit scharfer Kritik gegen ihn wandte. Anfang November war er zur Jagd nach Österreich gefahren und dann zum Fürsten von Fürstenberg nach Donaueschingen, was ihm sehr verdacht wurde; die „Kölnische Zeitung" ζ. B. schrieb: „Wir müssen offen aussprechen, man versteht es nicht, daß der Kaiser das, was jetzt in Berlin geschieht, anscheinend als so unwichtig einschätzt, daß er seine Reisen, Jagden und höfischen Feste nicht unterbricht, um nadi Berlin zu kommen. Schon lange ist im Volk das, wenn wir nicht irren, von Eugen Richter geprägte Wort des ,Regierens im Umherziehen' bitter empfunden worden." Mitte des Monats war der Kaiser nach Potsdam zurückgekehrt, einen Besuch in Hamburg und Kiel hatte er aufgegeben, da man Demonstrationen gegen ihn befürchtete. Am 21. November nahm er bei der Hundertjahrfeier der Steinschen Städteordnung in Berlin demonstrativ das Konzept einer Rede aus der Hand des Reichskanzlers und gab es ihm nadi dem Verlesen wieder zurück, was die Öffentlichkeit als das erste Anzeichen eines Verzichtes auf persönliches Regiment bewertete. Am 23. November bradi der Kaiser seelisch zusammen, dachte an Abdankung und ließ den damals 26jährigen Kronprinzen zu sich rufen, der die Begegnung mit dem Vater elf Jahre darnach in seinen „Erinnerungen" schilderte: „Ich war tief erschreckt über sein Aussehen. Nur einmal noch habe ich ihn so gesehen! Zehn Jahre später, an dem Unheilstag in Spa, als General Groener ihm den letzten Halt, den Glauben an die Treue der Armee mit einem Achselzucken kalt zerbrach. Um Jahre schien er mir gealtert, war hoffnungslos, fühlte sich verlassen von allen, war zusammengebrochen unter der Katastrophe, die ihm den Boden unter seinen Füßen fortgenommen, sein Selbstbewußtsein und Vertrauen zertrümmert hatte . . . Er redete drängend, anklagend und sich überstürzend von diesen Vorgängen. Enttäuschung, Mutlosigkeit, Resignation hielten ihn umfaßt; dabei kam immer wieder die Bitterkeit über das Unrecht durch, das er in den Vorgängen sah . . . Nach wenigen Wochen war der Kaiser scheinbar wieder obenauf. Scheinbar! Denn gesundet ist er niemals wieder von diesem Schlage. Unter dem äußeren Mantel seines alten Selbstbewußtseins hat er sich von da ab mehr und mehr eine Zurückhaltung auferlegt, die vielfach noch hinter den durch seine verfassungsmäßige Stellung gezogenen Grenzen zurückblieb." Das Verhalten des Reichskanzlers und Freundes in der Daily-Telegraph-Affäre hat Wilhelm II. als Verrat empfunden und es ihm nie verziehen. Bülows Versagen hat sogar zu der Vermutung geführt, er habe mit der Veröffentlichung des Artikels den Kaiser absichtlich in eine schwierige Lage gebracht, um dessen Selbstgefühl zu erschüttern und sich selbst als unentbehrlich erscheinen zu lassen; dem widersprechen aber gewichtige Zeugnisse und Bülows ständiges Bemühen, einen möglichst glatten und krisenlosen Verlauf der Geschäfte zu erreichen. Die Depression des Kaisers ging indes nicht nur auf die mit der Veröffentlichung des Artikels im „Daily Telegraph" zusammenhängenden Äußerungen in der Presse und im Reichstag zurück; sie war bereits 1907/08 durch Skandalprozesse angebahnt, in die auch Freunde des Kaisers verwickelt wurden. Der Journalist Maximilian Harden (Witkowski) hatte in seiner seit 1892 erscheinenden, 20*

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Kanzlerschaft Biilows — Innenpolitik viel gelesenen und viel umstrittenen Wochenschrift „Die Zukunft" den Stadtkommandanten von Berlin, Graf Kuno von Moltke, und den Fürsten Philipp Eulenburg angegriffen. Vermutlich hat Harden Material verwertet, das ihm Holstein, erbittert über die seiner Meinung nach von Eulenburg betriebene Entlassung, geliefert hatte. Diese Artikel Hardens in der „Zukunft" richteten sich indirekt gegen den Kaiser, dessen nächste Umgebung eine gemeingefährliche Kamarilla mit Eulenburg als Mittelpunkt bilde und in der Spiritismus, Gesundbeterei und homosexuelle Neigungen herrschten, der Kaiser müsse diesem Einfluß entzogen werden. Das angeführte Beweismaterial enthielt teils Falsches, teils Unbewiesenes. Die Beschuldigten erhoben Anklage gegen Harden, was zu einer Reihe höchst unerfreulicher Prozesse führte. Natürlich bemächtigte sich die Presse des sensationellen Stoffes, teils Hardens Anklage zustimmend und sie noch übertreibend, teils sie ablehnend. Auch der Reichstag beschäftigte sich mehrmals mit dieser Angelegenheit, wobei Bülow Ende November 1907 unter Zustimmung des Reichstags sagte: „Aus den Verfehlungen einzelner Mitglieder der oberen Gesellschaftsklassen auf eine Korruption des Adels, auf eine Verseuchung der Armee zu schließen, ist ungerecht und töricht wie alle einseitigen tendenziösen Verallgemeinerungen." Den Vorwurf der gefährlichen Kamarilla wies Bülow mit Recht als völlig haltlos zurück, denn Eulenburg, der in den 90er Jahren auf den Kaiser einen großen Einfluß ausgeübt hatte, lebte seit 1902 sehr zurückgezogen im Ruhestand und war von Bülow, um dessen Ernennung zum Reichskanzler er sich seinerzeit bemüht hatte, fast völlig beim Kaiser verdrängt worden. Der Vorwurf homosexueller Neigungen wurde bei Moltke und einigen hohen Offizieren als erwiesen betrachtet, bei Eulenburg traf er wohl nicht zu, so daß der sich bis 1909 hinziehende und dann wegen Eulenburgs Krankheit abgebrochene Prozeß einen höchstwahrscheinlich Schuldlosen unglücklich madite. Daß Bülow sich für den früheren Freund in keiner Weise einsetzte, vielleicht sogar Material gegen ihn beisteuerte, ist eines der Zeichen von Bülows egoistischem und unzuverlässigem Charakter.

Die große Finanzreform. Sprengung des Bülowblocks Die im Mai 1906 bewilligte Finanzreform (S. 293) reichte bei weitem nicht aus, den Geldnöten des Reiches abzuhelfen; bis Dezember 1908 hatte die Reichsschuld um fast eine Milliarde Mark zugenommen. Der Nachfolger Stengeis als Staatssekretär der Finanzen, Reinhold von Sydow, arbeitete eine Steuerreform aus, die durch eine Mehreinnahme von jährlich 500 Millionen Mark die Finanzen des Reiches grundlegend sanieren sollte. Die Gesetzentwürfe hierfür wurden am 3. November 1908 veröffentlicht; vorgesehen war: Zwischenhandel des Reiches mit Branntwein (erhoffter Ertrag 100 Millionen Mark), Erhöhung der Brausteuer um je 2 Mark für den Hektoliter (100 Millionen), Weinsteuer (20 Millionen), Tabaksteuer (77 Millionen), Elektrizitäts- und Gassteuer (50 Millionen), Anzeigenund Plakatsteuer (33 Millionen), Nachlaß- und Wehrsteuer, Erbrecht des Staates 308

Große Finanzreform. Sprengung des Bülowblocks und Erbschaftssteuer (insgesamt 92 Millionen), dazu Änderungen im Finanzwesen. Zur ersten Beratimg im Reichstag hielten Bülow und Sydow Einführungsreden. Bülow ging dabei hauptsächlich von allgemeinen Gesichtspunkten aus wie: „Die leitenden Gedanken bei der Auswahl der neuen Steuern waren negativ: keine Belastung des notwendigen Lebensbedarfs; positiv: höhere Besteuerung allgemeiner Genußmittel, neue Abgaben für die Lieferung von Gas, elektrischem Licht und elektrischer Kraft; endlich: stärkere Heranziehung des Besitzes in der Form einer erweiterten Erbschaftssteuer. Dazu treten noch erhöhte Matrikularbeiträge." Mit dem Hinweis auf die reichlichen Geldmittel in Deutschland, wie sie die Einlagen in den Sparkassen und die Privatdepots bei Banken beweisen, verband Bülow die Ermahnung zu größerer Sparsamkeit sowohl im Reich und in den Gemeinden wie beim Privatmann; überall würde zu großer Luxus getrieben. „Ich weiß sehr wohl, daß bei uns jährlich Milliarden gespart werden. Aber niemand wird mir widersprechen können, wenn ich sage: es kann bei uns noch viel mehr gespart werden. Wir sind reich geworden; wir müssen aber noch viel reicher werden für unsere ganze wirtschaftliche und politische Stellung in der Welt . . . Niemand denkt daran, und ich am allerwenigsten, dem kleinen Mann zuzumuten, daß er auf Notwendiges oder auch nur Nützliches verzichten soll. Meine Mahnung richtet sich gegen den überflüssigen Luxus, sie richtet sich in erster Linie an die höheren Stände. Hier ist mit der Zeit Wohlleben und Luxus zu einer gesellschaftlichen Verpflichtung, zu einem gesellschaftlichen Zwang geworden. Die gesellschaftlichen Beziehungen zwingen viele zu einem Luxus, den sie sich gar nicht leisten können." Auch in alle Finanzgeschäfte der Regierung müsse ein neuer, mehr kaufmännischer Geist einziehen. Das deutsche Volk stehe mit der Finanzreform „vor einer großen moralischen Aufgabe. Diese Aufgabe ist unscheinbarer als ein gewonnener Krieg, sie ist aber vielleicht nützlicher. Vergessen Sie nicht, daß die Weltgeschichte immer mehr eine Geschichte der wirtschaftlichen und finanziellen Beziehungen wird . . . Die finanzielle Bereitschaft ist gerade so wichtig wie die militärische, sie zu vernachlässigen ist ebenso gefährlich und kann gerade so verhängnisvolle Folgen haben, als wenn die militärische Bereitschaft außer acht gelassen wird. Kaum heißt es, neue Steuern sind nötig, da erscheinen Tabakhändler und Spiritusinteressenten und Brauer und Gutsbesitzer und Kapitalisten, kurz Interessenten aller Art und rufen: ,Heiliger Florian, verschon mein Haus, zünd andre a n ! ' . . . Solche Gesinnung kann die Nation nicht brauchen. Hier müssen alle mithelfen, alle Stände, alle Klassen, alle Berufsarten". Die Einzelheiten der Vorlage behandelte Sydow, wobei er ebenfalls die Notwendigkeit zu sparen betonte: „Wir müssen uns in Zukunft rücksichtslos von dem Gesichtspunkt leiten lassen, daß auch die nützlichsten Ausgaben nicht gemacht werden dürfen, wenn die entprechenden Einnahmen fehlen." Weiteste Kreise, besonders Presse, Interessenverbände und die Parteien, nahmen regsten Anteil an dem Schicksal der Reichsfinanzreform. Fast alle konservativen Abgeordneten stellten sich im Reichstag gegen die Nachlaßsteuer, die mit dem „Familiensinn unvereinbar" sei, und gegen eine Erhöhung der Matrikularbeiträge, weil sie jede Erweiterung der Zuständigkeit des Reiches auf Kosten der

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Kanzlerschaft Billows — Innenpolitik Bundesländer ablehnten. Viele Konservative außerhalb des Reichstags verurteilten dagegen die Haltung ihrer Fraktion, deren vornehmste Pflicht sei, den Reichskanzler und seine Politik zu unterstützen. Der bekannte Historiker Hans Delbrück hielt in den „Preußischen Jahrbüchern" den Landwirten vor, sie deklarierten ihi Vermögen zu gering und fürchteten die Nachlaßsteuer audi deshalb, weil sie eine Offenbarungssteuer sei und eine nachträgliche Prüfung der falschen Vermögensdeklarationen ermögliche. Am Schluß der begeistert aufgenommenen Reden des Professors Adolf Wagner (S. 55) und des Rektors der Universität Berlin, Wilhelm Kahl, Mitte März 1909, wurde einstimmig eine Resolution angenommen: „Die Beratungen über eine durchgreifende Reform unserer Reichsfinanzen haben bis jetzt einen Verlauf genommen, der jeden politisch denkfähigen Deutschen mit Scham erfüllt und das Reich vor dem Ausland kompromittiert. 800 deutsche Männer . . . , die heute zu einem Vortrag Adolf Wagners auf Einladung des Nationalliberalen Vereins Ost-Charlottenburg versammelt sind, erheben deshalb laut ihre warnende Stimme. Sie geben der bestimmten Erwartung Ausdrude, daß der Reichstag sich endlich über die Niederungen der Interessenten-Agitation erheben und sich wieder einmal der großen parlamentarischen Traditionen aus dem ersten Jahrzehnt unseres jungen Reiches würdig erweisen, daß aber andererseits auch die Regierung ihre finanzpolitischen Vorlagen endlich mit fester Zügelführung vertreten möge." Mittlerweile hatten sich die mit der Durcharbeitung der Vorlagen für die Finanzreform betrauten Kommissionen und Unterkommissionen des Reichstags vergebens um einheitliche Lösungen bemüht. Dem Führer der Nationalliberalen, Bassermann, teilte am 24. März der konservative Abgeordnete von Normann im Namen seiner Partei mit, sie wünsche unbedingt die Finanzreform, gleichviel mit welcher Mehrheit, sei auch bereit, etwa 400 Millionen in indirekten Steuern zu bewilligen, aber keine in die Finanzhoheit der Einzelstaaten eingreifende Besitzsteuer und unter keinen Umständen die Nadilaß- oder Erbschaftssteuer. Auf die Frage Bassermanns, ob dies eine Kündigung des Blocks bedeute, antwortete Normann, für nationale Zwecke könne der Block ja noch bestehen bleiben. Im Reichstag erklärte dann Bassermann: „Wenn der Block nicht in der Lage ist, die Finanzreform zu erledigen, so wird und muß die Führung in der Finanzfrage an das Zentrum übergehen, und es ist mir ebenso unzweifelhaft, daß damit ein Wendepunkt in unserer inneren Politik eintritt." Anfang April bemängelte die „Norddeutsche Allgemeine Zeitung" unter anderem, daß die Reichsfinanzkommission an 80 bis 90 Arbeitstagen nur 41 Sitzungen abgehalten habe und verurteilte die „alles hintertreibende Wühlarbeit der Interessenten". Am 22. April beantragten die Konservativen die Einführung einer Besteuerung des Wertzuwachses bei Immobilien und Wertpapieren an Stelle der Vorlagen über die Nachlaßsteuer, auch die übrigen Parteien schlugen Abänderungs- oder Zusatzanträge vor; all das wurde in der Reichstagssitzung vom 1. Mai abgelehnt. Die Parteien waren sich über die Notwendigkeit der baldmöglichsten Lösung noch in jener Reichstagssession einig, doch ging der Streit in der Kommission und in der Öffentlichkeit unentwegt weiter. Ende Mai verließen die Nationalliberalen, die Freisinnige 310

Große Finanzreform. Sprengung des Bülowblocks Volkspartei und die Freisinnige Vereinigung unter Protest die Kommissionsberatungen, weil für die abgelehnte Erbschaftssteuer eine Reihe von Ersatzsteuern angenommen wurde, ohne daß sie, wie die Geschäftsordnung verlangte, vorher dem Reichstag zur ersten Lesung vorgelegt worden waren. Mitte Juni fand die zweite Lesung im Reichstag statt. Bülow hielt seine letzte große Rede, in der er ausführlich die Stellung der Parteien zur Reichsfinanzfrage und zu seiner Person erörterte, er Schloß: „Ich kenne kein Gebiet der inneren Politik von gleicher Wichtigkeit wie das baldige Zustandekommen der Finanzreform. Dieser großen Aufgabe ordne ich selbstverständlich meine Person vollkommen unter. Wenn ich mich überzeugen sollte, daß meine Person der Sache entgegensteht, daß ein anderer leichter zum Ziel gelangt, oder wenn sich die Verhältnisse in einer Richtung entwickeln sollten, die ich nicht mitmachen kann oder will und nicht mitmachen werde, so wird es mir auch möglich sein, den Träger der Krone von der Opportunität meines Rücktritts zu überzeugen, und dann wird mein Wunsch, daß mein Nachfolger Erfolge erzielt, ebenso ehrlich sein wie es meine Arbeit im Dienste des Landes war." Auch Sydow trat noch einmal unter Ablehnung der Ersatzsteuern für die Regierungsvorlage ein. Dann folgten vom 16. bis 24. Juni langwierige Debatten, denen sich eine Abstimmung anschloß. Für die Erbschaftssteuer stimmten die Nationalliberalen, Freisinnigen und Sozialdemokraten, dagegen Zentrum und Polen und überwiegend die Konservativen. Damit war die Regierungsvorlage über die Erbschaftssteuer mit sämtlichen dazu gestellten Anträgen in der zweiten Lesung abgelehnt, und mit dem Abfall der Konservativen war der Block gesprengt. Daraufhin fuhr Bülow nach Kiel zum Kaiser und bat um seine Entlassung, die ihm dieser erst zu gewähren bereit war, wenn die Arbeiten für die Reichsfinanzreform ein positives Ergebnis gezeitigt hätten. In der am 10. Juli abgeschlossen dritten Lesung setzte die neue Mehrheit, Konservative, Zentrum und Polen, im wesentlichen ihre Anträge durch: die Erbschaftssteuer, die Wertzuwachssteuer, die Steuern auf Gas, Elektrizität, Zeitungsanzeigen, Plakate und die Weinsteuer wurden abgelehnt; angenommen, allerdings in vielfach veränderter Form, die Steuern auf Branntwein, Bier, Schaumwein, Tabak, Leuchtmittel, Zündwaren, Kaffee, Tee; Stempelsteuern auf Wertpapiere, Wechsel, Schecks, Zinsbogen und Grundstücksverkäufe; die Erhöhung der Matrikularbeiträge von bisher meist 40 auf nun regelmäßig 80 Pfennige pro Kopf der Bevölkerung in den einzelnen Bundesländern, womit freilich, zum Nachteil des Reiches, eine durchgreifende Neureglung des Verhältnisses der Finanzen von Reich und Ländern nicht verbunden wurde. „Daß die Reichsregierung es nicht wagte, den Finanzaufbau des Reiches jetzt, da noch Raum für eine gewisse schöpferische Freiheit vorhanden, im Grundsätzlichen anzufassen, erwies sich als ein arges Versäumnis. Die Stunde forderte den Durchstoß des Reiches zur Beteiligung an Besitzsteuern, in breiterem Sinne als es die Nachlaßsteuer wollte. Aber hier stellte sich das partikulare Interesse quer. Es war die Zeit, da man mit staatsrechtlichen Gutachten den Einzelstaaten die direkten Steuern gesichert wissen wollte — für den staatsrechtlichen Positivismus so blamabel wie für die staatspolitische Phantasielosigkeit, die nicht spürte, wie sich die innerdeutsche 311

Kanzlerschaft Bülows — Innenpolitik Machtsituation mit den neuen Aufgaben Jahr um Jahr auf das Reich verlagerte, und die föderative Ideologie, die man, zumal audi von Preußen aus, nodi in Anspruch nahm, innerlich ausgehöhlt war" (Heuß). Immerhin wurde das Ziel der Regierung erreicht: ein jährliches, die Sanierung der Reichsfinanzen sicherstellendes Mehraufkommen an Steuern um 500 Millionen Mark. Infolge der sich bessernden wirtschafdidien Lage erbrachten die neuen Steuern bald sogar erhebliche Überschüsse, schon 1910 um 117 Millionen, 1911 um 229 Millionen Mark. Auch darin deckte sich das Mehreinkommen an Steuern einigermaßen mit der Regierungsvorlage, daß neben dem Konsum der Besitz herangezogen wurde, allerdings auf anderen als von der Regierung gewünschten Wegen. Ebenso ließ sich Bülows Forderung, es dürften künftig keine Ausgaben gemacht werden, wenn die entsprechenden Einnahmen fehlten, jetzt, da sich diese so sehr steigerten, unschwer erfüllen.

Bülows Entlassung Bülow war verstimmt über die Art, wie die Reichsfinanzreform zustande kam, über die Sprengung des Blocks und die Bildung einer neuen Reichstagsmehrheit, in der das Zentrum mit seinen 105 Abgeordneten — um 43 mehr als die Deutschkonservativen, die zweitstärkste Partei — wie einst ausschlaggebend war, je nachdem es mit Rechts- oder Linksparteien zusammenging. Auflösung des Reichstags und Neuwahlen hätten nach dem Zerfall des Blödes keine Änderung der Lage gebracht. Bülows Abschiedsgesuch nach seiner Niederlage im Reichstag wurde damals und auch späterhin als ein erster Schritt zur Parlamentarisierung der Reichsverfassung gewertet, dem leider kein zweiter gefolgt sei. Dem Reichstag einen wirklichen Einfluß auf Entlassung und Ernennimg eines Reichskanzlers einzuräumen, lag indes Kaiser Wilhelm wie Bülow völlig fern. Seit der DailyTelegraph-Angelegenheit hatte Bülow das Gefühl, seine Stellung beim Kaiser sei erschüttert, und benützte deswegen seine Niederlage im Reichstag zur Begründung seines Rüdctrittsgesuches, zumal da er hoffte, der Kaiser werde ihn in das Reichskanzleramt zurückberufen, wenn der Nachfolger versage. Dem Kaiser war die Gelegenheit willkommen, den Mann zu entlassen, dessen Verhalten in der Daily-Telegraph-Angelegenheit er seinerzeit als Verrat empfunden hatte. So bewilligte der Kaiser am 14. Juli 1909 nach der Annahme der Reichsfinanzreform im Reichstag Bülows Entlassung, verlieh ihm den hohen Orden vom Schwarzen Adler mit einem höchst huldvollen Handschreiben: „Es ist mir ein Bedürfnis des Herzens, Ihnen bei dieser Gelegenheit für die Hingebung und Aufopferung, mit denen Sie in den verschiedensten Ämtern und Stellungen Ihrer ehrenvollen und segensreichen Dienstlaufbahn meinen Vorfahren, mir und dem Vaterlande so hervorragende Dienste geleistet haben, meinen wärmsten Dank auszusprechen." Zu König Wilhelm II. von Württemberg sagte der Kaiser, indem er ihm eine Stelle im Berliner Schloß zeigte: „Hier habe ich das Luder fortgejagt." Bülows einem Politiker sehr zustatten kommende Eigenschaften hatten viele 312

Biilows Entlassung von seiner Reichskanzlerschaft Großes erwarten lassen, manche sahen ihr wegen seiner Charakterfehler mit Bedenken entgegen. Sicher hat er teils Bedeutendes geleistet, teils mehr oder weniger versagt; beides spiegelte sich im Ansdiluß an seine Entlassung in Presseäußerungen des In- und Auslandes wider. Die Bülow freundlich gesinnte liberale „Vossische Zeitung" spottete über die Gegnerschaft der „Landlords", immerhin gäben sie ihm ein gutes „Abschiedsattest wie einem entlassenen Kutscher, dessen Abgang ihre Wünsche sattsam befriedigt". Konservative Zeitungen bedauerten „aufs tiefste", daß der Kanzler „wegen einer starken Meinungsverschiedenheit mit der Konservativen Partei aus dem Amt scheide", würdigten seine mannigfachen Geistesvorzüge und hoben hervor, es gäbe „eine ganze Reihe von politischen Errungenschaften, in denen sein Verdienst oder Mitverdienst bei allen gerechten Beurteilern unbestritten dastehe". Zentrumsblätter warfen Bülow konfessionellen Fanatismus, „furor protestanticus", und Katholikenhaß vor. Die „Kölnische Volkszeitung" machte Bülow für den ganzen Finanzjammer verantwortlich, in den neun Jahren seiner Kanzlerschaft habe er 2,8 Milliarden Reichsschulden gemacht. „Schlechter als in den neun Jahren seines Regimes gewirtschaftet worden ist, kann unmöglich jemals gewirtschaftet werden." Die gewiß nidit deutschfreundliche „Morning Post" schrieb: „Es ist für die Gegner des Fürsten Bülow nicht angenehm zu konstatieren, aber es trifft zu, daß Deutschland niemals so stark und mächtig dagestanden hat wie jetzt". Das „Wiener Fremdenblatt" rühmte: „Fürst Bülow hat es verstanden, anders als Bismarck, aber nicht weniger als dieser, der Mann seiner Zeit zu sein. In seiner äußeren wie inneren Politik läßt sich eine Folgerichtigkeit nachweisen, die sich durch scheinbare Wandlungen hinzieht." Mit dem Satz: „In Frankreich wird der Rücktritt des Fürsten kein Bedauern hervorrufen", gab der „Figaro" die bei den Franzosen vorherrschende Stimmung gegen Bülow wider, doch hatten gerade sie auch Sinn für seine Art: „Ein ausgezeichneter Improvisator, vollendeter Turnkünstler, Flötenspieler oder Seiltänzer, offener, aber von keinem Skrupel zurückgehaltener Geist mit einem durch den Erhaltungstrieb in Spannung gehaltenen Willen, eher träge von Natur und keineswegs ungelegene Besorgnisse liebend, aber von wunderbarer Geschicklichkeit zur Umkehr: wenn die Schwierigkeiten kommen, ist er sicherlich nicht derjenige, den die Widersprüche und Schwenkungen in Verlegenheit setzen."

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Die Reichskanzlerschaft Bethmann-Hollwegs bis zum Ausbruch des Ersten Weltkrieges

Persönlichkeit

Bethmann-Hollwegs

Auf Bülows Rat ernannte der Kaiser den 53jährigen, einem großen Frankfurter Bankhaus entstammenden Theobald von Bethmann-Hollweg zum Reichskanzler und preußischen Ministerpräsidenten. Er hatte bereits eine Reihe hoher Ämter bekleidet: 1899/1905 war er Oberpräsident der Mark Brandenburg, 1905/07 preußischer Minister des Innern gewesen, dann seit Juni 1907 Staatssekretär des Reichsamtes des Innern, Stellvertreter des Reichskanzlers und Vizepräsident des preußischen Staatsministeriums. Von seinem Vorgänger unterschied sich Bethmann-Hollweg wesentlich mit seinem durchaus zuverlässigen Charakter, einer gewissen Schwerfälligkeit, der Neigung zum Grübeln, der nicht eben mitreißenden Rednergabe; als klarer, mit hohem Verstand begabter Denker brachte er für sein verantwortungsreiches Amt gewichtige, nicht zu unterschätzende Eigenschaften mit. Leider hatte er gar keine Erfahrungen in der Außenpolitik und bei seiner bisherigen Beamtenlaufbahn hatte er sich eine Art bürokratischer Routine angeeignet, bei welcher man an Bismarcks Ausspruch von 1893 denken muß: „Sollte jemals der Fall eintreten, daß ein preußischer, in der Ochsentour groß gewordener Regierungsbeamter Reichskanzler wird, so würde dies wahrscheinlich sehr bald Finis Germaniae bedeuten, denn in ihrem maßlosen bürokratischen Dünkel glauben solche Herren meistens alles zu wissen und alles zu können. Vor allem aber haben sie kein Verständnis für die Psyche des eigenen Volkes, gechweige denn für diejenige des Auslandes." Ein anderer Vorwurf, der in verschiedenen Geschichtswerken gegen BethmannHollwegs ganze spätere Politik erhoben wurde, ist der, daß das Hauptmerkmal dieser Politik die Stagnation sei. Dieser Vorwurf muß schon gleich zu Anfang von Bethmann-Hollwegs Kanzlerschaft laut geworden sein, denn in seiner ersten Rede als Reichskanzler vor dem Reichstag am 9. Dezember 1909 nahm er dagegen Stellung: „Eine absprechende Kritik hat die gegenwärtige Situation dadurch besonders zutreffend kennzeichnen zu müssen geglaubt, daß sie von einer Periode der Stagnation sprach, daß gesagt wurde, den Reichstag würden in diesem Winter nur geschäftsmäßige, nüchterne Vorlagen und keine Fragen von hochpolitischer Bedeutimg beschäftigen . . . Wenn man auf manche Stimmen draußen hört, dann 314

Sozialgesetzgebung gewinnt man allerdings den Eindruck, als ob unsere politischen Nerven bereits so abgestumpft wären, daß bedeutsame Vorlagen der Sozialpolitik, der Rechtspflege . . . jedes politische Interesse verloren hätten, in dem Augenblick, wo wir praktisch an ihre Lösung herantreten." Er sei aber der Ansicht, „daß es weite Kreise unseres Volkes gibt, die auf die Dauer nicht von der politischen Sensation und nicht von der Verärgerung leben wollen". Den Vorwurf der Stagnation schien alsbald Bethmanns Haltung in der Frage des preußischen Wahlrechts zu bestätigen, dessen organische Fortentwicklung der Kaiser vor einem Jahr versprochen hatte. Als preußischer Ministerpräsident brachte Bethmann-Hollweg in diesem Sinne einen Gesetzentwurf ein, Ende Mai 1910 lehnte ihn das preußische Abgeordnetenhaus ab, und Bethmann ließ es bis auf weiteres dabei. Immerhin hatte Bethmann-Hollweg während der ersten fünf Jahre seiner Reichskanzlerschaft unter teilweise schwierigen innen- und außenpolitischen Verhältnissen eine Reihe beachtenswerter Erfolge.

INNENPOLITIK Sozialgesetzgebung Unter Bülows Reichskanzlerschaft war die Weiterentwicklung der Sozialgesetzgebung nur wenig über einige Verbesserungen bereits bestehender Gesetze und über die Vorbereitung neuer hinausgekommen. Im März 1903 nahm der Reichstag das Gesetz über Kinderarbeit in gewerblichen Betrieben an, Ende April eine Novelle zum Krankenversicherungsgesetz, wobei er die Ausdehnung der Krankenversicherung auf Hausindustrie, Gesinde, land- und forstwirtschaftliche Arbeiter forderte. Der Bergarbeiterstreik im Ruhrgebiet von 1905 veranlaßte in Preußen ein neues, die Lage der Bergarbeiter verbesserndes Berggesetz, es setzte auch ihre Beteiligung an der Reglung der Arbeitsordnung in Arbeiterausschüssen fest; 1908 folgte noch ein Gesetz zur Unfallverhütung in Bergwerken. Eine Ausstellung von Heimarbeiten in Berlin regte Mitte März 1906 alle bürgerlichen Parteien im Reichstag an, ein Heimarbeiterschutzgesetz zu beantragen, in dem die Führung von Lohnbüchern, Gewerbeaufsicht, Begrenzung der Arbeitszeit, vor allem bei Kindern und Jugendlichen, verlangt wurde. Im April 1907 legte der Staatssekretär des Reichsamtes des Innern, Arthur Graf von Posadowsky-Wehner, wegen seiner sozialen Gesinnung der „rote Graf" genannt, ein umfassendes sozialpolitisches Programm vor: durchgreifende Reform der Krankenversicherung, ihre Ausdehnung, wie sie bereits die Novelle von 1903 vorgesehen hatte, eine Witwen- und Waisenversicherung, eine Novelle zur Gewerbeordnung und ein Gesetz über Arbeitskammern. Als Posadowsky, der dem Zentrum nahestand, infolge der Blockpolitik Bülows zurücktreten mußte, führte sein Amtsnachfolger BethmannHollweg Posadowskys Vorbereitungen weiter. Unter Bülows Reichskanzlerschaft kam davon bloß an Stelle der bisherigen nur für Fabriken geltenden noch die am 9. Dezember 1908 vom Reichstag angenommene neue Gewerbeordnung für alle 315

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Innenpolitik Betriebe mit wenigstens zehn Arbeitern zustande; sie verbot eine Beschäftigung jugendlicher Arbeiter und Arbeiterinnen von 8 Uhr abends bis 6 Uhr morgens und schrieb für sie eine ununterbrochene elfstündige Minimalruhezeit vor; Wöchnerinnen mußten mindestens acht Wochen imbeschäftigt bleiben; Arbeiterinnen durften längstens zehn Stunden am Tag beschäftigt und im Bergbau zu Schwerarbeiten überhaupt nicht verwendet werden; geregelt wurden außerdem die Arbeitszeit der Jugendlichen und Arbeiterinnen an Samstagen und Festtagsvorabenden und die Leistimg von Überstunden. Mit dem von Bethmann-Hollweg im November 1908 eingebrachten Arbeitskammergesetz befaßte sich der Reichstag erstmals Mitte Januar 1909. Bethmann-Hollweg vertrat dabei die Ansicht, die Arbeitskammern müßten paritätisch aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzt und fachlich gegliedert werden, die Aufgabe der Kammern sei der Ausgleich der Gegensätze zwischen Arbeitgebern und Arbeitern. „Mir sind wegen dieses Zweckes, den ich den Arbeitskammem zuweise, ungeheure Vorwürfe gemacht worden. Man mutet mir zu den Traum eines frommen arkadischen Schäferzustandes zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmerschaft. So naiv bin ich nicht. Aber ich habe aus eigener Beobachtung an praktischen Verhältnissen wiederholt die Erfahrung gemacht, daß die Gegensätze sich deswegen so vertiefen, deswegen eine so große Bitterkeit auf beiden Seiten zeitigen, weil sich die beiden Teile nicht finden, weil sie aneinander vorübereilen." Bei den Lesungen des endgültigen Entwurfs im Reichstag 1910 und 1911 — Bethmann-Hollweg war inzwischen Reichskanzler geworden — stellten sich derartige Gegensätze zwischen den Sozialdemokraten und der Regierung heraus, daß diese den Entwurf zurückzog und keinen anderen mehr vorlegte; die Sozialdemokraten hatten statt den aus Arbeitgebern und Arbeitnehmern zusammengesetzten Arbeitskammern Arbeiterkammern verlangt, die lediglich die Interessen der Arbeiterschaft zu vertreten hätten, und eine Reihe weiterer Anträge in ausgesprochen sozialdemokratischem Sinne gestellt, außerdem waren auch von anderen Parteien Einwände gegen die Errichtung von Arbeitskammern erhoben worden. Einen großen Erfolg Bethmanns bedeutete aber die Annahme der Reichsversicherungsordnung durch den Reichstag am 30. Mai 1911. In ihr wurden die bisherigen Bestimmungen über die Unfall-, Kranken-, Alters- und Invalidenversicherung zusammengefaßt und zum Teil besser ausgebaut: Nun erhielten die Witwen und Waisen der Versicherten eine Unterstützung, die, so bescheiden sie war, sich immerhin im ganzen auf 66 Millionen Mark belief; der Kreis der Versicherten wurde auf Heimarbeiter, Dienstboten, land- und forstwirtschaftliche Arbeiter erweitert, im ganzen um 7 Millionen Personen; das Krankengeld für besser entlohnte Arbeiter wurde um täglich 50 Pfennig erhöht; die Kassenbeamten hatten nun eine vorschriftsmäßige Ausbildung nachzuweisen; die Krankenkassenvorstände mußten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern getrennt gewählt werden. Die beiden letzten Punkte richteten sich gegen die Sozialdemokratie, die in der Verwaltung der Krankenkassen den Ton angegeben und ihre Agitatoren untergebracht hatte. Hauptsächlich wegen dieser zwei Punkte stimmten die sozialdemokratischen Abgeordneten im Reichstag gegen den Reichsversicherungsentwurf. 316

Heeresvermehrung und Novellen zum Flottengesetz Im Dezember folgte das Versicherungsgesetz für Privatangestellte, deren Arbeitsverdienst im Jahre 5000 Mark nicht überschritt. Der Personenkreis umfaßte unter anderen Betriebsbeamte, Werkmeister, Handlungsgehilfen, Bühnen- und Orchestermitglieder, Erzieher, Schiffsbeamte. Die Versicherungssummen sollten zu gleichen Teilen von Arbeitgebern und Angestellten aufgebracht und nach dem Einkommen der Versicherten abgestuft werden. An demselben Tag erschien das von den bürgerlichen Parteien bereits im März 1906 angeregte Heimarbeiterschutzgesetz. — Die Umwandlung von Elsaß-Lothringen zu einem deutschen Bundesstaat im Mai 1911 und die Heeresvermehrung von 1913, beides großenteils von Bethmann-Hollweg bewirkt, waren an sich ebenfalls nicht gering zu schätzende Erfolge, die daran geknüpften Hoffnungen erfüllten sich wegen des Ersten Weltkrieges freilich nicht. Heeresvermehrungen

und Novellen zum Flottengesetz

Seit der großen Heeresvermehrung von 1893 (S. 184) drängten die Vorliebe des Kaisers für die Marine und die zielbewußte Persönlichkeit des Admirals von Tirpitz das Heer gegenüber der Flotte in den Hintergrund. Die alle fünf Jahre (Quinquennat) bei der Beratung des Heeresbudgets im Reichstag von der Regierung zu stellenden Anforderungen waren sehr niedrig gehalten und auch davon vor ihrer Annahme Abstriche vorgenommen worden. So begnügte man sich trotz der starken Bevölkerungszunahme, die eine weit höhere Aushebung ermöglicht hätte, 1899 mit einer Steigerung der Präsenzstärke um 16 000, 1905 um 10 000, 1911 um 9500 Mann. Die 1893 nur probeweise eingeführte zweijährige Dienstzeit für Fußtruppen wurde 1905 endgültig festgelegt. Der verhältnismäßig größte Anteil der Heeresvermehrung fiel der Kavallerie zu; neu war die Angliederung von Maschinengewehrabteilungen an Infanterieregimenter. Die technischen Fortschritte — Femsprecheinrichtungen und Motorisierung — ließen sich für das Heer bei den spärlich zur Verfügung stehenden Mitteln nur langsam und unzureichend nutzbar machen. Die Regierung wagte nicht, neben den großen Ausgaben für die Flotte auch noch für die Armee eine beträchtliche Erhöhung des Heeresbudgets zu verlangen. Überdies waren die Meinungen über die Art der Aufrüstung geteilt. Der preußische Kriegsminister Karl von Einem legte weit mehr Gewicht auf die technische und taktische Modernisierung der Armee als auf die Masse der Soldaten; er führte die feldgraue Uniform und den Rohrrücklauf der Geschütze ein, wie er überhaupt der Artillerie besondere Bedeutung zumaß. Helmuth von Moltke, seit 1906 Chef des Generalstabs, trat dagegen vor allem für die zahlenmäßige Verstärkung der Armee ein, im April 1907 schrieb er an das preußische Kriegsministerium: „Die Zahl hat heute mehr denn je ihre Berechtigung, wo wir über kurz oder lang gezwungen sein können, gegen mehrere Gegner gleichzeitig um den Bestand des Staates kämpfen zu müssen. Je geringer die Aussichten auf See sind, um so mehr müssen wir uns zu Lande nicht nur behaupten, sondern den siegreichen Ausgang des Krieges zu erzwingen imstande sein. Alle bis aufs gewissenhafteste geprüften und bis zu den letzten Folgerungen 317

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Innenpolitik

durchgeführten Operationen ergeben aber denselben ScMuß: sie müssen erlahmen, weil die an den Operationslinien festgelegten Feldtruppen nicht rechtzeitig durch rückwärtige Formationen freigemacht werden können." Ende 1911 betrug die Kriegsstärke des deutschen und österreichischen mobilen Feldheeres 3 152 000 Mann gegenüber 4 010 000 der Entente, die Gesamtkriegsstärke der beiden Mittelmächte 5 504 000 gegenüber 7 638 000 der Entente. Neben der Tatsache, daß Deutschland in erster Linie eine Kontinentalmacht war, die auf einen Zweifrontenkrieg gefaßt sein mußte, sprachen diese Zahlen für Moltkes Auffassung. Auch Kaiser Wilhelm verschloß sich der Einsicht nicht, daß eine beträchtliche Heeresvermehrung notwendig sei, und wollte im August 1910 den Reichskanzler und den Kriegsminister veranlassen, über die für 1911 vorgesehene Heeresvermehrung hinauszugehen. Aber vorerst blieb es dabei, worüber Einem im Rückblick auf Bülows Reichskanzlerschaft klagte: „Im Reichsschatzamt und im Reichstag wurde um die geringste Position des Militäretats Tage und Wochen lang gekämpft. Die Flotte war in wenigen Tagen mit gewaltigen Summen abgefunden." Auf der Grundlage des Gesetzes von 1900 bewilligte der Reichstag gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und der Freisinnigen im Mai 1906 den Bau von sechs großen Kreuzern und von Schiffen der Dreadnought-Klasse, Vermehrung der Torpedoboote und die Erweiterung des Kaiser-Wilhelm-Kanals und setzte Ende März 1908 gegen die Stimmen der Sozialdemokraten und bei Stimmenthaltung des über Bülows Blockpolitik verärgerten Zentrums die Lebensdauer der Linienschiffe von 25 auf 20 Jahre herab, damit war der Flottenetat auf über 400 Millionen Mark angewachsen, während der Etat für das gesamte Heer nur ungefähr 900 Millionen betrug. Die Entwicklung der Außenpolitik seit der zweiten Marokkokrise ließ jedoch immer mehr die Notwendigkeit größerer Aufwendungen besonders für das Heer erkennen. Die Reichstagswahlen vom 12. Januar 1912 brachten zwar den Sozialdemokraten einen völlig unerwarteten Stimmenzuwachs um eine Million, sie waren jetzt mit 110 Abgeordneten die stärkste Partei im Reichstag, da alle größeren bürgerlichen Parteien erhebliche Einbußen erlitten hatten, aber sie bildeten immer noch die stark überwiegende Mehrheit und unterstützten nun in Heeresangelegenheiten meist die Regierung, ebenso die Fortschrittliche Volkspartei, in der sich seit 1910 die verschiedenen Gruppen des Freisinns zusammengeschlossen hatten. Am 10. Mai 1912 nahm der Reichstag en bloc gegen Sozialdemokraten und Polen eine Heeresvorlage zur Ergänzung der geringfügigen von 1911 an und am 14. Mai, ebenfalls en bloc, eine Novelle zum Flottengesetz gegen Sozialdemokraten, Polen und Weifen. Das neue Heeresgesetz erhöhte die Rekrutenzahl um 29 000 Mann, errichtete zwei neue Armeekorps, jedes Regiment sollte eine Maschinengewehrkompanie erhalten, dazu kamen verschiedene Verbesserungen der technischen Waffen und die Aufstellung einer Fliegertruppe. Zu den bisher vier Geschwadern der Flotte kam ein fünftes, mit dem sich die Zahl der kriegsbereiten Geschwader auf drei erhöhte; dementsprechend wurde der Mannschaftsbestand der Flotte vermehrt. Aus Sparsamkeitsgründen sollte das neue Geschwader vorerst aus Schiffen der Reserve zusammengestellt und später durch einige Neubauten ergänzt werden. 318

Heeresveimehrung und Novellen zum Flottengesetz

Uber die Annahme der Heeresvorlage äußerten sich Moltke und Josias von Heeringen, seit 1909 preußischer Kriegsminister, sehr befriedigt; beide glaubten, das Heer wäre nun „allen Eventualitäten politischer Art" gewachsen. Anderer Ansicht war der Chef der Aufmarschabteilung im Großen Generalstab, Oberst Erich Ludendorff. Seinem Rat folgend schrieb Moltke nun doch am 14. Oktober 1912 an das Kriegsministerium, das Heer müsse „von neuem und wirklich entscheidend" verstärkt werden. Der Verlauf des kurz zuvor ausgebrochenen ersten Balkankrieges (S. 344) und die Angst vor einem allgemeinen europäischen Krieg bereiteten den Boden für eine günstige Aufnahme des Ende März 1913 dem Reichstag vorgelegten neuen Wehrgesetzes. Am 30. Juni bewilligte es der Reichstag gegen die Stimmen der Sozialdemokraten, Polen und Elsaß-Lothringer. Die Hauptsache war die Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des Heeres um 4000 Offiziere, 15 000 Unteroffiziere, 117 000 Mann und 28 000 Pferde; am Ende des Quinquennats 1916 sollte das deutsche Heer 32 000 Offiziere, 110 000 Unteroffiziere, 661 500 Mann, 16 000 Einjährige zählen. Die Kosten dafür beliefen sich auf 898 Millionen Mark einmaliger und 393 Millionen laufender Ausgaben. Für die einmaligen hatte ein in drei Jahresraten vom Vermögen oder von einem hohen Einkommen zu zahlender abgestufter „Wehrbeitrag", für die laufenden Mehrausgaben eine Steuer auf den Vermögenszuwachs aufzukommen. Zur Wehrsteuer wurden erst Vermögen von 10 000 Mark an und auch dann nur bei einem Einkommen über 4000 herangezogen, ohne ein solches Einkommen nur bei einem 30 000 Mark überschreitenden Vermögen. Personen ohne Vermögen mit 10 000 Mark Jahreseinkommen hatten davon 1 % zu zahlen, bis 15 000 Mark 1,5 % und so weiter ansteigend bis 8% bei einem 500 000 Mark übersteigenden Jahreseinkommen. Die Reichssteuer auf Vermögenszuwachs wurde für je drei Jahre bei 100 000 bis 200 000 Mark Besitz um 0,1% des Zuwachses zunehmend bis zu 1 % bei einem Vermögen von mehr als 10 Millionen Mark erhöht. Dazu kamen Erbschaftssteuern und eine Reihe von Stempelsteuern auf Aktien, Lebensversicherungen, Gesellschaften mit beschränkter Haft und dergleichen. Für den Wehrbeitrag stimmten mit Ausnahme der Polen und Elsaß-Lothringer alle Parteien, gegen die Vermögenszuwachssteuern die Konservativen. Die Genehmigung von Abgaben, die nur Wohlhabende zu leisten hatten, fiel den Sozialdemokraten nicht schwer, übrigens waren sie, so abfällig sie sich bei jeder Gelegenheit über den Militarismus äußerten, nicht durchweg grundsätzlich gegen jede Aufrüstung, so lange die „Zukunftsgesellschaft", in der immer Frieden herrschen werde, noch nicht Wirklichkeit geworden sei. Schon 1907 hatte Gustav Noske im Reichstag während einer Debatte über den Militäretat auf die Forderung „Erziehung des Volkes zur allgemeinen Wehrhaftigkeit" hingewiesen und erklärt: „Selbstverständlich ist es unsere verdammte Pflicht und Schuldigkeit, dafür zu sorgen, daß das deutsche Volk nicht von einem anderen an die Wand gedrückt wird. Dagegen würden wir uns ebenso gut wehren wie diejenigen, die den Patriotismus gepachtet zu haben glauben", aber das Säbelrasseln, wie es der Kriegsminister getrieben habe, sei überflüssig. Die Konservativen widerstrebten der Vermögenszuwachssteuer, weil ihrer Ansicht nach alle Erträgnisse aus derartigen Steuern 319

Kanzlerschaft Bethmann-HoUwegs — Außenpolitik den Einzelstaaten zufließen sollten. Nicht so partikularistisch handelten die Landesfürsten. Obwohl zu keinerlei Steuern verpflichtet, erboten sie sich freiwillig zu Leistungen für den Wehrbeitrag. Diese Art der Finanzierung der Heeresvermehrung von 1913 hatte den großen Vorteil, daß sich eine Anleihe erübrigte, die mit ihrer Verzinsung zu neuen Schulden des Reiches geführt hätte. Seit Ende des vorigen Jahrhunderts hatte das Interesse des deutschen Volkes an der Flotte sehr zugenommen, jetzt erstredete es sich in steigendem Maße auch auf das Heer. Anfang 1912 gründeten die Generale August Keim und Karl Litzmann den „Deutschen Wehrverein", der das Volk von der Notwendigkeit eines starken Landheeres unter Ausnützung der ganzen Volkskraft zu überzeugen verstand, ähnlich wie der Flottenverein die Anteilnahme an dem Wachstum der Flotte gewecict hat. Die Jahrhundertfeiern zur Erinnerung an den Befreiungskrieg von 1813 trugen viel zu der Begeisterung für Heer und Vaterland bei. Militärische Gesichtspunkte spielten bei der Forderung der Luftfahrt ebenfalls mit. Als am 3. April 1912 in Berlin die Allgemeine Luftfahrzeugausstellung eröffnet wurde, kündigte Prinz Heinrich von Preußen eine Nationalspende für das deutsche Flugzeugwesen an und gründete die „Wissenschaftliche Gesellschaft für Flugtechnik". Das Ergebnis der im Dezember abgeschlossenen Spende betrug 7,2 Millionen Mark. Frankreich, Rußland und England beobachteten die deutschen Anstrengungen für Heer und Flotte mit großer Aufmerksamkeit. Neben vereinzelten beruhigenden Feststellungen wie der in der „Times", die deutsche Aufrüstung verfolge nur defensive Zwecke, oder in anderen englischen Zeitungen, die in Frankreich eingeführte dreijährige Dienstzeit sei von Rußland vor der Einbringung der deutschen Wehrvorlage von 1913 angeregt worden, erschienen Schmähartikel gegen das deutsche Rüstungsfieber. Die gleichzeitigen Rüstungsmaßnahmen in diesen Ländern waren jedenfalls nicht die Folge der deutschen, sondern wie diese in erster Linie hervorgerufen durch mehr und mehr den Frieden in Europa gefährdende Vorgänge der internationalen Politik.

AUSSENPOLITIK Deutsch-englische Verhandlungen. Tod Eduards VII. Nach Bethmann-Hollwegs Ernennung zum Reichskanzler machten Beamte des Auswärtigen Amtes, um ihn über den Stand der Außenpolitik zu unterrichten, ebenso der Generaldirektor der Hapag, Albert Ballin, Aufzeichnungen, in denen es sich im wesentlichen um eine Verständigung mit England als der wichtigsten Voraussetzung zur Überwindung der schwierigen außenpolitischen Lage Deutschlands handelte. Der Vortragende Rat im Auswärtigen Amt, Freiherr von dem Busche-Haddenhausen, kam dabei zu dem Ergebnis: „Unsere Beziehungen zu England sind zwar äußerlich korrekt, und schwebende Fragen werden meist glatt erledigt, im Grunde ist das Verhältnis jedoch durchaus unerfreulich, ja man kann 320

Deutsch-englische Verhandlungen. Tod Eduards VII. sagen, daß es die finstere Wolke an unserem Horizont ist. Uberall in der Welt wird von dem deutsch-englischen Gegensatz geredet, ernsthafte Menschen in England und anderen Ländern halten einen Zusammenstoß für unvermeidlich . . . Was ist der Grund dieses unerwünschten Zustandes, der bereits beginnt, sidi in geschäftlichen Beziehungen fühlbar zu machen? Alle wirklichen Kenner Englands schieben die deutsch-feindliche Stimmung auf den stetigen und schnellen Ausbau unserer Flotte, durch welche die Engländer ihre Existenz bedroht fühlen. Wir mögen diese Furcht Englands, das uns zur Zeit zur See etwa dreifach überlegen ist, verlachen; sie besteht und bildet eine nicht zu unterschätzende Gefahr." Nach langwierigen Erörterungen zwischen Ballin und dem englischen Finanzmann Sir Ernest Cassel meinte dieser: „Es könne sicherlich nur nützlich wirken, wenn einige verständige Männer von beiden Seiten ernannt, zu einer Besprechung zusammenkommen würden." Von der Unterredung Ballin-Cassel ausgehend, hielt Bethmann-Hollweg am 13. August 1909 dem Kaiser Vortrag: Die von Ballin und Cassel privat eingeleiteten Verhandlungen müßte man jetzt offiziell fortsetzen. Der deutsche Gesandte in London halte einen Krieg für unvermeidlich, wenn keine Verständigimg erreicht werde, ebenso sei Tirpitz für ein deutsch-englisches Einvernehmen, weil es nicht nur auf die Zahl und Beschaffenheit der deutschen Schiffe ankomme, sondern auch auf die Küstenbefestigung, den Ausbau des Kaiser-Wilhelm-Kanals, die Hafen- und Befestigungsbauten auf Helgoland, und in all dem sei Deutschland noch sehr im Rückstand. „Die Ansicht, daß wir die Engländer an uns herankommen lassen müßten, weil dann in den Verhandlungen unsere Position stärker wäre, halte ich für irrig. Scheitern Verhandlungen, die auf englischer Initiative beruhen, an unserem Widerspruch, dann gelten wir der Welt gegenüber als die Unverträglichen und Schuldigen, und das würde die Erregung und damit die Neigung Englands zum Krieg nur stärken. Umgekehrt liegt es, wenn wir England ein Angebot machen, und zwar namentlich im gegenwärtigen Augenblick, wo M'Kenna (Marineminister) und Asquith (Premierminister) emphatisch erklärt haben, England sehne sich nach einem Abkommen, die Tür stände jedermann offen. Lehnt England ein vernünftiges Angebot von uns ab, so ist es England, das sich ins Unrecht setzt . . . Damit, daß Alldeutsche, Flottenvereine usw. ein gewaltiges Geschrei erheben, muß gerechnet werden. Das kann indessen nicht abhalten, das an sich Richtige zu tun." Der Kaiser stimmte den Ausführungen des Reichskanzlers zu, der dann dem englischen Botschafter in Berlin, Sir Edward Goschen, den Wunsch der deutschen Regierung nach einer Verständigung mitteilte. Der englische Außenminister Grey zeigte sich von der deutschen Anregung sehr befriedigt, brach aber die Verhandlungen wegen der Ende Januar 1910 bevorstehenden Neuwahlen zum englischen Parlament Mitte November ab. Während des Wahlkampfes setzte eine heftige deutschfeindliche Agitation ein, und da die Liberalen im neuen Parlament nur noch eine unsichere Mehrheit hatten, stellte Grey die Wiederaufnahme der Verhandlungen mit Deutschland zurück Am 23. März sagte er zu Metternich: „Die unsichere Lage der Regierung hätte ihm nicht erlaubt, der Angelegenheit wieder näherzutreten. Die ganze Frage drehe sich 321 21 Bühler, Deutsdie Geschichte, VI

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik eigentlich darum, ob wir gewillt seien, unser Flottenprogramm zu ändern." Auf die Frage Metternichs, was er unter Programm verstehe, antwortete Grey: „Das deutsche Flottengesetz." Metternich erwiderte: „Von einer Änderung unseres Flottengesetzes ist nie die Hede gewesen." Darauf Grey: „Dann wird es schwerhalten, die Kosten herabzusetzen, worauf es England ankommt, denn wir müssen unser Flottenbudget nach dem Ihrigen richten." Zum Schluß sprach Grey aber doch die Hoffnung auf Wiederaufnahme der Verhandlungen aus. In der Forderung Greys, das deutsche Flottengesetz zu ändern, lag die ganze Problematik des deutsch-englischen Verhältnisses beschlossen. Die Zugeständnisse, die Tirpitz mit der Verlangsamung des Schiffsbaus zu machen bereit war, schienen England zu gering, und das von Tirpitz vorgeschlagene Verhältnis 3 zu 4 für die beiderseitigen Schiffsneubauten erklärten die Engländer im Hinblick auf die Verteidigung ihrer Weltmachtstellung als unannehmbar. Für Deutschland wäre eine Preisgabe des Flottengesetzes einem Verzicht auf Gleichberechtigung mit den anderen Großmächten nahegekommen. Eine starke Flotte sollte Deutschland in der Welt Achtung verschaffen, seine Kolonien und den deutschen Kaufmann in Übersee schützen. Zwar überwog der Kontinentalhandel Deutschlands immer noch beträchtlich seinen Überseehandel; dodi war die Industrie, von derem weiteren Aufblühen die Vermehrung der Arbeitsplätze für die anwachsende deutsche Bevölkerung abhing, für die Einfuhr von Rohstoffen und den Absatz der Fertigwaren auf eine immer stärkere Ausdehnung des Überseehandels angewiesen. Bei einer Würdigung dieser Tatsachen und der Mentalität der Epoche des Imperialismus und nicht rückblickend vom Ersten Weltkrieg und seinen Folgen her betrachtet, erscheint es begreiflich, daß Kaiser Wilhelm und seine Regierung sich zwar gern mit England verständigt hätten, aber nicht auf der Grundlage des Verzichts auf eine starke Flotte. Die öffentliche Meinung in Deutschland hätte dies als eine unerträgliche Demütigung empfunden, und es bleibt immerhin fraglich, ob sich Deutschland selbst mit diesem Opfer eine wirkliche Freundschaft Englands erkauft hätte. Am 7. Mai 1910 starb König Eduard. VII. von England. Kaiser Wilhelm schrieb an Bethmann-Hollweg: „Eine hervorragende politische Persönlichkeit verschwindet plötzlich von der europäischen Bühne, eine merkbare Lücke lassend. In solchem Augenblick vergißt man manches. Die englische Politik im ganzen ex officio wird sich nicht viel ändern. Wohl aber wird die Tätigkeit remuanter (unruhiger) Intrigenwirtschaft sich etwas legen, die Europa in stetem Atem hielt und nicht zum Genuß friedlicher Ruhe kommen lassen wollte. Die persönlich inszenierten Kombinationen werden beim Fehlen des Hauptes zerbröckeln: denn sie wurden zusammengehalten durch den Zauber des persönlichen Einflusses und überzeugender Redegabe auf die Leiter der Einzelstaaten. Für Frankreich ist es ein schwerer Schlag . . . Auch Iswolski wird sich recht einsam vorkommen seit sein Leitstern erlosch! Ich glaube im ganzen wird mehr Ruhe in die europäische Politik kommen; wenn nichts weiter, wäre das schon ein Gewinn. Wo man die verschiedenen Feuer nicht mehr schürt, werden sie niedriger brennen. Am meisten betrauert wird Eduard VII. nächst seinem Volke von Galliern und Juden wer322

Deutsch-russische Verhandlungen. Potsdamer Abmachungen den." Mit der Beurteilung König Eduards VII. hatte Kaiser Wilhelm jedenfalls vom deutschen Standpunkt aus recht, ebenso darin, daß die englische Politik sich nicht wesentlich ändern werde; dagegen trogen ihn die Hoffnungen, die er an den Tod des Königs knüpfte, völlig. Mitte August 1910 übergab Goschen dem Reichskanzler ein Memorandum, das die Bereitwilligkeit der englischen Regierung zur Wiederaufnahme der Verhandlungen erkennen ließ und auf die fraglichen Punkte einging. Nach zwei Monaten antwortete der Reichskanzler ebenfalls in Form eines Memorandums: die deutsche Regierung sei an sich mit dem englischen Vorschlag eines gegenseitigen Nachrichtenaustausches über den jeweiligen Stand der beiderseitigen Schiffsbauten einverstanden, sollte indes dieser Vorschlag an die Voraussetzung eines Verzichts auf eine weitere Ausdehnung des deutschen Flottengesetzes gebunden sein, müßte zuvor die Frage der englischen Gegenleistung geklärt sein. Außerdem sei die deutsche Regierung nach wie vor prinzipiell zur Verlangsamung des Flottenbaus bereit. „Die Kaiserliche Regierung gibt erneut der Uberzeugung Ausdruck, daß jedes Flottenabkommen, da es die Weltmachtstellung der beiden an ihm beteiligten Länder berührt, gesicherte gegenseitige Beziehungen zur unumgänglichen Voraussetzung hat. Hierzu hält sie allerdings eine politische Verständigung für erforderlich" und hoffe deshalb, daß „die Königlich Großbritannische Regierung sich der Notwendigkeit einer dem beiderseitigen Interesse entsprechenden gleichzeitigen politischen Aussprache nicht verschließen wird." Wie ernst es Bethmann mit seinen Bemühungen um einen deutsch-englischen Ausgleich meinte, zeigt auch, daß er den Entwurf für eine von ihm beabsichtigte Erklärung im Reichstag über die deutschen Beziehungen zu England durch Metternich dem englischen Premierminister Asquith zugehen ließ mit dem Ersuchen, er möge etwaige Bedenken äußern. Asquith war mit dem Entwurf ganz einverstanden und dankte dem Reichskanzler „für die bewiesene Courtoisie". Die Verhandlungen setzten sich monatelang fort. Über den gegenseitigen Nachrichtenaustausch wurde im wesentlichen Ubereinstimmung erzielt, mit der von Deutschland so sehr gewünschten politischen Verständigung kam man jedoch nicht weiter. Metternich gegenüber betonte Grey, die Schwierigkeit für ihn liege darin, eine politische Formel der Annäherung zu finden, welche Deutschland befriedige, ohne Frankreich und Rußland zu entfremden.

Deutsch-russische Verhandlungen.

Potsdamer

Abmachungen

In Rußland folgte Ende September 1910 dem deutschfeindlichen Iswolski als Außenminister der sofort auf die Anbahnung besserer Beziehungen zu Deutschland bedachte Sergei Sasanow. Ein Besuch des Zaren bei Kaiser Wilhelm sollte diesem Zweck dienen. Zunächst hatte Sasanow am 1.November mit BethmannHollweg in Berlin eine Unterredung. Sasanow erwähnte dabei, das deutsche Verhalten in der bosnisch-herzegowinischen Krise habe das Verhältnis Rußlands zu Deutschland erschwert, bezeichnete aber dann, nachdem der Reichskanzler den

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik deutschen Standpunkt in dieser Angelegenheit gerechtfertigt hatte, diese Krisis als ein Stüde der Geschichte der Vergangenheit ohne jede Bedeutung für die zukünftigen Richtlinien der russischen Politik. Dem Verdacht Englands, Rußland wolle nach Indien vordringen, habe ebenfalls ein Ende gemacht werden müssen. Die Zeiten der Expansionspolitik seien für Rußland ein für allemal abgeschlossen. Seine einzige Aufgabe sei die eigene innere Konsolidation. Aus diesem Grunde sei Rußland eine Verständigung (Entente) mit England eingegangen, die jenen Velleitäten (veralteten Dingen) für immer ein Ende mache. Aber einzig und allein hierauf erstredete sich die Verständigung mit England. „Wir haben einen festen und dideen Punkt gemacht, über den es nicht hinausgeht. Will England im übrigen eine Deutschland feindliche Politik treiben, so wird es uns nicht auf seiner Seite finden." Am 4./5. November hielt sich der Zar, der in Darmstadt einen Verwandtenbesuch gemacht hatte, in Potsdam auf. Die beiden Monarchen besprachen alle schwebenden politischen Fragen sehr offen und freundschaftlich. Auf Wunsch des nach Petersburg zurückgekehrten Sasanow stellte Bethmann-Hollweg in dem Entwurf einer Note die neun Punkte zusammen, über die man sich mündlich geeinigt hatte: 1. Deutschland werde eine expansive Politik Österreichs auf dem Balkan nicht unterstützen. 2. Rußland habe sich gegenüber England in keiner Weise verpflichtet, sich an einer deutschfeindlichen Politik zu beteiligen. 3. Beide Regierungen stimmten in dem Wunsche überein, den Status quo auf dem Balkan soweit wie irgend möglich aufrechtzuerhalten; sollten sich dort Konflikte ergeben, würden sie sich um ihre Lokalisierung bemühen. 4. Deutschland und Rußland erklären sich bereit, einerseits die friedliche Entwicklung der Balkanstaaten, andererseits eine stabile Regierung in der Türkei zu stützen, 5. die Integrität Persiens zu erhalten. 6. Deutschland erkennt Rußlands Interessen in Nordpersien an, es werde dort keine Konzessionen für Bahnen usw. zu erlangen trachten, dafür verspricht Rußland 7. den deutschen Handel in Nordpersien in keiner Weise einzuengen, 8. dem Bau der Bagdadbahn keine Schwierigkeiten mehr in den Weg zu legen und sagt 9. Erleichterung des internationalen Handels südlich des Kaukasus zu. Zunächst war Sasanow durchaus für einen deutsch-russischen Notenaustausch auf dieser Grundlage, aber seit Anfang Dezember bemerkte der deutsche Botschafter in Petersburg, Graf Friedrich von Pourtalès, ein deutliches Ausweichen Sasanows vor einer offiziellen Festlegung dieser neun Punkte. Mitte des Monats brachte dieser nach einer langen Unterredung mit Pourtalès den Grund für sein Verhalten unmißverständlich zum Ausdruck: „Ich gestehe Ihnen ganz offen, daß ich den Eindruck, den eine Erklärung, die Sie von uns verlangen, in England machen würde, fürchte. Diese Erklärung, mag sie geheim sein oder nicht, würde sehr bald in London bekannt werden, und man würde noch mehr dahinter vermuten, als wirklich dahinter steckt. Die Folge davon würde sein, daß die Schwierigkeiten, die England uns in Zentralasien so lange bereitet hat, und die Hetzereien auf dem Gebiet der zentralasiatischen Frage, von neuem beginnen würden. Damit wäre der ganze Erfolg unseres Abkommens mit England vom Jahre 1907 kompromittiert . . . Darum bitte ich Sie inständigst, verlangen Sie nichts Schrift324

Deutsch-russische Verhandlungen. Potsdamer Abmachungen liches von mir, sondern verlassen Sie sich auf mein Wort. Ich bin bereit, Ihnen mündlich in der feierlichsten Form zu erklären, daß Rußland nicht verpflichtet und nicht gewillt ist, eine deutschfeindliche Politik Englands zu unterstützen, denn Zurückhaltung im Falle einer solchen englischen Politik entspricht auch dem russischen Interesse, aber glauben Sie mir, es ist besser für beide Teile, wenn kein geheimes Blatt Papier zwischen uns beiden vorhanden ist." Kurz darauf teilte Sasanow Pourtalès die Äußerung des Zaren mit, in seinen Augen wären die zwischen ihm und Kaiser Wilhelm ausgetauschten Erklärungen mehr wert als ein schriftlicher Notenaustausch. Bethmann-Hollweg schien dies ein vollwertiger Ersatz für einen schriftlichen Notenaustausch; der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes von Kiderlen-Wächter schrieb dagegen in einem Privatbrief an Pourtalès: „Es war kein schlechter Coup von Sasanow mit dem Wort vom Zaren. Damit müssen wir uns — wenigstens scheinbar — zufrieden geben." Die Schwenkung Sasanows, von dem ja die Anregung zu einem Notenaustausch ausgegangen war, erklärt sich aus den Gegenströmungen, die in London und Paris sofort einsetzten, als vom Inhalt der Potsdamer Abmachungen etwas durchsickerte, und dann noch mehr nach Bethmann-Hollwegs Reichstagsrede vom 10. Dezember, durch die gewissermaßen die Richtlinien einer deutsch-russischen Verständigung zur allgemeinen Kenntnis kamen: „Von neuem wurde festgestellt, daß sich beide Regierungen in keinerlei Kombination einlassen, die eine agressive Spitze gegen den anderen Teil haben könnte. In diesem Sinne haben wir insbesondere Gelegenheit zu konstatieren, daß Deutschland und Rußland ein gleichmäßiges Interesse an der Aufrechterhaltung des Status quo am Balkan und überhaupt im Nahen Orient haben und daher keinerlei Politik unterstützen werden, von welcher Seite sie auch kommen könnte, welche auf Störung jenes Status quo gerichtet wäre. Wir haben offen und freundschaftlich über unsere beiderseitigen Interessen in Persien gesprochen. Wir sind uns in dem Gedanken begegnet, daß unser gemeinsames Interesse Aufrechterhaltung bzw. Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung in jenem Lande erheische. Wir müssen wünschen, daß unser Handel mit Persien nicht gestört werde und sich weiterhin entwickle. Rußland hat denselben Wunsch für seinen Handel, daneben aber als Grenznachbar Persiens noch besondere berechtigte Interessen an der Sicherheit der Zustände in dem seinen Grenzen nächstgelegenen persischen Gebietsteile. Wir haben gern zugegeben, daß Rußland zu diesem Zweck eines besonderen Einflusses in Nordpersien bedarf und haben daher bereitwillig seinem Anspruch auf alle Konzessionen für Eisenbahnen, Wege und Telegraphen in jenem Bereich zugestimmt . . . Rußland wird seinerseits nicht nur unserem Handel keine Hindernisse in den Weg legen, sondern auch die Herstellung eines Anschlusses für seine Zufuhr nach Persien, soweit sie über Bagdad nach Chanikin führt, erleichtern . . . Die Unterredungen, die während der Potsdamer Entrevue stattgefunden haben, so kann ich mich zusammenfassen, haben da und dort scheinbare Mißverständnisse beseitigt und das alte vertrauensvolle Verhältnis zwischen uns und Rußland bestätigt und bekräftigt." Einige Tage später berichtete der Botschafter in Paris, Freiherr von Schoen, dem Reichskanzler: „Euerer Exzellenz Rede im Reichstag über die äußere Politik, insbesondere die 325

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Stellen über die Ergebnisse der Potsdamer Entrevue und die Aussichten einer Verständigung mit England haben hier nicht geringen Eindruck gemacht. In noch höherem Maße als dies in der Presse zum Ausdrude gekommen, hat sich hier das beängstigende Gefühl verbreitet, daß durch die Bekräftigung der deutsch-russischen Freundschaft und die Besserung der deutsch-englischen Beziehungen die Grundsäulen der französischen Politik, das Bündnis mit Rußland und die Entente cordiale mit England ins Schwanken geraten seien." Die französische Regierung betonte deshalb bei jeder Gelegenheit die Festigkeit der französisch-russischen Freundschaft, und Iswolski, seit Dezember 1910 russischer Botschafter in Paris, förderte sie nach besten Kräften. Treffend kennzeichnete der belgische Gesandte in Berlin, Baron Greindl, ein scharfer Beobachter der internationalen Politik, die Einstellung der diplomatischen Kreise in Frankreich und England: wenn sie „nur die Aufrechterhaltung des Friedens im Auge hätten, so müßten sie eine Annäherung freundlich begrüßen, die die deutsch-russischen Beziehungen verbesserte; aber in London und Paris wünscht man gerade, daß sie schlecht sind". Am meisten stieß man sich in England an den nun beginnenden Verhandlungen zur Fixierung der Abmachungen über Nordpersien und die Bagdadbahn, deren Endstrecke zum Persischen Golf England unbedingt unter seine Kontrolle bringen wollte. Obwohl London immer wieder in die sich schwierig gestaltenden Verhandlungen ratend und drohend eingriff, und Sasanow möglichst Rücksicht auf England nahm, konnte schließlich am 19. August das deutsch-russische Abkommen in Berlin und Petersburg unterzeichnet werden. Für Deutschland war das Wesentliche, daß sich Rußland als Gegenleistung für die Anerkennung seiner Sonderinteressen in Nordpersien verpflichtete, weder den Weiterbau der Bagdadbahn noch die Beteiligung fremden Kapitals daran zu hindern. Außerdem einigte man sich über eine Reihe weiterer Bahnbauprojekte und Anschlußstrecken. Mündlich ließ Rußland in London versichern, es handle sich bei seiner Zustimmung zur Bagdadbahn nur um die Strecke bis Bagdad, nach dem Wortlaut des Vertrags bezog sich die Aufgabe des russischen Widerstandes auf die gesamte Strecke. Deutschland hatte zweifellos einen nicht zu unterschätzenden Erfolg erreicht, freilich nicht das höhere und wichtigere Ziel des Potsdamer Abkommens, die Lockerung der Bindung Rußlands an Frankreich und England.

Die zweite Marokkokrise 1911 Die Algeciraskonferenz hatte Frankreich den Weg zur allmählichen Durchdringung Marokkos geebnet. Das Bestreben, es völlig in seine Gewalt zu bringen, führte zu mancherlei Reibungen mit Deutschland. Sie wurden zwar immer wieder beigelegt, wirkten aber doch auf beiden Seiten verstimmend. Die Lage verschärfte sich 1907/08, als in Marokko Thronwirren ausbrachen, Frankreich für den von seinem Bruder Abdul Mulay Hafid vertriebenen Sultan Abdul Asis Partei nahm, Deutschland für Mulay Hafid, der sich schließlich durchsetzte, und der deutsche Konsulatssekretär in Casablanca desertierte Fremdenlegionäre in Sicherheit zu 326

Zweite Marokkokrise 1911 bringen versuchte, was französische Soldaten gewaltsam verhinderten. Den große Aufregung hervorrufenden Zwischenfall legte ein Schiedsgerichtsverfahren bei. Es stellte rechtswidriges Verhalten sowohl auf französischer wie auf deutscher Seite fest, beide Regierungen sprachen ihr Bedauern aus und waren von dieser Lösung nicht befriedigt; die Deutschen sahen darin eine Niederlage, die Franzosen eine Demütigung. Trotz alledem bestand in beiden Regierungen der Wunsch nach einem Ausgleich. Schon am 6. Oktober 1908, unmittelbar nach der den europäischen Frieden gefährdenden Annexion Bosniens durch Österreich, hatte Kaiser Wilhelm gefordert: „Die elende Marokkoaffaire muß nun aber zum Abschluß gebracht werden, schnell und endgültig . . . Es ist nichts zu machen, französisch wird es doch; also mit Anstand aus der Affaire heraus, damit wir endlich aus den Friktionen mit Frankreich herauskommen, jetzt, wo große Fragen auf dem Spiele stehen." Und kurz nach Beilegung des Zwischenfalls wegen der Fremdenlegionäre Mitte Dezember sagte der französische Finanzminister Caillaux zu dem deutschen Geschäftsträger in Paris, von der Lanken, Marokko als Streitobjekt zwischen Deutschland und Frankreich müsse ausgeschaltet werden, sonst werde ein ernstlicher Konflikt unvermeidlich. Für einen deutsch-französischen Ausgleich über Marokko kamen außer politischen auch schwerwiegende wirtschaftliche Interessen in Betracht. „Es ging um das westmarokkanische Erz, das für Deutschland deswegen Bedeutung erlangte, weil ein Drittel des Eisenbedarfs der deutschen Hütten aus dem Ausland, insbesondere aus Frankreich und Algerien eingeführt werden mußte. Ein Konflikt mit Frankreich lag jedoch nicht im Sinn des Auswärtigen Amtes. Es begünstigte daher eine Verständigung der Firmen Schneider-Creuzot und Krupp, die im Jahr 1908 ein deutsch-französisches Syndikat in Marokko bildeten, in dem die Deutschen mit 21 % beteiligt waren. Dies wurde zur wirtschaftlichen Grundlage des deutschfranzösischen Abkommens vom Februar 1909" (Conze). Frankreich versprach, die Unabhängigkeit Marokkos aufrechtzuerhalten und den wirtschaftlichen Interessen Deutschlands nicht entgegenzuwirken. Deutschland versicherte, es verfolge nur wirtschaftliche Interessen in Marokko und erkenne Frankreichs politisches Interesse dort an; beide Regierungen erklärten, dafür sorgen zu wollen, daß ihre Staatsangehörigen an wirtschaftlichen Unternehmungen in Marokko gemeinsam teilhätten. In seiner Reichstagsrede vom 29. März zeigte sich Bülow sehr befriedigt von diesem Abkommen: Es „sichert Frankreich als dem höher zivilisierten Nachbarlande Marokkos, das an der Erhaltung von Ruhe und Ordnung besonders interessiert ist, einen nicht unberechtigten politischen Einfluß. Deutschland aber sichert das Abkommen eine Beteiligung von Handel und Gewerbe sowie die Möglichkeit, sich an der gleichen Betätigung französischer Kreise zu beteiligen und aus deren Errungenschaften Nutzen zu ziehen. Das Abkommen will eine gemeinsame Arbeit zur Erschließung des Landes erreichen". Der deutsche Gesandte in Tanger, Rosen, war dagegen sehr pessimistisch, Deutschland hätte sich in Marokko gänzlich ausgeschaltet, es sei zwecklos, deutsche Unternehmungen noch zu fördern, die Franzosen ließen doch nichts aufkommen. Immerhin arbeiteten bei Minenkonzessionen und der Kabellegung nach Südamerika und Westafrika Deut327

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik sdie und Franzosen zunächst leidlich zusammen. Aber schon beim Neujahrsempfang 1910 auf der französischen Botschaft in Tanger sagte der französische Geschäftsträger, Graf Saint Aulaire: „Fahren Sie fort, meine lieben Landsleute. Das Schwerste ist getan, denn Frankreich ist von jetzt an auf dem Marsche nach Marokko." Die Grausamkeit, mit der Mulay Hafid gegen Aufständische vorging und dadurch neue Unruhen hervorrief, bot Frankreich immer wieder Gelegenheit zum Einschreiten mit bewaffneter Hand unter dem Vorwand, Ruhe und Ordnung zu schaffen; außerdem machte eine Anleihe, zu deren Aufnahme Mulay sich gezwungen sah, ihn finanziell von Frankreich völlig abhängig. Die Zunahme der Unruhen seit März 1911 veranlaßten Frankreich, angeblich zum Schutz der bedrohten Europäer, mit einem stärkeren Truppenaufgebot einzurücken. Dem am 1. März neugebildeten französischen Kabinett Monis gehörte der 1905 auf Drängen Deutschlands zurückgetretene Delcassé als Marineminister an. Angeblich sollte er sich mit der Außenpolitik in keiner Weise befassen, die größere Aktivität Frankreichs in Marokko wurde aber doch seinem Einfluß zugeschrieben. Ende Juli 1910 war auf Bethmann-Hollwegs Wunsch Kiderlen-Wächter, der als der damals fähigste Diplomat galt, als Staatssekretär des Auswärtigen Amtes nach Berlin berufen worden; die Führung der Marokkopolitik lag nun in seiner energischen Hand. Wie der Kaiser war allerdings auch Kiderlen-Wächter überzeugt, das „Bestehen der Voraussetzungen der Algecirasakte wird sich auch bei gewaltsamster Fiktion nicht mehr behaupten lassen". Ebenso urteilte der belgische Gesandte in Berlin, Baron Greindl, man habe jede Illusion verloren über den Wert der Algecirasakte, die „Frankreich in der festen Absicht geschlossen habe, sie niemals zu beachten. Es hat nicht einen Augenblick aufgehört, seine Annexionspläne weiter zu verfolgen". Kiderlen plante nun, unter dem Vorwand, die Niederlassungen der großen deutschen Firmen in Mogador und Agadir zu schützen, einige Schiffe in diese Häfen zu legen. „Im Besitz eines solchen Faustpfandes", rechnete er, „würden wir die weitere Entwicklung der Dinge in Ruhe mitansehen und abwarten können, ob etwa Frankreich uns in seinem Kolonialbesitz geeignete Kompensationen anbieten wird, für die wir dann die beiden Häfen verlassen könnten." In Frankreich vermutete man, Deutschland werde derartiges vorschlagen; Caillaux sagte am 7. Mai 1911 zu von der Lanken, Frankreich sei gem bereit, wenn wir sein Lebensinteresse in Marokko rückhaltlos anerkennen, Deutschland anderweitig Zugeständnisse zu machen. Leider gebe es nur wenig Gebiete, auf denen Frankreichs Entgegenkommen für Deutschland von Wert sein dürfte, ernsthaft käme wohl nur das koloniale in Frage. Die französische Regierung behauptete nach wie vor, sich an die Algecirasakte zu halten, und versicherte, als Frankreich Fes, die Hauptstadt Marokkos, am 21. Mai 1911 besetzte, dies wäre nur eine vorübergehende, zum Schutze der bedrohten Europäer unbedingt notwendige Maßnahme. Unter dem Vorwand einer Polizeiaktion besetzten jetzt die Spanier zwei Städte in dem ihnen im Geheimvertrag mit Frankreich vom 3. Oktober 1904 zugesagten Gebiet an der Mittelmeerküste Nordafrikas, worüber man sich in Frankreich sehr entrüstet zeigte. 328

Zweite Marokkokrise 1911 Kiderlen verhielt sich einige Zeit abwartend, bis er den von ihm geplanten Schritt zur Erreichung seines Zieles unternahm: die endgültige Bereinigung der Marokkofrage durdi kolonialen Tausch. Am 1. Juli ging das kurz darauf von dem kleinen Kreuzer „Berlin" abgelöste Kanonenboot „Panther" im Hafen von Agadir vor Anker. Kaiser Wilhelm war erst gegen ein derartiges Unternehmen gewesen, hatte aber dann nach einem Immediatvortrag des Reichskanzlers und Kiderlens zugestimmt. Einen Tag vor dem Einlaufen des „Panther" im Hafen von Agadir benachrichtigte die deutsche Regierung Frankreich, Spanien, England und die übrigen Signatarmächte der Algecirasakte, daß sie ein Kriegsschiff in den Hafen von Agadir entsende, und begründete dies damit, daß die deutschen Firmen im Süden Marokkos um Schutz für ihr Leben und Eigentum gebeten hätten; sobald in Marokko wieder Ruhe eingetreten sei, habe das Kriegsschiff den Hafen von Agadir wieder zu verlassen. Die rechtsgerichtete deutsche Presse begrüßte den „Panthersprung" nach Agadir begeistert, während der „Vorwärts" auf eine „Friedenskundgebung" der französischen Sektion der „Internationale" hinwies und dazu bemerkte: „Marokko ist nicht die Knochen eines einzigen französischen, nicht die Knochen eines einzigen deutschen Arbeiters wert." So sehr man in Frankreich über dieses Vorgehen Deutschlands verstimmt war, erkannte die Regierung doch die wirklichen Absichten der deutschen Regierung und ging sofort auf Kompensationsverhandlungen ein. England befürchtete, Deutschland würde vielleicht einen Atlantikhafen für sich behalten wollen und forderte deshalb, in die Verhandlungen eingeschaltet zu werden. Rußland hatte nur insoweit ein Interesse an Marokko, wie es infolge seiner Bündnisverpflichtungen in die Angelegenheit hineingezogen werden könnte. Als Kiderlen bei den Kompensationsverhandlungen von dem französischen Botschafter in Berlin, Jules Cambon, ganz Französisch-Kongo als Austauschobjekt verlangte, wollte dieser „auf den Rücken fallen und erklärte, daß schon eine teilweise Abtretung vom Kongogebiet von der französischen Regierung vor ihrem Parlament sehr schwer zu verteidigen sein würde". Kiderlen zog daraus den Schluß, daß „wir, um zu einem günstigen Resultat zu kommen, noch sehr kräftig auftreten müßten". Als dem Kaiser, der sich auf einer Nordlandreise befand, der Bericht hierüber vorgelegt wurde, bemerkte er dazu am Rande: „Dann muß ich sofort nach Hause. Denn ich kann meine Regierung nicht so auftreten lassen, ohne an Ort und Stelle zu sein, um die Konsequenzen genau zu übersehen und in der Hand zu haben! Das wäre sonst unverzeihlich und zu parlamentarisch! Le roi s'amuse! Und derweilen steuern wir auf die Mobilmachung los! ohne mich darf das nicht geschehen!" Auch in England hielt man die Lage für sehr ernst. Der deutschfeindliche Unterstaatssekretär Sir Arthur Nicolson schrieb am 21. Juli an Grey: „Wir sollten Frankreich keinen Grund geben zu glauben, daß unser Festhalten am Dreiverband irgendwie nachläßt. Würde es dahin kommen, daß es uns mißtraute, so würde es wahrscheinlich versuchen, sich ohne Rücksicht auf uns mit Deutschland zu verständigen, während Deutschland, das unser Zaudern bald entdecken würde, geneigt wäre, weit härtere Bedingungen aufzuerlegen, als gegenwärtig der Fall sein mag. Auf jeden Fall würde uns Frankreich niemals ver329

Kanzlerschaft Bethmann-HoUwegs — Außenpolitik zeihen, daß wir es im Stidi gelassen hätten, und der ganze Dreiverband würde in die Brüche gehen. Das würde bedeuten, daß wir ein triumphierendes Deutschland sowie ein unfreundliches Frankreich und Rußland hätten, und daß unsere Politik seit 1904, das Gleichgewicht und infolgedessen den Frieden in Europa aufrecht zu erhalten, gescheitert wäre." England würde sich schließlich genötigt sehen, sich „mit der Mütze in der Hand nach Berlin zu begeben, um zu fragen, was wir ihm zu Gefallen tun könnten". Am gleichen Tag hielt der Schatzkanzler Lloyd George bei dem Festessen, das der Lord Mayor von London alljährlich den Bankleuten der City in seiner Amtswohnung, dem Mansion-House, zu geben pflegte, eine Rede; er feierte Englands Größe, Reichtum und Verdienste um den wachsenden Wohlstand in den Ländern der Welt. Diese aufsteigende Entwicklung könne nur durch eine Störung des Friedens gefährdet werden, deshalb trete England immer für die friedliche Lösung von Konflikten ein. „Aber wenn uns eine Situation aufgezwungen würde, in der der Friede nur durch Aufgabe der großen und wohltätigen Stellung erhalten werden könnte, die England sich in Jahrhunderten von Heroismus und Erfolg erworben hat, und nur dadurch, daß Großbritannien in Fragen, die seine Lebensinteressen berühren, in einer Weise behandelt würde, als ob es im Rate der Nationen gar nicht mehr mitzählte, dann — ich betone es — würde ein Friede um jeden Preis eine Erniedrigung sein, die ein großes Land wie das unsrige nicht ertragen könnte. Nationale Ehre ist keine Parteifrage. Die Sicherung unseres großen internationalen Handels ist auch keine Parteifrage." Die Rede erregte großes Aufsehen, besonders weil sie in der „Daily Chronicle" unter der Überschrift „Englands Warnung an Deutschland" und „Die Nationalehre steht auf dem Spiel" veröffentlicht wurde. Die „Times" behauptete in einem Leitartikel, die deutschen Forderungen seien nichts anderes als das Verlangen unbeschränkter Vorherrschaft in Europa, ihre Annahme hätte die bedingungslose Unterwerfung Englands und Frankreichs unter die deutsche Macht zur Folge; zum Schluß gab der Artikel aber doch der Hoffnung Ausdrude, die Rede des Schatzkanzlers werde dazu beitragen, Deutschlands Forderungen auf ein vernünftiges Maß zu reduzieren. Die Rede Lloyd Georges und die Stellungnahme der englischen Presse steiften natürlich Frankreich den Rücken. Deutschland begnügte sich mit einem entschiedenen Protest Metternichs bei Grey; Asquith gab im Unterhaus eine beruhigende Erklärung ab. Die militärischen Kreise hielten damals die Lage für derart bedrohlich, daß die englische Atlantikflotte in den Kanalhäfen konzentriert und, wie der englische Marineattachê in Rom entgegen einem Reuter-Dementi später zugab, in Erwartung eines deutschen Angriffs praktisch mobil gemacht wurde. Übrigens war schon am 20. Juli, einemTag vor Lloyd Georges Rede, von General Wilson mit dem französischen Generalstab in Paris ein vollständiger Operationsplan für ein gemeinsames Vorgehen der französischen und der englischen Armee im Kriegsfalle ausgearbeitet worden; doch stellte das geheime Protokoll gleich zu Anfang fest, daß die Besprechungen keinerlei offiziellen Charaker hätten und daher die englische und die französische Regierung in nichts bänden. Vorgesehen war, eine Armee von etwa 150 000 Mann und 67 000 Pferden in Rouen, Le Havre und Bou330

Zweite Marokkokrise 1911

logne zu landen und mit der Eisenbahn in die Gegend von Arras, St. Quentin und Cambrai zu befördern. Diese Vereinbarung enthüllte im November das konservative englische Parlamentsmitglied Captain Faber gelegentlich eines Festessens großenteils. Heftige Diskussionen in der englichen und deutschen Presse veranlaßten beide Regierungen, beruhigende Erklärungen abzugeben. Grey bezeichnete Metternich gegenüber „die Faberschen Enthüllungen und die aufgeregten Kommentare über Kriegsgefahr, Bereitschaft und Unbereitschaft (der Rüstungen) als politischen Alkoholismus. Eine unmittelbare Kriegsgefahr habe nach seiner Anschauung nicht vorgelegen". Trotz der Aufregung darüber, daß Deutschland das ganze französische Kongogebiet als Tauschobjekt forderte, gingen seit der zweiten Julihälfte die Verhandlungen über die Kompensationen für Marokko weiter. Auf beiden Seiten wurde zäh gerungen, auch drohende Worte fielen; aber je länger sich die Einigung hinauszog, desto mehr sah sich Deutschland zum Nachgeben gezwungen. Kompliziert wurde die Lage auch durch die Einmischung der Presse. Namentlich die Alldeutschen glaubten, die Entsendung eines Kriegsschiffes nach Agadir sei die Einleitung zur Besitznahme von Westmarokko und jubelten begeistert über diesen Schritt. Die Zentrumsblätter „Germania" und „Kölnische Volkszeitung" stellten sich seit dem „Panthersprung von Agadir" entschlossen auf die nationale Seite, ebenso die kleinen in den Landstädten und in den Dörfern gelesenen Blätter. „Uberall wird hier der klare Gesichtspunkt festgehalten, daß es sich nicht mehr um ein koloniales Tauschgeschäft, sondern um eine Frage der nationalen Ehre handelt, überall wird in würdigem und scharfem Tone die Anmaßung Englands zurückgewiesen und deutlich ausgesprochen, daß es eine Grenze gibt, über die Deutschland nicht mehr gehen kann, sondern wo es hart auf hart stößt." Die Sozialdemokraten hielten allerdings am 3. September im Treptower Park eine Massenkundgebung ab gegen „die infame Kriegshetze des Panzerplatten- und Kanonenkapitals". Die Regierungen aller an der Marokkofrage beteiligten Mächte waren auf Erhaltung des Friedens bedacht. Wenn England und Rußland audi immer wieder Frankreich gegenüber ihre Bundestreue im Falle eines deutschen Angriffs betonten, rieten sie doch zu gütlicher Einigung. Anfang September schrieb Grey dem englischen Botschafter in Paris: „Die Lage ist ernst und das Maß, in dem der britische Beistand in Erscheinung tritt, wenn Wirren drohen, muß davon abhängen, ob es klar ist, daß Frankreich keinen vernünftigen und ehrenvollen Ausweg zu ihrer Vermeidung gehabt hat." Ähnlich ließ die russische Regierung Paris mitteilen: „Der Umfang der von Frankreich zu leistenden Abtretungen von Kolonialgebiet könne für dasselbe nicht von Bedeutung sein, wenn es sich, wie es der Fall sein möchte, um die Vermeidung eines Krieges handle. Ein Krieg wäre eine große Gefahr für kürzlich in Rußland eingeführte liberale Institutionen, und es würde schwerhalten, dem russischen Volk die Notwendigkeit eines Krieges wegen einiger Kilometer Kolonialgebietes mehr oder weniger begreiflich zu machen." Diese Warnungen bewogen Frankreich Mitte September 1911, in wesentlichen Punkten auf die deutschen Wünsche einzugehen; am 11. Oktober wurde das Marokko- und am 4. November das Kongoabkommen 331

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik unterzeichnet. Der Vertrag vom 11. Oktober ließ Frankreich in Marokko politisch nun völlig freie Hand; am 1. April 1912 unterzeichnete dann Sultan Abdul Mulay Hafid einen Protektoratsvertrag mit Frankreich; die offene Tür und die Gleichberechtigung in wirtschaftlichen Fragen blieb für alle Mächte aufrechterhalten. Die Kompensation erfolgte in der Weise, daß Frankreich an Deutschland vom Kongogebiet ungefähr 275 000, Deutschland von Kamerun 12 000 Quadratkilometer abtrat. Dem Austausch der Urkunden wurden von beiden Seiten erklärende Noten beigegeben, die verschiedene Einzelheiten genauer regelten und für die Beilegung etwaiger Streitigkeiten ein Schiedsgerichtsverfahren gemäß der Haager Konvention von 1907 vorsahen. Am 3. November 1911 trat der Staatssekretär des Reichskolonialamtes, Friedrich von Lindequist, der schon im Sommer ein Abschiedsgesuch eingereicht hatte, zurück. Er beurteilte die Verträge als so ungünstig für Deutschland, daß er jede Verantwortung dafür ablehnte: „Wir sollen den Franzosen wertvolle, aussichtsreiche Gebiete abtreten. Die Franzosen geben uns dafür ungleich größere Gebiete, die aber zum größten Teil wertlos sind, in denen sie abgewirtschaftet haben und die sie froh sind, los zu werden." „Die Zahl der Eingeborenen, die wir verlieren, ist nach der bisherigen Kenntnis der in Frage kommenden Gebiete höher als die Zahl der Eingeborenen, die wir erhalten. Die Eingeborenen, die wir erhalten, sind in der Hauptsache eine wilde, unbotmäßige, arbeitsscheue und von Schlafkrankheit durchseuchte und in ihrer Zahl dauernd abnehmende Buschbevölkerung, während wir fleißige, lebenskräftige Ackerbauer und Viehzüchter samt ihrem zahlreichen Rindvieh weggeben." In der Presse brach ein Sturm der Entrüstung los. Alldeutsche Blätter nannten das Abkommen eine nationale Schande und den letzten Nagel zum Sarg des deutschen Ansehens; die meisten Zeitungen beurteilten es als nationale Niederlage „schlimmer als bei Olmütz und Jena", man fragte, ob die Milliarden für die Armee umsonst ausgegeben seien, ob die militärische Macht des Reiches nicht hätte eingesetzt werden können, um die Demütigung zu verhüten. Die offiziösen Blätter bemühten sich um eine ruhigere Auffassung; die „Kölnische Zeitung" schrieb, die marokkanische Frage sei in einer Weise zum Austrag gebracht worden, welche die deutsche Würde hinlänglich wahre und gewisse praktische Vorteile mit sich bringe; wir hatten ja nie einen Fuß breit Boden in Marokko. Was wir besaßen war das, was die Algecirasakte uns gab: die offene Tür für unseren Handel und unsere Industrie, und das sei geblieben. — Die Pariser Zeitungen betonten den peinlichen und schmerzlichen Eindruck, den die Abtretung eines so großen Gebietes hervorrufe. Nur Regierungsorgane benützten in Ermangelung von sachlichen Beweisen die Zornausbrüche deutscher Blätter als ausreichendes Argument dafür, daß das Abkommen denn doch recht vorteilhaft sein müsse. — Mit seltener Einmütigkeit begrüßte die englische Presse aller Richtungen den Abschluß, der für beide Teile ehrenvoll und gewinnbringend sei. Am 9. November begann die große Reichstagsdebatte über die Marokkopolitik. Von der Fortschrittlichen Volkspartei, den Nationalliberalen und dem Zentrum lagen Anträge vor, die durch Abänderung der Verfassung die Mitwirkung des

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Zweite Marokkokrise 1911 Reichstags bei Erwerbung oder Abtretung von Schutzgebieten des Reiches forderten. Als erster Redner gab der Reichskanzler eine ausführliche Darstellung des gesamten Marokkokonfliktes: „Ich erblicke darin einen großen Gewinn, daß es Deutschland und Frankreich möglich gewesen ist, sich über eine so heikle und latente Gefahren in sich bergende Frage, wie es die Marokkofrage ist, im Wege friedlicher Verständigung zu einigen . . . Sie kann die Grundlage werden zur Anbahnung und Festigung eines Verhältnisses, wie es den wahren Interessen und dem Fortschreiten der beiden großen Nationen entspricht." Den Kolonialerwerb verteidigte der Reichskanzler als durchaus wertvoll und zukunftsreich, vor allem durch den jetzt gewonnenen Zugang zu dem großen Stromnetz des Kongo. Die in einem großen Teil des Gebietes wütende Schlafkrankheit sei allerdings „eine böse Zugabe", auch sonst würden unfruchtbares Gelände und die komplizierte Grenzführung der Kolonialverwaltung Schwierigkeiten bereiten; im ganzen sei aber jede Vergrößerung unseres Kolonialbesitzes von Vorteil. Gegenüber dem Vorwurf der Schwäche und der Minderung der Nationalehre rechtfertigte Bethmann-Hollweg die Regierung ebenfalls. Die Redner aller Parteien griffen die Regierungspolitik mehr oder weniger scharf an, am heftigsten der konservative Abgeordnete Ernst von Heydebrand, vor allem wandte er sich gegen die Einmischung Englands, wobei er unter lebhafter Zustimmung ausrief: „Wie ein Blitz in der Nacht haben diese Vorgänge dem deutschen Volk gezeigt, wo sein Feind sitzt." Damit fand er um so mehr Beachtung, als Kronprinz Wilhelm, der in der Hofloge den Verhandlungen beiwohnte, seine Zustimmung lebhaft zu erkennen gab und sich damit in Gegensatz zu seinem Vater und der Regierung stellte. In seinen „Erinnerungen" bekennt der Kronprinz, daß diese öffentliche Äußerung seiner Ansicht besser unterblieben wäre, fügt aber doch hinzu: „Man hat mich damals in der linksstehenden Presse eilig als Sturmbock überspannter alldeutscher, auf den Krieg hinzielender Ideen affichiert. Nein doch, die Dinge lagen anders. Mir war die ,drastische Methode' Kiderlens, das Provozieren, wie es durch die Sendung des „Panther" nach Agadir zum Ausdruck gekommen war, gleich unsympathisch wie das eilige Zurückweichen nach der Drohrede des Lloyd George — denn beides waren Zeugnisse der tastenden Unsicherheit unserer Führung, die nicht ermaß, wie sehr der erste Schritt die Mentalitäten der Gegenseite treffen, wie sehr der zweite unser eigenes Prestige vor der Welt beeinträchtigen mußte." Der Reichskanzler sah sich am 10. November noch einmal genötigt, seine Politik zu verteidigen, besonders gegen Heydebrands Angriffe: „Ich muß es bedauern, daß in diesem Hause über unsere Beziehungen zu einem fremden Staat, mit dem wir in normalen Beziehungen stehen, in einem Ton gesprochen worden ist, der vielleicht in Wahlversammlungen nützlich ist, der aber in einem seiner Verantwortung bewußten Parlament nicht üblich i s t . . . Leidenschaftliche und alles Maß übersteigende Worte wie die des Herrn von Heydebrand mögen Parteiinteressen dienen, das Deutsche Reich aber schädigen sie . . . Der Starke braucht sein Schwert nicht immer im Mund zu führen . . . Um utopistischer Eroberungspläne und um Parteizwecke willen aber die nationalen Leidenschaften bis zur Siedehitze zu bringen — meine Herren, das heißt den Patriotismus kompromittieren und das

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik wertvolle nationale Gut vergeuden." In der Budgetkommission setzten sich die Debatten fort. Die Regierung vertrat den Standpunkt, nach der Verfassung brauche sie nicht die Zustimmung des Reichstags für die Verträge. Daraufhin einigte sich die Kommisson auf den Antrag: „Zum Erwerb und zur Abtretung eines Schutzgebietes oder von Teilen eines solchen bedarf es eines Reichsgesetzes. Diese Vorschrift findet auf Grenzberichtigungen keine Anwendung." Das Plenum nahm den Kommissionsantrag gegen einige konservative Stimmen am 5. Dezember an. Dann wurde der Reichstag, dessen Legislaturperiode abgelaufen war, geschlossen. Die Hoffnungen, die Bethmann-Hollweg an das Marokkoabkommen geknüpft hatte, erfüllten sich nicht. Weder bahnten sich bessere Beziehungen zwischen Deutschland und Frankreich an, noch lockerte sich das französisch-russische Bündnis und die englisch-französische Entente cordiale. Caillaux, dem die öffentliche Meinung Frankreichs vorwarf, er sei Deutschland zu weit entgegengekommen, mußte zurücktreten und an seine Stelle als Ministerpräsident trat der Deutschenhasser Raymond Poincaré, der auch das Ministerium des Äußeren übernahm; außerdem haben die Auseinandersetzungen mit Deutschland in der Marokkofrage den Revanchegedanken neu belebt. Die Zusagen Rußlands und Englands, sie würden Frankreich beistehen, wenn es von Deutschland angegriffen würde, festigten den englisch-französisch-russischen Dreiverband, wozu auch Lloyd Georges Rede im Mansion-House beitrug, von der die Weltpresse unter der Schlagzeile berichtete: „England stopped Germany." Diese Worte mußten auf die Deutschen aufreizend wirken, zumal da die meisten mit dem Marokko- und dem Kongoabkommen sehr unzufrieden waren, von dem sie nur die Nachteile sahen und nicht die mit der Erwerbung des großen Kongogebietes verbundenen Zukunftsaussichten, die freilich der Erste Weltkrieg bald zunichte machte. Den Tatsachen, daß Deutschland in Marokko die offene Tür erhalten blieb, daß es im Kongoabkommen nicht leer ausging und vor allem, daß in einer sehr kritischen Lage der Krieg vermieden wurde, stehen gegenüber das Anwachsen der deutschfeindlichen Haltung Frankreichs, die Festigung des Dreiverbandes, die Einbuße an deutschem Ansehen in der Welt, die Verstimmung im deutschen Volk gegen England, das es nun als größten und gefährlichsten Feind betrachtete, was keineswegs zur Beruhigung der internationalen Lage beitrug. Wie gewöhnlich in solchen Fällen, befaßte sich die geschichtliche Betrachtung nicht so sehr mit dem, was unter schwierigen, komplizierten Verhältnissen erreicht worden ist, wie mit den nachteiligen Folgen und der Frage, auf wen sie zurückzuführen seien, und da die deutsche Marokkopolitik 1911 im wesentlichen das Werk Kiderlen-Wächters war, wurde vor allem er von vielen dafür verantwortlich gemacht. Frankreich in Marokko ganz nach seinem Belieben ohne jede Gegenleistung vorgehen zu lassen, hätte in Deutschland schärfste Opposition gegen die Regierung hervorgerufen und nach außen dem deutschen Ansehen geschadet; hier einzugreifen war die Aufgabe Kiderlens als Staatssekretär. Der „Panthersprung" zeitigte indes von Kiderlen unerwartete Folgen. Die Deutschland mehr oder weniger abgeneigten Kreise im Ausland sahen darin eine Bestätigung ihrer Vorstellung von einem gewalttätigen, rücksichtlos brutale Mittel anwendenden Deutschland und be334

Tripoliskrieg nützten dies, auch gegen besseres Wissen, für ihre deutschfeindliche Propaganda. Als dem „Panthersprung" keine weiteren Taten folgten, waren viele nationalgesinnte Deutsche, die ein entscheidendes Einschreiten auf weite Sicht erwartet hatten, tief enttäuscht. Jedenfalls hätten sich ohne den „Panthersprung" die Verhandlungen über die Marokkofrage innerhalb und außerhalb Deutschlands in einer ruhigeren Atmosphäre abgespielt, und er war schließlich belanglos für die Gestaltimg des Marokko- und des Kongoabkommens. Weit größere Bedeutung hatte Kiderlens Verhalten gegenüber England. Er unterließ zwar mit Rücksicht auf England jeden Versuch, eine dauernde Niederlassung für Deutschland an der Atlantikküste Marokkos, etwa Agadir, zu gewinnen, erkannte aber nicht, daß England gewillt war, wie überhaupt so auch in diesem Falle, Frankreich als Gegengewicht gegen Deutschland zu unterstützen. Die sich daraus ergebenden Vorteile für die französische Position, nicht nur in Marokko, und die Nachteile für die deutsche hätten wohl, wenigstens teilweise, vermieden werden können, wenn Kiderlen von vornherein mit England Fühlung genommen hätte und nicht erst, als es zu spät war, einer für Deutschland mißlichen Entwicklung vorzubeugen.

Der Tripoliskrieg Seit Dezember 1910 verschlechterte sich das Verhältnis Italiens zur Türkei, weil sich diese den italienischen Versuchen, in Tripolis wirtschaftlich Fuß zu fassen, widersetzte. Die sich daraus ergebenden Streitigkeiten und Zwischenfälle waren an sich belanglos; als aber Frankreich im Sommer 1911 in Marokko vorrückte, befürchtete die italienische Regierung, Frankreich werde sich, nachdem es ein „erdrückend großes Kolonialreich" in Nordafrika erworben habe, nicht mehr an das Tripolisabkommen mit Italien (S. 258) halten, fragte deshalb Ende Juli 1911 bei England und im August bei Rußland an, wie sie sich bei einem Krieg Italiens mit der Türkei verhalten würden, und erhielt von beiden Mächten beruhigende Antworten sowie die Zusicherimg moralischer Unterstützung. An seine Dreibundpartner Deutschland und Österreich trat Italien nicht heran, um ihnen bei ihrer Freundschaft und Interessengemeinschaft mit der Türkei peinliche Situationen zu ersparen und um einer Einmischung seiner Bundesgenossen vorzubeugen, die, so freundschaftlich sie gemeint sein mochte, Italiens Lage hätten erschweren können. So wurde Deutschland von dem Ausbruch des Krieges Ende September 1911 in eine schwierige Lage gebracht, durch die Kiderlen in stetem Kampf mit dem sich für die Türkei einsetzenden deutschen Botschafter in Konstantinopel, Marschall, gewandt steuerte. Italien erfocht gegen die ungenügend vorbereiteten Türken zunächst Siege und konnte schon am 10. Oktober von Tripolis Besitz ergreifen. Die Italiener rechtfertigten den Tripolitanern gegenüber ihr Vorgehen in einer Proklamation, die ihnen in schwungvollen Sätzen das Beste versprach und sie aufforderte: „Ruft mit uns: Es lebe der König! Es lebe Italien!" Der Krieg war indes damit nicht beendet. Der türkische Widerstand versteifte sich, der mäch335

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik

tigste der nordafrikanischen Stämme, die Senussi, stellten sich auf die Seite der Türkei, so daß die Italiener über die Küstengebiete nicht hinauskamen, und die Großmächte mischten sich ein. Schon zu Beginn des Krieges hatte Österreich, als die italienische Flotte in der Adria bei dem albanischen Hafen Prevesa gegen türkische Torpedoboote vorging, unter Berufung auf die gegenseitige Garantie des Status quo auf dem Balkan Einspruch erhoben. Am 4. November teilte Italien den Mächten die Besitznahme von Tripolis und der Cyrenaika mit; die Türkei legte dagegen sofort Protest ein. Als Italien durch Angriffe auf die Inseln der Ägäis, die Dardanellen und Saloniki die Türkei zur Abtretung der nordafrikanischen Gebiete zwingen wollte, ließen Österreich, England und Frankreich sofort erkennen, daß sie eine Ausweitung des Kriegsschauplatzes nicht dulden würden. Rußland benützte die Bedrohung der Dardanellen, um die Meerengenfrage wieder aufzurollen; am 1. Dezember schlug es der Türkei einen Vertrag vor, der die Dardanellen gegen einige Zugeständnisse ausschließlich russischen Kriegsschiffen geöffnet hätte. Deutschland hatte Mitte November auf eine russische Anfrage erklärt, es werde sich diesem Plan nicht widersetzen; Österreich äußerte Bedenken, war aber nach Rücksprache mit Deutschland bereit, Rußland keine Schwierigkeiten zu machen. Grey fand Rußlands Vorhaben in diesem Augenblick „deplaciert", und als sich auch Frankreich sehr zurückhaltend verhielt, gab Rußland seinen Plan auf. Kiderlen bemerkte dazu: „Diese Entwicklung der Dinge zeigt, daß wir lediglich Englands Geschäft besorgt hätten, wenn wir auf Rußlands erste Sondierung alsbald mit Protest geantwortet hätten. Es ist ein bewährter Grundsatz der englischen Politik, auch in Fragen, die ihr unbequem sind, so lange wie möglich Desinteressement zu heucheln, in der Hoffnung, daß sich andere finden, die für England die Kastanien aus dem Feuer holen und das lästige Projekt zum Scheitern bringen. Hätten wir England diesmal den Gefallen getan, so würden wir Rußlands Zorn gegen uns gelenkt und das Zarenreich immer rettungsloser in die Arme der Westmächte getrieben haben. Das Ziel, die Türkei zu stärken und unsere Stellung am Goldenen Horn zu wahren, gehört, eingereiht in den Rahmen der Gesamtheit unserer politischen Aufgaben, nach wie vor zu den vornehmsten Grundsätzen unserer Politik und ist von uns auch diesmal nicht aus den Augen verloren worden. Der Wunsch jedoch, uns als Freund der Osmanen zu zeigen in einer Frage, wo diese unserer Hilfe nicht bedürfen, wäre mit einer zwecklosen Verschlechterung unseres Verhältnisses zu Rußland und einer weiteren Kräftigung der Tripelentente zu teuer bezahlt gewesen." Die Großmächte, die Unruhen auf dem Balkan befürchteten, begannen vom Dezember 1911 an mit Verhandlungen für eine Friedensvermittlung, wobei zunächst Rußland Vorschläge machte; sie scheiterten jedoch an der schroffen Haltung der kriegführenden Staaten. Italien bestand auf der bereits verkündeten vollen Souveränität über Tripolis und die Cyrenaika, die Türkei lehnte die Abtretung mohammedanischen Landes an einen christlichen Herrscher als Verrat an den Arabern ab. Seit dem Februar 1912 beabsichtigte Italien, nachdem der Krieg in Tripolis zum Stillstand gekommen war, wieder in die Ägäis vorzustoßen. Österreich erklärte sich mit der vorübergehenden Besetzung einiger Inseln an der klein336

Erneuerung des Dreibundvertrages 1912

asiatischen Küste durdi die Italiener als Faustpfand gegen die Türkei einverstanden. Ende April besetzten sie Astrophalia und Rhodos, im Mai noch weitere Inseln mit vorwiegend griechischer, christlicher Bevölkerung. Seit Ende Mai besprachen sich Rußland, Frankreich und England über eine Friedensvermittlung, bei der sie Deutschland und Österreich von vornherein geschlossen gegenübertreten wollten. Ehe es dazu kam, nahm Italien Friedensverhandlungen direkt mit der Türkei auf; sie wurden zunächst inoffiziell in Lausanne geführt. Nach langem Hin und Her kam, vor allem unter dem Druck des vor kurzem ausgebrochenen Balkankrieges (S. 344), am 18. Oktober 1912 der Friedensvertrag zustande. Der Sultan hatte der Cyrenaika und Tripolis bereits die Autonomie zugestanden, und Italien erkannte jetzt die religiöse Oberhoheit des Sultans in den beiden Provinzen an. Auf diese Weise blieb der Türkei ein förmlicher Versucht und der Vorwurf, die Mohammedaner an die Christen verraten zu haben, erspart, obwohl Tripolis und die Cyrenaika italienische Kolonien geworden waren. Die Inseln des Dodekanes durfte Italien bis zur Erfüllung aller Friedensbedingungen besetzt halten, da aber der Balkankrieg und dann der Erste Weltkrieg dazwischenkamen, blieb Italien im Besitz der Inseln, bis es sie nach dem Weltkrieg an Griechenland abtreten mußte.

Erneuerung des Dreibundvertrages 1912 Deutschland hatte sich während des türkisch-italienischen Krieges um die Aufrechterhaltung der Freundschaft mit den beiden Staaten bemüht, was diese auch trotz mancherlei Spannungen anerkannten. Von Italien war es ein sehr geschickter Schachzug, schon im Juli 1911 an die Regierungen in Berlin und Wien wegen der Erneuerung des erst 1914 ablaufenden Dreibundvertrages heranzutreten. Sie zeigten sich hierzu durchaus bereit. Die laue Unterstützung durch England und Frankreich bei der Erwerbung von Tripolis, die übertriebene Erregung in Frankreich, als Mitte Januar 1912 zwei französische Dampfer von italienischen Torpedobooten bei Sardinien aufgebracht und nach Konterbande untersucht wurden, der nicht imbegründete Verdacht Italiens, daß England von Ägypten und Frankreich von Tunis aus im geheimen gegen Italien arbeiteten, das alles stimmte Italien wieder erheblich dreibundfreundlicher; seine Abhängigkeit von den das Mittelmeer beherrschenden Kräften Frankreich und England wurde durch den Landgewinn in Nordafrika freilich noch größer, und der Gegensatz zu Österreich infolge der beiderseitigen Balkaninteressen und der italienischen Irredenta nicht geringer. Ein Besuch Kiderlens vom 20. bis 22. Januar in Rom und eine Zusammenkunft Kaiser Wilhelms und des Königs Viktor Emanuel III. von Italien im März verliefen sehr freundschaftlich. Wegen des italienisch-türkischen Krieges ruhten dann die Verhandlungen bis in den Oktober hinein. Am 5. Dezember 1912 wurde in Wien die Erneuerung des Vertrags unterzeichnet, der nach Ablauf des alten 1914 in Kraft zu treten hatte; geändert waren nur die Artikel IX und X des Zusatzprotokolls von 1891 (S. 143), in denen nun Deutschland und Österreich die 337 22 Bühler. Deutsche Geschichte, VI

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Souveränität Italiens über Tripolis und die Cyrenaika anerkannten. Am gleichen Tag teilten sidi in Paris Poincaré und Iswolski gegenseitig die geheimen Italienverträge ihrer Regierungen mit: das Abkommen von 1902, in dem sich Italien zur Neutralität gegenüber Frankreich verpflichtete, falls dieses von einer dritten Macht angegriffen würde und den Vertrag zwischen Rußland und Italien von 1909. In Deutschland sickerte davon allerlei durch, wenn auch nichts Genaueres zu erfahren war, denn, wie der deutsche Botschafter in Rom, Gottlieb von Jagow, am 10. Dezember 1912 an Bethmann-Hollweg schrieb: „Jede Äußerung eines Zweifels an der Loyalität Italiens erregt hier natürlich stets große Verstimmimg und hat nur entrüstete Beteuerungen absoluter Bündnistreue zur Folge."

Die Haldane-Mission 1912 Als im Sommer 1911 die Marokkokrise die Gemüter beunruhigte, die MansionHouse-Rede Lloyd Georges und die Probemobilmachung der englischen Flotte die Gefahr eines Krieges vor Augen führte, kamen Tirpitz und seine Mitarbeiter überein, diese Stimmung beim Kaiser und im Volke für die Annahme einer Flottennovelle auszunützen, die das erstrebte deutsch-englische Flottenverhältnis 2 :3 rascher erreichen lasse, entsprechend dem Leitgedanken der Tirpitzschen Flottenpolitik, daß England sich dann lieber mit Deutschland verständigen werde als sich dem gefährlichen Risiko eines Angriffs auf die also verstärkte deutsche Flotte auszusetzen. Der Kaiser war sofort für die Novelle zum Flottengesetz, der deutsche Botschafter in London, Metternich, entschieden dagegen, BethmannHollweg suchte einen Mittelweg. Am 22. November telegraphierte der Reichskanzler an Metternich: „Im Volk ist eine Flottennovelle momentan entschieden populär. Mag auch das Agitationsbedürfnis der Parteien im Hinblick auf die nächsten Wahlen sowie die allgemeine Opposition gegen die Marokkopolitik der Regierung dabei eine große Rolle spielen, so herrscht doch ganz unverkennbar in allen Schichten des Volkes eine große Erbitterung gegen England, die nach einem bestimmten Ausdrude sucht. Für die rahige Überlegung, daß es jedenfalls momentan unsere Stellung gegen England nicht stärkt, vielmehr durch Erhöhung der Kriegsgefahr schwächt, wenn wir in den nächsten sechs Jahren 18 Schiffe anstatt 12 auf Kiel legen, findet sich kein Verständnis. Von den Parteien des Reichstags drängen Konservative, Nationalliberale und der größere Teil des Fortschritts nach der Novelle, und ich nehme an, daß sich diese Parteien bei der Wahlagitation noch mehr darauf festlegen werden. Das Zentrum ist vorderhand ablehnend, doch zweifle ich, ob es den Mut haben würde, eine vorgelegte Novelle abzulehnen." Falls die demnächst zu erwartende Rede Sir Edward Greys „auch nur die geringsten Unfreundlichkeiten gegen uns enthält, so ist bei uns kein Halten mehr, und das Verhängnis geht seinen Weg. Das Wort Heydebrands ,Wir wissen jetzt, wo der Feind steht' muß bündig widerlegt werden. . . . England müßte und könnte unsere früheren Besprechungen wieder aufnehmen, und zwar über das political agreement (politische Ubereinkommen), das ich ihm stets als unentbehrliche Vor338

Haldane-Mission 1912 aussetzung eines naval (Marine-) agreement bezeichnet habe. Freilich müßte ein solches agreement einer Art Neutralisationsabkommen sehr nahe kommen." Der Reichskanzler stimmte damit Metternichs Stellungnahme zu, der Kaiser lehnte sie ab. Er telegraphierte dem Reichskanzler: „Standpunkt Metternichs genau derselbe wie bei den Novellen 1904 und 1908. Wäre ich ihm damals gefolgt, hätten wir jetzt überhaupt gar keine Flottel Seine Deduktion gestattet auf unsere Marinepolitik die Ingerenz eines fremden Volkes, wie ich sie mir als oberstem Kriegsherrn und Kaiser nun und nimmer gefallen lassen kann noch werde 1 Und die für unser Volk eine Demütigung bedeutet! Es bleibt bei der Novelle!" Ende des Monats schrieb Metternich in einem Privatbrief an den Reichskanzler: „Bauen wir jetzt rascher, so wird in England der Eindruck nicht mehr zu verwischen sein, daß wir uns zum Entscheidungskampf rüsten. Sie werden noch stärker rüsten und der Kampf wird dann unvermeidlich." Nachdem der Reichskanzler eine wesentliche Beschneidung der Flottenvorlage durchgesetzt hatte — statt drei Ersatzpanzerkreuzern und drei Linienschiffneubauten nur die letzteren — wurde bei einem Immediatvortrag von Tirpitz am 25. Januar 1912 die Novelle in dieser Form endgültig festgesetzt. In England beobachtete man diese Vorgänge in Deutschland mit großer Sorge. In London standen sich ebenfalls zwei Richtungen gegenüber. Militär und Marine waren für eindeutiges Zusammengehen der Ententemächte, möglichst mit Einbeziehung von Belgien und Dänemark; die andere Richtung, die auch im Volke und im Parlament viele Anhänger hatte, drängte, erschreckt durch die Kriegsgefahr des Sommers 1911, zu einer Verständigung mit Deutschland. Die inoffizielle Fühlungnahme zwischen beiden Regierungen leiteten wie 1909 Ballin und Cassel ein. Sie vermittelten die ersten Verhandlungsvorschläge und eine Einladung des Kaisers an Grey oder Winston Churchill, der seit Ende Oktober 1905 Erster Lord der Admiralität war und in einem Brief an Cassel für die Aufgabe des „unsinnigen" Antagonismus eintrat. Grey hielt indes für besser, den Kriegsminister Sir Richard Burdon Haidane nach Berlin zu entsenden, um, wie Grey dem französischen Botschafter in London, Paul Cambon, mitteilte, in Deutschland einige Erkundigungen über wissenschaftliche Ausbildung einzuziehen. Haidane „werde während seines Aufenthaltes in Berlin aber auch einen offenen Meinungsaustausch mit Herrn von Bethmann-Hollweg haben und den Boden sondieren, um zu ermitteln, was Deutschland beabsichtige, was es wünsche und ob günstige Aussicht auf Verhandlungen bestehe, die die Beziehungen der beiden Länder auf einen besseren Stand brächten." Durch diese Mitteilung war Frankreich von Anfang an, wenn auch nur indirekt, in die deutsch-englischen Verhandlungen eingeschaltet. Haidane hatte am 8. Februar 1912 eine lange Unterredimg mit BethmannHollweg, den folgenden Tag mit dem Kaiser und Tirpitz. An diesem Tag traf er dann noch den französischen Botschafter in Berlin, Jules Cambon, in der britischen Botschaft. Am 10. Februar formulierten Haidane und der Reichskanzler gemeinsam die beiderseitigen Vorschläge. Haidane Schloß seine Aufzeichnungen: „Ich kann nur sagen, daß die Haltung des Kanzlers die eines hochgesinnten, aufrichtigen Ehrenmannes war und mir nicht das Geringste zu wünschen übrig ließ. 22·

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Als wir uns trennten, hielt er mich bei der Hand und sagte, er werde, ob dem Bemühen, das jetzt das größte Ziel seines Lebens darstelle, ein Erfolg oder Fehlschlag beschieden sei, nie vergessen, daß ich ihm mit einer Offenheit und einem Mitgefühl für seine Schwierigkeiten begegnet sei, die die Erinnerung an diese Tage hocherfreulich für ihn machten." Die Verhandlungen, auch die mit dem Kaiser und Tirpitz, waren von beiden Seiten in durchaus freundschaftlicher Weise geführt worden und berechtigten zu guten Hoffnungen. Deutschland wollte zwar seine Flottenbaunovelle nicht ganz aufgeben, aber den Bau der geplanten Linienschiffe so verlangsamen, daß die Überlegenheit Englands gewahrt bliebe, es sollte dafür ein Neutralitätsversprechen für den Fall eines unprovozierten Angriffs auf Deutschland abgeben und ihm in einigen Kolonialfragen entgegenkommen. Deutschland werde dafür England bei der Endstrecke der Bagdadbahn eine Sonderstellung einräumen. Grey zeigte sich von Haldanes erstem Bericht außerordendich beeindruckt; natürlich müßten die Vorschläge noch näher geprüft werden, soviel „könne er aber schon jetzt sagen, daß er mit Nachdruck versuchen werde, das Werk des Herrn Reichskanzlers zu fördern". Sir E. Goschen schrieb dagegen bereits am 10. Februar nach London: „Worauf läuft das hinaus? Daß, wenn das in Vorschlag Gebrachte ausgeführt wird, die Deutschen das bekommen, dem ich mich auf Greys Weisungen hin zwei Jahre lang widersetzt habe: eine politische Verständigung ohne Flottenabkommen. Denn eine Verlangsamung im ,Tempo' eines funkelnagelneuen und erweiterten Flottenprogramms kann ich nicht als eine Flottenabmachung betrachten." Die britische Admiralität war von den deutschen Zugeständnissen in keiner Weise befriedigt, besonders nahm sie Anstoß an der starken Personalvermehrung zur Indienststellung des dritten aktiven Geschwaders, sie zwinge England zu erheblichen Mehraufwendungen, an denen auch die verlangsamten Bauzeiten der drei neuen Linienschiffe nichts ändere. Dieses Memorandum der Admiralität sandte Metternich nach Berlin; es fachte die Diskussion über die Flottennovelle erneut an. Tirpitz wäre nun sogar einige Zeit bereit gewesen, die ganze Novelle fallenzulassen, wenn ein politisches Übereinkommen zustande käme, aber gerade hierin blieben Greys Vorschläge weit hinter den deutschen Erwartungen zurück. Der Kaiser erfuhr überdies Anfang März die von der englischen Admiralität in Aussicht genommene Verlegung der Mittelmeerflotte teils nach Gibraltar, teils in einen Heimathafen, hielt dies für eine Kriegsdrohung und wollte mit Mobilmachung antworten. Daraufhin reichte Bethmann-Hollweg am 6. März sein Entlassungsgesuch ein und betonte die Notwendigkeit, die Verhandlungen vorsichtig fortzuführen: „Tun wir das nicht, so wird nicht nur unser Verhältnis zu England in verhängnisvoller Weise verschärft, sondern es wird auch der in Frankreich schon jetzt stark angefachte Chauvinismus zu den kühnsten Hoffnungen ermutigt. Frankreich wird so herausfordernd und übermütig werden, daß wir gezwungen sind, es anzugreifen." Rußland und England werden Frankreich zu Hilfe eilen, während „für unsere Bundesgenossen der Bündnisfall nicht eintritt, wir vielmehr genötigt sind, uns ihre Hilfe und Neutralität zu erbitten. Ich kann es nicht verantworten, unsererseits auf eine solche Situation hinzuarbeiten

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Haldane-Mission 1912 . . . Unsererseits einen Krieg heraufbeschwören, ohne daß unsere Ehre oder unsere Lebensinteressen tangiert sind, würde ich für eine Versündigung an dem Geschicke Deutschlands halten, selbst wenn wir nach menschlicher Voraussicht den völligen Sieg erhoffen könnten." Der Kaiser nahm das Entlassungsgesuch Bethmann-Hollwegs nicht an und ließ sich bestimmen, die schon angeordnete Veröffentlichung der Wehr- und Flottenvorlage bis zum 22. März zurückzustellen, was nun Tirpitz zu einem ebenfalls abgelehnten Abschiedsgesuch veranlaßte. Mitte des Monats telegraphierte Metternich dem Auswärtigen Amt einen vom englischen Kabinett genehmigten Vorschlag Greys: „England wird keinen unprovozierten Angriff auf Deutschland machen und keine aggressive Politik gegen Deutschland verfolgen. Eine Aggression gegen Deutschland ist nicht Gegenstand und bildet keinen Teil irgendeines Vertrages, irgendeiner Verständigung oder Kombination, an denen England gegenwärtig beteiligt, und es wird auch nicht an etwas teilnehmen, was einen derartigen Zweck hat." Einige Tage später berichtete Metternich, er habe als Zusatz zu diesem Vorschlag eine ausdrückliche Erwähnung der Neutralität Englands verlangt, und Grey habe darauf geantwortet, der Wunsch nach Verständigung mit Deutschland sei aufrichtig. Trotzdem müsse die englische Regierung mit der Tatsache der wachsenden Seemacht Deutschlands rechnen, die mit der Novelle eine bedeutende Stärkung erfahren werde. England könne daher nicht seine bisherigen Freundschaften aufs Spiel setzen. Ein direktes Neutralitätsabkommen würde unbedingt die französische Empfindlichkeit reizen. Dies müsse die englische Regierung vermeiden. Er werde der französischen Regierung keinen Zweifel darüber lassen, daß sie bei einer aggressiven Politik gegen Deutschland auf die Unterstützimg der englischen Regierung nicht rechnen könne. Er könne aber nicht so weit gehen, die Freundschaft mit Frankreich zu gefährden. Im übrigen habe sich Grey verbürgt, die englische Politik werde im Sinne des von ihm vorgeschlagenen Abkommens geführt, selbst wenn dessen Abschluß im Augenblick an der Flottennovelle scheitern sollte, solange für die deutsche Politik der Reichskanzler von Bethmann-Hollweg verantwortlich sei. Empört schrieb der Kaiser in der Schlußbemerkung zu Metternichs Bericht: „Aus obigem geht hervor, daß Grey keine Ahnung hat, wer hier eigentlich der Herr ist und daß idi herrsche." Der Reichskanzler gab die Hoffnung noch nicht auf. Er wollte trotz des fehlenden, von Deutschland als unbedingt notwendig erachteten Neutralitätsversprechens weiter verhandeln und bat deshalb schriftlich den Kaiser, die Flottennovelle noch nicht veröffentlichen zu lassen. Erregt schrieb dieser unter Bethmann-Hollwegs Ausführungen: Greys England zu nichts verpflichtender Vorschlag „ist ein Hohn auf die bisherigen Verhandlungen und von einer solchen kaltschnäuzigen Frechheit, daß Weiteres sich erübrigt... Das Agreement Haldanescher Verhandlung ist tot. Ich werde nicht mehr auf dasselbe eingehen!" Georg Alexander von Müller, Chef des Marinekabinetts, vermerkte am gleichen Tag in einer Niederschrift: „Merkwürdige Wirkung dieses Abfalls (von der ursprünglichen Fassung des politischen Abkommens), nämlich allgemeine Erleichterung. Seine Majestät war ordentlich vergnügt. Man weiß jetzt, woran man ist, der englische Vorschlag wird natürlich zurückgewiesen und die Novelle durchgeführt." 341

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Trotz allem verhandelte Bethmann-Hollweg durch Metternich weiter mit Grey; am 18. März ließ er ihm sagen: „Ein die Neutralität Englands verbürgendes, einem Schutzbündnis mit uns nahekommendes Abkommen bildet die absolute Voraussetzung, unter der allein ich bei Seiner Majestät dem Kaiser einen Verzicht auf wesentliche Bestandteile der geplanten Flottennovelle befürworten und der öffentlichen Meinung in Deutschland gegenüber diesen Verzicht würde rechtfertigen können;" auf dieser Grundlage solle Metternich die Verhandlungen fortsetzen und ihn über den Fortgang laufend telegraphisch unterrichten. Die englische Regierung beharrte indes auf ihrem Standpunkt, vor allem weil sie von Paris aus sehr energisch gedrängt wurde, sich durch Deutschland in keiner Weise die Hände binden zu lassen, dies hätte zur Folge, daß Frankreich und damit auch Rußland alles Vertrauen zu England verlieren würde. Der Kaiser war nun überzeugt, die ganze Haldane-Mission sei nur ein Versuch Englands, die Flottennovelle zu Fall zu bringen: „Das wäre ein kollossaler Erfolg vor dem englischen Volk und Parlament gewesen: die Deutschen waren ihre Novelle los, hatten kein Neutralitätsversprechen erhalten und Aussichten auf ein ephemeres Kolonialreich in Afrika (S. 353), dessen Bildung aus Bestandteilen fremder Nationen Deutschland in die schönsten Konflikte mit den betreffenden zu beraubenden Nationen geführt hätte!" Auf der anderen Seite schrieb Sir Eyre Crowe: „Diese Politik verfolgt ein wohldefiniertes Ziel: nämlich die Heeres- und Flottenstärke des Deutschen Reiches stetig weiter zu steigern, bis sie genügt, um allen und jeden fremden Widerstand zu unterdrücken. Hand in Hand mit dieser Verstärkung der bewaffneten Streitkräfte geht das Bestreben, jede Kombination zwischen anderen Mächten als den mit Deutschland verbündeten zu verhindern oder zu sprengen. Es springt in die Augen, welche Folgen der Erfolg einer solchen Politik für andere Nationen hätte. Sie alle würden ihre Befehle von Berlin entgegennehmen müssen und diese Befehle werden ihnen voraussichtlich nicht sehr zusagen." Ende März berichtete Metternich, Grey habe versichert: „Wenn nun aber auch auf beiden Seiten die beabsichtigten Flottenmaßnahmen uneingeschränkt in Angriff genommen würden, so erkläre er doch ausdrücklich, daß er deshalb nicht ein Fallenlassen der Verhandlungen beabsichtige oder wünsche. Er hoffe vielmehr, daß die angebahnten vertrauensvollen Beziehungen weiter ausgebaut würden, daß eine Verständigung in kolonialen und territorialen Fragen weiter betrieben werde, und daß nach Ablauf einer gewissen Zeit die Verhandlungen über ein politisches Abkommen ähnlich dem englischerseits vorgeschlagenen wieder aufgenommen würden." Die deutsche Regierung antwortete in gleichem Sinne. Mit dem Ubergehen der eigentliche Probleme von beiden Seiten, Flottennovelle und Neutralitätserklärung, war die Haldane-Mission Anfang April 1912 gescheitert. Bethmann-Hollweg hatte so unrecht nicht, als er, an der Möglichkeit eines Ausgleichs zwischen Deutschland und England verzweifelnd, an Ballin schrieb, die Aufgabe sei wohl innerlich unlöslich. Dieser innerliche Gegensatz erhellt aus einer Rede Churchills vom 9. Februar 1912, in der er von Deutschland den Verzicht auf eine große Flotte mit der Begründung verlangte: „Die britische Flotte ist 342

Balkankriege 1912/1913 für uns eine Notwendigkeit,.die deutsche für Deutschland von manchen Gesichtspunkten aus eine Art Luxus. Unsere Flotte schließt das Bestehen Englands in sich. Für uns bedeutet die Flotte Existenz, für die Deutschen ihre Flotte Expansion." Nun empfanden die Deutschen ihre Flotte gewiß nicht als Luxus, sondern ebenfalls als eine Notwendigkeit (S. 322), und die Frage, ob mit dem Verzicht auf eine große Flotte die ehrliche Freundschaft Englands hätte erkauft werden können, wird nie zu lösen sein. Soviel ist sicher, daß der vorläufige Verzicht auf die Flottennovelle von 1912 die englisch-deutsche Spannung keineswegs ein für allemal behoben hätte. Die geforderte Gegenleistung, ein Neutralitätsabkommen, wog allzu schwer, denn England und Frankreich mußte sie als Versuch der Sprengung ihrer Entente erscheinen, eines Grundpfeilers der englischen Politik seit acht Jahren, und so trug die Drohung Poincarés, die Unterschrift Englands unter einen Neutralitätsvertrag würde den englisch-französischen Beziehungen sofort ein Ende bereiten, ganz wesentlich zum Scheitern der Haldane-Mission bei. Andererseits waren auch in Deutschland im Vertrauen auf seine starke Wehrmacht weite Kreise nicht geneigt, dem nichtssagenden englischen Angebot die Flottennovelle ganz oder teilweise zu opfern; diese Stimmung kam Mai 1912 in der Annahme der Flottennovelle und der Heeresvorlage zum Ausdruck. Von 1914 her betrachtet, liegt die Erwägung nahe, ob ein größeres Entgegenkommen Deutschlands vielleicht mitgewirkt hätte, dem Ersten Weltkrieg vorzubeugen. Diese Vermutung scheinen Churchills Sätze in seinem Werk „The World Crisis 1911—1914" zu bestätigten: die Flottennovelle von 1912 habe nichts anderes zur Folge gehabt, als die Entente zu stärken. „Mit jeder Niete, die Tirpitz in seine Kriegsschiffe trieb, einigte er britisches Denken in weiten Kreisen des mächtigen Volkes in jeder Lebenslage und in jedem Teil des Reiches. Die Hämmer, die in Kiel und Wilhelmshafen dröhnten, schmiedeten die Koalition der Nationen, die Deutschland Widerstand leisteten und es schließlich zu Boden warfen." So eingleisig pflegt indes die Weltgeschichte nicht abzulaufen; die deutsche Flottenpolitik ist nur einer der Faktoren, der zum Ersten Weltkrieg führte, und nicht einmal ein bestimmender. Die Balkankriege 1912113 Sofort nach Ausbruch des italienisch-türkischen Krieges im Herbst 1911 begannen die Serben und Bulgaren unter Führung Rußlands Verhandlungen über ein Vorgehen gegen die Türkei, um lang gehegte Wünsche nach Vergrößerung ihrer Länder zu verwirklichen; die Serben wollten bis zur Adria, die Bulgaren bis zur Ägäis vordringen. Der serbische Ministerpräsident steckte das Ziel noch weiter: „Könnte man mit der Liquidation der Türkei zugleich den Zerfall ÖsterreichUngarns erreichen, würde die Lösung sehr vereinfacht. Serbien würde Bosnien und die Herzegowina, Rumänien Transsylvanien (Siebenbürgen) erhalten." Serbien und Bulgarien schlossen am 13. März ein Bündnis. Es sollte geheimgehalten werden, aber Rußland teilte es schon Anfang April England und Frankreich mit, auch die Mittelmächte erfuhren davon. Ende November sagte Kiderlen in einer 343

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Sitzung des Bundesratsausschusses: „Bereits zu Beginn des Sommers hatten wir erfahren — und es wurde dies dann durch die Indiskretion der französischen Presse bestätigt — daß sich zunächst Bulgarien und Serbien und danach die anderen Balkanstaaten zur Erreichung ihrer Ziele zusammengeschlossen hatten. Der Zusammenschluß hatte unter dem Patronat Rußlands stattgefunden. Dieses hatte sich ausdrücklich ausbedungen, daß Gewaltmaßregeln nur im äußersten Notfall und nicht ohne Rußlands Zustimmung ergriffen werden sollten. Die Balkanstaaten, die offenbar über die derzeitige Schwäche der Türkei gut informiert waren, haben sich daran nicht gekehrt." Als Poincaré in Petersburg den vollen Wortlaut des Vertrags erfuhr, urteilte er: „Der Vertrag enthält also im Keim nicht nur einen Krieg gegen die Türkei, sondern auch gegen Österreich." Bulgarien schloß Ende Mai auch ein Bündnis mit Griechenland. Rußland legte Wert darauf, daß es als Wahrer des Friedens und trotz seiner Bindungen an Frankreich und England als Freund Deutschlands erscheine. In diesem Sinne Schloß das amtliche Communiqué über die Zusammenkunft Kaiser Wilhelms und des Zaren Anfang Juli in Baltischport: „Die Begegnung von Baltischport kann mit vollem Recht allenthalben begrüßt werden; denn während sie einerseits die feste und dauernde Freundschaft zwischen Deutschland und Rußland bezeugt, bedeutet sie andererseits auch einen beredten Ausdruck der friedlichen Grundrichtungen, welche die Politik beider Reiche in gleichem Maße bestimmen." Aufstände in Albanien gegen die Türkei und türkisch-montenegrinische Grenzkämpfe leiteten im Sommer 1912 die Unruhen auf dem Balkan ein. Sie berührten Österreich unmittelbar, namentlich wegen Serbien. Es war Österreich immer feindlich gesinnt geblieben und dachte nicht daran, sich an die 1909 Österreich gegenüber eingegangenen Verpflichtungen zu halten. Als 1911 die sich auch auf Österreich erstreckenden Aspirationen Serbiens bekannt wurden, hielten österreichische Militärs, voran Franz Graf Conrad von Hötzendorf, für geraten, gegen Serbien vorzugehen. Sie glaubten, in einem Präventivkrieg die Serben überwinden zu können, deren Staat nach ihrer Niederlage aufzulösen sei. Sie sollten dann dem österreichischen Staat in der Weise eingegliedert werden, daß sie zusammen mit den sieben Millionen bereits in der österreichisch-ungarischen Monarchie lebenden Südslawen eine eigene Gruppe bildeten, ähnlich wie die Ungarn und die als eine Gruppe zusammengefaßten Deutschen und Böhmen. Hötzendorf ging dabei von der Erwägung aus, in nächster Zeit sei ein Weltkrieg zu erwarten, und die sich daraus ergebenden Umwälzungen würden die Neuordnung der österreichischungarischen Monarchie in Form eines Trialismus ermöglichen. Dagegen sprach, daß die Südslawen und die drei Millionen Serben auf ihre Vereinigung in einem eigenen, von Österreich völlig unabhängigen Staat hinarbeiten würden. Der greise Kaiser Franz Josef, derartigen weit ausgreifenden Neuerungen abgeneigt, zumal wenn sie einen Krieg zur Voraussetzung hätten, antwortete Hötzendorf, als dieser ihm den Plan Mitte November 1911 vorlegte: „Meine Politik ist eine Politik des Friedens. Dieser meiner Politik müssen sich alle anbequemen. In diesem Sinne führen meine Minister des Äußeren meine Politik." Der Erzherzog Thronfolger Franz Ferdinand neigte ebenfalls, allerdings ohne die Voraussetzung eines Krie-

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Balkankriege 1912/1913 ges gegen die Serben, dem Trialismus zu; wie dieser aber auf friedlichem Wege zu erreichen wäre, dafür wußte der Erzherzog keinen Rat. Nach dem Tode Ährenthals wurde Graf Leopold Berchtold im Februar 1912 Ministerpräsident. Die gefahrdrohende Lage des Habsburgerreiches veranlaßte Berchtold, mit den Großmächten verschiedene Verhandlungen zu führen, die Kiderlen bedenklich erschienen. Als Bethmann-Hollweg Anfang September mit Berchtold zusammentreffen sollte, bat Kiderlen den Reichskanzler, wenn „auch in freundschaftlicher Form, so doch bestimmt" zum Ausdruck zu bringen, daß wir „den österreichischen Satelliten im Orient" nicht machen wollten. „Nach unseren Verträgen und Abmachungen mit Österreich-Ungarn sind wir nicht verpflichtet, Österreich-Ungarn in seinen orientalischen Plänen, geschweige denn Abenteuern zu unterstützen . . . Wir müssen uns unsere Stellungnahme zum österreichischen Vorgehen in orientalischen und Balkanfragen stets von Fall zu Fall vorbehalten. Wenn die österreichischen Überraschungen mit Schritten, die der österreichisch-ungarische Minister ohne vorherige Fühlung mit uns sofort bei sämtlichen Mächten unternimmt, sich häufen sollten, so würde leicht der Fall eintreten können, daß wir uns in einem Spezialfall von unserem Bundesgenossen trennen müssen." Ende September 1912 machten die Balkanstaaten mobil. Daraufhin hatte Kiderlen am 1. Oktober mit Jules Cambon in Berlin eine Besprechung über die allgemeine Lage: „Wir kamen zu dem Resultat, daß die Mächte auf eine Lokalisierung des Krieges hinwirken sollten. Dies würde am besten dadurch geschehen, daß allen Kriegführenden erklärt würde, daß die Mächte territoriale Veränderungen als Kriegsfolge nicht zulassen würden." Eine Aufzeichnung Kaiser Wilhelms vom 4. Oktober gibt seine damalige Meinung über etwaige Versuche der Mächte zur Verhinderung des Krieges wieder: „Es komme ruhig zum Kriege. Da werden ja die Balkanstaaten mal zeigen, was sie zu leisten fähig sind und ob sie eine Existenzberechtigung haben. Schlagen sie entscheidend die Türkei, dann hatten sie recht, und ihnen gebürt eine gewisse Belohnung. Werden sie geschlagen, dann werden sie klein und für lange Ruhe und Frieden halten, und die Territorialfrage scheidet aus. Die Großmächte müssen um den Kampfplatz den ,Ring' bilden, in dem der Kampf sich abspielt und zu bleiben hat; selbst ruhig Blut behàlten und keine Übereilungen begehen. Dazu gehört meines Erachtens vor allem kein zu heftiges Dreinreden jetzt um des sogenannten ,lieben Friedens' willen, es würde ein sehr fauler und böser Konsequenzen voller sein. Man lasse die Leute nur ruhig machen; entweder sie kriegen Keile oder erteilen sie, danach ist immer noch Zeit zum Sprechen. Die Orientfrage muß mit Blut und Eisen gelöst werden! Aber in einer für uns günstigen Periode! Das ist jetzt." Nach langwierigen Verhandlungen kamen am 8. Oktober Rußland, Österreich, Frankreich, England und Deutschland überein: die Türkei müsse, wie schon im Berliner Vertrag von 1878 festgesetzt, Reformen durchführen; die russische und die österreichische Regierung sollten den Balkanstaaten erklären, die Mächte mißbilligten entschieden jede Maßnahme, die zu einem Friedensbruch führen könnte, und würden keine Veränderung des Status quo der europäischen Türkei zulassen, falls es doch zu einem Krieg zwischen den Balkanstaaten und dem Osmanischen Reich komme.

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Die Note vom 8. Oktober kam zu spät, eineinhalb Stunden vor ihrem Empfang hatte Montenegro der Türkei den Krieg erklärt. Bei der hochgespannten nationalen Erregung der Balkanstaaten hätte indes ein früheres Eingreifen der Mächte kaum etwas genützt. Der russischen Regierung kam der Kriegsbeginn zu früh, sie hielt sich für einen möglicherweise daraus entstehenden europäischen Krieg nicht genügend gerüstet, und so waren Rußlands Bemühungen erst um Erhaltung des Friedens und dann um die Lokalisierung des Krieges ehrlich gemeint. Auch hatte Frankreich zu verstehen gegeben, daß der Bündnisfall nur bei einem Angriff Deutschlands eintrete, nicht wegen irgendwelcher Balkanwirren. Ähnlich war die Stellungnahme Englands. Nach der Mitteilung seines Botschafters in Wien werde es „allem zustimmen, was Rußland und Österreich g e m e i n s a m beschließen, im übrigen sich abwartend verhalten und sich seine Entschließungen vorbehalten". Ohne die Bindung an Frankreich und Rußland zu lockern, suchte Grey auch mit Deutschland Fühlung zu nehmen. Nach dem Scheitern der Haldane-Mission hatte Kaiser Wilhelm Metternich im Juni 1912 als Botschafter abberufen, was in London sehr bedauert wurde; sein Nachfolger Marschall starb bereits im September, die Geschäfte führte dann Richard von Kühlmann, bis sie am 13. November Fürst Felix von Lichnowsky übernahm. Mitte Oktober berichtete Kühlmann nach Berlin. Grey habe ihm durch seinen Privatsekretär sagen lassen, er „halte den Zeitpunkt für hervorragend geeignet, um zu einem vertrauensvollen politischen Verhältnis mit uns zu gelangen. Er sei des langen Haders herzlich müde und wolle uns in voller Aufrichtigkeit die Hand zu einer herzlichen und dauernden Versöhnung reichen, er biete uns den Ölzweig des Friedens. Die gegenwärtige Krise scheine ihm für ein intimes Zusammenarbeiten der beiden Diplomatien besonders geeignet, da ihm die englischen und die deutschen Interessen vollkommen identisch erschienen . . . Sei durch diese Kooperation in schwieriger Zeit die Intimität der deutschen und der englischen Diplomatie hergestellt, so könnten wir uns über alle politischen Wünsche und Interessen verständigen. Er sei zum allergrößten Entgegenkommen bereit und halte ein Zusammengehen in China, Persien, Türkei und Afrika für aussichtsreich. Der Minister lege Wert darauf zu betonen, daß er dies für einen wichtigen und entscheidenden Schritt halte und wünsche, daß es auch bei uns als ein solcher aufgefaßt werde". Kiderlen war zwar zuerst etwas mißtrauisch, sagte aber doch bereitwillig zu, nur müßten „die Besprechungen absolut vertrauliche sein und insbesondere nicht mit halben Andeutungen nach außen hin verwertet werden . . . Sodann müßten wir, falls Übereinstimmung erzielt sei, darauf halten, daß unsere Verständigung nicht als ein pudendum (etwas, worüber man sich schämen muß) behandelt, sondern auch den anderen Mächten gegenüber vertreten werde. Schließlich müßte im Laufe der Besprechungen auch darüber eine Einigung erfolgen, daß sich beide Mächte auch auf anderen Gebieten nicht entgegentreten". Auf dieser Grundlage arbeiteten dann England und Deutschland zusammen. Rußland wollte die deutsche Regierung veranlassen, auf Österreich einen Druck auszuüben, es solle sich auch bei einem serbischen Einrücken in den Sandschak von Nowibasar ruhig verhalten, während Österreich versuchte, sich in Berlin der deutschen Bun-

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Balkankriege 1912/1913 destreue zu versichern. Bethmann-Hollweg sagte nur ganz allgemein zu; Kiderlen schrieb damals in sein Tagebuch: „Wir müssen alles tun, um zu verhindern, daß die Leitung der Politik von Berlin nach Wien übergeht, wie es Ährenthal gegenüber Bülow leider gelungen war. Das könnte uns eines Tages viel kosten" — und hat dann 1914 Deutschland tatsächlich viel gekostet. Nach einem von der Türkei nicht beantworteten Ultimatum erklärten ihr am 17. Oktober 1912 Bulgarien, Serbien und Griechenland den Krieg. Die türkischen Armeen erlitten schon in den ersten Wochen an allen Fronten vernichtende Niederlagen. Der Kampf wurde mit ungemeiner Grausamkeit geführt, welche insbesondere die mohammedanische Bevölkerung der von Bulgaren und Serben besetzten Gebiete zu spüren bekam. Die Bulgaren standen Mitte November an der Tschataldschalinie vor Konstantinopel, Adrianopel hatten sie eingeschlossen; die Griechen nahmen Saloniki und eine Reihe von Inseln wie Lesbos und Chios, die Serben Üsküb und Monastir. Die Montenegriner besetzten den Sandschak, Skutari konnten sie jedoch nicht erobern. Diesen Verlauf des Krieges hatten die Großmächte nicht erwartet. Aus Paris berichtete am 2. November der deutsche Botschafter Wilhelm von Schoen: „Ein Teil der hiesigen Presse fährt fort, die türkischen Niederlagen als einen Bankrott der deutschen Kriegskunst und einen schlagenden Beweis für die große Überlegenheit des französischen Kriegsmaterials über das deutsche hinzustellen . . . Der Berliner Korrespondent des ,Echo de Paris' schreibt, die siegreichen Offiziere haben teilweise wir ausgebildet, die unwiderstehlichen Kanonen haben wir geliefert, die zum Angriff auf das türkische Reich marschierenden Truppen haben wir teilweise instruiert und diszipliniert . . . infolgedessen erhellt der neue Stern, der über dem europäischen Firmament aufsteigt, einige der uns teuersten Hoffnungen und Wünsche." Aber Schoen fügte hinzu: das große Publikum ist „nach wie vor von dem Wunsche beherrscht, daß die Dinge im Orient sich nicht zu weiteren Verwicklungen auswachsen, in welche Frankreich hineingezogen werden könnte". In Rußland erklärte man sich die türkischen Mißerfolge damit, daß die Balkanstaaten der noch unvorbereiteten Türkei zuvorgekommen seien. Kaiser Wilhelm war über die Türkei verärgert, weil sie den Friedensschluß mit Italien so lange hinauszögerte und sich mit Griechenland nicht rechtzeitig durch die Abtretung Kretas verständigte, er bewunderte die Tapferkeit der Truppen des Balkanbundes, glaubte, die türkische Herrschaft in Europa sei zertrümmert und verweigerte, als die Großmächte auf die Bitte der Türkei Anfang November die diplomatischen Besprechungen über die Einleitung von Friedensverhandlungen eröffneten, „jede Teilnahme an jeder Aktion, die die Bulgaren-Serben-Griechen in ihrem berechtigten Siegeslauf hemmt oder ihnen Bedingungen vorschreibt oder auferlegt, die ihnen nicht genehm sind". Bethmann-Hollweg und Kiderlen nahmen diese und ähnliche Äußerungen des Kaisers, die seiner Augenblicksstimmung entsprachen, nicht emst. In den Festungen Adrianopel, Jannina, Skutari und an der Tschataldschalinie leisteten die türkischen Soldaten mit großer Tapferkeit erfolgreichen Widerstand, wie überhaupt die Niederlagen der an sich guten Truppen von schlechter Ausrüstung, ungenügender Versorgung und unfähiger Leitung herrührten. 347

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Die Verhandlungen der Großmächte gingen davon aus, daß ein Aufrechterhalten des Status quo nicht mehr möglich sei, und die Eroberungen der Balkanvölker anerkannt werden müßten. Die sich äußerst schwierig gestaltenden weiteren Verhandlungen enthüllten alle Gegensätze, die sich dann 1914 verhängnisvoll auswirkten. Österreich erklärte, es erhebe keinerlei territoriale Ansprüche, wünsche aber ein selbständiges Albanien und werde auf keinen Fall dulden, daß Serbien einen Hafen an der Adria erhalte; in diesem Punkte waren sich Österreich und Italien einig. Kaiser Wilhelm hielt es für bedenklich, ohne Not sich dem serbischen Wunsch entgegenzustemmen, denn Rußland würde Serbien sofort unterstützen. „Gewiß ist manche Veränderung auf dem Balkan, die durch den Krieg bedingt ist, für Wien recht unbequem und audi unerwünscht, aber keine so einschneidend, daß wir uns ihretwegen der Gefahr einer kriegerischen Entwicklung aussetzen dürfen, das würde ich weder vor meinem Volk, noch vor meinem Gewissen verantworten können." Andererseits mußte Deutschland unbedingt für Erhaltung Österreichs als Großmacht eintreten. Zu erwägen war auch, nicht nur für Deutschland, daß im Falle eines russischen Krieges gegen Österreich zugunsten Serbiens für Frankreich unter Umständen die Bundespflicht in Kraft träte, besonders wenn Deutschland Österreich zu Hilfe käme, und England dann eine Schwächung Frankreichs durch einen Krieg mit Deutschland nicht dulden würde. Diese Spannungen führten, während alle Großmächte sich um die Wahrung des Friedens bemühten, im November zu Mobilmachungen Rußlands an der österreichischen Grenze, was Österreich mit Mobilmachungen in Galizien und an der serbischen Grenze beantwortete. In diesen Tagen traf Frankreich Vorbereitungen an seiner Ostgrenze. Poincaré legte seinen Ministerkollegen vertraulich die Notwendigkeit dar, in „dem Augenblick, wo ein kriegerischer Konflikt unvermeidbar war, mit einem überraschenden Vorstoß über die deutsche Grenze den französischen Waffen einen Vorsprung und den für das französische Temperament so wichtigen ersten moralischen Erfolg zu sichern". Die bisher nur von den französischen und englischen Generalstäben vereinbarten Abmachungen über die militärische Zusammenarbeit wurden im November durch Prwatbriefe zwischen Grey und Cambon bestätigt. Grey wählte diese Form, um weiterhin behaupten zu können, England sei nicht gebunden; Poincaré hatte aber doch recht, wenn er am 25. November dem französischen Kriegsminister Alexander Millerand schrieb: „Die strategischen Pläne, nach denen die Stäbe der beiden Länder insgeheim vorgehen, haben von nun an die ausdrückliche Genehmigung der britischen Regierung." Veranlaßt war der Austausch der nominell privaten Briefe dadurch, daß Churchill, als die britische Flotte großenteils aus dem Mittelmeer abberufen wurde (S. 340), Frankreich eine Marinekonvention vorgeschlagen hatte: es solle sein in Brest stationiertes Geschwader nach Toulon verlegen, damit es im Mittelmeer verfügbar sei, England werde dafür im Kanal den Schutz der französischen Küste übernehmen. Rußland begrüßte natürlich die Siege seiner Balkanfreunde, es wollte aber Konstantinopel nicht in die Hände der Bulgaren fallen lassen. Den Serben wäre Rußland bei der Erwerbung eines Hafens an der adriatischen Küste gern beige348

Balkankriege 1912/1913 standen, was jedoch wahrscheinlich einen Krieg mit Österreich und damit den Weltkrieg heraufbeschworen hätte, und so zog Rußland vor, Serbien zurückzuhalten. Die einzige Großmacht, bei der wesentliche Lebensinteressen auf dem Spiel standen, war Österreich. Es gab sich darüber keiner Täuschung hin, wie Berichte des deutschen Botschafters in Wien an Bethmann-Hollweg zeigen: „Mit Staunen und mit Beklemmung sieht man das plötzliche Anschwellen der slawischen Welle, und auf allen Lippen schwebt die bange Frage, was soll aus Österreich werden?" Es drohe nicht nur die Lostrennung der slawischen Länder des Südens bis hinauf nach der Steiermark aus dem Verbände der Monarchie. Triest, das schon jetzt ganz unter slawischem Einfluß stehe, ginge damit verloren, und die wichtigste mitteleuropäische Linie, auf der die Stärke des germanischen Einflusses im Zentrum Europas beruhe, die Linie Hamburg—Triest, würde damit zerstört werden. Eine weitere große Gefahr für Österreich liege darin, daß „der Siegesrausch der Südslawen und ihr maßlos gesteigertes Machtgefühl auch im Norden bei den Tschechen Widerhall gefunden h a t . . . Es wird großer Weisheit und Tatkraft der zentralen Regierung bedürfen, um all die zentrifugalen Kräfte der erstarkenden slawischen Völker des Reiches dem allgemeinen Staatszweck dienstbar zu erhalten und die Politik einer Großmacht an der Seite des deutschen Bundesgenossen weiterführen zu können". — Kiderlen gab am 28. November 1912 in einer Rede vor dem Auswärtigen Ausschuß des Bundesrates eine Darstellung der deutschen Balkanpolitik: „Es ist vielfach gesagt worden, Deutschland brauche nicht für albanische oder adriatische Interessen Österreichs oder gar für den Hafen von Durazzo zu fechten. Darum handelt es sich aber nicht. Der Zweck unseres Bündnisses ist, daß die große mitteleuropäische Monarchie neben uns in ihrer Großmachtstellung unangetastet erhalten bleibt, damit wir uns nicht eines Tages, wie sich Fürst Bismarck ausdrückte, nez à nez (Nase an Nase) mit Rußland befinden mit Frankreich im Rücken. Muß also Österreich, gleichgültig aus welchen Gründen, um seine Großmachtstellung fechten, so müssen wir an seine Seite treten, damit wir nicht nachher neben einem geschwächten Österreich allein fechten müssen. Dies hat uns nicht gehindert und wird uns auch ferner nicht hindern, unseren ganzen Einfluß zur Milderung der Gegensätze einzusetzen. Die Grenze dafür ist, daß wir unserem Bundesgenossen keine Demütigung zumuten dürfen. Wir wollen den Krieg vermeiden, solange es in Ehren geht; erweist sich das als unmöglich, ihm ruhig und fest ins Auge sehen." Die Großmächte einigten sich auf eine Botschafterkonferenz in London, die den Ausgleich all der widerstrebenden Interessen übernehmen sollte. Noch ehe die Konferenz zusammentrat, wurde am 3. Dezember 1912 von den Kriegführenden ein Waffenstillstand abgeschlossen. Die Sitzungen der Konferenz begannen am 17. Dezember. Dreibund und Dreiverband standen sich gegenüber, doch vermieden beide eine Betonung der Gruppenbildung. Grey, der den Vorsitz führte, bemühte sich, eine neutrale Haltung einzunehmen. Der russische Botschafter Graf Benckendorff hatte den Eindruck, daß „von allen Mächten allein Frankreich, um nicht zu sagen es will den Krieg, ihn ohne großes Bedauern sehen würde; jedenfalls habe ich kein Anzeichen dafür bemerkt, daß Frankreich aktiv im Sinn eines

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Kompromisses mitarbeitete. Nun bedeutet aber Kompromiß Frieden, kein Kompromiß Krieg". England dagegen wolle den Frieden und deshalb den Kompromiß, auf dieser Grundlage arbeite es mit Deutschland zusammen, nur mit dem Untersdiied, daß sich Grey mehr zugunsten Rußlands und der Balkanstaaten, Deutschland mehr für Österreich einsetze. „England ist für einen Kompromiß, der Rußland einen offensichtlichen Erfolg verbürgt und infolgedessen auch dem Dreiverband." Über die von Österreich und Italien gewünschte Errichtung eines autonomen Albanien einigte sidi die Konferenz rasch, auf große Schwierigkeiten stießen die Reglung der Grenzen Albaniens, ferner ob Albanien oder Montenegro Skutari, und ob Serbien an der Adria wenn auch keinen Kriegs-, so doch wenigstens einen Handelshafen erhalten sollten. Die Türkei wollte keineswegs auf Adrianopel und die ägäisdien Inseln verzichten. Rumänien verlangte als Kompensation für die Anerkennung der bulgarischen Eroberungen fast die ganze Dobrudsdia. Neben der Botschafter- tagte in London die Friedenskonferenz der Balkanstaaten; die Großmächte beteiligten sich an ihr nicht. Da kein Ergebnis erzielt wurde, begannen nach Ablauf des Waffenstillstands Anfang Februar 1913 die Kämpfe von neuem; vergebens hatte die Botschafterkonferenz am 17. Januar der Türkei eine gemeinsame Note überreichen lassen, sie verlangte von den Türken die Abtretung Adrianopels und einiger Inseln. Rußland drohte, es werde sich bei Wiederausbruch der Feindseligkeiten am Krieg beteiligen, nahm jedoch später diese Drohung wieder zurück. Als dann die türkische Regierung sich zum Nachgeben bereit zeigte, wurde sie durch eine Revolution der Jungtürken zur Fortsetzung des Krieges gezwungen, wodurch sich die Lage der Türken freilich nicht besserte. Im März eroberten die Griechen Jannina und die Insel Samos, die Bulgaren Adrianopel. Die Montenegriner belagerten weiterhin Skutari und ließen sich auch durch eine gemeinsame Flottendemonstration der Großmächte in der Adria nicht einschüchtern. Ebenso führte die auf der Londoner Botschafterkonferenz ausgearbeitete, Ende März in Konstantinopel überreichte Note mit Friedensvorschlägen zu keiner Entspannung. Mehrmals lag die Gefahr eines europäischen Krieges sehr nahe, denn über die Festsetzung der albanischen Grenzen wurde immer noch gestritten; Rumänien drohte mit einem Krieg gegen Bulgarien, der Dreibund stand auf rumänischer Seite, Österreich erneuerte am 12. Februar 1912 sein Bündnis mit Rumänien; zu Bulgarien hielt Rußland, es verwirrte durch seine zweideutige und wechselnde Haltung die Lage noch mehr: einerseits bestärkte es von seiner panslawistischen Ideologie aus die Balkanstaaten in der Verfolgung ihrer Ziele, andererseits beteiligte es sich mit den übrigen Großmächten an der Friedensvermittlung, und so mußte es zwischen seinen Entente- und Balkanfreunden hin und her manövrieren. In Frankreich wurde am 13. Januar 1913 Poincaré Staatspräsident, er gab seinen Verbündeten unverhüllt zu verstehen, ein aus den Balkankriegen sich ergebender Revanchekrieg gegen Deutschland käme ihm jetzt durchaus gelegen. Grey sagte dagegen zu seinem Kabinettskollegen Sir Arthur Nicolson: „Wir unsererseits können nicht an der Seite Frankreichs stehen, wenn es einen Konflikt um der

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Balkankriege 1912/1913 Revanche willen überstürzt." — In Deutschland war am 30. Dezember 1912 Kiderlen plötzlich gestorben. Ob es, wie manche meinen, seinem nüchternen Tatsachensinn und seiner Energie bei längerer Amtszeit gelungen wäre, die deutsche Politik vor der Katastrophe von 1914/18 zu bewahren, ist nicht zu entscheiden, zumal da Nüchternheit manchmal die Imponderabilien, das Unwägbare in den wechselseitigen Beziehungen der Völker, übersehen läßt; jedenfalls war Gottlieb von Jagow, der eine normale diplomatische Karriere durchlaufen hatte, nicht die Persönlichkeit, um unter Bethmann-Hollweg willensstark eine zielbewußte Außenpolitik durchzuführen. Während der sich zäh fortschleppenden Verhandlungen über einen Friedensvertrag fiel am 23. April 1913 Skutari in die Hände der Montenegriner. Nun griffen die Großmächte endlich entscheidend ein, besonders weil Österreich drohte, allein mit Waffengewalt vorzugehen. König Nikita versprach am 5. Mai die Räumung der Stadt, welche am 14. durch die Landungsabteilung eines internationalen Geschwaders besetzt wurde; an dieser Aktion beteiligten sich außer Rußland alle Großmächte. Mittlerweile hatten sich Bulgarien und Rumänien auf einer Petersburger Friedenskonferenz über die Abtretung Silistrias an Rumänien geeinigt. Die Londoner Botschafterkonferenz ging jetzt ihrem Ende zu; dabei mußte noch ein heftiger Konflikt zwischen Italien und Griechenland um dessen Nordgrenze beigelegt werden. Am 30. Mai konnte der Vorfriede zwischen der Türkei und dem Balkanbund unterzeichnet werden: die Selbständigkeit Albaniens wurde anerkannt, die Türkei verlor alle ihre europäischen Gebiete westlich einer geraden Linie von Midia am Schwarzen Meer bis Enos an der Ägäis; Kreta hatte bereits am 14. Oktober 1912 den Anschluß an Griechenland vollzogen. Vieles blieb noch unentschieden und wurde zur weiteren Reglung teils den Großmächten, teils den Regierungen der Balkanstaaten überwiesen, die Finanzfragen einer internationalen Konferenz in Paris. Je näher der Friede mit der Türkei gerückt war, desto mehr hatten sich die verbündeten Balkanstaaten untereinander verfeindet, jeder wollte noch die neuen Grenzen zu seinen Gunsten verschieben. Serbien und Griechenland schlossen sich gegen Bulgarien zusammen, das die Hauptlast des Krieges getragen und die größten Menschenverluste erlitten hatte. Die Versuche Rußlands, sein ihm im Balkanbundvertrag vom März 1912 zuerkanntes Schiedsrichteramt auszuüben, blieben erfolglos. Anfang Juli 1913 begannen die Kämpfe von neuem. Die erschöpften Bulgaren wurden überall geschlagen. Die Rumänen und die Türken wollten sich die Gelegenheit zur Verbesserung ihrer Friedensbedingungen nicht entgehen lassen und erklärten Bulgarien ebenfalls den Krieg. Die Großmächte hielten sich diesmal offiziell zurück, die Balkanstaaten sollten unter sich in Bukarest den Frieden aushandeln, jede Einmischung die zu einer Ausweitung des Krieges führen könne, müsse vermieden werden; die diplomatische Tätigkeit der Großmächte war allerdings sehr rege. Die Niederlagen Bulgariens warfen wieder neue Fragen auf. Österreich fürchtete ein Großserbien mehr als ein Großbulgarien und setzte sich deshalb für dessen Interessen ein, was Rumänien, dem durch seine noch frischen Truppen eine führende Stellung in diesem, dem zweiten Balkankrieg, zufiel, mehr 351

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik auf die Seite Rußlands drängte. Ende Juli kamen Vertreter der fünf Balkanmächte in Bukarest zu einer Friedenskonferenz zusammen. Sie endete bereits am 10. August; mit der Türkei einigten sich die einzelnen Balkanstaaten während der folgenden Monate in Sonderverträgen. Bulgarien mußte an die Türkei Adrianopel, an die übrigen Nachbarstaaten beträchtliche Grenzgebiete abtreten. König Ferdinand von Bulgarien Schloß einen Tagesbefehl an seine Armee: Unsere Verbündeten haben uns verraten. „Erschöpft und ermüdet, aber nicht besiegt, mußten wir unsere Fahnen für bessere Tage zusammenfalten." Das Ende der mit maßloser nationalistischer Leidenschaft und mit einer für europäische Begriffe entsetzlichen Grausamkeit geführten Balkankriege — Schwerverletzte zerfleischten sich noch mit den Zähnen, die Bulgaren verbrannten in einer griechischen Stadt 700 Einwohner und dergleichen — brachte auf dem Balkan keine nach nationalen und ethnographischen Gesichtspunkten befriedigende Lösung. Vor allem hatte sich Österreichs Stellung erheblich verschlechtert. Das mit Österreich und Deutschland seit 1883 verbündete Rumänien wandte sich jetzt mehr Rußland zu und wartete wie Serbien, Bulgarien und selbst der Dreibundgenosse Italien auf den Zerfall der österreichisch-ungarischen Monarchie nach dem Tode des nun 83jährigen Kaisers Franz Josef in der Hoffnung, dann ihre Länder mit österreichischem Gebiet vergrößern zu können. Österreichs Nöte berührten auch Deutschland immittelbar; sein Schidcsal verknüpfte sich immer fester mit dem Österreichs als einzigem Bundesgenossen, auf den Deutschland im Ernstfall redinen konnte. Im ganzen haben die Balkankriege von 1912/13 eher zu einer Verschärfung als zu einer Entspannung der Gegensätze zwischen der englisch-französisch-russischen Entente und dem deutsch-österreichischen Bündnis beigetragen; aber die Art, wie trotz allem, besonders durch das Zuammenwirken von Grey und Bethmann-Hollweg, in äußerst kritischen Lagen ein über den Balkan hinausgreifender Krieg verhindert wurde, und sich so das „europäische Konzert" der Mächte immer noch als leistungsfähig erwies, mahnt doch, die Auffassung von einem zwangsmäßigen Ablauf Unheil heraufbeschwörender Ereignisse nicht so zu verallgemeinern, wie dies vielfach geschieht.

Kolonial- und Bagdadbahnabkommen 1913114 Grey und Bethmann-Hollweg gelang durch beiderseitiges Entgegenkommen auch ein Ausgleich in zwei Fragen, die seit langem zwischen England und Deutschland standen. Als Grey nach der Beilegung der zweiten Marokkokrise ein besseres Verhältnis zu Deutschland anstrebte, konnte Metternich Ende 1911 nach Berlin berichten: „Eine politische Vereinbarung zwischen uns und England, die ein Fallenlassen der englischen Ententefreundschaften in sich schließt, wird nicht zu erreichen sein. Dagegen deutete Sir Edward Grey öffentlich im Parlament seine Unterstützung an, um uns die Grundlagen eines zukünftigen mittelafrikanischen Kolonialreiches zu sichern. Die Erde ist schon verteilt, und wo anders als in Mittelafrika bieten sich uns kaum Aussichten zur Erwerbung von Kolonien großen 852

Kolonial- und Bagdadbahnabkommen 1913/1914 Stils." Seitdem waren die Verhandlungen über Kolonialfragen zwischen Berlin und London nicht abgerissen. Hauptsächlich handelte es sich um eine Neufassung des Geheimvertrages von 1898 über eine etwaige Aufteilung der portugiesischen Kolonien, den England damals durdi erneute Garantie Portugals und seiner Kolonien im Windsorvertrag von 1899 weitgehend entwertet hatte. Inzwischen war das portugiesische Königtum gestürzt worden und die finanzielle Lage des Landes hatte sich eher gebessert als verschlechtert, so daß in absehbarer Zeit mit einer Auflösung des portugiesischen Kolonialbesitzes nicht gerechnet werden konnte. Nach zweijährigen Verhandlungen lag am 20. Oktober 1913 der deutschenglische Vertrag fertig vor. Er war für Deutschland erheblich günstiger als der frühere und schuf klare Verhältnisse. Die Unversehrtheit und Unabhängigkeit Portugals bildete die Grundlage für die Verteilung der wirtschaftlichen Interessensphären in den portugiesischen Kolonien Afrikas, zu deren Erschließung Portugal Darlehen aufnehmen und Einkünfte verpfänden mußte. Der deutsche Botschafter in Lissabon urteilte über die Neureglung: der Verzicht auf „die portugiesische Hälfte der Insel Timor — deren Gewinn für uns übrigens immer schon mehr als problematisch war — und auf den Streifen am linken Sambesiufer wird meiner Ansicht nach mehr als reichlich aufgewogen durch den Gewinn des mittleren Angola und durch das englische Desinteressement an Sao Thomé und Principe, den beiden Inseln, die wohl den wertvollsten Teil des ganzen portugiesischen Kolonialbesitzes ausmachen. Was wir in Afrika aufgeben, das wirtschaftlich von Engländern ganz beherrschte Gebiet am Sambesi und einen verhältnismäßig kleinen Teil des östlichen Angola, fällt kaum ins Gewicht gegenüber der Tatsache, daß nunmehr unsere Einflußsphäre in Angola mit Deutsch-Südwestafrika ein kompaktes Kolonialgebiet mit einer Küstenausdehnung von zwanzig Breitengraden bilden wird, dessen gute Häfen und fruchtbare, zur Ansiedlung geeignete Hochländer eine äußerst gedeihliche Entwicklung für die Zukunft verheißen." Die förmliche Unterzeichnung des Vertrags durch die Regierungen ist freilich nie erfolgt, es blieb bei der Paraphierung, denn Grey machte die Unterzeichnung von der gleichzeitigen Veröffentlichung des früheren und des neuen Vertrags sowie des Windsorvertrages abhängig. Nun befürchtete Bethmann-Hollweg, das deutsche Volk würde dann glauben, seine Regierung habe sich wie 1898/1899 von England täuschen lassen, und die sich daran anschließenden abfälligen Kommentare in der Presse würden die Stimmung gegen England erneut verschlechtem. Grey war zum Nachgeben um so weniger bereit, als in Frankreich und Rußland bei dem Durchsickern von Einzelheiten des Vertrags sofort wieder die Besorgnis wegen eines zu freundschaftlichen deutsch-englischen Verhältnisses laut wurde. So schrieb der russische Botschafter in Berlin, Sverwejew, Mitte Februar 1914 an den Außenminister Sasanow: „Cambon blickt sehr trübe auf die beständigen Gerüchte einer Besserung in den englisch-deutschen Beziehungen . . . Obwohl ich diese Befürchtungen nicht völlig teile, so kann ich mich doch nicht ganz dem Gedanken verschließen, daß Deutschland und England, nachdem sie damit angefangen, ihre ökonomischen Interessen in Afrika zu regeln, mit der Zeit zu wichtigeren Verhandlungen übergehen werden, welche letzten Endes zu einem ge-

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Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik wissen Abkommen audi in politischen Fragen führen können." Im Juli entschloß sich die deutsche Regierung, doch nachzugeben und schlug für die förmliche Unterzeichnung des neuen und die Veröffentlichung der alten Verträge den Herbst 1914 vor; inzwischen hatte sich aber die Weltlage völlig verändert. Ebenso erging es der deutsch-englischen Einigung über die Bagdadbahn. Hatte der Reichskanzler Bülow 1908 nach der finanziellen Sicherung des Baus einer weiteren Strecke von 840 Kilometern geglaubt, nun wären die Schwierigkeiten überwunden, so erwies sich dies als ein großer Irrtum. Der englische Widerstand setzte verschärft ein. Bei einer der Türkei 1909 bewilligten Zollerhöhung erzwang England die Annahme der Bedingung, die Mehrerträge dürften nicht für die Bagdadbahn, sondern müßten für Reformen in Mazedonien verwendet werden. Der Deutschen Bank gelang indes immer wieder die Beschaffung der Gelder für den Weiterbau. Bei Bethmann-Hollwegs Bemühungen um ein freundschaftliches Verhältnis mit England spielte immer auch die Bagdadbahn hinein; er versuchte, das lebhafte Interesse Englands an der Strecke von Basra bis zum Fersischen Golf als „Hebel oder vielleicht als Köder für eine politische Verständigimg" zu benützen, wie Goschen Mitte April 1910 nach London berichtete. Die Verhandlungen, mehrmals von längeren Pausen unterbrochen, führten teils Diplomaten, teils der englische Finanzmann Sir Ernest Cassel und der Direktor der Deutschen Bank, Arthur von Gwinner. Englische Versuche, von der Türkei Konzessionen für eine Tigristalbahn, für die Flußschiffahrt auf dem Tigris und für einen großen Bewässerungsplan in Mesopotamien zu erhalten, scheiterten an der Furcht der Türken vor englischer Vorherrschaft. Am 21. März 1911 Schloß die Türkei mit der deutschen Bagdadbahngesellschaft ein Abkommen, das die Garantien für die Strecke von Halif bis Bagdad sicherstellte, eine Zweigbahn nach Alexandrette und den Bau eines Hafens in Alexandrette genehmigte. Marschall, damals Botschafter in Konstantinopel, sah in diesem Abkommen einen großen Erfolg Deutschlands und eine Niederlage für Frankreich und England. Als dann noch Rußland im Vertrag von 1911 (S. 326) seinen Widerstand gegen den Bahnbau aufgab, begann England, sich auf den Kampf um die es am stärksten interessierende Strecke Basra—Persischer Golf zu beschränken und sich vor allem direkt mit der Türkei zu verständigen. Für die Strecke Bagdad-Golf schlug die Türkei die Gründung einer neuen Gesellschaft vor, an der sie sich selbst, Deutschland, England und Frankreich beteiligen sollten. England wollte auch Rußland hinzuziehen, die Türkei lehnte dies entschieden ab und Rußland legte auf seine Beteiligung keinen Wert. So entschloß sich England im Herbst 1912 zum Verzicht auf eine Kontrolle der Strecke bis Basra, verlangte aber dafür, daß dieses den Endpunkt der Bahn bilde. Da Deutschland schon seit 1903 zu dieser Lösung bereit war und seit der mißglückten Haldane-Mission 1912 die bisherige Politik wirtschaftlicher Zugeständnisse als Hebel für die Erzielung politischer Abkommen aufgegeben hatte, lag der Einigung über die Bagdadbahn an sich nichts mehr im Wege. Im März 1913 begannen die immittelbaren Verhandlungen zwischen Berlin, London und Konstantinopel. Der Vorfriede, der am 30. Mai 1913 den ersten Balkankrieg beendete, beauftragte mit der Regelung der türkischen Finanzen eine 354

Kolonial- und Bagdadbahnabkommen 1913/1914 internationale Konferenz in Paris (S. 351). Auf ihr kamen audi die Finanzlagen der deutschen Bagdadbahn zur Sprache. In den Grundzügen des Vertrags einigten sich Deutschland und England rasch, aber die Festlegung der Einzelheiten beanspruchte, obwohl beide Seiten stetig und in freundschaftlichem Geist zusammenarbeiteten, noch über ein Jahr. Am 15. Juni 1914 war der Vertrag endlich fertig, die förmliche Unterzeichnung verzögerte sich indes, weil das parallele deutschtürkische Abkommen infolge der türkischen Verschleppungstaktik noch nicht abgeschlossen war. Grey drängte sehr auf die Unterzeichnung. Jagow schickte deshalb am 22. Juli 1914 dem deutschen Botschafter Lichnowsky die kaiserliche Vollmacht zur Unterzeichnung, sobald das deutsch-türkische Abkommen abgeschlossen sei. In Deutschland wie in England begrüßte man den Vertrag im allgemeinen als gerechten Ausgleich der beiderseitigen Interessen. Deutschland behielt die Bagdadbahn bis zu dem Endpunkt Basra fest in der Hand, ebenso England seine Stellung am Persischen Golf. Der Schatt el Arab sollte bis Basra für Seeschiffe fahrbar gemacht werden. Auch die Beteiligung beider Staaten an der Schiffahrt auf Euphrat und Tigris und an den Bewässerungsarbeiten wurde geregelt. Uber die Gründung einer Gesellschaft zur Ausbeutung der Ölvorkommen bei Mossul hatte man sich bereits weitgehend geeinigt: je ein Drittel der Gesamtproduktion sollte der deutschen und der englischen Marine zur Verfügung stehen; damals begann bei den Schiffen die Umstellung auf ölfeuerung. Die englische Presse brachte größtenteils nur kurz die Nachricht von der Paraphierung des deutschenglischen Bagdadbahnabkommens; ausführlicher ging ein Artikel im „Daily Graphic" darauf ein und wies hoffnungsvoll auf die zu erwartenden Folgen hin: Das Abkommen befreie auf der einen Seite die deutsch-englischen Beziehungen von allen Reibungsflächen, und dies schaffe, ebenso wie das ähnliche Ubereinkommen mit Frankreich vor zehn Jahren, einen vorzüglichen Ausgangspunkt für die Erneuerung freundschaftlicher und vertrauensvoller Beziehtingen zwischen den beiden Ländern. Deutschland und Frankreich hatten sich über die Scheidung ihrer Interessensphären in Kleinasien bereits im Februar geeinigt; da aber die Vereinbarungen erst nach Abschluß der deutschen und der französischen Verhandlungen mit der Türkei in Kraft treten sollten, blieb es auch in diesem Falle bei der Paraphierung. Der französische Ministerpräsident Doumergue äußerte sich dem deutschen Botschafter von Schoen gegenüber sehr befriedigt: der Wert der Abmachungen liege nicht nur in der Beseitigung von Reibungsflächen, sondern auch in der Vertiefung gegenseitigen Vertrauens und hinterließe eine wohltuende Erinnerung an guten Willen und loyale Offenheit. Anders der französische Botschafter in Berlin, Jules Cambon; er antwortete, als ihn der belgische Gesandte Baron Beyens fragte, ob das Einvernehmen in Kleinasien die deutsch-französischen Beziehungen bessern werde: „Vielleicht in einem gewissen Grade die offiziellen Beziehungen, aber ich glaube nicht, daß dieses Abkommen auf die Gefühle des großen Publikums beiderseits der Vogesen von Einfluß sein wird. Die Sprache der französischen Presse den Deutschen gegenüber wird dadurch leider keine Änderung erfahren. Wir haben seit der Dreyfusaffäre auch in Frankreich eine militärische und nationalistische 355 23*

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik

Partei, die um keinen Preis von einer Annäherung an Deutschland etwas wissen will und die einen großen Teil der Zeitungen in ihrem aggressiven Ton bestärkt. Die Regierung müßte mit ihnen und der Partei, deren Sprachrohr sie sind, rechnen, falls sich wiederum ein ernster Zwischenfall zwischen den beiden Völkern ereignen sollte. Die Mehrheit der Deutschen und der Franzosen wünscht zweifellos im Frieden zu leben. Aber eine mächtige Minderheit in beiden Ländern träumt nur von Schlachten und von Eroberungs- oder Revanchekriegen. Angesichts dieser Gefahr müssen wir leben wie neben einem Pulverfaß, das eine Unvorsichtigkeit zur Explosion bringen kann."

Streit mit Rußland über die deutsche Militärmission in der Türkei Während die Regierungen von Deutschland, England und Frankreich sich in den türkischen Angelegenheiten um einen alle Beteiligten befriedigenden Ausgleich ernstlich bemühten, entstand ein russisch-deutscher Konflikt, der um die Wende 1913/1914 die Gefahr eines Krieges nahe rückte. Seit April 1913, noch vor Beendigung des ersten Balkankrieges, verhandelte die Türkei, deren jungtürkische Regierung auf die Durchführung von Reformen drängte, in Berlin wegen der Entsendung von Instruktionsoffizieren nach Friedensschluß. Kaiser Wilhelm schlug der Türkei als Chef der Militärmission den Generalleutnant Otto Liman von Sanders vor. Der Sultan ernannte ihn „für eine Zeit von fünf Jahren unter Aufnahme in die türkische Armee zum Vorsitzenden der Reformkommission (für das Heer), zum Kommandeur des ersten Armeekorps, dessen Generalkommando sich in Konstantinopel befindet und dessen Truppen in Konstantinopel und Umgebung garnisonieren, und ferner zum Mitglied des Kriegsrats". Die Reorganisation der Flotte, der Justiz und der Verwaltung wurde Engländern übertragen, die des Finanzwesens und der Gendarmerie Franzosen, die des Post- und Telegraphenwesens Italienern. Obwohl auf diese Weise die Türkei ihre Reformen offensichtlich auf völlig internationaler Basis durchzuführen gedachte, bat ein Angestellter des russischen Außenministeriums den deutschen Geschäftsträger in Petersburg am 7. November 1913 zu sich und hielt ihm vor: „In Konstantinopel solle eine Art Musterdivision ganz nach deutschem Vorbild und unter dem Kommando eines deutschen Generals errichtet werden . . . Hier handle es sich um eine Maßnahme, welche Rußland nicht anders als gegen sich gerichtet auffassen könne. Alles was sich in Konstantinopel und an der Meerenge ereigne, sei für Rußland von der höchsten Bedeutung." Ein Artikel der „Nowoje Wremja" vom 26. November behauptete, bei der neuen deutschen Militärmission handle es sich nicht um die Überlassung militärischer Lehrmeister, sondern um die formelle Unterordnung der türkischen Armee unter deutsches Kommando, derart, daß die türkische Armee ihre nationale Existenz völlig einbüße und ein „koloniales Hilfskorps der deutschen Armee" werde. Deutschland sei schon Herr der Bagdadbahn und der wichtigsten türkischen Häfen des Mittelmeeres und habe die ganze wirtschaftliche Zukunft des ottomanischen Reiches in seine Hand genommen; jetzt mache es sich zum 356

Streit mit Rußland über deutsche Militärmission in der Türkei tatsächlichen Herrn von Konstantinopel und bemächtige sich der politischen Gewalt über das ganze türkische Reich. Ende des Monats regte der französische Außenminister Pichón bei der englischen Regierung eine gemeinsame Demarche Englands und Frankreichs in Konstantinopel an, um die Pforte auf die „unerträglichen Folgen" der Unterstellung des Konstantinopler Armeekorps unter einen deutschen General hinzuweisen: das hieße alle Diplomaten in der türkischen Hauptstadt der Aufsicht Deutschlands unterstellen, Deutschland den Schlüssel zu den Meerengen beinahe ausliefern, das Gleichgewicht der Mächte zerstören, das den Bestand des ottomanischen Reiches verbürgt. Vergebens suchte die deutsche Regierung klarzumachen, daß die Türkei dem englischen Admiral weitergehende Rechte zugestanden habe als der deutschen Militärmission, und daß die Franzosen an der Spitze der Gendarmerie mindestens ebenso großen politischen Einfluß ausüben könnten. Die Russen blieben jedoch dabei: Deutschland beherrsche das Armeekorps in Konstantinopel und dieses sei der Träger der Staatsgewalt in der Türkei. Frankreich folgte Rußland, wie Iswolski aus Paris an Sasanow schrieb, in der „brennendsten und für uns wichtigsten Frage, derjenigen der deutschen Militärinstrukteure". England blieb zurückhaltend; erst als die russische Regierung Grey wissen ließ, sie werde seine Stellungnahme in dieser Frage als Prüfstein für die Gesinnung der englischen Politik gegen Rußland überhaupt betrachten, erklärte sich Grey zur Beteiligung an einem gemeinsamen Vorgehen bereit. Am 13. Dezember 1913 richteten daher die Botschafter Frankreichs, Englands und Rußlands in Konstantinopel an den Großvesier eine Reihe von Fragen, besonders, ob durch die deutschen Offiziere die Unabhängigkeit der Türkei und der gegenwärtige Zustand der Dardanellen angetastet würden. Der Großvesir lehnte die Beantwortung der Fragen ab. Rußland erwog nun, für die angebliche Machtstellung des deutschen Generals Kompensationen zu fordern, für sich ein Kommando in Armenien, für Frankreich in Syrien. Grey und später auch Doumergue waren dagegen, weil es zu einer Aufteilung der asiatischen Türkei führen würde. Auf Rußlands Vorschlag, Verlegung der deutschen Militärmission nach Adrianopel, ging Deutschland aus sachlichen Gründen und um eine Verstimmung Bulgariens zu vermeiden, nicht ein. Der Vorwurf Rußlands, Deutschland hätte hinter seinem Rücken die Abmachungen mit der Türkei getroffen, war unberechtigt; Kaiser Wilhelm hatte im Juni bei einem Zusammentreffen mit dem Zaren und König Georg von England in Berlin die Bitte der Türkei um eine deutsche Offiziersmission mitgeteilt; der König fand dies ganz selbstverständlich, audi der Zar erklärte sich damit einverstanden. Als aber in Petersburg bekannt wurde, dem General Liman von Sanders stehe „die Ausübung des aktiven Kommandos" zu, wurde Mitte Dezember in den maßgebenden russischen Kreisen eine derartige Verstimmung gegen Deutschland laut, daß Kaiser Wilhelm an den Rand des Berichtes hierüber schrieb: „Es handelt sich um unser Ansehen in der Welt, gegen das von allen Seiten gehetzt wird! Also Nacken steif und Hand ans Schwert!" Der Kaiser stand mit seiner Auffassung, daß es um die deutsche Ehre gehe, nicht allein. Zu dem deutschen Botschafter in Konstantinopel sagte dessen englischer

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Kollege: „So sehr er auch wünsche, daß Deutschland den russischen Wünschen etwas entgegenkomme, er doch vollkommen begreife, daß Deutschland, solange ein russischer Druck ausgeübt werde, seines Prestiges wegen nicht nachgeben und jedenfalls jetzt nicht auf das hiesige Generalkommando verzichten könne." Über die Beweggründe Rußlands in seiner Stellungnahme zur Militärmission klärten russische Generalstabsoffiziere den deutschen Militârattaché in Petersburg, von Eggeling, Anfang Januar 1914 offenherzig auf: „Eines Tages werden wir mit der Türkei abrechnen. Dann wünschen wir sie schwach zu finden. Sie wird militärisch erstarken durch die deutsche Reformtätigkeit in der jetzt gewählten Form. Darum hätten wir nichts eingewendet gegen eine vorwiegend beratende Tätigkeit der deutschen Offiziere, die ebensowenig durchgreifend hätte wirken können wie früher. Jetzt hat man aber eine Organisation gewählt, die Erfolg verspricht. Darum wollen wir nicht die unmittelbare Kommandogewalt der deutschen Generale." Auf die Frage, weshalb die Reformtätigkeit englischer Offiziere in der türkischen Marine so ruhig hingenommen werde, erhielt Eggeling die Antwort: die türkische Flotte werde selbst nach einer durchgreifenden Reform operativ keine Bedeutung haben, weil der Kampf um die Dardanellen stets zu Lande ausgetragen werde. Mit besonderem Nachdruck wiesen dann die russischen Offiziere darauf hin, daß man „mit England in der Entente, mit Deutschland aber in keinerlei Bündnisverhältnis" stehe. Darum verdiene eine von Deutschen ausgebildete türkische Armee eine andere Bewertung als eine von Engländern reformierte Flotte. Am 13. Januar 1914 berieten sich der russische Ministerpräsident Kokowzow, der Kriegsminister, der Marineminister, der Außenminister und der Generalstabschef über „Nötigungsmaßregeln" zur Durchsetzung der russischen Forderungen. Sie stimmten darin überein, eine Lösung der Frage, die irgendeine Kommandogewalt in den Händen Limans belasse, gleichviel ob in Konstantinopel oder anderwärts, könne nicht angenommen werden. Als Nötigungsmaßnahme schien ihnen am geeignetsten die Besetzung irgendeines Punktes in Kleinasien bis zur Bewilligung der russischen Forderungen. Damit war nun freilich die Gefahr eines Krieges verbunden. Auf die Frage des Ministerpräsidenten, ob der Krieg mit Deutschland erwünscht sei und Rußland ihn führen könne, erklärten der Kriegsminister und der Chef des Generalstabs die „volle Bereitschaft Rußlands zum Zweikampf mit Deutschland, von einem Zweikampf mit Österreich schon gar nicht zu reden". Inzwischen hatte Deutschland mit der Türkei über die Möglichkeit eines Nachgebens ohne Einbuße des beiderseitigen Prestiges verhandelt. Am 15. Januar telegraphierte Bethmann-Hollweg das Ergebnis dem deutschen Botschafter in Petersburg: „Seine Majestät der Kaiser haben dem General von Liman Charakter eines Generals der Kavallerie verliehen. Pforte wird nunmehr seine Ernennung zum Marschall veranlassen, womit Kommando über Armeekorps von selbst wegfällt. Wir betrachten hiermit Angelegenheit im Sinne der Herrn Kokowzow gegebenen Zusicherungen erledigt." Kokowzow sprach dem deutschen Botschafter in Petersburg „in sehr herzlichen und warmen Worten seine Freude über die Erledigung der Angelegenheit aus. Er nehme an, daß General von Liman nunmehr eine ähnliche Stellung in Konstantinopel bekleiden werde, wie sie Goltz Pascha innegehabt 358

Churchills Vorschlag eines Feieijahis im Schiffsbau habe, und halte die Lösung für eine befriedigende". Sie war es auch für Liman von Sanders, denn, wie der deutsche Geschäftsträger in Konstantinopel, von Mutius, an den Reichskanzler schrieb, der „Generalinspekteur gewinnt, was der kommandierende General verliert. Bei dem Tempo, mit dem gegenwärtig im türkischen Kriegsministerium gearbeitet wird, wären beide Funktionen für einen Mann auf die Dauer zu viel gewesen . . . Dies ist die militärisch-technische Seite der Angelegenheit. In politischer Beziehung bietet die (eingetretene) Änderung zunächst den großen Vorteil, daß General Liman aus allen etwaigen innerpolitischen Verwicklungen der Türkei ausscheidet, was für ihn als Kommandeur des 1. Armeekorps schwer, unter Umständen unmöglich gewesen wäre . . . Die akute Phase, in welche die Frage der Militärmission getreten war, dürfte damit überwunden sein. Man wird sidi indessen meines Erachtens kaum einer Täuschung darüber hingeben dürfen, daß die Wirksamkeit der deutschen Militärmission audi weiterhin sowohl die türkisch-russischen wie die deutsch-russischen Beziehungen beeinflussen wird. Je effektiver sich die Reformarbeit gestaltet, um so fühlbarer wird dies werden." Dies zeigte sich, als bei einem Wechsel des Kommandeurs in Skutari die russische Regierung von der Pforte hierüber Aufschluß verlangte. Dem deutschen Botschafter gelang, Sasanow mit dem Hinweis zu beruhigen, daß dort schon seit langem das Kommando in den Händen deutscher Offiziere gewesen sei. Obwohl Sasanow Deutschland nach wie vor wegen der Militärmission grollte, äußerte er sich weiterhin, wie etwa im April 1914, anerkennend über die versöhnliche Haltung Deutschlands, so daß die Frage der Militärmission de facto als erledigt gelten konnte.

Churchills Vorschlag eines Feierjahrs im Schiffsbau Auch der deutsch-englische Gegensatz in der Flottenfrage verlor an Schärfe. Am 6. Februar 1913 erklärte Tirpitz in der Budgetkommission des Reichstags, er habe kein Bedenken gegen ein deutsch-englisches Flottenverhältnis von 10 zu 16, das Churchill vor einem Jahr in einer Rede als annehmbar bezeichnet habe; dieses Verhältnis bestände ja eigentlich jetzt schon. Presseartikel über die Äußerung von Tirpitz erweckten in Paris und Petersburg die Besorgnis, die Übereinstimmung in der Flottenfrage könne eine deutsch-englische Annäherung einleiten; manche befürchteten überdies, Deutschland wolle durch einen Verzicht auf ein Wettrüsten mit England neue starke Kräfte für die Vermehrung seines Landheeres freibekommen, dessen Überlegenheit ohnehin schon Frankreich mit schwerer Sorge erfüllen müsse. Daneben wurden auch beschwichtigende Stimmen laut. So führte der russische Botschafter in London, Graf Alexander von Bendcendorff, die deutsch-englische Entspannung und Annäherung nicht auf eine Übereinstimmung in der Flottenfrage zurück, sondern darauf, daß Deutschland ebenso wie England für den Frieden wirke. Selbst die Pariser Zeitung „Figaro" schrieb, der Wunsch Deutschlands nach einer Verständigung mit England bilde einen weiteren Beweis für die Friedensliebe, welche die deutsche Diplomatie im ganzen Verlauf der 359

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Auí3enpolitik Orientkrise betätigt habe. Da sich die deutsche Regierung abwartend verhielt und der englische Botschafter in Berlin, Goschen, der Weisung seiner Regierung folgend, sich in tiefes Schweigen hüllte, blieb die durch Churchills Rede und durch die Erklärung von Tirpitz gebotene Gelegenheit, den Faden der deutschenglischen Flottenverständigung aufzunehmen, ungenützt. Am 26. März 1913 schlug Churchill in seiner Unterhausrede zum Flottenetat die Einlegung eines Feierjahres für den Schiffsbau, etwa 1914 oder 1915, vor, um die Finanzen zu entlasten. Dieser Appell ridite sich an alle Länder, aber an keinen in einer aufrichtigeren Weise als an den großen Nachbarn jenseits der Nordsee, habe keinen Einfluß auf die relative Stärke der Flotten, bedeute keinen Verzicht auf irgendeine geplante Marineorganisation und widerspreche keinem Flottengesetz. Den Einfluß, den es haben würde, wenn Deutschland und England im Interesse des Weltfriedens zusammengingen, wäre nicht zu überschätzen. In seinem Bericht an Bethmann-Hollweg nannte der deutsche Botschafter in London, Lichnowsky, den Vorschlag Churchills lediglich ein Schaugericht, das hier von niemand allzu ernst genommen würde, am wenigsten von Churchill selbst. In seiner Reichstagsrede vom 7. April 1913 sagte Bethmann-Hollweg, es sei ihm nicht bekannt, daß Churchills Vorschlag in der öffentlichen Meinung Englands oder im englischen Parlament besonderen Anklang gefunden habe. „Wir werden also abwarten können, ob die englische Regierung mit konkreten Vorschlägen hervortreten sollte. Aber die Tatsache, daß dieser Gedanke in dieser Form vom englischen Marineminister ausgegangen ist, bedeutet doch einen großen Fortschritt." Tirpitz war gegen das Feierjahr, weil es die Entlassung zahlreicher Arbeiter zur Folge hätte und die ganze Disposition der Werften stören würde, vermied jedoch eine direkte Ablehnung. Am 9. Oktober berührte Churchill in einer Wahlrede die Frage der maritimen Rüstungen und der deutsch-englischen Beziehungen: „Trotz der Fortentwicklung der britischen Flotte hätten sich die Beziehungen Englands zu dem mächtigen deutschen Reiche stetig verbessert, heute ruhten diese Beziehungen auf einer durchaus befriedigenden Grundlage." Kaiser Wilhelm faßte Churchills Rede als eine glänzende Rechtfertigung des Flottengesetzes auf und als Beweis, daß „nur rücksichtsloses, mannhaftes, unerschrockenes Vertreten der eigenen Interessen dem Engländer imponiert und zuletzt zur Annäherung zwingt . . . Daher werde ich schonungs- und rücksichtslos fortfahren, das Flottengesetz aller Opposition zu Hause zum Trotz bis ins kleinste Detail voll zur Durchführung zu bringen und, falls nötig, zu erweitern. England kommt uns nicht trotz, sondern wegen meiner Kaiserlichen Marine!" Churchill verfolgte den Plan eines internationalen Feierjahres weiter, das zwar, wie er in einer Wahlrede am 18. Oktober ausführte, keine Verschiebung der Machtverhältnisse herbeiführe, aber Hunderte von Millionen für zivilisatorische Zwecke erübrigen lasse. Das Gelingen des Planes sei allerdings vom Zustandekommen einer internationalen Konvention abhängig, wonach alle Seestaaten für ein Jahr den Bau von Dreadnoughts einstellen sollten. Der deutsche Geschäftsträger in London, von Kühlmann, bemerkte dazu: „Vom praktisch-diplomatischen Standpunkt aus kann man ruhig sagen, daß das Zustandekommen eines solchen 360

Balkanwirren Abkommens unmöglich ist, noch viel unmöglicher aber die Überwachung eines solchen etwa in Japan, Nordamerika usw. Für die deutsch-englischen Beziehungen kann von einem Eingehen auf derartige Ideen, die den Boden der Wirklichkeit so vollkommen verlassen haben, Ersprießliches sich nicht ergeben." Das britische Auswärtige Amt trat an das deutsche nie offiziell mit dem Vorschlag Churchills heran, und so hielt Bethmann-Hollweg ein erneutes Eingehen darauf für überflüssig. Als Tirpitz am 4. Februar 1914 in der Budgetkommission des Reichstags bestätigte, daß England keine offiziellen Vorschläge für Rüstungsbeschränkungen gemacht habe, und daß das von Churchill gewünschte Feierjahr für Deutschland technisch nicht ausführbar sei, teilte die britische Regierung der deutschen mit, sie habe aus privater Quelle erfahren, Deutschland würden derartige Vorschläge nicht willkommen sein, und deshalb die Angelegenheit auf sich beruhen lassen. Frankreich lehnte ein Feierjahr für den Flottenbau von vornherein ab. Ende April fragte die englische Regierung an, ob Kaiser Wilhelm der Besuch eines britischen Geschwaders in einem deutschen Hafen genehm sein würde. Der Kaiser lud die Engländer zur Kieler Woche (23./30. Juni) ein. Der Besuch verlief für beide Seiten befriedigend, am 28. Juni traf inmitten der Festlichkeiten die Nachricht von der Ermordung des österreichischen Thronfolgers Franz Ferdinand ein; die Nachricht erfüllte alle mit tiefer Sorge. Ein anderes englisches Geschwader besuchte zu derselben Zeit Kronstadt. Der deutsche Botschafter in Petersburg berichtete hierüber nach Berlin: „Von offizieller russischer Seite ist alles aufgeboten worden, um den Festlichkeiten zu Ehren der englischen Gäste besonderen Glanz zu verleihen und das Ententeverhältnis bei diesem Anlaß zu betonen. Die beiderseitigen Trinksprüche, in denen die russisch-englische Freundschaft gepriesen wurde, waren sehr warm im Ton, ohne daß übrigens irgendwelche Äußerungen dabei fielen, welchen in politischer Hinsicht besondere Bedeutung beizumessen wäre." Im übrigen war die Begeisterung für die Engländer nicht allgemein, die russische Presse zum Beispiel wandte sich auch bei dieser Gelegenheit gegen die englische Politik in Persien.

Balkanwirren. Italiens Doppelspiel.

Rumänien. Türkei und

Meerengenfrage

Die Balkankriege hatten zu keiner befriedigenden Lösung der Balkanwirren geführt. Die Selbständigkeit Albaniens war zwar anerkannt, aber weder die Serben noch die Griechen räumten die von ihnen besetzten Gebiete Albaniens. Serbien verhandelte außerdem mit Montenegro über einen Zusammenschluß der beiden Länder. Griechenland konnte sich mit der Türkei über die Verteilung der ägäischen Inseln nicht einigen. An der Lösung dieser Fragen waren besonders Österreich und Italien interessiert. Österreich drängte wegen der Räumung Albaniens auf scharfes Vorgehen gegen die Serben. Als ein gemeinsames internationales Einschreiten nicht zustande kam, ging Wien allein vor und stellte am 18. Oktober 1913 ein Ultimatum. Deutschland und Italien traten auf Österreichs Seite, die drei Ententemächte mißbilligten das eigenmächtige Vorgehen Österreichs, rieten 361

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik aber dea Serben, nachzugeben, wozu diese sich dann audi entschlossen. Sasanow, der sich eben in Paris aufhielt, empfahl der französischen Regierung, sie solle Serbien als Anerkennung seiner klugen Haltung die erbetene Anleihe gewähren, weil „Frankreich selbst an einer Erstarkung Serbiens Interesse habe, denn im Falle schwerer internationaler Konflikte würde dieses notgedrungen auf Seiten Frankreichs stehen, da es naturgemäß ein Feind des bedeutendsten Verbündeten Deutschlands sei". In Albanien gingen die Unruhen und Aufstände weiter, auch als am 7. März, der preußische Major Prinz Wilhelm zu Wied als Fürst von Albanien, von den Großmächten anerkannt, den Thron bestieg. Sowohl Österreich als auch Italien versuchten, ihren Einfluß in Albanien zu verstärken, was das Mißtrauen und die Feindschaft zwischen ihnen steigerte. Ihr Bemühen, dem Fürsten eine internationale Truppe gegen die aufständischen Untertanen zu verschaffen, scheiterte an dem Widerstand der Großmächte, auch Kaiser Wilhelms, der dem Fürsten Entschlußlosigkeit und Untätigkeit vorwarf. So konnte sich der Fürst nicht durchsetzen; am 3. September 1914 verließ er auf einer italienischen Jacht das Land. Der Streit zwischen Griechenland und der Türkei um die Verteilung der ägäischen Inseln nahm trotz einer gemeinsamen Note der sechs Großmächte vom 13. Februar 1914 sehr gefährliche Formen an. Nachdem es in Thrazien von türkischer Seite zu schweren Ausschreitungen gegen die dort lebenden Griechen gekommen war, drohte Griechenland im Juni mit Krieg. Kaiser Wilhelm, der eben in Konopischt bei dem Erzherzog Thronfolger Franz Ferdinand zu Besuch war, regte die Vermittlung Rumäniens an und suchte auch selber in Athen und Konstantinopel auf die Wahrung des Friedens einzuwirken. Rumänien ließ Griechenland nicht im Zweifel, daß es dessen Drohung als Provokation ansehe und trotz seines Bündnisses keineswegs gemeinsame Sache mit Griechenland gegen die Türkei machen werde. Als sich auch England, Frankreich und Rußland um eine Beruhigung der Türkei und Griechenlands bemühten, kamen im Juli friedliche Verhandlungen über die Inselfrage mit guter Aussicht auf eine endliche Einigimg in Gang. Ernste Folgen für Deutschland hatte das zwar offiziell abgeleugnete, aber schon weit vorangetriebene Streben Serbiens nach engem Ζusammensdüuß mit Montenegro, wodurch die Serben den von ihnen so sehr ersehnten Küstenstreifen an der Adria gewonnen hätten. König Nikita von Montenegro war darüber natürlich nicht erfreut, ließ jedoch, russischem Drude nachgebend, dem serbischen König Peter ein eigenhändiges Schreiben überreichen, in dem Serbien eingeladen wurde, unverzüglich mit Montenegro eine Abmachung über die Vereinigimg beider Nationen auf militärischem, diplomatischem und finanziellem Gebiet zu treffen „unter Vorbehalt der Unabhängigkeit und Eigenart beider Staaten und ihrer Dynastien". In Österreich war man über diese Vorgänge gut unterrichtet und fest entschlossen, die Adriaküste nicht in serbische Hände fallen zu lassen. Kaiser Wilhelm schrieb dagegen an den Schluß eines Berichtes des deutschen Gesandten in Belgrad: „Die Vereinigung ist absolut nicht zu verhindern, und wenn Wien das versuchen sollte, so macht es eine große Dummheit und beschwört die Gefahr eines Krieges herauf mit den Slawen, der uns ganz kalt lassen würde." Österreich 362

Italiens Doppelspiel hoffte auf ein gemeinsames Vorgehen mit Italien, etwa für die Zuteilung der Adriakiiste an Albanien; aber Italien befürchtete österreichische Annexionsabsichten, es wollte weder Albanien an Österreich angrenzen, noch ihm den strategisch wichtigen Lovcen überlassen sehen, den Österreich als Kompensation beanspruchte. So kam es zwischen den zwei Dreibundstaaten zu erheblichen Meinungsverschiedenheiten, was den dritten, Deutschland, sehr beunruhigte. Am 8. Mai 1914 beauftragte Bethmann-Hollweg den deutschen Botschafter in Wien, den österreichischen Außenminister Graf Leopold Berchtold darauf hinzuweisen, daß „eine Verständigung mit Italien auch für unsere Interessen unerläßlich erscheint". „Der Ausbruch eines Konfliktes zwischen Italien und Österreich — bei dem auch Serbien gegen die Donaumonarchie stände — würde für Rußland zweifellos Anlaß zum Eingreifen bieten, wir würden vor die Frage gestellt, zwischen unseren Alliierten optieren zu müssen oder bei passiver Haltung Österreich-Ungarn einem Angriff von zwei Seiten preiszugeben. Es würde das einen völligen Zusammenbruch des Dreibundes und unseres bisherigen politischen Systems bedeuten." Auch die Irredenta belastete das österreichisch-italienische Verhältnis schwer. Die Italiener unter österreichischer Herrschaft fühlten sich schlecht behandelt und gegen die Slawen zurückgesetzt. Häufige, an sich imbedeutende Zwisdienfälle veranlaßten Demonstrationen und Hetzereien und vergifteten die Stimmung zwischen den beiden Völkern. Die Regierungen bemühten sich indes ehrlich um ein gutes Einvernehmen, das die Besuche Kaiser Wilhelms bei Kaiser Franz Josef und bei König Viktor Emanuel von Italien im März 1914 sowie die Zusammenkunft des österreichischen und des italienischen Außenministers im April wesentlich förderten, ohne freilich die strittigen Fragen klären zu können. Mitte Februar 1914 hatte Italien sogar seine im Dreibundvertrag von 1888 eingegangene Verpflichtung, im Falle eines deutsch-französischen Krieges drei Armeekorps an den Oberrhein zu entsenden, erneuert; die Einzelheiten arbeiteten die Militärsachverständigen der beiden Länder im März aus. Am 2. August 1913 war zwischen Deutschland, Österreich und Italien ein Marineabkommen vereinbart worden. Es wurde ganz geheim gehalten, doch wußte man in Paris im wesentlichen darüber Bescheid, weil man hier den Schlüssel der italienischen Chiffre im Verkehr zwischen Rom und seinen Botschaftern in Wien und Berlin kannte. Als die italienische Regierung im Oktober an die französische mit dem Wunsch nach einem neuen Mittelmeerabkommen herantrat, ärgerte man sich in Paris wohl über die Zwiespältigkeit der italienischen Politik, erklärte sich aber auf Iswolskis Zureden bereit, diesem Vorschlag näherzutreten. Italien teilte dies — allerdings als französische Anregung — Deutschland und Österreich mit, die davon eine Schwächung des Dreibundes befürchteten. Der Plan eines Mittelmeerabkommens wurde nicht verwirklicht; immerhin veranlaßten die Spannungen mit Österreich Italien, „ein Eisen auch in das französische Feuer zu legen" und sich mit Frankreich möglichst freundschaftlich zu stellen. Eine weitere Schwächung des Dreibundes ergab sich aus der Hinneigung Rumäniens zu Rußland und Frankreich, die hier eine weit ausgreifende Propaganda entfalteten. Der zweite Balkankrieg hatte Rumäniens Selbstgefühl erheblich 363

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik gesteigert. So lange der 1839 geborene König Karl lebte, war das Festhalten Rumäniens an dem Bündnis mit Wien und Berlin gesichert, obwohl im Volk die Abneigung gegen Österreich ständig zunahm. Uber drei Millionen Rumänen lebten in Siebenbürgen und im Banat unter der Herrschaft Ungarns, das sich zu keinerlei Entgegenkommen in der Behandlung dieser Minderheit bewegen ließ. Dazu kam, daß Österreich auf eine bulgarisch-rumänische Aussöhnung als Gegengewicht gegen Serbien hinarbeitete, während Rumänien gegebenenfalls mit Serbien gegen Bulgarien vorzugehen beabsichtigte und alle Annäherungsversuche zwischen Österreich und Bulgarien höchst mißtrauisch beobachtete. Kaiser Wilhelm und der Erzherzog-Thronfolger Franz Ferdinand legten größtes Gewicht auf eine möglichst feste Anlehnung Rumäniens an den Dreibund. Österreich wollte dies durch Veröffentlichung des geheimen rumänischen Bündnisvertrages mit Österreich und Deutschland erreichen. Der österreichische Gesandte in Bukarest, Graf Czernin, legte König Karl die Veröffentlichung des Vertrages nahe: „Der Schreck, welchen dieser Vorschlag auf den König ausübte, der bloße Gedanke, daß das streng gehütete Geheimnis, daß ein Bündnis überhaupt bestehe, preisgegeben werden könnte, dieser Schreck bewies mir, wie ganz unmöglich ein Ins-LebenRufen dieses toten Buchstaben unter den gegebenen Verhältnissen sein müsse." Als Mitte Juni 1914 das russische Zarenpaar, von Sasanow begleitet, dem König von Rumänien einen freundschaftlichen Besuch abstattete, war man sich in Wien und Berlin darüber klar, daß, selbst wenn keinerlei politische Abmachungen zur Sprache gekommen waren, der Zweck dieses Besuches die Vorbereitung der Annäherung Rumäniens an die Tripelentente gewesen sei. Der rumänische Innenminister Take Jonescu behauptet in seinen „Souvenirs", auf einer Urlaubsreise habe er Anfang September 1913 eine Unterredung mit Poincaré gehabt und auf dessen frühere, damals offen gelassene Frage, ob Rumänien bei einem allgemeinen Krieg gegen Frankreich kämpfen werde, jetzt geantwortet: „Wenn der Krieg ausbrechen sollte — ich hoffe, daß die Menschheit von solch einem Unglück verschont bleibt — werden Sie die rumänische Armee nicht im Lager ihrer Feinde finden." Die Abwendung gerade auch führender Kreise in Rumänien vom Dreibund war also bereits 1913 weit fortgeschritten. In der türkischen Regierung gab es ebenfalls eine Richtung, die glaubte, ein Bündnis mit Rußland und Frankreich könnte der Türkei größere Sicherheit bieten als der Dreibund; die Mehrheit fürchtete freilich, die Türkei würde dann zu einem Vasallenstaat Rußlands werden. Die Bündnisverhältnisse auf dem Balkan blieben völlig ungeklärt. Bulgarien stand isoliert und neigte deshab zu einem Anschluß an Österreich, der russische Einfluß war aber immer noch sehr stark. In Griechenland hielt der König zum Dreibund, während der Ministerpräsident Veniselos hoffte, mit Hilfe Frankreichs Griechenlands Stellung im Mittelmeer ausbauen zu können, deren Stärkung Italien entgegenarbeitete. Die fast völlige Verdrängung der Türkei aus Europa und der Wunsch der Balkanstaaten, sich auch noch Konstantinopels zu bemächtigen, lenkten Rußlands Blick wieder mehr auf die Meerengen. Auf einer Sonderkonferenz in Petersburg am 21. Februar 1914 sprach Sasanow mit aller Entschiedenheit aus, daß „man nicht annehmen könne, daß 364

Heeresvermehrungen und Kriegsgerede

unsere Operationen gegen die Meerengen ohne einen allgemeinen europäischen Krieg erfolgen würden" und der französische Botschafter in Petersburg, Maurice Paléologue, sandte am 18. April ein Geheimtelegramm nach Paris, Rußland sei „entschlossen, schon für den Fall einer Schließung der Meerengen durch die Türkei bei einem präsumptiven Krieg mit Griechenland zu den Waffen zu greifen, selbst wenn daraus ein Konflikt mit Deutschland entstehen würde." Im Juniheft der „Preußischen Jahrbücher" 1914 erschien ein „Offener Brief über das Verhältnis von Rußland und Deutschland", in dem der Historiker Paul von Mitrofanoff, ein Schüler Hans Delbrücks, den Deutschenhaß der Russen aus den verschiedenen Gründen zu erklären sucht, vor allem, weil für Rußland „der Drang nach Süden eine historische, politische und ökonomische Notwendigkeit ist, und der fremde Staat, der sich diesem Drange widersetzt, ist eo ipso ein feindlicher S t a a t . . . Kurz und bündig: selbständig und als Bundesgenosse Österreichs, überall, auf jedem Schritt und Tritt, in der ganzen Levante stößt und stieß Rußland bei der Lösung seiner vitalsten Aufgabe — der Orientfrage — auf den Widerstand der Deutschen. Es ist den Russen jetzt klar geworden: wenn alles so verbleibt, wie es jetzt ist, geht der Weg nach Konstantinopel durch Berlin, Wien ist eigentlich eine sekundäre Frage."

Heeresvermehrungen

und

Kriegsgerede

Der Verlauf der Balkankriege hatte Deutschland, Frankreich und Rußland ungefähr gleichzeitig die Notwendigkeit von Heeresvermehrungen erkennen lassen. Die französische Regierung benützte die deutsche Wehrvorlage von 1913 zur Propaganda für die seit längerem geplante Wiedereinführung der 1905 abgeschafften dreijährigen Dienstzeit. Sie erhöhte die Friedenspräsenzstärke des Heeres um 160 000 Mann und ermöglichte eine den modernen Anforderungen besser entsprechende Schulung und Mobilisierung der Armee. Über die voraussichtliche Wirkung des Gesetzes auf die Bevölkerung schrieb der belgische Gesandte in Paris an seine Regierung: „Die Lasten des neuen Gesetzes werden für die Bevölkerung so schwer, die Ausgaben, die es mit sich bringt, werden so ungeheuer sein, daß das Land bald protestieren wird, und Frankreich wird sich dann vor die Frage gestellt sehen: entweder zu entsagen, was es nicht wird ertragen können, oder in kürzester Zeit Krieg zu führen. Für die, die das Volk in diese Lage gebracht haben, wird es eine schwere Verantwortung sein. Man folgt ihnen in einer Art von Kopflosigkeit, von interessantem, aber beklagenswertem Wahnsinn." Die Ernennung Delcassés am 20. Februar 1913 zum französischen Botschafter in Petersburg war von Poincaré als demonstrative Kundgebung für das französisch-russische Bündnis beabsichtigt; Delcassé sollte vor allem die russische Militärverwaltung von der Notwendigkeit einer bedeutenden Erhöhung der Friedenspräsenzstärke des russischen Heeres und der Vermehrung der strategischen Eisenbahnlinien überzeugen, um das Zusammenziehen russischer Armeen an der Westgrenze beschleunigen zu können. Frankreich bot Rußland Anleihen an, die aber nur für diese Zwecke ver365

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik wendet werden dürften. Ende Juni 1913 hatte dann auch das russische Kriegsministerium Vorlagen für eine Erhöhung der Friedensstärke um 360 000 Mann ausgearbeitet, es dauerte aber noch bis zum 7. Juli 1914, bis der „große Organisationsplan" Gesetzeskraft erhielt. So waren sich Frankreich und Rußland einig, jedes kannte die Kräfte und die Ziele des anderen. Die Regierungen betonten ihre Friedensliebe und ihre freundschaftlichen Gefühle gegenüber Deutschland, hielten sich aber für alle Fälle bereit und gerüstet. Einige deutsch-französische Zwischenfälle, im April 1913 die Notlandung des Zeppelin mit deutschen Offizieren bei Lunéville, Angriffe in Nancy auf deutsche Kaufleute, die man für Spione hielt, und im November die Zabemaffäre (S. 21), wurden von den Regierungen befriedigend beigelegt, von der Presse beider Länder jedoch aufgebauscht und zu Hetzereien mißbraucht. Bei Kaiser Wilhelm hatte sich die Überzeugung festgesetzt: „Der eventuelle Existenzkampf, den die Germanen in Europa (Österreich, Deutschland) gegen die von Romanen unterstützten Slawen (Rußland) zu fechten haben werden, findet die Angelsachsen auf der Seite der Slawen. Grund: Neidhammelei, Angst unseres zu groß werdensl" Nach einem Besuch des belgischen Königs Albert in Berlin Anfang November 1913 gingen die französischen und englischen Gesandtsdhaftsberichte mit großem Eifer auf Äußerungen des Kaisers und Moltkes ein, beide hätten die Unvermeidbarkeit eines Krieges mit Frankreich und ihre Siegeszuversicht betont. Moltke solle sogar gesagt haben, der Krieg sei notwendig, es müsse einmal ein Ende gemacht werden. Der belgische Gesandte in Berlin hatte dieses Gespräch seinem französischen Kollegen Jules Cambon mitgeteilt und dieser es mit der Bemerkung weitergegeben, Kaiser Wilhelm habe bisher immer seinen persönlichen Einfluß zur Erhaltung des Friedens eingesetzt, jetzt beginne er aber, sich „mit einem Gedankengang vertraut zu machen, dem er früher abgeneigt war: — um einen vom Kaiser selbst beliebten Ausdruck zu gebrauchen — ,Wir müssen unser Pulver trodcen halten'." Damals lehnte selbst der wenig deutschfreundliche Unterstaatssekretär Nicolson ein Wichtignehmen dieser Berichte ab und schrieb am 8. Dezember 1913 an den britischen Botschafter Goschen nach Berlin, der Kaiser „ist wirklich überaus friedlich gesinnt und sähe sich sehr ungern gezwungen, einen Krieg anzufangen, der gewiß ein allgemeiner europäischer würde. Meines Erachtens sollte man all dieses Gerede als zwecklos unbeachtet lassen". Zu Beginn des Krieges 1914 wurde der Bericht Cambons von 1913 im französischen Gelbbuch als Beweis für die deutsche Kriegsschuld abgedruckt. Moltke hat dann am 18. Dezember 1914 seine und des Kaisers angebliche Äußerungen nachdrücklich dementiert. Frankreich und Rußland hätten England gem stärker an sich gefesselt und den lockeren Dreiverband zu einem wirklichen Drei bund umgestaltet. England blieb indes seinem alten Grundsatz treu, keine festen Bindungen einzugehen, um im Notfall freie Hand für die Aufrechterhaltung des Kräftegleichgewichts auf dem Festland zu behalten. In den ersten Monaten des Jahres 1914 machten Sasanow und der Zar teils in London, teils über Paris den Versuch, Englands Zurückhaltung zu überwinden; dazu sollte besonders der Besuch des englischen Königspaares in Paris vom 21. bis 24. April dienen. Der deutschfeindliche Unterstaatssekretär im 366

Heeresvermehrungen und Kriegsgerede Londoner Auswärtigen Amt, Sir Arthur Nicolson, wäre audi dafür gewesen; einmal um zu verhüten, daß England, wenn es sich dem französisch-russischen Bündnis nicht anschließe, im Mittleren und im Fernen Osten von Rußland Schwierigkeiten bereitet würden, und dann, weil „ein soldies Vorgehen zweifellos mehr als sonst etwas zur Wahrung des Friedens in Europa beitrüge. Eine enge Verbindung von Frankreich, Rußland und uns würde einen derart mächtigen Faktor ausmachen, daß es keine andere Gruppe je wagen würde, mit uns anzubändeln . . . Indes ist die Frage eines Bündnisses so lange ausgeschlossen, als die englische Öffentlichkeit so gesinnt bleibt wie zur Zeit". Grey, der jede feste Bindung an Frankreich abgelehnt hatte, beschränkte sich in Paris auf das Zugeständnis, daß der russischen Regierung sowohl die Besprechungen zwischen den französischen und englischen Stäben des Heeres und der Marine als auch sein Briefwechsel mit Cambon (S. 348) bekanntgegeben werde. Die russischen und englischen Marinestäbe könnten sich in ähnlicher Weise besprechen, doch würde dabei nicht viel herauskommen, weil eine Entsendung britischer Schiffe in die Ostsee mit zu großen Gefahren verbunden sei; Abmachungen zwischen den russischen und englischen Landstreitkräften kämen wegen der räumlichen Entfernung und weil Rußland selber über hinreichend Soldaten verfüge, sowieso nicht in Betracht. So konnte Grey am 11. Juni 1914 auf Anfragen im Unterhaus antworten, es bestünden keine unveröffentlichten Ubereinkommen, welche die Freiheit der Regierung oder des Parlaments einschränken oder behindern zu entscheiden, ob Großbritannien an einem Krieg teilnehmen solle oder nicht. Seine Meinung über das englisch-russisdi-französische Verhältnis faßte Lichnowsky wieder einmal in einem Bericht an Bethmann-Hollweg vom 18. Mai 1914 zusammen: „Man will hier (in London) den Revanchekrieg ebensowenig zulassen wie eine Wiederholung der Ereignisse der Jahre 1870/1871. Bei einer so klaren Lage der Verhältnisse bedarf es keiner formellen Verpflichtungen oder schriftlicher Verträge . . . Unter Umständen genügt schon die diplomatische Dazwischenkunft. Eine militärische Hilfe ist nicht unbedingt erforderlich und braucht daher gar nicht zugesichert zu werden. Die Franzosen wissen auch ohne feierliche Verpflichtung, daß sie im Falle eines deutschen Angriffs auf britische Unterstützung rechnen können. Das genügt." Einen nicht zu unterschätzenden Einfluß auf die gegenseitigen Beziehungen der Staaten übte die Presse aus, und in jedem Lande gab es übereifrige Patrioten und chauvinistische Hetzer, die mit Warnungen und Enthüllungen, mit privaten Nachrichten „aus ganz sicherer Quelle" und mit Zukunftswünschen für das eigene Land die Unruhe vermehrten. Selbst ein so ernst zu nehmendes und oft für offiziöse Mitteilungen benütztes Blatt wie die „Kölnische Zeitung" entfesselte mit dem Artikel vom 2. März 1914 „Rußland und Deutschland" ihres Petersburger Berichterstatters, der Rußlands Rüstungen zum Krieg gegen Deutschland weitläufig auseinandersetzte, eine Flut von zustimmenden und empörten Artikeln in der in- und ausländischen Presse. Im Ausland glaubte man, diesem Artikel stehe das Auswärtige Amt nahe, dem in Wirklichkeit der Artikel sehr unangenehm war. Die Petersburger Börsenzeitung veröffentlichte eine vom Kriegsminister inspirierte Schilderung der russischen Kriegsbereitschaft; die „Times" hielt die 367

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Außenpolitik Artikel der deutschen und der österreichischen Presse für das beste Mittel, den Dreiverband enger zusammenzuschließen; die französischen Zeitungen freuten sich über die offensichtliche Angst Deutschlands vor Rußland. Im Ansdhluß an das durch die „Kölnische Zeitung" hervorgerufene „große Aufsehen" schrieb der deutsche Botschafter in Petersburg Pourtalès am 11. März 1914 an den Reichskanzler: „Gewiß verdient das, was auf militärischem Gebiet neuerdings hier geschieht, die ernsteste Beachtung unserer militärischen Kreise, daß aber das allmähliche Bekanntwerden des Umfangs der russischen Armeevermehrung plötzlich eine Situation für uns enthüllt hätte, bei welcher wir mit aggressiven Plänen unseres östlichen Nachbarn in einigen Jahren rechnen müßten, vermag ich nicht zuzugeben." Kaiser Wilhelm bemerkte dazu am Rande: „Der liebe Pourzel hätte diesen Bericht lieber ungeschrieben lassen sollen! . . . Wir befinden uns im Grenzgebiet zwischen Militär und Politik, was heikel und unklar ist, wo aber der Diplomat meistens versagt. Ich als Militär hege nach allen meinen Nachrichten nicht den allergeringsten Zweifel, daß Rußland den Krieg gegen uns systematisch vorbereitet; und danach führe ich meine Politik." Rußland zeigte immer unverhüllter seine kriegerischen Absichten; am 13. Juni 1914 erschien in der Petersburger „Birschewija Wjedomosti" ein vom Kriegsminister inspirierter Artikel. Er rühmte die außerordentlichen Anstrengungen zur Vermehrung der Streitkräfte, wie „sie sich nur das große mächtige Rußland erlauben kann", forderte Frankreich auf, seine Pflicht zu tun und Schloß: „Rußland und Frankreich wünschen keinen Krieg, aber Rußland ist fertig und Frankreich muß es auch sein." An den Rand dieses vom „Berliner Lokalanzeiger" am 14. Juni wiedergegebenen Artikels schrieb Kaiser Wilhelm: „Na! Endlich haben die Russen die Karten aufgedeckt! Wer in Deutschland jetzt noch nicht glaubt, daß von Russo-Gallien mit Hochdruck auf einen baldigen Krieg gegen uns hingearbeitet wird, und wir dem entsprechende Gegenmaßregeln ergreifen müssen, der verdient umgehend ins Irrenhaus nach Dalldorf geschickt zu werden!" Obgleich Bethmann-Hollweg zugab, daß „wohl noch niemals ein offiziös inspirierter Artikel die kriegerischen Tendenzen der russischen Militärpartei so rücksichtslos enthüllt hat, wie es diese Presseäußerung t u t . . . und Rußland noch am ehesten von allen europäischen Großmächten geneigt sein wird, das Risiko eines kriegerischen Abenteuers zu laufen", glaubte er doch nicht, daß „Rußland einen baldigen Krieg gegen uns plant. Wohl aber wünscht es, und man wird ihm das nicht übelnehmen können, bei einem Wiederausbruch der Balkankrisis, gedeckt durch seine umfangreichen militärischen Rüstungen, kräftiger als bei den letzten Balkanwirren auftreten zu können. Ob es alsdann zu einer europäischen Konflagration (Brand) kommt, wird ausschließlich von der Haltung Englands und Deutschlands abhängen. Treten wir beide alsdann geschlossen als Garanten des europäischen Friedens auf . . . wird sich der Krieg vermeiden lassen". Diese Hoffnung hegten auch einige einflußreiche Kreise in Petersburg, Berlin und Paris. Sie stellten mancherlei Erwägungen an, wie dem „wahnsinnigen Wettrüsten" ein Riegel vorgeschoben und Voraussetzungen für einen dauernden Frieden geschaffen werden könnten. Dabei wurde die derzeitige Machtgruppierung: Dreibund auf der einen, 368

Mord von Serajewo und Reaktion der Großmächte Dreiverband auf der anderen Seite, als die Quelle der allgemeinen Beunruhigung genannt. Abhilfe ließe sich schaffen durch ein neues russisch-deutsch-französischenglisches Bündnis, das die sicherste Bürgschaft für den Frieden bieten würde. Die Möglichkeit zum Abschluß dieses Bündnisses werde sich bei dem Tode des greisen Kaisers Franz Josef ergeben, denn dann werde das allein durch das persönliche Ansehen des Monarchen bis jetzt zusammengehaltene Gebäude des österreichisch-ungarischen Staates zerbersten. Dessen deutsche Bevölkerung sei Deutschland einzugliedern, das für diesen bedeutenden Zuwachs Elsaß-Lothringen Frankreich zurückgeben solle, die slawischen Landesteile würden den slawischen Staaten zufallen, Ungarn und Böhmen selbständige Staaten werden und Rußland werde sich Galizien aneignen. Aber selbst bei denen, die derartige Pläne ausheckten, herrschte die Meinung vor, unter den gegenwärtigen Verhältnissen bestehe nur wenig Hoffnung auf die Verwirklichung einer Neugruppierung der Mächte zur Aufrechterhaltung des Friedens. Die weitere Entwicklung, zumal in Serbien, bestätigte diese Bedenken.

DER

AUSBRUCH

DES

WELTKRIEGES

Der Mord von Serajewo und die Reaktion der Großmächte Seine militärischen Erfolge in den beiden Balkankriegen ermutigten Serbien, nach der Vereinigung aller dem serbischen Volkstum Angehörigen in einem großserbischen Reich zu trachten. Dies Ziel war jedoch nicht zu erreichen, wenn die von dem Erzherzog Thronfolger beabsichtigte Neugliederung der österreichisch-ungarischen Monarchie gelang, sei es in der Form des „Trialismus" (S. 344) oder der „Vereinigten Staaten von Großösterreich", dessen 15 Einzelstaaten durch die deutsche Sprache als Amtsprache und durch eine Gesamtregierung in Wien unter dem Kaiser für eine Reihe gemeinsamer Angelegenheiten zusammengehalten werden sollten. Serbien sah deshalb in dem Erzherzog den größten und gefährlichsten Feind. Der bosnische Serbe Gacinovic, Mitglied des Geheimbundes „Narodna Odbrana" und dann audi der Vereinigung „Einheit oder Tod", meist „Schwarze Hand" genannt, hatte in Serajewo einen Zirkel gegründet, dem unter anderen Jugendlichen der Gymnasiast Princip beitrat. Im Januar 1914 berief Gacinovic eine Konferenz nach Toulouse. Sie beschloß die Ermordung des Erzherzogs. Ende Juni sollten in Bosnien große Manöver der österreichischen Armee abgehalten werden. Darüber waren die Serben empört, obwohl Bosnien österreichisches Staatsgebiet war; die serbische Presse sprach von einer „Provokation des serbischen patriotischen Gefühls". Zur Erregung der Serben trug vor allem der Zeitpunkt der Manöver bei: es war der 525. Jahrestag ihrer vernichtenden Niederlage auf dem Amselfelde am 28. Juni 1389, durch die sie für Jahrhunderte türkische Untertanen geworden waren; und an diesen Manövern wollte sich der Erzherzog beteiligen. An der Spitze der Organisation des Attentats auf den Erzherzog stand der serbische Oberst Dimitrievic, ein „Spezialist des politischen Attentats" (Renouvin).

24 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

369

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbruch des Weltkrieges Ehe er die Ausführung des Attentats endgültig beschloß, holte er von dem russischen Militârattaché in Belgrad, Oberst Artamanov, dem Geldgeber für die Verschwörertätigkeit der von Dimitrievic eingesetzten Agenten, ein Gutachten ein, was Rußland tun würde, wenn Österreich Serbien angriffe. Während der Manöver kam Franz Ferdinand am 28. Juni nach Serajewo. Über seine Ermordung berichtet die amtliche Meldung: „Als der Thronfolger Franz Ferdinand mit seiner Gemahlin, der Herzogin von Hohenberg, sich heute Vormittag zum Empfange ins Rathaus begab, wurde gegen das Automobil eine Bombe geschleudert, die der Erzherzog mit dem Arme zurückstieß . . . Der Täter ist Gacinovic. Er wurde sofort festgenommen. Nach dem festlichen Empfang im Rathaus setzte der Thronfolger mit seiner Gemahlin die Rundfahrt fort. Ein Gymnasiast der achten Klasse namens Princip feuerte aus einer Browningpistole mehrere Schüsse auf das erzherzogliche Automobil ab. Der Thronfolger wurde im Gesicht, die Herzogin durch einen Schuß in den Unterleib verletzt." Beide erlagen binnen einer Viertelstunde ihren Verletzungen. Die erbitterte Menge lynchte nahezu die Attentäter. Überall war der Eindruck dieser Mordtat gewaltig und überall trat die Ahnung weitreichender Folgen hervor. In der deutschen Presse kam neben dem „Entsetzen über die Greueltat" und der Anteilnahme an dem Unglück des verbündeten Kaiserstaates, das Deutschland und namentlich Kaiser Wilhelm bei seiner Freundschaft mit Kaiser Franz Josef unmittelbar berühre, die Überzeugung zum Ausdruck, Österreich-Ungarn werde trotz der Unkenrufe von einem Zusammenbruch des Donaureiches weiter bestehen, weil sein Bestehen eine Notwendigkeit sei. Die englische „Daily News" bezeichnete den Mord von Serajewo als das „vielleicht entsetzlichste der politischen Attentate, die in den letzten 30 Jahren so häufig geworden sind", die „Daily Chronicle" schrieb trotz der englisch-russischen Entente, es „sei eine häßliche Tatsache in Rußlands auswärtiger Geschichte, daß jeder Mann, der Rußland auf dem Balkan im Wege gestanden habe, durch Mörderhand gefallen sei". Französische Blätter bedauerten das „tiefe Leid, das den greisen Kaiser" getroffen habe, und wiesen darauf hin, daß der Tod des Thronfolgers das „Geschick der Monarchie und dadurch das von ganz Europa ändern könne". Die serbische Presse suchte die Tat Princips, der „die Heimatscholle, wo er das Licht der Welt erblickte, bis zur Unsinnigkeit geliebt" habe, zu entschuldigen. „Man empfindet in Österreich nicht die Bedeutung der nationalen Fragen, nützt die Erfahrungen der Geschichte nicht aus und blickt nicht auf die ethnographische Karte." „Hätte der Erzherzog nicht gerade am heiligen National tag in Serajewo Ovationen gesucht, lebte er sehr wahrscheinlich noch heute." In der russischen Öffentlichkeit machte sich „der gegen Österreich-Ungarn herrschende tiefe Haß sehr bald auch bei diesem traurigen Anlaß geltend, und die Entrüstung über die an den Serben in der österreichisch-ungarischen Monarchie geübten Rache übertönte schon nach wenigen Tagen alle Äußerungen der Teilnahme für den greisen Kaisers Franz Josef und sein Reich", so berichtet der deutsche Botschafter in Petersburg. Das mit Ausnahme Serbiens im ersten Augenblick allenthalben zutage getretene Entsetzen über das Attentat legt die Vermutung nahe, wenn Österreich un370

Mord von Serajewo und Reaktion der Großmächte mittelbar darauf gegen Serbien vorgegangen wäre, hätte keine der Großmächte Einspruch dagegen erhoben; ob aber Rußland nicht doch nach einiger Zeit in einer schließlich zu einem europäischen Krieg führenden Weise für Serbien Partei genommen hätte, läßt sich nicht entscheiden, jedenfalls spricht mehr dafür als dagegen. Soviel steht immerhin fest, daß Österreich im Verlauf der weiteren Entwicklung durch Verschleppen notwendiger Maßnahmen seine Lage verschlechtert hat. Kaiser Franz Josef sandte Anfang Juli Graf Hoyos nach Berlin. Kaiser Wilhelm war nach dem Attentat von der Kieler Woche nach Berlin zurückgekehrt und wollte wegen der gefahrdrohenden Lage auf seine übliche Nordlandreise verzichten. Bethmann-Hollweg überzeugte ihn jedoch, dies würde die weit um sich greifende Beunruhigung steigern. Vor der Abreise empfing der Kaiser am 5. Juli den Grafen Hoyos. Dieser überreichte eine schon vor dem Attentat ausgearbeitete Denkschrift über eine Neuorientierung der Balkanpolitik Österreichs und Deutschlands sowie ein Handschreiben Franz Josefs; es Schloß: eine dauernde Sicherung der österreichischen Länder werde „nur dann möglich sein, wenn Serbien, welches gegenwärtig den Angelpunkt der panslawischen Politik bildet, als politischer Machtfaktor am Balkan ausgeschaltet wird. Auch Du wirst nach dem jüngsten furchtbaren Geschehnisse in Bosnien die Überzeugung haben, daß an eine Versöhnung des Gegensatzes, welcher Serbien von uns trennt, nicht mehr zu denken ist, und daß die erhaltende Friedenspolitik aller europäischen Monarchen bedroht sein wird, solange dieser Herd von verbrecherischer Agitation in Belgrad ungestraft fortlebt". Am Nachmittag ließ sich der Kaiser, wie immer vor einer Auslandsreise, von seinen Ministern Vortrag halten. Daraus entstand die Legende vom „Kronrat in Potsdam", in dem der Krieg gegen Serbien beschlossen und damit der Weltkrieg entfacht worden sei. Diese völlig falschen Gerüchte wurden von der Entente als Beweise für Deutschlands Kriegsschuld ausgemünzt. Am 6. Juli besprach Kaiser Wilhelm mit Bethmann-Hollweg die Antwort an Wien; Österreich wurde die deutsche Unterstützung in seinen Bestrebungen zugesagt, Rumänien von seiner Freundschaft mit Serbien abzubringen, Rumänien beim Dreibund festzuhalten und es womöglich für ein Bündnis mit Bulgarien zu gewinnen. „Was endlich Serbien anlange, so könne Seine Majestät zu den zwischen Österreich-Ungarn und diesem Lande schwebenden Fragen naturgemäß keine Stellung nehmen, da sie sich seiner Kompetenz entzögen. Kaiser Franz Josef könne sich aber darauf verlassen, daß Seine Majestät im Einklang mit seinen Bündnispflichten und seiner alten Freundschaft treu an der Seite Österreich-Ungarns stehen werde." Damit ließ Deutschland Österreich freie Hand; ein gefährliches Zugeständnis, wie schon aus dem Bericht des deutschen Botschafters in Wien, Tschirschky, über seine Unterredung am 14. Juli mit dem ungarischen Ministerpräsidenten Graf Tisza hervorgeht: Kaiser Franz Josef werde sicher bis zum letzten Ende durchhalten, für seine feste Haltung sei von großem Einfluß gewesen „die bedingungslose Stellungnahme Deutschlands an der Seite der Monarchie". Die an Serbien zu richtende Note werde so abgefaßt sein, daß ihre Annahme so gut wie ausgeschlos371 24·

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbrudi des Weltkrieges

sen sei; ginge Serbien nach Ablauf der ihm gestellten Frist nicht unbedingt auf alle Forderungen ein, würde sofort die Mobilmachung erfolgen. Die Note solle in Belgrad erst nach der Abreise Poincarés aus Petersburg überreicht werden, um gemeinsamen französisch-russischen Beratungen über Gegenmaßnahmen vorzubeugen. Unter den deutschen Diplomaten hatten indes manche gegen dieses Zusammengehen mit Österreich Bedenken. Der deutsche Botschafter in London, Lichnowsky, schrieb am 16. Juni an den Reichskanzler: „Es fragt sich für mich nur, ob es sich für uns empfiehlt, unseren Genossen in einer Politik zu unterstützen, bzw. eine Politik zu gewährleisten, die ich als eine abenteuerliche ansehe, da sie weder zu einer radikalen Lösung des Problems noch zu einer Vernichtimg der großserbischen Bewegung führen wird. Wenn die K. u. K. Polizei und die bosnischen Landesbehörden den Thronfolger durch eine ,Allee von Bombenwerfern' geführt haben, so kann ich darin keinen genügenden Grund erblidcen, damit wir den berühmten pommerschen Grenadier für die österreichische Pandurenpolitik aufs Spiel setzen, nur damit das österreichische Selbstbewußtsein gekräftigt werde, das in diesem Falle, wie die Ära Ährenthal gezeigt hat, sich als vornehmste Aufgabe die möglichste Befreiung von der Berliner Bevormundung hinstellt." Dem deutschen Geschäftsträger in Bukarest erklärte König Karl von Rumänien, er glaube nicht, daß die serbische Regierung mit dem Attentat in Verbindung gebracht werden könne, doch wolle er auf die Stimmung in Serbien beruhigend einzuwirken suchen, vor allem sollte von Berlin und Petersburg ein Druck ausgeübt werden. Ein rumänisch-bulgarisches Bündnis käme vorerst nicht in Frage, und im Fall eines Krieges werde Rumänien seinen Bündnisverpflichtungen infolge der österreichfeindlichen Stimmung im Lande nicht nachkommen können, es sei auch bei einem Angriff Österreichs nicht dazu verpflichtet. — Die öffentliche Meinung in Italien war für Serbien und gegen Österreich. So mußte damit gerechnet werden, daß bei einem österreichisch-serbischen Konflikt Italien sich auf die Seite Serbiens stellen würde. Das deutsche Auswärtige Amt wies deshalb seinen Botschafter in Wien an, der österreichischen Regierung zu raten, sie solle sofort Italien Kompensationen anbieten, vielleicht Trient, dann würde Italien beim Dreibund bleiben und das hätte auf Rußlands Haltung sicher Einfluß. Österreich konnte sich jedoch auch auf wiederholtes Drängen Deutschlands nicht dazu entschließen. Sasanow bestritt am 21. Juli dem deutschen Botschafter in Petersburg gegenüber entschieden, daß der serbischen Regierung, die sich vollkommen korrekt verhalte, ein Zusammenhang mit dem Attentat bewiesen werden könne. In Österreich seien sehr mächtige und gefährliche Einflüsse an der Arbeit, die immer mehr an Boden gewännen und die vor dem Gedanken nicht zurückscheuten, Österreich „in einen Krieg zu stürzen, selbst auf die Gefahr hin, einen allgemeinen Weltbrand zu entfesseln. Man müsse sich mit Besorgnis fragen, ob der greise Monarch und sein schwacher Minister des Äußeren diesen Einflüssen gegenüber auf die Dauer die nötige Widerstandskraft finden würden". Wenn Österreich-Ungarn den Frieden „durchaus stören wolle, dürfe es nicht vergessen, daß es in diesem Falle mit 372

Mord von Serajewo und Reaktion der Großmächte Europa zu rechnen habe. Rußland würde einem Schritt in Belgrad, der auf eine Erniedrigung Serbiens absehe, nicht gleichgültig zusehen können". — Vom 20. bis 23. Juli hielt sich der Präsident der französischen Republik, Poincaré, zu einem seit längerem geplanten Besuch in Petersburg auf. Offiziell wurden von beiden Seiten die freundschaftlichen Beziehungen zwischen den beiden Staaten, das französischrussische Bündnis seit 1894 und als dessen Zweck die Mitarbeit an der Erhaltung des Gleichgewichts und des Friedens mit überschwenglichen Worten gerühmt. Nebenher deutete aber manches auf Waffenbrüderschaft im Kampf gegen Österreich hin, wenn Rußland Serbiens wegen Österreich angreife. Zwei Tage nach der Abreise Poincarés versicherte auf dessen Weisung der französische Botschafter in Petersburg, Frankreich stelle sich ohne Einschränkung hinter Rußland. Bethmann-Hollweg sandte am 21. Juli an die deutschen Botschafter in Paris, London und Petersburg einen Runderlaß zur Weitergabe an die Regierungen, in dem er ausführte, Österreich könne die lange Jahre hindurch fortgesetzten Provokationen des großserbischen Chauvinismus nicht weiter dulden. „Es hat sich in unzweideutiger Weise kundgetan, daß es weder mit der Würde noch mit der Selbsterhaltung der österreichisch-ungarischen Monarchie vereinbar sein würde, dem Treiben jenseits der Grenze noch länger tatenlos zuzusehen, durch das die Sicherheit und Integrität ihrer Gebiete dauernd bedroht wird." Lehnt die serbische Regierung die Forderungen Österreichs ab, „so würde der österreichischungarischen Regierung, will sie nicht auf ihre Stellung als Großmacht endgültig Verzicht leisten, alsdann nichts anderes übrig bleiben, als ihre Forderungen bei der serbischen Regierung durch einen starken Druck und nötigenfalls unter der Ergreifung militärischer Maßnahmen durchzusetzen, wobei ihr die Wahl der Mittel überlassen bleiben muß". Den Botschafter in Petersburg wies der Reichskanzler außerdem an, Sasanow gegenüber „insbesondere der Anschauung nachdrücklich Ausdruck zu verleihen, daß es sich in der vorliegenden Frage um eine lediglich zwischen Österreich-Ungarn und Serbien zum Austrag zu bringende Angelegenheit handle, die auf die beiden direkt Beteiligten zu beschränken das ernste Bestreben der Mächte sein müsse. Wir wünschen dringend die Lokalisierung des Konflikts, weil jedes Eingreifen einer anderen Macht infolge der verschiedenen Bündnisverpflichtungen unabsehbare Konsequenzen nach sich ziehen würde". Uber Englands Haltung berichtete Lichnowsky am 23. Juli: „Sir Edward Grey wird, wie ich vertraulich erfahre, dem österreichischen Botschafter in London, Graf Mensdorff, morgen erklären, die britische Regierung werde ihren Einfiuß dahin zur Geltung bringen, daß die österreichisch-ungarischen Forderungen, falls sie gemäßigt seien und sich mit der Selbständigkeit des serbischen Staates vereinbaren ließen, von der serbischen Regierung angenommen würden. In ähnlichem Sinne glaube er auch, daß Sasanow seinen Einfiuß in Belgrad geltend machen werde. Voraussetzung für diese Haltung sei aber, daß von Wien aus keine unbewiesenen Anklagen vorgebracht würden, und daß die österreichisch-ungarische Regierung in der Lage sei, den Zusammenhang zwischen dem Mord von Serajewo mit den politischen Kreisen Belgrads unzweideutig festzustellen . . . Man rechnet

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbruch des Weltkrieges mit Bestimmtheit damit, daß wir (Deutschland) mit Forderungen, die offenkundig den Zweck haben, den Krieg herbeizuführen, uns nicht identifizieren würden, und daß wir keine Politik unterstützen, die den Serajewoer Mord nur als Vorwand benützt für österreichische Balkanwünsche und für die Vernichtung des Friedens von Bukarest". Auf diesen Bericht telegraphierte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Jagow, sofort Lichnowsky: „Die österreichischen Forderungen sind uns nicht bekannt. Wir betrachten die Regelung des österreichisch-serbischen Zwischenfalls als eine ausschließlich zwischen den Beteiligten zum Austrag zu bringende interne Angelegenheit, auf die uns keinerlei Einwirkung zusteht, und haben daher auch keinerlei Einfluß auf die Entschließung des Wiener Kabinetts ausgeübt."

23.125. Juli: Das österreichische Ultimatum und die serbische Antwort Am 23. Juli, unmittelbar nach der Abreise Poincarés aus Petersburg, ließ Österreich sein auf 48 Stunden befristetes Ultimatum in Belgrad überreichen und am folgenden Tag den Großmächten mit einer Denkschrift über die großserbische Agitation und ihre Gefahren für Österreich-Ungarn; für die Entwicklung auf die Stimmung im Ausland zugunsten Österreichs wäre eine frühere und wirkungsvollere Bekanntgabe des in dieser Denkschrift angeführten, Serbien belastenden Materials von großer Bedeutung gewesen. Das Ultimatum verlangte von der serbischen Regierung die öffentliche Verurteilung der großserbischen Propaganda, deren Unterdrückung, vorbeugende Maßregeln zur Verhinderung eines Wiederauflebens der Propaganda und die Mitwirkung der österreichischen Regierung sowohl „bei der gerichtlichen Untersuchung jener Teilnehmer an dem Komplott vom 28. Juni, die sich auf serbischem Territorium befinden", als auch bei der „Unterdrückung der gegen die territoriale Integrität der österreichisch-ungarischen Monarchie gerichteten subversiven (umstürzlerischen) Bewegung". Die europäische Diplomatie begann sich mit dem österreichisch-serbischen Konflikt intensiver erst nach der Überreichung des österreichischen Ultimatums zu beschäftigen. Außerhalb des Dreibundes herrschte allgemein die Uberzeugung, Deutschland habe Österreich zu dem scharfen Ton des Ultimatums angespornt und sich an seiner Abfassung beteiligt. Das Auswärtige Amt in Berlin telegraphierte deshalb den deutschen Botschaften in Paris, London und Petersburg, um die Regierangen dieser Staaten hierüber aufzuklären: „Wir haben keinerlei Einfluß auf Inhalt des Ultimatums geübt und ebensowenig wie andere Mächte Gelegenheit gehabt, dazu vor Publikation in irgendeiner Weise Stellung zu nehmen. Daß wir, nachdem Österreich-Ungarn aus eigener Initiative zu scharfer Sprache entschlossen hat, jetzt nicht Wien zum Zurückweichen raten können, ist selbstverständlich. Österreich-Ungarns Prestige nach innen und außen wäre im Falle des Zurückweichens endgültig erledigt." Die französische Regierung äußerte sich am 24. Juli friedlich und entgegenkommend: man wünsche Lokalisierung des

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2 3 . - 2 5 . Juli 1914

Konfliktes und „werde sich in diesem Sinne im Interesse der Erhaltung des europäischen Friedens bemühen". Rußland, das mit der panslawistischen Bewegung zu rechnen habe, werde sich allerdings kaum vollständig desinteressieren können, besonders, wenn Österreich auf der sofortigen Erfüllung aller seiner Forderungen bestehen sollte, vor allem auch solcher, die mit der serbischen Souveränität schwer vereinbar seien. Die französische Regierung „finde es selbstverständlich, daß Serbien in überzeugender Weise Genugtuung geben und Bestrafung von Verbrechern und Verhinderung von Verschwörungen gegen Österreich-Ungarn zusichern müsse. Man habe hier auch den Serben geraten, so weit wie irgend möglich nachzugeben". Weit kritischer beurteilte Grey am gleichen Tag die Lage in seinem Gespräch mit dem deutschen Botschafter. Grey sagte, seiner Ansicht nach überträfe das österreichische Ultimatum alles, was er bisher in dieser Art jemals gesehen habe. Wie man in Petersburg die Sache auffasse, wisse er nicht. Er bezweifle sehr, daß es „der russischen Regierung möglich sein werde, der serbischen die bedingungslose Annahme der österreichischen Forderungen anzuempfehlen. Ein Staat, der so etwas annehme, höre doch eigentlich auf, als selbständiger Staat zu zählen". So lange es sich nur um einen lokalisierten Streit zwischen Österreich und Serbien handle, ginge ihn, Grey, die Sache nichts an, „anders würde die Frage aber, wenn die öffentliche Meinung in Rußland die Regierung zwinge, gegen Österreich vorzugehen . . . Die Gefahr eines europäischen Krieges sei, falls Österreich serbischen Boden betrete, in nächste Nähe gerückt". Die Folgen eines solchen Krieges zu vier — Rußland, Österreich-Ungarn, Deutschland und Frankreich — seien unabsehbar. „Wie auch immer die Sache verlaufe, eines sei sicher, daß nämlich eine gänzliche Erschöpfung und Verarmung Platz greife, Industrie und Handel vernichtet und die Kapitalkraft zerstört würde." Revolutionäre Bewegungen würden die Folge sein. Am meisten beanstandete Grey die kurze Befristung des Ultimatums, die den Krieg beinahe unvermeidlich mache. Zum Schluß regte Grey an, für den Fall einer gefährlichen Spannung zwischen Österreich und Rußland sollten die vier nicht unmittelbar beteiligten Staaten, England, Deutschland, Frankreich und Italien, die Vermittlung übernehmen. Der österreichische Außenminister Graf Leopold von Berchtold versicherte ebenfalls am 24. Juli dem russischen Geschäftsträger in Wien, Österreich „werde keinerlei serbisches Territorium beanspruchen. In gleicher Weise sei in der an Serbien gerichteten Note sorgsam jede Demütigung Serbiens vermieden worden. Österreich halte strikt daran fest, daß der Schritt lediglich eine defensive Maßregel gegenüber den serbischen Wühlereien zum Ziel habe, müsse aber notgedrungen Garantien für ein weiteres freundschaftliches Verhalten Serbiens der Monarchie gegenüber verlangen. Es liege ihm weiter fern, eine Verschiebung der bestehenden Machtverhältnisse am Balkan und in Europa herbeiführen zu wollen". In Serbien war man über das österreichische Ultimatum zunächst bestürzt. Der Ministerrat bezeichnete es als unmöglich, innerhalb von 48 Stunden die Bedingungen zu erfüllen, und erklärte besonders die eine Mitwirkung der österreichischen Regierung bei der Durchführung des Ultimatums fordernden Punkte als

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbrudi des Wellkrieges eine direkte Einmischung in die Souveränität Serbiens. Der Kronprinz-Regent Alexander bat den Zaren um Hilfe. Das Antwort-Telegramm des Zaren an Alexander, das neben dem Wunsch, einen Krieg zu vermeiden, die Zusicherung der russischen Freundschaft enthielt, traf in Belgrad erst am 27. Juli ein. Den serbischen Gesandten wurde geraten, Serbien solle nachgeben, um Zeit zu gewinnen, und an die Großmächte appellieren. Sasanow vertrat dem deutschen Botschafter Pourtalès gegenüber am 25. Juli den Standpunkt, die Frage sei eine europäische, da Serbien nach der bosnischen Krisis (S. 285) Europa gegenüber Verpflichtungen übernommen habe, und Europa dürfe Serbien nicht der Vergewaltigung seines mächtigen Nachbarn überlassen. Dagegen wandte Pourtalès ein, im äußersten Falle werde es sich nur um eine Strafexpedition Österreichs gegen Serbien handeln, und Österreich sei weit davon entfernt, an territoriale Erwerbungen zu denken. Sasanow schüttelte daraufhin ungläubig den Kopf und sprach von weitgehenden österreichischen Plänen, erst solle Serbien verspeist werden, dami werde Bulgarien drankommen und dann „werden wir die Österreicher am Schwarzen Meer haben". Inzwischen war am 25., also mit Einhaltung der von Österreich festgesetzten Frist, dem österreichischen Botschafter in Belgrad, Giesl, die serbische Antwortnote überreicht worden. Er erklärte sie nach einer kurzen Prüfung als unzureichend und reiste sofort ab; die serbische Regierung hatte drei Stunden zuvor die Mobilisierung angeordnet. Die serbische Note erwedcte durch zahlreiche Zugeständnisse den Anschein weitreichenden Entgegenkommens, wich aber mit ihren verklausulierten Formulierungen einer klaren Stellungnahme aus; den Punkt 6 des Ultimatums, Beteiligung österreichischer Organe an der gerichtlichen Untersuchung der am Komplott vom 28. Juni beteiligten Personen, die sich jetzt auf serbischem Territorium befinden, lehnte die Note ab. Sie befriedigte Österreich nicht, es mobilisierte am 27. Juli einen Teil seiner Armee gegen Serbien. Kaiser Wilhelm urteilte jedoch über die serbische Antwortnote: „Eine brillante Leistung für eine Frist von bloß 48 Stunden! Das ist mehr als man erwarten konnte! Ein großer moralischer Erfolg für Wien, aber damit fällt jeder Kriegsgrund fort, und Giesl hätte ruhig in Belgrad bleiben sollen! Daraufhin hätte ich niemals Mobilmachung befohlen!" Sasanow äußerte sich am 26. Juli dem deutschen Botschafter gegenüber viel ruhiger, betonte, Rußland liege nichts femer als Krieg zu wünschen und sei bereit, zu seiner Vermeidung alle Mittel zu erschöpfen; er bäte Deutschland dringend, dabei zu helfen, eine Brüdce zu finden, um Österreich bei der Verfolgung der Urheber des Attentats Genugtuung zu verschaffen und alle Mächte um Mitwirkung bei den Bemühungen, das Wiener Kabinett für eine Milderung einiger Punkte des Ultimatums zu gewinnen; Österreich müsse die direkten Angriffe gegen die serbische Souveränität abschwächen. Jedenfalls könne Rußland eine Herabdrüdcung Serbiens zu einem Vasallenstaat Österreichs nicht dulden, da für Rußland das Gleichgewicht auf dem Balkan eine Lebensfrage sei. Den folgenden Tag fand eine ähnliche Unterredung statt, bei der Sasanow davon sprach, Österreich solle Serbien unter Schonimg seiner Souveränität „die verdiente Lektion" erteilen. 376

26.-28. Juli 1914 26.128. Juli: Vermittlungsversuche.

Österreichs Kriegserklärung

an

Serbien

Am 26. Juli griff man in London Greys Vorschlag einer Viermäditekonferenz als der einzigen Möglichkeit, den allgemeinen Krieg zu vermeiden, wieder auf. Unbedingte Voraussetzung für das Gelingen der Konferenz und für die Erhaltung des Friedens sei aber, so berichtete der deutsche Botschafter in London, daß alle militärischen Bewegungen unterblieben, von größter Wichtigkeit, daß bis zur Erledigung der Konferenzfrage serbisches Gebiet nicht berührt werde, weil sonst alle Bemühungen vergeblich und der Weltkrieg unabwendbar seien; sei erst die serbische Grenze überschritten, so wäre alles verloren, denn Rußland müßte dann, falls es seine Stellung bei den Balkanstaaten nicht einbüßen wolle, Österreich angreifen. Die in Berlin erhoffte Lokalisierung des Konfliktes sei vollkommen unmöglich und müsse aus der praktischen Politik ausscheiden. „Gelänge dem deutschen Kaiser im Verein mit Sir Grey den europäischen Frieden zu retten, so seien die deutsch-englischen Beziehungen für immerwährende Zeiten auf eine sichere Grundlage gestellt. Gelänge dies nicht, so stehe alles in Frage." Am nächsten Tag ging ein Telegramm des Reichskanzlers an den deutschen Botschafter in London ab: „An einer solchen Konferenz könnten wir uns nicht beteiligen, da wir Österreich in seinem Serbenhandel nicht vor ein europäisches Gericht ziehen können . . . Unsere Vermittlungstätigkeit muß sich auf eventuellen österreichischrussischen Konflikt beschränken." Mit diesem Telegramm kreuzte sich das des deutschen Botschafters in London über sein Gespräch mit Grey vom 27. Juli, der ihn zu sich berufen hatte. Grey habe darauf hingewiesen, wie er auf deutschen Wunsch in Petersburg immer zur Mäßigung geraten habe, nun sei es Deutschlands Pflicht, Österreich zu veranlassen, daß es sich mit der über alles Erwarten den österreichischen Forderungen entgegenkommenden serbischen Antwortnote begnüge oder sie wenigstens zur Grundlage friedlicher Verhandlungen mache. Dem fügte der Botschafter von sich aus hinzu: „Der Eindruck greift hier immer mehr Platz, und das habe ich aus meiner Unterredung mit Sir Edward Grey deutlich entnommen, daß die ganze serbische Frage sich auf eine Kraftprobe zwischen Dreibund und Dreiverband zuspitzt." Darum sollte Deutschland den wichtigsten Punkt seiner Auslandspolitik, das Verhältnis zu England, nicht den Sonderinteressen seines österreichischen Bundesgenossen unterordnen. Noch am gleichen Tag telegraphierte der Reichkanzler seine Zustimmung zu Greys Vorschlag nach London und gab ihn nach Wien weiter, allerdings mit dem wie eine Entschuldigung klingenden und damit die Wirkung abschwächenden Zusatz: „Nachdem wir bereits einen englischen Konferenzvorschlag abgelehnt haben, ist es uns unmöglich, auch diese englische Anregung a limine (von vornherein) abzuweisen. Durch eine Ablehnung jeder Vermittlungsaktion würden wir von der ganzen Welt für die Konflagration verantwortlich gemacht und als die eigentlichen Treiber zum Kriege hingestellt werden. Das würde auch unsere eigene Stellung im Lande unmöglich machen, wo wir als die zum Kriege Gezwungenen dastehen müssen. Unsere Situation ist um so schwieriger, als Serbien scheinbar sehr weit nachgegeben hat. Wir können daher die Rolle des Vermittlers nicht abweisen und 377

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbruch des Weltkrieges

müssen den englischen Vorschlag dem Wiener Kabinett zur Erwägung unterbreiten, zumal London und Paris fortgesetzt (vermittelnd) auf Petersburg einwirken." Kaiser Wilhelm war am 27. Juli von seiner Nordlandfahrt zurückgekommen; am 25. hatte er die Heimkehr der in den nordischen Fjorden liegenden deutschen Flotte befohlen, sehr gegen den Willen des Reichskanzlers, der jeden Anschein, daß Deutschland mit der Möglichkeit eines Krieges rechne, vermeiden wollte. Am 28. Juli äußerte sich der Kaiser zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes wieder sehr befriedigt über die serbische Antwortnote, Österreich solle sich nun ein Pfand für die wirkliche Erfüllung der Versprechen nehmen, etwa Belgrad, dann könne Deutschland die Friedensvermittlung übernehmen. Gerade an diesem Tag erklärte Österreich, an Serbien den Krieg, die Grenzgefechte begannen. Seit dem 26. Juli verlautete gerüchtweise, Rußland habe teilweise mobilisert; tatsächlich traf die russische Kriegspartei unter Führung des Kriegsministers Suchomlinow alle Vorbereitungen, um den Zaren und Sasanow, die immer noch schwankten, zur Entscheidung zu zwingen. Am 28. Juli verstärkte Bethmann-Hollweg seinen Drude auf Österreich. Während er in Telegrammen nach London und Petersburg versuchte, Österreichs Vorgehen zu rechtfertigen und durch eine offene Aussprache zwischen Wien und Petersburg eine Entspannung herbeizuführen, der die inzwischen erfolgte Kriegserklärung an Serbien nicht im Wege stehe, verlangte er von Wien dringend das Aufgeben seiner Zurückhaltung gegenüber dem Vermittlungsvorschlag, sonst würde es sich mit dem „Odium, einen Weltkrieg verschuldet zu haben", belasten. Wenn Österreich Sasanow abermals erkläre, es wolle kein serbisches Gebiet, sondern besetze nur einige Orte als Garantie für die Erfüllung seiner Forderungen, dann müsse Rußland entweder einlenken oder die öffentliche Meinung Europas werde sich gegen Rußland richten, während sie sich jetzt allmählich von Österreich abwende. Unbegreiflicherweise verweigerte man in Wien zunächst die Einleitung freundschaftlicher Besprechungen mit Rußland, und als die Kriegserklärung an Serbien bekannt wurde, war man in Petersburg nach dem Bericht des deutschen Botschafters überzeugt, daß „Österreich mala fide (arglistig) gehandelt hat, den Krieg sucht und will". Auch Bethmann-Hollweg war jetzt über die österreichische Diplomatie ungehalten: „Ich betrachte die Haltung der dortigen Regierung und ihr ungleichartiges Vorgehen bei den verschiedenen Regierungen mit wachsendem Befremden. In Petersburg erklärt sie territoriales Desinteressement, uns läßt sie ganz im unklaren über ihr Programm, Rom speist sie mit nichtssagenden Redensarten über die Kompensationsfrage ab, und in London verschenkt Graf Mensdorff (Botschafter) Teile Serbiens an Bulgarien und Albanien und setzt sich in Gegensatz zu den feierlichen Erklärungen Wiens in Petersburg."

29.130. Juli: „Halt in Belgrad"? Russische

Teilmobilisierung

In Frankreich wurde vielfach angenommen, hinter dem schroffen österreichischen Vorgehen stehe aufhetzend Deutschland. In London beurteilte man öster378

2 9 . — 3 0 . Juli 1914

reichs Verweigerung einer direkten Fühlungnahme mit Rußland sehr ernst, zumal da sich Serbien über Italien zu weiterem Einlenken bereit erklärt hatte. Während einer Unterredung mit dem deutschen Botschafter drang Grey auf deutsche Vermittlung in Wien und Petersburg und versprach, er selbst werde Rußland vor übereilten Beschlüssen zurückhalten. Wenn Österreich etwa in Belgrad Halt mache — der vielgenannte „Halt in Belgrad" — könne die Vermittlung der Mächte ausreichende Genugtuung und Bürgschaften für die Zukunft verschaffen und so einer europäischen Katastrophe vorbeugen. Für Deutschland fügte Grey noch die Warnung hinzu, England könne nur abseits stehen, solange der Konflikt auf Rußland und Österreich beschränkt bleibe, er sage dies, damit ihm später nicht Unaufrichtigkeit vorgehalten werde. Kaiser Wilhelm warf sie ihm aber schon jetzt in seinen Randbemerkungen zu diesem Bericht vor, denn sein Bruder Prinz Heinrich hatte von einem Besuch bei dem englischen König dessen Grüße und die Botschaft mitgebracht: „Wir werden alles versuchen, was wir können, um uns aus dieser Sache herauszuhalten, und wir werden neutral bleiben." Der Kaiser hatte dies als festes Versprechen aufgefaßt und fühlte sich von der gegenteiligen Warnung Greys bitter enttäuscht. Am 29. Juli bat der Zar durch ein Telegramm den Kaiser um seine Vermittlung in Wien, am selben Tage erfolgte aber die russische Teilmobilisierung gegen Österreich, die inoffiziell schon am 25./26. Juli begonnen hatte. So telegraphierte Kaiser Wilhelm dem Zaren am Nachmittag des 30. Juli: wenn nun Rußland gegen Österreich mobilisert, wird „meine Vermittlerrolle, mit der Du mich gütigerweise betraut hast und die ich auf Deine ausdrückliche Bitte übernommen habe, gefährdet, wenn nicht unmöglich gemacht. Das ganze Gewicht der Entscheidung ruht jetzt ausschließlich auf Deinen Schultern, sie haben die Verantwortung für Krieg oder Frieden zu tragen". Auf den Zaren machte dies einen großen Eindruck, und Sasanow befürwortete dem deutschen Botschafter in Petersburg gegenüber wieder die von Grey vorgeschlagene Konferenz zu vieren in London; die Rückgängigmachung des Mobilmachungsbefehls sei allerdings nicht mehr möglich, die Schuld daran trage die österreichische Mobilmachung. Unter den Bericht des Botschafters schrieb Kaiser Wilhelm eine Schlußbemerkung, in der sein ganzer Zorn und seine Verzweiflung über den Verlauf der Krise zum Ausdruck kommt: „Wenn Mobilmachung nicht mehr rückgängig zu machen ist — was nicht wahr ist —, warum hat dann überhaupt der Zar meine Vermittlung drei Tage nachher angerufen, ohne die Erlassung des Mobilmachungsbefehls zu erwähnen? . . . Leichtsinn und Schwäche sollen die Welt in den furchtbarsten Krieg stürzen, der auf den Untergang Deutschlands schließlich abzielt. Denn das läßt für mich jetzt keinen Zweifel mehr zu: England, Rußland und Frankreich haben sich verabredet — unter Zugrundelegung des casus foederis für uns Österreich gegenüber — den österreichisch-serbischen Konflikt zum Vorwand nehmend, gegen uns den Vernichtungskrieg zu führen . . . Die berühmte .Einkreisung' Deutschlands ist nun doch endlich zur vollsten Tatsache geworden . . . Eine großartige Leistung, die Bewunderung erweckt selbst bei dem, der durch sie zugrunde geht! Eduard VII. ist nach seinem Tode noch stärker als ich, der ich lebe! 379

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbruch des Weltkrieges . . . Aus dem Dilemma der Bundestreue gegen den ehrwürdigen alten Kaiser Franz Josef wird uns die Situation geschaffen, die England den erwünschten Vorwand gibt, uns zu vernichten mit dem heuchlerischen Schein des Rechtes, nämlich Frankreich zu helfen wegen Aufrechterhaltung der berüchtigten Balance of power (Gleichgewicht der Mächte) in Europa . . . Unsere Konsuln in Türkei und Indien, Agenten etc. müssen die ganze mohammedanische Welt gegen dieses verhaßte, verlogene, gewissenlose Krämervolk zum wilden Aufstande entflammen, denn wenn wir uns verbluten sollen, dann soll wenigstens England Indien verlieren." Inzwischen bemühten sich Bethmann-Hollweg und Grey ehrlich, doch noch den letzten und annehmbarsten Vorschlag „Halt in Belgrad" als Grundlage von Verhandlungen durchzusetzen. Bethmann-Hollweg machte am 30. Juli Wien wiederum auf die äußerst gefährliche Lage und die schwere Verantwortung aufmerksam: man stehe „falls Österreich jede Vermittlung ablehnt, vor einer Konflagration, bei der England gegen uns, Italien und Rumänien nach allen Anzeichen nicht mit uns gehen würden, und wir zwei gegen vier Großmächte ständen. Deutschland fiele durch Gegnerschaft Englands das Hauptgewicht des Kampfes zu". Der Reichskanzler sandte an diesem Tag noch ein zweites Telegramm nach Wien: Wenn es „jedes Einlenken, insonderheit den letzten Greyschen Vorschlag ablehnt, ist es kaum mehr möglich, Rußland die Schuld an der ausbrechenden europäischen Konflagration zuzuschieben". Das Gelingen einer deutschen Vermittlung sei durch die russische Mobilisierung gegen Österreich allerdings sehr erschwert. „Dies haben wir heute England mit dem Hinzufügen mitgeteilt, daß wir eine Aufhaltung der russischen und französischen Kriegsmaßnahmen in Petersburg und Paris bereits in freundlicher Form angeregt hätten, einen neuen Schritt in dieser Richtung also nur durch ein Ultimatum tun könnten, das den Krieg bedeuten würde. Wir haben deshalb Sir Edward Grey nahegelegt, seinerseits nachdrücklich in diesem Sinne in Paris und Petersburg zu wirken, und erhalten soeben seine Zusicherung. Glücken England diese Bestrebungen, während Wien alles ablehnt, so dokumentiert Wien, daß es unbedingt einen Krieg will, in den wir hineingezogen sind, während Rußland schuldfrei b l e i b t . . . Wir können deshalb nur dringend empfehlen, daß Österreich den Greyschen Vorschlag annimmt, der seine Position in jeder Beziehung wahrt." Die österreichische Regierung beschränkte sich in Petersburg auf die Wiederholung der Versicherung, mit der Aktion in Serbien sei weder irgendeine territoriale Erwerbung noch die Vernichtung der selbständigen Existenz des Königreiches Serbien beabsichtigt, verlangte aber die Einstellung der russischen Mobilisierung und betonte dem deutschen Botschafter in Wien gegenüber, mit Rücksicht auf die Stimmung in der Armee und im Volk sei eine Einschränkung der militärischen Operationen in Serbien ausgeschlossen. Aus Petersburg meldete der deutsche Militärbevollmächtigte am russischen Hof, höhere Offiziere hätten ihm gesagt: ein Aufhalten der Mobilmachung in Rußland sei bei den enormen Entfernungen unausführbar; außerdem sei in Rußland zwischen dem Beginn der Mobilmachung und dem Anfang des Krieges noch ein großer Schritt, der noch immer zur friedlichen Auseinandersetzung benützt werden könne. 380

30.—31. Juli 1914 30.131. Juli: Allgemeine russische Mobilmachung und ihre Auswirkung auf die deutsche Diplomatie Nach langem Widerstreben ordnete der Zar am Nachmittag des 30. Juli, dem Drängen Sasanows nachgebend, die allgemeine Mobilisierung an, die österreichische folgte am Vormittag des 31. Juli; mittags 1.45 Uhr telegraphierte BethmannHollweg dem deutschen Botschafter in Wien: „Nach der russischen Gesamtmobilmachung haben wir .drohende Kriegsgefahr' verfügt, derselben wird voraussichtlich binnen 48 Stunden Mobilmachung folgen. Diese bedeutet unvermeidlich Krieg. Wir erwarten von Österreich sofortige tätige Teilnahme am Krieg gegen Rußland." Frankreich hatte bisher nur seinen Grenzschutz aufgestellt, England seine Flotte nach in Kriegsstärke abgehaltenen Manövern zusammengehalten und auch sonst einige Vorbereitungen getroffen, die einer stillen Mobilisierung der Flotte gleichkamen. Unter dem Druck der sich immer drohender gestaltenden Lage überstürzten sich nun die Bemühungen zur Erhaltung des Friedens, um die Vorbereitungen für einen Krieg und die Versuche zur Beruhigung oder Gewinnung der Neutralen. Die russische Mobilisierung bedeutete für Deutschland eine Lebensgefahr, nur die Schnelligkeit seiner Mobilmachung sicherte Deutschland wenigstens am Anfang die Überlegenheit. Kaiser Wilhelm wechselte mit dem Zaren Telegramme, Bethmann-Hollweg wandte sich an Grey, um von London aus die Einstellung der russischen Mobilisierung zu erreichen und verhandelte zu demselben Zweck durch den deutschen Botschafter in Petersburg auch unmittelbar mit Sasanow. Der Zar konnte indes nicht mehr zurück; die Aufhebung des Mobilmachungsbefehls hätte eine ungeheure Verwirrung und vielleicht — nach Ansicht der Kriegspartei sicher — die Revolution gegen den Zaren hervorgerufen. Dieser wiederholte in seinem am 31. Juli nachmittags 3 Uhr abgesandten Antworttelegramm an Kaiser Wilhelm, es sei „technisch unmöglich, unsere militärischen Vorbereitungen einzustellen, die infolge Mobilmachung Österreichs notwendig waren", und fuhr dann fort: „Es liegt uns fern, einen Krieg zu wünschen. Solange die Verhandlungen mit Österreich wegen Serbiens andauern, werden meine Truppen keinerlei herausfordernde Handlung unternehmen. Ich gebe Dir mein feierliches Wort darauf. Ich setze mein ganzes Vertrauen in Gottes Gnade und hoffe auf den Erfolg Deiner Vermittlung in Wien für die Wohlfahrt unserer Länder und für den Frieden in Europa." Grey versprach um dieselbe Zeit dem deutschen Botschafter in London, er werde auf Paris und Petersburg einen Druck ausüben, wenn sich Österreich zu einem derartigen Zugeständnis versteht, daß Rußland dadurch ins Unrecht versetzt würde. Am Nachmittag dieses Tages um 3.30 Uhr sandte der Reichskanzler Telegramme nach Petersburg, Paris und Rom. Rußland wurde noch eine Frist von 12 Stunden zugestanden, um seine Kriegsmaßnahmen gegen Deutschland und Österreich einzustellen; könne Sasanow darüber keine bestimmten Erklärungen abgeben, müßte die allgemeine deutsche Mobilmachung folgen. An Frankreich richtete Bethmann-Hollweg durch den deutschen Botschafter in Paris die Frage, ob es in 381

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbrudi des Weltkrieges einem deutsch-russischen Krieg neutral bleiben würde, die Antwort müsse binnen 18 Stunden erfolgen, für den Botschafter fügte der Reichskanzler die Weisung hinzu: „Geheim! Wenn, wie nicht anzunehmen, französische Regierung erklärt, neutral zu bleiben, wollen Euer Exzellenz französischer Regierung erklären, daß wir als Pfand für Neutralität Überlassung der Festungen Toul und Verdun fordern müssen, die wir besetzen und nach Beendigung des Krieges mit Rußland zurückgeben würden. Antwort auf letztere Frage müßte bis morgen nachmittags 4 Uhr hier sein." So zutreffend Bethmann-Hollwegs Annahme war, die Franzosen würden nicht neutral bleiben, so töricht war die Zumutung, wenn sie sich doch dazu verstehen würden, sollten sie den Deutschen diese beiden Festungen vorübergehend überlassen. Der Reichskanzler teilte Rom den Inhalt der Telegramme an Petersburg und Paris mit und bemerkte dazu, die Antwort Frankreichs werde wahrscheinlich negativ ausfallen und das bedeute den Krieg. „Wir rechnen bestimmt darauf, daß Italien seinen (als Mitglied des Dreibundes) eingegangenen Verpflichtungen nachkommt." Rußland und Frankreich beantworteten am 1. August 1914 die Telegramme Bethmann-Hollwegs ausweichend mit dem Hinweis auf die noch laufenden Vermittlungsversuche. Italien hatte bereits am 31. Juli erklärt, das österreichische Vorgehen gegen Serbien müsse als ein aggressives betrachtet werden, und so liege für Italien nach den Bestimmungen des Dreibundvertrages der Bündnisfall nicht vor, es werde sich deshalb als neutral erklären müssen. Maßgebend für dieses Verhalten der italienischen Regierung waren in erster Linie die Angst vor England und die im Ministerrat und im Volk herrschende Mißstimmung gegen Österreich, in dessen Vorgehen gegen Serbien man eine Schädigung italienischer Interessen sah; im Fall einer Teilnahme Italiens am Krieg war eine Revolution gegen die Monarchie zu befürchten. Vergeblich versuchte Wien, durch die Zusage von Kompensationen Italien jetzt doch noch zu gewinnen. Dem englischen Botschafter in Berlin, Goschen, hatte Bethmann-Hollweg am 29. Juli persönlich vorgeschlagen, als Gegenleistung für ein englisches Neutralitätsversprechen auch bei einem allgemeinen Krieg werde Deutschland von Frankreich keinerlei Gebietsabtretung verlangen, die Neutralität Hollands bestimmt und die Belgiens nach Möglichkeit achten. Diese Zumutung an England bewies gleich der an Frankreich (zeitweilige deutsche Besetzung von Toul und Verdun), wie wenig Bethmann-Hollweg im großen und ganzen den schwierigen Aufgaben der Außenpolitik gewachsen war. Dementsprechend lautete die am 31. Juli im Auftrag Greys dem Reichskanzler übermittelte Antwort: Sein Vorschlag, England solle sich unter solchen Bedingungen zur Neutralität verpflichten, könne keinen Augenblick lang in Betracht gezogen werden; „dieser Handel mit Deutschland auf Kosten Frankreichs bedeutet eine Schande für uns, von der sich der gute Name Englands niemals erholen würde".

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1. August 1914

1. August: Mobilmachung Deutschlands und Frankreichs. Deutsche Kriegserklärung an Rußland. „Mißverständnis" über ein englisches Neutralitätsangebot In der Nacht zum 1. August nach der Mitteilung Deutschlands von seiner Absicht zu mobilisieren, wenn Rußland nicht binnen zwölf Stunden die Demobilisierung erklärte, setzte man sich in England noch einmal für den Frieden ein. Morgens um 3.30 Uhr gingen Telegramme König Georgs V. nach Paris und Petersburg, in denen er seine Vermittlung anbot, um „das Mißverständnis zu beseitigen", das seinem Gefühl nach entstanden sein müsse, und „um für Unterhandlungen und Friedensmöglichkeiten noch freien Raum zu lassen". Am Vormittag des 1. August telegraphierte der deutsche Botschafter in London nach Berlin ein von Grey allerdings nur gesprächsweise gemachtes Angebot: falls Deutschland Frankreich nicht angreife, würde England neutral bleiben und Frankreichs Passivität verbürgen. Inzwischen war für Frankreich und für Rußland die Frist abgelaufen, binnen der sie ihre Demobilisierung zusagen sollten. Infolgedessen wurde am 1. August nachmittags 5 Uhr die deutsche Mobilmachung befohlen; Frankreich hatte am gleichen Tag nachmittags 3 Uhr 40 die allgemeine Mobilmachung angeordnet. Um 8 Uhr abends des 1. August telegraphierte der deutsche Botschafter aus Petersburg an das Auswärtige Amt, er habe Herrn Sasanow dreimal hintereinander gefragt, ob er die verlangte Erklärung betreffs Einstellung der Kriegsmaßnahmen gegen Deutschland und Österreich geben könne und nach dreimaliger Verneinung der Frage die befohlene Note überreicht: „Seine Majestät der Kaiser, mein erhabener Herrscher, nimmt im Namen des Reiches die Herausforderung an und betrachtet sich als im Kriegszustand mit Rußland befindlich." Damit hatte Deutschland an Rußland den Krieg erklärt. Trotzdem griff Bethmann-Hollweg Greys Neutralitätsvorschlag sofort auf und bedauerte, daß das Telegramm erst nach bereits erfolgtem Mobilmachungsbefehl eingegangen sei, er verbürge sich aber doch, daß die französische Grenze bis zum 3. August abends 7 Uhr nicht überschritten würde, falls bis dahin Englands schriftliche Zusage seiner Neutralität erfolgt sei. Auch Kaiser Wilhelm bekräftigte dies in einem Telegramm vom 1. August an den englischen König Georg V. Aber schon vier Stunden später erhielt Berlin von Lichnowsky die Mitteilung, ein positives englisches Angebot liege überhaupt nicht vor, denn Greys Angebot sei ohne vorherige Fühlungnahme mit Frankreich und ohne Kenntnis der Mobilmachung erfolgt, und König Georg sprach in seinem Antworttelegramm an den Kaiser von einem Mißverständnis, das sich wohl aus einer freundschaftlichen Unterredung zwischen Lichnowsky und Grey, wie ein Zusammenstoß zwischen den deutschen und französischen Armeen vermieden werden könne, ergeben habe. Das Zurückziehen des Greyschen Angebotes und seine Umdeutung in ein Mißverständnis waren wohl durch die Unmöglichkeit für England bedingt, sich den, wenn auch unformellen und lockeren, Bindungen an Frankreich zu entziehen.

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbrudi des Weltkrieges England und Frankreich Die französische Regierung betonte Deutschland gegenüber immer noch ihre Hoffnung auf Frieden, wurde aber über Englands Verhalten allmählich sehr unruhig, da sie seit Poincarés Besuch in Petersburg Rußland wiederholt ihre unbedingte Bündnistreue versichert hatte. Seit dem 30. Juli drängte die französische Regierung immer stärker, England solle sich offen auf die Seite Rußlands und Frankreichs stellen, dies wäre die einzige Möglichkeit, Deutschland vom Krieg abzuhalten, aber Grey wollte sich zu nichts verpflichten. Der französische Botschafter in London, Paul Cambon, war von Greys Zurückhaltung sehr enttäuscht, und machte, wie Grey dem englischen Botschafter in Paris schrieb, nachdrücklich geltend, daß „Deutschland von Anfang an Vorschläge verworfen habe, die den Frieden hätten erhalten können. Es dürfte nicht im Interesse Englands liegen, daß Frankreich durch Deutschland erdrückt werde. Wir (England) würden uns dann Deutschland gegenüber in sehr geschwächter Stellung befinden. Im Jahr 1870 hätten wir einen großen Fehler begangen, indem wir einen ungeheuren Machtzuwachs Deutschlands zuließen, und wir würden den Fehler jetzt wiederholen". In einer weiteren Unterredung wies Cambon darauf hin, Frankreich habe auf englischen Wunsch seine Flotte ins Mittelmeer verlegt und England den Schutz der französischen West- und Nordküste übernommen; Grey antwortete, ein Angriff Deutschlands auf die französische Küste würde ebenso wie eine Verletzung der belgischen Neutralität die Lage ändern, sie wäre indes jetzt so, daß „Deutschland bereit sei, Frankreich nicht anzugreifen, wenn Frankreich im Fall eines Krieges zwischen Rußland und Deutschland neutral bleibe. Wenn Frankreich daraus keinen Nutzen zu ziehen vermöge, dann deshalb, weil es durch ein Bündnis (mit Rußland) gebunden sei, an dem wir nicht beteiligt wären und dessen Bestimmungen wir nicht kennten". Bei dieser Gelegenheit hob Grey hervor, für England bestünde keine Verpflichtung, Frankreich bei dem bevorstehenden Krieg zu unterstützen, den dieses zwar nicht wünsche, an dem es sich aber wegen seines Bündnisses mit Rußland beteiligen müsse, worauf Cambon erwiderte, gewiß bestehe keine Verpflichtung dieser Art, aber „unbedingt hinsichtlich der britischen Interessen. Falls wir (England) Frankreich nicht unterstützten, würde die Entente verschwinden, und ob nun Deutschland oder Frankreich und Rußland siegreich blieben, würde unsere (Englands) Lage bei Kriegsende recht ungemütlich sein". Frankreich selbst hatte zwar mobilisiert, sich aber sehr gewandt zurückgehalten; der französische Kriegsminister legte England gegenüber „großes Gewicht darauf, daß die Zehnkilometerzone, die er zwischen französischen Truppen und deutscher Grenze angeordnet habe, einen Beweis für das Bestreben Frankreichs darstelle, keine herausfordernde Handlung zu begehen". Die belgische

Neutralität

Die belgische Neutralität beruhte auf dem am 19. April 1839 von England, Frankreich, Rußland, Österreich und Preußen mit Belgien abgeschlossenen Ver384

Belgische Neutralität trag. Die deutsche Regierung und der deutsche Generalstab konnten sich seit 1906 keiner Täuschung mehr darüber hingeben, daß England eine Verletzung der belgischen Neutralität als Grund zum Kriege betrachten würde, denn in diesem Jahre hatten während der ersten Marokkokrise die Besprechungen des englisch-französischen Generalstabes über gemeinsames Vorgehen in einem deutsch-französischen Krieg begonnen (S. 269), und im Februar 1906 hatte dem Reichskanzler Bülow der Generalstabschef Moltke geschrieben: er habe aus sicherer Quelle erfahren, in England fürchte man, Deutschland werde nach einem Sieg über Frankreich dieses gut behandeln und dafür Belgien einstecken, damit hätte Deutschland auch Holland in der Hand. Das sei eine Gefahr für Englands Handel und Sicherheit, weil Deutschland dann von der Nordseeküste aus in England einfallen könnte; jede englische Regierung müßte deshalb, wenn Deutschland die Selbständigkeit Belgiens und Hollands nicht unbedingt garantiere, im Falle eines deutsch-französischen Krieges an der Seite Frankreichs kämpfen und zwar nicht nur mit der Flotte, sondern auch mit der Landarmee. Bei der Fortsetzung der englisch-französischen Generalstabsbesprechungen drang namentlich der englische General Sir Henry Wilson, seit 1910 Leiter der Operationsabteilung des Generalstabs, auf die Einbeziehung Belgiens in den gemeinsamen Aufmarschplan. Belgien lehnte dies zwar ab, doch verstärkte es seit der Agadirkrise von 1911 seine Armee und Festungen und erklärte, es werde seine Neutralität gegen jeden Angriff verteidigen. Daraufhin versicherte Grey im April 1913, England werde nie als erster Staat die belgische Neutralität verletzen, und der englisch-französische Aufmarschplan verzichtete nun auf die Einbeziehung Belgiens. Deutschland ging dagegen von dem Sdüieffenplan aus (S. 271). Im Hinblick auf den gefürchteten Zweifrontenkrieg, mit dem man stets mehr oder weniger rechnete, hatte Schlieffen vor allem die möglichst rasche Überwältigung Frankreichs beabsichtigt, deshalb sollte seine starke Festungslinie auf dem Wege durch belgisches Gebiet umgangen werden. Nach Schlieffens Plan hätte die deutsche Armee erst 10—14 Tage nach der Mobilmachung belgischen Boden betreten sollen, so daß für politische Verhandlungen, besonders mit England, Zeit gewonnen wäre. Schlieffens Nachfolger Moltke hielt an dem Marsch durch Belgien fest, änderte aber sonst in manchem den Plan, so sollte unter anderem der Einmarsch in Belgien auf die Nacht vom 4. zum 5. Mobilmachungstag vorverlegt werden. Vom rein militärischen Standpunkt aus erschien der Einmarsch in Belgien notwendig, vom politischen aus war er höchst bedenklich; der deutsche Botschafter in London, Lichnowsky, hat denn auch wiederholt Bethmann-Hollweg vor den ernsten Folgen einer Verletzung der belgischen Neutralität gewarnt. Aber dieser besaß nicht die Willenskraft, dem Generalstab zu widerstehen; überhaupt hatten unter BethmannHollweg die politische und die militärische Leitung viel zu wenig zusammengearbeitet, und der deutsche Generalstab hatte keine andere Lösung gefunden als den von Moltke umgearbeiteten Schlieffenplan. Auf Verlangen Englands hatte Frankreich am 1. August 1914 offiziell in London mitgeteilt: „Französische Regierung ist entschlossen, Neutralität Belgiens zu achten und nur im Falle eine andere Macht diese Neutralität verletze, könnte

25 Bühler, Deutsche Geschidite, VI

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Kanzlerschaft Bethmann-Holhvegs — Ausbruch des Weltkrieges Frankreich sich zu einer anderen Handlungsweise genötigt sehen, um Verteidigung seiner eigenen Sicherheit zu gewährleisten . . . Der französische Gesandte in Brüssel hat heute dem belgischen Außenminister gegenüber die Zusicherung aus eigenem Antrieb erneuert." Gleichzeitig aber hatte Berlin mit Rücksicht auf den deutschen Feldzugsplan die englische Anfrage ausweichend beantwortet, und am 2. August beauftragte der Staatssekretär des Auswärtigen Amtes telegraphisch den deutschen Gesandten in Brüssel, an diesem Abend um 8 Uhr der belgischen Regierung mitzuteilen: „1. Deutschland beabsichtigt keinerlei Feindseligkeiten gegen Belgien. Ist Belgien gewillt, in dem bevorstehenden Krieg Deutschland gegenüber eine wohlwollende Neutralität einzunehmen, so verpflichtet sich die deutsche Regierung beim Friedensschluß, Besitzstand und Unabhängigkeit des Königreiches im vollen Umfang zu garantieren. 2. Deutschland verpflichtet sich unter obiger Voraussetzung das Gebiet des Königreiches wieder zu räumen, sobald der Friede geschlossen ist. 3. Bei einer freundschaftlichen Haltung Belgiens ist Deutschland bereit, im Einvernehmen mit den königlich belgischen Behörden alle Bedürfnisse seiner Truppen gegen Barzahlung anzukaufen und jeden Schaden zu ersetzen, der etwa durch deutsche Truppen verursacht werden könnte. Sollte Belgien den deutschen Truppen feindlich entgegentreten . . . so wird Deutschland zu seinem Bedauern gezwungen sein, das Königreich als Feind zu betrachten." Von der belgischen Regierung sei eine „unzweideutige Antwort binnen 12 Stunden, also bis morgen früh 8 Uhr" zu verlangen. Am gleichen Tag wurde Lichnowsky in London ebenfalls telegraphisch angewiesen, die englische Regierung davon zu unterrichten, daß nach sicheren Nachrichten die Franzosen trotz ihrer gegenteiligen Erklärungen an der „belgischen Grenze größere Truppenmassen zusammengezogen haben und Vorkehrungen für den Einfall in Belgien treffen. Um Überraschungen vorzubeugen, werden wir voraussichtlich gezwungen werden, Gegenmaßregeln zu ergreifen". Wenn Belgien wohlwollende Neutralität zusage, werde Deutschland nach Beendigung des Feldzugs die Integrität Belgiens in vollem Maße respektieren. England „möge in dem Vorgehen Deutschlands nur einen Akt der Notwehr gegen französische Bedrohung erblicken". Mit diesem Telegramm kreuzte sich das von Lichnowsky an das Auswärtige Amt über seine Unterredung mit dem englischen Premierminister Asquith. Lichnowsky war immer noch überzeugt, von englischer Seite bestehe „vorläufig nicht die geringste Absicht uns den Krieg zu erklären", man wolle „vielmehr den Lauf der Ereignisse abwarten", hatte doch Asquith, im wesentlichen deutschfreundlich gesinnt, ihm gegenüber mit Tränen in den Augen geäußert, „ein Krieg zwischen unseren beiden Ländern ist ganz undenkbar"; eine „neutrale Haltung der hiesigen Regierung würde aber durch zwei Dinge sehr erschwert: 1. durch die Verletzimg der Neutralität Belgiens, die von England mit garantiert sei . . . 2. durch einen etwaigen Angriff deutscher Kriegsschiffe auf die gänzlich ungeschützte Nordküste Frankreichs, die die Franzosen in gutem Glauben auf die britische Unterstützung zugunsten ihrer Mittelmeerflotte entblößt hätten". Um dieselbe Zeit sicherte Grey dem französischen Botschafter in London, Cambon, zu, daß, vorbehaltlich der Genehmigung durch das Parlament, die britische Flotte die französischen Küsten 386

Neutrale und Verbündete schützen werde; die Frage der Entsendung von Landstreitkräften ließ Grey jedoch noch offen. Die Mobilmachung der englischen Flotte wurde am Abend des 2. August 1914 offiziell bekanntgegeben.

Neutrale und

Verbündete

Am Nachmittag des 1. August überschritten deutsche Truppen die luxemburgische Grenze. Auf Luxemburgs Protest hin entschuldigte sich die deutsche Regierung: Unsere militärischen Maßnahmen bedeuten keine feindselige Handlung, sie dienen lediglich der Sicherung der in unserem Betriebe befindlichen dortigen Eisenbahnen gegen Überfall der Franzosen; für eventuelle Schäden erhält Luxemburg volle Entschädigung. Neutral blieben Holland, Dänemark, Norwegen, Schweden und die Schweiz, immerhin mobilisierten sie ihre Truppen, um notfalls ihre Neutralität zu verteidigen. Auch Spanien entschied sich für Neutralität, während Portugal seine Bündnispflicht gegenüber England geltend machte. An König Karl von Rumänien hatte Kaiser Wilhelm am 31. Juli ein Telegramm gesandt; es Schloß nach Schilderung der Lage: „In dieser ernsten Stunde eilen meine Gedanken zu Dir, der Du an Europas Ostmark einen Kulturstaat geschaffen und damit einen Damm gegen die slawische Flut aufgerichtet hast. Ich vertraue, daß Du als König und Hohenzoller treu zu Deinen Freunden halten wirst und unbedingt Deinen Bündnispflichten nachkommst." Nun war aber die Stimmung in Rumänien gegen Österreich und für Rußland. Der König und die Regierung mußten damit rechnen, und so erhielt der Kaiser aus Bukarest ausweichende Antworten. Die deutsche Regierung verlangte am 2. August von Rumänien die sofortige Mobiliserung seiner Armee und den Aufmarsch gegen Rußland. Der rumänische Kronrat entschied jedoch am 4. August trotz König Karls warmem Eintreten für den Dreibund mit allen gegen fünf Stimmen nach dem Vorbild Italiens, der Bündnisfall sei nicht gegeben; ein Zusammengehen mit Rußland lehnte der Kronrat einstimmig ab. So verhielt sich Rumänien vorerst neutral. — Bulgarien wünschte Anschluß an den Dreibund, mit Österreich hatte es freundschaftliche Beziehungen angeknüpft, als die Gegnerschaft gegen Serbien beide Staaten zusammenführte; über einen vom bulgarischen Ministerpräsidenten am 1. August vorgeschlagenen Bündnisentwurf kamen indes die Verhandlungen jetzt noch nicht hinaus. Dagegen wurde am 2. August ein deutsch-türkisches Bündnis abgeschlossen, dem zwei Tage später Österreich beitrat. Der deutsche Botschafter in Konstantinopel, Hans von Wangenheim, hatte sich gegenüber dem türkischen Angebot zunächst ziemlich ablehnend verhalten, er setzte sich aber tatkräftig dafür ein, nachdem Kaiser Wilhelm an den Rand eines seiner Berichte geschrieben hatte: „Jetzt handelt es sich um die Gewinnung jeder Büchse, die auf dem Balkan bereit ist, für Österreich gegen die Slawen loszugehen." In dem Vertrag verpflichteten sich Deutschland und die Türkei zur strikten Neutralität in dem gegenwärtigen Konflikt zwischen Österreich-Ungarn und Serbien; wenn Rußland mit aktiven militärischen Maßnahmen eingreife, trete für beide Staaten der casus foederis ein; im Kriegs-

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Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbruch des Weltkrieges

fall werde Deutschland seine Militärmission zur Verfügung der Türkei belassen und diese sichere ihr einen wirksamen Einfluß auf die ganze Armeeführung zu; Deutschland verpflichte sich, das Gebiet des ottomanischen Reiches im Falle der Bedrohung nötigenfalls mit den Waffen zu schützen; dieses Abkommen trete in Kraft, sobald es durch die Bevollmächtigten unterzeichnet sei und bleibe nebst den gegenseitigen ähnlichen Verpflichtungen bis zum 31. Dezember 1918 in Gültigkeit; der Vertrag solle geheim bleiben und könne erst nach einem zwischen den beiden vertragschließenden Teilen getroffenen Ubereinkommen veröffentlicht werden. — Auch Griechenland hätte Kaiser Wilhelm gern für den Dreibund gewonnen. Der Kaiser sandte am 31. Juli dem König Konstantin ein ausführliches Telegramm und schilderte darin die Vorteile, die sich für Griechenland „unter dem mächtigen Schutz des Dreibundes" ergäben. Der König erwiderte darauf: „Es ist uns nie in den Sinn gekommen, den Serben zu helfen. Es scheint mir aber auch nicht möglich, uns zu ihren Feinden zu gesellen und über sie herzufallen, da sie einmal unsere Verbündeten sind. Es scheint mir, daß die Interessen Griechenlands eine absolute Neutralität erheischen und eine Wahrung des Status quo auf dem Balkan, wie ihn der Vertrag von Bukarest geschaffen hat." Wenn Bulgarien sich auf Kosten Serbiens vergrößere, würde dies für Griechenland eine große Gefahr bedeuten. — Auf eine Anfrage der deutschen Regierung in Tokio, wie sich Japan zu verhalten gedenke, antwortete der japanische Außenminister: Japan wolle so lange wie möglich neutral bleiben und sei Deutschland wohlgesinnt, der endgültige Entschluß Japans hänge selbstverständlich von England ab. Reklamiere es Japans Hilfe in Ostasien oder Indien, dann müsse es eingreifen, beschränke sich der Krieg auf Europa, so werde Japan vermutlich neutral bleiben.

Stimmung in Deutschland. Die Sozialdemokratie Als am Abend des 1. August die Mobilmachung in Deutschland bekannt wurde, herrschte nach der Spannung der letzten Tage in allen Teilen des Reiches eine gewaltige Begeisterung. In Berlin hielt der Kaiser an die vor dem Schloß versammelte Menge eine Ansprache: „Aus tiefem Herzen danke ich Euch für den Ausdruck Eurer Liebe, Eurer Treue. In dem jetzt bevorstehenden Kampfe kenne ich in meinem Volke keine Parteien mehr. Es gibt unter uns nur noch Deutsche. Und welche von den Parteien auch im Laufe des Meinungskampfes sich gegen mich gewandt haben sollten, ich verzeihe ihnen allen. Es handelt sich jetzt nur darum, daß alle wie Brüder zusammenstehen, und dann wird dem deutschen Volk Gott zum Siege verhelfen." Der britische Botschafter in Berlin, Goschen, berichtete nach London: „Es herrscht ungeheure Begeisterung auf den Straßen — und beträchtliche Niedergeschlagenheit im Auswärtigen Amt. Zimmermann (Unterstaatssekretär) sagte gestern zu Jules Cambon, ,dies ist der tragischste Tag seit 40 Jahren — und das gerade als wir dachten, daß sich unsere gesamten Beziehungen zu bessern begannen'. Jagow erzählte mir, der Kaiser sei furchtbar niedergeschlagen und sage, daß es mit seinem Ruf als ,Friedenskaiser' vorbei sei." Ähnliches berichtet 388

Kriegserklärung an Frankreich Tirpitz in seinen „Erinnerungen": „Der Kaiser war, als er das Scheitern seiner Friedensbemühungen erkannte, ins Innerste getroffen. Ein alter Vertrauter, der mit ihm in den ersten Augusttagen zusammenkam, äußerte, er hätte nie ein so tragisches und zerstörtes Gesicht gesehen, wie das des Kaisers in diesen Tagen." Kaiser Wilhelm litt besonders darunter, daß alle seine freundschaftlichen Beziehungen zu den Monarchen, mit denen er bis zuletzt Telegramme wechselte, das Unheil nicht zu verhindern vermocht hatten. Der Aufruf des sozialdemokratischen Parteivorstandes vom 1. August machte für das unmittelbar bevorstehende „namenlose Unglück" die „herrschenden Klassen" innerhalb und außerhalb Deutschlands verantwortlich und warnte die Arbeiter vor „Unbesonnenheit, nutzlose und falsch verstandene Opfer schaden in diesem Augenblicke nicht nur dem einzelnen, sondern unserer Sache". Das von zwei Parlamentsmitgliedern unterzeichnete Manifest der englischen Sozialdemokraten forderte dagegen zu offenem Widerstand auf: „Haltet Riesendemonstrationen gegen den Krieg in jedem industriellen Zentrum! Zwingt die herrschenden Klassen und ihre Presse, die euch zur Mitwirkung mit dem russischen Despotismus hineinhetzen wollen, still zu bleiben und die Entscheidung der überwältigenden Mehrheit des Volkes, das von dieser Infamie nichts wissen will, zu respektieren! Heute wäre der Erfolg Rußlands der Fluch der W e l t . . . Nieder mit der Klassenherrschaft! Nieder mit der Herrschaft der brutalen Gewalt! Nieder mit dem Krieg! Hoch die friedliche Herrschaft des Volkes!" In Brüssel protestierten am 30. Juli auf einer von der sozialistischen Vereinigung veranstalteten Versammlung über 10 000 Menschen gegen den Krieg; hierauf bewegten sich die Massen in langem Zuge unter Absingung der Internationale und häufigen Rufen „Nieder mit dem Krieg" durch die Hauptstraßen der Stadt. In Paris wurde am 31. Juli der Sozialistenführer Jean Jaurès erschossen. Er war immer für den Frieden und deshalb auch für eine deutsch-französische Verständigung eingetreten. Einen Tag vor seiner Ermordung hatte er noch in einem Briefe geschrieben, er müsse jetzt von Versammlung zu Versammlung gehen und vielleicht auch zum Generalstreik schreiten, der die Mobilisation in Frankreich verhindern würde.

Kriegserklärung an Frankreich Russische Truppen hatten bereits am 1. August ohne Kriegserklärung an mehreren Stellen die ostpreußische Grenze überschritten. Den folgenden Tag liefen Nachrichten ein über zahlreiche Grenzverletzungen durch französische Truppen und Flieger und über Bombenabwürfe; vieles davon stellte sich freilich später als Falschmeldungen heraus. Andererseits klagten die Franzosen über Grenzverletzungen durch deutsche Truppen, was die deutsche Regierung entschieden dementierte, was aber zumindest in einem Falle zutraf. Am 3. August teilte der Generalstabschef Moltke dem Reichskanzler mit, morgen müßten deutsche Truppen in Belgien einmarschieren, dies sei der belgischen Regierung anzuzeigen, aber ohne Kriegserklärung, weil „ich noch immer 389

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbrudi des Weltkrieges

darauf rechne, mit Belgien zu einer Verständigung zu kommen, wenn der belgischen Regierung der Ernst der Lage klar wird". Völlig in seiner juristischen Denkweise befangen, hielt Bethmann-Hollweg die vorhergehende Kriegserklärung an Frankreich für unerläßlich, weil nur der außerordentliche Notstand des Zweifrontenkrieges die Verletzung der belgischen Neutralität zu rechtfertigen vermöge. Das Militär fand die Lage an und für sich klar genug und fürchtete, in diesem Falle politischer denkend als der Reichskanzler, mit Recht die sich aus einem solchen Vorgehen ergebenden Folgen. Doch am 3. August um 18 Uhr überreichte im Auftrag Bethmann-Hollwegs der deutsche Botschafter in Paris dem Präsidenten der französischen Republik die Kriegserklärung. Zu ihrer Begründung wurden nur angeführt die teilweise nicht sicher nachweisbaren feindlichen Handlungen französischer Militärflieger auf deutschem Gebiet und daß „mehrere dieser Flieger sichtlich die Neutralität Belgiens verletzten, indem sie das Gebiet dieses Landes überflogen". Der französische Ministerpräsident wies am 4. August in der entscheidenden Sitzung der Abgeordnetenkammer diese Beschuldigungen als abgeschmackte Ausreden zurück und hielt ihnen entgegen: „Was man angreift, das sind die Freiheiten Europas, deren Verteidiger zu sein Frankreich, seine Verbündeten und seine Freunde stolz sind. Frankreich, ungerechterweise herausgefordert, hat den Krieg nicht gewollt. Es hat alles getan, um ihn abzuwenden. Da er ihm aufgedrängt wurde, wird es sich gegen Deutschland verteidigen." Mit der Kriegserklärung hat Bethmann-Hollweg ungewollt einen Wunsch Poincarés erfüllt. Bei einem Gespräch mit dem russischen Botschafter in Paris, Iswolski, am 1. August hatte Poincaré noch einmal die Bündnistreue Frankreichs gegenüber Rußland betont, aber darauf hingewiesen, daß es „aus Erwägungen, die hauptsächlich England betreffen, besser wäre, wenn die Kriegserklärung nicht von Seiten Frankreichs, sondern Deutschlands erfolgte".

Kriegserklärung Englands. Österreichs Kriegseintritt In England war die Stimmung für oder gegen Beteiligung an einem Krieg keineswegs einheitlich. Der „Daily Chronicle" veröffentlichte am 29. Juli 1914 zwei Artikel: „Was ein Krieg bedeuten wird. Die wirkliche Gefahr für Großbritannien" und „Die Pflicht, einen europäischen Krieg zu vermeiden". Beide lehnten entschieden eine Beteiligung Englands ab: „Was hat die gegenwärtige Krise hervorgerufen? Die Intrigen Rußlands mit Serbien." Wo liegt bei diesem Konflikt die Gefahr für Großbritannien? „In der Einmischung Frankreichs . . . Seine Gedanken konzentrieren sich hauptsächlich auf die Rache für 1870/1871 und auf die Wiedergewinnung von Elsaß-Lothringen. Dies ist der einzige Grund, warum es sich mit Rußland verbündet hat." Die Niederlage Deutschlands könnte eine England höchst unerwünschte „russische Annexion Kleinasiens und einen Vormarsch zum Persischen Golf bedeuten", ein Sieg Deutschlands dessen „Vorherrschaft über Belgien und Holland und eine unheilvolle strategische Lage für Großbritannien an der Nordseeküste". Bei den Geschäftsleuten im ganzen Land 390

Kriegserklärung Englands

ist „der allgemeine Ruf ,das geht uns nichts an', das größte der englischen Interessen ist der Frieden. Es ist ebenso wahnsinnig und frevelhaft für Rußland gegen Deutschland zu kämpfen, wie für Deutschland gegen Frankreich. In jedem Fall werden wir leiden . . . Wenn der Krieg sich ausbreitet und wir in ihn verwickelt werden, so werden große Finanzhäuser, Großkaufleute und Industrielle wie die Kegel fallen. Das Kapital wird zugrunde gehen, die Fabriken den Betrieb einstellen . . . Laßt uns alle, welcher Partei wir auch angehören, zusammenstehen und unser Möglichstes tun, diese größte aller Kalamitäten abzuwehren." Ein Teil der „gelben", der liberalen Presse rief dagegen nach dem Krieg. Im allgemeinen waren die englischen Wirtschaftskreise dagegen. Zahlreiche Universitätsprofessoren erließen einen Aufruf gegen den Krieg mit Deutschland, der in Kunst und Wissenschaft führenden Nation. Ein Krieg gegen Deutschland für Rußland und Serbien wäre eine Sünde gegen die Zivilisation. Im Kabinett stellte sich die Mehrheit gegen Englands Teilnahme am Krieg, besonders gegen die Entsendung einer Landungsarmee; mit der Übernahme des französischen Küstenschutzes war England allerdings von der strikten Neutralität bereits abgewichen. Die konservative Parlamentsopposition ließ den Premierminister Asquith wissen, sie würde für verhängnisvoll halten, wenn England Frankreich und Rußland nicht unterstütze. Asquith, Grey und Haidane entschlossen sich am Mittag des 3. August ohne Ermächtigung von König und Parlament auf eigene Verantwortung zur Mobilisierung des Expeditionskorps für Frankreich. In der Unterhaussitzung am Nachmittag suchte Grey die Abgeordneten von der Notwendigkeit der Beteiligung am Krieg zu überzeugen: England sei zwar durch keinen Vertrag gebunden, aber es müsse Frankreichs Küsten schützen, weil dies die englischen Interessen im Mittelmeer verteidige. Verlören Belgien und damit auch Holland ihre Unabhängigkeit, so wäre dies gegen Englands Ehre und Sicherheit. Trotzdem lehnte eine Reihe von Abgeordneten immer nodi eine Beteiligung am Kriege ab, wie etwa E. D. Morell: „Wenn wir jetzt in den Krieg gehen, so tun wir das ebensosehr, um den russischen Despotismus zu stärken, wie um Deutschlands ehrgeizige Pläne zu brechen, und wie wenig Sympathie ich auch für Deutschland und deutsche Regierungsmethoden habe, so habe ich doch noch geringere für Rußland und russische Regierungsmethoden." Während der Tagimg des Unterhauses traf die amtliche Nachricht von dem deutschen Ultimatum an Belgien und von seiner Ablehnung durch die belgische Regierung ein. Grey verlas beides. Darauf erfolgte ein Stimmungsumschwung bei der Mehrzahl der Abgeordneten, die bisher eine englische Beteiligung am Kriege abgelehnt hatten. England erschien als der Verteidiger der von Deutschland vergewaltigten kleinen Staaten. Vergebens ließ das deutsche Auswärtige Amt am 4. August durch Lichnowsky in London Grey noch einmal eindringlich versichern, daß Deutschland sich unter keinerlei Vorwand belgisches Gebiet aneignen werde, Deutschland habe sich aber über die belgische Neutralität hinwegsetzen müssen, weil es für Deutschland eine Frage von Leben oder Tod sei, dem nach völlig unanfechtbaren Nachrichten geplanten französischen Angriff durch belgisches Gebiet zuvorzukommen. England stellte durch Goschen in Berlin ein Ultimatum: bis 12 Uhr nachts müsse 391

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbruch des Weltkrieges eine befriedigende Zusicherung über die Achtung der belgischen Neutralität vorliegen; andernfalls solle Goschen seine Pässe fordern und erklären: „Seiner Majestät Regierung fühlt sich verpflichtet, alle in ihrer Macht stehenden Schritte zur Aufrechterhaltung der Neutralität Belgiens und zur Innehaltung eines Vertrages zu tun, an den Deutschland ebensosehr gebunden ist wie wir selbst." Um 7 Uhr abends entledigte sich Goschen seines Auftrags, die Antwort war ein „Unmöglich". Hierauf suchte Goschen den Reichskanzler auf, dieser sagte, der von der englischen Regierung „getane Schritt sei ganz furchtbar; bloß wegen eines Wortes .Neutralität', eines Wortes, das in Kriegszeiten so oft mißachtet worden sei — bloß wegen eines Fetzens Papier wolle Großbritannien nun mit einer stammverwandten Nation Krieg führen, die nichts Besseres wünschte, als in Freundschaft mit ihm zu leben. Alle seine diesbezüglichen Bemühungen seien durch diesen letzten furchtbaren Schritt nutzlos geworden, und die Politik, der er sich, wie ich wisse, seit seinem Amtsantritt gewidmet habe, sei wie ein Kartenhaus zusammengestürzt. Was wir (die Engländer) getan, sei unglaublich, es sei, wie wenn jemand einen, der gegen zwei Angreifer um sein Leben kämpfe, von hinten anfalle. Er halte Großbritannien für alle etwa eintretenden Folgen verantwortlich! Ich erhob scharfen Einspruch gegen diese Behauptung und bemerkte, ebenso wie er und Herr von Jagow mir begreiflich zu machen wünschten, daß es aus strategischen Gründen für Deutschland eine Frage von Leben und Tod bedeute, durch Belgien zu marschieren und seine Neutralität zu verletzen, wünschte ich sein Verständnis dafür zu erhalten, daß es für die Ehre Großbritanniens sozusagen eine Frage von .Leben und Tod' sei, seine feierliche Verpflichtung zu halten und die belgische Neutralität bei einem Angriff bis zum äußersten zu verteidigen. Dieser feierliche Vertrag müsse einfach gehalten werden, oder wer könnte sonst künftig noch den von Großbritannien eingegangenen Verpflichtungen trauen? Der Kanzler warf ein: ,Aber um welchen Preis wird dieser Vertrag gehalten worden seinl Hat die britische Regierung daran gedacht?'... Ich bemerkte, es bilde einen Teil der Tragödie, daß die beiden Nationen gerade in dem Augenblick auseinandergerieten, als sich ihre gegenseitigen Beziehungen freundschaftlicher und herzlicher denn seit Jahren gestaltet hatten." Da das Auswärtige Amt und Bethmann-Hollweg die Wahrung der belgischen Neutralität verweigert hatten, verlangte Goschen dem Auftrag der englischen Regierung gemäß am Morgen des 5. August seine Pässe. Das bedeutete die Kriegserklärung Englands an Deutschland. Von Grey wird berichtet, er habe, als er nach der entscheidenden Unterhaussitzung vom 3. August in das Foreign Office zurückkam, die geballten Fäuste über den Kopf erhoben und mit dem Ausruf „Ich hasse den Krieg, ich hasse den Kriegl" dröhnend auf den Tisch niederfallen lassen. Er blieb aber, nach wie vor von der Unvermeidbarkeit dieses Krieges überzeugt, im Amte, ebenso Asquith. Von den Kabinettsmitgliedern traten nur zwei zurück, Viscount Morley und der Handelsminister Bums, der in einer Reihe öffentlicher Versammlungen weiterhin gegen die Beteiligung Englands am Krieg protestierte; auch in einigen Presseartikeln wurde immer noch schärfste Kritik an Greys Kriegspolitik geübt, doch nahm das Unterhaus am 6. August die Kriegskreditvorlage in einer Höhe von 392

Kriegssitzung des Reichstages 100 Millionen Pfund Sterling einstimmig an und bewilligte die Heeresvermehrung um eine halbe Million Mann. Bei dieser Gelegenheit rechtfertigte Asquith Englands Kriegserklärung: „Wenn ich gefragt werde, wofür wir kämpfen, so antworte ich mit zwei Sätzen: Erstens, um eine feierliche internationale Verpflichtimg zu erfüllen . . . Zweitens kämpfen wir, um in diesen Tagen, wo die Gewalt, die rohe Kraft oft der bestimmende Faktor in der Entwicklung der Menschheit zu sein scheint, das Prinzip zu verfechten, daß die kleinen Nationen nicht dem internationalen guten Glauben zuwider durch den eigenmächtigen Willen erdrückt werden. Ich glaube nicht, daß jemals eine Nation in einem großen Streit — und dies ist einer der größten, den die Geschichte kennen wird — mit einem reineren Gewissen und stärkerer Überzeugung eingetreten ist, daß sie nicht um anzugreifen kämpft . . . , sondern für die Verteidigimg von Grundsätzen, deren Aufrechterhaltung ein Lebensinteresse für die Zivilisation der Welt ist." Während sich Deutschland mit Rußland, Frankreich und England bereits offen im Kriegszustand mit gelegentlichen Grenzkämpfen befand, zögerte Österreich mit der Kriegserklärung, weil seine Mobilmachung noch nicht weit genug fortgeschritten sei. Am 5. August beauftragte das deutsche Auswärtige Amt seinen Botschafter in Wien: dort dringend vorstellig zu werden, daß Österreich-Ungarn die Kriegserklärung gegen Frankreich, Rußland und England sofort ausspreche. Am nächsten Tag erklärte Österreich Rußland den Krieg mit dem Hinweis auf die drohende Haltung Rußlands in dem österreichisch-serbischen Konflikt und auf den Angriff Rußlands gegen Deutschland, wodurch für Österreich-Ungarn der Bündnisfall gegeben sei. Am 10. August berief Frankreich seinen Botschafter aus Wien ab und am 13. überreichte der britische Botschafter in Wien für Frankreich und für England die Kriegserklärung, weil Österreich den Bundesgenossen Frankreichs, Rußland, bekämpfe und Frankreichs Feind, das Deutsche Reich, unterstütze, und weil England mit Rücksicht auf das Verhalten Frankreichs „sich als im Kriegszustand mit der österreichisch-ungarischen Monarchie betrachte".

Die Kriegssitzung des Reichstages Die Kriegssitzung des deutschen Reichstags am 4. August eröffnete der Kaiser mit einer Thronrede. Er hob in ihr Deutschlands Bemühungen um die Erhaltung des Friedens hervor und beklagte, daß nun die von Deutschland treu bewahrte Freundschaft mit Rußland zerbrochen sei. „In aufgedrungener Notwehr mit reinem Gewissen und reiner Hand ergreifen wir das Schwert." Nach der Thronrede wiederholte der Kaiser: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur Deutsche, und zum Zeugen dessen, daß Sie fest entschlossen sind, ohne Parteiunterschiede, ohne Standes- und Konfessionsunterschiede zusammenzuhalten, mit mir durch didc und dünn, durch Not und Tod zu gehen, fordere ich die Vorstände der Parteien auf, vorzutreten und mir dies in die Hand zu geloben." Darauf traten alle anwesenden Parteivorstände vor. Jedem einzelnen schüttelte der Kaiser kräftig die Hand. Am Nachmittag gab Bethmann-Hollweg im Reichstag einen Uberblick 393

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbruch des Weltkrieges über die Ereignisse, die zum Kriegsausbruch führten und ging dabei besonders auf das deutsche Vorgehen in Belgien ein. „Wir sind jetzt in der Notwehr, und Not kennt kein Gebotl Unsere Truppen haben Luxemburg besetzt, vielleicht schon belgisches Gebiet betreten. Meine Herren, das widerspricht den Geboten des Völkerrechts . . . Wir wußten aber, daß Frankreich zum Einfall (in Belgien) bereitstand. Frankreich konnte warten, wir aber nicht! Ein französischer Einfall in unsere Flanke am unteren Rhein hätte verhängnisvoll werden können. So waren wir gezwungen, uns über den berechtigten Protest der luxemburgischen und der belgischen Regierung hinwegzusetzen. Das Unrecht — ich spreche offen — das Unrecht, das wir damit tun, werden wir wieder gut zu machen suchen, sobald unser militärisches Ziel erreicht ist. Wer so bedroht ist wie wir und um sein Höchstes kämpft, der darf nur daran denken, wie er sich durchhaut I" (Anhaltender stürmischer Beifall und Händeklatschen auf allen Seiten des Hauses.) Anschließend sprach der Reichstagspräsident Dr. Johannes Kämpf (Fortschrittliche Volkspartei): „Wir sind uns bewußt, daß der Krieg, in den zu ziehen wir gezwungen sind, ein Kampf der Abwehr ist, gleichzeitig aber auch für Deutschland ein Kampf auf Leben und Tod, ein Kampf um unsere ganze Existenz." Zur Beschlußfassung über die Bewilligung eines Kriegskredites von fünf Milliarden Mark wurde für den Nachmittag eine zweite Sitzimg anberaumt. Auf ihr gab der sozialdemokratische Abgeordnete Hugo Haase im Auftrag seiner Fraktion die Erklärung ab: die deutschen Sozialdemokraten haben wie die aller Länder die zum Kriege führende imperialistische Politik bekämpft und für die Aufrechterhaltung des Friedens gewirkt. Diese „Anstrengungen sind vergeblich gewesen. Jetzt stehen wir vor der ehernen Tatsache des Krieges, uns drohen die Schrecknisse feindlicher Invasionen. Nicht für oder gegen den Krieg haben wir heute zu entscheiden, sondern über die Frage der für die Verteidigung des Landes erforderlichen Mittel . . . Da machen wir wahr, was wir immer betont haben: wir lassen in der Stunde der Gefahr das Vaterland nicht im Stich. (Lebhafte Beifallskundgebungen.) Wir fühlen uns dabei im Einklang mit der Internationale, die das Recht jedes Volkes auf nationale Selbständigkeit und Selbstverteidigung jederzeit anerkannt hat, wie wir in Ubereinstimmung mit ihr jeden Eroberungskrieg verurteilen. Wir fordern, daß dem Kriege, sobald das Ziel der Sicherung erreicht ist und die Gegner zum Frieden geneigt sind, ein Ende gemacht wird durch einen Frieden, der die Freundschaft mit den Nachbarvölkern ermöglicht... Wir hoffen, daß die grausame Schule der Kriegsleiden in neuen Millionen den Abscheu vor dem Krieg wedcen und sie für das Ideal des Sozialismus und des Völkerfriedens gewinnen wird. Von diesen Grundsätzen geleitet, bewilligten wir die geforderten Kredite." Lebhafter Beifall. Wie die Kriegskredite wurden die übrigen den Krieg betreffenden Regierungsvorlagen ohne weitere Debatte einstimmig genehmigt. Nach Schließung der Sitzung durch den Reichstagspräsidenten wies Bethmann-Hollweg noch auf den Wert „dieser kurzen aber ernsten Tagung" hin: „Nicht nur das Gewicht Ihrer Beschlüsse gibt dieser Tagung ihre Bedeutimg, sondern der Geist, aus dem heraus diese Beschlüsse gefaßt sind, der Geist der Einheit Deutschlands, des unbedingten, rückhaltlosen Vertrauens auf Leben und Tod. Was uns auch beschieden sein mag, 394

Kriegsschuldfrage

der 4. August 1914 wird bis in alle Ewigkeit hinein einer der größten Tage Deutschlands sein."

Die

Kriegssdiuldfrage

Während der internationalen Auseinandersetzungen nach dem Attentat von Serajewo beteuerten alle an ihnen beteiligten Mächte wiederholt ihren Friedenswillen, bei Ausbrudi des Krieges behauptete jede, daß er ihr aufgezwungen worden sei, und als der Krieg zu Ende war, erklärten die Sieger im Versailler Vertrag (S. 485) Deutschland und seine Verbündeten als die alleinigen Urheber des Ersten Weltkrieges. Daß dann bei der Kriegsschuldforsdiung die Geschichtsschreibung in den einzelnen Ländern dazu neigte, das eigene Volk zu entlasten und in dessen Gegner die Schuldigen zu sehen, lag an und für sich nahe; außerdem schienen hier wie dort diese Neigung zu bestätigen die teilweise bis in die Bismarckzeit zurückreichenden und sich mehrenden internationalen Spannungen, die vergeblichen Versuche, sie endgültig zu beheben und die Gruppenbildung, Dreibund und Dreiverband, die nun als eine der Hauptursachen galt für das „namenlose Unglück", die „größte aller Kalamitäten", den „Weltbrand". Viel hatten zur gegenseitigen Verhetzung auch beigetragen die französische „Patriotenliga", die „Alldeutschen", die „Jingos", seit etwa 1880 der Spottname für die englischen Imperialisten, der russische Panslawismus und eine Reihe der diesen Verbänden mehr oder weniger nahestehenden extrem nationalistischer Schriftsteller. Die Auswirkungen des Ersten Weltkrieges hielten auch nach dem Friedensschluß das Interesse an der Kriegsschuldfrage wach. Mit ihr befaßte sich eine Unmenge von Veröffentlichungen: Aktenpublikationen, wissenschaftliche Untersuchungen, eigens zum Zwecke der Kriegsschuldforschung gegründete Zeitschriften und darstellende Literatur. Die wichtigste und zuverlässigste Grundlage für eine objektive Bewertung bieten die Ausgaben amtlicher Dokumente wie die 42 Bände „Die große Politik der europäischen Kabinette 1871—1914", „Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch" (11 Bände), „Die britischen amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkriegs", 17 Bände „Documents Diplomatiques Français" (1871—1914). Der zeitliche Abstand, die Aktenveröffentlichungen und auf ihnen beruhende Untersudlungen und Darstellungen haben dann im allgemeinen zu einer ruhigeren, sachlichen Beurteilung geführt; natürlich treten daneben in einzelnen Werken gelegentlich immer wieder auch einseitige nationalistische Ressentiments hervor. Schon das Wenige, was hier aus den Aktenveröffentlichungen angeführt werden konnte, läßt die außerordentliche Schwierigkeit erkennen, ein klares Bild von Schuld und Nichtschuld der einzelnen Mächte zu gewinnen; das Streben, mit Gewalt den wirklichen oder vermeintlichen Gegner niederzuzwingen, ehrlicher Friedenswille, diplomatisches Ränkespiel, Meinungsverschiedenheiten innerhalb der einzelnen Staaten über Krieg oder Frieden und die mannigfachen Vermittlungsversuche namentlich Englands und Deutschlands griffen verwirrend ineinander. 395

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbruch des Weltkrieges

Der Ausgangspunkt für den Ersten Weltkrieg war der österreichisch-serbische Konflikt. Wollte Österreich seine Stellung auf dem Balkan und überhaupt als Großmacht behaupten, mußte es weiteren serbischen und damit panslawistischen Umtrieben vorbeugen und Genugtuung für die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand verlangen, selbst auf die Gefahr hin, daß Rußland den Serben zu Hilfe kommen und daraus ein allgemeiner Krieg entstehen würde. Österreich ging nun freilich in einer Weise vor, daß es den Anschein hat, Österreich habe teils absichtlich, teils aus Fahrlässigkeit und Ungeschicklichkeit seiner politischen Führung die sich bietenden Verhandlungsmöglichkeiten nicht ausgeschöpft. Wie weit Österreich, das im wesentlichen nur mit einem Krieg gegen Serbien gerechnet hatte, den Ersten Weltkrieg tatsächlich verschuldet hat, für dessen Ausbruch neben dem österreichisch-serbischen Konflikt anderes mehr ausschlaggebend war, ist nicht zu entscheiden, mitschuldig ist Österreich jedenfalls gewesen. Die internationale öffentliche Meinung hat Österreich auffallend wenig mit der Kriegsschuld belastet; vor allem, weil man als selbstverständlich annahm, Deutschand sei hinter Österreichs scharfem Vorgehen gegen Serbien gestanden, und weil man überzeugt war, hätte Deutschland seine Bundeshilfe Österreich nicht zugesagt, so hätte sich dieses nicht so weit vorgewagt. Gewiß war es zum mindesten unvorsichtig gewesen, daß Deutschland seine Hilfe von vornherein uneingeschränkt zusagte. Die deutsche Regierung ließ sich dazu verleiten, weil sie hoffte, der österreichisch-serbische Konflikt lasse sich lokalisieren und Rußland werde in diesem Falle Serbien nicht unterstützen, zumal da sich die russische Heeresvermehrung erst 1916/1917 voll auswirken würde. Als aber Rußland dann doch zu mobilisieren begann, drang Deutschland in Österreich darauf, sich in direkten Verhandlungen mit Rußland zu einigen. Österreich kam indes den russischen Wünschen nicht weit genug entgegen. Kaiser Wilhelm hielt trotzdem an seinem Versprechen fest, „treu an der Seite Österreich-Ungarns" zu stehen. Die unbedingte Zusage der Hilfeleistung und das Festhalten daran auch noch, nachdem sich die Voraussetzungen dafür als irrig erwiesen hatten, waren gewiß schwere politische Fehler, irgendwelche kriegerische Absichten lagen jedoch keineswegs zugrunde. Ungleich mehr scheint die Kriegserklärung an Rußland Deutschland zu belasten; es sah sich aber dazu gezwungen, weil Rußland die Einstellung seiner Kriegsmaßnahmen verweigerte. Auch für ihr Vorgehen in Belgien machte die deutsche Regierung eine Zwangslage geltend; sie bestand hier jedoch nicht oder jedenfalls nicht in dem Grade wie gegenüber Rußland. Tatsächlich setzte sich Deutschland durch die Verletzung der belgischen Neutralität ins Unrecht. Äußerungen Bethmann-Hollwegs wie „Not kennt kein Gebot" und die Bezeichnung der belgischen Neutralitätsklausel als „Fetzen Papier", womit der an sich rechtlich denkende Reichskanzler nur die seiner Meinung nach mindere Bedeutung dieses einen Punktes im Verhältnis zu der Entscheidung Englands für oder gegen die Teilnahme am Krieg hervorheben wollte, lieferten der feindlichen Propaganda zugkräftige Schlagworte. Die Frage der belgischen Neutralität wurde „für England und damit für alle anderen Mächte zum eigentlichen Drehpunkt" (Hüner-

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Kriegssdiuldfrage wadel). In dem Bestreben, die Verletzung der belgischen Neutralität zu rechtfertigen, hatte Bethmann-Hollweg die Kriegserklärung an Frankreich veranlaßt. So hat Deutschland von den drei Kriegserklärungen zu Beginn des Weltkriegs zwei abgegeben und mit der belgischen Neutralitätsverletzung England einen Grund zu der dritten an die Hand gegeben. Da lag es für Deutschland abgeneigte und für oberflächliche Beurteiler nahe, als den Schuldigen Deutschland zu brandmarken. Hätte aber die deutsche Regierung den Krieg wirklich gewollt und auf ihn hingearbeitet, dann wäre das Entsetzen Kaiser Wilhelms und des Reichskanzlers über den Kriegsausbruch völlig unverständlich. Uberhaupt ist der Erste Weltkrieg, wenn er sich auch an einer Reihe bestimmter, aktenmäßig festzustellender Tatsachen entzündet hat, nicht so sehr auf diese zurückzuführen wie auf die politische Atmosphäre in dem Jahrzehnt vor dem Kriege, denn sie hat die Voraussetzungen dafür geschaffen, daß die vielfachen Bemühungen um Aufrechterhaltung des Friedens bis unmittelbar vor Kriegsausbruch vergeblich waren. Deutschland dachte an keine Gebietserweiterung in Europa, es wollte gleich den übrigen Mächten teilhaben an der Ausdehnung des Kolonialbesitzes, fühlte sich eingekreist von den Ententemächten, war in seiner Mittellage zwischen Frankreich und Rußland ernstlich bedroht und rüstete aus diesen Gründen mit allen Kräften zu Wasser und zu Lande. Rußland trachtete nach der Herrschaft über Konstantinopel mit den Meerengen und war davon überzeugt, daß dieses Ziel nur durch einen allgemeinen Krieg erreicht werden könne, und daß der Weg nach Konstantinopel über Berlin gehe. In Frankreich belebten die Marokkokrisen den Revanchegedanken und den Willen zur Rückgewinnung von Elsaß-Lothringen aufs neue, auch dafür bildete ein Krieg die Voraussetzimg. England glaubte seine Weltmachtstellung bedroht durch Deutschlands Flotte und Vordringen auf den Weltmärkten; in diesem Sinne wurden die Engländer namentlich beeinflußt von Crowes dauernd wiederholten Hinweisen auf die angeblichen Weltherrschaftspläne Deutschlands. Trotz der englisch-russischen Gegensätze im Orient und in Asien hatten sich die drei Mächte in der Entente gegen den „Störenfried" Deutschland zusammengefunden, was dieses in dem Willen zu unbedingter Bundestreue gegenüber Österreich als seinem einzigen Bundesgenossen bestärkte, denn auf Italien war schon längst kein Verlaß mehr. Mit der sogenannten Einkreisung Deutschlands verband England keine kriegerischen Absichten, sein Ziel war das Gleichgewicht der Mächte auf dem europäischen Kontinent durch das Eindämmen, nicht durch die Vernichtung der deutschen Macht, schon weil es im Hinblick auf den Orient und Asien Rußland nicht übermächtig werden lassen wollte. Frankreich und Rußland hätten für sich allein kaum den Krieg gewagt, aber England hatte sich so weit an diese beiden Mächte gebunden, daß es sich aus den Verwicklungen des Juli 1914 nicht mehr heraushalten konnte; und darauf beruht Englands Teil der Schuld an dem Ersten Weltkrieg. Ohne Schuld war keine der Mächte, doch läßt sich aus der Unsumme von nationaler Leidenschaft, von menschlichem und politischem Versagen der Verantwortlichen, von Fesseln der eigentlich dem Frieden dienenden Bündnisse und Rüstungen der Anteil eines jeden Staates und das Gewicht seiner Schuld kaum 397

Kanzlerschaft Bethmann-Hollwegs — Ausbrudi des Weltkrieges im einzelnen aussondern. Daß den Spannungen während des letzten Jahrzehnts der Weltkrieg notwendig folgen mußte und spätestens 1916 oder 1917 gekommen wäre, wie Moltke und nach ihm andere meinten, läßt sich nidit beweisen. Da der Krieg damals noch als durchaus berechtigte „Fortsetzung der Diplomatie mit anderen Mitteln" galt, war jeder der an dem Konflikt beteiligten Staaten überzeugt, er müsse zur Erfüllung seiner Bündnispflicht, zur Verteidigung seiner Ehre, seiner Machtstellung, ja seiner Existenz ins Feld ziehen.

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Drittes Buch DER ERSTE W E L T K R I E G

Deutschland bei Ausbruch des Krieges

Die Literatur über den Ersten Weltkrieg ist nodi viel umfangreicher als die über die Kriegsschuldfrage ; zwar sind die urkundlichen Quellen zerstreut und unvollständig veröffentlicht, und die Unmenge von Memoiren und Biographien bietet im allgemeinen nur eine subjektive Darstellung der Verfasser. Jedoch enthalten die mannigfachen Veröffentlichungen, so besonders die Generalstabswerke der verschiedenen Staaten, eine solche Fülle -an Material, daß bei kritischer Sichtung im großen und ganzen eine zutreffende Beurteilung dieses bis in unsere Tage nachwirkenden weltgeschichtlichen Ereignisses möglich scheint, wenn auch im einzelnen sehr viel umstritten ist und bleiben wird. Im deutschen Volk herrschte bei Kriegsausbruch große Begeisterung und Siegeszuversicht, aber auch tiefer Ernst. „Ein feste Burg ist unser Gott" wurde in der Öffentlichkeit mehr gesungen als die Wacht am Rhein. Zu den Bittgottesdiensten strömten Tausende. Die Sammlungen für das Rote Kreuz und für die Familien der in das Feld Ziehenden ergaben überraschend hohe Summen. Hunderttausende meldeten sich als Kriegsfreiwillige, darunter auch Sozialdemokraten. Der Kaiser erneuerte den Orden des Eisernen Kreuzes. Oberster Befehlshaber der deutschen Streitkräfte war im Kriegsfalle der Kaiser, aber seit der Daily-Telegraph-Affäre 1908 hatte sich Wilhelm II. „innerlich gebrochen aus dem Bereich unmittelbarer Entscheidungen zurückgezogen . . . So gab es über den Trägem der politischen und der militärischen Gewalt, als der Weltkrieg ausbrach, keine übergeordnete und überlegene Instanz, die die Einheit des Ganzen hätte repräsentieren und durch eine schlechthin verbindliche Entscheidung hätte garantieren können" (Huber). Das unverbundene Nebeneinander von Heer und Kriegsmarine behinderte ein sich voll auswirkendes strategisches Zusammengehen der beiden Wehrmachtsteile. Außerdem unterblieb die unbedingt notwendige dauernde Fühlungnahme der militärischen mit der politischen Führung, wobei unter der Berücksichtigung der militärischen Erfordernisse der Vorrang der Politik zur Geltung hätte kommen müssen. Zu einem weiteren Ubelstand führte die Unterlassung von Vorbereitungen für eine wirtschaftliche Mobilmachung. Sie war seit 1911 von verschiedenen Seiten angeregt worden. Der Staatssekretär des Innern, Klemens von Delbrück, hatte eine wirtschaftliche Mobilmachungskommission ins Leben gerufen. Als er aber zu ihren Beratungen einen großen Kreis Sachverständiger heranziehen wollte, hatte der Reichskanzler dagegen eingewandt, dies könnte als Vorbereitung für einen 401 26

Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Erster Weltkrieg unmittelbar bevorstehenden Krieg gedeutet werden. Ein Lübecker Senator hatte 1912 die Gründung eines wirtschaftlichen Generalstabes vorgeschlagen, doch war man nicht darauf eingegangen mit Rücksicht auf die Börse, die befürchtete, die Einrichtung staatlicher Lebensmittellager würde die Gewinne des Handels schmälern. Noch andere Versuche zur Organisation der Kriegswirtschaft waren vergeblich geblieben. Nun erließ der Bundesrat Kriegswirtschaftsgesetze zur Reglung der Ein- und Ausfuhr, der Preise, der Stredcung und Verteilung der Lebensmittel und Rohstoffe usw. Am 8. August 1914 richtete Walther Rathenau im preußischen Kriegsministerium eine Kriegsrohstoffabteilung ein. Diese und sich an sie anschließende, großzügig ausgebaute Organisationen konnten jedoch die Versäumnisse aus der Zeit vor Kriegsausbruch nicht wettmachen. Die Knappheit steigerte sich bei dem ungeahnte Ausmaße annehmenden Bedarf an allem, was die Kriegführung unmittelbar und mittelbar erforderte, mehr und mehr zu einer militärischen und politischen Notlage mit verhängnisvollen Folgen. Die Gesamtstärke der Streitkräfte von Deutschlands und Österreichs Feinden war schon bei Kriegsausbruch zahlenmäßig weit überlegen: ungefähr 10 Millionen gegen 6 100 000, etwas günstiger war das Verhältnis der Feldheere: 5,8 zu 3,8 Millionen Mann. Da Kaiser Wilhelm II. den Oberbefehl über die Armee nur nominell führte, lag die Oberste Heeresleitung praktisch in der Hand des Generalstabschefs; 1906 hatte der Kaiser hierzu, als Nachfolger von Schlieffen, einen Neffen des Feldmarschalls Helmuth von Moltke ernannt, den General der Infanterie Helmuth von Moltke. Er war nach dem Zeugnis des Generals Hermann von Kühl „der lauterste Charakter, den man sich denken konnte, klug, umfassend gebildet, ein erfahrener Truppenführer, ein Mann mit warmem Herzen und treuer Gesinnung. Aber ihm fehlten die stahlharten Nerven, der rücksichtslose Wille und der zuversichtliche Glaube an seinen Stern, Eigenschaften, die nun einmal dem Feldherrn unentbehrlich sind". Überdies hemmte den bei Kriegsausbruch 66jährigen Moltke ein Leberleiden.

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Das Kriegsjahr 1914

Die sorgfältig vorbereitete Mobilmachung des deutschen Heeres ging in bester Ordnung vonstatten; am 12. August war der Aufmarsch beendet. Die Grundidee des sogenannten Schlieffenplanes war beibehalten: zuerst die Entscheidung im Westen zu suchen. Schlieffen hatte fast das gesamte Feldheer nördlich von Metz auf dem rechten Flügel zusammenziehen und ihn nach dem Durchmarsch durch Belgien und Luxemburg etwa mit dem Drehpunkt Metz südwärts einschwenken lassen wollen; die breite Front sollte sich dann unter ihrer Ausdehnung bis westlich Paris wieder fast nach Osten wenden und das französische Heer zwischen dem Festungsgürtel und dem Schweizer Jura einschließen und vernichtend schlagen; dabei wäre gleichgültig gewesen, wenn die Franzosen inzwischen die schwache Verteidigungslinie des linken Flügels in Elsaß-Lothringen durchbrochen hätten. Moltke entsandte im Sinne Schlieffens zur Verteidigung Ostpreußens nur e i n e Armee, änderte aber im übrigen dessen gefährlich einseitigen, alles auf e i n e Karte setzenden Plan dahin ab, daß er im Westen für den linken Flügel in ElsaßLothringen zwei Armeen aufstellte, die das Reichsland und das Industriegebiet der Saar schützen und starke französische Kräfte binden sollten, denn Moltke erwartete den Hauptangriff der Franzosen in Lothringen. Für den rechten Flügel standen dann nur noch fünf Armeen zur Verfügung, die von Diedenhofen bis Krefeld gestaffelt aufmarschieren und dann auf französischem Boden die Schwenkung nach Paris vollziehen sollten.

Die Kämpfe im. Westen Zunächst galt es, sich Belgiens zu bemächtigen. Am 7. August eroberten die Deutschen Lüttich, damit war der Weg über die Maas frei. Nach zwei Niederlagen zogen sich die belgischen Truppen in die Festung Antwerpen zurück. Zu ihrer Belagerung wurden zwei Armeekorps abgezweigt, was eine weitere Schwächung des rechten Flügels der Westarmee zur Folge hatte. Er überschritt die französische Grenze und erfocht vom 22.—27. August mehrere Siege über die ostwärts vorrückenden Franzosen und ihnen angeschlossene Engländer, doch konnte sich der Feind infolge des Fehlens einer straffen, einheitlichen deutschen Führung unter schweren Kämpfen hinter die Marne zurückziehen. Im Elsaß hatten die Franzosen am 7. August Mülhausen besetzt, mußten es aber bald wieder aufgeben. Der

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Erster Weltkrieg: 1914 Hauptteil der im Elsaß stehenden deutschen Truppen wurde zu den Operationen in Lothringen herangezogen, und so kamen bei einem zweiten Vorstoß stärkere französische Kräfte bis Kolmar, doch konnten Ende des Monats die Deutschen Mülhausen wieder besetzen. In Lothringen griffen die Franzosen die unter dem Befehl des Kronprinzen Ruppredit von Bayern stehende Armee an. Die Deutschen siegten, aber dem Feind gelang es, sich der geplanten Umklammerung zu entziehen, der deutsche Gegenangriff kam vor den französischen Sperrforts an der Meurthe zum Stehen. Das Hauptquartier mit dem Generalstabschef Moltke lag fern den Fronten in Koblenz, seit dem 30. August in Luxemburg. So kam es, daß Moltke, die Siegesnachrichten von den Grenzsdilachten überschätzend, zwei Armeekorps nach dem bedrohten Ostpreußen entsandte. Der abermals geschwächte rechte Flügel mußte nun östlich von Paris einschwenken; bei einem Vormarsch westlich Paris hätten die in der französischen Hauptstadt zusammenlaufenden zahlreichen Eisenbahnlinien ihre große strategische Bedeutung völlig verloren. Am 5. September begann mit dem französisch-englischen Angriff auf die zwischen Verdun und Paris stehenden fünf deutschen Armeen die Marneschlacht. Von Paris aus stieß eine neugebildete französische Armee in die Flanke der deutschen I. Armee unter Generaloberst von Kluck, der, um nicht umzingelt zu werden, sich Paris zuwandte und siegreich vordrang, die Truppen konnten in der Ferne schon den Eiffelturm sehen. Die III. Armee errang bei Fère Champenoise ebenfalls einen Sieg. Zwischen der I. und II. Armee entstand jedoch eine den Zusammenhang der Front gefährdende Lücke. Da die Nachrichtenübermittlung und die Fliegeraufklärung weder zwischen den einzelnen Frontabschnitten noch mit dem Hauptquartier richtig funktionierten, sandte Moltke zur Prüfung der Lage und mit nicht näher bekannten Weisungen den Oberstleutnant Richard Hentsch an die Front. Dieser befahl am 9. September den Rückzug hinter die Aisne. Die deutschen Truppen lösten sich vom Feind, der nur zögernd folgte, denn auch seine Lage war infolge der deutschen Siege bei Paris und Fère Champenoise sehr bedroht. Die neue Frontlinie verlief von nördlich Verdun über Reims bis Noyon. Auch die Front in Lothringen wurde etwas zurückgenommen, nur so viele Truppen blieben dort, wie zur Verteidigung unbedingt nötig waren; der übrige Teil der Armee des Kronprinzen Rupprecht wurde auf dem rechten Flügel eingesetzt. Die Franzosen empfanden den deutschen Rückzug als das „Wunder an der Marne"; er entschied nicht nur den bis dahin zweifelhaften Ausgang der Schlacht zugunsten der Franzosen, sondern gab auch den durch die wochenlangen Niederlagen entmutigten französischen und englischen Truppen ihr Selbstvertrauen zurück; am 12. September feierten die Franzosen mit ihrem Feldherrn Marschall Joffre, den gesundes Urteil und unerschütterliche Ruhe auszeichneten, nicht nur das „Wunder", sondern auch den „Sieg" an der Marne. — Die Notwendigkeit des Rückzugs und seine Folgen sind bis heute heftig umstritten. Die deutsche Kriegsgeschichtsschreibung hat ganz überwiegend die Meinung vertreten, die Deutschen wären bereits sehr nahe daran gewesen, den Sieg zu gewinnen; die Literatur des Auslandes, namentlich der Franzosen, behauptet großenteils das Gegenteil; völlig 404

Kämpfe im Westen

in der Luft schwebt die Annahme von deutscher Seite, ein Sieg der Deutschen in der Schlacht an der Marne hätte den Ausgang des Krieges endgültig entschieden. Sicher ist dagegen, daß nun eine schnelle Entscheidung im Westen ausgeschlossen war, auf die Moltke so sehr gehofft hatte, und daß die deutschen Truppen, die ohne einen Rasttag den siegreichen Vormarsch trotz Erschöpfung, trotz Mangel an Munition und sonstigem Nachschub durchgehalten hatten, sich durch die Zurücknahme der Front bitter enttäuscht fühlten. Dem deutschen Volk wurde auf Wunsch Bethmann-Hollwegs der Rückschlag der Marneschlacht verschwiegen, was im Ausland zu Mißtrauen gegen die deutsche Berichterstattung führte und im Inland ausschweifende Hoffnungen auf die künftige Weltmachtstellung Deutschlands nach gewonnenem Kriege erweckte. Gleich nach der Marneschlacht, am 14. September, hatte der Kaiser den bisherigen preußischen Kriegsminister, den 53jährigen General Erich von Falkenhayn anstelle Moltkes zum Generalstabschef ernannt, doch wurde dieser Wechsel in der Obersten Heeresleitung erst am 3. November bekanntgegeben. Moltke kam als Chef des stellvertretenden Generalstabes nach Berlin, im Juni 1916 starb er. Falkenhayn war von starkem Selbstbewußtsein erfüllt, wozu ihn seine Spannkraft, unerschütterliche Ruhe selbst in schweren Krisen, politische und diplomatische Begabung und eine reiche militärische Erfahrung berechtigten; zu den großen Feldherren der Weltgeschichte zählt freilich auch er nicht. Zunächst versuchte Falkenhayn, mit dem rechten Flügel doch noch eine Entscheidung zu erzwingen, freilich vergebens. Jeder Versuch, in die Flanke der feindlichen Armeen zu kommen, hatte nur eine Verlängerung der Front nach Norden zur Folge, denn auch die französisch-englischen Armeen strebten nach Umfassung des Feindes. Am 10. Oktober fiel das letzte Fort von Antwerpen, doch konnten die Deutschen nicht verhindern, daß der größte Teil des belgischen Heeres zu den Franzosen entkam. Die Belagerungstruppen waren nun frei für den Einsatz an der Flandernfront und wurden verstärkt durch inzwischen in der Heimat aufgestellte, schnell ausgebildete Reservekorps, die größtenteils aus jungen Kriegsfreiwilligen bestanden. Jetzt rächte sich bitter, daß die große Heeresvermehrung von 1913 viel zu spät gekommen war. So fehlte 1914 eine hinreichende Zahl gründlich ausgebildeter Reserven. Diesen Mangel konnten alle Begeisterung und aller Opfermut der jungen Soldaten nicht ausgleichen. Von Mitte Oktober bis Mitte November tobte die Schlacht in Flandern. Die Engländer, denen an der Beherrschung der Küste viel lag, hatten bedeutende Verstärkungen herangezogen; trotzdem waren die Deutschen mehrmals nahe daran, die feindliche Front zu durchbrechen. Die Befehlshaber der einzelnen Abteilungen des französisch-englischen Heeres wollten schon zurückweichen, was nur durch den entschiedenen Einspruch des Generals Foch, dem seit Anfang Oktober die französischen, englischen und belgischen Truppen der Heeresgruppe Nord unterstanden, verhindert wurde. In der Nacht zum 30. Oktober öffneten die Belgier die Schleusen bei Nieuport, setzten das Gelände bei Dixmuiden unter Wasser und zwangen damit die Deutschen zum Rückzug hinter die Yser. Trotzdem versuchte Falkenhayn, Ypern zu nehmen und über den Yserkanal nach den besonders wichtigen Kanal405

Erster Weltkrieg: 1914 häfen Dünkirchen und Calais vorzudringen. Das erbitterte, sehr verlustreiche Ringen blieb trotz einzelner Teilerfolge ohne Ergebnis. Am 10. November verbluteten bei Langemarck die jungen, größtenteils aus Studenten bestehenden Regimenter, die mit dem Lied „Deutschland über alles" gegen den Feind gestürmt waren. Diese Verluste machten sich für den Offiziersnachwuchs sehr nachteilig bemerkbar, es war Raubbau, ganze Regimenter fast nur aus Studenten aufzustellen. Am 18. November mußte der Kampf wegen Erschöpfung der Truppen und aus Mangel an Munition abgebrochen werden. Dann begann von der Kanalküste bis zur Schweizer Grenze der Stellungskrieg. Die deutschen Truppen in Belgien und Nordfrankreich hatten nicht nur gegen die feindlichen Heere zu kämpfen, sondern auch gegen die bewaffnete und zu Sabotageakten bereite Zivilbevölkerung. Schon am 14. August ließ die deutsche Regierung durch Vermittlung einer neutralen Macht der französischen Regierung mitteilen: nach Meldungen der deutschen Truppen wird „dem Völkerrecht zuwider in Frankreich der Volkskrieg organisiert. In zahlreichen Fällen haben Landeseinwohner unter dem Schutz bürgerlicher Kleidung heimtückisch auf deutsche Soldaten geschossen . . . Die deutschen Truppen haben Anweisung erhalten, jede feindselige Haltung der Landeseinwohner mit den schärfsten Maßregeln zu unterdrücken. Jeder Nichtsoldat, der Waffen führt, und jeder, der . . . in irgendeiner Weise unberechtigt an einer Kriegshandlung teilnimmt, wird sofort standrechtlich erschossen. Wenn die Kriegführung hierdurch einen besonders schroffen Charakter annimmt, trifft Deutschland dafür nicht die Verantwortung". Die im wesentlichen gleichlautende Mitteilung an die belgische Regierung, ebenfalls vom 14. August, wies darauf hin, daß Franktireure in Lüttich Verwundete erschlugen, Ärzte, die ihren Beruf erfüllten, niederschossen und gleichzeitig in Antwerpen der Pöbel deutsches Eigentum verwüstete und deutsche Frauen und Kinder niedermetzelte. „Deutschland fordert von der ganzen gesitteten Welt Rechenschaft für das Blut dieser Unschuldigen, für die jeder Zivilisation hohnsprechende Art der Kriegführung Belgiens." An das Vorgehen der Deutschen gegen Franktireure knüpfte sich eine maßlose Greuelpropaganda im feindlichen und im neutralen Ausland. Der Reichskanzler versuchte, durch die Vertreter der amerikanischen Presse in Berlin, und der Kaiser in einem Telegramm an Präsident Wilson, die öffentliche Meinung in den Vereinigten Staaten zugunsten Deutschlands aufzuklären und zu beeinflussen; aber die deutschfeindliche Presse betrieb diese Brunnenvergiftung immer stärker und erfolgreicher. Gewiß kommen während eines Krieges bei jeder, auch bei einer gut disziplinierten Armee, Grausamkeiten und Unmenschlichkeiten vor, auf deutscher Seite waren es aber nachweislich verhältnismäßig wenig; nach Möglichkeit wurden auch die Kunstdenkmäler geschont, wie es der Kaiser sofort befohlen hatte. Die Verleumdung der Deutschen als „Hunnen" fand indes weithin Glauben und hat dann zum Unheil Deutschlands viel beigetragen zu der bei den Friedensverhandlungen in Versailles herrschenden Atmosphäre.

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Kämpfe im Osten Die Kämpfe im Osten An der Spitze der österreichisch-ungarischen Armee stand Generalstabschef Conrad von Hötzendorf. Seine hervorragenden Fähigkeiten als Feldherr wurden beeinträchtigt durch die oft zu optimistische Beurteilung der Lage, durch die Uberschätzung der Leistungsfähigkeit der österreichischen Armee und durch das Bestreben, ihre Selbständigkeit gegenüber der deutschen Heerführung unbedingt zu wahren. Moltke hatte vor dem Krieg Conrad von Hötzendorf zugesagt, die deutsche Armee werde von Ostpreußen aus zum Narew vorstoßen, und etwa sechs Wochen nach Kriegsbeginn könne ein großer Teil des deutschen Heeres vom Westen nach dem Osten geschickt werden, wenn in Frankreich bis dahin die erhoffte Entscheidung gefallen sei. Die Mobilmachung gegen Serbien erfolgte einige Tage vor der gegen Rußland, und so waren zunächst nach Serbien starke österreichische Kräfte abgegangen. Zwei große Offensiven im August und September gegen die Serben scheiterten; seine Erfahrungen mit ihnen im Laufe des Krieges faßte der österreichische General Krauß dahin zusammen: „Genügsam, findig, listig, außerordentlich beweglich, gut bewaffnet, sehr gut geführt, für den Kampf durch Haß und Begeisterung entflammt, machten die Serben unseren Truppen mehr zu schaffen als Russen, Rumänen und Italiener." Nach einer vorübergehenden Besetzung Belgrads am 3. Dezember mußten die völlig erschöpften österreichischen Truppen hinter die Save zurückgenommen werden. Die für Galizien bestimmte Armee führte Conrad von Hötzendorf selbst; er hoffte, durch eine Offensive die Russen noch vor Vollendung ihres Aufmarsches schlagen zu können. Aber diese hatten vier Armeekorps gegen die Österreicher aufgestellt, die, so tapfer sie kämpften, nach anfänglichen Erfolgen Mitte September ganz Ostgalizien und Lemberg preisgeben und hinter den San zurückgehen mußten. Conrad von Hötzendorf gab Deutschland, das ihn völlig im Stich gelassen habe, die Schuld an dem Mißerfolg, von dem sich die österreichisch-ungarische Armee nicht wieder erholen konnte, aber zu Unrecht, denn schon am 2. August hatte Moltke Conrad mitgeteilt, daß die Narew-Offensive nur unternommen werden dürfe, wenn Ostpreußen nicht selbst angegriffen würde; auch fiel die Entscheidung bei Lemberg schon ungefähr gleichzeitig wie die an der Marne, und selbst wenn dort ein deutscher Sieg erfochten worden wäre, hätten von der deutschen Armee Verstärkungen nach dem Osten noch nicht abgezweigt werden können. General Max von Prittwitz, Oberbefehlshaber der 8. in Ostpreußen stehenden Armee, hatte trotz Teilerfolgen bei Gumbinnen aus Furcht, von einer zweiten russischen Armee im Rücken angegriffen zu werden, die Schlacht abgebrochen und war hinter die Weichsel zurückgegangen. Der Kaiser ernannte an seiner Stelle auf Moltkes Vorschlag den General Paul von Beneckendorff und Hindenburg zum Oberbefehlshaber der 8. Armee und zu dessen Generalstabschef Erich Ludendorff. Hindenburg, geboren 1847 als Sohn eines preußischen Offiziers, hatte die Feldzüge 1866 und 1870/1871 mitgemacht, von 1903—1911 war er kommandierender General des 4. Armeekorps; als dienstältester preußischer General wurde er 1911 zur Disposition gestellt. Seit Kriegsbeginn hatte er sehnsüchtig auf seine Reakti407

Erster Wellkrieg: 1914 vierung gewartet. Ludendorff, geboren 1865, entstammte einer Kaufmannsfamilie. Schon 1895 kam er als Hauptmann in den Generalstab. Drei Jahre später wurde er Chef der Aufmarschabteilung im Großen Generalstab und drang, freilich vergebens, unter anderem auf Vermehrung der schweren Artillerie, der Munitionsbestände und eine neue wirklich entscheidende Heeresverstärkung. Im Weltkrieg zeichnete er sich bereits bei der unter seiner Führung geglückten Eroberung von Lüttich aus. Hindenburg erkennt in seinen „Erinnerungen" die „geistvollen Gedankengänge" und die „nahezu übermenschliche Arbeitskraft" Ludendorffs rückhaltlos an und bemerkt über seine Zusammenarbeit mit ihm: „Wie will und kann der Außenstehende das Verdienst des einzelnen scharf abgrenzen? Man trifft sich im Denken wie im Handeln, und die Worte des einen sind oftmals nur der Ausdruck der Gedanken und Empfindungen des anderen." Hindenburg und Ludendorff trafen am 23. August im Hauptquartier Marienburg ein. Sie gingen sofort zum Angriff über und erfochten vom 26.—31. August in der Schlacht bei Tannenberg einen glänzenden Sieg über die zahlenmäßig weit überlegene russische Narewarmee, die völlig vernichtet wurde; 92 000 Gefangene und eine große Beute an Geschützen und sonstigem Kriegsmaterial fiel in die Hände der Sieger. Dann wurde vom 9.—15. September die Njemenarmee an den Masurischen Seen unter schweren russischen Verlusten geschlagen, aber nicht vernichtet; sie zog sich hinter den Njemen zurück. Damit war Ostpreußen befreit; ganz Deutschland feierte jubelnd Hindenburg und Ludendorff. Um den Österreichern die dringend erbetene Hilfe leisten zu können, wurde aus Teilen der ostpreußischen Armee und Landwehr eine neue Armee gebildet. Sie sollte von Oberschlesien aus die Russen in Richtung Iwangorod angreifen, während die Österreicher nördlich und südlich der oberen Weichsel vorgingen. Die Russen hatten aber in diesem Raum starke Kräfte zusammengezogen, auch die sibirischen Truppen, die durch Japans Kriegserklärung an Deutschland vom 23. August (S. 411) frei geworden waren. Von Warschau her war die deutsche Armee schwer bedroht. Anfang Oktober warf General August von Mackensen die Russen bis an die Forts von Warschau zurück. Die Österreicher drangen zum San vor und konnten die Festung Przemysl wieder besetzen, kamen aber nicht weiter; Ende Oktober wurden sie bei Iwangorod geschlagen. Die Übermacht der russischen Truppen zwang dann die Deutschen, bis an die schlesische Grenze, die Österreicher die Weichsel aufwärts bis Krakau zurückzugehen; die schwache ostpreußische Armee mußte sich vor den russischen Angriffen auf die befestigte Stellung hinter der Angerapp zurückziehen und damit einen Teil Ostpreußens wieder preisgeben. Am 1. November ernannte der Kaiser Hindenburg zum Oberbefehlshaber Ost. Er und Conrad von Hötzendorf verlangten von Falkenhayn große Verstärkungen aus dem Westen, denn nun müsse im Osten die Entscheidung fallen. Falkenhayn konnte sich indes nicht dazu entschließen; erst Ende November entsandte er nach dem Scheitern der Flandernoffensive größere Abteilungen nach dem Osten. Trotzdem wagte Hindenburg schon vor deren Eintreffen einen neuen Angriff gegen die von Lodz in Richtung auf Breslau vorrückenden Russen. In schweren Kämpfen vom 11. November bis Anfang Dezember gelang 408

Seekrieg Hindenburg zwar nicht, durch einen Flankenstoß von Thorn her die Feinde zu umzingeln, doch drängte er die Massen der russischen Heere so weit hinter Lodz, daß hier für die deutschen und österreichischen Grenzen keine Gefahr mehr bestand. In der Gegend von Krakau siegten die Österreicher und zwangen die Russen zum Rückzug, dagegen ging Tschernowitz in der Bukowina verloren und die Russen drangen in den Karpathen vor. Die damaligen Sorgen und Nöte der Heeresleitung schildert Falkenhayn rückblickend: „Nur wer an verantwortungsvoller Stelle die Zeiten im Winter 1914/ 1915 im deutschen Großen Hauptquartier durchlebt hat, während deren im Westheer fast jeder einzelne Schuß gezählt werden mußte, der Ausfall eines einzigen Munitionszuges, der Bruch einer Schiene oder sonst ein blöder Zufall ganze Frontteile wehrlos zu machen drohte, kann die Schwierigkeiten beurteilen, die damals überwunden werden mußten. Nur wer die beweglichen Klagen unserer prächtigen Truppen über diese Verhältnisse, die unaufhörlichen Bitten der Verbündeten um Aushilfe mit Kriegsbedarf jeder Art hat anhören müssen, kann verstehen, mit welchem heißem Bemühen nach Abhilfe gesucht wurde. Dank der Mitarbeit der weitesten und der besten Teile des Volkes fand sie sich schneller als erwartet werden konnte. Die Einstellung der Wissenschaft und Technik, die Umstellung der gesamten Industrie auf den Krieg . . . vollzogen sich fast geräuschlos, so daß sie durchgeführt waren, ehe die Feinde recht wußten, was vorging. Besonderer Nachdruck wurde auf die Forderung der Munitionserzeugung, die Schaffung weittragender Geschosse, die Durchbildung des Minenwerfers zur brauchbaren Waffe, Vermehrung des Maschinengewehrgerätes und der Luftstreitkräfte sowie die Entwicklung des Gases als Kampfmittel gelegt." Seekrieg.

Kolonien

Zur See war das Kriegspotential der Entente dem Deutschlands und seiner Verbündeten noch mehr überlegen als zu Lande. Die deutsche Seekriegführung sah sich daher vor kaum zu bewältigende Aufgaben gestellt. Tirpitz, der sich mit einer gewissen Berechtigung als Schöpfer der deutschen Flotte betrachtete, wollte kurz vor Kriegsbeginn mit seiner Stellung als Staatssekretär des Reichsmarineamtes das Amt des Chefs des Admiralstabes verbinden, um die Einheitlichkeit der Flottenführung zu sichern. Nun hatte Tirpitz seine Anträge auf den Ausbau der deutschen Flotte damit begründet und durchgesetzt, daß, wenn sie die von ihm geforderte Stärke erlangt habe, die Engländer keinen Zusammenstoß mit Deutschland riskieren würden, und diese Stärke werde 1914/1915 erreicht sein. Der Eintritt Englands in den Krieg erwies den „Risikogedanken" als falsch. Tirpitz büßte viel von seinem früheren Ansehen ein, und der Kaiser ernannte ihn nicht zum Chef des Admiralstabes, doch blieb Tirpitz Staatssekretär des Reichsmarineamtes, und so bestanden dieses und der Admiralstab weiterhin nebeneinander. In der Nordsee, dem Hauptkampfgebiet, standen 16 deutsche Großkampfschiffe 24 englischen gegenüber; an Kreuzern und Torpedobooten war England mehr als doppelt überlegen; Unterseeboote, auf deren Bau Tirpitz wenig Wert gelegt 409

Erster Weltkrieg: 1914 hatte, besaß Deutschland 21, Frankreich etwa 80 und England 17. Entgegen den deutschen Erwartungen hielt sich die englisdie Flotte der Deutschen Bucht fern, begnügte sich, den Ärmelkanal zu sperren und mit der „großen Flotte", deren Hauptstützpunkt Scapa Flow auf den Orkneyinseln war, über die Shetlandinseln bis zur norwegischen Küste die Blockade Deutschlands durchzuführen. Minenleger und U-Boote entfalteten eine rege Tätigkeit; am 22. September gelang der deutschen „U9" unter Kapitänleutnant Weddigen die Versenkung von drei englischen Kreuzern, auch sonst erzielten die U-Boote mannigfache Erfolge; ein Seegefecht zwischen leichten Streitkräften am 28. August bei Helgoland endete allerdings mit der Versenkung von drei kleinen deutschen Kreuzern. Tirpitz wollte seit Anfang September im Vertrauen auf die Leistungsfähigkeit der deutschen Schiffe und Mannschaften eine Schlacht gegen die englische Flotte wagen. Der Kaiser und der Chef des Admiralstabes, Hugo von Pohl, gingen aber dieses Risiko nicht ein, besonders auch, weil Bethmann-Hollweg in dem Bestreben, England nicht unnötig zu reizen, von einem offensiven Vorgehen der Flotte abriet. So erhielt sie den Befehl, sich zurückzuhalten und den Feind nur durch Minen, U-Boote und kleine Vorstöße zu schwächen, bis sich das Kräfteverhältnis günstiger gestalte. Während aber England, durch unsere Minen, U-Boote, Auslandkreuzer und Hilfskreuzer wenig behindert, die Verbindung mit der ganzen Welt aufrechthalten konnte, schnitt die englische Blockade Deutschland vom Welthandel völlig ab. — Die Frage, ob Tirpitz mit dem Drängen auf eine entscheidende Seeschlacht oder der Kaiser und Pohl mit der Zurückhaltung recht hatten, ist viel umstritten; jedenfalls hätte auch eine siegreiche Seeschlacht zu Beginn des Krieges weder die englische Blockade aufgehoben noch den Siegeswillen der Engländer gebrochen; immerhin hat die deutsche Flotte die Engländer von einem Angriff gegen die deutsche Küste oder von einem Landungsversuch unter Verletzung der dänischen und holländischen Neutralität abgehalten. In der Ostsee hielt sich die russische Flotte hinter starkem Minenschutz sehr zurück. Großadmiral Prinz Heinrich, Bruder des Kaisers, behauptete hier mit schwachen deutschen Kräften die Seeherrschaft durch dauernde kleine Offensiven. Sie sicherten die deutsche Ostseeküste vor russischen Angriffs- und Landungsversuchen und hielten der für die Kriegsindustrie äußerst wichtigen schwedischen Erzeinfuhr den Weg offen. Anfang August sperrten die Deutschen und die Dänen die Belte, die Durchfahrten zum freien Meer, die Deutschen, um das Eindringen englischer Schiffe zu verhindern, die Dänen zur Sicherung ihrer Neutralität; nun konnten freilich auch Handelsschiffe die Belte nicht mehr befahren. — Das Mittelmeer wurde von der französischen Flotte beherrscht, die österreichische kam kaum aus der Adria heraus. Den zwei deutschen Mittelmeerkreuzern „Breslau" und „Göben" gelang es, obwohl französische und englische Schiffe Jagd auf sie machten, am 10. August in die Dardanellen einzulaufen. Am Tag zuvor hatte England der Türkei mitgeteilt, es habe zwei für die Türkei auf englischen Werften gebaute und von ihr schon bezahlte Großkampfschiffe der englischen Flotte eingereiht. Die Türkei kaufte daraufhin die „Breslau" und die „Göben", die nun unter türkischem Namen die osmanische Flotte bedeutend verstärkten. — Einen 410

Kolonien schweren Stand hatten die deutschen Auslandkreuzer. Am 15. August hatte Japan Deutschland ein Ultimatum überreicht, es solle sofort seine Kriegsschiffe aus den japanischen und chinesischen Gewässern zurückziehen sowie das gesamte Pachtgebiet von Kiautsdiou Japan übergeben. Am 23. August ließ die deutsche Regierung dem japanischen Botschafter mitteilen, sie habe auf das Ultimatum keinerlei Antwort zu geben, berief den deutschen Botschafter in Tokio ab, und der Kaiser von Japan erklärte Deutschland den Krieg. Vizeadmiral Graf Maximilian von Spee wollte das Ostasien-Kreuzergeschwader nicht in Tsingtau einschließen lassen und nahm deshalb zunächst Kurs auf Südamerika. An der chilenischen Küste traf er bei Coronel am 1. November auf ein kleines englisches Geschwader und vernichtete es. Als er aber die Falklandinseln anlaufen wollte, um die dortigen militärischen Anlagen zu zerstören, griffen ihn überlegene englische Kräfte an; nach tapferem Kampf wurden die deutschen Schiffe bis auf den kleinen Kreuzer „Dresden" versenkt, Spee ging mit dem Flaggschiff „Schamhorst" unter. — Von den Kreuzern und Hilfskreuzern, die ganz auf sich selbst gestellt in treuer Pflichterfüllung im atlantischen und indischen Ozean die feindliche Schiffahrt empfindlich störten, sind die „Emden" unter von Müller, die „Möwe" unter Graf zu Dohna und der „Seeadler" unter Graf Luckner besonders berühmt geworden. Ähnlich wie die deutschen Auslandskreuzer einer nach dem anderen verlorengingen, gerieten im Laufe des Krieges die deutschen Kolonien in die Hände der Feinde, die sich fast überall zu einem unverhältnismäßig großen Kräfteeinsatz gezwungen sahen, um die von der Heimat völlig abgeschnittenen deutschen Schutztruppen zu überwältigen, die nur von Kolonisten und Eingeborenen verstärkt wurden. — Die kleine Polizeimacht in Togo mußte sich am 27. August 1914 französischen und englischen Truppen ergeben. Ebenfalls in den ersten Wochen besetzten die Engländer Samoa und Deutsch-Neuguinea, die Japaner die Marschall-, Marianen- und Karolineninseln. Anfang September landeten die Japaner auf chinesischem Gebiet. Sie schlossen Tsingtau zu Lande und vom Meer her ein; die Besatzung ergab sich erst am 1. November, als die Verteidigungswerke zerstört und die letzte Munition verschossen waren. Damit hatte für Japan der Krieg ein Ende; eine Entsendung von Truppen oder Schiffen nach Europa lehnten die Japaner ab. Von Rußland und den Vereinigten Staaten mißtrauisch beobachtet, behielt Japan die von ihm eroberten deutschen Kolonien und suchte von Kiautschou aus seinen Einfluß auf China zu erweitern. — Die Schutztruppe in DeutschSüdwestafrika erlag im Juli 1915 den Angriffen der Engländer und Buren. Ende des Jahres waren die deutschen und die eingeborenen Truppen in Kamerun von Engländern, Franzosen und Belgiern umzingelt, ein Teil konnte sich auf spanisches Gebiet durchschlagen. — Am längsten behauptete sich Deutsch-Ostafrika. Mit seiner Schutztruppe und den eingebomen Askaris kämpfte General Paul von Lettow-Vorbeck gegen Engländer, Belgier und Portugiesen. Immer wieder gelang ihm, Verpflegung und Kriegsbedarf von den Feinden zu erbeuten. Erst der Waffenstillstand im November 1918 zwang ihn, sich zu ergeben. Der Feind ehrte den tapferen Gegner und gestattete Lettow-Vorbeck, seinen Offizieren und Unteroffizieren, mit ihren Waffen in die Heimat zurückzukehren. 411

Das Kriegsjähr 1915

Als um die Jahreswende 1914/1915 die Ostfront und die Westfront im Stellungskrieg erstarrt waren, stand die Oberste Heeresleitung vor der Frage, wo sie die Entscheidung suchen solle. Während des Winters waren in der Heimat wieder neue Divisionen notdürftig ausgebildet und die verschiedenen Rüstungszweige erheblich gefördert worden. Hindenburg und Conrad von Hötzendorf befürworteten einen umfassenden Angriff im Osten unter Heranziehung aller verfügbaren Kräfte. Die beiden Feldherren meinten, sie könnten einen entscheidenden Sieg erringen. Falkenhayn glaubte nicht daran, er war jetzt überzeugt, der Krieg werde noch lange dauern und Deutschland müsse deshalb mit Menschen und Material sparsam umgehen. Falkenhayns Dispositionen wurden überhaupt mehr von der Notlage des Augenblicks als von großen Plänen bestimmt.

Winter- und Frühjahrskämpfe

in Galizien. Winterschlacht in Masuren

Zunächst erforderte die schwer bedrängte Front der Österreicher in den Karpathen Hilfe, um einen Durchbruch der Russen nach Ungarn zu verhindern. General Alexander von Linsingen wurde mit einer neugebildeten deutschen Armee an die Karpathenfront geschickt. Unter unsäglich schwierigen Verhältnissen kämpften sich die Truppen in Kälte und Schneestürmen seit Ende Januar mühsam vorwärts, Mitte Februar kam der Angriff ins Stocken und am 22. März mußte sich die Festung Przemysl, die sich in der Hoffnung auf Entsatz fünf Monate gehalten hatte, den Russen ergeben. Neue deutsche Verstärkungen im April vermochten nur die russischen Gegenangriffe abzuwehren. — Inzwischen gelang Hindenburg, dessen Truppen durch vier neue Armeekorps verstärkt worden waren, in der Masuren-Winterschlacht vom 7. bis 22. Februar 1915 die Umfassung und Vernichtung einer russischen Armee; 110 000 Russen wurden gefangen und 300 Geschütze erbeutet. Das Wetter hatte die Operationen ungemein erschwert, erst herrschte starkes Schneetreiben, durch den schneidenden Ostwind kam es zu meterhohen Schneeverwehungen, dann trat Tauwetter ein, das die Straßen noch unpassierbarer machte, Geschütze und Fahrzeuge blieben stecken, der Train konnte nicht folgen, glüddicherweise fielen den Siegern große Mengen Lebensmittel in die Hände. Uber die Bedeutung des deutschen Sieges war sich der russische General Danilow im klaren und er gab offen zu: „Unsere 10. Armee war gezwungen 412

Stellungskrieg im Westen — Türkei. Gallipoli worden, das Gebiet Ostpreußens zu verlassen, und dieses Mal endgültig. Wir hatten schwere Verluste an Menschen und Heeresgerät davongetragen, und unser militärisches Prestige hatte zum dritten Mal in Ostpreußen einen schweren Schlag erlitten. Der Gedanke, die Stellung des rechten Flügels unserer strategischen Front durch eine Eroberung Ostpreußens und durch die Anlehnung an den Unterlauf der Weichsel zu befestigen, war durch den taktischen Sieg der Deutschen abermals vereitelt worden." Obwohl Falkenhayn keine weiteren Verstärkungen bewilligte, setzten Hindenburg und Ludendorff den Angriff gegen den Narew in der Hoffnung fort, auch das russische Heer in Polen zu umfassen, sie konnten aber nur den russischen Gegenangriff nach erbitterten Kämpfen zum Stehen bringen.

Stellungskrieg im Westen An der Westfront gelangen den Deutschen zwei Vorstöße, die ihre Frontlinie verbesserten; Soissons wurde fast ganz erobert und bei Craonne die Höhe „Chemin des Dames" genommen. Joffre unternahm eine Reihe von Angriffen gegen die deutschen Stellungen, konnte aber, so auch bei der großen Winterschlacht in der Champagne vom 16. Februar bis 20. März, trotz der erstmals angewandten Vorbereitung durch ein Artillerie-Trommelfeuer und trotz starker Verluste keine nennenswerten Erfolge erzielen; auch die Engländer erreichten mit Ihrem Angriff in Flandern nichts. Die Deutschen und ihre Gegner erkannten nun die fast unüberwindlichen Schwierigkeiten eines frontalen Durchbruchs durch die immer stärker ausgebauten und tiefer gestaffelten Stellungen. Ohne nennenswerte Erfolge wurden von beiden Seiten die erbitterten Kämpfe fortgesetzt. Am 22. April 1915 gingen die Deutschen gegen den Brückenkopf bei Υ ρ e r η zum erstenmal mit Kampfgas vor; es wurde aus Glasflaschen abgeblasen und setzte deshalb eine günstige Windrichtung voraus, sollten die eigenen Reihen nicht gefährdet werden. Die in tief eingegrabene, gegen Artilleriebeschuß gut gesicherte Stellungen eindringenden Chlorgaswolken erwiesen sich als ein neues furchtbares Kampfmittel. Der Feind wurde bis zur Stadt Ypem zurückgedrängt; um sich aber ihrer zu bemächtigen und weiter vorzustoßen, hatten die Deutschen zu wenig Reserven. Ende September begannen die Engländer mit großen Hoffnungen im Artois und die Franzosen in der Champagne sehr sorgfältig vorbereitete Offensiven. Ein Durchbruch gelang indes auch diesmal nicht; die deutschen Linien mußten wohl an einigen Stellen zurückverlegt werden, aber dann standen die Fronten wieder fest. Türkei. Gallipoli Die Türkei hatte Anfang August 1914 mit Deutschland ein geheimes Bündnis geschlossen und die deutschen Kreuzer „Göben" und „Breslau" ihrer Flotte eingereiht. England protestierte vergeblich dagegen, bemühte sich aber, die Türkei durch Versprechungen für die Entente zu gewinnen. Rußlands Streben nach den 413

Erster Weltkrieg: 1915 Dardanellen sowie die militärischen Maßnahmen Englands in Ägypten und am Persischen Golf ketteten jedoch die Türkei fester an die Mittelmächte, wofür besonders die von dem Kriegsminister und Vizegeneralissimus Enver Pascha geführten Jungtürken eintraten. Mitte August schaltete die Türkei die britische Marinekommission (S.356f.) wegen Spionageverdacht aus; für den Ernstfall wurde General Liman von Sanders zum Oberkommandanten für den Armeebezirk Konstantinopel und die europäische Türkei ernannt. Am 11. September kündigte die türkische Regierung die „Kapitulation" auf, von den Großmächten früher der Türkei auferlegte Beschränkungen ihrer finanziellen und rechtlichen Souveränität. Ende des Monats versuchten englische und französische Schiffe vergebens, in die Dardanellen einzufahren, worauf die Türkei sie völlig sperrte. Inzwischen war die Mobilisierung von Heer und Flotte vollendet. Am 29. Oktober begannen die türkischrussischen Feindseligkeiten. Anfang November erklärten die Ententemächte der Türkei den Krieg. Die Türkei antwortete mit einer großen patriotischen Kundgebung in Konstantinopel, wobei der Scheich ul Islam den Heiligen Krieg proklamierte. Auf vier weit auseinanderliegenden Kriegsschauplätzen mußte die Türkei kämpfen: in ihren europäischen Gebieten, am Kaukasus, auf der Sinaihalbinsel und in Mesopotamien. Das Eisenbahnnetz war noch unvollendet, auch die Bagdadbahn nur teilweise fertiggestellt, so daß sich die Versorgung der Truppen und der Nachschub äußerst schwierig gestalteten. An der Kaukasusfront errangen die Türken eine Reihe von Siegen gegen die Russen, die nun ihre Verbündeten um Hilfe baten. Da eine direkte Verbindung wegen der Sperrung der Ostsee und der Dardanellen nur über das Eismeer oder den Fernen Osten und die transsibirische Bahn möglich war, trat in England vor allem Churchill, erster Lord der Admiralität, für einen Angriff zur Öffnung der Meerengen ein. Er wollte mit einer starken englischen Armee auf dem Balkan außerdem Serbien unterstützen, Italien, Griechenland und Rumänien zum Anschluß an die Entente bewegen. Ausgeführt wurde nur der Angriff auf die Dardanellen, der im Februar 1915 begann. Die Befestigung und Verteidigung der Dardanellen war durch deutsche Offiziere erheblich verstärkt worden; der englisch-französische Großangriff vom 18. März wurde unter schweren Verlusten der feindlichen Flotte abgeschlagen. Am 25. April gelang den Engländern, sich auf Gallipoli an zwei Stellen festzusetzen, dodi kamen sie gegen die von Liman von Sanders glänzend durchgeführte Abwehr, unterstützt von in die Dardanellen eingelaufenen deutschen Unterseebooten, und gegen die bedürfnislosen und zäh aushaltenden Türken nicht weiter vorwärts. Unter großen beiderseitigen Verlusten zogen sich die Kämpfe hin, bis Ende des Jahres die Engländer Gallipoli räumten. Das Mißlingen des Dardanellenunternehmens war für England ein empfindlicher Schlag und hatte für Rußland die weitere Absperrung von der Hilfe seiner Verbündeten zur Folge. Dies bedeutete eine nicht zu unterschätzende Hilfe für die Mittelmächte, wenn sie auch durch die Lieferung von Kriegsmaterial und die Entsendung von Truppen in die Türkei stark belastet wurden. Der Versuch eines türkischen Expeditionskorps, Mitte Januar sich des Suezkanals zu bemächtigen und damit England an seiner empfindlichsten Stelle zu treffen, scheiterte an dem unzulänglichen Kräfteeinsatz. 414

Italiens Kriegserklärung an Österreich Italiens Kriegserklärung an Österreich Seit Ausbruch des Krieges verhandelte Italien, nodi Mitglied des Dreibundes, sowohl mit Deutschland und Österreich als audi mit der Entente. Die deutsche Regierung hatte am 4. Februar 1914 den früheren Reichskanzler Fürst Bülow in außerordentlicher Mission zur Sicherang der von Italien versprochenen Neutralität nach Rom gesandt und drang in Österreich-Ungarn, es solle den territorialen Wünschen Italiens ausreichend entgegenkommen. Der Haß und die Rivalität zwischen den beiden Staaten waren indes zu tief verwurzelt; Italien besetzte Ende Dezember 1914 kurzerhand das albanische Valona und beherrschte damit die Straße von Otranto und den Eingang zur Adria. Italiens Ansprüche an Österreich wuchsen nun erst recht, wie dieses befürchtet und den deutschen Vorstellungen gegenüber geltend gemacht hatte. Obwohl auch Rußland und Frankreich über Italiens hohe Forderungen wenig erfreut waren, konnte England nach wochenlangen Verhandlungen das Londoner Protokoll am 26. April 1915 abschließen: Italien verpflichtet sich zur Teilnahme am Krieg, dafür soll es bei dem kommenden Friedensschluß erhalten das Trentino, ganz Südtirol „bis zu seiner natürlichen geographischen Grenze, als welche der Brenner anzusehen ist", Triest, die Grafschaften Görz und Gradiska, Istrien und große Teile Dalmatiens samt den davorliegenden Inseln, Valona und den seit dem tripolitanischen Krieg besetzten Dodekanes. Bei einer Teilung der Türkei und der deutschen Kolonien sollen Italiens Interessen berücksichtigt werden. In § 15 des Vertrags verpflichteten sich Frankreich, England und Rußland ausdrücklich zu der „Nichtzulassung von Vertretern des Heiligen Stuhles zu irgendwelchen diplomatischen Schritten betreffend den Abschluß eines Friedens oder der Regulierung von Fragen, die mit dem gegenwärtigen Krieg zusammenhängen". Auf Rußlands Betreiben wurden die Rechte Serbiens, Montenegros und Albaniens vertraglich gesichert. Daß Italien für die Erfüllung aller seiner Wünsche, wie sie Österreich niemals hätte zugestehen können, den Bruch des Dreibundvertrages in Kauf nahm, entsprach dem „heiligen Egoismus": Einige Wochen nach Kriegsausbruch hatte der italienische Ministerpräsident Salandra das Schlagwort vom „sacro egoismo per Italia" geprägt, und die Zeitung „Italia nostra" bekannte sich im November 1914 zu dem Grundsatz „Wir sind weder für die Mittelmächte noch für die Entente. Wir sind vor allem von vornherein weder für den Krieg noch für den Frieden. Wir sind für unser Land." Noch immer bestand aber auch unter Führung des früheren Ministerpräsidenten Giolitti eine starke Partei, die davor warnte, Italien „in den Wahnsinn des Krieges zu stürzen. Wurden vielleicht die Ehre, die Nation, das Heer auch nur im geringsten beleidigt? Nichts, absolut nichts liegt vor, was unser Losschlagen rechtfertigen könnte." Die Regierung mußte aber doch dem Drude des aufgepeitschten Nationalismus nachgeben, der in Straßendemonstrationen den Krieg gegen Österreich forderte. Dabei trat auch Benito Mussolini, bisher Sozialist und Leiter des sozialdemokratischen Parteiblattes „Avanti" in Mailand, als Nationalist hervor, gründete im „Popolo d'Italia" eine eigene Zeitung, um das militärische Eingreifen in den Krieg zu fördern. — Am 4. Mai sagte sich Italien in 415

Erster Weltkrieg: 1915 Wien vom Dreibund los. Die österreichische Regierung wies die von Italien für seinen Austritt angeführten Gründe entrüstet zurück und erkannte die Kündigung nicht an, weil diese vertragsgemäß nur ein Jahr vor Ablauf der bei der letzten Erneuerung des Dreibundes festgesetzten Frist, also erst am 8. Juli 1920, erfolgen könne. Italien antwortete am 23. Mai 1915 mit der Kriegserklärung an Österreich, aber nur an dieses, nicht auch an Deutschland. Tief entrüstet nannte Kaiser Franz Josef Italiens Kriegserklärung „einen Treubruch, dessengleichen die Geschichte nicht kennt". Bei der allgemeinen Empörung in Österreich-Ungarn gegen Italien hätte Conrad von Hötzendorf gern mit starken Kräften von Klagenfurt-Laibach aus einen Angriff unternommen, aber Falkenhayn wollte die gegen Rußland begonnene Offensive nicht abbrechen, und so beschränkte sich Österreich vorläufig auf die Defensive, die keine großen Anstrengungen beanspruchte, weil Italien mit seinen Kriegsvorbereitungen nur langsam vorankam.

Osten: Eroberung von Galizien und Polen, Stellungskrieg Seit Mitte April 1915 bereitete Falkenhayn mit dem Oberkommando Ost und mit Conrad von Hötzendorf einen Angriff gegen Rußland vor. Verstärkungen wurden aus dem Westen herangezogen und eine neugebildete Armee unter General Mackensen zwischen die österreichischen Armeen geschoben. Der Angriff am 2. Mai bei Gorlice kam den Russen völlig überraschend; binnen drei Tagen gelang der Durchbruch durch die tiefen russischen Stellungen in einer Breite von 150 Kilometern von der Weichsel bis zu den Karpathen. Auf Bitten der Russen unternahmen die Franzosen und Engländer Entlastungsoffensiven an der Westfront. Sie versuchten besonders bei Arras und La Bassée die deutsche Front zu durchstoßen, erlitten dabei große Verluste und erzielten nur Einbrüche von geringer Bedeutung. Diese Kämpfe zogen sich bis in den Juni hin, ohne die Russen zu entlasten. Sie mußten sich im Laufe des Mai hinter den San und den Dnjestr zurückziehen und Przemysl wieder aufgeben. Zur Auswertung dieser Erfolge entsandte Falkenhayn vom Westen weitere Divisionen nach Osten. Mitte Juni durchbrach Madeensen zum vierten Male die rusissche Front, am 22. Juni fiel Lemberg. Dies machte auf die ohnehin schon entmutigten russischen Armeen einen besonders niederschmetternden Eindruck, zumal es ihnen an allem fehlte, an Offizieren und Mannschaften, an Waffen und Munition. Fast ganz Galizien war nun wieder in der Hand der Mittelmächte. Uber die Weiterführung der Operationen entstanden zwischen Falkenhayn einerseits, Conrad, Mackensen, Hindenburg und Ludendorff andererseits wieder ernste Meinungsverschiedenheiten. Falkenhayn, der auch die Lage im Westen und an der italienischen Front berücksichtigen mußte, war gegen eine „Ausdehnung ins Uferlose", Hindenburg wollte die Vernichtung des russischen Heeres durch Vorgehen in weit östlich ausholendem Bogen und Abschneiden der Bahnverbindungen über Wilna erzwingen. Der Kaiser entschied sich für Falkenhayns Plan, die in Polen stehende Hauptmasse des russischen Heeres solle mit engbegrenzten 416

Bulgarien, Serbien, Griechenland, Isonzofront Angriffen von Norden und Süden her zum Rüdezug gezwungen werden; eine Umzinglung der Russen dabei wäre ein besonderer Glücksfall gewesen. Mitte Juli begannen die Deutschen auf der ganzen Ostfront die neue Offensive. In Richtung auf Brest-Litowsk schwenkte die Armee Mackensen nach Norden ein; von Ostpreußen her sollte ihr ein Angriff der Armee Gallwitz nach Süden auf den unteren Narew zu entgegenkommen; die übrigen Armeen, auch die Njemenarmee, stießen nach Osten vor. Für die Deutschen verliefen die Kämpfe sehr erfolgreich, die Festungen Nowogeorgiewsk, Brest-Litowsk, Kowno wurden erobert; gegen die Flankenangriffe von Norden und Süden war der russische Widerstand aber doch so stark, daß der russischen Heeresleitung die Rüdeführung der Masse ihres Heeres aus der Gegend von Warschau nach Osten gelang. Am 18. September fiel Wilna, auch in Galizien kamen die österreichisch-deutschen Truppen noch ein gutes Stück nach Osten vorwärts. Ende September befahl Falkenhayn die Einstellung der Offensive und die Vorbereitung der Winterquartiere. Die deutschen Armeen lagen nun von der Ostsee westlich Riga bis westlich Dünaburg, von da in ziemlich gerader Linie südlich bis Tarnopol und Tschernowitz im Stellungskrieg den Russen gegenüber. Diese hatten an Menschen und Kriegsmaterial sehr hohe Verluste erlitten, aber eine Entscheidung war nicht erkämpft worden. Darüber, ob sie bei Berücksichtigung der Pläne von Hindenburg, Ludendorff und Mackensen gelungen wäre, gingen und gehen bis heute die Ansichten weit auseinander; das Maß des mit den vorhandenen Kräften und unter Berücksichtigung der Gesamtlage Erreichbaren wird immer fraglich bleiben. Der Stillstand im Osten war auch dadurch bedingt, daß wieder Truppen nach dem Westen verlegt werden mußten, weil hier starke Angriffe zu erwarten waren; außerdem plante Falkenhayn einen Vernichtungsschlag gegen Serbien, um Bulgarien als Bundesgenossen zu gewinnen und die Verbindung mit der Türkei herzustellen.

Bulgarien, Serbien, Griechenland,

Isonzofront

Die langwierigen Verhandlungen mit Bulgarien (S. 387) kamen endlich im Spätsommer 1915 zum Abschluß. Wie Italien hatten die beiden kriegführenden Gruppen Bulgarien umworben. Die Entente konnte Serbien, Rumänien und Griechenland nicht zur Abtretung der von Bulgarien begehrten Balkangebiete, vor allem Mazedonien, bewegen. Dagegen gewährte auf energischen Druck Deutschlands hin die Türkei in dem Vertrag vom 3. September Bulgarien Grenzberichtigungen bei Adrianopel und trat den Unterlauf der Maritza ab, wodurch Bulgarien freien Zugang zur Ägäis erhielt. Außerdem versprachen die Mittelmächte Bulgarien den serbischen Teil Mazedoniens und auch Griechisch-Mazedonien und die Dobrudscha, wenn Griechenland und Rumänien sich der Entente anschließen würden. Da befahl König Ferdinand von Bulgarien am 21. September die allgemeine Mobilmachung. Am 3. Oktober überreichte der russische Gesandte in Sofia ein Ultimatum mit der Forderung des Abbruchs der Beziehungen zu Deutschland; England und Frankreich schlossen sich dem Ultimatum an. Die Ententemächte 417 27 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Erster Weltkrieg: 1915 befriedigte die Antwort auf das Ultimatum nicht, und so beriefen sie ihre Gesandten aus Sofia ab. Anfang Oktober griffen nach Falkenhayns Plan die Deutschen, Österreicher und Bulgaren Serbien an; den Oberbefehl führte Mackensen. Am 9. Oktober fiel Belgrad. Das unwegsame Gelände und schlechte Witterung erschwerten den Vormarsch gegen die zäh kämpfenden Serben. Sie zu umzingeln, gelang nicht; mehrfach geschlagen, wurden sie immer weiter zurückgedrängt. Anfang Dezember entkamen die Reste des in voller Auflösung befindlichen Heeres, etwa 50 000 Mann, auf albanisches Gebiet und wurden von Schiffen der Entente aufgenommen. Über Serbien und Bulgarien war nun die Landverbindung mit der Türkei und ihre Versorgung mit Kriegsmaterial gesichert. — Nach dem Sieg über Serbien kam es zwischen Conrad von Hötzendorf und Falkenhayn wegen der Fortsetzung der Operationen gegen Montenegro und Albanien fast zum Bruch. Conrad ging selbständig vor; am 10. Januar 1916 besetzten die Österreicher nach hartem Kampf den strategisch wichtigen Lovcen, eroberten die Hauptstadt Cetinje und drangen bis Nordalbanien vor. König Nikita von Montenegro entfloh. König Konstantin von Griechenland suchte die Neutralität seines Landes zu wahren. Als Serbien unter Berufung auf das Bündnis von 1913 griechische Hilfe forderte, wurde sie verweigert, weil das Bündnis nur für einen Krieg der Balkanstaaten, aber nicht in einem Weltkrieg der Großmächte gelte. Anfang Oktober 1915 entließ der König den die Entente begünstigenden Ministerpräsidenten Veniselos. Gleichzeitig landeten französische und englische Truppen in Saloniki, um den Serben Hilfe zu bringen und rechtfertigten diese Verletzung der griechischen Neutralität mit der Begründung, König Konstantin habe die Erfüllung seiner Bündnispflichten gegenüber Serbien verweigert. Die griechische Regierung protestierte, freilich vergebens, und ließ sich weder durch Drohungen noch durch Versprechungen — die Engländer boten sogar die Abtretung Cyperns an — zur Teilnahme am Krieg bewegen. Für die Serben kam die Hilfe der nur langsam vorrückenden Ententetruppen zu spät. Bei den Mittelmächten war man sich nicht einig über die Gegenmaßnahmen: Conrad wollte die Operationen bis zur Eroberung des ganzen Balkans fortsetzen, Falkenhayn hingegen die griechische Neutralität nicht verletzt wissen. Ende November wandten sich Teile der bulgarischen Armee gegen die eingedrungenen Ententetruppen und zwangen sie zum Rückzug auf Saloniki, wo sie ihre Stellung immer stärker ausbauten. An der griechischen Grenze machten die Bulgaren Mitte Dezember auf Anweisung Falkenhayns halt; ihre Wünsche — Rache an Serbien und der Besitz Serbisch-Mazedoniens — hatten sich erfüllt. Conrad drängte weiterhin auf Vertreibung der Ententetruppen vom Balkan und endlich stimmte Falkenhayn zu. Anfang März 1916 war der Aufmarsch der Deutschen und Bulgaren an der griechischen Grenze beendet. Inzwischen hatte an der Westfront der Angriff auf Verdun begonnen (S. 424). Falkenhayn zog dort alle verfügbaren Truppen zusammen und befahl, sich an der Saloniki-Front nun wieder auf die Defensive zu beschränken. Auf Italien als Mitkämpfer hatte die Entente große Hoffnungen gesetzt, sah sich darin aber bald enttäuscht; ob und wieweit dies am Versagen der italie418

Krieg zur See. Wirtschaftskrieg nischen Truppen und ihrer Führung lag, hat besonders die Kriegsliteratur der Entente sehr verschieden beurteilt. Der Aufmarsch der italienischen Armeen vollzog sich sehr schleppend. Ihr Oberbefehlshaber, Graf Luigi Cadorna, beschränkte sich an der Alpengrenze im wesentlichen auf die Defensive und ging am Isonzo offensiv vor. An der italienischen Grenze standen nur verhältnismäßig wenig österreichische Truppen, der größte Teil war gegen Rußland und dann im Herbst gegen Serbien eingesetzt; trotzdem konnten die Italiener mit ihren Angriffen in Tirol und Kärnten und in vier schweren Schlachten am Isonzo, die erste im Juni 1915, die weiteren Mitte Oktober bis Mitte November, nur geringen Geländegewinn erzielen. Krieg zur See.

Wirtschaftskrieg

Auf das Drängen von Tirpitz und ihm Gleichgesinnter lockerte der Kaiser Anfang Januar den Befehl zur Zurückhaltung der Hochseeflotte. Am 24. Januar 1915 wagte der Flottenchef Friedrich von Ingenohl mit vier Schlachtschiffen, einigen kleinen Kreuzern und Torpedobootflottillen einen Vorstoß, um die an der Doggerbank vermuteten leichten Vorpostenstreitkräfte anzugreifen. Nun hatten die Russen vor mehreren Monaten zufällig die Leiche eines Matrosen des an der russischen Küste gestrandeten deutschen kleinen Kreuzers „Magdeburg" aufgefischt und in den noch im Tode fest verschränkten Armen dieses Matrosen die Code- und Signalbücher der deutschen Marine gefunden. Die Russen gaben den Fund an die Engländer weiter, die nun die chiffrierten deutschen Funksprüche entzifferten und die deutschen Pläne frühzeitig erfahren konnten. So trafen die Deutschen, denen auch jede Luftaufklärung fehlte, an der Doggerbank auf eine unerwartet starke Übermacht. Der erste Zusammenstoß deutscher und englischer Großkampfschiffe bewies die Leistungsfähigkeit der deutschen Flotte und ihrer Mannschaft, denn es gelang der deutschen Führung, den ungleichen Kampf abzubrechen, nur der neue Panzerkreuzer „Blücher" ging unter, wobei die Besatzung bis zum letzten Augenblick eine selbst von den Engländern bewunderte Haltung bewahrte, die übrigen Schiffe kehrten in den Heimathafen zurück. — Die Meinungsverschiedenheiten über die Seekriegsführung verschärften sich jetzt noch mehr, anstelle von Ingenohl wurde Admiral von Pohl Chef der Nordseeflotte, zum Chef des Admiralstabes ernannte der Kaiser den Admiral Bachmann, der wie Pohl gegen den Einsatz der Hochseeflotte war. Die wiederholten Bemühungen von Tirpitz um die Vereinheitlichung der Seekriegsführung, möglichst in seiner Hand, und um den Einsatz der Hochseeflotte scheiterten; mit tiefer Erbitterung mußte Tirpitz weiter der Untätigkeit der von ihm geschaffenen Flotte zusehen. Ob freilich bei der jedenfalls zahlenmäßig starken Überlegenheit der englischen Flotte der Weg, den Tirpitz einschlagen wollte, zum Sieg oder zur Vernichtung geführt hätte, und ob vor allem eine Durchbrechung der Deutschland von der Welt abschnürenden Blockade gelungen wäre, ist sehr fraglich. Auf den Haager Friedenskonferenzen und in der Londoner Seerechtserklärung von 1909 waren eine Reihe von Bestimmungen getroffen worden über Handels419 27·

Erster Weltkrieg: 1915 blockade im Seekrieg, über Bannware, ob sie audi auf neutralen Schiffen beschlagnahmt werden dürfe oder nicht, und ähnliches. In einer am 4. Februar 1915 veröffentlichten Denkschrift protestierte die deutsche Regierung gegen das völkerrechtswidrige Verhalten Englands seit Kriegsbeginn: es habe auch nicht zu kriegerischen Zwecken dienende Gegenstände als Konterbande erklärt, es habe auch auf neutralen Schiffen derartiges deutsches Eigentum beschlagnahmt und zahlreiche wehrfähige Deutsche als Kriegsgefangene weggeführt, es habe die ganze Nordsee zum Kriegsschauplatz erklärt und auch den Neutralen die Durchfahrt aufs äußerste erschwert und gefährdet. „Alle diese Maßnahmen verfolgen offensichtlich den Zweck, durch die rechtswidrige Lahmlegung des legitimen neutralen Handels nicht nur die Kriegführung, sondern auch die Volkswirtschaft Deutschlands zu treffen und letzten Endes auf dem Wege der Aushungerung das ganze deutsche Volk der Vernichtung preiszugeben. Die neutralen Mächte haben sich den Maßnahmen der britischen Regierung im großen und ganzen gefügt . . . Großbritannien beruft sich für seine völkerrechtswidrigen Maßnahmen auf die Lebensinteressen, die für das britische Reich auf dem Spiele stehen, und die neutralen Mächte scheinen sich mit theoretischen Protesten abzufinden, also tatsächlich die Lebensinteressen von Kriegführenden als hinreichende Entschuldigung für jede Art der Kriegführung gelten zu lassen. Solche Lebensinteressen muß nunmehr auch Deutschland für sich anrufen; es sieht sich daher zu seinem Bedauern zu militärischen Maßnahmen gegen England gezwungen, die das englische Verfahren vergelten sollen." Diese an die verbündeten, neutralen und feindlichen Mächte gerichtete Denkschrift erläuterte die „Bekanntmachung des deutschen Generalstabes" vom gleichen Tag: „1. Die Gewässer rings Großbritanniens und Irlands, einschließlich des gesamten englischen Kanals werden hiermit als Kriegsgebiet erklärt. Vom 18. Februar 1915 an wird jedes in diesem Kriegsgebiet angetroffene Kauffahrteischiff zerstört werden, ohne daß es immer möglich sein wird, die dabei der Besatzung und den Passagieren drohenden Gefahren abzuwenden. 2. Auch neutrale Schiffe laufen in dem Kriegsgebiet Gefahr, da es angesichts des von der britischen Regierung am 31. Januar angeordneten Mißbrauchs neutraler Flaggen und der Zufälligkeiten des Seekrieges nicht immer vermieden werden kann, daß die auf feindliche Schiffe berechneten Angriffe auch neutrale Schiffe treffen." So begann der U-Boot-Handelskrieg. Die völkerrechtswidrige, warnungslose Torpedierung im Sperrgebiet auch von neutralen und Passagierschiffen glaubte die deutsche Regierung wie vorher die Verletzung der belgischen Neutralität mit der Notlage des Reiches rechtfertigen zu können; in beiden Fällen wogen indes die militärischen Vorteile bei weitem nicht die moralische Einbuße, vor allem bei den Neutralen auf. Besonders die Vereinigten Staaten protestierten entrüstet und drohend, wenn auch in höflicher Form, gegen die Beschränkung ihrer Handelsfreiheit und die Gefährdung ihrer Bürger. Mit einer streng durchgeführten Neutralität war der sehr beträchtliche und immer mehr ansteigende Waffenhandel privater amerikanischer Firmen nach England — schon in den ersten neun Monaten des Krieges belief er sidi auf eine Milliarde Dollar — nicht vereinbar, doch erklärten ihn die Vereinigten Staaten 420

Krieg zur See. Wirtschaftskrieg als vollkommen rechtmäßig und als gegen ihre Neutralität nicht verstoßend. Bethmann-Hollweg und die Oberste Heeresleitung waren sich der Gefahren des Eintritts der Vereinigten Staaten in den Weltkrieg voll bewußt, und so wurde den Unterseebooten erst Schonung der amerikanischen und dann aller neutralen Schiffe befohlen. Dies erschwerte einen wirksamen Einsatz der Unterseeboote sehr, denn fast alle Handelsdampfer waren bewaffnet und die englischen Schiffe fuhren nach einem Geheimbefehl meist unter neutraler Flagge, wogegen die Neutralen vergeblich protestierten. Im Anfang hatten die U-Boote nur geringe Bewaffnung und Schnelligkeit, so daß ein Auftauchen zur Feststellung der Nationalität und zur Durchsuchung gemäß dem für den Kreuzerkrieg geltenden Prisenrecht sehr gefährlich war. Tirpitz, der vor dem Krieg der neuen, zuerst von Frankreich entwickelten U-Bootwaffe keinen großen Wert beigelegt hatte, trat nach den ersten Erfahrungen entschieden für den Bau und die Verbesserung der U-Boote ein, wollte aber erst, wenn mehr der im Bau befindlichen U-Boote zur Verfügung ständen, den U-Bootkrieg aufnehmen, dann aber uneingeschränkt durchführen. Tirpitz verstand, worüber sich Bethmann-Hollweg bitter beklagte, in breitesten Schichten des Volkes den Glauben zu wecken, daß „der U-Bootkrieg, sofort und richtig eingesetzt, uns schnellen Sieg und Frieden verbürge. Die Folgen waren unausbleiblich. Nie konnte die Stimme der so aufgerufenen Öffentlichkeit wieder zum Schweigen gebracht werden." Die im Februar 1915 zur Verfügung stehenden 21 U-Boote leisteten innerhalb der einschränkenden Befehle, was sie konnten, um die englische Schiffahrt zu schädigen. Die Versenkung des englischen Passagierdampfers „Lusitania" (31 000 Tonnen) am 7. Mai 1915 vor der Südküste Irlands beschwor eine schwere Krise herauf. Von den 2000 Passagieren verloren fast 1200 das Leben, darunter über 100 Bürger der Vereinigten Staaten. Der deutsche Botschafter, Graf Bernstorff, hatte in der amerikanischen Presse ausdrücklich vor den Gefahren einer Fahrt in das Sperrgebiet gewarnt. Die „Lusitania" fuhr unter englischer Flagge, wurde in der von der englischen Admiralität herausgegebenen Liste als Hilfskreuzer angeführt, häufig als Truppentransporter und für Verschiffung wertvollen Kriegsmaterials benutzt und hatte auf dieser letzten Fahrt über 5000 Kisten Munition an Bord, deren Explosion das schnelle Sinken und damit die hohe Zahl an Toten verursachte. Trotzdem Schloß sich an die Versenkung der „Lusitania" ein langer und gereizter Notenwechsel zwischen Berlin und Washington an. Graf Bemstorff teilte der Regierung der Vereinigten Staaten mit: „Die Kaiserliche Regierung bedauert aufrichtig den Verlust von Menschenleben durch den Untergang der .Lusitania', muß jedoch jede Verantwortung ablehnen", wies auf die Bewaffnung des Schiffes und das von ihr beförderte Kriegsmaterial hin und rechtfertigte den deutschen U-Bootkrieg überhaupt im Sinne der Denkschrift vom 4. Februar. Die Regierung der Vereinigten Staaten antwortete Mitte Mai: „Es ist klar, daß die Unterseeboote, wie die Ereignisse der letzten Zeit gezeigt haben, nicht gegen Handelsschiffe verwendet werden können ohne unvermeidliche Verletzungen Vieler geheiligter Grundgesetze der Menschlichkeit und Gerechtigkeit. Amerikanische Bürger handeln innerhalb der Grenzen ihrer unbestreitbaren Rechte, wenn 421

Erster Weltkrieg: 1915 sie auf hoher See überall ihre Schiffe dahin steuern und zur See überall dahin reisen, wohin sie ihre rechtmäßigen Geschäfte führen." Die deutsche Regierung erwiderte darauf, die „Lusitania" wäre kein „gewöhnliches unbewaffnetes Handelsschiff", sie hätte wie schon früher kanadische Truppen und Kriegsmaterial an Bord gehabt; die deutsche Regierung glaube, „in gerechter Selbstverteidigung zu handeln, wenn sie durch Vernichtung der für den Feind bestimmten Munition das Leben ihrer Soldaten zu schützen sucht". Nach der amerikanischen Gesetzgebung sei die Beförderung von Passagieren auf Schiffen, die Explosivstoffe geladen haben, ausdrücklich verboten. Die englische Schiffahrtsgesellschaft habe, indem sie trotzdem Passagiere an Bord nahm, „in frevelhafter Weise den Tod so zahlreicher Passagiere verschuldet". Die amerikanische Regierung behauptete nun, nach den Feststellungen ihrer Beamten sei keinerlei Munition an Bord gewesen (spätere Untersuchungen erwiesen das Gegenteil), und versicherte, sie „bemühte sich um etwas Größeres als bloße Eigentumsrechte oder Handelsprivilegien, sie bemühte sich um so Erhabenes und Heiliges wie die Rechte der Menschlichkeit, durch deren Achtung sich jede Regierung ehrt und auf die keine Regierung im Interesse der in ihrer Obhut und Gewalt Stehenden verzichten darf". Bei aller Geschäftstüchtigkeit und allem Selbstbewußtsein war die Betonung des Humanitätsideals keineswegs, wie man in Deutschland meinte, bloße Heuchelei. Gewiß gehörten die Sympathien der Amerikaner den Engländern mehr als den Deutschen, immerhin waren 1913 mit dem Präsidenten Woodrow Wilson in den Vereinigten Staaten „Männer zur Herrschaft gelangt, die sich mit religiöser Leidenschaft für den Gedanken begeisterten, der Welt durch Schiedsgerichte, Abrüstung und Völkerbund den ewigen Frieden zu sichern, damit sich die Völker in demokratischer Freiheit selber regieren und Kultur wie Zivilisation und nicht zum wenigsten auch die kapitalistische Wirtschaft sich entwickeln und blühen könnten" (Ziekursch). Wilson versuchte durch seine Vermittlung zwischen der englischen und der deutschen Regierung eine Verständigung über die Änderung der Seekriegsführung zu erreichen; Deutschland erklärte sich zu Verhandlungen darüber bereit, England nicht. Auf den Notenwechsel über den Lusitania-Fall hin wurden die deutschen UBoote angewiesen, große Passagierdampfer nicht mehr anzugreifen, und als am 19. August ein U-Boot den englischen Passagier- und Frachtdampfer „Arabic" (15 000 Tonnen) versenkte, wobei drei Amerikaner mit untergingen, endete ein abermaliger deutsch-amerikanischer Notenwechsel mit dem Befehl, kein Passagierdampfer dürfte vor der Rettung aller Passagiere versenkt werden. Da sich dieser Befehl als undurchführbar erwies, wurde am 18. September im Westen Englands und im Kanal der U-Boothandelskrieg völlig eingestellt, in der Nordsee sollte nur noch nach der allgemein anerkannten Prisenordnung vorgegangen werden. Tirpitz reichte daraufhin sein Abschiedsgesuch ein; der Kaiser lehnte es ab. Während die lenkbaren Luftschiffe sich für die Armee nicht bewährten, da sie dem feindlichen Abwehrfeuer eine zu große Angriffsfläche boten, leisteten sie ebenso wie die Flugzeuge auf See zur Aufklärung sehr gute Dienste. Seit Januar 1915 wurden sie auch zum Bombenabwurf auf die englische Ostküste und die

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Krieg zur See. Wirtschaftskrieg Docks von London eingesetzt. Sehr viel Schaden konnten sie nicht anrichten, sie reizten und verärgerten nur die Engländer, weswegen Bethmann-Hollweg sich besonders gegen die Angriffe auf London aussprach. Die Deutschland vom Weltmarkt fast ganz abschneidende englische Blockade zwang zur Einführung einer staatlich gelenkten Planwirtschaft. Nicht nur die kriegswichtigen Rohstoffe, auch die Nahrungsmittel mußten erfaßt und verteilt werden; als erste Notmaßnahme wurde im Januar 1915 die Brotkarte eingeführt. Dem drohenden Mangel an Sprengstoffen half die dem Chemiker Fritz Haber eben jetzt geglückte Erfindung ab, Stickstoff aus der Luft zu gewinnen; Haber und Bosch entwickelten das Verfahren derart, daß ohne die bisherige Einführung von Chilesalpeter (monatlich durchschnittlich 60 000 Tonnen) für die Sprengstoffund die Düngemittelherstellung der Bedarf gedeckt werden konnte. Seit Herbst 1914 standen das Erzbecken von Longwy und Briey und ganz Belgien unter deutscher ZivilVerwaltung; die Erzeinfuhr aus Schweden blieb im wesentlichen ungestört. Der Knappheit an Metallen wie Nickel, Kupfer, Messing, Bronze suchte man durch Beschlagnahme der vorhandenen Bestände abzuhelfen, öffentliche Sammlungen von Metallgegenständen ergaben beträchtliche Mengen aus Privatbesitz, später wurden auch Denkmäler und Kirchenglocken eingeschmolzen. Der Auf- und Ausbau der Kriegswirtschaft stieß auf große Schwierigkeiten. Aus dem Mangel an Erfahrung ergaben sich viele Mißgriffe; die Warenknappheit führte zu Preissteigerungen, denen der Staat, allerdings vergeblich, großenteils durch die Festsetzung von Höchstpreisen zu begegnen suchte. Damals kamen Begriffe auf wie Schleichhandel, Hamsterer, Kriegsgewinnler, die Schattenseite zu der Geduld und der Disziplin, mit der die große Masse des Volkes die Nöte der Zeit ertrug.

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Das Kriegsjahr 1916

Die deutschen Pläne für 1916 Falkenhayn plante, durch einen Angriff an der Maas in Richtung Verdun die Franzosen zum Verbluten zu bringen, da sie diesen Eckpfeiler ihrer Stellung bis zum letzten verteidigen würden. Falkenhayn wollte damit audi England empfindlich treffen, für das Frankreich „die wichtigste Waffe auf dem Festland" sei; an allen anderen Fronten sollten sich die deutschen Truppen auf die Defensive beschränken. Außerdem wünschte Falkenhayn die Schwächung Englands durch den U-Bootkrieg; der neue Chef des Admiralstabes, von Holzendorff, erklärte im Einvernehmen mit Tirpitz am 12. Februar 1916 in einer Denkschrift: „Wird der neue U-Bootkrieg uneingeschränkt, d. h. mit der Maßgabe geführt, daß im Kriegsgebiet jeder Schiffsverkehr vernichtet werden darf, dann steht in sicherer Aussicht, daß England sich infolge unerträglicher Beengung des Fraditraums und damit der Zu- und Ausfuhren und folgeweise gesteigerten Teuerung, unterstützt durch schwerste finanzielle Bedrohung, in absehbarer Zeit, längstens in sechs Monaten, zum Friedensschluß gezwungen sehen wird." Bethmann-Hollweg widersetzte sich dem uneingeschränkten U-Bootkrieg, weil er zum Bruch mit den Vereinigten Staaten führe und nur als letztes Mittel angewendet werden dürfe. — General Conrad verlangte für die Niederwerfving Italiens kräftige deutsche Unterstützung und traf, als Falkenhayn seinen Beistand verweigerte, ohne ihn die Vorbereitungen, galt doch Italien als Österreichs Erbfeind, gegen den alle Nationalitäten der österreichisch-ungarischen Monarchie einig waren, während sich den Russen gegenüber schon 1915 in der Armee bedenkliche Zersetzungserscheinungen gezeigt hatten; das Versprechen der Russen, jeden slawischen Uberläufer als Bruder aufzunehmen, tat seine Wirkung.

Verdun Unter Führung des deutschen Kronprinzen Wilhelm begann am 21. Februar 1916 der Angriff auf Verdun. Nach Anfangserfolgen — am 25. wurde das Fort Douaumont erobert — trat ein Stillstand ein, weil die von der Heeresleitung zugesagten Reserven nicht rechtzeitig ankamen; immerhin waren die Franzosen bereits so entmutigt, daß Joffre nach Verdun telegraphierte: „Jeder Führer, der unter 424

Russische Offensive am Naroczsee. Italien. Brussilow-Offensive den augenblicklichen Umständen einen Befehl zum Rüdezug gibt, wird vor ein Kriegsgericht gestellt." Als dann General Pétain, ein guter Organisator, kühl und klarblickend, mit einer neuen Armee eintraf und den Oberbefehl übernahm, begann das entsetzlich blutige Ringen in der „Hölle von Verdun". Anfang März leiteten die Deutschen auf beiden Ufern der Maas wieder einen Angriff ein, aber auch dieser erzielte keine entscheidenden Fortschritte. Der Kronprinz erkannte nach seinen eigenen Worten bald, daß seine Armee „nach dem siegreichen Beginn des Großangriffs in das mühselige, verlustreiche Würgen hartnäckigster Teilkämpfe geraten war", wobei er nur noch „auf den zweifelhaften Erfolg rechnete, weniger zu leiden als der Feind". Selbst diese Hoffnung erfüllte sich nicht. Falkenhayn hatte geglaubt, er werde bei verhältnismäßig geringen Verlusten die Offensivkraft des französischen Heeres brechen; die Feinde konnten jedoch den ungeheuren Verbrauch an Menschen und Kriegsmaterial viel leichter ersetzen als die Deutschen. So war der Kronprinz für das Abbrechen des Kampfes, sein Stabschef General Schmidt von Knobeisdorff drang indes auf die Fortsetzung und Falkenhayn Schloß sich ihm an. Die beherrschenden Höhen „304" und „Toter Mann" wurden nun im Mai, Anfang Juni Fort Vaux, südöstlich Douaumont, erstürmt. Die französische Front schwankte. Pétain verlangte von den Engländern, sie sollten ihre große Offensive an der Somme baldigst beginnen; die umfangreichen Vorbereitungen dazu konnten jedoch vor Ende Juni nicht beendet werden. Joffre befahl deshalb, sofort weiterzukämpfen, denn Verdun war zum Sinnbild der Widerstandskraft Frankreichs geworden. Seit Ende Juni versuchten die Deutschen vergebens, Fort Souville zu nehmen; am Abend des 11. Juli kam schließlich von Falkenhayn der Befehl: „Da die für heute angesetzten Angriffsziele trotz Aufwand von Grünkreuzmunition (Giftgas) und Kampfmitteln aller Art nicht erreicht sind, wird der Heeresgruppe Kronprinz strikte Defensive befohlen." Die Verluste vom Beginn der Verdunoffensive an werden für die Deutschen mit 240 000 Mann, für die Franzosen mit 275 000 Mann angegeben.

Russische Offensive am Naroczsee. Angriff gegen Italien.

Brussilow-Offensive

Im Osten hatten die Russen Mitte März eine Entlastungsoffensive am Naroczsee versucht; sie brach trotz der dünnen deutschen Linien unter schweren russischen Verlusten zusammen. „Zu förmlichen Hügeln häufen sich die russischen Gefallenen vor unserer Front", schrieb Hindenburg in seinen Erinnerungen, „die Anstrengungen für den Verteidiger sind freilich in das Ungeheure gesteigert. Eingebrochenes Tauwetter füllt die Schützengräben mit Schneewasser, verwandelt die bisher deckenden Brustwehren in zerfließenden Erdbrei und macht aus dem ganzen Kampffeld einen grundlosen Morast. Bis zur teilweisen Bewegungsunfähigkeit schwellen den Grabenbesatzungen die Gliedmaßen in den eisigen Wassern an. Allein es bleibt genug Lebenskraft und Kampfeswille in diesen Körpern, um die feindlichen Anstürme immer wieder zu brechen". — Den österreichischen Angriff auf Italien von Tirol her hatte Conrad von Hötzendorf sorgfältig vorbe425

Erster Weltkrieg: 1916

reitet, Truppen und Artillerie zur Verstärkung von Galizien herangeführt. Er wollte in die Ebene vorstoßen, dann die Isonzoarmee im Rüdcen fassen und vernichten. Nach Anfangserfolgen Mitte Mai blieb der Angriff nodi im Gebirge stecken. Cadorna warf alle verfügbaren Reserven nach Tirol und bat die Russen dringend, ihre geplante Offensive zu beschleunigen. Am 4. Juni ging Brussilow in Ostgalizien in breiter Front gegen die geschwächten österreichischen Linien vor, durchbrach sie in einer Breite von 50 Kilometern und nahm 200 000 Mann gefangen. Der Erfolg kam den Russen selbst so unerwartet, daß sie ihn nicht zur vielleicht kriegsentscheidenden Vernichtung der österreichisch-ungarischen Heeresmacht ausnutzen konnten. Die Russen hatten geplant, ihren Angriff weiter nördlich gegen die dort stehenden deutschen Armeen zu richten und dafür Reserven bereitgestellt, die nun, wie auch ausreichende Munition, zur Fortführung des Kampfes gegen die Österreicher fehlten. An der deutschen Ostfront brachen im Juni und Juli schwere russische Angriffe erfolglos zusammen, besonders hart wurde um den Eisenbahnknotenpunkt Baranowitschi gerungen. Im August mußten die Russen erkennen, daß ihre großen Opfer an Menschen und Material vergeblich waren. Skagerrakschlacht.

Tirpitz' Entlassung.

U-Boot-Krieg

In diese Zeit fiel die einzige große Seeschlacht des Krieges. Im Januar 1916 trat an die Stelle des schwer erkrankten Admiral Pohl als Chef der Hochseeflotte Vizeadmiral von Scheer, der im Sinne von Tirpitz die Engländer unter günstigen Bedingungen zu einer Schlacht herausfordern wollte. Der Kaiser billigte Scheers Pläne. Die von Scheer befohlenen verstärkten Luftangriffe, Vorstöße der Torpedoboote und Beschießung militärisch wichtiger Plätze an der Ostküste Englands durch die Hochseeflotte sollten England zum Einsatz seiner Flotte herausfordern. Die Engländer planten daraufhin, die deutsche Flotte in eine Falle zu locken; dem kam jedoch die Offensive Scheers am 31. Mai 1916 zuvor. Am Skagerrak stießen von deutscher Seite 21 Großkampfschiffe, 6 ältere Linienschiffe, 11 kleine Kreuzer und 61 Torpedoboote mit 37 englischen Großkampfschiffen, 8 Panzer- und 26 kleinen Kreuzern und 79 Torpedobooten zusammen. Die Nacht setzte dem Kampf ein Ende. Der englische Admiral Jellicoe versuchte noch, der deutschen Flotte den Rückweg abzuschneiden, Scheer gelang es, seine Schiffe unter Kämpfen mitten durch die englische Nachhut zu führen. Am Morgen des 1. Juni kehrten beide Flotten in ihre Heimathäfen zurück. Scheer hatte sich als hervorragender Taktiker erwiesen, und die vorzüglich ausgebildeten Offiziere und Mannschaften vollzogen seine Befehle mustergültig. Die deutsche Panzerung der Schiffe war stärker und die deutsche Artillerie, obwohl leichter als die englische, wirksamer, weil die Geschosse nicht beim Aufprall, sondern erst im Innern des getroffenen Schiffes explodierten. So erlitten die Engländer erheblich größere Verluste: 115 000 Tonnen und über 6000 Mann gegen 61 000 Tonnen und 2500 Mann auf deutscher Seite. Der Jubel in Deutschland über die Bewährung und den „Sieg" der deutschen Flotte war groß. Wenn aber der Kaiser am 5. Juni in Wilhelmshafen 426

Tirpitz' Entlassung. U-Boot-Krieg

bei seiner Dankrede an die Marine sagte: „Die englische Flotte wurde geschlagen! Der erste gewaltige Hammerschlag ist getan, der Nimbus der englischen Weltherrschaft ist geschwunden", so entspricht dies nicht ganz der Wahrheit. Die Schlacht wurde abgebrochen, blieb also unentschieden. Hätte Jellicoe die deutsche Flotte nach Westen abdrängen können, so wäre sie bei Erneuerung des Kampfes am folgenden Tag durch den Mangel an Munition und Kohle und durch die teilweise schweren Beschädigungen der Schiffe in eine äußerst mißliche Lage geraten. Admiral Scheer kam in seinem Bericht an den Kaiser zu dem Schluß: „Bei günstigem Verlauf der weiteren Operationen wird der Gegner zwar empfindlich geschädigt werden können, trotzdem kann kein Zweifel bestehen, daß selbst der glücklichste Ausgang einer Hochseeschlacht England in diesem Krieg nicht mehr zum Frieden zwingen wird . . . Ein sieghaftes Ende des Krieges in absehbarer Zeit kann nur durch Niederringen des englischen Wirtschaftslebens erreicht werden, also durch Ansetzen des U-Bootes gegen den englischen Handel. Hierzu irgendeine abgeschwächte Form zu wählen, muß ich nach pflichtgemäßer Überzeugung nach wie vor Euer Majestät dringend abraten." Die Engländer zogen sich nach den Erfahrungen der Skagerrakschladht noch mehr zurück, sie wollten die für England lebenswichtige Flotte nicht mehr den Zufälligkeiten einer Seeschlacht aussetzen. Noch zweimal, im August und Oktober 1916, lief Scheer mit der Hochseeflotte aus, mußte aber, ohne auf die englische gestoßen zu sein, zurückkehren. Die englische Admiralität beschränkte sich im wesentlichen darauf, die Nordsee so weit wie irgend möglich mit Minen zu verseuchen. Am Tag der Skagerrakschlacht war Tirpitz schon seit sechs Wochen nicht mehr Staatssekretär der Marine. Ihn hatte tief gekränkt, daß er zu dem Kronrat vom 4. März 1916 nicht zugezogen und daß in diesem beschlossen worden war, der U-Boot-Krieg solle vertagt werden. Am 12. März reichte Tirpitz sein Abschiedsgesuch ein: „Die Zermürbung meiner seelischen Kräfte durch die in letzter Zeit gesteigerten inneren Kämpfe, unter denen ich gestanden habe, macht es für mich jedoch unabweislich, Euer Majestät zu melden, daß ich die Geschäfte des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes nicht mehr zu führen vermag." Der Kaiser bewilligte das Gesuch am 5. März in einem sehr huldvollen Handschreiben, rühmte Tirpitz als „Baumeister und Organisator der Marine" und verlieh ihm einen hohen Orden. Die öffentliche Meinung würdigte dankbar die Verdienste von Tirpitz und übte teilweise mehr oder weniger offen Kritik am Kaiser. Die „Alldeutschen Blätter" schrieben: die Entlassung von Tirpitz „bedeutet ohne Frage in militärischer, vor allem aber auch in politischer Hinsicht den schwersten Rückschlag, den wir während des ganzen Krieges zu verzeichnen hatten". Die „Deutsche Zeitung" schrieb: „Drei Paladine (Bismarck, Moltke, Roon) hat Kaiser Wilhelm der Ehrwürdige gehabt . . . e i n e n Paladin hatte unser Kaiser. Und der ist gegangen." In seinen 1919 erschienenen Erinnerungen bedauerte Tirpitz den Rücktritt: „Hätte ich vorausgesehen, daß die Schlacht am Skagerrak meine Stellung wieder stärken, und daß Hindenburg und Ludendorff an die Spitze kommen sollten, so würde ich wohl allen Demütigungen zum Trotz versucht haben, auszuharren; und dann würde . . . der Friede mit dem Zaren kräftiger angestrebt und der U-Boot-Krieg 427

Erster Weltkrieg: 1916 noch rechtzeitig begonnen worden sein. Aber wer will der Vorsehung in die Karten blicken?" Am 24. März 1916 versenkte im Kanal ein deutsches U-Boot den französischen Passagierdampfer „Sussex" ohne Warnung, weil es ihn für einen englischen Minenleger hielt. Unter den etwa 80 ums Leben Gekommenen befanden sich auch einige Amerikaner. Darauf erfolgte ein äußerst scharfer Protest aus Washington, der mit der Drohung endete: „Wenn es noch die Absicht der Kaiserlichen Regierung ist, unbarmherzig und unterschiedslos weiter gegen Handelsschiffe mit Unterseebooten Krieg zu führen, ohne Rücksicht auf das, was die Regierung der Vereinigten Staaten als die heiligen und unbestreitbaren Gesetze des internationalen Rechtes und die allgemein anerkannten Gebote der Menschlichkeit ansehen muß . . . kann die Regierung der Vereinigten Staaten keine andere Wahl haben, als die diplomatischen Beziehungen zur deutschen Regierung ganz zu lösen." In ihrer Antwort beklagte sich die deutsche Regierung, daß „die humanitären Gefühle der amerikanischen Regierung, die sich mit so großer Wärme den bedauernswerten Opfern des U-Boot-Krieges zuwenden, sich nicht mit der gleichen Wärme auch auf die vielen Millionen von Frauen und Kindern erstrecken, die nach der erklärten Absicht der englischen Regierung in den Hunger getrieben werden und durch ihre Hungerqualen die siegreichen Armeen der Zentralmächte zu schimpflicher Kapitulation zwingen sollen". Die deutsche Regierung beschuldigte dann England vielfachen Bruches des Völkerrechts und betonte den Willen zum Frieden; um einen Krieg mit den Vereinigten Staaten zu vermeiden, erklärte sie, der U-Boot-Krieg solle nur noch nach dem Prisenrecht geführt werden. Mit dieser Entscheidung war nicht nur die Marineleitung sehr unzufrieden, sondern auch Falkenhayn, der im Zusammenhang mit seinen Operationen im Westen eine Schwächung Englands durch die U-Boote wünschte. Der Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, Ballin, hatte wohl recht, wenn er dem Kaiser klar machte: „In englischen Häfen laufen auch heute noch täglich mindestens 200 Uberseedampfer ein und ebensoviele aus. Wir können England wohl die Haut ritzen, aber es sicherlich nicht zum Frieden zwingen, wenn wir davon täglich 30 bis 40 Schiffe versenken." Um hier Wandel zu schaffen, war die Zahl der deutschen U-Boote auch jetzt noch viel zu gering, eine Herausforderung Amerikas durch uneingeschränkten U-Boot-Krieg also nicht ratsam. Am 6. Juni 1916 lief der englische Panzerkreuzer „Hampshire" bei den Orkneyinseln auf die von Deutschen gelegten Minen und sank binnen 15 Minuten. Dabei fand der englische Kriegsminister, Feldmarschall Lord Kitchener, der, einer Einladung des Zaren folgend, im Auftrag der britischen Regierung zur Besprechung wichtiger militärischer Angelegenheiten nach Rußland fuhr, den Tod. In England sah man darin ein großes nationales Unglück. Sommeschlacht.

Hindenburg und Ludendorff

ersetzen

Falkenhayn

Gegen Ende Juni 1916 hatten die Engländer ihre Vorbereitungen für die große Sommeoffensive abgeschlossen. Die englischen Truppen waren auf etwa 600 000 428

Sommeschlacht. Hindenburg und Ludendorff ersetzen Falkenhayn Mann verstärkt; die Franzosen konnten infolge des Kampfes und der Verluste vor Verdun nur 26 Divisionen, etwas mehr als die Hälfte der geplanten, zur Verfügung stellen. An Artillerie und Munition standen ungeheure Mengen bereit. Die Masse der englischen Aufklärungs- und Bombenflugzeuge legte die Tätigkeit der deutschen Flieger fast ganz lahm. Sieben Tage und Nächte trommelte das feindliche Artilleriefeuer auf die deutschen Stellungen, zerstörte Hindernisse, Gräben, Unterstände, Annäherungswege und die Fernsprechverbindungen; dann begannen am 1. Juli die Sturmangriffe. Falkenhayn hielt wegen anderslautender Meldungen von der Front daran fest, der Hauptangriff würde weiter nördlich in Flandern erfolgen und stellte dort Reserven bereit, die nun an der Somme sehr fehlten. Trotz alledem gelang den Feinden im Laufe der folgenden Wochen und Monate unter beiderseitigen schwersten Verlusten nur, die deutsche Front um einige Kilometer zurückzudrängen, zumal da auch die in der Sommeschlacht erstmals eingesetzten Tanks, gepanzerte Kampfwagen mit leichten Geschützen oder Maschinengewehren, keinerlei Erfolge aufzuweisen hatten; man mußte erst aus der Erfahrung lernen, die neue Waffe wirksam zu gebrauchen. Schon in Schlachten des folgenden Jahres wußten Franzosen und Engländer ihre Kampfkraft durch Panzerwagen zu verstärken, aber irgendwie ausschlaggebend waren sie audi da noch nicht. Die deutsche Oberste Heeresleitung verkannte zunächst die Bedeutung dieser Waffe, die anders als etwa die Kanonen nicht auf Rädern, sondern auf Raupenketten lief, sidi deshalb auch auf weichem Boden fortbewegen, Gräben und manch andere sonst schwer zu bewältigende Hindernisse überwinden konnte. Als auf deutscher Seite Anfang 1918 die ersten Tanks an die Front kamen, war es zu spät, um den Vorsprung der Feinde, die bereits über Tausende derartiger Kampfwagen verfügten, einzuholen. — Bei Verdun wurde auf Betreiben des Stabschefs Schmidt von Knobeisdorff gegen den Willen des Kronprinzen Wilhelm im letzten Drittel August 1916 noch ein erfolgloser Angriff unternommen. Auf Bitte des Kronprinzen versetzte der Kaiser den Stabschef. Die neue Heeresleitung befahl am 2. September wieder Beschränkung auf Verteidigung. Der Mißerfolg vor Verdun war einer der Gründe, die zur Abberufung Falkenhayns als Chef des Generalstabes führten, hinzu kamen seine Fehldispositionen bei Beginn der Sommeschlacht, die Streitigkeiten mit Conrad von Hötzendorf, die zu den Niederlagen der Österreicher in Tirol und Ostgalizien beitrugen, das Eintreten für den unbeschränkten U-Boot-Krieg, die mangelhaften Vorbereitungen für den Krieg mit Rumänien. Der Kaiser bewilligte deshalb am 29. August unter den üblichen ehrenden Worten Falkenhayns Gesuch um Enthebung aus seinem Amte und übertrug ihm Anfang September den Oberbefehl über die gegen Rumänien neu aufgestellte Armee. Als Chef des Generalstabes trat an Falkenhayns Stelle Hindenburg mit Ludendorff als Erstem Generalquartiermeister. Diesen Wechsel nahmen weite Kreise mit heller Begeisterung auf. Der vorsichtige Bethmann-Hollweg hatte schon von der Marneschlacht an durch Zensurmaßnahmen für eine Verschleierung der bitter ernsten Lage Deutschlands gesorgt, um die zuversichtliche Stimmung im Volke aufrechtzuerhalten. So knüpften sich an die Namen Hindenburg und Ludendorff große Erwartungen: die Sieger über die 429

Erster Weltkrieg: 1916 Russen würden bald alle Feinde niederwerfen und das Deutsche Reich einen gewaltigen Zusatz an Macht und Land gewinnen. — Das Bemühen, endlich die einheitliche Kriegsleitung zu erreichen, führte zwar zu dem Abkommen vom 6. September 1916, das „die Oberleitung der Operationen der Zentralmächte und ihrer Verbündeten" dem deutschen Kaiser zuerkannte, in der Praxis änderte sich jedoch kaum etwas, und als am 21. November Kaiser Franz Josef im Alter von 86 Jahren starb, übernahm der Nachfolger, sein 29jähriger Großneffe Karl, persönlich den Oberbefehl über die österreichisch-ungarische Armee; das Septemberabkommen wurde zu seinen Gunsten wieder abgeschwächt. — Ehe die durchgreifenden Maßnahmen von Hindenburg und Ludendorff auf militärischem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet wirksam werden konnten, war erst die schwere Krise des Herbstes 1916 zu überwinden. An der Somme tobte die Materialschlacht immer noch mit unverminderter Heftigkeit. Allmählich lernten die deutschen Verteidiger, sich besser gegen die neue Taktik der Feinde zu wehren; durch Einführung von Jagdstaffeln neben den Beobachtungs- und Kampfflugzeugen konnte sich jetzt die deutsche Flugwaffe gegenüber der feindlichen besser behaupten. Anfang November brachten Großangriffe den Feinden noch einigen Geländegewinn, dann waren auch sie so erschöpft, daß in diesem Teil der Front verhältnismäßige Ruhe eintrat. ·— Ende Oktober gingen die Franzosen vor Verdun zum Angriff über. Die erschöpften deutschen Truppen, die alle verfügbaren Reserven an die Sommefront abgegeben hatten, konnten die Forts Douaumont und Vaux nicht mehr halten und mußten bei einem zweiten Angriff der Franzosen Mitte Dezember noch weiter zurückgehen. Die furchtbaren Opfer in der Hölle vor Verdun waren vergebens gebracht.

Isonzofront. Eroberung Rumäniens. Griechenland.

Türkei

An der Isonzofront gelang den Italienern im August die Eroberung von Görz, in weiteren Kämpfen während der folgenden Monate kamen sie am Isonzo, in Kärnten und Tirol noch etwas vor, ein entscheidender Sieg blieb ihnen jedoch versagt. In Rumänien war der greise König Karl bereits am 10. Oktober 1914 gestorben. Sein Nachfolger König Ferdinand hielt zunächst an der Neutralitätspolitik fest, um die Entwicklung des Krieges abzuwarten. Von der Diplomatie der beiden Parteien umworben, neigte er immer stärker auf die Seite der Entente, weil sie ihm mehr bieten konnte. Den Ausschlag gab dann die Brussilow-Offensive (S. 426). Im Vertrag vom 17. August 1916 sicherte die Entente Rumänien den Gewinn Siebenbürgens, des Banats und der Bukowina zu. Der rumänische Angriff sollte sich gegen Siebenbürgen richten, während die Ententearmee von Saloniki her den Rumänen durch Angriffe auf die Bulgaren den Rücken decke und Rußland österreichische Hilfskräfte in Galizien binde. Am 27. August erklärte Rumänien Österreich-Ungarn den Krieg, am folgenden Tag Deutschland Rumänien. Den Mittelmächten kam dieser Schritt Rumäniens nicht überraschend; Falkenhayn hatte ihn 430

Hindenburgprogramm und Hilfsdienstgesetz

allerdings erst nach Einbringung der rumänischen Ernte erwartet und stand deshalb mit seinen Vorbereitungen noch ganz in den Anfängen, woraus sich eine sehr gefährliche Lage ergab. Infolge der Langsamkeit, mit der die etwa 400 000 Mann starke rumänische Armee in das völlig ungeschützte Siebenbürgen vordrang, konnte die deutsche Armee unter Falkenhayn zusammen mit den österreichischungarischen Heeren den Aufmarsch vollenden. Ende September wurden die Rumänen zweimal geschlagen und aus Siebenbürgen hinausgedrängt. Im Oktober und November kämpften sich Deutsche und Österreicher durch die Pässe der Transsilvanischen Alpen. Inzwischen war Madeensen mit deutschen, bulgarischen und türkischen Truppen in die Dobrudscha vorgestoßen und hatte den wichtigen Hafen Konstanza am Schwarzen Meer genommen; dann wandte er sich mit der Hauptmacht mehr nach Westen und überschritt bei Swistow am 23. November die Donau. Anfang Dezember brachen Falkenhayn und Mackensen den immer noch starken Widerstand der Rumänen und besetzten die Hauptstadt Bukarest. Die Reste des rumänischen Heeres zogen sich gegen den Sereth zurück, stellten sich dort, von Russen verstärkt, noch einmal zum Kampf und wurden Ende des Monats wiederum geschlagen. Hinter dem Sereth kam dann die Front zum Stehen. Über fast ganz Rumänien mit seinen reichen landwirtschaftlichen Erzeugnissen und vor allem seinen Ölquellen konnten nun die Mittelmächte verfügen; Falkenhayn und Mackensen hatten sich als hervorragende Feldherren bewährt. Die Entente war, wie schon bei den Italienern, von der Kriegshilfe des neuen Bundesgenossen sehr enttäuscht. Weder die Entlastungsangriffe der Russen in Galizien, noch die von Saloniki aus vorgehenden Truppen der Entente, verstärkt durch die reorganisierte serbische Armee, hatten Rumänien vor der völligen Niederlage bewahren können. Griechenland versuchte vergebens, seine Neutralität aufrechtzuerhalten; Ententetruppen besetzten im Oktober 1916 Athen und den Piräus. Die Türkei beanspruchte von den Mittelmächten reichliche Unterstützung mit Kriegsmaterial, band aber auch starke russische und englische Kräfte. Die deutschen Hoffnungen auf den „Heiligen Krieg" erfüllten sich freilich nicht; große Teile der mohammedanischen Araber zogen ihm den Kampf um die ihnen von den Engländern versprochene Freiheit von der türkischen Herrschaft vor. Die Russen drangen 1916 in Armenien über Erzerum hinaus vor. Eine zweite Expedition der Türkei gegen den Suezkanal scheiterte, und die Engländer gingen auf der Sinaihalbinsel zum Angriff über. In Mesopotamien kapitulierte Ende April eine englisch-indische Armee, aber im März 1917 eroberten die Engländer mit neu herangeführten Truppen Bagdad.

Hindenburgprogramm

und

Hilfsdienstgesetz

Das innere Gefüge des deutschen Volkes war nach zwei Kriegsjahren erschüttert. Schwer lasteten auf der Zivilbevölkerung die Nöte des täglichen Lebens: der Mangel an wichtigsten Nahrungsmitteln („Kohlrübenwinter" 1916/1917), infolge der englischen Blockade, an Kleidung, an Kohle usw.; die furchtbaren Verluste 431

Erster Weltkrieg: 1916

vor Verdun und an der Somme, für die kein Sieg einen Ausgleich bot, die Angst vor einer noch langen Dauer des Krieges. Dazu kamen die Preistreibereien, der Gegensatz zwischen dem Elend der Masse des Volkes und den Kriegsgewinnlern und Schiebern steigerte sich. Gegen die vaterländische Haltung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion bei Kriegsbeginn wandte sich bald eine zunächst kleine Gruppe, geführt von Karl Liebknecht, Franz Mehring, Rosa Luxemburg und Klara Zetkin. Eine zweite Gruppe, die „Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft" mit Hugo Haase, Georg Ledebour und Wilhelm Dittmann an der Spitze, trennte sich am 24. März 1916 von den „Mehrheitssozialisten"; diese bewiesen auch weiterhin, hauptsächlich unter dem Einfluß von Friedrich Ebert, eine staatstreue Gesinnung. Die Auffüllung der alten und die Aufstellung neuer Truppenverbände, zugleich die Deckung des steigenden Bedarfs an Kriegsmaterial, war eine kaum zu bewältigende Aufgabe. Hindenburg und Ludendorff forderten für das Frühjahr 1917 eine große Zahl neuer Truppen und viel größere Mengen Kriegsmaterial. Um dies trotz der weit fortgeschrittenen Erschöpfung des Volkes und der Abschnürung vom Weltmarkt zu erreichen, verlangte die Oberste Heeresleitung sowohl die zivile Dienstpflicht für jeden männlichen Deutschen vom vollendeten 17. bis zum vollendeten 60. Lebensjahr, soweit er nicht zum Dienst in der bewaffneten Macht einberufen sei, als auch straffste Zusammenfassung der Wirtschaft ausschließlich für Kriegszwecke. Das Heer der Arbeitsdienstpflichtigen sollte sich seiner sittlichen Pflicht, bei niedrigem Lohn für den Sieg des Vaterlandes zu schaffen, bewußt werden, es sollte Mannschaften für die Front freimachen und erzeugen, was die Front brauchte, andererseits sollten auch die Unternehmergewinne staatlich kontrolliert werden. Ludendorff als dem Generalquartiermeister unterstand die Versorgung der Front mit allem zum Leben und zur Kriegführung Notwendigem, er griff mit seinen Forderungen in das wirtschaftliche und innerpolitische Leben tief ein. Am 2. Dezember 1916 wurde mit 235 gegen 19 Stimmen das „Gesetz über den vaterländischen Hilfsdienst" vom Reichstag angenommen, der die Gesetzesvorlage allerdings weitgehend abänderte durch den Einbau von Sicherungen gegen willkürliche Eingriffe der Behörden in die persönliche Freiheit und wirtschaftliche Selbstbestimmung des einzelnen, gegen Ausnutzung der Arbeiter durch das Unternehmertum, für auskömmlichen Arbeitslohn und für die Mitarbeit des Reichstags und von Arbeiterausschüssen. Ludendorff äußerte sich über das Hilfsdienstgesetz höchst unzufrieden: „Es war nicht Fisch noch Vogel; wir hatten etwas Ganzes gewollt . . . Dieses Gesetz war in Praxis, vornehmlich durch die Art seiner Ausführung, nur ein Wechselbalg, der mit unserer Forderung, das ganze Volk für den Dienst des Vaterlandes aufzubieten . . . nichts mehr gemein hatte." Und ähnlich Hindenburg: „Die schließliche Gestaltung des Gesetzes zeigte freilich ein wesentlich anderes, weit bescheidneres Ergebnis als mir vorgeschwebt hatte . . . Der Gedanke, die Annahme des Gesetzes zu einer macht- und eindrucksvollen Kundgebung des gesamten deutschen Volkes zu gestalten, hatte mich den Einfluß der bestehenden inneren politischen Verhältnisse übersehen lassen. Das Gesetz kam schließlich zustande auf dem Boden innerpolitischer Handelsgeschäfte,

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Hindenburgprogramm und Hilfsdienstgesetz nicht aber auf dem tief gehender vaterländischer Stimmung." Die Form, in der das Dienstpflichtgesetz durchging, die Art seiner Durchführung und die allzu hoch gespannten Forderungen des „Hindenburgprogramms", das für Munition und Geschütze aller Art teilweise die doppelte und dreifache Produktion verlangte, wirkte sich trotz einzelner großer Erfolge im ganzen schädlich aus. Anfang November 1916 wurde im preußischen Kriegsministerium das „Kriegsamt" geschaffen und zu seinem Leiter der württembergische Generalmajor Wilhelm Groener ernannt, der sich um das Feldeisenbahnwesen große Verdienste erworben hatte. Das Kriegsamt umfaßte das Kriegsersatz- und Arbeitsdepartement, das Waffen- und Munitionsbeschaffungsamt, die Kriegsrohstoff-Abteilung, die Abteilung für Ein- und Ausfuhr und die Abteilung für Volksernährung. Trotz der Hemmung durch andere Ämter, deren Befugnisse nicht klar abgegrenzt waren, trotz eifersüchtig gewahrter Partikularinteressen der Bundesstaaten und trotz des Mangels an Erfahrungen leistete das Kriegsamt viel, konnte aber weder zahlreiche Fehldispositionen, die sich infolge des Rohstoffmangels schlimm auswirkten, noch die Uberforderung der Kriegswirtschaft vermeiden. Die zwangsweise Heranziehung belgischer Arbeitsloser zur Arbeit in Deutschland benutzte das feindliche Ausland zu einer maßlosen Hetze gegen das „unmenschliche" und „völkerrechtswidrige" Verhalten Deutschlands. Die belgischen und die durch das Hilfsdienstgesetz gewonnenen Arbeitskräfte reichten zur Erfüllung des Hindenburgprogramms nicht aus. Im Winter 1916/1917 mußten 125 000 Facharbeiter von der Front für die Industrie entlassen werden. Da sie in der Heimat den Gefahren des Krieges entzogen waren und hohe Löhne erhielten, kehrten sie nur widerwillig an die Front zurück. Die Ansprüche an körperliche Tauglichkeit wurden bei den neu einzuziehenden Truppen stark herabgesetzt; den Anforderungen im Felde dann oft nicht gewachsen, beeinflußte ihr Versagen nachteilig den Frontgeist auch vieler ihrer Kameraden. Die ungleiche Bezahlung der Soldaten und der Hilfsdienstpflichtigen führte besonders hinter der Front in der Etappe zu grotesken Erscheinungen. In Sedan zum Beispiel bewachten ein Landsturmmann und ein Hilfsdienstpflichtiger gemeinsam ein Grundstück, der Landsturmmann erhielt nur seine tägliche Löhnung, der Hilfsdienstpflichtige achtbis zehnmal soviel. Dergleichen förderte die Drückebergerei, verbitterte die Soldaten und machte sie empfänglich für die Propaganda, die durch Flugblätter der Feinde, der Pazifisten und der Spartakisten immer mehr betrieben wurde. „Der Unterschied des Schicksals des Mannes im Schützengraben mit seiner Familie gegenüber den hochbezahlten Munitionsarbeitern und der ungeheuren Raffgier zahlreicher Kriegsgewinnler, denen nicht einmal eine rechtzeitige Kriegseinkommensteuer auf reichsgesetzlicher Grundlage ihre Gewinne beschnitt, die viel zu verklausulierten Bedingungen und Ausnahmen, die Handhaben zum Tanz um das goldene Kalb für immer weitere Volkskreise gaben, hatten den Willen zum Durchhalten in dem selbstlos sich opfernden Kern des deutschen Volkes bis tief in die Front hinein schon gelähmt" (Goebel). Ludendorff hatte ursprünglich auch die Frauen in den zivilen Hilfsdienst einreihen wollen, sah aber dann davon ab, weil bereits sehr viele Frauen in den hierfür in Betracht kommenden Betrieben

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Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Erster Weltkrieg: 1916 tätig waren, und bei den hohen Löhnen, die audi die Frauen erhielten, sich mehr meldeten als untergebracht werden konnten.

Polen Schon Bismarck hatte in den achtziger Jahren bei der Erörterung des Verhältnisses zu Rußland und eines Zweifrontenkrieges öfters die „Einschiebung eines polnischen Staates" unter einem österreichischen Erzherzog als König erwogen. Als seit 1915 ganz Russisch-Polen unter deutscher Verwaltung stand, beschäftigte sich Bethmann-Hollweg ernsthaft mit diesem Problem in der Erkenntnis, daß das Selbständigkeitsstreben der Polen eine Gefahr für die Ostfront bildete, und daß man Rußland mit einer Lostrennung seiner Randgebiete empfindlich treffen könnte. Andererseits hoffte er nach jeder Niederlage der Russen, sie würden sich für einen Sonderfrieden gewinnen lassen und versuchte auf den verschiedensten Wegen, direkte Verhandlungen aufzunehmen, kannte er doch die Londoner Vereinbarung vom 5. September 1914 nicht: „Die britische, die französische und die russische Regierung verpflichten sich gegenseitig, während des gegenwärtigen Krieges keinen Sonderfrieden abzuschließen. Die drei Regierungen kommen dahin überein, daß, wenn Friedensvorschläge zur Erörterung kommen, keiner der Verbündeten Friedensvorschläge annehmen soll ohne vorherige Zustimmung eines jeden der anderen Verbündeten." Weder der Zar noch seine Regierung, außer vielleicht dem 1915 gestorbenen Staatsmann Graf Sergej Witte, haben wohl je ernsthaft an einen Sonderfrieden mit Deutschland gedacht. In der Hoffnung auf ihn hat Bethmann-Hollweg seine Polenpolitik des öfteren verschoben. Überdies verlangte Österreich für sich die Angliederung ganz Polens (mit Ausnahme der preußischen Provinzen) an Galizien. Dem widersetzte sich Bethmann-Hollweg, er wollte Schlesien nicht von zwei österreichischen Landesteilen umklammern lassen, deren polnische und tschechische Bevölkerung Deutschland nicht wohlgesinnt war; auch fürchtete er, daß dann das Polentum zum ausschlaggebenden Faktor in der Donaumonarchie werden könnte. Mit Österreich kam im August 1916 eine zunächst geheimgehaltene Einigung zustande: Russisch-Polen sollte ein selbständiges Königreich unter enger Bindung an die Mittelmächte werden, die aber von den ihnen bereits gehörenden polnischen Provinzen nichts abtreten dürften; die oberste Führung der zukünftigen polnischen Armee sollte in deutscher Hand liegen. Der Grundgedanke war, wie Bethmann schon am 5. April 1916 im Reichstag sagte: „Rußland darf nicht zum zweiten Male seine Heere an der ungeschützten Grenze Ost- und Westpreußens aufmarschieren lassen, nicht noch einmal mit französischem Gelde das Weichselland als Einfallstor in das ungeschützte Deutschland einrichten." Allmählich sickerte von den deutsch-österreichischen Vereinbarungen so viel durch, daß der Gouverneur von Russisch-Polen, General Hans von Beseler, auf ihre Ausführung drängte; er glaubte, die seit Kriegsbeginn aus Freiwilligen bestehende „Polnische Legion" dann bis zum Frühjahr 1917 auf vier bis fünf Divisionen erweitern zu können. Auf diese Aussicht hin gab die

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Friedensbestrebungen und Kriegsziele bisher der ganzen Frage skeptisch gegenüberstehende Oberste Heeresleitung ihre Zustimmung, und da sich Bethmann-Hollweg inzwischen überzeugt hatte, ein Sonderfrieden mit Rußland sei nicht zu erreichen, wurde von Deutschland und Österreich-Ungarn am 5. November 1916 das Manifest zur Errichtung eines Königreich Polen erlassen, die Festlegung der Grenzen sollte erst nach Friedensschluß erfolgen. Rußland antwortete darauf in dem an Armee und Marine gerichteten und durch Funkspruch verbreiteten Tagesbefehl vom 25. Dezember: Der Augenblick für Friedensverhandlungen sei noch nicht gekommen. „Die Erfüllung der durch den Krieg geschaffenen Aufgaben Rußlands, der Besitz Konstantinopels und der Meerengen sowie die Schaffung eines in allen seinen drei gegenwärtig getrennten Teilen freien Polens ist noch nicht gewährleistet." Die Polen faßten dies als das Versprechen restloser Erfüllung ihrer Wünsche von Seiten der Entente auf, und so erwies sich die Hoffnung auf ein besseres Verhältnis der Polen zu Deutschland und besonders auf Polens militärische Hilfe als völliger Fehlschlag. Außerdem blieb die polnische Frage weiterhin ein Zankapfel zwischen der deutschen und österreichischen Diplomatie und belastete das ohnehin etwas gespannte Verhältnis der beiden Verbündeten.

Friedensbestrebungen

und

Kriegsziele

Bethmann-Hollweg hatte bisher eine öffentliche Erörterung der deutschen Kriegsziele vermieden, innerhalb seines Kabinetts und des Auswärtigen Amtes waren sie indes immer wieder besprochen worden. Die noch nicht veröffentlichten Akten zu diesem Thema, die verstreut in verschiedenen Archiven, zum Teil in London und Washington liegen, zeigen, daß die Kriegsziele der deutschen Regierung sich vom September 1914 an im wesentlichen gleichblieben und daß als Garantien für die Sicherung Deutschlands gegen einen neuen Krieg je nach der Kriegslage mehr oder weniger weitgehende Annexionen und Vorherrschaft Deutschlands in Europa gefordert wurden. Bei dieser Einstellung hatten Friedensbestrebungen von Anfang an wenig Aussicht auf Verwirklichung, denn ein Frieden auf der Grundlage des status quo, wofür Präsident Wilson schon im Herbst 1914 seine Vermittlung anbot, schien der deutschen Regierung in der Überzeugung, daß Deutschland von den anderen Mächten zum Krieg gezwungen worden sei, und bei den bisherigen Opfern und Erfolgen Deutschlands völlig unannehmbar. Während der Mameschlacht schrieb Bethmann-Hollweg am 9. September 1914 an seinen Stellvertreter, Staatssekretär Delbrück, das allgemeine Ziel des Krieges sei „Sicherung des Deutschen Reiches nach West und Ost auf erdenkliche Zeit. Zu diesem Zweck muß Frankreich so geschwächt werden, daß es als Großmacht nicht neu erstehen kann, Rußland von der deutschen Grenze nach Möglichkeit abgedrängt und seine Herrschaft über die nichtrussischen Vasallenvölker gebrochen werden". Die Förderung des Nationalismus der russischen Randvölker, Ukrainer, Polen, Balten, Finnen, spielte in der Tätigkeit der Regierung und des Auswärtigen Amtes eine bedeutende Rolle; damit und mit der Unterstützung der

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Erster Weltkrieg: 1916 russischen Revolutionäre hoffte man, Rußland zum Sonderfrieden zu zwingen, so die Siegesaussichten für den Kampf gegen Frankreich und England zu erhöhen, zugleich Deutschland für die Zukunft durch Pufferstaaten vor Rußland zu sichern und es durch die baltischen Staaten und Finnland von der Ostsee, durch einen ukrainischen Staat vom Schwarzen Meer und vom Balkan möglichst abzudrängen. Die Ansichten über die Selbständigkeit dieser neuen Staaten und den Grad ihres politischen und vor allem wirtschaftlichen Anschlusses an die Mittelmächte waren schwankend und unterschieden sich zuweilen ebenso wie die Ansprüche auf französisches und belgisches Gebiet nicht viel von Forderungen der Alldeutschen. Ähnlich wie die nichtrussischen Völker gegen Rußland wollte man die islamischen Völker von Marokko bis Indien gegen England und Frankreich aufwiegeln, erstrebte aber zugleich einen großen geschlossenen Kolonialbesitz in Zentralafrika. Die deutsche Öffentlichkeit erörterte schon bald nach den ersten Siegen eifrig die Kriegszielfrage. Da Bethmann-Hollweg, um die zuversichtliche Stimmung im Volke zu erhalten, weder gegen die uferlosen Eroberungspläne weiter Kreise, namentlich der Alldeutschen, scharf genug vorging, noch die gefahrvolle Lage an den deutschen Fronten in ihrem ganzen Umfange ehrlich veröffentlichen ließ, verschärfte sich im Volk der Gegensatz zwischen „Annexionisten" und den Sozialisten, die einen Frieden ohne Annexionen, ohne Sieger und Besiegte anstrebten, immer mehr. Am 5. Mai 1915 legte der Alldeutsche Verband seine Kriegsziele dem Reichskanzler in einer Eingabe vor: Deutschland brauche Land für die Ansiedlung gesunden bäuerlichen Nachwuchses, also Polen, Litauen und die Ostseeprovinzen, die altes deutsches Kulturgebiet seien, im Westen Belgien, die nordfranzösische Küste bis zur Somme und die Festungslinie von Beifort bis Verdun aus Sicherheitsgründen, sowie Erweiterung des Kolonialbesitzes. In ganz ähnlichen Bahnen bewegte sich die Eingabe vom 20. Mai 1915 der sechs Wirtschafts verbände, des Bundes der Landwirte, des Deutschen Bauembundes, der christlichen deutschen Bauernvereine, des Zentralverbandes Deutscher Industrieller, des Reichsdeutschen Mittelstandsverbandes. In seinem Antwortschreiben an den Alldeutschen Verband weigerte sich der Reichskanzler, auf den Inhalt der Eingabe einzugehen und erklärte: „Ich lasse das Verdienst gelten, das der Α. V. durch die Hebung des nationalen Machtwillens und die Bekämpfung der Völkerverbrüderungsideologie sich vor dem Kriege errungen hat. Leider aber hat er diesen nationalen Willen mit so viel Mangel an politischer Einsicht verbunden, daß er schon in der Zeit vor dem Kriege das politische Geschäft des öfteren erschwert und jede Regierung, die sich nicht die Fensterscheiben zerschlagen lassen will, zu einer Gegnerschaft gegen ihn gezwungen hat." Nicht nur übersteigertes Selbstbewußtsein, auch sehr stark der Wunsch nach besserer Sicherung der gefährdeten Grenzen Deutschlands lag diesen Kriegszielen zugrunde; dem Ausland waren sie nur Beweis für die deutschen Herrschaftsgelüste und bestärkten die Feinde wie die Neutralen in der Auffassung, ein Friede mit Deutschland sei erst nach seiner Niederwerfung möglich. Den ideellen Parolen der Feinde: Verteidigung des Völkerrechts und der Freiheit der kleineren Staaten, hatte Deutschland nichts entgegenzusetzen. Die deutsche Regierung legte überhaupt vielzuwenig Wert auf

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Friedensbestrebungen und Kriegsziele

Propaganda und lehnte audi die von verschiedenen Seiten hierfür angeregte Zentralstelle ab, das sei Sache des Auswärtigen Amtes. Dessen Bemühungen, Verständnis für die Lage und die Rechte Deutschlands zu erwecken, konnten gegen die mit großem Geldaufwand betriebene und sehr geschickt gelenkte feindliche Propaganda nicht aufkommen. Beide Seiten warben besonders um die Vereinigten Staaten. Die Mehrheit ihrer Bevölkerung stand wegen der gewinnbringenden großen Kriegslieferungen und audi aus ideellen Gründen auf seiten der Entente. Der Gedanke, alle zwischenstaatlichen Streitigkeiten durch Schiedsgerichte zu schlichten, wie er seit den Haager Friedenskonferenzen immer wieder erörtert wurde, hatte namentlich in den Vereinigten Staaten sehr viele Anhänger; sie mißtrauten dem konstitutionellen deutschen Kaisertum und sahen in ihm eine Gefahr für die Demokratie, als deren vollkommensten Vertreter sie sich selbst betrachteten. Sie nahmen schweres Ärgernis an dem deutschen Einmarsch in Belgien als einem Verstoß gegen das Völkerrecht und an dem U-Boot-Krieg als einer Verletzung der Menschenrechte; über den Bruch des Völkerrechts durch die Entente, zum Beispiel bei der Blockade Deutschlands und bei der Besetzung des neutralen Griechenland, setzten sie sich hinweg. Präsident Wilson, ein hervorragender Vertreter dieser Richtung, wollte die Vereinigten Staaten zum Vermittler des Weltfriedens machen, dieser Krieg sollte der letzte sein. Im Januar 1916 sandte Wilson seinen Vertrauten, Oberst House, nach Europa, um die Möglichkeiten für Friedensverhandlungen zu sondieren. House berichtete, England und Frankreich lehnten alle Friedensvorschläge ab. Bethmann-Holhveg erklärte sich damals und im Laufe des Sommers wiederholt bereit, Wilsons Vermittlung anzunehmen, wenn auch im deutschen Volk die Stimmung über die Vereinigten Staaten wegen ihrer Parteinahme für die Entente nicht günstig sei. Wilson unternahm indes zunächst nichts, weil er erst seine Wiederwahl zum Präsidenten betreiben mußte. Er siegte mit rund 500 000 Stimmen Mehrheit, die er mit der Parole gewann: „Wilson hielt uns aus dem Kriege heraus." Mitte Oktober schlug der österreichisch-ungarische Außenminister Baron Stefan Burian vor, mit einem Friedensangebot an die Feinde heranzutreten. Mitte November 1916 einigten sich Burian und Bethmann-Hollweg über die etwaigen Bedingungen, falls Friedensverhandlungen zustande kämen. Deutschland betrafen die Bestimmungen: im Osten Anerkennung des Königreiches Polen, Abtretung kurländischer und litauischer Gebiete an Deutschland, um eine strategisch günstige Grenze des deutschen und polnischen Gebietes gegen Rußland zu gewinnen; im Westen Wiederherstellung Belgiens als souveräner Staat unter Garantien für die Sicherheit Deutschlands, Luxemburg tritt als Bundesstaat dem Deutschen Reich bei, die Grenzen zwischen Deutschland und Frankreich werden zugunsten Deutschlands strategisch und wirtschaftlich verbessert durch Angliederung des Erzbedcens von Longwy und Briey; Rückgabe der deutschen Kolonien, Austausch von Kiautschou, Karolinen und Marianen für den Kongostaat; in ähnlicher Weise wurden die Forderungen der anderen Verbündeten festgelegt. Dann verabredete der „Vierbund", Deutschland, Österreich, Bulgarien und die Türkei, eine gemein437

Erster Weltkrieg: 1916 same Note; sie enthielt nur den Wunsch, den Greueln des Krieges und dem Blutvergießen ein Ende zu machen durch einen Frieden, der „Dasein, Ehre und Entwiddungsfreiheit aller Völker" sichere. Mit der Veröffentlichung wartete man, bis der Sieg über Rumänien und die Einnahme von Bukarest Gelegenheit bot, die Stärke des Vierbundes zu betonen. Bethmann-Hollweg legte am 12. Dezember 1916 dem deutschen Reichstag in einer Sondersitzung das Friedensangebot vor; es wurde allgemein mit Zustimmung begrüßt, eine Diskussion darüber lehnte die Mehrheit ab. Am gleichen Tag ging die Note über die neutralen Mächte an die Feinde; alle Neutralen und der Papst erhielten Abschriften. Die Antwort der Ententemächte vom 30. Dezember betonte in schroffster Form die alleinige Kriegsschuld der Mittelmächte, ihre Note sei „nichts weiter als ein wohlberechneter Versuch, auf die Entwicklung des Krieges einzuwirken und zum Schluß einen deutschen Frieden zu erzwingen. Sie beabsichtigt die öffentliche Meinung in den alliierten Ländern zu verwirren", ein Friede sei nur möglich, wenn Deutschland Sühne für das von ihm begangene Unrecht, Wiederherstellung der verletzten Rechte und Freiheiten, die Anerkennung der Grundrechte der Völker verspreche und die Ursache für die Bedrohung der Völker beseitigt seien. Was damit gemeint sei, sagte Lloyd George, seit Anfang Dezember Premierminister anstelle von Asquith, am 19. Dezember im Unterhaus: „Welche Hoffnung wird in dieser Rede (von Bethmann-Hollweg) geboten, daß die ganze Wurzel und Ursache dieser großen Trübsal, der anmaßende Geist der preußischen Militärkaste nicht ebenso vorherrschend sein wird wie je, wenn wir jetzt einen Frieden zusammenstümpern?" Für Bethmann-Hollweg war sein Friedensangebot wieder ein völliger Mißerfolg, es stärkte den Siegeswillen der Feinde, die es als Anzeichen der deutschen Schwäche deuteten. Am 18. Dezember 1916 forderte Präsident Wilson alle im Krieg stehenden Nationen auf, die Friedensbedingungen, die sie als annehmbar erachten würden, bekanntzugeben und für die Sicherstellung des Friedens in Zukunft Vorschläge zu machen, denn durch den Krieg „ist das Leben der ganzen Welt tief in Mitleidenschaft gezogen. Jeder Teil der großen Familie der Menschheit hat die Last und den Schrecken dieses noch nie dagewesenen Waffenganges gespürt." Ende Dezember antwortete Bethmann-Hollweg sehr höflich, teilte aber keine Friedensbedingungen mit, sondern schlug die baldige Zusammenkunft von Delegierten der kriegführenden Staaten an einem neutralen Ort vor. Die „Alliierten", die zehn Feindstaaten, gaben am 10. Januar 1917 in einer gemeinsamen Note ihre Kriegsziele bekannt: Wiederherstellung Belgiens, Serbiens, Montenegros; Räumung der besetzten Gebiete in Frankreich, Rußland und Rumänien; Zurückgabe der Provinzen und Gebiete, die früher den Alliierten mit Gewalt oder gegen den Willen der Bewohner entrissen worden seien; die Befreiung der unter Fremdherrschaft stehenden Italiener, Slawen, Rumänen, Tschechen und Slowaken, Befreiung der Völker, die der blutigen Tyrannei der Türken unterworfen seien, Entfernung des osmanischen Reiches aus Europa; die Wiederherstellung Polens gemäß der Proklamation des Zaren. Nach dieser Note, mit deren Inhalt sich dann der Versailler Friedensvertrag im wesentlichen deckte, waren also die Kriegsziele 438

Friedensbestrebungen und Kriegsziele der Alliierten: die Auflösung Österreich-Ungarns und der Türkei und die Lostrennung von Elsaß-Lothringen, Schleswig-Holstein und der preußisch-polnischen Provinzen. Was in privaten chauvinistischen Kreisen besonders Frankreichs und Rußlands sonst noch über die Kriegsziele gesprochen wurde, steht an Maßlosigkeit hinter den Alldeutschen in keiner Weise zurück wie etwa: Elsaß-Lothringen solle im Umfang des alten Herzogtums Lothringen rückgegliedert und das übrige linke Rheinufer selbständig werden unter Sicherung des französischen Einflusses. Auch offizielle Kreise stellten sehr weitgehende Forderungen. Der russische Botschafter in Paris, Iswolski, berichtete wiederholt darüber. Schon im Oktober 1914 waren sich er und Delcassé einig: „Das Deutsche Reich wird vernichtet sowie die militärische und politische Kraft Preußens soviel wie möglich geschwächt", dazu gehöre die Wiederherstellung eines unabhängigen Hannover und die Vergrößerung Belgiens auf Kosten Preußens; alle deutschen Kolonien sollten unter die Sieger verteilt werden. Der Zar wünschte die Absetzung der Hohenzollern. Bethmann-Hollweg sandte die deutschen Bedingungen erst nach nochmaliger Aufforderung Wilsons Ende Januar 1917 nach Washington, bat aber, sie nicht zu veröffentlichen, nachdem die Feinde ihren Willen, Deutschland zu vernichten, so offen kundgegeben hätten. Bethmann hatte hier gegenüber den Abmachungen mit Österreich-Ungarn die deutschen Forderungen wesentlich allgemeiner abgefaßt. Zugleich mußte der deutsche Botschafter in Washington Wilson die Note über den verschärften U-Boot-Krieg überreichen. Ihre verhängnisvolle Wirkung schwächte nicht ab, daß Bethmann Wilson sagen ließ, die schroffe Antwort der Alliierten auf sein Friedensangebot hätte „angesichts des uns aufs neue angekündigten Kampfes auf Leben und Tod die Anwendung des besten zu schneller Kriegsbeendigung geeigneten Mittels nicht mehr hinausschieben lassen . . . Wir bäten den Präsidenten, seine Bemühungen trotzdem aufzunehmen respektive fortzusetzen, und erklärten uns zur Einstellung des verschärften U-Boot-Krieges bereit, sobald volle Sicherheit dafür geboten sei, daß die Bemühungen des Präsidenten zu einem für uns annehmbaren Frieden führen würden."

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Das Kriegsjahr 1917

Der verschärfte

U-Boot-Krieg und der Eintritt der Vereinigten in den Weltkrieg

Staaten

Die von Tirpitz ins Volk getragene Agitation für die kriegsentscheidende Wirkung des uneingeschränkten U-Boot-Krieges nahm immer größere Ausmaße an; in einer Besprechung des Admiralstabes mit der Obersten Heeresleitung wurde darauf hingewiesen, daß „Volk und Armee nach dem unbeschränkten U-BootKrieg schrien". Die Denkschriften des Admirals Henning von Holzendorff legten Berechnungen vor über den England zur Verfügung stehenden Schiffsraum und die Möglichkeiten seiner Vernichtung durch U-Boote, dabei kam er zu dem Schluß: „Ich stehe nicht an zu erklären, daß wir, wie die Verhältnisse jetzt liegen, mit uneingeschränktem U-Boot-Krieg in fünf Monaten England zum Frieden zwingen können." Dies veranlaßte die Oberste Heeresleitung nach Prüfung der Gesamtlage an den Fronten zu erklären, der rücksichtslose U-Boot-Krieg sei „das letzte Mittel geworden, den Krieg in absehbarer Zeit siegreich zu beenden". Anfang Oktober 1916 erklärte sich auch das Zentrum für den U-Boot-Krieg: „Für die politische Entscheidung über die Kriegführung ist dem Reichstag gegenüber der Reichskanzler allein verantwortlich. Die Entscheidung des Reichskanzlers wird sich dabei wesentlich auf die Entscheidung der Obersten Heeresleitung zu stützen haben. Fällt die Entscheidung für die Führung des rücksichtslosen UBoot-Krieges aus, so darf der Reichskanzler des Einverständnisses des Reichstages sicher sein." Mit Rücksicht auf die Vereinigten Staaten und die europäischen Neutralen sträubte sich Bethmann-Hollweg noch immer dagegen, aber er mußte nun doch nachgeben und erreichte bloß, daß die Wirkung des Friedensangebotes noch abgewartet werden sollte. Auch das gelang ihm nur zum Teil, denn die Marine hielt den Beginn des U-Boot-Krieges am 1. Februar 1917 für unerläßlich. Tirpitz behauptet in seinen „Erinnerungen", der richtige Zeitpunkt sei verpaßt worden, ein Jahr zuvor wären vor allem die englischen Maßnahmen zur Abwehr der UBoote noch nicht so ausgebildet gewesen. Bethmann-Hollweg wendet in seinen „Betrachtungen" dagegen ein: „25 oder 50 U-Boote in den Jahren 1915 und 1916 hätten unmöglich den Erfolg erzielen können, der in den Jahren 1917 und 1918 der doppelten und dreifachen Anzahl versagt geblieben ist." Der Staatssekretär des Inneren, Karl Helfferich, der durchaus auf Seiten Bethmann-Hollwegs stand, warnte im Hauptausschuß des Reichstags: „Wenn die Karte des rücksichtslosen

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Verschärfter U-Boot-Krieg. Kriegseintritt der USA U-Boot-Kriegs ausgespielt wird und sie sticht nicht, dann sind wir auf Jahrhunderte hinaus verloren." Unter dem Vorsitz des Kaisers fand am 9. Januar 1917 die entscheidende Besprechung statt. Da der Kaiser sich jetzt ebenfalls auf die Seite der Obersten Heeresleitung und der Marine stellte, glaubte Bethmann, nicht länger widersprechen zu dürfen. Oberhofmarschall Freiherr von Reischach berichtet in seinem Buch „Unter drei Kaisern", er habe den Reichskanzler nach dem Kronrat völlig verzweifelt angetroffen. Auf die „erschreckte Frage: .Haben wir eine Schlacht verloren?' antwortete Bethmann: ,Nein, aber Finis Germaniae. Soeben war Kronrat. Ich habe über eine Stunde gegen den verschärften U-Boot-Krieg gesprochen, denn er wird uns den Eintritt Amerikas in den Krieg bringen. Das können wir nicht vertragen. Die Technik hat in diesem Krieg so große Fortschritte gemacht, daß auch bestimmt Abwehrmaßregeln gegen unsere U-Boote erfunden werden. Die Amerikaner werden kommen; ich kann es nicht beweisen, aber es ist meine Überzeugung. Aber ich warnte auf das Eindringlichste vor diesem Beschluß. Als ich geendet, sprang der Admiral von Holzendorff auf und sagte: ,Ich verbürge midi auf mein Seeoffizierswort, daß kein Amerikaner das Festland betreten wird.' " Die Oberste Heeresleitung beantragte beim Kaiser am folgenden Tag einen sofortigen Kanzlerwechsel. Bethmann blieb jedoch aus Pflichtgefühl im Amte, er befürchtete, sein Rücktritt in diesem Augenblick würde im Innern und vor allem bei den Österreichern Unruhe hervorrufen. Zu dem uneingeschränkten U-BootKrieg gab Kaiser Karl nur sehr widerstrebend seine Zustimmung. Er war sich darüber im klaren, daß sich mit dem Tod Kaiser Franz Josefs die stärkste Klammer, die das österreichisch-ungarische Reich zusammenhielt, gelöst hatte und bei der Erschöpfung seines Landes die Selbständigkeitsbestrebungen der Tschechen, Rumänen und Slawen immer gefährlicher wurden. Kaiser Karl wünschte deshalb vor allem Frieden. Schon um diese Zeit begann er, durch Verwandte seiner Gemahlin, der Kaiserin Zita, mit den Feinden wegen eines Sonderfriedens für Österreich Fühlung zu nehmen. Die beiden Brüder der Kaiserin, Sixtus und Xavier, kämpften im belgischen Heer gegen Deutschland, mit ihnen trafen sich die Kaiserin-Mutter, Herzogin Maria-Antonia von Parma, und später auch Beauftragte Kaiser Karls in der Schweiz. Am 31. Januar 1917 erhielten die Vereinigten Staaten und die übrigen Neutralen eine Denkschrift der deutschen Regierung: „Vom 1. Februar 1917 ab wird in den nachstehend bezeichneten Sperrgebieten um Großbritannien, Frankreich und Italien herum und im östlichen Mittelmeer jedem Seeverkehr ohne weiteres mit allen Waffen entgegengetreten werden. Solche Sperrgebiete sind . . . Neutrale Schiffe, die die Sperrzone befahren, tun dies auf eigene Gefahr . . . Der Verkehr der regelmäßigen amerikanischen Passagierdampfer kann unbehelligt weitergehen, wenn Falmouth (an der Südküste von England) als Zielhafen genommen wird", wenn ferner diese Dampfer von weitem gut erkennbar seien und unter Garantie der amerikanischen Regierung keine Bannware mit sich führten. Am 24. März wurde auch die Nordküste Rußlands zum Sperrgebiet erklärt. Das deutsche Volk begrüßte fast allgemein dieses Vorgehen der Regierung, auch die 441

Erster Weltkrieg: 1917 Sozialdemokraten; der „Vorwärts" schrieb, das ganze deutsche Volk sei einverstanden mit der Anwendimg von Mitteln, die geeignet seien, seine Verteidigung sobald wie möglich erfolgreich zu beenden. Die Presse der Feindstaaten bezichtigte entrüstet Deutschland des „Piratentums", verhehlte aber nicht ihre Freude darüber, daß sich die Vereinigten Staaten nun doch zum Eingreifen gezwungen sehen würden. Wilson brach mit Zustimmung des Kongresses am 3. Februar die diplomatischen Beziehungen zu Deutschland ab, die Kriegserklärung sollte erst erfolgen, wenn amerikanische Rechte auf hoher See unmittelbar verletzt würden. Wilson forderte die übrigen neutralen Mächte auf, sich seinem Vorgehen anzuschließen, sie begnügten sich indes mit der Überreichung von Protestnoten an Deutschland. Zu dieser Zeit befand sich in Wilsons Händen eine Depesche des Staatssekretärs Zimmermann vom 19. Januar 1917 an Mexiko, die von Engländern dechiffriert und Wilson zugeschidct worden war. Deutschland forderte darin Mexiko auf, für den Fall des Kriegseintritts der Vereinigten Staaten diesen den Krieg zu erklären, als Lohn versprach Deutschland finanzielle Unterstützung und den Erwerb der drei amerikanischen Provinzen Texas, Neumexiko und Arizona. Mexiko sollte auch Japan dazu bringen, sich diesem Kriegsbündnis gegen die Vereinigten Staaten anzuschließen. Am 1. März ließ Wilson den Inhalt veröffentlichen, der die große Erregung der Öffentlichkeit gegen Deutschland steigerte. Im Reichstag wurde Zimmermann heftig wegen der Verschärfung der Lage von der Linken angegriffen; seine Verteidigung, daß es Deutschlands gutes Recht sei, sich nach Bundesgenossen umzusehen, wenn Wilson alle Neutralen gegen uns aufzuhetzen versuchte, machte die Sache nicht besser. Mexiko, Argentinien und Chile waren übrigens die einzigen amerikanischen Staaten, die sich nicht von den Vereinigten Staaten zur Kriegserklärung gegen Deutschland drängen ließen. Am 1. März bewilligte der Kongreß die Bewaffnung der amerikanischen Handelsschiffe, Zwischenfälle konnten nun nicht ausbleiben. Daraufhin beschloß am 5. April der Kongreß mit 373 gegen 50 Stimmen die Kriegserklärung. Wilson begründete sie in einer langen Rede und Schloß: „Es ist etwas Furchtbares dieses große und friedliche Volk in den Krieg zu führen, in den schrecklichsten und unheilvollsten aller Kriege, in dem die Zivilisation selbst auf dem Spiel zu stehen scheint. Aber das Recht ist kostbarer als der Friede, und wir werden für die Güter kämpfen, die unserm Herzen stets am teuersten gewesen sind — für die Demokratie, für das Recht aller derer, die einer Obrigkeit Untertan sind, bei der Regierung ihres Landes eine Stimme zu haben, für die Rechte und Freiheiten kleiner Nationen, für eine allgemeine Herrschaft des Rechtes, ausgeübt von einer Gemeinschaft im Einvernehmen handelnder, freier Völker, die dazu angetan ist, allen Nationen Frieden und Sicherheit zu bringen und die Welt endlich frei zu machen. Einer solchen Aufgabe können wir unser Leben und unsere Besitztümer weihen — alles, was wir sind und haben — mit dem stolzen Bewußtsein, daß der Tag gekommen ist, an dem es dem amerikanischen Volke vergönnt ist, sein Blut und seine Macht einzusetzen für die Grundsätze, denen es seine Geburt und sein Glück verdankt, und für den Frieden, der ihm so teuer war. Gott helfe ihm! Es kann nicht anders." 442

Kämpfe im Westen Auf die Frage, ob die Vereinigten Staaten, audi wenn sich Deutschland gegen keinen amerikanischen Bürger eine ungerechte Handlung hätte zuschulden kommen lassen, nur in der moralischen Überzeugung von dem Unrecht des deutschen Krieges aktiv eingegriffen hätten, antwortete Wilson in der Senatskommission für auswärtige Angelegenheiten im August 1919 erst: „Ich glaube, ja", dann mit einem glatten „Ja". — Durch den Eintritt Amerikas in den Krieg gewannen die Alliierten das Ubergewicht. Die Vereinigten Staaten mit ihren 100 Millionen Menschen führten jetzt die allgemeine Wehrpflicht ein und konnten bei ihrem Reichtum den Bundesgenossen unbegrenzt Kredite gewähren, die Siegeszuversicht der Gegner Deutschlands wuchs und damit ihr Wille, bis zum Endsieg auszuharren. Hoffnungsvoll begannen die Deutschen am 1. Februar 1917 den uneingeschränkten U-Boot-Krieg mit etwas über 100 U-Booten, deren Zahl trotz der Verluste, durchschnittlich etwa fünf im Monat, durch Neubauten ständig zunahm. Offiziere und Mannschaften setzten sich tapfer und zäh ein. Nach deutschen Angaben wurde die vom Admiralstab geforderte Versenkungsziffer, monatlich 600 000 Tonnen, meist beträchtlich überschritten, zweimal war sie sogar höher als eine Million. Englands fast ganz auf Einfuhr angewiesene Lebensmittelversorgung sowie der Transport von Truppen und Kriegsmaterial litten schwer darunter. In England gab man sich keiner Täuschung darüber hin, daß ohne baldige Abhilfe Deutschland den Krieg gewinnen würde; Sachverständige urteilten, die Widerstandskraft Englands werde Anfang November 1917 erschöpft sein. Insoweit hatte die deutsche Marineleitung richtig gerechnet, aber die von den Engländern so sehr ersehnte Hilfe kam bald. Die Abwehr durch Netze, U-BootFallen, U-Boot-Jäger, Wasserbomben, elektrische Unterwasserhorchgeräte und tiefstehende Minensperren wurde immer mehr vervollkommnet. Der amerikanische Schiffsraum, die in bisher neutralen Häfen beschlagnahmten deutschen Schiffe, sofort verstärkter Schiffsneubau in England und Amerika sowie die Handelsflotten der Neutralen, die Schiffsraum zur Verfügung stellen mußten, um mit Lebensmitteln versorgt zu werden, glichen die versenkte Tonnage im wesentlichen aus. Das Konvoi-System, bei dem die Handelsschiffe in großen, von Kriegsschiffen geschützten Geleitzügen fuhren, brachte zwar für die Reedereien mancherlei Verzögerungen und Unannehmlichkeiten mit sich, erschwerten aber den U-Booten ihre Angriffe sehr. Zur Festigung der Lage im Innern trug bei den Engländern außerdem die Rationierung der Lebensmittel bei. In Deutschland dagegen hatte das Fehlschlagen der auf den U-Boot-Krieg gesetzten Hoffnungen einen Stimmungsumschwung zur Folge; Mutlosigkeit und Zwiespalt griffen im Volk immer mehr um sich. Kämpfe im Westen Die Oberste Heeresleitung erwartete an der Westfront die Fortsetzung der Angriffe des an Zahl und Kriegsmaterial stark überlegenen Feindes; sie ließ deshalb im Winter 1916/1917 weiter zurückliegende, die Frontlinie verbessernde 443

Erster Weltkrieg: 1917 und nach den jüngsten Erfahrungen des Grabenkampfes ausgebaute Stellungen vorbereiten. Auf dringendes Ersuchen des Kronprinzen Rupprecht von Bayern, dessen Befehlsbereich sich jetzt bis zur Nordsee erstreckte, wurde im März die Front zwischen Arras und Soissons in die sogenannte „Siegfriedstellung" zurückgenommen, das verlassene Gelände von Einwohnern evakuiert und planmäßig zerstört; die Front war nun bedeutend verkürzt. Am 9. April 1917 begann der Angriff der Engländer bei Arras; sie gewannen die Vimyhöhen und sonst einiges Gelände, kamen aber dann kaum noch vorwärts, obwohl sie ihre Angriffe unter großen Verlusten bis in den Juni hinein fortsetzten. In Frankreich hatte Ende 1916 General Nivelle anstelle Joffres den Oberbefehl erhalten. Das völlige Scheitern des Durchbruchsversuches der Franzosen an der Aisne Mitte April 1917 erschütterte das Gefüge der Armee so, daß es zu offenen Meutereien kam. Mitte Mai ernannte die Regierung General Pétain zum Oberbefehlshaber der Armeen im Norden und Nordosten und General Foch zum Chef des Generalstabes. Einen großen Angriff wollten sie nicht wagen, bevor im nächsten Jahr bedeutende Truppenverstärkungen aus Amerika eingetroffen wären, doch sollte die deutsche Front durch kleinere Angriffe beunruhigt und geschwächt werden. Im August und Oktober unternahm Pétain sehr sorgfältig vorbereitete Teilangriffe bei Verdun und Laffaux, bei denen die Heeresgruppe des deutschen Kronprinzen zwar nur wenige Kilometer zurückweichen mußte, aber bei dem aufgegebenen Gelände handelte es sich um schon wiederholt heiß umkämpfte Stellungen wie die Höhen „Toter Mann" und „Chemin des Dames", deren Preisgabe für die deutschen Truppen moralisch ein schwerer Schlag war. Am 7. Juni hatten die Engländer wieder in Flandern anzugreifen begonnen, sie wollten besonders die deutschen U-Boot-Stützpunkte an der flandrischen Küste erobern. Die Deutschen mußten die Höhen bei Wytschaete aufgeben und die Front etwas zurückverlegen. Von Mitte Juli bis Mitte November tobte dann mit kurzen Unterbrechungen die eigentliche Flandernschlacht. Was die Truppen, die deutschen Verteidiger mehr noch als die englischen Angreifer, leisteten und zu leiden hatten, schildert erschütternd Hauptmann Ritter in seiner „Kritik des Weltkrieges": „In einem von Grundwasser durchquollenem, von ewig triefendem Regen aufgeweichten Schlammfeld, das durch Milliarden von Granattrichtern die eintönige Totenstarre einer Mondlandschaft erhalten hatte, lag der Verteidiger. Im nassen Erdloch, den nebligen Himmel Flanderns über sich, hungernd, frierend, durchnäßt, mit zähem Kot verkleistert. Aufgeweichtes Kommißbrot und Konservenfleisch nährte oft tagelang die Abgeschnittenen. Kein Unterstand bot Trockenheit und Wärme, kein Graben ermöglichte eine annähernd menschliche Bewegungsart. Vom wassergefüllten Granatloch zum nächsten springend oder durch schlammigen Erdbrei rutschend, quälten sich die Meldegänger, Essenträger und Ablösungen bei Nacht von vom nach hinten und umgekehrt. Stets in Gefahr, in dem Einerlei des öden Trichterfeldes sich zum Feinde zu verirren. Und über diesem grauenvollen Kotsumpf mit seiner bis aufs Mark durchkältenden Nässe tobte das Höllenfeuer der ins Unübersehbare vermehrten englischen Artillerie. Tag und Nacht. Nacht und Tag. Manchmal in einzelnen Ermattungspausen ver444

Revolution in Rußland. Krisenerscheinungen in anderen Ländern

grollend, dann wieder zu rasender Wildheit losbrechend, daß das rollende Dröhnen der Abschüsse und der schmetternde Krach der Einschläge in überstürzter Folge durcheinanderquirlte. Über dem graubraunen Trichtersumpf flammte der Sprühregen düsterlohender Detonationen, stob ein Wirbel von Stahlfetzen und Kotklumpen dahin wie Schneeflocken im Wintersturm, breitete sich schwelender, beißender Qualm wie ein Leichentuch durch die feuchte Luft. Und der giftig grünliche Schwaden tödlicher Gase kroch wie ein bösartiges Fabeltier über die zerrissene Erde. In dieser Hölle kämpfte die deutsche Infanterie nicht tage-, sondern wochen- und monatelang." Der Geländegewinn der Engländer war trotzdem gering, und die U-Boot-Stützpunkte blieben in deutscher Hand. Um diesen Mißerfolg wenigstens einigermaßen auszugleidien, griff der englische Oberbefehlshaber Haig am 20. November 1917 die Heeresgruppe des Kronprinzen Rupprecht in Richtung auf Cambrai völlig überraschend an. Ohne Artillerievorbereitung walzten Hunderte von englischen Tanks die deutschen Stellungen in breiter Front nieder und kamen bis in die Vorstädte von Cambrai. Die nachfolgende Infanterie konnte indes den Sieg nicht ausnützen, Ende des Monats zwangen deutsche Gegenangriffe die Engländer zur Aufgabe fast des ganzen von ihnen eroberten Geländes, der drohenden Umzinglung konnten sie sidh jedoch entziehen. Die von den Engländern am Anfang dieser Kämpfe mit den Tanks erzielten Erfolge hatten jetzt auch die deutsche Oberste Heeresleitung von der großen Bedeutung der Tankwaffe überzeugt; diese Erkenntnis kam freilich zu spät.

Die Revolution in Rußland. Krisenerscheinungen

in anderen

Ländern

Mußte Amerikas Beteiligung am Krieg in Deutschland große Besorgnisse wachrufen, so konnte die Entwicklung der Verhältnisse in Rußland die Hoffnung auf eine Entlastung erwecken. Seit Beginn des Jahres 1917 nahmen in Rußland infolge von Mißständen auf allen Gebieten Unruhen mehr und mehr überhand. Die Bevölkerung hungerte, die Kriegskosten sollten hauptsächlich mit dem massenhaft gedruckten, bald wertlos werdenden Papiergeld bestritten werden, die Arbeiterschaft streikte größtenteils, die Niederlagen im Felde und die wegen Kohlenknappheit völlig unzureichende Munitionserzeugung ließen einen Endsieg als aussichtslos erscheinen; die Disziplin im Heere löste sich auf. Die Entente und die liberalen bürgerlichen Parteien der Duma (Reichstag) drangen in den Zaren, er solle die reaktionäre Politik aufgeben und durchgreifende Reformen einführen. Als der Zar nicht darauf einging, versuchten diese Parteien, die Führung der revolutionären Bewegung an sich zu reißen. Ehe ihnen dies gelang, begannen Teile der Petersburger Garnison, sich mit den Arbeitern zu verbrüdern. Wie bei der Revolution von 1905 (S. 266) bildete sich ein Sowjet der Arbeiter und Soldaten (Soldaten- und Arbeiterrat). Am 14. März kam die „Provisorische Regierung" zustande, in der auch das liberale Bürgertum vertreten war und sogar den Vorsitzenden stellen konnte, die tonangebende Persönlichkeit war indes der Sozialdemokrat Alexander Kerenski. Den Tag darauf dankte Zar Nikolaus II. ab, nach-

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Erster Weltkrieg: 1917 dem der Generalstabschef und die Generale den Kampf gegen die Revolution als vergeblich verweigert hatten. Der Entente, namentlich den Vereinigten Staaten, kam der Sturz des Zaren und die Umwandlung Rußlands in eine Republik nicht unwillkommen. Der Propaganda, die Entente kämpfe für die Freiheit der Völker, stand jetzt das Zusammengehen mit dem durch und durch autokratischen zaristischen Rußland iiicht mehr im Wege. Dazu trat der neue russische Außenminister Miljukow entschieden für die Fortsetzung des Kriegs gemäß den bisher von Rußland eingegangenen Verpflichtungen und Verträgen ein. Dagegen opponierte jedoch leidenschaftlich der linke Flügel der russischen Sozialdemokratie. Er zwang die Provisorische Regierung zu dem Manifest vom 10. April, das einen Frieden ohne Eroberungen auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes der Völker forderte. Die Heimkehr ausgesprochen kriegsfeindlicher, in der Schweiz sich aufhaltender Russen suchte England zu verhindern. Für dreißig dieser Russen genehmigte die deutsche Regierung mit Zustimmung der Obersten Heeresleitung die Heimreise durch Deutschland in der Annahme, ihre Umtriebe würden die Kampfkraft Rußlands noch mehr schwächen. Sofort nach der Ankunft dieser extrem links gerichteten Gruppe, der Bolschewiki, Mitte April, erließ ihr Führer Wladimir Lenin einen Aufruf gegen die Provisorische Regierung: „Stürzt diese Regierung, welche die Früdite der mit dem Blute des Volks erkauften Revolution vernichten will. Eine Verschwörung englischer und französischer Imperialisten hat Miljukow und Genossen gekauft, damit die Fortsetzung des Eroberungskrieges gesichert ist . . . Die Engländer haben Deutschland wegen seiner überlegenen Industrie angegriffen. Auch der Krieg zeitigte eine deutsche Industrie, weit überlegner als die Gegner angenommen hatten. Darum der Schrecken und der feige Neid seiner Feinde." Das kurz darauf veröffentlichte Programm Lenins enthielt Punkte wie: „Der Krieg ist ein Produkt des Kapitalismus. Friedensschluß um jeden Preis und unter jeden Bedingungen. Diktatur des Proletariats. Der Staatsgewalt sollen sich Deputiertenräte der Arbeiter, der Knechte und der Soldaten bemächtigen. Es ist Schaffung einer neuen kommunistischen Partei notwendig anstelle der verfaulten sozialistischen Partei. Das gesamte Gutsbesitzerland muß konfisziert werden. Alle Banken müssen unverzüglich zu einer nationalen Gesamtbank vereinigt werden. Reform der Gesellschaftsordnung. Abschaffung der Polizei, der Armee, des jetzigen Beamtentums." Mitte Mai trat Miljukow zurück und die Provisorische Regierung wurde in ein Koalitionsministerium umgebildet. Der Arbeiter- und Soldatenrat sprach der neuen, im wesentlichen immer noch bürgerlichen Regierung, sein Vertrauen aus. Die Opfer und Lasten des Krieges, dessen Ende nach zweieinhalbjährigem Ringen immer noch nicht abzusehen war, zeitigten in anderen Ländern ebenfalls Krisenerscheinungen, wenn auch nicht in dem Maße wie in Rußland. Spannungen zwischen englischen Gewerkschaften und der Regierung führten mehrmals zu ausgedehnten, die Rüstungsindustrie hemmenden Streiks. In Frankreich kamen zu den Heeresmeutereien umfangreiche Streiks und eine Zerrüttung der gesamten Innenpolitik, bis Clemenceau im November jeden Widerstand gegen die Regierung unterdrückte. In Italien fanden die kriegsfeindliche Stimmung großer Teile 446

Reformbestrebungen

des politischen Katholizismus, des Pazifismus und Unruhen unter der Industriearbeterschaft weite Verbreitung, daneben aber auch die nationalistisch-militärische neue Gruppe der „Fasci". In Österreich versuchte Kaiser Karl vergebens, die Schwierigkeiten seines Vielvölkerstaates durch Reformen in föderalistisch-demokratischem Sinne zu überwinden.

Reformbestrebungen.

Unruhen.

Feindpropaganda

In Deutschland bedrohten schon seit längerem die materielle Not, der Streit um Kriegsziele und Friedensmöglichkeiten und die Propaganda des linken Flügels der Sozialdemokraten den in der Begeisterung von 1914 geschlossenen Burgfrieden. „Die ungeheure Tragweite der russischen Revolution war klar. Außenpolitisch konnte sie den Frieden bringen. Innerpolitisch mußte sie die vorwärtstreibenden Kräfte, die positiven organischen, aber auch die negativen des Umsturzes stärken" (Bethmann-Hollweg). Liberale und Sozialdemokraten strebten besonders zwei Ziele an: die Reform des preußischen Wahlrechts und die Parlamentarisierung der Reichsverfassung. Wie Bethmann-Hollweg in seinen „Betrachtungen" schrieb, waren „beide Forderungen grundsätzlicher Art und beide in ihrem Kerne berechtigt. Daß sie bewilligt werden mußten und auch zum Nutzen des Staates bewilligt werden konnten, war mir nicht zweifelhaft. Strittig waren Zeit und Form. Der sachlich beste Zeitpunkt war nach Friedensschluß. Dem heimkehrenden Heer, dem tapferen Volke mußte die Krone freiwillig und mit Freuden vermehrte Rechte, neue Freude am Staate geben . . . Hinter der preußischen Wahlrechtsfrage stand die Stellung Preußens zum Reich, die schwerste und heute (1921) noch weniger als je gelöste Kernfrage des deutschen Problems. Das Zusammenspiel des Reiches und des preußischen Staates, für das die Personalunion des Monarchen wie des Reichskanzlers und preußischen Ministerpräsidenten, sowie die Präsidialstellung des preußischen Staatsministeriums im Bundesrat zu sorgen hatte, wurde schwer gehemmt durch die auf der Verschiedenheit der Wahlrechte beruhende Divergenz der Majoritätsbildung in Preußen und im Reich . . . Der preußische Landtag diente der konservativen Partei als Instrument ihrer Agitation in den Fragen des U-Boot-Krieges, der Kriegsziele und aller sonstigen außenpolitischen Angelegenheiten. Dem gegenüber half kein Versuch, die Wahlrechtsfrage als eine rein preußische Angelegenheit hinzustellen, die das Reich und die übrigen Bundesstaaten nichts angehe. Zwar nicht formell, aber praktisch war die Angleichung des preußischen Wahlrechtes an das Reichstagswahlrecht eine Notwendigkeit des Reiches." Die preußische Wahlrechtsreform war schon oft diskutiert worden und Bethmann-Hollweg war von Anfang an dafür eingetreten, er konnte aber vom Kaiser nie mehr als unbestimmte Anerkennung der Notwendigkeit und den Auftrag für Reformvorschläge erreichen. Am 12. Juni 1915 stellte die sozialdemokratische Fraktion im preußischen Abgeordnetenhaus einen Antrag auf Reform des Wahlrechts, drang aber damit nicht durch. Mitte März betonte Bethmann im preußischen Abgeordnetenhaus abermals 447

Erster Weltkrieg: 1917 die Notwendigkeit der Reform des Wahlgesetzes und versicherte, sie werde alsbald nach Kriegsende durchgeführt werden; während des Krieges dürfe man sie nodi nicht in Angriff nehmen, denn die Auseinandersetzungen über sie würden „unzweifelhaft zu schweren inneren Kämpfen führen", und diese können wir, während wir „von außen vom Feinde berannt werden, nicht vertragen". Ende März lagen dem Reichstag eine Reihe von Anträgen der verschiedenen Parteien vor zur Parlamentarisierung der Verfassung und zur Einführung eines dem Reichstagswahlrecht entsprechenden Wahlrechtes für alle Bundesstaaten. Die Anträge der Sozialdemokratischen Arbeitsgemeinschaft gingen noch viel weiter, unter anderem forderten sie schleunigen Abschluß eines „Friedens auf der Grundlage des Verzichts auf Annexionen jeder Art". Die Debatte endete mit der Einsetzung eines Verfassungsaussdiusses für alle Reformfragen. Kurz darauf trennte sich die Sozialdemokratische Arbeitsgemeinschaft von der Sozialdemokratischen Partei völlig und gründete die „Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands" (USP). Um das Vertrauen zum Kaiser und zu der Regierung im Volke zu heben, veranlaßte Bethmann-Hollweg den Kaiser zu der „Osterbotschaft" vom 7. April 1917. Bethmann wäre eine klare Zusage zur Einführung des Reichstagswahlrechtes in Preußen erwünscht gewesen; der Kaiser konnte sich aber nicht dazu entschließen, er versprach nur den Ausbau der Staatsreformen, „um für die freie, freudige Mitarbeit aller Glieder unseres Volkes Raum zu schaffen . . . Nach den gewaltigen Leistungen des ganzen Volkes in diesem furchtbaren Kriege ist nach meiner Überzeugung für das Klassenwahlrecht in Preußen kein Raum mehr". Auch das preußische Herrenhaus solle so umgebaut werden, daß „in weiterem und gleichmäßigerem Umfang als bisher aus den verschiedenen Kreisen und Berufen des Volkes führende, durch die Achtung ihrer Mitbürger ausgezeichnete Männer in seiner Mitte vereinigt" werden. — Der seit Anfang Mai tagende Verfassungsausschuß des Reichstags forderte die Reform der Reichstagswahlkreise und des preußischen Wahlrechts, ferner die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers und der Minister vor dem Reichstag, die Errichtung eines Staatsgerichtshofes und daß die Ernennung der Offiziere und der Beamten des Heeres und der Marine, die bisher der Kaiser allein vorgenommen hatte, der Gegenzeichnung des Kriegsministers bzw. des Staatssekretärs des Reichsmarineamtes bedürfe. Diese letzte Forderung verstimmte den Kaiser besonders, tastete sie doch die kaiserliche Kommandogewalt an und beschritt den Weg zu einem vom Kaiser losgelösten Parlamentsheer. Auf der Seite des Kaisers standen die Oberste Heeresleitung und die Konservativen; sie erhoben gegen den Reichskanzler schwere Vorwürfe, weil er derartige Forderungen nicht sofort zurückgewiesen hatte, auch die Osterbotschaft verurteilten sie als Eingeständnis der Schwäche. Mitte April brachen vor allem wegen abermaliger Herabsetzung der Brotrationen Streiks in der Rüstungsindustrie aus; sie wurden zwar durch das Eingreifen der Gewerkschaften bald beigelegt, aber die Stimmung im Lande und an der Front verschlechterte sich stetig. Die in großen Mengen von Flugzeugen und mit Luftballons über der deutschen Front abgeworfenen und trotz aller möglichen Gegenmaßregeln der Obersten Heeresleitung von Hand zu Hand gehenden feindlichen 448

Unruhen. Feindpropaganda — Friedensverhandlungen Österreichs Propagandaschriften dienten der Steigerung der Friedenssehnsucht in der deutschen Armee und damit der Schwächung ihres Kampfwillens. In diesem Sinne war sciion die Rede des Präsidenten Wilson am 5. April vor dem Kongreß bei Erklärung des Kriegszustandes mit Deutschland gehalten: „Mit dem deutschen Volk haben wir keinen Streit. Wir hegen ihm gegenüber kein anderes Gefühl als das der Sympathie und Freundschaft. Nicht auf seinen Antrieb hat die deutsche Regierung diesen Krieg unternommen. Auch nicht mit seinem Vorwissen oder mit seiner Billigung. Der Entschluß zu diesem Krieg ist zustande gekommen, wie das in der unseligen alten Zeit zu geschehen pflegte, als die Völker noch nirgends von ihren Herrschern befragt, als Kriege im Interesse von Dynastien oder auch von kleinen Gruppen ehrgeiziger Männer geführt wurden, die gewohnt waren, ihre Mitmenschen als bloße Schachfiguren und Werkzeuge zu benutzen . . . Ein dauerhaftes Einvernehmen zugunsten des Friedens ist nur in der Gestalt einer Genossenschaft demokratischer Nationen möglich. Einer autokratischen Regierung könnte man nicht das Vertrauen entgegenbringen, daß sie innerhalb einer solchen Genossenschaft Treu und Glauben halten würde." Besonders die französische Propaganda bediente sich deutscher Überläufer zum Angriff gegen den Kaiser; hierin tat sich namentlich der unter dem Pseudonym Siegfried Balder schreibende frühere Münchner Rechtsanwalt Dr. Wilhelm Ekstein hervor. Er schrieb zum Beispiel in einer Broschüre die uns heute eher komisch anmutenden, damals aber in Erinnerung an die französische Revolution durchaus ernst gemeinten Verse: „Wir wollen schwören beim ewigen Gott / Erbfehde den Hohenzollern! / Es werde nicht Frieden, bis vom Schaffott / Herab ihre Köpfe kollern." Vorerst lehnte der größte Teil des deutschen Volkes eine derartige Propaganda allerdings entrüstet ab.

Friedensverhandlungen Österreichs. Die Friedensresolution des Reichstages und der Erlaß zur Reform des preußischen Wahlrechts. Bethmanns Sturz, Michaelis Reichskanzler Österreich-Ungarn drängte um diese Zeit Deutschland zu einem Verständigungsfrieden. Seit Ende 1916 war Graf Ottokar Czemin Außenminister. Anfang April 1917 hatten er und Kaiser Karl eine Unterredung mit Bethmann-Hollweg und Kaiser Wilhelm. Czernin schilderte dabei die Lage Österreichs als unhaltbar und schlug vor, Deutschland solle mit der Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich den Frieden erkaufen, Österreich würde dafür auf Polen samt Galizien verzichten, ein für Bethmann und für jede deutsche Regierung bei der damaligen Lage unannehmbares Ansinnen. Ein Jahr später erfuhr die Öffentlichkeit, daß Kaiser Karl bereits im Februar und März 1917 durch seinen Schwager Sixtus von Parma Poincaré um Friedensverhandlungen gebeten und in einem Brief vom 24. März versprochen hatte, mit „seinem ganzen persönlichen Einfluß die gerechte französische Zurückforderung Elsaß-Lothringens" zu unterstützen. Kaiser Karl verhandelte noch einige Wochen heimlich über Prinz Sixtus weiter, um wenigstens

29 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Erster Weltkrieg: 1917

einen Sonderfrieden für Österreich zu erlangen. Frankreich und England wären an sich dazu auch wegen der Rückwirkung auf Deutschland bereit gewesen, da aber Italien an dem ihm im Londoner Protokoll auf Österreichs Kosten zugesagten Gebietserweiterungen festhielt, und Kaiser Karl zu diesem Opfer nicht bereit war, verliefen die Verhandlungen ergebnislos. — Czernin setzte am 12. April 1917 Kaiser Karl in einer Denkschrift auseinander, wie schlecht es um Österreich stehe: „Dumpfe Verzweiflung hat sich wegen der Unterernährung aller Volksschichten bemächtigt und macht ein weiteres Tragen der Kriegsleiden unmöglich . . . Im Spätsommer oder Herbst muß um jeden Preis Schluß gemacht werden . . . Auf dem Horizont ganz Europas steigt die revolutionäre Gefahr auf." Diese Denkschrift wurde Kaiser Wilhelm überreicht, der ermutigend antwortete; sie kam aber auch bei einem Besuch in Wien Ende April in die Hände des Reichstagsabgeordneten Matthias Erzberger. Erzberger war zu Anfang des Krieges durchaus für Annexionen eingetreten, nun aber hielt er am 6. Juli im Hauptausschuß des Reichstags eine Rede, in der er das völlige Versagen des U-Boot-Krieges, die Erschöpfung Deutschlands und seiner Verbündeten schilderte. Die deutsche Marineleitung habe falsch gerechnet, indem sie von der englischen Tonnage anstatt von dem England zur Verfügung stehenden Schiffsraum der ganzen Welt ausging. Die Pflicht des Reichstags sei jetzt, den Feinden in einer Friedensresolution klarzumachen, daß Deutschland in diesem Verteidigungskrieg keine Eroberungen wolle, sondern einen Frieden des Ausgleichs. Dieser unerwartete Vorstoß Erzbergers verursachte im Reichstagshauptausschuß eine ungeheure Aufregung. Die Presse und damit die breite Öffentlichkeit erfuhren davon. Hindenburg und Ludendorff fuhren noch am Abend dieses Tages vom Hauptquartier in Kreuznach zum Kaiser nach Berlin, um vom militärischen Standpunkt aus zum Vorschlag Erzbergers Stellung zu nehmen; der Kaiser wies jedoch jede Einmischung der Heeresleitung in die vom Reichskanzler zu führende Politik zurück. Sachlich stand Bethmann-Hollweg ganz auf dem Boden von Erzbergers Vorschlag, bedauerte aber die Art, wie er vorgebracht wurde, und den Zeitpunkt. Als dann auf Erzbergers Rede hin der Reichstag in Aktion trat, wurde die Frage einer Friedensresolution mit den innerpolitischen Problemen verquickt. Eine neue Mehrheit aus Zentrum, Fortschrittlicher Volkspartei und Sozialdemokraten verlangte selbständiges Handeln des Reichstags in der Friedensfrage, die seit längerem besprochene Aufnahme führender Parlamentarier in die Regierung, die Reform des preußischen Wahlrechts und der Reichstagswahlkreise, die völlige Gleichstellung Elsaß-Lothringens mit den anderen Bundesländern. Der Kaiser verkündete unter Zustimmung des herbeigerufenen Kronprinzen in dem Erlaß vom 11. Juli 1917 die Abänderung des preußischen Wahlrechtes „auf der Grundlage des gleichen Wahlrechtes". Gegen eine Friedensresolution aber wandten sich die Konservativen und die meisten Nationalliberalen, die Oberste Heeresleitung und der Kronprinz und verlangten den Rücktritt des Reichskanzlers. Gegen ihn hat namentlich Ludendorff viele schwere Vorwürfe erhoben wie: der Reichskanzler habe „das Volk nicht mit neuer kriegerischer Entschlossenheit erfüllt, es nicht 450

Michaelis Reichskanzler. Friedensresolution des Reichstages aufgerufen zum Kampf für sein Leben und seine Ehre gegen einen starkwilligen, unsere Vernichtung erstrebenden Feind — statt dessen ließ er, selbst zweifelnd an unserem Sieg, zu, daß das Gerede über einen nicht erreichbaren Verständigungsfrieden uns entnervte, der Entente dagegen Trümpfe in die Hand spielte . . . Der Reichskanzler stellte sich nicht vor seinen kaiserlichen Herrn, als Wilson bei Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg den Versuch machte, sich zwischen Kaiser, Fürsten und Volk zu stellen. Der Reichstag widersprach, der Reichskanzler schwieg." Am 12. Juli 1917 reichten Hindenburg und Ludendorff ihr Abschiedsgesuch ein, weil sie mit Bethmann-Hollweg als Kanzler nicht mehr zusammenarbeiten könnten. Damit war der Sturz Bethmanns besiegelt. Der Kaiser beklagte sich ihm gegenüber bitter, er werde durch das Ultimatum seiner Generale in eine unerträgliche Stellung gedrängt. Bethmann suchte ihm die Lage dadurch zu erleichtern, daß er in seinem am folgenden Tage eingereichten und bewilligten Abschiedsgesuch als Grund nur die Unstimmigkeit mit dem Parlament angab; auch das Zentrum hatte sich gegen ihn erklärt und die Linke trat nicht für ihn ein. — Bethmann-Hollweg fehlte es gewiß nicht an staatsmännischen Eigenschaften, im großen und ganzen hat er aber immer als ein Versager gegolten, dem auch bei richtiger Beurteilung der jeweiligen Lage Kraft und Entschlossenheit gemangelt habe, die äußerst schwierigen Aufgaben zu bewältigen, die sich während der acht Jahre, in denen er an der Spitze der Reichsleitung stand, ergeben hatten. Ob aber ein anderer dazu befähigt gewesen wäre, etwa ein Bismarck, ist eine der Wenn-Erwägungen, die wohl reizvoll sein mögen, sich indes nie einwandfrei entscheiden lassen. Bei dem Gegensatz zwischen den Rechtsparteien und der Obersten Heeresleitung auf der einen und den Mehrheitsparteien auf der anderen Seite war ein Nachfolger nicht leicht zufinden.Der Kronprinz und Ludendorff schlugen Tirpitz oder Bülow vor, aber der Kaiser wollte von ihnen nichts hören. Nachdem der bayrische Ministerpräsident Graf Georg von Hertling abgelehnt hatte, weil er von preußischen Kreisen Widerstand und von der Obersten Heeresleitung Einmischung in die Politik befürchtete, entschied sich der Kaiser für Georg Michaelis. Der jetzt Sechzigjährige entstammte einer altpreußischen Beamtenfamilie, in seiner Laufbahn als Verwaltungsjurist brachte er es 1909 zum Staatssekretär im preußischen Finanzministerium, 1915 wurde er Leiter der Reichsgetreidestelle, im Februar 1917 Staatskommissar für Volksernährung in Preußen, am 14. Juli 1917 Reichskanzler und preußischer Ministerpräsident. Hindenburg und Ludendorff versuchten noch am Tag zuvor durch direkte Fühlungnahme mit führenden Parlamentariern die Friedensresolution zu verhindern oder wenigstens abzuschwächen, erreichten aber nichts, vielmehr veröffentlichte der „Vorwärts" den von der Reichstagsmehrheit vereinbarten Text, um diese auf ihn festzulegen. Als Konservativer stand Michaelis der Friedensresolution und auch den Parlamentarisierungsbestrebungen des Reichstags innerlich ablehnend gegenüber. Bei seinem ersten Auftreten im Reichstag am 19. Juli widmete Michaelis einige warme, anerkennende Worte seinem Vorgänger, mit der Friedensresolution erklärte er sich einverstanden, allerdings mit der Ein451 29*

Erster Weltkrieg: 1917 schränkung, „so wie ich sie verstehe", teilte mit, die Oberste Heeresleitung stimme der Friedensresolution zu, und versicherte, er sei zu loyaler Zusammenarbeit mit den großen Parteien bereit, deren Vertreter in die Regierung aufgenommen werden sollten, selbstverständlich dürfe dadurch „das verfassungsmäßige Recht der Reichsleitung zur Führung der Politik nicht geschmälert werden. Ich bin nicht willens, mir die Führung aus der Hand nehmen zu lassen". Der Zentrumsabgeordnete Fehrenbach verlas dann die Friedensresolution: „Zur Verteidigung seiner Freiheit und Selbständigkeit, für die Unversehrtheit seines territorialen Besitzstandes hat Deutschland die Waffen ergriffen. Der Reichstag erstrebt einen Frieden der Verständigung und der dauernden Versöhnung der Völker . . . Er wird die Schaffung internationaler Rechtsorganisationen tatkräftig fördern. Solange jedoch die feindlichen Regierungen auf einen solchen Frieden nicht eingehen, solange sie Deutschland und seine Verbündeten mit Eroberung und Vergewaltigung bedrohen, wird das deutsche Volk wie ein Mann zusammenstehen, unerschütterlich ausharren und kämpfen, bis sein und seiner Verbündeten Recht auf Leben und Entwicklung gesichert ist." Fehrenbach fügte noch hinzu: „An der Schwelle des vierten Kriegsjahres tritt der Reichstag aus seiner bisherigen Zurückhaltung heraus und verkündet der Welt die Bereitschaft des deutschen Volkes zu einem für alle Beteiligten ehrenvollen Frieden. Er macht den Feinden kein Friedensangebot, das ist Sache der Regierung, was er heute unternimmt, ist nur eine Friedenskundgebung." Sie wurde mit 212 gegen 126 Stimmen angenommen; geschlossen stimmten dagegen die Konservativen, die Nationalliberalen und die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands. Kronprinz Wilhelm, der sich ebenso wie Kronprinz Rupprecht von Bayern für die Notwendigkeit eines baldigen Friedens ausgesprochen hatte, war sehr beunruhigt über die „in Form und Inhalt so unpolitisch, unklug und plump aufgezogene Friedensresolution". Das feindliche Ausland wertete sie dann auch als Anzeichen von Schwäche, betrachtete Michaelis als Gesinnungsgenossen von Ludendorff und hatte sich überdies in den Kriegszielen so festgelegt, daß es auf einen Verständigungsfrieden nicht eingehen konnte: die bedingungslose Wiederherstellung Belgiens, die Rückgabe Elsaß-Lothringens an Frankreich, die Zerschlagung des deutschen Militarismus, die Befriedigung der Ansprüche Italiens und der Balkanvölker ließen sich nur bei einem vollständigen Sieg der Alliierten erreichen.

Vermittlungsversuch des Papstes Michaelis bildete die Regierung des Reiches und Preußens durch die Besetzung mehrerer Ministerposten mit Parlamentariern den neuen Grundsätzen entsprechend um. Staatssekretär des Auswärtigen Amtes wurde der bisherige Botschafter in Konstantinopel, Richard von Kühlmann, ein erfahrener Diplomat. Er sah sich sogleich vor eine große und schwierige Aufgabe gestellt, die Behandlung der päpstlichen Friedensvermittlung. Schon Ende Juni 1917 war Nuntius Pacelli, der spätere Papst Pius XII., nach Berlin gekommen, um wegen einer Friedensver452

Vermittlungsversuch des Papstes mittlung durch Papst Benedikt XV. zu sondieren. Bethmann-Hollweg hatte Pacelli versichert, Deutschland sei zu Rüstungsbeschränkungen bereit, wenn auch die anderen Mächte darauf eingingen, zur Einführung von Schiedsgerichten, zur Wiederherstellung der vollen Souveränität Belgiens und zu Grenzberichtigungen in Elsaß-Lothringen; auf diesen „zarten Keim" hatte Bethmann große Hoffnungen gesetzt. Mitte August 1917 sandte nun der Papst den Staatsoberhäuptern der kriegführenden Mächte eine vom 1. August, dem Beginn des vierten Kriegsjahres, datierte Note, um einen „gerechten und dauerhaften Frieden" anzubahnen auf der Grundlage von Rüstungsbeschränkung, Freiheit der Meere, Schaffung eines Schiedsgerichtes, Verzicht auf Schadenersatz einschließlich der Kriegskosten, Wiederherstellung eines unabhängigen Belgien, im übrigen schiedliche Reglung der strittigen Gebietsfragen. Die päpstliche Friedensvermittlung wollte wohl in erster Linie Österreich als die noch einzige ausgesprochen katholische Großmacht — in Frankreich waren seit 1905 Kirche und Staat streng voneinander getrennt — vor dem Zusammenbruch bewahren. Die englische Regierung erwiderte darauf, erst müßten die Mittelmächte ihre Kriegsziele offiziell bekanntgeben. Pacelli teilte dies Michaelis mit und bat besonders um klare Garantien für die politische, wirtschaftliche und militärische Unabhängigkeit Belgiens. Bei dem Kronrat in Berlin am 11. September verlangte die Marineleitung die flandrische Küste, die Oberste Heeresleitung Lüttich und engen wirtschaftlichen Anschluß Belgiens an Deutschland; der Kaiser entschied dagegen, Belgien solle ohne Einschränkung zurüdegegeben werden, w e n n dadurch bis Weihnachten Frieden geschlossen werden könnte, so daß auch dies nur eine bedingte Zusage war. Die Antwort an den Papst wurde auch mit einem Siebenerausschuß des Reichstags beraten. Er begrüßte die Bemühungen des Papstes um den Frieden und erklärte die Friedenskundgebung des Reichstags vom 19. Juli als geeignete Grundlage. In diesem Sinne faßte der Reichskanzler das Antwortschreiben vom 19. September an den Papst ab; und wie die Friedenskundgebung des Reichstags zwar den Satz enthielt: „mit einem Verständigungsfrieden sind erzwungene Gebietserweiterung und politische, wirtschaftliche oder finanzielle Vergewaltigung unvereinbar", ohne daß aber dabei Belgien besonders angeführt wurde, so überging auch Michaelis diesen Kernpunkt, trotz vorausgegangener mehrmaliger Mahnung des Nuntius Pacelli, das Antwortschreiben müsse eine unzweideutige Erklärung über Belgien enthalten, eine nichtssagende Antwort mache sonst alle Hoffnungen zunichte. Mehr Erfolg als von der päpstlichen Friedensvermittlung erwartete Kühlmann von der Einschaltung des von ihm hochgeschätzten spanischen Gesandten in Brüssel, Villalobar. Kühlmann versuchte, allerdings vergeblich, durch ihn direkt eine Verständigimg mit England zu erreichen, wo Villalobar sehr gute Beziehungen hatte. Während Kühlmann sich dem Papst gegenüber zu einem klaren Zugeständnis des Verzichts auf Belgien nicht verstand, weil dies sofort in der breitesten Öffentlichkeit bekanntgeworden wäre, und damit Deutschland bei allgemeinen Verhandlungen Belgien nicht mehr als Objekt für Gegenleistungen hätte ausspielen können, sagte Kühlmann in der Annahme, die Verhandlungen mit England würden vorerst geheim bleiben, Villalobar den vollen Verzicht auf Belgien

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Erster Weltkrieg: 1917 zu, wenn Deutschland und seinen Verbündeten bei einem Friedensschluß die Unversehrtheit ihres Territoriums zugestanden würde. Das Verhalten gegenüber dem Papst war ein Fehler der deutschen Regierung; ein allgemein bekannt gewordener Verzicht auf Belgien hätte der deutschfeindlichen Propaganda eines ihrer Hauptargumente entzogen, den Frieden freilich nicht näher gebracht. Frankreich sprach sich sofort gegen die Grundlage der päpstlichen Friedensvermittlung aus und brachte England auf seine Seite. Uber Einzelheiten einer Note an den Papst wurden sich die beiden Mächte nicht einig, und so erhielt er weder von Frankreich noch von England eine Antwort; mit Amerika im Hintergrund fühlten sich die Alliierten ihres Sieges so sicher, daß sie nicht bereit waren, auf einen Verständigungsfrieden einzugehen. Wilson ließ dem Vatikan eine ausführliche Antwortnote überreichen; sie ist für die Stimmung in den Vereinigten Staaten gegen Deutschland sehr aufschlußreich: „Das Ziel dieses Krieges ist die Befreiimg der freien Völker der Welt von der Bedrohung und der Macht einer gewaltigen militärischen Organisation, die von einer unverantwortlichen Regierung geleitet wird, die im geheimen eine Weltherrschaft plante, die an die Durchführung dieses Planes ging ohne Rücksicht auf heilige Vertragsverpfliditungen und die lange bestehenden und wertgehaltenen Grundsätze internationaler Handlungsweise und Ehre, die ihre eigene Zeit für den Krieg wählte, ihren Plan grausam und plötzlich ausführte, sich weder an die Schranken des Gesetzes noch der Wahrhaftigkeit kehrte, einen großen Kontinent mit dem Blute nicht nur von Soldaten, sondern schuldloser Frauen und Kinder und hilfloser Armer überströmte, und die jetzt als enttäuschter, aber nicht besiegter Feind von vier Fünftel der Welt dasteht. Diese Macht ist nicht das deutsche Volk, sie ist die unbarmherzige Gebieterin des deutschen Volkes. Es ist nicht unsere Sache, wie jenes große Volk unter ihre Gewalt gekommen ist oder sich mit zeitweiliger Bereitwilligkeit der Herrschaft ihrer Ziele unterworfen hat. Aber es ist unsere Sache, daß die Geschichte der übrigen Welt nicht länger von der Ausübung dieser Macht abhängig bleibt. Sich mit einer solchen Macht durch einen Frieden nach dem Vorschlag Seiner Heiligkeit auseinanderzusetzen, würde, soweit wir sehen können, bedeuten, daß sie ihre Kraft wiedergewänne, ihre Politik erneuerte." So verlief die päpstliche Friedensvermittlung ergebnislos.

Sozialistenkonferenz. Vaterlandspartei. Meutereien. Hertling Reichskanzler Die Diskussionen über den Frieden vertieften die Spaltung im deutschen Volk bedenklich. Getäuscht durch die Nachrichten von der Front und voll Vertrauen auf die Kraft der Nation glaubte ein großer Teil noch an einen Sieg, der die Erfüllung der Wünsche nach Erweiterung und Sicherung der Grenzen bringen werde; andere sahen voll Sorge die Erschöpfung des eigenen Volkes sowie die unbegrenzten Hilfsquellen der Feinde und trachteten deshalb nach einem Frieden der Verständigung; die Gruppen der Pazifisten und der Sozialisten hofften auf den Zusammenschluß der Gleichgesinnten in allen Ländern, der Kriege überhaupt 454

Deutsche Vaterlandspartei. Meutereien. Hertling Reichskanzler unmöglich machen würde. Das Internationale Sozialistische Büro versuchte auf Anregung der holländischen Sektion seit April 1917 eine Sozialistenkonferenz nach Stockholm zur Herbeiführung des Weltfriedens einzuberufen, doch wurde der Termin trotz der Bemühungen der skandinavischen und holländischen Sozialisten und des russischen Arbeiter- und Soldatenrats immer wieder verschoben; England, Frankreich und Amerika verweigerten den Sozialisten ihrer Länder die Pässe, auch wollten diese Sozialisten sich nicht mit den deutschen Genossen an einen Tisch setzen. So kam nur das in Stockholm vorbereitete vom 10. Oktober datierte Friedensmanifest des holländisch-skandinavischen Ausschusses an die der Internationale angeschlossenen Parteien zustande; das Manifest forderte zur Rettung Europas in der Hauptsache einen Frieden ohne Sieger und Besiegte, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, Abrüstung, ein obligatorisches Schiedsgericht. Die Anfang September 1917 in Königsberg gegründete Deutsche Vaterlandspartei mit Tirpitz als erstem und dem früheren ostpreußischen Generallandwirtschaftsdirektor Wolfgang Kapp als zweitem Vorsitzenden wollte keine politische Partei sein, sondern nur im Volke den Glauben an einen deutschen Sieg mit den Kriegszielen im Sinne der Alldeutschen stärken, verschärfte aber durch Bekämpfung der Innenpolitik der Reichstagsmehrheit die Gegensätze, statt die beabsichtigte, auf den schließlichen Sieg gerichtete einheitliche Willensbildung zu fördern. Zu derselben Zeit führte Ludendorff den vaterländischen Unterricht für die Truppen ein, er sollte der zersetzenden feindlichen und der sozialistischen Propaganda entgegenwirken, hatte aber nicht viel Erfolg. Im August war es bei der Hochseeflotte zu Meutereien gekommen; die Eintönigkeit des Dienstes auf den stets im Hafen liegenden großen Schiffen bot einen fruchtbaren Nährboden für die Hetze der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei. Strenge Bestrafung der Meuterer stellte die Ordnung bald wieder her, immerhin war diese Meuterei ein Sturmzeichen. In den erregten Reichstagsdebatten am 9. und 10. Oktober bezichtigte der Staatssekretär der Marine, Eduard von Capelle, unterstützt von Reichskanzler Michaelis und den Konservativen, die USP, sie habe die Marinerevolte angestiftet. Die Reichstagsmehrheit hielt dies nicht für erwiesen und lehnte jedes Vorgehen gegen die USP ab. Auch seine Zurückhaltung in der Frage der Parlamentarisierung brachte die Mehrheitsparteien gegen Michaelis auf, sie verlangten am 23. Oktober vom Kaiser einen Kanzlerwechsel. Michaelis reichte sein Abschiedsgesuch ein, der Kaiser bewilligte es am 1. November; nur 120 Tage hatte die Kanzlerschaft des ersten deutschen Reichskanzlers bürgerlicher Abstammung gedauert. Der Kaiser bot das Reichskanzleramt wiederum Hertling an, und diesmal versagte dieser sich nicht. Er war 1843 in Darmstadt als Sohn eines hessischen Hofgerichtsrates geboren, 1882 wurde er Professor der Philosophie an der Universität München; dem Reichstag gehörte er 1875/1890 und 1896 bis zu seiner Ernennung zum bayrischen Ministerpräsidenten 1912 als Zentrumsabgeordneter an. Zur Übernahme der Reichskanzlerschaft entschloß sich Hertling erst, nachdem ihm Ludendorff versichert hatte, er werde sich in die Leitung der Politik nicht mehr einmischen, und nachdem mit den Führern der Mehrheitsparteien und der Natio455

Erster Weltkrieg: 1917

nalliberalen ein Programm vereinbart war. Es forderte loyale Durchführung der preußischen Wahlreform, Aufhebung der politischen Zensur, Reform des Koalitionsrechtes der Arbeiter, Durchführung der Beschlüsse des Verfassungsausschusses des Reichstags; für die Außenpolitik sollten die Richtlinien der deutschen Antwortnote an den Papst vom 19. September maßgebend sein. Die „Kölnische Zeitung" schrieb dazu: „Der neue Kanzler wird der erste unter Beobachtung wesentlicher Gepflogenheiten des parlamentarischen Systems ins Amt gelangte Reichskanzler sein. Grundsätzlich liegt darin ein freiwilliges, im Interesse der reibungslosen Einigkeit betätigtes Entgegenkommen der Krone, ein freiwilliges Entgegenkommen, das eine positive Tat im Interesse des Burgfriedens darstellt, mehr nicht." Gewiß hat Hertling die Führer der Mehrheitsparteien nicht hintergehen wollen, als er mit ihnen weitgehende parlamentarische Maßnahmen vereinbarte, aber von dem physisch schon geschwächten Greis war nicht zu erwarten, daß er seine bisher durchaus konservative Einstellung grundlegend ändern würde.

Die zwölfte Isonzosdüadit.

Kämpfe in der Türkei

Die Italiener hatten im April, im Mai und August 1917 an der Isonzofront wieder angegriffen. Sie erzielten nur geringe Erfolge, aber die österreichische Front war so erschüttert, daß damit gerechnet werden mußte, in einer zwölften Isonzoschlacht würde Cadorna endlich der Durchbruch gelingen. Die österreichische Oberste Heeresleitung — an ihrer Spitze stand seit März 1917 General Arz von Straußenberg, zwischen Kaiser Karl und Conrad von Hötzendorf war es dauernd zu Meinungsverschiedenheiten und Reibereien gekommen — beschloß deshalb unter Heranziehung möglichst starker Kräfte einen Gegenangriff. Ende August 1916 hatte Italien audi Deutschland den Krieg erklärt; eine hauptsächlich aus deutschen Divisionen neugebildete Armee unter deutscher Führung wurde zwischen die an der Isonzofront stehenden österreichischen Truppen geschoben. Vom 24. Oktober 1917 an drang die deutsch-österreichische Armee vor und warf die Italiener Anfang November bis zur Piave zurück, erst da konnte Cadorna seine Truppen wieder zum Stehen bringen; dagegen blieb die österreichische Offensive von Tirol aus bald stecken. Im ganzen war immerhin Beträchtliches erreicht worden: Verkürzung der Frontlinie fast auf ein Drittel, etwa 300 000 Gefangene, große Beute an Kriegsmaterial. Die Engländer schickten fünf, die Franzosen sechs Divisionen an die italienische Front, um ein weiteres Vordringen der Österreicher zu verhindern. Cadorna wurde abgesetzt. Im Laufe des Dezember verlegte die deutsche Oberste Heeresleitung, überzeugt, in Italien bestehe zunächst keine Möglichkeit für weitere Erfolge und die österreichischen Divisionen wären für die Verteidigung ausreichend, die deutschen Truppen wieder an die Westfront. Die Lage der Türkei verschlimmerte sich im Jahre 1917 zusehends. Nach der Einnahme von Bagdad rückten die Engländer den Euphrat und Tigris stromaufwärts vor. An der Palästinafront mußten die Türken, nachdem sie im Frühjahr zwei englische Angriffe abgeschlagen hatten, gegen Ende des Jahres zurückgehen, 456

Zusammenbrudi Rußlands und Friede von Brest-Litowsk

am 17. November besetzten die Engländer Jaffa, am 9. Dezember Jerusalem. Die Araber widerstrebten der türkischen Herrschaft immer mehr. Die Engländer versprachen ihnen weitgehende Selbständigkeit nach Friedensschluß. Oberst Thomas Edward Lawrence organisierte den Aufstand der Beduinen, den er in seinem berühmten Buch die „Sieben Säulen der Weisheit" geschildert hat. England sollte der Weg nach Indien und der Einfluß auf die reichen Ölquellen Arabiens gesichert werden. Um die zionistisch gesinnten Kreise der Juden zu gewinnen, erließ der englische Außenminister Balfour am 2. November die unter seinem Namen gehende Deklaration, in der er schriftlich die Sympathie der englischen Regierung für die Errichtung einer nationalen „Heimstätte" des jüdischen Volkes in Palästina erklärte; die sich daraus ergebenden arabisch-jüdischen Interessengegensätze sind allerdings erst später stärker zutage getreten.

Der Zusammenbrudi

Rußlands und der Friede von Brest-Litowsk,

1917/1918

In der Mitte Mai 1917 umgebildeten Provisorischen Regierung Rußlands übernahm Kerenski das Kriegsministerium. Er faßte noch einmal die besten und zuverlässigsten Truppen zu einer Offensive gegen die österreichischen Armeen beiderseits des Dnjestr zusammen. Bei den Angriffen vom 1. Juli ab wurden an zwei Stellen die Österreicher weit zurückgedrängt; erst deutsche Reserven, die zu dem geplanten Gegenstoß herangeführt wurden, konnten die Front wieder zum Stehen bringen. Mitte Juli brach die russische Offensive zusammen. Der deutsche Angriff auf Tarnopol gewann in wenigen Wochen fast ganz Galizien und die Bukowina zurück. In den übrigen Teilen der Ostfront bis Rumänien konnten sich die Deutschen behaupten. Während in Rußland die bolschewistische Bewegung immer mehr an die Macht zu kommen suchte, befahl die Oberste Heeresleitung Anfang September einen Großangriff gegen die Dünafront. Im Laufe des Monats wurden Riga und Jakobstadt, im Oktober mit Hilfe der Ostseeflotte die Inseln Oesel, Moon und Dago erobert. Lenin und Trotzki stürzten im November die Kerenski-Regierung. Infolge der völligen Auflösung seiner Armee und der staatlichen Ordnung konnte und wollte Rußland nicht weiterkämpfen. Am 26. November fragte der Volkskommissar für Kriegs- und Marineangelegenheiten und Höchstkommandierende der russischen Armee, Krylenko, bei der deutschen Obersten Heeresleitung an, ob Deutschland zum Abschluß eines Waffenstillstandes bereit sei. Gleichzeitig warben die Russen in wiederholten Aufrufen an alle kriegführenden und neutralen Länder für einen Frieden ohne Annexionen und Entschädigungen. Am 2. Dezember begannen in Brest-Litowsk die Waffenstillstandsverhandlungen zwischen Rußland und dem Vierbund; an der ganzen Front, auch an der rumänischen, wurden die Feindseligkeiten eingestellt. Am 22. Dezember eröffneten die Bevollmächtigten des Vierbundes in Brest-Litowsk die Friedensverhandlungen mit der russischen Delegation. Am 25. Dezember stimmten beide Seiten überein, anzustreben sei ein Friede ohne Annexionen, ohne Entschädigungen und mit dem

457

Erster Weltkrieg: 1917

grundsätzlichen Selbstbestimmungsrecht der Völker; auf russischen Vorschlag wurden alle kriegführenden Staaten eingeladen, bis zum 4. Januar 1918 sich diesen Verhandlungen anzuschließen. Bis zum Ablauf dieser Frist hatte keine der Mächte geantwortet, vielmehr hielten Lloyd George am 5. Januar vor den englischen Gewerkschaften und Wilson am 8. Januar vor dem Kongreß Reden, in denen sie ihre Kriegsziele in der alten Weise, wenn auch in versöhnlicherem Ton darlegten. Am 9. Januar 1918 begannen die Friedensverhandlungen in BrestLitowsk von neuem. Führer der deutschen Delegation war Kühlmann, der österreichischen Czernin. An der Spitze der russischen Delegation stand jetzt Trotzki; der Vertreter der deutschen Obersten Heeresleitung, General Hoffmann, nannte ihn „die unzweifelhaft interessanteste Persönlichkeit der neuen russischen Regierung: klug, vielseitig gebildet, von großer Energie, Arbeitskraft und Redegewandtheit, machte er den Eindruck eines Mannes, der genau weiß, was er will und vor keinem Mittel zurückschreckt." Von der Ukraine, die sich von Rußland getrennt und als unabhängigen Staat erklärt hatte, kam eine Abordnung, mit ihr konnten die Mittelmächte den ersten Friedensvertrag am 9. Februar abschließen. Besonders Österreich hatte darauf gedrängt, weil ohne ukrainisches Getreide — eine Million Tonnen sollten 1918 geliefert werden — die österreichische Bevölkerung verhungern müsse; Czernin stimmte deshalb der Abtretung des hauptsächlich von Ruthenen bewohnten und auch von den Polen für sich beanspruchten Cholmer Kreises an die Ukraine zu. Polen protestierte dagegen, und so wurde in dem Zusatzprotokoll vom 4. März einer Kommission aufgetragen, sie solle die Grenze festlegen und dabei die ethnographischen Verhältnisse und die Wünsche der Bevölkerung berücksichtigen. Zu dieser Zeit stand die ukrainische Regierung allerdings in heftigem Kampf mit bolschewistischen Truppen, welche, ohne Rücksicht auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker, die Loslösung der Ukraine verhindern wollten. Die Verhandlungen mit den Russen in Brest-Litowsk kamen nicht vorwärts. Im Glauben an den Sieg der bolschewistischen Ideen durch die Weltrevolution des internationalen Proletariats suchte Trotzki mit Propagandareden die Verhandlungen hinauszuziehen. Die Hoffnung, die er auf die Weltrevolution setzte, wurde bestärkt durch den Ausbruch großer, rein politischer Streiks Ende Januar in Berlin und anderen deutschen Städten, geschürt von der USP und der Spartakusgruppe; durch Massenstreiks sollte das ganze wirtschaftliche Getriebe, namentlich die gesamte Rüstungsindustrie, zum Stillstand gebracht, durch Revolution die Volksrepublik in Deutschland errichtet und ein allgemeiner Frieden herbeigeführt werden. Da die sozialdemokratischen Gewerkschaften die Zahlung von Streikgeldern verweigerten, weil es sich um rein politische Streiks handle, und die christlichen Gewerkschaften sie als verantwortungsloses, verbrecherisches Treiben gegen die Kameraden an der Front verurteilten, verlief diese Streikbewegung in den meisten Städten ruhig, nur in Berlin mußte sie mit Gewalt unterdrückt werden. In London erschienen am 30. Januar 1918 Extrablätter mit der Schlagzeile: „Der Zusammenbruch der Mittelmächte". Die Freude war verfrüht. Bei den deutsch-russischen Auseinandersetzungen in Brest-Litowsk ging es 458

Zusammenbrach Rußlands und Friede von Brest-Litowsk hauptsächlich darum, daß Rußland verlangte, Deutschland solle die von ihm besetzten Gebiete sofort räumen, während vor allem die Oberste Heeresleitung darauf drängte, Kurland, Litauen und Polen müßten von deutschen Truppen besetzt bleiben, um von den deutschen Grenzen die drohende Gefahr des Bolschewismus fernzuhalten. Außerdem war die Oberste Heeresleitung noch immer von der Möglichkeit eines Sieges der deutschen Waffen überzeugt und trat nach wie vor für den „klaren Anschluß Kurlands und Litauens an Deutschland in Personalunion mit dem Hause Hohenzollem" (Ludendorff) ein. Czemin wollte den Frieden um jeden Preis, rechnete aber noch auf eine Verbindung Polens mit Österreich. Die Oberste Heeresleitung verlangte, wenn dies geschähe, die Angliederung eines breiten Grenzstreifens zum Schutz der deutschen Ostprovinzen; General Hoffmann meinte dagegen, unerhebliche Grenzberiditigungen würden genügen, ein „Zuwachs von zwei Millionen Polen sei nachteilig". Bulgarien bestand auf der Angliederung der ganzen Dobrudscha, die Türkei auf Rückgewinnung von Batum und Kars sowie der an Bulgarien abgetretenen Gebiete an der Maritza. Alle diese Forderungen waren mit dem allgemein anerkannten Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht vereinbar. Am 10. Februar erklärte Trotzki, er werde zwar überhaupt keinen Friedensvertrag unterzeichnen, für Sowjetrußland sei aber der Krieg mit dem Vierbund zu Ende, die russische Armee werde demobilisiert. Kühlmann und Czemin hätten sich mit diesem „Schwebezustand" zufrieden gegeben, die Oberste Heeresleitung hielt jedoch eine Klärung der Verhältnisse im Osten für unerläßlich, ehe die Frühjahrsoffensive im Westen begann. Bereits Anfang Januar 1918 hatte Hertling bei scharfen Auseinandersetzungen mit der Obersten Heeresleitung erklärt, für die Friedensverhandlungen sei allein die politische Leitung verantwortlich. Hindenburg und Ludendorff betonten ihre moralische Mitverantwortlichkeit und drohten, falls sie unberücksichtigt bliebe, mit ihrer Demission. Da sich der Kaiser auf die Seite von Hertling und Kühlmann stellte, wurde der Streit formell zugunsten der Regierung entschieden, tatsächlich setzte sich aber Ludendorff weitgehend durch, vor allem, weil die Reichstagsmehrheit, wenn sie auch immer noch zu ihrer Friedenskundgebung vom 19. Juli 1917 stand, doch den Anschauungen der Obersten Heeresleitung teilweise zuneigte. Am 13. Februar 1918 setzte Ludendorff im Kronrat zu Homburg trotz schwerer Bedenken der Regierung durch, von deutscher Seite müsse der Kampf gegen Rußland wieder aufgenommen werden, um den Frieden zu erzwingen, nachdem durch Trotzkis Verhalten der Waffenstillstand beendet worden sei. Am 18. Februar 1918 begann der Vormarsch der deutschen Armeen, im Norden in Richtung auf Petersburg, im Süden auf Kiew. Wenige Tage später waren Livland und Estland von deutschen Truppen besetzt, bei Narwa, 140 Kilometer vor Petersburg, machten sie halt. Kiew wurde am 1. März erreicht, die vor den Russen geflohene ukrainische Regierung kehrte in die Landeshauptstadt zurück. Lenin befürchtete, eine Fortsetzung des Krieges würde alle Ergebnisse der Revolution vernichten; auf sein Drängen stimmte eine knappe Mehrheit des Rats der Volkskommissare für die Annahme der deutschen Friedensbedingungen. Am 19. Februar 459

Erster Weltkrieg: 1917 1918 telegraphierte dies Lenin der deutschen Regierung. Sie hatte inzwischen die deutschen Friedensbedingungen wesentlich verschärft: Rußland müsse anerkennen, daß Kurland, Litauen und Polen nicht mehr seiner Hoheit unterstünden; Deutschland und Österreich würden das künftige Schicksal dieser Gebiete im Einvernehmen mit ihrer Bevölkerung bestimmen. Livland und Estland seien von russischen Truppen und roter Garde zu räumen und blieben von deutscher Polizeimacht besetzt, bis die staatliche Ordnung hergestellt sei. Rußland habe sofort Frieden mit der ukrainischen Volksrepublik und mit Finnland zu schließen und alle Truppen aus beiden Ländern zurückzuziehen. Den Türken seien die ostanatolischen Provinzen Batum und Kars wiederzugeben. Heer und Flotte Rußlands seien zu demobilisieren. Dann folgten für Rußland drückende Bestimmungen über den Handelsverkehr, ferner über die Verpflichtung zur Einstellung jeglicher amtlicher oder amtlich unterstützter Propaganda in den Vierbundstaaten und über die beiderseitige Entlassung der Kriegsgefangenen in die Heimat. Diese Bedingungen müßten binnen 40 Stunden angenommen werden. Am 3. März 1918 unterzeichnete in Brest-Litowsk eine russische Delegation ohne Verhandlungen, aber unter Protest die Friedensurkunde. Der Reichstag billigte am 22. März den Friedensvertrag gegen die Stimmen der USP und bei Stimmenthaltung der Mehrheitssozialdemokraten.

460

Das Kriegsjahr 1918

Wilsons 14 Punkte. Urteile über den Frieden von Brest-Litowsk. Weitere Operationen in Rußland. Friede mit Rumänien In 14 Punkten hat Wilson am 8. Januar 1918 sein Weltfriedensprogramm, das zum Teil Fragen der internationalen Politik allgemeiner Art behandelte, dem Kongreß dargelegt. Punkt 1 forderte: „Offene, öffentlich abgeschlossene Friedensverträge, darnach sollen keine geheimen internationalen Abmachungen mehr bestehen, sondern die Diplomatie soll immer aufrichtig und vor aller Welt getrieben werden". Punkt 2: Freiheit der Meere. Punkt 14: „Ein allgemeiner Verband der Nationen muß gebildet werden mit besonderen Verträgen zum Zweck gegenseitiger Bürgschaften für die politische Unabhängigkeit und die territoriale Unverletzbarkeit der kleinen sowohl wie der großen Staaten." Andere Punkte befaßten sich mit Einzelheiten, wie Räumung des ganzen russischen Gebietes, Wiederherstellung der Souveränität Belgiens, Rüdegabe Elsaß-Lothringens an Frankreich, Errichtung eines unabhängigen polnischen Staates. Hertling erklärte sich im Hauptausschuß des Reichstags (24./26. Januar) mit den Wilson-Punkten allgemeiner Art einverstanden, die übrigen lehnte er ab oder meldete Vorbehalte dazu an. Im gleichen Sinne wie Hertling äußerte sich Czernin für Österreich. Wilson antwortete am 11. Februar im Kongreß auf die Reden des Reichskanzlers und Czernins und stellte dabei vier Grundsätze für den weiteren „Austausch der Ansichten" auf; viel war davon, jedenfalls für die nächste Zukunft, nicht zu erwarten, wie schon die Bemerkung in seiner Antwort erkennen ließ: „Ein allgemeiner Friede, auf solchen Grundlagen aufgerichtet, kann beraten werden. Bis ein solcher Friede gesichert werden kann, haben wir keine andere Wahl, als den Krieg fortzusetzen." Hertling billigte in seiner Reichstagsrede vom 25. Februar 1918 prinzipiell die vier Grundsätze: jeder Friede müsse gerecht sein, Völker dürften nicht von einem Staat zum anderen verschachert werden, jede Gebietsfrage sei zum Nutzen der betreffenden Völker zu lösen, die nationalen Ansprüche der einzelnen Staaten sollten weitestgehende Befriedigung finden; er bemerkte aber dazu: „Nur e i n Vorbehalt ist zu machen. Es müßten diese Grundsätze nicht nur von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten vorgeschlagen, sondern auch von allen Staaten und Völkern tatsächlich anerkannt sein. Herr Wilson, der dem deutschen Reichskanzler gelegentlich eine gewisse Rückständigkeit vorwirft, scheint mir in seinem Ideenfluge der bestehenden Wirklichkeit weit vorangeeilt zu sein." Auf diese Rede Hertlings ging Wilson nicht mehr ein. 461

Erster Weltkrieg: 1918 Wilson depeschierte am 11. März dem amerikanischen Konsul in Moskau: Ich möchte Rußland „die aufrichtige Sympathie der Vereinigten Staaten in dem Augenblick aussprechen, wo die deutsche Macht sich eingedrängt hat, um den Kampf für die Freiheit zu unterbrechen und um seinen Erfolg zu bringen sowie die Wünsche Deutschlands anstelle der Ziele des russischen Volkes zu setzen . . . Ich möchte dem russischen Volk durch den Kongreß die Gewißheit geben, daß die Regierung der Vereinigten Staaten jede Gelegenheit benützen wird, um Rußland noch einmal die vollkommene Souveränität und Unabhängigkeit in seinen eigenen Angelegenheiten zu sichern und um ihm wieder zu seiner großen Rolle im Leben Europas und der modernen Welt in vollem Umfange zu verhelfen. Das Volk der Vereinigten Staaten nimmt mit ganzem Herzen an dem Versuche des russischen Volkes teil, sich von jeder alten autokratischen Regierung zu befreien." Auf einer Entente-Konferenz in London (14./16. März) protestierten die Vertreter Englands, Frankreichs, Italiens und der Vereinigten Staaten gegen „das politische Verbrechen, das unter dem Namen eines deutschen Friedens gegen das russische Volk begangen worden ist". Wenn die Alliierten den Frieden von Brest-Litowsk einen Gewaltfrieden schmähten, der Deutschlands Eroberungssucht und Streben nach der Weltherrschaft wieder klar beweise, und damit die sehr wirksame Propaganda verbanden, der Westen habe von einem deutschen Sieg ebenso Schlimmes zu erwarten wie dem Osten widerfuhr, so ist dies nicht erstaunlich; aber auch von deutscher, durchaus nationaler Seite, so namentlich von Prinz Max von Baden, wurden dem Vorgehen der deutschen Diplomatie in Brest-Litowsk schwere Fehlgriffe und Versäumnisse vorgeworfen. Gewiß hätte manches besser und klüger geordnet werden können, daß aber im großen und ganzen eine befriedigendere Lösung kaum zu finden war, zeigte die weitere Entwicklung im Osten. Deutschland hatte zwar das Selbstbestimmungsrecht der von Rußland losgelösten Völker anerkannt, mußte sie aber vor den Herrschaftsgelüsten der Bolschewisten schützen und zur Sicherung der deutschen Ostgrenzen die neu entstehenden Staaten bis zu einem gewissen Grad an die Mittelmächte binden. Beides erforderte das Verbleiben deutscher Truppen in diesen Gebieten; die Feindpropaganda stützte darauf ihre Behauptung, Deutschland habe diese Staaten annektiert. So kam durch den Frieden von Brest-Litowsk Deutschland noch mehr in Verruf, überdies brachte der Friede mit Rußland die erhoffte militärische und wirtschafdiche Erleichterung nur zum Teil. Das Baltikum war zur Verteidigung gegen die Bolschewisten auf die Hilfe deutscher Truppen angewiesen. Finnland hatte schon im Dezember 1917 seine Selbständigkeit erklärt. Trotz Rußlands Versprechen im Friedensvertrag von BrestLitowsk, seine Truppen aus Finnland zurückzuziehen, bemächtigte sich die „rote Garde" Südfinnlands. Die „weiße Armee" unter dem finnländischen Feldmarschall Karl Gustav von Mannerheim bat dringend um deutsche Unterstützung. Die Oberste Heeresleitung sandte 10 000 Mann über die Ostsee. Nach Befreiung der Hauptstadt Helsinki wurde im Zusammenwirken mit Mannerheim Anfang Mai 1918 die bolschewistische Armee umklammert und zur Übergabe gezwungen. — In der Ukraine mußten deutsche und österreichische Truppen Ordnung schaffen. 462

Letzte Offensive im Westen und ihre politischen Begleitumstände

Die Österreicher rückten durch Podolien nach Odessa vor; dies war für die Mittelmächte die einzige Möglichkeit, die von der Ukraine zugesagten Vieh- und Getreidelieferungen wenigstens teilweise zu erhalten; zur Beschaffung der für ihren Transport auf der Eisenbahn nötigen Kohlen besetzten die Deutschen die Gebiete an Don und Donez und drangen, um sich das öl von Baku zu sichern, über den Kaukasus bis Tiflis, Batum und Baku vor. Die rumänische Regierung Schloß am 5. März 1918 den Vorfrieden und am 7. Mai den Friedensvertrag von Bukarest. Dabei kam es unter den Mittelmächten, ebenso zwischen Ludendorff und Kühlmann, zu ernsten Meinungsverschiedenheiten. Österreich war eifersüchtig darauf bedacht, den deutschen Einfluß in Rumänien nicht überwiegen zu lassen und versprach deshalb hinter dem Rücken Deutschlands dem König von Bulgarien die Erhaltung der Dynastie. Rumänien mußte sein Heer weitgehend demobilisieren, an Ungarn Grenzgebiete, an Bulgarien den südlichen Teil der Dobrudstha abtreten, der nördliche Teil mit dem Hafen Konstanza blieb von den Mittelmächten besetzt, für die Donauschiffahrt, das rumänische Petroleum und die Überschüsse landwirtschaftlicher Erzeugnisse sicherten sich die Mittelmächte eine Rumänien stark belastende Vorzugsstellung. Bulgarien war verärgert, weil es nicht die ganze Dobrudscha erhielt, im Juni kam hier ein ententefreundliches Ministerium ans Ruder. Die Türkei hatte die Rückgewinnung der 1915 an Bulgarien abgetretenen Gebiete nicht erreicht, und am Kaukasus stießen bei Batum ihre Interessen mit den deutschen aufeinander. Diese Verstimmungen trugen neben der Erschöpfung und Kriegsmüdigkeit zu dem Zusammenbruch der Verbündeten Deutschlands im Herbst 1918 viel bei.

Die letzte Offensive im Westen und ihre politischen

Begleitumstände

Seit dem Abschluß des deutsch-russischen Waffenstillstands Mitte Dezember 1917 und dem Freiwerden deutscher Truppen im Osten bereitete die Oberste Heeresleitung eine Großoffensive an der Westfront für das Frühjahr 1918 vor. Die Vereinigten Staaten hatten Ende April 1917 die allgemeine Wehrpflicht eingeführt. Die Oberste Heeresleitung mußte damit rechnen, daß spätestens bis zum Herbst 1918 an der Westfront bedeutende amerikanische Verstärkungen eintreffen würden. Vorher sollte also der Durchbruch durch die feindliche Front erzwungen werden. Im Osten standen von Finnland bis Tiflis immer noch etwa eine Million deutscher Truppen, im Westen waren dreieinhalb Millionen zusammengezogen. Für die Flugzeuge und Kraftfahrzeuge fehlte ausreichender Betriebsstoff, Munition stand genügend zur Verfügung. Ludendorff meldete dem Kaiser, das Heer sei versammelt und trete wohlvorbereitet an die größte Aufgabe seiner Geschichte heran. Im Januar 1918 reichte die Oberste Heeresleitung der Regierung die von ihrem Vertreter beim Auswärtigem Amt, Oberstleutnant Hans Berndt von Haeften, verfaßte Denkschrift ein. Er forderte zur Unterstützung der militärischen eine diplomatische Offensive; dem englischen Volk müsse „durch eine geschickte, unab463

Erster Weltkrieg: 1918 lässige deutsche politische Propaganda die Suggestion vermittelt werden: die Lloyd Georgische Knock-out-Politik ist allein schuld an der Fortsetzung des Krieges, sie verfolgt imperialistische Eroberungsziele, während ein mit der Ehre und Sicherheit Englands vereinbarer Friede früher ohne weiteres Blutvergießen durch Unterhandlungen zu haben gewesen wäre. Gelingt es der deutschen Politik nicht, dem englischen Volke diese Suggestion zu vermitteln, so bekommt Lloyd George für den Entscheidungskampf seine geschlossene Heimatfront zustande, und sie wird auch unter den schwersten Niederlagen halten, bis die amerikanische Hilfe eintrifft. Worte sind heute Schlachten: richtige Worte gewonnene Schlachten, falsche Worte verlorene Schlachten." In England war eine beträchtliche Gruppe einflußreicher Männer unter Führung von Lord Lansdowne bereit, Deutschland einen erträglichen Frieden anzubieten, nicht weil sie am Siege zweifelten, sondern um die Greuel des Krieges abzukürzen. Diese Richtung galt es zu stärken. Die erste Vorbedingung dafür wäre ein klarer Verzicht der Reichsregierung auf jede Beschränkung der belgischen Souveränität gewesen. Gerade dazu konnten sich aber weder die Oberste Heeresleitung aus militärischen, noch Hertling und Kühlmann aus diplomatischen Gründen entschließen. So blieben die wochenlangen Versuche, besonders des Prinzen Max von Baden, die Reichsleitung für die „politische Offensive" zu gewinnen, erfolglos. Zwischen Arras und La Fère begann am 21. März 1918 in einer Breite von 75 Kilometern der deutsche Großangriff. Vielversprechenden Anfangserfolgen — Zurückdrängung der feindlichen Front stellenweise bis 60 Kilometer, 90 000 Gefangene, reiche Beute — stand das Mißlingen des erhofften Durchbruchs gegenüber, von dem aus Ludendorff die ganze englische Front hatte aufrollen wollen. Paris wurde am 23. März mit neuen Kruppschen Kanonen aus einer Entfernung von 120 Kilometern beschossen, im Zusammenhang mit der fortschreitenden Offensive rief dies bei den Parisern eine Panik hervor; auch die Engländer erschütterte ihre Niederlage, Lloyd George und Clemenceau telegraphierten dringend an Wilson, er solle Truppen zu Hilfe schicken. Als bei Amiens eine Lücke zwischen den englischen und den französischen Truppen zu entstehen drohte, übertrug der alliierte Kriegsrat dem General Foch die strategische Leitung der Operationen und drei Wochen später den einheitlichen Oberbefehl über die verbündeten Armeen; Foch gelang es, den Widerstand neu zu organisieren. Ludendorff schlug nun, wie es in den Angriffsplänen vorgesehen war, am 9. April bei Armentières in Flandern los. Zwischen Ypern und La Bassée gelang wieder eine beträchtliche Ausbuchtung der Front nach Westen, die Deutschen erstürmten den die flandrische Ebene weithin beherrschenden Kemelberg, aber Ende April blieb der Angriff stecken, noch ehe Calais und Dünkirchen gefährdet waren. Nach englischen und französischen Berichten hätten wohl in beiden Offensiven die Deutschen den Durchbruch erzwungen, wenn noch frische Truppen verfügbar gewesen wären, die abgekämpften Divisionen waren dazu freilich nicht mehr imstande. Jetzt den Angriff abzubrechen, hielt die Oberste Heeresleitung nicht für geraten; die Verteidigung der langen Flanken des gewonnenen Geländes wäre sehr 464

Letzte Offensive im Westen und ihre politischen Begleitumstände schwierig gewesen, und einen Rückzug nach so großen Opfern und Erfolgen hätte weder die Front noch die Heimat verstanden. Das Ziel der Obersten Heeresleitung blieb die Zerschlagung der englischen Front. Da aber die deutschen Truppen in Flandern einer Erholung bedurften, begann, die Franzosen völlig überraschend, Ende Mai der nächste Angriff am Chemin des Dames zwischen Reims und Noyon. Die Deutschen drangen bis an die Marne bei Château Thierry vor, bei Noyon und Reims allerdings nur wenig, was wiederum eine große Verlängerung der Front zur Folge hatte; auch ein weiterer Angriff vom 9.—13. Juni brachte hierin keine Änderung. Immerhin beunruhigte die Entente sehr, daß die Deutschen Ende Mai an einer Stelle sich bis auf 75 Kilometer Paris genähert hatten, und im ganzen über 60 000 Gefangene und viel Kriegsmaterial in ihre Hände gefallen waren. Der Anfang Juni in Versailles tagende alliierte Oberste Kriegsrat wandte sich erneut an Wilson: es bestehe Gefahr, daß der Krieg verloren gehe, wenn die Unterlegenheit der Alliierten nicht durch baldige Sendung amerikanischer Truppen behoben würde. Gleichzeitig veröffentlichte der Kriegsrat die Erklärung, der Friede werde ein unabhängiges Polen mit freiem Zugang zum Meer schaffen, und die nationalen Bestrebungen der tschechoslowakischen und der südslawischen Völker fördern. In der französischen Kammer versicherte Clemenceau: „Wir weichen zurück, zugegeben, aber wir werden uns niemals ergeben. Wenn wir entschlossen sind, bis zum Ende zu gehen, dann ist der Sieg unser. Die Taktik der Deutschen sucht uns zu terrorisieren, es wird ihnen nicht gelingen. Die Amerikaner kommen, die französischen und englischen Bestände erschöpfen sich, wie übrigens auch die der Deutschen. Die Partie geht jetzt um die Mitwirkung der Amerikaner. Unsere Verbündeten sind entschlossen, den Krieg bis zum Ende fortzuführen." Auf deutscher Seite war trotz der taktischen Erfolge die Siegeszuversicht geringer. Am 1. Juni schrieb Kronprinz Rupprecht von Bayern, der seit fast vier Jahren an der Westfront stand, warnend dem Reichskanzler: „Wir werden zwar in der Lage sein, dem Gegner im Westen noch ein paar gewaltige Schläge zu versetzen, kaum aber ihm eine entscheidende Niederlage zu bereiten, so daß zu erwarten steht, daß der Kampf in einigen Monaten wieder den Charakter des schleppenden Stellungskrieges annehmen wird. Wer in diesem schließlich siegt, hängt vor allem davon ab, wer am längsten mit seinen Mannschaftsbeständen auszukommen vermag." Rupprecht schlug deshalb vor, jetzt, da man dem Feind mit den bevorstehenden Angriffen drohen könne, ihm die Einleitung von Friedensverhandlungen nahezulegen, nach den Angriffen lasse sich dieser Trumpf nicht mehr ausspielen. Eine Denkschrift Haeftens vom 3. Juni befürwortete Ludendorff in einem Begleitschreiben und gab sie an den Reichskanzler weiter. Ludendorff hob als den Grundgedanken der Denkschrift besonders hervor: die militärischen Ereignisse müßten durch eine politische Propaganda unterstützt werden, um den Kampfwillen der feindlichen Nationen zu schwächen; Haeftens Feststellung, daß „der Friede nicht durch eine siegreiche Offensive allein, ohne politische Unterstützung herbeigeführt werden könne", überging Ludendorff in seinem Begleitschreiben. Die Friedensparteien der Entente sollten durch planmäßige öffentliche Kundgebungen nicht-

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Bühler, Deutsdie Geschichte, VI

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Erster Weltkrieg: 1918 amtlicher Stellen mit Angabe sehr gemäßigter Kriegsziele gestärkt werden. Hertling war sofort dazu bereit; Kühlmann hielt am 24. Juni im Reichstag eine Rede über die allgemeine Lage; sie sei nach dem Frieden im Osten und den Siegen im Westen durchaus günstig und die deutsche Regierung jederzeit bereit, auf Anregungen für Friedensverhandlungen einzugehen; als „Vorbedingung wird vor allem nötig sein, daß man ein gewisses Maß des Vertrauens in die gegenseitige Anständigkeit und Ritterlichkeit fasse . . . Ohne solchen Gedankenaustausch wird bei der ungeheuren Größe dieses Koalitionskrieges und bei der Zahl der in ihm begriffenen, auch überseeischen Mächte durch rein militärische Entscheidungen allein ohne alle diplomatischen Verhandlungen ein absolutes Ende kaum erwartet werden können." Die Abgeordneten nahmen diesen Satz teils beifällig auf, teils nahmen sie schroff dagegen Stellung; mißlich war jedenfalls, daß Kühlmann Haeftens für den engen Kreis der Staatsführung bestimmten Gedanken in die breiteste Öffentlichkeit trug. Hindenburg telegraphierte dem Reichskanzler, Kühlmanns Rede habe auf die Armee einen „niederschmetternden Eindruck" gemacht; Ludendorff zog seine Genehmigimg zur Einleitung einer politischen Friedensoffensive zurück. Hertling suchte Kühlmann zu entschuldigen, konnte ihn jedoch nicht halten; am 9. Juli bewilligte der Kaiser sein Rücktrittsgesuch. Hertling bedauerte im Reichstag, daß er sich von Kühlmann habe trennen müssen, weil „das notwendige Vertrauensverhältnis zwischen ihm und anderen Faktoren nicht mehr bestanden habe". Als Kühlmanns Nachfolger war Admiral Paul von Hintze, zuletzt Gesandter in Christiania, in Aussicht genommen. Der Reichskanzler bemerkte dazu vor dem Reichstag: Hintze „ist mit den Verhältnissen und Personen in Rußland sehr eingehend vertraut, was für die jetzige Lage von großer Wichtigkeit ist. Aber, meine Herren, es versteht sich von selbst, daß ich meine Kontrasignierung oder Unterschrift zu der Ernennung des Herrn von Hintze davon abhängig mache, daß er meine Politik macht und nicht seine eigene." Am 20. Juli erfolgte die Ernennung Hintzes zum Staatssekretär des Auswärtigen Amtes. Am gleichen Tag äußerte sich in einer Londoner Versammlung der Staatssekretär des englischen Auswärtigen Amtes, Arthur Balfour, zu einer Bemerkung Hertlings, der vor kurzem im Hauptausschuß des Reichstags törichterweise — er mußte ja wissen, daß seine Worte bekannt würden — gesagt hatte: „Belgien ist in unserer Hand das Faustpfand für künftige Verhandlungen"; hierzu Balfour: „Das Verbrechen, dessen Opfer Belgien ist, wird niemals vergessen werden. Wenn die Zeit kommt, da Europa am Verhandlungstisch zu erwägen haben wird, wie es sich gegen eine Wiederholung der Schandtaten und Greuel schützt, die Deutschland zur Last liegen, dann ist es einem europäischen Staatsmann nicht möglich zu vergessen, daß ein deutsches Versprechen kein bindender Vertrag ist." Die Oberste Heeresleitung glaubte auch im Juli noch nicht, den Angriff in Flandern wagen zu können, die deutschen Truppen gingen deshalb am 15. Juli beiderseits Reims vor. Da sie immer wieder in derselben Weise angriffen, hatten die Gegner ihre Abwehr darauf eingestellt; zwei Tage später mußten die Deutschen das mühsam errungene Gelände aufgeben und ihre Truppen hinter die Marne zurückziehen. Von nun an waren die deutschen Armeen in die Verteidigung 466

Letzte Offensive im Westen und ihre politischen Begleitumstände

gedrängt. Seit März 1918 hatten die Amerikaner ihre Truppentransporte nach Frankreich bedeutend gesteigert; starke, unverbrauchte Kräfte ersetzten die Verluste der Alliierten. Die deutschen U-Boote vermochten die Transporte nicht zu stören, die Zahl der Amerikaner überstieg bald erheblich Ludendorffs Berechnungen. Neun amerikanische Divisionen verstärkten die französischen Truppen an der Marne. Im März 1918 standen 329 000 amerikanische Soldaten in Frankreich, von denen vorerst allerdings nur eine Division einsatzbereit war. Im Juni hatte sich die Zahl auf 900 000, im Juli auf etwas über eine Million, im November auf über zwei Millionen erhöht; für das Jahr 1919 war eine Steigerung auf vier Millionen geplant. Der Oberbefehlshaber, General Pershing, sorgte dafür, daß die amerikanischen Streitkräfte geschlossen zum Einsatz kamen. Der Franzose Pierrefeu schildert „wie Ende Mai 1918 auf den Straßen über Coulommiers und Meaux in ununterbrochenen Reihen die Amerikaner gedrängt auf Lastkraftwagen, die Weisen ihres Landes singend, unter dem Jubel der Bevölkerung daherfuhren. Der Anblick dieser prächtigen Jugend von jenseits des Meeres, dieser jungen Leute von 20 Jahren, strahlend von Kraft und Gesundheit, in ihrer neuen Ausrüstung wirkte Wunder. Ergreifend war der Gegensatz zu den französischen Regimentern, deren Mannschaften in abgerissenen Kleidern, abgezehrt und hohläugig, sich nur mit äußerster Anstrengung aufrecht hielten. In neuen Wellen kam das Leben heran, um dem fast blutleeren Körper Frankreichs frische Kraft zuzuführen" (nach Kühl). Am 18. Juli begann der französische Gegenangriff bei Soissons mit Vorstößen von Tanks, die der Infanterie den Weg bahnten. Wenn auch ein Durchbruch verhindert werden konnte, sah sich die Oberste Heeresleitung doch zur Räumung des Marnebogens und zur Rückführung der Truppen hinter die Vesle und Aisne gezwungen; damit war, wie Ludendorff in seinen Erinnerungen zugibt, der Versuch, „die Völker der Entente durch deutsche Siege vor Ankunft der amerikanischen Verstärkungen friedenswillig zu machen, gescheitert". Am 7. August wurde Foch zum Marschall von Frankreich ernannt. Am 8. August, dem „schwarzen Tag des deutschen Heeres in der Geschichte dieses Krieges", griffen die Engländer an der Somme an, ihre Tanks überrannten die deutschen Linien. Schon traten in deren Reihen Zerfallserscheinungen zutage wie etwa, daß einer tapfer angreifenden Division zurückweichende Truppen „Streikbrecher" und „Kriegsverlängerer" zuriefen, was Offiziere dem Einfluß eben aus der Heimat eingetroffener Ersatztruppen zuschrieben. Rückschauend faßte Ludendorff das Ergebnis dieser Schlacht und die sich daraus ergebende Schlußfolgerung in einigen knappen Sätzen zusammen: „Der 8. August stellte den Niedergang unserer Kampfkraft fest und nahm mir bei einer solchen Ersatzlage die Hoffnung, eine strategische Aushilfe zu finden, welche die Lage wieder zu unseren Gunsten festigte. Ich gewann im Gegenteil die Überzeugung, daß die Maßnahmen der Obersten Heeresleitung, die ich bisher, soweit dies im Krieg möglich ist, auf sicherer Grundlage aufbauen konnte, dieser jetzt entbehrten. Das Kriegführen nahm damit, wie ich mich damals ausdrückte, den Charakter eines unverantwortlichen Hazardspieles an, das ich immer für verderblich gehalten habe. Das Schicksal des deutschen Volkes war mir für ein Glücksspiel zu hoch. Der Krieg war zu 467 30'

Erster Weltkrieg: 1918 beendigen." Ludendorff bot seinen Rüdetritt an, in den aber weder der Kaiser noch Hindenburg einwilligten. Am 13. und 14. August fanden in Spa zwischen der militärischen und der politischen Leitung entscheidende Besprechungen statt. Wie weit sich die Beteiligten über den Ernst der Lage wirklich klar waren, geht aus den verschiedenen, sich widersprechenden Berichten nicht deutlich hervor; jedenfalls beurteilten Hindenburg und Hertling die Lage nicht allzu günstig. Die Oberste Heeresleitung hoffte, die deutsche Front lasse sich noch auf französischem Boden zum Stehen bringen, dann sollte, wenn die allüerten Angriffe abflauten, durch neutrale Vermittlung eine Verständigimg mit dem Feinde angestrebt werden. Ein Verständigungsfriede kam jedoch bei der vom Feinde richtig erkannten verzweifelten Lage Deutschlands nicht in Betracht; die Versuche des Staatssekretärs Hintze, während der folgenden Wochen unmittelbar oder über die Königin von Holland mit Belgien und den Vereinigten Staaten in Verhandlungen zu treten, verliefen ergebnislos.

September—Oktober: Zusammenbruch Bulgariens, Rückzug im Westen, Zusammenbrach Österreich-Ungarns und der Türkei Die Österreicher hatten am 15. Juni mit großen Hoffnungen an der italienischen Front eine Offensive begonnen. Aber, nachdem sie in den ersten zehn Tagen viel schwerere Verluste erlitten hatten als der Gegner, blieben sie bis zum Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Monarchie dauernd in der Verteidigung. In dem bereits völlig erschöpften Lande hatte dies tiefe Mutlosigkeit zur Folge und die innere Zerrissenheit des Landes nahm höchst bedenklich zu. Um die Wende Juni/Juli erkannten die Allüerten die tschechoslowakische Nation als verbündete kriegführende Macht an. Eine tschechoslowakische Armee wurde über Wladiwostok nach Frankreich gebracht und beteiligte sich hier an den Kämpfen. Kaiser Karl und sein Außenminister Graf Stefan Burian — Czernin hatte im Zusammenhang mit den Enthüllungen über die Sixtusbriefe seinen Abschied nehmen müssen — wollten auf jeden Fall Frieden. Obwohl erst vor vier Monaten, als Kaiser Karl in Spa Kaiser Wilhelm besuchte, von beiden Seiten der Wille zum Ausbau und zur Vertiefung des Bündnisverhältnisses betont worden war, richtete die österreichische Regierung am 14. September gegen den Willen Deutschlands an alle kriegführenden Staaten eine Note, in der sie zu einer vertraulichen und unverbindlichen Aussprache an einen Ort des neutralen Auslandes als Einleitung zu Friedensverhandlungen einlud. Die allüerten Mächte antworteten jede für sich, aber alle ablehnend. Inzwischen hatten die Allüerten ihre Angriffe auf die Westfront fortgesetzt und die Deutschen gezwungen, das ganze im Frühjahr gewonnene Gelände wieder aufzugeben. Von Anfang September an sollten rückwärtige Stellungen ausgebaut werden, doch fehlten hierfür ausreichende Arbeitskräfte. Am 12. September mußte auch der seit Herbst 1914 verteidigte vorspringende Frontbogen bei St. Mihiel 468

September—Oktober unter schweren Verlusten geräumt werden; dies war die erste selbständige Leistung amerikanischer Truppen. Der Rüdezug im Westen entmutigte die kriegsmüden Verbündeten Deutschlands vollends. Auf dem Balkan standen sich die Fronten von der Adria quer durch Albanien und Mazedonien bis zur Ägäis ziemlich ruhig gegenüber, die deutschen Divisionen waren allmählich fast alle abgezogen. In Bulgarien drängten nun einflußreiche Kreise zum Abfall von den Mittelmächten, um wenigstens das bisher Gewonnene zu retten. Da setzte am 5. September eine große, gut vorbereitete Offensive der allnerten Armeen ein und durchbrach an mehreren Stellen die bulgarische Front. Bei den alliierten Heeren standen auch griechische Truppen; König Konstantin hatte am 12. Mai 1917 auf Verlangen der Entente zugunsten seines jüngeren Sohnes Alexander abdanken und am 30. Juni Griechenland die diplomatischen Beziehungen zu den Mittelmächten abbrechen müssen. Am 29./30. September Schloß die bulgarische Regierung unter sehr harten Bedingungen einen Waffenstillstand. Zar Ferdinand verzichtete zugunsten seines Sohnes Boris auf den Thron; der Entente wurde unbehinderter Durchmarsch durch das Land zugestanden. Die schwachen deutschen Truppen erreichten unter großen Schwierigkeiten die Adria, die Österreicher zogen sich hinter die Save und Donau zurück. Anfang Oktober begann die Auflösung der österreichisch-ungarischen Monarchie. In Agram bildete sich der Nationalrat der Slowenen, Kroaten und Serben, in Krakau ein polnischer, in Budapest ein ungarischer Nationalrat; vergebens versuchte Kaiser Karl durch das Manifest vom 16. Oktober, seine Länder als Bundesstaat wenigstens lose zusammenzuhalten. Am 4. Oktober bat Kaiser Karl Wilson um sofortigen Waffenstillstand und um Aufnahme von Friedensverhandlungen in unmittelbarem Anschluß daran. In seiner Antwort vom 18. Oktober stellte Wilson Bedingungen, die das Ende der österreichisch-ungarischen Monarchie bedeuteten. Am 27. Oktober wiederholte Kaiser Karl seine Bitte um Waffenstillstand und nahm Wilsons Bedingungen an, worauf alle Teile der Monarchie ihre Selbständigkeit oder ihren Anschluß an das Volkstum, dem sie angehörten, erklärten. Nach einer siegreichen Offensive der Italiener wurde am 3. November in Padua ein österreichisch-italienischer Waffenstillstandsvertrag unterzeichnet, in dem sich Österreich unter anderem zu vollständiger Demobilisierung verpflichtete. Am 11. November dankte Kaiser Karl ab: „Nach wie vor von unwandelbarer Liebe für alle meine Völker erfüllt, will ich ihrer freien Entfaltung meine Person nicht als Hindernis entgegenstellen. Im voraus erkenne ich die Entscheidung an, die Deutschösterreich über seine künftige Staatsform trifft." Die Türkei war ebenfalls am Ende ihrer Kräfte. An der Palästinafront führte seit März Liman von Sanders den Oberbefehl; nur wenige deutsche Truppen waren hier eingesetzt und die türkischen litten sehr unter dem Mangel an Nahrung und Kleidung. Stärkere türkische Streitkräfte versuchten in Transkaukasien, die reichen Bodenschätze ihrem Lande zu sichern. Die Engländer begannen am 19. September die letzte Großoffensive an der Palästinafront und schlugen die Türken vernichtend, die Reste der flüchtenden Armee zog Liman von Sanders hinter Aleppo zurück. Als der Zusammenbruch Bulgariens auch Konstantinopel 469

Erster Weltkrieg: 1918 bedrohte, sandte die türkische Regierung Anfang Oktober Wilson ein Waffenstillstands- und Friedensangebot; es kam erst Mitte des Monats in Washington an. Am 31. Oktober, einen Tag vor Eintreffen von Wilsons zustimmender Antwort, schloß die Türkei mit England einen Waffenstillstand, der den deutschen Truppen freien Abzug zusicherte, im übrigen aber einer völligen Kapitulation gleichkam.

29. September/2.

Oktober: Entschluß zum Prinz Max

Waffenstillstandsgesuch.

Reichskanzler

Marschall Foch ordnete für Ende September 1918 einen Großangriff auf der ganzen Westfront an, wobei die Alliierten mit einer Dauer des Krieges nodi bis zum Sommer 1919 rechneten. Die deutsche Oberste Heeresleitung hatte aber seit den Niederlagen Ende Juli und Anfang August schwerwiegende Bedenken gegen eine Fortsetzung des Krieges. Am 29. September fanden sich die politisch und militärisch maßgebenden Persönlichkeiten in Spa ein. In der entscheidenden Besprechung unter dem Vorsitz des Kaisers verlangten Hindenburg und Ludendorff sofortigen Waffenstillstand. Der Chef des Generalstabes beim Generalquartiermeister II im Großen Hauptquartier Albrecht von Thaer berichtet in seinem Tagebuch, was Ludendorff seinen engsten Mitarbeitern darüber mitteilte: „Die Oberste Heeresleitung und das Heer seien am Ende; der Krieg sei nicht nur nicht mehr zu gewinnen, vielmehr stehe die endgültige Niederlage wohl unvermeidbar bevor . . . So sei vorauszusehen, daß dem Feind schon in nächster Zeit mit Hilfe der kampffreudigen Amerikaner, ein großer Sieg, ein Durchbruch in ganz großem Stile gelingen werde, dann werde dieses Westheer den letzten Halt verlieren und in voller Auflösung zurückfluten über den Rhein und werde die Revolution nach Deutschland tragen. Diese Katastrophe müsse unbedingt vermieden werden. Aus den angeführten Gründen dürfe man sich nun nicht mehr schlagen lassen. Deshalb habe die Oberste Heeresleitung von Seiner Majestät und dem Kanzler gefordert, daß ohne jeden Verzug der Antrag auf Herbeiführung eines Waffenstillstandes gestellt würde bei dem Präsidenten Wilson von Amerika zwecks Herbeiführung eines Friedens auf der Grundlage seiner 14 Punkte." So überraschend diese Forderung dem Kaiser kam, fügte er sich doch dem Urteil der Obersten Heeresleitung. Auch die innerpolitische Lage bedurfte imbedingt einer Neureglung. Staatssekretär Hintze erklärte, eine „Revolution von unten" könne nur durch eine „Revolution von oben" verhindert werden, das heißt die sofortige Ausführung der seit langem versprochenen Reformen, worauf die Vertreter der Mehrheitsparteien seit Mitte September heftig drängten. Hertling verweigerte als überzeugter Föderalist die Mitwirkung, weil „die ausgesprochene Tendenz der Linksparteien auf die Einführung des parlamentarischen Systems ging, welches das Ende des Bundesstaates als letzte Konsequenz mit sich bringen würde". Der Kaiser bewilligte Hertlings Abschiedsgesuch und kündigte die bevorstehenden Reformen an: es ist „mein Wille, daß Männer, die vom Vertrauen des Volkes 470

29. September — 2. Oktober getragen sind, in weitem Umfange teilnehmen an den Rechten und Pflichten der Regierung". Zunächst fehlte also eine Regierung, die das Waffenstillstands- und Friedensgesuch an Wilson verantwortlich hätte unterzeichnen können. Auf Vorschlag Vizekanzler Friedrich Payers, Mitglied der Fortschrittlichen Volkspartei, ernannte der Kaiser zum Nachfolger Hertlings Prinz Max von Baden, dessen Programm mit dem der Mehrheitsparteien weitgehend übereinstimmte. Mit dem Waffenstillstandsgesuch waren Prinz Max und Payer keineswegs einverstanden. Am 2. Oktober ließ Payer die Führer der Parteien durch Major von Bussche, den Vertreter der Obersten Heeresleitung, in Spa über die militärische Lage unterrichten. Bussche betonte: „Heer und Heimat dürfen keine Schwäche erkennen lassen, der Gegner muß die geschlossene Front der Heimat und den unbeugsamen Willen, den Krieg fortzusetzen erkennen, wenn er keinen Frieden oder nur einen demütigenden Frieden geben wolle." Mit dieser Mahnung stand die Erklärung nicht im Einklang: „Die Oberste Heeresleitung habe sich veranlaßt gesehen, Seiner Majestät vorzuschlagen, zu versuchen, den Kampf abzubrechen, und es mußte der Entschluß gefaßt werden, die Fortsetzung des Krieges als aussichtslos aufzugeben. Jede 24 Stunden können die Lage verschlechtern, und den Feind unsere eigentliche Schwäche erkennen lassen." Zeugen haben später Prinz Max den Eindruck dieser Erklärung geschildert: „Die Abgeordneten waren ganz gebrochen; Ebert wurde totenblaß und konnte kein Wort herausbringen, der Abgeordnete Stresemann sah aus, als ob ihm etwas zustoßen würde; einzig allein Graf Westarp begehrte auf gegen die vorbehaltlose Annahme der 14 Punkte. Der Minister von Waldow soll den Saal mit den Worten verlassen haben, jetzt bliebe ja nur übrig, sich eine Kugel durch den Kopf zu schießen. Der Pole Seyda (Abgeordneter der Deutsch-Polen) und der Unabhängige Haase waren Zeugen des Vortrags . . . Seyda kam zuerst heraus, strahlend stürzte Haase dem Abgeordneten Ledebour (ebenfalls USP) mit den Worten entgegen: Jetzt haben wir sie!" Da die USP mit der bolschewistischen Gesandtschaft in Berlin, die ihre diplomatische Stellung sowieso zur Propaganda für ihre Ziele ausnützte, in Beziehung stand und die Deutsch-Polen über Stockholm Verbindung mit Paris hatten, war anzunehmen, daß Bussches Ausführungen im Ausland genau bekannt würden. Im Kronrat am Abend des 2. Oktober übernahm Prinz Max von Baden das Reichskanzleramt. Zuvor hatte er mit den Mehrheitsparteien ein Reformprogramm vereinbart, das er nun dem Kaiser vorlegte und das dieser billigte. Dagegen lehnte der Kaiser die von Prinz Max nachdrücklich empfohlene Zurückstellung des Waffenstillstandsangebotes ab; für die Beurteilung der Lage sei die Oberste Heeresleitung allein zuständig, sie halte das Waffenstillstandsangebot für nötig und so dürfe man ihr in dieser Frage keine Schwierigkeiten bereiten. Prinz Max suchte nun am 3. Oktober mündlich und schriftlich auf die Oberste Heeresleitung einzuwirken. Hindenburgs Antwortschreiben vom gleichen Tag Schloß: „Unter diesen Umständen ist es geboten, den Kampf abzubrechen, um dem deutschen Volk und seinen Verbündeten nutzlose Opfer zu ersparen. Jeder versäumte Tag kostet Tausenden von tapferen Soldaten das Leben." 471

Erster Weltkrieg: 1918 3./5. Oktober: Erste Note an Wilson. Bildung einer parlamentarischen Regierung So ging in der Nadit vom 3. zum 4. Oktober über die Schweiz die erste Note an Wilson ab: „Die deutsche Regierimg ersucht den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika, die Herstellung des Friedens in die Hand zu nehmen, alle kriegführenden Staaten von diesem Ersuchen in Kenntnis zu setzen und sie zur Entsendung von Bevollmächtigten zwecks Anbahnung von Verhandlungen einzuladen. Sie nimmt das von dem Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika in der Kongreßbotschaft vom 8. Januar 1918 und in seinen späteren Kundgebungen, namentlich der Rede vom 27. September (Wilsons große Völkerbundrede in New York), aufgestellte Programm als Grundlage für die Friedens Verhandlungen an. Um weiteres Blutvergießen zu vermeiden, ersucht die deutsche Regierung, den sofortigen Abschluß eines Waffenstillstandes zu Lande, zu Wasser und in der Luft herbeizuführen." Die Absendung der Note ist Prinz Max, der sie als Reichskanzler verantwortlich zu unterzeichnen hatte, sehr schwer gefallen: „Es lag in unserer Note eine doppelte Schmach: einmal die Bitte um Waffenstillstand — daran war nichts mehr zu ändern —; sodann die uneingeschränkte Annahme des Wilsonschen Programms. Nur eine besiegt am Boden liegende Nation ist gezwungen, das ganze Kriegsziel des Feindes anzunehmen mit einem Ja ohne Vorbehalt und Kommentar." Auch die Oberste Heeresleitung wollte keine unwürdige Kapitulation, sondern durch den Waffenstillstand die Armee retten und hatte auf rascheste Regierungsbildung gedrängt, um die Absendung der Note an Wilson zu beschleunigen; falls der Feind ungünstigere Bedingungen stelle, als in den 14 Punkten vorgesehen, würde wohl die höchste Gefahr des Vaterlandes Heimat und Front zusammenschweißen, bis der entschlossene Widerstand die Feinde ermatten und zu einem ehrenvollen Frieden bereit machen würde. Derartige Gedankengänge verstand jedoch die Öffentlichkeit nicht, sie hatte an den Sieg oder wenigstens an einen Verständigungsfrieden geglaubt, verbürgt durch die feste Front des Heeres unter der Führung von Hindenburg und Ludendorff, und nun erklärten seit dem 29. September diese Sieger in so vielen Schlachten plötzlich, an Sieg sei nicht mehr zu denken und, da Teile des Heeres nicht mehr ganz zuverlässig seien, könne jederzeit eine Katastrophe eintreten. Daß unter diesen Umständen die revolutionären und pazifistischen Kreise Oberwasser bekamen, daß Heer, Marine und Heimat, erschöpft und kriegsmüde, der revolutionären und antikaiserlichen Propaganda mehr und mehr zugänglich wurden, ist nicht weiter erstaunlich. Am 4. Oktober kam die neue, parlamentarische Regierung zustande. In sie wurden Sozialdemokraten und Zentrumsmänner, darunter Scheidemann, Erzberger und Gröber, als Staatssekretäre ohne Portefeuille aufgenommen; anstelle von Hintze trat der bisherige Staatssekretär des Reichskolonialamtes Dr. Wilhelm Solf. Zum erstenmal wurden die Besetzung der Regierungsbeamtenstellen mit den Fraktionen je nach der Stärke ausgehandelt. Selbst die Konservativen boten ihre Beteiligung an dieser Regierung an, Prinz Max ging indes darauf nicht ein, weil dadurch die sozialdemokratische Fraktion und die hinter ihr stehende Arbeiterschaft mißtrauisch und zur Mitarbeit weniger bereit geworden wäre. Am 5. 472

3 . - 5 . Oktober Oktober stellte sich Prinz Max dem Reichstag vor mit einer Rede, welche die Demütigving von gestern nacht (Absendung der Note an Wilson) auslöschen und dem Feind zeigen sollte: wir haben noch Atem. Prinz Max wies nachdrücklich darauf hin, daß er sich auf die Mehrheitsparteien stütze, mit deren Führern er die Grundsätze seiner Reichskanzlerschaft festgelegt habe; das preußische Wahlrecht werde jetzt unverzüglich in demokratischem Sinne umgebildet, Elsaß-Lothringen erhalte volle Selbständigkeit, in der Handhabung des Belagerungszustandes müsse ein „enges Verhältnis zwischen den Militär- und Zivilbehörden hergestellt werden, das es ermöglicht, daß in allen nicht rein militärischen Angelegenheiten, also besonders auf dem Gebiete der Zensur, des Vereins- und Versammlungswesens die Gesichtspunkte der zivilen Verwaltungsbehörden maßgebend zur Geltung kommen, und daß die Entscheidimg letzten Endes unter die Verantwortlichkeit des Reichskanzlers gestellt wird." Für die Außenpolitik bilde die Friedensresolution des Reichstags vom 19. Juli 1917 und die Antwort auf die Papstnote vom 1. August 1917 die Grundlage. Bereitwilligkeit zur Wiederherstellung Belgiens, zu einer Verständigung in der Entschädigungsfrage, zu einer Anpassung der Friedensverträge mit Rußland und Rumänien an den allgemeinen Friedensschluß und schließlich zur Anerkennung der Selbständigkeit der baltischen Länder, Litauens und Polens kam in der Rede des Reichskanzlers klar zum Ausdrude. Er übernahm auch die volle Verantwortung für die Note an Wilson: „Ich habe diesen Schritt auf dem Wege zu der Erlösimg nicht nur Deutschlands und seiner Verbündeten, sondern der gesamten, seit Jahren unter dem Kriege leidenden Menschheit auch deshalb getan, weil ich glaube, daß die auf das künftige Glück der Völker gerichteten Gedanken, die Herr Wilson verkündet, sich völlig mit den allgemeinen Vorstellungen in Einklang befinden, in denen sich auch die neue deutsche Regierung und mit ihr die weit überwiegende Mehrheit unseres Volkes bewegt . . . So sehe ich denn mit der inneren Ruhe, die mir mein gutes Gewissen als Mensch und als Diener unseres Volkes verleiht, und die sich zugleich auf das feste Vertrauen zu diesem großen, treuen, jeder Hingebung fähigen Volk und seiner ruhmvollen Wehrmacht begründet, dem Ergebnis der ersten Handlung entgegen, die ich als leitender Staatsmann des Reiches unternommen habe. Wie dieses Ergebnis auch ausfallen möge: ich weiß, daß es Deutschland fest entschlossen und einig finden wird — sowohl zu einem redlichen Frieden, der jede eigensüchtige Verletzung fremder Rechte von sich weist, als auch zu dem Endkampf auf Leben und Tod, zu dem unser Volk ohne eigenes Verschulden gezwungen wäre, wenn die Antwort der mit uns im Kriege stehenden Mächte auf unser Angebot von dem Willen, uns zu vernichten, diktiert werden sollte. Kein Zagen befällt mich bei dem Gedanken, daß dieses zrweite Ergebnis eintreten könnte, denn ich kenne die Größe der gewaltigen Kräfte, die auch jetzt noch in unserem Volke vorhanden sind, und ich weiß, daß die unwiderlegliche Uberzeugung, um gar nichts weiter als um unser Leben als Nation zu kämpfen, diese Kräfte verdoppeln würde. Ich hoffe aber um der gesamten Menschheit willen, daß der Präsident der Vereinigten Staaten unser Angebot so aufnimmt, wie wir es meinen. Dann wäre die Tür zu einem baldigen, ehrenvollen Frieden des Rechtes und der

473

Erster Weltkrieg: 1918

Versöhnung sowohl für uns wie für unsere Gegner geöffnet. (Lebhafter Beifall des ganzen Hauses, Zwischenrufe bei der USP.)" „Die Wirkung der Rede im Reichstag war stark und dämmte die Panik zurück, die in den letzten Tagen reißende Fortschritte gemacht hatte . . . In der Öffentlichkeit verhinderte unsere Regierungsbildung, daß der Schreck über das Angebot katastrophenartige Formen annahm" (Prinz Max von Baden, Erinnerungen). Noch am Tag der Reichstagsrede rief die USP zur Gründung der sozialistischen Republik auf. Die vom Reichskanzler angekündigten innerpolitischen Reformen wurden im Laufe des Oktobers durchgeführt, aber sie kamen zu spät und vermochten weder auf die Volksstimmung noch auf den Verlauf der Ereignisse günstig einzuwirken. Der Kaiser trat ganz in den Hintergrund und die Oberste Heeresleitung verlor ihren Einfluß; sie beklagte sich bitter, dem Reichskanzler und dem Reichstag „fehle die Überzeugung, daß schon seit 1914 jeder Deutsche für sein Leben kämpfe und dieser Daseinskampf jedes Opfer von uns allen fordere" (Ludendorff). Staatssekretär Erzberger entfaltete im Auftrag der Regierung mit großem Eifer und Geschick eine Propagandatätigkeit zur Hebung der Stimmung und Zuversicht im Volke, aber dieses richtete sein Augenmerk nur auf die langsam zurückweichende Front, las die immer schroffer gehaltenen Noten Wilsons, denen die deutsche Diplomatie zustimmen mußte, erkannte die bei der Übermacht der Feinde nicht abzuwendende Niederlage und wollte dafür keine ihm sinnlos erscheinenden Opfer mehr bringen. Die Oberste Heeresleitung hatte die Verteidigung jeden Fußbreit Bodens beschlossen, um so eine geordnete Zurücknahme der Front und die planmäßige Bergung des in der bisherigen Etappe angehäuften Kriegsmaterials zu ermöglichen. Die Kämpfe gegen den pausenlos angreifenden Feind erforderten viele Opfer an Menschenleben gerade von den Truppen, die in treuer Pflichterfüllung sich immer noch opfermutig einsetzten. Bei einzelnen Divisionen zeigten sich freilich auch bedenkliche Zersetzungserscheinungen, die Zahl der Deserteure wuchs. Als letzte Stellung war seit Anfang Oktober die Antwerpen-Maaslinie ausgebaut worden, in der Eile allerdings nur unzureichend. Die Führer der einzelnen Heeresgruppen drängten auf rasche Zurücknahme der Front, sie müsse verkürzt werden, sonst könnten die abgekämpften Truppen den Durchbruch der Feinde vielleicht doch einmal nicht aufhalten; die Oberste Heeresleitung genehmigte indes erst am 4. November den Rückmarsch, vor seinem Abschluß trat der Waffenstillstand in Kraft.

9.¡26. Oktober: Weiterer Notenwechsel mit Wilson. Durchführung Verfassungsreform. Ludendorffs Entlassung

der

Am 9. Oktober war die erste Antwortnote Wilsons in Berlin eingetroffen. Als Vorbedingung für Verhandlungen verlangte er, daß die Mittelmächte aus den von ihnen besetzten Gebieten sofort ihre Truppen zurückzögen, und fragte, ob der Reichskanzler „nur für diejenigen Gewalten des Reiches spricht, die bisher den 474

9 . - 2 6 . Oktober Krieg geführt haben". Nach Rücksprache mit der Obersten Heeresleitung erwiderte die deutsche Regierung am 12. Oktober, sie nehme an, daß „auch die Regierungen der mit den Vereinigten Staaten verbündeten Mächte sich auf den Boden der Kundgebungen des Präsidenten Wilson stellen", und erklärte sich bereit, „zur Herbeiführung eines Waffenstillstandes den Räumungsvorschlägen des Präsidenten zu entprechen . . . Die jetzige deutsche Regierung, die die Verantwortung für den Friedensschritt trägt, ist gebildet durch Verhandlungen und in Ubereinstimmung mit der großen Mehrheit des Reichstags. In jeder seiner Handlungen, gestützt auf den Willen dieser Mehrheit, spricht der Reichskanzler im Namen der deutschen Regierung und des deutschen Volkes". Am Tag der Absendung dieser Note wurde der zwischen Irland und England verkehrende Passagierdampfer „Leicester" mit vielen Amerikanern an Bord von einem U-Boot versenkt, was in Amerika natürlich eine ungeheure Erregung hervorrief. Dementsprechend war Wilsons Antwortnote vom 14. Oktober sehr scharf gehalten: von der Regierung der Vereinigten Staaten kann keine Vereinbarung angenommen werden, die „nicht völlig befriedigende Sicherheiten und Bürgschaften für die Aufrechterhaltung der gegenwärtigen militärischen Überlegenheit der Armeen der Vereinigten Staaten und der Alliierten im Felde vorsieht . . . Es kann nicht erwartet werden, daß die gegen Deutschland verbundenen Nationen einem Waffenstillstand zustimmen werden, solange die unmenschlichen Handlungen, Plünderung und Verwüstung fortgesetzt werden, auf die sie gerechterweise mit Schrecken und empörtem Herzen blicken". Die Vereinigten Staaten mit ihren Alliierten forderten also die Einstellung des U-Boot-Krieges und der Zerstörungen beim Rüdezug aus Flandern und Frankreich, die Ludendorff als eine militärische Notwendigkeit ansah. Zum Schluß erinnerte Wilson an eine Friedensbedingung, die er bereits in seiner Rede vom 4. Juli 1918 gestellt hatte: „Vernichtung jeder willkürlichen Macht, die für sich allein, heimlich und nach eigenem Entschluß den Frieden der Welt stören kann, oder wenn ihre Vernichtung jetzt nicht mögich ist, mindestens ihre Herabdrüdeung zu tatsächlicher Machtlosigkeit." Damit meinte Wilson den Sturz oder die Machtlosigkeit des hohenzollernschen Kaisertums. War die erste Antwort Wilsons noch mit einigem Optimismus aufgenommen worden, so klärte die zweite durch ihre scharfe Tonart und durch das unverhohlene Ausspielen der militärischen Überlegenheit das deutsche Volk darüber auf, daß ein gerechter Friede mit Wilson als Schiedsrichter und auf der Grundlage seiner 14 Punkte nicht zu erwarten war, vielmehr die Feinde ihre Deutschland zur Ohnmacht verurteilenden Kriegsziele weiter verfolgen würden, bis sie erreicht seien. Graf Westarp und die Konservativen, Tirpitz und die Deutsche Vaterlandspartei, Graf Arnim-Boitzenburg, Präsident des Herrenhauses, beschworen einzeln und als Gruppen den Reichskanzler, er solle jetzt die Verhandlungen mit Wilson abbrechen und die Nation zum Kampf aufrufen. Die USP sprach jedoch schon von einer Regierung Haase-Ledebour und arbeitete mit allen Mitteln gegen eine nationale Erhebung. Die zweite Wilsonnote stellte Prinz Max vor die schwierige und schwerwiegende Entscheidung: bedingungsloses Eingehen auf die Forderungen Wilsons oder Fortführung des Krieges. Bei seinen Erwägungen ging Prinz Max nicht von irgend-

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Erster Weltkrieg: 1918 welchen vorgefaßten Meinungen aus, sondern von sorgfältiger Prüfung der damaligen Lage Deutschlands, die er dann auch in seinen „Erinnerungen und Dokumenten" aufschlußreich und mit einer Objektivität dargestellt hat, wie sie sich bei Staatsmännern, die über ihre Amtszeit berichten, nicht immer findet: „Die Note Wilsons verwandelte die deutsche Situation bis auf die Fundamente . . . Nach unserem Angebot war die Sehnsucht nach Frieden die beherrschende Leidenschaft der Massen geworden. Millionen stauten ihre Ungeduld nur zu kurzfristiger Selbstbeherrschung. Einzig und allein die eingebildete Nähe des Friedens hielt sie von unpatriotischen Worten oder Taten zurück. Nun wirkte die Enttäuschung wie ein Dammbruch . . . Um die Mitte des Oktober war das Elend in den Städten unsagbar. Keine Kohlen, keine ausreichende Kleidung, ein ständiger Hunger. Durch ganz Europa ging damals eine Grippeepidemie . . . Die Oberpräsidenten schrieben sehr ernste Berichte über die Stimmung in den Industriezentren der Provinzen. Immer wieder die Klage, daß der Geist der Freiwilligkeit dahinschwinde." In einem an Prinz Max gerichteten privaten Brief vom 18. Oktober äußerte sich Kronprinz Rupprecht von Bayern sehr pessimistisch über die Lage an der Front: die Verluste an Menschen und Material seien groß, die „Stimmung der Truppe hat sehr gelitten und ihre Widerstandskraft verringert sich ständig, die Leute ergeben sich scharenweise bei feindlichen Angriffen, und Tausende von Marodeuren treiben sich im Etappengebiet umher . . . Die Möglichkeit, über den Dezember auszuhalten, halte ich nicht für gegeben, zumal die Amerikaner monatlich etwa 300 000 Mann über den Ozean ziehen. Ich möchte betonen, daß schon jetzt unsere Lage eine überaus gefährliche ist, und es nach Umständen über Nacht zu einer Katastrophe kommen kann. Ludendorff erkennt nicht den ganzen Emst der Lage. Unter allen Umständen müssen wir zum Frieden gelangen, ehe der Gegner sich den Weg nach Deutschland erzwingt, denn dann wehe uns!" Ludendorff stellte die Lage an der Front aussichtsreicher dar, ein Krieg sei kein Rechenexempel, natürlich könne immer eine Katastrophe eintreten, wenn aber die Heimat für die Front Soldaten freimache und geschlossen hinter ihr stehe, könne der Feind noch einige Monate vor den deutschen Grenzen aufgehalten und vielleicht zu einem für Deutschland ehrenvollen Frieden bewogen werden. Den U-BootKrieg aufzugeben wäre „ein Schwächebekenntnis, wie es schlimmer nicht gedacht werden konnte. Es mußte die feindliche Begehrlichkeit bis ins Ungemessene steigern". Prinz Max hatte große Bedenken gegen Ludendorffs Auffassung: „Unsere Lage zwingt uns, die schwersten Opfer für den Frieden zu bringen. Kommen aber entehrende Waffenstillstandsbedingungen, dann muß zur letzten Verteidigung gerufen werden. Das würde dann der Verzweiflungskampf sein. Eines aber war mir klar: diesen Verzweiflungskampf durfte der General Ludendorff nicht leiten." Die Beratungen über den Wortlaut der neuen Note an Wilson gestalteten sich sehr schwierig. Die Oberste Heeresleitung beharrte auf ihrem Standpunkt, doch konnte Prinz Max vom Kaiser die, wenn auch „sehr unwillig", gegebene Zustimmung zur Aufgabe des U-Boot-Krieges erhalten. An dieser Besprechung nahm Graf Hugo von Lerchenfeld als Vertreter Bayerns teil. Er wies auf „gefährliche Strömungen im Reiche hin, die eine besondere Spitze gegen den Kaiser ange-

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9.-26. Oktober nommen haben. Seine Majestät unterbrach ihn, er wisse dies, er wisse audi, daß manche seine Abdankung forderten, aber, so fügte er mit großem Ernste hinzu, ein Nachfolger Friedrichs des Großen danke nicht ab". In der Nacht vom 20. zum 21. Oktober ging die dritte deutsche Note an Wilson ab; die deutsche Regierung verteidigte die deutschen Land- und Seestreitkräfte gegen den Vorwurf ungesetzlicher und unmenschlicher Handlungen, den U-Boot-Kommandanten sei jetzt verboten worden, Passagierschiffe zu versenken, und hob den grundlegenden Wandel in der Verfassung des Reiches hervor. „Die Verantwortung des Reichskanzlers gegenüber der Volksvertretung wird gesetzlich ausgebaut und sichergestellt"; dem Reichstag liege ein Gesetz vor, daß „zur Entscheidung über Krieg und Frieden die Zustimmimg der Volksvertretung erforderlich ist". Wilson und die Alliierten hätten es also bei den Verhandlungen mit einer deutschen Regierung zu tun, die, „frei von jedem willkürlichen und unverantwortlichen Einfluß, getragen wird von der Zustimmung der überwältigenden Mehrheit des deutschen Volkes". Am 22. Oktober begründete Prinz Max im Reichstag seine Stellungnahme zu der Friedensfrage und zu der dritten Note an Wilson und ging dann auf die innerpolitischen Reformen über. Die für die Verfassungsreform vorgelegten Gesetze wurden nach längeren Debatten angenommen und am 28. Oktober von Kaiser Wilhelm unterzeichnet. Er begrüßte in einem Erlaß die neue Ordnung, die „grundlegende Rechte von der Person des Kaisers auf das Volk überträgt... Das Kaiseramt ist Dienst am Volk". Inzwischen war am 24. Oktober Wilsons Antwort eingelaufen: Er könne nur einen Waffenstillstand vertreten, der „die Vereinigten Staaten und die mit ihnen verbündeten Mächte in der Lage beließe, jede zu treffende Vereinbarung zu erzwingen und eine Erneuerung der Feindseligkeiten durch Deutschland unmöglich zu machen"; in diesem Sinne habe er den Allüerten vorgeschlagen, ihre Bedingungen für einen Waffenstillstand zu nennen; die Änderungen der deutschen Verfassimg böten noch nicht hinreichende Sicherheit, das deutsche Volk habe keine Mittel, die „Unterwerfung der Militärbehörden des Reiches unter den Volkswillen zu erzwingen" und „der beherrschende Einfluß des Königs von Preußen auf die Reichspolitik" sei noch uneingeschränkt; wenn die Vereinigten Staaten mit „den militärischen Beherrschern und monarchischen Autokraten" unterhandeln sollten, „müssen sie nicht Friedensverhandlungen, sondern Ubergabe verlangen". Damit trat die Frage der Abdankung des Kaisers in den Vordergrund. Der Sozialdemokrat Noske sagte: die Wilsonnote „ist doch gar nicht so schlimm, wenn der Kaiser geht, kriegen wir einen guten Frieden". Dieser Glaube setzte sich in weiten Kreisen durch. Die Oberste Heeresleitung aber hielt jetzt den Abbruch der Verhandlungen mit Wilson für selbstverständlich und erließ in diesem Sinne einen Armeebefehl zur Fortsetzung des Kampfes, ohne vorher beim Kaiser und bei der Regierung anzufragen. Daraufhin verlangte Prinz Max, um den Anschein der Eigenmächtigkeit des Militärs zu zerstören, Ludendorff müsse seinen Abschied nehmen, doch solle der Kaiser alles tun, um Hindenburg zu halten. Am 26. Oktober bat Ludendorff um seine Entlassung, da er das Vertrauen des Kaisers nicht mehr besitze. Der Kaiser bewilligte das Gesuch, Hindenburg blieb. „Der General Ludendorff und seine Getreuen haben nie begriffen, 477

Erster Weltkrieg: 1918 daß man den Sieger von Tannenberg für entbehrlich halten konnte. Die Undankbarkeit des Kaisers, des Volkes, des Kanzlers, ja des Feldmarschalls Hindenburg, dessen patriotisches Opfer er nicht verstand, haben den General Ludendorff mit unsäglicher Bitternis erfüllt, und er hat sich von diesem Tag nie erholt" (Prinz Max von Baden).

27. Oktober/6. November: Ende des Notenwechsels mit Wilson Ringen um die Abdankung des Kaisers. Beginn der Revolution Am 27. Oktober ging die Antwortnote an Wilson ab: die Machtbefugnisse der demokratischen Regierung seien in der Verfassung dauerhaft verankert, die „deutsche Regierung sieht nunmehr den Vorschlägen für einen Waffenstillstand entgegen, der einen Frieden der Gerechtigkeit einleitet, wie ihn der Präsident in seinen Kundgebungen gekennzeichnet hat". Fürst Ernst von Hohenlohe-Langenburg hielt sich zu dieser Zeit als Leiter des Roten Kreuzes in Bern auf und verhandelte mit amerikanischen Delegierten über Gefangenenfragen. Dabei besprach er sich auch mit einem ausgesprochen deutschfreundlich gesinnten Amerikaner. Die Mitteilungen dieses unbefangenen Beurteilers über die Stimmung im deutschfeindlichen Ausland namentlich gegen den Kaiser hielt der Fürst für so bezeichnend und wichtig, daß er sie in einem Brief an seinen Vetter Prinz Max weitergab: „Gegen den Kaiser ist in den Ententeländern eine so raffinierte und systematische Hetze betrieben worden, daß er in der ganzen öffentlichen Meinung jener Länder — auch in Amerika — als die Verkörperung aller wirklichen und erdichteten Greuel dieses Krieges und als der schärfste Gegner jeder Beschränkung der monarchischen Gewalt gilt. Dem Kronprinzen schreibt man dieselben Gesinnungen wie seinem Vater zu . . . Im Falle wir die Forderungen der letzten Wilson-Note nicht erfüllten, würde sich die Entente durch kein neues Friedensangebot abhalten lassen, in Deutschland einzubrechen. Die Folgen möchten wir uns selbst ausmalen." Ganz ähnliche Berichte erhielt der Reichskanzler von zwei anderen amerikanischen Diplomaten und vom deutschen Botschafter in Kopenhagen. Im Volk wurde die Abdankung des Kaisers immer leidenschaftlicher erörtert. Prinz Max wollte als zukünftiger Reichsfürst und als Offizier nicht selbst dem Kaiser die Abdankung nahelegen, hielt sie aber zur Rettung der Dynastie für unerläßlich, audi müsse sie bald und freiwillig erfolgen. Den Einflüssen der Hauptstadt entzog sich der Kaiser gegen den Willen des Reichskanzlers am 29. Oktober durch die Abreise ins Große Hauptquartier nach Spa mit der Begründung, er müsse den Nachfolger Ludendorffs, Generalleutnant Wilhelm Groener, in sein Amt einführen, und überhaupt gehöre in Zeiten der Gefahr der oberste Kriegsherr zu seinen Truppen. Das Verbleiben des Kaisers in Berlin wäre wichtiger gewesen, weil in diesen Tagen die Gefahr einer Revolution in der Heimat bedrohlich zunahm. Auf der in München zum 30. Oktober von der Fortschrittlichen Volkspartei einberufenen Volksversammlung fand eine Resolution, die das unwandelbare

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27. Oktober—6. November

Treueverhältnis Bayerns zum Reich betonte, aber zugleich im Interesse des Friedens den Rücktritt des Kaisers verlangte, stürmische, einmütige Zustimmung. Die USP und die Spartakisten arbeiteten von jeher auf die Republik hin; ebenso waren die Mehrheitssozialisten großenteils grundsätzlich dafür, doch auch bereit, sidi mit einem parlamentarischen Kaisertum abzufinden, Kaiser Wilhelm und der Kronprinz müßten aber auf den Thron verzichten; diese Auffassung fand in immer weiteren bürgerlichen Kreisen ebenfalls Eingang. Sehr viele standen indes weiterhin treu zum Kaiser und wehrten sich dagegen, ihn in der Stunde der Not zu verlassen. Vizekanzler Payer wies in einer Sitzung des Kabinetts darauf hin, wie stark außerhalb Preußens, besonders in Bayern, sich die Stimmung gegen den Kaiser gewandt habe, und wie man „die Herren der Hochfinanz und der Großindustrie, ja bis hoch in die Offizierskreise hinein mit erstaunlicher Offenheit sagen höre: der Kaiser muß sofort zurücktreten". Prinz Max war für die Abdankung von Kaiser und Kronprinz und für die Regentschaft eines preußischen Prinzen während der Minderjährigkeit des ältesten Kronprinzensohnes. Über die Stellungnahme der Obersten Heeresleitung berichtete Groener, der auf Wunsch des Reichskanzlers zur Berichterstattung nach Berlin gekommen war, am 5. November: Hindenburg habe ihn beauftragt, „in der Frage der Abdankung des Kaisers wörtlich zu erklären, daß er sich für einen Schuft hielte, wenn er den Kaiser verlassen würde, und so, meine Herren, denke ich und alle ehrliebenden Soldaten. Wie sollen die Tausende und Abertausende von tapferen Offizieren und Soldaten den Entschluß zum Opfertode finden, wenn in ihre Herzen und Gewissen der Zwiespalt hineingetrieben wird? Wovon man in der Heimat keine Ahnung zu haben scheint, das ist die Psychologie des Heeres, das sind die Imponderabilien, auf denen der Gehorsam ruht. Hört die Hetze gegen den Kaiser nicht auf, so ist das Schicksal des Heeres besiegelt, es läuft auseinander. In der nach der Heimat zurückströmenden Soldateska bricht die menschliche Bestie hervor." Der Kaiser wies nach wie vor jeden Gedanken an Abdankung zurück. Mittlerweile hatte sich die allgemeine Lage Deutschlands erheblich verschlimmert. Die Türkei und Österreich-Ungarn hatten kapituliert, Bayern und Sachsen mußten eine Bedrohung ihrer Grenzen befürchten, Bayern von den Italienern, Sachsen von den Tschechen; die deutschen Truppen auf dem Balkan und in der Türkei befanden sich in größter Gefahr; die Front im Westen hielt noch, wurde aber immer weiter zurückgenommen. Als die deutsche Regierung in der dritten Note an Wilson auf den U-Boot-Handelskrieg verzichtet hatte, konnten alle UBoote der Hochseeflotte für rein militärische Zwecke zugeordnet werden. Admiral Scheer plante nun einen Großangriff auf die englische Flotte. „Ein Erfolg zur See", urteilte er, „konnte von unermeßlichem Vorteil sein und die Friedensverhandlungen nur günstig beeinflussen". Die Vorbereitungen blieben geheim, selbst der Kaiser und der Reichskanzler erfuhren nichts davon. Als am 28. Oktober der Befehl zum Auslaufen gegeben wurde, kam es, wie schon im Sommer 1917, auf einzelnen Schiffen zu offener Gehorsamsverweigerung, die Matrosen vieler Schiffe glaubten nicht mehr an einen Sieg und wollten von einem heroischen Untergang nichts wissen. Die meuternden Matrosen rissen am 3. November in Kiel die Gewalt

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Erster Weltkrieg: 1918 an sich, die Arbeiter schlossen sich ihnen an und wählten nach russischem Vorbild einen Arbeiter- und Soldatenrat. Die Regierung sandte Noske und Staatssekretär Haußmann von der Fortschrittlichen Volkspartei nach Kiel; ihnen gelang es, in Kiel einigermaßen Ordnung zu schaffen, aber die Revolution war nicht mehr aufzuhalten. Der Inhalt einer im Berliner Bahnhof „zufällig" — auf Anraten Sdieidemanns — zerbrochenen Kurierkiste für die russische Botschaft bewies, in welchem Umfang der diplomatische Vertreter Rußlands seine Stellung zu Propagandazwecken mißbraucht hatte; er wurde, was die Oberste Heeresleitung schon lange dringend verlangt hatte, mit dem gesamten Botschaftspersonal ausgewiesen. Scheidemann bemerkte dazu, „der Bolschewismus ist heute die größere Gefahr als die Entente". Zu Schiff, auf Lastwagen, mit der Bahn fuhren aufständische Matrosen nach Hamburg, Liibedc, Cuxhafen, Hannover, Magdeburg, Leipzig, Dresden, Braunschweig, Frankfurt, Köln und anderen Städten, gründeten Arbeiter- und Soldatenräte und bemächtigten sich der Regierung. Versuche, Truppen gegen sie einzusetzen, scheiterten; die Soldaten schlossen sich teils den Aufständischen an, teils weigerten sie sich, auf sie zu schießen und trachteten nur, möglichst bald nach Hause zu kommen. Am 6. November traf Wilsons vierte Antwortnote vom 5. November in Berlin ein: die Alliierten Regierungen erklären „ihre Bereitschaft zum Friedensschluß mit der deutschen Regierimg" auf Grund der 14 Punkte des Präsidenten Wilson „sowie der Grundsätze, die in seinen späteren Ansprachen niedergelegt sind, ausgenommen ist ,der sogenannte Begriff der Freiheit der Meere', über dessen Auslegung man sich erst noch einigen müsse. Deutschland habe die besetzten Gebiete nicht nur zu räumen, sondern „für allen durch seine Angriffe zu Land, zu Wasser und in der Luft der Zivilbevölkerung der Alliierten und ihrem Eigentum zugefügten Schaden Ersatz zu leisten". Marschall Foch sei ermächtigt, „gehörig beglaubigte Vertreter der deutschen Regierung zu empfangen und sie von den Waffenstillstandsbedingungen in Kenntnis zu setzen". Daß die Note am Schluß nur von Waffenstillstandsfeedingungen, nicht von Verhandlungen sprach, ließ das Schlimmste befürchten; immerhin bestand die Möglichkeit, Wilson würde sich um die Durchführung seines Vierzehnpunkteprogramms ernstlich bemühen. Am 7. November nachts überschritt die Waffenstillstandskommission unter Führung des Staatssekretärs Erzberger — also nicht eines Generals — die französische Grenze. Die Hoffnung des Prinzen Max, die sofortige Bekanntgabe von Erzbergers Abreise würde beruhigend wirken, erfüllte sich nicht. In München bildeten die USP unter Führung Kurt Eisners und die Mehrheitssozialisten einen Arbeiter- und Soldatenrat. In der Nacht zum 8. November rief ein provisorischer Arbeiter-, Soldaten- und Bauemrat die demokratische und soziale Republik Bayern aus, König Ludwig III. verließ München, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden. Am gleichen Tag mußte Herzog Ernst August von Braunschweig und Lüneburg, der Schwiegersohn Kaiser Wilhelms, für sich und seine Nachkommen auf den Thron verzichten. In Berlin versuchte die Regierung, die Revolution durch Verbote von Versammlungen und Bereitstellung von Militär zu verhindern, aber nun schwenkte die 480

9. November und Waffenstillstand Sozialdemokratische Partei plötzlich um; sie fühlte, wie ihr Einfluß auf die Massen, die den radikaleren Parteien zuneigten, dahinschwand. Am Vormittag des 7. November sagte Ebert zu Prinz Max: „Wenn der Kaiser nicht abdankt, dann ist die soziale Revolution unvermeidilich. Ich aber will sie nicht, ja, ich hasse sie wie die Sünde." So stellte der sozialdemokratische Parteivorstand der Regierung ein Ultimatum: wenn das Versammlungsverbot nicht aufgehoben, der Einfluß der Sozialdemokraten in der Regierung nicht verstärkt würde und Kaiser und Kronprinz nicht bis zum Mittag des 8. November zurücktreten, müßten die Sozialdemokraten aus der Regierung ausscheiden. Der Reichskanzler bat daraufhin den Kaiser um seine Entlassung, weil eine Regierung ohne oder gegen die Sozialdemokraten unmöglich sei, und er, Prinz Max, das die Abdankung des Kaisers fordernde Ultimatum ablehne. Er riet dem Kaiser noch dringend, den Schein zu vermeiden, als danke er unter sozialdemokratischem Druck ab, die Krone müsse die Initiative ergreifen und verkünden, sofort nach Abschluß des Waffenstillstandes solle das Volk eine Verfassunggebende Nationalversammlung wählen, die dann auch alle mit der Thronentsagimg zusammenhängenden Fragen zu entscheiden habe; bis dahin werde der Kaiser einem Stellvertreter die Aufgaben der Krone übertragen, nur so könnten die Sozialdemokraten den Ubergang der Massen in das radikale Lager verhindern und die Entwicklung in legale Bahnen lenken. Diesen Vorschlag lehnte der Kaiser ab, er halte es nach wie vor für seine Pflicht, auf seinem Posten zu bleiben, auch der Reichskanzler solle sein Amt bis zur Beendigung der Waffenstillstandsverhandlungen weiterführen.

Der 9. November und der

Waffenstillstand

Am 9. November fiel in Berlin und Spa die Entscheidung. Die Sozialdemokraten hatten ihr Ultimatum um einen Tag verlängert, aber die USP forderte die Arbeitermassen zum Streik und zu Demonstrationen auf, und so zogen Tausende unbewaffneter Arbeiter am Vormittag in das Zentrum Berlins. Die Truppen gingen zu den Aufständischen über. In Spa zögerte der Kaiser immer noch, er wollte an der Spitze seiner Truppen nach Berlin ziehen und dort die Ordnung wiederherstellen; aber General Groener mußte ihm sagen, die Rheinlinie wäre in der Hand der Aufständischen und die Mehrzahl der Fronttruppen würde wohl gegen die Feinde, aber nicht gegen ihre Kameraden kämpfen. Den Bürgerkrieg wollte der Kaiser seinem Heer und Volk ersparen. Friedlich, an der Spitze seiner Truppen, gedachte er nach Abschluß des Waffenstillstandes in die Heimat zu ziehen. Groener antwortete: „Das Heer wird unter seinen Führern und Kommandierenden Generalen in Ruhe und Ordnung in die Heimat zurückmarschieren, aber nicht unter Befehl Euer Majestät, denn es steht nicht mehr hinter Euer Majestät." Wiederholte Ferngespräche aus Berlin drängten auf die Abdankung des Kaisers, um die Dynastie zu retten. General Graf Schulenburg, Chef des Stabs der Kronprinzenarmee, schlug vor, Wilhelm II. sollte als Kaiser abdanken, nicht aber als König von Preußen. Der Kaiser griff diesen Gedanken begierig auf, doch ehe 481 31 Β Ohler, Deutsche Geschichte, VI

Erster Weltkrieg: 1918 diese Entscheidung des Kaisers formuliert und nach Berlin weitergegeben wurde, hatte Prinz Max auf die telephonische Mitteilung aus Spa, die Abdankung des Kaisers stehe unmittelbar bevor, eigenmächtig gegen 13 Uhr bekanntgegeben: „Der Kaiser und König hat sich entschlossen, dem Throne zu entsagen", und er hatte den Thronverzicht des Kronprinzen, die Einsetzimg eines Regenten mit Ebert als Reichskanzler und die bevorstehende Wahl einer Verfassunggebenden Nationalversammlung verkündet. Dies war der letzte Versuch des Prinzen Max von Baden zur Rettung wenigstens der Dynastie. Nach 14 Uhr proklamierte Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus die „deutsche Republik", um 16 Uhr proklamierte Liebknecht, Führer der Spartakusgruppe, vom Balkon des königlichen Schlosses die „freie sozialistische Republik Deutschland", an dem Mast der Kaiserstandarte wurde die rote Fahne gehißt. Da eine erfolgreiche Bekämpfung der Revolution nicht mehr möglich war, erhielt das Militär den Befehl, von der Schußwaffe keinen Gebrauch zu machen. Prinz Max trat als Reichskanzler zurück, Ebert übernahm sein Amt. In Spa war der Kaiser auch jetzt noch entschlossen, als König von Preußen bei seinen Truppen zu bleiben, aber nun drängte die Oberste Heeresleitung auf seine gelegentlich schon erörterte Abfahrt nach Holland: die Etappe befinde sich in voller Auflösung, auch eigens zum Schutze des Kaisers herangezogene Truppen wollten nicht gegen die anrückenden meuternden Kameraden kämpfen. Da übertrug der Kaiser Hindenburg den Oberbefehl und die Sorge für die Rückführung des Heeres in die Heimat. In seinen „Erinnerungen" schildert Kronprinz Wilhelm, der für einige Stunden nach Spa gekommen war, wie sein Vater, „farblos die festgeschlossenen Lippen in dem graugelb gewordenen und wie um Jahre gealterten Gesicht . . . mit seinen Augen den Blidc des Generalfeldmarschalls (Hindenburg) suchte, als müßte er bei ihm Kraft und Hilfe finden in seiner Qual. Aber da war nichts. — Still, tief erschüttert, in ausweglosem Schweigen stand der große alte Mann und ließ das Schicksal seines Königs und Herrn, dem er so lange treu und tapfer als Soldat gedient hatte, sich erfüllen." Und der Kaiser selbst klagt in seinen „Ereignisse und Gestalten": „Mein Fortgehen hat uns weder günstigere Waffenstillstands- und Friedensbedingungen gebracht, noch den Bürgerkrieg abzuwenden vermocht." Die Armee zu verlassen, die dreißig Jahre sein Stolz gewesen, fiel ihm bitter schwer. „Und daß in meiner stolzen Flotte, meiner Schöpfung, die Empörung zuerst offen zutage getreten ist, hat mich am tiefsten ins Herz getroffen." Am 10. November fuhr der Kaiser zur holländischen Grenze. Nach Erledigung der Formalitäten traf er am 11. November nachmittags auf dem Schlosse des Grafen Bentindc in Amerongen ein; 1920 wurde dem Kaiser Haus Doorn als Wohnsitz zugewiesen. Hier starb er am 14. Juni 1941, ohne die Heimat wiedergesehen zu haben. In Berlin galt es jetzt, möglichst rasch eine neue Regierung zu bilden, die den Waffenstillstand unterzeichnen konnte. Die Sozialdemokraten hätten gerne allein die Regierung übernommen; Scheidemann hatte noch am 8. November zu Prinz Max gesagt: „Meine Partei wird dafür sorgen, daß Deutschland vom Bolschewismus verschont bleibt." Die Radikalen ließen sich jedoch nicht ausschalten; dem am 482

9. November und Waffenstillstand 10. November gebildeten „Rat der Volksbeauftragten", der neuen Regierung, gehörten an: von den Sozialdemokraten Ebert, Sdieidemann und Otto Landsberg, von den USP Haase, Wilhelm Dittmann und Emil Barth, der Sekretär der Spartakusgruppe. Den Vorsitz führten Ebert und Haase, Amt und Titel eines Reichskanzlers wurden abgeschafft. Die Arbeiter- und Soldatenräte hatten sich zum „Ausdrude des revolutionären Volkswillens" als eine Art provisorischen Parlaments erklärt und einen Vollzugsrat gewählt, dessen „Beauftragter die Regierung ist". Sie wurde im ganzen Reich ohne Widerstreben anerkannt; um ein Chaos zu vermeiden, stellten sich auch Hindenburg und der Oberbefehlshaber Ost, Prinz Leopold von Bayern, der neuen Regierung zur Verfügung. Der deutschen Waffenstillstandskommission waren indessen am 8. November im Walde von Compiègne die Bedingungen übergeben worden. Foch wollte sidi zunächst auf keinerlei Verhandlungen einlassen, bewilligte dann aber doch einige geringfügige Erleichterungen. Die deutsche Regierung und die Oberste Heeresleitung konnten ihre Zustimmung zu den äußerst harten Bedingungen nicht verweigern. Am 11. November unterzeichnete die deutsche Delegation, an ihrer Spitze Erzberger, im Sonderzug des Marschalls Foch das Waffenstillstandsabkommen. Anschließend wies sie schriftlich auf die ungeheuren Schwierigkeiten hin, die sich aus der Erfüllung aller Forderungen in den sehr kurz bemessenen Fristen ergeben müßten, Anarchie und Hungersnot zur Folge haben würden und schloß: „Das deutsche Volk, das 50 Monate lang standgehalten hat gegen eine Welt von Feinden, wird ungeachtet jeder Gewalt seine Freiheit und Einheit wahren. Ein Volk von 70 Millionen leidet, aber es stirbt nicht." Die wichtigsten Bestimmungen des Abkommens waren: Einstellung aller Feindseligkeiten 6 Stunden nach der Unterzeichnung, Räumung der besetzten Gebiete und Elsaß-Lothringens innerhalb 15 Tagen; Räumung des linken Rheinufers von allen deutschen Truppen und auf dem rechten Rheinufer je eines Brückenkopfes von 30 Kilometer Durchmesser bei Kehl, Mainz, Koblenz und Köln in weiteren 16 Tagen; Unterstellung der geräumten Gebiete unter die Aufsicht von Besatzungstruppen der Alliierten und der Vereinigten Staaten; Ablieferung von 5000 Kanonen, 25 000 Maschinengewehren, 3000 Minenwerfem, 1700 Jagd- und Bombenabwurfflugzeugen, 5000 Lokomotiven, 150 000 Eisenbahn- und 5000 Lastkraftwagen; Rücksendung aller Kriegsgefangenen durch Deutschland ohne Recht auf Gegenseitigkeit; sofortiger Abzug aller deutschen Truppen aus Österreich-Ungarn, Rumänien und der Türkei; aus den früher russischen Gebieten sollten die Deutschen erst abziehen, sobald die Alliierten unter Berücksichtigung der inneren Lage dieser Gebiete den Augenblick für gekommen erachteten; Verzicht auf die Friedensverträge von Bukarest und Brest-Litowsk; Abzug aller in Ostafrika kämpf enden deutschen Truppen; Auslieferung aller U-Boote und des größten Teiles der Hochseeflotte, vollständige Abrüstung aller anderen Kriegsschiffe der Hochseeflotte; Aufrechterhaltung der Blockade; die Dauer des Waffenstillstands wurde auf 36 Tage mit der Möglichkeit der Verlängerung festgesetzt. In bitterer Pflichterfüllung hat der größte Teil des deutschen Offizierskorps, Hindenburg und Groener voran, die kaum zu bewältigende Aufgabe gelöst, ein 483 31*

Erster Weltkrieg: 1918 Heer von etwa dreieinhalb Millionen Mann in der durch den Waffenstillstand gesetzten kurzen Frist hinter den Rhein zurückzuführen. Auf schmalen Gebirgsstraßen drängten sich die Kolonnen zusammen, die Kranken und Verwundeten mußten transportiert, gleichzeitig das Transport- und Kriegsmaterial abgeliefert werden. Die Verpflegung ließ sich infolge der völligen Auflösung der Etappe, deren Magazine vielfach geplündert wurden, nur mit größter Anstrengung durchführen. In der Eile des Rüdezugs gingen Milliardenwerte an Bekleidung und Kriegsgerät verloren. Immerhin konnten die Offiziere bei der Mehrheit der Truppen die Disziplin aufrechterhalten, der Ubergang über die wenigen Rheinbrücken vollzog sich in guter Ordnung; bis zum 17. Januar 1919 war die Demobilmachung des Millionenheeres beendet. Vor etwas über vier Jahren war das deutsche Heer in sicherer Siegeszuversicht in den Krieg gezogen, hatte Waffentaten vollbracht, die zu den größten der Weltgeschichte zählen. Nach verlorenem Krieg kehrte es in die Heimat zurück und bewährte auch dabei, was es neben seiner Tapferkeit in so vielen Schlachten den Sieg hatte erringen lassen: hervorragende Truppenführung und Manneszucht.

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Der Friedensvertrag von Versailles

Mitte Dezember 1918 kam Wilson, jubelnd als Retter begrüßt, nach Paris, um auf Grund seiner audi von den Alliierten angenommenen 14 Punkte der Welt einen gerechten und dauernden Frieden zu vermitteln, garantiert durch die Errichtung eines Völkerbundes, der alle Streitigkeiten schlichtet und Recht an die Stelle von Gewalt setzt. Wilson mußte jedoch sehr bald erkennen, daß er sich gegen Clemenceau und Lloyd George nicht durchsetzen könne. Wilson genöß großes Ansehen, aber der von seinen Idealen erfüllte ehemalige Professor der Princeton Universität, der mit den europäischen Verhältnissen sehr wenig vertraut war, hatte gegen die harten Realpolitiker des europäischen Kontinents und ihre engbegrenzten nationalen Ziele einen schweren Stand, dazu machte die schon im Waffenstillstand festgesetzte völlige Abrüstung Deutschlands die amerikanische Hilfe überflüssig, und so brauchten Clemenceau und Lloyd George nicht mehr wie früher auf die Ideen und Wünsche Wilsons einzugehen, der sich nun zu Kompromissen mit ihnen verstehen mußte. Zu der am 18. Januar 1919 in Paris feierlich eröffneten Friedenskonferenz kamen Vertreter von 27 Staaten, darunter die von den kleinen mittelamerikanischen Staaten, von den Negerrepubliken Liberia und Haiti, von den neuen Staaten Polen, Tschechoslowakei und Jugoslawien. Der Versuch Wilsons und Lloyd Georges, gegen den Willen von Churchill, Clemenceau und Foch auch Rußland heranzuziehen, scheiterte an dem Widerstand der russischen Emigrantengruppen, die jedes Verhandeln mit den ihnen verhaßten Bolschewisten zurückwiesen. Der Westen überließ nun Rußland seinen inneren Kämpfen und schloß sich ihm gegenüber möglichst ab. Die besiegten Staaten waren nicht vertreten. Entgegen dem ersten der 14 Wilsonpunkte, „die Diplomatie soll immer offen und vor aller Welt getrieben werden", fanden die Verhandlungen in Paris hinter verschlossenen Türen statt, auch waren die Ententemächte bereits durch geheime Verträge gebunden, in denen sie schon während des Krieges ihre Ziele untereinander festgelegt hatten. Beschlüsse faßte nur der Rat der Fünf, bzw. Vier (Vereinigte Staaten, Großbritannien, Frankreich, Italien und bis zum März Japan); am 24. April verließ die italienische Delegation Paris, weil, besonders auf Betreiben Wilsons, der Wunsch Italiens, Fiume zu erhalten, nicht erfüllt wurde. So blieben nur die Großen Drei; Wilson, Lloyd George und Clemenceau. Die übrigen Staaten waren bloß an Kommissionsausschüssen maßgebend beteiligt. Von Anfang an erschwerten weitgehende Meinungsverschiedenheiten unter den Siegerstaaten

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Erster Weltkrieg: 1918

die Lösung der vielfach schon an sich kaum zu bewältigenden Probleme. Die enge Art nationalstaatlichen Denkens, die Wilson überwinden wollte, war in den alten Staaten England, Frankreich, Italien tief verwurzelt und durch die Kriegspropaganda noch besonders aufgepeitscht; in den neu errichteten Staaten, in der arabischen Welt und unter den farbigen Völkern, die fast alle in den Krieg der Weißen hineingezogen wurden, begann sich der Nationalismus eben erst voll zu entwickeln. Immerhin wurde der Wilsonsche Völkerbund bis zu einem gewissen Grade verwirklicht und die Völkerbundsatzung in 26 Artikeln dem Versailler Vertrag vorangestellt. „Ursprüngliche Mitglieder des Völkerbundes sind die Verbandsstaaten (die alliierten und assoznerten Mächte des Weltkriegs) und die Neutralen, soweit sie ihren Beitritt erklärt haben. Alle anderen Staaten können Bundesmitglieder werden, wenn ihre Zulassung von zwei Dritteln der Bundesversammlung angenommen wird. Der Bund übt seine Tätigkeit durch eine Bundesversammlung und durch einen Rat aus. Die Bundesversammlung besteht aus Vertretern der Bundesmitglieder. Der Rat setzt sich aus Vertretern der Verbandsmächte und aus vier anderen Mitgliedern des Bundes zusammen. Wesentliche Entscheidungen müssen einstimmig gefällt werden. Bundessitz ist Genf. Die Bundesmitglieder bekennen sich zu dem Grundsatz, daß die Aufrechterhaltung des Friedens eine allgemeine Abrüstung erfordert." Da dem Völkerbund nur ein Teil der Staaten angehörte und die Vereinigten Staaten, in denen der Isolationismus wieder siegte, dem Völkerbund nicht beitraten, wurde aus dem Hüter der Freiheit und Sicherheit der Welt ein Mittel der Entente, ihre Ziele gegen die Besiegten durchzusetzen. Trotzdem gehört der Wilsonschen Völkerbundsidee die Zukunft, und bei all seinen Mängeln hat seit 1920 der Genfer Völkerbund mit dem Internationalen Arbeitsamt, den Ämtern für Gesundheitswesen, Kinder- und Jugendschutz, Flüchtlingshilfe und ähnlichem sowie mit seinem ständigen Internationalen Gerichtshof im Haag Erhebliches geleistet; eine hinreichende Exekutivgewalt zum Einschreiten gegen Störer des Weltfriedens fehlte freilich dem Völkerbund. Die allgemeine Abrüstung scheiterte hauptsächlich an dem Widerspruch des um seine Sicherheit bangenden Frankreich; in dem wehrlosen Deutschland führte dies von vornherein zur Verbitterung gegen den Völkerbund. Die Verhandlungen über den endgültigen Frieden zogen sich monatelang hin, der Waffenstillstand mußte deshalb mehrmals verlängert werden. In der Frage der Gebietsabtretungen und der neuen Grenzziehungen kam der Grundsatz vom Selbstbestimmungsrecht der Völker nur sehr beschränkt zur Geltung, die Machtgier der Sieger kehrte sich nicht an Wilsons Forderung: „Völker und Provinzen sollen nicht von einer Souveränität zur anderen verschachert werden, gerade als ob sie bloße Gegenstände oder Steine in einem Spiel wären." Der am 7. Mai 1919 der deutschen Delegation überreichte Vertrag füllte ein dickes, in 15 Teile gegliedertes Buch mit 440 Artikeln. Clemenceau ging es vor allem darum, Frankreich vor dem ihm an Volkszahl überlegenen Deutschland — „es gibt 20 Millionen zu viel Deutsche" — zu schützen durch die Erfüllung des von den Franzosen seit Jahrhunderten gehegten Wunsches nach der Rheingrenze. Daß Elsaß-Lothringen 486

Friedensvertrag von Versailles

ohne Volksabstimmung wieder an Frankreich abgetreten werden müsse, stand von vornherein fest. Mit dem weiter ausgreifenden Plan der Umwandlung des linksrheinischen Deutschland in einen autonomen Staat, der mit Belgien und Luxemburg eng an Frankreich angeschlossen, eine militärische Schutzwehr gegen das übrige Deutschland bilden sollte, drang Clemenceau jedoch nicht durch. Wilson lehnte dies prinzipiell ab, ebenso Lloyd George, der im Interesse Englands Frankreich nicht allzu mächtig werden lassen wollte. Die Kohlenbergwerke des Saargebietes und der Westpfalz mußten als Ersatz für die in Nordfrankreich zerstörten Kohlengruben sofort schuldenfrei an Frankreich abgetreten werden. Die Regierung des Saargebietes wurde für 15 Jahre einer durch den Völkerbund ernannten fünfköpfigen Kommission übertragen. Nach Ablauf der 15 Jahre war eine Volksabstimmung vorzunehmen, deren Ergebnis der Völkerbund bei seiner Entscheidung, unter welche Souveränität das Gebiet schließlich kommen würde, zu berücksichtigen hatte. An Belgien fielen Moresne, Eupen, Malmedy und Teile des Kreises Monschau. Nach der Annexion konnten die Deutschen sich in eine Protestliste eintragen, und dann sollte, ähnlich wie im Saargebiet, der Völkerbund die Entscheidung treffen. Die belgischen Behörden gingen jedoch bei der Protestaktion in einer Weise vor, daß die meisten stimmberechtigten Deutschen ein Votum für ihr Vaterland nicht wagten. — Die Provinzen Posen und Westpreußen kamen fast ganz, von Pommern ein Teil an Polen, Danzig wurde Freistaat unter einem Völkerbundskommissar und wirtschaftlich eng mit Polen verbunden. Der aus westpreußischem Gebiet geschaffene „polnische Korridor" gewährte Polen freien Zutritt zum Meer und trennte Ostpreußen völlig vom Deutschen Reich. Bei der Abstimmung von 1920 in einigen ost- und westpreußischen Kreisen entschied sich die große Mehrheit für Deutschland, trotzdem wurde eine 50 Kilometerzone auf dem rechten Weichselufer Polen zugesprochen. In Oberschlesien handelte es sich um eines der wichtigsten Bergbau- und Industriegebiete Deutschlands. Die Volksabstimmung von 1921 ergab trotz blutigen polnischen Terrors (S. 532) fast 60% für Deutschland, konnte aber nicht verhindern, daß große Teile des Landes mit vier Fünfteln der wichtigsten Steinkohlen- und Erzbergwerke an Polen abgetreten werden mußten. Litauen erhob Anspruch auf das Memelland; es wurde von Deutschland losgelöst. Obwohl die Memelländer fast einstimmig die Errichtung eines Freistaates verlangten, sprach eine Botschafterkonferenz 1923 das Memelland Litauen zu. — Schleswig stimmte 1920 getrennt in zwei Zonen ab, die nördliche entschied sich für Dänemark, die südliche für Deutschland. Demgemäß erfolgte die Grenzziehung; aber auch hier war infolge der für Dänemark günstigen Einteilung der Zonen, Einschüchterung der Bevölkerung und wirtschaftlichen Druckes keine gerechte Reglung getroffen worden. — Der Tschechoslowakei mußte Deutschland das Hultschiner Ländchen überlassen. Im ganzen verlor Deutschland 70 581 Quadratkilometer mit 6475 200 Einwohnern. Die Abstimmungen wurden außer in Eupen-Malmedy überall unter Kontrolle des Völkerbundes durchgeführt, die Besetzung der Gebiete mit internationalem Militär, gewissermaßen Polizeitruppen, oft Franzosen, ging nicht ohne bedrückende Maßnahmen ab und führte vielfach zu Reibereien mit den Einheimischen. 487

Erster Weltkrieg: 1918 Deutschland mußte auf alle seine überseeischen Besitzungen und seine Sonderrechte in China, Marokko, Ägypten, Bulgarien, Siam und in der Türkei verzichten. Die förmliche Annexion der deutschen Kolonien konnte Wilson verhindern; sie wurden zwar unter den Siegermächten aufgeteilt, aber nur als Mandatsgebiete des Völkerbundes. Kiautschou blieb zunächst in japanischer Hand, 1922 erhielt es China auf Betreiben der angelsächsischen Mächte zurück. Die Deutschen empfanden den Verlust der mit so viel Hoffnungen aufgebauten und durch die großen Opfer an Arbeit, Geld und Blut sich allmählich günstig entwickelnden Kolonien sehr schmerzlich, und die Begründung, Deutschland habe sich unfähig zur Verwaltung einer Kolonie und vor allem zur Behandlung der Eingeborenen erwiesen, als eine unverdiente bittere Kränkung; die Fehler und Mißgriffe in deutschen Kolonien waren gewiß nicht sdiwererwiegend gewesen als die von Kolonisatoren mit größerer Erfahrung. Ein wesentliches Ziel der Gegner Deutschlands war seine militärische Schwächung, es wurde deshalb zu weitgehender Abrüstung gezwungen: Beschränkung der Armee auf ein Berufsheer von 100 000 Mann zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung, ohne schwere Waffen, ohne Flugzeuge und Tanks; der Marine auf 15 000 Mann, 6 Linienschiffe, 6 kleine Kreuzer, keine U-Boote, 12 Zerstörer, 12 Torpedoboote, Ablieferung aller übrigen Kriegsschiffe, Vernichtung allen Kriegsmaterials, Zerstörung der Befestigungen links und 50 Kilometer rechts des Rheins, in dieser sogenannten entmilitarisierten Zone war deutschem Militär der Aufenthalt verboten. Küstenbefestigungen durften nicht verstärkt, die auf Helgoland mußten zerstört werden. — Den deutschen Kriegsgefangenen wurde die Heimkehr erst im Januar 1920 bewilligt nach Ratifizierung des Friedensvertrags durch alle beteiligten Mächte. Gefangene, die Strafen zu verbüßen hatten, konnten zurückbehalten werden. Um die Reparationen auf die den Allüerten erwünschte Höhe zu treiben und so Deutschland lange Jahre wirtschaftlich uilter Kontrolle zu halten, wurde der berüchtigte Artikel 231 in den Vertrag aufgenommen: Deutschland und seine Verbündeten sind als „Urheber des Krieges für alle Verluste und Schäden verantwortlich, die die allüerten Regierungen und ihre Staatsangehörigen infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben". Dieser Artikel diente den Feinden zur Begründung ihrer wirtschaftlichen Forderungen, deren Ausmaß schon damals, namentlich von I. M. Keynes, dem englischen Sachverständigen bei den Friedensverhandlungen in Paris, als undurchführbar und verhängnisvoll nicht bloß für Deutschland, sondern auch für die Weltwirtschaft erkannt wurde. — Die Bedeutung der angeblichen Kriegsschuld Deutschlands hob Lloyd George am 3. März 1921 auf einer Londoner Konferenz über die Reparationen als offiziellen Standpunkt der Entente hervor: „Für die Allüerten ist die deutsche Verantwortung für den Krieg grundlegend; sie ist die Basis, auf der der Bau von Versailles errichtet worden ist. Wenn dieses Eingeständnis abgelehnt oder aufgegeben wird, ist der Vertrag zerstört." Damit schoben Lloyd George und die ihm Gleichgesinnten, über den Artikel 231 noch hinausgehend, Deutschland die Alleinschuld am Kriege zu. Zwei Monate 488

Friedensvertrag von Versailles zuvor, am 23. Dezember 1920, hatte Lloyd George in einer Rede vor den Völkerbundsdelegierten der englischen Dominions erklärt: die Völker seien in den Krieg „hineingestolpert", je mehr man sich in das Material vertiefe, um so mehr verstehe man, daß niemand an leitender Stelle den Krieg gewollt habe. Die zielbewußte Propaganda der Alliierten hat aber doch verstanden, fast die ganze Welt und sogar einen Teil der Deutschen von der Kriegsschuld Deutschlands zu überzeugen. Die meisten Deutschen wehrten sidi allerdings leidenschaftlich dagegen und ebenso gegen die sogenannten „Strafbestimmungen" der Artikel 227/230: die alliierten und assoziierten Mächte werden Kaiser Wilhelm „wegen schwerer Verletzung des internationalen Sittengesetzes und der Heiligkeit der Verträge" sowie eine Reihe von Personen, die „sich gegen die Gesetze und Gebräuche des Krieges vergangen haben", vor ein internationales Gericht stellen, Holland solle den Kaiser, Deutschland die anderen Angeklagten ausliefern. Über die Höhe der von Deutschland zu leistenden Wiedergutmachung konnten sich die Alliierten und Assoziierten, die Verbandsmächte, nicht einigen. Wilson, der immer für einen Frieden ohne Kriegsentschädigungen eingetreten war, stimmte schließlich doch dem Ersatz der direkten Kriegsschäden zu. In diesen Begriff wurden nun hineingepreßt: die Pensionen für die Kriegsinvaliden und die Hinterbliebenenversorgung, Vergütimg aller durch Kriegshandlungen Zivilpersonen zugefügten Schäden an Leib, Leben und Eigentum, die Schulden Belgiens bei seinen Verbündeten. Deutschland müsse deshalb abliefern: 40 Milliarden in Gold, 50% seiner Vorräte und fünf Jahre lang ein Viertel seiner Produktion von Farben, pharmazeutischen und chemischen Artikeln, alle Handelsschiffe von 1600 Tonnen und darüber, die Hälfte der kleineren Handelsschiffe und ein Viertel der Fischereifahrzeuge, große Mengen an Vieh (700 Zuchthengste, 35000 Stutenfüllen, 140 000 Milchkühe usw.), Baumaterial, Werkzeuge, Maschinen, Möbel, zehn Jahre lang 7 Millionen Tonnen Kohlen an Frankreich, 8 Millionen an Belgien, 4,5 bis 8,5 Millionen ansteigend an Italien, 3 Millionen an Luxemburg. Deutschland mußte „alle Trophäen, Archive, geschichtliche Erinnerungen und Kunstwerke, die 1870/1871 und im jetzigen Krieg am Frankreich weggeführt" worden waren, zurückgeben und Ersatz für die verbrannten Bücher und Handschriften der Bibliothek in Löwen leisten. Auf deutschen Werften sollten fünf Jahre lang für die Alliierten Handelsschiffe mit jährlich 200 000 Tonnen gebaut werden. Die Verbandsmächte konnten in ihren Ländern und den ehemaligen deutschen Kolonien zur Deckung der Reparationsansprüche das deutsche Privateigentum liquidieren; die Entschädigung der davon betroffenen Privatpersonen habe das Deutsche Reich zu übernehmen. Die Reparationskommission in Paris unter französischem Vorsitz sollte die Einzelheiten regeln. Da die Vereinigten Staaten den Friedensvertrag nicht ratifizierten, beteiligten sie sich auch nicht an der Reparationskommission. Diese erlangte die Kontrolle über das gesamte Finanz- und Wirtschaftsleben Deutschlands; fast die ganze deutsche Außenpolitik des nächsten Jahrzehnts erschöpfte sich in den Auseinandersetzungen über die Reparationen. Die Verbandsmächte sicherten sich auch die Meistbegünstigung in Deutschland für ihre Ein- und Aus489

Erster Weltkrieg: 1918

fuhr. Elbe, Oder, Memel und Donau wurden für international auf deutschem Gebiet erklärt, der Kaiser-Wilhelm-Kanal mußte den Kriegs- und Handelsschiffen aller Nationen offenstehen. Als Bürgschaft für die Ausführung des Friedensvertrages besetzten Truppen der Ententemächte auf 15 Jahre das linksrheinische Deutschland und die rechtsrheinischen Brückenköpfe bei Kehl, Mainz, Koblenz und Köln. Die Besatzungskosten hatte Deutschland zu tragen. Gegen die Verbündeten Deutschlands gingen die Sieger mit nicht geringerer Härte vor. Sie entrechteten und verkleinerten zu ihren Gunsten die unterlegenen Staaten. In den nach den Pariser Vororten, in denen sie abgeschlossen wurden, benannten Friedensverträgen, den „Vorortsverträgen", erlitt die größten Einbußen die österreichisch-ungarische Monarchie. Schon am 30. September 1914 hatte der russische Botschafter in Paris, Iswolski, nach Petersburg berichtet: „Ich lasse keine Gelegenheit vorübergehen, um hier auf die Notwendigkeit hinzuweisen, der Habsburger Monarchie ein Ende zu bereiten, da sie einen vollkommenen Anachronismus darstellt." Die Tschechoslowakei war bereits im Juni 1918 als selbständige kriegführende Macht auf Seiten der Entente anerkannt; am 28. Ok-

tober 1918 erklärte sich die Tschechoslowakei als unabhängiger Staat, zu dessem ersten Präsidenten kurz darauf Thomas Masaryk gewählt wurde. Ungefähr gleichzeitig hatte Ungarn sich von Österreich getrennt und am 16. November die ungarische Volksrepublik ausgerufen. An Italien mußte Österreich Südtirol bis zum Brenner und Istrien, an Jugoslawien Teile von Steiermark und Kärnten abtreten. So blieb für die Republik Österreich nach dem von der österreichischen Nationalversammlung am 10. September 1919 unterzeichneten Vertrag von St. Germain nur ein Gebiet von 84 000 Quadratkilometern mit 6,5 Millionen Einwohnern; die alte österreichisch-ungarische Monarchie hatte 676000 Quadratkilometer mit 51 Millionen Einwohnern umfaßt. Die Republik Österreich durfte nur noch ein Berufsheer von 30 000 Mann unterhalten, mußte die Kriegs- und Luftflotte und die Handelsschiffe abliefern. Folgenschwer waren für Österreich besonders auch die Bedingungen, die seinen Anschluß an Deutschland verhinderten. Schon am 12. November 1918 hatte die vorläufige österreichische Nationalversammlung einstimmig beschlossen: „Deutsch-Österreich ist ein Bestandteil der deutschen Republik." In Deutschland betrachtete man dies ebenfalls als selbstverständlich, am 21. Februar 1919 stimmte selbst die USP in der Nationalversammlung dem Antrag zu, daß die Anschlußverhandlungen recht bald zu festen staatlichen Formen führen, und daß die Zusammengehörigkeit von allen Mächten der Welt anerkannt werde. England und die Vereinigten Staaten wären damit einverstanden gewesen. Frankreich widersetzte sich aber jeder Vergrößerung Deutschlands, der Vertrag von St. Germain bestimmte deshalb, Österreich dürfe eine „seine Unabhängigkeit beeinträchtigende Handlung" nur mit Genehmigung des Völkerbundes vornehmen, dessen Beschlüsse Einstimmigkeit erforderten. Den Sudetendeutschen Böhmens blieb wie den Südtirolern, den Deutschen in Südkärnten und Südsteiermark das Selbstbestimmungsrecht versagt. — Ungarn verlor nach Unterzeichnung des Friedensvertrages von Trianon (4. Juni 1920) zwei Drittel seines Gebietes und zählte nur noch acht Millionen Einwohner. Vom ehemaligen Ungarn erhiel490

Friedensvertrag von Versailles

ten Rumänien die Bukowina, Siebenbürgen, Teile des Banats; Jugoslawien den Hest des Banats, Bosnien, die Herzegowina, Kroatien und Slowenien; die Tschechoslowakei große slowakische Gebiete zwischen Preßburg und der neuen rumänischen Grenze. — Am 27. November 1919 wurde in Neuilly der Friedensvertrag mit Bulgarien abgeschlossen; die Dobrudscha kam an Rumänien, Thrazien an Griechenland, Mazedonien teils an Griechenland, teils an Jugoslawien, dem außerdem noch Gebiete vom Nordwesten Bulgariens zufielen. — Die Türkei unterzeichnete am 10. August 1920 den Friedensvertrag von Sèvres; in Europa behielt sie Konstantinopel mit dem Vorland bis zur Maritza und das Gebiet von Adrianopel, in Kleinasien hauptsächlich Anatolien; Griechenland gewann Smyrna mit dem Hinterland, Frankreich das Mandat über Syrien, England das Mandat über Palästina; in Arabien entwickelten sich allmählich Saudiarabien, Irak und Jordanien zu mehr oder weniger selbständigen Königreichen. Von Anatolien aus begann Mustafa Kemal Pascha sofort sein Werk der Reorganisation, das später zur Wiedererstarkung der Türkei und zur Revision des Vertrags von Sèvres führen sollte.

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Rückblick

Der Vertrag von Versailles und die Vorortverträge schlossen den Ersten Weltkrieg ab, lösten aber die Probleme nicht, die er bei Siegern und Besiegten aufgeworfen hatte, und brachte keine wirkliche Befriedung der Welt. Finanzen und Wirtschaft waren allenthalben auf Jahre hinaus zerrüttet. Ungezählte betrauerten den Tod ihnen Nahestehender; ungefähr 10 Millionen Menschen, darunter 2 Millionen Deutschen, hatte der Krieg das Leben gekostet, von den etwa 20 Millionen Verwundeter litten viele den Rest ihres Lebens unter ihren Verletzungen. Alle Deutschen, die ihr Vaterland liebten, empfanden den verlorenen Krieg als ein großes persönliches Unglück. Die Erforschung der Gründe für den Verlauf des Krieges und die Beurteilung seiner weit- und tiefgreifenden Folgen führten zu einer kaum übersehbaren Literatur, von streng wissenschaftlichen Untersuchungen bis zu leidenschaftlichen Auseinandersetzungen, besonders über die Frage, ob Deutschland Fehler begangen hatte, die den Gang der Ereignisse entscheidend beeinflußt haben, und ob sich diese Fehler hätten vermeiden lassen. Die zwei größten und verhängnisvollsten Fehler von deutscher Seite waren der Einmarsch in Belgien, der für Englands Eintritt in den Krieg den Ausschlag gab, und der uneingeschränkte U-Boot-Krieg, der die Vereinigten Staaten den Feindmächten als Bundesgenossen zuführte. Gegen diese Ansicht ist mit einiger Berechtigimg eingewendet worden, England hätte das mit ihm verbündete Frankreich keinesfalls von Deutschland überwältigen lassen, und Wilson habe selbst zugegeben, er hätte die Vereinigten Staaten auch ohne Deutschlands U-BootKrieg aktiv eingreifen lassen; dabei bleibt indes die Frage offen, ob ohne Deutschlands Vorgehen in Belgien und ohne den U-Boot-Krieg die Friedensparteien in diesen Staaten nicht doch vielleicht die Kriegswilligen überstimmt hätten. Von deutscher militärischer Seite wurden beide Maßnahmen für unbedingt notwendig gehalten, und sie waren tatsächlich von großen Erfolgen begleitet; doch zeigte sich hier wie auch sonst öfters, daß Deutschland die Feinde wohl einer den Krieg entscheidenden Niederlage nahezubringen, die Entscheidung aber nie vollends zu erzwingen vermochte wegen der unzureichenden Reserven an Menschen und Material. Die ungenügende Zusammenarbeit von Oberster Heeresleitung und Regierung, ein sich auf Außen- und Innenpolitik sehr nachteilig auswirkender Übelstand, hat viel dazu beigetragen, daß weder der Einmarsch in Belgien noch der U-Boot-Krieg verhindert werden konnten. Schon 1906 hatte Reichskanzler Bülow erfahren, England werde im Falle einer Verletzung der belgischen Neu492

Rüdcblidc tralität gemeinsam mit Frankreich gegen Deutschland kämpfen, und so wäre es die Aufgabe Bülows oder dann seines Nachfolgers Bethmann-Hollweg gewesen, bereits lange vor Ausbruch des Krieges von der Obersten Heeresleitung den Verzicht auf den Einmarsch in Belgien zu verlangen. Über die Folgen des uneingeschränkten U-Boot-Krieges gab sich Bethmann-Hollweg keiner Täuschung hin, er vermochte sich jedoch gegen Ludendorff, dessen unbeugsamer Wille in der Obersten Heeresleitung maßgebend war, nicht durchzusetzen. Der Eintritt der Vereinigten Staaten mit ihrer ungeheuren Überlegenheit an Wehrfähigen und Kriegsmaterial in den Kampf entschied die Niederlage Deutsch lands. Militärische Kreise behaupteten nun, Deutschland hätte im Spätherbst 1918 weiterkämpfen können und müssen, als die entehrenden Waffenstillstandsbedingungen bekannt wurden; daß dies nicht geschah, sei Schuld der Regierung gewesen, die zu wenig gegen die Propaganda der Westmächte, Bolschewisten, USP, Spartakisten und Pazifisten getan habe, und so hätten die Auflösungserscheinungen in der Heimat und in der Etappe immer mehr um sich gegriffen: dies sei der „Dolchstoß" in den Rücken des Frontheeres gewesen. Mit Kriegsmaterial, außer mit Tanks, war das Heer nodi einigermaßen genügend ausgestattet, aber die Verluste an Mannschaften konnten nicht mehr ersetzt werden, auch nicht aus den Reihen der IV2 Millionen meist noch unausgebildeter, an sich kriegsverwendungsfähiger Arbeiter der Rüstungsindustrie, weil diese sonst zum Erliegen gekommen wäre. Nach dem Zusammenbruch brüstete sich die USP, sie habe durch ihre Propaganda die Front geschwächt, den Deserteuren mit falschen Lebensmittelkarten und Pässen geholfen und sie bei der Flucht ins Ausland unterstützt. In größerem Ausmaß wirkte sich indes all das erst aus, als durch das Eingreifen der Amerikaner ein deutscher Sieg aussichtslos wurde. Bei ausreichender Unterstützung durch die Heimat hätte allerdings noch Ende Oktober 1918 eine Verteidigung der Rheinlinie aufgebaut und der Krieg vielleicht bis zum Sommer 1919 verlängert werden können. Die Alliierten rechneten damit; später wurden unter ihnen Stimmen laut, hätte Deutschland weitergekämpft, so würden ihm die Aliierten einen ehrenvollen Frieden gewährt haben, um endlich einen Abschluß des Krieges herbeizuführen. Darauf berufen sich die Verfechter der Meinung, Deutschland hätte weiterkämpfen sollen. Wahrscheinlicher ist jedoch, daß sich dann die Alliierten den Weg nach Berlin erkämpft, und die Franzosen das ganze linke Rheinufer behalten hätten; nach der psychologischen Einstellung der Schöpfer des Versailler Vertrages zu urteilen, hätte eine Fortsetzung des deutschen Kampfes den Vernichtungswillen der Entente doch wohl eher noch gesteigert. Die Erfahrungen des Zweiten Weltkrieges legen den Gedanken nahe, für Deutschland sei es gut gewesen, daß der Zusammenbruch vom November 1918 den Versuch eines „heroischen Endkampfes" mit weiteren Blutopfern und Verwüstungen des Vaterlandes ohne Aussicht auf Sieg unmöglich machte. Die Stimmung in der Heimat litt unter der besonders durch die englische Blokkade ins fast Unerträgliche gesteigerten Not des täglichen Lebens, unter dem Gegensatz von bitterem Elend der großen Mehrheit und dem Wohlleben der Schieber und Kriegsgewinnler; das Volk war an Leib und Seele erschöpft, als die Re-

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Erster Weltkrieg volution ausbrach. Der Streit um die während des Krieges von jedem Reichskanzler versprochene Parlamentarisierung und um die inneren Reformen, vor allem des preußischen Wahlrechtes, steigerte die Unzufriedenheit der Arbeiter und bot der USP und den Spartakisten reichlichen Propagandastoff und die Parolen für die Revolution; diese Forderungen waren viel zu spät erfüllt worden. Den Mehrheitssozialisten, die unter Führung von Ebert, Scheidemann und Noske seit Beginn des Krieges eine nationale Politik getrieben hatten, wurde dies immer schwerer gemacht; sie mußten auf die äußerste Linke Rücksicht nehmen, um ihren Einfluß auf die Massen zu wahren und, wie Scheidemann sagte, Deutschland vor dem Bolschewismus zu retten. Vor der deutschen hatte die Propaganda der Feinde voraus, daß sie den Kampf für die Verteidigung der Welt gegen die Hegemoniebestrebungen Deutschlands, für die Unabhängigkeit der kleinen Staaten und für die Heiligkeit der Verträge proklamierten. Dem hatte Deutschland nichts Gleichartiges entgegenzusetzen; es kämpfte um sein Dasein als Großmacht, um Grenzen, die den Staat der Mitte besser schützen sollten. Die ersten Siege weckten die Begehrlichkeit, und die weitgespannten Annexionspläne der Alldeutschen lieferten der Feindpropaganda immer wieder erwünschtes Material. Die deutschen Reichskanzler sind unter Verkennung des Wertes der Propaganda und der Mentalität des Auslandes nie entschieden genug gegen die alldeutschen Forderungen vorgegangen und vermieden, eng begrenzte deutsche Kriegsziele klar und eindeutig bekanntzugeben. Vor allem konnte sich keiner der Reichskanzler zu dem vollen Verzicht auf Belgien entschließen, obwohl gerade dies der Papst, Wilson und England verlangten, und obwohl dies eine Hauptrolle in der Propaganda gegen Deutschland spielte. Die Oberste Heeresleitung setzte hier wie bei dem Frieden von Brest-Litowsk ihre Bedingungen großenteils durch, während ein „gerechter" Friede der Welt eia Beweis für Deutschlands guten Willen gewesen wäre. Die Alliierten sahen denn, auch in dem Frieden von Brest-Litowsk einen Gewaltfrieden und einen klaren Beweis für Deutschlands Streben nach der Weltherrschaft. Ob freilich bei einem den russischen Wünschen einigermaßen entgegenkommenden Frieden der Versailler Vertrag für Deutschland weniger hart ausgefallen wäre, läßt sich wie alleWennfragen nicht sicher beantworten. Die Hetze gegen Kaiser Wilhelm nahm in der Auslandspropaganda einen breiten Raum ein. Des Kaisers zahlreiche überhebliche und taktlose Reden vor dem: Krieg dienten nun dazu, den an sich friedliebenden und von bestem Willen beseelten Monarchen als einen blutrünstigen Autokraten hinzustellen. Wilson deutete unmißverständlich an, mit monarchischen Autokraten könne nicht verhandelt werden, und dies hat gegen Ende des Krieges die öffentliche Meinung in. Deutschland sehr stark beeinflußt. Hätte der Kaiser freiwillig und rechtzeitig,, spätestens Mitte Oktober 1918, abgedankt, wäre zwar außenpolitisch nichts mehr zu retten gewesen, innenpolitisch aber wohl vieles, so auch seine eigene Dynastie und die der anderen deutschen Fürsten; immerhin ehrt den Kaiser, daß er als; Oberbefehlshaber sein Heer nicht im Stich lassen wollte. Durch seine Ausmaße, seine kriegstechnische Entwicklung und seine Folgert 494

Rückblick leitete der Krieg 1914/18 eine neue Epoche ein. Von größter weltpolitischer Bedeutung waren die völlige Bolsdiewisierung Rußlands und das kriegsentscheidende Eingreifen der Vereinigten Staaten in Europa, wenn sie sich dann auch ein Jahrzehnt lang wieder in ihren Isolationismus zurückzogen. In Rußland und in den Vereinigten Staaten begann mit dem Ersten Weltkrieg die Entwicklung, die sie nach dem Zweiten Weltkrieg zu den beiden führenden Völkern aufsteigen ließ, die Amerikaner in der westlichen, die Russen in der östlichen Hemisphäre. Die Beteiligung der farbigen Rassen am Kampf der weißen Völker gegeneinander leitete das Ende der Kolonialepoche ein. Das Gleichgewicht der Mächte, seit einem Jahrhundert der Leitgedanke der englischen Europapolitik, war jetzt vernichtet. Der Kaiser und die Mehrheit des deutschen Volkes glaubten im August 1914, der Krieg werde nur kurze Zeit dauern, obwohl es nicht an mahnenden Stimmen gefehlt hat. Bei der Beratung der Heeresvorlage von 1890 hatte der greise Generalfeldmarschall Moltke gewarnt: „Wenn der Krieg, der jetzt schon mehr als zehn Jahre wie ein Damoklesschwert über unseren Häuptern schwebt, zum Ausbruch kommt, so ist seine Dauer und sein Ende nicht abzusehen . . . Es kann ein siebenjähriger, es kann ein dreißigjähriger Krieg werden — und wehe dem, der Europa in Brand stedct, der zuerst die Lunte in, das Pulverfaß schleudert." Zwei Jahre später sagte Generalfeldmarschall Waldersee voraus: bei einem ausbrechenden Krieg stehen wir „auf beiden Fronten einem numerisch weit überlegenen Feinde gegenüber, ein unglücklicher Krieg bedeutet unseren völligen Niederbruch. Die anderen Staaten können es aushalten, geschlagen zu werden — wir nicht. Das Deutsche Reich fällt auseinander, Preußen wird kleingeschlagen . . . die republikanischen Neigungen erhalten die Oberhand, und das Haus Hohenzollern kann ins Exil gehen". Weder Moltke noch Waldersee konnten ahnen, daß der nächste Krieg nicht bloß ein Zweifronten-, sondern ein Weltkrieg sein würde. Von vornherein waren der Balkan und die Türkei, England mit seinen Dominions und Japan daran beteiligt. Der Kampf auf den Weltmeeren und in den Kolonien wurde, bis auf Deutsch-Ostafrika, bald beendet, aber die Engländer und Franzosen setzten ihre Kolonialvölker zum Kriegsdienst und zu Kriegslieferungen ein und weckten damit ihr nationales Selbstbewußtsein. Die Vereinigten Staaten beteiligten sich nicht nur selbst am Krieg, sie veranlaßten überdies fast alle anderen amerikanischen Staaten, Deutschland den Krieg zu erklären, was diese dann nach dem Versailler Vertrag zur Beschlagnahme des deutschen Privateigentums berechtigte. Verstöße gegen das Völkerrecht und Greueltaten kamen auf beiden Seiten vor; auch hier hat die Propaganda der Feinde verstanden, die Deutschen in der ganzen Welt mit teils falschen, teils verallgemeinernden und übertriebenen Berichten von einzelnen Vorkommnissen als Unmenschen zu brandmarken, wobei man sich viel auf Kaiser Wilhelms „Hunnenrede" (S. 248) berief. Die deutschen Soldaten waren im allgemeinen eher disziplinierter als die andern; da sie aber größtenteils auf fremdem Boden standen, boten die unvermeidlichen Reibereien mit der meist feindselig gesinnten Zivilbevölkerung und militärisch notwendige Eingriffe in deren Rechte reichlich Gelegenheit zur Deutschenhetze, die noch 495

Erster Weltkrieg viele Jahre nachher in französischen Geschichtsbüchern begegnete und die Atmosphäre zwischen beiden Völkern vergiftete. Für die Kampfweise brachten neue Waffen wie Tanks, U-Boote, Flugzeuge, die gewaltigen Heeresmassen, das Automobil als Transportmittel, die Vorbereitung von Infanterieangriffen durch tagelanges Trommelfeuer mit der technisch vervollkommneten Artillerie durchgreifende Änderungen mit sich. Der Schützengrabenkrieg stellte die Heeresleitungen und Truppen vor neue Aufgaben; allmählich gelang es, die geschlossene Front über Hunderte von Kilometern durch tief gestaffelte Stellungen so zu sichern, daß ein frontaler Angriff die Linien des Gegners meist nur einbuchtete, sie aber nicht zu durchbrechen vermochte. Was Deutschland in diesem Krieg geleistet hat, würdigte der Engländer Winston Churchill einige Jahre nach dem Friedensschluß in seinem Werk „Die Weltkrisis": „Seit Menschengedenken hatte man keinen solchen Kraftausbrudi erlebt wie den des deutschen Vulkans. Vier Jahre lang kämpfte Deutschland, trotzte es fünf Kontinenten zu Land, zu Wasser und in der Luft. Die deutschen Armeen hielten ihre wankenden Verbündeten aufrecht, traten auf allen Kriegsschauplätzen siegreich auf, standen überall auf erobertem Boden und fügten ihren Gegnern die doppelten Blutverluste zu. Um ihre Kraft und ihre Kenntnisse zu überwinden, ihrem Wüten Einhalt zu gebieten, mußten die größten Nationen der Welt auf dem Schlachtfeld erscheinen. Überwältigende Volksmassen, unbegrenzte Hilfsquellen, maßlose Opfer und nicht zuletzt die Seeblockade konnten mehr als fünfzig Monate lang nichts erreichen." Dieser Eindruck von der deutschen Kraftentfaltung auf der ganzen Welt ist besonders bei der Beurteilung des Versailler Friedens zu berücksichtigen. Neben den engen nationalistischen Zielen der Franzosen, Italiener und Balkanvölker stand die Furcht vor einer deutschen Hegemonie, die durch Abrüstung und wirtschaftliche Knebelung verhindert werden sollte. So kam statt eines Verständigungsfriedens nach Wilsons Grundsätzen ein Friede zustande, der in Deutschland das Verlangen nach Revision der übersteigerten Reparationsforderungen, der Grenzbestimmungen und der Paragraphen über die deutsche Kriegsschuld hochkommen ließ, und der zur Zerrüttung der Weltwirtschaft und damit zu der unheilvollen Krise von 1929 mit der Massenarbeitslosigkeit in allen Kulturländern beitrug. Diese Auswirkungen des Versailler Friedens haben ganz wesentlich das Hochkommen des Hitlersdien Nationalsozialismus und die entsetzliche Katastrophe des Zweiten Weltkriegs gefördert.

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Viertes Buch

DIE WEIMARER

REPUBLIK

Uberwindung der Revolution, 1 9 1 8 / 1 9

KÄMPFE UM DIE VERHINDERUNG EINER RÄTEHERRSCHAFT UND DIE ERRICHTUNG EINER PARLAMENTARISCHEN REPUBLIK Die Revolution hatte, fast ohne auf Widerstand zu stoßen, gesiegt; ihre Träger gingen nun unter ungeheuren Schwierigkeiten der äußeren und inneren Lage Deutschlands an den Neuaufbau. Die Blodcade bestand gemäß dem Waffenstillstandsvertrag weiter und damit der Mangel an Nahrungsmitteln und an Rohstoffen für die Umstellung von der Kriegs- zur Friedensproduktion. Der Rat der Volksbeauftragten mit Ebert und Haase an der Spitze übernahm am 10. November 1918 die Regierung (S. 483) und forderte wiederholt in ähnlicher Form zur Mitarbeit aller auf: Die politisdie Freiheit habe sich im ganzen Reich mit Wucht durchgesetzt; die Freiheit allein könne aber nichts nützen, wenn es kein Brot und keine Arbeit gäbe. Eisenbahnen und Schiffe müßten daher für den Verkehr und den Gütertransport in Gang gehalten werden; ohne verstärkte Kohlenförderung lägen Verkehr und Fabriken still und das Volk fröre. Es müsse die erste Pflicht aller in Stadt und Land bleiben, die Produktion von Nahrungsmitteln und ihre Zufuhr in die Städte nicht zu hindern, sondern zu fördern; Plünderungen und Vergeudung von Heeresgut gefährdeten die Allgemeinheit und müßten deshalb aufhören. Bereits am 12. November versprach der Rat der Volksbeauftragten die Durchführung des sozialistischen Programms: Der Belagerungszustand, alle Beschränkungen des Vereins- und Versammlungsrechtes, die Zensur und die Gesindeordnungen wurden sofort aufgehoben; am 1. Januar 1919 werde der achtstündige Arbeitstag in Kraft treten; die Verbesserung der Erwerbslosenunterstützung und der Krankenversicherung, für alle Wahlen zu öffentlichen Körperschaften das gleiche geheime, direkte, allgemeine Wahlrecht, nun auch der Frauen, die Bekämpfung der Wohnungsnot durch Bereitstellung von Wohnungen waren in Aussicht genommen. Während der folgenden Wochen ging der Thronverzicht der deutschen Fürsten erstaunlich undramatisch vor sidi. Die neuen republikanischen Regierungen einiger Länder, so die von Baden und Württemberg, sprachen den scheidenden Fürsten den Dank und die Hochachtung des Volkes aus. Als König August von Sachsen abreiste, brachte ihm die Bevölkerung Ovationen dar, was er mit „Ihr seid mir scheene Rebubliganer" beantwortete. Die monarchisch gesinnte Bevölkerung 499 32°

Weimarer Republik — Uberwindung der Revolution, 1918/1919

der deutschen Länder war wie betäubt, nicht einmal die Offiziere versuchten eine Verteidigung ihrer Fürsten mit der Waffe; alle, Fürsten und Volk, wollten einen Bürgerkrieg vermeiden, der in diesem Augenblick besonders verhängnisvoll gewesen wäre. Die Mehrheitssozialisten und der rechte Flügel der USP stimmten darin überein, daß eine sozialistische Republik auf demokratisch-parlamentarischer Grundlage geschaffen werden müsse, während die kleine, aber sehr rührige Gruppe der Spartakisten unter der Führung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg und der linke Flügel der USP eine Räterepublik nach bolschewistischem Vorbild anstrebten. Gegen das Rätesystem erklärten sich indes am 25. November 1918 die Konferenz von 70 Vertretern der deutschen Bundesstaaten, ebenso die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16./20. Dezember in Berlin mit der Annahme des Antrags Cohen-Reuß: „Wir Sozialdemokraten müssen uns endlich einmal auf das entschiedenste dagegen wehren, daß unsere reine, klare, gute sozialistische Gedankenwelt durch bolschewistische Verschrobenheiten sabotiert wird. Wir müssen der Nationalversammlung Platz machen im Interesse unseres Landes, das wir alle aus tiefster Seele lieben und dem wir in seiner höchsten Not um so fester die Treue halten, im Interesse des deutschen Volkes und im Interesse der neu aufzubauenden Menschheitsorganisation. Ich bitte Sie, in Ihrer großen Mehrheit meinem Antrage zuzustimmen, die Wahlen für die deutsche Nationalversammlung am 19. Januar 1919 stattfinden zu lassen." Der Antrag Cohen wurde mit 400 gegen 50 Stimmen angenommen. Die Nationalversammlung bedeutete, wie es Cohens USP-Gegenreferent ausdrückte, „das Todesurteil für das Rätesystem". Das schon am 29. November erlassene Wahlgesetz für die Nationalverammlung gewährte auch den Frauen und den Soldaten das Stimmrecht. Die Wahlkreise wurden neu eingeteilt, das Wahlalter auf 20 Jahre und die Zahl der Abgeordneten auf 433 festgesetzt. Die bürgerlichen Parteien begannen, sich unter neuen Namen zu organisieren. Die Fortschrittliche Volkspartei und ein Teil der Nationalliberalen gründeten am 20. November 1918 die Deutsche Demokratische Partei, am 21. November trat das Zentrum als Christlich-Demokratische Volkspartei an die Öffentlichkeit, der neue Name setzte sich jedoch nicht durch; die bayrischen Mitglieder der Zentrumspartei hatten sich schon am 12. November in Regensburg zur Bayrischen Volkspartei vereinigt, die neben dem christlich-sozialen Programm die Selbständigkeit Bayerns betonte. Am 24. November schlossen sich die Konservativen in der Deutschnationalen Volkspartei zusammen, die Mehrheit der Nationalliberalen am 15. Dezember in der Deutschen Volkspartei. Alle diese Parteien erklärten sich in ihren Aufrufen zur Mitarbeit am Staate bereit. Ebert hatte die Beamten zur Weiterarbeit in der Verwaltung sowie Hindenburg für die Rüdeführung und Auflösung des Heeres gewonnen, die Fürsten hatten dies durch die Lösung der Beamten, Offiziere und Mannschaften vom Treueid erleichtert; aber Ebert verfügte weder über eine zuverlässige Polizei noch über irgendwelche Truppen. Itti ganzen Reich hatten viele unruhige Elemente, entlassene Soldaten, Deserteure, streikende oder beschäftigungslose Arbeiter Waffen in der Hand und ließen sich durch aufwiegelnde Reden zu Gewalttätigkeiten hin500

Kämpfe um die Errichtung einer parlamentarischen Republik reißen; die Arbeiter- und Soldatenräte setzten sich meist für Ruhe und Ordnung ein. Neben den Resten der geschlossen heimgekehrten und nodi in den Kasernen liegenden Regimenter bildeten sich bewaffnete Gruppen von Studenten und Arbeitern, vorerst ging freilich ohne bestimmte Zielsetzung und Führung noch alles wirr durcheinander. Der Widerstand gegen die neue Ordnung kam von der äußersten Linken. Liebknecht und Rosa Luxemburg veröffentlichten am 14. Dezember in der „Roten Fahne" ihr Programm zur Durchführung der proletarischen Revolution, unter anderem forderte es: Entwaffnung der gesamten Polizei und sämtlicher Offiziere, Bewaffnung der gesamten erwachsenen männlichen proletarischen Bevölkerung als Arbeitermiliz, Ersetzung aller politischen Organe und Behörden des früheren Regimes durch Vertrauensmänner der Arbeiter- und Soldatenräte, Abschaffung aller Standesunterschiede, Orden und Titel, Konfiskation der dynastischen Vermögen und Einkünfte für die Allgemeinheit, Enteignung aller Banken, Bergwerke sowie aller Großbetriebe in Industrie und Handel durch die Räterepublik, Als sich dann die Reichskonferenz der Arbeiter- und Soldatenräte vom 16./20. Dezember gegen derartige extreme Bestrebungen wandte, versuchten die Spartakisten, durch offenen Aufruhr die Mehrheitssozialisten, denen sie Verrat an der Revolution vorwarfen, aus der Regierung zu verdrängen. Den Anstoß zu den ersten blutigen Kämpfen in Berlin gab am 23. Dezember 1918 die Volksmarinedivision, deren Kem in den ersten Revolutionstagen aus Cuxhaven nach Berlin gekommen war und sich dann durch die Aufnahme allerlei, meist zweifelhafter Elemente auf etwa 3000 Mann verstärkt hatte. Der Volksmarinedivision wurde der Schutz des Schlosses übertragen. Wegen zahlreicher Diebstähle wollte sie der Stadtkommandant von Berlin, der Mehrheitssozialist Otto Wels, zum Abmarsch aus dem Schlosse und zu ihrer Auflösung veranlassen, und verweigerte deshalb die Auszahlung der Löhnung. Daraufhin nahmen die Matrosen den Stadtkommandanten als Geisel gefangen, besetzten vorübergehend die Reichskanzlei und verschanzten sich im Schloß und Marstall. Die von der Regierung gegen die Matrosen aufgebotenen, bunt zusammengewürfelten Truppen beschossen am 24. Dezember morgens Schloß und Marstall, mußten aber zurückgezogen werden, weil die Spartakisten gegen sie als Gegenrevolutionäre die Massen aufhetzten, mit denen sich auch Teile der Soldaten verbrüderten. So verhandelte die Regierung mit den Matrosen, nach einigen Zugeständnissen räumten diese dann auch am 31. Dezember das Schloß. Wegen des scharfen Vorgehens der Regierung waren aus ihr am 29. Dezember die Mitglieder der USP Haase, Dittmann und Barth ausgeschieden und an ihre Stelle Wissel und Noske getreten. Damit hatten nun die Mehrheitssozialisten die Regierung allein in der Hand. Heer und Marine wurden Noske übertragen, er sollte, wie Ebert zu ihm sagte, der „Regierung einen Rückhalt in der neu zu schaffenden Volkswehr geben". Noske nahm den Auftrag an: „Meinetwegen, einer muß der Bluthund werden. Ich scheue die Verantwortung nicht." Da sich sowohl die heimgekehrten Truppen als auch die revolutionären Sicherheitswehren als ungeeignet erwiesen hatten, stellte Noske zuverlässige Freiwilligenkorps unter der Führung erfahrener Offi501

Weimarer Republik — Überwindung der Revolution, 1918/1919 ziere zusammen. Damit erhielt die Regierung den zur Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung nötigen Rückhalt. Vom 30. Dezember 1918 bis 1. Januar 1919 tagten die Delegierten der Spartakisten aus ganz Deutschland in Berlin. Audi von Rußland waren vier Delegierte gekommen, ihr Führer Radek Schloß seine Ansprache: mit dem Augenblick, wo der Spartakusbund zur Macht gelange, werde der Ring der Völker sich schließen und man könne schon heute den russischen Arbeiter mit Enthusiasmus erfüllen, wenn man ihm sage, daß er mit den deutschen Genossen zusammen am Rhein gegen das angelsächsische Kapital kämpfen werde. Die Versammlung beschloß die Gründung der „Kommunistischen Arbeiterpartei Deutschlands", erklärte die Regierung Ebert-Scheidemann für den „Todfeind des deutschen Proletariats" und lehnte eine Beteiligung an den Wahlen zur Nationalversammlung ab. Als der preußische Minister des Innern am 4. Januar 1919 den USP-Polizeipräsidenten Eichhorn wegen Begünstigung spartakistischer Umtriebe absetzte und dieser sich weigerte, dem Befehl zu folgen, organisierte die äußerste Linke große Straßendemonstrationen, bewaffnete Gruppen besetzten am 5. Januar die Verlagsgebäude des „Vorwärts" und der Verlage Mosse und Ullstein, in den folgenden Tagen auch die Eisenbahndirektion, das Haupttelegraphenamt, die Reichsdrukkerei, das Proviantamt, das Brandenbuger Tor, den Schlesischen Bahnhof. Tagelang wurde in verschiedenen Stadtvierteln Berlins gekämpft, während die Regierung mit den gemäßigten Führern der USP vergebens verhandelte. Noske griff dann vom 10.—13. Januar mit den Regierungstruppen tatkräftig durch und schlug den Aufstand nieder. Die Führer der Spartakisten flohen oder gerieten wie Liebknecht und Rosa Luxemburg in Gefangenschaft. Am 15. Januar wurde Liebknecht unter nicht ganz geklärten Umständen bei einem angeblichen Fluchtversuch erschossen und Rosa Luxemburg von einer erregten Menge erst mißhandelt, dann erschossen und ihre Leiche in den Landwehrkanal geworfen. Die Regierung mißbilligte die Ermordung Liebknechts und der Rosa Luxemburg und ordnete strengste gerichtliche Untersuchung an; sie fand im Mai statt, brachte aber keine volle Klärung. In Berlin waren bald Ruhe und Ordnung so weit wiederhergestellt, daß die Wahl zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 ungestört verlief. Noch gaben sich jedoch die Kommunisten nicht geschlagen. In Bremen und anderen Küstenstädten, im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland mußten die Regierungstruppen eingesetzt werden, um den durch Streiks verursachten Unruhen und den Versuchen zur Errichtung von Räterepubliken ein Ende zu machen und geordnete Verhältnisse herbeizuführen. Die Wahl für die Nationalversammlung ergab einen deutlichen Sieg der Mehrheitssozialisten über die USP und der bürgerlichen über die sozialistischen Parteien: die Mehrheitssozialisten gewannen 163 Mandate, die USP 22; die bürgerlichen Parteien insgesamt 236, doch waren sie sehr zersplittert: Zentrum 89, darunter 18 der Bayrischen Volkspartei, Deutsche Demokratische Partei 74, Deutschnationale Volkspartei 42, Deutsche Volkspartei 22, Bayrischer Bauernbund 4, Deutsch-Hannoveraner 3 und je 1 Mandat Schleswig-Holsteinische Bauern und Landarbeiter und Braunschweigischer Landesverband; die 12 Mandate der Elsaß502

Kämpfe um die Errichtung einer parlamentarischen Republik Lothringer blieben unbesetzt. Unter den 421 Abgeordneten saßen auch 37 Frauen. Am 4. Februar 1919 übertrug der von den Arbeiter- und Soldatenräten gewählte Zentralrat der sozialistischen Republik Deutschland seine Gewalt auf die Nationalversammlung und ermahnte sie, das Reich in einen Einheitsstaat umzugestalten und die „schädliche Wiedererstarkung einzelstaatlicher Hoheitsrechte, die über die Geltendmachung landsmannschaftlicher Selbstverwaltungs- und Kulturinteressen hinausgehen", zu verhindern. Die Nationalversammlung trat am 6. Februar in Weimar zusammen, die Wahl des Tagungsortes bedeutete auch ein Programm: nicht in der Residenz der preußischen Hohenzollernkönige, sondern in der Stadt Goethes, Schillers und Herders sollte der Neubau des Reiches errichtet werden; außerdem war man hier dem unruhigen Treiben der aufgeregten Volksmassen in der Großstadt Berlin entrückt. Ebert begrüßte im Namen der Regierung die Nationalversammlung als „den höchsten und einzigen Souverän in Deutschland. Mit den alten Königen und Fürsten von Gottes Gnaden ist es für immer vorbei". (Lebhafter Beifall links, Zischen rechts.) Ebert ging dann auf die schwierige wirtschaftliche und politische Lage Deutschlands ein und warnte die Gegner Deutschlands, es bei den kommenden Friedensverhandlungen nicht vor die „verhängnisvolle Wahl zwischen Verhungern und Schmach" zu stellen. Mit dem Hinweis auf den Beschluß der österreichischen Nationalversammlung vom November 1918 (S. 490) sprach Ebert die Hoffnung aus, daß bald „kein Grenzpfahl mehr zwischen uns stehen" werde. Nach der Aufforderung zur Mitarbeit aller Stände an dem Aufbau einer sozialen Wirtschaftsordnung Schloß Ebert: „So wollen wir an die Arbeit gehen, unser großes Ziel fest vor Augen: das Recht des deutschen Volkes zu wahren, in Deutschland eine starke Demokratie zu verankern und sie mit wahrem sozialem Geist und sozialer Art zu erfüllen. So wollen wir wahr machen, was Fichte der deutschen Nation als ihre Bestimmung gegeben hat: Wir wollen errichten ein Reich des Rechtes und der Wahrhaftigkeit, gegründet auf Gleichheit alles dessen, was Menschenantlitz trägt." Am 10. Februar nahm die Nationalversammlung ein Gesetz über die vorläufige Reglung der Reichsgewalt an und wählte am 11. Februar Ebert mit 277 Stimmen zum Reichspräsidenten. Friedrich Ebert, geboren am 4. Februar 1871 in Heidelberg, entstammte als Sohn eines Schneidermeisters einer kleinbürgerlichen Familie, die mit ihren vielen Kindern in sehr bescheidenen Verhältnissen lebte. Friedrich erlernte das Sattlerhandwerk; als Geselle schloß er sich während seiner drei Wanderjahre der sozialdemokratischen Gewerkschaftsbewegung an. Nachdem er in Bremen festen Fuß gefaßt hatte, gab er 1893 sein Handwerk auf, wurde Gastwirt und Redakteur der sozialdemokratischen „Bremer Bürgerzeitung", 1900 Bremer Arbeitersekretär, 1905 Sekretär des sozialdemokratischen Parteivorstandes in Berlin, 1913 Vorsitzender der Sozialdemokratie Deutschlands, 1916 der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion, 1918 des Hauptausschusses des Reichstags. Reiche politische Erfahrung, klarer Verstand, ruhige, nüchterne Art befähigten Ebert zur Führung des höchsten Amtes im Reich unter schwierigsten Verhältnissen; Zuverlässigkeit und redliches Streben, dem Ganzen, nicht nur einer 503

Weimarer Republik — Überwindung der Revolution, 1918/1919 Partei zu dienen, gewannen Ebert auch das Vertrauen politischer Gegner; die Extremen von rechts und links haßten ihn freilich und setzten ihn auf jede Weise herab. Ebert berief Sdieidemann als Ministerpräsidenten und beauftragte ihn am 11. Februar 1919 mit der Kabinettsbildung. Die Sozialdemokraten waren zwar die größte Partei im Reichstag, hatten aber nicht einmal zusammen mit der USP die Mehrheit. So kam es zur „Weimarer Koalition", ihr gehörten auch das Zentrum und die Demokraten an, im ganzen 326 Abgeordnete; damit verfügte die Koalition über die meisten Stimmen. Außer Scheidemann waren in dem neuen Kabinett noch sechs Sozialdemokraten, unter ihnen Noske als Reichswehrminister, drei Demokraten mit Dr. Hugo Preuß als Innenminister und drei Zentrumsabgeordnete mit Erzberger als Minister ohne Portefeuille. Graf Ulrich von BrodedorffRantzau, ein im diplomatischen Dienst erprobter Beamter, der bereits am 20. Dezember 1918 an Stelle des auf Verlangen der USP zurückgetretenen Dr. Wilhelm Solf das Staatssekretariat des Äußern übernommen hatte, blieb, nun als Minister, Leiter des Auswärtigen Amtes. Scheidemann legte am 13. Februar der Nationalversammlung das Regierungsprogramm vor: in der Außenpolitik Herbeiführung sofortigen Friedensschlusses gemäß den Grundsätzen des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Wiederherstellung eines deutschen Kolonialgebietes; in der Innenpolitik maßvolle Durchführung sozialistischer Programmpunkte. „Nun, deutsche Männer und deutsche Frauen, Bahn frei für alles, was aus der Tiefe zum Licht strebt, Bahn frei für das drängende Neue! Dann werden wir es schaffen!" Am 22. Februar ging der Nationalversammlung der Entwurf für die künftige Reichsverfassung zu. Der Entwurf stammte von Hugo Preuß. Ebert hatte im November 1918 den damaligen Staatssekretär des Innern mit dieser Aufgabe betraut. Vor seinem Eintritt in die Regierung war Preuß Professor für Staatsrecht an der Handelshochschule in Berlin gewesen. Ein ausgesprochen Linksliberaler, verband Preuß liberales und sozialistisches Gedankengut in seinem am 20. Januar 1919 veröffentlichten Entwurf: nach dem Abdanken der Fürsten müsse der neue deutsche Einheitsstaat auch neu eingeteilt werden, die aus dynastischen Gründen, Erbschaft, Heirat usw. gezogenen Grenzen müßten fallen und nach wirtschaftlichen und kulturellen Gesichtspunkten Freistaaten von ungefähr gleicher Größe und Macht geschaffen werden, wodurch die Hegemonie Preußens und die lebensunfähigen Kleinstaaten beseitigt würden. Dagegen wandte sich sofort eine Konferenz von Vertretern der deutschen Freistaaten, sie lehnte ein Zerschlagen Preußens ab und wollte das Zustandekommen eines deutschen Einheitsstaates allmählicher Entwicklung überlassen. Uber den in diesem Sinne abgeänderten Entwurf beriet die Nationalversammlung in zahlreichen Sitzungen bis zum 31. Juli (S. 512). Am 25. Februar nahm sie den von vier Parteien eingebrachten Antrag „Bildung einer vorläufigen Reichswehr" an; damit erhielt Noske die rechtliche Grundlage für den Aufbau einer zuverlässigen Wehrmacht. — Im Laufe des Januar und Februar 1919 wählten die deutschen Freistaaten ihre Landtage, die dann neue Verfassungen erließen. Die Wahlen ergaben in Preußen, Bayern, Baden, Württemberg, Hessen und einigen Kleinstaaten bürgerliche Mehrheiten; 504

Kämpfe um die Errichtung einer parlamentarischen Republik sozialistische kamen in Sachsen, den meisten mitteldeutschen Kleinstaaten, Lübedc, Hamburg und Bremen an die Regierung. Streiks und Unruhen, besonders von seiten der extremen Linken, suchten die staatliche Neuordnung zu stören; in schwereren Fällen griff Noske mit seinen Freikorpsformationen ein. Die heftigsten Unruhen brachen in Bayern aus. Hier hatte Kurt Eisner schon am 7. November 1918 die Republik ausgerufen (S. 480). Er war Mitglied der USP, mehr Literat als Politiker, haßte Preußen wegen seines Militarismus und ging darin so weit, daß er zum Beweis der Kriegsschuld der militaristischen Reichsregierung Berichte des bayrischen Gesandten in Berlin von 1914 veröffentlichte, wobei Eisner alle Stellen über die Bemühungen der Reichsregierung zur Lokalisierung des serbisch-österreichischen Konfliktes unterschlug; die also verstümmelten Berichte benutzten die Ententemächte ausgiebig für ihre Zwecke. Eisners Macht in Bayern stützte sich auf die überall gegründeten Arbeiter-, Soldaten- und Bauernräte; dieses System wollte er, unabhängig von Berlin wie auch von Rußland, ausbauen. Sehr gegen seinen Willen sah er sich gezwungen, der Stimmung im Lande nachzugeben, die Landtagswahlen verlangte. Bei den Wahlen am 12. Januar 1919 erlitt Eisners Partei eine vernichtende Niederlage, nur drei Mitglieder der USP wurden gewählt. Eisner konnte zwar auch noch auf einen Teil der 61 Mehrheitssozialisten und auf 16 Bauernbündler rechnen, aber gegen ihn standen 66 Abgeordnete der Bayrischen Volkspartei, 25 Demokraten und 9 Nationalliberale. Am 21. Februar trat der Landtag zusammen, auf dem Wege zum Landtagsgebäude wurde Eisner von dem Studenten Graf Arco-Valley erschossen. Daraufhin erschoß ein Mitglied des Arbeiterrats im Landtag zwei an dem Attentat auf Eisner völlig unbeteiligte Abgeordnete und verwundete den sozialdemokratischen Minister Erhard Auer schwer. Infolge der ungeheuren Erregung über diese Vorfälle erlangten die radikalen Elemente wieder das Ubergewicht, Generalstreik, Bewaffnung des Proletariats, Umbildung der Regierung, Forderung der Errichtung einer bayrischen Räterepublik waren die Folgen. Der Landtag bestätigte am 17./18. März eine Regierung mit dem Volksschullehrer Johannes Hoffmann (Mehrheitssozialist) als Ministerpräsidenten. Das Land kam jedoch nicht zur Ruhe. Als am 21. März in Ungarn der Kommunist Bela Kun die Räterepublik ausrief, griff diese Bewegung auch auf Österreich und von da aus auf Bayern über. Am 7. April verkündete der Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte: „Bayern ist Räterepublik. Das werktätige Volk ist Herr seines Geschicks." Die Regierung Hoffmann floh nach Bamberg und berief zu ihrem Schutz das hauptsächlich aus Studenten und ehemaligen Offizieren bestehende Freikorps Epp. Die Reichsregierung, Württemberg, Baden und Hessen erkannten die Münchner Räteregierung ebenfalls nicht an, die durch schroffe Sozialisierungsmaßnahmen und Abschaffung des Privateigentums das ganze Land Bayern gegen sich aufbrachte. Seit Ende April rückten bayrische, württembergische und preußische Truppen gegen München vor und nahmen es am 2. Mai unter heftigen Kämpfen ein. Die Rote Armee hatte zehn Geiseln ermordet, die siegreichen Truppen erschossen jetzt Hunderte, darunter fast alle Führer der Roten, aber auch viele Unschuldige. Der Landtag bestätigte am 31. Mai das neue Koalitions-

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ministerium aus Sozialdemokraten, Demokraten und der Bayrischen Volkspartei mit Hoffmann als Präsidenten. Anfang März 1919 kam es auch in Berlin zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Regierung und den Radikalen. Um die Sozialisierung vorwärts zu treiben, beschloß der Berliner Arbeiterrat am 3. März den Generalstreik, und die „Rote Fahne" forderte zum Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann-Noske auf. Die Regierung verhängte nun den Belagerungszustand, Noske ließ Truppen in Berlin einmarschieren. Die Matrosendivision befürchtete ihre Auflösung und ging gegen den Willen der Streikleitung zu offenem Aufruhr über; um das Polizeipräsidium am Alexanderplatz und in den östlichen Vororten wurde erbittert gekämpft. Als das, später dementierte, Gerücht umlief, in Lichtenberg hätten die Spartakisten 60 Polizisten ermordet, erließ Noske den Befehl: „Jede Person, die mit Waffen in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wird, ist sofort zu erschießen." Nach zehn Tagen war der Aufstand niedergeschlagen, die Marinedivision und die republikanische Soldatenwehr, die teilweise auch auf Seiten der Aufständischen gekämpft hatte, wurden aufgelöst. Uber tausend Menschen, darunter viele Unschuldige, kamen in den Kämpfen um; Noske zog sich den Haß der Linken zu, und selbst bürgerliche Kreise übten abfällige Kritik an Noske. Einen Monat später versuchte die Arbeiterschaft in Braunschweig durch einen Generalstreik die Räterepublik zu erzwingen. Bürger und Beamte antworteten mit Gegenstreik, und auf Befehl Noskes stellten Regierungstruppen in wenigen Tagen die Ruhe wieder her. Um die Beendigung der Revolutionswirren und die Wiederherstellung der Ordnung im Reiche hat sich Noske zweifellos außerordentliche Verdienste erworben; daß er aber dabei auf die Freikorps unter der Führung von Offizieren der alten Armee angewiesen war, von denen die wenigsten auch nur einigermaßen Verständnis für den demokratischen Neuaufbau des Reiches hatten, belastete von vornherein die Weimarer Republik schwer. Die Brigade des Kapitänleutnants Ehrhardt zum Beispiel zog in den Kampf für die Republik mit den Liedern „Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band" oder „Wir tragen am Arme das Wikingerschiff, am Kragen die Gardesterne . . . Man rief uns, wo immer die Freiheit bedroht, wir führen die Flagge schwarz-weiß-rot"; ähnlich verhielten sich die übrigen Freikorps. Die Uberzeugung, die Republik brauche sie, spornte diese Kreise keineswegs zur Mitarbeit am Neuaufbau des Reiches an; sie lehnten vielmehr das Neue um so entschiedener ab, je mehr in den folgenden Jahren die Erschütterung über den verlorenen Krieg und die Abdankung des Kaisers nachließ. Außerdem verschärften die nun beginnenden Verhandlungen über die Annahme des Friedensvertrages die Gegensätze im deutschen Volk noch erheblich.

DIE ANNAHME DES VERSAILLER FRIEDENSVERTRAGES Die deutsche Friedensdelegation unter Führung des Außenministers Graf Brockdorff-Rantzau nahm am 7. Mai 1919 im großen Speisesaal des Trianon-Pa506

Annahme des Versailler Friedensvertrages last-Hotels am Rande des Parks von Versailles ein Exemplar des umfangreichen Vertrags entgegen, auf dessen Inhalt bereits oben (S. 485) eingegangen ist. In seiner Ansprache betonte Clemenceau: „Dieser zweite Versailler Friede ist zu teuer erkauft, um nicht von unserer Seite alle notwendigen Vorsichtsmaßnahmen und Sicherungen zu ergreifen, damit dieser Friede ein dauernder werde." Mündliche Erörterungen dürften nicht stattfinden; wenn die Deutschen Einwände machen wollten, könnten sie das auf schriftlichem Wege tun. Brockdorff-Rantzau gab sitzend, womit er bei den Gegnern Anstoß erregte, eine längere Erklärung ab; er wies darin die Behauptung zurück, Deutschland sei allein an dem Kriege schuld, bekannte offen die Mitverantwortung Deutschlands und seinen Willen zur Wiedergutmachung; er berief sich auf die von beiden Seiten eingegangene Verpflichtung, den Frieden gemäß den Grundsätzen des Präsidenten Wilson abzuschließen. Die „Großen Drei", Clemenceau, Wilson und Lloyd George, hörten nur den trotzigen Widerstand aus dieser Rede heraus; in seinen Erinnerungen tadelte Wilson „den bemerkenswerten Mangel an Takt"; der englische Historiker G. P. Gooch schrieb sechs Jahre später in seinem Buch „Deutschland": Wenn man die Erklärung Brockdorff-Rantzaus „heute wieder liest, werden die meisten Beurteiler den Eindruck haben, daß sie geschickt darauf angelegt war, den Ton roher Selbstgerechtigkeit wie auch unaufrichtiger Bußfertigkeit zu vermeiden". Während die deutsche Delegation in Versailles Proteste und Gegenvorschläge ausarbeitete, löste das Bekanntwerden des Friedensvertrages in Deutschland lähmendes Entsetzen und schroffe Zurückweisung aus und erregte in allen Schichten des Volkes, dem erst jetzt die ganze Größe der Niederlage klar wurde, heftige Auseinandersetzungen. Kundgebungen der Reichsregierung, der Länderregierungen, zahlreicher Parteien und Körperschaften sprachen beredt ihre Enttäuschung und den Zorn über diesen „Diktatfrieden" sowie seine Ablehnung rückhaltlos aus. Der Vorstand der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands erließ einen Aufruf an die „Proletarier aller Länder": „Vereinigt Eure Kraft, um einen Gewaltfrieden zu verhindern, der Europa nicht zur Ruhe kommen lassen würde!" Die USP verurteilte die Härte des Vertrages ebenso, trat aber doch für die sofortige Unterzeichnung ein, weil letzten Endes nichts anderes übrigbleibe: „Nichtunterzeichnung bedeutet die Zurückhaltung unserer Kriegsgefangenen, die Besetzung unserer Rohstoffgebiete, die Verschärfung der Blockade, bedeutet Arbeitslosigkeit, Hungersnot . . . Nach unserer Uberzeugung wird auch der Friede von Versailles durch die revolutionäre Entwicklung zunichte gemacht werden." Am 12. Mai tagte die Nationalversammlung in der Aula der Berliner Universität, um „der Solidarität des deutschen Volkes gegen den Deutschland angesonnenen Vernichtungsfrieden Ausdruck zu geben". Die Hauptrede hielt der Reichsministerpräsident Scheidemann, sie gipfelte in der Frage: „Wer kann als ehrlicher Mann — ich will gar nicht sagen als Deutscher — nur als ehrlicher, vertragstreuer Mann auf solche Bedingungen eingehen? Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fessel legt?" Hierauf äußerten sich Vertreter aller Parteien ähnlich ablehnend, auch die USP, nur daß sie wieder die Annahme des Vertrags für unbedingt notwendig hielt. Konstantin Fehrenbach (Zentrum), Präsident der Na507

Weimarer Republik — Uberwindung der Revolution, 1918/1919 tionalversammlung, drohte, spätere Generationen werden „die Sklavenketten zerbrechen und die Schmach abwaschen", er Schloß: „Für uns gilt wie in glücklichen Tagen so auch heute das Wort, das niemals der Ausdruck selbstsüchtiger Uberhebung, sondern immer nur der tiefen Liebe zu unserer Heimat war: Deutschland, Deutschland über alles, über alles in der Welt!" Nach einem Notenwechsel über verschiedene Einzelfragen des Vertrags überreichte am 28. und 29. Mai die deutsche Delegation in Versailles Clemenceau die 443 Seiten umfassenden „Bemerkungen zu den Friedensbedingungen": eine Mantelnote Brockdorff-Rantzaus, in der er im allgemeinen gegen alle für ungerecht erachteten Bestimmungen des Vertrags protestierte, eine Denkschrift über die Kriegsschuldfrage, eine zweite über die Unmöglichkeit, die wirtschaftlichen Forderungen zu erfüllen, den Nachweis der Widersprüche zu Wilsons Grundsätzen und Gegenvorschläge zu den einzelnen Punkten des Vertrags. Der deutschen Delegation wurde am 16. Juni die Antwort der Verbandsmächte übergeben. Lloyd George war für die wenigstens teilweise Erfüllung der deutschen Wünsche eingetreten, aber fast alle seine Vorschläge für die Milderung der Bedingungen scheiterten zunächst an der Ablehnung Clemenceaus und der Gleichgültigkeit Wilsons. Erst die Drohung, England würde die Blockade aufheben und sich an der Besetzung Deutschlands nicht mehr beteiligen, bewog Clemenceau zu einigen Zugeständnissen, von denen nur die Genehmigung der Abstimmung in Oberschlesien größere Bedeutimg hatte. Die Antwortnote der Verbandsmächte war nach Inhalt und Ton äußerst schroff abgefaßt. Während § 231 des Vertrages noch nicht von der Alleinschuld Deutschlands am Kriege spricht, wurden nun die schwersten Anklagen gegen die kaiserliche Regierung erhoben, die „getreu der preußischen Tradition" in dem Streben nach der Unterjochung Europas 1914 den Krieg bewußt entfesselt und in der unmenschlichsten Weise geführt habe; in Deutschland gehe grundsätzlich die brutale Gewalt vor Recht, deshalb müsse der Friedensvertrag durchgeführt werden, daran ändere auch die Errichtung einer deutschen Republik nichts. Nach Zurüdcweisung der einzelnen deutschen Einwände, die völlig unberechtigt seien, wurde jede weitere Diskussion abgelehnt. Die Deutschen hätten binnen fünf Tagen — die Frist wurde dann auf sieben Tage verlängert — den Vertrag zu unterzeichnen, im Fall einer Ablehnung werden die Verbandsmächte „diejenigen Schritte ergreifen, die sie zur Erzwingung ihrer Bedingungen für erforderlich halten". Brodedorff-Rantzau Schloß seine kurze Antwortnote vom 17. Juni: Auch jetzt noch sind die Friedensbedingungen „unerfüllbar, weil sie finanzielle und wirtschaftliche Forderungen stellen, denen selbst ein blühendes Deutschland nicht genügen könnte; rechtsverletzend, weil sie die feierlichen und öffentlichen Zusagen an das deutsche Volk verleugnen; und unaufrichtig, weil Deutschland der Wahrheit zuwider seine alleinige Schuld am Krieg bekennen soll. Die deutsche Delegation ist daher der festen Überzeugung, daß die deutsche Regierung den Vertrag auch in der jetzt vorliegenden Form ablehnen muß". In der deutschen Öffentlichkeit, vor allem in der Regierung und in den Fraktionen, war die fast einmütige Ablehnung des Vertrags, wie sie in der Sitzung 508

Annahme des Versailler Friedensvertrages vom 12. Mai Ausdruck gefunden hatte, einer tiefen Spaltung der Meinungen gewichen. Unter dem Einfluß Erzbergers, der schriftlich und mündlich die Ablehnung bekämpfte, trat die Hälfte der Regierung für die Annahme ein, zu der das kurz befristete Ultimatum drängte, und wofür gewichtige Gründe sprachen: im Falle der Ablehnung würden das Ruhrgebiet besetzt, die Blockade verschärft, eine geordnete Staatsführung unmöglich, die Währung zerrüttet, vor allem die Einheit des Reiches gefährdet, im Rheinland der Separatismus siegen, die Einzelstaaten Sonderfrieden schließen, der Wunsch der Franzosen erfüllt, daß Deutschland sich wieder in Kleinstaaten auflöst, und ein noch schlimmerer Friedensvertrag das Ende sein. Auf der Ablehnung beharrten Scheidemann, Brockdorff-Rantzau und die drei demokratischen Minister; am 20. Juni trat das ganze Kabinett zurück. Ebert beauftragte mit der Neubildung seinen Parteigenossen Gustav Bauer. Da die Demokraten die weitere Mitarbeit verweigerten, setzte sich die neue Regierung aus sechs Sozialdemokraten und vier Zentrumsmitgliedem zusammen. Erzberger, die eigentlich führende Persönlichkeit, übernahm das Finanzministerium, Hermann Müller das Außenministerium, Reichswehrminister blieb Noske. Hindenburg hatte wegen der bedrohlichen Lage im Osten sein Hauptquartier nach Kolberg verlegt; am 17. Juni erklärte er, im Osten könnte ein bewaffneter Widerstand Erfolg haben, im Westen nicht, doch würde er als Soldat den ehrenvollen Untergang einem sdimählichen Frieden vorziehen. Zahlreiche Reichswehroffiziere und Soldaten drohten mit Aufsagen des Dienstes, wenn der Vertrag mit dem „Schmachparagraphen" unterzeichnet würde. Noske reichte sein Abschiedsgesuch ein, Ebert nahm es jedoch nicht an, besonders weil General Groener versicherte, Noskes Verbleiben im Amte und ein Aufruf von ihm an die Reichswehr würde sie zur weiteren Pflichterfüllung bewegen. Der Appell Noskes und eine Aussprache in Berlin zwischen ihm und den höheren Offizieren verhinderten dann auch eine Spaltung der Reichswehr, und sie stellte sich wieder geschlossen hinter die Regierung. Am 22. Juni legte Ministerpräsident Bauer in einer von tiefem Verantwortungsgefühl getragenen Rede die Formel vor, auf die sich die Mehrheit nach langen Auseinandersetzungen geeinigt hatte: „Die Regierung der Deutschen Republik ist bereit, den Friedensvertrag zu unterzeichnen, ohne jedoch damit anzuerkennen, daß das deutsche Volk der Urheber des Krieges sei und ohne eine Verpflichtung nach Artikel 227/230 (Auslieferung der Kriegsverbrecher) des Friedensvertrages zu übernehmen." Nach nochmaligen Meinungsäußerungen der Parteien wurde der Antrag: „Die Nationalversammlung ist mit der Unterzeichnung des Friedensvertrages einverstanden" von 237 Abgeordneten angenommen und von 138 abgelehnt. Dagegen stimmten die Deutschnationale Volkspartei, die Deutsche Volkspartei und fast alle Demokraten. Noch an demselben Tag überreichte der Gesandte von Haniel in Versailles eine Note, in der die deutsche Regierung die Annahme des Vertrags unter den zwei Vorbehalten zusagte. Haniel erhielt sofort die Antwort, die Zeit der Erörterung sei vorbei, am nächsten Tag wurde noch eine deutsche Bitte um Fristverlängerung abgeschlagen. Die Alliierten waren um so weniger bereit nachzugeben, als am 22. Juni gleichzeitig 509

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mit der deutschen Note die Nachricht eintraf, daß die gemäß dem Waffenstillstandsvertrag in Scapa Flow internierte deutsche Kriegsflotte am Tag vorher auf Befehl des Admirals Ludwig von Reuter versenkt worden war. Die zahlenmäßig geringe, auf den Schiffen verbliebene deutsche Besatzung hatte sich in die Boote gerettet, wurde teilweise von den überraschten und empörten Engländern beschossen und hierauf gefangen genommen. Reuter entschuldigte sich, er habe geglaubt, die deutsche Regierung werde den Friedensvertrag nicht unterzeichnen, und für den dann zu erwartenden Wiederbeginn der Feindseligkeiten müsse der Befehl des Kaisers von 1914 ausgeführt werden, die Schiffe dürften niemals in Feindeshand fallen. Am 23. Juni holten Angehörige des Berliner Freikorps die 1870/71 erbeuteten französischen Fahnen aus dem Zeughaus und verbrannten sie vor dem Denkmal Friedrichs des Großen, sie hätten nach dem Friedensvertrag an Frankreich zurückgegeben werden sollen. Die Versenkung der Flotte und die Verbrennung der Fahnen erregten den hellen Zorn der Alliierten. Sie beschuldigten die deutsche Regierung der vorsätzlichen Verletzung des schon angenommenen Friedensvertrages, der Beweis für den schlechten Willen Deutschlands sei damit erbracht. Am 23. Juni trat die Nationalversammlung wieder zusammen; abends lief das Ultimatum für die bedingungslose Annahme des Friedensvertrages ab, und da wollte sich die Regierung der Zustimmung der Nationalversammlung noch einmal versichern. Im Grunde fürchteten alle die Folgen einer Ablehnimg, die Abgeordneten der Parteien, die sie forderten, wagten indes aus Rücksicht auf ihre Wähler nicht, für die Annahme zu stimmen, immerhin gab für die Deutschnationalen, die Deutsche Volkspartei und für die Demokraten je ein Abgeordneter eine Erklärung ab, in der sie anerkannten, daß die für die Annahme Stimmenden ebenfalls nach bestem Wissen und Gewissen in vaterländischer Gesinnung handelten. So wurde in einfacher, nicht namentlicher Abstimmung mit ungefähr derselben Mehrheit wie am Tag zuvor die Regierung zur bedingungslosen Unterzeichnung des Versailler Vertrags ermächtigt. Knapp eineinhalb Stunden vor Ablauf der Frist überreichte der Gesandte von Haniel Clemenceau die Note der deutschen Regierung: „Die Regierung der Deutschen Republik hat aus der letzten Mitteilung der allüerten und assoziierten Regierungen mit Erschütterung gesehen, daß sie entschlossen sind, von Deutschland auch die Annahme derjenigen Friedensbedingungen mit äußerster Gewalt zu erzwingen, die, ohne eine materielle Bedeutung zu besitzen, den Zweck verfolgen, dem deutschen Volk seine Ehre zu nehmen . . . Der übermächtigen Gewalt weichend und ohne damit ihre Auffassung über die unerhörte Ungerechtigkeit der Friedensbedingungen aufzugeben, erklärt deshalb die Regierung der Deutschen Republik, daß sie bereit ist, die von den alliierten und assoziierten Regierungen auferlegten Friedensbedingungen anzunehmen und zu unterzeichnen." Am folgenden Tag, dem 24. Juni, riefen Reichspräsident Ebert und die deutsche Regierung das Volk zur Mitarbeit auf: „Das erste Erfordernis ist Vertragserfüllung. Jede Anstrengung muß an die Erfüllung dieses Vertrages gesetzt werden; soweit er ausführbar ist, muß er ausgeführt werden! . . . Das zweite Erfordernis 510

Annahme des Versailler Friedensvertrages ist: ArbeitI Die Lasten dieses Friedens können wir nur tragen, wenn keine Hand müßig ist. Für jede nicht erfüllte Leistung können die Gegner mit Vormarsch, Besetzung oder Blockade antworten. Wer arbeitet, verteidigt den heimischen Boden. Das dritte Erfordernis heißt: Pflichttreue 1 Wie wir trotz aller Gewissensnot auf dem Posten geblieben sind, so muß es jeder einzelne machen . . . Wenn wir nicht alle mithelfen, ist die Unterschrift unter dem Vertrag wertlos. Dann kann es keine Erleichterungen, keine Revisionen und kein schließliches Abtragen der ungeheuren Lasten geben . . . Es gibt nur einen Weg aus der Finsternis dieses Vertrages: Erhaltung von Reich und Volk durch Einigkeit und Arbeit." Hindenburg legte am 25. Juni den Oberbefehl nieder und Groener reichte sein Abschiedsgesuch ein; Anfang Juli wurde General Hans von Seeckt zum Chef des Generalstabes ernannt. Zur Unterzeichnung des Friedensvertrages fuhr Außenminister Hermann Müller mit einer deutschen Delegation nach Versailles. Am 28. Juni 1919 fand in der Spiegelgalerie des Versailler Schlosses die feierliche Unterzeichnimg statt; die Sessel von Clemenceau, Lloyd George und Wilson standen an derselben Stelle, an der Wilhelm I. am 18. Januar 1871 zum Kaiser des geeinten Deutschlands proklamiert worden war. Clemenceau hob die Sitzung mit den Worten auf: „Der Friede ist geschlossen!"; Kanonendonner dröhnte, und die Brunnen im Park von Versailles begannen zu springen. Am Abend trat die deutsche Delegation die Rückreise an. Hätte das deutsche Volk dem Aufruf der Reichsregierung vom 24. Juni im Sinne Eberts Folge geleistet, dann würde wohl die deutsche Geschichte der folgenden Jahre ein erfreulicheres Bild bieten. Statt dessen wurden die lebenswichtigen Aufgaben der Nation zu Schlagworten in der Presse, in den Parlamenten und namentlich im Wahlkampf entwertet, die nur den Parteihader und nicht die so notwendige gemeinsame Arbeit förderten. Besonders die beiden Rechtsparteien, die Deutschnationale und die Deutsche Volkspartei und die ihnen nahestehenden Offiziere, aktive wie in den Ruhestand versetzte, haben hierin schwere Schuld auf sich geladen. Obwohl ihre Fraktionen in der Nationalversammlung am 23. Juni den für die Annahme des Vertrages stimmenden Abgeordneten ihre vaterländische Gesinnung ausdrüddich bestätigt hatten, setzte sehr bald der Kampf gegen die Republik und ihre Träger ein, weil sie Deutschland der Schmach preisgegeben hätten. Die Legende von dem imbesiegten Heer und dem „Dolchstoß" der Revolution, der den Sieg oder wenigstens die Erringung eines ehrenvollen Friedens verhindert habe, begann sich zu bilden (S. 493), das Erscheinen von Ludendorffs „Kriegserinnerungen" trug viel dazu bei. Zu Beginn der Revolution war Ludendorff nach Schweden abgereist, Ende Februar kehrte er mit dem fertigen Manuskript nach Deutschland zurück. In ähnlichem Sinne erschienen: „Im Felde unbesiegt", herausgegeben von General von Didcuth-Harrach, „Auf See unbesiegt", herausgegeben von Admirai von Mantey, „In der Luft unbesiegt", herausgegeben von Major von Neumann. So besiegt, daß sie die Waffen unbedingt hätten strecken müssen, waren die deutschen Streitkräfte im Herbst 1918 freilich nicht, aber die Oberste Heereslei-

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Weimarer Republik — Überwindung der Revolution, 1918/1919 tung kam zu der Einsicht, die Fortsetzung des Krieges müsse, weil aussichtslos, aufgegeben werden, um weiteres, größeres Unheil zu vermeiden, und die Aussichtslosigkeit der Lage war nicht die Folge der Revolution, sondern die Voraussetzung dafür. — Trotz der Gebietsverluste, der Reparationszahlungen und innerer, hauptsächlich durch die Opposition von rechts hervorgerufener Zwiste arbeitete sich Deutschland allmählich wieder hoch. Staatsmänner wie Ebert und Stresemann führten das Volk auf den richtigen Weg: Der Versailler Vertrag konnte „weder in rücksichtsloser Gewalttat zerrissen, noch in geschicktem Diplomatenkunstgriff abgestreift werden, sondern mußte in zäher, geduldiger Arbeit Glied für Glied zerfeilt und hierfür vor allem Zeit gewonnen werden . . . Allerdings durfte man in Deutschland selbst und auch in der Welt nicht übersehen, daß gerade diese wahrscheinlich einzig mögliche Politik dem nationalen Stolz Zumutungen auferlegte, die von vielen, namentlich in der Jugend, nicht ertragen wurden und zu der nachfolgenden Krisis innerhalb Deutschlands führten" (Friedensburg).

DIE WEIMARER VERFASSUNG Für den Augenblick war das Wichtigste, die Einheit des Reiches, gerettet. Die Nationalversammlung konnte sich nun wieder ihrer zweiten großen Aufgabe, der Neuordnung der staatsrechtlichen Grundlagen durch eine Reichsverfassung, zuwenden. Der am 22. Februar 1919 der Nationalversammlung vorgelegte Entwurf war am Schluß der ersten Sitzung einem Ausschuß überwiesen worden. Nach der Unterzeichnung des Versailler Vertrags begann Anfang Juli die zweite, Ende des Monats die dritte Lesimg des Verfassungsentwurfes im Plenum; am 31. Juli wurde mit 262 gegen 75 Stimmen der Deutschnationalen, der Deutschen Volkspartei und der USP die Verfassung angenommen. Sie trat am 14. August in Kraft. Zuversichtlich klang die Vorrede: „Das deutsche Volk, einig in seinen Stämmen und von dem Willen beseelt, sein Reich in Freiheit und Gerechtigkeit zu erneuern und zu festigen, dem innern und dem äußern Frieden zu dienen und den gesellschaftlichen Fortschritt zu fördern, hat sich diese Verfassung gegeben." Artikel 1 legt die entscheidende Umgestaltung des Reiches in zwei knappen Sätzen fest: „Das Deutsche Reich ist eine Republik. Die Staatsgewalt geht vom Volk aus." Auch fast alle, die eine republikanische Staatsform ablehnten, wünschten die Wiederkehr der Monarchie erst für eine Zeit, in der die schlimmsten Folgen des verlorenen Krieges überwunden wären. Eine der schwierigsten Aufgaben war, das Verhältnis von Reich und Ländern so zu gestalten, daß das Eigenleben der geschichtlich gewachsenen Reichsteile gewahrt blieb, ohne die Einheit zu gefährden. Die Kreise, die eine großzügige Neueinteilung im Sinne des ersten Entwurfs von Preuß (S. 504) anstrebten, drangen nicht durch. Obwohl die Ländergrenzen nicht den Stammes-, Landschafts- und Wirtschaftsgebieten entsprechend verliefen, sondern das Ergebnis waren von Erbschaft, Heirat, Belehnung, Krieg oder Diplomatie, bestanden auch die kleinsten 512

Weimarer Verfassung Länder soweit wie irgend möglich auf ihrem staatlichen Eigendasein mit Parlament und Regierung. Nur die sieben thüringischen Länder, deren Gebietsteile unentwirrbar ineinander verschachtelt lagen, beschlossen bereits am 24. März 1919 ihre Vereinigung zum Freistaat Thüringen, die dann auch 1920 vollzogen wurde; Koburg Schloß sich an Bayern an. Nach Artikel 18 der Verfassung konnten jeweils durch ein Reichsgesetz Gebietsveränderungen vorgenommen werden, wenn ein überwiegendes Reichsinteresse sie erheischte oder wenn die Bevölkerung sie forderte; aber nur Pyrmont (1922) und Waldeck (1929) machten von diesem Paragraphen Gebrauch und schlossen sich Preußen an. Immerhin wurden die Rechte des Reiches so ausgebaut, daß sie den Partikularismus weitgehend zurückdrängten. Nach Artikel 6 hatte das Reich die ausschließliche Gesetzgebung über die Beziehungen zum Ausland, über die Staatsangehörigkeit, das Münz- und Zollwesen, das Post-, Telegraphen- und Telephonwesen, die Wehrverfassung. Nach Artikel 7 stand dem Reich das Recht der Gesetzgebung — wenn auch nicht der ausschließlichen — unter anderem zu über das bürgerliche und Strafrecht, das gerichtliche Verfahren, Presse-, Vereins- und Versammlungswesen, den Handel, das Bank-, Börsen- und Versicherungswesen, die Eisenbahnen, den Verkehr mit „Kraftfahrzeugen zu Lande, zu Wasser und in der Luft". Bayern, Württemberg und Sachsen verloren die ihnen von Bismarck zugestandenen Reservatrechte für eigene Gesandtschaften und Konsuln, Armeen, Eisenbahnen und Post. Auch sonst konnte das Reich gegebenenfalls in die verschiedensten Wirkungskreise, wie etwa den Schutz der öffentlichen Ordnung und Sicherheit, eingreifen, wofür an und für sich die Länder zuständig waren; Artikel 13 bestimmte noch ausdrücklich: „Reichsrecht bricht Landesrecht". — „Jedes Land muß eine freistaatliche Verfassung haben", die Volksvertretung nach dem gleichen Wahlrecht wie zum Reichstag gewählt werden, die „Landesregierung bedarf des Vertrauens der Volksvertretung" (Artikel 17). Für das Verhältnis von Reich und Ländern — die Bezeichnung „Länder" trat jetzt an die Stelle von „Staaten" — erwies sich am einschneidendsten die Reglung der Steuererhebimg; Artikel 8 billigte dem Reich die Gesetzgebung über die Abgaben und sonstigen Einnahmen zu, „soweit sie ganz oder teilweise für seine Zwecke in Anspruch genommen werden". Auf dieser Grundlage erreichte die Reichsfinanzreform Erzbergers 1919 die Zuweisung der direkten Steuern, vor allem der Einkommen- und Vermögenssteuer, an das Reich. — Eine Reichsfahne hatte sich erst Anfang der neunziger Jahre eingebürgert (S. 11); ihre Farben schwarz-weiß-rot wollten die Deutschnationalen übernehmen, die USP verlangte rot. Nach heftigen Debatten kam Artikel 3, ein Kompromiß, zustande: „Die Reichsfarben sind schwarz-rot-gold. Die Handelsflagge ist schwarz-weiß-rot mit den Reichsfarben in der oberen inneren Ecke." Schwarz-rot-gold waren die Farben der Burschenschaften, des Hambacher Festes und der Revolution von 1848. Bei diesem Farbenwechsel rechnete man auch auf den Anschluß Deutsch-Österreichs, dem die schwarz-rot-goldenen Farben als Sinnbild großdeutscher Sehnsucht galten. Die Hoffnungen, die viele an die neue Reichsfahne knüpften, erfüllten sich jedoch nicht, sie verschärfte vielmehr den inneren Zwist; die Anhänger des alten Bismarckreiches und der Monarchie haßten

33 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Weimarer Republik — Überwindung der Revolution, 1918/1919 die schwarz-rot-goldene Fahne als das Banner der Revolution und der angeblich durch sie verschuldeten Niederlage. Der Reichstag, der eigentliche Träger der Staatsgewalt, wurde auf vier Jahre „in allgemeiner, gleicher, unmittelbarer und geheimer Wahl von den über 20 Jahre alten Männern und Frauen nach den Grundsätzen der Verhältniswahl gewählt" (Art. 22), bei der die Sitze nach dem Verhältnis der abgegebenen Stimmen verteilt werden, in Deutschland auf je 60 000 ein Abgeordneter. Naumann, der als demokratischer Abgeordneter der Nationalversammlung bis zu seinem Tode Ende August 1919 angehörte, bezeichnete dieses Wahlsystem als das äußerlich unzweifelhaft gerechteste, hatte aber doch schwere Bedenken dagegen, es „sei für kleinere Verhältnisse sehr geeignet — zur Feststellung der politischen Führerschaft im großen ungeeignet" (Heuß). Das gerechteste Wahlsystem war es, weil auch die Stimmen der in jedem Wahlkreis in der Minderheit gebliebenen nach dem am 22. April von der Nationalversammlung angenommenen Gesetz durch Anrechnung auf die Reichsliste zur Geltung kamen; andererseits wurde damit die Zersplitterung in viele kleine Parteien gefördert, was die Mehrheitsbildung im Reichstag sehr erschwerte und die jeweilige Regierung, um den nötigen Rückhalt für ihre Politik zu gewinnen, zu langwierigen Koalitionsverhandlungen zwang. Mißlidi war auch, daß die Wähler die Kandidaten der von den Parteiorganisationen aufgestellten Listen meist nicht kannten und deshalb zwischen den Abgeordneten und ihren Wählern vielfach jeder Kontakt fehlte. An der Spitze des Reiches stand der unmittelbar vom Volk für sieben Jahre gewählte Reichspräsident. Er vertrat das Reich völkerrechtlich, beglaubigte die Botschafter, Schloß Bündnisse und Verträge; hatte den Oberbefehl über die Wehrmacht; übte das Begnadigungsrecht aus; ernannte und entließ den Reichskanzler und die Reichsminister. Kanzler und Minister mußten zu ihrer Amtsführung aber auch das Vertrauen des Reichstags besitzen, und jeder von ihnen mußte zurücktreten, wenn ihm der Reichstag das Vertrauen entzog. Alle Anordnungen und Verfügungen des Reichspräsidenten bedurften zu ihrer Gültigkeit der Gegenzeichnung des Reichskanzlers oder des zuständigen Reichsministers. Der Reichstag war berechtigt, den Reichspräsidenten, den Reichskanzler und die Reichsminister wegen schuldhafter Verletzung der Reichsverfassung oder eines Reichsgesetzes vor dem Staatsgerichthof des Deutschen Reiches anzuklagen. Der Reichspräsident konnte den Reichstag auflösen, aber jeweils nur einmal aus dem gleichen Grunde. Artikel 48, der sogenannte „Diktaturparagraph", gestand für den Notfall dem Reichspräsidenten außerordentliche Vollmachten zu: Der Reichspräsident konnte, „wenn ein Land die ihm nach der Reichsverfassung oder den Reichsgesetzen obliegenden Pflichten nicht erfüllt, es dazu mit Hilfe der bewaffneten Macht anhalten. Der Reichspräsident kann, wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen, erforderlichenfalls mit Hilfe der bewaffneten Macht einschreiten . . . Von allen diesen Maßnahmen hat der Reichspräsident unverzüglich dem Reichstag Kenntnis zu geben. Die Maßnahmen sind auf Verlangen des Reichstags außer 514

Weimarer Verfassung Kraft zu setzen". Der Diktaturparagraph sollte ein rasches Eingreifen des Reichsoberhauptes ermöglichen bei Unruhen, wie sie im Winter und Frühjahr 1918/1919 vor allem in Berlin, Bayern und Sachsen ausgebrochen waren, bei Umsturzversuchen, Unstimmigkeiten zwischen dem Reich und einzelnen Bundesländern und dergleichen. Der Gedanke an solche Ereignisse und Zustände erklärt die Aufnahme des Diktaturparagraphen in die Reichsverfassung. Wären die Durchführungsbestimmungen sorgfältig ausgearbeitet worden, zum Beispiel in welchen Fällen Sicherheit und Ordnung des Reiches als gefährdet zu erachten seien, dann hätte sich wohl das Unheil des Regierens mit dem Artikel 48 während der Jahre 1930/1932 vermeiden lassen. Von dem Augenblick an, da auf der Grundlage dieses Artikels mit Notverordnungen regiert wurde, war „die Republik krank" und konnte „nicht mehr lange leben. Deutschland wurde reif für Hitlers Diktatur" (François-Poncet). Die Artikel 61—63 regelten das Verhältnis der Länder zum Reich. Die Länder waren im Reichsrat vertreten, dem Nachfolger des alten Bundesrats, aber mit wesentlich geringeren Befugnissen als dieser hatte. Jedes Land hatte mindestens eine Stimme, die größeren Länder auf je eine Million Einwohner eine Stimme. Kein Land durfte jedoch durch mehr als zwei Fünftel aller Stimmen vertreten sein; damit sollte einem Übergewicht Preußens vorgebeugt werden, die Hälfte der preußischen Stimmen wurde den preußischen Provinzen übertragen. „Deutschösterreich erhält nach seinem Anschluß an das Deutsche Reich das Recht der Teilnahme am Reichsrat mit der seiner Bevölkerung entsprechenden Stimmenzahl. Bis dahin haben die Vertreter Deutsch-Österreichs beratende Stimme" (Art. 61). Clemenceau erhob am 2. September im Namen der alliierten und assoziierten Mächte gegen diesen Absatz Einspruch, weil er gegen den Versailler Vertrag verstoße, in dem sich Deutschland verpflichtete, die Unabhängigkeit Österreichs unbedingt zu achten, die durch dessen Beteiligung am deutschen Reichsrat aufgehoben würde. Falls Deutschland nicht binnen 14 Tagen diese Bestimmung des Artikels 61 aufhebe, würden die allnerten und assoziierten Mächte auch das rechte Rheinufer besetzen. Nach mehrfachem Notenwechsel erklärte sich die deutsche Regierung mit der Kraftloserklärung dieses Artikels einverstanden. Den vom Reichstag verabschiedeten Gesetzen hatte der Reichsrat seine Zustimmung zu geben; verweigerte er sie, so ging das Gesetz an den Reichstag zurück; wurde es nach abermaliger Beratung mit Zweidrittelmehrheit erneut angenommen, mußte es der Reichspräsident verkünden oder es einem Volksentscheid unterbreiten. Die Verfassung sah die Möglichkeit eines Volksentscheids auch für verschiedene andere Fälle, besonders für Verfassungsänderungen vor. „Die Grundrechte und Grundpflichten der Deutschen", der zweite Hauptteil der Weimarer Verfassung, gehen auf eine im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der Aufklärung, einsetzende Entwicklung zurück, die mit der Erklärung der allgemeinen Menschen- und Bürgerrechte in den Vereinigten Staaten (1776) und mit der Proklamation der Menschenrechte in Frankreich auch politische Bedeutung gewann. Die Verfassung der deutschen Nationalversammlung von 1849 hatte in 50 Paragraphen die Grundrechte des deutschen Volkes festgelegt. Infolge des 515 33·

Weimarer Republik — Uberwindung der Revolution, 1918/1919

Scheiterns der Revolution von 1848/1849 kamen sie nicht zur Geltung, die Weimarer Verfassung knüpfte jetzt an sie an. Was die Verfassung der Paulskirche vor 70 Jahren erstrebt hatte, sollte nun in erneuerter Form verwirklicht werden. „Schafft der erste Teil der Verfassung einen Volksstaat, so errichtet der zweite einen Rechtsstaat. Die Souveränität des Volkes wird durdi die Menschenrechte ergänzt und geheiligt" (Gooch). Der zweite Hauptabschnitt war in fünf Abschnitte gegliedert: I. Die Einzelperson. II. Das Gemeinschaftsleben. III. Religion und Religionsgesellschaften. IV. Bildung und Schule. V. Das Wirtschaftsleben. „Alle Deutschen sind vor dem Gesetz gleich. Männer und Frauen haben grundsätzlich dieselben staatsbürgerlichen Rechte und Pflichten, öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben. Adelsbezeichnungen gelten nur als Teil des Namens und dürfen nicht mehr verliehen werden . . . Orden und Ehrenzeichen dürfen vom Staat nicht verliehen werden" (Art. 109). „Die Wohnung jedes Deutschen ist für ihn eine Freistätte und unverletzlich" (Art. 115). Artikel 117 schützt das Brief-, Post-, Telegraphen- und Telephongeheimnis. „Jeder Deutsche hat das Recht, innerhalb der Schranken der allgemeinen Gesetze seine Meinung durch Wort, Schrift, Drude, Bild oder in sonstiger Weise frei zu äußern . . . Eine Zensur findet nicht statt, doch können für Lichtspiele durch Gesetz abweichende Bestimmungen getroffen werden. Auch sind zur Bekämpfung der Schund- und Schmutzliteratur sowie zum Schutze der Jugend bei öffentlichen Schaustellungen und Darbietungen gesetzliche Maßnahmen zulässig" (Art. 118). Die Artikel über das Gemeinschaftsleben (Art. 119—134) nahmen grundsätzlich Stellung zum Familienleben, zur Erziehung, namentlich zu dem Jugendschutz, regelten das Versammlungs-, Vereins-, Beschwerdewesen und das Selbstverwaltungsrecht der Gemeinden; am eingehendsten wurden die Redite und Pflichten der Beamten behandelt, die Beamten seien „Diener der Gesamtheit, nicht einer Partei. Allen Beamten wird die Freiheit ihrer politischen Gesinnung und die Vereinigungsfreiheit gewährleistet" (Art. 130). „Alle Staatsbürger sind verpflichtet nach Maßgabe der Gesetze persönliche Dienste für den Staat und die Gemeinde zu leisten" (Art. 133). „Alle Staatsbürger ohne Unterschied tragen im Verhältnis ihrer Mittel zu allen öffentlichen Lasten nach Maßgabe der Gesetze bei" (Art. 134). — „Alle Bewohner des Reiches genießen volle Glaubens- und Gewissensfreiheit" (Art. 135). „Es besteht keine Staatskirche . . . Den Religionsgesellschaften werden die Vereinigungen gleichgestellt, die sich die gemeinschaftliche Pflege einer Weltanschauung zur Aufgabe machen" (Art. 137). „Der Sonntag und die staatlich anerkannten Feiertage bleiben als Tage der Arbeitsruhe und der seelischen Erhebung gesetzlich geschützt" (Art. 139). — „Die Kunst, die Wissenschaft und ihre Lehre sind frei. Der Staat gewährt ihnen Schutz und nimmt an ihrer Pflege teil" (Art. 142). „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben" (Art. 148). Der Rat der Volksbeauftragten hatte im November 1918 die Durchführung des sozialistischen Programms versprochen. Die Mehrheitssozialisten, die stärkste Partei in der Nationalversammlung, gingen nun daran, das sozialistische Wirtschafts516

Weimarer Verfassung Programm verfassungsmäßig zu verankern. Sie waren so einsichtig, daß sie bei der wirtschaftlichen Notlage nach dem verlorenen Krieg sozialistische Experimente, zu denen die USP drängte, ablehnten, denn, so warnte Ebert in einer Rede Anfang Dezember, sie „können nur zum Schaden der Arbeiter und Diskreditierung des Sozialismus ausschlagen. Sozialismus bedeutet die planmäßige Ordnung der Wirtschaft durch die Gesamtheit zum Nutzen der Allgemeinheit". Das am 13. März 1919 von der Nationalversammlung angenommene Sozialisierangsgesetz gab deshalb mehr allgemeine Richtlinien als konkrete Bestimmungen, ebenso der Abschnitt der Weimarer Verfassung über die Wirtschaft: „Das Eigentum wird von der Verfassung gewährleistet . . . Eine Enteignung kann nur zum Wohle der Allgemeinheit und auf gesetzlicher Grundlage vorgenommen werden. Sie erfolgt gegen angemessene Entschädigung, soweit nicht ein Reichsgesetz etwas anderes bestimmt" (Art. 153). „Die Verteilung und Nutzung des Bodens wird von Staats wegen in einer Weise überwacht, die Mißbrauch verhütet . . . Kriegsteilnehmer sind bei dem zu schaffenden Heimstättenrecht besonders zu berücksichtigen . . . Fideikommisse sind aufzulösen . . . Alle Bodenschätze und alle wirtschaftlich nutzbaren Naturkräfte stehen unter Aufsicht des Staates" (Art. 155). „Das Reich kann durch Gesetz, unbeschadet der Entschädigung, in sinngemäßer Anwendung der für Enteignung geltenden Bestimmungen, für die Vergesellschaftung geeignete private wirtschaftliche Unternehmungen in Gemeineigentum überführen" (Art. 156). „Die Arbeitskraft steht unter dem besonderen Schutz des Reiches. Das Reich schafft ein einheitliches Arbeitsrecht" (Art. 157). „Die geistige Arbeit, das Recht der Urheber, der Erfinder und der Künstler genießt den Schutz und die Fürsorge des Reichs" (Art. 158). „Die Vereinigungsfreiheit zur Wahrung und Förderung der Arbeits- und Wirtschaftsbedingungen ist für jedermann und für alle Berufe gewährleistet" (Art. 159). „Das Reich tritt für eine zwischenstaatliche Reglung der Rechtsverhältnisse der Arbeiter ein, die für die gesamte arbeitende Klasse der Menschheit ein allgemeines Mindestmaß der sozialen Rechte erstrebt" (Art. 162). Besondere Bedeutung kommt dem Artikel 165 zu, weil er als einziger den Begriff „Arbeiterräte" übernahm, allerdings nicht in der Weise, wie die USP wünschte, und bestimmte: „Die Arbeiter und Angestellten sind dazu berufen, gleichberechtigt in Gemeinschaft mit den Unternehmern an der Reglung der Lohnund Arbeitsbedingungen sowie an der gesamten wirtschaftlichen Entwicklung der produktiven Kräfte mitzuwirken . . . Die Arbeiter und Angestellten erhalten zur Wahrnehmung ihrer sozialen und wirtschaftlichen Interessen gesetzliche Vertretung in Betriebsarbeiterräten und in einem Reichsarbeiterrat". Die Betriebsarbeiterräte und der Reichsarbeiterrat sollten gemeinsam mit den Unternehmern bei der Ausführung der Sozialisierungsgesetze mitwirken. „Sozialpolitische und wirtschaftspolitische Gesetzentwürfe von grundlegender Bedeutung sollen von der Reichsregierung vor ihrer Einbringung dem Reichswirtschaftsrat zur Begutachtung vorgelegt werden." Der am 30. Juni 1920 erstmals tagende „vorläufige" Reichswirtschaftsrat konnte also nur begutachten und beraten und „hat sich weder zu einem mit dem politischen konkurrierenden berufsständischen Parlament, noch zur Zentrale eines Rätesystems, noch zu einem Organ der Überbrückung der 517

Weimarer Republik — Uberwindung der Revolution, 1918/1919 Klassengegensätze entwickelt" (Eyck). — Der sozialdemokratische Reichswirtschaftsminister Rudolf Wissel trat mehr für Planwirtschaft als für Sozialisierung ein; die im November 1918 geschaffene Sozialisierungskommission, die sehr weitgehende Vorschläge ausgearbeitet hatte, legte deshalb bereits im April 1919 ihr Amt nieder. Für reif zur Sozialisierung wurden nur der Kohlen- und der Kalibergbau erachtet; am 13. März 1919 kam ein Reichskohlenrat, später auch ein Reichskalirat, zustande, beide sollten unter Zusammenarbeit aller beteiligten Kreise die Wettbewerbsfähigkeit auf dem Weltmarkt und möglichste Wirtschaftlichkeit gewährleisten, im ganzen setzte sich freilich der Privatkapitalismus immer stärker durch. Die Mehrheitssozialisten lehnten im Juli Wissels Planwirtschaft ab, weil sie, wie Ministerpräsident Bauer erklärte, nicht „die Zwangsjacke der Kriegsgesellschaften gegen eine neue für den Frieden zugeschnittene vertauschen" wollten. Wissel trat daraufhin zurück. Die Artikel 166—181 enthalten „Übergangs- und Schlußbestimmungen". Für die deutsche Außenpolitik war von großer Tragweite die Feststellung in Artikel 178: „Die Bestimmungen des am 28. Juni 1919 unterzeichneten Friedensvertrages werden durch die Verfassung nicht berührt", und für die deutsche Innenpolitik, daß in Artikel 180 Eberts Amtsperiode als Reichspräsident ohne direkte Wahl durch das Volk bis 30. Juni 1925 verlängert wurde. In Deutschland und im Ausland erkannten Vertreter der verschiedensten Richtungen die Weimarer Verfassung als ein gut durchdachtes Werk an, das sidi im großen ganzen bewährt habe. Sie sdiuf für ganz Deutschland eine wirklich demokratisch-parlamentarische, einheitliche Regierung. Die Einzelländer, namentlich Bayern und Preußen, behielten zwar mehr oder weniger ein Eigenleben, wurden aber doch in der Gesetzgebung und in den Finanzen vom Reich fast ganz abhängig. Die Befugnisse der beiden obersten Gewalten, des Reichstags und des Reichspräsidenten, waren so gegeneinander ausgewogen, daß eine die andere kontrollierte. Die Grundrechte, Grundpflichten, Verhältniswahlsystem und Volksentscheid zogen das ganze Volk zur Mitarbeit am Staat heran. In einer Ansprache am 21. August 1919 vom Balkon des Weimarer Nationaltheaters aus wies Ebert, nachdem er den Treueid auf die Verfassung dem Reichstagspräsidenten abgelegt hatte, auf die Bedeutung dieses Tages hin: „Zum erstenmal hat heute das Volk sich selbst in Pflicht und Eid genommen. Kein Auftrag von unverantwortlicher Stelle, keine Berufung von oben her ist durch meinen Schwur auf die Verfassung bekräftigt worden, sondern in die Hand des ersten Mannes der Volksvertretung habe ich Treue gelobt dem Amt, das mir diese Volksvertretung anvertraut hat. Ein Volk, gleichberechtigt an Haupt und Gliedern, das soll der heutige Tag vor allen Deutschen bezeugen." Wenn die Weimarer Republik ein unheilvolles Ende nahm, lag dies nicht an der Verfassung als solcher. Gewiß bedurfte sie noch mancher Verbesserungen und Ergänzungen. Sie hatte hierfür einen durchaus entwicklungsfähigen Grund gelegt, aber einem die Zukunft der Weimarer Republik sichernden Ausbau der Verfassung stellten sich Schwierigkeiten entgegen, die unter den damaligen Verhältnissen nicht zu überwinden waren. Die Regierungen wechselten schnell, infolge 518

Weimarer Verfassung der Parteienzersplitterung stand meist keine sichere Mehrheit hinter ihnen, auch nahmen sie die drängenden Fragen des Tages voll in Anspruch, so die Auseinandersetzungen über Erfüllung oder Nichterfüllung des Versailler Vertrags mit seinen schweren wirtschaftlichen Lasten und der Erbitterung, die er in weiten Kreisen der Bevölkerung hervorgerufen hatte. Vor allem standen einer gedeihlichen Entwicklung der Verfassung im Wege der Kampf der äußersten Rechten und Linken gegen den Weimarer Staat, die Stellung der Wehrmacht neben dem Staat, und daß an die Stelle des 1925 gestorbenen Ebert, dessen Persönlichkeit viel zum Ausgleich der Gegensätze und zum Ansehen des Reiches beigetragen hatte, Hindenburg an die Spitze des Reiches trat. Bei redlichem Bemühen um die Wohlfahrt des Reiches stand er doch den neuen Kräften fremd und ablehnend gegenüber. Wenn es der jungen Republik trotz aller Hemmungen, Widerstände und Anfeindungen gelang, bis zur Wirtschaftskrise von 1930 Deutschland außenund innenpolitisch wieder in die Höhe zu bringen, so hat hierfür die Grundlage, eine geordnete Staatsführung, die Weimarer Verfassung geschaffen.

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Krise und Konsolidierung der Republik

DER WINTER 1919/1920 Am 14. August 1919 trat die Verfassung in Kraft. Acht Tage später tagte die Nationalversammlung zum letzten Mal in Weimar, vom 30. September an wieder im Berliner Reichstagsgebäude. Anfang Oktober erfolgte eine Umbildung des Reichskabinetts. Die Demokraten traten jetzt wieder in die Regierung ein und übernahmen vorerst zwei Ministerien. Die „Vossische Zeitung" bemerkte dazu: „Niemals ist die Notwendigkeit für das Reich, die Regierung auf eine breitere Basis zu stellen, so scharf hervorgetreten wie heute. Ein Winter voller wirtschaftlicher Sorgen liegt vor uns, und es ist nicht von der Hand zu weisen, daß Angriffe von rechts und links auf unsere neue Staatsform drohen." Die ersten außenpolitischen Schwierigkeiten verursachten die deutschen Truppen im Baltikum. Die Entente hatte sich ihrer nach dem Waffenstillstand zum Schutz gegen den Bolschewismus bedient. Die drei Staaten Litauen, Estland und Letdand kämpften gegen den Bolschewismus und um die Festigung ihrer nationalen Selbständigkeit. Die deutschen Truppen unter General von der Goltz standen hauptsächlich in Lettland. Sie wurden von Freiwilligenkorps verstärkt, die der Wunsch, das Deutschtum zu stärken, Abenteuerlust und das Versprechen der lettischen Regierung, den Kämpfern für Lettlands Freiheit Land und Bürgerrecht zu verleihen, noch nach Kriegsende ins Baltikum gelockt hatten. Nun wünschte man aber hier keine Stärkung des Deutschtums, überdies ließen sich deutsche Soldaten Ubergriffe zuschulden kommen, auch schlossen sich manche deutsche Offiziere zaristischen Truppen an. Als die Alliierten im August 1919 die sofortige Zurückziehung der deutschen Truppen verlangten, erklärte sich die deutsche Regierung damit einverstanden; die Baltikumtruppen verweigerten jedoch am 24. August den Gehorsam, sie wollten ihre Ansiedlung, für die genügend Land zur Verfügung stand, erzwingen. Daraufhin drohten die Allüerten mit Erneuerung der Blockade wegen Nichterfüllung des Versailler Vertrages und sperrten am 10. Oktober die Ostsee für alle deutschen Schiffe. Die deutsche Regierung stellte nun die Verpflegungs- und Munitionszufuhr sowie die Soldzahlung ein; damit gelang es ihr, den Widerstand der Baltikumkämpfer zu brechen. Mitte Dezember war die Rückführung der Truppen aus dem Baltikum beendet. Die Freikorps, durch die Erlebnisse im Baltikum noch mehr zusammengeschweißt, verstärkten die rechtsradikale Opposition, die sich immer fühlbarer 520

Winter 1919/1920 machte. Der Alldeutsche Verband, der vor dem Krieg und besonders während des Krieges mit extremen Forderungen Deutschland in der Welt sehr geschadet hatte, tagte am 1. September und lehnte ausdrücklich jede Mitarbeit an dem bestehenden Staat ab. Die Nationalversammlung hatte zur Prüfung der Kriegsschuld, der versäumten Friedensmöglichkeiten und ähnlicher Fragen einen Untersuchungsausschuß eingesetzt; am 30. September legte er sein Programm vor. An seine Sitzungen und die Aussagen der vorgeladenen Zeugen knüpften sich in den folgenden Monaten in der Öffentlichkeit leidenschaftliche, die Gegensätze im Volk erheblich verschärfende Auseinandersetzungen. Bei ihrer Vernehmung am 18. November suchten Hindenburg und Ludendorff die Armee in jeder Hinsicht zu rechtfertigen; Hindenburg berief sich auf den Ausspruch eines ungenannten englischen Generals: die „Deutsche Armee ist von hinten erdolcht worden". Alle der Weimarer Republik Abgeneigten griffen die Dolchstoßlegende begierig auf. Der Versailler Vertrag trat am 10. Januar 1920 in Kraft, nachdem die Ratifikationsurkunden der meisten kleinen und, mit Ausnahme der Vereinigten Staaten, aller großen am Kriege beteiligten Länder in Paris hinterlegt worden waren. Der Senat der Vereinigten Staaten lehnte am 19. März 1920 mit geringer Mehrheit die Ratifikation des Friedensvertrages ab; seine Stellungnahme richtete sich teils gegen die Person des Präsidenten Wilson, teils gegen die von ihm vertretene Idee des Völkerbundes und das Hereinziehen der Vereinigten Staaten in europäische Angelegenheiten, immerhin erklärte Anfang April das Repräsentantenhaus den Kriegszustand mit Deutschland für beendet. Die im Versailler Vertrag geforderte Auslieferung der deutschen „Kriegsverbrecher" bedeutete eine große Sorge für die Regierung. Sie machte in einer Note vom 5. November 1919 die Allüerten darauf aufmerksam, daß bei dem einmütigen Widerstand aller Volkskreise gegen jede Auslieferung ein Versuch zu ihrer Durchführung die innere Ruhe des Reiches und damit die Erfüllung der wirtschaftlichen Bedingungen des Friedensvertrags gefährden würde. Die Allüerten verfolgten ihre Ziele in der Kriegsverbrecherfrage weiter und verlangten am 16. Januar und am 14. Februar 1920 von Holland die Auslieferung des deutschen Kaisers, um ihn wegen der Kriegsverbrechen, für die er verantwortlich sei, vor ein internationales Gericht zu stellen. Holland wies unter Betonung seiner Neutralität das Ansinnen zurück, das „Vertrauen desjenigen, der sich auf das Asylrecht der Niederlande verlassen hat", zu täuschen. Im Laufe des Sommers 1919 hatten sich BethmannHollweg als verantwortlicher Staatsmann, Prinz Eitelfriedrich auch im Namen seiner vier jüngeren Brüder, Hindenburg als dienstältester Soldat und erster militärischer Berater des Kaisers freiwillig zur Auslieferung anstelle Kaiser Wilhelms erboten; die Alliierten lehnten dies jedoch ab. Der Bruder des Kaisers, Prinz Heinrich, der deutsche und der bayrische Kronprinz waren bereit, sich auf Verlangen dem Gericht der Allüerten zu stellen. Am 25. Januar 1920 bot die deutsche Regierung den Alliierten an, alle wegen Kriegsverbrechen angeklagten Deutschen vor dem Reichsgericht in Leipzig zur Verantwortung zu ziehen; Mitte Dezember 1919 hatte die Nationalversammlung ein Gesetz über die Verfolgung von Kriegsver521

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924

brechen und Kriegsvergehen durch das Reichsgericht in Leipzig angenommen. Die Alliierten gingen nicht darauf ein, sondern verlangten am 3. Februar auf einer Liste mit 895 Namen die Auslieferung fast aller bekannter Heerführer, Fürsten, Generale, Marinekommandanten, U-Boot-Kommandanten und von Staatsmännern wie Bethmann-Hollweg. Der Vorsitzende der deutschen Friedenskommission in Paris, Freiherr von Lersner, verweigerte die Annahme der Liste und bat gleichzeitig um seine Entlassung. Daraufhin überreichte der französische Geschäftsträger in Berlin der deutschen Regierung die Auslieferungslisten. Die im deutschen Volk dadurch hervorgerufene ungeheure Erregung bewog die Alliierten in einer Note vom 17. Februar das Angebot der deutschen Regierung, die Kriegsverbrecher vor das Reichsgericht zu stellen, probeweise für 46 Fälle zu genehmigen. Nach langwieriger Materialsammlung wurden nur einige Prozesse durchgeführt, sie endeten teils mit der Freisprechung der Angeklagten, teils mit der Verhängung ziemlich milder Strafen. Frankreich und Belgien warfen Ende August 1922 in einer Note des Pariser Botschafterrates dem Leipziger Reichsgericht vor, es habe keine sachliche und loyale Justiz geübt; die Alliierten würden, nötigenfalls im Abwesenheitsverfahren, die Kriegsschuldigen weiter verfolgen. Frankreich führte einige derartige Prozesse durch, im übrigen verlief die ganze Angelegenheit im Sande; aber in den rechtsstehenden Kreisen Deutschlands blieb die Erbitterung. Während der zweiten Hälfte des Jahres 1919 verabschiedete die Nationalversammlung die Erzbergerschen Steuergesetze und das Gesetz über das Reichsnotopfer, eine weitgehende Vermögensabgabe. Die seit 1921 rasch zunehmende Inflation ließ diese Maßnahmen vorerst nicht zu voller Auswirkung kommen, immerhin schuf die Finanzreform Erzbergers ein Reidissteuersystem, das sich auf lange Jahre hinaus bewährte. — Am 18. Januar 1920 nahm die Nationalversammlung nach äußerst schwierigen Verhandlungen das Betriebsrätegesetz an: die Arbeiter sollten durch den von ihnen gewählten Betriebsrat an der Leitung des Werkes beteiligt werden, im Aufsichtsrat sitzen und Einsicht in die Bilanz erhalten, bei Kündigung und Entlassung von Arbeitern sollte der Betriebsrat mitreden. Industrielle und Arbeiter waren mit der Reglung unzufrieden; diese fanden, sie gestehe ihnen zu wenig zu, jene, sie räume den Arbeitern zu weitgehende Rechte ein. Die USP und die Kommunisten hatten am 13. Januar bei der zweiten Lesung des Betriebsrätegesetzes vor dem Reichstagsgebäude demonstriert; als sie einzudringen versuchten, ging die Sicherheitspolizei mit der Waffe vor, dabei wurden 42 getötet und 105 verletzt, darunter auch Angehörige der Polizei. Ebert verhängte nun auf Grund des § 48 der Verfassung den Ausnahmezustand. Die Deutschnationalen und die Deutsche Volkspartei verlangten Auflösung der Nationalversammlung sowie Neuwahl des Reichstags und des Reichspräsidenten. Die Nationalversammlung lehnte am 9. März den Antrag mit der Begründung ab, zuvor müsse noch eine Reihe wichtiger Gesetze erledigt werden. — Von Mitte Januar ab erregte besonders der Beleidigungsprozeß des Finanzministers Erzberger gegen Helfferich die Gemüter. In Presseartikeln, die er unter dem Titel „Fort mit Erzberger!" dann auch als Broschüre herausgab, hatte Helfferich Erz522

Kapp-Putsch berger Vermischung politischer Tätigkeit und eigener Geldinteressen, Unwahrhaftigkeit, Unanständigkeit und politische Tätigkeit zum Nachteil Deutschlands vorgeworfen. Nach wochenlangen Verhandlungen wurde zwar Helfferich Mitte März zu einer Geldstrafe von 300 Mark und zur Bezahlung der hohen Prozeßkosten verurteilt, immerhin war Erzberger so kompromittiert, daß er seinen Abschied nehmen mußte, was die Rechte als einen Sieg ihrer Sache betrachtete; drei Monate später wurde Erzberger allerdings wieder in den Reichstag gewählt.

VOM KAPP-PUTSCH ZUR RUHRBESETZUNG, 1920—1922 Der Kapp-Putsch (März 1920) Das deutsche Heer hätte nach Inkrafttreten des Versailler Vertrages binnen drei Monaten auf 100 000 Mann herabgesetzt werden müssen, doch gelang der deutschen Regierung, eine Fristverlängerung durchzusetzen. Die tiefgehende Unzufriedenheit des Militärs mit der ganzen Entwicklung, die Sorge der Offiziere, ihren Beruf aufgeben zu müssen und der Glaube, die Zeit für eine konservative Restauration sei nun gekommen, führten unmittelbar nach dem Erzbergerprozeß zu einem Putschversuch. Wolfgang Kapp, der sich als Generallandwirtschaftsdirektor in Ostpreußen durch seine Bemühungen um Entschuldung der Landwirtschaft großes Ansehen erworben hatte, war während des Krieges als unversöhnlicher Feind Bethmann-Hollwegs hervorgetreten, hatte die Vaterlandspartei mitbegründet und seit dem Zusammenbruch auf eine Gegenrevolution hingearbeitet. Infolge der von Noske auf Verlangen der Entente angeordneten Auflösung der beiden aus dem Baltikum zurückgekehrten Marinebrigaden kam der Putsch früher zum Ausbruch, als Kapp beabsichtigt hatte. General Walter von Lüttwitz, Führer des Reichswehrgruppenkommandos I, dem die beiden Brigaden unterstanden, versuchte ihre Auflösung zu verhindern und forderte von Ebert und Noske in ultimativer Form sofortige Neuwahlen des Reichstages und des Reichspräsidenten sowie Umbildung des Kabinetts. Ebert und Noske gingen selbstverständlich nicht darauf ein, am 11. März erhielt Lüttwitz seinen Abschied. Zwei Generale, die Noske zu der in Döberitz bei Berlin liegenden Marinebrigade Ehrhardt sandte, kehrten mit einem Ultimatum Ehrhardts zurück; er bestand auf den Forderungen von Lüttwitz und verlangte außerdem den Rücktritt Noskes. In einer Kabinettssitzung beschlossen Reichspräsident und Reichsregierung zur Wahrung ihrer Handlungsfreiheit ihre Abreise aus Berlin; die Mehrheit der Reichswehr stand zwar auf Seiten der Regierung, aber, so erklärte der damalige Chef des Truppenamtes im Reichswehrminsterium, General Hans von Seedct: „Reichswehr schießt nicht auf Reichswehr". Daraufhin begaben sich Reichspräsident Ebert und die Regierung Bauer erst nach Dresden, dann nach Stuttgart, nur Vizekanzler Eugen Schiffer blieb in Berlin. Am Morgen des 13. März 1920 marschierte die Brigade Ehrhardt, ohne auf Widerstand zu stoßen, in Berlin ein und 523

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 besetzte die Regierungsgebäude. Kapp ernannte sich selbst zum Reichskanzler und Lüttwitz zum Reichswehrminister, nahm Schiffer und die preußischen Minister zeitweise in Schutzhaft und erließ einige Proklamationen: es handle sich um keine Reaktion, keinen monarchischen Putsch, keine Vorbereitung für einen neuen Krieg; Neuwahlen sollten eine freiheitliche Fortbildung des Staates sichern und wirklich Friede, Freiheit und Brot bringen. Ehe die Ebertregierung Berlin verließ, hatten ihre sozialdemokratischen Mitglieder zum Generalstreik als Abwehr der Militärdiktatur aufgefordert. Die Gewerkschaften, der Beamtenbund, Eisenbahnerbund und die Postbeamten schlossen sich dem Aufruf an, dem dann auch sofort Folge geleistet wurde. Zudem verweigerten die Beamten sämtlicher Reichs- und preußischen Behörden der neuen Regierung jede Mitarbeit, die Reichsbank erkannte Kapps Unterschrift nicht als rechtsgültig an und zahlte die von ihm geforderten zehn Millionen Mark nicht aus. Die Aufrufe Kapps fanden in der Öffentlichkeit geringen Widerhall, selbst in Berlin. Ludendorff, die Deutschnationalen und die Deutsche Volkspartei verhielten sich, auch wenn sie mit Kapp sympathisierten, abwartend. Vorübergehend konnten sich Kappanhänger in Ostpreußen, Pommern, Mecklenburg, Schlesien, Schleswig und in einigen mitteldeutschen Kleinstaaten durchsetzen, doch kam es dabei in verschiedenen Städten zu blutigen Zusammenstößen teils zwischen aufständischer und regierungstreuer Reichswehr, teils zwischen aufständischer Reichswehr und Arbeitern. Die süddeutschen Staaten und fast ganz Westdeutschland erklärten den Kapp-Putsch als ein Verbrechen am deutschen Volk. So sah sich Kapp in dem durch den Generalstreik völlig lahmgelegten Berlin schon nach vier Tagen zum bedingungslosen Rüdetritt gezwungen; die Regierung Bauer in Stuttgart hatte jedes Verhandeln mit Kapp abgelehnt. Im Ruhrgebiet waren als Reaktion auf den Kapp-Putsch schwere Unruhen ausgebrochen. Gegen die hier liegenden, großenteils Kapp zuneigenden Reichswehrabteilungen ging seit dem 19. März eine zeitweilig etwa 50 000 Mann starke „rote Armee" vor; in vielen blutigen Zusammenstößen unterlag die Reichswehr. Der Zentralrat der radikalen Arbeiterschaft, die immer mehr die Oberhand gewann, suchte die Genehmigung für die Bewaffnung der Arbeiterschaft zu erreichen. Da die Verhandlungen zwischen der Regierung und dem Zentralrat ergebnislos verliefen, die Bevölkerung des Ruhrgebiets unter Bedrückung und Plünderungen litt und ein abermaliger Generalstreik in dem wichtigsten Industriegebiet die deutsche Wirtschaft zu lähmen drohte, rückten zusätzliche Reichswehr-Einheiten ein und stellten mit harten Vergeltungsmaßnahmen wie Massenverhaftungen und willkürlichen Erschießungen ohne Verhandlungen die Ruhe wieder her. Die französische Regierung benützte den Einmarsch der Reichswehr ins Ruhrgebiet, um als Protest gegen diese Verletzung der im Versailler Vertrag festgesetzten neutralen Zone den Maingau zwischen Frankfurt und Homburg zu besetzen, obwohl die deutsche Regierung zuvor korrekt angefragt, die unbedingte Notwendigkeit dieses Schrittes klargelegt und den sofortigen Abmarsch der Truppen nach Beendigving ihrer Aufgabe zugesagt hatte. Außer Belgien billigte keine der alliierten Mächte die französische Besetzung des Maingaus; England pro524

Kapp-Putsdi testierte sogar entschieden gegen das eigenmächtige Vorgehen Frankreichs. Die französische Regierung bestand jedoch darauf, die Besetzung sei als Pfand für Deutschlands Einhaltung des Versailler Vertrags unerläßlich. Mitte Mai zogen sich die Franzosen wieder zurück, nachdem die deutschen Truppen auf die ihnen im Ruhrgebiet zustehende Zahl vermindert waren. — Im sächsischen Vogtland errichtete der Kommunistenführer Max Holz während der durch den Kapp-Putsch hervorgerufenen Wirren eine Räterepublik und bedrückte von da aus einen großen Teil der Bevölkerung des sächsischen Landes mit Brandsdiatzungen und Plünderungen, bis Mitte April die Reichswehr die Anhängerschaft des Hölz zersprengte; er selbst entkam nach Böhmen. Der von den Gewerkschaften durchgeführte Generalstreik war einer der Hauptgründe für den schnellen Rücktritt Kapps gewesen. Als dann die Regierung den Abbruch des Streiks forderte, stellte die Berliner Streikleitung Bedingungen, über die erst nach erregten Verhandlungen am 20. März eine Einigung zustande kam. Den Gewerkschaften wurde unter anderem zugestanden: stärkerer Einfluß auf die wirtschaftliche und sozialpolitische Gesetzgebung, sofortige Inangriffnahme der Sozialisierung aller dafür reifen Wirtschaftszweige, Bestrafung der an dem Kapp-Putsch Beteiligten, Auflösung der gegenrevolutionären Formationen. Am 24. März wurde gegen die Stimmen der Kommunisten auch in Groß-Berlin die Arbeit wieder voll aufgenommen. An und für sich wäre der ganz und gar unzureichend vorbereitete und so schnell gescheiterte Putsch kaum erwähnenswert, hätte er nicht so ernste Folgen gehabt. Er zeigte zwar, wie sehr die Demokratie bereits Wurzeln gefaßt hatte, hielten doch die Reichswehr und die Beamten größtenteils der verfassungsmäßigen Regierung die Treue; aber die mühsam in ruhigere Bahnen gelenkte Entwicklung war wieder jäh gestört. Trotz des mißlungenen Putsches feierten deutschnationale Zeitungen Kapp und seine Mitversdiworenen als „entschlossene Männer, durchglüht von heiliger Vaterlandsliebe" und steigerten auf diese Weise die Abneigung gegen die Republik. Trotz der Erschütterungen, die der Kapp-Putsch zur Folge hatte, endete die strafrechtliche Verfolgung der Beteiligten recht glimpflich. Die meisten fielen unter ein am 2. August 1920 nach heftigen Debatten im Reichstag angenommenes Amnestiegesetz für alle, die sich nicht als „Urheber oder Führer" an einem hochverräterischen Unternehmen gegen das Reich beteiligt hatten. Kapp entwich nach Schweden, kehrte Mitte April 1922 als kranker Mann nach Deutschland zurück und starb hier während der Untersuchungshaft am 12. Juni. Einzig Traugott von Jagow, der frühere Polizeipräsident von Berlin, wurde am 21. Dezember 1921 vom Reichsgericht in Leipzig zu fünf Jahren Festungshaft verurteilt und Ende 1924 begnadigt. Ehrhardt blieb zunächst bei seiner aus Berlin geschlossen abziehenden Marinebrigade; es bedurfte langwieriger Verhandlungen, bis im Mai ihre Auflösung erreicht werden konnte. Ehrhardt hielt sich erst verborgen, kam dann in Untersuchungshaft, entfloh aus ihr am 13. Juli 1923 nach Bayern, das ihm Schutz gewährte und seine Tätigkeit bei der Ausbildung von Selbstschutzverbänden nicht hinderte. 525

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 Regierung Kahr in Bayern. Kabinett Müller (März 1920) Die bayrische Abteilung der Reichswehr unter General Möhl benutzte die Berliner Unruhen, um die sozialdemokratische Regierung Hoffmann in München zum Rücktritt zu zwingen. Am 16. März bildete der bisherige Regierungspräsident von Oberbayern, Gustav von Kahr, zunächst provisorisch, nach den Landtagswahlen vom 6. Juni verfassungsmäßig eine rein bürgerliche Regierung. In ihr hatte die Bayrische Volkspartei den maßgebenden Einfluß. Das Streben nach möglichster Eigenstaatlichkeit Bayerns im Rahmen des Deutschen Reiches wurde dadurch bedeutend verstärkt und gab in den folgenden Jahren Anlaß zu schweren Konflikten mit dem Reich. Diese bayrische Sonderentwicklung führte auch dazu, daß sich hier im Süden des Reiches viele führende nationalistische Persönlichkeiten wie Ludendorff und Ehrhardt sammelten, die unter dem Schutz der bayrischen Regierung ihre Ziele weiter verfolgen konnten. Die französische Regierung ernannte am 16. Juni 1920 für München einen außerordentlichen Gesandten; er übergab sein Beglaubigungsschreiben dem Ministerpräsidenten Kahr und dieser nahm es an, obwohl die Weimarer Verfassung bestimmte, die Pflege der auswärtigen Beziehungen sei ausschließlich eine Sache des Reiches. Infolge des Kapp-Putsches sahen sich die Reichs- und die preußische Regierung ebenfalls zur Umbildung gezwungen. Am 18. März 1920 trat die Nationalversammlung in Stuttgart zusammen; nach schärfster Verurteilung des Putsches durch Reichstagspräsident Fehrenbach und Reichskanzler Bauer griff Scheidemann den Reichswehrminister Noske, weil er den Putsch nicht verhindert habe, so heftig an, daß Noske sein Rüdctrittsgesudi einreichte. Mit großem Bedauern willigte Ebert ein. Durch den Kapp-Putsch war bei den Arbeitern und auch sonst bei republikanisch Gesinnten das Vertrauen in die Reichswehr vollends erschüttert; sie hatte sich nicht als unbedingt zuverlässiger Schutz der Regierung erwiesen. Nachfolger des Reichswehrministers Noske wurde der demokratische Oberbürgermeister von Nürnberg, Dr. Otto Geßler, Chef der Heeresleitung General Hans von Seeckt. Geßler versprach, die Reichswehr auf breitester demokatischer Grundlage aufzubauen. Die Mehrheitssozialisten und die USP wünschten eine reine Arbeiterregierung, drangen indes damit nicht durch. Die Regierung Bauer trat am 26. März zurück; der bisherige Außenminister Hermann Müller bildete ein neues Kabinett mit derselben Parteizusammensetzung wie bisher. Nachdem am 22. April die neuen Wahlgesetze für den Reichstag und den Reichspräsidenten verabschiedet waren, wurden die Reichstagswahlen auf den 6. Juni angesetzt. Otto Braun, seit November 1918 preußischer Landwirtschaftsminister, einer der tatkräftigsten deutschen Sozialdemokraten, übernahm Ende März auch das Amt des preußischen Ministerpräsidenten. Neben ihm ragte unter den übrigen neu ernannten Ministem namentlich Karl Severing, ebenfalls Sozialdemokrat, als Minister des Innern hervor.

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Wahlen vom Juni 1920. Kabinett Gehrenbadi Wahlen vom Juni 1920. Kabinett Fehrenbach Die Wahlen zum Reichstag am 6. Juni 1920 brachten in der Parteizusammensetzung erhebliche Veränderungen; die Weimarer Regierungskoalition büßte ihre Mehrheit ein. Die Sozialdemokraten blieben zwar die stärkste Partei, verloren aber von ihren 163 Sitzen 51. Die Demokraten gingen von 74 auf 45 Abgeordnete zurück. Vom Zentrum mit seinen jetzt 68 Abgeordneten hatten sich die Bayrische Volkspartei mit 18 und die Christliche Volkspartei mit 3 Abgeordneten getrennt; ohne diese Abspaltungen hätte das Zentrum seine bisherigen 89 Sitze behalten. Die Deutschnationale Volkspartei gewann zu ihren 42 Sitzen 24, die Deutsche Volkspartei zu 22 Sitzen 40 hinzu. Am größten war der Stimmenzuwachs der USP, die Zahl ihrer Abgeordneten stieg von 22 auf 81. Auch die Kommunisten beteiligten sich diesmal an der Wahl und waren nun mit 2 Abgeordneten im Reichstag vertreten. — Die Ergebnisse der Neuwahlen zu den Landtagen der Länder während der nächsten Wochen gaben von der Entwicklung der Volksstimmung ein ähnliches Bild. Die Mehrheitssozialisten hatten mit ihrer sachlichen und maßvollen Haltung viele Arbeiter so enttäuscht, daß sie zu radikaleren Gruppen abwanderten. In den bürgerlichen Kreisen gewann die Sehnsucht nach vergangenen glücklicheren Zeiten immer mehr die Oberhand; die Weimarer Republik wurde zum Sinnbild der Niederlage, der Knechtschaft, entgegen jeder vernünftigen Überlegung wollte man die Folgen des verlorenen Krieges nicht auf sich nehmen und verlangte Widerstand gegen die Durchführung des Versailler Vertrages. Die meisten ließen sich hierin von ehrlicher Vaterlandsliebe leiten, getreu der Tradition, in der sie erzogen waren; Deutschland wäre freilich viel Unheil erspart geblieben, wenn sie den innen- und namentlich den außenpolitischen Schwierigkeiten mehr Verständnis entgegengebracht hätten und nicht in eine den Aufbau des neuen Deutschlands hemmende und schädigende Demagogie verfallen wären. Auf Grund des Wahlergebnisses trat das Kabinett Hermann Müller zurück. Für die Bildung eines neuen Kabinetts kamen zunächst die Sozialdemokraten in Betracht. Sie wandten sich an die USP. Diese weigerte sich jedoch, in eine Regierung einzutreten, die „sich die Wiederaufrichtung der im Kriege zusammengebrochenen kapitalistischen Ausbeutungswirtschaft zum Ziele gesetzt hat und zur Niederhaltung des Proletariats den Militarismus neu belebt und stärkt". Die Sozialdemokraten beschlossen daraufhin, eine Beteiligung an der Regierung abzulehnen. Nach längeren Verhandlungen kam eine rein bürgerliche Regierung zustande mit dem bisherigen Präsidenten der Nationalversammlung Fehrenbach als Reichskanzler; fünf Minister gehörten dem Zentrum, drei der Deutschen Volkspartei und zwei der demokratischen Partei an, keiner Partei der Außenminister Dr. Walter Simons und der Reichsverkehrsminister Groener.

Die Konferenz von Spa und das Problem der Entwaffnung (Juli/August 1920) Die Teilnahme an der Konferenz von Spa vom 5. bis 16. Juli 1920 stellte die neue Regierung vor ihre erste große Aufgabe. Erstmalig wurden deutsche Staats527

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 männer von den Alliierten zu einer Konferenz über die Durchführung des Versailler Vertrags herangezogen. Schon dies bedeutete einen Fortschritt. Lord d'Abemon zum Beispiel, der englische Botschafter in Berlin, nannte die Einladung an die deutschen Delegierten, den Nachmittagskaffee gemeinsam mit den Vertretern der Alliierten zu trinken, einen „Wendepunkt in der europäischen Geschichte". Die Allüerten hatten sich freilich immer noch nicht über die endgültige Höhe der deutschen Reparationen geeinigt, sondern nur den Verteilungsschlüssel in Prozenten festgelegt und vorerst eine Summe von 269 Milliarden Goldmark, zahlbar im Laufe von 42 Jahren, gefordert. Neben dem Reichskanzler und dem Außenminister Simons nahmen als Sachverständige an der Konferenz auch der Großindustrielle Hugo Stinnes, Walter Rathenau und der Bergarbeiterführer Huë teil. Stinnes machte mit seiner schroffen Ablehnung der beanspruchten hohen Kohlenlieferungen einen sehr schlechten Eindruck auf die Alliierten; immerhin erzielten die Deutschen in diesem Punkt einige Zugeständnisse. Bei der Entwaffnungsfrage, wozu auch Seedct und Geßler als Sachverständige ihre Meinung darlegten, zwang die Drohung der Alliierten, sie würden sonst weitere deutsche Gebiete besetzen, die Deutschen zum Nachgeben. Es ging nicht nur um die Herabsetzung der Reichswehr auf 100 000 Mann, sondern es sollte auch die mit Geschützen, Minen- und Flammenwerfern ausgestattete, militärisch organisierte Sicherheitspolizei in dezentralisierte Ortspolizei ohne Geschütze und dergleichen umgewandelt, die Einwohnerwehren und sonstige Selbstschutzverbände sollten entwaffnet und aufgelöst werden. Über die Durchführung dieser Maßnahmen und die Fristen, in denen sie vollzogen sein sollten, entspann sich ein langwieriger Notenwechsel. Die Alliierten sahen in den aus den Unruhen des Jahres 1919 hervorgegangenen Selbstschutzorganisationen eine Umgehung der Deutschland auferlegten Entwaffnung, während die deutsche Regierung sich vergebens bemühte zu beweisen, diese Verbände seien zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnimg unbedingt notwendig. Vom Kriegsende her befanden sich in den Händen der Zivilbevölkerung und der halbmilitärischen Verbände noch ungeheure Mengen von Waffen; der Selbstschutz verbreitete sich teils in größeren und kleineren Gruppen, teils loser, teils fester organisiert über das ganze Reichsgebiet. Dazu kam noch, daß Seeckt, überzeugt von der Notwendigkeit einer starken Reichswehr, unter stillschweigender Duldung oder unter Umgehung der Regierung Zeitfreiwillige ausbildete, die sogenannte „Schwarze Reichswehr". Natürlich erfuhr das Ausland davon und wurde dadurch in dem Glauben an Deutschlands bösen Willen bestärkt. Die Schwarze Reichswehr war nie sehr zahlreich, konnte aber doch in den Aufständen und Grenzkämpfen bis 1923 mehrmals erfolgreich eingesetzt werden. Am 4. August 1920 nahm der Reichstag ein Gesetz zur Entwaffnung der Bevölkerung an, mit dessen Durchführung ein Reichskommissar betraut wurde. Seine Aufgabe war ungemein schwierig und ihre Lösung zog sich jahrelang hin. Bayern vor allem erklärte vor und nach der Konferenz von Spa seine von Forstrat Georg Escherich geschaffene Heimatschutzorganisation für unentbehrlich, um das Land vor erneuten linksradikalen Unruhen zu bewahren. Acht Tage nach der 528

Seeckt und die Reichswehr Annahme des Entwaffnungsgesetzes im Reichstag ließ der Forstrat die „Organisation Escherich,", gemeinhin Orgesch genannt, als Verein mit Sitz München eintragen und verkündete, die gesamten Selbstschutzverbände des Reiches von der Ostsee bis zum Hrenner — denn audi die österreichischen Selbstsdiutzverbände seien der Orgesch beigetreten — hätten sich zusammengeschlossen 1. zur Sicherung der Verfassung, 2. zum Schutz von Person, Arbeit und Eigentum, 3. zur Erhaltung des Deutschen Reichs und Ablehnung jeglicher Abtrennungsbestrebungen, 4. zur Aufrechterhaltung von Recht, Ordnung und Abwehr jedes Rechtsoder Linksputsdies. Auf die Einhaltung der vier Punkte hat dann Escherich die Führer der einzelnen Wehren durch Handschlag und Ehrenwort verpflichtet. — Severing verbot als preußischer Innenminister sofort die Orgesch für Preußen. Die Reichsregierung war ebenfalls der Ansicht, die Orgesch dürfe keine Ausnahme von der in Spa übernommenen Verpflichtung Deutschlands bilden, behandelte indes zunächst die Angelegenheit dilatorisch. Kahr war fest davon überzeugt, Bayern sei jetzt die stärkste Ordnungsmacht im Reich und berufen, ein Bollwerk gegen den Bolschewismus zu bilden, hierfür benötige Bayern aber unbedingt seine Einwohnerwehren. Nach langwierigen Verhandlungen mit Berlin erkannte Kahr Ende November zwar an, dem Auflösungsgebot der Alliierten müsse Folge geleistet werden, verweigerte aber auch weiterhin, sich an die vorgeschriebenen Termine zu halten. Außerhalb Bayerns hatte schon die erste Entwaffnungsaktion des Reidiskommissars beträchtliche Erfolge, erfaßt wurden: 925 Geschütze, Minen- und Flammenwerfer, 17 537 Maschinengewehre, 2 103 441 Gewehre und Karabiner, 83 941 Handgranaten, 45 781151 Stüde Handfeuermunition und so fort; aber kein Mensch wußte, wieviele Waffen noch in den Händen der Bevölkerung waren, jedenfalls erhebliche Mengen, wenn auch nicht derartige Unmengen, wie im Inland und namentlich im Ausland angenommen wurde. Uber diese Aktion urteilt der englische Historiker Gooch: „Der teilweise Fehlschlag bei Durchsetzung der Entwaffnungsparagraphen des Versailler Friedensvertrages ist ein Beweis nicht für die Verruditheit einer besonderen Nation, sondern für die physischen und psychologischen Grenzen, die der Knebelung eines großen und selbstbewußten Staatswesens gesetzt sind."

Seeckt und die Reichswehr Geßler führte gemeinsam mit Seedct bis Ende 1920 die Herabsetzung der Heeresstärke auf 100 000 Mann durch. Eine erhebliche Anzahl Offiziere mußte deshalb entlassen werden, sie erhielten die ihnen zustehende Pension. Viele von ihnen ergriffen einen bürgerlichen Beruf; der Republik standen sie allerdings meist feindselig gegenüber. Ein Teil der ehemaligen Offiziere stellte sich den halbmilitärischen, rechtsgerichteten Verbänden zur Verfügung, denen der Kampf gegen den neuen Staat mit allen Mitteln, auch dem des Fememordes, vaterländische Pflicht zu sein dünkte. Diese Verbände gefährdeten weitgehend die Staats529 34 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 führung, die so schon innen- und außenpolitisch vor schwer zu lösenden Aufgaben stand. Die Reichswehr, ein Berufsheer von 100 000 Freiwilligen mit 12 Jahren Dienstzeit, hat Seeckt, ein hervorragender Offizier, klug, energisch, schweigsam, als eine Elitetruppe aufgebaut, wobei ihn auch der Gedanke leitete, Deutschland werde später wieder in der Lage sein, in großem Maßstabe aufzurüsten, das 100 000 Mann-Heer solle dann befähigt sein, für die neue Armee die Führer zu stellen. Offiziere und Mannschaften wurden nach nationaler Gesinnung und Tüchtigkeit sorgfältig ausgewählt, und die technisch vorzüglich geschulte Truppe erreichte einen hervorragenden Kampfwert. Sie leistete den Eid auf die Verfassung, wurde aber sonst nach dem Willen von Seeckt und Geßler völlig aus der Politik herausgehalten. Dies mag in den wirren Verhältnissen der Nachkriegszeit notwendig gewesen sein, verhinderte jedoch eine echte Demokratisierung der Reichswehr; in ihr lebte der Geist der alten Armee fort, die Reichswehr blieb ein Fremdkörper in der Republik. Seeckt selbst griff öfters in die Politik ein; überzeugt, daß früher oder später ein Revanchekrieg kommen müsse, hielt er einen Anschluß Deutschlands an Rußland für geraten und, da er davon keine Bolschewisierung Deutschlands befürchtete, knüpfte er mannigfache Beziehungen zwischen der Reichswehr und der Roten Armee an. Pariser Beschlüsse und Londoner Konferenz. Sanktionen (Januar/März 1921) Mehr noch als die unzulängliche Entwaffnung der Zivilbevölkerung und die Uberschätzung des Kampfwertes der geheimen Waffenlager erbitterte die Franzosen das deutsche Verhalten in der Reparationsfrage. Darüber gerieten England und Frankreich immer mehr in Gegensatz. England wünschte in seinem eigenen Interesse ein kaufkräftiges Deutschland als Handelspartner, auch sahen die Engländer in dem verkleinerten Deutschen Reich ohne Kolonien und Flotte keinen gefährlichen Gegner mehr. Die Franzosen hatten dagegen große Angst vor einer Wiedererstarkung Deutschlands und wollten es auch wirtschaftlich dauernd geschwächt halten; anderseits hatte Frankreich unter Kriegsschäden sehr gelitten und war auch tief verschuldet, vor allem an die Vereinigten Staaten, bedurfte also möglichst hoher deutscher Reparationszahlungen. Eine Reihe von Konferenzen mit oder ohne Beteiligung Deutschlands befaßten sich damit, von Deutschland trotz der Zerrüttung seiner Reichsfinanzen und seiner Volkswirtschaft die Zahlung der geforderten, vorerst übergroßen Summen zu erreichen. Nach den Pariser Beschlüssen von Ende Januar 1921 sollte Deutschland 42 Jahre lang Zahlungen von zwei auf sechs Milliarden ansteigend leisten, als Pfand erhielt die Reparationskommission weitgehende Rechte über die deutschen See- und Landzölle. Auf der Londoner Konferenz Anfang März machte die deutsche Delegation unter Simons ins einzelne gehende Gegenvorschläge. Am 1. März hatte Lloyd George in einem Privatgespräch zu Lord d'Abernon gesagt: „Die Franzosen können sich nie entschließen, ob sie Zahlungen wollen oder das Vergnügen auf Deutschland herumzutrampeln, indem sie die Ruhr besetzen oder sonstige militärische Aktionen 530

Aufstände in Mitteldeutschland. Abstimmung in Oberschlesien

unternehmen. Es ist ganz klar, daß sie nicht beides haben können, und sie müssen sich nun entschließen, was sie wollen. Was uns betrifft, so bin ich sehr gegen jedes militärische Abenteuer; ich ziehe wirtschaftlichen Druck dem militärischen vor." Trotzdem lehnte Lloyd George am 3. März auch nur eine Diskussion über die deutschen Gegenvorschläge schroff ab und warf Simons vor, daß er in einer politischen Rede die deutsche Kriegsschuld zurückgewiesen habe, auf deren Anerkennung der Versailler Vertrag ruhe (S. 488). Falls Deutschland nicht binnen vier Tagen die Pariser Beschlüsse annehme, würden die Alliierten als „Sanktionen" die Städte Duisburg, Ruhrort und Düsseldorf besetzen und eine Zollgrenze zwischen besetztem und unbesetztem Gebiet errichten. Simons brach die Verhandlungen ab, da die Forderungen der Alliierten unmöglich zu erfüllen wären; die deutsche Regierung und die deutsche Öffentlichkeit stimmten Simons zu. Am 8. März wurden die angedrohten Sanktionen ausgeführt. Überdies belegte England 26% des Betrags der aus Deutschland eingeführten Waren für Reparationszwecke mit Beschlag, die Exporteure erhielten also nur 74%, mit dem Rest wurden die Reichsfinanzen belastet. Deutschland empfand diese Sanktionen als Verstoß gegen den Versailler Vertrag und wandte sich — allerdings vergeblich — an den Völkerbund; auch die Vereinigten Staaten lehnten eine Vermittlung ab, um die Deutsdiland sie gebeten hatte.

Aufstände in Mitteldeutschland. Abstimmung und Kämpfe in (März/Mai 1921)

Oberschlesien

Noch mehr wurde die Lage der deutschen Regierung erschwert durch die vo». der Moskauer kommunistischen Internationale sorgfältig vorbereiteten Aufstände in Mitteldeutschland zu Beginn des Jahres 1921. Wilde Streiks im Mansfelder Bergwerksbezirk arteten in Überfälle auf Banken und Sparkassen und in Plünderungen aus. Zur Unterdrückung des Aufruhrs, bei dem Max Hölz wieder eineführende Rolle spielte, mußten Polizeitruppen und Reichswehr eingesetzt werden. Nach teilweise sehr harten und blutigen Kämpfen, in denen sich die Aufständischen nicht zu behaupten vermochten, beschloß die kommunistische Parteileitung Anfang April, den Generalstreikaufruf für das ganze Reichsgebiet zurückzuziehen. Außer in Mitteldeutschland hatten die Aufrufe der Kommunisten zur Erhebung der gesamten Arbeiterschaft nur im Ruhrgebiet und in Hamburg zu Aufständen geführt; sie wurden schnell niedergeschlagen. Leidenschaftliche Erregung rief die Abstimmung in Oberschlesien vom 20. März 1921 hervor. Das Ergebnis der Option mit 59,6% für Deutschland und 40,4% für Polen erweckte bei den Deutschen die Hoffnung, ganz Oberschlesien werde dem Reiche erhalten bleiben. Nach den komplizierten Bestimmungen des Versailler Vertrages war jedoch nicht das Gesamtergebnis maßgebend, vielmehr hatte die Abstimmung in vier Zonen gesondert zu erfolgen, und die einzelne Zone sollte je nach der Abstimmungsmehrheit Deutschland oder Polen zugesprochen werden, außerdem waren die wirtschaftlichen Verhältnisse für die Grenzziehung zu be-

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Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 rücksichtigen. Die Franzosen, die von Anfang an die Polen begünstigt hatten, und die Engländer, die gerecht vorgehen wollten, konnten sich nidit einigen. Der Pole Korfanty hatte schon im August 1919 und im August 1920 versucht, durch bewaffnete Aufstände vollendete Tatsachen zu schaffen, und besetzte jetzt, von den Franzosen unterstützt, das oberschlesische Industriegebiet. Da Reichswehr das von interalliierten Truppen — Franzosen, Engländern, Italienern — okkupierte Oberschlesien nicht betreten durfte, rückten Freikorps zum Schutze der hart bedrängten deutschen Bevölkerung und ihrer Rechte ein. Es kam zu schweren Kämpfen und auf beiden Seiten auch zu grausamen Vergeltungsmaßnahmen, die Schuldige und Unschuldige trafen. Vom 27. Mai an trennten dann Ententetruppen die Kämpfenden und stellten die Ruhe wieder her. Die Entscheidung über die Grenzziehung übernahm der Völkerbund (S. 535).

Kabinett Wirth (Mai 1921). Erfüllungspolitik.

Rathenau

Inzwischen wurde der deutschen Regierung im April ein Ultimatum der zweiten Londoner Konferenz überreicht und die bedingungslose Annahme mit der Drohung der Besetzung des Ruhrgebietes und erneuter Blockade gefordert. Deutschland sollte im ganzen 132 Milliarden in Gold zahlen, und zwar jährlich 2 Milliarden, dazu als Zinsen und Tilgung der auszugebenden Schuldversdireibungen 26% des Wertes der deutschen Ausfuhr; ein Garantieausschuß in Berlin habe die Ausführung zu überwachen. Die Regierung Fehrenbach hatte bereits am 4. Mai wegen der unbefriedigenden Antwort der Vereinigten Staaten ihren Rücktritt erklärt. Die Neubildung einer Regierung erwies sich auf das Londoner Ultimatum hin als besonders schwierig; über Annahme oder Ablehnung mußte bis zum 11. Mai entschieden sein. Am Tag zuvor hatte Reichspräsident Ebert den bisherigen Finanzminister Josef Wirth zum Reichskanzler ernannt und für die Ministerposten drei Mitglieder des Zentrums, drei Mehrheitssozialisten und zwei Demokraten. Damit war die Deutsche Volkspartei aus der Regierung ausgeschieden und die Weimarer Koalition wieder hergestellt. Ihr fiel die undankbare Aufgabe der „Erfüllungspolitik" zu. Wirth wollte durch die Tat beweisen, daß Deutschland trotz besten Willens unmöglich die geforderten hohen Summen aufzubringen vermöge, und hoffte, so von den Alliierten mildere Bedingungen zu erlangen. In der Nacht vom 10. zum 11. Mai stimmten 220 gegen 172 Abgeordnete bei 77 Enthaltungen für den Regierungsantrag auf Annahme des Ultimatums. Wirth bemühte sich redlich, alle Bedingungen zu erfüllen. Seinem Wunsche folgend, trat Walter Rathenau als Wiederaufbauminister in das Kabinett ein. Der Sohn des Gründers der Allgemeinen Elektrizitätsgesellschaft (AEG), in der er später eine leitende Stellung einnahm, besaß reiche Erfahrung im Wirtschaftsleben, zumal da er auch Verwaltungsratsmitglied von über hundert Unternehmungen war. „Rathenau ist", so schreibt François-Poncet, „nicht nur Generaldirektor der AEG, deren Kapital sich auf nahezu 15 Milliarden Goldmark beläuft und die 307 Filialen, davon 188 im Ausland besitzt. Er ist ein gebildeter Mann, ein glühender 532

Ermordung Erzbergers. Fememörder. Ausnahmeverordnung Patriot, aber audi Kosmopolit, ein Europäer, ein tiefer Denker, eine zartbesaitete Seele, ein realistischer Techniker, ein unruhiger Träumer und ein Dichter. Er stellt sich Europa und die Welt als eine weitläufige Gemeinschaft solidarischer Interessen, als einen ungeheuren Konzern vor, der zur Zufriedenheit freier und im Wohlstand lebender Arbeiter von einem einzigen Verwaltungsrat regiert wird." Rathenau schloß Anfang Oktober in unmittelbaren Verhandlungen mit dem französischen Aufbauminister Loucheur das für Deutschland günstige Wiesbadener Abkommen; zum Wiederaufbau Frankreichs sollten deutsche Firmen Sachwerte liefern, deren Bezahlung von der deutschen Regierung übernommen wurde. Diese Lieferungen förderten die Wirtschaft durch Arbeitsbeschaffung und „wirkten auch wie eine großzügige Werbung für die deutsche Industrie. Denn was lag näher, als daß der zusätzliche Bedarf auch wieder . . . bei derselben Quelle gedeckt wurde, die man schon kannte und an die man sich schon gewöhnt hatte?" (Stampfer). Die auf fünf Jahre und einen Gesamtwert der Lieferungen von 7 Milliarden festgesetzte Vereinbarung kam jedoch nicht voll zur Geltung, weil sie die französischen Industriellen wegen der ihnen entgehenden Aufträge und die übrigen Alliierten wegen der Bevorzugung Frankreichs verstimmte. Am 25. August 1921 wurde in Berlin von den Vereinigten Staaten und Deutschland der Friedensvertrag unterzeichnet, um, wie der Vertragstext begann, „die freundschaftlichen Beziehungen, die vor Ausbruch des Krieges zwischen den beiden Nationen bestanden haben, wiederherzustellen". Die Amerikaner hatten nicht Deutschland zuliebe, sondern aus Opposition gegen Wilsons Ideen und Bestrebungen die Ratifikation des Versailler Vertrags verweigert. Jetzt sicherten sich die Vereinigten Staaten alle Rechte, die ihnen nach dem Vertrag zugestanden hätten; die Bestimmungen über den Völkerbund, die Gebietsveränderungen in Europa und die Auslieferung der Kriegsverbrecher ließen sie fallen. Die Quäker und andere private Organisationen der Vereinigten Staaten hatten vom Ende des Krieges an mit Nahrungsmitteln und Sachspenden der hungernden und verelendeten deutschen Bevölkerung großzügig geholfen, die offizielle Politik dagegen hielt sich unter Präsident Harding möglichst von allen europäischen Fragen fem.

Ermordung Erzbergers. Die Fememörder. Ausnahmeverordnung (August 1921) Seit dem Prozeß gegen Helfferich hatte sich Erzberger in der Öffentlichkeit sehr zurückgehalten; als dann die weiteren Prozesse gegen ihn wegen Meineid und Steuerhinterziehung einen günstigen Verlauf nahmen, begann er wieder mehr hervorzutreten. Der Haß der Rechtsradikalen verfolgte ihn aber nach wie vor; für sie war er der Mann, der 1917 die Friedensresolution des Reichstags veranlaßt, 1918 den Waffenstillstand unterzeichnet und 1919 sich für die Annahme des Versailler Vertrags eingesetzt hatte. Am 26. August 1921 wurde Erzberger bei einem Spaziergang auf dem Kniebis im Schwarzwald erschossen. Die Täter kamen aus München, sie gehörten der aufgelösten Marinebrigade Ehrhardt an. In Bayern hatten sich unter dem Schutz der Regierung Kahr starke nationalistische Kreise 533

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 versammelt; dazu gehörten Ludendorff, Ehrhardt mit Teilen seiner ehemaligen Brigade, die Nachfolgeorganisationen der Orgesch, zu deren offizieller Auflösung sich Kahr am 1. Juni 1921 hatte entschließen müssen, und die mächtig hochkommenden Nationalsozialisten Hitlers. So fand sich in Bayern zusammen, wer nach vier Jahren Krieg und drei Jahren Revolutionskämpfen den verlorenen Krieg nicht wahrhaben wollte und in oft seltsamer Mischung glühender Vaterlandsliebe und zügelloser Abenteuerlust davon träumte, das infolge des Versailler Vertrages auf Deutschland lastende „französische Joch" abzuschütteln wie einst 1812 das Napoleonische, wer kein Verständnis hatte für den mühsamen und harten Weg der deutschen Regierungen und in ihnen nur die Verräter Deutschlands sah; von bayrischer Seite mischte sich noch der Haß gegen Berlin mit hinein, von nationalsozialistischer der Antisemitismus. Aus dieser überhitzten Atmosphäre erwuchs der Gedanke, Männer, die man in diesen Kreisen für Verräter und Verderber Deutschlands hielt, zu beseitigen, sei vaterländische Pflicht. Die jungen Leute, die sich zu diesen „Fememorden" hergaben, waren sich der Schwere ihrer Taten und deren Folgen nicht bewußt; sie glaubten, da der Staat versage, müßten sie eingreifen. Sie begriffen nicht, daß Mord Mord bleibt und daß private Justiz Einzelner die allein sichere Grundlage des Rechtsstaates aufhebt. Hier begann die unheilvolle Entwicklung, die Verwirrung der Rechtsbegriffe, die ihren barbarischen Höhepunkt im Dritten Reich fand, als Hitler die Richtschnur seines Handelns verkündete: recht ist, was dem Staate, das heißt seiner Parteiherrschaft, nützt, und damit seine Verbrechen begründete. Am 9. Juni 1921 war in München der Führer der USP, Gareis, von Unbekannten erschossen worden. Als nun gegen Ende August Erzberger getötet wurde, herrschte unter den republikanisch Gesinnten allgemeine Entrüstung; Reichskanzler Wirth feierte am offenen Grabe die Persönlichkeit Erzbergers und seine Verdienste um das Vaterland. Die Erregung über dieses Attentat hielt, wie aus den „Erinnerungen" des Reichstagspräsidenten Löbe hervorgeht, nicht lange an: „Das Attentat wurde in der Sommerpause des Reichstags verübt. Als ich beim Wiederzusammentritt des Parlaments dem ermordeten Erzberger einen Nachruf widmete, war der Sturm bereits abgeebbt. Erzberger hatte durch seine privaten Geschäfte leider so viel Anlaß zur Kritik gegeben, daß sich an seinen Märtyrertod eine einmütige Abwehr nicht knüpfte." Auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung erließ die Regierung am 29. August eine Ausnahmeverordnung unter Androhung von Geldund Gefängnisstrafen gegen alle, die in Druckschriften oder Versammlungen zu Ungehorsam oder Gewalttaten gegen die republikanisch-demokratische Staatsform, ihre Einrichtungen und ihre Vertreter aufforderten. Da die Durchführung der Verordnung Sache des Reichsinnenministers war, hatte er in die Polizeihoheit der Länder einzugreifen. Nun wurde Bayern seit dem Kapp-Putsch nach einem eigenen Ausnahmezustand regiert. Kahr, der schon die erzwungene Auflösung der Orgesch als Niederlage empfunden hatte, wollte, gestützt auf die rechtsgerichteten bayrischen Kreise, der Reichsverordnung und der Aufhebung des bayrischen Ausnahmezustandes nicht zustimmen, zeigte sich aber dann doch bereit, auf den Vorschlag des Landtags einzugehen: Aufhebung des Ausnahmezustandes unter 534

Teilung Oberschlesiens der Bedingung, daß die Polizeihoheit der Länder wieder hergestellt würde, verlangte aber den Zusatz: „sobald es die Verhältnisse gestatten". Der Landtag ließ sich auf diesen alles in der Schwebe lassenden Vorbehalt nicht ein, worauf Kahr und seine Regierung am 12. September ihren Rüdetritt erklärten. Kahrs Nachfolger, Graf Hugo von Lerchenfeld, Schloß mit der Reichsregierung, die seit Beginn des Konfliktes zu Zugeständnissen bereit war, einen Kompromiß: Bayern versprach die Aufhebung des Ausnahmezustandes und das Reich änderte die Verordnung dahin ab, daß die Polizeihoheit der Länder gewahrt blieb.

Die Teilung Oberschlesiens (Oktober 1921) Am 20. Oktober 1921 erhielt Deutschland die Mitteilung von der Entscheidung des Völkerbundes über Obersddesien; die Allüerten hatten bereits zugestimmt. Das einheitliche Industriegebiet wurde sehr zugunsten Polens auseinandergerissen. Die großen, von Deutschen geschaffenen Industriewerke kamen fast alle an Polen; dessen Anteil betrug jetzt „im Steinkohlenbergbau 80% der Bergwerke, 74% der Förderung, fast 95% der unterirdischen Vorräte, dazu alle Eisenerzgruben, 60% der Stahl- und Eisengießereien, etwa 80% der Blei- und Zinkerzförderung und sämtliche Blei- und Zinkhütten" (Friedensburg). Eine gemischte Kommission und ein Schiedsgericht unter dem Vorsitz des Schweizers Calonder sollten den Übergang möglichst reibungslos gestalten und die Kontinuität des Wirtschaftslebens wahren; die Minderheiten unterstanden dem Schutz des Völkerbundes. Ein Vertrag zwischen Deutschland und Polen Schloß im Mai 1922 die Teilung ab, im Juli verließen die alliierten Truppen das Land. Bezeichnend für die Beurteilung dieser Reglung der oberschlesischen Frage von polnischer Seite ist ein Artikel der Warschauer Zeitung „Rocpospolita" vom 23. Mai 1922: „Die Zerreißung Oberschlesiens ist, vom wirtschaftlichen Standpunkte aus betrachtet, ein Ungeheuer, ein unabhängiges Danzig sperrt uns den Zugang zum Meer, der Pommerellische Korridor ist von zwei Seiten b e d r o h t . . . In der Landwirtschaft, im Handel und in der Industrie sind wir schwächer als die Deutschen, mehr als die Hälfte des privaten Landbesitzes ist in den Händen der Deutschen . . . Alle unsere polnischen Vereine müssen sich zusammentun, um den Kampf gegen das Deutschtum zu führen. Die Seebrise belebt die Phantasie der polnischen Patrioten und polnischen Dichter, und diese Phantasie streckt die Arme aus nach den Westslawen an der Elbe und an der Oder." — In Deutschland wurde der Völkerbundsentscheid von 1921 als schweres Unrecht empfunden. Das Kabinett Wirth sah die Grundlagen seiner Erfüllungspolitik, die es immer von dem Verbleiben Oberschlesiens beim Reich abhängig gemacht hatte, zerstört und reichte seine Demission ein. Auf Bitten Eberts übernahm Wirth sofort die Neubildung einer Regierung; alle Versuche, die deutsche Volkspartei für sie zu gewinnen, schlugen fehl, auch die Demokraten wollten sich nicht mehr beteiligen, waren aber damit einverstanden, daß Reichswehrminister Geßler als Fachminister auch dem neuen Kabinett beitrat. Das zweite Kabinett Wirth bestand nun aus je vier Vertretern des Zentrums und der 535

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 Sozialdemokraten, Geßler und dem parteilosen Verkehrsminister Groener. Wirth protestierte am 26. Oktober im Reichstag gegen die „harte Gewalt", die Deutschland und Oberschlesien angetan wurde, und der man sich, um Schlimmeres zu verhüten, nicht widersetzen konnte. Einen Antrag der Deutschnationalen, der Deutschen Volkspartei und des Bayrischen Bauernbundes, feierlich im Namen des deutschen Volkes zu erklären, es werde „niemals diese neue Gewalt als Recht anerkennen", lehnte der Reichstag ab. Cannes — Genua — Rapallo (Januar/April 1922) Mitte Dezember mußte die deutsche Regierung der Reparationskommission mitteilen, Deutschland könne die im Januar und Februar 1922 fälligen Raten nur zum Teil zahlen und bitte um ein Moratorium. England und Italien hatten Verständnis für die Not Deutschlands und wollten es nicht zum Bankrott treiben. Vom 5. bis 13. Januar 1922 besprachen die Allüerten diese Fragen auf der Konferenz von Cannes, wobei auch Ministerpräsident Briand sich geneigt zeigte, das Moratorium zu bewilligen. Im Frühjahr sollte sidi eine Konferenz in Genua unter Beteiligung Deutschlands und Rußlands mit der Behebung der allgemeinen europäischen Wirtschaftskrise befassen. Lloyd George bot außerdem Briand ein Bündnis auf zehn Jahre an: bei jedem unmittelbaren, nicht herausgeforderten deutschen Angriff werde Großbritannien mit seinen Streitkräften zu Lande, zu Wasser und in der Luft Frankreich beistehen. Die Franzosen glaubten durch all das ihre Rechte gefährdet. Briand verließ deshalb am 11. Januar 1922 Cannes, um seine Politik vor der Kammer zu rechtfertigen und trat zurück, als ihm diese ihr Vertrauen nicht aussprach; sein Nachfolger Poincaré übernahm die Neubildung der Regierung. Am Tag der Abreise Briands aus Cannes traf die deutsche Delegation unter Führung von Rathenau in Cannes ein. In einer dreistündigen Rede vor der Reparationskommission spradi Rathenau „erst französisch, dann sich selbst übersetzend englisch, ließ alle seine Künste spielen, baute, ohne eine Notiz in der Hand, ungeheure Zahlengebäude, schien ein Engländer mit den Engländern, ein Franzose mit den Franzosen, blieb aber in allen Sprachen ein Deutscher, der mit heiligem Eifer die Sache Deutschlands vertrat" (Stampfer). Da aber durch die Abreise der Franzosen die Konferenz beschlußunfähig geworden war, vertagte sie sich; die Reparationskommission gewährte Deutschland als Provisorium einige Zahlungserleichterungen. Rathenau übernahm am 31. Januar 1922 das Außenministerium, Wirth hatte es bisher neben dem Kanzleramt mitverwaltet. Wirth und Rathenau führten die deutsche Delegation bei der am 10. April in Genua eröffneten Konferenz. Auf ihr kamen die Vertreter von 28 europäischen Staaten zusammen, die Russen mit Tschitscherin an der Spitze. Die Vereinigten Staaten waren nicht vertreten. Die Russen und die Deutschen wurden nach der Schilderung von François-Poncet „wie merkwürdige Tiere ausgiebig angestaunt und photographiert". Obwohl Poincaré seinen Stellvertreter Barthou angewiesen hatte, sich jeder Diskussion über 536

Rapallovertrag den Versailler Vertrag, über Reparations- und Entwaffnungsfragen zu widersetzen, nahm die Konferenz für Deutschland zunächst einen günstigen Verlauf, weil Lloyd George ebenso wie der italienische Ministerpräsident und Vorsitzende der Konferenz, Facta, sich ehrlich um Versöhnung und allgemeine Zusammenarbeit bemühten. Das politische Hauptproblem der Konferenz war die Anerkennung Rußlands als Sowjetstaat. England stellte eine Reihe von Bedingungen, Tschitscherin lehnte sie ab; die Franzosen hätten gern den alten Zweibund mit Rußland erneuert, die Russen verlangten aber dafür freie Hand gegen Polen, und dies konnte Frankreich nicht zugestehen, da es Polen als ein Gegengewicht gegen Deutschland unter seinen besonderen Schutz genommen hatte: unter französischem Schutz war 1920/1921 die Kleine Entente zustande gekommen, das Bündnis der Tschechoslowakei mit Jugoslawien, dem sich im November 1921 Polen anschloß. Frankreich schlug indes den Russen immer wieder vor, ihre Reparationsansprüche an Deutschland geltend zu machen. Rußland hatte aber auch seit längerer Zeit mit Deutschland über freundschaftliche Beziehungen verhandelt. Während der Konferenz von Genua überraschten die russische und die deutsche Delegation am 16. April die Welt durch den Abschluß des Rapallovertrags: beide Staaten verzichten gegenseitig auf den Ersatz aller Kriegskosten und Kriegsschäden, die diplomatischen und konsularischen Beziehungen sollen sofort wieder aufgenommen, die Handels- und Wirtschaftsbeziehungen nach dem Grundsatz der Meistbegünstigung ausgestaltet werden. Für beide Seiten bedeutete der Vertrag zweifellos einen Fortschritt; Rußland durchbrach seine Isolierung, indem es zum erstenmal seit der Revolution einen Anschluß an den Westen fand, Deutschland knüpfte wieder an seine alte Bündnispolitik an, sicherte sich einen wichtigen Handelspartner und ebnete den Bestrebungen Seedcts (S. 530) den Weg. Im September 1922 übersandte Seedct anläßlich der Ernennung des Grafen BrockdorffRantzau zum Botschafter in Moskau dem Reichskanzler Wirth eine ausführliche Denkschrift, worin Seedct dem Rapallovertrag auch deshalb zustimmte, weil dieser den Anschein erweckte, Deutschland habe damit auch geheime militärische Abmachungen verbunden, was vor allem die Polen einschüchtern werde. „Wir wollen zweierlei: erstens eine Stärkung Rußlands auf wirtschaftlichem und politischem Gebiet und damit indirekt die eigene Stärkung, indem wir einen zukünftigen möglichen Bundesgenossen stärken; wir wollen zunächst ferner, zuerst vorsichtig und versuchend, die unmittelbare eigene Stärkung, indem wir eine uns im Bedarfsfall dienstbare Rüstungsindustrie in Rußland heranzubilden helfen" (Rabenau). Andererseits waren weite Kreise in Deutschland, besonders auch Reichspräsident Ebert und die Mehrheitssozialisten, gegen das Paktieren mit dem Bolschewismus und namentlich gegen den Zeitpunkt des Vertragsabschlusses, denn Deutschland sollte ja auf der Konferenz von Genua die Allüerten von seinem guten Willen überzeugen, den Friedensvertrag so weit wie irgend möglich zu erfüllen. Die Allüerten waren denn auch über den Rapallovertrag sehr entrüstet, sie empfanden ihn als Illoyalität und Herausforderung. Die Großmächte und die Kleine Entente erklärten den Vertrag als unvereinbar mit der Solidarität der Konferenz und wollten Deutschland von ihren Besprechungen mit Rußland ausschließen. Poincaré ver-

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Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 langte von der deutschen Regierung die Nichtigkeitserklärung des Rapallovertrages, weil er gegen den Versailler Vertrag verstoße. Die deutsche Regierung wies die Beschuldigung der Illoyalität zurück. Die Konferenz tagte noch bis zum 19. Mai, ohne jedoch ein positives Ergebnis zu erzielen; für die Reglung der Beziehungen zu Rußland, das Gleichberechtigung forderte und die Rückzahlung seiner Schulden verweigerte, wurde eine neue Konferenz ohne Deutschland in Den Haag berufen. Anfang Juni 1922 prüfte ein Ausschuß, dem auch der amerikanische Großbankier Pierpont Morgan angehörte, die Möglichkeit einer internationalen Anleihe für Deutschland und kam zu dem Schluß, ohne die endgültige Reglung der Reparationsfrage und ohne die Stabilisierung der deutschen Währung sei eine Anleihe nicht möglich. Die Reparationskommission gewährte immerhin ein teilweises Moratorium für 1922, obwohl die Franzosen, die ihrerseits von den Vereinigten Staaten an die Zahlung ihrer Sdiulden gemahnt wurden, bitter klagten, Frankreich müsse büßen, was Deutschland böswillig zur Wiederherstellung seiner eigenen Wirtschaft versäume.

Ermordung Rathenaus. Verordnungen zum Schutze der Republik (Juni/Juli 1922) Nachdem am 4. Juni in Wilhelmshöhe bei Kassel ein Blausäureattentat auf Scheidemann verübt worden war, wurde Rathenau am 24. Juni in Berlin auf dem Weg von seiner Wohnung ins Amt von zwei Mitgliedern der Organisation Cónsul, eines Geheimbundes ehemaliger Ehrhardtleute, erschossen. Die Täter versuchten zu fliehen; als die Polizei sie auf Burg Saaleck bei Kösen stellte, wurde der eine von der Polizei getötet, der andere erschoß sich selbst. Eine viel tiefergehende Erregung als die Ermordimg Erzbergers hatte die Rathenaus zur Folge. Im Reichstag, in dem Helfferich einen Tag zuvor Rathenau, wie schon oft, heftig angegriffen hatte, kam es zu einer äußerst stürmischen Sitzimg. Als Helfferich im Saal erschien, riefen Sozialdemokraten: „Mörderl", nur mit Mühe konnten Tätlichkeiten verhindert werden. Die Empörung richtete sich gegen die extreme Rechte und ihre Presse. Die Reichsregierung erließ einen Aufruf, in dem es hieß: „Dem wachsenden Terror und Nihilismus, der sich vielfach unter dem Deckmantel nationaler Gesinnung verbirgt, darf nicht mehr mit Nachsicht begegnet werden. Die Republik ist in Gefahr"; die Regierung werde sofort einen Gesetzentwurf vorlegen, dessen „Vorschriften der moralischen und politischen Zersetzung entgegenwirken" sollen. Viele ehrende Nachrufe rühmten die Persönlichkeit Rathenaus und seine Verdienste um Deutschland wie etwa Reichstagspräsident Löbe in seinen „Erinnerungen": „Die junge deutsche Republik verlor durch dieses Attentat ihren fähigsten Staatsmann. Rathenaus reiches Wissen, seine überragenden Kenntnisse von Welt und Menschen, seine diplomatische Begabung überwanden bestehende Mißverständnisse und führten ein friedliches Einvernehmen mit der Sowjetunion herbei . . . Kein Zweifel unter seiner Leitung hätten auch die durch Reparations538

Ermordung Rathenaus. Verordnungen zum Schutze der Republik

streit getrübten Beziehungen zu den Westmächten ihre Entspannung gefunden." Aus Anlaß der Ermordung Rathenaus fanden in vielen Städten Kundgebungen statt, die oft in Gewalttätigkeiten ausarteten; die „Kölnische Zeitung" warnte deshalb, statt alle billig und politisch denkenden Menschen zusammenzuschließen, drohe „die parteipolitische Aussdllachtung der Mordtat die Risse, die durch unser Volk gehen, zu vertiefen und zu weiten. Es sollte doch stutzig machen, wenn man sieht, daß die Kommunisten, die ihrerseits die Menschenleben nicht auf der Goldwaage abzuschätzen pflegen, . . . sich am lautesten gebärden und als Retter des Kapitals aufspielen. Ihnen und jedem anderen Radikalismus haben die Mörder Rathenaus in die Hände gearbeitet, und wenn sie sich als Monarchisten fühlen und meinen sollten, eine politische Tat getan zu haben . . . gehören sie zur der Sorte von Leuten, die man zum Schutze der Mitbürger und des Vaterlandes im Irrenhaus aufbewahren sollte." Wirth Schloß seine Gedächtnisrede auf Rathenau im Reichstag am 25. Juni: Die Atmosphäre des Mordes, des Zornes, der Vergiftung müsse zerstört werden; „Da steht der Feind, wo Mephisto sein Gift in die Wunde eines Volkes träufelt, da steht der Feind, und darüber ist kein Zweifel, dieser Feind steht rechts!" „Ein Schrei der Zustimmung, ein Rufen und Brausen, das sich von der äußersten Linken bis zu den Bänken fortpflanzte, auf denen blaß und stumm die Volksparteiler saßen, folgte diesen Schlußworten. Die Abgeordneten des Zentrums und der Linken, die Besucher der Tribünen erhoben sich und jubelten dem Redner zu. Es war ein Orkan des ehrlichen Beifalls" (Stampfer). Die Regierung erließ auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung zwei Verordnungen zum Schutz der Republik: die Landeszentralbehörden sollten auf Ersuchen des Reichsinnenministers Versammlungen und Kundgebungen verbieten, die zur Beseitigung der republikanischen Regierung oder zu Gewalttaten gegen Regierungsmitglieder anreizen könnten. Als zuständige Berufungsinstanz wurde beim Reichsgericht ein Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik errichtet. Die Strafbestimmungen der Verordnung drohten Gefängnis- und Geldstrafen dem an, der öffentlich Gewalttaten gegen die republikanische Staatsform verherrlichte, begünstigte, dazu aufwiegelte, Mitglieder der republikanischen Regierung verleumdete oder beschimpfte, die Reichsfarben beschimpfte. Die zweite Verordnung bedrohte mit Todes- oder lebenslänglicher Zuchthausstrafe Personen, die an einer Vereinigung teilnehmen, zu deren Zielen es gehört, Mitglieder einer republikanischen Regierung des Reiches oder eines Landes durch den Tod zu beseitigen, und dritte Personen, die um das Dasein einer solchen Vereinigung wußten und die Anzeige unterließen, mit Zuchthaus. Infolge der Verordnung wurden viele rechtsstehende Verbände aufgelöst und verboten, darunter der Stahlhelm und der Alldeutsche Verband. Die Bestimmungen zum Schutze der Republik erhielten eine gesetzliche Fassung, wurden dann dem Reichstag zur Beratung vorgelegt und am 18. Juli mit Zweidrittelmehrheit angenommen; in der endgültigen Form war das Gesetz nicht mehr so eindeutig gegen rechts gerichtet. Bayern protestierte trotzdem, wie schon ihm Vorjahr, gegen die Eingriffe in die Souveränität der Länder, besonders durch den Staatsgerichtshof und durch die ergänzenden Gesetze über die Errichtung eines Reichskriminalpolizeiamtes, über die Pflichten der Beamten zum 539

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 Schutz der Republik und über eine Amnestie für leichtere Vergehen in den revo lutionären Unruhen der Jahre 1920/1921. „Von Bayern her sah dies aus wie eine Überrumplung durch eine in das Fahrwasser der Linken gezogene Reichsregierung. Alle bayrischen Empfindsamkeiten brachen auf. Die Wogen der Mißstimmung wären nicht so hoch gegangen, wenn das Wort Republik in Bayern einen besseren Klang gehabt hätte. Man war wohl jederzeit bereit, sich als verfassungstreu zu bekennen. Die monarchische Stimmungswelle ging auf und ab, ohne daß von einem wirksamen monarchistischen Aktivismus die Rede sein konnte. Aber republikanisch wollte man auch nicht sein" (Schwend). So beschloß das bayrische Kabinett, zum Schutz der republikanischen Verfassung eine eigene bayrische Notverordnung zu erlassen, in der die Zuständigkeit den bayrischen Behörden übertragen wurde. Nach einigen Verhandlungen, wobei besonders Ebert vermittelnd eingriff, erreichte Bayern verschiedene Zugeständnisse, vor allem die Errichtung eines süddeutschen Senats beim Staatsgerichtshof und die Versicherung, es sollten keine weiteren Versuche zur Zentralisierung gemacht werden; Bayern hob daraufhin seine Notverordnung auf.

Inflation und Scheinblüte, Zusammenhang mit der Reparationsfrage Im Sommer 1922 geriet die deutsche Währung völlig ins Gleiten. Die Reichsfinanzen waren schon am Ende des Krieges zerrüttet, da die Kriegskosten im wesentlichen mit innerdeutschen Kriegsanleihen und Schatzanweisungen, nicht mit erhöhten Steuern finanziert wurden. Durch die Versorgung der Kriegsopfer, die Verzinsung der Kriegsschulden, die Reparationszahlungen und die Besatzungskosten wuchs dann die Verschuldung der Republik rasch an. Die Versuche, durch Steuererhöhungen die Einnahmen des Reiches auf eine angemessene Höhe und den Haushaltplan in Ordnung zu bringen, blieben bei der immer schneller fortschreitenden Inflation erfolglos, so die Erzbergersche Finanzreform von 1919, die Steuererhöhungen Wirths vom August 1921 und Februar/März 1922. Der Dollar stand im Juli 1919 auf 14,— Mark, im Juli 1920 auf 39,50 Mark, im Juli 1921 auf 76,70 Mark, im Januar 1922 auf 191,80 Mark, im Juli 1922 auf 493,20 Mark; damit war die Mark unter 1% ihres Friedenswertes (1 Dollar = 4,20 Mark) gesunken. Die französische Regierung warf Deutschland vor, es ließe absichtlich seine Finanzen dem Bankrott zutreiben, indem es unbekümmert seinen Notenumlauf vergrößere und Nahrungsmittel, Rohstoffe und Luxuswaren importiere; es rechtfertige diese Wirtschaftsführung mit den hohen Reparationskosten und versenke „die Währung wie Admiral Reuter die Flotte versenkt hat" (François-Poncet). Poincaré lehnte deshalb die Gesuche Deutschlands um ein Moratorium im Juli und August 1922 schroff ab und forderte „produktive Pfänder" wie die Ausbeutung der Staatsbergwerke, der linksrheinischen Staatswaldungen, Einziehung von Zoll und Steuern, während England wie auch Belgien und Italien der Ansicht waren, Deutschland müsse für 1922 Zahlungsaufschub gewährt werden, wenn man überhaupt Reparationen erhalten wolle. 540

Kabinett Cuno. Ruhrbesetzung und Ruhrkampf Die ständig steigende Inflation trieb in Deutschland eine Scheinblüte hervor. Die Fabriken mußten nach dem Krieg auf Friedensproduktion umgestellt werden, die Reichsbank gab hierfür zu relativ niedrigem Zinsfuß Kredite. Gewandte Industrieherren legten die so erhaltenen Summen in Sachwerten an und zahlten die Schulden mit inzwischen noch mehr entwertetem Geld zurück; die „Neureichen", die „Inflationsgewinnler" konnten so ungeheure Vermögenswerte ansammeln. Die Kapitalflucht ins Ausland nahm bedenklichen Umfang an, die Versuche, sie durch Gesetze einzudämmen, erwiesen sich als wenig wirksam. Die meisten der schnell hochgekommenen Industriekonzerne lösten sich nach der Stabilisierung bald wieder auf. Vor allem vermochte sich auf die Dauer nicht zu behaupten, wer damals, die Scheinkonjunktur ausnützend, ohne hinreichende Grundlage neu angefangen hatte. Aber auch Hugo Stinnes, typisches Beispiel eines „Industrieherzogs" der Inflationszeit, konnte den Riesenbau seines Konzerns nicht sichern. Stinnes hatte ein angesehenes Bergwerks- und Transportunternehmen geerbt, erweiterte es während des Krieges zum führenden Konzern der rheinisch-westfälischen Schwerindustrie und kaufte in der Inflationszeit wahllos die verschiedensten Unternehmungen dazu: Banken, Hotels, Papierfabriken, Zeitungs- und andere Verlage. Der Konzern schwand infolge der Markstabilisierung bis auf verhältnismäßig geringe Reste dahin; dies zu erleben blieb Stinnes erspart, er starb fünf Monate nach dem Ende der Inflation. — Nutzen von der Inflation hatten die Landwirte und die Haus- und Grundbesitzer, soweit sie verschuldet waren, denn sie konnten ihre Schulden zum Nominalwert zurückzahlen. Die breiten Schichten der Lohn- und Gehaltsempfänger litten dagegen sehr unter der Teuerung; Löhne und Gehälter wurden wohl dauernd erhöht, hinkten aber der Geldentwertung immer nur nach. Die vielen Streiks, wie etwa der große Eisenbahnerstreik vom Januar/Februar 1922 brachten nicht den beabsichtigten Ausgleich von Lohn und Teuerung, sondern nur Minderung der Produktion und eine weitere Verschlechterung der allgemeinen Lage. Am schwersten traf die Inflation den sozialpolitisch wichtigen Mittelstand; alles, was er in Staatsanleihen, Hypotheken, Pfandbriefen, Sparkassen und dergleichen angelegt hatte, wurde allmählich wertlos.

D I E KRISE VON 1923 Kabinett Cuno. Ruhrbesetzung

und

Ruhrkampf

Nach dem Tode Rathenaus versuchte Wirth, sein Kabinett auf eine parlamentarisch breitere Grundlage zu stellen, stieß jedoch dabei auf unüberwindliche Schwierigkeiten; denn die Sozialdemokraten wollten nicht mit der Deutschen Volkspartei zusammenarbeiten, die das Zentrum in die Regierung hereinzunehmen wünschte, und das Zentrum nicht mit der USP, deren Mitarbeit die Sozialdemokraten verlangten. Auch der Parteitag der Sozialdemokraten in Nürnberg, 541

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 im September, brachte keine Besserung der Aussichten. Dort vereinigten sich die Mehrheitssozialdemokraten und die USP wieder zu einer Partei und veröffentlichten ein gemeinsames Aktionsprogramm zur Erhaltung der sozialistischen Errungenschaften, von der USP blieb nur eine kleine bedeutungslose Gruppe unter Ledebour selbständig. Gleichzeitig gewann auch in der Deutschen Volkspartei der linke Flügel unter der Führung Stresemanns immer mehr an Gewicht, er wollte ehrliche Mitarbeit bei der Festigung der Republik, der Lösung der Wirtschaftsprobleme und Reparationsfragen; aber die Sozialdemokraten, deren linken Flügel die ehemaligen USP-Leute bildeten, konnten sich auch jetzt nicht entschließen, mit dem rechten Flügel der Deutschen Volkspartei zusammenzugehen, wo sich Vertreter der Schwerindustrie — zum Beispiel Stinnes — fanden, Gegner des Achtstundentages, Nutznießer der Inflation, Verfechter eines „Volkskaisertums". Die Regierung Wirth trat deshalb am 14. November 1922 zurück. Sie hatte noch in den letzten Wochen eine weitere Klärung der Reparationsfrage versucht, das Gutachten einer internationalen Sachverständigenkommission über die Stabilisierung der Mark und die Möglichkeit von Auslandskrediten eingeholt und am 13. November auf Grund dieses Gutachtens die Reparationskommission um ein mehrjähriges Moratorium sowie in einer Note um die Einberufung einer internationalen Finanzkonferenz zur Gewährung eines größeren Bankkredits gebeten. Da die Regierung bei der Durchführung dieser Politik auf die Mitarbeit der deutschen Wirtschaft angewiesen war, betraute Ebert mit der Neubildung der Regierung einen Wirtschaftsführer, Wilhelm Cuno, der seine Minister nur nach ihrer sachlichen Eignung ohne jede Rücksicht auf die Ansprüche der Parteien auf diesen oder jenen Ministersessel auswählte. Cuno, erst hoher Beamter im Reichsschatzamt, war 1917 in die Direktion der Hamburg-Amerika-Linie eingetreten und 1918, als Ballin aus Kummer über den verlorenen Krieg sich selbst das Leben genommen hatte, Generaldirektor der Hapag geworden. Nachdem die Sozialdemokraten jede Mitarbeit verweigerten, gehörten alle Minister des neuen Kabinetts den Mittelparteien an: dem Zentrum, den Demokraten und der Deutschen Volkspartei. Bei seinem ersten Auftreten vor dem Reichstag am 24. November 1922 bekannte sich Cuno zu dem Programm Wirths „erst Brot, dann Reparationen" und zu der Note vom 13. November an die Reparationskommission als: Grundlagen seiner Politik. Der Reichstag sprach Cuno nicht, wie üblich, das Vertrauensvotum aus, sondern billigte lediglich sein Programm. Alle Bemühungen zur Festigung der Lage wurden durch die Politik Poincarés; zunichte gemacht. Im Oktober hatte Lloyd George zurücktreten und dem konservativen Kabinett Bonar Law weichen müssen, an der englischen Politik gegenüber Deutschland änderte dies nichts. Anfang Dezember machte Cuno einer Konferenz der alliierten Ministerpräsidenten wieder Zahlungsvorschläge, die auf Betreiben Frankreichs und Belgiens abgelehnt wurden. Poincaré wollte „produktive Pfänder", er wollte die Industriemacht des Ruhrgebietes ebenso wie Lothringen und das Saargebiet unter französische Herrschaft bringen, ein Ziel, das in keiner Weise englischen Interessen entsprach. Ende Dezember stellte die Reparationskommission in einer offiziellen Note an die Regierungen „Verfehlungen" 542

Kabinett Cuno. Ruhrbesetzung und Ruhrkampf bei den deutschen Sachlieferungen fest und berechtigte damit Poincaré, Sanktionen zu fordern. Auf einer Konferenz der Alliierten Anfang Januar 1923 in Paris verkündete Poincaré, von Belgien bereitwillig, von Italien lau unterstützt, Frankreich werde das Ruhrgebiet besetzen und alle notwendigen Zwangsmaßnahmen ergreifen, damit Deutschland seinen Verpflichtungen nachkomme. Bonar Law widersprach nachdrücklich und legte einen neuen Zahlungsplan vor, auch die amerikanischen Sachverständigen wandten sich gegen die französischen Pläne; Poincaré beharrte indes auf seinem Vorhaben, obwohl die „Verfehlungen" Deutschlands geringfügig waren: mit Telegraphenstangen und anderen Holzlieferungen blieb es 1922 etwa um die Hälfte im Rüdestand, und Anfang Januar 1923 stellte die Reparationskommission „absichtliche Verfehlungen" Deutschlands bei den Kohlenlieferungen fest. Die Reichsregierung protestierte am 9. Januar gegen die von Poincaré angekündigte Gewaltmaßnahme, die „das Kerngebiet der deutschen Wirtschaft, die Hauptquelle unserer Arbeit, das Brot der deutschen Industrie und der gesamten Arbeiterschaft" bedrohte. Am folgenden Tag teilten Frankreich und Belgien in einer Note der Reichsregierung mit, sie würden eine aus Ingenieuren und Beamten bestehende Kontrollkommission ins Ruhrgebiet entsenden, die für die Erfüllung der deutschen Verpflichtungen sorgen werde, Truppen würden nur so viele einrücken, wie zum Schutz der Kommission nötig seien; Deutschland habe bei Androhung schwerer Strafen alles zu tun, um die Arbeit der Kommission zu fördern. Diese Maßnahmen verstießen gegen den Versailler Vertrag, weil sie nicht von den Alliierten gemeinsam beschlossen waren. Die Vereinigten Staaten zogen unter Protest am 10. Januar ihre Truppen aus dem Rheinland zurück, England verhielt sich abwartend. Bei Eröffnung des englischen Parlaments sagte König Georg in der Thronrede über die Ereignisse im Ruhrgebiet: „Meine Regierung wird den Allnerten in keiner Weise Schwierigkeiten bereiten, wenn sie auch der Ansicht ist, daß sie diese Operation weder billigen noch an ihr teilnehmen kann." Vom 11. Januar 1923 an besetzten Franzosen und Belgier allmählich das ganze Ruhrgebiet, das Kohlensyndikat verlagerte sich noch in der Nacht vor Beginn des Einmarsches mit allen Akten von Bochum nach Hamburg. Gegen die das Völkerrecht verletzende Gewalttat hielt das deutsche Volk so einmütig zusammen, daß ein amerikanischer Beobachter dazu bemerkte, nur zwei Männer hätten deutsche Einigkeit zustande gebracht — Bismarck und Poincaré. Reichspräsident Ebert, die Reichsregierung, der preußische Ministerpräsident Braun, Reichsrat und Reichstag, die Landtage der Länder, Parteien und Vereinigungen protestierten in zahlreichen Kundgebungen gegen das Unrecht, das erneute Leiden über Deutschland bringe. Die Kommunisten lehnten zwar die patriotische Bewegung ab, forderten jedoch zum Generalstreik und zum Appell an die internationale Arbeiterschaft auf. Nur für Adolf Hitler stand anderes im Vordergrund: „Nicht nieder mit Frankreich muß es heißen, sondern nieder mit den Vaterlandsverrätern, nieder mit den Novemberverbrechem (von 1918)! Die Nationalsozialisten wollen die Organisation der Rachearmee des Vaterlandes sein und alles einsetzen, daß das deutsche Volk eingehe in ein neues Reich deutscher Herrlichkeit!" gab Hitler am 543

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 12. Januar 1923 im Bürgerbräukeller zu München als Losung aus. Alle Verantwortlichen waren sich über die Sinnlosigkeit aktiven Widerstandes klar, ebenso darüber, daß jede Gewalttat Einzelner der deutschen Sache schade und im besetzten Gebiet nur passiver Widerstand geleistet werden könne, den das unbesetzte mit allen Mitteln zu unterstützen versprach. Dieser Parole folgte die Bevölkerung des Ruhrgebietes sofort. „Kein Geschäft verkaufte den fremden Soldaten Waren, keine Grube, die von den Machthabern besetzt wurde, förderte Kohlen, die Straßenbahn, in der Angehörige der Einbruchsarmee Platz nahmen, blieb verlassen mitten auf der Straße stehen, das Gebäude, das sie besetzten, wurde in der nächsten Nacht von der Wasser-, Gas- und Stromversorgung abgeschnitten, Zeitungen, denen die Aufnahme bestimmter Nachrichten auferlegt wurde, erschienen nicht, die Post nahm keine Sendungen an; stumm, einig und verbissen stand die trotzige westfälische Einwohnerschaft den Eindringlingen gegenüber" (Friedensburg). Der passive Widerstand der Ruhrbevölkerung zwang die Franzosen, von auswärts Eisenbahner, Bergarbeiter, Post- und Zollbeamte ins Land zu rufen, um den notwendigsten Betrieb in Gang zu halten. Die „Mission interalliée de Contrôle des Usines et des Mines (Micum)" und die „Rheinlandkommission" beschlagnahmten die Gelder der Banken, die Lagervorräte der Fabriken und Bergwerke, die Kohlen, Steuern und Zölle, verboten die Ausfuhr von Kohle, Koks und Eisenerzeugnissen nach dem imbesetzten Deutschland und sperrten es mit einer Zollschranke bis zur Schweizer Grenze ab, denn auch badische und hessische Gebiete wurden besetzt. Die deutsche Regierung berief ihre Gesandten aus Paris und Brüssel ab und stellte die Reparationslieferungen nach Belgien und Frankreich ein, während sie die an die anderen Länder fortsetzte. Die deutschen Behörden befahlen unter Strafandrohung den passiven Widerstand, zahlten den arbeitslos Gewordenen die Löhne und Gehälter und versorgten die Bevölkerung mit Lebensmitteln. Bis zum Abbruch des Ruhrkämpf es Ende September 1923 wiesen die Franzosen 41 800 deutsche Beamte und Eisenbahner aus, mit den Angehörigen etwa 140 000 Menschen, die nun im unbesetzten Gebiet untergebracht und erhalten werden mußten. Die französischen Kriegsgerichte fällten zehn Todesurteile, von denen allerdings nur eines vollstreckt wurde. Als französische Truppen am 31. März in den Kruppschen Werken in Essen Automobile requirierten, verließen die Arbeiter auf Anordnung der Direktion ihre Arbeitsplätze; die Soldaten fühlten sich bedroht, schössen auf die Arbeiter, trafen 13 tödlich und verletzten über 30. Das Kriegsgericht machte die Werkleitung dafür verantwortlich, verurteilte den Chef, Gustav Krupp von Bohlen und Halbach, zu 15 Jahren Gefängnis und hundert Millionen Mark Geldstrafe, sowie acht seiner leitenden Beamten zu 10 bis 20 Jahren Gefängnis und je 100 Millionen Mark. Auch andere Industrielle wurden verurteilt. Zusammenstöße auf der Straße zwischen Besatzungsmacht und Einwohnern forderten 132 Todesopfer. Einquartierungen, Requisitionen, Quälereien und Lebensmittelmangel steigerten beständig die Not der Bevölkerung. Rechtsradikale Gruppen und Einzelne ließen sich trotz aller Warnungen der Regierung zu Sabotageakten hinreißen, was eine verschärfte Bedrückung zur 544

Kabinett Stresemann. Abbruch des Ruhrkampfes

Folge hatte. Am 26. Mai wurde Albert Leo Schlageter auf Grund eines französischen Kriegsgerichtsurteils wegen Sabotage und Spionage erschossen; für Rechtsgerichtete, namentlich Nationalsozialisten, wurde Schlageter einer der großen nationalen Märtyrer. Ende Juni explodierte ein Sprengkörper in einem belgischen Soldatenzug und tötete neun Personen. Als der belgische Gesandte und der französische Botschafter von der Reichsregierung verlangten, sie müsse dieses Attentat mißbilligen und alles unternehmen, die Täter zu ermitteln, weil sie sich wegen ihrer Aufforderung zum passiven Widerstand mitschuldig gemacht habe an den aktivistischen Erscheinungen des Widerstandes, antwortete der Minister des Auswärtigen: eine Umkehrung der Begriffe sei es, wenn sich jetzt die französische und die belgische Regierung für berechtigt hielten, Deutschland für die Folgen ihres rechtswidrigen Einmarsches in das Ruhrgebiet verantwortlich zu machen. Unter diesen Umständen konnte die französische Regierung aus dem Ruhrgebiet nur einen Bruchteil dessen herausziehen, was sie ohne ihre Zwangsmaßnahmen erhalten hätte. Allmählich spielte sich jedoch die französische Verwaltung besser ein und erzielte höhere Erträge; die Kosten für die auf 87 000 Mann anwachsenden Truppen, die etwa 11 000 von auswärts herangeholten Eisenbahner, polnischen Bergarbeiter und sonstiges technisches Personal waren allerdings sehr beträchtlich. Die französischen Ministerien täuschten freilich große Erfolge der Ruhrpolitik vor; Poincaré mußte indes vor der Kammer am 16. November 1923, durch Angriffe der Linken in die Enge getrieben, zugeben, daß die Ruhrbesetzung 691 Millionen Francs Kosten verursacht und nur 520 Millionen eingebracht habe.

Kabinett Stresemann. Abbruch des Ruhrkampfes

(September)

Bedeutete der Ruhrkampf für Frankreich keinen Gewinn, so für Deutschlands Wirtschaft die Katastrophe. Enorme Summen mußten an die vielen Träger und Opfer dieses Kampfes gezahlt werden, und dabei war das Reich von seinen Hauptindustrien an Rhein und Ruhr wirtschaftlich abgeschnitten und konnte die Kosten für den passiven Widerstand nur unter einer nunmehr geradezu wahnwitzigen Geldentwertung aufbringen. Im Januar 1923 fiel der Dollarkurs auf 18 000, bis zum Juli auf 353 000, im August auf 4 620 000 Mark. Die Geldentwertung führte zu unsäglichem Elend der Festbesoldeten, zur Flucht in die Sachwerte und damit zum Ausverkauf aller Waren. Ausländer lebten in Deutschland für wenige Devisen wie die Fürsten und kauften für Spottpreise Grundbesitz, Häuser, Juwelen, kostbare Möbel und was sonst von Wert war. Kommunisten und Nationalisten suchten die Not und die Unzufriedenheit im deutschen Volk für ihre Zwecke auszunutzen. Unruhen, Streiks, die Drohung mit gewaltsamem Umsturz und blutige Zusammenstöße nahmen wieder überhand. Die Reichsregierung und die Regierungen einzelner Länder versuchten, den Kampf der Extremen gegen die Republik einzudämmen durch Verbote wie dem der Nationalsozialistischen Partei, der Selbstschutzorganisationen von rechts und links und der Deutschvölkischen Freiheitspartei, die sich unter der Führung der Reichstagsabgeordneten

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Bühler, Deutsche Gesdiidite, VI

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 von Gräfe, Wulle und Henning im Dezember 1922 von den Deutschnationalen abgespaltet hatte. Der preußische Innenminister Severing führte am entschiedensten die Verbote durch. In Sachsen und Thüringen wuchs der von Moskau geförderte kommunistische Einfluß bedenklich, in Bayern der Rechtsradikalismus. Die Mittelparteien drängten im Reichstag auf durchgreifende Maßnahmen zur Stabilisierung der Währung, der Reichsbankpräsident Havenstein war indes überzeugt, daß dies erst nach einer ausreichenden Herabsetzung der Reparationsforderungen einen Sinn habe, weil sonst die neue Währung nicht stabil zu halten wäre. Die Regierung Cuno hatte bis Mitte April 1923 unter Preisgabe eines beträchtlichen Teiles der letzten deutschen Goldreserven zeitweise den Dollarkurs gestützt, sonst aber nichts unternommen, um durch Wiederaufnahme der Reparationsverhandlungen vielleicht eine Verständigung herbeizuführen. Erst Anfang Mai richtete die deutsche Regierung auf Drängen Englands an die Alliierten eine Note mit Zahlungsvorschlägen; sie war so ungeschickt abgefaßt, daß sie auch England verstimmte, und Poincaré, der sich nun des Erfolges seiner Ruhrpolitik sicher zu sein glaubte, wies jede Verhandlung vor dem Abbruch des passiven Widerstandes zurück. Eine zweite, wesentlich mehr entgegenkommende deutsche Note Anfang Juni wurde ebenfalls schroff abgelehnt. Havenstein hätte nun den Fehlschlag seiner Hoffnung einsehen müssen, die Inflation werde den Alliierten beweisen, daß Deutschland nicht die geforderten Summen zahlen könne. Er beharrte aber trotzdem nach wie vor auf seinem Standpunkt, Mark immer noch gleich Mark zu rechnen, und mit der ihm unterstehenden Notenpresse die nötigen Scheine zu beschaffen. Obwohl 300 Papierfabriken voll beschäftigt waren, um das Papier für die Reichsbanknoten zu liefern und 150 Druckereien auf 2000 Pressen in Tag- und Nachtschichten die Banknoten druckten — im August täglich für 46 Billionen Mark — standen oft die notwendigen Zahlungsmittel für das Publikum nicht rechtzeitig zur Verfügung. Jedem Einsichtigen wurde allmählich klar, der Ruhrkampf müsse bedingungslos abgebrochen werden. Dafür traten schon im Sommer 1923 namentlich Gustav Stresemann von der Deutschen Volkspartei und Rudolf Hilferding vom linken Flügel der Sozialdemokratie ein und bereiteten die Große Koalition als Trägerin dieser Politik vor, denn das Kabinett Cuno hatte sich derart auf den passiven Widerstand festgelegt, daß es die Schwenkung nicht durchführen konnte, es trat am 12. August zurück, nachdem ihm die sozialdemokratische Fraktion ihr Mißtrauen ausgesprochen hatte. Mit der Neubildung des Kabinetts wurde Stresemann beauftragt. Er legte schon am 13. August seine Ministerliste vor: vier Sozialdemokraten, drei Zentrumsmitglieder, je zwei Vertreter der Deutschen Volkspartei und der Demokraten, keiner Partei gehörte der Reichsernährungsminister Luther an. Das Amt des Außenministers übernahm Stresemann selbst. Der Mann, der nun als Reichskanzler in einer der schwierigsten Lagen Deutschlands die Reichsregierung zu leiten hatte, war 1878 in Berlin geboren, entstammte dem Kleinbürgertum, schloß sein Studium der Volkswirtschaft mit der Promotion zum Dr. phil. ab und stand als Syndikus mehrerer Arbeitgeberverbände mitten im Wirtschaftsleben. Auch an der Politik nahm er regen Anteil, 1903 trat er in die Nationalliberale Partei ein und gehörte 546

Kabinett Stresemann. Abbruch des Ruhrkampfes seit 1907 ihrer Reichstagsfraktion an. Bis Kriegsende war er unbedingter Monarchist und Nationalist; im Dezember 1918 gründete er die Deutsche Volkspartei, der sich hauptsächlich rechtsstehende Kreise der ehemaligen Nationalliberalen anschlossen. Die äußere Erscheinung des mittelgroßen, beleibten, kahlköpfigen, stiernackigen Mannes mit den etwas vorquellenden Augen war gewiß nicht gewinnend, er bestach auch nicht durch Genialität. Aber klarer Verstand, gründliche Sachkenntnis, politischer Scharfsinn, geistige Beweglichkeit, eine Redegabe, wie sie keiner der damaligen deutschen Parlamentarier besaß, befähigten Stresemann, hinter dem weder eine Massenorganisation, auf die er sich verlassen konnte, noch eine bewaffnete Macht standen, die vordringlichsten außen- und innenpolitischen Aufgaben zu bewältigen. Als Stresemann am 14. August 1923 dem Reichstag das neue Kabinett vorstellte, sprachen ihm die Regierungsparteien ihr Vertrauen aus; gegen ihn stimmten außer den Kommunisten die Deutschnationalen, weil die Regierung unter sozialdemokratischem Einfluß stehe; aus dem gleichen Grunde enthielten sich die Bayrische Volkspartei und der Bayrische Bauernbund der Stimme. Der englische Außenminister Lord Curzon richtete am 11. August 1923 an Frankreich und Belgien eine ausführliche Note, worin die Unstimmigkeit in der Entente cordiale sehr deutlich zum Ausdruck kam: die englischen Kronjuristen hätten in einem Gutachten die Ruhrbesetzung als illegal und gegen den Versailler Vertrag verstoßend erklärt; Deutschlands Reparationsschulden seien nicht nach dem Schaden, den es angerichtet, sondern nach seiner Zahlungsfähigkeit von einer internationalen Kommission festzusetzen, die bestehende Reparationskommission sei ein „Instrument französisch-belgischer Politik". Poincaré bestand indes darauf, daß erst der passive deutsche Widerstand aufhören müsse, Frankreich könne auf die Reparationen in der bisherigen Höhe nicht verzichten. Die Hoffnung von deutscher Seite, England werde in der Ruhrfrage seinen Einfluß auf Frankreich geltend machen, wurde enttäuscht. Baldwin, der Ende Mai an Stelle des kranken Bonar Law das Amt des Premierministers übernommen hatte, veröffentlichte bei einem Besuch in Paris gemeinsam mit Poincaré am 14. September ein Kommuniqué, in dem sie die Zusammenarbeit ihrer beiden Länder, von „der in so weitem Maße die Stabilisierung und der Friede der Welt abhängen", betonten. Da der Reichstag in Ferien war, wandte sich Stresemann in mehreren Reden, so am 24. August auf dem deutschen Industrie- und Handelstag und am 12. September in Berlin vor deutschen Pressevertretern an die Öffentlichkeit. Er wies dabei Poincarés Behauptung zurück, Deutschland handle böswillig, schlug Hypotheken auf deutschen Staats- und Privatbesitz als „produktive Pfänder" vor, verlangte als Gegenleistung die Freigabe des Ruhrgebietes und stellte die Stabilisierung der Mark in Aussicht; auch auf den Abbruch des Ruhrkampfes bereitete Stresemann in diesen Reden und in der Presse das deutsche Volk vor. Die nationale Rechte wandte sich empört gegen eine „Kapitulation" im Ruhrkampf und lehnte „vor dem Lande und vor der Geschichte die Verantwortung für jede Politik der Schwäche und der Scheu vor der letzten Entscheidung", einem Krieg mit Frankreich, ab. Poincaré antwortete Stresemann — ebenfalls in öffentlichen Reden —

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Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 mit neuen Anklagen und beharrte auf seinem Standpunkt auch dann noch, als Reichspräsident Ebert und die Reichsregierung am 26. September 1923 in einer Proklamation an das deutsche Volk den Ruhrkampf abbrachen, weil er wirtschaftlich nicht länger aufrechterhalten werden könne. Die Verordnungen zur Reglung des passiven Widerstandes und der Erlaß über die Einstellung der Reparationsleistungen an Frankreich und Belgien wurden aufgehoben. England begrüßte diese deutschen Maßnahmen; Poincaré dagegen erklärte, der Sieg über Deutschland sei noch nicht vollständig, erst müsse man Tatsachen sehen, lehnte auch jede Beteiligung Deutschlands an der Wiederaufnahme der Arbeit im Ruhrgebiet ab und zwang so die Ruhrindustriellen, mit der Micum direkte Verträge abzuschließen. Frankreich behielt das Ruhrgebiet weiter wirtschaftlich und politisch fest in der Hand und räumte es nur schrittweise im Laufe der nächsten zwei Jahre.

Poincaré und die Rückkehr des Kronprinzen Wilhelm

(Oktober/November)

Eine versteckte Drohung enthielt der Hinweis des französischen Botschafters in Berlin: Poincaré sei beunruhigt wegen der Gerüchte über eine Reditsdiktatur in Deutschland, die den Versailler Vertrag zerreißen und einen Revanchekrieg gegen Frankreich vorbereiten werde. Stresemann antwortete, die Regierung sei Herr der Lage; die extremen Parteien gewännen allerdings in Deutschland an Boden, es wäre aber gar nicht so weit gekommen, wenn die französische Politik nicht „jede deutsche Regierung, gleichgültig auf welchem politischen Standpunkt sie gestanden hätte, in bezug auf erträgliche Bedingungen von einem außenpolitischen Mißerfolg zum anderen getrieben" hätte. Auch bei der Rückkehr des Kronprinzen Wilhelm nach Deutschland suchte sich Poincaré einzumischen. Im August hatte der Kronprinz von seinem Exil Wieringen aus die Reichsregierung ersucht, ihm die Rückkehr in die Heimat zu gestatten. Stresemann konnte Ende Oktober die Zustimmung seiner Ministerkollegen, auch der sozialdemokratischen, und des Reichspräsidenten Ebert erreichen, nachdem der Kronprinz versprochen hatte, auf seinem Gut Oels in Schlesien, nicht in Potsdam, zu leben und sich von der Politik fernzuhalten. Bald darauf traf er in Oels ein. Gerade den Republikanern schien es gut, wenn die Anwesenheit von Kronprinz Wilhelm ein gewisses Gegengewicht gegen die monarchistischen Bestrebungen um Kronprinz Rupprecht von Bayern bilde. Die interallüerte Botschafterkonferenz in Paris befaßte sich in mehreren Sitzungen mit der Rückkehr des Kronprinzen, da er auf der Kriegsverbrecherliste stand. Poincaré fordete neue militärische und territoriale Sanktionen und erklärte, er wolle allein vorgehen, wenn die Verbündeten nicht mitwirkten. England kündigte an, in diesem Falle würde es seine Vertreter aus allen interallierten Kommissionen zurückziehen. Italien sprach sich ebenfalls gegen weitere Sanktionen aus, und selbst Belgien wollte sich nur bei Einmütigkeit der Alliierten beteiligen. So kam bloß die Note vom 21. November zustande, in der die deutsche Regierung auf die „ernsten Komplikationen" hingewiesen wurde, die durch die 548

Zweites Kabinett Stresemann. Kämpfe in Sachsen, Thüringen, Hamburg Anwesenheit des Kronprinzen in Deutschland hervorgerufen werden und die Alliierten zum Eingreifen zwingen könnten. Da sich der Kronprinz an sein Versprechen hielt, solange Stresemann lebte, beruhigten sich im Ausland und in Deutschland die Gemüter bald wieder.

Ausnahmezustand

(September)

Während der dem Abbruch des Ruhrkampfes folgenden Wochen geriet die Weimarer Republik in die größte Gefahr, völlig zu zerfallen. Die Vorbereitungen zur Stabilisierung der Währung waren zwar schon weit fortgeschritten, aber vorerst stürzte der Markkurs immer tiefer, die Dollarnotierungen stiegen von 98 Millionen Mark im September 1923 auf 25 Milliarden im Oktober und auf 4,2 Billionen am 15. November, dem Tag des Erscheinens der Rentenmark. Die Kommunisten trieb die wirtschaftliche Not, die Nationalisten in Preußen und Bayern (S. 556) die „Kapitulation" im Ruhrkampf, die Separatisten (S. 560) die Lage im Rheinland zu erhöhter Aktivität an. Um diesen inneren Gefahren zu begegnen, verhängte der Reichspräsident am 26. September den Ausnahmezustand über das Reich und übertrug die vollziehende Gewalt dem Reichswehrminister Geßler. Hinter ihm stand Seeckt, schon seit langem überzeugt, nur eine Militärdiktatur könne die Ordnung im Reiche wiederherstellen, er selbst wollte indes bloß auf legalem Wege zur Macht kommen und lehnte überhaupt jeden Putsch ab. Seeckt hatte aus Furcht, die Franzosen könnten nach der Besetzung des Ruhrgebietes auf Berlin marschieren oder die Polen zu einem Einfall in Deutschland aufhetzen, im Laufe des Jahres 1923 die „Schwarze Reichswehr" (S. 528) verstärkt. Als aber am 1. Oktober Major Buchrucker versuchte, mit ihrer Hilfe in Küstrin eine nationale Erhebung auszulösen, ließ Seeckt den Putsch sofort von der Küstriner und den umliegenden Garnisonen niederschlagen.

Zweites Kabinett

Stresemann.

Kämpfe in Sachsen, Thüringen, (Oktober)

Hamburg

Stresemann sah sich in den ersten Oktobertagen durch seine eigene Partei zum Rücktritt gezwungen. Der schwerindustrielle Flügel der Deutschen Volkspartei neigte den Deutschnationalen zu, wollte sie in die Regierung mit hineinnehmen, gegen den Achtstundentag vorgehen und die enge Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten lösen, vor allem, ehe sie dem von Stresemann geforderten Ermächtigungsgesetz zustimmten. Dies Gesetz sollte dem Kabinett Vollmachten geben, um „ohne die Hemmungen des normalen Gesetzgebungsbetriebes rasch arbeiten und die schwere Aufgabe, die die Sanierung der Währung und des Etats der Regierung stellt, ohne Verzögerung durchführen zu können". Der Reichspräsident beauftragte wieder Stresemann mit der Kabinettsbildung. Nachdem die Parteien der Großen Koalition sich in den sozialpolitischen Fragen auf ein Kom-

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Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 promiß geeinigt hatten, kam das zweite Kabinett Stresemann zustande, in dem Dr. Hans Luther anstelle Hilferdings Finanzminister wurde. Die Sozialdemokraten willigten ein, weil sie sonst eine Rechtsdiktatur befürchteten. Am 6. Oktober rechtfertigte Stresemann in einer mannhaften, gut begründeten Rede vor dem Reichstag den Abbruch des Ruhrkampfes. Dann sprach der Reichstag dem Kabinett Stresemann sein Vertrauen aus gegen die Stimmen der Deutschnationalen, der Bayrischen Volkspartei und der Kommunisten. Das Ermächtigungsgesetz für Maßnahmen der Regierung auf finanziellem, wirtschaftlichem und sozialem Gebiet wurde nach heftigen Angriffen seitens der Deutschnationalen und Kommunisten mit Zweidrittelmehrheit angenommen. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Sachsens, Erich Zeigner, hatte in diesen Tagen Kommunisten in die Regierung aufgenommen und dem Großkapital sowie jedem Versuch einer Militärdiktatur Kampf angesagt, Thüringen folgte dem Beispiel Sachsens. Bewaffnete proletarische Hundertschaften sollten den Erfolg sichern. Bis Ende Oktober gelang es aber mit Hilfe der Reichswehr, nicht ohne Kampf, Ordnung und Sicherheit zu schaffen. Ein von Ebert ernannter Reichskommissar zwang Zeigner und die Kommunisten zum Rücktritt; gemäßigte Sozialdemokraten übernahmen in Sachsen und Thüringen wieder die Regierung. Auch andernorts brachen von den Kommunisten ins Werk gesetzte Unruhen aus, die schlimmsten in Hamburg und Umgebung. In blutigen Barrikadenkämpfen überwältigte hier die Ordnungspolizei die Kommunisten. Im allgemeinen wurden die Aufstände schnell niedergeschlagen.

Hitlers Jugend und die Anfänge der NSDAP Adolf Hitler war am 20. April 1889 in dem oberösterreichischen Städtchen Braunau am Inn geboren. Sein Vater entstammte mütterlicherseits einer kleinbäuerlichen Familie, hatte das Schusterhandwerk gelernt, trat achtzehnjährig in den Finanzwachtdienst ein und stieg zum Zollamtsoberoffizial auf; darauf, daß er es vom Schusterjungen bis zum K. u. K. Beamten brachte, war er mit Recht stolz. Als Pensionär übersiedelte er nach Leonding bei Linz, der oberösterreichischen Landeshauptstadt, um Adolf, der gleich ihm einmal „etwas Besseres" werden sollte, eine gute Schulbildung zu ermöglichen. Adolf besuchte 1900 bis 1904 die Linzer Realschule, dann kurze Zeit die Realschule in Steyr. Er war, obwohl gut begabt, infolge Faulheit ein sehr mäßiger Schüler und setzte bei seiner Mutter — sein Vater war 1903 gestorben — durch, 1905 mit der 4. Klasse seine Schulzeit abbrechen zu dürfen, nicht wegen einer schweren Erkrankung, wie er in „Mein Kampf" schreibt, sondern weil er mit zwei Fünfern (ungenügend) in Deutscher Sprache und Mathematik nicht in die nächsthöhere Klasse hätte aufsteigen können. Die Mutter zog 1905 nach Linz. Zwei Jahre lebte Hitler nun bei ihr, malte Bilder und zeichnete Baupläne. Er wies alle Ratschläge seiner Familie zurück, wie sein Vater die Beamtenlaufbahn einzuschlagen oder sonst etwas zu lernen, damit er sich sein Geld selber verdienen könne. Mit 18 Jahren, im April 550

Hitlers Jugend und die Anfänge der NSDAP 1907, wurde ihm sein väterliches Erbe ausgezahlt, von dem er etwa ein Jahr leben konnte. So fuhr er im September 1907 nach Wien, um Maler zu werden. Der Zeichenlehrer an der Linzer Realschule hatte Hitlers Begabung bestätigt, ob sie aber ausreichte, ihn zu einem wirklichen Künstler zu machen, ließ sich noch nicht sagen. Hitlers hochgespannte Hoffnungen sanken beträchtlich, als er an der Akademie der bildenden Künste in Wien die Aufnahmeprüfung für die allgemeine Malerschule nicht bestand; bei einem zweiten Versuch ein Jahr später wurde er auf Grund der eingereichten Arbeiten zur Prüfung nicht zugelassen. Groß war auch immer schon sein Interesse für Architektur gewesen. Zum Architekturstudium fehlte ihm aber die erforderliche Vorbildung. Trotzdem hoffte er mit der ausgeprägten, zähen Willensstärke seines Charakters aus eigener Kraft ein großer Maler und Baumeister zu werden. Was Hitler in „Mein Kampf" über seine „Wiener Lehrjahre" schreibt, entspricht, soweit sich sein Leben nachkontrollieren läßt, in wesentlichen Punkten nicht der Wahrheit. Im ersten Jahr verbrauchte er das väterliche Erbe, ging viel ins Theater, versuchte Bühnenstücke zu schreiben, zeichnete und erging sich in phantastischen Plänen. Da er sich als Kunststudierender ausgab, erhielt er nach dem Tod seiner Mutter (21. Dezember 1907) eine kleine Waisenrente, auch hat ihn vielleicht zeitweilig eine Schwester seiner Mutter mit Geld unterstützt. Er scheint aber keiner regelmäßigen Arbeit nachgegangen zu sein — seine Angaben über seine schwere Tätigkeit als Hilfsarbeiter dürften nicht stimmen, sonst wäre er nicht in bittere Not geraten, so daß er zuweilen nicht einmal eine Schlafstelle hatte, ins Obdachlosenasyl ging und sich an den Klosterpforten um die Armensuppe anstellte. Auf den Rat eines etwas zweifelhaften Kumpans aus dem Obdachlosenasyl und mit Hilfe vermutlich eines Geldgeschenkes seiner Tante zogen beide in ein Männerheim, wo Hitler in dem gemeinsamen Aufenthaltsraum kleine Aquarelle malte, die andere dann abends in den Wirtschaften verkauften, während Hitler mit den Insassen des Männerheims heftige Diskussionen, meist über politische Fragen, führte. Mit dem ersten Verkäufer seiner Bilder geriet er bald in Zwist, aber es fanden sich immer wieder andere, die für ihn gegen entsprechende Beteiligung am Erlös den Verkauf übernahmen. Hitler schreibt, er habe damals sehr viel und gründlich gelesen: man mag in Anbetracht seines Lebens im Männerheim zumindest an der Gründlichkeit dieser Studien zweifeln, dazu kam er wohl erst in der Zeit seiner Festungshaft 1924 (S. 608), trotzdem ist für ihn sehr charakteristisch, was er über seine Wiener Lektüre in „Mein Kampf" schreibt: „In wenigen Jahren schuf ich mir damit die Grundlagen eines Wissens, von denen ich auch heute noch zehre. Aber mehr noch als dieses. In dieser Zeit bildeten sich in mir ein Weltbild und eine Weltanschauung, die zum granitenen Fundament meines derzeitigen Handelns wurden. Ich habe zu dem, was ich mir so einst schuf, nur weniges hinzulernen müssen, zu ändern brauchte ich nichts." Dieser Glaube an ein, s e i n unverrückbares Weltbild hat viel zu dem Unheil beigetragen, das sich an die Person Hitlers knüpft. Die Wiener Jahre waren „für ihn wirkliche Lehrjahre, aber beileibe nicht im Sinne von Buchweisheit und ebensowenig im Sinne von praktischer Erfahrung. Im tagtäglichen Umgang mit den stets wech551

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924

selnden Insassen des Männerheims, teils ganz soliden und anständigen Arbeitern, zum größeren Teil aber Lumpenproletariem mit niedersten Trieben und mit allen Salben geschmiert, schärfte sich langsam und fein sein Instinkt für die Psyche der Masse; auf diesem Seelenklavier verstand er dann — immer vor allem seinen eigenen Vorteil im Auge — geradezu meisterhaft zu spielen, so meisterhaft, daß sogar ein Teil ehemaliger Sozialdemokraten meinte, er verkünde den wahren Sozialismus" (Jetzinger). Hitler erzählt, er habe hier in Wien oft die Sitzungen des Abgeordnetenhauses besucht. Die Eindrücke, die er da empfing, hätten ihm den gesamten Parlamentarismus als verächtlich erscheinen lassen. Von Haus aus war Hitler nicht Antisemit, sein Judenhaß entwickelte sich erst während der Jahre im Männerheim. Ideen und Bewegungen, wie sie seit langem namentlich Karl Lueger und Georg von Schönerer (Wahlspruch: „Ohne Juda, ohne Rom, bauen wir Germanias Dom") propagiert hatten, Antisemitismus und Alldeutsche Vereinigung zur Abwehr der Slawisierung Österreichs haben wohl sicher nachhaltigen Einfluß auf Hitler ausgeübt. Auch haben noch allerlei antisemitische Broschüren und die abstruse Organisation des Neutemplerordens von Adolf Lanz auf ihn eingewirkt. Im Frühjahr 1910 hätte sich Hitler zum Militärdienst melden müssen, er behauptet, eine Eingabe, daß er sidi nicht in seinem Heimatort Linz, sondern in Wien stellen dürfe, gemacht, daraufhin aber keinen Stellungsbefehl bekommen zu haben; ob das zutrifft, läßt sich nicht nachprüfen, jedenfalls erschien er weder 1910 noch zu den fälligen Terminen der beiden folgenden Jahre zur Musterung. Das Wehr-Evidenzbüro in Linz zählte ihn vorerst zu den „Uneruierbaren". Hitler verließ am 24. Mai 1913 — nicht 1912, wie er in „Mein Kampf" angibt — Wien und war seit dem 26. Mai in München polizeilich gemeldet, dabei gab er sich als „staatenlos" aus, denn, so viele Gründe er auch in „Mein Kampf" für seine Übersiedlung nach München angibt — der Habsburger Staat habe „jeden wahrhaft großen Deutschen" in seiner Entwiddung beengt, München sei schon immer seine heimliche Liebe gewesen, hier hoffte er sich als Baumeister einen Namen zu machen usw. — der wirkliche Grund war eher, daß er, wenn man seinen Wohnsitz ausfindig machte, Strafe fürchten mußte, weil er sich der Musterung zum Militär entzogen hatte. Natürlich nützte ihm das „staatenlos" nichts, die Behörde in Linz ersuchte im Januar 1914 das österreichische Generalkonsulat in München, notfalls mit Hilfe der bayrischen Polizei dafür zu sorgen, daß Hitler sich zur Musterung stellte. Da es Hitler in München eher noch schlechter als in Wien ging, erregte sein verhungertes Aussehen und seine armselige Kleidung das Mitleid des Generalkonsuls; er befürwortete Hitlers sehr jammervolles Rechtfertigungsschreiben, so daß Hitler sich ohne Strafe am 5. Februar in dem München viel näher gelegenen Salzburg stellen durfte, wo er für „untauglich, zu schwach, waffenunfähig" erklärt wurde. Ein halbes Jahr später bei Ausbruch des Ersten Weltkrieges meldete sich Hitler sofort als Kriegsfreiwilliger, vermutlich riß ihn die allgemeine Begeisterung mit. Mitte August wurde er in die bayrische Armee aufgenommen, am 1. September dem Regiment List zugeteilt und Anfang November zum Gefreiten ernannt. Im Felde zeichnete er sich als Meldegänger so aus, 552

Hitlers Jugend und die Anfänge der NSDAP

daß er das Eiserne Kreuz II. Klasse und angeblich im August 1918 audi das I. Klasse erhielt. Sein Militärpaß bezeugt, daß seine Führung stets „sehr gut" war. Die Bewährung als Soldat bedeutete für Hitler nach so vielen Enttäuschungen das erste durchaus positive Ergebnis seines bisherigen Lebens. Während des militärischen und politischen Zusammenbruchs Deutschlands lag Hitler mit einer Gasvergiftung, für einige Zeit erblindet, im Reservelazarett Pasewalk. Die Nachricht von der Revolution in Berlin und von dem unvermeidlichen Waffenstillstand, der die Niederlage des deutschen Heeres besiegelte, erschütterten Hitler zutiefst, besonders empörte ihn die Revolution, die, wie er gleich vielen anderen glaubte, dem kämpfenden Heer in den Rüdcen gefallen sei. Seine ausführlichen Auseinandersetzungen mit der Revolution von 1918 in „Mein Kampf" gipfeln in dem Satz: „Ich aber beschloß, Politiker zu werden." Daran hatte Hitler freilich schon in Wien gedacht, auch war er sich in Pasewalk noch keineswegs darüber klar, was er nun unternehmen würde, aber die mit dem Zusammenbruch Deutschlands verbundenen Wirren öffneten ihm den Weg zur Politik. Von Pasewalk kehrte Hitler nadi München zurüdc. Im Juni 1919 setzte das neue Reichswehrgruppenkommando einen Kursus an für Vermittlung „staatsbürgerlichen Denkens", wozu auch Hitler befohlen wurde. In diesem Kurs hielt der Diplomingenieur und Fabrikant Gottfried Feder, der ein „Manifest zur Brechung der Zinsknechtschaft des Geldes" veröffentlicht hatte, einen Vortrag, der auf Hitler einen starken Eindrudc machte. Bei einer Diskussion im Kurs fiel Hitler durch seine heftigen, die Kameraden mitreißenden Angriffe gegen die Juden auf. Der „Redner" Hitler war nun entdeckt. Nach Beendigung des Kurses wurde er zum „Bildungsoffizier" ernannt; damit hatte er keinen militärischen Rang und keine militärischen Funktionen, er sollte sich nur der nationalen Agitation widmen. Auf diese Weise kam Hitler in nähere Fühlung mit Freikorpsoffizieren, den abgesagten Feinden der Weimarer Republik. Im September wurde Hitler beauftragt, eine Versammlung der von dem Maschinenschlosser Anton Drexler gegründeten Deutschen Arbeiterpartei zu besuchen; von ihrer nationalen Haltung überzeugt, trat Hitler, der Aufforderung Drexlers folgend, der Partei bei und übernahm sofort die Propaganda. Auf Hitlers Vorschlag, am 16. Oktober 1919 im Hofbräukeller eine größere öffentliche Versammlung abzuhalten und sie in der völkischen Wochenschrift „Münchner Beobachter" anzukündigen, ging Drexler nur widerstrebend ein. Im Hofbräukeller war Platz für 130 Menschen, die Partei zählte damals etwa 70 Mitglieder, von denen voraussichtlich nur ein Teil erscheinen würde, und mit einer großen Beteiligung von Nichtmitgliedern war kaum zu rechnen. Im ganzen kamen aber doch 111 zur Versammlung. Schon das bedeutete einen Erfolg für Hitler, einen weit größeren aber, daß er mit seiner Rede — er sprach eine halbe Stunde über den Versailler Vertrag — die Zuhörer völlig in seinen Bann zwang. Dies steigerte Hitlers Selbstbewußtsein und Selbstsicherheit beträchtlich. Zu der Massenkundgebung am 24. Februar 1920 im Festsaal des Hofbräuhauses erschienen bereits 2000 Menschen. Hitler verlas das von ihm, Drexler und Feder entworfene, in 25 Punkte gegliederte Parteiprogramm. Es enthielt die für 553

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 den Nationalsozialismus grundlegenden Bestimmungen und Forderungen wie : „Wir fordern den Zusammenschluß aller Deutschen auf Grund des Selbstbestimmungsredits der Völker zu einem Großdeutschland." „Staatsbürger kann nur sein, wer Volksgenosse ist. Volksgenosse kann nur sein, wer deutschen Blutes ist, ohne Rücksichtnahme auf Konfession. Kein Jude kann daher Volksgenosse sein." „Erste Pflicht jeden Staatsbürgers muß sein, geistig oder körperlich zu schaffen . . . daher fordern wir Abschaffung des arbeits- und mühelosen Einkommens. Brechung der Zinsknechtschaft." „Wir fordern den rücksichtslosen Kampf gegen diejenigen, die durch ihre Tätigkeit das Gemeininteresse schädigen. Gemeine Volksverbrecher, Wucherer, Schieber usw. sind mit dem Tode zu bestrafen, ohne Rücksichtnahme auf Konfession und Rasse." „Um die Schaffung einer deutschen Presse zu ermöglichen, fordern wir, daß sämtliche Schriftleiter und Mitarbeiter von Zeitungen, die in deutscher Sprache erscheinen, Volksgenossen sein müssen." „Wir fordern die Freiheit aller religiösen Bekenntnisse im Staat, soweit sie nicht dessen Bestand gefährden oder gegen das Sittlichkeits- und Moralgefühl der germanischen Rasse verstoßen. Die Partei als solche vertritt den Standpunkt eines positiven Christentums, ohne sich konfessionell an ein bestimmtes Bekenntnis zu binden." Infolge der Heeresverminderung wurde Hitler am 1. April 1920 aus der Armee entlassen, als Beruf gab er nun „Schriftsteller" an. Auf einer Tagung am 7./8. August in Salzburg, an der sich auch österreichische Nationalsozialisten beteiligten, wurde die bisherige Bezeichnung Deutsche Arbeiterpartei in Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei (NSDAP) umgewandelt; als Banner nahm die Versammlung die von Hitler entworfene rote Fahne mit schwarzem Hakenkreuz auf weißem Grund als Sinnbild des Sieges der arischen Rasse an und den Heil-Gruß mit erhobener rechter Hand. Im Dezember erwarb die NSDAP den „Münchner Beobachter" und baute ihn als „Völkischen Beobachter" zu ihrem Parteiblatt aus. Hitler entfaltete jetzt eine äußerst rege Rednertätigkeit, die Zahl der Zuhörer wuchs, begeisterte Anhänger sprachen von ihm als „dem Führer", Ende Juli 1921 wählte ihn die NSDAP zu ihrem Vorsitzenden mit unumschränkter Vollmacht. Seit Februar 1920 oblag der Saalschutz bei Versammlungen einer „Ordnergruppe". Am 4. November 1921 kam es erstmals zu einer förmlichen „Saalschlacht", als marxistische Arbeiter die Versammlung zu sprengen versuchten; obwohl an Zahl weit überlegen, wurden sie von der Ordnergruppe überwältigt. Sie erhielt daraufhin von Hitler den Namen „Sturmabteilung" (SA). Februar/ März 1922 gründete Hitler den „Jugendbund", Vorläufer der späteren „Hitlerjugend". Die NSDAP begann um diese Zeit, über München und Bayern hinauszuwachsen, von der preußischen und einigen anderen Regierungen wurde sie allerdings bald verboten. Im Juni mußte Hitler eine Haftstrafe antreten; er war vom Münchner Volksgericht wegen Landfriedensbruch, Sprengung einer Versammlung des „Bayernbundes", zu drei Monaten verurteilt worden, brauchte aber infolge der Bewilligung einer Bewährungsfrist nur einen Monat abzusitzen, doch genügte auch das, um Hitler bei seinen Anhängern als Märtyrer der nationalen Sache erscheinen zu lassen. Die bayrische Regierung genehmigte den Freien Gewerkschaften, für die Mai-

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Hitleiputsdi in Bayern feier am 1. Mai 1923 auf die Theresienwiese in München zu marschieren. Nun herrschte unter den Nationalgesinnten immer noch erbitterte Erregung über die französische Besetzung des Ruhrgebietes; Hitler hielt deshalb den von den Gewerkschaften geplanten Aufmarsch für eine günstige Gelegenheit, durch eine Gegenaktion, selbst mit Anwendung von Waffengewalt und gegen ein Verbot der Staatsregierung, vor aller Öffentlichkeit seine gewaltige Macht zu zeigen. Am Morgen des 1. Mai sammelten sich mehrere Tausend teilweise schwer bewaffnete Nationalsozialisten zur Durchführung ihrer Aktion, sie wurden jedoch von Reichswehr und Landespolizei entwaffnet und mußten sich weit entfernt von der Theresienwiese mit einer Demonstration auf dem Oberwiesenfeld begnügen. Seit Stresemann Ministerpräsident war und das Amt des Außenministers übernommen hatte, war mit dem Abbruch des Ruhrkampfes zu rechnen. Weite Kreise empfanden dies als eine Schmach gleich der des Versailler Vertrages und hielten die Ablösung des Parlamentarismus durch die Regierung eines starken Mannes, also durch eine Diktatur, für unvermeidlich. Das war Wasser auf die Mühle der Nationalsozialisten und ihres Führers Hitler. Als alleiniger Führer der gesamten rechtsradikalen Verbände Bayerns wurde er freilich nicht anerkannt, schon weil nicht alle dieselben Ziele verfolgten. Die weiß-blauen Nachfolgeorganisationen der Einwohnerwehr wollten gemeinsam mit der bayrischen Regierung den Föderalismus des Bismarckischen Reiches und die Wittelsbachische Monarchie wieder errichten. Gewichtiger waren die schwarz-weiß-roten Verbände: der Bund Oberland, die „Reichsflagge" und Hitlers nun militärisch durchorganisierte und fast auf die Stärke einer Division gebrachte SA unter Hermann Göring; diese schlossen sich auf dem „Deutschen Tag" in Nürnberg am 1./2. September zum „Deutschen Kampfbund" zusammen. Den schwarz-weiß-roten Verbänden stand Ludendorff nahe, er sollte die neue Wehrmacht führen und das Deutsche Reich von der „Herrschaft der Sozialisten" und der „Schmach des Versailler Vertrages" befreien; die politische Führung war Hitler zugedacht. Zu den norddeutschen Gruppen, die auf eine Diktatur hinarbeiteten, liefen von Ludendorff und von Hitler mancherlei Fäden. Generalmajor Otto von Lossow, Kommandeur der Reichswehr im bayrischen Wehrkreis und bayrischer Landeskommandant, hatte wie sein Vorgänger Arnold von Möhl viel für die militärische Ausbildung und Bewaffnung der Vaterländischen Verbände getan; Lossows Vorgesetzter, General Seeckt, war aber gegen jeden Putsch. General Franz von Epp, Infanterieführer der bayrischen Reichswehrdivision, und Hauptmann Röhm traten aus der Reichswehr aus, weil sich ihre Pflichten als Reichswehroffiziere mit der Zugehörigkeit zur NSDAP nicht mehr vereinigen ließen.

Der Hitlerputsch in Bayern (November) Die Verkündigung des Ausnahmezustandes im Reich vom 26. September war hauptsächlich wegen der politischen Entwicklung in Bayern erfolgt. Eugen von Knilling, seit November 1922 bayrischer Ministerpräsident, hatte nach der Auf-

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Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924

gäbe des Ruhrkampfes für Bayern den Ausnahmezustand erklärt, „um aus der allgemeinen Erschütterung hervorgehende schädliche Ruhestörungen zu verhüten". Die Regierungsgewalt wurde dem zum Generalstaatskommissar ernannten Kahr übertragen. Als erste Maßnahme verbot Kahr die vierzehn von Adolf Hitler für den 27. September 1923 gegen die „Ruhrverräter" einberufenen Massenversammlungen; Kahrs Ziele wichen überhaupt in vielem von denen Hitlers ab, vor allem wollte Kahr die Führung der Vaterländischen Verbände in der Hand behalten, aber dafür war Hitlers Einfluß schon zu groß geworden. Während des Oktobers 1923 wurden unter der Leitung Kahrs Vorbereitungen für den „Marsch auf Berlin" getroffen; denn, wie sich Oberregierungsrat Freiherr von und zu Aufseß, einer der Mitarbeiter Kahrs, ausdrückte, „bayrische Fäuste müssen nun den Saustall Berlin ausräumen". Kahr gab sich der Täuschung hin, er könne Zeitpunkt und Art des Vorgehens bestimmen, wobei er die Macht Hiüers, der jetzt zum Handeln entschlossen war, unterschätzte. Der Anstoß zum Konflikt zwischen Bayern und dem Reich kam indes audi nicht von Hitler, sondern von Lossow. Reichswehrminister Geßler beauftragte Kahr, den „Völkischen Beobachter" wegen eines Artikels vom 27. September zu verbieten, worin Seeckt beleidigt worden war. Kahr hatte den „Völkischen Beobachter" bereits verwarnt und wollte sich deshalb und vor allem, weil er ein derartiges Einmischen von außen in bayrische Belange grundsätzlich ablehnte, mit dieser Angelegenheit nicht mehr weiter befassen. Daraufhin befahl Geßler Lossow, das Verbot durchzuführen, wenn nötig mit Waffengewalt. Lossow weigerte sich, er wollte in eine Angelegenheit des Generalstaatskommissars nicht eingreifen und sich als bayrischer Landeskommandant die Zuammenarbeit mit ihm nicht erschweren. Wenn Geßler und Seeckt diese Gehorsamsverweigerung hinnahmen, setzten sie die Einheit der Reichswehr aufs Spiel, Lossow wurde deshalb am 20. Oktober 1923 seines Dienstes enthoben. Kahr empfand dies wieder als Eingriff in seine Rechte, und Lossow willigte ein, sich am 22. Oktober als Landeskommandant von Bayern mit den Reichswehrtruppen in Bayern „von der bayrischen Staatsregierung als Treuhänderin des deutschen Volkes bis zur Wiederherstellung des Einvernehmens zwischen Bayern und dem Reich" in Pflicht nehmen zu lassen. Kahr hoffte, die Unruhen im ganzen Reich würden die Regierung Stresemann zum Rücktritt zwingen, und Seeckt die von vielen ersehnte Diktatur antreten, die starken militärischen Verbände in Bayern könnten dann durchsetzen, daß das Reich das föderalistische Gepräge und vor allem Bayern seine Sonderstellung wieder erhielten. Audi Seeckt war damals so sehr davon überzeugt, er werde die Regierung übernehmen, daß er hierfür Anfang November ein Außen-, Innen- und Wirtschaftspolitik umfassendes Programm niederschrieb, das sich später unter seinen Papieren fand. Die Regierung Stresemann wollte um des inneren Friedens willen gegen Bayern nicht schroff vorgehen. Die Sozialdemokraten waren über diese Milde empört, da doch bei den Kommunisten in Sachsen und Thüringen so scharf durchgegriffen wurde. Die sozialdemokratischen Minister schieden deshalb aus dem Kabinett aus. Stresemann regierte mit dem Rumpfkabinett weiter, aufs schwerste bedrängt durch die wirtschaftliche Not, den Konflikt mit Bayern, die Unruhen in Sachsen 556

Hitlerputsch in Bayern

und den Separatistenaufstand am Rhein (S. 559). In Gesprächen mit Ebert hatte Seeckt erkannt, die von ihm angestrebte Diktatur unter Ebert könne jedenfalls jetzt nicht erreicht werden; damit schieden Seeckt und mit ihm die Reichswehr für die Diktaturpläne aus. Durch Verhandlungen mit Berlin waren Kahr und Lossow über diesen Stand der Dinge unterrichtet und versuchten nun, die zur Tat treibenden Vaterländischen Verbände in einer Besprechung mit ihren Führern am 6. November von Putschversuchen zurückzuhalten. Lossow erklärte, er würde mit seiner Reichswehr jedes politische Abenteuer verhindern, obwohl er nach wie vor bei Aussicht auf Erfolg für eine Rechtsdiktatur sei; Kahr äußerte sich ähnlich. Diese Warnungen bestärkten jedoch Hitler nur in seiner Überzeugung, jetzt sei die Zeit zum Losschlagen gekommen, und er müsse die ewig Zögernden mitreißen. In fieberhafter Hast traf Hitler seine Vorbereitungen: die SA, die Reichskriegsflagge und der Bund Oberland wurden in Alarmzustand versetzt. Für den Abend des 8. November hatte Geheimrat Eugen Zentz, ein Hauptförderer der ehemaligen Münchner Einwohnerwehr und ihrer vaterländischen Ziele, eine Versammlung in den Bürgerhräukeller einberufen, auf der Kahr, Lossow und der Polizeioberst Hans von Seisser zu der von den vielen Gerüchten aufgeregten Bevölkerung beruhigend sprechen sollten. Die Anwesenheit der drei maßgeblichen Persönlichkeiten nutzte Hitler für seine Zwecke aus. Er ließ den Saal von bewaffneten SA-Leuten umstellen, verschaffte sich durch einen Pistolenschuß an die Decke Gehör, in einem Nebenraum zwang er mit vorgehaltenem Revolver Kahr, Lossow und Seisser seinen Plänen zuzustimmen. Ludendorff wurde eilig herbeigeholt, dann kehrten alle in den Saal zurück und Hitler verkündete: „Die nationale Revolution ist ausgebrochen. Die bayrische Regierung ist abgesetzt. Der Reichspräsident ist abgesetzt . . . Eine neue Reichsregierung wird in Bayern ernannt. Bayern ist das Sprungbrett für die neue deutsche nationale Regierung. Die Leitung der Politik dieser Regierung übernehme ich. Ludendorff übernimmt die Leitung der deutschen nationalen Armee, General von Lossow wird deutscher Reichswehrminister, Oberst von Seisser wird deutscher Reichspolizeiminister. Die Aufgabe der provisorischen deutschen Nationalregierung ist, mit der ganzen Kraft dieses Landes und der herbeigezogenen Kraft aller deutschen Gaue den Vormarsch nach Berlin anzutreten." Die nun folgenden Erklärungen Kahrs, Lossows und Seissers vor der Versammlung konnten den Anschein erwecken, als ob die drei jetzt gewillt wären, mit Hitler und Ludendorff zusammenzugehen; wer jedoch dem Massentaumel nicht verfiel, mochte heraushören, daß Kahr und namentlich Lossow keineswegs Gefolgsleute eines Hitler werden wollten. Begleitet von Seisser, ging Lossow vom Bürgerbräukeller sofort zur Stadtkommandantur, wo die ihm untergeordneten Generale bereits daran waren, Gegenmaßnahmen vorzubereiten, und gab dann Befehle zur Unterdrückung des von Hitler geplanten Putsches. Am frühen Morgen des 9. November erließ Kahr einen Aufruf: „Trug und Wortbruch ehrgeiziger Gesellen haben aus einer Kundgebung für Deutschlands nationales Wiedererwachen eine Szene widerwärtiger Vergewaltigung gemacht. Die mir, General von Lossow und dem Obersten von Seisser mit vorgehaltener Pistole erpreßten Erklärungen sind null und nichtig . . . Die NSDAP, 557

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 die Bünde Oberland und Kriegsflagge sind aufgelöst." Um seine „nationale Revolution" doch noch zu retten, veranstaltete Hitler gegen 11 Uhr vom Bürgerbräukeller aus mit einigen Tausenden einen Demonstrationszug durch die Stadt. Eine Abteilung der Landespolizei, die an der Isarbrüdce den Weitermarsch verhindern sollte, gab den Demonstranten den Weg frei. Dagegen stießen sie an der Feldherrnhalle auf den Widerstand einer zweiten Abteilung der Landespolizei. Wie es da zu einer Schießerei kam, bei der 2 Mann von der Landespolizei und 14 Demonstranten tödlich getroffen wurden, ließ sich hernach nicht einwandfrei feststellen. Ludendorff marschierte aufrecht durch den Kugelregen, Hitler stürzte, leicht verletzt, und wurde schleunigst mit einem Auto an den Staffelsee in das Landhaus eines seiner Anhänger gefahren. Hier verhafteten am 11. November Polizeibeamte Hitler und brachten ihn und dann zunächst noch sechs von den an dem Putsch führend Beteiligten nach Landsberg am Lech. Als in der Nacht vom 8. zum 9. November 1923 die ersten telephonischen Nachrichten über den Hitlerputsch in Berlin eingetroffen waren, hielt Stresemann um Mitternacht eine Kabinettssitzung ab. Ebert übertrug auf Grund des § 48 der Reichsverfassung die vollziehende Gewalt von dem Reichswehrminister Geßler auf den Chef der Heeresleitung, Seeckt. Am Morgen des 9. November erließ Seeckt einen Aufruf an die Reichswehr, er sei beauftragt, alle zur Sicherung des Reiches erforderlichen Maßnahmen zu treffen. „Eingriffe Unberufener in die Ordnung des Reiches und der Länder wird die Reichswehr unter meiner Führung mit Nachdruck zurückweisen, von welcher Seite sie auch kommen mögen." Die Reichsregierung wünschte, der Prozeß gegen die „Münchner Hochverräter" solle vor dem Staatsgerichtshof in Leipzig geführt werden; die bayrische Regierung, die befürchtete, der Prozeß könne ihr peinliche Dinge an den Tag bringen, verlangte, die Verhandlung solle in München stattfinden und drang damit durch, weil die Reichsregierung, wie auch sonst, bemüht war, Bayern in dem Streben nach Wahrung seiner Staatsautorität möglichst weit entgegenzukommen. Am 26. Februar 1924 begann vor dem Volksgericht in München der Hochverratsprozeß gegen Hitler, Ludendorff und weitere acht Angeklagte. Die Gerichtsverhandlung zog sich mehrere Wochen hin, sie glich, wie der „Bayrische Kurier" schrieb, „im Inhaltlichen einer völkischen Agitationsversammlung". Die Urteilsverkündung erfolgte am 1. April: es wurden verurteilt Adolf Hitler, Friedrich Weber, Hermann Kriebel, Ernst Pöhner, jeder wegen eines Verbrechens des Hochverrates zu 5 Jahren Festungshaft, ihnen wurde nach sechs Monaten Festungshaft Bewährungsfrist für den Rest der Strafe in Aussicht gestellt; Wilhelm Brückner, Ernst Röhm und drei weiteren wegen Beihilfe zum Hochverrat zu einem Jahr und drei Monaten Festungshaft Verurteilten wurde sofortige Bewährungsfrist für vier Jahre bewilligt. Ludendorff wurde von der Anklage eines Verbrechens des Hochverrats freigesprochen, da bei ihm weder Hochverrat noch Beihilfe dazu vorliege. Das Gericht begründete dieses für Freunde und Gegner überraschend milde Urteil: „Die Angeklagten waren bei ihrem Tun von rein vaterländischem Geist und dem edelsten selbstlosen Willen geleitet." Als Ludendorff erklärte: „Ich empfinde die Freisprechung als eine Schande für den Rock und für die Ehrenzeichen, die ich 558

Separatisten im Rheinland trage, gegenüber meinen Kameraden", erschollen im Zuhörerraum stürmische Heilrufe. Hitler wurde noch am 1. April wieder nach Landsberg gebracht. Die Art der Prozeßführung und des Urteils war durch die eigenwillige bayrische Politik bestimmt, deren führende Männer, voran Kahr, tatsächlich eine völlige Umwandlung der Reichsregierung angestrebt hatten, allerdings — ebenso wie Seeckt — nur durch Druck auf die Reichsregierung, nicht durch Bürgerkrieg, also gewissermaßen auf legalem Wege. Die Reichsregierung kam ihrerseits Bayern so weit wie möglich entgegen, denn, wie Stresemann bereits am 5. November 1923 in einer Fraktionssitzung der Deutschen Volkspartei betont hatte: „Bürgerkrieg bedeutet Verlust von Rhein und Ruhr."

Die Separatisten

im Rheinland

(Oktober

1923 bis Februar

1924)

Neben den Linksradikalen Sachsens und den Rechtsradikalen Bayerns bildeten die „Separatisten" im Rheinland die dritte große Gefahr f ü r den Bestand der Weimarer Republik. Nach dem Abschluß des Waffenstillstandes vom 11. November 1918 wurden das linke Rheinufer u n d die Brückenköpfe bei Köln, Koblenz, Mainz u n d Kehl von den Alliierten besetzt und nach Inkrafttreten des Versailler Vertrags von der Interalliierten Rheinlandkommission unter dem Vorsitz des Franzosen Tirard verwaltet. Im September 1922 lagen 29 000 Belgier in dem an ihr Land grenzenden Bezirk, über 10 000 Engländer in und um Köln, 2000 Amerikaner in Koblenz u n d 106 000 Franzosen in dem übrigen besetzten Gebiet, im ganzen etwa doppelt so viel wie früher an deutschem Militär dort stationiert war. So wurden denn Schulen, Fabriken, Häuser, Wohnungen u n d Einzelzimmer beschlagnahmt, dazu landwirtschaftlich genutzter Boden f ü r Truppenübungs- und Sportplätze, Jagd- und Erholungsgelände, Theater und Kinos. Die deutsche Verwaltung blieb erhalten, hatte aber ebenso wie der Reichskommissar in Koblenz, der die deutschen Interessen vertrat, nichts zu sagen. Während das Zusammenleben mit den Engländern und Amerikanern ziemlich reibungslos ablief, wurde das Verhalten der Franzosen von zwei an sich unvereinbaren Grundgedanken bestimmt, mit denen sie die grimmige Feindschaft des größten Teiles der Bevölkerung auslösten: Frankreich sah in der Besetzung einerseits die triumphierende Geste des Siegers, darum der außergewöhnliche Aufwand, der ohne Rücksicht auf die Zivilbevölkerung, ja unter betonter Mißachtung ihrer Bedürfnisse, durchgehalten wurde — „Le boche paiera tout" (der Boche zahlt alles). Im Offizierskasino in Wiesbaden z. B. wurden allein für Silber, Glas, Porzellan usw. in einem Jahr 1,3 Millionen Goldmark verbraucht. Ob auch eine Absicht darin lag, daß 20 000 Mann farbige Truppen ins Rheinland geschickt wurden, steht nicht fest; jedenfalls empfand man dies in ganz Deutschland, wo man an den Anblick farbiger Soldaten nicht gewöhnt war, als eine zusätzliche Kränkung, als „schwarze Schmach", u n d Ubergriffe von Kolonialsoldaten fanden in einer Fülle privater und amtlicher Berichte erbitterten Widerhall. In eigenartigem Gegensatz hierzu stand der zweite

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Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924

Gedanke, der die Franzosen bei ihrer Besatzungspolitik leitete: die Bevölkerung der besetzten Gebiete sollte für den Anschluß an Frankreich gewonnen werden, dem dienten gewisse wirtschaftliche Vorteile und besonders eine großzügige Kulturpropaganda, Sprachkurse, Vorträge, Theatergastspiele und ähnliche Veranstaltungen. So hoffte Frankreich auf dem linken Rheinufer doch noch zu erreichen, was der Widerstand Wilsons und Lloyd Georges im Versailler Vertrag verhindert hatte. Die Hoffnungen der Franzosen erfüllten sich jedoch nicht, ihre Bestrebungen brachten nur viel zusätzliche Unruhe für die Bevölkerung mit sich. Von den eigentlichen Separatisten ist eine Strömung im rheinischen Zentrum zu unterscheiden, die 1918/1919 auf eine rheinisch-westfälische Republik als selbständiges Land innerhalb der Weimarer Republik hinarbeitete, also nur auf eine Loslösung von Preußen. Der entschlossene Widerstand sowohl im Lande, besonders der Sozialdemokraten, als auch der preußischen und der Reichsregierung veranlaßten das Zentrum bald, diesen Plan fallenzulassen. Dagegen strebten die eigentlichen Separatisten, verschiedene kleine Gruppen, nach der Errichtung selbständiger Staaten unter französischem Schutz. So rief der ehemalige Staatsanwalt Dr. Adam Dorten am 1. Juni 1919 in Wiesbaden die „Rheinische Republik" aus, und gleichzeitig der Chemiker Dr. Haas in Speyer die „Pfälzische Republik". Der fast einmütige Widerstand der Bevölkerung, der Generalstreik von Arbeitern und Beamten sowie der Protest der deutschen Regierung ließen diese Versuche schnell scheitern. Die französischen Generale, die derartige Unternehmungen mehr oder weniger offen begünstigten, konnten die Separatisten lediglich vor Strafe schützen und ihre auf kleine Parteigründungen beschränkte weitere Wühlarbeit decken. Als die Ruhrbesetzung 1923 die Nöte auch der schon länger besetzten Gebiete steigerte, zahlreiche regierungstreue Beamte ausgewiesen und die Existenz vieler anderer Menschen bedroht wurden, versuchten die Separatisten unter dem Schutz des französischen und belgischen Militärs noch einmal, Frankreichs Wunsch nach selbständigen Kleinstaaten auf dem linken Rheinufer zu verwirklichen. Im Sommer stellten Dorten, der frühere Linkssozialist Smeets und Matthes bewaffnete Organisationen auf. Ende Juli notierte Lord d'Abemon in sein Tagebuch, nun sei kaum mehr ein Zweifel möglich, daß Frankreich das Ruhrgebiet „weit mehr um territorialer, militärischer und wirtschaftlicher Vorteile willen als wegen der Reparationszahlungen" besetzt habe. Französische Behörden unterstützten offen und geheim die Separatisten, verboten den Deutschen den Besitz von Waffen und „erlaubten den Separatisten militärische Organisationen zu bilden. Verdächtig aussehende Individuen von auswärts unterstützten die Bewegung. Eisenbahnzüge wurden den Agitatoren zur Verfügung gestellt". Am 30. September riefen die eigentlichen Separatisten in Düsseldorf die „Rheinlandrepublik" aus, konnten sich jedoch nicht durchsetzen, obwohl französisches Militär die deutsche Polizei entwaffnete. In der belgischen Zone begannen am 21. Oktober mit der Besetzung des Rathauses von Aachen gut vorbereitete, von schwer bewaffneten Trupps durchgeführte Putsche, die trotz heftigen Widerstandes des größten Teiles der Bevölkerung auch in Mönchen-Gladbach, Duisburg 560

Separatisten im Rheinland und Krefeld den Separatisten zur Macht verhalfen. In der französischen Zone wurde vom 22. Oktober an in Koblenz, Bonn, Trier, Wiesbaden, Mainz und anderen Städten eine unabhängige „Rheinische Republik" ausgerufen, Dorten und Matthes errichteten in Koblenz eine provisorische Regierung, gaben Notgeld heraus, dessen Annahme die Bevölkerung verweigerte, und erließen Verordnungen, an die sich niemand kehrte. Die französischen Behörden wollten zwar den Schein der Neutralität wahren, wiesen aber Reichstreue aus oder verhafteten sie, verhängten Belagerungszustand und Verkehrssperren, die für die Separatisten nicht galten, und übergaben diesen die vom französischen Militär der deutschen Polizei abgenommenen Waffen. Ende Oktober ließ die englische Regierung in Paris und Brüssel Noten abgeben: England werde eine Autonomie von Rhein und Ruhr außerhalb Deutschlands nicht dulden und als Verletzung des Versailler Vertrags ansehen; England teilte diese Note auch Deutschland mit. In der Pfalz rief der Landwirt Heinz-Orbis, der schon in den Aufständen von 1919 eine führende Rolle gespielt hatte, in der ersten Novemberhälfte 1923 die Pfälzische Republik im Verbände der Rheinischen Republik aus. Gestützt auf General de Metz und fremde Banden übelster Art, konnte sich die Regierung Heinz-Orbis einige Zeit behaupten. Im übrigen Aufstandsgebiet wurden die Separatisten während des Novembers von der erbitterten einheimischen Bevölkerung vertrieben. Mitte des Monats erschlug die ländliche Selbsthilfe im Siebengebirge an die 180 plündernde Separatisten. Am 1. Januar 1924 unterstellte Heinz-Orbis die pfälzische Gendarmerie dem französischen Oberkommando. Am nächsten Tag erkannte die Interalliierte Rheinlandkommission dies gegen die Stimme des englischen Delegierten an und damit auch die illegale Regierung. Das Reichskabinett legte dagegen am 10. Januar schärfste Verwahrung ein. Am Tag zuvor war Heinz-Orbis, der sich „Präsident der Regierung der autonomen Pfalz" nannte, mit vier seiner Anhänger erschossen worden. Die Täter blieben trotz einer von den Franzosen auf die Ergreifung ausgesetzten Belohnung von 50 000 Francs unbekannt. Lord Curzon hatte schon im November 1923 die separatistische Bewegung öffentlich als schlecht, für eigennützige Zwecke angestiftet und verderblich für die Aussicht auf Reparationen bezeichnet; am 21. Januar 1924 ließ er im Unterhaus einen Bericht des englischen Konsuls in München vorlesen, der auf Curzons Veranlassung die Verhältnisse in der Pfalz untersucht hatte: 75% der Separatisten seien von auswärts gekommen, zum Teil vorbestraft, die überwältigende Mehrheit der Bevölkerung stehe der autonomen Regierung feindlich gegenüber, die sich nur mit französischer Unterstützung halten könne. Trotzdem vergingen noch einige Wochen, bis die Selbsthilfe der Bevölkerung dem Bandenunwesen ein Ende machte. Am 12. Februar steckten die Einwohner von Pirmasens ihr Rathaus in Brand und erschlugen 17 der aus dem Rathaus flüchtenden Separatisten. Daraufhin verjagten auch in anderen Orten die Einheimischen die ihnen aufgezwungene Regierung. Die Interalliierte Rheinlandkommission griff jetzt selbst durch; sie traf am 16. Februar in Speyer ein Abkommen mit dem pfälzischen Kreisausschuß, der die Regierung für kurze Zeit übernahm. Die Franzosen erreichten auch diesmal nur, daß die Separatisten nicht strafrechtlich verfolgt werden durften.

38 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924

Die Stabilisierung der Währung (November 1923) Zu einem dauernden Erfolg der Reichsregierung konnte die Uberwindung all dieser Katastrophen nur führen, wenn die Stabilisierung der Währung gelang. Darüber, wem der Ruhm gebührt, die Festmark geschaffen zu haben, ist viel gestritten worden, jedenfalls war sie nicht das Werk eines Einzelnen. Im Laufe des Sommers 1923 ging der Reichsregierung eine Fülle von Vorschlägen zu. Helfferichs genau durchgearbeiteter Plan sah eine „Roggenmark" vor, die Grundlage sollte der Preis des Roggens bilden, dagegen sprach aber, daß der Roggenpreis je nach den Ernteergebnissen großen Schwankungen unterlag. Der Finanzminister im ersten Stresemann-Kabinett, Hilferding, wollte eine Goldwährung, die „Neumark". Der damalige Ernährungs- und Landwirtschaftsminister, dann im zweiten Stresemann-Kabinett Finanzminister, Dr. Hans Luther, traf die Entscheidung für eine „Bodenmark", die spätere „Rentenmark". Das Ermächtigungsgesetz vom 13. Oktober 1923 (S. 550) ermöglichte ein rasches Handeln ohne Reichstagsdebatten, schon drei Tage später wurde das Gesetz über die Gründung einer deutschen Rentenbank veröffentlicht; sie gab ein wertbeständiges Zahlungsmittel aus, das durch auf Gold lautende erststellige Grundschulden auf den gesamten deutschen Grundbesitz und erstrangige Goldobligationen der Industrie, des Handels und der Banken gesichert wurde. Die Deckung war in gewisser Beziehung „fiktiv, denn sie konnte weder im Ausland als Reserve zur Regulierung der Wechselkurse verwendet, noch im Innern flüssig gemacht werden" (Stolper). Von ihrem fiktiven Kapital, 3,2 Milliarden, erhielt die Rentenbank Zinsen, im Grunde eine Sonderbesteuerung der Industrie und Landwirtschaft. Daraus sollte sich allmählich ein Eigenkapital der Rentenbank bilden. Vom 15. November an gab sie Rentenmarksdieine im Werte von 2,4 Milliarden heraus, die eine Hälfte erhielt die Reichsregierung, die zweite die Reichsbank für Kredite an die Wirtschaft. Das Verhältnis der Rentenmark zur Papiermark wurde auf 1 Rentenmark = 1 Billion Papiermark festgesetzt. Die Reichsbank durfte Reichsschatzwechsel nicht mehr diskontieren, dies bedeutete die Stillegung der Notenpresse; für eine Übergangszeit blieb die Papiermark allerdings nodi gesetzliches Zahlungsmittel. Zur Durchführung der Markstabilisierung wurde auf Wunsch Stresemanns und Luthers am 12. November 1923 der Direktor der Darmstädter- und Nationalbank Dr. Hjalmar Schacht, Mitglied der Demokratischen Partei (geboren 1877 zuTingleff in Schleswig), als hervorragender Fachmann zum Reichswährungskommissar und, nachdem Havenstein am 20. November gestorben war, im Dezember zum Reidisbankpräsidenten ernannt. Was das Ausland „Wunder der Rentenmark" nannte, wurde Wirklichkeit, weil sowohl die Bevölkerung von der Wertbeständigkeit der Rentenmark überzeugt, als auch der Reichshaushalt in Ordnung gebracht werden konnte, wozu wesentlich beitrug, daß während der Ubergangszeit die Reparationszahlungen völlig, die Leistungen für die Besatzungstruppen großenteils ruhten. Obwohl die Stabilisierung der Währung mit großen Härten und Entbehrungen für den einzelnen verbunden war, zeigte sich das Volk doch bereit, alles auf sich zu nehmen, wenn nur 562

Stabilisierung der Währung

Stresemanns Sturz. Kabinett Marx

die Inflation ein Ende fand, und so geschah das psychologische Wunder, daß der Glaube an die Wertbeständigkeit der Rentenmark trotz fiktiver Deckung die Gesundung der Währung ermöglichte. Finanzminister Luther traf auf Grund des Ermächtigungsgesetzes durchgreifende Sparmaßnahmen; etwa 300 000 Beamte, Angestellte und Arbeiter im Reichsdienst wurden entlassen, die Gehälter stark gekürzt, die Steuern mit Notverordnungen etwas erhöht und auf Rentenmark umgestellt, die Sachausgaben aufs äußerste eingeschränkt. Ab Januar 1924 gingen die Steuern in fester Währung ein und machten den Reichshaushalt von der Rentenbank unabhängig. Die Inflation war beendet. Das Ausland, besonders Frankreich, warf Deutschland vor, es habe sich der Geldentwertung zur Abschüttlung seiner Kriegsschulden und Reparationszahlungen bedient, bei gutem Willen hätte die Währung schon früher stabilisiert werden können. Die Kritiker übersahen dabei die ungeheuren Schwierigkeiten der deutschen Wirtschaft nach dem verlorenen Krieg und ließen sich wohl auch von der Scheinblüte des deutschen Wirtschaftslebens, einer Begleiterscheinung der Inflation, täuschen. Sie hatte denn auch neben dem weitaus überwiegenden Üblen, das sie mit sich brachte, nicht zu unterschätzende positive Seiten. Millionen enüassener Soldaten erhielten Arbeit, die Industrie produzierte für die Ausfuhr und fand bei dem Warenhunger nach dem Krieg auch im Inland reißenden Absatz, und Inflationsgewinnler schufen Werte, die auch nach Stabilisierung der Mark der Wirtschaft zugute kamen. Diese Entwicklung abzustoppen, ehe sie sich totgelaufen hatte, war mehr, als die schwachen Reichsregierungen bei all ihren sonstigen Schwierigkeiten zu leisten vermochten. Die völlige Liquidierung der Inflation, die Lösung der heiklen Aufwertungsfragen und die Einziehung der Papiermark gelang erst im Jahr 1924. Die Inflation hatte eine weitgehende Umschichtung der Vermögen bewirkt und „hinterließ, abgesehen von eigentlichen Spekulanten, auch zahlreiche Begünstigte, nämlich alle Schuldner von Papiermark. Wenn ein vor dem Kriege bis zum Halse verschuldeter Hausbesitzer sich seiner Hypotheken entledigen konnte und nach 1923 nicht nur mit geretteten Sachwerten, sondern auch schuldenfrei dastand, während seine früher wohlhabenden Hypothekengläubiger bettelarm wurden, so bedeutete ein solcher Vorgang nicht nur eine Störung des wirtschaftlichen Gleichgewichtszustandes . . . , sondern auch eine sehr ernstzunehmende Erschütterung der moralischen Begriffe. Jedenfalls können die wirtschaftlichen, seelischen und politischen Folgen dieses Vorgangs nicht bedeutsam genug veranschlagt werden. Sie haben wesentlich zu der beschämenden Entwicklung beigetragen, die einen so großen Teil der sogenannten bürgerlichen Schichten dem politischen Radikalismus zuführte" (Friedensburg).

Stresemanns Sturz. Kabinett Marx (November

1923)

Die Sozialdemokraten, verärgert über den Ausnahmezustand unter Seeckt, über das schroffe Vorgehen gegen die Kommunisten in Sachsen und Thüringen und die auffallend milde Behandlung Bayerns, griffen am 20. November 1923 im Reichs-

563 36·

Weimarer Republik — Krise und Konsolidierung, 1919/1924 tag die Regierung Stresemann an, die Deutschnationalen wandten sich mit umgekehrten Vorwürfen gegen Stresemann. Seit dem Ausscheiden der sozialdemokratischen Minister am 2. November stützte sich Stresemann nur nodi auf eine Minderheit, was für die bevorstehenden wichtigen innen- und außenpolitischen Aufgaben verhängnisvoll werden konnte. Er verlangte deshalb eine klare Entscheidung, ob seine Regierung noch das Vertrauen des Reichstags habe. Mit 230 gegen 155 Stimmen wurde das Vertrauensvotum abgelehnt, worauf Stresemann die Demission des Kabinetts dem Reichspräsidenten Ebert einreichte, der seinen Parteigenossen gegenüber äußerte: „Was Euch veranlaßt den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen Eurer Dummheit werdet Ihr noch zehn Jahre lang spüren", und im Reichstag witzelte man, der Kanzler solle die Presse fragen, weshalb er gestürzt sei, das Parlament wisse es nicht. Während seiner kurzen Kanzlerzeit von hundert Tagen hat Stresemann mit dem Abbruch des Ruhrkampfes, der Markstabilisierung und der Anbahnung neuer Reparationsverhandlungen den Weg in die Zukunft geebnet. Nach Überwindung von allerlei Schwierigkeiten ernannte Ebert am 29. November den Vorsitzenden der Zentrumsfraktion Wilhelm Marx zum Reichskanzler. Stresemann blieb Außenminister, wie sich überhaupt das Kabinett Marx in seiner Zusammensetzung vom Stresemannschen Rumpfkabinett nur wenig unterschied, neu kamen bloß der bayrische Demokrat Hamm als Wirtschaftsminister und der Bayrische Volksparteiler Emminger als Justizminister hinzu. Am 4. Dezember erklärte denn auch Marx vor dem Reichstag, seine Regierung unterscheide sich nicht prinzipiell von der vorhergehenden; um das Reich aus der katastrophalen Finanz- und Wirtschaftslage herauszuführen, bedürfe auch die neue Regierung eines Ermächtigungsgesetzes. Der Reichstag bewilligte es am 8. Dezember 1923 mit großer Mehrheit, setzte ihm aber eine Frist bis zum 15. Februar 1924. So konnten die wichtigsten Verordnungen für die Umstellung der Steuern auf Goldmark erlassen werden, für neue Steuergesetze, für Arbeitszeitverlängerung, für Beamtenabbau und sonstige Sparmaßnahmen, für eine Justizreform, für eine Neuordnung des Finanzausgleichs zwischen Reich und Ländern, für die Aufwertung der durch die Inflation entwerteten Hypotheken, Rentenschulden usw. auf 15% des Goldmarkbetrages, zahlbar nicht vor dem 1. Januar 1932, aber zu verzinsen vom 1. Januar 1925 an.

Ausgleich mit Bayern und das Ende der Krise (Februar

1924)

Nachdem am 18. Februar 1924 ein Ausgleich zwischen dem Reich und Bayern erreicht worden war — Kahr trat zurück, Lossow nahm seinen Abschied, die Inpflichtnahme des bayrischen Teiles der Reichswehr auf die bayrische Regierung wurde aufgehoben und der Vollzug des Wehrgesetzes für Bayern entgegenkommend geordnet — hob Reichspräsident Ebert am 28. Februar 1924 den militärischen Ausnahmezustand auf. Damit war eine Entwicklung zu gutem Ende geführt, über die Lord d'Abemon bereits am Jahresschluß 1923 in sein Tagebuch geschrieben hatte: „Die Gefahren von außen und innen waren derart, daß sie 564

Ausgleich mit Bayern und das Ende der Krise die ganze Zukunft Deutschlands bedrohten . . . Blickt man zurück, sieht man klarer, wie nah am Abgrund dieses Land gewesen ist. In den zwölf Monaten vom Januar bis jetzt hat Deutschland überstanden: den Ruhreinbruch, die kommunistische Erhebung in Sachsen und Thüringen, den Hitlerputsch in Bayern, eine beispiellose finanzielle Krisis, die Separatistenbewegung im Rheinland. Jedes einzelne davon hätte, wäre es nicht überwunden worden, in den inneren Verhältnissen oder den auswärtigen Beziehungen zu einer grundlegenden Änderung geführt; jedes einzelne, wäre es gelungen, würde jede Hoffnung auf allgemeine Befriedung vernichtet haben. Politische Führer in Deutschland sind nicht viel öffentliches Lob gewöhnt; die das Land durch diese Gefahren geführt haben, verdienen mehr Anerkennung, als ihnen vermudich zuteil wird."

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Die Jahre des Aufstiegs, 1924—1929

DEUTSCHLANDS REHABILITIERUNG 1924—1927

Das Dawes-Gutachten Durch den Ruhreinbruch war die Weltmeinung in der Reparationsfrage zugunsten Deutschlands umgeschlagen. So hatte der erneute Antrag der deutschen Regierung vom 24. Oktober 1923 an die Reparationskommission auf Prüfung der deutschen Leistungsfähigkeit durch eine internationale Kommission von Fachleuten, endlich Erfolg. Poincaré gab seinen Widerstand auf; am 30. November beschloß die Reparationskommission in Paris die Einsetzung von zwei Sachverständigen-Ausschüssen: der eine solle untersuchen, wie die Währung Deutschlands stabilisiert und sein Staatshaushalt ausgeglichen werden könne, der zweite Ausschuß solle die Höhe des aus Deutschland geflüchteten Kapitals und die Mittel zu seinem Rücklauf feststellen. Mitte Januar 1924 trat in Paris der erste internationale Sachverständigenausschuß zusammen, wobei für Deutschland sehr ins Gewicht fiel, daß sich an ihm nun auch die Vereinigten Staaten beteiligten und die Leitung ein Amerikaner hatte, der im Wirtschaftsleben erfahrene Rechtsanwalt Charles G. Dawes; den Titel General hatte er im Krieg als Versorgungsoffizier für die amerikanischen Truppen in Frankreich erhalten. Dem Ausschuß gehörten ferner an der amerikanische Finanzpolitiker Owen D. Young, je zwei Franzosen, Belgier, Engländer und Italiener. Den Vorsitz im zweiten Ausschuß führte der englische Finanzfachmann Reginald McKenna. In der ersten Sitzung gab Dawes zu bedenken: „Die Hindernisse, die einer Reglung der Reparationsfrage im Wege stehen, haben ihren Ursprung im nationalen Hochmut und in den egoistischen Interessen der verschiedenen alliierten Beamten, die ein interalliiertes Zusammenwirken als unvereinbar mit ihren Vollmachten zu verhindern suchen. Sie haben ihren Ursprung desgleichen in den unaufhörlichen Entstellungen der Wahrheit und dem unerträglichen Geschrei jener widerlichen Aasgeier, der nationalistischen Demagogen aller Länder . . . Die Unfähigkeit, sich über eine gemeinsame Haltung zu einigen, hat ganz Europa in eine äußerst kritische Lage gebracht . . . Der Kredit sämtlicher europäischer Alliierter hat einen Stoß erhalten, als das Wirtschaftsleben Deutschlands allmählich erlosch. Denn die Welt hat erkannt, daß Deutschland mit der Arbeitsfähigkeit des deutschen Volkes auch die Fähigkeit zu den Reparations-

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Dawes-Gutaditen Zahlungen verlor, die ein so wichtiges Element der Zahlungsfähigkeit Europas darstellte." Beide Ausschüsse leisteten schnelle und gründliche Arbeit, am 9. April legten sie der Reparationskommission ihre Gutachten vor. Der Bericht des McKennaAusschusses bezifferte das deutsche Kapital im Ausland auf etwa 6,75 Milliarden Goldmark, sobald Deutschland eine stabile Währung habe, werde die Kapitalflucht von selber aufhören und das ins Ausland geflossene Kapital allmählich wieder nach Deutschland zurückkommen. Der Dau>es-Ausschuß schlug einen neuen Reparationsplan vor; eine Endsumme nannte auch er nicht, gab aber genau an, wie Deutschland in den nächsten Jahren die zu zahlenden Summen aufbringen könne, ohne seine Wirtschaft zu gefährden; der Plan forderte die Wiederherstellung der finanziellen und wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, also Freigabe des Ruhrgebiets, Gewährung einer Auslandsanleihe von 800 Millionen Mark an Deutschland und einer Erholungspause mit ganz geringen Zahlungen; die Kosten der Besatzungsarmeen und der Kontrollkommissionen waren in diese Zahlungen mit eingeschlossen, die von einer Milliarde Mark im ersten Jahr, im zweiten auf 1,22 Milliarden und so in fünf Jahren auf die Summe von jährlich 2,5 Milliarden ansteigen sollten. Einen Teil der Zahlungen sollte der Reichshaushalt aus hierfür bestimmten Zöllen und Steuern sowie der neu eingeführten Verkehrssteuer aufbringen, den zweiten Teil die Schuldverschreibungen von fünf Milliarden Mark, die als erste Hypotheken allen großen Industrieunternehmungen aufzuerlegen seien, und den dritten Teil die Reichseisenbahn, die ihr Eigentum mit 11 Milliarden Schuldverschreibungen belasten sollte. Zu diesem Zweck war die Organisierung der Reichsbahn als selbständiges Unternehmen vorgesehen und die Berufung von internationalen Sachverständigen in die Leitung der Reichsbahngesellschaft. Die neue Golddiskontbank, über die alle Reparationszahlungen zu laufen hatten, sollte einen halb aus Deutschen, halb aus Allüerten bestehenden Generalrat zur Überwachung erhalten, an ihrer Spitze einen „Agenten für Reparationszahlungen", doch stellte das Gutachten ausdrücklich fest, man habe sich bemüht, ohne Gefährdung der Sicherheit der Gläubiger eine Einmischung in die innere Verwaltung Deutschlands so weit wie möglich zu vermeiden. Die Reparationskommission, der die Gutachten eingereicht wurden, leitete sie als gute Grundlage für die Lösung der Reparationsfrage an die beteiligten Staaten weiter. Deutschland, England, Belgien, Italien, Jugoslawien und Japan stimmten bereitwillig zu; nur Frankreich erklärte, es könne das Ruhrgebiet nicht räumen, ehe Deutschland den Dawesplan effektiv zur Ausführung gebracht habe. Für Deutschland und für die Erhaltung des Friedens war es daher ein Glück, daß bei den Wahlen zur französischen Kammer am 11. Mai 1924 das Ministerium Poincaré gestürzt und Eduard Herriot am 14. Juni Ministerpräsident wurde. Unter Wahrung aller französischen Interessen zeigte sich Herriot doch durchaus zu loyaler Zusammenarbeit mit einem demokratischen Deutschland bereit. In England hatte bereits während des Januar ein Kabinettswedisel den verständigungsbereiten Kurs gestärkt, als mit Ramsay Macdonald zum erstenmal die Arbeiterpartei an die Regierung gekommen war. 567

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 Neuwahlen im Mai 1924. Zweites Kabinett Marx. Annahme des

Dawes-Gutachtens

In Deutschland wurde am 13. März der Reichstag aufgelöst, weil die Deutschnationalen und die Sozialdemokraten je nach ihrem Standpunkt Änderungen der Notverordnungen von der Regierung forderten, diese aber erklärte, die Notverordnungen stellten ein einheitliches Ganzes dar, aus dem kein wichtiger Teil herausgebrochen werden könne. Die Neuwahlen wurden auf den 4. Mai 1924 angesetzt. Obwohl Stresemann recht hatte, als er am 17. Februar bei einer Rede in Elberfeld das Wort des Staatssekretärs Bergmann zitierte, er „sehe zum erstenmal einen Silberstreifen an dem sonst düsteren Horizont", und obwohl die Reichsregierung in einem Wahlaufruf eindringlich die Richtigkeit ihres freilich große Opfer heischenden Vorgehens darlegte, waren weite Kreise doch so unzufrieden und noch so erregt von den Ereignissen des Jahres 1923, daß sie der Stimme der Vernunft nicht zu folgen vermochten und die extremen Parteien der Rechten und Linken gewaltig zunahmen. Die Abgeordnetenzahl der Nationalsozialistischen Freiheitspartei, zu der sich die Deutschvölkischen und die Nationalsozialisten zusammengeschlossen hatten, stieg von 3 auf 32, die der Deutschnationalen von 65 auf 106, die der Kommunisten von 17 auf 62, dagegen sank die Abgeordnetenzahl der Deutschen Volkspartei von 66 auf 45, die des Zentrums von 68 auf 65, die der Demokraten von 39 auf 28 und die der Sozialdemokraten von 171 auf 100. Die Deutschnationalen hätten nun als die stärkste Partei die neue Regierung bilden können; da sie aber die Erfüllungspolitik nur bedingt weiterführen wollten, dazu Admiral Tirpitz als Kanzler vorschlugen — was bei der gesamten Linken und vor allem im Ausland Anstoß erregte — und die Ausschaltung der Sozialdemokraten, die seit 1920 in Preußen mit dem Zentrum und den Demokraten gut zusammenarbeiteten, aus der preußischen Regierung verlangten, kam für die Reichsregierung der geplante „große Bürgerblodc" nicht zustande. Am 3. Juni 1924 bestätigte der Reichspräsident den bisherigen Reichskanzler Marx und seine Regierung im Amt, nachdem sie am 26. Mai ihren Rücktritt erklärt hatten. Die erste Sitzung des neuen Reichstags am 27. Mai mußte, ohne auch nur die Präsidentenwahl vornehmen zu können, geschlossen werden; mit Trillerpfeifen, Blechtrompeten, Zwischenrufen und ähnlichem machten die 62 Kommunisten jeden geordneten Verlauf der Sitzung unmöglich; sie wollten damit die Haftentlassung ihrer in den Reichstag gewählten Genossen erzwingen, was ihnen auch in einigen Fällen gelang. Die Deutschnationalen benutzten ihre Oppositionsstellung zu erbitterter Bekämpfung der Erfüllungspolitik und besonders zu persönlichen Angriffen auf Stresemann. Der beste Kopf der Deutschnationalen, Helfferich, war im April bei einem Eisenbahnunglück in der Schweiz ums Leben gekommen, Graf Westarp konnte ihn nicht ersetzen. Die Opposition der Deutschnationalen entsprang sicher ehrlich nationalem Empfinden, aber über dem Festhalten an Idealen der Vergangenheit verloren sie den Blick für das Deutschland in der neuen Zeit Mögliche und Notwendige, und so bildeten sie ein Hemmnis für den Weg der jungen Republik im Inland und im Ausland. Trotz der deutschnationalen Opposition gelang am 6. Juni die Annahme des Dawes-Gutachtens als Verhandlungsgrundlage. 568

Londoner Konferenz Londoner

Konferenz.

Zusage der Räumung

des

Ruhrgebietes

Die interalliierte Konferenz zur Durchführung des Dawesplanes begann am 16. Juli 1924 in London, zehn Staaten nahmen an ihr teil. In der Eröffnungsrede führte Macdonald aus, wie wichtig es sei, den Dawesplan als Ganzes anzunehmen und fuhr dann fort: der Plan „fordert nicht nur Verpflichtungen von Deutschland, sondern auch von uns. Wir müssen ihm eine Chance geben. Wir müssen unsere Maßnahmen so treffen, daß wir die Bedingungen schaffen, unter denen der Plan lebensfähig ist. Von diesen Bedingungen sind zwei unbedingt wesentlich: erstens daß die wirtschaftliche und fiskalische Einheit Deutschlands wieder hergestellt wird, zweitens daß angemessene Sicherheit den Gläubigern gegeben werden kann, die als Grundlage des Planes eine sehr große Anleihe vorstrecken sollen". Zur fünften Vollsitzung wurde Deutschland zugezogen, vertreten von Reichskanzler Marx, Außenminister Stresemann und Finanzminister Luther. Uber verschiedene Einzelheiten ließ sich eine Verständigung nur schwer erreichen, wiederholt drohte die Konferenz zu scheitern; da es aber auf allen Seiten nicht an gutem Willen fehlte, konnte am 16. August das Schlußprotokoll paraphiert werden. In seiner letzten Ansprache beglückwünschte Macdonald die Konferenzteilnehmer, die er als „Meine Freunde" anredete, zu dem Erfolg: „Wir haben versucht, einander so weit entgegenzukommen, wie uns die öffentliche Meinung der verschiedenen Länder gestattete. Dieses Abkommen kann angesehen werden als der erste Friedensvertrag, weil wir es unterzeichneten mit einem Gefühl, daß wir den furchtbaren Kriegsjahren und der Kriegsmentalität unseren Rüdcen gewandt haben." Macdonald erkannte auch die Schwere der Lasten an, die Deutschland auf sich nehmen mußte, aber „die Zeit der Isolierung ist vorbei und die des Austausches der Meinungen hat begonnen". Der Dawesplan sollte am 1. September 1924 in Kraft treten, wenn alle beteiligten Mächte das Londoner Protokoll bis zum 30. August unterzeichnet hätten. Während die Aufhebung der wirschaftlichen Zwangsmaßnahmen Frankreichs im Ruhrgebiet und die Wiederherstellung der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands im Dawesplan verankert waren, hatte sich Herriot der französischen Kammer gegenüber gebunden, die militärische Räumung des Ruhrgebietes auf der Londoner Konferenz nicht zu erörtern; Macdonald konnte ihn aber doch bewegen, mit der deutschen Delegation gesondert darüber zu verhandeln. Sowohl Stresemann wie Herriot hatten durchaus Verständnis für die schwierige Lage des anderen, jeder mußte auf die Stimmung in seinem Lande Rücksicht nehmen, Herriot auch darauf, daß die Meinung der Welt gegen die Ruhrbesetzung war. Schließlich kam es zu einer Einigung. Sie wurde nicht in das Protokoll aufgenommen, sondern in einem Briefwechsel zwischen Herriot, Marx und Macdonald festgelegt. Frankreich versprach, die militärische Räumung des Ruhrgebietes im Laufe eines Jahres durchzuführen und aus der Zone von Dortmund bis Hörde sowie aus den nicht zum Ruhrgebiet gehörigen, seit Januar 1923 besetzten Teilen die Truppen sofort zurückzuziehen. Macdonald legte in seinem Brief an Herriot noch einmal die englische Ablehnung der Ruhrbesetzung sehr deutlich dar und drängte auf mög569

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 lidist beschleunigte Räumung des Ruhrgebietes, da „die Fortführung der Besetzung die Wirkung des Dawesplans schädlich beeinflussen und die in London vereinbarten Ubereinkommen gefährden kann". In Paris mußte Herriot seine Politik gegen heftige Angriffe, namentlich Poincarés, verteidigen, doch sprachen beide Kammern Herriot ihr Vertrauen aus; seine Forderung „Die Vernunft muß über die Eigenliebe triumphieren" wurde erfüllt.

Abstimmung im Reichstag über den Dawes-Plan. Seine Auswirkungen In Deutschland legte die Regierung am 23. August dem Reichstag die zur Durchführung des Dawesplanes notwendigen Gesetze vor, besonders die Abänderung des Reichsbankgesetzes, die hypothekarische Belastung der Industrie und die Errichtung der Reichsbahngesellschaft. Von den Sozialdemokraten bis zur Deutschen Volkspartei traten alle Abgeordneten für die Annahme des Dawesplanes ein. Damit war die einfache Mehrheit gesichert. Das verfassungsändernde Reichsbahngesetz erforderte jedoch eine Zweidrittelmehrheit; die Deutschnationalen mußten sich also entscheiden, ob sie die Verantwortung für ein Scheitern des vom Volk fast einmütig als Fortschritt anerkannten Dawesplanes übernehmen wollten. In den beiden ersten Lesungen lehnten sie ihn ab, er drücke das deutsche Volk „auf die Stufe eines afrikanischen Negerstammes" herab. Helfferich hatte kurz vor seinem Tod den Plan „ein zweites Versailles" genannt. Bis zur Abstimmung in der dritten, der entscheidenden Lesung am 29. August blieb die Haltung der Deutschnationalen ungewiß. „Atemlose Spannung im Saal und auf den Tribünen. Alles blickt zu den Deutschnationalen hinüber, die aus ihren Schubfächern die Abstimmungskarten herausholen. Ja oder nein, weiß oder rot, das ist die Frage. Und schon scheint sie auch entschieden zu sein, denn man sieht auf der Rechten nichts als rote Nein-Karten. Plötzlich entsteht eine wilde Bewegung. Selbst die Diplomaten, die sonst in schweigender Unbeweglichkeit dazusitzen pflegen, sind von ihren Plätzen aufgesprungen, schreien, gestikulieren, beugen sich über die Brüstung, um genauer beobachten zu können, was sich unten begibt. Von den deutschnationalen Abgeordneten hat jeder zweite, während er noch die rote Karte in der linken Hand hielt, mit der rechten eine weiße Ja-Karte abgegeben. Der deutschnationale Reichstagspräsident Wallraf erhebt sich. Er stellt fest, daß 441 Stimmen abgegeben wurden, davon lauten 311 auf Ja, 127 auf Nein. Die erforderliche Zweidrittelmehrheit ist erreicht. 48 Deutschnationale haben mit Ja gestimmt, 52 mit Nein. Pfuirufe, Gelächter und Beifallsklatschen, an dem sich die außer Rand und Band geratenen Diplomaten beteiligen, schließen die Szene. Der Dawesplan ist angenommen" (Stampfer). Die Deutschnationalen hatten für diesen Fall den Fraktionszwang aufgehoben. Viele von ihnen, besonders die aus dem Ruhrgebiet, ließen sich von der vernünftigen Uberzeugung leiten, daß der Dawesplan angenommen werden müsse. Auch hatten die Deutsche Volkspärtei und das Zentrum ihnen eine angemessene Beteiligung an der Regierung zugesichert, und

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Néuwahlen im Dezember 1924. Kabinett Luther die Regierung hatte versprochen, eine feierliche Erklärung gegen die deutsche Kriegsschuld zu erlassen. Nodi am gleichen Tag veröffentlichte Reichskanzler Marx eine Kundgebung; in ihr dankte er dem Reichstag für die Annahme des Dawesplanes, der Deutschland den Weg in eine bessere Zukunft öffne, und wies die Schuld Deutschlands am Krieg zurück: „Es ist eine gerechte Forderung des deutschen Volkes, von der Bürde dieser falschen Anklage befreit zu werden. Solange das nicht geschehen ist, solange ein Mitglied der Völkergemeinschaft zum Verbrecher an der Menschheit gestempelt wird, kann die wahre Verständigung und Versöhnung zwischen den Völkern nicht vollendet werden." Wie zu erwarten, stieß diese Erklärung im Ausland auf heftigen Widerspruch. Die italienische, französische und englische Regierung warnten das Auswärtige Amt davor, diese Erklärung in Form von Noten offiziell zu überreichen, scharfe Gegenproteste würden die Antwort darauf sein. Stresemann wollte bei der eben jetzt in Gang kommenden Diskussion über den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund Klarheit schaffen über den unberechtigten Vorwurf der Alleinschuld Deutschlands am Krieg, war aber dann doch, dem Drängen vor allem seines Staatssekretärs Maltzan nachgebend, damit einverstanden, daß die Absendung der Noten verschoben wurde und schließlich ganz unterblieb. Der am 1. September 1924 in Kraft getretene Dawesplan bewährte sich vorzüglich. Deutschland bezahlte pünktlich die fälligen Raten; in den folgenden Wochen wurden im Ruhrgebiet die Zollgrenze und die Verkehrssperre zum unbesetzten Deutschland aufgehoben; die Ausgewiesenen durften zurückkehren; die Micum löste sich auf; die Eisenbahn kam wieder unter deutsche Verwaltung; die Zusammenarbeit zwischen den Deutschen und den interalliierten Kontrollbeamten ging fast reibungslos vonstatten. Am 10. Oktober kamen die Abmachungen zwischen der deutschen Regierung und den internationalen Banken über die Anleihe von 800 Millionen Goldmark zum Abschluß, die dann in London dreizehnmal überzeichnet wurde. Damit begann für Deutschland eine wirtschaftliche Blütezeit.

Neuwahlen im Dezember 1924. Kabinett

Luther

Die innerpolitischen Verhältnisse blieben unerfreulich. Alle Versuche, die Basis der Regierung entweder durch Beteiligung der Sozialdemokraten oder der Deutschnationalen zu verbreitern, schlugen fehl; deshalb löste Reichspräsident Ebert den Reichstag auf und setzte zum 7. Dezember 1924 Neuwahlen fest. „Die radikalen Elemente sollen durch die Neuwahl ausgeschaltet werden", hieß es in einem Wahlaufruf der Regierung, „ist es nicht eine Schande, daß der deutsche Reichstag mit polizeilicher Hilfe tagen muß und sich Extreme von rechts und links die Hand reichen, um seine Arbeit zu sabotieren? Soll das deutsche Volk im Innern weiter gesunden, und soll nach außen die neu gewonnene Geltung erhalten und gewahrt werden, so muß die Regierung sich auf eine feste Mehrheit stützen können." Bei den Wahlen ging der erste Wunsch in Erfüllung, die Kommunisten 571

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929

verloren 17, die Nationalsozialisten 18 Sitze. Die Sozialdemokraten gewannen 31, die Deutschnationalen 7, das Zentrum 4, die Deutsche Volkspartei 7, die Demokraten 4 Sitze. Die Deutsche Volkspartei bestand auf Hereinnähme der Deutschnationalen in die Regierung, die Demokraten forderten die der Sozialdemokraten, das Zentrum wünschte Deutschnationale und Sozialdemokraten als Mitglieder einer „Regierung der Volksgemeinschaft". So konnte der parteilose, der Deutschen Volkspartei nahestehende bisherige Finanzminister Luther erst am 15. Januar 1925 als neuer Reichskanzler seine Ministerliste vorlegen, mit Namen von Mitgliedern der Deutschnationalen Partei, der Deutschen Volkspartei, des Zentrums und der Bayrischen Volkspartei oder diesen Parteien nahestehender Männer; Außenminister blieb Stresemann, Reidbswehrminister Geßler, Innenminister wurde der deutschnationale Martin Schiele. Damit war der „Bürgerblock" verwirklicht. Stresemann hatte erreicht, daß die Deutschnationalen die Verantwortung für die Durchführung des Dawesplanes und für den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund mit übernahmen; der Zustimmung der Sozialdemokraten in der Außenpolitik war er ohnehin sicher, die sozialdemokratische Opposition richtete sich nur gegen die über den Achtstundentag hinaus verlängerte Arbeitszeit und gegen die Steuer- und Zollpolitik des Reiches. Am 22. Januar billigte der Reichstag das Programm der neuen Regierung.

Magdeburger

Prozeß. Barmat-Skandal.

Eberts

Tod

Obwohl nun die Deutschnationalen Regierungspartei waren, ließ ihre Hetze gegen Stresemann und vor allem gegen den Reichspräsidenten Ebert nicht nach, der sich oft gezwungen sah, Strafanträge wegen Beleidigung und Verleumdung zu stellen. Am meisten litt er unter dem Magdeburger Prozeß im Dezember 1924. Der Schriftleiter einer kleinen mitteldeutschen Zeitung hatte Ebert Landesverrat vorgeworfen, besonders wegen seiner Beteiligung am Munitionsarbeiterstreik im Januar 1918. Der angeklagte Schriftleiter wurde zwar zu drei Monaten Gefängnis wegen öffentlicher Beleidigung verurteilt, aber in der Urteilsbegründung hieß es, Ebert habe im Januar 1918 strafrechtlich Landesverrat begangen, wenn auch seine Handlungsweise politisch und moralisch geboten gewesen sei, weil sie nur den Zweck hatte, den Streik schneller zu beenden. Das Urteil wurde von der Linken und allen rechtlich Denkenden anderer Richtungen heftig kritisiert und führte zu vielen Kundgebungen der verschiedensten Kreise für Ebert. Ihn „einer landesverräterischen Haltung und einer Schädigung der Wehrmacht während des Krieges zu beschuldigen, erschien besonders nichtswürdig, da auch in den Rechtskreisen bekannt war, daß seine vier Söhne Soldaten waren, zwei von ihnen fielen und einer verwundet wurde" (Meißner). Trotzdem bezeichnete die Rechtspresse das Urteil als moralische Niederlage des Reichspräsidenten und forderte seinen Rücktritt. Auch in den Barmat-Skandal wurde Eberts Name hineingezogen. Der aus dem Osten 1919 in Deutschland eingewanderte, während der Inflation reich ge572

Magdeburger Prozeß. Barmat-Skandal. Eberts Tod wordene Iwan Baruch Kutisker machte Ende 1924 Bankrott, die preußische Staatsbank, deren Beamte ihm leichtsinnig Wechselkredite gewährt hatten, verlor dadurch 14,2 Millionen Mark. Im Zusammenhang damit wurden auch die Brüder Barmat verhaftet, von denen es hieß, daß sie mit Kutisker in Verbindung gestanden hätten, und durch die das Reidispostministerium, das ihnen ein hohes Darlehen bewilligt hatte, 14 Millionen Mark einbüßte. Belastet waren dadurch zwei Mitglieder des Zentrums, und, da die Barmats zu der sozialdemokratischen Partei und zu Ebert gute Beziehungen unterhalten hatten, wurde dieser, obwohl völlig schuldlos, in die Voruntersudiungen hineingezogen. Am tiefsten aber fühlte sich Ebert gekränkt durch die in der Urteilsbegründung des Magdeburger Prozesses wenn auch nur „strafrechtlich" bestätigte Beschuldigung des Landesverrats. Ebert legte Berufung dagegen ein. In der Erregung dieser Tage wollte er dem dringenden Rat seiner Ärzte, ins Krankenhaus zu gehen, nicht folgen; als er es schließlich tat, war es zu spät, er starb am 28. Februar, erst 54 Jahre alt, an einer Bauchfellentzündung, der Folge des bereits durchgebrochenen Blinddarms. In den Nachrufen des In- und Auslandes überwog die Anerkennung der Persönlichkeit und der Leistung des ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik bei weitem. Grundsätzlich ist Ebert immer Sozialdemokrat geblieben, aber höher als seine Parteizugehörigkeit standen ihm Recht und Gerechtigkeit und die Interessen seines Vaterlandes. Dazu besaß der aus einfachen Verhältnissen Hervorgegangene von Natur aus ein feines Taktgefühl, und eine hervorragende staatsmännische Begabung befähigte ihn, wie ihm Stresemann nachrühmte, den Ubergang von der alten zur neuen Zeit zu vollziehen, eine „Aufgabe, an der mancher Berufsdiplomat hätte scheitern können". Ebert genoß denn auch bei den Mitgliedern des diplomatischen Korps in Berlin, in der Beamtenschaft, im Offizierskorps, bei Industriellen und im Bürgertum hohes Ansehen. Dagegen schmähten ihn die Kommunisten als „Verräter seiner Klasse" maßlos, und der linke Flügel der Sozialdemokraten und der Gewerkschaften verübelte Ebert, daß er seine Stellung als Reichspräsident nicht zur Durchführung sozialistischer Forderungen benützte. Bürgerliche Kreise, denen der Sozialdemokrat und Mann aus dem Volke als Staatsoberhaupt schon an sich ein Dorn im Auge war, spotteten über den „Sattler" und „Schankwirt". Aber mit der Zeit, zumal nach den Erlebnissen 1933/1945, setzte sich eine verständnisvolle und gerechte Würdigung Eberts fast allgemein durch: „In den Wirrnissen der Wochen, die jenem Zusammenbruch vom November 1918 folgten, umdroht, bestürmt, gefährdet, verhöhnt, ging er (Ebert) den Weg zur Rettung der deutschen Einheit durch die deutsche Demokratie. ,Ging' — das Wort ist zu schwach, es war ein kämpfendes Schreiten in wacher und tapferer Bewußtheit. Geschichtliche Autoritäten sanken hinweg, aber eine neue Autorität formte sich aus diesem So-sein. Als Könige versagten, hat dieser Sohn des breiten Volkes sich höchst königlich bewährt . . . Aus dem Nichts war ein Amt geschaffen. Da gab es keinen Vorgang: Wie ist es, Präsident einer deutschen Republik zu sein? Er selbst hat dieses Amt durch sein Menschentum geprägt, hat als des Staates erster Bürger diesem zerzausten Wort seine Weite und seine Würde zurückgewonnen" (Theodor Heuss). 573

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929

Hindenburgs Wahl zum

Reichspräsidenten

Ebert war von der Nationalversammlung gewählt worden; nach seinem Tode hatte das deutsche Volk zum erstenmal gemäß der Weimarer Verfassung in direkter Wahl den Reichspräsidenten zu wählen. Die bürgerlichen Parteien versuchten vergebens, sich auf einen Kandidaten zu einigen. Zuerst schlugen sie den Reichswehrminister Geßler vor, ließen ihn aber bald wegen schwerer außenpolitischer Bedenken fallen; auf Grund von Gesandtschaftsberichten warnte Stresemann, für das Ausland würde Geßler als Reichspräsident gleichbedeutend mit der Herrschaft der Wehrmacht in der deutschen Politik sein. Schließlich wurden sieben Kandidaten aufgestellt: von den Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei, dem „Reichsblock", der Duisburger Oberbürgermeister Karl Jarres, von der Bayrischen Volkspartei der bayrische Ministerpräsident Heinrich Held, von den Demokraten der badische Staatspräsident Willy Hellpach; von den Sozialdemokraten der preußische Ministerpräsident Otto Braun; vom Zentrum der frühere Reichskanzler Wilhelm Marx; von den Nationalsozialisten General a. D. Erich Ludendorff; von den Kommunisten der Transportarbeiter Ernst Thälmann. Bei dieser Zersplitterung erreichte keiner der Kandidaten die erforderliche Hälfte der Stimmen: Jarres erhielt 10,7, Braun 7,8, Marx 3,9, Thälmann 1,8, Hellpach 1,5, Held 0,9 und Ludendorff 0,2 Millionen Stimmen. Für den nun notwendigen zweiten Wahlgang einigten sich Zentrum, Sozialdemokraten und Demokraten, der „Volksblock", àuf Marx. Die Kommunisten hielten an der Kandidatur von Thälmann fest, die Deutsche Volkspartei trat weiter für Jarres ein. Als aber dann die Deutschnationalen, die Bayrische Volkspartei sowie einige kleinere Parteien Hindenburg vorschlugen und Jarres zurücktrat, wurde der allbekannte, von vielen verehrte Feldherr des Weltkrieges Kandidat des erweiterten Reichsblocks. Hindenburgs Einwilligung war nur schwer zu erlangen. Er stand im 78. Lebensjahr, lebte zurückgezogen in Hannover, war überzeugter Monarchist geblieben; die Erinnerung an den November 1918, als er durch sein Schweigen dem Kaiser bestätigte, das Heer stehe nicht mehr hinter seinem Obersten Befehlshaber, lag wie eine schwere Last auf ihm. Dazu stand er der Politik fern, war nicht ehrgeizig und hatte kein Verlangen, Diener der Republik zu werden. Schließlich ließ er sich aber doch von Tirpitz zur Annahme der Kandidatur bewegen: Hindenburgs Pflicht sei, sich noch einmal dem Vaterland zur Verfügung zu stellen, wie er es im Kriege und nach dem Zusammenbruch getan hatte; als Reichspräsident stehe er über den Parteien und diene dem ganzen Volk. Der zweite Wahlgang, bei dem die einfache Mehrheit entschied, fand am 26. April statt. Hindenburg erhielt 14,6, Marx 13,7 und Thälmann 1,9 Millionen Stimmen, ein ebenso merkwürdiges wie folgenschweres Ergebnis: die republikanisch gesinnten Protestanten wählten den katholischen Zentrumsmann Marx, die katholische Bayrische Volkspartei den protestantischen Preußen Hindenburg, nur Weil das Zentrum mit den Sozialdemokraten zusammenging, und die Kommunisten verzettelten lieber ihre Stimmen, die den Ausschlag gegeben hätten, als daß sie einen Bürgerlichen wählten. Von den 39,4 Millionen Wahlberechtigten übten 574

Vorverhandlungen über die Aufnahme in den Völkerbund 9 Millionen ihr Stimmrecht nicht aus. Das „Berliner Tagblatt" nannte das Wahlergebnis den Sieg der politischen Unreife, die den meisten Deutschen angeborne Sentimentalität habe den Sieg über den politischen Sinn davongetragen. Für einen großen Teil der Wähler traf dies sicher zu, denn einen überzeugten Monarchisten und prominenten Vertreter des altpreußischen Soldatentums, der sich nie für Politik interessiert hatte, zu dem mit gewichtigen Reihten ausgestatteten Oberhaupt einer Republik zu machen, die nach innen und außen noch mühsam um ihre Geltung rang, war ein sehr gefährliches Wagnis. Zunächst ging alles glatt vonstatten. Das Ausland nahm die Wahl des auf der Kriegsverbrecherliste obenanstehenden alten Feldherrn — entgegen Stresemanns Befürchtung — ziemlich ruhig hin. Hindenburg legte am 12. Mai vor dem Reichstag in die Hand des Reichstagspräsidenten Löbe den Eid auf die Verfassung der Weimarer Republik ab. In einer Kundgebung am gleichen Tag versprach Hindenburg: „Getreu dem von mir geleisteten Eide will ich alle meine Kraft daransetzen, dem Wohle des deutschen Volkes zu dienen, die Verfassung und die Gesetze zu wahren, Gerechtigkeit gegen jedermann zu üben." Er nahm seinen Eid sehr ernst; alle, die Deutschlands Rettung von einer Militärdiktatur erhofften und erwartet hatten, der alte Feldmarschall werde ihren Wünschen entgegenkommen, wurden bald enttäuscht. Hindenburg bemühte sich ehrlich, den neuen Aufgaben gerecht zu werden; er bestätigte die Regierung Luther und bereitete Stresemann nicht die befürchteten Schwierigkeiten in der Außenpolitik. Da Hindenburg selbst in ihr wenig Bescheid wußte, war sein Verhalten sowohl durch die Unterredungen mit Stresemann bestimmt, als auch durch den Einfluß des von Ebert übernommenen Leiters des Reichspräsidentenbüros, Staatssekretär Otto Meißner, der von 1920 bis 1945 in dem gleichen Amt blieb und von dessen Persönlichkeit und Wirken trotz seines 643 Seiten starken Werkes „Der Schicksalsweg des deutschen Volkes von 1918—1945, wie ich ihn erlebte" noch vieles dunkel ist. Hindenburgs Name versöhnte jedenfalls einen erheblichen Teil der Bürgerlichen mit der Republik und legte der nationalistischen Hetzpresse eine gewisse Zurückhaltung auf.

Vorverhandlungen über die Aufnahme in den Völkerbund und über weitere Verträge Stresemann verfolgte in seiner Außenpolitik unter vielen Schwierigkeiten und Rückschlägen mit unermüdlichem Eifer und großer Geschicklichkeit drei Hauptziele: den Abschluß eines Sicherheitsvertrags, den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund und die Befreiung des besetzten Rheinlandes. Die Kabinettssitzung vom 23. September 1924 leitete die Bemühungen Deutschlands um Aufnahme in den Völkerbund ein. Die deutsche Regierung wandte sich mit einem Memorandum an die Ministerpräsidenten der zehn im Völkerbundsrat vertretenen Staaten, da sie im voraus einiges klären wolle: Deutschland müsse bei seinem Eintritt ein ständiger Ratssitz zugestanden werden; außerdem könne es sich bei dem Stand seiner Abrüstung an kriegerischen Zwangsmaßnahmen des Völkerbundes, wie sie § 16

575

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 des Völkerbundsstatus fordere, nicht beteiligen; die bei der Aufnahme abzugebende Versicherung, alle internationalen Verpflichtungen aufrichtig beobachten zu wollen, dürfe nicht als Zustimmung zu den Behauptungen angesehen werden, die „eine moralische Belastung des deutschen Volkes in sich schließen", also eine etwas umschriebene Zurückweisung der Kriegsschuld Deutschlands; es sei „zu gegebener Zeit aktiv an dem Mandatssystem des Völkerbundes" für die Kolonien zu beteiligen. Die Antworten der ausländischen Regierungen lauteten durchweg zustimmend, nur an die deutsche Ablehnung der Mitwirkung bei kriegerischen Maßnahmen des Völkerbundes knüpfte sich ein weiterer Notenwechsel. Der früheste Termin, zu dem die besetzte Kölner Zone hätte geräumt werden können, wäre der 10. Januar 1925 gewesen; die Alliierten teilten indes am 5. Januar der deutschen Regierung mit, die Voraussetzung für die Räumung, die genaue Erfüllung des Versailler Vertrages, sei nicht gegeben, denn die Interalliierte Kontrollkommission, deren erneuter Tätigkeit Stresemann Ende Juni 1924 hatte zustimmen müssen, um die Dawesplan-Verhandlungen nicht zu gefährden, habe in den letzten Monaten des Jahres festgestellt, daß die deutsche Abrüstung nur unzureichend durchgeführt sei. Die wieder verschärfte Haltung der Alliierten erklärte sich daraus, daß Herriot mit der Einwilligung in die Räumung des Ruhrgebietes binnen Jahresfrist die Opposition der französischen Nationalisten hervorgerufen hatte und seine Stellung bedroht sah, und daß in England Anfang November Macdonald nach Neuwahlen hatte zurücktreten und einem konservativen Kabinett unter Baldwin mit dem franzosenfreundlichen Außenminister Sir Austin Chamberlain Platz machen müssen. Stresemann protestierte gegen den Vorwurf ungenügender Abrüstung; doch vermied er dabei jede Schärfe: „wir müssen uns verständigen, sonst sind wir verloren, und mit uns Europa", so hatte er schon während des Ruhrkampfes zu dem französischen Sozialistenführer Grumbach gesagt. Stresemann ließ deshalb auch die seit dem 1. Oktober 1924 laufenden Verhandlungen über einen Handelsvertrag mit Frankreich nicht abbrechen und richtete an Herriot am 9. Februar 1925 ein Memorandum, in dem er einen Sicherheitsvertrag aller am Rhein interessierten Mächte, England, Frankreich, Belgien, Italien, Deutschland, vorschlug, eine Garantie der Rheingrenze und einen Schiedsvertrag zwischen Deutschland und Frankreich, der eine friedliche Austragung rechtlicher und politischer Konflikte gewährleisten sollte. Herriot antwortete, er wolle die Vorschläge mit den Verbündeten Frankreichs prüfen; noch im Februar begann der Meinungsaustausch zwischen den Regierungen.

Das Vertragswert; von Locarno Lange mußte Stresemann auf eine Beantwortung seines Memorandums vom 9. Februar über einen Sicherheitsvertrag warten, obwohl Chamberlain ebenso wie Herriot es als durchaus brauchbare Grandlage betrachteten. Am 10. April wurde das Kabinett Herriot gestürzt, das Amt des Ministerpräsidenten übernahm Painlevé. Er versicherte, das Hauptbestreben der französischen Regierung werde

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Vertragswerk von Locamo sein, „die Garantien für den Frieden und die Sicherheit zwischen den Völkern zu vervielfachen, die vor kurzem hart und tapfer in der Feuerlinie gekämpft haben". Der neue Außenminister Aristide Briand glaubte ebenso ehrlich wie Stresemann an eine Verständigung der Völker und war bereit, sich dafür einzusetzen. Mit Chamberlain hatte schon Herriot die Antwort an Deutschland beraten, nach weiterem Notenwechsel zwischen Briand und Chamberlain traf die Antwortnote am 16. Juni in Berlin ein: Voraussetzung für ein Abkommen sei der Beitritt Deutschlands zum Völkerbund, der Sicherheitsvertrag dürfe keine Änderungen des Versailler Vertrags mit sich bringen, und Deutschland müsse gleichzeitig Schiedsverträge mit den Staaten an seiner Ostgrenze abschließen. Dem erneuten Meinungsaustausch und einer Konferenz von Juristen Deutschlands und der Entente Anfang September folgte vom 5.—16. Oktober 1925 in Locarno die Konferenz der Außenminister Deutschlands, Frankreichs, Englands, Belgiens, Italiens, Polens und der Tschechoslowakei. Die Verhandlungen wurden in freundschaftlichem Geist geführt, über den Inhalt der Verträge einigte man sich nach den langen Vorbereitungen bald. Stresemann bemühte sich, von Briand Zusicherungen über Erleichterungen in der Handhabung der Besatzung und eine schnellere Räumung des besetzten Gebietes zu erlangen, Briand betonte seinen guten Willen und daß er sich in Paris dafür einsetzen werde, weiter konnte er nicht gehen. Am 16. Oktober wurden der Rheinpakt, dér Sicherheitsvertrag zwischen Deutschland, Belgien, Frankreich, Großbritannien und Italien, sowie vier Schiedsverträge Deutschlands mit Belgien, Frankreich, Polen und der Tschechoslowakei paraphiert. Die Verträge sollten am 1. Dezember in London unterzeichnet werden und in Kraft treten, sobald Deutschland Mitglied des Völkerbundes geworden sei. In seiner Schlußansprache hob Stresemann unter anderem hervor: „Aufrichtig und freudig begrüßen wir die große Entwicklung des europäischen Friedensgedankens, die von dieser Zusammenkunft in Locamo ihren Ausgang nimmt und als der Vertrag von Locamo einen wichtigen Markstein in der Geschichte der Weiterentwicklung der Staaten und Völker zueinander ausmachen soll." Briand dankte Stresemann für das Memorandum vom 9. Februar, „die mutige Geste, welche den Ausgangspunkt dieser Konferenz bildete . , . Von Locamo aus muß ein neues Europa entstehen". Der Vertreter Belgiens sprach von der „ungeheuren Sehnsucht der Völker nach gegenseitiger Annäherung und nach Frieden". Mussolini, der zum Schluß in Locamo erschien, glaubte mit der Verwirklichung dieser Verträge werde „in den Beziehungen der Völker zueinander ein neues Zeitalter anbrechen". Die deutsche Regierung hatte erreicht, was zu erreichen war: der Locarnovertrag verhinderte ein dem Sicherheitsverlangen Frankeichs entsprechendes Bündnis g e g e n Deutschland, das nun gleichberechtigter Partner des die Grenzen Frankreichs, Belgiens und Deutschlands garantierenden Locamovertrages wurde. Damit verzichtete Deutschland auf ElsaßLothringen, Frankreich auf seine Versuche, in den Besitz des linken Rheinufers zu gelangen, und auf neue Sanktionen und Invasionen; die im Versailler Vertrag festgelegte Entmilitarisierung des Rheinlandes bis 50 Kilometer östlich des Rheins wurde bestätigt. Für einen formellen Verzicht auch auf die im Osten abgetretenen 577 37 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 Gebiete, wie Frankreich zunächst verlangte, hätte keine deutsche Regierung die Verantwortung übernehmen können. So waren die Schiedsverträge mit Polen und der Tschechoslowakei nur ein Kompromiß, in dem Deutschland auf jeden kriegerischen Versuch zur Wiedererlangung der verlorenen Gebiete verzichtete. Außerdem gestanden die Alliierten in Locamo zu, daß bei Anwendung des § 16 der Völkerbundssatzung die Teilnahme Deutschlands an einer Völkerbundsexekutive seinen besonderen geographischen und militärischen Verhältnissen angepaßt werden sollte, was Stresemann vor allem mit Rücksicht auf Rußland verlangt hatte. Wegen der besetzten Rheinlandgebiete erhielt die deutsche Delegation die Zusicherung, auch dafür würden sich die Locarnoverträge günstig auswirken. Die Einlösung dieser Versprechen erfolgte durch zwei Noten der Pariser Botschafterkonferenz, die erste vom 14. November, in der die Alliierten auf Grund der durch die Locarnoverträge entspannten Lage wesentliche Erleichterungen für die besetzten Gebiete zusagten: Verminderung der Truppenstärke, Rückgabe von Schulen und Sportplätzen, freiere Betätigung der deutschen Verwaltung; in der zweiten Note, der vom 16. November: Räumung der Kölner Zone zwischen dem 1. Dezember 1925 und dem 31. Januar 1926.

Die Rechtsopposition gegen die Verträge. Hilgenberg. Die Annahme der Verträge. Zweites Kabinett Luther Nach Berlin zurückgekehrt, war Stresemanns vordringlichste Aufgabe, im Reichstag die Annahme der Verträge durchzusetzen. Die deutschnationalen Minister erklärten sich zunächst dafür, während die deutschnationale und die nationalsozialistische Presse Stresemanns Politik schon seit dem Sommer 1925 leidenschaftlich bekämpfte. Hitler war am 20. Dezember 1924 mit Bewährungsfrist aus der Haft in Landsberg entlassen worden und hatte die mit dem Neuaufbau seiner Partei verbundenen Schwierigkeiten noch nicht überwunden (S. 611). Die Gegnerschaft der Nationalsozialisten fiel deshalb nicht ins Gewicht, um so mehr die der Deutschnationalen, da Hugenberg bei ihnen maßgebenden Einfluß gewonnen hatte. Alfred Hugenberg, geboren 1865 in Hannover, entstammte einer angesehenen, wohlhabenden Familie, trat nach Abschluß des juristischen und nationalökonomischen Studiums in den Staatsdienst und ging zur Privatindustrie über, als er dank verwandtschaftlicher Beziehungen zum Leiter einer großen Frankfurter Bank berufen wurde; von 1909—1918 war er Vorsitzender des Direktoriums der Kruppwerke in Essen. Während des Ersten Weltkrieges und der Inflationszeit baute er den Hugenbergkonzem auf. Dieser umfaßte den Scherlverlag mit mehreren großen deutschnationalen Tageszeitungen; die Wipro, Wirtschaftshilfe für liberale und parteilose Provinzzeitungen, von denen eine nach der anderen durch die Wipro unter deutschnationalen Einfluß kam; die Telegraphenunion, nach dem offiziösen Wölfischen das größte deutsche Nachrichtenbüro; seit 1927 die Universum Film-Α. G. (Ufa). Der Nationalversammlung von 1919 und dann dem Reichstag gehörte Hugenberg als Mitglied der Deutschnationalen Volkspartei an; 578

Rechtsopposition gegen die Verträge. Hugenberg schon in den neunziger Jahren hatte er bei der Gründung des Alldeutschen Verbandes als treibende Kraft mitgewirkt. Hugenbergs Beherrschung der deutschnationalen Parteipresse und der großen Blätter seines Konzerns erleichterten den Alldeutschen, allmählich die von ihnen seit langem angestrebten Schlüsselstellungen in der deutschnationalen Partei, namentlich in den Landesverbänden, zu gewinnen und die Verzicht- und Erfüllungspolitik der Regierung zu bekämpfen. „Nicht nur für die Entwicklung der Deutschnationalen Volkspartei, sondern auch für das Schidcsal der Weimarer Republik war es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, daß die mit unvergleichlichem organisatorischem und geschäftlichem Talent aufgebaute .größte deutsche Meinungsfabrik' in den Händen des Vaters des Alldeutschen Verbandes lag, dessen politische Einflußnahme um so wirkungsvoller war, als er es meisterhaft verstand, sich jahrelang im Dunkel der Anonymität zu halten" (Krück). Auf einer Tagung der Landesverbandsvorsitzenden und des Parteivorstandes der Deutschnationalen am 23. Oktober 1925 erzwang die alldeutsche Richtung die schroffe Ablehnung der Locarnoverträge und den Rüdetritt der deutschnationalen Minister. Nach Stresemanns Tagebuchaufzeichnungen war Innenminister Schiele bei dem Abschied vom Kabinett sehr bewegt und sagte, er „und seine Freunde seien von einer Sturmflut überrannt worden. Von irgendeiner festen Oppositionsoder gar Siegesstimmung war gar keine Rede, vielmehr von einem Gefühl des Schmerzes und tiefster Enttäuschung über die blödsinnige Haltung der Partei". Das Kabinett Luther beschloß, weiter zu amtieren, um die Annahme der Locarnoverträge bis zum 1. Dezember zu ermöglichen. In Kundgebungen und Reden warb die Regierung um Verständnis für ihre Politik. Stresemann sprach am 3. November auch über den Rundfunk, seit Oktober 1923 in Deutschland das neueste technische Wunder; er erwartete sich „eine recht gute Wirkung, da wohl mindestens drei bis vier Millionen Menschen diese Rede gehört haben, zumal sie fast über alle deutschen Sender gegangen ist". Günstig auf die Stimmung im deutschen Volk wirkten in diesem Augenblick die beiden Noten der Pariser Botschafterkonferenz vom 14. und 16. November über die Lodcerung der Besetzung und die Räumung der Kölner Zone. Nach langen Reichstagsdebatten über die Locarnoverträge und den Eintritt Deutschlands in den Völkerbund stimmten am 27. November 1925 Deutsche Volkspartei, Zentrum, Sozialdemokraten, Demokraten, Bayrische Volkspartei, Bayrischer Bauernbund und Deutsch-Hannoveraner mit 291 Stimmen dafür; Deutschnationale, Kommunisten, Deutschvölkische, Nationalsozialisten und Wirtschaftspartei mit 174 Stimmen dagegen. Damit war das Gesetz über die Locarnoverträge und den Eintritt in den Völkerbund angenommen; am Tag darauf unterzeichnete es Hindenburg, obwohl ihm Ludendorff geschrieben hatte, die Treue gegen die Gefallenen des Krieges wie gegen die lebenden Kämpfer verlange, daß dieses Schandinstrument nicht Gesetz werde; Hindenburg opfere seinen soldatischen Ruhm und seine persönliche Ehre, wenn er seinen Namen unter dieses Dokument der Unehre setze. Am 1. Dezember 1925 erfolgte dann die feierliche Unterzeichnung in London, auf deutscher Seite von Reichskanzler Luther und 579 37·

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 Stresemann; dieser betonte in seiner Rede noch einmal, was ihm die Hauptsache bei den Verträgen war: „Ich sehe in Locamo nicht eine juristische Konstruktion politischer Gedanken, sondern ich sehe in dem Werk von Locamo die Basis einer großen Zukunftsentwicklung. Am 5. Dezember reichte das Kabinett Luther seine Demission ein. Die Neubildung der Reichsregierung gestaltete sich äußerst schwierig, weil die Sozialdemokraten die Annahme eines sehr weitgehenden sozialen Programms und unter anderem auch die reichsgesetzliche Reglung der Fürstenabfindung als Bedingung ihrer Teilnahme stellten; trotz eines entgegenkommenden, von den Mittelparteien angenommenen Vermittlungsvorschlages konnten sich die Sozialdemokraten nicht zur Zusammenarbeit mit der Deutschen Volkspartei entschließen, so scheiterte der Versuch einer „Großen Koalition". Am 19. Januar 1926 kam schließlich das zweite Kabinett Luther zustande; je zwei Minister gehörten der Deutschen Volkspartei, dem Zentrum und der Demokratischen Partei an, einer der Bayrischen Volkspartei, die übrigen galten als Fachminister, Stresemann blieb Außenminister. Die Regierung konnte sich im Reichstag wieder nur auf eine Minderheit stützen. Bei der Abstimmung über das Vertrauensvotum am 28. Januar enthielten sich die Sozialdemokraten der Stimme, und so erhielt die Regierung nur eine knappe Mehrheit. Zwei Tage später feierte die Kölner Zone ihre Befreiung; die englische Besatzung hatte das Kölner, die französische das Bonner Gebiet verlassen.

Verträge mit Rußland. Tiroler Zwischenfall Rußland hatte sich über die zum Locarnovertrag führenden Verhandlungen sehr beunruhigt gezeigt; es fürchtete, Deutschland würde dadurch in die antibolschewistische englische Politik einbezogen. Auch hier gelang Stresemann ein Ausgleich. Am 12. Oktober 1925 unterzeichnete der deutsche Botschafter in Moskau, Graf Brodedorff-Rantzau, in Moskau einen Handelsvertrag, der auch die politischen Beziehungen zwischen den beiden Staaten günstig beeinflußte. Bald folgte, von Stresemann als eine Ergänzung des Locarnovertrags betrachtet, das Freundschaftsbündnis mit Rußland, der Berliner Vertrag vom 24. April 1926; dem Vorwurf rein westlicher Ausrichtung der deutschen Politik war damit die Grundlage entzogen. Der Berliner Vertrag bekräftigte den von Rapallo, beide Regierungen versprachen sich gegenseitig freundschaftliche Verständigung in allen politischen und wirtschaftlichen Fragen, Neutralität bei dem Angriff einer dritten Macht auf den Partner, und daß sie sich keiner Koalition anschließen würden, die über einen der Partner wirtschaftlichen oder finanziellen Boykott verhänge. Der Reichstag nahm am 10. Juni 1926 den Berliner Vertrag fast einstimmig an. In Paris und in London empfand man ihn zunächst als Verrat am Geist von Locamo, beruhigte sich aber bald wieder. Der auf fünf Jahre geschlossene Vertrag wurde 1931 für drei Jahre verlängert mit dem Zusatz, daß er automatisch weiterlaufen solle, falls er nicht gekündigt werde. Wegen der Deutschen in Südtirol kam es im Februar 1926 zu einem diploma580

Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund tischen Zwisclienfall mit Italien. Seit Kriegsende war Italien Deutschland gegenüber mehr der vermittelnden Haltung Englands als der schroffen Frankreichs gefolgt und hatte der deutschen Bevölkerung in Südtirol die „Erhaltung ihrer Sprache und Kultur" zugesichert. Mussolini wollte, als er mit seinen Faschisten durch den „Marsch auf Rom" vom 28. Oktober 1922 zur Macht gekommen und von König Viktor Emanuel III. zum Ministerpräsidenten ernannt worden war, Deutschlands Freund bleiben, unterzeichnete den Locarnovertrag und Schloß ein Handelsabkommen mit Deutschland; für Südtirol erließ er jedoch eine Reihe von Gesetzen zur völligen Italienisierung. In der deutschen Presse erschienen gegen diese Politik scharfe Angriffe, die sich besonders Anfang 1926 steigerten. Als der bayrische Ministerpräsident Held am 5. Februar im Landtag die Bedrängnis der Deutschen in Südtirol beklagte, wies Mussolini vor der Kammer und dem Senat diese Einmischung in aggressivem Ton zurück, diese Gegend sei geographisch und historisch italienisch: „Italien wird nicht nur niemals seine Fahne auf dem Brenner streichen, es wird vielmehr wenn nötig, diese Fahne auch über den Brenner tragen." Stresemann antwortete im Reichstag ruhig und würdig, und da sowohl Österreich als auch die Südtiroler selbst die polemischen Auseinandersetzungen eher als schädigend empfanden, trat bald eine Beruhigung ein.

Die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund. Dds Gespräch von Thoiry. Weitere Erfolge Stresemanns in Genf Am 10. Februar 1926 ging das offizielle Gesuch der Regierung Luther um die Aufnahme Deutschlands in den Völkerbund nach Genf ab. Dem deutschen Volk schien aus dem von Wilson als völkerverbindendes Forum des Weltfriedens gedachten Völkerbund nur ein Instrument Frankreichs zur Durchführung des Versailler Vertrages geworden zu sein. Der größte Teil des deutschen Volkes lehnte deshalb den Völkerbund ab. Die Regierung war sich aber über die Wichtigkeit einer Teilnahme Deutschlands an den Genfer Verhandlungen, und zwar als ständiges Ratsmitglied klar geworden. Graf Stolberg-Wernigerode hatte dies bereits in seiner Denkschrift für Stresemann vom 5. September 1924 so ausgedrückt: „Hier im Völkerbund ist uns, da wir militärisch ohnmächtig sind, zur Zeit die einzige Möglichkeit gegeben, auch ohne Macht aktive Politik zu treiben." Im Februar 1926 führte dann eine halbamtliche Verlautbarung des W. T. B. (Wollfs Telegraphisches Büro) unter den Motiven für Deutschlands Eintritt in den Völkerbund an: nur so werde Deutschland die Wiederbeteiligung an großen politischen Entscheidungen gesichert; da die Ratsbeschlüsse einstimmig gefaßt werden müssen, könne Deutschland ihm nicht genehme Beschlüsse durch sein Veto verhindern, es könne ferner Anträge auf Revision der Versailler Vertragsbestimmungen und auf Inangriffnahme der allgemeinen Rüstungsbeschränkungen stellen, bei Fragen der Verwaltung des Saargebietes und Danzigs mitsprechen und sich für den Schutz der Minderheiten einsetzen, woran Deutschland im Hinblick auf die an Polen abgetretenen Gebiete viel läge. 581

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 Noch einmal verzögerte sich indes Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund. In der zum 8. März einberufenen Sondersitzung des Völkerbunds verhandelten die Mächte 14 Tage lang ergebnislos, denn auch Brasilien, China, Polen und Spanien verlangten für sich ständige Ratssitze, während Luther und Stresemann, die nach Genf gekommen waren, darauf bestanden, daß nur Deutschland als ständiges Ratsmitglied neu aufgenommen werde, hernach sei es bereit, an einer Erweiterung oder Neuorganisation des Rates mitzuarbeiten. England, Frankreich und Italien teilten Deutschlands Standpunkt und bekannten sich offen zur Fortsetzung der Locarnopolitik, konnten sich aber nicht durchsetzen; bis zum September sollte eine Studienkommission unter Hinzuziehung Deutschlands die Einigung herbeiführen. Der Anregung Briands, seit Ende November 1925 französischer Ministerpräsident, folgend, sprach die Versammlung einstimmig ihr Bedauern aus, daß die Aufnahme Deutschlands noch nicht geglückt sei. Dieser Rückschlag bot den Rechtsparteien Gelegenheit zu scharfen Angriffen gegen Stresemann, sie forderten nun, das Aufnahmegesuch in den Völkerbund müsse zurückgezogen werden; die Regierungsparteien und die Sozialdemokraten sprachen aber der Regierung Luther ihr Vertrauen aus und billigten ihre Politik. Während des Sommers löste die Studienkommission des Völkerbundes die Frage der Neuaufnahme von Ratsmitgliedern: als ständiges Ratsmitglied wurde nur Deutschland neu aufgenommen, die Zahl der nichtständigen Ratsmitglieder wurde von sechs auf neun erhöht und die Möglichkeit einer Wiederwahl zugesichert, also eine Art halbständiger Ratssitze geschaffen. Brasilien hatte schon im Sommer den Völkerbund verlassen, Spanien trat am 11. September aus, Polen erhielt einen halbständigen Sitz. Die deutsche Delegation kam diesesmal erst nach Genf, als das Plenum des Völkerbundes die Anträge der Studienkommission angenommen hatte. Am 10. September 1926 fand die feierliche Sitzung zur Aufnahme Deutschlands statt. Der herzliche Ton der Ansprachen sowie der starke Beifall im Saal und auf den Tribünen waren ein Triumph für Stresemann, der überhaupt während dieser Tage in Genf als der populärste Mann gefeiert wurde. Nach der Begrüßungsansprache des Präsidenten erhielt Stresemann das Wort. Er bekannte sich zum nationalen Eigenleben der einzelnen Völker und ebenso zu den Zielen des Völkerbundes: „Der wird der Menschheit am besten dienen, der, wurzelnd im eigenen Volke, das ihm seelisch und geistig Gegebene zur höchsten Bedeutung entwickelt und damit, über die Grenze des eigenen Volkes hinauswachsend, der gesamten Menschheit etwas zu geben vermag, wie es die Großen aller Nationen getan haben, deren Namen in der Menschheitsgeschichte niedergeschrieben ist. So verbindet sich Nation und Menschheit auf geistigem Gebiet, so kann sie sich audi verbinden im politischen Streben . . . Für alle hier versammelten Völker gilt das Wort eines großen Denkers, daß wir Menschen uns zu dem Geschlecht bekennen, das aus dem Dunkel ins Helle strebt. Möge die Arbeit des Völkerbundes sich auf der Grundlage der großen Begriffe: Freiheit, Friede und Einigkeit vollziehen, dann werden wir dem von uns allen erstrebten Ziele näherkommen. Daran freudig mitzuarbeiten, ist Deutschlands fester Wille." Nach Stresemann ergriff Briand das Wort: „Das Zeichen des heutigen Tages ist der 582

Gespräch von Thoiry. Weitere Erfolge Stresemanns in Genf Friede für Deutschland und Frankreich . . . Weg die Gewehre, weg die Mitrailleusen, weg die Kanonen! Platz für die Versöhnung, für das Schiedsgericht, für den Frieden! . . . Wir machen unsere Länder groß, wenn wir ihre Eigenliebe zum Schweigen bringen, indem wir sie veranlassen, gewisse Opfer dem Weltfrieden zu bringen." Briands versöhnliche Haltung gewann dadurch an Bedeutung, daß er als Außenminister des im Juli gebildeten Kabinetts Poincaré in Genf war. Die Vertreter der Locarnomächte hinterlegten am 14. September die Ratifikationsurkunden der Locarnoverträge bei dem Generalsekretär des Völkerbundes. Am 17. September hatten Stresemann und Briand in Thoiry eine ausführliche, streng geheimgehaltene Unterredung über eine freundschaftliche Lösung aller zwischen ihren Ländern schwebenden Fragen. Stresemann lag besonders die baldige Räumung der besetzten Gebiete und der Rüdekauf der Saargruben am Herzen, Deutschland sollte als Gegenleistung im Rahmen der Reparationen für Frankreich eine größere Summe in Eisenbahnobligationen flüssig machen, um den französischen Franc zu stützen; beide Minister konnten indes nur unverbindliche Abmachungen treffen. Die Nachrichtenagentur Havas veröffentlichte 36 Stunden nach dem geheimen Treffen in Thoiry den Hauptinhalt des Gespräches, über dessen Tragweite noch heute die Meinungen auseinandergehen. Es scheint, daß Stresemann in seinem Optimismus die grundsätzliche und freudige Zustimmung Briands schon als bindende Zusage wertete; aber bei allem ehrlichen Wollen Briands, eine wirkliche Versöhnung zwischen Frankreich und Deutschland herbeizuführen, war es doch von vornherein wenig wahrscheinlich, daß gerade Poincaré zur Aufgabe der Besetzung vor den festgesetzten Terminen bereit sei. Poincaré gelang es auch ohne deutsche Hilfe, die französischen Finanzen zu ordnen, und sein Mißtrauen gegen die Friedensliebe der Deutschen erhielt durch die Umtriebe der deutschen Rechtsradikalen immer wieder neue Nahrung. Ob Stresemann wirklich an eine s c h n e l l e Erfüllung seiner Wünsche geglaubt hat, steht dahin, jedenfalls wollte er seine Pläne in nicht mehr abreißenden Diplomatengesprächen zur Reife bringen; nun aber mußte er der Presse und dem Reichstag Rede und Antwort stehen, die ihn vorwärts drängten, während Briand von der französischen Öffentlichkeit zurückgehalten wurde. Stresemann kämpfte bis zu seinem Tode um die Verwirklichung der Vereinbarungen von Thoiry. Immerhin brachte schon die Dezembertagung des Völkerbundes einen Erfolg für Deutschland: die Interalliierte Militärkontrollkommission in Deutschland wurde am 30. Januar 1927 aufgelöst, dafür erhielt der Völkerbund das „Investigationsrecht", er konnte gegebenenfalls eine „Investigationskommission" zu Nachforschungen und Feststellungen über die deutsche Entwaffnung entsenden. Die Interalliierte Militärkontrollkommission, die seit September 1919 in Deutschland die im Versailler Vertrag angeordnete Abrüstung überwachte, hatte dauernd Streitigkeiten und Gehässigkeiten zwischen Siegern und Besiegten verursacht. Seeckts ruhige und zielbewußte Führung der Reichswehr hat viel dazu beigetragen, daß größere Konflikte vermieden wurden, obwohl die Interalliierte Militärkontrollkommission genau wußte, daß Seeckt bei dem Aufbau seines 100 000 Mann-Heeres jede Möglichkeit zur Umgehung der Versailler Bestimmungen ausnützte und, 583

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 wenn er auf Rüstungsbeschränkungen anderer Mächte drängte, nur die Freiheit für Deutschland erstrebte, sich wieder ein starkes Heer zu schaffen. Auf der Märztagung des Völkerbundes 1927 führte Stresemann den Vorsitz, eine nicht zu unterschätzende Anerkennung Deutschlands. In vielen das Saargebiet, Danzig und die deutschen Minderheiten betreffenden Fragen vertrat Stresemann nachdrücklich den deutschen Standpunkt. Im Mai brach England die diplomatischen Beziehungen zu Rußland ab, das getarnte kommunistische Agitationszentralen in London unterhielt, Anfang Juni ermordete ein Weißrusse den russischen Gesandten in Warschau; beide Vorfälle gefährdeten den europäischen Frieden. Bei einer Unterredung der führenden Minister in Genf bat Chamberlain Stresemann, die guten deutsch-russischen Beziehungen für die Erhaltung des Friedens auszunützen; Stresemann versprach, sein Bestes zu tun. Mitte Juni regte Stresemann in Genf die Auflösung der Pariser Botschafterkonferenz an. Briand erwiderte darauf, er „könne seine Bewunderung für die deutsche Strategie nicht verbergen. Erst schicke Herr Stresemann die Militärkontolle nach Hause und jetzt löse er peu à peu die Botschafterkonferenz auf. Er könne sich im Augenblick nicht dazu äußern, welche Aufgaben die Botschafterkonferenz eigentlich noch habe, seinetwegen könne sie eines seligen Todes sterben". Chamberlain stimmte Stresemann unbedingt zu, die Botschafterkonferenz müsse nun als Symbol der Kriegsund Nachkriegzeit verschwinden. Briands Versöhnungspolitik konnte das tiefe Mißtrauen der Franzosen freilich nur sehr langsam überwinden. Bei der Septembertagung des Völkerbunds wurde Deutschland ein Sitz in der die früher deutschen Kolonien verwaltenden Mandatskommission zugebilligt, und die seit 1925 versprochene Verminderung der Truppen im besetzten Gebiet, wenn auch nur um 10 000 von den etwa 70 000 Mann, fest zugesagt, wobei Chamberlain Stresemann wieder kräftig unterstützte. Stresemann unterzeichnete am 23. September im Völkerbundssekretariat die Anerkennung der obligatorischen Schiedsgerichtsbarkeit des Haager Weltgerichtshofes; damit war Deutschland die erste Großmacht, die sich hierzu entschloß. Mit der von Stresemann immer wieder geforderten Abrüstung aller Länder ging es freilich nicht vorwärts.

WIRTSCHAFTSAUFSCHWUNG UND INNERE GEGENSÄTZE 1925—1929 Der Wirtschoftsaufschwung Mit Hilfe ausländischer Kredite hatte die deutsche Wirtschaft einen kräftigen Aufschwung genommen, die Steuereingänge des Reiches nahmen beträchtlich zu, die Reparationsverpfliditungen wurden pünktlich erfüllt. Seit der Stabilisierung ,'der Währung stiegen die Preise. Die Gewerkschaften konnten deshalb bedeutende Lohnerhöhungen durchsetzen; die 1923/1924 stark gekürzten Beamtengehälter besserte der Reichstag am 14./15. Dezember 1927 um 21 bis 25% auf und glich in der Novelle zum Reichsversorgungsgesetz die Kriegsbeschädigten- und Kriegs'584

Wirtschaftsaufsdiwung hinterbliebenenbezüge der Besoldungsreform der Beamten an. Noch während der Reichstagsverhandlungen über die Erhöhung der Beamtengehälter richtete der Agent für Reparationszahlungen, der an der Spitze des Generalrates zur Überwachung des Dawesabkommens stehende Amerikaner Parker Gilbert am 20. Oktober 1927 ein Memorandum an die Reichsregierung, in dem er auf die Gefahren der Finanz- und Kreditpolitik für die deutsche Wirtschaft und damit auch für die Reparationszahlungen aufmerksam machte: „In Deutschland besteht für Sparen und für Maßhalten in den Ausgaben eine besondere Notwendigkeit... Tatsächlich häufen sich auf allen Seiten immer mehr die Zeugnisse dafür, daß die deutschen Behörden sich ständig erweiternde Programme für Ausgaben und Anleihen unter nur geringer Berücksichtigimg der finanziellen Auswirkungen zur Entwicklung und Durchführung bringen. Das steigende Niveau der öffentlichen Ausgaben gibt dem Wirtschaftsleben bereits jetzt einen künstlichen Antrieb und droht die wesentliche Stabilität des öffentlichen Finanzwesens zu untergraben. Wenn man die derzeitigen Tendenzen ungehemmt fortwirken läßt, so ist es so gut wie sicher, daß die Folgen in ernsthaftem wirtschaftlichem Rückschlag und einer heftigen Erschütterung des deutschen Kredits im In- und Ausland bestehen werden." Im einzelnen führte Parker näher aus, daß Reich, Länder und Gemeinden ihre Ausgaben auf Kredit und vielfach für nicht dringliche und für unwirtschaftliche Zwecke steigerten, ohne daß eine durchgreifende Verwaltungsreform für Einsparungen sorgte. In ihrer Antwort rechtfertigte die deutsche Regierung ihre Wirtschaftspolitik mit der Eigenart der deutschen Entwicklung nach den Kriegs- und Inflationszeiten. Auch Reichsbankpräsident Schacht sah die stetig wachsende Auslandsverschuldung der deutschen Wirtschaft mit großer Sorge und suchte durch Warnungen und den Einfluß der Reichsbank die Kreditwirtschaft in gesündere Bahnen zu lenken. Die Kritik von Männern wie Parker und Schacht war insofern berechtigt, als die schwere Verschuldung für Deutschland große Gefahren in sich Schloß, doch hätten sie nicht zwangsläufig zu der Katastrophe von 1929 führen müssen; die Weltwirtschaftskrise, in welche Deutschland auch hereingezogen wurde, war damals von niemandem vorauszusehen. Auch darf nicht außer acht bleiben, daß die an die Stabilisierung der Mark anschließenden Prosperitätsjähre manchen echten Fortschritt brachten, vieles hatte über die Katastrophe hinaus Bestand. Durch staatliche Subventionen und eigene Kreditpolitik gefördert, bauten die Städte Schulen, Krankenhäuser, Badeanstalten, Spielplätze und moderne, gesunde und schöne Wohnsiedlungen, die mit ihren sonnigen und luftigen Wohnungen sich sehr vorteilhaft von den häßlichen alten Mietskasernen abhoben. Viele hatten freilich große Bedenken gegen die hohen Ausgaben der Länder und Städte für Bauten. Stresemann schrieb dem Oberbürgermeister von Duisburg, Dr. Jarres, am 24. November 1927: „Ich mache kein Hehl daraus, daß mir die Politik der Länder und Städte, und zwar dieser in erster Linie, große außenpolitische Sorgen veranlaßt... Daß der preußische Staat für den Umbau des Berliner Opernhauses 14 Millionen Mark gegeben hat und vielleicht insgesamt über 20 Millionen geben wird, bringt die ganze Welt zu der Auffassung, daß wir offenbar 585

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929

im Goldüberfluß leben. Kein Siegerstaat hat sich etwas derartiges geleistet. Daß Herr Adenauer ein wunderbares Messehaus baut und sich rühmt, die größte Orgel der Welt eingebaut zu haben, hat denselben Effekt . . . Die Presseausstellung in Köln wird als das Luxuriöseste bezeichnet, was bisher auf diesem Gebiete geleistet worden ist; Frankfurt a. M. hat ein Defizit von 2,5 Millionen Mark bei der Musikausstellung gehabt . . . Haben Sie bitte die Güte, mir zu sagen, was ich den Vertretern fremder Mächte antworten soll, wenn sie mir sagen, daß alle diese Dinge den Eindruck machen, als wenn Deutschland den Krieg nicht verloren, sondern den Krieg gewonnen hätte." Die Aufwendungen für die Städte bildeten indes audi einen wesentlichen Faktor in dem Auf- und Ausbau der deutschen Industrie. Die Versorgung von Wohnungen, Klein- und Großbetrieben mit Wasser, Gas und Elektrizität fand jetzt eine viel weitere Verbreitung, dabei ergaben sich mancherlei Verbesserungen und Erfindungen. Uberhaupt wurde jetzt Deutschland auf verschiedenen Gebieten, namentlich in der Chemie, Elektrotechnik und einzelnen Zweigen des Masdunenbaus und der Textilindustrie, besonders durch Rationalisierung und Technisierung der Betriebsweise, wieder führend. Mit der industriellen Entwicklung ging der Aufstieg des Verkehrswesens Hand in Hand. Reichsbahn und Reichspost wurden modernisiert, infolge des stark vermehrten Automobilverkehrs mehr und mehr auch die Landstraßen. Die Handelsflotte hatte 1930 mit 5 134 700 Bruttoregistertonnen den Stand von 1914 noch nicht ganz erreicht, dafür waren die mit den neuen Errungenschaften der Technik ausgestatteten Schiffe weit leistungsfähiger. Hinter der allgemeinen Entwicklung blieb die Landwirtschaft nicht zurück; die Verwendung von Maschinen stieg bei ihr gegenüber der Vorkriegszeit auf das Zehnfache. — Manches spricht dafür, daß Deutschland ohne den Rückschlag der Katastrophe von 1929 bei ungestörter Weiterentwicklung, auch wenn der Höhepunkt der Prosperität bereits überschritten war, die große private und öffentliche Auslandverschuldung ganz oder doch so weit überwunden hätte, daß sie für das deutsche Wirtschaftsleben und damit auch für die deutsche Innen- und Außenpolitik keine Gefahr mehr bedeutete; immerhin zeugen auch so der dem verlorenen Krieg, der Inflation und den inneren Unruhen folgende Unternehmungsgeist und die Leistungen während der verhältnismäßig wenigen Jahre der Prosperität von der Lebenskraft des deutschen Volkes.

Streit um die Enteignung der Fürstenhäuser. Flaggenerlaß.

Drittes Kabinett Marx

Zu innerpolitischen Spannungen führte seit dem Spätherbst 1925 die Forderung der Sozialdemokraten und Kommunisten nach entschädigungsloser Enteignung der Fürstenhäuser. Den von der Regierung und den Koalitionsparteien am 2. Februar 1926 als Kompromiß vorgeschlagenen Gesetzentwurf, die ganze Angelegenheit einem Reichssondergericht unter dem Vorsitz des Reichsgerichtspräsidenten zu übertragen, lehnte die Linke ab und veranstaltete ein Volksbegehren, für das sich 12,5 Millionen eintrugen, erheblich mehr als das für ein Volksbegehren 586

Streit um Enteignung der Fürstenhäuser. Flaggenerlaß erforderliche Zehntel der Stimmberechtigten. Daraufhin stellten die Sozialdemokraten und die Kommunisten im Reichstag den Antrag, das gesamte Fürstenvermögen solle entschädigungslos enteignet und für Arbeitslose, Kriegsopfer, Sozialund Kleinrentner usw. verwendet werden. Die Regierung erklärte, der Antrag widerspreche den Grundsätzen eines Rechtsstaates. Die Sozialdemokraten verfochten dagegen die These, Fürstenbesitz sei kein Privat- sondern Volkseigentum und deshalb auf ihn die Bestimmung der Reichsverfassung über die Unverletzlichkeit des Privateigentums nicht anwendbar. Bei der Reichstagsverhandlung stellten die Nationalsozialisten außerdem einen Antrag auf Enteignung der Bankund Börsenfürsten und „anderer Volksparasiten". Dieser Antrag wurde sofort, der sozialdemokratisch-kommunistische am 6. Mai mit großer Mehrheit abgelehnt. Die Regierung mußte nun gemäß der Verfassung den Volksentscheid vornehmen lassen. Am 20. Juni stimmten 15,5 Millionen mit „Ja", damit war der Antrag abgelehnt, zu seiner Annahme wären rund 20 Millionen Stimmen, mindestens die Hälfte der Stimmberechtigten, erforderlich gewesen. Die Regierung versuchte noch einmal, im Reichstag ihren Kompromißvorschlag durchzusetzen, nachdem der Rechtsausschuß ihn und zahlreiche Zusatzanträge erneut durchberaten hatte. Nun hätte der Gesetzentwurf der Regierung als verfassungsändernd von einer Zweidrittelmehrheit angenommen werden müssen; da die Rechte und die Linke sich ablehnend verhielten, zog ihn die Regierung zurüdc. Die Sozialdemokraten drangen auf Auflösung des Reichstags, die Regierung lehnte sie ab, weil auch eine Neuwahl keine Klärung bringen würde. Der Reichsrat hatte dem Gesetzentwurf zugestimmt, obwohl die meisten Länder schon von sich aus mit ihren Fürstenhäusern Abfindungsverträge vereinbart hatten, im allgemeinen leidlich gerechte Vergleiche zwischen den Forderungen des Staates und der Fürstenfamilie. Die vor der Inflation abgeschlossenen Verträge wurden später durch Aufwertungsgesetze ergänzt. Preußen verhandelte seit 1920 mit den Hohenzollern; als die reichsgesetzliche Reglung gescheitert war, kam am β. Oktober 1926 ein Vergleich zustande, in dem den Hohenzollern Bargeld und Sachwerte in Höhe von 184,9 Millionen Mark, dem preußischen Staat Sachwerte in Höhe von 686,2 Millionen Mark zuerkannt wurden. Mitten in die Auseinandersetzungen wegen des Gesetzes über die Fürstenabfindung fiel der Flaggenerlaß des Reichspräsidenten vom 5. Mai 1926. In der Verfassung war neben der schwarz-rot-goldenen Reichsflagge eine besondere Flagge für die Handelsmarine festgesetzt worden, schwarz-weiß-rot mit schwarzrot-goldener Gösch. Auf Wunsch der deutschen Auslandsvertretungen, bei denen die Verschiedenheit der Reichs- und der Handelsflagge Anlaß zu vielen Mißverständnissen und Unstimmigkeiten gegeben hatte, ordnete nun der neue Erlaß an, daß im Ausland beide Flaggen nebeneinander zu hissen seien. Die diplomatischen Vertretungen zum Beispiel sollten nun neben der Reichsflagge auch die schwarzweiß-rote Handelsflagge führen; und auf deutschen Handelsschiffen in fremden Häfen sollte nicht mehr allein die Handelsflagge, sondern auch die schwarz-rotgoldene Reichsflagge wehen. In einem Brief an Reichskanzler Luther äußerte Hindenburg den Wunsch, dem Kanzler möge bald eine endgültige Reglung der 587

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 Flaggenfrage mit den zuständigen Stellen gelingen. Während die Auslanddeutschen und die Rechte über die Verordnung erfreut waren, empfanden die Sozialdemokraten das Hissen der schwarz-weiß-roten Handelsflagge neben der Reichsflagge als Minderung des Ansehens der Republik, und die Nationalsozialisten wiederum wollten das bisherige Privileg der schwarz-weiß-roten Farben nicht preisgeben und waren ebenfalls Gegner des Erlasses. Der Flaggenerlaß führte am 11./12. Mai im Reichstag zu erregten Debatten und, da der Reichskanzler die Verantwortung für den Erlaß trage, zu heftigen Angriffen auf die Regierung. Das Mißtrauensvotum der Sozialdemokraten und der Nationalsozialisten ging bei Stimmenthaltung der Deutschnationalen nicht durch, dagegen wurde der Antrag der Demokraten angenommen: er begrüßte die Anregung Hindenburgs zur Schaffung einer Einheitsflagge, mißbilligte aber die Haltung des Kanzlers, der ohne Not den Flaggenkonflikt heraufbeschworen habe. Infolgedessen trat die Regierung Luther zurück. Hindenburg beauftragte den Reichswehrminister mit der Bildung eines Kabinetts. Geßler gab den Auftrag sehr schnell an den Kölner Oberbürgermeister Adenauer weiter. Als dieser von der Deutschen Volkspartei abgelehnt wurde, ernannte Hindenburg am 17. Mai wiederum Marx zum Reichskanzler, der das gesamte bisherige Kabinett beibehielt. — Gerüchte über Putschpläne der Rechtsradikalen veranlaßten am 11. Mai die preußische Polizei zu Haussuchungen in Berlin, bei denen angeblich wohldurchdachte Pläne zur Errichtung einer Rechtsdiktatur gefunden wurden. Zweifellos arbeiteten die Kreise um Hugenberg und um den Vorsitzenden des Alldeutschen Verbandes, Justizrat Claß, seit Jahren auf eine derartige Lösung hin, die Deutschland von den Folgen der ihrer Ansicht nach verderblichen Erfüllungspolitik retten sollte; doch scheint zu diesem Zeitpunkt wirklich kein Putsch beabsichtigt gewesen zu sein.

Rücktritt Seeckts Den Abzug der Interalliierten Militärkontrollkommission erlebte Seedct nicht mehr im Dienst. Auf Wunsch des deutschen Kronprinzen hatte Seedct dessen ältesten Sohn, den zwanzigjährigen Prinzen Wilhelm, an Übungen des 9. Infanterieregiments teilnehmen lassen, zwar nur als Zuschauer, aber in Uniform und ohne dem Reichswehrminister Geßler Mitteilung zu machen. Durch diese und viele andere Eigenmächtigkeiten Seedcts fühlte sich Geßler gekränkt, und als dann in der Presse erregte Artikel die Anwesenheit des Prinzen bei den Übungen als monarchistische Demonstration und als erneuten Beweis für den republikfeindlichen Geist der Reichswehr hinstellten, forderte Geßler Seedcts Rücktritt mit der Begründung: „Gerade bei den Parteien der Mitte ist die Erbitterung über die Angelegenheit außerordentlich scharf. Man will hier nicht immer wieder durch derartige Demonstrationen gestört werden . . . Und gerade bei den Freunden des Heeres ist man verdrießlich, daß immer wieder den Feinden des Heeres ganz unnötigerweise Stoff zur Hetze gegeben wird." Der Anlaß, dem Schöpfer der 588

Viertes Kabinett Marx Reichswehr sein Werk aus der Hand zu nehmen, war geringfügig, mit einigen Erklärungen hätte sich der Vorfall entschuldigen lassen. Die Rechtspresse beschuldigte Stresemann, er habe Seeckt der deutsch-französischen Verständigungspolitik geopfert. Stresemann bestritt dies entschieden: er habe mit der ganzen Sache gar nichts zu tun gehabt, weil es sich nur um eine Angelegenheit der militärischen Disziplin gehandelt habe. Vielfach wird als der Drahtzieher beim Sturze Seeckts General Kurt von Schleicher angesehen, ohne daß sich dies im einzelnen beweisen läßt. Hindenburg, bei dem die Entscheidung lag, fiel die Genehmigung des Abschiedsgesuches sehr schwer, er gab schließlich nach, als eine Kabinettskrise drohte. In einem persönlichen Brief vom 8. Oktober 1926 sprach Hindenburg Seeckt sein Bedauern und seinen Dank aus: „Ihr Name ist mit zahlreichen Ruhmestaten unseres Heeres im Weltkrieg verbunden und wird in der Kriegsgeschichte unvergänglich weiterleben. Ebenso hoch aber steht die stille und entsagungsvolle Arbeit, in der Sie in der harten Nachkriegszeit die neue Reichswehr aufgebaut und ausgebildet haben, und ebenso groß sind die Verdienste, die Sie sidi in den hinter uns liegenden schweren Erschütterungen des Reiches um die Erhaltung der Ordnung und der Autorität des Staates erworben haben."

Viertes Kabinett Marx Die Sozialdemokraten hatten, auch ohne in der Regierung vertreten zu sein, Stresemanns Außenpolitik unterstützt, mit der Innenpolitik waren sie jedoch unzufrieden: mit den eine Senkung der Lebensmittelpreise erschwerenden Schutzzöllen, mit dem am 3. Dezember 1926 angenommenen Gesetz zur Bewahrung der Jugend vor Schmutz- und Schundschriften und vor allem mit der Reichswehr. Sie wollten die Regierung Marx stürzen, um eine neue der Großen Koalition zu erreichen. Die Regierung Marx war bereit, mit den Sozialdemokraten über deren Eintritt in die Regierung zu verhandeln, wollte aber mit Rücksicht auf die Außenpolitik die Demission vermeiden. Am 16. Dezember hielt Sdieidemann im Auftrag seiner Fraktion im Reichstag eine sehr scharfe Rede. Er griff die Finanzierung einer Rüstungsindustrie für die Reichswehr in Rußland (S. 537) an, ihre Beziehungen zu Großindustriellen sowie zu rechtsgerichteten Verbänden und forderte eine wirklich republikanische Reichswehr. Marx wies diese Vorwürfe als überholt oder als unbegründet zurück. Fast alle Parteien verteidigten die Reichswehr, natürlich auch die Deutschnationalen, doch erklärten diese, sie würden für das Mißtrauensvotum der Sozialdemokraten stimmen, damit endlich eine stabile Regierung mit klaren Mehrheitsverhältnissen zustande käme. So mußte die Regierung Marx am 17. Dezember zurücktreten und wieder begannen wochenlange Verhandlungen. Zuerst bemühte sich Dr. Julius Curtius von der Deutschen Volkspartei um ein Kabinett des Bürgerblocks, das Zentrum lehnte ab. Dann verhandelte Marx wieder über ein Kabinett der Mitte mit Einschluß der Sozialdemokraten, auch dies mißlang. Die Deutsche Volkspartei wünschte die Beteiligung der Deutschnationalen. Diese waren um so mehr zu einem Entgegenkommen bereit, als die Sozialdemo589

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kraten in ihrem Agrarprogramm vom 12. Januar 1927 unter anderem die tatsächliche Beseitigung der Fideikommisse und die Beschränkung des landwirtschaftlichen Großgrundbesitzes auf 750 ha im Osten verlangten, die darüber hinausgehenden Ländereien sollten gegen Entschädigung dem Reich zufallen und als Siedlungsland verwendet werden. Der zweite Versuch von Marx, die Deutschnationalen auf ein gemeinsames Regierungsprogramm festzulegen, hatte nun Ende Januar Erfolg: außenpolitisch sollte die Locarnopolitik fortgesetzt werden, innenpolitisch erkannten die Deutschnationalen die Rechtsgültigkeit der Weimarer Verfassung an. Der Reichstag sprach am 5. Februar mit 235 gegen 174 Stimmen dem neuen, dem vierten Kabinett Marx das Vertrauen aus. Vier Minister gehörten den Deutschnationalen an, drei dem Zentrum, zwei der Deutschen Volkspartei und einer der Bayrischen Volkspartei; Stresemann blieb Außenminister, Geßler behielt als Fachminister das Reichswehrministerium. Die neue Regierung und der Reichstag arbeiteten erfolgreich zusammen. Am 7. Juli 1927 stimmte der Reichstag dem Gesetz über Arbeitslosenversicherung zu, um das die Sozialdemokraten seit 1902 gekämpft hatten. In der Weimarer Verfassung war der Rechtsanspruch auf Unterstützung im Falle der Arbeitslosigkeit zugestanden, nun wurden hierfür die finanziellen Unterlagen sowie technische Einzelheiten festgelegt und zu deren zentraler Durchführung eine Reichsanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung geschaffen. Während die Sozialdemokraten dieses Gesetz mit großer Genugtuung begrüßten, hatten sie am 8. April das Arbeitszeitnotgesetz abgelehnt, weil es nicht die endgültige Durchführung des Achtstundentages anordnete, sondern nur die Bezahlung jeder Mehrarbeit über die vereinbarte Arbeitszeit hinaus regelte. Die Verlängerung des Republikschutzgesetzes um zwei Jahre ging am 27. Mai mit der erforderlichen Zweidrittelmehrheit ohne größere Schwierigkeiten vonstatten.

Das Tannenbergdenkmal. Hindenburgs 80. Geburtstag Am 18. September 1927 wurde das Tannenberg-Nationaldenkmal bei Hohenstein in Ostpreußen eingeweiht. Hindenburg gedachte der im August 1914 bei Tannenberg Gefallenen und hielt es für seine Pflicht, sich feierlich gegen die „Anklage, daß Deutschland schuld sei an diesem größten aller Kriege" zu wenden: „Reinen Herzens sind wir zur Verteidigung des Vaterlandes ausgezogen und mit reinen Händen hat das deutsche Heer das Schwert geführt. Deutschland ist jederzeit bereit, dies vor unparteiischen Richtern nachzuweisen. In den zahlreichen Gräbern, welche Zeichen deutschen Heldentums sind, ruhen ohne Unterschied Männer aller Parteifärbungen. Sie waren damals einig in der Liebe und Treue zum gemeinsamen Vaterland. Darum möge an diesem Erinnerungsmal stets innerer Hader zerschellen." So begeistert die zahlreich zu der Feier Erschienenen Hindenburg mit Hurrarufen zustimmten, zeigte sich doch selbst bei dieser Gelegenheit der tiefe Riß, der durch das deutsche Volk ging. Das rein republikanisch eingestellte preußische Staatsministerium blieb der Feier fern, ebenso das Reichs590

Hindenburgs 80. Geburtstag. Reidiswehrskandal

banner Schwarz-Rot-Gold, eine gegen monarchistiscJie Verbände wie Stahlhelm und Wilcingbund zum Schutze der Republik gegründete uniformierte Organisation mit etwa drei Millionen Mitgliedern; andererseits weigerte sich Ludendorff, seinen Platz neben Hindenburg einzunehmen und ließ, für sich allein abseits stehend, die Parade der aufmarschierten Verbände an sich vorbeiziehen. Im Ausland erregten Hindenburgs Rede und ein Telegramm Kaiser Wilhelms II. aus Doorn, das Sätze enthielt wie: „Tannenberg zeigt der Welt von neuem, wozu deutsche Kraft unter starker, zielbewußter Führung fähig ist" und das mit I. R. (Imperator Rex, Kaiser und König) unterzeichnet war, großes Aufsehen. Uberwiegend empfand man Rede und Telegramm als Störung des Geistes von Locarno; Frankreich sah in ihnen einen Beweis für Deutschlands Streben nach Revanche und zweifelte an Stresemanns Aufrichtigkeit; daneben wurden jedoch in England und Amerika Stimmen laut, die Deutschlands Forderung eines unparteiischen Urteils über die Schuldfrage berechtigt fanden. Am 2. Oktober 1927 feierte Hindenburg seinen 80. Geburtstag. Aus allen Schichten der Bevölkerung wurde Hindenburg mit Gaben verschiedenster Art überreich bedacht. Als größte Geschenke erhielt er die „Hindenburgspende", einen im ganzen Reich gesammelten Fonds zur Unterstützung von Kriegerwitwen und Kriegsversehrten, und das kurz vorher in andere Hände gekommene Familiengut der Hindenburg in Ostpreußen, Neudeck, das Landwirtschaft und Industrie für die Familie zurückgekauft hatten. Die Begleitumstände dieses Geschenkes, über das sich der greise Reichspräsident sehr freute, waren weniger erfreulich. Außer der beträchtlichen Summe für den Ankauf des Schlosses mußten auf Drängen von Hindenburgs Sohn Oskar auch noch die Kosten für den Umbau des Schlosses, seine Ausstattung und für das lebende Inventar an Pferden und Rindvieh durch neue Sammlungen bestritten werden; die Schenkungsurkunde wurde auf den Namen des Sohnes ausgestellt, um die Erbschaftssteuer zu sparen. Darüber hinaus wird auch behauptet, daß die ganze Gutsschenkung ein wohlberechneter Schachzug der ostpreußischen Großgrundbesitzer war, mit dem sie den Reichspräsidenten auf ihre Seite ziehen wollten für den Fall, daß die Regierung an die Ausführung ihres Planes gehen würde, unrentable Güter zu zerschlagen, um Kriegsteilnehmer anzusiedeln. Skandal um die Reichswehr. Geßlers Rücktritt Seit im August 1927 Artikel des „Berliner Tagblatts" die Verluste des Reichswehrministeriums bei dem Bankrott der Phöbus-Film-Aktiengesellschaft aufgedeckt hatten, wurde die Finanzgebarung der Reichswehr in der Öffentlichkeit erregt diskutiert. Um der Interalliierten Kontrollkommission den Einblick in den Aufbau des 100 000-Mann-Heeres zu erschweren, war die Rechnungsablegung für Heer und Marine vor dem Reichstag höchst ungenau; überdies hatten sich einzelne Stellen des Reichswehrministeriums in der Hoffnung, auf diese Weise für ihre Zwecke über reichlichere Mittel verfügen zu können, an einigen industriellen Un591

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 ternehmungen beteiligt, so an der Phöbus-Film A. G. mit etwa 6,5 Millionen Mark. Durch diese Manipulationen büßte das Reich im ganzen 26 Millionen Mark ein; die Budget-Kommission hatte all das „aus vaterländischem Empfinden" gedeckt. Als diese Vorgänge im wesentlichen offen zutage lagen, trat Reichswehrminister Geßler, infolge des Todes von zwei erwachsenen Söhnen bereits seines Amtes müde, am 14. Januar 1928 zurück; er hatte sein Amt acht Jahre lang unter schwierigsten Verhältnissen geführt und Seeckt den Aufbau des neuen Heeres ermöglicht. Überzeugter Demokrat und ehrlicher Patriot, hatte Geßler sich zwar, wie Seeckt, aus der Politik herausgehalten, aber doch immer gehofft, das Heer mit dem neuen Staat in ein enges Verhältnis bringen zu können. Daß Geßler dies nicht gelang, lag weniger an ihm, als an der Abneigung der Arbeiter gegen den Heeresdienst, und daran, daß sich das Offizierskorps im wesentlichen nach wie vor aus konservativ-monarchistischen Kreisen zusammensetzte. Zu Geßlers Nachfolger wurde am 19. Januar 1928 General Groener ernannt; er hatte 1918 mit Hindenburg die Rückführung des Heeres geleitet, 1920 bis 1923 das Verkehrsministerium verwaltet und war als Demokrat auch der Linken genehm, obwohl sie in diesem Amt lieber wieder einen Zivilisten gesehen hätte. Bei der Beratung des Reichswehretats versicherte Groener am 14. März, er lege den größten Wert darauf, daß dem Reichstag stets klar und wahrheitsgemäß Rechenschaft über die Verwendung der bewilligten Gelder abgelegt werde, und bekannte sidi zu „einem gesunden und vernünftigen Pazifismus"; die Reichswehr werde er zum Staatsgedanken und zum rückhaltlosen Gehorsam gegenüber der Verfassung erziehen; die Reichswehr habe nur dem Frieden zu dienen. Groeners Antrag, die erste Rate für den Bau eines neuen Panzerschiffes im Rahmen des Versailler Vertrags zu bewilligen, wurde gegen die Stimmen der Linken angenommen. Auf Wunsch des Reichsrats, der sich unter preußischer Führung gegen den Panzerschiffbau aussprach, vertagte die Regierung den Baubeginn auf frühestens den 1. September 1928.

Kampf um ein Reichsschulgesetz Für eine Neugestaltung des Schulwesens hatte die Weimarer Verfassung allgemeine Richtlinien aufgestellt. Schon damals war nur sehr schwer ein Kompromiß erreicht worden, und die folgenden Versuche, ein Reichsschulgesetz zu schaffen, blieben in den Anfängen stecken. Dem deutschnationalen Innenminister Walter von Keudell schien dann die Zusammensetzung des vierten Kabinetts Marx eine günstige Gelegenheit zu bieten, ein Schulgesetz mit bevorrechteter Stellung der Bekenntnisschule im Sinne der Deutschnationalen und des Zentrums durchzubringen statt der in der Verfassung als Regel vorgesehenen Simultanschule. Keudell legte am 25. Juli 1927 einen Gesetzentwurf in diesem Sinne vor, dessen Für und Wider die Öffentlichkeit heftig diskutierte. Die erste Lesung des Entwurfs im Reichstag fand am 18. Oktober statt. Deutschnationale, Zentrum und Bayrische Volkspartei waren sich einig, der Wunsch der Eltern nach einer christlichen 592

Wahlen im Mai 1928. Kabinett Müller Bekenntnisschule sei weitgehend zu berücksichtigen, wer wolle, könne indes seine Kinder in eine christliche Simultanschule oder in eine rein weltliche Schule schikken; Keudell betonte, „nur die christliche Erziehung führe zur wahren Volksgemeinschaft". Die Sozialdemokraten hielten dem entgegen: nur die weltliche Schule könne eine Erziehung zu wirklicher Duldsamkeit durchführen; die Verfassung gebe der weltlichen Schule Lebensmöglichkeiten neben der konfessionellen Schule und stelle die Gemeinschaftsschule als Regelschule hin. Die Deutsche Volkspartei war von ihrer nationalliberalen Vergangenheit her für die christliche Simultanschule, erkannte aber den Gesetzentwurf als brauchbare Grundlage für Verhandlungen an und behielt sich völlig freie Hand für die Stellungnahme zur endgültigen Verabschiedung des Gesetzes. Am 20. Oktober wurde der Entwurf dem Bildungsausschuß des Reichstags zur weiteren Beratung überwiesen. Da ein Ausgleich nicht gelang, zerbrach die Regierungskoalition, obwohl Hindenburg am 9. Februar 1928 in einem Brief an den Reichskanzler vor einer Regierungskrise und der Auflösung des Reichstags warnte, weil eine Reihe wichtiger Aufgaben noch von diesem Reichstag zu lösen wäre. Der interfraktionelle Ausschuß der Regierungsparteien stellte am 15. Februar das endgültige Scheitern des Reichsschulgesetzes fest; jede Partei suchte der anderen die Schuld daran zuzuschieben. Einige Tage später einigten sich Regierung und Parteien über ein Notprogramm, das bis zu der für den 31. März vorgesehenen Auflösung des Reichstags erledigt werden sollte; zum Wahltag wurde der 20. Mai bestimmt.

Die Wahlen im Mai 1928. Kabinett Müller Im Wahlkampf standen sich 31 Parteien gegenüber, eine die allgemeine Unzufriedenheit und Unsicherheit kennzeichnende Zersplitterung, durch die eine Million Stimmen verlorengingen, denn nur 14 Parteien erhielten Mandate. Die Sozialdemokraten benützten ihre Ablehnung der Baurate für den Panzerkreuzer als zugkräftigen Wahlschlager: „Kinderspeisung statt Panzerkreuzer". Stresemann kandidierte für die Deutsche Volkspartei in Bayern. Als er am 25. April im Münchner Bürgerbräukeller eine Versammlung abhielt, versuchten ihn an die 500 Nationalsozialisten unter Führung Hermann Essers am Reden zu hindern, was ihnen auch mit dem Absingen des Deutschlandliedes nach eineinhalb Stunden gelang, die Versammlung wurde unter Tumulten geschlossen. Die Reichstagswahlen vom 20. Mai 1928 ergaben eine beträchtliche Zunahme der Linken. Die Zahl der sozialdemokratischen Abgeordneten stieg von 131 auf 152, die der Kommunisten von 45 auf 54; dagegen nahmen die Deutschnationalen einschließlich des Landbundes und des sächsischen Landvolkes von 103 auf 78 ab, das Zentrum von 69 auf 61, die Deutsche Volkspartei von 51 auf 45, die Demokraten von 32 auf 25, die Bayrische Volkspartei von 19 auf 17, die Nationalsozialisten von 14 auf 12. — Am gleichen Tag fanden in einigen Ländern Landtagswahlen statt. Dabei erhielten von den größeren Parteien in Preußen die Sozialdemokraten 136 Sitze (bisher 114), die Deutschnationale Volkspartei 82 (bisher 593 38 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 109), Zentrum 72 (81), Deutsche Volkspartei 40 (45), Kommunisten 56 (44), Demokraten 21 (27). Die Regierungsparteien, Sozialdemokraten, Zentrum und Demokraten verfügten nun mit ihren 229 von insgesamt 450 Sitzen über eine absolute Mehrheit. Die Nationalsozialisten gingen bei diesen Landtagswahlen in Preußen von 11 auf 6 Sitze, in Bayern von 23 auf 9 zurück, im übrigen hat hier das Wahlergebnis an der Gesamtlage wenig geändert. Die Sozialdemokraten erklärten sich bereit, als stärkste Partei die Bildung des Reichskabinetts zu übernehmen. Hindenburg beauftragte damit den sozialdemokratischen Fraktionsvorsitzenden Hermann Müller, der am 28. Juni 1919 als Außenminister den Versailler Vertrag unterzeichnet hatte und 1920 schon einmal Reichskanzler gewesen war. Die Zusammenstellung des Kabinetts stieß auf große Schwierigkeiten. Vor allem im Hinblick auf die Außenpolitik schien geboten, daß sich die Regierung auf die Große Koalition stützen könne; Zentrum und Deutsche Volkspartei stellten jedoch Bedingungen, die von sozialdemokratischer Seite abgelehnt wurden. So drang Stresemann mit seiner Ansicht durch, deretwegen er allerdings zu seiner eigenen Partei in Gegensatz geriet: Persönlichkeiten aus den Fraktionen von den Sozialdemokraten bis zur Deutschen Volkspartei sollten sich auf ein Programm einigen gemäß dem „Geiste der deutschen Reichsverfassung, die nur persönliche Verantwortlichkeit der Reichsminister, aber nicht die Verantwortlichkeit von Fraktionen kennt". Hermann Müller wurde Reichskanzler, Stresemann blieb Außenminister, Curtius, ebenfalls Mitglied der Deutschen Volkspartei, Wirtschaftsminister, Groener Reichswehrminister; die Sozialdemokraten übernahmen außerdem drei Ministerposten, die Demokraten zwei, Zentrum und Bayrische Volkspartei je einen. Am 5. Juli billigte der Reichstag mit großer Mehrheit das vom Reichskanzler vorgelegte Regierungsprogramm.

Der Kellogpakt.

Müller in Genf

Für die Außenpolitik stellte Müller zwei Forderungen in den Mittelpunkt: Räumung des noch besetzten Gebiets und endgültige Reglung der Reparationen. Stresemann war um diese Zeit schon ein unheilbar kranker Mann, ein altes Nierenleiden, das bei jeder Erkältung zu schweren Anfällen mit hohem Fieber führte, trat allmählich in das letzte Stadium; zu der Verschlimmerung trugen viel bei: unermüdliche Arbeit, Widerstände im Ausland und Inland, vielfach auch von der eigenen Partei, und die seelische Belastung durch unverantwortliche verleumderische Hetze seiner politischen Feinde; verschiedene Kuraufenthalte konnten das Leiden nur lindern. Anfang August hatte er einen leichten Schlaganfall, trotzdem setzte er seine Arbeit fort und fuhr sogar am 26. August 1928 unter ärztlicher Begleitung nach Paris, um für Deutschland den Kellogpakt zu unterzeichnen. Briand hatte im Juni 1927 den Vereinigten Staaten einen Friedenspakt angeboten; Staatssekretär Frank Kellog antwortete erst gegen Ende des Jahres und schlug anstelle eines Vertrages nur zwischen ihren zwei Ländern eine allgemeine Ächtung des Krieges vor. Die Verhandlungen Kellogs zunächst mit Frankreich, dann auch mit 594

Kellogpakt. Müller in Genf einer Reihe anderer Staaten, darunter Deutschland, zogen sich noch bis zum Juli 1928 hin. Am 27. August unterzeichneten in Paris die Bevollmächtigten von 15 Staaten den Pakt. Die Festrede hielt Briand; er mahnte, die Hoffnungen, die sich an diesen Pakt zur Überwindung des Krieges knüpften, nicht zu enttäuschen. „Den Frieden zu proklamieren ist gut, ist viel. Aber man wird ihn organisieren müssen. An die Stelle der Gewaltordnungen wird man Rechtsordnungen setzen müssen. Das ist die Arbeit von morgen." Artikel 1 des Paktes lautete: „Die Hohen Vertragschließenden Parteien erklären feierlich im Namen ihrer Völker, daß sie den Krieg als Mittel für die Lösung internationaler Streitfälle verurteilen und auf ihn als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten." Artikel 2 und 3 bestimmten, alle Streitigkeiten in Konflikten zwischen diesen Staaten sollen durch friedliche Mittel geschlichtet werden, und allen anderen Mächten der Welt solle der Beitritt zu dem Pakt offenstehen. Wichtiger noch als die Unterzeichnung des Paktes waren Stresemann die Besprechungen erst mit Briand und dann mit Poincaré über die Räumung des Rheinlandes und die Neureglung der Reparationen; da ihm aber der Arzt nur eine knapp bemessene Zeit zugestanden hatte, kam dabei nicht viel mehr heraus, als daß jeder der drei Staatsmänner die besonderen Schwierigkeiten seines Landes hervorhob und den Willen zur Verständigung bekräftigte. — Da die Ärzte Stresemann die Teilnahme an der Herbsttagung des Völkerbundes verboten, fuhr Reichskanzler Müller nach Genf. In der Rede am 7. September brachte er seine Sorge über die ungenügenden Fortschritte in der Abrüstungsfrage ziemlich schroff zum Ausdruck: der Entwaffnung Deutschlands müsse die allgemeine Abrüstung folgen; „der Mann aus dem Volk denkt einfach und denkt deshalb richtig. Er liest, daß die Regierungen sich feierlich auf die Erhaltung des Friedens verpflichten, und er sieht andererseits, daß diese Regierungen gleichwohl an ihren alten Machtpositionen festhalten und neue zu gewinnen suchen . . . So ist es nicht verwunderlich, wenn er schließlich dazu kommt, ein doppeltes Gesicht der internationalen Politik zu konstatieren." Diese Rede kränkte Briand tief, der Dolmetscher hatte „ein doppeltes Gesicht der Politik" so übersetzt, daß Briand den Vorwurf „Doppelzüngigkeit" heraushörte. Am 10. September wies Briand die deutsche Kritik an der Abrüstungsfrage scharf zurück, erklärte, das deutsche 100 000-Mann-Heer bestehe aus Unteroffizieren und Offizieren, dahinter ständen große, gut disziplinierte Menschenmassen und eine Industrie, die Gewaltiges zu leisten vermöge; unglücklicherweise seien es die gleichen Fabriken, welche Werkzeuge und Kriegswaffen herstellen. Briand ließ sich nur schwer beruhigen, doch einigten sich am 16. September die fünf Rheinpaktmächte (S. 577) und Japan über die drei Punkte „1. Eröffnung einer offiziellen Verhandlung über die vom Reichskanzler vorgebrachten Forderungen auf vorzeitige Rheinlandräumung; 2. über die Notwendigkeit, das Reparationsproblem vollständig und endgültig zu regeln und zu diesem Zweck eine Kommission von Finanzsachverständigen der sechs Regierungen einzusetzen; 3. über den Grundsatz der Einsetzung einer Feststellungs- und Vergleichskommission (Kontrollkommission)." Mit diesem Ergebnis konnte Müller zufrieden sein, der Weg für weitere Verhandlungen war nun frei. 595 S8·

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929

Haltung der Deutschnationalen.

Führerwechsel

beim Zentrum

Hindenburg hatte getreu der Verfassung den Sozialdemokraten Müller zum Reichskanzler ernannt, und sie arbeiteten so gut zusammen, daß es hieß, Hindenburg habe gesagt: „Müller ist der beste Kanzler, den ich bisher gehabt habe, schade nur, daß er Sozialdemokrat ist." Die extreme Rechte machte jetzt, zumal da die Deutschnationalen wieder frei von Regierungsverantwortung waren, kein Hehl mehr aus ihrer tiefen Enttäuschung über den Reichspräsidenten. Hindenburg verteidigte sich damit, er könne doch seinen Eid auf die Verfassung nicht brechen; der Vorsitzende der Alldeutschen, Justizrat Claß, meinte dazu: „Für mich war diese ständige Redensart ein Beweis der Hilflosigkeit des alten Mannes, also für seine völlige politische Unbrauchbarkeit." Der Gau Brandenburg des Stahlhelm verkündete am 2. September 1928 auf einer Tagung: „Wir hassen mit ganzer Seele den augenblicklichen Staatsaufbau, weil er uns die Aussicht versperrt, unser geknechtetes Vaterland zu befreien, das deutsche Volk von der erlogenen Kriegsschuld zu reinigen, den notwendigen Lebensraum im Osten zu gewinnen . . . Kampf dem System, das den Staat von heute regiert, Kampf denen, die dieses System durch Kompromisse stützen." Drei Wochen später beschloß der Bundesvorstand des Stahlhelm die Einleitung eines Volksbegehrens zur Änderung der Verfassung, denn „das bestehende parlamentarische System verschleiert durch unehrliche Kompromisse die wahren Ursachen unseres Niedergangs, es führt die Massen des Volkes irre und macht eine starke, verantwortungsbewußte Staatsführung unmöglich". Die Macht des Reichspräsidenten solle deshalb vergrößert werden. Obwohl Hindenburg persönlich dem ganzen Treiben fernstand, brachte er es nicht über sich, seine Ehrenmitgliedschaft im Stahlhelm niederzulegen. Der Stahlhelm ließ den Plan des Volksbegehrens wieder fallen. Unter den Deutschnationalen hatte sich allmählich eine Richtung herausgebildet, die nicht mehr unbedingt ein Bekenntnis zur Monarchie verlangte und auch überzeugte Republikaner in die Partei aufnehmen wollte. Der Reichstagsabgeordnete Walter Lambach, Führer des etwa 300 000 Mitglieder zählenden Deutschnationalen Handlungsgehilfenverbandes, vertrat diesen Gedanken in einem Zeitschriftenaufsatz Sommer 1928: das wäre der einzig mögliche Weg, die Jugend für die deutschnationalen Ideen zu gewinnen, sie will „in dieser bürgerlich gewordenen Welt der Arbeit und des Sports keine Erbmonarchien schaffen helfen. Für die nach 1905 Geborenen sind Kaiser und Könige keine geheiligten und unantastbaren Größen mehr. Sie sind für diese Jugend zu Film- und Bühnenangelegenheiten geworden. Aus dieser Diagnose der Gegenwart ergeben sich für den vollkonservativen Menschen ernste Schlußfolgerungen gegenüber den Möglichkeiten und Notwendigkeiten einer aufbauenden Politik. Es bleibt von seinem Monarchismus nur der Kyffhäusertraum übrig, mehr nicht." Der Landesverband Potsdam, dem Lambach angehörte, schloß ihn aus der Partei aus; das oberste Parteigericht hob dies Urteil wegen Lambachs Stellung im Handlungsgehilfenverband auf und begnügte sich mit einem Verweis. Graf Westarp, der zur maßvollen Richtung der Deutschnationalen gehörte, legte im Laufe des Streites um Lambach den Vorsitz

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Lohnkonflikt. Panzerkreuzerbau

der Partei nieder. Ende Oktober wurde Hilgenberg zum alleinigen Parteivorsitzenden gewählt. In seinem Programm äußerte sich Hugenberg sehr pessimistisch: „Deutschland steht am Ende eines großen, falschen Rechenexempels . . . Wenn in weiteren zehn Jahren Zinsen auf Zinsen, Kredite auf Kredite gehäuft werden wie bisher, dann wird Deutschland von seiner Wirtschaft nichts mehr besitzen"; Arbeitslosigkeit und Not werden die Folge sein, die jetzige soziale Gesetzgebung bietet keine Sicherung dagegen, denn sie ist „zu einem Machtinstrument der Sozialdemokraten geworden . . . es gilt die Uberwindung des zerstörenden Geistes des Marxismus . . ; dem Typus der Halben, den Stresemann darstellt, steht die neue Generation gegenüber, die das Ganze will". Hugenberg sagte freilich nicht, wie er nun positiv zu arbeiten gedenke. Die anderen Parteien, namentlich das Zentrum, betrachteten die Wahl Hugenbergs als eine Bedrohung des inneren Friedens. Anfang Dezember trat auch in der Führung des Zentrums ein Wechsel ein; der ehemalige Reichskanzler Marx legte den Parteivorsitz nieder. Bei der Neuwahl erhielt der konservativ-klerikale Prälat Dr. Ludwig Kaas, Professor des Kirchenrechts an der katholisch-theologischen Fakultät der Universität Bonn, die meisten Stimmen gegenüber dem Vorsitzenden der christlichen Gewerkschaften, Adam Stegerwald, und dem Vertreter der demokratischen Richtung, Josef Joos.

Lohnkonflikt.

Panzerkreuzerbau

Als der Reichstag am 12. November 1928 die Sitzungen wieder aufnahm, hatte er sich zunächst mit dem Lohnkonflikt in der nordwestdeutschen Eisenindustrie zu befassen. Die Arbeiter hatten eine Lohnerhöhung gefordert und den Spruch der Schlichterkammer angenommen, obwohl er ihnen nur eine erheblich geringere Erhöhung als die verlangte zubilligte. Die Unternehmer lehnten jedoch unter Anführung juristischer Gründe den Schiedsspruch ab und sperrten am 31. Oktober ungefähr 213 000 Arbeiter aus. Die Stillegung in der Eisenindustrie hatte natürlich Feierschichten im Kohlenbergbau zur Folge. Die Arbeitgeber wollten bei der sinkenden Konjunktur keine höheren Löhne zahlen und sich vor allem gegen das staatliche Schlichtungswesen wehren, weil der Staat die Lage der Industriebetriebe nicht zu beurteilen vermöge. Die Regierung, deren Kanzler, Innen-, Arbeits- und Finanzminister Sozialdemokraten waren, sowie der Reichstag, stellten sich auf die Seite der Arbeiter und bewilligten ihnen Geldunterstützung bis zur Wiederkehr des Arbeitsfriedens. Ende November konnte Reichskanzler Müller beide streitende Parteien bewegen, den preußischen Innenminister Severing als Schiedsrichter anzuerkennen; die Aussperrung wurde sofort aufgehoben. Severings Schiedsspruch vom 21. Dezember befriedigte keine der beiden Parteien, aber der Arbeitsfrieden war wiederhergestellt und das staatliche Schlichtungssystem anerkannt. Auf Drängen Groeners hatte die Reichsregierung am 10. August 1928 den sofortigen Baubeginn des Panzerkreuzers beschlossen. Die Kommunisten versuchten, gegen den Bau ein Volksbegehren durchzubringen; es scheiterte kläglich, nur 597

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 1,2 Millionen trugen sich dafür ein, dabei hatten bei der letzten Reidistagswahl die Kommunisten 3,2 Millionen Stimmen erhalten. Die Sozialdemokraten wandten sich gegen das Volksbegehren, den Kommunisten ginge es gar nicht um die Verhinderung des Schiffsbaus, sondern nur um eine Gelegenheit, die sozialdemokratische Partei zu verleumden und zu beschimpfen. Am 15. November stellten die Sozialdemokraten im Reichstag einen Antrag auf Einstellung des Baues und zwangen die sozialdemokratischen Minister, mit ihrer Fraktion zu stimmen. Reidiswehrminister Groener drohte mit seinem Rücktritt. So bestand die Gefahr einer Regierungskrise und darüber hinaus einer Krise des parlamentarischen Systems, denn wenn Minister von ihrer Fraktion gezwungen wurden, gegen die eigenen Beschlüsse zu stimmen, ergab sich eine untragbare Situation. Der Zentrumsabgeordnete Wirth erklärte, er werde bei der Wiederholung solcher Vorgänge ein Mißtrauensvotum beantragen, und der Abgeordnete Brünninghaus von der Deutschen Volkspartei kritisierte „die seltsame parlamentarische Auffassung, daß jeder Reichstag die Beschlüsse seines Vorgängers aufheben könnte". Da der sozialdemokratische Antrag mit 257 gegen 202 Stimmen abgelehnt wurde, beruhigten sich die Gemüter wieder, aber die Regierung büßte doch erheblich an Achtung ein.

Verschlechterung der Wirtschaftslage. Staatshaushalt und Arbeitslosenversicherung. Not der Landwirtschaft. Sklarek-Skandal Der harte Winter 1928/1929 ließ die Zahl der Arbeitslosen auf über zwei Millionen ansteigen. Da die Reserven der Arbeitslosenversicherung von 1927 noch sehr gering waren, mußte das Reich, das die Garantie übernommen hatte, erhebliche Zuschüsse leisten, dazu kam die Krisenfürsorge für die von der Arbeitslosenversicherung Ausgesteuerten. Das Reich hatte im ganzen ein Defizit von fast einer halben Milliarde, das irgendwie gedeckt werden mußte. Die Rechtsopposition verlangte unter Führung von Hugenberg den Abbau der Sozialversicherung, der schwerindustrielle Flügel der Deutschen Volkspartei neigte ebenfalls dazu, während die Sozialdemokraten, die das Arbeitslosenversicherungsgesetz als Krönung der von ihnen erkämpften Sozialversicherung betrachteten, jeden Abbau der Leistungen zurückwiesen. Der sozialdemokratische Finanzminister Hilferding schlug Sparmaßnahmen und Steuererhöhungen vor, gegen die sich die Wirtschaft entschieden wehrte. Die Gefahr, die Regierungskoalition würde auseinanderfallen, lag zeitweise sehr nahe. Am 20. März 1929 kam indes durch Zugeständnisse aller regierungsfreundlichen Parteien ein Notetat für 1929 zustande. Die Kompromißlösung in der Arbeitslosenversicherung — vor allem eine befristete Erhöhung der Beiträge — nahm der Reichstag noch unter Stresemanns Einfluß auf seine Partei am 2. Oktober an. Eine Gesundung der Staatsfinanzen wurde damit freilich nicht erreicht. In einer ernsten Notlage befand sich die Landwirtschaft. Sie hatte zwar ihre Produktion ungefähr wieder auf den Vorkriegsstand gebracht, war aber infolge der an sich unbedingt notwendigen Modernisierung ihrer Betriebe großenteils 598

Reparationsprobleme. Völkerbundsratstagung in Lugano tief verschuldet. Das Reich tat mit Schutzzöllen und bedeutenden Zuschüssen sehr viel zur Hebung der Landwirtschaft, konnte jedoch nicht verhindern, daß eine schwere Absatzkrise besonders die Roggenbaugebiete hart traf. Zu nachdrücklicherer Vertretung ihrer Interessen schlossen sich während des März 1929 die landwirtschaftlichen Verbände in der „Grünen Front" zusammen, welche, da ihre Mitglieder meist Großgrundbesitzer waren, die Rechtsopposition verstärkte. Die Bauern in Schleswig-Holstein gingen zu Tätlichkeiten über, verhinderten Zwangsversteigerungen, verübten Bombenanschläge und verhängten gegen mißliebige Firmen den Boykott. Der Berliner Sklarek-Skandal bot der Rechtsopposition Gelegenheit, im ganzen Reich eine hemmungslose Hetze gegen das System der Republik zu betreiben. Dieser Fall von Betrug und Bestechung war an sich höchst unerfreulich, bewies aber in keiner Weise eine allgemeine Korruption des republikanischen Beamtentums. Da die Sklareks reichgewordene Juden waren und zwei von ihnen der sozialdemokratischen Partei angehörten, trat zu der antirepublikanischen noch die antisemitische und antimarxistische Agitation. Die drei Brüder Sklarek, Besitzer einer Kleiderfabrik, hatten für die Berliner Stadtverwaltung große Lieferungsaufträge erhalten auf Uniformen usw., und dabei durch Betrug und Urkundenfälschung die Stadtkasse um hohe Beträge geschädigt. Bei den Untersuchungen stellte sich heraus, daß städtische Beamte größere Geschenke angenommen hatten, und sogar der Oberbürgermeister Böß für seine Frau einen wertvollen Pelzmantel zu einem so auffallend niedrigen Preis gekauft hatte, daß auch dies einer Bestechung gleichkam; Böß mußte daraufhin von seinem Amt zurücktreten. Das Ansehen der Republik litt sehr unter derartigen Vorkommnissen, was sich gerade jetzt in der Zeit der beginnenden Weltwirtschaftskrise für den Staat besonders schädlich auswirkte.

YOUNGPLAN UND WIRTSCHAFTSKRISE 1929/1930. HITLERS AUFSTIEG Reparationsprobleme.

Völkerbundsratstagung

in Lugano

Anfang November 1928 war Stresemann leidlich erholt nach Berlin zurückgekehrt. Das Reparationsproblem bildete jetzt die wichtigste Aufgabe der Außenpolitik. Seit Ende des Jahres 1927 forderte der Reparationsagent Parker Gilbert immer wieder eine endgültige Reglung, der Dawesplan sei als Übergangslösung gedacht und habe seinen Zweck erfüllt: Deutschlands Wiederherstellung als Wirtschaftsmacht und die geordnete Zahlung der Reparationen; je mehr die freiwillige Auslandsschuld Deutschlands steige, desto dringlicher werde die klare Feststellung des endgültigen Ausmaßes der deutschen Verpflichtungen. Frankreich stellte sich nun von vornherein auf den Standpunkt, die deutschen Reparationszahlungen müßten die französischen Kriegsschulden an Amerika decken; verzichteten die amerikanischen Gläubiger auf einen Teil, so brauche Deutschland 599

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929

ebenfalls um diesen weniger zu zahlen, allerdings müsse es auch zum Aufbau von Frankreichs zerstörten Provinzen beitragen; die Besetzung des Rheinlandes sei für Frankreich das Pfand für Deutschlands guten Willen, eine Räumung des Rheinlandes käme deshalb nur im Zusammenhang mit der Reglung der Reparationen und der interalliierten Schulden in Frage. Die Vereinigten Staaten waren indes nicht bereit, noch einen Teil der Schulden nachzulassen. Deutschland lehnte die Verbindung des Reparationsproblems mit der Räumungsfrage ab, verlangte die Freiheit des Rheinlandes und des Saargebietes als natürliche Folge der im Locarnovertrag gegebenen Sicherheiten; bei der Reglung der Reparationen sei an erster Stelle die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit Deutschlands zu berücksichtigen, die Verpflichtungen müßten so festgesetzt werden, daß die Erfüllung aus eigener Wirtschaftskraft und ohne Gefährdung einer menschenwürdigen Lebenshaltung des deutschen Volkes möglich sei. Nach längerem schriftlichem Meinungsaustausdi und persönlichen Unterredungen zwischen Stresemann, Briand und Chamberlain bei der Dezembertagung des Völkerbundsrates in Lugano, wohin mit Rücksicht auf Stresemanns Gesundheitszustand die Völkerbunds-Ratstagung verlegt war, wurde am 22. Dezember 1928 das Kommuniqué über den neuen Sachverständigenausschuß veröffentlicht; die Grundlage bildete der Genfer Beschluß vom 16. September: die von den Regierungen zu ernennenden Sachverständigen sollen unabhängig, nicht an Instruktionen ihrer Regierungen gebunden sein, die Beteiligung der Vereinigten Staaten an den Arbeiten des Sachverständigenausschusses sei außerordentlich wünschenswert. Deutschland bestimmte als seine Vertreter den Reichsbankpräsidenten Schacht und den Generaldirektor der Deutsch-Luxemburgischen Bergwerks- und Hüttengesellschaft Dr. Albert Vogler, als Ersatzmänner den Hamburger Bankier Dr. Karl Melchior und den Geschäftsführer des Reichsverbandes der deutschen Industrie, Dr. Ludwig Kastl, also ausschließlich Vertreter des Großkapitals; die Sozialdemokraten hofften, ebenso wie Stresemann, damit die erwartete Opposition der Rechten etwas in Schranken zu halten. Der

Youngplan

Am 11. Februar 1929 fand in Paris die erste Sitzung des Sachverständigenausschusses statt, zum Vorsitzenden wählte er den Amerikaner Owen D. Young. Zuerst legten die Gläubigerstaaten ihre Ansprüche vor; die deutsche Delegation überreichte am 17. April ein Memorandum über die Zahlungen, die Deutschland zu leisten imstande wäre, knüpfte aber daran die Bedingung, daß die noch bestehenden ausländischen Kontrollen der deutschen Wirtschaft fortfallen, und daß Mittel und Wege zur Steigerung der deutschen Zahlungsfähigkeit gefunden würden, die besonders durch den Verlust der überseeischen Rohstoffbasen und wichtiger landwirtschaftlicher Überschußgebiete im Osten beeinträchtigt werde. Der Hinweis auf diese Verluste erregte in der Auslandspresse einen Sturm der Entrüstung, Deutschland wolle also seine ehemaligen Kolonien und die an Polen abgetretenen Gebiete zurückverlangen. Schacht erklärte, er und seine Mitarbeiter 600

Stellungnahme von Regierung und Reichstag zum Youngplan hätten selbstverständlich nur eine wirtschaftliche und keinerlei politische Anregung geben wollen; die Reichsregierung, die ihre Delegierten vor jedem Hineintragen politischer Forderungen in die Sachverständigenkonferenz gewarnt hatte, stellte eine formale Überschreitung fest, die sachlich unzweckmäßig gewesen sei. Die Unvereinbarkeit der Ansprüche der Gläubigerstaaten mit dem deutschen Angebot führte am 18. April beinahe zum Abbruch der Verhandlungen. Wegen des plötzlichen Todes eines der englischen Delegierten wurde aber die Sitzung vertagt, und nach der Pause herrschte allgemein der Wille, doch noch eine Verständigung zu erreichen. Für Deutschland hätte das Scheitern der Konferenz eine Katastrophe bedeutet; der Dawesplan wäre weitergelaufen, die Jahresraten von 2,5 Milliarden Mark hätten nun gezahlt werden müssen, dabei war der Höhepunkt der Konjunktur bereits überschritten, auch nahm die Arbeitslosigkeit wieder zu, besonders in dem außergewöhnlich kalten Winter 1928/1929. So entschieden sich Schacht ebenso wie die Reichsregierung für die Annahme des von Owen Young ausgearbeiteten KompromißVorschlags. Die Alliierten änderten ihn noch in einigen Punkten ab. Dies veranlaßte Dr. Vogler am 23. Mai zum Rüdetritt; ein Teil der Presse behauptete allerdings, Vogler sei nicht aus sachlichen Gründen, sondern unter dem Drude der Schwerindustrie und Hugenbergs ausgeschieden. Am 7. Juni unterzeichneten die Delegierten den Youngplan. Er setzte die deutschen Zahlungen bis zum Jahr 1988 fest, ansteigend von 1,7 Milliarden Mark 1930 auf 2,4 Milliarden 1966 und dann abnehmend auf 898 Millionen im letzten Reparationsjahr: der „Betrag von 660 Millionen jährlich soll ungeschützt, d. h. ohne irgendein Recht zu einem Aufschub irgendwelcher Art" zahlbar sein, bei einem weiteren Teil könne Deutschland die Zahlung bis zu zwei Jahren hinausschieben und zehn Jahre lang einen bestimmten Betrag in Sachlieferungen umwandeln. Eine neu zu gründende „Bank für internationalen Zahlungsausgleich" in Basel, an deren Leitung Deutschland beteiligt ist, werde „die Entgegennahme, die Verwaltung und die Verteilung der Annuitäten" übernehmen. Damit fielen die Kontrollorgane des Dawesplanes fort: der Generalagent für Reparationen, die Kommissare für Reichsbahn und Reichsbank und für alle ausländischen Aufsichtsinstanzen. „Der ,kapitalistische Gegenwartswert' aller Jahreszahlungen wurde auf weniger als 37 Milliarden Mark errechnet — an sich eine bemerkenswerte Ermäßigung von der phantastischen Summe von 132 Milliarden Mark, die 1921 von der Reparationskommission festgesetzt worden war" (Stolper). Auch gegenüber dem Dawesabkommen bedeutete der Youngplan für Deutschland zweifellos eine Verbesserung, doch waren die Belastung der deutschen Wirtschaft noch so schwer und die Finanzlage des Reiches so angespannt, daß die deutsche Regierung mit starkem Widerstand gegen den Youngplan rechnen mußte.

Stellungnahme von Regierung und Reichstag Seit der Übernahme des Reichskanzleramtes hatte sich Hermann Müller bemüht, sein Kabinett der Persönlichkeiten in ein Kabinett der Großen Koalition 601

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929

umzugestalten, damit die Regierung sich in den bevorstehenden großen innerund außenpolitischen Entscheidungen auf eine feste Mehrheit im Reichstag stützen könne. Die interfraktionellen Besprechungen hierüber scheiterten immer wieder daran, daß das Zentrum drei Ministersitze für sich verlangte, und die Deutsche Volkspartei ihre Zustimmung von der gleichzeitigen Erweiterung der preußischen Regierung zur Großen Koalition durch Aufnahme von zwei Volksparteiministern abhängig machte. Am 6. Februar 1929 teilte die Zentrumsfraktion mit, sie werde ihren Minister aus der Regierung zurückziehen. In einer Rede vor seiner Partei über die parlamentarische Vertrauenskrisis verwahrte sich Stresemann „gegen die Anwendung des Satzes, daß eine Fraktion ihre Minister .zurückzieht'. Die Minister haben vor sich selbst die Frage zu beantworten, ob sie ihr Amt annehmen oder ob sie ihr Amt aufgeben. Der Reichstag kann ihnen das Vertrauen entziehen. Die Fraktion kann sie aus der Fraktion ausschließen, aber das ,Zurückziehen' von Ministern bedeutet, daß in Wirklichkeit die Persönlichkeit nicht mehr besteht, sondern nur noch als Beauftragter irgendeiner Organisation erscheint. Diese Auffassung ist das Ende des Liberalismus überhaupt". Mit Rücksicht auf die Pariser Konferenz blieb das Kabinett Müller im Amt. Nach langen Verhandlungen, in denen es außer um Ministersitze noch hauptsächlich um Steuererhöhungen zum Ausgleich des Reichshaushaltes für 1929 ging, kam dann doch am 13. April das Kabinett der Großen Koalition zustande, ein demokratischer Minister schied aus und drei Ministerposten wurden mit Angehörigen des Zentrums besetzt. Die Stärkung der Reichsregierung ermöglichte in den kommenden Monaten die gradlinige Fortführung der bisherigen Innen- und Außenpolitik. Das Kabinett nahm am 21. Juni den Youngplan als Grundlage für die bevorstehende Konferenz der beteiligten Mächte an. Drei Tage darauf griffen die Deutschnationalen im Reichstag Stresemann erbittert an. Sie warfen ihm vor, er wolle „Deutschland durch die Unterschrift eines uneinlösbaren Wechsels neuer Mißachtung ausliefern . . . Die Unmöglichkeit jedes wirtschaftlichen Fortschritts nach dem Pariser Plan und die weitere Verelendung des Volkes wird in erster Linie die Massen der Arbeiter treffen . . . er (Stresemann) wird Deutschland weiter von Mißerfolg zu Mißerfolg führen und in der Geschichte fortleben als ein Politiker, der, fremd jeder Selbstkritik, einem Phantom nachjagte, der die Eingliederung Deutschlands in das Versailler Mächtesystem vollzog und uns den Weg zum Wiederaufstieg verbaute". Stresemann antwortete sehr deutlich und mit überlegener Ironie, die Deutschnationalen hätten ja selbst dem Dawesplan zugestimmt, dem gegenüber der Youngplan erhebliche Erleichterungen aufweise. „Die Auffassung, als wenn die Kriegsschulden, die wir bezahlen müssen, die Folge eines Paragraphen wären, anstatt Folge eines verlornen großen Weltkriegs, ist eine Torheit, die dem Volke vorgemacht wird. Lassen Sie uns das, was in bezug der Herabdrüdcung all der Lasten, die auf uns liegen, möglich ist, durchführen, und lassen Sie uns moralisch einmütig gegen jede Herabsetzung des deutschen Volkes kämpfen." Die übrigen Parteien hielten zwar mit ihren Sorgen und Bedenken nicht zurück, aber „keiner hat", sagte der Demokrat Haas, „bis heute einen anderen Weg zur deutschen Freiheit gezeigt als den Weg der Verständigung". Am

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Erste Haager Konferenz 27. Juni wurden die Mißtrauensanträge der Deutschnationalen, Nationalsozialisten und Kommunisten gegen Stresemann abgelehnt, dafür stimmten nur die Antragsteller. Erste Haager Konferenz: Reparationsfrage und Räumung der zweiten Zone Am 6. August 1929 begann die erste Haager Konferenz, auf der sich die Vertreter der sechs am Youngplan beteiligten Mächte über das von den Sachverständigen ausgearbeitete Gutachten berieten. Die deutsche Delegation setzte sich zusammen aus Stresemann, Wirtschaftsminister Curtius, Finanzminister Hilferding und dem Minister für die besetzten Gebiete, Wirth. In Frankreich war Poincaré wegen einer bevorstehenden Operation am 26. Juli zurückgetreten. Briand hatte wieder das Amt des Ministerpräsidenten übernommen und vertrat nun Frankreich auch in Den Haag. Die englischen Konservativen hatten am 30. Mai bei den Unterhauswahlen eine empfindliche Niederlage erlitten; das Kabinett BaldwinChamberlain war zurückgetreten, Macdonald hatte das zweite Labour-Kabinett mit Arthur Henderson als Außenminister und Philipp Snowden als Schatzkanzler gebildet, die beide als Delegierte zur Haager Konferenz kamen. Stresemann, dessen Nieren- und Herzleiden sich immer mehr verschlimmerten, beteiligte sich meist nur an den Sitzungen der politischen Kommission. Als Snowden in der Finanzkommission Einspruch dagegen erhob, daß der 1920 in Spa ausgehandelte Verteilungsschlüssel für die deutschen Reparationszahlungen im Youngplan erheblich zuungunsten Englands verändert sei, entbrannte unter den Allüerten ein heftiger Streit, dem Deutschland, zunächst ohne sich einzumischen, zusah; als aber der 1. September immer näher kam, an dem Deutschland entweder die hohe Rate des Dawesplanes oder die viel geringere des Youngplans zahlen mußte, drängte Curtius auf beschleunigte Einigung der Gläubigerstaaten, die auch rechtzeitig gelang. Deutschland mußte allerdings einige Zugeständnisse machen; finanziell fielen sie zwar nicht sehr ins Gewicht, boten aber der deutschen Opposition neue Angriffspunkte. In der politischen Kommission hatten sich Stresemann, von Henderson unterstützt, und Briand nach langwierigen Verhandlungen verständigt; das Ergebnis wurde in einem Brief und in einer Note festgelegt und am 30. August unterzeichnet: die Räumung der zweiten Zone des besetzten deutschen Gebietes sollte sofort in Angriff genommen und innerhalb von drei Monaten zum Abschluß gebracht werden; der Abzug der französischen Truppen aus der dritten Zone, die nach dem Versailler Vertrag erst 1935 geräumt werden sollte, hatte unmittelbar nach der Ratifizierung des Youngplans zu beginnen und sollte spätestens am 30. Juni 1930 beendet sein. Damit war ein „großer Versöhnungs- und Friedensakt zwischen den Völkern" abgeschlossen, und Stresemann endlich der lange zäh und geduldig angestrebte Erfolg der vorzeitigen Räumung der besetzten Gebiete beschieden. Stresemann hatte außerdem Briand bewogen, auf die ursprünglich für die Zeit nach der Räumung vorgesehene „Feststellungs- und Vergleichskommission" zu 603

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 verzichten, die immer noch die Funktion einer Uberwachungskommission ausgeübt hätte. Uber die Saarfrage ließ Stresemann der französischen Delegation Vorschläge zugehen, es blieb jedoch bei einer zu keinem Ergebnis führenden Vorbesprechung zwischen deutschen Sachverständigen und Franzosen; diese gingen an die Saarfragen äußerst zögernd heran und bestanden darauf, daß mit ihr die Haager Konferenz nichts zu tun habe. Immerhin hat Stresemann mit der Neuordnung der Reparationen, der Befreiung Deutschlands von allen ausländischen Kontrollinstanzen und der vorzeitigen Räumung des Rheinlandes einen großen Schritt vorwärts getan zu den von ihm erstrebten Zielen und damit seine Politik gerechtfertigt.

Stresemanns

Tod

Eine bittere Enttäuschung für den Todkranken war die immer maßlosere Hetze der deutschen Rechtsopposition gegen ihn, die sich nun auf den Kampf um das Volksbegehren gegen den Youngplan konzentrierte. Seine letzte Rede vor dem Völkerbund hielt Stresemann am 9. September; er sprach noch einmal von all den Aufgaben des Völkerbunds, der Friedenssicherung, der Abrüstung, dem Schutz der Minderheiten, und kam zum Schluß auf die Neugestaltung der Staatenverhältnisse in Europa. Seit 1923 forderte der österreichische Graf CoudenhoveKalergi ein Paneuropa, einen Staatenbund mit einheitlichem Zollgebiet, gemeinsamer Außen- und Wirtschaftspolitik und einer Bundesarmee. Briand hatte für diesen Gedanken geworben, nun bekannte sich auch Stresemann dazu, er verglich das Europa seiner Zeit mit dem Deutschland vor der Gründung des Zollvereins 1833, die Idee eines wirtschaftlich geeinten Europas sei keine bloße Romantik, sondern müsse mit der Vorwärtsentwicklung des Verständigungswillens verwirklicht werden. Nach einem kurzen Erholungsurlaub kehrte Stresemann am 25. September in das durch den Kampf um das Volksbegehren und um die Reform der Arbeitslosenversicherung erregte Berlin zurück. Mit letzter Kraft machte er noch am 30. September seinen Einfluß bei der Deutschen Volkspartei geltend für einen Aufruf gegen das Volksbegehren und am 2. Oktober für eine Haltung der Partei, die den Regierungsentwurf zur Arbeitslosenversicherung nicht gefährde. In der Nacht vom 2. zum 3. Oktober 1929 erlag Stresemann einem Schlaganfall. Stresemann hatte von jungen Jahren an Interesse an der Politik gezeigt und besaß in hohem Grade die für einen politischen Führer erforderlichen Fähigkeiten (S. 547); natürlich wurde und wird seine Tätigkeit verschieden bewertet, und zwar nicht bloß nach dem politischen Standpunkt des Beurteilers. In Kreisen französischer Politiker sprach man bei der Nachricht von Stresemanns Tod „von einem unersetzlichen Verlust nicht nur für Deutschland, sondern für Europa und die Sache des europäschen Friedens schlechthin" (Vossische Zeitung). Ähnlich schrieben andere in- und ausländische Zeitungen, so die Londoner „Times" am 4. Oktober. Nach dem Erscheinen von „Gustav Stresemanns Vermächtnis" (1932/1933) mehrten sich allerdings, besonders in Frankreich, die Stimmen, Stresemann habe es weder mit seiner Verständigungs- noch mit seiner Europapolitik ehrlich ge-

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Volksbegehren und Volksentscheid meint, sondern unter Täuschung seiner Verhandlungspartner Deutschlands Vorherrschaft auf dem europäischen Kontinent angestrebt und sei so ein Schrittmacher Hitlers geworden. Von deutscher Seite bekämpften die Nationalsozialisten, die Alldeutschen und die Deutschnationalen, voran Hugenberg, als erbitterte Gegner Stresemann auch mit sehr unlauteren Mitteln. — Während des Ersten Weltkriegs war Stresemann für hochgeschraubte Kriegszielforderungen eingetreten; Ende Dezember 1914 hatte er an den Vorsitzenden der Nationalliberalen Partei, Ernst Bassermann, geschrieben: „Jetzt ist der große Moment der Weltgeschichte gekommen, wir werden zum Westmeer vorrücken, wir werden uns in Calais ein deutsches Gibraltar schaffen können." Nach dem Krieg, besonders, als die Franzosen weitere deutsche Gebiete besetzten, erkannte Stresemann die Notwendigkeit einer deutsch-französischen Verständigung. Dies und die Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten wurden vielfach als völlige Wandlung des ehemaligen Nationalisten und Monarchisten betrachtet und teils als Verrat, teils als Heuchelei, teils als hervorragende staatsmännische Leistung beurteilt. Ein Gesinnungswandel lag aber Stresemann ferne, er hatte nur eingesehen, daß die Politik Deutschlands, sollte es nicht völlig zugrunde gehen, sondern wieder hochkommen, den realen Verhältnissen Rechnung tragen müsse; ob an der Spitze Deutschlands wieder einmal ein Monarch stehen werde, liege im Schöße der Zukunft. Ein Uberblick über Stresemanns Wirken von 1923 bis 1929 und seine Erfolge in diesen sechs Jahren bestätigen, was er kurz vor seinem Tod zu einem Freunde gesagt hat: „Ich denke mir, das bleibt nach mir: daß man ohne Gewaltmittel die Macht wiedergewinnen kann, und vielleicht als Wichtigstes: daß man durch Frieden und Verständigung ebensolche Siege zu erringen vermag wie durch Schlachten und Krieg." Eine kurz vor dieser Äußerung über die erhoffte Nachwirkung seiner persönlichen Tätigkeit liegende Bemerkimg Stresemanns traf leider mehr zu: „Es ist Deutschlands Unglück, daß die Brannenvergiftung eine so gewaltige Stimme hat und die Vernunft nur leise vor sich hinspricht." „Wie weit werden sich die Massen von den Demagogen hinreißen lassen?" (Vallentin).

Volksbegehren

und

Volksentscheid

Am 28. September 1929, einige Tage vor Stresemanns Tod, übergab der „Reichsausschuß für das deutsche Volksbegehren", wie die Verfassung für das Zustandekommen eines Volksbegehrens vorschrieb, dem Innenminister einen Gesetzentwurf. Als Führer des Reichsausschusses hatten sich am 9. Juli zusammengeschlossen: Hugenberg für die Deutschnationale Volkspartei, Claß für den Alldeutschen Verband, Seldte für den Stahlhelm und Hitler für die NSDAP. Hugenbergs reichliche Geldmittel und sein großer Pressekonzern ermöglichten eine großangelegte Propaganda mit Zeitungsartikeln und Versammlungen in ganz Deutschland für das Volksbegehren. In seiner endgültigen Fassung forderte es: „§ 1 Die Reichsregierung hat den auswärtigen Mächten unverzüglich in feierlicher Form 605

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 Kenntnis davon zu geben, daß die erzwungene Kriegsschuldanerkenntnis des Versailler Vertrages der geschichtlichen Wahrheit widerspricht, auf falschen Voraussetzungen beruht und völkerrechtlich unverbindlich ist. § 2 Die Reichsregierung hat darauf hinzuwirken, daß die besetzten Gebiete nunmehr unverzüglich und bedingungslos, sowie unter Ausschluß jeder Kontrolle über deutsches Gebiet geräumt werden, unabhängig von Annahme oder Ablehnung der Beschlüsse der Haager Konferenz. § 3 Auswärtigen Mächten gegenüber dürfen neue Lasten und Verpflichtungen nicht übernommen werden, die auf der Kriegsschuldanerkenntnis beruhen. Hierunter fallen auch die Lasten und Verpflichtungen, die auf Grund der Vorschläge der Pariser Sachverständigen und nach den daraus hervorgehenden Vereinbarungen von Deutschland übernommen werden sollen. § 4 Reichskanzler und Reichsminister und deren Bevollmächtigte, die entgegen der Vorschrift des § 3 Verträge mit auswärtigen Mächten zeichnen, unterliegen den in § 92 Nr. 3 des Strafgesetzbuches vorgesehenen Strafen." Dieser Paragraph sah für Landesverräter Zuchthausstrafen nicht unter zwei Jahren vor. Nach der ersten Fassung des Volksbegehrens wäre auch Hindenburg unter die Strafandrohung gefallen, der Einspruch der Deutschnationalen und des Stahlhelms hatte dies jedoch verhindert. Am 30. September wandte sich, noch unter dem Einfluß Stresemanns, die Deutsche Volkspartei in einem Aufruf gegen das Volksbegehren, am 15. Oktober das Zentrum und die Bayrische Volkspartei. Sie sahen in dem Volksbegehren, dem sogenannten „Freiheitsgesetz", vor allem „in seiner verhetzend zugespitzten Formulierung einen verhängnisvollen Schritt zur weiteren Zerreißung des deutschen Volkes im Inneren und eine verurteilenswerte Ausnutzung des deutschen Freiheitswillens für die Zwecke einseitiger Parteiagitation. Der in dem Volksbegehren gewählte Weg ist nur geeignet, die in hartem und mühseligem Ringen erkämpften Ansätze zu einem Aufstieg Deutschlands zu hemmen und eine rückläufige Entwicklung hervorzurufen, für deren Gefahren kein besonnener Staatsmann die Verantwortung übernehmen kann". Im preußischen Landtag erklärte der Abgeordnete Hestermann von der Wirtschaftspartei: das Hugenbergsche Volksbegehren könne nicht scharf genug verurteilt werden. Es diene der Katastrophenpolitik, mit der Hugenberg den Stahlhelm und seine eigene Partei den Nationalsozialisten in die Arme treibe. Damit hatte Hestermann die schwerstwiegenden Folgen des „Freiheitsgesetzes" richtig vorausgesehen. Auch sonst warnten angesehene Männer des öffentlichen Lebens, der Wirtschaft und der Wissenschaft dringend vor der Unterzeichnung des Volksbegehrens, das „keine ernsthafte, verantwortungsvolle Politik" darstelle, sondern einen „Versuch schlimmster Volksverhetzung". Das ganze Volksbegehren sei auf einer offenkundigen Unehrlichkeit aufgebaut. Die Propaganda der Rechtsopposition dagegen warb für den Kampf wider die „Versklavung des deutschen Volkes" auf Jahrzehnte hinaus durch den Youngplan und wider das System der bisherigen Politik des Nachgebens. Als diese Rechtskreise auch die Person des Reichspräsidenten für ihre Zwecke ausnutzten und sogar einen Film zeigten, in dessen Mittelpunkt er stand, verwahrte sich Hindenburg in einem Brief an den Reichskanzler gegen das Hereinziehen seiner Person in den Parteienkampf, seine Meinung über den Young606

Volksbegehren und Volksentscheid plan werde er erst zu dem ihm von der Verfassung vorgeschriebenen Zeitpunkt bekanntgeben. Daraufhin zog der Reichsausschuß wenigstens den Propagandafilm zurück. Die Eintragungen in die Listen für das Volksbegehren fanden in der zweiten Oktoberhälfte 1929 statt; von den 41 278 897 Eintragungsberechtigten wurden 4 135 300 gültige Stimmen für das Volksbegehren abgegeben und damit die erforderlichen 10% um eine Kleinigkeit überschritten. So kam das „Gesetz gegen die Versklavung des deutschen Volkes" am 29. November vor den Reichstag. Außenminister Curtius, der Nachfolger Stresemanns, begründete die einmütige Ablehnung des Gesetzes durch die Staatsregierung, es sei ein Angriff gegen die Autorität des Staates, keine deutsche Regierung habe je die Kriegsschuld Deutschlands anerkannt, wir „alle aber wollen uns nicht der Täuschung schuldig machen, als ob durch deutsches Gesetz und Volksentscheid allein internationale Verträge außer Kraft gesetzt und die Reparationslasten abgeschüttelt werden könnten. Wir lehnen es ab, dem deutschen Volke Möglichkeiten vorzuspiegeln, die, wie die Urheber des Begehrens selbst wissen, nicht bestehen . . . Die große deutsche Zeitung der Schweiz, der ältesten Demokratie mit unmittelbarer Volksgesetzgebung, urteilt mit Recht: Uber die geistige Primitivität und politische Verantwortungslosigkeit von Leuten, die einem in schwerer Lage lebenden Volk solche simplizistischen Mittel zur Abschüttlung der Kriegsfolgen vorspiegeln, ist kein Wort mehr zu verlieren." Curtius legte die Vorzüge des Youngplans dar und forderte Hugenberg zur Beantwortung von zehn Fragen auf, nicht mit nationalistischen Phrasen und bloßer Verneinung, sondern mit positiven Angaben über seine Politik, die er nach Ablehnung des Youngplans durchzuführen gedenke. Zum Schluß wies Curtius darauf hin, welche Fortschritte Deutschland durch die Regierungspolitik seit 1923 erreicht habe. Für die Deutschnationalen antwortete nicht Hugenberg, sondern Dr. Ernst Oberfohren mit Angriffen auf den Youngplan. Die Abstimmung über die einzelnen Paragraphen des Gesetzes führte zu einer vernichtenden Niederlage der Antragsteller im Reichstag. Gegen § 4, der selbst Reichskanzler und Reichsminister mit Zuchthaus bedrohte, stimmte sogar ein Teil der Deutschnationalen, der dann Anfang Dezember aus der Fraktion sowie der Partei austrat und die Deutschnationale Arbeitsgemeinschaft bildete: die jungkonservative Gruppe unter Gottfried Treviranus, die Bauerngruppe unter Martin Schiele und der Gewerkschaftsflügel. Graf Westarp legte den Fraktionsvorsitz nieder, blieb aber in der Partei. Nach der Ablehnung des „Freiheitsgesetzes" im Reichstag setzte die Regierung den Volksentscheid auf den 22. Dezember fest. Mit Nein stimmten 337 730, mit Ja 5 825 082, also nur 13,8% der Stimmberechtigten. Da das beantragte Gesetz verfassungsändernd war, hätte der Volksentscheid etwas über 21 Millionen Ja-Stimmen auf sich vereinigen müssen. Damit war der Vorstoß der extremen Rechten gescheitert; für Hitler und die Entwicklung seiner Partei hatte er allerdings große Bedeutimg.

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Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 Hitlers Neuaufbau der NSDAP nach seiner

Haftentlassung

Nach seiner Verurteilung am 1. April 1924 wegen des Putschversuches vom 8. November 1923 verbüßte Hitler im Landsberger Gefängnis seine Strafe mit der Aussicht, nach sechs Monaten mit Bewährungsfrist begnadigt zu werden. Er hatte ein großes, sonniges Zimmer, empfing Besuche seiner Anhänger und reichliche Geschenkpakete seiner Verehrer. Die Festungshaft bot Hitler, wie er im Vorwort zu „Mein Kampf" schrieb: „zum ersten Male die Möglichkeit, an ein Werk heranzugehen, das von vielen gefordert und von mir selbst als zweckmäßig für die Bewegung empfunden wurde. So habe ich mich entschlossen, in zwei Bänden nicht nur die Ziele unserer Bewegung klarzulegen, sondern auch ein Bild der Entwicklung derselben zu zeigen. Aus ihr wird mehr zu lernen sein als aus jeder rein doktrinären Abhandlung. Ich hatte dabei auch die Gelegenheit, eine Darstellung meines eigenen Werdens zu geben, soweit dies zum Verständnis sowohl des ersten als auch des zweiten Bandes nötig ist und zur Zerstörung der von der jüdischen Presse betriebenen üblen Legendenbildung über meine Person dienen kann". Den Schluß des ersten Bandes und den zweiten Band verfaßte Hitler in Berchtesgaden; er hatte hier im Sommer 1929 das einem Hamburger Großkaufmann gehörende Haus Wachenfeld am Obersalzberg zunächst gemietet und bald darauf gekauft. Mit den ermüdenden Wiederholungen, dem geschraubten Wortschwall, der ein gründliches Wissen vortäuschen will und doch nur den Halbgebildeten verrät, ist „Mein Kampf" so wenig eine auch nur einigermaßen leidliche literarische Leistung wie mit dem Streben, sein bisheriges Leben und Wirken zu rechtfertigen und zu verherrlichen, eine zuverlässige Quelle für geschichtliche Einzelheiten, aber sehr aufschlußreich für Hitlers Persönlichkeit und das Weltbild, das er sich angeblich in seiner Wiener Zeit geformt hatte und an dem er unentwegt festhielt. Hier in Landsberg las Hitler nun wirklich — was für seine Wiener Zeit unglaubhaft ist (S. 551) — sehr viele mehr oder weniger wissenschaftliche Werke, aber er las nicht, um seinen Gesichtskreis zu erweitem, sondern um eine Bestätigung seines, des einzig richtigen Weltbildes zu finden wie etwa in Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung", Houston Stewart Chamberlains „Grundlagen des 19. Jahrhunderts" mit seiner Verherrlichung der arisch-nordischen Rasse als der einzigen Kulturschöpferin, Nietzsches „Der Wille zur Macht, Versuch einer Umwertung aller Werte". Hitler war davon überzeugt, daß in dem geschichtlichen Geschehen nicht das Wissen, sondern der von dem zutreffenden Weltbild getragene Wille der ausschlaggebende Faktor sei. Wenn von dem im Sommer 1925 erschienenen ersten Band schon innerhalb eines Jahres etwas über 9000 Exemplare abgesetzt wurden, die Hitler ungefähr 20 000 Mark einbrachten, von beiden Bänden bis 1930 über 50 000 gekauft wurden und dann die Gesamtauflage der deutschen Ausgaben bis 1943 auf 9 190 000 Exemplare anstieg, so lag dies nicht an der Begeisterung des deutschen Volkes für dieses Werk, sondern an dem Zwang, der auf Parteimitglieder, Schulen, Behörden, Klein- und Großbetriebe zum Ankauf des Buches ausgeübt wurde.

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Hitlers Neuaufbau der NSDAP nach seiner Haftentlassung Hitlers Glaube an seine Berufung zum Retter Deutschlands hatte sich bei der schriftlichen Formulierung seiner Ideen noch mehr gefestigt, seine größte Sorge im Gefängnis war, ob ihm nicht irgend jemand seine Führerstellung beim Wiederaufbau der Partei streitig machen werde; schon jetzt zeichnete sich die Auffassung ab, die sich in den nächsten Jahren immer stärker entwickelte: die Hauptsache ist nicht, daß Deutschland gerettet wird, sondern daß es durch ihn, Adolf Hitler, gerettet wird. Vorerst war die Partei allerdings aufgelöst und verboten; natürlich versuchten die leitenden Mitglieder, soweit sie sich nicht in Haft befanden, sofort Ersatzorganisationen zu schaffen, gerieten aber bald in Streit über die Art des Vorgehens. Alfred Rosenberg, Gregor Strasser und Ludendorff wollten die Partei auf legalem Weg über den Reichstag zur Macht führen, gründeten die Nationalsozialistische Deutsche Freiheitsbewegung, schlossen sich mit den norddeutschen völkischen Parteien zusammen und gewannen, besonders dank der propagandistischen Wirkung des Münchner Hochverratsprozesses, in den Frühjahrswahlen von 1924 einen beachtlichen Erfolg (S. 568). HiÜer, der Parlamente geringschätzte und als Ausländer weder aktives noch passives Stimmrecht hatte, war nicht für die Beteiligung an Wahlen, er wünschte auch keinen Zusammenschluß mit anderen Parteien; im zweiten Band von „Mein Kampf" überschrieb er ein ganzes Kapitel „Der Starke ist am mächtigsten allein". Zu Hitler hielt die Gruppe um Julius Streicher und Hermann Esser, die in heftiger Opposition gegen Strasser die „Großdeutsche Volksgemeinschaft" gründeten. So griff Hitler in die Zänkereien seiner Anhänger, die von ihm eine Entscheidung aus dem Gefängnis forderten, überhaupt nicht ein und legte im Juni 1924 sogar offiziell die Führung der nationalsozialistischen Bewegung nieder. Er hörte auch ungern, wie Röhm in Deutschland und Österreich herumreiste, um statt der verbotenen SA eine neue halbmilitärische Organisation aufzubauen, den „Frontbann", der es in kurzer Zeit auf etwa 30 000 Mitglieder brachte. Der Tätigkeit dieser Organisation schrieben die Landsberger Gefangenen zu, daß die ihnen für den 1. Oktober zugesagte Begnadigung verschoben wurde, obwohl für sie der Direktor des Landsberger Gefängnisses wiederholt eintrat. Am 22. Oktober 1924 legte die bayrische Landespolizei, die schon am 26. März bei der Landesregierung in Linz wegen Abschiebung Hitlers als lästigen Ausländers angefragt hatte, dem Innenministerium einen Bericht vor, in dem sie die Ausweisung Hitlers mit der Begründung verlangte: „Im Augenblick seiner Freilassung wird Hitler dank seiner Energie wieder die treibende Kraft erneuter und ernst zu nehmender öffentlicher Revolten und eine Bedrohung für die Staatssicherheit werden. Hitler wird seine politische Tätigkeit wieder aufnehmen, und die Hoffnung der Nationalsozialisten und Völkischen, daß es ihm gelingen würde, die derzeitige Uneinigkeit unter den halbmilitärischen Verbänden zu überwinden, wird sich erfüllen." Die österreichische Bundesregierung verweigerte jedoch die Übernahme Hitlers, da er in die deutsche Armee eingetreten sei und 10 Jahre im Ausland gelebt habe. Am 7. April 1925 bat Hitler in einem Gesuch an den Magistrat in Linz um Entlassung aus der österreichischen Staatsbürgerschaft, am 30. April erhielt er die Antwort, er sei „behufs Erlangung der deutschen Reichsangehörigkeit aus dem österreichischen Staatsverband ausgeschieden".

39 Bühler, Deutsche Gesdiidite, VI

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Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929

Infolge der Beruhigung der allgemeinen Lage und des ständigen Haders in den Reihen der Völkischen verloren die Nationalsozialisten bei den Reichstagswahlen vom 7. Dezember 1924 aditzehn Sitze. Dies war einer der Gründe, weshalb die bayrische Regierung keine Gefahr mehr darin sah, Hitler aus der Haft zu entlassen. Er kehrte am 20. Dezember nach München zurück und begann, in zähem Ringen auf seinen alleinigen Führungsanspruch in der neu zu gründenden Bewegung hinzuarbeiten. Am 4. Januar 1925 gewährte der bayrische Ministerpräsident Held Hitler die erbetene Unterredung, Hitler versprach ein absolut legales Verhalten, Held behandelte ihn sehr kühl, Zustände wie vor dem 9. November 1923 würden nicht mehr geduldet werden. Immerhin hielt Held die Lage des Staates für so gesichert, daß er am 16. Februar 1925 den Ausnahmezustand in Bayern und damit audi das Verbot der Kommunistischen Partei und der NSDAP aufhob. Am 26. Februar erschien der „Völkische Beobachter" zum ersten Male wieder, am folgenden Tag verkündete Hitler den 4000 im Bürgerbräukeller erschienenen Anhängern die Neugründung der Partei. Die Kampfansage gegen Marxismus und Judentum enthielt derartige Gewaltandrohungen, daß der Münchner Polizeipräsident auf unbestimmte Zeit Hitler Redeverbot in öffentlichen Versammlungen auferlegte und die fünf für den 10. März angekündigten Massenversammlungen verbot. Im Reichstag hatte sich im Februar der völkische Block aufgelöst; der völlige Mißerfolg von Ludendorffs Kandidatur bei der Reichspräsidentenwahl Ende März 1925 zeigte, wie sehr die Zugkraft der völkischen Bewegung abgenommen hatte. Hitler kam dies nicht unerwünscht, er wollte seine Partei allein in der Hand haben. Zunächst setzte er sich mit Röhms Frontbann auseinander. Röhm forderte Unabhängigkeit für seine militärische Führung, die gleichberechtigt neben der politischen stehen sollte. Da Hitler ablehnte und auf Röhms Briefe überhaupt keine Antwort gab, legte dieser seine Parteiämter nieder, verdiente sich erst seinen Lebensunterhalt als Reisender und ging dann 1928 als Militärinstrukteur nach Bolivien; 1930 rief ihn Hitler zurück. In Franz Pfeffer von Salomon, einem ausgezeichneten alten Generalstabsoffizier, fand Hitler einen Mann, der die SA als Parteitruppe neu organisierte, sie für Saal- und Straßenschlachten ohne Waffe und für die Lenkung von Massenaufzügen und Massenversammlungen schulte. Freilich beanspruchte auch Pfeffer eine gewisse Selbständigkeit neben der politischen Führung, und da er und seine Unterführer meist Offiziere des Ersten Weltkrieges und der Freikorps waren, kam in die SA doch wieder ein stark militärischer Zug. Schwieriger gestalteten sich für HiÜer die Auseinandersetzungen mit den Brüdern Strasser, Söhnen eines oberbayrischen Kanzleirates, über die Führung in der Partei. Gregor Strasser, Offizier des Ersten Weltkrieges, dann Apothekenbesitzer im niederbayrischen Landshut, war schon 1920 der Partei beigetreten. Der Doktor der Rechte Otto Strasser begeisterte sich für einen nationalen Sozialismus, war kurze Zeit Mitglied der Sozialdemokratischen Partei, 1924 Schloß er sich seinem Bruder an, als Gregor seine Apotheke verkaufte und mit diesem Geld seinen Propagandafeldzug für die Ideen der NSDAP unter der Arbeiterschaft des 610

Hitlers Neuaufbau der NSDAP nadi seiner Haftentlassung

Ruhrgebietes finanzierte. Als Reichstagsabgeordneter nutzte Gregor auch seine Immunität und die Freifahrt auf der Eisenbahn zu erfolgreicher Propagandatätigkeit aus, unterstützt von dem 27jährigen Dr. phil. Josef Goebbels, der sein Privatsekretär wurde, nachdem er in Heidelberg deutsche Philologie studiert hatte. Die Brüder Strasser und Goebbels überragten Hitler an Bildung und Intelligenz, waren gute Redner und von demselben Fanatismus für ihre nationalen und sozialen Ideen erfüllt. Durch sie wuchs die NSDAP über Bayern hinaus, und die norddeutschen Gauleiter hielten mehr als zu Hitler zu den Brüdern Strasser, deren Sozialforderungen wie Verstaatlichung der Schwerindustrie, Aufteilung des Großgrundbesitzes und entschädigungslose Enteignung der Fürsten mit Hitlers Plänen nicht übereinstimmten. Hitler wollte alle Kreise gewinnen und wich deshalb allen Entscheidungen aus; die Großindustrie, von der er Geld zu erhalten hoffte — Fritz Thyssen, Aufsichtsratvorsitzender der Vereinigten Stahlwerke, spendete bereits 1923 einmal 100 000 Goldmark — nahm er durch seinen Antimarxismus für sich ein, den Monarchisten deutete Hitler verheißungsvoll an, die Entscheidung über die Staatsform nach dem Sturz der verhaßten Republik sei zwar noch nicht spruchreif, aber er wolle dann „beiseite stehen". Am 22. November 1925 kam es auf einer von Gregor Strasser einberufenen norddeutschen Gauleitertagung in Hannover zu offener Ablehnung Hitlers. Hier waren viele versammelt, die dann im „Dritten Reich" zu hohen Stellungen gelangten: Bernhard Rust wurde später Kultusminister, Hans Kerrl Minister für kirchliche Angelegenheiten, Robert Ley Leiter der „Deutschen Arbeitsfront". Goebbels beantragte, „daß der kleine Bourgeois Adolf Hitler aus der NSDAP ausgestoßen wird" und Rust erklärte: „Nationalsozialisten sind freie Männer, Demokraten; sie erkennen keinen Papst an, der sich für unfehlbar halten könnte." Die Versammlung nahm ein neues, von den Brüdern Strasser aufgestelltes Programm an. Hitler holte erst am 14. Februar 1926 auf einer Tagung in Bamberg zum Gegenschlag aus. Von den norddeutschen Gauleitern kam bloß Gregor Strasser mit Goebbels. Hitler gelang nicht nur, sein altes Programm durchzusetzen, sondern auch Goebbels ganz auf seine Seite zu ziehen und sich mit Strasser wenigstens so weit zu versöhnen, daß die Einheit der Partei gewahrt blieb. In den nächsten Jahren setzte Hitler den Aufbau der Partei planmäßig fort. Goebbels wurde 1926 Gauleiter von Berlin und erhielt 1928 an Stelle Gregor Strassers die Propagandaleitung. Die oberste Führung der Partei lag allein in der Hand Hitlers, ihm zur Seite stand die Reichsleitung mit ihren verschiedenen Unterabteilungen für die SA, die Presse, die Propaganda, für Wirtschaft, Kultur und so fort. Nach den Erfordernissen der jeweiligen Lage wurde die Organisation geändert und ergänzt. Die Gau-, Kreis-, Ortsgruppen-, Zellen- und Blockleiter trugen die Ideen der Partei in alle Kreise. Der Erfassung der Jugend dienten die Hitlerjugend, der NS-Schüler- und der NS-Studentenbund, außerdem wurden die NS-Frauenschaft, der NS-Lehrer-, NS-Juristen- und NS-Ärztebund und in den Betrieben die NS-Zellen geschaffen. Die Reichsparteitage entwickelten sidi zur immer wirkungsvoller ausgestalteten Heerschau der Partei. Im August 1927 fand der dritte Reichsparteitag zu Nürnberg statt, 20 000 SA-Leute marschierten hier 611 39*

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929

in der nun einheitlichen Braunhemduniform an Hitler vorbei. Die Zahl der eingeschriebenen Parteimitglieder wuchs stetig, doch gingen in der Reichstagswahl von 1928 die nationalsozialistischen Abgeordneten von 14 auf 12 zurück. Bayern hob das Redeverbot für Hitler März 1927 auf, Preußen erst September 1928. Am 16. November hielt Hitler seine erste öffentliche Versammlung in Berlin ab. Hitler vermochte mit seiner außerordentlichen Rednerbegabung eine kaum hoch genug einzuschätzende Macht auf die Menschen auszuüben; überdies wandten er und seine Mitkämpfer, namentlich Goebbels, Mittel der Massenbeeinflussung in einer bisher noch nicht dagewesenen Vollendung an: blutrote Plakate, die Uniformen und die schmetternde Marschmusik der SA, die Verteilung unbedingt zuverlässiger Anhänger unter die Menge, die den Beifall zum Sturm steigerten und jede etwa aufkommende Kritik durch gewaltsame Entfernung der Opponierenden im Keim erstickten. Hitlers fanatischer Glaube an sich und seine Sendung übertrug sich auf die Hörer, seine leidenschaftlichen Angriffe gegen die Politik, die Politiker und die Einrichtungen der Weimarer Republik, gegen Judentum, Marxismus und Kapitalismus, seine beredte Beschwörung der alten nationalen Tugenden wie Mut, treue Hingabe an das Vaterland und die schillernden Zukunftshoffnungen, die er zu erwecken verstand — und das alles in immer wiederholte einprägsame Formeln gekleidet —, fanden bei fast jedem der Zuhörer wenigstens in irgendeinem Punkte Widerhall; das, was einem nicht zusagte, ging in der bis zur Hysterie gesteigerten Begeisterung unter. Zu der Beeinflussung durch die Massenversammlungen kam die unermüdliche, von der Führung ebenfalls geschickt gelenkte Propaganda der fanatisierten Anhänger von Mensch zu Mensch, sie warben an ihrem Arbeitsplatz, unter allen ihren Bekannten für den „Führer", wobei manche Freundschaft und mitunter selbst der Familienfriede in die Brüche gingen. Immerhin blieben die Erfolge Hitlers in mäßigen Grenzen, solange Stresemann mit seiner Außenpolitik Fortschritte erzielte, die Ausländsanleihen einen gewaltigen Aufschwung der Wirtschaft bewirkten und so in weiten Kreisen Wohlleben herrschte; erst die seit 1929 stetig steigende Wirtschaftskrise machte die große Masse des deutschen Volkes für Hitlers Propagandamethoden anfällig. Der Kampf Hugenbergs gegen den Youngplan (S. 605) diente Hitler als Sprungbrett; er fand dadurch Zugang in die deutschnationalen Kreise, die Hugenbergpresse machte Reklame für ihn, und so wurde sein Name überall bekannt. Daß das von Hugenberg angeregte Volksbegehren gegen den Youngplan so völlig scheiterte, spielte für die NSDAP keine Rolle.

Beginn der Weltwirtschaftskrise Dem Weltkrieg war in aller Welt ein außerordentlicher Aufschwung von Handel und Wandel gefolgt. Als der Nachholbedarf im wesentlichen gedeckt war, trat eine Absatzstockung ein; jeder Staat suchte seine Industrie und Landwirtschaft durch Zölle zu schützen und hemmte damit den Warenaustausch noch mehr. Die Milliarden der deutschen Reparationsgelder waren infolge der Ver612

Beginn der Weltwirtschaftskrise schuldung der Ententestaaten großenteils in die Vereinigten Staaten geflossen und hatten dort zu der Wirtschaftsblüte, „prosperity", beigetragen. Allmählich wurde mehr produziert als verbraucht oder ausgeführt werden konnte. An dem Wohlstand hatten weder die Farmer noch die Masse der Arbeiter einen entsprechenden Anteil, und so blieb ihre Kaufkraft beschränkt, der Geldumsatz vollzog sich hauptsächlich in Spekulationen und Kreditgeschäften. Die Kursstürze an der New Yorker Börse Ende Oktober 1929 lösten daher eine furchtbare Katastrophe aus. Millionen verloren die Ersparnisse ihres Lebens, Geschäftshäuser, Fabriken und Banken brachen zusammen, Millionen von Arbeitslosen fanden keine Beschäftigung. Da die Vereinigten Staaten durch den Krieg das größte Gläubigerland der Welt geworden waren, versuchten sie nun die Rückzahlung der privaten, meist kurzfristigen Kredite zu erreichen. Davon wurde Deutschland besonders betroffen, denn der Aufschwung seiner Wirtschaft seit 1924 beruhte zum größten Teil auf Auslandsanleihen, hauptsächlich amerikanischen (S. 585). Viele Einsichtige hatten zu Rückzahlung und ausreichender Kapitalbildung gemahnt. Namentlich Schacht tat alles, was in seiner Macht als Reichsbankpräsident stand, um nicht nur die Währung stabil zu halten, sondern auch um die Wirtschaft auf gesündere Grundlagen zu stellen; vor allem wandte er sich gegen das Schuldenmachen des Reichs, der Länder und der Gemeinden, drang aber nicht durch, und erregte statt dessen durch seine schroffe und überhebliche Art viel Anstoß. Gegen Ende des Jahres 1929 waren die Fehlbeträge des Reichshaushaltes auf 1,7 Milliarden gestiegen, so daß sogar die Auszahlung der Beamtengehälter fraglich wurde. Im Oktober hatte Hilferding mit dem schwedischen „Zündholzkönig" Ivar Kreuger einen Vertrag geschlossen, der dem Reich eine Anleihe von 125 Millionen Dollar zusicherte gegen Beteiligung der Schweden an dem Reichszündholzmonopol. Der Reichstag stimmte dem Vertrag am 28. Januar 1930 zu. Hilferdings Versuch, unter Umgehung der Reichsbank einen weiteren Kredit von amerikanischen Banken zu erhalten, scheiterte. In einem Memorandum vom 6. Dezember 1929 protestierte Schacht gegen verschiedene Zugeständnisse, welche die deutsche Delegation auf der Ersten Haager Konferenz im Youngplan hatte machen müssen (S. 603). Außerdem kritisierte er die Finanzgebarung des Reiches, weil es seinen Haushalt nicht durch Kürzung der Ausgaben in Ordnung zu bringen versucht habe, so daß die durch den Youngplan gegenüber dem Dawesplan erzielten Einsparungen nicht zur Lastensenkung der Wirtschaft, sondern zum Ausgleich des Haushalts-Defizits verbraucht würden. Die Regierung war über die Veröffentlichung dieses Memorandums empört und sah darin eine Gefährdung der für den Januar angesetzten zweiten Haager Konferenz. Auch der Zeitpunkt der Veröffentlichung war verfehlt, denn das Finanzprogramm der Regierung lag bereits fertig vor und wurde Mitte Dezember vom Reichstag gebilligt. Doch setzte Schacht für eine neue Anleihe, die nicht zu umgehen war, die Errichtung eines Tilgungsfonds durch, Finanzminister Hilferding und sein Staatssekretär Popitz traten nun zurück, und Dr. Paul Moldenhauer, Mitglied der Deutschen Volkspartei, übernahm das Finanzministerium. 613

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 Zweite Haager

Konferenz

Der zweiten Haager Konferenz vom 3. bis 20. Januar 1930 oblag nach der grundsätzlichen Annahme des Youngplans auf der ersten Konferenz die Lösung einer Reihe strittiger Fragen. Außenminister Curtius hatte keinen leichten Stand. Tardieu, seit dem 2. November 1929 französischer Ministerpräsident, verlangte die Einfügung einer Klausel : die Sanktionsmöglidikeiten des Versailler Vertrags sollten wieder in Kraft treten, wenn Deutschland den Youngplan nicht erfülle; Tardieu gab als Begründung die jüngsten Vorgänge in Deutschland an: nach Hugenbergs Volksbegehren müsse man damit rechnen, daß eine deutsche Regierung den Youngplan zerreiße. Nach zähem Ringen setzte Curtius durch, in einem solchen Falle sei das Urteil des Internationalen Gerichtshofes in Den Haag anzurufen; erst wenn dieser die Schuld Deutschlands bejahe, hätten die Gläubigermächte ihre volle Handlungsfreiheit wiedergewonnen. Die Fragen der Liquidierung deutschen Eigentums in den ehemaligen Feindstaaten waren durch Einzelabkommen zwischen Deutschland und den betreffenden Regierungen geregelt worden, die Urkunden darüber wurden jetzt mit dem Youngplan zusammen hinterlegt und sollten mit ihm in Kraft treten. Bei der Reglung von Einzelheiten der neu zu errichtenden Bank für Internationale Zahlungen in Basel kam es durch einen Vorstoß Schachts zu einer Krise der Konferenz. Schacht erklärte, an dieser Bank werde sich die Reichsbank nur beteiligen, wenn der Youngplan unverändert angenommen, jede Sanktionsklausel gestrichen und die Liquidationsabkommen zugunsten Deutschlands geändert würden. Das entschiedene Eingreifen von Curtius und Moldenhauer rettete die Situation: die Teilnahme der Reichsbank an der Internationalen Bank werde gesetzlich festgelegt. Schacht fügte sich und machte einigen Journalisten gegenüber lächelnd die Bemerkung: „Ich bin ein viel zu loyaler Staatsbürger, als daß ich einem deutschen Gesetz den Gehorsam verweigern würde." Die Konferenz konnte erfolgreich zu Ende geführt werden, der Youngplan mit zahlreichen Anlagen und den beigefügten Einzelabkommen sollte rückwirkend vom 1. September 1929 in Kraft treten, sobald er von Deutschland und vier der fünf Gläubigermächte ratifiziert und sobald die Internationale Bank in Basel gegründet worden sei. In der Schlußansprache sagte der belgische Ministerpräsident Jasper: „Das Wort Frieden möge in den Herzen ebenso eingeprägt stehen wie in den Vertragstexten, auf daß ein leuchtendes Morgenlicht, das wir nicht mehr sehen werden, aber das wir vorbereitet haben, über einer besseren Menschheit leuchten möge"; Das Wort verhallte in Deutschland leider fast ungehört. Soviel hatte die heftige Agitation der Hugenbergpresse und der Nationalsozialisten erreicht, daß die deutsche Öffentlichkeit sich nicht über die Erleichterung des Youngplans freute, nicht einmal so recht über die Räumung des Rheinlandes (S. 620), sondern nur die Fortdauer der immer noch drückenden Reparationslasten beklagte.

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Young-Plan-Gesetze vor dem Reichstag Die Young-Plan-Gesetze vor dem Reichstag Vom 11. Februar 1930 an befaßte sich der Reichstag mit den Youngplangesetzen, einem Rahmen- und vier Zusatzgesetzen über die Reichsbank, die Reichsbahn, das deutsch-amerikanische Schuldenabkommen und die Liquidationsabkommen mit neun Staaten. Curtius legte die Vorteile des Youngplans und besonders die des viel angegriffenen Liquidations-Abkommens mit Polen dar. Hugenberg verurteilte es scharf als Unehrlichkeit, einen Plan zu unterschreiben, von dessen Unerfüllbarkeit auch das Ausland überzeugt sei und der „nicht nur die Wohlfahrt und Gesundheit, sondern audi die Freiheit und Einheit" des Volkes bedrohe; die sechs Millionen, die das Volksbegehren unterschrieben hätten, „bilden den Kern des sich formenden neuen Deutschland . . . in letzter Stunde richten wir an die Parteien, die nicht an die marxistische Erfüllungspolitik gekettet sind, nochmals die Bitte, Bindungen abzulehnen, die furchtbarer und gefährlicher sind als die von Versailles." Curtius antwortete, Hugenberg habe wieder nicht gesagt, was nach Ablehnung des Youngplans geschehen solle, sie bedeute nämlich die Rückkehr zum Dawesplan, „Dr. Schacht hat selbst erklärt, keine einzige Persönlichkeit könne verantworten, durch Festhalten am Dawesplan eine furchtbare Krise heraufzubeschwören". Für das Zentrum sprach Dr. Heinrich Brüning, auch er kritisierte Einzelheiten der Youngplangesetze, gab aber dem Ausland die Schuld daran; er beklagte die schlechte Wirtschaftslage: wir können diesen Gesetzen „unmöglich in dritter Lesung zustimmen, wenn nicht vorher volle Klarheit über die finanzielle Lage des Reiches und über die finanziellen Konsequenzen des neuen Planes geschaffen ist, wenn nicht vorher die deutsche Öffentlichkeit darüber aufgeklärt ist, und wenn nicht vorher daraus die gesetzgeberischen Konsequenzen gezogen sind". Der Kommunist Thälmann nannte den Youngplan einen Sklavenvertrag, die Kosten wolle man wieder dem arbeitenden Volk aufbürden. Als Sprecher der Nationalsozialisten lehnte Graf Reventlow die Haager Vereinbarungen ab, da sie nur der Vernichtung der deutschen Freiheit dienten; der Reichspräsident könnte mit e i n e m Wort die Annahme des Youngplans verhindern, spreche er dieses Wort nicht, so könne man nur mit tiefem Bedauern feststellen, daß er den Anforderungen nicht genüge, die jeder deutschfühlende Mensch an ihn stellt. In langen Debatten erörterten Plenum und Ausschüsse des Reichstags das Für und Wider des Youngplans weiter. Vor der Abstimmung bei der zweiten Lesung am 11. März besuchte Brüning den Reichspräsidenten. Hindenburg stimmte Brünings Forderung rechtzeitiger gesetzlicher Reglung der Finanzfragen durchaus zu und versprach, zu ihrer Verwirklichung von allen verfassungsmäßigen Mitteln Gebrauch zu machen. Nun entschloß sich das Zentrum, der Annahme der Youngplangesetze sofort, also noch vor Reglung der Finanzfragen, zuzustimmen. Die „Germania" folgerte daraus: „Wenn wir auch den dringenden Wunsch haben, daß das Finanzprogramm auf parlamentarischem Wege erledigt wird, so glauben wir jetzt die Sicherheit dafür zu haben, daß bei einem Versagen des Parlaments und der Parteien . . . der Herr Reichspräsident die Vollmachten ergreifen wird, die 615

Weimarer Republik — Jahre des Aufstiegs, 1924/1929 zulässig und notwendig sind . . . Die Auflösung des Reichstags oder der Artikel 4 8 oder beides stehen, wenn die Parteien wollen, vor der Tür." Diese die Reichstagsauflösung und den Diktaturparagraphen so sehr in den Vordergrund rückende Einstellung des großen Zentrumsblattes war für die weitere, verhängnisvolle Entwicklung der Weimarer Republik von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Bei der dritten Lesung am 12. März mahnte Reichskanzler Hermann Müller, die Youngplangesetze anzunehmen, trotz mancher berechtigten Kritik seien sie als Ganzes ein Fortschritt. Brüning leitete die Zustimmungserklärung seiner Partei mit den Worten ein: „Der Youngplan ist kein Vertrag zwischen gleich mächtigen Gegnern, er ist ein Diktat und nur diesem Diktat fügen wir uns." Der Nationalsozialist Gregor Strasser beschuldigte die Regierung des Volks Verrates, ein kommender nationalsozialistischer Staatsgerichtshof werde die Köpfe derjenigen fordern, die dem Youngplan zugestimmt haben. Das Rahmengesetz wurde mit einer Mehrheit von 266 gegen 193 Stimmen angenommen, bei den übrigen Gesetzen war das Verhältnis ähnlich. Ein letztes Hemmnis legten die Oppositionsparteien noch mit dem Antrag auf Aussetzung der Gesetzesverkündigungen in den Weg. D a hierfür ein Drittel der Stimmen genügte, ging der Antrag durch. Die Regierungsparteien ließen nun die Gesetze als dringlich erklären. Dem schloß sich der Reichsrat an, und damit lag nach der Verfassung die Entscheidung allein beim Reichspräsidenten. E r konnte die Gesetze jetzt unterzeichnen oder einen Volksentscheid über sie zulassen. Schon am folgenden Tag unterzeichnete Hindenburg „schweren aber festen Herzens", wie seine gleichzeitige öffentliche Erklärung besagt; er habe in den letzten Wochen viele Hunderte von Zuschriften erhalten, die ihn zur Verweigerung der Ratifizierung aufforderten, aber trotz großer Bedenken sei er zu der Überzeugung gekommen, daß der Youngplan einen Fortschritt und seine Ablehnung eine ernste Gefahr bedeute. Die politischen Kämpfe und Auseinandersetzungen müßten jetzt praktischer Arbeit für die Gesundung der Finanzen, Belebung der Wirtschaft, Beseitigung der Arbeitslosigkeit und Linderung der drückenden Lage der Landwirtschaft Platz machen. Trotz dieser Rechtfertigung seiner Entscheidung überschüttete die Presse der Rechtsopposition Hindenburg mit Schmähungen. Ludendorff schrieb ihm, er habe das Recht verwirkt, die feldgraue Uniform zu tragen und in ihr begraben zu werden. Am 7. März hatte Schadit dem Reichspräsidenten sein Rücktritts gesuch eingereicht mit einer ausführlichen Begründung, weshalb er den im August von ihm unterschriebenen Youngplan in der neuen Fassung nicht annehmen könne. In seinem Antwortschreiben ersuchte Hindenburg Schacht, in einigen Punkten, die nach seiner, Hindenburgs, und der Regierung Meinung falsch ausgelegt seien, und die bei Schachts Ansehen zu Beunruhigung und Krisen führen könnten, für die Öffentlichkeit eine andere Begründung seines Ausscheidens anzugeben. Schacht sagte dies zu, trotzdem erschwerte sein Rüdetritt die Lage der Regierung. Sie empfand, da die Zusätze zum Youngplan nicht so stark ins Gewicht fielen, Schachts Schwenkung zur Rechtsopposition als Verrat an der Demokratie, als bedenkenlose Anpassung an den hochkommenden Nationalsozialismus.

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Der Weg in den Untergang der Weimarer Republik

REICHSKANZLERSCHAFT BRÜNINGS Müllers Rücktritt. Erwägungen

um Präsidialkabinett

und

Diktaturparagraph

Die Zahl der Arbeitslosen war im Laufe des Winters weiter gestiegen und mit ihr der vom Reich zu deckende Zuschußbedarf. Hindenburg hatte am 18. März in einem Schreiben an den Reichskanzler Hilfe für die tief verschuldete Landwirtschaft gefordert. Mit den Stimmen der Regierungsparteien nahm der Reichstag Zollerhöhungen an, die Deutschnationalen stimmten teilweise dagegen, weil sie ihnen nicht genügten, die Sozialdemokraten traten schweren Herzens dafür ein. Zur Deckung des Haushaltsdefizits einigte sich das Kabinett mit den Fraktionen auf einen Kompromiß, der die Beitragserhöhung und die Reichszuschüsse zur Arbeitslosenversicherung regelte; die Sozialdemokratische Partei verweigerte jedoch unter dem Drude der Gewerkschaften die Zustimmung. Reichskanzler Hermann Müller, durch ein Gallenleiden geschwächt, gab den Kampf auf, das Kabinett erklärte seinen Rücktritt. Die Sozialdemokratische Partei befand sich in einer schwierigen Lage: einerseits durfte sie die sozialen Errungenschaften, besonders bei der drängenden Not der Arbeiterschaft, nicht preisgeben; andererseits hätte sie die politischen Gefahren mehr berücksichtigen sollen, die von dem Erstarken der Kommunisten und Nationalsozialisten und auch von der Neigung der bürgerlichen Parteien zu einem Regieren mit dem Diktaturparagraphen, § 48 der Verfassung, drohten. Es kam so, wie Hilferding bei seinem Rüdetritt zu Noske gesagt hatte: in seiner Fraktion geben „Leute den Ton an, die wegen der Frage, ob für die Arbeitslosen 30 Pfennig mehr oder weniger aufgewendet würden . . . die ganze Demokratie und die Republik zum Teufel gehen lassen wollen" (Noske). Die Haltung der Sozialdemokraten beim Rücktritt des Kabinetts Müller war ungefähr dieselbe wie beim Sturz Stresemanns im Oktober 1923, als Ebert zu seinen Parteigenossen sagte: „Was Euch veranlaßt den Kanzler zu stürzen, ist in sechs Wochen vergessen, aber die Folgen Eurer Dummheit werdet Ihr noch zehn Jahre lang spüren." In der Deutschen Volkspartei kam, seit Stresemanns maßgebender und ausgleichender Einfluß fehlte, immer mehr das Übergewicht des schwerindustriellen Flügels zur Geltung, der im Abbau der Sozialleistungen und Löhne einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Notlage suchte und deshalb darnach strebte, die Koalition mit der Sozialdemokratie zu lösen. In allen bürgerlichen 617

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings

Parteien machte sich eine resignierende Stimmung bemerkbar, man war des ganzen Parteihaders, des Kuhhandels um die Ministersitze, des langwierigen Kompromißhandels herzlich müde und wünschte sich an der Spitze einen starken Mann, der das Notwendige unter Zurückdrängung des Parlaments schnell durchführen sollte; viele waren sich freilich auch über die Gefahren einer derartigen Entwicklung klar. Seit seiner Unterredung mit Hindenburg (S. 615) galt Brüning in politischen Kreisen als der kommende Reichskanzler. Eine Kabinettsbildung nach dem üblichen Verfahren schien diesmal unmöglich, die Sozialdemokraten waren entschlossen, in die Opposition zu gehen, da sie fürchteten, sonst ihre Wähler zu verlieren. Die Deutsche Volkspartei wünschte ein Zusammengehen mit der Rechten, vor allem der Volkskonservativen Vereinigung, in der sich Ende Januar aus der Deutschnationalen Partei Ausgetretene (S. 607) und andere kleine konservative Gruppen zusammengeschlossen hatten. Zentrum und Demokraten weigerten sich, mit der Rechten zu arbeiten, weil damit die ganze Stresemannsche Verständigungs- und Aufbaupolitik hätte preisgegeben werden müssen. Hindenburg sah, seiner ganzen Vergangenheit nach, ein Kabinett ohne Sozialdemokraten lieber, und je älter er wurde, desto stärker machten sich auch die Einflüsse seiner Umgebung geltend. Wenn auch dieses Intrigenspiel im einzelnen noch nicht aufgeklärt werden konnte, so ist doch klar, daß sein Sohn bei der Bevorzugung der Landwirtschaft und dessen Freund, General von Schleicher, Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium und Vertrauter Groeners, bei der Zurückdrängung des Parlaments eine große Rolle spielten; auch der schwer erfaßbare Einfluß des Staatssekretärs Meißner darf nicht unterschätzt werden. Groener und Schleicher fürchteten, die hemmungslose rechtsoppositionelle Agitation und die Uneinigkeit der Regierungskoalition würden einen Bürgerkrieg heraufbeschwören, vor dem sie das Land und die Reichswehr bewahren wollten. Da sie an eine Lösung der innerpolitischen Schwierigkeiten durch den Reichstag nicht glaubten, arbeitete Schleicher schon seit Monaten auf ein Präsidialkabinett ohne parlamentarische Verantwortung hin, was aber Hindenburg und Brüning vorerst ablehnten. So entschloß sich Hindenburg, mit der Bildung eines an keine Koalition gebundenen Kabinetts Brüning zu betrauen, dessen Persönlichkeit und Vergangenheit ihn für eine Zusammenarbeit je nach den Umständen mit der Rechten oder der Linken zu befähigen schienen.

Brünings Amtsantritt. Agrargesetze

und

Deckungsprogramm

Hermann Brüning, geboren 1885 in Münster, entstammte dem Mittelstand, studierte Volkswirtschaft und promovierte nach längeren Reisen in England und Frankreich 1915 zum Doktor der Staatswissenschaften. Im Weltkrieg bewährte er sich als Frontoffizier. Auf Veranlassung des preußischen Wohlfahrtsministers Stegerwald wurde Brüning 1920 Geschäftsführer des neugegründeten Deutschen Gewerkschaftsbundes der christlichen Gewerkschaften. Der Reichstagsfraktion des 618

Brünings Amtsantritt. Agrargesetze und Deckungsprogramm Zentrums gehörte er seit 1924 an, erwarb sich dort den Ruf eines hervorragenden Finanzsachverständigen und wurde Ende 1929 Vorsitzender der Zentrumsfraktion. Die anerkannt außerordentlichen Fachkenntnisse Brünings auf den eben jetzt so dringend eine durchgreifende Reglung erfordernden wirtschaftlichen Gebieten und vielleicht nodi mehr die Sympathie für den ehemaligen, in jeder Lage zuverlässigen Offizier, der dann auch im Reichstag für die Interessen des Heeres eintrat, wogen Hindenburgs Bedenken gegen den ausgesprochenen Katholiken auf, und so unterzeichnete er am 30. März die Ernennungsurkunden für Brüning als Reichskanzler und für dessen Minister. Auf besonderen Wunsch Hindenburgs übernahmen Schiele, Führer des Reichslandbundes, das Ministerium für Landwirtschaft und der Volkskonservative Treviranus das für die besetzten Gebiete. Vom vorigen Kabinett Müller blieben sieben Minister, unter ihnen Curtius, Groener und Moldenhauer. Am 1. April trat Brüning vor den Reichstag: „Das Kabinett ist gebildet mit dem Zweck, die nach allgemeiner Auffassung für das Reich lebensnotwendigen Aufgaben in kürzester Frist zu lösen. Es wird der letzte Versuch sein, die Lösung mit diesem Reichstag durchzuführen." Brünings Regierungsprogramm umfaßte folgende Hauptpunkte: schnelle Ordnung der Finanz- und Kassenlage, Unterstützung der Länder und Gemeinden, Entlastung der Wirtschaft und Milderung der Arbeitslosigkeit, umfassende und durchgreifende Hilfe für die Landwirtschaft, besonders im Osten; das Deckungsprogramm für den Haushaltplan sollte ausgeführt und durch planmäßige Sparmaßnahmen ergänzt werden. „Die Regierung wird an diesen Vorschlägen und an ihrer schnellsten Durchführung unter allen Umständen festhalten. Sie ist gewillt und in der Lage, alle verfassungsmäßigen Mittel hierfür einzusetzen . . . Parteipolitische Erwägungen müssen in dieser Stunde in den Hintergrund treten." Der Sozialdemokrat Breitscheid äußerte ernste Bedenken seiner Partei gegen die neue Regierung, in der auch drei Minister säßen, die gegen die Youngplangesetze gestimmt hätten. Die etwaige Anwendung des § 48 bezeichnete Breitscheid als glatten Verfassungsbruch, denn die öffentliche Sicherheit sei nicht bedroht. Er beschwor Brüning, sich nicht von den Mitgliedern seines Kabinetts mitreißen zu lassen, „für die der Artikel 48 nur ein Anfang der Diktatur ist." Die Parteien der Mitte erklärten sich für, die Nationalsozialisten und Kommunisten gegen die Regierung. Hugenberg griff die Regierung scharf an, versicherte aber, seine Fraktion werde mit Rücksicht auf das Agrarprogramm gegen das von den Sozialdemokraten und Kommunisten eingebrachte Mißtrauensvotum stimmen. Hugenbergs von allen Parteien mit bissigen Zwischenrufen und Heiterkeit begleitete Rede erklärte sich aus der Uneinigkeit der deutschnationalen Fraktion, in der unter Führung Westarps eine beträchtliche Anzahl Abgeordneter sich gegen Hugenbergs Leitung auflehnte und Mitarbeit an der Regierung verlangte. Und so gaben gerade die Stimmen dieser Deutschnationalen den Ausschlag, daß der Reichstag die Regierung Brüning mit 253 gegen 187 Stimmen bestätigte. Am 14. April 1930 billigte der Reichstag in dritter Lesung die ersten Gesetze zur Hilfe der Landwirtschaft und zum Ausgleich des Etats. Brüning hatte das 619

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings

Inkrafttreten des Agrargesetzes von der Annahme der Deckungsgesetze abhängig gemacht und sich so die Stimmen des von Westarp geführten Teiles der deutschnationalen Fraktion gesichert, während der kleinere Teil unter Hugenberg starr an der Ablehnung des Kabinetts Brüning und seiner Maßnahmen festhielt. Da aber die Wirtschaftskrise andauerte, die Steuereingänge sanken und die Arbeitslosigkeit stieg, mußte die Regierung Anfang Juni Deckung für ein weiteres Defizit von rund 750 Millionen und von 100 Millionen für ein Arbeitsbeschaffungsprogramm suchen und schlug deshalb vor: Erhöhung der Beiträge für die Arbeitslosenversicherung und Verminderung ihrer Leistungen, Kürzung des Gehalts der Festbesoldeten in der öffentlichen und privaten Wirtschaft als Notopfer, 5 % Zuschlag zur Einkommensteuer, Besteuerung der Ledigen und Ersparnisse durch Verwaltungsvereinfachung. Den Gemeinden sollte die Erhebung einer Getränkeund Bürgersteuer freigestellt werden. Der Widerstand gegen sein Deckungsprogramm vor allem bei der eigenen, der Deutschen Volkspartei, veranlaßte Finanzminister Moldenhauer am 18. Juni zum Rücktritt, sein Nachfolger wurde der bisherige Wirtschaftsminister, der Demokrat Hermann Dietrich.

Räumung von

Rheinland-Pfalz

Am 30. Juni 1930, pünktlich zu dem vereinbarten Termin, räumten die letzten französischen Truppen das besetzte Gebiet. Rheinland und Pfalz waren wieder frei. In einem Aufruf zum 1. Juli dankte der Reichspräsident der rheinischen Bevölkerung für ihre Treue, ihre Opfer und ihre Geduld im Ertragen aller Leiden, er gedachte auch des noch vom Mutterlande getrennten Saargebietes und mahnte zur Einigkeit in dem Bestreben, Deutschland „nach Jahren der Not einem besseren und helleren Tag entgegenzuführen". Stresemann, dem in erster Linie die vorzeitige Räumung zu verdanken war, wurde aber nicht erwähnt. Daß Brüning im Auftrag Hindenburgs am Grabe Stresemanns einen Kranz niederlegte, konnte diese Unterlassungssünde nicht wiedergutmachen. Die Rechte sollte wohl nicht durch ein Hervorheben von Stresemanns Verdiensten gereizt werden, ihre Presse versuchte ohnehin schon, die Freude über die Räumung des Rheinlandes möglichst zu dämpfen, sie schrieb, diese erfolge viel zu spät und das Saargebiet sei noch nicht frei. Der englische Botschafter in Berlin, Sir Horace Rumbold, berichtete am 3. Juli nach London: „Der Aufruf (Hindenburgs) scheint mir ein Beispiel für zwei der üblichen Schwächen des deutschen Charakters zu sein, Undankbarkeit und Taktlosigkeit. Deutschlands innere Angelegenheiten gehen uns nichts an, aber man hätte doch erwarten dürfen, daß Dr. Stresemanns Name in dem Aufruf der Regierung erscheinen und daß die Politik erwähnt werden würde, die er mit solcher Standhaftigkeit und mit solchen Opfern durchgeführt hat . . . Aus Gründen der allgemeinen Politik hätte die deutsche Regierung es für angebracht halten können, ein Wort der Anerkennung für die Loyalität der Besatzungsmächte und die Pünktlichkeit, mit der die französischen Truppen ihr Abzugsprogramm ausgeführt haben, einzufügen. Noch mehr beschäftigt mich aber 620

Erste Notverordnungen der Hinweis des Aufrufs auf die Räumung der Saar. Es ist ein unerfreulicher Charakterzug der Deutschen, daß sie für empfangene Wohltaten (favours) wenig Dankbarkeit zeigen, aber wenn solche Wohltaten nur zu neuen Forderungen führen, hat man Grund, die Geduld zu verlieren." Tatsächlich empfand das deutsche Volk die Rheinlandräumung weniger als Wohltat, sondern vielmehr als Beseitigung eines Unrechts; immerhin ist das Unbehagen des Auslands wegen der Entwicklung in Deutschland verständlich. Der Zentrumsvorsitzende Prälat Kaas verlangte in der „Germania", daß nun audi die Bestimmungen des Versailler Vertrags über die entmilitarisierte Zone aufgehoben würden, wie auch schon bei der Beratung des Etats für die besetzten Gebiete am 24. Juni ein Beschluß angenommen worden war, den Rheinländern zu danken und den Schmerz darüber zum Ausdruck zu bringen, daß dieses Gebiet „durch die einseitige Entmilitarisierung weiterhin minderen Rechtes bleibe". Der preußische Ministerpräsident Braun hatte 1929 den Stahlhelm im Rheinland und in Westfalen verboten, weil er dort militärische Übungen abgehalten hatte. Hindenburg forderte Mitte Juli die Aufhebung des Verbots als Bedingung für seine Teilnahme an den offiziellen Befreiungsfeiern im Rheinland. Braun willigte jedoch erst ein, als die Führer des Stahlhelms eine Loyalitätserklärung unterzeichnet hatten. Vom 19. bis 22. Juli fanden dann unter großem Jubel der Bevölkerung und in Anwesenheit Hindenburgs die Feiern statt; sie wurden jedoch abgebrochen, als beim Einsturz einer überlasteten Moselbrücke 35 Menschen ertranken.

Erste

Notverordnungen

Der Reichstag hatte inzwischen den Haushaltetat und die Deckungsvorlagen weiter beraten. Brüning mahnte am 15. Juli die Parteien noch einmal, die Gesetzentwürfe zu billigen: „Es ist eine große Stunde für den deutschen Reichstag gekommen. Bringt der Reichstag — worauf die Reichsregierung hofft — das notwendige Ausmaß an Verantwortlichkeitsgefühl auf, dann hat er meines Erachtens zur Sicherung des Parlamentarismus und der Demokratie mehr getan als in vielen früheren Jahren zusammen. Demokratie und Parlament werden mehr gesichert durch den Mut zur Verantwortung, auch zu unpopulären Maßnahmen, als durch Gesetze." Er wies ferner darauf hin, daß die jetzt dem Reichstag vorgelegten Gesetze nur der Anfang wären zur Uberwindung der Wirtschaftskrise; das Programm der Regierung brauche Zeit zur Verwirklichung. J e nach den Interessen, welche die einzelnen Parteien vertraten, richtete sich ihr Widerstand gegen die einzelnen Teile der Deckungsvorlage; immerhin erklärten die Sozialdemokraten ihre Bereitwilligkeit, an der parlamentarischen Verabschiedung der Gesetze mitzuarbeiten, also ein Kompromiß mit der Regierung zu erreichen. Brüning bestand jedoch auf unveränderter Annahme, und als am 16. Juli der zweite Artikel der Deckungsvorlage abgelehnt wurde, erklärte er namens der Reichsregierung, sie lege „auf die Fortführung der Behandlung der Vorlage keinen Wert". Darauf stellte Reichstagspräsident Löbe fest: „Damit ist nicht nur die Deckungsvorlage 621

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings gefallen, sondern auch der Ergänzungsetat." Noch am gleichen Abend setzte die Regierung in zwei Notverordnungen die abgelehnten Deckungsvorschläge in Kraft. Am folgenden Tag beantragten die Sozialdemokraten, wie es gemäß der Verfassung ihr gutes Recht war, die Aufhebung der Notverordnungen. Die Debatte darüber am 18. Juli verlief äußerst stürmisch; die Linke machte die Rechte und diese die Linke für die Notlage der Wirtschaft verantwortlich. Innenminister Wirth und Finanzminister Dietrich rechtfertigten das Vorgehen der Regierung damit, daß eine Mehrheitsbildung im Reichstag nicht zu erreichen sei. Dietrich Schloß seine Rede: „Wer das Chaos im Steuerausschuß mitmachte, der kann wahrhaftig nicht behaupten, daß ich nicht bis zum letzten Augenblick versucht habe, eine Verständigung herbeizuführen, bis ich mir schließlich sagte, es geht hier nicht, denn hier will jeder seine persönliche Suppe kochen . . . Den Deutschen, die heute noch für viele Milliarden Tabak und Bier verzehren, wird man auch noch zumuten können, daß sie ein solches Loch im Reichsetat zuzustopfen imstande sind. Die Frage ist jetzt die, ob die Deutschen ein Haufen von Interessenten oder ein Staat sind." Die Abstimmung ergab die Annahme des sozialdemokratischen Antrags mit 236 gegen 221 Stimmen. Westarp und ein Teil der Deutschnationalen waren für die Regierung eingetreten. Brüning erklärte sofort den Reichstag für aufgelöst. Die Notverordnungen wurden aufgehoben und Neuwahlen zum 14. September angesetzt. Die Regierung veröffentlichte einen Aufruf: das Volk habe „jetzt selbst über seine Zukunft zu entscheiden. Will das deutsche Volk der Reichsregierung versagen, was zur Ordnung der Finanzen, zur Erhaltung der deutschen Wirtschaft und zur Sicherung der sozialen Verpflichtungen nötig ist? Das ist die Frage des 14. September". Am 26. Juli erließ der Reichspräsident eine neue, wesentlich erweiterte Notverordnung, die nicht nur die gesamten Deckungsvorlagen in Kraft setzte, sondern auch das Haushaltgesetz für 1930; die Bürgersteuer wurde in der Weise gestaffelt, daß der allgemeine Zuschlag von jährlich 6 Mark sich für Leistungsschwache auf 3 Mark ermäßigte, sich aber für Wohlhabende je nach der Höhe ihres Einkommens bis zu 1000 Mark steigerte. So ging Brüning den Weg, den er als allein richtig ansah, konsequent weiter. Er glaubte wohl, jetzt keine Zeit für lange Kompromißverhandlungen zu haben; er hoffte, die Vernunft der Wähler werde über die kleinlichen, persönlichen Interessen siegen, seinen Weg der Sparsamkeit, der Opfer, des Zusammenstehens in der Krise begreifen. Dann müßte der neue Reichstag ihm eine sichere Mehrheit der nach rechts erweiterten Mittelparteien bringen, wie dies die Haltung der Volkskonservativen und der Westarpgruppe anzuzeigen schien.

Wahl vom September

1930 und die Entwicklung in der NSDAP

In dem erbitterten Wahlkampf wurden die Saalschlachten und Straßenkämpfe vor allem zwischen dem kommunistischen Roten Frontkämpferbund und der nationalsozialistischen SA immer häufiger; es gab zahlreiche Tote und Verwun622

Wahl vom September 1930 und Entwicklung in der NSDAP dete. Die bürgerlichen Parteien erkannten die Gefahr, suchten sich neu zu organisieren und zusammenzuschließen, freilich mit geringem Erfolg. Die Deutsche Demokratische Partei bildete sich zur Deutschen Staatspartei um und verschmolz mit der „Volksnationalen Reichsvereinigung" des Jungdeutschen Ordens, eines 1920 in Kassel von Arthur Maraun gegründeten nationalen Bundes, der in romantischer Schwärmerei zwar für seine Organisation den alten Deutschritterorden zum Vorbild hatte, aber als überzeugter Anhänger der Weimarer Republik an den innerpolitischen Auseinandersetzungen regsten Anteil nahm. Von den Deutschnationalen spaltete sich die Westarpgruppe ab und Schloß sich am 23. Juni mit den Volkskonservativen zur Konservativen Volkspartei zusammen. Sie mißbilligte Hugenbergs Parteidiktatur und seine Verweigerung einer Zusammenarbeit mit Brüning. Der Versuch, einen Bürgerblock zu bilden, in dem alle bürgerlichen Parteien zwischen Zentrum und Deutschnationalen für die Wahl vereinigt wären, scheiterte. Die NSDAP hatte in den letzten Jahren ihre Organisation ausgebaut, und das gemeinsame Vorgehen mit Hugenberg gegen den Youngplan hatte ihr in ganz Deutschland Anhänger und neue Geldquellen verschafft. Die Ideologie des Nationalsozialismus erfuhr besonders durch Werke wie „Rassenkunde des deutschen Volkes" (14. Auflage 1930) von Hans Günther, „Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse" (1929) und „Neuadel aus Blut und Boden" (1930) von Walther Darré, „Der Mythos des 20. Jahrhunderts" (1930) von Alfred Rosenberg, eine scheinbar wissenschaftliche, auf viele Unzufriedene eine starke Anziehungskraft ausübende Begründung. Der „Völkische Beobachter" und das von Goebbels herausgegebene Berliner Parteiblatt „Der Angriff" haben sowohl den Haß gegen die Weimarer Republik, als auch den Antisemitismus, den Antimarxismus, die Verherrlichung des „Führers" und seiner Vorstellungen von der Größe und Macht Deutschlands und der im Deutschtum am vollkommensten vertretenen nordischen Rasse mit zündenden Schlagworten in weite Kreise getragen. Daß Otto Strasser am 3. Juli 1930 aus der NSDAP ausschied, weil sie ihm nicht sozialistisch genug war, und eine eigene Partei gründete, die „Revolutionären Nationalsozialisten", später in „Schwarze Front" umbenannt, schadete Hitler nichts, er tat Strassers revolutionären Sozialismus als Unsinn ab: „Halten Sie mich für so verrückt, daß ich die deutsche Großindustrie zerstören will?" sagte er, wie Strasser berichtet, in Gesprächen mit ihm, die dann zu der Trennung führten. Zwei Wochen vor der Wahl stürmte die Berliner SA, unzufrieden mit Goebbels' politischer Führung und mit der Bezahlung, das Berliner Parteilokal, so daß Goebbels die Hilfe der Berliner Polizei in Anspruch nehmen mußte. Hitler kam persönlich und brachte in kurzer Zeit alles wieder in Ordnung; Hauptmann Pfeffer trat als oberster SAFührer zurück, Hitler übernahm zunächst selbst die Leitung, rief dann im Oktober Röhm aus Bolivien zurück und ernannte ihn zu seinem Stabschef. Während des Wahlkampfes reiste Hitler, unermüdlich Versammlungen abhaltend, durch ganz Deutschland; Arbeitslose, die an der Zukunft verzweifelnde Jugend, die in Not geratenen Landwirte, der in seiner Existenz bedrohte Mittelstand: die kleinen Gewerbetreibenden, Handwerker und über das Notopfer verärgerte Beamte 623

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings fielen Hitler zu. Es war ja so einfach, die ganze Schuld an dem Elend dem Youngplan, dem System der Republik, den Juden und den Marxisten zuzuschreiben. Hitlers mit schwungvollem, begeisterndem Pathos geschildertes Zukunftsbild des kommenden Deutschland, das er schaffen wollte, frei und mächtig nach außen, blühend und reich im Innern, in dem es keine Korruption gebe, sondern nur Ehre, Treue und Gemeinschaftssinn, riß gerade auch Gutgesinnte mit. Das Ergebnis der Reichstagswahlen vom 14. September 1930 überraschte allgemein. Die Wahlbeteiligung war mit 82 % der Wahlberechtigten sehr hoch; die Zahl der Abgeordneten stieg dadurch von 491 (1928) auf 577. Die Sozialdemokraten blieben, obwohl sie 9 Sitze eingebüßt hatten, mit 143 Sitzen die stärkste Partei; das Zentrum nahm von 61 auf 68, die Bayrische Volkspartei von 17 auf 19 Sitze zu. Die bürgerlichen Mittelparteien enttäuschten die von der Regierung in sie gesetzte Hoffnung völlig: der gemeinsame Wahlvorschlag der Deutschen Landvolkpartei, der Deutsch-Hannoveraner und der Konservativen Volkspartei erzielte nur 26 Sitze, von denen auf die Konservativen nur 4 fielen, die Deutsche Staatspartei 20 anstatt der 15 der früheren Demokraten, die Wirtschaftspartei behauptete ihre 23 Sitze, die drei landwirtschaftlichen Parteien erhielten durch Stimmenzuwachs gemeinsam 23 Sitze; die Deutschnationalen verloren von ihren 78 Sitzen 37, fast die Hälfte ihrer Wähler war, da die Konservative Volkspartei nur wenig Deutschnationale an sich gezogen hatte, zu den Nationalsozialisten übergegangen, die — weit über die eigenen Erwartungen hinaus — mit 107 Abgeordneten (1928 12) in den Reichstag einzogen; selbst Hitler hatte nur auf 50 bis 80 gerechnet. Auch die Kommunisten, die andere extreme Partei, hatten einen zwar nicht derart überwältigenden, so doch bedeutenden Erfolg, die Zahl ihrer Abgeordneten stieg von 54 auf 77. Im Ausland wirkte das Wahlergebnis alarmierend. Dr. Paul Schmidt, Chefdolmetscher der deutschen Delegation bei der Genfer Herbsttagung des Völkerbunds, erzählt in seinen „Erlebnissen": „Bis tief in die Nacht hinein saßen die Journalisten und die Konferenzbummler, wie immer in Zeiten der Hochspannung (in dem kleinen rauchigen Bierlokal Bavaria) und besprachen das deutsche Wahlergebnis. Die Weltmeinung, so konnte man aus diesen Gesprächen entnehmen, war wie vom Donner gerührt. ,Wenn bei Ihnen die Nationalsozialisten etwa an die Macht kommen sollten, so gibt es bald danach bestimmt Krieg' erklärte mir an einem dieser Abende Jules Sauerwein vom Pariser ,Matin'." In Frankreich empfand man das bedrohliche Anwachsen der Nationalsozialisten als eine Niederlage der Briandschen Politik. Die ausländischen Börsen reagierten mit Kursstürzen der deutschen Papiere. Schlimmer jedoch war es, daß das ausländische Kapital in größerem Umfange als bisher aus Deutschland zurückgezogen wurde; im September und Oktober mußte die Reichsbank 633 Millionen an Gold und Devisen abgeben; mit all dem verschärfte sich die Wirtschaftskrise noch mehr. Andererseits begrüßten nicht nur Zeitungen des faschistischen Italiens den Erfolg der Nationalsozialisten, auch die Londoner „Times" schrieb anerkennend: „Obwohl ihre Taktik sicherlich Gewalttätigkeiten einschließt und ihre Achtung vor den gewöhnlichen Anstandsregeln des Gesetzes und der Ordnung ge624

Brüning und der neue Reichstag ring ist, so verdanken sie dodi ihren überwältigenden Erfolg ihrem Appell an etwas, das fundamentaler und respektabler ist. Wie die italienischen Faschisten treten sie für ein nationales Ideal ein, das zwar nebelhaft und überschwenglich formuliert ist, dem aber persönliche und Klasseninteressen untergeordnet werden sollen." Die Rothermerepresse in England und die Hearstpresse in Amerika gaben offen zu, daß die Alliierten durch ihre Unnachgiebigkeit gegenüber berechtigten deutschen Forderungen am Hochkommen der Nationalsozialisten schuld seien. Schacht fuhr unmittelbar nach der Wahl über London in die Vereinigten Staaten, hielt hier nahezu fünfzig Vorträge, besprach sich mit einer Reihe von Politikern und hatte auch mit Präsident Hoover eine längere Unterredung. Vor allem wies Schacht darauf hin, daß der Wahlausgang nur die Konsequenzen aufzeige, „denen Deutschland entgegensah, wenn das Elend der Reparationszahlungen sich verewigen sollte". Auf Veranlassung eines amerikanischen Verlegers wurden die Vortrage als Buch unter dem Titel „Das Ende der Reparationen" veröffentlicht, zunächst in englischer Sprache. Wie der Verleger war auch Schacht fest davon überzeugt, daß dieses Ende sehr bald eintreten werde.

Brüning und der neue Reichstag Brüning mußte also mit einem Reichstag arbeiten, in dem ihm die unbedingte Opposition von 225 Stimmen der NSDAP, der Kommunisten und Deutschnationalen gegenüberstand, und durfte, selbst wenn alle landwirtschaftlichen Parteien — worauf er sich keineswegs verlassen konnte — mit ihm gingen, nur auf 209 Stimmen rechnen. Infolgedessen war er auf die Mitwirkung der Sozialdemokraten angewiesen: diese wiederum, obwohl sie gern in der Opposition geblieben wären, sahen sich gezwungen, die Regierung zu stützen, wenn sie die Weimarer Republik erhalten wollten. So ergab sich für die nächsten zwei Jahre „ein eigentümlicher Schwebezustand, ein System, das man als Parlamentarismus mit Artikel 48 oder als parlamentarisch geduldete Präsidialregierung bezeichnen kann" (Stampfer). Nationalsozialisten und Kommunisten störten die Reichstagsverhandlungen durch Radau- und Raufszenen; die Masse des Volkes reagierte darauf wie auch auf die häufigen Straßenkrawalle nicht mit Abscheu vor der Rohheit und Zügellosigkeit der extremen Parteien und vor der Unbedenklichkeit in der Wahl ihrer Mittel, sondern die Weimarer Republik büßte im Volke , noch mehr von ihrem Ansehen ein, weil sie gegen die Umtriebe nicht tatkräftiger vorging. Am 13. Oktober 1930 trat der neue Reichstag erstmalig zusammen. Die 107 Nationalsozialisten zogen in ihren Braunhemden in den Saal; da in Preußen Uniformverbot bestand, hatten sie sich erst im Reichstagsgebäude umziehen können. Im Zentrum Berlins kam es unter dem Ruf „Deutschland erwachel" zu antisemitischen Ausschreitungen. Hitler, der, wie der britische Botschafter in Berlin am 26. September nach London berichtet hatte, sehr darauf bedacht war, seine Partei „als vollkommen harmlos, achtbar und geeignet zur Beteiligung an der Regierung des Landes" hinzustellen, erklärte, nicht Nationalsozialisten hätten schuld

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Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Weimarer Republik •— Kanzlerschaft Brünings

an den antisemitischen Ausschreitungen, sondern „Rowdies, Ladendiebe und kommunistische Provokateure". Die eigentlich Schuldigen waren aber doch die Nationalsozialisten mit der maßlosen Hetze gegen die Juden, auch wenn Kommunisten für ihren Zweck, die NSDAP in Verruf zu bringen, sich an dem Einschlagen jüdischer Ladenfenster und der Mißhandlung von Juden beteiligt hatten. Am 15. Oktober wurde der Sozialdemokrat Löbe unter heftigem Protest der Nationalsozialisten zum Reichstagspräsidenten gewählt. Am folgenden Tage legte Reichskanzler Brüning sein Regierungsprogramm vor, das er in den kommenden zwei Jahren unbeirrt durchführte. Gleich Stresemann hatte auch er den Mut zur Unpopularität. Er hätte den Weg der Kreditausweitung, der Inflation gehen können und damit die Arbeitslosigkeit vermindert. Aber die Not von 1922/23 haftete noch zu tief im Gedächtnis des Volkes, und so kam nur der Weg der Deflation in Betracht: neue Steuern, Einsparungen, Kürzung der Gehälter und Diäten, Senkung der Löhne und der Soziallasten; die Landwirtschaft mußte durch Zölle geschützt, die Industrie zur Herabsetzung ihrer Preise gezwungen werden. All das brachte Brüning die Gegnerschaft weitester Kreise ein. Die Kommunisten nannten ihn „Hungerdiktator", aber die Sozialdemokraten, die den Ausschlag gaben und die Machtergreifung der NSDAP nach Brünings Sturz befürchteten, stimmten immer wieder für ihn und verhinderten so die Aufhebung der Notverordnungen vom 1. Dezember 1930 und 5. Juni 1931 zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen. Trotz eines amerikanischen Überbrückungskredits blieb infolge der stetig zunehmenden Wirtschaftskrise die Lage der Reichsfinanzen sehr gespannt. An das Verständnis und die Opferbereitschaft der Bevölkerung wurden hohe Anforderungen gestellt; der Reichstag schaltete sich selbst durch lange Sitzungspausen aus.

Prozeß gegen die Ulmer

Reichswehroffiziere

Eine Woche nach der Wahl vom September 1930 begann vor dem Reichsgericht in Leipzig der Prozeß gegen die Ulmer Reichswehroffiziere Scheringer und Ludin und den inzwischen aus der Armee ausgeschiedenen Oberleutnant Wendt; sie waren im Februar des Hochverrats wegen Zersetzung der Reichswehr angeklagt und verhaftet worden. Sie hatten mit der NSDAP Verbindung aufgenommen und auf Reisen in der Armee Propaganda für den Nationalsozialismus gemacht; in jedem Wehrkreis sollten einige zuverlässige Offiziere gewonnen werden, die dafür sorgten, daß die Reichswehr der NSDAP und ihren Zielen nicht feindlich gesinnt sei und vor allem „Gewehr bei Fuß" stünde, wenn sie bei einem Putsch gegen die Nationalsozialisten eingesetzt werden solle. Da Seedct und die Reichswehrminister Geßler und Groener die Reichswehr bewußt unpolitisch und überparteilich aufgebaut und nur zum Einsatz für den Staat herangebildet hatten, bedeutete das Eindringen nationalsozialistischen Gedankengutes eine große Gefahr, die Armee war dann nicht mehr fest in der Hand ihrer Führung. Schon im März 1929 hatte Hitler in München über „Nationalsozialismus und Reichswehr" eine Rede gehalten, die in einer eigens für die Reichswehr hergestellten Sondernummer 626

Deutsdi-österreichische Zollunion

des „Völkischen Beobachters" verbreitet wurde. Sie enthielt unter anderem den Vorwurf gegen Seeckt, sein Leitsatz, die Reichswehr habe sich von der Politik fernzuhalten, diene lediglich dazu, die Reichswehr in den Dienst jenes republikanischen Regimes zu stellen, das der alten Armee 1918 den Dolchstoß in den Rücken versetzt und Deutschland an seine Feinde verraten habe. Der Prozeß zeigte dann auch, wie empfänglich ein Teil der ohnehin gefühlsmäßig der Republik nicht begeistert gegenüberstehenden Offiziere sowohl für Hitlers Kritik an dem gegenwärtigen Staat wie für seine Zukunftsversprechungen über die Wehrhaftmachung des deutschen Volkes war. Am 25. September 1930 wurde Hitler als Zeuge vernommen, was ihm eine willkommene Gelegenheit bot, wieder eine ausführliche Propagandarede zu halten. Er beteuerte, seine Ziele nur auf dem Wege völliger Legalität zu erstreben, wies den Gedanken an eine Zersetzung der Reichswehr weit von sich: „Niemals ist von mir ein Flugblatt, eine Broschüre herausgegangen, die für etwas derartiges eintrat. Niemals habe ich Verbindungen mit der Reichswehr angeknüpft. Ich hätte das nie gebilligt und denjenigen, der es getan hätte, augenblicklich aus der Partei hinausgeworfen. Ich habe nur den Wunsch, daß das Heer wie das deutsche Volk den neuen, unseren Geist in sich aufnehme." Das Reichsgericht verhängte in seinem Urteil vom 4. Oktober über die drei Ulmer Reichswehroffiziere eine Festungshaft von je eineinhalb Jahren und die Entlassung Scheringers und Ludins aus der Armee. Die Nationalsozialisten waren darüber empört und veranstalteten Protestkundgebungen. Ein Gesuch um Begnadigung lehnte der Reichspräsident jedoch mit der Begründung ab, gerade in politisch bewegter Zeit müsse die dienstliche Zucht und Unterordnung in der Reichswehr unerschüttert aufrechterhalten werden. Scheringer ging noch während seiner Haftzeit zum Kommunismus über.

Die deutsch-österreichische

Zollunion

Brüning arbeitete von vornherein darauf hin, das Ausland davon zu überzeugen, daß Deutschland auch beim besten Willen die Last der Reparationen nicht länger tragen könne. „Die Grenze dessen, was wir unserem Volke an Entbehrungen aufzuerlegen vermögen, ist erreicht", stellte er in dem Aufruf zur Notverordnung vom 5. Juni 1931 fest. Brüning wußte, er könne nur mit einer aktiveren, erfolgreichen Außenpolitik das Volk von der Richtigkeit seines Vorgehens überzeugen und der Opposition den Wind aus den Segeln nehmen. Im November 1930 hatte der Völkerbund die zweite internationale Zoll- und Wirtschaftskonferenz abgehalten, kam aber in keiner der behandelten fünf Fragen zu einem endgültigen Ergebnis. Der österreichische Vizekanzler Schober und der deutsche Außenminister Curtius schlossen dann am 19. März 1931 in Wien eine österreichisch-deutsche Zollunion, um den Anfang für eine bessere Organisierung der europäischen Wirtschaft zu machen. Sie betonten, daß beide Regierungen bereit seien, auch mit jedem anderen europäischen Staat auf dessen Wunsch in Verhandlungen über eine derartige Regelung einzutreten. Der Vertrag 627 40·

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings behandelte zwar nur rein Zoll- und Handelspolitisches und betonte im ersten Artikel ausdrücklich die „volle Aufrechterhaltung der Unabhängigkeit der beiden Staaten und die volle Achtung der von ihnen dritten Staaten gegenüber übernommenen Verpflichtungen", trotzdem rief die Bekanntgabe des Vertrags in England, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei sofort heftigen Widerspruch hervor. England stand der Regierung Brüning zwar durchaus freundlich gegenüber, zeigte sich aber verstimmt, weil der Vertrag ohne vorherige Beratung mit den daran interessierten Staaten abgeschlossen worden sei. Frankreich, Italien und die Tschechoslowakei protestierten in Wien: der Vertrag verstoße gegen das Genfer Protokoll vom 4. Oktober 1922, in dem Österreich sich verpflichtet hatte, wie keine politischen, so auch keine wirtschaftlichen und finanziellen Bindungen einzugehen, die seine Unabhängigkeit irgendwie beeinträchtigen könnten. Das Abziehen grosser französischer Kredite setzte Österreich dann wirtschaftlich derart unter Druck, daß erst Österreich und danach Deutschland sich gezwungen sahen, der Aufnahme ihres Zollabkommens in die Tagesordnung der Maitagung des Völkerbundes zuzustimmen. Hier wurde es an den Haager Internationalen Gerichtshof verwiesen, der am 5. September 1931 mit acht gegen sieben Stimmen entschied, das Abkommen sei mit dem Vertrag von St. Germain (S. 490) und dem Genfer Protokoll unvereinbar. Bereits am 3. September hatten jedoch Schober und Curtius im Europaausschuß des Völkerbundes offiziell darauf verzichtet, den Zollunionsplan weiter zu verfolgen, um „die vertrauensvolle Zusammenarbeit zwischen den europäischen Staaten nicht zu gefährden". Das Scheitern des Zollunionsplanes bedeutete für die deutsche Regierung eine empfindliche Niederlage. Curtius mußte im Oktober seinen Abschied einreichen. Brüning wurde und wird auch heute noch ungenügende Vorbereitung des Vertrags und mangelnde Rücksicht auf die Psychologie des Auslands, besonders Frankreichs, vorgeworfen; er hätte wissen müssen, daß Frankreich auch ein rein wirtschaftliches Abkommen nur als Vorbereitung eines politischen Anschlusses werten würde. Der Anschlußgedanke lag Deutschland wie Österreich sicher sehr nahe, beide hatten 1919 die Verhinderung des Anschlusses durch Frankreich als schweres Unrecht empfunden. Die Deutschen konnten nicht verstehen, weshalb die knapp sieben Millionen Menschen des wirtschaftlich schwachen Österreich einen die Sicherheit Frankreichs bedrohenden Machtzuwachs für Deutschland bedeuten sollten, aber Frankreich blieb dabei: „L'Anschluß c'est la guerre." In Amerika fand man das wirtschaftliche Zusammengehen der beiden hart um ihre Existenz ringenden Länder durchaus vernünftig; und auch England hätte die Regierung Brüning gern gestärkt, mußte jedoch mit Rücksicht auf Briand, dessen Verständigungspolitik ohnehin schon von seinen Landsleuten angegriffen wurde, die Behandlung des Zollunionsplanes im Völkerbund vorschlagen. Die knappe Mehrheit des Haager Abstimmungsergebnisses zeigte, daß fast die Hälfte der Juristen den Zollunionsplan als völkerrechtlich einwandfrei betrachteten. Ohne Frankreichs Angst vor der auch nur geringsten Machterweiterung Deutschlands wäre Brüning ein Erfolg beschieden gewesen, der, von den handelspolitischen Vorteilen ganz abgesehen, seine innerpolitische Stellung sehr gefestigt hätte; so 628

Bankenkrach. Hoovermoratorium und Kreditverhandlungen aber bot sich der Opposition noch mehr Stoff, die Schwäche und Würdelosigkeit der Regierung verächtlich zu machen. Bankenkrach. Hoovermoratorium

und

Kreditverhandlungen

Die steigende Wirtschaftskrise machte sich in der ganzen Welt fühlbar. In den Vereinigten Staaten zum Beispiel, wo sie begonnen hatte, stieg die Zahl der Arbeitslosen bis 1932 auf etwas über 12 Millionen, gerieten über 5000 Banken und nahezu 32 000 Unternehmungen in Konkurs, waren die Preise der landwirtschaftlichen Erzeugnisse tief gesunken und das Volkseinkommen seit 1929 auf die Hälfte zurückgegangen. Ähnlich litten fast alle anderen Länder, die Weltrohstoffpreise waren stark gefallen, die Zollmauern um die einzelnen Länder immer höher geworden. Besonders wurde das durch Krieg, Inflation, Reparationszahlungen und unvorsichtige Kreditpolitik geschwächte Deutschland von der allgemeinen Depression betroffen: der Außenhandel nahm bis 1933 gegenüber dem Stand von 1929 um zwei Drittel ab; viele industrielle Betriebe mußten stillgelegt werden oder schleppten sich mit Kurzarbeit mühsam durch, Riesenverluste für die Fabrikbesitzer und Erwerbslosigkeit der Arbeiter waren die Folge. Die geschwundene Kaufkraft, auch wegen der Gehaltskürzungen der Beamten, zwang viele kleine Ladenbesitzer und Handwerker zum Konkurs oder brachte sie an den Rand des Ruins und verschärfte die Absatzkrise der großen und kleinen Landwirte, deren Not alle staatlichen Hilfsmaßnahmen nur wenig zu lindern vermochten. Für die heranwachsende Jugend sah die Lage hoffnungslos aus, sie fand keine Lehrstellen, keine Arbeit, keine Anstellung, erlebte die Not zu Hause und lungerte auf den Straßen herum. Während der Reichskanzlerschaft Brünings stieg die Zahl der Arbeitslosen von 2,2 auf 6,1 Millionen, den Höhestand im März 1932; darunter waren neben den Handarbeitern auch kaufmännische Angestellte, Ingenieure, Architekten usw. Der Abzug französischer Guthaben aus Wien als Antwort auf den deutschösterreichischen Zollunionsplan führte im Mai 1931 den Zusammenbruch der österreichischen Kreditanstalt, einer der größten internationalen Banken Mitteleuropas, herbei, nachdem sie wegen der schlechten Wirtschaftslage ohnehin schon schwere Verluste erlitten hatte. Die Folge war ein erneuter Ansturm der ausländischen Gläubiger auch auf die deutschen Banken; nun rächte sich bitter, daß von den über 20 Milliarden Auslandskrediten trotz aller Warnungen Schachts 10 Milliarden kurzfristig angelegt waren, etwa die Hälfte davon wurde nun durch die Gläubiger abgezogen. Der Ausweis der Reichsbank Mitte Juni zeigte den erschreckenden Rückgang der Devisen, der Diskontsatz wurde von 2 auf 7 % erhöht. In dieser Situation erging an Brüning und Curtius eine Einladung der englischen Regierung zu einem rein freundschaftlichen Besuch, der vom 5. bis 9. Juni stattfand; bei der Besprechung der wirtschaftlichen Lage ließen sie keinen Zweifel, daß spätestens im November ein Moratorium für die Reparationszahlungen beantragt werden müsse. Dem kam ein großzügiges Angebot des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Hoover, zuvor. Am 20. Juni beantragte er „einen einjährigen

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Weimarer Republik —• Kanzlerschaft Brünings

Aufschub aller Zahlungen auf Schulden der Regierungen, Reparationen und Wiederaufbauschulden, und zwar sowohl bezüglich des Kapitals wie der Zinsen... Der Kern des Vorschlags ist, den Schuldnern Zeit zur Wiedererlangung ihrer nationalen Prosperität zu geben . . . Wir werden dadurch nicht in die Diskussion rein europäischer Probleme, zu denen die Reparationsfrage gehört, hineingezogen, wir wollen lediglich unsere Bereitschaft ausdrücken, zur baldigen Erholung der Weltprosperität, an der unser Volk so stark interessiert ist, unsern Teil beizutragen". Deutschland, England und die übrigen beteiligten Staaten stimmten zu, nur Frankreich erhob Einwände, es fürchtete vor allem, ein Moratorium auch für die ungeschützten Annuitäten des Youngplans würde die Wiederaufnahme der Zahlungen nach Ablauf des Feierjahres am 1. Juli 1932 erschweren. In mühseligen Verhandlungen zwischen Frankreich und den Vereinigten Staaten kam am 6. Juli eine Einigung zustande; ihre wichtigste Bestimmung war, Deutschland solle die fälligen Raten der ungeschützten Annuitäten ordnungsgemäß an die Internationale Bank in Basel einzahlen und sie sofort als Kredit zurückerhalten, aber nicht für das Reich, sondern für die Reichsbahngesellschaft. Damit trat das Hoover-Moratorium, am 7. Juli 1931 in Kraft. Praktisch war dies das Ende der Reparationen; nur die Zinsen für die Dawes- und die Younganleihen wurden — auch noch vom Dritten Reich — weitergezahlt. Trotz dieser bedeutenden Erleichterung der deutschen Lage fuhr die Rechtsopposition fort, die Regierung Brüning mit unverminderter Maßlosigkeit zu bekämpfen. „Die nationalsozialistische und in gewissem Umfang die Hugenberg-Presse zeigen keine Dankbarkeit für die Deutschland gewährte Hilfe aus dem offensichtlichen Grunde, daß sie ihre politische Campagne gegen die Tributzahlungen durchkreuzt", urteilte der englische Geschäftsträger in Berlin. Die Wirtschaft Deutschlands war allerdings inzwischen von einer neuen Katastrophe betroffen worden. Am 23. Juni mußte die Norddeutsche Wollkämmerei und Kammgarnspinnerei (Nordwolle) in Bremen den Bankrott erklären, sie riß die Darmstädter- und Nationalbank, eine der vier großen deutschen Depositenbanken, mit hinein, die am 13. Juli ebenfalls ihre Zahlungen einstellte. Nun drohte eine allgemeine Panik auszubrechen, denn sämtliche Banken hatten das in der Inflation verlorene Eigenkapital nur zum geringen Teil ersetzt und vorgezogen, die einlaufenden Gelder in oft sogar ungesunde Industrie- und Handelsuntemehmungen zu stecken, die jetzt in die allgemeine Krise verwickelt wurden. Nach Angabe des Reichsfinanzministers Dietrich befanden sich die Reichsfinanzen einigermaßen in Ordnung, aber aus der privaten Wirtschaft waren seit September 1930 etwa drei bis vier Milliarden an das Ausland zurückgezahlt, dazu kam noch die Flucht deutschen Kapitals ins Ausland. So sah sich die Regierung Brüning gezwungen, durch Eingreifen des Staates eine Katastrophe zu verhindern. Der Staat übernahm die Garantie für die Darmstädter- und Nationalbank und beugte einem noch größeren Umfang der Abhebung von Guthaben vor, indem er eine zunächst zweitägige Schließung aller Banken und Sparkassen und auch der Börsen anordnete. Notverordnungen regelten dann die allmähliche Wiederaufnahme des Zahlungsverkehrs, die Bewirtschaftung der Devisen, schritten gegen 630

Bankenkrach. Hoovermoratorium und Kreditverhandlungen

Kapital- und Steuerflucht ein und setzten erhöhte Zinszuschläge auf Steuerrüdestände fest. Am 25. Juli erfolgte die Gründung der Akzept- und Garantiebank, um den möglichst raschen völligen Abbau der Beschränkungen im Zahlungsverkehr herbeizuführen, zwei Drittel der Aktien übernahm das Reith. Am 5. August fielen die meisten Beschränkungen für den Zahlungsverkehr, die Börsen wurden jedoch erst am 3. September wieder eröffnet. Ende Juli mußte der Staat auch die Dresdner Bank stützen. Im Februar 1932 ging die Darmstädter- und Nationalbank in der Dresdner Bank auf. Die nur von der augenblicklichen Not diktierte, als vorübergehend gedachte weitgehende Verstaatlichung der Großbanken und die Devisenbewirtschaftung erleichterten später den an die Herrschaft gekommenen Nationalsozialisten die völlige Beherrschung der Wirtschaft. Die Verhütung weiterer Kündigungen von kurzfristigen Auslandskrediten und ihre Umwandlung in langfristige stellte die deutsche Regierung vor eine ihrer schwierigsten Aufgaben. Da auch das Ausland an einer Gesundung der deutschen Wirtschaft sehr interessiert war, schlug die englische Regierung eine internationale Konferenz in London vor. Brüning und Curtius fuhren auf ihrer Reise nach London, der Einladung des französischen Ministerpräsidenten Laval folgend, über Paris. Bei den Vorbesprechungen hier am 18. und 19. Juli 1931 schlug Laval die Gewährung einer größeren Anleihe an Deutschland vor; dafür sollte Deutschland während der 10jährigen Laufzeit dieser Anleihe nichts unternehmen zur Revision der Verträge und der deutschen Ostgrenze. Auf derartige Bedingungen wollte und konnte Brüning nicht eingehen, ihre Annahme hätte der rechtsradikalen Opposition Vorschub geleistet und wohl seinen Sturz zur Folge gehabt. Vom 20. bis 23. Juli tagte dann die Konferenz der sieben Mächte England, Frankreich, Vereinigte Staaten, Deutschland, Belgien, Italien und Japan in London unter dem Vorsitz des englischen Premierministers Macdonald. Die Verhandlungen wurden in freundschaftlichem Geist geführt. Die Mächte erkannten die besondere Notlage Deutschlands an, eine internationale Anleihe kam jedoch nicht zustande; Frankreich knüpfte wieder politische Bedingungen daran, und England befand sich wirtschaftlich selbst in solch mißlicher Lage, daß es zwei Monate später vom Goldstandard abging. Für Deutschland war indes schon sehr wertvoll, daß die Mächte darin übereinstimmten, das Vertrauen zu Deutschlands Wirtschaft müsse wiederhergestellt werden, und deshalb empfahlen, die Finanzinstitute ihrer Länder sollten die noch in Deutschland stehenden Kredite nicht abziehen und sie möglichst in langfristige umwandeln; auch sollte die Internationale Bank in Basel einen am 25. Juni 1931 Deutschland gewährten Kredit von 100 Millionen Dollar verlängern und einen Sachverständigenausschuß zur Prüfung der deutschen Kreditlage einsetzen. Anfang August verlängerte die Internationale Bank den Kredit zunächst auf drei Monate und späterhin noch öfter. Am 18. August wurden in Basel zwischen Vertretern der deutschen und der ausländischen Banken Stillhalteabmachungen über 0V2 bis 6 Milliarden Reichsmark kurzfristiger deutscher Auslandsschulden vereinbart. All das bedeutete noch keine Lösung der deutschen Krise, bot aber doch Brüning die Möglichkeit, seinen Versuch zur Überwindung aus eigener Kraft weiter zu verfolgen. „Fremde Hilfe erfährt nur der, 631

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings der sich zunächst selbst zu helfen weiß und damit das Vertrauen der Umwelt gewinnt . . . Ist es notwendig zu sagen, daß für die aussichtsreiche Fortsetzung dieser Entwicklung Freiheit von innerpolitischen Störungen, Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im deutschen Volke unentbehrliche Voraussetzung ist? . . . Nicht Zuspitzung der parteipolitischen Gegensätze ist das Gebot der Stunde, sondern ihre Fruchtbarmachung in einer diese Gegensätze überbrückenden schöpferischen Synthese, in einer Synthese aller der Kräfte, die bereit sind, einer im wahren Gemeinschaftsgeist aufgefaßten Wirtschaftsreform und einer aufbauenden Staatspolitik rückhaltlos und uneigennützig Hand und Herz zu weihen." Auf diese Weise warb Brüning in einer Rundfunkrede am 4. August um Verständnis für seine Politik; aber es gelang ihm nicht, die Mehrheit des Volkes für sich zu gewinnen, denn die Not war groß und ergriff alle Kreise.

Aktivität der Rechtsradikalen. Die Harzhurger Front Die enttäuschte, unzufriedene, hoffnungslose Masse der Arbeitslosen war nicht nur zu Wahlzeiten, sondern andauernd der kommunistischen und der nationalsozialistischen Propaganda ausgesetzt, die das goldene Zeitalter versprach, wenn nur die Regierung gestürzt und die eigene Partei an der Macht sei. Seit den Reichstagswahlen vom September 1930 trat bei allen Landtagswahlen das Anwachsen der Kommunisten, besonders aber der Nationalsozialisten zutage, deren Abgeordnetensitze in Bremen (30. November 1930) sich von 2 auf 32 vermehrten, in Oldenburg (17. Mai 1931) von 3 auf 19, in Hamburg (27. September) von 3 auf 43, in Hessen (15. November) von 1 auf 27. Der Stahlhelm hatte bereits auf seiner Jahrestagung im Oktober 1930, die er im geräumten Rheinland, in Koblenz, abhielt, ein Volksbegehren angekündigt, um „die unfruchtbare marxistische Diktatur in Preußen, die das Erwachen und Gesunden des größten deutschen Bundesstaates hindert", zu stürzen. Mit nachdrücklicher Unterstützung von Hugenberg und Hitler wurden das Volksbegehren und dann am 9. August 1931 der Volksentscheid durchgeführt. Er scheiterte, statt der erforderlichen 13,4 stimmten nur 9,7 Millionen dafür, aber er diente, wie das Volksbegehren gegen den Youngplan, zur Aufpeitschung der nationalen Leidenschaften. Der zwölfte Frontsoldatentag in Breslau Ende Mai 1931, bei dem der deutsche Kronprinz und General Mackensen als Ehrengäste den Vorbeimarsch der 150 000 Stahlhelmer abnahmen, erregte namentlich die Polen, weil Seldte in seiner Begrüßungsansprache hervorhob, es gelte, das Lebensrecht Deutschlands im Osten und auf den Osten zu behaupten. Als Antwort auf das Hoover-Moratorium gab die Vertretertagung der Rechtsopposition Hugenberg-Hitler am 9. Juli 1931 ein Kommuniqué heraus: „Der Versuch der jetzigen Machthaber, trotz des sichtbaren Zusammenbruchs von Volk und Wirtschaft die Erfüllungspolitik unter verschleierten neuen Formen auch weiterhin aufrecht zu erhalten, führte zu einheitlichen festen Entschlüssen. Die nationale Opposition wird den Entscheidungskampf zur Niederringung des heutigen Systems einleiten und durchführen." 632

Harzburger Front Alle diese Vorgänge erschienen dem Ausland als bedrohliche Zeichen. Die sehr freundschaftlich verlaufenen Besuche der englischen Minister Macdonald und Henderson Ende Juli 1931 und der französischen Minister Laval und Briand Ende September in Berlin sollten das deutsche Volk von dem Ansehen überzeugen, das Brüning im Ausland erworben hatte. In ihren sämtlichen Reden betonten die Gäste, der einzige Weg aus der allgemeinen Not sei die Wiederherstellung des Vertrauens und die aufrichtige Zusammenarbeit der Staaten. Bei der unnachgiebigen Haltung der Rechtsopposition war jedoch die Vertrauenskrise ebenso schwer zu überwinden wie die Wirtschaftskrise. Die gemeinsame Kundgebung der nationalen Opposition am 11. Oktober 1931 in Bad Harzburg bewies dies dem In- und Ausland deutlich. Hugenberg hatte alle Gegner der Republik zusammengerufen: seine Deutschnationalen, den Stahlhelm, Hitler, die Alldeutschen, den Reichslandbund, dazu die Prinzen Eitelfriedrich und August Wilhelm, Söhne Wilhelms II., einige Generale, darunter Seeckt, der als Abgeordneter der Deutschen Volkspartei dem Reichstag angehörte, eine Reihe hervorragender rheinischer Wirtschaftsführer wie Thyssen, Poensgen von den Vereinigten Stahlwerken und Ravené vom Eisengroßhandelsverband, einige Bankiers, vor allem Hjalmar Schacht. Was Hugenberg eigentlich bezweckte, eine „Harzburger Front" unter seiner Führung, mißlang völlig. Hitler hatte in die gemeinsame Tagung nur widerstrebend eingewilligt; vor Eröffnung der Tagung hielt Wilhelm Frick, Vorsitzender der nationalsozialistischen Reichstagsfraktion, eine geschlossene Sitzung seiner Parteigenossen ab, in der er die Bedenken in ihren Reihen gegen das Zusammengehen mit dem „Mischmasch" der übrigen Rechten beschwichtigte: auch Mussolini habe zuerst eine Koalitionsregierung gebildet. Bei der eigentlichen Tagung hielt Hugenberg die Hauptrede und verlas eine längere Entschließung, worin der sofortige Rüdetritt der Regierungen Brüning im Reich und Braun in Preußen, Neuwahlen im Reich und in Preußen, die Wiederherstellung der deutschen Wehrhoheit und Rüstungsausgleich gefordert wurden; wir „beschwören den durch uns gewählten Reichspräsidenten von Hindenburg, daß er dem stürmischen Drängen von Millionen vaterländischer Männer und Frauen, Frontsoldaten und Jugend entspricht und in letzter Stunde durch Berufung einer wirklich nationalen Regierung den rettenden Kurswechsel herbeiführt". In diesem Sinne sprachen hierauf Hitler, Seldte, Claß und andere. Schacht begann seine Rede damit, daß er als Wirtschaftler ohne jede parteimäßige Bindung spreche, dann griff er die Wirtschafts- und Finanzpolitik der Reichsregierung und der Reichsbank scharf an, warf ihnen Unaufrichtigkeit, Rechtsunsicherheit und Mangel an Handlungsfähigkeit vor. Die Gesundung Deutschlands sei nicht eine Frage der Intelligenz, sondern eine Frage des Charakters. Mit Borgen und Betteln sei noch kein Volk groß geworden; man müsse nach dem Vorbild Friedrichs des Großen aus der heimischen Wirtschaft herausholen, was geht, und im übrigen sparen und arbeiten. Zum Schluß wünschte Schacht, „daß der nationale Sturmwind, der durch Deutschland fegt, nicht ermatten möge, bis die Wege zur Selbstbehauptung und zum Enderfolg wieder frei gemacht sind". Hitler zog sich sehr 633

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings

bald zurück. Als der Stahlhelm an Hugenberg und Seldte vorbeimarschierte, war Hitler nicht mehr dabei; er zeigte auf diese Weise deutlich, daß er nicht gesonnen war, mit der „bürgerlichen" Rechten eine Front zu bilden, und schon gar nicht sich ihr irgendwie unterzuordnen. Schon jetzt hätte Hugenberg merken müssen, daß Hitler die Unterstützung, die er durch sein Geld und seine Presse den Nationalsozialisten zuteil werden ließ, zwar gern entgegennahm, an Gegenleistungen und irgendeine Abhängigkeit aber nicht dachte. Auf die schweren Vorwürfe Schachts antworteten Reichsbankpräsident Luther und Finanzminister Dietrich in der Presse, sie hätten der Öffentlichkeit nichts verheimlicht oder unrichtig dargestellt; die Art, wie Schacht die Notlage der deutschen Wirtschaft, teilweise sogar falsch, schildere, sei „unverantwortlich und geeignet, uns den letzten Kredit zu nehmen". Im Reichstag wandten sich Brüning und Dietrich gegen Schachts Verhalten, das die Finanzen und das Volk aufs schwerste schädigte.

Zweites Kabinett Brüning und der Reichstag Außenminister Curtius hatte sich bemüht, vor allem durch direkte Verhandlungen mit England, die allgemeine Abrüstung vorwärts zu treiben; denn einer der hauptsächlichsten Vorwürfe der Rechtsopposition war, daß die Staaten rings um Deutschland weiter aufrüsteten, während Deutschland durch den Versailler Vertrag immer noch zur Wehrlosigkeit gezwungen war. Am 17. Juni 1931 versandte das Völkerbundssekretariat in Genf die offiziellen Einladungen zu der im Februar 1932 beginnenden Weltabrüstungskonferenz; für die innerdeutsche Entspannung war damit freilich noch nichts gewonnen. Da trat Curtius, nachdem er auf der Genfer Völkerbundstagung den Verzicht auf die deutsch-österreichische Zollunion mitgeteilt und wieder zur Verwirklichung der internationalen Abrüstung gedrängt hatte, Anfang Oktober von seinem Amt zurück. Brüning reichte daraufhin dem Reichspräsidenten die Demission des gesamten Kabinetts ein, wurde aber sofort mit der Neubildung der Regierung betraut. Neben Curtius schieden die beiden Zentrumsminister Wirth und Guérard aus. Das Wirtschaftsministerium übernahm Professor Dr. Warmboldt, Brüning das Außenministerium zu seinem Reichskanzleramt, Groener zum Reichswehrministerium das Innenministerium. In der Regierungserklärung vor dem Reichstag am 13. Oktober 1931 ging Brüning ausführlich auf die ernste Krise der letzten Monate, die Maßnahmen der Regierung, ihre Erfolge und ihre Ziele ein, wobei er auch die umfangreiche neue Notverordnung vom 6. Oktober „zur Sicherung von Wirtschaft und Finanzen und zur Bekämpfung politischer Ausschreitungen" erläuterte. „Ich werde mich lieber jeden Tag als Vaterlandsverräter und alles mögliche beschimpfen lassen, als nur einen Augenblick die Nerven verlieren und von dem Weg, den ich mir vorgenommen habe, abweichen . . . Alle Versuche, die ich seit Wochen und Monaten unternommen habe, haben ergeben, daß ein Zusammenfinden der Parteien, die dafür (für eine Regierung aller verantwortungsbereiten Parteien) notwendig wären, in Deutschland ausgeschlossen ist. In der schwersten und schicksalsreichsten Stunde 634

Heranziehung Hitlers? Boxheimer Dokument

des deutschen Volkes gehen die Tendenzen eher darauf hinaus, schärfste Fronten gegeneinander aufzurichten, als sich zusammenzufinden in der einfachsten Pflichterfüllung für das ganze Volk. Deswegen habe ich midi entschlossen . . . eine Regierung zu bilden, die noch unabhängiger von den Parteien ist als das bisherige Kabinett." Dem Reichstag lagen vier auf der Harzburger Tagung beschlossene Anträge der deutschnationalen und der nationalsozialistischen Fraktion vor: „Der Reichstag entzieht der Reichsregierung das Vertrauen." „Der Reichspräsident wird ersucht, den Reichstag aufzulösen und Neuwahlen auf Sonntag den 8. November anzuberaumen." Der dritte Antrag forderte die Außerkraftsetzung der Notverordnungen, der vierte Einstellung der Polizeikostenzuschüsse an Preußen. Auch die Kommunisten verlangten Auflösung des Reichstags und Neuwahlen, dazu den Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund. In dreitägigen Debatten nahmen die Parteien zu der Regierungserklärung und zu den Anträgen Stellung. Die Sozialdemokraten sprachen sich zwar gegen Brünings Politik, vor allem seine sozialen Maßnahmen, aus, waren aber doch aus Furcht vor dem, was nach ihm kommen könnte, bereit, für ihn zu stimmen. Die Deutsche Volkspartei versagte ihm die Gefolgschaft, die Wirtschaftspartei erklärte sich für, die Landvolkpartei gegen ihn. Die Abstimmungen am 16. Oktober über die Mißtrauens- und die sonstigen Anträge ergaben teils knappe, teils beträchtliche Mehrheiten für die Regierung. Die Brüningregierung war damit wieder für einige Monate gesichert. Der Reichstag vertagte sich bis zum 23. Februar 1932. Die Reichstagsmehrheit, die sich für diesen undemokratischen Weg entschied, war sich darüber klar, daß die Regierung mit harten, unpopulären Mitteln tief in das Finanz- und Wirtschaftsleben eingreifen mußte, um Deutschland durch seine besonderen Nöte und die Weltwirtschaftskrise hindurchzusteuern, aber keine Partei wollte sich mit Rücksicht auf die Interessengruppen, die sie vornehmlich vertrat, zur unbedingten Unterstützung Brünings verpflichten. „In welchem Ausmaße sich der Reichstag durch seine Arbeitsunfähigkeit selbst ausschaltete, ergibt die Tatsache, daß er im Jahre 1930 zu 94 Sitzungen versammelt war, 1931 nur noch zu 41 und 1932 lediglich zu 13. Pausen von fast halbjähriger Dauer legte der Reichstag, um seine Geschäftsunfähigkeit zu überbrücken, durch eigenen Entschluß ein und schaltete sich damit als politischer Faktor und als Organ der Gesetzgebung selbst aus" (Meißner). Heranziehung Hitlers? Das Boxheimer

Dokument

Brüning hätte ebenso wie Hindenburg eine Regierung unter Mitarbeit der Rechten und ohne Notverordnungen nach den parlamentarischen Spielregeln vorgezogen; wenn die Rechte sich an der Verantwortung beteiligte, wäre sie gezwungen, ihre außen- wie innenpolitisch gleich schädliche Opposition einzustellen. Aber eine vorsichtige Fühlungnahme mit Hugenberg und Hitler führte zu nichts, auch wäre das Zentrum zur Zusammenarbeit mit ihnen nicht bereit gewesen. General Schleicher hatte über Röhm, der seit Januar 1931 die SA völlig neu orga635

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings

nisiert und bedeutend verstärkt hatte, die Verbindung mit Hitler aufgenommen. Schleicher schätzte den Nationalismus und die Kräftigung des Wehrwillens in der nationalsozialistischen Propaganda, er wollte im Falle der von ihm befürchteten polnischen Ubergriffe an der deutschen Ostgrenze zur Unterstützung der zahlenmäßig schwachen Reichswehr die SA heranziehen; er traute sich zu, alles, was ihm an der NSDAP nicht gefiel, durch ihre Teilnahme an der Regierung und damit an der Verantwortung abschleifen und eindämmen zu können. Bei einer persönlichen Unterredung versprach ihm Hitler, er werde die politische Neutralität der Reichswehr, die er als unbedingt notwendig anerkannte, achten und keinerlei Versuche zu ihrer Zersetzung machen. Schleicher veranlaßte auch eine persönliche Besprechung Hitlers mit Brüning und Hitlers Empfang bei Hindenburg am 10. Oktober. Brüning wie Hindenburg waren von Hitlers monologartigen, langatmigen Reden in keiner Weise beeindruckt, den wortreichen Versprechungen unbedingt loyalen Verhaltens standen sie skeptisch gegenüber, zumal ihnen der Versuch mißlang, Hitler zu bewegen, daß er wenigstens den kommenden Winter hindurch die Regierung Brüning toleriere. In politischen Kreisen erzählte man sich, Hindenburg habe hernach gesagt, der „böhmische Gefreite" könne höchstens Postminister werden, manchmal nodi mit dem Zusatz: „da kann er mich auf den Briefmarken — von hinten". Groener kam mit Hitler am 11. Januar 1932 zusammen und schrieb einige Tage später einem Freund: „Das Braune Haus bleibt immer noch undurchsichtig. Wir haben den Eindruck, als ob Göring und Röhm auf Adolf mäßigend einwirken, während die Opposition von Gregor Strasser getrieben wird. Eins scheint sicher, daß Adolf der Mann der Tat nicht ist, sondern der wortgewaltige Prophet, der als Popanz für die Massen dienen muß. Sachlichen Gesprächen weicht er aus und phantasiert gleich wieder durch alle Jahrhunderte der Geschichte. Unmöglich, ihn zu unterbrechen und auf diesen Planeten zurückzuführen. Vom Zuhören wird man schon erschöpft." Seit Hitler sah, wie ihm die Massen zufielen, glaubte er, die Macht im Staat werde ihm ohne Revolution auf dem legalen Weg der Mehrheitsbildung zufallen. Er beteuerte bei jeder Gelegenheit, auch vor ausländischen Pressevertretern, seine Legalität, verurteilte jedes andere Verhalten seiner Anhänger mit scharfen Worten, drohte, solche Elemente aus der Partei auszuschließen und erklärte die vielen wüsten Schlägereien, bei denen es Tote und Verwundete gab, als reine Notwehr seiner Leute gegenüber kommunistischen Angriffen. Die in den Polizeiberichten angegebenen Tatsachen, der Ton der nationalsozialistischen Presse und Reden der Unterführer widersprachen freilich erheblich den oft wiederholten Auslassungen Hitlers. Er schritt auch nur selten gegen Parteigenossen ein, die gegen seine Befehle zu legalem Verhalten verstießen; das Schlagwort Legalität diente ihm nur als Schild, hinter dem er seine Agitation ungestört entfalten konnte. Großes Aufsehen erregte Ende November die Veröffentlichung des „Boxheimer Dokuments". Führende hessische Nationalsozialisten hatten in geheimen Besprechungen auf dem Boxheimer Hof bei Worms, dem Haus eines ihrer Mitglieder, einen Entwurf für die erste Bekanntmachung nach der Machtergreifung durch die NSDAP vereinbart: alle Macht liegt bei der SA oder einer ähnlichen Organisation, der Besitz

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Notverordnungen vom Dezember 1931

von Schußwaffen und jeder Widerstand werden mit sofortigem Erschießen bestraft, alle Nahrungsmittel sind bei Freiheits- oder Todesstrafe an die nationalsozialistischen Behörden abzuliefern, die Ernährung der Bevölkerung erfolgt durch Kollektivspeisung und Lebensmittelausgabe gegen Karten, zunächst gibt es kein Privateinkommen mehr, Zwangsvollstreckungen, Zinslauf von Geldforderungen und Mietzins werden ausgesetzt (sistiert), jeder Deutsche männlichen und weiblichen Geschlechts, mit Ausschluß der Juden, ist vom 16. Lebensjahr an zur Dienstleistung nach Anordnung der Behörden verpflichtet, der Anspruch auf Ernährung ist von der Erfüllung der Dienstpflicht abhängig. Verfasser des Dokumentes war Gerichtsassessor Werner Best, Leiter der nationalsozialistischen Rechtsabteilung des Gaues Hessen. Der hessische nationalsozialistische Landtagsabgeordnete Dr. Schäfer, der sich mit der Partei verfeindet hatte, übergab das Dokument der Frankfurter Polizei, Haussuchungen und sonstige Ermittlungen bewiesen seine Echtheit. Hitler bestritt, vielleicht wahrheitsgemäß, jede Kenntnis davon und wiederholte nur seine Legalitätserklärungen. Auf Drängen des hessischen und preußischen Innenministers verlangte die Reichsregierung beim Reichsgericht eine Untersuchung wegen Vorbereitung zum Hochverrat, aber Oberreichsanwalt Werner stellte sich auf den Standpunkt, Hochverrat liege nicht vor, da als Voraussetzung der in dem Dokument genannten Maßnahmen die Niederschlagung eines kommunistischen Aufstandes angegeben sei, und verschleppte die Verhandlungen, bis sie am 12. Oktober 1932 wegen Mangel an Beweisen eingestellt wurden. Die Reichsregierung versäumte, diese Enthüllung von Parteiplänen für die Hebung ihres Ansehens und die Diskreditierung der NSDAP zu benützen; die Bevölkerung ging nach der ersten Aufregung wieder ganz in den Nöten des Tages auf, aus denen Hitler sie zu retten versprach.

Notverordnung

vom Dezember

1931

Brüning war wohl zu sehr in der Hoffnung befangen, die von ihm mit allen Kräften erstrebte Besserung der Wirtschaftslage und außenpolitische Erfolge, die Beendigung der Reparationen und die allgemeine Abrüstung, würden die bunt zusammengewürfelte Masse, die sich jetzt von Hitlers Worten betören ließ, bald wieder in ihre alten Parteien zurückführen. Am 8. Dezember 1931 unterzeichnete Brüning eine im Reichsgesetzblatt 46 Seiten umfassende Notverordnung „zur Sicherung der Wirtschaft und Finanzen und zum Schutz des inneren Friedens": Kürzung der Löhne, Gehälter und Pensionen, Erhöhung der Steuern, Einführung einer Kapitalfluchtsteuer von 25% des Gesamtvermögens; ferner wurden die gebundenen Preise und die Preise für Markenwaren, die Hypotheken- und Anleihezinsen sowie die Mieten herabgesetzt, um „das Absinken der realen Kaufkraft zu verhindern"; zum Reichskommissar für die Preisüberwachung wurde dann der Leipziger Bürgermeister Dr. Karl Goerdeler berufen. Den inneren Frieden sollten Maßregeln gegen Waffenmißbrauch, Uniformverbot für politische Vereinigungen, Verstärkung des Ehrenschutzes und ein Weihnachtsfrieden bis 637

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings

zum 3. Januar 1932 sichern. In einer Rundfunkrede begründete Brüning die Notwendigkeit und die Ziele dieser Notverordnung: die Weltwirtschaftskrise könnte nur durch internationale Zusammenarbeit überwunden werden, deshalb habe er am 20. November bei der Internationalen Bank in Basel die Einberufung des im Youngplan vorgesehenen Sonderausschusses zur Prüfung der deutschen Zahlungsfähigkeit beantragt, der auch bereits zusammengetreten sei; im Innern müsse vor allem die Währung und der Etat gesichert und der Binnenmarkt belebt werden. Brüning mahnte zu ruhiger Überlegung und drohte, notfalls durch Verhängung des Ausnahmezustandes die Macht der Regierung aufrechtzuerhalten; besonders wandte er sich gegen Hitler, der seine Legalität betone, während er gleichzeitig seine Leute „zu sinnlosem Bruderkampf und zu außenpolitischen Torheiten" auffordere. Mißerfolge Brünings in der Reparations- und

Abrüstungsfrage

Ein Gutachten der Internationalen Bank in Basel vom 23. Dezember 1931, das die Verschärfung der Weltkrise, die deutschen Anstrengungen zu ihrer Uberwindung, die Zahlungsunfähigkeit Deutschlands und die Notwendigkeit einer schnellen Hilfe feststellte, brachte die Diskussion zwischen den Mächten über Reparationen und Kriegsschulden erneut in Gang. Brünings Erklärung gegenüber dem englischen Botschafter in Berlin erschien schon am folgenden Tag, dem 9. Januar 1932, durch eine Indiskretion in der Presse: Deutschland sei weder jetzt noch in Zukunft in der Lage, Reparationen zu zahlen, die deutsche Delegation müsse auf der für Ende Januar angesetzten Konferenz von Lausanne auf die gesamte Abschaffung der Reparationen dringen. Deshalb lehnte Brüning am 19. Januar auch eine Verlängerung des Hoovermoratoriums um ein Jahr ab; England hatte sie als Ausweg vorgeschlagen, weil die französische Regierung sich sofort gegen eine Aufhebung des Youngplans aussprach und verlangte, nach Uberwindung der Krise müsse Deutschland die festgesetzten Zahlungen wieder aufnehmen. England teilte den deutschen Standpunkt, Premierminister Macdonald forderte „völlige Streichung der Schulden und Tribute", dieser Irrtum müsse aus der Geschichte Europas ausgewischt werden; und der Führer der Arbeiteropposition sagte im Unterhaus: „Die Welt weiß, daß der Tag der Reparationen vorüber ist . . . Man kann nicht versuchen, die deutsche Nation zu ruinieren, ohne uns selbst gleichzeitig zu ruinieren." Die Vereinigten Staaten erklärten die Kopplung der Frage der Kriegsschulden und der Reparationen für unzulässig, denn die Kriegsschulden seien gemacht, noch ehe es Reparationen gegeben habe. Die Konferenz mußte bis zum Juni verschoben werden, um inzwischen eine Annäherung besonders des französischen und des englischen Standpunktes zu erreichen. Diese Verzögerung bedeutete für Brünings Innenpolitik einen schweren Schlag. Als dann am 16. Juni 1932 die Reparationskonferenz begann, war Brüning schon gestürzt (S. 651) und sein Nachfolger Papen buchte den Erfolg für sich. Ebensowenig begünstigte das Glück Brüning auf der am 2. Februar beginnenden internationalen Genfer Abrüstungskonferenz, an der er persönlich nur bis 638

Zweite Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten

zum 10. Februar teilnehmen konnte, weil die innerpolitische Lage dringend seine Anwesenheit in Berlin erforderte. Bei der Eröffnungsrede sagte der Konferenzvorsitzende Henderson: „Die Welt braucht Abrüstung. Die Welt will Abrüstung. Es liegt in unserer Macht, die Geschichte der Zukunft formen zu helfen." Große nationale Rüstungen seien immer eine Bedrohung des Friedens und der Sicherheit, die Menschheit erwarte, daß die Konferenz sie davon befreie. Die Franzosen suchten vor allem Sicherheit gegen die Bedrohung durch das volkreichere Deutschland und schlugen eine Völkerbundsarmee vor. Der Vertreter der Vereinigten Staaten hielt „die gegenwärtigen Ausgaben der Welt für Rüstungszwecke für unnötig und unentschuldbar", sie bedeuteten wirtschaftlichen Niedergang und Bedrohung des Weltfriedens, sie wären ein Versagen der Staatsmänner, dem die Weltvölker nicht mehr länger zusehen könnten. Brüning betonte, Deutschland habe nach der eigenen Entwaffnung einen „rechtlichen und moralischen Anspruch" auf die „allgemeine Abrüstung auf dem Boden der Gleichberechtigung und auf der Grundlage gleicher Sicherheit für alle Völker". Von den verschiedensten Seiten wurde eine Reihe von Entwürfen vorgelegt und diskutiert, ohne daß ein Ergebnis erzielt wurde; so vertagte sidi am 24. Februar die Konferenz und überwies die weiteren Verhandlungen einem Ausschuß. Während der zweiten Aprilhälfte, als sich in Berlin das Netz um ihn schon zusammenzog, versuchte Brüning in Genf doch noch einen außenpolitischen Erfolg zu erzielen. Er schlug Macdonald, dem italienischen Außenminister Grandi und dem amerikanischen Staatssekretär Stimson zur Wiederherstellung der Gleichberechtigung Deutschlands in Rüstungsfragen die Aufhebung der beschränkenden Bestimmungen des Versailler Vertrages und ihren Ersatz durch neue Konventionen vor. Die drei Mächte waren damit einverstanden und baten den französischen Ministerpräsidenten Tardieu telephonisch nach Genf; dieser verschob jedoch wegen der bevorstehenden Kammerwahl sein Kommen, und so kehrte Brüning nach Berlin mit neuen Hoffnungen, aber ohne einen innenpolitisch verwertbaren Erfolg zurück. Die beiden klar ausgesprochenen Forderungen Brünings, Ende der Reparationen und Gleichberechtigung in der Abrüstung, entsprachen so sehr den Hauptpunkten der rechtsoppositionellen Agitation, daß dieser der Kampf gegen das „System" außerordentlich erschwert worden wäre, hätte Brüning hier nicht bloß Zukunftshoffnungen, sondern konkrete Erfolge aufweisen können. Die Verzögerung der internationalen Entscheidungen und das weitere Ansteigen der Wirtschaftskrise schwächten Brünings Stellung schon bei der wichtigen Frage der im April 1932 fälligen Neuwahl des Reichspräsidenten, die bereits seit Monaten die maßgebenden Politiker beschäftigte.

Zweite Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten Hindenburg stand im 85. Lebensjahr, war noch sehr rüstig, auch geistig im allgemeinen noch vollkommen klar, aber der ganzen Politik herzlich müde, die

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Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings ihn zwang, die große Verantwortung für die Notverordnungen zu tragen, unterstützt von der Linken und dem Zentrum, bekämpft von einem großen Teil der alten Konservativen, seinen eigentlichen Gesinnungsgenossen. Darauf beruht audi seine allmähliche Abkehr von Brüning; er wurde für den Reichspräsidenten der Mann, der ihn in diese ihm innerlich widerstrebende Lage gebracht hat. Führende Politiker waren sich darin einig, daß in dieser aufgeregten Zeit ein Wahlkampf vermieden werden sollte. Brüning suchte deshalb den Reichstag für eine Verlängerung der Amtszeit Hindenburgs um zwei Jahre zu gewinnen, eine im Hinblick auf dessen Alter und auf die erhoffte Uberwindung der Wirtschaftskrise naheliegende Lösung. Uber die Einbringung des hierzu erforderlichen Gesetzes verhandelte Brüning zunächst mit den Mittelparteien, die sich sofort damit einverstanden erklärten; da aber das Gesetz verfassungsändernd war, mußte eine Zweidrittelmehrheit gefunden werden, und so begannen Anfang Januar 1932 die Verhandlungen mit Hugenberg und Hitler. Obwohl beide in verschiedenen Einzelunterredungen mit Groener, Schleicher, Meißner und Brüning ihre Verehrung für Hindenburg betonten, verweigerten Hugenberg wie Hitler am 12. Januar ihre Zustimmung zu der parlamentarischen Verlängerung der Amtszeit, denn sie würde, wie Hugenberg in einem offenen Brief schrieb, „weniger als eine Vertrauenskundgebung für den Herrn Reichspräsidenten als für die von uns bekämpfte Politik und insbesondere Außenpolitik der jetzigen Reichsregierung wirken". Hitler ließ am 16. Januar durch Göring dem Reichskanzler eine Denkschrift überreichen, in der er staats- und verfassungsrechtliche Bedenken gegen Brünings Vorschlag äußerte und gegen Brüning sowie das System, „dessen Vernichtung die Lebensvoraussetzung der deutschen Nation sei", polemisierte. Diese Berufung auf die Weimarer Verfassung, das von der Opposition geschmähte „System", und im Anschluß daran die Forderung seiner Vernichtung sind so recht bezeichnend für Hitlers Mentalität. In einer Unterredung mit Meißner machte Hitler seine Unterstützung der Wahl Hindenburgs von der Entlassung Brünings sowie von Neuwahlen des Reichstags und des preußischen Landtags abhängig, er drohte mit seiner 'Gegenkandidatur, falls Hindenburg weiterhin der „Kandidat des Linksblocks" bleibe. Hindenburg lehnte jedes Zugeständnis an Hitler ab; übrigens war dieser noch keineswegs fest entschlossen, sich zur Wahl aufstellen zu lassen, auch traten innerhalb der NSDAP Gregor Strasser und sein Anhang für Brünings Vorschlag ein, weil sie von der wahrscheinlichen Wahlniederlage Hitlers einen gefährlichen Rückschlag für die Partei befürchteten. Dagegen setzten sich Röhm und Goebbels unbedingt für Hitlers Kandidatur ein. „Hauptsache ist, daß wir stark bleiben und keine Kompromisse schließen", schrieb Goebbels am 7. Januar in sein Tagebuch und am 14. Januar: „Brüning muß nun mit allen Mitteln gestürzt werden. Er steht dem deutschen Aufbrudi im Wege. Erst wenn er weg ist, gibt es Luft." Dieses negative Eingeständnis von Brünings Bedeutung ist immerhin von Wert. Der Plan, Hindenburgs Amtszeit durch den Reichstag verlängern zu lassen, scheiterte an der Absage Hugenbergs und Hitlers, und damit mußte Brüning auch seine weitergehenden Pläne aufgeben: eine Reichs verweserschaft Hindenburgs

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Zweite Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten auf Lebenszeit und nach dessen Tod auf legalem Wege die Einführung der konstitutionellen Monarchie mit einem Kronprinzensohn an der Spitze. Brüning rechnete, die Linke würde zusagen, um eine nationalsozialistische Diktatur zu verhindern, und Hugenberg, weil er sich nicht gegen eine Hohenzollernmonarchie erklären könne. Hindenburg jedoch ging nicht darauf ein, er wünschte die Rückkehr Wilhelms II. Der Feldmarschall ist, wie viele seiner Äußerungen zeigen, innerlich nie über seine Haltung in den entscheidenden Stunden des 9. Novembers 1918 weggekommen. Die Wiedereinsetzung Wilhelms II. als Kaiser wäre für Hindenburg die Sühne gewesen. Aber eine Rückkehr Wilhelms II. wie auch des Kronprinzen hätten weder die Linke noch der größte Teil der Monarchisten geduldet. Außer Hindenburg versagten auch die Führer der Reichswehr Brünings Plan ihre Zustimmung; sie zweifelten, ob die Monarchie sich auf legalem Weg, durch einen Volksentscheid, verwirklichen ließe, einen anderen Weg lehnten sie ebenso wie Brüning von vornherein ab. Hindenburg willigte sehr ungern in seine zweite Kandidatur; seine Verstimmung gegen Brüning steigerte sich, weil diesem die Vermeidung eines Wahlkampfes nicht gelungen war. Erst der Appell an sein Pflichtbewußtsein — nur auf seinen Namen könne sich das deutsche Volk einigen — vermochte Hindenburg umzustimmen. Er litt unter dem Gedanken, der Kandidat des schwarz-rot-goldenen Blocks zu sein, der 1925 seine Wahl bekämpft hatte, während die Rechte, seine damaligen Wähler, diesmal gegen ihn stand. Seine loyale Amtsführung hatte ihm das Vertrauen der Sozialdemokraten und des Zentrums gewonnen, seine Regierung mit Hilfe auch der Sozialdemokraten und die Unterzeichnung des Youngplans ihm die Deutschnationalen und den Stahlhelm zu Feinden gemacht. Für die NSDAP war Hindenburg nur eine Schachfigur, die man bei dem Kampf um die Macht einmal so, einmal anders einsetzen konnte. Die nicht im Lager Hugenbergs stehenden Konservativen, die Konservative Volkspartei, gründeten Anfang Februar unter Führung des Berliner Oberbürgermeisters Sahm und des Grafen Westarp im ganzen Reich überparteiliche Hindenburgausschüsse, die in flammenden Aufrufen zur Einzeichnung in Listen aufforderten und für Hindenburg als Sinnbild der Volksgemeinschaft und als Führer in die Freiheit warben; bis zum 13. Februar trugen sich drei Millionen Wähler in die Listen ein. Dies erleichterte Hindenburg seine offizielle Zusage vom 16. Februar; in allen seinen Reden zur Wahl, so auch in seiner Rundfunkansprache vom 10. März, betonte er immer wieder, daß er die Kandidatur nur auf der Grundlage vollster Uberparteilichkeit übernehme und den Parteien gegenüber keinerlei Bindungen eingegangen sei: „So werde ich, wenn ich nochmals gewählt werden sollte, nur Gott, meinem Gewissen und dem Vaterlande verpflichtet sein und als Treuhänder des ganzen deutschen Volkes meines Amtes walten können." Die Harzburger Front stimmte nur darin überein, daß sie Hindenburg nicht wählen wollte, konnte sich jedoch nicht auf einen gemeinsamen Kandidaten einigen. Hitlers Name war der einzige, der für breite Massen Zugkraft hatte, aber weder die Deutschnationalen noch die Stahlhelmer wollten sich für ihn einsetzen, besonders, weil Hitler nach erfolgreicher Wahl für seine Partei das Kanzleramt, 641 41 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings das Außen-, das Innen- und das Reichswehrministerium beanspruchte und Hugenberg nur das Finanzministerium überlassen wollte. Während all dieser Verhandlungen schwankte Hider noch immer, ob er sich zur Wahl stellen solle. Erst am 12. Februar schrieb Goebbels in sein Tagebuch: „Ich kalkuliere mit dem Führer im Kaiserhof noch einmal alle Zahlen durch. Es ist ein Risiko, aber es muß gewagt werden. Die Entscheidung ist nun gefallen." Hitler war indes noch Staatenloser, besaß also weder das aktive noch das passive Wahlrecht. Bereits 1930 hatte Frick als thüringischer Innenminister Hitler angeboten, ihm durch Ernennung zum Gendarmeriekommissar von Hildburghausen die deutsche Staatsangehörigkeit zu verschaffen, was Hitler freilich nicht reputierlich genug war. Der Nationalsozialist Dietrich Klagges, seit Mitte September 1931 braunschweigischer Innenminister, ernannte am 25. Februar 1932 Hitler zum Regierungsrat. Damit wurde Hitler deutscher Staatsbürger, am nächsten Tag legte er den Eid auf die Weimarer Verfassung ab. Schon vier Tage zuvor hatte Goebbels am Schluß einer Rede im Berliner Sportpalast verkündet: „Hitler wird unser Reichspräsident! Ich weiß, Ihr seid Euch der Größe der Stunde bewußt, wenn ich sage: .Hitler wird unser Reichspräsident und nicht vorausschicke unser Kandidat; denn wenn ich sage, er wird unser Kandidat, dann weiß ich auch, daß er unser Reichspräsident wird.' Fast zehn Minuten tobte daraufhin der Begeisterungssturm. Wilde Kundgebungen für den Führer. Die Menschen lachen und weinen durcheinander", so schildert Goebbels in seinem Tagebuch die Wirkimg seiner Ankündigung. Den Wahlkampf wollte er „zu einem Meisterwerk der Propaganda" machen. Die anfangs knappen Geldmittel flössen später reichlich. Auf Veranlassung Thyssens hatte Hider am 27. Januar 1932 eine zweieinhalbstündige Rede vor westdeutschen Großindustriellen gehalten und sie für sich gewonnen, weil er die auf persönlicher Leistung beruhende Privatwirtschaft pries, mit den Gefahren des Bolschewismus drohte und die Ausrottung des Marxismus versprach; die Voraussetzung für eine blühende Wirtschaft sei ein starker Staat; die NSDAP, für deren Ideale jeden Tag Hunderttausende von SA- und SS-Männem kämpfen, werde ihn schaffen. Von da ab konnte Hitler auf die Unterstützung eines großen Teiles der Industrie, audi durch Geldspenden, rechnen. Am 23. Februar 1932 erließ der „schwarz-weiß-rote Kampfblodc" — die Deutschnationalen, der Stahlhelm und die Vaterländischen Verbände — einen Aufruf für den von ihm aufgestellten Kandidaten, den zweiten Stahlhelmführer Theodor Duesterberg. Hindenburg, der Ehrenpräsident des Stahlhelm, empfand dies sehr bitter, besonders weil viele alte Kameraden und persönliche Freunde darunter waren und er oft seine schützende Hand über den Stahlhelm gehalten hatte; mit ihm zu brechen, brachte indes Hindenburg auch jetzt nicht über sich, vielmehr verstärkte sich bei ihm das Gefühl, durch Brünings Politik in eine verkehrte Richtung gedrängt zu werden. Die Kommunisten stellten wieder Thälmann als Kandidaten auf, dazu kam als fünfter Gustav Winter, der durch Währungsprojekte die Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. Am 23. Februar trat der Reichstag zusammen, um den Termin für die Wahl zu bestimmen. Die Sitzungen verliefen äußerst stürmisch. Die Debatte eröffnete 642

Zweite Wahl Hindenburgs zum Reichspräsidenten Goebbels; er warf Hindenburg vor, seine Wähler von 1925 im Stich gelassen zu haben, ihn lobe die Berliner Asphaltpresse und die Partei der Deserteure, wobei er auf die Sozialdemokraten deutete. Daraufhin wurde Goebbels unter dem Protest der Nationalsozialisten von der Sitzung ausgeschlossen. Der schwer kriegsverletzte sozialdemokratische Abgeordnete Dr. Kurt Schumacher wandte sich gegen die Ausführungen von Goebbels: „Die ganze nationalsozialistische Agitation ist ein dauernder Appell an den inneren Schweinehund im Menschen. Wenn wir irgend etwas bei den Nationalsozialisten anerkennen, dann dies, daß ihnen zum ersten Mal in der deutschen Politik die restlose Mobilisierung der Dummheit gelungen ist." In dieser Weise verliefen die vier Sitzungstage: Tumulte, Ordnungsrufe, Auszug der Nationalsozialisten, denen meist die Deutschnationalen folgten, Wiedereinzug, erneute Tumulte; immer wieder wurden die Redner durch lärmende Zwischenrufe gestört, wurde die Person Hindenburgs in die Debatte gezogen, angegriffen und verteidigt. Alle Parteien nahmen für oder gegen die Regierungspolitik Stellung. Die Linke protestierte gegen Groeners Erlaß vom 29. Januar 1932 „über die Wehrverbände und die Richtlinien bei der Einstellung in die Wehrmacht". Groener hatte, wahrscheinlich auf Veranlassung von Schleicher, die Bestimmungen über die Aufnahme von Angehörigen politischer Parteien in die Reichswehr wesentlich gelockert, nachdem schon durch einen Geheimerlaß vom 2. Januar die Erlasse vom 16. Juli 1929 und vom 10. April 1930 aufgehoben worden waren; diese hatten den Arbeitnehmern der Heeresverwaltung die Zugehörigkeit zur NSDAP und allen Angehörigen der Reichswehr die Teilnahme an nationalsozialistischen Veranstaltungen verboten. Nach dem neuen Erlaß durfte nur in die Reichswehr nicht aufgenommen werden, wer direkt zum gewaltsamen Sturz der Verfassung auffordere, den Reichspräsidenten verunglimpfe oder Pazifist sei; die Aufnahme von nicht derart belasteten Nationalsozialisten in die Reichswehr rechtfertigte Groener mit Hitlers Legalitätserklärungen und seinem Versprechen, jede Zersetzung der Reichswehr zu unterlassen; die überparteiliche und unpolitische Haltung der Reichswehr werde unverändert beibehalten, dafür seien in den Erlaß genügend Sicherungen eingebaut. Brüning hielt am 25. Februar 1932 über seine Außen- und Innenpolitik eine sachlich vorzügliche Rede, die am Abend im Rundfunk mit Schallplatten übertragen wurde; sie richtete sich aufs schärfste gegen die Nationalsozialisten sowie die negative Opposition der Rechten und Schloß: „Von der Wiederwahl des Reichspräsidenten von Hindenburg hängt es ab, ob die Welt glaubt, daß im deutschen Volk noch Ehrfurcht und Achtung vor der Geschichte und der geschichtlichen Person besteht." Brausender, langanhaltender Beifall der Mehrheit des Reichstags folgte der Rede Brünings. Nach Beendigung der großen Aussprache wurden als Wahltermine der 13. März und für den vermutlich notwendigen zweiten Wahlgang der 10. April bestimmt. Eine ganze Reihe von Mißtrauensanträgen gegen die Regierung im allgemeinen, gegen Groener und Reichsfinanzminister Dietrich im besonderen verfielen der Ablehnung, ebenso einige kommunistische und nationalsozialistische Anträge. Da die Nationalsozialisten daraufhin wieder einmal den Sitzungssaal verließen, gingen zwei kommunistische Anträge, 643 41·

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings für die auch ein Teil der Sozialdemokraten stimmte, durch: die Sperrung der Polizeikostenzuschüsse für Braunschweig und die Aufhebung des Reichswehrerlasses vom 29. Januar 1932. Das Haus vertagte sich dann auf unbestimmte Zeit. Für den eigentlichen Wahlkampf blieben nur knapp drei Wochen. Brüning, die Mittelparteien und die Sozialdemokraten warben mit großem Eifer für Hindenburg und warnten vor Hitler. Die Nationalsozialisten entfalteten eine ungeheure Propaganda mit massenhaften Plakaten und Versammlungen, zu denen Hitler und die sonstigen besten Redner der Partei rastlos durch ganz Deutschland fuhren. In der Wahl vom 13. März erhielten Winter 111 500 Stimmen, Duesterberg 2,5 Millionen, Thälmann fast 5 Millionen, Hitler 11,3 und Hindenburg 18,6 Millionen, damit fehlten ihm nur etwa 169 000 Stimmen für die erforderlichen 50%, wodurch ein zweiter Wahlgang notwendig wurde. Goebbels schrieb unter dem 13. März in sein Tagebuch: „Unsere Parteigenossenschaft ist auf das tiefste deprimiert und mutlos . . . Um 2 Uhr nachts ist der Traum von der Macht vorläufig ausgeträumt", aber schon am 15. März: „Der Führer kandidiert selbstverständlich auch im zweiten Wahlgang. Wir werden mit einer Verwegenheit ohnegleichen kämpfen." Der Reichspräsident verkürzte die Zeit für den Wahlkampf durch die Verkündigung eines Burgfriedens für die Osterzeit vom 20. März bis 3. April auf etwa eine Woche. Hitler reiste in einem Flugzeug von Stadt zu Stadt. Der schwarz-weißrote Block zog die Kandidatur Duesterbergs zurück und wollte den deutschen Kronprinzen dafür gewinnen, zu dessen Gunsten Hindenburg und Hitler zurücktreten sollten. Wie weit diese Pläne gediehen sind, ist nicht recht klar, jedenfalls waren dann weder Hindenburg noch Hitler bereit, auf ihre Kandidatur zu verzichten. Der Kaiser verbot von Doorn aus, angeblich auf Betreiben seiner zweiten Frau, der Kaiserin Hermine, dem Kronprinzen die Annahme der Kandidatur, und Kronprinz Wilhelm selbst trat kurz darauf öffentlich für die Wahl Hitlers im Interesse einer geschlossenen nationalen Front ein. Der Reichslandbund und die Vaterländischen Verbände erklärten sich für Hitler, Hugenberg und der Stahlhelm stellten ihren Anhängern die Entscheidung frei. Im zweiten Wahlgang, am 10. April, erhielt Hindenburg 19,3 Millionen Stimmen (53%), Hitler 13,4 (36,8%) und Thälmann 3,7 (10,2%). Hindenburg hatte also eine klare Mehrheit gewonnen. Für Hitler betrug der Stimmenzuwachs freilich 2 Millionen, der für Hindenburg nur 700 000, die Kommunisten hatten 1,2 Millionen Stimmen verloren, die Wahlbeteiligung war um etwa 1,2 Millionen gültiger Stimmen geringer als bei der ersten Wahl. Die Sozialdemokraten, die Mitte, besonders die Katholiken, und ein Teil der Konservativen hatten Hindenburg ihr Vertrauen bezeugt, er sollte weiterhin eine loyale Stütze der Weimarer Republik und ihres Kanzlers Brüning sein, aber der Wahlkampf hatte Hindenburg im tiefsten Herzen gekränkt und ihn noch geneigter gemacht, den Einflüssen seiner Umgebung, besonders Schleichers, nachzugeben, die auf Ausschaltung Brünings und eine eindeutig rechts gerichtete Präsidialregierung, gestützt auf die Person Hindenburgs und die Reichswehr, abzielten. Nach der Wahl bot Brüning, wie üblich, dem Reichspräsidenten den Rüdetritt des Kabinetts an. Obwohl Hindenburg seine Wahl zum größten Teil Brüning verdankte, empfing er ihn sehr kühl, 644

Ringen um SA und SS ersuchte ihn zwar, im Amte zu bleiben, soll aber dabei schon eine kommende Rechtsregierung angedeutet haben. Eines jedoch bewies die Wahl offensichtlich: die Gefahr einer kommunistischen Machtergreifung bestand nicht, und Hitlers in bürgerlichen Kreisen sehr erfolgreiche Agitation, die NSDAP rette Deutschland vor dem Bolschewismus, war eine glatte Lüge. Alle demokratischen Kreise erkannten jetzt klar die Gefahr, die von dem Nationalsozialismus drohte.

Das Ringen um die SA und SS Die SA, von Röhm auf etwa 400 000 Mann verstärkt, und die SS, Schutzstaffel, 1925 aus Hitlers Leibwache hervorgegangen, seit 1929 von Heinrich Himmler zu einem Elitekorps ausgebildet, waren offiziell nur ein unbewaffneter Saalschutz. Von der Reichswehr wurden sie teils mit Mißtrauen betrachtet, teils in die Berechnung einbezogen, die Wehrverbände notfalls zum Grenzschutz im Osten einzusetzen und mit ihnen die Erweiterung der Reichswehr über die 100 000 Mann hinaus durchzuführen, wenn dies die internationale Lage gestatte. Schleicher stand mit Röhm dauernd in Verbindung, um „die militärähnlichen Organisationen in einem von Reichs wegen zu gründenden und unter Reichsaufsicht stehenden großen allgemeinen Wehrsportverband unschädlich zu machen". Die preußische Regierung führte am 17. März eine Reihe von Haussuchungen in nationalsozialistischen Geschäftsstellen durch, wobei schwer belastendes Material über Putschabsichten bei einem Wahlerfolg Hitlers zutage kam, außerdem eine Weisung für die SA im polnischen Grenzgebiet, sich im Notfall nicht an Verteidigungsmaßnahmen zu beteiligen, sie solle nicht für das „System" geopfert werden. Preußen verlangte daraufhin ein energisches Vorgehen gegen die SA; die Länder Bayern, Sachsen, Württemberg, Baden und Hessen schlossen sich an, da sie ähnliche Erfahrungen gemacht hatten. Groener, der zugleich Reichswehr- und Reichsinnenminister war, hatte schon lange mit Schleicher und den Generalen ein Verbot der SA und SS erörtert, es aber immer wieder hinausgeschoben. Ein selbständiges Vorgehen der einzelnen Länder hätte die Autorität und Stärke der Reidisregierung in zweifelhaftem Licht erscheinen lassen; um dies zu verhindern, kündigte Groener den zu einer Besprechung bei ihm versammelten Ländervertretern am 5. April die Auflösung der SA und SS für die Woche nach der Reichspräsidentenwahl an. Schleicher, der zuerst zugestimmt hatte, schwenkte am 9. April um, auch Oskar von Hindenburg war gegen das Verbot, weil es seinen Vater bei der Rechten noch mißliebiger machen würde. Am 10. April schrieb General Groener an Brüning: „Die Ereignisse der letzten Woche lassen keinen Zweifel mehr, daß der psychologische Augenblick zur Auflösung der militärähnlichen Organisationen der NSDAP gekommen ist. Unsere bisherige Absicht, diese Organisationen in einem . . . Wehrsportverband unschädlich zu machen, muß angesichts der gesteigerten politischen Spannung vorläufig zurückgestellt werden." Die entschlossene Haltung Brünings und Groeners konnte am 12. April den schwankend gewordenen Reichspräsidenten bewegen, die „Notverordnung zur 645

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings Sicherung der Staatsautorität" zu unterzeichnen, die am folgenden Tag veröffentlicht wurde: „Sämtliche militärähnliche Organisationen der Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, insbesondere die Sturmabteilungen (SA), die Schutzstaffel (SS) mit allen dazugehörigen Stäben und sonstigen Einrichtungen einschließlich der SA-Beobachter, SA-Reserven, Motorstürme, Marinestürme, Reiterstürme, des Nationalsozialistischen Fliegerkorps und des Nationalsozialistischen Sanitätskorps werden mit sofortiger Wirkung für das Reichsgebiet aufgelöst" (§ 1). In dem amtlichen Kommuniqué heißt es zur Begründung: „Diese Organisationen sind eine Art Privatarmee, die einen Staat im Staate bildet, eine ständige Quelle der Beunruhigung für die Zivilbevölkerung . . . Es ist ausschließlich Sache des Staates, organisierte Streitkräfte zu unterhalten. Die Duldung solcher Organisationen führt unvermeidlich zu Zusammenstößen und schafft Verhältnisse, die vom Bürgerkrieg nicht weit entfernt sind." Hitler war klug genug, sich scheinbar zu fügen. Er beteuerte weiterhin seine Loyalität, die SA sei bloß vorsorglich zur Verhütung von Unruhen zusammengezogen worden. In Wirklichkeit bestand die SA weiter, nur daß sie sich jetzt auf der Straße nicht mehr im Braunhemd zeigte und ihre Angehörigen einfach als Parteimitglieder eingetragen waren; die Wut der über das SA-Verbot empörten Parteigenossen benutzte Hitler, sie noch mehr zu fanatisieren. Schleichers Abrücken von Groener und Brüning wird seit dem SA-Verbot deutlicher erkennbar. Ob Schleicher, wie einige seiner Mitarbeiter aussagen, den Minister und den Reichskanzler bei Hindenburg nur nicht mehr unterstützte, oder ob er gegen beide aktiv gearbeitet hat, läßt sich nach dem bis jetzt vorliegenden Quellenmaterial noch nicht endgültig entscheiden. Bei dem ganzen Intrigenspiel, das in den kommenden Wochen zum Sturz Groeners und Brünings führte, stehen sich die Avissagen der aktiv und passiv Beteiligten vielfach unvereinbar gegenüber; Meißner und Oskar von Hindenburg, Schleicher und General Kurt von Hammerstein-Equord, seit 1930 Chef der Heeresleitung, Hugenberg, Hitler und die Rechtsopposition — sie alle arbeiteten für ihre besonderen Interessen gegen die letzten Hüter der demokratischen Republik. Schleicher und Hammerstein hielten das Verbot der nationalsozialistischen Wehrorganisationen für unvereinbar mit den Bestrebungen der Reichswehr; Schleicher legte dem Reichspräsidenten Material gegen die „Eiserne republikanische Front zur Abwehr des Faschismus" vor, in der Mitte Dezember 1931 das Reichsbanner Schwarz-Rot-Gold, Arbeitersportvereine und andere republikanisch gesinnte Verbände sich zusammengeschlossen hatten. Hindenburg forderte am 15. April 1932 in einem entgegen den Gepflogenheiten sofort in der Presse veröffentlichten Brief an Groener, zur Wahrung der Uberparteilichkeit das Verbot der Wehrorganisationen anderer Parteien, also vor allem des Reichsbanners. Groener weigerte sich entschieden, da der Zweck des Reichsbanners der Schutz der Weimarer Verfassung sei. Einen Tag zuvor hatte die Bundesleitung des Reichsbanners durch Rundschreiben an die Gauvorstände einen Abbau der wegen der nationalsozialistischen Angriffsvorbereitungen erhöhten Alarmbereitschaft angeordnet. Groener handelte als Reichsinnenminister durchaus richtig, geriet aber damit in Gegensatz zu der Reichswehr, 646

Weiteres Vordringen der NSDAP. Abschluß von Brünings Sozialprogramm die an ihrem Plan festhielt, die wehrpolitisch wertvollen Ideen und Elemente der SA und des Stahlhelm unter die Kontrolle der überparteilichen Reichswehr zu bringen, ehe eine maditpolitische Auseinandersetzung mit der Rechtsopposition erfolge. Die Leitung der Reichswehr empfand das Verbot der SA als einseitige Maßnahme gegen rechts und gewissermaßen als Bezahlung des Reichspräsidenten für die ihm von den Sozialdemokraten geleistete Wahlhilfe. Auch der deutsche Kronprinz mischte sich mit einem Brief an Groener vom 14. April wieder in die Politik: „Es ist mir unverständlich, wie gerade Sie als Reichswehrminister das wunderbare Menschenmaterial, das in der SA und SS vereinigt ist, und das dort eine wertvolle Erziehung genießt, zerschlagen helfen, wo doch die außenpolitischen Zustände . . . uns jeden Augenblidc zu einem Konflikt mit Polen führen können"; über den negativen Wert des Reichsbanners seien er und die meisten Reichswehroffiziere sich völlig klar, im Ernstfälle werde man noch erhebliche Teile der Reichswehr einsetzen müssen, um diese Elemente von Sabotageakten abzuhalten. Für die völlige Verkennung der NSDAP, ihres Führers und ihrer Ziele in rechtsgerichteten Kreisen ist dieser Brief des Kronprinzen besonders bezeichnend. Groener antwortete sehr deutlich: „Ich gebe gern zu, daß viele ideal gesinnte junge Leute aus reiner Vaterlandsliebe der SA beigetreten sind. Es kann aber auch nach den vorliegenden Akten und Berichten kein Zweifel bestehen, daß erhebliche Teile der SA und SS bis in die jüngste Zeit in kommunistischen Organisationen tätig gewesen sind. Das Ziel dieser Leute ist und bleibt der Bolschewismus, mag auch das Vorzeichen gewechselt sein und mögen sie sich auch in einen nationalen Mantel eingehüllt haben."

Weiteres Vordringen der NSDAP. Abschluß von Brünings

Sozialprogramm

Inzwischen hatten am 24. April 1932 in sechs Ländern Landtagswahlen stattgefunden, bei denen die Nationalsozialisten am erfolgreichsten waren. Sie erhielten in Preußen 162 Sitze (bisher 9), in Bayern 43 (9), in Württemberg 23 (1), in Hamburg 51 (43), in Anhalt 15 (1); nur in den bayrischen Landtag zogen die Nationalsozialisten nicht als stärkste Partei ein, immerhin blieben sie nur um 2 Sitze hinter der Bayrischen Volkspartei zurück. Die Regierung in einem der größeren dieser Länder errang die NSDAP durch ihre Wahlerfolge freilich nicht, denn die absolute Mehrheit hatte sie in keinem Lande gewonnen, und die Versuche zur Bildung von Koalitionsbündnissen unter nationalsozialistischer Führung scheiterten. Der Ausfall der Landtagswahlen berechtigte die NSDAP besonders in Preußen zu großen Hoffnungen. Im ganzen hatten sich vier Fünftel der wahlberechtigten Bevölkerung an den Wahlen beteiligt, drei Fünftel davon fielen auf Preußen. Von den bürgerlichen Parteien hatte hier wie auch anderwärts das Zentrum seine bisherige Stellung am besten behauptet. Die Sozialdemokraten verloren in Preußen von ihren 137 Sitzen 43, die Deutschnationalen von 71 Sitzen 40, die Deutsche Volkspartei ging von 40 auf 7 zurück, die Staatspartei (Demokraten) von 22 auf 2; die Kommunisten nahmen von 48 auf 57 zu; ihr verhältnismäßig 647

Weimarer Republik •— Kanzlerschaft Brünings geringer Gewinn bestätigte wieder die Haltlosigkeit des Propagandaschlagers der Nationalsozialisten, nur sie könnten Deutschland vor der Bolschewisierung bewahren. Überhaupt war die Leitung der NSDAP trotz der Erfolge von dem Gesamtergebnis der Wahlen nicht befriedigt, wie aus Goebbels' Bemerkung in seinem Tagebuch hervorgeht: „Jetzt muß irgend etwas geschehen. Wir müssen in absehbarer Zeit an die Macht kommen. Sonst siegen wir uns in Wahlen tot." Der Ausgang der Landtagswahlen gab den Nationalsozialisten ein gewisses Recht zu behaupten, die Zusammensetzung des Reichstags entspreche nicht mehr dem Willen des Volkes, noch aber konnte sich die Regierung Brüning auf eine demokratische Mehrheit stützen. Die sehr stürmisch verlaufenden Reichstagssitzungen vom 9.—12. Mai endeten mit der Annahme des von Finanzminister Dietrich vorgelegten Schuldentilgungsgesetzes und der Ablehnung aller Mißtrauensanträge der Opposition gegen die Regierung. Die Finanzlage des Reiches war nicht ungünstig, gestattete aber kein großzügiges Arbeitsbeschaffungsprogramm zur Behebung des entsetzlichen Elends der Arbeitslosen. Die Regierung hatte bereits ihre Pläne für Arbeitsbeschaffung, wozu auch die Ansiedlung Arbeitsloser auf überschuldeten, unrentablen Gütern im Osten gehörte, ausgearbeitet, wollte indes die Pläne nur in einem Ausmaße verwirklichen, das die Währung nicht gefährdete und eine neue Inflation verhütete. So appellierte Brüning im Reichstag wieder an die Vernunft des Volkes gegen die von Gregor Strasser entwickelten Pläne der Nationalsozialisten, in denen es hieß: nicht Kapital schafft Arbeit, sondern Arbeit schafft Kapital, „die große antikapitalistische Sehnsucht, die durch unser Volk geht, ist der Protest gegen eine entartete Wirtschaft. Diese Sehnsucht beweist, daß wir vor einer großen Zeitwende stehen, vor der Überwindung des Liberalismus, vor dem Aufkommen eines neuen Denkens und vor einer neuen Einstellung der Wirtschaft." Brüning glaubte dagegen, überzeugt von der Richtigkeit seines Weges, der zum Ende der Reparationen, zur Gleichberechtigung Deutschlands in Rüstungsfragen, zur internationalen Überwindung der Wirtschaftskrise und damit zu einer wirklichen und dauernden Prosperität Deutschlands führen werde, er sei „bei den letzten hundert Metern vor dem Ziel". Am 21. Mai gab das Reichskabinett amdich den Abschluß seines Gesamtprogramms bekannt: die endgültige Fertigstellung des Reichshaushaltsplans, die Sicherung der Arbeitslosenfürsorge und andere sozialpolitische Maßnahmen, ein Arbeitsbeschaffungsprogramm unter gleichzeitigem Ausbau des freiwilligen Arbeitsdienstes, sowie das Siedlungsprogramm im bisherigen Osthilfegebiet.

Brünings Sturz Die Ausführung seiner Pläne und die Ernte seiner außenpolitischen Arbeit blieben Brüning versagt. Die Geschichte der seinen Sturz herbeiführenden Interessen und Intrigen ist immer noch nicht völlig geklärt, Aussage der Beteiligten steht gegen Aussage und immer wieder fällt neues Licht auf die wirren Vorgänge durch die Veröffentlichung von weiteren Briefen und Memoiren. — Goebbels Tagebuch 648

Brünings Sturz ist gewiß keine zuverlässige Quelle, aber so manche seiner Eintragungen beleuchten doch die jeweilige Lage. 13. Mai: „Wir bekommen Nachricht von General Schleidier: die Krise geht programmgemäß weiter." 19. Mai: „Sendboten von General Schleicher: ,Man ist schon dabei, die Ministerliste aufzustellen'." 24. Mai: „Am Samstag schon soll Brüning auffliegen . . . Die Ministerliste steht im großen ganzen fest." In der Reichstagssitzung am 10. Mai mußte sich Groener gegen heftige Angriffe wegen des Verbotes der SA wehren. Seine Rede war an sich treffend, er nannte die SA einen Staat im Staate, einen Staat gegen den Staat. Herr Göring habe gemeint, „ohne diese SA gibt es keine Ordnung in Deutschland. Dieser These stelle ich die andere These entgegen: ohne die SA hätten wir seit Jahren bereits Ruhe und Ordnung im Staate gehabt". Darauf reagierte die Opposition mit wilden Tumultszenen, die Groeners Rede jede Wirkung nahmen; er wußte außerdem bereits, daß gegen ihn unter Führung Schleichers, den er wie einen Sohn geliebt hatte, die Reichswehr stand. Brüning wollte sich für Groener einsetzen, der bat ihn aber, es mit Rücksicht auf die außenpolitischen Fragen nicht zu einer Kabinettskrise kommen zu lassen. Groener behielt das Innenministerium, während er sein Abschiedsgesuch als Reichswehrminister noch am 12. Mai einreichte. Da Schleicher erklärte, Groener habe das Vertrauen der Reichswehr verloren, und auch Graf Westarp, der am 13. Mai zu Hindenburg berufen wurde, Groeners Rücktritt forderte, ließ der Reichspräsident ohne Zögern den Mann gehen, der sich bei den Vorgängen des 9. November 1918 und des Juni 1919 bewußt vor den Feldmarschall gestellt hatte, um dem deutschen Volk den Glauben an seinen Helden zu erhalten. Als Brüning das Reichswehrministerium Schleicher anbot, lehnte dieser ab, weil in seinem Kreis der Sturz des Kabinetts Brüning schon beschlossen war. Schleidier war zu der Überzeugung gekommen, daß seine Pläne, die Reichswehr intakt zu halten und die NSDAP durch Hereinnahme in die Verantwortung zu zähmen, mit Brüning nicht durchzuführen seien; andererseits wollte Schleicher Hitler nicht an die Macht lassen. Er hatte vielmehr Franz von Papen als neuen Reichskanzler ausersehen und ihm dies am 28. Mai in einer ersten Unterredung mitgeteilt. Ein konservatives Kabinett von Fachleuten sollte mit der bisherigen Parteiwirtschaft brechen und gestützt auf den Reichspräsidenten und die Reichswehr regieren; Hitler sagte stillschweigende Unterstützung eines Kabinetts Papen zu, nachdem Schleicher die Aufhebung des Verbots der SA und Reichstagsneuwahlen versprochen hatte. Hindenburg hielt sich vom Abend des 12. Mai bis zum 28. Mai in Neudeck auf. Hier war er jedem anderen Einfluß als dem seiner Freunde und Standesgenossen entzogen. In den Kreisen der ostelbischen Grundbesitzer herrschte schon lange Erbitterung über die schlechte Wirtschaftslage der Landwirtschaft, die angeblich ungenügenden Hilfsaktionen des Reiches und vor allem über einen auf ungeklärte Weise in ihre Hände gefallenen Vorentwurf eines Siedlungsgesetzes, der die Aufteilung unrettbar überschuldeter und unrentabler Güter zu Bauernhöfen, im Notfall auch durch Zwangsversteigerung, vorsah. Nun hatten Preußen wie dann auch das Reich erhebliche Mittel für

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Weimarer Republik — Kanzlerschaft Brünings die Sanierung ostpreußischer Güter bewilligt, der Ostkommissar Schlange-Sdiöningen, selbst konservativer Gutsbesitzer, seit 1931 viele Güter durch Entschuldung und Umschuldung gerettet, und die Sozialdemokratie in Anerkennung der tatsächlichen Notlage dafür gestimmt; andererseits war der Siedlungsgedanke durchaus gesund, sowohl vom sozialen Standpunkt aus, um geeigneten Arbeitslosen eine gesicherte Existenz zu schaffen, als auch vom nationalen, denn freie Bauern an der polnischen Grenze bildeten in den menschenarmen Gegenden einen besseren Schutz als große Güter. Die Vorwürfe seitens der Linken über Schiebungen und Korruption bei der Verteilung der Mittel und Schilderungen, wie die „Junker" mit den Staatsgeldern ein gutes Leben führten, anstatt ihre Wirtschaft zu sanieren, sind stark übertrieben; wirklich beweisen läßt sich nur der Fall des Osthilfekommissars von Pommern, Jürgen von Dewitz, in welchen auch Hindenburgs Verwandtschaft hineingezogen war. Die Großgrundbesitzer fühlten sich durch die Siedlungspolitik, die sie „Agrarbolschewismus" nannten, bedroht, sie fürchteten, daß die Aktion weitere Ausmaße annehmen und letzten Endes auch den politischen Einfluß der „Junker" treffen sollte. Der Gesetzentwurf, der die agrarischen Kreise so sehr erregte, war indes nur die Vorarbeit eines Referenten und hatte weder den zuständigen Ministerien noch Brüning vorgelegen. In Unkenntnis dieser Sachlage wandte sich der Direktor der Ostpreußischen Landgesellschaft, Freiherr Wilhelm von Gayl, direkt an Hindenburg in einem Brief vom 24. Mai, in dem er ihn auf die Beunruhigung weiter Kreise des Ostens aufmerksam machte und bat, die Verordnung einer besonderen Prüfung zu unterziehen. Wie weit noch andere Großgrundbesitzer Hindenburg durch direkte persönliche Fühlungnahme gegen diesen angeblich Brüningschen Plan und die Person des Reichskanzlers beeinflußten, läßt sich bei den einander widersprechenden Angaben der Beteiligten noch nicht einwandfrei feststellen; Meißners Aussage belastet diese Kreise schwer, Papen dementiert entschieden; sicher ist jedenfalls Hindenburgs Abkehr von Brüning maßgeblich auch durch die großagrarische Interessenpolitik bestimmt worden, wozu dann noch Schleichers Aktion und das Streben Hugenbergs nach einer reinen Regierung der Rechten hinzukamen. Von drei Richtungen her, von Schleicher mit der Reichswehr, von den Großgrundbesitzern und von der Rechtsopposition, wurde Hindenburg zu einem Kurswechsel gedrängt. Als er dann nach der Rüdekehr axis Neudeck am 29. Mai Brüning zu einer Besprechimg empfing, gab er ihm „in einer weniger konzilianten Form, als sonst Brüning gegenüber seine Art war, zu erkennen, daß er ihm und seiner Politik nicht mehr mit dem früheren Vertrauen gegenüberstände" (Meißner). Hindenburg weigerte sich, die neuen Notverordnungen, deren Inhalt das Kabinett bereits am 21. Mai der Öffentlichkeit mitgeteilt hatte, zu unterzeichnen; er verlangte dagegen, das Regieren mit Notverordnungen müsse nun aufhören und die Regierung nach rechts erweitert werden. Von Meißner war Brüning schon auf Hindenburgs Wendung vorbereitet, hoffte aber doch, den Reichspräsidenten auch dieses Mal von der Notwendigkeit des Weitergehens auf dem eingeschlagenen Wege überzeugen zu können. Er fand freilich Hindenburg geistig nicht auf der Höhe; auch Graf Westarp, der mit anderen Fraktionsführern zu

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Brünings Sturz Hindenburg gerufen wurde, bestätigt, daß der alte Herr ihnen allen „stark angegriffen und teilnahmslos" erschien. In der Kabinettssitzung vom 30. Mai beschloß das gesamte Kabinett den Rücktritt. An diesem Morgen teilte der amerikanische Botschafter in Berlin Brüning mit, der kommende französische Ministerpräsident habe die Zusage zu der Ende April von England, Italien und den Vereinigten Staaten gebilligten Lösung der deutschen Rüstungsfrage (S. 639) jetzt auch für Frankreich in Aussicht gestellt, Brüning solle deshalb so bald wie möglich nach Genf fahren. Mit dieser Nachricht, dem Erfolg langer und mühseliger Verhandlungen, dachte Brüning Hindenburgs Vertrauen in seine Politik wieder zu gewinnen und zu erreichen, daß der Reichspräsident den Rücktritt des Kabinetts nicht annehme. Die auf V2II Uhr angesetzte Unterredung wurde aber in letzter Minute auf 11 Uhr 55 verschoben. Brüning sah darin einen wohlberechneten Schachzug der Umgebimg Hindenburgs, wohl auch Meißners, die von dem außenpolitischen Erfolg Brünings schon erfahren hatte, denn wegen der Verschiebung dauerte das Gespräch mit Hindenburg nur 3% Minuten: um 12 Uhr begann mit dem Aufziehen der Marinewache die Gedenkwoche zur Erinnerung an die Skagerrakschlacht, und diesen Vorbeimarsch pünktlich abzunehmen, lag dem alten Feldmarschall sehr am Herzen; die Demission Brünings war für ihn beschlossene Sache, und dieser gab, verbittert und enttäuscht, den Kampf auf, noch ehe er dazu gekommen war, Hindenburg von der Mitteilung des amerikanischen Botschafters in Kenntnis zu setzen. Um eine weitere Audienz bat Brüning nicht, und so nahm Hindenburg mit der Beendigung des kurzen Gesprächs den Rücktritt Brünings und seines Kabinetts an. Wenn Goebbels zu diesem Ereignis in sein Tagebuch schrieb: „Wir sind außer uns vor Freude", so zeigt dies deutlich, welches Hindernis Brüning für die NSDAP auf dem Weg zur Macht gewesen ist. Von vielen Seiten hat man ihm vorgeworfen, er habe sich zu ausschließlich auf die Autorität des Reichspräsidenten gestützt, den Reichstag zu wenig zur Mitarbeit herangezogen, sich nicht tatkräftig genug gegen die Hetze und die Intrigen von rechts gewehrt und, als Hindenburg ihm dann das Vertrauen entzog, vorschnell den Kampf aufgegeben. Die Vorwürfe sind bis zu einem gewissen Grad berechtigt. Aber wenn man berücksichtigt, wie sehr sich Brüning und sein Kabinett vergebens um eine Regierungsmehrheit und die Einigung der Parteien bemüht haben, so muß man einräumen, daß er zusammen mit dem Reichstag keinen Schritt vorwärts gekommen wäre. Berücksichtigt man weiter, wie ernst die Gefahr eines völligen Zusammenbruchs der privaten wie der Staatswirtschaft war und in welchem Elend ein großer Teil des Volkes lebte, so erscheint auch das rasche Handeln durch die Notverordnungen sinnvoll. Verständlich ist auch, daß Brüning, um die Gefahr einer zweiten Inflation zu bannen, erst den Tiefpunkt der Krise überwinden wollte, ehe er in größerem Umfange Staatsgelder für die Arbeitsbeschaffung der Wirtschaft zuführte. Brüning glaubte, wenn dies erreicht sei, würden die Massen des Volkes die Vernunft seiner Politik und die Unvernunft der Rechtsopposition einsehen, wohl einer der Gründe, die ihn von einer gewaltsamen Zerschlagung der mit unklaren nationalen und sozialen Ideen und Versprechungen begeisternden Organisationen abhielten; 651

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Papens außerdem ist es fraglich, ob seit den Wahlerfolgen der NSDAP Hitler — selbst auf die Gefahr eines Bürgerkrieges hin — noch hätte unschädlich gemacht werden können. Brünings positive Leistungen in der Überwindung der Wirtschaftskrise, in der Vorarbeit für die Beendigung der Reparationen und für die Lockerung der deutschen Rüstungsbeschränkungen sind unbestreitbar. Er ist „der letzte bedeutende und in seiner sittlichen Sauberkeit tief anziehende Vorkämpfer des Weimarer Staates gewesen. Er hat es vermocht, Europa durch die zuverlässige Lauterkeit seines Wesens ein Vertrauen einzuflößen, wie es vor ihm, persönlich vielleicht nicht einmal im gleichen Maße, nur Stresemann sich erworben hatte. Brünings Sturz in dem Augenblick, in dem die Weltkrise nachzulassen begann, aber ehe diese Wendung angefangen hatte, sich auch im Reiche auszuwirken, bedeutete für Deutschland ein tragisches Verhängnis" (Herzfeld). Besonders tragisch erscheint dieses Verhängnis dadurch, daß Brüning nicht infolge eines Mißtrauensvotums des Reichstags gestürzt wurde, sondern von dem Mann, für dessen Wiederwahl er sich ehrlichen Herzens erst einige Wochen zuvor eingesetzt hatte; auch noch in der letzten Kabinettssitzung unmittelbar vor seiner Entlassung hielt Brüning Groener, der voller Empörung einige Klarstellungen über Hindenburg androhte, mit der Begründung zurück, Hindenburg bleibe trotz allem „der einzige Sammelpunkt, den das Volk noch hat".

REICHSKANZLERSCHAFT PAPENS Persönlichkeit.

Präsidialregierung

Der von Schleicher zum Nachfolger Brünings ausersehene Franz von Papen entstammte einem westfälischen Adelsgeschlecht. Er wurde Kavallerieoffizier, kam 1914 als Militârattaché an die deutsche Botschaft nach Washington, mußte Ende 1915 nach Deutschland zurückkehren, weil ihm vorgeworfen wurde, er habe unter Mißbrauch seiner Diplomatenstellung Sabotageakte finanziert. Nach seiner eigenen Aussage hat er jedoch nur versucht, Waffenlieferungen an die Feinde Deutschlands zu verhindern; auf der Rückreise beschlagnahmten die Engländer sein Gepäck und fanden darin ihn belastende Abrechnungen. Er kam dann zunächst als Bataillonskommandeur an die Westfront und im Sommer 1917 in leitender Stellung an die türkische Front; 1918 nahm er als Oberstleutnant seinen Abschied und wurde Politiker, da ihm, wie er selbst sagt, seine „Veranlagung auf dem politischen Gebiet zu liegen schien". Von altadliger Herkunft, ein charmanter Gesellschafter und liebenswürdiger Plauderer, ergaben sich für Papen ohne weiteres Verbindungen mit den dem politischen Leben nahestehenden Kreisen. Seine Heimat Westfalen wählte ihn 1921 als Zentrumsabgeordneten in den preußischen Landtag, 1923 erwarb er ein Aktienpaket der „Germania", der bedeutendsten Berliner Zentrumszeitung, und wurde ihr Aufsichtsratsvorsitzender. In seiner Partei vertrat er den rechten Flügel, wurde aber nicht recht ernst genommen; seine ver652

Präsidialregierung schwommenen Ideen von einer Monarchie und einem ständisch gegliederten Staatsaufbau ließen ihn als Außenseiter erscheinen. Uber seinen Leichtsinn und seine Oberflächlichkeit täuschte sein schneidiges Wesen vielfach hinweg. Zum neuen Reichskanzler schlug Schleidler Papen vor, weil dieser als alter Ulanenoffizier der Reichswehr, als Gutsbesitzer den Landwirten und wegen seiner Ehe mit einer Tochter des Besitzers der Steingutfabrik Villeroy und Boch im Saarland auch den Großindustriellen genehm sei; als Katholik, Zentrumsabgeordneter und überzeugter Monarchist sollte Papen die Verbindung des Zentrums mit den Rechtsparteien herstellen, Hugenberg und Hitler würden mit ihm oder zum mindesten nicht gegen ihn arbeiten, wenn er gewisse Bedingungen erfülle und den Rechtskurs der neuen Regierung einhalte. Schleicher war wohl überzeugt, in Papen ein geeignetes Werkzeug zu finden für seine Pläne: Zurückdrängung des Reichstags und besonders der Sozialdemokraten durch Einbeziehung der nationalsozialistischen und wehrfreudigen Elemente von rechts in die Regierung. Der Zentrumsführer, Prälat Dr. Ludwig von Kaas, lehnte für seine Partei sofort jede Form der Mitarbeit ab, so daß Papen vor der entscheidenden Unterredung mit Hindenburg am 31. Mai 1932 entschlossen war, das Reichskanzleramt abzulehnen; denn ein Mann, der das Vertrauen der Mittelparteien nicht besitze, werde nichts ausrichten können. Hindenburg gelang es schnell, ihn umzustimmen; nach Papens Erzählung in seinen Memoiren „Der Wahrheit eine Gasse" habe ihn der Reichspräsident „mit väterlicher Güte" gemahnt, einen alten Mann nicht im Stich zu lassen und als Soldat zu gehorchen, wenn das Vaterland ruft; er solle ja auch gerade unabhängig von den Parteien regieren. Dank der Vorarbeit Schleichers konnte Papen schon am 1. und 2. Juni 1932 sein Kabinett bilden. Schleicher übernahm das Reichswehrministerium und trat damit aus der Verborgenheit seines bisherigen Wirkens in die Öffentlichkeit. Innenminister wurde Freiherr von Gayl, Außenminister auf besonderen Wunsch Hindenburgs der Botschafter in London, Freiherr Konstantin von Neurath, Finanzminister der Ministerialdirektor im Reichsfinanzministerium, Graf Lutz Schwerin-Krosigk. Da dem Kabinett noch zwei weitere Freiherren und nur zwei Bürgerliche angehörten, nannte man es das „Kabinett der Barone". Gleich am 1. Juni verurteilte das Zentrum entschieden den Sturz Brünings: „Unmittelbar vor zielsicher vorbereiteten internationalen Verhandlungen haben leichtfertige Intrigen verfassungsmäßig unverantwortlicher Personen hoffnungsvolle Linien einer im großen Zusammenhange eingeleiteten nationalen Aufbaupolitik jäh unterbrochen." Die sozialdemokratische Reichstagsfraktion erließ am 2. Juni einen Aufruf: „Das neu zu bildende Kabinett nennt sich ,Kabinett der nationalen Konzentration'. In Wahrheit ist es ein Kabinett der reaktionären Konzentration . . . Kein Arbeiter gehört dem Kabinett an. Auch der Mittelstand ist ausgeschaltet . . . Nach Erfüllung ihrer Bedingungen erhoffen die Nationalsozialisten unter Anwendung des blutigsten Terrors, durch rücksichtsloseste Einsetzung der Hitlerschen Privatarmee den künftigen Reichstag nach ihren Wünschen zu gestalten." Audi die Staatspartei lehnte das Kabinett Papen ab, das „lediglich dazu bestimmt ist, die Weisungen der rechtsradikalen Parteien auszu-

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Weimarer Republik — Kanzlerschaft Papens führen, ohne daß diese selbst an der Verantwortung formell beteiligt sein wollen". Da die Deutsdinationalen am 3. Juni erklärten, sie wären keinerlei Verpflichtungen gegenüber der Regierung eingegangen, und Hitler in einer persönlichen Unterredung mit Schleidler Anfang Juni sich nicht zu einem schriftlichen Versprechen zugunsten der Regierung Papen bewegen ließ, war von Anfang an offenkundig, daß sie sich auf keine Mehrheit im Reichstag stützen konnte und eine reine Präsidialregierung war im Gegensatz zur Kanzlerschaft Brünings, der trotz des Notverordnungssystems dank der Tolerierung seitens der Sozialdemokraten immer noch die parlamentarisch-demokratischen Formen hatte einhalten können. Papen stellte deshalb sein Kabinett dem Reichstag gar nicht vor, sondern Hindenburg löste diesen mit sofortiger Wirkung am 4. Juni auf, weil er „nach dem Ergebnis der in den letzten Monaten stattgehabten Wahlen zu den Landtagen der deutschen Länder dem politischen Willen des deutschen Volkes nicht mehr entspricht". Da also kein Reichstag vorhanden war, verkündete Reichskanzler Papen über den Rundfunk die programmatische Erklärung der neuen Regierung, in der behauptet wurde: keine der notwendigen grundlegenden Reformen sei über schwache Ansätze hinausgekommen, die Nachkriegsregierungen hätten geglaubt, „durch einen sich ständig steigernden Sozialismus die materiellen Sorgen dem Arbeitnehmer wie dem Arbeitgeber in weitem Maße abnehmen zu können. Sie haben den Staat zu einer Art Wohlfahrtsanstalt zu machen versucht und damit die moralischen Kräfte der Nation geschwächt", dem unseligen, gemeinschaftsfeindlichen Klassenkampf und dem Kulturbolschewismus, „der wie ein fressendes Gift die besten sittlichen Grundlagen der Nation zu vernichten droht, muß in letzter Stunde Einhalt geboten werden . . . Die Nation wird vor die klare und eindeutige Entscheidung gestellt, mit welchen Kräften sie den Weg in die Zukunft zu gehen gewillt ist. Die Regierung wird, unabhängig von den Parteien, den Kampf für die seelische und wirtschaftliche Gesundung der Nation, für die Wiedergeburt des neuen Deutschland führen". Brüning und seine ehemaligen Minister wiesen unter Anführung von Tatsachen und Zahlen die Beschuldigungen zurück, und der frühere Finanzminister Dietrich schrieb in einem Aufruf „An die Freunde im Lande": „Gleichviel ob die neue Regierung von Papen die Macht in Deutschland kraft eigenen reaktionären Willens auszuüben gedenkt oder sie nach den Wahlen an die Nationalsozialisten abtreten will — sie ist in jedem Fall ein Werkzeug Hitlers, und sie hat Gefahren für das deutsche Volk und Reich heraufbeschworen, die wir eben durch die Präsidentenwahlen gebannt glaubten. Ein Sieg des Nationalsozialismus, der seinem innersten Wesen nach unduldsam und unfähig ist, bedeutet Terror gegen Andersdenkende, Unterdrückung der politischen Freiheit, unübersehbare wirtschaftliche Experimente." Staatsrat Schäffer, der Führer der Bayrischen Volkspartei, machte Hitler für den Sturz Brünings verantwortlich und „für das Bestehen des Kabinetts Schleicher-Papen. Mögen die Parlamente nicht gut sein, aber das schlechteste Parlament ist tausendmal besser als irgendeine Kamarilla". Das Ausland, das Brüning sehr zu schätzen gelernt hatte, betrachtete das Kabinett Papen sehr kritisch und mißtrauisch als Zwischen654

Ende der Reparationen lösung vor einem Kabinett Hitler. Am 16. Juni erfüllte Hindenburg die zweite Zusage Schleichers an Hitler: das Verbot der SA und des Uniformtragens von Parteiformationen wurde für das ganze Reich aufgehoben. Einige Länderregierungen, besonders Bayern und Baden, protestierten sofort dagegen als Eingriff in ihre Polizeihoheit und erließen für ihre Gebiete erneute Uniform- und Demonstrationsverbote.

Das Ende der Reparationen Die im Januar 1932 verschobene Reparationskonferenz tagte vom 16. Juni bis 9. Juli in Lausanne, achtzehn Staaten waren auf ihr vertreten. Brüning hatte im Januar erklärt, Deutschland könne überhaupt nichts mehr zahlen; England trat damals wie auch jetzt um des Weltfriedens willen dafür ein, mit den Reparationen Schluß zu machen. Frankreich dagegen erkannte zwar die augenblickliche Notlage Deutschlands an, verlangte aber die Wiederaufnahme der Zahlungen nach Uberwindung der Krise. Macdonald bemühte sich redlich um die Einigung. Papen brachte mit einigen improvisierten Vorschlägen viel Unruhe in die Verhandlungen. Erst schlug er Herriot einen Konsultatiwertrag zwischen Frankreich und Deutschland gegen Streichung der Versailler Kriegsschuld- und Abrüstungsbestimmungen vor; aber Herriot lehnte jede Verquickung mit politischen Fragen ab, und England faßte den Vorschlag als einen Versuch Deutschlands auf, Frankreich von England zu trennen, und Schloß schleunigst einen Konsultativpakt mit Frankreich ab, den Herriot als Wiedergeburt der Entente cordiale feierte. Dann bot die deutsche Delegation die Zahlung von zwei Milliarden für einen gemeinsamen Aufbaufonds an, woraus Herriot schloß, Deutschland könne zwar zahlen, aber wolle nicht. Papen versuchte noch einmal, gegen das Versprechen einer Abschlußzahlung ein Zugeständnis in der Kriegsschuldfrage zu erreichen, worauf indes Herriot schon wegen der Stimmung in Frankreich nicht eingehen konnte. England wäre eher dazu bereit gewesen, wofür ein Ausspruch des Timesvertreters gegenüber dem deutschen Chefdolmetscher Schmidt bezeichnend ist: „Wenn Papen die Leiche des Kriegsschuldparagraphen mit nach Berlin bringen kann, wird das seine innerpolitische Lage bei den Rechtsparteien sicherlich sehr erleichtem. Tot ist die Kriegsschuld Deutschlands sowieso, warum soll man da nicht ruhig einen Totenschein ausstellen und den Transport nach Berlin freigeben." Macdonalds unermüdlichem Eifer gelang schließlich die Einigung: alle weiteren deutschen Reparationszahlungen wurden gestrichen gegen eine Abfindungssumme von drei Milliarden Mark, und auch die sollte frühestens in drei Jahren fällig sein. Dieses Abkommen wurde nie ratifiziert, die drei Milliarden nie gezahlt. Dies war, dreizehn Jahre nach dem Versailler Frieden, das Ende der Reparationen, die nach dem Youngplan bis 1988 laufen sollten. Was Deutschland bis zu dem Inkrafttreten des Hoovermoratoriums vom 7. Juli 1931, das schon praktisch das Ende der Reparationen bedeutete, an Barzahlungen, Sachlieferungen usw. als Reparationen geleistet hatte, bewertete die deutsche Berechnung auf 655

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Papens 68 Milliarden Goldmark, während die Reparatîonskommission nur 20 Milliarden dafür ansetzte. Papen kehrte enttäuscht nach Berlin zurück, weil er in der Kriegsschuldfrage nichts erreicht hatte. Der von Brüning vorbereitete Erfolg, die Streichung der Reparationszahlungen, war gewiß nicht zu unterschätzen, aber nur demokratische Blätter wie das „Berliner Tagblatt" und die „Frankfurter Zeitung" ließen Papen einigermaßen Gerechtigkeit widerfahren, während die Reditsund Zentrumsblätter Papens Vorgehen in Lausanne abfällig kritisierten.

Staatsstreich gegen

Preußen

Im übrigen beanspruchte der leidenschaftlich geführte Wahlkampf alles Interesse der Öffentlichkeit. Die blutigen Auseinandersetzungen, vor allem zwischen Nationalsozialisten und Kommunisten, nahmen nach der Aufhebung des SAVerbotes erschreckend zu. Am 17. Juli unternahmen die Nationalsozialisten einen Demonstrationszug durch die roten Viertel von Altona, die Kommunisten fühlten sich provoziert, und so kam es zu einer förmlichen Straßenschlacht. Die Sozialdemokraten forderten nun im preußischen Staatsrat dringend die Wiedereinführung des Verbots der faschistischen uniformierten Verbände, da es seit seiner Aufhebung bei Zusammenstößen 99 Tote und 1125 Verwundete gegeben habe. Daraufhin führte Papen am 20. Juli seinen lange geplanten Staatsstreich gegen Preußen durch. Seit der Neuwahl vom 24. April war im Landtag eine Mehrheitsbildung nicht mehr möglich, 200 Abgeordneten der Nationalsozialisten, Deutschnationalen und Deutschen Volkspartei standen 166 Abgeordnete der Sozialdemokraten und der bürgerlichen Mittelparteien gegenüber, die 57 Kommunisten verhinderten die Wahl eines Ministerpräsidenten. So amtierte das Kabinett Braun, in dem Sozialdemokraten und Zentrum elf Jahre lang mit geringen Unterbrechungen kräftig und erfolgreich regiert hatten, immer noch als gesciiäftsführende Regierung. Braun allerdings war am 6. Juni in Urlaub gegangen mit der Absicht, nicht zurückzukehren; er wollte sich nicht mehr im Landtag, in „diesem zur Kaschemme herabgewürdigten Gremium den gassenbubenhaften Beschimpfungen parlamentarischer Raufbolde aussetzen". Brauns Stellvertreter wurde der dem Zentrum angehörende Wohlfahrtsminister Heinrich Hirtsiefer, der zusammen mit dem preußischen Innenminister Severing energisch Widerstand leistete, als Papen sich durch eine Notverordnung des Reichspräsidenten am 20. Juli „zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" zum Reichskommissar für Preußen ernennen ließ. Papen erhielt damit die Befugnisse eines preußischen Ministerpräsidenten, ernannte den Oberbürgermeister von Essen, Franz Bracht, zu seinem Stellvertreter und zum Innenminister und forderte Hirtsiefer und Severing zum Rücktritt auf. Beide erklärten Papens Vorgehen für verfassungswidrig, sie würden nur der Gewalt weichen. Schon seit Jahren hatte die extreme Rechte versucht, die schwarz-rote Regierung in Preußen, das Bollwerk der Republik, zu stürzen. Hinter der Aktion Papen standen Hitler und Hugenberg. Schleicher hatte ein besonderes Interesse daran, die 656

Staatsstreich gegen Preußen preußische Polizei nicht in die Hände der Nationalsozialisten fallen zu lassen, die ja die stärkste Partei im Landtag waren, er unterstützte deshalb Papens Staatsstreich durch Bereitstellung der Reichswehr. Am Abend des 20. Juli verteidigte Papen in einer Rundfunkrede sein Vorgehen gegen die preußische Regierung als unbedingt notwendig, weil einige ihrer maßgebenden Persönlichkeiten die auf einen gewaltsamen Umsturz hinarbeitenden Kommunisten begünstigt hätten. Die weitaus überwiegende Zahl der schweren Unruhen sei nur auf Angriffe kommunistischer Terrorgruppen zurückzuführen; es sei „die sitdiche Pflicht jeder Regierung, einen klaren Trennungsstrich zwischen den Feinden des Staates, den Zerstörern unserer Kultur und den um das Gemeinwohl ringenden Kräften unseres Volkes zu ziehen. Weil man sich in maßgebenden politischen Kreisen nicht dazu entschließen kann, die politische und moralische Gleichsetzung von Kommunisten und Nationalsozialisten aufzugeben, ist jene unnatürliche Frontenbildung entstanden, die die staatsfeindlichen Kräfte der Kommunisten in eine Einheitsfront gegen die aufstrebende Bewegung der NSDAP einreihte . . . Der militärische Ausnahmezustand für Berlin und Brandenburg wird selbstredend nur solange aufrecht erhalten, als es die Herstellung gesicherter Verhältnisse verlangt". Papen fürchtete also aktiven Widerstand der Sozialdemokraten. Aber er täuschte sich; die Absetzung der Minister, des Polizeipräsidenten und des Kommandanten der Schutzpolizei ging reibungslos vonstatten. Die preußische Regierung war sich über die Tragweite der Notverordnung ganz klar, protestierte gegen die unzulängliche Begründung des Staatsstreichs und die unberechtigten Vorwürfe in Papens Rundfunkrede. Die Sozialdemokratie hatte ihre antikommunistische Haltung nie aufgegeben, auch wenn einige ihrer Mitglieder im Juli 1932, um die Republik zu retten, Fühlung mit Kommunisten aufgenommen haben; überdies führten die Kommunisten auf Weisung Moskaus seit Jahren kompromißlos ihren Kampf gegen die Sozialdemokraten als die Verräter der Revolution. Die Beschuldigung, die alte preußische Regierung wolle sich mit Hilfe der Kommunisten halten, war im wesentlichen „das Manöver eines ehrgeizigen Beamten, der das sinkende Schiff der Regierung Brami zeitig genug verlassen und durch einen wertvollen Beitrag zur Papenschen Begründung des Preußenputsches den Anschluß an die neuen Machthaber gewinnen wollte" (Bracher). Die Kommunisten mit der Hauptschuld an den blutigen Kämpfen, Terrorakten, Bombenanschlägen usw. zu belasten, war völlig widersinnig bei der zahlenmäßigen Überlegenheit der SA, der hemmungslosen Aufhetzung in der nationalsozialistischen Presse und dem ganzen Benehmen der Braunhemden von den Abgeordneten bis zum einfachen SA-Mann. Der Sozialdemokratie wird oft vorgeworfen, sie habe Preußen kampflos erst an Papen, dann an die Nationalsozialisten ausgeliefert; aber wäre ein Kampf sinnvoll gewesen? Durch das Ergebnis der Landtagswahlen hatten die Sozialdemokraten ihre Mehrheit eingebüßt; nach reiflicher Überlegung verzichteten sie dann auf aktiven Widerstand, denn bei 6 Millionen Arbeitslosen ließ sich ein Generalstreik nicht durchführen; wer noch einen Arbeitsplatz hatte, riskierte ihn nicht, er wäre sofort von Arbeitswilligen verdrängt worden; und das Reichsbanner gegen die schwerbewaffnete Reichswehr einzusetzen, hätte bloß zu unnützem

42 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Weimarer Republik — Kanzlerschaft Papens Blutvergießen geführt. So blieb der alten preußischen Regierung nur die Klage beim Staatsgerichtshof, die Notverordnung sei verfassungswidrig, da kein Notstand des Landes und kein Versäumnis seiner Regierung vorliege; dem Reichskommissar Papen solle durch einstweilige Verfügung jede Dienstausübung bis zur Entscheidung des Gerichts verboten werden. Der Staatsgerichtshof lehnte die einstweilige Verfügung als unzulässig sofort ab. Sein Urteil vom 25. Oktober fiel dann höchst unbefriedigend aus: es erklärte die Vorwürfe gegen die preußischen Minister, Pflichtverletzung und mangelnde Tatkraft, für unbegründet, die Entziehung ihrer Amtsbefugnisse dürfe nur vorübergehend sein und erstrecke sich nicht auf die Vertretung des Landes Preußen im Reichsrat, im Staatsrat oder sonst gegenüber dem Reich und den Ländern; der Reichspräsident dagegen sei befugt, einen Reichskommissar zu ernennen, die gesamten Machtmittel des Reiches und Preußens in einer Hand zusammenzufassen und die Politik des Reiches und Preußens in einheitliche Bahnen zu lenken, wenn es ihm zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung notwendig erscheine. Damit bestanden in Preußen zwei Regierungen, die eine wurde durch Kommissar Bracht, die andere durch den Ministerialdirektor Brecht vertreten. Karikaturen zeigten „beide am selben Tisch sitzend, durch ein Gitter getrennt, die Bildunterschrift lautet ironisch: Brecht hat das Recht, Bracht die Macht" (François-Poncet). Die süddeutschen Länder waren wegen Papens Staatsstreich vom 20. Juli sehr besorgt, sie sahen darin einen Angriff auf die Rechte der Länder, wie er sich jederzeit auch gegen sie selber richten könnte. Papen schickte zwar noch am gleichen Tag den Legationsrat Kurt Freiherm von Lersner mit beruhigenden Versicherungen nach München und lud die außerpreußischen Ministerpräsidenten zu einer Konferenz nach Stuttgart, auf der er seine föderalistische Einstellung beteuerte und die Wahrung der Länderrechte zusicherte. Die süddeutschen Regierungen blieben jedoch dabei, das Vorgehen gegen Preußen sei verfassungswidrig, und legten förmliche Rechtsverwahrung dagegen ein. Bayern und Baden erhoben auch beim Staatsgerichtshof Anklage, denn die süddeutschen Regierungen befürchteten, mit Preußen sei der Anfang zu einer zentralistischen Reichsreform gemacht, während sie die Wiederherstellung der Länderrechte, wie sie die Bismarckische Verfassung gewährleistet hatte, erstrebten. In Preußen setzte Papen eine „Säuberung" der Verwaltung von sozialdemokratischen und überhaupt republikanisch gesinnten Beamten durch; 94 Beamte, Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Polizeidirektoren usw., wurden zur Disposition gestellt, kommissarische Minister vereidigt; die Gleichschaltung Preußens mit dem Reich war vollzogen — und das alles, während der Wahlkampf für den Reichstag auf höchsten Touren lief. Der Regierung Papen hat der Staatsstreich gegen Preußen nichts genützt; er wurde zwar von den Deutschnationalen und den Nationalsozialisten begrüßt, aber Papen erwarb sich damit keinen Dank von Hitler und Goebbels, die sich nach der Erfüllung ihrer drei Hauptforderungen — Auflösung des Reichstags, Aufhebung des SA-Verbots und Zerschlagung der schwarz-roten Regierung Preußens — noch weniger zur Duldung des Papenkabinetts veranlaßt fühlten. Im Wahlkampf griffen sie vor allem den Innenminister 658

Reidistagswablen vom Juli 1932. Hitlers Ablehnung der Vizekanzlersdiaft

Gayl an, der sich bemühte, die gröbsten Ausschreitungen der beiden radikalen Parteien einzudämmen; außerdem hatte sich das Kabinett Papen nach allen Seiten so unbeliebt gemacht, daß die NSDAP ihr Tolerierungsversprechen als Belastung empfand.

Die Reichstags wählen vom Juli 1932. Hitlers Ablehnung der

Vizekanzlersdiaft

Die Wahlen fanden am 31. Juli bei einer Beteiligung von 84 % statt. Als Sieger gingen daraus die Nationalsozialisten hervor: mit jetzt 230 Abgeordneten konnten sie mehr als doppelt so stark wie zuvor in den Reichstag einziehen. Zentrum und Bayrische Volkspartei gewannen einige Sitze, die Sozialdemokraten sanken mit nun 133 Abgeordneten zur zweitstärksten Partei herab, gegen die Wahlen von 1930 verloren sie 10, gegen den Stand vom Juni 1932 drei Sitze. Die kommunistischen Mandate stiegen von 77 auf 89, die Deutschnationalen kamen mit 32 Sitzen ziemlich glimpflich davon, während die bürgerlichen Mittelparteien fast ganz verschwanden. Von den 608 Reichstagsmandaten hatten die Nationalsozialisten etwas über 37 %, selbst mit den 6,1 % der Deutschnationalen also bei weitem nicht die absolute Mehrheit. Der Stimmenzuwachs der NSDAP kam von bürgerlichen Wählern, die sich für die nationalen Parolen begeisterten, und von den meist arbeitslosen Jungwählern, bedeutete aber keinen tiefgreifenden Einbruch in die Sozialdemokratie; diese hatte seit 1930 nur 3 % ihrer Wähler verloren, die wohl zu den Kommunisten abgewandert waren. Der Wunsch der parteipolitisch nicht gebundenen Regierung Papen, zu „einer vertrauensvollen Zusammenarbeit mit dem Reichstag" zu gelangen, wie es in einem Wahlaufruf des Reichspräsidenten und der Reichsregierung vom 30. Juli geheißen hatte, ging nicht in Erfüllung. Eine arbeitsfähige Mehrheit hätte nur zustande kommen können, wenn Zentrum und NSDAP zusammengingen; die in dieser Richtung während der folgenden Wochen unternommenen Versuche verliefen jedoch ergebnislos. Schleicher und Papen waren nach der Wahl überzeugt, die NSDAP müsse jetzt in die Regierung; an der Verantwortung beteiligt, könnten die nationalen Werte der Partei nutzbar gemacht und ihre wenig erfreulichen Seiten eingedämmt werden. Gegenüber den Reichspräsidentenwahlen vom April 1932 hatte die NSDAP nur wenig zugenommen, von 13,4 auf 13,7 Millionen Stimmen, und es war anzunehmen, daß damit ihr Höhepunkt erreicht sei. Auch in der Partei selbst herrschte keineswegs Siegerstimmung. Goebbels' Tagebucheintragungen lassen die Sorgen, Zweifel und Kämpfe in der Partei deutlich erkennen. Die Gruppe um Strasser trat für Einlenken und Beteiligung an der Regierung auch ohne Hitler als Reichskanzler ein, während Hitler, bestärkt von Goebbels und Göring, die totale Macht verlangte, und Röhm jederzeit bereit war, sie mit Gewalt zu erzwingen — er konnte die SA kaum noch zurückhalten. Anfang August 1932 besprach sich Schleicher mit Hitler, da er noch glaubte, mit Hilfe des Reichspräsidenten, der Reichswehr und des Polizeiapparates die NSDAP im Zaume halten zu können. Hitlers Forderungen gingen jedoch nach dem Bericht 659 42'

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Papens von Goebbels sehr weit: „Der Führer besteht auf seiner Kanzlerschaft und auf dem preußischen Ministerpräsidentenposten; das Reichs- und preußische Innenministerium, ein neu zu gründendes Volkserziehungs- und Propagandaministerium, Landwirtschaft und Luftfahrt sollen uns überantwortet werden. Ebenso die Justiz. Ein Kabinett von Männern. Wenn der Reichstag ein vom Führer gefordertes Ermächtigungsgesetz ablehnt, wird er nach Hause geschickt. Haben wir die Macht, dann werden wir sie nie wieder aufgeben, es sei denn, man trägt uns als Leichen aus unseren Ämtern heraus." Schleicher und Papen waren zunächst nicht unbedingt ablehnend, wollten aber Hitler dazu bringen, sich vorerst mit dem Amt des Vizekanzlers im Kabinett Papen zu begnügen. Den Ausschlag gab Hindenburg bei seiner Unterredung mit Hitler am 13. August in Gegenwart Papens, Görings und Meißners. Die Berichte darüber sind verschieden gefärbt; nach Meißner haben beide Seiten ihren Standpunkt in längeren Erklärungen dargelegt und sich dann mit höflichen Worten getrennt; nach Papen war der Abschied „eisig"; jedenfalls sorgten Papen und Schleicher für ein sehr deutlich abgefaßtes Kommunique, das sofort der Presse übergeben wurde: „Der Reichspräsident richtete an Hitler die Frage, ob er bereit sei, selbst sowie mit anderen geeigneten Persönlichkeiten der NSDAP in die von dem Reichskanzler von Papen geleitete Regierung einzutreten. Herr Hitler verneinte dies und stellte an den Herrn Reichspräsidenten die Forderung, ihm die Führung der Reichsregierung und die gesamte Staatsgewalt in vollem Umfang zu übertragen. Reichspräsident von Hindenburg lehnte diese Forderung sehr bestimmt mit der Begründung ab, daß er es vor seinem Gewissen und seinen Pflichten dem Vaterland gegenüber nicht verantworten könne, die gesamte Regierungsgewalt ausschließlich der nationalsozialistischen Bewegung zu übertragen, die diese Macht einseitig anzuwenden gewillt sei. Er bedauerte, daß Herr Hitler sich nicht in der Lage sehe, entsprechend seinen vor den Reichstagswahlen abgegebenen Erklärungen eine vom Vertrauen des Herrn Reichspräsidenten berufene Nationalregierung zu unterstützen. Die Aussprache schloß alsdann in einer ernsten Mahnung des Reichspräsidenten an Hitler, die von ihm angekündigte Opposition der NSDAP ritterlich zu führen und sich seiner Verantwortung vor dem Vaterlande und vor dem deutschen Volke bewußt zu bleiben." Das Kommuniqué wirkte als Demütigung Hitlers und wurde dementsprechend von seinen Gegnern mit Freude aufgenommen, von der NSDAP mit Zorn; sie dementierte auch, daß Hitler die Tolerierung der Regierung Papen versprochen und die Übernahme der gesamten Regierungsgewalt gefordert habe. Die Reichsregierung hielt dagegen ihre Erklärung in vollem Umfange aufrecht. Goebbels war zwar mit der Ablehnung einer bloßen Beteiligung an der Regierung einverstanden, schrieb aber doch zum 13. August in sein Tagebuch: „Die SA-Führer werden vom Führer orientiert. Für sie ist es am schwersten. Wer weiß, ob ihre Formationen gehalten werden können. Nichts ist schwieriger, als einer siegesgewissen Truppe zu sagen, daß der Sieg aus den Händen geronnen ist . . . Eine erste Chance verspielt! . . . Jedenfalls steht das eine fest: dieses Kabinett bekommt im Reichstag keine Mehrheit." Und am 14. August: „Unter den Parteigenossen

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Mordfall von Potempa herrscht große Hoffnungslosigkeit." Hitler jedodi ging seinen Weg des „alles oder nichts" entschlossen weiter.

Der Mordfall von

Potempa

Schon wenige Tage später zeigte Hitler emeut, wie skrupellos und vor nichts zurückschreckend seine Methoden in der Erreichung seiner Ziele waren. Als auch nach der Wahl vom 31. Juli die Terrorakte, Feuerüberfälle und Sprengstoffattentate unvermindert weitergingen, hatte der Reichspräsident am 9. August eine von der Regierung vorgeschlagene Verordnung zur Bekämpfung des Terrors erlassen: Todesstrafe für politische Mordtaten und schwere Sprengstoffverbrechen, Zuchthaus nicht unter 10 Jahren für schwere Körperverletzung, Aufruhr oder Landfriedensbruch; zur schnellen Aburteilung sollten Sondergerichte gebildet werden, der für die Wahlzeit angeordnete politische Burgfrieden wurde bis zum 31. August verlängert. In der darauf folgenden Nacht waren fünf uniformierte SA-Männer in die Wohnung eines kommunistischen Arbeiters in Potempa (Oberschlesien) eingedrangen, hatten ihn vor den Augen seiner Mutter zu Tode geprügelt und seinen Bruder schwer verletzt. Als nun am 22. August ein Sondergericht in Beuthen über die fünf SA-Männer die Todesstrafe verhängte, protestierte nicht nur die SA im Gerichtssaal und in ganz Schlesien, auch Hitler schickte persönlich an die Verurteilten ein Telegramm: „Meine Kameraden! Angesichts dieses ungeheuerlichsten Bluturteils fühle ich mich mit Euch in unbegrenzter Treue verbunden. Eure Freiheit ist von diesem Augenblidc an eine Frage unserer Ehre, der Kampf gegen eine Regierung, unter der dieses möglich war, unsere Pflicht." Ein Aufruf Hitlers im „Völkischen Beobachter" führte dies noch weiter aus und sagte Papen, der „seinen Namen mit dem Blute nationaler Kämpfer in die deutsche Geschichte" eingezeichnet habe, „Kampf und wieder Kampf" an. Diese Stellungnahme fiel Hitler nicht leicht, nicht wegen moralischer Bedenken, sondern weil er wußte, daß die öffentliche Meinung sich gegen ihn stellen würde, und daß er vor allem auch seine Geldgeber vor den Kopf stoße; andererseits war die Erregung in der SA so groß, daß er Empörung und Abfall befürchten mußte, wenn er „seine Kameraden" im Stich ließ. Justizminister Gürtner trat für die Begnadigung der SAMänner zu lebenslänglichem Zuchthaus mit der Begründung ein, sie hätten, als sie den Mord verübten, den Erlaß vom Tag zuvor noch nicht gekannt. Papen ließ sich verleiten, dem Reichspräsidenten die Begnadigung zu empfehlen. In seinen Erinnerungen hat dann Papen selbst zugegeben, dies sei ein politischer Irrtum gewesen; denn welche Gründe er auch immer dafür anführen mochte, der Eindruck der Schwäche des Zurüdcweichens vor Hitlers Drohungen blieb bestehen. Am 2. September wurden die Potempamörder begnadigt, kaum ein halbes Jahr später befreit und als nationalsozialistische Märtyrer gefeiert.

661

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Papens Die Reichstagsauflösung

vom 12. September. Wahlkampf 6. November

und Neuwahlen

vom

Papen gab sich über die Isoliertheit seiner Stellung keiner Täuschung hin, war aber überzeugt, daß die Parteien nicht die wahre Meinung des Volkes darstellten, das statt der nicht mehr funktionierenden Demokratie eine autoritäre Regierung in der Art seines Präsidialkabinetts wünsche. Die größte Gefahr für Papens Regierung bestand in einem Zusammengehen der NSDAP mit dem Zentrum, wenn auch nur im Negativen. So ließ sich Papen, als er zur Besprechimg des neuen Wirtschaftsprogramms in Neudeck war, vorsorglich ein Auflösungsdekret für den Reichstag geben. Am 30. August eröffnete die Alterspräsidentin Klara Zetkin den Reichstag mit einer kommunistischen Agitationsrede, dann wurde der prominente Nationalsozialist Göring mit 367 Stimmen zum Reichstagspräsidenten gewählt. Er stellte sofort fest, der neue Reichstag verfüge über eine große arbeitsfähige nationale Mehrheit; Göring wollte damit den Auflösungsabsichten Papens, die gerüchtweise bekannt waren, vorbeugen. Die nächste Sitzung wurde auf den 12. September angesetzt. Am 4. September erschien in der Presse die „Notverordnung zur Belebung der Wirtschaft": die Arbeitslosigkeit sollte gemildert werden durch Bereitstellung größerer Geldmittel für öffentliche Arbeiten, Straßenbau, Flußregulierungen und dergleichen, sowie durch Darlehen in Form von Steuergutscheinen an die private Wirtschaft, die außerdem mit Beschäftigungsprämien und Auflockerung des Tarifrechts zu erhöhter Produktion und Einstellung von Arbeitern angespornt werden sollte. Der Tiefpunkt der Weltwirtschaftskrise war tatsächlich überwunden, ein spürbarer Aufschwung konnte freilich erst sehr allmählich eintreten. Von sozialistischer Seite erhob sich sofort ein Sturm der Entrüstung gegen die angeblich arbeiterfeindlichen und unternehmerfreundlichen Bestimmungen der Notverordnung. Als am 12. September der Reichstag zusammentrat, dem Papen sein Programm zur Diskussion vorlegen wollte, beantragte der Kommunist Torgier unter Änderung der Tagesordnung die sofortige Abstimmung über die Aufhebung der Notverordnung vom 4. September und über einen Mißtrauensantrag gegen die Regierung Papen. Im Ältestenrat hatten die Deutschnationalen ihren Einspruch gegen dieses Verfahren angekündigt, der nach der Verfassung den Antrag Torglers zu Fall gebracht hätte, aber zur allgemeinen Überraschung blieben im Plenum die Deutschnationalen stumm. Nach halbstündiger Unterbrechung der Sitzung begann Göring mit der Abstimmung und ließ — ein Verstoß gegen die Verfassung — demonstrativ alle Versuche des Reichskanzlers, zu Wort zu kommen, unbeachtet. Papen legte die bekannte rote Mappe mit dem Auflösungsdekret auf das Pult des Reichstagspräsidenten und verließ mit den Regierungsmitgliedem den Saal. Die Abstimmung ergab für beide Anträge mit 512 gegen die 42 Stimmen der Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei eine vernichtende Niederlage der Regierung. Nach diesem Erfolg der Gegner Papens verlas Göring das Auflösungsdekret, das die ungewöhnliche, dem Sinn des Artikels 48 widersprechende Begründung anführte, es bestünde die Gefahr, daß der Reichstag die Aufhebung der Notverordnung vom 4. September verlan662

Wahlkampf und Neuwahlen vom 6. November gen würde. Göring erklärte das Auflösungsdekret sofort für ungültig, da die Regierung bereits mit einer noch nie dagewesenen Mehrheit gestürzt gewesen sei, und vertagte die Sitzung. Der im Uberwachungsausschuß der Rechte des Reichstags, im Rundfunk, in der Presse und mit Briefen der Beteiligten durchgefochtene Streit, ob die Auflösung des Reichstags oder der Sturz der Regierung zu Recht bestehe, endete mit dem Sieg des Kabinetts Papen, das sich um das nun also rechtens für ungültig erklärte Mißtrauensvotum des Reichstags überhaupt nicht kümmerte; in einer Rundfunkrede bestand Papen auf seinem Regierungsprogramm: in erneuten Abrüstungsverhandlungen mit den anderen Mächten die Gleichberechtigung Deutschlands zu erreichen, innenpolitisch werde das Wirtschaftsprogramm durchgeführt und damit Arbeit und soziale Befriedung geschaffen werden. Die Neuwahlen für den Reichstag wurden auf den 6. November festgesetzt. Die Zwischenzeit benützte Papen, für seine weitreichenden Pläne zur Neuordnung des Staates zu werben: Heraufsetzung des Wahlalters, Schaffung einer zweiten Kammer, Beschneidung der Rechte des Reichstags. Die NSDAP ging voller Sorge in den Wahlkampf, sie mußte bei der ideologisch und finanziell schwierigen Lage der Partei mit Verlusten rechnen. Das Auf und Ab der Stimmungen in der Partei, aber auch die entschlossene Haltung Hitlers spiegelt das Tagebuch von Goebbels wider. Für Goebbels selbst ist sein Eintrag zum 4. September bezeichnend: „Ich mache in einem Leitartikel scharfe Ausfälle gegen die .vornehmen Leute'. Wollen wir die Partei intakt halten, dann müssen wir jetzt wieder an die primitivsten Masseninstinkte appellieren." So wurde der Kampf hauptsächlich gegen die „Reaktion", die Papenregierung und die Deutschnationalen, geführt. Kurz vor der Wahl traten gegen den Willen der Gewerkschaften die Arbeiter der Berliner Verkehrsgesellschaft in einen Lohnstreik, der fünf Tage lang die Straßenbahnen, Omnibusse und Untergrundbahnen lahmlegte. Den Streik führten Kommunisten und Nationalsozialisten gemeinsam durch; auch dies war, wie Goebbels offen zugibt, wohlüberlegte Taktik: „Die ganze Presse schimpft toll auf uns. Sie nennt das Bolschewismus, und dabei blieb uns eigentlich garnichts anderes übrig. Wenn wir uns diesem Streik, der um die primitivsten Lebensrechte der Straßenbahnarbeiter geht, entzogen hätten, dann wäre damit unsere feste Position im arbeitenden Volk ins Wanken gekommen. Hier haben wir vor der Wahl noch einmal die große Gelegenheit, der Öffentlichkeit zu zeigen . . . , daß es sich bei der NSDAP in der Tat um eine neue Art des politischen Handelns und um eine bewußte Abkehr von den bürgerlichen Methoden handelt . . . Viele bürgerliche Kreise werden durch unsere Teilnahme am Streik abgeschreckt. Das ist aber nicht das Entscheidende. Diese Kreise kann man später sehr leicht wiedergewinnen, hat man aber den Arbeiter einmal verloren, dann ist er auf immer verloren . . . Selbst viele unserer alten Parteigenossen werden irre, aber trotzdem müssen wir aushalten und fest bleiben . . . Unsere Leute haben selbstverständlich in allen Stadtteilen die Führung des Streiks an sich gerissen, das war auch das Beste. Wenn schon, denn schon." Die Beteiligung an der Reichstagswahl vom 6. November mit ungefähr 80,6 % war zwar um etwa 3 % geringer als bei der Wahl vom 31. Juli, aber immer noch 663

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Papens sehr hoch, wenn man bedenkt, daß es die fünfte der großen Wahlen des Jahres 1932 war. An der politischen Gesamtlage änderte das Ergebnis der Novemberwahl nichts. Die sozialdemokratische Partei ging auf 121 Sitze zurück, die der Kommunisten stiegen auf 100, das Zentrum mit jetzt 70 Sitzen verlor 5, die Bayrische Volkspartei von ihren 22 Sitzen 3; die Deutschnationalen und die Deutsche Volkspartei, die einzigen Parteien, die nodi für die Regierung Papen eintraten, konnten wohl prozentual eine starke Zunahme verzeichnen, die Deutschnationalen von 37 auf 51, die Deutsche Volkspartei von 7 auf 11 Sitze, aber für die Bildung einer Regierungsmehrheit hatte dies ebensowenig Bedeutung wie der Verlust von 2 Millionen Wählerstimmen und 34 Sitzen der NSDAP, die mit 196 Abgeordneten immer noch die stärkste Fraktion und gut ein Drittel der insgesamt 584 Abgeordneten stellte. Trotzdem fielen der Gewinn der Kommunisten wie der Verlust der Nationalsozialisten sehr ins Gewicht. Der Glaube, die Nationalsozialisten würden immer weitere Kreise an sich ziehen, bis sie die absolute Mehrheit und damit die ganze Macht erhielten, war erschüttert, und die Zuversicht wuchs, die NSDAP werde mit der Besserung der wirtschaftlichen Lage und der erwarteten deutschen Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage weiter abnehmen. Hitler aber beharrte unvermindert auf seinem Machtanspruch.

Papens Sturz Auf Hindenburgs Verlangen mußte Papen versuchen, für sein Kabinett der nationalen Konzentration die Unterstützung der Parteien zu gewinnen. Die sozialdemokratische Parteileitung beschloß am 10. November „schärfsten und rücksichtslosesten Kampf gegen die jetzige Reichsregierung und ihre Pläne". Die Sorge vor noch größeren Verlusten an Wählerstimmen ließ sie den bisher eingehaltenen Weg verlassen, den Weg der Unterstützung der jeweiligen Reichsregierung, um eine Machtergreifung Hitlers zu verhindern; jetzt war das Mißtrauen gegen Papen größer als die Angst vor Hitler. Das Zentrum verlangte, eine neue Regierung müsse die seit Monaten unterbrochene Verbindung mit der Volksvertretung wiederherstellen und sich in einer festen Mehrheit den unentbehrlichen Rückhalt schaffen, es war also unter gewissen Sicherungen zur Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten bereit, jedoch nicht unter Papen. In einem Brief, der ihn „starke persönliche Uberwindung kostete", wandte sich der Reichskanzler an Hitler und zeigte sich bereit, über dessen Teilnahme an der Regierung zu verhandeln; aber Hitler war über den Verlauf des 13. August noch so gekränkt und trotz des Wahlrückschlags so fest entschlossen, die absolute Macht über ein Präsidialkabinett unter seiner Führung zu erlangen, daß er sich mit der von seiner Presse scharf bekämpften Papenregierung nicht einlassen wollte, deren Programm er in seinem ausführlichen Antwortschreiben teils für unzulänglich, teils für unbedacht, teils für völlig unbrauchbar erklärte. Daraufhin reichte Papen am 17. November dem Reichspräsidenten die Demission des Gesamtkabinetts ein, auf die besonders Schleicher drängte. 664

Papens Sturz Hindenburg hielt an der Bildung eines Präsidialkabinetts unabänderlich fest und verhandelte nun selbst mit den Parteiführern, einer Lösung kam er freilich nicht näher. Mit Hitler hatte Hindenburg am 19. und 21. November lange Unterredungen. Meißner setzte sie als Beauftragter des Reichspräsidenten in einem Schriftwechsel fort und wies dabei auf den Unterschied zwischen einem Präsidialkabinett und einer parlamentarischen Regierung hin, wie ihn der Reichspräsident sehe: „Das Präsidialkabinett — aus der Not der Zeit und dem Versagen des Parlaments geboren — wird in der Regel die notwendigen Regierungsmaßnahmen ohne vorherige Zustimmung des Parlaments auf Grund des Artikels 48 der Reichsverfassung in Kraft treten lassen. Es bezieht seine Machtvollkommenheit also in erster Linie vom Reichspräsidenten und braucht die Parlamente im allgemeinen nur zum Sanktionieren und Tolerieren dieser Maßnahmen . . . Eine parlamentarische Regierung wird in der Regel von dem Führer einer der für eine Mehrheit oder Koalitionsbildung in Frage kommenden Parteien und aus Mitgliedern dieser Parteien gebildet und verfolgt im wesentlichen Ziele, auf die der Reichspräsident nur in geringem Maße und nur mittelbaren Einfluß hat. Hiernach kann der Parteiführer, noch dazu der Führer einer die Ausschließlichkeit seiner Bewegung fordernden Partei, nicht Führer eines Präsidialkabinetts sein." Hindenburg verlangte, Hitler solle als Führer der stärksten Partei im Reichstag eine sichere, arbeitsfähige Mehrheit mit festem, einheitlichem Arbeitsprogramm zustande bringen, dann stehe seiner Ernennung zum Reichskanzler nichts im Wege, wenn er sich zu fünf folgenden Punkten verpflichte: Aufstellung eines Wirtschaftsprogramms, keine Wiederkehr des Dualismus Reich-Preußen, keine Einschränkung des Artikels 48, Zustimmung des Reichspräsidenten zu der Ministerliste, bei der den Außenminister und den Reichswehrminister der Reichspräsident in seiner Eigenschaft als völkerrechtlicher Vertreter des Reiches und Oberbefehlshaber der Reichswehr und Marine ernennt. Hitler dagegen forderte die Führung in einem reinen Präsidialkabinett, weil er sich nie als „Parteiführer" gefühlt habe, sondern „einfach als Deutscher, und nur um Deutschland vom Druck des Marxismus zu erlösen, gründete und organisierte ich eine Bewegung, die weit über die Grenzen des Deutschen Reiches hinaus lebt und wirksam wird". Mit den anderen Parteiführern nahm Hitler keine Verbindung auf. In internen Parteibesprechungen prallten die Gegensätze wieder hart aufeinander. Gregor Strasser, hinter dem Schleicher stand, kämpfte offen für die Annahme; Göring scheint schwankend gewesen zu sein; doch ist es sehr schwer festzustellen, wie stark die sozialistisch eingestellte Anhängerschaft Strassers in der Partei war, denn die gesamte nationalsozialistische Presse unterstand Goebbels, der unbedingt zu Hitler hielt und überdies Strasser persönlich haßte. Allgemeines Aufsehen erregte die Teilnahme Schachts an den Beratungen der Parteileitung; befriedigt schrieb Goebbels am 23. November in sein Tagebuch: „In einer Unterredung mit Dr. Schacht stelle ich fest, daß er absolut unseren Standpunkt vertritt. Er ist einer der wenigen, die ganz konsequent zum Führer stehen." Hitler lehnte die Bildung einer Mehrheitsregierung als undurchführbar ab und machte neue Vorschläge; Hindenburg brach indes am 24. November die Verhandlungen wieder ab mit der 665

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Papens Begründung, ein von Hitler geführtes Präsidialkabinett werde „sich zwangsläufig zu einer Parteidiktatur mit all ihren Folgen für eine außerordentliche Verschärfung der Gegensätze im deutschen Volk entwickeln, die herbeigeführt zu haben der Reichspräsident vor seinem Eid und seinem Gewissen nicht verantworten" könne. Nachdem Kaas im Auftrag Hindenburgs noch einen vergeblichen Versuch gemacht hatte, die Parteien für die Mitarbeit zu gewinnen, glaubte Papen, der inzwischen geschäftsführend weiter amtierte und noch immer das volle Vertrauen Hindenburgs genoß, die Zeit zur Verwirklichung seiner Pläne sei nun gekommen. Bei einer Besprechung mit dem Reichspräsidenten in Anwesenheit Schleichers am 1. Dezember schlug Papen vor, ihm wieder die Regierung zu übertragen, das Wirtschaftsprogramm und die Verfassungsreform (S. 653) müßten durchgeführt, der Reichstag notfalls wieder aufgelöst, Neuwahlen bis zur Beendigung dieser Maßnahmen hinausgeschoben — auch wenn dies gegen die Verfassung verstieße — und alle widerstrebenden Parteien und Organisationen selbst auf die Gefahr eines Bürgerkriegs hin unterdrückt werden. Die Verfassungsreform könne hierauf durch Volksentscheid oder eine neu zu berufende Nationalversammlung angenommen werden; nachdem in den letzten Tagen alle Verhandlungen gescheitert seien, sei der Staatsnotstand gegeben, der sogar einen Verfassungsbruch rechtfertige. Nun wandte sich Schleicher offen gegen Papen, um dessen Ernennung zum Reichskanzler er sich einst bemüht hatte, dem er sich aber dann mehr und mehr entfremdete, als Papen die „Zähmung der NSDAP" durch Einbeziehimg in die Regierung nicht gelang, und er mit seinen Diktaturplänen eigene Wege ging. Schleicher legte dem Reichspräsidenten jetzt einen neuen Plan vor, an dem er seit längerer Zeit arbeitete. Schleicher, der „soziale General", war mit den Gewerkschaftsführern und mit Gregor Strasser zu einer gewissen Einigung gekommen und hoffte, als Reichskanzler durch eine „Gewerkschaftsachse" die Mitarbeit oder wenigstens die Duldung der gewerkschaftlich eingestellten Teile der Sozialdemokraten und des Zentrums zu gewinnen, die NSDAP zu spalten und mit Gregor Strasser etwa 60 nationalsozialistische Abgeordnete auf seine Seite zu bringen und so einen Verfassungsbruch vermeiden zu können. Papen widersprach diesem Plan, der wieder nur ein Provisorium und nicht die erstrebte grundlegende Reform schaffen würde. Hindenburg entschied sich für Papen und den etwaigen Verfassungsbruch. Zu der Kabinettssitzung am folgenden Tag zog Schleicher den Oberstleutnant Eugen Ott hinzu, der das Ergebnis einer genauen Prüfung der Lage für die Reichswehr im Fall eines Bürgerkriegs vorlegte: bei Erklärung des militärischen Ausnahmezustands im ganzen Reich würden der Widerstand der Nationalsozialisten und der Kommunisten, Generalstreik in Industriegebieten und die Gefahr eines polnischen Angriffs hervorgerufen werden; Reichswehr und Polizei müßten also den Grenzschutz im Osten verstärken, gegen rechts und links kämpfen, dazu den Schutz der technischen Nothilfe für Lebensmittelzufuhr, Bahn usw. übernehmen; dies alles übersteige aber ihre Kräfte. Der Vortrag des Oberstleutnants war vermutlich kein politischer Schachzug, um die Regierung Papen zu stürzen, sondern sollte Schleichers Uberzeugung stützen: der Einsatz von 666

Versuch einer Spaltung der NSDAP durch Strasser

Reichswehr und Polizei bei einem Ausnahmezustand sei, zumal beide in kaum festzustellendem Maße nationalsozialistisch durchsetzt wären, ein zu großes Risiko, die Spannung im Reich müsse also ohne den Einsatz der Reichswehr gelöst werden. Die Minister schlossen sich Schleichers Meinung an. Papen schlug Hindenburg trotzdem das Festhalten an seinem Plan vor, nur das Reichswehrministerium müsse neu besetzt werden; genehmige Hindenburg seinen Plan nicht, so solle er Schleicher zum Kanzler machen. Nach Papen habe Hindenburg darauf geantwortet: „Sie werden mich, lieber Papen, für einen Schuft halten, wenn ich jetzt meine Meinung ändere. Aber ich bin zu alt geworden, um am Ende meines Lebens noch die Verantwortung für einen Bürgerkrieg zu übernehmen, dann müssen wir in Gottes Namen Herrn von Schleicher sein Glück versuchen lassen." Hindenburg wurde der Abschied von Papen wirklich schwer, er dankte ihm in einem sehr herzlichen Handschreiben und schenkte ihm sein Bild mit der Unterschrift „Ich hatt' einen Kameraden".

REICHSKANZLERSCHAFT SCHLEICHERS Versudi einer Spaltung der NSDAP durch Gregor Strasser Am 3. Dezember ernannte der Reichspräsident das neue Kabinett. Schleidler wurde Reichskanzler, Bracht Innenminister an Stelle von Gayl. Im übrigen änderte sich wenig, für Arbeitsbeschaffung wurde ein eigner Reichskommissar eingesetzt, das Reichswehrministerium behielt Schleicher selbst. Seine Hoffnung auf eine Spaltung der NSDAP erwies sich schon gleich zu Beginn seiner Kanzlerschaft als trügerisch. Bei einer Führerbesprechung am 5. Dezember versuchte Gregor Strasser, Hitler mindestens für die Tolerierung Schleichers als Reichskanzler zu gewinnen. Nachdem am Tage zuvor die Landtagswahlen in Thüringen der NSDAP fast 40% Stimmenverlust gegenüber den Reichstagswahlen im Juli gebracht hatten, fürchtete Strasser ernstlich, ein längeres Verharren in der Opposition könnte der Partei verderblich werden; außerdem bot ihm Schleichers Plan einer Gewerkschaftsachse die Aussicht, den sozialistischen Teil des NSDAP-Programms, der dem Idealisten Strasser am meisten am Herzen lag, der Verwirklichung näher zu bringen. In sehr heftigen Auseinandersetzungen lehnte Hitler jedes Nachgeben schroff ab. Goebbels berichtet in seinem Tagebuch zum 5. Dezember, Schleicher habe Strasser das Amt des Vizekanzlers angeboten und dieser es angenommen und noch dazu versprochen, bei einer Neuwahl eine eigene Liste Strasser aufzustellen. „Das ist also schlimmster Verrat am Führer und an der Partei." Ob diese Angaben den Tatsachen entsprechen oder nur dem Haß von Goebbels und seinem Wunsch, den Gegner auch moralisch zu vernichten, entsprungen sind, steht nicht fest, jedenfalls war es von Schleicher klug gewesen, auf diese Weise Strasser an sich zu fesseln. Dieser hielt jedoch nicht durch; in einem Brief an Hitler teilte er am 8. Dezember mit, er lege alle seine Partei667

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Schleichers ämter nieder und verzichte auf sein Reichstagsmandat; die Verantwortung dafür, daß sich die Bewegung in nutzloser Opposition verbrauche, lehne er ab. Dann ging er in Urlaub und ließ Hitler Zeit, die schwerste Krise der Partei zu überwinden. Als Mensch und Organisationsleiter hatte Strasser in der Partei einen großen Anhang, besorgt vermerkte deshalb Goebbels am 8. Dezember in seinem Tagebuch: „Wir sind alle sehr deprimiert, vor allem im Hinblick darauf, daß nun die Gefahr besteht, daß die ganze Partei auseinanderfällt und alle unsere Arbeit umsonst getan ist." Hitler äußerte an diesem Tage in Gegenwart von Goebbels: „Wenn die Partei einmal zerfällt, dann mache ich in drei Minuten mit der Pistole Schluß." Da Strasser nach Italien abgereist war und die Parteileitung eine fieberhafte Tätigkeit entfaltete, gelang es ihr bald, die Gauleiter, Amtswalter usw. wieder auf die unbedingte Gefolgschaft Hitlers zu verpflichten, wobei sich in den folgenden Wochen, wie aus den Tagebucheintragungen von Goebbels hervorgeht, freilich noch mannigfache Schwierigkeiten ergaben: „Wir müssen alle Kraft zusammennehmen, um die Organisation noch einmal herauszupauken; aber es wird gewiß gelingen" (20. Dezember); „Die Strasserclique wühlt weiter" (12. Januar 1933); „Strassers Geheimaktionen richten viel Verwirrung an. Der Schaden ist kaum wieder gut zu machen" (15. Januar). Dazu kam die schlechte finanzielle Lage der Partei. Trotz alledem erfüllte sich Schleichers Hoffnung auf Spaltung der Partei nicht. Strassers Palastrevolution verschaffte dem Reichskanzler Schleicher nur eine Atempause. Die erste Sitzung des neuen Reichstags ging für ihn gut vorüber.

Reichstagssitzungen.

Gleichberechtigung

in der

Rüstungsfrage

Am 6. Dezember 1932 hatte der 82jährige General Karl Litzmann, seit drei Jahren Mitglied der NSDAP, als Alterspräsident den Reichstag eröffnet. Er erhob gegen Hindenburg schwere Vorwürfe, weil dieser die Führung der Regierung nicht Hitler anvertrauen wolle, der „allein fähig ist, das Vaterland zu retten". Reichstagspräsident wurde wieder Göring; für ihn war, ähnlich wie für Litzmann, „das Angebot Hitlers an den Reichspräsidenten die einzig mögliche Basis, der Krise Herr zu werden". Um eine erneute Auflösung des Reichstags zu verhindern, lehnte die Mehrheit die Behandlung des kommunistischen Mißtrauensantrages gegen die Regierung ab und erledigte die Tagesordnung: an Stelle des Reichskanzlers erhielt der Reichsgerichtspräsident die Vertretung des Reichspräsidenten im Falle seiner Behinderung oder seines Todes; aufgehoben wurden die sozialpolitischen Teile der Notverordnung vom 4. September, vor allem die Lockerung des Tarifrechts, angenommen ein Amnestiegesetz für politische Straftaten sowie Anträge zu verstärkter Winterhilfe und Arbeitsbeschaffung. Am 9. Dezember vertagte sich der Reichstag auf unbestimmte Zeit. Schleicher hatte an den Sitzungen überhaupt nicht teilgenommen. In einer Rundfunkrede entwickelte er am 15. Dezember sein Regierungsprogramm: es bestehe aus einem einzigen Punkt „Arbeit schaffen", wozu auch sehr großzü668

Papens Zusammengehen mit Hitler. Haltung der Parteien gige Siedlungspläne gehörten, etwa 1300 000 Morgen Land sollten in Ostpreußen, Pommern und Mecklenburg aufgeteilt werden. Er gab weiter bekannt, daß in Genf endlich der deutsche Anspruch auf Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage anerkannt worden sei. — Damit hatte Deutschland in zähem Verhandeln wieder ein lange erstrebtes Ziel erreicht. Nachdem im März 1932 die Abrüstungskonferenz und im Juli die Ausschußsitzungen ergebnislos abgebrochen worden waren, hatte Papen im August mit einem Memorandum an die französische Regierung die Diskussion erneut vorangetrieben. Frankreichs Verlangen nach Sicherheit gegenüber dem volkreicheren Deutschland führte immer wieder zu Verzögerungen, am 14. September erklärte Außenminister von Neurath, Deutschland werde sich vor Erledigung der Gleichberechtigungsfrage nicht mehr an der Abrüstungskonferenz beteiligen. Nach langwierigen englisch-französischen Verhandlungen brachte die englische Regierung dann eine Einigungsformel zustande, die die Vereinigten Staaten, England, Italien und Deutschland am 11. Dezember in Genf unterzeichneten: Deutschland und den anderen durch die Friedensverträge von 1919/1920 abgerüsteten Staaten wird grundsätzlich die Gleichberechtigung gewährt; alle verpflichten sich, Streitfragen nicht mit Gewalt zu lösen und auf eine allgemeine Rüstungsbegrenzung hinzuarbeiten. Wie früher Stresemanns Erfolge in Locarno und im Haag, so nahm das deutsche Volk auch diese Lockerung des Versailler Vertrages ohne die von den Alliierten erwartete Dankbarkeit hin.

Papens Zusammengehen mit Hitler. Das Gespräch in Köln. Haltung der Parteien Am 16. Dezember hielt Papen auf der Jahresversammlung des Herrenklubs in Berlin eine Rede, die den Auftakt zur Machtergreifung Hitlers bildete. Ein Teil der Zuhörer hatte den Eindruck: „Das ist ja ein Dolchstoß gegen Schleicher, dieses Regierungsangebot an die Nationalsozialisten muß ihnen ja neuen Auftrieb geben. Die wissen doch, daß Papen nach wie vor der Vertrauensmann Hindenburgs ist." Nach der Rede vereinbarten der Kölner Bankier Kurt von Schröder und Papen ein Zusammentreffen mit Hitler. Schröder hatte sich in rheinisch-westfälischen Industriekreisen eine einflußreiche Stellung erworben, war seit 1930 mit dem damaligen Gauleiter in Köln, Robert Ley, und dem Wirtschaftsbeauftragten Hitlers, dem Ingenieur und Betriebsleiter Wilhelm Keppler, bekannt und im Sommer 1932 der NSDAP beigetreten. Auf Anregung Kepplers hatte Schröder einen Kreis von Sachverständigen um sich gesammelt, der, entgegen den phantastischen Plänen Gottfried Feders und Leys, Hitler die Interessen und Bedürfnisse der Großindustrie nahelegen sollte; daß dabei auch die finanzielle Unterstützung der Partei eine Rolle spielte, ist ohne weiteres anzunehmen. Am 4. Januar 1933 fand zu Köln im Hause Schröders die Unterredung zwischen Papen und Hitler statt, bei der nur noch Schröder zugegen war. Sie sollte ganz geheim bleiben, aber auf bisher unbekannte Weise hatte Schleicher davon erfahren; schon am nächsten Tag brachten die Zeitungen sensationelle Berichte über die Möglichkeiten einer 669

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Schleichers Regierung Papen-Hitler, denen Dementis von Hitler, Papen und Schröder folgten, es habe sich nur um „die Möglichkeit einer großen nationalen, politischen Einheitsfront" gehandelt. In seinen Memoiren sucht Papen die ganze „Besprechung, die mir mehr Ungelegenheit bereitet hat als sonst irgend etwas in meinem Leben", als vollkommen harmlose und unverbindliche Aussprache ohne jede Spitze gegen Schleicher hinzustellen; dem gegenüber steht aber fest, daß Hitler und Papen ein prinzipielles Abkommen über eine gemeinsame Regierung vereinbarten, wie sie dann Ende Januar näher besprochen und verwirklicht wurde. Papen, über seinen Sturz und Schleichers Vorgehen dabei schwer gekränkt, suchte auf dem Weg der Verständigung mit Hitler wieder an die Macht zu kommen. Die NSDAP befand sich in einer so kritischen Lage, daß Hitler über die Chance, die ihm Papen, der Vertraute Hindenburgs, bot, heilfroh war. Goebbels notierte denn auch am 5. Januar in sein Tagebuch: „Wenn dieser Coup gelingt, dann sind wir nicht mehr weit von der Macht entfernt", und am folgenden Tag: „In Anbetracht der erfreulich fortschreitenden politischen Entwicklung findet man kaum noch die Lust, sich um die schlechte Finanzlage der Organisation zu bekümmern. Kommen wir diesmal zum Streich, dann spielt das alles keine Rolle mehr." Papen hatte am 9. Januar eine Aussprache mit Schleicher; ein Kommuniqué betonte den freundschaftlichen Verlauf und die Haltlosigkeit der Gerüchte, doch ist kaum zu bezweifeln, daß dies nur eine beruhigende Geste für die Öffentlichkeit war und die Wirklichkeit ganz anders aussah. Am gleichen Tag unterrichtete Papen Hindenburg über das Kölner Gespräch und erhielt den streng vertraulichen Auftrag, mit Hitler weiter über dessen Eintritt in ein Koalitionskabinett der Rechtsparteien zu verhandeln. Papen verschwieg dem Reichspräsidenten vorläufig noch, daß Hitler nach wie vor das Amt des Reichskanzlers beanspruchte. Deutlich zeigte sich hier Hindenburgs Abwendung von Schleicher, denn hinter dessen Rücken wurden jetzt Verhandlungen um die Neubildung der Regierung geführt, während Schleicher sich noch bemühte, Strasser, die Gewerkschaften und die Parteien für einen Ausgleich zu gewinnen, bis sich das Abklingen der Weltwirtschaftskrise und die Maßnahmen zu ihrer Milderung in Deutschland auswirkten und damit den radikalen Parteien der Boden entzogen werden konnte. Schleicher griff also im wesentlichen auf Brünings Pläne zurück, nur daß für ihn alles viel ungünstiger stand, weil die Sozialdemokraten und die Mittelparteien so geschwächt waren, daß die NSDAP zusammen mit den Kommunisten im Reichstag die absolute Mehrheit besaß. Die Sozialdemokraten hielten trotz mancher warnender Stimmen in ihren eigenen Reihen an der unbedingten Opposition gegen den Reichskanzler-General Schleicher fest. Sie suchten in diesen Tagen eine Annäherung an die Kommunisten, obwohl beide Seiten sehr mißtrauisch waren, zumal da die Kommunisten von Moskau die Weisung hatten, den Sieg des Nationalsozialismus als ein unvermeidliches Vorspiel für den Sieg des Kommunismus zu betrachten. An eine dauernde Herrschaft Hitlers glaubten auch die Sozialdemokraten nicht. Dieses Verkennen der Gefahr ließ weder die beiden Arbeiter670

Schleichers Sturz. Ernennung Hitlers zum Reichskanzler Parteien noch die alten Parteien der Weimarer Republik zu gemeinsamer Abwehr der Machtansprüche Hitlers sich treffen. Die 6V2 Millionen Arbeitslosen und die Wirtschaftsdepression lagen immer noch als schwere Last auf den Parteien, und in ihrer Mutlosigkeit neigten sie immer mehr zu einem resignierenden: nun solle eben Hitler zeigen, was er ausrichten könne. Schleichers soziales Programm gewann ihm nicht das Vertrauen der Linken und zog ihm die Gegnerschaft der Industrie zu, seine Zollsenkungen und seine Siedlungspläne empörten die Landwirtschaft. In einer sehr scharf gehaltenen Entschließung warf am 11. Januar 1933 der Reichslandbund der Regierung „Ausplünderung der Landwirtschaft zugunsten der allmächtigen Geldbeutelinteressen der international eingestellten Exportindustrie und ihrer Trabanten" vor und beklagte sich in diesem Sinne auch bei Hindenburg. Strasser war seit Anfang Januar wieder in Berlin, verhandelte mit Schleicher und wurde von Hindenburg empfangen, der sich über Strasser nicht abfällig äußerte. Schleicher hoffte immer noch, Strasser werde als Vizekanzler in sein Kabinett eintreten und wenigstens einen Teil der NSDAP Hitler abspenstig machen. Schleichers Verhandlungen mit Hugenberg und Kaas, sie für die Mitarbeit zu gewinnen, verliefen ergebnislos. Die Landtagswahlen in Lippe-Detmold am 15. Januar 1933, ein an sich ganz unbedeutendes Ereignis, verhalfen der NSDAP zu erneutem Auftrieb. In diesem kleinen Staat mit etwas über 100 000 Wahlberechtigten genügten auch bei der schlechten Finanzlage der Partei die zur Verfügung stehenden Mittel eben noch für eine ganz intensive Wahlpropaganda, die selbst das kleinste Dorf erfaßte. So wurde erreicht, daß die Zahl der NSDAP-Abgeordneten von dem einen im Jahr 1929 Gewählten auf neun anstieg. Mehr ins Gewicht fiel die Zunahme der für die NSDAP abgegebenen Stimmen um 6500 gegenüber der Reichstagswahl vom 6. November 1932; hinter dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 31. Juli 1932 blieb die Landtagswahl vom Januar 1933 allerdings um 3400 Stimmen zurück. Trotz des im ganzen doch recht bescheidenen Erfolges dieser Wahl verkündeten nun die Nationalsozialisten mit großem Stimmaufwand, wie falsch alle Hoffnungen auf eine weitere Abnahme der Partei wären, wobei verschwiegen wurde, daß der Gewinn hauptsächlich auf Kosten der Deutschnationalen ging, während die Deutsche Volkspartei, Staatspartei und Sozialdemokraten gegenüber den Novemberwahlen einen beträchtlichen Stimmenzuwachs erzielten und nur die Kommunisten erheblich verloren. Goebbels triumphierte in seinem Tagebuch: „Die Partei ist wieder auf dem Vormarsch. Uns allen fällt ein Stein vom Herzen." Am 16. Januar sprach dann Hitler auf einer Gauleitertagung schroff gegen Gregor Strasser und erntete „spontane, rasende Ovationen".

Schleichers Sturz. Ernennung

Hitlers zum Reichskanzler

Während der folgenden Tage lebte die Harzburger Front wieder auf. Hugenberg und Hitler einigten sich gegen die Regierung Schleicher. Am 24. Januar 1933 veröffentlichten die Deutschnationalen die Forderung, ein völlig neues Kabinett 671

Weimarer Republik — Kanzlerschaft Schleichers zu bilden vor allem wegen der Wirtschaftspolitik Schleichers, bei der „ein Abgleiten in sozialistisch-internationale Gedankengänge immer deutlicher" werde. Der Ring um Schleicher zog sich wieder enger zusammen. Der sozialdemokratische „Vorwärts" schilderte am 20. Januar die aufgeregte Geschäftigkeit in den maßgebenden Berliner politischen Kreisen: „Hitler bei Papen, Strasser bei Schleicher, Hugenberg bei Hitler, Papen bei Hugenberg, Hugenberg bei Hindenburg, Alvensleben schiebt vorne, Thyssen schiebt hinten. Strasser wird Vizekanzler, Hitler will das Reichswehrministerium. Schleicher ist für dieses geneigt, Hindenburg für jenes. Wer findet sich noch durch in der Geheimpolitik, die ohne das deutsche Volk getrieben wird." Papen behauptete nach wie vor, es wäre unmöglich, Hindenburgs Zustimmung für eine Reichskanzlerschaft Hitlers zu erhalten. Joachim von Ribbentrop, durch Einheirat Teilhaber der Sektfirma Henkell, seit dem Sommer 1932 Mitglied der NSDAP, vermittelte nicht nur weitere Besprechungen zwischen Hitler und Papen, sondern auch eine Zusammenkunft Hitlers mit Oskar von Hindenburg und Meißner am 22. Januar. Zwei Stunden besprach sich Hitler allein mit dem Sohn des Reichspräsidenten und gewann ihn für sich. Vielleicht drohte er ihm mit Enthüllungen von Osthilfeskandalen, denn das Zentrum hatte kurz zuvor (18./19. Januar) im Haushaltausschuß des Reichstags einen Antrag auf Untersuchung über die Verwendung der Osthilfegelder gestellt: wenn der Reichslandbund eine so scharfe Sprache gegen die Regierung führe, und „wenn die vom Reiche gegebenen Gelder nicht zur Abdeckung von Schulden, sondern zum Ankauf von Luxusautos und Rennpferden und zu Reisen an die Riviera verwendet würden", müsse sich der Reichstag damit befassen — wozu es allerdings wegen der Reichstagsauflösung (S. 662) nicht mehr kam. Was auch immer zwischen Oskar von Hindenburg und Hitler besprochen wurde, jedenfalls setzten sich von nun an die beiden dem Reichspräsidenten am nächsten stehenden Berater, sein Sohn und Meißner, für ein Kabinett Hitler ein. Schleicher, der durch seinen gut funktionierenden Nachrichtendienst auch von dieser Besprechung erfahren hatte, sah sich zum Handeln gezwungen. Er schlug dem Reichspräsidenten vor, ihm die Vollmacht zur Auflösung des für den 31. Januar einberufenen Reichstags zu geben, dann sollte der Staatsnotstand erklärt, die nationalsozialistische und die kommunistische Partei verboten und die Neuwahlen zum Reichstag verschoben werden. Hindenburg wandte dagegen sofort ein, Schleicher habe eben diesen von Papen vorgelegten Plan vor zwei Monaten abgelehnt, und ließ auch nicht gelten, daß die Gewerkschaften jetzt nicht zum Generalstreik aufrufen würden und nun nach der am 11. Dezember 1932 auch Deutschland zuerkannten Gleichberechtigung die Reichswehr verstärkt werden könne. Mit der Begründung, die Erklärung des Staatsnotstandes sei in dieser Lage verfassungswidrig, versagte Hindenburg Schleichers Plan, möglicherweise der letzten Chance, Hitlers Machtergreifung zu verhindern, seine Zustimmung. So sah sich Schleicher gezwungen, seine Pläne, über die Gerüchte in die Öffentlichkeit gedrungen waren, und die heftige Proteste aller Parteien hervorgerufen hatten, zu dementieren. Die Umgebung Hindenburgs fädelte hinter Schleichers Rücken noch eine wei672

Schleichers Sturz. Ernennung Hitlers zum Reichskanzler

tere Intrige ein. Als Nachfolger Schleichers im Reichswehrministerium wurde Hindenburg der Wehrkreiskommandeur in Ostpreußen, Generalleutnant Werner von Blomberg, empfohlen, der von seinem Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, dem späteren „Reichsbischof", und seinem Stabschef, Oberst Walter von Reichenau, schon für die NSDAP gewonnen war. Hindenburg rief Blomberg, der eben der Abrüstungsdelegation in Genf zugeteilt war, ohne Wissen Schleichers zu einer streng geheimen Besprechung um den 25. Januar nach Berlin. Wie Meißner berichtet, sagte Blomberg, eine nationale Koalitionsregierung unter Hitlers Führung sei auch für die Reichswehr die beste Lösung und werde zweifellos von der ganzen Wehrmacht begrüßt; die „Schleicherschen Vorschläge einer Militärdiktatur und eines Kampfes gegen die SA und SS wies er als unmöglich und völlig aussichtslos zurück; die Reichswehr, die in ihrer nationalen Einstellung namentlich im jüngeren Offizierskorps Verständnis und Sympathie für Hitler und seine Bewegung zeige, würde an einem Kampf Deutscher gegen Deutsche innerlich zerbrechen und äußerlich unterliegen". An der Ernennung Blombergs zum Reichswehrminister lag Hitler sehr viel, denn damit wurde die Möglichkeit, daß Hindenburg einen Widerstand gegen die NSDAP organisiere, so gut wie ausgeschaltet. Papens Hauptsorge war jetzt, wie er Hindenburgs Abneigung gegen die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler überwinden könne. Um deutlicher zu machen, daß es sich nicht um ein Kabinett der NSDAP, sondern um ein Kabinett der „nationalen Front" handeln werde, zog Papen auch die Stahlhelmführung heran. Duesterberg lehnte den angebotenen Ministerposten ab, Seldte erklärte sich zur Annahme des ihm in Aussicht gestellten Arbeitsministeriums bereit. Hugenberg wurde das Wirtschaftsministerium zugesichert, das ihm Schleicher in den vorhergegangenen Besprechungen verweigert hatte. Hindenburg wollte indes immer noch ein Kabinett Papen. Am 27. Januar sagte er zu dem Chef der Heeresleitung, Hammerstein, der ihn vor der Ernennung Hitlers warnte, „er dächte gar nicht daran, den österreichischen Gefreiten zum Wehrminister oder Reichskanzler zu machen". Wie schwer Hindenburg sein Entschluß, Hitler nicht an die Regierung zu lassen, gemacht wurde, geht aus Meißners Bericht hervor: „Während der letzten Monate des Jahres 1932 und der ersten Wochen des Jahres 1933 häuften sich im Büro des Reichspräsidenten die Zuschriften aus allen Schichten der Bevölkerung und von Verbänden vieler Berufsstände, die an den Reichspräsidenten den dringenden Appell richteten, nun endlich dem Willen der 14 Millionen hinter Hitler stehenden Wähler nachzugeben und den Auftrag zur Regierungsbildung dem Führer der Nationalsozialisten zu übertragen, der allein die den Staat und die Wirtschaft bedrohende Krise beenden, die vom Kommunismus drohenden Gefahren bannen und Deutschland retten könne." Hinzu kam, daß die Nationalsozialisten Hindenburg gegenüber wiederholt Erklärungen abgaben, sie würden streng verfassungsmäßig vorgehen, die Rechte des Reichspräsidenten und Oberbefehlshabers der Reichswehr und Reichsmarine, sowie die des Reichstags und Reichsrats achten. Die Vertreter der übrigen Reichstagsfraktionen, die Hindenburg zu Beratungen rufen ließ, lehnten Schleichers Notstandspläne ebenso ab wie ein

43 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Weimarer Republik — Kanzlerschaft Schleichers neues Kabinett Papen; eine normale Mehrheitsbildung im Reichstag werde erst wieder möglich sein, wenn die NSDAP sich, in verantwortlicher Regierung abgenützt habe, eine für Verfassungsänderungen erforderliche Zweidrittelmehrheit im Reichstag werde sie ja nie erreichen. So blieb Hindenburg nur die Entscheidung zwischen dem Plan Schleichers und der verfassungsrechtlich legalen Berufung Hitlers in die Regierung. Schleicher war sich über seine Lage noch nicht klar; er glaubte, als er am 28. Januar von Hindenburg entweder die Genehmigung seines Planes oder seine Entlassung verlangte, ein Kabinett Papen-Hugenberg werde folgen, in dem er Reichswehrminister bliebe. Hindenburg nahm die Demission des Gesamtkabinetts Schleicher an, beauftragte Papen, „die politische Lage zu klären" und die Lösung „im Rahmen der Verfassung und in Übereinstimmung mit dem Reichstag" zu suchen. Da Papen schon gründlich vorgearbeitet hatte, ging das letzte Aushandeln der Ministerstellen rasch vonstatten, eine Schwierigkeit ergab sich nur noch, als Hitler die Auflösung des Reichstags und Neuwahlen forderte. Hindenburgs Einwilligung dazu erhielt Papen nach dem Hinweis, daß dieser Regierungswechsel „eine grundsätzliche Umstellung der deutschen Politik und ein neues Programm der Staatsführung" bedeute, zu dem das deutsche Volk durch eine Wahl seine Zustimmung erteilen müsse. Von diesem Beschluß erfuhr Hugenberg erst, als das neue Kabinett schon im Reichspräsidentenpalais zur Vereidigung versammelt war, und erhob sofort Einspruch. Das ganze Werk drohte im letzten Augenblick zu scheitern — da gab Hitler sein Ehrenwort, auch nach den Neuwahlen werde sich an der jetzigen Zusammensetzung des Kabinetts nichts ändern. Papen beschwor Hugenberg, „die unter solchen Erschwernissen vollzogene nationale Einigung" nicht zu gefährden. Und als dann Meißner mit der Uhr in der Hand hereinkam und mahnte, man dürfe den Reichspräsidenten nicht länger warten lassen, willigte Hugenberg ein. Wie Oskar von Hindenburg, Meißner und Papen es fertig gebracht haben, den Reichspräsidenten für die Ernennung des „böhmischen Gefreiten" zum Reichskanzler zu gewinnen, wird sich wohl kaum je ganz klären lassen. Sicher spielte das Argument eine Rolle, nur so könne Hindenburg seinen auf die Verfassung geleisteten Eid halten; auch vertraute der Reichspräsident den Versicherungen Papens, Hitler sei von Deutschnationalen und Stahlhelmern so „eingerahmt", daß er keinen Schaden anrichten könnte. Hitler gab sich sehr bescheiden, verlangte außer dem Amt des Reichskanzlers für seine Partei nur zwei Ministersitze und soll Hindenburg die Wiederherstellung der Hohenzollernmonarchie in Aussicht gestellt haben; ob auch die von nationalsozialistischer Seite geäußerte Drohung, man werde den Reichspräsidenten wegen mißbräuchlicher Anwendung des § 48 bei Papens Preußenputsch anklagen, Hindenburg beeindruckt hat, ist fraglich; Meißner lehnt diese Behauptung in seinen Memoiren als ein nach 1945 entstandenes „reines Phantasieprodukt" ab. Schließlich aber wurde Hindenburgs Einwilligung durch das Gerücht beschleunigt, die Potsdamer Garnison werde nach Berlin marschieren, Schleichers Absetzung verhindern, Hindenburg von seiner Umgebung isolieren und Papen, Hitler und Oskar von Hindenburg internieren. Im allgemeinen wird jetzt angenommen, dieses Gerücht, das in den verschiedensten

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Leistung und Versagen Formen umlief, entbehre jeder tatsächlichen Grundlage, habe aber Papen und Hitler eine willkommene Handhabe geboten, um die Ernennung ihres Kabinetts zu beschleunigen. Am Morgen des 30. Januar wurde Blomberg, der telegraphisch von Genf herbeigerufen war, von Oskar von Hindenburg auf dem Bahnhof empfangen und sofort zum Reichspräsidenten geführt. Auch Schleicher hatte Blomberg zu sich befohlen; als dieser aber Hindenburgs Ruf folgte, wußte Schleicher, daß er verspielt hatte. Wenige Stunden darauf erfolgte die offizielle Ernennung und Vereidigung des Kabinetts: Hitler wurde Reichskanzler, Papen Vizekanzler und Reichskommissar von Preußen, Frick Innenminister, Blomberg Reichswehrminister, Seldte Arbeitsminster, Hugenberg Wirtschafts- und Landwirtschaftsminister; ihre bisherigen Ämter behielten Außenminister Neurath, Finanzminister Schwerin-Krosigk, Verkehrsminister Eitz von Rübenach, Justizminister Gürtner und der Reichskommissar für Arbeitsbeschaffung Gereke; für Göring wurde ein Luftfahrtministerium neu geschaffen und ihm die kommissarische Verwaltung des preußischen Innenministeriums übertragen. Papen wähnte, die einzig mögliche legale Lösung der großen politischen Krise gefunden und das Kabinett gegen Hitlers Diktaturgelüste hinreichend gesichert zu haben: Hitler hatte Papen versprochen, nur in dessen Gegenwart Vortrag beim Reichspräsidenten zu halten; von den zwölf Kabinettsmitgliedern waren nur drei Nationalsozialisten, die übrigen deutschnationale Fachminister. Der Fehler in dieser Rechnung lag jedoch darin, daß von den Ministem allein durch Hugenberg ein ernsthafter Widerstand gegen nationalsozialistische Übergriffe erwartet werden konnte, und daß Hitlers Legalitätsbeteuerungen lediglich der Verschleierung seines Strebens nach der absoluten Macht dienten. Die Besetzung des Reichsund des preußischen Innenministeriums mit prominenten Nationalsozialisten und des Reichswehrministeriums mit Blomberg hat Hitler fast die ganze Exekutivgewalt in seine Hand gegeben. Die deutsche Öffentlichkeit — abgesehen von dem Jubel der Nationalsozialisten — nahm die neue Lage gleichmütig hin. Die geringe Zahl der nationalsozialistischen Minister und Hitlers scheinbarer Verzicht auf die absolute Macht wirkten beruhigend; Hitler, der ersehnte „starke Mann", müsse jetzt zeigen, daß er mehr könne als seine Vorgänger, und die Aufgabe der Parteien sei es, für die Einhaltung der Weimarer Verfassung zu sorgen. „Daß man demokratische Methoden zur Vernichtung der Demokratie nutzen kann, war für Hitler eine Selbstverständlichkeit, für die Massen eine noch nicht gemachte Erfahrung" (SchwerinKrosigk).

LEISTUNG UND VERSAGEN DER WEIMARER REPUBLIK Der 30. Januar 1933 bedeutete das Ende der Weimarer Republik. Zwischen dem Kaiserreich der Hohenzollern und Hitlers Drittem Reich war ihr nur eine Dauer von 14 Jahren beschieden. Die skrupellose Hetze ihrer Gegner erschwerten

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Weimarer Republik lange Zeit eine gerechte Beurteilung. Dies und ihr kampfloser Untergang führte dazu, daß Fehlgriffe und Versagen der Weimarer Republik gegenüber ihren positiven Leistungen zu sehr betont wurden. Die Männer und Parteien, die nach dem verlorenen Krieg von 1918 den Aufbau eines neuen Deutschland unternahmen, haben die Einheit des Bismarckschen Reiches trotz Separatismus und Partikularismus gewahrt, besonders während des Ruhrkampfes, als die Gefahr der Auflösung des Reiches in einzelne Teile drohte. Verglichen mit Staatsumwälzungen in anderen Ländern, vollzog sich die deutsche Revolution von 1918/1919 sehr maßvoll. Von Anfang an lenkten die Sozialdemokraten unter Ebert auf die Bahn der staatlichen Ordnung und der demokratischen Entwicklung. Wenn man an die drei Millionen waffengewohnter entlassener Soldaten denkt, an die Freikorps und Arbeiterwehren, dazu an die Waffenmengen, die durch Verschleuderung von Heeresbeständen in die Hände der Bevölkerung gerieten, so erscheinen im Vergleich dazu die Verluste an Toten und Verwundeten in den Straßenkämpfen als verhältnismäßig gering. Die Sozialdemokraten versuchten nie, ihr Programm gegen die bürgerliche Mehrheit mit Gewalt durchzusetzen, sondern fügten sich den demokratischen Spielregeln. Das Schlagwort von der „marxistischen Herrschaft", das in der Agitation der extremen Rechten eine so verhängnisvolle Rolle spielte, war ganz unberechtigt. „Es gab in den 14 Jahren nur drei sozialdemokratische Reichskanzler. Unter den 18 Regierungen gab es nur 8, an denen die Sozialdemokratie überhaupt beteiligt war .'.. Alle Regierungen, an denen die Sozialdemokraten beteiligt waren, amtierten insgesamt nur 37 Monate, also 3 Jahre von insgesamt ,14 Jahren Marxismus'. Mit diesen Fakten springe man den Neunmalklugen ins Gesicht, die von ,14 Jahren Marxismus' fabeln" (Löbe). Die Abdankung der Dynastien ging ruhig vor sich, die einzelnen Länder hielten mit geringen Ausnahmen an ihrer Eigenstaatlichkeit fest, die Zentralisierung des Reiches blieb deshalb in mäßigen Grenzen. Der 1919 von der Nationalversammlung angenommenen Verfassung fehlte es in Deutschland und im Ausland nicht an Anerkennung. Daß es der Regierung und dem Reichstag nicht gelang, die Weimarer Verfassung nach den praktischen Erfahrungen der folgenden Jahre zu ergänzen und auszubauen, so vor allem einschränkende Ausführungsbestimmungen zu dem Artikel 48 und Maßnahmen gegen die Parteienzersplitterung, lag nicht an Unfähigkeit, sondern an den ungeheuren außen- und innenpolitischen Belastungen, denen die Republik ausgesetzt war. Wie konnte sie sich festigen und ihren Bürgern ein Gefühl von Stolz auf die neue demokratische Freiheit vermitteln, wenn die erste außenpolitische Tat die Annahme des Versailler Vertrags sein mußte, dessen Grundlage die von dem ganzen Volk leidenschaftlich abgelehnte Alleinschuld Deutschlands am Kriege bildete und dessen Reparationsbestimmungen der deutschen Wirtschaft untragbare Lasten auferlegte! Daraus erklären sich großenteils die Feindseligkeiten der Rechten gegen die Republik und die Begeisterung, mit der Hitlers Schlagworte von der Wiederherstellung deutscher Ehre und Freiheit Aufnahme fanden; die Weimarer Republik wurde zum Sinnbild der Niederlage. Für Deutschland und damit späterhin auch für die ganze Welt würde sich das 676

Leistung und Versagen Schicksal der folgenden drei Jahrzehnte wohl glücklicher gestaltet haben, hätten Briand und Stresemann ihre Verständigungspolitik von 1925/1926 sofort und in vollem Umfange durchführen und damals schon die für Deutschland brennenden Fragen befriedigend lösen können: Rheinlandräumung, Reparationen, gleichmäßige Abrüstung aller Staaten und Kriegsschuldfrage. Dem deutschen Volk wäre das Gefühl, entehrend behandelt zu werden, genommen worden. Die öffentliche Meinung in Frankreich stand aber einem Entgegenkommen, wie es Briand befürwortete, im Wege: Es war die alte Feindschaft des französischen Volkes gegen das deutsche, nun nodi verstärkt durch den Weltkrieg und die Nachwirkungen der Kriegspropaganda — die Angst, angesichts der Agitation der deutschen Rechten, das weit zahlreichere und in manchem leistungsfähigere Deutschland könnte einen Revanchekrieg herbeiführen — das Bestreben, aus Deutschland, das ja nach seiner Meinung den Krieg verschuldete, möglichst viel herauszupressen als Entgelt für die großen Opfer Frankreichs an Gut und Blut während des Krieges. Die außenpolitischen Erfolge der Weimarer Republik kamen deshalb nur langsam in zähem und mühseligem Ringen zustande: Locamo — Dawesplan — Eintritt in den Völkerbund — Youngplan — Lausanne. Schließlich hatte Deutschland wieder eine geachtete Stellung in der Welt, das Rheinland wurde vor der festgesetzten Frist geräumt, die Reparationszahlungen hatten aufgehört, die Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage war anerkannt. Aber da war es schon zu spät. Die Wirtschaftskrise hatte eingesetzt und der Aufstieg der Rechtsradikalen war nicht mehr in Schranken zu halten. Bis sich aber 1930 die Weltwirtschaftskrise auszuwirken begann, erfüllte die junge Republik ihre innerpolitischen Aufgaben, soweit dies unter den schwierigen Verhältnissen möglich war; eine schnelle und reibungslose Umstellung auf die neue Lage zu verlangen, wäre unbillig. Was an kleinen und größeren Korruptions- und Skandalaffären vorkam, wurde zwar jeweils von den Gegnern der Republik propagandistisch gründlich ausgeschlachtet und übermäßig aufgebauscht, war aber im ganzen unerheblich. Die Beamtenschaft arbeitete treu und zuverlässig weiter, obwohl die Inflation gerade die mittleren Schichten schwer getroffen und um ihr Vermögen gebracht hatte. Trotz der unerfreulichen Schieber, Kriegsund Inflationsgewinnler hat die große Mehrheit des Volkes in ehrlicher Arbeit versucht, die wirtschaftlichen Kriegsfolgen zu überwinden. Das Aufblühen der deutschen Wirtschaft nach 1924 ruhte freilich auf dem unsicheren Boden ausländischer Anleihen, und die zahlreichen Fehlinvestitionen rächten sich bitter, als die Weltkrise einsetzte. Sie traf andere Länder ebenfalls hart, hatte aber in reicheren, politisch ruhigen und gesicherten Staaten nicht so katastrophale Folgen. Der frühe Tod von Ebert und dann von Stresemann, die für den äußeren und inneren Aufstieg Deutschlands am meisten geleistet haben, war sicher ein großes Unglück für das deutsche Volk. Hindenburg erwarb sich zwar durch seine getreue Pflichterfüllung die Achtung auch seiner Gegner; aber selbst wenn er noch jünger gewesen wäre, hätten seine Fähigkeiten nicht ausgereicht, um die Krise von 1932/33 zu meistern. Es war nicht zu erwarten, daß der Fünfundachtzigjährige, von dem man sagte, er habe sich sein Leben lang „mit Würde schieben lassen", 677

Weimarer Republik nun auf einmal die Kraft finden würde, im Gegensatz zu seinem Sohn, den vertrauten Ratgebern und den alten deutschnationalen Freunden einen eigenen Weg entschlossen zu gehen. So trifft der Vorwurf des Versagens mehr jene, die — wenn auch guten Glaubens — diesem Manne das höchste Amt der Republik übertragen hatten. Mit den Bestimmungen des § 48 lag in den Händen des Reichspräsidenten eine große Machtfülle, die aber der Kontrolle des Reichstags unterworfen war. Schließlich waren es die Parteien, welche versagten, nachdem sie vor Beginn der großen Arbeitslosigkeit im Reichstag Tüchtiges geleistet hatten. Die staatstragenden Parteien, von den Sozialdemokraten bis zur Deutschen Volkspartei, waren gerade in der entscheidenden Phase gelähmt, teils weil ihnen überragende Führer fehlten, teils weil die Angst, in den wirtschaftlichen Nöten Wähler zu verlieren, ihre Tatkraft schwächte, schließlich aber, weil sehr viele die von der NSDAP drohenden Gefahren nicht richtig einschätzten. Als Hugenberg Westarp aus der Führung seiner Partei verdrängte, schlug die deutschnationale Opposition eine verhängnisvolle Richtung ein. Hugenbergs konsequente Ablehnung jeder Zusammenarbeit mit den Sozialdemokraten und seine Hinwendung zu Hitler, auch dann noch, als die deutschnationalen Wähler zur NSDAP überliefen, haben die letzte Möglichkeit einer arbeitsfähigen Mehrheit im Reichstag vereitelt und zu den gefährlichen Präsidialkabinetten geführt. Die wirschaftliche Not hatte das Anwachsen der radikalen Parteien, der Kommunisten und der Nationalsozialisten, zur Folge; beide verhießen schnelle und gründliche Behebung aller Nöte, die Regierung hatte dagegen bloß einen langsamen und mühseligen Aufbau unter großen Opfern zu bieten, ihr Werben um Anerkennung ihrer Erfolge und um Verständnis für ihre Arbeit verhallte ungehört im Getöse der lautstarken Agitation ihrer Gegner. Der Regierung wird deshalb vielfach vorgeworfen, sie habe sich nur an den Verstand gewandt und mit ihren Idealen Gemüt und Phantasie des Volkes nicht zu erfüllen vermocht. Um solche Imponderabilien läßt sich freilich schwer rechten; wer die Reden der von Ebert bis Brüning an der Regierung Beteiligten unvoreingenommen liest, ist erstaunt, daß sie mit ihrer Vaterlandsliebe die Menge nicht zu fesseln vermochten. Die Macht eines Propagandaministeriums, wie es dann Goebbels schuf, hatte man damals noch nicht erkannt. Eine eigenartige Rolle spielte die Reichswehr, die berufene Verteidigerin des Staates. Sie hat in den ersten Jahren Staat und Verfassung loyal verteidigt, blieb aber konservativ-monarchistisch und ohne inneres Verhältnis zur Weimarer Republik. Regierung und Parlament versäumten, von einer verfassungsmäßig möglichen Kontrolle der Reichswehr Gebrauch zu machen. Schleicher konnte sich deshalb als Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium, der politischen Verbindungsstelle zur Regierung, folgenschwer in den Gang der Politik einschalten. Ob sich die Reichswehr noch im Januar 1933 zur Niederwerfimg der NSDAP hätte verwenden lassen, wird nie zu entscheiden sein, jedenfalls wollte Schleicher die Reichswehr nicht als Werkzeug für eine Militärdiktatur benutzen, sondern für die Wiederherstellung verfassungsmäßiger Zustände. 678

Leistung und Versagen Der Form nach und wie sich der Vorgang der Öffentlichkeit darstellte, war Hitler nach demokratischer Gepflogenheit als Führer der stärksten Reichstagsfraktion an die Regierung gekommen. Aber das Intrigenspiel, das dazu nötig gewesen war angesichts der Tatsache, daß Hitler ja all die Jahre zuvor unverhüllt die Weimarer Verfassimg aufs schärfste bekämpft und immer den Anspruch auf die absolute Macht erhoben hatte, zeigt deutlich, daß die auch von Meißner und Papen eifrig verfochtene Behauptung von Hitlers „legaler Machtübernahme" nur als ein formalistischer Deckmantel anzusehen ist. Schwerin-Krosigk behauptete als Zeuge im Wilhelmstraßenprozeß (1948/49) vor dem Internationalen Militärgericht in Nürnberg: „Mir hat noch keiner, auch nicht der heftigste Gegner Hitlers, gesagt, welche andere Möglichkeit 1933 noch gegeben war als die Berufung des Führers der stärksten Partei, also Hitlers, da das Parlament von sich aus keine Regierung stellen konnte, und nachdem die Präsidialkabinette gescheitert waren." Dies trifft nicht zu; der Weg Brünings, auf den Schleicher zuletzt zurückkommen wollte, die Abnützung der NSDAP in fruchtloser Opposition und durch wiederholte Neuwahlen bei gleichzeitiger Besserung der Wirtschaftslage, wäre immer noch möglich gewesen. Das Tagebuch von Goebbels zeigt die damaligen schweren Sorgen der Parteileitung. Als Hitler das Reichskanzleramt antrat, wollte er die Macht, Vizekanzler Papen eine Staatsreform auf berufsständischer Grundlage und Wirtschaftsminister Hugenberg eine autoritäre Regierung mit dem Endziel der Wiederherstellung der Monarchie. Hinter ihnen standen knapp 42% der Wähler vom 6. November 1932 (33,1% NSDAP, 8,8 Deutschnationale). Trotz aller gewalttätigen Demagogie stand also nur eine Minderheit des deutschen Volkes auf Hitlers Seite; nicht eine übermächtige Volksbewegung hat ihn an die Herrschaft gebracht, sondern eine Mischung von Mutlosigkeit, Intrigen und Schwäche, wobei auch die durch das Anwachsen der Kommunisten hervorgerufene Angst vor dem Bolschewismus eine erhebliche Rolle spielte. Hinter den Kommunisten standen 16 % der Wähler. Die übrigen 42 % erhofften nach dem in kurzer Zeit erwarteten Abwirtschaften der NSDAP die Rückkehr zum alten System, sie glaubten, daß dann die Lähmung des Reichstags und der Länderparlamente durch die republikfeindlichen Parteien überwunden sei. Nur wenige befürchteten schon jetzt den Untergang der Weimarer Republik. „So gewann der fanatische Machtwille einer Minderheit die Oberhand. Die meisten wußten garnicht, was ihnen geschah. Deutschland schlitterte in die Hitlerdiktatur, wie es 1914 in den Weltkrieg geschlittert war" (Stampfer).

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Fünftes

Buch

DAS D R I T T E R E I C H

Hitlers Ausbau seiner Macht bis zum Tod Hindenburgs

DIE ERRICHTUNG DER DIKTATUR Die ersten

Maßnahmen

Die Nationalsozialisten feierten die Ernennung Hitlers zum Reidiskanzler in dem „Kabinett der nationalen Konzentration" als Sieg, als den Tag ihrer Machtergreifung. Hitler begab sich am Nachmittag des 30. Januar sofort in die Reichskanzlei und hielt seine erste Kabinettssitzung ab. Mit dem ihm eigenen Geschick für wirkungsvolle Massenbeeinflussung veranstaltete Goebbels am Abend einen Fadcelzug mit Militärmusik. Von 7 Uhr abends bis 1 Uhr nachts marschierten die Berliner und die Brandenburger SA und SS, Hitlerjugend, Stahlhelm und eine gewaltige Menge von Männern und Frauen an dem Reichspräsidenten- und dem Reichskanzlerpalais vorbei. Hindenburg begrüßten die Massen ehrerbietig und freudig, Hitler mit tosendem, grenzenlosem Jubel. Triumphierend in dem Gefühl, das lang erstrebte Ziel sei erreicht, schrieb Goebbels am 30. Januar 1933 in sein Tagebuch: „Das ist der Aufbruch der Nation. Deutschland ist erwacht . . . In einem sinnlosen Taumel der Begeisterung geht diese Nacht des großen Wunders zu Ende . . . Das neue Reich ist erstanden . . . Wir sind am Ziel. Die deutsche Revolution beginnt." Vom ersten Tag seines Kanzleramtes an begann Hitler zielbewußt, tatkräftig und rücksichtslos seine und seiner Partei Macht zu festigen. Er war der Form nach legal Reichskanzler geworden und setzte in den folgenden Wochen seine schwerwiegenden Beschlüsse scheinbar noch nach den Regeln der Demokratie durch, wobei er so wenig auf Widerstand stieß, daß Goebbels am 6. April 1933 in seinem Tagebuch von dem „atemraubenden Tempo" sprechen konnte, in dem die „Gleichschaltung" vollzogen wurde: „Es kann jetzt schon garnicht mehr heißen, daß man die Partei in den Staat einbauen muß, die Partei muß vielmehr der Staat werden." — Der erste Schritt dazu war die Auflösung des Reichstags. Auf Hindenburgs Wunsch führte Hitler am 31. Januar noch Verhandlungen mit dem Zentrum, um dem Kabinett eine breitere parlamentarische Grundlage zu geben. Kaas verhielt sich nicht ablehnend, stellte aber eine Reihe von Fragen über das neue Regierungsprogramm. Hitler gab darauf keine Antwort, im Kabinett aber erklärte er, eine Einigung mit dem Zentrum sei nicht möglich, Wahlen 683

Drittes Reich — Errichtung der Diktatur müßten hier Klarheit schaffen. Hugenberg erhob als einziger, freilich vergebens, Einspruch. Das Auflösungsdekret vom 1. Februar forderte das deutsche Volk auf, „durch Wahl eines neuen Reichstags zu der neugebildeten Regierung des nationalen Zusammenschlusses Stellung" zu nehmen. Die Neuwahlen wurden auf den 5. März festgesetzt. Am Abend des 1. Februar sprach Hitler im Namen des ganzen Kabinetts über den Rundfunk, schilderte, wie „14 Jahre Marxismus Deutschland ruiniert" hätten, verhieß „die geistige und willensmäßige Einheit unseres Volkes" wiederherzustellen, die Regierung werde „das Christentum als Basis unserer gesamten Moral, die Familie als Keimzelle unseres Volks- und Staatskörpers in ihren festen Schutz nehmen . . . das große Werk der Reorganisation der Wirtschaft unseres Volkes mit zwei großen Vierjahresplänen lösen . . . Außenpolitisch wird die nationale Regierung ihre höchste Mission in der Wahrung der Lebensrechte und damit der Wiedererringung der Freiheit unseres Volkes sehen . . . So groß unsere Liebe zu unserem Heere als Träger unserer Waffen und als Symbol unserer großen Vergangenheit ist, so wären wir doch beglückt, wenn die Welt durch eine Beschränkung ihrer Rüstungen eine Vermehrung unserer eigenen Waffen niemals mehr erforderlich machen würde . . . Wir Männer dieser Regierung fühlen uns vor der deutschen Geschichte verantwortlich für die Wiederherstellung eines geordneten Volkskörpers und damit für die endgültige Überwindung des Klassenwahnsinns und Klassenkampfes . . . Nun deutsches Volk, gib uns die Zeit von vier Jahren und dann urteile selbst und richte uns . . . Wir wollen nicht kämpfen für uns, sondern für Deutschland!" Vergeblich protestierte das Zentrum gegen die Reichstagsauflösung, deren Begründung unzutreffend sei. Bei Beginn des Wahlkampfes schrieb Goebbels am 3. Februar in sein Tagebuch: „Nun ist es leicht, den Kampf zu führen, denn wir können alle Mittel des Staates für uns in Anspruch nehmen. Rundfunk und Presse stehen uns zur Verfügimg. Wir werden ein Meisterstück der Agitation liefern. Auch an Geld fehlt es natürlich diesmal nicht." Trotz aller Legalitätsversicherungen zeigte sich von Anfang an deutlich, daß von nun an jeder Andersdenkende in Deutschland rechtlos war. In Preußen, dem größten und wichtigsten der deutschen Länder, begann Göring sofort mit dem, was die Nationalsozialisten „Säuberung" nannten. Hunderte von Verwaltungsund namentlich Polizeibeamten wurden entlassen, an ihre Stelle traten linientreue Nationalsozialisten. Der preußische Landtag lehnte am 4. Februar einen Auflösungsantrag ab, zwei Tage später verkündete eine Notverordnung des Reichspräsidenten die Absetzung der alten Regierung Braun, soweit sie nach dem Reichsgerichtsurteil vom Oktober 1932 noch bestand. Alle Befugnisse wurden dem Reichskommissar Papen übertragen, der dann auch sofort den Landtag auflöste. Am 22. Februar verstärkte Göring die preußische Polizei um 50 000 Mann Hilfspolizei, davon 25 000 Mann SA und 15 000 Mann SS. Mit der Annahme, wegen seiner Göring übergeordneten Stellung die Macht in Preußen in der Hand zu haben, täuschte sich Papen; denn Göring schaltete nach seinem Belieben. Bayern war über die Vorgänge in Berlin sehr beunruhigt. Monarchistische Kreise dachten allen Ernstes daran, den Kronprinzen Ruppredit zur Abwehr einer Hitler684

Erste Maßnahmen herrschaft auf den Thron zu erheben. Der Plan scheiterte an der Unentschlossenheit des Ministerpräsidenten Held. Hindenburg sprach sich auf eine Anfrage hin gegen diese Aktion aus und deutete die Wiederherstellung der Hohenzollernmonarchie an. Der Versuch, ein bayerisches Königreich zu errichten, hätte vermutlich einen blutigen Bürgerkrieg heraufbeschworen. Denn nie hätte Hitler kampflos zugelassen, daß Bayern eigene Wege ging. Der Siegesrausch der NSDAP, der durch die Reden und Aufmärsche während der Wahlkampagne ständig gesteigert wurde, machte sich in Mißhandlungen Andersdenkender Luft, in Morden, Gewalttaten, Verhaftungen und antisemitischen Ausschreitungen. Nach Papens Bericht geriet Hitler, wenn er im Kabinett wegen derartiger Vorkommnisse zur Rede gestellt wurde, „oft selbst in helle Wut über •die Disziplinlosigkeit seiner SA und der politischen Führer. Dann erließ er flammende Aufrufe, die verletzte Ordnung wiederherzustellen. Die Aufrichtigkeit, mit der er dies zu tun schien, war entwaffnend. Immer wieder bat er um Geduld, es werde ihm bald gelingen, die ,aus der Hand geratene Bewegung' wieder einzufangen". Papen und mit ihm ein großer Teil des Bürgertums glaubten längere Zeit, daß Hitlers Abscheu vor Gewalttätigkeiten und Unrecht echt sei, strotzten doch seine Reden von hohen moralischen Forderungen: Sauberkeit auf allen Gebieten des staatlichen Lebens, keine Korruption, Würde, Ehre, Freiheit, Pflicht, Disziplin, Arbeit, keine Klassen- und Parteigegensätze, sondern ein einiges Volk. All das war den Deutschen, des „Kuhhandels" der Parteien und ihrer Zwistigkeiten herzlich müde, aus dem Herzen gesprochen; die Mitlebenden waren sich jedoch meist nicht bewußt, wie sehr die Hetze der rechtsradikalen Presse gegen die Weimarer Republik ihre Einstellung bereits beeinflußt hatte. Dazu unterließen Hitler und seine Parteigenossen in keiner ihrer Reden die wildesten Kampfansagen gegen den Marxismus, den sie in den schwärzesten Farben darstellten. Wenn dabei angekündigt wurde, daß jeder Widerstand rücksichtslos gebrochen werde, so ahnten nur wenige die eigentliche Bedeutung: kein Abweichen von der Parteilinie, auch keine Kritik wird geduldet. Was hinter diesem Schilde von Parteigenossen gesündigt wurde, interessierte Hitler nur so weit, als es seine Pläne störte — dann griff er durch und erzwang sich Gehorsam. Für den Wahlkampf kam ihm die Einschüchterung seiner Gegner durch die Terrormaßnahmen der SA sehr gelegen; sie bildeten die dunkle Kehrseite der vielen mitreißenden Reden, mit denen er und seine Getreuen in rastlosen Fahrten durch ganz Deutschland die Massen für sich zu gewinnen trachteten. Verhaftungen von „Marxisten", Zeitungs- und Versammlungsverbote behinderten zudem die Agitation der übrigen Parteien. Selbst jetzt gelang den bürgerlichen Parteien kein Zusammenschluß gegen die NSDAP. Papen bemühte sich um einen „Kampfblodc Schwarz-WeißRot", aber infolge Hugenbergs Starrsinn, der anderen Parteien keinerlei Konzessionen einräumen wollte, standen nur die Deutschnationalen und der Stahlhelm hinter dem Kampfblock. Später beklagte sich Papen bitter, als viele Stahlhelmer die NSDAP wählten. Die Deutsche Volkspartei, der Christlich-Soziale Volksdienst und die Deutsche Bauernpartei reichten einen gemeinsamen Wahlvorschlag ein. 685

Drittes Reidi — Errichtung der Diktatur

Der Reichstagsbrand Für ein von ihr erstrebtes, noch schärferes Vorgehen gegen den verhaßten Marxismus bedurfte die NSDAP eines einleuchtenden Grundes — und so ging in der Nacht vom 27. zum 28. Februar der Sitzungssaal des Reichstags in Flammen auf, die Fraktionszimmer, die Bibliothek und die Archive blieben unversehrt. Als Brandstifter wurde der holländische Kommunist Marinus van der Lübbe festgenommen; er legte sofort ein Geständnis ab und gab seine Verbindung mit kommunistischen Reichstagsabgeordneten zu. Löbe, der damalige Vizepräsident des Reichstags, unterbrach seine Wahlreise, um die Brandstätte in Augenschein zu nehmen. Zweierlei fiel ihm, wie er in seinen „Erinnerungen" berichtet, auf: einmal war das Feuer auf den Sitzungssaal beschränkt geblieben. Zum anderen weilte trotz der bevorstehenden Wahl das gesamte nationalsozialistische Führerkorps in Berlin, „als gelte es, etwas abzuwarten". Löbe kam zu der Überzeugung, daß Lübbe nur vorgeschoben war; auf ihn ging eine Reihe kleiner, offensichtlich von selbst erloschener Brandherde zurück. Für die gründliche Zerstörung des Sitzungssaales mußten die wirklichen Brandstifter durch den sogenannten unterirdischen Gang, in dem die Röhren, Kabel und Signaldrähte für Heizung, Entlüftung, Beleuchtung liefen, ungesehen gekommen und gegangen sein. Einer der drei für Kontroll- und Reparaturzwedce benutzten Einstiege zu diesem Gang befand sich in dem von Göring bewohnten Dienstgebäude. Löbe fügte seinem Bericht hinzu: „Ich gestehe, daß ich damals trotz aller Indizien noch immer Hemmungen hatte, an ein nationalsozialistisches Attentat zu glauben, einfach, weil ich soviel menschliche Verworfenheit nicht für möglich hielt, selbst den Brand anzulegen und andere dafür in Eisen legen zu lassen. Erst die kaltblütige Ermordung der eigenen Spießgesellen ein Jahr später, die Ermordung von Röhm . . . haben die letzten Zweifel beseitigt." Göring hat nach 1945 seine Mittäterschaft entschieden bestritten und nur zugegeben, daß vielleicht ein „wildes Kommando" einer nationalsozialistischen Gruppe, vielleicht auch die Berliner SA-Führer, Graf Helldorf und Karl Ernst, Urheber und Anstifter des Reichstagsbrandes gewesen seien. Dieser Aussage Görings steht die Erklärung des Generaloberst Halder vor dem Nürnberger Internationalen Gerichtshof gegenüber: „Anläßlich eines gemeinsamen Mittagsmahles am Geburtstag des Führers 1942 kam in der Umgebung des Führers das Gespräch auf das Reichstagsgebäude und seinen künstlerischen Wert. Ich habe mit eigenen Ohren gehört, wie Göring in das Gespräch hineinrief: ,Der einzige, der den Reichstag wirklich kennt, bin ich, ich habe ihn ja angezündet.' Dabei schlug er sich mit der flachen Hand auf die Schenkel." Ob Göring damit die Wahrheit gesagt oder nur renommiert hat, läßt sich nicht entscheiden. Schon bald nach dem Brand wurden in Deutschland und besonders im Ausland Stimmen laut, die den Nationalsozialisten die Schuld gaben; bei aller Berücksichtigung kommunistischer Methoden und der drohenden Sprache ihrer Presse war nicht einzusehen, welchen Nutzen die Kommunisten sich einige Tage vor der Wahl von der Brandstiftung versprechen sollten; den Nationalsozialisten da-

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Wahl vom 5. März 1933 gegen bot sie Gelegenheit, ihren Zielen näher zu kommen. Einige Tage vorher hatte Göring das kommunistische Parteigebäude, das Karl-Liebknecht-Haus, polizeilich durchsuchen und auf Grund des gefundenen, angeblich stark belastenden Materials schließen lassen. Nun wurde der erschreckten Bürgerschaft versichert, der Reichstagsbrand sei nur der Anfang einer ganzen Reihe ähnlicher Pläne, das Zeichen für den Beginn eines kommenden Aufstandes, und deshalb müsse jetzt gegen die Staatsfeinde durchgegriffen werden. Am 28. Februar unterzeichnete der Reichspräsident zwei ihm von Hitler vorgelegte Notverordnungen, die erste verschärfte die Strafbedingungen für Landesverrat und Verrat militärischer Geheimnisse, die zweite „zum Schutz von Volk und Staat" setzte wichtige, in der Verfassung festgelegte Grundrechte außer Kraft: „Es sind Beschränkungen der persönlichen Freiheit, des Rechtes der freien Meinungsäußerung einschließlich der Pressefreiheit, des Vereins- und Versammlungsrechtes, Eingriffe in das Brief-, Post-, Telegraphen- und Fernsprechgeheimnis, Anordnungen von Haussuchungen und Beschlagnahmen sowie Beschränkung des Eigentums auch außerhalb der sonstigen gesetzlichen Grenzen zulässig." Mit den folgenden Paragraphen erhielt die Reichsregierung das Recht, in jedem deutschen Land, dessen Regierung diese Verordnung nicht tatkräftig genug durchführte, vorübergehend die Macht zu übernehmen. Strafen bis zu lebenslänglichem Zuchthaus, ja selbst die Todesstrafe wurden für Zuwiderhandlung, Hochverrat, Brandstiftung, Sprengstoffattentate, schweren Landfriedensbruch, Aufruhr, Anschläge auf das Leben des Reichspräsidenten und der Regierungsmitglieder angedroht. Damit hatten sich Hitler und Göring die gesetzliche Grundlage für ihr Vorgehen gegen die Marxisten und ihr Eingreifen in die Rechte der Länder geschaffen. Jetzt folgte die Verhaftung von etwa 4000 Kommunisten — einigen ihrer Führer, darunter Pieck und Ulbricht, gelang die Flucht nach Moskau — das Verbot ihrer Presse, Wahlversammlungen und Wahlplakate. Da die NSDAP die Sozialdemokraten ohne weiteres zu den Kommunisten rechnete, ging sie auch gegen die für lange Jahre stärkste Partei der Weimarer Republik mit Verhaftungen und Verboten vor. Um die Furcht der Bevölkerung vor einem kommunistischen Aufstand zu erhöhen, griff die Regierung, wie der britische Botschafter in Berlin bemerkte, zu „hysterischen Maßnahmen"; Eisenbahnbrücken wurden bewacht, Flugzeuge kreisten über Berlin. Das Ausland urteilte über die antidemokratische Entwicklung in Deutschland sehr abfällig. Vergebens bemühte sich der neue nationalsozialistische Pressechef Walter Funk, den Vertretern der ausländischen Presse in Berlin klarzumachen, daß die Zeit nicht mehr fern sei, in der die Welt Gott für Herrn Hitler und sein Auftreten gegen Kommunismus und Marxismus danken werde.

Die Wahl vom 5. März 1933. Gleichschaltung

der Länder.

Reichsfarben

Während die Linksparteien in ihren Wahlvorbereitungen fast völlig gelähmt waren, entfaltete die NSDAP eine äußerst rege Tätigkeit. Goebbels gestaltete den Tag vor der Wahl als „Tag der erwachenden Nation" besonders festlich aus. Hitler 687

Drittes Reich — Errichtung der Diktatur

sprach in Königsberg, der Hauptstadt des durdi den polnischen Korridor vom Reich getrennten Ostpreußen. Die Rede, das Niederländische Dankgebet am Schluß und das Glockenläuten vom Königsberger Dom wurden über alle deutschen Rundfunksender übertragen. An der ganzen Grenze gegen Polen und auf den Bergen in ganz Deutschland brannten Freiheitsfeuer. Überall im Reich fanden Fackelzüge und Demonstrationen statt. Trotz alledem brachte die Wahl am 5. März den Nationalsozialisten nicht die absolute Mehrheit: sie erhielten zwar 17 Millionen Stimmen und 288 Sitze. Das aber waren nur 43,7 Prozent, und erst zusammen mit den 3 Millionen Stimmen (52 Sitze, 8%) des Kampfblocks Schwarz-Weiß-Rot hatten sie die Mehrheit im Reichstag. Die Sozialdemokraten gingen nur um 2 Sitze auf 119 zurück, die Kommunisten von 100 auf 81, die Bayrische Volkspartei von 20 auf 19, das Zentrum konnte die Zahl seiner Abgeordneten sogar von 70 auf 73, die Deutsche Staatspartei von 2 auf 6 erhöhen. Die gleichzeitigen Landtagswahlen in Preußen boten das gleiche Bild. Natürlich zeigten die Nationalsozialisten ihre Enttäuschung nicht, sondern feierten das Ergebnis als großen Sieg: „Das Volk will", schrieb die Reichspressestelle der NSDAP, „daß endlich und endgültig aufgeräumt wird mit den Marxistischen Verderbern, damit Deutschland zu durchgreifender, aber ruhiger und stetiger Aufbauarbeit kommen kann. Der Nationalsozialismus hat die Macht, den Urteilsspruch, den das Volk heute über den Marxismus gefällt hat, zu vollziehen, wie er die Kraft besitzt, Deutschland wieder aufwärts und einer besseren Zukunft entgegenzuführen. " Am frühen Morgen des 6. März veröffentlichte Göring eine Erklärung zum Wahlsieg, die mit den Worten Schloß: „Die ungeheure Überlegenheit der nationalen Front gerade auch in den süddeutschen Ländern gibt den süddeutschen Regierungen nicht mehr das Recht, namens des Volkes weiter zu regieren, das sich auch hier hinter Adolf Hitler gestellt hat." Die Notverordnung vom 28. Februar gab dem Reichsinnenminister Frick das Recht, durch die Einsetzung von Reichskommissaren die Regierungen der Länder weitgehend gleichzuschalten, sofern sie nicht schon eine nationalsozialistische Regierung hatten. Zwischen dem 6. und 10. März traten in Hamburg, Lübeck, Bremen, Baden, Bayern, Sachsen und Württemberg Nationalsozialisten als Reichskommissare an die Spitze der Regierungen. Da die Polizei, verstärkt durch SA, sofort unter nationalsozialistische Führung gestellt wurde, kam es zwar nirgends zu Widerstand, aber die SA ging gegen ihr mißliebige Personen mit zahlreichen Verhaftungen, Gewalttätigkeiten und sonstigen Ausschreitungen derart vor, daß Hitler in einem Aufruf vom 10. März die SA- und SS-Männer zu „höchster Disziplin" ermahnte: „Ihr müßt, meine Kameraden, dafür sorgen, daß die nationale Revolution 1933 nicht in der Geschichte verglichen werden kann mit der Revolution der Rucksack-Spartakisten im Jahre 1918." Zum 12. März 1933, dem Gedenktag für die Gefallenen des Weltkriegs, gab Hitler im Rundfunk einen Erlaß des Reichspräsidenten bekannt. Er bestimmte, daß von nun an „bis zur endgültigen Reglung der Reidisfarben die schwarz-weißrote Fahne und die Hakenkreuzfahne gemeinsam zu hissen sind. Diese Flaggen 688

Tag von Potsdam verbinden die ruhmreiche Vergangenheit des Deutschen Reiches und die kraftvolle Wiedergeburt der deutschen Nation." Gleichzeitig verordnete der Reichspräsident, daß in der schwarz-weiß-roten Kriegsflagge die schwarz-rot-goldene Edke fortfallen solle. So war sechs Wochen nach Hitlers Ernennung zum Reichskanzler die Fahne der Weimarer Republik mit einer einfachen Verordnung abgeschafft.

Der Tag von Potsdam Großen Wert legte Hitler darauf, die Verbindung des Dritten Reiches mit dem Bismarckreich zu demonstrieren. Die erste Sitzung des neuen Reichstags wurde deshalb in großer Aufmachung am 21. März in der Potsdamer Garnisonkirche abgehalten, hinter deren Altar die Gruft mit den Särgen Friedrich Wilhelms I. und Friedrichs des Großen von Preußen lag. Die alte Soldaten- und Residenzstadt der preußischen Könige sah am 62. Jahrestag der Eröffnung des ersten Reichstages, der das durch Bismarck geeinigte Deutschland umfaßt hatte, den Händedruck zwischen dem „greisen Feldmarschall Hindenburg und dem jungen Kanzler". Den vorausgegangenen Gottesdiensten in der evangelischen Nikolaiund der katholischen Peter-Paulskirche blieb Hitler fern, er besuchte inzwischen mit seinen Getreuen die Gräber getöteter Nationalsozialisten. Unter vielen alten Generalen beteiligte sich an der Eröffnungsfeier des Reichstags in der Garnisonkirche der deutsche Kronprinz; er saß in der alten Kaiserloge hinter seines Vaters leerem Sitz. Hindenburg grüßte den Sessel beim Einzug feierlich mit dem Marschallstab. Nach Ansprachen des Reichspräsidenten und Hitlers ging Hindenburg allein in die Gruft; dann nahm er unter Kanonendonner und Militärmusik die Parade der Reichswehr, SA, SS und des Stahlhelms ab. Die Kundgebung war vorzüglich vorbereitet, eindrucksvoll inszeniert und gewann Hitler die Herzen vieler, die an den Zeiten des Kaiserreichs hingen. Daß Hitler und seine Anhänger auch nicht einen Hauch des alten preußischen Geistes verspürten, kam im Taumel der Begeisterung nur wenigen zum Bewußtsein. Der feste Zusammenhalt der NSDAP, dazu die von Goebbels, seit dem 11. März Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, mit hervorragendem Verständnis für Massenwirkung gelenkte Agitation, und andererseits die Zersplitterung der Hitlergegner, täuschen oft darüber hinweg, daß keineswegs das ganze deutsche Volk hinter Hitler stand. Immerhin wirkten die unablässig wiederholten nationalsozialistischen Tiraden wie ein Narkotikum auf die große Masse der Hörer; ihr entging, daß Goebbels Behauptungen wie: mit der Feier in der Garnisonkirche sei „der Schild der deutschen Ehre wieder reingewaschen", nicht begründete und auch nicht begründen konnte. Der englische Gesandte in Berlin hatte schon am 22. Februar während des Reichstagswahlkampfes über Hitlers Anklagen gegen die Weimarer Republik geschrieben: sie beruhten „auf so vorsätzlichen Geschichtsfälschungen, daß man sich über die Leichtgläubigkeit der Hörerschaft noch mehr wundert als über die Frechheit des Redners". 689 44 Β übler. Deutsche Geschichte. VI

Drittes Reich — Errichtung der Diktatur Ermächtigungsgesetz Noch während der Verhandlungen wegen der Übernahme des Reichskanzleramtes hatte Hitler zur Durchführung seiner Pläne ein Ermächtigungsgesetz gefordert; im Kabinett und mit Vertretern des Zentrums beraten, lag es am 20. März fertig vor. Schwerin-Krosigk hatte versucht, einige Sachgebiete, besonders den Haushaltsplan und die Kreditermächtigungen, der Gesetzgebung des Reichstags vorzubehalten; auf Papens und Hugenbergs Wunsch wurden die Rechte des Reichspräsidenten ausdrücklich gewahrt. Das Zentrum soll von Hitler die Zusicherung erhalten haben, daß die Notverordnung vom 28. Februar aufgehoben, ein kleiner Ausschuß des Reichstags fortlaufend über die Maßnahmen der Regierung unterrichtet und die „Säuberung" der Beamtenschaft sich nicht auf Zentrumsangehörige erstrecken würden. Nach Angabe der Zentrumsführer ist ihnen die schriftliche Bestätigung dieser Zusagen versprochen, aber nie ausgehändigt worden. Noch vor der dritten Lesung des Gesetzes habe man ihnen auf ihre Reklamation hin angekündigt, der Bote mit dem Brief sei bereits unterwegs — das Ganze sei aber eine Täuschung gewesen. Nach der Eröffnungsfeier in Potsdam trat am Nachmittag des 21. März der Reichstag in der Berliner Krolloper, dem Ersatz für den ausgebrannten Sitzungssaal, zusammen. SS bildete vor dem Gebäude Spalier, im Saal standen SA-Männer rings an den Wänden. Von den 81 Kommunisten war niemand zugegen. Wer von ihnen den Saal betreten hätte, wäre sofort verhaftet worden. Reichstagspräsident wurde wieder Göring. Als Initiativantrag der Rechtsparteien lag dem Plenum das Ermächtigungsgesetz „zur Behebung der Not von Volk und Reich" vor. Es ging weit über die früheren Ermächtigungsgesetze hinaus: anstatt für wenige Monate sollte es vier Jahre gelten. Ferner billigte es der Reichsregierung das Recht zu, nicht nur Verordnungen, sondern auch ohne Berücksichtigung der in der Weimarer Verfassung festgelegten Bestimmungen Gesetze zu erlassen, darunter selbst verfassungsändernde, die mit der Unterschrift allein des Reichskanzlers und der Veröffentlichung im Reichsgesetzblatt Gültigkeit erlangten; der Reichspräsident konnte also nicht mehr durch Verweigerung seiner Unterschrift ein Gesetz verhindern; Verträge des Reiches mit fremden Staaten bedurften nicht mehr der Genehmigung des Reichstags; dem gegenüber waren die Zusicherungen, daß die Einrichtungen des Reichstags und des Reichsrats sowie die Rechte des Reichspräsidenten unberührt bleiben sollten, bedeutungslos. In einer ausführlichen Rede begründete Hitler am 23. März das Gesetz: die Regierung benötigte das Gesetz, um ihr Programm des Wiederaufbaus unbehindert vom Reichstag zu verwirklichen. Als erstes rühmte Hitler die Rettung vor der „teuflischen Lehre des Kommunismus und vor der Zersetzung durch den Marxismus". Er verlangte „eine Gleichmäßigkeit der politischen Intentionen in Reich und Ländern", versprach aber das kulturelle und wirtschaftliche Eigenleben der einzelnen Länder nicht zu vergewaltigen. Eine Reichsreform müsse „den Willen des Volkes mit der Autorität einer wirklichen Führung" verbinden. Die Gleichheit vor dem Gesetz könne nur denen zugebilligt werden, die sich „hinter die

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Ermächtigungsgesetz nationalen Interessen stellen und der Regierung ihre Unterstützung nicht versagen"; die Frage einer monarchischen Restauration sei bei den augenblicklichen Zuständen indiskutabel. Hitler versprach „die moralische Sanierung des Volkskörpers. Das gesamte Erziehungswesen, Theater, Film, Literatur, Presse, Rundfunk, sie werden alle Mittel zu diesem Zweck sein . . . die weltbürgerliche Beschaulichkeit ist im raschen Entschwinden begriffen, der Heroismus erhebt sich leidenschaftlich als kommender Gestalter und Führer politischer Schicksale. Es ist Aufgabe der Kunst, Ausdruck dieses bestimmenden Zeitgeistes zu sein. Blut und Rasse werden wieder zur Quelle der künstlerischen Intuition werden . . . Die nationale Regierung sieht in den beiden christlichen Konfessionen die wichtigsten Faktoren zur Erhaltung unseres Volkstums. Sie wird die zwischen ihnen und den Ländern abgeschlossenen Verträge respektieren. Ihre Rechte sollen nicht angetastet werden . . . Die Sorge der Regierung gilt dem aufrichtigen Zusammenleben zwischen Kirche und Staat; der Kampf gegen eine materialistische Weltanschauung, für eine wirkliche Volksgemeinschaft dient ebenso den Interessen der deutschen Nation wie dem Wohl unseres christlichen Glaubens. Unser Rechtswesen muß in erster Linie für Erhaltung dieser Volksgemeinschaft dienen. Der Unabsetzbarkeit der Richter auf der einen Seite muß eine Elastizität der Urteilsfindung zum Zweck der Gesellschaft entsprechen. Nicht das Individuum kann Mittelpunkt der gesetzlichen Sorge sein, sondern das Volk". Für die Wirtschaft stellte Hitler den Grundsatz auf: „Das Kapital dient der Wirtschaft und die Wirtschaft dem Volk", verhieß Förderung der Privatinitiative und Anerkennung des Eigentums; den Bauern und dem Mittelstand gelte seine besondere Sorge, Arbeitsbeschaffung und Arbeitsdienstpflicht werden die Arbeitslosigkeit beseitigen. Autarkie sei für Deutschland nicht möglich, der Export werde deshalb gefördert werden. Hitler lobte die Reichswehr, verlangte von den anderen Staaten die Einlösung ihres AbrüstungsVersprechens, gleiche Lebensrechte und gleiche Freiheit für Deutschland, das mit aller Welt in Frieden leben wolle. Die Regierung lege auch größten Wert auf freundschaftliche Beziehungen zum Heiligen Stuhl, denn sie sehe „im Christentum die unerschütterlichen Fundamente der Moral und Sittlichkeit des Volkes". Mit England, Italien, Frankreich, der Sowjetunion und den großen überseeischen Ländern wünsche die Regierung freundschaftliche und nutzbringende Beziehungen. Am Schluß seiner ausführlichen Rede forderte Hitler die Annahme des Ermächtigungsgesetzes; die Regierung werde von ihm „nur insoweit Gebrauch machen, als dies zur Durchführung der lebensnotwendigen Maßnahmen erforderlich ist". Obwohl mit der Annahme dieses Gesetzes das Parlament auf seine gesamten Rechte verzichtete und Hitlers Absichten aus seiner Rede deutlich genug zu erkennen waren, stellte keine der bürgerlichen Parteien Abänderungsanträge, welche die Regierungsvollmacht beschränkt hätten. Schwerin-Krosigks Vorschläge sind gar nicht weiter erörtert worden. Einzig der sozialdemokratische Abgeordnete Wels legte in einer mannhaften Rede die Gründe für die Ablehnung des Gesetzes durch seine Partei dar. Das veranlaßte Hitler zu einer wütenden Entgegnung, die von Protesten der Sozialdemokraten und stürmischem Beifall der Nationalsozialisten vielfach unter691 44'

Drittes Reidi — Errichtung der Diktatur brochen wurde. Die übrigen Parteien erklärten ihre Zustimmung — nodi am gleichen Tage wurde das Gesetz in der dritten Lesung mit 441 gegen die 94 Stimmen der Sozialdemokraten, also mit mehr als der vorgeschriebenen Zweidrittelmehrheit, angenommen. Das Zentrum hätte mit seinen 73 Stimmen das Gesetz zu Fall bringen können. Auf diesem durch legale Manipulationen zustande gekommenen Gesetz beruht die Diktatur Hitlers. Wäre es abgelehnt worden, hätte er sich wohl die Alleinherrschaft mit Gewalt erzwungen; die Annahme vereinfachte indes die Lage für ihn ganz erheblich. Weder der Reichspräsident nodi die Beamten- und Richterschaft hatten jetzt einen Grund, sich gegen Hitlersche Verordnungen zur Wehr zu setzen. Für Hitler fiel jede Bindung an die Weimarer Verfassung und jede Kontrolle durch den Reichstag; seine Revolution hatte ohne Bürgerkrieg gesiegt. Was sich in diesen Monaten bis zum Sommer 1933 an Morden, Gewalttätigkeiten und illegalen Verhaftungen ereignete, geschah nicht, um die Machtstellung der NSDAP gegen Angriffe zu sichern, sondern wurde von rohen und disziplinlosen SA-Männern verübt, die persönliche oder politische Rache an Feinden der Bewegung nahmen, wozu sie nationalsozialistische Blätter schon zuvor oft genug aufgehetzt hatten. Was die bürgerlichen Parteien veranlaßt hat, mit offenen Augen das Parlament völlig ausschalten zu lassen, wird sich wohl nie ganz klären lassen. Die nach 1945 zahlreich erschienenen Schriften zur Rechtfertigung geben keine Antwort. Brüning, der mit dem Zentrum stimmte, hat — nicht sehr überzeugend — dargelegt, das Zentrum habe Zeit gewinnen und erst die zugesagte Aufhebung der Verordnung vom 28. Februar abwarten wollen, nach der Hitler jeden widerstrebenden Abgeordneten verhaften und Parteien verbieten konnte. Brüning hoffte ferner auf einen Umschwung Hindenburgs, der noch das Recht gehabt hätte, Hitler als Kanzler zu entlassen. Außerdem sei Hindenburg noch im Frühjahr 1933 zum Widerstand gegen Hitler bereit gewesen, auch in der Reichswehr und unter den Nationalsozialisten selbst hätten Oppositionsgruppen bestanden. Gegen diese Thesen Brünings haben sich die Sozialdemokraten, Papen und Meißner gewandt. Papen beruft sich auf die Gutgläubigkeit der nicht-nationalsozialistischen Minister und Abgeordneten. Meißner betont die Einschüchterung durdi Drohungen und Gewaltmethoden. Schacht, der an dem Zustandekommen des Ermächtigungsgesetzes nicht beteiligt war, urteilt: Die demokratischen Parteien „begaben sich ohne jede Not freiwillig jeden parlamentarischen Einflusses, jeder Wahrung der verfassungsmäßigen Freiheiten, ja jeder Kritikmöglichkeit, ein Akt politischer Selbstentmannung, wie ihn die Geschichte der modernen Demokratie nicht noch einmal kennt". Ähnlich spricht der Engländer Wheeler-Bennett vom Massenselbstmord der politischen Parteien. Kabinettsumbildung Als Hitler Ende Januar 1933 das Amt des Reichskanzlers in dem „Kabinett der nationalen Konzentration" antrat, zeigte er sich in den Sitzungen liebenswürdig und Gegenargumenten sowie Beschwerden zugänglich. Er verstand es bald, Hin692

Kabinettsumbildung denburgs Mißtrauen zu überwinden. Der alte Reichspräsident war froh, die Last der Verantwortung für die Notverordnungen nicht mehr tragen zu müssen, regierte doch Hitler mit einer legalen Reichstagsmehrheit und, wenn sich Hindenburg wegen Einmischung in Angelegenheiten der Reichswehr oder der evangelischen Kirche oder wegen Ubergriffen der SA bei Hitler beschwerte, ging der „Führer" sofort auf die Wünsche des Reichspräsidenten ein. Im übrigen hat Hindenburg, der oft in Neudeck weilte, von den Verfolgungen derer, die ihn 1932 als Stütze der Weimarer Republik gewählt hatten, von den KZ, der Gestapo und ähnlichem wohl nur wenig erfahren; seine Umgebung suchte ihm diese Dinge möglichst fernzuhalten, so daß der Berliner Witz Neudeck das kleinste KZ nannte. Jedenfalls hat Hindenburg nicht eingegriffen, als Hitler, entgegen seinem Versprechen vom 30. Januar 1933, Veränderungen im Kabinett vornahm. Mitte März 1933 trat mit dem Reichspropagandaminister Goebbels ein dritter Nationalsozialist in die Regierung ein. Hilgenberg versuchte den deutschnationalen Einfluß im Kabinett zu stärken; er wehrte sich heftig gegen Eingriffe der NSDAP in seine Ressorts, Wirtschaft und Landwirtschaft, wurde aber von seinen deutschnationalen Ministerkollegen wenig unterstützt und war auch wegen seiner Schroffheit und „Sturheit" im Kabinett wenig beliebt. Von nationalsozialistischer Seite begann im April ein Kesseltreiben gegen Hugenberg, am 21. April ließ dieser als Gegenmaßnahme eine Erklärung verbreiten: durch Hitlers Zusicherungen sei der Bestand der jetzigen Regierung verbürgt und eben daran sei auch das Weiterbestehen des Ermächtigungsgesetzes geknüpft. Im Juni ging er mit der von Außenminister Neurath geführten deutschen Delegation zur Weltwirtschaftskonferenz nach London. Gegen den Willen Neuraths legte Hugenberg am 16. Juni der Versammlung eine Denkschrift vor, in der er für Deutschland Kolonien und Siedlungsraum forderte. Da sich das Ausland hierüber sehr erregt zeigte, erklärte Neurath, die Denkschrift bedeute keine offizielle Stellungnahme, sondern sei eine Privatarbeit Hugenbergs. Uber diese Desavouierung beklagte sich Hugenberg nach der Rückkehr in einer Kabinettssitzung; ihm wurde jedoch bedeutet, Neurath sei der Führer der Delegation gewesen und habe daher rechtmäßig gehandelt. Hugenberg hatte mittlerweile eingesehen, daß seine Pläne von einer „Zähmung" der NSDAP und von dem Einspannen Hitlers für deutschnationale Ziele undurchführbar waren. Besonders erbittert über Hitlers Forderung, die Deutschnationale Partei mit der NSDAP zu verschmelzen, bat Hugenberg am 27. Juni um seine Entlassung, die ihm Hindenburg auch sofort gewährte. Auf Hitlers Vorschlag ernannte der Reichspräsident zum Wirtschaftsminister den Generaldirektor der Allianz-Versicherungs-AG, Dr. Kurt Schmitt, zum Landwirtschaftsminister Dr. Walter Darré, mit dem wieder ein führender Nationalsozialist mehr ins Kabinett kam. Schmitt fühlte sich von Anfang an in seinem Amte nicht wohl, er „versuchte gegenüber den unkorrekten und unsinnigen Zumutungen der Partei eine vernünftige Wirtschaftspolitik aufrecht zu erhalten" (Schacht). Ende Juni 1934 brach er gesundheitlich zusammen; sein Nachfolger wurde am 30. Juli 1934 Schacht, der nun das Amt des Reichsbankpräsidenten mit dem des Wirtschaftsministers vereinigte. 693

Drittes Reich — Organisation von Staat und Volk DIE ORGANISATION VON STAAT UND VOLK Die Länder „Jetzt sind wir auch verfassungmäßig die Herren des Reiches", stellte Goebbels in seinem Tagebuch nach der Annahme des Ermächtigungsgesetzes fest. Folgerichtig wurden die letzten Hindernisse beseitigt, die einer totalen Herrschaft der NSDAP noch im Wege standen. Zuerst kamen die Länder an die Reihe. Ein Kabinettsbeschluß vom 31. März verfügte die Gleichschaltung der Landtage und der gemeindlichen Selbstverwaltungskörper ohne Neuwahl nach den für die Reichtagswahl vom 5. März abgegebenen Stimmenzahlen, wobei die kommunistischen nicht berücksichtigt wurden. In jedem Land erhielt nach dem „Statthaltergesetz" vom 7. April der vom Reichspräsidenten auf Vorschlag des Reichskanzlers ernannte Reichsstatthalter, meist der bisherige Gauleiter, fast die völlige Regierungsgewalt: Ernennung und Entlassung der Regierung, der unmittelbaren Staatsbeamten und Richter, Ausfertigung und Verkündung der Landesgesetze. In Preußen übernahm Reichskanzler Hitler selbst das Amt des Reichsstatthalters, der Reichskommissar für Preußen, Papen, trat zurück; am 11. April wurde Göring preußischer Ministerpräsident. Die „absolute Vereinheitlichung des Reiches" wurde vollendet am 30. Januar 1934 durch das „Gesetz über den Neuaufbau des Reiches": „Die Volksvertretungen der Länder werden aufgehoben. Die Hoheitsrechte der Länder gehen auf das Reich über. Die Landesregierungen unterstehen der Reichsregierung. Die Reichsstatthalter unterstehen der Dienstaufsicht des Reichsministers des Innern. Die Reichsregierung kann neues Verfassungsrecht setzen." In einer seiner langen Reden sagte Hitler dazu: „Die deutschen Stämme sind gottgewollte Bausteine unseres Volkes. Sie sind ein Teil seiner Substanz . . . Die politischen Gebilde der Einzelstaaten aber sind . . . Menschenwerk und daher vergänglich . . . E i n Volk sind wir und in e i n e m Reiche wollen wir leben." Eine Neueinteilung des Reiches, wie sie etwa der Schöpfer der Weimarer Verfassung Preuß beabsichtigt hatte (S. 504), unternahm Hitler nicht, die Grenzen der Länder und ihre verwaltungsmäßige Einheit blieben unangetastet; dies hat 1945 die Wiedererstehung der süddeutschen Länder sehr erleichtert.

Parteien und

Wehrverbände

Nach den Ländern und Gewerkschaften verfielen die Parteien der Auflösung. Am 10. Mai 1933 wurde das gesamte Vermögen der Sozialdemokratischen Partei und des Reichsbanners beschlagnahmt; angeblich waren bei der Auflösung der Gewerkschaften zahlreiche Fälle von Untreue aufgedeckt worden. Einige sozialdemokratische Führer wie Wels und Breitscheid flohen nach Prag; von dort aus versuchten sie, weiteren Widerstand zu organisieren. Innenminister Fri de verbot daraufhin am 22. Juni die Partei, die alle ihre Mandate im Reichstag, in den Landtagen und in den Gemeinden verlor. Das Vermögen der Kommunistischen 694

Arbeit und Betriebe Partei war schon am 26. Mai beschlagnahmt worden. Die übrigen Parteien resignierten und lösten sidi Ende Juni/Anfang Juli selbst auf, audi die an der Regierung beteiligte Deutschnationale Volkspartei. Den Schlußstrich zog das Gesetz vom 14. Juli 1933: „In Deutschland besteht als einzige politische Partei die NSDAP. Wer es unternimmt, den organisatorischen Zusammenhalt einer anderen politischen Partei aufrecht zu erhalten oder eine neue politische Partei zu bilden, wird, sofern nicht die Tat nach anderen Vorschriften mit einer höheren Strafe bedroht ist, mit Zuchthaus bis zu drei Jahren oder mit Gefängnis von sechs Monaten bis zu drei Jahren bestraft." Bei der Gleichschaltung der Wehrverbände bereitete nur der Stahlhelm Schwierigkeiten. Dieser älteste und größte Frontkämpferbund, dessen Ehrenpräsident Hindenburg war, hatte teils mit der SA zusammengearbeitet, teils hatten sich beide bitter bekämpft. Nach der Machtergreifung, an der als gleichberechtigter Faktor der Stahlhelm teilgenommen hatte, lebten die alten Rivalitäten in einzelnen Gebieten erneut heftig auf; in Braunschweig löste der dortige nationalsozialistische Innenminister Klagges den Stahlhelm zeitweilig sogar auf. Stahlhelmführer Seldte, der als Arbeitsminister in Hitlers Kabinett saß, trat Ende April 1933 in die NSDAP ein. Er entließ unter dem Druck Hitlers den zweiten Stahlhelmführer Duesterberg, der nicht „rein arischer Abstammung" war, und um den sich alle deutschnational gesinnten Stahlhelmer gesammelt hatten. Hindenburg ließ auch dies geschehen und begnügte sich damit, Duesterberg ein ehrendes Dankund Abschiedsschreiben zu schidcen. Seldte unterstellte den Stahlhelm unmittelbar Hitler. Am 21. Juni wurde das Verhältnis zur NSDAP genauer geregelt: der Kern des Stahlhelms bleibt unter Seldtes Führung, der Jungstahlhelm kommt unter SA-Führung, der Scharnhorstbund wird der Hitlerjugend eingegliedert. Eigentlich war der Stahlhelm schon damit erledigt; die formelle Auflösung erfolgte erst am 7. November 1935 mit der Begründung, die deutsche Wehrmacht sei nun wieder neu aufgebaut und damit das Ziel des Stahlhelms, Hüter der Tradition des alten Heeres zu sein, erreicht. Für das Aufgehen der alten Freikorps in die SA fand Goebbels einen theatralischen, wirkungsvollen Abschluß: am 9. November 1933 feierte die NSDAP den 10. Jahrestag des mißlungenen Putsches von 1923 mit der Einweihung eines Ehrenmals für die damals an der Feldherrnhalle in München Getöteten; darnach marschierten die nun zum letzten Mal angetretenen Freikorps zum Braunen Haus in der Brienner Straße. In der Ehrenhalle wurden sie namentlich aufgerufen: Brigade Ehrhard, Oberland, Roßbach usw., und gaben dort ihre Fahnen ab.

Arbeit und Betriebe In der gleichen Kabinettssitzung, die am 7. April 1933 das Reichsstatthaltergesetz verabschiedete, wurde auch der 1. Mai zum Feiertag, zu dem „Tag der nationalen Arbeit" erklärt. Wieder hatte Goebbels Gelegenheit, der Öffentlichkeit „ein grandioses Bild nationalsozialistischen Gestaltungswillens" zu bieten, 695

Drittes Reich — Organisation von Staat und Volk „im ersten Jahr unserer Revolution wird der Arbeit ihre Ehre und dem Arbeitertum seine Geltung zurückgegeben". Die eindrucksvollen Massenversammlungen der Partei mit Musik, Aufmärschen und Reden hatten sich seit Jahren als ein vorzügliches Mittel der Massenbeeinflussung besonders auf den großen Parteitagen in Nürnberg erwiesen. Jetzt wurden diese Versammlungen für den 1. Mai dem ganzen Volk befohlen; „Kopf- und Handarbeiter" vom Direktor bis zum Lehrling mußten in ganz Deutschland zur Feier der Arbeit aufmarschieren. In Berlin sprachen Goebbels und Hitler erst im Lustgarten zu den Schulkindern, dann auf dem Tempelhofer Feld „zu den Millionen des schaffenden Volkes", wobei sie erklärten, die Ideologie des Klassenkampfes sei zerstört, um der Idee der Volksgemeinschaft die Bahn frei zu machen. Bis in die Kriegszeit hinein fanden solche Maifeiern statt. Am 2. Mai 1933 wurden in einer gut vorbereiteten, streng geheimgehaltenen Aktion überall die Gewerkschaftshäuser besetzt, die überraschten Gewerkschaftsführer verhaftet, die Freien Gewerkschaften aufgelöst und ihr Vermögen eingezogen; die anderen Gewerkschaften, auch die Christlichen, sowie der Deutsche Handlungsgehilfenverband unterstellten sich „freiwillig" dem von Dr. Robert Ley geführten „Aktionskomitee zum Schutz der deutschen Arbeit", aus dem sich dann die „Deutsche Arbeitsfront" entwickelte. Auf Grund eines Gesetzes vom 19. Mai übernahmen „Treuhänder der Arbeit" die Vermittlung zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern. Endgültig regelte dann das „Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit" vom 20. Januar 1934 das Verhältnis zwischen „Betriebsführern", „Vertrauensrat" und „Gefolgschaft", die Betriebs- und Tarifordnung sowie die soziale Ehrengerichtsbarkeit. Die Organisation der Deutschen Arbeitsfront erfolgte einerseits nach Fachgruppen (Nahrung und Genuß, Textil, Bergbau, Bauten, Handel usw.), andererseits nach den Gau-, Kreis- und Ortsgruppen der NSDAP. Die am 24. Oktober 1934 vom „Führer und Reichskanzler" erlassene Verordnimg über Wesen und Ziel der Deutschen Arbeitsfront erklärte diese ausdrücklich als Glied der NSDAP. Die Arbeitsfront sollte für den Arbeitsfrieden „aller schaffenden Deutschen der Stirn und der Faust" sorgen und für die Berufsschulung. Die „Gemeinschaft Kraft durch Freude" regelte die „Freizeitgestaltung" durch Sport und Wandern, allgemeinbildende Veranstaltungen, durch Urlaub und Reisen, und betrieb die „Schönheit der Arbeit", das heißt des Arbeitsplatzes. Die „Gemeinschaft Kraft durch Freude" (KdF) wurde nach faschistischem Vorbild geschaffen und trotz allem Zwang und aller Reglementierung mit so vielen sympatischen Zügen ausgestattet, daß sie auch im Ausland ehrlich Bewunderung und vielfach Nachahmung fand. Das Geistesleben Die Gleichschaltung des Geisteslebens besorgte der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda, Goebbels, den Schwerin-Krosigk den „teuflischen Intellekt" nennt. „Durch die Beherschung der öffentlichen Meinung wollte er die Seele des deutschen Volkes regieren. Dazu schuf er sich einen Apparat, der 696

Geistesleben in seiner lückenlosen Zweckmäßigkeit ein Meisterstück war. Er gab die Parolen für die Presse aus. Er setzte die Programme für den Rundfunk fest, er bestimmte die Filmstoffe und den Inhalt der Wochenschau in den Kinos. So hörte und sah der Deutsche nur noch, was Goebbels ihn hören und sehen lassen wollte. Selbst Menschen, die nicht zur Partei gehörten oder anfänglich sogar Gegner des Systems waren, wurden, ohne es zu merken, Untertanen im Goebbelsschen Reiche" (Schwerin-Krosigk). Ein Gesetz vom 22. September 1933 errichtete die Reichskulturkammer, sie umfaßte die Reichsschrifttums-, Reichspresse-, Reichsrundfunk-, Reichstheater-, Reichsmusik-, Reichsfilmkammer und die Reichskammer der bildenden Künste. Die Präsidenten der in zahlreiche Fachschaften und Fachverbände gegliederten sieben Reichskammern bildeten den Reichskulturrat. Jeder, der bei der Erzeugung, der Wiedergabe, der Verbreitung oder dem Absatz von Kulturgut mitwirkte, mußte Mitglied der für ihn zuständigen Kammer werden. Damit hatte Goebbels das gesamte Kulturschaffen des Volkes in der Hand; sozialistische, liberale und jüdische Autoren, Journalisten, Künstler, Verleger, Buchhändler durften nicht Mitglied einer Kammer werden und verloren damit die Möglichkeit, sich in Deutschland ihren Lebensunterhalt zu erwerben. Von den nicht nationalsozialistischen Zeitungen gingen viele ein. Was von ihnen übrigblieb, hatte schwer um die Existenz zu kämpfen. Im Oktober 1937 hatte der „Völkische Beobachter", den zu halten den Beamten vorgeschrieben war, eine Auflage von 501 000 Exemplaren, die „Frankfurter Zeitung" 75 000, das „Berliner Tagblatt" 55 000, die „Germania" 6 000. Die Redakteure erhielten genaue Anweisungen, was sie drucken und was sie nicht veröffentlichen durften. Um dem Ausland gegenüber behaupten zu können, es gäbe in Deutschland keine Zensur, legte Goebbels Wert darauf, daß innerhalb der von ihm gesteckten, allerdings ziemlich engen Grenzen die Zeitungen versuchten, ein eigenes Gesicht zu wahren. Hierbei standen die Redakteure freilich immer mit einem Fuß im Gefängnis. Auf das in der Reichskulturkammer organisatorisch zusammengefaßte geistige und künstlerische Leben übte die Gleichschaltung weitgehend einen lähmenden Einfluß aus. Was auf diesen Gebieten im Dritten Reich geschaffen wurde, war meist mehr oder weniger zweckbestimmt: es sollte der Darstellung und Verherrlichung des Nationalsozialismus und seiner Ideen dienen. Einschneidend wurde das deutsche Kulturleben beeinträchtigt durch das Ausmerzen der von Juden, Liberalen oder sonst mißliebigen Autoren verfaßten Schriften aus dem Buchhandel und den Bibliotheken und der modernen, „entarteten" Kunst aus den Galerien. Viele Künstler, Musiker, Schriftsteller und Journalisten hatten Arbeitsverbot und sahen sich zum Berufswechsel oder zum Auswandern gezwungen. Deutschland wurde abgeschlossen gegen befruchtenden Austausch mit dem Auslande. Die Themen künstlerischen Schaffens verengten sich auf nationalsozialistische Lieblingsideen wie „das Heldische", „Blut und Boden", „die kinderreiche Familie", das „germanische Ahnenerbe", „nordische Kulturhöhe". Gepflegt dagegen wurde die Volkskunst. Auch in der Architektur, für die Hitler eine große Vorliebe und eine gewisse Begabung hatte, wurde Erhebliches geleistet, und das in den zwanziger Jahren Begonnene (S. 585) konnte sich weiterentwickeln, vor allem im Wohn697

Drittes Reich — Organisation von Staat und Volk und Fabrikbau und in der Innenarchitektur. Natürlich lag Hitler die Monumentalbaukunst besonders am Herzen, wobei er klassizistische Stilelemente wegen ihres „nordischen Ursprungs" bevorzugte; so entstand ein besonderer MonumentalBaustil, dessen typischstes und bekanntestes Produkt das „Haus der deutschen Kunst" in München wurde.

Erziehung Größten Wert legte das Dritte Reich auf die restlose Durchdringung aller Schulgattungen mit nationalsozialistischem Geist nach dem Grundsatz: „Wer die Jugend hat, hat die Zukunft." Die Kinder, die von ihrem sechsten Lebensjahr an ausschließlich mit nationalsozialistischem Gedankengut vertraut gemacht wurden, sollten das neue deutsche Volk bilden. „Die Schule hat im Dienste des Volksganzen zu stehen." Im Biologieunterricht mußte Rassenkunde, Erbgesundheitslehre und Familienforschung, im bedeutend erweiterten Turnunterricht die körperliche Ertüchtigung und die „Erziehung zur Wehrtüchtigkeit" besonders gepflegt werden. Die Volks-, Fach-, Berufs-, höheren und Hochschulen sollten Wissen nur so weit vermitteln, wie es zum Dienst am Volke notwendig sei; nicht mehr wissenschaftliche Leistung, sondern weltanschauliche Zuverlässigkeit im nationalsozialistischen Sinne galt als entscheidend. Außerhalb der Schule übernahm die Hitlerjugend die Erziehung zu nationalsozialistischer Gesinnung. Die Hitlerjugend war 1926 gegründet, sie faßte die 10—14jährigen und die 14—18jährigen Jungen und Mädchen in je einer Gruppe zusammen. Am 29. August 1934 verkündete der Reichsjugendführer Baidur von Schirach noch, daß „das Prinzip der Freiwilligkeit der Zugehörigkeit zur Hitlerjugend niemals preisgegeben werden wird". Doch stellte sich bald heraus, daß sehr viele Kinder der HJ nicht beitraten; so ging man doch zum Zwang über, zunächst mußten die bestehenden Jugendverbände entweder in der HJ aufgehen, wie etwa die Jugendorganisationen des Stahlhelm (Scharnhorstbund und Bund Königin Luise), oder sie wurden verboten wie die konfessionellen Jugendverbände, denen nur nodi rein religiös-kirchliche Feiern erlaubt waren. Auch wurde mit der nicht gesetzlich festgelegten, aber wirksamen Drohung gearbeitet, wer nicht in der HJ war, erhielt keine Lehrstelle. Am 1. Dezember 1936 verabschiedete die Reichsregierung ein Gesetz, durch das die gesamte deutsche Jugend in der HJ zusammengefaßt und dem Reichsjugendführer der NSDAP als dem „Jugendführer des Deutschen Reiches" unterstellt wurde. Viele Eltern, die nun ihre Kinder in die HJ schicken mußten, gerieten in schwere Gewissenskonflikte, wie sie den Zwiespalt zwischen ihrer eigenen Gesinnung, dem Geist ihres Hauses und den in der HJ herrschenden Anschauungen überbrücken könnten, und nur wenigen gelang es, ihre Kinder aus der HJ herauszuhalten. Die Beeinflussung der Jungen und Mädchen war je nach dem Charakter und den Fähigkeiten der Unterführer und -führerinnen verschieden, aber es war nicht selten, daß fanatisierte Kinder ihren Eltern mit Anzeigen wegen parteifeindlicher Gesinnung drohten 698

Wirtschaft und ihre Drohung auch ausführten. — Den studentischen Verbindungen erging es ähnlich wie den Jugendbünden. Im September/Oktober 1935 mußten sich die Korps, die Burschenschaften und viele andere studentische Verbände auflösen, doch wurde kein Zwang zum Eintritt in den NS-Studentenbund ausgeübt. Die Angelegenheiten der Schulen und Hochschulen waren bisher Sache der Länder gewesen. Nach der Machtergreifung übernahm zunächst Innenminister Frick die Gleichschaltung. Am 1. Mai 1934 wurde ein eigenes Reichserziehungsministerium errichtet, von dem aus Wissenschaft und Forschung, Erziehung und Unterricht, Volksbüchereien, Museen und Sammlungen zentral gelenkt wurden. Für die Technischen Hochschulen fielen die nationalsozialistischen Anordnungen weniger ins Gewicht, während die Universitäten mit dem Verlust der Freiheit von Forschung und Lehre die Grundlagen ihres Arbeitens einbüßten. Als sehr nachteilig erwies sich auch die Behinderung des Austausches mit dem Ausland auf allen wissenschaftlichen Gebieten. Die Professoren leisteten wenig Widerstand. Soweit sie nicht — mehr oder weniger überzeugt — im nationalsozialistischen Fahrwasser segelten, zogen sie sich in ihre wissenschaftliche Arbeit zurück und versahen gegebenenfalls ihre neu erscheinenden Bücher mit einem mehr oder minder nationalsozialistischen Vor- oder Nachwort. Eine beträchtliche Zahl angesehener jüdischer und demokratischer Fachkräfte ging ins Ausland und war damit der deutschen Wissenschaft verloren.

Die Wirtschaft Nach den schon bewährten nationalsozialistischen Methoden erfolgte die Gleichschaltung des Wirtschaftslebens. Industrie, Handel und Landwirtschaft wurden einheitlich organisiert, die gesamte Wirtschaft staatlich überwacht und anstelle der freien Marktwirtschaft die Planwirtschaft durchgesetzt. Die Fachgruppen Industrie, Handwerk, Handel, Banken, Versicherungen, Energiewirtschaft — in viele Untergruppen eingeteilt und gebietsweise zusammengefaßt — unterstanden den von der Regierung eingesetzten Leitern mit absoluter Befehlsgewalt. „Im Rahmen dieser allumfassenden Organisation wurde jedem Unternehmer vorgeschrieben, was er erzeugen sollte, welche Erzeugungsmethoden er anzuwenden hatte, wieviel Kohle und Rohstoffe ihm zugeteilt würden, welche Materialien er verwenden und welche er nicht verwenden dürfte, welche Preise er zahlen mußte und welche Preise er nehmen konnte, von wem er Aufträge entgegennehmen, an wen und durch wen er verkaufen durfte, die Reihenfolge, in der er die Nachfrage befriedigen sollte, so hatten ζ. B. einmal Regierungsaufträge den Vorrang, ein anderes Mal Ausfuhraufträge; und unter den Regierungsaufträgen wieder mußten manchmal in erster Linie die Bestellungen der Wehrmacht, ein anderes Mal der Partei berücksichtigt werden" (Stolper). Hitler sah aber ein, daß die Wirtschaft ihren eigenen Gesetzen folge und daß bei 6 % Millionen Arbeitslosen gewisse Experimente die Lage verschlimmern und damit seine Herrschaft gefährden würden. Sehr schnell abgestoppt wurden daher

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Drittes Reich — Organisation von Staat und Volk alle Versuche der alten Parteigenossen, zugkräftige Parolen zu verwirklichen wie „restlose Einziehung aller Kriegsgewinne", „Vermietung der Großwarenhäuser zu billigen Preisen an kleine Gewerbetreibende", Verstaatlichung aller bereits vergesellschafteten Betriebe (Trusts), Feders „Brechung der Zinsknechtschaft", eine „unsern Bedürfnissen angepaßte Bodenreform". Dafür ließ Hitler dem Finanzgenie Schacht so viel freie Hand, wie es das nationalsozialistische System der Planwirtschaft nur irgend erlaubte, um nach dem Abklingen der Weltwirtschaftskrise die Finanzen des Reiches wieder in Ordnung zu bringen. Mitte März übernahm Schacht nach Luthers Rücktritt wieder das Präsidium der Reichsbank. Luther wurde Botschafter in Washington, nachdem sein Vorgänger Freiherr von Prittwitz und Gaffron als Gegner Hitlers zurückgetreten war. Schachts hervorragendes fachmännisches Wissen und Können verstand Mittel für die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit und die Erhöhung des Exports bereitzustellen. Dank seiner Leistung und seines Selbstbewußtseins gelang es ihm auch, sich und sein Amt von Parteieinflüssen freizuhalten; er trat nicht in die Partei ein, setzte bis 1937 seine wirtschaftlichen Entscheidungen im wesentlichen durch und übte, meist unangefochten, offene Kritik besonders an der Behandlung der Juden und der Kirchen. Was die drei vorhergegangenen Regierungen für die Arbeitsbeschaffung geplant und mit mühsam vom Staatshaushalt abgezwackten Mitteln begonnen hatten, wurde nun großzügig erweitert und durchgeführt. Die erste zum Anlaufen des Programms bewilligte Milliarde genügte in keiner Weise, Schacht führte deshalb die Mefo-Wechsel ein: „Der Name Mefo schreibt sich von Metall-Forschungs A. G. her. Dies war eine Aktiengesellschaft, die mit einem Kapital von einer Million Mark von den vier großen Gesellschaften Siemens, Gutehoffnungshütte, Krupp und Rheinstahl auf Veranlassung der Reichsregierung gegründet wurde. Für alle Schulden dieser kleinen Gesellschaft übernahm das Reich die selbstschuldnerische Bürgschaft. Alle Lieferanten stellten nunmehr gegen ihre Forderungen Wechsel auf die Mefo aus. Die Reichsbank erklärte sich bereit, diese Wechsel jederzeit an ihren Schaltern gegen bares Geld einzulösen" (Schacht). Bis 1938 kamen 12 Milliarden dieser Wechsel in Umlauf, sie waren im rein banktechnischen Sinn nicht gedeckt, aber Schacht hatte gerade die Form der Wechsel für diese Art der Inflation gewählt, weil die Kontrolle der Reichsbank darüber besonders wirksam war. Die Wirtschaft erhielt Aufträge für Straßen- und Kanalbauten, Instandsetzung und Neubau von öffentlichen und privaten Gebäuden und dergleichen; für den Autobahnbau bewilligte die Reichsbank eine Anleihe von 600 Millionen. So gelang es, bis Ende 1933 die Zahl der Arbeitslosen auf 3,8 Millionen herabzudrücken. Ein beträchtlicher Teil der jugendlichen Arbeitslosen wurde durch die A r b e i t s d i e n s t p f l i c h t , die am 1. Mai 1933 verkündet worden war, für M e l i o r a t i o n e n von Ödland und Moorkulturen, Hochwasserschutzbauten, Forstarbeiten und ähnliches wieder zu produktiver Arbeit herangezogen. Neben der praktischen hatte die Arbeitsdienstpflicht natürlich eine erzieherische Aufgabe im Sinne des Nationalsozialismus. In seiner Rede am 1. Mai 1933 sagte Hitler darüber: „So wollen wir, daß dieses deutsche Volk nun durch die Arbeitsdienstpflicht erzogen 700

Wirtschaft wird zur Erkenntnis, daß Handarbeit nicht schändet, daß Handarbeit nicht entehrt, sondern daß Handarbeit genau wie jede andere Tätigkeit dem zur Ehre gereicht, der sie treu und redlichen Sinnes erfüllt. Und deshalb ist es unser unverrückbarer Entsdhluß, jeden einzelnen Deutschen, er mag sein, wer er will, ob hochgeboren und reich, ob arm, ob Sohn von Gelehrten oder Sohn von Fabrikarbeitern, einmal in seinem Leben zur Handarbeit zu führen, damit er sie kennenlernt, damit er auch leichter befehlen kann, weil er selbst auch hier schon gehorchen gelernt hat." Am 3. Juli 1933 übernahm Staatssekretär Konstantin Hierl die Leitung des Arbeitsdienstes. Organisation, Einteilung in Gaue, Bau der Arbeitslager, Schulung der Führer, Aushebung der Dienstpflichtigen usw. entwickelten sich allmählich; endgültig regelte das Gesetz vom 26. Juni 1935 die auf sechs Monate festgesetzte Dienstpflicht der gesamten männlichen und weiblichen Jugend zwischen dem 18. bis 25. Lebensjahr. Bei der männlichen Jugend wurde die militärisch aufgezogene Dienstpflicht durchgeführt: mit den wie ein Gewehr geschulterten Spaten marschierten die „Arbeitsmänner" auch bei den großen Nürnberger Parteitagen auf. Für die weibliche Jugend war der Arbeitsdienst freiwillig, er beschränkte sich bei den „Arbeitsmaiden" auf Landarbeit, Hilfe bei kinderreichen Müttern und ähnliches. Erfüllte der Arbeitsdienst 1933 die sehr nützliche Aufgabe, die jugendlichen Arbeitslosen vom Herumlungern auf der Straße oder zu Hause abzubringen, so war er später nur noch ein weiteres Mittel, um der Jugend nationalsozialistische Gesinnung einzuhämmern. Vor schwierige und verwickelte Aufgaben stellten Schacht die Fragen der deutschen Auslandsverschuldung und des deutschen Außenhandels. Zwar hatten die Reparationszahlungen aufgehört, aber der Zinsen- und Tilgungsdienst für die vom Ausland aufgenommenen Anleihen sollte weitergehen. Im April 1933 zahlte die Reichsbank, um das Ansehen der neuen Regierung im Ausland zu heben, einen Kredit von 485 Millionen Mark an die Basler Bank für Internationalen Zahlungsausgleich zurück, auch die Zinszahlung für die Dawes- und die Younganleihe lief weiter. Vom 1. Juli 1933 an führte Schacht ein Transfer-Moratorium für den gesamten übrigen Zinsen- und Tilgungsdienst ein; die deutschen Schuldner mußten ihre Zahlungen an eine „Konversionskasse" entrichten; die ausländischen Gläubiger erhielten davon in ihrer Valuta nur einen Teil, hatten jedoch die Möglichkeit, das übrige Geld in Deutschland für Reisen, Investitionen oder Einkauf gewisser Waren zu verwenden. Diese Reglung auf Kosten der Ausländer machte die deutsche Regierung nicht beliebter. Die Staaten, die mit Deutschland Handel trieben, halfen sich in der Weise, daß sie, soweit es möglich war, den Erlös zur Befriedigung der Gläubiger ihres Landes einzogen. Der deutsche Export und Import ging nun bei der strengen Devisenbewirtschaftung nicht mehr auf dem normalen Weg zwischen Lieferanten und ihren Abnehmern vor sich, sondern teils über eine zentrale Clearingstelle, teils als Tauschabkommen. Deutschland kaufte größtenteils nicht mehr dort, wo es die gewünschte Ware am besten und billigsten erhielt, sondern dort, wo deutsche Erzeugnisse gebraucht wurden, also etwa brasilianischen Kaffee gegen deutsche Lokomotiven oder mexikanisches ö l gegen deutsche Bohrmaschinen. 701

Drittes Reich — Organisation von Staat und Volk Die Gleichschaltung der Landwirtschaft wurde ebenso zielbewußt vorangetrieben wie ihre Gesundung und Förderung, denn Hitler legte auf einen lebenskräftigen Bauernstand großen Wert. Der Bauer sollte die Ernährung des Volkes möglichst unabhängig vom Ausland sichern, er verkörperte das vom Rassenstandpunkt aus gepriesene bodenständige Element, und das bäuerliche Brauchtum reichte in vielem bis in die von den Nationalsozialisten verklärte germanische Vorzeit zurück. Als Hugenberg sein Amt als Minister für Ernährung und Landwirtschaft niederlegte (S. 693), wurde Walter Darré sein Nachfolger. Es dauerte einige Jahre, bis er das Ziel, den vollen Zusammenschluß der Landwirtschaft und aller damit in Verbindung stehenden Gewerbe im Reichsnährstand erreicht hatte; zu ihm gehörten also nicht nur die Erzeuger, Bauern und Gutsbesitzer, sondern auch die Fabriken für landwirtschaftliche Geräte und Düngemittel sowie die Verarbeiter, Müller, Metzger, Bäcker usw., Großhändler wie Einzelhändler. Für verschiedene seiner Erzeugnisse wurde dem Landwirt vorgeschrieben, wieviel und in welcher Qualität er davon anzubauen und abzuliefern habe. Andererseits erhielt er befriedigende, von den Schwankungen des Weltmarkts unabhängige Preise und Beihilfen zur Anschaffung von landwirtschaftlichen Maschinen, überdies wurden Steuern und Zinsen für den Landwirt erheblich herabgesetzt. Der Reichsnährstand war in der üblichen Weise durchorganisiert, vom „Reichsbauernführer" bis herab zum „Ortsbauernführer" im letzten Dorf. Außer der Überwachung der Einhaltung der vielen Vorschriften für den landwirtschaftlichen Betrieb und Handel gehörten auch die Wahrung der Standesehre, die Ausrichtung aller Mitglieder auf die Ziele und Erfordernisse des nationalsozialistischen Staates zu den Aufgaben der Bauernführer. Am 29. September 1933 verabschiedete das Kabinett das Reichserbhofgesetz. Der Gedanke, Bauernhöfe bis zu einer bestimmten Größe (125 ha) als unveräußerliche und unbelastbare Erbhöfe zu erklären, ging von Darré aus, dem Verfasser der Schriften „Das Bauerntum als Lebensquell der nordischen Rasse" (1929) und „Neuadel aus Blut und Boden" (1930). Das Erbhofgesetz sollte die Zersplitterung und Verschuldung bäuerlichen Besitzes verhindern. Der Besitzer mußte „bauernfähig", „ehrbar" sein. Das in vielen Gegenden von alters her gültige Anerbenrecht, die Vererbung des Hofes auf nur e i n e n Erben, wurde für alle Erbhöfe eingeführt. Der Hebung des Standesbewußtseins diente das am 1. Oktober 1933 zum ersten Mal begangene Erntedankfest auf dem Bückeberg bei Hameln, das die Bauernarbeit verherrlichte und für die Landwirtschaft eine ähnliche Bedeutung gewann wie der 1. Mai für Industrie und Gewerbe. Die Folgen der Gleichschaltung des Wirtschaftslebens wurden trotz des staatlichen Zwanges und des Hineinredens von Seiten der Behörden und der Partei bis 1938 noch nicht offenbar. Das maßlose Selbstlob der Nationalsozialisten übertrieb die Fortschritte freilich erheblich; immerhin war nach dem furchtbaren Elend der Wirtschaftskrise seit 1929 schon das allmähliche Verschwinden der Arbeitslosigkeit eine große Erleichterung für das ganze Volk. Im Inland lief das Geld immer reichlicher um; alle Schichten hatten daran teil. Die Steuern wurden allerdings — entgegen den nationalsozialistischen Versprechungen bei der Machtübernahme — nicht gesenkt, vielfach sogar erhöht. Dazu kamen die Mitglieds702

Staat und Partei beitrage für die Zwangsorganisationen und die Partei, die vielen, angeblich freiwilligen, in Wirklichkeit meist durch Druck und Drohung erzielten Spenden für das „Winterhilfswerk", für das „Hilfswerk Mutter und Kind", für die „Gemeinschaft Kraft durch Freude" und für unzählige besondere Anlässe in der Partei, im Staat, in der Gemeinde. Man rechnet, daß Steuern und Spenden mindestens ein Drittel des Einkommens verschlangen. Trotzdem herrschte ein gewisser Wohlstand. Das deutsche Volkseinkommen, das für 1929 auf 75 Milliarden 900 Millionen berechnet wird, sank 1932 auf 45 Milliarden 200 Millionen und stieg bis 1938 wieder auf 76 Milliarden an. Bei den hauptsächlichsten landwirtschaftlichen Erzeugnissen wurde in den Jahren 1933/1938 nur bei Kartoffeln, Zuckerrüben und Milch eine wesentliche Ertragssteigerung erreicht, die Getreideernten hielten sich ungefähr auf gleicher Höhe. Der Außenhandel blieb infolge der straffen Devisenzwangswirtschaft weit hinter dem der Jahre vor der Wirtschaftskrise zurück; 1929 betrug die Einfuhr 13,245 Milliarden, die Ausfuhr 13,42 Milliarden, 1933 die Einfuhr nur noch 4,146 Milliarden, die Ausfuhr 4,751 Milliarden, bis 1938 stieg die Einfuhr auf 6,52 Milliarden, die Ausfuhr auf 5,619 Milliarden, wobei Österreich schon mit eingerechnet ist. Verglichen mit der schweren Deflationskrisè waren die Erfolge der nationalsozialistischen Wirtschaft sehr erheblich, gegenüber denen der verachteten Weimarer Republik nach dem Ende der Inflation 1923 freilich keineswegs imponierend.

Staat und Partei Die NSDAP war das immer mehr vervollkommnete Werkzeug, mit dem sich Hitler die Macht in Deutschland verschaffte. Als Papen im Juli 1933 in einer Kabinettssitzung über die Frage der Reichsreform für einen demokratisch regierten Ständestaat eintrat und die Auflösung der dann überflüssig gewordenen NSDAP vorschlug, widersprach „Hitler mit Vehemenz: ,Auf meine Partei kann ich nie verzichten. Sie ist heute der Träger des Staates geworden.'... Der einzige, der mich unterstützte, war der preußische Finanzminister Dr. Popitz. Aber auch sein kluges und scharfes Urteil vermochte keinen Eindruck auf Hitler zu machen" (Papen). Die Partei wurde nun vor allem für das eingesetzt, was die Nationalsozialisten „Menschenführung" nannten. In der Praxis wirkte sich dies so aus, daß neben die staatlichen Behörden ähnlichen Zwecken dienende Parteiorganisationen traten; den staatlichen Ministerien entsprachen die Reichsämter der Partei: Finanzverwaltung, Parteigericht, Amt für Propaganda, für Presse, Kolonialpolitik, Agrarpolitik, Außenpolitisches Amt, Amt für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP, und dann die unter dem Reichsorganisationsleiter zusammengefaßten nationalsozialistischen Berufsverbände der Beamten, Lehrer, Ärzte, Studenten, Dozenten, die Deutsche Arbeitsfront, die Volkswohlfahrt, die Frauenschaft, die Hitlerjugend und andere mehr. Vom Gauleiter bis zum Blockwart, der die Hausgemeinschaften beaufsichtigte, verfügte die NSDAP über ein engmaschiges Netz für die Kontrolle des gesamten Volkes und jedes 703

Drittes Reidi — Organisation von Staat und Volk Einzelnen. Die für den Führer und seine Ideen Begeisterten sorgten für die Einschüchterung der Gleichgültigen und der Gegner. Jede Kritik und jeder unvorsichtig erzählte Witz — es gingen sehr beißende, oft ungemein treffende Witze um — wurden von eifrigen Hitleranhängem an die Parteistellen gemeldet und von diesen als Sabotage am Aufbauwerk des Führers gestraft, oft mit Haft in einem Konzentrationslager. Die berüchtigten Konzentrationslager (KZ) entstanden bald nach der Machtergreifung, weil die ordentlichen Gefängnisse die Masse der Verhafteten nicht mehr fassen konnten. Teilweise wurde als Grund für die Einweisung in ein KZ „Schutzhaft" angegeben: Gegner der NSDAP sollten teils vor der angeblidien Wut der empörten Menge geschützt werden, teils sollten die KZ der „Umerziehung" dienen. Sie waren von Anfang an Stätten des Unrechts und der Quälerei, bis sie im Kriege für Millionen zu furchtbaren Vemichtungsstätten wurden, die als schwere Schuld und Schande auf dem deutschen Namen lasten. Für die Bewachung der KZ stellte Heinrich Himmler 1935 die Formationen der Totenkopf-SS auf. Göring schuf sich mit einem Gesetz vom 26. April 1933 in Preußen zur „Bekämpfung staatsfeindlicher Bestrebungen" die von der übrigen Polizei abgezweigte Geheime Staatspolizei (Gestapo). Diese Einrichtung wurde allmählich auf das ganze Reich ausgedehnt. Schließlich nahm ein Erlaß Hitlers vom 17. Juni 1936 aus der Verwaltung die gesamte Polizei heraus und unterstellte sie Himmler als dem Reichsführer SS und Chef der Polizei im Reichsministerium des Innern. Verfassungsrechtlich merkwürdig war, daß damit der Chef der Polizei dem Innenminister nicht untergeordnet wurde, sondern ihm vielmehr Rechte des Innenministers zufielen. Die Polizei „war nur mittelbar ein Organ des Staates, unmittelbar dagegen ein Organ des souveränen, über Staat und Partei stehenden Führers . . . Die Polizei handelte rechtmäßig nicht nur, wenn sie in Übereinstimmung mit den bestehenden Gesetzen und Verordnungen handelte, sondern auch dann, wenn sie als Instrument der politischen Führung deren Willen vollzog" (Buchheim). Die SS hatte den Sicherungsdienst bei Führertagungen und ähnlichen Anlässen, sie sollte auch der Verhütung und Niederschlagung von Revolten innerhalb der Partei dienen. Himmler, der 1929 die Leitung der SS übernahm, baute sie nach 1933 in dreifacher Richtung aus: die Allgemeine SS; die in Standarten (Regimenter) eingeteilten „Kasernierten Hundertschaften", auch SS-Verfügungstruppen genannt und im Kriege der Wehrmacht als Waffen-SS unterstellt; die SS-Totenkopfverbände, die weder ein Teil der Wehrmacht noch der Polizei, sondern „eine bewaffnete Truppe zur Lösung von Sonderaufgaben politischer Natur" waren. Himmler wollte als fanatischer Verfechter der Idee von der Überlegenheit der nordischen Rasse durch Auslese der an Körper und Geist rassisch Besten einen neuen Adel schaffen; in unklaren Vorstellungen von dem Deutsdiritterorden des Mittelalters nannte er die Ausbildungsstätten der neuen Führerschicht „Ordensburgen". Menschen nordischer Rasse sollten gezüchtet werden: darnach richteten sich die Auslese der SS-Männer und die Vorschriften für ihre Eheschließung. Den gleichen Zielen diente die Gründung der „Lebensborn"-Heime, in denen 704

Staat und Partei „rassisch wertvolle" unverheiratete Frauen mit ihnen zugeteilten Partnern Kinder in die Welt setzen sollten. Im Krieg wurden audi in diesen Heimen nordisch aussehende Kinder, die man in besetzten Ostgebieten ihren Eltern fortnahm, zu Deutschen erzogen. Im Herbst 1937 äußerte sich ein SS-Führer der Ordensburg Vogelsang über die Ziele der SS-Schulung: „Was wir Ausbilder des Führernachwuchses wollen, ist ein modernes Staatswesen nach dem Muster der hellenischen Stadtstaaten. Diesen aristokratisch gelenkten Demokratien mit ihrer breiten ökonomischen Helotenbasis sind die großen Kulturleistungen der Antike zu danken. 5—10 vom Hundert der Bevölkerimg, ihre beste Auslese, sollen herrschen, der Rest hat zu arbeiten und zu gehorchen . . . Die Auslese der neuen Führerschicht vollzieht die SS — positiv durch die Nationalpolitischen Erziehungsanstalten als Vorstufe, durch die Ordensburgen als die wahren Hochschulen der kommenden nationalsozialistischen Aristokratie . . . negativ durch die Ausmerzung aller rassenbiologisch minderwertigen Elemente und die radikale Beseitigung jeder unverbesserlichen politischen Gegnerschaft . . . Innerhalb von spätestens zehn Jahren wird es uns auf diese Weise möglich sein, Europa das Gesetz Adolf Hitlers zu diktieren, um den sonst unvermeidlichen Verfall des Kontinents zum Stillstand zu bringen und die wahre Völkergemeinschaft, mit Deutschland als führender Ordnungsmacht an der Spitze, aufzubauen." Himmler hatte mit dieser nur auf den Führer vereidigten, nur zur Treue gegen ihn und zur Kameradschaft untereinander verpflichteten Elite die größte Machtfülle im Dritten Reich. Er soll sie sich bewußt geschaffen haben, um einmal die Nachfolge Hitlers antreten zu können. Die SS sicherte Hitlers Person und Herrschaft und errichtete ein Terrorsystem, mit dem sie das ganze Volk zur nationalsozialistischen Weltanschauung zwingen wollte. Die Literatur über die SS ist bereits sehr umfangreich; eine erschöpfende, wissenschaftlich einwandfreie Gesamtdarstellung wird allerdings erst möglich, wenn die Erforschung der großenteils noch im Ausland und im Inland verstreut liegenden Quellen weiter fortgeschritten ist; außerdem erschweren die vielen unmenschlichen Verbrechen der SS eine rein sachliche Beurteilung. Nicht jeder SS-Mann war ein Verbrecher, besonders unter der Waffen-SS fanden sich viele „Soldaten, wie jeder andere", was aber nichts daran ändert, daß die Ethik der SS, Treue, Tapferkeit, Kameradschaft, Todesverachtung, grundsätzlich auf die Herrenrasse beschränkt blieb: gegen alle anderen war die Anwendung jeden Mittels erlaubt und sogar Pflicht — ein Freibrief für die volle Entfaltung der in der menschlichen Natur liegenden Roheit. Unter Himmlers Führung, der „weder Gnade noch Recht kannte", wurde die SS „eine Organisation des Schreckens" (Schwerin-Krosigk). Innerhalb der Partei wurde die SS wegen ihrer Ausnahmestellung viel beneidet und angefeindet, wie denn überhaupt die viel gepriesene Einheit von Führer—Partei—Staat nur in der Person Hitlers bestand. Sein vermutlich bewußt ausgebautes System der Kompetenzüberschneidungen führte zu dauernden Reibereien, zu Leerlauf, Kräftevergeudung, höchst unerfreulichen Kämpfen unter den eifersüchtigen und ehrgeizigen Parteigrößen, überdies zu einer ungeheuren finanziellen Belastung infolge der doppelten Partei- und Staatsbehörden und ihres 705 45

Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Drittes Reich — Organisation von Staat und Volk übermäßig aufgeblähten Beamtenapparates. Hitlers Idee des „klassenlosen Volksund Führerstaates", in dem jeder nur durch seine gute Leistung zu hohen und höchsten Ämtern aufsteigt — nutzbringend für alle, gerecht für jeden einzelnen —, erlitt in der Praxis völlig Schiffbruch. Hitler zog nach und nach alle Macht an sich, auch die hohen Beamten wurden nur noch ausführende Organe, die er durch Ausspielung gegeneinander in Schach hielt, damit neben ihm keiner hochkommen konnte, und so „hat Hitler in den zwölf Jahren seiner Herrschaft in Deutschland in der staatspolitischen Führung das größte Durcheinander geschaffen, das je in einem zivilisierten Staate bestanden hat" (Dietrich).

Die

Juden

Nach der Machtergreifung brachten verschiedene Gesetze die nationalsozialistische Rassentheorie von der Überlegenheit der „arischen", speziell der zur Herrschaft über alle „minderwertigen" Rassen berufenen nordischen Rasse und den Antisemitismus zu voller Geltung. Das am 7. April 1933 vom Kabinett angenommene Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums bildete die Grundlage für die Entlassung aller sozialdemokratischen, liberalen und — durch den „Arierparagraphen" — auch der jüdischen Beamten. Freilich wurden auf Verlangen Hindenburgs die Kriegsteilnehmer und Hinterbliebenen von Frontkämpfern sowie alle, die schon vor dem 1. August 1914 Beamte waren, zunächst ausgenommen. Ähnliche Gesetze, so das über die Zulassung zur Rechtsanwaltschaft (7. April), über die Bildung von Studentenschaften (22. April), ebenso die Arierparagraphen in den Zwangsorganisationen, wie der Reichskulturkammer, dienten „der Einschränkung des fremdrassigen Elements" in allen Berufen. Jeder mußte zum Nachweis seiner arischen Abstammung die Geburts- und Heiratsurkunden seiner Eltern und Großeltern vorlegen. Am 15. September 1935 nahm der zu einer Sondersitzung im Anschluß an den „Parteitag der Freiheit" nach Nürnberg einberufene Reichstag „das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre" an. Es sollte nach Hitlers eigenen Worten „durch eine einmalige säkulare Lösung vielleicht doch eine Ebene schaffen, auf der es dem deutschen Volke möglich wird, ein erträgliches Verhältnis zum jüdischen Volk zu finden. Sollte sich diese Hoffnung nicht erfüllen, die innerdeutsche und internationale jüdische Hetze ihren Fortgang nehmen, wird eine neue Überprüfung der Lage stattfinden". Das Gesetz verbot die Ehe und den außerehelichen Verkehr zwischen Deutschen und Juden, die Beschäftigung weiblicher Hausangestellten unter 45 Jahren in jüdischen Familien. Juden durften nicht mehr die Reichs- und Nationalflagge hissen, dagegen war ihnen „das Zeigen der jüdischen Farben" gestattet. Auf Zuwiderhandeln stand Gefängnis oder Zuchthaus. Wenn Hitler am Abend dieses Tages vor geladenen Gästen erklärte, „den Juden in Deutschland werden damit Möglichkeiten ihres völkischen Eigenlebens auf allen Gebieten eröffnet, wie sie bisher in keinem anderen Lande zu verzeichnen sind", so mußte dies als reiner Hohn wirken. 706

Juden Der Antisemitismus war keineswegs eine Schöpfung des Nationalsozialismus, wurde aber vom nationalsozialistischen Staat zum Gesetz erhoben. Dieser verletzte damit das von allen zivilisierten Völkern anerkannte Grundrecht, nach dem keiner wegen seiner Rasse oder Religion benachteiligt werden dürfe. So verurteilte er einen Teil seines Volkskörpers zum Vegetieren, indem er ihm die Verdienstmöglichkeiten aufs äußerste beschnitt und seelisch mit der Anklage aufs schwerste bedrängte, der Jude sei an allem Unglück Deutschlands schuld. Die für das 20. Jahrhundert beispiellose Roheit, mit der diese Gesetze durchgeführt und schließlich zu den fürchterlichen Vernichtungsexzessen in den Konzentrationslagern während des Krieges gesteigert wurden, belastete Deutschland mit schwerer Schuld und erregte den Haß und die Verachtung aller sittlich empfindenden Menschen in der ganzen Welt. Schon vor der gesetzlich sanktionierten Verfolgung der Juden hatte von der Machtergreifung des 30. Januar 1933 an eine illegale, aber von den Behörden zumeist geduldete Mißhandlung, Kränkung und Verhaftung von Juden besonders durch die SA und SS begonnen. Im Ausland lösten diese Vorgänge leidenschaftliche Resonanz aus und riefen Empörung und Gegenmaßnahmen hervor; jüdische und sozialistische Vereinigungen forderten den Boykott deutscher Waren. Die Parlamente von England und Frankreich beurteilten die Entwicklung in Deutsdiland äußerst abfällig. Am 24. März schrieb Goebbels in sein Tagebuch: „Die Greuelpropaganda im Ausland macht uns viel zu schaffen, die vielen aus Deutschland emigrierten Juden verhetzen das ganze Ausland gegen uns", und am 26. März: „Wir müssen also zu einem großangelegten Boykott aller jüdischen Geschäfte in Deutschland schreiten. Vielleicht werden sich dann die ausländischen Juden eines Besseren besinnen, wenn es ihren Rassegenossen in Deutschland an den Kragen geht." So schuf Goebbels ein Aktionskomitee unter Leitung Streichers, das am 1. April 1933 den Boykott jüdischer Geschäfte, Waren, Ärzte und Rechtsanwälte organisierte. Maßnahmen gegen Ausländer, Mißhandlungen und Sachbeschädigungen waren zwar ausdrücklich untersagt, doch wurden diese Verbote nur zu oft übertreten. Der Boykott hatte im Ausland — was die Nationalsozialisten freilich nicht zugeben wollten — das Gegenteil von dem zur Folge, was sich Goebbels davon versprochen hatte: Empörung und Abwehr wuchsen. Hitler sah darin nicht den Abscheu vor dem nationalsozialistischen Rückfall in längst überwunden geglaubte Barbarei, sondern nur eine Bestätigung seiner abnormen Ideen von der feindlichen Macht eines fest zusammengeschlossenen Weltjudentums. Papen erzählt in seinen Memoiren: „Zu dieser Zeit (um den 20. April) kam der König von Schweden durch Berlin . . . Ich bat den König eindringlich, Hitler zu sagen, welch üblen Eindruck die antijüdischen Exzesse im Ausland gemacht hätten und wie sehr der Kredit seiner Regierung darunter leiden müsse. Leider blieb auch dieser Hinweis ohne den gewünschten Erfolg, denn Hitler hatte dem überraschten Monarchen entgegnet: ,Man wird mir noch in tausend Jahren für die Maßnahmen gegen die Juden danken'." Bei dieser Einstellung des Reichskanzlers ist nicht erstaunlich, daß Ausschreitungen gegen jüdische Mitbürger weiterhin an der Tagesordnung blieben. Die beiden

707 45·

Drittes Reich — Organisation von Staat und Volk antisemitischen Zeitungen, Streichers „Der Stürmer" und „Das Schwarze Korps" der SS, konnten ungehindert ihre widerwärtige Hetze in Wort und Bild fortsetzen. Viele Deutsche lehnten das nationalsozialistische Vorgehen gegen die Juden ab und unterstützten, wo immer sie konnten, ihre jüdischen Freunde im stillen. Die Kirchen Nur den Kirchen gelang es, sich erfolgreich gegen die nationalsozialistische Gleichschaltung zu wehren. Hitler hatte sich wiederholt zum „positiven Christentum" bekannt und sich verpflichtet, die Rechte der Kirchen zu wahren; andererseits war die nationalsozialistische Weltanschauung, besonders die Rassentheorie, mit der christlichen Lehre unvereinbar; der Versuch, auch in kirchlicher Beziehung die national geschlossene Volksgemeinschaft zu erzwingen, mußte Konflikte heraufbeschwören. Hitler war als Katholik aufgewachsen, die machtvolle Hierarchie der Kirche imponierte ihm, und so stimmte er dem Vizekanzler Papen zu, der ein Konkordat mit dem Papst vorschlug. Verhandlungen der Weimarer Republik mit dem Heiligen Stuhl waren an der Haltung der Sozialdemokraten in der Schulfrage gescheitert. Die Länder Bayern (1924), Preußen (1929) und Baden (1932) hatten für ihren Bereich Konkordate abgeschlossen. Nun fuhr Papen Ostern 1933 nach Rom. Vor der Machtergreifung Hitlers hatte der Heilige Stuhl den Nationalsozialismus bekämpft und die Zugehörigkeit zur NSDAP als unvereinbar mit dem katholischen Gewissen erklärt. Als aber Pius XI. jetzt vom Deutschen Reich ein günstiger, fast alle seine Wünsche erfüllender Vertrag angeboten wurde, da griff er zu. Schon am 8. Juli wurde das Konkordat paraphiert, am 20. Juli in Rom feierlich unterzeichnet. Das Deutsche Reich gewährleistete die Freiheit des Bekenntnisses und der öffentlichen Ausübung der katholischen Religion, den Schutz der Geistlichen und Ordensleute, der katholisch-theologischen Fakultäten an den staatlichen Hochschulen, des katholischen Religionsunterrichts an den Volksschulen, die Beibehaltung und Neueinrichtung katholischer Bekenntnisschulen, die Privatschulen der Orden, die Ausbildung und Anstellung katholischer Lehrer, die Militärseelsorge. Uberall waren die katholischen Belange voll berücksichtigt. Nach den Erfahrungen mit der Hitlerjugend wurde ausdrücklich bestimmt, daß ihren katholischen Mitgliedern „die Ausübung ihrer kirchlichen Verpflichtungen an Sonn- und Feiertagen regelmäßig ermöglicht wird und sie zu nichts veranlaßt werden, was mit ihren religiösen und sittlichen Überzeugungen und Pflichten nicht vereinbar wäre". Den Geistlichen und Ordensleuten untersagte ein Artikel die „Mitgliedschaft in politischen Parteien und die Tätigkeit für solche Parteien", was von nationalsozialistischer Seite als großer Erfolg betrachtet wurde. Der Abschluß des Konkordats kam Hitler im Augenblick aus Propagandagründen sehr gelegen; die Zeitungen erschienen mit Uberschriften wie „Die 2000jährige Macht der Kirche erkennt das Dritte Reich an". Die päpstliche Staatszeitung „Osservatore Romano" vom 27. Juli hielt dem entgegen, der Abschluß 708

Kirchen des Konkordats bedeutet niciit eine „Billigung und Anerkennung einer bestehenden Strömung von Lehren und politischen Ansichten . . . Die verschiedenen Staatsverfassungen sind innere Angelegenheiten der einzelnen Nationen". Ob Hitler schon von vornherein gesonnen war, sich nicht an das Konkordat zu halten, oder ob ihn die entschiedenen Antichristen und Rassenfanatiker unter den Parteigenossen erst allmählich bei dem wachsenden Widerstand der Kirchen gegen das nationalsozialistische Neuheidentum zum Brechen des Konkordats getrieben haben, wird sich vorerst kaum entscheiden lassen. Gewissensbedenken hatte Hitler sicher nicht; seine Religion bestand in vagen Ideen von einer „Vorsehung", dem „Allmächtigen", dessen Werkzeug er sei. Eine Reihe von Verordnungen sollte für die Einhaltung der Konkordatsbestimmungen sorgen, doch wurden sie von Anfang an so oft übertreten, daß der Papst „in der Zeit vom 25. 9. 1933 bis 26. 6. 1936 in 34 Noten an die Reichsregierung, 5 Promemoriae, 5 Aide-Memoires, 6 Schreiben mit Vorschlägen und Entwürfen und 6 sonstigen Schreiben" gegen Mißachtung des Konkordats Einspruch erhob (Groppe). Der Papst protestierte in der Enzyklika „Mit brennender Sorge" vom 4. März 1937 gegen alle Versuche, die klaren Bestimmungen des Konkordats durch Schikanen gegen katholische Schulen, religiöse Jugend- und Arbeitergruppen, die Caritas usw. zu umgehen. Er lehnte die nationalsozialistische Vergottung von Rasse, Volk und Staat als unchristlich ab und bestand auf der Rechtsgültigkeit des Konkordates. Goebbels antwortete mit einem üblen Verleumdungsfeldzug gegen katholische Geistliche und Ordensangehörige, die zu Hunderten vor Gericht gezerrt wurden wegen angeblicher Sittlichkeitsverfehlungen oder Devisenvergehen. Klöster und ihre Schulen, theologische Fakultäten und Hochschulen wurden geschlossen und viele Geistliche in die Konzentrationslager gewiesen. Als der Vatikan mit Gegenveröffentlichungen drohte, wurden die Prozesse eingestellt, aber der Kampf ging weiter. Trotz aller Verletzungen blieb das Konkordat bestehen — bis auf den heutigen Tag. Katholische Menschen — Geistliche wie Laien — wehrten sich tapfer gegen die Beeinträchtigung ihrer religiösen Freiheit; viele erlitten für ihre Uberzeugung eine mehr oder weniger lange Haft. Den Bischof von Münster, Clemens August Graf von Galen, der in seinen Predigten am offensten und schärfsten die nationalsozialistische Weltanschauung angriff, wagte die Regierung nicht zu maßregeln. Sein Osterhirtenbrief von 1934 lehnte das Neuheidentum ab, das eine Nationalkirche erstrebe, die „nicht auf der Grundlage des gemeinsamen Glaubens an die Offenbarung ruht, sondern auf den Lehren von Blut und Rasse". In einer Predigt am 17. November 1937 zu Vreden wies Galen den Vorwurf zurück, das Christentum sei artfremd. „Ich verbitte mir, daß man meine Vorfahren, meinen Vater, meine Mutter, verlästert, ihren Glauben, ihr christliches Leben als undeutsch, als artfremd beschimpft . . . Eine sogenannte Weltanschauung, die uns zu Lästerern und Verächtern unserer treudeutschen Vorfahren . . . machen würde . . . lehnen wir ab. Wenn das die nationalsozialistische Weltanschauung ist, dann lehnen wir die nationalsozialistische Weltanschauung ab." Galens Predigten wurden heimlich vervielfältigt; in ganz Deutschland gingen sie unter Katholiken und Protestanten von Hand zu Hand. 709

Drittes Reich — Organisation von Staat und Volk Mit der evangelischen Kirche glaubte der Nationalsozialismus leichtes Spiel zu haben; ihr fehlte die Einheit und der starke Rückhalt, den das Papsttum der katholischen Kirche bot. Überdies hatten sich schon vor 1933 eine Reihe evangelischer Pfarrer zum Nationalsozialismus bekannt, und seit 1929 bestand die Glaubensbewegung Deutsche Christen, die eine einheitliche deutsche evangelische Nationalkirche und einen „artgemäßen Christusglauben, wie er deutschem Luthergeist und deutscher Frömmigkeit" entspreche, anstrebte. Die Vereinigung der 28 deutschen evangelischen Landeskirchen, deren oberster Geistlicher nun Landesbischof genannt wurde, gelang auch sehr schnell; die neue Kirchenverfassung wurde am 11. Juli 1933 angenommen. Uber die Wahl des Reichsbischofs, der von Berlin aus mit einem Geistlichen Ministerium Richtlinien für die Gesamtkirche geben sollte, kam es zu dem ersten Streit. Die Mehrheit der Landeskirchen wählte Pfarrer Friedrich von Bodelschwingh; die Deutschen Christen dagegen forderten, daß der Vertrauensmann Hitlers, der frühere Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, die Führung der Gesamtkirche erhalten solle. Die Deutschen Christen siegten, weil sich an den Wahlen zu der ersten deutschen evangelischen Synode alle evangelisch getauften Nationalsozialisten beteiligten, auch wenn sie sonst nie in die Kirche gingen oder ihr sogar feindlich gegenüberstanden. Am 27. September 1933 wählte die Synode Müller zum Reichsbischof. Bei der Sportpalastversammlung der Deutschen Christen in Berlin hielt ihr Gauobmann Studienassessor Dr. Krause eine Rede, die selbst den Vertrauensseligen unter den Protestanten die Augen über die wahren Ziele des radikalen Flügels der Deutschen Christen öffnen mußte: „Der Totalitätsanspruch der Nationalsozialisten kann auch vor der Kirche nicht haltmachen, die er aus seinem Geist erneuern w i l l . . . Dazu gehört zunächst die Befreiung vom Alten Testament mit seiner jüdischen Lohnmoral, von diesen Viehhändler- und Zuhaltergeschichten. Mit Recht hat man dieses Buch als eines der fragwürdigsten Bücher der Weltgeschichte bezeichnet . . . Es wird auch notwendig sein, daß unsere Landeskirche sich damit beschäftigt, daß alle offenbar entstellten und abergläubischen Berichte des Neuen Testamentes entfernt werden, und daß ein grundsätzlicher Verzicht auf die ganze Sündenbock- und Minderwertigkeitstheorie des Rabbiners Paulus ausgesprochen wird, der eine Verfälschung jener Botschaft begangen hat, dieser schlichten Frohbotschaft,Liebe Deinen Nächsten als Dich selbst' . . . In der deutschen Volkskirche haben Menschen fremden Blutes nichts zu suchen . . . Das Kruzifix ist abzulehnen . . . Eine enge Verwandtschaft des nordischen Geistes mit dem heldischen Jesus muß offenbar werden, und die Vollendung der Reformation Luthers wird den endgültigen Sieg des nordischen Geistes über den orientalischen Materialismus bedeuten." Der Rede Krauses folgte die einstimmig angenommene Entschließung der Glaubensbewegung Deutscher Christen; sie deckte sich im wesentlichen mit Krauses Ausführungen und hob unter anderem besonders hervor: der Arierparagraph müsse schleunigst ohne Abschwächung angewandt werden, darüber hinaus seien alle fremdblütigen evangelischen Christen in besondere Gemeinden ihrer Art zusammenzufassen und für die Begründung einer judenchristlichen Kirche zu sorgen. Diese Entschließung ging selbst dem Reichsbischof Müller zu weit. Er lehnte

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Kirchen am nächsten Tag „derartige Irrlehren" als Angriffe auf die Substanz der evangelischen Kirche ab; die Bibel müsse „die einzige und unverrückbare Grundlage der Kirche" bleiben. Der Evangelische Oberkirchenrat enthob Krause mit sofortiger Wirkung seiner sämtlichen kirchlichen Ämter; der Initiator der Sportpalastversammlung, Joachim Hossenfelder, Bischof von Brandenburg, stellte sich hinter den Reichsbischof. Obwohl Müller von der extremen Richtung der Deutschen Christen abrückte, gaben sich zahlreiche Pfarrer nicht zufrieden; etwa 300 evangelische Pfarrer schlossen sich am 20. November unter der Führung des Dahlemer Pfarrers Martin Niemöller, U-Boot-Kommandant im Ersten Weltkrieg, in einem Pfarrernotbund zusammen, aus dem sich die „Bekennende Kirche" entwickelte. Vom 29. bis 31. Mai 1934 tagte die erste Synode der Bekenntnisfront, im Oktober verkündete sie das „kirchliche Notrecht". Zur Leitung der Deutschen Evangelischen Kirche berief sie einen Reichsbruderrat sowie Bruderräte für die Landeskirchen und erklärte: „Die unter der Parole ,Ein Staat — ein Volk — eine Kirche' vom Reichsbischof erstrebte Nationalkirche bedeutet, daß das Evangelium für die Deutsche Evangelische Kirche außer Kraft gesetzt und die Botschaft der Kirche an die Mächte dieser Welt ausgeliefert wird . . . Die angemaßte Alleinherrschaft des Reichsbischofs und seines Reditswalters hat ein in der evangelischen Kirche unmögliches Papsttum aufgerichtet . . . Die schriftwidrige Einführung des weltlichen Führerprinzips in die Kirche und die darauf begründete Forderung eines bedingungslosen Gehorsams hat die Amtsträger der Kirche an das Kirchenregiment statt an Christus gebunden . . . Wir fordern die christlichen Gemeinden, ihre Pfarrer und Ältesten auf, von der bisherigen Reichskirchenregierung und ihren Behörden keine Weisungen entgegenzunehmen." Damit nahmen in der evangelischen Kirche Spaltung und Verwirrung völlig überhand. Reichskirche und Bekennende Kirche standen sich schroff gegenüber. Im Laufe des Jahres 1934 lehnten die württembergische, die bayrische, die hessische Landeskirche und der Bischof von Hannover die Eingliederung in die Reichskirche ab. Hitler wollte jedoch die Gleichschaltung der evangelischen Kirche erzwingen; im Juli 1935 ernannte er einen eigenen Reichsminister für kirchliche Angelegenheiten, den Justizbeamten Hanns Kerrl, den man nun „Minister für Raum und Ewigkeit" nannte, weil er zugleich auch „Minister für Planung und Ordnung des deutschen Raumes" war. Das „Gesetz zur Sicherung der Deutschen Evangelischen Kirche" vom 24. September 1935 gab Kerrl die Vollmacht, rechtsverbindliche Verordnungen zur „Wiederherstellung geordneter Zustände" in der Kirche zu erlassen. Nun wurden ein Reichskirchenausschuß eingesetzt, Deutsche Christen als Reichskommissare in die Landeskirchen geschickt, die kirchlichen Finanzen unter Staatskontrolle gestellt und weitere ähnliche Zwangsmaßnahmen angewendet. Die Bekennende Kirche protestierte dagegen mit Entschließungen und Erklärungen; sie erreichte, daß sich immer mehr protestantische Christen ihrem Kampf für die „Kirche Jesu Christi" anschlossen, obwohl viele Pfarrer verhaftet wurden, und ein Erlaß Hitlers vom 15. Februar 1937 anordnete: „Nachdem es dem Reichskirchenausschuß nicht gelungen ist, eine Einigung der kirchlichen Gruppen der Deutschen Evangelischen 711

Drittes Reidi Kirche herbeizuführen, soll nunmehr die Kirche in voller Freiheit nach eigener Bestimmung des Kirchenvolkes sich selbst die neue Verfassung und damit eine neue Ordnung geben. Ich ermächtige daher den Reichsminister für die kirchlichen Angelegenheiten, zu diesem Zwecke die Wahl einer Generalsynode vorzunehmen." Der Nationalsozialismus glaubte immer noch, er werde durch Anwendung seiner Gewaltmethoden die evangelische Kirche für seine politischen Zwecke und sein „positives Christentum" gewinnen können, aber die Bekennende Kirche wehrte sich in Predigten, Flugblättern, Broschüren und Offenen Briefen gegen jede Verfälschung ihres Glaubens und lehnte die maßvollere Richtung der Deutschen Christen ebenso ab wie die radikale. So verschob Kerrl die Wahl immer wieder und beschuldigte im November 1937 die Bekenntnisfront, sie mißbrauche die Religion zu politischen Zwecken, während die nationalsozialistische Kirchenpolitik darnach strebe, die Kirchen wieder in wahrhaft religiöse Gemeinschaften umzuwandeln. Im Dezember berief Kerrl unter Preisgabe der Wahl Dr. Werner zum neuen Leiter der Reichskirche; dieser bekam, Fragen des Bekenntnisses und des Kultes ausgenommen, volle Gewalt zur Regierung der Kirche. Großes Aufsehen hatte Pfarrer Niemöllers Verhaftung am 1. Juli 1937 erregt, der bis Kriegsende im Konzentrationslager festgehalten wurde. Bei der Führung der Bekennenden Kirche traten nun Dr. Otto Dibelius und der württembergische Landesbischof Wurm in den Vordergrund. Der Kampf ging von beiden Seiten unvermindert weiter. Hitler gelang weder die Gleichschaltung der katholischen noch der evangelischen Kirche. Beide hatten bei ihrem Widerstand große Opfer zu bringen; doch dafür erfuhr das religiöse Leben eine gesteigerte Verinnerlichung. Auch kamen die beiden Konfessionen in der gemeinsamen Abwehr gegen die Feinde des Christentums zu fruchtbarer Zusammenarbeit. — Erbitterten Widerstand leistete dem Nationalsozialismus unter großen Blutopfern die Sekte der Zeugen Jehovas.

RÖHMS „ZWEITE REVOLUTION" Hitler wollte, nachdem die Machtergreifung und die Gleichschaltung so überraschend schnell und widerstandslos gelungen waren, die NSDAP in ruhigere Bahnen lenken. Auf einer Konferenz der Reichsstatthalter am 6. Juli 1933 führte Hitler aus, es seien mehr Revolutionen im ersten Ansturm gelungen, als gelungene aufgefangen und zum Stehen gebracht worden. Die Revolution sei kein permanenter Zustand, sie dürfe sich nicht zu einem Dauerzustand ausbilden. Man müsse den frei gewordenen Strom der Revolution in das sichere Bett der Evolution hinüberleiten. Die Erziehung der Menschen zur nationalsozialistischen Staatsauffassung sei dabei das wichtigste. Das große Werk der Arbeitsbeschaffung dürfe nicht durch Eingriffe Unbefugter in die Wirtschaft gestört werden. Die Reichsstatthalter hätten dafür zu sorgen und seien dem Reichskanzler dafür verantwortlich, daß nicht irgendwelche Organisationen oder Parteistellen sich Regie712

Röhms „Zweite Revolution" rangsbefugnisse anmaßten, Personen absetzten und Ämter besetzten, wofür allein die Reichsregierung, also in bezug auf die Wirtschaft allein der Reichswirtschaftsminister zuständig wäre. Die Partei sei jetzt der Staat geworden. Alle Macht liege bei der Reichsgewalt. Am 10. Juli schärfte ein Rundschreiben des Innenministers Frick diese Grundsätze den Reichsstatthaltern und Landesregierungen noch einmal ein. Wer jetzt noch „von einer Fortsetzung der Revolution oder von einer zweiten Revolution redet, muß sich darüber klar sein, daß er sich damit gegen den Führer selbst auflehnt und dementsprechend behandelt wird. Solche Äußerungen stellen eine glatte Sabotage der nationalen Revolution dar". Diese Warnung richtete sich vor allem an Röhm und seine SA. Sie hatten an der Machtergreifung wesentlichen Anteil, waren aber jetzt ziemlich überflüssig. Alle, die keine Ämter erhalten hatten, fühlten sich zurückgesetzt. In die siegreiche Partei drängten sich seit März viele „Konjunkturritter", die auf einmal ihr nationalsozialistisches Herz entdeckten. Die „Märzveilchen" oder „Märzgefallenen" wurden, besonders wenn sie zu Amt und Würden gekommen waren, von den „Alten Kämpfern" wütend angegriffen; die SA werde „den Saustall säubern" und „ein paar der gierigen Schweine von den Trögen jagen", hieß es unter den SA-Leuten. Bei ihren Führern, namentlich bei Röhm, spielte noch anderes mit: Sie empfanden den Weg Hitlers als ein Abweichen von den ursprünglichen Zielen; das sozialistische Programm der Partei schien ihnen zu wenig verwirklicht, und Röhm wollte vor allem die Rivalität zwischen der SA und der Reichswehr auf seine Weise beseitigen. Er hielt die nationalsozialistische Revolution erst für vollendet, wenn die reaktionäre Reichswehr mit ihren alten kaiserlichen Offizieren durch die Verschmelzung mit der SA unter seiner Führung zu einer Miliz, zu einem echten Volksheer umgeformt sei. Hitler hegte aber ganz andere Pläne, in denen die Reichswehr eine wichtige Rolle spielte: ein nach außen mächtiges Deutschland, das die Schmach von Versailles auslöschen sollte, mußte ein starkes Heer haben und durfte keine Experimente mit einer Miliz machen; außerdem war Hindenburg noch oberster Befehlshaber der Wehrmacht, und Hitler war auf die gute Meinung der Generale angewiesen, um die Nachfolge antreten zu können. Zwischen Wehrmacht und SA und zwischen der politischen Führung der NSDAP und Röhm herrschte ständiger Zwist. Hitler hätte also nur gegen den erbitterten Widerstand der Wehrmacht und der politischen Führung der NSDAP Röhms Wünsche erfüllen können; dann aber wäre Röhm, der, obwohl ein alter Freund Hitlers, seine Selbständigkeit immer gewahrt hatte, als Leiter der Wehrmacht für Hitlers absoluten Herrschaftsanspruch eine Gefahr geworden, während Reichswehrminister von Blomberg und der Chef des Ministeramtes im Reichswehrministerium Oberst von Reichenau Hitler unbedingt ergeben waren. Zunächst nahmen die SA-Führer die Rede Hitlers vom 1. Juli 1933, sie müßten „eine Garde bilden, die unerschütterlicher Träger unserer Gedankenwelt ist", die Reichswehr aber sei „allein Waffenträger der Nation", äußerlich ruhig hin und leisteten auch gegen die Auflösung ihrer Hilfspolizei-Formationen durch 713

Drittes Reich Göring keinen Widerstand. Am 1. Dezember verabschiedete das Reichskabinett ein Gesetz „zur Sicherung der Einheit von Partei und Staat": „Nach dem Sieg der nationalsozialistischen Revolution ist die NSDAP die Trägerin des deutschen Staatsgedankens und mit dem Staate unlöslich verbunden. Sie ist eine Körperschaft des öffentlichen Rechts. Zur Gewährleistung engster Zusammenarbeit der Dienststellen der Partei und der SA mit den öffentlichen Behörden werden der Stellvertreter des Führers und der Chef des Stabes der SA Mitglied der Reichsregierung." Damit wurden der Stellvertreter des Führers, Rudolf Heß, der Leiter der politischen, und Röhm, der Leiter der militärischen Organisation der NSDAP, Reichsminister. Dieses Gesetz verschärfte außerdem die Parteigerichtsbarkeit über jedes Mitglied, das seine „Pflichten gegenüber Führer, Volk und Staat" verletzt, erheblich. Trotzdem spitzten sich im Frühjahr 1934 die Gegensätze immer mehr zu. Röhm gab seine Reichswehrpläne nicht auf und spielte weiter mit dem Gedanken der zweiten Revolution, von deren Notwendigkeit er Hiüer noch zu überzeugen oder zu der er ihn zu zwingen gedachte. Am 28. Februar 1934 eröffnete Hitler vor einer Versammlung von hohen Reichswehroffizieren, SA- und SS-Führern, das deutsche Volk gehe fürchterlichem Elend entgegen, da das Arbeitsbeschaffungsprogramm der Reichsregierung in spätestens acht Jahren ausgelaufen sei und dann eine äußerst schwierige wirtschaftliche Lage entstehen müsse. Deutschland werde dann gezwungen sein, sich neuen Lebensraum durch scharfe aber kurze militärische Schläge nach Osten und Westen zu verschaffen. Dafür sei eine Miliz, wie Röhm sie wünsche, völlig ungeeignet (Aussage Kleists im Nürnberger Prozeß 1946 und Weichs' im Röhm-Prozeß 1957). Innerhalb der Partei trachteten Göring und die SS-Führer Himmler und Heydrich nach dem Sturz Röhms, dessen Machtstellung an der Spitze der militärischen Parteiorganisation ihr eigenes Streben gefährdete. In der Reichswehr bekämpften Blomberg und Reichenau die Übergriffe der SA. Beide Gruppen arbeiteten zusammen, um Hitler davon zu überzeugen, daß Röhms Putsch unmittelbar bevorstünde, und schufen so die Atmosphäre, in der sich die Ereignisse des 30. Juni 1934 abspielten. Hinzu kam noch, daß sich Hindenburgs Gesundheitszustand bedrohlich verschlimmert hatte, und daß monarchistische Kreise, denen auch Vizekanzler Papen angehörte, glaubten, Hindenburgs Tod wäre der gegebene Zeitpunkt zur Wiederherstellung der Monarchie in Deutschland. Hitler hatte nie ein deutsches Kaisertum ganz abgelehnt, sondern nur ausweichend gesagt, dafür sei die Zeit noch nicht gekommen. Nun aber mußte er sich entscheiden: Innenminister Frick verbot am 2. Februar 1934 auf Veranlassung des Chefs der Gestapo Göring alle monarchistischen Verbände; der nationalsozialistische Staat könne nicht dulden, daß sich dunkle Elemente in die monarchistische Bewegung einschlichen und versuchten, sie zu einer Opposition auszubauen. Die innere Unruhe während dieses Frühjahrs veranlaßte Papen zu einem seiner „Husarenritte"; am 17. März hielt er in der Universität Marburg die Marburger Rede, wobei er „vor der geistigen Prominenz" Deutschlands mutig Kritik übte: „Wir hatten mit Hilfe der NS-Bewegung ein funktionsunfähig gewordenes System durch ein besseres ersetzen, niemals aber eine Diktatur aufbauen wollen." Papen 714

Röhms „Zweite Revolution" trat für die Restauration der Monarchie ein und für ein „ständisch gegliedertes Leben auf christliche Prinzipien gestützt"; er wandte sich gegen „die hundertfünfzigprozentigen Parteileute", die ohne jede Leistung hohe Ämter erhielten; die Einigkeit des Volkes durch Terror herbeizuführen, sei unmöglich. Die begeisterte Zustimmung fast aller seiner Hörer zeigte Papen, daß er ihnen aus der Seele gesprochen hatte. Goebbels verbot sofort die Verbreitung der Rede durch Rundfunk und Presse. Papen protestierte dagegen bei Hitler und wollte Hindenburg um seine Demission bitten; dies paßte indes Hitler nicht, denn Papen galt immer noch viel beim Reichspräsidenten. Hitler schlug deshalb eine gemeinsame Aussprache bei Hindenburg vor, die aber nie stattfand. Trotz aller Vorsichtsmaßnahmen von Goebbels fand die Rede im In- und Ausland weite Verbreitung. Erfolg hatte sie freilich nicht, auch trat jetzt der Streit um die SA völlig in den Vordergrund. Bei verschiedenen Besprechungen konnten sich Hitler und Röhm nicht einigen; immerhin verabredeten sie, Röhm solle einen Krankheitsurlaub antreten und die ganze SA für den Juli beurlauben. In der zweiten Hälfte Juni waren Teile der SA und der Reichswehr in Alarmzustand, jeder befürchtete einen Überfall des anderen; vermutlich haben Reichenau, Himmler und Heydrich diese Nervosität bewußt und künstlich hervorgerufen. Ob Hitler selbst ernsthaft an die unmittelbare Gefahr eines SA-Putsches glaubte, oder ob die umlaufenden Gerüchte nur ein willkommener Vorwand waren, wird sich kaum je entscheiden lassen, denn die Akten über die Vorgänge um den 30. Juni wurden sofort darnach gründlich vernichtet, die meisten der handelnd oder leidend dabei Beteiligten sind tot und die Zeugenaussagen der Überlebenden widersprechend. Hitler setzte zum 30. Juni eine SA-Führertagung in Bad Wiessee am Tegernsee an, wo Röhm zur Kur weilte, und sagte sein Erscheinen zu; doch war dies nur ein Vorwand, um möglichst viele SA-Führer zugleich unschädlich machen zu können, wie dies Hitler in seiner Reichstagsrede vom 13. Juli selbst angibt. Am 29. Juni besichtigte Hitler Arbeitsdienstlager in Westfalen. Hier erhielt er Nachrichten aus München und Berlin, daß die SA am 30. Juni losschlagen werde. Diese Absicht bestand sicher nicht, wollte doch Karl Ernst, Führer der wichtigen Berliner SA-Gruppe, sich eben in Bremen zu einer Vergnügungsreise einschiffen, als er verhaftet wurde; Röhm und seine Freunde lagen aber im Bett, als Hitler sie am frühen Morgen des 30. Juni festnehmen und nach München ins Gefängnis bringen ließ. Hier wurden im Gefängnishof die SA-Führer August Schneidhuber, Edmund Heines, Wilhelm Schmid, Hans Hayn, Hans Peter von Heydebreck und Hans Erwin Graf Spreti, erschossen. Ernst Röhm wurde zum Selbstmord aufgefordert, und als er ihn ablehnte, in seiner Zelle erschossen. Die Aktion in München führte Hitler persönlich durch mit der in der Nacht zum 30. Juni dorthin beförderten unter Sepp Dietrich stehenden SS-Leibstandarte; für Berlin und das Reich waren Göring, seine Gestapo und die SS mit ihr beauftragt. Ein sich in den Grenzen der Gesetze haltendes, energisches Einschreiten Hitlers gegen den Unruheherd SA wäre verständlich gewesen. Die Art aber, wie Hitler vorging, zeigte aller Welt, daß Deutschland kein Rechtsstaat mehr war. Unter 715

Drittes Reich Ausschaltung der Gerichtsbehörden, ohne jedes gerichtliche Verfahren wurden die Opfer „auf Befehl des Führers" erschossen: 19 höhere SA-Führer, 31 weitere SA-Führer und einfache Mitglieder der SA, 3 SS-Führer und 5 Parteigenossen, als am Komplott Beteiligte; 13 SA-Führer und Zivilpersonen, die bei der Verhaftung Widerstand geleistet hätten; ferner 3 SS-Männer wegen Mißhandlung von Schutzhäftlingen. Diese Angaben Hitlers sind indes erheblich zu niedrig, wahrscheinlich fanden doppelt oder dreimal soviel den Tod. Göring und Himmler hatten Listen mißliebiger Personen aufgestellt, die bei dieser Gelegenheit beseitigt wurden. So starben der Führer der Katholischen Aktion Ministerialdirektor Klausener, Gregor Strasser, Papens Bürochef Oberregierungsrat von Bose, der Konservative Edgar Jung, Papens Mitarbeiter vor allem bei Abfassung seiner Reden, der 72jährige ehemalige bayrische Ministerpräsident von Kahr. Am meisten Aufsehen erregte die Ermordung Schleichers, seiner Frau und des Generals von Bredow. In der Reichstagsrede vom 13. Juli erfand Hitler die Entschuldigung, Schleicher habe seiner Verhaftung Widerstand entgegengesetzt, aber noch vorhandene Dokumente widerlegen dies eindeutig. Ungeklärt ist, ob Schleicher, Bredow und Strasser Beziehungen zu Röhm und seinen Plänen hatten; Bredow soll der Verbindungsmann zu „einer auswärtigen Macht" gewesen sein; der französische Botschafter in Berlin, François-Poncet, auf den diese dunklen Andeutungen hinwiesen, bestritt entschieden, von Putschabsichten auch nur etwas gewußt zu haben. Göring nannte vor der Presse die Morde offen „eine Begleichung alter Rechnungen". Das bedeutete: Hitler und Göring hatten an denen Rache genommen, die den Aufstieg der NSDAP gehindert hatten, zuviel wußten oder Hitlers Macht jetzt gefährdeten. Obwohl Hitler die Aktion bereits am 1. Juli für abgeschlossen erklärt hatte, dauerte das Morden und Verhaften fast drei Tage lang. Papen, den zu beseitigen man mit Rücksicht auf Hindenburg nicht wagte, wurde drei Tage lang in seiner Wohnung streng bewacht. Papen verlangte nun seinen Abschied als Vizekanzler, protestierte in Briefen gegen die Ermordung seiner Mitarbeiter und die Beschlagnahme seiner Akten. Hitler wußte ihn jedoch hinzuhalten, und als er ihm am 26. Juli den Gesandtenposten in Wien nach der Ermordung des Bundeskanzlers Dollfuß (S. 726) anbot, nahm Papen an. Er rettete damit sein Leben und glaubte, seinem Volk im Ausland noch nützliche Dienste leisten zu können. Der Ende Juli bereits todkranke Hindenburg lebte in Neudeck völlig abgeschlossen, von den ganzen Vorgängen um den 30. Juni hat er wahrscheinlich nur einen Bruchteil erfahren und so die ihm von Meißner vorgelegten Danktelegramme an Hitler und Göring vom 12. Juli für das „tapfere Niederschlagen aller hochverräterischen Umtriebe" unterzeichnet. Am 3. Juli fand eine Kabinettssitzung statt, in der Blomberg im Namen der Reichswehr Hitler für sein entschlossenes und mutiges Handeln dankte, und das von dem Reichsjustizminister Gürtner vorgeschlagene Gesetz angenommen wurde: „Die zur Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe am 30. Juni und am 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen sind als Staatsnotwehr Rechtens." Gürtner er716

Röhms „Zweite Revolution" klärte dazu, die Notwehrmaßnahmen hätten nicht nur als Recht, sondern als staatsmännische Pflicht zu gelten; er wollte allerdings nur die Erschießungen, die unter die von ihm anerkannte „Staatsnotwehr" fielen, für „Rechtens" erklären, alle aus privaten Motiven begangenen Morde dagegen vor die ordentlichen Gerichte bringen, was Gestapo und SS freilich fast ganz zu verhindern wußten. Aber selbst wenn Gürtner das Gerichtsverfahren gegen die „privaten" Übeltäter durchgesetzt hätte, wäre doch die nachträgliche Legalisierung der angeblich staatsnotwendigen, unter Mißachtung aller geltenden Rechsnormen verübten Morde in keiner Hinsicht zu rechtfertigen. Schon am 1. Juli ernannte Hitler den Obergruppenführer Viktor Lutze zum Stabschef der SA und gab für sie neue Richtlinien bekannt. Was kein Deutscher über die SA öffentlich zu sagen gewagt hatte, konnte nun jeder in den Zeitungen lesen: „Ich verbiete insbesondere, daß Mittel der Partei, der SA oder überhaupt der Öffentlichkeit für Festgelage und dergleichen Verwendung finden. Es ist unverantwortlich, von Geldern, die zum Teil sich aus den Groschen unserer ärmsten Mitbürger ergeben, Schlemmereien abzuhalten. Das luxuriöse Stabsquartier in Berlin, in dem, wie nunmehr festgestellt wurde, monatlich bis zu 30 000 RM für Festessen usw. ausgegeben wurden, ist sofort aufzulösen . . . Ich wünsche nicht, daß SA-Führer in kostbaren Limousinen oder Cabrioletts Dienstreisen unternehmen oder Dienstgelder für die Anschaffung derselben verwenden. Dasselbe gilt für die Leiter der politischen Organisationen. SA-Führer, die sich vor aller Öffentlichkeit betrinken, sind unwürdig Führer ihres Volkes zu sein . . . Ich wünsche, daß alle SA-Führer peinlichst darüber wachen, daß Verfehlungen nach § 175 mit dem sofortigen Ausschluß der Schuldigen aus der SA und der Partei beantwortet werden." Die homosexuellen Exzesse Röhms und seines Kreises waren Hitler und der Öffentlichkeit seit langem bekannt, so daß seine plötzliche Entrüstung darüber, der er auch in der Reichstagsrede Ausdruck verlieh, nicht glaubwürdig klang. Zu der stundenlangen Rechtfertigungsrede im Reichstag am 13. Juli 1934 entschloß sich Hitler erst, als ihn die Unruhe im Inland und besonders die Empörung im Ausland dazu zwangen. Goebbels hatte am 10. Juli in einer Rundfunkrede über den „30. Juni im Spiegel des Auslandes" davon gesprochen, daß abgesehen von einigen „seriösen Auslandzeitungen der übrige Teil der internationalen Weltpresse geradezu in einen Taumel böswilliger Verhetzung und hysterischer Verleumdung" hineingeraten sei. Hitler stellte in seiner Reichstagsrede teils richtig, teils verfälschend, den Plan der „zweiten Revolution mit der Nacht der langen Messer" als erwiesen dar: nämlich den bevorstehenden Putsch samt Mordanschlag auf ihn selbst, und den Hoch- und Landesverrat durch Beziehungen zum Ausland. Dem treu gebliebenen Rest der SA spendete er höchstes Lob, ebenso dem Reichswehrminister Blomberg. Hitler versprach, die Reichswehr „als unpolitisches Instrument des Reiches" zu bewahren. „Es gibt im Staate nur e i n e n Waffenträger: die Wehrmacht und nur e i n e n Träger des politischen Willens: dies ist die nationalsozialistische Partei." Am Schluß der Sitzung dankte Göring als Reichstagspräsident unter stürmischem Jubel des Hauses Hitler für die entschlossene Rettung des Vaterlandes vor Bürgerkrieg und Chaos; auf die „Hetze" 717

Drittes Reich des Auslandes antworte das ganze Volk: „Wir alle billigen immer das, was unser Führer tut." Damit war für die Regierenden die Angelegenheit des 30. Juni erledigt. Hitler hatte den ihm gefährlich gewordenen Rivalen Röhm und seine Anhänger sowie die alten Gegner Schleicher und Strasser vernichtet. Die SA war von nun an bedeutungslos, während Himmlers SS immer mehr Einfluß gewann. Für ihre Verdienste bei den Ereignissen des 30. Juni wurde sie, die bisher nominell der Obersten SA-Führung unterstand, als selbständige Organisation unmittelbar der Führung Hitlers unterstellt. Mit der Ausschaltung der SA hatte die Reichswehr ihr Ziel erreicht; daß sie aber die Ermordung zweier ihrer ehemaligen Generale ohne Einspruch hinnahm, zeigte, wie stark ihre Führung von Hitler abhängig geworden war. Ein Teil der Generalität, namentlich Fritsch und Beck, verlangten eine militär- und ehrengerichtliche Untersuchung des Schleicher und Bredow vorgeworfenen Hochverrates. Hitler gab vor, dafür Beweise zu haben, aber Blomberg lehnte eine Untersuchung ab. Die Beweise wurden nie vorgelegt. Ganz im Gegenteil ließ Hitler in Paris erklären, der Verdacht, Botschafter FrançoisPoncet sei in die Röhmrevolte verwickelt, entbehre jeder Grundlage. Die deutsche Öffentlichkeit hat wohl zum großen Teil an die akute Putschgefahr geglaubt; Röhm und seine Freunde waren wegen ihres Lebenswandels, die SA wegen ihrer Roheiten und Ausschreitungen äußerst unbeliebt; aber der blutige Terror, mit dem die SS Schuldige und Unschuldige ohne jedes gerichtliche Verfahren aus dem Wege räumte, öffnete vielen die Augen über den wahren Charakter des Hitlerreiches. Der Beruhigung, die eintrat, lag vor allem die Angst zugrunde, durch Kritik selber in die Fänge der Gestapo zu geraten. Neben den fanatischen Anhängern Hitlers und den Nutznießern des neuen Regimes lebte die Masse des Volkes in leidlichem Wohlstand, aber bedrückt und mißtrauisch untereinander, vielfach selbst gegen alte Freunde und oft sogar gegen die eigenen Familienangehörigen. Im Inland wie im Ausland wußte man nun, daß Deutschland kein Rechtsstaat mehr war. Hitler aber schritt in den nächsten Jahren, auch mit Hilfe des Auslandes, von Erfolg zu Erfolg.

HINDENBURGS TOD UND HITLERS NACHFOLGE Am 2. August 1934 starb Hindenburg in Neudeck. Uber Hitlers Machtstellung mußte dieses Ereignis entscheiden. Er hatte zur rechten Zeit vorgesorgt, daß die Entscheidung nach seinem Willen getroffen wurde. Am 1. August, als Hindenburgs Tod unmittelbar bevorstand, hatte die Reichsregierung nach dem Vorschlag Hitlers ein „Verfassungsänderndes Gesetz" beschlossen und Hitler die sofortige Vereidigung der Reichswehr auf seine Person mit Blomberg verabredet. Das deutsche Volk erfuhr am 2. August Hindenburgs Tod und den Inhalt des neuen Gesetzes: das Amt des Reichspräsidenten wird mit dem des Reichskanzlers vereinigt, Hitler wird aber nur den Titel „Führer und Reichskanzler" tragen; 718

Hindenburgs Tod und Hitlers Nachfolge am 19. August werde eine Volksabstimmung über diese Reglung stattfinden; die Reichswehr habe „dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes Adolf Hitler, dem Oberbefehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam" bis zum Tode geschworen, bisher hieß es in der Eidesformel der Wehrmacht: „Treue und Gehorsam gegenüber der Verfassung und dem Reichspräsidenten." Hindenburg wurde in Reden und Aufrufen überschwenglich gefeiert. Neben seinem Sieg von Tannenberg 1914 wurde als sein Hauptverdienst die Berufung Hitlers als Reichskanzler gepriesen, so im Aufruf von Rudolf Heß: „Hindenburg leitete damit neue deutsche Geschichte ein, Hindenburgs lebendiges Vermächtnis für Deutschland ist der Führer. Treue zu Hindenburg heißt Treue dem Führer, heißt Treue zu Deutschland." Entgegen Hindenburgs ausdrücklichem Wunsch, in Neudeck still, ohne Lobsprüche, nur mit Verlesung von ein paar Bibelstellen neben seiner Gattin beerdigt zu werden, ordnete HiÜer die Beisetzung im Nationaldenkmal bei Tannenberg unter großer Pompentfaltung an. Der Schluß von Hitlers Rede bei dieser Feier am 7. August: „Toter Feldherr, geh nun ein in Walhall!" wurde in weiten Kreisen als Geschmacklosigkeit empfunden, denn jeder wußte von Hindenburgs schlichtem und ehrlichem Christentum. Die Gestalt des zweiten deutschen Reichspräsidenten ist trotz der hohen Verehrung, die er im größten Teil des deutschen Volkes genoß, sehr umstritten. Sein Feldherrntum wird von Ludendorffs aktiverer Persönlichkeit überschattet, seine Rolle bei der Abdankung und Flucht Kaiser Wilhelms II. 1918 hat Hindenburg fortan tief bedrückt, als Reichspräsident enttäuschte er nach seiner ersten Wahl seine konservativen, nach der zweiten Wahl seine demokratischen Wähler. Am ehesten wird man wohl dem geistig keineswegs hervorragend begabten Manne gerecht, wenn man die treibende Kraft seines Lebens in der Pflichterfüllung sieht. War er einmal davon überzeugt, seine Pflicht erheische diese oder jene Handlung, dann führte er sie auch gegen seine persönliche Einstellung aus. So ließ der überzeugte Monarchist, um einen Bürgerkrieg zu vermeiden, den Kaiser nach Holland ins Exil gehen; so regierte der grundsätzlich Konservative loyal mit sozialdemokratischen Kanzlern; so ließ der so lange Widerstrebende, abermals um einen Bürgerkrieg zu verhindern, schließlich Hitler doch an die Macht kommen. Wie weit Oskar von Hindenburg seinen Vater beeinflußt hat, ist noch nicht geklärt. Jedenfalls hat der Sohn keine erfreuliche Rolle gespielt bei der Annahme der zwei großen Schenkungen: des ehemaligen Familiengutes Neudeck 1927 und der daranstoßenden preußischen Domäne Langenau samt dem Preußenwald, eine Ehrengabe, die Hitler im Herbst 1933 als Reichsstatthalter von Preußen Hindenburg zukommen ließ. Der Besitz von Neudeck führte Hindenburg, vielleicht mehr als politisch gut war, in die Kreise der Großgrundbesitzer und ihrer Ansprüche; daß Hitler durch seine Ehrengabe Hindenburg sich verpflichtet hat, ist nicht wahrscheinlich. Hindenburg hatte am 11. Mai 1934, also vor den Ereignissen des 30. Juni, auf Zureden und nach dem Entwurf Papens ein politisches Testament unterzeichnet. Papens Hauptanliegen dabei war, Hindenburg solle zur Wiedereinführung der Monarchie auffordern. Hindenburg hielt es jedoch nicht für richtig, dem Volk 719

Drittes Reich Ratschläge für eine Staatsform zu geben, deshalb teilte er sein Testament in die zwei Teile: eine Art Rechenschaftsbericht, „dem deutschen Volk und seinem Kanzler", worin es gegen Schluß heißt: „Mein Kanzler Adolf Hitler und seine Bewegung haben zu dem großen Ziele, das deutsche Volk über alle Standesund Klassenunterschiede zur inneren Einheit zusammen zu führen, einen entscheidenden Schritt von historischer Tragweite getan"; und einen Brief „An den Herrn Reichskanzler Adolf Hitler", in dem er Hitler die Wiedereinführung der Monarchie empfahl. Oskar von Hindenburg sollte beide Schriftstücke dem Reichskanzler übergeben, was er aber unterließ — warum, ist nicht bekannt. Hitler erhielt die beiden versiegelten Schreiben erst auf Anforderung wenige Tage vor der angekündigten Volksabstimmung durch Papen. Er ließ den ersten Teil sofort veröffentlichen, den zweiten hielt er zurück und begründete dies Papen gegenüber damit, dieser Teil sei nur an ihn, Hitler, persönlich gerichtet. Da von dem Vorhandensein eines zweiten Teiles doch manches durchsickerte, verbreitete sich bald das Gerücht, Hindenburgs Testament sei gefälscht. Dies trifft also offenbar nicht zu, es fehlte eben nur der zweite Teil mit dem Rat, die Monarchie wieder einzuführen. Die Veröffentlichung dieses Teiles wäre gerade jetzt Hitler sehr ungelegen gekommen. Dagegen bot der erste Teil mit dem Lobe Hitlers und seiner Bewegung ein vorzügliches, wirksames Propagandamaterial für den wieder mit all den bewährten Mitteln betriebenen Werbefeldzug für die „freie" Volksabstimmung am 19. August über das Gesetz vom 2. August, die Nachfolge Hindenburgs. Von 45,4 Millionen Stimmberechtigten stimmten bei einer Beteiligung von 95,71 Prozent 38,3 Millionen für das Gesetz, 4,2 Millionen dagegen. Hitler konnte nun sagen, 9 0 % des deutschen Volkes stünden hinter ihm; aber so ganz befriedigt hat dieser Erfolg Hitler doch noch nicht, wie einer seiner Aufrufe vom folgenden Tag zeigt: „Angefangen von der obersten Spitze des Reiches über die gesamte Verwaltung bis zur Führung des letzten Ortes befindet sich das Deutsche Reich heute in der Hand der Nationalsozialistischen Partei . . . Der Kampf um die Staatsgewalt ist mit dem heutigen Tage beendet. Der Kampf um unser teures Volk aber nimmt seinen Fortgang. Das Ziel steht unverrückbar fest: Es muß und es wird der Tag kommen, an dem auch der letzte Deutsche das Symbol des Reiches als Bekenntnis in seinem Herzen trägt."

720

Hitlers Außenpolitik bis 1937

Hitlers außenpolitische Zielsetzung Hitlers außenpolitische Ansichten und Pläne lagen schon fest, als er im Landsberger Gefängnis sein Buch „Mein Kampf" schrieb. Auf der ersten Seite steht: „Deutschösterreich muß wieder zurück zum großen deutschen Mutterlande . . . Gleiches Blut gehört in ein gemeinsames Reich", und auf Seite 699: „Der unerbittliche Todfeind des deutschen Volkes ist und bleibt Frankreich"; auf Seite 751: „Im russischen Bolschewismus haben wir den im 20. Jahrhundert unternommenen Versuch des Judentums zu erblicken, sich die Weltherrschaft anzueignen"; auf Seite 757: „Nicht West- und nicht Ostorientierung darf das künftige Ziel unserer Außenpolitik sein, sondern Ostpolitik im Sinne der Erwerbung der notwendigen Scholle für unser deutsches Volk"; auf Seite 705: „In Europa wird es für Deutschland in absehbarer Zukunft nur zwei Verbündete geben können: England und Italien"; auf Seite 688 f.: „Die Frage der Wiedergewinnung verlorner Gebietsteile eines Volkes und Staates ist immer in erster Linie die Frage der Wiedergewinnung der politischen Macht und Unabhängigkeit des Mutterlandes . . . Unterdrückte Länder werden nicht durch flammende Proteste in den Schoß eines gemeinsamen Reiches zurückgeführt, sondern durch ein schlagkräftiges Schwert, dieses Schwert zu schmieden, ist die Aufgabe der innerpolitischen Leitung eines Volkes; die Schmiedearbeit zu sichern und Waffengenossen zu suchen, die Aufgabe der außenpolitischen"; und auf Seite 782 in dem 1926 angefügten Schlußwort: „Ein Staat, der im Zeitalter der Rassenvergiftung sich der Pflege seiner besten rassischen Elemente widmet, muß eines Tages zum Herrn der Erde werden." Ähnlich wie in „Mein Kampf" legte Hitler 1933, drei Tage nach Antritt des Kanzleramtes, den Befehlshabern des Heeres und der Marine seine Pläne dar: Wehrhaftmachung des Volkes, Ausbau der Wehrmacht, Wiedererringung der politischen Machtstellung Deutschlands, Erkämpfung neuen Lebensraumes im Osten und dessen „rücksichtslose Germanisierung". Wenn auch dieser Vortrag Hitlers geheim blieb, so wurden doch in vielen Reden Hilters und seiner Parteigenossen derartige Pläne in die Öffentlichkeit getragen. Das Ausland verfolgte deshalb Hitlers Ernennung zum Reichskanzler und seine stürmische Machtergreifung während der folgenden Wochen mit großer Besorgnis; besonders Frankreich, Polen und die Tschechoslowakei fühlten sich bedroht. Hitler, der sich darüber 721 46 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Drittes Reich — Außenpolitik bis 1937 klar war, daß ein abgerüstetes, wirtschaftlich geschwächtes Deutschland vorerst zur Verwirklichung seiner Pläne nichts mit Aussicht auf Erfolg unternehmen könne, gab sich den Anschein, er sei durchaus auf eine Friedenspolitik bedacht und betonte bei jeder Gelegenheit Deutschlands guten Willen, mit allen Völkern zusammenzuarbeiten. An der Forderung der Gleichberechtigung Deutschlands und der Revision des Versailler Vertrages hielt er allerdings fest, betonte aber, jeglichen Krieg abzulehnen, da ein solcher nur dazu führen würde, Europa dem bolschewistischen Chaos auszuliefern.

Abrüstungskonferenz Seit dem 2. Februar 1933 tagte in Genf wieder die Abrüstungskonferenz. Der englische Premierminister Macdonald überreichte ihr am 16. März Vorschläge über die Sicherheit und über die Rüstungsbeschränkung aller europäischen Staaten. Hitler sah darin, wie er in seiner Reichstagsrede vom 13. Mai angab, eine „mögliche Grundlage für die Lösung dieser Fragen". Er begrüßte auch den Appell des Präsidenten der Vereinigten Staaten, Roosevelt, der sofortigen Rüstungsstillstand sowie die Abschaffung aller Waffen empfahl, die einen erfolgreichen Angriff ermöglichen. Mitte März schlug Mussolini einen Viermächtepakt vor, der im Sinn des Locarnovertrages und des Briand-Kellog-Paktes im Rahmen des Völkerbundes für die Revision der Friedensverträge, für Frieden und Abrüstung wirken sollte. Auch dem stimmte Hitler bereitwillig zu, während Frankreich die Besorgnisse um seine Sicherheit in den Vordergrund rückte; denn, so sagte Ministerpräsident Daladier am 23. April in einer Rede, „außerhalb unserer Grenzen ertönten jene Rufe der Gewalt, breiteten sich jene Roheiten, jene Organisationen des Terrors aus, die zeigten, wie zerbrechlich unsere moderne Kultur ist, die wir so fest im Boden Europas verwurzelt glaubten". Der LabourAbgeordnete Attlee erklärte am 13. April im englischen Unterhaus: die Arbeiterpartei wehre sich dagegen, daß dem Hitlertum und der Gewalt Zugeständnisse gemacht würden, die man den demokratischen Staatsmännern Deutschlands verweigert habe. Noch deutlicher wurde Sir Austen Chamberlain: „Angesichts des drohenden Geisteszustands Deutschlands ist dies nicht die Zeit, für Abrüstung einzutreten . . . Während Europa bedroht ist und in Deutschland dieser engherzige, aggressive Geist herrscht, wo es ein Verbrechen ist, für den Frieden zu sprechen oder ein Jude zu sein — ist das ein Deutschland, dem Europa die Gleichberechtigung anbieten könnte?" Trotzdem setzte sich die englische Regierung in Genf für Deutschlands Gleichberechtigung in der Rüstungsfrage ein; Frankreich verlangte, daß die halbmilitärischen Verbände der SA und SS auf die deutsche Heeresstärke angerechnet würden. Deutschland versicherte dagegen, diese Verbände hätten keinen militärischen Charakter, forderte aber die Anrechnung der französischen Kolonialtruppen in Nordafrika auf die französische Heeresstärke. Da keine Einigung zustande kam, vertagte sich der Hauptausschuß der Abrüstungskonferenz am 29. Juni bis zum 16. Oktober. 722

Austritt aus dem Völkerbund Austritt aus dem Völkerbund Inzwischen verhandelten England und Frankreich weiter und einigten sich auf eine neue Fassung des Macdonaldplanes; sie war für Deutschland insofern ungünstiger, als ihm eine Art Probezeit von vier Jahren auferlegt wurde, dann erst sollte es in weiteren vier Jahren seine Wehrmacht auf die vereinbarte Stärke aufrüsten, während die anderen Staaten abgerüstet hätten und ein Kontrollsystem zur Sicherung durchgeführt worden sei. Hitler wollte aber nicht warten; ihm kam es nicht auf die allgemeine Abrüstung an, vielmehr auf die deutsche Aufrüstung. Denn ihr maß er auch große innerpolitische Bedeutung zu, weil er glaubte, nur damit die Arbeitslosigkeit schnell beheben zu können. Der Völkerbund war seit seiner Gründung in der deutschen Öffentlichkeit sehr unbeliebt, da er weiter nichts zu sein schien als ein Instrument der Sieger zur Sicherung des Versailler Vertrages. So konnte Hitler auf die Zustimmung der Mehrheit des Volkes rechnen, als er am 14. Oktober 1933 in einem Aufruf den Austritt Deutschlands aus der Abrüstungskonferenz und dem Völkerbund ankündigte, da die Neufassung des Macdonaldplanes „eine entwürdigende Diskriminierung" Deutschlands sei. Eine Erklärung der Reichsregierung betonte den Willen, „eine Politik des Friedens, der Versöhnung und der Verständigung zu betreiben . . . durch den Abschluß kontinentaler Nichtangriffspakte auf längste Sicht den Frieden Europas sicherzustellen", aber solange „wirkliche Gleichberechtigung" dem deutschen Volk vorenthalten werde, müsse es aus Völkerbund und Abrüstungskonferenz ausscheiden. Gleichzeitig wurde der Reichstag aufgelöst und Neuwahlen für den 12. November angesetzt. Es handelte sich aber dabei nicht nur um die Wahl der Einheitsliste der NSDAP, sondern vor allem um die Beantwortung der Frage: „Billigst Du, deutscher Mann, und Du, deutsche Frau, diese Politik Deiner Reichsregierung und bist Du bereit, sie als den Ausdruck Deiner eignen Auffassung und Deines eignen Willens zu erklären und Dich feierlich zu ihr zu bekennen?" Bei einer Wahlbeteiligung von 95,3% stimmten 95,1% mit Ja, 4,9% mit Nein, für die Einheitsliste stimmten 92,2%, ungültige Wahlzettel gaben 7,8% ab. Hitler hatte erreicht, was er wollte: freie Hand zur Aufrüstung. Stresemanns mühsame Arbeit war vernichtet. Der Chefdolmetscher im Auswärtigen Amt, Schmidt, der seit 1923 fast allen wichtigen internationalen Verhandlungen amtlich beiwohnte, „fühlte instinktiv, daß mit der zugeschlagenen Tür von Genf ein hoffnungsvolles Kapitel der deutsdien Geschichte zuende ging". „Bedauerlich erschien uns im Auswärtigen Amt der überraschende Entschluß Hitlers, nicht nur, weil wir den Austritt Deutschlands für überflüssig hielten, sondern vor allem auch, weil das Reich dadurch jene einzigartige Orientierungsmöglichkeit über die außenpolitischen Strömungen verlor, wie sie die Genfer Organisation bot. ,Der Kapitän hat die Navigationsinstrumente über Bord geworfen und steuert nun nach seiner Intuition weiter', sagte ein Kollege, mit dem ich von Genf nach Berlin reiste." Der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund fand im Ausland ein unfreundliches Echo. Hitler befürchtete Sanktionen, am 25. Oktober erhielt die 723 46·

Drittes Reich — Außenpolitik bis 1937 Wehrmachtsleitung streng geheime Befehle, wie sie sich in diesem Falle zu verhalten habe; bei Verletzung deutschen Hoheitsgebietes solle „ohne Rücksicht auf militärische Erfolgsaussicht" vorgegangen werden.

Vertragsverhandlungen.

Deutsch-polnisches

Abkommen

Nun ging Hitler, der sich über die Gefahren einer völligen Isolierung Deutschlands klar war, zu Verhandlungen mit einzelnen Staaten über; zweiseitige Verträge würden Deutschland den gewünschten Rückhalt bieten und einen Zusammenschluß der anderen gegen Deutschland verhindern. Der von Mussolini vorgeschlagene Viermächtepakt war zwar mit einigen Änderungen nach den Wünschen Frankreichs am 7. Juni von Deutschland, Frankreich, England und Italien unterzeichnet worden, gewann aber keinerlei praktische Bedeutung. Schon kurz nach seiner Machtergreifimg hatte Hitler Besprechungen mit Polen aufgenommen, die nun im November weiter gefördert wurden und am 26. Januar 1934 zu einem deutsch-polnischen Verständigungsabkommen auf zehn Jahre führten, in dem beide Teile versprachen, Frieden zu bewahren und für alle politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Streitfragen einen gerechten Ausgleich der beiderseitigen Interessen zu schaffen. Da der Polnische Korridor und die Grenzziehung in Oberschlesien das Verhältnis von Deutschland und Polen besonders stark belasteten, erregte gerade dieser Vertrag im Ausland großes Aufsehen; vor allem für Frankreich, dem Polen ein wichtiges Glied in der Kette seiner Bündnisse war, bedeutete die deutsch-polnische Verständigung eine Schwächung, wenn auch Frankreichs Verträge mit Polen in Kraft blieben. An Frankreich trat Hitler seit dem 24. November 1933 mit Vorschlägen für einen Nichtangriffspakt, Rüstungsbeschränkung und freundschaftliche Einigung über das Saargebiet noch vor der 1935 fälligen Abstimmung heran. Eine Diskussion der Saarfrage lehnte Frankreich sofort ab.

Verhandlungen

um die deutsche

Wiederaufrüstung

Am 18. Dezember 1933 überreichte Hitler Frankreich, England und Italien ein Memorandum mit neuen Angeboten für eine beschränkte und kontrollierte Vermehrung des deutschen Heeres auf 300 000 Mann mit kurzer Dienstzeit und schweren Defensivwaffen bei voller Anerkennung der Gleichberechtigung Deutschlands. Uber diesen Vorschlag entspann sich in den folgenden Monaten ein umfangreicher mündlicher und schriftlicher Meinungsaustausch. Italien stellte sich im wesentlichen auf Deutschlands Seite. England suchte zwischen den verschiedenen Wünschen nach Gleichberechtigung, Sicherheit und Abrüstung einen Mittelweg zu finden. Lordsiegelbewahrer Anthony Eden fuhr deshalb nach Paris, Berlin und Rom; Hitler kam in bezug auf die militärische Ausbildung der SA und SS weit entgegen, weigerte sich aber, in den Völkerbund zurückzukehren, ehe Deutsch724

Frankreich: Ostpakt. Mord von Marseille land in jeder Hinsicht Gleichberechtigung gewährt sei. Frankreich war voller Mißtrauen gegen Deutschland, da, wie die französische Regierung in einer Note an England vom 17. März 1934 geltend machte, „jedes neue Zugeständnis zu einer neuen Forderung oder einer neuen Vertragsverletzung geführt" habe. Frankreich könne „keinen Vorschlag annehmen, der die Abrüstung Frankreichs verschärfen würde, indem er gleichzeitig Deutschland eine sofortige und schwer zu begrenzende Legalisierung einer Aufrüstung zubilligt, die es schon jetzt unter Verletzung der Verträge durchführt". Dazu kam noch nach schweren, blutigen, durch Skandalaffären und wirtschaftliche Schwierigkeiten hervorgerufenen Unruhen am 9. Februar 1934 in Paris eine neue Regierung unter Ministerpräsident Doumergue ans Ruder, die Hitler schroffer gegenüberstand. Der französische Botschafter in Berlin, François-Poncet, bemühte sich vergebens, seine Regierung für die Annahme von Hitlers Vorschlag zu gewinnen, der die unvermeidliche Aufrüstung Deutschlands einer gewissen Beschränkung und Kontrolle unterworfen sowie das Einschreiten gegen Versuche einer Umgehung des Abkommens ermöglicht hätte. Als dann gegen Ende März durch die Veröffentlichung des deutschen Haushaltplanes eine starke Erhöhung des Wehretats bekannt wurde — es war das letzte Mal, daß der Haushaltplan öffentlich Zahlen bekanntgab —, erklärte die französische Regierung in einer England übersandten Note vom 17. April, Deutschland habe sich damit schon über die schwebenden Verhandlungen hinweggesetzt, um unter Verletzung des Versailler Vertrages das Ausmaß seiner Aufrüstung selbst zu bestimmen, weitere Verhandlungen wären deshalb zwecklos. Diese Haltung Frankreichs ermöglichte es Außenminister von Neurath, am 27. April vor der Presse alle Schuld am Scheitern der Abrüstungsverhandlungen Frankreich zuzuschieben und die Friedensliebe Deutschlands in helles Licht zu rücken.

Frankreich: Ostpakt. Der Mord von Marseille Die französische Regierung gab sich darüber keiner Täuschung hin, daß weder England noch Italien, ja nicht einmal die Mehrheit des eigenen Volkes zu Sanktionen und bewaffnetem Einschreiten für die Aufrechterhaltung des Versailler Vertrages oder auch nur für ein wirksames Sicherungssystem bereit waren, Deutschland aber von seinem Wege, wie sehr es ihn auch mit Friedensbeteuerungen pflasterte, ohne Gewaltmaßnahmen nicht abgebracht werden konnte. So vertraute Frankreich auf seinen Rüstungsvorsprung und suchte sich Rußland, seinem früheren Verbündeten gegen Deutschland, zu nähern. Da Hitler die Notwendigkeit der deutschen Aufrüstung immer wieder mit der vom Bolschewismus drohenden Gefahr begründete, verschlechterten sich die anfangs durchaus korrekten deutsch-russischen Beziehungen. So zeigte sich Rußland geneigt, den französischen Plänen eines Ostpaktes zuzustimmen: die Sowjetunion, Polen, die Tschechoslowakei und die baltischen Staaten sollten im Rahmen des Völkerbundes einen Nichtangriffs- und Beistandspakt unter französischer Garantie schließen und Deutschland diesem Kollektivpakt beitreten; verstehe es sich nicht dazu, so bewiese 725

Drittes Reich — Außenpolitik bis 1937 es damit seine feindlichen Absichten. Hitler lehnte am 10. September 1934 ab, der Pakt setze die Zugehörigkeit zum Völkerbund voraus und könne überdies Deutschland in allerlei Konflikte der Oststaaten hineinziehen, zu zweiseitigen Verträgen wäre Deutschland jedoch bereit. Polen verhielt sich sehr zurückhaltend. Rußland wurde am 18. September 1934 auf Vorschlag Frankreichs in den Völkerbund aufgenommen. Am 8. Oktober kam König Alexander von Jugoslawien zu einem Staatsbesuch nach Frankreich; unmittelbar nach der Ankunft in Marseilles erschossen kroatische Nationalisten ihn und den neben ihm sitzenden französischen Außenminister Louis Barthou. François-Poncet glaubt, zwischen den deutschen Nationalsozialisten und den kroatischen Attentätern Beziehungen nachweisen zu können; der Tod König Alexanders habe das freundschaftliche Verhältnis zwischen Paris und Belgrad getrübt und so das französische Bündnissystem geschwächt. Barthous Nachfolger wurde Pierre Laval, der die Außenpolitik seines Vorgängers fortsetzte.

Der Juli-Putsch 1934 in Österreich Die kräftige großdeutsche Bewegung in Österreich war seit Hitlers Machtergreifung gespalten; weite Kreise, die an sich für den Anschluß an das „Altreich" waren, lehnten den Nationalsozialismus ab und unterstützten die Regierung des Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß, der die Selbständigkeit Österreichs wahren wollte. Die ziemlich starke nationalsozialistische Partei wurde schon seit 1926 als Teil der NSDAP geführt und erhielt ausgiebig Agitations- und Propagandamaterial. Gegen sie ging D ο 11 f u ß am 4. Mai 1933 mit dem Verbot des Tragens der Parteiuniform vor. Den Besuch des preußischen Justizministers Kerrl und des bayrischen Justizministers Frank erklärte er als unerwünscht; beide kamen trotzdem, Frank wurde wegen Beleidigung der Regierung Dollfuß ausgewiesen. Hitler antwortete darauf mit einer Grenzsperre: Jeder Deutsche, der nach Österreich wollte, mußte sich einen Ausreise-Sichtvermerk gegen eine Gebühr von 1000 Mark erwerben. Für den österreichischen Fremdenverkehr war dies ein harter Schlag, den auch italienische Wirtschaftshilfe nicht ausgleichen konnte. Sabotageakte, Attentate und andere Terrormaßnahmen der österreichischen Nationalsozialisten sorgten dafür, daß die Anschlußfrage nicht zur Ruhe kam. Dollfuß wandte sich mehrmals beschwerdeführend an das Ausland, welches sich auch auf Österreichs Seite stellte. Hitler aber wies jede internationale Einmischung in deutsch-österreichische Angelegenheiten als unzulässig zurück. Die österreichischen Nationalsozialisten erregten am 25. Juli 1934, teilweise in Uniformen der Bundeswehr, einen bewaffneten Aufstand in Wien, besetzten den Rundfunksender und erschossen Dollfuß im Bundeskanzleramt. Der Putsch mißlang aber, in einigen Stunden hatte die österreichische Regierung, die von Kurt Schuschnigg übernommen worden war, in Wien die Macht wieder fest in der Hand. In den anderen Bundesländern, vor allem in Steiermark und Kärnten, dauerten die Kämpfe tagelang. Hitler leugnete jedes Wissen um den Putsch und 726

Saargebiet. — Allgemeine Wehrpflicht jede Unterstützung seitens der reichsdeutschen NSDAP, geschweige denn der deutschen Regierung, fand aber wenig Glauben, weil die österreichische Regierung eindeutige Gegenbeweise vorlegte. Hitler ersetzte den bisherigen deutschen Gesandten in Wien durch Papen, der den Auftrag erhielt, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern wieder zu normalisieren. Nach der Ermordung von Dollfuß hatte Mussolini sofort seine Divisionen an der Brenner- und Kärntner-Grenze mobilisiert, aber bei England und Frankreich nichts als die gemeinsame Erklärung vom 27. September erreicht, Österreichs Unabhängigkeit müsse unbedingt erhalten bleiben. Mussolinis damalige Gereiztheit spiegelt ein Artikel des „Popolo di Roma" deutlich wieder: „Wer sind denn diese Herren Nationalsozialisten? Mörder und Päderasten!" So ging Mussolini Anfang 1935 bereitwillig auf Lavais Anregungen ein, Österreichs Unabhängigkeit durch einen Donaupakt zu stützen und das einseitige Vorgehen Deutschlands in der Rüstungsfrage für unzulässig zu erklären.

Saargebiet Die Rückgliederung des Saargebietes an das Reich befestigte Hitlers Stellung bedeutend. Unter loyaler Überwachung durch den Völkerbund fand am 13. Januar 1935 die im Versailler Vertrag vorgesehene Saarabstimmung statt. Die NSDAP hatte einen riesigen Aufwand an Propaganda entfaltet. Von den 539 541 Abstimmungsberechtigten gaben 528 005 ihre Stimme ab: 90,8% für Deutschland, 8,8% für den Status quo und 0,4% für Frankreich. Damit mußte Frankreich das letzte Pfand, das es vom Versailler Vertrag noch hatte, aus der Hand geben. In Deutschland herrschte ungeheurer Jubel. In seinen Reden zur Heimkehr der Saar betonte Hitler immer wieder, dieses Ergebnis habe das letzte Hindernis für freundschaftliche Beziehungen mit Frankreich beseitigt. Deutschland stelle keine territorialen Forderungen mehr an Frankreich; Hitler verzichtete damals also offiziell auf Elsaß-Lothringen. Allgemeine

Wehrpflicht

Nach seinem Erfolg bei Mussolini gewann Laval die Zustimmung der englischen Regierung zu seinen Vorschlägen, die schließlich am 3. Februar 1935 Deutschland in einem Kommuniqué mitgeteilt wurden: ein System von kollektiven Sicherheitspakten im Osten, Vereinbarungen über Rüstungen als Ersatz für die Bestimmungen des Versailler Vertrages, Ergänzungen des Locarnopaktes durch ein Luftabkommen und Wiedereintritt Deutschlands in den Völkerbund. Hitler antwortete darauf ohne sich festzulegen, aber im wesentlichen zustimmend, wobei er das Bestreben zeigte, die Vorschläge in Einzelverhandlungen weiter zu beraten. Mit der englischen Regierung wurde ein Besuch des englischen Außenministers in Berlin verabredet. Die allgemeine Lage schien jedoch infolge der immer deutlicher erkennbaren Aufrüstung Deutschlands so bedrohlich, daß Macdonald am 727

Drittes Reich — Außenpolitik bis 1937 4. März dem Unterhaus ein Weißbudi über „die Wiederinstandsetzung" der englischen Verteidigungsstreitkräfte vorlegte: die Regierung „kann nicht übersehen, daß nicht nur die Kräfte, sondern auch der Geist, in dem das deutsche Volk organisiert wird, zu dem allgemeinen Gefühl der Unsicherheit beitragen". Die Labour-Opposition wandte sich heftig gegen diese Aufrüstungspläne, die im Widerspruch zu den Besprechungen in Berlin ständen; Frankreich war indes mit dem Weißbuch sehr zufrieden. Die französische Kammer nahm am 15. März die Verlängerung der Militärdienstzeit auf zwei Jahre an. Hitler fühlte sich nun, nach seinem Sieg im Saargebiet, stark genug, um am 16. März das Gesetz über die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht und die Vermehrung der deutschen Truppen auf 36 Divisionen zu veröffentlichen, nachdem bereits am 10. März den Militârattachées der Großmächte der Aufbau einer Luftwaffe angekündigt worden war. Hitler hatte demnach von sich aus die im Versailler Vertrag festgesetzten Rüstungsbeschränkungen aufgehoben mit der Begründimg, bei der Aufrüstung der Nachbarstaaten und den 101 Divisionen der sowjetrussischen Armee müsse Deutschland sich die Machtmittel zur Wahrung seiner Ehre und seiner Sicherheit schaffen, doch sollten sie nur der Verteidigung und der Erhaltung des Friedens in einer freien und offenen Zusammenarbeit mit den anderen Nationen dienen.

Die Antwort des Auslands Die geheime deutsche Aufrüstung war zwar im Ausland bekannt, aber erst der offene Bruch des Versailler Vertrages veranlaßte die anderen Mächte, sich gegen Deutschland zusammenzuschließen. Diese Front war indes nicht fest gefügt. England protestierte in einer Note vom 18. März gegen das eigenmächtige deutsche Vorgehen, fragte jedoch am Schluß der Note an, ob der Besuch der englischen Minister in Berlin noch erwünscht wäre. Sir John Simon und Lordsiegelbewahrer Eden sprachen dann am 25. und 26. März in freundschaftlicher Weise mit Hitler in Berlin über die deutsche Aufrüstung sowie über die Fragen des Ost- und des Donaupaktes, ohne sachlich weiterzukommen. Chefdolmetscher Schmidt, der bei den Besprechungen dienstlich zugegen war, hatte von Hitler den Eindruck eines Mannes, der „mit Geschick und Intelligenz unter voller Wahrung der Formen, wie ich sie für solche politischen Gespräche gewohnt war, seinen Standpunkt vertrat . . . Noch vor zwei Jahren wäre in Genf der Himmel eingestürzt, wenn deutsche Vertreter derartige Forderungen erhoben hätten, wie es hier Hitler tat, als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt". Die englischen Minister hörten sich alles gelassen an und machten nur Vorbehalte geltend. Simon zeigte deutlich seine Sympathie für Hitler, während Eden skeptisch blieb und nach Moskau, Warschau und Prag weiterfuhr. Die französische und die italienische Regierimg ließen am 21. März in Berlin ihre Protestnoten gegen das einseitige Vorgehen Deutschlands und seine Mißachtung der bindenden Kraft internationaler Verträge überreichen. 728

Flottenabkommen Vom 11. bis 14. April tagte in Stresa am Lago Maggiore eine Konferenz der Regierungschefs von Frankreich, England und Italien; die drei erklärten ihre volle Übereinstimmung in allen Fragen zur Sicherung des Ostens und der Souveränität Österreichs, zu dem Abschluß eines Luftpaktes und zur Verurteilung des deutschen Vorgehens in der Wehrdienstpflicht und des Ausmaßes seiner Aufrüstung. Am 16. April nahm der Völkerbundsrat in Genf einstimmig — bei Stimmenthaltung Dänemarks — eine von Frankreich, England und Italien beantragte Entschließung an, in der die Verkündigung des deutschen Wehrgesetzes verurteilt wurde: die Achtung aller Vertragsverpflichtungen sei eine Grundregel des internationalen Lebens; eine Macht könne die Bestimmungen eines Vertrages nur in Übereinstimmung mit den anderen vertragschließenden Parteien ändern; Deutschland bedrohe mit seinem Vorgehen die europäische Sicherheit; eine Kommission solle über Sanktionen bei künftigen einseitigen Aufkündigungen internationaler Verpflichtungen beraten. Der Völkerbundsrat nahm also den deutschen Vertragsbruch als Tatsache hin, Hitler hatte demnach jetzt keine finanziellen oder wirtschaftlichen Sanktionen zu befürchten. Am 20. April antwortete er mit Protestnoten den an der Entschließung beteiligten Regierungen, sprach ihnen das Recht ab, sich zum Richter über Deutschland aufzuwerfen; die Entschließung sei der Versuch einer erneuten Diskriminierung Deutschlands, den er auf das entschiedenste zurückweise.

Flottenabkommen Die in Stresa verkündete Einmütigkeit der drei Großmächte war nur von kurzer Dauer. Von den Ostpaktplänen kam bloß ein am 2. Mai in Paris, am 14. Mai in Moskau unterzeichneter Beistandspakt zwischen Frankreich und der Sowjetunion zustande, dem am 16. Mai ein Beistandspakt zwischen Rußland und der Tschechoslowakei folgte. Darüber, daß Deutschland isoliert dastehe, konnte Hitler nicht im unklaren sein. Am 21. Mai hielt er im Reichstag unter dem stürmischen Beifall der Abgeordneten, ausschließlich Mitglieder der NSDAP, eine seiner überlangen, großenteils oft Gesagtes wiederholenden Reden, die aber doch wirkungsvoll auf die jeweilige Lage abgestimmt waren. Hitler betonte auch jetzt wieder seine unbedingte Friedensliebe und seine Bereitschaft zu jeder Rüstungsbeschränkung, sobald die anderen das gleiche täten; Deutschland habe nicht die Absicht, „Österreich etwa zu annektieren oder anzuschließen"; in den Völkerbund werde Deutschland erst zurückkehren, wenn die Unterscheidung zwischen Siegern und Besiegten aufgegeben und die Gleichbewertung und Gleichberechtigung aller Mitglieder durchgeführt sei; von Kollektivpakten verspreche er sich keine Sicherung des Friedens, doch sei die deutsche Regierung grundsätzlich bereit, Nichtangriffspakte mit ihren einzelnen Nachbarstaaten abzuschließen; der Versailler Vertrag sei nicht von Deutschland, sondern von den anderen Mächten gebrochen worden, die nicht abrüsteten; die deutsche Wehrmacht diene nur der Verteidigung, nicht dem Angriff; Deutschland werde jeden freiwillig unterzeichneten Vertrag genau 729

Drittes Reidi — Außenpolitik bis 1937 einhalten, so vor allem den Locarnovertrag, den es gern durch ein Luftabkommen ergänzt sähe. Wegen möglicher Rüdewirkungen des französisch-russischen Militärbündnisses auf den Locarnopakt wünschte Hitler eine Interpretation dieses Bündnisses; für die Begrenzung der deutschen Marine gab Hitler in dieser Rede, wie er es schon Simon und Eden angeboten hatte, eine Tonnage von 35 % der englischen Flotte an; als eine Erweiterung der Genfer Konvention des Roten Kreuzes befürwortete er das Verbot des Abwerfens von Gas-, Brand- und Sprengbomben außerhalb der wirklichen Kampfzone. „Wer in Europa die Brandfackel des Krieges erhebt, kann nur das Chaos wünschen", war einer der Schlußsätze der vielstündigen Rede. Sie klang für die Welt in allem sehr beruhigend. Auf das Angebot der Flottenbegrenzung gingen die Engländer sehr bald ein, obwohl sie vor kurzem die Verurteilung Deutschlands als Vertragsbrecher unterzeichnet hatten. Anfang Juni fuhr, unter Ausschaltung des Außenministers von Neurath, Joachim von Ribbentrop als „Botschafter zur besonderen Verwendung" zu den Verhandlungen nach London. Das Flottenahkommen konnte schon am 18. Juni 1935 unterzeichnet werden: das Stärkeverhältnis der deutschen zur englischen Flotte wurde auf 35 zu 100 und zwar je bei den einzelnen Schiffstypen festgesetzt; für U-Boote wurde Deutschland die gleiche Tonnage zugestanden, doch durfte das Stärkeverhältnis der Gesamttonnage nicht überschritten werden. Deutschland verpflichtete sich auch freiwillig zur Einhaltung der im Londoner Flottenabkommen vom 22. April 1930 vereinbarten Behandlung von Kauffahrteischiffen durch U-Boote. Frankreich war über diesen zweiseitigen Vertrag sehr ungehalten; England hatte damit die Tatsache der deutschen Aufrüstung anerkannt und für seine eigenen Interessen gesorgt; die englische Regierung glaubte, Hitlers Politik lasse sich in ein ruhigeres Fahrwasser lenken, wenn die berechtigten deutschen Forderungen, Sicherheit und Gleichberechtigung, anerkannt würden. Nicht alle Engländer teilten die Auffassung ihrer Regierung. So übte Winston Churchill schon damals scharfe Kritik: das Flottenabkommen habe den Völkerbund geschwächt, die kollektive Sicherheit vermindert und Deutschlands Vertragsverletzung verziehen. Abessinienkrieg.

Annäherung an Italien

Dem außenpolitischen Hasardspiel Hitlers, das zunächst von Erfolg zu Erfolg führte, kam Mussolinis Abessinienkrieg sehr zustatten. Italien suchte wegen seines Bevölkerungsüberschusses und wegen des Mangels an Rohstoffen seinen Kolonialbesitz zu erweitern; es glaubte, am leichtesten eine Ausdehnung seiner beiden ostafrikanischen Besitzungen Eritrea und Italienisch-Somaliland auf Kosten des angrenzenden Abessinien, erreichen zu können. Der italienischabessinische Konflikt entwickelte sich aus Grenzzwischenfällen vom Dezember 1934. Abessinien rief als Mitglied des Völkerbundes dessen Schiedsspruch an. Die Verhandlungen zogen sich monatelang hin. Den Anfang September 1935 gefällten Schiedsspruch erkannte Mussolini nicht an, am 3. Oktober marschierten 730

Remilitarisierung des Rheinlandes vier große italienische Armeen in Abessinien ein. Der Völkerbund erklärte Italien als Angreifer und verhängte wirtschafdiche Sanktionen, die aber, lässig durchgeführt, ohne Wirkung blieben; nicht einmal der Suezkanal wurde für die militärischen Transporte Italiens gesperrt. Nach erbitterten, wechselvollen Kämpfen konnte Mussolini endlich am 3. Mai 1936 die Annexion von ganz Abessinien proklamieren, der König von Italien nahm nun auch den Titel Kaiser von Abessinien an. Deutschland erklärte von Anfang an seine Neutralität und seine Nichtbeteiligung bei den Sanktionen, es lieferte daher Italien kein Kriegsmaterial, unterstützte es aber ausgiebig mit der Lieferung von Kohle, Stahl und chemischen Erzeugnissen. Mussolini, durch Abessinien von seinem Interesse für die Unabhängigkeit Österreichs abgelenkt, näherte sich jetzt Hitler, während Italiens Verhältnis zu England und Frankreich sehr gespannt wurde. Beide Staaten setzten sich — besonders nach dem Sturz Lavais im Januar 1936 — auch jetzt noch für den Völkerbund ein, obwohl der Abessinienkonflikt dessen Ohnmacht soeben deutlich bewiesen hatte.

Remilitarisierung

des

Rheinlandes

Am 27. Februar ratifizierte die französische Kammer das Ründnis mit der Sowjetunion vom Mai 1935. Die französische Regierung hatte vergebens versucht, Hitler davon zu überzeugen, daß das Bündnis Deutschland nicht bedrohe und sich mit dem Locarnopakt durchaus vereinbaren lasse, weil es rein defensiv sei. François-Poncet sah schon um die Jahreswende 1935/36 klar, daß sowohl die häufigen Beteuerungen, Deutschland werde am Locarnopakt festhalten, als auch die Hetzartikel der deutschen Zeitungen gegen das französisch-russische Bündnis dem wohlüberlegten Plan Hitlers dienten, den letzten Rest der französischen Sicherungen, die Entmilitarisierung der im Versailler Vertrag festgelegten Zone links und rechts des Rheins zu beseitigen. Sie war auch im Locarnovertrag, den Deutschland freiwillig unterzeichnet hatte, anerkannt; wollte Hitler sie aufheben, mußte zuvor der Locarnovertrag fallen. Am 7. März 1936 ließ die deutsche Regierung den Signatarmächten des Locarnopaktes ein Memorandum überreichen, in dem der französisch-russische Pakt scharf kritisiert und daraus gefolgert wurde: „Frankreich hat die ihm von Deutschland immer wieder gemachten freundschaftlichen Angebote und friedlichen Versicherungen unter Verletzung des Rheinpaktes mit einem ausschließlich gegen Deutschland gerichteten militärischen Bündnis mit der Sowjetunion beantwortet. Damit hat der Rheinpakt von Locamo aber seinen inneren Sinn verloren und praktisch aufgehört zu existieren. Deutschland sieht sich daher auch seinerseits nicht mehr als an diesen erloschenen Pakt gebunden an . . . Im Interesse des primitiven Rechts eines Volkes auf Sicherung seiner Grenzen und zur Wahrung seiner Verteidigungsmöglichkeiten hat daher die deutsche Reichsregierung mit dem heutigen Tage die volle und uneingeschränkte Souveränität des Reiches in der entmilitarisierten Zone des Rheinlandes wieder hergestellt. Um aber jeder Mißdeutung ihrer Absichten vorzubeugen und 731

Drittes Reich — Außenpolitik bis 1937 den rein defensiven Charakter dieser Maßnahmen außer Zweifel zu setzen", bot die deutsche Regierung Frankreich und Belgien neue Friedenssicherungen auf 25 Jahre unter Garantie von England und Italien an und erklärte sich außerdem bereit, jetzt nach der endlich erreichten Gleichberechtigung und vollen Souveränität über das gesamte Reichsgebiet wieder in den Völkerbund einzutreten. Auch diesmal verband Hitler sehr geschickt die Abschüttlung der Fesseln des Versailler Vertrags mit den Beteuerungen seines Friedenswillens. Am 7. März erläuterte Hitler in einer seiner langen Reichstagsreden das Memorandum. Wieder wurde der Reichstag aufgelöst, das deutsche Volk solle durch die Wahl der nationalsozialistischen Einheitsliste ähnlich wie am 12. November 1933 der Politik Hitlers zustimmen. Während Hitlers Reichstagsrede zogen unter dem Jubel der Bevölkerung deutsche Truppen in die Friedensgarnisonen der rheinischen Städte, auch zwei Jagdstaffeln wurden auf die Flugplätze bei Köln und Koblenz verlegt. Die militärische Aktion war unter strenger Geheimhaltung sehr sorgfältig vorbereitet. Kriegsminister von Blomberg und Generaloberst von Fritsch, der seit Februar 1934 an der Spitze des Heeres stand, hielten die Wiederbesetzung der entmilitarisierten Zone aus Sicherheitsgründen für unbedingt notwendig, dodi dürfe das Risiko eines Krieges bei dem Stand der deutschen Aufrüstung nicht eingegangen werden. Dem stimmte Hitler zu, und so trugen die Kommandeure der einmarschierenden Trappen den Befehl zum Rückzug hinter den Rhein in der Tasche für den Fall, daß Frankreich zum Angriff übergehen würde. „Die 48 Stunden nach dem Einmarsch ins Rheinland sind die aufregendste Zeitspanne in meinem Leben gewesen", habe Hitler mehr als einmal, sogar noch während des Kriegs in seiner Gegenwart geäußert, erzählt Chefdolmetscher Schmidt, und Hitler habe dann stets hinzugefügt: „Wären die Franzosen damals ins Rheinland eingerückt, hätten wir uns mit Schimpf und Schande wieder zurückziehen müssen, denn die militärischen Kräfte, über die wir verfügten, hätten keineswegs auch nur zu einem mäßigen Widerstand ausgereicht." Das französische Kabinett wagte indes nicht einmal eine demonstrative Besetzung von Saarbrücken, nachdem der Generalstab zur Anordnung selbst einer derart beschränkten Kriegshandlung bloß unter der Bedingung einer allgemeinen Mobilisierung bereit war; und dazu wollte sich die Regierung wegen der Abneigung des französischen Volkes gegen einen Krieg nur entschließen, falls sich England aktiv beteilige. Der französische Außenminister Flandin fuhr am 11. März 1936 nach London. Dort erklärte er, wie Churchill berichtet, vor „allen erdenklichen Leuten aus Wirtschaftskreisen, der Presse und der Regierung" : „Wenn England jetzt handelt, kann es die Führung in Europa übernehmen . . . Wenn Sie Deutschland nicht heute noch mit Gewalt zum Stillstand zwingen, ist der Krieg unvermeidlich, selbst wenn Sie eine vorübergehende Freundschaft mit Deutschland schließen." Die Mehrheit der englischen Regierung ließ sich bei der pazifistischen Stimmung auch des englischen Volkes zu einer Unterstützung aktiver französischer Gegenmaßnahmen nicht bewegen, und ohne England wagte sich Frankreich nicht vor, obwohl sein Heer dem deutschen damals noch weit über732

Plan für die Sicherung des Friedens legen war, und die Kleine Entente sowie Polen Frankreich ihren Beistand zugesagt hatten. So geschah weiter nichts, als daß die Signatarmächte des Locamovertrags am 10. März in Paris eine außerordentliche Sitzung abhielten; ebenso der Völkerbundsrat vom 14. bis 24. März in London, wo Ribbentrop, einer Einladung folgend, den deutschen Standpunkt erfolglos vertrat. Bei beiden Gelegenheiten wurde Deutschland wieder wegen Vertragsbruch verurteilt und die Gültigkeit des Locarnovertrags bestätigt, und diese Frage wurde noch während des ganzen Jahres in Genf und London weiter erörtert. Italien verhielt sich zunächst abwartend, stellte sich aber dann infolge der englisch-französischen Ablehnung seiner Abessinienpolitik immer offener auf die Seite Deutschlands. Am 1. November 1936 sprach Mussolini zum ersten Mal von der „Achse Berlin-Rom". Die britische Regierung forderte unmittelbar nach der Verurteilung Deutschlands Ribbentrop zu Verhandlungen über das Friedensangebot Hitlers in dem Memorandum vom 7. März 1936 auf. Als Hitler einige Tage nach dem 7. März 1936 sah, daß die Remilitarisierung des Rheinlandes keine kriegerischen Verwicklungen zur Folge haben werde, stieg sein Selbstbewußtsein, sein Glaube an seine Sendung, gewaltig an. Der am 10. März eröffnete Propagandafeldzug, den Goebbels Wahlkampf nannte, bot Hitler Gelegenheit, in elf Großkundgebungen dem deutschen Volk darzulegen, sein Führer habe gut und richtig gehandelt, das Unrecht und die Schande von Versailles überwunden und den Nachbarvölkern Vorschläge zur wahren Befriedung Mitteleuropas gemacht, die auf der Gleichberechtigung der Völker begründet sei. Er gehe mit „traumwandlerischer Sicherheit" den Weg, den ihm die Vorsehung gewiesen habe. Daraufhin stimmten bei einer Wahlbeteiligung von 99 % am 29. März 1936 98,8 % für die Einheitsliste. Hitler konnte dem Ausland gegenüber auftrumpfen, das ganze Volk stehe einig hinter ihm, und den deutschen Diplomaten und Generalen gegenüber, er habe mit dem Wagnis des Einmarsches in die entmilitarisierte Zone recht behalten. Seine Umgebung datierte rückschauend von dieser Zeit ab die Entwicklung Hitlers zum Diktator. Immer selbständiger faßte er seine Entschlüsse, und die hohen Beamten des Staates wie der Partei wurden mehr und mehr nur noch Vollzieher der Anweisungen und Befehle des Führers, die Kabinettssitzungen unterblieben seit 1937 ganz. Widerspruch ertrug Hitler immer weniger; merkte er, daß jemand Einwände, Klagen oder Anklagen vorbringen wollte, so redete er selbst immer weiter, und der Partner verließ ihn betäubt, gelähmt, ohne zu Wort gekommen zu sein.

Plan für die Sicherung des

Friedens

Am 1. April 1936 überreichte Ribbentrop der britischen Regierung in einer Denkschrift den gewünschten genauer ausgearbeiteten Plan für die Sicherung des Friedens, für den Aufbau eines neuen Europa. Die Denkschrift lehnte aber jede von Frankreich und England vorgeschlagene freiwillige Begrenzung der militärischen Maßnahmen im Rheinland sowie die Anrufung des Haager Schieds733

Drittes Reich — Außenpolitik bis 1937 gerichts ab, das über die Vereinbarkeit des französisch-sowjetischen Bündnisses mit dem Locarnopakt entscheiden sollte; außerdem protestierte die deutsche Regierung gegen die von Frankreich und England in London vereinbarten gemeinsamen Generalstabsbesprechungen. Die französische Regierung, der die deutsche Denkschrift mitgeteilt wurde, antwortete am 8. April, England erst am 6. Mai. Beiden Staaten lag viel am Zustandekommen einer wahren Friedenssicherung, beide verliehen jedoch ihrem Mißtrauen in die deutsche Zuverlässigkeit sehr deutlich Ausdruck. Frankreich erklärte, neue Verträge hätten erst Sinn, wenn Deutschland für ihre Achtung Garantien gäbe und sich eingegangenen Verpflichtungen nicht mit der Begründung entziehe, sie könnten vom deutschen Volk nicht mehr „geduldet" werden oder sie beeinträchtigten das „Lebensrecht" des deutschen Volkes. Die englische Regierung ließ durch ihren Botschafter eine Art Fragebogen vorlegen: „ob sich das Deutsche Reich nunmehr in der Lage sieht, .wirkliche Verträge' abzuschließen . . . ob Deutschland der Ansicht ist, daß nunmehr ein Abschnitt erreicht ist, an dem es erklären kann, daß es die bestehende gebietsmäßige und politische Ordnung Europas anerkennt und zu achten beabsichtigt." Hitler zog es vor, diese Fragen nicht zu beantworten; der Notenwechsel ging allerdings noch monatelang weiter.

Olympische

Spiele

In diesem Jahre 1936 wurden die Olympischen Spiele, wie 1932 in Los Angeles beschlossen war, in Deutschland abgehalten. Das Dritte Reich hatte umfangreiche Vorbereitungen getroffen, um bei dieser Gelegenheit seine Macht und Herrlichkeit dem Ausland zu zeigen. Sowohl die Winterspiele vom 6. bis 15. Februar in Garmisch-Partenkirchen, als auch die Hauptspiele vom 1. bis 16. August in dem großen, prachtvollen, neuerbauten Stadion in Berlin waren vorzüglich organisiert und nahmen einen glänzenden Verlauf. Die sportlichen Veranstaltungen und die verschwenderisch ausgestatteten Feste, die Hitler, Ribbentrop, Goebbels und Göring gaben, gewannen dem Dritten Reich Freunde und Bewunderer unter den zahlreichen mehr oder weniger prominenten Gästen.

Der spanische

Bürgerkrieg

Inzwischen war am 18. Juli in Spanien der Bürgerkrieg ausgebrochen. Seit Anfang 1936 regierte in Madrid ein Volksfrontkabinett mit stark linksradikalem Einschlag, gegen das sich monarchistische und nationalistische Gruppen verschworen. Infolge der Ermordung eines früheren Ministers kam der Putsch verfrüht zum Ausbruch, die Regierung bewaffnete die Linksorganisationen und behielt zunächst die Oberhand. Mit deutscher und italienischer Hilfe brachte dann General Francisco Franco Kerntruppen von Marokko nach Südspanien, womit der eigentliche Bürgerkrieg begann, der sich drei Jahre lang hinzog. Die Links-

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Neuer Vierjahresplan. Entlassung Schachts radikalen wurden von der Sowjetunion, die Francotruppen von Mussolini und Hitler mit Freiwilligen, Geld und Material unterstützt; offiziell leugneten die Regierungen allerdings jede Beteiligung ab und beteuerten ihre Neutralität, aber ihre Hilfe war offenkundig. Die deutsche Truppe in Spanien nannte sich „Legion Condor" und gewann bald eine weite Popularität in Deutschland; und als Franco mit der Einnahme von Madrid am 28. März 1939 den Sieg der nationalen Regierung vollendete, bekannte Hitler sich schließlich in einer Rede vom 1. April 1939 rühmend zu der von Deutschland geleisteten Hilfe. Die deutsche Unterstützung hatte ihn jedoch nicht gehindert, bei dem seit 1936 in London tagenden „Internationalen Ausschuß zur Sicherung der Nichteinmischung" in Spanien mitzuarbeiten. Rußland und Deutschland beschuldigten sich gegenseitig des Neutralitätsbruches. Immerhin gelang den internationalen Bemühungen wenigstens die Lokalisierung des spanischen Konflikts. Die geheime Zusammenarbeit für Franco förderte die guten Beziehungen zwischen Hitler und Mussolini sehr, nachdem Mussolini schon durch das deutsch-österreichische Übereinkommen vom 11. Juli 1936 beruhigt war, in dem Hitler die Souveränität Österreichs noch einmal ausdrücklich anerkannte, und sich beide Staaten freundschaftliche Zusammenarbeit versprachen. Neuer Vierjahresplan.

Entlassung

Schachts

Auf dem „Parteitag der Ehre" vom 8. bis 14. September 1936 kündigte Hitler einen neuen Vierjahresplan an. Mit imponierenden Zahlen pries er das seit 1933 Erreichte: nur noch 1 Million Arbeitslose, das Nationaleinkommen von 41 auf 56 Milliarden Mark gestiegen, die Kraftfahrzeugproduktion von 45 000 auf rund eine Viertelmillion; über 1000 km Autobahn in Betrieb, über 4000 km im Bau, und so fort. Dann suchte Hitler die Ziele des neuen Planes zu begründen: möglichste Autarkie der deutschen Wirtschaft durch Förderung der Herstellung von künstlichen Werkstoffen, vor allem Benzin, Kautschuk und Textilfasem. Auf diese Weise würden, nachdem die deutsche Ausfuhr und die Erträge der Landwirtschaft nicht ausreichend gesteigert werden könnten, die dann noch notwendigen Einfuhren von Rohstoffen für die Aufrüstung sowie die Ernährung gesichert. Hitler wies dabei auf die Notwendigkeit wirtschaftlicher Zwangsmaßnahmen und die Verknappung der Lebensmittel hin. Der spanische Bürgerkrieg bot den erwünschten Anlaß, die Gefahren des Bolschewismus auszumalen und die Ausdehnung der Militärdienstpflicht auf zwei Jahre zu verkünden. Was dieser Vierjahresplan wirklich beabsiditigte, geht aus einer Denkschrift Hitlers hervor, die der Öffentlichkeit erst nach dem Krieg bei den Verhandlungen des Nürnberger Militärgerichtshofes bekannt wurde. Von Wirtschaft verstand Hitler nichts, aber er wußte, was er wollte: erweiterten Lebensraum für das deutsche Volk, das so schon allzu eng zusammengedrängt lebte und dessen Zahl auf der Grundlage der Rassenideologie mit allen erdenklichen Mitteln gesteigert wurde. In seiner Rede auf dem Parteitag hatte Hitler Kolonien verlangt, doch lag ihm an überseeischem Besitz nicht viel; er wollte Ackerland im Osten, und da

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Drittes Reich — Außenpolitik bis 1937 anzunehmen war, daß dies nur durch Krieg zu erreichen sei, schloß die Denkschrift mit den zwei Forderungen: „Die deutsche Armee muß in vier Jahren einsatzfähig sein. Die deutsche Wirtschaft muß in vier Jahren kriegsfähig sein." Bezeichnenderweise hat Wirtschaftsminister Schacht diese Denkschrift damals nicht zu sehen bekommen. Dank seiner außerordentlichen Fähigkeiten und der guten Beziehungen zum Ausland war es Schacht gelungen, bei strenger Devisenbewirtschaftung mehr zu exportieren, dafür die notwendigsten Rohstoffe für die Industrie einzuführen sowie durch Einfuhren die Ernährung zu sichern. Er hatte seine Ressorts gegen jede Einmischung der Partei energisch verteidigt. Bis 1936 ließ ihm Hitler auch freie Hand, als aber Schacht sich nicht gefügig zeigte, die einigermaßen ausgeglichene Wirtschaftslage einer hemmungslosen Aufrüstung und unwirtschaftlicher Kunststoffproduktion zu opfern, betrachtete Hitler dies als Sabotage seiner Pläne. Er beauftragte mit der Durchführung des Vierjahresplans Göring, was natürlich zu andauernden Streitigkeiten zwischen diesem und Schacht führte. Schacht weigerte sich, die „schrankenlose Ausgabewirtschaft, den Raubbau am Volksvermögen, die unwirtschaftliche Produktion, die übersteigerte Rüstung und die Nichtachtung der Interessen und Gefühle unserer Nachbarvölker" mitzumachen. Am 26. November 1937 wurde Schacht auf seinen Wunsch als Wirtschaftsminister entlassen. Zum Nachfolger ernannte Hitler den Pressechef der Reichsregierung, Walter Funk, früher Wirtschaftsredakteur der Berliner Börsenzeitung, der seit 1931 Parteimitglied war und ein gefügiges Werkzeug Görings wurde.

Antikominternpakt.

Das Jahr 1937

Am 25. November 1936 konnte Hitler einen neuen außenpolitischen Erfolg verkünden, das Deutsche Reich hatte mit Japan einen Antikominternpakt abgeschlossen und so nach der freundschaftlichen Einigung mit Polen, Österreich und Italien die Isolierung weiterhin durchbrochen. Deutschland und Japan, die sich durch Sowjetrußland und die von ihm geleitete „Kommunistische Internationale" (Komintern) bedroht fühlten, versprachen sich gegenseitigen Nachrichtenaustausch über kommunistische Umtriebe und die Beratung von Abwehrmaßnahmen; ein geheimes Zusatzabkommen verpflichtete beide Mächte, falls eine von ihnen in einen Krieg mit Sowjetrußland verwickelt würde, alles zu unterlassen, was die Lage der Sowjetunion erleichtern könne. Gegen den Willen des Völkerbundes, aber ohne daß er sich zum Eingreifen aufzuraffen vermochte, hatte Japan 1931 die Mandschurei unter seinen Einfluß gebracht. Es versuchte seither, teilweise mit Erfolg, sich immer größerer Gebiete Chinas zu bemächtigen, dessen nationale Selbständigkeit Marsdiall Tschiangkaischek mit der Kuomintang verteidigte. Da ihn England und die Vereinigten Staaten stützten, kam Japan auch aus diesem Grunde der Anschluß an Deutschland sehr erwünscht. Ein Jahr später, am 6. November 1937, schloß sich Italien dem Antikominternpakt an. Der am 29. März 1936 gewählte Reichstag tagte erstmals am 30. Januar 1937; er hatte das Ermächtigungsgesetz von 1933 um weitere vier Jahre zu verlängern

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.Hoßbach-Protokoll" und eine Erklärung Hitlers „entgegenzunehmen". Hitler rühmte seine und seiner Partei Verdienste bei der innerpolitischen Stärkung und Erhebung des deutschen Volkes, dann die Abstreifung der Fesseln des Versailler Vertrages. Ergänzend fügte er hinzu: „Ich ziehe vor allem aber die deutsche Unterschrift feierlich zurück von jener damals einer schwachen Regierung wider deren besseres Wissen abgepreßten Erklärung, daß Deutschland die Schuld am Kriege besitze", damit aber sei „die Zeit der sogenannten Überraschungen abgeschlossen". Tatsächlich verlief denn auch das Jahr 1937 außenpolitisch ruhig. Mussolinis Besuch in Deutschland vom 25. bis 28. September festigte die Freundschaft mit Italien, Mussolini ernannte bei dieser Gelegenheit Hitler zum Ehrenkorporal der Faschistischen Miliz, Hitler überreichte Mussolini eine „nur für ihn bestimmte einmalige Ausführung des Großkreuzes des Ordens vom Deutschen Adler", und auf festlichen Veranstaltungen wurde mit vielen tönenden Reden die Gemeinschaft der beiden Staaten verkündet. Das „Hoßbach-Protokoll" Nachdem die außenpolitische Lage soweit geklärt und die Aufrüstung in vollem Gange war, hielt Hitler die Zeit für gekommen, in kleinem Kreis und unter strengster Geheimhaltung seine Ziele darzulegen. Darüber hat Oberst Friedrich Hoßbach, der als Adjutant Hitlers nach Hindenburgs Tod Verbindungsmann zwischen Wehrmacht und Führer war, einige Tage später eine Niederschrift angefertigt, die als das sogenannte „Hoßbach-Protokoll" — ein eigentliches Protokoll war sie ja nicht — erst durch die Verhandlungen vor dem Internationalen Militärgerichtshof in Nürnberg 1946 bekannt geworden ist. Demnach sagte Hitler am 5. November 1937 in der Reichskanzlei zu dem Reichskriegsminister von Blomberg, den Oberbefehlshabern des Heeres, der Kriegsmarine, der Luftwaffe, von Fritsch, Raeder, Göring, und zu dem Außenminister von Neurath: das deutsche Volk stelle einen so „festgeschlossenen Rassekern" dar wie kein anderes Volk und habe darum das Anrecht auf größeren Lebensraum. Für Deutschland laute die Frage, wo größter Gewinn unter geringstem Einsatz zu erreichen sei. Er habe dabei mit „den beiden Haßgegnern England und Frankreich zu rechnen", nur „der Weg der Gewalt" könne die Lösung bringen; für das „wann" und „wie" kämen spätestens 1943—1945 in Frage, dann sei die deutsche Aufrüstung vollendet; bei längerem Zuwarten bestehe die Gefahr der Veraltung unserer modernen Bewaffnung und einer Ernährungskrise. Falls vor 1943 Frankreichs Armee durch innere Kämpfe oder durch Krieg mit einem anderen Staat gebunden sei, wäre dies der Zeitpunkt, um Österreich und die Tschechei „niederzuwerfen"; mit hoher Wahrscheinlichkeit werde sich England nicht in einen langdauernden europäischen Krieg verwickeln lassen, dann werde sich auch Frankreich ruhig verhalten, immerhin erweise sich eine Abrieglung im Westen während der Durchführung des Angriffs auf Österreich und die Tschechei als notwendig. Von Italien seien gegen die Beseitigung der Tschechei keine Einwände zu erwarten. Polen und Rußland würden nicht eingreifen, wenn Deutschland schnell und über-

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Drittes Reich — Außenpolitik bis 1937 raschend siege. Ob Rußland überhaupt eingreife, sei angesichts der Haltung Japans sehr fraglich. Deutschland liege viel an der Fortdauer des spanischen Bürgerkriegs und der Spannungen im Mittelmeerraum, dort käme es vielleicht zu einem Krieg Englands und Frankreichs gegen Italien, dies wäre dann für Deutschland der gegebene Augenblidc, um „blitzartig schnell" die Tschediei zu überfallen. Neurath, vor allem Blomberg und Fritsch, äußerten erhebliche Bedenken gegen diese Pläne; ihre Polemik nahm zeitweilig scharfe Formen an. Vermutlich liegt hier der Schlüssel zu der Entlassung von Neurath, Blomberg und Fritsch.

Die Blomberg—Fritsch-Krise Blomberg heiratete am 12. Januar 1938 in zweiter Ehe „ein einfaches Mädchen aus dem Volke", Hitler und Göring nahmen an der Trauung teil. Einige Tage darnach legte Himmlers Polizei Hitler Akten auf den Tisdi: das Vorleben der zweiten Frau von Blomberg sei so kompromittierend, daß er als Kriegsminister nicht mehr in seinem Amt bleiben könne. Gleichzeitig wurde Fritsch der Homosexualität bezichtigt. Angeblich habe Himmler das Beweismaterial hierfür schon 1936 Hitler vorgelegt, er sei aber nicht darauf eingegangen, weil er damals, während der Rheinlandbesetzung, eine Krise in der Leitung der Armee habe vermeiden wollen. Jedenfalls griff Hitler jetzt die Anklage auf, da Fritsch der gegebene Nachfolger Blombergs gewesen wäre, und Hitler den ihm unbequemen General los sein wollte. Wahrscheinlich strebte Göring nach dem Amt des Kriegsministers und wollte deshalb Blomberg stürzen, mit dem Hitler sehr gut auskam, verdankte er doch Blomberg die loyale Haltung der Armee gegenüber dem Nationalsozialismus und die reibungslose, schnelle Ablegung des Treueides der Armee auf den Führer nach Hindenburgs Tod. Blomberg mußte nun seinen Abschied einreichen; er riet Hitler, das Kriegsministerium selbst zu übernehmen, vermutlich ein Racheakt Blombergs gegen die Generale, die seine Heirat als Schmach und Schande für das ganz Offizierskorps erklärt hatten. Jetzt mußte Fritsch fallen. Vergebens beteuerte er seine Unschuld. Hitler gab vor, dem Zeugen für Fritschs homosexuelle Vergehen, einem in übelstem Ruf Stehenden, des öfteren zu Zuchthausstrafen Verurteilten, mehr zu glauben als dem Ehrenwort des Generals. Im März stellte ein Offiziersgericht fest, daß eine „Verwechslung" vorliege mit einem Herrn von Frisch, und General Fritsch sei frei von jeder Schuld. Trotzdem ließ Hitler noch einige Monate vergehen, bis er Fritsch zum Chef eines Artillerieregimentes ernannte, an dessen Spitze er 1939 vor Warschau den Tod suchte und fand. In der Öffentlichkeit liefen die tollsten Gerüchte über die Blomberg—FritschKrise im Januar 1938 um, ohne daß die Presse etwas darüber bringen durfte. Der 30. Januar ging ohne die übliche Festrede Hitlers zu seiner Machtergreifung vorüber. Am 4. Februar verkündete er dann eine grundlegende Umformung aller politischen, wirtschaftlichen und militärischen Kräfte unter stärkster Konzentration in der Hand der obersten Führung: er selbst übernahm unmittelbar den Oberbefehl über die gesamte Wehrmadit und betraute den General Wilhelm von 738

Blomberg-Fritsdi-Krise Keitel mit der Führung der Geschäfte des Kriegsministeriums, das jetzt im Oberkommando der Wehrmacht aufging. Hitler entließ mit ehrenvollen Schreiben Blomberg und Fritsch aus „Gesundheitsrücksichten" und beförderte Göring zum Gene- ralfeldmarschall, wohl als Trost für das ihm entgangene Amt des Kriegsministers; Hitler liebte es nicht, wenn allzuviel Macht in der Hand eines seiner Getreuen zusammenkam. An die Stelle von Fritsch trat General Walter von Brauchitsch, außerdem erfolgte noch die Umbesetzung einer ganzen Reihe von höheren Offiziersstellen. Ribbentrop, der zwei Jahre lang Botschafter in London gewesen war, wurde Außenminister, Neurath Präsident des neu geschaffenen Geheimen Kabinettsrates, der Hitler in der Führung der Außenpolitik beraten sollte, aber nie zusammentrat. Die Botschafter von Hasseil in Rom, von Dirksen in Tokio und von Papen in Wien wurden zur Disposition gestellt. Göring organisierte als Beauftragter für den Vierjahresplan das Wirtschaftsministerium völlig neu. Die ganze am 4. Februar abgeschlossene Aktion diente der Stärkung des Nationalsozialismus durch die Ausschaltung aller nicht linientreuen Elemente. Hitler hatte jeden, der sich seinen Eroberungsplänen widersetzte oder ihnen nur zaghaft und zweifelnd diente, entfernt: Schacht aus der Wirtschaft, Neurath aus der Außenpolitik, Fritsch aus der Wehrmacht. Die Aufrüstung wurde in immer größerem Ausmaße ohne Rücksicht auf das wirtschaftliche und finanzielle Gleichgewicht vorangetrieben nach dem viel zitierten Ausspruch Görings: Kanonen seien wichtiger als Butter. Die Wehrmacht hatte die Entlassung ihrer beiden führenden Generale ebenso ruhig hingenommen wie 1934 die Erschießung Schleichers und Bredows. Die Vorteile, die sich aus Hitlers Aufrüstungspolitik ergaben, schnelleres Avancement usw., waren für die Wehrmacht so groß, daß alle Bedenken gegen die Machenschaften der Partei und gegen die wachsende Möglichkeit eines Krieges zurückstanden, zumal Hitler in seinen zahlreichen öffentlichen Reden immer wieder seine große Friedensliebe und die Notwendigkeit des Friedens für seine innerdeutsche Aufbauarbeit, die Verschönerung der Städte mit Prachtbauten, besonders in Berlin, München, Nürnberg und Hamburg, die Wohlfahrt des Volkes und ähnliches betonte. Er schläferte damit das Mißtrauen nicht nur im In-, sondern auch im Ausland ein, wo sich allerdings auch viele warnende Stimmen erhoben.

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Die Expansionspolitik bis zum Zweiten Weltkrieg

ÖSTERREICH Das Abkommen von Berchtesgaden Nach dem 4. Februar 1938 war Hitlers nächstes Ziel die Lösung der deutschösterreichischen Frage. Seit dem Abkommen von 1936 hatten sich trotz aller Bemühungen des Botschafters von Papen die Beziehungen nicht freundschaftlicher gestaltet. Bundeskanzler Schuschnigg setzte seine ganze Kraft ein, um Österreichs Selbständigkeit zu erhalten, nur sehr zögernd ging er an die in dem Abkommen versprochene Amnestierung der seit der Ermordung von Dollfuß gefangengehaltenen Nationalsozialisten und an die Zulassung reichsdeutscher Zeitungen. Die nationalsozialistische Partei blieb verboten, aber die „Illegalen", gut organisiert und vom Reich aus kräftig unterstützt, waren weiterhin unter der Führung des radikalen und rabiaten Landesleiters Josef Leopold sehr tätig. Sie benützten jede Gelegenheit zu Demonstrationen, zum Verteilen von eingeschmuggeltem Propagandamaterial und überhaupt zur Unruhestiftung. Wegen der fortwährenden Zwischenfälle weigerte sich Schuschnigg, die Nationale Opposition an der Regierung zu beteiligen, seit 1937 wirkte nur der außerhalb der NSDAP stehende Arthur Seyß-Inquart als Staatsrat vermittelnd und ausgleichend. Er trat dafür ein, daß die Selbständigkeit Österreichs zunächst erhalten bleibe. Durch enge Zusammenarbeit mit dem Reich sollte dann allmählich auf evolutionärem Wege der Anschluß erreicht werden. Auch Hitler plante zunächst keine nationalsozialistische Revolution in Österreich und schärfte Leopold auf die Klagen von Papen und Seyß-Inquart hin öfters ein, sich ruhig zu verhalten. Für Schuschnigg verschlech-, terte sich die Lage stetig: er wußte, daß Italien seit der Eroberung Abessiniens und der Unterstützung Francos im spanischen Bürgerkrieg immer mehr in Gegensatz zu Frankreich und England geriet und sich deshalb immer enger an Deutschland anschloß, daß England wohl für die Erhaltung Österreichs sei, aber keinen Krieg dafür auf sich nehmen werde, daß Frankreich, Österreichs zuverlässigster Freund, infolge innerer Schwäche gelähmt und ohne England zu aktiver Hilfeleistung nicht bereit war. Schuschniggs Versuche, mit den Nachbarstaaten Tschechoslowakei, Ungarn und Jugoslawien freundschaftlichere Beziehungen zur gemeinsamen Abwehr der nationalsozialistischen Gefahr anzuknüpfen, blieben ohne Erfolg. So gab Schuschnigg im Januar 1938 Papens Drängen auf ein Zusammen740

Abkommen von Berchtesgaden treffen mit Hitler nach, als bei einer Haussuchung in der Zentrale der österreichischen NSDAP ein Aktionsprogramm für 1938 gefunden wurde, das den Einmarsch deutscher Truppen und die Ersetzung der Regierung Sdiuschnigg durch eine nationalsozialistische forderte. Um diese Zeit war auch sonst verschiedenen Äußerungen Görings, Neuraths und der nationalsozialistischen Presse zu entnehmen, daß Deutschland in den nädisten Monaten eine Entscheidung in der österreichischen Frage erzwingen werde. Sdiuschnigg wollte Zeit gewinnen; er hoffte, vielleicht würde sich die außenpolitische Lage zu seinen Gunsten bessern, ließ sich von Papen bestätigen, daß die Grundlagen des Abkommens vom Juli 1936 unangetastet bleiben sollten, und fuhr dann am 12. Februar 1938 nach Berchtesgaden. Hitler hatte demonstrativ die Anwesenheit der drei Generale Keitel, Reichenau und Sperrle befohlen. Hitler erhob, wie Sdiuschnigg berichtet, sofort heftige Anklagen wegen der deutschlandfeindlichen österreichischen Politik, besonders wegen der Verfolgung der Nationalsozialisten; er drohte mit dem Einmarsch deutscher Truppen, falls Schuschnigg die ultimativen Forderungen nicht annehme. In Verhandlungen konnten immerhin einige Milderungen erreicht werden, Hitlers Bedingungen bedrohten aber doch Österreichs Selbständigkeit aufs schwerste: beide Länder sollten sich zu gemeinsamem Vorgehen in der Außenpolitik verpflichten, Seyß-Inquart sollte österreichischer Innenminister werden, ihm sei auch das Sicherheitswesen zu übertragen, die österreichischen Nationalsozialisten sollten sich legal betätigen dürfen, eine allgemeine Amnestie für alle wegen nationalsozialistischer Betätigung Bestraften sei sofort zu erlassen, die militärische Zusammenarbeit beider Länder zu sichern, der Wirtschaftsverkehr zu intensivieren. Schuschnigg kam, tief erschüttert, nach Wien zurück. Bundespräsident Wilhelm Miklas entschied für Annahme der Bedingungen. Das Ausland nahm diese Nachrichten zwar mit großer Bestürzung auf, ging aber über Proteste nicht hinaus. Den französischen Botschafter in Berlin, der Aufschluß über die in Berchtesgaden getroffenen Abreden wünschte, „bat" Ribbentrop, „ein für allemal davon Kenntnis zu nehmen, daß die weitere Entwicklung des deutsch-österreichischen Verhältnisses eine deutsche Familienangelegenheit sei, die ausschließlich Deutschland und Österreich anginge". Um den Druck auf Wien zu verstärken, stimmte Hitler am 14. Februar dem Vorschlag Keitels zu, durch „falsche, aber glaubwürdige Nachrichten" den Eindruck militärischer Vorbereitung für den Einmarsch nach Österreich zu erwecken. Unter den österreichischen Juden entstand eine Panikstimmung: wer es einrichten konnte, verließ das Land mit möglichst viel Kapital, das legal oder illegal über die Grenze gebracht wurde. Am 20. Februar 1938 holte Hitler in einer fast dreistündigen Rede vor dem Reichstag die Feier des fünften Jahrestages der Machtübernahme nach. Wie üblich schmähte er die Klassenherrschaft vor dem Weltkrieg und die Weimarer Republik, pries die Erfolge des Nationalsozialismus, betonte den Wert der Freundschaft mit Italien und Japan zur Abwehr der ungeheuren bolschewistischen Gefahr und die Verständigung mit Polen. Mit scharfen Worten wandte er sich gegen die „gerade zu unerträgliche Pressehetze" in Frankreich und England, dankte Schuschnigg für 741

Drittes Reidi — Expansionspolitik bis 1939 „warmherzige Bereitwilligkeit... einen Weg zufinden,der ebensosehr im Interesse der beiden Länder wie im Interesse des gesamten deutschen Volkes liegt, jenes gesamten deutschen Volkes, dessen Söhne wir alle sind, ganz gleich, wo die Wiege unserer Heimat stand. Ich glaube, daß wir damit auch einen Beitrag zum europäischen Frieden geleistet haben".

Die Krise in Österreich Trotz der sciiönen Worte Hitlers wurde die Lage für Schuschnigg immer bedrohlicher. Die österreichischen Nationalsozialisten hielten ihre Sache schon für gewonnen und konnten, obwohl Leopold auf Schuschniggs Wunsch am 22. Februar nadi Deutschland abberufen wurde, nur mühsam von Unruhen und Demonstrationen abgehalten werden. Die österreichischen Sozialdemokraten boten der sonst von ihnen bekämpften Schusdinigg-Regierung ihre Unterstützung an. Mit Hilfe der Sozialdemokraten und katholischer Kreise hoffte Schuschnigg auf eine große Mehrheit, wenn er sofort, ehe die innere Aushöhlung des Staates durdi die nationalsozialistische Propaganda weitere Fortschritte machte, eine Volksabstimmung veranstaltete. Verfassungsrechtliche Bedenken sprachen allerdings dagegen. Mussolini warnte: Hitler würde eine für Schuschnigg günstige Abstimmimg nicht anerkennen. Aber Schuschnigg wollte dieses letzte Mittel nicht unversucht lassen. Am 9. März rief er das Volk auf: am 13. März abzustimmen „für ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich! Für Friede und Arbeitl Und für die Gleichberechtigung aller, die sich zu Volk und Vaterland bekennen". In Berlin erkannte man die Gefahr, erklärte die Volksabstimmung für unvereinbar mit dem Berchtesgadener Abkommen und als Überrumplung der Nationalsozialisten. Hitler entschloß sich, die Abstimmimg auf jeden Fall zu verhindern, gab der österreichischen NSDAP volle Handlungsfreiheit und ließ von den Führern des Heeres und der Luftwaffe noch in der Nacht vom 10. zum 11. März die Einmarschtruppen mobilmachen. Generalstabspläne lagen dafür nicht vor, das „Unternehmen Otto" für den Fall der Wiedereinsetzung Ottos von Habsburg war nicht ausgearbeitet. Der Generalstab stellte indes binnen weniger Stunden den Einmarschplan fertig und begann dann mit der Ausführung. Am 11. März forderte Hitler durch Seyß-Inquart von Schuschnigg den Verzicht auf die Volksabstimmung und Schuschnigg gab nach. Nun drängte Göring, mehr noch als Hitler, zum sofortigen Anschluß. Am Nachmittag erzwang ein deutsches Ultimatum die Abdankung Schuschniggs und seines Kabinetts. Die zweite Forderung aber, die Ernennung Seyß-Inquarts zum Bundeskanzler, lehnte Bundespräsident Miklas ab; in der hoffnungslosen Lage hielt er es für richtiger, daß sich die Deutschen durch einen militärischen Einmarsch ins Unrecht setzten; seine telephonischen Hilferufe an verschiedene Mächte hatten ihm gezeigt, daß Österreich auf keine militärische Hilfe vom Ausland rechnen konnte. Inzwischen hatte die österreichische NSDAP zu großen Demonstrationen aufgerufen und in den Bundesländern, zuerst in Kärnten und Steiermark, die Macht 742

Ansdiluß Österreichs und die Reaktion des Auslandes an sich gerissen. Am Abend des 11. März gegen 20 Uhr nahm Sdiuschnigg in einer Rundfunkrede Abschied. Im Auftrage von Miklas teilte er mit: die österreichische Regierung weiche der Gewalt und das Militär habe den Befehl, sich bei dem Einmarsch deutscher Truppen ohne Widerstand zurückzuziehen, um Blutvergießen zu vermeiden. Sdiuschnigg schloß mit den Worten: „Gott schütze Österreich!" In Berlin protestierten der englische und der französische Botschafter im Namen ihrer Regierungen „gegen die Ausübung eines durch Gewaltandrohung unterstützten Zwanges gegen einen unabhängigen Staat". Prinz Philipp von Hessen, Schwager des italienischen Königs, flog am Abend des 11. März nach Rom mit einem Brief Hitlers, in dem dieser Mussolini die Notwendigkeit der Aktion gegen Österreich auseinandersetzte und für immer die Brennergrenze anerkannte, also auf Südtirol verzichtete. Etwa um 22.30 Uhr telephonierte der Prinz, Mussolini habe gesagt, „Österreich sei für ihn eine abgetane Angelegenheit". Hitler dankte überschwenglich, mehrmals wiederholte er am Telephon, er werde das Mussolini „nie, nie, nie vergessen", „ich fühle mich jetzt auch nicht mehr in der furchtbaren Lage, die wir doch eben militärisch hatten", er sei jetzt zu jedem Abkommen mit Mussolini bereit und werde in jeder Gefahr zu ihm halten. Der deutschen Regierung lag nun vor allem daran, daß in Wien eine Regierung unter Seyß-Inquart gebildet werde, die dann mit einem von Göring aufgesetzten Telegramm die deutschen Truppen zu Hilfe rufen sollte. Miklas weigerte sich noch immer, auch Seyß-Inquart stimmte dem Telegramm nicht zu. Erst um Mitternacht, als ganz Österreich bereits tatsächlich in den Händen der Nationalsozialisten war, vollzog Miklas die Ernennung des Kabinetts Seyß-Inquart. Inzwischen hatte Hitler aber schon gegen 20.45 Uhr den Befehl zum Einmarsch bei Tagesanbruch des 12. März gegeben. Der Sonderbeauftragte Hitlers für Österreich, Staatssekretär Keppler, versicherte wahrheitswidrig auf erneute telephonische Anfrage aus Berlin gegen 22 Uhr, Seyß-Inquart habe der Veröffentlichung des Göring-Telegramms zugestimmt. Seyß-Inquarts erste Regierungshandlung aber war, über Keppler Hitler um Zurücknahme des Einmarschbefehls zu bitten, da die nationalsozialistische Machtübernahme in Österreich sich in aller Ruhe vollziehe. Hitler wollte indes nun nicht mehr zurück, obwohl er sich darüber klar war, daß ihn der Einmarsch dem Ausland gegenüber schwer belastete.

Oer Ansdiluß und die Reaktion des Auslandes Am Morgen des 12. März flog Hitler nach München, während deutsche Truppen ohne Munitionskolonnen mit Fahnen und Musik in breiter Front in Österreich einzogen, von der Bevölkerung mit ungeheurem Jubel und mit Blumen begrüßt. Um 12 Uhr mittags wurde über alle deutschen und österreichischen Sender eine Proklamation Hitlers verbreitet: er habe in Österreich eingreifen müssen, weil dort „ein Regime, dem jeder legale Auftrag fehlte, versuchte, seine von der überwältigenden Mehrheit des österreichischen Volkes abgelehnte Existenz durch brutalste Mittel des Terrors, der körperlichen und wirtschaftlichen Züchtigung und 743

Drittes Reidi —· Expansionspolitik bis 1939

Vernichtung aufrecht zu erhalten". Alle Versuche, diese Zustände auf friedlichem Wege zu bessern, seien von der österreichischen Regierung sabotiert worden. „Das Deutsche Reich duldet es aber nicht, daß in diesem Gebiet von jetzt an noch Deutsche verfolgt werden wegen ihrer Zugehörigkeit zu unserer Nation oder ihrem Bekenntnis zu bestimmten Auffassungen." Darum marschierten seit dem Morgen deutsche Truppen, „selbst gerufen von der neuen nationalsozialistischen Regierung in Wien" über die Grenze, um dem österreichischen Volke die Möglichkeit zu geben, „durch eine wirkliche Volksabstimmung seine Zukunft und damit sein Schicksal zu gestalten". Am Nachmittag des 12. März fuhr Hitler über seine Geburtsstadt Braunau nach Linz, umjubelt von der grenzenlos begeisterten Bevölkerung. Am folgenden Tag faßte Hitler in Linz unter dem Eindruck des ungeheuren Freudentaumels, der aus dem ganzen Lande berichtet wurde, den entscheidenden Beschluß, Österreich mit Deutschland nicht nur durch Personalunion und eine nationalsozialistische Regierung zu verbinden, sondern die volle Eingliederung in das Reich sofort zu vollziehen. Seyß-Inquart erklärte bei einer Begrüßungsrede an Hitler „in feierlicher Weise den Artikel 88 des Friedensvertrags von St. Germain als unwirksam", der den Anschluß Österreichs an Deutschland von der Zustimmung des Völkerbunds abhängig gemacht hatte. Das Gesetz über die Wiedervereinigung wurde sofort beschlossen. Bundespräsident Miklas unterzeichnete es nicht, übertrug aber seine Befugnisse auf Seyß-Inquart. Artikel I: „Österreich ist ein Land des Deutschen Reiches." Artikel II: „Sonntag den 10. April findet eine freie und geheime Volksabstimmung . . . über die Wiedervereinigung mit dem Deutschen Reich statt." „Das derzeit in Österreich geltende Redit bleibt bis auf weiteres in Kraft." An Mussolini telegraphierte Hitler von Linz aus: „Ich werde Ihnen dieses nie vergessen." Aus diesen oft wiederholten Worten spricht die große Erleichterung Hitlers, daß die Haltung Mussolinis, der jedes von Frankreich und England in Erwägung gezogene Vorgehen zugunsten Österreichs abgelehnt hatte, Deutschland vor einem Krieg bewahrte. In Wirklichkeit war Mussolini keineswegs mit Hitlers Aktion einverstanden, und die italienische Öffentlichkeit noch weniger; aber die Abessinienpolitik drängte Italien an Deutschlands Seite, und so setzte sich die Realpolitik des Duce durch. Am 14. März zog Hitler unter dem Geläut aller Glocken und den begeisterten Huldigungen der Menge in Wien ein. Der „Völkische Beobachter" schrieb: „Ein Orkan unbeschreiblichen und unvorstellbaren Jubels brandete über den Schwarzenbergplatz zum Führer empor", als er von dem Balkon seines Hotels zu den Hunderttausenden sprach. Die große offizielle Feier am nächsten Tag auf dem Heldenplatz Schloß mit einer Parade deutscher und österreichischer Truppen. Auf besonderen Wunsch Papens empfing Hitler den Erzbischof von Wien, Kardinal Innitzer, der die bereitwillige und tatkräftige Mitarbeit der Katholiken Österreichs am Aufbauwerk des Führers versprach, wenn die Freiheit der Kirchen und Schulen, besonders der kirchlichen Jugenderziehung, unangetastet blieben. Hitler, sehr erfreut, daß der befürchtete katholische Widerstand unterblieb, sagte sofort zu; allerdings, wie immer in dergleichen Fällen, bürgte dies nicht dafür, daß er 744

Anscfaluß Österreichs und die Reaktion des Auslandes Wort halten würde. Am 18. März erließen die österreichischen Bischöfe, am 1. April der evangelische Oberkirchenrat feierliche Erklärungen, in denen sie ihre Freude über die Heimkehr ins Reich nach 72jähriger Trennung zum Ausdruck brachten und die Gläubigen aufforderten, bei der Abstimmung sich als Deutsche zum Deutschen Reich zu bekennen. Schon in der Nacht zum 12. März war Himmler nach Wien geflogen und hatte seinen Gestapo-Apparat in Bewegung gesetzt. Tausende von jüdischen, sozialdemokratischen und vaterländischen Österreichern wurden verhaftet, Hunderte, darunter Schuschnigg, in Konzentrationslager gesperrt — die Gleichschaltung des nun „Ostmark" genannten Landes begann. Josef Bürckel, zum Gauleiter ernannt, wurde mit der Neuordnung der Partei und der Organisierung der Volksabstimmung betraut. Seyß-Inquart führte als Reichsstatthalter einige Reichsgesetze durch wie die über die Flaggen, über die Sicherung der Einheit von Partei und Staat, über den Vierjahresplan und verfügte die Entlassung von jüdischen oder sonst politisch nicht genehmen Beamten. Göring war als Stellvertreter des Führers in Berlin geblieben. Seine Hauptaufgabe war, das Ausland zu beruhigen. Die Proteste der Westmächte wies er mit der wahrheitswidrigen Behauptung zurück, Deutschland habe der alten österreich-Regierung kein Ultimatum gestellt und die neue unter Seyß-Inquart habe zur Vermeidung eines Bürgerkrieges um deutsche Truppenhilfe gebeten. Göring war besonders darauf bedacht, den tschechoslowakischen Gesandten zu überzeugen, daß das deutsche Eingreifen in Österreich sich in keiner Weise gegen die Tschechoslowakei richte, die Beziehungen zwischen ihren beiden Ländern würden dadurch nur besser werden. Die tschechoslowakische Regierung gab sich damit zufrieden, und so war die Gefahr ihres aktiven Vorgehens zusammen mit Frankreich abgewendet. In England und Frankreich hatte sich die Stimmung gegen Deutschland erheblich verschlechtert, aber schon am Abend des 12. März bestand keine eigentliche Kriegsgefahr mehr. Jugoslawien übersandte noch an diesem Tag seine Zustimmung; China, die Schweiz, Spanien und Ungarn begrüßten in den nächsten Tagen anerkennend und bewundernd Hitlers Vorgehen. Die positive Stellungnahme der Kirchen, die Begeisterung des Volkes, selbst eines großen Teils der sozialdemokratischen Arbeiter, und der unblutige Verlauf der deutschen Truppenbewegungen in Österreich trugen viel dazu bei, daß sich die Aufregung und Empörung im Ausland über das Aufgehen Österreichs im Deutschen Reich allmählich beruhigte. Schon am 2. April — also noch vor der Volksabstimmung — erkannten Frankreich und England an, daß Österreich aufgehört habe, ein selbständiger Staat zu sein: Sie kündigten die Umwandlung ihrer Wiener Gesandtschaften in Generalkonsulate an, und diesem Beispiel folgten auch die anderen Staaten. Wiederum hatte Hitler gegenüber den Diplomaten und Generalen damit recht behalten, daß die westlichen Demokratien vor vollendeten Tatsachen zurückwichen. Immer mehr steigerte sich sein Selbstbewußtsein. Am 18. März legte Hitler dem Reichstag seinen Rechenschaftsbericht vor, so wie er wünschte, daß die Ereignisse in Österreich vom In- und Ausland beurteilt würden. Auf Verlangen Mussolinis bestätigte Hitler auch hierbei „die bestehen745

Drittes Reidi — Expansionspolitik bis 1939 den Grenzen" zwischen Deutschland und Italien. Nach Schluß der Rede verlas Göring eine Verordnung Hitlers: in der Volksabstimmung am 10. April solle sich Deutschland zu der Schaffung des „großdeutschen Volksreiches" bekennen und einen neuen Reichstag wählen, in dem auch die Österreicher vertreten sein würden. Der Wahlkampf spielte sich im Altreich und in Österreich in den üblichen Formen ab. Der Text des Stimmzettels lautete: „Bekennst Du Dich zu unserem Führer Adolf Hitler und damit zu der am 13. März 1938 vollzogenen Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich?" Außerdem sollte der Wähler noch der Einheitsliste der NSDAP für die Abgeordneten des Reichstags zustimmen. Mit Ja stimmten am 10. April in Österreich 99,73 %, im gesamten Reich 99,08%. Mag auch bei dieser wie bei den sonstigen Wahlen im Dritten Reich durch Druck und mancherlei nicht einwandfreie Manipulationen ein für Hitler überwältigend günstiges Ergebnis erzielt worden sein — sicher ist, daß die überwiegende Mehrheit des gesamten Volkes in Österreich wie im Altreich für die Wiedervereinigung war. Die alte Sehnsucht nach nationaler Einheit hatte sich erfüllt, und die aufrichtige Freude im Volke ließ die Besorgnisse über Hitlers Art des Vorgehens und über die Zukunft in den Hintergrund treten. Der Argwohn, Hitler werde sich mit der Eingliederung Österreichs nicht begnügen, war überall lebendig. Rußland suchte sich den Weststaaten zu nähern und gegen weitere Aktionen Hitlers in Europa eine kollektive Sicherheit zu schaffen. Weder Frankreich noch England gingen indes darauf ein. Aber England schloß mit Italien am 16. April 1938 ein Abkommen über eine freundschaftliche Reglung der beide Staaten interessierenden Fragen im Mittelmeer, in Arabien und in den afrikanischen Kolonialgebieten. Diese erneute englisch-italienische Annäherung kam Hitler unerwünscht, er mußte sich aber damit abfinden. Dafür machte Hitler Anfang Mai, von Mussolini eingeladen, mit riesigem Gefolge, etwa 500 Personen, meist führende Beamte in Staat und Partei, einen Gegenbesuch in Italien. In glänzenden Festlichkeiten und prunkvollen Aufzügen führte Mussolini den Gästen die Schönheit und Größe Italiens sowie seine militärische Stärke vor Augen. Ribbentrop hatte den Entwurf eines Bündnisvertrags mitgebracht, Mussolini und Ciano, sein Schwiegersohn und Außenminister, ließen sich nicht darauf ein: bei der offenen und festen Freundschaft der beiden Staaten sei ein Vertrag nicht vonnöten. Offensichtlich wollte sich Mussolini nicht noch stärker an Deutschland binden, denn mit dem Besitz von Österreich stand Deutschland der Weg zum Balkan offen, und so konnte es möglicherweise zu Interessenkonflikten mit Italien kommen. Auch über die Tschechoslowakei vermied Mussolini jede eingehende Unterredung. Dennoch kehrte Hitler befriedigt über die guten Beziehungen nach Deutschland zurüdc.

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Sudetendeutschen SUDETENLAND

Die Sudetendeutschen Der Besitz von Österreich bildete für Hitler die Voraussetzung zur Erreichung seines nächsten Zieles: der Tschechoslowakei. Sie war damals schon praktisch isoliert. Frankreich erkannte zwar immer wieder den Vertrag von 1925 an, in dem sich die zwei Länder ihre Hilfe bei einem unprovozierten Angriff zugesagt hatten, aber wie weit die Erfüllung dieses Versprechens möglich sein würde, war sehr fraglich. England hatte sich der Tschechoslowakei gegenüber zu nichts verpflichtet. Premierminister Chamberlain erklärte am 24. März 1938 im Unterhaus unumwunden, England würde sich wegen des französischen Vertrags mit der Tschechoslowakei nicht automatisch in einen Krieg verwickeln lassen. Die Sowjetunion konnte die der Tschechoslowakei versprochene Hilfe nur leisten, wenn Polen und Rumänien den Durchzug sowjetischer Truppen und das Uberfliegen ihrer Gebiete gestatteten. Beide Staaten hatten aber größere Furcht vor der Sowjetunion als vor Deutschland. Polen war durch den Vertrag von 1934 mit Deutschland verbunden und beanspruchte außerdem den zur Tschechoslowakei gehörenden Teil des Gebietes von Teschen mit etwa 100 000 polnischen Einwohnern. Ungarn hatte nie seine Ansprüche auf die im Frieden von Trianon 1920 der Tschechoslowakei zugewiesenen Karpatho-Ukraine und Slowakei aufgegeben. Hitler ermutigte die ungarische Regierung, auch ihrerseits einen Druck auf die Tschechoslowakei auszuüben, aber Ungarn verhielt sich aus Furcht vor einem allgemeinen Krieg zunächst abwartend. Jetzt rächte sich in der Tschechoslowakei die Grenzziehung von 1920, die das Selbstbestimmungsrecht der Völker außer acht gelassen hatte. Die stärkste völkische Minderheit bildeten die 3,3 Millionen Sudetendeutschen, die nun von den Tschechen größere Rechte zu fordern begannen — dieser Unruheherd war der Ansatzpunkt für Hitler. In der Sudetendeutschen Partei hatten sich seit 1933 unter der Führung Konrad Henleins, von der NSDAP im geheimen kräftig unterstützt, allmählich fast alle Sudetendeutschen vereinigt. Der Anschluß Österreichs gab ihrem Streben nach größerer Selbständigkeit neuen Antrieb. Am 29. März besprach Henlein im Berliner Auswärtigen Amt insgeheim die von seiner Partei einzuschlagende Politik. Ribbentrop sagte die unbedingte Hilfe des deutschen Volkes zu, offiziell solle jedoch die deutsche Regierung überhaupt nicht in Erscheinung treten, sondern die Sudetendeutsche Partei ihre Forderungen an die tschechoslowakische Regierung immer höher schrauben und dadurch die Einigung mit Prag vermeiden. Wie in Österreich sollte also auch hier ein Deutschlands Ausdehnung im Wege stehender Staat von innen heraus ausgehöhlt und damit für Hitlers Zugriff reif gemacht werden. Am 24. April stellte Henlein auf einem sudetendeutschen Parteitag in Karlsbad acht Forderungen an die Prager Regierung, unter ihnen als wesentlichste: Gleichberechtigung der Deutschen mit den Tschechen, Aufbau einer deutschen Selbstverwaltung, Freiheit des Bekenntnisses zum deutschen Volkstum und zur deutschen Weltanschauung. Drei Tage

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Drittes Reidi — Expansionspolitik bis 1939

zuvor besprach Hitler mit General Keitel die Generalstabsstudie „Grün", den Einfall in die Tschechei; dieser dürfe mit Rücksicht auf das Ausland nicht „aus heiterem Himmel" kommen, vielmehr müßten sich diplomatische Auseinandersetzungen allmählich zum Kriege zuspitzen. Noch besser wäre „blitzartiges Handeln auf Grund eines Zwischenfalls", die ersten vier Tage müssen den durchschlagenden Erfolg bringen, sonst „tritt mit Sicherheit eine europäische Krise ein". Die Sudetendeutschen wurden immer unruhiger, England drängte die Tschechei zu einer befriedigenden Reglung der Minderheitenfrage. Die Prager Regierung begann denn auch Verhandlungen mit Henlein, zeigte sich aber über deutsche Truppenansammlungen an der böhmischen Grenze und die steigende Zahl von Zusammenstößen zwischen Sudetendeutsdien und Tschechen so beunruhigt, daß sie einen Teil ihrer Truppen mobilisierte, worauf nun Frankreich und England in Berlin wie in Prag eindringlich zur Besonnenheit mahnten und vor der Gefahr eines allgemeinen Krieges warnten. Die deutsche Regierung wies jede Angriffsabsicht weit von sich, bei den Truppenansammlungen handle es sich nur um die üblichen Frühjahrsübungen. Ribbentrop sprach aber nach seiner eigenen Aufzeichnung am 21. Mai dem englischen Botschafter Henderson gegenüber sehr scharf: Deutschland könne nicht „stillschweigend zusehen, wie tagtäglich an seinen Grenzen von einem minderwertigen Volkstum das Blut wehrloser Deutscher vergossen werde". Bei den Gemeindewahlen in der Tschechoslowakei am 22. und 29. Mai errang Henlein einen großen Erfolg: auf seine Liste entfielen über 91 % aller deutschen Stimmen. Der Sommer 1938 verging unter fieberhaften diplomatischen Verhandlungen. Die englisch-französische Entente cordiale wurde wieder fester geknüpft, was auch bei einem Besuch des englischen Königspaares in Paris während der zweiten Julihälfte die französische Regierung und das Volk sehr herzlich feierten. Die englische Regierung ließ keinen Zweifel, daß sie zwar den Bestand der Tschechoslowakei nicht garantieren wolle, daß aber jede Bedrohung Frankreichs den Eintritt Englands in einen Krieg zur Folge haben würde. Frankreich bemühte sich vergeblich, Polens und Rumäniens Einwilligung für den Durchzug russischer Truppen zu erlangen. Anfang August sandte Chamberlain Lord Runciman zur Vermittlung zwischen der tschechischen Regierung und den Sudetendeutschen nach Prag. Seine Bemühungen scheiterten, er kehrte nach London mit dem Eindruck zurück, die tschechische Regierimg müsse den Sudetendeutschen das Selbstverwaltungsrecht gewähren. Die englische und die französische Regierung waren bereit, von der Tschechoslowakei große Opfer zu fordern, wenn nur der Friede erhalten bliebe. Für Hitler war all das bloß der Beweis für die Schwäche der Westmächte. Beck und der

Widerstand

Die deutsche Generalität äußerte ernste Besorgnisse über das Spiel ihrer Regierung mit einem allgemeinen Krieg. General Beck war grundsätzlich gegen jeden Angriffskrieg eingestellt, der nach seiner Meinung zwangsläufig zu einer 748

Bede und der Widerstand europäischen Katastrophe führen müßte. Hitler gegenüber mußte er sich natürlich taktischer Argumente bedienen: Die Aufrüstung sei zwar mit allen Kräften vorangetrieben worden, aber die Wehrmacht brauche jetzt Zeit, um die zahlenmäßig so rasch angewachsene Armee hinreichend auszubilden —, bei dem Einmarsch in Österreich hatten sich bedenkliche Mängel gezeigt. Bede legte Brauchitsch und anderen leitenden Generalen mehrere Denkschriften vor: ein Angriff Deutschlands auf die Tschechoslowakei werde sicher zu einem Zweifrontenkrieg, wahrscheinlich sogar zu einem Weltkrieg führen, für den Deutschlands militärische und wirtschaftliche Kraft jetzt noch nicht hinreiche. Brauchitsch gab die Denkschriften vorerst nicht an Hitler weiter. Eine von Hitler am 30. Mai unterzeichnete neue Weisung an die Oberbefehlshaber zum Plan „Grün" begann: „Es ist mein unabänderlicher Entschluß, die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen." Hitler steigerte noch nach Möglichkeit die Rüstungen und beauftragte den Generalinspekteur für das deutsche Straßenwesen, Fritz Todt, mit dem beschleunigten Ausbau des Westwalls, der als Gegenstück zu der französischen Maginotlinie an der deutschen Westgrenze einen französischen Angriff aufhalten sollte. Seit 1936 wurden Feldbefestigungen errichtet; die Sachverständigen hielten sie für ungenügend. Anfang August legte Brauchitsch als Oberbefehlshaber des Heeres auf Drängen seiner Generale Hitler die Denkschriften Becks vom Mai bis Juli vor; es kam •darüber zu sehr heftigen Auseinandersetzungen, Hitler wies alle Warnungen vor einem allgemeinen europäischen Krieg zurück. Bede forderte seinen Abschied, aber weder Brauchitsch noch andere Generale folgten seinem Beispiel, obwohl sie am 16. und 29. Juli Becks Grundsätzen zugestimmt hatten: „Die Geschichte wird die höchsten Führer der Wehrmacht mit einer Blutschuld belasten, wenn sie nicht nach ihrem fachlichen und staatspolitischen Wissen und Gewissen handeln. Ihr soldatischer Gehorsam hat dort eine Grenze, wo ihr Wissen, ihr Gewissen und ihre Verantwortung die Ausführung eines Befehls verbietet. Finden ihre Ratschläge und Warnungen in solcher Lage kein Gehör, dann haben sie das Recht und die Pflicht vor dem Volk und vor der Geschichte, von ihren Ämtern abzutreten. Wenn sie alle in einem geschlossenen Willen handeln, ist die Durchführung einer kriegerischen Handlung unmöglich. Sie haben damit ihr Vaterland vor dem Schlimmsten, vor dem Untergang bewahrt." Hitler befahl den Rücktritt Becks zunächst geheim zu halten und ernannte General Franz von Halder zum Chef des Generalstabs. Auch dieser gehörte zur Opposition. Die Widerstandsgruppe in der Generalität kam nun zu der Überzeugung, Hitler müsse nach dem Befehl zum Angriff auf die Tschechoslowakei festgenommen und Himmler samt seiner SS mit Gewalt unschädlich gemacht werden. Wegen des im Volke gehegten „Hitler-Mythos" wollten die Generale gegen Hitler erst vorgehen, wenn er durch den Befehl zum Angriff seine Absicht, tatsächlich Krieg zu führen, offen bekundet habe. Denn erst dann werde sich die Mehrheit der Deutschen, die keinen Krieg wolle, auf die Seite der Generale stellen. Dieser Plan hätte vielleicht Erfolg haben können, da der Diktatur Hitlers damals als • einzige Organisation nur noch das Heer Widerstand zu leisten vermochte. 749

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 In allen Kreisen des Volkes gab es trotz Gestapo und raffiniertem Spitzelsystem kleine Widerstandsgruppen, Männer der Kirche, alte Sozialisten und Gewerkschaftler, Beamte und Diplomaten, Arbeiter und Angestellte; viele büßten irgendeine Unvorsichtigkeit mit kürzerer oder längerer Haft in Konzentrationslagern oder selbst mit dem Tode. Für ein Zusammenarbeiten der Gruppen bestand fast keine Möglichkeit, obwohl viele Fäden zwischen ihnen liefen; gemeinsam war allen die Erkenntnis der grundsätzlichen Ruchlosigkeit des nationalsozialistischen Regimes, seiner Willkür, Rechtlosigkeit und seines imperialistischen Machtstrebens. Schacht, Goerdeler und eine Reihe von Diplomaten des Auswärtigen Amtes nutzten ihre Verbindungen im Ausland, um von dort womöglich Hilfe für ihren Widerstand zu erhalten. Staatssekretär Weizsäcker beschloß mit seinem engsten Mitarbeiter Dr. Erich Kordt durch dessen Bruder Theo, Botschaftsrat in London, Chamberlain und Außenminister Halifax mündlich über die Widerstandspläne der deutschen Generale zu unterrichten. Am 7. September 1938 führte Theo Kordt den Auftrag aus: Hitler glaube nicht an ein aktives Eingreifen Frankreichs und Englands zugunsten der Tschechoslowakei, deshalb müsse die englische Regierung unzweideutig und bestimmt erklären, daß Großbritannien im Kriegsfall nicht abseits stehen werde. „In der deutschen Öffentlichen Meinung ebenso wie in verantwortlich denkenden Kreisen der Armee ist Hitlers Krieg unpopulär und wird als Verbrechen gegen die Zivilisation angesehen. Wenn die erbetene Erklärung gegeben wird, sind die Führer der Armee bereit, gegen Hitlers Politik mit Waffengewalt aufzutreten. Eine diplomatische Niederlage würde einen sehr ernst zu nehmenden politischen Rückschlag für Hitler in Deutschland nach sich ziehen und würde praktisch das Ende des nationalsozialistischen Regimes bedeuten. Es ist mir nicht leicht gefallen, in dieser Form mit dem britischen Außenminister zu sprechen. Aber die deutschen Patrioten sehen keinen anderen Ausweg aus dem Dilemma, um das größte Verbrechen eines Krieges zu verhüten." Weizsäcker versuchte auch durch den englischen Botschafter Henderson in Berlin, den Schweizer Historiker Carl J. Burckhardt, damals Völkerbundskommissar in Danzig, und den italienischen Botschafter in Berlin Bernardo Attolico im Interesse der Aufrechterhaltung des Friedens den Druck auf Hitler zu verstärken.

Chamberlain

in Berchtesgaden

und

Godesberg

Hitler trieb indes weiter zum Angriff auf die Tschechoslowakei. Am 2. September 1938 hatte er wieder eine Unterredung mit Henlein, den er anwies, bei der nächsten sich infolge blutiger Zwischenfälle ergebenden Gelegenheit die Verhandlungen mit der tschechischen Regierung abzubrechen. In der politischen Schlußrede am 12. September auf dem „Parteitag Großdeutschlands" in Nürnberg ließ Hitler keinen Zweifel, daß er die Unterdrückung, Entwürdigung und Mißhandlung der Sudetendeutschen nicht mehr länger dulden werde. „Ich habe am 28. Mai sehr schwere Maßnahmen getroffen: erstens die angekündigten Ver-

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Chamberlain in Berchtesgaden und Godesberg Stärkungen des Heeres und der Luftwaffe wurden auf meinen Befehl hin außerordentlich erweitert . . . zweitens: ich befahl den sofortigen Ausbau unserer Festungsanlagen im Westen. Ich darf Ihnen die Versicherung geben, daß seit dem 28. Mai dort das gigantischste Befestigungswerk aller Zeiten im Ausbau begriffen ist . . . Ich habe diese gewaltigste Anstrengung aller Zeiten gemacht, um dem Frieden zu nützen. Ich werde aber unter keinen Umständen gewillt sein, einer weiteren Unterdrückung der deutschen Volksgenossen in der Tschechoslowakei in endloser Ruhe zuzusehen." Am 13. September brach Henlein die Verhandlungen mit der Prager Regierung ab. Nun griff Chamberlain ein, freilich nicht so, wie die deutsche Opposition wünschte. Er hatte erkannt, daß weder das englische Volk und seine Dominions, noch das französische Volk einen Krieg führen wollten, um den Anschluß von drei Millionen Deutscher an das Reich zu verhindern, überdies waren beide Völker militärisch nicht genügend gerüstet, auch lehnte Chamberlain aus tiefster Überzeugung jeden Krieg ab: „er gewinnt nichts, heilt nichts, endet nichts"; in einem Privatbrief schrieb Chamberlain: „Ist der Gedanke nicht einfach schrecklich, daß das Schicksal von Hunderten von Millionen Menschen von e i n e m Mann (Hitler) abhängt und der ist halb verrückt (half mad)." Diesen „Halbverrückten" bat Chamberlain am Abend des 14. September um eine Unterredung, am nächsten Tag bestieg der 69jährige zum ersten Male in seinem Leben ein Flugzeug, um Hitler in Berchtesgaden aufzusuchen. Hitler erklärte, er könne das Elend der Sudetendeutschen nicht länger mehr mit ansehen und sei entschlossen, mit Gewalt eine endgültige Lösung herbeizuführen, auch wenn ein Weltkrieg daraus entstünde. Erst als Chamberlain, sichtlich gekränkt über die Ablehnung aller seiner Vorschläge zu weiteren Verhandlungen, fragte, weshalb Hitler ihn zu dieser Besprechung habe herkommen lassen, lenkte dieser ein und versprach abzuwarten, ob es England gelingen werde, eine Lostrennung der sudetendeutschen Gebiete der Tschechoslowakei auf Grund des Selbstbestimmungsrechtes zu erreichen. Chamberlain hoffte für diese Politik die Billigung der englischen Regierung zu erlangen, in einigen Tagen werde er Hitler die Antwort nach Godesberg bringen. Hider glaubte dies nicht und setzte seine Vorbereitungen für die Mobilmachung fort. Am Tage der Berchtesgadener Zusammenkunft erließ Henlein eine Proklamation, die mit den Worten schloß: „Wir wollen als freie deutsche Menschen leben! Wir wollen wieder Friede und Arbeit in unserer Heimat! Wir wollen heim ins Reich! Gott segne uns und unseren gerechten Kampf!" Dann ging Henlein nach Deutschland und gründete dort das „Sudetendeutsdie Freikorps", das an der böhmischen Grenze weitere Zwischenfälle provozierte. Am 18. September einigten sich England und Frankreich in London, auf ein friedliches Nachgeben in Prag zu dringen. Drei Tage später nahm die tschechoslowakische Regierung „unter dem unwiderstehlichen Druck der britischen und der französischen Regierung schmerzerfüllt" die Londoner Vorschläge an. Mit diesem Erfolg kam Chamberlain am 22. September nach Godesberg; aber Hitler, überzeugt, daß die englische und die französische Kriegsdrohung nur Bluff seien, 751

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 wollte auf die Entfaltung der neu aufgebauten deutschen Kriegsmacht nicht verzichten. Polen und Ungarn, dessen Ministerpräsident und Außenminister am 20. September Hitler aufgesucht hatten, verlangten nun für ihre Minderheiten ebenfalls das Selbstbestimmungsrecht, und Hitler, der noch in Berchtesgaden erklärt hatte, das sei nicht seine Sache, erhob jetzt Chamberlain gegenüber die Forderung, die gesamte Minderheitenfrage in der Tschechoslowakei müsse sofort gelöst werden, für die Sudetendeutschen in der Weise, daß deutsche Truppen die Gebiete mit deutschen Minderheiten am 28. September besetzten. Chamberlain war über Hitlers unnachgiebige Haltung aufs tiefste empört, gab aber das Ringen um den Frieden noch nicht auf. Er verlangte ein Memorandum mit genauen Angaben, er wolle es allerdings nur vermitteln, könne aber die Annahme von Hitlers ultimativen Forderungen nicht mehr empfehlen. Hitler verlangte die sofortige Zurückziehung der tschechischen Truppen aus den sudetendeutschen, auf einer beigegebenen Karte näher bezeichneten Gebieten, ihre Ubergabe an Deutschland am 1. Oktober, Entlassung aller Deutschen aus tschechischen Diensten und aller deutschen Gefangenen; die Abstimmung müsse auf Grund des Bevölkerungsstandes vom 28. Oktober 1918, also unter Einschluß aller inzwischen Ausgewanderten erfolgen. Mit diesem Memorandum und der Erklärung Hitlers, das „tschechische Problem sei die letzte territoriale Forderung, die er in Europa noch zu stellen hätte", kehrte Chamberlain nach London zurück. Die Prager Regierung wies Hitlers ultimativ gestellten Forderungen zurück und vollendete ihre Mobilmachung. Frankreich sagte nun die Erfüllung seiner vertraglichen Verpflichtungen bei einem Angriff Deutschlands auf die Tschechoslowakei bestimmt zu, mobilisierte einen Teil seines Heeres und England seine Flotte. Eine Rede Hitlers am 26. September im Sportpalast sollte die Öffentlichkeit für seine Politik gewinnen, denn er hatte mit Mißvergnügen gesehen und gehört, wie begeistert das Volk die Besuche Chamberlains in Berchtesgaden und Godesberg und seine Anstrengungen für die Vermeidung eines Krieges begrüßt hatte. So begann Hitler seine Rede mit der Aufzählung von all dem, was er bisher zur Völkerverständigung unternommen habe: die Abrüstungsangebote, den Vertrag mit Polen, das Flottenabkommen mit England, die Garantie der Grenzen Frankreichs und Italiens durch den Verzicht auf Elsaß-Lothringen und Südtirol, dann seien die sieben Millionen Österreicher ins Reich zurückgekehrt und nun müßten noch die drei Millionen Sudetendeutschen befreit werden. Hitler dankte Chamberlain für seine Bemühungen, aber die Frage der tschechoslowakischen Minderheiten müsse jetzt endgültig gelöst werden: „Ich habe Herrn Benesch ein Angebot gemacht, das nichts anderes ist, als die Realisierung dessen, was er selbst schon zugesichert hat. Er hat jetzt die Entscheidung in seiner Hand! Frieden oder Krieg!" Ähnlich antwortete Hitler auf einen Appell Roosevelts, die Verhandlungen nicht abzubrechen, bis eine friedliche Reglung erreicht sei. An Chamberlain schrieb Hitler am gleichen Tag einen Brief, in dem er erneut beteuerte, daß er nach Erfüllung seiner Forderungen jeden Zugriff auf das tschechische Gebiet ablehne und bereit sei, für den Restbestand der Tschechoslowakei eine förmliche Garantie zu übernehmen. 752

Münchner Abkommen Am 27. September schien der Krieg unvermeidlich. Die zum Widerstand gegen Hitler entschlossenen deutschen Generale hatten die geheime Mobilisierung der Truppen gegen die Tschechoslowakei so eingerichtet, daß sie gegen Hitler vorgehen konnten. Die nicht in die Verschwörung eingeweihten Generale, vor allem Göring und Admiral Raeder, warnten Hitler vor dem Risiko eines Krieges bei dem derzeitigen Stand der Aufrüstung. Die Stimmung der deutschen Bevölkerung wie in den anderen Ländern war sehr gedrückt; niemand verstand, weshalb Hitler auf einen Krieg zusteuerte, nachdem ihm prinzipiell alle Wünsche erfüllt waren und es sich nur noch um die Schnelligkeit ihrer Durchführung handelte. Am Abend dieses Tages hielt Chamberlain eine Rundfunkrede über seine Friedensbemühungen und stellte seinen Hörern eine mögliche Lage vor, in der auch er einen Krieg für notwendig hielte: wenn eine Nation entschlossen sei, durch Furcht vor ihrer Stärke die Welt zu beherrschen. Unter solcher Herrschaft würde das Leben für Menschen, die an Freiheit glauben, nicht mehr lebenswert sein. Tatsächlich sollte sich diese Situation im Laufe des Jahres 1939 entwickeln.

Münchner

Abkommen

Am 28. September 1938 bewahrte das Eingreifen Mussolinis für diesmal noch den Frieden. Chamberlain, Roosevelt und Daladier hatten jeder für sich Botschaften an Mussolini geschickt, weil sie glaubten, er habe den größten Einfluß auf Hitler. Mussolini ging sofort darauf ein. Am Vormittag, als gerade François-Poncet Hitler neue französische Vorschläge unterbreitete, überbrachte Attolico in der Reichskanzlei Mussolinis Bitte, die Entscheidung über die Mobilmachung um 24 Stunden zu verschieben und inzwischen nach einer friedlichen Lösung zu suchen; selbstverständlich stehe Mussolini uneingeschränkt auf der Seite Deutschlands. Diesem Wunsch konnte sich Hitler nicht entziehen; er lud telegraphisch Mussolini, Chamberlain und Daladier zu einer Besprechung am 29. September nach München ein. Im Auswärtigen Amt setzten Weizsäcker, Neurath und Göring einen Kompromißvorschlag als Verhandlungsgrundlage auf, Hitler genehmigte ihn, und Weizsäcker ließ ihn über Attolico an Mussolini weiterleiten, der ihn am folgenden Tag der Konferenz vorlegte. Dadurch wurde verhindert, daß Ribbentrops erheblich schärferer Verhandlungsvorschlag das Gelingen der Konferenz gefährdete. Nach etwa dreizehnstündiger Sitzung erfolgte die Unterzeichnung des „Münchner Abkommens", das den Frieden noch einmal rettete. Da die Abtretung des sudetendeutschen Gebietes bereits anerkannt war, wurden bloß noch bedeutend mildere Bedingungen für die Übernahme der überwiegend deutschen Gebiete durch deutsche Truppen in Etappen vom 1. bis 10. Oktober festgesetzt und zwar unter der Kontrolle einer internationalen Kommission, die dann die Abwicklung der Abstimmung, die Reglung der künftigen Grenzen und der sonstigen Fragen durchführen werde. In einem Zusatzabkommen erklärten sich Frankreich und England bereit, die neuen Grenzen der Tschechoslowakei zu garantieren. 753 48 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939

„Sobald die Frage der polnischen und ungarischen Minderheiten geregelt ist, werden Deutschland und Italien ihrerseits der Tschechoslowakei eine Garantie geben." Chamberlain hatte noch in dieser Nacht eine Unterredung mit Hitler in dessen Privatwohnung. Er legte ihm eine Erklärung vor, die Hitler anscheinend freudig unterzeichnete: das Münchner und das deutsch-englische Flottenabkommen sollen das Symbol dafür sein, daß die beiden Länder nie mehr einen Krieg gegeneinander führen würden, alle strittigen Fragen sollten durch Besprechungen gelöst und so der Friede Europas gesichert werden. Mit großer Erleichterung und Begeisterung nahm die Bevölkerung Deutschlands, Frankreichs und Englands das Münchner Abkommen auf. Chamberlain erhielt 40 000 dankbare Briefe und wurde als Retter des Friedens überschwenglich gefeiert. Die Tätigkeit der internationalen Kommission und die Besetzung der sudetendeutschen Gebiete durch deutsche Truppen ging ganz nach den deutschen Wünschen vonstatten. Jubelnd begrüßte die deutsche Bevölkerung Hitler bei seinem Besuch in Eger und Karlsbad. Konrad Henlein wurde Reichskommissar des Sudetengaus. Die Polen erzwangen durch ein Ultimatum an die Prager Regierung vom 30. September 1938 die Abtretung des Olsagebietes und besetzten es am 2./3. Oktober; vergebens hatte die französische Regierung gewarnt, Polen werde bald selbst das Ziel von Hitlers Eroberungspolitik sein. Die Tschechoslowakei mußte in allem nachgeben. Mit Genehmigung der internationalen Kommission fielen bis zum 24. November ohne Volksabstimmung beträchtliche Gebiete, darunter auch solche mit starkem tschechischem Bevölkerungseinschlag, an Deutschland. In Prag trat Anfang Oktober Präsident Benesch zurück; zu seinem Nachfolger wurde Ende November Dr. Emil Hacha gewählt. Die neu gebildete Regierung suchte durch Entgegenkommen bei dem Bau einer exterritorialen Autobahn nach Österreich sowie eines Verbindungskanals zwischen Oder und Donau Reibungen mit Deutschland zu vermeiden und unterzeichnete am 20. November das Protokoll über die endgültige Festsetzung der Grenzen. Die Befriedigung der ungarischen Forderungen regelte ein deutsch-italienischer Schiedsspruch in Wien am 2. November, nachdem Ungarn und die Tschechoslowakei während des Oktobers vergeblich verhandelt hatten. Hitler triumphierte, daß es ihm gelungen sei, die Westmächte bei dieser Reglung auszuschließen. Künftig beanspruchte er Südosteuropa als seine Domäne. Schon Anfang Oktober hatte die Prager Regierung der Karpatho-Ukraine und der Slowakei eigne Regierungen zubilligen müssen, um wenigstens den Restbestand des Staates zusammenhalten zu können. Bald wünschte Frankreich mit Deutschland ein ähnliches Abkommen zu treffen wie das zwischen Chamberlain und Hitler in München. Hitler ging bereitwillig darauf ein. So kam die deutsch-französische Erklärung vom 6. Dezember 1938 zustande: beide Staaten versprachen sich friedliche und gut-nachbarliche Beziehungen, Anerkennung der bestehenden Grenzen und Beratung bei internationalen Schwierigkeiten. Frankreich Schloß diesen Pakt, obwohl das nationalsozialistische Deutschland während der Verhandlungen durch die „Kristall754

Münchner Abkommen nacht" (S. 757) einen neuen Sturm der Entrüstung im Ausland hervorgerufen hatte. Aber nicht überall war man von der Zweckmäßigkeit dieser durch Chamberlain eingeschlagenen Politik überzeugt — viele hielten sie für einen Irrweg und fürchteten, die Münchner Verhandlungen würden keinen dauernden Frieden bringen, sondern das kommende Unheil nur hinausschieben. Bald nach dem Münchner Abkommen setzte deshalb mehr oder minder offene Kritik an der englischen und französischen „Politik der Beschwiditigung" (appeasement) ein. Der Erste Lord der Admiralität, Duff Cooper, trat von seinem Amt zurück mit der Begründung: „Der Premierminister versprach sich etwas davon, Hitler in der Sprache sanfter Vernunft anzusprechen. Ich war überzeugt, daß er für die Sprache der gepanzerten Faust zugänglicher wäre. Der Premierminister setzt Vertrauen in Hitlers guten Willen und in sein Wort, obwohl Hitler, als er den Vertrag von Versailles brach, den Vertrag von Locarno zu halten versprach, und als er dann den Vertrag von Locarno brach, von weiteren Ubergriffen abzusehen und keine weiteren Ansprüche in Europa zu stellen versprach. Als er mit Gewalt in Österreich eindrang, autorisierte er seine Anhänger, eine gültige Zusicherung abzugeben, daß er die Tschechoslowakei nicht behelligen werde. Das war erst vor sechs Monaten. Aber immer noch glaubt der Premierminister, daß er sich auf Hitlers guten Willen verlassen könne." Churchill hatte schon vor Godesberg am 21. September in einem Artikel geschrieben: „Die Zerstückelung der Tschechoslowakei unter dem von England und Frankreich ausgeübten Druck bedeutet die vollständige Kapitulation der Demokratien des Westens vor den nazistischen Gewaltdrohungen . . . Die Ansicht, daß Sicherheit gewonnen werden könne, wenn man den Wölfen einen Kleinstaat in den Rachen wirft, ist ein verhängnisvoller Irrtum." Churchills Kritik richtete sich auch gegen die völlige Nichtbeachtung der Hilfsangebote Rußlands: „Man warf die Macht der Sowjets nicht in die Waagschale gegen Hitler und behandelte die Russen mit einer Gleichgültigkeit — um nicht zu sagen Verachtung —, die in Stalins Gesinnung ihre Spuren zurückließ . . . dafür mußten wir später teuer bezahlen." Stimmen wie diese verstärkten sich später noch, nachdem München sich vor aller Augen als ein Fehlschlag erwiesen hatte. Ganz vergebens waren indes Chamberlains Anstrengungen nicht gewesen; die westlichen Demokratien gewannen ein Jahr Zeit für ihre Aufrüstung, die sie bisher, in der Hoffnung auf eine allgemeine Abrüstung, nur lässig betrieben hatten. Schließlich war durch München offenbar, daß die Mächte wirklich alles versucht hatten, um den Nationalsozialismus nach Erfüllung seiner ja bis zu einem gewissen Grad berechtigten außenpolitischen Wünsche in die Bahn ruhiger Entwicklung zu lenken. Ohne diesen Versuch hätten sich die Völker des Westens kaum so unbedingt und opferbereit zur Abwehr der nationalsozialistischen Tyrannei hinter ihre Regierungen gestellt. Die Ergebnisse des Münchner Abkommens bilden den Höhepunkt von Hitlers Laufbahn. Im Herbst 1938 hatte Hitler seine wichtigsten Versprechungen eingelöst: der Vertrag von Versailles war zerrissen, Großdeutschland geschaffen und die nationalsozialistische Herrschaft im ganzen Volke gefestigt. Wäre Hitler 755 48·

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 wirklich der große Staatsmann gewesen, für den er sich ausgab, und der große Deutsche, dem es nur um sein Volk ging, dann hätte er jetzt haltgemacht, das Erreichte ausgebaut und auf sicheren Grund gestellt. Aber das Erreichte war ihm ja nicht Ziel, sondern nur die Voraussetzung für die Verwirklichung seiner phantastischen Ideologie von der im Deutschtum verkörperten Herrenrasse, die angemessenen Lebensraum brauche und zur Weltherrschaft berufen sei.

Deutschland nach München Am tiefsten traf die „Kapitulation" von München die deutschen Widerstandsgruppen. Wieder hatte Hitler recht behalten. Ohne einen Schwertstreich bekam er alles, was er wollte. Seine Methode schien die einzig richtige und erfolgreiche zu sein. Das „Genie", die „Intuition" des Führers hatten über alle Bedenken der Diplomaten, Wirtschaftler und militärischen Fachleute triumphiert. Goerdeler schrieb einem amerikanischen Politiker: „Das Münchner Abkommen war nichts anderes als eine glatte Kapitulation Frankreichs und Englands vor aufgeblasenen Gaukelspielern . . . Das Ende der Leidenszeit des deutschen Volkes unter brutaler Tyrannei und mittelalterlichen Methoden ist weit hinausgeschoben worden . . . Indem Chamberlain vor dem Risiko zurüdcscheute, hat er einen Krieg unvermeidbar gemacht. Das englische wie das französische Volk werden nun ihre Freiheit mit den Waffen zu verteidigen haben." Die Angst vor der Katastrophe, in der das alles enden mußte, steigerte sich noch in den Kreisen der deutschen Opposition nach Hitlers Erfolgen, aber ein Ansatz zum Eingreifen ergab sich für die Widerstandsgruppen nicht wieder. Auch Hitler war — auf eine andere Weise — über die Münchner Konferenz vom 29. September nicht froh; die Einmischung der Großmächte hatte seine Pläne gestört, die Ovationen der deutschen Bevölkerung für Chamberlain und Daladier hatten ihn verärgert, worauf er die Parteistellen und die Presse anwies, diese „unheroische" Friedensliebe zu bekämpfen und das deutsche Volk „kriegsfreudig" zu stimmen. Bei der Einweihung des Gautheaters in Saarbrücken am 9. Oktober 1938 feierte Hitler in einer Rede die Heimkehr der zehn Millionen Deutschen ins Reich. Er bezweifelte nicht Chamberlains Friedensliebe, doch warnte er, daß an dessen Stelle jederzeit Männer wie Duff Cooper oder Churchill treten könnten. Im Hintergrund laure aber drohend „jener jüdisch-internationale Feind, der im Bolschewismus seine staatliche Fundierung und Ausprägung erfahren hat . . . Das verpflichtet uns wachsam und auf des Reiches Schutz bedacht zu sein . . . Wir wollen nichts als den Frieden. Nur eines wünschen wir, und das gilt besonders für unsere Beziehungen zu England: es würde gut sein, wenn man in Großbritannien allmählich gewisse Allüren der Versailler Epoche ablegen würde. Gouvernantenhafte Bevormundung vertragen wir nicht mehr". Pausenlos hämmerte die Goebbelssche Propaganda den Massen ein, sie wären nun durch Hitler ein gesundes, kraftvolles, angesehenes Volk geworden, mit einer blühenden Wirtschaft. Jede Kritik wurde gewaltsam unterbunden. Nur

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.Kristallnacht" gerüchtweise erfuhr die Bevölkerung von den Schrecken der Konzentrationslager und von der völligen Zerrüttung der Staatsfinanzen, deren Verschuldung bei der sinnlosen Verschwendung des aufgeblähten Partei- und Staatsapparates, der übersteigerten Aufrüstung, der ohne Rücksicht auf Rentabilität errichteten Prachtbauten immer stärker anwuchs. Die Zahlungsfähigkeit konnte nur mehr durch Drucken von Geldscheinen wenigstens äußerlich aufrechterhalten werden. Niemand wußte genau, was an den Gerüchten Wahres sei. Die Erfolge sprachen jedenfalls für Hitler, viele durchaus rechtlich Gesinnte ließen sich davon blenden und bemühten sich, über die „Schönheitsfehler", die „Kinderkrankheiten" der Bewegung hinwegzusehen. Nicht wenige suchten sich ohne innere und, soweit das möglich war, auch ohne äußere Stellungnahme durchzuschlängeln. Hitler fand auch im Ausland zahlreiche Bewunderer, zu denen unter anderen auch Lloyd George gehörte.

Die

„Kristallnadit"

Am 7. November verwundete in Paris ein polnischer Jude, der seine Rassegenossen rächen wollte, den jungen, durchaus nicht antisemitisch eingestellten Legationssekretär Emst vom Rath durch Revolverschüsse schwer. Goebbels benützte das Attentat, um in der Nacht vom 9. zum 10. November nach dem Eintreffen der Nachricht vom Tode Raths wüste antisemitische Demonstrationen zu inszenieren, die Millionenschäden an Synagogen, Geschäften und Wohnungen verursachten und eine Unmenge Juden durch Mißhandlungen, Inhaftierungen und Entziehung der Existenz in namenloses Elend stürzten. Am 12. November erließ Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan Verordnungen gegen die Juden wie: ab 1. Januar 1939 sei ihnen der Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen sowie der selbständige Betrieb eines Handwerks untersagt; weiterhin mußten sie die angerichteten Schäden beseitigen und bezahlen, endlich wurde ihnen die Buße von einer Milliarde Reichsmark auferlegt. Die Mehrheit des deutschen Volkes hatte sich an dem Pogrom nicht beteiligt und war ehrlich empört, aber unter dem Druck der Gestapo machtlos. Einer der wenigen, die ihren Abscheu offen auszusprechen wagten, war Reichsbankpräsident Schacht; bei einer Weihnachtsfeier für die jungen Büroburschen der Reichsbank sagte er in Anwesenheit der Eltern und hoher Parteifunktionäre: „Hoffentlich ist niemand von Euch dabei beteiligt gewesen, sonst würde ich ihm raten, schleunigst aus der Reichsbank auszuscheiden. Für Leute, die Leben und Eigentum ihrer Mitmenschen nicht achten, ist bei uns kein Platz." Im Ausland, besonders in England und Amerika, schadeten die „Reichskristallnacht", wie das Pogrom wegen der vielen zerschlagenen Scheiben genannt wurde, und die verschärfte Judenverfolgung dem Ansehen Deutschlands schwer.

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Drittes Reith — Expansionspolitik bis 1939 TSCHECHOSLOWAKEI Besetzung der Tschechen und des Memelgebietes Am 21. Oktober 1938, drei Wochen nach seiner Beteuerung, er werde keine weiteren Forderungen auf europäisches Gebiet mehr stellen, gab Hitler der Wehrmacht die geheime Weisung, sidi bereit zu halten für die „Erledigung der RestTschediei" und für die Inbesitznahme des Memellandes bei gleichzeitiger Grenzsicherung im Westen. Wieder sollte, wie aus einem Nachtrag zu der Weisung hervorgeht, es sich nach außen hin „nur um eine Befriedungsaktion und nicht um eine kriegerische Unternehmung" handeln. Hitler wandte auch hier seine in Österreich und dem Sudetenland bewährte Methode an: einerseits beklagte sich die deutsche Regierung über die unfreundliche Haltung der tschechischen Presse, Benachteiligung von Volksdeutschen, Nichteinhaltung von Versprechungen der tschechischen Regierung, andererseits verstärkte Hitler die Fühlungnahme mit den slowakischen Autonomisten und trieb sie zur Widersetzlichkeit gegen Prag an. Am 21. Januar 1939 hatte der tschechoslowakische Außenminister Chvalkovsky in Berlin lange Unterredungen mit Ribbentrop und Hitler, wobei Chvalkovsky alles versprach, um die Beziehungen seines Landes zu Deutschland besser zu gestalten. Am 17. Februar bot er über den deutschen Gesandten in Prag die Aufgabe des ganzen bisherigen Bündnissystems seines Landes an, vor allem der Pakte mit Frankreich und der Sowjetunion, wenn Deutschland die jetzigen Grenzen der Tschechoslowakei garantiere. Auch Frankreich und England forderten im Februar von Deutschland die Einlösung des Garantieversprechens, aber Hitler antwortete, die innerstaatliche Entwicklung der Tschechoslowakei sei noch zu ungeklärt und sprach offen aus, die Gesamtentwicklung in diesem europäischen Raum fiele „in erster Linie in die Sphäre der wichtigsten Interessen des Deutschen Reiches, und zwar nicht nur historisch gesehen, sondern auch geographisch und vor allem wirtschaftlich bedingt". Ungarn ließ weder seine Ansprüche auf die Slowakei noch auf die Karpatho-Ukraine fallen. In der Slowakei war die Meinung geteilt: die einen wünschten die Autonomie von Hitlers Gnaden, die anderen hielten die Verbindung mit Prag für das kleinere Übel. Hitler hatte den Einmarsch für Mitte März angesetzt; so häuften sich in der deutschen Presse die Greuelmeldungen von wirtschaftlicher Schädigung und Mißhandlung Volksdeutscher in der Tschechei. Die slowakische Regierung unter Ministerpräsident Monsignore Josef Tiso hatte auf Hitlers Weisung die Prager Regierung so gereizt, daß sie sich am 10. März zu gewaltsamem Vorgehen gegen die slowakischen Autonomisten hinreißen ließ, eine neue slowakische Regierung einsetzte und mit tschechischen Truppen Ordnung zu schaffen suchte. Staatssekretär Keppler, der zur Leitung des Aufstandes nach Preßburg entsandt worden war, meldete am 12. März, die Lage sei „verkorkst". Hitler ließ den abgesetzten Tiso nach Berlin kommen und zwang ihn mit der Drohung, widrigenfalls die Slowaken an Ungarn auszuliefern, am folgenden Tag im Landtag die Unabhängigkeit der 758

Besetzung der Tschedlei und des Memelgebietes Slowakei zu erklären. Das mit Keppler verabredete Telegramm, in dem die selbständige Slowakei Deutschland um Schutz und Hilfe bat, sandte Tiso allerdings vorerst nicht ab. Die Ungarn besetzten nach einem Ultimatum an die Prager Regierung am 14. März die Karpatho-Ukraine unter dem Vorwand, die dort ansässigen ungarischen Volksgruppen gegen tschechische Ubergriffe schützen zu müssen. Am gleichen Tage ließ der tschechische Staatspräsident Hacha Hitler um eine Unterredung bitten. Sie fand in Anwesenheit von Chvalkovsky, Göring, Ribbentrop und Keitel während der Nacht zum 15. März in der Reichskanzlei statt. Hacha begann: die Autonomie der Slowakei und der Karpatho-Ukraine sei Tatsache, die Tschechei bedürfe nun der engen Zusammenarbeit mit Deutschland und seines Schutzes. Hitler antwortete mit Vorwürfen über die illoyale Durchführung des Münchner Abkommens, die schlechte Behandlung der Volksdeutschen und die in der Tschechei nicht herabgesetzte Heeresstärke. Er habe deshalb „den Befehl gegeben zum Einmarsch der deutschen Truppen und zur Eingliederung der Tschechoslowakei in das Deutsche Reich". Er wolle der Tschechoslowakei „die vollste Autonomie und ein Eigenleben geben, mehr als sie es je in der österreichischen Zeit genossen" habe. Hacha müsse sich sofort entscheiden, ob das tschechische Heer den weit überlegenen deutschen Truppen Widerstand leisten wolle oder nicht. Die nun folgenden Szenen, bei denen Hitler selbst nicht mehr zugegen war, bis zur Unterzeichnung der Hacha vorgelegten Erklärung wurden von der deutschen Berichterstattung völlig übergangen, von der gegnerischen Seite sehr dramatisch geschildert. Sicher ist, daß Hacha sich bis zum äußersten wehrte, das Todesurteil seines Landes zu unterschreiben, und daß Ribbentrop und Göring ihn unter massiven Drohungen — etwa, daß Prag durch Luftangriffe völlig zerstört werde — dazu zwangen. Um diese Zeit hatten deutsche Truppen bereits das wichtige Industriegebiet von Mährisch-Ostrau besetzt. In der ihm abgepreßten Erklärung legte Hacha „das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers", der „das tschechische Volk unter den Schutz des Deutschen Reiches nehmen und ihm eine seiner Eigenart gemäße autonome Entwicklung seines völkischen Lebens gewährleisten wird". Die Besetzung der Tsdiechei vollzog sich am 15. März 1939 ohne nennenswerten Widerstand. Hitler traf schon diesen Abend auf der alten Kaiserburg Prags, dem Hradschin, ein, am folgenden Tag erschien der Erlaß über die Errichtung des „Protektorats Böhmen und Mähren", es gehörte fortan zum Gebiet des Großdeutschen Reiches, die Volksdeutschen Bewohner erhielten deutsche Staatsangehörigkeit, die tschechischen eine eigene, autonome Verwaltung, ein von Hitler ernannter „Reichsprotektor in Böhmen und Mähren" hatte die Reichsinteressen zu wahren; am 18. März übernahm Neurath dieses Amt. Trotz der mildernden Worte von Protektorat und Autonomie war nun die Tschechei dem Deutschen Reich tatsächlich einverleibt. Damit hatte Hitler nicht nur alle feierlich gegebenen Zusagen erneut gebrochen, sondern auch das völkische Ideal, dem folgend er nur die durch den Versailler Vertrag vom Mutterland abgetrennten Deutschen wieder in einem Reich habe vereinen wollen, fallen gelassen. 759

Drittes Reidi — Expansionspolitik bis 1939 Am 20. März forderte Ribbentrop von Litauen die Rüdegabe des Memelgebietes an Deutschland. Litauen gab sofort nach; am 22. März wurde der Vertrag unterzeichnet, einen Tag später rückten die deutschen Truppen in das zurückgegebene Gebiet ein. Hitler, der auf dem Seewege dorthin gekommen war, hielt in Memel, von der Bevölkerung jubelnd begrüßt, eine Rede. Mussolini sah die Eingliederung der Tschechei in Deutschland ungern, wieder war er nur ungenau über Hitlers Pläne unterrichtet worden. Prinz Philipp von Hessen überbrachte am 15. März die Nachricht von der vollendeten Tatsache, die Mussolini offiziell als die „logische und selbstverständliche Lösung der Frage" anerkannte. Außenminister Ciano aber schrieb in sein Tagebuch über die von Hitler angegebenen Gründe: „Diese Vorwände taugen vielleicht für die Propaganda von Goebbels, wenn man aber mit uns spricht, sollte man uns solches Geschwätz ersparen." Mussolini beunruhigte der Einfluß Deutschlands auf dem Balkan. Am 23. März war nicht nur der deutsche Schutzvertrag mit der Slowakei, sondern auch ein deutsch-rumänischer Wirtschaftsvertrag abgeschlossen worden, der Deutschland weitgehenden Einfluß auf die rumänische Wirtschaft sicherte. Mussolinis fernere Pläne banden ihn jedoch an Hider. Die italienische Öffentlichkeit forderte Nizza, Korsika, Tunis und Dschibuti von den Franzosen. Um den Eingang zur Adria für Italien zu sichern, besetzten italienische Truppen am 7. April 1939 Albanien; König Zogu mußte abdanken, Albanien wurde durch Personalunion mit der italienischen Krone vereinigt.

Abkehr Englands und Frankreichs von der

Beschwichtigungs-Politik

England und Frankreich nahmen die neuen Gewaltakte Hiüers anscheinend verhältnismäßig ruhig hin. Beider Proteste wies Hitler mit der Begründung zurück, der tschechische Staatspräsident habe selber um den Schutz des Reiches gebeten, und im übrigen könne das Ausland nur dankbar sein, daß Deutschland die ungeheure Menge tschechoslowakischen Kriegsmaterials unschädlich gemacht habe, ehe es zu einer kriegerischen Explosion gekommen sei. Abermals fühlte Hitler, einen leichten Sieg errungen und einen weiteren Schritt getan zu haben auf sein Ziel hin: die Erweiterung des deutschen Lebensraumes nach Osten; die dekadenten, schwächlichen Demokratien würden ihn auch in Zukunft nicht hindern. Dies aber war eine Täuschung: Regierung und Parlament in Frankreich wie in England stimmten darin überein, daß nun zu guter Letzt der nationalsozialistische Imperialismus die Maske habe fallen lassen. Beide Länder müßten deshalb ihre Aufrüstung beschleunigen, ihre Bündnisse verstärken und unzweideutig zu erkennen geben, daß sie sich jedem neuen deutschen Angriff mit Gewalt widersetzen würden. Chamberlain bedauerte in seiner Birminghamer Rede vom 17. März den Fehlschlag des Münchner Abkommens und rückte offen von der Politik der Befriedung ab. Niemand solle glauben, daß sich England, falls man es dazu herausfordere, nicht bis zum letzten einer Beherrschung durch Gewalt widersetzen würde. Befriedigt stellte Churchill fest, daß Chamberlain „von einem Tag auf 760

Das Problem Danzig-Polen den anderen seiner Vergangenheit den Rücken drehte". Tatsächlich war in Frankreich und vor allem in England mit der Besetzung der Tschechei ein völliger Umschwung eingetreten, eine Wendung, die den Krieg unvermeidlich machen mußte, wenn Hitler sich nicht entschloß, von nun an seine Gewaltpolitik aufzugeben.

DANZIG UND DER BEGINN DES POLENKRIEGES Das Problem

Danzig—Polen

Allgemein erwartete man, daß Hitlers nächster Schritt der Lösung der DanzigPolen-Frage gelten werde. Schon im Oktober 1938 hatte Ribbentrop durch den polnischen Botschafter in Berlin, Lipski, der Warschauer Regierung ein Abkommen vorschlagen lassen: Danzig solle ins Reich zurückkehren, Deutschland eine exterritoriale Eisenbahn und Autostraße durch den Korridor erhalten; dafür würde es die deutsch-polnischen Grenzen garantieren, Polen würde einen Freihafen mit freiem Zugang bekommen und seine wirtschaftlichen Rechte in Danzig behalten. Polen antwortete ablehnend, da es grundsätzlich jede Diskussion über sein Territorium verweigerte und auch voraussah, Deutschland werde sich mit dem einmal Zugestandenen nicht begnügen. Hitler ließ die Angelegenheit vorerst auf sich beruhen, weil er damals erst die Tschechoslowakei erledigen wollte. Dabei ermunterte er Polen zum Zugriff auf das Olsagebiet und kam Polen auch in der Frage der Karpatho-Ukraine entgegen, die Ungarn überlassen wurde; eine selbständige Karpatho-Ukraine wäre Polen im Hinblick auf die innerhalb seiner Grenzen wohnenden und nach Selbständigkeit strebenden Ukrainer unerwünscht gewesen. Sofort nach der Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren erneuerte Ribbentrop Ende März die deutschen Forderungen und erfuhr die gleiche Ablehnung. Polen war wohl zu einigem Entgegenkommen bereit, verweigerte aber seine Zustimmung zur Änderung des freistaatlichen Charakters von Danzig und zur Schaffung von exterritorialen Verkehrswegen durch den polnischen Korridor. Schon bei diesen Unterredungen scheinen von beiden Seiten Kriegsdrohungen gefallen zu sein. Der deutsche Generalstab hatte auf Hitlers Befehl vom 3. April neben den Plänen für die Besetzung Danzigs und für die Grenzsicherung gegen Polen auch den „Fall Weiß", den Angriffskrieg gegen Polen, ausgearbeitet; ab 1. September 1939 sollte für dessen Durchführung alles bereit sein. Eine Weisung Hitlers vom 11. April sah als diplomatisches Ziel die Isolierung Polens vor, als militärisches „den Krieg mit überraschenden, starken Schlägen zu eröffnen und zu schnellen Erfolgen zu führen". In Danzig waren die Polizei, die SA und SS-Verbände verstärkt und unter Umgehung der polnischen Zollkontrolle mit geschmuggelten Waffen ausgerüstet worden. Wie die deutschen Zeitungen vor dem Eingreifen Hitlers in Österreich, 761

Drittes Reidi — Expansionspolitik bis 1939 im Sudetengau und in der Rest-Tschechei Greuelmeldungen über Ausschreitungen gegen die Deutschen dieser Gebiete brachten, so berichteten sie auch jetzt von solchen Ausschreitungen in Polen; und wieder erklärte Hitler, er könne diese Zustände nicht dulden, er müsse die deutsche Minderheit schützen. Sicher trug auch Polen einen großen Teil der Schuld an den Zwischenfällen. Seit 1918 hatten sich Danzig und die Deutschen in Polen oft gegen polnische Übergriffe wehren müssen, und Deutschland hatte beim Völkerbund in Genf manches zum Schutz der deutschen Minderheit durchsetzen können. Nach Deutschlands Austritt aus dem Völkerbund indessen und nach dem deutsch-polnischen Vertrag von 1934 verstärkte Polen seine Polonisierungsbestrebungen, ohne daß die deutsche Regierung viel dagegen unternahm, weil Hitler das verhältnismäßig erträgliche Einvernehmen mit Polen für sein Vorgehen in der österreichischen und tschechischen Frage brauchte. Je gespannter aber die Lage im Sommer 1939 wurde, desto schärfer prallten Deutsche und Polen aufeinander. Die vom Reich geförderten Nationalsozialisten unter dem Gauleiter Forster hatten schon seit Jahren das Übergewicht in Danzig gewonnen. Am 23. April wurde durch Verordnung des Senats Forster Staatsoberhaupt der Freien Stadt Danzig.

Die Bündnisse gegen Deutschland Das Ausland glaubte den Berichten über die Terrorisierung der deutschen Minderheiten in Polen nicht mehr und sah darin nur mehr das Anzeichen von Hitlers Angriffsabsichten, im Einklang mit dem sorgfältig unter allerlei Vorwänden getarnten Aufmarsch der deutschen Truppen an den polnischen Grenzen. Die französische und die englische Regierung haben während des Sommers jede Gelegenheit genützt, um in ihren Reden und durch ihre Botschafter in Berlin Hitler keinen Zweifel zu lassen, daß sie jedes gewaltsame Vorgehen Deutschlands gegen Polen mit Krieg beantworten würden. Zuweilen wurde Hitler bei solchen Äußerungen der ausländischen Staatsmänner schwankend, im ganzen blieb er aber fest entschlosssen, sich durch niemand und nichts an der Erledigung des Problems Danzig und Polnischer Korridor hindern zu lassen. Besonders Chamberlains nachdrückliche Stellungnahme für Polen stärkte dessen Haltung bedeutend. Am 31. März teilte er dem Unterhaus mit, seine Regierung werde der polnischen Regierung sogleich alle in ihrer Macht stehende Unterstützung gewähren, falls Polens Unabhängigkeit so bedroht werde, daß es zu den Waffen greifen müsse; die französische Regierung habe ihn ermächtigt zu erklären, daß sie in dieser Angelegenheit die gleiche Haltung einnehmen werde. Die Dominien seien in vollem Umfang auf dem laufenden gehalten. Anfang April 1939 fuhr der polnische Außenminister Bede nach London und erweiterte die englische Garantie zu einem gegenseitigen Beistandspakt, wie er zwischen Polen und Frankreich schon bestand. Die englische und die französische Regierung versprachen am 13. April 1939 ihre volle Unterstützung für Griechenland und Rumänien, falls deren Unabhängigkeit bedroht würde. Am 12. Mai tauschten England 762

Roosevelts Botschaft 1939 und Hitlers Antwort und die Türkei, am 23. Juni Frankreich und die Türkei Beistandserklärungen aus. Dagegen scheiterte der Versuch eines Bündnisses Englands und Frankreichs mit der Sowjetunion, mit dem eine Garantie aller möglicherweise von Hitler bedrohten Staaten verbunden sein sollte. Die Verhandlungen zogen sich durch den ganzen Sommer hin, bis sie, kurz vor dem scheinbaren Gelingen, durch die Verkündung des deutsch-russischen Nichtangriffspaktes plötzlich beendet wurden (S. 768).

Roosevelts Botschaft und Hitlers Antwort Am 15. April richtete Präsident Roosevelt an Hitler und Mussolini eine Botschaft: die ganze Welt leide unter der Furcht vor einem Kriege, die Vereinigten Staaten, die außerhalb der von neuen Angriffen bedrohten Brennpunkte stehen, seien bereit, sich für die Lösung aller strittigen Fragen durch friedliche Verhandlungen, für Abrüstung und die Erschließung internationaler Handelswege einzusetzen, wenn Hitler und Mussolini auf zehn Jahre die Zusicherung geben, 31 namentlich aufgeführte Groß- und Kleinstaaten von Finnland bis zum Iran nicht anzugreifen. Hitler empfand diese Botschaft als Beleidigung. Er antwortete darauf am 28. April mit einer seiner langen Reden im Reichstag, den er eigens zu diesem Zweck hatte einberufen lassen. Mit bedenkenloser Demagogie mischte Hitler Wahres, Halbwahres und Falsches; alles, was ihn oder sein Regime irgendwie belasten konnte, überging er, mit Hohn und Spott wies er Roosevelt darauf hin, in welchem Umfang die Demokratien seit 1918 Kriege geführt und Länder vergewaltigt hätten; besonders diente Palästina, wo die Engländer gegen den erbitterten Widerstand der Araber für die Juden eine Heimstatt zu schaffen versuchten, Hitler immer wieder als Beispiel. Dagegen habe er nur das Unrecht von Versailles wiedergutgemacht, wie er offen von Anfang an verkündigt habe. Der Verzicht auf Elsaß-Lothringen zeige, wie maßvoll er dabei vorgegangen sei; die Deutschen Österreichs, des Memellandes und der Tschechei habe er ohne jeden Krieg heim ins großdeutsche Reich geführt. Nun aber mobilisiere Polen seine Truppen, nachdem es den „wahrhaft einmaligen Kompromiß", den er zur Lösung der für beide Länder lebenswichtigen Fragen angeboten habe, abgelehnt und mit anderen Ländern Bündnisverträge geschlossen habe. Damit sei das deutsch-polnische Abkommen von 1934 verletzt, und Deutschland sehe es als nicht mehr bestehend an. Ebenso habe er England den Flottenvertrag von 1935 gekündigt, denn alle deutschen Bemühungen, mit England in ein freundschaftliches Verhältnis zu kommen, beantworte die britische Regierung jetzt mit einer feindseligen Einkreisungspolitik, die nur dem Wunsch der Demokratien nach einem Krieg entspringe, während er und das ganze deutsche Volk, das noch an den Wunden des letzten Krieges leide, nichts wollten als „der Gerechtigkeit, der Wohlfahrt, dem Fortschritt und dem Frieden der ganzen menschlichen Gemeinschaft" dienen. Hitlers Anklage war nicht ohne Geschick auf die Mentalität des deutschen Volkes abgestellt. Seit dem ersten Weltkrieg war das Wort „Einkreisung" der Schrecken 763

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 Deutschlands und der Ansporn, sich dagegen zu schützen; mit diesem Schlagwort stärkte er den „Wehrwillen" und konnte mit wirkungsvoll gelenkter Propaganda bei vielen der von ausländischen Nachrichten fast ganz abgeschnittenen Deutschen den Eindruck erwecken, der kommende Krieg werde ein Abwehrkrieg gegen die böswilligen Versuche Englands sein, Deutschlands Lebensrecht zu schmälern. Hitler ließ Polen und England Memoranden mit der offiziellen Kündigung der Verträge überreichen. Beide Länder wiesen die Beschuldigung, die Verträge verletzt zu haben, zurück; die neuerdings geschlossenen Bündnisse seien rein defensiv und England wie Polen jederzeit zu Verhandlungen bereit. Roosevelt erhielt als Antwort auf seinen Brief vom 15. April den Wortlaut der Rede Hitlers vom 28. April, in welcher allen Nachbarstaaten Nichtangriffsbündnisse, soweit sie nicht schon bestanden, angeboten waren. Schweden, Norwegen und Finnland erklärten, sie fühlten sich nicht bedroht und wollten ihre strikte Neutralität aufrechterhalten. Mit Dänemark (31. Mai), mit Estland und Lettland (7. Juni) wurden Nichtangriffspakte abgeschlossen, mit Litauen war das Versprechen des Nichtangriffs schon bei der Übergabe des Memelgebietes vereinbart worden. Auf dem Balkan kam Hitler nicht weiter: Rumänien nahm die englisch-französische Garantieerklärung an. Die Besuche des Prinzregenten Paul von Jugoslawien (1. bis 5. Juni) in Berlin und des belgischen Ministerpräsidenten (5. bis 7. Juli) in Berlin verliefen sehr feierlich und freundschaftlich, ohne daß irgendwelche Abmachungen getroffen wurden. Ein über den Antikominternpakt hinausgehendes, festeres Abkommen mit Japan konnte die deutsche Diplomatie nicht erreichen.

Bündnis mit Italien Dagegen führten die Anfang Mai mit Italien begonnenen Verhandlungen am 22. Mai zur Unterzeichnung des „Freundschafts- und Bündnispaktes", Deutschland und Italien sagten sich gemeinsame Beratungen zu und im Konfliktsfalle volle diplomatische und militärische Unterstützung; sollte es zu einem gemeinsamen Krieg kommen, würden sie nur im Einverständnis miteinander Waffenstillstand und Frieden schließen. Zugleich willigte Hitler in die Aussiedlung der Deutschen aus Südtirol ein. Die hochtönenden Sätze der Einleitung des Paktes über die „innere Verwandtschaft ihrer Weltanschauung und die umfassende Solidarität ihrer Interessen" sowie die schwungvollen Reden, mit denen der Abschluß dieses „Stahlpaktes" gefeiert wurde, täuschten, denn beide Partner mißtrauten sich. Mussolini ließ sich in die antichristliche und antijüdische Politik Hiders nicht ein. Immer wieder wünschte Mussolini, daß Deutschland den Verzicht auf Südtirol und die Anerkennung des Balkans und des Mittelmeeres als italienisches Interessengebiet erneut bestätige. Dauernd schwankte er, ob eine Verständigung mit England nicht von größerem Vorteil für Italien wäre. Erst der Ärger über Englands Garantieerklärimg an Griechenland und das Abkommen mit der Türkei, beides offensichtlich gegen italienische Ausdehnungsbestrebungen gerichtet, bestimmten Mussolini zum Abschluß des von ihm so lange abgelehnten deutsch-

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Lagebesprechung vom 23. Mai 1939 italienischen Paktes. Schon während der Verhandlungen hatte er Hitler erklären lassen, Italien könne nicht vor 1943 Krieg führen; in einem Memorandum vom 30. Mai begründete er ausführlich die Notwendigkeit einer dreijährigen Friedenszeit; dann erst sei Italien für den unvermeidlichen Krieg gegen die „plutokratischen und deshalb selbstsüchtig konservativen Nationen" bereit. Hitler schätzte Italien nicht hoch ein, glaubte aber, es so fest an seine Politik gebunden zu haben, daß er es jederzeit mitreißen werde.

Die Lagebesprechung vom 23. Mai Einen Tag nach der Unterzeichnung des Stahlpaktes, am 23. Mai, hielt Hitler eine Lagebesprechung mit den obersten Führern der Wehrmacht ab. Im Protokoll heißt es: „Danzig ist nicht das Objekt, um das es geht. Es handelt sich für uns um Arrondierung des Lebensraumes im Osten und Sicherung der Ernährung. Aufrollen des Ostsee- und Baltikumproblems. Lebensmittelversorgung nur von dort möglich, wo geringe Besiedlung . . . Auseinandersetzung mit Polen — beginnend mit Angriff auf Polen — ist nur dann von Erfolg, wenn der Westen aus dem Spiel bleibt. Ist das nicht möglich, dann ist es besser, den Westen anzufallen und dabei Polen zu erledigen. Es ist Sache geschickter Politik, Polen zu isolieren . . . Es ist nicht ausgeschlossen, daß Rußland sich an der Zertrümmerung Polens desinteressiert zeigt . . . England sieht in unserer Entwicklung die Fundierung einer Hegemoniemacht, die England entkräften würde. England ist daher unser Feind und die Auseinandersetzung mit England geht auf Leben und Tod . . . Der Besitz des Ruhrgebietes entscheidet die Dauer unseres Widerstandes. Die holländischen und belgischen Luftstützpunkte müssen militärisch besetzt werden. Auf Neutralitätserklärungen kann nichts gegeben werden . . . (Bei einem Kampf gegen England und Frankreich) handelt es sich nicht mehr um Recht oder Unrecht, sondern um Sein oder Nichtsein von 80 Millionen Menschen . . . Das Heer hat die Positionen in Besitz zu nehmen, die für Flotte und Luftwaffe wichtig sind. Gelingt es, Holland und Belgien zu besetzen und zu sichern sowie Frankreich zu schlagen, dann ist die Basis für einen erfolgreichen Krieg gegen England geschaffen . . . Die Geheimhaltung ist die entscheidende Voraussetzung für den Erfolg. Auch Italien oder Japan gegenüber muß die Zielsetzung geheim bleiben." Hiüer war also zu diesem Zeitpunkt bereit, auch einen Krieg mit den Westmächten in Kauf zu nehmen, um seine Pläne gegenüber Polen verwirklichen zu können. In den nächsten Wochen schwankte er zwischen der besonders von Ribbentrop genährten Hoffnung, England werde um Polens willen doch keinen europäischen Krieg heraufbeschwören, da auch in Frankreich eine breite Strömung das „mourir pour Danzig" (für Danzig sterben) ablehnte, und der Überzeugung, diesmal würden die Westmächte nicht vor vollendeten Tatsachen zurückweichen. Die Verhandlungen Englands und Frankreichs mit der Sowjetunion rückten dabei den Zweifrontenkrieg, vor dem die Wehrmacht warnte, für Deutschland in bedrohliche Nähe. 765

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 Zusammenkunft

Cíanos mit Hitler

Von der Widerstandsgruppe im deutschen Auswärtigen Amt war die englische Regierung wie schon im Sommer 1938 gewarnt worden: diesmal wolle Hitler mit Stalin einen Pakt schließen, die Westmächte müßten ihm zuvorkommen und bei dem drohenden Polenkrieg Mussolini wieder als „Bremse" einschalten. Auch Attolico setzte sich erneut mit allen Kräften für die Erhaltung des Friedens ein und drängte auf eine Zusammenkunft von Ciano mit Hitler. Sie fand denn auch am 12./13. August in Berchtesgaden statt. Ciano, der seit 1936 als Außenminister entschieden für das Zusammengehen mit Hitler eingetreten war, suchte von 1939 an, Mussolini gegen Hitler und dessen gefährliche Kriegspolitik einzunehmen, Mussolini schwankte zwischen der Sorge wegen eines Krieges, der dem völlig unzureichend gerüsteten Italien nur Nachteile bringen würde, und der Angst, an Prestige zu verlieren oder sonst etwas zu versäumen, wenn ohne ihn Hitler wieder Erfolge einheimsen sollte. In Berchtesgaden erklärte Hitler rund heraus, Polen müsse noch in diesem Herbst erledigt werden, die Westmächte würden sich bestimmt nicht einmischen, Italien solle bei der nächsten Gelegenheit über Jugoslawien herfallen, das auch nur ein unsicherer Neutraler wäre. Bei der ersten Unterredung versuchte Ciano Hitler umzustimmen: Italien brauche drei Jahre zum Aufrüsten, bis dahin müsse die Gefahr eines allgemeinen Krieges vermieden werden. Hitler blieb fest. Bei der zweiten Unterredung resignierte Ciano, in sein Tagebuch schrieb er: „Ich kehre nach Rom zurüdc, angeekelt von Deutschland, von seinem Führer, von seiner Handlungsweise. Sie haben uns betrogen und belogen. Und heute sind sie im Begriff, uns in ein Abenteuer hineinzureißen, das wir nicht gewollt haben und das das Regime und das Land gefährdet."

Das Werben um Rußland und der deutsch-russische

Pakt

Zur Ergänzung des Beistandspaktes mit Polen versuchten England und Frankreich seit April ein englisch-französisch-sowjetisches Bündnis zustande zu bringen, das die Garantie aller von Hitler vermutlich bedrohten Staaten verbürgen sollte, also Polens, Rumäniens, der drei Baltikumstaaten und Finnlands, außerdem auch Belgiens, der Schweiz und der Niederlande. Besonders Churchill setzte sich für die Teilnahme Rußlands an diesem Garantiesystem ein: „Es besteht keine Möglichkeit, ohne die aktive Hilfe Rußlands eine Ostfront gegen die nationalsozialistische Aggression aufrecht zu erhalten. Rußland hat das größte Interesse daran, Hitlers Absichten in Osteuropa zu vereiteln. Noch sollte es möglich sein, alle Staaten und Völker von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer zu einer einzigen festen Front gegen neue Gewalttaten und Invasionen zusammenzuschließen." Die Sowjetunion, die schon mehrmals ein gemeinsames Vorgehen gegen Hitler angeregt hatte, stimmte bereitwillig den englisch-französischen Vorschlägen zu, verlangte aber darüber hinaus den Abschluß eines festen Militärpaktes. Die Verhandlungen zogen sich infolge der ungeheuer komplizierten Lage den 766

Werben um Rußland und deutsch-russischer Pakt ganzen Sommer hin. England und Rußland mißtrauten einander, vor allem aber fürchteten die kleineren Oststaaten die Sowjetunion noch mehr als das nationalsozialistische Deutschland und sahen die einzige Rettung in ihrer Neutralität zwischen den beiden Großmächten, deren gegenseitige laut proklamierte und ideologisch begründete Feindschaft sie für dauernd hielten. Finnland, die Baltikumstaaten und Polen waren seit 1918 abgetrennte Teile des alten Rußland, und die Annahme lag nahe, die Sowjetunion werde jede ihr gebotene Gelegenheit benutzen, um die früheren Grenzen wiederherzustellen. Es war verständlich, wenn Polen auf keinen Fall den Russen bei einem Konflikt mit Deutschland den Durchzug durch polnisches Gebiet gestatten wollte. Ohne diese Erlaubnis war jedoch ein wirksames Eingreifen Rußlands ausgeschlossen. So schleppten sich mit Vorschlägen und Gegenvorschlägen die Verhandlungen hin, während sich schon längst eine völlig andere Wendung abzuzeichnen begonnen hatte. Bereits am 10. März hatte Stalin vor dem Parteikongreß in Moskau wie üblich die westlichen „Kriegsprovokateure" geschmäht, die es gem sähen, wenn Deutschland die Sowjetunion angriffe und beide Länder sich so schwächten, daß schließlich die Westmächte den Frieden diktieren könnten. Stalin hatte dabei durchblicken lassen, vielleicht könnte eine Annäherung an Deutschland möglich werden. Am 4. Mai wurde der bisherige Außenminister Litwinow plötzlich durch Molotow ersetzt; im Ausland wurde dieser Wechsel stark beachtet: Churchill sah in der Entlassung Litwinows „das Ende einer Epoche". Litwinow hatte Rußland erfolgreich auf den Völkerbundstagungen in Genf vertreten und eine Politik dei Verständigung mit den Westmächten zur Abwehr des Faschismus betrieben. Daß nun dem von nationalsozialistischer Seite so oft angegriffenen Juden Litwinow einer der engsten Mitarbeiter Stalins folgte, deutete auf einen Kurswechsel des Kreml hin. Bereits am 7. Mai schrieb Coulondre, der französische Botschafter in Berlin, ihm wäre vertraulich mitgeteilt worden, daß Hitler sich mit Rußland verständigen werde; vielleicht werde man eine vierte Teilung Polens sehen. Vorläufig war es aber noch nicht soweit. Stalin verhandelte weiter mit den Westmächten und begann Ende Mai nur sehr vorsichtig und mißtrauisch auf den deutschen Vorschlag einzugehen, die im Januar abgebrochenen Wirtschaftsverhandlungen wieder aufzunehmen. Während des Juni und Juli liefen in Moskau die Verhandlungen mit den Westmächten und mit Deutschland nebeneinander her, ohne entscheidende Fortschritte zu machen. Deutscherseits war man unsicher, ob Stalin die sich auch auf politischem Gebiet anbahnende Verständigung mit Deutschland nicht nur als Druckmittel auf England und Frankreich benutze. Am 24. Juli schien das Zustandekommen des Beistandsvertrags zwischen Frankreich, England und Rußland im Fall eines Angriffs auf die Unabhängigkeit Finnlands, Polens, der Baltikumstaaten, Rumäniens, Griechenlands und der Türkei gesichert. England hatte auf das dringende Verlangen Frankreichs und auf die Nachricht von den geheimen Verhandlungen zwischen Rußland und Deutschland seinen Widerstand gegen die von Rußland verlangte Militärkonvention aufgegeben, nach deren Zustandekommen der Beistandsvertrag erst in Kraft treten sollte. Die Militärdelegationen begannen am 12. August ihre Arbeit. Langsam nur kam sie 767

Drittes Reith — Expansionspolitik bis 1939 vorwärts, weil immer noch Polen den Russen den Durchmarsch nicht gestatten wollte. Als auch dieses Hindernis fast überwunden war, meldeten die deutschen Zeitungen am 19. August die Unterzeichnung eines Handels- und Kreditabkommens mit der Sowjetunion. Und schließlich als Sensation am 22. August: Ribbentrop werde zum Abschluß eines Nichtangriffspaktes am folgenden Tag in Moskau eintreffen. Seit Ende Juli hatte Hitler die schleppenden Verhandlungen in Moskau energisch beschleunigen lassen. Durch den deutschen Botschafter von der Schulenburg ließ er am 14. August Molotow mitteilen, alle Probleme zwischen Ostsee und Schwarzem Meer könnten zur beiderseitigen Zufriedenheit geregelt werden, die weltanschaulichen Gegensätze seien kein Hindernis; das Verhältnis zwischen Deutschland und Polen spitze sich in der letzten Zeit so zu, daß mit einer Krise gerechnet werden müsse, ein persönliches Zusammentreffen von Ribbentrop und Stalin könne alle Einzelheiten rasch regeln. Rußland ging vorsichtig darauf ein, Hitler jedoch hatte Eile: Anfang September war ein Krieg gegen Polen noch möglich. Kam der Pakt mit Rußland zustande, dann wäre die Isolierung Polens geglückt, und die Westmächte würden, wie er glaubte, nicht eingreifen. Hitler versprach den Russen die Erfüllung aller ihrer Wünsche, er hatte ihnen viel mehr zu bieten als die Westmächte, und so setzte Stalin nach einem drängenden Brief Hitlers die Unterredung mit Ribbentrop auf den 23. August fest. Binnen weniger Stunden waren der Nichtangriffspakt und das wichtige Geheimprotokoll unterzeichnet. Der auf zehn Jahre abgeschlossene Pakt unterschied sich von vielen ähnlichen vor allem dadurch, daß beide Staaten sich nur Neutralität versprachen, wenn einer von ihnen „Gegenstand kriegerischer Handlungen seitens einer dritten Macht" werde; hier wurde also die sonst übliche Formulierung „bei einem Angriff" vermieden. In dem Geheimprotokoll wurden „für den Fall einer territorialen politischen Umgestaltung" die Interessensphären abgegrenzt: Finnland, Lettland, die beiden eisfreien Häfen Libau und Windau in Kurland, Bessarabien und Polen östlich einer von den Flüssen San, Weichsel, Narew, Pissa (Nebenfluß des Narew) begrenzten Linie sollten Rußland zufallen, das westliche Polen und Litauen Deutschland. „Dieser Vertrag erweist sich als das, was er wirklich auch werden sollte: taktisches Mittel zur Aufteilung und Beherrschung der zwischen den beiden Mächten liegenden Staatenwelt Osteuropas. Der sogenannte Nichtangriffspakt zwischen der Sowjetunion und dem nationalsozialistischen Deutschland ist nichts anderes als ein Abkommen über ein Erwerbsgeschäft auf Gegenseitigkeit" (Hofer). Bezeichnend für die schamlose Art, mit der Ribbentrop bei der völligen Abkehr von der bisherigen antibolschewistischen Politik vorging, ist sein Wunsch, in der Präambel des Nichtangriffspaktes die deutsch-russische Freundschaft zu feiern. Stalin lehnte dies ab: die russische Regierung könne nicht, nachdem sie sechs Jahre lang von der nationalsozialistischen Regierung „mit Kübeln von Jauche" überschüttet worden sei, plötzlich mit deutsch-sowjetischen Freundschaftsbeteuerungen an die Öffentlichkeit treten. Hitler hielt den Pakt mit Rußland für den größten Erfolg seiner bisherigen 768

Werben um Rußland und deutsch-russischer Pakt Politik: der Zweifrontenkrieg war vermieden, die Lieferungen Rußlands auf Grund des Handelsvertrags würden eine etwaige Blockade der Westmädite unwirksam machen, vermutlich würden nun diese ihn nicht durch kriegerisches Dazwischentreten an der Durchführung seiner Pläne gegen Polen hindern. Um dieses Zieles willen hatte Hitler bedenkenlos eine der Hauptstützen seiner Parteüdeologie, die Bekämpfung des Bolschewismus, zurückgestellt. In erschreckender Leichtfertigkeit ging Hitler darüber hinweg, daß er mit dem geheimen Zusatzprotokoll den „cordon sanitaire", den die Entente 1918 in Gestalt der kleinen selbständigen Staaten um die Sowjetunion gezogen hatte, zerstörte, und Deutschland damit der unmittelbare Grenznachbar des russischen Kolosses wurde; aber wahrscheinlich sah er darin nur den Gewinn der für einen späteren Krieg gegen Rußland notwendigen Operationsbasis. Sicherlich war der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt von keiner Seite ehrlich gemeint, sondern nur für den flüchtigen Augenblickserfolg geschlossen. Hitler wie Stalin kümmerten sich nicht im geringsten um das Nichtverstehen und die Empörung in den Reihen der eigenen Anhänger; die Propaganda hatte dafür zu sorgen, daß die politische Wendung in den Zeitungen, dem Rundfunk usw. auf die gewünschte Weise zum Ausdruck kam, und die Polizeiinstitutionen dafür, daß sich keine Kritik an die Öffentlichkeit wagte. Die Mitteilung des deutsch-russischen Nichtangriffspaktes war für Mussolini eine Überraschung. Zunächst glaubte er damit den Frieden gesichert oder wenigstens den Polenkrieg lokalisiert, aber die Reaktion der Westmächte ließen bald seine alten Befürchtungen wieder in den Vordergrund treten. Nach Churchill „platzte die unheilverkündende Botschaft wie eine Bombe über der Welt" und stellte „den Höhepunkt der diplomatischen Mißerfolge dar, welche die britische und die französische Außenpolitik seit mehreren Jahren zu verzeichnen hatte". Die englische Regierung beantwortete das deutsch-russische Abkommen sofort mit weitgehenden militärischen Vorsichtsmaßnahmen und der Erklärung, daß die Verpflichtungen Englands gegenüber Polen von dem deutschrussischen Pakt in keiner Weise berührt würden. Chamberlain ließ durch Henderson Hitler in Berchtesgaden einen Brief überreichen, der die Entschlossenheit der englischen Regierung betonte, „nötigenfalls alle ihr zur Verfügung stehenden Kräfte unverzüglich einzusetzen, und es ist unmöglich, das Ende einmal begonnener Feindseligkeiten abzusehen"; alle zwischen Deutschland und Polen schwebenden Fragen könnten ohne Gewalt durch direkte Verhandlungen und unter Garantie der anderen Mächte gelöst werden. Hitler ging darauf nicht ein: das Deutschland im Versailler Vertrag mit der Abtrennung Danzigs und des Korridorgebietes zugefügte Unrecht müsse jetzt endlich wiedergutgemacht werden; Polen sei auf die maßvollen deutschen Forderungen nicht eingegangen, Englands unbedingtes Hilfsversprechen an Polen habe eine friedliche Lösung verhindert; zum Vorgehen gegen Polen sei Deutschland jetzt entschlossen, englische und französische militärische Maßnahmen werde es mit Generalmobilmachung beantworten. Zum Schluß bedauert Hitler, daß England die angebotene deutsche Freundschaft immer wieder verschmäht habe. 769 49

Bühler, Deutsche Geschichte, V I

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 Die französische Regierung war auf die Nachricht vom deutsch-russischen Nichtangriffspakt hin nicht so zum Widerstand entschlossen wie England. Sie sicherte wohl Polen ihre unbedingte Bündnistreue zu, versuchte aber über ihren Botschafter in Warschau am 24. August die polnische Regierung davon abzuhalten, sich durch deutsche militärische Maßnahmen oder eine Erklärung des Danziger Senats über den Anschluß an das Reich in die Rolle des Angreifers drängen zu lassen. Die polnische Regierung, so fest sie auf die unüberbrückbare Feindschaft zwischen dem antibolschewistischen Deutschland und dem antifaschistischen Rußland gerechnet hatte, zeigte sich trotzdem von dem Nichtangriffspakt wenig beeindruckt — vielleicht in der Zuversicht auf die englisch-französische Hilfe, vielleicht war es einfach das Fügen ins Unvermeidliche; denn ohne direkte territoriale Verbindung mit den befreundeten Staaten befand es sich zwischen den beiden feindlichen Großmächten in einer sehr schlimmen Lage. Ob eine prorussische Politik den Polen Hilfe gebracht hätte, ist nach den inzwischen gemachten Erfahrungen zum mindesten fraglich. Ein polnischer Marschall kennzeichnete damals die Zwangslage seines Landes Franzosen gegenüber kurz: „Mit den Deutschen riskieren wir, unsere Freiheit zu verlieren. Mit den Russen verlieren wir unsere Seele."

Hitlers Ansprache auf dem, Obersalzberg

am 22. August

Am 22. August 1939, als das Gelingen des Nichtangriffspaktes mit Rußland bereits feststand, hielt Hitler auf dem Obersalzberg zwei Ansprachen vor den Führern der Wehrmacht. Ein Protokoll durfte nicht geführt werden, doch gibt es Aufzeichnungen von Zuhörern. Hitler führte alle Gründe an, die für eine sofortige Gewaltlösung sprachen. Als erstes seine Person: „in der Zukunft wird es wohl niemals wieder einen Mann geben, der mehr Autorität hat als ich, mein Dasein ist also ein großer Wertfaktor", dann Mussolini, dessen Persönlichkeit allein die Bündnistreue Italiens verbürge, und Franco, der wenigstens wohlwollende Neutralität gewährt; sterbe einer der drei, falle damit auch seine Politik. England und Frankreich seien jetzt weder genügend gerüstet, noch hätten sie „Persönlichkeiten von Format". Hitler hätte gern zuerst gegen den Westen und dann gegen den Osten gekämpft, nun sei aber das Verhältnis zu Polen „untragbar" geworden, „jetzt ist die Wahrscheinlichkeit noch groß, daß der Westen nicht eingreift. Wir müssen mit rücksichtsloser Entschlossenheit das Wagnis auf uns nehmen . . . Wir werden den Westen halten, bis wir Polen erobert haben . . . Der Gegner hatte noch die Hoffnung, daß Rußland als Gegner auftreten würde nach Eroberung Polens. Die Gegner haben nicht mit meiner großen Entschlußkraft gerechnet. Unsere Gegner sind kleine Würmchen. Ich sah sie in München"; nach dem Nichtangriffspakt mit Rußland „ist Polen in der Lage, in der ich es haben wollte . . . Ich habe nur Angst, daß mir noch im letzten Moment irgendein Schweinehund einen Vermittlungsplan vorlegt. Die politische Zielsetzung geht weiter. Anfang 770

24. bis 27. August 1939

zur Zerstörung der Vormachtstellung Englands ist gemacht". Noch schärfer sind Hitlers Ausführungen in seiner zweiten Rede: „Vernichtung Polens im Vordergrund. Ziel ist Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie. Auch wenn im Westen Krieg ausbricht, bleibt Vernichtung Polens im Vordergrund. Mit Rücksicht auf Jahreszeit schnelle Entscheidung. Herz verschließen gegen Mitleid. Brutales Vorgehen."

24. bis 27. August: Henderson bei Hitler. Dahlerus. Verschieben des Angriffes Hitler kehrte am 24. August von Berchtesgaden nach Berlin zurück, fest entschlossen, am Morgen des 26. den Krieg zu beginnen. Er rechnete bestimmt auf den Sturz der französischen und der englischen Regierung nach ihrem Mißerfolg in Moskau; die Aktionsunfähigkeit Frankreichs und Englands bis zur Neubildung der Regierungen würden ihm für die Durchführung seines Blitzkrieges gegen Polen hinreichen. Chamberlain und Daladier blieben jedoch im Amt, und während sie und die italienische Regierung sich in den folgenden Tagen fieberhaft um Mittel und Wege für die Erhaltung des Friedens bemühten, ging es Hitler nur darum, daß England und Frankreich Polen seinem Schicksal überließen. Am 25. August empfing Hitler Henderson, um durch ihn der britischen Regierung ein, wie er sagte, „umfassendes und großzügiges Angebot" vorlegen zu lassen: er sei nach Lösung des deutsch-polnischen Problems bereit, sich für den Bestand des britischen Weltreiches „persönlich zu verpflichten und die Kraft des Deutschen Reiches dafür einzusetzen". Er werde dann auch eine „vernünftige" Beschränkung der Rüstungen annehmen; Deutschlands begrenzte koloniale Forderungen müßten freilich erfüllt und seine Verpflichtungen gegenüber Italien und Rußland dürften davon nicht berührt werden; im Westen sei „der mit Milliardenkosten errichtete Westwall" die endgültige Reichsgrenze. Henderson war sich über die Unehrlichkeit der Absichten Hitlers sofort klar, außerdem zeigt das „Angebot" die ganze Überheblichkeit Hitlers und sein Unvermögen, sich in die englische Mentalität hineinzudenken. Am Tag zuvor hatte Göring die Verbindung mit einem schwedischen Bekannten, dem Großindustriellen Birger Dahlerus, wieder aufgenommen und durch ihn erst ohne, dann mit Wissen Hitlers, aber unter Ausschaltung Außenminister Ribbentrops, versucht, England von Deutschlands freundschaftlicher Gesinnung zu überzeugen und so für Hitler freie Hand gegen Polen einzuhandeln. Dahlerus ist guten Glaubens und guten Willens mehrere Male zwischen London und Paris hin und her geflogen. „Die Geschichte seiner Mission, die meist parallel mit den diplomatischen Verhandlungen verlief und diese häufig kreuzte, ist besonders faszinierend. Sie illustriert jene seltsame Kombination von verkannten Realitäten, wilden Plänen und raffiniert angelegten, aber doch oft verfehlten Täuschungsmanövern, die für Hitler und seine Helfer typisch ist" (Kordt). Kurz nach dem Empfang Hendersons gab Hitler um 15 Uhr der Wehrmacht den Befehl, am nächsten Morgen Polen anzugreifen, die Truppen wurden in Marsch 771 49°

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 gesetzt. Aber gegen 18 Uhr erhielt Hitler zwei bestürzende Nachrichten: aus England wurde gemeldet, daß das im April mit Polen vereinbarte Bündnis nunmehr in aller Form unterzeichnet sei, und Attolico überbrachte die Antwort Mussolinis auf Hitlers briefliche Ankündigung des Polenkrieges: eine glatte Absage. Italien habe schon zuvor mitgeteilt, es könne vor drei Jahren keinen Krieg führen, durch den Abessinienfeldzug seien seine Lager vollständig erschöpft; nur wenn Deutschland alles Rüstungsmaterial und alle Rohstoffe liefern könne, sei an eine Beteiligung Italiens zu denken. Am nächsten Tag übergab dann Attolico die von Mussolini und Ciano auf Wunsch Hitlers zusammengestellte ungeheuer umfangreiche Liste; sie „würde einen Stier töten, wenn er lesen könnte", schrieb Ciano darüber in sein Tagebuch. Er hielt, von König Viktor Emanuel unterstützt, mit großer Mühe Mussolini, der immer wieder aus Angst vor einer abschätzigen deutschen Beurteilung wankend wurde, auf dem eingeschlagenen Friedenskurs fest. Hitler war am Abend des 25. August von den beiden Nachrichten schwer enttäuscht. Seine von Ribbentrop immer wieder angefachte Vorstellung, daß die Westmächte letzten Endes doch nicht eingreifen würden, sank wieder zusammen. Gegen 19 Uhr widerrief er den Angriffsbefehl. Das fast unmöglich Scheinende gelang: auf der ganzen Front von der Ostsee bis zur Slowakei kamen die Truppen noch vor der Grenze zum Stehen. Die Hoffnung, die einige Offiziere der Widerstandsbewegung daran knüpften, der Widerruf werde Hitlers Ansehen in der Armee ungemein schaden, erwies sich als irrig. Der Krieg war bloß um einige Tage verschoben. Hitler versuchte nur noch einmal, den Friedenswillen der Westmächte für seine Zwecke auszunützen, sie an der Unterstützung Polens zu hindern und von vornherein zum Scheitern bestimmte Verhandlungen über eine friedliche Einigung mit Polen für die Abwälzung der Kriegsschuld wenigstens bei der binnendeutschen Propaganda zu verwerten. Am 26. und 27. August wurde die deutsche Öffentlichkeit auf den Ernst der Lage hingewiesen durch die Absage der Tannenbergfeier und des Reichsparteitages, dagegen die Einführung von Lebensmittelkarten und Bezugsscheinen für lebenswichtige Verbrauchsgüter — Hitler wollte diesmal Fehler des ersten Weltkrieges vermeiden. Holland, Belgien, Luxemburg und der Schweiz ließ Hitler versichern, er werde bei kriegerischen Verwicklungen ihre Neutralität achten, die bestehenden freundschaftlichen Beziehungen weiter pflegen. — Es war eine bewußte Täuschung, wie schon seine Rede vor den Wehrmachtsführern am 23. Mai zeigt.

28. bis 31. August: Die letzten

Friedensversuche

Bei den fast pausenlosen Verhandlungen der nächsten Tage zwischen Berlin und Paris und noch mehr zwischen Berlin und London verteidigte Hitler sein Vorgehen gegen Polen mit Anklagen gegen den unerträglichen Terror, dem die Danziger und die deutsche Minderheit in Polen ausgesetzt seien, gegen die Ablehnung seiner großzügig entgegenkommenden Lösungsvorschläge durch die pol772

28. bis 31. August 1939 nische Regierung und gegen die Westmächte, deren Hilfsversprechen für Polen dessen Unnachgiebigkeit bedingt habe. Hitler beteuerte seine freundschaftliche Gesinnung, es gäbe keine Interessenkonflikte zwischen ihm und den Westmächten; würden sie trotzdem Polens wegen das furchtbare Unglück eines europäischen Krieges auf sich nehmen, dann „kämpfe ich mit meinem Volk um die Wiedergutmachung eines Unrechts und die anderen um die Beibehaltung desselben", schrieb er am 27. August in einem Brief an Daladier. Die Westmächte bemühten sich, Deutschland für direkte Verhandlungen mit Polen zu gewinnen und versprachen ihre volle Unterstützung jeder friedlichen Vereinbarung. Am Abend des 28. August schien Hitler bereit, darauf einzugehen. Henderson überbrachte ihm die Antwort auf sein „großzügiges Angebot" vom 25. August, sie war entgegenkommend gehalten: nach einer gerechten Lösung der deutsch-polnischen Fragen „wäre der Weg offen für Besprechungen über jene breitere und umfassendere Verständigung zwischen Großbritannien und Deutschland", aber die englische Regierung „könne nicht wegen irgendeines Großbritannien angebotenen Vorteils einer Lösung zustimmen, welche die Unabhängigkeit eines Staates gefährden würde, dem sie ihre Garantie gegeben hat"; die polnische Regierung habe schon Besprechungen mit Hitler zugestimmt, wenn die unentbehrlichen Interessen Polens sichergestellt und das Abkommen international garantiert werde. Henderson berichtete seiner Regierung optimistisch über die Unterredung von einer versöhnlichen Stimmung Hitlers und einer Entspannung der Lage durch die von Hitler für den nächsten Tag versprochene schriftliche Antwort. Sie brachte indes wieder eine Enttäuschung. Hitler erklärte sich zwar trotz seiner Zweifel an einem Erfolg mit Rücksicht auf das Zustandekommen der deutsch-englischen Freundschaft „damit einverstanden, die vorgeschlagene Vermittlung der kgl. britischen Regierung zur Entsendung einer mit allen Vollmachten versehenen polnischen Persönlichkeit nach Berlin anzunehmen", verlangte aber deren Eintreffen schon am folgenden Tag, dem 30. August; bis dahin würden die Vorschläge einer für Deutschland annehmbaren Lösung vorliegen. Hitler wies auch darauf hin, daß Deutschland „im Falle einer Neugestaltung der territorialen Verhältnisse in Polen nicht ohne Hinzuziehung der Sowjetunion sich zu Garantien verpflichten" könne. Henderson wandte sofort ein, die knapp bemessene Frist klinge wie ein Ultimatum. Hitler leugnete dies: die Eile sei bei der Gefährlichkeit der Lage geboten. Die englische Regierung lehnte die Kürze der Frist und den Verhandlungsort Berlin als für Polen unzumutbar ab und forderte die Übersendung der deutschen Vorschläge nach Warschau auf dem üblichen diplomatischen Wege. Gleichzeitig versuchten die englische und die französische Regierung beruhigend in Warschau zu wirken: Polen solle alles vermeiden, was Hitler als Vorwand für eine Gewaltaktion dienen könne. Die polnische Regierung war nicht bereit, einen Beauftragten nach Berlin zu schicken, die Erinnerung an die Behandlung Schuschniggs und Hachas war noch zu frisch. Am Nachmittag des 30. August gab Polen seine Gesamtmobilmachung bekannt. Kurz vor Mittemacht des 30. August, also kurz vor der von Hitler den Polen gesetzten Frist, überbrachte Henderson Ribbentrop die englische Antwort. Die 773

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 Unterredung verlief sehr erregt, Ribbentrop wahrte nicht einmal mehr die Formen der diplomatischen Höflichkeit. Nachdem er Hendersons Bericht häufig mit herausfordernden Bemerkungen unterbrochen hatte, verlas er die Vorschläge der deutschen Regierung, die sehr maßvoll klangen und ohne weiteres die geeignete Grundlage für eine friedliche Lösung hätten bieten können; die wichtigsten der 16 Punkte waren: Danzig soll sofort ins Reich zurückkehren, der Hafen Gdingen aber polnisch bleiben; in dem sogenannten Korridor solle unter internationaler Kontrolle eine Volksabstimmung stattfinden auf Grund des Bevölkerungsstandes vom 1. Januar 1918; falle die Entscheidung zugunsten Deutschlands aus, erhalte Polen exterritoriale Eisenbahn und Autostraße nach Gdingen, im umgekehrten Fall Deutschland dasselbe zur Verbindung mit Ostpreußen. Henderson verlangte den Text der Vorschläge zur Weitergabe an seine Regierung; entgegen jeder diplomatischen Gepflogenheit verweigerte dies Ribbentrop mit der Bemerkung, die Vorschläge seien sowieso überholt, da der polnische Unterhändler nicht erschienen sei. Damit wurde das Täuschungsmanöver Hitlers offenbar, er sagte nach dem Bericht des Chefdolmetschers Schmidt etwas später selber: „Ich brauchte ein Alibi, vor allem dem deutschen Volke gegenüber, um ihm zu zeigen, daß ich alles getan hatte, den Frieden zu erhalten. Deshalb machte ich diesen großzügigen Vorschlag über die Reglung der Danzig- und Korridorfrage." Die englische und die französische Regierung, denen Göring durch Dahlerus den Wortlaut der deutschen Vorschläge hatte mitteilen lassen, stellten sich auf den Standpunkt: da Hitler und Ribbentrop den ultimativen Charakter ihres auf den 30. August befristeten Angebots der Besprechung mit einem polnischen Vertreter abgeleugnet hätten, sei noch Zeit für Verhandlungen. Die polnische Regierung war aber nur schwer zu bewegen, ihre Verhandlungsbereitschaft direkt durch ihren Botschafter in Berlin mitteilen zu lassen. Vor allem drängte Paris sehr darauf, diese letzte Friedensmöglichkeit auszunützen. Erst am 31. August mittags erhielt der polnische Botschafter Lipski die Anweisung, sich mit Ribbentrop in Verbindung zu setzen; dieser zögerte den Empfang bis 18 Uhr 30 hinaus, und als Lipski die Frage, ob er Vollmachten habe, verneinte, beendete Ribbentrop nach wenigen Minuten die Unterredung als zwecklos. Inzwischen hatte Hitler der Wehrmacht bereits den endgültigen Befehl gegeben, am frühen Morgen des 1. September Polen anzugreifen; im Westen, führte die Weisung aus, „kommt es darauf an, die Verantwortung für die Eröffnung von Feindseligkeiten eindeutig England und Frankreich zu überlassen. Geringfügigen Grenzverletzungen ist zunächst rein örtlich entgegenzutreten". In diesen Tagen versuchten viele durch Appelle und Vermittlungsangebote an die beteiligten Staaten den Frieden zu retten: so der Papst, Präsident Roosevelt, der König von Belgien, die Königin der Niederlande. Audi Mussolini schaltete sich noch einmal ein. Er hatte auf Hitlers Wunsch die Neutralität Italiens nicht öffentlich bekanntgegeben und einige militärische Vorbereitungen getroffen, um französische und englische Streitkräfte zu binden. Attolico und Ciano, die unbedingt für den Frieden eintraten, hielten in Berlin und Rom über die engli774

1. September 1939: Angriff auf Polen

sehen Botschafter enge Fühlung mit der britischen Regierung, die ihrerseits alles tat, um die Achsenpartner zu trennen und Mussolini über ihre geheimen Verhandlungen mit Hitler auf dem laufenden zu halten. Als am Morgen des 31. August Attolico die Zuspitzung der Lage nach der stürmischen Unterredung Hendersons mit Ribbentrop nach Rom meldete, schlug Mussolini für den 5. September Frankreich und England eine Konferenz mit Deutschland vor, die, ähnlich wie vor einem Jahr die Konferenz von München, einen friedlichen Ausgleich ermöglichen solle. Da Italien zum Krieg nicht gerüstet war, wünschte der Duce jetzt Frieden. Eine Vermittlerrolle wäre ihm bei seinem Geltungsbedürfnis und der Furcht, hinter Hitler zurückzustehen, sehr willkommen gewesen; seine bisherigen Versuche in dieser Richtung hatte Hitler freilich jedesmal höflich unter irgendeinem Vorwand zurückgewiesen. Als bis zum Abend des 31. August von Paris und London noch keine Stellungnahme zu dem Konferenzvorschlag in Rom eingetroffen war, unterrichtete Ciano zwar mit Wissen Mussolinis, aber auf eigene Verantwortung die Botschafter der Westmächte über Italiens Neutralität, um einen eventuellen Angriff auf italienisches Gebiet zu vermeiden. Am folgenden Tage, als der Angriff auf Polen schon lief, ließ sich Mussolini von Hitler in einem für die italienische Öffentlichkeit bestimmten Telegramm bestätigen, daß eine italienische Waffenhilfe nicht nötig sei. Am späten Abend des 31. August wurde der deutschen Öffentlichkeit über den Rundfunk die Hitlersche Darstellung der Lage mitgeteilt: Polen habe die auf Wunsch der britischen Regierung von Deutschland eingeleiteten Verhandlungen abgelehnt: damit wären auch die loyalen deutschen Vorschläge mit ihren 16 — erst jetzt bekanntgegebenen — Punkten praktisch erledigt.

1. September: Angriff auf Polen In der Nadit wurde der deutsche Sender Gleiwitz nahe der Grenze angeblich von polnischen Truppen überfallen; in Wirklichkeit war der Angriff auf Befehl Heydrichs, des Chefs der Sicherheitspolizei, vorgetäuscht, die Leichen einiger in polnische Uniformen gesteckter Verbrecher sollten an den Schauplatz geführten Reportern den polnischen Angriff beweisen. In dieser Nacht kam es außerdem zu einer Reihe teils von Deutschen, teils von Polen provozierter Zwischenfälle und Grausamkeiten; sie dienten Hitler in seiner Reichstagsrede am 1. September um 10 Uhr, als schon seit fünf Stunden ohne vorherige Kriegserklärung der deutsche Angriff auf Polen begonnen hatte, zur Rechtfertigung seines Vorgehens. Er führte aus, mit welcher Langmut und mit welcher Verständigungsbereitschaft er Stück für Stüde die Revision des Versailler Vertrages erreichte. Nun aber habe Polen alles abgelehnt, sei seit Monaten zu unerträglichen Mißhandlungen der deutschen Minderheit übergegangen, zuletzt habe die deutsche Regierung zwei Tage auf einen polnischen Unterhändler gewartet. Die Ehre des deutschen Volkes verlange nun, daß Gewalt gegen Gewalt gesetzt und eine endgültige Lösung erzwungen werde. Hitler bedauerte, daß die Westmächte behaupteten, 775

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 dies berühre ihre Interessen, er habe keinerlei Forderungen an sie zu stellen und England immer wieder seine Freundschaft angeboten. Er dankte Italien für die bisherige Unterstützung, bei der Durchführung dieses Kampfes wolle er jedoch nicht um fremde Hilfe ersuchen. Den neutralen Staaten versicherte er, daß ihm die seinerseits versprochene Neutralität „heiliger Ernst" sei. Dann wies er auf den Wert des soeben in Moskau und Berlin ratifizierten deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes vom 23. August hin: „Diese politische Entscheidung bedeutet eine ungeheure Wende und ist eine endgültige!" Den Kampf werde er human führen, wenn der Gegner es auch tue. Er rühmte die deutsche Wehrmacht als die am besten ausgerüstete der Welt, es seien aber auch 90 Milliarden für ihren Aufbau ausgegeben. Sollte ihm, Hitler, etwas zustoßen, ernenne er Göring zu seinem Nachfolger und nach diesem Heß. Jeder Deutsche müsse sich jetzt mit seinem Leben für sein Volk einsetzen, jeder „Verräter" werde fallen. Die Abgeordneten seien für die Stimmung des Volkes verantwortlich, „keiner melde mir, daß in seinem Gau, in seinem Kreis oder in seiner Gruppe oder in seiner Zelle die Stimmung einmal schlecht sein könnte". Beifall der Abgeordneten begleitete und Schloß die Rede Hitlers. Coulondre berichtete nach Paris, der Beifall sei nur mäßig gewesen. Nur als Hitler sagte, er werde als Soldat kämpfen und nicht gegen Frauen und Kinder Krieg führen, hätten sich sämtliche Abgeordnete am Beifall beteiligt, sonst nur die Hälfte. Das Molotow gespendete Lob habe überhaupt kein Echo gefunden. Im allgemeinen sei die Atmosphäre eher gedrückt gewesen. Obwohl sich die Bevölkerung in der Illusion wiegen möge, es handle sich nur um einen deutsch-polnischen Konflikt, hätten die Ereignisse des Morgens wirkliche Bestürzung (véritable consternation) hervorgerufen. Den Leuten auf den Straßen Berlins sähe man in ihrem bedrückten Schweigen deutlich die Furcht vor einem neuen Kriege an. Gisevius berichtet: „Während Hitlers Reichstagsrede an allen Ecken und Enden aus den Lautsprechern lärmte, fuhr ich durch die Straßen, um die Menschen zu beobachten. Was ich fand, waren keine enthusiastischen Massen. Die meisten hörten nicht einmal die Rede an, fast schien es, sie gaben sich richtige Mühe, ihre Ohren zu verschließen. Hier und dort sah ich kleine, verzagte Häuflein, schweigend die Gesichter in sich gekehrt, sicherlich nicht so abgestumpft, dafür erschrockener, innerlich berührter, als sie heute (1947) in den Ruinen für ein paar Lebensmittel Schlange stehen. Kaum daß die Rede beendet war, verkrümelten sie sich in alle Richtungen, ohne das Absingen der Nationalhymnen abzuwarten, die hinter ihnen ins Leere schallten." Dabei wußte die große Masse des deutschen Volkes noch nicht, daß Hitler in seiner Rede die Tatsachen ganz verdreht hatte, um den von ihm gewollten Krieg zu rechtfertigen. In ganz Deutschland wurde der zivile Luftschutz aufgerufen, die Verdunklungspflicht trat in Kraft und erfüllte die Bevölkerung mit düsteren Ahnungen von den Auswirkungen eines modernen Krieges. Gleichzeitig wurde das Abhören ausländischer Sender unter Strafe gestellt. Sehr viele kümmerten sich nicht darum, aber was sie auf diese Weise hörten, konnten sie nur in vertrautestem Kreise austauschen und besprechen, wenn sie die Haft in Konzentrationslagern oder noch schärfere Strafen, bis zur Hinrichtung, vermeiden wollten; 776

2./3. September 1939 Chamberlain wartete vergeblich auf einen Zusammenbruch der deutschen „Heimatfront", den er durdi zweckmäßige Propaganda, vor allem durch Verbreitung der Überzeugung, der Krieg könne von Deutschland nicht gewonnen werden, zu beschleunigen suchte. Er verkannte völlig die Mentalität eines im Kriege befindlichen Volkes wie des deutschen mit dieser starren Tradition von Nationalstolz und nationalem Pflichtgefühl, zumal die Unglaubwürdigkeit auch alliierter Kriegspropaganda noch vom ersten Weltkrieg her wohl in Erinnerung war; er verkannte aber auch die Hoffnungslosigkeit einer Opposition in einem totalitären Staate, dessen Gestapo jeden Versuch schon in den Anfängen mit brutaler Gewalt erstickte. Die Widerstandsgruppen waren ratlos; die noch 1938 vor dem Münchner Abkommen zum Vorgehen gegen Hitler bereiten oppositionellen Generale fanden nun, nachdem Hitlers Stellung sich derart gefestigt hatte und der Glaube an ihn und seinen Erfolg in der Wehrmacht und in der Bevölkerung so weit verbreitet war, den Entschluß zum Handeln nicht. Am 1. September 1939 unterzeichnete Gauleiter Forster das Staatsgrundgesetz über die Wiedervereinigung Danzigs mit dem Deutschen Reich, am 8. Oktober ernannte ihn Hitler zum Reichsstatthalter des mit dem inzwischen eroberten Westpreußen vereinigten Gaues Danzig.

2./3. September: Kriegserklärungen Englands und Frankreichs Mit dem Angriff der deutschen Truppen auf Polen war für Frankreich und England der Bündnisfall eindeutig gegeben: ihre Regierungen erkannten dies auch sofort an, befahlen die Gesamtmobilmachung und ließen am Abend von ihren Botschaftern in Berlin gleichlautende Noten überreichen: beide Staaten würden „ohne Zögern ihre Verpflichtungen gegen Polen erfüllen", wenn Deutschland nicht ausreichende Sicherheiten gebe, daß es jede Angriffshandlung gegen Polen sofort einstellen und seine Truppen rasch aus polnischem Gebiet zurückziehen werde. Frankreich wollte trotzdem den von Mussolini angeregten Konferenzgedanken noch nicht aufgeben, schlug in Rom die Teilnahme Polens vor und drängte in London und Warschau auf Zustimmung. Mussolini gab am Vormittag des 2. September den Konferenzvorschlag in vorsichtiger Form an Hitler weiter. Dieser wies ihn nicht sogleich zurüdc, ließ sich von Henderson und Coulondre bestätigen, daß die Noten vom Abend vorher kein Ultimatum, sondern nur eine Warnung wären, und versprach eine Antwort für den nächsten Tag. Hitler gewann damit Zeit für seinen Vormarsch in Polen und lähmte die Tätigkeit der westlichen Regierungen. England forderte als Bedingung für ein Zustandekommen der Konferenz den sofortigen Rückzug der deutschen Truppen hinter die Grenze; Mussolini, überzeugt, daß Hitler dies nie tun würde, ließ nun den Konferenzgedanken fallen. Am Abend des 3. September, als Hitler die französische und die englische Kriegserklärung bereits in Händen hatte, dankte er in einem Brief Mussolini für den letzten Versuch einer Vermittlung, die er „unter gewissen 777

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939

Garantien für einen erfolgreichen Verlauf der Konferenz" angenommen hätte, aber seit zwei Tagen rückten die deutschen Truppen außerordentlich schnell in Polen vor. „Es wäre unmöglich gewesen, die dabei gebrachten Blutopfer sich durch diplomatische Ränke wieder entwerten zu lassen". Er habe den nach seiner Meinung unvermeidlichen Krieg „mit eisiger Überlegung jetzt angefangen", wo die „durchschlagende technische Überlegenheit der deutschen Wehrmacht" einen schnellen Sieg über die polnischen Truppen sichere; als versteckte Drohung fügte er noch hinzu: „Sollte das nationalsozialistische Deutschland von den westlichen Demokratien zerstört werden, würde auch das faschistische Italien einer schweren Zukunft entgegengehen." Die englische Regierung wollte die Kriegserklärung an Deutschland so bald wie möglich und zwar gemeinsam mit Frankreich abgehen lassen, die französische Regierung suchte auf Wunsch des französischen Generalstabs den Termin möglichst hinauszuzögern. Polen mahnte in seiner schweren Bedrängnis wiederholt zur Eile. Chamberlain, der den Kriegsausbruch als ein Ereignis empfand, das sein ganzes politisches Werk in Trümmer schlug, erklärte am 1. September vor dem Unterhaus: „Die Verantwortung für diese schreckliche Katastrophe liegt auf den Schultern eines einzigen Mannes, des deutschen Kanzlers, der nicht zögerte, die Welt ins Elend zu stürzen, um seinem eigenen sinnlosen Ehrgeiz zu frönen . . . Wir haben keinen Streit mit dem deutschen Volk, außer, daß es sich von einer Nazi-Regierung beherrschen läßt. Solange diese Regierung besteht und die Methoden, die sie in den letzten zwei Jahren ständig angewandt hat, weiter verfolgt, gibt es keinen Frieden in Europa. Wir werden nur von einer Krisis in die andere kommen und ein Land nach dem anderen in der uns nun schon vertrauten, widerwärtigen Art und Weise angegriffen sehen. Wir sind entschlossen, diesen Methoden ein Ende zu machen." Da ein gemeinsamer Termin mit der französischen Regierung nicht zu erreichen war, beschloß die englische unter dem Druck der öffentlichen Meinung und des Unterhauses allein vorzugehen. Am 3. September um 9 Uhr überreichte Henderson im Berliner Auswärtigen Amt das englische Ultimatum: falls Deutschland nicht am heutigen Tag bis 11 Uhr vormittags die Einstellung aller Angriffe und die Zurückziehung seiner Truppen zusichere, bestehe von dieser Stunde an der Kriegszustand zwischen den beiden Ländern. Auf Wunsch Ribbentrops nahm Chefdolmetscher und Legationsrat Schmidt das Ultimatum in Empfang und brachte es unverzüglich ins Reichskanzlerpalais, wo in Hitlers Arbeitszimmer auch Ribbentrop anwesend war. Schmidts Schilderung der folgenden Szene läßt erkennen, daß Hitler trotz seiner hochtrabenden Reden noch immer damit gerechnet hatte, die Westmächte würden wieder vor der vollendeten Tatsache kapitulieren und ihm freie Hand im Osten lassen: „Wie versteinert saß Hitler da und blickte vor sich hin. Er war nicht fassungslos, wie es später behauptet wurde, er tobte auch nicht, wie es wieder andere wissen wollen. Er saß völlig still und regungslos an seinem Platz. Nach einer Weile, die mir wie eine Ewigkeit vorkam, wandte er sich Ribbentrop zu, der wie erstarrt am Fenster stehen geblieben war. ,Was nun?' fragte Hitler seinen Außenminister mit einem wü778

2-/3. September 1939 tenden Blick in den Augen, als wolle er zum Ausdruck bringen, daß ihn Ribbentrop über die Reaktion der Engländer falsch informiert habe. Ribbentrop erwiderte mit leiser Stimme: ,Ich nehme an, daß die Franzosen uns in der nächsten Stunde ein gleichlautendes Ultimatum überreichen werden.'" Als Schmidt den im Vorzimmer wartenden Kabinettsmitgliedern und prominenten Parteileuten beim Hinausgehen das englische Ultimatum, bei der vorauszusehenden Entscheidung Hitlers eine Kriegserklärung, mitteilte, herrschte auch hier „bei dieser Ankündigung Totenstille. Göring drehte sich zu mir um und sagte: ,Wenn wir diesen Krieg verlieren, dann möge uns der Himmel gnädig sein.' Goebbels stand in einer Ecke, niedergeschlagen und in sich gekehrt, und sah buchstäblich aus wie der bewußte begossene Pudel. Uberall sah ich betretene Gesichter". Mit einem Memorandum, in dem England alle Schuld am Kriege beigemessen wurde, lehnte die deutsche Regierung 11 Uhr 30 das englische Ultimatum ab. Um 12 Uhr übergab Coulondre ein dem englischen ungefähr gleichlautendes bis 17 Uhr befristetes Ultimatum, das ebenfalls abgelehnt wurde. Ribbentrop erklärte auf die Ankündigung Coulondres, Frankreich werde seine Pflicht gegenüber Polen erfüllen, dann sei Frankreich der Angreifer; Coulondre aber erwiderte: darüber werde die Geschichte urteilen. Am Abend des 3. September verließ Hitler Berlin, um an die Front zu gehen. Vorher richtete er Appelle an das Heer, die Partei und das deutsche Volk: Die ganze Schuld am Ausbruch des Krieges liege bei England, das seit 1871 versuche, den Lebensraum des deutschen Volkes einzuengen; nur England habe Polen in den Krieg gehetzt; diesmal werde England aber einem vom Nationalsozialismus erzogenen und geeinigten Volk gegenüberstehen, das zu jedem Opfer bereit sei; keiner solle am Krieg verdienen und jeder werde an der Front und in der Heimat seine Pflicht tun; eine Kapitulation wie 1918 werde es nicht mehr geben. So begann der Zweite Weltkrieg. Hitlers Schuld daran liegt offen zutage. Zielbewußt hat er mit Hilfe seiner Partei und der Gestapo erst die Herrschaft über das deutsche Volk errungen, dann mit der forcierten Aufrüstung, bei der das Hauptgewicht auf den neuen Waffen wie Flugzeugen und Panzern lag, das Werkzeug für seine Eroberungspläne geschaffen und mit der Eingliederung Österreichs und der Tschechei die Basis für den Erwerb deutschen Lebensraumes im Osten gewonnen. Das nächste Ziel war Polen. Hitler wollte vorerst einen Weltkrieg vermeiden; deshalb verzichtete er auf Südtirol sowie Elsaß-Lothringen und schloß das Bündnis mit Sowjetrußland. Unterstützt von Italien hoffte Hitler, die „jüdisch-plutokratischen und demokratischen" Westmächte würden ihm in ihrem Abscheu vor einem neuen Krieg freie Hand lassen, bis Deutschland noch stärker geworden sei. Irgendwann müßte dann freilich auch der Kampf gegen die Westmächte kommen. Das waren nicht die Berechnungen eines wahnsinnigen Psychopathen, als der er vielen erschien, Hitler handelte als ein politischer Hasardspieler und als Fanatiker, der in seiner eingebildeten Größe fest davon durchdrungen war, das deutsche Volk habe auf Grund seiner rassischen Erlesenheit einen Anspruch auf Vorherrschaft. 779

Drittes Reich — Expansionspolitik bis 1939 Begünstigt auf diesem Weg hat ihn der Friedenswille der Westmächte. 1935 bei Einführung der allgemeinen Wehrpflicht, 1936 bei der Besetzung des entmilitarisierten Rheinlandes wäre es für England und Frankreich ein leichtes gewesen, Hitler Halt zu gebieten. Sie taten es nicht, und auch bei seinem Vorgehen in Österreich und der Tschechoslowakei protestierten sie nur — erst bei Polen machten sie Ernst. Die Engländer waren schon lange, die Franzosen großenteils von der Unhaltbarkeit des Versailler Vertrages überzeugt, und für seinen Fortbestand wollten sie keinen Krieg führen. Obgleich die Persönlichkeit Hitlers und die teils begeisterte, teils passive Haltung des deutschen Volkes ihm gegenüber den meisten von ihnen unbegreiflich erschien, ließen sie Hitler gewähren, bis sie sich davon überzeugt hatten, daß seine Maßlosigkeit für ganz Europa die Werte bedrohte, auf denen die abendländische Kultur seit Jahrhunderten beruhte.

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Sechstes Buch,

DER Z W E I T E W E L T K R I E G U N D DAS E N D E D E S D R I T T E N R E I C H E S

DEUTSCHLANDS KRÄFTEPOTENTIAL Wer Hitlers Reden glaubte, mußte Deutschland für den Krieg glänzend gerüstet halten, den er begann. Wie die Dinge in Wirklichkeit lagen, konnte allerdings nur ein Vabanquespieler sein 80-Millionen-Volk in einen wahrscheinlich weltweite Ausmaße annehmenden Konflikt verwickeln. Die Reidisfinanzen gerieten durch die hemmungslose Aufrüstung ohne Einschränkung der übrigen Staatsausgaben völlig in Unordnung. Reichsbankpräsident Schacht hatte schon am 7. Januar 1939 ein von ihm unterzeichnetes Memorandum Hitler eingereicht, das auf die Gefahren für die Währung hinwies. Daraufhin wurde Schacht am 19. Januar entlassen, Reichswirtschaftsminister Funk übernahm auch das Reichsbankpräsidium. Um diesen Wechsel zu verschleiern, blieb Schacht „Reichsminister zur Lösung besonderer Aufgaben" — doch wurden ihm keine übertragen. Am 15. Juni erließ Hitler ein Gesetz, das die Reichsbank dem Führer direkt unterstellte und sie verpflichtete, dem Reich Kredite in jeder gewünschten Höhe zu geben, damit war „der Weg für die Inflation freigemacht" (Schacht). Die Inflation trat infolge der straffen Organisation bei Löhnen und Preisen nicht in Erscheinung; wie hoch die Verschuldung des Reiches von 1939 bis 1945 tatsächlich stieg, wird sich wohl nie genau feststellen lassen. Die Vorräte für die Wehrmacht wie auch für die Zivilbevölkerung waren im September 1939 nur gering; für viele Gebrauchsgüter, besonders Textilien und Nahrungsmittel, bestanden schon seit längerem nur beschränkte Bezugsmöglichkeiten und erhebliche Qualitätsminderungen durch Ersatzstoffe, denn die knappen Devisen wurden zugunsten der Aufrüstung vorwiegend für kriegswichtige Rohstoffe verwendet. Die drei Wehrmachtsteile, Heer, Flotte und Luftwaffe, waren erst im Aufbau begriffen und keineswegs für einen großen Krieg bereit. In den vier Jahren seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht konnten unmöglich genügend Reserven und hinreichend technisch geschultes Personal für die immer komplizierter werdende Kriegsmaschinerie herangebildet werden. Von den Teilnehmern des Ersten Weltkrieges waren viele nicht mehr kriegsverwendungsfähig, die während des Krieges einberufenen jungen Soldaten oft nur unzureichend ausgebildet an die Front geschickt worden. Die Hochseeflotte zählte noch wenig Schiffe; nach dem Vertrag mit England von 1935 war die Ergänzung der kleinen, im Versailler 783

Zweiter Weltkrieg Vertrag genehmigten Flotte, nur langsam vor sich gegangen. Die beiden je 35 000 Tonnen großen Schlachtschiffe „ B i s m a r c k " und „Tirpitz" wurden erst 1941 fertiggestellt. Von den 43 im September 1939 einsatzbereiten U-Booten waren zunächst nur 22 hochseetüchtig. Die Luftwaffe, das Werk Görings, hatte zwar in der kurzen Zeit eine imponierende Stärke gewonnen. Die deutschen Flugzeugkonstrukteure, wie Heinkel, Messerschmidt, Junkers, Dornier, leisteten Hervorragendes. Große Treffsicherheit auf ein bestimmtes Ziel wurde mit den neuartigen Sturzkampfflugzeugen erreicht. Aber auch die Luftwaffe befand sich erst im Aufbau, die Reserve an Treibstoffen ζ. B. betrug nur etwa ein Drittel der vom Generalquartiermeister der Luftwaffe geforderten Menge und bei der langen Ausbildungszeit eines Fliegers ließen sich Mannschaftsverluste nur schwer ersetzen. Auf die Mängel und Gefahren einer noch unfertigen Wehrmacht haben die verantwortlichen Generale mündlich und schriftlich Hitler wiederholt aufmerksam gemacht. Immer wieder hatten sie erklärt, die Wehrmacht sei noch nicht in der Lage, mehr als einen streng lokalisierten Krieg zu führen. Militärische, diplomatische und zivile Oppositionsgruppen hatten stets von neuem versucht, Hitler durch Einschaltung des Auslandes an der Entfesselung eines Krieges zu hindern; sie gingen dabei oft an die Grenze des Hochverrates. Hitler ließ sich indessen von seinem Wege durch Vernunftgründe nicht abbringen, immer hatten ihm Fachleute widersprochen und bisher war ihm trotzdem alles gelungen. So vertraute er weiter auf sein Genie, seine Intuition, seine Sendimg. General Hoßbach (S. 737) urteilt über die Oberste Heeresleitung: „Brauchitschs und Halders geschichtliche Schuld vor dem deutschen Volk — und nur um dieses handelt es sich hier —, besteht darin, daß sie wider besseres Wissen die Hand zur Einleitung des Krieges Hitler gereicht und dadurch dazu beigetragen haben, daß in Volk und Heer der Glaube von der Berechtigung des Krieges und die Meinung, ihn siegreich bestehen zu können, Boden gewinnen konnte. Sie haben das Ansehen der Heeresführung einer unmoralischen politischen Führung zur Verfügung gestellt und aus Schwäche verspielt. Sie haben das Heer in voller Kenntnis seiner Unfertigkeit und seiner Ungeeignetheit für einen Eroberungskrieg dem Willen eines Mannes zum Opfer gebracht und den Untergang von Heer und Volk herbeiführen helfen." Zunächst behielt Hitler scheinbar wieder recht, über zwei Jahre lang schritt er von Erfolg zu Erfolg, die eroberten Länder lieferten ihm die fehlenden Rohstoffe und Arbeitskräfte und ergänzten die Lücken der Vorräte.

DER FELDZUG IN POLEN Am Morgen des 1. September 1939 rückten deutsche Divisionen von Ostpreußen, Pommern und Schlesien aus in Richtung auf Warschau vor, vom Protektorat Böhmen und Mähren sowie von der Slowakei aus nach Osten zum San. Die zahlenmäßig und vor allem infolge des Mangels an Panzern von vornherein schwächere 784

Feldzug in Polen polnische Armee hatte noch nicht einmal ihre Mobilisierung beendet. Die deutsche Luftwaffe vernichtete die polnische schon in den ersten Tagen durch Angriffe auf die Flugplätze in Polen. Die neue Taktik des schnellen Vorstoßes tiefer Panzerkolonnen mit enger Frontbreite bewährte sich glänzend. Ihr schnelles Vorrücken trennte die an den Grenzen auseinandergezogenen polnischen Armeen, die von den nachfolgenden deutschen Truppen an mehreren Stellen eingekesselt und trotz tapferer Gegenwehr gefangengenommen oder vernichtet wurden. Die Operationen verliefen planmäßig, oft schneller als angesetzt, Siegesmeldung um Siegesmeldung konnte verkündet werden. Am 7. September floh die polnische Regierung, am 8. erreichten die deutschen Panzer die Vorstädte von Warschau, das als Festung ausgebaut und nach seiner Einschließung am 10. September zäh verteidigt wurde. Die Oberste Heeresleitung wollte die Ubergabe durch Hunger erreichen, Hitler befahl schwere Beschießimg und Bombenangriffe, um eine schnelle Entscheidung zu erzwingen. Am 17. September befand sich außer Warschau, Modlin und der Halbinsel Heia fast ganz Polen bis zu den mit der Sowjetunion als Grenzen der beiderseitigen Interessengebiete vereinbarten Flüssen in der Hand der deutschen Truppen, in Galizien griffen sie sogar darüber hinaus, weil sie das ölrevier von Drohobycz für sich zu gewinnen hofften. Die schnellen deutschen Siege machten die Russen besorgt, sie mobilisierten in großer Eile 3 Millionen Mann und rückten am 17. September ihrerseits in Polen ein mit der Begründung, daß der polnische Staat und seine Regierung tatsächlich zu bestehen aufgehört hätten; die Sowjetunion könne daher die ihr blutmäßig verwandten Ukrainer und Weißrussen auf polnischem Gebiet nicht schutzlos „der Willkür des Schicksals" überlassen. Als Molotow am 17. September dem deutschen Botschafter in Moskau den Einmarsch der Truppen in Ostpolen mitteilte, gab er an, die Ukrainer und Weißrussen müßten vor der Bedrohung der Deutschen geschützt werden. Hitler wollte den Westmächten ein Bild deutsch-sowjetischer Freundschaft bieten und erreichte eine Änderung der sehr auffallenden Begründung für den russischen Einmarsch; zu einer gemeinsamen Erklärung wollte sich Stalin allerdings nicht verstehen, regte aber die endgültige Reglung der polnischen Frage an. Ribbentrop fuhr nach Moskau, am 28. September kam nach kurzen Verhandlungen der „Deutsch-sowjetische Grenz- und Freundschaftsvertrag" zustande, angeblich „ein sicheres Fundament für einen dauerhaften Frieden in Osteuropa"; den „wahren Interessen aller Völker" würde es entsprechen, wenn England und Frankreich jetzt mit Deutschland Frieden schlössen. Polen wurde zwischen Deutschland und Sowjetrußland nach dem unterzeichneten Geheimvertrag aufgeteilt, nur daß Rußland auf seinen Wunsch Litauen erhielt und Deutschland dafür die Gebiete bis zum Bug. Jegliche Einmischung dritter Mächte in diese Reglung wurde abgelehnt. Engere wirtschaftliche Beziehungen sollten die Freundschaft bekräftigen. Lemberg und die ölfelder von Drohobycz mußten die Deutschen Rußland überlassen, doch wurden ihnen Erdöllieferungen zugesichert. Stalin hatte von Deutschland erreicht, was er wollte, und er zögerte nicht, die neue Lage auszunützen. Mit Estland, Lettland und Litauen Schloß er in den nächsten vierzehn Tagen „Beistandspakte", die zwar nominell die Souverä-

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Bühler, Deutsche Geschidite, VI

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Zweiter Weltkrieg nität der Baltikumstaaten bestehen ließen, tatsächlich aber mit dem Recht auf militärische Stützpunkte, Häfen und Flugplätzen, Rußland die Herrschaft zugestanden. Finnland zu einem ähnlichen Vertrag zu zwingen, gelang Stalin vorerst nicht. Von dem nicht an Rußland gefallenen Teil Polens wurde ein großes Gebiet — beträchtlich mehr, als 1918 zu Deutschland gehört hatte — zum Reich geschlagen. Der Rest wurde als „Generalgouvernement" mit der Hauptstadt Krakau zusammengefaßt, der nationalsozialistische Reichsminister Hans Frank als Generalgouverneur eingesetzt und die Verwaltung so geführt, wie sich Hitler den Sieg der Herrenrasse von jeher dachte: die Polen mußten ihre Arbeitskraft und die Produkte ihres Landes dem Reich zur Verfügung stellen; gegen die polnische Intelligenz, die Geistlichkeit und die Juden wurde brutal vorgegangen. Mehrere Generale versuchten der alten militärischen Tradition gemäß den Mißhandlungen der polnischen Bevölkerung durch die Waffen-SS entgegenzutreten. Da aber die SS nur die Weisungen Hitlers und Himmlers befolgte, kam es vor, daß Militärgerichte SS-Leute wegen Gewalttätigkeiten und Mord zum Tode verurteilten und von oben her die Urteile aufgehoben wurden. Inzwischen waren die Kämpfe in Polen zu Ende gegangen, am 22. September kapitulierte Warschau, am 28. Modlin, am 2. Oktober die befestigte Halbinsel Heia. Die polnische Regierung war über Rumänien nach Paris geflohen und konstituierte sich hier als Exilregierung; Reste der polnischen Armee, denen die Flucht gelungen war, stießen zur französischen, einige polnische Schiffe zur englischen Flotte. Göring hatte in Berlin am 9. September in einer zweistündigen Rede und Hitler am 20. September „als Befreier" in Danzig England als Kriegshetzer heftig angegriffen, wobei den Franzosen klargemacht werden sollte, daß England sie nur für seine Zwecke mißbrauche: „Das englische Schlagwort, Franzosen, das müßt Ihr Euch merken: England wird bis zum letzten Franzosen Krieg führen", sagte Göring; und Hitler: „Ich habe Mitleid mit dem französischen Poilu. Für was er kämpft, weiß er wohl nicht." Hitlers und Görings besonderen Zorn erregte natürlich die englische Parole, der Kampf gelte nicht dem deutschen Volk, sondern dem „Hitlerismus". Göring behauptete dagegen: „Den Führer vernichten, heißt das deutsche Volk vernichten. Denn für alle Zeiten haben wir proklamiert: Deutschland ist Hitler und Hitler ist Deutschland." Den Mangel an Begeisterung für den Krieg im deutschen Volk erklärte Hitler damit, daß die Begeisterung diesmal kein Hurra-Patriotismus sei wie 1914, sondern „im Innern lodert". Zum Abschluß des Polenkrieges hielt Hitler am 6. Oktober im Reichstag eine seiner mehrstündigen Reden, rückte mit den bekannten Phrasen seine friedliebende und aufbauende Politik ins hellste Licht, feierte den Sieg der deutschen Truppen, die Freundschaft mit Rußland, das gute Einvernehmen mit allen Staaten, abgesehen von Frankreich und England, an die er keinerlei Forderungen außer der Rückgabe der deutschen Kolonien zu stellen und um deren Freundschaft er sich jahrelang bemüht habe. „Weshalb soll nun der Krieg im Westen stattfinden? Für die Wiederherstellung Polens? Das Polen des Versailler Vertrags wird niemals 786

Pläne und Abwarten im Westen wieder erstehen." Den Versailler Vertrag sehe die deutsche Regierung als nicht mehr bestehend an, nun müßten „die großen Nationen in diesem Kontinent zusammentreten, um in einer umfassenden Reglung ein Statut auszuarbeiten, anzunehmen und zu garantieren, das ihnen allen das Gefühl der Sicherheit, der Ruhe und damit des Friedens gibt." Sollten die „Herren Churchill und Genossen" trotzdem den Krieg wollen, so werde Deutschland bis zum Siege kämpfen. Auf dieses unbestimmte Friedensangebot erhielt Hitler von den englischen und französischen Staatsmännern eine glatte Absage. Die Westmächte müßten die Freiheit gegen die ständige Bedrohung durch die nationalsozialistische Regierung verteidigen, bis diese die Welt davon überzeugen könne, daß die Angriffe aufhören und die Versprechungen gehalten würden.

H E R B S T UND W I N T E R 1939/40 Pläne und Abwarten im. Westen Hitlers Vabanquespiel hatte sich im September 1939 wieder einmal als erfolgreich erwiesen, er hatte in Polen fast die gesamte aktive deutsche Wehrmacht einsetzen können. Die Westgrenze schützten nur der unfertige Westwall, 8 aktive Infanteriedivisionen und etwa 23 großenteils noch nicht einsatzfähige Reserve-, Landwehr- und Ersatzdivisionen. Panzer und schwere Artillerie standen vollständig in Polen zur Verfügung. Die Franzosen nützten diese Schwäche nicht aus, ihr Heer marschierte hinter der Maginotlinie auf, vier im Laufe des September nach Frankreich gebrachte englische Divisionen verstärkten die französischen Truppen. Die Vereinbarungen der französischen Regierung über eine Entlastungsoffensive im Westen zugunsten Polens waren klar und bindend, trotzdem geschah von französischer Seite nichts. Die französische Offensive hätte freilich erst beginnen können, nachdem die Hauptschläge gegen die polnische Armee schon gefallen waren, aber ein mit überlegenen Kräften geführter Angriff auf schwach verteidigtes deutsches Gebiet hätte großen Eindruck gemacht. Der Oberbefehlshaber des französischen Heeres General Gamelin hatte jedoch von den Schlachten des Ersten Weltkrieges her den Grundsatz: wer angreift, verliert! Nach Beendigung des Feldzugs in Polen kam ein großer Teil der deutschen Truppen, Panzer und Artillerie an die Westgrenze; die akute Gefahr für das Reich war damit überwunden. Beide Seiten rüsteten fieberhaft und verstärkten laufend Mannschaften und Kriegsmaterial, die englischen Divisionen in Frankreich wuchsen auf zehn an, dennoch blieb es den ganzen Winter über im Westen nur bei Spähtruppunternehmen. Die Franzosen sprachen von „ce drôle de guerre" (diesem komischen Krieg), die Engländer von „twilight-war" (Krieg im Zwielicht). Hitler, dessen Selbstüberhebung nach dem Sieg über Polen und bei der scheinbaren Schwäche der Westmächte nun vollends keine Grenzen mehr kannte, hätte allerdings am liebsten Frankreich sofort angegriffen. Schon am Tag nach seiner 787 50·

Zweiter Weltkrieg — Herbst und Winter 1939/40 Rückkehr vom Polenfeldzug, am 27. September 1939, erklärte er den Oberbefehlshabern der Wehrmacht, noch in diesem Herbst müsse der Schlag gegen den Westen geführt werden, um die Bedrohung des Ruhrgebiets abzuwenden und die augenblickliche Überlegenheit der deutschen Waffen auszunützen. Er wartete nicht einmal bis zur offiziellen Ablehnung seines unbestimmten Friedensangebotes vom 6. Oktober, das wohl überhaupt wieder mehr ein „Alibi" dem eigenen Volk gegenüber als eine emsthafte Verhandlungsgrundlage sein sollte, sondern legte der Obersten Heeresleitung am 10. Oktober eine von ihm selbst verfaßte, 58 Seiten lange Denkschrift und eine „Weisung für die Kriegführung" vor, in denen er die Notwendigkeit der baldigen Offensive genauer begründete und allgemeine Richtlinien für den ersten Operationsplan gab. Zweck des Angriffs sei, die gegnerischen Heere zu schlagen und „möglichst viel holländisch-belgischen und nordfranzösischen Raum als Basis für eine aussichtsreiche Luft- und Seekriegsführung gegenüber England und als weites Vorfeld des lebenswichtigen Ruhrgebietes zu gewinnen". Die Oberste Heeresleitung widersetzte sich einem sofortigen Angriff aus verschiedenen Gründen: vom Ersten Weltkrieg her fürchtete sie die politischen Auswirkungen eines abermaligen Neutralitätsbruches, im polnischen Feldzug hatten sich trotz der Siege bei den Truppen allerlei Mängel gezeigt, die behoben werden mußten; die Anlieferungen von Panzern, Munition usw. waren noch nicht ausreichend, die Wetterlage und die Bodenverhältnisse im November für einen Angriff sehr ungeeignet. Vor allem hoffte die Widerstandsgruppe unter den Offizieren, daß, wenn Zeit gewonnen würde, durdi Verhandlungen der Krieg mit den Westmächten vielleicht doch vermieden werden könnte. Hitler ließ sich von seinem Entschluß nicht abbringen und setzte den Angriff auf den 12. November fest. Sowohl die militärische Opposition um Halder, Beck, Canaris wie die zivile um Goerdeler, Schacht und andere planten den Sturz Hitlers, aber die Vermutung, der Putschplan sei verraten, und die Überzeugung, das stark mit Hitlerjugend durchsetzte Heer würde den Oppositionsführern nicht gehorchen, erstickten auch diese Vorhaben im Keim. Schließlich sah sieh Hitler durch die Warnungen seiner Generale und schlechtes Wetter doch veranlaßt, den Angriff im Westen vorerst zu verschieben. Am 23. November 1939 hielt er vor den Befehlshabern der Wehrmacht eine Rede, die genauer und entschlossener zum großen Teil wiederholte, was er schon am 23. Mai und am 10. Oktober dargelegt hatte: Sicherung des für das deutsche Volk notwendigen Lebensraumes durch das Schwert. „Grundsätzlich habe ich die Wehrmacht nicht aufgestellt, um nicht zu schlagen. Der Entschluß zum Schlagen war immer in mir. Früher oder später wollte ich das Problem lösen." Rußland sei zur Zeit ungefährlich, aber es werde den Vertrag nur so lange halten, wie er ihm nütze; es strebe nach der Stärkung seines Einflusses in der Ostsee, auf dem Balkan und am Persischen Golf. Das sei auch das Ziel der deutschen Außenpolitik. „Wir können Rußland nur entgegentreten, wenn wir im Westen frei sind"; die internationale Lage sei im Augenblick für Deutschland günstig, seine Wehrmacht zahlen- und wertmäßig den anderen überlegen, dazu habe es die stärkste 788

Seekrieg Rüstungsindustrie. „Wenn England und Frankreich durch Belgien und Holland in das Ruhrgebiet vorstoßen, sind wir in höchster Gefahr", deshalb müßte man ihnen zuvorkommen, Holland und Belgien würden als Basis für U-Boot-, Minen- und Luftwaffe benötigt. „Die dauernde Minenverseudiung seiner Küste wird England auf die Knie zwingen . . . Idi habe das deutsche Volk zu großer Höhe geführt, wenn man uns auch jetzt in der Welt haßt. Dieses Werk setze ich aufs Spiel . . . Verletzung der Neutralität Belgiens und Hollands ist bedeutungslos. Kein Mensch fragt danach, wenn wir gesiegt haben. Wir werden die Verletzung der Neutralität nicht so idiotisch begründen wie 1914." Im Laufe der folgenden Monate setzte Hitler den Angriff 29mal fest, sah sich aber — meist wegen der Wetterlage — immer wieder genötigt, den Befehl zurückzunehmen.

Das Attentat vom 8.

November

Am 8. November hielt Hitler im Münchner Bürgerbräukeller mit seinen alten Kämpfern die gewohnte Erinnerungsfeier an 1923 ab. Kurz nachdem Hitler seine Rede überraschend schnell zu Ende geführt und den Saal eilig verlassen hatte, explodierte eine Bombe, 6 der Anwesenden wurden getötet und über 60 verletzt. Die Gestapo gab die Schuld dem englischen Geheimdienst, der Schwarzen Front Otto Strassers und dem an der Schweizer Grenze verhafteten kommunistischen Schreiner Elser. Der angekündigte große Prozeß fand nie statt; ziemlich sicher ist, daß die Gestapo selbst Elser zu dem Attentat veranlaßte, um der Propaganda zu ermöglichen, die wunderbare Errettung Hitlers, des Werkzeugs der Vorsehung, gebührend zu preisen.

Seekrieg Trotz der geringen Zahl der hochseetüchtigen deutschen U-Boote waren die Erfolge der Versenkung von Handelsschiffen beträchtlich, bis die Westmächte ihr Geleitzugs- und Abwehrsystem besser organisiert hatten. In den ersten sechs Wochen erlitt die englische Kriegsmarine zwei schwere Verluste: deutsche U-Boote versenkten am 17. September 1939 den Flugzeugträger „Courageous" und am 14. Oktober mitten im Hafen von Scapa Flow das Schlachtschiff „Royal Oak". Die beiden zur Zeit der Weimarer Republik gebauten Panzerschiffe „Deutschland" und „Graf Spee" liefen noch vor der britischen Blockade in den Atlantik aus, sie sollten die Handelsschiffahrt stören, Seegefechte dabei vermeiden und nur durch ihr bloßes Dasein Teile der englischen Flotte binden. Die „Deutschland" hielt sich an diese Weisung und kehrte Anfang November in den Heimathafen zurück. Die „Graf Spee" führte ihre Kaperfahrten nicht minder erfolgreich, verwickelte sich aber am 13. Dezember in ein Seegefecht mit englischen Kreuzern, in dem sie so schwerwiegende Beschädigungen erlitt, daß sie den Hafen von Montevideo anlaufen mußte. Da die Graf Spee infolge englischen Drucks wieder zum 789

Zweiter Weltkrieg — Herbst und Winter 1939/40 Auslaufen gezwungen wurde, ohne ihre Schäden repariert zu haben, vermied der Kommandant ein sinnloses Gefecht gegen die inzwischen versammelte britische Übermacht. Er ließ seine Besatzung in Uruguay internieren und versenkte sich mit seinem Schiff in der La-Plata-Mündung. Am 2. März 1940 veröffentlichte das Oberkommando der Wehrmacht einen Bericht über die ersten sechs Kriegsmonate, in dem sich die Zahlen der versenkten und beschädigten Schiffe sehr stattlich ausnahmen. Dennoch gab es sich, darüber keiner Täuschung hin, daß trotz des tapferen Einsatzes der deutschen Schiffe und Flugzeuge die Versorgung Englands dadurch nur gestört, in keiner Weise jedoch gefährdet war. Die deutsche Handelsflotte wurde teils gekapert, teils in neutralen Häfen interniert, teils gelang es den Schiffen in abenteuerlichen Fahrten die englische Blodcade zu durchbrechen und, wie die Bremen (51 656 Bruttoregistertonnen), den Heimathafen zu erreichen.

Der russisch-finnische

Winterkrieg

Ende November 1939 begann die Sowjetunion gegen Finnland den Krieg, weil es die russischen Forderungen abgelehnt hatte: Gebietsabtretungen in Karelien — zur Sicherung des nur 32 km von der finnischen Grenze entfernt liegenden Leningrad •— sowie an der Eismeerküste; dazu die Verpachtung von Hangö am Eingang des Finnischen Meerbusens. Fast alle Staaten sympathisierten mit Finnland; der Völkerbund forderte die Sowjetunion am 11. Dezember auf, binnen 24 Stunden die Feindseligkeiten einzustellen, der negativen Antwort Rußlands folgte dessen Ausschluß aus dem Völkerbund. Die Kämpfe in Finnland zogen sich erheblich länger als erwartet hin. Die Russen hatten nur einen kleinen Teil ihrer Truppen im Felde, Finnland leistete tapferen Widerstand und wurde durch Freiwillige aus den skandinavischen Ländern und Italien sowie mit Geldund Waffenlieferungen aus Schweden, Frankreich, England, den Vereinigten Staaten und Italien unterstützt. In Deutschland war die Stimmung ebenfalls für die Finnen, der Regierung band aber der Vertrag mit der Sowjetunion die Hände; immerhin unterstützte Göring heimlich die Finnen mit Geld und Munition. England und Frankreich planten die Entsendung eines Expeditionskorps, inzwischen brachen aber stärkere russische Kräfte den finnischen Widerstand. Am 12. März 1940 wurde in Moskau der Friede geschlossen, Finnland mußte die russischen Forderungen erfüllen, im übrigen behielt es seine Selbständigkeit.

DIE BESETZUNG DÄNEMARKS UND NORWEGENS Churchill, seit Kriegsbeginn Marineminister im Kabinett Chamberlain, hatte wiederholt auf die Bedeutung der norwegischen Küste hingewiesen und darauf, daß Schweden und Norwegen notfalls zur Aufgabe ihrer Neutralität gezwungen werden müßten. Ähnlich hatte der Oberbefehlshaber der deutschen Kriegsmarine, 790

Besetzung Dänemarks und Norwegens Großadmiral Raeder, im Oktober 1939 Hitler dargelegt, wie gefährlich die norwegische Küste in englischer Hand für Deutschland werden könnte. Umgekehrt mußte eine deutsche Besetzung den eigenen Schiffen freien Zugang zum Nordatlantik gewähren, die Anfahrtswege der U-Boote verkürzen und für den E i transport aus Schweden den wichtigen Hafen von Narvik sichern. Da suchte Mitte Dezember Vidkun Quisling, der Führer der norwegischen Nationalen Sammlungspartei, Hitler in Berlin auf, warnte ihn vor der deutschfeindlichen Stimmung in Norwegen und sprach von seiner Hoffnung, mit deutscher Hilfe einen Staatsstreich zu unternehmen, der Norwegen an die Seite Deutschlands bringen und vor einem englischen Zugriff sichern würde. Das deutsche Oberkommando der Wehrmacht ließ nun einen Plan zur Besetzung Norwegens ausarbeiten, ebenso erwog der Oberste Kriegsrat der Alliierten in Paris seit Ende Januar 1940 die Verminung der norwegischen Küstengewässer und die Besetzung norwegischer Häfen, gegebenenfalls auch der wichtigen Bahn Narvik—Lulea und der schwedischen Erzgruben, um einerseits Finnland helfen und andererseits Deutschland von der schwedischen Erzzufuhr abschneiden zu können, die im Winter über Narvik verschifft wurde. Am 16. Februar verfolgte ein britischer Zerstörer den deutschen Dampfer „Altmark" bis tief in einen norwegischen Fjord, enterte den Dampfer, befreite etwa 300 britische Seeleute. Die „Altmark" hatte die Gefangenen im Südatlantik von der „Graf Spee" übernommen und sollte sie nach Deutschland bringen. Die Engländer hatten dies schon lange erfahren und deshalb auf die „Altmark" Jagd gemacht. Die norwegische Regierung protestierte gegen die Verletzung ihrer Neutralität; überhaupt lehnten die drei skandinavischen Staaten die wiederholten Aufforderungen der Westmächte, sich ihnen anzuschließen, einmütig ab. Sie wollten nicht zum Kriegsschauplatz werden, sondern streng neutral bleiben. Der Altmarkfall zeigte Deutschland, daß England vor einem Neutralitätsbruch nicht zurückschrecke, und so wurde nun gleichzeitig auf deutscher wie auf englischer Seite eifrig an Plänen zur Besetzung norwegischer Häfen gearbeitet. Schon am 16. Dezember 1939 war Churchill in einer Denkschrift für das moralische Recht zur Besetzung Norwegens auch gegen dessen Willen eingetreten: „Die kleinen Nationen dürfen uns nicht die Hände binden, wenn wir für ihre Rechte und ihre Freiheit kämpfen. Der Buchstabe des Gesetzes darf nicht in höchster Not diejenigen hemmen, die mit seinem Schutz und seiner Ausführung betraut sind." In Deutschland stand laut Weisimg Hitlers vom 1. März an die Oberbefehlshaber der Wehrmacht fest, daß zur Sicherung der Besetzung Norwegens auch Dänemark in deutscher Hand sein müßte; „Grundsätzlich ist anzustreben, der Unternehmimg den Charakter einer friedlichen Besetzung zu geben, die den bewaffneten Schutz der Neutralität der nordischen Staaten zum Ziel hat." Die Engländer setzten die Verminung der norwegischen Küstengewässer anfangs auf den 5. April 1940 fest, verschoben sie dann aus technischen Gründen auf den 8. April; an diesem Tag sollten sich auch die Schiffe mit den Landungstruppen für Narvik, Stavanger, Bergen und Drontheim in Bewegung setzen. Die deutsche Aktion wurde auf den 9. April festgelegt, vom 3. April ab liefen die 791

Zweiter Weltkrieg — Frühjahr 1940 Sdiiffe aus den deutschen Häfen aus. Am Morgen des 9. April begann planmäßig der Feldzug gegen Dänemark und Norwegen, während die deutschen Gesandten in Kopenhagen und Oslo den dortigen Regierungen Memoranden übergaben. Hitler begründete darin sein Vorgehen mit den Neutralitätsverletzungen und Angriffsplänen der Engländer, die Reichsregierung müsse deshalb den Schutz der Königreiche während des Krieges übernehmen, ohne die territoriale Integrität und politische Unabhängigkeit der beiden Länder antasten zu wollen. Jeder Widerstand werde jedoch gebrochen. In Dänemark gaben König und Regierung angesichts der aussichtslosen Lage sofort unter Protest nach. Die Besetzung vollzog sich fast kampflos, die dänische Regierung blieb im Amt neben dem zum Reichsbevollmächtigten ernannten bisherigen deutschen Gesandten Dr. von Renthe-Fink, der sein Amt loyal führte. In Norwegen scheiterte die diplomatische Einigung an Hitlers Forderung, eine Regierung Quisling einzusetzen; König Haakon lehnte dies ab mit der Begründung, Quislings Partei habe bei den letzten Wahlen nur 2% der Stimmen erhalten. In der Hoffnung auf englische Unterstützung setzte sich die kleine, unvorbereitete norwegische Armee tapfer zur Wehr, König Haakon wich mit seiner Regierung nach Norden aus. Die deutsche Besetzung von Oslo, Kristiansand, Stavanger, Bergen, Drontheim und Narvik ging unter schweren Kämpfen mit den Norwegern und anschließend mit den inzwischen auch eingetroffenen Einheiten der britischen Flotte vor sich; dank ihrer Tapferkeit und der vorzüglichen Zusammenarbeit von Heer, Flotte und Flugzeugen konnten sich die deutschen Truppen überall behaupten. Die an verschiedenen Stellen gelandeten britischen Truppen mußten sich wieder einschiffen. Besonders gefährlich war zeitweise die Lage der deutschen Kräfte unter Generalleutnant Dietl in Narvik, doch veranlaßten die Ereignisse des Feldzugs im Westen, der am 10. Mai 1940 begonnen hatte, die Engländer, am 8. Juni auch hier den Kampf abzubrechen, nachdem König Haakon auf einem englischen Schiff Norwegen verlassen hatte. Am Tag seiner Abreise erschien der Aufruf: „Das norwegische Oberkommando der Wehrmacht hat dem König und der Regierung den Rat gegeben, den Kampf im Lande selbst vorläufig einzustellen . . . Aber König und Regierung geben deswegen den Kampf um die Wiedergewinnung der norwegischen Selbständigkeit nicht auf. Im Gegenteil — sie werden ihn außerhalb der Landesgrenzen weiterführen." Am 10. Juni wurden die Kapitulationsverhandlungen abgeschlossen, die Bedingungen waren sehr milde; sie sollten ein gutes Verhältnis zwischen Norwegern und Deutschen ermöglichen. Die militärische Führung behielt der Leiter des norwegischen Feldzuges, General Falkenhorst, die zivile Verwaltung übertrug Hitler dem Gauleiter Terboven als Reichskommissar. Die Vergewaltigung ihres Landes erbitterte die Norweger um so mehr, als das für die Rassenideale und den Germanenkult eingenommene nationalsozialistische Deutschland jahrelang sehr freundschaftliche Beziehungen zu Norwegen gepflegt hatte. Von Schweden verlangte die deutsche Regierung nur strikte Neutralität, Einstellung aller Mobilmachungsmaßnahmen und Fortsetzung der Erzlieferungen. Schweden sagte alles zu und wahrte erfolgreich seine Neutralität bis zum Ende 792

Besetzung Dänemarks und Norwegens des Krieges. — Rußland zeigte sich zur großen Erleichterung Hitlers mit der Besetzung Norwegens ganz einverstanden, weil damit die Gefahr einer Stärkung Finnlands durch die Westmächte abgewendet war. Hider hatte auch mit dem militärisch sehr gewagten Unternehmen gegen Norwegen sein Ziel erreicht: um einen Tag war er infolge der Terminverschiebung seitens der Alliierten den Westmächten zuvorgekommen. Die Besetzung der norwegischen Häfen sicherte den Deutschen den Zugang zur Ostsee, die Erzzufuhr aus Schweden und eine Basis für Flotten-, besonders U-Boot-Vorstöße, im Nordatlantik. Trotzdem wird der Wert des Norwegenfeldzuges sehr verschieden beurteilt. Eine Bedrohung durch England lag zweifellos vor; ihm den schweren Neutralitätsbruch einer Besetzung norwegischer Häfen zu überlassen, wäre vielleicht klüger gewesen. So wirkte sich aber der wamungslose Überfall auf zwei Länder, deren Neutralität Hitler garantiert hatte, für Deutschland als schwere moralische Belastung aus. Überdies hätte ein Vordringen Englands in die Ostsee und an die finnische Grenze vermutlich Rußland stark beunruhigt und zum Gegner der Westmächte gemacht. Die großen militärischen Leistungen der deutschen Wehrmacht erkennt auch Churchill offen an: „Überraschung, Brutalität und Präzision kennzeichnen den deutschen Überfall auf das schuldlos offen daliegende Norwegen", „die Überlegenheit der Deutschen (über die Alliierten) in Planung, Führung und Tatkraft war offensichtlich. Rücksichtslos führten sie einen sorgfältig vorbereiteten Operationsplan durch. Sie verstanden es meisterhaft, sich alle Möglichkeiten zunutze zu machen, die der Einsatz großer Luftstreitkräfte bieten konnte." Fraglich ist allerdings, ob die große Ausweitung des Kriegsschauplatzes nach Norden, die während der Dauer des Krieges über 300 000 Mann zur Verteidigung erforderte, sich lohnte. Außerdem hatte die deutsche Hochseeflotte in dem Norwegenfeldzug empfindliche Verluste erlitten (1 schwerer, 2 leichte Kreuzer, 10 Zerstörer, 1 Torpedoboot, 6 Unterseeboote und 15 kleinere Fahrzeuge); dazu mußte eine Reihe beschädigter Schiffe monatelang erst wieder ausgebessert werden, und all dies zu einem Zeitpunkt, als der große Kampf im Westen begonnen hatte. Churchill schließt seinen Bericht über die Fehler und Fehlschläge der alliierten Kriegführung während dieser Wochen befriedigt: so „stellte die deutsche Flotte in dem entscheidenden Augenblick, da Großbritannien von einer Invasion bedroht war, keinen in die Waagschale fallenden Faktor mehr dar".

DER WESTFELDZUG Vorgeschichte

und Aufmarsch

Die immer erneute Verschiebung des von Hitler so dringend gewünschten Angriffs im Westen hatte neben dem jahreszeitlich bedingten, besonders für die Flugwaffe ungünstigen Wetter zwei Gründe: die von den Generalen so sehr 793

Zweiter Weltkrieg — Westfeldzug 1940 herausgestellte unzureichende Ausbildung und Ausrüstung des Heeres — sie wurden bis zum Frühjahr bedeutend vervollkommnet. Zweitens wurde von verschiedenen Seiten die Hoffnung gehegt, doch noch einen Friedensschluß zu erreichen; mancherlei Versuche von neutraler Seite scheiterten vor allem daran, daß England die Wiederherstellung der Selbständigkeit Polens und der Tschechoslowakei als Grundlage für Einleitung von Verhandlungen forderte, und Hitler dies von vornherein ablehnte. Vom 25. Februar bis 21. März besuchte der amerikanische Unterstaatssekretär Sumner Welles im Auftrag Roosevelts Rom, Paris, London und Berlin, um sich über Friedensmöglichkeiten zu orientieren. Hitler betrachtete seinen Besuch sehr mißtrauisch und zeigte keinerlei Entgegenkommen. Auch aus den anderen Hauptstädten kehrte Welles mit dem Eindruck nach Washington zurück, daß nichts zu erreichen sei. Mussolini hatte am 4. Januar Hitler einen Brief geschrieben, in dem er zur Einigung mit den Westmächten riet: er werde gern die Vermittlerrolle übernehmen, ein Kampf mit England und Frankreich würde alle Beteiligten schwächen, aber eine totale Niederlage der Westmächte würden die Vereinigten Staaten nie zulassen. Mussolini warnte auch vor einem allzu engen Verhältnis zur Sowjetunion; dies würde bei dem „einmütig antibolschewistisdi eingestellten" Italien katastrophale Folgen haben: „Die Lösung Ihres Lebensraumproblems liegt in Rußland und nicht anderswo." Über den Brief war Hitler so verärgert, daß er zunächst überhaupt nicht antwortete. Erst der Besuch von Sumner Welles, der seine Reise in Rom begann und beschloß, veranlaßte Hitler, Mussolini am 10. März durch Ribbentrop eine Antwort überreichen zu lassen. Hitlers Siegeszuversicht, von Ribbentrop mündlich noch bekräftigt, verleitete Mussolini trotz der Warnungen Cianos zu dem Versprechen, an der Seite des Nationalsozialismus am Kampf teilzunehmen, nur den Zeitpunkt behalte er sich vor. Bei einer Zusammenkunft mit Hitler am Brenner (18. März 1940) wiederholte Mussolini diese Zusage, obgleich er sie wohl mehr aus Verärgerung über die Allüerten abgab, die Italien die Kohlenzufuhr über die holländischen Häfen gesperrt und Kohlenschiffe beschlagnahmt hatten, als aus Überzeugung von Hitlers Sieg. Die notwendigen Kohlenimporte versprach die deutsche Regierung auf dem Landwege nach Italien zu schaffen. Am 29. April wurde der italienische Botschafter in Berlin, Attolico, der stets für Erhaltung des Friedens eintrat, abberufen und durch Dino Alfieri, den früheren Propagandaminister, ersetzt. Da am 10. Januar 1940 ein deutsches Kurierflugzeug auf belgischem Boden bei Mecheln hatte notlanden müssen und dabei Operationspläne für den Westfeldzug in die Hände der Belgier gefallen waren, lag es nahe, einen neuen Operationsplan zu entwerfen. Hitler griff dann auch später bei einer Unterredung mit den kommandierenden Generalen eine Studie auf, die General von Manstein bereits dem Generalstab vorgelegt hatte. Hitler machte die Ideen Mansteins zu seinen eigenen. Nach diesem Plan sollten massierte Panzerkräfte den Hauptangriff durch die unwegsamen Ardennen, Luxemburg und Südbelgien gegen die schwache Stelle der Maginotlinie in Richtung Sedan vortragen und dann auf den guten französischen Straßen zur Kanalküste vordringen. Daraus wurde der neue Operations794

Verlauf des Feldzuges plan entwickelt; er war „weniger die Schöpfung eines einzelnen, als vielmehr ein durch die lange Wartezeit bedingtes Ergebnis fortschreitender militärischer Planungen, das durch ein Zusammentreffen der genialen strategischen Konzeption Mansteins und der Ideen Hitlers zustande kam; es gipfelte schließlich in jener von Halder organisatorisch vollendet gestalteten Aufmarschanweisung vom 24. Februar 1940, die in die moderne Kriegsgeschichte als der ,Sichelschnittplan eingegangen ist". Hitler „erhob später einen weitaus größeren Anspruch auf die Urheberschaft dieses Feldzugplanes, als es ihm in Wirklichkeit zustand", und nach dem Gelingen „glaubte er seine ,militärische Unfehlbarkeit' unter Beweis gestellt zu haben; er hatte erneut mit seiner Vorhersage gegenüber den warnenden Stimmen — ähnlich wie bisher auf dem Felde der Politik — recht behalten. Der Feldzug, als ,größter Sieg aller Zeiten' erklärt, begründete nun auch Hitlers Vertrauen in sein ,Feldherrngenie'. Die nationalsozialistische Propaganda übersteigerte es ins Maßlose, machte aus einem Einfall einen Mythos. Er selbst nahm in der Folgezeit in Fragen der Kriegführung kaum noch Ratschläge seiner engsten Umgebung an, sobald diese nicht mit seinen Ansichten und seinem Wunschbild übereinstimmten" (Jacobsen). Im Süden sollte die deutsche Heeresgruppe C von der Schweizer Grenze bis zur Mosel den Westwall verteidigen und durch Scheinangriffe die französischen Truppen der Maginotlinie beunruhigen. Die Aufgabe der im Norden aufmarschierten Heeresgruppe A war die Besetzung Hollands, die der Heeresgruppe Β die Eroberung Belgiens. Hier sollte der Angriff mit besonderer Wucht geführt werden, um den Anschein zu erwecken, der alte Operationsplan sei noch maßgebend. Den Hauptstoß hatten die Panzerdivisionen durch die Ardennen in Richtung auf Sedan zu führen, dann zur Kanalküste vorzudringen und, während die nachrückende Infanterie die Flanken gegen das französische Hinterland abschirmte, den „Sichelschnitt" gegen die abgeschnittene französisch-englische Armee zu vollenden. Nach persönlichen Ideen Hitlers waren völlig neue Einsatzmöglichkeiten der Luftlande- und Fallschirmjägertruppen zur Einnahme von Festungen und zur Sicherung von Brücken ausgearbeitet. Der neue Operationsplan war so geheim gehalten, daß die Alliierten ihre Vorbereitungen für den erwarteten Angriff noch ganz auf den alten Plan, bei dem der Schwerpunkt des Angriffs in Mittelbelgien gelegen hätte, abgestimmt hatten. Ihre Hauptstreitkräfte standen längs der belgisch-luxemburgischen Grenze bereit, um den Belgiern sofort zu Hilfe zu kommen.

Verlauf des Feldzuges Am Morgen des 10. Mai begann der deutsche Angriff. Hitler erließ an die Wehrmacht einen Tagesbefehl. England und Frankreich, so führte er aus, suchten seit jeher Deutschland in machtlose kleine Staaten aufzuteilen. Erst hätten sie durch Polen, dann von Norden her Deutschland angegriffen; jetzt bedrohten sie über Holland und Belgien das Ruhrgebiet, „der heute beginnende Kampf ent795

Zweiter Weltkrieg — Westfeldzug 1940 scheidet das Schicksal der deutschen Nation für die nächsten tausend Jahre. Tut jetzt Eure Pflicht!" Der belgischen und der niederländischen Regierung wurden gleichlautende Memoranden übergeben, während in ihre Länder die deutschen Truppen schon einmarschierten. Der Neutralitätsbruch wurde wieder mit der Behauptung begründet, Deutschland müsse den Alliierten zuvorkommen, und mit heftigen Vorwürfen über die Begünstigung der deutschen Gegner, deren Neutralitätsverletzungen Belgien und Holland geduldet und gefördert hätten. Ihre Grenzen wären nur gegen Deutschland befestigt und ihre Truppen nur gegen Deutschland aufmarschiert. Deshalb müsse das deutsche Heer die Neutralität der beiden Länder „sichern", ohne ihre Souveränität und ihren europäischen und außereuropäischen Besitz anzutasten. Ihre Regierungen sollten dafür sorgen, daß keinerlei Widerstand geleistet werde; andernfalls wären sie für die Folgen selbst verantwortlich. Kürzer gefaßt war die Note an die luxemburgische Regierung. Das Kabinett legte jedoch in Berlin Protest ein und rief die französische und englische Hilfe an; die großherzogliche Familie flüchtete nach Paris. Für den Vormarsch in Holland wurden einige wichtige Brücken, deren Sprengung die Holländer schon vorbereitet hatten, von den erstmals in großem Umfang eingesetzten Luftlande- und Fallschirmjägertruppen gesichert. Auch wo sie schwere Verluste erlitten, verwirrten sie zumindest die Verteidigung des Gegners. Am 14. Mai kapitulierte die holländische Regierung, nachdem am Tag zuvor die königliche Familie nach England geflohen war, wegen der Androhung schwerer deutscher Luftangriffe auf Rotterdam und Utrecht. Noch während der Verhandlungen zerstörte ein um 20 Minuten zu spät abgesagter Luftangriff Rotterdam, unter dem die Stadt in Trümmer sank und 25 000 Menschen umkamen. Bis zum 18. Mai war die restlose Besetzung Hollands vollendet. Der Angriff gegen Belgien verlief ebenso erfolgreich. Das erst 1935 erbaute starke Fort Eben Emael bei Lüttich, das den Zugang über die Maas und den Albertkanal schützte, nahmen am 10. Mai morgens um V26 Uhr technisch besonders geschulte Mannschaften ein, die lautlos mit Gleitflugzeugen auf dem Fort abgesetzt wurden. Die vorrückenden deutschen Truppen konnten so die belgische Armee schnell hinter die Dyle zurückdrängen, hier vereinigten sich die belgischen mit den französischen und englischen Divisionen. Unter zum Teil schweren Kämpfen setzten die Deutschen ihren Vormarsch fort. Am 25. Mai gelang es ihnen, einen tiefen Keil zwischen Belgier und Engländer zu treiben; die Franzosen und Engländer gingen auf die Linie Ypern—Dixmuiden—Nieuport zurück. Die auf kleinem Raum an der Küste zusammengedrängten Belgier ergaben sich am 27./28. Mai. König Leopold III., der seine Armee nicht verlassen hatte, wollte sie nicht in hoffnungslosem Kampf aufopfern; er ging mit ihr in die Gefangenschaft. Seine ins Ausland geflohene Regierung, die von London aus die Fortsetzung des Kampfes proklamierte, warf ihm daher Verrat vor. Der in Richtung Sedan gegen Frankreich vorprellende Angriffskeil hatte die verwegenste, schwerste und gefährlichste Aufgabe. Die Panzerdivisionen unter Generaloberst Ewald von Kleist stießen nach planmäßiger Überwindung der schwierigen Ardennenstrecke mit voller Wucht auf die überraschten französischen 796

Verlauf des Feldzuges Truppen, erzwangen an verschiedenen Stellen den Übergang über die Maas, drangen, während die nachfolgenden Infanteriedivisionen die Abwehr der allerdings nur schwachen Gegenangriffe der Franzosen übernahmen, unaufhaltsam nadi Westen vor und erreichten am 20. Mai die Sommemündung, ständig unterstützt durch starke deutsche Luftangriffe auf die feindlichen Kräfte; die zahlreichen, aber veralteten französischen Flugzeuge wurden großenteils schon auf ihren Flugplätzen zerstört. Bei den schnellen Vormärschen war der sich zwischen die französischen Armeen schiebende Keil deutscher Truppen relativ dünn, trotzdem scheiterten alle Versuche des französischen Oberbefehlshabers, General Gamelin, durch Gegenangriffe von Süden und Norden wieder eine geschlossene Front herzustellen. Gamelin wurde am 18. Mai abgesetzt, der aus Syrien herbeigerufene 73jährige General Weygand übernahm am 20. Mai die Leitung der alliierten Heere. Auch er konnte dem Verlauf des Krieges keine andere Wendung geben. Die in Nordfrankreich—Belgien stehenden englisch-französischen Truppen wurden auf immer engeren Raum an der Küste zusammengedrängt, als die Panzergruppe von Kleists nach Norden einschwenkte, an der Kanalküste vorgehend über Boulogne, Calais am 23. Mai nach Gravelines kam und die durch Belgien vordringenden deutschen Armeen von Süden und Osten her Lille, Ypem und Ostende einnahmen. Teile der französischen Armee wurden abgeschnitten und mußten sich ergeben. Die englischen und der Rest der französischen Divisionen zogen sich am 29. Mai auf den Brückenkopf Dünkirchen zurück. Am 10. Mai, dem Tag, an dem der deutsche Westfeldzug begonnen hatte, war Chamberlain wegen der Mißerfolge im Norwegenkrieg gestürzt und Churchill sein Nachfolger als Premierminister geworden; er bildete ein Kabinett der nationalen Konzentration aus Liberalen, Konservativen und der Arbeiterpartei. In seiner ersten Unterhausrede als Premierminister erklärte er: „Ich habe nichts anzubieten als Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß . . . Sie fragen mich, worin unsere Pflicht besteht? Ich antworte: sie besteht darin, Krieg zu führen zur See, zu Land und in der Luft, mit unserer ganzen Macht und mit all der Kraft, die Gott uns verleihen mag, Krieg zu führen gegen eine ungeheuerliche Tyrannei, die in der dunklen, beklagenswerten Liste menschlicher Verbrechen niemals ihresgleichen gefunden hat." So übernahm Hitlers erbittertster Feind in der Stunde höchster Gefahr die Leitung des britischen Imperiums. Er war seit Jahren für schnelle Aufrüstung und für den Kampf gegen Hitler eingetreten; den Belgiern warf er vor, sie hätten im Frieden, um ihre Neutralität trotz der schlechten Erfahrungen von 1914 zu wahren, sich nicht mit Frankreich und England in ein Militärbündnis eingelassen, das allein eine wirksame Verteidigung ermöglicht hätte. Churchill war außerdem sehr entsetzt, daß Gamelin keinerlei Reserven bereitgestellt hatte, die nach einem deutschen Durchbruch die Front wieder schließen konnten. Die Verlegung der englischen Luftwaffe auf französischen Boden und damit die Entblößung der Insel verweigerte Churchill. Schon am 20. Mai gab er den Befehl zum Bereitstellen von Schiffsraum, um die englische Armee vom Festland zurückzuziehen. Ob die Rettung der Armee gelungen wäre, vor allem in so großem Umfang, 797

Zweiter Weltkrieg — Westfeldzug 1940 wenn Hitler am 23. Mai nicht persönlich den Vormarsch der Panzertruppen zur Kanalküste gestoppt hätte, ist sehr fraglich. Viel ist über diesen Befehl Hitlers und seine Folgen gestritten worden. Hitler kannte das schwierige, von Flußläufen und Kanälen durchzogene Terrain an der Küste vom Ersten Weltkrieg her und fürchtete, die Panzertruppen, die seit vierzehn Tagen pausenlos gekämpft hatten, könnten derart schwere Verluste erleiden, daß sie für die zweite Phase des Feldzugs, die Eroberung Frankreichs, nicht mehr über ausreichende Kräfte verfügten. Er gab daher im Einverständnis mit Rundstedt den Befehl, die Panzertruppen müßten am 24. Mai haltmachen und sogar die schon weiter vorgestoßenen Spitzen wieder zurücknehmen. Der Truppe blieb der Befehl völlig unverständlich. Brauchitsch, der Oberbefehlshaber des Heeres, über dessen Kopf hinweg Hitler den Befehl gegeben hatte, setzte alles daran, daß er zurückgenommen würde. Der Generalstabsoffizier des Wehrmachtsführungsstabes, Bernhard von Loßberg, der selbst im Führerhauptquartier bei Münstereifel Dienst tat, berichtet, daß Hitler „den entrüsteten Einspruch von Brauchitsch mit der Begründung beiseite schob, Göring werde jeden Versuch einer Einschiffung zerschlagen und jedes Schiff, das trotzdem etwa die Küste verlassen könne, durch Luftangriff versenken". General Jodl, der Chef des Wehrmachtsführungsstabes, äußerte sich ähnlich: „Der Krieg ist gewonnen, er braucht nur noch beendet zu werden. Es lohnt sich nicht, einen einzigen Panzer zu opfern, wenn wir es durch die Luftwaffe viel billiger haben können" (Loßberg). Als am 26. Mai den Panzertruppen dann doch die Erlaubnis zum Vormarsch gegeben wurde, war der günstige Augenblick verpaßt; die Engländer konnten vom Meer nicht mehr abgeschnitten werden, sie hatten die Verteidigung des Brückenkopfes organisiert, am 27. begann die Einschiffung der Truppen. Churchill raffte alles, was es an Schiffsraum gab, zusammen, um nicht nur von dem halbzerstörten Hafen Dünkirchen, sondern auch vom Strand aus die Truppen einzuschiffen. So kam eine Flotte von über 850 Schiffen zusammen: Zerstörer und Transportschiffe, Motorboote und Privatjachten, Vergnügungsdampfer von der Themse, Fischer- und Rettungsboote; die kleinen Boote brachten die Soldaten vom Strand zu den größeren Schiffen, begünstigt durch das in diesen Tagen spiegelglatte Meer. Währenddem tobten fast pausenlos die Luftkämpfe, die deutsche und die britische Luftwaffe leisteten ihr Äußerstes. Göring vermochte sein Versprechen nicht zu halten; zwar wurden mehr als ein Viertel des Schiffsraums versenkt, aber fast drei Viertel kamen in die englischen Häfen zurück, und am Strand bohrten sich die Bomben beinahe wirkungslos in den Sand. 338 226 Soldaten, darunter etwa 90 000 Franzosen, konnten bis zum 4. Juni nach England gebracht werden. Das gesamte Kriegsmaterial fiel in deutsche Hand, die aktive, ausgebildete Mannschaft der neun englischen Divisionen war jedoch zu 90% gerettet. Der Rest des französischen Heeres geriet in Gefangenschaft. Damit endete der erste Teil des Westfeldzuges in überraschend kurzer Zeit. Die Vernichtung des englischen Heeres war nicht geglückt, im übrigen hatte Deutschland seine Ziele erreicht. Hitler befahl, drei Tage die Glocken zu läuten und eine Woche lang zu flaggen, um den Sieg in „der größten Schlacht aller 798

Waffenstillstand Zeiten" zu feiern. Trotzdem kam keine rechte Begeisterung in der Bevölkerung auf — auch der Erste Weltkrieg hatte 1914 mit einer Reihe von Siegen begonnen. Die zweite Phase des Westfeldzuges schloß sich sofort der Einnahme von Dünkirchen an, nachdem die Umgruppierung des Heeres schon seit Tagen planmäßig erfolgt war. General Weygand sollte keine Zeit gelassen werden, die schnell aufgebaute Verteidigungslinie zu verstärken. Er tat sein Bestes ohne Hoffnung auf Erfolg. Der Widerstand könne nur noch die Ehre der französischen Armee retten, erklärte Weygand schon Ende Mai. Am 5. Juni stießen die deutschen Truppen zunächst gegen die untere Seine und Marne vor, die sie unter schweren Kämpfen am 9. Juni erreichten. Paris, das zur offenen Stadt erklärt worden war, wurde am 14. Juni kampflos besetzt. — Eine zweite Heeresgruppe rüdcte vom 5. Juni an nach Reims vor, schwenkte nach Süden ein und drang hinter der Maginotlinie bis zur Schweizer Grenze vor. Vom 14. Juni an durchbrach die Heeresgruppe C die MaginoÜinie zunächst bei Saarbrücken, später bei Kolmar. Das französische Heer befand sich in voller Auflösung. Italien verhielt sich zunächst abwartend. Mussolini wäre gern sofort in den Krieg gegen Frankreich eingetreten, aber König Viktor Emanuel und Ciano hatten große Bedenken. Der französische Ministerpräsident Reynaud, Churchill und Roosevelt versuchten Mussolini von der Beteiligung am Krieg zurückzuhalten, erhielten jedoch abweisende Antworten. Die belgische Kapitulation vom 28. Mai veranlaßten Mussolini, wie Ciano in seinem Tagebuch vermerkt, „seine Pläne zu beschleunigen, da er überzeugt ist, daß sich jetzt die Ereignisse überstürzen werden, und er will sich die Ansprüche sichern, um an der Erbschaft teilzuhaben". Der König fügte sich widerwillig. Italien trat am 10. Juni in den Krieg ein. Trotz der großen zahlenmäßigen Überlegenheit der italienischen Truppen gelang die Einnahme der nur von schwachen französischen Kräften verteidigten Alpenpässe erst, als deutsche Panzertruppen Lyon eingenommen hatten und die französischen Stellungen im Rücken bedrohten.

Waffenstillstand General Weygand sah die erschöpften französischen Truppen an allen Fronten zersprengt, eingeschlossen oder in vollem Rückzug auf Straßen, die durch die Flucht von Millionen Einwohnern aus dem Kriegsgebiet verstopft waren. Er forderte die Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen über Spanien. Churchill trat mündlich und schriftlich mit seiner ganzen Willenskraft für die Weiterführung des Krieges ein; freilich konnte er, nachdem die englische Armee die gesamte Ausrüstung auf dem Festland zurückgelassen hatte, erst für das kommende Frühjahr wirkungsvolle Hilfe versprechen. Der französische Ministerpräsident Reynaud stimmte für die Verlegung der Regierung nach Nordafrika, um von dort aus mit Hilfe der Flotte weiterzukämpfen, drang aber damit nicht durch. England sah sich gezwungen, Frankreich die einseitige Einleitung von Waffenstillstandsverhandlungen, die gegen den Bündnisvertrag verstieß, zu gestatten, knüpfte aber daran

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Zweiter Weltkrieg — Westfeldzug 1940 die Bedingung: die französische Flotte dürfe nicht in deutsche Hände fallen, sondern müsse englische Häfen anlaufen. Das englische Kabinett schlug Frankreich sogar die Verschmelzung der beiden Staaten zur französisch-britischen Union vor mit gemeinsamer Regierung und gemeinsamem Parlament. Nur Reynaud und General Charles de Gaulle waren dafür, alle anderen sträubten sich äußerst heftig: Frankreich solle zum englischen Dominion erniedrigt werden. „Besser eine Naziprovinz, da wissen wir wenigstens, was das bedeutet." Reynaud reichte am 16. Juni seine Demission ein. Der 84jährige Marschall Pétain wurde Ministerpräsident und leitete am 17. Juni die Waffenstillstandsverhandlungen ein. Die Auslieferung der Flotte an England lehnte er ab. General de Gaulle floh im englischen Flugzeug nach London und verkündete die Fortsetzung des französischen Widerstandes. Hitler glaubte, nach dem über alle Erwartungen raschen Zusammenbruch Frankreichs wäre nun auch England zum Frieden bereit. Die Waffenstillstandsbedingungen sollten deshalb milde sein. Zu ihrer Beratung kamen Mussolini und Ciano am 18. Juni nach München; beide waren über Hitlers maßvolle Haltung erstaunt. Mussolini drängte auf die Auslieferung der französischen Flotte. Hitler war klüger; er fürchtete, die französische Flotte werde dann entweder sich selbst versenken wie die deutsche 1919 in Scapa Flow oder zu den Engländern übergehen. Er lehnte auch Mussolinis Verlangen nach gemeinsamen Waffenstillstandsverhandlungen ab. Ribbentrop gegenüber begründete er dies etwas später: „Ich denke nicht daran unsere Verhandlungen mit der französisch-italienischen Animosität zu belasten." Besonderes Interesse zeigte Mussolini an einer Verteilung des französischen Kolonialreiches, aber Hitler ließ sich darauf nicht weiter ein, unter anderem erwähnte er, man könnte auf Madagaskar einen israelischen Staat errichten. Wie sehr Hitler auf einen Frieden mit England hoffte, geht auch aus seiner Bemerkung Mussolini gegenüber hervor, es frage sich, ob es gut sei, das britische Weltreich zu zerstören, „denn es ist immerhin noch ein bedeutsames Element der Ordnung der Welt". Mussolini fuhr sehr unzufrieden nach Rom zurück, bei dem völligen Fehlen militärischer Erfolge Italiens konnte er keine Forderungen stellen. Für die Ubergabe der Waffenstillstandsbedingungen an Frankreich dachte sich Hitler eine sehr wirkungsvolle Szene aus. An der gleichen Stelle im Walde von Compiègne, in dem gleichen aus dem Museum in Paris herbeigeschafften hölzernen Speisewagen, in dem am 11. November 1918 die deutsche Delegation die harten Kapitulationsbedingungen hatte entgegennehmen müssen, empfing nun Hitler am 22. Juni 1940 die französische Delegation unter General Huntziger, um, wie es in der Präambel der Waffenstillstandsbedingungen hieß: „durch diesen Akt einer wiedergutmachenden Gerechtigkeit — einmal für immer — eine Erinnerung zu löschen, die für Frankreich kein Ruhmesblatt seiner Geschichte war, vom deutschen Volk aber als tiefste Schande aller Zeiten empfunden wurde". In Anerkennung des „heroischen Widerstandes" der Franzosen sollten die Verhandlungen nicht die „Charakterzüge von Schmähungen" tragen. Der Waffenstillstand teilte Frankreich in zwei Teile: den von den Deutschen besetzten nördlich und westlich 800

Waffenstillstand der Linie Genf—Tours—spanische Grenze und den unbesetzten Südosten, der unter der Regierung des Marsdialls Pétain eine gewisse Selbständigkeit behielt. Alle Kampfhandlungen gegen Deutschland im Mutterland und in den überseeischen Gebieten mußten sofort eingestellt, das Kriegsmaterial teils abgeliefert, teils unter deutscher Kontrolle sichergestellt, die Flotte demobilisiert werden. Zur Aufrechterhaltung der inneren Ordnung durfte Frankreich eine bestimmte Zahl von Truppenverbänden und Schiffen behalten. Die deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen waren sofort zu entlassen, die französischen Kriegsgefangenen blieben bis zum Friedensschluß in deutscher Gefangenschaft. Die Kosten für den Unterhalt der deutschen Besatzungstruppen auf französischem Boden hatte die französische Regierung zu tragen. Femer sicherte sich Deutschland im besetzten Teil Frankreichs die unversehrte Übergabe aller Industrieanlagen, Häfen, Werften und Verkehrseinrichtungen mitsamt den dazugehörigen Facharbeitern, sowie eine Kontrolle über den besetzten Teil und über Nordafrika. Die Regierung Pétain nahm die Waffenstillstandsbedingungen an, am 25. Juni trat der Vertrag in Kraft, nachdem am Tag zuvor der italienisch-französische Waffenstillstand unterzeichnet worden war. Die deutschen Armeen hatten inzwischen noch beträchtliche Fortschritte gemacht, die eingeschlossenen französischen Truppen ergaben sich, die Durchführung des Waffenstillstandes verlief reibungslos. Nordfrankreich wurde mit Belgien zu einem Militärgouvernement unter General von Falkenhausen zusammengefaßt, zum Militärbefehlshaber des besetzten Frankreich ernannte Hitler General Otto von Stülpnagel mit dem „Botschafter" in Paris, Otto Abetz, an der Seite. Das Kabinett Pétain wählte, obwohl ihm Hitjer einen Teil von Paris angeboten hatte, Vichy als Regierungssitz. Das Reichskommissariat in den Niederlanden übertrug Hitler Seyß-Inquart. Nach einem Feldzug von sechs Wochen waren Holland, Belgien und Frankreich unterworfen, und die gesamte Atlantikküste von Norwegen bis zur spanischen Grenze, dazu eine ungeheure Beute an Kriegsmaterial aller Art, vor allem auch Treibstoff, die Bergwerke, Industrien und landwirtschaftlichen Erzeugnisse der besetzten Länder fest in deutscher Hand. Ein vorzüglicher Feldzugsplan, an dem Hitler wesentlichen Anteil hatte, die Tüchtigkeit der in Heer und Luftwaffe führenden Generale, die Tapferkeit und der Schwung der Offiziere und Mannschaften, der neuartige, wirkungsvolle Einsatz von Panzer-, Luftlande- und Fallschirmtruppen, das alles hatte bei der unerwarteten Schwäche der französischen Wehrmacht zu dem großen Erfolg geführt, der mit den üblichen Superlativen von der deutschen Propaganda verherrlicht wurde. Zu Ehren des „glorreichsten Sieges aller Zeiten" befahl Hitler „die Beflaggung des Reiches für zehn, das Läuten der Glocken für sieben Tage". Der zusammenfassende Bericht über den Frankreich-Feldzug Schloß mit den Worten: „Es bleibt nur noch ein Feind: England!"

801 51 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Zweiter Weltkrieg — Hitlers Scheitern an England 1940 HITLERS SCHEITERN AN ENGLAND 1940 Der Zwischenfall von Oran. Ablehnung von Hitlers

Friedensangebot

Hitler und die führenden Nationalsozialisten hofften zunächst, England würde unter dem Eindruck der deutschen Siege zum Frieden bereit sein. Die milden Waffenstillstandsbedingungen für Frankreich, besonders auch der Verzicht auf die französische Flotte, sollten England von der Großmut des Siegers überzeugen. In völliger Verkennung der Mentalität des englischen Volkes und seines Ministerpräsidenten Churchill behauptete die nationalsozialistische Propaganda, England habe den Krieg eigentlich schon verloren, wolle es nur noch nicht einsehen. Den ersten Dämpfer erhielt diese Hoffnung am 3. Juli, als die französischen Kriegsschiffe in Oran, Dakar und einigen anderen Häfen ein kurzfristiges englisches Ultimatum erhielten, sich entweder der englischen Flotte anzuschließen, oder die Schiffe zur Verfügung zu stellen, während die französische Besatzung repatriiert werde, oder die Schiffe irgendwo unter sicherer Kontrolle demontieren zu lassen; im Weigerungsfall würde die englische Flotte mit Gewalt vorgehen, um zu verhindern, daß die Schiffe in deutsche oder italienische Hand fielen. Ein Teil der französischen Flotte folgte der englischen Aufforderung, ein anderer, vor allem die Schiffe in Oran, weigerte sich, die Waffenstillstandsbedingungen zu verletzen. Die Engländer griffen daraufhin an; einigen französischen Schiffen gelang es, nach Toulon zu entkommen, die übrigen wurden versenkt oder auf Grund gesetzt. Die Regierung Pétain brach, erbittert über die Gewalttat der bisherigen Verbündeten, am 4. Juli die diplomatischen Beziehungen zu England ab. Den üblichen Rechenschaftsbericht im Reichstag hatte Hitler in der Hoffnung auf das Einlenken Englands immer wieder hinausgezögert. Fast vier Wochen nach der Kapitulation Frankreichs wurde der Reichstag endlich zum 19. Juli einberufen. Hitler schilderte die allgemeine Lage und den Triumph der deutschen Siege, dankte der Wehrmacht und richtete „noch einmal einen Appell an die Vernunft auch in England . . . Ich sehe keinen Grund, der zur Fortsetzung dieses Kampfes zwingen könnte . . . Herr Churchill mag nun diese meine Erklärung wieder abtun mit dem Geschrei, daß dies nur die Ausgeburt meiner Angst sei und meines Zweifels am Endsieg. Ich habe dann eben jedenfalls mein Gewissen erleichtert gegenüber den kommenden Dingen". Churchill antwortete überhaupt nicht. Außenminister Lord Halifax lehnte am 22. Juli in einer Rundfunkrede Hitlers Friedensangebot leidenschaftlich ab: das Schweigen Hitlers über das Schicksal der Nationen, die er der Reihe nach ihrer Freiheit beraubt habe, sei bezeichnend. Seine Vorstellung von Europa sei die eines Deutschland, das die anderen Nationen beherrsche. Für Hitler sei die Gewalt die Grundlage des Geschickes von Menschen und Nationen geworden. Dies alles sei die Herausforderung des Antichrist, der England entgegentreten müsse. Hitler möge die Hakenkreuzfahne aufpflanzen, wo er wolle; solange er England nicht überwunden habe, bleibe sein Reich auf Sand gebaut. 802

Invasionsplan, Luftoffensive, Blockade Invasionsplan,

Luftoffensive,

Blockade

Nach Dünkirchen erwartete man in England eine deutsche Invasion und traf fieberhafte Vorbereitungen, um die Insel bis auf den letzten Mann zu verteidigen, wenn auch die aktive Armee die gesamte Kriegsausrüstung in Dünkirchen hatte zurücklassen müssen. Hitler zögerte, er hielt eine Landung für ein außerordentlich gewagtes Unternehmen, schließlich gab er am 16. Juli der Wehrmacht die erste Weisung, die seine Enttäuschung über die englische Haltung deutlich merken läßt: „Da England trotz seiner militärisch aussichtslosen Lage, noch keine Anzeichen einer Verständigungsbereitschaft zu erkennen gibt, habe ich mich entschlossen, eine Landungsoperation gegen England vorzubereiten und wenn nötig durchzuführen." Die ersten Voraussetzungen seien die moralische und tatsächliche Niederkämpfung der englischen Luftflotte und eine so dichte Minensperre vor der Straße von Dover und auf der anderen Seite an einer noch zu bestimmenden Stelle des Ärmelkanals, daß die englische Flotte in dem dazwischenliegenden Teil ausgeschaltet werde. Bei der Ausarbeitung des Planes „Seelöwe" zeichneten sich die großen Schwierigkeiten noch mehr ab. Hitler, der bisher die Warnungen der Fachleute immer beiseite geschoben hatte, hegte Bedenken, in diesem Falle das Wagnis auf sich zu nehmen. Ende August zeigte sich auch, daß der deutschen Luftwaffe die Ausschaltung der englischen im geforderten Umfang nicht gelingen werde. Immerhin wurde das Unternehmen „Seelöwe" vorbereitet, öfters um einige Tage und dann am 12. Oktober auf das Frühjahr 1941 verschoben, doch sollte England mit der Möglichkeit einer Landeoperation „weiterhin politisch und militärisch unter Druck" gesetzt werden. Im Sommer 1940 stand die deutsche Luftwaffe auf der Höhe ihrer Kampfkraft, Göring glaubte trotz des ersten Rückschlags bei Dünkirchen, England mit Luftangriffen zum Nachgeben zwingen zu können. So begann Anfang August die Schlacht über England, zuerst als Vorbereitung für das Unternehmen „Seelöwe" hauptsächlich gegen Flugplätze und Häfen gerichtet, seit Anfang September in steigendem Maße gegen London, dann nach Aufgabe der Landungsabsicht gegen Industrie- und Versorgungszentren und gegen die Schiffahrt. Zahlenmäßig war zwar die englische Luftwaffe der deutschen zunächst unterlegen, vom Oktober an machten sich aber die Material- und Flugzeuglieferungen für England immer mehr fühlbar. Die Bombenabwürfe über ihrem Land beantworteten die Engländer mit verstärkten Angriffen auf das Reich. Schwere Luftkämpfe wurden hier wie dort ausgefochten. Allmählich stellte sich heraus, daß man die Wirkung der Bomben, deren Größe und Sprengkraft damals noch erheblich geringer war als gegen Kriegsende, überschätzt hatte. Explosionen und Feuer vernichteten viel, die Bevölkerung, besonders in London und Coventry, erlitt Verluste. London hatte vom 7. September ab 65 Nächte hintereinander Angriffe zu erdulden, und in Coventry wurden am 14. November 400 Menschen getötet und viele verwundet, ohne daß in seiner Flugzeugindustrie größerer Schaden eintrat. Nerven und Arbeitskraft mußten starke Belastungen aushalten, aber dem englischen Charakter entsprechend erhöhte dies eher noch die Widerstandskraft. Die deutsche Luft51·

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Zweiter Weltkrieg — Hitlers Scheitern an England 1940 waffe hatte zunächst bei Tage angegriffen, ging aber Ende August wegen der großen Verluste zu Nachtangriffen über; schlimmer als der Ausfall an Maschinen war der der ausgebildeten Mannschaften. Neben dem gezielten Abwurf auf kriegswichtige Anlagen traten von beiden Seiten die reinen Terrorangriffe zur Zermürbung der Bevölkerung mit der Begründung, man übe Vergeltung. Am 4. September 1940 sagte Hitler bei der Eröffnung des Winterhilfswerks im Berliner Sportpalast: „Und wenn die Engländer erklären, sie werden bei uns Städte in großem Ausmaß angreifen — wir werden ihre Städte ausradieren!" Die deutschen Luftangriffe wurden ununterbrochen bis zum Mai 1941 fortgesetzt, aber der Erkenntnis, daß trotz aller Tapferkeit der Flugzeugbesatzungen und trotz allen dem Feinde zugefügten Schadens auf diese Weise eine Entscheidung nicht zu erzwingen war, konnte sich die Wehrmachtführung nicht verschließen. Görings Ansehen nahm erheblich ab. Sehr eindrucksvoll schildert Churchill die Schlaclit über England, Leiden und Standhaftigkeit der Bevölkerung, die angerichteten Schäden, die Flugzeugverluste auf beiden Seiten, den Wettkampf der großartigen technischen Erfindungen: gegen jedes neue Mittel, das der deutschen Luftwaffe die Überlegenheit sichern sollte, erfanden die englischen Wissenschaftler ein Gegenmittel, auch arbeiteten sie die Radartechnik, die Funkmeßtechnik, immer feiner aus, die sowohl für die Abwehr der Flugzeuge wie der U-Boote von wachsender Bedeutung wurde. Den Hilfskreuzern, U-Booten, Minenlegern ermöglichten die französischen Atlantikhäfen, nachdem sie in deutscher Hand waren, eine umfassendere und regere Tätigkeit gegen England. Am 17. August verkündete die Reichsregierung die totale Blockade der britischen Inseln und erklärte die See in weitem Umkreis um England als Sperrgebiet. Menge, Qualität und Taktik der deutschen U-Boote wurden dauernd vervollkommnet. Das Panzerschiff „Admiral Scheer" und der schwere Kreuzer „Admiral Hipper" liefen im Winter 1940/41 von französischen Häfen aus, erzielten, ohne sich in einen Kampf mit englischen Seestreitkräften einzulassen, bedeutende Erfolge in der Versenkung englischer oder in englischen Diensten fahrender Handelsschiffe. Die Deutschen meldeten allerdings oft höhere feindliche Verluste, als die Gegner zugaben, was an ungenauer Schätzung der Größe des getroffenen Schiffes liegen mag oder daran, daß ein schwer beschädigtes Schiff doch noch den Hafen erreichte. In der Zeit von Kriegsbeginn bis Ende 1941 betrugen die Gesamtverluste der Alliierten an Handelsmarine und Fischerbooten 8,845 Millionen Bruttoregistertonnen. Englands Versorgung mit Nahrungsmitteln und Rohstoffen war zeitweise sehr gefährdet. Das immer besser ausgebaute Geleitzugsystem für die Handelsschiffe, beschleunigt neugebauter und Neutralen abgenommener Schiffsraum, die Verlegung der Schiffahrtswege — die Häfen an der Süd- und Ostküste fielen wegen der deutschen Luftangriffe ohnehin fast ganz aus — und die immer ausgiebigere Unterstützung der Vereinigten Staaten halfen England allmählich über die größten Schwierigkeiten hinweg.

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Mittelmeer. Italiens Angriff auf Griechenland. Dreimächtepakt Entschluß zum Angriff auf Rußland Schon auf einer Führerbesprechung vom 31. Juli, unter dem Eindruck von Englands Unbeugsamkeit, hatte Hitler — wie Halder in seinem Tagebuch notierte — verkündet: „Englands Hoffnung ist Rußland und Amerika. Wenn Hoffnung auf Rußland wegfällt, fällt auch Amerika weg . . . Rußland ist ostasiatischer Degen Englands und Amerikas gegen Japan . . . Ist Rußland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt. Der Herr Europas und des Balkans ist dann Deutschland. Entschluß: im Zuge dieser Auseinandersetzung muß Rußland erledigt werden. Frühjahr 1941." So kehrte Hitler zu seinen ursprünglichen Plänen zurück, dem Kampf gegen das bolschewistische Rußland und der Erweiterung des deutschen Lebensraumes nach Osten; Hitler nahm damit bewußt audi den Zweifrontenkrieg auf, den er bisher sorgfältig durch das überraschende Bündnis mit der Sowjetunion vermieden hatte. Die Ereignisse und Pläne der folgenden Monate um das Mittelmeer standen also nur am Rande von Hitlers Interessen.

VOM HERBST 1940 ZUM FRÜHJAHR 1941 Pläne und Kämpfe ums Mittelmeer. Italiens Angriff auf Griechenland. Dreimächtepakt Mussolinis hochfliegender Plan, von Libyen aus über Ä g y p t e n und den Sudan die Verbindung mit Abessinien herzustellen, führte im September zu dem Vorstoß starker italienischer Kräfte gegen schwache englische an der afrikanischen Mittelmeerküste, der aber sehr bald bei Sidi Barani zum Stillstand kam. Dagegen war im August die Besetzung von Britisch-Somaliland gelungen, doch konnten die Italiener den britischen Schiffsverkehr durch das Rote Meer nicht unterbinden. Mussolinis Ehrgeiz und sein Bestreben, hinter dem Rivalen Hitler nicht zurückzubleiben, standen in keinem Verhältnis zu den Kräften und Möglichkeiten der italienischen Wehrmacht. Ihr Versagen lag großenteils an der technisch veralteten und unvollständigen Rüstung und Ausbildung, vielleicht spielte dabei auch mit, daß das italienische Königshaus, die Generalität und ein großer Teil des Volkes gegen die Beteiligung am Kriege waren. Der Besitz von Libyen und Abessinien hätte die italienische Politik noch mehr als früher in ihrem alten Grundsatz bestärken müssen, es nie zu einem Kampf mit England kommen zu lassen. Im September 1940 trat Admiral Raeder mit dem Plan eines Angriffs auf Englands Stellung im Mittelmeer an Hitler heran; unter Benutzung der guten Beziehungen zu Spanien sollten von deutschen Truppen Gibraltar und ganz Nordwestafrika bis zu den Kanarischen Inseln besetzt, vor dem englischen Zugriff gesichert und wirtschaftlich für Deutschland nutzbar gemacht werden. Außerdem schlug der Plan einen gemeinsamen Angriff Deutschlands und Italiens auf den Suezkanal vor, um England auch vom östlichen Eingang ins Mittelmeer zu verdrängen. Hitler griff diesen Vorschlag auf; die Gefahr, daß die nordafrikanischen 805

Zweiter Weltkrieg — Herbst 1940 bis Frühjahr 1941 Kolonien sich der Widerstandsbewegung des Generals de Gaulle anschließen und so den Engländern als Sprungbrett nach Europa dienen könnten, lag nahe, nachdem sich Französisdi-Äquatorialafrika schon im August auf de Gaulles Seite gestellt hatte. Allerdings mißlang am 24. September ein Versuch de Gaulles und der Engländer, Dakar zu besetzen. Hitler bemühte sich nun, Franco für die Beteiligung am Kriege zu gewinnen. Während der spanische Außenminister Serrano Suñer zu Vorbesprechungen in Berlin weilte, wurde der Dreimächtepakt zwischen Deutschland, Italien und Japan am 27. September 1940 feierlich unterzeichnet. Erst nach Hitlers Sieg über Frankreich hatte sich Japan entschlossen, über die lose Bindung durch den Antikominternpakt hinauszugehen und ein festes Militärbündnis mit den Achsenmächten abzuschließen, in dem „die Führung Deutschlands und Italiens bei der Schaffung einer neuen Ordnung in Europa" und „die Führung Japans bei der Schaffung einer neuen Ordnung im großasiatischen Raum" gegenseitig anerkannt wurden. Die drei Mächte versprachen sich politische, wirtschaftliche und militärische Hilfe „falls einer der drei vertragschließenden Teile von einer Macht angegriffen wird, die gegenwärtig nicht in den europäischen Krieg oder in den chinesisch-japanischen Konflikt verwickelt ist"; dies konnte sich nur auf die Vereinigten Staaten beziehen, da Artikel 5 ausdrücklich betonte, das Verhältnis der drei Mächte zur Sowjetunion werde von den Abmachungen nicht berührt. Gestärkt durch diese Erweiterung der Achse Berlin-Rom zu dem Dreieck Berlin-Rom-Tokio, traf sich Hitler am 23. Oktober 1940 in Hendaye an der französisch-spanischen Grenze mit Franco. Trotz aller Überredungskünste gelang es Hitler nicht, Franco aus seiner vorsichtigen Zurückhaltung zu locken. Der Spanier sagte nicht direkt nein, stellte aber so hohe Forderungen, daß Hitler tief enttäuscht abreiste. Franco verlangte — vom Standpunkt seines Landes aus durchaus mit Recht — die Sicherstellung der Volksernährung und des Schutzes der langen Küsten, Lieferung von Kriegsmaterial und einen beträchtlichen Teil der französischen nordafrikanischen Kolonien. Hitlers Angebot, Gibraltar von deutschen Truppen in der Weise wie das Fort Eben Emael erobern zu lassen und dann Spanien zu übergeben, lehnte Franco mit der Begründung ab, Gibraltar müsse von den Spaniern selbst erobert werden. Nach Abreise der Regierungschefs, Hitler und Franco, einigten sich Ribbentrop und Suñer auf eine nichtssagende Formel, sie versprach Spaniens Teilnahme am Krieg zu gegebener Zeit. Chefdolmetscher Schmidt erzählt, wie der erboste Ribbentrop hernach auf den „Jesuiten" Suñer und den „undankbaren Feigling" Franco schimpfte, der „uns alles verdankt und nun nicht mitmachen will". Auf der Rüdereise traf sich Hitler mit Pétain und dessen Außenminister Laval in Montoire. Hitler hätte gern gesehen, daß Frankreich sich aktiv am Krieg gegen England beteilige und vor allem seine afrikanischen Kolonien nachdrücklicher verteidige. Beide französische Politiker erklärten zwar ihre grundsätzliche Bereitwilligkeit zur Zusammenarbeit, wichen aber festen Abmachungen unter deutlicher Anspielung auf die zwei Millionen in Deutschland zurückgehaltener französischer Kriegsgefangener aus. Verhandlungen mit Spanien und Frankreich zogen sich 806

Verhältnis zu Rußland. Balkan noch einige Wochen hin, bis sich endgültig herausstellte, daß weder Franco noch Pétain gewillt waren, ihre vorsichtige Zurückhaltung aufzugeben. Auf der Heimreise von Montoire erreichte Hitler die Mitteilung Mussolinis, er sehe sich wegen schwerer Zwischenfälle an der albanisch-griechischen Grenze gezwungen, Griechenland anzugreifen. Hitler fuhr sofort nach Italien, um Mussolini zurückzuhalten, kam aber zu spät. Mussolini spielte mit Genugtuung das gleiche Spiel, das Hitler sooft mit ihm getrieben: am Morgen des Tages der Zusammenkunft in Florenz (28. Oktober) fielen italienische Truppen in Griechenland ein. Hitlers gelegentliche Warnungen vor einem Winterfeldzug mit unzureichender Vorbereitung hatten auf Mussolini ebensowenig Eindruck gemacht wie die Proteste der eigenen Generale, die ernste Bedenken gegen den Feldzug erhoben und sich nur widerwillig fügten. Nach anfänglichen Erfolgen mußten die zu schwachen und ungenügend mit Nachschub versorgten Truppen noch hinter die albanische Grenze zurückgezogen werden. Die Griechen riefen sofort die englische Hilfe auf Grund des Garantievertrages vom April 1939 an. Die Engländer schickten Flugzeuge, errichteten einen Stützpunkt auf Kreta und bombardierten die italienische Flotte während der Nacht vom 11./12. November im Hafen von Tarent; 3 Schlachtschiffe und 2 Kreuzer wurden schwer getroffen. Am 8. Dezember gingen die Engländer auch in Afrika zum Gegenangriff über und drängten die Italiener bis zum 8. Februar 1941 aus der ganzen Cyrenaika hinaus, wobei ihnen 130 000 Gefangene und viel Kriegsmaterial in die Hände fielen. Verhältnis zu Rußland. Baltikum. Ringen um Einfluß auf dem

Balkan

Das Verhältnis zwischen Deutschland und Rußland war bisher leidlich gewesen, die abgeschlossenen Wirtschaftsverträge wurden eingehalten, die Russen lieferten bis zum Augenblick von Hitlers Angriff Getreide und für den Krieg wichtige Rohstoffe. Auch ein im November 1939 getroffenes Abkommen über die Umsiedlung der in Rußland lebenden Deutschen und der in den nunmehr deutschen Gebieten lebenden Russen auf freiwilliger Grundlage ging ohne besondere Schwierigkeiten vor sich. Deutschlands Krieg gegen Frankreich bot Stalin Gelegenheit, Ende Juni 1940 Rumänien zur Herausgabe der nördlichen Bukowina und Bessarabiens zu nötigen. Ende Juli zwang Stalin die Baltikumstaaten Estland, Lettland, Litauen zur Umgestaltung in Sowjetrepubliken und zum Anschluß an die Sowjetunion. Auch hier wurden Umsiedlungsabkommen mit Deutschland vereinbart und damit die alte deutsche Kultur der Baltikumstaaten vernichtet. Das sowjetische Vorgehen kam Hitler unerwünscht, es lag aber im Rahmen des Bündnisvertrages von 1939. Nun erneuerte Ungarn seine Forderungen an Rumänien auf Rückgliederung der 1919 abgetretenen Gebiete. Um einen Krieg zu verhindern, griff Hitler ein. Rumänien und Ungarn mußten sich am 30. August 1940 dem zweiten Wiener Schiedsspruch der Achsenmächte fügen — der erste hatte die ungarischen Forderungen an die Slowakei befriedigt (S. 754) — jetzt wurde Ungarn das nördliche Siebenbürgen zugesprochen. 807

Zweiter Weltkrieg — Herbst 1940 bis Frühjahr 1941 Rußlands Versuche, unter seiner Führung einen Balkanbund zu errichten, scheiterten teils wegen der Furcht der Balkanstaaten vor der Sowjetunion, teils wegen der starken wirtschaftlichen Bindungen, die sie mit Deutschland verknüpften. In Rumänien mußte König Karl II. am 6. September zugunsten seines Sohnes Michael abdanken, die tatsächliche Regierung übernahm General Jon Antonescu, der sich „Conducator" nannte, Rumänien zu einem „nationalen Legionärstaat" machte und hoffte, die vor kurzem abgetretenen Gebiete durch Anschluß an die Achsenmächte wiedererobern zu können. Auf Grund einer Abmachung mit Hitler kam Mitte Oktober eine deutsche Militärmission samt einigen Truppen und Jagdfliegerverbänden nach Rumänien zur Reorganisation des Heeres und vor allem zum Schutz der für die deutsche Kriegführung unbedingt notwendigen ölfelder. Dieses Vordringen Deutschlands auf dem Balkan verstimmte die Sowjetunion und Mussolini. Rumänien war Hitler auch für den geplanten Rußlandfeldzug wichtig, der ihm immer notwendiger erschien, je mehr die Aussicht schwand, durch Landung oder durch Angriffe der U-Boote und Flugzeuge ein schnelles Ende des Krieges mit England herbeizuführen. Als Stalin sich über deutsche Truppentransporte durch Finnland nach Norwegen und über die deutsche Militärmission in Rumänien beklagte, lud Ribbentrop Molotow zu einer Aussprache nach Berlin ein. Die Verhandlungen vom 12. bis 14. November verliefen äußerlich korrekt, erwiesen sich aber für Hitler als inhaltlich sehr unbefriedigend. Sein ganzes Bestreben ging darauf, die Politik der Sowjetunion von Europa abzulenken und ihr die Ausdehnung ihres Reiches über den Persischen Golf nach Indien zu empfehlen; bei dem zu erwartenden Sturz des englischen Weltreiches müßte dies das Ziel der russischen Politik sein, Japan würde sich auf Ostasien, Italien auf Nord- und Ostafrika, Deutschland auf Westund Zentralafrika konzentrieren. Zur Aufteilung des britischen Empire sollte Rußland dem Dreimächtepakt beitreten, für die Reglung der Meerengenfrage mit der Türkei und der strittigen Interessensphären mit Japan bot Deutschland seine Vermittlung an. Molotow ging auf diese verlockenden Angebote nicht ein, sondern verlangte Klärung der sowjetischen Beschwerden über Finnland und Rumänien, ferner die deutsche Einwilligung zu einem bulgarisch-sowjetischen Bündnis mit sowjetischen Garnisonen in Bulgarien, Stützpunkte an den Meerengen, Anerkennung einer sowjetischen Interessensphäre in den Gebieten südlich von Batum und Baku sowie Deutschlands Vermittlung in russisch-japanischen Auseinandersetzungen wegen der Insel Sachalin. Habe man sich in diesen Fragen geeinigt, sei die Sowjetunion bereit, dem Dreimächtepakt beizutreten. Auf diese nach Molotows Rückkehr nach Moskau schriftlich festgelegten Forderungen gab Hitler keine Antwort.

Die Eroberung des Balkans und Kretas Am 20. November trat Ungarn dem Dreimächtepakt bei, am 23. November Rumänien und am folgenden Tag die Slowakei. All das hatte mehr propagandisti808

Eroberung des Balkans und Kretas sehe als praktische Bedeutung und diente zur Vorbereitung von Hitlers Plänen für das Frühjahr 1941. Seit dem Besuch Molotows stand Hitlers Entschluß fest, Rußland im Mai anzugreifen, zuvor mußte jedoch Mussolinis griechisches Abenteuer beendet werden. Bei der Unterredung am 28. Oktober mit Mussolini hatte sich Hitler nicht merken lassen, daß ihm der Angriff auf Griechenland und damit die Beunruhigung des Balkans sehr ungelegen kamen; nun mußte er der Gefahr begegnen, daß England, während die deutschen Truppen in Rußland gebunden waren, von Griechenland aus die Achsenmächte angreife und das rumänische Ölgebiet durch Luftangriffe beherrsche. Hitler erließ deshalb am 13. Dezember 1940 die Weisung zu dem Unternehmen „Marita" an die Wehrmacht: in Südrumänien seien die deutschen Truppen allmählich zu verstärken, diese sollten im März über Bulgarien hinweg vordringen zur Besitznahme der Ägäischen Nordküste und des Beckens von Saloniki, nötigenfalls sei auch das ganze griechische Festland zu besetzen. Ungarn, Rumänien und Bulgarien erklärten bei geheimen militärischen Besprechungen im Februar ihr Einverständnis mit dem Transport deutscher Truppen durch ihre Länder zum Aufmarsch gegen Griechenland. König Boris von Bulgarien, der unter russischem Drude stand, gab seinen Anschluß an die Achsenmächte mit der Unterzeichnung des Dreimächtepaktes am 1. März öffentlich bekannt, eine offensive Beteiligung an dem geplanten Krieg lehnte er jedoch ab. Am 2. März zogen deutsche Truppen in Bulgarien ein, um „englischen Absichten der Kriegsausweitung auf dem Balkan entgegenzutreten und die bulgarischen Interessen zu schützen". Rußland protestierte dagegen, und England brach die diplomatischen Beziehungen zu Bulgarien ab. Seit Italiens Angriff auf Griechenland bemühte sich Churchill, eine Balkanfront gegen die Achsenmächte aufzustellen, was ihm aber nicht gelang. Die Türkei wünschte ihre Neutralität zu wahren und wies alle englischen Angebote ebenso zurück wie Jugoslawien, um dessen Gewinnung sich auch Hitler schon seit längerem bemühte. Als Anfang März 1941 englische Truppen in Griechenland ausgeschifft wurden, drängte Hitler die jugoslawische Regierung noch stärker zum Anschluß, versprach ihr in geheimen Abmachungen Saloniki, wonach Bulgarien strebte, und nahm ihre Weigerung, militärische Verpflichtungen zu übernehmen, mit in Kauf. Trotzdem bestand im Lande eine so starke Strömung gegen den Anschluß an die Achsenmächte, daß nach der Unterzeichnung des jugoslawischen Beitritts zum Dreimächtepakt am 25. März ein Militärputsch den Prinzregenten Paul zur Abdankung zwang, die Minister verhaftete und die Regierung dem noch nicht ganz 18jährigen Peter, Sohn des 1934 in Marseille ermordeten Königs Alexander, übertrug. Die neue Regierung kündigte das Abkommen mit den Achsenmächten nicht, gab auch Churchills Drängen zum Angriff auf Albanien an der Seite Griechenlands nicht nach. Trotzdem war Hitler über das Durchkreuzen seiner Pläne so erzürnt, daß er sofort befahl, den Angriff gegen Griechenland auch auf Jugoslawien auszudehnen. Mussolini war begeistert und hoffte, die alten italienischen Ansprüche auf die dalmatinische Küste endlich durchsetzen zu können. Am 5. April Schloß 809

Zweiter Weltkrieg — Herbst 1940 bis Frühjahr 1941 Jugoslawien mit der Sowjetunion einen Freundschafts- und Nichtangriffspakt. Hatte er audi praktisch keine Bedeutung, so war er dodi eine deutliche Geste Stalins gegen Hitler. Einige Tage später, am 13. April, wurde in Moskau noch ein zweites, Hitler unerwünschtes Abkommen unterzeichnet. Der japanische Außenminister Matsuoka hatte im März Hitler in Berlin besucht, Hitler und Ribbentrop drängten zum Angriff auf die Engländer in Ostasien, vor allem auf Singapur, auch deuteten sie an, daß das deutsch-sowjetische Verhältnis getrübt sei. Matsuoka ließ sich nicht festlegen, Schloß aber auf der Rüdereise über Moskau den Nichtangriffspakt mit Rußland, um für alle Fälle bei einem Krieg den Rücken frei zu haben. Inzwischen hatte Hitler die Feldzüge gegen Jugoslawien und Griechenland begonnen. Am Morgen des 6. April 1941 marschierten die deutschen Truppen, wieder ohne Kriegserklärung, über die Grenzen; sie wurden von italienischen, ungarischen und bulgarischen Verbänden unterstützt, die von allen Seiten in Jugoslawien einfielen. In einer am gleichen Morgen überreichten Note warf Hider der griechischen Regierung vor, sie habe vom Beginn des Krieges an die Engländer begünstigt und ihnen jetzt gestattet, eine neue Front auf dem Kontinent gegen die Achsenmächte aufzubauen, der Feldzug gelte nicht dem griechischen Volk, sondern einzig der Vertreibung der Engländer. In der Erklärung an Jugoslawien beschuldigte Hitler die „serbische Verbrecherclique", die schon 1914 das Attentat von Serajewo angezettelt habe, seit 1913 die Slowenen und Kroaten knechte und die Volksdeutschen terrorisiere, sie habe nun die Gewalt an sich gerissen und die Armee mobilisiert, um mit England gemeinsame Sache zu machen. Die Feindseligkeiten wurden auf Hitlers Befehl mit einem furchtbaren Luftangriff auf das ungewarnte Belgrad eröffnet. Von drei Seiten rückten dann die deutschen Truppen auf Belgrad vor, die kühnen Vorstöße der Panzerverbände brachten die jugoslawische Armee in Verwirrung, am 13. April ergab sich Belgrad, am 17. kapitulierten die letzten Reste der eingekreisten Armeekorps, die Zahl der Gefangenen stieg auf 344 000. Der Feldzug gegen Griechenland verlief für die Achsenmächte ebenso erfolgreich. Die griechische Nordgrenze war stark befestigt, trotz ihrer tapferen Verteidigung gelang den zahlenmäßig überlegenen und technisch besser ausgerüsteten deutschen Truppen der Durchbruch, am 9. April wurde Saloniki genommen. Die in Albanien bisher siegreichen griechischen Truppen sollten sich daraufhin nach Süden zurückziehen, doch schnitten die von Jugoslawien vorstoßenden deutschen Panzerverbände ihnen den Rückzug ab, und so mußten sie sich am 21. April ergeben. Die englischen Hilfstruppen stellten sich am Olymp und dann bei den Thermopylen den Deutschen entgegen, kämpften aber nur mehr für die eigene Rettung. Vom 24. April an schifften sie sich, von schweren deutschen Luftangriffen heftig bedrängt, nach Kreta ein. Für Churchill, der gegen den Willen der Generale englische Truppen vom afrikanischen Kriegsschauplatz nach Griechenland gesandt hatte, war dieser zweite Rückzug vom europäischen Festland ein großer Prestigeverlust. Er benutzte nun die Siege Hitlers zu verstärktem Druck auf die Vereinigten Staaten, die sich zur Abwehr einer weiteren Ausdeh810

Eroberung des Balkans und Kretas nung von Hitlers Herrschaft aktiv am Krieg beteiligen sollten. Deutsche Panzertruppen zogen am 27. April in Athen ein; bis zum 11. Mai waren auch der Peloponnes und mit Ausnahme von Kreta die griechischen Inseln in der Hand der Achsenmächte. Die 220 000 kriegsgefangenen Griechen wurden bald freigelassen. Jetzt war nur noch Kreta mit etwa 30 000 Mann englischer Besatzungstruppen in der Hand des Gegners. Die Insel Kreta beherrschte den Zugang zur Ägäis und von ihren Flugplätzen konnten englische Flugzeuge die ölfelder in Rumänien angreifen. Hitler befahl deshalb die Eroberung Kretas. Sie begann am 20. Mai, zunächst konnten dafür nur Flugzeuge, Fallschirmjäger und Luftlandetruppen eingesetzt werden. Die Engländer hatten den Angriff erwartet und setzten sich kräftig zur Wehr. Auf beiden Seiten waren die Verluste an Flugzeugen, Schiffen und Menschen außerordentlich groß. Die Überlegenheit der deutschen Luftwaffe und die geringe Entfernung vom griechischen Festland, die den pausenlosen Einsatz der Flugzeuge und schnellen Nachschub gestattete, sicherten den deutschen Sieg über die 700 km von ihrer Basis Alexandrien entfernt kämpfenden Engländer, von denen nur etwa 17 000 in den letzten Maitagen auf englischen Kriegsschiffen nach Ägypten zurückkehrten. Hitler gab sich mit dem schwer errungenen Erfolg, der den Kontinent gegen englische Landungsversuche sicherte und die Störung der englischen Schiffahrt zwischen Malta und Ägypten ermöglichte, zufrieden, er wollte ja nur eine Bedrohung des geplanten Rußlandfeldzuges vom Balkan her ausschalten. Truppen, Panzer, Flugzeuge mußten möglichst schnell nach Deutschland zurückgebracht werden, soweit sie nicht zur Besetzung des Balkans notwendig waren. Es mußte große Schwierigkeiten bereiten, auf dem Balkan geordnete Verhältnisse zu schaffen; seit jeher war er die Wetterecke Europas. Nationalsozialistischen Grundsätzen hätte eine Grenzziehung nach ethnographischen Gesichtspunkten entsprochen, Hitler wollte jedoch Jugoslawien zerschlagen und die Bundesgenossen belohnen, im übrigen glaubte er, einen nicht befriedeten Balkan leichter beherrschen zu können. So erhielt Bulgarien griechisches Gebiet mit dem Zugang zur Ägäis, Ungarn Teile von Jugoslawien, Italien die dalmatinische Küste, die Inseln an der Westküste Griechenlands und Montenegro. An die Spitze des neugeschaffenen selbständigen Staates Kroatien — er umfaßte indes bei weitem nicht alle Kroaten, dafür große serbische Gruppen, seine Garantie übernahm Italien — sollte Herzog Aimone von Spoleto, ein Vetter des Königs von Italien als König treten. Der Herzog traute der Lage aber so wenig, daß er in Italien blieb. Der Rest von Serbien wurde mit einer Scheinregierung der deutschen Militärverwaltung unterstellt. Griechenland durfte neben der deutschen und italienischen Militärverwaltung eine eigene Regierung bilden. In dem zerrissenen jugoslawischen Gebiet entwickelten sich bald starke Partisanenbewegungen, eine monarchistische, die König Peters Exilregierung von Alexandrien, später von London aus unterstützte, und eine kommunistische unter dem aus Sowjetrußland zurückgekehrten Tito. Beide Gruppen bekämpften sich gegenseitig sowie die Deutschen in einem äußerst blutigen und grausamen Kleinkrieg, der der deutschen Militärverwaltung sehr viele Schwierigkeiten bereitete. 811

Zweiter Weltkrieg — Herbst 1940 bis Frühjahr 1941 Frühjahrskämpfe

in Afrika und Vorderasien.

Rommel

Mussolini sah sich zu seinem Leidwesen genötigt, deutsche Hilfe für Afrika anzunehmen. Im Februar 1941 kamen ein deutsches Expeditionskorps von zwei Divisionen unter Generalleutnant Erwin Rommel und ein Fliegerkorps nach Tripolitanien. Gegen den Willen der Italiener ging Rommel am 31. März zum Angriff vor. In einem äußerst kühnen Vorstoß trieb er binnen 12 Tagen die Engländer aus der Cyrenaika bis an die ägyptische Grenze; nur in dem stark befestigten und von der Seeseite versorgten Tobruk konnten sich die Engländer halten. Unter ständigen Angriffen und Gegenangriffen blieb hier die Lage monatelang im wesentlichen unverändert. Der deutsche Nachschub auf dem Seeweg wurde von den Engländern immer mehr gestört, und da Rommel weder von Deutschland noch von Italien ausreichend Verstärkungen erhielt, war an ein weiteres Vorgehen nicht zu denken. In Ostafrika kämpften die Engländer seit Januar 1941 erfolgreich. Vom Sudan, von Aden und von Kenia aus eroberten sie Eritrea, Somaliland und Abessinien. Kaiser Haile Selassie zog am 5. Mai wieder in seine Hauptstadt Addis Abeba ein, am 19. Mai kapitulierte die italienische Hauptarmee nach tapferem Widerstand. Die arabischen Staaten waren durch panarabische Bestrebungen in Unruhe geraten. Deutschland sandte auf Bitten der Aufständischen des Königreichs Irak über die französischen Mandatsgebiete Syrien und Libanon Flugzeuge. Nach kurzem Kampf beherrschten die Engländer wieder die Lage und besetzten auch die der Vichyregierung treu gebliebenen und sich hervorragend verteidigenden Mandatsgebiete mit der Begründung, sie dienten sonst den Deutschen als Stützpunkt.

Das Pacht- und Leihgesetz.

Heß' Englandflug.

Untergang der

„Bismarck"

Englands Lage begann sich schon zu bessern, als im November 1940 Roosevelt erneut zum Präsidenten gewählt worden war und ihn das am 11. März 1941 in Kraft getretene Leih- und Pachtgesetz ermächtigte, mit Kriegs- und Versorgungsgütern alle Staaten zu unterstützen, soweit er sie für die Verteidigung der Vereinigten Staaten für lebenswichtig hielt. Das Gesetz „erlaubt uns", schreibt Churchill, „langfristige Pläne von gewaltigem Umfang zur Befriedigung all unserer Bedürfnisse zu vereinbaren. Wir brauchten keinerlei Vorsorge für die Rückzahlung zu treffen. Nicht einmal eine formelle Verrechnung in Dollar oder Pfund war nötig. Was wir erhielten, wurde uns geliehen oder verpachtet, weil die Fortsetzung unseres Widerstandes gegen die Hitlertyrannei als von lebenswichtigem Interesse für die große Republik angesehen wurde". Bisher hatten die Vereinigten Staaten ihre Neutralität scheinbar gewahrt, sie lieferten nach dem Prinzip „Cash and Carry" d. h. jeder der bezahlte (cash) und den Transportraum selber stellte (carry), wurde beliefert; bei der Überlegenheit der englischen Flotte über die deutsche war dieser Weg für Deutschland unmöglich. Mit dem Pacht- und 812

Leih- und Pachtgesetz. Heß. Untergang der „Bismarck" Leihgesetz hatten die Vereinigten Staaten auch den Schein der Neutralität aufgegeben, Hitler täuschte sich indes bewußt über die sich immer deutlicher abzeichnende Gefahr hinweg, er war fest überzeugt von dem Gelingen des Blitzkrieges gegen Rußland und davon, daß dann auch Amerika keine Lust mehr zur Einmischung verspüren werde. Ob Hitlers Rußlandplan und sein Verzweifeln an einem Nachgeben Englands mit ein Grund für den abenteuerlichen Flug von Rudolf Heß, dem Stellvertreter des Führers, am 10. Mai nach England war, oder ob er tatsächlich in „geistiger Verwirrung", „unter Wahnvorstellungen" gehandelt hat, wie Hitler dann dem deutschen Volk zur „Aufklärung des Falles Heß" angab, wird sich kaum entscheiden lassen. Heß war Idealist; vielleicht hoffte er wirklich, seine losen persönlichen Beziehungen zur Vermittlung eines Friedens zwischen England und Deutschland verwerten zu können. Er startete allein in einem Jagdflugzeug, sprang mit Fallschirm über Schottland ab und wurde nach einigen Verhören als Kriegsgefangener behandelt. Die Tat von Heß warf jedenfalls ein merkwürdiges Licht auf die oberste Parteiführung. Hitler ernannte keinen neuen Stellvertreter, sondern bestätigte Martin Bormann als Leiter der „Parteikanzlei". Während für den Rußlandfeldzug alle Truppen zusammengezogen wurden, soweit sie nur irgend bei der Besetzung der eroberten Gebiete entbehrlich waren, sollte die Kriegsmarine, da sie in der Ostsee nur das Ausbrechen der russischen Flotte zu verhindern hatte, ihre ganze Kraft weiter gegen England richten. Die zwei soeben fertiggestellten großen Schiffe „Bismarck" und „Prinz Eugen" liefen deshalb am 21. Mai 1941 von einem norwegischen Fjord aus mit dem Auftrag, die Handelsschiffahrt zwischen Amerika und England zu stören. Schon bald beobachteten englische Flugzeuge die Fahrt der beiden Schiffe, mit denen in der Dänemark-Straße ein britischer Kreuzer ständige Fühlung durch Radar hielt. Daraufhin wurden zu ihrer Bekämpfung englische Schlachtschiffe ausgesandt. Das erste Treffen fand am 24. Mai zwischen Island und Grönland statt. Nach wenigen Minuten sank das größte englische Schlachtschiff (42 000 Tonnen), die „Hood", infolge Volltreffers in die Munitionskammern nach einer gewaltigen Explosion. Der Riese riß die 1421 Mann starke Besatzung mit in die Tiefe; nur drei Mann konnten gerettet werden. Obgleich die Bismarck nur leicht beschädigt worden war, suchte sie jetzt ihren Verfolgern zu entkommen und einen französischen Hafen zu erreichen. Die englischen Schiffe wurden indes konzentriert und machten auf den deutschen Verband Jagd. Der deutsche Flottenchef entließ „Prinz Eugen", der Kreuzer entkam, während die „Bismarck" ihre Fahrt fortsetzte. Schon hatte es den Anschein, als würde sie den heimatlichen Hafen erreichen, da wurde sie 400 Seemeilen vor Brest von einer Staffel britischer Torpedoflieger gesichtet. Ein Torpedotreffer in die Steuerruderanlage machte die Bismarck bewegungsunfähig. Die auf dem Kampfplatz erscheinenden englischen Schiffe gaben ihr den Rest. Die Bismarck wehrte sich solange nur ein Geschütz feuern konnte, schließlich kenterte sie und versank mit fast 2000 Seeleuten und dem Admiral Lütjens. Nur 130 Überlebende wurden gerettet.

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Zweiter Weltkrieg — Angriff auf Rußland DER ANGRIFF AUF RUSSLAND Vorbereitungen

und

Warnungen

Seit Hitler Ende Juli 1940 den Entschluß zum Angriff auf die Sowjetunion gefaßt hatte, führte das Oberkommando des Heeres die Vorbereitungen planmäßig durch. Vom August an wurden laufend stärkere Truppenteile an die deutsche Ostgrenze verlegt; selbstverständlich konnte dies nicht im Geheimen geschehen, doch ließen sich In- und Ausland durch geschickt unter der Hand verbreitete Meldungen täuschen: der Aufmarsch im Osten sei nur die Tarnung einer geplanten Landung in England, für die dann auch an der Atlantikküste scheinbar Vorbereitungen getroffen wurden. Am 18. Dezember erging die Weisung für den „Fall Barbarossa": „Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen;" das Endziel der Operation solle sein die Vernichtung der Masse des russischen Heeres und „die Abschirmung gegen das asiatische Rußland aus der allgemeinen Linie WolgaArchangelsk. So kann erforderlichenfalls das letzte Rußland verbleibende Industriegebiet am Ural durch die Luftwaffe ausgeschaltet werden". Hitler folgte der damals vorherrschenden Unterschätzung der Sowjetunion. Er glaubte, sie während des Sommers in einem Blitzkrieg nach dem bewährten Rezept niederwerfen zu können; damit wäre Englands Hoffnung auf die Bundesgenossenschaft Rußlands vernichtet, Japan hätte freie Hand in Ostasien und dann würden die Vereinigten Staaten sich auf einen Zweifrontenkrieg nicht einlassen. Von vielen Seiten, besonders von der deutschen Botschaft in Moskau, wurde Hitler — auch unter Hinweis auf das Schicksal Napoleons I. — davor gewarnt, „mit dem ungreifbaren Gespenst Rußland anzubinden" (Weizsäcker), ein großer Teil der russischen Rüstungsindustrie befinde sich im Ural, und die Hoffnung auf ein Zusammenbrechen des Bolschewismus sei trügerisch. Stalin selbst, der seit den Siegen Hitlers auf dem Balkan alles zur Erhaltung des Friedens tat, ließ einige der modernsten sowjetischen Flugzeugfabriken deutschen Sachverständigen zeigen; sie waren von deren Leistungsfähigkeit sehr beeindruckt und erstatteten Hitler entsprechend Bericht. Über die Stärke der russischen Armeen und über ihre neuen Panzer wahrte die sowjetische Regierung allerdings Stillschweigen, so daß der deutsche Generalstab auf Schätzungen angewiesen war. Nach dem Bericht des Generalstabsoffiziers Bernhard von Loßberg waren die maßgebenden Männer der drei Wehrmachtsteile sämtlich gegen den Rußlandkrieg, hatten aber „mangels einer Einheitsfront nicht die Kraft, sich gegen Hitler durchzusetzen. Dazu kam, daß beim Heer die Meldungen über russische Offensivaufmärsche stichhaltig erschienen und sehr ernst genommen wurden". Ein Gewährsmann in Hitlers Stab hat am 1. Mai 1941 dem Staatssekretär Weizsäcker die Meinung Hitlers „wörtlich" so geschildert: „Rußland kann gewissermaßen nebenbei und ohne Beeinträchtigung des Kampfes gegen England erledigt wer814

Vorbereitungen und Warnungen den. England fällt nodi in diesem Jahr mit und ohne den Rußlandkrieg. Das britische Empire ist dann aufrecht zu erhalten, aber Rußland muß unschädlich gemacht werden." Als Vorwand für den Angriff diente die Behauptung, Rußland seinerseits bereite einen Angriffskrieg gegen Deutschland vor, dem man zuvorkommen müsse. Sicherlich hat auch der russische Diktator Hitler nicht getraut und Grenzbefestigungen, Flugplätze und dergleichen ausgebaut, doch unzweifelhaft waren dies zu diesem Zeitpunkt defensive Maßnahmen. Soweit Stalin einen Angriff nach Westen plante, wäre er wohl immer erst dann offensiv geworden, wenn der Kampf gegen England die deutschen Kräfte erschöpft hätte. Der ursprünglich für Mitte Mai 1941 geplante Beginn des Unternehmens wurde infolge des Balkanfeldzuges um einige Wochen verschoben. Am 22. Juni begann der Angriff. Die Heeresgruppe Nord unter Generalfeldmarschall Ritter von Leeb griff in Richtung auf Leningrad an, die Heeresgruppe Mitte unter Generalfeldmarschall von Bock in Richtung Smolensk, die Heeresgruppe Süd unter Generalfeldmarschall von Rundstedt in Richtung Kiew. Als Bundesgenossen standen Deutschland im Norden die Finnen, im Süden die Rumänen zur Seite; beide hatten ihre eigenen Gründe zum Kampf gegen Rußland. Sie führten ihre Truppen selbständig, deutsche Generalstabsoffiziere hielten Verbindung mit den deutschen Operationsplänen und deutsche Truppen kämpften Seite an Seite mit finnischen und rumänischen. Ungarn erklärte unter deutschem Druck den Russen am 27. Juni den Krieg, Italien, die Slowakei und Kroatien schickten kleinere Kontingente zu Hilfe. Wieder eröffnete Deutschland die Feindseligkeiten ohne Kriegserklärung mit Bombenangriffen auf die russischen Flugplätze und dem Einmarsch über die Grenzen. Die russi.1;die Armee befand sich zwar im Alarmzustand, hatte aber die Umstellung auf moderne Waffen noch keineswegs beendet. Die alte Führungsschicht der Armee und Marine war 1937 einer politischen „Säuberungsaktion" Stalins fast vollständig zum Opfer gefallen, etwa 150 Befehlshaber waren damals als „Konterrevolutionäre" und „Verräter" beseitigt worden; die Leistungsfähigkeit der neu ernannten Offiziere vermochte das Ausland noch nicht zu beurteilen. In einem Aufruf an das deutsche Volk und in einer Note an die Sowjetregierung beschuldigte Hitler am 22. Juni die Russen, sie hätten den Freundschaftsvertrag mehrfach gebrochen und in Zusammenarbeit mit England einen Angriff auf Deutschland vorbereitet, dem er zuvorkommen müsse. Die Note schloß: „In dem kommenden Kampf ist sich das deutsche Volk bewußt, daß es nicht nur zum Schutz der Heimat antritt, sondern dazu berufen ist, die gesamte Kulturwelt vor den tödlichen Gefahren des Bolschewismus zu retten und den Weg für einen wahren sozialen Aufstieg in Europa freizumachen." Die nationalsozialistische Propaganda kam auf ihr altes Thema zurück und predigte den Kreuzzug gegen den Bolschewismus. Churchill, der seit langem die Ansicht vertrat, eine wirksame Front gegen Hitler könne nur mit Hilfe Rußlands aufgebaut werden, und der die Versuche, Rußland von Deutschland zu trennen, nie aufgegeben hatte, sah jetzt seine Zeit ge815

Zweiter Weltkrieg — Angriff auf Rußland kommen. Am Abend des 22. Juni 1941 führte er in einer Rundfunkrede aus: „Niemand ist ein unversöhnlicherer Gegner des Kommunismus gewesen als ich selbst seit 25 Jahren. Ich nehme nidit ein einziges Wort zurück, das ich zu dem Thema gesagt habe . . . Wir haben nur ein Ziel, eine einzige unwiderrufliche Aufgabe. Wir sind entschlossen, Hitler und jede Spur des Nazismus zu vertilgen. Davon wird uns nichts abbringen — nichts. Wir werden uns nie auf ein Gespräch mit ihm einlassen, nie mit ihm oder einem aus seiner Bande verhandeln . . . Sollte Hitler sich einbilden, daß er durch seinen Angriff auf Sowjetrußland audi nur die geringste Schwankung in der Zielsetzung oder das kleinste Nachlassen in den Anstrengungen der großen Demokratien hervorrufen wird, dann hat er sich schrecklich geirrt... Diese Invasion Rußlands ist nichts anderes als ein Auftakt zur Invasion der britischen Inseln . . . Die Gefährdung Rußlands ist daher unsere eigene Gefährdung und die Gefährdimg der Vereinigten Staaten, und der Kampf jedes Russen für Heim und Herd ist der Kampf aller freien Menschen und aller freien Völker in allen Teilen der Welt." Durch den Polenkrieg hatte Hitler die schützenden Kleinstaaten zwischen Deutschland und der Sowjetunion beseitigt, durch den Rußlandkrieg brachte er das Bündnis Stalins mit den angelsächsischen Mächten zustande. Am 12. Juli wurde der Vertrag zwischen England und der Sowjetunion zur wechselseitigen Unterstützung gegen Deutschland unterzeichnet.

Die großen

Kesselschlachten

Die Operationen der deutschen Heere von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer verliefen anfangs größtenteils planmäßig. Die kräftig vorstoßenden Panzerverbände sollten, unterstützt von der Luftwaffe, der möglichst schnell nachfolgenden Infanterie den Weg zur Umzinglung großer russischer Heeresteile bahnen, neben dem Geländegewinn war die Vernichtung der russischen Streitkräfte das Ziel. Die ersten umfangreichen Einkesselungen gelangen der Heeresgruppe Mitte. Bis zum 9. Juli 1941 nahm sie im Raum Byalistok-Minsk 329 000 Mann gefangen, dann um Smolensk bis zum 5. August 310 000, bis zum 24. August südöstlich und südlich von Smolensk bei Roslawl und Gomel 116 000; überall erbeuteten sie große Mengen Panzer, Geschütze sowie sonstiges Kriegsmaterial. Die Heeresgruppe Süd und die sich südlich anschließende rumänische von deutschen Truppen verstärkte Armee unter Antonescu eroberten bis Ende August das Gebiet zwischen der russischen Grenze und dem großen Dnjeprbogen südlich Kiew über Dnjepropetrowsk bis zur Dnjeprmündung bei Cherson; nur das stark befestigte, vom Meer her versorgte Odessa ergab sich erst am 16. Oktober. In der Kesselschlacht von Uman südlich Kiew wurden bis zum 8. August 103 000 Russen gefangen genommen. Die Heeresgruppe Nord drängte die russischen Truppen unter erbitterten Kämpfen in Richtung auf Leningrad zurück, ohne daß eine Umzinglung stärkerer russischer Kräfte glückte. Mitte September schlossen deutsche Truppen Leningrad im Süden zwischen Finnischem Meerbusen und Ladogasee ab. Von Norden her drangen die Finnen auf der Karelischen Landenge vor und hatten An816

Große Kesselschlachten fang September hier und bei den in Richtung auf die Murmanbahn vorgetragenen Angriffen, bei denen audi deutsche Truppen beteiligt waren, ihre alten Landesgrenzen erreicht. Von Norwegen her überschritt Generaloberst Dietl mit dem Gebirgskorps die finnische Grenze, um das Petsamogebiet mit den kriegswichtigen Nidcelgruben vor russischem Zugriff zu bewahren, von da sollte er Murmansk, den einzigen eisfreien Hafen dieser Küste erobern; doch reichten die schwachen Kräfte, für die er vergebens Verstärkung anforderte und die unter ungeheuren Nachschubschwierigkeiten litten, nicht aus, um dem Unternehmen zum Erfolg zu verhelfen. Die deutschen Zeitungen brachten nach den ersten vierzehn Tagen des Feldzugs eine Siegesmeldung um die andere. Die Oberste Heeresleitung erkannte jedoch bald, daß dieses Mal mit einem Blitzkrieg nicht gerechnet werden konnte: die Russen leisteten erbitterten Widerstand, ihre Panzer waren vorzüglich, und was sie an Ersatztruppen aus dem Innern immer wieder neu heranzogen, überstieg weit die Berechnungen des deutschen Generalstabes. Stalin rief alle Kräfte des russischen Volkes zur Verteidigung auf: „Im Falle des Rückzugs der Roten Armee muß das gesamte rollende Material mitgeführt werden. Kein Eisenbahnwagen und keine Lokomotive darf in Feindeshand fallen. Dem Feind darf nicht ein Kilo Korn und nicht ein einziger Liter Brennstoff zurückgelassen werden . . . In dem vom Feind besetzten Gebiet sind Partisanenabteilungen zu Fuß und zu Pferde zu bilden, die gegen die feindlichen Einheiten zu kämpfen, überall den Kleinkrieg zu entfachen, die Nachrichtenleitungen zu zerstören und Wälder, Depots usw. in Brand zu stecken haben. Er muß auf Schritt und Tritt verfolgt und vernichtet werden. In allen vom Feind bedrohten Städten müssen wir eine nationale Miliz errichten und alle Arbeiter zum Kampf für ihre Freiheit und Ehre und für ihr Vaterland heranziehen." Das alles wußte Hitler, aber er wollte es nicht wahrhaben. Die Oberste Heeresleitung drängte auf die Einnahme von Moskau; sie war überzeugt, daß man auf diesem Wege die Hauptmacht der Russen zerschlagen und mit der Eroberung des zentralen Eisenbahnknotenpunktes das sowjetische Verkehrsnetz unterbrechen könnte. Gegen den heftigen Widerspruch von Brauchitsch und Halder setzte Hitler, der sich jetzt als „größter Feldherr aller Zeiten" fühlte, seinen Willen durch: am wichtigsten sei aus wirtschaftlichen Gründen die Eroberung der Ukraine, des Industriegebietes im Donezbedcen, der Krim und der ölgebiete des Kaukasus. So mußte die Heeresgruppe Mitte im Raum von Smolensk haltmachen und starke Kräfte an die Heeresgruppe Süd für den Angriff auf Kiew und auf die ösdich des Dnjepr zusammengezogene russische Armee abgeben. Den von Süden und Norden vorstoßenden Panzerdivisionen gelang es, der Hauptmasse des Feindes den Rüdezug abzuschneiden. In wochenlangen Kämpfen wurden von den auf immer engeren Raum zusammengedrängten Russen laut Wehrmachtbericht 650 000 gefangengenommen. Halder hält die Schlacht bei Kiew für die Einleitung der Katastrophe: der Erfolg sei „mit einem unersetzlichen Verlust an Zeit und Kraft" bezahlt worden, und als Hitler darnach den Angriff auf Moskau befahl, „war es zu spät". 817 52 Bühler, Deutsche Gesdiichte, VI

Zweiter Weltkrieg — Angriff auf Rußland Auch in die Operationen der Heeresgruppe Nord griff Hitler entscheidend ein. Sie sollte Leningrad und den Kriegshafen Kronstadt erobern und dann Anschluß an diefinnischeFront gewinnen. Am 16. September 1941 waren die beherrschenden Höhen südlich Leningrads von deutschen Panzerverbänden genommen worden, der Weg in die Stadt lag offen vor ihnen, als sie auf Hitlers Befehl gegen den Willen von Brauchitsch und Feldmarsch all Leeb, dem Befehlshaber der Heeresgruppe Nord, zur Verwendung in der Schlacht bei Kiew abgezogen wurden. Hitler wollte die Stadt nicht besetzen, sondern nur ganz umzingeln und dann aushungern lassen, um sich nicht mit der Sorge für den Lebensunterhalt der zwei Millionen zählenden Bevölkerung zu belasten. Die von Hitler beabsichtigte völlige Umzinglung der Stadt gelang jedoch nie, sie konnte über den Ladogasee notdürftig versorgt werden. Als das Eis fest genug war, legten die Russen sogar eine Eisenbahn über den See an. Leeb verweigerte die Weitergabe von Hitlers Befehl, auf hungernde Zivilisten, die aus Leningrad fliehen wollten, zu schießen, und reichte sein Abschiedsgesuch ein. Zunächst wurde es ihm zurückgeschickt, daraufhin flog er selbst ins Hauptquartier und erreichte seine endgültige Entlassung. Hitlers Eingreifen hat wahrscheinlich die Eroberung von Leningrad und Moskau im Herbst 1941 verhindert. Ob aber der Krieg, wenn die Oberste Heeresleitung damals ihre Pläne hätte ausführen können, letzten Endes für Deutschland günstiger verlaufen wäre, ist sehr fraglich.

Das Steckenbleiben des Angriffs. Der erste Winter Trotz der vorgeschrittenen Jahreszeit trieb Hitler weiter zum Angriff, die Entscheidung mußte noch vor Einbruch des Winters fallen. Denn die Zeit arbeitete für den Gegner: England und die Vereinigten Staaten standen in enger Verbindung mit Rußland, die Lieferung von Flugzeugen, Panzern und sonstigem Kriegsmaterial über das nördliche Eismeer nach Archangelsk nahm von Monat zu Monat zu, Stalin forderte dringend eine zweite Front, damit deutsche Truppen aus Rußland abgezogen würden. Am 29. September fanden in Moskau Besprechungen englischer und nordamerikanischer Sondergesandten mit Molotow über die Notwendigkeit und die Möglichkeiten des zu liefernden Kriegsmaterials statt. Hitlers Kriegsplanung erforderte zum Gelingen unbedingt die schnelle Niederwerfung Rußlands, damit er sich dann, gestärkt durch die wirtschaftliche Ausbeutung des besetzten Gebietes, gegen England wenden könne. In seiner Überheblichkeit unterschätzte Hitler den ungeheuren russischen Raum, das russische Volk sowie dessen Wirtschaftskraft und überspannte die Leistungsfähigkeit des tapferen deutschen Heeres und der dauernd mit Facharbeiter- und Rohstoffmangel kämpfenden deutschen Wirtschaft. Er rechnete nicht mit dem russischen Klima, den Schlammperioden, die jede Bewegung von Menschen, Pferden und Fahrzeugen und damit auch den gesamten Nachschub lähmten, und den strengen Wintern, denen weder die Truppen noch die deutschen Lokomotiven, Panzer und übrigen motorisierten Fahrzeuge gewachsen waren. Schon im Juli hatte 818

Stedcenbleiben des Angriffs. Erster Winter Brauchitsch die Beschaffung der Winterkleidung für die Truppe gefordert, Hitler verbot dies mit dem Hinweis, bis dahin sei der Feldzug beendet. Am 2. Oktober wurde den Soldaten der Ostfront ein Aufruf Hitlers verlesen: sie hätten sich jetzt überzeugt, wie stark Rußland zum Angriff gerüstet habe, wenn die deutsche Armee dem nicht zuvorgekommen wäre, wäre „ganz Europa verloren gewesen", die Soldaten hätten die Armut der Menschen im „Paradies der Arbeiter und Bauern" gesehen, das „Ergebnis einer nunmehr bald 25jährigen jüdischen Herrschaft". Hitler zählte dann die Leistungen und Erfolge der bisherigen Kämpfe auf: über 2400 000 Gefangene, über 17 500 Panzer und über 21 600 Geschütze vernichtet oder erbeutet usw., damit sei „nun endlich die Voraussetzung geschaffen worden zu dem letzten gewaltigen Hieb . . . Heute ist nun der Beginn der letzten großen Entscheidungsschlacht dieses Jahres. Sie wird den Feind und damit auch den Anstifter dieses ganzen Krieges, England selbst, vernichtend treffen". Am 4. Oktober eröffnete Hitler mit einer Rede im Berliner Sportpalast das Winterhilfswerk, das nach Aussage von Goebbels im Vorjahr 916,24 Millionen Mark eingebracht hatte. Unter dem Jubel der Zuhörer verkündete Hitler, daß der russische Gegner „bereits gebrochen ist und sich nie mehr erheben wird". Damals hat Hitler wohl wirklich geglaubt, was er sagte. Die Heeresgruppe Süd begann noch vor Beendigung der Schlacht um Kiew den Angriff auf die Krim und das Donezbecken. In harten Kämpfen eroberte sie die Halbinsel bis auf die Festung Sewastopol, nahm das Zentrum des Industriegebietes Stalino, Taganrog am Asowschen Meer, Rostow an der Donmündung und weiter nördlich Charkow, Bjelgorod und Kursk. Dann aber setzten starke Gegenangriffe der Russen ein. Die deutschen Truppen mußten teilweise zurückgenommen werden, um die Front halten zu können. Gegen den Befehl Hitlers ließ Rundstedt am 29. November auch Rostow wieder räumen und wurde daraufhin abgesetzt, obwohl sich Hitler persönlich von der militärischen Notwendigkeit dieser Maßnahme überzeugte. Von Rostow aus hätten die ölfelder des Kaukasus um Maikop erreicht werden sollen, für deren Inbetriebnahme schon Ingenieure und Facharbeiter bereitgestellt waren. Jetzt reichten die Kräfte der erschöpften Truppen nur noch aus, um die verkürzte Stellung den Winter über gegen die russischen Angriffe zu halten. Der große Vorstoß der Heeresgruppe Mitte auf Moskau begann am 2. Oktober 1941. Bei gutem Wetter wurden um Wjasma und Brjansk in den ersten vierzehn Tagen bedeutende russische Heeresteile eingekesselt. Wieder meldete der deutsche Wehrmachtsbericht riesige Zahlen von Gefangenen samt Panzern und Geschützen. Reichspressechef Dr. Otto Dietrich wurde eigens aus dem Führerhauptquartier nach Berlin geschickt, um am 10. Oktober vor den Vertretern der deutschen Presse zu verkünden: „Die Sowjetunion ist mit diesen gewaltigen Schlägen, die wir ihr versetzten, militärisch erledigt . . . Die Reste der Armeen, deren Widerstandskraft in letzter Zeit bereits nachgelassen hat, werden auch erledigt werden. Der englische Traum vom Zweifrontenkrieg ist ausgeträumt." Bis Mitte Oktober kamen die deutschen Truppen auf etwa 100 km an Moskau heran, dann machte eine Schlammperiode jeden weiteren Vormarsch unmöglich, der bei 819 52·

Zweiter Weltkrieg — Angriff auf Rußland den weiten Entfernungen so schon äußerst schwierige Nachschub stockte fast ganz, weder Treibstoff, noch Munition, noch Verpflegung kamen nach. Als nach etwa einem Monat Frost eintrat, mußten die tief im Schlamm versunkenen und dann eingefrorenen Fahrzeuge erst herausgehackt werden. Die Deutschen rüdcten nun noch etwas näher an Moskau heran. Schon seit dem 16. Oktober verließen die russische Regierung, die Gesandtschaften und Teile der Bevölkerung die bedrohte Hauptstadt, Stalin selbst blieb dort und organisierte den Widerstand. Seit Wochen wurde ein großer Teil der sibirischen Truppen an die Front bei Moskau befördert, der Nichtangriffspakt mit Japan sicherte die Grenze im Fernen Osten. Die deutschen Panzertruppen erreichten nördlich Moskau Kalinin und den WolgaMoskwa-Kanal, nordwestlich hatten sie sich bis auf 40 km der russischen Hauptstadt genähert. Der südliche Flügel der Heeresgruppe Nord konnte Tula nicht nehmen, umging es, kam aber auch dann nicht viel weiter. Scharfer Frost mit Temperaturen bis 30 Grad Kälte setzten den ganz ungenügend ausgerüsteten Soldaten furchtbar zu, die Zahl der durch Erfrierungen Ausfallenden überstieg die der Verwundeten; die Motoren funktionierten meist nicht, den Lokomotiven, die den Nachschub heranbringen sollten, platzten die Kessel. Am 6. Dezember mußte Hitler den Befehl geben, den Angriff auf Moskau einzustellen. Brauchitsch und andere hohe Offiziere traten für eine Zurückverlegung der Front ein, die verkürzte Front und bessere Nachschubwege würden die Lage erleichtern, eigentliche Winterquartiere waren allerdings auch rückwärts nicht vorbereitet. Hitler widersetzte sich mit dem ganzen Fanatismus seiner Persönlichkeit: kein Fußbreit eroberten Bodens dürfe aufgegeben werden. Hitler fürchtete wohl ebenso für seinen Ruf der Unbesiegbarkeit als auch — mit mehr Recht — vielleicht könnte der Rückzug nicht planmäßig zum Stehen gebracht werden, die Enttäuschung über das Scheitern der Eroberung von Moskau, die unsäglichen Leiden infolge der Kälte, die Erschöpfung nach den monatelangen Strapazen, all das könnte bei einem Rückzugsbefehl zu einer Katastrophe der gesamten Armee wie einst unter Napoleon I. führen. Der Oberbefehlshaber des Heeres, Brauchitsch, körperlich leidend und seelisch aufgerieben durch die ständigen Auseinandersetzungen mit Hitler, reichte am 7. Dezember sein Abschiedsgesuch ein, Hitler bewilligte es dem ihm unbequem Gewordenen gerne und übernahm am 19. Dezember selber den Oberbefehl über das Heer. Zu Halder sagte er an diesem Tage: „Das bißchen Operationsführung kann jeder machen. Die Aufgabe des Oberbefehlshabers des Heeres ist es, das Heer nationalsozialistisch zu erziehen. Ich kenne keinen General des Heeres, der diese Aufgabe in meinem Sinne erfüllen könnte. Darum habe ich mich entschlossen, den Oberbefehl über das Heer selbst zu übernehmen." Die Entlassung von Brauchitsch benutzte Hitler, um alle Schuld an den Rückschlägen und an der ungenügenden Winterausrüstung des Heeres auf den Mann zu schieben, der immer gewarnt, zum Maßhalten und zur Vorsicht gemahnt hatte. Inzwischen war die Weltlage durch Japans Angriff auf Pearl Harbor und den Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg völlig geändert (S. 825 ff.). An der Ostfront begannen jetzt heftige Gegenangriffe der Russen; ihre Filzstiefel, wat820

Steckenbleiben des Angriffs. Erster Winter tierte Kleidung, die Frostschutzmittel für ihre Motoren und Maschinen, der Rückhalt an einer zur Verteidigung ihrer Heimat entschlossenen Bevölkerung boten ihnen viele Vorteile gegenüber den deutschen Truppen. Hitlers starre Verbote jeden Zurückgehens, die Maßreglung der Offiziere, die auf eigne Verantwortung hin ihre Truppen in besser zu verteidigende Stellungen zurücknahmen, konnten nicht verhindern, daß weite Gebiete wieder aufgegeben werden mußten. Auch gelangen den unablässig angreifenden Russen tiefe Einbrüche, die häufig Teile des deutschen Heeres zu umzingeln drohten; aber die Front hielt, obwohl die Truppen sich oft nach allen Seiten verteidigen mußten. Die Heeresgruppe Nord hatte Anfang Oktober befehlsgemäß die Angriffe wieder aufgenommen, um zunächst die Verbindung mit den Finnen herzustellen. Deutsche Truppen stießen bis Tichwin vor, mußten jedoch zur großen Enttäuschung der Finnen Anfang Dezember vor den russischen Gegenangriffen zurückweichen. Leningrad konnte weder ganz eingeschlossen noch erobert werden, auch der Kriegshafen Kronstadt und der von Marinestreitkräften verteidigte Brückenkopf bei Oranienbaum blieben fest in russischer Hand. Die ohne Rücksicht auf Verluste bis Ende Februar 1942 dauernden Angriffe der Russen erreichten ebenfalls nicht ihre Ziele, die völlige Entsetzung von Leningrad und Zerschlagung der deutschen Heeresgruppe Nord; doch gelangen ihnen sehr tiefe Einbrüche und die Einkesselung einer kleinen Gruppe bei Cholm sowie einer größeren bei Demjansk, deren rechtzeitige Zurücknahme Hitlers Befehl verhindert hatte. Sie wurden notdürftig auf dem Luftwege versorgt und hielten unter entsetzlichen Opfern und Mühsalen aus, bis im Frühjahr 1942 ihre Befreiung gelang. In der Beurteilung von Hitlers Grundsatz des „Festkrallens am Boden" sind sich selbst die Fachleute nicht einig. Die einen sagen, Hitlers unbändiger Wille habe es fertiggebracht, daß die deutsche Front, wenn auch zurückgedrängt und trotz tiefer Einbrüche, dennoch standhielt und eine Ausgangsbasis für die Angriffe des nächsten Frühjahrs bot; „der deutsche Soldat gewann aus seinen übermenschlichen Leistungen, aus dem Durchhalten in taktisch jeder überkommenen Anschauung hohnsprechenden Lagen und aus der erfolgreichen Abwehr einer Übermacht, die vielfach das Zwanzigfache der eigenen Stärke betrug, ein Vertrauen zu seiner eigenen Kraft und zur Überlegenheit der deutschen Führung im Kampfe, das ihm gegenüber den Russen ständig erhalten blieb und die Abwehrerfolge der kommenden Jahre erst verständlich macht" (Tippeiskirch). Die Gegner von Hitlers Taktik vertreten die Ansicht, ein geordnetes Zurücknehmen der Front wäre möglich gewesen, es hätte durch eine kürzere und gerade Frontlinie die Abwehr wesentlich erleichtert und große Verluste an Menschen und Material erspart; Hitler habe aus rein egozentrischen Gründen, um den Glauben an seine Unfehlbarkeit und Unbesiegbarkeit zu erhalten, auch in den kommenden Jahren rücksichtslos die Soldaten geopfert, in unhaltbaren Lagen jedes Ausweichen verboten und die Kräfte von Heer und Luftwaffe dauernd überfordert.

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Zweiter Weltkrieg — Greuel GREUEL Behandlung

der Ostvölker. Widerstand und

Partisanenkrieg

Vielleicht hätte bei politisch geschickter Behandlung der besetzten Gebiete die Möglichkeit bestanden, den Nationalismus der Ukrainer und Weißrussen bei ihrer Abneigung gegen die Unfreiheit des Bolschewismus für die Unterstützung der deutschen Ziele zu gewinnen, aber der Hochmut der nationalsozialistischen Rassenideologie verhinderte jegliche Ansätze einer derartigen Entwicklung. Die kämpfende Truppe wurde im allgemeinen von der Bevölkerung nicht unfreundlich aufgenommen, war die Front aber weiter vorgerückt, so blieben der Militärverwaltung nur ihre eigenen Bereiche, die Herrschaft in dem besetzten Gebiet übernahm die Partei. Die Pläne für die Erweiterung des deutschen Lebensraumes nach Osten hatten führende Nationalsozialisten wie Darré, Rosenberg, Himmler immer wieder erörtert, seit Hitler in „Mein Kampf" (S. 741 ff.) anstatt Kolonien in Ubersee Siedlungspolitik mit Schwert und Pflug über die deutsche Ostgrenze hinaus gefordert hatte, bis jeder „Sprosse unseres Volkes sein eigenes Stück Grund und Boden" habe (S. 754). Schon Ende Mai 1940, mehr als ein Jahr vor Beginn des Rußlandfeldzuges, legte Himmler eine Denkschrift über die Behandlung der Fremdvölker im Osten vor, ein „klassisches Denkmal nationalsozialistischer Hybris", das Hitler nach Himmlers Angabe „sehr gut und richtig" fand. Himmler schlug vor, möglichst viele kleine Völkerschaften anzuerkennen, und dadurch die Masse zu zersplittern, die rassisch Wertvollen nach Deutschland zu bringen, um sie dort zu assimilieren. Die Juden seien nach Afrika oder in sonst eine Kolonie zu schicken, die übrige nichtdeutsche Bevölkerung, der die rassisch wertvollen Kinder zum Eindeutschen laufend fortgenommen würden, sei als führerloses Arbeitervolk dazu berufen, „unter der strengen, konsequenten und gerechten Leitung des deutschen Volkes an dessen ewigen Kulturtaten und Bauwerken mitzuarbeiten und diese, was die Menge der groben Arbeit anlangt, vielleicht erst zu ermöglichen". Nun wollte Hitler diese Pläne verwirklichen. Rosenberg wurde Reichsminister für die besetzten Ostgebiete, er wünschte weniger radikal vorzugehen, die Ukrainer durch Stärkung ihres Nationalbewußtseins, Schaffung einer Universität Kiew usw. zu gewinnen, konnte sich aber nicht durchsetzen. Die Reichskommissare für die Ukraine und die als „Ostland" zusammengefaßten baltischen Länder spielten sich als Herren dieser Gebiete auf und behandelten sie als Ausbeutungsobjekte. Die Tätigkeit der Parteibeamten und der Einsatzkommandos der SS, die Aussicht, bei einem Sieg Deutschlands mehr oder weniger eine deutsche Kolonie zu werden, die brutale Ausnutzung der Kriegsgefangenen als Arbeitskräfte und der meist zwangsweise zur Arbeit für Deutschland herangezogenen Zivilisten aus den eroberten Gebieten sowie die immer mehr von der Defensive zur Offensive übergehende Kriegspolitik der Alliierten ließen in den besetzten Ländern die Widerstandsbewegungen und die Sabotageakte ständig anwachsen. Hitler antwortete darauf mit immer schärferen Maßnahmen: mit dem „Kommunistenerlaß"

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Behandlung der Ostvölker. Widerstand und Partisanenkrieg

vom 16. September 1941 und dem „Geiselerlaß" vom 1. Oktober 1941, nach denen Angriffe im Hinterland auf Angehörige der deutschen Streitkräfte mit der Erschießung von Geiseln aus den Kreisen der Zivilbevölkerung zu beantworten seien; so sollten für einen getöteten Deutschen jeweils 50 bis 100 Kommunisten erschossen werden. Bei „Nacht und Nebel", ohne Benachrichtigung der Angehörigen, waren Zivilisten zu verhaften und abzutransportieren nach dem „Nachtund Nebel-Erlaß" vom 7. Dezember 1941. Der „Kommandoerlaß" vom 18. Dezember 1942 und ein Befehl zur rücksichtslosen Bandenbekämpfung vom 16. Dezember 1942 betrafen direkte Kampfmaßnahmen gegen „Kommando-Unternehmen" (Sabotagetrupps mit Spezialaufträgen)und Partisanen, ohne Rücksicht auf deren etwaigen Status als Soldaten. Den Einsatzkommandos der SS waren diese das Licht der Öffentlichkeit scheuenden Aufgaben übertragen, aber auch die Armee erhielt von Hitler Befehle, die ihre Ehre und Tradition verletzten. Die höheren Offiziere im Osten protestierten vergebens gegen den Kommissarerlaß vom 13. Mai 1941, der ihnen befahl, die Kommissare der Roten Armee nicht als Kriegsgefangene zu behandeln, sondern sofort zu erschießen, da sie Vertreter der kommunistischen Weltanschauung seien. Viele deutsche Offiziere halfen sich damit, daß sie den Befehl stillschweigend sabotierten. Für den Kampf gegen die Partisanenverbände in Jugoslawien und Rußland, die in unwegsamen und dünnbevölkerten Gegenden Unterschlupf fanden, mußte Hitler immer mehr Truppen einsetzen, um die deutschen Soldaten und die Nachschubwege zu schützen, während sich in Norwegen, Dänemark, Holland, Belgien und Frankreich die Widerstandsbewegungen bis zur Landung der Alliierten auf dem Festland in mäßigen Grenzen hielten. Am 4. Juni 1942 starb Heydrich, der an Stelle des September 1941 beurlaubten Neurath die Geschäfte des Reichsprotektors für Böhmen und Mähren wesentlich rücksichtloser geführt hatte, an den Folgen eines Attentates tschechischer Nationalisten. Einer der Attentäter wurde in dem Dorf Lidice aufgespürt; daraufhin wurden am 10. Juni 1942 alle männlichen Einwohner getötet und das Dorf dem Erdboden gleichgemacht. Auf den Tag genau zwei Jahre später zerstörten Angehörige einer SS-Panzerdivision das ganze französische Dorf Oradour sur Glane, nachdem sie die Männer in Scheunen und die Frauen und Kinder in der Kirche zusammengetrieben, mit Maschinengewehren getötet und die Gebäude dann in Brand gesteckt hatten. Ein Verschulden der Dorfbewohner oder ihr Zusammenhang mit den Widerstandskämpfern, die an den Vortagen die SS-Division angegriffen hatten, war nicht nachweisbar. Die Alliierten erkannten die Widerstandskämpfer als reguläre Kampfverbände an und unterstützten sie nach Möglichkeit, auch auf dem Luftwege, mit Waffen und sonstigem Bedarf. Hitler bestand dagegen darauf, daß alle Widerstandskämpfer keine Soldaten im Sinne der Haager Landkriegsordnung seien — eine nicht klar zu entscheidende völkerrechtliche Frage. Der aktive Widerstand der unterdrückten Bevölkerungen ist moralisch ebenso berechtigt wie, von einem anderen Standpunkte aus, die Abwehr der Gewalt823

Zweiter Weltkrieg — Greuel maßnahmen. Die Grenzlinie zwischen Notwehr und Verwerflichem ist indes hier besonders schmal; sicher sind die Geiselerschießungen und vor allem die Zerstörung ganzer Dörfer mit Recht als Verbrechen verurteilt worden. Was bei diesen Partisanenkämpfen, Sabotageakten, Geiselerschießungen auf beiden Seiten an Gewalttaten, Grausamkeiten und Verbrechen begangen wurde, gehört zu den furchtbarsten Seiten des „totalen Krieges", eines Krieges, in dem nicht nur Heer gegen Heer kämpft.

Judenvernichtung

und

„Euthanasie"-Programm

Besondere Einsatzkommandos der SS waren mit der grauenvollsten Aufgabe, der Ausmerzung der von Hitler als minderwertig erklärten Volksteile, betraut. Kein Armeeführer hatte das Recht, diesen Truppen Himmlers entgegenzutreten. Sie trieben die Juden und die Zigeuner zusammen und vernichteten sie in Massen besonders durch Erschießen, später durch Vergasen. Dieses entsetzlichste Kapitel in der Geschichte des Dritten Reiches begann mit dem Auftrag Görings an Heydrich vom 31. Juli 1941, „eine Gesamtlösung der Judenfrage im deutschen Einflußgebiet in Europa" vorzubereiten. Am 20. Januar 1942 legte Heydrich einem kleinen Kreis von Mitarbeitern den Plan vor: Evakuierung der Juden nach dem Osten, Einsatz der Arbeitsfähigen zu Straßenbau usw., „wobei zweifellos ein Großteil durch natürliche Verminderung ausfallen wird". Der Restbestand wird „entsprechend behandelt werden müssen", zur „praktischen Durchführung der Endlösung wird Europa von Westen nach Osten durchgekämmt". So entstanden im Osten die Vernichtungslager von Auschwitz, Maidanek und andere, in denen die Juden aus Frankreich, Holland, Belgien, Ungarn und den südosteuropäischen Ländern nach entsetzlichen Mißhandlungen einen qualvollen Tod starben; ihre Kleider kamen zur Spinnstoffsammlung, ihre Wertsachen, darunter die den Toten ausgebrochenen Goldzähne, in die allgemeine Kasse. Daneben blieben auch die Konzentrationslager im Reichsgebiet weiter bestehen: Sachsenhausen, Belsen, Buchenwald, Dachau usw. „So gut wie niemand weiß, was ein deutsches KZ wirklich war. Eine Welt für sich, ein Staat für sich; eine Ordnung ohne Recht, in die der Mensch geworfen wurde, der nun mit allen seinen Tugenden und Lastern — mehr Lastern als Tugenden — um die nackte Existenz und das bloße Überdauern kämpfte. Gegen die SS allein? Beileibe nicht; genau so, ja noch mehr gegen seine eigenen Mitgefangenen! Das Ganze hinter den eisernen Gitterstangen einer terroristischen Disziplin ein Dschungel der Verwilderung, in den von außen hineingeschossen, aus dem zum Erhängen herausgeholt, in dem vergiftet, vergast, erschlagen, zu Tode gequält, um Leben, Einfluß und Macht intrigiert, um materielle Besserstellung gekämpft, geschwindelt und betrogen wurde" (Kogon). Die Zahl der hier Umgekommenen wird auf 5 % bis 6 Millionen geschätzt, zuverlässige Zahlen werden sich nie ermitteln lassen. Ganz im geheimen raunte man sich im deutschen Volk Gerüchte über die Vorkommnisse in den Konzentrationslagern zu. Sicheres und Genaues kam darüber nicht in die Öffentlichkeit.

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Pearl Harbor Geheim blieb auch das im Sommer 1941 einsetzende sogenannte Euthanasieprogramm, ein Plan zur Tötung Geisteskranker als „lebensunwertes Leben". Die Angehörigen erhielten die Nachricht, der Insasse der Heilanstalt sei an einer Krankheit gestorben und gleidi verbrannt worden. Die mutigen Proteste katholischer und evangelischer Bischöfe — Graf Galen, Bischof von Münster, erhob öffentlich Anklage wegen Mordes — hatten nur in Einzelfällen Erfolg. Die Nationalsozialisten, die mit der Vernichtung der angeblich minderwertigen Rassen und Menschen Schmach und Schande auf das deutsche Volk häuften, handelten nicht aus irgendeiner Notlage, sondern aus Prinzip. Der Wahn ihrer falschen Rassenlehre erstickte das Gefühl der Menschlichkeit in ihnen, sie rühmten sich, den Weg der nordischen Herrenrasse freizumachen. SS-Gruppenführer Odilo Globocnic, österreichischer Nationalsozialist, antwortete auf die Frage, ob es nicht besser sei, die Leichen zu verbrennen statt in Massengräber zu werfen, an denen eine kommende Generation Anstoß nehmen könnte: „Wenn je nach uns eine Generation kommen sollte, die so schlapp und so knochenweich ist, daß sie unsere große Aufgabe nicht versteht, dann allerdings ist der ganze Nationalsozialismus umsonst gewesen. Ich bin im Gegenteil der Ansicht, daß man Bronzetafeln versenken sollte, auf denen festgehalten ist, daß wir den Mut gehabt haben, dieses große und so notwendige Werk durchzuführen."

D E R E I N T R I T T JAPANS UND AMERIKAS IN DEN W E L T K R I E G Pearl Harbor Partisanenkämpfe im Rücken der Front, Widerstände in der Bevölkerung aller besetzten Gebiete, Rückschläge in Rußland und Afrika, wo Rommel um die Wende 1941/1942 die Cyrenaika räumen mußte, dies war die Kriegslage Deutschlands, als Japan am 8. Dezember 1941 durch seinen Angriff auf Pearl Harbor den europäischen Krieg zum Weltkrieg ausweitete. Japan hatte sich bisher zurückgehalten trotz Hitlers Drängen, England in Ostasien anzugreifen, aber die eigenen Ziele weiter verfolgt. Nach der Niederlage Frankreichs im Juni 1940 zwang Japan die Vichy-Regierung, ihm die Besetzung der nördlichen Teile Französisch-Indochinas zuzugestehen, um auch hier China von seinen Zufahrtswegen abzuschneiden. In viereinhalb Jahren Krieg hatte Japan den Norden und die Küste Chinas besetzt und in Nanking eine Gegenregierung aufgestellt, während Tschiangkaischek, der seine Regierung nach Tschungking verlegt hatte, von England und den Vereinigten Staaten unterstützt wurde. Japan suchte für seine ständig wachsende Bevölkerung ein wirtschaftliches Betätigungsfeld und eine Rohstoffquelle in China und bedrohte damit englische und amerikanische Interessen. Als Japan dann im Juli 1941 durch ein Abkommen mit Vichy die Erlaubnis zur militärischen Besetzung ganz Indochinas erreichte, antworteten darauf die Vereinigten Staaten mit der Einfrierungsorder

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Zweiter Weltkrieg — Kriegseintritt Japans und Amerikas für alle japanischen Guthaben in ihrem Land und legten damit praktisch den gesamten auswärtigen Handel und die Rohstoffversorgung Japans lahm, auch die ölzufuhr wurde ihm gesperrt. England und Holland schlossen sich diesen Maßnahmen an. Schon damals vertrat eine starke Kriegspartei in Japan die Ansicht, da Frankreich und Holland in Ostasien ganz und England weitgehend ausgeschaltet seien, wäre der gegebene Zeitpunkt für einen Krieg gekommen. Ministerpräsident Fürst Konoye versuchte noch mit den Vereinigten Staaten zu verhandeln, doch scheiterte alles an der amerikanischen Forderung, Japan müsse China vollständig räumen. Konoye trat am 17. Oktober 1941 zurück, sein Nachfolger wurde General Tojo mit einem Militärkabinett. Im November suchte audi er noch mit Roosevelt zu verhandeln; ob freilich die Entsendung von Sonderbeauftragten ernst gemeint war oder nur zur Verschleierung der japanischen Angriffsvorbereitungen diente, wird sich kaum entscheiden lassen. Jedenfalls suchte Roosevelt, der die Japaner und ihre Leistungsfähigkeit gering einschätzte, keinen Modus vivendi auf Grund der japanischen Vorschläge, sondern hielt starr an der Forderung des Rückzugs der Japaner aus Indochina und China fest. Die von Staatssekretär Cordeil Hull den japanischen Sondergesandten am 26. November überreichte Note bedeutete eigentlich schon das Scheitern der Verhandlungen, die trotzdem fortgesetzt wurden, während die japanischen Schiffe bereits zu dem Überraschungsangriff ausgelaufen waren. Nun kannte man in Washington seit einiger Zeit den Geheimcode der Japaner und erfuhr daher, daß der Kriegsausbruch zwischen Japan und den angelsächsischen Mächten unmittelbar bevorstehe. Washington hatte auch Nachrichten über die Bewegungen der japanischen Flotte, wußte aber wohl bis zum letzten Augenblick nicht, an welchem Punkt der Angriff beginnen würde. Am 7. bzw. 8. Dezember 1941 — infolge der Datumsgrenze (180. Längengrad) ist der 7. Dezember in Tokio gleich dem 8. Dezember in Hawaii — morgens 7 Uhr begannen die Japaner mit Flugzeugen das Bombardement des amerikanischen Kriegshafens Pearl Harbor auf einer der Hawaiinseln. Kurz zuvor hatten sie in Washington die Kriegserklärung überreicht, so daß der Alarmbefehl die amerikanische Flotte in Pearl Harbor zu spät erreichte. Die Amerikaner erlitten furchtbare Verluste, 19 Schiffe, davon 5 große Schlachtschiffe, wurden versenkt oder sehr schwer beschädigt, 188 Flugzeuge am Boden zerstört, über 3200 Mann getötet oder vermißt. Japan hatte vorerst sein Ziel erreicht: für den Augenblick waren die Vereinigten Staaten im südöstlichen Pazifik machtlos. Japan benützte diese Zeit, um mit großer Wucht Schritt für Schritt sich ein riesiges Gebiet zu unterwerfen, das im Jahre 1942 zur Zeit der größten Ausdehnung die Inselwelt von den Aleuten im Norden über Wake, die Gilbert- und Salomoninseln, Neuguinea bis Holländisch-Indien und Singapur, Malaya sowie Burma umfaßte. Damals beherrschten die Japaner 450 Millionen Menschen und 95 Prozent der Weltproduktion an Rohgummi, 70 Prozent der Produktion an Zinn und Reis. Vielleicht hätte Japan 14 Tage später, als die Rückschläge der deutschen Truppen in Rußland offenkundig wurden, doch gezögert, den Angriff auf die Vereinigten Staaten zu wagen. Im März 1942 bot Japan, das trotz seiner Siege 826

Atlantikcharta. Kriegserklärung an die USA überzeugt war, man müsse einen Kompromißfrieden anstreben, seine Vermittlung an, um zwischen Deutschland und der Sowjetunion einen Sonderfrieden herbeizuführen, da Deutschland sich sonst in Rußland verbluten werde; aber Hitler lehnte empört ab, jeder Zweifel an dem deutschen „Endsieg" war ihm unerträglich. Trotz der enormen Erfolge Japans wurde die Leistungsfähigkeit des Landes überspannt, während die Bedrohung von Alaska, Australien und Indien die angelsächsischen Mächte zu äußersten Kraftanstrengungen aufriefen, die ihnen schließlich den Sieg sicherten.

Die Atlantikcharta. Hitlers Kriegserklärung

an die Vereinigten

Staaten

Seit Roosevelt am 5. Oktober 1937 bei der Einweihung einer Brücke in Chicago die Errichtung einer „Quarantäne der angriffslustigen Staaten" und gemeinsame Bemühungen aller friedliebenden Nationen um die Aufrechterhaltung des Rechts in der Welt gefordert hatte, war seine ganze Außenpolitik auf dieses Ziel gerichtet geblieben. Im eigenen Land hatte er gegen starke isolationistische Strömungen zu kämpfen, die nach der Erfahrung des Ersten Weltkriegs die Vereinigten Staaten auf jeden Fall kriegerischen Entwicklungen fernhalten wollten. Roosevelt setzte die wirtschaftliche Unterstützung Englands und dann Rußlands durch, 1940 das Marineaufrüstungsprogramm und das Gesetz über die teilweise Wehrpflicht, am 7. Juli 1941 nahmen die Vereinigten Staaten die Besetzung von Island den Engländern ab, am 14. August wurde die Atlantikcharta verkündet, auf die Churchill und Roosevelt sich bei einer Zusammenkunft im Nordatlantik an Bord eines Schiffes geeinigt hatten: beide Länder erklärten, keine territoriale Vergrößerung anzustreben; sie mißbilligten territoriale Veränderungen, die nicht mit den frei geäußerten Wünschen der beteiligten Völker übereinstimmten; jedes Volk solle sich seine Regierungsform selbst wählen, die Souveränität der mit Gewalt unterjochten Völker solle wiederhergestellt werden; jedem Staat gebühre der für sein wirtschaftliches Gedeihen nötige Anteil am Welthandel und an den Weltrohstoffen, alle Nationen müßten auf wirtschaftlichem Gebiet zusammenarbeiten; nach dem Sturz der Nazityrannei sei ein Frieden zu errichten, der „allen Menschen in allen Ländern ein Leben frei von Furcht und Not" sichert, alle Nationen müßten auf Anwendung von Waffengewalt verzichten, und bis zur „Errichtung einer umfassenden und ständigen Organisation für die allgemeine Sicherheit" müßten die Nationen, die mit Gewaltanwendung außerhalb ihrer Grenzen drohen, entwaffnet werden. Die Atlantikcharta „stellte eine vereinfachende Fortentwicklung der 14 Punkte Wilsons dar. Wie diese hat sie den demokratischen Völkern im Kriege ein faßliches, wirkungsvolles Programm gegeben" (Herzfeld). Am 24. September schlossen sich fünfzehn Regierungen, darunter die Exilregierungen von Belgien, Frankreich, Holland, der Tschechoslowakei, der Atlantikcharta an. Am 11. September 1941 erhielt die Kriegsmarine der Vereinigten Staaten den Befehl, auf deutsche und italienische Kriegsschiffe sofort zu schießen. Nach dem 827

Zweiter Weltkrieg — Kriegseintritt Japans und Amerikas japanischen Angriff auf Pearl Harbor stellte sich die Öffentlichkeit der Vereinigten Staaten geschlossen hinter Roosevelt, am 8. Dezember 1941 erklärte der Kongreß Japan den Krieg, Großbritannien Schloß sich am gleichen Tage an. Churchill betrachtete die aktive Beteiligung der Vereinigten Staaten am Krieg als großes Glück. Nun war er sich des Sieges sicher, in der Nacht des 8. Dezember schlief er „dankbar den Schlaf des Geretteten". Hitler war über die Nachricht von dem japanischen Angriff auf Pearl Harbor hocherfreut. Er hatte vorher über die Aktion nichts Genaueres erfahren; denn Japan hatte sich Anfang Dezember lediglich des deutschen Beistandes bei einem Krieg mit den angelsächsischen Mächten ausdrücklich versichert, und Hitler hatte dementsprechend immer mit dem Eintritt der Vereinigten Staaten in den Krieg gerechnet, wobei er nur hoffte, Rußland zuvor „erledigen" zu können. Jetzt erfüllte ihn mit Genugtuung, daß die Vereinigten Staaten ihre Kriegsproduktion nun hauptsächlich für ihre eigene Verteidigung verwenden und nach zwei Seiten kämpfen mußten. Am 11. Dezember übersandten Deutschland und Italien Washington Kriegserklärungen, wozu sie der Dreierpakt nicht verpflichtete, da Japan eindeutig der Angreifer war. Die großen deutschen U-Boote nahmen an der amerikanischen Atlantikküste und im Karibischen Meer sofort den Kampf auf gegen die vorerst völlig ungesicherten Transportschiffe, die von Südamerika wichtige Rohstoffe, vor allem öl, nach den Vereinigten Staaten brachten. In den ersten Monaten erzielten die deutschen U-Boote sehr große Erfolge, verstärkten aber infolge der unmittelbaren Bedrohung der amerikanischen Küsten den Abwehrwillen der Bevölkerung. Der Aufbau von Heer, Flotte und Luftwaffe in Amerika, die Steigerung der Produktion an Kriegs- und Transportschiffen, Panzern, Flugzeugen, Waffen, Munition usw. nahmen durch Rationalisierung der Herstellungsmethoden und Beschränkung auf einige Typen in den folgenden Jahren Ausmaße an, die den Bedarf der eigenen und der alliierten Wehrmacht reichlich deckten und die Überlegenheit über die erschöpften Achsenmächte sicherten. Wie das bolschewistische Rußland unterschätzte Hitler auch die demokratischen Vereinigten Staaten. In seiner Reichstagsrede vom 12. Dezember machte er Roosevelt „mit seinem jüdischen Anhang" wegen hetzerischer Stärkung des polnischen Widerstandes für den Ausbruch des Krieges im Jahr 1939 verantwortlich, ebenso habe Roosevelt gegen Japan gehetzt und es so lange provoziert, bis es jetzt die Geduld verloren habe und zum Angriff übergegangen sei. Hitler verkündete das neue Dreimächteabkommen, in dem Deutschland, Italien und Japan sich verpflichteten, „den ihnen von den Vereinigten Staaten von Amerika und England aufgezwungenen Krieg mit allen ihnen zu Gebote stehenden Machtmitteln gemeinsam bis zum siegreichen Ende" zu führen.

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Anstrengungen im Innern. Fremdarbeiter DIE LETZTE AUSWEITUNG DER DEUTSCHEN MACHT Rückschauend kann man den Dezember 1941, den Eintritt Amerikas in den Krieg und den deutschen Rückschlag vor Moskau, als den Wendepunkt des Krieges betrachten. 1942 erzielte Hitler mit dem Vordringen bis Stalingrad, zum Kaukasus und bis El Alamein sowie mit den hohen Versenkungsergebnissen der U-Boote und Flugzeuge nur noch trügerische Erfolge, dann begann im Spätherbst die Kette der Niederlagen, die, von örtlich begrenzten Erfolgen unterbrochen, nach zweieinhalb Jahren zur völligen Katastrophe führten.

Anstrengungen im Innern. Die

Fremdarbeiter

Die großartigen japanischen Siegesmeldungen und die Erfolge der deutschen U-Boote dienten Hitler als willkommenes Hilfsmittel, die Deutschen über das Mißlingen des Blitzkrieges in Rußland und die Leiden der schlecht ausgerüsteten Soldaten im russischen Winter hinwegzutäuschen. In seinem Neujahrsaufruf 1942, in der Sportpalastrede am 30. Januar, zum Heldengedenktag am 16. März und im Reichstag am 27. April hielt es Hitler unter ständiger Wiederholung seiner alten Thesen von dem jüdischen und dem bolschewistischen Weltfeind für notwendig, der deutschen Bevölkerung Siegeszuversicht einzuhämmern und zugleich jeden mit den härtesten Strafen zu bedrohen, der sich weigere, seine Pflicht zu erfüllen. Vom Reichstag ließ er sich dafür eine besondere Vollmacht geben, die ihn jeder Rücksicht auf die bestehenden Rechtsvorschriften und auf wohlerworbene Rechte entband. Die immer größeren Anforderungen an die Wehrmacht und Kriegsindustrie zwangen zu immer rigoroseren Maßnahmen bei der Verteilung der Rohstoffe, dem Einsatz der Arbeitskräfte und der Aufstellung der Ersatzmannschaften für die Wehrmacht. An die Stelle des bei einem Flugzeugunglück getöteten Reichsministers für Bewaffnung und Munition Fritz Todt trat am 9. Februar 1942 Architekt Albert Speer, der als Rüstungsminister und Generalinspektor für Straßenwesen, Wasserkräfte und Energiewirtschaft organisatorisch Hervorragendes leistete. Am 23. März wurde Gauleiter Fritz Saudcel als Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet, um aus den eroberten Gebieten Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie heranzuziehen, damit die deutschen Facharbeiter für die Front freigemacht würden. Da Sauckels Anwerbung von freiwilligen Arbeitern bei weitem nicht den gewünschten Erfolg hatte, griff er zu immer skrupelloseren Methoden des Zwanges und der Verschleppung. Die zur Arbeit Gepreßten erhielten zwar den üblichen Lohn, aber fern ihrer Heimat, meist schlecht untergebracht, verpflegt und bekleidet, litten sie schwer unter der steigenden Not in Deutschland. Ihre Zahl stieg allmählich auf etwa fünf Millionen an. 829

Zweiter Weltkrieg — Letzte Ausweitung deutscher Madit Um die Spannungen in der Wirtschaft zu mindern — bei der Knappheit der Rohstoffe suchte jede Abteilung ihre Belange als die wichtigsten zur Geltung zu bringen —, errichtete Göring als Bevollmächtigter für den die Wirtschaft beherrschenden Vierjahresplan das Amt „Zentrale Planung". Nach Aussage des Pressechefs Otto Dietrich blieben jedoch die Aufblähimg des Staats- und Parteiapparates sowie die unklare Abgrenzung der Arbeitsgebiete der verschiedenen Dienststellen bestehen: „Was diese internen Kompetenzkämpfe während des Krieges effektiv an Energien gelähmt, an Leistungen verhindert und an Kraft verschlungen haben, ist niederschmetternd."

Rommels Vorstoß bis El Alamein Um die Jahreswende 1941/42 hatte Rommel die Cyrenaika wieder räumen müssen. Der Feldzug in Nordafrika litt vor allem unter großen Nachschubschwierigkeiten. Raeder hatte immer wieder darauf hingewiesen, wie wichtig die Eroberung von Malta sei, aber Hitler wollte erst Rußland niederringen. Er verkannte trotz der Warnungen die Bedeutung des Mittelmeers für England und den Gesamtverlauf des Krieges. Die Verluste der italienischen Transportschiffe wurden so katastrophal, daß Hitler sich gezwungen sah, die Zahl der deutschen U-Boote im Mittelmeer und der Luftstreitkräfte in Süditalien gegen Ende des Jahres 1941 beträchtlich zu erhöhen. So gelang es, durch fast pausenlose Bombardierung Maltas und Angriffe auf die englische Flotte im Januar 1942, soviel Transporte unversehrt nach Tripolis zu befördern, daß Rommel am 20. Januar wieder zum Gegenstoß ansetzen und über Benghasi bis El Gazala vordringen konnte. Hier wartete er weitere Verstärkungen ab und entriß dann vom 26. Mai an in harten Kämpfen den Engländern nicht nur die Cyrenaika, sondern stieß bis El Alamein vor, ihrer letzten stark befestigten Stellung 100 km von Alexandrien entfernt. Weiter kam er aber nicht; der Nachschub, besonders des dringend benötigten Benzins, versagte. Feldmarschall Kesselring konnte mit seinen Flugzeugen nicht gleichzeitig Malta bombardieren, die Transportschiffe schützen und die Erdkämpfe an der Front unterstützen. Zwar ermöglichte der Besitz des Hafens von Tobruk nun den Nachschub auf dem kürzeren Weg von Griechenland und Kreta aus, aber auch die Engländer brachten über Gibraltar und das Rote Meer laufend Verstärkungen und Nachschubgüter heran. Beide Seiten hatten schwere Verluste an Schiffen und Flugzeugen. Die von Kesselring dringend geforderte Einnahme von Malta wurde teils von Hitler, teils von den vor dem großen Risiko zurückschreckenden Italienern immer wieder verschoben und schließlich ganz aufgegeben. Als Rommel die El Alamein-Stellung erreicht hatte, erging sich Hitler in phantastischen Plänen, nun über Kairo-Persien-Indien den Japanern die Hand reichen zu können; sein Interesse versiegte aber bald wieder, als Rommels Vormarsch steckenblieb. Da Rußland für Hitler im Vordergrund stand, ließ er auch Rommels dringende Bitten um Verstärkung und um ausreichende Versorgung mit Ben830

Bis Stalingrad und zum Kaukasus zin unberücksichtigt:. Seit August bereitete der englische General Montgomery, nachdem er einen Versuch Rommels, die El Alamein-Stellung zu durchbrechen, abgewiesen hatte, die Gegenoffensive systematisch vor.

Bis Stalingrad und zum Kaukasus In Rußland reichten die deutschen Truppen im Frühjahr 1942 nicht für eine Offensive an der ganzen Front aus. Hitler entschied sich für den Süden. Die Heeresgruppen Nord und Mitte blieben in der Defensive. In erbitterten Kämpfen verteidigten sie gegen die dauernden Angriffe der Russen die langen Flankenlinien der auf Hitlers Befehl um jeden Preis gehaltenen vorspringenden Frontbogen. Zu den im Kessel von Demjansk abgeschnittenen Truppen gelang es eine Verbindung herzustellen und Teile der tief eingedrungenen russischen Divisionen zu vernichten. Die Russen konnten weder Leningrad entsetzen noch sonst Fortschritte machen, banden aber die deutschen Armeen, so daß sie keine Truppen für den Großangriff im Süden abzuzweigen vermochten. Hitlers fanatisch durchgeführter Grundsatz, nicht einen Fußbreit eroberten Bodens aufzugeben, forderte unverhältnismäßig große Opfer an Menschen und Material. Der Generalstab konnte den Obersten Befehlshaber nicht von dem Vorteil einer kürzeren, leichter zu verteidigenden Frontlinie überzeugen. Hitler befahl — ebenfalls gegen den Widerspruch des Generalstabs — der Heeresgruppe Süd den Vorstoß auf Stalingrad an der Wolga, um den Russen den Rest ihres Industriegebietes und die fruchtbare Ostukraine bis an den unteren Don zu nehmen, ein zweiter Angriffskeil sollte von da aus die Ostgebiete des Kaukasus erobern. Italien, Ungarn und Rumänien erhöhten die Zahl ihrer an der Ostfront kämpfenden Truppen auf etwa 35 Divisionen; sie wurden hauptsächlich zur Flankendeckung verwendet, in Ausrüstung und Ausbildung waren sie den Deutschen nicht gleichwertig. Hitler bestand auf seiner Meinung, die Russen hätten die letzten Kräfte in ihrer Winteroffensive verbraucht, ein entschlossener Angriff würde die Entscheidimg zugunsten Deutschlands herbeiführen. Zunächst behielt Hitler scheinbar wieder recht. Deutsche und rumänische Truppen eroberten im Mai 1942 die gesamte Halbinsel Kertsch und stürmten im Juni die seit September eingeschlossene Festung Sewastopol, die am 1. Juli fiel. Die Russen gingen im Mai, um der erwarteten deutschen Frühjahrsoffensive zuvorzukommen, beiderseits Charkow zu heftigen Angriffen über und brachen an mehreren Stellen tief in die deutschen Linien ein; aber die schon bereitstehenden deutschen Panzerverbände stießen vom Süden her am Donez vor und kesselten große Teile der russischen Divisionen ein. Der Heeresbericht konnte noch einmal eine große Zahl von Gefangenen, 240 000, sowie die Erbeutung vieler Geschütze und Panzer melden. Dieser Sieg bedeutete einen guten Anfang für den groß angelegten Vormarsch der Heeresgruppe Süd gegen Osten. Die Russen leisteten wohl hartnäckigen Widerstand, wichen aber jedem deutschen Versuch einer Einkesselung elastisch aus. So erzielten hier die Deutschen bis Anfang September 831

Zweiter Weltkrieg — Letzte Ausweitung deutscher Madit einen trügerischen Geländegewinn: die fast 2000 km lange Frontlinie von Woronesch am Don bis vor Stalingrad am Wolgaknie, dann südlich durch die Kalmückensteppe bis an den Kaukasus, das ölgebiet von Maikop und Pjatigorsk und Noworossisk am Schwarzen Meer. Mit überheblichem Stolz erfüllte es Hitler, als deutsche Gebirgsjäger auf dem 5629 m hohen Elbrus die deutsche Fahne hißten, militärisch war es indes eine belanglose Aktion. Dann waren auch an der ganzen Front die Kräfte erschöpft und die Nachschubschwierigkeiten wuchsen ungeheuer. Insbesondere für ein Vordringen zu den ergiebigeren ölfeldern jenseits des Kaukasus nach Baku und Batum reichte es nicht mehr. Die Oberste Heeresleitung wurde immer besorgter, die Auseinandersetzungen mit Hitler wurden immer heftiger. „Als ihm eine auf einwandfreien Unterlagen aufgebaute Zusammenstellung vorgelegt wurde, nach der Stalin noch im Jahre 1942 im Bereich nördlich Stalingrad westlich der Wolga über Neuaufstellungen von 1 bis lx/2 Millionen, im Bereich des östlichen Kaukasus und nördlich desselben von mindestens einer halben Million Mann würde verfügen können, und schließlich der Beweis erbracht wurde, daß der tägliche Ausstoß der russischen Produktion an frontfähigen Panzern monatlich mindestens 1200 Stück betrage, da ging Hitler mit Schaum in den Mundwinkeln und mit geballten Fäusten auf den Vortragenden los und verbat sich ein solches idiotisches Geschwätz" (Halder). Die Folge war die Entlassung Halders am 24. September 1942 und die Ernennung des Generals Zeitzier zum Generalstabschef des Heeres. Auch er konnte nur warnen und zum rechtzeitigen Rückzug mahnen. Nach Hitler handelte es sich indes „nicht um Fragen sachlichen Könnens, sondern um die Glut nationalsozialistischen Bekennens", wie er zu Halder bei der letzten Unterredung sagte. Unter unsäglich opfervollen Kämpfen drangen die deutschen Truppen noch in das allmählich fast ganz zerstörte Stalingrad ein, bis Ende Oktober hatten sie, Ruine um Ruine, fast zwei Drittel der Stadt erobert, dann kam auch hier die Offensive zum Stillstand. Seekrieg. Der Landungsversuch von Dieppe Die Erfolge der deutschen U-Boote waren während des ganzen Jahres 1942 noch sehr beträchtlich, nach deutschen Angaben versenkten sie 7 700 000 Bruttoregistertonnen, allerdings steigerte die Verbesserung der feindlichen Abwehr auch die Verluste an U-Booten. In den französischen Häfen litten unter den englischen Flugzeugangriffen die deutschen Hochseestreitkräfte so sehr, daß sie nach sorgfältiger Vorbereitung im Februar 1942 durch den Ärmelkanal in die Heimathäfen und von dort nach Norwegen in Sicherheit gebracht werden mußten. Die Engländer brauchten zwar nun von der französischen Küste aus keinen Angriff mehr zu befürchten, immerhin empfanden sie es als Blamage, daß die deutschen Schiffe an den schweren Küstenbatterien von Dover mit geringfügigen Schäden vorbeigekommen waren. Die deutschen Hochseestreitkräfte sollten die U-Boote und Flugzeuge bei den Angriffen auf die mit Kriegsmaterial für Rußland beladenen englisch-amerikani832

Triumph, Widerstand und Terror in Deutschland sciien Geleitzüge nach Murmansk und Archangels unterstützen, kamen aber nur selten und ohne größere Erfolge zum Einsatz. Am 14. August 1942 unternahmen die Allierten auf Betreiben Churchills einen Landungsversuch an der französischen Kanalküste bei Dieppe. Die Bildung eines Brückenkopfes war wohl nicht beabsichtigt, die Truppen sollten Hafen und Flugplatz zerstören, Gefangene machen und Erfahrungen für den späteren Hauptschlag sammeln. Die Deutschen entdeckten das Unternehmen rechtzeitig und wehrten es ab unter sehr schweren Verlusten der Alliierten an Toten, Gefangenen und Kriegsmaterial. Triumphierend Schloß Hitler daraus, daß ein Festsetzen des Feindes an der französischen Küste unmöglich sei. Für die Alliierten war die Aktion von Dieppe ein mißlungenes Probestück, das ihnen viele Vorwürfe aber auch wertvolle Erfahrungen eintrug.

Triumph, Widerstand und Terror in Deutschland Am 30. September hielt Hitler eine seiner langen, prahlerischen Reden im Berliner Sportpalast zur Eröffnung des Winterhilfs werkes. Die Feinde übergoß er mit Hohn und Spott, die deutschen Erfolge pries er in den höchsten Tönen: die letzten großen Weizengebiete, die letzte verkokbare Kohle der Russen seien in deutscher Hand, von den Ölquellen seien sie abgeschlossen und mit der Einnahme von Stalingrad sei den Russen auch der große Verkehrsweg der Wolga gesperrt, „kein Mensch wird uns von dieser Stelle mehr wegbringen", und unter tosenden Beifallsstürmen Schloß Hitler: „Daß unsere Gegner uns jemals schlagen, ist unmöglich und ausgeschlossen. Nur das nationalsozialistische Deutschland und die mit ihm verbündeten Staaten werden als junge Nationen, als wirkliche Völker und Volksstaaten aus diesem Krieg mit einem glorreichen Sieg hervorgehen." Hitler wollte nicht sehen, daß die Russen andere Landwirtschaftsgebiete und Industriezentren aufgebaut und andere Verkehrswege geschaffen hatten, daß die ölzufuhr über das Kaspische Meer frei war und daß die amerikanischen Lieferungen immer reichlicher flössen. Einige Tage später behauptete Göring in einer Rede am 6. Oktober zum Erntedankfest, Blockade und Aushungerung Deutschlands seien nicht mehr möglich, sollten aber durch Maßnahmen des Gegners Schwierigkeiten in der Ernährung auftreten, so „steht von jetzt ab unerschütterlich fest und daran wird festgehalten werden, daß der deutsche Arbeiter und der, der in Deutschland arbeitet, ernährungsmäßig am besten versorgt wird", erst dann kämen die eroberten Gebiete an die Reihe. Die unzureichende Abwehr der immer größere Ausmaße annehmenden Bombardierung deutscher Städte entschuldigte Göring mit der vordringlichen Beanspruchung der Luftwaffe an der Ostfront. Nur ein erbärmlicher Feigling trage nicht „Siegeszuversicht bis zum Äußersten" in sich. „Deutsches Volk, Du mußt wissen: wird der Krieg verloren, dann bist Du vernichtet. Der Jude steht mit seinem nie versiegenden Haß hinter diesem Vernichtungsgedanken, und wenn das deutsche Volk diesen Krieg verliert, dann wird Dein nächster Regent Jude." 833 53

Bühler, Deutsche Geschichte, V I

Zweiter Weltkrieg — Rückschlag 1942/43 So versuchten die nationalsozialistischen Führer die schwindende Zuversicht und steigende Unruhe im Volk zu übertönen. Darüber hinaus sorgte die Gestapo mit ihrem Spitzelsystem dafür, daß, wer sich widersetzlich zeigte oder auch nur in den Verdacht der Opposition kam, der immer mehr verschärften Bestrafung durch die Gerichte zugeführt wurde, die der neue Justizminister Thierade, bisher Vorsitzender des Volksgerichsthofes, zu einer „Recht"sprechung im nationalsozialistischen Sinn — Recht ist, was dem Volke nützt — umzuformen sich bemühte. Trotzdem waren während dieser ganzen Zeit Widerstandsgruppen nicht untätig, sie hielten unter Lebensgefahr die Verbindung miteinander und mit dem Ausland aufrecht, namentlich Goerdeler entwarf Friedensprogramme und versuchte vergebens über Schweden eine Zusage von Churchill für eine annehmbare Behandlung Deutschlands nach dem Sturz Hitlers und seiner Anhänger zu erhalten. Die Hoffnung der Opposition auf einen erträglichen Ausgleich verminderte sich mit dem festeren Zusammenschluß der Alliierten und der sich immer bedrohlicher gestaltenden Lage Deutschlands.

DER RÜCKSCHLAG 1942/43 Alliierte Verhandlungen

über die „zweite

Front"

Am 26. Mai 1942 hatte Molotow in London einen Bündnisvertrag unterzeichnet, der die sowjetrussisch-englische Zusammenarbeit für zwanzig Jahre, also über den Krieg hinaus sichern sollte; beide Staaten verpflichteten sich, mit keiner deutschen Regierung, die nicht klar auf alle Angriffsabsichten verzichte, Frieden zu schließen. Am 29. Mai fuhr Molotow nach Washington weiter, um mit Roosevelt eine Vereinbarung über das Leih- und Pachtsystem zu treffen. An beiden Orten verhandelte Molotow über die von Stalin zur Entlastung Rußlands dringend gewünschte „zweite Front" in Europa. Churchill beklagt sich bitter, daß die Russen erst mit Hitler paktiert und ihm wichtige wirtschaftliche Hilfe gewährt hatten, dann aber keinen Augenblick zögerten, „an das bedrängte und sich mühsam wehrende Britannien in den schrillsten Tonarten Appelle um Kriegsmaterial zu richten, an dem es ihren eigenen Armeen gebrach. Sie drangen in die Vereinigten Staaten, den größten Teil der Lieferungen, mit denen wir rechneten, für sie abzuzweigen, und vor allem schrien sie — schon im Sommer 1941 — nach britischen Landungen auf dem Kontinent". Churchill war sich darüber klar, daß die Landung an einer gut befestigten und verteidigten Küste mit Aussicht auf Erfolg erst gewagt werden könne, wenn die Alliierten die volle Überlegenheit auf dem Meere und in der Luft hätten, sowie die Frage der Transportschiffe und der neu zu konstruierenden Panzerlandefahrzeuge gelöst wäre. Dazu mußten erst die amerikanische Kriegswirtschaft ihren Höchststand erreichten und die amerikanischen Armeen ausgebildet werden. 834

Verlust Nordafrikas. Besetzung Südfrankreichs In mündlichen und schriftlichen Beratungen wurden sich Churchill und Roosevelt bald darüber einig, daß eine Entscheidung Deutschland gegenüber schneller zu erreichen sein werde als gegen das Inselreich Japan, deshalb sollte der europäische Kriegsschauplatz den Vorrang vor dem ostasiatischen haben; eine Landung in Frankreich könne ohne zu großes Risiko erst im Jahre 1944 unternommen werden. Eine Besetzung Französisdi-Nordafrikas läge indes im Bereich des Möglichen, gleichviel ob die Vichyregierang zustimme oder nicht, und der Beginn hierfür wurde im September 1942 auf den 8. November festgesetzt.

Der Verlust Nordafrikas. Besetzung

Südfrankreichs

Am 24. Oktober begann General Montgomery seine große Offensive aus der El Alamein-Stellung heraus, und am 8. November landeten die Alliierten gleichzeitig in Algier, Oran und Casablanca. Für die Alliierten war die Hauptfrage, wie sich die etwa 200 000 Mann starke französische Armee in Nordafrika zu ihnen stellen werde. Da die Engländer wegen ihrer Angriffe auf Oran, Dakar und Syrien bei den Franzosen kaum über Sympathien verfügten, wurde die Eroberung Französisdi-Nordafrikas als ein hauptsächlich amerikanisches Unternehmen hingestellt, den Oberbefehl hatte General Eisenhower. Auch war General de Gaulle, der in London den Kampf zur Befreiung Frankreichs vorbereitete, aber in der französischen Armee unbeliebt war, nicht in den Plan eingeweiht. Zum Befehlshaber einer französischen Freiheitsarmee hatten die Alliierten General Giraud ernannt, der bei Dünkirchen in deutsche Kriegsgefangenschaft geraten war, im April 1942 in das unbesetzte Frankreich geflohen und von da im November über Gibraltar zu den Amerikanern gekommen war. Viele der französischen Offiziere in Nordafrika waren für den Abfall von der Vichyregierung gewonnen. Die ihr treu gebliebenen Truppen widersetzten sich zunächst der Landung der Alliierten, doch dauerten die Kämpfe nur kurze Zeit. In Algier befand sich gerade zum Besuch seines Sohnes der Oberkommandierende der Streitkräfte und Stellvertreter Pétains, Admiral Darían. Er schlug Pétain vor, keinen Widerstand zu leisten. Da Vichy nicht antwortete, befahl Darían die Einstellung der Kämpfe in Algier; in Oran wurde nur bis zum 10., in Casablanca bis zum 11. November gekämpft. Die Deutschen wurden von der Landung überrascht. Wohl hatten sie die Betriebsamkeit bei den Alliierten beobachtet, aber infolge der geschickten Täuschungsmanöver das wirkliche Ziel nicht erkannt, und so blieben die gesamten Truppentransporte der Alliierten unangefochten von Angriffen deutscher U-Boote und Flugzeuge. In Tunis zu landen, hatten die Alliierten wegen der in Süditalien stationierten Fliegereinheiten unter Feldmarschall Kesselring nicht gewagt. Dies benutzte Hitler sofort zur Besetzung von Tunis am 9. November, um den wichtigen Hafen von Bizerta zu sichern und einen Brüdcenkopf gegen die auf dem Landweg vordringenden alliierten Truppen zu bilden. Die englischen Soldaten hatten wenig, die schnell ausgebildeten amerikanischen überhaupt keine Kriegser-

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Zweiter Weltkrieg — Rückschlag 1942/43 fahrung. So gelang es den vorerst schwachen, dauernd durch Nachschubschwierigkeiten behinderten deutsch-italienischen Verbänden, den feindlichen Vormarsch zum Stehen zu bringen. Die französische Besatzung in Tunis leistete keinerlei Widerstand. Am 9. November befahl Hitler das bisher freie Frankreich mit Ausnahme des Kriegshafens Toulon zu besetzen, auch dies ging ohne Schwierigkeit vonstatten. Hitlers Aufruf vom 12. November, die deutsche Wehrmacht käme nicht als Feind, sondern nur um eine Landung der Alliierten in Südfrankreich zu verhindern, und die Regierung Pétain behalte ihre volle Freiheit, fand zwar wenig Glauben, und die von de Gaulle geschürte Widerstandsbewegung gegen die Deutschen wuchs bedenklich. Aber zunächst blieb alles ruhig, auch als Hitler nun am 26. November den Kriegshafen von Toulon besetzen ließ, weil er besorgte, die dort liegenden Kriegsschiffe könnten nach Afrika zu entkommen suchen. Die Franzosen zogen vor, ihre Schiffe selber im Hafen zu versenken. Rommel hatte vor dem Angriff Montgomerys in erbitterten Kämpfen immer mehr zurückweichen müssen, nachdem die englische Luftwaffe vorher vierzehn Tage lang der deutschen schwerste Verluste zugefügt und den Nachschub empfindlich gestört hatte. Hitler befahl Rommel, „in der Alameinstellung unter zähem Festhalten jeden Meters Wüstenboden zu siegen oder zu sterben". Rommel wollte jedoch seine Truppen nicht nutzlos opfern und handelte auf eigene Verantwortung. Hitler verzieh Rommel diesen „Ungehorsam" nicht, und Rommel verlor bei dem krassen Unverständnis Hitlers für die Lage des mit Mannschaft und Material ganz ungenügend unterstützten, heldenhaft gegen eine ständig wachsende Ubermacht kämpfenden Afrikakorps alles Vertrauen zu Hitler. Ende November war die Cyrenaika, Ende Januar 1943 Tripolis verloren. Den Verlust ihrer Kolonien empfanden die Italiener sehr schmerzlich, alle Hoffnungen ihres übervölkerten Landes, alle persönlichen und materiellen Opfer, mit denen Nordafrika zu einer fruchtbaren Provinz gemacht werden sollte, waren vernichtet. Und nun bedrohten die englischen und amerikanischen Truppenverbände in Nordafrika auch das Mutterland. In der neu aufgebauten Mareth-Stellung hatte Rommels Armee nun Fühlung mit der unter Generaloberst von Arnim stehenden Tunisarmee. Anfang März war Rommel überzeugt, daß Widerstand gegen die wachsende Überlegenheit der Feinde nicht mehr lange möglich sein werde; er flog persönlich zu Hitler, um die Erlaubnis für die Uberführung der Truppen nach Italien zu erwirken. Wieder versagte Hitler seine Zustimmung, obwohl die furchtbare Katastrophe von Stalingrad (S. 838) noch keine sechs Wochen zurücklag. Er zwang Rommel zu einem Erholungsurlaub und verbot seine Rückkehr nach Afrika. Im April drängten feindliche Angriffe die deutsch-italienischen Truppen auf immer engeren Raum zusammen, die Möglichkeit zur Evakuierung war versäumt; am 6. Mai fiel Tunis, am 7. Bizerta in die Hände der Gegner, am 13. ergaben sich die letzten auf die Halbinsel Mauin zurückgewichenen Verbände. Im ganzen gerieten 250 000 Mann, davon ungefähr die Hälfte Deutsche, in Gefangenschaft. Damit endete der Krieg in Afrika. „Das deutsche Afrikakorps und sein englischer Gegner hatten den Kampf über 836

Konferenz von Casablanca zwei Jahre hindurch auf dem afrikanischen Kriegsschauplatz mit einer von beiden Seiten eingehaltenen Ritterlichkeit geführt, die wohltuend von der Entartung des Krieges an und hinter anderen Fronten abstach" (Tippeiskirch).

Die Konferenz von

Casablanca

Vom 14. bis 26. Januar 1943 tagten Roosevelt, Churchill und die Stabschefs der alliierten Armeen in Casablanca; Stalin, der lieber in Europa als in Afrika eine zweite Front gesehen hätte, hatte sein Erscheinen abgesagt. Die CasablancaKonferenz setzte die Landung in Sizilien für den Sommer fest und versöhnte die rivalisierenden Generale Giraud und de Gaulle wenigstens vorläufig. Churchill trat für eine Balkanfront ein, er hoffte die Türkei als Bundesgenossen zu gewinnen und auf dem Balkan bei den Widerstands- und Partisanengruppen tatkräftige Hilfe zu finden. Über den Balkan, so meinte er, ließe sich am leichtesten eine direkte Verbindung zur Sowjetunion herstellen, außerdem könnte man auf diese Weise die eigenen Armeen zwischen die Sowjetunion und die dem Kommunismus abgeneigten, zum Westen tendierenden Staaten wie Ungarn und Polen schieben. Stalins Kriegsziele, die er Anfang Januar 1942 bei einem Besuch Außenminister Edens in Moskau darlegte, hatten Churchill erschreckt, vor allem die von Rußland beabsichtigte Annexion Finnlands und der Baltikumstaaten. Roosevelt ließ sich für den Plan der Balkanfront nicht gewinnen, er vertraute Stalin und dessen Zusicherungen, der Bolschewismus suche eine dauerhafte Zusammenarbeit mit den Westmächten. Roosevelts Schuld war es auch, daß in dem für die Presse bestimmten Communiqué über die Casablanca-Konferenz der Satz stand, der Krieg werde „bis zur bedingungslosen Kapitulation" (unconditional surrender) der Feinde geführt werden. Churchill hatte zunächst keinen Einspruch erhoben, aber sehr bald wurde ihm und dem amerikanischen Außenminister Cordeil Hull klar, daß mit dieser Formel die bedrohten Völker zu einem Verzweiflungskampf bis zum Äußersten getrieben würden, und daß die Alliierten nach der totalen Niederlage der Gegner die ungeheuer schwierige Aufgabe einer staatlichen Neuordnung übernehmen müßten. Für die deutschen Oppositionsgruppen bedeutete die Forderung der bedingungslosen Kapitulation das Ende ihrer Hoffnungen, auf diplomatischem Wege zu einem annehmbaren Frieden zu kommen, selbst der Sturz Hitlers würde jetzt nichts mehr an dem Schicksal Deutschlands ändern. Für Hitler und Goebbels dagegen bot die öffentliche Proklamierung des alliierten Kriegszieles eine sehr wirkungsvolle Propaganda, mit der sie das erschöpfte Volk zu letzten Anstrengungen treiben konnten. Stetig steigerte sich auch das Wirken der Gestapo Himmlers. Beider Aktivität und die Casablanca-Formel machten die Hoffnung der Feinde auf den Zusammenbruch Deutschlands durch Zermürbung des Volkes zunichte.

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Zweiter Weltkrieg — Rückschlag 1942/43 Stalingrad Mitte November 1942 hatte Stalin seine Armeen neu aufgestellt und gut ausgerüstet, seine westlichen Verbündeten befanden sich im Vormarsch: Montgomery drängte Rommel in der Cyrenaika zurück, die amerikanischen und englischen Truppen hatten in Nordafrika festen Fuß gefaßt. Am 19. November gingen die Russen zum Angriff vor, durchstießen nordwestlich und südlich Stalingrad rumänische Verbände und umringten ein Oval von 40 km Länge und 20 km Breite mit Stalingrad am Ostrand; in diesem Kessel lagen deutsche Truppen, ungefähr 270 000 Mann, unter dem Befehl des Generals der Panzertruppen, Friedrich Paulus. Er wie auch einige seiner Korpskommandeure erkannten gleich, daß die einzige Rettung im sofortigen Durchbrach nach Südwesten lag. Im Führerhauptquartier stellten sich Zeitzier und sein Stab auf denselben Standpunkt. „Wenn man die Dokumente aus dieser Zeit zur Hand nimmt, ist man beeindruckt von der Klarheit und Einheitlichkeit, mit der dieser Gedanke Hitler immer wieder in dringendster, fast ultimativer Form mündlich und schriftlich, durch graphische Darstellung und durch Funksprüche der eingeschlossenen Armee vorgetragen wurde" (Halder). Hitler beharrte jedoch auf seinem Entschluß, kein Stück Bodens freiwillig aufzugeben, nachdem ihm Göring zugesagt hatte, er werde Stalingrad auf dem Luftwege versorgen, was freilich die maßgebenden Offiziere sofort bezweifelten. Paulus gehorchte im Vertrauen auf Hitler, der ausreichende Verpflegung und rechtzeitigen Entsatz versprach. Beides erwies sich als unausführbar. Es waren weder Flugzeuge noch Reserven genügend vorhanden, auch griffen die Russen Mitte Dezember an anderen Stellen an. Feldmarschall von Manstein ließ eine schnell zusammengeraffte Angriffsgruppe von Südwesten her in Richtung auf Stalingrad antreten; ihr gelang es auch, auf etwa 50 km an die Eingeschlossenen heranzukommen. Jetzt wäre für Paulus der beste Zeitpunkt gewesen, den Ring der Russen von innen her zu durchbrechen, wieder forderte Zeitzier von Hitler den Rückzugsbefehl für die Stalingradarmee, aber Hitler blieb bei seinem Nein, und gegen den ausdrücklichen Befehl zu handeln, konnte sich Paulus nicht entschließen. Jahre später, am 2. Juli 1954, nachdem er aus der sowjetischen Gefangenschaft zurückgekehrt war, erklärte Paulus in Dresden vor Pressevertretern, nur nach vorheriger Rücknahme der Kaukasusverbände und nach Festigung der Lage im Südflügel wäre ein Abbruch der Kämpfe in Stalingrad zu verantworten gewesen, sein Ausharren wäre also nicht nur Gehorsam gewesen, der ohnedies die Grundlage jeder Führung sei, sondern auch eine militärische Notwendigkeit. Dies wird zwar fast allgemein verneint, wogegen die Gehorsamspflicht eines militärischen Befehlshabers, der die Gesamtlage an der Front nicht zu übersehen vermag, nicht grundsätzlich abgestritten werden kann. Goebbels allerdings erzählt in seinem Tagebuch, daß Feldmarschall Milch, die rechte Hand Görings bei der Luftwaffe, ihm erklärte, „unsere 6. Armee in Stalingrad hätte gerettet werden können, und hätte er sie kommandiert, so wäre er auch gegen den Befehl des Führers zurückgegangen". 838

Stalingrad Der günstige Zeitpunkt zum Durchbruch wurde also nicht genützt, Manstein sah sich gezwungen, die Angriffsgruppe zurückzunehmen, da die Russen nordwestlich Stalingrad weiter vordrangen, eine italienische Armee am Don in 100 km Breite völlig zersprengten und im Süden mit dem Ziel Rostow angriffen. Mitte Januar 1943 war die allgemeine deutsche Frontlinie 200 km von Stalingrad entfernt. Die Leiden der in dem sich stetig verengernden Raum Eingeschlossenen wurden durch Frost und Mangel an allem zum Leben Notwendigen ins Unerträgliche gesteigert, die Versorgung aus der Luft, schon bisher nie ausreichend, verringerte sich mit der weiteren Entfernung und dem Verlust des Hauptflugplatzes am 14. Januar noch mehr. „Was in den beiden letzten Wochen aus Idealismus, Pflichttreue, opferbereiter Hingabe und Kameradschaft von diesen hohlwangigen, erschöpften und bitter enttäuschten deutschen Männern an wahrem Heldentum aufgebracht wurde, ist nicht zu beschreiben und steht turmhoch über unausbleiblichem, vereinzeltem Versagen aus allzu menschlicher Schwäche. Um so abstoßender mußte es schon damals auf alle diejenigen, die die wahren Zusammenhänge kannten, wirken, wie das heldenhafte Ausharren der 6. Armee durch die deutsche Propaganda zur Aufpeitschung des deutschen Volkes ausgenutzt und das unverzeihliche Versagen der obersten Führung in einen sinnvollen, unvermeidlichen Opfergang verfälscht wurde" (Tippeiskirch). Zwei Angebote der Russen vom 8. und 22. Januar 1943, ehrenvoll zu kapitulieren, lehnte Paulus auf Befehl Hitlers ab. In den letzten Tagen des Januar funkte Paulus dem Führerhauptquartier, ein Weiterkämpfen unter diesen Bedingungen gehe über Menschenkraft. Hitler antwortete: „Kapitulation ausgeschlossen. Die 6. Armee erfüllt ihre historische Aufgabe damit, durch Aushalten bis zum Äußersten den Wiederaufbau der Ostfront zu ermöglichen." Paulus wurde zum Feldmarschall befördert. Am 30. Januar unterzeichnete er die Kapitulation; in einem Traktorenwerk kämpfte eine Gruppe noch bis zum 2. Februar. Seit dem Beginn der Einschließung waren etwa 34 000 Mann, fast nur Verwundete, mit den die Versorgung heranschaffenden Flugzeugen hinter die deutsche Frontlinie gebracht worden, über 100 000 durch Frost, Hunger, Wunden, Seuchen und Selbstmord umgekommen, über 90 000, darunter Paulus und General Walther von Seydlitz, gingen nun in russische Gefangenschaft. Am 1. Februar 1943 beklagte sich Hitler bei der üblichen Lagebesprechung im Führerhauptquartier bitter über die Undankbarkeit und Untreue der Kommandeure. Paulus „hätte sich erschießen sollen . . . jetzt wird er nach Moskau gebracht. Dort wird er alles mögliche unterschreiben. Er wird Geständnisse machen, Erklärungen abgeben. Sie werden sehen: er wird sich geistig bankrott erklären und aufs tiefste erniedrigen . . . Was mich persönlich am meisten schmerzt, ist, daß ich ihn zum Feldmarschall beförderte. Ich wollte ihm diese letzte Anerkennung geben. Das ist der letzte Feldmarschall, den ich in diesem Krieg ernannt habe". Hitlers Besorgnisse waren nicht ganz unbegründet. Stalin versuchte aus der Verbitterung der Stalingradkämpfer Kapital zu schlagen und ließ das „Nationalkomitee Freies Deutschland" gründen, Präsident wurde der kommunistische Dichter Erich Weinert, auch die späteren Machthaber im sowjetisch besetzten 839

Zweiter Weltkrieg — Rückschlag 1942/43 Deutschland Ulbricht und Piede und andere deutsche Kommunisten gehörten dazu, Zweck war Widerstand gegen Hitler. Als Parallele wurde der „Bund deutscher Offiziere" gegründet, dessen Präsident und gleichzeitiger Vizepräsident des „Nationalkomitees" General Seydlitz wurde, er sollte die nichtkommunistische, bürgerliche Gruppe vertreten. Dem Bund deutscher Offiziere gehörten später auch Paulus und andere an. Die von ihnen unterzeichneten Flugblätter, die seit Januar 1944 deutsche Soldaten zum Überlaufen aufforderten, blieben wirkungslos. Wie weit diese Offiziere sich ehrlich als Widerstandskämpfer, als Verfechter einer neuen deutsch-russischen Freundschaft fühlten oder ob sie sich nur bessere Behandlung sichern wollten, wird sich schwer entscheiden lassen, und ob man sie als Widerstandskämpfer oder als Vaterlandsverräter betrachtet, wird immer vom Standpunkt des Urteilenden abhängen.

Deutschland nach

Stalingrad

Am 30. Januar 1943 fuhr Hitler nicht nach Berlin, um den 10. Jahrestag der Machtergreifung zu feiern. Goebbels mußte, da der Führer wegen der großen „Abwehrschlachten" im Osten nicht abkömmlich sei, die Rede im Sportpalast übernehmen und eine Proklamation Hitlers verlesen: der wunderbare Aufstieg der NSDAP sei „ein Ausdruck des Willens der Vorsehung, dem deutschen Volk und darüber hinaus ganz Europa die Möglichkeit zu geben, der größten Bedrohung aller Zeiten erfolgreich begegnen zu können, . . . dem Ansturm Innerasiens gegen Europa . . . Angesichts der Erkenntnis, daß es in diesem Krieg nicht Sieger und Besiegte, sondern nur Uberlebende oder Vernichtete geben kann, wird daher der nationalsozialistische Staat den Kampf mit jenem Fanatismus weiterführen, den die Bewegung vom ersten Augenblick an besaß, als sie begann die Macht in Deutschland zu erobern". Am 4. Februar wurde aus dem Führerhauptquartier dem deutschen Volk die Katastrophe von Stalingrad mitgeteilt unter dem Schlagwort: „Die 6. Armee wird neu erstehen." Die Nachricht machte im Heer und im Volk einen erschütternden Eindruck. Die Zahl derer, die von nun an die sichere Niederlage vor Augen sahen und den letzten Rest von Vertrauen zu dem Feldherrngenie Hitlers verloren, wuchs unaufhaltsam. Unter den höheren Offizieren, namentlich unter den jüngeren Generalstabsoffizieren, herrschte tiefgehende Empörung über den militärischen Dilettantismus Hitlers und sein sinnloses Hinopfern einer ganzen Armee. Erneut versuchten die Widerstandsgruppen um Beck und Goerdeler, aktive Generale für ein schnelles Handeln zu gewinnen, aber alle Pläne blieben in Anfängen stecken. Zwei Attentate auf Hitler schlugen fehl. Die Geschwister Scholl, der Medizinstudent Hans und seine Schwester Sophie, Mitglieder einer Gruppe, die mit den Flugblättern „Weiße Rose" die deutsche Jugend zum Widerstand gegen die nationalsozialistische Partei und zum Kampf für Freiheit des Geistes, für Ehre und sittliche Verantwortung aufforderten, warfen am 18. Februar im Lichthof der Münchner Universität einen Aufruf unter 840

Deutschland nach Stalingrad die Studierenden: „Der deutsche Name bleibt für immer geschändet, wenn nicht die deutsche Jugend endlich aufsteht, rächt und sühnt zugleich, ihre Peiniger zerschmettert und ein neues geistiges Europa aufrichtet . . . Die Toten von Stalingrad beschwören uns." Die Geschwister mußten ihren Mut und ihren Idealismus mit der Hinrichtung büßen, die das Volksgericht am 22. Februar über sie und einen ihrer Freunde verhängte; standhaft gingen sie in den Tod. Im Zusammenhang mit ihnen wurden zwei Monate später noch drei Hinrichtungen vollzogen, darunter die des Philosophieprofessors Kurt Huber, des Förderers der „Weißen Rose"; er bekannte sich vor dem Volksgericht in einem mannhaften Schlußwort zu den hohen ethischen Grundsätzen, für die er seine Studenten zu erziehen suchte: „Es gibt für alle äußere Legalität eine letzte Grenze, wo sie unwahrhaftig und unsittlich wird. Dann nämlich, wenn sie zum Deckmantel einer Feigheit wird, die sich nicht getraut, gegen offenkundige Rechtsverletzung aufzutreten." Die Verluste an Menschen und Material bei Stalingrad zwangen zur Durchführung des „totalen Krieges", von dem schon so oft geredet worden war. Um Soldaten für die Front und Arbeiter und Arbeiterinnen für die Rüstungsindustrie freizumachen, wurden Nachtlokale, Luxusrestaurants, Geschäfte, die keine Waren mehr zum Verkauf hatten, Mode- sowie Frisiersalons usw. geschlossen, die Zahl der Beamten in den öffentlichen Dienststellen vermindert. Goebbels übernahm am 19. Februar 1943 die Aufgabe, in einer Sportpalastversammlung die Nation zum totalen Krieg aufzurufen: „Stalingrad war und ist der große Alarmruf des Schicksals", Deutschland und seine Verbündeten seien berufen, Europa vor dem Bolschewismus zu retten: „Das Ziel des Bolschewismus ist die Weltrevolution der Juden." In zehn Fragen forderte Goebbels die Massen auf, dem Führer unbedingte Gefolgschaft zu leisten, alle Kräfte an der Front wie in der Heimat restlos bis zum Endsieg einzusetzen, „die radikalsten Maßnahmen gegen einen kleinen Kreis von Drückebergern und Schiebern" zu billigen — „Wollt Ihr den totalen Krieg?"; daraufhin hallte „der Sportpalast wider von einem einzigen Schrei der Zustimmung". Goebbels und seine Propagandamaschine traten jetzt wieder viel mehr in den Vordergrund. Goebbels' selbstgefällige Äußerungen in seinem Tagebuch bieten davon ein aufschlußreiches Bild, seine Aufzeichnungen lassen aber auch die erbitterten Machtkämpfe unter den führenden Nationalsozialisten und das Mißtrauen Hitlers gegen die Wehrmachtführung deutlich erkennen. So schreibt Goebbels unter dem 10. Mai 1943 über ein Gespräch mit Hitler: „Er fällt über die gesamte Generalität ein vernichtendes Urteil . . . erklärt mir auch, warum er jetzt im Hauptquartier nicht mehr am großen Mittagstisch ißt. Er kann die Generale nicht mehr sehen; er tut das durchaus nicht, weil er ein Menschenverächter geworden wäre . . . Alle Generale lügen, sagt er, alle Generale sind treulos, alle Generale sind gegen den Nationalsozialismus, alle Generale sind Reaktionäre." Aus dieser Einstellung Hitlers zu den Heeresgeneralen, die sich im wesentlichen aus den von ihm selbst verschuldeten Fehlschlägen ergab, erklärt sich seine Bevorzugung der Waffen-SS, er verstärkte sie von 3 Divisionen 1939 bis Ende des Krieges auf 37 Divisionen; in allen Disziplinarfragen war sie Himmler unter841

Zweiter Weltkrieg — Rückschlag 1942/43 stellt, nur in taktischen der Obersten Heeresleitung. Die SS-Verbände wurden mit allem, was zur technischen und sonstigen Ausrüstung gehörte, gegenüber allen anderen Truppenteilen begünstigt. Hatte Hitler noch 1940 der Obersten Heeresleitung erklärt, die Waffen-SS solle sich an der Front bewähren, weil sie später im Großdeutschen Reich als Polizeitruppe den Schutz der neu erworbenen Gebiete übernehmen werde, so beabsichtigte er jetzt, die nationalsozialistisch zuverlässige Elitetruppe der SS zum Kern des späteren Heeres zu machen. An vielen gefährdeten Stellen der Ostfront wurde die Waffen-SS eingesetzt und hat sich hervorragend geschlagen. In ihr haben „neben Unterweltscharaktern beste Deutsche gekämpft, weil sie nicht zu unterscheiden vermochten, was wahr und was gelogen war in den Zielen, für die man sie unter die Fahnen rief. Das Teuflische am Nationalsozialismus, besonders der Periode der SS-Herrschaft, war das Zwielicht zwischen Lüge und Wahrheit, das Gemisch zwischen ,edlen' Kennworten und Schinderarbeit" (Paetel). Bombenkrieg Immer schwerer und häufiger wurden die Luftangriffe auf Industriewerke und Wohnviertel, zunächst besonders im Küsten- und Ruhrgebiet, dann immer stärker auf Berlin und die größeren sowie mittleren Städte fast des ganzen Reichsgebietes. Eine nennenswerte Abwehr war den unzulänglichen Kräften der deutschen Luftwaffe unmöglich. Seit dem Frühjahr 1943 flogen die Engländer bei Tag, die Amerikaner nachts mit oft 500 bis 1000 Maschinen und der entsprechenden Bombenlast nach Deutschland ein. Die Entwicklung technisch und zahlenmäßig ausreichender Jagdfliegerverbände war vernachlässigt worden. Generaloberst Ernst Udet, ein erfahrener Kampf- und Kunstflieger, hatte sich schon im November 1941 erschossen, weil er die vorauszusehende Katastrophe nicht abwenden konnte. Im August 1943 erschoß sich der Chef des Generalstabs der Luftwaffe, Hans Jeschonek, in Verzweiflung über die verheerenden Angriffe auf Hamburg und das Luftwaffenversuchszentrum in Peenemünde. Göring, der Schöpfer der deutschen Luftwaffe, blieb zwar der designierte Nachfolger Hitlers, verlor aber, besonders nach Stalingrad, immer mehr an Einfluß. Abgesehen von den Blutopfern, die der Bombenkrieg von der Zivilbevölkerung forderte, und von der seelischen und nervlichen Belastung, verschlimmerte sich audi versorgungsmäßig die Lage stetig. Für die vernichteten Möbel, Haushaltungsgegenstände, Textilien usw. gab es immer spärlicher Ersatz auf Bezugscheine, die Lebensmittelversorgung wurde ständig knapper.

Höhepunkt und Scheitern des U-Boot-Krieges Ende Januar 1943 beschloß Hitler, im Bereich der Kriegsmarine alle Kraft auf die U-Boote zu konzentrieren und die Hochseestreitkräfte, die im Zeitalter der Flugzeuge zu stark gefährdet seien, fast alle abzuwracken, dadurch wertvolles 842

Beginn des Rückzuges Rohmaterial zu gewinnen und die Mannschaften für andere Zwecke freizustellen. Großadmiral Raeder erbat und erhielt daraufhin seinen Abschied, sein Nachfolger wurde der bisherige Befehlshaber der U-Boote, der zum Großadmiral beförderte Admiral Dönitz. Er überzeugte sich bald, daß die Hochseeschiffe auch jetzt noch unentbehrlich seien, und es gelang ihm auch, Hitler von seinem Entschluß abzubringen. Im März erzielten die U-Boote noch einmal große Versenkungserfolge, nach deutschen Angaben 886 000 Bruttoregistertonnen. Aber erstmalig im Mai überstieg der Verlust an U-Booten die Zahl der Neubauten. Gegen das ausgebaute Geleitsystem, die fortwährend verbesserte Radartechnik und die Überlegenheit der Luftwaffe nützte aller Heldenmut der Besatzungen und selbst eine Reihe vorzüglicher deutscher Erfindungen, vor allem des Schnorchels, nicht viel; teilweise kamen die neuen, erheblich verbesserten Typen, behindert von Rohstoffmangel und Zerstörung der Produktionsstätten durch Bomben, nicht mehr rechtzeitig zum Einsatz. Dönitz bemühte sich dauernd, wieder eine ausreichende Unterstützung der U-Boote durch die Luftwaffe zu erhalten, aber diese war teils durch Uberforderung ihrer Kräfte, teils durch das Versagen verschiedener Neukonstruktionen, Rohstoff- und Brennstoffmangel an der Grenze ihrer Leistungsfähigkeit. Die meisten Flugzeuge wurden zur Unterstützung der Kämpfe an der Ostfront und im Mittelmeer benötigt. Teile der Luftflotte griffen von Norwegen und der Atlantikküste aus die Geleitzüge der Warentransporte nach Rußland und England an. Der Beginn des Rückzuges Während die Tragödie von Stalingrad zu Ende ging, machten die Russen auch auf den anderen Frontabschnitten der Heeresgruppe Süd Fortschritte. Die Stellungen am Don nordöstlich Stalingrad wurden durchbrochen. Woronesch ging am 23. Januar 1943 verloren. Infolge der panikartigen Flucht der ungarischen Truppen entgingen die nördlich von ihnen stehenden deutschen Verbände nur mit knapper Not unter großen Verlusten an Menschen und Material dem Schicksal der 6. Armee. Erst westlich Kursk, Bjelgorod und des Donez konnte der russische Angriff zum Stehen gebracht werden. Charkow geriet Mitte Februar in russische Hände. Mit großer Anstrengung hielt im Süden die Armee östlich Rostow am unteren Don den Raum frei, durch den sich die eine Hälfte der Kaukasusarmee in Sicherheit brachte, dann mußte die Front bis Taganrog zurückgenommen werden. Die zweite Hälfte der Kaukasusarmee bildete auf der Kubanhalbinsel einen Brückenkopf, der über die Straße von Kertsch versorgt, sich bis zum September zu halten vermochte. Wenn es auch Mitte März gelang, Charkow und die Donezlinie zurückzugewinnen, so standen die deutschen Truppen damit nurmehr in den Ausgangsstellungen, aus denen sie vor neun Monaten zur Offensive angetreten waren. Die schwer erkämpften Ziele, Stalingrad und Kaukasus, hatten wieder aufgegeben werden müssen, die ungeheuren Opfer an Menschen und Material waren vergebens gewesen. Nach der Katastrophe von Stalingrad konnte Zeitzier bei Hitler nicht nur den 843

Zweiter Weltkrieg — Rüdczug auf deutsche Grenzen Rückzug der Kaukasusarmeen im letzten Augenblick vor ihrer Einschließung durchsetzen, Hitler bewilligte endlich audi für die Heeresgruppen Mitte und Nord die Zurücknahme der weit vorspringenden Frontbogen Demjansk und Rschew in vorbereitete Stellungen. Am 18. Januar 1943 hatten die Russen Schlüsselburg erobert und damit den Landweg nach Leningrad zurückgewonnen, ihre weiteren Angriffe scheiterten. Die Ende März einsetzende Schlammperiode ließ den deutschen Truppen etwas Zeit zur Festigung ihrer nun ziemlich gerade von südlich Leningrad bis Taganrog verlaufenden Front. Hitler sah ein, daß die deutschen Kräfte nicht ausreichten, im Sommer auf der ganzen Front wieder zur Offensive überzugehen, aber wenigstens an einem Abschnitt wünschte er, schon aus politischen Gründen, eine Offensive, die nach bewährtem Muster den mit dem Mittelpunkt Kursk vorspringenden russischen Frontbogen von Norden und Süden her abschnüren sollte. Die Russen hatten jedoch den Angriff erwartet, ihre Verteidigungslinien verstärkt und Gegenangriffe vorbereitet. So kam die deutsche Offensive nach geringem Geländegewinn zum Stehen.

DER RÜCKZUG AUF DIE DEUTSCHEN GRENZEN Kampf um Italien

1943/1944

Im Ausland machte sich das Ende des Kampfes um Stalingrad durch eine steigende Zurückhaltung der Neutralen gegenüber Deutschland bemerkbar, bei den Italienern in wachsender Friedenssehnsucht. Mussolini hatte schon kurz vor Weihnachten Hitler bei einem Besuch Cianos im Führerhauptquartier zum Frieden mit Rußland oder wenigstens zu einer stark verkürzten Defensivfront raten lassen, damit Truppen für die Abwehr der zu erwartenden, Italien bedrohenden angelsächsischen Angriffe frei würden. Im Februar enthob er Ciano seines Amtes und ernannte ihn zum Botschafter am Vatikan, das Außenministerium übernahm Mussolini selbst. Nach Beendigung der Kämpfe in Nordafrika am 13. Mai 1943 gingen die Alliierten an die Ausführung der in Casablanca beschlossenen Landung auf Sizilien. Obwohl sie wußten, wie kriegsmüde die Italiener waren und welch feindselige Stimmung gegen die Deutschen im Volk und bei der Armee herrschte, bereiteten die Alliierten das Unternehmen sehr sorgfältig vor. Die Besatzung der angeblich uneinnehmbaren zwischen Sizilien und Nordafrika liegenden Insel Pantellaria wurde durch Luftangriffe eingeschüchtert und ergab sich am 11. Juni. Unaufhörlich richteten sich von Mitte Mai an heftige Bombenangriffe gegen die deutsche und italienische Luftwaffe in Süditalien und Sizilien. Die Landung der Amerikaner unter General Patton und der Engländer unter Montgomery am 10. Juli 1943 gelang ohne größere Schwierigkeiten, die italienischen Divisionen leisteten schwachen, die nach Möglichkeit verstärkten deutschen kräftigen Widerstand, den die gebirgige Insel mit ihren wenigen Straßen erleichterte. Die Kämpfe 844

Kampf um Italien 1943/44 dauerten bis zum 17. August, die Deutschen hatten sich nach Messina zurüdegezogen und allmählich Mannschaft und Kriegsmaterial auf das Festland gerettet. Über den Großstädten Italiens warfen alliierte Flugzeuge am 17. Juli eine Proklamation Roosevelts und Churchills ab: „Mussolini riß Euch in den Krieg . . . Eure Soldaten haben nicht für Italien, sie haben für das Interesse Nazideutschlands gekämpft. Sie haben sich tapfer geschlagen, aber sie sind von den Deutschen an der russischen Front und auf jedem Schlachtfeld in Afrika von El-Alamein bis Kap Bon verraten und im Stich gelassen worden . . . Die einzige Hoffnung für den Bestand Italiens liegt in einer ehrenhaften Kapitulation . . . Die Zeit ist gekommen, da Ihr entscheiden müßt, ob Italiener für Mussolini und Hitler sterben oder für Italien und die Zivilisation leben sollen." Mussolini war seit dem Verlust der italienischen Kolonien und seit er den Glauben an Deutschlands Sieg verloren hatte, ein gebrochener Mann. Auf seine Vorschläge zum Frieden mit Rußland kam Mussolini in Briefen und bei einer persönlichen Unterredung mit Hitler in Salzburg am 10. April mehrmals zurück, ohne etwas zu erreichen, worüber sich der Duce, der in Salzburg einen müden und verbrauchten Eindruck machte, von vornherein hätte klar sein müssen. Vergebens suchte ihn Hitler mit neuer Zuversicht zu erfüllen. Das wirkte nur für den Augenblick, Mussolini ahnte, daß seine Feinde auf seinen Sturz hinarbeiteten. Auch unter den alten faschistischen Führern waren viele Gegner der Kriegspolitik Mussolinis. Am 24. Juli wurde der Faschistische Großrat nach langer Zeit wieder einberufen; die Mehrheit, mit der auch Ciano stimmte, bat den König, den Oberbefehl über die Streitkräfte wieder zu übernehmen. Am folgenden Nachmittag zwang König Viktor Emanuel Mussolini zum Rücktritt und ließ ihn mit einem Krankenauto in Haft bringen. Badoglio bildete eine Regierung ohne Faschisten, Anfang August leitete er über Spanien geheime Friedensverhandlungen mit den Alliierten ein, während er Hitler noch mit Versprechungen, den Krieg an der Seite Deutschlands weiterzuführen, zu täuschen suchte. Der Sturz Mussolinis traf Hitler sehr hart. Die Zeiten der eifersüchtigen Bewunderung für den Duce waren zwar lange vorbei, auch hatte sich trotz aller tönenden Reden auf beiden Seiten von der Gleichheit der Weltanschauung und der Festigkeit der Achse Berlin—Rom nie eine wirkliche Freundschaft, ein echtes Vertrauensverhältnis entwickelt. Aber Goebbels dürfte mit seinem Tagebucheintrag vom 27. Juli Hitlers Gefühle richtig ausgedrückt haben: „Es ist geradezu erschütternd, sich vorzustellen, daß auf eine solche Weise eine Revolution, die immerhin 21 Jahre an der Macht gewesen ist, liquidiert werden kann . . . Die Kenntnis von diesen Vorgängen könnte unter Umständen in Deutschland einige subversive Elemente auf den Plan rufen, die vielleicht glaubten, bei uns dasselbe fabrizieren zu können, was die Badoglio und Genossen in Rom fabriziert haben. Der Führer gibt Himmler Auftrag, dafür zu sorgen, daß solche eventuell auftauchenden Gefahren mit den schärfsten Mitteln polizeilicher Art beantwortet werden." Die führenden Nationalsozialisten waren sich durchaus darüber klar, „welch ungeheure psychologische Auswirkungen das Ausbrechen Italiens aus unserer Front nach sich ziehen wird". 845

Zweiter Weltkrieg — Rückzug auf deutsche Grenzen Obwohl den Faschisten sofort alle Macht genommen wurde, glaubte Hitler doch noch, die Verteidigung Italiens gegen die Alliierten auf die alten Faschisten stützen zu können. Er ließ deshalb von der Ostfront ohne Rücksicht auf ihre gefährdete Lage weltanschaulich zuverlässige SS-Divisionen nach Italien bringen. Norditalien bis zum Apennin sollte unbedingt gehalten werden. Da sich die Landung der Alliierten auf dem Festland verzögerte, blieb Hitler genügend Zeit, den Gegenschlag vorzubereiten, wenn der Abfall Italiens Tatsache würde. Daß er kommen würde, bezweifelte Hitler keinen Augenblick. Italien war wirklich am Ende seiner Leistungsfähigkeit. Die Schwierigkeiten suchten König Viktor Emanuel und die Regierung Badoglio mit einem trügerischen Doppelspiel zu überwinden, sie versicherten den Deutschen bis zur Verkündung des Waffenstillstandes mehrfach ihre unbedingte Bundestreue, Badoglio sogar unter Verpfändung seines Ehrenwortes als einer „der drei ältesten Marschälle Europas". Aber das ganze Streben König Viktor Emanuele und seiner Regierung ging darauf hinaus, für Italien das Ende des Krieges herbeizuführen; die Alliierten wünschten jedoch die Italiener als Bundesgenossen und ihr Land als Aufmarschgebiet. Italien befand sich in einer sehr schwierigen Lage, es fürchtete die deutsche Vergeltung, seine kriegsmüden Truppen waren den deutschen in keiner Beziehung gewachsen; die Alliierten verlangten „unbedingte Kapitulation", versprachen aber ehrenvolle Behandlung, wenn die Italiener durch aktive Teilnahme, durch Sabotageakte und mindestens passiven Widerstand der ganzen Bevölkerung die Alliierten unterstützten; Flotte und Luftwaffe müßten ausgeliefert werden. Am 3. September 1943 wurde der Waffenstillstand in Sizilien unterzeichnet, er sollte so lange geheim gehalten werden, bis die Alliierten ihre Landungsvorbereitungen weit genug abgeschlossen hätten, um die Italiener vor den Deutschen zu schützen. Am gleichen Tag setzten die Engländer über die Straße von Messina und bildeten einen Brückenkopf in Kalabrien, die Italiener leisteten keinen Widerstand, die Deutschen befehlsgemäß nur hinhaltenden, ihre eigentliche Verteidigungslinie bauten sie südlich von Neapel auf. Eisenhower ließ am Abend des 8. September den Abschluß des Waffenstillstandes mit Italien über den Rundfunk verkünden, am 9. landeten amerikanische Truppen bei Salerno, englische Abteilungen nahmen den Hafen von Tarent, hier wie dort von den schwachen deutschen Kräften wenig behindert. Die italienische Flotte lief aus den Häfen Tarent, Genua und Spezia nach Malta aus, deutsche Flugzeuge versenkten das Flaggschiff „Roma" auf der Höhe von Sardinien und beschädigten ein Schlachtschiff. Die italienischen Truppen im deutschen Machtbereich ließen sich fast ohne Widerstand entwaffnen; nur bei Rom hielten sie die deutschen Truppen so lange auf, bis der König mit seiner Familie und die Regierung Badoglio unter dem Schutz der Alliierten nach Bari geflüchtet waren. Am 10. September besetzten die Deutschen Rom; auch die bisher den Italienern überlassene Militärverwaltung von Griechenland, den Schutz der Küsten und Inseln des Balkans sowie der französischen Mittelmeerküste mußten nun an Stelle der entwaffneten italienischen deutsche Truppen übernehmen. Diese schnelle Sicherung des gesamten durch den 846

Kampf um Italien 1943/44 Abfall Italiens gefährdeten Raumes war eine gute Leistung, bedeutete aber bei der bedenklichen Lage der Ostfront und den sich immer deutlicher abzeichnenden Plänen der Alliierten für eine Landung an der französischen Küste eine weitere Schwächung der übermäßig ausgedehnten und allzuviele Kräfte beanspruchenden Verteidigungslinien. Auf besonderen Befehl Hitlers befreiten deutsche Fallschirmjäger durch einen abenteuerlichen Handstreich am 12. September den auf dem Gran Sasso in den Abruzzen gefangen gehaltenen Mussolini. E r sollte in Norditalien mit einer republikanisch-faschistischen Gegenregierung den gemeinsamen Kampf wirksam unterstützen, aber Mussolini enttäuschte Hitler schwer: er spielte die ihm aufgezwungene Rolle ohne Schwung und ohne Glauben. Goebbels hätte lieber gesehen, wenn Mussolini ausgeschaltet geblieben wäre, denn auf ein faschistisches Italien habe Deutschland Rücksicht zu nehmen: „Wir müssen aber nicht nur Südtirol wieder in unsere Hand bekommen, sondern ich denke mir die Linie südlich von Venetien gezogen. Alles, was jemals in österreichischem Besitz war, muß wieder in unsere Hand zurückgelangen. Die Italiener haben durch ihre Treulosigkeit und ihren Verrat jedes Anrecht auf einen Nationalstaat modemer Prägung verloren. ' Goebbels schien also auch jetzt noch fest an einen deutschen Sieg zu glauben. Uber die Stimmung im Volk gab er sich aber keinen Illusionen hin, er betonte deshalb immer dringender: „Das Volk hat ein Anrecht darauf, daß der Führer ihm in seiner schweren Krise ein Wort der Aufmunterung und des Trostes sagt." Nur mit Mühe ließ sich Hitler zu der Rede vom 11. September aus dem Hauptquartier über alle deutschen Sender bewegen. Der Verrat Italiens bildete das Hauptthema. Mussolini wurde als „der größte Sohn des italienischen Bodens seit dem Zusammenbruch der antiken Welt" gefeiert, der Rüdezug an der Ostfront und die Verheerung der Heimat kurz erwähnt und am Schluß dem Volk Siegeszuversicht einzureden versucht. Außer bei fanatischen Nationalsozialisten verloren jedoch die Führerreden wie die von Goebbels gelenkten Zeitungsnachrichten ihre Wirkung vor der harten Sprache der Tatsachen: Stalingrad, der Rückzug aus Nordafrika und Sizilien, der Sturz Mussolinis, das allmähliche Aufgeben von Süditalien und dazu die entsetzlichen Zerstörungen der deutschen Städte. Es bedurfte der ganzen, gut eingespielten Terrorherrschaft, um Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung nicht laut werden zu lassen. Wieder hielt Hitler eine Rede am 9. November 1943 zum 20. Jahrestag des Marsches zur Feldhermhalle in München. Nach den üblichen Phrasen über die Leistungen der nationalsozialistischen Partei und die Kriegslage ging er auch auf die Bombenschäden im Lande ein und versprach, die Städte „schöner als jemals zuvor" aufzubauen; zum ersten Mal deutete er den Einsatz der neuen Wunderwaffe an, auf die sich seine Siegeszuversicht stützte: „Die Stunde der Vergeltung wird kommen, wenn wir auch im Augenblick Amerika nicht erreichen können, so liegt uns doch — Gott sei Dank — ein Staat (England) greifbar nahe. Und an den werden wir uns halten . . . Es mag dieser Krieg dauern, so lange er will, niemals wird Deutschland kapitulieren! Niemals werden wir den Fehler des Jahres 1918 wiederholen, nämlich eine Viertelstunde vor 12 die Waffen niederzulegen. Darauf kann man sich verlassen: der847

Zweiter Weltkrieg — Rückzug auf deutsche Grenzen jenige, der die Waffen als Allerletzter niederlegt, das wird Deutschland sein, und zwar 5 Minuten nach 12!" Wenn Hitler in dieser Rede von den Alliierten auf dem italienischen Kriegsschauplatz sagte: „Der Sturm zum Brenner ist zu einer Schneckenoffensive weit südlich von Rom geworden", so entsprach dies den Tatsachen. Die methodisch und sehr vorsichtig längs der beiden Küsten vorrückenden englischen und amerikanischen Divisionen ließen Kesselring Zeit, seine Truppen langsam in harten Verteidigungskämpfen zurückzunehmen, am 1. Oktober 1943 wurde Neapel geräumt und im Laufe des November die gut vorbereitete, durch das gebirgige Gelände von Natur zur Verteidigung vorzüglich geeignete Stellung am Garigliano mit Monte Cassino als Mittelpunkt erreicht. Die Deutschen wollten das berühmte Kloster, das Mutterkloster des Benediktinerordens, schonen und versicherten wahrheitsgemäß, daß es in keiner Weise in ihr Verteidigungssystem einbezogen wäre; die Allüerten wollten das nicht glauben und zerstörten es am 14. Februar 1944 durch Fliegerbomben und Artilleriebeschuß. Was an beweglichen Schätzen zu retten war, hatten die Deutschen nach der Vatikanstadt gebracht, die Ruinen des Klosters bezogen sie nun in ihr Stellungssystem ein. Die an der Adriaküste vordringenden Engländer nahmen am 27. September 1943 den wichtigen Flugplatz bei Foggia, dessen Besitz ihnen von nun an auch Angriffe auf die rumänischen ölfelder ermöglichte, erreichten Mitte November den Sangro, überschritten ihn Anfang Dezember; dann kam auch hier die Front für Monate zum Stehen. Planmäßig räumten die deutschen Truppen bis Anfang Oktober die Inseln Sardinien und Korsika unter Mitnahme allen Kriegsmaterials. Am 13. Oktober erklärte die italienische Regierung Deutschland den Krieg, die Alliierten und die Sowjetunion erkannten Italien als kriegführende Macht im Kampf gegen Deutschland an. Seit der Landung bei Salerno hatten die Alliierten die unbedingte Überlegenheit in der Luft, ihre Bombenangriffe störten erheblich die Eisenbahnverbindungen und die Industriezentren in Norditalien. Rom war mit Rücksicht auf die Kunstschätze und den Vatikan zur offenen Stadt erklärt worden. Kesselring legte deshalb Truppen nur in die weitere Umgebung Roms. Trotzdem fielen im Herbst 1943 einige leichtere Bomben auf den Vatikan, Deutsche und Alliierte beschuldigten sich gegenseitig, im Vatikan selbst meinte man, es seien wohl Faschisten die Täter gewesen. Am 22. Januar 1944 landeten alliierte Streitkräfte bei Anzio und Nettuno, um Rom zu besetzen und die deutsche Front von Monte Cassino bis zur Adria von hinten angreifen zu können. Die Bildung eines Brückenkopfes gelang ihnen, auch seine Verteidigung gegen alle deutschen Angriffe, doch kamen sie bis Ende Mai ihrem Ziel nicht näher. Italien hatte nun zwei Regierungen, Badoglios königstreue im Süden und Mussolinis republikanische im Norden, in die allüerten wie in die deutschen Heere wurden italienische Abteilungen, Reste des alten Heeres eingestellt. Sabotageakte der Partisanengruppen bereiteten der deutschen Besatzung viele Schwierigkeiten. Mussolinis Scheinregierung blieb ohnmächtig und verhaßt. Auf Hitlers Drängen wurden die Faschisten, die seinen Sturz herbeigeführt hatten, hingerichtet, darunter sein Schwiegersohn Ciano. In das am 15. April umgebildete Kabinett 848

Rückzug aus Rußland Badoglio trat der aus Moskau zurückgekehrte Kommunist Togliatti ein; er brachte die italienischen Kommunisten, die gegen den König waren, dazu, die innerpolitischen Fragen bis Kriegsende zurückzustellen. Erst am 11. Mai bei Monte Cassino und am 23. aus dem Brückenkopf von Anzio heraus begannen die Alliierten wieder ihre Angriffe. In harten Kämpfen wurden die deutschen Divisionen zurückgedrängt, die am 16. Mai den Monte Cassino, am 4. Juni das Gebiet von Rom räumten. Zur Schonung der Ewigen Stadt zogen die deutschen Truppen nicht durch die Stadt, sondern außen herum ab, sprengten audi die Tiberbrücken nicht, auf denen die Alliierten nachdrängten. Anfang September hatten die Deutschen die ausgebauten Stellungen am Apennin erreicht. Für den südlich Spezia sich an das Ligurische Meer anlehnenden Flügel, der in dem hohen, steil abfallenden und nur von wenigen Straßen durchschnittenen Apennin gut geschützt war, fanden die Angriffskämpfe zunächst ein Ende. Auf der Adriaseite, wo die deutschen Divisionen, um den Zusammenhang der Front zu wahren, gleichfalls Schritt für Schritt zurückgegangen waren, suchte der Gegner in die Poebene vorzustoßen. Die erbitterten Kämpfe wurden durch die ungünstigen Nachschubverhältnisse noch besonders erschwert; die feindliche Luftwaffe zerstörte das Verkehrsnetz vom Brenner bis zur Front immer von neuem, nur bei Nacht ließen sich Transporte durchführen. Da alle Pobrücken zertrümmert waren und auch die Notbrücken immer wieder vernichtet wurden, mußten Munition, Verpflegung usw. auf Fähren über den Fluß befördert werden. Trotzdem gelang es, den Feind auf einer Linie südlich Bologna bis zum Comacchiosee zum Stehen zu bringen. Den kräftesparenden Rückzug auf den Südhang der Alpen verbot Hitlers Starrsinn. Rückzug aus Rußland An der Ostfront lag seit dem Scheitern der deutschen Sommeroffensive 1943 das Gesetz des Handelns bei den Russen. Schritt für Schritt mußten die deutschen Truppen in den folgenden Monaten auf der ganzen Front zurückweichen. Da Hitler jetzt mehr denn je an seiner starren Verteidigungstaktik festhielt, kam es oft dazu, daß größere oder kleinere deutsche Abteilungen nicht rechtzeitig zurückgenommen und dann abgeschnitten wurden. Manchmal gelang es ihnen, sich durchzuschlagen; häufig aber gerieten sie in Gefangenschaft. Mitte September mußte der Kubanbrückenkopf geräumt werden, von Anfang November an waren die deutschen Truppen auf der Krim sich selbst überlassen. Sie behaupteten sich bis zum April 1944; dann trieben sie verstärkte Angriffe der Russen nach Sewastopol zurück, ein Teil wurde über das Meer abtransportiert, der Rest kapitulierte nach ungeheuren Verlusten Mitte Mai. An der gewaltigen Überlegenheit der Russen scheiterten alle Versuche, die für Deutschland äußerst wichtige Ukraine zu behaupten. Mitte April 1944 waren die Russen bis an die Karpathen vorgedrungen, nach Süden sprang die deutsche Front noch in die Gegend von Odessa vor, nach Norden erstreckte sie sich in fast gerader Richtung westlich Tamopol nach Kowel, dann weit östlich ausladend nach dem hart umkämpften Witebsk

54 Bühler. Deutsche Geschichte, VI

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Zweiter Weltkrieg — Rüdezug auf deutsche Grenzen und nördlich am Westufer des Peipussees entlang nach Narwa. Die Befreiung Leningrads am 9. Januar hatten die Russen in Moskau mit einem Freudensalut aus 224 Geschützen gefeiert. Dieser Rückzug der deutschen Armeen bis an die rumänische und polnische Grenze vernichtete alle Hoffnung auf einen Sieg im Osten. Die zäh und tapfer kämpfenden Truppen erlitten durch Hitlers von politischen und Prestigegründen unheilvoll beeinflußter starrer Verteidigungstaktik unnötig hohe Verluste. Der Glaube an seine Feldherrnkunst geriet ins Wanken. Die häufige Umbesetzung der höheren Offiziersstellen brachte Unruhe und Unsicherheit in die Führung: verdiente Generale wurden von ihren Posten abberufen, weil Hitler ihnen die Schuld an den Niederlagen zuschob, statt sie bei sich selbst zu suchen, bei seiner Unterschätzung des Gegners, der Maßlosigkeit seiner Ziele und dem Wirrwarr in der Wehrmachtsführung, den Hitler im Vertrauen auf sein eigenes Genie und aus Furcht vor einer Minderung seines Einflusses entgegen allen Vorstellungen seiner Generale aufrechterhielt.

Die Konferenz von Teheran Churchill und Roosevelt hatten sich in Washington (11. bis 27. Mai 1943) und in Quebec (11. bis 24. August) über das weitere Vorgehen geeinigt. Ende Oktober 1943 führten Cordell Hull und Eden in Moskau Besprechungen, um das seit langem erstrebte Treffen von Roosevelt und Churchill mit Stalin vorzubereiten, das dann vom 26. November bis 3. Dezember in Teheran stattfand. Auf dem Weg dahin kamen Roosevelt und Churchill in Kairo mit Tschiangkaischek zusammen, dem sie die Rückgabe aller seit 1914 China verlorengegangenen Gebiete und eine Intensivierung des Krieges gegen Japan zusagten. Die Ergebnisse der Teheraner Konferenz waren: die Festsetzung der Invasion in Frankreich für den Mai 1944, gleichzeitig mit einer Landung in Südfrankreich und russischen Angriffen im Osten. Rußland wurde zugestanden, seine Westgrenze auf die 1920 vorgeschlagene Curzonlinie, die im wesentlichen den ethnographischen Grenzen folgt, vorzuschieben, darüber hinaus Königsberg als eisfreien Hafen zu annektieren. Polen wollte man mit deutschen Gebieten bis an die Oder entschädigen. Auch über die Grenzen Finnlands und die Wiederherstellung von Österreich wurden sich die drei Staatsmänner einig, ebenso darüber, daß für die Erhaltung des Friedens eine Aufteilung Deutschlands notwendig sei. Stalin vertrat den Standpunkt, Deutschland müsse um jeden Preis so zersplittert werden, daß es sich nicht wieder vereinigen könne. Roosevelt wollte Deutschland in fünf selbständige und zwei den Vereinten Nationen unterstellte Gebiete (Kiel—Hamburg und Ruhr—Saar) aufteilen, Churchill in ein zerschlagenes Preußen und einen Donaubund; dies „ungeheure historische Problem", wie Churchill es nannte, die Aufteilung Deutschlands, wurde vertagt. Churchill bemühte sich bei dieser Gelegenheit wieder um eine Offensive vom Balkan her: zwar betrachtete auch er den Sieg über Deutschland, die Vernichtung 850

20. Juli 1944 und seine Folgen des Nationalsozialismus und des preußischen Militarismus als Hauptanliegen, und dies bewog ihn zu vielen Zugeständnissen an Stalin und zur Unterstützung auch kommunistischer Partisanengruppen wie der Titos in Jugoslawien; aber Churchill wünschte den Balkan und möglichst auch Ungarn nicht zu kommunistischen Interessengebieten werden zu lassen. Roosevelt indessen hatte f ü r die Balkanfragen keinerlei Verständnis; er wollte alles vermeiden, was die Landung in Frankreich beeinträchtigen und das stets fühlbare Mißtrauen Stalins reizen konnte. Außerdem glaubte er wirklich, daß Stalin „sich zum Konservativen entwickele", wie dieser zu Churchill sagte, und daß sich nach der Vernichtung von Hitler-Deutschland die „eine unteilbare Welt" aufrichten lasse, in der Frieden und Freiheit von Furcht und Not herrschen werde. Stalin erklärte sich bereit, nach Zerschlagung der Hitlerschen Armeen in den Krieg gegen Japan einzutreten, auch gingen er und Roosevelt auf den Wunsch Churchills ein, die Türkei zu veranlassen, daß sie sich noch vor Jahresende am Krieg beteilige. Auf der Rückreise von Teheran kamen Roosevelt und Churchill mit dem türkischen Staatspräsidenten Inonü in Kairo zusammen, doch ging dieser noch auf keine Bindung ein. Für Roosevelt stand der Krieg gegen Japan weit mehr im Vordergrund als f ü r Churchill, Roosevelt stimmte aber zu, daß alles hinter der Frankreich-Invasion zurückstehen müsse. Eisenhower und Montgomery wurden vom italienischen Kriegsschauplatz abberufen, um die Leitung der Frankreich-Invasion zu übernehmen.

Der 20. Juli 1944 und seine

Folgen

Schon im Herbst 1943 waren einige Generale im Osten von der Widerstandsgruppe Goerdeler f ü r einen Militärputsch gewonnen. Sein Ziel hieß: nach der Beseitigung Hitlers durch ein Attentat Verständigung mit den Westmächten und Front an der Reichsgrenze gegen den Bolschewismus. Feldmarschall Kluge wollte als Befehlshaber an der Ostfront aktiv werden. E r erlitt aber einen Autounfall und wurde durch einen hitlerhörigen General ersetzt. Damit war der Staatsstreich verhindert. Eine Reihe von Attentatsversuchen scheiterte „trotz unerhörten Wagemutes der Verschwörer bei der Beschaffung von Sprengstoff, trotz selbstloser Todesbereitschaft junger Offiziere" (Ritter). Als im Juni 1944 die Invasion in der Normandie und auch die Sommeroffensive der Russen begann, sahen viele hohe Offiziere mit Sorge, wie die erschöpften deutschen Truppen nun an drei Fronten den Angriffen der übermächtigen Gegner ausgesetzt waren, die erst jetzt ihre volle Stärke entfalteten. Auf Rundstedts und Rommels Vorstellungen von der Notwendigkeit eines Friedensangebotes an die Westmächte zur Abwehr des Bolschewismus ging Hitler überhaupt nicht ein. Damit war eine überaus kritische Situation eingetreten; die Stunde der letzten Chance f ü r den Widerstand hatte geschlagen, sollte Deutschland nicht einfach vor die Notwendigkeit bedingungsloser Kapitulation gestellt werden. Längst hatten die Kreise des Widerstandes einen Heerführer im Osten oder Westen f ü r 851 5 i"

Zweiter Weltkrieg — Rüdezug auf deutsche Grenzen ihre Pläne zu gewinnen versucht. Sie waren an Kluge herangetreten, der seit 1. Juli statt Rundstedt Oberbefehlshaber West war. Zuletzt war es auch gelungen, Rommel davon zu überzeugen, daß er sich an die Spitze einer Freiheitsbewegung stellen müßte. Immer wieder waren Verzögerungen eingetreten, zuletzt waren gar die Gruppen um Beck und Goerdeler zersprengt. Das war die Stunde für die junge Stabsoffiziersgeneration, an deren Spitze sich jener Schenk Graf von Stauffenberg stellte, der am 20. Juli 1944 die Bombe werfen sollte. Man war sich darüber im klaren, daß nur solange etwas Entscheidendes geschehen könnte, als die Fronten noch standhielten. Denn trotz aller entmutigenden Nachrichten aus England bestand noch eine leise Hoffnung, die Vernichtung Deutschlands zu vermeiden, wenn Hitler beseitigt, die SS und Gestapo unschädlich gemacht und die neue Regierung unter Beck als Reichsverweser und Goerdeler als Reichskanzler mit dem fertig ausgearbeiteten Programm zur Wiederherstellung von Demokratie, Recht, Freiheit und Frieden an die Alliierten herantreten würde. Die Lage war jetzt so, wie Hitler 1923/1924 in „Mein Kampf" (S. 593) geschrieben hatte, ohne freilich zu ahnen, daß diese Zeilen einst den Kampf gegen ihn selbst rechtfertigen könnten: „In einer Stunde, da ein Volkskörper sichtlich zusammenbricht und allem Augenschein nach der schwersten Bedrückung ausgeliefert wird dank des Handelns einiger Lumpen, bedeuten Gehorsam und Pflichterfüllung diesen gegenüber doktrinären Formalismus, ja reinen Wahnwitz, wenn andererseits durch die Verweigerung von Gehorsam und .Pflichterfüllung' die Errettung eines Volkes vor seinem Untergang ermöglicht würde." Der 36jährige Graf Klaus von Stauffenberg, der schwer kriegsverletzt im Herbst 1943 nach Berlin zum Stab des Ersatzheeres versetzt worden war, übernahm die Ausführung des Attentats. Seit Mitte Juni 1944 hatte er dienstlich an den Lagebesprechungen im Führerhauptquartier teilzunehmen und konnte so an die Person Hitlers herankommen, was sonst wegen der strengen Absperrungsmaßnahmen fast unmöglich war. In Paris, Wien und Berlin waren alle in die Verschwörung Eingeweihten bereit, auf ein Stichwort hin die Macht zu übernehmen und die nationalsozialistische Herrschaft mit Gewalt auszuschalten. Die Voraussetzung bildete Hitlers Tod; eine Reihe von Generalen wollte sich erst dann beteiligen, weil damit der Eid gelöst sei, andere hätten Hitler lieber nur gefangengesetzt und ihn hierauf von einem ordentlichen Gericht öffentlich verurteilen lassen, um einer neuen Dolchstoßlegende von vornherein jeden Grund zu entziehen, und weil ihnen der Gedanke, ihren obersten Kriegsherrn durch Mord zu beseitigen, gegen die Ehrbegriffe ging. Bei der Lagebesprechung am 20. Juli im ostpreußischen Führerhauptquartier stellte Stauffenberg die Mappe mit der Zeitzünderbombe an den Fuß des großen Tisches, um den Hitler und die übrigen Teilnehmer standen. Stauffenberg verließ unter dem Vorwand eines Telephongespräches den Raum, hörte die Detonation, sah die Flammen, wartete weiter nichts ab, sondern flog, in der Uberzeugung, Hitler sei tot, nach Berlin zurück. An diesem Tag hatte die Lagebesprechung ausnahmsweise nicht in dem üblichen Betonbunker stattgefunden, sondern in einer Holzbaracke, die der Explosion einen großen Teil der Wirkung nahm, die sie in

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20. Juli 1944 und seine Folgen dem festgefügten Raum eines Bunkers ausgeübt hätte. Es gab vier Tote, schwer und leicht Verletzte, unter diesen war auch Hitler mit einigen Brandwunden und Prellungen. Er empfing wenige Stunden später ganz ruhig Mussolini, der eben an diesem Tage zu einer Besprechung kam, und zeigte ihm die zerstörte Baracke. Chefdolmetscher Schmidt hörte dabei Hitler sagen: „Nach meiner heutigen Errettung aus der Todesgefahr bin ich. mehr denn je davon überzeugt, daß es mir bestimmt ist, nun auch unsere gemeinsame große Sache zu einem glücklichen Abschluß zu bringen." Mussolini stimmte zu: „Das war ein Zeichen des Himmels." Der Glaube Hitlers, seine Rettung beweise wieder, daß er ein Auserwählter der „Vorsehung" sei, hat sicher zu seiner starren Haltung während der Katastrophe der kommenden Monate beigetragen. In Berlin, Paris und einigen anderen Städten des Reichs liefen auf das verabredete Stichwort „Walküre" hin die Aktionen gegen die SS und den Sicherheitsdienst an. Leider hatten es die Verschwörer nicht zustande gebracht, an diesem Tage die Telefonverbindungen zu HiÜers Hauptquartier zu unterbrechen. Als der Kommandeur des Berliner Wachregiments Major Remer im Propagandaministerium erschien, um weisungsgemäß Goebbels zu verhaften, führte ihn der Propagandaminister an einen Apparat und vermittelte ihm ein Gespräch mit dem Führerhauptquartier. Remer hörte die Stimme Hitlers, die ihm befahl, mit außergewöhnlicher Vollmacht rücksichtslos gegen die „Verschwörerclique" vorzugehen. Daraufhin schwenkte nicht nur Remer um, auch eine Reihe weiterer Offiziere wandte sich jetzt von den Verschwörern ab. Unter der Führung des gewaltsam festgesetzten und wieder befreiten Befehlshabers des Ersatzheeres, Generaloberst Fromm, überwältigten sie die Männer um Beck; eiligst trat ein von Generaloberst Fromm zusammengestelltes Standgericht zusammen. Noch am Abend des 20. Juli wurden Stauffenberg und drei Offiziere erschossen. Stauffenberg starb mit dem Ruf: „Es lebe unser heiliges Deutschland!" Beck wurde gestattet, sich selbst zu erschießen. Zur gleichen Stunde hielt Hitler eine Rede über den Rundfunk, um die „lieben Volksgenossen" wissen zu lassen, daß er gesund sei. „Eine ganz kleine Clique ehrgeiziger, gewissenloser und zugleich verbrecherischer dummer Offiziere hat ein Komplott geschmiedet, um mich zu beseitigen und zugleich mit mir den Stab der deutschen Wehrmachtführung auszurotten." Diese Elemente würden jetzt „unbarmherzig ausgerottet . . . Ich habe, um endgültig Ordnung zu schaffen, zum Befehlshaber des Heimatheeres den Reichsminister Himmler ernannt." An Stelle des ihm unbequem gewordenen Zeitzier berief Hitler Guderian zum Chef des Generalstabes. Nach außen hin wurde die Version von der „ganz kleinen Clique" aufrechterhalten. Die führenden Nationalsozialisten waren freilich erschüttert, als sich bei den Untersuchungen herausstellte, wie weit die Verschwörung reichte, wie alle Kreise daran beteiligt waren, Offiziere und Diplomaten, Geistliche beider Konfessionen, alte Sozialdemokraten und selbst einige hohe Parteibeamte wie der Berliner Polizeipräsident Graf Wolf Heinrich Helldorf und der Chef des Reichskriminalamtes, Artur Nebe. Die Gestapo fand Regierungsprogramme und Ministerlisten, in denen die beiden Sozialdemokraten Leuschner als Vizekanzler und Leber 853

Zweiter Weltkrieg —· Rückzug auf deutsche Grenzen als Innenminister vorgesehen waren; die Beziehungen zum Ausland, der Plan Kluges und Rommels, auch ohne Hitler mit dem Westen Friedensverhandlungen zu eröffnen, und der entgegengesetzte Plan Graf von der Schulenburgs, mit den Russen zu paktieren, wurden aufgedeckt. Auf Hitlers Befehl kamen alle diese Prozesse vor den Volksgerichtshof unter dem Präsidium von Roland Freisler. Die am Putsch beteiligten Offiziere wurden aus dem Heer ausgestoßen, damit sie nicht vor ein Militärgericht gestellt werden mußten. Hitler befahl darauf zu achten, daß den Angeklagten keine Gelegenheit geboten werde, sich zu rechtfertigen und dabei „Reden aus dem Fenster" zu halten. Dementsprechend unterbrach und beschimpfte Freisler bei den Verhandlungen die Angeklagten fortwährend. Der im Zusammenhang mit dem Attentat vom 20. Juli hingerichtete Jesuitenpater Alfred Delp schrieb über seine Verurteilung in einem Brief an seine Mitbrüder: „Das war kein Gericht, sondern eine Funktion des Vernichtungswillens." Tausende von Verhafteten, darunter auch in das Attentat nicht Verwickelte, sondern nur sonst wegen ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Nationalsozialismus Verdächtige kamen in Gefängnisse oder Konzentrationslager. Die Prozesse zogen sich bis zum April 1945 hin, die Zahl der durch Strang und Beil Hingerichteten wird wohl nie genau ermittelt werden können. An unmittelbar an dem Putsch Beteiligten werden etwa 180 bis 200 genannt, im ganzen sollen bis Kriegsende, abgesehen von den durch ein Militärgericht Verurteilten, etwa 5000 Mensclien hingerichtet worden sein. Aus den Prozeßverhandlungen sind einige Wechselreden zwischen Freisler und den Verurteilten überliefert; Freisler: „Bald werden Sie in der Hölle sein . . . " , Antwort: „Es wird mir ein Vergnügen sein, wenn Sie bald nachkommen, Herr Präsident." Am 3. Februar 1945 wurde Freisler im Luftschutzkeller von einem herabstürzenden Balken erschlagen. Unter den Opfern der Volksgerichtsjustiz befanden sich Generalfeldmarschall Erwin von Witzleben, Staatssekretär a. D. Erwin Planck, Sohn des Physikers Max Planck, Botschafter von Hasseil, Dr. Goerdeler, der frühere preußische Finanzminister Popitz, Leuschner und Leber. Zu den infolge des Attentats vom 20. Juli Gefangengenommenen, die aber durch den Einmarsch der Amerikaner noch rechtzeitig befreit wurden, gehörten vor allem Schacht, Halder und General von Falkenhausen. Die Haltung, mit der Gefangene und Verurteilte die körperlichen und seelischen Leiden und den letzten schweren Gang ertrugen, zeugt von dem tiefen moralischen Verantwortungsbewußtsein, das die Triebfeder ihres Widerstandes war. Feldmarschall Rommels Anteil an den Vorbereitungen für den 20. Juli wurde Hitler sehr spät bekannt. Infolge eines Kraftwagenunfalls war Rommel seit dem 17. Juli schwer krank. Als er zur Genesung auf Schloß Herrlingen in Württemberg weilte, schickte Hitler am 14. Oktober zwei Generale zu ihm und stellte ihn vor die Wahl, Gift zu nehmen oder sich vom Volksgerichtshof aburteilen zu lassen. Rommel wählte Gift, da unter dieser Voraussetzung seine Familie unbehelligt bleiben sollte. Er stieg zu den Generalen ins Auto, sie lieferten eine halbe Stunde später den „an Embolie auf Grund der früheren Verletzungen" Gestorbenen in einem Ulmer Lazarett ab. Eine Sektion der Leiche wurde verboten. 854

20. Juli 1944 und seine Folgen Rommel war durch seine Afrikafeldzüge und seine ganze Persönlichkeit einer der erfolgreichsten, bekanntesten und beliebtesten Heerführer des Zweiten Weltkrieges, den auch seine englischen Gegner hochschätzten. Daß sich ein solcher Mann an dem Komplott gegen Hitler beteiligt hatte, durfte nicht an die Öffentlichkeit kommen. Die näheren Umstände von Rommels Sterben sollten deshalb strengstes Geheimnis bleiben. Hitler ordnete ein offizielles Staatsbegräbnis an, in seinem Namen wurde ein großer Kranz niedergelegt, Feldmarschall Rundstedt mußte eine Rede halten und darin versichern, daß „Rommels Herz immer dem Führer" gehört habe. Die Beurteilung des Attentats vom 20. Juli 1944 richtet sich nach dem politischen, nationalen, sittlichen und religiösen Standpunkt des Urteilenden, und die Zahl der Zustimmenden und Ablehnenden schwankt mit dem Wechsel der Meinungsbildung, dem alles geschichtliche Geschehen mehr oder weniger unterworfen ist. Aber unabhängig von den mancherlei Für und Wider, die zur Rechtfertigung und zur Mißbilligung des Attentats angeführt werden, sowie alles dessen, was fraglich bleibt, und unabhängig von den mancherlei Wenn-Erwägungen, bietet die Geschichte der Verschwörung die Möglichkeit zu einer gerechten Bewertung der Charaktere und Motive und aufschlußreichen Einblick in ein von echter Vaterlandsliebe beseeltes heroisches Ringen um die Befreiung von der unheilvollen Willkürherrschaft Hitlers. In einem Ausspruch des Generaloberst Ludwig Beck heißt es: „Das Entscheidende ist nicht, was aus diesem oder jenem persönlich wird, das Entscheidende ist nicht einmal die Folge für das Volk, sondern entscheidend ist die Unerträglichkeit, daß seit Jahr und Tag im Namen des deutschen Volkes Verbrechen auf Verbrechen und Mord auf Mord gehäuft wird, und daß es sittliche Pflicht ist, mit allen verfügbaren Mitteln diesen im angemaßten Namen des Volkes geübten Verbrechen Einhalt zu tun." Ähnlich hatte Generalmajor Henning von Treskow auf die Anfrage Stauffenbergs „ob ein Attentat noch sinnvoll sei oder ob man nicht besser daran tue, den Tyrannen selbst seine Verantwortung für Deutschlands Katastrophe tragen zu lassen", geantwortet: „Das Attentat muß erfolgen, coûte que coûte. Sollte es nicht gelingen, so muß trotzdem in Berlin gehandelt werden. Denn es kommt nicht mehr auf den praktischen Zweck an, sondern darauf, daß die deutsche Widerstandsbewegung vor der Welt und vor der Geschichte den entscheidenden Wurf gewagt hat. Alles andere ist daneben gleichgültig." Bundespräsident Heuß hob in seiner Ansprache zum 10. Jahrestag des Attentats vom 20. Juli 1944 hervor: „Hier wurde in einer Zeit, da die Ehrlosigkeit und der kleine, feige und darum brutale Machtsinn den deutschen Namen besudelt und beschmiert hatte, der reine Wille sichtbar, im Wissen um die Gefährdung des eigenen Lebens den Staat der mörderischen Bosheit zu entreißen und, wenn es erreichbar, das Vaterland vor der Vernichtung zu retten." Die Männer des 20. Juli und ihre Gesinnungsgenossen haben schwer mit ihrem Gewissen gerungen, dabei gingen ihre Ansichten über Tyrannenmord, Regierungswechsel mitten in gefahrvollster Lage des Krieges und ähnliches oft weit auseinander; ihr gefahrvolles Mühen wäre ihnen sehr erleichtert worden, hätte

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Zweiter Weltkrieg — Rüdezug auf deutsche Grenzen

das feindliche Ausland, namentlich Churchill und Roosevelt, nicht auf der bedingungslosen Kapitulation bestanden und jede Verbindung mit der deutschen Opposition abgelehnt, weil es ihre Ehrlichkeit bezweifelte und glaubte, das deutsche Volk stünde einmütig und entschlossen hinter Hitler, wie die Goebbelssche Propaganda mit tönenden Phrasen wieder und wieder verkündete. Der Erfolg blieb den Männern des 20. Juli versagt. Erwägungen über die Auswirkungen, wenn das Attentat geglückt wäre, führen über vage Vermutungen nicht hinaus. Hätte es Bürgerkrieg gegeben oder wären die Nationalsozialisten ebenso sang- und klanglos verschwunden wie Mussolinis Faschisten? Hätten die Westmächte mit einer demokratischen Regierung nicht doch noch paktiert? Wäre Stalin zu einem Verzicht auf Vergeltung bereit gewesen? Wie wären die Grenzen des wiedererstandenen polnischen Reiches verlaufen? Wären die Pläne von Teheran auch dann ausgeführt worden? Sicher ist nur, daß die Zahl der an der Front Gefallenen, der bei Bombenangriffen getöteten Zivilisten, auf der Flucht aus den deutschen Ostgebieten Umgekommenen sowie die Zerstörungen in deutschen Städten weit geringer gewesen wären. Hitler rächte sich furchtbar an allen, die nicht an ihn, seine Sendung und den Sieg glaubten. Sein Mißtrauen, ja Haß gegen die höheren Offiziere wuchs, ihrem Versagen, sogar von ihnen angeblich verübter Sabotage schrieb er alle Rückschläge an den Fronten zu, die in Wirklichkeit die Übermacht der Feinde, die Erschöpfung und mangelnde Versorgung der Wehrmacht und seine Fehlentscheidungen verursachten. Nur auf die Partei glaubte Hitler sich noch verlassen zu können; deshalb ernannte er Himmler, seit 1939 bereits Innenminister, zum Befehlshaber des Heimatheeres und Goebbels zum „Generalbevollmächtigten für den totalen Kriegseinsatz". Beide waren mit weitgehenden Vollmachten ausgestattet und überzeugt — vielleicht redeten sie sich und anderen diese Uberzeugung nur ein —, mit dem rigorosen Einsatz aller Kräfte doch noch den Sieg erzwingen zu können. „Die Partei wird der Motor des gesamten Umstellungsprozesses sein. Sie wird von nun ab vornehmlich der Aufgabe dienen, Soldaten für die Front und Arbeitskräfte für die Rüstungsproduktion frei zu machen", sagte Goebbels am 26. Juli 1944, er wies auch auf die „neuartigen Waffen" hin, die schon in hinreichenden Mengen für die Front hergestellt würden. In demselben Sinn, nur noch schärfer im internen Kreis, sprach sich Himmler am 3. August vor den in Posen zusammengerufenen Gauleitern aus. Er war glücklich, daß ihm seine neue Stellung jetzt endlich die Möglichkeit gab, das Heer von Grund aus zu reformieren. Der ganze erste Teil seiner langen Rede war eine erbitterte, fast in allen Punkten unzutreffende Anklage gegen das alte Heer: schon an der Kapitulation von 1918 sei die Generalität schuld gewesen, seine siegreichen Blitzkriege in Polen, Norwegen usw. habe Hitler gegen den Widerstand der Generale geführt, von Anfang an sei die Waffen-SS vom Heer schlecht behandelt und an Stellen eingesetzt worden, wo sie die blutigsten Verluste hatte, der Defaitismus unter den höheren Offizieren habe immer mehr um sich gegriffen, Befehle seien falsch oder gar nicht weitergegeben, und so fort. Himmler schilderte dann in niederträchtiger Weise die Verschwörer des 20. Juli und rühmte sich, die „absolute Sippenhaftung" 856

20. Juli 1944 und seine Folgen und die Einziehung von Eigentum und Grundbesitz der Hauptschuldigen eingeführt zu haben. Wie die alten Germanen jeden Verräter ausgerottet hätten, so würde „die Familie Graf Stauffenberg ausgelöscht werden bis ins letzte Glied". Wenn man auch jetzt im Krieg nicht radikal durchgreifen und alle unzuverlässigen Elemente im Heer ausmerzen, sondern nur schrittweise vorgehen könne, so habe er, Himmler, jetzt den Anfang gemacht und mit seinem Ersatzheer die „nationalsozialistische Volksarmee" geschaffen; die Armee in diesem „heiligen Volkskrieg . . . kann nur weltanschaulich-politisch nationalsozialistisch ganz klar ausgeprägt sein". Zum Schluß erklärte er, es stehe unverrückbar fest, daß „wir die Volkstumsgrenze um 500 km herausschieben . . . daß wir ein germanisches Reich gründen werden, daß zu den 90 Millionen die 30 Millionen übrigen Germanen dazukommen werden . . . daß wir die Ordnungsmacht auf dem Balkan und sonst in Europa sein werden, daß wir dieses ganze Volk wirtschaftlich, politisch und militärisch ausrichten und ordnen werden". Himmlers Ehrgeiz, Hitler viele neue Divisionen zu verschaffen, hatte Erfolg. In den Fabriken und Ämtern ersetzten Frauen, Gefangene und Zwangsarbeiter aus den besetzten Gebieten noch mehr als bisher viele als unabkömmlich vom Wehrdienst Freigestellte, die Arbeit litt freilich oft unter dem dadurch bedingten Mangel an Fachkräften. Die höheren Klassen der Oberschulen wurden entweder zum Wehrdienst oder zu mancherlei Arbeiten herangezogen, auch Mädchen mußten bei der Fliegerabwehr Dienst tun. Alle nicht kriegs- oder lebenswichtigen Betriebe wurden geschlossen. Dank dem Organisationstalent Speers produzierte die deutsche Kriegsindustrie trotz der vielen feindlichen Bombenabwürfe noch immer beträchtliche Mengen von allem, was die Front brauchte. Der Mangel an Treibstoff entwickelte sich seit den systematischen Bombenangriffen auf das rumänische Erdölgebiet und auf die deutschen Hydrierwerke vom Mai 1944 ab allerdings zu einer Katastrophe, die besonders den Einsatz der deutschen Luftwaffe sehr beeinträchtigte, in deren Ausbau überdies Hitler noch störend eingegriffen hatte. In weiten Kreisen des deutschen Volkes kam zu der Angst vor den Parteifanatikern und ihren Schergen noch das Grauen vor den Folgen eines verlorenen Krieges. Die Mehrzahl glaubte schon lange nicht mehr an einen Sieg, aber jede Äußerung eines Zweifels galt als „Zersetzung des Wehrwillens" und wurde hart bestraft, schließlich mit der Todesstrafe. In dumpfer Hoffnungslosigkeit gehorchte die Mehrzahl, ließ Hunger und Mangel an allem Notwendigen, befohlenen Arbeitseinsatz, Fliegeralarm bei Tag und Nacht, Zerstörung der Wohn- und Arbeitsstätten, Evakuierung der Frauen und Kinder sowie die dauernde Sorge um die Angehörigen im Feld über sich ergehen. Bei vielen war freilich das Vertrauen auf Hitler und die versprochenen Wunderwaffen unzerstörbar, sie glaubten auch die zur Wahrung des Mythos von der Unfehlbarkeit des „größten Feldherm aller Zeiten" durch die Propaganda in die Welt gesetzten Gerüchte über die Sabotage oder den Verrat der Generale.

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Zweiter Weltkrieg — Rückzug auf deutsche Grenzen Die Invasion und die Befreiung

Frankreichs

Ziemlich bald erfuhr Hitler den wesentlichen Inhalt der streng geheim gehaltenen Besprechungen in Kairo und Teheran. Mit Landungsversuchen an der europäischen Küste rechnete er schon lange. Seit Herbst 1942 ließ er den Atlantikwall bauen, der die Küsten von Dänemark bis zur spanischen Grenze sichern sollte. Die Propaganda feierte den Wall als eine Großtat Hitlers, aber die Befestigungen wurden nicht fertig und waren sehr ungleich, am besten in den Häfen und am Pas de Calais, wo man die Invasion zuerst erwartete. Viele Sachverständige meinten, man hätte die Unmengen von Arbeitskräften, Stahl, Beton und anderem Material für wichtigere Zwecke verwenden sollen. Die in Frankreich stehenden Divisionen konnten wegen der auf allen Kriegsschauplätzen sehr angespannten Lage und der erhöhten Tätigkeit der Partisanen nur in geringem Umfang vermehrt werden. Am schlimmsten wirkte sich für die Deutschen ihre hoffnungslose Unterlegenheit in der Luft aus. Als Vorbereitung der Invasion verstärkten die Alliierten die Bombardierung der Industriezentren und des Verkehrsnetzes vor allem in Frankreich zwischen Paris und der Küste, zur Tarnung aber auch der Gebiete bis Antwerpen. Die Täuschungsmanöver der Engländer waren so erfolgreich, daß die Deutschen bis zuletzt weder von dem Zeitpunkt noch der Art der Landung sichere Nachricht hatten. Der deutschen Spionage war auch nichts über die „künstlichen Häfen" der Alliierten bekannt geworden, eine Erfindung, durch welche die Alliierten für den Nachschub nicht auf sofortige Eroberung eines Hafens angewiesen, also in der Wahl ihres Landungsplatzes freier waren. Während die Deutschen den Hauptangriff bei Calais erwarteten und alle anderen Anzeichen als Tarnmanöver werteten, entschlossen sich die Alliierten zur Landung an der deutscherseits wenig befestigten Küste der Normandie, die Amerikaner an der Südostseite der Halbinsel Cotentin, die Engländer an zwei Stellen östlich davon bis zur Ornemündung. Die ohnehin nicht sehr starke, über einen weiten Raum verzettelte deutsche Verteidigung stand wie immer bei Hitler nicht unter einheitlichem Befehl. Rundstedt, der Oberbefehlshaber West, wollte den Feind landen lassen und ihm mit den dann zusammengezogenen Verbänden entgegentreten. Rommel, dem der am meisten bedrohte Raum von Holland bis zur Loiremündung unterstand, hielt die sofortige Abwehr jeden Landungsversuches, auch wenn zunächst nur schwache Verbände zur Verfügung stünden, für das Wichtigste. Die beiden Heerführer waren überdies in all ihren Entschlüssen an Hitlers Entscheidung gebunden, die jedesmal erst vom Hauptquartier eingeholt werden mußte, was unvermeidlich zu schwerwiegenden Verzögerungen führte. Am Morgen des 6. Juni 1944 begann bei nicht besonders günstigem Wetter die sorgfältig vorbereitete Invasion. Drei Fallschirmjägerdivisionen sprangen an einigen wichtigen Stellen ab, die deutschen Küstenbefestigungen lagen unter dem Feuer schwerer Schiffsgeschütze, Unmassen feindlicher Flugzeuge überschütteten die Zufahrtswege mit ihrem Bombenhagel, die deutsche Verteidigung war dagegen machtlos. Noch am Tage der Landung wurden von Schleppdampfern die Einzelteile der „künstlichen Häfen" herangebracht, Schiffskörper, die an der Lan858

Invasion und Befreiung Frankreichs dungsküste zu Hafenmolen und -mauern aneinandergereiht und auf Grund gesetzt wurden. Eine Ölleitung wurde durch den Kanal gelegt und pumpte den Treibstoff von England direkt in den Landungskopf. Die Engländer und Amerikaner konnten in den folgenden Wochen die am ersten Tage gebildeten Brückenköpfe zu einem verbinden und ausdehnen. Cherbourg wurde am 20. Juni eingeschlossen und ergab sich einige Tage später; die Hafenanlagen waren allerdings so gründlich zerstört, daß sie erst nach längerer Zeit wieder benutzt werden konnten. Trotzdem standen Anfang Juli über eine Million Mann, mit allem Kriegsmaterial vorzüglich ausgerüstet, in dem Brückenkopf. Das Durchbrechen der deutschen Linien glückte ihnen noch nicht gleich, die deutsche Front wahrte trotz harter Kämpfe noch wochenlang den Zusammenhang, aber die Nachschubverhältnisse verschlimmerten sich immer mehr, da das Verkehrsnetz wieder und wieder von Bomben zerstört wurde. Rommel und Rundstedt versuchten Hitler nun klarzumachen, daß die Lage hoffnungslos und die Beendigung des Krieges im Westen notwendig sei, aber Hitler wollte nicht hören. Am 25. Juli durchbrachen Amerikaner die deutsche Front zwischen Périers und St. LÔ, am 31. erreichten sie Avranches. Dann drangen sie in drei Richtungen vor: auf Brest, die Loiremündung und auf Le Mans. Die deutsche Front hatten sie in zusammenhanglose Kampfgruppen zersprengt, die sich der drohenden Umklammerung zu entziehen versuchten. Feldmarschall Kluge empfahl Hitler die sofortige Aufgabe von ganz Süd- und Südwestfrankreich als die einzige Möglichkeit für die Bildung einer neuen Front, etwa an der Seine, und für das Stoppen des feindlichen Vormarsches. Hitler ließ sich hierzu nicht bewegen, er glaubte immer noch, auf die im Anfang des Krieges bewährte Weise Siege erringen zu können, und war, da ihm in seinem ostpreußischen Hauptquartier jede eigene Anschauung der Lage im Westen fehlte, von der gewaltigen Überlegenheit der feindlichen Armeen und vor allem ihrer Luftwaffe nicht zu überzeugen. So befahl er, Panzerverbände bei Mortain zusammenzuziehen und im Gegenangriff die vorgedrungenen Amerikaner abzuschneiden. Kluge gehorchte. Drei Angriffe am 6., 7. und 11. August mißlangen. Inzwischen hatten amerikanische Verbände die Bretagne abgeriegelt, ein Teil drängte die Deutschen auf Brest zurück, ein anderer nahm am 10. August Nantes und die Loiremündung. Die auf Le Mans vorgestoßenen Amerikaner schwenkten nach Norden ein, um die Deutschen einzukreisen. Kluge befahl auf eigene Verantwortung den Rückzug der Armee aus dem fast schon geschlossenen Kessel, wurde aber, noch ehe sein Befehl zur Ausführung kam, am 16. August von Hitler durch Feldmarschall Model ersetzt und zur Berichterstattung ins Hauptquartier befohlen. Da vor dem Volksgerichtshof auch Kluges Beteiligung an dem Attentat vom 20. Juli (S. 852) zur Sprache gekommen war, beging er im Flugzeug Selbstmord. Hitler führte in der Lagebesprechung vom 31. August vor den Offizieren aus, er sei von Kluge bitter enttäuscht, warf ihm vor, absichtlich einen Erfolg des Panzerangriffs verhindert und Ubergabeverhandlungen eingeleitet zu haben; diese Vorgänge sollten geheimgehalten werden, damit der Armee die Schande erspart bleibe. Bei dieser Besprechung sagte Hitler: „Es ist kindisch und naiv zu erwar859

Zweiter Weltkrieg — Rückzug auf deutsche Grenzen ten, daß in einem Augenblick ernster militärischer Niederlagen der Augenblick für günstige politische Verhandlungen gekommen i s t . . . Solche Augenblicke kommen, wenn man Erfolge aufzuweisen hat . . . Wenn nötig werden wir am Rhein kämpfen. Das ist ganz gleichgültig. Unter allen Umständen werden wir diesen Kampf fortsetzen, bis, wie Friedrich der Große sagte, einer von unseren verfluchten Feinden zu müde zum Weiterkämpfen wird. Wir werden kämpfen bis zu einem Frieden, der das Leben der deutschen Nation für die nächsten 50 oder 100 Jahre sichert und vor allem unsere Ehre nicht ein zweites Mal wie im Jahre 1918 besudelt." Mit solchen Reden berauschte sich Hitler, als halb Frankreich schon verloren war. Die Engländer stießen mit ihren Angriffen aus dem Brückenkopf bei Caen Ende Juli auf entschiedenen deutschen Widerstand, erst am 16. August glückte ihnen der Durchbruch nach Falaise, ein Teil wandte sich nach Westen, um sich mit den von Süden kommenden Amerikanern zu vereinigen und die Einkesselung der deutschen Armeen zu vollenden. Einzelne deutsche Abteilungen konnten sich durch einen schmalen Schlauch der Umzinglung entziehen, erlitten indes besonders infolge der auf dem engen Raum sich verheerend auswirkenden Luftangriffe empfindliche Verluste. Etwa 45 000 Mann wurden in dem Kessel gefangen genommen und große Mengen Kriegsmaterial fielen den Feinden in die Hände. Weitere Verbände der Engländer drängten den an das Meer angelehnten rechten deutschen Flügel hinter die untere Seine zurück. Die Lage verschlechterte sich noch mehr, als Eisenhower die lange geplante Landung in Südfrankreich von Neapel aus durchführen ließ. Churchill hatte sich noch einmal vergebens bemüht, die hierfür bereitgestellten Truppen an der italienischen Front einzusetzen und sie dann über Triest, Jugoslawien nach Ungarn, Österreich und Deutschland vorstoßen zu lassen. Roosevelt wollte aus Rücksicht auf die Sowjetunion keine Truppen in den Balkan entsenden. Bei dem geringen Widerstand der schwachen deutschen Kräfte ging die Landung der Amerikaner östlich Toulon glatt vonstatten, nachdem Luftangriffe das Verkehrsnetz weitgehend zerstört hatten und die französischen Widerstandskämpfer reichlich mit Waffen versorgt waren. Toulon und Marseille wurden eingeschlossen, sie ergaben sich am 28. August. In schnellem Vorrücken durch das Rhone- und Saônetal erreichten die motorisierten amerikanischen und französischen Verbände am 8. September Besançon. Drei Tage später stellten sie westlich Dijon die Verbindung mit dem Ostflügel der von der Loire zur Seine vorgedrungenen amerikanischen Heeresgruppe her. Die sich aus ganz Südfrankreich zurückziehenden deutschen Truppen gerieten großenteils in Gefangenschaft. Feldmarschall Model mußte sich bald davon überzeugen, daß er mit den durcheinandergewürfelten, sehr zusammengeschmolzenen deutschen Divisionen keinen nachhaltigen Widerstand leisten könne. Die Seinelinie war ebenfalls nicht zu halten. Hitler hatte die Verteidigung von Paris bis zum letzten Mann befohlen; der Kommandant, General von Choltitz, gab jedoch den militärisch sinnlosen Kampf gegen die Widerstandsbewegung sowie gegen die heranrückenden Amerikaner und Franzosen auf, damit die berühmte Stadt nicht der Zerstörung preisgege860

Invasion und Befreiung Frankreichs ben würde. Am 25. August kapitulierte Choltitz mit etwa 10 000 Mann vor der ersten französischen Panzerdivision, die Paris erreichte. Am folgenden Tag zog General de Gaulle als Sieger und Befreier in die jubelnde Stadt ein. Er bildete in den nächsten Tagen eine provisorische Regierung unter seiner Leitung, die von den Alliierten am 23. Oktober anerkannt wurde. Im Norden wollte Montgomery möglichst schnell zum Niederrhein vordringen und sich dann gegen das Ruhrgebiet wenden. Am 3. September nahmen die Engländer Brüssel, am 4. Antwerpen, am 6. Lüttich; hinter dem Maas-Schelde-Kanal hielten die deutschen Linien zunächst stand. Am 17. Oktober begann eine groß angelegte englische Aktion, Luftlandetruppen sollten fünf wichtige Brücken zwischen Eindhoven und Arnheim unzerstört in Besitz nehmen. Die deutsche Abwehr war unerwartet heftig; erst nach verlustreichen Kämpfen stellten die Engländer die Verbindung von ihrer Front am Maas-Schelde-Kanal zu den Fallschirmtruppen her und erweiterten den schmalen bis zum Niederrhein westlich Arnheim vorspringenden Frontbogen. Die bei Antwerpen abgeschnittenen deutschen Truppen zogen sich auf die Küste und die Inseln in der Scheidemündung zurück. Sie sperrten damit dem Gegner die Zufahrt in den unzerstörten Hafen von Antwerpen. Montgomerys Truppen überwanden erst nach wochenlangen erbitterten Kämpfen den deutschen Widerstand. Am 18. November waren die Minen und sonstigen Sperren endlich so weit entfernt, daß der erste Geleitzug mit alliiertem Kriegsmaterial nach Antwerpen fahren konnte. Die deutsche Front stand nun hinter der Waal, weiter südlich hatten die feindlichen Armeen fast überall die Reichsgrenze erreicht, an einigen Punkten sogar schon überschritten. Die Deutschen hatten ihre Verteidigung ungefähr in der Linie Aachen-Trier-Metz-Luneville-Vogesen-Belfort aufgebaut. Daß ihnen dies gelang, verdankten sie nicht zuletzt dem Entschluß Eisenhowers, den Hauptangriff auf das Reich erst dann zu unternehmen, wenn der Nachschub gesichert war. In einigen französischen Häfen behaupteten sich noch immer deutsche Besatzungen, die nach Hitlers Willen feindliche Kräfte binden sollten. Die Alliierten wollten erst das ganze von ihnen selbst zerstörte französische Eisenbahnnetz, die zerbombten oder gesprengten Brücken und Fahrwege wieder benutzbar machen, damit die Versorgung der Millionenheere mit dem ungeheuren Kriegsbedarf richtig funktionierte. Eisenhower hielt den Westwall für stärker als er war. Feldmarschall Rundstedt mußte, als er am 6. September wieder den Oberbefehl über die gesamte Westfront übernahm, während Model nur den nördlichen Frontabschnitt behielt, den Westwall in wochenlanger Arbeit erst wieder verteidigungsbereit machen. Zugunsten des Atlantikwalls waren Waffen, Munition, Draht und Minen vom Westwall abtransportiert worden. Bis Mitte Oktober war die Reichsgrenze praktisch ohne emsthafte Verteidigung. Die rasch aufgestellten Ersatzdivisionen hatten nur geringen Kampfwert, waren oft auch mit Waffen und Fahrzeugen nur ungenügend ausgestattet und konnten die Lücken in den Frontdivisionen nicht ausfüllen. Das Attentat vom 20. Juli hat Hitler körperlich und geistig doch wohl schwerer getroffen als es zuerst den Anschein hatte. Seine freiwillige Absonderung von 861

Zweiter Weltkrieg — Rüdezug auf deutsche Grenzen der Welt in dem streng bewachten ostpreußischen Hauptquartier wurde noch starrer, die Offiziere, die mit ihm die militärische Lage besprachen, hatten den Eindruck, daß er in einer völlig irrealen Welt lebe: er weigerte sich, den nackten, unerfreulichen Tatsachen ins Auge zu sehen. Sein Wille sollte, wie schon oft in seinem Leben, seiner Umwelt das Gesetz des Handelns vorschreiben, deshalb plante er, sobald im Westen die Front einigermaßen zum Stehen gekommen war, die Ardennenoffensive. Die Verstärkungen, die Rundstedt anforderte, wurden ihm zugesagt, aber nicht für die Verteidigung der Reichsgrenze, sondern für die Offensive, die noch eine entscheidende Wendung zum Guten herbeiführen sollte. Erstes Ziel der Offensive sei Antwerpen, um den Feinden den frontnahen und leistungsfähigen Hafen zu entreißen, zweites Ziel die Spaltung der feindlichen Front, Trennung der Briten von den Amerikanern. Rundstedt und sein Stab waren überzeugt, daß die deutschen Kräfte kaum zum Vordringen bis Antwerpen, sicher nicht für dessen Behauptung ausreichen würden. Sie schlugen die Zurückeroberung Aachens vor, das als erste deutsche Großstadt am 21. Oktober 1944 in Feindeshand gefallen war, an dieser Frontstelle würde es möglich sein, mit einem Zangengriff 10 bis 15 amerikanische Divisionen einzukreisen und zu zerschlagen. Die Antwort aus dem Führerhauptquartier lautete: „Der Führer hat entschieden, daß die Operation in jeder Einzelheit unabänderlich ist." Die Generale konnten ihren Vorschlag nicht durchsetzen. Hitler verlegte am 10. Dezember sein Hauptquartier in den „Adlerhorst" bei Bad Nauheim; er wollte den bevorstehenden Operationen nahe sein. Inzwischen hatten die Westmächte die Deutschen, da deren Reserven für die Ardennenoffensive zusammengezogen waren, weiter zurückgedrängt. Am 23. November gingen Metz und Straßburg verloren. Zwischen Trier und Saarbrücken standen die deutschen Truppen noch westlich der Saar, dann verlief die Front über Zweibrücken-Weißenburg zum Rhein, dessen Westufer bis zur Schweizer Grenze aufgegeben werden mußte, nur um Kolmar-Gebweiler konnte ein Brückenkopf behauptet werden. Besonders erbittert wurde in der Gegend von Aachen gekämpft; das Dorf Hürtgen, der Hürtgenwald und das Dorf Vossenack wechselten andauernd den Besitzer. Schritt für Schritt wichen die Deutschen hinter die Roer zurück. Am 16. Dezember 1944 begann zwischen Monschau und Echternach die von den Deutschen sorgfältig vorbereitete und streng geheimgehaltene Ardennenoffensive. Der Angriff überraschte die Amerikaner vollständig. Zunächst schützte schlechtes Wetter die Deutschen vor feindlichen Luftangriffen, andererseits hemmten aufgeweichte Straßen in dem ohnehin großenteils unwegsamen Gelände den Vormarsch der Panzer. Der schwungvoll vorgetragene Angriff blieb weit vor Erreichung der gesteckten Ziele liegen. Im Norden des Abschnitts kamen die SS-Divisionen nur in die Nähe von Malmedy und Trois Point, im Süden bildete der wichtige, von den Amerikanern hartnäckig verteidigte Straßenkreuzungspunkt Bastogne ein unüberwindliches Hindernis. Am weitesten stieß die Mitte vor, aber etwa 25 km vor Dinant an der Maas erlahmte auch ihre Kraft. Am 22. Dezember bat Rundstedt Hitler, die Offensive abbrechen zu dürfen, damit die Truppen 862

,Neue Waffen" planmäßig und ohne große Verluste an Menschen und Material zurückgeführt werden könnten. Wieder verbot Hitler jedes freiwillige Aufgeben gewonnenen Terrains. Die rasch eingeleiteten amerikanischen Gegenmaßnahmen drängten bis Mitte Januar 1945 die deutschen Divisionen auf ihre Ausgangsstellungen zurück. Amerikaner wie Deutsche erlitten dabei schwere Verluste. Seit Weihnachten herrschte gutes Flugwetter, die Überlegenheit der feindlichen Luftwaffe kam voll zur Geltung, der Nachschub, besonders von Treibstoff, wurde dadurch fast ganz unterbunden und die Lage der kämpfend zurückgehenden Deutschen unerträglich erschwert. Der Gewinn der Ardennenoffensive beschränkte sich auf die Verschiebung geplanter Angriffe der Alliierten um einige Wochen; dies war jedoch mit dem Verschleiß deutscher Reserven viel zu teuer bezahlt. Stalin urteilte Churchill gegenüber, die Ardennenoffensive „sei ein dummes, aus Prestigegründen ausgeführtes Manöver gewesen, das Deutschland nur geschadet habe". Eine zweite Offensive kam ebenfalls nicht über wenige Anfangserfolge hinaus. Rundstedt begann sie am 1. Januar 1945 von Bitsch aus, er wollte das nördliche Elsaß zurückgewinnen und den Abzug amerikanischer Truppen an die Ardennenfront verhindern. Himmler, seit Dezember selbständiger „Oberbefehlshaber Oberrhein", setzte bei Hitler durch, daß ihm Rundstedt einige der bei Hagenau erfolgreich vorstoßenden Divisionen abtreten mußte; in seinem maßlosen Ehrgeiz wähnte Himmler, er könne von dem Kolmarer Brückenkopf aus leicht Straßburg erobern, die amerikanische Abwehr erwies sich jedoch als zu stark. Die Oberrheinfront wurde wieder Rundstedt unterstellt, Himmler übernahm im Osten die „Heeresgruppe Weichsel", gegen den Einspruch Guderians, der an diesem gefährdeten Frontabschnitt einen erfahrenen General einsetzen wollte. Rundstedt verlangte die Vorbereitung von Verteidigungslinien am Ostufer des Rheins, da der Westwall an vielen Stellen ganz unzulänglich sei. Hitler fühlte sich als Erbauer des Westwalls tief gekränkt, er befahl die Verteidigung jedes einzelnen Befestigungswerkes bis zum Äußersten, obwohl Rundstedt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig gelassen hatte: die Truppe „habe vom Krieg die Schnauze voll bis obenhin". Die „neuen

Waffen"

Während des Kampfes um Frankreich wurden die ersten der schon solange verheißungsvoll angekündigten „Wunderwaffen" fertig, die „Vergeltungswaffen" „V 1" und „V 2". Bombentreffer auf die Produktionsstätten und die Abschußbasen hatten Herstellung und Einsatz um Monate verzögert. Die V 1 waren unbemannte Raketengeschosse, die bei einer Geschwindigkeit von 650 Stundenkilometern von den Engländern sehr bald größtenteils schon über dem Meer durch Jagdflugzeuge und Flak unschädlich gemacht wurden; die rund 30Prozent V I , die ihr Ziel, den Raum von London, erreichten, richteten jedoch noch viel Schaden an. Wesentlich gefährlicher war die V 2, Höhe und Geschwindigkeit ihres Fluges machten eine Bekämpfung unmöglich, ihre Sprengkraft übertraf die der V 1 erheblich, aber ihr Einsatz erfolgte zu spät. Vom 6. September 1944 an kamen etwas über 863

Zweiter Weltkrieg — Rückzug auf deutsche Grenzen 1000 V2-Raketen zum Abschuß, von denen etwa 620 in England einschlugen. Die von ihnen verursachten furchtbaren Verwüstungen konnten aber eine kriegsentscheidende Wendung nicht mehr herbeiführen. Angesichts der Siege auf dem Festland trugen die Londoner die Bedrohung und Zerstörung mit Fassung. Hitler hatte geglaubt, er werde mit den Wunderwaffen die Engländer zermürben und friedensbereit machen, erreichte aber nur das Gegenteil. Deutsche Forscher arbeiteten unablässig an der Vervollkommnung der V-Waffen; die Propaganda nährte zur Hebung der Stimmung die Hoffnung auf eine Wendung des Kriegsglücks durch verbesserte V-Waffen und flüsterte, als die Kriegslage schlechter und schlechter wurde, von Sabotage. Hitler hatte den Kampfwert der Raketengeschosse zu spät erkannt und deshalb ihre Herstellung verzögert. Mit den anderen der „neuen Waffen", auf welche sich die nationalsozialistische Propaganda immer wieder geheimnisvoll bezog, waren hauptsächlich die Düsenjäger und die U-Boote neuen Typs gemeint. Beide kamen aber nur in so wenigen Stücken und so spät zum Einsatz, daß sie den Gang des Krieges nicht mehr beeinflussen konnten. Die Verwendungsmöglichkeit der Atomkraft hat Hitler überhaupt nicht begriffen. Die deutschen Atomforscher unter Führung der Professoren Heisenberg und Weizsäcker taten nichts, um die zuständigen nationalsozialistischen Stellen aufzuklären, von ihren Forschungen gaben die Gelehrten nur soviel bekannt, daß man sie wissenschaftlich weiterarbeiten ließ, lehnten aber Versuche zur Herstellung von Atombomben mit der auch der Wahrheit entsprechenden Begründung ab, sie sähen „keinen technisch gangbaren Weg, mit den in Deutschland verfügbaren Mitteln während des Krieges eine Atomwaffe herzustellen". Auch den Atomforschern im Ausland suchten sie ihre Haltung klarzumachen, aber die notwendigerweise sehr vorsichtigen Äußerungen wurden mißverstanden und die Angst, Hitler könne Atombomben zur Verfügung haben, trieb die amerikanischen Forscher zu angestrengter Arbeit, um diese gefährlichste Waffe nicht allein in der Hand des Diktators zu lassen. Die Furcht vor einer deutschen Atombombe veranlaßte den seit 1933 in den Vereinigten Staaten arbeitenden hervorragenden Physiker und Pazifisten Albert Einstein in zwei Briefen, vom 2. August 1939 und 7. März 1940, die amerikanische Regierung zur Förderung der Atombombenherstellung anzueifern. Als sich dann 1945 herausstellte, daß in Deutschland an diesem Projekt überhaupt nicht gearbeitet worden war, hätten Einstein und eine Reihe anderer Forscher die furchtbare Erfindung gern wieder zum Geheimnis der Wissenschaftler gemacht, aber die weitere Entwicklung ließ sich nicht mehr aufhalten. Der

„Volkssturm"

Am 18. Oktober 1944 rief ein Erlaß des Führers zur Bildung des „Volkssturms" auf: alle waffenfähigen Männer im Alter von 16 bis 60 Jahren sollen, von den Gauleitern organisiert, „den Heimatboden mit allen Waffen und Mitteln" verteidigen. Himmler führte dazu aus: „Unsere Gegner müssen begreifen lernen: 864

Russische Sommeroffensive jeder Kilometer, den sie in unser Land vordringen wollen, wird sie Ströme ihres Blutes kosten. Jeder Häuserblock einer Stadt, jedes Dorf, jedes Gehöft, jeder Graben, jeder Busch, jeder Wald wird von Männern, Knaben und Greisen und — wenn es sein muß — von Frauen und Mädchen verteidigt. Auch in dem Gebiet, das sie glauben erobert zu haben, wird immer wieder in ihrem Rücken der deutsche Widerstandswille auflodern, und wie die Werwölfe werden todesmutige Freiwillige dem Feinde schaden und seine Lebensfäden abschneiden." Goebbels schilderte in einer Runkfunkrede vom 27. Oktober die Angriffe der Feinde als ihre letzte Anstrengung, pries die deutsche Rüstungsindustrie, die neuartigen Waffen auf allen Gebieten — „Deutschland hat auch in dieser Beziehung noch einige Gewichte in die Waagschale der Entscheidung zu werfen" —, die Siegeszuversicht Hitlers, „die mir und dem ganzen deutschen Volk mehr Beweiskraft verkörpert, als die eitlen und vergänglichen Parolen käuflicher Schwätzer auf der anderen Seite". Wie viele im deutschen Volk wirklich noch glaubten, die neuen Waffen oder das Zerfallen der feindlichen Koalition würden den Sieg ermöglichen, wie viele trotz Erkennens der verzweifelten Lage auf den durch irgendeine noch nicht vorauszusehende glückliche Wendung herbeizuführenden Sieg hofften, wie viele aus Angst vor der Gestapo schweigend das Ende erwarteten, wird sich nie ermitteln lassen. Sicher hielten selbst jetzt noch der für den Abseitstehenden schwer verständliche Zauber von Hitlers Persönlichkeit und das Leib, Seele und Geist für sich fordernde System einen mehr oder weniger großen Teil der Deutschen in ihrem Bann.

DIE RUSSISCHE SOMMEROFFENSIVE Die finnische Regierung hatte vom Februar bis April 1944 über Schweden versucht, mit den Russen Frieden zu schließen, damals aber die harten Bedingungen abgelehnt. Am 9. Juni griffen die Russen auf der Karelischen Landenge an und durchbrachen einige Tage später die finnische Front. Die Finnen mußten hinter Wiborg zurückweichen und forderten nun deutsche Unterstützung. Ribbentrop fuhr selbst nach Helsinki und konnte die finnische Regierung zunächst zur Fortsetzung des Krieges bewegen. Als aber die deutsche Ostfront immer weiter nach Westen gedrängt wurde und die zugesagte Hilfe sehr spärlich ausfiel, teilte Feldmarschall Mannerheim, nachdem er am 1. August auch zum Reichspräsidenten von Finnland gewählt worden war, am 2. September Hitler mit, sein Land müsse Frieden schließen. Da zwischen Finnland und Deutschland kein Bündnis, sondern nur Waffenbrüderschaft bestand und das briefliche Versprechen des vorigen Reichspräsidenten, keinen Sonderfrieden zu schließen, mit dessen Rücktritt als erledigt galt, glaubte sich Finnland ganz im Recht, als es Anfang September die Waffenstillstandsbedingungen annahm: Anerkennung der Grenze von 1940, Abtretung der Gebiete von Petsamo an die Sowjetunion, Demobilisierung binnen 865 55 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Zweiter Weltkrieg — Rückzug auf deutsche Grenzen zwei Monaten, Abbrechen der Beziehungen zu Deutschland, Entwaffnung und Auslieferung aller Teile der deutschen Wehrmacht als Kriegsgefangene an die Sowjetunion, soweit sie nach dem 15. September noch auf finnischem Boden stünden. Formell wurde der Waffenstillstand am 19. September in Moskau unterzeichnet. Ein Teil der deutschen Truppen wurde über die Ostsee ins Baltikum befördert; die östlich und nördlich stehenden zogen sich in Richtung auf Norwegen zurück. Hitler befahl, Nordfinnland mit den Nickelgruben von Petsamo zu halten. Dadurch gerieten die dort stehenden deutschen Truppen in schwere Bedrängnis; in harten Kämpfen gegen Russen und Finnen und unter Zurücklassung vielen Heeresmaterials mußten sie Mitte Oktober Petsamo räumen, konnten aber noch vor dem spät einsetzenden Winter über die Nordkapstraße ausweichen und im Nordwestzipfel Finnlands sich bis ins Jahr 1945 halten. Der Hauptstoß des russischen Angriffs vom 22. Juni richtete sich gegen die Heeresgruppe Mitte, die den weit vorspringenden Bogen bei Witebsk fast ohne Reserven verteidigen mußte. Ziele und Stärke der russischen Offensive hatte die Heeresleitung rechtzeitig klar erkannt und von Hitler Zurücknahme der Truppen, Frontverkürzung und damit die Möglichkeit zur Bereitstellung von Reserven für bedrohte Punkte verlangt. Hitler beharrte jedoch trotz Stalingrad und sonstiger schlimmer Erfahrungen starr auf seinem Prinzip des Sich-am-Boden-Festkrallens und wollte nicht einsehen, daß eiserner Wille und „die Glut nationalsozialistischer Begeisterung" allein gegen die Ubermacht und den Schwung des russischen Großangriffs unzulänglich seien. So gestaltete sich die Niederlage „zu einer Katastrophe, die in ihrer örtlichen Dramatik zwar an die von Stalingrad nicht heranreichte, sie aber an Umfang und Auswirkung noch übertraf" (Tippeiskirch). Durch die an verschiedenen Stellen breit aufgerissenen Frontlücken drangen die Russen unaufhaltsam nach Westen vor. Etwa 25 deutsche Divisionen wurden teils im Kampf vernichtet, teils bei den auf Befehl Hitlers unbedingt zu haltenden Städten eingekesselt. Nur wenigen Gruppen gelang es, sich zu der immer weiter zurückweichenden Front durchzuschlagen. Eine Flüsterpropaganda vom Verrat der Generale sollte Hitlers sinnlose Befehle verschleiern. Kurz nach Beginn der Offensive hatte die Heeresleitung darauf gedrängt, die Heeresgruppe Nord, die noch bei Narwa und am Peipussee stand, hinter die Düna zurückzunehmen und dadurch Divisionen für die bedrohliche Lage der Heeresgruppe Mitte freizumachen. Hitler blieb auch hier bei seinem Verbot jeden Rückzugs. Mitte Juli griffen die Russen von Narwa bis Dünaburg an, das am 27. Juli in ihre Hände fiel; sie versuchten, nach Riga vorzustoßen, um die ganze Heeresgruppe Nord abzuschneiden. Als in der zweiten Septemberhälfte ein Teil der gegen Finnland eingesetzten russischen Truppen für die Narwafront frei wurde, erlahmte der deutsche Widerstand. Die Russen gewannen am 21. September Reval, einige Tage später die Inseln ösel, Moon und Dago; damit war für die russische Flotte der Weg in die Ostsee wieder offen. Trotz heftiger Angriffe der Russen in Richtung auf Riga konnten die Deutschen dort so lange standhalten, bis die von Norden zurückweichenden Divisionen nach Kurland durchgekommen waren. Am 14. Oktober wurde auch Riga preisgegeben. Inzwischen hatten die 866

Warschauer Aufstand. Hoffnung auf Spaltung der Alliierten Russen bei Memel die Ostsee erreicht und die Verbindung der Heeresgruppe Nord mit der Heimat abgeschnitten. Noch war der russische Keil nicht so stark, daß er die deutschen Truppen hätte hindern können, sich nach Ostpreußen durchzuschlagen, aber Hitler hoffte, entgegen jeder vernünftigen Berechnung doch bald wieder von Ostpreußen aus zum Gegenangriff vorstoßen zu können. Außerdem, sagte er, brauche er die kurländische Armee, um den Russen in die Flanke zu stoßen. So blieben etwa 30 deutsche Divisionen auf der Halbinsel zwischen der Westseite des Rigaischen Meerbusens und der Ostseeküste südlich Libau bis zum Kriegsende stehen, einige wurden allmählich über die Ostsee nach Deutschland zur Verstärkung anderer Fronten befördert. Die Hauptmasse wehrte alle russischen Angriffe ab und ergab sich erst am 10. Mai 1945 auf Grund der allgemeinen Kapitulation.

Der Warschauer Aufstand. Hitlers Hoffnung auf Spaltung der Alliierten Als der Rückzug der Heeresgruppe Mitte schon in vollem Gange war, stießen die Russen am 14. Juli 1944 auch gegen die Heeresgruppe Nordukraine vor. Die Deutschen wurden an die Karpathen und hinter die Weichsel gedrängt. Während die russischen Heere an Warschau heranrückten, erhoben sich die polnischen Widerstandskämpfer am 1. August zu einem von General Bor geführten sehr gefährlichen Aufstand und besetzten große Teile der Stadt. Wochenlang zuvor hatten russische Sender in polnischer Sprache zur Erhebung gegen die Deutschen aufgerufen; als der Kampf entbrannt war, machte jedoch die russische Armee unter Marschall Rokossowski halt. Stalin hatte ein nur aus Kommunisten bestehendes „Polnisches Komitee zur nationalen Befreiung" aufgestellt und als künftige polnische Regierung anerkannt; die bürgerliche polnische Exilregierung in London stand seinen Plänen im Wege. Er wollte das bürgerliche Polen sich verbluten lassen, deshalb erklärte er den Warschauer Aufstand für ein „tollkühnes, furchtbares Abenteuer", von dem sich die Regierung der Sowjetunion distanzieren müsse. Den verzweifelten Hilferufen der von deutschen SS-Divisionen mit entsetzlicher Grausamkeit bekämpften Warschauer Bevölkerung gegenüber blieb Stalin ebenso taub wie gegenüber Churchill, der in Briefen dringend Unterstützung für die polnische Widerstandsbewegung forderte. Stalin verbot sogar den über Warschau Kriegsmaterial abwerfenden englischen und amerikanischen Flugzeugen die Benutzung der russischen Flugplätze. Roosevelt ließ sich zu einem scharfen Vorgehen gegen diese Stalinschen Methoden nicht bewegen. Mitte September ging die russische Armee wieder zum Angriff über, zwang die Deutschen zur Räumung des rechten Weichselufers und der Warschauer Vorstadt Praga, dann ließ sie die erbittert und verzweifelt gegen die Deutschen kämpfenden polnischen Aufständischen wieder im Stich. Zwei polnische, unter russischem Oberbefehl stehende Bataillone überschritten die Weichsel, wurden aber, da keine russischen Truppen nachstießen, von den Deutschen aufgerieben. Am 2. Oktober kapitulierten die Reste der Aufständischen. Warschau war durch die von beiden 867 55·

Zweiter Weltkrieg — Rückzug auf deutsche Grenzen

Seiten äußerst hart geführten Kämpfe ein Trümmerhaufen geworden. „Wenn der Warschauer Aufstand oft die heroischste Epoche des letzten Krieges genannt wird, so sollte die Haltung der Sowjets während des Aufstandes als das größte Verbrechen des verflossenen Krieges bezeichnet werden. Ein schlimmeres Verbrechen sogar als Katyn, denn hier haben 200 000 Menschen ihr Leben gelassen", schreibt einer der führenden Männer der polnischen Widerstandsbewegung. Von diesen und ähnlichen Differenzen unter den Alliierten kamen den Deutschen hinreichend Nachrichten zu Ohren, so daß dies Hitler und andere führende Nationalsozialisten in dem Glauben bestärkte, die deutschfeindliche Allianz werde bald auseinanderfallen und einer ihrer Partner sich bereit erklären, mit Deutschland Frieden zu schließen. Hitler hätte mit Stalin ebenso paktiert wie mit den Westmächten. Propagandamäßig günstiger und auch Hitlers Ideen mehr entsprechend war allerdings der Gedanke, mit dem Westen gemeinsam den Bolschewismus von dem übrigen Europa fernzuhalten. In seinem Neujahrsaufruf von 1944 hatte Hitler auf die bolschewistische Bedrohung hingewiesen: „Die Gefahr für Europa ist eine ungeheure. Sie wird nicht gemildert dadurch, daß gewisse britische oder amerikanische Stellen schon jetzt erklären, nach diesem Kriege sei ein dritter Weltkrieg unausbleiblich, der Krieg zwischen den Plutokraten untereinander oder gemeinsam zwischen ihnen und dem Bolschewismus. Es ist außerdem für die Menschheit gleichgültig, ob sie unter der jüdisch-kapitalistischen oder der jüdisch-bolschewistischen Diktatur zugrunde geht." Und in seiner Rundfunkrede zum 30. Januar erklärte Hitler: „Die Frage ist nicht mehr die, ob in dem heutigen Krieg das alte Gleichgewicht der Kräfte erhalten oder wiederhergestellt wird, sondern sie lautet nur: Wer am Ende dieses Krieges in Europa die Vormacht sein wird. Entweder die europäische Völkerfamilie, repräsentiert durch ihren stärksten Staat, oder der bolschewistische Koloß . . . Der Sieg Deutschlands bedeutet die Erhaltung Europas und der Sieg Sowjetrußlands seine Vernichtung. Das ist, wie gesagt, so klar, daß es vor allem auch jeder nicht völlig verblödete Engländer genau wissen müßte." Die Hoffnung auf ein Zerfallen der Allianz täuschte Hitler. In dem Kapitel seiner Memoiren über „Das Martyrium Warschaus" entschuldigt Churchill seine Haltung Stalin gegenüber damit, „daß es Momente gibt, da des Hauptzieles halber furchtbare und sogar demütigende Zugeständnisse gemacht werden müssen", an ein Nachgeben im Kampf gegen Hitler dachte Churchill nicht.

Der russische Vorstoß auf dem Balkan Das Schwinden der Aussicht auf einen deutschen Sieg, der Umschwung in Italien und die russischen Heere vor den rumänischen Grenzen hatten einen Stimmungsumschwung in Rumänien hervorgerufen und König Michael veranlaßt, geheime Verbindungen mit den Westmächten aufzunehmen, während die rumänischen Kommunisten sich an Moskau wandten. Molotow erklärte am 2. April 1944, Rußland verlange nur die Rüdegabe von Bessarabien und würde sonst in die 868

Russischer Vorstoß auf dem Balkan inneren Verhältnisse des Landes nicht eingreifen. Als die Russen dann am 20. August einen Großangriff auf die deutsch-rumänische Front von der Dnjeprmündung bis Jassy unternahmen, wichen die rumänischen Verbände fast kampflos zurück. Die deutschen Truppen gerieten in völlige Verwirrung, großenteils kamen sie in russische Gefangenschaft, einige schlugen sich nach den Karpathen durch, andere fanden bei dem Ausweichen nach Westen Anschluß an die deutschen Verbände auf dem Balkan. König Michael entließ am 24. August Antonescu und befahl die Einstellung des Kampfes. Die Deutschen versuchten, strategisch wichtige Punkte und vor allem die ölfelder von Ploesti besetzt zu halten. Ein deutscher Luftangriff auf Bukarest veranlaßte die neue rumänische Regierung schon am 25. August Deutschland den Krieg zu erklären. Rumänische und russische Truppen entrissen den sich zäh verteidigenden Deutschen am 30. August das Erdölgebiet, ein sehr schwerer Schlag für die deutsche Kriegswirtschaft. Am gleichen Tag zogen die Russen in die Hauptstadt Bukarest und in die Hafenstadt Konstanza am Schwarzen Meer ein. Der rumänisch-russische Waffenstillstand wurde am 12. September in Moskau unterzeichnet. Die Russen besetzten Rumänien so schnell, daß die meisten deutschen Dienststellen und Truppen in Gefangenschaft gerieten. Bulgarien hatte ebenfalls versucht, Verbindung mit den Westmächten aufzunehmen und erträgliche Waffenstillstandsbedingungen zu erreichen. An dem Krieg gegen die Sowjetunion hatte es sich nicht beteiligt und hoffte deshalb von ihr als neutrales Land behandelt zu werden. Den Russen lag jedoch sehr viel daran, den Balkan mindestens bis zur griechischen Grenze vor den Westmächten in die Hand zu bekommen, und so erklärte Rußland am 5. September Bulgarien den Krieg. Vier Tage später übernahm ein rußlandfreundliches Ministerium die Regierung in Sofia, worauf die russische Besetzung ohne Widerstand erfolgte. Die Deutschen wurden großenteils gefangengenommen. Unter russischem Druck mußten sich die bulgarischen Armeen an den Kämpfen gegen die deutschen Truppen außerhalb Bulgariens beteiligen. Am 11. Oktober verzichtete die Regierung auf die Erwerbungen in Griechenland und Mazedonien, mit denen sich Hitler 1941 die bulgarische Hilfe im Krieg gegen Jugoslawien erkauft hatte, und unterzeichnete Ende Oktober den Waffenstillstand. Der Führer der jugoslawischen Partisanen, Tito, der sich seit November 1943 Marschall der Nationalen Befreiungsarmee nannte, hatte vom 12. bis 16. August 1944 in Neapel Besprechungen mit Churchill: „Tito versicherte, er habe, wie er bereits öffentlich erklärt hätte, keinen Wunsch, in Jugoslawien den Kommunismus einzuführen . . . Jugoslawien sollte in der Lage sein . . . sich in demokratischen Formen zu entwickeln"; über die Rückkehr König Peters müsse nach dem Krieg das Volk selber entscheiden. Churchill drängte auf die Einigung aller Jugoslawen zum Kampf gegen Deutschland und drohte mit der Einstellung der alliierten Lieferungen, falls sie „weniger zur Selbstverteidigung als zum Bruderzwist" verwendet würden. Tito sagte die Bildung eines Koalitionsministeriums zu und wurde von König Peter mit der alleinigen Führung des Widerstandes beauftragt. Der von den Partisanen wie von den Deutschen erbarmungslos und mit steigen869

Zweiter Weltkrieg — Rückzug auf deutsche Grenzen

dem Einsatz an Truppen geführte Kampf trat in ein neues Stadium, als am 6. September 1944 Tito an der rumänischen Grenze die Verbindung mit der russischen Armee herstellen konnte. Am 16. Oktober mußten die Deutschen Belgrad räumen. Die Lage der deutschen Truppen in Griechenland war im August 1944 unhaltbar geworden; auf Drängen der Heeresleitung befahl Hitler den Rüdezug. Von einigen Inseln konnten die deutschen Truppen nicht mehr abtransportiert werden. Der Peloponnes wurde bis zum 21. September geräumt, Athen am 12. und Saloniki am 31. Oktober. Anfang November war der Rückzug beendet. Das unwegsame Gelände und die ständigen Angriffe der Partisanen, besonders der kommunistischen Befreiungsarmee, hatten ihn ungeheuer erschwert. Auch Albanien und Serbien mußten aufgegeben werden, dann gelang es den aus den verschiedenen Kampfgebieten zurückgewichenen Truppen, in der Linie Mostar—Serajewo— Drina eine neue Front aufzubauen, die im wesentlichen bis zum Mai 1945 standhielt. Hitler zweifelte schon längere Zeit an Ungarns Bundestreue und hatte deshalb seit dem 19. März 1944 Budapest und die wichtigsten Punkte des Landes von deutschen Truppen besetzen lassen, eine Umbildung des Kabinetts erzwungen und an Stelle des deutschen Gesandten einen „deutschen Bevollmächtigten" eingesetzt. Reichsverweser Horthy mußte sich fügen, führte aber insgeheim Verhandlungen mit den Feinden, als nach dem Abfall Rumäniens russische Truppen die nicht besetzten Pässe der Südkarpathen überschritten, in Siebenbürgen und das Banat eindrangen. Die Deutschen mußten bis Ende Oktober von den Karpathen hinter die Theiß zurückgehen. Am 15. Oktober hatte Horthy, um dem Kampf auf ungarischem Boden ein Ende zu machen, über den Rundfunk bekanntgeben lassen, daß er die Sowjetunion um Waffenstillstand ersucht habe. Nun griff Hitler ein. Er zwang Horthy zum Widerruf, ließ ihn nach Deutschland in ein Konzentrationslager bringen und verhalf dem Führer der „Pfeilkreuzler", der ungarischen Faschisten, Ferenz Szalasi, als Ministerpräsident und „Staatsführer" zur Regierung, sein Anhang im Volk war freilich nur gering. Am 24. Dezember 1944 schlossen die Russen nach harten Kämpfen Budapest von allen Seiten ein. Einen Tag zuvor war der Oberbefehlshaber der ungarischen Wehrmacht, Generaloberst Béla Miklos, zu den Russen übergegangen und hatte eine neue Regierung gebildet. Sie Schloß am 20. Januar 1945 mit den Russen und den Westmächten einen Waffenstillstandsvertrag ab, in dem Ungarn auf alle Gebietserweiterungen der letzten Jahre verzichtete und die Zahlungen von Reparationen zusagte. Mit den deutschen Truppen ging die von Hitler eingesetzte Regierung Szalasi zurück, ihre Mitglieder wurden nach der Kapitulation im Mai großenteils an die neue kommunistische ungarische Regierung ausgeliefert und von ihr hingerichtet.

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Morgenthau-Plan und Konferenz von Jaita DAS E N D E Morgenthau-Plan

und Konferenz von Jaita

Schon am 10. bis 16. September 1944, als sich Churchill und Roosevelt in Quebec wieder über die Fortführung der Kämpfe in Europa und im Pazifik besprachen, war ein Plan für die Behandlung Deutschlands nach dem Siege vorgelegt worden. Der Urheber war Henry Morgenthau, der amerikanische Schatzkanzler. Morgenthau argumentierte: auf dem hohen Industriepotential beruhe die Stärke Deutschlands, es müsse deshalb aufgeteilt, seine Industrie zerstört und ihm nur die landwirtschaftliche Nutzung seines Bodens erlaubt werden. Churchill sprach sich dagegen aus, unterschrieb dann aber doch, weil England auf die amerikanische Hilfe unbedingt angewiesen war. Einige Tage später kamen Roosevelt ebenfalls Bedenken, er zog seine Unterschrift zurück. Von dem Morgenthauplan war aber soviel durch die Presse gegangen, daß Goebbels' Propaganda damit wie zuvor mit der Forderung der „bedingungslosen Kapitulation" (S. 837) den Widerstand des deutschen Volkes aufs äußerste anzuspornen vermocht hatte. Erst die vom 4. bis 11. Februar 1945 tagende Konferenz von Jaita entschied endgültig über das künftige Schicksal Deutschlands. Der totkranke Roosevelt, Churchill und Stalin besprachen in dem stark zerstörten Ort auf der Krim erneut Kriegs- und Nachkriegsprobleme. Seit der Konferenz von Teheran Ende November 1943 war der Sieg der Alliierten in greifbare Nähe gerückt. Die Engländer und Amerikaner standen am Rhein, die Russen an der Oder; Frankreich, Belgien und Polen waren frei. Roosevelt und Churchill hatten die Überzeugung gewonnen, daß sie zum Sieg über Deutschland und Japan unbedingt die Hilfe der Sowjetunion benötigten und gaben deshalb Stalins Forderungen nach. Verhandlungen mit einer Hitler-Regierung lehnten alle drei Staatsmänner ab. Die schon in Teheran besprochene Aufteilung Deutschlands in kleine Staaten wurde grundsätzlich angenommen, eine genaue Festlegung im einzelnen wieder vertagt, denn zunächst müsse Deutschland militärisch besetzt bleiben, damit die völlige Vernichtung des Nationalsozialismus, Militarismus und der Wehrwirtschaft durchgeführt werden könne. Auf Churchills Wunsch, auch Frankreich eine Besatzungszone und einen Sitz im Kontrollrat anzuweisen, ging Roosevelt sofort ein; Stalin, obwohl er mit de Gaulle am 10. Dezember 1944 in Moskau einen französisch-sowjetischen Pakt abgeschlossen hatte, widersprach zunächst einer Beteiligung Frankreichs, das im Krieg gegen Deutschland zu wenig geleistet habe, ließ sich aber dann von Churchill überzeugen, daß ein starkes Frankreich an Deutschlands Grenze eine Notwendigkeit sei. Die von Deutschland zu zahlenden Reparationen wurden, wie Rußland verlangte, auf 20 Milliarden Dollar festgesetzt; die Hälfte davon sollte den Russen zufallen. Churchill hielt nach den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs diese Summe für viel zu hoch, infolge der Demontage der deutschen Industrie würden die Deutschen hungern und „einem Pferd, das einem den Wagen ziehen solle, müsse man auch ein wenig Hafer geben". 871

Zweiter Weltkrieg — Das Ende Stalin bemerkte darauf, man müsse sich vorsehen, daß einen das Pferd nicht schlage. Ein schwieriges Konferenzthema bildeten Polens neue Regierung und Grenzen. Hier verstanden sich die Russen zu einem „Kompromiß"; die von ihnen geförderte kommunistische provisorische Regierung in Lublin sollte durch Mitglieder der bürgerlichen Londoner Exilregierung erweitert werden, und dann sollten freie Wahlen für eine endgültige Regierung stattfinden; der Ostgrenze Polens sollte die Curzonlinie zugrunde gelegt werden; als Westgrenze schlug Stalin die OderNeiße-Linie vor. Gegen eine Ausdehnung des polnischen Gebietes bis zur Neiße sträubten sich Roosevelt und Churchill. Auch sie wollten Polen im Norden und Westen beträchtlichen Gebietszuwachs und die Aussiedlung der dort lebenden Deutschen zugestehen, aber „es wäre höchst bedauerlich", sagte Churchill, „wenn man die polnische Gans dermaßen mit deutschem Futter mäste, daß sie an Verdauungsbeschwerden einginge". Trotz ihrer Bedenken konnten Roosevelt und Churchill nur durchsetzen, daß „die endgültige Ziehung der Westgrenze Polens der Friedenskonferenz vorbehalten bleibt". Für Jugoslawien einigten sich die drei Staatsmänner auf eine Regierung Titos, die wie die polnische durch Mitglieder der Londoner Exilregierung erweitert werden sollte. Die Konferenz befaßte sich auch mit der Gründung der „Vereinten Nationen". Auf der Konferenz von Dumbarton Oaks vom 21. August bis 26. September 1944 hatte Sowjetrußland bereits seine Zustimmung zu dieser Organisation als Ersatz für den Genfer Völkerbund gegeben. Über Einzelheiten, vor allem über die Wahrung der Vorrechte der großen Nationen im Verhältnis zu der Vielzahl der kleinen, einigte man sich nicht, doch wurde beschlossen, daß für den 25. April 1945 die Gründungsversammlung der neuen Weltorganisation einberufen werde; die Sowjetunion sollte mit drei Stimmen vertreten sein, indem die Ukraine und Weißrußland zusätzlich Stimmrecht erhielten. Schließlich versprach Stalin die Beteiligung am Krieg gegen Japan, wofür der Sowjetunion die Rückgabe des Südteils von Sachalin, Abtretung der Kurilen, Dairen (Port Arthur) als sowjetische Flottenbasis, Aufrechterhaltung des Status quo in der Äußeren Mongolei und Anrechte in der Innenmongolei zugestanden wurden. Die Konferenz endete sehr freundschaftlich. „Alles hing jetzt", schreibt Churchill, „von dem Geist ab, in dem sie (die Abmachungen) ausgeführt wurden". Amerikanische und englische Staatsmänner hegten erhebliche Zweifel, ob ein Zusammengehen mit der Sowjetunion auf die Dauer möglich sein werde. Der amerikanische Botschafter in Moskau, Avereil Harriman, erkannte schon damals, daß für die Russen „freundliche" und „unabhängige" Regierungen in den ihnen benachbarten Staaten etwas ganz anderes bedeuteten als für den Westen. In seinen Memoiren schreibt Churchill: „Heute, da die Deutschen geschlagen sind, ist es leicht, diejenigen zu verurteilen, die ihr Bestes taten, die Russen bei der Stange zu halten und das gute Einvernehmen mit diesem großen Verbündeten, der so furchtbar gelitten hatte, zu wahren . . . Unsere optimistischen Annahmen sollten nur zu bald Lügen gestraft werden, dennoch waren sie in der damaligen 872

Zusammenbrudi der deutschen Ostverteidigung. Fliiditlingstredcs Zeit die einzig möglichen." Wie dem audi sei, jedenfalls hat Churchills entschiedener Einspruch sowohl den endgültigen Beschluß zur Zerstückelung Deutschlands wie zur Festlegung seiner Ostgrenze verhindert. Der Schlußbericht über die Konferenz von Jaita enthielt den Satz: „Das nationalsozialistische Deutschland ist dem Untergang geweiht. Dem deutschen Volk wird seine Niederlage nur noch teurer zu stehen kommen, wenn es versucht, einen hoffnungslosen Widerstand fortzusetzen." Gerade darauf bestand Hitler.

Der Zusammenbrudi

der deutschen Verteidigung im Osten. Die Flüchtlingstrecks

Nach Beendigung der russischen Sommeroffensive herrschte an der Ostfront verhältnismäßige Ruhe. Der deutsche Generalstab erkannte klar und rechtzeitig die ungeheuren Vorbereitungen der Russen zu ihrem letzten, entscheidenden Angriff. Das Kräfteverhältnis ließ die deutsche Lage von vornherein fast aussichtslos erscheinen, es galt nur, den Stoß nach Möglichkeit zu mildern, aber Hitlers starrsinniger Optimismus verhinderte alle wirksamen Schutzmaßnahmen: den Ausbau von hinreichenden Auffangstellungen, die Zusammenziehung von Reserven, vor allem die Zurückverlegung der Front auf leichter zu verteidigende Linien und der Divisionen von den militärisch wertlos gewordenen Außenposten wie Kurland und Norwegen. Im höchsten Grad unverantwortlich war Hitlers Verbot, die Zivilbevölkerung schon jetzt aus den bedrohten Gebieten zu evakuieren. Dieses Versäumnis führte zu dem unvorstellbaren Elend der Flüchtlingstrecks. Die russische Offensive hatte durchschlagenden Erfolg. Sie begann südlich Warschau am 12. Januar 1945 und setzte dann auf der ganzen Linie zwischen Ostsee und Karpathen ein. Im Süden bildete das Hauptziel der Russen das oberschlesische Industriegebiet, das für Deutschland nach den Zerstörungen im Ruhrgebiet lebenswichtig war, im Norden die Lostrennung Ostpreußens. Die Leiden der ostdeutschen Bevölkerung beim Vordringen der Russen waren entsetzlich. Etwa 5 Millionen versuchten trotz der strengen Kälte und trotz des Mangels an Verkehrsmitteln die Flucht nach Westen in langen Trecks, mit Gespannen und zu Fuß. Tausende von Frauen, Kindern und Alten kamen durch die Strapazen um, Mütter verloren ihre Kinder, Kranke blieben hilflos zurück. Tausende wurden ein Opfer der Russen, welche auf ihrem schnellen Vormarsch die Elendszüge überholten, und ernteten den Haß, den der Nationalsozialismus in der Welt gesät hatte. Jammervoll war auch das Schicksal der Zurückgebliebenen unter der russischen Besatzung. Systematisch hatte man bei den russischen Soldaten die Brutalität, die einer kämpfenden Truppe immer bis zu einem gewissen Grade eigen ist, durch eine unzweideutig offene Propaganda hochgepeitscht zu dem Gefühl, daß Mord, Vergewaltigung, Plünderung und Brand nicht nur geduldet, sondern gar erwünscht und befohlen seien als gerechte Rache an den Untaten des Nationalsozialismus. 873

Zweiter Weltkrieg — Das Ende Dazu kamen zahlreiche Erschießungen von Zivilpersonen, die — oft zu Unrecht — als nationalsozialistische Parteifunktionäre angesehen wurden, von Gutsbesitzern, die russische Gefangene beschäftigt hatten und von Menschen, die sonstwie denunziert wurden. Über 200 000 Zivilpersonen wurden als Zwangsarbeiter nach Rußland verschleppt, von denen viele schon auf dem Transport, dann infolge der schweren Arbeit und der unzureichenden Verpflegung elend zugrunde gingen. Sehr groß war die Zahl der Deutschen, die sich allein oder mit der ganzen Familie aus Furcht vor den Russen selber töteten. Offensichtlich sollte die Rote Armee Furcht und Schrecken verbreiten, damit möglichst viele Deutsche flohen und die in Jaita beschlossene Umsiedlung aller Deutschen aus den sowjetisch und polnisch besetzten Gebieten erleichtert würde. Viele wollten jedoch ihre Heimat nicht aufgeben, ein Teil der Geflüchteten kehrte sogar wieder zurück, so daß im Sommer 1945 noch über 5 % Millionen Deutsche jenseits der Oder-Neiße-Linie lebten. Die Übergriffe der russischen Soldaten in dem Raum, der dann die Sowjetzone wurde, waren immer noch furchtbar, aber nicht mehr so massenhaft, da nun von der russischen Führung her mit mehr oder weniger Erfolg dagegen eingeschritten wurde, um die Disziplin in der Armee aufrechterhalten zu können; eine merkbare Erleichterung für die deutsche Zivilbevölkerung trat aber erst nach dem Waffenstillstand ein. Bis Ende Januar hatten die Russen das oberschlesische Industriegebiet erreicht und Ostpreußen abgeschnitten. Ihr Vormarsch ging unaufhaltsam weiter, obwohl die deutschen Truppen auch jetzt noch Übermenschliches leisteten. Immer wieder schlossen sich die zersprengten, erschöpften Abteilungen zu neuem Widerstand zusammen, um den Flüchtlingen eine Möglichkeit des Entkommens zu bieten. Manche Not der Truppen wie der Zivilbevölkerung hätten die Generale wohl mildern können, wenn sie nicht durch Hitlers unsinnige Befehle daran gehindert worden wären. Eine Reihe verdienter Offiziere wurde abgesetzt, degradiert, erschossen, weil sie nach eigenem Ermessen zu retten trachteten, was noch zu retten war. Am 25. Januar 1945 setzte sich Guderian mit Ribbentrop in Verbindung, das Auswärtige Amt solle versuchen, „bei den Westgegnern vielleicht so viel Verständnis für die Gefahren, die mit einem Vordringen der Russen nach Deutschland hinein und vielleicht sogar durch Deutschland hindurch verbunden waren, zu finden, daß sie . . . uns unter Preisgabe des Westens an die Westmächte die Verteidigung des Ostens mit dem Rest unserer Kraft gestatten" würden. Ribbentrop lehnte „als ein getreuer Gefolgsmann des Führers" ab, und Hitler, der von dieser Unterredung erfuhr, nannte die Bemühungen seines Generalstabschefs Landesverrat. Hitler befahl nun die Verteidigung jeder Stadt, als ob sie eine Festung wäre. Die Russen ließen sich dadurch in ihrem Vormarsch nicht aufhalten, sie hatten hinreichend Truppen, die für die Belagerung und Einnahme der Städte zurückbleiben konnten. Goebbels stärkte über den Rundfunk den Kampfwillen der Eingeschlossenen mit Versprechungen von baldigem Entsatz durch neu aufgestellte Divisionen, von einer Wendung des Krieges durch die Wunderwaffen, die 874

Zusammenbrudi der deutschen Ostverteidigung. Flüchtlingstredcs nun einsatzbereit wären, und von dem sicheren Endsieg, den das Genie des Führers erzwingen werde. Besonders furchtbar gestalteten sich die Kämpfe und Leiden in dem am 15. Februar 1945 eingeschlossenen Breslau. Die Besatzung und der Rest der Bevölkerung kämpften, angefeuert von Gauleiter Hanke, der sich gegen Ende mit einem Flugzeug in Sicherheit brachte, um jede Straße und um jedes Haus und ergaben sich erst, als der Tag der Kapitulation am 9. Mai die letzte Hoffnung nahm. Anfang März waren die abgekämpften deutschen Soldaten südlich Oppeln über die Oder zurückgedrängt, dann bog die Front scharf nach Westen ab, die Sudeten entlang bis hinter die Neiße bei Görlitz, nach der Neiße-Mündung in die Oder verlief die Front bis Stettin auf dem linken Oderufer. In Ostpreußen, Westpreußen und Pommern wurden Teile der Truppen abgeschnitten und auf immer engeren Raum bei Königsberg, bei Danzig und bei Kolberg zusammengedrängt. Ihr Aushalten ermöglichte einem großen Teil der Zivilbevölkerung die Flucht über die Ostsee, aber manchesmal trafen das rettende Schiff noch Fliegerbomben, U-Boot-Torpedos oder es lief auf eine Mine. Erschütternd waren der Untergang des für die Organisation „Kraft durch Freude" gebauten Schiffes „Wilhelm Gustloff" am 30. Januar 1945, den nur etwa 900 der 5000 Danziger Flüchtlinge überlebten, und des Passagierdampfers „Goya" in der Nacht vom 16. zum 17. April mit 6000—7000 Soldaten und Flüchtlingen, von denen nur 165 Menschen gerettet wurden. Am 24. März bot der russische Marschall Rokossowski den Garnisonen Danzig und Gdingen die Kapitulation an; Hitler befahl, jeden Quadratmeter des Raumes Danzig—Gotenhafen zu verteidigen. Das „war das Todesurteil für Danzig. Schweres Artilleriefeuer lag auf der Stadt, zweimotorige russische Bomber warfen ihre Spreng- und Brandbomben in die engen Straßen. Mehrere Tage lang stand eine Wand aus Rauch und Feuer 4000 bis 5000 Meter hoch über Danzig" (Hofer). Königsberg hatten die Russen am 31. Januar eingeschlossen. In Samland, auf der Frischen Nehrung und zuletzt auf der Halbinsel Heia kämpften die Reste der deutschen Truppen unter General von Saucken trotz unsäglicher Leiden, um den Abtransport der Flüchtlingsmassen zu ermöglichen, in die russische Flieger erbarmungslos ihre Bomben warfen. Gauleiter Koch, der die Schuld an der verspäteten Evakuierung der Zivilbevölkerung trug, verließ Königsberg schon Ende Januar, kam aber von Zeit zu Zeit mit einem Sportflugzeug in die Stadt. Kreisleiter Wagner erließ heroische Aufrufe, so den vom 1. März: „Wer seine Waffe oder Panzerfaust im Stiche läßt und vor dem Feinde aus der Hand legt, ist ein Verräter und muß sterben . . . Kämpft wie Indianer und schlagt Euch wie Löwen! Seid listig! . . . Zurückgegangen wird nicht! Wer nicht kämpfen will und abhaut, wird umgelegt! Schlagt jeden Feigling, Klugscheißer und Pessimisten! . . . Der Führer sagt: ,Das letzte Bataillon auf dem Schlachtfeld wird ein deutsches sein.1 Wir wollen die Kraft und den Stolz besitzen, uns zu diesem Bataillon zählen zu dürfen. Volkssturmmänner! Uns geht die Sonne nicht unter. Heil unserm Führer!" Als am 12. April der Kommandant von Königsberg, General Lasch, den furchtbaren Leiden der Belagerten durch Ubergabe ein Ende machte, versicherte Koch

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Zweiter Weltkrieg — Das Ende in einem Telegramm an Hitler, das hätte nur geschehen können, weil er selber zufällig nicht anwesend gewesen sei. Hitler verurteilte General Lasch in Abwesenheit zum Tode und ließ über seine Familie die Sippenhaft verhängen. Ende April floh Koch auf einem seit Monaten für ihn bereitgestellten Eisbrecher nach Dänemark und brachte sein Leben in Sicherheit. General von Saucken ergab sich mit den letzten 60 000 Soldaten und Flüchtlingen erst am 9. Mai 1945.

Die Besetzung Deutschlands durch dieWestmächte.

Verzicht auf Besetzung Berlins

Im Westen begannen die Franzosen am 20. Januar 1945 den Angriff gegen den Brückenkopf um Kolmar, konnten ihn aber erst mit Hilfe von vier amerikanischen Divisionen nach heftigen Kämpfen zunächst aufspalten, dann bis zum 9. Februar die deutschen Truppen südlich Straßburg über den Rhein drängen. Eisenhower, Oberbefehlshaber der alliierten Invasionsarmeen, schätzte den deutschen Widerstand, vor allem auf Grund der Ardennenoffensive, immer noch sehr hoch ein; deshalb wollte er den Rheinübergang erst wagen, wenn das ganze linke Ufer fest in der Hand der Alliierten sei. Am 8. Februar begann Montgomerys Angriff am Niederrhein, er stieß auf hartnäckigen Widerstand, erst am 27. Februar erreichten seine Truppen den Rhein nördlich Calcar. Die Amerikaner nahmen Anfang März Mönchen-Gladbach, Neuß, Trier und Köln. Bei Geldern trafen die beiden Heeresgruppen zusammen. Hitler hatte mit der Begründung, der Kohlentransport aus dem Ruhrgebiet auf dem Wasserweg müsse erhalten bleiben, die rechtzeitige Räumung des linken Rheinufers verboten und förderte damit Eisenhowers Absicht, möglichst starke Kräfte westlich des Rheins zu vernichten. Die Deutschen sollten die Rheinbrücken beim Rückzug sprengen, eine schwierige Aufgabe, denn wegen der andauernden Bombardierungen aus der Luft durften die Sprengladungen nicht zu früh angebracht werden, um zu verhindern, daß ein Zufallstreffer den deutschen Truppen den Rückzugsweg zerstöre. So fanden schnell vorstoßende amerikanische Panzer am 7. März die Brücke bei Remagen fast unversehrt vor. Die an der Sprengung arbeitenden Landsturmmänner hatten wenig Material, an einigen Stellen versagte auch die Zündung, nur ein Pfeiler wurde beschädigt, die Brücke blieb benutzbar; so konnten die amerikanischen Panzer auf dem rechten Rheinufer einen Brückenkopf bilden, gegen den rasch herbeigeführte deutsche Verbände vergeblich anrannten. Hitler war außer sich vor Wut und ernannte ein „Fliegendes Standgericht West" unter Generalleutnant Hübner mit weitgehenden Vollmachten. Es verurteilte fünf Offiziere wegen „Versagen" oder „Feigheit" zum Tod und ließ sie sofort erschießen. Artillerie und Fliegerangriffe brachten am 17. März die Eisenbahnbrücke von Remagen zum Einsturz, aber die Amerikaner hatten den Brückenkopf bereits fest in der Hand und eine Behelfsbrücke gebaut. Rundstedt wurde als Oberbefehlshaber West abgesetzt; an seine Stelle trat Kesselring. 876

Besetzung Deutschlands durch die Westmächte Nach umfassenden Vorbereitungen — Bereitstellung von allem nötigen Material und Luftangriffen, die den Verkehr hinter den deutschen Stellungen völlig lahm legten — begann am 24. März die Heeresgruppe Montgomerys den Ubergang über den Rhein bei Wesel. Luftlandetruppen erleichterten die Bildung des Brückenkopfes. Für die Verteidigung des Ruhrgebietes standen noch 21 Divisionen unter Feldmarschall Model bereit. Hitlers Befehl zwang sie zu sinnlosem Widerstand in dem immer noch dicht bevölkerten und ohnehin schon entsetzlich zerstörten Gebiet. Am 1. April war der Ruhrkessel von allen Seiten eingeschlossen, 14 Tage später drangen amerikanische Truppen in Richtung auf Hagen von Norden und Süden vor, sie spalteten die deutsche Verteidigung in zwei Teile. Am 18. April erlosch hier der letzte Widerstand: 325 000 Mann kamen in Gefangenschaft, Feldmarschall Model erschoß sich. Die Besetzung des übrigen Norddeutschland ging schnell vor sich, am Harz wurde eine sich hartnäckig verteidigende deutsche Armee eingeschlossen. Bei Bremen kam es noch zu heftigeren Kämpfen, am 26. April nahmen es die Engländer ein. Die in der „Festung Holland" abgeschnittenen Truppen ergaben sich erst bei der Gesamtkapitulation. Der Rheinübergang der amerikanischen und französischen Armeen hatte keine so großen Schwierigkeiten zu überwinden wie der auf dem nördlichen Teil der Front sowohl wegen des bereits gewonnenen Brückenkopfes bei Remagen als auch wegen des weit weniger geschlossenen Widerstandes der erschöpften deutschen Armeen, deren Lücken nur noch mit Volkssturm, Oberschülern und Bodenpersonal der Luftwaffe aufgefüllt werden konnten. Trotzdem stellten sich die Truppen, Hitlers Befehl getreu, immer wieder zum Kampf, vermochten sich aber gegen den überlegenen Feind nur selten zu behaupten. Der nördliche amerikanische Stoßkeil drang über Hanau nach Eisenach, Erfurt, Chemnitz vor, der südliche französische über den Schwarzwald zum Bodensee und nach Vorarlberg. Die Armeen dazwischen besetzten Baden und Württemberg und drängten die deutschen Truppen über die Donau, hinter der sie sich noch einmal zu sammeln versuchten. Um Nürnberg, die Stadt so vieler prunkvoller Parteitage, wurde fünf Tage erbittert gerungen, am 20. April zogen die Amerikaner ein. München, die „Hauptstadt der Bewegung", ergab sich kampflos am 30. April. Uber GarmischPartenkirchen zogen amerikanische Truppen nach Innsbruck, trafen sich am Brenner mit den von Italien herankommenden, besetzten Tirol und Oberösterreich. Weitere amerikanische Einheiten rückten von Regensburg bis zum Inn und zur unteren Enns vor, wo sie dann auf die Russen stießen. Auf einer Linie Budweis— Pilsen—Karlsbad—Chemnitz besetzten Amerikaner noch die westliche Tschechoslowakei. Einige deutsche Verbände hielten sich in den Alpen. In Hitlers Erwägungen hatte die „Alpenfestung" als letzte, schwer angreifbare Zuflucht lange eine Rolle gespielt, aber es waren dort weder Kriegsmaterial noch Lebensmittelvorräte für diesen Zweck gestapelt worden. Die Alpenfestung war also nur ein „Hitlersches Hirngespinst", trotzdem haben „viele deutsche Verbände, von urteilsfähigen Offizieren geführt, an diese Alpenfestung geglaubt, haben sich durch schwierigste Lagen hindurchgekämpft, um ihre Truppen in diese Festung retten zu können" (Halder). Sie mußten sich nach und nach alle den Feinden ergeben. 877

Zweiter Weltkrieg — Das Ende Zwischen Wittenberge an der Elbe und Leipzig, das am 19. April amerikanische Trappen unter Montgomerys Befehl nahmen, sammelte sich eine neue deutsche Armee unter General Wenck. Sie bestand aus den letzten Reserven an kampffähigen Männern, Fahnenjunkern, jungen Leuten der SS-Junkerschulen und des Reichsarbeitsdienstes. Hitlers phantastische Idee, mit dieser noch unfertigen Armee das Ruhrgebiet zu befreien, war ganz irreal. Wende setzte seine Leute zuerst gegen die Amerikaner ein, da er nicht wissen konnte, daß die Alliierten schon längst die Demarkationslinie ihrer Besatzungszonen abgemacht hatten, und daß Eisenhower befohlen hatte, nach Erreichung dieser Linie an der mittleren Elbe stehen zu bleiben. Churchill hatte vergebens versucht, Eisenhower die politische Bedeutung der Besetzung Berlins durch die Westmächte vor den Russen klarzulegen. Die westlichen Alliierten müßten so weit wie möglich nach Osten vorstoßen, die Russen würden jetzt bald Wien einnehmen, schrieb Churchill am 31. März 1945 an Eisenhower: „Wenn wir ihnen jetzt Berlin freiwillig überlassen, obschon es in unserer Reichweite liegt, dann mag dieses Doppelereignis ihre jetzt schon offensichtliche Uberzeugung stärken, alles allein geleistet zu haben. Auch bin ich persönlich nicht der Ansicht, daß Berlin seine militärische und schon gar nicht seine politische Bedeutung verloren hat." Eisenhower stellte sich jedoch auf den rein militärischen Standpunkt, keinerlei Risiko durch zu schnellen Vormarsch auf sich zu nehmen, denn er war sich darüber nicht klar, welche Kräfte hinter dem zähen deutschen Widerstand noch steckten. Der amerikanische General Bradley meinte, ein schneller Vorstoß auf Berlin würde den alliierten Armeen noch etwa 100 000 Mann an Toten und Verwundeten kosten: „Ein netter Preis für ein Prestigeziel, besonders wenn wir dann genötigt sind, zurückzugehen und es dem andern Kerl (Stalin) zu überlassen."

Verlust Österreichs und

Norditaliens

Hitler bemühte sich, die letzten verfügbaren Ölquellen in Westungarn und Österreich auf jeden Fall zu halten. Er sandte Panzerdivisionen, auch von schwer bedrohten Frontabschnitten, nach Ungarn, um im Gegenangriff die Donaulinie zurückzugewinnen und Budapest zu entsetzen. Der am 9. März begonnene Angriff beiderseits des Plattensees blieb nach einigen Anfangserfolgen stecken. „Nun versagte auch die bis dahin gute Kampfmoral der SS-Divisionen. Unter dem Schutz der noch immer tapfer kämpfenden Panzer gingen ganze Einheiten geschlossen entgegen ihrem Befehl zurück . . . Hitler geriet in einen fürchterlichen Zorn und befahl, den Divisionen, darunter seiner Leibstandarte, die Ärmelstreifen mit ihrem Namen abzureißen" (Guderian). Gegen Ende März drängten die Russen die durch den letzten Angriff weiter geschwächten deutschen Divisionen über die österreichische Grenze auf Wien zurück, das nach schweren Straßenkämpfen am 13. April preisgegeben werden mußte. Ohne noch größeren Widerstand zu finden, stießen die Russen beider878

Untergang der Hochseeflotte seits der Donau nach Westen vor, die Deutschen wichen teils nadi BöhmenMähren aus, wo Feldmarschall Schömer mit seiner Heeresgruppe noch standhielt, teils in die Alpen. Auf der Linie Linz—Budweis trafen die Russen mit den inzwischen bis dahin vorgerückten Amerikanern zusammen. An der italienischen Front begann der Großangriff der Alliierten am 9. April 1945 im Raum von Bologna. Am 20. gelang ihnen der Durchbruch zum Po, über den sich die deutschen Truppen unter Zurücklassung des gesamten Kriegsmaterials retteten. Der Rückzug bis zum Südabhang der Alpen vollzog sich ruhiger, weil die Engländer vor allem nach Triest, Pola, Kärnten und Steiermark vordrangen, um den russischen Einfluß auf Tito und dessen Streben nach italienischen Gebieten eindämmen zu können. Amerikanische Armeen besetzten Genua und Mailand. Uberzeugt von der Aussichtslosigkeit der Lage und bemüht, das besetzte Land zu schonen, hatte der Befehlshaber der SS-Streitkräfte in Italien, Kurt Wolff, schon während des März in der Schweiz Besprechungen mit den Alliierten über die Kapitulation der in Italien stehenden Truppen begonnen. Die hierüber von Churchill korrekt unterrichteten Russen äußerten in beleidigenden Briefen an Roosevelt und Churchill ihre Unzufriedenheit. Sie argwöhnten, die Engländer und Amerikaner wollten sich mit dem Versprechen erleichterter Friedensbedingungen den unbehinderten Vormarsch nach Osten erkaufen. Der Streit zwischen den Verbündeten wurde indes bald beigelegt, da die Verhandlungen mit Wolff ohnehin in den Anfängen stecken blieben. Am 29. April Schloß dann Generaloberst von Vietinghoff, der seit dem 19. März den Oberbefehl in Italien führte, den Vertrag über die Kapitulation der ihm unterstellten Truppen ab; am 2. Mai trat das Abkommen in Kraft. Der nach dem Vormarsch der Alliierten in die Poebene ausgebrochene, von Partisanen geführte Volksaufstand richtete sich weniger gegen die deutschen Truppen als gegen die Faschisten, unter denen ein furchtbares Blutbad angerichtet wurde. Mussolini versuchte sich Ende April auf Schweizer Gebiet zu retten; in dem Dorf Dongo bei Como erkannten ihn kommunistische Partisanen, erschossen ihn und seine Geliebte. Ihre aufgehängten Leichname stellten sie in Mailand zur Schau. Die beträchtlichen Gelder und Kostbarkeiten, die Mussolini bei sich hatte, sind seither verschollen.

Der Untergang der Hochseeflotte Die leichten deutschen Seestreitkräfte in den französischen Häfen waren bei der Landung der Alliierten im Sommer 1944 fast alle verlorengegangen. Die Reste der deutschen Hochseeflotte hatten zunächst von norwegischen Häfen aus die feindlichen Geleitzüge nach Rußland angegriffen, wobei im Dezember 1943 die Engländer das Schlachtschiff „Scharnhorst" versenkten. Die übrigen großen Schiffe außer der „Tirpitz" kehrten in die Ostsee zurück, dienten meist als Ausbildungsschiffe und wurden, als im Herbst 1944 die in Kronstadt liegende russische Flotte wieder freie Ausfahrt aus dem Finnischen Meerbusen hatte, in der 879

Zweiter Weltkrieg — Das Ende Ostsee zur Überwachung der russischen Flotte eingesetzt. Sie beteiligte sich dann freilich nicht am Krieg. Die „Tirpitz", das Schwesterschiff der „Bismarck" (S. 813), •empfanden die Engländer als große Gefahr und griffen sie seit ihrem Erscheinen in den norwegischen Gewässern fortwährend an. Klein-U-Boote beschädigten die „Tirpitz" am 22. September 1944 im Altafjord schwer, am 12. November brachten sie Spezial-Fliegerbomben im Tromsöfjord zum Kentern. In den letzten Monaten des Krieges fielen Schiff um Schiff, nachdem sie in der Ostsee bei der Evakuierung von Soldaten und Flüchtlingen gute Dienste geleistet hatten, Luftangriffen zum Opfer. Bei der Kapitulation im Mai 1945 waren allein der schwere Kreuzer „Prinz Eugen" und der leichte Kreuzer „Nürnberg" noch einsatzfähig.

Höhepunkt des

Bombenkrieges

In den letzten Monaten des Krieges wirkten sich die feindlichen Luftangriffe immer verheerender aus; infolge des immer katastrophaleren Benzinmangels hatte die deutsche Luftwaffe kaum noch die Möglichkeit zum Eingreifen, obwohl sich der neue Düsenjägertyp den feindlichen Flugzeugen gegenüber bewährte. Den Bombenangriffen fielen jedesmal Tausende von Menschen zum Opfer; dazu die unersetzlichen Kunstdenkmäler von Städten wie Würzburg, Hildesheim, Braunschweig und noch am 14./15. April Potsdam. Der Eisenbahnverkehr kam fast ganz zum Erliegen und damit auch die Produktion, der keine Rohstoffe mehr zugingen und die ihre Fertigware nicht mehr verschicken konnte. Am 13./14. Februar vernichteten die Engländer und Amerikaner auf Ersuchen der Russen, die sich von der Ausschaltung des wichtigen Eisenbahnknotenpunktes Dresden zugunsten ihrer Offensive eine Behinderung der deutschen Truppenverschiebungen versprachen, die Innenstadt von Dresden. Eine Unmasse von Flüchtlingen aus den Ostgebieten, die sich in den Straßen von Dresden zusammengedrängt hatten, kamen um. Goebbels schlug daraufhin Hitler vor, die Genfer Konvention aufzukündigen. Hitler war sofort dazu bereit mit der Begründung, daß die Soldaten, die dann als Gefangene keine gute Behandlung mehr bei den Westmächten zu erwarten hätten, sich weniger bereitwillig den Feinden ergeben würden. Nur mit Mühe konnte Hitler von der Ausführung des Goebbelsschen Vorschlags abgebracht werden.

Hitler in Berlin. Der

Zerstörungsbefehl

Während im Osten, Westen und Süden die Russen, Engländer und Amerikaner unaufhaltsam vordrangen, saß Hider, der Mitte Januar 1945 nach Berlin zurückgekehrt war, in der zunächst wenig zerstörten Reichskanzlei, dann in dem dazugehörigen, sorgfältig ausgebauten Bunker. Uber sein Leben während der letzten Wochen des Krieges sind wir durch verschiedene mehr oder weniger authentische Werke unterrichtet.

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Hitler in Berlin. Der Zerstörungsbefehl Der Ring um Berlin war noch nicht ganz geschlossen, doch standen russische Truppen schon in den östlichen Außenbezirken, als Hitler am 20. April seinen 56. Geburtstag feierte. Zum letzten Male versammelten sich im Bunker die Großen der Partei zur Gratulation. Am Abend zuvor hatte Goebbels im Rundfunk eine überschwengliche Lobrede auf Hitler gehalten: „Wenn Deutschland heute noch lebt, wenn Europa und mit ihm das gesittete Abendland noch nicht ganz im Strudel des Abgrunds versunken ist — sie haben es ihm allein zu verdanken. Denn er wird der Mann dieses Jahrhunderts sein . . . Die perverse Koalition zwischen Plutokratie und Bolschewismus ist im Zerbrechen. Das Haupt der feindlichen Verschwörung (Roosevelt) ist vom Schicksal zerschmettert worden . . . Noch einmal stürmen die Heere der feindlichen Mächte gegen unsere Verteidigungsfronten an. Hinter ihnen geifert als Einpeitscher das internationale Judentum, das keinen Frieden will, bis es sein satanisches Ziel der Zerstörung der Welt erreicht hat. Aber es wird vergeblich sein. Gott wird Lucifer wieder in den Abgrund zurückschleudern, aus dem er gekommen ist. Ein Mann von wahrhaft säkularer Größe, von einem Mut ohnegleichen wird dabei sein Werkzeug sein." Dieser Mann, Hitler, war jetzt nach übereinstimmender Aussage derer, die ihn sahen, ein gebeugter, zitternder Greis mit heiserer Stimme und stumpfen Augen, der zwischen Wutausbrüchen, Optimismus, Verzweiflung haltlos schwankte und sich bewußt der Wirklichkeit verschloß. Er wollte nicht wahrhaben, daß die am Feind stehenden Divisionen oft weniger als die Hälfte des normalen Mannschaftsbestandes hatten, daß sie schlecht ausgerüstet, zu Tode erschöpft und mit unzureichend augebildeten Ersatzmannschaften durchsetzt waren. Hitler hat sich die ganze Zeit geweigert, eine von Bomben zerstörte Stadt zu besuchen, wozu ihn Goebbels immer wieder bewegen wollte. Auch in den letzten Wochen ging er, wenn er überhaupt den Bunker verließ, aus dem Garten der Reichskanzlei nicht hinaus. Er vermied das verwüstete, brennende Berlin und die in Kellerlöchern hausende Bevölkerung zu sehen. Er setzte noch täglich die Lagebesprechungen mit seinem Generalstab fort, gab Angriffsbefehle für Divisionen, die nicht mehr oder nur aus sich mühsam gegen eine feindliche Übermacht verteidigenden Resten bestanden, verbot weiterhin jeden Rückzug, ließ die Divisionen in Kurland und Norwegen zu nutzloser Verteidigung stehen, weil er sie später dort, wenn er wieder zur Offensive übergehe, brauche. Die letzte erhaltene Lagebesprechung vom 23. März 1945, als die Russen schon an der Oder standen und die Westalliierten den Rhein überschritten, macht einen wirren Eindruck. Statt klarer Aussprache über die notwendigen Schritte, die in dieser höchsten Gefahr anzuordnen waren, fanden weitschweifige Diskussionen über Nebensächlichkeiten statt. In Hitlers Umgebung standen um diese Zeit Martin Bormann und Goebbels im Vordergrund, ihr Einfluß, soweit Hitler sich überhaupt beeinflussen ließ, war gleich unheilvoll, weil beide dauernd zu schärferen Maßnahmen drängten. Bormann machte sich Hitler immer unentbehrlicher. Seit er den Platz von Heß eingenommen hatte (S. 813), baute er seine Position brutal und geschickt zu weiteren Machtbefugnissen gegenüber den anderen führenden Parteimitgliedern aus. Ob 881 56 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Zweiter Weltkrieg — Das Ende Goebbels bei seiner Intelligenz wirklich noch an den Sieg glaubte, steht dahin. Seinem ganzen Wesen nach dürften alle seine hochtönenden Aufrufe nur dem Zweck gedient haben, den Untergang des Deutschland, das dem Nationalsozialismus nichts mehr zu bieten hatte, dramatischer und gründlicher zu gestalten, so wie er zuvor die Versammlungen und Aufzüge der NSDAP wirkungsvoll in Szene gesetzt hatte. Ebenso wie über Hitlers körperlichen Verfall entsprechen sich die Berichte aus den letzten Kriegsmonaten über seinen ungebrochenen Willen, durch zähes Aushalten irgendeine Wendung des Kriegsglüdcs zu seinen Gunsten zu erzwingen. So erzählt Staatssekretär Meißner in seinen Erinnerungen von seinem letzten Besuch bei Hitler am 13. März 1945: „Er machte an diesem Tage den Eindruck eines gealterten, geistig zusammengebrochenen Mannes. Mit hektisch gerötetem Gesicht und flackernden Augen, in gebückter Haltung, mit schleppenden Schritten und heftig gestikulierenden Armen lief er in seinem großen Arbeitszimmer auf und ab; nachdem er mir in konzilianten Worten seine Glückwünsche (zum 65. Geburtstag) ausgesprochen und mir mit nervös zitternden Händen als Erinnerungsgabe ein Bild mit Widmung überreicht hatte, rief er unvermittelt mit heiserer Stimme: ,Ich kämpfe bis zum letzten, ich kapituliere nicht, niemals! Für wen halten mich meine Gegner, daß sie von mir annehmen, ich würde jemals kapitulieren? Ich kämpfe, bis sie zu einem vernünftigen Frieden bereit sind.' Und hinterher wiederholte er in schreiendem Ton immer wieder die Worte: ,Ich kapituliere nicht, niemals!'" Am 27. Januar 1942, also noch auf der Höhe seiner Macht, hatte Hitler bei Tisch im Führerhauptquartier gesagt: „Persönlich glaube ich, solange sich für eine Idee in einem Staat 9000 Menschen finden, die bereit sind, in die Gefängnisse zu gehen, ist eine Sache nicht verloren. Erst wenn der letzte Mann daran verzweifelt, ist es aus. Ist noch ein Mann da, der gläubigen Herzens eine Fahne hochhält, so ist nichts verloren. Ich bin auch hier eiskalt: wenn das deutsche Volk nicht bereit ist, sich für seine Selbsterhaltung einzusetzen, gut, dann soll es verschwinden." In aussichtsloser Lage hatte Ludendorff 1918 Waffenstillstand gefordert, war Kaiser Wilhelm ins Exil gegangen, um unnötiges Blutvergießen zu vermeiden. Hitler dagegen besdiloß den Untergang des ganzen Volkes in einem völlig zerstörten Land. Er befahl deshalb weiterzukämpfen und „alle militärischen, Verkehrs-, Nachrichten-, Industrie- und Versorgungsanlagen sowie Sachwerte innerhalb des Reichsgebietes, die sich der Feind für die Fortsetzung seines Kampfes irgendwie sofort oder in absehbarer Zeit nutzbar machen kann", zu zerstören. Reichsminister Speer hatte Hitler schon nach dem Verluste des oberschlesischen Industriegebiets eine Denkschrift übergeben, sie begann: „Der Krieg ist verloren." Nach dem Zeugnis Guderians las Hitler nur diesen ersten Satz, legte die Schrift in den Panzersdirank und sagte: „Wer mich unter vier Augen sprechen will, der hat immer die Absicht, mir etwas Unangenehmes zu sagen. Das kann ich nicht ertragen." Als Speer von dem Zerstörungsbefehl Hitlers erfuhr, wandte er sich in einer weiteren, Hitler übersandten Denkschrift mit scharfen Worten dagegen: „Wir haben kein Recht dazu, in diesem Stadium des Krieges von uns aus Zer882

Letzte Terror- und Propagandamaßnahmen Störungen vorzunehmen, die das Leben des Volkes treffen könnten. Wenn die Gegner dieses Volk, das in einmaliger Tapferkeit gekämpft hat, zerstören wollen, so soll ihnen diese geschichtliche Schande ausschließlich zufallen. Wir haben die Verpflichtung, dem Volk alle Möglichkeiten zu lassen, die ihm in fernerer Zukunft wieder einen neuen Aufbau sichern könnten." In seinen „Erinnerungen" gibt Guderian, der ganz auf Seiten Speers stand, die Antwort Hitlers wieder: „Wenn der Krieg verlorengeht, wird audi das Volk verloren sein. Dieses Schicksal ist unabwendbar. Es ist nicht notwendig, auf die Grundlagen, die das Volk zu einem primitiven Weiterleben braucht, Rücksicht zu nehmen. Im Gegenteil ist es besser, selbst diese Dinge zu zerstören, denn das Volk hätte sich als das schwächere erwiesen und dem stärkeren Ostvolk gehöre dann ausschließlich die Zukunft. Was nach dem Kampf übrigbleibt, sind ohnehin nur die Minderwertigen, denn die Guten sind gefallen!" Hitler hielt an seinem Entschluß fest, worin ihn besonders Goebbels bestärkte, und erließ am 19. März 1945 den verhängnisvollen Befehl zur Zerstörung aller Werte. Trotzdem gab Speer offen Gegenbefehle; er konnte, von der Wehrmacht unterstützt, viele Zerstörungen verhindern.

Letzte Terror- und

Propagandamaßnahmen

Eine von Keitel unterzeichnete Anordnung vom 5. Februar 1945 befahl „auf Grund der Weisungen des Führers: Für Wehrmachtangehörige, die in der Kriegsgefangenschaft Landesverrat begehen und deswegen rechtskräftig zum Tode verurteilt werden, haftet die Sippe mit Vermögen, Freiheit oder Leben. Den Umfang der Sippenhaftung im Einzelfalle bestimmt der Reichsführer SS und Chef der deutschen Polizei". Ebenso furchtbar und in der Auswirkung noch weitreichender war eine Verordnung des Reichsjustizministers Thierade vom 15. Februar 1945 über die Errichtung von Standgerichten, sie „sind für alle Straftaten zuständig, durch die die deutsche Kampfkraft oder Kampfentschlossenheit gefährdet sind"; sie sollten aus einem Strafrichter, einem politischen Leiter der NSDAP sowie einem Offizier bestehen; sie konnten die Todesstrafe verhängen, die der Reichskommissar zu bestätigen hatte; da aber diese Bestätigung für den Fall, daß die „sofortige Vollstreckung unumgänglich" sei, unterbleiben konnte, war der Willkür fanatisierter und gewissenloser Standgerichtsmitglieder sowie der ihnen aus Angst Beipflichtenden Tür und Tor geöffnet. Viele, die zur Einstellung völlig sinn- und nutzlosen Widerstandes aufforderten, auch die nur von der offenkundigen Tatsache, der Krieg sei verloren, sprachen, wurden wegen „Zersetzung des Wehrwillens" ein Opfer des Übereifers oder der Blutgier der Standgerichte. Himmler rief damals eine Art Partisanenbewegung ins Leben, die zur Unterstützung der eigenen Truppen hinter den feindlichen Linien kämpfen sollten; sie erhielt den unheimlich klingenden Namen „Werwolf". Diese sehr mangelhafte Organisation benützte nun Goebbels — ohne daß dabei sein Name je in Erscheinung trat — zu aufreizender Propaganda über einen „Werwolfsender", der am 883 56»

Zweiter Weltkrieg — Das Ende Ostersonntag 1945 zum ersten Male in den vom Feind besetzten Gebieten Westund Ostdeutschlands zum fanatischen Kampf im Rücken des Feindes aufforderte: jedes Mittel sei dem „Werwolf" recht. Er habe seine eigene Gerichtsbarkeit, die über Leben und Tod des Feindes wie der Verräter im eigenen Volk entscheide. „Haß ist unser Gebet und Rache unser Feldgeschrei!" Praktisch hatten diese Tiraden nichts zu bedeuten, aber sie haben die Haltung der Feindmädite gegenüber dem zivilen Deutschland erheblich beeinflußt und verschärft, denn sie wußten ja nicht, daß das erschöpfte und hungernde deutsche Volk nichts wollte als Frieden. Goebbels' Geist trat im Werwolfsender deutlich hervor. Das viel zitierte Vorbild Friedrichs des Großen am Ende des Siebenjährigen Krieges mußte noch einmal zur Belebung des Siegeswillens herhalten. Wie 1763 der Tod der Zarin Elisabeth die Koalition gegen Preußen gesprengt hatte, so erhofften jetzt Hitler und Goebbels das Zerwürfnis der gegen den Nationalsozialismus Verbündeten infolge des Todes von Präsident Roosevelt am 12. April 1945. Der „Appell des Führers zur Ostschlacht" vom 17. April Schloß: „Berlin bleibt deutsch, Wien wird wieder deutsch und Europa wird niemals russisch. Bildet eine verschworene Gemeinschaft zur Verteidigung nicht des leeren Begriffes eines Vaterlandes, sondern zur Verteidigung Eurer Heimat, Eurer Frauen, Eurer Kinder und damit unserer Zukunft. In dieser Stunde blickt das ganze deutsche Volk auf Euch, meine Ostkämpfer, und hofft nur darauf, daß durch Eure Standhaftigkeit, Euren Fanatismus, durch Eure Waffen und unter Eurer Führung der bolschewistische Ansturm in einem Blutbad erstickt. Im Augenblick, in dem das Schicksal den größten Kriegsverbrecher aller Zeiten (Roosevelt) von dieser Erde genommen hat, wird sich die Wende dieses Krieges entscheiden. Adolf Hitler."

Die Eroberung

Berlins und Hitlers

Ende

Am 16. März 1945 begannen die Russen ihren großen Angriff auf Berlin. Von der unteren Neiße stieß der eine Angriffskeil vor, der zweite von der Oder bei Küstrin; ihr Ziel war die Umzinglung der Hauptstadt. Die sich verzweifelt wehrenden deutschen Truppen wurden teils eingeschlossen, da Hitler ihnen befahl, an der Oder stehen zu bleiben, teils versuchten sie an der nördlichen und südlichen Flanke der vordringenden Russen den Aufbau einer neuen Abwehrfront, für die alle verfügbaren Reserven, Volkssturm und Hitlerjugend herangezogen wurden. Am 28. März entließ Hitler seinen Generalstabschef Guderian, dessen ständige Mahnungen, Warnungen und Gegenvorschläge er nicht mehr hören wollte, und dem er die Schuld an dem Mißlingen des Gegenangriffs zum Entsatz der Festung Küstrin zuschob. Seine Stelle übertrug Hitler dem gefügigen General Krebs. Am 20. April standen die Russen in den östlichen Außenbezirken von Berlin und hatten bereits die Umklammerung der Stadt begonnen. Sowie Hitler hörte, daß der SS-General Steiner im Norden Berlins eine Abwehrfront bildete, befahl er, Steiner solle den Russen in die Flanke stoßen und Berlin befreien. Die Stei884

Eroberung Berlins und Hitlers Ende nerschen Truppen waren dafür viel zu schwach, so daß der General gar keinen Versuch zur Ausführung des Befehls machte. Als Hitler dies statt der erwarteten Siegesnachrichten hörte, bekam er einen Wutanfall, klagte die ganze Armee des Verrats, der Untreue, der Unfähigkeit an und jammerte, daß ihn nun auch seine SS verlassen habe. Inzwischen waren Göring nach Berchtesgaden, Himmler und sämtliche Minister nach Norddeutschland gefahren. Am 23. April gab Goebbels bekannt, Hitler werde in Berlin bleiben und den Befehl über alle zur Verteidigung Berlins angetretenen Kräfte übernehmen: „Der Führer weilt in der Reichshauptstadt. Diese Tatsache gibt dem Ringen um Berlin das Gepräge eines Kampfes von europäischer Bedeutung." Als Göring diesen Entschluß Hitlers erfuhr, fragte er telegraphisch in Berlin an, ob er als Hitlers Stellvertreter nun „die Gesamtführung des Reiches mit voller Handlungsfreiheit nach innen und außen" übernehmen dürfe. Göring hatte vor, auf Grund dieser Vollmacht, ohne Hitler zu fragen, sofort Waffenstillstand zu schließen, womöglich durch persönliche Verhandlung mit Eisenhower. Hitler ahnte dies, er beantwortete Görings Anfrage mit einer wütenden Absage, entsetzte den Reichsmarschall aller seiner Ämter und ließ ihn verhaften. Bormann, dem Göring schon lange im Wege stand, riet Hitler, Göring wegen Hochverrats erschießen zu lassen; Hitler ging jedoch nicht darauf ein. Der Öffentlichkeit wurde am 27. April mitgeteilt, Görings Herzleiden habe sich so verschlimmert, daß er die Führung der Luftwaffe habe aufgeben müssen, an seine Stelle sei der zum Generalfeldmarschall ernannte Ritter von Greim getreten. Noch ein zweiter führender Parteimann, Himmler, versuchte ohne Wissen Hitlers Fühlung mit den Westmächten aufzunehmen. Schon 1943, 1944 und dann im Februar 1945 hatte er durch den SS-General Schellenberg sich an den Präsidenten des Schwedischen Roten Kreuzes Graf Folke Bernadotte gewandt, sich aber damals noch nicht zu einem Bruch mit Hitler entschließen können. Nach Hitlers Entscheidung, daß er in Berlin bleibe, traf Himmler am 23. April in Lübeck mit Bernadotte zusammen und bat ihn, durch die schwedische Regierung Eisenhower ein Kapitulationsangebot zu übermitteln: sofortigen Waffenstillstand im Westen, Fortsetzung des Kampfes gegen den Bolschewismus, womöglich mit englisch-amerikanischer Unterstützung. Bereits am 19. März 1945 hatte Himmlers Arzt Kersten in sein Tagebuch Himmlers Klage eingetragen: „Erkennt denn das übrige Europa immer noch nicht, daß wir den furchtbarsten Ansturm Asiens, den es jemals gab, von Europa abwehren? Aber die Westmächte greifen uns im Rücken an und lassen auf der Seite Asiens ihre Waffen gegen uns kämpfen und wollen nicht sehen, daß sie sie damit auch gegen sich riditen." Um sich das Wohlwollen der Westmächte zu erwerben, hatte Himmler im März begonnen, durch Vermittlung von Kersten über das Rote Kreuz Gruppen von Juden, skandinavischen Häftlingen und Frauen aus den Konzentrationslagern ins Ausland zu befördern, hatte die weitere Ermordung von KZ-Insassen verboten und vor allem versprochen, Hitlers furchtbaren Befehl, beim Herannahen der Alliierten die Konzentrationslager mit allen Insassen in die Luft zu sprengen, nicht weiterzuleiten, sondern die Lager ordnungsgemäß den Alliierten zu übergeben, ein Ver885

Zweiter Weltkrieg — Das Ende sprechen, das er dann hielt. Er verhinderte auch die Ausführung der von Hitler befohlenen Sprengung von Den Haag sowie der Festung Clingendael und die Durchstechung des Abschlußdeiches zur Zuidersee. So erfreulich diese Maßnahmen für alle waren, denen sie zugute kamen, so erstaunlich ist die naive Unverfrorenheit, mit der Himmler den Westmächten zumutete, plötzlidi über ihren russischen Bundesgenossen herzufallen, mit dem sie seit vier Jahren Seite an Seite kämpften. Daß der Bundesgenosse unbequem, vielleicht sogar gefährlich sei, wußte Churchill ebenso wie einige englische und amerikanische Staatsmänner, aber das war für sie eine spätere Sorge. So erhielt Himmler eine glatt ablehnende Antwort: es käme nur eine gleichzeitige und unbedingte Kapitulation vor allen drei Großmächten in Frage; bis dahin werde der Kampf mit größter Energie fortgesetzt. Als Hitler durch eine Veröffentlichung des englischen Nachrichtenbüros Reuter am Abend des 28. April von Himmlers Verhandlungen hörte, geriet er über den „Verrat" dieses „getreuesten" Gefolgsmannes außer sich. Er glaubte eine Verschwörung der SS gegen seine Person entdeckt zu haben. Himmler habe, so wütete er, den Angriff des Generals Steiner verhindert, damit Berlin und damit er, der Führer, selber in russische Hände fielen. Auf jeden Fall wollte Hitler verhindern, daß Himmler sein Nachfolger würde, was nach dem Sturz Görings und bei der Machtstellung Himmlers in der Polizei und der SS das Natürlichste gewesen wäre. Der Ring um Berlin war seit dem 24. April geschlossen, die Russen drangen immer tiefer in den Stadtkern ein. Unter dem Bombenhagel der Flugzeuge und den Granaten der Artillerie sank die Stadt in Trümmer. Die fanatischen Aufrufe von Goebbels, die von ihm genährte Hoffnung auf Entsatz durch die heranrückende Armee des Generals Wende, die Angst vor den Russen und vor dem Terror in den eigenen Reihen, von dem die an den Laternen aufgehängten „Verräter" in den Straßen zeugten, ließen die zusammengewürfelten Truppen, unter ihnen Tausende von Hitlerjungen, erbittert jedes Haus verteidigen. Die Armee Wencks, Hitlers letzte Hoffnung, kämpfte sich seit dem 26. April nach Osten vor. Am 28. stand sie in Ferch bei Potsdam, dabei gelang es ihr, 3000 Verwundete aus dem den Russen wieder entrissenen Beelitz abzutransportieren, Tausenden von Flüchtlingen den Weg nach dem Westen offenzuhalten und die Reste der westlich der Oder abgeschnittenen Truppen des Generals Busse aufzunehmen. Weiter auf Berlin vorzustoßen, war jedoch bei den nun einsetzenden Gegenangriffen der an Zahl und Ausrüstung weit überlegenen Russen ausgeschlossen. Die Armee mußte sich, um nicht eingekesselt zu werden, an die Elbe in Richtung Tangermünde zurückziehen. Etwas weiter elbaufwärts hatten am 25. April bei Torgau die Amerikaner den Russen die Hand gereicht und damit Deutschland in zwei Teile gespalten. Die Truppen im Norden Berlins waren für einen Angriff oder auch nur für ein Standhalten zu schwach und zu erschöpft; sie wichen so langsam durch Mecklenburg zurück, daß sie Tausende von Flüchtlingen dem Zugriff der Russen entzogen und sich selbst den von Westen vorstoßenden Amerikanern ergeben konnten, womit sie die sowjetische Gefangenschaft vermieden. 886

Eroberung Berlins und Hitlers Ende Am 29. April ließ selbst Hitler jede Hoffnung auf eine Wendung der Lage sinken und ging daran, sein Leben abzuschließen. Am 15. April war Eva Braun zu ihm in den Bunker gekommen, sie war mit ihm zu sterben bereit. Nun heiratete Hitler sie; die Ehe sollte eine Genugtuung für das Mädchen sein, das jahrelang, der Öffentlichkeit fast unbekannt, auf dem Obersalzberg oder in einer für sie gebauten Münchner Villa in seiner Nähe gelebt hatte. Sie hatte ein sorgloses, genußfrohes Leben geführt, sich nicht in die Politik eingemischt und für Hitler Entspannung bedeutet. Nach der in Form einer Kriegstrauung vollzogenen zivilen Eheschließung und einer kleinen Feier mit Sekt diktierte Hitler zwei Testamente, ein politisches und ein privates. In dem politischen erklärte er, daß er „den Krieg im Jahr 1939 nicht gewollt" habe, schuld daran seien allein „das internationale Judentum und seine Helfer". Der sechsjährige Kampf werde einst „in die Geschichte trotz aller Rückschläge als die ruhmvollste und tapferste Bekundung des Lebenswillens eines Volkes eingehen", jetzt sei der eigene Widerstand „durch ebenso verblendete wie charakterlose Subjekte allmählich entwertet" worden, gerade deshalb wolle er sein „Schicksal mit jenem vereinen, das Millionen anderer auch auf sich genommen haben, indem ich in dieser Stadt bleibe. Außerdem will ich nicht Feinden in die Hände fallen, die zur Belustigung ihrer verhetzten Massen ein neues, von Juden arrangiertes Schauspiel benötigen. Ich habe mich daher entschlossen, in Berlin zu bleiben und dort aus freien Stücken den Tod zu wählen . . . Ich sterbe mit freudigem Herzen angesichts . . . der unermeßlichen Taten und Leistungen unserer Soldaten an der Front, unserer Frauen zu Hause, der Leistungen unserer Bauern und Arbeiter und des in der Geschichte einmaligen Einsatzes unserer Jugend, die meinen Namen trägt". Er dankte ihnen allen und wünschte, daß sie den Kampf gegen die Feinde des Vaterlandes weiterführten: „Aus dem Opfer unserer Soldaten und aus meiner Verbundenheit mit ihnen bis in den Tod wird in der deutschen Geschichte so oder so einmal wieder der Samen aufgehen zur strahlenden Wiedergeburt der nationalsozialistischen Bewegung und damit zur Verwirklichung einer wahren Volksgemeinschaft . . . Möge es dereinst zum Ehrbegriff des deutschen Offiziers gehören — so wie dies in unserer Marine schon der Fall ist — daß die Ubergabe einer Landschaft oder einer Stadt unmöglich ist." „Ich stoße vor meinem Tode den früheren Reichsmarschall Hermann Göring aus der Partei aus und entziehe ihm alle Rechte . . . Ich ernenne an seiner Statt den Großadmiral Dönitz zum Reichspräsidenten und Obersten Befehlshaber der Wehrmacht." Ebenso wie Göring wurde Himmler aus der Partei sowie aus allen seinen Staatsämtern ausgestoßen. Zum Reichskanzler wurde Goebbels ernannt, im ganzen wurden 19 „ehrenhafte Männer" für die neue Regierung eingesetzt, die „die Verpflichtung erfüllt, den Krieg mit allen Mitteln weiter fortzusetzen." Das politische Testament schließt: „Vor allem verpflichte ich die Führung der Nation und die Gefolgschaft zur peinlichen Einhaltung der Rassengesetze und zum unbarmherzigen Widerstand gegen den Weltvergifter aller Völker, das internationale Judentum." Hitlers Unterschrift ist kaum leserlich. Das private Testament Hitlers ist kurz, sein Besitz, „soweit er überhaupt von Wert ist", soll der Partei, wenn diese nicht mehr existiert, dem Staat gehören. Für seine Gemälde887

Zweiter Weltkrieg — Das Ende Sammlung wünscht er den Ausbau einer Galerie in seiner Heimatstadt Linz an der Donau, daß „dieses Vermächtnis vollzogen wird, wäre mein herzlichster Wunsch . . . Ich selbst und meine Gattin wählen, um der Schande der Absetzung oder Kapitulation zu entgehen, den Tod. Es ist unser Wille, sofort an der Stelle verbrannt zu werden, an der ich den größten Teil meiner täglichen Arbeit im Laufe eines zwölfjährigen Dienstes an meinem Volk geleistet habe". Mit dem, was seinen Testamenten, besonders dem politischen, das Gepräge gibt, mit seiner Ruhmredigkeit, Verlogenheit, mit der feigen Flucht in den Tod, um nicht in die Hände der Feinde zu fallen und von ihnen für seine Untaten zur Rechenschaft gezogen zu werden; mit dem Ansinnen an das deutsche Volk aber, das er zu lieben vorgab, es solle den aussichtslosen Kampf fortführen; mit den Haßausbrüchen noch kurz vor seinem Tode gegen die höheren Offiziere des Heeres und gegen das, was er internationales Judentum nannte; mit all dem hat Hitler nicht, wie er wollte, sich gerechtfertigt, sondern sich selbst verurteilt. Goebbels fügte Hitlers politischem Testament einen phrasenreichen Nachtrag an, in dem er den Selbstmord von sich und seiner Frau nach der Tötung ihrer sechs Kinder als Vorbild für das zukünftige Deutschland hinstellte; zum ersten Mal weigere er sich, einem Befehl Hitlers zu gehorchen und Reichskanzler zu werden; denn ein Leben ohne den Führer habe für ihn keinen Wert mehr. Am Nachmittag des 30. April 1945 erschoß sich Hitler in seinem Privatzimmer, seine Frau nahm Gift. Beide Leichen wurden im Garten der Reichskanzlei verbrannt, wieder und wieder gössen SS-Leute Benzin darüber, damit nichts wie Asche übrigbleibe. Das Schicksal Mussolinis, von dem Hitler noch am 29. April hörte, wollte er vermeiden. Die Leichenreste wurden in einem Bombentrichter vergraben. Die Russen durchsuchten ihn, sie fand einige Zahnersatzteile und einen Unterkiefer. Die Helferin und der Techniker von Hitlers Zahnarzt bewiesen auf Grund von Röntgenbildern, daß es sich bei den gefundenen Stücken um Kiefer und Zahnersatzteile Hitlers handle. Aus politischen Gründen begannen die Russen trotzdem, Hitlers Tod als nicht erwiesen hinzustellen. Dies und das Fehlen von Leichenresten gaben dann freilich zu allerlei wilden Gerüchten Anlaß: Hitler lebe noch, er habe in einem Flugzeug Berlin verlassen, sei mit einem Unterseeboot nach Spanien oder nach Argentinien gefahren und dergleichen mehr. Sein Tod ist jedoch von den sorgfältig befragten Augenzeugen einwandfrei bestätigt, audi hätte Hitlers körperlicher Verfall eine abenteuerliche Flucht nicht mehr zugelassen. Kurz nach Hitlers Tod versuchten Goebbels und Bormann noch wegen eines Waffenstillstandes oder einer Kampfpause mit den Russen zu verhandeln, diese ließen sich jedoch auf nichts ein. Erst jetzt, am 1. Mai, erhielt Dönitz die Nachricht von Hitlers Tod, Goebbels telegraphierte ihm: „Führer gestern 15 Uhr 30 verschieden. Testament vom 29. 4. überträgt Ihnen das Amt des Reichspräsidenten . . . Form und Zeitpunkt der Bekanntgabe an Truppe und Öffentlichkeit bleibt Ihnen überlassen." Nach dem Fehlschlagen der letzten Hoffnung auf Verständigung mit den Russen und nach Absendung des Telegramms an Dönitz ließ Goebbels nun wirklich seine sechs Kinder vergiften und beging dann zusammen mit seiner Frau

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Regierung Dönitz Selbstmord. Ihre Leichen wurden fast an derselben Stelle wie am Tage zuvor die Hitlers und seiner Frau mit Benzin Übergossen und verbrannt, doch unterblieb ein mehrfaches Ubergießen mit Benzin. Die Leichen des Goebbelsschen Ehepaares konnten deshalb noch deutlich erkannt werden, als die Russen sie fanden. General Krebs, der Nachfolger Guderians, General Burgdorf, Chef des Heerespersonalamtes und ein SS-Führer erschossen sich im Bunker. Nachdem mit einigen Kannen Benzin der Führerbunker in Brand gesetzt war, versuchten die übrigen Insassen zu entkommen. Manchen gelang die Flucht, viele gerieten in russische Gefangenschaft oder wurden getötet. Ziemlich sicher ist, daß Bormann sich unter den Getöteten befand. Am 2. Mai kapitulierte Berlin, das Schießen und Bombenwerfen der Russen hörte damit auf, die Leiden der Bevölkerung unter den Gewalttaten der russischen Soldaten nahmen indes furchtbare Ausmaße an.

Die Regierung

Dönitz

Seit dem 20. April 1945 war Dönitz Oberbefehlshaber des deutschen Nordraums, Kesselring der des Südraums, Hitler hatte damit f ü r die erwartete und dann am 25. April durch das Zusammentreffen der russischen und der westalliierten Armeen tatsächlich eingetretene Spaltung Deutschlands geordnete Befehlsverhältnisse schaffen wollen. Dönitz verlegte am 22. April sein Hauptquartier nach Plön in Holstein. Die Ernennung zum Nachfolger Hitlers kam ihm völlig überraschend. Da Dönitz über die Art von Hitlers Tod zunächst nichts erfahren hatte, ließ er am Abend des 1. Mai im Rundfunk die offizielle Mitteilung verbreiten: „Aus dem Führerhauptquartier wird gemeldet, daß unser Führer Adolf Hitler heute nachmittag in seinem Befehlsstand in der Reichskanzlei, bis zum letzten Atemzug gegen den Bolschewismus kämpfend, für Deutschland gefallen ist. Am 30. April hat der Führer den Großadmiral Dönitz zu seinem Nachfolger ernannt." Dönitz entschloß sich zu kapitulieren und damit den Krieg zu beenden, weiteres Blutvergießen und neue Zerstörungen müßten verhindert werden, ebenso sinnloser Widerstand nationalsozialistischer Fanatiker. Dönitz wollte im Westen sofort den Kampf einstellen, im Osten erst dann, wenn möglichst viele Soldaten und Flüchtlinge dem Zugriff der Russen hinter der Demarkationslinie entzogen seien. Um einer allgemeinen Auflösung und eigenmächtiger Teilkapitulationen einzelner Truppenverbände vorzubeugen, forderte er im Tagesbefehl für die Wehrmacht vom 1. Mai Disziplin u n d Gehorsam; der Hitler geleistete Treueid gelte nunmehr ihm, Dönitz. Seine Rundfunkrede an das deutsche Volk am Abend des 1. Mai begann er mit einem Lob des „gefallenen" Hitlers: „Sein Leben war ein einziger Dienst für Deutschland. Sein Einsatz im Kampf gegen die bolschewistische Sturmflut galt darüber hinaus Europa und der gesamten Kulturwelt . . . Meine erste Aufgabe ist es, deutsche Männer vor der Vernichtung durch den vordringenden bolschewistischen Feind zu retten. Nur f ü r diesen Zweck geht der militärische Kampf weiter. Soweit und solange die Erreichung dieses Ziels durch die Briten und Amerikaner behindert wird, werden wir uns auch gegen sie weiter 889

Zweiter Weltkrieg — Das Ende verteidigen und weiterkämpfen müssen. Die Anglo-Amerikaner setzen dann den Krieg nicht mehr für ihre eigenen Völker, sondern allein für die Ausbreitung des Bolschewismus in Europa fort." Am 2. Mai trat die nachträglich von Kesselring und Dönitz gebilligte Kapitulation der deutschen Truppen auf dem italienischen Kriegsschauplatz in Kraft. In Norddeutschland stießen die Engländer überraschend schnell bis Lübeck, die Amerikaner bis Wismar an der Ostsee vor. Hamburg wurde dank der Einsicht der militärischen Befehlshaber und des Gauleiters Kaufmann nicht verteidigt. Die deutschen Truppen zogen sich über die Elbe zurück, die Engländer besetzten am 3. Mai kampflos die ohnehin schwer zerstörte Hansestadt. Dönitz verlegte den Regierungssitz nach Flensburg-Mürwik. Der neue Reichspräsident war sich darüber klar, daß seine Regierung von kurzer Dauer sein werde und nur den Zweck habe, die Kapitulation, ihre Durchführung und das Wiederingangbringen des zivilen Lebens so rasch und so schonend wie möglich von einer zentralen Stelle aus zu steuern, soweit dies die Besatzungsmächte zuließen. Von vornherein lehnte Dönitz die Belastung der neuen Regierung mit prominenten Parteigenossen ab. Hitlers Testament erreichte ihn nicht, aus Goebbels Telegramm wußte er nur, Goebbels, Bormann und Seiß-Inquart seien für wichtige Posten ernannt. Goebbels' Tod war noch nicht bekannt. Dönitz stellte nun ein „unpolitisches Kabinett" von Fachministern zusammen, das sich „geschäftsführende Reichsregierung" nannte und von Schwerin-Krosigk als Außenund Finanzminister geleitet wurde. Sowohl Dönitz als auch die Mitglieder seiner Regierung hatten Hitler jahrelang treu gedient und dachten auch jetzt nicht daran, sich in irgendeiner Form von dem nationalsozialistischen Staat loszusagen, sie wollten nur die schwer belasteten Parteigrößen Goebbels, Bormann, Ribbentrop, Rosenberg, Himmler ausschalten. Himmler hatte sicher darauf gerechnet, Nachfolger Hitlers zu werden; als er die Ernennung von Dönitz erfuhr, hätte er sich auch mit dem zweiten Platz begnügt. Dönitz verhielt sich zunächst vorsichtig, mit Rücksicht auf Himmlers Machtstellung in Polizei und SS. Erst am 6. Mai entsetzte er ihn aller seiner Ämter. Himmler glaubte aber immer noch, als „Ordnungsfaktor im mitteleuropäischen Raum" sei er mit seiner SS unentbehrlich, ja, die Zuspitzung der Gegensätze Ost-West werde so rasch erfolgen, daß er und die SS in drei Monaten „das Zünglein an der Waage" bilden würden. Er versuchte noch eine Weile sich zu verbergen, wurde jedoch am 21. Mai von den Engländern aufgegriffen. Bei der Leibesvisitation zerbiß er im letzten Augenblick eine im Mund verborgene Giftkapsel, die den sofortigen Tod herbeiführte. Am 4. Mai Schloß Dönitz durch den bevollmächtigten Admiral von Friedeburg mit Feldmarschall Montgomery eine Kapitulation ab: die deutschen Streitkräfte zu Lande, zur See und in der Luft würden am 5. Mai 1945 morgens 8 Uhr alle Kampfhandlungen in Holland, Nordwestdeutschland mitsamt den Inseln, Schleswig-Holstein und Dänemark einstellen, die Waffen abliefern, auch alle Schiffe in diesen Gebieten, und „ohne Widerrede oder Kommentar" allen Befehlen der Alliierten gehorchen. Die Ubergabe vollzog sich fast reibungslos, nur die U-Boot890

Regierung Dönitz besatzungen versenkten während der Nacht vom 4. zum 5. Mai in den Nordund Ostseehäfen ohne Wissen von Dönitz ihre U-Boote selbst. „Die befürchteten Repressalien unterblieben. Im Gegenteil, später gewannen wir den Eindruck, daß diese Vernichtung der U-Boote durchaus im Interesse der westlichen Alliierten lag, da somit bei der späteren Dreiteilung der deutschen Seestreitkräfte den Russen nur sehr wenige U-Boote und keines der neuen Typen in die Hände fiel" (LüddeNeurath). Friedeburg, dann Jodl führten nach Abschluß der Verhandlungen mit Montgomery Besprechungen mit Eisenhower wegen der deutschen Kapitulation gegenüber den amerikanischen Streitkräften. Eisenhower forderte die sofortige, gleichzeitige, bedingungslose Ubergabe an allen Fronten, die deutschen Truppen sollten in ihren gegenwärtigen Stellungen bleiben und dürften Schiffe, Flugzeuge oder Waffen irgendwelcher Art weder beschädigen noch zerstören. Da Eisenhower drohte, er werde widrigenfalls Soldaten und Flüchtlinge am Übertritt auf das von Westalliierten besetzte Gebiet hindern und die Städte im norddeutschen Raum erneut bombardieren, denn das Übereinkommen Dönitz-Montgomery habe für die amerikanische Luftwaffe keine Gültigkeit, beschloß die deutsche Regierung einzuwilligen. Die Kapitulationsurkunde unterzeichneten am 7. Mai Jodl in Reims, am 8. Mai in Berlin Friedeburg, Keitel und für die Luftwaffe Generaloberst Stumpf, für die Westalliierten Luftmarschall Tedder, für die Rote Armee Marschall Schukow. Die Waffenruhe trat um Mitternacht des 8./9. Mai ein. Die aus dem mecklenburgischen und brandenburgischen Raum zurückweichenden deutschen Truppen konnten sich größtenteils den Amerikanern ergeben. Diese ließen zwar in der Gegend von Tangermünde die Soldaten über die Elbe, aber nicht die zivilen Flüchtlinge; von ihnen kam nur heimlich ein Teil über den Fluß. Für die Masse der in Österreich und Jugoslawien stehenden deutschen Truppen reichte die Zeit zwischen Bekanntwerden und Inkrafttreten der Kapitulation aus, sich auf amerikanisch besetztes Gebiet zurückzuziehen. Von den Truppen in Norwegen und in Kurland konnten verhältnismäßig wenige mit Flugzeugen und über das Meer in die Heimat gebracht werden. Sehr mißlich war die Lage der Heeresgruppe Schörner in Böhmen und Mähren. Am 5. Mai brach in Prag ein Aufstand los, der sich schnell über das ganze Land verbreitete und zu einer furchtbaren Verfolgung und Austreibung aller Deutschen führte. Man schätzt, daß etwa eine halbe Million Deutsche ihr Leben einbüßten. Der stellvertretende Bürgermeister von Prag, Professor Pfitzner, wurde sofort öffentlich gehenkt; Henlein beging Selbstmord. Die russischen Armeen rückten von Süden und von Sachsen her ein. Der kriegsgefangene, ehemalige russische General Wlassow, der 1944 ein „Komitee zur Befreiung der Völker Rußlands", von Himmler gefördert, in Prag gebildet und die verschiedensten russischen Kriegsgefangenen, Kosaken, Tscherkessen, Tataren usw., im ganzen etwa 650 000 Mann, als Freiwilligenarmee neben den Deutschen hatte kämpfen lassen, floh zu den Amerikanern. Die deutschen Truppen versuchten, sich zu den auf der Linie Linz-Budweis-Karlsbad stehenden Amerikanern durchzuschlagen, was nur einem Teil gelang. Die meisten gerieten, da Schömer seinen Leuten befahl, bis zum 891

Zweiter Weltkrieg — Das Ende letzten Augenblick zu kämpfen, in russische Gefangenschaft. Nach Inkrafttreten des Waffenstillstandes ließen die Amerikaner keine deutschen Soldaten mehr durch ihre Linien, sondern trieben sie in Lager zusammen und übergaben sie dann den Russen. Schörner hatte zuvor in Zivilkleidern seine Truppe verlassen und sich mit einem Fieseierstorch nach Tirol in Sicherheit gebracht. Die Amerikaner lieferten ihn später den Russen aus. Am 7. Mai gab Schwerin-Krosigk dem deutschen Volk über den Rundfunk die bedingungslose Kapitulation aller Truppen bekannt. Am folgenden Tag sprach Dönitz über den Flensburger Sender. Er gedachte der Leistungen der Wehrmacht, ihrer Opfer an Gefallenen sowie Gefangenen und fuhr dann fort: „Die Grundlagen, auf denen das Deutsche Reich sich aufbaute, sind zerborsten. Die Einheit von Staat und Partei besteht nicht mehr. Die Partei ist vom Schauplatz ihrer Tätigkeit abgetreten. Mit der Besetzung Deutschlands liegt die Macht bei den Besatzungsmächten. Es liegt in ihrer Hand, ob ich und die von mir bestellte Reichsregierung tätig sein kann oder nicht." „Die bedingungslose Kapitulation unserer Feinde", schreibt Churchill in seinen Erinnerungen, „war das Signal für den größten Freudenausbruch in der Geschichte der Menschheit. In Europa war der Zweite Weltkrieg in der Tat bis zu seinem bitteren Ende ausgefochten worden. Nicht nur die Sieger, auch die Besiegten fühlten eine unaussprechliche Erleichterung." Churchills Herz war aber auch voll schwerer Sorge, in seiner Rundfunkrede zum Tag des Sieges ermahnte er seine Landsleute, daß Anstrengungen und Opfer weiter von ihnen verlangt würden: „Noch müssen wir dafür sorgen, daß drüben auf dem Kontinent die einfachen und ehrenhaften Ziele, für die wir in den Krieg gezogen sind, in den auf unseren Sieg folgenden Monaten nicht vergessen werden . . . und daß Worte wie .Freiheit', .Demokratie' und ,Befreiung' nicht ihrer wahren Bedeutung, so wie wir sie immer verstanden haben, entkleidet werden. Es hätte wenig Sinn, Hitlers Kumpane für ihre Verbrechen zu bestrafen, sofern nicht Recht und Gerechtigkeit herrschten und wenn an die Stelle der deutschen Eroberer totalitäre Polizeiregime träten." Am 12. Mai 1945 sandte Churchill an Präsident Truman, Roosevelts Nachfolger, ein Telegramm, in dem er vor einer zu weitgehenden Schwächung der englischen und amerikanischen Armeen in Deutschland warnte, da die Haltung der Russen besorgniserregend sei: „Die Lage in Europa beunruhigt mich zutiefst . . . Ein eiserner Vorhang ist vor ihrer (der russischen) Front niedergegangen. Was dahinter vorgeht, wissen wir nicht. Es iist kaum zu bezweifeln, daß der gesamte Raum östlich der Linie Lübeck-Triest-Korfu schon binnen kurzem völlig in ihrer Hand sein wird . . . Die Aufmerksamkeit unserer Völker wird sich mit der Bestrafung Deutschlands, das ohnehin ruiniert und ohnmächtig darniederliegt, beschäftigen, so daß die Russen, falls es ihnen beliebt, innerhalb sehr kurzer Zeit bis an die Küsten der Nordsee und des Atlantik vormarschieren können." Churchills sorgenvolle Warnungen konnten bei dem Optimismus der Amerikaner an dem Ablauf der Ereignisse freilich nichts mehr ändern.

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Ende des Dritten Reiches Das Ende des Dritten Reiches Die Flensburg besetzenden englischen Truppen ließen die Regierung Dönitz zunächst unangetastet. Eine interalliierte Kontrollkommission nahm bald darnach in Flensburg die Überwachung zur Durchführung der Kapitulationsbedingungen auf. Die Beziehungen der Kommission zur Regierung Dönitz waren kühl und korrekt. Die deutschen Fachminister übergaben sorgfältig ausgearbeitete Pläne und Vorschläge für das Ingangbringen des Verkehrswesens, der Post und der Ernährung. Die Memoranden wurden wohl mit Interesse entgegengenommen, aber nicht benutzt. Am 23. Mai erfolgte die Festnahme der Regierungsmitglieder und des Oberkommandos der Wehrmacht als Kriegsgefangene. Friedeburg beging vor dem Abtransport Selbstmord. Gegen die entwürdigenden Formen, in denen sich die Gefangennahme vollzog — die Leibesvisitation, die vor allem verborgene Giftkapseln zutage fördern sollte, die Durchsuchung des Gepäcks, die Wegnahme persönlichen Besitzes usw. — erhoben die Gefangenen vergeblichen Einspruch. Die jahrelange Verhetzung im Ausland, jeder Deutsche sei ein verbrecherisches Glied des nationalsozialistischen Staates, die gerechte Empörung über die furchtbaren Zustände in den Konzentrationslagern, in denen die alliierten Armeen Leichenhaufen, Massengräber und Tausende von halbverhungerten, gequälten Menschen vorfanden, die Sorge wegen eines Wiederaufflammens des deutschen Widerstandes, wegen Aktionen des Werwolfs, obwohl ihn Dönitz schon am 5. Mai verboten hatte — all das macht bis zu einem gewissen Grade das Vorgehen der Alliierten verständlich. Am 5. Juni wurden die grundlegenden „Erklärungen" des Kontrollrates veröffentlicht: „Die deutschen Streitkräfte zu Lande, zu Wasser und in der Luft sind vollständig geschlagen und haben bedingungslos kapituliert, und Deutschland, das für den Krieg verantwortlich ist, ist nicht mehr fähig, sich dem Willen der siegreichen Mächte zu widersetzen . . . Es gibt in Deutschland keine zentrale Regierung oder Behörde, die fähig wäre, die Verantwortung für die Aufrechterhaltung der Ordnung, für die Verwaltung des Landes und für die Ausführung der Forderungen der siegreichen Mächte zu übernehmen." Daher seien jetzt die Regierungen von England, den Vereinigten Staaten, der Sowjetunion und Frankreich Träger der gesamten Regierungsgewalt, sie befehlen die Einstellung aller Kampfhandlungen, die Ablieferung aller Waffen und militärischen Anlagen, aller Verkehrs- und Transportanlagen sowie der kriegswichtigen Industrie und Forschungsstätten. Alle zur Zeit in deutscher Gewalt befindlichen Kriegsgefangenen und sonstige Angehörige der Siegermächte, sowie alle wegen der Rasse, der Farbe, des Glaubensbekenntnisses oder der politischen Einstellung Eingesperrten seien freizulassen; unbewaffnetes deutsches Militär- und Zivilpersonal sei für die Räumung von Minenfeldern und Inbetriebsetzung aller Hilfsmittel für die Schiffahrt zur Verfügung zu stellen; alle deutschen Funk- und Fernnachrichten hätten aufzuhören; die „hauptsächlichsten Naziführer" und alle Personen, die „im Verdacht stehen, Kriegs- oder ähnliche Verbrechen begangen, befohlen oder ihnen Vorschub geleistet zu haben", seien festzunehmen und den 893

Zweiter Weltkrieg — Das Ende alliierten Vertretern zu übergeben; „alle deutschen Behörden und das deutsche Volk haben den Forderungen der alliierten Vertreter bedingungslos nachzukommen". „Deutschland wird innerhalb seiner Grenzen, wie sie am 31. Dezember 1937 bestanden, für Besatzungszwecke in vier Zonen aufgeteilt", die östliche unter der Sowjetunion, die nordwestliche unter England, die südwestliche unter den Vereinigten Staaten, die westliche unter Frankreich. Das Gebiet Großberlin sei von Truppen einer jeden der vier Mächte zu besetzen, zwecks gemeinsamer Leitung der Verwaltung Berlins wurde eine interalliierte Behörde vorgesehen. Die vier Oberbefehlshaber der Zonen sollten den Kontrollrat bilden, seine Entscheidungen in allen Deutschland als Ganzes berührenden Angelegenheiten müßten einstimmig getroffen werden; ein Koordinationsausschuß und ein Kontrollstab sollten den Kontrollrat beraten, dessen Beschlüsse ausführen und die deutschen Behörden überwachen. Die Verhaftung der Regierung Dönitz und die Übernahme der Regierung durch den interallüerten Kontrollrat bedeutete das Ende des Dritten Reiches. Deutschland hatte seine Souveränität verloren, als Staat blieb es bestehen. Dönitz legte, als am 7. Juli 1945 im Gefangenenlager in Bad Mondorf eine Anordnung verlesen wurde, die den Satz enthielt, der deutsche Staat habe aufgehört zu bestehen, Protest ein: „Durch die mit meiner Vollmacht am 9. Mai abgeschlossene bedingungslose Kapitulation der drei Wehrmachtsteile hat weder das Deutsche Reich aufgehört zu bestehen, noch ist dadurch mein Amt als Staatsoberhaupt beendet worden. Auch die von mir berufene geschäftsführende Regierung ist im Amt geblieben; mit ihr hat die alliierte Uberwachungskommission in Flensburg bis zum 23. Mai im Geschäftsverkehr gestanden. Die im Anschluß an die Kapitulation erfolgende vollständige Besetzung des deutschen Reichsgebietes hat an dieser Rechtslage nichts geändert. Sie hat nur mich und meine Regierung tatsächlich behindert, in Deutschland Regierungshandlungen zu vollziehen. Ebensowenig konnte meiner und meiner Regierung Gefangennahme auf die dargelegte Rechtslage Einfluß haben." Dönitz erreichte, daß der von ihm beanstandete Satz geändert wurde in die Fassung, die deutsche Regierung habe aufgehört zu bestehen. Hitler war 1933 den äußeren Rechtsformen nach legal an die Macht gekommen, hatte 1945 Dönitz zu seinem Nachfolger ernannt, wozu er nach dem Gesetz vom 1. August 1934 über „das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches" berechtigt war. Das Ausland hatte mit Hitler, kurze Zeit auch mit Dönitz als dem Staatsoberhaupt verhandelt. Auch später sind an der Legalität des Hitlerstaates und noch mehr an der Rechtsgültigkeit der Dönitzregierung staatsrechtliche Zweifel geäußert worden; ebenso vertreten manche die Meinung, Hitler habe Staat und Partei so eng miteinander verknüpft, daß mit der militärischen Kapitulation, der Auflösung der NSDAP und der Übernahme der Regierungsgewalt durch die Alliierten das Deutsche Reich als Staat zu bestehen aufgehört habe und der Wiederaufbau ein völlig neuer Anfang sei. Nach der vorherrschenden Lehre bestand jedoch das Deutsche Reich fort und war nur zunächst seiner Handlungsfähigkeit beraubt. Die Kontrollratserklärung vom 5. Juni betonte ausdrücklich, 894

Ende des Dritten Reiches daß die Übernahme der gesamten Regierungsgewalt durch die vier Siegermächte nicht „die Annektierung Deutschlands" bewirke. Wie schon auf der Jaltakonferenz wurde sechs Wochen nach der Kontrollratserklärung auf der Potsdamer Konferenz (S. 905) der Grundsatz aufgestellt: „Es ist nicht die Absicht der Alliierten, das deutsche Volk zu vernichten oder zu versklaven. Die Alliierten wollen dem deutschen Volk die Möglichkeit geben, sich darauf vorzubereiten, sein Leben auf einer demokratischen und friedlichen Grundlage von neuem wiederaufzubauen." Zunächst sollte aber das deutsche Volk „die furchtbaren Verbrechen büßen, die unter der Leitung derer, welche es zur Zeit ihrer Erfolge offen gebilligt und denen es blind gehorcht hat, begangen wurden".

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Sonderprobleme der Geschichte des „Dritten Reiches"

Zu Hitlers Persönlichkeit Die Eigenschaft Hitlers, mit der sich die Erinnerung an ihn bei den meisten Deutschen am augenfälligsten verbindet, war seine erstaunliche Fähigkeit der Massensuggestion, seine Begabung als Volksredner. Erstmals fand er damit 1919 in München Beachtung mit heftigen Angriffen gegen die Juden. Welche Macht Hitler auf seine Zuhörer ausübte, schildert anschaulich Musmanno: „Die Kunst des Redners besteht in seiner Überzeugungskraft; und keiner, der das Delirium seiner Versammlungen erlebt hat, kann daran zweifeln, daß Hitler überzeugend wirkte . . . Die Kraft seiner Stimme, die akrobatische Hysterie seiner Vortragsweise wirkten auf seine Hörer wie das Pochen von Dampfhämmern gegen ihr Nervensystem, bis die Befreiung vom Druck nur durch ein Rufen und Schreien eintreten konnte, das in seiner Einstimmigkeit jeden Hörer davon überzeugte, daß das Paradies nahe sei . . . Nichts vollzog sich in größerer Öffentlichkeit als seine Reden, in denen er Tausende von normalen menschlichen Wesen in einen Zustand der Raserei versetzte." Hitler bereitete seine Reden sorgfältig vor, er studierte, wie sein Kammerdiener Linge erzählt, die Gesten vor dem Spiegel ein, die Reden wirkten trotzdem spontan, und im Augenblick glaubte Hitler wohl selbst, was er sagte. Er glaubte auch an seine Auserwähltheit. In seinem Wesen lag eine seltsame Mischung von Minderwertigkeitsgefühlen und einem übersteigerten Selbst- und Sendungsbewußtsein. Hieraus erklärt sich sein Vermeiden jeder Diskussion. Im öffentlichen Leben sorgten seine Anhänger und Saalschutzordner dafür, daß kein Widerspruch laut werden konnte, im privaten Leben verwehrte Hitler mit andauerndem Reden jedem Partner die Möglichkeit, seine Ansicht zu verteidigen. Wenn die Monologe doch nicht durchdrangen, wußte sich Hitlers Schauspielkunst liebenswürdiger Ablenkung auf völlig andere Themen ebenso wie maßloser Wutausbrüche zu bedienen. Diese veranlaßten seine Umgebung, Hitler möglichst nichts Unangenehmes zu melden, er erfuhr es auch so, aber er konnte es dann leichter unberücksichtigt lassen. Er hatte keinen Freund, vertrauliche Privatbriefe von ihm sind bisher der Öffentlichkeit nicht bekannt geworden, seine Beziehungen zu Frauen sind undurchsichtig, wahrscheinlich blieben sie oberflächlich. Irreführend ist auch das Bild Hitlers als „größter Feldherr aller Zeiten" und als hervorragender Außenpolitiker. Bei aller Tatkraft, Zähigkeit und Gerissenheit, ja viel-

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Zur Frage der Kollektivschuld leicht bisweilen Genialität, war er im Grunde ein in seinen Wunschbildern befangener, von sich eingenommener Dilettant und erzielte seine unbestreitbaren Erfolge nur, solange ihm das Ausland nicht geschlossen entgegentrat. Die Heerführer des Zweiten Weltkriegs haben Hitler viele Fehler in der Führung nachgewiesen — ihre Vermeidung hätte vielleicht große Verluste an Menschen und Material erspart, aber keinen anderen Ausgang des Krieges herbeiführen können. Man hat Hitler einen Dämon, auch einen tatsächlich Wahnsinnigen genannt. Vom ärztlichen Standpunkt aus war er nicht geisteskrank. Zwar ließen sich in den letzten Jahren des Krieges, etwa Ende 1942 langsam beginnend, die Anzeichen einer Paralysis agitans erkennen, wie Zittern der linken Körperhälfte, schlürfender Gang, zeitlupenartige Bewegungen, Gedächtnisschwäche. Doch ist diese Krankheit nicht als Entschuldigung für Hitler anzuführen, denn auch wenn er gesund geblieben wäre, hätte sich nichts geändert an dem unnatürlichen und aus einem fürchterlich extremen Charakterbild entsprungenen Entschluß: Entweder Sieg — oder Untergang des ganzen deutschen Volkes. Herrschsucht war letzten Endes der Hitlers Wesen und Streben bestimmende Charakterzug. Damit verband sich bei ihm mehr und mehr der Glaube, in der Beurteilung aller das politische und kulturelle Leben berührenden Fragen jedem überlegen zu sein, und also bei der Lösung solcher Fragen allein seiner Auffassung und insbesondere seinen perversen ethischen Wertmaßstäben folgen zu sollen. Der Glaube an seine Sendung, an die Erreichung seiner Ziele durch die Kraft seines Willens, an die Unfehlbarkeit seines Urteils und seiner Weltanschauung wuchs bei ihm mit jedem Erfolg. Er scheute kein Verbrechen, wenn es der Stärkimg seiner Macht diente. Die Gutgläubigen in Deutschland irrten, wenn sie meinten, Hitler wüßte gar nicht, was in seinem Namen an Gewalttaten, Rechtsbrüchen und Untreue vor sich ging: er war nicht nur durchweg im Büde — vieles geschah auf seine persönliche Anordnung.

Zur Frage der Kollektivschuld Die Schmach und Schuld des Hitlerregimes lastet nun einmal auf Deutschland. Wie es geschehen konnte, daß Hitler und sein Staat soviel Unheil über Deutschland und die Welt brachten, haben nach dem „Sturz in die Tiefe" Deutsche und Ausländer zu deuten versucht. Für die Außenstehenden lag es nahe, zunächst das ganze deutsche Volk für die Verbrechen der Hitler-Regierung verantwortlich zu machen; denn wie sollten sonst, ohne die Zustimmung oder wenigstens das Gewährenlassen der weitaus überwiegenden Mehrheit der Deutschen, die Untaten der Hitlerzeit möglich gewesen sein? Die „gerade Linie von dem Preußenkönig Friedrich dem Großen über Bismarck zu Hitler", der seit Jahrhunderten anerzogene „Untertanengeist" der Deutschen, ihre Freude an Uniformen, an blindem Gehorsam, ihre Unfähigkeit zu echter Demokratie, ihr Mangel an Zivilcourage, an bürgerlichem Verantwortungsbewußtsein und ähnliches wurden zur Erklärung angeführt.

57 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

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Sonderprobleme zur Geschichte des „Dritten Reídles" Aber jede derartig verallgemeinernde und vereinfachende Beurteilung geschichtlicher Ereignisse, die auf einer unermeßlich größeren Vielfalt politischer, sozialer, wirtschaftlicher und weltanschaulicher Vorgänge beruhen, ist in der Regel abwegig, und so ist es auch nicht angängig, von einer Schuld des deutschen Volkes schlechthin zu sprechen. Das geschichtliche Geschehen vollzieht sich nicht gradlinig und zwangsläufig, und der Sturz Deutschlands in die schmachvolle Hitlersche Despotie läßt sich nicht restlos erklären. Schwer belastend scheint freilich, daß ein Mensch wie Hitler so schnell eine derart beherrschende Stellung in Deutschland erlangen konnte. Dies ergab sich jedoch nicht aus besonders bösartiger Veranlagung des deutschen Volkes, sondern aus einer Entwicklung, der Hitler dann sein Gepräge zu geben verstand. Die Neigung zu Diktaturen lag in der Zeit, so hatten etwa Kemal Pascha in der Türkei, Mussolini in Italien, Pilsudski in Polen nach den Erschütterungen des Ersten Weltkrieges autoritäre Regierungssysteme errichtet. In Deutschland kämpfte seit 1919 die Weimarer Republik unter unsäglichen innen- und außenpolitischen Schwierigkeiten um den Aufbau einer Demokratie, die erst versagte, als die Nöte der Weltwirtschaftskrise ins fast Untragbare stiegen. Erst dann wurde das deutsche Volk für die Verlockungen der NSDAP anfällig. Hitlers Verheißungen entsprachen im Anfang durchaus den Idealen anständiger Bürger: außenpolitisch Friede und Freundschaft mit allen Staaten unter Wahrung der deutschen Gleichberechtigung und Abbau der letzten Fesseln des Versailler Vertrages; gleiche Abrüstung aller Staaten; innenpolitisch: Sparsamkeit und Sauberkeit in der Staatsführung; gleiches Recht für alle und Beurteilung nur nach der Leistung; keinen Klassenkampf, sondern wirkliche Volksgemeinschaft; Arbeit und Anteil an den Kulturgütern der Nation für alle; Förderung und Ertüchtigung der Jugend; Bejahung des Christentums als Grundlage aller Moral. All das, mitreißend vorgetragen, ließ die Hörer vergessen, wie unehrlich und mit welchen Gewaltmitteln Hitler die Wahlkämpfe in der Weimarer Republik hatte führen lassen. Die von Goebbels äußerst geschidct gelenkte Propaganda stellte dem Volk den Führer dar als schlichten Mann, als unermüdlichen Arbeiter, den Freund alles wahrhaft Deutschen, dem Ehre, Treue, Wahrheit die Grundlage des Lebens seien, und die Partei, für die gleichen Ideale eintretend, von den obersten Führern bis zum letzten Blockwart nur darnach strebend, dem Führer und damit Deutschland zu dienen. Viele tüchtige Fachleute stellten sich Hitler zur Verfügung, weil sie meinten, sie müßten ihm helfen, die Genossen der wilden Kampfjahre zurückzudrängen. Schacht, Gürtner, Neurath und andere glaubten, Hitler werde die „Kinderkrankheiten" seiner Bewegung überwinden. Die Wahlen bestätigten den Gutgläubigen, daß fast 100 % des deutschen Volkes hinter dem Führer ständen. Das Ausland sah teils wohlwollend, teils spöttisch zu; auch hier waren die Besorgten zunächst in der Minderzahl. Der Versailler Vertrag hatte sich überlebt, die Völker wollten Frieden. Weshalb sollte sich das Ausland in die innerpolitischen Angelegenheiten der Deutschen einmischen? Auch das beruhigte wieder die Zweifelnden in Deutschland. Nur wenige, von Anfang an zum Widerstand Entschlossene, trauten dem halbgebildeten „Bohémien" mit den vielen un898

Zur Frage der Kollektivschuld sinnig erscheinenden Ideen von Brechung der Zinsknechtschaft, arischer Herrenrasse und ähnlichem zu, daß er wirklich die in „Mein Kampf" gesteckten Ziele mit Lug und Trug, mit Mord und Gewalt Schritt für Schritt folgerichtig erkämpfen werde. Als dann in den ersten Monaten nach der Machtergreifung die wüsten Ausschreitungen der SA die Anständigen erschreckten, als Schlag auf Schlag die Macht an die NSDAP überging, die Länder, die Gewerkschaften, die Parteien, die Beamten, das Geistesleben, die Presse, das Erziehungswesen usw. gleichgeschaltet und einfach zu Domänen der Partei wurden, deren Reichsämter und Berufsverbände der Beamten, Ärzte, Juristen usw. ihr die Kontrolle des ganzen Volkes und jedes einzelnen ermöglichten, war es für einen erfolgreichen Widerstand zu spät. Wer während der Hitlerzeit nicht in Deutschland lebte, vermag sich die Wirkung der raffinierten Regierungsmethoden kaum vorzustellen: Hitler wußte für seine Maßnahmen eine suggestive Begeisterung zu erwecken, alle ihm Widerstrebenden durch brutalen Terror niederzuhalten. Leider gab es Ehrgeizige genug, die sich in die Partei drängten; die Gleichgültigen standen abseits, die offen Widerstrebenden kamen in die Konzentrationslager. Der „Zauber" von Hitlers Persönlichkeit, der „bezwingende Blidk" seiner Augen, die „Dämonie" seines Wesens wirkten bei weitem nicht auf alle Menschen, aber es gab reichlich Hysteriker beiderlei Geschlechtes, die sich zu einer Vergötterung des Führers verstiegen; es gab die Nutznießer in Partei und Staat, die mit echter oder geheuchelter linientreuer Gesinnung es zu einem Amt oder Ämtchen brachten und sich nun, meist Träger einer Uniform, wichtig dünkten als Förderer des „Aufbauwerkes des Führers" und der richtigen Gesinnung im Volke; es gab eine zahlenmäßig schwer zu erfassende Menge von „Mitläufern", die sich für die nationalen oder sozialen Ideale des Parteiprogramms ehrlich begeisterten und deshalb bereit waren, über die „Schönheitsfehler" hinwegzusehen; es gab sehr viele Deutsche, die sich, angewidert von der Anmaßung, der Unfreiheit, der Lautstärke des ganzen Parteibetriebes, in sich selbst zurückzogen; es gab die unmittelbar an Leib, Leben und Gut bedrohten, Juden, Demokraten, Sozialisten, und es gab verschiedene Kreise der Widerstandskämpfer, die gewillt waren, alles für den Sturz des Regimes zu opfern. Wäre das Volk in seiner Gesamtheit für Hitler gewesen, wie die nationalsozialistische Propaganda glauben machen wollte, und wie es das Ausland größtenteils geglaubt hat, so wären die Konzentrationslager nicht nötig gewesen, durch die bis Kriegsanfang etwa eine Million, und zwar fast ausschließlich Deutsche, gegangen sein sollen. Die These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes, gegen die sich die Mehrzahl der Deutschen leidenschaftlich wehrte, und die 1945/46 die Grundlage für das Maß der Deutschland auferlegten Bußen bildete, gab später auch das Ausland im wesentlichen auf, als man erkannte, wie die verlogene Propaganda die Menge getäuscht hatte, wie hart der Terror im Dritten Reich und wie weitgehend trotzdem der Widerstand gegen Hitler gewesen war. Weder das Volk noch die Oberste Heeresleitung wollten den Krieg, in den Hitler mit seinem fanatischen Willen und seiner absoluten Machtstellung Deutsch899 57·

Sonderprobleme zur Geschichte des „Dritten Reiches" land riß. Als daraus nach großen anfänglichen Erfolgen ein Kampf auf Leben und Tod für die Nation entstand und Verbrechen und Terror unvorstellbar anwuchsen, gerieten die 2x1 aktivem Widerstand Bereiten in den immer schwereren Gewissenskonflikt, Hoch- und Landesverrat für die Rettung des Reiches zu begehen und dabei vielleicht die kämpfenden Heere erst recht in eine ausweglose Lage zu bringen. Wohl die Mehrheit der Deutschen an der Front und in der Heimat hielt nicht aus Heroismus oder in festem Glauben an den Endsieg, den viele nicht einmal wünschten, bis zum bitteren Ende durch, sondern in dumpfem Fatalismus. Den Anklagen gegen Deutschland stehen auch Stimmen der Anerkennung gegenüber. Im britischen Unterhaus sagte Churchill 1946 in der Rede über einen Friedensvertrag mit Deutschland: „In Deutschland lebte eine Opposition, die quantitativ durch ihre Opfer und eine entnervende internationale Politik immer schwächer wurde, aber zu dem Edelsten und Größten gehört, das in der politischen Geschichte aller Völker je hervorgebracht wurde. Diese Männer kämpften ohne Hilfe von innen oder außen, einzig getrieben von der Unruhe ihres Gewissens. Solange sie lebten, waren sie für uns unerkennbar, da sie sich tarnen mußten. Aber an den Toten ist der Widerstand sichtbar geworden. Diese Toten vermögen nicht alles zu rechtfertigen, was in Deutschland geschah. Aber ihre Taten und Opfer sind das unzerstörbare Fundament eines neuen Aufbaus. Wir hoffen auf die Zeit, in der erst das heroische Kapitel der inneren deutschen Geschichte seine gerechte Würdigung findet."

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Siebentes Buch,

TIEFSTAND, WIEDERAUFSTIEG UND TEILUNG DEUTSCHLANDS

Deutschland am Nullpunkt „Es begann bei Null" überschrieb die „Frankfurter Illustrierte" im Jahr 1954 eine Artikelserie; sie sollte die beim Zusammenbruch von Hitlers Reich heraufbeschworenen Nöte in Erinnerung rufen. Damals, 1945, war wirklich die deutsche Geschichte auf den Nullpunkt herabgesunken, und außer Sowjetrußland wußte niemand recht, was nun zu tun sei. Die deutschen Städte, in die des Gegners siegreiche Armeen einzogen, waren mehr oder weniger Trümmerhaufen, die Versorgung mit Gas, Strom und Wasser war weitgehend unterbrochen, der Verkehr lag fast völlig lahm, weil die Transportanlagen und Wagenparks vernichtet oder beschlagnahmt, Benzin und Kohlen kaum erhältlich und die Straßen durch Schutt versperrt waren. Die besten nicht zerstörten Wohnungen und Verwaltungsgebäude beschlagnahmten die Sieger für sich, in dem Rest, in Kellerlöchern und Baracken drängten sich die Einheimischen und die Unmenge Flüchtlinge aus den Ostgebieten zusammen. Als im Januar 1943 auf der Casablanca-Konferenz die „bedingungslose Kapitulation" Deutschlands als Kriegsziel aufgestellt wurde, hatten Churchill und Cordell Hull gewarnt vor der schwierigen Aufgabe der staatlichen Neuordnung eines fremden Landes, die dann den Siegern zufallen werde. Nun war es soweit. Der amerikanische, der englische, der russische und der französische Oberbefehlshaber hatten jeder in seiner Zone die gesamte Macht auszuüben, keinem Deutschen stand irgendein Recht zu. Die Millionen der entwaffneten Soldaten kamen in Sammellager. Die Plötzlichkeit der Kapitulation und die Masse der Gefangenen brachten es mit sich, daß auch in den Westzonen die ersten Wochen für einen großen Teil der Kriegsgefangenen unsagbar hart wurden. Ohne Unterkünfte, ohne Verpflegung, ohne sanitäre Einrichtungen und ohne ärztliche Betreuung warteten sie hinter Stacheldraht auf ihre Entlassung. Die Leichenberge und die halbverhungerten und kranken Uberlebenden der Konzentrationslager hatten bewirkt, daß bei den Siegern vorerst jedes Mitleid schwieg und von ihnen die Bestimmungen der Genfer Konvention für die Kriegsgefangenen nicht beachtet wurden. Die Millionen ausländischer, nach Deutschland verschleppter Zwangsarbeiter mußten versorgt und möglichst bald in ihre Heimat befördert werden. Unter diesen Ausländem wie unter den befreiten Insassen der Konzentrationslager waren auch viele kriminelle Elemente, die ihre nun bevorzugte Stellung zu 903

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands Plünderungen und Mord ausnützten, bis die Besatzungsmächte sich zum Einschreiten genötigt sahen. Da die Besatzungsmächte die Vernichtung des Nationalsozialismus als ihr Hauptanliegen betrachteten und deshalb alle Parteimitglieder sofort aus ihren Ämtern entließen, war die gesamte Verwaltung zunächst lahmgelegt. Mit Hilfe von „Fragebogen" bestellten die Besatzungsmächte aus kirchlichen und sozialistischen Kreisen möglichst „unbelastete" Männer zu Bürgermeistern, die für Versorgung der Bevölkerung mit Lebensmitteln, für Schutträumung, Funktionieren von Wasserleitung, Strom und Gas verantwortlich gemacht wurden. Natürlich fiel die Wahl dabei nicht immer auf die Fähigsten, und das Verbot der Beschäftigung von Parteigenossen erschwerte sehr die Auswahl der Mitarbeiter, besonders der Ingenieure und Techniker. Immerhin begann von den Gemeinden her der Aufbau, gefördert durch das Bestreben der Sieger, Seuchen und Unruhen zu verhindern. Trotz vieler Härten und Ausschreitungen herrschte unter den westlichen Besatzungsmächten im allgemeinen gute Mannszucht. In den deutschen Ostgebieten sah sich die russische Heeresleitung bald gezwungen, gegen das zügellose Plündern, Morden und Vergewaltigen einzuschreiten. Stalin ließ hier jedoch von Anfang an unerbittlich durchführen, was auf der Konferenz in Jaita flüchtig besprochen und von Roosevelt und Churchill halb und halb zugesagt worden war: die Vertreibung der Deutschen aus den Gebieten jenseits der Oder-Neiße-Linie, Demontage der Fabriken und Verkehrsanlagen sowie Beschlagnahme aller Werte für Reparationszwecke; außerdem wurden sofort alle Maßnahmen zur Durchführung des Kommunismus eingeleitet: Aufteilung des Grundbesitzes, Enteignung „kapitalistischer" Unternehmungen, Verstaatlichung der Grundindustrien und Bergwerke sowie Schaffung einer rein kommunistischen Arbeiterpartei. Während in Churchills Augen „die kommunistische Gefahr an die Stelle des bisherigen Feindes getreten" war, glaubte Präsident Traman noch, „daß Stalin ein Mann sei, der getroffene Vereinbarungen einhält . . . und daß sich Rußland mit ganzem Herzen in die Pläne für eine Weltfriedensorganisation eingliedern werde". Vereinte Nationen Ihre Gründimg war eben im Gange. Am 25. April hatten sich die Vertreter von 50 Ländern in San Franzisko versammelt, um die durch die Atlantikcharta und die Konferenzen von Dumbarton Oaks und Jaita vorbereitete Gründung der Vereinten Nationen (United Nations, UN) zu vollziehen, am 26. Juni 1945 konnte die Charta, die Gründungsurkunde, unterschrieben werden. „Ein großartiges Instrument für den Frieden, die Sicherheit und den menschlichen Fortschritt in aller Welt", nannte Truman die Charta in seiner Schlußansprache, „nun muß die Welt es nutzen . . . Auf unserer entschiedenen Tat ruht die Hoffnung aller der Gefallenen, der heute Lebenden, der noch Ungeborenen, die Hoffnung auf eine von freien Völkern bewohnte Welt, auf eine in Wohlstand lebende Welt, auf eine 904

Potsdamer Konferenz in Freundschaft verbundene Gemeinschaft der Völker". Nachdem die meisten der beteiligten Staaten die Charta ratifiziert hatten, trat sie am 24. Oktober 1945 in Kraft. Am 18. April 1946 beschloß der noch einmal in Genf tagende alte Völkerbund seine Auflösung und übertrug seine Aufgaben der UN. Am 23. Oktober 1946 trat dann die erste Vollversammlung der UN in Lake Success auf Long Island im Staat New York zusammen. Potsdamer

Konferenz

Trumans Zuversicht sollte jedoch sehr bald erschüttert werden. Schon drei Tage nach der Kapitulation Deutschlands drängte Churchill auf ein Treffen der „Großen Drei", um für die Behandlung Deutschlands und andere schwebende Fragen feste und einheitliche Abmachungen zu treffen. So kam die Potsdamer Konferenz vom 17. Juli bis 2. August 1945 zustande. Stalin, Truman und Churchill hielten im Schloß Cäcilienhof des früheren deutschen Kronprinzen ihre Sitzungen ab. In Churchills Begleitung befand sich der Führer der Labour Partei, Clement Attlee, der nach den Neuwahlen in England vom 28. Juli als neuer Ministerpräsident nach Potsdam allein zurückkehrte, das englische Volk hatte der konservativen Partei Churchills eine empfindliche Niederlage bereitet. Nach außen hin wurde der Anschein freundschaftlichen Einverständnisses zwischen den Großen Drei gewahrt, aber in den Debatten kamen die unversöhnlichen Gegensätze zwischen der Sowjetunion und den westlichen Demokratien schon klar zum Ausdruck. Stalin erstrebte den Sieg des Bolschewismus und gedachte ihn kompromißlos durchzuführen, soweit seine Armeen nach Westen vorgerückt waren. Stalin versprach zwar in Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Polen „freie" Wahlen zuzulassen, bei denen alle demokratischen und antifaschistischen Parteien Kandidaten aufstellen und die allüerte Presse ungehindert über die Ereignisse vor und bei den Wahlen berichten dürften, aber Truman und Churchill waren sich bewußt, daß sie in den Ländern hinter dem eisernen Vorhang, von der sowjetisch besetzten Zone Deutschlands bis zum Balkan, nichts mehr mitzureden haben würden. Am härtesten ging der Kampf um Polen, dessentwegen England ja 1939 den Kampf begonnen hatte. In Jaita war Rußland zugestanden worden, seine Grenze bis zur Curzonlinie vorzuschieben, Polen sollte mit deutschen Gebieten entschädigt werden. Nun stellte Stalin seine Bundesgenossen vor die vollendete Tatsache, daß ganz Ostdeutschland jenseits der Oder-Neiße-Linie bereits unter polnischer Verwaltung stand. Zur Rechtfertigung dieser Maßnahme log Stalin glattweg, es befänden sich dort keine Deutschen mehr, infolgedessen müßten die Polen die Bestellung der Felder und überhaupt die Sorge für das Land übernehmen. Gewiß waren vor der Roten Armee viele Deutsche geflohen, hatten die Polen einige Hunderttausende brutal in die sowjetische Besatzungszone getrieben. Weitere Hunderttausende waren als Zwangsarbeiter nach Rußland deportiert worden, trotzdem lebte in der alten Heimat noch etwa die Hälfte der über 11 Millionen Deutschen, die nun der vollständigen Enteignung und Vertreibung bei erniedrigender und grausamer Behandlung anheimfielen. Die Westmächte setzten zwar durch, daß die endgültige 905

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands Festsetzung der territorialen Grenzen erst in dem künftigen Friedensvertrag geregelt werde, stimmten aber zu, daß Königsberg und die Hälfte Ostpreußens der Sowjetunion, das übrige Ostdeutschland einschließlich der früheren Freien Stadt Danzig Polen zur „provisorischen" Verwaltung unterstellt und die in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn zurückgebliebene deutsche Bevölkerung „in ordnungsgemäßer und humaner Weise" nach Deutschland überführt werden. Stalin hielt starr an seiner Politik fest. Die Westmächte konnten auf ihn einzig bei der Reglung der Reparationsfrage einen Druck ausüben: jedes Land sollte die Ansprüche für die im Krieg erlittenen Verluste in seiner Zone und an den in seinen Händen befindlichen deutschen Auslandsguthaben befriedigen. Rußland beanspruchte darüber hinaus noch 25% aus den Westzonen, davon wurden ihm 10% an demontierter deutscher Kriegsindustrie zugesagt und 15% lediglich im Austausch gegen landwirtschaftliche Produkte, schlesische Kohle und weitere Waren nach Vereinbarung. Im übrigen waren sich dem Wortlaut nach die Bundesgenossen über die Behandlung Deutschlands einig. Der Westen verband mit den Begriffen „Demokratie" und „Freiheit" freilich völlig andere Vorstellungen als Rußland, das unter einem „einheitlichen, demokratischen und friedliebenden Deutschland" nur ein nach bolschewistischem Muster regiertes Land verstand; allein die „Herrschaft der Werktätigen" unabhängig von „ausländischem Monopolkapital" gewähre die Sicherheit, daß Deutschland entmilitarisiert bleibe und sein Rüstungspotential auch nicht von irgendeiner Mächtegruppe gegen die Sowjetunion eingesetzt werden könne. Die Westmächte bedurften noch einer ganzen Reihe bitterer Erfahrungen, bis sie erkannten, daß ihr Traum von der einen unteilbaren Welt, die all ihre Probleme friedlich regelt, an der kommunistisch-bolschewistischen Weltherrschaftsideologie scheitere und bis sie daraus die Konsequenzen zogen. Im Kommuniqué der Potsdamer Konferenz hielten die drei Mächte noch an der Einheit Deutschlands fest. Der Kontrollrat als Zentralorgan sollte bis zum Friedensvertrag die Geschicke Deutschlands leiten und die wirtschaftliche Einheit bewahren, während jeder der vier Oberbefehlshaber in seiner Zone für die Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Entmonopolisierung, die Bodenreform und den Wiederaufbau eines demokratischen und friedlichen deutschen Staates zu sorgen hatte. „Das deutsche Volk muß überzeugt werden, daß es eine totale militärische Niederlage erlitten hat und daß es sich nicht der Verantwortung entziehen kann für das, was es selbst dadurch auf sich geladen hat, daß seine eigene mitleidlose Kriegführung und der fanatische Widerstand der Nazis die deutsche Wirtschaft zerstört und Chaos und Elend unvermeidlich gemacht haben . . . Kriegsverbrecher und alle diejenigen, die an der Planung oder Verwirklichung nazistischer Maßnahmen, die Greuel oder Kriegsverbrechen nach sich zogen oder als Ergebnis hatten, teilgenommen haben, sind zu verhaften und dem Gericht zu übergeben. Nazistische Parteiführer, einflußreiche Nazianhänger und die Leiter der nazistischen Ämter und Organisationen und alle anderen Personen, die für die Besatzung und ihre Ziele gefährlich sind, sind zu verhaften und zu internieren. Alle Mitglieder der nazistischen Partei, welche mehr als nominell an ihrer Tätigkeit 906

Kapitulation Japans teilgenommen haben, und alle anderen Personen, die den alliierten Zielen feindlich gegenüberstehen, sind aus den öffentlichen oder halböffentlichen Ämtern und von den verantwortlichen Posten in wichtigen Privatunternehmen zu entfernen." Alle nazistischen Gesetze seien aufzuheben, das Erziehungs-, das Gerichtswesen und die lokale Selbstverwaltung nach den Grundsätzen der Demokratie einzurichten und zu überwachen. „Bis auf weiteres wird keine zentrale deutsche Regierung errichtet werden. Jedoch werden einige wichtige zentrale deutsche Verwaltungsabteilungen errichtet werden, an deren Spitze Staatssekretäre stehen, und zwar auf den Gebieten des Finanzwesens, des Transportwesens, des Verkehrswesens, des Außenhandels und der Industrie. Diese Abteilungen werden unter der Leitung des Kontrollrates tätig sein." Erlaubt wurden alle demokratischen politischen Parteien, freie Gewerkschaften, Freiheit der Rede, der Presse und der Religion, soweit sie die Sicherheit der Besatzungsmächte nicht gefährden. Der Vernichtung des deutschen Kriegspotentials dienten auch die Dezentralisierung der Wirtschaft, Auflösung der Kartelle, Syndikate, Trusts, das Verbot nicht nur der Herstellung von Kriegsmaterial, sondern auch aller Metalle, Chemikalien usw., die dazu gebraucht werden. Die deutsche Wirtschaft sollte nur der „Erhaltung eines mittleren Lebensstandards dienen, der den der europäischen Länder nicht übersteigt". War auch der Morgenthauplan (S. 871) nicht angenommen, so erinnerten diese Bestimmungen doch sehr stark an ihn. Die deutsche Kriegs- und Handelsmarine sollte unter die Sieger verteilt werden. Zur Durchführung dieser Beschlüsse und zur Reglung aller Fragen, über die sich die Großen Drei in Potsdam nicht einigen konnten, wurde ein Rat der Außenminister mit dem Sitz in London geschaffen, an dem neben den Vereinigten Staaten, Großbritannien und der Sowjetunion auch Frankreich und China teilnehmen sollten; „als eine vordringliche und wichtige Aufgabe des Rates wird ihm aufgetragen, Friedensverträge für Italien, Rumänien, Bulgarien, Ungarn und Finnland aufzusetzen". Der Friedensvertrag mit Deutschland wurde bis zur Schaffung einer Zentralregierung zurückgestellt. — Die Friedensverträge mit Finnland, Italien, Ungarn, Rumänien und Bulgarien wurden nach einer Reihe von Konferenzen der Außenminister am 10. Februar 1947 in Paris unterzeichnet.

Kapitulation Japans Auf der Potsdamer Konferenz erneuerte Stalin seine Zusage, sich an dem Krieg gegen Japan zu beteiligen, worauf vor allem der amerikanische Generalstab drängte. Japan war von dem 1942 erreichten Höhepunkt seiner Kriegserfolge (S. 826) in äußerst erbitterten, blutigen Kämpfen, deren Hauptlast die Amerikaner trugen, von Insel zu Insel zurückgedrängt und durch furchtbare Luftangriffe auf das Mutterland zermürbt worden. Truman und Churchill forderten gemeinsam mit Tschiangkaischek, der telegraphisch zugestimmt hatte, am 26. Juli 1945 von Potsdam aus ultimativ zur bedingungslosen Kapitulation auf. Das japanische Mili907

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands tärkabinett lehnte jedoch ab trotz der Aussichtslosigkeit der Lage Japans. Am 2. August endete die Potsdamer Konferenz mit der Unterzeichnung des Kommuniqués. In seinen Memoiren schreibt Truman: „Das von den Russen mitunterzeichnete Dokument eröffnete die Aussicht auf eine friedliche Zusammenarbeit in Europa. Trotzdem hatte ich einsehen müssen, daß die Russen rücksichtslose, einzig und allein auf ihren Vorteil erpidite Verhandlungspartner waren . . . Die russische Außenpolitik beruhte ganz offensichtlich auf der Annahme, daß wir einer großen Wirtschaftskrise entgegengingen, und sie planten jetzt schon, aus unserem Rückschlag Nutzen zu ziehen. So sehr mir an Rußlands Beteiligung am fernöstlichen Kriege lag, war ich aber jetzt doch auf Grund meiner Potsdamer Erfahrungen entschlossen, die Russen unter keinen Umständen an der Besetzung Japans zu beteiligen . . . Im Stillen Ozean sollte uns die russische Taktik nicht stören. Macht ist das einzige, was die Russen verstehen." Nachdem mit Millionen von Flugblättern die Japaner gewarnt und ihnen die Kapitulationsforderungen bekanntgegeben waren, wurde am 6. August die erste Atombombe auf Hiroshima, am 9. August die zweite auf Nagasaki abgeworfen; die Verheerungen, die Verluste an Menschenleben, die Verletzungen und Gesundheitsschäden der Überlebenden waren entsetzlich. Am 8. August erklärte die Sowjetunion Japan den Krieg und rückte am 10. August von drei Seiten in die Mandschurei ein. Nun gab auch Japan den Kampf auf, den 15. August feiern die Allüerten als „Siegestag" über Japan, am 2. September wurde die Kapitulation an Bord des amerikanischen Schlachtschiffes „Missouri" in der Bucht von Tokio unterzeichnet. Das Oberkommando über die verbündeten Mächte zur Durchführung der Kapitulationsbedingungen erhielt General MacArthur. Stalin geriet auch hier sofort in schärfsten Gegensatz zu seinen Verbündeten; er stellte die vollen Ansprüche einer kriegführenden Macht, obwohl er nur in den letzten Tagen am Kampfe teilgenommen hatte, die Mandschurei fast kampflos besetzte und sich durch die Demontage der von den Japanern dort aufgebauten Schwerindustrie schadlos hielt. Auf Anweisung Trumans verhinderte MacArthur jede weitere Ausdehnung des rassischen Besatzungsgebietes: Mandschurei, Korea nördlich des 38. Breitengrades, Sachalin und die Kurilen. Der im ganzen geschickten und großzügigen Politik MacArthurs gelang es, die Entmilitarisierung und Demokratisierung Japans so durchzuführen, daß es sich dem Westen anschloß, der kommunistische Einfluß hielt sich in mäßigen Grenzen. 1951 beendete ein nur mit den Vereinigten Staaten abgeschlossener Friedensvertrag die eigentliche Besetzungszeit. In China dagegen siegte der von Stalin geförderte Kommunismus unter Mao Tse Tung in jahrelangen Kämpfen über die von den Vereinigten Staaten gestützte korrupte Regierung Tschiangkaischeks.

Hungerjahre Die Potsdamer Konferenz zeichnete den Weg Deutschlands vor: Entmilitarisierung, Entnazifizierung, gebührende Buße, Wiederaufbau auf demokratischer 908

Hungerjahre und friedlicher Grundlage, wirtschaftliche Einheit mit deutschen Zentralbehörden unter Aufsicht des Kontrollrats in Berlin. Aber die Geschicke Deutschlands gestalteten sich in der Praxis ganz anders. Jede Besatzungszone führte die Beschlüsse verschieden durch. Den Deutschen wurde nachdrücklich klargemacht, daß ihr Land „nicht zum Zweck seiner Befreiung, sondern als besiegter Feindstaat" besetzt sei, wie es in der Direktive für Eisenhower vom April 1945 heißt; den Soldaten wurde jede „Verbrüderung" mit Deutschen verboten, was jedoch nicht hinderte, daß die Soldaten sich mit deutschen Mädchen einließen, an hungernde Kinder Süßigkeiten und Obst verschenkten und mit Erwachsenen einen schwunghaften Tauschhandel trieben. Viele Deutsche empfanden die Westmächte als Befreier vom Druck der nationalsozialistischen Herrschaft, begrüßten das Ende des furchtbaren Krieges und begannen in der Hoffnung auf bessere Zeiten den Schutt und die Trümmer aufzuräumen, sich so gut es ging auf engem Raum einzurichten und die Friedensarbeit wieder aufzunehmen. Es fehlte an allem, jeder Nagel, jedes Stück Stoff, jedes Brett, jede leer fortgeworfene Konservenbüchse der Besatzungssoldaten war ein Wertgegenstand, der irgendwie genutzt wurde. Die gesamte Regierungsgewalt, einschließlich Gesetzgebung und Verwaltung, lag zunächst in den Händen der Militärregierungen, sie erließen massenhaft Gesetze und Verordnungen, denen widerspruchslos gehorcht werden mußte. Die Ernährungslage war katastrophal. Den drei Westzonen fehlten die Lieferungen aus den landwirtschaftlichen Uberschußgebieten Ostdeutschlands; in der Sowjetzone führten die rücksichtslose Bodenreform, die Aufteüung der Güter, ohne daß hinreichend Wohnungen, Geräte, Saatgut und Vieh für die kleinen Neusiedler vorhanden waren, ferner die Verpflegimg der russischen Truppen aus dem besetzten Land und das Fortfallen der unter polnischer Verwaltung stehenden, vorerst weithin brachliegenden Ländereien zu noch größeren Ernährungsschwierigkeiten für die Deutschen als in den industrialisierten und durch den Zustrom von Flüchtlingen übervölkerten Westzonen. Die reichlichen Lebensmittelreserven der Vereinigten Staaten waren zunächst für die befreiten Bewohner Frankreichs, Belgiens, Hollands, Griechenlands, Italiens bestimmt. Deutschland erhielt nur so viel, daß Hungerrevolten und Seuchen verhindert wurden. Von 1946 ab durften Einzelpersonen und private Organisationen aus dem Ausland Lebensmittel und Kleidung schicken an Angehörige und Freunde, an Flüchtlingslager und karitative Vereine. Die Opfer- und Hilfsbereitschaft des Auslandes bedeutete einen unermeßlichen Segen für das hungernde und frierende deutsche Volk. Die Millionen Pakete halfen vielen über die schlimmste Not hinweg. Bei der allgemeinen Warenknappheit blühte der „Schwarze Markt", wer etwas zum Tauschen hatte, konnte sich auf den verschiedensten Wegen vieles verschaffen, teilweise wurden den Landwirten, Kaufleuten und Industriellen „Kompensationsgeschäfte" ausdrücklich gestattet. Schmuck, Silberbestecke, Möbel usw. wechselten die Besitzer. In übler Lage befanden sich die Ausgebombten und Flüchtlinge, die alles verloren und nichts zum Tauschen hatten. Zahlreiche Ausländer, teils von den Nationalsozialisten als Zwangsarbeiter nach Deutschland überführt, teils vor dem Bolschewismus aus dem Osten Geflüchtete, die in ihre Heimat nicht zurückkehren 909

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutsdilands konnten oder wollten und von den Besatzungsmächten mit allem zum Leben Notwendigen bevorzugt versorgt wurden, machten mit Hilfe von deutschen Schiebern und sonstigen dunklen Elementen den Schwarzhandel zu ihrem Beruf. Die demoralisierende Wirkung dieser durch die Not hervorgerufenen Verhältnisse besonders auf die Jugend war erschreckend; sie sah, wie man ohne Arbeit, oft mit Diebstahl und Betrug seinen Lebensunterhalt erwerben konnte, ehrliche Arbeit schien nicht mehr zu lohnen. Die Entmilitarisierung ging einfach vor sich; das abgelieferte Kriegsmaterial wurde teils zerstört, teils unter die Sieger verteilt. Die Engländer und Amerikaner stellten einen Teil der Gefangenen den Franzosen als Arbeitskräfte für den Wiederaufbau zur Verfügung und entließen die übrigen verhältnismäßig bald, soweit sich bei ihrer Uberprüfung nicht herausstellte, daß sie Kriegsverbrecher waren oder einer der insgesamt als verbrecherisch erklärten Organisationen, SS, Gestapo, Sicherheitsdienst, angehört hatten. Ein hartes Los traf die den Russen in die Hände gefallenen Gefangenen; unter furchtbaren Entbehrungen, denen Hunderttausende zum Opfer fielen, mußten sie in Rußland zur Wiedergutmachung arbeiten, hatte doch Hitlers Krieg den Russen 5 Millionen Tote gekostet, weite Gebiete furchtbar verwüstet, Dörfer, Städte, Fabriken, Eisenbahn- und Stromversorgungsanlagen zerstört. Demontage Die Demontage der deutschen Kriegsindustrie sollte Deutschland die Möglichkeit nehmen, einen Krieg vorzubereiten und zugleich der Reparationsleistung dienen. Die Vereinigten Staaten wollten damit verhindern, daß, wie nach dem Ersten Weltkrieg, eigentlich sie mit Anleihen für Deutschland die Reparationen bezahlten. Noch ehe die Liste der zu demontierenden Fabriken von der hierfür zusammengetretenen Kommission aufgestellt war, haben die Russen und die Franzosen genommen, was sie erreichen konnten. „Die russische Interpretation des Begriffes ,Kriegsbeute' Schloß nämlich jede Fabrik, alle Produktionsmittel und Transportanlagen ein, die je dazu gedient hatten, die Streitkräfte der Besiegten zu versorgen. Angesichts der modernen Kriegsmobilmachung der Industrie umfaßte diese Definition so ziemlich alles Vorhandene" (Truman). Die Zerstörung und der Abtransport zahlreicher deutscher Industrieanlagen trafen die deutsche Wirtschaft im Augenblick ungeheuer hart und erschwerten den unmittelbaren Wiederaufbau. Im Laufe der Jahre wurde die Zahl der Demontagen aber herabgesetzt. Dem Potsdamer Abkommen entsprechend erhielt Rußland zunächst auch aus dem Westen Demontagegüter, als es aber weder die versprochenen Gegenlieferungen leistete, noch die für die deutsche Wirtschaftseinheit notwendigen Aufschlüsse über die von ihm demontierten und die in seiner Zone noch verbliebenen Anlagen dem Kontrollrat gab, außerdem entgegen den Vereinbarungen die laufende Produktion der Zone dauernd für sich in Anspruch nahm, ließen die amerikanische und die britische Militärregierung im März 1946 jede Reparationslieferung an die Sowjets einstellen. Was an Werten durch die Demontagen, 910

Politische Gliederung die Wegnahme der Patente, die Zwangsexporte von Kohle und Holz der Wirtschaft in den Westzonen entnommen wurde, wird — wie schon bei den Reparationen auf Grund des Versailler Vertrages — von den Deutschen und den Siegermächten sehr verschieden eingeschätzt. Die Angaben schwanken zwischen 587 Millionen und 2 Milliarden Reichsmark, in Preisen von 1938 berechnet. Die Sowjetunion soll an direkten und indirekten Reparationen bis 1953 — ohne die „Kriegsbeute" der ersten Monate — rund 37 Milliarden Mark erhalten haben. Art und Umfang der Deutschland verbleibenden Industrie legten die Besatzungsmächte genau fest: die Herstellung von synthetischem Treibstoff, Gummi, Kugellagern, schweren Werkzeugmaschinen, Funksendeeinrichtungen und vielem anderen war überhaupt verboten, von Stahl, Chemikalien, Arzneien, Maschinen, Autos, Lokomotiven usw. eine genau begrenzte Menge erlaubt, von Kraftfahrzeugen ζ. B. jährlich 80 000; nicht eingeschränkt wurde unter anderem die Herstellung von Möbeln, Fahrrädern, insgesamt sollte das allgemeine Industrieniveau auf 50 bis 55 Prozent des Vorkriegsstandes von 1938 — mit Ausnahme des Baugewerbes und der Baumaterialien — herabgesetzt werden. Die Ausfuhr und Einfuhr durften jährlich nicht mehr als je drei Milliarden Reichsmark betragen, von dem Gesamterlös der Ausfuhr nicht mehr als eineinhalb Milliarden für die Bezahlung von Lebens- und Futtermitteln verwendet werden. Bei der Wirtschaftsentwicklung in Deutschland während der nächsten Jahre wirkten verschiedene Faktoren zusammen: die völlige Abschließung der Sowjetzone, die Erkenntnis der Amerikaner und Engländer, daß ein verelendetes Deutschland die Erholung Europas unmöglich mache, und daß die Westzonen als Sicherung gegen ein weiteres Vordringen des Bolschewismus zu lebensfähigen Staatsgebilden aufgebaut werden müßten. Politische

Gliederung

Die Zonengrenzen waren ohne Berücksichtigung der wirtschaftlichen Gegebenheiten gezogen. Jede Besatzungsmacht teilte nach ihrem Belieben ihre Zone ein: die Amerikaner ließen Bayern in seinen bisherigen rechtsrheinischen Grenzen bestehen, vereinigten Nordbaden und Nordwürttemberg zu einem Land, den Rest zu dem Land Hessen; die Engländer bildeten aus den preußischen Provinzen ihrer Zone die Länder Schleswig-Holstein, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen und Hamburg; Bremen wurde als Hafen den Amerikanern überlassen; die Franzosen schlossen die linksrheinischen Teile ihrer Zone und ein rechtsrheinisches Stück der Provinz Hessen-Nassau zum Land Rheinland-Pfalz zusammen, dem auch die Bayrische Pfalz eingegliedert wurde, Südbaden und Südwürttemberg blieben getrennt, Lindau gehörte zur französischen Zone, verlor aber seine Zugehörigkeit zu Bayern nicht. In der sowjetischen Zone bestanden Brandenburg, Thüringen und Sachsen fort, der Rest von Pommern kam zu Mecklenburg, die übrigen Teile der sowjetischen Zone wurden in dem Land Sachsen-Anhalt zusammengefaßt. In Berlin erhielt jede der vier Besatzungsmächte einen Sektor. Als Zufahrt bewilligten die Russen den Westmächten unbeschränkte Benutzung 911

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands der Autobahn Hannover—Magdeburg—Berlin und einen 30 km breiten Luftstreifen. Als am 28. Juni 1945 diese Vereinbarung getroffen war, räumten die alliierten Truppen die von ihnen besetzten Teile Ostdeutschlands, sehr gegen den Willen ChurcMls, der „Deutschlands Kern und Herz" nidit ohne Gegenleistung aufzugeben wünschte und zuvor auf einer Konferenz mit Stalin alle strittigen Punkte klären wollte. Truman fühlte sich jedoch an Roosevelts Abmachungen gebunden. Die formale Auflösung des preußischen Staates verfügte erst ein Kontrollratsgesetz vom Februar 1947. Frankreich setzte sich stark für weitgehende Selbständigkeit der deutschen Länder und für ihren Zusammenschluß nur in einem losen Staatenbund ein; das Ruhrgebiet, die Rüstkammer Deutschlands, müsse überhaupt abgetrennt und internationaler Kontrolle unterstellt, das Saargebiet als autonomer Staat dem französischen Wirtschaftsgebiet und Zollsystem eingegliedert werden. Dagegen wandte sich vor allem die Sowjetunion, sie hatte durch die von ihr als endgültig anerkannte „Friedensgrenze" der Oder-Neiße-Linie ganz Ostdeutschland in ihrer Gewalt, spielte sich dann aber als Vorkämpferin der deutschen Einheit auf in dem Glauben, auch in Westdeutschland die „fortschrittlichen Kräfte" an die Herrschaft bringen und einen „friedliebenden, demokratischen" Staat nach sowjetischem Muster schaffen zu können. Da in Italien und Frankreich die kommunistischen Parteien einen großen Aufschwung nahmen, hoffte die Sowjetunion, Lenins Ausspruch: „Wer Deutschland besitzt, hat Europa", werde sich nun verwirklichen. Für die Verwaltung der Länder setzten die Militärbehörden Ministerpräsidenten und Minister ein, die im Auftrag und unter Kontrolle der Militärbehörden arbeiteten und von ihnen jederzeit abgesetzt werden konnten. Parteien In der Sowjetzone entstanden auf Befehl der russischen Militäradministration schon Mitte Juni 1945 „antifaschistische" Parteien und freie Gewerkschaften. Die vor den Nationalsozialisten nach Moskau geflohenen deutschen Kommunisten waren dort gründlich geschult worden und kehrten nach der Kapitulation sofort nach Berlin zurück, um als Kerntruppe die Ziele der Bolschewisten mit der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD) verwirklichen zu helfen. Daneben wurden die Sozialdemokratische Partei (SPD), die Christlich-Demokratische Union (CDU) und die Liberaldemokratische Partei (LDP) neu gegründet. Da die Arbeiter sich größtenteils der SPD anschlossen, strebten die Kommunisten mit allen Mitteln auf eine Verschmelzimg der beiden Arbeiterparteien hin, am 22. April kam die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands zustande (SED). Die westdeutsche SPD lehnte eine Vereinigung mit der KPD ab unter der Führung von Dr. Kurt Schumacher, der sagte: „die Kommunisten sind rotlackierte Nazi". Auf diese Entscheidung gestützt, wollte die Großberliner SPD eine Urabstimmung über die Vereinigung durchführen, im Ostsektor wußte die sowjetische Kommandantur dies zu verhindern, in den Westsektoren lehnten die SPD-Mitglieder den 912

Entnazifizierung Zusammenschluß mit großer Mehrheit ab und spalteten damit die Partei. Bei den Landtagswahlen im Herbst 1946 erhielt die SED 47,5%, also nicht einmal die Hälfte der Stimmen, daraufhin wurden in der Sowjetzone keine auch nur einigermaßen freien Wahlen mehr zugelassen. Vom Herbst 1945 ab durften sich in den Westzonen unter Kontrolle der Besatzungsmächte demokratische Parteien bilden. Die SPD und die KPD behielten ihre alten Namen und konnten im wesentlichen wieder anknüpfen, wo sie 1933 aufgehört hatten. Die bürgerlichen Parteien mußten sich völlig neu organisieren auf den Grundlagen Demokratie, Christentum, Humanität. Größere Bedeutung gewannen die Freie Demokratische Partei (FDP) und die Sammelpartei der Christlich-Demokratischen Union (CDU), in Bayern Christlich-Soziale Union (CSU). Die Besatzungsmächte verboten zunächst Flüchtlingsparteien, um die Trennungslinie zwischen Einheimischen und Vertriebenen nicht zu betonen. Das demokratische Deutschland sollte folgerichtig von den kleinsten Verwaltungsbezirken her aufgebaut werden. So begannen am 20. Januar 1946 in der amerikanischen Zone die Gemeinde- und Kreistagswahlen, am 15. September in der britischen und französischen Zone. Die Amerikaner ließen auch als erste in den ihnen unterstehenden Ländern Verfassungen ausarbeiten, durch Volksabstimmung annehmen — in Bayern und Hessen am 1. Dezember 1946, in Württemberg-Baden am 24. März 1947 — und Landtage wählen. Die britische und die französische Zone folgten im Laufe des Jahres 1947. Vorbehalte und Kontrollen der Militärregierungen engten die Befugnisse der Länderregierangen in der amerikanischen Zone am wenigsten ein, viel stärker in der britischen und der französischen; immerhin war der Anfang zum Neuaufbau des staatlichen Lebens in Deutschland gemacht. Die Auswahl der zur Führung geeigneten Persönlichkeiten wurde freilich dadurch sehr eingeschränkt, daß die Entnazifizierungsgesetze ehemaligen Mitgliedern der NSDAP die Betätigung im Staat, in den Parteien und in der Presse verboten, und daß viele Männer erst nach und nach aus der Kriegsgefangenschaft zurückkehrten. Der Anteil der KPD-Stimmen bei den Wahlen war von Anfang an gering und sank immer mehr, je schlimmer und unfreier sich die Verhältnisse in der Sowjetzone entwickelten; die SPD und die CDU/CSU hielten sich im ganzen ungefähr die Waage.

Entnazifizierung Die von der Potsdamer Konferenz beschlossene und durch Kontrollratsdirektiven genauer geregelte Entnazifizierung spielte sich in den einzelnen Besatzungszonen ganz verschieden ab. Sehr summarisch ging die Militärbehörde der Sowjetzone vor. Wer sich zum Bolschewismus bekannte, fand bereitwillige Aufnahme. Im August 1947 wurden alle Parteimitglieder amnestiert, denen keine kriminellen Vergehen nachgewiesen werden konnten, und die Weiterführung der Entnazifizierung deutschen Spruchkammern übertragen. Mit deren Auflösung im Februar 1948 verfügte die russische Militärregierung in ihrer Zone den Abschluß der Ent913 58 Bühler, Deutsche Geschichte, VI

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands nazifizierung. — In der britischen und der französischen Zone beschränkte man sich im allgemeinen auf Beamte und führende Männer der Wirtschaft. Am schärfsten ging die amerikanische Militärregierung vor, sie prüfte 11 914 000 auf ihre Anforderung von der Bevölkerung ausgefüllte Fragebogen und zog 3 294 000 „Betroffene" vor die Spruchkammer. Die Mehrheit der Deutschen bejahte die Ausschaltung des Nationalsozialismus; die Art aber, wie sie durchgeführt wurde, erzeugte mit ihrer vielfachen Ungerechtigkeit Erbitterung. Die „kleinen" Parteigenossen, die nur widerwillig oder nur besseren Fortkommens halber in die Partei eingetreten waren oder Funktionen in den nationalsozialistischen Organisationen übernommen hatten wie das Einsammeln von Beiträgen für die Volkswohlfahrt oder den Luftschutz, bestrafte der Verlust ihrer Stellungen, Beschäftigung mit „gewöhnlicher Arbeit", Zahlung von Sühnegeldern, Beschlagnahme ihrer Vermögen, viel zu hart. Die meisten dieser Urteile wurden später aufgehoben, hatten aber den Betroffenen bittere Jahre gekostet. Es lag nahe, daß man zuerst die Masse der kleinen Parteigenossen prüfen und sie dem Arbeitsprozeß wieder einordnen wollte, infolgedessen traf sie noch die ganze Schärfe des Hasses gegen den Nationalsozialismus. Als dann die schwereren Fälle an die Reihe kamen, war man der ganzen Sache müde geworden, das Leben in Deutschland hatte sich wieder weitgehend normalisiert, es ging aufwärts, und so fielen nun die Urteile verhältnismäßig erheblich glimpflicher aus. Die Militärbehörden auch der Westzonen legten ziemlich früh die „Befreiung vom Nationalsozialismus" in die Hände von deutschen Spruchkammern, deren Urteile von den Militärbehörden bestätigt werden mußten. Natürlich meldeten sich nicht die Besten zur Tätigkeit in einer Spruchkammer. Bestechung und Freundschaftsdienste, oft auf Gegenseitigkeit, spielten eine unerfreuliche Rolle. Jeder anständige Deutsche war damit einverstanden, daß für verbrecherische Taten von ordentlichen Gerichten Strafen verhängt wurden, aber wer sollte ein gerechtes Urteil über politische Ideale, Irrtum und Opportunismus, Dummheit und Unterwerfung unter staatlichen Zwang fällen? Eine erhebliche Zahl berufsmäßig höhergestellter Deutscher war in Lagern interniert, im März 1947 in der britischen Zone noch 34 000, in der amerikanischen 47 000. Am 1. Februar ließ D. Martin Niemöller, Kirchenpräsident von Hessen, den Hitler jahrelang in Konzentrationslager hatte einsperren lassen, in allen Kirchen seines Sprengeis eine Kanzelabkündigung verlesen, in der die evangelischen Christen gebeten wurden, „nicht länger aus freien Stücken als öffentliche Kläger oder als freiwillige Belastungszeugen" bei der Entnazifizierung mitzuwirken, denn in ihrer derzeitigen Gestalt diente sie nicht der Versöhnung sondern dem Haß und der Unduldsamkeit. Der schwäbische Landesbischof Dr. Th. Wurm, ein aufrichtiger Verteidiger des Christentums gegen den Nationalsozialismus, sowie andere evangelische und katholische kirchliche Kreise stimmten Niemöller zu. Einige Amnestien für Jugendliche, Kriegsverletzte und Betroffene, deren Einkommen in den letzten Kriegsjahren eine bestimmte Höhe nicht überschritten hatte, verminderten die Zahl der vor die Spruchkammer Gestellten erheblich, die übrigen Verfahren wurden indes erst 1950 abgeschlossen. 914

Kriegsverbrecher-Prozesse Kriegsverbrecher-Prozesse Von den Spruchkammerverfahren unterscheiden sich die Kriegsverbrecherprozesse vor dem Internationalen Militärgericht in Nürnberg wesentlich. Sie beruhten auf dem Londoner Viermächteabkommen vom 8. August 1945, sollten die nationalsozialistischen Verbrechen bestrafen und zur Verhütung von Katastrophen wie der des Zweiten Weltkriegs ein neues Internationales Recht schaffen. 24 „Hauptkriegsverbrecher" — zwei von ihnen schieden vor der Verhandlung aus, Ley, der Leiter der Arbeitsfront, infolge Selbstmords im Untersuchungsgefängnis, der 72jährige Gustav Krupp von Bohlen-Halbach wegen Krankheit — und einige als verbrecherisch erklärte Organisationen waren angeklagt: der „Verschwörung" gegen den Frieden, der Verbrechen gegen den Frieden, gegen Kriegsrecht und Kriegsbrauch und gegen die Menschlichkeit. Acht Richter, je zwei von Rußland, England, Frankreich und den Vereinigten Staaten bildeten das Tribunal. Zwei gesetzliche Neuerungen wurden eingeführt: bisher konnten natii dem Völkerrecht Repräsentanten souveräner Staaten für Handlungen dieser Staaten nicht verantwortlich gemacht werden. Dem gegenüber entschied das Gericht, daß dem Völkerrecht nur Geltung verschafft werden könne, wenn man die Personen, die das Völkerrecht verletzen, zur Verantwortung ziehe; gegen den von der Verteidigung hervorgehobenen Rechtsgrundsatz, Strafvorschriften hätten keine rückwirkende Kraft (nullum crimen sine lege, nulla poena sine lege), wandte das Gericht ein, der Kellogpakt vom 27. August 1928 habe den Angriffskrieg, die Haager Konventionen von 1899 und 1907 Vergehen gegen die Menschlichkeit für rechtswidrig erklärt. Der Angeklagte Schacht schreibt in seiner „Abrechnimg mit Hitler" (S.34): „Es gibt ein ungeschriebenes Sittengesetz für die Beziehungen der Menschen untereinander, welches Strafe erheischt, wenn es verletzt wird, auch dann, wenn das geschriebene Gesetz eine Lücke gelassen hat." Ferner stellte das Gericht fest,, daß Handeln auf Befehl kein Strafausschließungs-, sondern nur ein Milderungsgrund sei; nach dem Recht aller Nationen bindet der Befehl zur Begehung eines Verbrechens niemals. Im allgemeinen bemühten sich die Richter in den elf Monate dauernden Verhandlungen (vom 20.11.1945 bis 1.10.1946), gerechte Urteile zu finden. Den Angeklagten standen deutsche Verteidiger zur Seite, sie beklagten sich freilich oft über Behinderung ihrer Tätigkeit, über Nichtzulassung von Zeugen, über Beschränkungen bei der Prüfung des Anklagematerials usw. Die moralische Wirkung der Verhandlungen wurde dadurch beeinträchtigt, daß die Russen mit zu Gericht saßen über Verbrechen, die sie selbst begangen hatten und noch begingen und deren Erwähnung im Gerichtssaal sie zu verhindern wußten: den Vertrag mit Hitler 1939 über die Teilung Polens, die Ermordung polnischer Offiziere im Wald von Katyn, die Unmenschlichkeiten bei der Besetzimg von Ostdeutschland und die Vertreibung seiner Bevölkerung; wie denn überhaupt jeder Versuch der deutschen Verteidiger, zur Entlastung ihrer Mandanten ähnliche Vergehen bei den 915 58·

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands Alliierten heranzuziehen, zurückgewiesen wurde — außer im Fall der Seekriegsführung. Was bei den Verhandlungen durch die von den Alliierten aufgefundenen und beschlagnahmten Dokumente und durch einwandfreie Zeugenaussagen zutage kam, war der Mehrheit des deutschen Volkes großenteils neu und erregte ehrliches Entsetzen: die vorsätzliche Planung und dann die Ausführung des Angriffsund Eroberungskrieges durch Hitler persönlich und selbst unter Gefahr eines Weltkriegs, die „Gesamtlösung der Judenfrage", die Zustände in den Konzentrationslagern, die medizinischen Versuche an den Häftlingen, die Planung für die Behandlung der Ostvölker usw. Am 30. September und 1. Oktober 1946 wurden die Urteile mit ausführlicher Begründung veröffentlicht: Hinrichtung durch den Strang für Göring, Ribbentrop, Keitel, Kaltenbrunner (Chef der Sicherheitspolizei), Rosenberg, Frank (Generalgouverneur in Polen), Frick (Reichsinnenminister), Streicher (Herausgeber des „Stürmer"), Sauckel (Generalbevollmächtigter für den Arbeitseinsatz), Jodl, Seyß-Inquart und Bormaim, dessen Tod man als nicht, erwiesen ansah; lebenslängliche Haft für Heß, Funk (Reichswirtschaftsminister), Raeder; 20 Jahre Haft für Schirach und Speer, 15 Jahre für Neurath, 10 Jahre für Dönitz; freigesprochen wurden Papen, Schacht und der Rundfunkpropagandist Hans Fritsche. Göring beging am 15. Oktober 1946 Selbstmord. Am 16. fanden die Hinrichtungen statt; die Verurteilten sollen ihr Schicksal gefaßt und mit Würde getragen haben. Eine offizielle Pressenotiz gab bekannt: „Die Leichen Görings und der zehn hingerichteten Kriegsverbrecher wurden am Donnerstag verbrannt. Die Asche ist gemäß den Bestimmungen der Vier-Mächte-Kommission in alle Winde verstreut worden." Die zu Haftstrafen Verurteilten kamen im Spandauer Gefängnis in Berlin unter die monatlich abwechselnde Bewachung der vier Mächte. In dem Urteil über die Organisationen wurden das Korps der politischen Leiter (Reichsleiter, Gauleiter, Kreisleiter usw.), die Gestapo samt dem Sicherheitsdienst und die SS für verbrecherisch erklärt, die bloße Mitgliedschaft wertete das Gericht nicht als Verbrechen; es Schloß diejenigen von der Anklage aus, die „keine Kenntnis der verbrecherischen Zwecke oder Handlungen der Organisation hatten" und nicht daran beteiligt waren. Mit dieser Entscheidung fällt praktisch die These von der Kollektivschuld des deutschen Volkes. Drei weitere, zunächst für verbrecherisch erklärte Organisationen, die SA, die Reichsregierimg und der Generalstab samt Oberkommando der Wehrmacht wurden von dieser Anklage freigesprochen; in dem Urteil über die Offiziere des Generalstabs heißt es allerdings, sie „sind in großem Maße verantwortlich gewesen für die Leiden und Nöte, die über Millionen Männer, Frauen und Kinder gekommen sind. Sie sind ein Schandfleck für das ehrenhafte Waffenhandwerk geworden. Ohne ihre militärische Führung wären die Angriffsgelüste Hiüers und seiner Nazikumpane akademisch und ohne Folgen geblieben". An den Verbrechen hätten sie teilgenommen oder dazu geschwiegen. Am Schluß der Urteilsverkündung gab der Vorsitzende die abweichende Meinung des sowjetischen Richters bekannt, der gegen den Freispruch von Schacht, Papen und Fritsche, für die Todesstrafe bei Heß und für 916

Kriegsverbrecher-Prozesse die Erklärung war, daß auch Reichsregierung und Generalstab verbrecherische Organisationen gewesen seien. Die Meinungen über den Nürnberger Prozeß und seine Urteile gingen und gehen weit auseinander. Deutsche und außerdeutsche Stimmen haben das Gericht der Sieger über die Besiegten, die Bestrafung für Vergehen, deren sich auch die Sieger schuldig machten, verurteilt, daran sei der Versuch, neues, international gültiges Völkerrecht zu schaffen, gescheitert. Viele fanden das Strafmaß zu milde oder zu streng. Mit dem eigenen Elend zu sehr beschäftigt, nahm die Masse des deutschen Volkes von den Hinrichtungen nicht viel Notiz. Die Freisprechung Schachts, Papens und Fritsches wurde als ungerecht empfunden, und da alle drei in der amerikanischen Zone wohnten, veranlaßte der bayrische Ministerpräsident Högner ihre Aburteilung durch deutsche Spruchkammern. Juristisch war dies zulässig, weil die Anklagen sich auf innerdeutsche Angelegenheiten bezogen und nicht auf dieselben, von denen sie das Nürnberger Militärgericht freigesprochen hatte. Sie wurden zu einigen Jahren Arbeitslager verurteilt, Schacht erwirkte sehr bald seine Freilassung, Papen 1949. — Die UN beauftragte einen internationalen Rechtsausschuß, die Ergebnisse der Kriegsverbrecherprozesse als gültiges Völkerrecht zu kodifizieren. Ursprünglich sollte vor dem gleichen Tribunal in Nürnberg noch eine Reihe weiterer Kriegsverbrecherprozesse verhandelt werden. Die Zusammenarbeit der Verbündeten hatte sich jedoch so unerfreulich gestaltet, daß die einzelnen Besatzungsmächte nach Abschluß des ersten großen Prozesses jede für sich die Verfahren gegen Generale, Minister, Industrielle, Partei- und SS-Funktionäre durchführten. Die politisch bedeutsamsten waren die zwölf Prozesse vor dem amerikanischen Gericht in Nürnberg gegen die Industriellen Alfried Krupp, Flidc und den IG-Farbenkonzern, gegen die Südostgenerale, gegen Verbrechen in den Konzentrationslagern, gegen das Oberkommando der Wehrmacht und gegen das Auswärtige Amt. Dieser sogenannte „Wilhelmstraßenprozeß" beschloß 1949 die Reihe der großen Prozesse, in denen von insgesamt 178 Angeklagten 24 zum Tode verurteilt und 38 freigesprochen wurden. Die Militärregierungen der drei Westmächte zogen außerdem Tausende von Deutschen vor ihr Gericht wegen Unmenschlichkeiten in den Konzentrationslagern, wegen Mißhandlung oder Ermordung von Kriegsgefangenen und ähnlichem. Die Strafen reichten von zeitlich begrenztem oder lebenslänglichem Gefängnis bis zum Tod durch Strang. Die meisten sühnten damit schwere Schuld, aber allerlei Ungerechtigkeiten und teilweise erhebliche Mißstände in den Verfahren vor allem bei den Dachauer und den sogenannten Malmedy-Prozessen führten zu so zahlreichen Beschwerden von deutscher wie auch von amerikanischer Seite, daß eine amerikanische Untersuchungskommission zur Abstellung dieser Mißstände nach Deutschland geschickt wurde. Die Aburteilung von Verbrechen Deutscher gegen Deutsche überwiesen die Besatzungsmächte nun deutschen Gerichten.

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Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands Zusammenlegung der englischen und amerikanischen Zone „Die Sieger wie audi die Besiegten vor dem vollständigen Ruin zu retten, stellte die Vereinigten Staaten vor eine Aufgabe, für die es in der Weltgeschichte keine Parallele gab . . . Länder, wenn nidit ganze Kontinente bedurften, wenn man den Weltfrieden sichern wollte, der Sanierung... Zum erstenmal in der Geschichte zeigte sich ein Sieger bereit, nicht nur den Verbündeten, sondern auch den Besiegten zu helfen", schreibt Präsident Truman in seinen Memoiren. Dieser Wille, zur Gesundung Deutschlands beizutragen, entsprang dem ehrlichen Gefühl für Menschlichkeit, dem sich immer schärfer ausprägenden Gegensatz zu Sowjetrußland und der Erkenntnis, daß eine Erholung Westeuropas ohne ein gesundes Deutschland nicht möglich ist. Die Abkehr vom Geist des Morgenthauplanes machte eine Rede des amerikanischen Außenministers Byrnes in Stuttgart am 6. September 1946 dem deutschen Volk deutlich. Die drei deutschen Ministerpräsidenten der amerikanischen Zone waren dazu eingeladen, die Rede wurde in deutscher Sprache über den Rundfunk verbreitet. Byrnes betonte die Notwendigkeit der wirtschaftlichen Einheit Deutschlands, das deutsche Volk müsse eine eigene Regierung und die Möglichkeit erhalten, durch Stärkung seiner wirtschaftlichen Kräfte wieder selbst für das ihm zum Leben Notwendige zu sorgen. Byrnes setzte sich in seiner Rede zwar für Entmilitarisierung, Entnazifizierung, Bestrafung der Kriegsverbrecher, Reparationen und die wirtschaftliche Angliederung des Saargebietes an Frankreich ein, betonte aber, daß das Ruhrgebiet bei Deutschland bleiben müsse und die deutsche Ostgrenze gegen Polen noch nicht festgelegt sei. Der nächste Schritt zur Besserung der deutschen Lage war der seit Wochen vorbereitete Zusammenschluß der amerikanischen und der britischen Zone zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiet mit einigen gemeinsamen Verwaltungsämtern, in denen Deutsche mit begrenzten Vollmachten arbeiteten. Die französische und die sowjetische Zone wurde zum Beitritt aufgefordert. Die Franzosen lehnten ab, weil diese Entwicklung ihren immer wieder erhobenen Forderungen, Deutschland in selbständige Kleinstaaten aufzuteilen und das Ruhrgebiet unter internationale Kontrolle zu stellen, nicht gerecht wurde. Die Sowjetunion beschuldigte die Engländer und Amerikaner, sie verletzten das Potsdamer Abkommen und verhinderten durch ihr Vorgehen ohne vorherige Verständigung mit den anderen Mächten die „wahre" Einheit Deutschlands im kommunistischen Sinne. Die englische und die amerikanische Regierung waren jedoch überzeugt, eine gedeihliche Zusammenarbeit mit der Sowjetunion sei nicht mehr möglich, dies hatte nicht nur ihr Verhalten in Deutschland, sondern auch das Vorgehen in ihren Satellitenstaaten, die Versuche, in Griechenland und im Iran die Herrschaft zu erlangen, und die Unterstützimg der Kommunisten in China erwiesen. Auch auf den in Potsdam vereinbarten Außenministerkonferenzen, die sich im April 1946 erstmals mit deutschen Problemen beschäftigten, war keine Einigung erzielt worden, da die Sowjetunion zwar die Errichtung zentraler Verwaltungsstellen anstrebte, aber vor allem die Erfüllung ihrer Reparationsforderungen verlangte, ohne den Westmächten die vereinbarten Gegenwerte zu liefern und ihnen 918

Marshallplan irgendeinen Einbilde in das schon durch Demontage und aus der laufenden Produktion Erlangte zu gestatten. So hielten sich die Amerikaner und Engländer für berechtigt, allein vorzugehen. Das Abkommen vom 2. Dezember 1946 über die Zusammenlegung ihrer beiden Zonen regelte vor allem die Ein- und Ausfuhr, deren Erhöhung den Deutschen die Möglichkeit geben sollte, ihren Bedarf an Lebensmitteleinfuhr selbst zu zahlen, damit werde den Alliierten die Last erleichtert und den Deutschen eine bessere Versorgung in Aussicht gestellt. Die Zweizonenwirtschaftsämter erhielten am 29. Mai 1947 eine parlamentarische Grundlage: in Frankfurt trat ein von den Parlamenten der Länder gewählter Wirtschaftsrat zusammen, dessen Beschlüsse ein von den Länderregierungen ernannter Exekutivrat zu koordinieren und auszuführen hatte. Die oberste Leitung behielten sich amerikanisch-britische Kontrollämter vor.

Marshallplan

Am 5. Juni 1947 sagte George C. Marshall, seit Januar 1947 an Stelle von Byrnes Außenminister der Vereinigten Staaten, vor der Harvard Universität in Cambridge (Massachusetts) in einer Rede: „Die Wiederherstellung einer funktionsfähigen Weltwirtschaft zur Schaffung von politischen und sozialen Verhältnissen, unter denen freiheitliche Einrichtungen gedeihen können, muß künftig die Aufgabe unserer Außenpolitik bilden". Marshall forderte die europäischen Völker auf, sich untereinander über die wirksamste Art der amerikanischen Hilfe zu verständigen, einem solchen gesamteuropäischen Programm würden dann die Vereinigten Staaten tatkräftigen Beistand leisten. Vertreter von 16 Staaten, darunter auch die Türkei, kamen im Juli 1947 in Paris zusammen und einigten sich über das, was sie aus eigener Kraft schaffen könnten und über den Zuschußbedarf. Unter dem Namen „Marshallplan" hat das daraufhin ausgearbeitete Hilfsprogramm wesentlich die Gesundung Westeuropas gefördert. Die Sowjetunion lehnte den Marshallplan ab, weil er zu einer Einmischung in die inneren Angelegenheiten der europäischen Staaten führen würde, außerdem kämen durch die Einbeziehung der deutschen Hilfsquellen gerade „die Länder, welche während des Krieges die größten Opfer brachten und den bedeutendsten Anteil zum Siege der Alhierten beitrugen", um die ihnen zugesprochenen Reparationen. Polen und die Tschechoslowakei hatten ursprünglich zugesagt, die Sowjetunion veranlaßte sie aber zu einer Ablehnung, nachdem Molotow bei einer Vorbesprechung in Paris vergeblich versucht hatte, den Plan zu unterminieren. „Die Sowjets begriffen sofort, welche wirksame Gegenaktion eingeleitet worden war. An Stelle der Befreiung ,vom kapitalistischen Joch', an Stelle der vorausgesagten schweren wirtschaftlichen Krise des Westens zeigte sich dieser nun stark genug, von seiner überschüssigen Kraft reichlich abzugeben und in seine Hilfeleistungen auch die Satelliten, ja die Sowjetunion selbst einzubeziehen, sofern diese es nur wollten. Für die sowjetische Politik und ihre Propaganda war daher der Marshallplan vom ersten Augenblick an das klassische Beispiel für das, was sie ,kapitali919

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands stische und imperialistische Politik' nennen" (Erfurt). Deutschland war auf der Pariser Konferenz nicht vertreten, wurde aber sofort an dem Marshallplan beteiligt. Ende der Viermächtere gierung Der Alliierte Kontrollrat in Berlin hatte seit dem Sommer 1945 leidlich zusammengearbeitet, eine Fülle von Verordnungen und Gesetzen erlassen wie über Steuererhöhungen, Beschlagnahme und Vernichtung nationalsozialistischer Literatur, Aufhebung nationalsozialistischer Gesetze und weitere Maßnahmen zur Ausmerzung des Nationalsozialismus, ferner Anweisungen gegeben für deutsche Politiker und Presseleute usw.; aber er war in der Frage, eine gesamtdeutsche Regierung zu bilden, mit der ein Friedensvertrag geschlossen werden konnte, nicht vorwärts gekommen. Frankreich war gegen eine zentrale deutsche Regierung und die Sowjetunion nur für eine, die ihr die Macht auch über Westdeutschland sichern würde. Der Zusammenschluß der amerikanischen und britischen Zone sowie die erheblichen Erleichterungen, die ein im August 1947 vorgelegter neuer Industrieplan der deutschen Wirtschaft gewährte, trugen weiterhin dazu bei, daß die Beziehungen der westlichen Besatzungsmächte zu der Sowjetunion sich immer mehr verschlechterten. Am 21. November 1947 hielt Marschall Sokolowski im Kontrollrat eine Rede, in der er, wie General Lucius D. Clay schreibt, „wirklich Pech und Schwefel auf uns (die Westmächte) regnen ließ. Er warf uns vor, die Entmilitarisierung in den Westzonen sei nicht durchgeführt worden, in der britischen Zone beständen intakte Truppenverbände der deutschen Armee, in der amerikanischen Zone sei das Sportprogramm der deutschen Jugend eine Tarnung für die militärische Ausbildung, und Fabriken für Kriegsmaterial befänden sich noch im Betrieb. Er warf uns weiter vor, wir hätten keine Reparationen geliefert, Produktionsgüter und Industrieanlagen aus Deutschland entfernt und vorsätzlich deutsche Erzeugnisse exportiert, die wir zu niedrigen Preisen eingekauft hätten, um sie auf dem Weltmarkt mit gewaltigen Profiten abzusetzen. Er warf uns Kriegshetze und Ausnutzung der Entmilitarisierung zur Rehabilitierung krimineller Elemente vor. Er bezeichnete es als widerrechtlich, die Betätigung der SED in Westdeutschland verboten zu haben, und auch die Bodenreform hätten wir nicht in die Tat umgesetzt. Dann griff er die Verschmelzung der Verwaltungen der beiden Zonen an und erklärte, sie sei mit der Absicht erfolgt, die Viermächteregierung zu sprengen und Deutschland zu spalten. Er behauptete, wir verwandelten Deutschland in ein Rohstoff exportierendes Land, das seine Fabrikausrüstungen aus Amerika beziehen müsse. Diese Vorwürfe, die von den Westalliierten entschieden zurückgewiesen und mit Gegenvorwürfen beantwortet wurden, wiederholten sich nun beständig." Molotow brachte sie auf der Londoner Außenministerkonferenz vom 25. November bis 12. Dezember 1947 so scharf vor, daß Marshall die Konferenz auf unbestimmte Zeit vertagte. Bei dieser Londoner wie bei verschiedenen vorausgegangenen Konferenzen der Außenminister war die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung daran ge920

Ende der Vieimäditeregierung scheitert, daß Molotow freie Wahlen in allen vier Zonen ablehnte und einen „Konsultativrat" aufstellen wollte, „dem jedoch unbedingt Vertreter der demokratischen Parteien, der Gewerkschaften und anderer antifaschistischer Organisationen sowie Vertreter der Länder angehören müssen". Mit diesem Konsultativrat sollte der Alliierte Kontrollrat eine einstweilige Verfassung ausarbeiten, nach der dann Wahlen zum gesamtdeutschen Parlament vorgenommen und eine provisorische deutsche Regierung gebildet werden könnten. Durch ihre Gewerkschaften und antifaschistischen Organisationen hätten die Russen die Möglichkeit gehabt, einen weit stärkeren Einfluß auf die Gestaltung Deutschlands auszuüben, als ihnen bei wirklich freien Wahlen zufallen würde. An diesen russischen Forderungen war auch die von dem bayrischen Ministerpräsidenten Hans Ehard am 5. Juni 1947 nach München einberufene Konferenz der Ministerpräsidenten der vier Zonen gescheitert, die „den Weg für eine Zusammenarbeit aller Länder im Sinne wirtschaftlicher Einheit und künftiger politischer Zusammenarbeit" ebnen sollte. Da die westlichen Militärregierungen die Tagesordnung vorher genehmigt hatten, lehnten die Ministerpräsidenten der westlichen Länder ab, als ersten Punkt, wie die Ministerpräsidenten der Sowjetzone verlangten, die wirtschaftliche und politische Einheit zu besprechen; daraufhin verließen diese noch vor Beginn der Tagung München und bewiesen damit auch deutscherseits die Spaltung des deutschen Volkes in zwei Teile. Die Ministerpräsidenten der drei Westzonen legten gemeinsam ihren Militärregierungen eine Reihe von Wünschen zu den drängenden Problemen vor: Milderung der Hungersnot, Schutz des Waldes gegen Raubbau der Besatzungsmächte, Beendigung der Demontagen und ähnliches. Schon Ende 1947 war in der Sowjetzone ein „Volkskongreß" organisiert worden, der „alle Deutschen an einen Tisch" bringen und durch ein Volksbegehren die Wiedervereinigung erzwingen sollte. Der Volkskongreß fand in den Westzonen wenig Anklang, weil dabei die kommunistischen Ziele zu deutlich hervortraten. Die Londoner Konferenz hatte die Trennung der Alliierten in zwei Lager besiegelt. Frankreich, das in der Hoffnung, Rußlands Unterstützung für den Anschluß des Saargebietes doch noch zu gewinnen, bisher in vielem mit den Sowjets gestimmt hatte, stellte sich jetzt klar auf die Seite der angelsächsischen Mächte. Damit war der Weg für eine neue Deutschlandpolitik in den Westzonen frei. Unter dem heftigen Protest der Sowjetunion, dem sich Polen, die Tschechoslowakei und Jugoslawien anschlossen, tagten vom 23. Februar bis 6. März 1948 die Botschafter der Vereinigten Staaten, Englands, Frankreichs und der Beneluxländer (Belgien, Niederlande, Luxemburg) in London, einigten sich über den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands im Rahmen des Marshallplans und schlugen eine „Westunion" vor: ein politisches Bündnis der westeuropäischen Staaten mit Einschluß der Vereinigten Staaten von Amerika. Die Sowjetunion beklagte sich in einer Note vom 6. März bitter über die Verstöße gegen die Abkommen von Jaita und Potsdam sowie gegen die britisch-sowjetischen und französisch-sowjetischen Beistandspakte zur Verhütung einer neuen deutschen Aggression; da die von der Londoner Botschafterkonferenz gefaßten Beschlüsse 921

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands ohne die Sowjetunion zustande gekommen wären, besäßen sie auch keine Gesetzeskraft und keine internationale Autorität. In ihren Antwortnoten beschuldigten die Westmächte die Sowjetunion, sie habe wegen ihrer Verletzung des Potsdamer Abkommens den Westmächten keinen anderen Weg zur Wiedergesundung Europas einschließlich Westdeutschlands gelassen, sie wären jedoch jederzeit bereit, die Sowjetunion an ihren Abkommen teilnehmen zu lassen. Am 20. März sprengte Sokolowski auch den Kontrollrat in Berlin. Nach einem Wortwechsel über eine Nebensache wiederholte er die sämtlichen alten Vorwürfe gegen die Westmächte, vertagte die Sitzung und „ohne ein weiteres Wort machten die sowjetischen Vertreter auf den Absätzen kehrt und verließen den Konferenzsaal" (Clay). Damit war die gemeinsame Regierung Deutschlands durch alle vier Besatzungsmächte zu Ende.

Währungsreform Als wichtigste Aufgabe für die wirkliche Gesundung Deutschlands mußte zunächst eine Währungsreform durchgeführt werden. Seit 1935 war unter Hitlers Herrschaft der Geldumlauf von etwa 5 auf 70 Milliarden Reichsmark und die Reichsschuld von 12 auf 400 Milliarden Reichsmark angewachsen. In Deutschland lief sehr viel Geld unkontrollierbar um, mit dem größtenteils der Handel auf dem Schwarzen Markt betrieben wurde, da es sonst nicht viel zu kaufen gab. Internationale Sachverständige hatten schon im Mai 1946 unter amerikanischer Leitung den Plan für die Währungsreform im wesentlichen fertiggestellt. Zwei Jahre lang versuchte der Allüerte Kontrollrat sich darüber zu einigen. Die sowjetrussische Vertreter forderten jedoch, daß das neue Geld mit einem zweiten Satz von Druckplatten auch in ihrer Zone, in Leipzig, gedruckt werden sollte, nicht nur in der im amerikanischen Sektor von Berlin liegenden Notendruckerei. Nun hatten die Russen sich von der Besatzungsmark (alliierte Militärmark) 1945 einen zweiten Satz Druckplatten geben lassen und versprochen, genaue Aufstellungen über die von ihnen in Umlauf gesetzten Markbeträge dem Allüerten Kontrollrat vorzulegen. Sie hatten sich aber nicht daran gehalten, sondern für nicht nachprüfbare, große Summen in den Westzonen Waren einkaufen und in ihren Sektor bringen lassen; die so entstandenen bedeutenden Fehlbeträge in Dollar mußten die Vereinigten Staaten ausgleichen. Ihre Vertreter gingen deshalb nicht auf die sowjetische Forderung eines zweiten Satzes von Druckplatten ein, boten aber eine Viermächtekontrolle der Berliner Druckerei an; die Sowjetunion lehnte dies ab. Als die Londoner Außenministerkonferenz ergebnislos abgebrochen war, verhandelten die Franzosen über den Anschluß ihrer Zone an die britisch-amerikanische. Nach Überwindung vieler Schwierigkeiten seitens der Franzosen, deren Besatzungskosten einen außerordentlich großen Teil der Länderhaushalte betrugen und die deshalb einen sehr hohen Prozentsatz des neuen Geldes für die Deckung ihres eigenen Bedarfs verlangten, kam dann die Einigung über die Verschmelzung der drei Zonen, die internationale Ruhrkontrolle und die Währungsreform zustande. 922

Währungsreform Am 20. Juni 1948 wurde die deutsche Reichsmark außer Kraft gesetzt und die Deutsche Mark als Währungseinheit eingeführt. Pro Kopf erhielt jeder Deutsche gegen Einzahlung von 60 Reichsmark zunädist 40, im Oktober noch einmal 20 Deutsche Mark. Reichsmarkguthaben wurden im Verhältnis 10 : 1 umgestellt, davon aber nur eine Hälfte freigegeben, die andere auf Sperrkonto gelegt und am 1. Oktober noch zu 70 % gestrichen, so daß für RM 100 der Gegenwert nur DM 6,50 war, während Schulden im Verhältnis 10 : 1 gezahlt werden konnten. Die Altgeldguthaben des Staates und anderer Körperschaften, der Eisenbahn und der Post galten als erloschen. Nach der Kapitulation von 1945 waren die Reichsbank und die privaten Großbanken aufgelöst, jedes der elf neugeschaffenen Länder erhielt eine eigene Zentralbank, die Großbanken nahmen in jedem der Länder gesondert ihre Arbeit unter neuem Namen auf. Die Währungsreform erforderte eine Zentralbank für die drei Westzonen, um die Einheitlichkeit ihrer Bankpolitik zu sichern; als Notenbank wurde die Bank Deutscher Länder gegründet. Die Besatzimgsmächte der Westzonen begrenzten die Notenausgabe auf 10 Milliarden DM; dies trug außerordentlich zur Festigung der neuen Währung bei. Das Bewußtsein, für ehrliche Arbeit wieder gutes Geld zu erhalten, förderte die Arbeitsmoral und den Aufbauwillen ungemein. Die schon vorher durch amerikanisch-britische Maßnahmen erhöhten Rohstoffeinfuhren, die mit allen Mitteln gesteigerte Kohlenförderung und Energiewirtschaft ermöglichten das Ingangkommen der Industrie, die sich seit Kriegsende mühselig mit Schutträumen, Flidcwerk und geringer Produktion bemüht hatte. Ein paar Tage nach dem 20. Juni waren die Regale und Auslagen der Geschäfte auf einmal wieder gefüllt Die Kaufkraft war zunächst gering, weil am 20. Juni kein Deutscher in den Westzonen mehr als DM 40,— besaß. Die Umsätze stiegen aber doch stetig an, denn Löhne, Gehälter, Miet- und Pachtzinsen, Pensionen, Renten sowie Beiträge und Leistungen der Sozialversicherung bestanden laut Gesetz der Besatzungsmächte unverändert fort. Der Schwarze Markt wurde überflüssig und hörte von selbst auf. Das Alltagsleben normalisierte sich allmählich. Wirtschaftlich war die Währungsreform ein voller Erfolg, vom sozialen Standpunkt aus aber sehr hart; wie die Schwarzmarkt- und Schiebergewinne gingen auch die schwer erarbeiteten Spargelder der kleinen Leute fast ganz verloren. Die Oberin eines großen Münchner Altersheims zum Beispiel berichtet Ende Juni 1948, daß „viele alte Leute, die bisher ihren Pensionspreis aus Ersparnissen bezahlt haben, vor Verzweiflung nächtelang weinten", zumal da ihnen unter den neuen Verhältnissen vielfach Verwandte keine Beihilfe mehr leisten konnten. Der Jammer und die Not dieser Kreise blieb groß, denn die Fürsorge des Staates konnte ihnen bei der Masse der Betroffenen kaum das zum armseligen Leben Notwendige zuweisen. Das ursprünglich von den Sachverständigen ausgearbeitete Währungsreformgesetz hatte einen Lastenausgleich vorgesehen. Die verhältnismäßig günstig davongekommenen Eigentümer von Grundbesitz und sonstigen Sachwerten sollten zu besonderen Abgaben herangezogen werden, um damit die größten Härten 923

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands abzugleichen. Auf Verlangen der amerikanischen Regierung wurde diese Aufgabe den Deutschen überlassen. Sie brauchten bis Juli 1952, also vier Jahre, für die Fertigstellung des Gesetzes, doch trat am 8. August 1949 ein „Soforthilfegesetz zur Milderung dringender sozialer Notstände" in Kraft. — Der Alliierte Kontrollrat hatte 1945 und 1946 erhebliche Steuererhöhungen verfügt, um den Geldüberhang abzuschöpfen, das war nach der Währungsreform nicht mehr nötig, und so setzte eine Steuerreform der westlichen Besatzungsmächte vom 12. Juni 1948 die Einkommen-, Körperschafts- und Vermögenssteuern bedeutend herab und regelte die Steuern auf Kaffee und Tabak neu; mit diesen Steuersenkungen fiel ein weiteres Hemmnis für die wirtschaftliche Erholung Westdeutschlands.

Währungsreform

in Berlin,

Blockade

Die Sowjetunion hatte seit der Sprengung des Kontrollrates am 20. März 1948 versucht, die Westmächte aus Berlin zu verdrängen. Am 31. März und noch verschärft im Mai befahl die sowjetische Militärregierung, Gepäck und Reisende in den allüerten Personenzügen zu kontrollieren, auch alle Frachtgüter von und nach Berlin sollten nur mit Genehmigung der russischen Kommandanturen befördert werden. Die bevorstehende Währungsreform für die drei Westzonen verschlechterte die Lage in Berlin bedeutend. Die drei Westmächte wollten das neue Geld zuerst nicht in ihren Berliner Sektoren einführen. Dann aber verließen die sowjetischen Vertreter am 16.Juni 1948 auch die für Berlins Verwaltung zuständige Viermächteinstitution und machten so die Kontrolle über eine gemeinsame Währung unmöglich, und am 22. Juni gab Sokolowski die Währungsreform für die Sowjetzone und Berlin bekannt, die am 23. Juni durchgeführt wurde. Sie vollzog sich ungefähr auf der gleichen Grundlage wie in den Westzonen. Das neue Geld erhielt ebenfalls die Bezeichnung Deutsche Mark, pro Kopf wurden DM 70,— gegen RM 70,— eingetauscht, Konten allgemein im Verhältnis 10 : 1, die kleinen Spareinlagen bis zu RM 100,— im Verhältnis 1 :1, bis zu RM 1000,— im Verhältnis 5 : 1 ; politisch Mißbeliebige konnten vom Umtausch ausgeschlossen werden. Die DM West wurde im Ostsektor Berlins nicht zugelassen. Nun führten die Westmächte — Frankreich nur widerstrebend — die Westmark als legales Zahlungsmittel für ihre Sektoren ein, ließen aber die Ostmark gleichberechtigt zu. Die Sowjetregierung antwortete darauf mit der völligen Blockade Westberlins vom 24. Juni an. Damit waren mehr als zwei Millionen Menschen auf die bereits vorhandenen knappen Vorräte von Lebensmitteln und Kohle sowie auf das angewiesen, was die sofort eingerichtete „Luftbrücke" der Alliierten in die Stadt bringen würde. Seitens der Russen wie der Westalliierten wurde es eine Kraftprobe, doch wollte es keiner wegen Berlins zu einem Krieg kommen lassen. Am 6. Juli forderten die Westmächte in offiziellen Noten von der Sowjetunion die Aufhebung der Blockade Berlins, die Stadt sei kein Teil der Sowjetzone und den Westallnerten ausdrücklich der freie Zugang zu ihren Sektoren verbürgt. Die Regierung der Vereinigten 924

Währungsreform in Berlin. Blockade Staaten erklärte, „daß keine Drohungen, kein Druck und keine Handlung sie zur Aufgabe dieser Rechte veranlassen können". Ähnlich äußerten sich die britische und die französische Regierung. Nach Aufhebung der Blockade seien alle drei Mächte zu Verhandlungen über etwaige Meinungsverschiedenheiten vor der UN oder sonst bereit. Die Antwort der Sowjetregierung vom 14. Juli lehnte die Aufhebung der Blockade ab, wiederholte die alten Vorwürfe wegen Verletzung der Abkommen von Jaita und Potsdam und beschuldigte die Westmächte, mit ihren Maßnahmen auf die Spaltung Deutschlands hinzuarbeiten: „Nachdem die USA, Großbritannien und Frankreich durch ihre Separatverhandlungen in den westlichen Zonen Deutschlands das System der Viermächteverwaltung Deutschlands zerstört und in Frankfurt a. M. die Hauptstadt für die Regierung Westdeutschlands zu schaffen begonnen haben, haben sie damit auch die rechtliche Grundlage untergraben, die ihr Recht auf Teilnahme an der Verwaltung Berlins sicherte... Berlin liegt im Zentrum der sowjetischen Besatzungszone und stellt einen Teil dieser Zone dar." General Clay, der Militärgouverneur der amerikanischen Zone, setzte sich von Anfang an tatkräftig für ein Verbleiben der Westmächte in Berlin ein: Fiele Berlin in die Hände der Kommunisten, würde Westdeutschland bald folgen. „Wenn wir beabsichtigen, Europa gegen den Kommunismus zu halten, dürfen wir uns nicht von der Stelle rühren. Wir können Demütigungen und Druck, die nicht zum Krieg führen, in Berlin einstecken, ohne das Gesicht zu verlieren. Wenn wir fortgehen, gefährden wir unsere europäische Position." Die Russen begründeten die Sperre von Bahn, Straße und Wasserweg mit „technischen Schwierigkeiten", und Sokolowski erklärte den westlichen Militärgouverneuren ganz offen, die technischen Schwierigkeiten würden so lange anhalten, bis die Westmächte auf die Bildung einer eigenen westdeutschen Regierung verzichteten. Für die Bevölkerung Berlins folgten trotz der unermüdlichen Hilfe der Westmächte sehr schwere Monate. Aus aller Welt wurden die großen amerikanischen Transportflugzeuge herangezogen, in Berlin neue Rollfelder und ein neuer Flugplatz angelegt. Die technische Leistung des amerikanischen und britischen Fliegerund Bodenpersonals, besonders in den winterlichen Schlechtwetterperioden, ist ebenso bewundernswert wie der Geist, in dem sie ausgeführt wurde: aus eigenen Mitteln warfen amerikanische Flieger Beutel mit Süßigkeiten an kleinen Fallschirmen für Berliner Kinder ab und brachten zusätzlich unter dem Namen „Operation Weihnachtsmann" Tausende von Paketen aus Amerika nach Berlin. Die Blockade dauerte bis zum 12. Mai 1949. Die Lebensmittelrationen konnten allmählich etwas heraufgesetzt, aber Kohlen nur soviel geliefert werden, daß Schulen, Krankenhäuser und einige Wärmestuben notdürftig versorgt wurden. Elektrischen Strom gab es täglich nur einige Stunden; das modernste, in Westberlin gelegene Elektrizitätswerk hatten die Russen vor der Übergabe an die Westmächte vollständig demontiert. Nun sperrten sie die Stromleitung aus ihrem Sektor. Westberlin mußte sich mit einigen kleinen Elektrizitätswerken behelfen. Die Westberliner Industrie war infolge des Mangels an Kohle, Strom und Rohstoffen lahmgelegt. Der Magistrat beschäftigte so viele Arbeiter wie möglich mit Schutträumen. 925

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands Die feste Haltung, mit der die Berliner für ihre Freiheit alle Entbehrungen auf sich nahmen, trug ihnen die Anerkennung und die Sympathie der freien Welt ein. Die Luftbrücken-Operation bewies „materiell die Leistungsfähigkeit der Westmächte in der Luft auf eine Art, die die Sowjetregierung durchaus verstand. Moralisch und geistig erteilte sie die Antwort der westlichen Zivilisation auf die Herausforderung des Totalitarismus, der gewillt war, Tausende von Männern, Frauen und Kindern, nach deren geistiger und seelischer Beherrschung er trachtete, durch Hungersnot" sich gefügig zu machen (Clay). Als Gegenblockade hatten die amerikanische und die britische Militärregierung Ende Juni 1948 jeden Frachtverkehr zwischen Westeuropa und der sowjetischen Zone gesperrt. Die ostdeutsche Wirtschaft benötigte vor allem Kokereikohle und Stahl; die Ostblockländer konnten den Bedarf nicht decken, da sie selber noch Mangel daran litten. Verhandlungen zwischen der Sowjetischen Regierung und den Westmächten über Aufhebung der Blockade schleppten sich die ganze Zeit ergebnislos hin, auch die amerikanische Klage vor dem Sicherheitsrat der UN blieb ohne Erfolg. Erst im Februar 1949 bewogen die ostdeutsche Wirtschaftslage und die Erfolge der Luftbrücke die sowjetische Regierung zum Einlenken. Sie hatte sich überzeugt, daß ihr Versuch, die Westmächte aus Berlin zu verdrängen, fehlgeschlagen war. Am 4. Mai 1949 gab ein Kommuniqué der vier Besatzungsmächte bekannt, daß am 12. Mai die Blockade von beiden Seiten aufgehoben und die Handelsbeziehungen in dem Umfang und in der Weise wie zuvor wieder aufgenommen werden. In Westberlin herrschte große Freude, als die ersten Eisenbahnzüge und Lastwagen unbehelligt eintrafen.

Die Spaltung Berlins Inzwischen ging in Berlin der eiserne Vorhang herab, die Trennungslinie zwischen Ost- und Westberlin läuft seitdem mitten durch die Stadt. Die gemeinsame Stadtverwaltung hatte bisher im Ostberliner Rathaus getagt; die SED war in der Minderheit. Gegen ihre Stimmen nahm am 22. April 1948 die Stadtverordnetenversammlung mit 80 % Mehrheit die neue Verfassung an. Mit der gleichen Mehrheit war ein Jahr zuvor der Sozialdemokrat Professor Dr. Ernst Reuter zum Oberbürgermeister gewählt worden. Er trat indes sein Amt nicht an, weil die sowjetische Militärregierung dagegen Einspruch erhob; Frau Dr. Luise Schröder (SPD) übernahm die Stellvertretung. Anfang September 1948 hinderten gut organisierte kommunistische Gruppen die Stadtverordneten am Betreten des Rathauses, die daraufhin ohne die SED-Fraktion vom 10. September an in Westberlin tagen mußten, da ihnen jede weitere demokratische Verwaltungstätigkeit im Ostberliner Rathaus unmöglich gemacht wurde. So begann die Spaltung der Stadt. Auf Grund der Verfassung wurden für den 5. Dezember 1948 Neuwahlen für Großberlin angesetzt. Da dies ein den Deutschen zugestandenes Recht war, und die westlichen Militärregierungen sich deshalb nicht einmischten, kümmerte sich der Magistrat nicht um den sowjetischen Einspruch. Daraufhin erklärte die SED926

Gründung der Bundesrepublik Fraktion im Ostsektor am 30. November den Magistrat für abgesetzt und wählte den gleichnamigen Sohn des ersten Reichspräsidenten der Weimarer Republik, Friedrich Ebert, zum Oberbürgermeister von Großberlin, den die Westberliner selbstverständlich nicht anerkannten. In den Westsektoren gaben am 5. Dezember 86,2% der Wahlberechtigten ihre Stimme ab, der SED verbot die Ostberliner Leitung die Teilnahme. Die SPD erhielt 64,5%, die CDU 19,4%, die LDP 16,1% der Stimmen; Oberbürgermeister wurde Ernst Reuter. Von nun an gab es ein West- und ein Ostberlin, die Russen schlossen ihre Sektorengrenze so fest wie möglich ab, für die Bewohner der Westsektoren begann das Leben auf der „Insel" Berlin. Als Oberbürgermeister Reuter am 30. September 1953 starb, konnte Bundespräsident Heuß in seiner Gedächtnisrede mit Recht sagen: „Es ist kaum zu überschätzen, wie Reuters Haltung, wie Berlins Haltung vor fünf Jahren in die Gesinnung und in das Wissen der Welt wirkten; er konnte sich auf die Berliner verlassen, die Berliner konnten sich auf ihn verlassen. Und aus diesem Miteinander und Ineinander ist die Mächtigkeit eines Symbols erwachsen, das in Deutschland, das in der Welt begriffen wurde."

Die Gründung der Bundesrepublik Während die Westmächte mit der Luftbrücke nach Berlin ihren Entschluß, ein weiteres Vordringen des Bolschewismus in Europa zu verhüten, aller Welt deutlich machten, strebten die Militärregierungen der drei Westmächte nun ohne Rücksicht auf sowjetischen Einspruch eine verantwortliche deutsche Regierung an. Clay drängte darauf, möglichst rasch „Westdeutschland unter einer demokratischen deutschen politischen Verwaltung wirtschaftlich wieder in die Höhe zu bringen", denn nachdem die Wirtschaft Ostdeutschlands auf das osteuropäische Wirtschaftssystem ausgerichtet wurde, blieb den Westmächten keine Wahl, als das wirtschaftliche und politische Leben Westdeutschlands dem westeuropäischen einzugliedern . . . Wir „wollten uns nicht mehr länger mit einem politischen und wirtschaftlichen Vakuum in Mitteleuropa abfinden, das den Wiederaufbau der am Marshallplan beteiligten Länder behinderte." Die größten Schwierigkeiten bereitete Frankreich, es widerstrebte einer kräftigen deutschen Zentralregierung, wünschte vor allem Befriedigung seines Sicherheitsbedürfnisses und wirksame Kontrolle des Ruhrgebietes, der „Waffenschmiede" Deutschlands. Auf der Außenministerkonferenz in London vom 20. April bis 1. Juni 1948 wurde über diese Fragen Einigving erzielt. Am 1. Juli ermächtigten die Militärgouverneure der drei Westzonen die Ministerpräsidenten der elf westdeutschen Länder eine föderalistische deutsche Verfassung auszuarbeiten, Änderungen der Ländergrenzen vorzuschlagen und stellten ein neues Besatzungsstatut in Aussicht. Vom 10. bis 24. August tagte in Herrenchiemsee (Oberbayern) unter dem Vorsitz von Dr. Anton Pfeiffer, dem Leiter der bayerischen Staatskanzlei, ein Sachverständigenausschuß, der einen Verfassungsentwurf mit Kommentar ausarbeitete. Unter großen Bedenken gingen die Deutschen an ihre Aufgabe, weil sie fürch927

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands teten, durch Errichtung eines westdeutschen Staates die Spaltung Deutschlands noch zu erweitern. Die sowjetische Regierung hatte auf die Einladung des amerikanischen Außenministers Marshall, die sowjetische Zone mit den drei Westzonen zu verschmelzen, überhaupt keine Antwort gegeben. So mußte der Westen allein handeln. Die westdeutschen Landtage wählten 65 Vertreter für den „Parlamentarischen Rat" — die Bezeichnung Verfassunggebende Versammlung sollte vermieden werden — auch wurden die ausgearbeiteten Vorschläge „Grundgesetz (Vorläufige Verfassung)" genannt, um das Provisorium für das halbe Deutschland zu kennzeichnen. Den Vorsitz in dem am 1. September in Bonn zusammentretenden Parlamentarischen Rat führte Dr. Konrad Adenauer, bis 1933 Oberbürgermeister von Köln, 1945 Mitbegründer und Vorsitzender der CDU. Die folgenden Monate sind erfüllt von den Diskussionen der Parteien des Parlamentarischen Rats untereinander und mit den Besatzungsmächten, sowie der Besatzimgsmächte untereinander um das neue Besatzungsstatut. Sie ließen keinen Zweifel, daß die oberste Gewalt bei ihren Regierungen verblieb. Im Parlamentarischen Rat ging es vor allem darum, ob die Struktur des westdeutschen Staates mehr zentralistisch oder mehr föderalistisch werden sollte. Kurt Schumacher setzte sich und die SPD mit der ganzen Leidenschaftlichkeit seiner starken Persönlichkeit für eine kräftige Zentralregierung ein, dafür waren auch die Engländer unter der Ministerpräsidentschaft des Labour-Parteiführers Bevin. Die süddeutschen Staaten, voran Bayern, forderten eine, auch von Frankreich gewünschte, weitgehende Selbständigkeit der Länder. Eine vermittelnde Stellung nahm Adenauer mit der CDU ein, dies entsprach den amerikanischen Plänen. Nach vielen Sitzungen und Konferenzen kam dann allmählich ein Kompromiß zustande. Der Parlamentarische Rat stimmte am 8. Mai 1949, dem 4. Jahrestag der Kapitulation, mit 53 gegen 12 Stimmen für das Grundgesetz; mit Nein stimmten 6 Abgeordnete der bayerischen CSU und je 2 Abgeordnete des Zentrums, der Deutschen Partei und der Kommunistischen Partei. Die Militärregierungen genehmigten das Grundgesetz am 12. Mai, dem Tag der Aufhebung der Blockade Berlins. Gleichzeitig wurde das neue Besatzungsstatut übergeben. Das Grundgesetz wird mit der Vorrede eingeleitet: „Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, seine nationale und staatliche Einheit zu wahren und als gleichberechtigtes Glied in einem Vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat das deutsche Volk (in den elf Ländern der Westzone), um dem staatlichen Leben für eine Ubergangszeit eine neue Ordnung zu geben, kraft seiner verfassunggebenden Gewalt dieses Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland beschlossen. Es hat auch für jene Deutschen gehandelt, denen mitzuwirken versagt war. Das gesamte deutsche Volk bleibt aufgefordert, in freier Selbstbestimmung die Einheit und Freiheit Deutschlands zu vollenden." In 19 Artikeln werden „die unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechte", wie sie ähnlich die Weimarer Verfassung schon hatte, festgelegt: Freiheit der Person, des Glaubens, Gleichheit vor dem Gesetz und so fort. Nach Artikel 20 ist die Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus"; die Bun928

Gründung der Bundesrepublik desflagge ist Schwarz-Rot-Gold (Art. 22); „die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesredits. Sie gehen den Gesetzen vor" (Art. 25). Artikel 29 bestimmt Art und Weise, wie zu verfahren ist, wenn Länder eine Neugliederung ihres Gebietes wünschen. Die in allgemeiner, unmittelbarer, freier, gleicher und geheimer Wahl gewählten Abgeordneten des Bundestages sind „Vertreter des ganzen Volkes, an Aufträge und Weisungen nicht gebunden und nur ihrem Gewissen unterworfen" (Art. 38); der Bundestag wird auf 4 Jahre gewählt. „Durch den Bundesrat wirken die Länder bei der Gesetzgebung und Verwaltung des Bundes mit" (Art. 50); je nach Größe haben die Länder 3 bis 5 Stimmen. An der Spitze des Staates steht der Bundespräsident, er wird auf 5 Jahre von der Bundesversammlung gewählt, sie setzt sich aus den Mitgliedern des Bundestags und einer gleichen Anzahl von Mitgliedern, die von den Volksvertretungen der Länder gewählt werden, zusammen (Art. 54). Der Bundestag wählt auf Vorschlag des Bundespräsidenten den Bundeskanzler, kann diesem jedoch „das Mißtrauen nur dadurch aussprechen, daß er (der Bundestag) mit der Mehrheit seiner Mitglieder einen Nachfolger wählt und den Bundespräsidenten ersucht, den (bisherigen) Bundeskanzler zu entlassen. Der Bundespräsident muß dem Ersuchen entsprechen und den Gewählten ernennen" (Art. 67). „Der Bundespräsident vertritt den Bund völkerrechtlich. Er schließt im Namen des Bundes die Verträge mit auswärtigen Staaten" (Art. 59). Auf Vorschlag des Bundeskanzlers ernennt der Bundespräsident die Bundesminister, ernennt und entläßt die Bundesrichter und Bundesbeamten, seine Anordnungen und Verfügungen bedürfen der Gegenzeichnung des Bundeskanzlers. Gegenüber der Weimarer Verfassimg wurden die Rechte des Bundespräsidenten sehr beschränkt, dodi bekam er neben amtlichen Befugnissen mancherlei Einwirkungsmöglichkeiten. „In der Dynamik des Parteienstaates ist der Bundespräsident im Gegensatz zum Bundeskanzler eine vorwiegend statische Figur. Wo er aber wirkt, da muß es im stillen und unauffällig geschehen. Er ist nicht zum Regieren und Regulieren, sondern zum Behüten und Beraten, zum Ausgleichen und Sammeln bestellt. Gerade weil er sich selbst fern vom politischen Kampffeld hält, es aber überschaut, kann sein Rat von besonderem Wert sein" (Eschenburg). Nach Artikel 65 „bestimmt der Bundeskanzler die Richtlinien der Politik und trägt dafür die Verantwortung". Das Verhältnis von Bund und Ländern wurde genau geregelt, um einerseits der Bundesregierung eine starke und unabhängige Stellung zu verschaffen, andererseits den Ländern hinreichende Bewegungsfreiheit für ihr Eigenleben zu lassen. „Bundesrecht bricht Landesrecht" (Art. 31). „Die Bundesregierung übt die Aufsicht darüber aus, daß die Länder die Bundesgesetze dem geltenden Recht gemäß ausführen" (Art. 84), und kann im Fall drohender Gefahr eingreifen (Art. 91). Das Steueraufkommen wurde zwischen Bund und Ländern geteilt. Die Kulturpolitik fiel den Ländern zu. Die vom Bundestag beschlossenen Gesetze werden dem Bundesrat vorgelegt, bei den Gesetzen, die ausschließlich Bundesangelegenheit sind, hat der Bundesrat Einspruchsrecht und kann das Gesetz an den Bundestag zurückverweisen; Gesetze, die Rechte der Länder berühren, bedürfen der Zustimmung des Bundesrats. Zur Beilegung von Kompetenzstreitigkeiten und überhaupt als höchste rich-

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Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands terlidie Instanz wurde das Bundesverfassungsgericht eingesetzt (Art. 93 fi.). Es „dient nicht nur der Rechtsstaatlidikeit, sondern wirkt in einem Staat rivalisierender Parteien und Gruppen auch friedenstiftend. Es spricht nach der Verfassung das letzte Wort über die Rechtmäßigkeit eines Gesetzes... Das Gericht kann nicht ein Handeln befehlen, sondern nur ein bestimmtes Handeln verbieten" (Eschenburg). Der letzte Artikel, 146, betonte noch einmal mit Rücksicht auf die Lage der Ostzone das Vorläufige des ganzen Grundgesetzes: es „verliert seine Gültigkeit an dem Tage, an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die von dem (gesamten) deutschen Volk in freier Entscheidung beschlossen worden ist." Nachdem die Landtage von zehn der elf westdeutschen Länder dem Grundgesetz zugestimmt hatten — nur Bayern lehnte es mit 101 gegen 63 Stimmen ab — trat das Grundgesetz für die Bundesrepublik mit der feierlichen Unterzeichnung und Verkündigung im Parlamentarischen Rat am 23. Mai 1949 in Kraft. Die Weimarer Verfassung von 1919 ist formal nie aufgehoben worden, Hitler hatte sie beschworen und sich dann nicht mehr darum gekümmert. Das Grundgesetz von 1949 weist viel Gemeinsames mit der Weimarer Verfassung auf, zitiert sie in manchen Artikeln auch direkt, versucht aber alles zu vermeiden, was zum Untergang der Weimarer Republik beitrug, es beschränkt die große Macht des Staatsoberhauptes und hat vor allem den „Diktaturparagraph" 48 nicht aufgenommen. Das Grundgesetz bestimmt in Artikel 81 nur, daß im Fall eines Konflikts zwischen Bundesregierung und Bundestag der Bundespräsident auf Antrag der Bundesregierung und mit Zustimmung des Bundesrates eine Gesetzesvorlage auf dem Wege des „Gesetzgebungsnotstandes" in Kraft setzen kann. Die neue Zeit wird zum Ausdruck gebracht in der Gleichberechtigung der Frau (Art. 3), in dem Recht der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Art. 4), in dem Gesetz gegen Mißbrauch der Meinungs- und Pressefreiheit zur Gefährdung der Demokratie (Art. 18), Vorbereitung zu einem Angriffskrieg wird unter Strafe gestellt (Art. 26). Auch an den Zusammenschluß Europas wurde gedacht: „Der Bund kann sich zur Wahrung des Friedens einem System gegenseitiger kollektiver Sicherheit einordnen. Er wird hierbei in die Beschränkung seiner Hoheitsrechte einwilligen, die eine friedliche und dauerhafte Ordnung in Europa und zwischen den Völkern der Welt herbeiführen und sichern" (Art. 24). Der Wunsch, als 12. Bundesland Westberlin aufzunehmen, mußte preisgegeben werden, weil es sonst seinen Status als Teil der Viermächtestadt gefährdet hätte, den einzigen Schutz für die Freiheit Westberlins; so ließ man es wohl Vertreter in den Bundestag entsenden, gab ihm aber kein Stimmrecht. Ganz zufrieden mit dem Grundgesetz war natürlich niemand, weder die Zentralisten, noch die Föderalisten, noch die Besatzungsmächte, aber es bedeutete doch einen großen Fortschritt zum Wiederaufbau des staatlichen Lebens. Vorerst unterlag es freilich noch den erheblichen Einschränkungen durch das Besatzungsstatut. In der ersten Zeit nach der Kapitulation von 1945 hatten die Besatzungsmächte die gesamte Regierungsgewalt in Deutschland ausgeübt, die von ihnen eingesetzten Behörden waren nur ausführende Organe. Allmählich gewährten die westlichen Besatzungsmächte, ihrem Plan entsprechend, den deutschen Gemeinde-, 930

Gründung der Bundesrepublik Kreis- und Landesbehörden immer mehr Selbständigkeit. Als nächster Schritt folgte die Einrichtung der Zweizonenämter in der vereinigten britisch-amerikanischen Zone, dann mit der Errichtung der Bundesrepublik der Anschluß der französischen Zone. Frankreich ließ sich darauf erst ein, als durch die Unterzeichnung des Nordatlantikpaktes, eines Defensivbündnisses zwischen Frankreich, Großbritannien, den Beneluxstaaten und den Vereinigten Staaten, am 8. April 1949 seinem Sicherheitsbedürfnis Rechnung getragen und auf der Außenministerkonferenz in Washington Einigkeit über das neue Besatzungsstatut und die Ruhrkontrolle erzielt waren. In dem über diese Konferenz veröffentlichten Kommuniqué vom 8. April heißt es: „Der deutsche Bundesstaat und die teilnehmenden Länder sind lediglich an die im Besatzungsstatut festgelegten Beschränkungen gebunden und werden (sonst) volle gesetzgebende, ausführende und richterliche Gewalt gemäß dem Grundgesetz sowie ihren Verfassungen besitzen . . . Die Militärregierung als solche wird aufhören zu bestehen, und die alliierten Behörden werden hauptsächlich überwachende Funktionen übernehmen." An die Spitze der alliierten Zivilbehörde solle in jeder der drei Zonen ein Hoher Kommissar treten, den militärischen Befehlshabern unterstünden nur noch die Besatzungstruppen. Das Hauptziel der drei Regierungen sei „die möglichst enge Einbeziehung des deutschen Volkes unter einem demokratischen Bundesstaat in die europäische Gemeinschaft." Die im Besatzungsstatut aufgezählten Vorbehalte für die Reglung allein durch die Besatzungsmächte gingen sehr weit: neben Selbstverständlichem, wie der Sorge für Ansehen und Sicherheit ihrer eigenen militärischen und zivilen Angehörigen, Abrüstung, Entmilitarisierung, Reparationen, Außenpolitik, erstredeten sich die Vorbehalte auch auf die Zulassung von Flüchtlingen, die Kontrolle über den Außenhandel und den Devisenverkehr, über die Beachtung des Grundgesetzes und der Länderverfassungen, ferner auf das Recht, die von der deutschen Regierung erlassenen Gesetze aus triftigen Gründen abzulehnen. Die Besatzungsmächte behielten sich vor, jederzeit wieder die volle Gewalt zu übernehmen, versprachen aber auch, spätestens nach 18 Monaten das Besatzungsstatut zu überprüfen und zu lockern. Bei einer Wahlbeteiligung von 78,5 % wählten die rund 23 Millionen Stimmberechtigten Westdeutschlands am 14. August 1949 ihren ersten Bundestag: CDU/ CSU erhielten 139 Sitze, SPD 131, FDP 52, Bayernpartei und Deutsche Partei je 17, KPD 15, Wirtschaftliche Aufbauvereinigung 12, Zentrumspartei 10, Deutsche Konservative und Deutsche Rechtspartei zusammen 5, Notgemeinschaft und Südschleswigscher Wählerbund je 1, Parteilose 2 Sitze. Das Wahlergebnis zeigte, daß weder rechts- noch linksradikale Neigungen bei der Mehrheit des deutschen Volkes bestanden. Am 7. September wurden in Bonn Bundestag und Bundesrat feierlich eröffnet. Alterspräsident war der Sozialdemokrat Paul Löbe; er gedachte in seiner Rede der Toten des Weltkriegs und der Deutschen in der Ostzone; die Wiedergewinnung der Einheit Deutschlands sei die erste Aufgabe; Deutschland wolle „ein aufrichtiges, von gutem Willen erfülltes Glied eines geeinten Europa sein". Am 12. September wählte die Bundesversammlung den Bundespräsidenten, von den aufgestellten Kandidaten kamen ernstlich nur Professor Theodor Heuß 931 59 E

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Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands und Kurt Schumacher in Frage. Beim ersten Wahlgang erhielt Heuß 377, Schumacher 311 Stimmen, damit hatte keiner die erforderliche absolute Stimmenmehrheit erreicht. Aus dem sofort anschließenden zweiten Wahlgang ging Heuß mit 416 Stimmen gegen 312 für Schumacher als Bundespräsident hervor. Am 15. September wählte der Bundestag den Vorsitzenden der CDU Dr. Konrad Adenauer mit der knappsten möglichen Mehrheit zum Bundeskanzler, von den 402 Abgeordneten stimmten 202 für ihn, 142 gegen ihn, die übrigen enthielten sich der Stimme. Wie sehr das Vertrauen des deutschen Volkes zu Heuß und Adenauer auf Grund ihrer Leistungen zunahm, zeigen besonders die nächstfolgenden Wahlen: Adenauers Partei, die CDU, zog am 6. September 1953 mit 244 von 487 Abgeordneten in den zweiten Bundestag ein; bei der Abstimmung über seine zweite Kanzlerschaft erhielt er 304 Stimmen. Heuß wurde am 17. Juli 1954 mit 871 von 987 abgegebenen Stimmen wieder zum Bundespräsidenten gewählt.

Gründung der „DDR" Vollzog sich die Entwicklung der Bundesrepublik trotz aller Beschränkungen und aller Kontrolle durch die Besatzungsmächte nach den Freiheitsbegriffen der westlichen Welt, so galt für die sowjetisch besetzte Zone Deutschlands von Anfang an das Vorbild des Bolschewismus. Nachdem die einigermaßen freien Wahlen von 1946 gezeigt hatten, daß die SED keine Mehrheit im Volke hatte, übernahm sie mit russischer Hilfe allmählich auf kaltem Wege die gesamte Macht. Die Partei wurde auf dem dritten Parteitag der SED im Juli 1950 als „Partei Neuen Typus" nach dem Muster der Kommunistischen Partei der Sowjetunion aufgebaut: an der Spitze steht ein Zentralkomitee mit einem Politbüro, dessen Sekretariat unter Führung des ersten Sekretärs Walter Ulbricht ist „die eigentliche Aktions- und Befehlszentrale der S E D . . . Von hier aus werden Partei und Staat geführt und überwacht" (Eschenburg). In alle leitenden Stellungen wurden linientreue Parteifunktionäre geschoben. Die SED beherrscht den „Freien Deutschen Gewerkschaftsbund", der nicht dem Schutz der Werktätigen dient. „Da der größte Teil der Produktion in Staatsbetrieben, sogenannten Volkseigenen Betrieben hergestellt wird (der private Anteil an der Produktion liegt bei 20%), ist der Arbeiter nicht mehr vorwiegend für das private Kapital tätig, sondern mittelbar für das gesamte Volk und damit für sich selber. Er ist dadurch auch nicht mehr der privaten Unterdrückung und Ausbeutung ausgesetzt... Aber der totalitäre S t a a t . . . kann ein sehr viel härterer und anspruchsvollerer Arbeitgeber sein als der private Unternehmer in einem demokratischen Staat" (Eschenburg). Die gesamte Produktion vollzieht sich nach einem staatlichen Plan, an den Ministerien und Behörden ebenso gebunden sind wie Industrie, Gewerbe und Landwirtschaft, Verstöße dagegen werden als „Wirtschaftsverbrechen" bestraft, teilweise sogar mit Zuchthaus. Arbeitszeit, Leistung und Lohn sind von der staatlichen Plankommission festgesetzt, wer die als Norm bestimmte Arbeitsleistung nicht erreicht, erhält weniger Lohn, die Wahl des Arbeitsplatzes steht nicht mehr frei. Wie die Arbeiter durch 932

Gründung der „DDR" den Freien Deutschen Gewerkschaftsbund werden die Bauern durch die „Vereinigung der gegenseitigen Bauernhilfe" und die „Bäuerliche Handelsgenossenschaft" kontrolliert. Anbau und Ablieferung sind vorgeschrieben, kein Bauer darf mehr als 100 Hektar besitzen. Die SED beherrscht auch die Jugendorganisationen, die „Jungen Pioniere" vom 10. bis 14., die „Freie Deutsche Jugend" vom 14. bis 27. Lebensjahr. Die CDU und LDP bestehen zwar auch in der Ostzone noch, dürfen aber keinerlei Widerspruch laut werden lassen. Die SED sorgte ferner für eine ihr genehme Zusammensetzung des „Zweiten Deutschen Volkskongresses", er bildete am 18. März 1948 in Ostberlin einen „Deutschen Volksrat" und rief zu einem deutschen Volksbegehren für die Einheit Deutschlands auf, zu dem es niemals kam. Im Herbst 1948 arbeitete der Volksrat eine Verfassung für Gesamtdeutschland aus, ließ am 15./16. Mai 1949 in angeblich freien Wahlen die Sowjetzonenbevölkerung eine Einheitsliste des „Dritten Deutschen Volkskongresses" bestätigen. Mit Ja stimmten 7,9 Millionen, mit Nein 4 Millionen. Dies erst sehr spät bekanntgegebene Wahlergebnis wurde im Westen sehr bezweifelt. Der Volkskongreß trat am 29./30. Mai 1949 in Ostberlin zusammen, nahm fast einstimmig die Verfassung an, beschloß unter heftigen Angriffen gegen die Westmächte und die „volksschädlichen" westdeutschen Politiker die Bildung einer „Nationalen Front" in Westdeutschland sowie die Entsendung einer 22köpfigen Delegation nach Paris. Britische Kreise in Berlin kommentierten dies: es handle sich „um eine Schwindelkommission, gewählt von einer Schwindelversammlung, die ihrerseits aus einer Wahlfälschung" hervorgegangen sei. Im Wortlaut unterscheidet sich die ostzonale Verfassung nicht allzusehr von der westdeutschen außer natürlich in den Bestimmungen über die Wirtschaft (Artikel 19—29), in denen die Bodenreform, die Überführung der Bodenschätze, Bergwerke, Energiewirtschaft usw. in Staatseigentum und ähnliches sozialistisches Gedankengut verankert ist. Die freie Meinungsäußerung, Versammlungsfreiheit, Streikrecht der Gewerkschaften, Freiheit der Presse, der Kunst, der Wissenschaft und ihrer Lehre sind festgelegt. Höchstes Organ der Republik ist die Volkskammer (Art. 50), aber in dieser Parallele zum Bundestag haben die SED und die von ihr abhängigen Vertreter der Massenorganisationen und kleinen Parteien durch Aufstellung der Einheitsliste von vornherein die Mehrheit von etwa 72 %. Die SED ist „der authentische Interpret der Staatsziele". Dem Bundesrat entspricht eine Länderkammer. Sie blieb auch bestehen, als durch das verfassungsändernde Gesetz „über die weitere Demokratisierung des Aufbaus . . . in der DDR" vom 23. Juli 1952 die fünf Länder der Ostzone aufgelöst und das ganze Gebiet in 14 Bezirke eingeteilt wurde, womit die letzten Reste der Selbstverwaltung in Ländern, Kreisen und Gemeinden vernichtet wurden. Den 7. September, den Tag, an dem sich der westdeutsche Bundestag konstituierte, schmähte das Politbüro der SED als einen „Tag der nationalen Schande", „dieser Bundestag und eine kommende Regierung haben keine Rechtsgültigkeit", sie seien das Resultat einer Verletzung der Potsdamer Beschlüsse durch die angloamerikanischen Kriegstreiber und Kolonialherren samt ihren deutschen Helfern,

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Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands

den alten Konzernherren und Parteiführern. Das Präsidium des deutschen Volksrats unter Führung von Wilhelm Pieck wagte freilich keine Wahlen, sondern berief zum 7. Oktober 1949 den Volkrat nach Ostberlin. Der Volksrat nannte sich „provisorische Volkskammer", die Verfassung wurde in Kraft gesetzt und die Deutsche Demokratische Republik (DDR) ausgerufen. In allen Teilen der Sowjetzone und des Ostsektors von Berlin verkündigten grelle Plakate, fette Schlagzeilen sowie schwarz-rot-goldene Flaggen und Wimpel den 7. Oktober 1949 als den „Tag der Geburt der Deutschen Demokratischen Republik". Ministerpräsident der „provisorischen gesamtdeutschen Regierung" wurde Otto Grotewohl, der zweite Vorsitzende der SED. Am 11. Oktober übergab der Chef der sowjetischen Militärregierung, General W. J. Tschuikow, der DDR die bisher der Militärregierung zustehenden Verwaltungsfunktionen, an Stelle der Militärregierung trat eine sowjetische Kontrollkommission, die über die Erfüllung der Potsdamer und der anderen Deutschland betreffenden Viermächtebeschlüsse zu wachen hatte. Am Nachmittag wählten die provisorische Volkskammer und die provisorische Länderkammer Wilhelm Piedi einstimmig zum Präsidenten der DDR. In seiner ersten Ansprache sagte er: das deutsche Volk könne dem sowjetischen Volk und seinem großen Führer Stalin nicht genug danken, daß sie diese Staatsregierung gebilligt haben. Die DDR sei legitimiert, für das gesamte deutsche Volk zu sprechen, die „abgespaltenen, durch das Besatzungsstatut vergewaltigten Teile Deutschlands" müßten wieder eingegliedert werden. Die Oder-Neiße-Linie sei eine Friedensgrenze, die niemals für eine Hetze gegen das polnische Volk verwendet werden dürfe. Am 12. Oktober stellte Grotewohl der Volkskammer sein aus Vertretern aller Ostzonenparteien zusammengesetztes Kabinett vor.

Die Eingliederung der beiden Teilstaaten in die westliche und östliche Welt So gab es nun zwei deutsche Regierungen, beide noch unter weitgehender Kontrolle der Besatzungsmächte, beide beanspruchten, für das ganze Volk zu sprechen. Am 22. Oktober 1949 nahm Adenauer in einer Regierungserklärung vor dem Bundestag zu der DDR Stellung: „Es wird niemand behaupten können, daß die nunmehr geschaffene Organisation der Sowjetzone auf dem freien Willen der Bevölkerung der Ostzone beruht. Sie ist zustande gekommen auf Befehl Sowjetrußlands und unter Mitwirkung einer kleinen Minderheit ihm ergebener Deutscher. Ich stelle folgendes fest: In der Sowjetzone gibt es keinen freien Willen der deutschen Bevölkerung. Das, was jetzt dort geschieht, wird nicht von ihrem Willen getragen und damit legitimiert. Die Bundesrepublik Deutschland dagegen stützt sich auf die Anerkennung durch den freibekundeten Willen von rund 23 Millionen stimmberechtigten Deutschen. Die Bundesrepublik Deutschland ist somit bis zur Erreichung der deutschen Einheit insgesamt die alleinige legitimierte staatliche Organisation des deutschen Volkes... sie fühlt sich verantwortlich für das Schicksal der 18 Millionen Deutschen, die in der Sowjetzone leben. Sie versichert sie ihrer Treue und ihrer Sorge. Die Bundesrepublik Deutschland ist allein 934

Eingliederung beider Teilstaaten in die westliche und östliche Welt befugt, für das deutsche Volk zu sprechen. Sie erkennt Erklärungen der Sowjetzone nicht als verbindlich für das deutsche Volk an, das gilt auch insbesondere hinsichtlich der Erklärungen, die in der Sowjetzone über die Oder-Neiße-Linie abgegeben worden sind. Ich stelle diese Tatsache mit allem Nachdruck vor dem deutschen Volk und der gesamten Weltöffentlichkeit fest." Von sowjetischer Seite behauptete der stellvertretende Ministerpräsident Malenkow: „In der Gründung der DDR kommt der Prozeß der Vereinigung und des Zusammenschlusses der demokratischen Kräfte des deutschen Volkes zum Ausdruck. Man kann keinen europäischen und folglich keinen internationalen Frieden sichern, wenn die deutsche Frage nicht richtig gelöst wird. Es ist nicht möglich die deutsche Frage zu lösen, wenn die deutsche Demokratie die Geschicke des Landes nicht in die eigene Hand nimmt, wenn sie den Ruhrmagnaten nicht ihre wirtschaftliche und politische Basis entzieht, wenn sie im Lande keine durchgreifenden demokratischen Umgestaltungen vornimmt. Die Gründung der DDR bedeutet, daß in Deutschland diese wichtigsten Voraussetzungen für eine durchgreifende Lösung des deutschen Problems auf demokratischer Basis bereits geschaffen werden." Viele Versuche sind mit Reden, Notenwechsel, Konferenzen der Minister und der Staatshäupter gemacht worden, um die Einheit Deutschlands wieder herzustellen und einen Friedensvertrag abzuschließen. Die Bildung einer gesamtdeutschen Regierung scheiterte. Nach der Überzeugung der Westmächte sollten am Anfang wirklich freie, international kontrollierte Wahlen zu einer gesamtdeutschen Nationalversammlung stehen, diese habe dann eine Regierung zu bilden, mit der ein Friedensvertrag geschlossen werden könne. Die Sowjetunion dagegen wollte nicht eher Wahlen zulassen, als bis auch Westdeutschland zu einer „Volksdemokratie" umgestaltet sei. Eine ernannte •— nicht gewählte ·—• „gesamtdeutsche provisorische Regierung", die zu gleichen Teilen aus Vertretern Ost- und Westdeutschlands besteht — obwohl Westdeutschland mehr als die doppelte Einwohnerzahl hat — sollte die Handhabe dafür bieten, dem Kommunismus auch in Westdeutschland Einfluß zu verschaffen. Nach Stalins Tod 1953 änderte die sowjetische Regierung ihre Taktik in der Weise, daß sie die beiden deutschen Teilstaaten als selbständige Partner anerkannte, die sich über die Wiedervereinigung ihres Landes zu verständigen hätten, und zwar so, daß die „volksdemokratischen Errungenschaften" der DDR erhalten blieben und die „friedliche" Entwicklung Deutschlands ohne Bindung an andere Mächte gesichert sei. Überzeugt, daß die Machthaber in der DDR nicht den Willen der Mehrheit der Ostzonenbevölkerung repräsentieren, lehnten Westdeutschland und die Westmächte die sowjetischen Vorschläge zur Wiedervereinigung Deutschlands ab, wie auch sie mit ihren Vorschlägen immer wieder auf ein sowjetisches „Nein" stießen. Die politische Entwicklung der beiden deutschen Teilstaaten verlief formal zunächst ähnlich. Die Beschränkungen durch die Besatzungsmächte wurden mehr und mehr abgebaut. Für die Bundesrepublik bedeutete das Petersberger Abkommen vom 22. November 1949 zwischen den drei Hohen Kommissaren der Westmächte und Bundeskanzler Adenauer einen großen Fortschritt. Deutschland durfte allen in Frage kommenden internationalen Körperschaften beitreten. Han935

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutsdilands dels- und Konsularvertretungen mit anderen Ländern austauschen, die Marshallplanhilfe wurde durch ein direktes Abkommen zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten geregelt, die Demontageliste weiter verringert, die Beschränkung des Schiffsbaus und der Industrie gelockert, die Beendigung des Kriegszustandes in Aussicht gestellt. Dafür mußte Deutschland das internationale Ruhrstatut anerkennen und Mitglied dieser Behörde werden, die über Kohle, Stahl, Verkehr und Zölle weitgehende Hoheitsrechte ausübte. Der Angriff der von der Sowjetunion unterstützten nordkoreanischen Armee auf Südkorea am 25. Juni 1950 beeinflußte die Beziehungen der Westmächte zur Bundesregierung erheblich, sie sahen darin einen Probefall für die ähnlichen, aber komplizierteren Verhältnisse im zweigeteilten Deutschland. Hatte bisher nur Churchill im März 1950 eine Europaarmee mit deutschem Wehrbeitrag vorgeschlagen, wogegen Frankreich sofort aufgeregt Einspruch erhob, so waren jetzt auch die Vereinigten Staaten überzeugt, daß eine erfolgreiche Abwehr sowjetischer Ausdehnungsbestrebungen in Europa nur mit deutscher Waffenhilfe möglich sei. Der Weg bis zur Aufstellung eines deutschen Heeres und zur Anerkennung der Souveränität war freilich lang und mühsam. Frankreich ging es um ein geeintes kontinentales Westeuropa, das die deutschen Kräfte kontrollierte und den französischen Führungsanspruch befriedigte. Aus dem Plan des französischen Außenministers Schumann entstand im April 1951 die Montanunion, in der Frankreich, Deutschland, Italien, Belgien, Luxemburg und die Niederlande für Kohle und Stahl einen gemeinsamen Markt schufen, den eine aus Vertretern der sechs Staaten bestehende Behörde verwaltete. Die Montanunion trat am 23. Juli 1952 ins Leben. Nachdem Deutschland die Vorkriegsschulden anerkannt hatte, wurde im März 1951 das Besatzungsstatut weiter gelockert, die Bundesrepublik erhielt wieder ein Außenministerium und konnte Botschafter und Gesandte mit befreundeten Ländern austauschen. Am 26. Mai 1952 kam nach langen Verhandlungen der von der Bundesrepublik und den Westmächten in Bonn unterzeichnete DeutschlandVertrag zustande. Er sollte das Besatzungsregime aufheben und Deutschland die volle Souveränität zurückgeben; eine „Notstandsklausel" gestattete den Westmächten allerdings im Fall eines Angriffs von außen oder eines Umsturzversuches die Regierungsgewalt in Deutschland wieder zu übernehmen. Der Vertrag war an das Zustandekommen der „Europäischen Verteidigungsgemeinschaft" (EVG) gebunden, zu der sich die sechs in der Montanunion vereinigten Länder zusammenschließen wollten, um im Rahmen des Nordatlantikpaktes (Nato = North Atlantic Treaty Organization) eine gemeinsame Armee aufzustellen. Der Bundestag nahm am 19. März 1953 den EVG-Vertrag an, Frankreich lehnte ihn am 20. August 1954 ab. Nach weiteren Verhandlungen kamen dann am 23. Oktober 1954 neue Verträge zwischen der Bundesrepublik, Frankreich, England und den Vereinigten Staaten in Paris zum Abschluß, die Deutschland als gleichberechtigtes Mitglied in die europäische Gemeinschaft aufnahmen. Mit ihrem Inkrafttreten am 5. Mai 1955 waren das Besatzungsstatut aufgehoben, der Bundesrepublik „die volle Macht eines souveränen Staates über ihre inneren und 936

Eingliederung beider Teilstaaten in die westliche und östlidie Welt äußeren Angelegenheiten" zugestanden, die wegen der allgemeinen Sicherheit notwendige Stationierung alliierter Truppen auf deutschem Gebiet und die finanziellen Leistungen Westdeutschlands vertraglich geregelt. Bis zum Abschluß eines Friedens Vertrages wollten die vier Staaten „zusammenwirken, um mit friedlichen Mitteln ihr gemeinsames Ziel zu verwirklichen: ein wiedervereinigtes Deutschland, das eine freiheitlich demokratische Verfassung, ähnlich wie der Bundesrepublik, besitzt und das in die europäische Gemeinschaft integriert ist." Die „Notstandsklausel" ist in diesem Vertrag gestrichen. Für Westberlin gaben die drei Westmächte eine besondere Erklärung ab: sie seien „entschlossen, Berlin das größtmögliche Ausmaß an Selbstregierung zu gewährleisten, das mit der Sonderlage Berlins vereinbar ist." An die Stelle der von Frankreich abgelehnten Europäischen Verteidigungsgemeinschaft trat der Vertrag über die Westeuropäische Union. Der im März 1948 von Großbritannien, Frankreich, Belgien, Luxemburg und den Niederlanden unterzeichnete Brüsseler Vertrag über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Zusammenarbeit und über kollektive Selbstverteidigung, der sich damals hauptsächlich gegen Deutschland gerichtet hatte, erhielt nun die Aufgabe, „alle Maßnahmen zu treffen, um die Einheit Europas zu fördern und seine fortschreitende Integrierung zu unterstützen"; als neue Mitglieder traten die Bundesrepublik und Italien der Westeuropäischen Union bei. Die Bundesrepublik wurde auch in den Nordatlantikpakt aufgenommen. Da sie noch nicht wie alle übrigen 14 Natomitglieder den UN angehörte, verpflichtete sie sich, ihre Politik nach den Grundsätzen der UN zu führen und sich jeder Aktion zu enthalten, die mit dem streng defensiven Charakter der Nato nicht in Einklang steht, besonders „niemals zur Gewalt zu greifen, um die Wiedervereinigung Deutschlands oder die Änderung der jetzigen Grenzen der Bundesrepublik herbeizuführen". Die Entwicklung der Bundesrepublik zum souveränen Staat, ihre Einbeziehung in den Nordatlantikpakt und ihre Wiederaufrüstung empfand die Sowjetunion als Durchkreuzung ihrer Pläne, als unvereinbar mit dem Potsdamer Abkommen und trotz aller Versicherungen des rein defensiven Charakters der Nato und der Westeuropäischen Union als eine Bedrohung. Die Sowjetunion war indes nicht um ihre Sicherheit besorgt; der festgefügte, militärisch gut ausgerüstete Ostblock und die russischen Atom- und Wasserstoffbomben waren dem Rüstungspotential des Westens wohl mindestens gleichwertig, an ausgebildeten Divisionen sogar überlegen, jedenfalls hielt aber die Sowjetunion die Abwehrfront des Westens für eine gegen sich gerichtete Einkreisungspolitik. Die sowjetische Regierimg beantwortete jeden Schritt der Westmächte zugunsten der wirtschaftlichen oder politischen Förderung der Bundesrepublik nicht nur mit Protesten gegen die Verletzung des Potsdamer Abkommens und mit immer denselben Vorschlägen für die Wiedervereinigung eines „demokratischen, friedliebenden" Deutschlands, sondern auch mit der immer stärkeren Einbeziehung der DDR als internationalen Faktor in das System des Ostblocks. Die Sowjetzone hatte schon seit 1946 eine eigene Polizei, seit 1948 eine militärisch ausgebildete „Kasernierte Volkspolizei". Der amerikanische Außenminister Dean Acheson stellte bei der Zurückweisung der Prager Beschlüsse der 937

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands Ostblockstaaten vom 21. Oktober 1950, die sich gegen die Pläne zur Wiederaufrüstung der Bundesrepublik wandten, fest: „Nur in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands, wo die Fabriken und wo 50 000 Soldaten organisiert, ausgebildet und mit Panzern und Artillerie ausgerüstet wurden, hat eine Remilitarisierung stattgefunden." Die Nationale Volksarmee bekam auch eine Marine- und LuftwaSenabteilung, die Ausbildung und Bewaffnung erfolgte nach dem Muster der Roten Armee. 1953 erließ die Sowjetunion der DDR weitere Reparationen, erklärte den Kriegszustand mit Deutschland für beendigt und erkannte die DDR als souveränen Staat an. Die russische Kontrollkommission in Berlin wurde in eine Botschaft umgewandelt. Am 14. Mai 1955 schlossen die acht Ostblockstaaten: Sowjetunion, Polen, Ungarn, Tschechoslowakei, Albanien, Bulgarien, Rumänien und die DDR den Warschauer Beistandspakt zur Erhaltung des Weltfriedens und zur Stärkung der Sicherheit, ein gemeinsames Oberkommando über die Streitkräfte mit dem Hauptquartier in Moskau wurde vereinbart, die Teilnahme der DDR-Streitkräfte blieb allerdings noch einer späteren Entscheidung vorbehalten. Die Souveränität der DDR erkannten alle Ostblockstaaten an, während die Westmächte die Bundesrepublik zum alleinigen Repräsentanten ganz Deutschlands erklärten. „Das Ziel der sowjetischen Politik ist, eine möglichst weitgehende internationale Anerkennung der DDR zu erreichen. Je mehr Staaten außerhalb des Ostblocks die DDR als Staat anerkennen, desto mehr wächst ihr Anspruch, als Staat behandelt zu werden. Dadurch soll erreicht werden, daß die Wiedervereinigung durch Staatsvertrag, nicht aber durch freie Wahlen zu erfolgen hätte" (Eschenburg). Die wirtschaftliche Erholung der Ostzone blieb weit hinter der Westzone zurück, wenn auch allmählich eine fühlbare Besserimg eintrat. Immer schwerer aber wurde der Druck der Sowjetisierung. Eine Demonstration von Ostberliner Bauarbeitern, die am Morgen des 16. Juni 1953 gegen die Erhöhung der Arbeitsnorm protestierten, weitete sich am 17. Juni zu einem Aufstand aus, an dem sich in Berlin und vielen größeren Städten der Ostzone Hunderttausende beteiligten. Die Regierung der DDR war hilflos bei diesem plötzlichen Ausbruch der tiefgehenden Unzufriedenheit mit dem Regime, erst sowjetische Panzer stellten die Ruhe wieder her. Die wirtschaftliche Entwicklung der Bundesrepublik nahm nach der Währungsreform einen so erstaunlichen Aufschwung, daß von einem „Wirtschaftswunder" gesprochen wurde. Die Marshallplangelder ermöglichten den schnellen Wiederaufbau der Industrie, der Bergwerke, der Schiffahrt. Die Bewältigung der gewaltigen Aufgaben für die Eingesessenen wie für die über 10 Millionen Vertriebenen und Flüchtlinge aus dem Osten Arbeit zu schaffen, Wohnungen zu errichten, Straßen und Eisenbahnen zu erneuern und auszubauen und dabei die neugeschaffene Währung stabil zu halten, gelang über Erwarten. Die zerstörten Städte erstanden weitgehend neu, der ungeheure Bedarf an Verbrauchsgütern konnte allmählich befriedigt werden. Es gelang auch, die Heimatvertriebenen bis auf einen verhältnismäßig geringen Rest dem Volkskörper einzugliedern. Die von den Vertriebenen neu aufgebauten Industrien wurden zu einem wertvollen Be938

Sdiluß standteil der deutschen Wirtschaft. Der Zustrom von Flüchtlingen aus der Ostzone und von Heimkehrern riß allerdings nicht ab. Die meisten Barackenlager, in denen Vertriebene und Flüchtlinge zunächst Unterkunft fanden, konnten aber aufgelöst, die Insassen in richtige Wohnungen eingewiesen und damit von der körperlichen und seelischen Belastung des Baradcenlebens erlöst werden. Schnell wachsender Reichtum, Millionenvermögen in der Hand von einzelnen, steigende Beamten- und Angestelltengehälter sowie höhere Löhne der Arbeiter haben den Lebensstandard weiter Kreise sehr gehoben, wie der Verbrauch von Genußmitteln und die Masse der Luxusgüter, die Millionen von Ferienreisenden im Inland und ins Ausland zeigen. An der Überwindung des unseligen und opfervollen Weges von Schutt, Trümmern, Hunger, Verfehmtheit und Machtlosigkeit zu dem jetzigen Ansehen und Wohlstand arbeiteten alle Stände mit. Das bundesrepublikanische Deutschland wurde wieder zu einem geachteten Glied der westlichen Völkergemeinschaft, seine Währung entwickelte sich zu einer der festesten der Welt, dem Export seiner Industriegüter öffneten sich alle Länder.

Schluß Deutschland blieb in zwei Teile zerrissen, und noch hat kein Friedensvertrag das Unglück des Zweiten Weltkrieges zum Abschluß gebracht. Scheinbar unüberbrückbare Teilung ist nicht nur das Schicksal Deutschlands, sondern das der ganzen Welt. Allzubald war der Traum von der einen, unteilbaren Welt, frei von Not und Furcht, geleitet und gefördert durch die Zusammenarbeit aller Staaten in der Organisation der Vereinten Nationen, der Nachfolgerin des Genfer Völkerbundes, ausgeträumt. Die Vereinigten Staaten sind seit ihrem Kampf gegen den Nationalsozialismus unter Roosevelts Führung fast ganz von ihrem Isolationismus abgekommen. Die Ideologie des Kommunismus fordert die Weltherrschaft und versucht immer wieder, den als sicher angenommenen Sieg ihrer Wirtschaftsordnimg durch Gewalttaten zu beschleunigen. Das Niedergehen des „eisernen Vorhangs" in Europa, die Kriege in China, Korea und Südostasien haben die Welt in zwei Machtsphären geteilt, zwischen denen die jungen Nationalstaaten der farbigen Völker eine „dritte Kraft" zu bilden versuchen. Seit die amerikanischen Atombomben auf Hiroshima und Nagasaki 1945 gezeigt haben, welch furchtbare Vernichtungsmöglichkeiten den Menschen mit der Kernspaltung in die Hand gegeben sind, und seit die Vereinigten Staaten und die Sowjetunion die Mittel der Zerstörung immer stärker und weiterreichend ausgebildet haben, herrscht in der Menschheit die Angst vor der Vernichtung allen Lebens auf der Erde. Trotz zehnjähriger Verhandlungen ist noch kein Vertrag über das Verbot der Anwendung von Atomwaffen zustande gekommen. Die Gegnerschaft der beiden großen Atommächte hatte immerhin den Vorteil für das westliche Deutschland, daß seine wirtschaftliche und militärische Bedeutung in der Abwehrfront des Westens gegen ein weiteres Vordringen des Bolschewismus erkannt, das 939

Tiefstand, Wiederaufstieg und Teilung Deutschlands Entstehen der Bundesrepublik und die Voraussetzungen für ihr „Wirtschaftswunder" gefördert wurden. Der Zusammenschluß Westeuropas, der eine unbedingte Notwendigkeit für den Weiterbestand der auf antiker und christlicher Grundlage ruhenden abendländischen Kultur ist, steht noch sehr im Anfang, der gemeinsame Verteidigungsbund der NATO, der Europarat und die wirtschaftlichen Zusammenschlüsse wenigstens einiger Staaten sind die ersten Ansätze zur Uberwindung der jahrhundertelangen nationalstaatlichen Gegensätze. Das von Bismarck 1871 geeinte Deutsche Reidi nahm in 43 Friedensjahren einen kräftigen Aufschwung, bis die unselige Verkettung der internationalen Lage im Sommer 1914 das Zeitalter der Weltkriege einleitete. Den Sturz von 1918 fing die Weimarer Republik auf und erkämpfte langsam wieder Deutschlands Aufstieg. Die Wirtschaftskrise ermöglichte dann Hitler die Errichtung seiner verbrecherischen Diktatur, die Deutschland 1945 in den Abgrund riß. Schuld und Sühne waren schwer, aber auch jetzt bahnt sich das Volk in der Mitte Europas wieder einen Weg in die Höhe. Deutschlands Tragik dabei ist, daß etwa ein Drittel des nach wie vor zu ihm gehörenden Gebietes hinter dem eisernen Vorhang liegt, ohne daß bis heute eine Möglichkeit zur friedlichen Wiedervereinigung in Freiheit zu erkennen ist.

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Vorbemerkung: Bibliographisch genau ist der Titel eines Buches in den folgenden Anmerkungen jeweils nur bei der ersten Nennung angegeben, wird das Buch dann nodi öfter zitiert, steht hinter dem Verfassernamen in Klammem die Seitenzahl, zu der das Buch in den Anmerkungen erstmals genannt ist. Die Literatur über den in diesem Band dargestellten Zeitraum ist so umfangreich, daß ihre vollständige Anführung hier nicht möglich ist, deshalb wird nur auf wichtige, von uns benützte Quellen und Darstellungen hingewiesen. — Gesandtschaftsberichte, Tagebücher und die von ihren Autoren meist erst im Alter abgefaßten Memoiren sind mehr oder weniger subjektiv, aber als Ausdrude unmittelbaren Erlebens und indem sie vielfach die Absichten der Handelnden erkennen lassen, bei sorgfältiger Prüfung großenteils für die Beurteilung und Darstellung nidit zu unterschätzende Quellen. — Die Geschichte unserer Zeit, kurz als Zeitgeschichte bezeichnet, beginnt, worauf der Leiter des Münchner Instituts für Zeitgeschichte, Dr. Paul Kluke, hingewiesen hat, mit dem Jahre 1917, in dem zwei die Welt von Grund aus verändernde Ereignisse stattfanden: die zur Entstehung des modernen totalitären Staates führende bolschewistische Revolution in Rußland und die Wendung der Vereinigten Staaten zur Weltpolitik durch ihre Beteiligung am Ersten Weltkrieg. Die Quellenlage für die Zeitgeschichte ist noch mißlich. Die Aktenpublikationen Deutsdilands und der anderen Großmächte, wie sie für die Entstehung des Ersten Weltkrieges bereits vorliegen, sind erst im Werden. Die deutschen Akten zur Außenpolitik des Reiches von 1918—1945 wurden von den Siegermäditen nach Washington gebracht; dort begann man 1949 mit ihrer Herausgabe. So ist man für die Zeitgeschichte vorerst auf die Benützung einzelner Akten oder Aktengruppen angewiesen, die verstreut in Zeitschriften oder größeren und kleineren Büchern erschienen sind. Für die letzten beiden Jahrzehnte muß man, etwa für die Reden und Erlasse Hitlers und für die neuen Anfänge staatlichen Lebens nach 1945, auch zu Zeitungsberichten greifen. Allgemeine Werke: Dahlmann-Waitz „Quellenkunde der deutschen Geschichte", 9. Aufl. hrsg. von H. Haering, 1931; G. Franz „Bücherkunde zur deutschen Geschichte", 1951; W. Hubatsch „Deutsche Memoiren 1945—1953. Eine kritische Übersicht", 1953. — B. Gebhardt „Handbuch der deutschen Geschichte", 8. Aufl. hrsg. von H. Grundmann; O. Brandt-Α. O. Meyer „Handbuch der deutschen Geschichte, hrsg. von L. Just, beide Handbücher sind in der neuen Auflage noch nicht vollständig erschienen. — H. Herzfeld „Die moderne Welt 1789—1945" I. „Die Epoche der bürgerlichen Nationalstaaten 1789—1890", II. „Weltmächte und Weltkriege. Die Geschichte unserer Epoche 1890 bis 1945", 1950; W. Mommsen „Geschichte des Abendlandes von der französischen Revolution bis zur Gegenwart, 1789—1945", 1951; J. R. von Salis „Weltgeschichte der neuesten Zeit" I. „Die historischen Grundlagen des 20. Jahrhunderts 1871—1904", 1951, II. „Der Aufstieg Amerikas, das Erwachen Asiens, die Krise Europas, der Erste Weltkrieg", 1955; H. Kramer „Die Großmächte in der Weltpolitik 1789—1945", 1952; E. Franzel „Geschichte unserer Zeit, 1870—1950" 3. Aufl. 1952; P. Rassow „Deutsche Geschichte im Überblick", 1953; Golo Mann „Deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahr60·

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Anmerkungen hunderte", 1959. — H. Schulthess „Europäischer Geschichtskalender", die Jahrgänge 1871—1940 von verschiedenen Herausgebern, seit 1924 bis zu dem letzten 1942 erschienenen Jahrgang 1940 von Dr. Ulrich Thürauf; jitiert als Schulthess. ·—· In diesen Bänden sind die wichtigsten Ereignisse der einzelnen Jahre, nach Ländern gesondert, zum jeweiligen Tagesdatum kurz zusammengestellt, also Erlasse, Reden in den Parlamenten, Partei- und anderen Versammlungen, Presseberichte usw., am Sdiluß jeden Bandes sind die internationalen Ereignisse behandelt. — G. Stolper „Deutsche Wirtschaft 1870 bis 1940", 1950. — F. Härtung „Deutsche Verfassungsgeschichte vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart", 5. Aufl. 1950. — L. Bergsträsser „Geschichte der politischen Parteien in Deutschland", 7. Aufl. 1952; W. Treue „Deutsche Parteiprogramme 1861—1954", 1955. — Historische Zeitschrift, zitiert Hist. Ζ.; Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, seit 1953, zitiert Vjh. f. Zg. Aktenpublikationen: „Die große Politik der europäischen Kabinette 1871—1914" im Auftrag des Auswärtigen Amtes hrsg. von J. Lepsius, A. Mendelssohn Bartholdy und F. Thimme, 42 Bände, 1922 ff., zitiert Gr. Pol.; „Die deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch 1914", hrsg. von Graf M. Montgelas undW. Schücking, neu durchgesehene und vermehrte Ausgabe, 4 Bände, 1927, zitiert DD; „Documents diplomatiques français 1871—1914", 17 Bände, Paris 1929 ff.; „British Documents on the Origin of the War 1898—1914" hrsg. von G. P. Gooch und H. Temperly, autorisierte deutsche Ausgabe „Die britischen amtlichen Dokumente über den Ursprung des Weltkriegs" hrsg. von H. Lutz, Band 1—9 und 11 zitiert Brit. Dok.; „Der Ausbruch des Krieges. Dokumente des britischen Auswärtigen Amtes, 28. Juni bis 4. August 1914" hrsg. von J. W. HeadlamMorley, 2 Bände, 1926, zitiert Brit. Dok. z. A. d. W.; A. Pribram „Die politischen Geheimverträge Österreich-Ungarns 1879—1914", 1920. — Die Aktenpublikationen für die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg sind erst im Entstehen: „Akten zur auswärtigen Politik 1918—1945", Serie D Bandi „Von Neurath zu Ribbentaop, Sept. 1937 bis Sept. 1938", Band II „Deutschland und die Tschechoslowakei 1937—1938", Band IV „Die Nachwirkungen von München, Okt. 1938 bis März 1939", 1951 ff; „Documents on German Foreign Policy 1918—1945" Series D, VI bis X, March 1939—Aug. 1940", 1949 ff.; „Documents on British Foreign Policy" erscheint in 3 Serien, die 1. bringt die Akten ab 1910, die 2. ab 1930, die 3. ab 1939.

Erstes Buch DEUTSCHLAND UNTER DER REICHSKANZLERSCHAFT BISMARCKS S. 3—158 A. Wahl „Deutsche Geschichte von der Reichsgründung bis zum Ausbruch des Weltkrieges (1871—1914)", 4 Bände 1926/36; J. Ziekursch „Politische Geschichte des neuen deutschen Kaiserreiches",