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German Pages 599 [600] Year 2015
Matthias Egeler Avalon, 66° Nord
Ergänzungsbände zum Reallexikon der Germanischen Altertumskunde
Herausgegeben von Heinrich Beck · Sebastian Brather · Dieter Geuenich · Wilhelm Heizmann · Steffen Patzold · Heiko Steuer
Band 95
Matthias Egeler
Avalon, 66° Nord
Zu Frühgeschichte und Rezeption eines Mythos
ISBN 978-3-11-044734-7 e-ISBN (PDF): 978-3-11-044872-6 e-ISBN (EPUB): 978-3-11-044851-1 ISSN 1866-7678 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet unter http://dnb.dnb.de abrufbar © 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/Boston Satz: Dörlemann Satz GmbH & Co. KG, Lemförde Druck und Bindung: Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Göttingen ♾ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany
Vorwort Die vorliegende Arbeit hat sich zum Ziel gesetzt, unter ausführlicher Berücksichtigung des Forschungsstandes sowohl der Nordistik als auch ihrer Nachbarfächer eine Antwort auf die Frage zu finden, ob die mythischen Gefilde des Ódáinsakr und der Glæsisvellir der altwestnordischen Sagaliteratur in keltischen mythologischen Motiven verwurzelt sind. Damit will sie den Versuch unternehmen, ein Problem abschließend zu behandeln, das in der (nicht nur nordistischen) Forschung zumindest seit dem späten 19. Jahrhundert und bis in die jüngste Zeit hinein immer wieder angesprochen worden ist, ohne dass bisher jedoch ein Konsens über die Bewertung des nordischen Materials und seines weiteren religionsgeschichtlichen Kontexts erreicht werden konnte. Die Entstehung dieser Arbeit hat sich von der ersten Idee bis zum Abschluss des Manuskripts über etwas mehr als ein halbes Jahrzehnt und über drei Universitäten erstreckt; in dieser Zeit und an diesen verschiedenen Orten habe ich von verschiedensten Seiten Hilfe erhalten, ohne die dieses Buch in dieser Form nicht hätte abgeschlossen werden können und die an dieser Stelle anzuerkennen mir eine angenehme Pflicht ist. Vielleicht an erster Stelle zu nennen sind die drei Institutionen, an denen dieses Buch verfasst wurde und die mir mit ungemeiner Großzügigkeit einen Rahmen zur Verfügung stellten, in dem es mir möglich war, mich ganz auf die Arbeit an diesem Forschungsprojekt und seinen verschiedenen Seitentrieben zu konzentrieren: das Jesus College der Universität Oxford, das St Catharine’s College der Universität Cambridge, und das Institut für Nordische Philologie der Ludwig-Maximilians-Universität München, wo das Manuskript des vorliegenden Buchs im Mai 2015 als Habilitationsschrift eingereicht wurde. Im inspirierenden Umfeld aller drei Orte habe ich von zu vielen Kollegen in zu vielen Gesprächen und Diskussionen Anregungen erhalten, als dass es möglich wäre, sie hier alle namentlich zu nennen; auch für vielfältige praktische Hilfestellung habe ich zu danken. Auf keinen Fall unerwähnt bleiben dürfen jedoch Wilhelm Heizmann, Alessia Bauer, Thomas Charles-Edwards, Bernhard Maier, Máire Ní Mhaonaigh und Heather O’Donoghue, ohne deren stete Ermutigung und vielfache Unterstützung die vorliegende Arbeit nie abgeschlossen worden wäre. Für verschiedene wichtige Hinweise, Hilfestellungen, Auskünfte oder die Erlaubnis zur Einsichtnahme in noch unveröffentlichte Manuskripte bin ich ferner Kristján Ahronson, Heike Balzuweit, Klaus Böldl, Ester Oras, Óskar Guðmundsson, Jón Viðar Sigurðsson, Andrea Tietz und Nicholas Zair zu Dank verpflichtet. Francesca Fontana und der Kathedrale von Modena danke ich für die freundliche Erlaubnis, im vorliegenden Band eine Photographie der Porta della Pescheria zu reproduzieren. Maj-Gun Blomberg und dem Bunge Museum danke ich für die freundliche Erlaubnis, eine Photographie des Bildsteins Lärbro Stora Hammars I abzudrucken. Nicht unerwähnt sollen auch drei der Bibliotheken bleiben, die – und deren ungemein hilfreiche Bibliothekare – wesentlich dazu beigetragen haben, die tägliche Arbeit der Literatursuche und -beschaffung zu erleichtern: die Taylor Institution Library und die Sackler Library
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Vorwort
in Oxford, und die Bibliothek des St Catharine’s College in Cambridge – wo Colin Higgins ausdrücklich persönlich gedankt sei. Joachim Seifert und der Fachbibliothek am Geographischen Institut der Universität Kiel danke ich ferner für die Erlaubnis, das Kieler Exemplar von M. Jomards Les monuments de la géographie einer der Abbildungen in diesem Band zugrunde zu legen. Die Finanzierung der Arbeit erfolgte in Oxford durch ein Sir John Rhŷs Studentship, in Cambridge durch ein Violet Campbell Research Fellowship und in München durch ein Rückkehrstipendium des Deutschen Akademischen Austauschdiensts, durch ein Stipendium der Agnes Ament-Stiftung und schließlich durch ein Marie Curie Intra-European Fellowship im 7. Forschungsrahmenprogramm der Europäischen Kommission. Auch das Reisestipendium der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts, das mir in der Anfangsphase der Arbeit eine neue Perspektive auf (nicht nur) meinen Gegenstand ermöglichte, darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben. In der größten Schuld stehe ich jedoch gegenüber meiner Familie, die meine milde Obsession mit der Religionsgeschichte Nordwesteuropas zwar nicht teilt, die sie aber nichtsdestoweniger stets vorbehaltlos unterstützt hat: meine Großeltern Walburga und Johann Thür, meine Eltern Sigrid und Reinhold Egeler, und meine Geschwister Susi, Maria und Stefan. Ihnen sei diese Arbeit zugeeignet. Grünthal, im Frühling 2015
Matthias Egeler
Inhalt 1 1.1 1.2
Einleitung | 1 Unsterblichkeit im hohen Norden | 1 Methodologische Vorbemerkungen | 9
2 2.1
Die Glæsisvellir und der Ódáinsakr | 19 Die Thorkillus-Erzählung in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus | 20 Hervarar saga | 34 Eiríks saga víðfǫrla | 41 Helga þáttr Þórissonar | 59 Norna-Gests þáttr und Hálfdanar saga Eysteinssonar | 70 Þorsteins þáttr bæjarmagns | 73 Bósa saga ok Herrauðs | 83 Samsons saga fagra | 93 Der Ódáinsakr und die Glæsisvellir in den Sagas: Zusammenfassung | 97 Die Hvanndalir | 102 „Eptter dauda Godmundar blotudu menn hann og kolludu hann god sitt“, oder: Ein Kult des Guðmundr? | 108
2.2 2.3 2.4 2.5 2.6 2.7 2.8 2.9 2.10 2.11
3
3.1 3.1.1 3.1.2 3.1.3 3.2 3.2.1 3.2.2 3.2.3 3.3
4 4.1
Die Schiffsreise ins Jenseits: Schiffsbestattungen, Totenschiffe und transmarine Anderwelten in der germanischen Religionsgeschichte | 113 Die Schiffsbestattung in der Literatur | 114 Schiffs- und Bootsbestattungen in der altnordischen Literatur | 114 Weiteres zu transmarinen Anderwelten in der altnordischen Literatur: Leichenküste, Naglfar und die Entrückung des Sinfjǫtli | 125 Germanische Schiffsbestattungen in außerskandinavischen Quellen | 131 Das Totenschiff im archäologischen Befund | 135 Boots- und Schiffsgräber | 135 Schiffssteinsetzungen | 151 Der ikonographische Befund | 166 Rückblick: Balder, Schiffsbestattungen und die Reise zu den Glæsisvellir | 175 Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne | 181 Britisch-bretonische Anfänge: Geoffrey von Monmouth und die frühesten Zeugnisse für das Avalon-Motiv | 183
VIII
4.2 4.2.1 4.2.2 4.3 4.4
4.5 4.6 4.7 4.8 5 5.1 5.1.1 5.1.2 5.2 5.2.1 5.2.2 5.2.3 5.2.4 5.2.5 5.3
6 6.1 6.2 6.2.1 6.2.2 6.3 6.4
Inhalt
Die Liebe der Anderweltsfrau: Chrétien de Troyes, die bretonischen Lais und die Erotik des Entrückungsmotivs | 201 Chrétien de Troyes, Avalon und die Glasinsel | 201 Die bretonischen Lais, oder: Weiteres zu Guigomar und seiner Dame | 208 AD 1191: Glastonbury, Avalon und die Entdeckung von Arthurs Grab | 219 Kapelle, Kloster und Land jenseits des Meeres: Variationen über das Avalon-Thema im Lanzelot-Graal und im Perlesvaus | 234 Freude am Detail: Avalon in den Gesta regum Britanniae und in der Bataille Loquifer | 239 Avalon und Sizilien: Die mediterrane Metamorphose der Apfelinsel | 246 Der Name Avalons: Etymologisches zur Apfelinsel | 254 Zusammenfassung, Rück- und Ausblick | 257 Tír na m-Ban, Emain Ablach und verwandte Inseln: Die Lebensinsel in der irischen Literatur | 262 Die immrama und die Lokalisierung der Anderwelt jenseits der und unter den Wassern | 265 Die ältesten volkssprachlichen Zeugnisse: Echtrae Chonnlai und Immram Brain maic Febail | 265 Kleriker auf Anderweltsreise | 281 Die paradiesische Anderweltsinsel in der Heldensage | 320 Tochmarc Becḟola | 320 Serglige Con Culainn | 324 Acallam na Senórach | 335 Die Verortung der Anderweltsinsel | 338 Giraldus Cambrensis und die irische Folklore des 12. Jahrhunderts | 360 Die irischen Anderweltsinseln: Zusammenfassung und Abschlussdiskussion | 364 Ausblicke auf die keltische Antike, oder: Die longue durée der Anderweltsinsel | 384 Prokop und die Toteninsel | 385 Die Kronosinsel | 395 Avienus | 395 Plutarch | 398 Äpfel und Bernstein | 416 Sena | 425
Inhalt
6.5 6.6 7 7.1 7.2 7.2.1 7.2.2 7.2.3 7.3 7.4
7.4.1 7.4.2 7.5 7.6 7.7
IX
Die sechs „Inseln der Götter“ | 432 Die Küsten des antiken Barbaricums: Zusammenfassung | 436 Unsterblichkeit im Nordmeer, Religionskontakte und literarischer Austausch, oder: Die Frage nach Schlussfolgerungen | 440 Die Materiallage: Eine kurze Zusammenfassung | 440 Irland, Arthur und Avalon: Eine „inselkeltische Mythologie“? | 449 Die Sage von König Arthur und die keltischen Literaturen | 451 Avalon und das Land der Frauen: Ein Vergleich | 455 Avalon und das Land der Frauen: Möglichkeiten einer Verhältnisbestimmung | 471 Avalon, das Land der Frauen und der Ódáinsakr: Das keltische und nordische Material im Vergleich | 482 Zufall, indogermanisches Erbe, Religionskontakt und literarische Entlehnung: Mögliche Bewertungen der nordisch-keltischen Parallelen | 494 Das methodische Problem der Signifikanz | 494 Zur Typologie möglicher historischer Beziehungen | 501 Hvítramannaland und Írland et mikla, oder: Von den Britischen Inseln zum Hvanndalur | 503 Avalon und der Ódáinsakr, oder: Arthurische Einflüsse in den Glæsisvellir-Sagas? | 520 Abschlussgedanken: Der Ódáinsakr, die komplexe Stratigraphie der altwestnordischen Mythologie, und einige methodologische Bemerkungen | 525
8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.1.3 8.1.4 8.1.5 8.1.6 8.2
Bibliographie | 530 Quellen | 530 Quellen in altnordischer Sprache | 530 Quellen in altfranzösischer Sprache | 531 Quellen in alt- und mittelenglischer Sprache | 532 Quellen in lateinischer Sprache | 532 Quellen in irischer Sprache | 533 Sonstige Quellen | 534 Sekundärliteratur | 534
9
Register | 585
1 Einleitung 1.1 Unsterblichkeit im hohen Norden Die letzte Spur des Pfads endet bei den Fundamenten des aufgelassenen Hofs Vík, neben denen die isländische Rettungsgesellschaft eine ihrer leuchtend-orangen Schutzhütten errichtet hat. Die Hofruine liegt unmittelbar an der Küste des Héðinsfjords in Nordisland, wo die Víkurá in den Fjord mündet, kaum über Meereshöhe. Von hier geht es aufwärts – nun ohne einen Weg: Zunächst über die steinigen, rollenden, aber noch von kleinen Teichen durchsetzten Víkurhólar und dann den Südhang der Víkurbyrða hinauf. Die spärliche Vegetation weicht an diesem Hang bald losem Geröll, das kaum Halt bietet und unter jedem Schritt davonschlittert; und selbst Mitte August sind einige Mulden im oberen Teil des Hangs noch mit Schnee gefüllt. Erst auf einer Höhe von 703 Metern ist der Pass erreicht, der sich über den Kamm der Víkurbyrða in das kleine Tal Vestaravik öffnet; der Schnee hat die grauen Steine und die beige, kahle Erde auch dieses Tals fest in seinem Griff. Das Vestaravik führt, an einer nahezu lotrechten Klippe vorbei, seinerseits hinab ins Hvanndalur. Bei jedem Höhenmeter, den man hinabsteigt, wird das Tal grüner. Ein armselig dahintröpfelndes Rinnsal in seiner Mitte, das im Vestaravik zunächst kaum mehr als einigen Moosen eine Heimat bietet, wird im Hvanndalur bald zu einem munter plätschernden kleinen Bergbach, der sich durch fette, leuchtend grüne Wiesen voller gelber Blüten schlängelt. Der Kontrast zwischen dem abweisenden Geröllhang und dem blühenden Tal ist so scharf, und der Übergang so abrupt, dass man fast den Eindruck hat, mit ein paar Schritten von einer Welt in eine ganz andere überzugehen und in ein kleines Paradies einzutreten. Am Ende dieses Paradieses, wo das Hvanndalur sich zum Meer hin öffnet, liegt östlich des Bachs ein stark konturierter, grüner Streifen Land, den noch moderne Karten als den Ódáinsakur bezeichnen: das „Feld des Ungestorbenen“, das „Unsterblichkeitsfeld“. Nähert man sich dem seeseitigen Ende des Hvanndalur – und damit dem Ódáinsakur – vom Gebirge her, so hat man zunächst den Eindruck, dass das Tal vom Meer aus weit zugänglicher ist als über Land. Je näher man der Küste jedoch kommt, desto deutlicher offenbart sich dies als Trug: Wo sich das Tal zum Meer hin öffnet, dort fällt das Land mit einer hohen, senkrechten Stufe ins Wasser hinein ab; Schiffen bietet es weder Schutz noch Anlegeplatz, und ihrer Mannschaft kaum einen Aufstieg. Von der See wie vom Land sind das Hvanndalur und der Ódáinsakur gleichermaßen abgeschnitten. Die Lokalisierung des „Unsterblichkeitsfelds“ im so unzugänglichen Hvanndalur am Héðinsfjord lässt sich in den Quellen direkt zumindest bis zu Thomas Bartholin dem Jüngeren im 17. Jahrhundert zurückverfolgen; indirekte Indizien lassen vermuten, dass sie sogar bis in die Landnahmezeit zurückgehen könnte. Falls der Ódáinsakr am Héðinsfjord jedoch bis ins Mittelalter zurückreicht, so ist dies nicht zuletzt in Hinblick darauf interessant, dass der Ódáinsakr und die eng damit verbundenen Glæsis-
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Einleitung
vellir in der altwestnordischen Literatur mehrfach behandelt werden und Gegenstand einer elaborierten Mythologie sind – einer Mythologie, die bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts immer wieder mit keltischen Vorstellungen in Verbindung gebracht worden ist. Einer der ersten Autoren, der den Ódáinsakr explizit mit keltischen Vorstellungen in ein und denselben Kontext einordnete, war der Folklorist Alfred Nutt (1895): Seine Untersuchung nahm ihren Ausgang von der frühmittelalterlichen irischen Erzählung Immram Brain, „Brans Seereise“, und bezog neben vielfältigem irischen Material und einigen nordischen Sagatexten zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir insbesondere griechisches und römisches, aber auch iranisches und indisches Vergleichsmaterial heran; dabei kam Nutt zu dem Schluss, dass diese verschiedenen Zeugnisse in einem indogermanischen Zusammenhang zu sehen seien.¹ Nutts Essay, das mit einer Länge von etwa 250 Seiten monographische Ausmaße annahm, war dabei nicht nur die erste komparatistische Arbeit zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir, die das keltische Material systematisch berücksichtigte, sondern ist bis heute auch die bei weitem ausführlichste: Nach Nutt wurde die Frage nach den kulturgeschichtlichen Verbindungslinien, die zwischen dem Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex und Motiven der keltischen Religionsgeschichte zu bestehen scheinen, nur noch in Randbemerkungen und einzelnen Aufsätzen, aber nicht mehr in Buchlänge behandelt. Dieser Umstand ist umso schwerwiegender, als Nutts Arbeit heute praktisch nicht mehr rezipiert wird und grundsätzlich als veraltet gilt.² Im späten 19. Jahrhundert befand sich die fundamentale Ähnlichkeit zwischen dem Ódáinsakr, den Glæsisvellir und keltischen Anderweltsgefilden grundsätzlich bereits im Gesichtskreis auch der nordistischen bzw. germanisch-altertumskundlichen Forschung, wurde dort jedoch noch nicht zum Gegenstand einer systematischen Untersuchung. Bereits im Jahr 1889 stellte Sophus Bugge in einer Randbemerkung den Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex und irische Anderweltsgefilde nebeneinander, um für beide eine Abhängigkeit von klassischen griechisch-römischen Einflüssen zu postulieren; eine Begründung für dieses Postulat blieb er jedoch schuldig.³ In den folgenden Jahrzehnten wies ferner Paul Herrmann in seinem Saxo-Kommentar (1922) auf einige keltische – in diesem Fall irische und arthurische – Parallelen zum Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex hin, beschränkte sich bei seiner Behandlung des Themas jedoch auf eine äußerst knappe Skizze, die wichtige Beobachtungen enthielt, auf die direkte Heranziehung von Originalstellen zumeist jedoch ebenso verzichtete wie auf eine klare und explizite Diskussion von Parallelen und Unterschieden zwischen den jeweiligen Materialien; damit blieb Herrmanns Ansatz letztlich weitgehend impressi-
1 Nutt 1895, zum Ódáinsakr: S. 295–309. 2 So Edel 2001, S. 67 (Anm. 20). Demgegenüber vgl. noch die positivere Rezeption bei Dillon 1948, S. 101. 3 Bugge 1889, S. 25 f.
Unsterblichkeit im hohen Norden
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onistisch.⁴ Etwa gleichzeitig zog auch Rudolf Much (1924) in Hinblick auf den Ódáinsakr und die Glæsisvellir allerlei keltische – irische, arthurische und antike – Verbindungslinien, unterließ es jedoch, die genauen Implikationen explizit zu machen, die er in diesen Verbindungslinien sehen wollte.⁵ Mehrfach setzte sich Hilda Roderick Ellis – die spätere Hilda Roderick Ellis Davidson – mit dem Thema möglicher keltischer Affinitäten des Ódáinsakr auseinander. Bereits in ihrer Promotionsschrift wies sie noch während des Zweiten Weltkriegs – die Arbeit wurde 1943 veröffentlicht – darauf hin, dass der Ódáinsakr „recalls at once the Fortunate Isles of Greek mythology and the land across the sea in Irish traditions“.⁶ Ein halbes Jahrhundert später kehrte sie in einem kurzen Abschnitt einer weiteren Monographie (1988) zum Thema des Ódáinsakr und der Glæsisvellir zurück und schlug eine irische Herkunft der Glæsisvellir-Erzählungen vor;⁷ wenige Jahre darauf (1991) widmete sie dieser These einen eigenen Aufsatz.⁸ Trotz einer Kürze von nur 12 Seiten handelte es sich bei diesem Aufsatz in ihren Tagen um die ausführlichste Diskussion der Frage seit Alfred Nutt, und noch heute ist diese Arbeit eine der ausführlichsten Behandlungen des Themas. Nichtsdestoweniger leidet dieser Artikel daran, dass er dem gleichermaßen ungemein reichhaltigen und problematischen irischen Vergleichsmaterial gerade einmal drei Seiten zugesteht – ein Problem, das für die Mehrzahl der nordisch-keltischen komparatistischen Arbeiten symptomatisch ist, die mit allzu großer Regelmäßigkeit der Diskussion des Vergleichsmaterials längst nicht den Status zugestehen, der in Anbetracht von dessen eigenen literaturgeschichtlichen und sonstigen Problemen dringend nötig wäre.⁹ Aus den Jahrzehnten, die zwischen diesen verschiedenen Veröffentlichungen Ellis Davidsons lagen, ist an chronologisch erster Stelle ferner ein Aufsatz aus der Feder von Alexander Haggerty Krappe aus dem Jahr 1943 zu nennen, in dem dieser die nordischen Glæsisvellir insbesondere mit antiken Notizen zu nordwesteuropäischen Bernsteininseln und mit einer Reihe von arthurischen Zeugnissen verband.¹⁰ Im Jahr 1950 war die Idee einer keltischen Herkunft nordischer Vorstellungen von einer seligen Anderwelt auf einer Insel bereits so gut etabliert, dass Howard Rollin Patch sie in seinem großen Überblickswerk zu mittelalterlichen Anderweltsvorstellungen als den zeitgenössischen Forschungsstand referieren konnte – ohne sich freilich argumentativ damit auseinanderzusetzen.¹¹ Etwas später, in der Mitte der 50er Jahre, kam die Keltologin und Nordistin Nora Kershaw Chadwick in zwei Beiträgen auf irische
4 Herrmann 1922, S. 593 f. (ohne weitere Diskussion akzeptiert von Einar Ólafur Sveinsson 1957, S. 18). 5 Much 1924, S. 99–104. 6 Ellis 1943, S. 191. 7 Davidson 1988, S. 185–187, 218. 8 Davidson 1991. 9 Vgl. ausführlich Egeler 2013 (Celtic Influences) passim. 10 Krappe 1943. 11 Patch 1950, S. 61.
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Einleitung
Parallelen zum nordischen Ódáinsakr zu sprechen. Während der eine dieser beiden Aufsätze das Thema jedoch nur ganz am Rande anschneidet, ohne es im Detail zu diskutieren,¹² widmet der zweite Aufsatz den von Chadwick ausgemachten irisch-nordischen Parallelen immerhin einige wenige Seiten. Chadwick drückt am Ende ihrer Diskussion dieses Materials eine gewisse Skepsis darüber aus, ob sich die irisch-nordischen Ähnlichkeiten eindeutig entweder als Entlehnungen oder als unabhängige Entwicklungen bewerten lassen, macht zugleich jedoch auch deutlich, dass sie die Hypothese eines keltischen Einflusses auf die nordische Überlieferung alternativen Erklärungsansätzen vorzieht.¹³ Etwa gleichzeitig kam auch Jan de Vries in der zweiten Auflage seiner Altgermanischen Religionsgeschichte (1956/57) auf die nordischen Vorstellungen von den Glæsisvellir zu sprechen. De Vries verbindet die Glæsisvellir mit Vorstellungen von Inseln der Seligen, für die er wiederum von einem direkten keltischen Kultureinfluss ausgeht; im Rahmen seines breit angelegten Überblickswerks kann er diese Auffassung freilich nicht mehr als skizzenhaft umreißen.¹⁴ Gänzlich auf eine rein impressionistische Materialzusammenstellung beschränkte sich Karlis Straubergs (1957), der die Glæsisvellir und den Ódáinsakr ohne jede Diskussion mit arthurischen Zeugnissen, den griechischen Inseln der Seligen und antiken Notizen über nordwesteuropäische Bernsteininseln zusammenbrachte.¹⁵ Ein Jahrzehnt später (1966) befasste sich Jacqueline Simpson in einem Aufsatz mit dem Þorsteins þáttr bæjarmagns, einer der ausführlicheren Glæsisvellir-Sagas. Dabei weist sie – zumeist en passant – wiederholt auf keltische Parallelen zu Elementen der Glæsisvellir-Texte hin; obgleich sie auf eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem keltischen Vergleichsmaterial und auf eine systematische Diskussion der von ihr vorgeschlagenen Übereinstimmungen fast durchgehend verzichtet, macht sie doch deutlich, dass sie in diesen Übereinstimmungen im Allgemeinen das Ergebnis keltischer Einflüsse sieht.¹⁶ In der Mitte der 80er Jahre befasste sich Rosemary Power in einer Serie von wichtigen Aufsätzen mit möglichen keltischen Einflüssen in der nordischen Mythologie und Literatur.¹⁷ Im gegenwärtigen Kontext besonders hervorzuheben sind dabei vor allem ein grundlegender Aufsatz, in dem Power die direkte Rezeption des altfranzösischen arthurischen Gedichts Lai de Lanval im Helga þáttr Þórissonar nachwies,¹⁸ sowie ein Aufsatz zum Motiv der Anderweltsreise in den Vorzeitsagas; letzterer Beitrag konzentrierte sich zwar nicht direkt auf den Ódáinsakr oder die Glæsisvellir als solche,
12 Chadwick 1955–1958, S. 102 f., 111. 13 Chadwick 1953–1957, S. 192–199. Vgl. auch en passant Chadwick 1967, S. 23 f.; Chadwick 1972, S. 145. 14 de Vries 1956/57, §§ 519, 580. 15 Straubergs 1957, S. 62, 71 f. 16 Simpson 1966, S. 9 f. (mit Anm. 28), 11 f., 17 (Anm. 47), 18 f., 20, wozu vgl. in jüngerer Zeit Nordberg 2003, S. 33. 17 Vgl. Egeler 2013 (Útgarðaloki). 18 Power 1985 (Lai de Lanval).
Unsterblichkeit im hohen Norden
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widmete sich jedoch einigen der Glæsisvellir-Texte und schlug für das (u. a. auch) dort zentrale Motiv der Anderweltsreise eine teilweise Herkunft aus Irland vor.¹⁹ Etwa zur selben Zeit (1985) betonte Séamus Mac Mathúna in der Einleitung seiner Edition der irischen Erzählung Immram Brain die Nähe der irischen Erzählungen über maritime Anderweltsreisen zur skandinavischen Glæsisvellir-Überlieferung.²⁰ Wenige Jahre darauf wurden verschiedene Theorien eines keltischen Einflusses auf die Literatur zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir in Gísli Sigurðssons Überblickswerk Gaelic Influence in Iceland (1988) aufgenommen und knapp zusammengefasst.²¹ Zu einem anderen Ergebnis als die Vertreter eines keltischen Einflusses auf die Glæsisvellir-Literatur gelangte der Indogermanist und Religionshistoriker Bruce Lincoln (1980): Lincoln befasste sich mit einigen der Paradiesvorstellungen, die in verschiedenen indogermanischen Literaturen anzutreffen sind, und folgerte u. a. unter Rückgriff auf irische, arthurische und nordische Texte, dass die Beschreibung des Ódáinsakr in der nordischen Sagaliteratur unmittelbar urindogermanische Traditionen fortsetzt.²² Mehrfach, wenn auch jeweils in ausgesprochener Kürze, setzte sich ferner Rudolf Simek mit dem Themenbereich des Ódáinsakr und der Glæsisvellir auseinander (1987; 1993; 1995).²³ Sein Zugang unterschied sich radikal von den keltisch oder indogermanisch ausgerichteten komparatistischen Ansätzen der vorangegangenen Jahrzehnte: Simek wandte sich von der Frage nach dem heidnischen Element im Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex weitgehend ab und betrachtete diesen Vorstellungskomplex primär als eine Schöpfung des christlichen Hoch- und Spätmittelalters, dessen eventuelle heidnische Anteile bestenfalls eine Zutat unter vielen in einem heidnisch-christlichen synkretistischen Ganzen darstellten. Freilich konnte sich auch diese Sichtweise nicht allgemein durchsetzen: Francisco Marco Simón stellte den Ódáinsakr gegen Ende der 90er Jahre wieder in einer indogermanischen Perspektive mit vielfältigem keltischen, aber auch griechisch-römischem Material zusammen; auch er verzichtet jedoch, wie so viele Kommentatoren vor ihm, auf eine ausführliche Diskussion des Materials.²⁴ Die seit Alfred Nutt detaillierteste Bearbeitung der Frage keltischer Einflüsse im nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex wurde in jüngerer Zeit von Wilhelm Heizmann vorgelegt (1998).²⁵ Heizmann legt seinen Schwerpunkt dabei auf eine beispielhafte Aufarbeitung der Geschichte des Ódáinsakr-Motivs in der Landnámabók, der frühneuzeitlichen Gelehrsamkeit des Nordens und der isländischen Folklore.
19 Power 1985 (Journeys). 20 Mac Mathúna 1985, S. 244 f. 21 Gísli Sigurðsson 1988, S. 57–59. 22 Lincoln 1980 (Paradise), bes. S. 159; vgl. Lincoln 1981, S. 231–233, 238, 240. 23 Simek 1986, S. 264 f., 267, 270, 274 (Abb. 10); Simek 1993, S. 112, 121; Simek 1995, S. 136, 151 f., 301 f. 24 Marco Simón 1997, S. 502–504. 25 Heizmann 1998, vgl. Heizmann 2002. Heizmanns Schlussfolgerungen wurden akzeptiert von Vennemann 1998, S. 55; Vennemann 2003, S. 637 f.; Tietz 2012, S. 154 f.
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Einleitung
Dieses Material stellt er daraufhin insbesondere arthurischen Texten gegenüber, wobei u. a. die Vita Merlini des Geoffrey von Monmouth und die Werke des Giraldus Cambrensis als Hauptzeugen dienen. Aus dem Vergleich dieser keltischen und germanischen Zeugnisse zieht Heizmann die Schlussfolgerung, dass zwischen beiden tatsächlich historische Beziehungen bestehen könnten. Die von Heizmann getroffene Auswahl des arthurischen Quellenmaterials, auf der diese Schlussfolgerung wesentlich basiert, bezog ihre Berechtigung nicht zuletzt aus der Datierung der entsprechenden Texte: Bei diesen Quellen des 12. Jahrhunderts handelt es sich um einige der ältesten Zeugnisse der arthurischen Literatur überhaupt; gerade die Vita Merlini stellt die älteste erhaltene Beschreibung der arthurischen mythischen Insel Avalon dar, die für Heizmann – ähnlich wie zuvor etwa für Krappe – als das zentrale Vergleichsobjekt zum Ódáinsakr dient. Zum Zeitpunkt der Abfassung von Heizmanns Arbeiten bestand zudem innerhalb der relevanten Forschung zur arthurische Literatur und keltischen Religionsgeschichte allgemeine Einigkeit darüber, dass wesentliche Elemente der von Heizmann verwendeten Texte auf Motive der vorchristlichen Mythologie der Inselkelten²⁶ zurückgehen. Dieser Konsens ist seit der Veröffentlichung von Heizmanns Arbeiten in einigen Aspekten jedoch problematisch geworden.²⁷ Der auf den letzten Seiten kurz umrissene Forschungsstand lässt sich insgesamt folgendermaßen zusammenfassen: Seit weit über einem Jahrhundert existiert eine Forschungsdiskussion zur Frage, in welchen breiteren Zusammenhang der nordische Vorstellungskomplex vom Ódáinsakr und den Glæsisvellir eingeordnet werden sollte. Handelt es sich hier um ein alteingesessenes nordisches Motiv, dessen Wurzeln vielleicht sogar bis in die urindogermanische Zeit zurückreichen? Handelt es sich um eine literarische Schöpfung des christlichen Hoch- und Spätmittelalters? Oder handelt es sich um eine – sei es frühe oder späte – Entlehnung keltischer Motive? Alle diese Auffassungen sind sowohl in der älteren Forschung seit dem späten 19. Jahrhundert als auch in der Forschung der letzten Jahrzehnte vorgebracht worden, und kein bisher vorgelegter Beitrag kann den Anspruch erheben, die Frage abschließend zu beantworten – sei es, weil es sich (wie dies beim Großteil der Forschungsbeiträge der Fall ist) nicht um ausführliche Diskussionen, sondern nur um kurze, wenige Seiten umfassende Ideenskizzen handelt, sei es, dass die Grundlagen einer Arbeit seit ihrem Erscheinen in Frage gestellt worden sind.
26 Der Begriff der „Inselkelten“ nimmt auf die geläufige Unterteilung der „Kelten“ in eine festlandkeltische und eine inselkeltische Sprachgruppe Bezug; letztere umfasst dabei u. a. das Irische, das in der Bretagne gesprochene Bretonische und das in Wales gesprochene Kymrische (vgl. Maier 1994, S. 295 f.; Stifter 2006, S. 1 f.; Maier 2012, S. 232 f., 253). „Inselkelten“ sind somit die Sprecher inselkeltischer Sprachen, also der keltischen Sprachen Irlands und Großbritanniens sowie der Bretagne (die im Frühmittelalter durch walisische Einwanderer besiedelt wurde). Im selben Sinne wird im Folgenden auch das Adjektiv „inselkeltisch“ gebraucht. 27 Egeler 2014 (Sena and Avalon) und siehe unten S. 425 ff.
Unsterblichkeit im hohen Norden
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Das Ziel der vorliegenden Arbeit wird es sein, unter ausführlicher Berücksichtigung des derzeitigen Forschungsstandes nicht nur der Nordistik, sondern auch der Keltologie und der Religionsgeschichte die Frage zu beantworten, ob für den Ódáinsakr und die Glæsisvellir der nordischen Sagaliteratur eine Verwurzelung in keltischen mythologischen Vorstellungen anzunehmen ist. Diese Frage hat dabei mehrere Aspekte, die jeweils ausführlich berücksichtigt werden sollen. So wurde etwa die Formulierung „Verwurzelung in keltischen mythologischen Vorstellungen“ durchaus bewusst gewählt: Gegenstand der Frage soll nicht nur die „keltische“ Herkunft der jeweiligen Motive sein,²⁸ sondern auch die Frage, inwieweit diese Motive tatsächlich als „mythologisch“ gelten können – wobei im vorliegenden Fall unter diesem Begriff verstanden werden soll, dass die jeweiligen Motive direkt oder indirekt der vorchristlichen Religionsgeschichte der Kelten entstammen.²⁹ Falls sich im Verlauf der Untersuchung herausstellen sollte, dass der Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplex tatsächlich in einem keltischen Zusammenhang zu sehen ist, wird es ferner ein zentrales Anliegen der Arbeit sein, über die allgemeine Feststellung einer keltischen Herkunft hinauszugehen und die konkreten Verbindungslinien in den Norden nach Möglichkeit zu spezifizieren: Bestehen die fraglichen „keltischen“ Verbindungslinien zu irischen Erzählungen, zu arthurischen Texten oder zu keltischen Vorstellungen der Antike? Oder schließen sich diese verschiedenen keltischen Kontexte nicht aus, sondern handelt es sich dabei um einander ergänzende Teile eines komplexeren Gesamtbildes – und falls dies der Fall sein sollte, in welchem Verhältnis stehen diese verschiedenen keltischen Kontexte (irisch; arthurisch; antik) zueinan-
28 Im Folgenden sollen als „Kelten“, der sprachwissenschaftlichen Definition entsprechend, die Sprecher keltischer Sprachen aufgefasst werden; allgemein zum Keltenbegriff vgl. etwa Maier 2012, S. 1–36; Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 10–12 (mit weiterer Literatur). 29 Zu dieser Verwendung des Mythologiebegriffs vgl. etwa Simek 1995, S. V. Auf das Problem des Begriffs „Religion“ soll hier nicht weiter eingegangen werden, da die Nuancen der verschiedenen geläufigen Religionsdefinitionen für die vorliegende Frage keine Rolle spielen: Soweit die im Folgenden behandelten Vorstellungen von „jenseitigen“, „anderweltlichen“ Gefilden sich überhaupt in die vorchristliche Zeit zurückverfolgen lassen, dürften sie im Rahmen der meisten geläufigen Religionsdefinitionen unter den Oberbegriff „Religion“ fallen. Für einige Religionsdefinitionen dürfte die Frage jedoch nicht sinnvoll diskutierbar sein; so fehlt zum Beispiel im Fall von Religionsdefinitionen, die „Religion“ über ihre gesellschaftliche Funktion bestimmen (vgl. Rüpke 2007, S. 26), in Anbetracht der extrem fragmentarischen Quellenlage jede substantielle Grundlage, um zu einer Entscheidung darüber zu gelangen, ob der Ódáinsakr zur „Religion“ gehört oder nicht. Für Diskussionen des Religionsbegriffs vgl. etwa Zinser 2010, S. 35–80; Auffahrt und Mohr 2006; Kehrer 1998; Ahn 1997; Geertz 1973. Grundsätzlich schließe ich mich der Auffassung Jörg Rüpkes an, wonach die „Konstitution dieses Gegenstands [...] immer von einem vorwissenschaftlichen, einem alltagssprachlichen Begriff her“ erfolgt (Rüpke 2007, S. 27). Eine vertiefte Auseinandersetzung mit den Definitionsdebatten zum Religionsbegriff scheint im vorliegenden Zusammenhang daher nicht notwendig, da das Ausgehen von einem alltagssprachlichen Religionsbegriff, wie er in der Forschung zur germanischen und keltischen Religionsgeschichte ohnehin etabliert ist, für den Zweck der vorliegenden Arbeit vollkommen ausreicht.
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Einleitung
der, und wie sind ihre Beziehungen zum nordischen Material jeweils zu gewichten? Und insbesondere: Lassen sich zu den historischen und sozialen Kontexten der einschlägigen keltisch-nordischen Austauschprozesse tragfähige Arbeitshypothesen entwickeln? In Anbetracht des eben beschriebenen Forschungsstands ist es vielleicht auch angebracht, kurz einen Punkt explizit anzusprechen, der nicht Gegenstand der vorliegenden Arbeit sein soll. Oben wurde erwähnt, dass Bugge in den 1880er Jahren nicht nur den Ódáinsakr und die Glæsisvellir mit irischen Anderweltsgefilden zusammenstellte, sondern für beide auch mediterrane Einflüsse postulierte.³⁰ Ebenso wie Bugges Verbindung von Ódáinsakr und gewissen Varianten irischer Anderwelten wurde auch die von ihm hier aufgeworfene Frage nach möglichen mediterranen Beziehungen dieser beiden Komplexe im Folgenden zu einem immer wieder angesprochenen Thema. So wurden etwa die Äpfel der Hesperiden wiederholt zum Vergleich mit dem nordwesteuropäischen Material herangezogen; denn in Nordwesteuropa werden anderweltliche Äpfel immer wieder mit irischen Anderweltsinsel verbunden, geben der „Apfelinsel“ Avalon der arthurischen Literatur ihren Namen und scheinen bei Saxo Grammaticus in Form eines berühmten Gartens mit dem Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex assoziiert zu werden.³¹ Wie für die Frage der nordisch-keltischen Beziehungen, so fehlt es jedoch auch hier an einer neueren, systematischen Untersuchung, die über eine kurze Ideenskizze hinausgehen würde. Auch im Rahmen des vorliegenden Buchs kann eine solche Untersuchung nicht vorgelegt werden: Die Spannweite der bisherigen Diskussion allein zu den potentiellen nordisch-keltischen Überein-
30 Bugge 1889, S. 25 f. 31 Vgl. Nutt 1895, bes. S. 258–294, 326–331; Much 1924, S. 101 f.; Krappe 1943, S. 316–319 et passim; Ellis 1943, S. 191; Dillon 1948, S. 101; Löffler 1983 Bd. 1, S. 90, 133, 338–355; Mac Mathúna 1985, S. 242–245; Marco Simón 1997, S. 502–504; Heizmann 1998, S. 93 f.; Vennemann 1998, S. 51–55; Heizmann 2002, S. 532; Vennemann 2003, S. 634–638; Tietz 2012, S. 154 f.; Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 124–126; Egeler 2014 (Perspektiven), S. 115–163. Ferner haben mehrere Autoren, die dabei auf das nordische Material nicht eingehen, das keltische Vergleichsmaterial zum Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex mit mediterranem Material assoziiert und mitunter auf beachtliche Parallelen hingewiesen: Jevons 1896; Hull 1901; Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 353 f.; Chambers 1927, S. 218, 220; Müller-Lisowski 1948, S. 192– 199; Patch 1950, S. 52 f.; de Vries 1961 (Religion), S. 258, 260; Gresseth 1970, S. 208, 209 (Anm. 12), 215 f., 218; Chadwick 1972, S. 129; Clarke 1973, S. 203 f.; Puhvel 1987, S. 216; Martínez Hernández 1994, S. 90; Lehane 1994, S. 83; Ashe 1996, S. 25; Ó hÓgáin s. a., S. 260; Romer 1998, S. 130 (Anm. 72); Barron und Weinberg 2001, S. 279 f. (Anm. zu S. 255); Walter 2004, S. 211; Galván Reula 2007, S. 682 f., 685, 687–689, 698; Zelzer 2007. Mediterrane Wurzeln für das Motiv einer Bootsreise ins Jenseits, auf das in Kapitel 3 ausführlich einzugehen sein wird und von dem die mögliche nordgermanische Rezeption anderer transmariner „Anderwelten“ nicht zu trennen sein dürfte, vertreten Major 1924, S. 142 f., 148 und Grinsell 1941; allgemein an mediterrane Unterweltsgewässer erinnert fühlt sich auch Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 285. Wagner 1981, S. 8–19 postuliert für das irische Material zu Anderweltsund Unsterblichkeitsinseln darüber hinaus sogar Verbindungen nach Vorderasien; in diesem Sinne vgl. jüngst auch Ó hÓgáin s. a., S. 260 und – unter expliziter Miteinbeziehung des germanischen Materials – Vennemann 1998, S. 51–55; Vennemann 2003, S. 634–638.
Methodologische Vorbemerkungen
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stimmungen reicht mit Hinblick auf das von ihr herangezogene Material bereits von hochmittelalterlichen nordischen Sagas über die irische und arthurische Literatur bis hin zu antiken Notizen über keltische Bernsteininseln. In Anbetracht der vielfältigen, mit jeder dieser Quellengattungen verbundenen quellenkritischen und sonstigen Probleme würde eine Ausweitung der Fragestellung auf den Mittelmeerraum beim derzeitigen Forschungsstand den Rahmen eines Einzelbandes bei Weitem sprengen. Auf den folgenden Seiten werden Parallelen zwischen den nordisch-keltischen Vorstellungen von einem Unsterblichkeitsgefilde jenseits des Meeres und Themen wie den Inseln der Hesperiden oder den Inseln der Seligen der griechisch-römischen Mythologie daher nur in den Fällen angesprochen, in denen für einen der nordischen oder keltischen Quellentexte eine direkte literarische Abhängigkeit von der klassischen Literatur vorzuliegen scheint; denn eine solche literarische Abhängigkeit würde sich unmittelbar auf den Wert des entsprechenden Texts als Zeugnis für die Vorstellungswelten der nordgermanischen bzw. keltischen Mythologie auswirken. Fragen eines religionsgeschichtlichen, noch in die vorchristliche Zeit datierenden Einflusses der Mittelmeerwelt auf die Mythologien Nordwesteuropas bleiben hingegen ausgeklammert.
1.2 Methodologische Vorbemerkungen³² In der bisherigen Geschichte der Forschung zur Frage keltischer Einflüsse im nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex wurde – vom Buch Nutts ganz am Beginn der Diskussion abgesehen, das jedoch bisher keine Nachfolger finden konnte – durchgehend versucht, dieses Forschungsproblem im Rahmen einzelner Aufsätze, zumeist sogar nur kurzer Artikelabschnitte oder Randbemerkungen zu lösen. Gerade die Auseinandersetzung mit dem keltischen Vergleichsmaterial blieb dabei gezwungenermaßen auf kurze Besprechungen einiger weniger Beispiele beschränkt, die unter dem Gesichtspunkt ausgewählt wurden, die jeweiligen Vergleichspunkte in bestmöglicher Weise zu illustrieren. Damit hat die bisherige Forschung aufzeigen können, dass der Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex einen potentiell hochinteressanten Forschungsgegenstand darstellt, der geeignet sein könnte, ein helles Schlaglicht auf die Kulturbeziehungen zwischen Germanen und Kelten zu werfen. Mit welchen Problemen jedoch zu rechnen ist, wenn eine vergleichende Argumentation auf einer zu schmalen Materialbasis beruht, zeigt die irische Erzählung von der „Anderweltsfahrt des Cormac mac Airt“ (Echtra Cormaic maic Airt).³³
32 Ausführlich zu den methodischen Grundlagen der Erforschung keltisch-nordischer Religionskontakte vgl. Egeler 2013 (Celtic Influences), bes. S. 127–129; Egeler 2013 (Útgarðaloki), bes. S. 165 f.; Egeler, im Erscheinen (Encounters 6: Celtic); Egeler, im Erscheinen (Sources in Celtic Languages). 33 Vgl. hierzu ausführlicher auch Egeler, im Erscheinen (Encounters 6: Celtic).
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Einleitung
Die sog. „erste Rezension“ von Echtra Cormaic wird in die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert.³⁴ In einer Episode dieses Textes (§§ 25 ff.) befindet sich der irische König Cormac mac Airt in Tara, dem Sitz der irischen Hochkönige. Eines schönen Morgens im Mai sucht ihn ein würdevoller, prächtig gewandeter Krieger auf, der einen silbernen Zweig mit drei goldenen Äpfeln auf seiner Schulter trägt. Dieser Zweig hat eine wunderbare Eigenschaft: Wenn er geschüttelt wird, macht er eine so süße Musik, dass sogar Schwerverwundete, Frauen im Kindbett und Kranke fest einschlafen. Der Krieger stellt sich als ein Bewohner der Anderwelt vor, und er und Cormac schließen einen Pakt: Der Krieger überlässt Cormac den silbernen Apfelzweig, und im Gegenzug stellt der Hochkönig dem anderweltlichen Krieger drei Wünsche frei. Es kommt, wie es kommen muss, und im Folgenden verlangt der Krieger immer exzessivere Gaben: erst die Tochter, dann den Sohn und schließlich die Frau Cormacs. Den letzten Verlust – den seiner Frau – kann Cormac nicht verkraften; so macht er sich auf die Suche nach dem anderweltlichen Krieger und folgt ihm durch einen Nebel in die Anderwelt. Jenseits des Nebels, der den Übergang in die Anderwelt markiert, findet sich Cormac auf einer großen Ebene vor einer Festung wieder, die mit einem bronzenen Wall umgeben ist (§ 32). Im Inneren dieser ehernen Festung findet er eine weitere Festung vor, in der sich prächtige Häuser und eine Quelle befinden (§§ 34 f.). Aus dieser Quelle fließen fünf Ströme, Menschenscharen trinken aus ihr, und über ihr wachsen die neun Haselsträucher der Buan; diese Sträucher lassen ihre Nüsse in die Quelle fallen, wo sie von Lachsen gefressen werden. Schließlich tritt Cormac in eines der prächtigen Häuser ein, die sich innerhalb des ehernen Walls befinden. Nachdem er dort von einem herrscherlichen Paar freundlich empfangen worden ist, kommt plötzlich ein Mann in das Gebäude (§§ 37–42). Dieser Mann trägt eine Axt und einen Baumstamm und führt ein Schwein hinter sich her. Er schlachtet das Schwein und wirft es in einen Kessel, und zerhackt den Baumstamm in handliche Holzscheite; darauf erläutert er, dass das Schwein nur dann gargekocht werden kann, wenn für jedes Viertel des Schweins eine wahre Geschichte erzählt wird. Der Mann selbst ist daraufhin der erste, der eine wahre Geschichte erzählt. In dieser Geschichte berichtet er, wie er in den Besitz seiner Axt, seines Baumstamms und seines Schweins gekommen ist: Er erhielt alle drei als Lösegeld für die Rückgabe einer entwendeten Rinderherde. Diese drei Gaben besitzen dabei eine wundersame Eigenschaft: Jeden Abend kann er das Schwein mit seiner Axt schlachten und den Baumstamm zu Feuerholz zerhacken, und er hat jeden Abend genug Feuerholz für das Kochen des Schweins und für den Palast; und am nächsten Morgen ist das Schwein wieder lebendig und der Baumstamm ist wieder ganz. In dieser Weise werden mehrere wahre Geschichten erzählt, bis das Schwein gar ist, und im weiteren Verlauf der Erzählung von der „Anderweltsfahrt des Cormac mac Airt“ erhält Cormac seine Familie zurück und darüber hinaus noch reiche Gaben mit übernatürlichen Eigenschaften. Ferner wird er über seinen Gastgeber und über die
34 Hgg. und übersetzt von Stokes 1891; Datierung: Hull 1949, S. 871.
Methodologische Vorbemerkungen
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Natur der Quelle aufgeklärt, die er im Hof der bronzenen Festung gesehen hatte (§ 53): Bei Cormacs anderweltlichem Gastgeber handelt es sich um Manannán mac Lir, den König der Anderwelt (des „Landes der Verheißung“, Tír Tarrngiri); die Quelle hingegen ist die Quelle des Wissens (topur in fis), und Wissen wird dadurch erlangt, dass man aus der Quelle und den aus dieser Quelle entspringenden Strömen trinkt. Diese erste Rezension von Echtra Cormaic ist hier deswegen von Interesse, weil ihre Beschreibung der irischen „Anderwelt“ auffallende strukturellen Parallelen zu nordischen „Anderwelts“-Beschreibungen aufweist.³⁵ So findet das Schwein, das jeden Tag in der Halle des Königs der Anderwelt in einem Kessel gekocht, verspeist und wiederbelebt wird, sein unmittelbares Gegenstück im Eber Sæhrímnir der SnorraEdda: Letzterer wird in der Halle Odins täglich im Kessel Eldhrímnir gesotten, von den Einherjern verspeist und daraufhin wiederbelebt (Gylfaginning 38).³⁶ Eine weitere irisch-nordische Parallele wird ferner mit der „Quelle des Wissens“ fassbar, insbesondere in Anbetracht der Haselsträucher, die diese Quelle in Echtra Cormaic umgeben. Denn Haselsträucher sind ausgesprochen großwüchsige Pflanzen, die durchaus die Dimensionen eines kleinen Baums erreichen können; dies lässt es vielleicht als interessant erscheinen, dass auch die nordische Mythologie die Verbindung einer Quelle des Wissens mit einem neben dieser Quelle wachsenden Baum kennt: Die Gylfaginning (Kap. 15) erzählt über den Weltbaum Yggdrasill, dass sich unter einer der Wurzeln dieses Baums der Brunnen des Mímir (Mímis brunnr) befindet, „in dem Weisheit und Menschenverstand verborgen ist“ (er spekð ok mannvit er í fólgit); Mímir selbst ist besonders weise, weil er aus diesem Brunnen trinkt. Die irisch-nordischen Parallelen werden noch enger, wenn man die Lage der beiden Quellen des Wissens berücksichtigt. Nach Gylfaginning 39 und Grímnismál 25 f. steht der Baum Léraðr bzw. Læraðr neben der Halle Odins, wobei sich unter diesem Baum erneut eine Quelle befindet. In der Forschung der letzten Jahrzehnte wurde allgemein die Meinung vertreten, dass Léraðr/Læraðr mit dem Weltbaum Yggdrasill zu identifizieren sei.³⁷ Akzeptiert man diese Identifikation, dann hat dies zur Folge, dass das vom Weltbaum und der Quelle des Wissens gebildete Paar in der nordischen Mythologie unmittelbar neben der Halle Odins, des Herrschers der nordischen „Anderwelt“, lokalisiert wird. Diese Lokalisierung würde damit genau dem
35 Allgemein zum Begriff der „Anderwelt“ (und den Problemen dieses Begriffs) vgl. die unten in Anm. 991 angeführte Literatur. Der „Anderwelts“-Begriff wird in der vorliegenden Arbeit in einem losen Sinne auch zur Bezeichnung nordischer Vorstellungen verwendet. Damit soll jedoch keine tiefgreifende Gleichartigkeit nordischer und keltischer „Anderwelts“-Konzepte impliziert werden: Eine solche besteht schon innerhalb der verschiedenen keltischen Kulturen nicht. Vielmehr dient der Begriff „Anderwelt“ im Folgenden ausschließlich als heuristischer Begriff, der, wenn er ohne zu spezifische inhaltliche Konnotationen verwendet wird, einen nützlichen Beschreibungsterminus darstellen kann. 36 Zuletzt hgg. von Faulkes 2005. 37 Dronke 2011, S. 129 f.; Nordberg 2003, S. 157; Simek 1995, S. 233 f., 482; Lorenz 1984, S. 473 f.
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Einleitung
Bild entsprechen, das Echtra Cormaic von der irischen Anderwelt zeichnet: Auch dort befindet sich die Quelle des Wissens mit ihren Haselsträuchern unmittelbar neben der Halle des Herrschers der Anderwelt. Eine letzte Übereinstimmung lässt sich schließlich noch in Bezug auf den ehernen Wall feststellen, der den Palast des Anderweltsherrschers von Echtra Cormaic umgibt: In der eddischen Mythologie findet dieses Bollwerk sein Gegenstück in dem Wall, den ein riesischer Baumeister in den Diensten der Götter rund um Asgard errichtet hat (Gylfaginning 42). Nimmt man all dies zusammen, so bestehen zwischen dem Bild, das die eddische Literatur von der nordischen „Anderwelt“ zeichnet, und der von Echtra Cormaic vorgelegten Beschreibung der irischen Anderwelt folgende Parallelen: In beiden „Anderwelten“ findet in der (1) Halle des Anderweltsherrschers ein (2) Festmahl statt, bei dem das (3) Fleisch eines Schweins (4) in einem Kessel gekocht und verspeist wird, (5) wobei dieses Schwein täglich wiederbelegt und neu geschlachtet werden kann. (6) Neben der Halle wächst ein Baum/Busch (7) über einer Quelle des Wissens, aus der zu trinken Weisheit verleiht. (8) Und die gesamte Anlage ist von einem außergewöhnlichen Wall umgeben. Auf den ersten Blick könnte man in Anbetracht solcher detaillierter Übereinstimmungen versucht sein, zwischen der „Anderwelt“ der Eddas und der Anderwelt von Echtra Cormaic eine historische Verbindung anzunehmen. An dieser Stelle ist es nun jedoch Zeit, auf die Frage zurückzukommen, warum ein auf einen oder einige wenige Texte beschränkter Vergleich nie mehr sein kann als eine Ideenskizze und für weitreichende Schlussfolgerungen grundsätzlich kein tragfähiges Fundament darstellt. Die sogenannte „erste Rezension“ von Echtra Cormaic, die bisher herangezogen wurde, stellt eine von zwei Fassungen dieses Textes dar, die aus dem 12. Jahrhundert vorliegen. Die sogenannte „zweite Rezension“ dieser Erzählung lässt sich aufgrund sprachlicher Kriterien grob in dieselbe Zeit datieren wie die „erste Rezension“; die relative Chronologie der beiden Texte lässt sich auf der Grundlage sprachlicher Datierungskriterien nicht bestimmen.³⁸ In Bezug auf den Inhalt der beiden Rezensionen ist die Lage so, dass die „zweite Rezension“ deutlich kürzer ist als die „erste Rezension“ und einige der Motive, die in der „ersten Rezension“ verarbeitet werden, nicht enthält; dabei ist keines der Motive, die in der „zweiten Rezension“ fehlen, von direkter Relevanz für die Handlung der Erzählung. Vernam Hull, der Herausgeber der „zweiten Rezension“, deutet diesen Umstand als möglichen Hinweis darauf, dass es sich bei der „zweiten Rezension“ um die ältere Fassung des Texts handeln könnte, die in der „ersten Rezension“ möglicherweise um zusätzliche Elemente erweitert wurde.³⁹ Im gegenwärtigen Kontext ist dies deshalb von besonderer Bedeutung, weil die „zweite Rezension“ das Motiv der Quelle des Wissens nicht enthält; damit wirft
38 Hull 1949, S. 872 f. 39 Hull 1949, S. 873, 874 f.
Methodologische Vorbemerkungen
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die „zweite Rezension“ mit allem Nachdruck die Frage auf, ob es sich bei der Verbindung zwischen der Quelle des Wissens und der Halle des Anderweltsherrschers, die von der „ersten Rezension“ hergestellt wird, überhaupt um eine traditionelle Vorstellung handelt. Der Verdacht, dass dies nicht der Fall ist, wird bei einer weiteren Auseinandersetzung mit dem irischen Material von einigen Parallelstellen bestätigt. Die „Quelle des Wissens“ und die mit dieser Quelle verbundenen Haselsträucher gehören zu den Standardmotiven der irischen Literatur. Außerhalb der „ersten Rezension“ von Echtra Cormaic – und insbesondere auch schon in der Literatur der altirischen Zeit, die bereits aus chronologischen Gründen vor Echtra Cormaic Priorität genießt – wird die Quelle des Wissens jedoch nicht mit der Halle des Anderweltsherrschers verbunden; sie kann sich sogar unter dem Meer befinden.⁴⁰ Daher ist anzunehmen, dass es sich bei der Verbindung von Wissensquelle und Anderweltshalle in der „ersten Rezension“ von Echtra Cormaic einerseits und in der eddischen Literatur andererseits um eine rein zufällige Übereinstimmung zwischen dem irischen und dem nordischen Befund handelt, die auf nicht mehr beruht als dem freien Umgang des Redaktors der „ersten Rezension“ von Echtra Cormaic mit irischen Standardmotiven. Daher wäre es verfehlt, zwischen der eddischen Kosmologie und der Verbindung von Anderweltshalle und Quelle des Wissens in Echtra Cormaic einen (wie auch immer gearteten) historischen Zusammenhang sehen zu wollen. Die „erste Rezension“ von Echtra Cormaic illustriert so, dass sich eine vergleichende Untersuchung nicht darauf beschränken kann, einzelne Texte herauszugreifen und nach Übereinstimmungen zwischen solchen isolierten Einzelbelegen zu fragen. Vielmehr ist es von grundlegender Bedeutung, das Vergleichsmaterial ebenso wie das Ausgangsmaterial ausführlich in seine historischen und literarischen Kontexte einzuordnen und quellenkritisch auf seine Tragfähigkeit hin zu hinterfragen. Die Ausführlichkeit, mit der das keltische Vergleichsmaterial zum Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex im Folgenden besprochen werden soll, stellt nicht mehr dar als die Antwort auf eben dieses grundsätzliche Problem komparatistischen Arbeitens: Ein Vergleich, der zu einem tragfähigen Ergebnis kommen will, kommt nicht umhin, sich auf sein Vergleichsmaterial im Detail einzulassen – auch wenn dies bedeutet, dass die folgende Untersuchung deutlich mehr Raum auf das Vergleichsmaterial wird verwenden müssen als auf die eigentlichen nordischen Zeugnisse. Das oben skizzierte System von Parallelen zwischen der eddischen und der irischen mythologischen Literatur illustriert neben der Notwendigkeit einer ausführlichen Quellenkritik zudem noch einen weiteren zentralen methodologischen Punkt.
40 Vgl. den „Kessel der Dichtkunst“, einen Text des 8. Jahrhunderts, § 11 (hgg. und übersetzt von Breatnach 1981, S. 66/67, vgl. S. 86 f., 92 f.; Datierung: S. 52–56), und verschiedene Stellen der mittelirischen – und damit mit Echtra Cormaic grob zeitgenössischen – „Ortsnamenkunde“, der dinnṡenchas, insbesondere: Bodleian Dinnṡenchas, hgg. und übersetzt von Stokes 1892, § 33 (S. 497 f.); Rennes Dinnṡenchas, hgg. und übersetzt von Stokes 1894–1895 Kap. 59 (Revue Celtique 15 [1894], S. 456 f.).
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Einleitung
Mit dem Verlust der Elemente „Quelle des Wissens“ und „Baum/Haselsträucher“ aufgrund quellenkritischer Überlegungen verliert dieses System zwei Vergleichsmomente (Punkte [6] und [7]). Damit verbleiben der obigen Zusammenstellung von Parallelen immerhin noch sechs Punkte. Hier ist jedoch auch nach der Signifikanz dieser Übereinstimmungen zu fragen: Handelt es sich bei diesen Parallelen um aussagekräftige Übereinstimmungen, oder sind sie trivial?⁴¹ Zumindest für einige der fraglichen Punkte dürfte von Letzterem auszugehen sein: So ist es in den Mythologien kriegerischer Gesellschaften nicht weiter verwunderlich, dass der Sitz eines Herrschers – und sei es auch der Herrscher der Anderwelt – befestigt ist (Punkt [8]). Ebensowenig ist überraschend, dass in der Halle eines Herrschers ein Festmahl stattfindet (Punkt [2]), oder dass bei der Zubereitung einer großen Menge Essen ein Kessel verwendet wird (Punkt [4]). Eine tatsächlich potentiell signifikante Übereinstimmung besteht nur dahingehend, dass sowohl in der Halle des irischen als auch in der Halle des nordischen Anderweltsherrschers ein Schwein verzehrt wird, das jeden Tag verspeist werden kann, aber am nächsten Tag wieder heil und lebendig ist – und bereit für das nächste Festmahl.⁴² Ob dieses Motiv jedoch mehr ist als ein Reflex des Menschheitsgedankens von einem Schlaraffenland, dürfte sich nur schwer letztgültig entscheiden lassen. Löst man sich vom spezifischen Beispiel von Echtrae Cormaic und versucht, zu einer allgemeineren Formulierung dessen zu gelangen, was zu einer methodisch vertretbaren Behandlung von Fragen des keltisch-nordischen Religionskontakts nötig ist, so lassen sich vielleicht folgende Grundanforderungen festhalten:⁴³ 1)
Einer vergleichenden Untersuchung muss eine ausführliche Sammlung nicht nur des Ausgangs-, sondern auch des Vergleichsmaterials zugrunde liegen; nur so lässt sich sicherstellen, dass die vom Vergleich aufgezeigten Parallelen repräsentativ sind. 2) Die Chronologie der Quellen und ihre verschiedenen literarischen wie historischen Kontexte sind ausführlich zu berücksichtigen. Ein Vergleich von aus ihrem Zusammenhang gerissenen, dekontextualisierten Motiven kann niemals mehr leisten als eine Frage zu skizzieren und kann keinesfalls eine tragfähige Grundlage für ihre Beantwortung darstellen. 3) Die Untersuchung hat nicht nur nach Übereinstimmungen zu fragen, sondern sich auch ausführlich mit den Unterschieden zwischen dem Ausgangs- und dem Vergleichsmaterial auseinanderzusetzen.
41 Auf dieses Problem wird nach der Besprechung des Materials zu den nordischen und keltischen Unsterblichkeitsgefilden nochmals ausführlich zurückzukommen sein, siehe unten S. 494 ff. 42 Vgl. Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 81–84; Egeler, im Erscheinen (Encoutners 6: Celtic) (jeweils mit weiteren Belegen für dieses Motiv in Irland). 43 Vgl. Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 128 f.; Egeler 2013 (Útgarðaloki), S. 165 f.
Methodologische Vorbemerkungen
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4) Späte Quellen lassen sich nur dann sinnvoll verwenden, wenn eine Begründung für die Annahme gegeben werden kann, warum sie ältere Inhalte bewahren sollen. 5) Vergleiche sind nur dann aussagekräftig, wenn die beobachteten Parallelen spezifisch und komplex genug sind, um als signifikant gelten zu können. 6) Die Untersuchung von Religionskontakten hat sich nicht damit zufrieden zu geben, Motivparallelen festzustellen und daraus in allgemeiner Weise auf einen historischen Zusammenhang zu schließen. Vielmehr sind Religionskontakte als historische Prozesse zu würdigen, die auf zwischenmenschlicher Interaktion und damit auf den Interessen und Intentionen konkreter Akteure beruhen; die Geschichte von Religionskontakten ist daher nicht als eine bloße Motivgeschichte zu schreiben, sondern – zumindest im Idealfall – als eine Geschichte menschlichen Handelns.⁴⁴ Um diese verschiedenen methodischen Punkte zu berücksichtigen und um sich einer Antwort auf die Frage zumindest anzunähern, ob der Ódáinsakr/GlæsisvellirKomplex weitergehende Einsichten in die Prozesse des kulturellen Austauschs zwischen Kelten und Germanen erlaubt, wird das vorliegende Buch sich der Materie in folgenden Schritten nähern: Zunächst (Kapitel 2) wird das nordische Ausgangsmaterial der Untersuchung ausführlich besprochen werden: die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, einige hoch- und spätmittelalterliche Vorzeitsagas und frühneuzeitliche Notizen zur Folklore des Hvanndalur in Nordisland. Dieses Kapitel wird die Aufgabe haben, den nordischen Grundstein für alle weiteren Vergleiche zu legen. Nicht zuletzt in Anbetracht der extrem späten Datierung dieser Quellen wird dabei besonderes Augenmerk auf ihre literaturgeschichtliche Kontextualisierung gelegt werden. Dem Leser sollen die einzelnen Texte so nicht nur allgemein vorgestellt, sondern auch in Hinblick auf die Probleme vertraut gemacht werden, die sie bei einer Verwendung als Quellen zur nordischen Mythologie aufwerfen. Eines der zentralsten Elemente der von den literarischen Quellen geschilderten Reise zum Ódáinsakr oder den Glæsisvellir ist eine weite Seereise. Ein eigenes Kapitel (Kapitel 3) wird sich daher der Frage widmen, welche Zeugnisse für nordische Vorstellungen von einer „Anderwelt“ oder von „Anderwelten“ jenseits des Meeres vorliegen; in diesen Kontext gehören etwa Snorris Beschreibung der Bestattung Balders und die sonstigen literarischen wie archäologischen Zeugnisse für Boots- und Schiffsbestattungen.⁴⁵ Dieses Material macht deutlich, dass die nordgermanische Religionsge-
44 Ganz im Sinne des anglophonen Begriffs der „agency“, wozu vgl. Kristiansen und Larsson 2005, S. 369–372 et passim. 45 Am Rande sei nur der Vollständigkeit halber erwähnt, dass auch hierfür auf keltische Parallelen – wie etwa die arthurische demoiselle d’Escalot, die spätere „Lady of Shalott“ Tennysons – hingewiesen
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Einleitung
schichte bereits vor dem Einsetzen intensiver Kontakte mit der inselkeltischen Welt anderweltliche Gefilde kannte, die jenseits des Meeres lokalisiert waren. Damit stellen diese Zeugnisse einen wichtigen Hintergrund für die Frage dar, ob und wie keltische Vorstellungen von Anderweltsgefilden jenseits des Ozeans in die nordische Mythologie entlehnt worden sein könnten: Solche einheimisch-nordische transmarine Anderwelten bilden einen Hintergrund, vor dem keltische Vorstellungen von transmarinen Anderwelten für einen nordischen Beobachter plausibel werden konnten. Zugleich wird sich später zeigen, dass sich die Existenz solcher einheimischer Vorstellungen auch unmittelbar auf die Art ausgewirkt haben könnte, wie keltische Motive rezipiert und adaptiert wurden. Erst nachdem in dieser Weise die nordischen Grundlagen des nordisch-keltischen Vergleichs ausführlich etabliert worden sind, wendet sich die Diskussion in Kapitel 4 erstmals keltischem Material zu. An erster Stelle steht hier die Insel Avalon der arthurischen Literatur, auf die der tödlich verwundete König Arthur entrückt wird, um dort geheilt zu werden und um eines Tages nach Britannien zurückzukehren. Die vielfältigen Schilderungen dieser arthurischen „Lebensinsel“ zeigen teilweise beachtenswerte Parallelen zum nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex, weisen jedoch gerade in quellenkritischer Hinsicht mitunter auch erhebliche Probleme auf. Das Kapitel wird den Versuch unternehmen, erstmals eine ausführliche Geschichte der arthurischen Avalon-Mythologie von ihren Anfängen bis zur Abfassungszeit der nordischen Ódáinsakr- und Glæsisvellir-Sagas vorzulegen.⁴⁶ Die chronologische Spannweite dieses Kapitels soll damit sowohl die Möglichkeit sehr früher Entlehnungen berücksichtigen, als auch die alternative Möglichkeit im Auge behalten, dass es sich bei den arthurisch anmutenden Elementen der Sagaliteratur um literarische Zitate aus vielleicht späten Bearbeitungen des Avalon-Motivs handeln könnte. In Kapitel 5 wird sich hieran eine ausführliche Besprechung irischer Anderweltsgefilde jenseits des Meeres anschließen, insbesondere des „Landes der Frauen“, das in der irischen Literatur die engste Entsprechung zur arthurischen Insel Avalon wie zum nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex darstellt. Auch hier ist aufgrund vielfältiger Quellenprobleme und extrem divergierender Deutungen der entsprechenden Texte in der gegenwärtigen Forschung eine sehr ausführliche Darstellung unumgänglich, um das enorme Potential, aber auch die erheblichen Unsicherheiten deutlich werden zu lassen, die mit diesen Texten verbunden sind. Kapitel 6 wird das Mittelalter verlassen und einen Ausblick auf antike Zeugnisse zu keltischen Vorstellungen von anderweltlichen und heiligen Inseln geben. Ziel dieses Kapitels ist weniger, einen direkten Beitrag zum nordisch-keltischen Vergleich
worden ist, ohne dass solche Verweise jedoch über letztlich impressionistische Assoziationen hinausgegangen wären: Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 693; Olrik 1919, S. 409–412; Cameron 1969, S. 241 f. 46 Erstaunlicherweise stellte eine solche ausführliche „Geschichte Avalons“ trotz der ungemein reichen Forschungsliteratur zur Arthursage bisher ein Desiderat dar.
Methodologische Vorbemerkungen
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als solchem zu leisten, als vielmehr, sich mit einigen Fragen zur longue durée der entsprechenden keltischen Vorstellungen auseinanderzusetzen: Falls der Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex tatsächlich aus dem keltischen Kulturraum entlehnt ist, wie weit lässt sich seine Geschichte dann innerhalb der keltischen Mythologie (oder: der keltischen Mythologien) zurückverfolgen? Hierzu wird sich dieses Kapitel insbesondere kritisch mit Theorien auseinandersetzen, die in der antiken kontinentalkeltischen Überlieferung unmittelbare Vorläufer einschlägiger arthurischer Motive zu identifizieren versuchen. Das Schlusskapitel (Kapitel 7) wird das in den vorangegangenen Kapiteln vorgelegte und dabei vornehmlich im eigenen Recht diskutierte Material vergleichend zusammenführen. Diese Zusammenführung wird zunächst nochmals spezifisch auf das keltische Material zurückkommen. Eine vergleichende Diskussion des arthurischen, irischen und kontinentalkeltischen Materials wird sich der Frage widmen, inwieweit für das arthurische und irische Material, das ausschließlich in Form literarischer Werke aus christlicher Zeit vorliegt, eine Verwurzelung in vorchristlichen Motiven einer „inselkeltischen Mythologie“ anzunehmen ist; eine solche Verwurzelung ist zwar schon aus internen Gründen der jeweiligen Literaturen wahrscheinlich, wurde jedoch gerade in der jüngeren Forschung auch in Frage gestellt, so dass eine ausführliche vergleichende Diskussion zum Verständnis der longue durée der entsprechenden Vorstellungen einen wertvollen Beitrag leisten kann. Nachdem in dieser Weise das keltische Material nochmals beleuchtet und vergleichend rekapituliert worden ist, wird sich das Kapitel konkret der Frage widmen, wo genau sich zwischen dem nordischen und dem keltischen Material potentiell signifikante Parallelen ausmachen lassen. Ein detaillierter nordisch-keltischer Vergleich, der sein Vergleichsmaterial chronologisch und regional aufschlüsselt, wird dabei deutlich machen, dass die nordisch-irischen Parallelen im Allgemeinen deutlich spezifischer sind als die nordisch-arthurischen Parallelen. Diese Beobachtung wird in eine ausführliche Diskussion möglicher Vermittlungswege münden, woraufhin das Buch mit einigen allgemeineren Betrachtungen zu insbesondere methodologischen Fragen schließt. Insgesamt hofft die vorliegende Arbeit, auf den folgenden Seiten in methodisch vertretbarer Weise eine Diskussion der Frage vorzulegen, ob der nordische Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex eine Entlehnung aus der inselkeltischen Mythologie darstellt: Diese Frage wird in der Forschung seit mehr als einem Jahrhundert mit solcher Regelmäßigkeit aufgeworfen, dass ein Versuch einer abschließenden Beantwortung – sei diese Antwort nun positiv oder negativ – kaum mehr einer weiteren Begründung bedarf. Ein an sich nicht als solcher intendierter, aber nichtsdestoweniger begrüßenswerter Nebeneffekt ist, dass die zur Beantwortung dieser Frage nötige ausführliche Auseinandersetzung mit dem Material die vorliegende Arbeit zugleich zu einem umfangreichen „Führer“ werden lässt, der die weit verstreuten Primärquellen im Detail vorstellt und dem Leser einige der wichtigsten damit verbundenen Forschungsdiskussionen erschließt. Damit kann die Arbeit hoffen, auch als ein Schlüssel
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Einleitung
zu wichtigem, aber für Außenstehende kaum zugänglichem Material zu fungieren, das in Anbetracht der Bedeutung des Motivs der „Anderwelts-“ oder „Paradiesinsel“⁴⁷ für die europäische Kulturgeschichte für eine Vielzahl von breiteren interdisziplinären Fragestellungen von unmittelbarem Interesse sein dürfte.
47 Für eine allgemeine Problematisierung des Paradiesbegriffs vgl. Stolz 1993.
2 Die Glæsisvellir und der Ódáinsakr Gegenstand des vorliegenden Buchs sind die nordischen Erzählungen vom Unsterblichkeitsgefilde Ódáinsakr, dem „Feld des Nicht-Gestorbenen“ oder „Unsterblichkeitsfeld“, und den Glæsisvellir, den „Glanzgefilden“, die unter der Herrschaft des Guðmundr stehen. Für keinen dieser beiden Orte (und ebenso wenig für die Figur des Guðmundr) finden sich Belege in der eddischen Literatur oder der Skaldendichtung; gerade die Textgenres, die traditionell als die verlässlichsten Quellen für die nordische Mythologie gelten, hüllen sich zum Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex in Schweigen. Ebenso verhält es sich mit dem realistischen Genre der Isländersagas und den im engeren Sinne historischen Texten des Mittelalters. Die einschlägigen Zeugnisse in der mittelalterlichen Literatur beschränken sich vielmehr auf die Vorzeitsagas und die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus, die dem Genre der Vorzeitsagas zumindest nahestehen. Chronologisch steht das Werk Saxos um 1200 am Anfang der direkten Überlieferung zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir, gefolgt von einer Rezension der Hervarar saga, die spätestens kurz nach 1300 entstanden sein dürfte, der Eiríks saga víðfǫrla (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts), dem Helga þáttr Þórissonar (wohl 14. Jahrhundert), dem Norna-Gests þáttr (wohl frühes 14. Jahrhundert), der Hálfdanar saga Eysteinssonar (wohl frühes 14. Jahrhundert), dem Þorsteins þáttr bæjarmagns (wohl 14. Jahrhundert), der Bósa saga ok Herrauðs (14./15. Jahrhundert) und der Samsons saga fagra (14./15. Jahrhundert). Hinzu kommen folkloristische Belege, die mit ethnographischen Notizen in der frühneuzeitlichen gelehrten Literatur des Nordens einsetzen und von diesem Zeitpunkt bis in die Gegenwart reichen; diese folkloristischen Zeugnisse scheinen dabei darauf hinzudeuten, dass ein indirekter und impliziter Beleg für den Ódáinsakr schon in einer Episode der Landnámabók fassbar ist. Die in diesem Kapitel vorgelegte Besprechung des Ódáinsakr/GlæsisvellirKomplexes wird sich zuerst den Gesta Danorum und den Sagas zuwenden; dabei werden die einzelnen Zeugnisse jeweils Text für Text in grob chronologischer Reihenfolge behandelt werden. Darauf wird das Kapitel mit einem thematisch geordneten Abschnitt schließen, der das folkloristische Material in die Diskussion einbringt und sich nicht zuletzt der möglichen lebenswirklichen Bedeutung des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes widmet.⁴⁸
48 Der marginalen Stellung des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes im Gesamtgebäude der nordischen Mythologie zum Trotz ist auch dieses Thema bereits seit Langem der Gegenstand einer vergleichsweise ausführlichen Forschungsdiskussion. An allgemeiner Literatur zu den Glæsisvellir und dem Ódáinsakr lassen sich etwa anführen Heinzel 1885, S. 697–711; Bugge 1889, S. 25 f.; Rydberg 1889, S. 208–231 et passim; Nutt 1895, S. 295–309; MacCulloch et al. 1908, S. 709 f.; Neckel 1913, S. 66–68, 73, 90–92, 124 (Anm. 4); Herrmann 1922, S. 584–596; Much 1924, S. 99–106 et passim; LeRoy Andrews 1927, S. 151–154; Holtsmark 1933, S. 120 f.; Höfler 1934, S. 172–188; Ellis 1943, S. 185–191; Krappe 1943, S. 307–309, 311; Chadwick 1953–1957, S. 192–199; de Vries 1956/57, §§ 271, 519; Straubergs 1957, S. 62, 71– 73; Simpson 1966; Lincoln 1980 (Paradise); Lincoln 1981, S. 231–233, 238, 240; Power 1985 (Journeys);
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2.1 Die Thorkillus-Erzählung in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus Um 1200 schrieb der dänische Historiker Saxo Grammaticus eine Geschichte über einen ungewöhnlichen Dänenkönig nieder (Gesta Danorum VIII.14.1–20).⁴⁹ Dieser König Gormo fällt dadurch aus dem Rahmen, dass er sich im Gegensatz zu seinen Vorfahren weniger für Kriegszüge als für Forschungsexpeditionen interessiert und die Wunder (mirabilia) der Welt erkunden will. Dabei interessiert er sich vor allem für ferne Länder und verfällt darauf, einem Gerücht über die Wohnsitze des Geruthus nachzugehen, das er von Isländern gehört hat. Um dorthin zu gelangen, müsse man den Ozean befahren, der die Welt umgibt, Sonne und Sterne hinter sich lassen, das Chaos durchwandern und ewig lichtlose Orte betreten. Der König bestimmt Thorkillus, der ihm diese Geschichte erzählt hat, zum Führer der Expedition, und dieser lässt drei besonders starke Schiffe vorbereiten und mit reichlichen Vorräten versehen. Dieser guten Vorbereitung zum Trotz geht den Teilnehmern an der Expedition noch vor ihrer Ankunft aufgrund einer Flaute die Verpflegung aus. Als die hungernde Mannschaft schließlich auf eine Insel stößt, warnt Thorkillus davor, von den dortigen Rindern mehr zu schlachten, als unbedingt nötig ist, um einmal ihren Hunger zu stillen; sonst würden die Schutzgötter des Ortes sie nicht wieder fortlassen. Diese Warnung wird natürlich missachtet und die Laderäume der Schiffe werden mit Rindfleisch gefüllt. In der folgenden Nacht werden sie daraufhin von Ungeheuern (monstra) bedrängt; das größte von diesen watet mit einem riesigen Stab bewaffnet durch die Meerestiefe und lässt sie wissen, dass sie als Sühne einen Mann aus jedem Schiff zurückzulassen müssen, wenn sie die Insel wieder verlassen wollen. Nachdem das Los bestimmt hat, welche drei Männer zurückbleiben müssen, bringt ein günstiger Wind die Expedition ins jenseitige Bjarmien (in ulteriorem Byarmiam):⁵⁰ ein Land ewiger Kälte, merkwürdiger wilder Tiere und unwegsamer Wälder. Hier lässt Thorkillus die Schiffe an Land ziehen, da es nun zu Geruthus nicht
Simek 1986, S. 264 f., 267, 270, 274 (Abb. 10); Davidson 1988, S. 185–188, 218; Malm 1990, S. 60–63; Davidson 1991; Simek 1993, S. 112, 121; Simek 1995, S. 136, 151 f., 301 f.; Heizmann 1998; Hultgård 2002, S. 477; Heizmann 2002; Nordberg 2003, S. 30–36; Heizmann 2007, S. 186, 188; Tietz 2012, S. 142–155; Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 122–126. Diese Liste beansprucht dabei keine Vollständigkeit; auf weitere relevante Literatur wird im Zuge der folgenden ausführlichen Analyse des Materials eingegangen werden. Allgemein zu Vorstellungen von einer insularen bzw. jenseits einer Wasserbarriere gelegenen Anderwelt auf der Grundlage von (v. a.) altnordischen Quellen vgl. Heide 2011. 49 Hgg. von Olrik und Ræder 1931; Friis-Jensen und Zeeberg 2005. Zur Datierung vgl. Friis-Jensen 2004, S. 550. Allgemein zum insbesondere literaturgeschichtlichen Kontext dieser Episode Saxos vgl. etwa Herrmann 1922, S. 583–608; Patch 1950, S. 67–69; Straubergs 1957, S. 71–74; Chadwick 1967, S. 23 f.; Ciklamini 1968; Davidson und Fisher 1980, S. 141–147; Skovgaard-Petersen 1985; Gísli Sigurðsson 1988, S. 57–59; Malm 1990; Malm 1992 (beide Aufsätze Malms bes. zur Möglichkeit einer christlichallegorischen Interpretation); Schulz 2004, S. 222–224. 50 Zum „jenseitigen Bjarmien“ vgl. Simek 1986, S. 251.
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mehr weit sei. Er warnt seine Gefährten jedoch davor, mit den einheimischen monstra zu sprechen; sie sollen lieber ihm das Reden überlassen, um Schaden zu vermeiden, da er die lokalen Sitten und Gebräuche kenne. Mit Einbruch der Dämmerung kommt in der Tat ein außergewöhnlich großer Mann zu den Schiffen und begrüßt die Neuankömmlinge jeweils namentlich. Hierbei handelt es sich um Guthmundus, den Bruder des Geruthus, den Thorkillus als einen Beschützer von Reisenden vorstellt. Guthmundus setzt sie auf Wagen und bringt sie zu seiner Herberge. Unterwegs kommen sie an einem Fluss vorbei, über den eine goldene Brücke führt; diese Brücke zu betreten, wird den Gefährten des Thorkillus jedoch verwehrt, da sie die Welt der Menschen vom Land der Ungeheuer trenne und es Sterblichen nicht bestimmt sei, sie zu überschreiten. Als sie beim Haus des Guthmundus ankommen, weist Thorkillus seine Gefährten an, sich von den Einheimischen fernzuhalten und nur die Speisen zu essen, die sie selbst mitgebracht haben; denn wer von Guthmundus’ Speisen esse, der verliere sämtliche Erinnerungen und müsse hier unter Ungeheuern leben. Die zwölf herausragenden Söhne und die zwölf schönen Töchter des Guthmundus umstehen die Tische; seine Gäste aber lassen sich keine seiner Speisen aufdrängen. So schlägt Guthmundus eine neue Taktik ein und bietet dem König eine seiner Töchter, allen anderen aber je eine seiner Dienerinnen zur Frau an. Thorkillus warnt jedoch erneut vor den Folgen. Nur vier Männer, die nicht auf seinen Rat hören wollen, fallen Guthmundus zum Opfer – sofort nach dem Verkehr werden sie wahnsinnig und verlieren jede Erinnerung an die Heimat. Nun geht Guthmundus dazu über, seinen Garten zu preisen, um König Gormo dazu zu verleiten, von seinen Früchten zu kosten. Als dieser sich jedoch mit Verweis auf die Dringlichkeit ihrer Weiterreise höflich weigert, gibt Guthmundus auf und setzt sie über den Fluss. Nun führt ihr Weg die Reisenden zu einer schwarzen Stadt. Wilde Hunde halten vor den Toren Wache, und Menschenschädel stecken auf Pfählen zwischen den Wällen. Thorkillus lenkt die Hunde ab, indem er ihnen ein mit Fett bestrichenes Horn hinwirft; daraufhin können er und seine Männer sich mit Leitern Zugang zur Stadt verschaffen. Drinnen ist alles voller dunkler Gespenster (larvae), Lärm, Kot und Gestank. Schließlich finden sie die Felsenkammer (conclave saxeum), in der Geruthus residiert. Thorkillus ermahnt die Männer, als sie schon fast nicht einzutreten wagen, im Inneren nichts anzufassen, sich aber auch nicht von den Hässlichkeiten drinnen erschrecken zu lassen. Und in der Tat erweist sich das Innere der Felsenkammer als so grauenhaft, wie die Gefährten vermutet haben: Alles stinkt und ist mit Ruß und Schmutz überzogen, fauler Dampf hängt in der Luft, die Decke ist aus Speeren gefügt und Schlangen bedecken den Boden. Blutleere Schatten von Ungeheuern sitzen auf eisernen Sesseln, bewacht von ebenso grauenhaften Torhütern. Etwas tiefer in der Kammer finden sie einen alten Mann mit durchbohrtem Körper vor einem Loch im Felsen sitzend vor, und unmittelbar neben ihm drei Frauen mit gebrochenem Rückgrat. Auf die Frage seiner Gefährten erklärt Thorkillus hierzu, dass es sich bei dem Greis um Geruthus handelt, der von Thor mit einem glühenden Eisen durchbohrt
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worden ist, das danach auch noch das Loch in den Felsen schlug; und auch das gebrochene Rückgrat der Frauen war die Strafe für einen Angriff auf denselben Gott. Als die Gefährten noch tiefer in die Kammer vordringen, stoßen sie jedoch auf unvorstellbare Schätze, wie etwa Fässer mit goldenen Reifen oder ein mit prachtvollen Schnitzereien und Edelsteinen verziertes Horn; einige der Männer können sich nicht beherrschen und vergreifen sich an diesen Schätzen, worauf sich diese in Waffen oder Tiere verwandeln und ihre Diebe töten. Und als sich kurz darauf in einer Nebenkammer noch reichere Schätze finden, lässt sich selbst nach dieser blutigen Warnung sogar Thorkillus hinreißen: Er greift nach einem Prunkgewand – und nun fallen all die Monstren in der Felsenkammer über die Männer her. Nur zwanzig von den Dreihundert, die ursprünglich mit Gormo und Thorkillus losgezogen waren, können sich aus der Kammer retten. Als sie auf ihrer Rückreise wieder an das Haus des Guthmundus kommen, setzt dieser sie über den Fluss, bewirtet sie und versucht erneut, sie bei sich zu behalten; als ihm dies nicht gelingt, sendet er sie jedoch resigniert mit reichen Geschenken weiter. Allein einer der größten Helden der Gruppe kann der Verlockung von Guthmundus’ Töchtern nicht widerstehen, vermählt sich mit einer von ihnen und verliert nach dem Verkehr die Erinnerung an die Heimat. Als er seinem König noch bis zum Fluss das Geleit gibt, ertrinkt er dort, als ein Wagen stecken bleibt. Die anderen aber machen sich umso schneller davon, auch wenn nicht viele von ihnen nach Hause zurückkehren sollen: Sie geraten unterwegs in einen Sturm und viele sterben den Hungertod, ehe ein Gelübde Gormos den wenigen Überlebenden die Heimkehr sichert. Saxos Erzählung ist ein Florilegium von Motiven aus den verschiedensten Quellen: (Halb-)historisches vermischt sich mit Mythischem, Seemannsgarn mit gelehrten Anspielungen. Der historische Rahmen ist derjenige von Saxos Schilderung der dänischen Vorzeit; er scheint eine an Gorm den Alten geknüpfte Erzählung heranzuziehen, um in seiner dänischen Geschichte eine zeitliche Lücke vor der Regierungszeit des Gotricus/Gutfred (gest. 810) zu füllen (wobei Saxo sich nicht weiter daran stört, dass ein Treffen mit einem Isländer zu dieser Zeit einen massiven Anachronismus darstellt).⁵¹ Das Motiv eines Königs, der auf eine Entdeckungsfahrt an die Grenzen der bekannten Welt auszieht, findet sich dabei auch anderswo in der zeitgenössischen Geschichtsschreibung: Adam von Bremen erwähnt in seiner Beschreibung der Inseln des Nordens (Gesta IV.39), dass erst „neulich“ (nuper) der norwegische Fürst (princeps) Harald – wohl sein Zeitgenosse Haraldr harðráði (gest. 1066)⁵² – eine Expedition in das Eismeer unternommen habe und im Angesicht des Abgrunds am Ende der Welt nur knapp entronnen sei.⁵³ Ob der Anspruch, das buchstäbliche Ende der Welt gesehen zu haben, auf Harald selbst oder auf ein nicht mehr fassbares Zwischen-
51 Herrmann 1922, S. 607 f., vgl. Davidson und Fisher 1980, S. 142 (Anm. 138). 52 Schmeidler 1917, S. 276 (Anm. 2). 53 Herrmann 1922, S. 584; Skovgaard-Petersen 1975, S. 25.
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glied zurückgeht, muss letztlich dahingestellt bleiben (ein Teil der Formulierung für den Abgrund – das inmane baratrum – mag jedenfalls von Vergil entlehnt sein: Äneis VIII.245);⁵⁴ hier ist nur wichtig, dass solche Geschichten kursierten und ernst genommen wurden.⁵⁵ Wie weit solche Geschichten kursierten, zeigt dabei eine Stelle im Kitāb Taḥdīd al-Amākin des persischen Gelehrten Bīrūnī (verfasst 1025): Dort kommt Bīrūnī u. a. auf die Anwohner des „Waränger-Meers“ im hohen Norden zu sprechen und berichtet, daß einer von jenen (den Warängern) auf seinen Jagd- und Raubzügen in den Sommertagen so weit in dieses (Waränger-) Meer hinaussegelt, daß er in der Richtung des Nordpols bis zu der Stelle gelangt, an der sich die Sonne zur Zeit der Sommersonnenwende über dem Horizont dreht. Er beobachtet dieses, und rühmt sich den Seinigen gegenüber, daß er den Ort erreicht habe, an dem keine Nacht ist.⁵⁶
Zwar behauptete dieser „Waränger“ von sich nicht, das Ende der Welt erreicht zu haben; aber immerhin ist sein Anspruch, in ein Gebiet ohne Nacht gelangt zu sein, ein interessantes Gegenstück zu Thorkillus’ Reise in eine Region, wo es keinen Tag mehr gibt (auch wenn die Polarnacht hinter der romanhaften Überformung bei Saxo besser versteckt ist als die Mitternachtssonne im sehr viel realistischeren Bericht des Bīrūnī). Vor allem ist diese Notiz jedoch dadurch wichtig, dass sie illustriert, welche Faszination solche Entdeckungsfahrten schon für ihre Zeitgenossen ausübten – genug, um sie im Werk eines Gelehrten im Mittleren Osten Erwähnung finden zu lassen.⁵⁷ Dass es sich beim Motiv der Entdeckungsfahrt ins Nordmeer – und insbesondere auch ans Ende der Welt – nahezu um ein Stereotyp für das Verhalten wagemutiger Seefahrerfürsten gehandelt haben könnte, wird dadurch nahegelegt, dass Adams Hamburgische Kirchengeschichte gleich zwei Berichte über solche Fahrten enthält: Unmittelbar auf Haralds Abenteuer am Ende der Welt lässt er die ausführliche Schilderung einer Nordmeerexpedition einer Gruppe friesischer Edelleute folgen (Gesta IV.40 f.):⁵⁸ Etwa eine Generation vor Adam sollen „gewisse Edelleute Frieslands“
54 Schmeidler 1917, S. 276 (Anm. 3). 55 Und dies sogar, obwohl Adam sich der Kugelgestalt der Erde bewußt war: Gesta IV.38; Schmeidler 1917, S. 275 (Anm. 1). 56 Zeki Validi 1936, S. 39 f., Zitat: S. 40; Ross 1981, S. 60. Vgl. die Übersetzung von Jamil Ali 1967, S. 107: “We even find among those people some who go out on that sea in the summer, for fishing [...] or piracy, and they proceed in the direction of the north pole to the region where the sun revolves above the horizon at the summer solstice. On seeing it, they feel proud among their fellows because they have reached the place where there is no night.” Vgl. Kennedy 1973, S. 81. 57 Bīrūnī dürfte dieses Werk im Dienste (und während der Indienfeldzüge) des Herrschers von Ghazna (heute Ghazni, Afghanistan) verfasst haben: Saliba 1983, S. 248 f. 58 Herrmann 1922, S. 595; Skovgaard-Petersen 1975, S. 25; Skovgaard-Petersen 1985, S. 945–947 (die in dieser Stelle bei Adam von Bremen eine von Saxos Quellen für seine Beschreibung der Reisen des Thorkillus sieht).
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auf der Grundlage eines gemeinsamen Gelübdes von der friesischen Küste aus nach Norden vorgestoßen sein, um zu erkunden, ob es im Nordmeer eine Landmasse gebe; ihre Route führte sie zunächst über die Orkneys zum „vergletscherten Island“ (glacialem Island) und darauf in Richtung auf den Nordpol (in ultimam septentrionis axem). Nach einer Weile gelangten sie in eine Region dunklen Nebels, und sogleich gerieten ihre Schiffe in den Sog der Strömung, die zum Abgrund am Ende der Welt hin führt: Dort befände sich ein Schlund, in den mit einem gewaltigen Sog das Wasser vom Rand der Welt hinab ströme, bis die Strömung schließlich abnähme und das Wasser wieder ausgespien würde; daraufhin beginne dieser Zyklus von vorne. Einige der Schiffe der Friesen wurden von dieser Strömung davongetragen, während andere mit Hilfe des Rückstroms entkommen konnten. Kurz nach ihrer Errettung erreichten die überlebenden Friesen eine von steilen Klippen umgebene Insel, wo sich zur Mittagszeit die Menschen in unterirdischen Grotten versteckten; vor den Höhleneingängen aber lagen Gefäße aus Gold und anderem wertvollem Edelmetall. Als die Friesen so viel davon zu ihren Schiffen schleppten, wie sie tragen konnten, sahen sie sich plötzlich von ungemein großen Menschen verfolgt, die Kyklopen genannt würden, und vor diesen rannten ihre riesigen Hunde her. Diese Hunde zerrissen einen der Friesen; die anderen aber entkamen und berichteten nach ihrer Rückkehr nach Bremen alles dem Erzbischof Aldebrand, der die Geschichte an seinen Nachfolger Erzbischof Adalbert weitergab, welcher sie wiederum Adam von Bremen erzählte. Diese Erzählung gibt sich als historischer Bericht, der von den Teilnehmern an der Expedition bis zum schlussendlichen Verfasser des Texts jedes Glied der Überlieferungskette mitteilt; dennoch hat man es bei diesem Bericht in seiner endgültigen Form nicht mit dem ungeschönten Garn friesischer Seeleute (oder in Anbetracht ihrer reichen Beute wohl vielmehr Seeräuber)⁵⁹ zu tun, sondern mit einem hochgradig gelehrten Text. So mag die Erwähnung der Dunkelheit, der die Reisenden auf dem Weg nach Norden begegnen, nicht nur die von Thorkillus durchquerte Zone der Dunkelheit vorwegnehmen, sondern dort mag sich insbesondere auch eine Notiz bei Isidor von Sevilla spiegeln, wonach es jenseits von Ultima Thule keinen Tag mehr gebe (Etymologiae XIV.vi.4).⁶⁰ Ferner erinnert die Schilderung des Mahlstroms am
59 Schmeidler 1917, S. 278 (Anm. 1); Tschan 2002, S. 221 (Anm. 145). 60 Etymologiae XIV.vi.4: Thyle ultima insula Oceani inter septentrionalem, et occidentalem plagam ultra Britanniam, a sole nomen habens, quia in ea aestivum solstitium sol facit, et nullus ultra eam dies est; unde et pigrum, et concretum est ejus mare. (=Patrologia Latina t.LXXXII, c.513AB.) Beachtenswert ist das Missverständnis, wonach gerade zur Zeit der Sommersonnenwende ewige Nacht herrsche, und insbesondere, dass dieses Missverständnis von Adam von Bremen und bei Saxo auf die Geschichten von wikingerzeitlichen Nordpolfahrern übertragen worden ist (deren vorgebliche Reisen gleichfalls im Sommer stattgefunden haben müssten, wo beim Vorstoß nach Norden nicht mit einer Polarnacht, sondern einem Polartag zu rechnen wäre). Besser erfasst ist der Sachverhalt bei Solinus (XXII.9; hgg. von Mommsen 1895): Multae et aliae circa Brittaniam insulae, e quibus Thyle ultima, in qua aestivo solstitio sole de cancri sidere faciente transitum nox nulla: brumali solstitio perinde nullus dies. ultra
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Ende der Welt schlagend an die Charybdis der Odysseus-Sage.⁶¹ Besonders nahe steht Adams Bericht dabei der Schilderung, die Paulus Diaconus im 8. Jahrhundert von gewaltigen Strudeln im Atlantik gab, welche gleichfalls das Meer großräumig einsaugen und wieder ausspeien (und so den großen Tidenhub an der europäischen Atlantikküste verursachen sollen).⁶² Die Schilderung des Paulus zitiert hierzu neben (teilweise phantastischen) Augenzeugenberichten auch Vergils Schilderung der Charybdis und greift so selbst unmittelbar auf antike Traditionen zurück (Äneis III.420–423; Historia Langobardorum I.6); über die gelehrten bischöflichen Gewährsmänner Adams mag sie zugleich auch dessen Schilderung des Schlunds im hohen Norden grundlegend beeinflusst haben.⁶³ Ebenso geht die Insel der Kyklopen letztlich auf klassische Vorlagen zurück (Äneis III.568–681; Hyginus, Fabulae 125), und sogar für deren übergroße Hunde ist eine Herkunft aus der lateinischen Literatur der Spätantike vermutet worden: Dort heißt es über eine der Inseln der Seligen/Kanarischen Inseln (Fortunatae insulae), dass sie voller riesiger Hunde sei (Solinus, De mirabilibus mundi LVI.14, 17; Martianus Capella VI.702).⁶⁴ Ob es im Kontext der Friesenerzählung für die übergroßen Hunde wirklich ein gelehrtes Vorbild braucht, sollte zwar vielleicht besser dahingestellt bleiben; immerhin scheint bei Adam jedoch ein weiterer (und weiter verbreiteter) Zug der spätantiken Überlieferung zu den Inseln der Seligen in einer anderen Schilderung eines Lands jenseits des Meeres seinen Niederschlag gefunden zu haben: Adam schreibt über Winland, dass dort hervorragende Weinstöcke wild gedeihen und Feldfrüchte von alleine und ohne die Notwendigkeit einer Aussaat wachsen (Gesta IV.39). Damit gibt er eines der zentralsten Stereotype der klassischen Inseln der Seligen wieder; denn diese zeichnen sich gleichfalls durch eine unglaubliche Fruchtbarkeit aus, so dass man dort ernten kann, ohne je säen zu müssen (vgl. etwa Isidor von Sevilla, Etymologiae XIV.vi.8).⁶⁵ Adam ist sich dabei völlig dessen bewusst, hier einen Topos über Paradiesinseln am Ende der Welt wiederzugeben (auch Winland markiert das Ende der Welt; denn hinter dieser Insel sei
Thylen accipimus pigrum et concretum mare. Vgl. im selben Sinne Servius, Ad Georg. I.30. Die Vorstellung, dass eine Seefahrt nach Norden aus dem Bereich der Sonne und des Tageslichts hinaus- und in ein Reich ewiger Dunkelheit führt, findet sich spätestens in einem Gedicht des augusteischen Autors Albinovanus Pedo, von dem ein Fragment in den Suasoriae Senecas des Älteren erhalten ist; dieser Bereich der Dunkelheit scheint dort als Grenzbereich zur Region der Inseln der Seligen zu gelten, also an der Grenze zu einem Unsterblichkeits- oder Jenseitsgefilde zu liegen: Nansen 1911 Bd. 1, S. 82–84. 61 Vgl. Skovgaard-Petersen 1975, S. 25. 62 Skovgaard-Petersen 1975, S. 25 sieht Paulus Diaconus als eine der Hauptquellen der ThorkillusEpisode an. 63 Schmeidler 1917, S. 277 (Anm. 4) (eine direkte Verwendung von Paulus’ Schilderung durch Adam lehnt Schmeidler ab, da Adam diesen Autor ansonsten nicht gekannt zu haben scheint: ibidem). Wenn Tschan 2002, S. 220 (Anm. 142) auf einen realen Mahlstrom im Nordmeer verweist, dann mag dies vielleicht den Anlass für diese Episode der Erzählung, nicht aber die Details ihrer Ausführung erklären. 64 Schmeidler 1917, S. 278 (Anm. 4); Tschan 2002, S. 221 (Anm. 146). 65 Vgl. Ingstad 1985, S. 315–318.
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ausdrücklich nur noch Eis und Dunkelheit zu finden). Entsprechend betont er, von dieser unglaublichen Fruchtbarkeit Winlands nicht durch eine Fabuliererei, sondern „durch den verlässlichen Bericht der Dänen“ erfahren zu haben (certa [...] relatione Danorum; Gesta IV.39). Kehrt man von hier zu Saxos Thorkillus-Erzählung zurück, so zeigen sich nun auch viele Elemente von Thorkillus’ Fahrt ans Ende der Welt als Topoi der mittelalterlichen Geschichtsschreibung oder klassischen Gelehrsamkeit: Die Verbindung von Fürst und Entdecker, welche Harald und die friesischen Edelleute repräsentieren, findet sich in Saxos Bericht über König Gormo ebenso wieder wie das Klischee der Gefährlichkeit der Reise, während derer ein großer Teil der Mannschaft verloren geht, oder die besondere Fruchtbarkeit des fern jenseits des Ozeans gelegenen Landes – in den Gärten des Guthmundus mag sich so die Fruchtbarkeit Winlands und der Inseln der Seligen spiegeln. Gleichermaßen fällt die Parallele zwischen Adams Version der Kyklopeninsel und dem Reich des Geruthus auf:⁶⁶ Nicht nur sind beides abweisende Orte am Ende der Welt, sondern an beiden Orten liegen Gold und anderes Edelmetall zum Greifen nah vor dem Besucher; doch wer Hand an die Schätze legt, dem droht, wie die Gefährten des Odysseus von den dort lebenden Ungeheuern zerrissen zu werden. Ebenso wie der klassische Kyklop Polyphem leben dabei auch die Kyklopen in der Friesenerzählung in Höhlen, und Geruthus „residiert“ in einer Felsenkammer (vgl. etwa Hygin, Fabulae 125; Vergil, Äneis III.616–619, 641–644). Damit sind die klassischen Anleihen jedoch noch nicht erschöpft. So findet etwa auch die Insel, auf der die halbverhungerten Gefährten des Thorkillus mehr Rinder schlachten, als ihnen zustehen, ein enges Gegenstück in der Odysseussage:⁶⁷ Auf der Insel des Sonnengottes schlachten die Gefährten des Odysseus dessen Warnung zum Trotz Rinder aus der heiligen Herde des Helios, und als Strafe dafür wird das letzte noch verbleibende Schiff des Odysseus von einem Donnerkeil des Zeus zerschmettert, wobei alle bis auf Odysseus selbst ertrinken (z. B. Hygin, Fabulae 125). Die Gefährten des Thorkillus, die ebenfalls auf den Rat ihres Anführers nicht hören wollten, kommen im Vergleich hierzu sehr glimpflich davon, wenn sie nur einen Mann pro Schiff aufgeben müssen.⁶⁸
66 Vgl. Simek 1986, S. 258; Herrmann 1922, S. 590 f. 67 Herrmann 1922, S. 586, 591; Skovgaard-Petersen 1985, S. 944 f., 949. Davidson und Fisher 1980, S. 142 (Anm. 141) verweisen ferner auf Parallelen in Vergils Äneis (Buch III); hierzu vgl. jedoch Skovgaard-Petersen 1985, S. 945, die die Unterschiede in der Behandlung des Stoffs bei Saxo und Vergil betont. 68 Ihr Opfer erinnert in dieser Hinsicht beinahe mehr an das Opfer der Iphigenie in Aulis: Agamemnon hatte eine Hirschkuh der Artemis verwundet und sich der Jagdgöttin gegenüber hochmütig geäußert; als Sühne mußte er seine Tochter opfern, ehe die Flotte der Griechen nach Troja ablegen konnte (Hygin, Fabulae 98). (Anders: Herrmann 1922, S. 586, der hier einen Niederschlag eines volkstümlichen Brauchs sieht.)
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Nachdem die verbleibenden Gefährten des Thorkillus ihre Version der Insel des Sonnengottes hinter sich gelassen haben und an der nächsten Küste wieder an Land gegangen sind, sehen sie sich bald erneut einer Bedrohung gegenüber, wie sie in ähnlicher Form auch Odysseus’ Gefährten meistern mussten: Guthmundus’ Angebot einer Gastfreundlichkeit, die ihnen die Erinnerung raubt – und darin an die freundliche Insel der Lotophagen erinnert, wo den Gefährten des Odysseus die Früchte des Lotosbaums angeboten werden, die sie zwar glücklich machen, aber auch die Heimkehr vergessen lassen (Hygin, Fabulae 125). Ebenso könnte man hier ferner an den Fluss Lethe im Totenreich erinnern, von dem die Toten trinken, worauf sie die Erinnerung an ihr zurückliegendes Leben verlieren (Vergil, Äneis VI.703–715), oder an den Granatapfel, von dem Persephone nach ihrer Entführung durch Hades im Totenreich gegessen hat, worauf sie als Gemahlin des Totengottes in der Unterwelt bleiben musste (etwa Servius zu Georgica I.39; Ovid, Metamorphosen V.529–542).⁶⁹ Und auch in der nächsten Episode der Erzählung, in der Region hinter dem Territorium des Guthmundus, scheinen noch deutliche Parallelen zwischen klassischen Motiven und der Thorkillus-Erzählung greifbar zu werden: So evoziert die schädelgeschmückte Stadtmauer, hinter der sich die Residenz des Geruthus mit ihrem furchteinflößenden Lärm und ihren Monstren verbirgt, die Festung in Vergils Schilderung der Unterwelt, wo hinter einer dreifachen Mauer die Schreie und das Stöhnen der gepeinigten Frevler zu hören sind (Äneis VI.548–627). Die Wachhunde erinnern an den mediterranen Höllenhund Kerberos.⁷⁰ Und selbst in der List, mit der Thorkillus diese Wachhunde besänftigt, spiegelt sich eine Episode der Äneis: Um Äneas den Abstieg in die Unterwelt zu ermöglichen, wirft die Sibylle dem Kerberos einen mit Schlafdrogen versetzten Brocken hin, den er sofort gierig hinunterschlingt; so schläft der riesige Höllenhund ein und der Durchgang steht offen (Äneis VI.417–425).⁷¹ Was danach bei Saxo hinter der Mauer liegt, wird ganz entsprechend wie ein Totenreich beschrieben –⁷² wie auch Odysseus am fernsten Punkt seiner Fahrt in den Hades hinabsteigt.⁷³ Bisher wurde das „Genre“ der Erzählungen von Reisen ans Ende der Welt vor allem unter dem Gesichtspunkt der klassischen Gelehrsamkeit betrachtet, die sich darin deutlich niederschlägt. Diese Anleihen dürften programmatisch sein und unterstreichen die von Kurt Johannesson zu Saxo gemachte Beobachtung, dass Saxo mit Erzählungen wie der von Thorkillus’ Fahrt aufzeigen wollte, wie die Dänen der Frühzeit Taten vollbringen konnten, die auf gleicher Augenhöhe neben die großen Epen der
69 Herrmann 1922, S. 588 f. 70 Malm 1990, S. 63; Malm 1992, S. 170. 71 Davidson und Fisher 1980, S. 144 (Anm. 153). 72 Vgl. Skovgaard-Petersen 1985, S. 942; Malm 1990, S. 60, 63. 73 Herrmann 1922, S. 590.
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klassischen Antike treten können;⁷⁴ und ähnliche Überlegungen mögen auch hinter der Einarbeitung klassischer Elemente in Reiseberichte anderer Autoren stehen. In den klassischen Elementen erschöpfen sich diese Erzählungen jedoch nicht. So verwendet zwar Adams Bericht über die Eismeerexpedition von Haraldr harðráði für den Abgrund am Ende der Welt eine Formulierung, die von Vergil entlehnt sein mag, aber zugleich scheinen sich hier doch auch einheimische Vorstellungen widerzuspiegeln: Ein Zweig der Handschriftenüberlieferung von Adams Hamburgischer Kirchengeschichte fügt nach dem knappen Entkommen Haralds noch einige erklärende Zeilen an, in denen vom Abgrund, den Harald erreicht haben will, gesagt wird, dass er in der Volkssprache Ghimmendegop heiße – das Ginnungagap der eddischen Überlieferung (Gylfaginning 5, 8, 15; Skáldskaparmál 59).⁷⁵ Ähnlich ist auch in die Erzählung von Thorkillus’ Reise ans Ende der Welt über die klassischen Topoi hinaus eine Vielzahl von nordischen mythologischen Motiven eingeflossen.⁷⁶ Insbesondere Geruthus hat als Geirrøðr mehrere Auftritte in der eddischen (und weiteren nordischen) Überlieferung.⁷⁷ Weniger relevant ist hier dabei der ebenso glücklose wie unrühmliche König Geirrøðr der Grímnismál,⁷⁸ umso mehr hingegen der Riese Geirrøðr, dessen Heimstatt zum Ziel einer der Fahrten Thors wird. Bei dieser Gelegenheit tötete Thor den Riesen und seine (dort zwei) Töchter in einer Weise, die sehr genau der Schilderung bei Saxo entspricht: Der Riese selbst starb, als Thor ein glühendes Stück Eisen durch ihn, einen Pfeiler und die Hauswand warf. Den Riesentöchtern hatte Thor kurz zuvor das Rückgrat gebrochen, als sie ihn mitsamt dem Stuhl, auf dem der Gott eben saß, hochheben und an der Decke zerquetschen wollten (Skáldskaparmál 18, vgl. 4).⁷⁹ Der Mythos ist mehrfach bezeugt und scheint weit verbreitet gewesen zu sein. Snorris Darstellung des Geschehens beruht wohl v. a. auf der (von ihm auch ausführlich zitierten) Þórsdrápa des Eilífr Goðrúnarson (Ende des 10. Jahrhunderts).⁸⁰ Darüber hinaus erscheint der Mythenkomplex auch in einer improvisierten Strophe des Þjóðólfr Arnórsson.⁸¹ Diese soll Þjóðólfr auf Verlangen desselben Haraldr harðráði gedichtet haben, der
74 Johannesson 1978, S. 47, 182. 75 Schmeidler 1917, S. 276 mit Anm. 5; vgl. Dronke 1997, S. 33 f.; Dillmann 1998, S. 122. Der Name Ginnungagap ist als Bezeichung für einen Teil des Ozeans in der altnordischen kosmographischen Literatur mehrfach bezeugt, vgl. Simek 1990, S. 186–188 (mit Besprechung des Belegs in der Hamburgischen Kirchengeschichte: S. 188), 196 f. (mit Abb. 27), 204 f.; Dillmann 1998, S. 122 f. 76 Allg. zu den isländischen Quellen Saxos vgl. Bjarni Guðnason 1981. Ciklamini 1968 (bes. S. 109 f.) plädiert für eine isländische fornaldarsaga als Quelle für Saxos Thorkillus-Erzählung. 77 Herrmann 1922, S. 592; Hamer 1973, S. 189; Malm 1990, S. 63 f.; Malm 1992, S. 170 f. 78 Vgl. auch Gylfaginning 20 (hgg. von Faulkes 2005). 79 Hgg. von Faulkes 1998. Davidson und Fisher 1980, S. 144 f. (Anm. 157, 158); Skovgaard-Petersen 1985, S. 944; Malm 1990, S. 63 f. 80 Finnur Jónsson 1908–1915 Bd. 1.A, S. 148–152; 1908–1915 Bd. 1.B, S. 139–144; Skáldskaparmál 18; Malm 1990, S. 64; Faulkes 1998, S. xxiii; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 391; Böldl 2013, S. 54. 81 Gade 2009, S. 169–171 (Str. 5); Finnur Jónsson 1908–1915 Bd. 1.A, S. 380; 1908–1915 Bd. 1.B, S. 350 (Strophe 14); Herrmann 1922, S. 592; Meissner 1904, S. 20; Tietz 2012, S. 106 f.
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wohl auch mit dem experientissimus Nordmannorum princeps Haraldus zu identifizieren ist, von dessen Ausflug ans Ende der Welt Adam von Bremen berichtet.⁸² Neben der Behandlung des Geirrøðr (und der Fahrt als solcher) folgt noch eine Vielzahl weiterer Details einheimisch nordischen Motiven. Folgt man der Reihenfolge der Episoden in der Erzählung, so sticht an erster Stelle die Szene auf der „Insel des Sonnengottes“ heraus, in der ein außerordentlich großes monstrum mit einem Stab bewaffnet durch das Meer auf die Schiffe des Thorkillus zuwatet und ihnen verkündet, dass sie als Sühne für ihren Übergriff auf die Herden auf der Insel einen Mann aus jedem Schiff zurücklassen müssen. Dieses Tableau des drohend durch das Wasser watenden Riesen mit einem Stab ähnelt auffallend der Episode in der Ólafs saga Tryggvasonar (K. 33),⁸³ in welcher der dänische König Haraldr Gormsson einen Zauberer in Gestalt eines Wals nach Island sendet, der an mehreren Punkten der Insel von den Landesgeistern (landvættir) in verschiedenen Gestalten abgewiesen wird; als er auf der Reykjanes-Halbinsel an Land gehen will, kommt ihm ein Bergriese mit einem eisernen Stab entgegen. Die Ähnlichkeit zwischen dem Bergriesen mit dem eisernen Stab und dem riesigen monstrum mit dem (nicht spezifizierten) Stab, die beide an der Küstenlinie auf einen Eindringling treffen, dürfte kaum zufällig sein.⁸⁴ Guthmundus, der Thorkillus und seinen Gefährten auf ihrer nächsten Etappe begegnet, taucht als Guðmundr mehrfach in der altnordischen Literatur auf (worauf im Folgenden noch ausführlich zurückzukommen sein wird). Er bringt seine „Gäste“ zu sich nach Hause. Auf ihrem Weg kommen sie an einer goldenen Brücke vorbei: Diese Brücke zu betreten ist Sterblichen verboten – sie führt ins Land der Ungeheuer. Dies mag auf die Brücke über den Fluss Gjǫll anspielen, über die in der Snorra-Edda der Weg ins Totenreich führt und die mit „glänzendem Gold“ (lýsigull) bedeckt ist (Gylfaginning 49).⁸⁵ Nach der Ankunft bei Guthmundus droht seinen Besuchern kurz
82 Herrmann 1922, S. 584, 592; vgl. Gade 2009, S. 170. – Falls Haralds tollkühne Eismeerexpedition überhaupt einen historischen Hintergrund hat, mag dies zum Nachdenken darüber anregen, inwieweit die Reisen des Gottes Thor, die diesen regelmäßig über die Grenzen der bekannten Welt ins Reich der Riesen hinausführen, für solche Unternehmungen als mythisches Paradigma gedient haben könnten: Hat Harald mit seiner Eismeerexpedition Thor nacheifern wollen, ähnlich wie Alexander der Große auf seinen Kampagnen versucht zu haben scheint, Herakles zu übertreffen, einen der größten Reisenden und Eroberer der olympischen Götterwelt (Kissel 2005, S. 50)? Vgl. auch die Karikatur solcher Aspirationen und ihrer literarischen Niederschläge bei Lukian, Verae historiae I.7, wo eine Expedition zu (u. a.) den Inseln der Seligen auf eine bronzene Inschrift und riesige Fußabdrücke stößt, die die Grenzen der Reisen des Herakles und des Dionysos markieren. Zur Bezugnahme auf und Nachahmung des Herakles durch Hannibal vgl. Briquel 2003; Konrad 1994, S. 108. Im Rahmen der nordischen Mythologie ist ferner vielleicht daran zu erinnern, dass auch Odin wiederholt als großer Reisender erscheint und so gleichfalls ein Paradigma für das Verhalten eines Fürsten bereitstellen mag, das zum Unternehmen abenteuerlicher Reisen ermutigt. 83 Ólafs saga Tryggvasonar hgg. von Finnur Jónsson 1893–1901 Bd. 1, S. 255–459. 84 Herrmann 1922, S. 586 (Anm. 2); Davidson und Fisher 1980, S. 142 f. (Anm. 142). 85 Tolkien 1960, S. 84 (Anm. 2); vgl. Straubergs 1957, S. 73 f.
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darauf Gefahr von dem Gastmahl, mit dem er sie zu bewirten versucht. Für das Motiv des Vergessens, das mit seinen Speisen und Getränken verbunden ist, ist oben auf die klassischen Parallelen der Lotophagen und des Lethe-Trunks hingewiesen worden. Aber auch in der nordischen Literatur finden sich Entsprechungen,⁸⁶ wenn etwa Sigurd in der Vǫlsunga saga das Opfer eines Tranks wird, der ihn seine Liebe zu Brynhild vergessen lässt (K. 28, 30),⁸⁷ oder wenn im Sǫrla þáttr eine dämonische Frauengestalt dem Heðinn mit Hilfe eines Tranks jede Erinnerung an seine Schwurbruderschaft mit Hǫgni nimmt und ihn so zu unverzeihlichen Verbrechen gegen seinen Schwurbruder überreden kann (K. 234).⁸⁸ Das nächste Hindernis auf dem Weg zu Geruthus ist ein Fluss, über den Thorkillus und seine Männer von Guthmundus übergesetzt werden müssen; mit einem Fluss hat auch Thor bei seiner Fahrt zu Geirrøðr zu kämpfen (Skáldskaparmál 18).⁸⁹ Darauf folgen die Wachhunde an den Toren von Geruthus’ Festung, die auf klassischen Einfluss zurückgehen mögen, sich aber auch mit dem Hund Garmr der Vǫlospá (Str. 44, 49, 58) und dem unterweltlichen Wachhund der Baldrs draumar (Str. 2 f.) vergleichen lassen könnten.⁹⁰ Nachdem die Gefahr gebannt ist, die von den Hunden ausging, überwinden Thorkillus und seine Männer die Tore der Stadt mit Hilfe von Leitern; als Hermóðr in der eddischen Überlieferung in die Unterwelt reitet, lässt er sein Pferd die Pforte zur Hel überspringen und nimmt so gleichermaßen nicht den Weg durch, sondern über die Unterweltspforte (Skáldskaparmál 49). Im Inneren der monströsen Festungsstadt angekommen, sehen die Gefährten sich bald der Behausung des Geruthus gegenüber. Dessen „Felsenkammer“ spielt mit einer breiten Palette von Assoziationen. So klingt in der Felsenkammer die Höhle als der passende Wohnort für einen Riesen an, wie Thors Auseinandersetzung mit Geirrøðr auch von der Þórsdrápa und ihren Kenningar in einer Höhle lokalisiert wird (etwa Skáldskaparmál 18 Str. 85, 86, 91= Þórsdrápa Str. 13, 14, 20), oder wie das Streitgespräch, das Brynhild auf ihrem Weg ins Totenreich mit einer Riesin führt, vor der Tür der Wohnhöhle dieser Riesin stattfindet (Norna-Gests þáttr).⁹¹ Das aus Speeren gefügte Dach von Geruthus’ Behausung dürfte der Beschreibung Walhalls entlehnt sein, dessen Dachstuhl aus Speerschäften besteht (Grímnismál 9) und dessen Dach mit Schilden gedeckt ist (Grímnismál 9; Gylfaginning 2; Þorbjǫrn hornklofi, Haraldskvæði Str. 11).⁹² Die Schlangen auf dem Fußboden erinnern an die aus einem Flechtwerk aus Schlangenleibern errichtete Halle auf den „Leichenstränden“ (Nástrandir), in
86 Herrmann 1922, S. 590. 87 Vǫlsunga saga hgg. von Olsen 1906–1908, S. 1–110. 88 Sǫrla þáttr hgg. von Guðbrandur Vigfússon und Unger 1860, S. 275–283. 89 Davidson und Fisher 1980, S. 143 (Anm. 146). 90 Vgl. Maier 2003, S. 131–133. 91 Hgg. in Ólafur Halldórsson 2000, S. 15–38, dort S. 31. 92 Haraldskvæði (Hrafnsmál) hgg. von Finnur Jónsson 1908–1915 Bd. 1.A, S. 24–29; 1908–1915 Bd. 1.B, S. 22–25. Herrmann 1922, S. 596.
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der Meineidige und Mörder nach dem Weltuntergang leben werden (Gylfaginning 52; Vǫlospá 38 f.).⁹³ Beides – Walhall wie die Halle auf den Nástrandir – sind Jenseitsorte und insbesondere Aufenthaltsorte der Toten; hierzu stimmt, dass die Bewohner von Geruthus’ Halle selbst als von Thor erschlagene Leichen oder gespensterhafte, blutleere Schatten beschrieben werden: Der Palast des Geruthus erscheint beinahe wie ein Grab.⁹⁴ So könnte es sogar beabsichtigt sein, wenn dieses als Felsengemach beschriebene stilisierte Grab Assoziationen eines Megalithgrabs wachruft – immerhin bildeten solche Anlagen im Mittelalter wie in der Gegenwart einen Teil der zeitgenössischen Landschaft, und das Interesse der Nordleute an solchen Bauwerken (sei es als Plünderer oder „Touristen“) ist mehrfach explizit bezeugt.⁹⁵ Und daneben erinnert das Innere von Geruthus’ Halle mit seinen Schlangen und seinem Gestank, wie Mats Malm betont, auch an christliche Höllenschilderungen in der zeitgenössischen Visionsliteratur; Malm verweist dabei u. a. auf die Visio Tnugdali und die Visio Godeschalci.⁹⁶ Im Haus des Geruthus Hand an die Schätze zu legen, die dort scheinbar ungeschützt herumliegen, hat verhängnisvolle Folgen. Eine ähnliche Erfahrung macht auch Grettir in der Grettis saga (K. 18) bei der Plünderung eines Grabhügels: Auch in der Grabkammer, in die Grettir einbricht, herrscht ein unangenehmer Geruch, und auch dieser Untote greift den Eindringling erst an, als Grettir sich daran macht, die Schätze aus der Kammer davonzutragen.⁹⁷ Nach hartem Kampf entkommt Grettir jedoch siegreich. Gewisse strukturelle Parallelen existieren auch zur Begegnung Lokis mit Geirrøðr: Als Loki sich in Gestalt eines Falken im Gehöft des Riesen auf ein Dach setzt, bemerkt er zu spät, dass er dort, wo er sich niedergelassen hat, nun festklebt – dadurch, dass er das Haus (=das Eigentum) des Riesen berührt hat, ist er diesem hilflos ausgeliefert (Skáldskaparmál 18).⁹⁸
93 Herrmann 1922, S. 596. 94 Tolkien 1960, S. 84; Davidson und Fisher 1980, S. 144 (Anm. 154); Malm 1990, S. 63, 77; Malm 1992, S. 170. 95 So verzeichnen irische Annalen für die 860er Jahre die Plünderung von Megalithgräbern durch Wikinger, was die Annalen von Ulster als ein unerhörtes Vorkommnis brandmarken, wie es sich noch nie zuvor ereignet hatte („quod antea non perfectum est“: Annalen von Ulster s. a. 863.4 [hgg. und übersetzt von Mac Airt und Mac Niocaill 1983, dort S. 318/319]; vgl. die Annalen der vier Meister zum Jahr 861 [hgg. und übersetzt von O’Donovan 1856, dort Bd. 1, S. 496–498]). Im neolithischen Ganggrab Maeshowe auf Mainland (Orkney) haben nordische Besucher zahlreiche Runeninschriften in der Grabkammer hinterlassen (Finnbogi Guðmundsson 1965, S. 247 f. [Anm. 1]); vgl. Orkneyinga saga 93 (hgg. von Finnbogi Guðmundsson 1965), wo auch erwähnt wird, dass zwei Männer in diesem Grabhügel wahnsinnig wurden. Vgl. auch Skovgaard-Petersen 1985, S. 949. 96 Malm 1992, S. 163 f.; Malm 1990, S. 75–77. Zur Visio Tnugdali vgl. auch unten S. 55. Ferner vgl. Neckel 1913, S. 55 und Dinzelbacher 1973, S. 85–94 zur Unterweltsbrücke in (u. a.) der Thorkillus-Episode und der Visio Godeschalci; sie sehen in diesen Jenseitsbrücken jedoch ein genuin heidnisches Motiv. 97 Hgg. von Boer 1900. Davidson und Fisher 1980, S. 145 (Anm. 160). 98 Herrmann 1922, S. 595; vgl. Davidson und Fisher 1980, S. 144 (Anm. 155).
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Praktisch sämtliche wesentlichen Elemente von Saxos Erzählung von Thorkillus’ Fahrt zu Geruthus finden somit enge Parallelen – und in vielen Fällen wohl auch ihre direkte Inspiration – im zeitgenössischen literarischen Milieu des nordischen Hochmittelalters. Einheimische skandinavische Motive von Riesen, Untoten im Grabhügel und den Abenteuern des Gottes Thor mischen sich mit Odyssee-Themen, wie sie über lateinische Bearbeitungen der Odysseus-Sage bekannt waren, und werden eingebettet in einen Erzählrahmen, der auf einem zeitgenössischen historiographischen Topos beruht: dem des Fürsten, der zu heroischen Entdeckungsfahrten ans Ende der Welt aufbricht. Vergleicht man die resultierende Behandlung des Geruthus-Stoffes durch Saxo mit der Geirrøðr-Erzählung bei Snorri, so fällt trotz der zeitlichen Nähe dieser beiden Bearbeitungen zueinander (beide stammen aus der 1. Hälfte des 13. Jahrhunderts)⁹⁹ der große Unterschied in der Zeichnung der Figuren auf: Geirrøðr erscheint in den Skáldskaparmál zwar als den Göttern feindlich gesonnen, aber doch als machtvolle, gerissene und ernstzunehmende Gestalt. Bei Saxo hingegen wird er in abfälliger Weise dämonisiert: Hässlichkeit, Schmutz und Gestank sind die Hauptzüge seiner abstoßenden Halle. Zudem können selbst die bloßen Menschen von Thorkillus’ Reisegruppe seinen Fängen entkommen (wenn auch unter großen Verlusten), während er in den Skáldskaparmál von einem Gott bezwungen wird, dem zudem noch die Riesin Gríðr hilft (Skáldskaparmál 18). Geruthus erscheint im Vergleich zu Geirrøðr abgewertet, eine Figur von viel geringeren Dimensionen als der eddische Riese. Dies wirft die Frage auf, ob im Gesamtrahmen von Saxos’ Thorkillus-Erzählung eine Motivation (bzw. literarische Funktion) für eine solche Darstellung ersichtlich ist. Thorkillus’ Fahrt zu Geruthus endet beinahe mit dem Tod aller Teilnehmer, als die Expedition auf dem letzten Abschnitt der Heimreise in ein Unwetter gerät; erst als König Gormo sich an den Gott Utgarthilocus wendet, werden sie gerettet. Danach leben sie zunächst für lange Jahre in Frieden. Als Gormo aber alt wird und sich die Frage nach dem Schicksal der Seele nach dem Tod zu stellen beginnt, nutzen Neider und Verleumder die Gelegenheit, dafür zu sorgen, dass Thorkillus auf eine gefährliche Fahrt ausgeschickt wird, um Utgarthilocus dahingehend zu befragen. Thorkillus kann sich der Aufgabe nicht entziehen, vermag sich aber immerhin dadurch zu revanchieren, dass er durchsetzen kann, die Anstifter der Reise auf diese Todesfahrt mitzunehmen. Die Route führt wieder über das Meer in die Gestade jenseits von Sonne und Sternen, und erst als ihre Vorräte schon zur Neige gehen, finden sie die schmutzige Wohnhöhle zweier hässlicher Riesen. Von diesen erhält Thorkillus Auskunft über den letzten Wegabschnitt, der tief ins Land der Dunkelheit führt; und dort stößt er schließlich auf die Höhle des Utgarthilocus. Diese Höhle wird in ganz ähnlichen Bildern geschildert wie die Höhle des Geruthus: schmutzig, voller eiserner Sitze und mit einem von Schlangen bedeckten Boden. Den Utgarthilocus finden sie gefesselt
99 Friis-Jensen 2004, S. 550; Faulkes 1998, S. xi.
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vor und reißen ihm als Beweis für ihre Abenteuer eines seiner langen, stinkenden Haare aus; als sie damit jedoch die Höhle verlassen wollen, greifen die Schlangen sie an, bespeien sie mit Gift und töten fast alle Eindringlinge. Die wenigen, die das Schiff erreichen, werden dort von weiteren giftspeienden Geistern schwer bedrängt, bis Thorkillus sich an den „Gott des Weltalls“ (universitatis deus) wendet. Nachdem er unterwegs noch das Christentum kennengelernt hat und nach seiner Rückkehr einem Mordanschlag entkommen ist, erstattet er schließlich König Gormo Bericht. Dieser stirbt vor Entsetzen über die Schilderung seines Gottes, während andere durch den Gestank getötet werden, den das ausgerissene Haar des Utgarthilocus verbreitet (Gesta Danorum VIII.15.1–13). Dieses Ende von Saxos „Thorkillus-Saga“ wirft vielleicht ein konkretes Licht auf die Darstellung des Bereichs am Ende der Welt durch Saxo. Wieder zieht er einheimisches skandinavisches Material heran (so dürften die Fesselung des Utgarthilocus in einer Höhle und die giftigen Schlangen damit spielen, dass Loki von den Asen in einer Höhle gefesselt und eine Giftschlange über ihm aufgehängt wird, die Gift auf ihn tropfen lässt: Gylfaginning 50);¹⁰⁰ und wieder werden die einheimischen mythischen Motive mit Schmutz und Gestank assoziiert, so dämonisiert und abgewertet – der gefesselte Loki erinnert in Saxos Fassung schlagend an den christlichen Teufel, der in der Hölle in Banden liegt.¹⁰¹ Zugleich unterstreicht das Schicksal der Verleumder, die Thorkillus in den Tod schicken wollten und dabei selbst den Tod fanden, dass es Saxo in seiner Fassung an der Vermittlung einer moralischen Botschaft gelegen ist. Saxos Herangehensweise an die von ihm verwendeten Motive impliziert dabei eine Polemik gegen die Vorstellungswelt der vorchristlichen Religion: Nachdem Thorkillus gesehen hat, um was für ein abstoßendes Wesen es sich bei dem Gott handelt, der ihnen am Ende ihrer ersten Expedition die Rettung gebracht hat, erscheint es für ihn nur als recht und billig, sich in seinen Gebeten um eine glückliche Heimkehr von seiner zweiten Expedition an den „Gott des Weltalls“ zu wenden und bald darauf das Christentum kennen zu lernen.¹⁰² Saxo gestaltet die alten mythologischen Motive, die er für seine Erzählung heranzieht, so um, dass die schrittweise Erkenntnis der Natur der alten Götter Thorkillus Stück für Stück dazu bringt, den alten Göttern zu entsagen und sich dem Christentum anzunähern. So wird Saxos Thorkillus-Erzählung zu einer Parabel, die die vorchristliche Religion in einem gänzlich polemischen Sinn als Dämonenverehrung brandmarkt und die Hinwendung zum Christentum feiert.¹⁰³
100 Vgl. auch Davidson und Fisher 1980, S. 145 f. (Anm. 162); Malm 1990, S. 64 f. 101 Herrmann 1922, S. 602; Johannesson 1978, S. 188; vgl. Malm 1992, S. 171. Z. B. Eiríks saga víðfǫrla hgg. von Jensen 1983, S. 24–26. 102 Vgl. Tietz 2012, S. 127 f.; Friis-Jensen 2004, S. 552; Power 1985 (Journeys), S. 166; Davidson und Fisher 1980, S. 5; Johannesson 1978, S. 47, 84, 280; Skovgaard-Petersen 1975, S. 25; Ciklamini 1968, S. 97, 106, 109. 103 Eine solche Interpretation ist eine vergleichsweise „wörtliche“ Lesung der Thorkillus-Episode, die nur eine von mehreren Sinnschichten der Erzählung erfassen dürfte. Auf einer anderen Deutungs-
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Saxos Schilderung der Gestade am Ende der Welt greift somit zwar (unter anderem) auf nordisch-vorchristliche Motive zurück, trifft aus diesen jedoch eine freie, kreative Auswahl und bindet nur das in seine Erzählung ein, was dem Gesamtprogramm der Parabel dient,¹⁰⁴ und selbst dies nicht in antiquarischer, sondern in literarisch-freier und insbesondere religionspolemischer Weise.¹⁰⁵ Für sich allein genommen ist sie damit als Quelle für die vorchristlichen Vorstellungen von diesem Bereich nahezu nutzlos; in Anbetracht ihrer Selektivität und negativen Tendenz kann die Thorkillus-Episode der Gesta Danorum nur in der Zusammenschau mit anderen nordischen Quellen einen sinnvollen Beitrag zum Bild Guðmunds und der von ihm beherrschten Gefilde leisten.
2.2 Hervarar saga Von besonderem Interesse ist im gegenwärtigen Kontext das ferne Reich des Guthmundus am Ende der Welt im hohen Norden; und dieses erscheint nicht nur bei Saxo. Das wichtigste – und im Kontrast zu Saxos polemisch-negativer Darstellung auffal-
ebene hat Johannesson vorgeschlagen, die gesamte Geschichte (einschließlich ihrer übernatürlichen Protagonisten) allegorisch zu lesen; die ganze Erzählung von Gormos Reise lasse sich so als eine Allegorie über den Kampf zwischen temperantia und Begehren lesen (Johannesson 1978, S. 184). Die Möglichkeit einer solchen Leseweise scheint von Saxo an mehreren Stellen sehr deutlich gemacht zu werden: So folgt der Gier der Gefährten auf der Insel am Beginn ihrer Reise, wo sie mehr als die erlaubte Zahl von Rinden töten, die Strafe in Form des Verlusts von drei Männern auf den Fuß; die ersten Schätze in Geruthus’ Halle verwandeln sich bei Berührung in tödliche Gegenstände und Monstren; und als Thorkillus als der Führer der Expedition in Anbetracht der Schätze in Geruthus’ Halle selbst seine Selbstbeherrschung verliert, führt dies zur Vernichtung beinahe des gesamten Expeditionstrupps. Ähnliche folgenschwer ist das (moralische) Versagen eines Anführers im Kontext der zweiten Reise: Als König Gormo auf die schlechten Einflüsterungen unaufrichtiger Berater hört, schickt er eine weitere Expedition nahezu in ihrer Gesamtheit in den Tod und geht darüber hinaus sogar selbst zugrunde. Gerade Fragen des richtigen Verhaltens einer Führergestalt scheinen Saxo am Herzen zu liegen: Wo ein gewöhnlicher Expeditionsteilnehmer gegen die Befehle seines Herrn handelt, dort kommt nur er selbst ums Leben, wo aber ein Anführer eine Fehlentscheidung trifft, kommen nahezu alle Männer in seinem Gefolge um (vgl. Ciklamini 1968, S. 101; Johannesson 1978, S. 37 f., 320). Für eine Interpretation der Thorkillus-Episode als platonische Allegorie vgl. Johannesson 1978 S. 77 f., 185–189 passim. Malm liest die Thorkillus-Episode als eine allegorische Darstellung der Hinwendung der Dänen zum Christentum: Malm 1990; Malm 1992. 104 Vgl. Power 1985 (Journeys), S. 166; Bjarni Guðnason 1981, S. 84; Davidson und Fisher 1980, S. 5 f.; Johannesson 1978, S. 37; Ciklamini 1968, S. 97. Herrmann 1922, S. 603 f. hatte hingegen das christliche Ende der Thorkillus-Erzählung als sekundären Zusatz eines christlichen Redaktors gedeutet; die einzelnen Elemente der Erzählung führen jedoch viel zu stringent auf dieses Ende der Geschichte in der Bekehrung des Thorkillus hin, als dass es überzeugend wäre, dieses Element als sekundär zu betrachten. Vielmehr handelt es sich um den notwendigen Abschluss einer bewusst geplanten Struktur (vgl. Johannesson 1978, S. 37; Malm 1992, S. 172). 105 Vgl. Malm 1992, S. 172; Malm 1990, S. 101. Allgemein vgl. Böldl 2013, S. 91.
Hervarar saga
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lend positive – Zeugnis findet sich in der Hervarar saga. Eine spätestens kurz nach 1300 entstandene Redaktion dieser Saga berichtet über Guðmundr:¹⁰⁶ Suo finst ritad i fornum bokum, ad Jotunheimar voru kalladir nordur vmm Gandvik, enn fyrir sunnann Ymisland. Enn adur Tyrkiar og Asiamenn komu a Nordurlond bygdu norduralfurnar risar og sumt halfrisar; giordist þa mikid sambland þiodanna; risar feingu sier kuenna vr Mannheimum, enn sumir gifftu þangad dætur sinar. Gudmundur hiet hofdingi i Jotunheimum, bær hans hiet a Grund enn hieradid Glæsiswellir. Hann var rikur madur og witur, og vard suo gamall og allir hans menn, ad þeir lifdu marga mannzalldra. Þui trudu heidnir menn, ad i hans riki mundi Odaens akur, sa stadur, er aff huorium manni, er þar kiemur, huerfur sott og elli, og ma eingi deya. [Eptter dauda Godmundar blotudu menn hann og kolludu hann god sitt]. Gudmundur kongur atti son þann, er Haufondur hiet; hann var bædi forspar og spakur, wakur ad viti; hann var settur domandi yfer aull þau lond, er honum lau i nand; hann dæmdi alldrei rangann dom; einginn þordi eda þurfti hans dom ad riufa.¹⁰⁷ So findet es sich in alten Büchern geschrieben, dass [die Gegenden] nördlich von Gandvík Jǫtunheimar hießen, und südlich [davon lag] Ymisland. Und bevor die Türken und die Leute aus Asien ins Nordland kamen, bewohnten Riesen den nördlichen Weltteil, und ein Teil war Halbriesen. Da kam es zu einer großen Völkervermischung: Die Riesen nahmen sich Frauen aus dem Land der Menschen, und einige gaben ihre Töchter dorthin. Guðmundr hieß ein Häuptling in Jǫtunheimar, sein Hof hieß Grund, im Bezirk Glæsisvellir. Er war ein reicher und weiser Mann, und er und alle seine Männer wurden so alt, dass sie viele Menschenalter lang lebten. Daher glaubten die Heiden, dass in seinem Reich der Ódáinsakr wäre, der Platz, wo von jedem Menschen, der dorthin kommt, Krankheit und Alter abfällt, und niemand sterben kann. Nach Guðmunds Tod opferten ihm die Menschen und nannten ihn ihren Gott. König Guðmundr hatte einen Sohn, der Hǫfunðr hieß; er war sowohl zukunftskundig als auch klug, von schneller Auffassungsgabe. Er war als Richter über all die Länder gesetzt, die in seiner Nähe lagen; er fällte nie ein ungerechtes Urteil; niemand wagte oder war dazu gezwungen, sein Urteil zu missachten.
Diese Zeilen geben sich als ein objektiver (da vorgeblich auf authentischen alten Quellen beruhender: suo finst ritad i fornum bokum, „so findet es sich in alten Büchern geschrieben“) Bericht über Vorstellungen der vorchristlichen Frühgeschichte. Schon die Erwähnung der „großen Völkervermischung“ (mikid sambland þiodanna) zwischen Menschen und Riesen, die ein Geschlecht von Halbriesen hervorgebracht haben soll, mag dies jedoch in Frage stellen: Eine solche Vorstellung mag typologisch an die vielen Heroen der griechischen Mythologie erinnern, die einen menschlichen und einen übernatürlichen Elternteil haben, und könnte somit im Prinzip durchaus authentisch vorchristliches Gedankengut widerspiegeln. Ebenso mag diese Bemer-
106 Datierung: Tolkien 1960, S. xxix f.; vgl. Heizmann 1998, S. 78 (Anm. 23). 107 Jón Helgason 1924, S. 89. Die Fassung der Hauksbók stimmt, wenn nicht wörtlich, so doch in allen hier wesentlichen inhaltlichen Punkten genau mit der oben zitierten Fassung überein; allein die geographische Lokalisierung weicht geringfügig ab, indem in der Hauksbók-Fassung die Jǫtunheimar in der Finnmark liegen (Jón Helgason 1924, S. 1); in beiden Fällen handelt es sich damit jedoch um eine Lokalisierung im hohen Norden in einem Bereich, der praktisch nur zu Schiff erreichbar ist.
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kung jedoch auch auf einem biblischen Motiv beruhen; denn im Buch Genesis (6.1–4) wird erzählt, wie die „Söhne Gottes“ (filii dei) die Schönheit der menschlichen Frauen bemerkten, sie sich zu Gemahlinnen nahmen und mit ihnen die berühmten Helden der Vorzeit zeugten.¹⁰⁸ Guðmundr wird hier als ein reicher, weiser Herrscher in Jǫtunheimar beschrieben, dem Reich der Riesen im hohen Norden jenseits des Weißen Meeres,¹⁰⁹ wo er seinen Hof in den Glæsisvellir bewohnt. Auffallend ist dabei insbesondere die Langlebigkeit Guðmunds und seiner Männer, aufgrund derer der Ódáinsakr von den Heiden in seinem Reich vermutet worden sei: das „Feld des Ungestorbenen“,¹¹⁰ wo Krankheit, Alter und Tod keine Macht haben. Solche positive Züge fehlen in Saxos Schilderung des Reichs des Guthmundus: Dort ist Guthmundus nicht ein weiser Herrscher, sondern ein intriganter, gefährlicher Verführer, und sein Land ist mit Tod und Gefahr verbunden, nicht mit ewiger Jugend. In Anbetracht von Saxos erzählerischem Gesamtprogramm ist dies jedoch auch wenig überraschend, geht es ihm doch vor allem um eine Dämonisierung der vorchristlichen Vorstellungswelt, die auf Thorkillus’ Abwendung von den alten Göttern und seine Annahme des Christentums hinführt. Falls das positiv konnotierte Motiv des Unsterblichkeitsgefildes im Reich des Guðmundr Saxo bekannt war, wäre seine Erwähnung im Rahmen der Thorkillus-Erzählung für Saxo dennoch nicht zweckmäßig gewesen, da dies die ganz ins Negative gewendete Schilderung untergraben hätte, die Saxo von den (heidnischen) Orten am Rand der Welt gibt.¹¹¹ Ähnliches gilt für den Ortsnamen Glæsisvellir als Bezeichnung von Guðmunds Reich, der ebenfalls bei Saxo noch nicht erscheint: Dieser Name dürfte semantische Assoziationen im Bedeutungsfeld „Glanzgefilde“, „glänzende Gefilde“¹¹² wachgerufen haben (vgl. glæsa „glänzend machen, schmücken“, glæsiligr „glänzend“, glær „hell, klar“, gler „Glas“, ae. glær „Bernstein“, lat. germ. glēsum „Bernstein“);¹¹³ damit hätte er Konnotationen impliziert, die Saxos negativer Darstellung von Guthmundus’ Herrschaftsbereich zuwidergelaufen wären.¹¹⁴ Im Einzelnen entzieht sich die
108 Power 1985 (Christian Influence), S. 851. Genesis 6.1–2, 6.4: 1cumque coepissent homines multiplicari super terram et filias procreassent 2videntes filii Dei filias eorum quod essent pulchrae acceperunt uxores sibi ex omnibus quas elegerant [...] 4gigantes autem erant super terram in diebus illis postquam enim ingressi sunt filii Dei ad filias hominum illaeque genuerunt isti sunt potentes a saeculo viri famosi. 109 Tolkien 1960, S. 66 (Anm. 2). 110 Much 1924, S. 99. 111 Vgl. schon Rydberg 1889, S. 227. 112 Nordberg 2003, S. 31; Heizmann 2002, S. 529; Davidson 1991, S. 167; Hamer 1973, S. 208 f. (Anm. 8); Heinzel 1885, S. 704. 113 de Vries 1961 (Wörterbuch) s.v. ‚Glasir‘, ‚gler‘, ‚glæsa‘, ‚glær‘; Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚glæsi-ligr‘. 114 Entsprechend ist das Fehlen eines Belegs für diesen Ortsnamen bei Saxo (contra Simek 1986, S. 265) nicht als Indiz dafür zu werten, dass der Name erst im 13./14. Jahrhundert geprägt wurde.
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genaue Lautform des Namens zwar einer zufriedenstellenden Erklärung,¹¹⁵ aber dass eine solche semantische Assoziation mit dem Bedeutungsfeld „Glanz“ schon früh als naheliegend empfunden wurde, illustriert etwa die Übersetzung durch den frühneuzeitlichen Gelehrten Johannes Stephanus Stephanius (1645), der die Glæsisvellir in der leicht abweichenden Namensform Glæssewoll kennt und dies übersetzt als splendidi campi, „die glitzernden Felder“.¹¹⁶ Bereits weit früher in einem ähnlichen Sinne zu deuten ist eine wiederkehrende Namensvariante, wonach Guðmunds Reich als die Glasisvellir bezeichnet wird, die Gefilde von Glasir (z. B. Norna-Gests þáttr;¹¹⁷ Helga þáttr Þórissonar;¹¹⁸ Hervarar saga K. 1 [Handschrift H]¹¹⁹).¹²⁰ Dieser Glasir („der Glänzende“)¹²¹ mag mit dem mythischen Baum oder Hain gleichen Namens zu verbinden sein, der etwa in den Skáldskaparmál mehrfach erwähnt wird.¹²² So erscheint dort barr Glasis, „das Blattwerk von Glasir“, als Kenning für „Gold“ (Skáldskaparmál 32, 34, vgl. 45); dies erklärt Snorri damit, dass sich in Asgard vor den Türen Walhalls ein Hain (oder Baum: lundr) namens Glasir befindet, dessen Blattwerk ganz aus rotem Gold besteht; das sei der schönste Baum (viðr) bei Göttern und Menschen. Hierzu zitiert Snorri auch eine Strophe, in der Glasir vor den Sälen Odins lokalisiert und sein goldenes Blattwerk erwähnt wird (Skáldskaparmál 34).¹²³ Ferner erscheint ein Glasislundr in der Helgaqviða Hiǫrvarðzonar als ein Hain auf dem Weg zum Herrschaftsbereich König Hjǫrvarðs,¹²⁴ der anders als Guðmundr zwar keine bemerkenswert schönen Töchter, aber mehrere bemerkenswert schöne Frauen hat (Str. 1, einleitende Prosa und Prosa zwischen Str. 4 und 5);¹²⁵ die Strophen dieses Gedichts datieren vermutlich ins 12. Jahrhundert, das Gedicht als Gesamtkomposition aus Prosa und Strophen ist aber wohl erst dem Redaktor des Codex Regius zuzuschreiben.¹²⁶ Hilda Roderick Ellis
115 Simek 1986, S. 265. 116 Stephanius 1645, S. 104. Als Parallelen zu dieser Variante der Wortbildung vgl. etwa glæsi-maðr „a bright, illustrious man“, glæsi-ligr „shining, splendid“ (Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚glæsi-maðr‘, ‚glæsi-ligr‘). 117 Hgg. in Ólafur Halldórsson 2000, S. 15–38, dort S. 16 (jedoch nicht in allen Handschriften, vgl. den kritischen Apparat). 118 Hgg. in Ólafur Halldórsson 2000, S. 38–44, dort S. 38, 39, 43 (auch hier nicht in allen Handschriften, vgl. den kritischen Apparat). 119 Tolkien 1960, S. 66 (apparatus criticus, Anm. c); Jón Helgason 1924, S. 1. 120 Vgl. LeRoy Andrews 1927, S. 153. 121 de Vries 1961 (Wörterbuch) s.v. ‚Glasir‘. 122 Heinzel 1885, S. 704; Much 1924, S. 99; LeRoy Andrews 1927, S. 153; Krappe 1947, S. 143 f.; Davidson 1991, S. 168; vgl. Nordberg 2003, S. 31. Allgemein zu Glasir vgl. auch Tolley 2009 Bd. 1, S. 319. 123 Das Gedicht, aus dem diese Strophe stammt, ist ansonsten unbekannt: Faulkes 1998, S. 185; Davidson 1991, S. 168. 124 Vgl. Simek 1993, S. 112. 125 Davidson 1991, S. 168; vgl. schon Heinzel 1885, S. 704; Krappe 1947, S. 144. 126 von See et al. 2004, S. 404.
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Davidson hält es aufgrund dieser Belege für wahrscheinlich, dass es sich bei den Glæsisvellir um eine alte Vorstellung handelt, die bis in die Wikingerzeit zurückgeht.¹²⁷ Simek betrachtet Reflexe alter Vorstellungen hingegen zwar als möglich, favorisiert aber eine literarische Neuschöpfung des 13./14. Jahrhunderts. Als Parallelen kann er hierbei auf eindeutig neugeschaffene Ortsnamen der mythischen Topographie der späten Vorzeitsagas wie Ymisland oder Risaland verweisen; ferner nimmt er eine Beziehung zu einem isländischen Ortsnamen an (als Beispiel verweist er auf Glæsiskelda).¹²⁸ Auf der Ebene der Wortbildung klarer, ansonsten aber mit ähnlichen Problemen behaftet ist das Unsterblichkeitsgefilde Ódáinsakr, das von der Hervarar saga in den Glæsisvellir angesiedelt wird. Wörtlich handelt es sich dabei um ein „Feld des Ungestorbenen“;¹²⁹ dieser Name stimmt somit genau mit der von der Saga gegebenen inhaltlichen Erklärung des Ódáinsakr als Unsterblichkeitsgefilde überein, wo Alter und Krankheit von jedem Mann abfallen, der dorthin gelangt. Der erste Beleg für diese Lokalität findet sich wahrscheinlich bei Saxo:¹³⁰ In seiner Hamlet-Erzählung berichtet er, dass Amlethus den Fiallerus, den Statthalter Schonens, ins Exil trieb, und zwar an einen Ort namens Undensakre, der „unseren Leuten“ (nostris [...] populis) unbekannt sei (Gesta Danorum IV.2.1). Nach Axel Olrik gehe diese Form des Ortsnamens auf eine dänische Variante *Undornsakrar („die südöstlichen Gefilde“) zurück; hierbei und beim Ódáinsakr handle es sich jeweils um ein Reich der Toten. Die beiden
127 Davidson 1991, S. 168. 128 Simek 1986, S. 265. Nicht tragfähig sind hingegen Simeks Vorschläge für die Erklärung von „Glæsisvellir“ als eine Übersetzung eines biblischen Terminus (ibidem). Dabei führt er als mögliche Vorlagen zum einen terra illuminata in der Offenbarung (18.1) und zum anderen vallis Benedictionis im 2. Buch der Chronik (20.26) an; um von Letzterem zu den Glæsisvellir zu gelangen, schlägt er eine hypothetische Zwischenstufe *Glæðisvellir „Gefilde der Freude“ vor. Beides ist nachdrücklich zurückzuweisen. Das Beispiel der terra illuminata ist aus seinem Zusammenhang gerissen; im originalen Kontext handelt es sich bei illuminata nicht um ein auf terra bezügliches Adjektiv, sondern um einen Teil der Perfekt Passiv-Konstruktion: et post haec vidi alium angelum descendentem de caelo habentem potestatem magnam et terra inluminata est a gloria eius. „Und danach sah ich einen anderen Engel vom Himmel herabsteigen, der große Macht hatte, und die Erde ist von seinem Ruhm erleuchtet worden.“ Eine Herleitung von „Glæsisvellir“ aus et terra illuminata est würde ein kaum nachvollziehbares Missverständnis einer denkbar einfachen Konstruktion voraussetzen. Ebenso kann eine Herleitung vallis Benedictionis > *Glæðisvellir > Glæsisvellir nicht überzeugen, da ein Grund für die ad hoc zu postulierende Entwicklung ð>s nicht ersichtlich wäre. Ein ganz anderer Ansatz wird von Simek an anderer Stelle vertreten (Simek 1993, S. 113): Im Rahmen einer kurzen Überblicksdiskussion des eddischen Hains Glasir vermutet Simek, dass Snorri diesen Namen nach der Vorlage des Namens der Glæsisvellir erfunden haben könnte. Dies würde implizieren, dass Snorris Werk für die Bezeichnung Glæsisvellir einen terminus ante quem darstellt und der mythische Ortsname Glæsisvellir zumindest bis ins 12. Jahrhundert zurückgeht. Über bloße Spekulationen ist hier jedoch nicht hinauszukommen. 129 So etwa schon Much 1924, S. 99. 130 Hamer 1973, S. 209 (Anm. 13); Heizmann 1998, S. 77; Heizmann 2002, S. 528.
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Ortsnamen Ódáinsakr und Undensakre < *Undornsakrar seien dabei Doppelformen, die denselben Ort der mythischen Topographie bezeichneten.¹³¹ Gegen diese geistreiche, aber auch überkomplexe Rekonstruktion hat Ellis Davidson bemerkt, dass das vermeintlich dänische Wort dem Dänen Saxo seiner Formulierung nach zu urteilen unbekannt gewesen zu sein scheint; dies lässt es als einfacher erscheinen, Undensakre als eine Korruption des Namens „Ódáinsakr“ zu deuten.¹³² Eine solche Auffassung wurde schon im frühneuzeitlichen Saxo-Kommentar des Johannes Stephanus Stephanius (1645) vertreten: Dieser schlägt in seinem Kommentar zur Stelle unter Berufung auf den gelehrten isländischen Bischof Brynjólfur Sveinsson¹³³ eine Emendation zu Udaenssakur (Ódáinsakr) vor.¹³⁴ Brynjólfur gibt auf der Grundlage ihm vorliegender alter Quellen (die er bedauerlicherweise nicht näher spezifiziert) zum Ódáinsakr als Erklärung an, dass man von diesem Ort glaubte, es handelte sich um ein Gefilde mit überaus fruchtbarem Boden, wohin sich gute und ruhige Menschen aus diesem Leben zurückzögen. Gerechte und friedliebende Menschen, die ihren Mitmenschen öffentlich Gutes getan hätten und sich nicht nach dem Lärm Walhalls sehnten, würden dort ein genussvolles Leben ohne Mühe, Furcht und selbst ohne Tod führen; daher rühre auch der Name Udaenssakur, was Brynjólfur übersetzt als „Feld der Unsterblichen“, „Lebensfeld“ oder „Feld der Überlebenden“. Brynjólfur fasst diesen Ódáinsakr dabei als eines unter mehreren Jenseitsgefilden auf, die jeweils für verschiedene Klassen von Menschen (und übernatürlichen Wesen) bestimmt sind: Im Himmel habe sich nach dem alten Glauben Gimbell als Ort der unsterblichen Götter und der guten Dämonen befunden, Huergemell sei der Ort der verkommensten Verbrecher gewesen, Helgrindur der Masse der Sterblichen, Valhalla der Könige, Helden, Asen und der im Krieg tapfer gefallenen Herzöge, und Udaenssakur der besten Männer, die sich durch ihre Tugendhaftigkeit besonderes Verdienst erworben haben. Die genaue Lage dieses Orts sei unbekannt. Nach alten isländischen Texten sei die allgemeine Auffassung gewesen, dass er sich jenseits von Grandvicus befunden habe, dem Ende Norwegens, wo man auch die Jötunheimi ansiedelt, „und vornehmlichst Glæssewoll, das heißt, die glänzenden Felder. Von hier waren die, die gemäß dem Willen der Götter die Reise auf sich genommen haben, um nach dem Udaenssakur zu suchen.“¹³⁵
131 Olrik 1894 (Oldhistorie), S. 158 f.; Herrmann 1901, S. 139 (Anm. 1); Herrmann 1922, S. 252 f.; Heizmann 1998, S. 77 (Anm. 18); vgl. Nordberg 2003, S. 34; zu einer solchen Herleitung des Ortsnamens aus dem Dänischen vgl. auch Much 1904 (deutet Undensakre als „die gefilde der unterwelt“, „buchstäblich ager inferni“ und so als „synonym von Ódáinsakr“ [S. 70]); seine Deutung wird abgelehnt von Lidén 1907, S. 262 f. 132 Davidson und Fisher 1980 Bd. 2, S. 66 (Anm. 13). 133 Vgl. Heizmann 1998, S. 76 f. 134 Stephanius 1645, S. 104. 135 Stephanius 1645, S. 104. Der vollständige Eintrag zur Stelle lautet: „Forte intelligit Schytiam, sive Tartariam, quæ Idiomate Norvagico antiquitus dicebantur Serckland. Nam verisimile est in longin-
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Von diesem frühneuzeitlichen Gelehrten wird der Ódáinsakr somit als ein Jenseitsgefilde der heidnischen Mythologie aufgefasst, das Seite an Seite mit den Totenreichen der vorchristlichen Mythologie erscheint. Zugleich wird der Ódáinsakr aber (contra Olrik)¹³⁶ nicht als Totenreich im eigentlichen Sinne gezeichnet – also als Ort, den der Verstorbene nach dem Tod erreicht – sondern vielmehr als ein Ort der Vermeidung des Todes, der besonders tugendhaften Menschen offen steht und wo sie die Ewigkeit in Freude und Müßiggang inmitten einer friedlichen, fruchtbaren Umgebung verbringen können, ohne je sterben zu müssen. Die Glæsisvellir erscheinen dabei als eine Durchgangsstation auf dem Weg in dieses Unsterblichkeitsgefilde.¹³⁷
quas terrarum oras concessisse Fiallerum, demendæ ignominiæ causâ, ubi nec Pelopidarum facta, neqì; nomen audiret. Clarissimus Vir, M. Brynolfus Svenonius, existimat Saxonem scripssisse Udaenssakur : quem sibi commenti sunt antiqui agrum solo fertilissimo, quem bonos & quietos homines ab hac vita excepturum crediderunt, ubi immortales manerent justi & pacifici homines, quiq; strepitum Valhallæ non affectarent, verum in vita ad præclara pacis ac togatæ virtutis merita a sago transiissent, ac mortalibus hac ratione publice profuissent, ubi in alternis delicijs ac voluptatibus versarentur, sine labore, metu, ac molestia, ipsaq; adeo morte. Unde nomen accepit Udaenssakur / id est, Ager immortalium, aut, Vitalis ager, aut, Ager Superstitum. Ille vero ager bonis tantum, ut dixi, viris, & qui justitiâ, aliisq; magnis, præfertim togatis virtutibus, illustres fuere, patuit, ut sangvinariis & cruentis Valhalla. Nam Gimbell in cœlo, deorum immortalium, ac bonorum Dæmonum locus credebatur : Huergemell / perditissimorum ac pessimorum : Helgrindur / vulgi turbæque mortalium ignobilis : Valhalla / Regum, Heroum, Asarum, Ducumq; in bello fortiter occumbentium : Udaenssakur / optimorum virorum, ac virtutum claritate præclare de genere humano meritorum. Jam vero, quamvis alicubi terrarum locum hunc existimabant; ubi tamen esset potissimum, vulgo nescitum est. Antiquitates Islandicæ innuunt opinionem fuisse, ultra Grandvicum, Norvegiæ terminum, ubi Jötunheimos ponunt, esse : ac potissimum Glæssewoll / id est, splendidos campos. Hinc erant, qui peregrinationem sponte susceperunt Udaenssakurss inquirendi causa. Ex quorum numero Fjallerum Saxonianum extitisse opinor, qui post rem non e sententia bello gestam, militaribus artibus & Reipublicæ se subduxerit, atq; peregrinationem longinquissimam susceperit. Ex qua quia nunquam redierit, verum in remotissimis, ac dissitissimis locis diem suum obiverit, unde certus nuncius ad populares & gentiles non pervenerit; hominum familiaris superstitio, omnia in majus fingens, Fjallerum non reversum, in hoc immortalitatis agro versari credidit, ac amicorum desiderium consolata est.“ 136 Siehe oben S. 38. Ähnlich hatte Herrmann das Verschwinden des Fiallerus nach Undensakre als eine mythische Formulierung für seinen Tod gedeutet, die Saxo missverstanden habe: Herrmann 1901, S. 139 (Anm. 1); Herrmann 1922, S. 252 f. In Stephanius’ Kommentar (1645, S. 104, siehe oben Anm. 135) wird angenommen, dass Fiallerus in der Ferne gestorben sei und die Geschichte von seinem Leben in einem Land der Unsterblichkeit daraufhin entstanden wäre, um seine zurückgebliebenen Freunde über das Schicksal des Verschollenen zu trösten. 137 Zu einer möglichen Parallele hierzu in der Hervarar saga, die von der Saga selbst jedoch nicht explizit genug gemacht wird, um ihr im eigenen Recht notwendigerweise ein großes Gewicht beimessen zu können, vgl. Malm 1990, S. 60: „Nästa gång Gudmund nämns i Hervarar saga är då Hervör är på väg från sin döde far Angantyr på Samsö, som här beskrivs som en övernaturlig plats där gravhögen öppnar sig och kontakt uppnås mellan levande och döda. Hervörs första anhalt på vägen hem från detta dödsrike till den vanliga världen är Gudmunds hov. Om kungen inte är direkt i dödsriket är han alltså just vid gränsen, eller hans paradis hitom helvetet.“
Eiríks saga víðfǫrla
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2.3 Eiríks saga víðfǫrla In einen ganz anderen Kontext wird der Ódáinsakr in der Eiríks saga víðfǫrla aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts gestellt.¹³⁸ Bei dieser Saga handelt es sich um einen lehrhaften, religiös-moralisierenden Text, der sich der Zuordnung zu den gängigen Genres der altnordischen Literatur weitgehend entzieht, wenngleich er starke Anleihen von Ritter- und Vorzeitsagas zeigt.¹³⁹ Die Handlung spielt in der vorgeschichtlichen Zeit Skandinaviens vor der Bekehrung zum Christentum¹⁴⁰ und beginnt damit, dass der Königssohn Eiríkr an einem Julabend ein Gelübde ablegt, sich auf eine Reise durch die ganze Welt zu begeben, um jenen Ort zu finden, der bei den Heiden Ódáinsakr heiße und bei den Christen ‚Land der Lebenden‘ oder Paradies.¹⁴¹ Seine Reise führt ihn darauf über Dänemark nach Byzanz (Miklagarðr), wo er zu einem Gefolgsmann des Kaisers (konungr) wird und sich in dessen Dienst auszeichnet. Die Beziehung zwischen Eiríkr und dem Kaiser beschränkt sich dabei aber nicht auf die militärische Verteidigung des byzantinischen Reiches, sondern der Kaiser wird für Eiríkr auch zu einem Lehrer und Mentor. Er unterrichtet ihn in Fragen von Religion und Kosmologie und macht ihn mit dem Christentum und den Höllenqualen vertraut, die die Heiden nach dem Tod erwarten, worauf Eiríkr das Christentum bereitwillig annimmt. Die Lehrgespräche zwischen Kaiser und Nordmann wenden sich schließlich auch der Lage des Ódáinsakr zu: Auf Eiríks Frage nach dem fernsten Land im südlichen Teil der Welt klärt der Kaiser ihn auf, dass Indien im Süden das Ende der Welt markiere. Darauf fragt Eiríkr nach der Lage des Ódáinsakr und erfährt vom Kaiser, dass sie (die christlichen Griechen) dieses Land Paradies oder Land der Lebenden nennen und dass es östlich von Indien liege; aber ob Eiríkr dorthin gelangen könne, wisse der Kaiser nicht, da sich eine Feuerwand davor befände, die bis zum Himmel hinauf reiche.¹⁴² Eiríkr bittet den Kaiser um seine Hilfe bei der Erfüllung seines Gelübdes; diese wird ihm nach drei Jahren Gefolgschaft und dem Empfang der Taufe gewährt. Danach machen Eiríkr und seine Männer sich mit einem Schutzbrief des Kaisers auf die mehrjährige Reise, die sie schließlich durch Indien an das Ufer des Stromes Phison führt, der im Paradies entspringt. Über diesen Fluss führt eine Brücke, und
138 Datierung: Jensen 1983, S. XIV; Rowe 2005, S. 153. Hgg. von Jensen 1983. 139 Jensen 1983, S. XIII. Allgemein zum literaturgeschichtlichen Kontext vgl. etwa Schlauch 1934, S. 49–52; Hamer 1973; Dinzelbacher 1973, S. 62–64; Jensen 1983, S. XIII-XL; Simek 1984; Jensen 1985, S. 504–510; Power 1985 (Christian Influence); Jensen 1993; Rowe 2005, S. 152–204 (bes. zum ältesten Textzeugen der A-Redaktion, der Flateyjarbók, und deren historischem Kontext); Ashurst 2006 (bes. S. 78 f.). 140 Damit hebt diese Saga sich von den meisten anderen Sagas ab, die Ostfahrten behandeln, da diese üblicherweise im späten 10. und der 1. Hälfte des 11. Jahrhunderts spielen: Sverrir Jakobsson 2006, S. 936. 141 Jensen 1983, S. 4 (A-Redaktion). 142 Jensen 1983, S. 44–48 (das Gespräch über den Ódáinsakr).
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jenseits des Flusses sehen sie ein Land voller Blumen, Honig und süßer Gerüche. Auf der Brücke liegt jedoch ein schrecklicher Drache, und um hinüber zu gelangen bleibt Eiríkr nichts anderes übrig, als in dessen Maul zu springen. Da scheint es ihm, als würde er durch Rauch waten, und als er aus diesem Rauch wieder heraustritt, findet er sich in einem schönen Land voller Blumen, Wohlgerüche und Ströme von Honig wieder, in dem stets die Sonne scheint und es keine Dunkelheit gibt, und wo immer eine leichte Brise weht, die die Wohlgerüche des Landes noch besser zur Geltung bringt. Inmitten dieses Landes findet Eiríkr einen in der Luft hängenden Turm, zu dem eine Leiter hinaufführt. In diesem Turm befindet sich ein Gemach, wo in kostbarem, mit Gold und Edelsteinen besetztem Geschirr köstliches Essen angerichtet ist und wo mit kostbaren Stoffen Betten bereitet sind. Da spricht Eiríkr, dass dies der Ódáinsakr und das Ziel ihrer weiten Reise sei.¹⁴³ Im Traum erscheint ihm in dieser Nacht ein schöner Jüngling, ein Engel, der Eiríks Namen kennt und ihn fragt, wie ihm dieses Land gefalle; Eiríks Antwort ist, dass ihm von allen Ländern, die er gesehen hat, dieses am besten gefalle. Der Engel erläutert Eiríkr im folgenden Gespräch, dass er neben ihm stand, als Eiríkr sein Gelübde ablegte, nach dem Ódáinsakr zu suchen, und dass er seine Reise seitdem gelenkt und beschützt habe. Bei dem Land, das Eiríkr hier erreicht hat, handle es sich um das Land der Lebenden (iord lifande manna), das im Vergleich zum eigentlichen Paradies wie eine Wüste sei; das Paradies sei den Lebenden aber unzugänglich und würde von den Seelen der Gerechten bewohnt, und dort entspränge der Fluss, den Eiríkr gesehen hat. Dass es Eiríkr aber erlaubt ist, das Land der Lebenden zu sehen, gehe unmittelbar auf den Befehl Gottes zurück. Eine Weile später kehrt Eiríkr daraufhin in seine Heimat zurück, um dort zu berichten, was er gesehen und erlebt hat, damit die Skandinavier – wenn die Zeit dafür käme – umso leichter das Christentum annehmen würden. Auf der Heimreise begegnen ihm viele Wunder, aber kein Unglück; und im elften Jahr nach seiner Heimkunft wird er schließlich von einem Engel entrückt. Die auf Jón Þórðarson zurückgehende A-Redaktion in der Flateyjarbók endet mit einem ausführlichen Postskript Jóns,¹⁴⁴ in dem der Schreiber erklärt, dieses Abenteuer hier niedergeschrieben zu haben, damit jedermann wisse, dass es keine Hilfe gibt außer durch Gott; denn während Heiden sich zu Lebzeiten durch ihre Taten Ruhm erwerben mögen, hätten sie doch nach dem Tod nichts als Strafen zu erwarten, wohingegen die Gläubigen nach dem Tod belohnt würden. Die Eiríks saga víðfǫrla schafft in ihren ersten Sätzen eine Erwartungshaltung, die daraufhin systematisch und programmatisch unerfüllt bleibt. Denn die Erzählung beginnt mit einem Topos der heroischen Literatur, schwingt danach jedoch um zu Motiven des mittelalterlichen christlich-gelehrten Schrifttums und endet schließlich mit einem biblischen Motiv, das einem Heiligenleben entstammen könnte. Die
143 Jensen 1983, S. 82 f. 144 Vgl. Rowe 2005, S. 193 f.
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Handlung der Geschichte kommt an einem Julabend in Gang, als Eiríkr ein feierliches Gelübde ablegt, sich auf die Suche nach dem Ódáinsakr oder dem Paradies zu machen: „Es wird erzählt, dass Eiríkr eines Julabends feierlich gelobte, durch die ganze Welt zu reisen, um zu versuchen, ob er den Ort finden würde, den die Heiden Ódáinsakr nennen, und Christenmenschen das Land der Lebenden oder Paradies.“ (Þess er getit æitt iola kuelld þa streingde Æirekr þess heit at fara vm allan heim at leita ef hann fynde stad þann er heidnir menn kalla V dains akr. en kristnir menn jord lifande manna edr Paradisum.)¹⁴⁵ Die Bedeutung dieses Gelübdes für die Erzählung wird dabei bereits durch den unmittelbar nächstfolgenden Satz betont, wonach Eiríks Gelübde in ganz Norwegen berühmt wurde: Þesse heit stræinging verdr fræg vm allan Noreg. („Dieses Gelöbnis wurde in ganz Norwegen berühmt.“)¹⁴⁶ Bei dieser Praxis der heitstrenging – des öffentlichen Ablegens eines feierlichen Gelübdes, diese oder jene große Tat zu vollbringen – handelt es sich um ein häufig wiederkehrendes, stark heidnisch-heroisch konnotiertes Motiv.¹⁴⁷ Elizabeth Ashman Rowe weist etwa auf die heitstrenging in der Jómsvíkinga saga hin:¹⁴⁸ Dort geloben die betrunkenen Jómswikinger während eines Banketts, Norwegen zu plündern und Jarl Hákon zu töten oder zu vertreiben (K. 27).¹⁴⁹ Ein mögliches historisches Beispiel für eine solche Praxis ist oben bereits mit Adam von Bremens Bericht über die Nordmeerexpedition erwähnt worden, die einige friesische Edelleute eine Generation vor Adams Zeit unternahmen: Auch bei den Mitgliedern dieser Expedition ans Ende der Welt handelte es sich um Männer unter einem Eid, coniurati sodales (Gesta IV.40).¹⁵⁰ Und eine im gegenwärtigen Kontext noch weit interessantere Parallele findet sich in der Ynglinga saga (K. 11),¹⁵¹ wo es über König Sveigðir heißt: Hann strengði þess heit, at leita Goðheims ok Óðins ins gamla. „Er legte dieses Gelübde ab, nach dem Götterland und Odin dem Alten zu suchen.“ Daraufhin brach er mit zwölf Mann auf, reiste durch die Welt und fand tatsächlich viele Verwandte Odins in Tyrkland und in Svíþjóð in mikla, der Türkei und „Großschweden“, d. h. einer Region Osteuropas oder Westasiens.¹⁵² Auf dieser Fahrt verbrachte er fünf Jahre und nahm sich in Vanaheimr eine Frau, mit der er einen Sohn zeugte. Nach seiner Rückkehr nach Schweden blieb er dort eine Weile. Schließlich zog er jedoch erneut aus, um das Land der Götter aufzusuchen (K. 12). Aber östlich von Schweden sah er eines Nachts in trunkenem Zustand einen Zwerg unter einem geöff-
145 Jensen 1983, S. 4 (A-Redaktion). Eine entsprechende Formulierung findet sich in allen Redaktionen (ibidem). 146 Jensen 1983, S. 4 (A-Redaktion). 147 Vgl. Power 1985 (Journeys), S. 159. 148 Rowe 2005, S. 154 f. Umfassende Sammlung einschlägiger Belege: Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚heitstrenging‘. 149 Hgg. von af Petersens 1882. 150 Siehe oben S. 23. 151 Hgg. von Finnur Jónsson 1893–1901 Bd. 1, S. 9–85. 152 Vgl. Simek 1990, S. 209 f.; Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚Svíþjóð‘.
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neten großen Stein sitzen; der Zwerg lockte Sveigðir mit dem Versprechen in diesen Stein, dass er dort Odin treffen werde, und nachdem er eingetreten war, schloss der Stein sich hinter ihm und der König ward nie wieder gesehen. Diese Episode der Ynglinga saga stellt ein sehr genaues strukturelles Gegenstück zur Eiríks saga víðfǫrla dar. Beide Erzählungen beginnen mit dem Eid, ein irdisches Jenseitsgefilde aufzusuchen (das Land der Götter bzw. das Paradies). Diese Suche führt beide Protagonisten nach Osten, und sie ist für beide zu einem gewissen Grad erfolgreich: Eiríkr findet mit der Hilfe des byzantinischen Kaisers den Ódáinsakr bzw. das Land der Lebenden, wenn auch nicht das Paradies, von dem der Engel ihm nur sagt, dass es sich zum Land der Lebenden verhält wie das Land der Lebenden zu einer Wüste. Ebenso scheint Sveigðir, der sich ganz auf seine eigenen Ressourcen verlässt, zwar nicht Odin selbst zu treffen, aber immerhin seine Verwandten; mit einer Gruppe der Götter, den Vanen, schließt er durch eine Ehe mit einer Frau aus Vanaheimr sogar Verwandtschaftsbande, die zudem durch die Geburt eines Sohns fortgeschrieben werden. Diese Eheschließung und die Zeugung eines Erben implizieren eine sexuelle Verbindung, die in schlagendem Kontrast zur Asexualität der Eiríks saga víðfǫrla steht: In dieser späteren, noch betonter christlichen Saga spielen Frauen keinerlei Rolle; der Held hat weder Frau noch Kinder, selbst seine Mutter wird nirgends erwähnt – an ihre Stelle tritt die spirituellen Vaterschaft durch den byzantinischen Kaiser, der als Eiríks Mentor sein Vater im Glauben wird. Und sogar vom Engel, den Eiríkr im irdischen Paradies trifft, heißt es ausdrücklich, er sei ein junger Mann.¹⁵³ Nachdem Sveigðir und Eiríkr so gänzlich unterschiedlichen Umgang mit den Einwohnern des irdischen Jenseits gepflegt haben – geprägt von fleischlichem Verkehr auf der einen und geistlicher Belehrung auf der anderen Seite – kehren beide nach Hause zurück. Beide schließen mit ihrer Heimkehr jedoch mit ihrer Reise nicht ab: Die Heimkehr beider ist nur vorläufig, und beide beschließen ihr irdisches Dasein mit einer Entrückung, die in direktem Zusammenhang mit ihrer Suche nach dem irdischen Jenseits steht. Die Art dieser Entrückung der beiden Reisenden könnte jedoch wiederum unterschiedlicher nicht sein: Eiríkr verschwindet eines Tages während seines Gebets, und damit erfüllt der Engel sein Versprechen, Eiríkr selbst zur Seligkeit zu geleiten. Sveigðir hingegen macht sich nach einem Aufenthalt zu Hause wieder selbst auf den Weg, wie er sich auch bei seiner ersten Reise auf seine eigenen Ressourcen verlassen hatte, während Eiríkr die Hilfe des Kaisers suchte. Auf dieser Reise verschwindet auch Sveigðir, doch nicht in einer Weise, die erstrebenswert wäre: Nach einem durchzechten Abend lässt sich der betrunkene König von einem Zwerg mit einer Lüge in einen Stein locken und bleibt danach verschollen. Die Sveigðir-Episode der Ynglinga saga und die Eiríks saga víðfǫrla stellen so zwei komplementäre Erzählungen von der Reise eines Heiden ins irdische Jenseits dar, die in genau parallelen Erzählstrukturen beide aus christlicher Sicht den schlechtest- und den bestmöglichen
153 Vgl. hierzu ausführlich Rowe 2005, S. 172–174; ferner vgl. Power 1985 (Journeys), S. 160.
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Ausgang eines solchen Unternehmens beschreiben: In der einen Erzählung gelangt der Protagonist durch seine eigene Tatkraft (begleitet von Fleischeslust und Trunkenheit) zu Ruhm und einem Erben, wird jedoch am Ende von den Gestalten seiner Glaubenswelt betrogen und entrafft. In der anderen Erzählung vertraut sich der Protagonist der Weisheit und spirituellen wie weltlichen Führung durch einen christlichen Monarchen an (wobei er Frauen und Alkohol meidet) und erringt dadurch erst das Land der Lebenden und dann die Aussicht auf das Paradies. Beide Erzählungen bewegen sich somit ganz im Rahmen einer christlichen Glaubenswelt, die heidnischen Vorstellungen letztlich ablehnend gegenübersteht. Der Hauptunterschied zwischen der kurzen Sveigðir-Episode der Ynglinga saga und der hundert Jahre später entstandenen Eiríks saga víðfǫrla ist die Bilderwelt, die jeweils zum Ausdruck dieser Ablehnung herangezogen wird: Während die Sveigðir-Erzählung (zumindest vorgeblich) heidnische Motive verwendet, kehrt die Eiríks saga dieser Bilderwelt nach dem heitstrenging den Rücken und bewegt sich forthin ganz im Rahmen etablierter pan-europäischer Vorstellungen. Ein Beispiel hierfür ist die Vorstellung vom irdischen Paradies. Die Eiríks saga zeigt ein gewisses Schwanken darin, ob Eiríkr das Paradies tatsächlich erreicht oder nicht: Sein Gelübde am Beginn der Erzählung setzt sein Ziel – den Ódáinsakr – mit dem Paradies und dem „Land der Lebenden“ gleich.¹⁵⁴ Bei letzterem handelt es sich um eine Übersetzung der Phrase terra viventium, die in der Vulgata einige Male verwendet wird.¹⁵⁵ Dort bezeichnet sie fast immer eindeutig den Bereich des „Hier und Jetzt“, das Diesseits im Gegensatz zum Reich der Toten.¹⁵⁶ Uneindeutig ist nur ein Beleg im Psalter, der davon spricht, „die guten Gaben des Herrn im Land der Leben-
154 Jensen 1983, S. 4. 155 Vgl. Power 1985 (Christian Influence), S. 851 mit Anm. 37 (S. 857); Power 1985 (Journeys), S. 159 mit Anm. 7, 8 (S. 173); Carey 1995 (Rhetoric), S. 45 f. Power vermutet, dass diese Phrase auch der Ursprung des Begriffs „Ódáinsakr“ sein könnte: Power 1985 (Christian Influence), S. 851 f.; Power 1985 (Journeys), S. 159. Auf sachliche wie sprachliche Alternativen zu dieser Herleitung (arthurische und irische Unsterblichkeitsgefilde, einschließlich einer irischen insula viventium und eines irischen „Landes der Lebenden“ [Tír na m-Béo]) wird in den folgenden Kapiteln noch ausführlich einzugehen sein. Eine sichere Herleitung des Namens „Ódáinsakr“ ist allerdings grundsätzlich nicht zu erwarten, da der Name sprechend ist und daher auch als beschreibende Bezeichnung ohne eine unmittelbare sprachliche Vorlage gebildet worden sein könnte. Ferner ist zu bedenken, dass die möglichen Vorlagen, wie das biblische oder das irische „Land der Lebenden“, selbst wohl nicht völlig voneinander zu trennen sind und einander in vieler Hinsicht zu sehr ähneln, als dass es möglich wäre, einer Quelle mit Sicherheit vor den anderen den Vorzug zu geben. 156 Iob 28.13; Psalmi 51.7; Psalmi 141.6; Isaias 38.11; Isaias 53.8; Ieremias 11.19; Ezechiel 26.20; Ezechiel 32.23–27; Ezechiel 32.32. Für den Kontext vgl. z. B. Isaias 38.10 f.: 10ego dixi in dimidio dierum meorum vadam ad portas inferi quaesivi residuum annorum meorum 11dixi non videbo Dominum Dominum in terra viventium non aspiciam hominem ultra et habitatorem quievit. Oder vgl. Ezechiel 32.23 über das gefallene Assur: quorum data sunt sepulchra in novissimis laci et facta est multitudo eius per gyrum sepulchri eius universi interfecti cadentesque gladio qui dederant quondam formidinem in terra viventium.
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den zu sehen“;¹⁵⁷ dies dürfte ursprünglich auch hier durchaus diesseitig gemeint gewesen sein, hat jedoch in der ekklesiastischen Literatur zur Konstruktion eines paradiesischen Jenseitsbereichs geführt,¹⁵⁸ der in der direkten Übersetzung ins Altwestnordische nun im heitstrenging am Beginn der Eiríks saga als jǫrð lifandi manna mit dem Paradies und dem Ódáinsakr identifiziert wird. Ebenso identifiziert der Kaiser in seinen kosmologischen Belehrungen diese drei Stätten,¹⁵⁹ eine Überschrift in der A-Rezension lokalisiert Eiríks „Visionen“ im Paradies,¹⁶⁰ und der Engel sagt ihm, dass er sich in eben dem „Land der Lebenden“ befindet,¹⁶¹ das zuvor zweimal als ein Synonym für „Paradies“ erklärt wurde. Eiríkr scheint also zunächst tatsächlich das Paradies erreicht zu haben. Zugleich unterscheidet der Engel dieses „Land der Lebenden“ nun jedoch wieder vom eigentlichen Paradies – das allerdings nicht weit entfernt sei – und erklärt Eiríkr, dass das „Land der Lebenden“ kaum ein Abglanz des eigentlichen Paradieses ist, wohin die Gerechten nach dem Tod gelangen und wo der Fluss entspringt, den Eiríkr gesehen hat.¹⁶² Der Engel selbst stellt sich als einer der Engel vor, die die Pforte des Paradieses bewachen.¹⁶³ Insgesamt scheint sich der Autor nicht recht entscheiden zu können, ob Eiríkr nun das irdische Paradies tatsächlich erreicht oder nicht, und die Erzählung verbleibt in vergeistigter Unklarheit.¹⁶⁴ Klar wird jedoch, dass die Eiríks saga das Paradies als einen geographisch fassbaren Ort im fernen Osten der Welt ansieht, der sich
157 Psalmi 26.13 (ego autem credo quod videam bona Domini in terra viventium). 158 So wird die terra viventium bei Isidor von Sevilla zu einem Gelobten Land, das den Patriarchen und Propheten (von denen Christus abstammt) und den Heiligen in Aussicht gestellt ist: Tradidit post haec Joseph parentibus, et fratribus optimam terram Gessen, praebens eis cibaria, quia fames oppresserat terram. Sic et Dominus eligens optimam terram, parentibus, id est patriarchis et prophetis, ex quibus Christus secundum carnem est genitus, sive omnibus sanctis, de quibus in Evangelio dicit: Hi sunt fratres mei, qui faciunt voluntatem Patris. His igitur dat terram scilicet repromissionis regni Dei, de qua dicit Propheta: Credo videre bona Domini in terra viventium. (Isidor, Quaestiones in Vetus Testamentum, In Genesim XXX.34 = Patrologia Latina t.LXXXIII, c.276B-C.) Vgl. entsprechend etwa auch Johannes Scottus Eriugena, Periphyseon IV.26 (=Patrologia Latina t.CXXII, c.858D); Alulfus Tornacensis, De expositione Novi Testamenti, Expositio super Apocalypsim B. Joannis apostoli 25 (=Patrologia Latina t.LXXIX, c.1406A); Augustinus, Sermones ad populum, Classis III, Sermo CCCXII 1 (=Patrologia Latina t.XXXVIII, c.1420); Ambrosius von Mailand, In psalmum David CXVIII expositio, Sermo decimus 40 (=Patrologia Latina t.XV, c.1345B); ders., Enarrationes in XII psalmos Davidicos, In psalmum XXXVI enarratio 20 (=Patrologia Latina t.XIV, c.976D-977A); etc. 159 Jensen 1983, S. 46/47. 160 Jensen 1983, S. 72 („Synir ok vitranir Eireks in Paradiso capitulum.“). 161 Jensen 1983, S. 92/93. Die ausdrückliche Identifizierung des Ortes, an dem Eiríkr sich befindet, mit dem „Land der Lebenden“ findet sich streng genommen nur im A-Text; die anderen Texte sprechen nur davon explizit, dass ihm das Land der Lebenden gezeigt wird. Vgl. Power 1985 (Journeys), S. 173 (Anm. 4). 162 Jensen 1983, S. 90–93. 163 Jensen 1983, S. 86/87. 164 Vgl. Power 1985 (Journeys), S. 159.
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mit dem Gartengefilde überschneidet, das Eiríkr erreicht, und wo die Paradiesströme entspringen. Diese geographische Lokalisierung des Paradieses im Osten, seine Auffassung als Garten und die im Paradies entspringenden Ströme sind dabei ebenso wie seine Bewachung durch Engel und die das Paradies umgebende Flammenwand, die der byzantinische Kaiser erwähnt hatte,¹⁶⁵ sämtlich weithin etabliert; so schreibt etwa das im frühen 12. Jahrhundert entstandene und dem Honorius Augustodunensis zugeschriebene Lehrwerk Elucidarium (I.13):¹⁶⁶ D. Quid est paradisus, vel ubi est? – M. Locus amoenissimus in Oriente, in quo arbores diversi generis contra varios defectus erant consitae: verbi gratia, ut si homo congruo tempore de una comederet, nunquam amplius esuriret, congruo tempore de alia, nunquam amplius sitiret: si de alia vero, nunquam lassaretur. Ad ultimum, si de ligno vitae uteretur, non amplius senesceret, non infirmaretur, nunquam moreretur.¹⁶⁷ Schüler: Was ist das Paradies, und wo ist es? – Lehrer: Ein höchst entzückender Ort im Osten, in dem Bäume verschiedener Art gegen mancherlei Schwäche gepflanzt waren: um des Wortes willen, dass, wenn ein Mensch zur rechten Zeit vom einen äße, er niemals mehr hungern würde, und wenn er zur rechten Zeit von einem anderen äße, es ihn niemals mehr dürsten würde. Wenn er aber von einem nochmals anderen äße, würde er niemals von Schwäche befallen werden. Und schließlich: wenn er vom Baum des Lebens Gebrauch machte, würde er nicht mehr altern, nicht krank werden, niemals sterben.
Von den verschiedenen Details, die in die Paradiesschilderung der Eiríks saga víðfǫrla eingeflossen sind, finden sich in diesem katechetischen Werk die Lage im Osten und der Charakter des Paradieses als Hain und Garten. Weitere der Motive, die in der Eiríks saga wiederkehren – der bis zum Himmel reichende Wall aus Flammen, oder das Paradies als Quellort der größten Ströme der Welt (des Phison, Gihon, Tigris und Euphrat) – erwähnt Honorius in seinem Werk De imagine mundi (I.8–10): Cap. VIII. – De Asia. – Paradisus. Asia, a regina ejusdem nominis appellata. Hujus prima regio in oriente e paradiso; locus videlicet omni amoenitate conspicuus, inadibilis hominibus, qui igneo muro usque ad coelum est cinctus. Cap. IX. – De Paradiso. – Fons paradisi. In hoc lignum vitae, videlicet arbor de cujus fructu qui comederit, semper in uno statu immortalis permanebit. In hoc etiam fons oritur, qui in quatuor flumina dividitur. Quae quidem flumina infra paradisum terra conduntur; sed in aliis longe regionibus funduntur. Cap. X. – De quatuor fluminibus. – Physon sive Ganges, Geo sive Nilus, Tigris, Euphrates. Nam Physon, qui et Ganges in India de monte Orcobares nascitur, et contra orientem fluens Oceano excipitur. [...]¹⁶⁸
165 Jensen 1983, S. 46–48. 166 Kinkade 1984; Grimstad 1993. 167 Patrologia Latina t.CLXXII, c.1117D (vgl. Lefèvre 1954, S. 373, nach der dortigen Kapitelzählung Kap. I.69). 168 Patrologia Latina t.CLXXII, c.123A-B.
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Kap. VIII. – Über Asien. – Das Paradies. Asien, benannt nach einer Königin desselben Namens. Dessen erste Region im Osten vom Paradies (recte leg.: est paradisus: ist das Paradies);¹⁶⁹ ein Ort, der sich offensichtlich durch jede Herrlichkeit auszeichnet, für Menschen unzugänglich ist, und der mit einem Wall von Feuer umgeben ist, der bis zum Himmel reicht. Kap. IX. – Über das Paradies. – Die Quelle im Paradies. An diesem Ort ist der Baum des Lebens: Das ist offensichtlich ein Baum mit der Eigenschaft, dass derjenige, der von seiner Frucht gegessen hat, stets im selben Zustand bleiben und unsterblich sein wird. An diesem Ort entspringt auch eine Quelle, die sich in vier Flüsse teilt. Diese Flüsse freilich sind unter dem Paradies in der Erde verborgen; aber weit entfernt brechen sie in anderen Regionen an die Oberfläche. Kap. X. – Über die vier Flüsse. – Phison oder Ganges, Gihon oder Nil, Tigris, Euphrat. Denn der Phison, der auch Ganges heißt und in Indien am Berg Orcobares entspringt, und gegen Osten fließend vom Ozean aufgenommen wird. [...]
Helle Jensen und Rudolf Simek haben auf die engen Parallelen hingewiesen, die zwischen verschiedenen Abschnitten des Lehrgesprächs zwischen Eiríkr und dem byzantinischen Kaiser und Angaben in diesen beiden Werken des Honorius bestehen; daraus ist insbesondere von Simek die Schlussfolgerung gezogen worden, dass der Autor der Eiríks saga víðfǫrla sowohl das Elucidarium als auch De imagine mundi als Quellen für diese Teile der Eiríks saga herangezogen hat.¹⁷⁰ Ferner postuliert Simek Isidor von Sevillas Etymologiae als eine weitere bei der Abfassung der Eiríks saga direkt herangezogene Quelle. Hierfür verweist er auf Ähnlichkeiten zwischen der Beschreibung des Ozeans,¹⁷¹ der Lage Indiens¹⁷² und einzelnen Elementen der Paradiesschilderung¹⁷³ bei Isidor und in der Eiríks saga. Ferner bemerkt er, dass sich ein Abschnitt am Ende von Kapitel 2 der Eiríks saga¹⁷⁴ als eine Inhaltsangabe der Bücher VII-XVI der Etymologien lesen lässt.¹⁷⁵ Der für die Paradiesschilderung relevante Abschnitt von Isidors Etymologiae lautet folgendermaßen (Etymologiae XIV.3):
169 Für diese Lesart vgl. D. Honorii Augustudunensis presbyteri libri septem. Basileae 1544, S. 6. 170 Jensen 1983, S. XXVIII-XLI; Simek 1984, S. 109 f. Jensen zieht es in Anbetracht der Beleglage teilweise vor, nicht von direkten Quellen der Eiríks saga, sondern vorsichtiger nur von Paralleltexten zu sprechen: Jensen 1985, S. 506. Unterschiede bestanden zudem in der Auffassung der Frage, ob der Verfasser der Eiríks saga das Elucidarium in einer isländischen Übersetzung oder im lateinischen Original gekannt hat; Jensen nimmt ersteres an, während Simek für die Verwendung des lateinischen Originaltexts durch den Sagaautor plädiert (Jensen 1983, S. XXVIII-XXXVI; Simek 1984, S. 109 f.; Jensen 1985, S. 506–509). Für die isländische Übersetzung des Elucidarium vgl. Firchow und Grimstad 1989; Firchow 1992. 171 Isidor, Etymologiae XIII.15; Jensen 1983, S. 44. 172 Isidor, Etymologiae XIV.3; Jensen 1983, S. 44, 46. 173 Isidor, Etymologiae XIV.3; Jensen 1983, S. 46. 174 Jensen 1983, S. 50, 52. 175 Simek 1984, S. 111.
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De Asia. Asia ex nomine cuiusdam mulieris est appellata, quae apud antiquos imperium tenuit orientis. [...] Habet autem provincias multas et regiones, quarum breviter nomina et situs expediam, sumpto initio a Paradiso. Paradisus est locus in orientis partibus constitutus,¹⁷⁶ cuius vocabulum ex Graeco in Latinum vertitur hortus: porro Hebraice Eden dicitur, quod in nostra lingua deliciae interpretatur. Quod utrumque iunctum facit hortum deliciarum; est enim omni genere ligni et pomiferarum arborum consitus, habens etiam et lignum vitae: non ibi frigus, non aestus, sed perpetua aeris temperies. E cuius medio fons prorumpens totum nemus inrigat, dividiturque in quattuor nascentia flumina. Cuius loci post peccatum hominis aditus interclusus est; septus est enim undique romphea flammea, id est muro igneo accinctus, ita ut eius cum caelo pene iungat incendium.¹⁷⁷ Cherubin quoque, id est angelorum praesidium, arcendis spiritibus malis super rompheae flagrantiam ordinatum est, ut homines flammae, angelos vero malos angeli submoveant, ne cui carni vel spiritui transgressionis aditus Paradisi pateat.¹⁷⁸ India vocata ab Indo flumine, quo ex parte occidentali clauditur. Haec a meridiano mari porrecta usque ad ortum Solis,¹⁷⁹ et a septentrione usque ad montem Caucasum pervenit [...].¹⁸⁰ Über Asien. Asien ist nach dem Namen einer gewissen Frau benannt, die bei den Alten die Herrschaft über den Orient innehatte. [...] Es hat aber viele Provinzen und Regionen, deren Namen und Lage ich kurz vorstellen will, wobei ich meinen Ausgang vom Paradies nehme. Das Paradies ist ein im Osten gelegener Ort, dessen Name aus dem Griechischen ins Lateinische als hortus („Garten“) übersetzt wird. Ferner wird es auf Hebräisch „Eden“ genannt, was in unserer Sprache „Freude“ heißt. Beides miteinander verbunden macht einen „Garten der Freuden“; es ist nämlich mit jeder Art von Gehölz und von fruchttragenden Bäumen bepflanzt, wobei es sogar den Baum des Lebens hat. Dort gibt es keine Kälte und keine Hitze, sondern die Luft ist stets wohltemperiert. Aus seiner Mitte entspringt eine Quelle und bewässert den ganzen Hain, und sie teilt sich in vier Quellflüsse auf. Der Zugang zu diesem Ort wurde nach dem Sündenfall des Menschen verschlossen. Er ist nämlich ringsum mit einer Klinge aus Flammen eingefriedet, das heißt mit einer Mauer aus Feuer umgürtet, so dass ihre Lohe sich beinahe mit dem Himmel verbindet. Auch eine Wache von Cherubim – das heißt von Engeln – ist über dem Brand der Klinge aufgestellt worden, um böse Geister abzuhalten, so dass die Flammen die Menschen, die Engel aber die bösen Engel fernhalten, auf dass keinem Fleisch oder Geist der Sünde der Zugang zum Paradies offenstehe. Indien ist nach dem Fluss Indus benannt, durch den es gegen Westen abgeschlossen wird. Es erstreckt sich vom südlichen Meer bis zum Sonnenaufgang, und im Norden reicht es bis an das Kaukasusgebirge.
Diese Passage, in der das Paradies als ein lokalisierbarer Ort am Ostrand der Welt beschrieben wird, stellt eine klassische Formulierung des Paradiesmythos durch einen der meistgelesenen Autoren des Mittelalters dar. Die frühchristliche Zeit hatte
176 Simek 1984, S. 111 weist hier auf die Parallele zur Eiríks saga hin: j austr er land fra Jnndia lande hinu yzsta. (Jensen 1983, S. 46.) Ganz ähnlich lautet aber auch die entsprechende Passage in De imagine mundi (Zitat siehe oben), wie Jensen 1985, S. 505 f. bemerkt. 177 Simek 1984, S. 111 vergleicht hierzu in der Eiríks saga: þuiat elldligr ueggr stendr firir sa tekr allt til himins upp. (Jensen 1983, S. 46.) Die Parallele besteht jedoch auch hier gleichermaßen zwischen der Eiríks saga und De imagine mundi (Zitat siehe oben): Jensen 1985, S. 505 f. 178 Vgl.: ek er æingill guds ok æinn af þeim er varduæita Paradisar hlid. (Jensen 1983, S. 86.) 179 Vgl. (Simek 1984, S. 111): huert er yzst land j sudr halfu hæimsins. konungr suarar. Jndia land segium uær enda alöndum j þa halfu heims. (Jensen 1983, S. 44, 46.) 180 Text: Lindsay 1911.
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die Frage, ob das Paradies als konkret lokalisierter Ort auf Erden zu verstehen sei, noch in unterschiedlicher Weise beantwortet. Eine Richtung – exemplifiziert etwa durch Origenes – vertrat dabei eine Interpretation des Bibeltexts, die in der biblischen Paradieserzählung eine Allegorie sah, deren tiefere Bedeutung durch eine platonisch-philosophische Exegese freizulegen war.¹⁸¹ Eine andere Richtung hingegen vertrat eine Leseweise des Bibeltexts nicht als Allegorie, sondern als historisches Dokument, dessen Aussagen wörtlich zu nehmen seien; damit fasste sie auch das Paradies als einen konkreten Ort im Rahmen der irdischen Geographie auf.¹⁸² Diese Deutung des Paradieses konnte sich als die kanonische Interpretation etablieren, als Augustinus sich für eine wörtliche Interpretation der Paradieserzählung der Genesis entschied:¹⁸³ Das Paradies sollte ihm zufolge als ein realer Ort verstanden werden, wo einst Adam als historische Gestalt lebte.¹⁸⁴ Seine Zugangsweise legte ein Paradigma fest, das für die geographischen Auffassungen des gesamten Mittelalters – und noch darüber hinaus – prägend werden sollte;¹⁸⁵ das irdische Paradies als ein konkreter Ort im fernen Osten zieht sich von nun an als ein konstanter roter Faden selbst durch die prominentesten Werke und findet sich literarisch bei Beda Venerabilis¹⁸⁶ ebenso bezeugt wie in der Glossa ordinaria¹⁸⁷ als dem mittelalterlichen Standardkommentar zur Bibel oder bei Petrus Lombardus.¹⁸⁸ Auch in der Kartographie des Mittelalters findet die Vorstellung ihren Niederschlag: Die Darstellung des irdischen Paradieses
181 Scafi 2006, S. 36–39. Vgl. etwa Origenes, In Leviticum homilia XVI.4 (hgg. von Baehrens 1920, dort S. 497–499). 182 Scafi 2006, S. 39–41. Vgl. etwa Johannes Chrysostomos, In cap. II Genes. homil. XIII (3) = P[atrologia] G[raeca] t.LIII, c.107–109; Epiphanios von Salamis, Epistula Epiphanii Cyprii missa ad Iohannem episcopum a Sancto Hieronymo translata LI.5 (=Sancti Hieronymi Epistula LI), hgg. von Hilberg 1910, dort S. 403–405. 183 Scafi 2006, S. 44–47. 184 Augustinus, De Genesi ad litteram VIII.1 (hgg. von Zycha 1894). 185 Mit besonderem Augenmerk auf der Karthographie des Paradieses wurde dieser Komplex ausführlich behandelt von Scafi 2006. 186 In Genesim I.ii.8 (hgg. von Jones 1967, dort S. 45 f. = Patrologia Latina t.XCI, c.43C-44A). Beda beharrt hier bedingungslos auf der Auffassung des Paradieses als irdischer Ort, lässt aber dahingestellt, ob die weitverbreitete Lokalisierung des Paradieses im Osten tatsächlich korrekt ist, da er erkennt, dass diese Lokalisierung im Wesentlichen auf einem Übersetzungsproblem beruht: Während die Vulgata die Lokalisierung des Paradieses in Genesis 2.8 zeitlich auffasst und das Paradies a principio geschaffen sein lässt, wurde die zugrundeliegende hebräische Formulierung von der älteren Vetus Latina als ad orientem (u. ä.) übertragen und führte so zur Auffassung, dass das irdische Paradies im Osten liege. Diese lokale Übersetzungsvariante vertritt auch die Septuaginta (κατὰ ἀνατολάς). (Siehe Vetus Latina, Genesis 2.8, hgg. von Fischer 1951–1954 [mit synoptischer Zusammenstellung der Texte der Vulgata, Vetus Latina und Septuaginta]). Zusammenfassend zum Problem vgl. Scafi 2006, S. 33– 35 (beide Übersetzungsvarianten sind aus der Perspektive des hebräischen Urtextes zulässig). 187 Glossa ordinaria, liber Genesis (caput II, vers. 8) = Patrologia Latina t.CXIII, c.86A-C. 188 Petrus Lombardus, Sententiae in IV libris distinctae II.xvii.5 (hgg. vom Collegium S. Bonaventurae 1971, dort S. 413 f. = Patrologia Latina t.CXCII, c.686). Scafi 2006, S. 48–51; vgl. Simek 1996, S. 44.
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auf Weltkarten wird bereits im 8. Jahrhundert als Topos direkt fassbar,¹⁸⁹ wo das irdische Paradies u. a. in der Weltkarte des Beatus am Ostrand der Welt erscheint (wohl 776 n. Chr.; Abb. 1).¹⁹⁰ Aus der Vielzahl der späteren Belege dieses Motivs auf mittelalterlichen mappae mundi seien nur zwei herausgegriffen, deren Entstehungszeit nahe an derjenigen der Eiríks saga víðfǫrla liegt. So zeigt die Herefordkarte – eine Wandkarte aus den Jahren um 1300 aus der Kathedrale von Hereford (England) – das irdische Paradies als eine kleine kreisrunde Insel jenseits von Indien am Ostrand der wiederum in einer kreisrunden Karte dargestellten Welt (Abb. 2).¹⁹¹ Und ebenso verzeichnet die Weltkarte im Polychronicon des Ranulf Higden (gest. 1363) das Paradies am Ostrand Indiens, das seinerseits den Ostrand der Welt bildet und durch den Indus fluuius praktisch als Flussinsel von der restlichen Festlandmasse der Welt abgeschnitten erscheint (Abb. 3).¹⁹² Das irdische Paradies im fernen Osten, wie es die Eiríks saga beschreibt, ist somit ein ganz konventionelles Motiv. Ähnliches gilt auch für weitere Details der Saga. So befindet sich im paradiesischen Gartengefilde der Eiríks saga ein in der Luft schwebender Turm, der von „keinen Pfeilern“ getragen wird (A-Text: ok öngir stolpar vndir; a öngum stolpum; B-Text: ok stodv ongvir stolpar vndir; etc.).¹⁹³ Jensen hat zum Vergleich die in der Luft schwebende Kapelle herangezogen, die (u. a.) in einer altnordischen Fassung der Gunthelms-Vision in einer gartenhaften Umgebung erscheint, welche stark an die des schwebenden Turms in der Eiríks saga erinnert.¹⁹⁴ Simek
Allgemein zu den Vorstellungen vom (u. a.) irdischen Paradies spezifisch in der nordischen Literatur vgl. Ashurst 2006. 189 Scafi 2006, S. 32, 95–124. 190 Miller 1895–1898 Bd. 1; Bd. 2 Tafeln 2–9; Scafi 2006, S. 104–116; vgl. Harvey 2010, S. 41. In der textlichen Überlieferung mag die Darstellung des irdischen Paradieses auf Karten schon für das 4. Jahrhundert greifbar sein (Miller 1895–1898 Bd. 1, S. 28); die Weltkarte des Beatus sticht v. a. dadurch heraus, dass sie (wenn auch in Abschriften) eine der ältesten erhaltenen größeren Weltkarten darstellt (vgl. ibidem S. 7). 191 Miller 1895–1898 Bd. 4, S. 2 (Abb. 1), 8, und vgl. die Faltkarte; Scafi 2006, S. 145 (Abb. 6.12), S. 146– 149, 152 f. et passim; Harvey 2010, S. 19, 67 f., 89 f.; Westrem 2010, S. xxxviii, 34–37. Nur als Kuriosum sei erwähnt, dass sich die bei Paulus Diaconus beschriebenen, das Meer einsaugenden Strudel (siehe oben S. 25) auch auf dieser Karte eingezeichnet finden: Miller 1895–1898 Bd. 4, S. 20, 47; Harvey 2010, S. 76; Westrem 2010, S. 220/221, 324/325. Neues Faksimile: The Folio Society 2010; ferner großformatig reproduziert von Jomard 1858–1862 Tafeln 1–12. Allgemein zum irdischen Paradies als Insel vgl. auch Schmieder 2011. 192 Miller 1895–1898 Bd. 3, S. 94–109; Bd. 2 Tafeln 14–16. 193 Jensen 1983, S. 78. 194 Jensen 1983, S. XXIV f.; Unger 1871, S. 1162–1168 (dort S. 1163); ebenso Power 1985 (Christian Influence), S. 854; Power 1985 (Journeys), S. 160; vgl. Patch 1950, S. 117 f. Zu gesucht ist es wohl, wenn Power die Möbel und die Speisen im schwebenden Turm als eine Anspielung auf die Kommunion während einer Messe und das Letzte Abendmahl deutet (zumal Powers Auffassung der Szene in der Kapelle in der Gunthelms-Vision als eine Messe keineswegs zwingend ist [Unger 1871, S. 1163 f.]): Power 1985 (Christian Influence), S. 854; Power 1985 (Journeys), S. 160 (zustimmend: Rowe 2005, S. 154).
Abb. 1: Die Weltkarte des Beatus nach dem Codex von St. Sever (Paris, Biblioth. nat., Cod. Latin 8878), Mitte des 11. Jahrhunderts. © Miller 1895–1898 Bd. 1, Faltkarte. Die Karte ist geostet und markiert das irdische Paradies mit einer Vignette mit der Darstellung des Sündenfalls. Rechts unten im Bild, vor der nordafrikanischen Küste, erscheinen die Inseln der Seligen als Insulae Fortunatarum.
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Abb. 2: Vereinfachte Übersichtsskizze der Weltkarte von Hereford, um 1300. Größe des Originals: 1,59 m x 1,34 m. © Miller 1895–1898 Bd. 4, S. 2 (Abb. 1). Die Karte ist geostet und zeigt das irdische Paradies unmittelbar hinter Indien. Die kreisrunde Paradiesinsel ist im Original mit den Darstellungen des Sündenfalls, der vier im Paradies entspringenden Flüsse (Phison, Gion, Tigris, Eufrates) und der Paradiespforte sowie mit den jeweiligen lateinischen Beischriften gefüllt (vgl. Westrem 2010, S. 34–37). Ausführlich vgl. etwa Miller 1895–1898 Bd. 4; Harvey 2010; Westrem 2010.
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Abb. 3: Weltkarte aus dem Polychronicon des Ranulf Higden nach einer Handschrift des Corpus Christi College, Oxford (Nr. 89; Ende des 14. Jhs.). Umzeichnung durch Konrad Miller nach Miller 1895–1898 Bd. 3, S. 98 (Abb. 36). Das Paradies wird hier durch einen Schriftzug am Ostrand Indiens lokalisiert, welches wiederum jenseits des Indus am Ostrand der Welt liegt. Zur Handschrift vgl. Miller 1895–1898 Bd. 3, S. 97 f. Rechts unten im Bild, vor der nordafrikanischen Küste, erscheinen die Inseln der Seligen als Insule Fortunate.
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nimmt hingegen an, dass das Motiv des schwebenden Turms von der Beschreibung eines Palastes in der Visio Tnugdali inspiriert sein könnte.¹⁹⁵ Bei der Visio Tnugdali handelt es sich um eine Beschreibung einer Reise durch den Himmel und die Hölle, die ein irischer Ritter von verkommenem Charakter im Jahre 1149 unter der Führung eines Engels unternimmt und auf der ihm sowohl die Qualen der Sünder als auch die Freuden der Seligen vorgeführt werden; dies wird für den Ritter zu einem nachdrücklichen Umkehrerlebnis, von dem er als neuer Mensch ins Leben zurückkehrt. Diese Vision wurde als Duggals leiðsla Mitte des 13. Jahrhunderts auch ins Altnordische übersetzt.¹⁹⁶ Sowohl die lateinische wie auch die altnordische Fassung enthalten dabei Schilderungen eines Palastes, der zwar nicht ausdrücklich in der Luft schwebt, aber doch gleichfalls von „keinen Säulen“ getragen wird (AM 681 4to a: og aunger stolpar under; AM 681 4to b: avngver stolpar hielldv þ[vi vpp]; lateinische Fassung: nullisque columpnis fulcita).¹⁹⁷ Die enge Entsprechung zwischen dem Text der Eiríks saga und der Handschrift AM 681 4to a der Duggals leiðsla könnte dabei Zufall sein, ließe sich möglicherweise aber auch als Indiz dafür deuten, dass sich der Verfasser der Eiríks saga nicht von der lateinischen, sondern von der altnordischen Fassung der Visio Tnugdali (bzw. der Duggals leiðsla) hat inspirieren lassen.¹⁹⁸ Neben dem
195 Simek 1984, S. 112 f. Jensen 1985, S. 509 zieht es vor, bei der Visio Tnugdali (bzw. der Duggals leiðsla) von einem Paralleltext zur Eiríks saga zu sprechen, statt von einer direkten Quelle. 196 Die altnordische Übersetzung wurde zuletzt hgg. von Cahill 1983 (zur Datierung vgl. ibidem S. xlix-lviii). Diese Edition enthält auch den lateinischen Text nach der Ausgabe von Wagner 1882. Allgemein zur Visio Tnugdali vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 71–76. 197 Cahill 1983, S. 88 f. 198 Simek 1984, S. 112 f. hatte unter Verwendung der Ausgabe der Duggals leiðsla von Unger (1877 Bd. 1, S. 329–358) aus der dort gegebenen Lesung den gegenteiligen Schluss gezogen. Er hat eine Verwendung der lateinischen Fassung der Visio Tnugdali durch den Verfasser der Eiríks saga angenommen, da Unger (1877 Bd. 1, S. 353) einen Text für die Duggals leiðsla gibt, der sich mit der Eiríks saga nicht vereinbaren lässt; auf dieser Grundlage konnte Simek postulieren, dass die Schilderung des schwebenden Turms in der Eiríks saga nur direkt aus der lateinischen Visio Tnugdali, nicht aber aus der Duggals leiðsla hergeleitet werden kann. Dies ist jedoch mit der genaueren Neuedition der Duggals leiðsla durch Cahill (1983) hinfällig geworden, die deutlich macht, dass alle Handschriften der Duggals leiðsla einen Text geben, der sowohl mit dem fraglichen Element der Eiríks saga als auch der Mehrzahl der Handschriften der Visio Tnugdali übereinstimmt: Immer handelt es sich um ein Gebäude „ohne Säulen“. Unger hingegen hatte in seinem Text den „Palast ohne Säulen“ des lateinischen wie nordischen Standardtexts zu einem „Palast mit vielen Säulen“ emendiert (Unger 1877 Bd. 1, S. 353: ok margir stolpar helldu þvi uppi statt dem handschriftlichen ok avngver stolpar hielldv þ[vi vpp] [AM 681 4to b, Cahill 1983, S. 88]). Diese stillschweigende Emendation dürfte auf dem lateinischen Text der Visio Tnugdali beruht haben, den Schade 1869 (die Stelle dort S. 17 f.) herausgegeben hat und in dem der Palast multis columpnis fulta ist; an anderer Stelle zitiert Unger diese Edition (Unger 1877 Bd. 1, S. 358–362). Diese Lesart findet sich jedoch nur in einer einzigen von über 150 erhaltenen Handschriften der lateinischen Visio Tnugdali (Simek 1984, S. 113). Über den Grund für diese Änderung in dieser Handschrift lässt sich nur spekulieren; möglicherweise fand der Schreiber die Vorstellung einer großen Halle mit einem Säulenwald beeindruckender als die Vorstellung einer großen freitragenden Halle, wie sie vom Standardtext der Visio Tnugdali intendiert scheint. Typologisch lässt sich
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Motiv des „säulenlosen Gebäudes“ (und vielleicht der sehr ähnlichen Formulierung) spricht dabei möglicherweise auch die ähnliche Lage dieses „säulenlosen Gebäudes“ in den beiden Erzählungen für einen konkreten literarischen Zusammenhang: In beiden Fällen handelt es sich um einen Bereich, der zwar schon viele Wunder und Freuden enthält, der aber noch nicht den höchsten Lohn darstellt, den das Jenseits zu bieten hat. Dem irischen Ritter wird dieses wunderbarste aller Jenseitsgefilde erst ganz am Ende seiner Reise gezeigt, während der Engel in der Eiríks saga dem Eiríkr erklärt, dass ihm das Gefilde, das er nun erreicht hat und in dem sich der schwebende Turm befindet, nur einen kleinen Vorgeschmack auf das eigentliche Paradies bietet. Über diese Parallelen in Bezug auf das „säulenlose Gebäude“ hinaus zeigen ferner auch die Grundgedanken der beiden Erzählungen gewisse auffallende Ähnlichkeiten: Bei Eiríkr handelt es sich um einen Heiden, der sich unter der zunächst unsichtbaren, dann offenen Führung durch einen Engel auf die Suche nach dem Paradies begibt und dadurch zum christlichen Glauben und letztlich zur Erlösung findet. Bei der Visio Tnugdali bzw. der Duggals leiðsla handelt es sich um die Vision eines Mannes, der in einer christlichen Gesellschaft wie ein Heide lebt und der durch eine Vision unter der Führung eines Engels zur Umkehr und einem vorbildlichen christlichen Lebenswandel gebracht wird.¹⁹⁹ Die Erlebnisse beider werden dabei als Exempel präsentiert, die sich durch ihr gutes Vorbild auf ihre Umwelt und den Leser auswirken sollen. In der Visio Tnugdali bzw. der Duggals leiðsla findet sich auch das Motiv einer Brücke, die von Sündern nicht überquert werden kann und von der sie in ein Tal voller Qualen stürzen.²⁰⁰ Die Seele des irischen Ritters entgeht dieser Folter mit der Hilfe des Engels, der sie begleitet, erleidet darauf jedoch die Qualen der nächsten Station auf ihrem Weg: Hinter der Brücke gelangen die Seele und der Engel zu einem riesigen Monstrum, dessen Maul weit aufgesperrt ist. Flammen schlagen aus diesem Maul, und Seelen werden in den Schlund dieses Monstrums geschleudert, um dort bestraft zu werden. Auch die Seele des irischen Ritters wird in dieses Maul geworfen und gefoltert, bis sie sich plötzlich (und ohne zu wissen, wie dies zustande gekommen ist) wieder außerhalb des Bauchs des Monstrums und in Begleitung des Engels findet.²⁰¹ Eine ähnliche Abfolge findet sich – wenn auch unter ganz anderen Vorzeichen – in der Eiríks saga: Auch Eiríkr gelangt an eine Brücke, deren Überquerung eine Prüfung darzustellen scheint (selbst wenn es sich hier um eine Brücke über den Paradiesfluss Phison handelt, und nicht um eine Brücke in der Hölle oder im Fegefeuer), und auch er muss unmittelbar darauf den Schlund eines Ungeheuers durchqueren, ehe er seine
vielleicht der D-Text der Eiríks saga vergleichen (Jensen 1983, S. 79): Auch dort schwebt der Turm zwar „ohne Pfeiler unter ihm“, aber diese Pfeiler werden kurz darauf wieder aufgegriffen und als Schmuckelemente in die Beschreibung des Turms eingeführt. 199 Vgl. Simek 1984, S. 113; Jensen 1983, S. XXII f. 200 Cahill 1983, S. 29–31; vgl. Jensen 1983, S. XXI. 201 Cahill 1983, S. 32–39; vgl. Power 1985 (Journeys), S. 173 (Anm. 12); Jensen 1983, S. XXI.
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Reise fortsetzen kann. Dabei ist in beiden Fällen nicht unmittelbar klar, wie das Verlassen des Bauchs des Ungeheuers jeweils vonstattengeht: Eiríkr findet sich in einer Rauchwolke wieder, aus der er in eine paradiesische Gartenlandschaft tritt, während es von der Seele des irischen Ritters einfach heißt, dass sie sich plötzlich außerhalb des Ungeheuers wiederfindet. Die Ähnlichkeiten zwischen diesen Episoden sind so eng, dass dieser Abschnitt der Eiríks saga durchaus lose von der Vision des Tnugdalus inspiriert sein könnte.²⁰² Jenseitsbrücken sind dabei allgemein ein überaus weit verbreitetes Motiv, das insbesondere in der christlichen Visionsliteratur häufig bezeugt ist.²⁰³ Daneben erscheint die Jenseitsbrücke aber auch außerhalb explizit christlich-visionärer Kontexte. So findet sich bei Saxo nicht nur die oben bereits erwähnte goldene Brücke ins Reich der Gespenster in der Thorkillus-Erzählung, sondern auch in der Hadingus-Erzählung taucht das Motiv auf (Gesta Danorum I.8.14):²⁰⁴ Dort wird Hadingus von einer Frau, die ihm im Winter Sommerkräuter zeigt,²⁰⁵ in das Land geführt, in dem Sommerpflanzen im Winter wachsen, nämlich in die Unterwelt. Der Weg dorthin führt dabei durch einen dichten Nebel (vapidae cuiusdam caliginis nubilum) und über eine Brücke – beides Motive, die (wenn auch in umgekehrter Reihenfolge) auch in der Eiríks saga erscheinen, wo Eiríks Weg über die Brücke und durch den Drachen in eine Rauchwolke führt, durch welche er erst in den dahinterliegenden Paradiesgarten gelangt. Keine Brücke, aber wieder die Verbindung des Flusses mit dem Waten durch Rauch findet sich in der Beschreibung der Reise in die Anderwelt in der Þorsteins saga bœjarmagns, auf die noch zurückzukommen sein wird.²⁰⁶ In Snorris Schilderung von Balders Tod in der Gylfaginning 49 führt der Ritt Hermóðs ins Totenreich über den Fluss Gjǫll, der von der „Jenseitsbrücke“ Gjallarbrú überspannt wird. Auch für diese Brücke ist freilich mit gutem Grund eine Abstammung von den Jenseitsbrücken der christlichen Visionsliteratur angenommen worden,²⁰⁷ und dasselbe dürfte gleichermaßen auch für die anderen vorgeblich heidnisch-mythologischen Bearbeitungen des Motivs der Jenseitsbrücke gelten.
202 Jensen 1983, S. XXI. Weniger überzeugend ist die Analyse Ashursts, der eine Anspielung der Eiríks saga auf die Dialogi Gregors des Großen vermutet, ohne dies jedoch mit ausreichenden Detailübereinstimmungen untermauern zu können: Ashurst 2006, S. 78. Dinzelbacher 1973, S. 63 f. denkt an das Purgatorium S. Patricii und eine Schilderung des Fegefeuers durch William Staunton. 203 Vgl. Ashurst 2006, S. 76, 78; Lanczkowski 1986, S. 14; Jensen 1983, S. XXI; Patch 1950, S. 374 (s.v. ‚bridge‘) und insbesondere Dinzelbacher 1973. 204 Simek 1984, S. 111. 205 Das Motiv findet eine so genaue Entsprechung in der irischen Erzählung Echtra Nerai aus dem 10. Jahrhundert (oder etwas später), dass eine Herkunft aus Irland wahrscheinlich sein dürfte: Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 103–105. 206 Simek 1984, S. 111 f. Die Þorsteins saga bœjarmagns ist hgg. von Sveinbjörn Egilsson et al. 1827, S. 175–198 (die Stelle dort S. 176). 207 Maier 2003, S. 108; Simek 1993, S. 110. Anders noch: Dinzelbacher 1973, S. 88 f.
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Ein weiterer im früh- und hochmittelalterlichen Europa weithin bekannter Text, der auffallende Motivparallelen zur Eiríks saga enthält, ist die Navigatio Sancti Brendani,²⁰⁸ auf die im Folgenden noch detailliert einzugehen sein wird. Im „Land der Lebenden“ der Eiríks saga wird es nie dunkel – ein Motiv, das eine genaue Parallele in der Navigatio Sancti Brendani (c. 1) findet. Die Navigatio beginnt damit, dass der Abt Barinthus eine wunderbare Insel jenseits eines außerordentlich dichten Nebels besucht, die sich bald als das irdische Paradies herausstellt, das voll ist von blühenden Kräutern und überreich fruchttragenden Bäumen und in dem eine ewige, zeitlose Helligkeit herrscht. Die Reise des Mönchs endet an einem Fluss, wo ein Engel ihm die Weiterreise verbietet und ihn belehrt; wie der Engel in der Eiríks saga kennt auch dieser Engel dabei sofort die Namen seiner Gesprächspartner.²⁰⁹ Die Parallelen in den verwendeten Motiven sind so eng, dass der Verfasser der Eiríks saga auch diesen Text für seine Paradiesschilderung herangezogen haben könnte. Diese Annahme ist jedoch nicht zwingend, da sich das Motiv des ewigen Tages auch in den Schilderungen paradiesischer Gefilde der Visio Tnugdali bzw. der Duggals leiðsla findet;²¹⁰ seinen letzten – und auch dem Verfasser der Eiríks saga sicher bekannten – Ursprung hat das Motiv in der eschatologischen Paradiesschilderung der Offenbarung des Johannes (22.5).²¹¹ In ihren einzelnen Elementen ist die Eiríks saga víðfǫrla somit dem mittelalterlichen Christentum ebenso verpflichtet wie in ihrer Gesamtstruktur, in der immer wieder ein impliziter Kontrast zwischen der erbaulichen Erzählung über den (schlussendlich) christlichen Helden Eiríkr und den populären Erzählungen über heidnische Helden aufgebaut wird. Eiríkr übersteht seine lange Reise nicht durch lärmendes, aggressives Heldentum, sondern durch die Gnade Gottes und mit der Hilfe eines Engels und eines christlichen Herrschers – und die Problemlosigkeit seines Erfolgs steht in schlagendem Kontrast zum Schicksal eines Helden wie Thorkillus, der vor seiner Bekehrung auf zwei Reisen jeweils nahezu seine gesamte Mannschaft verliert, oder eines Sveigðir, der als Heide betrunken zu Grunde geht. Eiríkr verliert nicht einen Mann, und am Ende wird er sogar in einem gewissen Sinne zum Heiligen stilisiert, wird er doch körperlich zur Seligkeit entrückt wie Elias (der freilich weit spektakulärer von einem feurigen Wagen in den Himmel gebracht wird: 2 Regum 2.11) oder Enoch (der ähnlich stillschweigend verschwindet wie Eiríkr – Ad Hebraeos 11.5: fide Enoch translatus est ne videret mortem et non inveniebatur quia transtulit illum Deus
208 Hgg. von Selmer 1959. 209 Vgl. Selmer 1959, S. 83 (Anm. 9). 210 Cahill 1983, S. 85, 94, 133, 136. 211 Offenbarung 22.5: et nox ultra non erit et non egebunt lumine lucernae neque lumine solis quoniam Dominus Deus inluminat illos et regnabunt in saecula saeculorum. – Innerhalb der altnordischen Literatur ist das Motiv des im Paradies herrschenden ewigen Tags zumindest noch in einer undatierten Weltbeschreibung bezeugt, die erstmals von Simek ediert wurde: Simek 1990 pp. 474–477, dort S. 474, 476.
Helga þáttr Þórissonar
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ante translationem enim testimonium habebat placuisse Deo; „durch seinen Glauben wurde Enoch entrückt, um den Tod nicht zu sehen, und er wurde nicht mehr gefunden, weil Gott ihn entrückte; denn vor seiner Entrückung hatte er ein Zeugnis dafür, dass er Gott gefallen hatte“).²¹² Die christliche Botschaft des Autors ist so deutlich zum Ausdruck gebracht, dass es für Jón Þórðarson im Grunde gar nicht mehr nötig gewesen wäre, in seinem Postskript am Ende der A-Redaktion der Saga in der Flateyjarbók noch einmal ausdrücklich die Höllenqualen zu betonen, die den heidnischen Helden nach dem Tod bevorstehen.²¹³
2.4 Helga þáttr Þórissonar In der Eiríks saga víðfǫrla erscheint der Ódáinsakr ohne Beziehung zu Guðmundr. In anderen Erzählungen erscheint umgekehrt Guðmundr, ohne dass sein Herrschaftsgebiet ausdrücklich mit dem Ódáinsakr assoziiert würde. Dies ist etwa der Fall im Helga þáttr Þórissonar, einer kurzen Fornaldarsaga vermutlich des 14. Jahrhunderts,²¹⁴ die – wie die A-Redaktion der Eiríks saga – u. a. auch in der Flateyjarbók überliefert ist;²¹⁵ beide Texte gehen dort auf denselben Schreiber zurück, Jón Þórðarson.²¹⁶ Der Text beginnt mit der üblichen Erläuterung der Genealogie seines namensgebenden Protagonisten, Helgi Þórisson. Diese bietet dem Erzähler Gelegenheit, gleich zu Beginn die Beziehung von Helgis Vater Þórir zum eigentlichen Helden der Geschichte zu erläutern: Þórir ist ein Freund des Königs Ólafr Tryggvason, in dessen Saga der þáttr eingebettet ist. Die Handlung der Erzählung beginnt darauf mit einer Fahrt der beiden Söhne Þóris in die Finnmark, wo sie mit den Lappen Handel treiben. Auf der Rückreise nach dem Abschluss ihrer Geschäfte machen sie an einem dicht bewaldeten Kap namens Vímund halt. Dort wandert Helgi in den Wald und findet
212 Rowe 2005, S. 153 f. Power weist ferner auf die visionäre Entrückung im Zweiten Korintherbrief hin, bei der ausdrücklich unklar gelassen wird, ob der Entrückte körperlich oder außerhalb seines Körpers in den dritten Himmel entrückt wurde (Ad Corinthios II.12.1–5; Power 1985 [Christian Influence], S. 854; Power 1985 [Journeys], S. 160). 213 Vgl. Rowe 2005, S. 193–196. 214 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 173. Power 1993 (Helga þáttr), S. 280: „late 13th or early 14th century“. 215 Der Text ist hgg. von Ólafur Halldórsson 2000, S. 38–44; Guðbrandur Vigfússon und Unger 1860, S. 359–362. Für eine Zusammenstellung aller Handschriften durch das Fornaldarsögur-Projekt des Nordisk Forskningsinstitut der Universtität Kopenhagen vgl. (15. Mai 2015). Allgemein zum Helga þáttr Þórissonar vgl. etwa Patch 1950, S. 69 f.; Hermann Pálsson und Edwards 1968, S. 12–19 passim; Hamer 1973; Power 1985 (Journeys), S. 158 f. et passim; Power 1985 (Lai de Lanval); Hermann Pálsson 1985 (Helga þáttr); Harris 1989, S. 3; Power 1993 (Helga þáttr); Würth 1991, S. 98 f., 122; Schulz 2004, S. 220–222; Rowe 2004, S. 465–472; Rowe 2005, S. 36, 60, 363; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 173. 216 Hamer 1973, S. 193 und Anm. 7 (S. 208).
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nicht mehr zum Schiff zurück, als plötzlich ein dichter Nebel aufkommt und er obendrein von der Dunkelheit eingeholt wird. Durch den (eigentlich dunklen und nebelverhangenen) Wald sieht er jedoch zwölf rotgekleidete Frauen auf roten Pferden mit goldenem Zaumzeug reiten, von denen eine bei weitem die schönste ist; dieser warten die anderen Frauen auf. Die Frauen versorgen ihre Pferde und bauen ein buntgestreiftes, mit Gold durchwobenes Zelt auf, dessen Mittelpfosten in einer goldenen Kugel endet und in dem die Frauen mit kostbarstem Geschirr ein köstliches Mahl anrichten. Die Herrin lädt Helgi darauf zuerst zum Mahl und danach in ihr Bett ein, das er drei Nächte lang mit ihr teilt; sie ist Ingibjörg, die Tochter Guðmunds von Glæsisvellir. Nach drei Nächten schickt sie Helgi mit zwei Kisten voller Gold und Silber und dem Gebot, Stillschweigen zu bewahren, wieder zu seinem Schiff zurück. Einige Zeit später und zurück in der Heimat, zeichnet sich eines Tages kurz vor Weihnachten schlechtes Wetter ab; Helgi geht darauf mit seinem Bruder zu ihrem Schiff hinab, in das er einen Teil des von Ingibjörg erhaltenen Geldes investiert und in dem er auch den Rest des Geldes versteckt hat. Beim Schiff hören sie jedoch plötzlich einen lauten Krach, und zwei Reiter entführen Helgi. Sein Vater wendet sich darob an König Ólafr; dieser verspricht zu helfen, äußert sich jedoch skeptisch dazu, ob Helgi seiner Familie je wieder nützen wird. Ein Jahr später und wieder in der Weihnachtszeit, treten drei Fremde vor den König in seiner Halle; einer ist Helgi, die zwei anderen stellen sich beide als Grímr vor, Gesandte Guðmunds von Glæsisvellir, die von Guðmundr Freundschaftsgrüße und zwei kostbare Trinkhörner als Geschenke überbringen sollen. König Ólafr lässt die Hörner füllen, vom Bischof segnen und den beiden Grímr zum Trunk reichen; diese bemerken den bischöflichen Segen und beschuldigen Ólafr, ihnen die Freundlichkeit Guðmunds schlecht zu vergelten. Darauf verschütten sie den Inhalt der Hörner, löschen das Licht in der Halle und sind mit einem lauten Krach verschwunden. Ebenso ist von Helgi nichts mehr zu sehen, und als die Gefolgsleute des Königs in der Halle wieder ein Licht entzündet haben, finden sie drei Männer tot vor; die beiden Hörner liegen neben ihnen. Auf den Tag genau ein weiteres Jahr später bringen die beiden Männer namens Grímr Helgi vor den Eingang der Kirche, wo der König eben die Messe hört; dort lassen sie ihn zurück. Der König bemerkt etwas später, dass Helgi blind ist, und lässt sich von ihm seine ganze Geschichte erzählen: Die beiden Grímr hatten den Sturm verursacht, der ihn zu seinem Schiff lockte, von wo sie ihn zu Guðmundr und dessen Tochter Ingibjörg brachten. Auf des Königs Frage, wie es ihm dort gefallen habe, antwortet Helgi, dass es ihm nirgends besser gefallen hätte, und auf die weitere Frage nach Guðmundr schwärmt er, wie unbeschreiblich großartig der Hof Guðmunds war. Darauf fragt der König nach seinem und der beiden Grímr schnellem Verschwinden bei ihrem Besuch im Vorjahr, und Helgi erläutert ihm, dass Guðmundr ihn nur aufgrund der Gebete des Königs geschickt hatte, damit Ólafr sich davon überzeugen konnte, was aus ihm geworden sei; die beiden Grímr aber hätten das gesegnete Bier nicht trinken können und hätten die Männer auf Befehl Guðmunds getötet, da sie zumindest dies
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tun sollten, wenn sie dem König selbst keinen Schaden würden zufügen können. Die Hörner aber sollten König Ólafr von Helgi ablenken. Darauf fragt König Ólafr, warum Helgi nun zurückgekommen sei, und bekommt zur Antwort, dies sei vor allem wegen Ingibjörg, die seinen nackten Körper nicht mehr ohne Schmerzen berühren konnte und nicht mehr mit ihm schlafen wollte, und ferner weil Guðmundr keine Schwierigkeiten mit König Ólafr wollte, der Helgis Rückkehr wünschte. Blind sei er, weil Ingibjörg ihm die Augen ausgekratzt habe mit den Worten, dass die Frauen von Norwegen sich nicht lange an ihm freuen würden. Helgi lebt danach beim König und stirbt genau ein Jahr später. Die Hörner aber bleiben in König Ólafs Besitz bis zu seinem Ende: Er nimmt sie mit sich auf seine letzte Fahrt, und als er von seinem Schiff verschwindet, verschwinden auch sie. Wie schon in der Thorkillus-Erzählung des Saxo Grammaticus, folgt die Berührung mit der Welt des Guðmundr auch im Helga þáttr aus einer Nordfahrt: Die beiden Brüder begeben sich per Schiff in die Finnmark, ans Nordende Norwegens, und auf dieser Fahrt trifft Helgi auf Ingibjörg und verfällt ihr. Ebenso finden die Schönheit der Tochter Guðmunds, die sexuelle Verführung durch diese Tochter und die verderblichen Folgen des Verkehrs mit ihr ein Gegenstück in Saxos Schilderung, wo Guthmundus seine zwölf wunderschönen Töchter als Köder verwendet, um seine Gäste um ihren Verstand und um ihre Heimkehr zu bringen. Die Zwölfzahl der Töchter des Guthmundus spiegelt sich dabei in den zwölf rotgekleideten Frauen des Helga þáttr (auch wenn nur eine davon als Tochter Guðmunds identifiziert wird); und obgleich Helgi im Gegensatz zu den verführten Gefährten des Thorkillus zunächst von seiner Heimkehr nicht abgehalten wird, wird mit seiner baldigen Entführung doch schnell klar, dass auch er dem Reich des Guðmundr verfallen und für die Welt der Menschen verloren ist. Die engen Entsprechungen zwischen dem Helga þáttr und der Thorkillus-Episode machen wahrscheinlich, dass zwischen den beiden Texten zumindest ein indirekter Zusammenhang bestehen dürfte. Trotz aller Verwandtschaft ist der Helga þáttr jedoch eine Erzählung von gänzlich anderem Charakter als die Abenteuerfahrt des Thorkillus. Dies wird spätestens mit der Schilderung Ingibjörgs und ihrer Begleiterinnen deutlich, die den Leser nicht wie die Thorkillus-Erzählung in die Bilderwelt einer heroisch-archaisch stilisierten Vorzeit versetzen will, sondern die ganz der zeitgenössischen Bilderwelt des Spätmittelalters angehört. Die Schilderung des ersten Erscheinens der zwölf Frauen als rotgekleidete Reiterinnen auf roten Pferden (þęr voro allar a ravdvm hestvm ok j ravdvm reid kapvm) wird von Andrew Hamer dabei in einen biblischen Kontext gestellt:²¹⁷ Ingibjörg versteht er als Verkörperung der „Hure Babylon“ der Offenbarung des Johannes, die in Purpur, Scharlach und Gold gekleidet auf einem scharlachroten Tier sitzt (Offenbarung XVII.1–6):
217 Hamer 1973, S. 202.
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et venit unus de septem angelis qui habebant septem fialas et locutus est mecum dicens veni ostendam tibi damnationem meretricis magnae quae sedet super aquas multas ²cum qua fornicati sunt reges terrae et inebriati sunt qui inhabitant terram de vino prostitutionis eius 3et abstulit me in desertum in spiritu et vidi mulierem sedentem super bestiam coccineam plenam nominibus blasphemiae habentem capita septem et cornua decem 4et mulier erat circumdata purpura et coccino et inaurata auro et lapide pretioso et margaritis habens poculum aureum in manu sua plenum abominationum et inmunditia fornicationis eius 5et in fronte eius nomen scriptum mysterium Babylon magna mater fornicationum et abominationum terrae 6et vidi mulierem ebriam de sanguine sanctorum et de sanguine martyrum Iesu.²¹⁸ Und es kam einer von den sieben Engeln, die die sieben Schalen hatten, und er sprach mit mir und sagte: „Komm, ich werde dir die Verdammung der großen Hure zeigen, die an vielen Wassern sitzt, mit der die Könige der Welt Unzucht getrieben haben. Und die, die die Erde bewohnen, sind trunken vom Wein ihrer Hurerei.“ Und er brachte mich im Geiste fort in die Wüste, und ich sah die Frau: Sie saß auf einer scharlachroten Bestie voller blasphemischer Namen, die sieben Köpfe und zehn Hörner hatte. Und die Frau war gehüllt in Purpur und Scharlach und bedeckt mit Gold und Edelstein und Perlen; sie hatte einen goldenen Kelch in ihrer Hand, der voll war mit Abscheulichkeiten und der Unreinheit ihrer Unzucht, und auf ihrer Stirn war geschrieben ein Name, ein Geheimnis: „Babylon, große Mutter der Unzüchtigkeiten und der Abscheulichkeiten der Erde.“ Und ich sah die Frau trunken vom Blut der Heiligen und vom Blut der Märtyrer Jesu.
Hamers Vorschlag ist in seiner Darstellung, die sich auf das Zitieren nur weniger kurzer Bibelversausschnitte beschränkt, unmittelbar überzeugend: Wie die „Hure Babylon“ ist Ingibjörg rot gekleidet, reitet auf einem roten Tier und scheint sexuell ausgesprochen freizügig.²¹⁹ Vergleicht man jedoch den Textausschnitt als Ganzen mit der Schilderung des Helga þáttr, so wird schnell deutlich, wie ausgesprochen gra-
218 Hgg. von Weber et al. 1983. 219 Die von Hamer 1973, S. 202 angenommene Promiskuität Ingibjörgs mag impliziert sein, wird strenggenommen aber nirgends ausgesprochen. Ingibjörg ergreift in ihrem Umgang mit Helgi schnell und deutlich die Initiative, aber dass sie dies auch bei anderen Männern als Helgi tun würde, wird nirgends auch nur angedeutet; vielmehr scheint sie mit Helgi eine feste Beziehung einzugehen, bis der Umgang mit ihm nach dem Eingreifen König Ólafs für sie unerträglich wird. Auch ansonsten neigt Hamer zu Überinterpretationen; so etwa, wenn er die Datierung des zweimaligen Erscheinens der beiden Grímr am Hof Ólafs auf den achten Jultag zum Ausgang für umfangreiche numerologische Spekulationen nimmt – wobei er Nachweise für zentrale Punkte seiner Argumentation (wie z. B. eine angebliche Assoziation des achten Tags nach Weihnachten mit der Wiederauferstehung) schuldig bleibt (Hamer 1973, S. 195–199; die einzige Signifikanz der Zahl dürfte darin bestehen, dass das Datum einen unter vielen Querverweisen auf den Norna-Gests þáttr darstellt, wozu vgl. Rowe 2004, S. 465–472). Auch Hamers Gleichsetzung der Entführung Helgis nach Glæsisvellir mit der Babylonischen Gefangenschaft und die auf dieser Basis postulierte Identifizierung der Glæsisvellir mit Babylon (Hamer 1973, S. 199 f.) wirkt keineswegs zwingend, nicht zuletzt, da Helgi seinen Aufenthalt bei Guðmundr und Inigbjörg zunächst vorbehaltlos zu genießen scheint, bis die Gebete des Königs zu seiner Vertreibung aus dem Reich Guðmunds führen. Die Parallele reicht letztlich nicht darüber hinaus, dass es sich bei den Glæsisvellir wie bei Babylon um Gegenwelten zur Welt der jüdisch-christlichen Heilserwartung handelt. Dies ist jedoch eine etwas triviale Parallele und dürfte zum besseren Verständnis des Helga þáttr wenig beitragen.
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phisch beide Schilderungen sind, sowohl diejenige der „Hure Babylon“ als auch diejenige Ingibjörgs und ihrer Frauen – und wie wenig die beiden hier jeweils gezeichneten Bilder letztlich miteinander gemeinsam haben: Während die „Hure Babylon“ als weltbedrohende, blutgierige, teuflische Figur auf einem siebenköpfigen, gehörnten Reittier beschrieben wird, bewegt sich die Schilderung Ingibjörgs ganz im Rahmen spätmittelalterlicher Darstellungen edler Damen in der verfeinerte Bilderwelt der höfischen Adelskultur. Eine besonders anschauliche, wenn auch etwas spätere (um 1500) graphische Parallele stellt vielleicht die sechste Tapisserie der Serie La Dame à la licorne dar, einer Serie von sechs Gobelins, die Darstellungen eines Löwen, einer Dame und eines Einhorns zu Allegorien arrangieren. Die sechste Tapisserie steht dabei unter dem (nicht eindeutig geklärten) Motto „Mon seul désir“. Sie zeigt eine in Rot und Gold gekleidete Dame, der eine in Rot gekleidete Dienerin ein Schmuckkästchen reicht; beide stehen vor einem aufwendig gemusterten, in Dunkelblau gehaltenen Zelt, dessen Mittelpfosten in einer abgeflachten goldenen Kugel und Spitze ausläuft. Ein Einhorn und ein Löwe halten den Zelteingang offen. Den Hintergrund der Darstellung nehmen vor allem florale Ornamente auf einem tiefroten Grund ein.²²⁰ Diese Darstellung zeigt ebenso viele – wenn auch andere – Parallelen zur Schilderung des Helga þáttr wie die von Hamer angeführte Stelle der Offenbarung: Während Hamer als biblisch-nordische Vergleichspunkte auf (1) die rote Kleidung Ingibjörgs, (2) ihr rotes Pferd und ihre (3) „promiscuity“ verweist,²²¹ entspricht die Dame à la licorne dem Helga þáttr in Hinblick auf (1) die rote Kleidung der Dame, (2) die Anwesenheit einer ebenfalls rotgekleideten Dienerin und (3) das prächtige Zelt mit dem von einer goldenen Kugelspitze bekrönten Mittelpfosten. Dies sollte einerseits davor warnen, den von Hamer angeführten Parallelen eine allzu große Signifikanz beizumessen: Sie könnten zwar in der Tat eine vom Autor beabsichtigte Deutungsebene des Textes darstellen, könnten aber ebensogut auf Zufall beruhen. Zugleich illustrieren die Ähnlichkeiten zwischen dieser Szene des Helga þáttr und der Dame à la licorne auch, dass die Schilderung des ersten Treffens zwischen Helgi und Ingibjörg diese Erzählung aus einem (und sei es nur scheinbar) rein nordischen Rahmen in den einer zeitgenössischen paneuropäischen Oberschichtenkultur verschiebt; dabei wird in Vorgriff auf die spätere Betonung der Pracht von Guðmunds Hof die Erscheinung seiner Tochter auf eine Stufe mit (Phantasien über) die Pracht kontinentaler Adelskultur gestellt. Als literarische Motive dürften die meisten Details des ersten Treffens zwischen Ingibjörg und Helgi dabei durch Übersetzungen altfranzösischer arthurischer Dichtung in die isländische Literatur Eingang gefunden haben. Rosemary Power hat hier nachweisen können, dass die literarische Vorlage für die Begegnungsszene des Helga þáttr sogar unmittelbar greifbar ist: das Lai de Lanval
220 Paris, Musée de Cluny, CL 10831–10834. Vgl. Delahaye 2007, bes. S. 38–41, 47 f.; für entsprechende Darstellungen von Zelten aus dem 14. Jahrhundert vgl. etwa Koch 1978, S. 51, 82, 150, 151. 221 Siehe oben Anm. 219.
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der Marie de France (ursprünglich verfasst in der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts). Im Lai de Lanval trifft der Ritter Lanval in einem idyllischen Waldstück auf eine in Pelz und Purpur gekleidete anderweltliche Frau in einem prachtvollen, von einem goldenen Adler bekrönten Zelt, die ihm ein Mahl, ihre Liebe und eine stets volle Geldbörse anbietet, im Gegenzug aber das Schweigen des Ritters über ihre Liebesbeziehung verlangt. Die Übereinstimmungen zwischen dem Beginn des Helga þáttr und dem Lai de Lanval reichen bis in die Details: die rotgekleidete anderweltliche Frauengestalt, die die sexuelle Initiative ergreift; das gemeinsame Essen; das goldbekrönte Zelt; die reichen Gaben der Frauengestalt; und selbst das Schweigegebot des Lai de Lanval, das sich in Helgis Schweigen über sein Treffen mit Ingibjörg im ersten Teil der Erzählung spiegeln dürfte. Diese Parallelen sind so detailliert, dass sie auf die direkte Benutzung des Lai de Lanval durch den Autor des Helga þáttr hinweisen – ein Schluss, der umso naheliegender ist, als das Lai de Lanval im 13. Jahrhundert ins Altwestnordische übersetzt wurde.²²² Dabei dürfte diese Entlehnung des Beginns der Geschichte auch die Charakterisierung Inigbjörgs nicht unbeeinflusst gelassen haben, deren explizites sexuelles Angebot an Helgi in dieser Form aus dem Lai de Lanval stammt,²²³ wenngleich die Funktion der Töchter des Guthmundus bei Saxo als Verführerinnen nahelegt, dass es sich bei dieser prominenten Sexualität um einen wenn nicht in den Details, so doch im Allgemeinen seit langem etablierten Charakterzug der Töchter Guðmunds handelte. Dass Helgi vor seiner Verführung durch Inigbjörg von einem plötzlich aufziehenden Nebel von seinen Gefährten abgeschnitten wird, legt nahe, dass sein Zusammentreffen mit Ingibjörg kein Zufall, sondern von Guðmunds Tochter geplant worden war: Helgi tappt in eine vorsichtig gelegte Schlinge, in der er sich daraufhin willig fangen lässt. Das Motiv des Nebels impliziert dabei wieder zweierlei: zum einen eine gewisse übernatürliche Macht Ingibjörgs, die allem Anschein nach diesen Nebel heraufbeschwören kann (denn dass er nur zufällig Helgi in die wartenden Arme Ingibjörgs treibt, wird kaum anzunehmen sein), und zum anderen, dass das Treffen zwischen Ingibjörg und Hegi in einem anderweltlichen Gefilde stattfindet. Ihr Nebel hat als Markierung der Grenze zwischen Menschenwelt und einem jenseitigen Gefilde unmittelbare Parallelen in einer Reihe anderer bereits erwähnter nordischer Erzäh-
222 Power 1985 (Lai de Lanval); Power 1985 (Journeys), S. 158; Power 1993 (Helga þáttr); vgl. Rowe 2004, S. 465; Larrington 2011, S. 83; Kalinke 2011 (Arthurian Echoes), S. 154. Le Lai de Lanval ist mitsamt der erhaltenen Teile seiner altnordischen Übersetzung hgg. von Rychner und Aebischer 1958. Für eine neuere Ausgabe der altwestnordischen Übersetzung vgl. Cook und Tveitane 1979, S. 212–227. Zur Datierung der altnordischen Übersetzung siehe Cook und Tveitane 1979, S. XIV f. Allg. zum Lanval und seiner Übersetzung vgl. ferner Larrington 2011, S. 77 f., 82–85; Harf-Lancner 1984, S. 250–254; Kalinke 1981, S. 37–39; 44 et passim; Koubichkine 1972; Hoepffner 1959, S. 118 f. Die unpublizierte Abhandlung von Budal 2009 war mir nicht zugänglich. Für eine Übersetzung des Lanval vgl. etwa Burgess und Busby 1999, S. 73–81; Langosch und Lange 1980, S. 285–297. 223 Power 1985 (Lai de Lanval), S. 159.
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lungen: Auch Eiríkr hatte in der Eiríks saga nach seinem Sprung durch das Maul des Drachen vor dem Erreichen des Ódáinsakr einen Dunst zu durchschreiten, Hadingus durchquerte auf seiner Reise in die Unterwelt eine Nebelbank, und die von Adam von Bremen beschriebene Expedition friesischer Edelleute erreichte vor dem Ende der Welt eine Region dunklen Nebels. So ist für den Leser des Helga þáttr schon nach wenigen Zeilen deutlich, dass die Erzählung an der Grenze zwischen der Welt der Menschen und einer Welt jenseits davon spielt. Bei Helgis erster Begegnung mit ihr scheint diese Welt noch eine wohlwollende zu sein. Während der folgenden Weihnachtstage wird er erneut in die Welt Ingibjörgs entführt, und dieses Mal nimmt die Entrückung in diese Welt eine weit aggressivere Form an, die bereits darauf hinweist, dass die Geschichte wohl nicht gut enden wird. Überraschenderweise geht es Helgi nach seiner Entführung im Reich Guðmunds zunächst jedoch ausgesprochen gut; König Ólafr wird er später erzählen, dass es ihm niemals irgendwo besser gefallen hat. Es gehört zur grundlegenden Ambivalenz des Helga þáttr, dass Helgis Glück in den Glæsisvellir erst durch das spirituelle Eingreifen des christlichen Königs Ólafr zerstört wird, der um seine Rettung betet und damit seinen Aufenthalt für seine Entführer/Gastgeber zu einer Last macht: Ingibjörg, die Helgi zuvor so sehr begehrt hatte, kann seinen Körper nun plötzlich nicht mehr berühren. Es ist vorgeschlagen worden, dass Ingibjörgs plötzliche Distanzierung von Helgi die Distanzierung eines Wesens der heidnischen Mythologie von einem Christen sei.²²⁴ Eine entsprechende Spannung ist am Beginn der Erzählung jedoch noch nicht vorhanden; ganz im Gegenteil ist Ingibjörgs Verlangen nach Helgi so stark, dass sie die beiden Grímr losschickt, um Helgi zu ihr zu bringen. Dass Ingibjörg am Ende der Erzählung Helgis einfach überdrüssig geworden ist, wie gleichfalls angenommen wurde,²²⁵ ist nicht unmöglich, erklärt aber nicht die bittere Trennung, bei der sie Helgi blendet und verflucht. Ingibjörg verhält sich nicht einfach, als wäre sie Helgis überdrüssig, sondern sie verhält sich rachsüchtig – und wofür sie sich rächt, ist, dass sie ihrem Liebhaber aufgrund der Gebete des Königs nun nicht mehr nahekommen kann:²²⁶
224 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 173; Hermann Pálsson 1985 (Helga þáttr), S. 148. 225 Würth 1991, S. 99. 226 Tietz 2012, S. 145; Rowe 2004, S. 471; Schulz 2004, S. 221; angedeutet schon von Power 1985 (Christian Influence), S. 853; Power 1985 (Journeys), S. 158; Krappe 1943, S. 308, 316. – Nicht überzeugend ist der Vorschlag von Hermann Pálsson und Edwards 1968, S. 16, hier einfach ein folkloristisches Motiv sehen zu wollen (Helgis Blendung sei „a traditional punishment“ für sexuellen Umgang mit einer anderweltlichen Frau). Als Beleg für dieses vorgeblich traditionelle Motiv verweisen Hermann Pálsson und Edwards nur auf die englische Tam Lin-Sage (ibidem). Die Ähnlichkeit zwischen dieser Sage und dem Helga þáttr hat jedoch nur eine sehr beschränkte Reichweite, da der englische Sagenheld sich aus letzlich vor allem opportunistischen Gründen seiner vormahligen Elfendame zugunsten einer menschlichen Frau entzieht, worauf die erboste Elfenkönigin aufzählt, was sie ihm angetan hätte, hätte sie dies vorhergesehen: Seine Blendung ist dabei nur ein Punkt und wird obendrein we-
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konvngr s(pvrdi). hvi fortv nv brott ǫdro sínní. H(elgi) s(varar). Jngibiǫrg olli þvi. hon þottíz ecki mega líggía hía mer nema med meinlętvm ef hon kęmi vid mik beran ok þvi for ek mest j brott enda villdi G(vdmvndr) konvngr eckí þreyta vid ydr. þegar hann vissi at þer villdvt mik brott hafa.²²⁷ Der König fragte: „Warum bist du jetzt nochmals weggegangen?“ Helgi antwortet: „Ingibjörg war der Grund dafür. Sie dachte sich, dass sie nicht bei mir liegen könnte, außer unter Schmerzen, wenn sie mich nackt berühren würde, und vor allem deswegen bin ich weg. Außerdem wollte König Guðmundr nicht mit euch streiten, sobald er erfuhr, dass ihr mich fort haben wolltet.“
Das meinlæti, vor dem Ingibjörg sich bei der Berührung von Helgis nacktem Körper fürchtet, bezeichnet Schmerzen, Krankheit und – in ekklesiastischen Kontexten – Selbstkasteiung.²²⁸ Das damit bezeichnete Leiden kann erheblich sein: So kann Jarl Hákon im Þorleifs þáttr jarlaskálds (der wie der Hélga þáttr in die Ólafs saga Tryggvasonar in der Flateyjarbók eingebettet ist)²²⁹ einen ganzen Winter und einen großen Teil des folgenden Sommers í meinlætum darniederliegen.²³⁰ Der Effekt der Gebete Ólafs auf die Beziehung zwischen Ingibjörg und Helgi dürfte derselbe sein wie der Effekt des bischöflichen Segens auf das Bier, das der König den beiden Grímr reichen lässt: Die heidnischen Männer sind nicht mehr in der Lage, das gesegnete Bier zu trinken, und ebenso kann die heidnische Frau den Körper ihres Geliebten nicht mehr berühren, nachdem er unter den Einfluss der Gebete Ólafs geraten ist. Ingibjörgs wütender Angriff auf Helgi mag sich somit als Reaktion darauf erklären, dass ihr Geliebter ihr gewissermaßen gewaltsam entzogen wird. In diesem Sinne mag auch ihre Bemerkung zu verstehen sein, dass die Frauen Norwegens sich nicht lange an Helgi freuen werden: In ihrer Bezugnahme auf andere Frauen kommt ihre Eifersucht zum Ausdruck, und es mag gerade diese Eifersucht sein, die sie dazu bringt, gewalttätig zu werden und ihren (früheren und vielleicht immer noch) Geliebten zu blenden. Ingibjörg, die zuvor als eine Figur mit zumindest einer gewissen übernatürlichen Macht gezeichnet wurde, folgt hier implizit dem Beispiel einer anderen heidnischen Zauberin und rächt sich für den Verlust ihrer Liebe ähnlich gewalttätig wie Medea. Dieses Ende ist umso auffallender, als der Beginn der Erzählung gerade ein Zitat des Lai de Lanval (bzw. seiner altnordischen Übersetzung) verwendet, um die
der vollzogen noch wird sie dem Ritter als Strafe für den Geschlechtsverkehr mit der Elfenfrau angetragen, wie es Hermann Pálsson und Edwards implizieren; vielmehr ist die Tirade die Reaktion der Elfenkönigin auf die Flucht des Ritters (vgl. Jacobs 2002, S. 295–297). In beiden Fällen liegt hier somit zwar eine (theoretisch) gewaltsame Eifersucht vor, aber darüber gehen die Ähnlichkeiten nicht überzeugend hinaus, und für sich genommen ist dies ein zu geläufiges literarisches Motiv, um ihm als Parallele nennenswerte Signifikanz beimessen zu können. 227 Text: Ólafur Halldórsson 2000, S. 43 f. 228 Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚mein-læti‘. 229 Vgl. Würth 1991, S. 34 f. 230 Hgg. von Guðbrandur Vigfússon und Unger 1860, S. 207–215, dort S. 212 (§ 171).
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Geschichte in den Rahmen der spätmittelalterlichen kontinentalen Adelskultur zu rücken.²³¹ In dieser arthurischen Dichtung trifft der edle, aber mittellose Ritter Lanval in einem Wald auf eine wunderschöne Frau, die ihn in einem prächtigen Zelt erwartet, ihn unter dem Gebot absoluter Verschwiegenheit zu ihrem Geliebten macht und mit unbegrenzten Geldmitteln beschenkt. Etwas später bietet sich jedoch auch Arthurs Gemahlin dem Ritter als Geliebte an; er weist sie empört zurück, worauf die gekränkte Königin Lanval vor ihrem Mann Arthur beschuldigt, er hätte sie zu verführen versucht und erniedrigt. Da Lanval während seiner Auseinandersetzung mit der Königin den Fehler begangen hat, seine geheime Geliebte zu erwähnen, findet er sich obendrein von seiner Liebsten verlassen. Als die Angelegenheit zur Verhandlung kommt, tritt Lanvals Geliebte schließlich in letzter Minute doch noch auf, klärt den Hergang der Ereignisse und rettet so das Leben ihres Ritters, mit dem sie daraufhin zur Insel Avalon davonreitet. Keiner von beiden wird je wieder gesehen. Der Helga þáttr lässt sich zu einem gewissen Grad als systematischer Gegenentwurf zu einer solchen Darstellung des Verhältnisses zwischen christlicher Gesellschaft und (arthurischer) Anderwelt deutet. In der Lanval-Dichtung ist der König – dort Arthur – durchgehend negativ gezeichnet: Er vernachlässigt seine Pflichten gegen seinen Gefolgsmann Lanval, der von ihm (im Gegensatz zu allen anderen Rittern an seinem Hof) keinerlei finanzielle Unterstützung erhält, er wird von seiner Frau hintergangen und anstatt die Lügen seiner Frau zu durchschauen, lässt er seine Höflinge über Lanval zu Gericht sitzen, da er ihn zwar tot sehen, dafür aber die Verantwortung nicht übernehmen will. Der König dieser arthurischen Welt ist ebenso schwach von Charakter wie von Urteilsvermögen. Die anderweltliche Dame hingegen, die sich Lanval zu ihrem Geliebten nimmt, ist nicht nur freigebig, sondern auch milde und nachsichtig: Als Lanval die Avancen der Königin zurückweist, geht seine Zunge mit seinem Verstand durch und er bricht sein Versprechen, seine Geliebte niemals irgendjemandem gegenüber zu erwähnen. Obwohl diese ihm angekündigt hatte, er würde sie niemals wiedersehen, wenn er ihre Beziehung je verraten würde, vergibt sie ihm diesen Fehler und rettet ihn vor den Nachstellungen der Königin und Arthurs Mangel an Urteilsvermögen. Die Sympathien der Marie de France liegen in ihrem Lai de Lanval ganz auf Seiten der anderweltlichen Protagonistin. Ólafr Tryggvason im Helga þáttr hingegen wird als ein König gezeichnet, der stets ausgesprochene Voraussicht zeigt. Schon als Helgis Vater ihn mit der Bitte aufsucht, ihm seinen Sohn wieder zurückzubringen, sieht der König, dass Helgi in dieser Welt nichts mehr zu hoffen hat. Er durchschaut den heidnisch-übernatürlichen Charakter der beiden Grímr und ihrer Hörner, die er durch einen bischöflichen Segen für die beiden Grímr unbenutzbar und für alle anderen ungefährlich machen lässt. Seine Autorität erstreckt sich auch auf diese heidnische Anderwelt – selbst Guðmundr will keinen Streit mit ihm – und er sorgt für seine Freunde und Gefolgsleute, repräsentiert
231 Siehe oben Anm. 222.
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durch Þórir. Ólafr erscheint so ganz als ein positives Gegenbild zum Arthur des Lai de Lanval – er ist ein Arthur, wie er hätte sein sollen. Das Bild der Anderweltsfrau wird parallel hierzu gleichfalls umgekehrt: Aus der vorbehaltlos hilfreichen, liebevollen Dame, die den Helden am Ende rettet und zu einem seligen Leben in Avalon entrückt, wird die rachsüchtige Furie, die Helgi nicht halten kann und lieber verstümmelt und seinem Tode weiht, als ihn sterblichen Frauen zu überlassen. Auf dieser Ebene fügt sich der Helga þáttr in der Flateyjarbók bruchlos in das Programm seines Schreibers Jón Þórðarson ein, wie dieser es in seinem Postskript zur Eiríks saga zum Ausdruck bringt, wo er die Sinnlosigkeit der Beschäftigung mit Erzählungen über heidnische Helden betont, auf die doch nur Strafen warten.²³² Auf einer anderen Ebene enthält der Helga þáttr zugleich jedoch eine grundlegende Ambivalenz, die sich so im märchenhaft einfachen Lai de Lanval (und der Eiríks saga) nicht findet. Falls der Autor des Helga þáttr eine einfache Umkehrung der Motive des Lai de Lanval angestrebt hatte (schlechter König und gute Anderweltsfrau > guter König und böse Anderweltsfrau), so ist ihm dies nicht gelungen; denn es heißt zwar über Guðmundr: ok þat hefir ek heyrt s(agt) af Gvdmvndi af G(lasis) v(ǫllvm) at hann se míǫg fíǫlkvnnígr ok illv megí hellz vid hann skípta ok illa ero þeir menn komnir er vndir hans valldi ero ef ver męttim nockvra bot a vínna.²³³ Und ich habe über Guðmundr von Glæsisvellir sagen gehört, dass er sehr zauberkundig sei, und ganz besonders schlecht mag es einem ergehen, der mit ihm zu tun zu hat, und in eine schlechte Lage sind die Männer gekommen, die in seiner Gewalt sind, selbst wenn wir in der Lage wären, eine Besserung herbeizuführen.
Im tatsächlichen Verlauf der Geschichte ist Helgi jedoch nicht primär Opfer Guðmunds oder Ingibjörgs, sondern vielmehr der Auseinandersetzung zwischen dem christlichen König und den alten heidnischen Mächten, in deren Verlauf er gewissermaßen unter die Räder kommt. Die Erzählung mag die uneingeschränkt positive Wertung der (arthurischen) erotisch-ritterlichen Anderwelt des Lai de Lanval ablehnen;²³⁴ doch letztlich bleibt die Übersetzung dieser Welt in einheimische nordische Motive und die Umkehrung ihrer Wertung nichtsdestoweniger ambivalent – diese christlich umgewertete Anderwelt ist zerstörerisch, aber nicht aus einer intrinsischen Bösartigkeit, sondern nur aus ihrer Niederlage gegen das Christentum heraus. Darin erinnert sie an eine ähnlich ambivalente Episode des Þiðranda þáttr ok Þórhalls, einer kurzen Erzählung des späten 12. Jahrhunderts, die ebenfalls in der Flateyjarbók in der Ólafs saga
232 Siehe oben S. 42. 233 Text: Ólafur Halldórsson 2000, S. 42. 234 Vgl. Power 1993 (Helga þáttr).
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Tryggvasonar überliefert ist.²³⁵ Dort lässt sich Þiðrandi trotz vorhergehender Warnung während des Herbstopferfests nachts aus dem Haus locken, wo er zwei Gruppen von je neun Frauen begegnet, die eine ganz in Weiß gekleidet und auf weißen Pferden reitend, die andere in Schwarz gekleidet und mit Schwertern bewaffnet. Ehe ihm die weißen Frauen zur Hilfe eilen können, fallen die schwarzgekleideten Frauen über ihn her, und Þiðrandi stirbt am nächsten Morgen an seinen Wunden. Dieser Vorfall wird daraufhin so erklärt, dass die schwarzen Frauen die heidnischen fylgjur der Familie gewesen seien, die sich mit dem kommenden Glaubenswechsel nicht abfinden wollten; die weißen Frauen aber seien Vertreterinnen der kommenden neuen Religion gewesen, deren Hilfe man nach dem Religionswechsel haben werde. Ebenso wie im Helga þáttr das durch Guðmundr vertretene Heidentum verdammt und zur Quelle von Unheil und Leiden erklärt wird, folgt auf diese Geschehnisse auch im Þiðranda þáttr eine Verdammung der alten Religion und ein Preis des kommenden Christentums. In beiden Erzählungen wird jedoch nie die Ambivalenz aufgehoben, die sich daraus ergibt, dass weder im einen noch im anderen Fall die heidnischen Mächte aus eigener Initiative heraus Schaden verursachen, sondern dass es immer erst die Herausforderung durch das Christentum ist, die zu Gewalt und Tod führt, und dass das sich daraus ergebende Leid von den christlichen Mächten nicht verhindert werden kann. Der Helga þáttr rückt diese Ambivalenz zudem durch das Urteil des Hauptleidtragenden in ein grelles Licht: Selbst nach seiner Blendung sagt Helgi über das Reich Guðmunds, dass es ihm nirgendwo besser gefallen hat als dort – und verwendet dabei eine auffallend ähnliche Formulierung wie Eríkr in seinem Gespräch mit dem Engel über den Ódáinsakr bzw. das irdische Paradies.²³⁶ Dabei ließe sich, wie Rowe bemerkt hat, gerade in dieser Bemerkung ein Hinweis darauf sehen, dass Helgi zum Apostaten geworden ist: Helgi preist die Anderwelt Guðmunds, während Bemerkungen zu irgendwelchen christlichen Überzeugungen Helgis völlig fehlen – was bedeutet, dass er in einem fragwürdigen Heilsstatus stirbt.²³⁷ Dies unterstreicht die Paradoxie, dass der Helga þáttr zwar einen Teil der Saga Ólafr Tryggvasons darstellt, dennoch aber die Grenzen der Macht dieses Königs aufzuzeigen scheint: Ólafr kann Helgi aus den Glæsisvellir zurückholen, aber er kann ihn nicht retten, weder physisch noch spiri-
235 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 375; hgg. von Guðbrandur Vigfússon und Unger 1860, S. 419–421; Ólafur Halldórsson 1961, S. 145–150. 236 Der Engel fragt Eiríkr (Jensen 1983, S. 84 [A-Redaktion, Flateyjarbók]): seg þu mer huersu þer litz land þetta. Æirekr s(egir). oska uel ok hueriu landi likar mer þetta bettr. Dazu vgl. Helgis Antwort auf die Frage des Königs, wie es ihm bei Guðmundr gefallen habe: Allgott segir hann ok huergi hefuir mer betra þott. (Flateyjarbók-Fassung des Helga þáttr, Guðbrandur Vigfússon und Unger 1860, S. 361, vgl. im Wesentlichen identisch Ólafur Halldórsson 2000, S. 43). Mag in der so auffallend ähnlichen Bewertung des Ódáinsakr und des Reichs Guðmunds die Assoziation zwischen beiden wieder anklingen, die in der Hervarar saga explizit gemacht wird, wenn dort der Ódáinsakr als ein Teil von Guðmunds Reich aufgefasst ist? 237 Rowe 2004, S. 470.
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tuell.²³⁸ Die Moral der Geschichte mag in dieser Leseweise erneut eine ganz ähnliche sein, wie sie in Jón Þorðarsons Postskript zur Eiríks saga ausgedrückt wird: Die Verlockung des Ruhmes und Glanzes des Heidentums ist groß, aber man muss sich davor hüten, denn es führt ins Verderben.²³⁹ Der Helga þáttr mag sich als Kommentar hierzu lesen lassen, der den Nachtrag hinzufügt, dass das Heidentum nicht nur die als Heiden geborenen Heiden ins Verderben führt, sondern auch die Christen, die sich davon verlocken lassen;²⁴⁰ und wie schon Rowe die Moral der Erzählung zusammenfasst: Einen Christen, der sich vom Heidentum angezogen fühlt, kann nicht einmal ein König Ólafr retten.²⁴¹ Eine solche Deutung würde eine schlüssige Interpretation der gesamten Erzählung bieten – wäre da nicht die in ihrer Signifikanz gänzlich unklare Schlussszene, in der König Ólafr die beiden Hörner auf seiner letzten Fahrt mit sich nimmt und sie zusammen mit dem König verschwinden. Auch hier mag abschließend noch einmal die den gesamten þáttr durchziehende Ambivalenz an die Oberfläche treten, die sich zwar immer wieder in eine christlich-moralische Gesamtdeutung der Erzählung einordnen, doch nie völlig auflösen lässt. Freilich tritt hier kein Rest heidnischen Denkens hervor (immerhin stammt der Text aus dem 14. Jahrhundert!), sondern die literarische Umsetzung einer Warnung: Sich mit dem Heidentum einzulassen, heißt für einen Christen, alle (Heils-)Gewissheit aufzugeben und sich in einer amorphen Welt von Trugbildern zu verlieren, wo nichts mehr ist, was es scheint, und wo nichts den Wanderer mehr davon abhält, vom Weg abzukommen.
2.5 Norna-Gests þáttr und Hálfdanar saga Eysteinssonar An die beiden eben besprochenen Texte – die Eiríks saga víðfǫrla und den Helga þáttr Þórissonar – schließen sich zwei Sagas an, in denen die Glæsisvellir/Ódáinsakr-Thematik kurz erwähnt, aber nicht detailliert genug behandelt wird, um eine ausführliche Diskussion dieser Erzählungen als ganzer zu rechtfertigen: der Norna-Gests þáttr und die Hálfdanar saga Eysteinssonar. Zumindest die einschlägigen Bezugnahmen auf die Motive der Glæsisvellir und des Ódáinsakr seien jedoch kurz angesprochen. Der Norna-Gests þáttr, eine kurze Vorzeitsaga wohl des frühen 14. Jahrhunderts,²⁴² enthält an einer Stelle einen Verweis auf Geschehnisse des Helga þáttr. Diese dienen
238 Rowe 2004, S. 470 f. 239 Allgemein zum predigerhaften, anti-heidnischen Ton des Helga þáttr vgl. schon Hermann Pálsson und Edwards 1968, S. 19. 240 Dies ist natürlich nur in einer synchronen Leseweise der Ólafs saga in ihrer Fassung in der Flateyjarbók der Fall; historisch wurde der Helga þáttr schon ein halbes Jahrhundert vor Jón Þórðarson der Saga hinzugefügt: Rowe 2004, S. 472. Zu Jón Þorðarsons Postskript zur Eiríks saga vgl. Rowe 2005, S. 193 f. 241 Rowe 2004, S. 471. 242 Würth 1993, S. 435.
Norna-Gests þáttr und Hálfdanar saga Eysteinssonar
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dabei als zeitlicher Referenzpunkt innerhalb der Ólafs saga Tryggvasonar, wo der Norna-Gests þáttr unmittelbar vor dem Helga þáttr erscheint:²⁴³ An der fraglichen Stelle wird festgestellt, dass Norna-Gestr in dem Jahr an den Hof König Ólafr Tryggvasons gekommen sei, in dem auch die beiden Männer namens Grímr von Guðmundr von Glæsisvellir (bzw. hier: Glasisvellir) zu ihm kamen und ihm von Guðmundr die beiden Hörner brachten. Für die eigentliche Handlung des Norna-Gests þáttr spielt dieser Verweis keine Rolle; vielmehr dient er nur dazu, eine Querverbindung zwischen zwei unmittelbar aufeinander folgenden Episoden der Ólafs saga herzustellen.²⁴⁴ An Neuem, das nicht im Helga þáttr erscheint, fügt der Norna-Gests þáttr nur hinzu, dass die beiden Hörner – wie ihre zwei Überbringer – ebenfalls jeweils den Namen „Grímr“ getragen hätten.²⁴⁵ Die Hálfdanar saga Eysteinssonar ist eine Vorzeitsaga, die zumeist in das frühe 14. Jahrhundert datiert wird;²⁴⁶ ihre Handlung spielt vornehmlich im Osten um das Baltikum und in Bjarmaland. Die Ereignisse der Saga kommen in Gang, als König Eysteinn auf einem Plünderzug das Reich König Hergeirs erobert und den König selbst tötet, es ihm jedoch nicht gelingt, seine Macht endgültig zu konsolidieren: Zwar kann er zunächst die Herrschaft über das Land gewinnen, aber Hergeirs treuer Jarl Skúli und die Tochter des Königs, die als Ziehtochter bei Skúli lebt, entkommen (K. 2–5). Dieser Fehler holt König Eysteinn drei Jahre später in Gestalt zweier Grímr wieder ein: Eines Tages geht ein großes Handelsschiff, das von Osten her kommt, vor der finnischen Küste verloren, und nachdem schon alle Schiffer tot geglaubt sind, kommen zwei Männer mit halb verhüllten Gesichtern an den Hof des Königs. Sie stellen sich beide mit dem Namen Grímr vor und geben sich als Einwohner Russlands aus, die ihr ganzes Geld bei dem Schiffbruch verloren haben. König Eysteinn nimmt sie auf ihre Bitte hin für den Winter auf, und sie werden allgemein beliebt. Eines Nachts zur Weihnachtszeit, als alle anderen schon schlafen, sitzt König Eysteins Sohn Hálfdan neben dem kleineren der beiden Grímr und sieht, wie schön die Hand dieser schlafenden Gestalt ist. Schließlich schläft auch Hálfdan ein. Er wacht jedoch wieder auf, als er bemerkt, dass das Licht in der Halle gelöscht worden ist, während der kleinere Grímr ihm ins Gesicht leuchtet: Dieser Grímr verflucht ihn, dass er keine Ruhe finden solle, bis diese Hand, die Hálfdan so bewundert hat, ihm willig gegeben würde; darauf wirft
243 Würth 1991, S. 122. Der Norna-Gests þáttr ist hgg. von Ólafur Halldórsson 2000, S. 15–38. 244 Für eine vergleichende Analyse von Norna-Gests þáttr und Helga þáttr, die insbesondere die motivischen Kontrastbeziehungen des Letzteren zu Ersterem herausarbeitet, vgl. Rowe 2004, S. 465–472. 245 Ólafur Halldórsson 2000, S. 16. Vgl. Hamer 1973, S. 204. 246 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 151; Hermann Pálsson 1985 (Hálfdanar saga), S. 78; Schröder 1917, S. 42 hingegen: zweite Hälfte oder Ende des 14. Jahrhunderts; Naumann 1993 (Hálfdanar saga), S. 261: „hardly before the middle of the 14th century“; Simek 1989, S. 113: „kaum vor Ende des 14. Jahrhunderts“. Die Saga ist hgg. von Schröder 1917. Allgemein zur Saga vgl. etwa Naumann 1993 (Hálfdanar saga); Simek 1989, S. 108–124; Hermann Pálsson 1985 (Hálfdanar saga); Schröder 1917 (Einleitung).
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Grímr das Licht von sich und entkommt. König Eysteinn aber wird zusammen mit einigen Bediensteten erschlagen aufgefunden; ein einziger Diener ist in seiner Schlafkammer am Leben gelassen worden, um die Botschaft zu überbringen, dass König Hergeirr nun gerächt ist (K. 7–9). Die beiden Grímr waren natürlich Jarl Skúli und die Tochter König Hergeirs; der Rest der Saga handelt davon, wie Hálfdan viele Abenteuer besteht, an deren Ende er sich mit Skúli aussöhnt und die Hand der Königstochter gewinnt, deren Erinnerung ihm von dieser Mordnacht an keine Ruhe mehr ließ. Die Grímr-Episode der Hálfdanar saga ist deutlich eine direkte Anspielung auf die Grímr-Episode des Helga þáttr:²⁴⁷ In beiden Fällen kommen zwei Gestalten namens Grímr aus einem fernen Land an den Hof des Königs und verschwinden schließlich ebenso plötzlich wieder, wie sie gekommen waren, wobei sie das Licht in der Halle auslöschen und einige Tote in der Halle zurücklassen; die hauptsächliche Handlung spielt sich dabei zur Weihnachtszeit ab. Die Anlehnung an den Helga þáttr ist so eng, dass dieser þáttr dem Autor der Hálfdanar saga unmittelbar vorgelegen haben dürfte. Die Funktion dieser Episode innerhalb der Hálfdanar saga besteht wohl darin, die Leser oder Hörer schon beim ersten Auftreten der beiden Grímr ahnen zu lassen, wie die Ereignisse sich im Folgenden entwickeln werden. Über diese literarische Anspielung hinaus, die an sich zunächst weder dem Bild des Ódáinsakr noch dem der Glæsisvellir etwas hinzufügt, ist die Hálfdanar saga für die Charakterisierung des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes durch die Genealogie ihres Helden Hálfdan von Interesse. Über die Eltern von Hálfdans Vater Eysteinn heißt es (K. 1): þeirra son hét Eysteinn, en annarr Eiríkr enn víðfǫrli, er fann Ódáinsakr; hans móðir er ekki nefnd – „ihr Sohn hieß Eysteinn, und ein zweiter Eiríkr der Weitgereiste, der Ódáinsakr fand; seine Mutter ist nicht genannt“. Der Bruder des Königs Eysteinn, der durch den Besuch der beiden Grímr den Tod findet, ist also ebender Eiríkr der Eiríks saga víðfǫrla, der sich seiner Saga zufolge auf die Suche nach dem Ódáinsakr begeben hatte (und dabei ist, nach der Bemerkung zum Fehlen seiner Mutter zu urteilen, auch dem Autor der Hálfdanar saga aufgefallen, wie sehr Frauen in der Eiríks saga marginalisiert werden).²⁴⁸ Bedenkt man, wie sorgfältig sich die Grímr-Episode der Hálfdanar saga an die Grímr-Episode des Helga þáttr anlehnt, ist dies sicher kein Zufall, sondern der bewussten Komposition durch den Sagaautor geschuldet.²⁴⁹ Die literarische Funktion dieses Verweises auf die Eiríks saga mag darin bestehen, einen weiteren Querverweis auf die Glæsisvellir zu konstruieren (die zwar nicht nach der Eiríks saga, aber immerhin nach der Hervarar saga der Ort sind, wo der Ódáinsakr liegt) und damit darauf anzuspielen, dass dieser Motivkomplex im weiteren Verlauf
247 Vgl. mit weiteren Parallelen Schröder 1917, S. 23–25. 248 Vgl. Rowe 2005, S. 172 f. 249 Anders: Schröder 1917, S. 12 (die Erwähnung Eiríks des Weitgereisten sei nur durch eine genealogische Assoziation bedingt).
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der Saga noch eine wichtige Rolle spielen wird – und sei es nur als literarisches Zitat aus dem Helga þáttr. Für die Glæsisvellir-Vorstellungen selbst ist dabei insbesondere von Interesse, dass der Autor der Hálfdanar saga sowohl Verweise auf den Ódáinsakr als auch auf die Glæsisvellir als zentral für die Biographien zweier königlicher Brüder darstellt: Eiríkr wird nach einem Besuch im Ódáinsakr entrückt, während Eysteinn durch zwei Gestalten zugrunde geht, die sich selbst nach dem Vorbild zweier Gefolgsleute Guðmunds von Glæsisvellir stilisieren. Beide Brüder finden ihr Ende also in direktem Zusammenhang mit dem Ódáinsakr- bzw. Glæsisvellir-Komplex. Der Parallelismus ist so eng, dass er kaum etwas anderes sein dürfte als eine bewusste literarische Konstruktion.²⁵⁰ Die Schicksale der beiden Brüder Eiríkr und Eysteinn stellen damit eine Assoziation zwischen dem Ódáinsakr und den Glæsisvellir her, die darauf hindeuten könnte, dass auch dem Autor der Hálfdanar saga die Auffassung bekannt war, dass der Ódáinsakr in den Glæsisvellir liegt.
2.6 Þorsteins þáttr bæjarmagns Der Þorsteins þáttr bæjarmagns ist eine ähnlich späte Quelle wie die zuletzt besprochenen Texte: Auch diese Vorzeitsaga wird zumeist ins 14. Jahrhundert datiert.²⁵¹ Der Held der Saga, Þorsteinn, ist der größte Mann in Norwegen und kaum ein Haus ist groß genug für ihn, woher er seinen Beinamen bæjarmagn „Hofkraft“/„Hausstark“ bekommt. Er ist wenig umgänglich und grob, wird von König Ólafr Tryggvason aber sehr geschätzt, nachdem er sein Gefolgsmann geworden ist, da er auch die gefähr-
250 Dieser Parallelismus wurde bereits von Chadwick 1959, S. 183 beobachtet. Sie zieht daraus allerdings zu weitreichende Schlussfolgerungen, da sie davon ausgeht, dass die beiden Grímr, die an den Hof König Eysteins kommen und dort den Tod König Hergeirs rächen, tatsächlich Abgesandte König Guðmunds von Glæsisvellir sind. Die Saga macht jedoch explizit deutlich, dass es sich bei den beiden Grímr um den verkleideten Jarl Skúli und die Tochter König Hergeirs handelt; vgl. (K. 16): sá maðr heitir Skúli, ok ef ek skal þér satt segja ok eigi ljúga at þér, þá er þetta sá enn sami Grímr [...] – „dieser Mann heißt Skúli, und wenn ich dir das sagen und dich nicht anlügen soll, dann ist dieser da eben der Grímr [...]“. Für die Identifizierung der Königstochter als der zweite Grímr s. Kapitel 19. 251 So Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 394; Hermann Pálsson 1989, S. 47; Simpson 1966, S. 1. Power 1993 (Þorsteins þáttr), S. 675 f. datiert die Saga ins späte 13. Jahrhundert mit dem Nachsatz „although much of the material is considerably older“. Standardausgabe ist Sveinbjörn Egilsson et al. 1827, S. 175–198; vgl. neuerdings jedoch auch Tietz 2012. Eine Neuausgabe durch das Arnamagnæanische Institut befindet sich in Vorbereitung (Tietz 2012, S. 21 f.). Für eine Zusammenstellung der zahlreichen (54) Handschriften durch das Fornaldarsögur-Projekt des Nordisk Forskningsinstitut der Universtität Kopenhagen vgl. (15. Mai 2015). Allgemein zum Text vgl. etwa Heinzel 1885, S. 697–706 passim; Simpson 1962–1963; Simpson 1966; Hermann Pálsson und Edwards 1968, S. 7–19 passim; Ciklamini 1968; Taylor 1970; Harris 1989, S. 3; Power 1993 (Þorsteins þáttr); Power 1995 (Journeys); Hermann Pálsson 1989; Davidson 1991, S. 172 f.; Schulz 2004, S. 146, 218; Tietz 2012.
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lichsten Aufträge übernimmt. Eines Tages geht er während einer Flaute in Finnland an Land;²⁵² in einer Lichtung findet er dort einen schönen Hügel vor. Dort trifft er auf einen Jungen, der seine Mutter um seinen Krummstab und seine Handschuhe bittet, um zum Hexenritt zu reisen, der eben in der Unterwelt stattfindet. Beide Gegenstände werden ihm aus dem Hügel herausgereicht, und er macht sich auf den Weg; darauf tut Þorsteinn es dem Jungen gleich, erhält ebenfalls einen Stock und Handschuhe und reitet dem Jungen nach. Als sie zu einem Fluss kommen, springen sie hinein und es ist, als würden sie durch Rauch waten. In der Unterwelt angekommen, gelangen sie in eine große Stadt, wo ein prächtiges Fest gefeiert wird und wo Þorsteinn im Vertrauen auf König Ólafr kostbare Schätze stiehlt, einen entsprechenden Aufruhr verursacht und nur danke der Hilfe des Jungen wieder in die Oberwelt entkommt. Darauf kehrt er zu Ólafr zurück und schenkt ihm seine Beute; das Angebot großer Ländereien lehnt er jedoch ab, da er lieber wieder nach Osten ausfahren wolle. Im Frühling fährt er erneut aus, und als er eines Tages für einen Spaziergang an Land geht, kommt er wieder auf eine Lichtung. Dort trifft er auf einen verzweifelten Zwerg, dessen Sohn von einem Adler entführt worden ist; Þorsteinn schießt den Adler und rettet den Sohn, lehnt aber das Angebot ab, sich eine Belohnung in Gold und Silber selbst auszuwählen. Daraufhin schenkt ihm der Zwerg ein Zauberhemd, das vor Verletzungen schützt und beim Schwimmen hilft; einen Silberring, der für steten Reichtum sorgt; einen Stein, der unsichtbar macht; sowie einen Stein und eine Stahlspitze, die Schnee- und Hagelschauer oder Schneeschmelze verursachen können, die einen unerträglichen Funkenregen zu erzeugen vermögen und die sich schließlich auch als Wurfwaffen gebrauchen lassen, die stets wieder in die Hand des Werfers zurückkehren. Auf der Weiterreise weiter nach Osten gerät Þorsteinn bald in eine Dunkelheit, die ihn für zwei Wochen jegliche Orientierung verlieren lässt. Als sein Schiff darauf in einem unbekannten Land ankommt, macht Þorsteinn sich auf, um für einige Tage allein die Umgebung zu erkunden. Dabei trifft er auf Guðmundr und sein Gefolge, die so groß sind, dass sie Þorsteinn von bæjarmagn „Hofkraft“ in bæjarbarn „Hofkind“ umbenennen. Guðmundr stellt sich als Herr von Glæsisvellir vor und erklärt Þorsteinn, dass sein Reich Glæsisvellir ein Land ist, das der Oberhoheit von Risaland untersteht, und dass es sich beim Namen „Guðmundr“ um einen erblichen Titel handelt, den jeder Herr von Glæsisvellir trägt. Gerade ist Guðmundr auf dem Weg nach Jǫtunheimar, um dort nach dem Tod seines Vaters von seinem Oberherrn, König Geirrøðr, seinen Titel bestätigen zu lassen. Allerdings ist er nicht glücklich darüber,
252 „Eitt sinn lá Þorsteinn austr fyrir Balagarðssíðu“ (Þorsteins þáttr § 2): vgl. Schröder 1917, S. 101 (Anm. 20); Petersen 1837 s.v. ‚Balegardsside eller Balegaardsside‘, u. a. das Zitat einer „geographischen Handschrift“: Balagarðr, Balagarðssiða, pars Finnlandiæ maritima s. terra quæ inter sinum Finnicum et Bothnicum in Balticum mare maxime excurrit. Ebendort sind auch Belege für die Assoziation dieses Landstrichs mit Hexerei gesammelt.
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unter der Oberherrschaft der Riesen zu stehen. Þorsteinn meint darauf, dass er gerne mitkommen würde; Guðmundr aber ist um seine Sicherheit besorgt, weil Þorsteinn doch sicher ein Christ sei. Da Þorsteinn jedoch keine Bedenken hat, erklärt Guðmundr sich schließlich bereit, ihn im Vertrauen auf das Glück König Ólafs mitzunehmen. Nach der Ankunft am Hof des Geirrøðr wird schnell klar, dass der Riese seinem Vasall Guðmundr alles andere als wohlgesonnen ist; vielmehr versucht er auf verschiedenste Art, ihn und seine Männer zu demütigen, sie zu schädigen und sich ihrer zu entledigen. Mit Hilfe Þorsteins und der magischen Geschenke, die dieser von dem Zwerg erhalten hat, können sie jedoch alle Gefahren meistern, und es gelingt Þorsteinn sogar, Geirrøðr zu töten und so Guðmundr die Unabhängigkeit zu verschaffen. Für sich selbst gewinnt Þorsteinn dabei eine Frau und Ländereien, indem er die Tochter von Geirrøðs Jarl Agði heiratet und sich nach einigen weiteren Abenteuern mit ihr an seiner Seite in Guðmunds Land als dessen Gefolgsmann niederlässt. Der Þorsteins þáttr ist unter Rückgriff auf eine Vielzahl bekannter und mitunter im Vorangehenden schon mehrfach angesprochener Motive konstruiert.²⁵³ So sind der Fluss als Grenze zur Anderwelt (K. 2) oder der Verlust der Orientierung in undurchdringlicher Dunkelheit auf der Reise, die schließlich zu den Glæsisvellir führt (K. 3), bereits aus der Eiríks saga und der Thorkillus-Episode bei Saxo bekannt.²⁵⁴ Wie schon die Thorkillus-Erzählung ist auch der Þorsteins þáttr ferner erneut voller literarischer Spiele mit Motiven aus den Mythen des Gottes Thor.²⁵⁵ Dies beginnt wohl schon mit dem Thor-Element im Namen des Helden,²⁵⁶ und es dürfte sich bereits im ersten Abenteuer der Erzählung auch in den Gegenständen niederschlagen, die dort eine zentrale Rolle spielen. Þorsteinn bekommt bei dieser Gelegenheit einen Stab und Handschuhe aus einem Hügel herausgereicht (K. 2).²⁵⁷ Beide sind auch in Thors Fahrt zu Geirrøðr in den Skáldskaparmál 18 wichtig, wo Thor ohne seinen gewohnten Hammer zu dem Riesen reist, unterwegs aber u. a. Eisenhandschuhe und einen Stab zum Geschenk bekommt. Der Stab hilft Thor im Folgenden bei der Überquerung eines Flusses (wie auch Þorsteinn auf seinem Stab reitend einen Fluss durchquert)²⁵⁸ und die Eisen-
253 Auf diese wird hier aus Umfangsgründen und Gründen der Relevanz für die vorliegende Fragestellung nur in Auswahl eingegangen. Für eine detaillierte Analyse vgl. zuletzt Tietz 2012. 254 Vgl. Simpson 1966, S. 11 f. 255 Für einen Vergleich spezifisch zwischen der Thorkillus-Episode Saxos und dem Þorsteins þáttr vgl. Simpson 1962–1963, S. 496–498; Ciklamini 1968; Power 1985 (Journeys), S. 165; Tietz 2012, S. 119– 128. Ausführlich zu Thorsmythen im Þorsteins þáttr vgl. zuletzt Tietz 2012, S. 106–119; das Thema wurde grundsätzlich angesprochen schon von Heinzel 1885, S. 706. 256 Power 1985 (Journeys), S. 165; Tietz 2012, S. 124. Der Kurzvokal in den Namen Þorsteinn und Þorkell (=Thorkillus) dürfte ursprünglich wie im zugrundeliegenden Götternamen lang gewesen sein: Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚Þórr‘. 257 Tietz 2012, S. 109. 258 Ferner vgl. Simpson 1966, S. 3 f. zu möglichen weiteren Parallelen zum Stab in zeitgenössischen Hexenvorstellungen.
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handschuhe erweisen sich als Thors Rettung, als Geirrøðr bei einem „Spiel“ in seiner Halle einen Klumpen geschmolzenen Eisens nach dem Asen wirft: Thor kann das Eisen mit seiner behandschuhten Hand fangen und auf den Riesen zurückwerfen. Dieser versteckt sich hinter einer Säule, wird aber dennoch von dem Eisen durchbohrt, das darauf noch durch die Wand bis ins Freie fliegt. Dass der Handschuh, den Þorsteinn erhält, im Þorsteins þáttr hingegen ein (scheinbar) blindes Motiv darstellt, welches im Folgenden keine Rolle mehr spielt, unterstreicht seinen Charakter als literarische Anspielung auf den Thorsmythos der Skáldskaparmál. Denn dieser Verweis auf das „Wurfspiel“, das Geirrøðr in den Skáldskaparmál mit Thor spielt, schafft beim Rezipienten der Erzählung eine Erwartungshaltung, die zwar zunächst scheinbar enttäuscht wird, auf welche der þáttr später allerdings doch noch zurückkommt. Denn auch in der Halle König Geirrøðs im Þorsteins þáttr werden „Spiele“ gespielt, und eines dieser Spiele besteht darin, dass Guðmundr und seine Männer auf der einen Seite und Geirrøðr und dessen Männer auf der anderen sich einen fast einen Zentner schweren glühenden, funkensprühenden Robbenkopf gegenseitig zuwerfen müssen (K. 6 f.). Dabei kommen Guðmunds Männer nur durch die Hilfe des unsichtbaren Þorsteinn nicht zu Schaden, wohingegen mehrere von Geirrøðs Gefolgsleuten verwundet oder getötet werden, während der Riesenkönig selbst an seinem Stolz getroffen wird: Vor Beginn des „Spiels“ mit dem glühenden Robbenkopf hatte er als Regeln des Spiels festgelegt, dass derjenige, der den Robbenkopfball fallen lässt, seinen Besitz verlieren und in die Verbannung gehen soll, während jeder, der ihn nicht zu fangen wagt, als feige gelten würde. Als jedoch Guðmundr den Robbenkopf zu Geirrøðr wirft, weicht dieser aus, worauf der Ball zwei von Geirrøðs Gefolgsmännern tötet und durch ein Fenster nach draußen fliegt. Dass hier der glühende Eisenklumpen der Skáldskaparmál aufgegriffen wird, ist ebenso deutlich wie die humoristische Wendung, die das Motiv erhält.²⁵⁹ Auf einen weiteren Wurf Thors wird in einer Episode der Reise Guðmunds und Þorsteins an den Hof König Geirrøðs angespielt: Auf dem Ritt zu Geirrøðr muss die Reisegesellschaft einen Strom durchqueren, dessen Wasser so kalt ist, dass alles sofort abstirbt, was damit in Berührung kommt. Nur drei von Guðmunds Pferden sind stark genug, diesen reißenden Fluss zu durchwaten, während alle anderen ihn auf einem langen Umweg umgehen müssen. Zum Schutz vor dem gefährlich kalten Wasser werden diese drei Pferde und ihre Reiter zur Durchquerung des Flusses in besondere wasserabweisende Kleidung gewandet; dennoch wird aber einer von Þorsteins Zehen nass und erfriert. Am anderen Ufer angekommen, gibt Þorsteinn sich wenig beeindruckt und schlägt die Zehe ab, worauf er für seinen Mut bewundert wird (K. 5). Diese merkwürdige Flussüberquerung erinnert mit dem reißenden Strom an der Grenze zum Land der Riesen und dem Abfrieren der Zehe auffällig an die Erzählung Thors in den Skáldskaparmál 17, wo der Gott berichtet, wie er Aurvandill den Kühnen in einem
259 Tietz 2012, S. 111 f., 173; vgl. Power 1985 (Journeys), S. 163; Simpson 1966, S. 12–14.
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Korb über den Fluss Élivágar aus dem Land der Riesen (Jǫtunheimar) trug: Dabei ragte Aurvandils Zehe aus dem Korb heraus und fror ab, worauf Thor sie abbrach und als einen Stern an den Himmel warf.²⁶⁰ Ein anderes Spiel mit eddischen Motiven mag das Trinkhorn „Grímr der Gute“ darstellen (K. 8 f.). Nachdem König Geirrøðr seinen Vasallen Guðmundr in einer Reihe von Wettkämpfen erfolglos herausgefordert hat, wird dieses Horn von zwei Männern in die Halle getragen: Es ist so groß, dass ein normal gewachsener Mann unter seiner Krümmung stehend Platz hat und dass allein der König es in einem Zug austrinken kann. Vor allem ist es aber ein zauberkräftiges Horn, da sich an seinem Ende ein menschlicher Kopf befindet, der sprechen und die Zukunft wie auch Gefahren voraussagen kann. Zu diesem Horn gibt es in der altwestnordischen Literatur keine unmittelbaren Parallelen;²⁶¹ seine Hauptelemente finden sich jedoch sämtlich in den Schriften Snorris. Die gewaltige Größe des Horns erinnert dort an das Horn, das Thor während seiner Fahrt zu Útgarðaloki nicht austrinken kann, da es mit seinem Ende ins Meer ragt (Gylfaginning 46 f.), während die Verbindung des orakelnden Kopfes mit einem Horn an Mímir und dessen Horn gemahnt: Mímir ist ein über Geheimwissen verfügender Berater Odins, der aus dem Horn „Gjallarhorn“ aus einem Brunnen der Weisheit trinkt und der im Angesicht des Weltuntergangs von Odin befragt wird (Gylfaginning 15, 51).²⁶² In der Ynglinga saga (K. 4) wird von ihm berichtet, dass er einst enthauptet wurde und dass Odin sich fortan mit seinem einbalsamierten Haupt beriet und von ihm viele Geheimnisse erfuhr. Hier finden sich somit alle Grundelemente, aus denen Grímr der Gute zusammengesetzt ist – der weissagende Kopf ebenso wie das außergewöhnliche Horn – und so mag es sich auch hier um ein literarisches Spiel mit altehrwürdigen Motiven handeln.²⁶³ Der Name des Horns stammt dabei wiederum
260 Simpson 1962–1963, S. 499; Simpson 1966, S. 12; Davidson 1991, S. 172 f.; Tietz 2012, S. 91, 116–119. 261 Tietz 2012, S. 167. 262 Eine dieser Textstellen könnte auch die ungewöhnliche Größe Þorsteins inspiriert haben: In der Gylfaginning 15 heißt es, dass die Götter zu ihrer täglichen Versammlung an der Weltesche über die Brücke Bifrǫst reiten, während Thor auf dem Weg dorthin mehrere Flüsse durchwaten muss – was der Sagaverfasser so interpretiert haben könnte, dass Thor zu groß ist für die Götterbrücke, worauf auch Þorsteinn als übergroß gezeichnet wurde. Allgemein zur Größenthematik im Þorsteins þáttr vgl. Tietz 2012, S. 176–180. 263 Die Parallelen zwischen Grímr dem Guten und Mímir wurden schon von Simpson 1962–1963, S. 500 f. gesehen; sie zog es jedoch vor, Grímr den Guten aus einer hypothetischen walisischen Überlieferung über den Kopf und das Horn Brans herzuleiten (1962–1963, S. 501–515, auch Simpson 1966, S. 16–19). Diese These konnte nicht überzeugen, da die tatsächlich bezeugten Ähnlichkeiten zwischen Bran und Grímr nicht weiter reichen als die Ähnlichkeiten zwischen Mímir und Grímr; in einem solchen Fall ist eine Verbindung zwischen Motiven innerhalb einer Literatur aber immer plausibler als eine Verbindung mit Motiven in der Literatur einer anderssprachigen Kultur. Simpson postulierte zwar noch eine substantielle Zahl weiterer hypothetischer Parallelen zwischen dem walisischen Komplex und Grímr dem Guten, die sie als Argumente gegen eine Verbindung mit Mímir auffasst, jedoch blieben diese Parallelen durchgehend bloßes Postulat, da keine von ihnen tatsächlich bezeugt ist und
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aus dem Umfeld der Glæsisvellir-Erzählungen: Nach dem Norna-Gests þáttr trugen die beiden Hörner des Helga þáttr denselben Namen wie ihre Überbringer: Grímr.²⁶⁴ Mit der Grímr-Episode hat die bis dahin halb-unterschwellige Auseinandersetzung zwischen Geirrøðr und seinem Vasallen Guðmundr beinahe ihre Klimax erreicht. Þorsteinn hatte sich bis zu diesem Zeitpunkt des unsichtbar machenden Steins bedient, den ihm der Zwerg als Lohn für die Rettung seines Sohnes geschenkt hatte; nun tritt er zum ersten Mal sichtbar auf (K. 10). Guðmundr und Þorsteinn geben dabei vor, dass Þorsteinn Guðmunds kleiner Knappe sei; Guðmundr preist dabei den Unterhaltungswert des Kleinen und bietet ihn Geirrøðr zum Geschenk an. Dieser ist interessiert und Þorsteinn führt ihm seinen zweiten Zauberstein vor. Zuerst lässt er es mit Hilfe des Steins und der dazugehörigen Stahlspitze hageln und schneien, was Geirrøðr zum Lachen bringt. Dann lässt er den Stein diesen Schnee wieder wegschmelzen, und als Geirrøðr seine Kunststücke lobt, meint er, er würde noch über ein weiteres verfügen. Geirrøðr will auch dieses sehen, und so lässt Þorsteinn mit Hilfe der Stahlspitze Funken aus dem Stein stoben; der König lacht und will mehr, und Þorsteinn lässt ihm Funken in die Augen fliegen und wirft mit dem Stein und der Stahlspitze nach ihm; diese dringen dem Riesenkönig durch die Augen in den Schädel. Während Geirrøðr tot niederstürzt, machen Þorsteinn und Guðmundr sich davon. Diese Tötung Geirrøðs durch einen feurigen geworfenen Gegenstand entspricht sehr genau der Tötung Geirrøðs durch Thor in den Skáldskaparmál, wo der Gott vom Riesen til leika „zum Spielen“ in die Halle gerufen wird und den Riesen mit einem Wurf eben des glühenden Eisens tötet, das dieser zuvor auf Thor geworfen hatte. Hier wird vom Þorsteins þáttr erneut ein Thema eines Thorsmythos aufgenommen;²⁶⁵ und wie Jacqueline Simpson und Andrea Tietz bemerkt haben, wird es dabei vielleicht sogar noch um einen indirekten Querverweis auf Thor erweitert: Þorsteins Zauberstein erzeugt erst Schnee und Hagel und dann schönes, warmes Wetter, durch das der Schnee wieder schmilzt. Dies mag auf die Vorstellung verweisen, dass Thor über das Wetter gebietet, wie dies etwa Adam von Bremen (IV.26) im 11. Jahrhundert im Zuge seiner Beschreibung des Tempels in Uppsala bemerkte: Thor [...] presidet in aere, qui tonitrus et fulmina, ventos ymbresque, serena et fruges gubernat. „Thor hat im Himmel den Vorsitz, der über Donner und Blitze, Winde und Regenschauer, schönes Wetter und Feldfrüchte gebietet.“ Zu einer solchen Deutung dieser Elemente der Episode als weiteren Verweis auf den Gott Thor passt dabei auch, dass sowohl Þorsteinn seinen Zauberstein als auch Thor seine gewöhnliche Wurfwaffe – den Hammer Mjöllnir – als
sie sämtlich erst von Simpson umständlich „rekonstruiert“ werden mussten. Ebenso kritisch vgl. Tietz 2012, S. 166–169, wo sie neben den Parallelen in den Vorstellungen über Mímir auch auf die TrinkKraftprobe Thors bei Útgarðaloki hinweist. Tietz betont jedoch, dass eine zweifellose Herleitung Grímr des Guten aufgrund der Einzigartigkeit des Motivs letztlich nicht möglich ist. 264 Ólafur Halldórsson 2000, S. 16. 265 Power 1985 (Journeys), S. 163.
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Geschenk von einem Zwerg erhalten hat (Skáldskaparmál 35), und dass somit also auch die Herkunft der beiden Objekte eine enge Parallele aufweist.²⁶⁶ Die Behandlung von Thorsmythen bei der Beschreibung der Abenteuer des Þorsteinn ist im gegenwärtigen Zusammenhang jedoch nur indirekt und vor allem insofern von Interesse, als sie einen Maßstab dafür darstellt, wie der Sagaverfasser mit solchen überkommenen Stoffen umgeht. Von unmittelbarerer Bedeutung ist die Zeichnung Guðmunds und der Glæsisvellir. Bei der ersten Begegnung Þorsteins mit Guðmundr wird der Herr von Glæsisvellir schon dem nichtmenschlichen Reich der Riesen zugeordnet, noch ehe er und Þorsteinn auch nur ein einziges Wort gewechselt haben; denn Guðmundr und seine drei Begleiter sind die größten Männer, die Þorsteinn je gesehen hat – so groß, dass sie über die geringe Größe von Þorsteinn „Hofkraft“ in schallendes Gelächter ausbrechen und ihn in „Hofkind“ umbenennen; dabei gibt Guðmundr Þorsteinn einen wertvollen Ring als Namensgabe (K. 5). Zugleich sind Guðmundr und seine Männer ebenso prächtig gekleidet wie die Tochter Guðmunds im Helga þáttr: Guðmundr selbst trägt goldgewirkte Kleidung, während seine Begleiter in Scharlach gewandet sind. Auch hier mag also wieder ein literarisches Spiel mit Phantasien über die Pracht kontinentaler Adelshöfe, wie sie durch Übersetzungen von arthurischen Texten in Island bekannt waren, im Hintergrund der Schilderung des Anderweltsfürsten stehen,²⁶⁷ und in jedem Fall wird das Reich Guðmunds so als ein Reich paradiesischen Reichtums dargestellt. Dieses Reich ist dabei ein heidnisches Reich: Guðmundr hat schon ganz zu Anfang Bedenken, Þorsteinn zu Geirrøðr mitzunehmen, da Þorsteinn ein Christ ist (K. 5). Diese Bedenken wiederholt er später, als das wahrsagende Horn Grímr zur Sprache kommt (K. 8): Wenn sein Lehnsherr Geirrøðr erfährt, dass sich ein Christ unter ihnen befindet, ist das der Tod für sie alle. Und schließlich macht Þorsteinn es am Ende der Erzählung zur Bedingung für einen Eintritt in das Gefolge Guðmunds, dass dieser sich nicht in seinen Glauben einmischt (K. 12). Dieses Heidentum ist dabei jedoch weder (in einem antichristlichen Sinne) aufdringlich noch bösartig: Guðmundr selbst hat von vorneherein nichts gegen Þorsteins christlichen Glauben; seine Bedenken nehmen nur auf die absehbare Reaktion des (so oder so bösartigen) Geirrøðr Bezug (K. 5). Auch als Þorsteinn selbst als sein Gefolgsmann Christ bleiben will, stört ihn dies nicht (K. 12).
266 Simpson 1966, S. 7 f.; Tietz 2012, S. 136–138. Vgl. auch Tietz 2012, S. 138 f. und Simpson 1966, S. 6 f. für Parallelen in der isländischen Volksmagie. 267 Solche höfischen Elemente finden sich im weiteren Verlauf der Erzählung auch in der Schilderung des Hofs Geirrøðs (z. B. hat seine Halle Glasfenster und ist von einem Burggraben umgeben); in Geirrøðs Verhalten ist eine entsprechende „Verfeinerung“ jedoch auffallend abwesend: Ciklamini 1968, S. 106–108.
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Guðmundr wird somit uneingeschränkt positiv gezeichnet: Er ist gerecht und freigebig, reich und stark. Tietz hat hierzu bemerkt, dass diese uneingeschränkt positive Zeichnung Guðmunds in einem auffallenden Kontrast zu seinem viel ambivalenteren und (mitunter ausgesprochen negativen)²⁶⁸ Auftreten in anderen Texten steht.²⁶⁹ In der Thorkillus-Erzählung bei Saxo ist Guthmundus zwar am Ende eine hilfreiche Gestalt, indem er der Expedition auf dem Weg zu Geruthus bei der Überquerung eines gefährlichen Flusses hilft (ein Motiv, das auch der tödlich-kalte Fluss des Þorsteins þáttr aufgreift) und indem er Thorkillus und seine Gefährten obendrein reich beschenkt; diese positive Seite zeigt sich jedoch erst, nachdem er zuvor mit dem Versuch gescheitert war, die Reisenden durch die Verführung seiner Töchter und Dienerinnen und durch das verderbliche Festmahl, das er servieren lässt, sowie durch die Früchte seines Gartens in ihr Verderben zu locken.²⁷⁰ Ebenso ist das Reich Guðmunds im Helga þáttr ein ambivalentes: Einerseits preist Helgi es als den besten Ort, den er je gesehen hat, aber andererseits richtet es Helgi physisch und spirituell zu Grunde. In diesem Zusammenhang fällt nun auf, dass Guðmundr nach der Hervarar saga in den Glæsisvellir seinen Sitz in Grund hat.²⁷¹ Als Grundir erscheint dieser Ort auch im Þorsteins þáttr (K. 5),²⁷² wo er jedoch der Wohnsitz Jarl Agðis ist, der in der Halle König Geirrøðs unmittelbar neben dem Hochsitz des Königs seinen Platz hat. Der genaue Ort von Agðis Wohnsitz in Grundir ist dabei Gnípalundir („Gipfelhaine“). Dieser Name evoziert die Gnipahellir bzw. den Gnipalundr, wo der Hund Garmr bis zum Weltuntergang festgebunden ist, ehe er sich mit dem Losbrechen der anderen feindlichen Mächte von Útgarðr losreißt;²⁷³ damit wird vielleicht auch Agði in einen Kontext bedrohlicher riesischer Mächte gestellt.²⁷⁴ Dem wird Agðis Auftreten während des ganzen Verlaufs der Erzählung durchgehend gerecht: Es heißt über ihn, er sei zauberkundig (fjölkunnigr) und seine Männer wären Trollen ähnlicher als Menschen
268 Siehe unten (S. 83 ff.) zur Bósa saga. 269 Tietz 2012, S. 143, 148. 270 Vgl. Schulz 2004, S. 222: „Die verderbenbringenden Aspekte der heidnischen Verführungskünste schildert am Beispiel desselben Königs Guthmundus in aller Ausführlichkeit Saxo Grammaticus.“ 271 Siehe oben S. 35. 272 Eine direkte literarische Abhängigkeit des Þorsteins þáttr von der Hervarar saga erkannte hier schon LeRoy Andrews 1927, S. 153. 273 Vǫlospá 43, 49 (in älteren Ausgaben Gnípahellir, s. den kritischen Apparat zu Str. 43 bei Neckel und Kuhn 1983); Gylfaginning 51 (Faulkes 2005: þá [beim Weltuntergang] er ok lauss orðinn hundrinn Garmr er bundinn er fyrir Gnipahelli. Hann er it mesta forað. „Da wird auch der Hund Garmr losgekommen sein, der vor Gnipahellir gebunden ist. Er ist das größte Ungeheuer.“) Statt fyrir Gnipahelli hat der Codex Upsaliensis fra Gnipalvndi (Finnur Jónsson 1931, S. 72, kritischer Apparat zur Stelle), was genau mit dem Wohnsitz des Agði im Þorsteins þáttr übereinstimmt (vgl. Faulkes 2005, S. 168). 274 Ferner erscheint der Ortsname in der Helgaqviða Hundingsbana in fyrri 30, 34, 40, 50 als der Ort, wo Helgi sein Heer zur Schlacht anlandet; ansonsten hat der Ortsname dort keine eindeutigen Konnotationen. Alle Belege schon bei Heinzel 1885, S. 704 f., vgl. auch ibidem S. 686 f.
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(K. 5). Seine Gefolgsleute Jökull und Frosti sind die ersten, die in er Halle Streit vom Zaun brechen, was unmittelbar zum Wettwerfen mit dem glühenden Robbenkopf und damit zu den ersten Toten in der Halle führt (K. 6). Als Agði sich im Zuge der Wettkämpfe in der Halle Geirrøðs für den Ringkampf mit Guðmundr entkleidet, sieht man, dass sein Körper „schwarz ist wie das Totenreich“ (blár sem Hel), und Þorsteinn scheint es, dass er noch nie einen so trollhaften Körper gesehen hat (K. 7). Selbst nach dem Tod Geirrøðs bleibt der Jarl eine Heimsuchung: Nach dem Tod seines König verfällt er in einen mächtigen Riesenzorn (jötunmóðr) und will Þorsteins Männer töten; als er aber Þorsteins Schiff sieht, schmerzt der Anblick seine Augen so sehr, dass er geblendet und schreiend davonläuft (K. 11). Nach Þorsteins Rückkehr zu König Óláfr unternimmt Agði noch einen Versuch, Þorstein zu töten, der jedoch erneut scheitert (K. 12). Agði zieht sich schließlich mit vielen Schätzen in einen Grabhügel zurück, von wo aus er noch eine Weile Schaden anrichtet, bis Þorsteinn ihn dort mit einem Kreuz bannt (K. 12 f.). Dieser – buchstäblich – in schwärzesten Farben gezeichnete Agði zeigt auch über die Lokalisierung seines Wohnsitzes in Grundir hinaus noch Parallelen zu Guðmundr, wie er außerhalb des Þorsteins þáttr beschrieben wird. So gibt es bei Agðis Hof auch einen Obstgarten (aldingarðr, K. 11), und eben dieser Obstgarten ist der Ort, wo Þorsteinn zum ersten Mal Jarl Agðis Tochter Goðrún sieht, eine wunderschöne, hochgewachsene Jungfrau (K. 11), die Þorsteinn später heiraten wird (K. 12). Beide Elemente – Garten und attraktive Tochter – erinnern an die Schilderung des Guthmundus bei Saxo, wo Guthmundus die Früchte seines Gartens (hortus) und die Hand seiner Töchter als Lockmittel verwendet, mit denen er Thorkillus und seine Gefährten in seinem Reich fangen will. Ferner besitzt Agði zwei besonders kostbare Trinkhörner, die Hvítingar.²⁷⁵ Diese Hörner nimmt Þorsteinn bei seiner Rückreise an den Hof König Óláfs mit sich und macht sie dem König zum Geschenk. Agði stiehlt die Hörner jedoch zurück, und so muss Þorsteinn die Hörner erneut an sich bringen, ehe er sie Óláfr ein zweites Mal übergeben kann. Darauf bleiben sie bei Óláfr, bis sie zusammen mit dem König in dessen letzter Schlacht von seinem Schiff verschwinden (K. 8, 11–13). Diese beiden Hörner entsprechen damit ganz genau den beiden Hörnern, die Guðmundr im Helga þáttr zu König Óláfr schickt: Auch bei ihnen handelt es sich um ein ungemein wertvolles Paar von Trinkhörnern, die Óláfr bis zu seinem letzten Tag behält und die mit ihm von seinem Schiff verschwinden. Die Beschreibungen Guðmunds und Agðis im Þorsteins þáttr lassen sich in ihrem Verhältnis zur Zeichnung Guðmunds in den bisher besprochenen Texten somit kurz folgendermaßen zusammenfassen: Während Guðmundr ansonsten als hochgradig ambivalente Gestalt erscheint, wird er im Þorsteins þáttr vorbehaltlos positiv dargestellt. Jarl Agði hingegen erscheint in ebenso vorbehaltloser Weise negativ, wird aber im Þorsteins þáttr zum Besitzer des Wohnsitzes Grundir, des Obstgartens, der wun-
275 Tietz 2012, S. 161–164.
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derschönen Tochter und des Paars kostbarer Trinkhörner, die sonst Guðmundr zugeschrieben werden. Tietz dürfte vollkommen recht habe, wenn sie Jarl Agði hier als einen direkten literarischen Ableger Guðmunds interpretiert, auf den im Interesse der Handlungsführung des þáttr alle negativen (und einige andere) Elemente Guðmunds übertragen wurden, während Guðmundr selbst von seinen sonstigen Charakteristika nur die positivsten behält.²⁷⁶ In der Gestalt Agðis scheinen also Motive variiert zu werden, die anderswo fest mit Guðmundr verbunden sind. Eine weitere Variation eines etablierten Charakteristikums Guðmunds dürfte auch die Interpretation seines Namens als Titel sein, der zusammen mit der Herrschaft über die Glæsisvellir vererbt wird: Als Þorsteinn und Guðmundr sich zum ersten Mal treffen, erklärt Guðmundr dem Þorsteinn, dass sein verstorbener Vater Úlfheðinn trausti („der Zuverlässige“)²⁷⁷ hieß, und dass sein Vater wie nun er selbst und wie alle Herrscher von Glæsisvellir Guðmundr genannt wurde (K. 5). In der Hervarar saga heißt es hingegen, dass Guðmundr viele Menschenalter lang lebte und deshalb als Herr des Ódáinsakr galt. Diese Vorstellung mag, wie Tietz bemerkt, im Þorsteins þáttr rationalisiert worden sein: Wie es in der Hervarar saga immer einen Guðmundr in Glæsisvellir gibt, weil dieser eine übermenschliche Lebensspanne hat, so gibt es im Þorsteins þáttr immer einen Guðmundr in Glæsisvellir, weil „Guðmundr“ kein Individuum, sondern ein Titel ist; so stellt die Vererbung des Titels eine rationalisierende Reminiszenz des Unsterblichkeitsgedankens der älteren Hervarar saga dar.²⁷⁸ Zur Darstellung der Glæsisvellir und ihrer Bewohner im Helga þáttr hingegen stellen die Glæsisvellir des Þorsteins þáttr auf einer Vielzahl von Ebenen einen bemerkenswerten – und vielsagenden – Kontrast dar: Sie sind weder an sich feindselig noch vermittelt ihre Schilderung in der Erzählung eine implizite oder explizite Warnung vor dem Umgang mit den vorchristlichen Mächten; und obwohl Þorsteinn sich dort ganz ähnlich niederlässt wie Helgi, geht für ihn keinerlei Schaden von diesem Umzug in die Glæsisvellir aus, weder physisch – geblendet wird nicht Þorsteinn, sondern nur Agði, als er seinen rachsüchtigen Blick auf ein Schiff voller christlicher Gefolgsleute Óláfs wirft – noch spirituell: Þorsteinn bleibt und seine Frau wird christlich, während Guðmundr verspricht, sich in ihre Glaubensangelegenheiten nicht einzumischen. Die Erzählung dient nicht der spirituellen Erbauung, sondern der vorbehaltlosen Unterhaltung,²⁷⁹ die am Ende der Geschichte ein ungetrübtes glückliches Ende erwartet: Wie der Ritter des Lai de Lanval, das der Helga þáttr so drastisch konterkariert, reist Þorsteinn am Ende mit seiner Frau in ein fernes Glück, um nie wieder gesehen
276 Tietz 2012, S. 142–149 (mit vielen weiteren Detailbeobachtungen). 277 Tietz 2012, S. 90 (Anm. 34). 278 Tietz 2012, S. 90 f. (Anm. 35), 153 f., 155. 279 Vgl. Ciklamini 1968, S. 105: „Þorsteinn’s appeal is [...] not his strength, self-sufficiency, and moral fortitude. He is a hero because of his ready laugh, his willing hand, and unfailing luck in his ventures.“
Bósa saga ok Herrauðs
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zu werden.²⁸⁰ Die Motive, mit denen die beiden Erzählungen spielen – Unsterblichkeit, paradiesischer Reichtum, das Finden einer anderweltlichen Frau – sind freilich dieselben und zeigen nochmals das Vorhandensein einer etablierten literarischen Tradition der Auseinandersetzung mit dem Motiv der Glæsisvellir und ihrer Bewohner. Diese Tradition scheint dabei der Enge der Motivparallelen nach zu urteilen tatsächlich eine literarische zu sein: In diesen Texten werden nicht unabhängig voneinander überlieferte mündliche Traditionen verarbeitet, sondern wird primär mit literarischen Motiven gespielt. Die Art der Behandlung der Thorsmythen ebenso wie die Behandlung der Guðmund- und Glæsisvellir-Motive legt dabei nahe, dass hier wohl vor allem Texte verarbeitet werden, die auch heute noch vorliegen. Der Þorsteins þáttr ist originell als eine eigenwillige Bearbeitung eines etablierten literarischen Motivkomplexes; unserem Wissen über die Mythologie der vorchristlichen Zeit, in der die Handlung des þáttr spielt, neue Züge hinzuzufügen ist weder seine Absicht, noch ist er dazu in der Lage.
2.7 Bósa saga ok Herrauðs Eine weitere Bearbeitung hat das Glæsisvellir-Thema in der Bósa saga ok Herrauðs erfahren. Dabei handelt es sich um eine in zwei Versionen überlieferte Vorzeitsaga, deren ältere Fassung nach der zumeist vertretenen Ansicht aus dem 14. Jahrhundert stammt;²⁸¹ es ist jedoch auch eine Datierung ins 15. Jahrhundert vertreten worden.²⁸² Die jüngere Fassung dürfte nicht älter sein als das 17. Jahrhundert und kann hier außer Acht bleiben.²⁸³ Bósi – der Sohn eines ehemaligen Wikingers und einer früheren Schildmaid – und der Königssohn Herrauðr überwerfen sich so schwer mit Herrauðs Vater, König Hringr, dass sie nur durch das Eingreifen von Bósis zauberkundiger Amme mit dem
280 Vgl. Simpson 1966, S. 20. Ausführlich zum Christentum im Þorsteins þáttr vgl. Tietz 2012, S. 181– 185 (contra Power 1993, S. 676, vgl. Power 1985 [Christian Influence], S. 852). 281 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 46; Naumann 1993 (Bósa saga), S. 54 („sometime before 1350“); Jiriczek 1893, S. LV f. („zweite Hälfte des 14. Jhds.“). Beide Fassungen sind hgg. von Jiriczek 1893. Allgemein zur Saga vgl. etwa Tietz 2012, S. 145 f.; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 46 f.; van Wezel 2006; Vésteinn Ólason 1994, S. 115–125; Naumann 1993 (Bósa saga); Power 1984; Thompson 1983; Hermann Pálsson und Edwards 1971 passim; Hermann Pálsson und Edwards 1968, S. 12–19 passim; Chadwick 1959, S. 181–183; Briem 1929, S. 350–355; Krappe 1928; Schröder 1928; Jiriczek 1893, S. VIL[sic!]-LXXVII. Für eine umfassende Bibliographie vgl. das Fornaldarsögur-Projekt des Nordisk Forskningsinstitut der Universtität Kopenhagen unter (15. Mai 2015). 282 So Vésteinn Ólason 1994, S. 115. 283 Jiriczek 1893, S. LVI.
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Leben davonkommen: Das schon ausgesprochene Todesurteil wird in letzter Minute in eine gefährliche Mission umgewandelt, nämlich, König Hringr ein mit goldenen Inschriften bedecktes Ei eines Geiers zu bringen (K. 1–6). Die Suche nach einem solchen Ei führt sie übers Meer nach Osten (í Austrveg) nach Bjarmaland. Als Gegenleistung für einen goldenen Ring und eine Liebesnacht erfährt Bósi dort von einer Bauerstochter, dass er das Ei in einem heidnischen Tempel finden würde, wo eine monströse Priesterin dem Kult des Jómali vorsteht. Diese Priesterin hat ihren eigenen baldigen Tod vorhergesehen und durch Zauberei die Schwester König Guðmunds von Glæsisvellir in ihre Gewalt gebracht; durch vergiftetes Fleisch will sie ihr Opfer in ein ebensolches Monstrum verwandeln, wie sie selbst es ist, damit sie nach ihrem Tod als ihre Nachfolgerin den Kult weiterführen würde. Bósi und Herrauðr verhindern dies jedoch, töten die Priesterin, plündern den Tempel, bringen das Ei an sich und retten Guðmunds Schwester. Diese, eine außergewöhnlich schöne und begabte Frau namens Hleiðr, willigt daraufhin ein, Herrauðr zu heiraten (K. 6–8). Zwei Jahre nach ihrem Aufbruch gelangen sie wieder nach Hause und söhnen sich mit König Hringr aus; schon bald müssen Bósi und Herrauðr allerdings erneut losziehen, um an der Schlacht von Brávellir teilzunehmen (K. 9). Inzwischen hat Guðmundr von Glæsisvellir Männer auf die Suche nach seiner Schwester geschickt, nachdem diese von der Priesterin entführt worden war. Diesen Männern gelingt es unter der Führung eines gewissen Siggeir, die Spur Hleiðs bis an den Hof König Hrings zu verfolgen, wo sie gerade während der Schlacht von Brávellir ankommen. Hringr weigert sich, Hleiðr herauszugeben, und wird von Guðmunds Männern getötet; darauf bringen sie Hleiðr wieder nach Glæsisvellir. Dort willigt Guðmundr trotz der Proteste Hleiðs ein, seine Schwester ihrem vermeintlichen Retter Siggeir zur Frau zu geben (K. 10). Nach ihrer Rückkehr von der Brávellir-Schlacht folgen Bósi und Herrauðr Hleiðr nach Osten nach Glæsisvellir, wo Bósi sich wieder im Bett einer Bauerstochter über die Lage informiert. Darauf erschlägt er einen Harfner Guðmunds, schneidert sich aus seiner Gesichtshaut eine Maske und nimmt während der Hochzeit seinen Platz in Guðmunds Halle ein. Dabei spielt er während der vier Minnebecher für Thor, für alle Götter, für Odin und für Freyja die Harfe in solcher Weise, dass alles in der Halle sich bewegt – lose Teller ebenso wie die Gäste, von denen viele zu tanzen beginnen. Mit Hilfe eines weiteren kleinen Ablenkungsmanövers, das Guðmundr drei Zähne und eine blutige Nase kostet, können Bósi und seine Gefährten daraufhin Hleiðr aus der Halle entführen und sich mit ihr zu ihrem Schiff retten (K. 11–13). Nachdem Bósi ein drittes Mal im Bett einer Bauerstochter wertvolle Informationen eingeholt und auf deren Grundlage noch eine Prinzessin für sich selbst entführt hat, kommt es schließlich zu einer grotesken Endschlacht voller magischer Verwandlungen, ausgeschlagener Zähne und abgetrennter Körperteile, aus der Bósi und Herrauðr als Sieger hervorgehen. Daraufhin heiraten beide ihre jeweiligen Prinzessinnen, Bósi wird durch seine Heirat der König von Bjarmaland und zwischen Herrauðr und Guðmundr wird Frieden geschlossen (K. 13–16).
Bósa saga ok Herrauðs
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Wie der Þorsteins þáttr bæjarmagns ist auch die Bósa saga ok Herrauðs reine Unterhaltungsliteratur ohne jegliche belehrende Intention. Das Hauptinteresse der Saga liegt auf dem schwungvollen, satirischen Erzählen einer Abenteuergeschichte, garniert mit überaus detaillierten Beschreibungen der sexuellen Abenteuer Bósis, grotesk geschilderter körperliche Gewalt, Schätzen und Ungeheuern, und mit einigen gleichfalls dem Unterhaltungswert der Saga dienenden mythologischen Anspielungen. Der Handlungsrahmen dieser Abenteuersaga ist dabei aus zwei Grundmotiven zusammengefügt, die beide auch in anderen (v. a. Vorzeit-)Sagas wiederkehren: einerseits dem Reichtum und den schönen Frauen im Reich Guðmunds von Glæsisvellir, und andererseits einer Reise nach Bjarmaland zum Plündern eines heidnischen Tempels.²⁸⁴ Die Verbindung zwischen den beiden Motiven stellt der Sagaautor über den auch in allen anderen Zeugnissen fest etablierten heidnischen Charakter Guðmunds und seines Landes her. Der Guðmundr, mit dem der Leser der Bósa saga konfrontiert wird, ist im Vergleich zu allen bisher angesprochenen Portraits dieser Gestalt eine Figur, die einen Großteil ihrer vormaligen Statur eingebüßt hat: Er lässt sich seine Schwester – zweimal – unter der Nase wegstehlen, er wird dabei arg verprügelt, und er lässt sich von Bósis grotesker Verkleidung mit einer Maske aus der Gesichtshaut eines seiner Gefolgsleute hinters Licht führen. Ferner weiß er die Rettung seiner Schwester durch Bósi und Herrauðr wenig zu würdigen und beschließt, sie Siggeir zu geben, der sie, anstatt sie aus den Klauen der Priesterin zu retten, vom Hof König Hrings entführt hat – und dies, obwohl Hleiðr Guðmundr auf sein Fehlurteil aufmerksam macht (K. 10): Siggeirr biðr nú Hleiðar, en hún war treg til þess ok kvað þat makligt, at sá nyti sín, er hana frelsaði úr trölla höndum. („Siggeir hält nun um Hleiðr an, und sie war dem abgeneigt, und sie sagte, dass es angemessen sei, dass der sie genießen solle, der sie aus den Händen der Trolle gerettet hat.“) Diese Fehlentscheidung führt unmittelbar zu allen weiteren Komplikationen der Saga; den Schaden, den Guðmundr dabei erleidet, hat er selbst über sich gebracht. Dem Guðmundr der Bósa saga mangelt es so an Weitsicht ebenso wie an Tatkraft: Er selbst handelt wenig, seine Gefolgsleute handeln unbedacht, und wo Guðmundr selbst doch einmal handelt, dort besteht dieses Handeln im Treffen falscher Entscheidungen. Er ist ein weitgehend passives, leicht getäuschtes Opfer, eine bloße Karikatur des mächtigen Anderweltsherren der anderen GlæsisvellirErzählungen.²⁸⁵ Obwohl Guðmundr im Vergleich zum bedrohlich-machtvollen Guðmundr des Helga þáttr oder dem freundlich-heroischen Guðmundr des Þorsteins þáttr in dieser Weise gewissermaßen geschrumpft erscheint, steht er in anderer Hinsicht deutlich
284 Vgl. Schröder 1928, S. 10 f.; Briem 1929, S. 351. 285 Vgl. Hermann Pálsson und Edwards 1971, S. 70; allgemein zur Bósa saga als Satire und Parodie vgl. ibidem S. 84, 87–90, 115; Vésteinn Ólason 1994, S. 117–124; van Wezel 2006.
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in einem Motivkontinuum mit diesen anderen Guðmunds – nicht zuletzt, um die komisch-parodistische Verzeichnung des Guðmunds der Bósa saga vor dem Hintergrund der sonstigen Darstellungen dieser Figur zur Geltung kommen zu lassen. Auch der Hof des Guðmundr der Bósa saga zeichnet sich durch die Schönheit von Guðmunds weiblicher heiratsfähiger Verwandtschaft aus (auch wenn es sich in dieser Saga dabei nicht – wie sonst üblich – um seine Tochter oder Töchter, sondern um seine Schwester handelt): Schon die erste Bauerstochter, mit der Bósi eines seiner erotischen Abenteuer hat, erzählt ihm, was für ein großer Verlust es wäre, wenn Hleiðr zu einem Priesterinnen-Monster gemacht würde, því hún er allra meyja fríðuzt of kurteisuzt, „da sie die schönste und edelste aller Frauen ist“ (K. 8). Hleiðr ist für dieses Amt von der gegenwärtigen Tempelpriesterin gegen ihren Willen ausgewählt worden – wie auch ohne das Wissen ihres Bruders, der Männer auf die Suche nach ihr schickt. Als Bósi und Herrauðr sie finden, ist sie im Tempel in einer Kammer hinter einer Steintür eingesperrt, die so massiv ist, dass die beiden Helden einen ganzen Tag brauchen, um sie aufzubrechen; und selbst in dieser Kammer ist Hleiðr noch angekettet (K. 8): járnfestr var um hana miðja vannliga læst at henni; hún var grátin mjök – „ein eisernes Band war um ihre Mitte, sorgfältig um sie verschlossen; sie war in Tränen aufgelöst.“ Der Metamorphose in ein Priesterinnen-Monster, die durch vergiftetes Fleisch erfolgen soll, sieht Hleiðr nicht mit Freude entgegen. Dass sie dennoch insofern ein geeignetes Opfer ist, um dieses Amt zu übernehmen, als sie ein prominentes Mitglied eines heidnischen Hofs darstellt, zeigt sich während der Feier der Hochzeit, deren Vollzug Bósi und Herrauðr verhindern: Im Lauf des Festabends werden gleich vier Minnebecher (minni) dargebracht, einer für Thor, einer für alle Götter, einer für Odin und einer für Freyja (K. 12). Wie auch sonst, ist Guðmunds Reich auch in der Bósa saga wieder ein zutiefst heidnisches.²⁸⁶ Zugleich ist es dabei auch ein prachtvolles Reich, wie sich insbesondere an der Schilderung der Halle zeigt, in der Hleiðs Hochzeit stattfinden soll (K. 11): Konungr hefir látit gjöra sér höll svó mikla, at á henni eru C dyra, ok er jafnt langt í millum allra; C mannz má rúmliga sitja í millum hverra dyra [...]. („Der König hat sich eine Halle bauen lassen, so groß, dass sie hundert Türen hat, und zwischen allen ist es gleich weit; hundert Mann können mit ausreichend Raum zwischen jedem Paar von Türen sitzen.“) Die monumentale Zahl der Türen dieser Halle und die Art, wie die ebenso gewaltige Zahl der Männer, die in der Halle Platz finden, zur Zahl der Türen in Beziehung gesetzt wird, erinnert dabei auffallend an die wohl berühmteste nordische Festhalle; denn auch Walhall zeichnet sich durch seine gewaltige Anzahl an Türen aus, wobei wiederum auch eine direkte Relation zwischen der Zahl der Türen und der Zahl der Einherjer in Walhall besteht (Gylfaginning 40; Grímnismál 23):
286 Tietz 2012, S. 146. Zu möglichen parodistischen Untertönen dieser Minnebecher im Kontext der Bósa saga vgl. van Wezel 2006, S. 1036 f.
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Fimm hundruð dura oc um fiórom togom, svá hygg ec at Valhǫllo vera; átta hundruð einheria ganga ór einom durom, þá er þeir fara at vitni at vega.²⁸⁷ Fünfhundert Türen, und vierzig darüber hinaus, so meine ich, sind in Walhall; achthundert Einherjer gehen aus einer Tür, dann, wenn sie losziehen, um mit dem Wolf zu kämpfen.
Wenn man von dieser Schilderung Walhalls absieht, ist die Schilderung von Guðmunds Halle in der Bósa saga äußerst ungewöhnlich; in dieser Passage dürfte entsprechend eine direkte mythologische Anspielung auf Walhall vorliegen, ganz ähnlich den reichen Anspielungen auf Thorsmythen in der Thorkillus-Erzählung Saxos oder im Þorsteins þáttr. Dass die Zahl der Türen (100 in Guðmunds Halle gegenüber 540 in Walhall) dabei im Detail nicht übereinstimmt, dürfte kaum von Bedeutung sein, da es hier wohl nur um die Vermittlung einer Idee unvorstellbarer Größe und nicht um eine spezifische Zahl geht.²⁸⁸ Diese Assoziation von Guðmunds Halle mit Walhall ist dabei insofern von Bedeutung, als Guðmunds Halle damit mit einem Jenseits- und Totenreich assoziiert wird (da Walhall einer der Aufenthaltsorte der in der Schlacht Gefallenen ist: Gylfaginning 20). Damit wird hier bereits drei Jahrhunderte vor dem Saxo-Kommentar des Johannes Stephanus Stephanius derselbe Gedanke zum Ausdruck gebracht, den auch Brynjólfur Sveinsson äußert, wenn er in seinem Beitrag zu Stephanius’ Kommentar den Ódáinsakr und die Glæsisvellir in ein und denselben Kontext mit anderen mythischen Toten- und Jenseitsreichen (und insbesondere auch mit Walhall) stellt.²⁸⁹ Im literarischen Kontext der Bósa saga mit ihrem komisch-parodistischen Tonfall dürfte die Assoziation von Guðmunds (Hochzeits-!) Halle mit der Totenhalle Odins dabei zugleich die Absurdität der Ereignisse unterstreichen, die sich in der Halle Guðmunds abspielen: Implizit kontrastiert sie hier das über den Einherjern hängende Warten auf den Weltuntergang mit dem Geschehen der Hochzeitsnacht, in der Bósi Guðmundr trotz aller Sicherheitsvorkehrungen in seiner eigenen Halle verprügelt und ihm die Schwester unter der Nase wegstiehlt. Solche parodistischen mythologischen Anspielungen finden sich in der Saga auch anderenorts. So hat etwa Lars van Wezel darauf hingewiesen, dass sich Bósis Art der Informationsbeschaffung gleichfalls als mythologische Anspielung deuten lässt: Bósi verbringt im Lauf der Saga dreimal eine Liebesnacht mit einer Bauerstochter, die in einer Detailfülle geschildert wird, die innerhalb der altnordischen Literatur einzigar-
287 Text: Neckel und Kuhn 1983. 288 Contra Schröder 1924, S. 15–20; Schröder 1929, S. 80–83; Schröder 1958, S. 365–368, der in der genauen Zahl der Einherjer orientalische kosmologische Spekulationen wiederfinden will. 289 Siehe oben S. 39 f.
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tig dasteht;²⁹⁰ dafür erhält er ausführliche Antwort auf Fragen, die für den weiteren Verlauf der Saga zentral sind. Dies lässt sich als augenzwinkernde Anspielung auf den Mythos von Odins Beschaffung des Dichtermets deuten, wo Odin drei Nächte mit Gunnlǫð verbringt und dafür jeweils ein Drittel des Dichtermets erhält.²⁹¹ Wie schon die meisten bisher angesprochenen Sagahelden, kommen auch Bósi und Herrauðr eher zufällig mit Guðmundr in Kontakt: Seine Schwester wird im selben bjarmaländischen Tempel gefangen gehalten, den Bósi und Herrauðr plündern müssen, um an das Geier-Ei mit den goldenen Inschriften zu gelangen. Das Motiv der Reise eines Sagahelden nach Bjarmaland,²⁹² wo er einen Gegenstand aus einem heidnischen Tempel raubt und die monströse Priesterin des Tempels tötet, erscheint außerhalb dieser Episode der Bósa saga noch in einer weiteren Vorzeitsaga:²⁹³ der Sturlaugs saga starfsama aus den Jahren um 1300.²⁹⁴ Dort muss Sturlaugr für König Háraldr, den er um seine Braut gebracht hat, ein Auerochsenhorn beschaffen, das dem König einst verloren gegangen war. Da der König sich weigert, Sturlaugr auch nur den Aufenthaltsort des Horns zu nennen, besteht Sturlaugs erste Aufgabe bereits darin, das Ziel seiner Mission in Erfahrung zu bringen. Nachdem er mehrmals von einer weisen Frau an die andere weitergereicht worden ist, wird ihm schließlich gesagt, dass sich das Auerochsenhorn in einem großen, aus wertvollem Holz erbauten Tempel in Bjarmaland befindet, der Thor, Odin, Frigg und Freyr geweiht ist. Als Sturlaug und seine Männer den Tempel erreichen, finden sie dort – wie Bósi und Herrauðr – eine Mischung aus Glanz und Grauen vor: Das Gebäude und seine Einrichtung sind geschmückt mit Gold, Silber und Edelsteinen, sind jedoch auch voller Gift, und dem Tempel steht auch hier eine monströse, übergroße und zudem menschenfresserische Frauengestalt vor. Als diese die Plünderung ihres Tempels zu verhindern versucht und Sturlaugr nachsetzt, tötet er sie. Darauf entkommt er zu seinem Schiff, fährt zu König Háraldr und schlägt ihm mit dem Horn vier Zähne aus.²⁹⁵ Plünderzüge nach Bjarmien, in deren Verlauf bjarmische Heiligtümer oder Grabhügel ausgeraubt werden, gehören zu den Standardmotiven der altwestnordischen Literatur. So beschreibt die Hálfs saga ok Hálfsrekka, wie König Hjǫrleifr während einer Bjarmaland-Fahrt von einem Drittel seiner Männer einen Grabhügel plündern lässt (wobei sie reiche Beute machen), während er selbst mit einem weiteren Drittel
290 Vgl. Vésteinn Ólason 1994, S. 120 f. 291 van Wezel 2006, S. 1039 f. 292 Die skandinavischen Zeugnisse, in denen Bjarmien ausdrücklich angesprochen wird, sind gesammelt bei Ross 1981, S. 29–42. 293 Vgl. ausführlich und mit weiteren (teilweise entfernteren) Parallelen: Power 1984. Vgl. Ross 1981, S. 35–37; Jiriczek 1893, S. IIL f. [sic]. 294 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 366. Die Saga ist hgg. von Zitzelsberger 1969. 295 Zitzelsberger 1969, S. 17–23, vgl. S. 366–373.
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die Einheimischen angreift.²⁹⁶ Ebenso beschreibt die Ǫrvar-Odds saga die Plünderung eines aus einer Mischung aus Erde und Opfergeld bestehenden Hügels in Bjarmien,²⁹⁷ und hierher dürfte auch eine Episode der längeren Fassung der Ǫrvar-Odds saga gehören, wo Oddr die Hohepriesterin von Bjálkaland in ihrem Tempel erschlägt und die dortigen Heiligtümer niederbrennt;²⁹⁸ denn R. C. Boer weist darauf hin, dass „Bjálkaland“ wohl vom russischen Wort für „Eichhörnchen, Pelztier“ (bělka) herzuleiten ist,²⁹⁹ was die Tötung dieser Priesterin wieder im Kontext des für seine Pelze berühmten Bjarmaland lokalisieren dürfte.³⁰⁰ Hierzu würde auch die enge Motivparallele zur Tempelplünderung in der Bósa saga passen, wo gleichfalls die bjarmaländische Priesterin erschlagen und das Heiligtum niedergebrannt wird. Von besonderem Interesse ist an der Ǫrvar-Odds saga ferner, dass Odds Bjarmaland-Fahrt auch nach dem Ende der eigentlichen Episode geradezu ein Leitmotiv der Saga bleibt: Ein halbes Dutzend Mal wird Oddr im Verlauf der Saga, nachdem er sich jeweils vorgestellt hat, mit kleineren Variationen immer wieder dieselbe Frage gestellt: „Bist du der Oddr, der nach Bjarmaland gefahren ist?“³⁰¹ Allen seinen anderen Taten zum Trotz erscheint so gerade seine Bjarmaland-Fahrt als die Tat, die ihn als Helden definiert. Der mit Hinblick auf den Jómali-Tempel der Bósa saga vielleicht interessanteste Bericht über eine Plünderung eines Heiligtums (bzw. Hügels) in Bjarmien findet sich in der Heimskringla (Ólafs saga hins helga K. 133):³⁰² Dort wird die Bjarmaland-Fahrt des Karli von Hálogaland, seines Bruders Gunnsteinn und des Þórir hundr beschrieben. Nachdem sie an einem Handelsplatz in Bjarmaland ihre Geschäfte abgeschlossen und eine große Menge von Pelzen erworben haben, macht Þórir den Vorschlag, ihre Einkünfte noch durch Beute aufzubessern. Er erklärt seinen Handelspartnern und den Schiffsbesatzungen, dass es in Bjarmaland üblich sei, einem wohlhabenden Toten einen erheblichen Teil seines Besitzes ins Grab mitzugeben. Auf der Suche nach einer solchen reichen Grabstätte stoßen sie darauf in einem Wald auf eine Lichtung, in deren Mitte sich eine Palisade mit einem geschlossenen Tor befindet. Nachdem sie sich Einlass verschafft haben, finden sie darin einen Hügel vor, der aus einer Mischung von Gold, Silber und Erde besteht; ferner befindet sich in der Einfriedung
296 Hgg. von Seelow 1981, dort S. 172, vgl. Power 1984, S. 18; Ross 1981, S. 35. 297 Hgg. von Boer 1888, dort S. 26–37 (M- und S-Text); Ross 1981, S. 37 f.; Power 1984, S. 18 f. 298 Hgg. von Boer 1888, dort S. 180–184 (M-Text); vgl. Power 1984, S. 10. 299 Boer 1892, S. 87 (Anm. 3). Zur Frage, wie das russische Element nach Skandinavien gelangt sein könnte, vgl. Briem 1929, besonders S. 348 f. zur skandinavischen Präsenz an russischen Fürstenhöfen bis ins späte 11. Jahrhundert und deren möglichen Niederschlägen in literarischen Motiven. 300 Zu den Pelzen von Bjarmaland vgl. Ross 1981, S. 30 (=die Bjarmaland-Fahrt des Karli von Hálogaland, s. unten), 46, 75 f. 301 Vésteinn Ólason 1994, S. 104; Boer 1888, S. 52/53 (M- und S-Text), 62/63 (M- und S-Text), 84/85 (M- und S-Text), 89/90 (S- und M-Text), 125 (S-Text), 130 (A-Text), 168 (M-Text), vgl. S. 128 (A-Text). 302 Hgg. von Finnur Jónsson 1893–1901 Bd. 2. Vgl. Ross 1981, S. 30 f.; Power 1984, S. 18; Schröder 1928, S. 11; Jiriczek 1893, S. IL [sic].
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ein Bildnis des Gottes der Bjarmaländer, der Jómáli heißt und bei dem weitere reiche Opfergaben stehen. Die Nordmänner halten sich an diesen Schätzen schadlos; einer der Handelsgenossen ist jedoch bei der Plünderung zu gierig und macht die Bjarmaländer auf sie aufmerksam. Zwar entkommen sie der Verfolgung durch die Bjarmaländer zunächst unbeschadet, aber kurz darauf geraten sie untereinander über die Aufteilung der erbeuteten Schätze in einen blutigen Streit. Der ferne, als zutiefst heidnisch gedachte Nordosten erscheint somit wiederholt als das Ziel heroisch-räuberischer Reisen. Dabei sind die Jómali-Tempel insofern von besonderem Interesse, als sie nahelegen, dass in solche literarische Erzählungen tatsächlich einzelne Elemente konkreter Reiseberichte eingegangen sind: Der Gott Jómali entspricht dem finnischen und karelischen jumala, „Gott“, was auf einen realen finno-ugrischen Hintergrund hinzudeuten scheint (auch wenn die Details der Beschreibungen des Kultes wenig mit dem tatsächlichen ethnographischen Sachverhalt gemein haben: Ein dürres Skelett von fragmentarischem Wissen über die tatsächlichen Zustände in der Region des Weißen Meeres wird hier mit phantastischen Erfindungen ausgeschmückt, unter die sich daneben möglicherweise einzelne verstreute lappische ethnographische Details mischen könnten).³⁰³ Ein historisches Beispiel für einen konkreten Reisebericht über eine Reise in den hohen Norden und bis nach Bjarmaland stellt die Reise des Ohthere im 9. Jahrhundert dar:³⁰⁴ Dieser berichtet von sich, von allen Norwegern am weitesten nördlich gewohnt und eines Tages das Bedürfnis verspürt zu haben, zu erkunden, wie weit das Land sich noch nach Norden erstreckt und ob nördlich des unbewohnten Landstrichs noch jemand lebt; darauf brach er zu einer Erkundungsfahrt auf, die ihn um das Nordkap und bis nach Bjarmien am Weißen Meer führte, wo er das Land erkundete und Walrosse jagte.³⁰⁵ Für das mittelalterliche Skandinavien bezeichnete Bjarmien dabei das nordöstliche Ende der bekannten Welt. So gesteht die Historia Norvegiae um 1220³⁰⁶ ihre Unkenntnis über die Lande jenseits von Bjarmien offen ein: Sie verzeichnet die utrique Biarmones³⁰⁷ unter den letzten bekannten heidnischen Völker gegen Nordosten, sed que gentes post istos habitent, nichil certum habemus – „aber welche Völker hinter jenen wohnen mögen, darüber haben wir nichts Sicheres“. Erst nach diesem
303 Ross 1981, S. 7, 48, 49 f., 57 f., 63, 65, 77 (Anm. 29); Power 1984, S. 20. Der altwestnordische Jómali kann entsprechend auch mit dem bestimmten Artikel erscheinen (Finnur Jónsson 1893–1901 Bd. 2, S. 294, kritischer Apparat zu Z. 20). 304 Ausführlich mit Text, Übersetzung und geographischem Kommentar: Ross 1981. Zur Datierung vgl. besonders Chesnutt in Ross 1981, S. 68 f. 305 Es ist vorgeschlagen worden, die Reise des Ohthere mit Bīrūnīs Bericht über die Nordmeerexpedition eines Warängers zu identifizieren (siehe oben S. 23): Zeki Validi 1936, S. 47 f.; Ross 1981, S. 60. In Anbetracht der großen Zahl solcher Expeditionserzählungen ist dies jedoch wenig wahrscheinlich. 306 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 181. 307 Vgl. Storm 1880, S. 75 (Anm. 1); Simek 1986, S. 251; Ekrem et al. 2003, S. 115.
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caveat referiert der Autor noch Berichte von Seefahrern, die von Stürmen von ihrem Kurs abgebracht zwischen Bjarmaland und Grönland (zwischen denen eine Landverbindung angenommen wurde)³⁰⁸ auf Völker von Riesen und von Jungfrauen gestoßen sein wollen, die durch einen Schluck Wasser empfangen würden (Kap. I).³⁰⁹ Dass Bjarmaland als geradezu buchstäblich das Ende der Welt betrachtet wurde, zeigen die Ausführungen der Historia Norvegiae zum Meer vor der bjarmaländischen Küste (Kap. II): Ibi ille profundissimus Septemtrionalis Sinus, qui Caribdim, Scillam et ineuitabiles uoragines in se continet – „dort befindet sich jener überaus tiefe nördliche Golf, der Charybdis, Skylla und Strudel, aus denen es kein Entkommen gibt, in sich enthält“; diese Strudel markieren hier das Ende der Welt ebenso wie in den Eismeerexpeditionen des Haraldr harðráði und der friesischen Edelleute, über die Adam von Bremen berichtet, oder wie der Strudel in der Langobardengeschichte des Paulus Diaconus.³¹⁰ Das Lokalkolorit, das die Historia Norvegiae im Folgenden darüber hinaus in der Form von zermalmenden Eisbergen und Schiffe zerstörenden Walen hinzufügt, unterstreicht nur nochmals, dass hier die Grenze menschlichen Forschungsdranges liegt.³¹¹ Eben dieses Bjarmaland, das Ende der (bekannten) Welt, ist zweimal mit der Lokalisierung von Guðmunds Reich assoziiert: Die Expedition des Thorkillus führt ins „jenseitige Bjarmien“ (in ulteriorem Byarmiam),³¹² wo Thorkillus schließlich an Land geht und von Guthmundus empfangen wird und wo entsprechend auch Guthmundus’ Halle zu liegen scheint.³¹³ Und in der Bósa saga liegen die Glæsisvellir offenbar (unmittelbar?) östlich von Bjarmaland, da es von der Priesterin heißt, dass sie zur Entführung von Guðmunds Schwester nach Osten gereist sei (K. 8).³¹⁴ Bjarmaland ist so einerseits ein fernes mythisches Reich am Ende der Welt, hinter dem Skylla und Charybdis den wagemutigen Seemann bedrohen, wo Riesen leben und von wo eine
308 Vgl. Simek 1986, S. 272–274 (Karten Abb. 8, 9, 10); Storm 1880, S. 75 (Anm. 4); Ekrem et al. 2003, S. 115 f. 309 Historia Norvegiae: hgg. von Ekrem et al. 2003, dort S. 54; hgg. von Storm 1880, S. 69–124, dort S. 74 f.; vgl. Simek 1986, S. 258; Ross 1981, S. 41, 43; Storm 1880, S. 75 (Anm. 4, 6). 310 Siehe oben S. 22–25. Zur Kartographie dieser Strudel auf der Weltkarte von Hereford siehe oben Anm. 191. Vgl. Ross 1981, S. 41, 43. 311 Ekrem et al. 2003, S. 56, Zitat: ibidem; Storm 1880, S. 78–80, Zitat: S. 78 f. 312 Siehe oben S. 20; Ross 1981, S. 40 sieht in der hier (wie auch in anderen Quellen) vorgenommen Zweiteilung Bjarmiens einen Hinweis auf eine reale geographische Zweiteilung dieser Region, wohingegen Simek 1986, S. 251 die wohl vorzuziehende Meinung vertritt, dass es sich beim zweiten, jenseitigen/östlichen Bjarmien um ein letztlich mythisches Gefilde handelt; diese Vorstellung zweier Bjarmien dürfte durch die Diskrepanz entstanden sein, die sich daraus ergab, dass Bjarmaland einerseits relativ häufig von norwegischen Kaufleuten aufgesucht wurde, während es andererseits eine Projektionsfläche für phantastische Motive der Märchen- und Abenteuerliteratur darstellte (ibidem). 313 Vgl. Ross 1981, S. 64. 314 Vgl. Ross 1981, S. 43 f.
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goldene Brücke ins Reich der Ungeheuer führt,³¹⁵ und andererseits in Texten wie der Heimskringla das Ziel eines lukrativen Handels mit Pelzen und anderen Nordlandgütern, das sehr irdische reiche Gewinne verspricht – wenn man bereit ist, die abenteuerliche Reise ans Ende der Welt in Kauf zu nehmen. Im gegenwärtigen Kontext liegt der Wert der Bósa saga darin, deutlich zu illustrieren, wie diese beiden Aspekte in der Glæsisvellir-Literatur ineinander fließen und trotz des scheinbaren Kontrasts zwischen dem Mythischen und dem Abenteurerisch-Merkantilen miteinander verbunden werden können. Die Bósa saga führt ihre Helden auf eine Reise nach Bjarmaland, die so deutlich eine ins gänzlich Phantastische gewendete Fassung der Bjarmaland-Reise der Heimskringla darstellt, dass ein (direkter oder indirekter) literarischer Zusammenhang zwischen diesen und ähnlichen Reiseerzählungen als wahrscheinlich gelten darf:³¹⁶ Die reale Bjarmalandreise ist in der Bósa saga zwar durch vielfache literarisch-phantastische Umarbeitungen gebrochen, aber wenn man eine breitere Selektion der übrigen Erzählungen von Bjarmalandreisen zum Vergleich heranzieht, ist doch deutlich, dass hier ein literarisches Kontinuum vorliegt – auch wenn dieses Kontinuum ein breites Spektrum vom (fast) Realistischen bis zum Phantastischen abdeckt. Die Bósa saga mag sich im phantastischen Randbereich dieses Spektrums bewegen, aber dass sie in der etablierten Tradition der Bjarmalandfahrten steht, bleibt vor dem Hintergrund des Gesamtmaterials letztlich doch unübersehbar. Zugleich knüpft die Bósa saga – wie zuvor schon Saxo – dieses Motiv der anderswo durchaus „weltlich“ motivierten Bjarmalandfahrt und der abenteuerlichen Entdeckungsreise in unbekanntes Terrain an das Motiv des mythischen Gefildes der Glæsisvellir an, wo König Guðmundr mit seiner übermenschlich schönen weiblichen Verwandtschaft – in diesem Fall einer Schwester anstelle der sonst üblichen Töchter – in einer Halle Hof hält, die so auffällig an Walhall erinnert. Hier mag gerade die Assoziation Bjarmalands mit dem Ende der Welt Bedeutung haben. Auf die dadurch implizierte Verbindung auch der Glæsisvellir mit der Entdeckungsreise ans Ende der Welt wird später wieder zurückzukommen sein; denn gerade die in der Bósa saga als einem der spätesten hier angesprochenen Sagatexte immer noch zentrale Assoziation zwischen den Glæsisvellir und solchen Fernreisen, die letztlich einen – wenn auch noch so entfernten – Hintergrund in realen Reisen haben dürften,³¹⁷ mag diesem Text seine Signifikanz für die Glæsisvellir-Frage geben.
315 Siehe oben S. 21. 316 So schon Ross 1981, S. 76 f. 317 Zum Niederschlag (u. a.) realer wikingerzeitlicher Reisen bis in die Region des Weißen Meeres in der Sagaliteratur vgl. schon Power 1984.
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2.8 Samsons saga fagra In der letzten und vielleicht spätesten hier relevanten Sagaquelle wird diese Assoziation der Glæsisvellir mit einer Reise ans Ende der Welt noch ein weiteres Mal bestätigt: der Samsons saga fagra.³¹⁸ Nach Rudolf Simek ist dieser Text dem späten 14., vielleicht aber auch erst dem 15. Jahrhundert zuzuweisen.³¹⁹ Die Haupthandlung der „Saga von Samson dem Schönen“ dreht sich um Samson, der in dieser Saga als der Sohn König Arthurs erscheint und, wie es im ersten Kapitel der Saga heißt, ungemein schön, aber nicht sehr klug ist. Mit der Glæsisvellir-Thematik berührt sich die Samsons saga jedoch nicht in ihrer Haupthandlung, sondern nur in einer längeren Nebenhandlung: Der Räuber Kvintelin erhält im zweiten Teil der Saga trotz schwerwiegender Verbrechen die Chance, sich von der verdienten Todesstrafe durch das Vollbringen einer große Tat loszukaufen, die den Ruhm Samsons vermehren soll; und diese Tat führt ihn zum Sohn Guðmunds von Glæsisvellir, dessen Geschichte in einem nahezu eigenständigen þáttr erzählt wird (K. 16–24).³²⁰ Die Aufgabe, die Kvintelin gestellt wurde, bestand darin, sækia þann guduef er fiorar alfkonur haf ofit vm atian vetur. þangat sem solin skin nedan a jordina þa hun geingr sem hæst a sumarit ok suofu alldri a þeim tima – „das feine Tuch zu suchen, das vier Elfenfrauen im Verlauf von achtzehn Jahren gewoben haben, da, wo die Sonne auf die Erde niederscheint, wenn sie im Sommer möglichst hoch steht und sie in dieser Zeit nie schlafen“; und darüber hinaus musste er Samson noch zwei weitere Gegenstände bringen (K. 15). Nachdem Kvintelin diese Aufgabe gestellt worden ist, wechselt die Saga die Perspektive, indem sie zunächst die Gegenwart Samsons verlässt und in einem 150-jährigen Zeitsprung die gesamte Lebensgeschichte Sigurds einschiebt, des Sohns Guðmunds von Glæsisvellir (K. 16–24). Dieser Teil der Saga beginnt mit Guðmundr, dem Herrn der Glæsisvellir im Osten. Über die Lage der Glæsisvellir heißt es: þat er austarliga fyri Risalandi. Risaland liggr til austurs ok nordurs af Austurueginum ok þadan til landnordurs. „Das liegt im Osten vor Risaland. Risaland liegt im Osten und Norden von Austrvegr und von da gen Nordosten.“ Von dort erstreckt sich das Land über Iotunheimar und Sualbardi weiter bis nach Grönland. Eines der merkwürdigen in Svalbardi lebenden Völker ist dabei dasjenige der smameyiar, der „kleinen Mädchen“, die mit sieben Jahren Kinder bekommen und mit 15 Jahren sterben (K. 16). Im Verlauf eines Plünderzugs, den Guðmundr von den Glæsisvellir nach Norden nach Jǫtunheimar unternimmt, kommt er eines Tages an der Küste des Volks der
318 Hgg. von Wilson 1953. Allgemein zum Text vgl. Tietz 2012, S. 146; Simek 1990, S. 352–356; Jorgensen 1988; Simek 1986, S. 259–264 et passim; Simek 1985; Simek 1982, S. 19–34, 37–39. 319 Simek 1982, S. 20; Simek 1993, S. 565; Jorgensen 1988, S. 644 und Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 329: 14. Jahrhundert. 320 Simek 1985, S. 208.
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„kleinen Mädchen“ vorbei, wo er sich eine Frau raubt. Diese gebiert Guðmundr noch vor der Heimkehr nach Glæsisvellir einen Sohn und stirbt dabei im Kindbett; um die Gefahr von Erbfolgestreitigkeiten zu vermeiden, lässt Guðmundr diesen Sohn aussetzen, so dass er bei Kätern im Land der Riesen auf- und zu einem Helden heranwächst – wie der Zufall es will, in eben dem Land, wo derweil in der Form eines wunderbaren Mantels das kostbare Tuch gewoben wird, das später von Kvintelin geraubt werden soll (K. 16–19). Nachdem er herangewachsen ist und einige Abenteuer bestanden hat, gewinnt Sigurd die Gunst des Riesenkönigs Skrýmir. Dieser rät ihm schließlich, Guðmundr aufzusuchen, um herauszufinden, ob er Sigurd als seinen Sohn anerkennen würde; eines der Geschenke, die Skrýmir ihm auf diese Reise mitgibt, ist dabei auch der kostbare Zaubermantel der Elfenfrauen (K. 20). Bei Guðmundr findet Sigurd daraufhin freundliche Aufnahme, wenn auch keine offene Anerkennung als Guðmunds Sohn; jedoch stattet Guðmundr ihn mit der nötigen Ausrüstung für einen Kriegszug aus, so dass Sigurd sich plündernd und heerend selbst ein Königreich gewinnen kann und schließlich die Tochter des Königs von Bjarmaland zur Frau bekommt (K. 21). Diese Frau Sigurds stirbt jedoch eines Tages, und nach einem weiteren kurzen Besuch bei Guðmundr in Glæsisvellir reist Sigurd weiter zu Skrýmir, um ihn um die Hand seiner Tochter zu bitten; diese Tochter hat Skrýmir mit der Tochter von Jarl Agdi von Gnipalund gezeugt. Der Riesenkönig willigt in diese Hochzeit unter der Bedingung ein, dass Sigurd dem Sohn Skrýmirs das Erbe nicht streitig machen würde. Darauf kann man sich zwar zunächst einigen, und es wird vereinbart, dass die Tochter als Mitgift das Land der „kleinen Mädchen“ und das dazugehörige Reich bekommen solle; alles andere würde Skrýmirs Sohn erben. Doch am Ende kommt es nichtsdestoweniger zum Kampf zwischen Sigurd, Skrýmirs Sohn und dann Skrýmir selbst. Dies führt dazu, dass Skrýmir und sein Sohn von Sigurd erschlagen werden und Sigurd die Herrschaft über das Reich seines früheren Gönners antritt. Dort herrscht er, bis er über 100 Jahre alt ist und seine neue Frau ein weiteres Mal überlebt hat (K. 22). Als er 150 Jahre alt ist, nutzt Sigurd seine Macht und seinen Einfluss, um ein drittes Mal zu heiraten – obwohl er der Braut und dem Brautvater schon sehr alt scheint. Zu Sigurds Unglück findet seine Saga nun jedoch wieder Anschluss an die Haupthandlung der Samsons saga: Als die Hochzeitsvorbereitungen bereits in vollem Gange sind, betritt auch der Räuber Kvintelin wieder die Bühne, der das kostbare Tuch für Samson beschaffen muss, um sich selbst vor der Hinrichtung zu retten. Er versetzt Sigurds Braut in einen magischen Schlaf, entkleidet sie, schlüpft in ihre Kleider und nimmt ihre Gestalt an; dies gibt ihm die Möglichkeit, Sigurds kostbaren Zaubermantel zu entwenden, den der König aus Anlass der Hochzeitsfeier hat hervorholen lassen. Dabei versetzt der verwandelte Kvintelin dem 150-jährigen Greis einen tödlichen Schlag, greift sich die beiden anderen verlangten Kostbarkeiten (als eine davon dient die Prinzessin), und macht sich aus dem Staub (K. 23 f.). So kann er mit dieser Beute seine Schuld gegenüber Samson begleichen und sich selbst auslösen (K. 25).
Samsons saga fagra
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Die Samsons saga ist ein mit literarischen Anspielungen gesättigtes Literaturwerk, das eine Vielzahl etablierter Motive aufgreift und in ganz freier Weise spielerisch verwendet. Dabei scheint die Rahmenhandlung, in welche die Sigurd-Biographie eingebettet ist, wesentliche Elemente aus dem Lanzelotroman des Zyklus um König Arthur zu beziehen;³²¹ und während diese Rahmenhandlung im höfischen Milieu der Rittersagas spielt und ihre Stoffe entsprechend vornehmlich aus der arthurischen Dichtung bezieht, lehnt die eingeschobene Sigurdbiographie sich weitestgehend an das Genre der Vorzeitsagas an und ist voll von den dort genretypischen Anspielungen auf nordisch-mythologische Stoffe. So erhält Sigurd, als er sich zu Guðmundr aufmacht, von seinen Zieheltern und einer alten Frau etwa u. a. zwei Geschenke, die direkt der SnorraEdda entnommen zu sein scheinen.³²² Das erste ist ein wundersamer Stab, der genau dem Stab zu entsprechen scheint, den Thor auf seinem Weg zum Riesen Geirrøðr von einer Riesin erhält. Dieser Stab leistet Thor in seiner Auseinandersetzung mit den Töchtern des Riesen im Verlauf dieser Fahrt wertvolle Dienste (Skáldskaparmál 18) – was in der Samsons saga nicht nur im Gegenstand selbst, sondern auch in dessen Kontext in der Saga Entsprechungen findet: Auch Sigurd erhält seinen Stab von einer weiblichen Figur, als er sich auf eine weite, gefahrvolle Reise begibt, und auch ihm leistet dieser Stab bei einer späteren Gelegenheit als Waffe gegen einen Riesen gute Dienste (K. 20, 22).³²³ Das zweite Geschenk ist ein Schiff, das stets guten Fahrtwind hat und das sich klein genug zusammenschrumpfen lässt, um es in einen Beutel stecken zu können (K. 20) – und das nahezu mit den gleichen Worten beschrieben wird wie das Götterschiff Skíðblaðnir in der Snorra-Edda, das ebenfalls stets guten Fahrtwind hat und sich zusammenlegen und in einen Beutel stecken lässt (Skáldskaparmál 35; Gylfaginning 43). Neben solches Spiel mit Motiven der Snorra-Edda tritt ferner das Spiel mit Motiven der Glæsisvellir-Literatur. Als Sigurd sich mit der Hilfe Guðmunds selbst ein Reich geschmiedet hat, freit er erfolgreich um die Tochter des Königs von Bjarmaland; dieser König von Bjarmaland trägt dabei den Namen Hárekr (Harekur), seine Tochter heißt Eðný (Edny, K. 21).³²⁴ Es dürfte schwerlich Zufall sein, dass der Held einer anderen Glæsisvellir-Erzählung die (nahezu) gleichnamige Tochter eines gleichnamigen Herrschers desselben Landes heiratet: Denn auch Bósi nimmt sich die Tochter des Königs von Bjarmaland zur Frau, die er in einer ebenso frechen wie gewagten Aktion entführt; der Name dieser bjarmaländischen Königstochter wird dabei als Edda angegeben (Bósa saga K. 13), während ihr Vater Hárekr heißt (Bósa saga K. 7). Sigurd heiratet also offenkundig dieselbe Frau wie Bósi.³²⁵
321 Simek 1982, S. 27–34; Simek 1985; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 330. 322 Simek 1982, S. 25 f. 323 Zur Rezeption desselben Motivs in einer weiteren Glæsisvellir-Erzählung – dem Þorsteins þáttr bæjarmagns – siehe oben S. 75. 324 Zum Namen Eðný vgl. Einar Ólafur Sveinsson 1957, S. 16 (Anm. 31). 325 Vgl. Simek 1982, S. 26 f. Verschiedene Gastauftritte hat Eðný, Tochter von König Hárekr von Bjarmaland, auch in der Hálfdanar saga Eysteinssonar (K. 15, 22, 24), vgl. Schröder 1917, S. 42–44 mit
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Die Glæsisvellir und der Ódáinsakr
Dieses Spiel findet seine humoristische Fortsetzung auch in der nächsten Ehefrauengeneration des langlebigen Sigurd: Nach dem Tod seiner ersten Ehefrau Eðný heiratet Sigurd die Tochter, die Skrýmir uid dottur Agda jallz af Gnipalunde – „mit der Tochter von Jarl Agdi von Gnipalund“ – hat (K. 22). Die Tochter von Jarl Agði von Gnípalundir ist jedoch bereits aus dem Þorsteins þáttr bæjarmagns bekannt: Dort wird sie gegen Ende der Erzählung die Ehefrau von Þorsteinn bæjarmagn (Þorsteins þáttr K. 11 f.).³²⁶ Auch hier dürfte also ein augenzwinkernder Querverweis auf eine weitere Glæsisvellir-Erzählung vorliegen; dass Sigurd dabei nicht (wie Þorsteinn) die Tochter, sondern die Enkelin Jarl Agðis von Gnípalundir heiratet, mag darauf anspielen, dass Sigurd inzwischen eben bereits eine Generation älter ist als der junge Þorsteinn dies im Þorsteins þáttr war. Mit dem Motiv des Alters wird in der Erzählung auch noch anderswo gespielt: Am Beginn der Sigurds-Biographie steht Guðmunds Besuch bei den „kleinen Mädchen“ (smameyiar), die mit 7 Jahren beginnen, Kinder zu bekommen, und die mit 15 Jahren sterben (K. 16). Dieses merkwürdige Volk ist, wie Simek gezeigt hat, wohl aus einer kreativen Umarbeitung zweier Völker der altnordischen Wundervölkerverzeichnisse durch den Sagaverfasser hervorgegangen; denn in diesen Texten folgen zwei Völker unmittelbar aufeinander, deren Charakteristika sich ohne Weiteres zu denen der „kleinen Mädchen“ der Samsons saga verbinden lassen: die Pygmäen und die kurzlebigen Frauen. Die Pygmäen zeichnen sich dabei durch ihren unglaublich kleinen Wuchs aus, während die Wundervölkerverzeichnisse von den kurzlebigen Frauen berichten, dass die Mitglieder dieses Volkes mit 5 Jahren beginnen, Kinder zu gebären, und mit 8 Jahren sterben.³²⁷ Der extremen Kurzlebigkeit, die am Anfang von Sigurds Lebensgeschichte steht, steht an ihrem Ende das extrem hohe Alter von 150 Jahren gegenüber, das Sigurd trotz der Abstammung von einer solchen kurzlebigen Mutter erreicht (K. 24). Dies mag einerseits ein ironisch-invertierter Rückverweis vom Ende auf den Anfang der Sigurdserzählung sein; andererseits dürfte hier jedoch auch mit der Assoziation von Sigurds Vater Guðmundr mit einem übermenschlich verlängerten Leben gespielt werden, wie
Anm. 3, S. 47; Simek 1982, S. 27. – Wenn die erste Frau Sigurds somit direkt auf die Frau Bósis anspielt, dann lässt sich vielleicht auch fragen, ob nicht auch die Verwandlung Kvintelins in K. 24 ihr Gegenstück in der Bósa saga hat: In K. 12 der Bósa saga erschlägt Bósi einen vertrauten Gefolgsmann König Guðmunds, zieht ihm die Haut ab und legt sie sich selbst an, worauf Guðmundr ihn für seinen Berater und Harfner hält; so kann er sich in die Hochzeitsgesellschaft einschleichen, den König verprügeln, die Braut stehlen und mit reicher Beute entkommen. Kvintelin geht auffallend ähnlich vor (K. 24): Er versetzt die Braut in einen Zauberschlaf, zieht ihr ihre Kleider aus, legt sie sich selbst an und nimmt ihre Gestalt an; so kann er sich in die Hochzeitsgesellschaft einschleichen, den König so sehr verprügeln, dass dieser daran stirbt, und mit reicher Beute und der Braut entkommen. 326 Siehe oben S. 73, 81. 327 Simek 1990, S. 354; Simek 1986, S. 259 f. Die Wundervölkerverzeichnisse der Hauksbók und der Handschrift AM 194 8vo sind hgg. bei Simek 1990, S. 465–473. Außerhalb der Samsons saga erscheint das Smámeyjarland nur noch in den Skikkjurimur, wo es auf direkter Entlehnung aus der Samsons saga beruhen dürfte: Simek 1985, S. 209.
Der Ódáinsakr und die Glæsisvellir in den Sagas: Zusammenfassung
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sie in der Hervarar saga ausdrücklich ausgesprochen und im Þorsteins þáttr zumindest angedeutet wird. Das literarische Spiel, das die Samsons saga mit Motiven der Bósa saga und des Þorsteins þáttr treibt, setzt voraus, dass diese beiden, selbst schon sehr späten Texte dem Autor der Samsons saga bereits vorlagen; in der relativen Chronologie der Glæsisvellir-Sagas rückt die Sigurdsbiographie der Samons saga damit ganz ans Ende der hier besprochenen Texte. Die Samsons saga, die mit dem Lob der Schönheit und dem gleichzeitigen Eingeständnis der Dummheit ihres Helden beginnt, bildet mit dem Þorsteins þáttr und der Bósa saga damit eine Gruppe von Quellenzeugnissen, die sich einerseits durch ihren respektlosen bis derben Humor mit seiner etwas ironischen Haltung gegenüber seinem Erzählstoff und andererseits durch ihre wohl etwas spätere Entstehungszeit von den übrigen Glæsisvellir-Erzählungen abheben. Nichtsdestoweniger finden sich jedoch auch hier noch – wenn auch in spielerischer Weise – ganz ähnliche Assoziationen mit den Glæsisvellir verbunden, wie in den früheren Zeugnissen: Guðmundr hat zwar keine ungemein schönen und verführerischen Töchter mehr – aber dafür erheiratet sich sein Sohn die Herrschaft über ein ganzes Land von smameyiar (dass diese nur eine Lebenserwartung von 15 Jahren haben, ist ein Schönheitsfehler, der seinen Vater schon eine gute Weile früher nicht davon abgehalten hatte, sich eines dieser „kleinen Mädchen“ zur Geliebten zu nehmen); die Saga sagt nichts über den Ódáinsakr – aber dafür wird Guðmunds Sohn 150 Jahre alt, ehe er kurz vor seiner dritten Ehe erschlagen wird (allem Anschein nach durchaus zur Erleichterung der Braut, die ihn etwas alt fand); Guðmunds Reich wird nicht mehr nach einer gefahrvollen Reise durch ein Land ewiger Dunkelheit im hohen Norden erreicht – aber es wird dafür mit der einen ganzen Sommer währenden Helligkeit der Arktis assoziiert (wo zum Unglück von Guðmunds Sohn der Zaubermantel gewoben wird, den er von Skrýmir zum Geschenk erhält und dessen Besitz ihn am Ende das Leben kostet – vielleicht in impliziter Buße für den Totschlag an Skrýmir). Der Guðmundr Saxos und der Hervarar saga ist im Hintergrund auch dieser späten Erzählung noch deutlich erkennbar, auch wenn er – gewissermaßen mit einer ironischen Verbeugung – nun hinter der Spielfreude des Autors und der grotesken Geschichte, die dieser seinem Sohn andichtet, zurückzutreten beginnt.³²⁸
2.9 Der Ódáinsakr und die Glæsisvellir in den Sagas: Zusammenfassung Auf den vorangegangenen Seiten wurden in grob chronologischer Reihenfolge die mittelalterlichen Hauptquellen für den Ódáinsakr und die Glæsisvellir besprochen: die Thorkillus-Episode in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (um 1200); der Beginn einer Rezension der Hervarar saga (spätestens kurz nach 1300); die Eiríks saga
328 Vgl. Tietz 2012, S. 146 f. (Anm. 166).
98
Die Glæsisvellir und der Ódáinsakr
víðfǫrla (1. Hälfte des 14. Jahrhunderts); der Helga þáttr Þórissonar (wohl 14. Jahrhundert); der Norna-Gests þáttr (wohl frühes 14. Jahrhundert); die Hálfdanar saga Eysteinssonar (wohl frühes 14. Jahrhundert); der Þorsteins þáttr bæjarmagns (wohl 14. Jahrhundert); die Bósa saga ok Herrauðs (wohl 14., vielleicht 15. Jahrhundert); und die Samsons saga fagra (spätes 14. oder 15. Jahrhundert). Die im gegenwärtigen Kontext für die vorliegende Fragestellung wie auch forschungsgeschichtlich zentralen Hauptmotive dieser verschiedenen (und stilistisch wie inhaltlich keineswegs einheitlichen) Erzählungen sind dabei die folgenden:³²⁹ (1) eine weite Seereise, die zu einem anderweltlichen Gefilde führt; (2) die Verbindung dieses anderweltlichen Gefildes mit dem Unsterblichkeitsgefilde des Ódáinsakr; (3) ein „Glanzgefilde“: die Glæsisvellir; (4) die Verbindung des Ódáinsakr mit diesem „Glanzgefilde“; (4) Guðmundr als anderweltlicher Herrscher in diesen Gefilden; (5) die schönen Töchter Guðmunds; (6) die Verführung des Helden durch diese Töchter; und (7) Guðmunds anderweltlicher Obsthain. Diese Liste von Motiven stellt eine ausgesprochene Abstraktion dar: In den konkreten Erzählungen werden keineswegs immer alle diese Motive verarbeitet. Dieser Umstand wird schon von der frühesten Quelle illustriert, die den Ódáinsakr ausdrücklich nennt: den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus. Dort wird der Ódáinsakr nur in einer kryptischen Passage über einen schonischen Statthalter kurz erwähnt; mit dem Reich des Guðmundr wird er hingegen kein einziges Mal in Verbindung gebracht. Denn das Reich Guðmunds erscheint bei Saxo an ganz anderer Stelle, nämlich in seiner Thorkillus-Erzählung; dort ist Guthmundus der Herrscher über ein anderweltliches, in der unmittelbaren Nachbarschaft des Totenreichs gelegenes Land, das nur durch eine lange Seereise zu erreichen ist, während derer man sogar die Sonne und die Sterne hinter sich lässt. Er ist der Vater schöner, verführerischer, aber auch gefährlicher Töchter und der Besitzer eines gleichermaßen verlockenden wie bedrohlichen Obsthains. Alles, was Saxo über Guthmundus erzählt, zeigt eine betonte Ambivalenz zwischen Bedrohung und Faszination; uneingeschränkt positive Züge fehlen in seiner Schilderung völlig – was der Grund dafür sein mag, dass ein Unsterblichkeitsgefilde in Saxos Schilderung keinen Platz hat. Die Hervarar saga verzichtet darauf, Guðmundr und sein Reich in möglichst dunklen Farben zu zeichnen. Guðmundr ist dort ein weiser, reicher Herrscher im fernsten Norden, dessen Herrschaftsbereich entsprechend nur zu Schiff zu erreichen ist, dessen Hof in den Glæsisvellir steht und in dessen Reich die „Heiden“ den Ódáinsakr vermuteten. Töchter oder ein Obsthain Guðmunds werden in dieser Saga jedoch nicht erwähnt. Noch weniger Details gibt die Eiríks saga: Der Ódáinsakr wird hier von Guðmundr vollständig getrennt und als ein Synonym für das irdische Paradies des Christentums gebraucht. Über den Namen hinaus teilt dieser Ódáinsakr mit den Anderweltsgefil-
329 Vgl. Heizmann 1998, bes. S. 95; Davidson 1991; Krappe 1943; Much 1924, S. 99–106; u. a. (siehe oben S. 2 ff.).
Der Ódáinsakr und die Glæsisvellir in den Sagas: Zusammenfassung
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den Saxos und der Hervarar saga nicht mehr als das Versprechen der Unsterblichkeit und eine Assoziation mit einem gartenhaften Hain – der im Fall der Eiríks saga über den heidnischen Ódáinsakr jedoch nichts aussagt, da der gartenhafte Ódáinsakr hier nichts anderes ist als der christliche Paradiesgarten. Wiederum ein (zumindest vorgeblich) heidnisches Bild zeichnet der Helga þáttr. Diese Erzählung legt ihren Fokus auf die Verführung Helgis durch eine der Töchter Guðmunds und verarbeitet die Motive der nördlichen Lage von Guðmunds Reich, in dessen Nähe Helgi zu Schiff gelangt, und des verführerischen Charakters seiner Töchter; wie die Hervarar saga betont der Helga þáttr dabei den heidnischen Charakter Guðmunds und seines Landes. Auf den Ódáinsakr oder einen Obsthain Guðmunds geht der Text nicht ein. Der Norna-Gests þáttr und die Hálfdanar saga berühren den Motivkomplex der Glæsisvellir und des Ódáinsakr nur am Rande. In ersterem Text wird der Helga þáttr kurz aufgegriffen, ohne dass dabei wesentliche Motive erscheinen, die nicht direkt dem Helga þáttr entstammen würden; Guðmundr und die Glæsisvellir werden nicht mehr als erwähnt. Auch in der Hálfdanar saga wird der Helga þáttr direkt rezipiert. Diese Rezeption des Helga þáttr greift dabei ausschließlich Motive auf, die für die mythischen Lokalitäten der Glæsisvellir und des Ódáinsakr von keiner direkten Relevanz sind; sie ist jedoch dadurch von weiterer Bedeutung, dass in der Hálfdanar saga neben dem Helga þáttr in paralleler Weise auch die Eiríks saga und Eiríks Reise zum Ódáinsakr rezipiert werden. Die Struktur dieser offenbar bewusst konstruierten Doppelrezeption sowohl des Helga þáttr als auch der Eiríks saga legt nahe, dass für den Autor der Hálfdanar saga eine direkte Assoziation zwischen diesen beiden Sagas bestand. In Anbetracht des Aufbaus der Eiríks saga muss diese Assoziation auf der dortigen Erwähnung des Ódáinsakr beruht haben, und damit wird die Hálfdanar saga zu einem indirekten Zeugnis für die Assoziation von Guðmunds Land, das im Helga þáttr die zentrale Rolle spielt, mit dem Ódáinsakr, der in der Eiríks saga behandelt wird. Der Þorsteins þáttr lässt seinen Helden auf Guðmundr treffen, nachdem er sich mit seinem Schiff auf einer Ostfahrt in einer Dunkelheit verirrt hatte, in der er zwei Wochen lang orientierungslos war. Der Name „Guðmundr“ ist in dieser Saga der erbliche Titel des Herren von Glæsisvellir; so spielt die Saga mit dem Motiv des Ódáinsakr, indem sie die Unsterblichkeit Guðmunds zu einer bloßen „Unsterblichkeit“ seines Titels euhemerisiert. Das Motiv der Verführung durch Guðmunds Töchter erscheint im Þorsteins þáttr hingegen ebenso wenig explizit bezeugt wie ein besonderer Hain Guðmunds; beides dürfte jedoch zumindest implizit angedeutet sein, da der Verfasser des Þorsteins þáttr mehrere Züge Guðmunds auf Jarl Agði übertragen zu haben scheint, u. a. Guðmunds Wohnstatt, den dortigen Obsthain und eine wunderschöne Tochter.³³⁰ Der heidnische Charakter von Guðmunds Reich wird auch hier explizit betont.
330 Siehe oben S. 80 f.
100
Die Glæsisvellir und der Ódáinsakr
Die Bósa saga macht Guðmunds Reich zu einem heidnischen Land im Osten (í Austrveg), in Bjarmaland. Dort soll Guðmunds schöne Schwester(!) zu einer monströsen Tempelpriesterin gemacht werden, wird von einem der Helden der Geschichte jedoch gerettet und geheiratet. Das Unsterblichkeitsmotiv oder ein Obsthain Guðmunds spielen in dieser Saga keine Rolle. Die Samsons saga lokalisiert die Glæsisvellir im fernen Nordosten – auch hier sind sie wieder ein Land, das in sinnvoller Weise nur zu Schiff erreichbar ist. Statt Töchtern spielt in dieser Erzählung ein Sohn Guðmunds eine wichtige Rolle; dieser Sohn zeichnet sich u. a. dadurch aus, dass er 150 Jahre alt wird (in welchem Alter man ihn während seines eigenen Hochzeitsfests erschlägt). Das übermenschliche Alter von Guðmunds Sohn dürfte sich als literarisches Spiel mit dem Unsterblichkeitsmotiv und damit der Assoziation zwischen Guðmundr und dem Ódáinsakr deuten lassen. Ferner mag ein ähnlich freies literarisches Spiel mit dem Motiv von Guðmunds verführerischen Töchtern darin zu sehen sein, dass sich Guðmunds Sohn die Herrschaft über das „Land der kleinen Mädchen“ erheiratet. Guðmunds Obsthain dagegen spielt auch hier keine Rolle. In der Zusammenschau dieser verschiedenen Quellen (vgl. auch die zusammenfassende Tabelle auf S. 101) wird deutlich, dass die einzelnen „Hauptmotive“ ausgesprochen ungleich bezeugt sind: Manche dieser Motive waren für den Glæsisvellir/ Ódáinsakr-Komplex offenkundig zentraler als andere. Zu den zentralsten Elementen gehört, dass die Glæsisvellir nur zu Schiff zu erreichen sind. Dieses Motiv erscheint in allen Sagas, die nicht entweder eine rein christliche interpretatio des Ódáinsakr vorlegen oder den gesamten Komplex ohnehin nur in Form kurzer literarischer Anspielungen aufgreifen. Dabei ist es vielleicht wert festzuhalten, dass die Notwendigkeit einer Schiffsreise keine Insellage impliziert: Typischerweise werden die Glæsisvellir an Orten wie der Finnmark oder Bjarmien lokalisiert, die prinzipiell zwar auf dem Landweg erreichbar wären, unter den Verkehrsbedingungen des Mittelalters aber praktisch nur auf dem Seeweg besucht wurden. Saxos Thorkillus-Erzählung ist das einzige Zeugnis, in dem das Land des Guðmundr von allen anderen Ländern der Menschen durch das Meer abgeschnitten scheint; in allen sonstigen Texten bestehen zwischen dem menschlichen Siedlungsgebiet und dem Territorium Guðmunds durchaus Landverbindungen, wenngleich diese nicht praktikabel sind. Dies gilt umso mehr, als die verschiedenen Lokalisierungen von Guðmunds Gefilde (wie die Nachbarschaft von Bjarmaland oder das Land der Riesen) zeitgenössisch geradezu das Ende der Welt markieren. Die bedeutendsten Elemente des Motivkomplexes nach der Seereise sind wohl das Unsterblichkeitsmotiv und die Assoziation der Glæsisvellir mit dem Ódáinsakr, dicht gefolgt von Guðmunds Töchtern und deren erotischen Konnotationen. Weit abgeschlagen ist nur das Motiv von Guðmunds Obsthain. Wenn man nicht die Eiríks saga in einem ungebührlichen Maß heidnisch deuten will, findet sich dieses Motiv explizit ausschließlich bei Saxo; implizit dürfte es ferner im Þorsteins þáttr in der Übertragung auf Agði erscheinen. In Anbetracht der Freiheit, mit der Saxo mit seinem Material umgeht, rät diese dürftige Beleglage bei der Interpretation dieses Elements zu besonderer Vorsicht. Allerdings ist auch anzumerken, dass ein gartenhafter
Der Ódáinsakr und die Glæsisvellir in den Sagas: Zusammenfassung
101
Aspekt der isländischen Tradition der frühen Neuzeit als typisch für den Ódáinsakr galt, wie die entsprechende Bemerkung des Brynjólfur Sveinsson zeigt, die im SaxoKommentar des Johannes Stephanus Stephanius (1645) überliefert ist.³³¹ Tab. 1: Die forschungsgeschichtlich zentralsten Motive des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Motivkomplexes aufgeschlüsselt nach ihrer Bezeugung in den einzelnen Sagas Gesta Danorum Hervarar (Thorkillus) saga Seereise
Eiríks saga
Helga þáttr
Hálfdanar Þorsteins saga þáttr
Bósa saga
Samsons saga
X
(impliziert: Lage im äußersten Norden)
–
X
–
X
X
(impliziert: Lage im fernen Nordosten)
Ódáinsakr / Unsterblichkeitsmotiv
(alle positiven Züge fehlen)
X
X
–
X
(Unsterblichkeit des Titels „Guðmundr“)
–
(Lebensspanne von Guðmunds Sohn)
Glæsisvellir
(Reich anderweltlich, aber nicht benannt)
X
–
X
–
X
X
X
Glæsisvellir & Ódáinsakr verbunden
– (alle positiven Züge fehlen)
(Ódáinsakr liegt in den Glæsisvellir)
–
–
(Doppelanspielung auf Eiríks s. & Helga þ.)
(Unsterblichkeit des Titels „Guðmundr“)
–
(Lebensspanne von Guðmunds Sohn)
Guðmundr
X
X
–
X
–
X
X
X
Guðmunds Töchter
X
–
–
X
–
(Agðis schöne Tochter)
(Guðmunds (Guðmunds schöne Sohn beSchwester) herrscht das „Land der kleinen Mädchen“)
Verführung durch Guðmunds Töchter
X
–
–
X
–
(Heirat mit Agðis schöner Tochter)
(Heirat mit der geretteten Schwester)
–
Obsthain
X
–
(=Paradies)
–
–
(Agðis Obsthain)
–
–
(Teil der Lebenswelt vor der Bekehrung)
X
X
X
–
X
X
–
Explizite Benennung als heidnisch
331 Siehe oben S. 39.
102
Die Glæsisvellir und der Ódáinsakr
2.10 Die Hvanndalir Die bisher angesprochenen Texte von Saxo bis zur Samsons saga zeigten bei der Lokalisierung des Ódáinsakr bzw. der Glæsisvellir zwei Konstanten: Diese Gefilde sind weit entfernt, liegen geradezu am Ende der Welt – mit wenigen Ausnahmen liegen sie im hohen Norden, wo sie auf dem Seeweg zu erreichen sind –, und ihre genaue Lage bleibt weitgehend unbestimmt oder wird in einer Weise bestimmt, die sie zwar innerhalb einer mythischen Topographie des hohen Nordens verortet, die jedoch kaum Rückschlüsse für eine eventuelle Lokalisierung im Rahmen der empirisch fassbaren Topographie erlaubt. Franz Rolf Schröder war einer der ersten modernen Gelehrten, der bemerkte, dass diese „Unfassbarkeit“ des Ódáinsakr zwar für die mittelalterliche Literatur gilt, nicht jedoch für die Vorstellungswelt der Neuzeit: Einige Jahrhunderte nach der Niederschrift der bisher besprochenen Vorzeitsagas wird plötzlich eine konkrete lebensweltliche Lokalisierung dieses Unsterblichkeitsgefildes im Rahmen der isländischen Geographie fassbar. Schröder verwies hier auf den Reisebericht des Olaus Olavius, der im Jahr 1777 auf einer Reise durch Nordisland folgende Informationen sammelte:³³² Vom Hofe Ytreaae bis an Landsende, an der Westseite des Olafsfiord, liegen lauter steile Berge mit einem schmalen Vorstrande, unter welchen der 60 Klafter hoch geschätzte Hvanndalebierg der bekannteste ist. An der nach dem Heidinsfiord liegenden Seite von Landsende sind die Berge eben so steil, und der Strand ist eben so schmal. Da das Sirdal und die Hvanndale, ihrer seltenen und wohlriechenden Kräuter wegen, mir sehr gerühmt wurden, so kletterte ich mit vieler Mühe in die letztern hinauf, wo man mir ein ebenes und grasreiches kleines Feld zeigte, welches Odáinsager hieß, weil man glaubte, daß die dort wachsenden Kräuter dem Tode selbst fürchterlich wären; allein bis jetzo ist diese Eigenschaft an folgenden Kräutern, die ich daselbst fand, noch nicht entdeckt worden, nemlich: Empetrum nigrum in voller Blüthe, Ranunculus hederaceus, Stellaria biflora, Leontodon taraxacum, Gnaphalium alpinum, Vaccinium occycoccos, nebst einigen Grasarten, und Fragaria vesca, die ich an andern Orten im Lande, eben so wenig als die bekannte Pflanze Thalictrum minus, gewahr geworden bin. Zum Sirdal kann man von der Seeseite noch weniger kommen, als zu den Hvanndalen, doch soll man an der einen Seite hinauf klettern können. So sehr diese Thäler wegen ihres Reichthums an Gras gerühmt zu werden verdienen, so werden sie doch schwerlich bewohnt werden, weil der Strand gar zu steil ist, die Landungsplätze unsicher sind, und sie gar zu weit abwärts liegen.³³³
332 Schröder 1917, S. 90 (Anm. 3); vgl. Heizmann 1998, S. 74 f.; Einar G. Pétursson 1980, S. 159. Schröder verweist auf die dänische Ausgabe von 1780, während das hier gegebene Zitat der deutschen Ausgabe von 1787 folgt (Olaus Olavius 1780 Bd. 2, S. 288; Olaus Olavius 1787, S. 193; beide Ausgaben zitiert bei Heizmann 1998, S. 73 [Anm. 2], 75, 99 f.). Umfassend zum Ódáinsakr in der Forschungsdiskussion des 17. und 18. Jahrhunderts vgl. Heizmann 1998, S. 74–82, 94, 96–98, 99 f. (das dort gesammelte und besprochene Material wird hier nur insoweit wiederholt, als es für die weitere Diskussion von Bedeutung ist). Simek 1986, S. 270 (Anm. 76) verwirft das Material zum isländischen Ódáinsakr ohne weitere Besprechung als „irrelevant“; für die gegenteilige Ansicht vgl. außer den bereits zitierten Autoren noch Davidson 1991, S. 168; de Vries 1956/57 Bd. 2, § 519; Holtsmark 1933, S. 120 f.; Lid 1928, S. 171. 333 Olaus Olavius 1787, S. 193. Dänische Originalausgabe: Olaus Olavius 1780 Bd. 2, S. 288.
Die Hvanndalir
103
Olaus Olavius hat demnach am Ende des 18. Jahrhunderts den Ódáinsakr in einem kleinen, ausgesprochen schlecht zugänglichen Tal auf der Landzunge zwischen dem Héðins- und dem Ólafsfjord lokalisiert gefunden: den Hvanndalir. Auf heutigen Karten erscheint dieses Tal bzw. kleine Talsystem in der Singularform als Hvanndalur, während die Pluralform Hvanndalir den aufgelassenen Hof am Nordende des Tals bezeichnet.³³⁴ In diesem Tal wurde der Ódáinsakr zu Olaus Olavius’ Zeiten mit einem „kleinen Feld“ identifiziert, auf dem Kräuter wüchsen, die sogar den Tod selbst abhalten würden. Diese Kräuter zählt Olaus Olavius daraufhin im Einzelnen auf – allerdings nur, um zu schlussfolgern, dass nach zeitgenössischem Wissen eine besondere Wirkung in diesen Kräutern nicht festgestellt werden kann.³³⁵ Ansonsten geht aus seiner Schilderung für das Tal selbst kaum mehr hervor, als dass sich die Hvanndalir und das benachbarte Sýrdalur vornehmlich durch ihre Unzugänglichkeit von Land wie von See her auszeichnen: Die Überquerung der Pässe von der Landseite her ist mühselig, und ein guter Landeplatz für Boote existiert nicht. Für die Lage der Hvanndalir mag darüber hinaus noch hervorzuheben sein, dass sie am Ende einer Landzunge liegen, die zum Arktischen Ozean hin mit dem (in der gegenwärtigen isländischen Namensform) Landsendi abschließt, dem „Landesende“ – finis terrae.³³⁶ Ähnliche Auffassungen klingen im nur wenige Jahre älteren Bericht der Islandexpedition von Eggert Olafsen und Biarne Povelsen an, den diese in den frühen 1770er Jahren veröffentlichten:³³⁷ Schöne grasreiche Wiesen und bewohnte Gegenden findet man vielfältig gegen Norden, selbst in dem wüsten Gebirge, als Hverevalle [...], und auf den nordlichsten wüsten Erdzungen, als Hvanndal und Hedensfiord nicht weit davon, welche ehemals bewohnt gewesen sind, wie auch in den Nattfarrevigen. Diese Oerter werden gewöhnlich den so verrufenen fruchtbaren Gegenden an der Küste beym Cap de Nord an die Seite gesetzt. Man erzählt verschiedene Fabeln von der übermäßigen Fettigkeit der Milch daselbst; das Vieh gedeiht da sehr wohl.³³⁸
Das Hvanndalur (bzw. die Hvanndalir) erscheint hier als ein Beispiel für eine mythifizierte extreme geographische Abgeschiedenheit, gelegen auf einer der „nördlichsten wüsten Erdzungen“ der Insel, zugleich unbewohnt und von märchenhafter Fruchtbarkeit, so dass dort sogar die Milch fetter ist als anderswo.³³⁹ Mit Hinblick auf die von Olaus Olavius erwähnte Lage des Hvanndalur am finis terrae fällt ferner die Assozia-
334 Háskólinn á Hólum 2007. 335 Diese Einschätzung ist nach wie vor gültig, vgl. Heizmann 1998, S. 75 f. 336 Noch die modernen topographischen Namen für das Nordende der Landzunge zwischen Héðinsund Ólafsfjord sind Landsendi und Ytri-Landsendi: Háskólinn á Hólum 2007. 337 Vgl. Heizmann 1998, S. 75 (Anm. 6); Einar G. Pétursson 1980, S. 158 f. 338 Eggert Olafsen 1774–1775 Bd. 2, S. 32 (§ 727); Originalausgabe: Eggert Olafsen 1772 Bd. 2, S. 678 (§ 727). Beide Passagen werden zitiert in Heizmann 1998, S. 75 (Anm. 6). 339 Vgl. die Betonung der Fruchtbarkeit des Ódáinsakr in Stephanius’ Saxo-Kommentar (siehe oben S. 39 und Anm. 135).
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Die Glæsisvellir und der Ódáinsakr
tion mit dem (isländischen) „Nordkap“ auf:³⁴⁰ Das „Nordkap“, das Hvanndalur und verwandte Regionen teilen sich die Abgelegenheit am äußersten Rand der Erde mit der Vorstellung außerordentlicher Fruchtbarkeit. Der Reisebericht von Eggert Olafsen und Biarne Povelsen schreibt den Hvanndalir damit zwar Züge eines Paradiesgartens zu, doch der Ódáinsakr findet hier keine Erwähnung. Dass die Lokalisierung des (oder eines) Ódáinsakr in der Region der Hvanndalir zur Zeit ihrer Reise jedoch bereits erhebliche Tradition hatte, zeigt eine Stelle bei Thomas Bartholin dem Jüngeren.³⁴¹ In seiner Abhandlung über die Todesverachtung der heidnischen Dänen aus dem Jahr 1689 kommt er auch auf die Vorstellung des Ódáinsakr zu sprechen, wobei er insbesondere die oben bereits angesprochenen Ansichten Brynjólfur Sveinssons diskutiert;³⁴² diese Diskussion schließt er mit folgender Bemerkung: Est qvoq; locus in Boreali Islandia, in præfectura Vaudloþingi, territorio Hedinsfirdi, Vdaensakrs nomine etiamnum gaudens; de qvo eâ vanâ opinione imbuti fuerunt multi accolarum, neminem ibi, etiamsi letali morbo infectum, animam exspirare posse, sed priùs extra ejus loci limites efferendum. Addunt fabulæ qvidam [sic], freqventem qvondam habitatoribus eundem locum fuisse, qvi omnes eum deseruerunt, qvod miserabile esset, inter terrores mortis constitutos, exoptatum vitæ finem non posse sortiri.³⁴³ In Nordisland, in der Präfektur Vöðluþing, im Gebiet des Héðinsfjords, gibt es auch einen Ort, der sich selbst heute noch des Namens „Ódáinsakr“ erfreut; von ihm hatten viele der Anwohner die eitle Meinung, dass niemand dort die Seele aushauchen könne, auch wenn er von einer tödlichen Krankheit befallen wäre, sondern dass er zuerst aus den Grenzen jenes Ortes hinausgebracht werden müsse. Gewisse Fabeln fügen hinzu, dass derselbe Ort einst viele Einwohner gehabt hätte, die ihn alle verlassen haben, weil es elend sei, in den Wehen des Todes zu liegen und das ersehnte Ende des Lebens nicht erlangen zu können.
Der Ódáinsakr wird hier am Héðinsfjord lokalisiert, wo auch die Hvanndalir liegen; die hier vorgebrachte Lokalisierung dieses Unsterblichkeitsgefildes dürfte also mit der Identifizierung des Ódáinsakr identisch sein, von der Olaus Olavius ein knappes Jahrhundert später berichtet. Ergänzt wird diese Identifizierung bei Thomas Bartholin durch das kuriose Detail, dass das Unsterblichkeitsgefilde gerade aufgrund der dortigen Unmöglichkeit des Sterbens verlassen wurde: Dem Ódáinsakr, von dem Thomas
340 Gemeint ist hier nicht das norwegische Nordkap in der Finnmark, sondern der nach dem zeitgenössischen Stand der Landvermessung nördlichste Punkt Islands; als dieser galt damals der Hornbjarg auf der Hornstrandir-Halbinsel in den Westfjorden. Vgl. Eggert Olafsen 1774–1775 Bd. 1, S. 273 (§ 640) und die dortige Faltkarte; Bd. 2 Tafel XXXI; Eggert Olafsen 1772 Bd. 1, S. 513 (§ 641) sowie die dortige Faltkarte und Tafel XXXI. 341 Vgl. Heizmann 1998, S. 74; Einar G. Pétursson 1980, S. 158. 342 Siehe oben S. 39. 343 Bartholin 1689, S. 587. Mitsamt ihres Kontexts ist die Passage auch abgedruckt bei Heizmann 1998, S. 99.
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Abb. 4: Der Ódáinsakur im Hvanndalur: Der Name Ódáinsakur ist heute mit dem Land im Dreieck zwischen dem Meer, dem Berghang am rechten Bildrand und dem Bach Hvanndalaá verbunden. © M. Egeler, August 2011.
Bartholin gehört hatte, fehlte der Zug des Ódáinsakr der Hervarar saga, wonach dort weder Alter noch Krankheit herrscht; stattdessen bestand in diesem Ódáinsakr nur keine Möglichkeit, dem Leiden eines todgeweihten Lebens zu entrinnen. Dieser Gedanke tritt hier im nordischen Bereich zwar zum ersten, aber nicht zum letzten Mal auf: Noch in den Jahren 1940 und 1978 berichteten zwei einheimische Gewährsmänner von der Vorstellung, dass der Hof auf dem Ódáinsakr aufgegeben worden war, weil es sich als unmöglich erwiesen hätte, dort zu sterben (Abb. 4).³⁴⁴ In jedem Fall erwies es sich im Laufe der Zeit als unmöglich, dort zu leben, und die Gemeinde kaufte das Land im Jahr 1896 schließlich auf, um weitere Besiedlungsversuche zu unterbinden.³⁴⁵ Die Untauglichkeit der Hvanndalir zu dauerhafter Besiedlung liegt dabei einerseits an der relativ geringen Größe dieses Tals bzw. kleinen Talsystems, vor allem aber an seiner Abgelegenheit und dem Fehlen guter Zugangswege sowohl von See als auch von der Landseite, wie dies schon von Olaus Olavius im oben gegebenen Zitat bemerkt wurde. Landseitig stellt der Pass, der von Vík herkommend ins Hvanndalur führt, den einfachsten Zugang dar; auch auf diesem Weg ist jedoch immer noch eine Passhöhe von 703 m zu bewältigen, wobei der Südhang zum größten Teil aus losem Geröll besteht (Abb. 5). Seeseitig endet das Tal in einem Steilabbruch nahezu ohne Strand, so dass für Boote das Anlegen nur bei idealen Wetterverhältnissen möglich ist (Abb. 6); hier hat zwar die Erosion durch die See sicher zu Veränderungen der Küstenlinie geführt, aber dass schon Olaus Olavius
344 Heizmann 1998, S. 76 mit Anm. 14; Einar G. Pétursson 1980, S. 161 f. 345 Einar G. Pétursson 1980, S. 162, 165.
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Abb. 5: Die Aufstiegsroute zum Hvanndalur: Blick vom Víkurbyrða-Pass in Richtung Vík mit dem Abstieg zum Hvanndalur im Rücken. © M. Egeler, August 2011.
Abb. 6: Die Küste des Hvanndalur. © M. Egeler, August 2011.
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die ungünstige Küstenbeschaffenheit notiert, mag andeuten, dass der grundsätzliche Charakter der Küste des Hvanndalur als Steilküste keine rezente Entwicklung ist.³⁴⁶ Dies macht wahrscheinlich, dass der heutige Zustand des Tals in dieser Hinsicht weitgehend repräsentativ für seinen landnahmezeitlichen Zustand sein dürfte. Nimmt man dies als gegeben an, dann muss die landnahmezeitliche Geschichte des Tals umso mehr auffallen. Schon Einar G. Pétursson hat am Ende seiner Besprechung des Ódáinsakr auf die einschlägige Episode der Landnámabók hingewiesen.³⁴⁷ Dort wird berichtet, wie um 900 zwei Landnehmer – Þormóðr inn rammi und Óláfr bekkr – über den Besitz des Tals in Streit geraten (H182; vgl. S215): Hann (d. h. Þormóðr) deildi um Hvanndali við Óláf bekk ok varð sjautján manna bani, áðr þeir sættusk, en þá skyldi sitt sumar hvárr hafa.³⁴⁸ Er (d. h. Þormóðr) stritt mit Óláfr bekkr um die Hvanndalir und wurde zum Töter von 17 Männern, ehe sie zu einem Vergleich kamen, und dann sollte jeder von beiden sie abwechselnd einen Sommer haben.
Wilhelm Heizmann hat hier hervorgehoben, dass diese Notiz in zweierlei Hinsicht auffällt: Zum einen hat keine zweite landnahmezeitliche Auseinandersetzung um Landrechte zu einer solchen Zahl von Opfern geführt, und zum anderen ist in Anbetracht der Abgelegenheit und schlechten Zugänglichkeit des Streitobjekts weitgehend unverständlich, wie diese Auseinandersetzung in einem solchen Maß eskalieren konnte.³⁴⁹ Man steht hier also vor dem Rätsel, dass gerade der blutigste Landstreit der Landnahmezeit zunächst keine ersichtliche Motivation hat. Dieses auffallende Fehlen einer Motivation trifft jedoch nur dann zu, wenn die Betrachtung sich ausschließlich auf die Geographie des Tals beschränkt. Berücksichtigt man auch die mit dem Tal verbundene Mythologie, so ändert sich das Bild schlagartig. Nimmt man an, dass die in späterer Zeit gut bezeugte Lokalisierung des Ódáinsakr in den Hvanndalir schon auf diese frühe Zeit zurückgeht, dann ergibt sich eine unmittelbare Erklärungsmöglichkeit dafür, warum um den Besitz der Hvanndalir so verbissen gekämpft wurde: Immerhin wäre der Streit dann nicht ein Streit um ein kleines, abgelegenes und schlecht zugängliches Tal, sondern um ein Land der Unsterblichkeit. Dieser Vorschlag Heizmanns dürfte in Anbetracht der unattraktiven
346 Dass es zu einer gewissen Veränderung der Küstenlinie gekommen ist, ist daraus ersichtlich, dass die Küstenlinie im Sommer 2011 mitten durch die Reste eines Gebäudes verlief. Wie weit diese Ruine jedoch von der landnahmezeitlichen Küstenlinie entfernt ist, ist nicht zu bestimmen. 347 Einar G. Pétursson 1980, S. 162, 165. 348 Text: Hauksbók-Fassung der Landnámabók (hgg. von Jakob Benediktsson 1968, dort S. 245/247; vgl. Finnur Jónsson 1900, S. 71). Für eine Zusammenstellung der Parallelpassagen in allen Rezensionen der Landnámabók vgl. Heizmann 1998, S. 72 (Anm. 1); die verschiedenen Rezensionen weichen bis auf ein gewisses Schwanken in der Zahl der Getöteten (zwischen 16 und 18) kaum voneinander ab. 349 Heizmann 1998, S. 72 f.
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Geographie der Hvanndalir die naheliegendste Erklärung für die Auseinandersetzung zwischen Þormóðr inn rammi und Óláfr bekkr sein.³⁵⁰ Falls dies richtig ist, so ergeben sich daraus insbesondere zwei Konsequenzen. Zum einen würde der Ódáinsakr in den Hvanndalir implizieren, dass die Vorstellung dieses Unsterblichkeitsgefildes schon auf die spätheidnische Zeit zurückgeht. (Dies würde einerseits nur der konsequenten Zeichnung des Ódáinsakr als ein heidnisches Gefilde entsprechen, die alle im vorangegangenen besprochenen mittelalterlichen Quellen durchzieht, ist aber dennoch nochmals zu betonen, da diese Quellen sämtlich erst aus dem 13. Jahrhundert und noch späterer Zeit stammen und ihnen daher zunächst jegliche zeitgenössische Authentizität fehlt.) Zum anderen würde ein landnahmezeitlicher Kampf um einen Ódáinsakr am Héðinsfjord implizieren, dass schon in frühester Zeit neuentdecktes Land mit einem mythischen Gefilde assoziiert werden konnte – mit allen lebenspraktischen Konsequenzen.
2.11 „Eptter dauda Godmundar blotudu menn hann og kolludu hann god sitt“, oder: Ein Kult des Guðmundr? Neben dem Ódáinsakr als Ort spielt in den mittelalterlichen Texten, die sich mit dem Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex befassen, natürlich auch die Gestalt des Herrn dieses Ortes eine zentrale Rolle.³⁵¹ Dieser Herr tritt uns zum ersten Mal in der Thorkillus-Episode der Gesta Danorum entgegen, wo Saxo den Guthmundus als den Bruder des untoten Riesen Geruthus beschreibt. Der Guthmundus der Gesta Danorum ist der Herrscher über ein anderweltliches Gefilde, dessen schöne Frauen und verlockende Früchte den Besucher wie die Insel der Lotophagen mit einem allzu süßen Vergessen bedrohen. Dieses Gefilde ist dabei am fernsten Rand der Welt lokalisiert: Es liegt jenseits des Meeres und jenseits von Tag und Nacht, in der unmittelbaren Nähe der goldenen Jenseitsbrücke über den Fluss, der die Grenze zum Land der Ungeheuer bildet. Ein solcher Fluss grenzt Guthmundus’ Reich auch vom Land seinen untoten Bruders ab, das von Saxo als eine geradezu vergilianische Unterwelt geschildert wird. Guthmundus vermag nicht nur selbst, diesen Grenzfluss zu überqueren, sondern er ist auch dazu in der Lage, seine menschlichen Besucher in Geruthus’ Land überzusetzen; er hat somit Züge nicht nur eines Königs der Lotophagen, sondern auch des Unterweltsfährmanns Charon.³⁵²
350 Heizmann 1998, S. 96–98. 351 Allgemein zur Figur des Guðmundr vgl. in jüngerer Zeit etwa Tietz 2012, S. 142–149; Heizmann 2002, S. 529; Simek 1995, S. 151 f.; Davidson 1991; Lincoln 1981, S. 231–233, 238; Lincoln 1980 (Paradise), S. 158 f.; de Vries 1956/57, §§ 271, 519. 352 Vgl. Malm 1990, S. 63; Malm 1992, S. 170.
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Die chronologisch nächstfolgende Quelle für die Gestalt des Guðmundr ist die Hervarar saga. Diese Saga beschreibt Guðmundr als einen Herrscher in einem Land der Riesen und Halbriesen, mächtig, weise und überaus langlebig, und „nach Guðmunds Tod opferten ihm die Menschen und nannten ihn ihren Gott“ (eptter dauda Godmundar blotudu menn hann og kolludu hann god sitt). Die Eiríks saga identifiziert den Ódáinsakr vollständig mit dem christlichen irdischen Paradies; für die Figur des Guðmundr ist in dieser Saga entsprechend kein Raum. Nur indirekt, aber dennoch als wichtiger Teil des Gesamtgefüges der Erzählung, erscheint Guðmundr im Helga þáttr: Dort ist er der zauberkundige König eines wundervollen, aber dezidiert nichtchristlichen Gefildes. Seine Sendboten – und damit implizit vielleicht auch er selbst – werden dadurch als heidnische übernatürliche Wesen gekennzeichnet, dass sie über übernatürliche Fähigkeiten verfügen (sie können Stürme verursachen und sich mehr oder weniger buchstäblich in Luft auflösen) und dass sie nicht dazu im Stande sind, aus einem geweihten Horn zu trinken. Eine solche, mehr oder weniger explizite Zeichnung Guðmunds als nichtmenschliches Wesen findet ihre Fortsetzung im Þorsteins þáttr, indem Guðmundr dort als ein Mann von riesischer Statur erscheint, der ein König unter der Oberhoheit des Königs von Risaland ist. In der Bósa saga erscheint Guðmundr schließlich als der heidnische Herrscher über eine Art „Klein-Walhall“, da die Beschreibung seiner Halle diese in aller Deutlichkeit – wenn auch mit einem starken parodistischen Unterton – an die Halle des Götterkönigs Odin angleicht. Das von diesen Quellen gezeichnete Bild suggeriert eine Auffassung Guðmunds als ein nichtmenschliches, anderweltliches Wesen, das einem Text – der Hervarar saga – zufolge sogar einen Kult empfing und als Gott verehrt wurde. Diese Aussage der Hervarar saga ist dabei innerhalb des Quellencorpus zum Ódáinsakr/GlæsisvellirKomplex nicht zuletzt deshalb von besonderem Gewicht, weil es sich bei der Hervarar saga um einen der ältesten einschlägigen Texte handelt. Nichtsdestoweniger ist jedoch auch die fragliche Rezension der Hervarar saga ein Text erst des späten 13. oder sogar frühen 14. Jahrhunderts, dem schon aufgrund seiner späten Datierung zunächst kein besonders großer Stellenwert als Quelle für die Mythologie und Religionsgeschichte der vorchristlichen Zeit beigemessen werden kann – immerhin datiert diese Saga drei Jahrhunderte nach der formalen Christianisierung Islands. Solche Vorbehalte sind dabei umso gewichtiger, als der Name „Guðmundr“ schon zur Zeit seines Erscheinens in den mythologischen Kontexten des Ódáinsakr/GlæsisvellirKomplexes auch ohne mythische Konnotationen als einfacher Personenname bezeugt ist: In der Njáls saga (Kap. 113 u. ö.) trägt ein Protagonist den Namen „Guðmundr der Reiche“ (Guðmundr inn ríki),³⁵³ und im frühen 13. Jahrhundert war ein Mann dieses Namens Bischof von Hólar in Island.³⁵⁴ Dass es sich beim „mythischen Guðmundr“
353 Hgg. von Einar Ól. Sveinsson 1954. 354 Davidson 1991, S. 174.
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der Glæsisvellir-Texte um mehr handelt als um eine hochmittelalterliche Erfindung, kann somit nicht einfach als gegeben vorausgesetzt werden. Wie im Fall des Ódáinsakr, wurde jedoch auch mit Hinblick auf die Figur des Guðmundr in der Forschung schon früh neben den mittelalterlichen Quellen auch auf folkloristische Zeugnisse verwiesen. Im Jahr 1928 legte Nils Lid eine ausführliche Sammlung des einschlägigen Materials vor, die die Grundlage aller späteren Diskussionen der Frage nach der Signifikanz der skandinavischen Folklore für das Verständnis des „mythologischen Guðmundr“ bildet.³⁵⁵ Das älteste relevante Zeugnis stammt aus dem Jahr 1736: In diesem Jahr veröffentlichte Erik Pontoppidan der Jüngere, ein dänischer Kleriker und späterer Bischof von Bergen, eine Streitschrift, in der er sich gegen pagane und katholische Relikte in der zeitgenössischen skandinavischen Religiosität wandte: „Auskehrbesen des alten Sauerteigs, oder: im dänischen Reich noch bestehende Überreste sowohl des Heidentums als auch des Papismus ans Licht gebracht“ (Everriculum fermenti veteris, seu residuæ in Danico orbe cum paganismi, tum papismi reliqviæ in apricum prolatæ).³⁵⁶ In einer Passage dieses Werks berichtet Pontoppidan vom Bauern des Hofs Flatland in der norwegischen Provinz Telemark, dass dieser ein hölzernes ‚Götzenbild‘ mit dem Namen „hölzerner Gudmund“ verehrte; dieses ‚Götzenbild‘ sei ein Familienerbstück gewesen, und der Bauer hätte ihm Speisen und (sooft sich dazu eine Gelegenheit ergab) frisch gebrautes Bier geopfert.³⁵⁷ Diesem frühesten Beleg für einen Guðmundr-Kult treten verschiedene andere folkloristische Zeugnisse zur Seite.³⁵⁸ Pontoppidans Schilderung von Speise- und Trankopfern vor einer Holzfigur namens Gudmund erfährt durch diese Zeugnisse eine weitreichende Bestätigung, doch lassen sich ihnen keine weiteren Details entnehmen, die verlässliche Beiträge zu einer genaueren Charakterisierung des norwegischen Gudmund des 18. Jahrhunderts leisten könnten.³⁵⁹ Immerhin erwähnenswert ist jedoch eine Notiz des Priesters H. J. Wille aus dem späten 18. Jahrhundert, wo dieser das Kultbild, das
355 Lid 1928, dort S. 57, 66, 119–188, 210, 241. 356 Lid 1928, S. 158. Eine moderne Neuausgabe dieses Werks fehlt bislang. Ersatzweise lässt sich bisher nur auf die dänische Übersetzung von Olrik (1923) verweisen; für die relevante Stelle siehe dort S. 10. 357 Lid 1928, S. 158; vgl. Heizmann 2002, S. 529; Simek 1995, S. 152; Davidson 1991, S. 174; Höfler 1934, S. 173. 358 Lid 1928, S. 158–161, vgl. auch S. 161–165, 167; vgl. Davidson 1991, S. 173–175; Höfler 1934, S. 173 f. 359 Für einen hochspekulativen Versuch einer genaueren Charakterisierung Gudmunds vgl. Höfler 1934, S. 172–188 (akzeptiert von de Vries 1956/57, § 519), wo er Guðmundr als teilweise pferdegestaltigen Totenherrscher zu deuten versucht. Da diese Rekonstruktion jedoch so weit vom Material entfernt ist, dass sie sogar die Interpretation eddischen Quellenmaterials grundsätzlich ändern muss, um sie Höflers Theorie anzupassen (ibidem S. 178), ist sie heute nur noch von wissenschaftsgeschichtlichem Interesse. In jüngerer Zeit nahm Simek an, dass Guðmundr „als Herr eines Totenreiches verehrt worden sein“ dürfte, wobei Simek als Begründung hierfür auf die Hervarar saga verweist, da die Glæsisvellir nach der Auffassung Simeks nicht von mittelalterlichen Paradiesvorstellungen zu trennen seien: Simek 1995, S. 151 f.
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Pontoppidan einige Jahrzehnte zuvor beschrieben hatte, als eine Darstellung des (niemals formell kanonisierten) Hl. Guðmundr von Hólar deutet, also desselben isländischen Bischofs, der eben bereits als Beispiel für die Verwendung des Namens „Guðmundr“ als einfacher Personenname erwähnt wurde. Die fragliche Notiz Willes lautet: Paa Fladeland i Vraadals Annex fandtes der omtrent 1718 en Helgen, navnlig St. Gudmund fra Island, hvilken daværende Opsidder, Gunnar, dyrkede som en Gud og bestod af et Træbillede i Kaaven ved Stuen. Mag. Otto Stoud reiste derfor til ham, da han laa paa sit Yderste og Sognet plagedes med Misvæxt, og bad ham om Billedet, men da Manden vægrede sig derved, brød han sig selv ind, hug Billedet itu og opbrændte St. Gudmund.³⁶⁰
Diese Befunde der norwegischen Folklore sind die Grundlage der seit dem frühen 20. Jahrhundert herrschenden communis opinio, dass der Guðmundr der hochmittelalterlichen Glæsisvellir-Texte tatsächlich ehemals ein Empfänger eines Kultes war oder zumindest gewesen sein könnte.³⁶¹ Vorsichtig genug formuliert, ist dieser communis opinio gewiss zuzustimmen: In Anbetracht des Umstands, dass Guðmundr in den mittelalterlichen Quellen durchgehend als ein mächtiges anderweltliches Wesen gezeichnet wird und dass ihm schon die Hervarar saga einen Kult zuschreibt, macht der folkloristische Befund die Möglichkeit unmittelbar plausibel, dass der GuðmundrKult des 18. Jahrhunderts einen bis in die spätheidnische Zeit zurückgehenden Kult derselben Gestalt darstellt, die in der Glæsisvellir-Literatur erscheint. Oder einfacher gesagt: Der Guðmundr-Kult des 18. Jahrhunderts stellt möglicherweise eine Bestätigung für die Behauptung der Hervarar saga dar, dass der Herr der Glæsisvellir tatsächlich eine Figur nicht nur der Literatur, sondern auch des Kultes war. Zugleich ist jedoch auch hier über eine bloße Möglichkeit nicht hinauszukommen. Weder die mittelalterlichen noch die neuzeitlichen Quellen lassen Aussagen über Guðmundr als Kultfigur zu, die spezifisch und detailliert genug wären, um die Identität der beiden Guðmunds zweifelsfrei zu sichern. Dies ist besonders schwerwiegend in Anbetracht von Willes Identifizierung des norwegischen hölzernen Gudmund mit „St. Gudmund fra Island“. Der isländische Bischofssitz Hólar war im frühen 13. Jahrhundert tatsächlich die Wirkungsstätte eines Bischofs namens Guðmundr, genauer Guðmundr Arason (1161–1237, Bischof von Hólar 1203–1237).³⁶² Diesem Bischof wurden verschiedene Wunder zugeschrieben und sein Leben erfuhr mehrfache literarische Bearbeitungen, u. a. in Form von mehreren Werken mit dem Titel Guðmundar saga biskups, sowie ferner der Prestssaga Guðmundar góða, der Ævi Guðmundar biskups, und
360 Daae 1882, S. 163 (Anm. 1); vgl. Lid 1928, S. 159. 361 Tietz 2012, S. 149; Heizmann 2002, S. 529; Simek 1995, S. 152; Davidson 1991, S. 174 f.; de Vries 1956/57, §§ 271, 519; Höfler 1934, S. 173 et passim. 362 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 132; Boyer 2003, S. 40.
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nicht weniger als vier Drápas.³⁶³ Obwohl isländische Versuche, eine Heiligsprechung Guðmunds zu erwirken, letztlich fehlschlugen,³⁶⁴ zeigt sich in diesem umfangreichen Nachwirken von Guðmunds Leben und Wirken eine ungemeine Verehrung dieses Kirchenmannes. Dies lässt es als grundsätzlich möglich erscheinen, dass der norwegische Gudmund-Kult tatsächlich das war, was Wille bereits im 18. Jahrhundert in ihm sehen wollte, nämlich ein „papistischer“ lokaler Heiligenkult.³⁶⁵ Falls dies jedoch der Fall gewesen sein sollte, bestünde keine Grundlage mehr dafür, das folkloristische Gudmund-Material mit dem Guðmundr der Glæsisvellir-Texte in Verbindung zu bringen. Es sei abschließend nochmals betont, dass es nicht die Intention dieser Zeilen ist, das folkloristische Material zu Gudmund aus der Diskussion um den Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplex auszuschließen. Vielmehr sollte nur in einer deutlicheren Weise, als dies bisher geschehen ist, auf ein zentrales Problem dieser Quellen hingewiesen werden. Letztlich existieren keine objektiven Maßstäbe, die eine Entscheidung darüber erlauben würden, ob es sich beim neuzeitlichen Kult des Gudmund in der Telemark um ein heidnisches oder um ein katholisches Relikt handelte.³⁶⁶ Das folkloristische Gudmund-Material bleibt somit weiterhin suggestiv, kann aber keine schlüssige Grundlage für weiterführende Interpretationen darstellen.
363 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 3, 132–134, 307; vgl. Boyer 2003, S. 41. 364 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 133; Boyer 2003, S. 41–44; Davidson 1991, S. 174. 365 So schon Olrik 1923, S. 10 (Anm. 17a). Diese Möglichkeit wird (allerdings ohne schlüssige Begründung) abgelehnt von Davidson 1991, S. 174 f. 366 Auch Mischformen sind nicht grundsätzlich auszuschließen. So verzeichnet Lid etwa Berichte über Kultfiguren, die dem „hölzernen Gudmund“ sachlich entsprochen zu haben scheinen, aber die Bezeichnung Torbjørn oder Fakse trugen (Lid 1928, S. 158–165, 167–169). Hier wäre z. B. zu fragen, ob die Bezeichnungen Torbjørn oder Fakse heidnische Wurzeln reflektieren könnten, die dann (und sei es nur im Namen) mit dem Kult des Hl. Guðmundr von Hólar verschmolzen – ohne dabei jedoch notwendigerweise jemals in einer Verbindung zum Guðmundr der Glæsisvellir-Texte gestanden zu haben.
3 Die Schiffsreise ins Jenseits: Schiffsbestattungen, Totenschiffe und transmarine Anderwelten in der germanischen Religionsgeschichte „Das auf das Meer hinaussegelnde Schiff wird wohl eine Fahrt zu den Inseln der Seligen andeuten, obgleich diese aus Irland und Südeuropa bezeugte Vorstellung in der altnordischen Überlieferung erstaunlich wenige Anknüpfungspunkte findet.“ (de Vries 1956/57, § 115 zu den Schiffsbestattungen der awn. Literatur)
Eines der prägenden Grundelemente des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplexes ist die lange Schiffsreise, die mit einem jeden Besuch in diesen Gefilden verbunden ist. Thorkillus lässt für die Reise, die ihn zum Land des Guthmundus führt, spezielle Schiffe bauen und segelt so weit nach Norden, dass er Sonne und Sterne hinter sich lässt; in der Hervarar saga lebt Guðmundr im hohen Norden jenseits des Weißen Meeres und damit erneut in einer Region, die ausschließlich per Schiff zu erreichen ist; und der þáttr vom glücklosen Helgi Þórisson lässt diesen an einem Kap auf die Tochter des Guðmundr treffen, an dem er und seine Gefährten während einer Nordlandfahrt kurz an Land gehen. In den verschiedenen Texten, die die Glæsisvellir und den Ódáinsakr behandeln, herrscht keine Einigkeit darüber, wo genau oder jenseits welchen Meeres sich das heidnisch-anderweltliche Land Guðmunds und das Land der Unsterblichkeit befinden; darin, dass diese Länder jenseits eines Meeres liegen, stimmen jedoch alle Zeugnisse überein – zumindest wenn die Eiríks saga außer Acht gelassen wird, die den Ódáinsakr mit dem christlichen irdischen Paradies gleichsetzt und inhaltlich keinerlei signifikante Elemente enthält, die sich plausibel der heidnischen Zeit zuschreiben ließen. Die Frage nach dem Alter, dem Kontext und den eventuellen religionsgeschichtlichen Wurzeln der Vorstellungen von den Glæsisvellir und vom Ódáinsakr ist somit untrennbar mit der Frage verbunden, vor welchem geistesgeschichtlichen Hintergrund das Motiv der Schiffsreise in eine Welt jenseits der Menschenwelt zu sehen ist. Das folgende Kapitel wird entsprechend einen Überblick über verschiedene Kontexte geben, in denen dieses Motiv außerhalb der Glæsisvellir-Texte aufzutauchen scheint. Konkret sollen einige der möglichen literarischen, rituellen, archäologischen und ikonographischen Niederschläge des Motivs der Schiffsreise ins Jenseits umrissen werden: Boots- und Schiffsbestattungen,³⁶⁷ die häufig in einem sepulkralen Kontext stehenden Schiffssteinsetzungen und die Darstellung von Schiffen in der sepulkralen Ikonographie, insbesondere auf gotländischen Bildsteinen. Eine vollständige
367 Das Phänomen der skandinavischen Schiffsbestattungen hat schon Much bei seiner Besprechung des Ódáinsakr-Motivs herangezogen: Much 1924, S. 104.
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Die Schiffsreise ins Jenseits
Erfassung des einschlägigen Materials ist dabei schon aus Umfangsgründen nicht möglich; sie wäre auch unnötig, da für die meisten Denkmälergruppen gut zugängliche Corpora oder zumindest ausführliche Spezialuntersuchungen vorliegen.³⁶⁸ Das bescheidenere Ziel des folgenden Kapitels soll daher nur sein, das grundsätzliche Potential, die Probleme und einige der verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten dieses Materials vorzustellen, soweit sie für das Verständnis der Glæsisvellir und des Ódáinsakr von Relevanz sein könnten. Dass die im Folgenden besprochenen „Totenschiffe“ und verwandten Vorstellungen sich dabei durchgehend im sepulkralen Bereich bewegen, während der Ódáinsakr gerade ein Land der Unsterblichkeit ist, ist hierbei kein unüberwindbares Hindernis; immerhin handelt es sich in beiden Fällen um anderweltliche Bereiche jenseits des Meeres, und die Gesta Danorum lokalisieren das Land des Guthmundus zudem in der unmittelbaren Nachbarschaft eines Totenreichs.
3.1 Die Schiffsbestattung in der Literatur 3.1.1 Schiffs- und Bootsbestattungen in der altnordischen Literatur Die Bestattung Balders Das prominenteste Beispiel einer Jenseitsreise zu Schiff in der nordischen Mythologie stellt wohl das Begräbnis Balders dar, wie es in Snorris Gylfaginning geschildert wird.³⁶⁹ Nachdem der blinde Hǫðr ohne böse Absicht einen Mistelzweig auf Balder geschossen und ihn damit getötet hat, sind die Götter zunächst sprachlos. Als sie sich vom ersten Schock erholt haben, fragt Frigg, wer willens wäre, zur Hel zu reiten und der Totengöttin ein Lösegeld für Balder anzubieten. Hermóðr erklärt sich hierzu bereit, und so wird Odins Pferd Sleipnir herbeigebracht und Hermóðr macht sich auf diesem
368 Eine Vollständigkeit anstrebende Zusammenstellung der textlichen Zeugnisse für nordische Schiffs- und Bootsbestattungen in deutscher Übersetzung und mit ausführlichem Kommentar findet sich bei Müller-Wille 1968/69, S. 126–141; eine weitere umfangreiche Belegstellensammlung findet sich in Major 1924, S. 122–139. Ein umfangreicher Katalog von Schiffssteinsetzungen wurde zusammengestellt von Capelle 1986. Die Boots- und Schiffsgräber sind gesammelt bei Müller-Wille 1968/69 (Katalog: S. 150–182); für Nachträge von Neufunden und Neuinterpretationen bis in die Mitte der 90er Jahre vgl. Müller-Wille 1995, und neuere Entwicklungen zusammenfassend vgl. Capelle 2004 (Schiffsbestattungen). Für einen ausführlichen Überblick über Schiffsdarstellungen auf skandinavischen Grabsteinen (u. ä.) vgl. Ellmers 1986; Müller-Wille 1968/69, S. 120–125, 193 f. Spezifisch für das Corpus der gotländischen Bildsteine vgl. Lindqvist 1941–1942, ferner Nylén und Lamm 2003; eine Neubearbeitung dieses Corpus durch Sigmund Oehrl (Göttingen/München) befindet sich derzeit in Vorbereitung. 369 Allgemein zu dieser Schiffsbestattung vgl. etwa Lindow 1997, S. 69–100; Schjødt 1995, S. 23; Lorenz 1984, S. 567–574; de Vries 1956/57 Bd. 2, §§ 477, 483 f.; Ellis 1943, S. 41–43; Much 1924, S. 104; Major 1924, S. 124–126, 131, 140, 144 f., 148, 150; Stjerna 1912, S. 112, 116 f.; Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 692 f.
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Ross auf den Weg. Die Götter bleiben währenddessen nicht untätig, und unmittelbar nach Hermóðs Aufbruch fährt Snorris Text fort (Gylfaginning 49): En Æsirnir tóku lík Baldrs ok fluttu til sævar. Hringhorni hét skip Baldrs. Hann var allra skipa mestr. Hann vildu goðin fram setja ok gera þar á bálfǫr Baldrs. En skipit gekk hvergi fram. Þá var sent í Jǫtunheima eptir gýgi þeiri er Hyrrokkin hét. En er hon kom ok reið vargi ok hafði hǫggorm at taumum þá hljóp hon af hestinum, en Óðinn kallaði til berserki fjóra at gæta hestsins, ok fengu þeir eigi haldit nema þeir feldi hann. Þá gekk Hyrrokkin á framstafn nǫkkvans ok hratt fram í fyrsta viðbragði svá at eldr hraut ór hlunnunum ok lǫnd ǫll skulfu. Þá varð Þórr reiðr ok greip hamarinn ok myndi þá brjóta hǫfuð hennar áðr en goðin ǫll báðu henni friðar. Þá var borit út á skipit lík Baldrs, ok er þat sá kona hans Nanna Nepsdóttir þá sprakk hon af harmi ok dó. Var hon borin á bálit ok slegit í eldi. Þá stóð Þórr at ok vígði bálit með Mjǫllni. En fyrir fótum hans rann dvergr nokkurr. Sá er Litr nefndr. En Þórr spyrndi fœti sínum á hann ok hratt honum í eldinn ok brann hann.³⁷⁰ Und die Asen nahmen Balders Leichnam und brachten ihn zum Meer. Balders Schiff hieß Hringhorni. Es war das größte aller Schiffe. Die Götter wollten es zu Wasser lassen und darauf Balders Feuerbestattung vollziehen. Und das Schiff bewegte sich nicht im Geringsten. Da sandte man nach Jǫtunheimar nach der Riesin, die Hyrrokkin hieß. Und als sie kam – sie ritt auf einem Wolf und verwendete eine Giftschlange als Zügel –, da sprang sie von diesem Ross, und Odin rief vier Berserker herbei, die sich um dieses Ross kümmern sollten; und sie konnten es nicht festhalten, außer dadurch, dass sie es niederwarfen. Dann ging Hyrrokkin zum Vordersteven des Boots und schob es mit dem ersten Stoß so an, dass Feuer aus den Schiffsrollen stob und das ganze Land bebte. Da wurde Thor zornig und packten den Hammer, und er hätte da ihren Kopf zerschmettert, wenn ihn nicht alle Götter um Frieden für sie gebeten hätten. Da wurde die Leiche Balders auf das Schiff hinausgetragen, und als seine Frau Nanna Nepsdóttir das sah, da zerbrach sie an der Trauer und starb. Sie wurde auf den Scheiterhaufen gelegt, und er wurde in Brand gesetzt. Da stand Thor dabei und weihte den Scheiterhaufen mit Mjöllnir. Und ein gewisser Zwerg lief ihm vor die Füße. Der ist Litr genannt. Und Thor trat mit seinem Fuß nach ihm und stieß ihn ins Feuer und verbrannte ihn.
Im Anschluss hieran werden die vielen Teilnehmer dieses Bestattungsrituals geschildert: Odin, Frigg, Freyr, Heimdall, Freyja und eine große Zahl von Riesen. Odin legt einen goldenen Ring namens Draupnir auf den Scheiterhaufen, der fortan die Eigenschaft hat, in jeder neunten Nacht acht Ringe gleichen Gewichts zu tropfen. Ferner wird Balders Pferd mitsamt seines Geschirrs auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Hermóðr reitet derweil für neun Nächte durch dunkle Täler, bis er den Fluss Gjǫll erreicht, ihn auf einer Brücke überquert und so in das Land der Toten gelangt. Die Wächterin dieser Brücke erklärt ihm, dass Balder zuvor ebenfalls über diese Brücke geritten sei. Hermóðr reitet weiter bis zur Halle der Hel; dort trifft er Balder und Nanna an, die ihm Geschenke für verschiedene Asen mitgeben, darunter auch den Ring Draupnir, den Hermóðr Odin übergeben soll.
370 Text: Faulkes 2005, S. 46.
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Die wichtigste und einzig erhaltene Quelle dieser Schilderung Snorris ist die Húsdrápa des Úlfr Uggason aus der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts, die den Wandschmuck der Halle beschreibt, die Óláfr pái in Hjarðarholt im Westen Islands errichten ließ.³⁷¹ An den Wänden dieser Halle waren mehrere mythologische Szenen dargestellt, unter denen sich auch die Bestattung Balders befand. Die Schilderung der Húsdrápa wurde von Snorri – wohl neben anderen Quellen –³⁷² direkt herangezogen,³⁷³ und die von Snorri selbst an anderer Stelle zitierten einschlägigen Strophen bestätigen, dass wichtige Züge von Snorris Prosafassung zumindest bis ins 10. Jahrhundert zurückreichen. In den erhaltenen Fragmenten der Húsdrápa wird Balders Scheiterhaufen mehrfach erwähnt (Húsdrápa Str. 7, 8, 10; Skáldskaparmál 2, 7 [Strophen 8, 19, 63]), was die Verbindung der Schiffsbestattung mit der gleichzeitigen Verbrennung bestätigt. Eine Strophe behandelt ferner, wie die Riesin Hyrrokkin Balders Bestattungsschiff zu Wasser lässt (Húsdrápa Str. 11; Skáldskaparmál 49 [Strophe 242]):³⁷⁴ Fullǫflug lét fjalla fram haf-Sleipni þramma Hildr, en Hropts of gildar hjálmelda mar feldu.³⁷⁵ Die überaus mächtige Berg-Hildr ließ den Meeres-Sleipnir vorwärtsrumpeln, und Hropts MachtGeber des Helm-Feuers fällten das Pferd. (Berg-Hildr = Berg-Walküre = Riesin; Meeres-Sleipnir = Meeres-Ross = Schiff; Hroptr = Odin; Helm-Feuer = Schwert; Macht-Geber des Schwerts = Krieger, Berserker.)
Dies illustriert, dass sich Snorris Rückgriff auf seine wikingerzeitlichen Quellen bis auf spezifische Details erstreckt zu haben scheint. Grundsätzlich dürfte seine Paraphrase den Auffassungen des 10. Jahrhunderts somit vergleichsweise nahekommen. Den Schilderungen der Húsdrápa und der Gylfaginning zufolge hat die Bestattung Balders die folgenden Hauptelemente: (1) Balder wird auf einem brennenden Schiff dem Meer übergeben; (2) seine Frau Nanna stirbt vor Kummer und wird neben Balder auf den Scheiterhaufen gelegt; (3) das Schiff kann nur von einer Riesin ins Meer gestoßen werden; (4) Thor weiht den Scheiterhaufen mit seinem Hammer; (5) ein Zwerg, der während der Zeremonie in den Weg gerät, wird auf den Scheiterhaufen geworfen; (6)
371 Lindow 1997, S. 69 f.; Lorenz 1984, S. 567 f.; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 283; de Vries 1956/57 Bd. 2, § 477; vgl. Böldl 2013, S. 54 f. Hgg. von Finnur Jónsson 1908–1915 Bd. 1.A, S. 136–138; 1908–1915 Bd. 1.B, S. 128–130. Allgemein zu den hier von Snorri verwendeten Quellen vgl. Lorenz 1984, S. 554 f., 559 f., 567–570 passim. 372 Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 283; vgl. Lindow 1997, S. 82 f. 373 Vgl. Lindow 1997, S. 73. 374 Vgl. Lindow 1997, S. 72, 74–76; allgemein zu Hyrrokkin vgl. auch Motz 1993, S. 81 f.; Böldl 2013, S. 124 f. (mit Abb. 11 [S. 125]). 375 Text: Faulkes 1998 Bd. 1, S. 70; vgl. Finnur Jónsson 1908–1915 Bd. 1.B, S. 129 f.
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zusammen mit Balder werden reiche Beigaben verbrannt, die ihm danach im Totenreich zur Verfügung stehen; (7) Balders Reise ist mehrstufig: Er scheint mit seinem Totenschiff aufzubrechen, überquert die Brücke über die Gjǫll jedoch zu Pferde. Auf die Gesamtsequenz dieser sieben Elemente wird erst gegen Ende dieses Kapitels wieder zurückzukommen sein, wenn das einschlägige Vergleichsmaterial vorgestellt worden ist. Noch vor der Hinwendung zu solchem Vergleichsmaterial ist es jedoch möglich, einige der Modalitäten von Balders Reise zu analysieren. Konkret geht es um die Funktion des Bestattungsschiffs: Dessen Funktion wird in den Berichten Snorris und der Húsdrápa an keiner Stelle explizit ausgesprochen. Jens Peter Schjødt vertritt die Auffassung, dass dieses Schiff die Funktion hat, als Fahrzeug auf der Reise ins Jenseits zu dienen.³⁷⁶ Schon der oberflächliche Ablauf der Bestattungszeremonie lässt eine solche Interpretation als grundsätzlich plausibel erscheinen: Balder, der sich als Toter definitionsgemäß auf der Reise ins Totenreich befindet, wird auf einem brennenden Schiff dem Meer übergeben; die Annahme, dass es sich bei diesem Schiff um ein Fahrzeug handelt, das für Balders Reise ins Jenseits eine unmittelbare Rolle spielt, bleibt zwar implizit und ist daher zunächst nicht beweisbar, ist aber doch unmittelbar naheliegend. Ein Widerspruch scheint auf den ersten Blick allerdings zu einem Detail zu bestehen, das im weiteren Verlauf der Schilderung auftaucht: Balder überquert die Brücke über die Gjǫll zu Pferde, und an dieser Stelle kreuzt sich seine Route zudem auch mit der Route Hermóðs, der von vorneherein zu Pferde aufgebrochen war. Isoliert betrachtet, könnte dieses Detail den Eindruck erwecken, dass Balder ins Totenreich reitet und die Schiffsbestattung für seine eigentliche Reise keine Rolle spielt. Eine einfache Erklärung dieses scheinbaren Widerspruchs ergibt sich jedoch aus dem Umstand, dass sich unter den Beigaben, die Balder auf sein Bestattungsschiff begleiten, auch sein Pferd mit der gesamten dazugehörigen Reitausrüstung befindet. Balders Reise ins Totenreich ist keine reine Schiffsreise, sondern eine Reise wie jede reale zeitgenössische Reise auch: Ein erheblicher Teil der Strecke wird zu Schiff zurückgelegt, doch der Hafen ist nicht notwendigerweise mit dem Ziel der Reise identisch. Wenn dieses Ziel nicht unmittelbar am Meer liegt, dann ist es nötig, an Land zu gehen und die Reise vom Landeplatz an entweder zu Fuß oder zu Pferde fortzusetzen. Balder wird auf seiner Schiffsreise von seinem Pferd begleitet, und daher kann er die letzte, im Landesinneren gelegene Etappe seiner Reise zur Hel zu Pferde zurücklegen. Ein wichtiges Indiz dafür, dass Snorri sich Balders Reise tatsächlich als eine Seereise vorstellte, stellen die Geschenke dar, die Hermóðr von Balder in der Halle der Hel übergeben werden: Balder befindet sich dort im Besitz des Rings Draupnir, den Odin ihm auf seinem Bestattungsschiff auf den Scheiterhaufen gelegt hatte, und den er nun als Geschenk an Odin zurückschickt. Die naheliegendste Erklärung dafür, dass Balder
376 Schjødt 1995, S. 23; in diesem Sinne allgemein zu Schiffsbestattungen vgl. auch die Literatur unten Anm. 491.
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über diesen Ring verfügt, ist, dass es sich bei dem Balder, den Hermóðr in der Halle der Hel antrifft, tatsächlich physisch um denselben Balder handelt, der in seinem Bestattungsschiff vom Land der Asen aufgebrochen war – und nicht etwa um einen „Schatten“, der sich zum Zeitpunkt der Schiffsbestattung schon längst vom Leichnam gelöst hatte. Snorris Mischkonzeption der Reise ins Totenreich als Verbindung von Bootsfahrt und Ritt hat möglicherweise eine weitere interessante Implikation. Obwohl Hermóðr noch vor Balders Schiffsbestattung aufbricht, kommt Balder lange vor ihm in der Halle der Hel an. Hermóðs Ritt führt diesen dabei durch „dunkle und tiefe Täler“ (døkkva dala ok djúpa). Das hier implizierte Verhältnis der Lage des Totenreichs zur Lage Asgards entspricht in etwa dem Verhältnis, das zwei Orte im nördlichen Norwegen zueinander haben, von denen einer direkt am Meer und der andere in Küstennähe, aber nicht unmittelbar an der Küste liegt. Die schnellste Art, um von einem dieser Orte zum anderen zu kommen, wäre, den größtmöglichen Teil der Strecke zu Schiff und den Rest zu Pferde zurückzulegen. Die einzige Alternative hierzu ist die theoretisch mögliche, aber langsame und beschwerliche Reise durch die „dunklen und tiefen Täler“ des Gebirges, dessen Berghänge im nördlichen Norwegen so weit ins Meer hinein vorstoßen, dass selbst noch die moderne Küstenstraße aus schierem Mangel an Raum für eine Straßentrasse auf eine Vielzahl von Fährverbindungen angewiesen ist. Dass Hermóðr zu Pferde langsamer unterwegs ist als Balder, der über ein Schiff und ein Pferd verfügt, stellt somit ein wohldurchdachtes und stimmiges Detail dar, das sich unmittelbar an Elemente der lebensweltlich erfahrbaren Geographie des Nordens anschließt. Entsprechend ist zu betonen, dass das Ziel von Balders Reise nicht als eine eigentliche „Toteninsel“ aufzufassen ist;³⁷⁷ vielmehr handelt es sich um einen Teil derselben Landmasse, der auch das Land der Götter angehört, aber eben um einen Teil dieser Landmasse, der am einfachsten per Schiff zu erreichen ist.
Weitere Schiffsbestattungen in der altnordischen Literatur Beschreibungen von und Anspielungen auf Schiffsbestattungen erscheinen in der nordischen Literatur des Mittelalters an zumindest achtzehn Stellen; dazu kommen ferner altenglische und arabische Zeugnisse.³⁷⁸ Die fraglichen nordischen Passagen befinden sich dabei in Texten unterschiedlichster Zeitstellung und literarischer Genres; entsprechend ist ihr Quellenwert äußerst schwankend.³⁷⁹ Die Vorstellung, dass das Bestattungsschiff als Fahrzeug für die Reise in die Totenwelt dient, wird in den altnordischen Quellen, wenn man von Snorris Beschreibung der Bestattung Balders absieht, nur ein einziges Mal explizit ausgesprochen und erscheint in diesem
377 Contra Much 1924, S. 104. 378 Alle Belege sind gesammelt, übersetzt und kommentiert bei Müller-Wille 1968/69, S. 126–141. 379 Vgl. Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 281–285, bes. S. 281.
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Fall gerade in einem besonders späten und entsprechend wenig verlässlichen Text, nämlich Arngrímur Jónssons Auszug aus der Skjöldunga saga.³⁸⁰ Bei der Skjöldunga saga selbst handelte es sich um eine Geschichte der dänischen Könige der Frühzeit, die wohl im späten 12. oder frühen 13. Jahrhundert verfasst wurde;³⁸¹ erhalten ist der Text jedoch nur in zwei Fragmenten und einer lateinischen Fassung, die Arngrímur Jónsson im Jahr 1596 erstellte.³⁸² Diese lateinische Version dürfte eine mehr oder weniger stark gekürzte Zusammenfassung der ursprünglichen Saga darstellen.³⁸³ Im einschlägigen Abschnitt wird dort erzählt, wie König Sigvardus Ring nach dem Tod seiner ersten Frau die junge Alfsol heiraten will. Deren Brüder lehnen das Heiratsgesuch des alten Königs jedoch ab, was zu einer Schlacht zwischen den beiden Parteien führt. Da Alfsols Brüder wissen, dass sie im Kampf gegen die Übermacht des Königs den Tod finden werden, geben sie ihrer Schwester Gift, damit sie nach dem Tod ihrer Beschützer nicht doch noch in die Hände des Sigvardus fällt. Im nun folgenden Kampf werden sie in der Tat getötet. Sigvardus selbst wird schwer verwundet, und als er darüber hinaus noch von Alfsols Tod erfährt, entschließt er sich zu einem drastischen Schritt: Qvi Alfsolæ funere allato magnam navim mortuorum cadaveribus oneratam solus vivorum conscendit, seqve et mortuam Alfsolam in puppi collocans navim pice, bitumine et sulphure incendi jubet; atqve sublatis velis in altum, validis à continente impellentibus ventis, proram dirigit, simulqve manus sibi violentas intulit; sese tot facinorum patratorem, tantorum regnorum possessorem, more majorum suorum, regali pompa Odinum Regem (id est inferos) invisere malle qvam inertis senectutis infirmitatem perpeti alacri animo ad socios in littore antea relictos præfatus (qvidam narrant eum, anteqvam littus relinqveret, propria se confodisse manu). Bustum tamen in littore more sui sæculi congeri fecit, qvod Ringshaug appellari jussit; ipse vero tempestatibus ratem gubernantibus Stygias sine mora tranavit undas.³⁸⁴ Da der Tod der Alfsola herbeigeführt worden war, lies er ein großes Schiff mit den Leichen der Toten beladen und bestieg es als einziger Lebender; für sich selbst und die tote Alfsola fand er einen Platz im Heck und befahl, dass das Schiff mit Teer, Pech und Schwefel angezündet würde. Und mit gehissten Segeln lenkte er den Bug auf die hohe See, wobei ihn starke Winde vom Festland antrieben, und zugleich legte er gewaltsam Hand an sich; zuvor hatte er mit glücklicher Seele seinen vorher an der Küste zurückgelassenen Gefährten gesagt, er sei der Vollbringer so vieler Taten und der Besitzer so großer Königreiche, dass er lieber nach der Art seiner Vorfahren mit königlichem Prunk König Odin (das heißt die Unterirdischen) aufsuchen wolle, als die Schwäche des gebrechlichen Alters zu durchleiden; gewisse Leute erzählen, dass er sich mit eigener Hand erstochen hätte, ehe er die Küste verließ. Dennoch ließ er sich nach der Art seines
380 Müller-Wille 1968/69, S. 129 f., 146 f.; vgl. Dillmann 2007, S. 348 f.; Oehrl 2010, S. 10; Lindow 1997, S. 85 f.; Straubergs 1957, S. 67; Ellis 1943, S. 43 f.; Major 1924, S. 129 f. 381 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 349 f. 382 Acker 2007, S. 3; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 350. 383 Vgl. Acker 2007, S. 4. 384 Text: Jakob Benediktsson 1950–1957 Bd. 1, S. 463 = Bjarni Guðnason 1982, S. 74 f.; vgl. Olrik 1894 (Skjoldungasaga), S. 132.
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Zeitalters an der Küste einen Scheiterhaufen errichten, zu dem er den Befehl gab, dass er Ringshaug genannt werden sollte; selbst aber überquerte er ohne Verzögerung die stygischen Wogen, während die Winde das Floß steuerten.
In dieser Passage erscheint die Bestattung in einem Schiff, das brennend auf das Meer hinausfährt, zum ersten und einzigen Mal in der nordischen Literatur explizit als eine Reise zu Odin.³⁸⁵ Falls die entsprechenden Formulierungen Arngríms direkt auf seine altnordische Vorlage zurückgehen, würde dies dieses Zeugnis immerhin in das 12./13. Jahrhundert datieren; hiervon kann aber nicht mit Sicherheit ausgegangen werden. Zudem ist zu bedenken, dass Texte aus dem Genre der Vorzeitsagas, zu denen auch die Skjöldunga saga gehörte, als historische Quellen eine besonders geringe Glaubwürdigkeit haben. In den Vorzeitsagas erscheint das Motiv der Bestattung durch Verbrennung in einem Schiff mehrfach.³⁸⁶ Der prominenteste Beleg innerhalb dieses Corpus ist wohl die Schiffsbestattung König Hakis, die Snorri in der Ynglinga saga (K. 23) schildert: Zu Tode verwundet, treibt der sterbende oder schon tote Haki dort in seinem brennenden Schiff auf die See hinaus.³⁸⁷ Innerhalb der altnordischen Literatur ist die Verbrennung in einem Schiff (sei es auf dem Meer oder, in andere Belegen,³⁸⁸ auf dem Land) auf die Bestattung Balders in der Snorra-Edda und auf die Vorzeitsagas beschränkt. Wie Heinrich Beck bemerkt hat, dürfte dies der von Snorri vorgenommenen Unterteilung der nordischen Frühgeschichte in ein Brandzeitalter und ein Zeitalter der Körperbestattung entsprechen: Snorri sah die Verbrennung des Leichnams als typisch für die ältere Zeit an,³⁸⁹ die gerade den Gegenstand der Vorzeitsagas und der Mythologie darstellt. In derjenigen Literatur, die die Zeit kurz vor der Bekehrung behandelt, wird der Leichnam im Zuge von Schiffsbestattungen stets unverbrannt niedergelegt; dies gilt gleichermaßen für die im engeren Sinne historische Literatur (Landnámabók [S72, H60, S115, H87];³⁹⁰ Hákonar saga góða [K. 27])³⁹¹ wie für eine Reihe von Belegen in verschiedenen Isländersagas.³⁹² Eine Funktion des Schiffs als Fahrzeug für die Reise ins Totenreich wird in keinem dieser Zeugnisse ausdrücklich ausgesprochen; eine in der Landnámabók enthaltene Episode hat sogar Implikationen, die der Vorstellung
385 Müller-Wille 1968/69, S. 130. Dillmann 2007, S. 348 f. hält es nichtsdestoweniger für unklar, welches Totenreich – Walhall, Hel oder ein ganz anderes Gefilde – als das Ziel der Reise des Sigvardus gedacht war. Oehrl 2010, S. 10 nimmt an, dass seine Reise wohl nach Walhall führt. 386 Vgl. Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 284 f.; Müller-Wille 1968/69, S. 129–132. 387 Lindow 1997, S. 84 f.; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 284; Müller-Wille 1968/69, S. 129; Ellis 1943, S. 43 f. 388 Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 131 f. 389 Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 284 f. 390 Landnámabók: hgg. von Jakob Benediktsson 1968, S. 29–397. 391 Hákonar saga góða: hgg. von Finnur Jónsson 1893–1901 Bd. 1, S. 165–222. 392 Vgl. Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 282–284; Müller-Wille 1968/69, S. 135–138.
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des Schiffs als Mittel zur Jenseitsreise diametral entgegengesetzt zu sein scheinen: Schon die älteste Rezension der Landnámabók, die Sturlubók-Fassung (kompiliert ca. 1275–1280),³⁹³ enthält einen ausführlichen Bericht über die Bestattung des Ásmundr Atlason, in dem es heißt, dass Ásmundr nach seinem Tode zusammen mit einem Knecht in einem Schiff bestattet und eingehügelt wurde. Leute, die an diesem Grabhügel vorbeikamen, hörten ihn danach jedoch ein kurzes Gedicht singen, in dem er sich über die schlechte Gesellschaft beklagt, mit der er seinen Hügel und sein Schiff teilen muss und die ihm den Platz wegnimmt. Daraufhin wurde der Grabhügel wieder geöffnet und der Knecht wurde daraus entfernt (Landnámabók S72, vgl. H60).³⁹⁴ Diese Geschichte setzt die Vorstellung voraus, dass der Tote in seinem Grabhügel fortlebt – was wiederum impliziert, dass das Schiff, mit dem er in diesem Grabhügel bestattet wurde, nicht der Reise in ein jenseits des Grabs gelegenes Jenseits dient. Freilich ist zu bedenken, dass auch die Landnámabók erst aus dem späten 13. Jahrhundert stammt und somit eine sachlich korrekte Überlieferung religiöser Vorstellungen hier ebenso wenig als gegeben vorausgesetzt werden kann wie im Fall anderer Quellen solch später Zeitstellung; Beck dürfte sicherlich mit seiner Annahme recht haben, dass die zweite Hälfte der Anekdote nach der Bestattung Ásmunds eher der Phantasie des Erzählers entspringt als ein authentisch-vorchristliches Verständnis des Rituals der Bootsbestattung widerzuspiegeln.³⁹⁵ Nichtsdestoweniger sollte die Verbindung des untoten Grabhügelbewohners mit dem Motiv der Schiffsbestattung in der erzählenden Literatur später wieder aufgegriffen werden; auf diese Zeugnisse einzugehen, die keinerlei religionsgeschichtlichen Quellenwert haben dürften, würde hier jedoch zu weit führen.³⁹⁶ Eine andere Variante einer „Ortsgebundenheit des Bestattungsschiffs“ findet sich in der Gísla saga Súrssonar. Diese Isländersaga dürfte ursprünglich in der Mitte des 13. Jahrhunderts abgefasst worden sein.³⁹⁷ Sie erzählt die Geschichte vom tragischen Niedergang des Gísli Súrsson, die über eine Kette von Totschlägen bis zum Tod nicht nur des Helden selbst, sondern auch der meisten seiner Angehörigen führt. Von direkter oder indirekter Relevanz für das Motiv der Schiffsbestattung sind dabei zwei dieser
393 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 241. 394 Müller-Wille 1968/69, S. 136; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 282; Ellis 1943, S. 40; Major 1924, S. 133 f. 395 Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 282. 396 Für die Belege vgl. im Einzelnen Müller-Wille 1968/69, S. 138 (Harðar saga ok Hólmverja, 14. Jahrhundert), 138 f. (Bárðar saga Snæfellsáss, um 1350 [Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 33]), sowie Ellis 1943, S. 40. 397 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 114. Grundsätzlich zu den Problemen der Datierung von Sagatexten am Beispiel der Gísla saga vgl. jedoch jüngst Lethbridge 2013. Die Saga ist nur in späteren Versionen überliefert, die von diesem Originaltext abgeleitet sind; vgl. Finnur Jónsson 1929, S. III-VIII; Finnur Jónsson 1903, S. XXII-XXVII. Im Folgenden wird die Saga zitiert nach der Edition von Björn K. Þórólfsson und Guðni Jónsson 1943.
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Die Schiffsreise ins Jenseits
Tötungen mit den darauffolgenden Begräbnissen. Die erste dieser beiden Bestattungen ist das Begräbnis des Vésteinn. Vésteinn war Gíslis Schwager und wurde eines Nachts in Gíslis Halle von einem Unbekannten ermordet. Unmittelbar nach dem Mord sandte Gísli seine Ziehtochter zum Nachbarhof, der von Gíslis Bruder Þorkell und seinem Schwager Þorgrímr bewirtschaftet wurde; das Mädchen findet dort alle Männer bewaffnet vor, als würden sie einen Angriff erwarten. Trotz seiner hierdurch angedeutete Schuld an der Tötung verkündet Þorgrímr, dass sie es dem Toten schuldig seien, am Begräbnis teilzunehmen. In der Tat erscheint er mit einer große Zahl Männer für die Bestattung, und als die Gesellschaft damit fertig ist, den Toten nach dem Brauch der heidnischen Zeit in seinem Grabhügel zur Ruhe zu betten, tut Þorgrímr sich in folgender Weise hervor (K. 14): En þá er þeir hǫfðu veitt Vésteini umbúnað sem siðr var til, gekk Þorgrímr at Gísla ok mælti: „Þat er tízka,“ segir hann, „at binda mǫnnum helskó, þá er þeir skulu ganga á til Valhallar, ok mun ek þat gera við Véstein.“ Ok er hann hafði þat gǫrt, þá mælti hann: „Eigi kann ek helskó at binda, ef þessir losna.“ Eptir þetta setjask þeir niðr fyrir útan hauginn ok talask við ok láta allólíkliga, at nǫkkurr viti, hverr þenna glœp hefir gǫrt.³⁹⁸ Und als sie Vésteinn seine Ausstattung gegeben hatten, wie es Sitte war, ging Þorgrímr zu Gísli und sagte: „Das ist Brauch,“ sagt er, „Männern Helschuhe zu binden, wenn sie nach Walhall gehen sollen, und ich werde das bei Vésteinn machen.“ Und als er das getan hatte, da sagte er: „Ich kann keine Helschuhe binden, wenn diese loskommen.“ Danach setzen sie sich vor dem Grabhügel nieder und sprechen miteinander und äußern sich dahingehend, dass es ganz unwahrscheinlich wäre, dass irgendjemand wisse, wer dieses Vergehen begangen hätte.
Bereits vorangegangene Ereignisse hatten nahegelegt, dass der Mord an Vésteinn von Þorgrímr begangen worden war. Als diese Vermutung für Gísli im Folgenden zur Gewissheit wird und Þorgrímr sich darüber hinaus noch weitere Provokationen zuschulden kommen lässt, nimmt Gísli Rache für Vésteins Tod und erschlägt seinerseits nun Þorgrímr. Gíslis Verhalten während der darauffolgenden Bestattung Þorgríms spiegelt genau Þorgríms Verhalten während der Bestattung Vésteins: Als Gísli die Nachricht vom Tod Þorgríms überbracht wird, bietet er an, bei der Bestattung Þorgríms mitzuhelfen, da es seine Pflicht sei, diesen Dienst zu leisten; daraufhin fährt die Saga fort (K. 17): Þetta þiggja þeir ok fara allir saman á Sæból til haugsgørðar ok leggja Þorgrím í skip. Nú verpa þeir hauginn eptir fornum sið. Ok er búit er at lykja hauginn, þá gengr Gísli til óssins ok tekr upp stein einn, svá mikinn sem bjarg væri, ok leggr í skipit, svá at nær þótti hvert tré hrøkkva fyrir, en brakaði mjǫk í skipinu, ok mælti: „Eigi kann ek skip at festa, ef þetta tekr veðr upp.“ Þat var nǫkkurra manna mál, at eigi þótti allólíkt fara því, er Þorgrímr hafði gǫrt við Véstein, er hann rœddi um helskóna. Nú búask þeir heim frá hauginum.³⁹⁹
398 Text: Björn K. Þórólfsson und Guðni Jónsson 1943, S. 45 f. 399 Text: Björn K. Þórólfsson und Guðni Jónsson 1943, S. 56.
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Das nehmen sie an, und sie gehen alle zusammen nach Sæból zum Aufwerfen des Grabhügels, und sie legen Þorgrímr in ein Schiff. Nun werfen sie alter Sitte gemäß den Grabhügel auf; und als es an der Zeit ist, den Hügel zu verschließen, da geht Gísli zur Flussmündung und hebt einen Stein auf, so groß als wäre er ein Felsen, und legt ihn in das Schiff, so dass es fast schien, jeder Balken würde nachgeben, und es knarrte sehr im Schiff, und er sagte: „Ich kann kein Schiff festmachen, wenn der Wind dieses fortträgt.“ Das war die Rede einiger Männer, dass es nicht unähnlich zuzugehen schien wie das, was Þorgrímr bei Vésteinn gemacht hatte, als er über die Helschuhe redete. Nun machen sie sich bereit, um vom Grabhügel nach Hause zu gehen.
Das Verhalten Gíslis in dieser Szene entspricht Zug um Zug dem Verhalten Þorgríms: Auch er, obwohl (wie Þorgrímr) selbst der Mörder, quittiert die Nachricht von der Tötung mit dem Angebot, bei der Bestattung mitzuhelfen, da dies seine Pflicht sei; wie Þorgrímr unterbricht er unmittelbar vor dem Zuschütten des Grabhügels das Prozedere, um eine Handlung zu vollführen, bei der es um das Festmachen eines Fortbewegungsmittels geht („Helschuhe“ bzw. Schiff); und nach dem Vollführen dieser Handlung kommentiert er sie mit einem Satz, der den Inhalt und die syntaktische Struktur des entsprechenden Ausspruchs Þorgríms genau nachahmt. Der Parallelismus der beiden Bestattungsszenen wird daraufhin noch zusätzlich dadurch betont, dass der Sagatext ausdrücklich auf ihn hinweist. Gíslis Handlungen bei der Bestattung Þorgríms sind in zwei diametral entgegengesetzten Weisen gedeutet worden. Albert Wiberg vertritt die Auffassung, dass es sich bei dem Stein, den Gísli zum „Festmachen des Schiffs“ (at festa skip) verwendet, um Ballast handelt, der die Stabilität des Schiffs erhöhen und es bei einem Sturm auf See vor dem Kentern bewahren solle;⁴⁰⁰ diese Interpretation findet die vorsichtige Zustimmung Michael Müller-Willes.⁴⁰¹ Ist diese Deutung richtig, so erweist Gísli seinem Todfeind Þorgrímr hier einen positiven Dienst. Die gegenteilige Auffassung wurde jedoch von Helge Rosén vertreten: Nach Rosén dient der Stein dazu, Þorgríms Schiff am Auslaufen zu hindern.⁴⁰² Ebenso gegensätzlich sind die Deutungen, die Wiberg und Rosén für die „Helschuhe“ vorgeschlagen haben: Wiberg deutet sie als Teil der Ausstattung des Toten mit Kleidung,⁴⁰³ während Rosén vorschlägt, dass die Helschuhe in Analogie zum Stein, der Þorgríms Schiff festhält, eine Methode sind, den Toten in seinem Grab festzuhalten.⁴⁰⁴ Gegen Wibergs Interpretation des Steins in Þorgríms Schiff als Ballast ist einzuwenden, dass festa skip in der mittelalterlichen Literatur im Allgemeinen eindeutig
400 Wiberg 1937, bes. S. 104 f. 401 Müller-Wille 1968/69, S. 137. 402 Rosén 1918, S. 128 f., 166; vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 137 und Wiberg 1937, S. 99 f., 103. 403 Wiberg 1937, S. 100–103; zustimmend: Müller-Wille 1968/69, S. 137. In diesem Sinne (aber ohne Berücksichtigung des literarischen Kontexts der Stelle) vgl. auch Dillmann 2007, S. 349. 404 Rosén 1918, S. 129 f., 165 f.; vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 137; Wiberg 1937, S. 100, 103.
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„ein Schiff festmachen (i.S.v. verankern/vertäuen)“ bedeutet;⁴⁰⁵ schon auf rein lexikalischer Ebene besteht die Implikation von Gíslis Handlung somit nicht im Erleichtern, sondern im Verhindern einer Schiffsreise. Dies schließt sich unmittelbar daran an, „dass es fast schien, jeder Balken würde nachgeben“ (svá at nær þótti hvert tré hrøkkva fyrir), als Gísli den Felsen in das Schiff wirft: Gísli scheint eine Beschädigung des Grabschiffs mit seiner Wahl eines besonders großen Steinblocks bewusst in Kauf zu nehmen oder sogar zu intendieren. Auch dies deutet darauf hin, dass ihm keineswegs daran gelegen ist, die Seetüchtigkeit von Þorgríms Totenschiff zu erhöhen. Zugleich ist Gíslis Handlung jedoch auch nicht so offen feindselig, dass sie eine unmittelbare Reaktion der umstehenden Mitglieder von Þorgríms Haushalt erzwingen würde: Da Ballaststeine in der Schifffahrt des Nordens tatsächlich verwendet wurden, bleibt für die Umstehenden trotz des wenig freundlichen Verhältnisses zwischen Gísli und Þorgrímr die Möglichkeit, Gíslis Handlung als positiv zu deuten –⁴⁰⁶ wenngleich es dafür nötig ist, seine Begründung dieser Handlung zu überhören. Die Gísla saga stellt ausdrücklich fest, dass Gíslis Verhalten bei der Bestattung Þorgríms nach Meinung einiger Leute eine Analogie zu Þorgríms Verhalten bei der Bestattung Vésteins darstellte. Dort hatte Þorgrímr kurz vor dem Zuschütten des Grabhügels verkündet, er werde nun Vésteinn „Helschuhe“ binden, und nachdem er diese Schuhe gebunden hat, sagt er, dass er keine Helschuhe binden kann, wenn diese loskommen (eigi kann ek helskó at binda, ef þessir losna). Die naheliegendste Art, dies zu interpretieren, ist zunächst die Annahme, dass die Schuhe besonders gut geschnürt und daher für die weite Reise ins Jenseits geeignet sind. Die semantische Spannweite von losna geht jedoch über das Aufgehen von Schnürsenkeln weit hinaus. So wird dieses Verb in der Vǫlospá zweimal verwendet. In beiden Fällen wird es vom Loskommen der bedrohlichen Mächte der Riesenwelt und des Totenreichs während des Weltuntergangs gebraucht: In Strophe 47.4 (enn iotunn losnar) bezeichnet das Verb das Loskommen eines Riesen, bei dem es sich im Gesamtzusammenhang der Strophe wohl um Surtr handeln dürfte; und in Strophe 50.8 (Naglfar losnar) wird losna vom Loskommen des Totenschiffs Naglfar verwendet, das dort Seite an Seite mit dem Angriff des Riesen Hrymr und der Midgardschlange auf die Welt der Götter erscheint. Das durch losna bezeichnete Loskommen ist in diesen Strophen das Loskommen von Mächten, die vor ihrem Loskommen offenbar als gebunden und gebannt vorgestellt waren. Þorgríms Aussage „ich kann keine Helschuhe binden, wenn diese loskommen (losna)“ ist somit zutiefst ambivalent: Auf einer Ebene mag sie von fest geschnürten Wanderschuhen für die lange Straße ins Reich der Toten reden, doch auf
405 Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚festa‘. Dieses Problem von Wibergs Deutung (vgl. Wiberg 1937, S. 106–108) wird auch anerkannt von Müller-Wille 1968/69, S. 137, der jedoch vorschlägt, dass die Deutung als Ballast die „ursprüngliche Bedeutung des Ausdrucks“ gewesen sein könnte. In Anbetracht der späten Datierung der Gísla saga scheint dies allerdings wenig plausibel. 406 Vgl. Wiberg 1937, S. 104 f.
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einer anderen mag sie eine Fesselung Vésteins bezeichnen, der im Grab gebunden und dem eine Reise aus dem Grab ins Jenseits verweigert wird. Eine klare Entscheidung zwischen diesen beiden Interpretationen wäre für den Leser nur möglich, wenn er sehen könnte, was genau Þorgrímr in Vésteins Grab tut – dies wird in der Saga jedoch nicht beschrieben. Ein Hinweis darauf, welche von beiden Interpretationen die angemessenere sein dürfte, ergibt sich allerdings aus dem Verhältnis Þorgríms zu Vésteinn: Þorgrímr ist Vésteins Mörder und dürfte entsprechend kein Interesse daran haben, seinem Feind selbst nach dessen Tod einen Dienst zu erweisen, der mehr als nur scheinbar positiv ist. Insgesamt ist der wesentlichste Zug der beiden Bestattungen somit die tiefgreifende Ambivalenz der zuerst von Þorgrímr und dann von Gísli vollzogenen Handlungen, die auf einer Ebene vorgeben mögen, dem Toten einen Dienst zu erweisen, während sie auf einer anderen Ebene einen weiteren Schlag gegen einen schon geschlagenen Feind darzustellen scheinen. Die Spannung zwischen äußerem schönem Schein und innerer Feindseligkeit, die sich in diesen Handlungen zeigt, ist ein Motiv, das in der Gísla saga immer wieder aufgegriffen und in verschiedenen Weisen behandelt wird: Trug, Täuschung und nur halb ausgesprochene, hinter einer freundlichen Fassade verborgene Feindseligkeit gehören zum Grundgerüst dieser Saga, so dass ihre Wiederkehr in den Schilderungen der Begräbnisse Vésteins und Þorgríms nur nochmals den Charakter dieser Textstellen als bis ins Detail durchkomponierte literarische Szenen unterstreicht, die sich aus ihrem literarischen Kontext nicht herauslösen lassen.⁴⁰⁷ Ihr konkreter religionshistorischer Quellenwert dürfte entsprechend äußerst beschränkt sein.⁴⁰⁸ Immerhin ist festzuhalten, dass sowohl Gíslis Negierung von Þorgríms Seereise als auch die Parallelsetzung des Bestattungsschiffs mit den „Helschuhen“ (die dazu dienen sollen, nach Walhalla zu gehen: ganga á til Valhallar) implizieren, dass Þorgríms Schiff zumindest vom Verfasser der Gísla saga als Mittel für eine Reise ins Jenseits aufgefasst worden sein dürfte.
3.1.2 Weiteres zu transmarinen Anderwelten in der altnordischen Literatur: Leichenküste, Naglfar und die Entrückung des Sinfjǫtli Innerhalb der altnordischen Literatur deuten auch eine Reihe von Textstellen auf ein jenseits des Meeres gelegenes Jenseits hin, die nicht spezifisch Schiffs- und Bootsbestattungen beschreiben. Einer dieser Belege für einen transmarinen Jenseitsbereich findet sich in der Vǫlospá 38 f., wo die „Leichenküste“ Nástrǫnd erwähnt wird.⁴⁰⁹ Als Nástrandir erscheint dieses Gefilde ferner auch in Gylfaginning 52; da Snorri in dieser
407 Vgl. Schjødt 2007, S. 134. 408 Vgl. schon Schetelig 1906, S. 361 f. 409 Vgl. Ellmers 1986, S. 348 f.; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 285; Stjerna 1912, S. 113.
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Passage der Gylfaginning jedoch direkt auf die Vǫlospá zurückgreift und nur eine Paraphrase der entsprechenden Strophen vorlegt, hat diese Stelle keinen unabhängigen Quellenwert. In der Vǫlospá, die gewöhnlich in die spätheidnisch-frühchristliche Umbruchzeit datiert wird,⁴¹⁰ taucht dieser Ort im Rahmen einer Beschreibung der verschiedenen Teile der Welt auf. Dort heißt es (Vǫlospá 38 f.): Sal sá hon standa sólo fiarri, Nástrǫndo á, norðr horfa dyrr; fello eitrdropa inn um lióra, sá er undinn salr orma hryggiom. Sá hon þar vaða þunga strauma menn meinsvara oc morðvarga, oc þannz annars glepr eyrarúno; þar saug Níðhǫggr nái framgengna, sleit vargr vera — vitoð er enn, eða hvat?⁴¹¹ Eine Halle sah sie stehen der Sonne fern, auf der Leichenküste, nach Norden sind die Türen gerichtet; Gifttropfen fielen durch den Rauchabzug hinein, die Halle ist geflochten aus Schlangenrücken. Dort sah sie waten durch reißende Ströme meineidige Männer und Mordtäter, und den, der eines andern Liebste verführt; dort saugt Níðhǫggr die Leichen der Hingeschiedenen, es zerfetzte der Wolf der Männer — wisst ihr noch mehr, und was?
Die „Leichenküste“ wird hier als ein Abschnitt des Totenreichs beschrieben, der verschiedenen Arten ehrloser Verbrecher vorbehalten ist und wo diese für ihre Vergehen harte Strafen erdulden müssen. Die Bezeichnung als „Leichenküste“ impliziert dabei eine Lage an der bzw. einer See und insofern eine transmarine Lokalisierung dieses Orts. Einschränkend ist allerdings zu betonen, dass von einer Seereise, die zum Erreichen dieses Orts nötig wäre, nirgends ausdrücklich gesprochen wird. Ferner wird allgemein nicht davon ausgegangen, dass die vorchristliche Religion des Nordens das Jenseits als einen Strafort ansah;⁴¹² bei der Vorstellung der „Leichenküste“ als eines jenseitigen Straforts dürfte somit mit einem tiefgreifenden Einfluss christlicher Höllenvorstellungen zu rechnen sein.⁴¹³ Immerhin lässt sich die Küstenlage eines solchen Orts nicht aus christlichen Ideen herleiten, so dass zumindest dieses Element – wenn
410 Vgl. Böldl 2013, S. 68 f.; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 430; für weitere Literatur zur Datierung vgl. Egeler 2011, S. 34 f. (Anm. 58). 411 Text: Neckel und Kuhn 1983, S. 9. 412 Vgl. Maier 2003, S. 108. 413 Vgl. die Literatur bei Lorenz 1984, S. 634 f.
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auch kaum irgendwelche konkreten Züge seiner inhaltlichen Beschreibung – auf vorchristliche kosmologische Konzepte zurückgreifen könnte.⁴¹⁴ Ein weiteres Motiv, das einen jenseits des Meeres gelegenen Anderweltsbereich impliziert, ist das Schiff Naglfar.⁴¹⁵ Snorri beschreibt Naglfar als das größte aller Schiffe und zu Muspell gehörig (Gylfaginning 43, dort mit der Namensform Naglfari). Die Ankunft dieses Schiffs stellt einen Teil der Heimsuchungen dar, die auf den Weltuntergang hinführen (Gylfaginning 51): Der Fenriswolf befreit sich aus seinen Banden, die Midgardschlange kommt an Land, und das Schiff Naglfar fährt auf der Flutwelle dahin, die von der Midgardschlange erzeugt wird. Nach Snorri wird Naglfar dabei vom Riesen Hrymr gesteuert. Die riesischen Mächte und die Toten, die auf diese Weise anreisen, treffen sich darauf mit den Göttern zur letzten Schlacht. Die meisten dieser Details beruhen mit mehr oder weniger großer Genauigkeit auf der Schilderung derselben Ereignisse in der Vǫlospá. Dort heißt es über Naglfar (Str. 50 f.; vgl. das Zitat dieser Strophen in Gylfaginning 51): Hrymr ecr austan, hefiz lind fyrir, snýz iormungandr í iotunmóði; ormr knýr unnir, enn ari hlaccar, slítr nái neffǫlr, Naglfar losnar. Kióll ferr austan, koma muno Muspellz um lǫg lýðir, enn Loki stýrir; fara fífls megir með freca allir, þeim er bróðir Býleiptz í for.⁴¹⁶ Hrymr fährt von Osten, er hält einen Schild vor sich, die Midgardschlange windet sich im Riesenzorn; der Wurm peitscht die Wellen, und der Adler schreit, fahlschnabelig zerreißt er Leichen, Naglfar kommt los. Das Langschiff fährt von Osten, Muspells Leute werden kommen über die See, und Loki steuert; des Ungeheuers Söhne fahren mit dem Wolf alle, mit ihnen ist der Bruder Býleipts auf der Reise.
Wie das oben angesprochene Konzept der „Leichenküste“ implizieren auch diese Strophen, dass die spätheidnische Kosmologie des Vǫlospá-Dichters einen Ort annahm, der die Heimat negativ gewerteter übermenschlicher Mächte war und der sich jenseits
414 Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 285 denkt ausdrücklich an eine Verbindung mit den nordischen Schiffsbestattungen. 415 Vgl. Schjødt 1995, S. 22 f.; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 285; Müller-Wille 1968/69, S. 141; de Vries 1956/57, §§ 115, 580; Major 1924, S. 127, 150; Stjerna 1912, S. 115. 416 Text: Neckel und Kuhn 1983, S. 11 f.
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eines Meeres befand – oder der zumindest auf dem Seeweg einfacher zu erreichen war als über Land.⁴¹⁷ Dieser Ort ist dabei durch die mit Naglfar verbundenen Vorstellungen eng mit dem Totenreich assoziiert:⁴¹⁸ Nach Snorri wird Naglfar aus den Nägeln der Toten gebaut, weswegen man den Verstorbenen vor der Bestattung die Nägel schneiden sollte, um nicht zu viel Baumaterial für Naglfar zu liefern (Gylfaginning 51). Die dieser Geschichte zugrundeliegende Deutung Nagl-fars als „Nagel-Schiff“ (zu anord. nagl „Fingernagel“) gilt heute als sprachlich falsche Volksetymologie; durch die Verbindung Naglfars mit den Fingernägeln der Toten bewahre diese Volksetymologie jedoch immerhin insoweit einen etymologisch wahren Kern, als Naglfar sprachgeschichtlich als „Totenschiff“ zu deuten sei (verwandt mit lat. necare).⁴¹⁹ Darüber hinaus wird Loki, der in der Vǫlospá als Steuermann Naglfars fungiert, in der Gylfaginning 51 als der Anführer eines Totenheers aufgefasst („Loki folgen alle Scharen Hels“: Loka fylgja allir Heljar sinnar). All dies legt nahe, dass Naglfar als ein Schiff vorgestellt werden konnte, das dem Übersetzen der Toten dient.⁴²⁰ Ein Übersetzen eines einzelnen herausgehobenen Toten, das wiederholt in einen Kontext mit den nordischen Schiffsbestattungen gestellt wurde,⁴²¹ erscheint im kurzen Prosastück Frá dauða Sinfiotla im Codex Regius der Liederedda⁴²² sowie an einer Stelle der möglicherweise geringfügig älteren Vǫlsunga saga;⁴²³ auch letztere dürfte jedoch nicht vor der Mitte des 13. Jahrhunderts entstanden sein.⁴²⁴ Diese zwei Texte enthalten einen bemerkenswerten Bericht über die Entrückung der Leiche des Sinfjǫtli, wobei die beiden Beschreibungen in allen wesentlichen Zügen identisch sind. Nachdem Sinfjǫtli in der Halle seines Vaters Sigmundr an einem vergifteten Trunk gestorben ist, heißt es (Fassung der Vǫlsunga saga, Kapitel 10):
417 Vgl. das oben (S. 118) zu Hermóðs Helritt Gesagte. 418 Zusätzlich zu den mittelalterlichen Zeugnissen vgl. auch das von Krohn 1912, S. 154 f., 319 referierte Material aus dem nordischen Volksglauben. 419 Faulkes 2005, S. 173 (s.v. ‚Naglfari‘); Schjødt 1995, S. 22 f.; vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 141 und schon Waser 1898, S. 8 f. Von dieser Erklärung nicht überzeugt ist de Vries 1956/57, § 202. 420 Vgl. schon Major 1924, S. 127; Stjerna 1912, S. 115. Krohn 1912 hält Naglfar für eine durch das mittelalterliche Christentum vermittelte Entlehnung aus der klassischen Mittelmeerwelt (vgl. ähnlich Waser 1898, S. 8); dies wird – wohl zu Recht – abgelehnt von de Vries 1956/57, § 202. Ellmers 1995, S. 168, 170 (Abb. 6) schlägt vor, eine Darstellung Naglfars auf dem Runenstein von Tullstorp (Schonen) zu identifizieren. 421 Z.B. Heide 2011, S. 61 (vgl. S. 59); Fulk et al. 2008, S. 114; Cameron 1969, S. 240; Müller-Wille 1968/69, S. 129, 146; Ellis 1943, S. 44; Major 1924, S. 127 f.; Stjerna 1912, S. 115; Waser 1898, S. 3; Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 693. Vgl. ähnlich auch Oehrl 2010, S. 10, der im Kontext der Frage nach der Deutung möglicher ikonographischer Darstellungen von Totenschiffen auf diese Episode verweist; Straubergs 1957, S. 65, der Odin hier mit dem griechischen Seelenfährmann Charon zusammenstellt; und Neckel 1913, S. 47 f., der Sinfjǫtlis Entrückung mit einem Zeugnis über gallische Seelenfährmänner vergleicht, auf das noch zurückzukommen sein wird (siehe unten S. 385 ff.). 422 Hgg. von Neckel und Kuhn 1983. 423 Hgg. von Olsen 1906–1908. 424 Datierung: Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 427.
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Sigmundr ris upp, ok geck harmr sinn nęr bana, ok tok likit i fang ser ok fer til skogar ok kom lox at einum firde. Þar sa hann mann a einum bate litlum. Sa madr spyr, ef hann villde þiggia at honum far yfir fiordinn. Hann iattar þvi. Skipit var sva litid, at þat bar þa eigi, ok var likit fyrst flutt, enn Sigmundr geck med firdinum. Ok þvi nęst hvarf Sigmundi skipit ok sva madrinn.⁴²⁵ Sigmundr steht auf, und sein Kummer tötete ihn fast, und er nahm die Leiche in seinen Arm und trug sie zum Wald und kam schließlich zu einem Fjord. Dort sah er einen Mann in einem kleinen Boot. Der Mann fragt, ob er von ihm eine Fahrt über den Fjord annehmen wollte. Er bejaht das. Das Schiff war so klein, dass es zwei nicht trug, und die Leiche wurde zuerst hinübergebracht, und Sigmundr ging am Fjord entlang. Und kurz darauf war das Schiff aus Sigmunds Augen verschwunden, und der Mann ebenso.
In dieser Szene trifft Sigmundr, die Leiche seines Sohns Sinfjǫtli im Arm, auf einen Fährmann mit einem kleinen Nachen, der ihm anbietet, den Leichnam über einen Fjord zu bringen; um auch Sigmundr selbst mitzunehmen, ist das Boot jedoch zu klein. So übergibt Sigmundr dem Mann die Leiche seines Sohnes – und kurz darauf ist der Fährmann mitsamt der Leiche verschwunden. Nach allgemeiner Auffassung handelt es sich bei dem enigmatischen Fährmann um den Gott Odin, der den toten Helden Sinfjǫtli zu sich nach Walhall holt.⁴²⁶ Ist diese Auffassung richtig, so fungiert Odin hier als nordisches Gegenstück des griechischen Seelenfährmanns Charon; damit ließe sich diese Stelle als potentielles Argument für die Vorstellung einer Reise des Toten über das Wasser anführen. Detlev Ellmers hält eine solche Deutung für so sicher, dass er sogar eine Darstellung auf einem gotländischen Bildstein vorschlägt, die Sinfjǫtlis Entrückung im Nachen Odins darstellen soll.⁴²⁷ Hiergegen ist jedoch zu betonen, dass diese Episode letztlich eher suggestiv als schlüssig ist: Odins Auftreten als Fährmann in einem kleinen Nachen, der die Leiche an sich nimmt, ließe sich auch als eine List deuten, mit der der Gott den Leichnam an sich bringt, um ihn mit sich ins Kriegerparadies zu nehmen – ohne dass der Nachen als solcher für die eigentliche Jenseitsreise dabei unbedingt eine weitere Rolle spielen müsste. Zudem ist auch auf einen Umstand hinzuweisen, der zuletzt von R. G. Finch hervorgehoben wurde:⁴²⁸ Die Entrückung Sinfjǫtlis in einem kleinen Nachen erinnert auffallend an die Entrückung Arthurs auf die Insel Avalon.⁴²⁹ Die Ähnlichkeit der beiden Szenen könnte dabei insofern besonders signifikant sein, als in der Vǫlsunga saga noch
425 Text: Olsen 1906–1908, S. 25 f. 426 So z. B. Heide 2011, S. 61; Schjødt 1995, S. 23; Lanczkowski 1986, S. 13; Major 1924, S. 128; Waser 1898, S. 7 f. 427 Ellmers 1995, S. 168, 169 (mit Abb. 7 auf S. 171); vgl. Ellmers 1986, S. 361 (mit Abb. 15 auf S. 360). Der fragliche Stein ist Lillbjärs III, Stenkyrka, Gotland (vgl. Nylén und Lamm 1988, S. 65, 193 [Nr. 279]). 428 Finch 1965, S. XXXV (Anm. 10); ausführlich vgl. Baesecke 1940, S. 282–284, 286 f., der über die im Folgenden besprochenen Motivparallelen hinaus auch noch auf die Parallele zwischen den inzestuösen Beziehungen Sigmunds und Arthurs mit ihren Schwestern hinweist. 429 Zu dieser siehe unten S. 181 ff.
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ein zweites Element der Lebensgeschichte Arthurs eine genaue Entsprechung findet: In der Halle König Vǫlsungs stand ein prächtiger Apfelbaum, dessen Zweige sich durch das Dach nach draußen erstreckten. Als Vǫlsungr seine Tochter einem anderen König zur Frau gibt, wird das Hochzeitsfest in dieser Halle abgehalten. Während des abendlichen Fests betritt plötzlich ein einäugiger Mann die Halle, der sein Gesicht mit einer Kapuze verhüllt hat; er stößt ein Schwert bis zum Heft in den Stamm des Baums und verkündet, dass derjenige, der das Schwert aus dem Stamm zu ziehen vermag, es von ihm als Geschenk erhält und feststellen wird, dass er nie ein besseres Schwert getragen hat. Dann verlässt der Mann die Halle und ist verschwunden. Von denen, die währenddessen in der Halle anwesend waren, vermag nur Sigmundr, das Schwert aus dem Stamm zu ziehen – und während alle anderen es keinen Deut bewegen können, findet er, dass es ziemlich lose im Holz sitzt (Vǫlsunga saga Kap. 3). Diese Szene erinnert auffallend an das Motiv des „Schwerts in Stein“ der Sage von König Arthur; die Parallele ist dabei umso enger, als auch Sigmundr – wie Arthur – später zu einem großen König wird. Somit finden gleich zwei Episoden der Vǫlsunga saga unmittelbare Gegenstücke in der arthurischen Literatur. Da diese Saga die älteste erhaltenen Quelle für die fraglichen Motive in der nordischen Literatur darstellt, wirft dies mit einigem Nachdruck die Frage auf, ob es sich bei diesen Passagen (und damit auch der Entrückung von Sinfjǫtlis Leichnam) überhaupt um einheimische, religionsgeschichtlich relevante Motive handelt, oder nicht eher um eine direkte literarische Entlehnung aus der arthurischen Literatur – eine Entlehnung, die zudem ausgesprochen spät stattgefunden haben dürfte, da das Motiv des „Schwerts im Stein“ in der arthurischen Dichtung wohl erst kurz vor 1200 zum ersten Mal erscheint.⁴³⁰ In diesem Zusammenhang mag auch von Relevanz sein, dass die Saga den Baum in der Halle Vǫlsungs als apalldr „Apfelbaum“ bezeichnet (Kap. 3):⁴³¹ Dieses Wort dürfte ein spätes Lehnwort⁴³² aus dem Süden sein und erinnert daran, dass die arthurische Insel Avalon, auf die Arthur nach seiner schweren Verwundung in seiner letzten Schlacht entrückt wird, gerade eine Insel der Apfelbäume ist.⁴³³ Auch dies deutet vielleicht auf ein direktes Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Vǫlsunga saga und der zeitgenössischen arthurischen Literatur hin.⁴³⁴
430 Das Motiv des „Schwerts im Stein“ wird auf den anglonormannischen Dichter Robert de Boron zurückgeführt, der es wohl in seinem Merlin zum ersten Mal verwendete (Lacy 1996, S. 438; vgl. Bryant 2001, S. 107–111). Roberts Werke lassen sich auf die Jahre zwischen 1190 und 1201/2 datieren (Simek 2012, S. 297). Dies macht es äußerst unwahrscheinlich, dass das Motiv vor dem frühen 13. Jahrhundert in die nordische Literatur Eingang hätte finden können, wie das noch Baesecke annahm, der die Entlehnung „auf den britischen Inseln nach der nordischen Eroberung des 9. Jahrhunderts“ ansiedelte (Baesecke 1940, S. 284). 431 Olsen 1906–1908, S. 6 Z. 17. 432 Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚apaldr‘. 433 Siehe unten S. 181 ff. 434 Für vergleichbare Fälle einer Rezeption arthurischer Motive in der (nicht unmittelbar arthurischen) isländischen Literatur (Kormáks saga; Grettis saga; u. a.) vgl. Kalinke 2011 (Echoes), S. 148–154.
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3.1.3 Germanische Schiffsbestattungen in außerskandinavischen Quellen Die vermutlich prominenteste Schiffsbestattung der germanischen heroischen Literatur findet sich am Beginn des Beowulf (V. 26–52).⁴³⁵ Bislang besteht kein Konsens über die Datierung dieses altenglischen Heldengedichts. Ein terminus ante quem wird durch die Datierung der Handschrift, in der dieser Text erhalten ist, auf ca. das Jahr 1000 vorgegeben, während sich ein terminus post quem aus den vielen christlichen Elementen des Gedichts ergibt, die eine Datierung vor dem Beginn der Christianisierung der Angelsachsen gegen Ende des 6. Jahrhunderts ausschließen. Über eine hierüber hinausgehende genauere Bestimmung der Abfassungszeit des Beowulf hat sich bislang jedoch keine Einigkeit erzielen lassen.⁴³⁶ In der fraglichen Passage des Beowulf wird die Bestattung des Königs Scyld Scēfing beschrieben, des Ahnherren der dänischen Dynastie der Scyldingas.⁴³⁷ Der tote König wird zu seinem Schiff getragen und zusammen mit reichen Beigaben am Mast niedergelegt: Schmuck, Waffen, Kettenhemden und eine königliche Standarte begleiten ihn auf seiner letzten Fahrt.⁴³⁸ Daraufhin wird das Schiff dem Meer übergeben und treibt fort – niemand weiß, wer es in Empfang nehmen wird. Das Gedicht betont ausdrücklich, dass diese Art der Bestattung den Anweisungen des Königs entsprach, die dieser noch vor seinem Tod gegeben hatte. Sie bleibt innerhalb des Epos für Scyld eigentümlich (Beowulf wird am Ende des Gedichts in einem Grabhügel an der Küste beigesetzt) und wird vom Dichter selbst in direkten Bezug zur Herkunft Scylds gesetzt:⁴³⁹ Scyld war als Kleinkind in einem mit großen Reichtümern beladenen Schiff an Land getrieben. Scylds Bestattung spiegelt mit ihrem Verschwinden des Königs in ein unbekanntes Land jenseits der See somit unmittelbar seine Herkunft
Insbesondere ist darauf hinzuweisen, dass Kalinke an anderer Stelle der Vǫlsunga saga Echos des altfranzösischen Lais Eliduc der Marie de France ausmacht: Kalinke 2011 (Echoes), S. 154. Solche Reminiszenzen stellen einen unmittelbaren Präzendenzfall für die Rezeption auch anderer arthurischer Motive in dieser Saga dar. 435 Vgl. etwa Lethbridge 2014, S. 47 (Anm. 5); Fulk et al. 2008, S. 114 f. et passim; Clark 2006, S. 623; Crawford 2004, S. 89; King 2003, S. 461 f., 463 f. (mit Anm. 42 f. auf S. 470 f.); Owen-Crocker 2000, S. 11–42; Lindow 1997, S. 86; Frank 1992 passim; Fulk 1989; Wentersdorf 1981, S. 92; Beck in MüllerWille et al. 1978, S. 283; Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 276 f.; Girvan 1971, S. 33–35; Bruce-Mitford in Girvan 1971, S. 87–91; Cameron 1969; Müller-Wille 1968/69, S. 126 f.; Ellis 1943, S. 44; Philippson 1929, S. 56; Much 1924, S. 104; Major 1924, S. 128; Stjerna 1912, S. 97–135; Schetelig 1906, S. 330; Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 692 f. Für Übersetzungen der einschlägigen Stelle siehe etwa Owen-Crocker 2000, S. 12 f.; Müller-Wille 1968/69, S. 126; Major 1924, S. 128; Stjerna 1912, S. 120 f. Die maßgebliche Textausgabe ist Fulk et al. 2008. 436 Vgl. ausführlich Fulk et al. 2008, S. clxii-clxxx. 437 Vgl. Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 283; Müller-Wille 1968/69, S. 126. 438 Vgl. Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 276 f. 439 Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 283.
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aus einem ebensolchen Land.⁴⁴⁰ Diese Überlieferung wurde wiederholt als ein Rest eines mythologischen Komplexes gedeutet, der die Ankunft und das Verschwinden eines „Fruchtbarkeitsgottes“ behandle;⁴⁴¹ selbst wenn man bei der Interpretation der wenigen und späten Zeugnisse so weit nicht gehen will, so ist in jedem Fall doch festzuhalten, dass mit Scyld ein segensspendender Herrscher aus einem mysteriösen transmarinen Bereich in die Welt der Menschen kommt, diesen eine Zeit des Heils bringt und darauf wieder in ebenjenen transmarinen Bereich verschwindet. Damit impliziert die Schiffsbestattung am Beginn des altenglischen Beowulf ein Konzept einer heilbringenden (paradiesischen?) transmarinen „Anderwelt“, auch wenn man darüber hinausgehenden weiteren Schlussfolgerungen mit Skepsis gegenüberstehen mag. Inwieweit diese Schilderung jedoch tatsächlich Vorstellungen der vorchristlichen Zeit widerspiegelt, muss in Anbetracht der Abfassung des Texts durch einen christlichen Dichter und in einem christlichen Kontext letztlich fraglich bleiben.⁴⁴² In ihrer Darstellung historischer Details weit konkreter, als Quelle zeitgenössischer Jenseitskonzepte jedoch keineswegs aussagekräftiger ist die Schilderung einer Schiffsbestattung, die der arabische Gelehrte Ibn Faḍlān hinterlassen hat. Im Jahr 921 brach Ahmad ibn Faḍlān als Mitglied einer Gesandtschaft des Kalifen al-Muqtadir zu den Bulgaren an der Wolga auf.⁴⁴³ Der Bericht, den er über diese Reise verfasst hat und der als Risāla bekannt ist, enthält den einzigen erhaltenen Augenzeugenbericht über eine möglicherweise germanische Schiffsbestattung.⁴⁴⁴ Anlass dieses Begräbnisses war der Tod eines der wichtigen Männer der „Rūs“ oder „Rūsiyyah“, zu dessen Bestattung Ibn Faḍlān anreiste, um die ihm zuvor zu Ohren gekommenen Gerüchte über die Bestattungsbräuche dieses Volkes durch eigene Anschauung zu bestätigen.⁴⁴⁵ Es handelt sich beim Bericht des Ibn Faḍlān also tatsächlich um einen Augenzeugenbericht aus erster Hand. Dies bedeutet allerdings nicht, dass diese Quelle nicht mit einer Vielzahl von Problemen behaftet wäre. Diese Probleme beginnen schon mit
440 Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 127. Zu Parallelüberlieferungen zu dieser Herkunftsgeschichte außerhalb des Beowulf vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 127; de Vries 1956/57, § 321. 441 Vgl. Philippson 1929, S. 95–98; de Vries 1956/57, §§ 321, 472; Müller-Wille 1968/69, S. 127; Fulk 1989; Owen-Crocker 2000, S. 17, 19; Fulk et al. 2008, S. 111. 442 Vgl. King 2003, S. 463 f. und Meaney 1989, S. 29–36, 37 zu Parallelen zwischen der Bestattung des Gildas in seiner lateinischen Vita und der Schilderung der Bestattung Scylds, die nach der Auffassung beider Autoren eine direkte oder indirekte literarische Beziehung zwischen diesen beiden Texten nahelegen. Als Möglichkeit wird eine solche Beziehung auch anerkannt von Owen-Crocker 2000, S. 33 und Fulk et al. 2008, S. clxxxiv, 114 (mit Vollzitat der entsprechenden Textstelle aus dem Leben des Gildas: Fulk et al. 2008, S. 312 f.). Ausführlich besprochen wurden die einschlägigen Parallelen zwischen Gildas und Scyld zuerst von Cameron 1969, der aus den von ihm herausgearbeiteten Übereinstimmungen jedoch keine klaren Schlussfolgerungen zieht. Mehrere Forscher fühlten sich von der Entrückung Scylds auch an König Arthur erinnert: Cameron 1969, S. 411. 443 Lunde und Stone 2012, S. xviii f.; Montgomery 2000, S. 1. 444 Lunde und Stone 2012, S. xiii; Müller-Wille 1968/69, S. 132. 445 Vgl. Montgomery 2000, S. 13 (Anm. 41).
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der ethnischen Zugehörigkeit der „Rūs“. Die „Rūs“ werden zwar oft als Skandinavier aufgefasst,⁴⁴⁶ jedoch wurde auch eine Deutung als Slawen vertreten und sogar eine ethnische Deutung der Bezeichnung „Rūs“ überhaupt in Frage gestellt.⁴⁴⁷ Nach Ibn Faḍlān nahm die Schiffsbestattung folgenden Verlauf (wobei die Ereignisse des Tags der eigentlichen Brandbestattung von ihm persönlich beobachtet wurden, während er die vorangegangenen Vorbereitungen aus Auskünften rekonstruieren musste):⁴⁴⁸ Nach dem Tod des Mannes wurde der Leichnam zunächst in einem vorläufigen Grab bestattet, über dem man ein Dach errichtete. Dort verblieb der Tote, bis alle Vorbereitungen für die endgültige Bestattung getroffen waren. Diese Vorbereitungen bestanden v. a. in der Aufteilung der Besitztümer des Verstorbenen, von denen ein festgesetzter Teil für seine Totengewänder und den Leichenschmaus vorgesehen war, sowie in der Herstellung dieser Totengewänder, mit denen der Tote endgültig bestattet werden würde, und in der Auswahl einer Sklavin, die dazu bereit war, ihrem Herrn freiwillig in den Tod zu folgen. Nachdem alle diese Vorbereitungen abgeschlossen waren, wurde das Schiff des Verstorbenen an Land gezogen. Auf dem Schiff wurde ein Zelt für ihn errichtet und ihm darin ein prächtiges Lager bereitet; diese und andere zentrale Aufgaben wurden dabei von einer alten Frau erfüllt, die als der „Engel des Todes“ bezeichnet wurde und die Ibn Faḍlān als fest gebaut und bedrohlich beschreibt. Als dieses Totenbett bereit war, wurde der Leichnam aus seinem vorläufigen Grab geborgen und in die prächtigen Totengewänder gekleidet, die in der Zwischenzeit verfertigt worden waren. So ausgestattet, bettete man ihn auf seinem Schiff auf sein Bett und stattete ihn dort mit reichen Beigaben aus; diese Beigaben umfassten Speisen, Waffen, einen Hund, Pferde, Rinder und Geflügel. Die Sklavin, die am Grab ihres Herrn sterben sollte, hatte derweil sexuellen Verkehr mit den wichtigeren Teilnehmern der Bestattungsfeier. Daraufhin nahm sie an einem Ritual teil, in dessen Verlauf sie mehrmals über eine Art Türrahmen gehoben wurde und jenseits dieses Türrahmens Blicke auf die Freuden des Paradieses erhaschte, von denen sie
446 Etwa Lunde und Stone 2012, S. xiii; Wilson 2008, S. 25; Duczko 2004, S. 138, 154; Maier 2003, S. 109; Richter-Bernburg 2000, S. 316; Warmind 1995, S. 131; Boyer 1980, S. 44; Smyser 1965, S. 92; Ellis 1943, S. 45; Major 1924, S. 135. 447 Vgl. Montgomery 2000, S. 1–5, 23 f.; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 281. Montgomery ist „not convinced that by Rūs/Rūsiyyah our text means either the Vikings or the Russians specifically“ (Zitat: Montgomery 2000, S. 3); vielmehr vermittle der Text „a picture of a people in the process of ethnic, social and cultural adaptation, assimilation and absorption“ (Zitat: S. 23). Ähnlich: Schjødt 2007, S. 133; Lunde und Stone 2012, S. xxiv. 448 Vgl. Montgomery 2000, S. 15 (mit Anm. 49). Für Übersetzungen vgl. etwa Lunde und Stone 2012, S. 49–54; Duczko 2004, S. 139–141; Montgomery 2000, S. 12–21 (mit ausführlichem Kommentar); Sass 1995; Müller-Wille 1968/69, S. 132–135 (mit Kommentar und einem Paralleltext aus der geographischen Enzyklopädie des Amīn Rāzī aus dem späten 16. Jahrhundert); Zeki Validi Togan 1939, S. 88–97 (mit ausführlichem Kommentar [ibidem S. 234–250] und den Paralleltexten des Amīn Rāzī); Major 1924, S. 135–139 (gekürzt und veraltet); Schetelig 1906, S. 346–349 (dito). Zu Amīn Rāzī vgl. auch Smyser 1965, S. 94 f., 98–101 passim (mit einer Übersetzung der entsprechenden Textpassagen), 108–113 passim.
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den Anwesenden kundtat; das Paradies, das sie schaute, beschrieb sie dabei als schön und grün. Schließlich wurde sie mit einem Rauschtrank betäubt und in das Zelt des Toten auf dem Schiff gebracht; sechs Männer hatten dort mit ihr Geschlechtsverkehr und halfen danach dem „Engel des Todes“, sie neben der Leiche ihres verstorbenen Herrn zu töten. Damit waren die an Bord des Schiffes zu vollführenden Rituale abgeschlossen, und ein nackter Angehöriger des Verstorbenen setzte das Schiff in Brand. Nachdem das Feuer sein Werk getan hat, wurde über der Asche des Schiffs ein Grabhügel aufgeworfen und darauf ein Baumstamm mit dem Namen des Toten und dem Namen des Königs errichtet. Hiernach löste sich die Zusammenkunft auf. Die Schilderung Ibn Faḍlāns ist ausgesprochen reich an äußeren Details, enthält jedoch nur wenige Aussagen über die Bedeutung der beschriebenen Handlungen. Hinzu kommt, dass die wenigen Bezugnahmen auf die hinter dem äußeren Ritualablauf stehenden Jenseitsvorstellungen in Ibn Faḍlāns Wiedergabe zumindest teilweise von islamischen Konzepten gefärbt sind:⁴⁴⁹ So handelt es sich bei der Bezeichnung „Engel des Todes“, die Ibn Faḍlān für die alte Ritualspezialistin verwendet, um einen islamischen Terminus, der im Koran ein Wesen bezeichnet, das während des Jüngsten Gerichts die Seelen der Gerechten versammelt.⁴⁵⁰ Ebenso dürfte die Beschreibung des Paradieses als ein grünes Gefilde, die Ibn Faḍlān dem todgeweihten Mädchen in den Mund legt, eher auf islamische Paradiesvorstellungen als auf die tatsächlichen Aussagen des Mädchens zurückgehen.⁴⁵¹ In solchen Fragen der Interpretation und weltanschaulichen Kontextualisierung des Ritualablaufs hat Ibn Faḍlāns Schilderung somit keinen besonders hohen Stellenwert als Quelle für die germanische Religionsgeschichte – selbst in dem Fall, dass es sich bei den Rūs/Rūsiyyah überhaupt um Skandinavier gehandelt hat. Dennoch sei zumindest der Vollständigkeit halber darauf hingewiesen, dass Ibn Faḍlān dem Schiff als Fahrzeug keine Rolle bei der Jenseitsreise des Toten beimisst.⁴⁵² Während der Verbrennung des Schiffs verwickelte Ibn Faḍlān einen der Beistehenden in ein Gespräch, das in seiner Reisebeschreibung vergleichsweise ausführlich wiedergegeben wird: Ibn Faḍlāns einheimischer Gesprächspartner hielt die Muslime für dumm, weil sie ihre Liebsten in der Erde dem Ungeziefer und den Würmern vorwerfen würden, während sie selbst sie schnell verbrannten, so dass sie sofort ins Paradies eingingen. Dabei verwies Ibn Faḍlāns Gegenüber besonders
449 Warmind 1995, S. 132–135. 450 Warmind 1995, S. 133, 135; vgl. Montgomery 2000, S. 19 (Anm. 65); Duczko 2004, S. 147; Schjødt 2007, S. 139 (Anm. 10). Für (mehr oder weniger entfernte) germanische Analogien vgl. Boyer 1980, S. 44; Smyser 1965, S. 109 f.; Zeki Validi Togan 1939, S. 239 f. 451 Montgomery 2000, S. 18 (Anm. 61), 23; Warmind 1995, S. 134, 135; vgl. Schjødt 2007, S. 139 (Anm. 10). Anders: Smyser 1965, S. 110 f.; Zeki Validi Togan 1939, S. 245. Zum Bestimmungsort der Reise des Toten vgl. auch Schjødt 1995, S. 23, der auf den Kontrast zwischen der Schiffsreise des toten Rūs-Edelmannes ins „Paradies“ und der Schiffsreise Balders zu Hel hinweist: „there seems to be no consistency in these notions about the fate of the dead“ (Zitat: ibidem). 452 Warmind 1995, S. 135.
Das Totenschiff im archäologischen Befund
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auf den Wind, der das Feuer anfachte: Dieser Wind sei vom „Herrn“ des Toten gesandt und würde ihn binnen einer Stunde davontragen. Als Vermittler bei der Jenseitsreise des Toten scheinen hier also Feuer und Wind zu gelten. Inwieweit dies jedoch mehr ist als eine polemisch zugespitzte, letztlich primär literarische Anekdote und tatsächlich die Vorstellungen von Ibn Faḍlāns Gesprächspartner korrekt wiedergibt, sollte in Anbetracht der islamischen Einfärbung des „Engels des Todes“ und der Paradiesbeschreibung vielleicht besser dahingestellt bleiben. Dies gilt umso mehr, als die Unterhaltung ausdrücklich durch einen Dolmetscher geführt wurde: Neben der Möglichkeit bewusster literarischer Stilisierung sind damit auch vielfache Missverständnisse bei der Übersetzung und Zusammenfassung der Aussagen der Gesprächsteilnehmer als potentielle Fehlerquellen in Betracht zu ziehen, so dass mit einer im Detail korrekten Vermittlung der lokalen religiösen Konzepte nicht unbedingt zu rechnen ist.⁴⁵³
3.2 Das Totenschiff im archäologischen Befund 3.2.1 Boots- und Schiffsgräber Die Beschreibungen von Schiffs- und Bootsbestattungen in der altnordischen, altenglischen und arabischen Literatur finden ihre unmittelbarste Entsprechung im archäologischen Befund in der Fundklasse der Schiffs- und Bootsgräber.⁴⁵⁴ Erste Bestat-
453 Vgl. Schjødt 2007, S. 133 und Montgomery 2000, S. 20 f. (Anm. 68), der für das Detail, wonach der Wind für die Jenseitsreise des Toten eine wichtige Rolle spiele, einen Fehler von Ibn Faḍlāns Dolmetscher annimmt. Für detaillierte neuere Versuche, Ibn Faḍlāns Beschreibung trotz der vielfachen Quellenprobleme für die nordische Religionsgeschichte fruchtbar zu machen, vgl. Schjødt 2007; Duczko 2004, S. 137–154. Schjødt schlussfolgert: „there seems to be no doubt that the ideological framework behind this funeral ritual is likely to have existed among the pre-Christian Scandinavians, and even if there may have been no funeral ritual proper carried out in exactly the same way all over Scandinavia, it would be a serious mistake not to use Ibn Fadlan’s description as a sort of model when trying to reconstruct such rituals from archaeological material or from texts that are defective in some way“ (Schjødt 2007, S. 146). Dass Ibn Faḍlāns Beschreibung einer Schiffsbestattung hier nicht in größerer Ausführlichkeit herangezogen wird, impliziert keine Ablehnung von Schjødts Standpunkt, sondern ausschließlich die Anerkennung der Unmöglichkeit, Ibn Faḍlāns Text detaillierte Informationen über skandinavische Vorstellungen von einem Jenseits jenseits des Meeres zu entnehmen. 454 Boots- und Schiffsgräber lassen sich nur rein subjektiv durch die Größe der Fahrzeuge voneinander unterscheiden; eine Trennung in einer wissenschaftlichen Systematik ist daher nicht sinnvoll durchführbar und soll auch hier nicht unternommen werden (vgl. Capelle 2004 [Schiffsbestattungen], S. 50). Die bis in die 1960er Jahre bekannt gewordenen Funde sind gesammelt und ausführlich besprochen bei Müller-Wille 1968/69 (Katalog: S. 150–182; für Zusammenfassungen vgl. Müller-Wille 1974; Müller-Wille et al. 1978). Für Nachträge von Neufunden und Neuinterpretationen älterer Funde bis in die Mitte der 1990er Jahre vgl. Müller-Wille 1995, und neuere Entwicklungen zusammenfassend vgl. Capelle 2004 (Schiffsbestattungen).
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tungen in Booten sind bereits im Neolithikum und in der Bronzezeit bezeugt,⁴⁵⁵ und auch nordeuropäische Fundstätten der vorrömischen und römischen Eisenzeit haben einige vereinzelte Bootsbestattungen ergeben.⁴⁵⁶ Die überwältigende Mehrzahl der Boots- und Schiffsbestattungen stammt jedoch aus den jüngeren Phasen der Eisenzeit (Vendel- und Wikingerzeit);⁴⁵⁷ bereits in den 1970er Jahren waren aus dieser Zeit mehr als 420 Bootsbestattungen bekannt,⁴⁵⁸ deren Zahl sich seitdem stetig vermehrt hat. Bootsbestattungen sind sowohl in Form von Körper- als auch in Form von Brandgräbern sowie in einer erheblichen Zahl von Mischformen bezeugt.⁴⁵⁹ Die Details der Grabform zeigen dabei einen großen Reichtum an Varianten. So konnten unverbrannte Boote in die Erde eingegraben oder auf einer Stützkonstruktion oberirdisch aufgestellt werden; die Gräber können flach zugedeckt sein oder unter einem Hügel liegen; der Leichnam des Verstorbenen konnte sowohl in verbranntem als auch in unverbranntem Zustand in einem unverbrannten Boot niedergelegt oder zusammen mit dem Boot verbrannt werden; im Falle einer Brandbestattung konnten die verbrannten Überreste des Toten und des Bestattungboots ihrerseits in einer Steinsetzung bestattet werden, die selbst einen schiffsförmigen Grundriss haben kann; etc.⁴⁶⁰ Die Mehrzahl der Bootsbestattungen ist dabei mit reichen Beigaben ausgestattet, die mitunter neben geopferten Gegenständen und Tieren auch Menschenopfer zu umfassen scheinen;⁴⁶¹ daneben stehen zugleich jedoch auch viele Bootsbestattungen ohne
455 Vgl. Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 259; Müller-Wille 1968/69, S. 42. Für eine neuere Zusammenstellung und ausführliche Beschreibung der steinzeitlichen Bootsgräber vgl. Skaarup 1995. 456 Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 42 f.; Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 259, 261 f.; MüllerWille 1974, S. 195 (Abb. 9), 198; Müller-Wille 1995, S. 100 (Abb. 1), 101 f. (mit Abb. 3), 104 (Abb. 7), 105 (Abb. 8); Capelle 2004 (Schiffsbestattungen), S. 51. 457 Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 46–110. 458 Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 250, 262–269. Zur Problematik der Bestimmung der Zahl der Bootsbestattungen, die sich gerade im Fall von Brandgräbern nicht immer klar von Bestattungen ohne Boot unterscheiden lassen, vgl. Müller-Wille 1995, S. 104; Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 253; Müller-Wille 1968/69, S. 33–41. Trotz der hohen Zahl der bekannten Bootsgräber stellt diese Grabform freilich nur eine unter mehreren praktizierten Bestattungsformen dar und macht insgesamt einen vergleichsweise kleinen Teil der Gesamtzahl der bekannten Gräber aus; nach Müller-Wille handelt es sich beispielsweise bei den norwegischen Bootsgräbern um nur wenig mehr als 5% der aus Norwegen bekannten Bestattungen (Müller-Wille 1968/69, S. 87). 459 Für eine ausführliche Zusammenfassung vgl. Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 257; Müller-Wille 1974, S. 197. 460 Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 257; Müller-Wille 1974, S. 197. 461 Vgl. Wilson 2008, S. 39; Lindow 1997, S. 80 f.; Müller-Wille 1968/69, S. 83; Smyser 1965, S. 109; Major 1924, S. 140. Vgl. auch die bei Müller-Wille 1968/69, S. 78, 80–82 (Tabellen 8 und 9), 84, 92, 93, 98 (Tabelle 10) angeführten Beispiele wikingerzeitlicher Bootsgräber mit Doppelbestattungen von Männern und Frauen (wobei eine Totennachfolge in diesen Fällen allerdings nicht direkt nachgewiesen ist, sondern nur eine Deutungsmöglichkeit darstellt, die in Anbetracht der Schilderung Ibn Faḍlāns und des Zeugnisses der Landnámabók mit einiger Wahrscheinlichkeit auf zumindest einen Teil der Beispiele zutreffen dürfte). Der Anteil von solchen Doppelgräbern an den Boots- und Schiffsgräbern
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eine besondere oder sogar mit einer auffallend dürftigen Beigabenausstattung.⁴⁶² Auch die Größe der in den Bestattungen verwendeten Fahrzeuge ist starken Schwankungen unterworfen. Die Spannweite reicht von kleinen Booten mit nicht mehr als 2,5 Metern Länge, die Michael Müller-Wille als kleine Fischer- und Beiboote klassifiziert, bis hin zu großen Schiffen für 30–40 Ruderer und mit einer Länge von bis zu 27 Metern, wie den großen Grabschiffen von Ladby, Gokstad oder Sutton Hoo.⁴⁶³ Dabei handelt es sich bei den großen Grabschiffen in keinem Fall um Handelsschiffe; vielmehr scheinen zu Bestattungszwecken stets Kriegsschiffe verwendet worden zu sein.⁴⁶⁴ Ihren Höhepunkt erreichte die Sitte der Bootsbestattung während der Wikingerzeit: Aus dieser Epoche stammt die bei weitem größte Zahl von Boots- und Schiffsgräbern, und in dieser Epoche erreichte diese Bestattungsart auch in geographischer Hinsicht ihre maximale Verbreitung.⁴⁶⁵ Beispiele finden sich aus dem gesamten Siedlungs- und Einflussbereich der Skandinavier: in Finnland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Schleswig, auf den Britischen Inseln, in Island, der Bretagne und in Teilen Osteuropas.⁴⁶⁶ Neufunde sind seit Müller-Willes umfassender Sammlung der nordeuropäischen Bootsgräber aus den 1960er Jahren insbesondere im südlichen Ostseeraum zu vermerken, wo diese Funde das lokale Bild erheblich beeinflussen;⁴⁶⁷ aber auch in allen anderen Teilen des skandinavischen Ausbreitungs- und Einflussbereichs der Wikingerzeit sind stete Neufunde zu verzeichnen.⁴⁶⁸
insgesamt beträgt allerdings weniger als 10%; dabei sind sie, wenn man nicht näher datierbare Beispiele beiseite lässt, fast vollständig auf die Wikingerzeit beschränkt: Müller-Wille 1968/69, S. 109, 110 (Tabelle 12), 146. 462 Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 258; Müller-Wille 1974, S. 198; vgl. Crumlin-Pedersen 1995, S. 93. 463 Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 253, 255; Müller-Wille 1974, S. 193. Für eine kartographische Zusammenstellung der Bootsgräber Skandinaviens, Islands und der Britischen Inseln nach Bootslänge vgl. Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 254 (Abb. 67); Müller-Wille 1974, S. 194 (Abb. 8). 464 Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 255; Müller-Wille 1974, S. 197. 465 Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 265; Müller-Wille 1974, S. 197; Müller-Wille 1968/69, S. 70–110; Carver 1995, S. 111 (Table 1), 112. 466 Müller-Wille 1968/69, S. 70, 142 f., Karten 8 und 9; Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 265– 269, 278 mit der Karte Abb. 76 (S. 268); Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 277 f.; Müller-Wille 1974, S. 196 (Abb. 10), 197 f.; Müller-Wille 1995, S. 100 (Abb. 2), 102 (Abb. 4). 467 Capelle 2004 (Schiffsbestattungen), S. 51; vgl. oben Anm. 454. Seitdem vgl. etwa noch den Neufund (2008 und 2010) zweier Bootsgräber aus der Zeit um 750 n. Chr. in Estland (Peets 2013; Peets et al. 2010; Konsa et al. 2008; für den Hinweis auf diese Funde und die einschlägige estnische Literatur danke ich Ester Oras). 468 Vgl. Müller-Wille 1995, S. 103, sowie jüngst etwa die Entdeckung des Bootsgrabs von Litlu-Núpar in Island in den Jahren 2007/2008 (Roberts 2008/09) oder die Entdeckung eines Bootsgrabs wohl des späten 9. oder frühen 10. Jahrhunderts auf der Ardnamurchan-Halbinsel im westlichen Schottland im Jahr 2011 (Harris et al. s. a.).
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Die Schiffsreise ins Jenseits
Im Kontext der hier verfolgten Frage nach einer Anderwelt jenseits des Meeres liegt die Bedeutung der nordischen Boots- und Schiffsgräber in ihrem möglichen Zusammenhang mit zeitgenössischen Jenseitsvorstellungen. Als Teile des Totenbrauchtums haben die verschiedenen Formen der Bootsbestattung einen offenkundigen Bezug zum Bereich des Todes; die zentrale Frage ist dabei, ob die Verwendung eines Boots im Zuge des Bestattungsrituals den Schluss erlaubt, dass der Übergang des Verstorbenen in das Reich der Toten mit Hilfe ebendieses Boots erfolgt und damit impliziert, dass das Totenreich jenseits eines Meeres liegt. In der Forschung besteht keineswegs Einigkeit darüber, dass eine derartige Interpretation der nordischen Bootsund Schiffsgräber gerechtfertigt ist. Die verschiedenen in der bisherigen Diskussion vertretenen Deutungen wurden zuletzt von Ole Crumlin-Pedersen systematisiert und zusammengefasst;⁴⁶⁹ seiner Analyse zufolge spiegeln sie drei Grundansätze wieder:⁴⁷⁰ 1) Pragmatischer Ansatz: Das Boot dient einem rein praktischen Zweck (z. B. als Sarg). 2) Säkularer Ansatz: Das Boot ist ein Symbol, das auf Elemente des säkularen Kontexts der Bestattung Bezug nimmt (z. B. die soziale Stellung des Toten). 3) Religiöser Ansatz: Das Boot nimmt auf Elemente des religiösen Weltbildes Bezug. Für diesen Ansatz, der im gegenwärtigen Kontext die größte Bedeutung hat, verzeichnet Crumlin-Pedersen zwei spezifische Varianten, die das Bestattungsboot (a) als Transportmittel für die Reise ins Jenseits oder (b) als Attribut bestimmter Gottheiten auffassen. Crumlin-Pedersen betont dabei zu Recht, dass diese drei Ansätze sich nicht notwendigerweise gegenseitig ausschließen und dass durchaus eine Verbindung verschiedener Ansätze zur Deutung eines konkreten Einzelbefundes herangezogen werden kann.⁴⁷¹ Grundsätzlich haben alle drei von Crumlin-Pedersen herausgearbeiteten Ansätze zumindest in manchen Fällen eine hohe Plausibilität. Ein Beispiel für eine plausible Anwendung des pragmatischen Ansatzes stellt etwa der Friedhof von Sebbersund (Nordjütland) aus dem 11. Jahrhundert⁴⁷² dar:⁴⁷³ In diesem Friedhof wurden 31 Bestattungen ausgegraben, in denen ein klar erkennbares kleines Boot als Behälter für den Leichnam verwendet wurde; diese Zahl entspricht 14,8% der Gesamtzahl der ergrabenen Bestattungen (Stand: 1995).⁴⁷⁴ Diese Bestattungen sind Teil eines Friedhofs, der durch ein konsistent christlich geprägtes Bestattungsritual charakterisiert ist (keine Grabbeigaben; west-östliche Ausrichtung der Toten).⁴⁷⁵ Zudem findet sich unter den
469 Crumlin-Pedersen 1995, S. 93 f. 470 Crumlin-Pedersen 1995, S. 93. 471 Crumlin-Pedersen 1995, S. 93. 472 Birkedahl und Johansen 1995, S. 164. 473 Crumlin-Pedersen 1995, S. 93; ausführlich: Birkedahl und Johansen 1995. 474 Birkedahl und Johansen 1995, S. 162. 475 Birkedahl und Johansen 1995, S. 161.
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übrigen ergrabenen Bestattungen dieses Friedhofs auch eine erhebliche Zahl von Gräbern, bei denen klare Hinweise dafür vorliegen, dass als Behälter für die sterblichen Überreste Altmaterial zweitverwendet wurde; konkret findet sich eine Vielzahl von Kinderbestattungen in verschiedenen Arten von Trögen, und in 32 Gräbern wurden die Toten in Särgen bestattet, die aus zweitverwendeten Bootsteilen gezimmert waren.⁴⁷⁶ Diese beiden Beobachtungen (christliches Bestattungsritual und Herstellung von Särgen aus Altmaterial) zusammengenommen legen nahe, dass es sich bei der Verwendung von kleinen Booten als Särge hier nicht um einen heidnischen, auf die vorchristliche Kosmologie Bezug nehmenden Ritus handelt, sondern dass alte Boote in Sebbersund nur als kostengünstige Särge Verwendung fanden.⁴⁷⁷ Dabei ist vielleicht auch die Beobachtung Peter Birkedahls und Erik Johansens von besonderer Bedeutung, dass eine solche Verwendung von Booten in einem frühchristlichen Friedhof wichtige Implikationen für die unmittelbar vorangegangene heidnische Zeit hat: Hätten Bootsgräber in der Region um Sebbersund eine spezifisch heidnische symbolische Funktion gehabt, wäre ihre Verwendung in einem christlichen Kontext aller Wahrscheinlichkeit nach vermieden worden. Dass dies nicht der Fall war, legt nahe, dass im spätheidnischen Nordjütland kurz vor der Bekehrung keine Assoziation zwischen Bootsbestattungen und einem heidnischen Weltbild bestand.⁴⁷⁸ Allerdings ist davor zu warnen, diese Schlussfolgerung für die heidnische Zeit des Nordens zu verallgemeinern; denn gerade im Nordjütland der Wikingerzeit fehlen Schiffsbestattungen weitgehend – die einzigen entfernt vergleichbaren wikingerzeitlichen Denkmäler der Region befinden sich auf dem Gräberfeld von Lindholm Höje, wobei es sich bei den dortigen Befunden jedoch gerade nicht um einfache unterirdische Bootsgräber wie in Sebbersund handelt, sondern um oberirdische schiffsförmige Steinsetzungen, die teilweise eine größere Zahl von Bootsnieten enthielten.⁴⁷⁹ Die Implikationen des Befunds von Sebbersund, wo in der heidnischen Zeit ohnehin keine Tradition von einfachen unterirdischen Schiffsbestattungen bestand, sind daher nur streng lokal gültig und lassen sich keineswegs auf Regionen übertragen, in denen vergleichbare Schiffsbestattungen in der vorchristlichen Zeit eine geläufige Grabform darstellten. Der säkulare Ansatz lässt sich etwa am Schiffsgrab von Ladby illustrieren. Beim Schiffsgrab von Ladby (bei Odense auf der Insel Fünen) handelt es sich um eine Grabanlage des frühen 10. Jahrhunderts,⁴⁸⁰ bestehend aus einem 21,5 Meter langen
476 Birkedahl und Johansen 1995, S. 162. 477 Birkedahl und Johansen 1995, S. 162–164. 478 Birkedahl und Johansen 1995, S. 164. 479 Müller-Wille 1968/69, S. 107, 161 (Nr. 171 a*), 186 (Nr. 77); Müller-Wille 1995, S. 100 (Abb. 2), 106 (Abb. 10); Müller-Wille 1974, S. 188 (Abb. 1), 201 (Nr. 85). 480 Datierung: Sørensen in Andersson und Sørensen 2001, S. 539; Wamers 1995, S. 155. Allgemein zum Schiffsgrab von Ladby vgl. etwa Müller-Wille 1968/69, S. 161 (Nr. 171); Wamers 1995; Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 264 (Abb. 74.3), 266; Andersson und Sørensen 2001; Sørensen 2001.
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Abb. 7: Das Schiffsgrab von Ladby, Fünen, frühes 10. Jh. © MüllerWille et al. 1978, S. 264 (Abb. 74.3).
Schiff mit reichen Beigaben, über dem ein Grabhügel mit einem Durchmesser von 29 Metern aufgeworfen wurde.⁴⁸¹ Die Bestattung wurde wohl schon früh beraubt, da neben einem Teil der Grabbeigaben auch der Leichnam aus dem Grab entfernt worden zu sein scheint.⁴⁸² Dieser Beraubung zum Trotz enthielt das Schiff bei seiner Auffindung noch die Skelette von elf Pferden und mehreren (zumindest vier) Hunden, einen eisernen Anker mit der dazugehörigen Kette und Reste einer Ausstattung mit Reitzeug, Hundegeschirr, Waffen, Schmuck und Tafelgeschirr (Abb. 7).⁴⁸³ Der säku-
481 Sørensen in Andersson und Sørensen 2001, S. 537–539. 482 Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 161 (Nr. 171). 483 Wamers 1995, S. 155; Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 264 (Abb. 74.3), 266.
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lare Deutungsansatz ist hier schon bei der Interpretation der Größe des Bestattungsschiffs und des sonstigen Reichtums der Grabausstattung in Betracht zu ziehen: Wie Crumlin-Pedersen zurecht betont, hat die Interpretation reicher Schiffsbestattungen grundsätzlich die Konzeption des Schiffs als (u. a.) ein Symbol säkularer Macht zu berücksichtigen, wobei sich die soziale Stellung des Toten in der Größe des Schiffs wiederspiegelt.⁴⁸⁴ Der religiöse Ansatz fragt schließlich nach möglichen Beziehungen zwischen dem Boot oder Schiff und Elementen des zeitgenössischen religiösen Weltbilds. CrumlinPedersen hat hier vorgeschlagen, dass es sich beim Boot oder Schiff der Boots- bzw. Schiffsbestattungen um ein Symbol handeln könnte, das auf das Schiff als Attribut eines Gottes verweist und so eine Verbindung mit einem bestimmten Kult zum Ausdruck bringt. Spezifisch schlägt Crumlin-Pedersen eine symbolische Verbindung zwischen dem Grabboot und dem Schiff Skíðblaðnir der Götter Freyr und Njǫrðr vor; das Grabboot sei dann eine ‚Repräsentation des Fahrzeugs des Gottes, der über Wohlstand und Tod bestimmt‘.⁴⁸⁵ Eine solche Deutung schließt sich an Versuche an, in der Figur des Scyld im Beowulf eine Erinnerung an einen Fruchtbarkeitsgott zu sehen.⁴⁸⁶ In Anbetracht des extrem fragmentarischen Zustands des Materials dürfte ein solcher Zugang nur in den wenigsten Fällen empirisch eindeutig widerlegbar sein,⁴⁸⁷ er mutet jedoch über die Maßen komplex an und beruht auf ausgesprochen weitreichenden unbewiesenen Annahmen. Schon die von Crumlin-Pedersen stillschweigend vorausgesetzte Auffassung der Götter Freyr und Njǫrðr als Herren über Wohlstand und Tod hat in den schriftlichen Quellen zur nordischen Mythologie keine Grundlage.⁴⁸⁸ Dies wiegt umso schwerer, als die Schilderung der Schiffsbestattung Balders, die sich auf der Grundlage der skaldischen Überlieferung zumindest in Teilen bis ins 10. Jahrhundert und damit bis in die spätheidnische Zeit zurückverfolgen lässt, diesen Göttern bei Balders Bestattung keine besondere Rolle beimisst.⁴⁸⁹ Das hier fassbar werdende eindeutige Fehlen einer expliziten Bezugnahme auf den Kult eines ‚Fruchtbarkeitsgottes‘ gerade in der prominentesten erhaltenen Beschreibung einer Schiffsbestattung in der altnordischen Literatur lässt es als äußerst fraglich erscheinen, ob entsprechende Konzepte als ein verlässlicher Interpretationsansatz für die Hunderten von bekannten Boots- und Schiffsgräbern betrachtet werden können.⁴⁹⁰
484 Crumlin-Pedersen 1995, S. 93; vgl. Schjødt 1995, S. 24; Varenius 1995, S. 39 f. 485 Crumlin-Pedersen 1995, S. 94 („a representative of the vessel of the god in command of prosperity and death“), 96 f.; vgl. ähnlich Müller-Wille 1968/69, S. 149. 486 Crumlin-Pedersen 1995, S. 94; Müller-Wille 1968/69, S. 149; oben S. 132. 487 Für einen solchen Fall vgl. Birkedahl und Johansen 1995, S. 163 f. 488 Siehe oben Anm. 485. 489 Vgl. allerdings Lindow 1997, S. 73, der Freyr als den Anführer der Begräbnisprozession interpretiert. Auch falls diese Interpretation zutrifft, spielt Freyr jedoch keine wesentliche Rolle für die eigentliche Schiffsbestattung. 490 Vgl. Müller-Wille 1995, S. 106; Carver 1995, S. 120; Wamers 1995, S. 157.
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Weitaus geläufiger als die Annahme einer Verbindung mit einem Fruchtbarkeitskult ist die Deutung der Bestattungsboote und -schiffe als Fahrzeuge für die Reise des Toten ins Jenseits.⁴⁹¹ Die Anziehungskraft dieser von einer Vielzahl von Forschern vorgebrachten Interpretation beruht nicht zuletzt auf der (scheinbar oder wirklich) intuitiv evidenten Verbindung von Schiff und Reise, von Bestattung und Jenseitsreise, und damit von Bestattungsschiff und Fahrt ins Totenreich. Nichtsdestoweniger ist dieser Deutungsansatz nicht unwidersprochen geblieben. Egon Wamers verweist hier auf die Anwesenheit von Hundeknochen im bereits erwähnten Schiffsgrab von Ladby (Abb. 7): Dort befinden sich unter den Grabbeigaben nicht nur elf Pferde, sondern auch zumindest vier Hunde mit prachtvollem Hundegeschirr.⁴⁹² Die häufig wiederkehrende Verbindung von Schiffsbestattung und Pferdebeigabe⁴⁹³ wird auf der Grundlage insbesondere der Arbeiten Detlev Ellmers’ üblicherweise dahingehend gedeutet, dass es sich bei beidem um Mittel für die Reise ins Jenseits handle, deren erster Abschnitt zu Schiff und deren zweiter Abschnitt zu Pferd bewältigt werde.⁴⁹⁴ In Anbetracht der Hundebeigabe stellt Wamers hier jedoch die Frage, warum es gerechtfertigt sein sollte, die Hunde als bloße Gefährten des Verstorbenen, die Pferde aber als Mittel für seine Reise ins Totenreich zu deuten; angemessener sei es, auch die Pferde als Statussymbole zu interpretieren, und nicht als funktionale Elemente der Reise ins Totenreich. Und wenn dem so sei, dann würde dies nach Wamers wiederum auch die Deutung des Schiffs als Totenschiff in Frage stellen.⁴⁹⁵ Vielmehr diene das Schiff hier
491 Etwa Heide 2011, S. 59; Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 63; Simek 2009, S. 112, 118; Roberts 2008/09, S. 40; Wilson 2008, S. 45; Maier 2003, S. 109; Marco Simón 1997, S. 504; Skaarup 1995, S. 57; Schjødt 1995, S. 24; Wamers 1995, S. 154 f.; Ellmers 1992, S. 99; Kendall und Wells 1992 (Titel); SimsWilliams 1990, S. 68; Davidson 1988, S. 183; Lanczkowski 1986, S. 7; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 285; Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 277; Grierson 1970; Straubergs 1957, S. 67; Patch 1950, S. 61; Grinsell 1941, S. 360; Philippson 1929, S. 56, 61; Major 1924 passim; Ebert 1920/21, S. 185–188, 196; Stjerna 1912 passim, bes. S. 103–111, 119; Schetelig 1906, S. 329; Faraday 1906, S. 403, 410; Grimm 1875– 1878 Bd. 2, S. 692 f. mit Anm. 4; vgl. Capelle 1995, S. 75. De Vries vermutet, die Bootsgräber der Vendelzeit könnten „zu dem Glauben an eine Schiffsreise ins Jenseits Anlaß“ gegeben haben. Er nimmt Vorstellungen von einer „Fahrt zu den Inseln der Seligen“ als Hintergrund literarischer Berichte von auf das Meer hinausfahrenden Totenschiffen an, sieht die eigentlichen Bootsgräber ansonsten jedoch eher als ein „Standesmerkmal“: de Vries 1956/57 Bd. 1, § 115, alle Zitate: S. 154; vgl. jedoch de Vries 1956/57 Bd. 2, § 580, wo auch die Schiffsgräber als Beleg für eine Fahrt der Toten über das Meer gedeutet werden. 492 Vgl. Wamers 1995, S. 155 mit Abb. 3. 493 Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 50, 65 (Tabelle 6), 80–82 (Tabellen 8 und 9). 494 Vgl. Ellmers 1986, S. 352–354, 361 f.; Wamers 1995, S. 149, 156; ebenso schon Ebert 1920/21, S. 188; Stjerna 1912, S. 117. Ellmers’ Ansatz ist nach wie vor weithin anerkannt; vgl. Oehrl 2010, S. 5–11 (Diskussion von Ellmers Ansatz und Ablehnung vereinzelter neuerer Kritik am Beispiel der Ikonographie gotländischer Bildsteine, auf die noch zurückzukommen sein wird, siehe unten S. 166 ff.). Vgl. auch das oben zu Balders Reise ins Totenreich Gesagte (S. 114 ff.). 495 Wamers 1995, S. 156.
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Abb. 8: Planskizze von Grab 14, Vendel (Uppland, Schweden). Datierung: spätes 6. / frühes 7. Jh. n. Chr. (ältere Vendelzeit). Stjerna 1912, S. 118 (Abb. 26).
als ein Symbol für zentrale Aspekte der Ideologie und Lebensweise der wikingerzeitlichen Kriegerelite, der der Bestattete angehörte.⁴⁹⁶ Diese Argumentation Wamers ist in sich schlüssig und entsprechend unbedingt ernst zu nehmen. Ein besonderes Gewicht bezieht sie daraus, dass es sich bei der Beigabe von sowohl Pferden als auch Hunden in Ladby keineswegs um einen isolierten Einzelfall handelt. Diese Verbindung findet sich in einer Vielzahl von Gräbern und ist zudem nicht auf die Wikingerzeit beschränkt.⁴⁹⁷ Als ein Beispiel für die Beigabe
496 Wamers 1995, S. 157. 497 Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 50, 52 (Abb. 14), 65 (Tabelle 6), 99 (Tabelle 11), et passim.
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von Pferd und Hund in einem vorwikingerzeitlichen Grab lässt sich etwa auf das Grab 14 des Gräberfelds von Vendel (Uppland, Schweden) verweisen (Abb. 8): Dieses Grab des späten 6. oder frühen 7. Jahrhunderts enthielt neben Beigaben von Waffen, Spielsteinen, Kochgeschirr und Fleisch (Rind, Schwein, Schaf/Ziege) sowohl ein gezäumtes und gesatteltes Pferd als auch zwei Hunde.⁴⁹⁸ Dieses vendelzeitliche Beispiel, dem sich viele andere zur Seite stellen ließen, illustriert, dass die von Wamers vorgebrachten Argumente gegen eine Deutung verschiedener Elemente der Ausstattung von Bootsgräbern als Transportmittel für die Reise ins Jenseits über (chronologisch wie geographisch) weite Bereiche des nordischen Kulturraums gelten. Allerdings ist zu bedenken, dass seine Argumentation zwar in sich stimmig, aber keineswegs zwingend ist: Grundsätzlich spricht nichts dagegen, Elementen des Bestattungsrituals mehrfache symbolische Bedeutungen zuzuschreiben. Ebenso wie der Baum des Lebens in der christlichen Ikonographie sowohl auf das Kreuz als auch auf das Paradies verweist, kann auch ein Boot sowohl Fahrzeug für die Jenseitsreise als auch (je nach Größe) ein Statussymbol und Symbol der Lebensweise eines wikingerzeitlichen Kriegsherren sein; und gleichermaßen lässt sich auch sein Pferd grundsätzlich sowohl als Reittier für die Jenseitsreise als auch als Statussymbol deuten. Dass der Tote auf seiner letzten Reise auch von seinen Hunden begleitet wird, steht damit nicht unbedingt in einem Widerspruch – immerhin wird in einer hochgradig statusbewussten Gesellschaft auch dem Toten daran gelegen sein, in standesgemäßem Prunk ins Totenreich einzuziehen.⁴⁹⁹ Zudem ist zu bedenken, dass keineswegs alle Boots- und Schiffsgräber mit großen Schiffen oder reichen Beigaben ausgestattet sind; vielmehr findet sich im Corpus der Bootsbestattungen auch eine Vielzahl von Gräbern mit sehr kleinen Booten und ärmlicher Ausstattung.⁵⁰⁰ Dies legt nahe, dass eine Deutung des Bootsbestattungsbrauchs, die sich einseitig auf Fragen von Prestige und sozialer Stellung der Toten konzentriert, dem vermutlich ebenso reichen wie vielschichtigen Symbolgehalt dieser Gräber nicht gerecht werden kann.⁵⁰¹ Einen anderen Fall, in dem die Interpretation eines Grabschiffs als Mittel für die Reise ins Jenseits in jüngerer Zeit in Frage gestellt worden ist, stellt das OsebergGrab dar. Das Schiffsgrab von Oseberg, gelegen an einem kleinen Bach in der Nähe des Oslofjords im südöstlichen Norwegen,⁵⁰² lässt sich aufgrund seines extrem guten
498 Müller-Wille 1968/69, S. 48 f. (mit Abb. 13b), 50–52, 154 (Nr. 66); Müller-Wille et al. 1978, S. 264 (Abb. 74). 499 Vgl. auch Ellmers 1986, S. 361 f. 500 Dieser Umstand ist mehrfach betont worden: Crumlin-Pedersen 1995, S. 93; Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 258; Müller-Wille 1974, S. 198. 501 Vgl. in diesem Sinne Crumlin-Pedersen 1995, S. 93: „The fact that the majority of the boat-graves known to us contain relatively small boats with gravegoods of an ordinary, or even poor, standard indicates [...] that the boat as such could not be a symbol of power or wealth, whereas its relative size is likely to be so under certain conditions.“ 502 Vgl. Gansum in Nyman et al. 2003, S. 306.
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Erhaltungszustands dendrochronologisch auf das Jahr 834 n. Chr. (oder wenig später) datieren.⁵⁰³ In diesem Grab wurden zwei Frauen mit äußerst reichen Beigaben in einem knapp über 21 Meter langen Schiff bestattet, über dem ein Grabhügel mit einem Durchmesser von knapp über 40 Metern und einer Höhe von wohl knapp unter 6 ½ Metern aufgeworfen wurde.⁵⁰⁴ Für eine der beiden Frauen hat man mitunter vorgeschlagen, dass es sich bei ihr um eine Dienerin gehandelt haben könnte, die ihrer Herrin in den Tod nachgefolgt ist.⁵⁰⁵ Die Erhaltungsbedingungen im Hügel waren so gut, dass bei der Ausgrabung im frühen 20. Jahrhundert sogar noch Textilien, Schiffstaue und Teile der Haut eines der geopferten Rinder vorgefunden wurden.⁵⁰⁶ Die Erhaltung gerade der Schiffstaue hat dabei eine Beobachtung erlaubt, die die Frage nach dem Symbolgehalt zumindest dieser Schiffsbestattung erheblich verkompliziert. Bei der Ausgrabung des Vorderstevens wurde ein schweres Tau entdeckt, das über die steuerbordseitige Reling aus dem Schiff hinaus nach unten verlief; außerhalb des Schiffs war es an einem großen Stein verzurrt, der dort vor dem Steven lag.⁵⁰⁷ Das Osebergschiff war somit in seinem Grabhügel fest vertäut.⁵⁰⁸ Anne Stine Ingstad hat dies dahingehend gedeutet, dass die beiden im Osebergschiff bestatteten Frauen durch diese Vertäuung des Schiffs daran gehindert werden sollten, den Bereich zu verlassen, in dem sie zu Lebzeiten ihre Wirkungsstätte hatten; im Kontext von Ingstads Gesamtinterpretation des Oseberggrabs sollte dies einen Versuch darstellen, das heilbringende Wirken der beiden Frauen, die Ingstad als Priesterinnen auffasst, auch über ihren Tod hinaus in der Region festzuhalten.⁵⁰⁹ Ist diese Deutung richtig, so stellt das Grabschiff von Oseberg gerade kein Transportmittel für eine Reise ins Jenseits dar – und wirft damit grundsätzlich die Frage auf, wie plausibel die Deutung der Totenschiffe als Fahrzeuge für die Reise ins Jenseits ist. Ingstads Interpretation der Vertäuung als eine permanente Bindung des Schiffs an die Grabstätte ist allerdings keineswegs die einzige mögliche Deutung des Befunds. So wurde im Vorderschiff auch ein eiserner Anker gefunden.⁵¹⁰ Falls das Osebergschiff, wie von Ingstad angenommen, tatsächlich für die Ewigkeit im Grab vertäut
503 Nordeide 2011, S. 7; Gansum in Nyman et al. 2003, S. 307; Müller-Wille 1995, S. 104. Ausführlich zu diesem Schiffsgrab: Brøgger et al. 1917–1927. Zusammenfassend vgl. Nyman et al. 2003; Müller-Wille 1968/69, S. 163 f. (Nr. 188). 504 Nordeide 2011, S. 7; Gansum in Nyman et al. 2003, S. 307. 505 Lindow 1997, S. 80; Smyser 1965, S. 109; Ebert 1920/21, S. 186. 506 Nordeide 2011, S. 7; Gansum in Nyman et al. 2003, S. 307. 507 Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 50 f. (mit Abb. 31 [S. 51]), 76 (Abb. 58), 320; Gansum in Nyman et al. 2003, S. 308; Christensen in Nyman et al. 2003, S. 309. 508 Vgl. Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 320. 509 Ingstad 1995, S. 145, 147 („[...] the ship was made fast to a large boulder, although there was a small iron anchor on board. The only explanation must be that it was essential that the ship should not sail away. There the two women must lie for ever and ever, close to the cult site they had served in this world. They must remain in the alley, so that they could continue to bring peace and fertility to the people. In this world as in the life hereafter.“). 510 Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 319 f. (mit Abb. 118); Tafeln XIV, XXVI.
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war, hat die Beigabe eines Ankers keinen offensichtlichen Sinn; entsprechend hat A. E. Christensen vorgeschlagen, dass es sich beim Anker um einen Ausrüstungsgegenstand für die Fahrt ins Totenreich gehandelt haben könnte – ungeachtet der (scheinbar?) permanenten Vertäuung des Schiffs am Vordersteven.⁵¹¹ Auf einen weiteren hier möglicherweise relevanten Umstand hat ferner bereits Haakon Schetelig hingewiesen. Im Zuge seiner Diskussion des im Vorderschiff gefundenen Ankers hebt er hervor, dass sich der Anker im Inneren des Schiffs befand, während das Schiff offenbar am Stein vor dem Vordersteven vertäut war; dabei fiel während der Ausgrabung allerdings auf, dass sich nicht mehr klar bestimmen ließ, ob der Verzurrung des Taus am Stein tatsächlich auch eine Befestigung des Taus im Schiff entsprach: Noget fortøiningsfæste indenbords i skibet var nu ikke at finde, men det er mulig at vi har spor av en slik indretning paa hver side forut. Aldeles symmetrisk, nemlig paa hver side like agtenfor 16de spant, findes to naglehuller stillet ret over hverandre i 11te bordgang. De har altsaa tjent til at fæste noget av træ i lodret stilling indvendig paa klædningen, og det kunde være mulig at der har været en slags pullere til fæste for fortøiningen. De vilde komme til at sitte slik at de støtter sig mot knæet over 16de spant. Da stykkene nu manglet, kan vi jo ikke si noget nærmere om det.⁵¹²
Wenn somit keine Entscheidung darüber möglich ist, ob und wie das Schiff an seinem schweren Verankerungsstein befestigt war, dann gibt es auch keine Möglichkeit mehr, den genauen Verlauf der entsprechenden Teile des Bestattungsrituals zu rekonstruieren. Das Vorhandensein des Steins vor dem Steven des Osebergschiffs und die Verzurrung des Schiffstaus daran legen nahe, dass zumindest während eines Teils des Bestattungsrituals eine Befestigung des Schiffs an diesem Stein inszeniert wurde. Da der archäologische Befund jedoch die Frage offen lässt, ob der Verknotung des Taus am Stein zum Zeitpunkt der Verschließung des Grabhügels auch eine Befestigung des Taus im Schiff entsprach, lassen sich keine sicheren Aussagen darüber machen, ob die Vertäuung im Schiff nicht etwa im Verlauf der Bestattungsriten gelöst wurde, um die Abfahrt des Schiffs ins Totenreich zu symbolisieren. Denkbar wäre auch, dass ein Lösen der Vertäuung des Schiffs als der erste Schritt auf der Reise der Toten nach dem Verschließen des Grabhügels vorgestellt wurde. Eine – rein hypothetische – entsprechende Konzeption könnte etwa folgende Form gehabt haben: Die eigentliche Reise der Toten in das Totenreich beginnt mit dem Ende der Bestattungsfeierlichkeiten, die den Abschluss ihres Aufenthalts unter den Lebenden markieren. Mit dem Verschließen des Grabs treten die Toten die Reise ins Jenseits an, und an diesem Punkt, an dem das Innere des Grabs dem Blick der Lebenden entzogen wird, legt das Totenschiff ab, um die Verstorbenen zu ihrem endgültigen Bestimmungsort zu transportieren. In der Tat
511 Christensen in Nyman et al. 2003, S. 309. Auch Ebert 1920/21, S. 185 f. sah das Osebergschiff im Kontext von Konzepten einer Jenseitsreise über die See. 512 Schetelig in Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 320.
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enthält der archäologische Befund des Oseberggrabs konkrete Indizien dafür, dass das Schiff vor seiner Einhügelung als ein Fahrzeug in Szene gesetzt wurde, das im Begriff stand, zu einer Seereise aufzubrechen. Das Schiff verfügte einerseits über einen Mast, konnte andererseits aber auch gerudert werden, wofür es über 30 Ruderlöcher verfügte.⁵¹³ Diesen 30 Ruderlöchern entsprach ein vollständiger Satz von 30 Riemen, von denen sich drei im Vorderschiff und einer im Achterschiff in ihren Ruderlöchern befanden; ferner lagen zehn Riemen im Vorderschiff entlang der Reling, acht im Achterschiff, und neun im Inneren der Grabkammer.⁵¹⁴ Alle diese Riemen waren zum Zeitpunkt der Bestattung neu;⁵¹⁵ manche waren sogar noch unfertig.⁵¹⁶ Dabei dürfte von besonderer Bedeutung sein, dass sich die unfertigen Riemen gerade in der Grabkammer befanden, die in der Mitte des Schiffs errichtet wurde: Als eine weit über das Bodenniveau des Decks in die Höhe ragende Struktur ist die Grabkammer der letzte Teil der Schiffsbestattung, der beim Aufwerfen des Grabhügels unter der Aufschüttung verschwindet. A. W. Brøgger schlug daher schon in einem seiner Beiträge zum Grabungsbericht vor, dass diese Riemen trotz ihres unfertigen Zustands im letzten Augenblick vor der Versiegelung des Grabs in der Kammer niedergelegt wurden, um das Schiff mit einem vollständigen Satz Riemen auszustatten.⁵¹⁷ Dass die Riemen für das Osebergschiff noch gegen Ende des Begräbnisses in Arbeit waren,⁵¹⁸ legt – wie schon Brøgger richtig bemerkt hat – vielleicht auch einen Grund dafür nahe, warum sich nur vier Riemen an ihrem Platz in den Ruderlöchern befanden: Vielleicht waren zu dem Zeitpunkt im Verlauf der Bestattung, an dem das Einlegen der Riemen nötig war, erst diese vier Riemen fertiggestellt.⁵¹⁹ In jedem Fall geht aus der hastig anmutenden Niederlegung unfertiger Riemen in der Grabkammer hervor, dass es während der Bestattung als wesentlich erachtet wurde, das Schiff mit Allem auszustatten, was für eine Seereise nötig war.⁵²⁰ Das Einlegen einiger Riemen in ihre Ruderlöcher scheint dabei zu implizieren, dass man sich das Schiff in dem Moment, als der Grabhügel verschlossen wurde, als ein Fahrzeug vorstellte, das eben im Begriff
513 Christensen in Nyman et al. 2003, S. 309; Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 315. 514 Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 52, 315–318, Tafeln XII, XIII, XIV, XV. Vgl. Christensen in Nyman et al. 2003, S. 309. 515 Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 316 f. 516 Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 52, 316 f. 517 Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 52; ganz entsprechend auch Nordeide 2011, S. 13 f. Vgl. Major 1924, S. 147. 518 Ein solcher Umstand würde in einem merklichen Spannungsverhältnis zu einer mehrere Monate oder sogar Jahre langen Dauer des in Oseberg durchgeführten Bestattungsrituals stehen, wie sie etwa von T. Gansum angenommen wurde (Gansum in Nyman et al. 2003, S. 308); neuerdings hat Nordeide jedoch aufzeigen können, dass die Theorie einer langen Dauer des Bestattungsrituals von Oseberg jeglicher Grundlage entbehrt (Nordeide 2011). 519 Brøgger et al. 1917–1927 Bd. 1, S. 50, 52. Vgl. Major 1924, S. 147. 520 Vgl. schon Major 1924, S. 147.
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Die Schiffsreise ins Jenseits
stand auszulaufen.⁵²¹ Ist dies richtig, so mag der Grabhügel gewissermaßen als der Kai vorgestellt worden sein, von dem aus das Totenschiff auf seine Reise ins Jenseits aufbricht. Der Stein, an dem das Osebergschiff vertäut schien, mag hier nur die Funktion eines Pollers übernommen haben, der das Schiff bis zu seinem Ablegen am Ende des Bestattungsrituals sichert.⁵²² Konkreter Grund zur Deutung eines Bestattungsschiffs als Fahrzeug für die Jenseitsreise besteht ferner im Fall des Schiffsgrabs von Sutton Hoo, Hügel 1 (Suffolk, Ostengland).⁵²³ Dieses Grab aus den Jahren um etwa 625 n. Chr.⁵²⁴ gehört zu einem 18 Hügelgräber umfassenden Gräberfeld, das am Fluss Deben liegt, etwa 14 km flussaufwärts von dessen Mündung in die Nordsee; die Lage der Hügel unmittelbar oberhalb eines Steilabfalls über dem Fluss verleiht ihnen dabei eine weite Sichtbarkeit.⁵²⁵ Dieser repräsentativen Lage stand der Beigabenreichtum des Grabs im Hügel 1 von Sutton Hoo um nichts nach: Eine hölzerne Grabkammer in einem 27 Meter langen Schiff unter einem mehr als 30 Meter durchmessenden Grabhügel enthielt vielfältige Beigaben von Küchengerät, prunkvolle Waffen, ein ‚Szepter‘, eine ‚Standarte‘, eine Geldbörse, Trinkgefäße, eine byzantinische Silberschale, einen Holztrog, Kissen, Schuhe, Stoffe, Taschen, Kämme, einen Gürtel, Spielsteine, etc.⁵²⁶ Gegenstand langandauernder Diskussionen war die Frage nach dem Verbleib des Leichnams des Bestatteten. Nach einer ursprünglichen Deutung des Grabs als Kenotaph wurden von der Forschung lange Zeit zwei Möglichkeiten verfolgt: die einer Brandbestattung, für die die byzantinische Silberschale als Urne gedient haben könnte, und die Möglichkeit, dass der Leichnam vollständig vergangen sein könnte.⁵²⁷ Eine Nachgrabung
521 Vgl. Herschend 2000, S. 143, 146, und bes. S. 148: „Still moored, but with oars out to enable the ship to swing out in the current of the river, the installation signals a high-ranking woman on the brink of going off to life in an adjoining world.“ 522 Vgl. Althaus 1993, S. 137 f. Parallelen zu dieser Vertäuung des Osebergschiffs gibt es auch unter den Schiffssteinsetzungen (auf die im Folgenden noch ausfürlicher einzugehen sein wird, siehe unten S. 151 ff.): In drei Fällen mag bei solchen Steinsetzungen eine Vertäuung des Schiffs an einem außerhalb des Schiffs befindlichen Stein angedeutet sein (Capelle 1986, S. 29). Freilich ist bei der Frage nach der Signifikanz dieses Details zu bedenken, dass diesen drei Beispielen eine Gesamtzahl von etwa 2000 (!) erhaltenen Schiffssetzungen gegenübersteht (vgl. Capelle 1986, S. 4). 523 Allgemein zu Sutton Hoo vgl. etwa Evans und Williams 2005; Owen-Crocker 2000, S. 28–32; Carver 1995; Kendall und Wells 1992; Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 272–277; Müller-Wille 1968/69, S. 59–63, 181 f. (Nr. 419). Zur Beziehung des ostanglischen Schiffsgrabs von Sutton Hoo zum skandinavischen Material vgl. Carver 1995, S. 121 f., der die anglischen und skandinavischen Schiffsbestattungen als einen Ausdruck von Vorstellungen wertet, die beiden Volksgruppen gemeinsam waren, in England aber nur in einer sehr spezifischen politischen Situation im Ritual umgesetzt wurden. 524 Owen-Crocker 2000, S. 28; vgl. ähnlich Evans in Evans und Williams 2005, S. 148 („2nd or 3rd decades of the 7th century“). 525 Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 272; Evans in Evans und Williams 2005, S. 146. 526 Evans in Evans und Williams 2005, S. 147; Carver 1995, S. 115; Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 272, 274; Müller-Wille 1968/69, S. 62. 527 Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 274, 276; vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 63.
Das Totenschiff im archäologischen Befund
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und eine Phosphatanalyse des Bodens der Grabkammer haben die Frage schließlich zugunsten einer vergangenen Körperbestattung beantwortet.⁵²⁸ Im Fall von Sutton Hoo wurden schon für die Nähe der Gräber zum Fluss „im Jenseitsglauben verwurzelte Gründe“ angenommen.⁵²⁹ Ein weit konkreteres Indiz dafür, dass der Überquerung eines Gewässers in der hinter dem Grab von Sutton Hoo stehenden Vorstellungswelt eine wesentliche Rolle bei der Reise des Toten ins Jenseits zugewiesen wurde, findet sich unter den reichen Beigaben der Bestattung.⁵³⁰ Die im Schiff gefundene Börse enthielt neben 37 merowingischen Münzen auch drei ungeprägte runde Goldplättchen, deren Größe und Gewicht in etwa demjenigen der Münzen entsprachen, sowie zwei kleine Goldbarren.⁵³¹ Die Mischung geprägter Münzen und ungeprägter Rohlinge derselben Größe hat das Interesse Philip Griersons geweckt, der die berechtigte Frage stellte, zu welchem Zweck die Zahl der 37 Münzen um die drei Goldplättchen aufgestockt wurde. Zur Erklärung dieses Sachverhalts wies Grierson auf die Zahl der Riemen des Sutton Hoo-Schiffs hin: Dieses Schiff dürfte über 20 Riemenpaare verfügt und damit 40 Ruderer benötigt haben.⁵³² Die 37+3 Münzen stellen entsprechend möglicherweise den Lohn für die 40-köpfige Rudermannschaft dar, die nötig ist, um das Bestattungsschiff vollständig zu bemannen; die zusätzlichen zwei kleinen Goldbarren entsprechen dabei der Entlohnung für den Steuermann.⁵³³ Die Geldausstattung des Toten von Sutton Hoo würde so eine besonders extravagante, an den Rang und das Fahrzeug des Toten angepasste Variante des Obolus darstellen, der in der griechischrömischen Antike dem Seelenfährmann Charon zustand.⁵³⁴ Zugunsten von Griesons Interpretation lässt sich dabei auch anführen, dass die ursprünglich griechische Sitte des Charonspfennigs nachweislich schon ab dem 3. Jahrhundert n. Chr. in verschiedenen Teilen des germanischen Kulturraums rezipiert wurde; an ihrem Erscheinen in einer ostanglischen Bestattung des 7. Jahrhunderts ist entsprechend nichts über die Maßen Überraschendes.⁵³⁵ Die ‚germanische‘ Bootsgrabsitte scheint hier eine fruchtbare Verbindung mit einem ‚klassisch-mediterranen‘ Brauch eingegangen zu sein – eine Ver-
528 Evans in Evans und Williams 2005, S. 148. 529 Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 272. 530 Grierson 1970. 531 Grierson 1970, S. 14. 532 Grierson 1970, S. 16. 533 Grierson 1970, S. 17. 534 Grierson 1970, S. 17. 535 Vgl. Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 10 f.; Steuer 2002; Müller-Wille 1968/69, S. 148. Grierson konnte zur Untermauerung seiner Hypothese ferner noch argumentieren, dass Münzgeld in der angelsächsischen Gesellschaft des 7. Jahrhunderts im täglichen Leben keine Verwendung gefunden hätte und für die Anwesenheit von gemünztem Geld im Grab von Sutton Hoo somit grundsätzlich eine symbolische Bedeutung anzunehmen sei (Grierson 1970, S. 17); aufgrund einer Vielzahl von Münzneufunden ist dieses Bild inzwischen jedoch zu revidieren und die Zuschreibung von Symbolträchtigkeit an Münzgeld per se nicht mehr haltbar: Williams in Evans und Williams 2005, S. 151 f.
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Die Schiffsreise ins Jenseits
bindung, die einen unschätzbaren Einblick in die Geisteswelt des Grabs von Sutton Hoo erlaubt, indem sie für das Totenschiff eine Deutung als Fähre ins Jenseits nahelegt.⁵³⁶ Das bisher zur Fundgruppe der Boots- und Schiffsbestattungen Gesagte illustriert nachdrücklich, dass dieser Bestattungstyp im germanischsprachigen, insbesondere im kulturell nordgermanisch geprägten Nord- und Nordwesteuropa zeitlich, geographisch und zahlenmäßig ausgesprochen weit verbreitet war. Ihren Höhepunkt erreichte diese Bestattungsart in der Wikingerzeit; damit reicht der Zeithorizont der archäologischen Belege für Bootsbestattungen bis unmittelbar an den Zeithorizont der Schriftquellen heran, die bis in die 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts zurückreichen (die Húsdrápa des Úlfr Uggason). Dieselbe Anschlussfähigkeit ist auch in geographischer Hinsicht festzustellen: Die mehrfache Erwähnung von Bootsbestattungen einerseits in isländischen Texten mit (wirklichem oder vorgeblichem) historischem Anspruch und andererseits in der isländischen Dichtung des 10. Jahrhunderts entspricht der realen Existenz von Schiffsbestattungen im archäologischen Befund Islands, wo bislang fünf gesicherte Bootsbestattungen bekannt sind.⁵³⁷ Dieser reichen Belegsituation und bemerkenswerten Nähe zu den Schriftquellen zum Trotz können die archäologischen Beispiele von Boots- und Schiffsgräbern jedoch nur in eingeschränktem Maße einen Beitrag zur inhaltlichen Deutung dieses Bestattungsbrauchs liefern: Pragmatische, soziale und religiöse Interpretationsansätze des archäologischen Befunds stehen in der Forschung nebeneinander, ohne dass sich eine für alle Belege gültige Gesamtinterpretation des Phänomens ‚Bootsbestattung‘ ausmachen ließe. Immerhin ist festzuhalten, dass sich eine Deutung des Bestattungsschiffs oder -boots als Transportmittel für die Jenseitsreise mit dem Großteil der Befunde (wenn auch nicht mit allen Befunden) grundsätzlich vereinbaren lässt. In einzelnen Fällen (Oseberg, Sutton Hoo) enthält der Grabungsbefund sogar konkrete Indizien, die eine Deutung des Bestattungsschiffs als Jenseitsfähre auch unabhängig von den Schriftquellen (Bestattung Balders, Gísla saga, Beowulf) stark nahelegen. Entsprechend ist die bis in die jüngste Forschung hinein weitverbreitete Auffassung, wonach die Bestattung in Booten und Schiffen im Allgemeinen auf eine Jenseitsreise über Wasser Bezug nehme, grundsätzlich plausibel.⁵³⁸ Freilich ist zu betonen, dass sich diese Deutung nicht unbesehen für alle nordischen Schiffsbestattungen verallgemeinern lässt.⁵³⁹ Für die überwältigende Mehrzahl der Boots- und Schiffsgräber bietet der archäologische Befund der jeweiligen
536 Griersons Deutung wird auch akzeptiert von Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 274, 276 f. In jüngerer Zeit vgl. den Titel von Kendall und Wells 1992: Voyage to the Other World. The Legacy of Sutton Hoo. 537 Roberts 2008/09, S. 38. 538 Jüngst vgl. etwa Heide 2011, S. 59; Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 63; Roberts 2008/09, S. 40; ferner siehe die Sammlung von Literaturstellen oben Anm. 491. 539 Contra Grierson, der annimmt, dass die durch die 37+3 Münzen des Sutton Hoo-Schiffsgrabs angedeutete Interpretation des Totenschiffs als ein Fahrzeug für die Jenseitsreise unmittelbar auf die Frage der Deutung der skandinavischen Schiffsbestattungen übertragbar ist (Grierson 1970, S. 17).
Das Totenschiff im archäologischen Befund
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Fundstätten keine sicheren Anhaltspunkte für eine inhaltliche Interpretation dieser Bestattungsweise. Die grundsätzliche Plausibilität einer Deutung des Totenschiffs als Jenseitsfähre darf hierüber nicht hinwegtäuschen. In Anbetracht der weiten geographischen Verbreitung der nordischen Boots- und Schiffsgräber ist ein gewisses Maß an Variation in den lokalen Interpretationen dieses Brauchs grundsätzlich wahrscheinlich, und ebenso ist damit zu rechnen, dass die jeweiligen Interpretationen über die langen Zeiträume hinweg, in denen Boots- und Schiffsbestattungen praktiziert wurden, möglicherweise erheblichen Veränderungen unterworfen waren.⁵⁴⁰ Nichtsdestoweniger ist anzunehmen, dass im Rahmen dieser geographischen und chronologischen Variationen eine Interpretation des Schiffs als Fahrzeug für die Jenseitsreise immer wieder eine Rolle gespielt haben dürfte – Zeugnisse wie die Schiffsbestattungen von Oseberg und Sutton Hoo und die literarischen Schiffsbestattungen der Gylfaginning, der Skjöldunga saga, der Gísla saga und des Beowulf sprechen hier allen Unklarheiten zum Trotz eine hinreichend deutliche Sprache.
3.2.2 Schiffssteinsetzungen Bei der Bestattung in einem unterirdischen Boots- oder Schiffsgrab handelt es sich um einen Brauch, in dem das Boot oder Schiff nur während der Dauer des Bestattungsrituals sichtbar ist; nach dem Zuschütten des Grabs ist das Fahrzeug für die Ewigkeit dem Blick entzogen. Eine weit größere und dauerhaftere visuelle Präsenz hat eine Variante dieses Rituals, in dem das Boot oberirdisch aufgestellt oder oberirdisch in Stein ‚rekonstruiert‘ worden zu sein scheint: In einigen wenigen Fällen wurden Bootsbestattungen mit einer schiffsförmigen Steinsetzung umgeben. Im Fall unverbrannter Boote, die in solchen Schiffssteinsetzungen aufgestellt waren, dürften die Steinsetzungen die Boote abgestützt haben; im Fall von Schiffsbrandgräbern lässt sich die Errichtung einer Schiffssteinsetzung möglicherweise, mit den Worten Torsten Capelles, als eine „symbolische Wiederherstellung des Bootes“ betrachten.⁵⁴¹ Schiffssteinsetzungen sind nicht nur in Verbindung mit Bootsgräbern bezeugt.⁵⁴² Die Mehrheit der Schiffssetzungen ist als Grabmäler aufzufassen oder zumindest mit
540 Vgl. Wamers 1995, S. 154 f., und allgemein Müller-Wille 1995, S. 107: „In the course of a thousand years religious ideas may have changed more than once and burial customs may have been inspired by different sources at different times.“ 541 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 80 (Zitat: ibidem); Capelle 1986, S. 7, 19 f. (Zitat: S. 19), 33, 35; vgl. Wilson 2008, S. 38 f. (mit Abb. 14); Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 258; MüllerWille 1974, S. 197; Müller-Wille 1968/69, S. 107, 142 und Karte 10; Ebert 1920/21, S. 188. Für eine Verteilungskarte der Bootsgräber mit Schiffssteinsetzungen – Beispiele sind aus dem südlichen Norwegen, Schweden und Dänemark bekannt – vgl. Capelle 1986, S. 20 (Abb. 13). Hierzu zählen auch Beispiele im oben bereits erwähnten dänischen Gräberfeld von Lindholm Höje (siehe oben S. 139). 542 Ausführlich zu den Schiffssetzungen vgl. Capelle 1986 (mit umfangreichem Katalog).
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Die Schiffsreise ins Jenseits
Gräbern oder Gräberfeldern assoziiert,⁵⁴³ eine nachgewiesene Verbindung spezifisch mit Bootsgräbern stellt jedoch einen seltenen Ausnahmefall dar.⁵⁴⁴ Vielmehr handelt es sich bei den schiffsförmigen Steinsetzungen um eine eigenständige Klasse von Monumenten, die durch zahlreiche Beispiele vor allem aus dem mittleren und südlichen Skandinavien und von den südlichen und östlichen Küsten der Ostsee bekannt ist;⁵⁴⁵ erst kürzlich wurde ferner der Fund der ersten isländischen Schiffssetzungen im Mosfell-Tal in Westisland gemeldet.⁵⁴⁶ Die Häufigkeit der Schiffssetzungen übertrifft diejenige der Boots- und Schiffsgräber dabei wesentlich: Noch heute sind mehr als 2000 (!) Schiffssetzungen erhalten.⁵⁴⁷ Freilich sind die Zahlen für Boots- und Schiffsgräber einerseits und Schiffssetzungen andererseits kaum direkt miteinander vergleichbar: Während Bootsgräber als unterirdische Denkmäler erst durch eine gezielte Ausgrabung sichtbar werden, sind Schiffssetzungen i. d. R. obertägig sichtbare Monumente (Abb. 9–20);⁵⁴⁸ ihre Registrierung bereitet entsprechend deutlich weniger Probleme als diejenige von Bootsgräbern. Archäologisch untersucht wurde bislang jedoch nur ein sehr kleiner Teil der bekannten Schiffssetzungen (nach Capelle nur knapp über 100),⁵⁴⁹ so dass die Zahl der ausgegrabenen Schiffssetzungen trotz der großen Zahl der bekannten Beispiele weit unter derjenigen der ausgegrabenen Boots- und Schiffsbestattungen liegt. Entsprechend konnte bisher nur ein vergleichsweise geringer Teil der Schiffssetzungen datiert werden;⁵⁵⁰ selbst für so monumentale Setzungen wie die 42 Meter lange Schiffssetzung von Blomsholm (Kirchspiel Skee, Bohuslän, Schweden) (Abb. 9) liegen bislang oftmals keine Altersbestimmungen vor.⁵⁵¹ Die meisten datierten Schiffssetzungen haben sich entweder der Bronzezeit oder – vor allem – der Wikingerzeit
543 Vgl. Capelle 1986, S. 33, 36. 544 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 80; Capelle 1986, S. 19. 545 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 78; Capelle 1986, S. 6 (Abb. 2), 8–10; Müller-Wille 1968/69, S. 13, 142 und Karten 1–3. 546 Byock 2009, S. 167, 174 (Abb. 7 [Planskizze]). Für eine Photographie der größten Setzung vgl. die Homepage des Mosfell Archaeological Project unter (letzter Zugriff: 15. Mai 2015). 547 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 78; vgl. Capelle 1995, S. 71; Capelle 1986, S. 4. 548 Vgl. Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 78; Capelle 1986, S. 10. Allerdings gibt es auch Ausnahmen von dieser Regel; ein Beispiel hierfür ist etwa die bronzezeitliche Schiffssetzung von Lugnaro (Halland, Schweden), die sich im Inneren eines Grabhügels befindet: Capelle 1995, S. 71, 73 (Abb. 5); Capelle 1986, S. 50 f. Für eine Verteilungskarte von bronzezeitlichen Schiffssetzungen im Inneren von Grabhügeln vgl. Skoglund 2008, S. 393 (Abb. 2); für eine allgemeine Verteilungskarte von Schiffssetzungen im Inneren von Grabhügeln vgl. Capelle 1986, S. 12 (Abb. 10), vgl. S. 17–19. 549 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 78; Capelle 1995, S. 71; Capelle 1986, S. 4; vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 13. 550 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 80; Capelle 1986, S. 23. 551 Vgl. Capelle 1986, S. 50 (mit Abb. 52); neuer vgl. die Datenbank des schwedischen Riksantikvarieämbet (); diese Schiffssetzung ist dort registiert als RAÄ-nummer Skee 343:1(4) (letzter Zugriff: 12. Juli 2013).
Das Totenschiff im archäologischen Befund
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Abb. 9: Schiffssetzung von Blomsholm (Kirchspiel Skee, Bohuslän, Schweden). Die Anlage, die einen Teil eines Gräberfelds bildet, hat eine Gesamtlänge von 42 Metern; die Stevensteine sind 3–4 Meter hoch (Capelle 1986, S. 50). Datierung: undatiert (vgl. Capelle 1986, S. 50). © M. Egeler, 2011.
zuordnen lassen.⁵⁵² Mehr oder weniger sichere Beispiele wikingerzeitlicher Schiffssetzungen sind etwa die ursprünglich 80 Meter lange, heute aber stark beschädigte Schiffssetzung von Gammel Lejre (Seeland, Dänemark), die über einem Gräberfeld des 10. Jahrhunderts angelegt wurde (Abb. 10),⁵⁵³ oder die Forgalla-Schiffssteinsetzung auf Öland (Kirchspiel Böda), die sich in einem wikingerzeitlichen Gräberfeld befindet,⁵⁵⁴ was eine solche Datierung auch für die Steinsetzung nahelegen könnte (Abb. 11).⁵⁵⁵ Prominente bronzezeitliche Beispiele sind die Schiffssetzung „Tjelvars Grab“ (Tjälders, Kirchspiel Boge, Gotland)⁵⁵⁶ (Abb. 12) und die vierfache Schiffssetzung von Rannarve (Kirchspiel Klinte, Gotland) (Abb. 13 a, b);⁵⁵⁷ diese beiden Monumente enthielten Bestattungen der jüngeren Bronzezeit.⁵⁵⁸ Aus den zwischen
552 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 80; vgl. Capelle 1995, S. 71; Capelle 1986, S. 23 f., 35; MüllerWille 1968/69, S. 14. 553 Capelle 1986, S. 2, 7, 13, 23, 34, 39 mit Abb. 31 (S. 40); Müller-Wille 1968/69, S. 22, 187 (Nr. 83). 554 Capelle 1986, S. 49. 555 Ein eigentlicher Beweis ist freilich nur in dem Fall gegeben, wenn im Inneren einer Schiffssetzung ein datierbares Grab aufgefunden wurde (Capelle 1995, S. 71; Capelle 1986, S. 23); die Lage einer Steinsetzung in einem ansonsten datierbaren Gräberfeld kann für sich genommen nicht mehr als einen ungesicherten Anhaltspunkt darstellen. 556 Capelle 1986, S. 2, 48 f.; Müller-Wille 1968/69, S. 183 (Nr. 15). 557 Capelle 1986, S. 29, 47; Capelle 1995, S. 71, 73 mit Abb. 1.b (S. 72) und Abb. 6 (S. 73). 558 Capelle 1986, S. 47, 48; Müller-Wille 1968/69, S. 183.
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Die Schiffsreise ins Jenseits
Abb. 10: Schiffssetzung von Gammel Lejre (Seeland, Dänemark), angelegt über einem Gräberfeld, das sich ins 10. Jh. datieren lässt (Capelle 1986, S. 39). © M. Egeler, 2013.
Abb. 11: Schiffssetzung „Forgallaskeppet“ (Kirchspiel Böda, Öland). Datierung: Die Steinsetzung liegt innerhalb eines Gräberfelds der Wikingerzeit (Capelle 1986, S. 49). © M. Egeler, 2011.
Das Totenschiff im archäologischen Befund
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Abb. 12: Schiffssetzung „Tjelvars grav“ (Tjälders, Kirchspiel Boge, Gotland, Schweden). Datierung und Funktion: Die Schiffssetzung enthielt eine Bestattung der jüngeren Bronzezeit (Capelle 1986, S. 48). © M. Egeler, 2009.
Bronze- und Wikingerzeit liegenden Perioden ist nur eine geringe Zahl von Belegen bekannt.⁵⁵⁹ Trotz der geringen Zahl der einschlägigen Zeugnisse ist die Belegsituation nach Capelle jedoch ausreichend, um eine Traditionskontinuität deutlich zu machen, die sich über drei Jahrtausende zu erstrecken scheint.⁵⁶⁰ Schiffssetzungen zeichnen sich in vielen Fällen durch eine ausgesprochene Monumentalität aus: Die Länge solcher Anlagen liegt im Schnitt bei etwa 10 Metern, Längen von 20–30 Metern sind häufig, und auch Schiffssetzungen mit einer Länge von mehr als 40 Metern kommen vor.⁵⁶¹ Dies ist besonders hervorzuheben, da eine solche monumentale Größe eine starke Präsenz in der Landschaft impliziert. Die Schiffssetzungen waren ein wesentlicher Teil der wikingerzeitlichen wie vorwikingerzeitlichen Lebenswelt und führten den zeitgenössischen Menschen die Bedeutung der See für das Leben auch jenseits rein praktischer Notwendigkeiten permanent vor Augen. Das vielleicht beeindruckendste Beispiel hierfür sind die Schiffssetzungen
559 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 80; Capelle 1986, S. 24 f. 560 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 80; Capelle 1986, S. 25, 35. Die auffallende Kontinuität der Schiffssetzungen wird auch hervorgehoben von Skoglund 2008, S. 399 f., der jedoch betont, dass die Kontinuität in der Errichtung von Schiffssetzungen keine Kontinuität in ihrer symbolischen Bedeutung impliziert (siehe unten S. 161). 561 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 80; Capelle 1986, S. 16. Vgl. auch Capelle 1986, S. 15 zur Größe der verwendeten Steine.
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Abb. 13: Schiffssetzungen von Rannarve. Vier steinerne Schiffe bilden eine Reihe, wobei der Achtersteven-Stein des jeweils vorderen Schiffs zugleich als der Vordersteven-Stein des jeweils folgenden Schiffs fungiert. Datierung und Funktion: In der zweiten Setzung von Süden wurde eine Bestattung der jüngeren Bronzezeit gefunden (Capelle 1986, S. 47). 13a: Eine der Schiffssetzungen von Rannarve (Kirchspiel Klinte, Gotland): 13b: Die Reihenschiffe von Rannarve aus der Innenperspektive. Beide © M. Egeler, 2009.
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Abb. 14: Blick vom Anundshög (Västmanland, Schweden) auf zwei der Schiffssetzungen in der unmittelbaren Umgebung des Grabhügels. Datierung des Gräberfelds: jüngere Eisenzeit (Capelle 1986, S. 45). © M. Egeler, 2011.
am Anundshög (Kirchspiel Badelunda, Västmanland, Schweden).⁵⁶² Der Anundshög ist der größte Grabhügel Schwedens; zu seinen Füßen liegt ein Gräberfeld der jüngeren Eisenzeit, das neben einer erheblichen Anzahl von Grabhügeln u. a. auch fünf Schiffssetzungen enthält. Die zwei größten dieser Schiffssetzungen liegen unmittelbar hintereinander und stoßen an den Steven zusammen; ihre gemeinsame Achse ist dabei genau auf den Anundshög ausgerichtet (Abb. 14). Beide Schiffssetzungen sind aus teilweise manns- und sogar übermannshohen Steinen errichtet und haben eine Länge von 54 bzw. 51 Metern; der Vordersteven derjenigen Schiffssetzung, die dem Anundshög zunächst liegt, steht unmittelbar am Fluss des Grabhügels. Beide Setzungen haben schon durch ihre schiere Monumentalität eine physische Präsenz, die sie zu einem unübersehbaren, dominanten Teil der Landschaft werden lässt, dessen visuelle Wucht nur hinter derjenigen des Anundshög selbst zurücksteht. Schon damit illustrieren sie, dass es sich bei den skandinavischen Schiffssetzungen um zentrale
562 Im Einzelnen zu diesen Schiffssetzungen: Capelle 1986, S. 13, 45; vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 20 und Tafel 1.
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Elemente der kulturellen Landschaft handelte.⁵⁶³ Die Schiffssetzungen am Anundshög veranschaulichen dies jedoch nicht nur aufgrund ihrer eigenen Monumentalität, sondern insbesondere auch aufgrund ihrer Lage: Das Gelände um den Anundshög diente bis zum Ausgang des Mittelalters als Thingstätte; diese Schiffssetzungen wurden entsprechend von einer großen Zahl von Menschen regelmäßig gesehen.⁵⁶⁴ Dies gilt umso mehr, als an diesem Ort auch die Eriksgata vorbeiführte, d. h. die Straße, die der schwedische König nach seiner Wahl entlang reisen musste, ehe sein Herrschaftsanspruch im ganzen Land volle Gültigkeit besaß.⁵⁶⁵ Die Frage, welche symbolische Bedeutung Schiffssetzungen im vorgeschichtlichen und frühmittelalterlichen Skandinavien hatten, ist mit grundsätzlich ganz ähnlichen Unsicherheiten behaftet wie die Frage nach der symbolische Bedeutung der Bootsund Schiffsbestattungen. Auch die möglichen Antworten bewegen sich in einem ganz ähnlichen Spektrum wie im Fall der Bootsgräber; von den drei geläufigen Grundansätzen zur Interpretation dieser Monumente, wie sie Crumlin-Pedersen herausgearbeitet hat,⁵⁶⁶ fällt bei den Schiffssetzungen nur der „pragmatische Ansatz“ weg, da es für die Errichtung einer Schiffssetzung keinen ersichtlichen praktischen Grund gibt, der etwa der Zweitverwendung eines alten Boots als Sarg entsprechen würde.⁵⁶⁷ Die geläufigen Deutungsansätze der Schiffssetzungen folgen entsprechend einem „säkularen“ und/ oder „religiösen“ Ansatz, d. h. sie interpretieren die Schiffssetzungen als Ausdruck lebensweltlich oder religiös bedingter Anliegen und Konzepte. Ein primär sozialgeschichtlich ausgerichteter Deutungsansatz für die skandinavischen Schiffssetzungen wurde jüngst von Peter Skoglund vertreten.⁵⁶⁸ Ausgangspunkt seines Zugangs ist, dass die Errichtung von Schiffssetzungen als Ausdruck sozialer Strategien zu deuten sei, die regionale kulturelle und soziale Werte wiederspiegelten. In diesem Sinne kommentiert er etwa die Zunahme besonders großer Schiffssetzungen (über 40 Meter Länge) in der späten Eisenzeit und ihre weite Verbreitung im ganzen südlichen Skandinavien; als ein Beispiel führt er die 67 Meter lange Schiffssetzung Ales stenar beim Ort Kåseberga in Schonen (Südschweden) an, für die er von einer späteisenzeitlichen Datierung ausgeht (Abb. 15).⁵⁶⁹ Die späteisen-
563 Vgl. Capelle 1995, S. 71: „Among the most impressive and typical monuments in the landscape of the prehistoric European North are the ship-settings [...].“ (Meine Hervorhebung.) Vgl. auch Capelle 1986, S. 1 f. 564 Quelle: Ortsbesuch (26./27. September 2011); vgl. Holmqvist 1973; Janson und Lundberg 1980, S. 255. 565 Düwel 1986, S. 90. 566 Siehe oben S. 138. 567 Vgl. Capelle 1995, S. 75; Skoglund 2008, S. 391. 568 Skoglund 2008. 569 Skoglund 2008, S. 395. Ähnlich vgl. zur Datierung auch Müller-Wille 1968/69, S. 20. Allgemein zu dieser Schiffssetzung vgl. Capelle 1986, S. 14, 15, 33, 52 f. (mit Abb. 56) und Tafel 2; Capelle schlägt als Deutung eine Interpretation als Kenotaph einer herausragenden Seefahrerpersönlichkeit vor (S. 33). Ebert 1920/21, S. 188 interpretiert die Ales stenar als Totenschiff für die Jenseitsreise.
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Abb. 15: Innenansicht der Schiffssetzung Ales stenar (Kirchspiel Valleberga, Schonen, Schweden). Datierung: jüngere Eisenzeit (Skoglund 2008, S. 395 [Bildunterschrift zu Tafel 2]). © M. Egeler, 2011.
zeitliche Ausbreitung solcher Großschiffssetzungen verbindet Skoglund einerseits mit Veränderungen in der Schiffsbautechnik und vermutet andererseits eine Assoziation mit überregional miteinander vernetzten Eliten; dabei würden übergroße Schiffssetzung die Macht der neuen Kriegsschiffe und ihrer Besitzer reflektieren.⁵⁷⁰ Eine solche Zugangsweise deutet die skandinavischen Schiffssetzungen als Symbole, bezieht die von diesen Symbolen ausgedrückten Inhalte jedoch primär auf „säkulare“ Aspekte des zeitgenössischen Lebens wie technische Möglichkeiten beim Schiffsbau und soziale Machtstrukturen. Selbst Skoglund mit seinem stark „säkular“ ausgerichteten Zugang steht „religiösen“ Deutungen der Schiffssetzungen jedoch nicht grundsätzlich ablehnend gegenüber. So weist er auf einige südschwedische Gräberfelder der späten Eisenzeit hin, die von einer großen Zahl sehr kleiner Schiffssetzungen dominiert werden. Eine solche große Zahl von kleinen, als Umfassungen von Gräbern dienenden Schiffssetzungen deutet er als Hinweis darauf, dass die Schiffssetzungen hier eine rituelle Funktion des Schiffs betonen und wahrscheinlich als Symbol für die Jenseitsreise des Toten aufzufassen sind.⁵⁷¹ Eine Interpretation der bzw. mancher Schiffssetzungen – zumindest in den Fällen, in denen sie Bestattungen enthalten – als Bezugnahme auf die Reise der Verstorbenen
570 Skoglund 2008, S. 394 f. (mit der Verteilungskarte Abb. 3 [S. 396]), 401. 571 Skoglund 2008, S. 399.
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ins Totenreich ist seit langem weithin etabliert.⁵⁷² Für die Schiffssetzungen der Wikingerzeit lassen sich hierfür aus dem archäologischen Befund zumindest indirekte Argumente ableiten. So weist Crumlin-Pedersen darauf hin, dass das Schicksal der Schiffssetzung von Jelling (Jütland, Dänemark) ein konkretes Indiz für eine spezifisch heidnische Symbolkraft von Schiffssteinsetzungen darstellt.⁵⁷³ Dort scheint im 10. Jahrhundert eine Schiffssetzung von etwa 150 Metern Länge errichtet worden zu sein (eine Größe, die diese Schiffssetzung zur größten bekannten Schiffssetzung überhaupt macht).⁵⁷⁴ Diese Setzung bildete wohl einen Teil einer königlichen Grabanlage:⁵⁷⁵ M. Stoklund vermutet, dass sie von König Gormr inn gamli zusammen mit einem Gedenkstein für seine verstorbene Frau errichtet wurde (dem Runenstein Jelling 1).⁵⁷⁶ Gormr inn gamli selbst scheint im sog. Nordhügel bestattet worden zu sein, einem ursprünglich bronzezeitlichen Grabhügel, der sich an der nördlichen Spitze der Schiffssetzung befand.⁵⁷⁷ Sein Sohn Haraldr blátǫnn christianisierte die Anlage von Jelling nach seinem späteren Übertritt zum Christentum, indem er eine Kirche und einen großen Runenstein (Jelling 2) errichten und seinen Vater Gormr umbetten ließ.⁵⁷⁸ Im Zuge dieser Arbeiten scheint auch ein Großteil der Schiffssetzung entfernt worden zu sein; erhalten blieben nur kleine Teile der Steinsetzung, die vom neu aufgeworfenen Südhügel und vom nun vergrößerten Nordhügel bedeckt wurden,⁵⁷⁹ deren Errichtung bzw. Vergrößerung ebenfalls Haraldr blátǫnn zugeschrieben wird.⁵⁸⁰ Falls diese Rekonstruktion der Baugeschichte von Jelling das Richtige trifft,⁵⁸¹ könnte der gezielte Abriss der Schiffssetzung im Zuge der „Christianisierung“ Jellings darauf hindeuten, dass die Schiffssetzung konkrete heidnische Konnotationen trug, die beseitigt werden sollten.⁵⁸² Welcher Art diese Konnotationen waren, lässt sich aus dem Befund von Jelling freilich nicht unmittelbar ableiten.⁵⁸³ Indirekt ist jedoch auch hier Jelling richtungswei-
572 Skoglund 2008, S. 399; Bradley und Widholm 2007, S. 32, 45; Capelle 1995, S. 75; Capelle 1986, S. 2, 34 (jedoch mit Betonung der alternativen Möglichkeit einer Deutung der Schiffssetzung als „Abbild[...] des realen Schiffes des Verstorbenen als normale Grabbeigabe“ [Zitat: S. 34], ohne dass er für eine solche Deutung jedoch Allgemeingültigkeit annimmt); Major 1924, S. 116, 118; Ebert 1920/21, S. 188, 195 f.; Stjerna 1912, S. 116. 573 Crumlin-Pedersen 1995, S. 96 f. 574 Crumlin-Pedersen 1995, S. 96; Capelle 1986, S. 22 f., 37 mit Abb. 25 (S. 38). Zögerlicher in Hinblick auf die Datierung der Steinsetzung vgl. Capelle in Andersson et al. 2000, S. 60. 575 Crumlin-Pedersen 1995, S. 96; Stoklund in Andersson et al. 2000, S. 57. 576 Stoklund in Andersson et al. 2000, S. 56 f. 577 Stoklund in Andersson et al. 2000, S. 57; vgl. Capelle in Andersson et al. 2000, S. 60 f. mit Abb. 5. 578 Stoklund in Andersson et al. 2000, S. 57; Capelle in Andersson et al. 2000, S. 61 f. 579 Capelle in Andersson et al. 2000, S. 60 (Abb. 5); vgl. Capelle 1986, S. 38 (Abb. 25). 580 Stoklund in Andersson et al. 2000, S. 57. 581 Vgl. die Vorbehalte von Capelle in Andersson et al. 2000, S. 60. 582 Crumlin-Pedersen 1995, S. 96 f. 583 So vertritt etwa Crumlin-Pedersen 1995, S. 96 f. keine Deutung als Totenschiff, sondern vermutet eine symbolische Bezugnahme auf den Götterkult (vgl. oben S. 141).
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send. Die Schiffssetzung von Jelling scheint einen Teil einer königlichen Grabanlage der Wikingerzeit gebildet zu haben. Dass zwischen der Errichtung einer Schiffssteinsetzung als Teil eines Grabmonuments und den zeitgenössischen Bestattungen im Schiff, wie dem oben angesprochenen Schiffsgrab von Oseberg,⁵⁸⁴ eine enge Entsprechung besteht, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Eine Gleichwertigkeit – oder zumindest symbolische Vergleichbarkeit – von Schiffsgrab und sepulkraler Schiffssetzung wird auch durch das eingangs erwähnte Vorkommen von Bootsgräbern im Inneren von Schiffssetzungen nahegelegt.⁵⁸⁵ Aller Wahrscheinlichkeit nach dürften Schiffssetzungen einerseits und Boots- bzw. Schiffsgräber andererseits somit – wie bereits mehrfach vermutet worden ist – auf dieselben Konzepte Bezug nehmen.⁵⁸⁶ Damit ist anzunehmen, dass zumindest manche der wikingerzeitlichen Schiffssetzungen, ganz wie im Fall der Bootsgräber,⁵⁸⁷ als symbolische Bezugnahmen auf eine Jenseitsreise zur See zu deuten sind. Weit problematischer ist die Frage der Interpretation für vorwikingerzeitliche Schiffssetzungen: Skoglund hebt zu Recht hervor, dass es keine konkreten Anhaltspunkte für die Annahme gibt, die Errichtung von Schiffssetzungen hätte während der gesamten Zeitspanne von der Bronze- bis zur Wikingerzeit dieselbe symbolische Aussage besessen.⁵⁸⁸ Die Deutung bronzezeitlicher Anlagen wie etwa der Schiffssetzungen von Gålrum (Kirchspiel Alskog, Gotland) (Abb. 16),⁵⁸⁹ Gnisvärd (Kirchspiel Tofta, Gotland) (Abb. 17 a, b),⁵⁹⁰ Rannarve (Abb. 13 a, b) oder der Schiffssetzung „Tjelvars Grab“ (Abb. 12) ist damit mit einem deutlich höheren Unsicherheitsfaktor belastet als die Interpretation eisenzeitlicher Schiffssetzungen. Immerhin ist im Fall der eben genannten bronzezeitlichen Setzungen eine unmittelbar sepulkrale Funktion durch die Auffindung von Gräbern in diesen Schiffssteinsetzungen gesichert: In allen vier Fällen diente das Innere der Schiffssetzung als Bestattungsort. Dies lässt eine Deutung des Bestattungsschiffs als Totenschiff für die Jenseitsreise auch in diesen Fällen immerhin als naheliegende Möglichkeit erscheinen – wenn auch als eine Möglichkeit, die sich jeder Beweisbarkeit entzieht und als deutlich weniger gut abgesichert gelten muss als im Fall wikingerzeitlicher Steinsetzungen. Ein noch größeres Problem stellt die Deutung von Schiffssetzungen dar, die sich zwar innerhalb oder am Rande von Gräberfeldern befinden, selbst aber keine bekannten Bestattungen enthalten, wie etwa die Schiffssetzung „Arche Noah“ (Kirch-
584 Siehe oben S. 144. 585 Müller-Wille 1968/69, S. 142; siehe oben S. 151. 586 So etwa Crumlin-Pedersen 1995, S. 97 („[...] the two types of archaeological monuments, boatgraves and stone ships, should be seen as reflections of one and the same ideological concept“); Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 258 („verwandte Grabformen mit einem gemeinsamen religiösen Hintergrund“); vgl. Capelle 1986, S. 34; Müller-Wille 1968/69, S. 142. 587 Siehe oben S. 150 f. 588 Skoglund 2008, S. 400; vgl. Capelle 1986, S. 20. 589 Capelle 1986, S. 24, 29, 46 (mit Tafel 3,b); Müller-Wille 1968/69, S. 184 (Nr. 23). 590 Capelle 1986, S. 29, 46 (mit Tafel 5,c-d); Capelle 1995, S. 71, 73 mit Abb. 2.b (S. 72).
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Abb. 16: Eine von sieben Schiffssetzungen auf dem Gräberfeld von Gålrum (Kirchspiel Alskog, Gotland). In sechs dieser sieben Setzungen ließen sich Gräber nachweisen, von denen jedoch nur zwei datierbar waren; diese datierbaren Gräber waren beide bronzezeitlich (Capelle 1986, S. 46). © M. Egeler, 2009.
spiel Högsrum, Öland) (Abb. 18): Diese Setzung liegt in einem Gräberfeld der älteren Eisenzeit, jedoch ist nichts darüber bekannt, ob sie eine Bestattung enthält oder enthielt.⁵⁹¹ Capelle vertritt mit Hinblick auf solche Fälle die Auffassung, dass Schiffssetzungen nur dann als Symbole für die Reise ins Jenseits zu deuten sind, wenn sie tatsächlich als Rahmen für Bestattungen dienten.⁵⁹² Hier kann man die Frage stellen, ob eine solche Zugangsweise in ihrer Grundsätzlichkeit nicht etwas zu weit geht; falls immerhin eine enge Assoziation einer Schiffssetzung mit einem Gräberfeld gegeben ist, könnte eine solche Setzung z. B. als allgemeiner Verweis auf die Jenseitsreise zu deuten sein, ähnlich wie das Symbol des Kreuzes in einem christlichen Friedhof nicht auf die konkreten Bestattungen beschränkt ist, sondern etwa auch über dem Friedhofseingang angebracht werden kann. Jedoch ist zweifellos anzuerkennen, dass die Interpretation gräberloser Setzungen mit erheblichen Unsicherheiten behaftet ist. Dies gilt umso mehr, als in einer Anzahl von Schiffssetzungen keine Bestattungen,
591 Capelle 1986, S. 14, 16, 28, 49 f. mit Abb. 51 (S. 50) und Tafel 4,b-c; vgl. Capelle 1995, S. 74. 592 Capelle 1995, S. 75.
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Abb. 17: Zwei der drei Schiffssetzungen von Gnisvärd (Kirchspiel Tofta, Gotland). Die beiden 45 (Abb. 17a) bzw. 33 (Abb. 17b) Meter langen Schiffssetzungen enthielten Bestattungen der jüngeren Bronzezeit (Capelle 1986, S. 46). © M. Egeler, 2009.
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Abb. 18: Schiffssetzung „Arche Noah“ (Kirchspiel Högsrum, Öland), gelegen in einem Gräberfeld der älteren Eisenzeit (Capelle 1986, S. 49). Datierung: undatiert (Capelle 1995, S. 74). © M. Egeler, 2011.
sondern Herdstellen gefunden wurden; andere Setzungen erwiesen sich trotz einer archäologischen Untersuchung als gänzlich fundleer. Für solche Schiffssetzungen wurde an eine Funktion als Versammlungsplätze o. ä. gedacht, wobei das steinerne Schiff einen Ausdruck einer stark maritim ausgerichteten Lebensweise darstellen könnte.⁵⁹³ Ein symbolischer Verweis auf eine über die See führende Jenseitsreise ist hier zwar nicht ausgeschlossen, aber auch keineswegs zwingend. Insbesondere große Schiffssetzungen könnten z. B. auch als Ausdruck der Zusammengehörigkeit der versammelten Menschen intendiert gewesen sein. Die Versammlung mag im Rahmen solcher Anlagen zur Schiffsgemeinschaft stilisiert worden sein, zur Mannschaft, die auf Gedeih und Verderb miteinander verbunden und aufeinander angewiesen ist. Vollends unüberwindbar werden die Unsicherheiten der Interpretation schließlich im Fall von Schiffssetzungen, die weder Gräber enthielten noch einen Teil eines Gräberfelds bildeten, wie etwa im Fall der Schiffssetzungen von Gannarve (Kirchspiel Fröjel, Gotland)⁵⁹⁴ (Abb. 19) oder Djupvik (Kirchspiel Eksta, Gotland) (Abb. 20).⁵⁹⁵ Bei solchen Anlage hat eine Deutung als symbolischer Verweis auf die Jenseitsreise keinerlei verlässliche Grundlage mehr.
593 Capelle 2004 (Schiffssetzungen), S. 81; vgl. Capelle 1986, S. 3, 16 f., 34 f., 36; Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 258; Müller-Wille 1968/69, S. 20, 142. 594 Capelle 1986, S. 35, 46 mit Tafel 1,b. 595 Vgl. die Datenbank des schwedischen Riksantikvarieämbet (); diese Schiffssetzung ist dort registiert als RAÄ-nummer Eksta 76:1 (letzter Zugriff: 13. Juli 2013).
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Abb. 19: Schiffssetzung von Gannarve (Kirchspiel Fröjel, Gotland). Datierung: undatiert (vgl. Capelle 1986, S. 46). © M. Egeler, 2009.
Abb. 20: Schiffssetzung von Djupvik (Kirchspiel Eksta, Gotland). Datierung: undatiert (vgl. Riksantikvarieämbetet zu Eksta 76:1). © M. Egeler, 2009.
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Zusammenfassend lässt sich somit Folgendes festhalten: Schiffssetzungen stellen eine vor allem in Dänemark und Mittel- sowie Südskandinavien verbreitete, neuerdings aber auch in Island bezeugte Denkmälergattung dar, die sich durch eine extrem hohe Zahl von Monumenten und eine mitunter landschaftsdominierende Monumentalität auszeichnet. Zumindest ein Teil dieser Denkmäler dürfte im selben Sinne zu deuten sein wie die Boots- und Schiffsbestattungen der Eisenzeit, für die eine Deutung als Fahrzeuge für die Jenseitsreise mitunter aus dem Material heraus plausibel gemacht werden kann und in der Mehrzahl der verbleibenden Fälle zumindest naheliegend ist. Insoweit sich eine solche Interpretation auch auf die skandinavischen Schiffssetzungen übertragen lässt, wird der Symbolismus des Jenseitsschiffs durch die Schiffssetzungen monumentalisiert und permanent in der Landschaft sichtbar gemacht.
3.2.3 Der ikonographische Befund Die Schiffssetzungen sind eine Denkmälerklasse, die die Verbindung von Grab und Schiffssymbolismus in der Landschaft permanent sichtbar macht. Eines der oben zitierten Beispiele für diese Denkmälerklasse waren die Schiffssetzungen auf dem Gräberfeld von Gålrum auf Gotland (Abb. 16). In Gålrum findet die Verbindung von Schiff und sepulkralem Kontext allerdings nicht nur in den sieben Schiffssetzungen dieses Gräberfelds ihren Niederschlag, sondern auch in einem der so typisch gotländischen Bildsteine (Abb. 21): Dieser Stein, der lange als Brückenstein diente und erst im Jahr 1925 auf dem Gräberfeld aufgestellt wurde,⁵⁹⁶ hat eine Höhe von 1,85 Metern und zeigt als sein zentrales Motiv ein (heute stark verwittertes) Segelschiff.⁵⁹⁷ Chronologisch ist er nach Erik Nylén und Jan Peder Lamm in die „späte Gruppe“ der gotländischen Bildsteine einzuordnen, für die Nylén und Lamm eine Datierung auf ca. 700–1100 n. Chr. ansetzen;⁵⁹⁸ Lisbeth M. Imer datiert ihn in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts.⁵⁹⁹ Die gotländischen Bildsteine stellen eine Klasse von Monumenten dar, die durch mehr als 400 Exemplare bekannt, dabei aber auf die Insel Gotland beschränkt ist.⁶⁰⁰
596 Lindqvist 1941/42 Bd. 2, S. 15; irrig ist entsprechend die Annahme einer Zugehörigkeit dieses Steins zur Gesamtanlage des Gräberfelds bei Capelle 1986, S. 22. 597 Nylén und Lamm 1988, S. 180 (Nr. 3, RAÄ-Nr. Alskog 9); Imer 2001 (2004), S. 72 (Abb. 42); Lindqvist 1941/42 Bd. 2 Abb. 302 und S. 15. Abmessungen nach der Datenbank des schwedischen Riksantikvarieämbet (); dieser Bildstein ist dort registiert und beschrieben unter der RAÄ-Nummer Alskog 9:1 (letzter Zugriff: 14. Juli 2013). 598 Nylén und Lamm 1988, S. 178, 180 (Nr. 3, RAÄ-Nr. Alskog 9). 599 Imer 2001 (2004), S. 103 (Tabelle 14), 104 (Tabelle 17). 600 Imer 2001 (2004), S. 47. Vgl. den Katalog in Nylén und Lamm 1988, S. 180–200 (442 Nummern); Nylén und Lamm 2003, S. 180–206 (467 Nummern).
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Abb. 21: Gotländischer Bildstein in sekundärer Aufstellung auf dem Gräberfeld von Gålrum (Kirchspiel Alskog, Gotland). Datierung: später Typ (ca. 700–1100) nach Nylén und Lamm 1988, S. 180 (Nr. 3, RAÄ-Nr. Alskog 9); 2. Hälfte des 9. Jhs. nach Imer 2001 (2004), S. 103 (Tabelle 14), 104 (Tabelle 17). © M. Egeler, 2009.
Bei diesen Monumenten handelt es sich um Steinplatten, die auf einer Seite in sehr flachem Relief mit Bildern geschmückt und aufgestellt wurden. Chronologisch umfasst die Herstellungszeit der gotländischen Bildsteine die Zeit von der Völkerwanderungszeit bis zum 11. Jahrhundert.⁶⁰¹ Der Bildstein auf dem Gräberfeld von Gålrum illustriert zwei hier wichtige Züge dieser Steine. Der erste von diesen ist die fundamentale Assoziation der gotländischen Bildsteine mit dem Bereich des Todes: Die Bildsteine gelten in ihrer Gesamtheit als Grab- und Gedenksteine.⁶⁰² In den älteren Phasen der Entwicklung der Bildsteine wurden sie als Teile von Grabmälern auf Gräberfelden aufgestellt; spätere Steine wurden auch außerhalb der eigentlichen Gräberfelder an Stellen errichtet, an denen sie besonders gut sichtbar waren, wie etwa an Straßen, dienten an solchen Stellen jedoch wohl nichtsdestoweniger als Gedenk-
601 Skoglund 2008, S. 396; Imer 2001 (2004), S. 47, 108; Ellmers 1995, S. 165; Lindow 1993, S. 39; Nylén und Lamm 1988, S. 178. 602 Böldl 2013, S. 28–31; Skoglund 2008, S. 396 f.; Ellmers 1995, S. 165, 167.
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Abb. 22: Bildsteine und Monumentalität: die Bildsteine I und II von Änge (Kirchspiel Buttle, Gotland, in situ). Der größere der beiden Steine hat eine Höhe von 3,7 Metern und trägt Schiffsdarstellungen in zwei Bildfeldern (vgl. Nylén und Lamm 1988, S. 143; Imer 2001 [2004], S. 52 [Abb. 6]; Lindqvist 1941/ 42 Bd. 1, Tafel 50 [Abb. 125]). Datierung: später Typ (ca. 700–1100) nach Nylén und Lamm 1988, S. 182 (Nr. 43, 44, RAÄ-Nr. Buttle 42), spezifisch 700–800 n. Chr. (Nylén und Lamm 1988, S. 143); Imer datiert den Stein hingegen ins 9. oder 10. Jh. (Imer 2001 [2004], S. 105 [Tabelle 18]). © M. Egeler, 2009.
steine für Verstorbene oder Verschollene.⁶⁰³ Das Bestreben, die Steine so sichtbar wie möglich zu machen, schlug sich dabei auch in einer ausgesprochenen „Megalithisierung“ nieder: Die Steine konnten Größen von über drei Metern erreichen;⁶⁰⁴ der größte gotländische Bildstein, der ins 8. oder 9./10. Jahrhundert datiert wird,⁶⁰⁵ hat sogar eine Höhe von 3,7 Metern (Abb. 22).⁶⁰⁶ Dass ein anderswo gefundener Bildstein
603 Skoglund 2008, S. 397; Nylén und Lamm 1988, S. 9 f.; Nylén und Lamm 2003, S. 9 f. 604 Nylén und Lamm 1988, S. 11. 605 Nylén und Lamm 1988, S. 143: 700–800 n. Chr.; Imer 2001 (2004), S. 105 (Tabelle 18): 9. oder 10. Jahrhundert. 606 Bildstein I von Änge (Kirchspiel Buttle), RAÄ-Nr. Buttle 42:1. Nylén und Lamm 1988, S. 143 (Abb.), 182 (Nr. 43); Imer 2001 (2004), S. 52 (Abb. 6); Lindqvist 1941/42 Bd. 1, S. 11 (Abb. 201), Tafeln 50, 51 (Abb. 125–127), Bd. 2, S. 36–39 mit Abb. 333, 334. Vgl. die Datenbank des schwedischen Riksantikvarieämbet (; letzter Zugriff: 14. Juli 2013).
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in gut sichtbarer Lage auf dem Gräberfeld von Gålrum aufgestellt wurde, ist also zwar im engeren Sinne unhistorisch, in Hinblick auf seinen einstigen ‚Sitz im Leben‘ aber nichtsdestoweniger passend. Der zweite Zug, den der Bildstein von Gålrum illustriert, ist die Bedeutung von Schiffsdarstellungen in der Ikonographie der gotländischen Bildsteine:⁶⁰⁷ Schiffsdarstellungen sind typisch für das Bildrepertoire der Bildsteine, von den Anfängen bis zu den spätesten Beispielen. Bootsdarstellungen an zentraler Stelle nahe der Basis des Steins kommen schon auf Bildsteinen der Frühzeit wiederholt vor, wo es sich bei den dargestellten Fahrzeugen um Ruderboote mit einer erheblichen Zahl von Riemen handelt. Das vielleicht bekannteste Beispiel ist ein gut erhaltener Stein, der in der Außenmauer der Pfarrkirche von Bro eingemauert ist (Abb. 23);⁶⁰⁸ Nylén und Lamm weisen diesen Stein der Zeit von 400–600 n. Chr. zu.⁶⁰⁹ Spätere Steine zeigen üblicherweise Segelschiffe –⁶¹⁰ eines der berühmtesten unter einer Vielzahl von Beispielen ist der Bildstein von Lärbro Stora Hammars I (Abb. 24),⁶¹¹ der ins 8. oder 10. Jahrhundert datiert wird.⁶¹² Beides zusammengenommen – der sepulkrale Charakter der Bildsteine einerseits, und die Prominenz von Schiffsdarstellungen in ihrer Ikonographie andererseits – hat häufig zur Vermutung geführt, dass es sich bei den Schiffen der Bildsteine um Totenschiffe auf der Reise ins Jenseits handeln könnte.⁶¹³ Dabei wurden
607 Allgemein grundlegend zu Schiffsdarstellungen auf skandinavischen Grabsteinen vgl. Ellmers 1986 mit der Schlussfolgerung: „Wenigstens vom 5. bis zum 11. Jahrhundert war man überzeugt, daß die Toten per Schiff an ihren Ort gelangten.“ (Zitat: S. 372.) Ferner vgl. allgemein die Überblicksdiskussion und grundlegende Materialsammlung bei Müller-Wille 1968/69, S. 120–125, 193 f. Für eine ausführliche allgemeine Diskussion der Schiffsdarstellungen auf den gotländischen Bildsteinen vgl. Lindqvist 1941/42 Bd. 1, S. 62–74. 608 RAÄ-Nr. Bro 24:1; Nylén und Lamm 1988, S. 23, 181 (Nr. 27); Lindqvist 1941/42 Bd. 1, Tafeln 5, 6 (Abb. 11, 12), Bd. 2, S. 29 mit Abb. 319 (S. 30). Für weitere frühe Beispiele vgl. Nylén und Lamm 1988, S. 29, 34 f.; Ellmers 1986, S. 342; Müller-Wille 1968/69, S. 121 f. 609 Nylén und Lamm 1988, S. 23. 610 Vgl. Ellmers 1986, S. 350; Müller-Wille 1968/69, S. 122. 611 Skoglund 2008, S. 397 (plate 3); Lindow 1993, S. 39 mit Abb. 2 (S. 40); Nylén und Lamm 1988, S. 63, 189 (Nr. 184); Lindqvist 1941/42 Bd. 1, Tafeln 27, 28 (Abb. 81, 82), Bd. 2, S. 83–87 mit Abb. 429, 434, 436–440. Für eine Vielzahl weiterer Beispiele vgl. Nylén und Lamm 1988 passim; Imer 2001 (2004) passim; Ellmers 1995 passim; Müller-Wille 1968/69, S. 124 f. 612 Nylén und Lamm 2003, S. 63: 700–800 n. Chr.; Imer 2001 (2004), S. 105 (Tabelle 18): 10. Jahrhundert. 613 Oehrl 2012, S. 96; Oehrl 2010, S. 9–11; Nylén und Lamm 2003, S. 15 f.; Ellmers 1995 passim; Lindow 1993; Nylén und Lamm 1988, S. 15 f., 22, 70; Ellmers 1986 passim; Davidson 1972, S. 7 (mit Abb. 3 [S. 6]), S. 16 f., vgl. ibidem S. 20 f.; Major 1924, S. 118; Ebert 1920/21, S. 188 f. mit Abb. 5 (S. 190), 196; Stjerna 1912, S. 115, 117, 125 mit Abb. 24 (S. 116), Abb. 27 (S. 118). Vgl. Davidson 1988, S. 183. Für eine Zusammenstellung einer Vielzahl von (zustimmenden wie ablehnenden) Forschungsmeinungen vgl. Althaus 1993, S. 136–141, schlussfolgernd: „Nach wie vor wird [...] überwiegend die Totenschifftheorie favorisiert.“ (Zitat: S. 141.)
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Die Schiffsreise ins Jenseits
Abb. 23: Gotländischer Bildstein, Außenmauer der Bro kyrka (RAÄ-Nr. Bro 24:1). Datierung: früher Typ (ca. 400–600 n. Chr.) nach Nylén und Lamm 1988, S. 23, 181 (Nr. 27). © M. Egeler, 2009.
Abb. 24: Schiffsdarstellung an der Basis des Bildsteins Lärbro Stora Hammars I. Datierung: umstritten: 8. Jh. (Nylén und Lamm 2003, S. 63) oder 10. Jh. (Imer 2001 [2004], S. 105 [Tabelle 18]). © M. Egeler, 2009. Gotland, Bunge Museum. Reproduziert mit freundlicher Genehmigung des Bunge Museum (Maj-Gun Blomberg).
Das Totenschiff im archäologischen Befund
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wiederholt die skandinavischen Schiffsbestattungen und Schiffssteinsetzungen zum Vergleich herangezogen,⁶¹⁴ aber auch interne Elemente der Ikonographie der Bildsteine wurden als Argumente für die Deutung der Schiffsdarstellungen als Totenschiffe angeführt. So hat John Lindow die Stellung der Segel in Darstellungen wie derjenigen des Bildsteins von Lärbro Stora Hammars I (Abb. 24) analysiert und aus dem Verhältnis von Segel und Wellengang (aus dem sich die Windrichtung ablesen lässt) geschlossen, dass die entsprechenden Schiffe dabei dargestellt sind, wie sie vor dem Wind ihre Fahrtgeschwindigkeit verlangsamen. Dies wiederum lege ein unmittelbar bevorstehendes Anlanden nahe.⁶¹⁵ Die entsprechenden Steine zeigen zugleich mit auffallender Häufigkeit Szenen, in denen eine Frauengestalt mit einem Trinkhorn einen Reiter willkommen heißt.⁶¹⁶ Beide Szenentypen deutet Lindow als aufeinander bezogene Darstellungen einer triumphierenden Ankunft;⁶¹⁷ dabei handle es sich um ein multivalentes Symbol, das sich sowohl auf die Heimkehr eines erfolgreichen gotländischen Kaufmanns als auch auf seinen Tod in der Ferne und seine freudige Ankunft in einem anderweltlichen Gefilde beziehen könne.⁶¹⁸ Ferner weist Lindow auf das Detail hin, dass sich in einer auffallend großen Zahl von Schiffsdarstellungen das Steuerruder auf der falschen (linken) Seite befindet; dies deutet er dahingehend, dass es sich bei solchen Schiffen möglicherweise um Schiffe einer Ander- oder Gegenwelt handle: um Schiffe der Toten.⁶¹⁹ Zum Verhältnis der Schiffsdarstellungen zu den Willkommens-Szenen, die einen Reiter und eine Frauengestalt mit einem Trinkhorn (o. ä.) zeigen, hat sich insbesondere Detlev Ellmers geäußert. Er deutet die Frauengestalten, die den Reiter willkommen heißen, als Walküren. Als Argument hierfür führt er u. a. an, dass die Willkommens-Szene mitunter vor einem Haus mit drei Türen stattfindet; dies spiele auf die aus der eddischen Dichtung bekannten vielen Türen Walhalls an, wo die Walküren den Einherjern den Trank ausschenken.⁶²⁰ Hier werde also der Empfang eines toten Helden in Walhall dargestellt, wie er etwa aus den Skaldengedichten Eiríksmál oder Hákonarmál bekannt ist.⁶²¹ Dafür spreche auch, dass der Reiter auf einem achtbeinigen Pferd dargestellt werden kann: Ellmers deutet dies als Bezugnahme auf Odins achtbeiniges Pferd Sleipnir.⁶²² All dies lasse nur eine Frage offen: Was ist das Verhältnis zwischen der Reiterszene und dem Schiff? Zum Vergleich verweist Ellmers auf
614 Oehrl 2010, S. 9–11; Nylén und Lamm 1988, S. 15. 615 Lindow 1993, S. 45 f. 616 Lindow 1993, S. 46 f. 617 Lindow 1993, S. 47–49. 618 Lindow 1993, S. 49 f. Vgl. Lindow 1997, S. 76 zur Parallelität der Bestattung Balders zu diesen gotländischen Bildsteinen. 619 Lindow 1993, S. 50. 620 Ellmers 1995, S. 168. Vgl. Oehrl 2010, S. 8. 621 Ellmers 1995, S. 165 f., 167, 168; Ellmers 1986, S. 354. Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 123. 622 Ellmers 1995, S. 168; Ellmers 1986, S. 354. Vgl. ebenso Oehrl 2010, S. 7.
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Die Schiffsreise ins Jenseits
einen literarischen Bericht über einen Besuch des dänischen Königs Harald Klak bei Ludwig dem Frommen in Ingelheim im Jahre 826: Der Nordmann segelte mit seiner Flotte rheinaufwärts bis zu dem Punkt, der der Pfalz Ludwigs am nächsten gelegen war; dort wurde er von einer Delegation Ludwigs abgeholt, die dem Besucher für die verbleibende Strecke zur Pfalz Pferde zur Verfügung stellte. Dabei erwies Ludwig dem nordischen König eine besondere Ehre, indem er ihm sein eigenes Pferd sandte, um darauf zur Pfalz zu reiten. Ellmers nimmt an, dass die Darstellungen der gotländischen Bildsteine ebenso zu deuten sind: Der Verstorbene legt den Großteil der Strecke ins Jenseits zu Schiff zurück; auf dem letzten Reiseabschnitt, vom Landungsplatz nach Walhall, reitet er. In den Fällen, in denen der Reiter auf einem achtbeinigen Pferd dargestellt ist, hätte Odin dem Toten dieselbe Ehre erwiesen wie Ludwig der Fromme seinem Gast Harald Klak: Er hat ihm sein eigenes Pferd entgegengeschickt.⁶²³ Diese Deutung hat weithin Anklang gefunden, sich aber nicht allgemein durchsetzen können.⁶²⁴ Ein anderer Ansatz wurde etwa schon von Sune Lindqvist vertreten, der die erste Corpusedition der Bildsteine vorgelegt hat:⁶²⁵ Er vermutet in den Schiffsdarstellungen einen christlichen Einfluss und/oder eine Anspielung darauf, dass der Mann, zu dessen Ehren der Bildstein errichtet wurde, mit dem Schiff davongefahren ist.⁶²⁶ In jüngerer Zeit haben Egon Wamers und Sylvia Althaus – letztere insbesondere mit Hinblick auf die wikingerzeitlichen Steine – einen vergleichbaren Zugang gewählt und fassen die Schiffsdarstellungen als Verweise auf das diesseitige Leben des Verstorbenen vor seinem Tod auf: Die Schiffsbilder sollen an die weiten Reisen erinnern, die er zu Lebzeiten unternommen hat.⁶²⁷ Solche Auffassungen lassen sich nicht widerlegen und sind somit als mögliche Alternative zur Deutung der Schiffsdarstellungen als Totenschiffe anzuerkennen. Immerhin lässt sich zugunsten der Deutungen Lindows und Ellmers’ bemerken, dass die von diesen Autoren postulierte Zusammengehörigkeit von Schiff und Pferd als Transportmittel auf der Jenseitsreise eine genaue Entsprechung in Snorris Schilderung von Balders Bestattung findet.⁶²⁸ Zum Abschluss dieser kurzen Besprechung ikonographischer Zeugnisse für das Konzept einer Jenseitsreise zu Schiff im frühen Nordeuropa sei eine Denkmälergattung zumindest noch kurz erwähnt, die insbesondere im frühen 20. Jahrhundert als Niederschlag von Vorstellungen einer Reise der Toten über die See galt:⁶²⁹ die
623 Ellmers 1995, S. 168–170; Ellmers 1986, S. 352–354. 624 Positiv: Oehrl 2010, S. 11; Nylén und Lamm 2003, S. 70; Nylén und Lamm 1988, S. 70. Kritisch vgl. hingegen Dillmann 2007, S. 360 f.; Crumlin-Pedersen 1995, S. 94; Erik Moltke in Lindow 1993, S. 47 (Anm. 31). 625 Lindqvist 1941/42. 626 Lindqvist 1941/42 Bd. 1, S. 92–94, 101. 627 Wamers 1995, S. 157; Althaus 1993, S. 136–182. 628 Siehe oben S. 114 ff. und vgl. Oehrl 2010, S. 7–9. 629 Ebert 1920/21, S. 194 f., 196; vgl. Wrigglesworth 2010, S. 188; Vogt 2001, S. 104. Ferner vgl. Lorenz 1984, S. 568 f., 571 und de Vries 1956/57 Bd. 2, § 484 zu einer postulierten Verbindung mit der Bestat-
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Abb. 25: Bronzezeitliche Schiffsdarstellungen auf einem Felsen in Fossum (Tanumshede, Bohuslän, Schweden; RAÄ-Nr. 255:1; vgl. Milstreu und Prøhl 1999, S. 72–81 [T-255: Fossum 1:2 Hageberget]). © M. Egeler, 2011.
Schiffsdarstellungen in skandinavischen Felsbildern der Bronzezeit. Schiffe gehören zu den häufigsten Motiven dieser Felskunst (Abb. 25). Entsprechend ist vermutet worden, dass zwischen der Häufigkeit von Schiffsdarstellungen in Felsbildern und der Häufigkeit von Schiffssteinsetzungen eine Beziehung bestehen könnte; dabei wurde argumentiert, dass Schiffsbilder und Kreiszeichen die beiden häufigsten Motive der Felskunst seien, was eine Vergleichbarkeit mit den Schiffssetzungen und Steinkreisen herstelle, die in Nordeuropa beide als Grabformen besonders prominent sind.⁶³⁰ Ferner wurde auf Schiffsdarstellungen im Inneren bronzezeitlicher Grabkammern hingewiesen;⁶³¹ Müller-Wille verweist etwa auf das Grab von Kivik (Schonen, Südschweden),⁶³² während Capelle u. a. die mögliche Signifikanz der Schiffssetzung
tung Balders, und Müller-Wille 1968/69, S. 149 zu einer Verbindung von sowohl Bootsbestattungen als auch Bootsdarstellungen auf Felsbildern mit „magischen Fruchtbarkeitsvorstellungen [...], in denen die Gedanken über Leben und Tod unzertrennlich miteinander verwoben sind“ (Zitat: ibidem). 630 Capelle 1995, S. 74; Capelle 1986, S. 21, 34. Vgl. de Vries 1956/57 Bd. 1, § 115. 631 Vgl. Skoglund 2008, S. 392. 632 Müller-Wille 1968/69, S. 120; vgl. Müller-Karpe 1980 Bd. 2, S. 702, Bd. 3 Tafel 526; Althaus 1993, S. 152; Grinsell 1941, S. 368, 370 mit Abb. 5, A (S. 367); Stjerna 1912, S. 125 f. Einen eisenzeitlichen Parallelfall stellt möglicherweise die Grabkiste von Eke Smiss (Gotland) dar: Im Inneren dieses Grabs der
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von Lugnaro betont.⁶³³ Bei letzterer handelt es sich um eine bronzezeitliche Schiffssetzung in Halland (Schweden), die mit einem Hügel bedeckt wurde; an die südliche Bordwand dieser überhügelten Steinsetzung schließt sich ein kleines Steinkistengrab an, dem genau gegenüber – an der anderen, nördlichen Bordwand – sich eine Schiffsritzung befindet.⁶³⁴ In derartigen Monumenten wird deutlich, dass eine Verbindung zwischen den Schiffsdarstellungen der bronzezeitlichen Felskunst und dem Bereich des Todes offenkundig möglich war. Die Zahl der einschlägigen Belege ist jedoch äußerst gering: Lugnaro ist die einzige Schiffssetzung mit einer Schiffsritzung auf einem ihrer Steine.⁶³⁵ Zudem lassen sich aus diesem Material kaum konkrete Aussagen über die genaue Art der Beziehung zwischen Schiff und Tod ableiten. Ein weiteres Eingehen auf die Felskunst der Bronzezeit würde an dieser Stelle entsprechend zu weit führen: Der mögliche Gewinn für die Fragestellung der vorliegenden Arbeit stünde in keinem Verhältnis zum Aufwand, der sich aus einer Diskussion des ungemein umfangreichen, zugleich aber höchst ambivalenten Materials ergäbe. Es sei nur bemerkt, dass die Deutung der bronzezeitlichen Schiffsdarstellungen als Totenschiffe, die ihre Hochzeit in den frühen Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts hatte,⁶³⁶ auch in der jüngeren Vergangenheit noch vereinzelt vertreten wird. B. Almgren äußert sich folgendermaßen zur Religion der Spätbronzezeit: Daß die Schiffe nun mit dem Totenkult verbunden waren, bezeugen die spätbronzezeitlichen schiffsförmigen Gräber des Ostseegebiets [...]. Vielleicht handelt es sich bei den Schiffen auf F[elsbildern] dieser Per[iode] in Bohuslän, die ohne Besatzung dargestellt sind, um leere Totenschiffe.⁶³⁷
Ähnlich deuteten jüngst Richard Bradley und Dag Widholm die 37 m lange Schiffssetzung und die Schiffsdarstellungen der Felsbilder von Lofta (Småland, Schweden) als unmittelbar aufeinander bezogene und einander äquivalente Teile eines sepulkralen Gesamtkomplexes.⁶³⁸ Solche Interpretationen von (manchen) Schiffsdarstellungen spezifisch auf die Jenseitsreise der Toten hin stellen in der aktuellen Diskussion zur
römischen Eisenzeit (4. Jahrhundert) wurde ein Schiff an einer Stelle eingeritzt, die nur für den Toten sichtbar war und daher von Althaus als ein Ausdruck des Wunschs gedeutet wurde, dass der Tote zu Schiff ins Jenseits fahren solle (Althaus 1993, S. 146 f., 148, 152; für eine Abbildung vgl. Lindqvist 1941/42 Bd. 1, S. 67 [Abb. 239]). Vgl. Müller-Wille 1968/69, S. 88 (Bildstein mit einer Schiffsdarstellung aus einem norwegischen Grab der frühen Völkerwanderungszeit). 633 Capelle 1995, S. 74; Capelle 1986, S. 21. 634 Capelle 1986, S. 18, 21, 50, 51 (Abb. 53), Tafel 4,a; Müller-Wille 1968/69, S. 14. Für eine Abbildung vgl. die Datenbank des schwedischen Riksantikvarieämbet (); diese Schiffssetzung ist dort registiert als RAÄ-Nr. Hasslöv 3:1 (letzter Zugriff: 16. Juli 2013). 635 Capelle 1995, S. 74; Capelle 1986, S. 21. 636 Vgl. Wrigglesworth 2010, S. 188; Vogt 2001, S. 104. 637 Almgren in Müller et al. 1994, S. 354 f. 638 Bradley und Widholm 2007, S. 32, vgl. S. 45–47.
Rückblick: Balder, Schiffsbestattungen und die Reise zu den Glæsisvellir
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Deutung der bronzezeitlichen Felskunst Skandinaviens jedoch einen Ausnahmefall dar. Zwar gelten die Schiffe häufig nach wie vor als symbolische Verweise auf Reisen mit Bezug zu einer „Anderwelt“,⁶³⁹ jedoch werden sie derzeit zumeist auf einen rekonstruierten Mythos von der täglichen Reise der Sonne bezogen.⁶⁴⁰
3.3 Rückblick: Balder, Schiffsbestattungen und die Reise zu den Glæsisvellir Im vorliegenden Kapitel wurde eine kleine Auswahl dessen angesprochen, was sich als Hinweis auf eine Verbindung von Totenreich und transmarinem Bereich in der nordgermanischen Religionsgeschichte der vorchristlichen Zeit deuten lässt: literarische Schilderungen von Boots- und Schiffsbestattungen in der altnordischen, altenglischen und arabischen Literatur, die archäologisch nachgewiesenen Boots- und Schiffsbestattungen Nordeuropas, die skandinavischen Schiffssetzungen der Bronzeund Eisenzeit und die Darstellungen von (Toten-?)Schiffen auf gotländischen Bildsteinen. Über diese Zeugnisse hinaus hätte man noch auf manch anderes Phänomen der nordischen Vor- und Frühgeschichte eingehen können: die Verwendung schiffsförmiger Baumsärge in Schleswig-Holsten und Jütland,⁶⁴¹ schiffsförmige Grabhügel,⁶⁴² maritime Elemente – wie die Beigabe von Muscheln oder eine Lokalisierung innerhalb der Hochwasserzone – in einigen bronzezeitlichen Gräbern Westnorwegens,⁶⁴³ oder die insbesondere im nördlichen Norwegen der Eisenzeit übliche Verwendung einzelner kleinerer Inseln ausschließlich als Begräbnisorte (Abb. 26).⁶⁴⁴ Dass im vorchristlichen Norden – zumindest immer wieder und in der einen oder anderen Weise – eine enge Verbindung zwischen Tod, Jenseits und dem Meer bestand, dürfte
639 Vgl. Egeler, im Erscheinen (Hunt and Otherworld), passim. 640 Z.B. Kristiansen 2012; Skoglund 2008, S. 391; Kaul 2004. Für einen Versuch, beide Zugänge miteinander in Einklang zu bringen, vgl. Bradley und Widholm 2007, S. 45–47. 641 Eine symbolische Bedeutung wird für solche Särge von Müller-Karpe 1980 Bd. 2, S. 702 angenommen, der zur Begründung auf die nordischen Schiffssetzungen und die Schiffsdarstellung im Grab von Kivik verweist (vgl. oben Anm. 632). Vgl. Grinsell 1941, S. 365 f. zu englischen Beispielen. 642 Z.B. Byock et al. 2005, S. 214 f. mit Abb. 10 (ein Beispiel im Mosfell-Tal im Westen Islands); Simonsen 1970, S. 87 (mehrere Beispiele auf einer norwegischen Bestattungsinsel). 643 Vgl. Wrigglesworth 2010, S. 194. 644 Heide 2011, S. 60; Simonsen 1970, S. 76. Beispiele sind etwa Skogøy (Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 261), das Inselchen Leikvikholmen im Tjeldsund zwischen dem norwegischen Festland und der Lofoteninsel Hinnøya (Simonsen 1970, S. 111), oder Holsøya bei der Lofoteninsel Vestvågøya (Abb. 26; Simonsen 1970, S. 76); für weitere Beispiele vgl. Simonsen 1970, S. 43–45; 86 f.; 105 f. Vgl. auch Brink 2001, S. 100, der in Analogie zum Helgafell der Eyrbyggja saga und der Landnámabók eine Deutung von Inseln mit dem Namen Helgö/Helgøy als Inseln der Toten vorschlägt. Zu Toteninseln in samischen Siedlungsgebieten vgl. Müller-Wille in Müller-Wille et al. 1978, S. 278.
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Abb. 26: Auf der Toteninsel Holsøya bei Vestvågøya, Lofoten, Norwegen. © M. Egeler, 2011.
jedoch bereits aus der auf den vorangegangenen Seiten besprochenen Auswahl von Zeugnissen ausreichend deutlich hervorgegangen sein. Wie weit lässt sich eine solche, sehr allgemeine Feststellung jedoch spezifizieren? Die besten Voraussetzungen dafür, substantielle Aussagen über religiöse und kosmologische Vorstellungen zu treffen, bietet vermutlich die spätheidnische Zeit an der Schwelle zur Christianisierung des Nordens: Diese Zeit, also insbesondere das 10. Jahrhundert, befindet sich innerhalb der Reichweite sowohl schriftlicher als auch archäologischer Quellen verschiedenster Art, was die Frage zumindest legitim erscheinen lässt, inwieweit diese verschiedenen Quellengattungen Bilder zeichnen, die sich gegenseitig bestätigen und damit die Authentizität religionsgeschichtlicher Rekonstruktionen näherungsweise sichern. Die zentralste Stellung nimmt hier die Schilderung von Balders Bestattung in der Gylfaginning ein. Snorri griff bei der Abfassung dieses Texts zumindest teilweise auf die Húsdrápa des Úlfr Uggason aus der 2. Hälfte des 10. Jahrhunderts zurück; damit handelt es sich bei Snorris Beschreibung um einen Text, der (zumindest abschnittsweise) unmittelbar auf spätheidnischem Material beruht und damit für die Rekonstruktion der spätheidnischen Vorstellungswelt ein besonderes Gewicht besitzt. Dieses Gewicht ist vielleicht sogar noch höher einzuschätzen als dasjenige des Berichts des Ibn Faḍlān: Ibn Faḍlāns Beschreibung ist zwar als Beschreibung eines Ritualablaufs
Rückblick: Balder, Schiffsbestattungen und die Reise zu den Glæsisvellir
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von unschätzbarem Wert, seine Islamisierung inhaltlicher Konzepte schränkt ihren Wert für die Rekonstruktion der dahinterstehenden Vorstellungen jedoch schwerwiegend ein. Oben wurden für Snorris Beschreibung von Balders Schiffsbestattung folgende Hauptelemente festgehalten: (1) der Leichnam des Gottes wird auf einem brennenden Schiff dem Meer übergeben; (2) seine Frau stirbt vor Kummer und wird neben ihm auf den Scheiterhaufen gelegt; (3) das Schiff kann nur von einer Riesin zu Wasser gelassen werden; (4) Thor weiht den Scheiterhaufen; (5) ein Zwerg wird auf den Scheiterhaufen geworfen und verbrennt dort; (6) ferner werden reiche Beigaben auf dem Scheiterhaufen verbrannt, die mit Balder ins Totenreich gelangen und ihm dort zur Verfügung stehen; (7) und Balder scheint den ersten Teil seines Wegs zu Schiff, den zweiten Teil aber zu Pferde zurückzulegen. Fast alle dieser Elemente finden unmittelbare Entsprechungen nicht nur in den literarischen, sondern insbesondere auch in den archäologischen Zeugnissen: (1) Der archäologische Nachweis von Bestattungen in Schiffen, die brennend aufs Meer hinaustreiben, wäre selbst in dem Fall, dass solche Bestattungen je durchgeführt wurden, von vorneherein unmöglich. Vermutlich wäre es jedoch auch grundsätzlich verfehlt, einen solchen Nachweis zu versuchen. Aus den Details von Snorris Erzählung geht deutlich hervor, dass es sich bei Balders Hinaustreiben auf die See um die erste Etappe seiner Reise ins Totenreich handelt.⁶⁴⁵ Der Mythos schildert hier eine körperliche Reise des Leichnams. Dass ein Leichnam eine Reise unternimmt, die ihn erst zu Schiff und dann zu Pferde in die Ferne führt, ist jedoch nur in einem narrativen Kontext möglich; ein Bestattungsritual, das in der lebenswirklichen Welt stattfindet, könnte eine solche Idee nur durch entsprechende Grabbeigaben andeuten, aber nicht real durchführen. Genau eine solche Andeutung einer Reise durch die Grabbeigaben ist nun jedoch, was im archäologischen Befund sichtbar wird: Die Boots- und Schiffsgräber enthalten ein (verbranntes oder unverbranntes) Boot oder Schiff, also das für Fernreisen im wikingerzeitlichen Norden übliche Fahrzeug.⁶⁴⁶ (2, 5) Neben Balder werden zwei anthropomorphe Wesen auf dem Scheiterhaufen verbrannt: seine Frau Nanna, die vor Kummer stirbt und mit ihrem Mann bestattet wird, und ein Zwerg, der Thor unter die Füße gerät, durch einen Tritt auf den Scheiterhaufen befördert wird und dort verbrennt. Diese beiden Details wurden u. a. von H. M. Smyser als literarische Reflexe realer Menschenopfer aufgefasst, die in germanischen Bestattungen immer wieder bezeugt sind.⁶⁴⁷ Hinweise auf solche Totennachfolgen liegen dabei auch im Fall von Schiffsbestattungen vor;⁶⁴⁸ oben erwähnt
645 Siehe oben S. 117. 646 Vgl. Schjødt 1995, S. 24. 647 Smyser 1965, S. 109; ebenso: Major 1924, S. 140; vgl. Lindow 1997, S. 91, 94. Anders vgl. de Vries 1956/57 Bd. 2, § 484; Lorenz 1984, S. 572. 648 Siehe oben S. 136 mit Anm. 461.
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wurden insbesondere etwa die Geschichte von der Bestattung des Ásmundr in der Landnámabók,⁶⁴⁹ die Tötung einer Sklavin bei Ibn Faḍlān⁶⁵⁰ und die (vermutliche) Beigabe einer Dienerin im Oseberg-Grab.⁶⁵¹ (3) Dass das Bestattungsschiff von einer Riesin zu Wasser gelassen wird, findet naturgemäß keine direkte Entsprechung in den archäologischen Zeugnissen. Zur Signifikanz dieses Details ist über Spekulationen nicht hinauszukommen: Soll das Auftreten einer anderweltlichen Macht als buchstäblicher Anstoß der Jenseitsreise symbolisch zum Ausdruck bringen, dass mit dem Ablegen des Bestattungsschiffs ein Abschnitt der Reise ins Totenreich beginnt, der dem Bereich der normalweltlichen Erfahrung entzogen ist? Können die Götter deshalb das Totenschiff nicht selbst zu Wasser lassen, weil es damit in einen Bereich des Jenseits eintritt, der den Göttern (als Mächten des Lebens?) entzogen ist? Muss diese Aufgabe von einer Riesin übernommen werden, weil diese der Welt des Todes besonders nahesteht?⁶⁵² (Man mag hier daran erinnern, dass diese Riesin auf einem mit Schlangen gezäumten Wolf reitet,⁶⁵³ dass Hermóðr bei seinem Ritt zu Hel an der Brücke über den Fluss Gjǫll gerade eine weibliche Wächtergestalt antrifft,⁶⁵⁴ und dass das Totenreich Hel einer weiblichen Herrin – eben der Hel – untersteht. Letztere erscheint am Ende der spätheidnischen⁶⁵⁵ Sonatorrek des Egill Skallagrímsson als eine Gestalt, die auf einer Landzunge steht und den Dichter erwartet (Str. 25) –⁶⁵⁶ ganz so, als würde die Reise zur Totengöttin über die See führen.)⁶⁵⁷ Von Interesse mag auch sein, dass in Ibn Faḍlāns Beschreibung einer Schiffsbestattung gerade eine stämmige und bedrohlich wirkende alte Frau als die Ritualspezialistin fungiert, die den Ritualablauf leitet und zentrale Handlungen selbst vornimmt.⁶⁵⁸ Ob es sich bei der zumindest oberflächlichen Ähnlichkeit zwischen der furchteinflößenden, stämmigen Alten Ibn Faḍlāns und der starken, schreckenerregenden Riesin von Snorris Beschreibung, die beide für die Durchführung der Schiffsbestattung eine zentrale Rolle spielen, um mehr handelt als um eine kuriose Zufallsparallele, muss letztlich jedoch dahingestellt bleiben. (4) Auch die Weihung des Scheiterhaufens durch Thor kann naturgemäß in den archäologischen Befunden zu den Schiffsgräbern keine direkten Parallelen haben, da der Akt einer Weihung, soweit nicht durch eine Inschrift dokumentiert, in den materi-
649 Siehe oben S. 121. 650 Siehe S. 133 f. 651 Siehe oben S. 145. 652 Lindow 1997, S. 76. 653 Siehe oben S. 115 und vgl. Motz 1993, S. 81. 654 Siehe oben S. 115. 655 Vgl. Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 358. 656 Marold 1992, S. 700. Hgg. von Finnur Jónsson 1908–1915 Bd. 1.A, S. 40–43; 1908–1915 Bd. 1.B, S. 34–37; Bjarni Einarsson 2003, S. 146–154. 657 Vgl. auch Lindow 1997, S. 75. 658 Siehe oben S. 133.
Rückblick: Balder, Schiffsbestattungen und die Reise zu den Glæsisvellir
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ellen Überresten nicht fassbar ist. Dass im Verlauf vorchristlicher Bestattungsrituale in der einen oder anderen Form eine Weihung vorgenommen wurde, ist grundsätzlich plausibel – Ibn Faḍlāns Beschreibung stellt ein nachdrückliches Zeugnis für die Komplexität vorchristlicher Bestattungsrituale dar. Im Fall der Gylfaginning ist jedoch ebenso möglich, dass die Weihung des Scheiterhaufens durch Thor weniger auf korrekten Kenntnissen über vorchristliche Vorstellungen und Rituale als auf dem Vorbild christlicher Bestattungsriten beruht.⁶⁵⁹ Immerhin erwähnt sei allerdings, dass in Ibn Faḍlāns Beschreibung der Wind, der das Feuer anfacht, auf den „Herrn“ des Verstorbenen zurückgeführt wird;⁶⁶⁰ bei diesem Herrn dürfte es sich dabei um eine Gottheit gehandelt haben. In Anbetracht dieses Umstands mag sich die Frage stellen lassen, ob es hier von Relevanz ist, dass Thor nach Adam von Bremens Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum IV.26 über die Winde gebietet: ‘Thor’, inquiunt, ‘presidet in aere, qui tonitrus et fulmina, ventos ymbresque, serena et fruges gubernat’. „Thor hat im Himmel den Vorsitz, der über Donner und Blitze, Winde und Regenschauer, schönes Wetter und Feldfrüchte gebietet.“⁶⁶¹ (6) Die Ausstattung von Boots- und Schiffsgräbern mit reichen Beigaben ist, wenn auch nicht immer der Fall, so doch die Regel. Dieses Detail von Balders Bestattung entspricht somit unmittelbar dem archäologischen Befund. (7) Balder wird sein Pferd mitsamt seines Geschirrs mitgegeben. Nachdem Balder mit seinem Bestattungsschiff den ersten Teil seiner Reise ins Jenseits hinter sich gebracht hat, verwendet er dieses Pferd, um die Brücke über den Fluss Gjǫll zu überqueren.⁶⁶² Dem entspricht, dass in den literarischen Zeugnissen ebenso wie im archäologischen Befund immer wieder Pferde als Grabbeigaben in Boots- und Schiffsbestattungen erscheinen (Abb. 7, 8);⁶⁶³ hierher hat man ferner auch die Verbindung von Schiffs- und Reiterdarstellungen auf gotländischen Bildsteinen gestellt.⁶⁶⁴ Solche Befunde stellen potentiell eine direkte Entsprechung zur Zweistufigkeit von Balders Reise dar: Auf einen Abschnitt, den er zu Schiff zurücklegt, folgt ein Abschnitt, auf dem er reitet.
659 Lorenz 1984, S. 572. In diesem Sinne vgl. auch Maier 2003, S. 108 zum Unterweltsfluss Gjǫll und der Brücke über diesen Fluss: Auch diese Details mögen christlich beeinflusst sein (zu den möglichen christlichen Vorlagen vgl. Lanczkowski 1986, S. 14; Dinzelbacher 1973). Für einen Überblick über die ältere Literatur zu Gjǫll und der Gjallarbrú vgl. Lorenz 1984, S. 576. Zur massiven Präsenz des christlichen Jenseitsbrückenmotivs in Skandinavien vgl. auch den schwedischen Brauch der Missionszeit, für das eigene Seelenheil oder für das Seelenheil von Verstorbenen Brücken zu errichten: Gschwantler 1998, S. 757–762; Düwel 1986, S. 90–97; Zilmer 2002. Für diesen Brauch ist wiederholt eine Verbindung mit dem Motiv der Jenseitsbrücke der Visionsliteratur angenommen worden (Düwel 1986, S. 93 f.; Gschwantler 1998, S. 757, 761). 660 Siehe oben S. 135. 661 Siehe oben S. 78. 662 Siehe oben S. 115. 663 Siehe oben S. 133, 140. 664 Siehe oben S. 171.
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Die Schiffsreise ins Jenseits
Snorris Beschreibung der Schiffsbestattung Balders geht somit nicht nur durch ihre Bezugnahme auf das Werk eines spätheidnischen Skalden im Kern bis auf die spätheidnische Zeit kurz nach der isländischen Landnahme zurück, sondern sie ist auch bis in die Details hinein unmittelbar kompatibel mit dem archäologischen Befund und anderen, literarischen oder ikonographischen Quellen. Insgesamt kann man daher mit einiger Sicherheit davon ausgehen, dass Vorstellungen von einer über das Meer führenden Jenseitsreise hier in weitgehend authentischer Weise einen Niederschlag finden. Zumindest im Nordeuropa der Wikingerzeit dürften solche Vorstellungen entsprechend eine signifikante Rolle gespielt haben. Das Ziel der vergleichsweise ausführlichen Besprechung dieses Umstands im vorliegenden Kapitel war dabei, zu illustrieren, wie weit verbreitet und wie tief verwurzelt solche Konzepte im frühmittelalterlichen Nordeuropa gewesen zu sein scheinen. Was ist nun jedoch die Bedeutung solcher Vorstellungen für das Verständnis der Glæsisvellir und des Ódáinsakr? Auf diese Frage wird im Einzelnen erst wieder gegen Ende dieses Buchs zurückzukommen sein. Andeutungsweise sei jedoch zumindest darauf hingewiesen, dass sich das Reich Guðmunds in der ältesten einschlägigen Quelle – den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus – jenseits des Meers in unmittelbarer Nachbarschaft des Totenreichs befindet, in dem Geruthus in einer Grabhügel-gleichen Halle haust; und dass die Glæsisvellir den Beschreibungen der Sagas zufolge offenbar zwar – ganz wie das Ziel von Balders Reise ins Totenreich – jenseits des Wassers, aber keineswegs im eigentlichen Sinne auf einer Insel liegen.
4 Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne In der Geschichte der Forschung zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir ist wiederholt die Nähe dieses Konzepts zu inselkeltischen Vorstellungen betont worden. Als ein wesentliches Beispiel wurde dabei die Insel Avalon der arthurischen Literatur angeführt, da diese Insel sich in mehreren ihrer Aspekte zu Teilaspekten des Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplexes in Parallele setzen lässt:⁶⁶⁵ So wird Avalon zumeist als eine Insel aufgefasst (entsprechend der Lage des Ódáinsakr und der Glæsisvellir jenseits des Meeres); ist mit anderweltlichen Frauengestalten mit übernatürlichen Fähigkeiten verbunden (entsprechend den Töchtern Guðmunds); kann als insula pomorum – „Apfelinsel“ – bezeichnet werden (entsprechend den von Saxo erwähnten berühmten Früchten im Hain des Guðmundr); wird mitunter mit einer insula vitrea – „Glasinsel“ – gleichgesetzt (entsprechend dem gewissermaßen ‚kristallenen‘ Aspekt der Glæsisvellir als splendidi campi und ihrer etymologischen Verbindung mit Glas/Bernstein); und teilt mit dem Ódáinsakr das Motiv der Vermeidung des Todes. Solche Parallelen haben die Frage aufgeworfen, ob zwischen diesen beiden Motivkomplexen direkte kulturgeschichtliche Verbindungen bestehen könnten. Ehe es möglich ist, die Beantwortung dieser kulturübergreifenden Frage in Angriff zu nehmen, ist jedoch zunächst die Geschichte des Avalon-Motivs als solchen aufzuarbeiten.⁶⁶⁶ Entsprechend wird das vorliegende Kapitel einen ausführlichen Überblick über die Entwicklung des Avalon-Motivs von seinem ersten Erscheinen in der anglonormannischen Literatur des 12. Jahrhunderts bis zu seinen klassischen Aus-
665 Vgl. insbesondere Heizmann 2002; Heizmann 1998; Krappe 1943. Siehe oben S. 2 ff. 666 Als eine der zentralen Stätten der mythisch-literarischen Geographie der arthurischen Literatur spielt Avalon eine wesentliche Rolle in weiten Teilen der gesamten Arthurüberlieferung; eine ausführliche „Geschichte Avalons“ stellt jedoch nach wie vor ein Desiderat dar. In Anbetracht der zentralen Stellung Avalons im Rahmen der arthurischen Literatur ist die für dieses Thema grundsätzlich relevante Forschungsliteratur inzwischen nichtsdestoweniger ebenso unüberschaubar wie die Sekundärliteratur zu arthurischen Themen insgesamt. (Das Bibliographical Bulletin of the International Arthurian Society/Bulletin bibliographique de la Société internationale arthurienne verzeichnete in den letzten Jahren im Schnitt etwa 1000 [sic] Publikationen zu arthurischen Themen jährlich.) Für Forschungsbeiträge, die einen wesentlichen Fokus spezifisch auf das Avalon-Motiv als solches legen, vgl. etwa: Egeler 2014 (Sena and Avalon); Wade 2011, S. 39–71 et passim; Compagna Perrone Capano 2009; Koch 2006 (Avalon); Sterckx 2006; Gouttebroze 2003; Ashe 1996; Sturm-Maddox und Maddox 1994; Maier 1994, S. 33; Pioletti 1989; Bouyer 1986, S. 57–74 et passim; Ahl 1982; Lincoln 1980 (Ferryman), S. 48–50; Sharrer 1971; Bullock-Davies 1969; Charvet 1967; de Vries 1961 (Religion), S. 258; Chotzen 1948; Krappe 1943; Savage 1942; Loomis 1940–1941; Loomis 1937; Slover 1931; Cons 1930–1931; Faral 1928; Warren 1899; Lot 1898; Rhŷs 1891, S. 328–369. Nicht primär mit Avalon als solchem befasst, aber dennoch von besonderer Bedeutung für dieses Thema sind Larrington 2006; Walter 2004; Harf-Lancner 1984; O’Sharkey 1971; Blanchet 1970; Bogdanow 1969; Paton 1960 (1903); Loomis 1959 (Legend); Loomis 1927 (Celtic Myth); Lot 1895.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
prägungen im 13. Jahrhundert vorlegen. In Anbetracht der nahezu unüberschaubaren Materialfülle hat sich die Diskussion zwar auf eine Besprechung ausgewählter Themenbereiche zu beschränken, strebt dabei jedoch an, alle zentralen Eckpunkte des Avalon-Motivs zumindest anzuschneiden. Ein besonderes Augenmerk wird auf der Behandlung von Themen liegen, die für die Frage einer Verwandtschaft zwischen dem Avalon der arthurischen Literatur und den Glæsisvellir von unmittelbarer Relevanz sind, doch wird sich die Diskussion nicht auf solche Zeugnisse beschränken; angestrebt wird vielmehr, dem Leser einen Überblick über Entwicklung und Belegsituation zu geben, der zwar notgedrungen exemplarisch bleiben muss, in seiner exemplarischen Betrachtung jedoch nicht nur die späteren Fragen des Kulturvergleichs, sondern zunächst die Entwicklung eines Gesamtbilds ins Zentrum stellt. Der Rahmen der folgenden Darstellung reicht chronologisch vom ersten Beleg für die Insel Avalon in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts bis in die 2. Hälfte des 13. Jahrhunderts; das Avalon-Motiv wird so von seinen Anfängen bis an die Schwelle zur Abfassungszeit derjenigen nordischen Vorzeitsagas behandelt, welche die Hauptquellen für den Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex darstellen. Das Motiv über diese Zeit hinaus weiterzuverfolgen wäre zwar grundsätzlich von Interesse, würde aber den Umfang der vorliegenden Arbeit sprengen; eine bis in die Gegenwart reichende „Geschichte Avalons“ muss vorerst ein Desiderat bleiben. Inhaltlich wird die folgende Diskussion sich ferner, von einigen wenigen Ausnahmen abgesehen, weitgehend auf die Behandlung des Motivs in der anglonormannischen und allgemein der altfranzösischen Literatur beschränken. Ausgespart bleibt insbesondere die Rezeption Avalons in der deutschen arthurischen Literatur. Dies ist insbesondere aus zwei Gründen zu rechtfertigen: Zum einen ist nicht zuletzt durch altnordische Übersetzungen anglonormannischer Literatur bestens dokumentiert, dass das Skandianvien des Hochmittelalters einen direkten Zugriff auf anglonormannische Bearbeitungen des AvalonThemas hatte; falls also das Avalon-Motiv einen unmittelbaren literarischen Einfluss auf die Entwicklung des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplexes genommen haben sollte, dürfte dies aus einer Betrachtung der französischen und englischen Zeugnisse ersichtlich werden, da diese in Skandinavien früh bekannt waren und so unmittelbare Einflüsse auszuüben vermocht hätten (und dies in zumindest einem Fall nachweislich auch getan haben).⁶⁶⁷ Damit in unmittelbarer Verbindung steht zum zweiten, dass – wie Rudolf Simek bemerkt hat – das Avalon-Motiv in der deutschen arthurischen Literatur nur einen „erstaunlich geringen Stellenwert“ hat.⁶⁶⁸ Auf die Berücksichtigung dieser Literatur zu verzichten dürfte somit ein zwar bedauerlicher, aber aus Umfangsgründen gebotener und inhaltlich zu verschmerzender Verlust sein. Dies gilt zudem umso mehr, als die deutsche arthurische Literatur vermutlich keinen von der altfranzösischen und lateinischen arthurischen Literatur unabhängigen Zugriff
667 Siehe oben S. 63. 668 Simek 2012, S. 31.
Britisch-bretonische Anfänge
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auf keltisches (d. h. insbesondere bretonisches und walisisches) Traditionsgut gehabt haben dürfte, so dass diese Literatur für die später zu stellende Frage des Fortlebens keltischer Mythen in der matière de Bretagne im Allgemeinen keinen unabhängigen Quellenwert hat.
4.1 Britisch-bretonische Anfänge: Geoffrey von Monmouth und die frühesten Zeugnisse für das Avalon-Motiv Bereits bei der Besprechung des Helga þáttr ist darauf hingewiesen worden, dass dort ein Werk der arthurischen Literatur unmittelbar aufgegriffen wird – das Lai de Lanval der Marie de France – und dass in diesem Text damit die Entführung in das Reich Guðmunds implizit der Entrückung nach Avalon gleichgesetzt wird. Eine Entrückung nach Avalon gehört ursprünglich natürlich zur Biographie eines anderen Helden als Lanval: Zum ersten Mal erscheint Avalon in der mittelalterlichen Literatur in der Historia regum Britanniae,⁶⁶⁹ mit deren Veröffentlichung um das Jahr 1136 Geoffrey von Monmouth das biographische Gerüst der Figur König Arthurs und damit der gesamten arthurischen Dichtung formulierte.⁶⁷⁰ Dieses Werk des 12. Jahrhunderts gelangte bereits früh nach Skandinavien, und schon um 1200 entstand mit den Breta sǫgur eine freie Übertragung ins Altnordische.⁶⁷¹ Die Episode mit dem Tod König Arthurs, in der der sterbende König nach Avalon gebracht wird, erscheint dort folgendermaßen (K. 43 [Hauksbók]):
669 Heizmann 1998, S. 86; Wade 2011, S. 39. 670 Lacy et al. 1997, S. 1; vgl. Lupack 2005, S. 24–28, 331–333 passim. Allgemein zu Geoffrey vgl. etwa Echard 2011 (Geoffrey); Lupack 2005, S. 24–28, 331–333; Parry und Caldwell 1959. – Zur folgenden Besprechung von Material der arthurischen Literatur ist zu bemerken, dass sich die jeweils verwendeten Namensformen von Protagonisten dieser Literatur in der Regel an den in den jeweiligen Texten verwendeten Formen orientieren. Vollständige Konsistenz wurde hierbei jedoch nicht angestrebt, da zum einen die Namen von Figuren schon innerhalb der einzelnen Texte und zwischen deren verschiedenen Handschriften nicht vollständig normalisiert sind (vgl. etwa Carroll 1987, S. xxxiii f.), und da in Anbetracht der Vielfalt der geläufigen Namensvarianten ein gewisses Maß an Vereinheitlichung im Interesse der Lesbarkeit des Texts angeraten schien. 671 Kalinke 1981, S. 12–14; Lacy et al. 1997, S. 107; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 50 f.; Kalinke 2011 (Introduction of the Arthurian Legend), S. 6; Gropper 2011, S. 48. Zur lateinischen Grundlage dieser altnordischen Übersetzung, die sich von der uns heute vorliegenden Historia in einigen Zügen unterschieden haben könnte, vgl. Kalinke 2011 (Sources), S. 24–26; Gropper 2011, S. 57 f. Für die vor 1218/19 entstandene und in der Hauksbók als Teil der Breta sǫgur überlieferte Merlínússpá, eine Übersetzung von Geoffreys Prophetiae Merlini, vgl. Horst 2012. Allgemein zur Rezeption der arthurischen Literatur in Skandinavien und Island vgl. etwa Mitchell 1959; Kalinke 1981; Kalinke 1985; Lacy et al. 1997, S. 106–109; Uecker 2004, S. 170–190; Glauser 2005; Kalinke 2011 (Arthur of the North). Allgemein zu den Breta sǫgur vgl. etwa Kalinke 2011 (Introduction of the Arthurian Legend), S. 5 f.; Gropper 2011.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
I þersv(m) bardaga feck konvngr sar þat er hann leiddi til bana. hann var fœrðr til Avollo eyiar. la konungr þar litla stvnd aðr hann andadiz ok var harmaðr miok af sinvm monnvm. lik hans var iarðat at Kriz kirkiv i Cantara byrgi.⁶⁷² In dieser Schlacht erhielt der König die Wunde, an der er starb. Er wurde zur Insel Avollo gebracht. Dort lag der König eine kleine Weile, ehe er starb, und er wurde von seinen Männern sehr beklagt. Sein Leichnam wurde in der Christuskirche in Canterbury begraben.
Im Gegensatz zum Verlauf, den das menschliche Leben in einem Gefilde wie dem Ódáinsakr nimmt, stirbt Arthur hier ausdrücklich. Damit weichen die Breta sǫgur von der Historia regum Britanniae in überraschender Weise ab; denn dort heißt es über das Schicksal König Arthurs nach der Schlacht von Camlann (Historia regum Britanniae XI.178): Sed et inclytus ille Arturus letaliter uulneratus est, qui illinc [de fluminde Cambula] ad sananda uulnera sua in insulam Auallonis euectus Constantino cognato suo et filio Cadoris ducis Cornubiae diadema Britanniae concessit, ab incarnatione domini dxlij.⁶⁷³ Aber auch jener berühmte Arthur ist tödlich verwundet worden; von dort zur Heilung seiner Wunden zur Insel Avalon gebracht, übergab er die Krone von Britannien seinem Verwandten Constantinus, dem Sohn von Cador dem Herzog von Cornwall, im Jahr 542 nach der Fleischwerdung des Herrn.
Zentral ist hier, dass Arthur in dieser frühesten Form der Überlieferung gerade nicht stirbt. Bei Avalon, wie es in seiner ursprünglichen Form bei Geoffrey erscheint, handelt es sich um eine Insel, wo selbst tödliche Wunden Heilung finden können; Arthur kann also ausdrücklich auf Genesung hoffen. Über diese kurze Erwähnung hinaus erscheint Avalon in der Historia regum Britanniae nur noch einmal: Im Zuge einer Schilderung von Arthurs Rüstung und Bewaffnung wird Avalon als der Ort genannt, an dem Arthurs Schwert Caliburnus – das Excalibur der späteren arthurischen Texte – geschmiedet wurde (IX.147). Eine detailreichere Schilderung Avalons legt Geoffrey in einem etwas späteren Werk vor, seinem Leben Merlins, abgefasst zwischen 1148 und 1155.⁶⁷⁴ Dort werden Avalon und das Schicksal König Arthurs folgendermaßen beschrieben (Vita Merlini 908–940):
672 Finnur Jónsson und Eiríkur Jónsson 1892–1896, S. 294. 673 Chambers 1927, S. 255 f.; vgl. Reeve und Wright 2007, S. 253. 674 Datierung: Clarke 1973, S. 40–42; vgl. Wade 2011, S. 50.
Britisch-bretonische Anfänge
Insula pomorum que Fortunata vocatur ex re nomen habet quia per se singula profert. Non opus est illi sulcantibus arva colonis, omnis abest cultus nisi quem natura ministrat. Ultro fecundas segetes producit et uvas nataque poma suis pretonso gramine silvis. Omnia gignit humus vice graminis ultro redundans, annis centenis aut ultra vivitur illic. Illic jura novem geniali lege sorores dant his qui veniunt nostris ex partibus ad se, quarum que prior est fit doctior arte medendi exceditque suas forma prestante sorores. Morgen ei nomen didicitque quid utilitatis gramina cuncta ferant ut languida corpora curet. Ars quoque nota sibi qua scit mutare figuram et resecare novis quasi Dedalus aera pennis. Cum vult, est Bristi Carnoti sive Papie, cum vult, in vestris ex aere labitur horis.
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Die Insel der Äpfel,⁶⁷⁵ die ‚Insel der Seligen‘ genannt wird, / hat daher ihren Namen, weil sie die einzelnen Dinge von sich aus hervorbringt. / Jene hat keinen Bedarf an Bauern, die die Äcker pflügen, / es gibt keine Feldarbeit außer der, die die Natur verrichtet. / Im Überfluss bringt sie fruchtbare Getreidefelder hervor und Trauben, / und Apfelbäume⁶⁷⁶ sind dem geschnittenen Gras in ihren Wäldern entsprossen. / Alles erzeugt die Erde an Stelle von Gras, im Überfluss überströmend, / hundert Jahre und mehr lebt man dort. / Dort sprechen neun Schwestern mit einem freudvollen Gesetze denen / Recht, die aus unserem Weltteil zu ihnen kommen, / von denen die erste in der Heilkunst die Gelehrtere ist / und ihre Schwestern durch ihre herausstechende Schönheit übertrifft. / Sie trägt den Namen Morgen und hat gelernt, was für Nutzen / alle Pflanzen haben, um die geschwächten Leiber zu heilen. / Ihr ist auch die Kunst bekannt, die sich darauf versteht, die Gestalt zu verändern, / und wie Dädalus mit neuen Federn die Lüfte zu durchschneiden. / Wenn sie will, ist sie in Brest, Chartres oder Pavia,⁶⁷⁷ / wenn sie will, gleitet sie an euren Küsten aus der Luft. / Und man sagt,
675 Die Übersetzung der insula pomorum als „Insel der Äpfel“ wäre auf der Grundlage des klassischen Sprachgebrauchts nicht unproblematisch, da pomum im Latein der klassischen Zeit eine Frucht jeder Art bezeichnet (Lewis und Short 1917 s.v. ‚pomum‘). Im Zuge der Entwicklung zu den romanischen Sprachen der Gegenwart erfährt der Begriff jedoch eine Bedeutungsverengung, vgl. franz. pomme, ital. pomo; diese Bedeutungsverengung von „Frucht“ auf „Apfel“ ist auch schon im mittellateinischen Sprachgebrauch weithin fassbar, vgl. Niermeyer et al. 2002 s.v. ‚pomacium‘, ‚pomaretum‘, ‚pomarius‘, ‚pomatus‘, ‚pometum‘, ‚pomifera‘. Dies lässt eine Übersetzung der insula pomorum als „Apfelinsel“ hier schon aufgrund der späten Latinität des Texts als gerechtfertigt erscheinen. Hinzu tritt die Herleitung des Namens ‚Avalon‘ von einem keltischen (kymrischen) Wort für „Apfel“, die schon im späten 12. Jahrhundert im Werk des Giraldus Cambrensis erscheint (siehe unten S. 226, 254). Ein gewisser Unsicherheitsfaktor besteht aus etymologischer Sicht insofern, als die volkssprachlichen inselkeltischen Termini für „Apfel“, zu denen der Name „Avalon“ zu stellen ist, mitunter eine größere Bedeutungsbreite zeigen, die sich derjenigen des klassisch-lateinischen pomum annähert (Slover 1931, S. 396 f.; vgl. DIL s.v. ‚aball‘). Hier hat jedoch bereits Cons auf den Sprachgebrauch bei Geoffrey selbst hingewiesen: Nur wenige Verse vor Beginn seiner Schilderung der insula pomorum beschreibt Geoffrey die goldenen Äpfel der Hesperiden; dabei verwendet er für diese „goldenen Äpfel“ gerade nicht das klassische aurea mala, sondern aurea poma (Vita Merlini 896 f.): Dies rechtfertigt die Annahme, dass Geoffrey selbst bei seiner insula pomorum an eine „Apfelinsel“ gedacht hat (Cons 1930–1931, S. 389, mit detaillierter Diskussion von Geoffreys Sprachgebrauch). 676 Siehe oben Anm. 675. 677 Vgl. Parry 1925, S. 123 (Anm. 49).
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
Hancque mathematicam dicunt didicisse sorores Moronoe, Mazoe, Gliten, Glitonea, Gliton, Tyronoe, Thiten cithara notissima Thiten. Illuc post bellum Camblani vulnere lesum duximus Arcturum nos conducente Barintho, equora cui fuerant et celi sydera nota. Hoc rectore ratis cum principe venimus illuc, et nos quo decuit Morgen suscepit honore, inque suis talamis posuit super aurea regem fulcra manuque sibi detexit vulnus honesta inspexitque diu, tandemque redire salutem posse sibi dixit, si secum tempore longo esset et ipsius vellet medicamine fungi. Gaudentes igitur regem commisimus illi et dedimus ventis redeundo vela secundis.⁶⁷⁸
dass sie ihre Schwestern die Astrologie gelehrt hat,⁶⁷⁹ / Moronoe, Mazoe, Gliten, Glitonea, Gliton, / Tyronoe, Thiten, die durch ihre Laute hochberühmte Thiten. / Dorthin brachten wir nach der Schlacht von Camlann den durch die Wunde hingestreckten / Arthur; Barinthus war unser Steuermann, / dem die Meere bekannt waren, und die Gestirne des Himmels. / Mit diesem Schiffsführer kamen wir mit dem Fürsten dorthin, / und Morgen nahm uns mit der gebührenden Ehre auf, / und in ihrem Schlafgemach legte sie den König auf ein goldenes / Bett, und mit ehrbarer Hand entblößte sie ihm die Wunde / und betrachtete sie lange, und schließlich sagte sie, dass er wieder / genesen könne, wenn er eine lange Zeit bei ihr / wäre und sich die Medizin derselben verabreichen wolle. / In Freude vertrauten wir jener also den König an / und hissten für die Rückreise günstigen Winden die Segel.
Der Name „Avalon“ wird in dieser Passage nicht ausdrücklich genannt, ergibt sich aber aus dem Vergleich mit der Schilderung derselben Ereignisse in der Historia regum Britanniae desselben Autors. Statt der Namensnennung findet sich hier eine doppelte Umschreibung: als Insula pomorum „Insel der Äpfel“ und Insula Fortunata. Letztere Bezeichnung ist seit der lateinischen Literatur der klassischen Antike die gängige lateinische Übersetzung des griechischen μακάρων νῆσοι, „Inseln der Seligen“. Diese Inseln der Seligen nahmen bereits in der klassischen Antike einen prominenten Platz in der (halb-mythischen) Topographie des Mittelmeerraums und der angrenzenden Meere ein und erhielten sich diese prominente Stellung bis in Spätantike und Mittelalter, wo sie in grundlegenden enzyklopädischen Werken ebenso erscheinen wie auf einigen Weltkarten (mappae mundi). So könnte man hier an die oben bereits zitierten mappae mundi des Beatus, von Hereford und des Ranulf Higden erinnern, auf denen sich die Inseln der Seligen jeweils vor der nordafrikanischen Küste verzeichnet finden (Abb. 1, 2, 3).⁶⁸⁰ Eine solche Anbindung an die Themen und den Stand des Wissens der zeitgenössischen Gelehrsamkeit zeigt diese Passage der Vita Merlini auch sonst. Die Beschreibung Avalons bildet den Abschluss eines längeren gelehrten Exkurses: Merlin, der sich in die Wildnis des Waldes von Calidon zurückgezogen hat, wird von Taliesin (Tel-
678 Für den nachaugustäischen Gebrauch von mathematica für „Astrologie“ vgl. etwa Lewis und Short 1917 s.v. ‚mathematicus‘; von Stuckrad 2000, S. 1, 6, 8; Rabanus Maurus, De universo XV.4 = Patrologia Latina t.CXI, c.423C–D. 679 Text: Clarke 1973, S. 100, 102, vgl. Parry 1925, S. 82, 84. 680 Vgl. Miller 1895–1898 Bd. 1, S. 60 (und die dortige Faltkarte); Bd. 2, Tafeln 14, 15, 16; Bd. 3, S. 96 (Abb. 34), 97 (Abb. 35), 98 (Abb. 36), 107; Westrem 2010, S. 388 f. (Nr. 987); The Folio Society 2010. Siehe oben S. 51–54.
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gesinus) besucht, den er gebeten hat, ihm die Natur von Wind und Regen zu erklären (Vita Merlini 732 ff.). Taliesin nimmt diese Bitte zum Ausgangspunkt für eine Reihe kosmologischer Erläuterungen, in deren Verlauf er u. a. die Natur der verschiedenen Himmel, der Gestirne, der Erde und der Wetterphänomene bespricht; darauf lässt er eine Diskussion der Ozeane, der Fische und schließlich der Inseln folgen, wobei die Schilderung Avalons den Abschluss des Inselkatalogs und damit dieses wissenschaftlichen Exkurses bildet. Geoffreys Inselkatalog scheint dabei auf Isidor von Sevilla (ca. 560–634) zu beruhen, dessen Etymologiae eines der meistgelesenen Werke des Mittelalters darstellten: Der Anfangsteil von Isidors enzyklopädischer Behandlung der Inseln der bekannten Welt (Etymologiae XIV.vi.1–13) entspricht nahezu Punkt für Punkt dem Inselkatalog der Vita Merlini. Diese Passage könnte Geoffrey dabei sowohl direkt als auch in Form des nahezu wörtlichen Isidor-Zitats bei Rabanus Maurus, De universo XII.5 bekannt gewesen sein.⁶⁸¹ Die Unterschiede zwischen der Darstellung Geoffreys und seiner Vorlage Isidor (oder Rabanus Maurus) beschränken sich im Wesentlichen auf die Umstellung zweier Inselpaare (Thule und die Orkaden, die Gorgaden und die Hesperiden) und auf die Verschiebung der Inseln der Seligen bei Geoffrey an das Ende seines Inselkatalogs.⁶⁸² Letzteres dürfte dabei erzähltechnische Gründe haben,⁶⁸³ da die Insula Fortunata Avalon den Handlungsfaden über die Figur Arthurs wieder in die Gegenwart der Erzählung zurückbringt und Taliesins gelehrten Monolog in ein Gespräch mit Merlin überführt. Zugleich findet sich allerdings auch für diese Position der Inseln der Seligen am Ende eines Inselkatalogs eine intertextuelle Berechtigung im Rahmen der im Mittelalter verbreiteten lateinischen wissenschaftlichen Literatur: Auch Solinus beschließt den Inselkatalog am Ende seines Werks (und damit sein Werk insgesamt) mit den Inseln der Seligen (Solinus, De mirabilibus mundi LVI.14–19; von der Beliebtheit dieser Schrift zeugen über 150 erhaltene Handschriften allein aus dem 9. und 10. Jahrhundert⁶⁸⁴). Die von Geoffrey hier vorgenommene Identifizierung der Insel Avalon mit den Inseln der Seligen ist auch auf inhaltlicher Ebene deutlich fassbar.⁶⁸⁵ Isidor schreibt über diese Inseln (Etymologiae XIV.vi.8): Fortunatarum insulae vocabulo suo significant omnia ferre bona, quasi felices et beatae fructuum ubertate. Sua enim aptae natura pretiosarum poma silvarum parturiunt; fortuitis vitibus iuga collium vestiuntur; ad herbarum vicem messis et holus vulgo est. Unde gentilium error et saecularium carmina poetarum propter soli fecunditatem easdem esse Paradisum putaverunt.
681 Patrologia Latina t.CXI, c.354A–355B. 682 Vgl. Clarke 1973, S. 8–11, 145–147; Parry 1925, S. 20, 122 (Anm. 47). 683 Clarke 1973, S. 8, 147 (zu Z. 908–940). 684 Kish 1955. Vgl. Clarke 1973, S. 145 (zu Z. 856–915), Parry und Caldwell 1959, S. 93, Parry 1925, S. 20 und Chambers 1927, S. 49 für die Annahme der Verwendung Solinus’ durch Geoffrey (die Clarke allerdings nicht teilt). 685 Paton 1960 (1903), S. 41.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
Sitae sunt autem in Oceano contra laevam Mauretaniae, occiduo proximae, et inter se interiecto mari discretae.⁶⁸⁶ Die Fortunatarum insulae drücken durch ihren Namen aus, dass sie alle guten Dinge hervorbringen, gleichsam glücklich und selig durch den Reichtum an Früchten. Durch ihre Natur nämlich dazu geeignet, bringen sie die Früchte wertvoller Wälder hervor; die Hügelrücken werden von zufällig wachsenden Weinreben bedeckt; Küchenkraut und Feldfrüchte sind gemeinhin verbreitet wie Gras. Daher haben der Irrtum der Heiden und die Lieder der säkularen Dichter wegen der Fruchtbarkeit des Bodens geglaubt, dass dieselben das Paradies seien. Gelegen sind sie aber im Ozean gegenüber der linken Seite Mauretaniens, dem Sonnenuntergang zunächst, und getrennt durch das zwischen ihnen gelegene Meer.
Die Inseln der Seligen sind bei Isidor ein paradiesisches Land größter Fruchtbarkeit, wo alles von selbst wächst, was die Einwohner dieses Landes benötigen; es dürfte kein Zufall sein, dass bei Geoffrey eine ebensolche überbordende Fruchtbarkeit schon den ersten Punkt der Beschreibung Avalons bildet. Auffällig ist jedoch die Bezeichnung der Inseln der Seligen bei Isidor, der nicht – wie Geoffrey – den gewöhnlichen lateinischen Ausdruck Fortunatae insulae (o. ä.) verwendet, sondern der diese Inseln zu Fortunatarum insulae macht, zu „Inseln der seligen Frauen“. Dieser Zug erscheint in der lateinischen Literatur nur hier und in direkt von dieser Stelle abhängigen Quellen (wie der mappa mundi des Beatus, Abb. 1). Bisher hat sich nur Basil Clarke zu diesem Problem geäußert,⁶⁸⁷ das umso schwerer wiegt, als die kritische Standardedition der Etymologiae keine abweichenden Lesarten angibt.⁶⁸⁸ Falls es sich nicht, wie dies Clarke in Erwägung zieht, um ein bloßes Problem in der Textüberlieferung Isidors handelt, ist schwer ersichtlich, woher diese Form des Inselnamens bei Isidor stammen könnte. Eine mögliche, wenn auch rein spekulative Erklärung wäre ein Fehler Isidors durch Assoziation: Unmittelbar nach den Inseln der Seligen bespricht Isidor die Inseln der Gorgonen, also wieder Inseln weiblicher Wesen; möglicherweise war Isidor bei der Komposition des Abschnitts zu den Inseln der Seligen in Gedanken seinem Text bereits einen Paragraphen voraus und hat so die Inseln der Seligen zu „Inseln der seligen Frauen“ verschrieben (was immerhin nur ein Unterschied in der Endung eines Worts ist). Hier ist über unbeweisbare Spekulationen jedoch nicht hinauszukommen. Sicher ist allein, dass die Fortunatarum insulae bereits sehr früh in Isidors Text auftauchten, da sie schon in der mappa mundi des Beatus zitiert werden;⁶⁸⁹ zu Geoffreys
686 Text: Lindsay 1911. 687 Clarke 1973, S. 147 (zu Z. 908–940). Auch die kommentierte Übersetzung von Barney et al. 2006 äußert sich nicht zu diesem Problem (Barney et al. 2006, S. 294). 688 Lindsay 1911. Die veraltete Edition in der Patrologia Latina liest Fortunatae insulae (Patrologia Latina t.LXXXII, c.514A), was aber auf einer stillschweigenden Emendation entsprechend der sonst üblichen Namensform in der lateinischen Literatur beruhen dürfte. 689 Zu den Insulae Fortunatarum der Beatus-Karte vgl. Miller 1895–1898 Bd. 1, S. 60 und die dortige Faltkarte.
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Zeiten waren sie also längst ein etablierter Teil der Etymologiae. Clarke spielt mit dem Gedanken, dass Geoffreys neun Schwestern auf Avalon von diesen „seligen Frauen“ Isidors inspiriert sein könnten; überzeugt ist er hiervon jedoch nicht.⁶⁹⁰ Eine solche Spekulation wäre auch dadurch umso unsicherer, dass das Zitat dieser Isidor-Stelle bei Rabanus Maurus, welches Geoffrey ebenso vorgelegen haben könnte wie der Originaltext Isidors, die Form des Namens dieser Inseln als das unproblematische Fortunatae insulae gibt.⁶⁹¹ Ein anderer klassisch-literarischer Einfluss auf die neun Schwestern ist in den Musen gesehen worden.⁶⁹² Hier wurde angeführt, dass die von Geoffrey aufgelisteten Namen sich einen griechischen Anstrich zu geben scheinen und die Neunzahl der Schwestern an die Neunzahl der Musen erinnert.⁶⁹³ Die Analogie reicht jedoch nicht sehr weit: Keiner der von Geoffrey angeführten Namen lässt sich klar an einen tatsächlichen griechischen Namen anknüpfen. Nur mit gutem Willen lassen sich einzelne Namen überhaupt entfernt mit griechischen mythologischen Namen assoziieren, aber auch wenn man den Vorschlag akzeptiert, etwa die Gliten von Geoffreys Liste mit dem griechischen Namen Kleite zu verbinden, dann lässt sich damit eine Assoziation mit den Musen dennoch nicht untermauern: Die griechische Mythologie kennt fünf Frauengestalten namens Kleite, aber keine von ihnen ist eine Muse.⁶⁹⁴ Ganz entsprechend verhält es sich mit allen Namen: Keiner von ihnen lässt sich auch nur entfernt an den Namen einer Muse anbinden.⁶⁹⁵ Wenn aber die Namen nichtssagend (und wohl von Geoffrey ad hoc erfunden) sind, dann ist die bloße Neunzahl nicht signifikant genug, um als Anspielung auf die Musen gelten zu dürfen: Diese Zahl taucht zu häufig auf,⁶⁹⁶ um für sich allein genommen und in Ermangelung konkreterer Parallelen als aussagekräftig betrachtet werden zu können. Die pseudo-griechischen Namen von Morgens Schwestern (und die Kithara, die eine von ihnen spielt) dürften im selben Rahmen zu sehen sein wie die weitreichenden Anlehnungen an das Werk Isidors: Geoffrey will hier den Eindruck vermitteln, in klassischem Bildungsgut bewandert zu sein.⁶⁹⁷ Was
690 Clarke 1973, S. 147 (zu Z. 908–940). 691 Rabanus Maurus, De universo XII.5 = Patrologia Latina t.CXI, c.354D; Paton 1960 (1903), S. 41. 692 Larrington 2006, S. 8. 693 Larrington 2006, S. 8. 694 Die fünf mythologischen Kleites sind je die Frau eines Helden, die Tochter eines Weissagers, die Mutter eines weiteren Helden, eine Amazone und eine Bacchantin: Stoll 1890–1897 (Kleite) Sp. 1220. 695 Für eine ausführliche Diskussion vgl. Clarke 1973, S. 206–208. 696 Für Beispiele vgl. etwa Clarke 1973, S. 206. 697 Der Name von Morgen selbst hat zwar für zeitgenössische Ohren keinen „offensichtlichen“ (pseudo-)griechischen Klang, ist von Faral nichtsdestoweniger jedoch mit den anderen, wohl von Geoffrey ad hoc erfundenen Namen zusammengestellt worden: Faral 1928, S. 249–252 weist auf den lautlichen Anklang von Morgens Namen an die Namen zweier ihrer Schwestern hin (Moronoe, Mazoe) und rechnet für die gesamte Namenreihe mit einer bewussten Konstruktion Geoffreys in lautlich aneinander angelehnten Dreiergruppen. Insbesondere Loomis hat hingegen eine Verbindung Morgens bzw. der Morgain la Fée der späteren Arthurtexte mit den irischen Gestalten der Macha und Morrígain
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das Griechische betrifft, dürfte seine Gelehrsamkeit jedoch über den schönen Schein nicht hinausgereicht haben.⁶⁹⁸ Dies tut allerdings Geoffreys Beherrschung der lateinischen Literatur keinen Abbruch, mit der er gleichermaßen souverän wie spielerisch umgeht. Für Arthurs Überfahrt nach Avalon macht Geoffrey einen gewissen Barinthus zum Steuermann. Ein Barinthus auf der Fahrt zu einer Insula Fortunata erscheint an noch einer weiteren prominenten Stelle der mittellateinischen Literatur der Britischen Inseln:⁶⁹⁹ In der Navigatio Sancti Brendani ist Barinthus der Name des ehrwürdigen Mönchs, des Abts von Drumcullen, der Brendan von seiner eigenen Reise zur terra repromissionis sanctorum berichtet und ihn damit auf den Gedanken bringt, selbst gleichfalls zu einer solchen Reise aufzubrechen:⁷⁰⁰ Barinthus hatte den Abt Mernóc in dessen Inselkloster besucht und war von ihm in einem kleinen Boot nach Westen über das Meer gebracht worden. Nachdem sie einen dichten Nebel durchquert hatten, gelangten die mönchischen Seefahrer in eine Region gewaltiger Helligkeit, wo sie eine terra spaciosa et herbosa pomiferosaque ualde vorfanden, ein weitläufiges, grünes und außerordentlich fruchttragendes Land, wo keine Kräuter ohne Blüten und keine Bäume ohne Früchte wuchsen, und wo alle Steine Edelsteine waren. Sie erkundeten die Insel und fanden schließlich einen Fluss, der von Osten nach Westen floss. Als sie diesen Fluss zu überqueren versuchten, erschien ihnen ein Engel und erklärte ihnen, dass es ihnen nicht gestattet war, diese Grenze zu überschreiten: Bei der Insel handelte es sich um das Land, das Gott seinen Heiligen versprochen hatte; wie die Mönche es sahen, so war es von Anbeginn
und mit der walisischen Modron herstellen wollen (Loomis 1956, S. 105–130 = Loomis 1945; Loomis 1959 [Morgain], S. 345; vgl. schon Paton 1960 [1903] passim, besonders S. 148–166; entsprechend noch Lincoln 1980 [Ferryman], S. 50; Jennings 1981, S. 197; Hemmi 1991); dies wurde jedoch bereits von Bromwich 1978, S. 461–463 abschließend zurückgewiesen (vgl. Wade 2011, S. 52). Für andere irische Parallelen vgl. Harf-Lancner 1984, S. 214–219; Paton 1960 (1903), S. 1–3; und siehe unten, Kapitel 5 (S. 262 ff.), zu einigen der Anderweltsinseln Irlands. Der heutige Stand der Forschung deutet Morgen als *mori-gena, „Meer-geboren“ (Simek 2012, S. 251; Birkhan 2009 [Keltenrezeption], S. 153; Bromwich 1978, S. 461), entsprechend air. Muirgein (Chotzen 1948, S. 270–272). Wichtig als grundlegende Kritik an der häufigen unkritischen Verwendung später Quellen in der einschlägigen Diskussion ist Bogdanow 1969, vgl. auch Harf-Lancner 1984, S. 265. 698 Neben der Herleitung von Morgens Schwestern aus den Musen vertritt Larrington auch eine Herleitung von Morgen selbst aus den klassischen Zauberinnen Kirke und Medea: Larrington 2006, S. 8. Ähnlich wie im Fall des Vergleichs von Morgens Schwestern mit den Musen fehlen auch diesen Zauberinnen spezifische Übereinstimmung mit ihrem postulierten Gegenstück in der Vita Merlini. Dies lässt den Versuch, Morgen aus diesen beiden Figuren heraus zu „erklären“, wenig gewinnbringend erscheinen. 699 Chambers 1927, S. 219, vgl. S. 221; Slover 1931, S. 397; Selmer 1959, S. 123; Gouttebroze 2003, S. 52; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 153. Vgl. auch Paton 1960 (1903), S. 42 f., die den Inselkatalog, der der Schilderung Avalons vorausgeht, mit der Vielzahl von Inseln in Verbindung bringt, die in der Navigatio Sancti Brendani eine zentrale Rolle spielen. 700 Hgg. von Selmer 1959. Ausführlich zur Navigatio siehe auch S. 285 ff.
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der Welt an gewesen, die Bewohner dieses Landes brauchten weder Nahrung noch Schlaf, und hier herrschte ewiger Tag, denn Jesus Christus war das Licht dieses Orts; die Mönche selbst hätten ein Jahr hier verbracht, ohne Speise oder Trank zu sich zu nehmen. Der Engel geleitete die Mönche darauf wieder zur Küste dieser Insel, und sie kehrten mit ihrem Schiff durch die Zone des Nebels zu der Einsiedlerinsel zurück, von der sie aufgebrochen waren. Dort berichteten sie den zuhause gebliebenen Mönchen, dass sie wahrlich an der Pforte zum Paradies (ante portam paradisi) leben würden, und diese bestätigen, dass sie am Duft, den die Kleider der Reisenden noch verströmten, erkennen könnten, dass diese sich im Paradies in den Weiten des Meeres aufgehalten hatten: ‘Nonne cognoscitis in odore uestimentorum nostrorum quod in paradiso Dei fuimus?’ Tunc fratres responderunt, dicentes: ‘Abba, nouimus quia fuistis in paradiso Dei in spacio maris, sed ubi sit ille paradisus ignoramus. Nam saepe fraganciam uestimentorum abbatis nostri quadraginta dierum spacio inde reuertentis probauimus redolentem.’ (‚Erkennt ihr nicht am Geruch unserer Gewänder, dass wir im Paradies Gottes gewesen sind?‘ Da antworteten die Brüder, indem sie sagten: ‚Abt, wir wissen, dass ihr im Paradies Gottes in der Weite des Meeres gewesen seit, aber wo jenes Paradies liegt, wissen wir nicht. Denn oft haben wir den duftenden Geruch der Gewänder unseres Abts, wenn er nach einer Spanne von vierzig Tagen von dort zurückkehrte, gutgeheißen.‘ – Navigatio Sancti Brendani c. 1.) Die terra repromissionis sanctorum wird somit mit dem irdischen Paradies identifiziert, wie es bereits im Rahmen der Diskussion der Eiríks saga víðfǫrla angesprochen worden war;⁷⁰¹ zusätzlich zur ausdrücklichen Bezeichnung als paradisus zeigt sie dabei zwar nicht alle, aber doch eine Reihe von Motiven, die auch ansonsten dem irdischen Paradies zugeschrieben werden: Wie das irdische Paradies bei Isidor von Sevilla⁷⁰² ist auch die terra repromissionis sanctorum ein fruchttragender blühender Garten; ein Engel bewacht den Zugang; und die vier Paradiesströme werden (wie in der Eiríks saga) durch einen Grenzfluss vertreten. Ferner existiert diese Paradiesinsel seit dem Anbeginn der Welt, entsprechend der Darstellung der Vulgata in Genesis 2.8, wonach das Paradies a principio bestand. Andere Züge entsprechen darüber hinaus dem Neuen Jerusalem der Offenbarung, d. h. dem eschatologischen Paradies, das am Ende der Zeit auf die Seligen wartet: Das ewige Licht, das auf der Paradiesinsel herrscht, dürfte auf das ewige Licht Gottes anspielen, durch welches das Neue Jerusalem erhellt wird (Offenbarung 21.23; 22.5);⁷⁰³ die Lage des Grenzflusses in der Mitte der Insel spielt auf den Fluss an, der durch die Mitte des apokalyptischen Paradieses des Neuen Jerusalem fließt (Offenbarung 22.1 f.);⁷⁰⁴ und die Edelsteine der Barinthusinsel entspre-
701 Siehe oben S. 45 ff. 702 Für die Paradiesschilderung Isidors siehe oben S. 49. 703 Wooding 2014, S. 97. 704 Vgl. Bray 2000 (1995), S. 182; O’Loughlin 1999, S. 11.
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chen dem reichen Edelsteinschmuck der Mauern des Neuen Jerusalem (Offenbarung 21.18–21).⁷⁰⁵ Der Barinthus der Navigatio bringt die Kunde von dieser Reise zum Hl. Brendan, der darauf mitsamt einigen seiner Mönche in See sticht und sich selbst auf die Suche nach diesem Land macht (Navigatio c. 2 f.). Dass bei Geoffrey gerade der Steuermann, der die Reise nach Avalon ermöglicht, den Namen Barinthus trägt, dürfte schwerlich ein Zufall sein: Wenn in beiden Texten gerade derjenige, der den Weg zur mythischen Insel weist, denselben Namen trägt, ist mit einer bewussten Anspielung zu rechnen. Im Fall der Vita Merlini wird damit jedoch eine direkte Assoziation (wenn nicht gar eine Identifikation) der Insula Fortunata und insula pomorum Avalon mit der pomiferosa terra repromissionis sanctorum und damit dem irdischen Paradies bzw. dem paradisus Dei in spacio maris der Navigatio impliziert. Diese Identifikation nimmt eine gewisse ‚theologische Brisanz‘ an, wenn man bedenkt, dass derselbe Autor, von dem Geoffrey den Inselkatalog und Aspekte seiner Beschreibung Avalons als Insel der Seligen entlehnt hat, sich auch zur Lokalisierung des Paradieses äußert; denn Isidor lokalisiert das Paradies im fernen Osten (Paradisus est locus in orientis partibus constitutus) und kommentiert die Identifikation der Inseln der Seligen mit dem Paradies in deutlich ablehnender Weise: Dabei handle es sich um einen gentilium error, einen Irrtum der Heiden. Mit der Anspielung auf das Inselparadies der Navigatio, welche die Figur des Barinthus impliziert, nimmt Geoffrey somit indirekt eben jene Identifikation der Insula Fortunata mit dem Paradies vor, die von eben dem Autor verdammt wird, der eine von Geoffreys hauptsächlichen Quellen für seinen geographischen Exkurs bildet. Geoffrey spielt hier damit in gewisser Weise die Navigatio Sancti Brendani gegen Isidor von Sevilla aus und hebt so einen interessanten potentiellen Widerspruch zwischen zwei zentralen Texten des Mittelalters hervor – vielleicht darf man sich an Peter Abaelards knapp eine Generation zuvor erschienene Schrift Sic et non erinnert fühlen. Die wahrscheinliche literarische Funktion dieses Spiels mit Inseln, Paradiesinseln und dem Garten Eden dürfte primär jedoch eine sehr einfache sein: Die Entrückung Arthurs auf die Insel Avalon war zum Zeitpunkt der Abfassung der Vita Merlini schon etabliert; Geoffrey selbst hatte dieses Motiv bereits in seiner Historia regum Britanniae verwendet. Die Heranziehung des Barinthus als Steuermann ermöglichte es Geoffrey, Avalon trotz seiner offenkundig fehlenden christlichen Assoziationen (worauf noch zurückzukommen sein wird) zur terra repromissionis sanctorum zu stilisieren und damit Arthur trotz seiner Assoziation mit der Zauberin Morgen ein unanstößig-christliches Ende zu sichern – und ihn darüber hinaus sogar noch implizit zum Heiligen zu erklären. Das Avalon der Vita Merlini ist somit eine schillernde Paradiesinsel, die sowohl mit dem irdischen Paradies der Christenheit als auch mit den Inseln der Seligen der Antike identifiziert wird. Direkte literarische Anspielungen verbinden es mit der Navi-
705 Wooding 2014, S. 97; O’Loughlin 1999, S. 10 f.
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gatio Sancti Brendani und den Etymologiae des Isidor von Sevilla; darüber hinaus scheint eine Heranziehung der Mirabilia des Solinus möglich. Auch aus diesen drei Texten zusammengenommen erklären sich jedoch noch nicht alle von Geoffrey beschriebenen Züge Avalons. Die wichtigsten Züge Avalons bei Geoffrey sind die folgenden: Avalon ist eine „Insel der Äpfel“ (insula pomorum) und „Insel der Seligen“ (insula fortunata), wo so große Fruchtbarkeit herrscht, dass keinerlei landwirtschaftliche Arbeit nötig ist, sondern alles von selbst wächst. Dort leben die Menschen hundert Jahre und länger, und selbst tödliche Wunden können dort geheilt werden – immerhin heißt es über die Wunde Arthurs nicht nur in der Historia, sondern auch in der Vita Merlini ausdrücklich, dass es sich dabei um eine tödliche Wunde handelte (Vita Merlini 1122–1124): Illic (d. h. in der Schlacht von Camlann) rex etiam letali vulnere lesus deseruit regnum, tecumque per equora vectus, ut predixisti, nimpharum venit ad aulam.⁷⁰⁶ Dort legte auch der König, der eine tödliche Wunde empfangen hatte, die Herrschaft ab, und nachdem er mit dir über die Meere gefahren war, wie du es zuvor erzählt hast, kam er zur Halle der Nymphen.
Arthur ist tödlich verwundet (letali vulnere lesus), doch auf Avalon wird ihm die Heilung versprochen; Fruchtbarkeit, Langlebigkeit und Heilung verbinden sich so zu einem zusammenhängenden Motivkomplex einer Insel des Lebens. Herrinnen dieser Insel sind dabei neun Schwestern; deren erste tut sich durch ihre außerordentliche Beherrschung der Heilkunst, die Fähigkeit zum Fliegen und die Fähigkeit zum Gestaltwandel hervor, doch sind sie alle der Astrologie – und damit der Zukunft –⁷⁰⁷ kundig. Dass sie etwas mehr (oder jedenfalls anderes) als bloße menschliche Frauen sein könnten, dürfte ihre Bezeichnung als Nymphen (nimphae) implizieren: Bereits J. S. P. Tatlock hat einschlägige Belege gesammelt, aus denen hervorgeht, dass eine nympha im zeitgenössischen lateinischen Sprachgebrauch des Hochmittelalters das Äquivalent der altfranzösischen fée darstellt;⁷⁰⁸ somit werden Morgain und ihre Schwestern durch diese Bezeichnung in einen anderweltlich-übernatürlichen Bereich gerückt. Die Lage Avalons bleibt bei Geoffrey ganz im Schleier des Unbestimmten verhüllt; doch dass der Steuermann Barinthus wegen seiner „Kenntnis der Meere und der Gestirne“ gebraucht wird, um Avalon aufzusuchen, scheint eine Lage in großer Ferne auf hoher See zu implizieren – wer in Sichtweite der Küste bleibt, muss nicht nach den
706 Text: Clarke 1973, S. 112. 707 Für die Astrologie als Quelle prophetischen Wissens vgl. etwa Vita Merlini 424–450 oder 555–561, oder im selben Sinne Geoffreys Historia regum Britanniae IX.156. Allgemein zur Astrologie im Werk Geoffreys von Monmouth vgl. Williams 2010, S. 73–107; spezifisch zur Vita Merlini: ibidem S. 99–102. 708 Tatlock 1933 (Draco), S. 115 f.
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Sternen navigieren.⁷⁰⁹ Und wenn es kein Zufall ist, dass Barinthus und seine Gefährten auf der Rückfahrt von Avalon günstige Winde haben, dann mag dies schließlich auch noch andeuten, dass die Herrinnen der Insula Fortunata Avalon zusätzlich zu all ihren anderen Künsten auch über die See und die Winde gebieten. Die literarischen Verbindungslinien, die von Avalon zu Isidor von Sevilla und zur Navigatio Sancti Brendani führen, betreffen zentrale Elemente dieser Avalon-Schilderung; gleichermaßen zentrale Elemente sind aus diesen Texten jedoch nicht herzuleiten: Weder die Vorstellung der Rettung vor dem sicheren Tod noch Morgen und ihre Schwestern finden aus Isidor und der Navigatio heraus eine einfache Erklärung. Eine vollständige Herleitung aller Elemente der Avalon-Schilderung Geoffreys aus der von Geoffrey zitierten Literatur ist jedoch auch nicht zu erwarten, da er die Entrückung Arthurs nach Avalon zwar als erster in einem erhaltenen Werk klar formuliert, aber sich dabei nicht rein im Rahmen seiner eigenen Fiktion bewegt, sondern auf etablierten Vorstellungen aufbaut. Gerade die Vorstellung des Fortlebens und der zu erhoffenden Wiederkehr Arthurs ist auch schon vor Geoffrey fassbar. William von Malmesbury erwähnt in seinen Gesta regum Anglorum (um 1125) apropos der Entdeckung des Grabs des Gawain in Wales während der Herrschaft Wilhelms des Eroberers, dass das Grab Arthurs nirgends zu sehen sei und „alte Ammenlieder“ deswegen erzählen würden, dass seine Wiederkunft noch bevorstehe: Sed Arturis sepulcrum nusquam visitur, unde antiquitas næniarum adhuc eum venturum fabulatur.⁷¹⁰ Wie lebendig der Glaube an das Fortleben des entrückten Arthur in diesen Jahren war, illustriert eine Episode in den Wundern der Hl. Maria von Laon (II.15 f.) des Hermann von Laon, deren Abfassung kurz vor der Mitte des 12. Jahrhunderts angesetzt wird; dort wird über den Besuch einiger Kanoniker von Laon berichtet, den diese mit wundertätigen Reliquien der Hl. Maria von Laon in England machten:⁷¹¹ Cap. XV. – De puella caeca illuminata apud Danavexeriam. Exinde venimus in provinciam quae vocatur Danavexeria, ubi ostenderunt nobis cathedram, et furnum illius famosi secundum fabulas Britannorum regis Arturi, ipsamque terram ejusdem Arturi esse dicebant.⁷¹² Ibi nos plurimum honoravit quidam clericus nomine Agardus, qui jam diu Lauduni
709 Bullock-Davies 1969, S. 134. 710 William von Malmesbury, De gestis regum Anglorum III.287 (hgg. von Stubbs 1887–1889, dort Bd. 2, S. 342; Mynors et al. 1998–1999, dort Bd. 1, S. 520); Chambers 1927, S. 16–18, 250; Loomis 1959 (Legend), S. 64; Zimmer 2006, S. 62; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 152; Wade 2011, S. 44. 711 Hermannus monachus: De miraculis S. Mariae Laudunensis de gestis venerabilis Bartholomaei episcopi et S. Norberti libri tres II.15 f. = Patrologia Latina t.CLVI, c.983B–D. Lot 1895, S. 332–334; Chambers 1927, S. 18, 249; Tatlock 1933 (Laon); Loomis 1959 (Oral Diffusion), S. 53 f.; Niemeyer 1971; Pioletti 1989, S. 17; Caerwyn Williams 1991, S. 262; Coe und Young 1995, S. 44–47; Zimmer 2006, S. 62; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 152; Wade 2011, S. 43. 712 Zu einer möglichen Lokalisierung dieser folkloristischen Traditionen über Arthurs Stuhl und Ofen vgl. Chambers 1927, S. 184 f., 194; ferner vgl. ibidem S. 191, 192 f. Allgemein zu arthurischen Ortsnamen vgl. ibidem S. 183–197.
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manserat, quique postmodum in Northmannia factus est episcopus urbis Constantiniensis. Dum ergo ibi essemus, puella quaedam fere decennis, nomine Kenehellis, caeca a nativitate, in villa quae Bomine vocatur, ad feretrum venit, et lota oculos ex aqua reliquiarum lumen recepit. Cap. XVI. – De surdo ibidem sanato. Sed et juvenis quidam in eadem villa surdus a nativitate ad feretrum venit, et lotus aures aqua reliquiarum protinus audivit. Quidam etiam vir ibidem manum aridam habens, coram feretro pro sanctitate recipienda vigilabat. Sed sicut Britones solent jurgari cum Francis pro rege Arturo, idem vir coepit rixari cum uno ex famulis nostris, nomine Haganello, qui erat ex familia domni Guidonis Laudunensis archidiaconi, dicens adhuc Arturum vivere. Unde non parvo tumultu exorto, cum armis ecclesiam irruunt plurimi, et nisi praefatus Algardus clericus obstitisset, pene usque ad sanguinis effusionem ventum fuisset. Quam rixam coram feretro suo factam credimus Dominae nostrae displicuisse, nam idem vir manum habens aridam, qui pro Arturo tumultum fecerat, sanitatem non recepit.⁷¹³ Vom blinden Mädchen, das in Danavexeria ihr Augenlicht erhielt Danach kamen wir in die Provinz, die Danavexeria genannt wird [etwa das heutige Devon und Cornwall],⁷¹⁴ wo sie uns den Stuhl und den Ofen jenes nach den Geschichten der Britannier berühmten Königs Arthur zeigten; und sie sagten, dass das Land selbst dasjenige ebendieses Arthur sei. Am meisten ehrte uns dort ein gewisser Kleriker namens Agardus, der schon lange in Laon gelebt hatte, und der danach in der Normandie zum Bischof von Coutances gemacht wurde.⁷¹⁵ Während wir also dort waren, kam in einem Dorf namens Bodmin ein etwa zehnjähriges Mädchen namens Kenehellis, die von Geburt an blind war, zum tragbaren Reliquienschrein, und nachdem sie ihre Augen im Wasser der Reliquien gewaschen hatte, erhielt sie ihr Augenlicht. Vom ebendort geheilten Tauben Aber in demselben Dorf kam auch ein gewisser von Geburt an tauber junger Mann zum tragbaren Reliquienschrein, und nachdem er seine Ohren mit dem Wasser der Reliquien gewaschen hatte, hörte er sogleich. Ebendort wachte auch ein gewisser Mann mit einer verdorrten Hand in der Gegenwart des tragbaren Reliquienschreins, um seines Heils teilhaftig zu werden. Aber wie die Bretonen⁷¹⁶ mit den Franken über König Arthur zu streiten pflegen, begann derselbe Mann sich mit einem unserer Diener namens Haganellus zu prügeln, der aus dem Haushalt des Herrn Guido von Laon, des Erzdiakons, stammte, indem er sagte, dass Arthur noch lebe. Daraus entstand ein nicht kleiner Aufruhr, eine sehr große Zahl stürmt die Kirche in Waffen, und wenn sich ihnen nicht der bereits erwähnte Kleriker Algardus in den Weg gestellt hätte, wäre es fast bis zum Blutvergießen gekommen. Wir glauben, dass diese in der Gegenwart ihres Reliquienschreins veranstaltete Prügelei unserer Herrin missfallen hat, denn derselbe Mann mit der verdorrten Hand, der für Arthur den Aufruhr veranstaltete hatte, erfuhr keine Heilung.
Diese Prügelei um die Frage der Wiederkehr König Arthurs soll sich im Jahre 1113 zugetragen haben;⁷¹⁷ William von Malmesburys antiquitas naeniarum dürfte noch etwas weiter zurückreichen, auch wenn sich nicht bestimmen lässt, als wie „alt“ er sich
713 Text: Patrologia Latina t.CLVI, c.983B–D. 714 Tatlock 1933 (Laon), S. 455; Wade 2011, S. 43. 715 Vgl. Tatlock 1933 (Laon), S. 462, 464. 716 Vgl. Caerwyn Williams 1991, S. 262; Tatlock 1933 (Laon), S. 465. 717 Caerwyn Williams 1991, S. 262; Niemeyer 1971, S. 136; Tatlock 1933 (Laon), S. 455, 465 et passim; Chambers 1927, S. 18; vgl. Zimmer 2006, S. 62; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 152.
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die „alten Ammenlieder“ vom Fortleben des Königs vorstellt. Über diese Quellen und damit das frühe 12. Jahrhundert lässt die Vorstellung von Arthurs Wiederkehr sich nicht zurückverfolgen.⁷¹⁸ Immerhin wird aus den erhaltenen Zeugnissen jedoch deutlich, dass die Vorstellung zu dieser Zeit schon weithin etabliert, wenn auch außerhalb britannischer⁷¹⁹ Kreise ein Gegenstand des Spotts war. In letzterem Sinne (d. h. als weiteres Zeugnis für das anglonormannische Unverständnis für den britannischen Glauben an eine bevorstehende Wiederkehr Arthurs) mag man auf William von Newburgh verweisen, der zugleich als Ergänzung zum kämpferischen Anhänger der Wiederkehr König Arthurs dienen kann (immerhin braucht eine gute rixa zumindest zwei Teilnehmer); denn William äußert sich im Proœmium seiner Historia rerum Anglicarum kurz vor dem Ende des 12. Jahrhunderts mehr als despektierlich über Person und Werk Geoffreys von Monmouth und über den britannischen Glauben an die Wiederkehr König Arthurs: Cuncta, quæ homo ille de Arturo et ejus vel successoribus vel, post Vortigirnum, prædecessoribus scribere curavit, partim ab ipso, partim et ab aliis constat esse conficta; sive effrenata mentiendi libidine, sive etiam gratia placendi Britonibus, quorum plurimi tam bruti esse feruntur, ut adhuc Arturum tanquam venturum exspectare dicantur, eumque mortuum nec audire patiantur. [...] Et notandum, quod eundem Arturum postea refert in bello letaliter vulneratum, regno disposito, ad curanda vulnera sua abiisse in illam, quam Britannicæ fingunt fabulæ, insulam Avallonis: propter metum Britonum non audens eum dicere mortuum, quem adhuc vere bruti Britones exspectant venturum.⁷²⁰ Es steht fest, dass alles, was jener Mensch [d. h. Geoffrey von Monmouth] von Arthur und entweder dessen Nachfolgern oder, nach Vortigern, Vorgängern zu schreiben sich die Mühe gemacht hat, teils von ihm selbst, teils von anderen erdichtet worden ist; sei es aus ungezügelter Begierde danach, zu lügen, sei es auch, um den Britanniern zu gefallen, von denen die meisten so töricht sein sollen, dass es von ihnen heißt, sie würden bis heute auf Arthur warten, als würde er kommen, und dass sie es nicht ertragen zu hören, dass er tot ist. [...] Und es ist festzuhalten, dass er später berichtet, dass derselbe Arthur, der in der Schlacht tödlich verwundet worden ist, das Königtum geordnet habe und zur Heilung seiner Wunden auf jene Insel fortgegangen sei, die britannische Geschichten erdichten, die Insel Avalon: Aus Angst vor den Britanniern wagte er nicht zu sagen, dass der tot ist, von dem die wahrhaft törichten Britannier bis heute erwarten, dass er zurückkommt.
718 Vgl. Chambers 1927, S. 18; Paton 1960 (1903), S. 31 f. 719 Die Bezeichnung „britannisch“ nimmt auf die geläufige Unterteilung der inselkeltischen Sprachen in gälische Sprachen einerseits und „britannische“ Sprachen andererseits Bezug; dabei umfasst die Kategorie der „britannischen Sprachen“ das Bretonische, Kornische, Kumbrische und das in Wales gesprochene Kymrische (vgl. Maier 1994, S. 296; Maier 2012, S. 232 f.). Die Kategorie „britannisch“ umfasst in diesem Sinne somit sowohl Bretonen als auch Waliser und wird im Folgenden daher insbesondere in solchen Kontexten gebraucht, wo auf sowohl Bretonen als auch Waliser Bezug genommen wird oder wo sich nicht eindeutig entscheiden lässt, ob eine Bezugnahme auf Bretonen oder Waliser vorliegt (vgl. etwa Wade 2011, S. 43). 720 Hgg. von Howlett 1884, dort S. 14, 18; vgl. Chambers 1927, S. 106 f., 274–276; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 145; Wade 2011, S. 47 f.
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Die Vorstellung, dass ein Vertreter der Ansicht, dass Arthur tot sei, Handgreiflichkeiten riskiert, findet sich hier wieder in Form der Unterstellung, Geoffrey habe Arthur aus Angst vor den Britanniern nicht für tot erklären wollen. Eine weitere Variation dieses Topos findet sich in der Prophetia Anglicana (ursprünglich dem Alanus de Insulis zugeschrieben, wohl zwischen 1167 und 1174), nach der es in der Bretagne unmöglich sei, öffentlich über den Tod Arthurs zu sprechen, ohne Beschimpfungen und Steinigung zu riskieren.⁷²¹ Einen humoristisch-satirischen Niederschlag findet der bretonische Glaube an die Wiederkehr Arthurs im Draco Normannicus des Étienne de Rouen (verfasst 1167–1169).⁷²² Im zweiten Buch dieses Gedichts (II.941–1282) wird ein Briefwechsel zwischen Heinrich II. und Arthur geschildert, in dem Arthur sich Heinrichs Vorgehen gegen die bretonische Revolte des Jahres 1167 entgegenstellt: Durch Heinrich II. unter Druck geraten, hatte sich ein Anführer der Bretonen namens Rollandus brieflich an seinen Oberherrn Arthur gewandt (gemeint ist wohl Rollandus de Dinan, der auch unabhängig in zeitgenössischen Dokumenten erscheint).⁷²³ Arthur schrieb darauf an Heinrich II.; er klärte ihn darüber auf, dass er durch seine Schwester Morgain (Morganis) von seinen Wunden geheilt und unsterblich gemacht worden ist (V. 1161–1164)⁷²⁴ und nun über die Antipoden herrscht; falls Heinrich sein militärisches Vorgehen in der Bretagne fortsetzen sollte, werde er mit einem Heer der Antipoden eingreifen. Der Briefwechsel endet mit dem augenzwinkernden Zugeständnis Heinrichs, dass er seine Herrschaft über die Bretagne unter der Lehnshoheit Arthurs ausüben werde. Die Intention dieser Episode des Draco Normannicus liegt deutlich darin, die Hoffnung der Bretonen auf eine Wiederkehr Arthurs (und Heinrichs Gegenspieler Rollandus) lächerlich zu machen.⁷²⁵ Gerade dadurch stellt der Draco Normannicus jedoch zugleich auch ein weiteres Zeugnis dafür dar, wie ernst es den Bretonen mit dieser Hoffnung war; denn der Spott des Draco Normannicus bezieht einen großen Teil seiner Wirksamkeit daraus, sich gegen Vorstellungen zu richten, die ein Bretone ernst genug nehmen konnte, um darüber an einem Reliquienschrein eine Prügelei zu beginnen. Dass der Draco Normannicus zugleich auch ein frühes Zeugnis für die Auf-
721 Chambers 1927, S. 109 f., 265; Loomis 1959 (Oral Diffusion), S. 54, 62; Parry und Caldwell 1959, S. 78 f.; Lanczkowski 1986, S. 37. 722 Tatlock 1933 (Draco), vgl. Echard 2011 (Geoffrey), S. 66 (Anm. 67); Wade 2011, S. 63 f.; Gilbert 2009, S. 163 f.; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 152 f.; Lupack 2005, S. 35; Gouttebroze 2003, S. 54–58; Day 1996; Loomis 1959 (Legend), S. 69; Loomis 1940–1941; Chambers 1927, S. 110–112. Der Draco Normannicus ist hgg. von Howlett 1885, S. 585–781; Exzerpte aus dem arthurischen Abschnitt sind auch abgedruckt bei Chambers 1927, S. 264 f. 723 Zum zeitgeschichtlichen Kontext vgl. Tatlock 1933 (Draco), S. 117–120; Chambers 1927, S. 110 f.; Gouttebroze 2003, S. 55 f.; Gilbert 2009, S. 163 f. 724 Saucius Arturus petit herbas inde sororis, | Avallonis eas insula sacra tenet. | Suscipit hic fratrem Morganis nympha perennis, | Curat, alit, refovet, perpetuumque facit. (Howlett 1884, S. 703.) 725 Echard 2011 (Geoffrey), S. 66 (Anm. 67); Gouttebroze 2003, S. 55 f.; Loomis 1959 (Legend), S. 69; ausführlich: Tatlock 1933 (Draco), bes. S. 117, 122.
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fassung Morgains als Schwester Arthurs darstellt, ist demgegenüber zwar von eher untergeordneter Bedeutung, aber immerhin festzuhalten. In literarischer Hinsicht stellt der Draco Normannicus neben dieser Auseinandersetzung mit bretonischen mündlichen Traditionen auch eine direkte Rezeption von Geoffreys Historia regum Britanniae dar. Étienne hatte in der Bibliothek seines Heimatklosters in Bec Zugriff auf ein Exemplar der Historia⁷²⁶ und lässt seinen Arthur auf dieses Werk verweisen: Wer mehr über Arthurs Taten hören will, als Arthur in seinem Brief an Heinrich II. zusammenfasst, soll das Werk Geoffreys konsultieren.⁷²⁷ Eine weitere Form der direkten Rezeption von Geoffreys Historia stellen ihre volkssprachlichen Übersetzungen dar, von denen nun zwei herausgegriffen seien. Der frühere dieser beiden Texte ist der Roman de Brut des Wace. Dabei handelt es sich um eine Übertragung von Geoffreys Historia regum Britanniae in französische Verse, die Wace für ein normannisches Publikum verfasste und im Jahr 1155 abschloss.⁷²⁸ Wie in Waces Vorlage, erscheint Avalon (l’isle d’Avalun) im Brut als der Ort, an dem Excalibur geschmiedet wurde (Z. 9279–9282)⁷²⁹ und als das Ziel von Arthurs Entrückung nach seiner tödlichen Verwundung in der Schlacht gegen Modret (Z. 13275–13298). In diesem Sinne geht Wace über die Darstellung Geoffreys nicht hinaus: Die im Brut erscheinenden konkreten Handlungselemente beschränken sich auf die tödliche Verletzung und das Forttragen Arthurs nach Avalon. Was Waces Darstellung dieser Szene von derjenigen Geoffreys jedoch merklich abhebt ist die Diskussion und mehrfach wiederholte Distanzierung des Autors von der Frage von Arthurs Wiederkehr: Wace betont, dass es wahr sei, dass Arthur sich nach Avalon bringen ließ, und referiert den Glauben der Britannier (Bretun) an seine schlussendliche Rückkehr; er lässt diese Vorstellung jedoch nicht unkommentiert im Raum stehen, sondern führt mehrere Verse lang (Z. 13282– 13290) breit aus, dass sowohl seiner persönlichen Meinung nach als auch gemäß einer Prophezeiung Merlins die Frage von Arthurs Wiederkehr immer zweifelhaft sein werde und dass die Menschen sie immer in Zweifel gezogen haben und in Zweifel ziehen würden. Sicher wahr sei nur, dass Arthur sich nach Avalon bringen ließ.⁷³⁰ Waces anglonormannischer Brut bildete seinerseits die Grundlage für den mittelenglischen Brut des Layamon.⁷³¹ Bei diesem Text handelt es sich zugleich um die
726 Tatlock 1933 (Draco), S. 7. 727 Draco Normannicus II.1177 f.: Plenius hæc qui scire cupit, mea gesta revolvat, | Quæ Monemutensis vera loquendo canit: [...]. (Howlett 1885, S. 704.) 728 Hgg. und übersetzt von Weiss 1999, vgl. Arnold 1938–1940. Datierung: Lupack 2005, S. 28; Weiss 1999, S. XII. Zur Zielgruppe: Weiss 1999, S. XIII. Allgemein zu diesem Werk vgl. etwa Lupack 2005, S. 28 f.; Weiss 1999, S. XI-XXIX; Foulon 1959. 729 Für die verschiedenen Formen des Namens ‚Excalibur‘ in den Handschriften des Brut vgl. Weiss 1999, S. 235 (Anm. 1). 730 Zu Waces Skeptizismus vgl. Foulon 1959, S. 98; Wade 2011, S. 54–56. 731 Simek 2012, S. 355; Lupack 2005, S. 29; Barron und Weinberg 2001, S. xiii, xxxvi-xlv; Loomis 1959 (Brut), S. 105. Die hier relevanten arthurischen Teile von Layamons Brut sind herausgegeben, über-
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erste volkssprachliche Behandlung des Arthurstoffes in England und um das zweitlängste Gedicht in englischer Sprache.⁷³² Eine genaue Datierung der Abfassung dieses Gedichts scheint bisher nicht möglich; die Vorschläge reichen von der Zeit ab 1185 bis ca. 1220.⁷³³ Im Brut des Layamon erscheint Avalon (Aualun) dreimal. Die erste Erwähnung ist Teil der Beschreibung von Arthurs Waffen und Rüstung (Z. 10547 f.): Dort heißt es von seinem Schwert Excalibur (Calibeorne), dass es in Avalon mit Zauberkunst hergestellt worden ist (hit wes iworht in Aualun | mid wiʒelefulle craften). Die zweite Erwähnung ist Teil einer Prophezeiung Merlins (Z. 11502–11517): Das Verschwinden des Königs würde zu großem Kummer führen und kein Britannier würde an den Tod dieses Königs glauben; denn Arthur selbst sagte nach seiner schweren Verwundung in seiner letzten Schlacht, dass er zur Insel Avalon reisen würde, zur schönen Argante, die seine Wunden mit einem heilenden Balsam (haleweie) heilen werde; und nach seiner Genesung würde er zurückkehren. Die Britannier hätten dies immer geglaubt und erwarteten die Stunde seiner Wiederkehr. In der dritten und ausführlichsten Avalon-Passage wird die hier schon vorweggenommene Reise nach Avalon schließlich im Detail ausgeführt (Z. 14266–14297): Der tödlich verwundete Arthur überträgt die Herrschaft an Constantin und kündigt an, dass er selbst sich nach Avalon begeben werde, zur schönsten aller Maiden, der Königin Argante, einer wunderschönen Elfe, und sie werde mit ihren Heiltränken alle seine Wunden heilen; danach werde er in sein Königreich zurückkehren. Und als Arthur diese Worte spricht, treiben die Wellen ein kleines Boot mit zwei Frauen vom Meer an die Küste, die Arthur sofort in ihr Boot tragen und mit ihm davonsegeln. Der Text betont daraufhin nochmals, dass die Britannier glauben würden, Arthur sei am Leben und kehre eines Tages wieder, wie es auch Merlin prophezeit habe; und bis dahin lebe Arthur mit der schönsten aller Elfenfrauen (mid fairest alre aluen). Die Darstellung Avalons in Layamons Brut impliziert einige wichtige Züge für diese Insel: Dieses Avalon ist ausdrücklich ein Land der Zauberkunst, wie sie in die Schöpfung des Schwerts Excalibur eingegangen ist.⁷³⁴ Ferner ist es ein Land des Lebens und der Heilung, in dem tödliche Wunden geheilt werden können. Dabei ist der Verlauf der normalen menschlichen Zeit außer Kraft gesetzt, oder ist diese doch zumindest ohne Macht über die Einwohner Avalons: Obwohl die zeitgenössische Chronologie die Zeit Arthurs im 6. Jahrhundert verortet, warten die Britannier in der Gegenwart des Dichters (und damit mehr als fünfhundert Jahre nach der Entrückung Arthurs)
setzt und kommentiert bei Barron und Weinberg 2001; für eine Gesamtausgabe mit Übersetzung und Kommentar vgl. Barron und Weinberg 1995, ferner vgl. Brook und Leslie 1963–1978 (kritische Textausgabe ohne Übersetzung). Allgemein zu diesem Text vgl. etwa Wade 2011, S. 59–62; Lupack 2005, S. 29–31; Le Saux 1989; Loomis 1959 (Brut); Chambers 1925, S. 105 f.; Paton 1960 (1903), S. 25–33. 732 Barron und Weinberg 2001, S. vii, xiii. 733 Barron und Weinberg 2001, S. xiii-xv; vgl. Lupack 2005, S. 29. 734 Barron und Weinberg haben hier ein Element keltischen Erbes gesehen: Barron und Weinberg 2001, S. xxxix.
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ausdrücklich immer noch auf die Wiederkehr ihres Helden – Arthur wird auf Avalon nicht nur von tödlichen Verletzungen geheilt, sondern wird auch den Beschränkungen der Lebensspanne gewöhnlicher Sterblicher enthoben. Dabei erhält das Zusammenleben Arthurs mit der Herrin von Avalon einen potentiell erotischen Unterton: Dreimal wird die außerordentliche Schönheit der Herrin von Avalon betont (Z. 11512, 14277 f., 14291), mit der Arthur auf dieser Insel wohnen wird; eine erotische Verstrickung zwischen dem Helden und der schönen Elfenkönigin wird dabei zwar nicht explizit ausgesprochen, scheint aber doch zumindest äußerst naheliegend.⁷³⁵ Diese Züge entsprechen weitestgehend der Darstellung Morgens in Geoffreys Vita Merlini; aus dem Rahmen fallen nur der mögliche erotische Unterton und der Name ‚Argante’. Die Namensform ‚Argante‘ ist für Layamon spezifisch; es dürfte sich hier jedoch letztlich um nicht mehr handeln als um eine inhaltlich bedeutungslose Namensvariante, die nur auf einen Fehler eines Schreibers zurückgehen mag (vgl. die im Altfranzösischen für Morgen gängige Namensform Morgant).⁷³⁶ Signifikanter ist die Darstellung von Arthurs Zusammenleben mit der wunderschönen Anderweltsfrau; denn der im Brut allem Anschein nach suggerierte erotische Unterton dieses Zusammenlebens steht in einem markanten Spannungsverhältnis zur Bezeichnung Morgains als Arthurs Schwester im Draco Normannicus (und einer Reihe späterer Texte).⁷³⁷ Dies ist insbesondere insofern wichtig, als die Schilderung von Arthurs Entrückung im Brut deutlich ausführlicher ist als die Darstellung der Historia regum Britanniae, in der die Entrückung nur knapp festgestellt, aber in keinster Weise ausgeführt wird. Die Vita Merlini ist hier ausführlicher, zeigt aber keinen offenkundigen erotischen Unterton; die Schilderung der Vital Merlini weicht in den Details auch zu stark von der Schilderung des Brut ab, als dass eine direkte literarische Abhängigkeit naheliegen würde (so wird Arthur in der Vita von seinen Gefährten nach Avalon gebracht, während er im Brut von den Frauen von Avalon abgeholt wird). Insofern besteht die Möglichkeit, dass die Eigentümlichkeiten im Ton von Layamons Brut einen selbständigen Rückgriff auf nicht-galfridische Traditionen reflektieren.⁷³⁸
735 Vgl. Paton 1960 (1903), S. 28–33. 736 Vgl. Simek 2012, S. 251; Barron und Weinberg 2001, S. 280; Le Saux 1989, S. 113 (Anm. 40); Bruce 1912, S. 190 f.; ausführlich: Blanchet 1970; anders: Paton 1960 (1903), S. 26–28. 737 Siehe unten S. 202, 218, 234 f. 738 Die Vita Merlini zirkulierte wohl nur in äußerst beschränktem Maße (Echard 2011 [Arthur], S. 43; vgl. Parry und Caldwell 1959, S. 93; Paton 1960 [1903], S. 28). Le Saux 1989, S. 110–117 vertritt jedoch nichtsdestoweniger die Ansicht, dass Layamon mit der Vita Merlini grundsätzlich vertraut war. Dies macht es möglicherweise umso signifikanter, dass Layamon in den Details seiner Schilderung von Arthurs Entrückung der Vita Merlini nicht folgt. Zu den Ähnlichkeiten (nicht aber den Unterschieden) der beiden Schilderungen der Entrückung Arthurs in der Vita und in Layamons Brut vgl. Le Saux 1989, S. 113 f., schlussfolgernd: „These similarities point either to a direct borrowing from the Vita, or to Laʒamon’s knowledge of Geoffrey’s (oral?) source.“ (Zitat: S. 114.) In Anbetracht der von Le Saux nicht angesprochenen Unterschiede zwischen den beiden Passagen ist letztere Option die deutlich wahrscheinlichere.
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4.2 Die Liebe der Anderweltsfrau: Chrétien de Troyes, die bretonischen Lais und die Erotik des Entrückungsmotivs 4.2.1 Chrétien de Troyes, Avalon und die Glasinsel Einen prominenten und vergleichsweise frühen Niederschlag nicht-galfridischer Traditionen zur Insel Avalon repräsentiert der Roman Erec et Enide des Chrétien de Troyes. Erec et Enide ist das älteste Werk dieses Autors. Seine Entstehung wird auf ca. 1170 datiert; dabei gibt Chrétien selbst in diesem Werk allerdings an, auf einer bereits bestehenden Erzähltradition aufzubauen (V. 19–23).⁷³⁹ Auch Avalon wird in diesem Text erwähnt, Seite an Seite mit einer weiteren wunderbaren Insel; die Beschreibungen dieser beiden Inseln sind dabei in die Aufzählung der Teilnehmer eines großen Fests eingeflochten (Erec 1945–1958): Avuec çaus que m’oëz nomer Vint Maheloas, uns hauz ber, Li sire de l’Isle de Voirre; An cele isle n’ot l’an tonoirre Ne n’i chiet foudre ne tanpeste, Ne boz ne serpanz n’i areste, N’il n’i fet trop chaut ne n’iverne. Graislemiers de Fine Posterne I amena conpeignons vint, Et Guigomars, ses frere, i vint; De l’Isle d’Avalon fu sire. De cestui avons oï dire Qu’il fu amis Morgain, la fee, Et ce fu veritez provee.⁷⁴⁰
Zusammen mit denen, die ich euch genannt habe, kam Maheloas, ein mächtiger Herr und Herrscher über die Isle de Voirre; dort hat niemand je einen Donnerschlag vernommen, dort schlägt der Blitz nicht ein, dort stürmt es nicht, Kröten und Schlangen haben dort keine Wohnung, und es ist weder zu heiß, noch gibt es einen kalten Winter. Graislemiers von Fine Posterne brachte zwanzig Gefährten mit; auch sein Bruder Guigomars kam, der Herr der Insel Avalon; von ihm haben wir sagen hören, dass er der Freund der Fee Morgain war, und das war erwiesene Wahrheit.⁷⁴¹
In diesem Abschnitt des Erec werden zwei Inseln genannt, eine „Glasinsel“ (Isle de Voirre) mit ihrem Herrn Maheloas und die Isle d’Avalon mit ihrem Herrn Guigomar, dessen Bruder Graislemier ebenfalls kurz erwähnt wird. Beide Textabschnitte haben ihren Platz im Kontext der mythischen Inseln der arthurischen Literatur; die geringeren Probleme wirft die Erwähnung Avalons auf. Diese Erwähnung Avalons zeichnet sich insbesondere durch die Gestalt Guigomars aus: In merklichem Kontrast zur Avalon-Schilderung der Vita Merlini ist in Erec 1954–1958 von einem männlichen Herrn (sire) der Isle d’Avalon die Rede, welcher der
739 Simek 2012, S. 103. Soweit nicht anders angegeben, folgt die Verszählung der Ausgabe von Foerster 1909; ferner vgl. Foerster 1890; Roques 1966; Carroll 1987. Für eine Übersetzung vgl. etwa Langosch und Lange 1980, S. 162–284. 740 Text: Foerster 1909. 741 Übersetzung adaptiert nach Langosch und Lange 1980, S. 196.
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ami von Morgain la fee sei. Auf diesen Guigomar und seine Beziehung zur Herrin von Avalon wird im Folgenden noch zurückzukommen sein, da die Vorstellung eines „Guigomar, Herr von Avalon“ zwar kein Gegenstück bei Geoffrey findet, aber im Kontext der altfranzösischen arthurischen Dichtung keineswegs ohne Parallelen ist: Guigomar ist der Held eines bretonischen Lais, das davon erzählt, wie er zum Geliebten einer anderweltlichen Frauengestalt wird und aus der Welt der Menschen verschwindet.⁷⁴² Dasselbe Schicksal wird auch Guigomars Bruder Graislemier de Fine Posterne zuteil, der wohl mit dem Helden des Lai Graelent zu identifizieren ist:⁷⁴³ Auch dieses Lai schildert, wie ein Ritter (in diesem Fall Graelent) zum Geliebten einer Anderweltsfrau wird und ihr schließlich in ihr anderweltliches Reich folgt.⁷⁴⁴ Trotz der vergleichsweise großen Differenz zwischen den Namensformen Graislemier⁷⁴⁵ und Graelent kann die Identifizierung dieser beiden Figuren aufgrund des Zeugnisses des altfranzösischen Romans Le Bel Inconnu als gesichert gelten: Hierbei handelt es sich um einen Roman des Renaut de Bâgé vom Ende des 12. Jahrhunderts,⁷⁴⁶ in dem der Bruder des Guingam[u]er mit der Namensform Grahelens de Fine Posterne erscheint (V. 5519–5522); bei Graislemier de Fine Posterne (Bruder des Guigomar), Grahelens de Fine Posterne (Bruder des Guingamuer) und Graelent dürfte es sich somit um ein und dieselbe Person handeln. Über die Benennung Guigomars als Herr von Avalon an der Seite Morgains hinaus enthält die Passage keine weiteren direkten Informationen über Avalon. Die Erwähnung Morgains stellt im Gesamtzusammenhang von Chrétiens Werk jedoch eine indirekte Assoziation zwischen Avalon und der Heilkunst her: An einer späteren Stelle des Erec kommt eine Heilsalbe zur Anwendung, die von Morgain (Morgue)⁷⁴⁷ hergestellt worden ist und die jede Wunde binnen einer Woche heilen kann. Dabei wird auch erwähnt, dass Morgain Arthurs Schwester sei (V. 4214–4230). In ähnlicher Weise erscheint „Morgain die Weise“ (Morgue la sage) in Chrétiens Yvain, wo sie einer Dame eine Salbe zur Verfügung stellt, die jeden Wahnsinn zu heilen vermag (V. 2952–2955).⁷⁴⁸ Wie bei Geoffrey erscheint Morgain bei Chrétien als eine hilfsbereite und vorbehaltlos positiv gezeichnete Heilerin;⁷⁴⁹ ihre Insel Avalon wird damit implizit in denselben lebensbezogen-heilkräftigen Zusammenhang gerückt.
742 Vgl. schon Newstead 1946, S. 922 f. 743 Weingartner 1985, S. xxvi; Newstead 1946, S. 923 mit Anm. 24. 744 Ausführlich zu diesen Lais siehe unten S. 208 ff. 745 Foerster 1890, S. 72 (apparatus criticus zur Stelle [Z. 1952]) gibt die folgenden variationes lectionis für den Namen Graislemiers: Greslemuef, Grailemus, Garlees, Graillemers. 746 Herausgegeben und übersetzt von Fresco et al. 1992; Datierung: Lupack 2005, S. 317, vgl. Fresco et al. 1992, S. xi f. (Datierung in eine Zeitspanne von 1191 bis ins 1. Viertel des 13. Jahrhunderts). 747 Zur Identität von Morgain und Morgue vgl. Paton 1960 (1903), S. 64 f. 748 Herausgegeben von Foerster 1887, vgl. auch Roques 1982 (dort V. 2948–2951). Für eine Übersetzung des Yvain vgl. etwa Kibler und Carroll 2004, S. 295–380. 749 Vgl. Kibler und Carroll 2004, S. 506 (Anm. 8); Simek 2012, S. 251.
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Deutlich problematischer als Chrétiens Verse zu Avalon ist die Erwähnung der Isle de Voirre. Die Probleme beginnen hier schon mit der Textüberlieferung. Eine modernen Standards entsprechende kritische Ausgabe von Erec et Enide fehlt bisher.⁷⁵⁰ Das oben gegebene Zitat folgt der Ausgabe Wendelin Foersters von 1909, die auf Foersters Ausgabe von 1890 aufbaut; letztere Edition bietet den bis heute umfassendsten Variantenapparat unter Heranziehung aller bekannten Handschriften, kann aber sowohl aufgrund ihrer eklektizistischen Textgestaltung als auch aufgrund vielfacher Ungenauigkeiten in den Anmerkungen und Varianten nicht als definitive Ausgabe gelten.⁷⁵¹ Neuere Ausgaben von Mario Roques und Carleton W. Carroll bauen demgegenüber unmittelbar auf dem Text einer einzelnen Handschrift auf (in beiden Fällen die Handschrift Paris, Bib. nat., fr. 794, frühes 13. Jahrhundert,⁷⁵² kopiert vom Schreiber Guiot) und greifen nur in Ausnahmefällen auf andere Manuskripte zurück; eine Rekonstruktion des Texts Chrétiens oder auch nur des gemeinsamen Archetyps der erhaltenen Handschriften wird damit nicht angestrebt, ebenso wenig wie ein umfassender kritischer Apparat gegeben wird.⁷⁵³ Gerade die vorliegende Passage ist von diesen Problemen der Editionslage unmittelbar betroffen: In der Guiot-Handschrift erscheint keine Isle de Voirre, sondern eine Isle Noire.⁷⁵⁴ Keiner der beiden neueren Herausgeber (Roques und Carroll) diskutiert diese Passage, so dass die beiden Textvarianten einander bislang unkommentiert gegenüberstehen. In einer neuerdings von ihm vorgelegten Übersetzung entscheidet sich Carroll jedoch gegen den Text seiner auf Guiot basierenden Ausgabe und für die Lesung als „Glasinsel“.⁷⁵⁵ Für eine solche Bevorzugung der Lesung Isle de Voirre spricht möglicherweise, dass Foersters Variantenapparat außer der Guiot-Handschrift keine weitere Variante kennt, die klar anzeigen würde, dass die Leseweise noire mehr ist als eine Idiosynkrasie dieses Manuskripts;⁷⁵⁶ dies ist ein Argument jedoch nur unter dem Vorbehalt, dass dieser Variantenapparat als unzuverlässig gilt.⁷⁵⁷ Falls die Leseweise noire im Kontext der Textüberlieferung von Erec et Enide tatsächlich eine isolierte Eigentümlichkeit der Guiot-Handschrift ist, lässt sie sich vielleicht mit der Ille Noires in Zusammenhang bringen, die in Le Bel Inconnu (V. 5518) erwähnt wird und die dort – genau wie im Erec – unmittelbar vor Grahelens de Fine Posterne und seinem Bruder Guingam[u]er
750 Vgl. etwa Carroll 1987, S. xxxiv selbstkritisch in der Einleitung zu seiner eigenen Ausgabe. 751 Vgl. etwa Carroll 1987, S. xxix f. 752 Kibler 1987, S. xxv. 753 Roques 1966; Carroll 1987. 754 Roques 1966, S. 58 (Z. 1897); Carroll 1987, S. 84 (Z. 1911). 755 Kibler und Carroll 2004, S. 61. (Die Übersetzung von Erec et Enide in diesem Band stammt von Carroll.) 756 Foerster 1890, S. 72 führt neben der Variante noir des Guiot-Manuskripts noch eine Variante denoire an (in der Handschrift Paris, Bib. nat. 375; 13. Jahrhundert [Foerster 1890, S. I f.]); hier dürfte aber nur v als n verlesen worden sein. 757 Carroll 1987, S. xxix f.
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erscheint, welche dem Graislemier de Fine Posterne und dem Guigomar Chrétiens entsprechen.⁷⁵⁸ So viel zu den letztlich ungelösten textlichen Problemen der Passage. Inhaltlich setzt sich die Schilderung der „Glasinsel“ aus Elementen zusammen, die durchgehend aus der geographischen Literatur bekannt sind, die im 12. Jahrhundert im Umlauf war. Das Hauptcharakteristikum der Isle de Voirre – ihr von Unwettern, Hitze und Kälte freies Klima – ist ein zentrales Element der mittelalterlichen Auffassung des irdischen Paradieses;⁷⁵⁹ gerade der ausdrückliche Ausschluss von übermäßiger Hitze und Kälte erinnert an die Feststellung Isidors von Sevilla, dass das irdische Paradies weder von Kälte noch von Hitze geplagt werde: non ibi frigus, non aestus, sed perpetua veris temperies (Etymologiae XIV.iii.2;⁷⁶⁰ vgl. fast wortgleich auch Hrabanus Maurus, De universo XII.3⁷⁶¹). Und ebenso ist auch die Vorstellung, dass eine Insel frei von Schlangen sei, nicht für den Erec spezifisch, sondern taucht in der geographischen Literatur mehrfach und in Verbindung mit ganz unterschiedlichen Inseln auf: So berichtet Honorius von Autun über die Insel Sardinien, dass dort keine Schlangen leben (De imagine mundi I.36);⁷⁶² über die Insel Tanatos bei den britischen Inseln, dass deren Erde Schlangen vernichtet (De imagine mundi I.31);⁷⁶³ und über die Insel Ebosus vor der Küste der Iberischen Halbinsel, dass Schlangen von ihr fliehen (De imagine mundi I.36).⁷⁶⁴ Honorius’ einschlägige Bemerkungen beruhen deutlich auf der Enzyklopädie Isidors von Sevilla,⁷⁶⁵ ohne dass Honorius die schlangenfreien Inseln Isidors jedoch vollständig in seine Kosmographie übernommen hätte. Isidor selbst weiß von einer Insel Galoe vor der äthiopischen Küste, auf der keine Schlangen leben (Etymologiae IX.ii.124);⁷⁶⁶ davon, dass es weder auf Kreta Schlangen gibt (Etymologiae XIV.vi.16),⁷⁶⁷ noch auf Sardinien (Etymologiae XIV.vi.40);⁷⁶⁸ von der Insel Zanius in der Nähe der Insel Ebosus, vor deren Erde Schlangen die Flucht ergreifen (Etymologiae XIV.vi.43);⁷⁶⁹ und von der Insel Thanatos vor der britannischen Küste, deren Erde für Schlangen tödlich ist (Etymologiae XIV.vi.3):
758 Zu Le Bel Inconnu vgl. oben S. 202 mit Anm. 746. 759 Vgl. Chambers 1927, S. 212. 760 Patrologia Latina t.LXXXII, c.496C. Für ein Gesamtzitat der Stelle vgl. oben S. 49. 761 Patrologia Latina t.CXI, c.334A. 762 In hac nec serpentes, nec lupi gignuntur: Patrologia Latina t.CLXXII, c.132B–C. 763 [...] Tanatos, cujus terra, quovis gentium portata, serpentes perimit: Patrologia Latina t.CLXXII, c.130B. 764 Hanc fugiunt serpentes: Patrologia Latina t.CLXXII, c.132C. 765 Vgl. die jeweils in den vorangehenden und folgenden Fußnoten gegebenen Zitate der einschlägigen Stellen bei Honorius und Isidor. 766 Gauloe insula [...], quae est juxta Aethiopiam, ubi nec serpens nascitur, nec vivit: Patrologia Latina t.LXXXII, c.340C. 767 [...], serpens ibi nullus, noctua nulla, et si invehatur, statim moritur: Patrologia Latina t.LXXXII, c.515B. 768 In ea neque serpens gignitur, neque lupus [...]: Patrologia Latina t.LXXXII, c.519B. 769 Ebosus insula Hispaniae dicta, quod a Zanio non procul sit, quasi ebozos. Nam lxx stadiis ab ea distat, cujus terram serpentes fugiunt: Patrologia Latina t.LXXXII, c.520A.
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Thanatos, insula Oceani, freto Gallico a Britannia aestuario tenui separata, frumentariis campis, et gleba uberi. Dicta autem Thanatos a morte serpentum, quos dum ipsa nesciat, asportata inde terra quoquo gentium vecta sit, angues illico perimit.⁷⁷⁰ Thanatos [d. h. die Isle of Thanet an der Ostspitze von Kent],⁷⁷¹ eine Insel des Ozeans, in der gallischen Meerenge durch eine schmale Salzmarsch von Britannien getrennt, mit Feldern reich an Getreide, und mit fruchtbarem Boden. Genannt aber wird sie Thanatos vom Tod der Schlangen; während sie selbst diese nicht kennt, rottet von dort weggetragene Erde, zu welchem Volk sie auch gebracht worden sei, dort die Schlangen aus.
Diese Stellen illustrieren nachdrücklich die Problematik der Bewertung der Isle de Voirre des Erec. Diese Isle de Voirre ist wiederholt als Reflex keltischer mythologischer Vorstellungen betrachtet worden.⁷⁷² Hiergegen machen diese Literaturstellen jedoch deutlich, dass die im Erec mit der Isle de Voirre verbundenen Motive im 12. Jahrhundert weithin geläufig waren; Chrétien könnte theoretisch alle Elemente seiner Schilderung der „Glasinsel“ problemlos der gelehrten Schriftkultur seiner Zeit entnommen haben, was eine Herleitung dieser Motive aus einer hypothetischen keltischen mündlichen Erzähltradition strenggenommen unnötig machen würde. Auch der Kontext dieser Stelle im Erec lässt sich potentiell als Indiz für eine solche Interpretation heranziehen: Die Beschreibung der Isle de Voirre bildet im Erec einen Teil der Liste der Gäste, welche zu Pfingsten zur Hochzeit Erecs anreisen. Diese umfangreiche Gästeliste findet ein Gegenstück in der Liste der Gäste, die sich in Geoffreys Historia regum Britanniae nach Arthurs Eroberung Galliens zum Pfingstfest in Caerleon einfinden (Historia IX.156); die entsprechende Passage findet sich auch in der altfranzösischen Übertragung der Historia, dem Roman de Brut des Wace (abgeschlossen 1155).⁷⁷³ Ebenso wie Maheloas, der Herr der „Glasinsel“, und Guigomar im Erec in beinahe unmittelbarer Nachbarschaft erscheinen, werden bei Geoffrey Gillamur und Mavasius nebeneinander genannt, wobei auch dort beide als Könige ihrer jeweiligen Inseln bezeichnet werden: ex collateralibus etiam insulis Gillamuri [sic] rex Hiberniae, Maluasius rex Islandiae, [...] – „von den benachbarten Inseln [kamen] auch Gillamurius, König von Irland, Malvasius, König von Island, [...].“ Dasselbe Arrangement findet sich in der Liste der Gäste bei den Krönungsfeierlichkeiten Arthurs in Waces Roman de Brut (V. 10303 f.): Gillamur i fu, reis d’Irlande, | E Malvaisus, li reis d’Islande [...].⁷⁷⁴ Wenn man
770 Patrologia Latina t.LXXXII, c.513A. 771 Lokalisierung: Mommsen 1895, S. 101 (apparatus criticus zu Z. 6). 772 Lincoln 1980 (Paradise), S. 156 f. (der die – vermeintlich oder wirklich – keltischen Vorstellungen ferner als direkte Reflexe urindogermanischer Vorstellungen deutet); Krappe 1943, bes. S. 306 f., 310, 314, 322; Much 1924, S. 102; Heizmann 1998, S. 86, 89–94; Heizmann 2002, S. 530; vgl. Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 190. 773 Siehe oben S. 198. 774 Weiss 1999, S. 258.
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in den beiden Inselkönigen Malvasius/Malvaisus und Maheloas⁷⁷⁵ dieselbe Person sehen darf (was immerhin durch die Namensähnlichkeit und die vergleichbare Relation zu Guigomar/Gillamur nahegelegt wird), dann hat die Isle de Voirre Chrétiens in den älteren Texten Geoffreys und Waces ihr Gegenstück in der Insel Island. Auf dieser Grundlage ließe sich die Frage stellen, ob die „Glasinsel“ Chrétiens als ein literarischintellektuelles Spiel mit der „Eisinsel“ dieser beiden älteren Arthurtexte aufzufassen sein könnte: Ein solches bewusstes literarisches Spiel lässt sich zwar nicht unzweifelhaft beweisen, wäre in Anbetracht der naheliegenden Parallelsetzung von Glas und Eis jedoch immerhin als theoretische Möglichkeit in Betracht zu ziehen.⁷⁷⁶ In diesem Fall ließen sich somit sämtliche Elemente der Isle de Voirre des Erec – sowohl ihr Name als auch ihre inhaltlichen Charakteristika – aus einem Spiel mit Motiven der zeitgenössisch im Umlauf befindlichen kosmologischen, geographischen und arthurischen Literatur erklären.⁷⁷⁷ Ein jede Annahme eines Elements mündlicher keltischer mythologischer Tradition würde damit unnötig. Wie problematisch eine jede Interpretation der Isle de Voirre – auch eine Interpretation als rein literarisches Konstrukt – letztlich bleiben muss, illustriert jedoch gerade die zuletzt zitierte Passage Isidors zur schlangenlosen Insel Thanatos. Denn dieser Beleg lässt sich nicht nur als Indiz für eine Deutung der Isle de Voirre als literarische Spielerei deuten, sondern auch als Indiz für die gegenteilige Annahme. Die Insel Thanatos zeichnet sich durch zwei Züge aus: durch ihre bemerkenswerte Fruchtbarkeit und durch das Fehlen von Schlangen in ihrer Fauna. Bei besonderer Furchtbarkeit handelt es sich nun jedoch um ein Paradiesstereotyp, das für Paradiesschilderungen ebenso typisch ist wie eine stets milde Witterung (vgl. etwa die Paradiesschilderung Isidors: das irdische Paradies ist ein hortus deliciarum und omni genere ligni et pomiferarum arborum consitus: Etymologiae XIV.iii.2).⁷⁷⁸ Wie die Isle de Voirre wird Thanatos somit sowohl durch (1) Züge einer Paradiesinsel als auch durch (2) das Motiv der Abwesenheit von Schlangen charakterisiert. Diese zweifache Parallele mag insbesondere deshalb von Interesse sein, weil die Insel Thanatos unmittelbar an der Küste Britanniens liegt. Diese Lage wirft die Möglichkeit auf, dass es sich bei den außergewöhnlichen Eigenschaften dieser Insel um lokale inselkeltische Vor-
775 Foerster 1890, S. 72 (apparatus criticus zur Stelle [Z. 1946]) gibt die folgenden variationes lectionis für den Namen Maheloas: Moloas, Meloax, Mahalos, Malehoes, Maccolans. 776 Vgl. als typologische Parallele zu einer solchen Assoziation von Glas und Eis etwa die semantischen Beziehungen zwischen altenglisch glæs „Glas“ und altwestnordisch gler „Glas“ vs. neunorwegisch gler „glatte Oberfläche, bes. von Eis“, färöisch gler „klares Eis“ (de Vries 1961 [Wörterbuch] s.v. ‚gler‘). 777 Für weitere literarische Anschlussmöglichkeiten der Insel Thanatos vgl. Solinus XXIII.10 f., wo die drei Fortunatae insulae und eine Insel ohne Schlangen unmittelbar nacheinander beschrieben werden, und die 16. Epode des Horaz: Auch die dortige Schilderung der Inseln der Seligen verbindet die Motive „Fruchtbarkeit“, „milde Witterung“ und „Abwesenheit von Schlangen“. 778 Patrologia Latina t.LXXXII, c.496C. Für ein Gesamtzitat der Stelle vgl. oben S. 49.
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stellungen handeln könnte, wie die klassische Ethnographie auch anderswo lokale geographische Mythen der britischen Inseln überliefert.⁷⁷⁹ Solche inselkeltische Vorstellungen könnten in die altfranzösische arthurische Literatur über die bretonischen Dichter Eingang gefunden haben, auf die gerade in den bretonischen Lais so oft Bezug genommen wird.⁷⁸⁰ Somit ließe sich argumentieren, dass die Parallele zwischen der paradiesisch fruchtbaren und von Schlangen freien Insel Thanatos und der von Schlangen freien, mit einem paradiesischen Klima gesegneten Isle de Voirre als ein Indiz dafür gedeutet werden könnte, dass die fraglichen Verse von Chrétiens Erec auf authentisches britannisch-inselkeltisches Traditionsgut zurückgreifen. Für die Bezeichnung dieser Insel als Isle de Voirre („Glasinsel“) lässt sich hier ferner darauf hinweisen, dass dieser Name als Bezeichnung einer mythischen Insel eine genaue Entsprechung in der Ynisgutrin („Glasinsel“) der walisischen Literatur findet, auf die im Folgenden noch ausführlicher einzugehen sein wird;⁷⁸¹ dies ist dabei insofern von besonderer Bedeutung, als auch in der britannischen Literatur der Herr dieser „Glasinsel“ einen Namen trägt, der eine Variante von Chrétiens Maheloas darstellen könnte. Die Isle de Voirre illustriert damit in aller Deutlichkeit ein Problem für die Frage mythologischer Kontinuitäten, das von den literarischen Quellen immer wieder aufgeworfen wird: Zwar besteht die Möglichkeit einer Anbindung an potentiell authentisch inselkeltische Vorstellungen, zugleich finden sich aber gerade auf inhaltlicher Ebene auch im Rahmen der zeitgenössischen Literatur und Kosmologie des christlichen Mittelalters so enge Parallelen, dass eine Verortung in diesem Kontext oftmals ebenso wahrscheinlich ist wie eine Herleitung aus vorchristlichen mythologischen Vorstellungen. Eine Entscheidung ist dabei mitunter nur auf der Grundlage letztlich subjektiver Wahrscheinlichkeitsabschätzungen möglich. Im vorliegenden Fall – d. h. für das Konzept der „Glasinsel“ – lässt sich festhalten, dass die Wiederkehr sowohl der „Glasinsel“ als auch ihres Herrn Maheloas in der britannischen Literatur ein äußerst starkes Indiz dafür darstellt, dass es sich bei dieser Insel grundsätzlich um ein Konzept mit einem traditionellen Hintergrund in der (wohl mündlichen) Erzähltradition der Britannier handelt; dies impliziert jedoch nicht, dass auch die charakteristischen Elemente ihrer Beschreibung im Erec einen solchen traditionellen Hintergrund haben und nicht nur auf dem literarischen Spiel mit gelehrten Motiven beruhen.
779 Siehe unten S. 384 ff. 780 Siehe etwa unten S. 210, 211. 781 Siehe unten S. 225, 229.
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4.2.2 Die bretonischen Lais, oder: Weiteres zu Guigomar und seiner Dame Der Erec des Chrétien de Troyes erwähnt die Gestalt des Guigomars, welcher der Herr der Insel Avalon war (de l’Isle d’Avalon fu sire), und über den es heißt, er sei erwiesenermaßen der ‚Freund‘ der Fee Morgain gewesen (qu’il fu amis Morgain, la fee, | et ce fu veritez provee).⁷⁸² Dass dieser Guigomar (oder je nach Handschrift auch Guingamar, Guingomar o. ä.)⁷⁸³ hier ausdrücklich als Herr von Avalon und ami Morgains angesprochen wird, hat wichtige Konsequenzen für die Deutung einer Reihe von Texten aus der Gattung der bretonischen Lais. Bei diesen Lais handelt es sich um kürzere erzählende Gedichte in altfranzösischer Sprache von einigen Hundert Versen Länge, die teils anonym überliefert sind und teils der Marie de France zugeschrieben werden. Diese Texte präsentieren sich selbst häufig als Umdichtungen bretonischer (oder großbritannnischer)⁷⁸⁴ Lieder, deren starke Verwurzelung in keltischem Mythen- und Traditionsgut in der Forschung wiederholt betont worden ist.⁷⁸⁵ Die entsprechenden Texte werden sämtlich in die 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert;⁷⁸⁶ für die der Marie de France zugeschriebenen Gedichte ist eine Datierung in die 1160er Jahre vorgeschlagen worden, da in diesen Gedichten keinerlei Einflüsse aus dem Werk Chrétien de Troyes’ fassbar sind.⁷⁸⁷ Der bekannteste einschlägige Text ist vermutlich das Lai de Guigemar der Marie de France.⁷⁸⁸ Guigemar ist hier ein allseits beliebter junger Ritter, der sich in jeder Hinsicht auszeichnet – mit der Ausnahme seines Liebeslebens, da er keinerlei Interesse an Liebesbeziehungen zeigt. Eines Tages trifft er auf der Jagd auf eine weiße Hirschkuh mit dem Geweih eines Hirschs; Guigemar schießt einen Pfeil auf das Tier ab, der jedoch von seiner Stirn zurückprallt und Guigemars Schenkel durchbohrt. Die sterbende Hindin verflucht ihn darauf, dass diese Pfeilwunde nicht heilen solle, bis Guigemar und eine Dame zueinander in unwiderstehlicher Liebe entbrennen und diese Dame seine Wunde behandeln würde. Guigemar begibt sich darauf auf die Suche nach einer Frau, die er lieben könnte, und gelangt nahebei an einen Flusshafen, von dem er noch nie zuvor gehört hatte. Dort findet er ein wunderbares, aber
782 Ausführlich zur Beziehung zwischen Morgain und Guigomar vgl. schon Paton 1960 (1903), S. 60– 73, ferner vgl. etwa Simek 2012, S. 205, 155. 783 Foerster 1890, S. 73 (mit apparatus criticus zur Stelle [Z. 1954]) gibt die folgenden Varianten für den Namen an: Guingomars, Guingamars, Guingas, Guigamor, Guilemers. 784 Zur mitunter unklaren Bezugnahme auf die Bretagne vs. Britannien vgl. etwa Bullock-Davies 1969, bes. S. 129 f., 133. 785 Vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 185 f. et passim; de Caluwé 1983 passim; Tobin 1980; Frappier 1973; Koubichkine 1972; Bullock-Davies 1969; Newstead 1946; Cross 1915; Cross 1913; Schofield 1896; ferner (zu im Folgenden nicht besprochenen Lais) Krappe 1929; Cross 1910. 786 Simek 2012, S. 205; Burgess and Busby 1999, S. 17; Weingartner 1985, S. xiii. 787 Burgess und Busby 1999, S. 14. 788 Hgg. von Rychner 1966, S. 5–32; für eine Übersetzung vgl. z. B. Burgess und Busby 1999, S. 43–55.
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unbemanntes Schiff. In der Mitte dieses Schiffes steht ein prächtiges Bett; es ist nicht nur aus kostbarsten Materialien gefertigt, sondern das Kopfkissen weist obendrein die Eigenschaft auf, dass niemand graues Haar bekommt, der seinen Kopf darauf gebettet hat. Guigemar ruht sich auf diesem Bett eine Weile aus, muss dann aber feststellen, dass ihn das Schiff auf die hohe See hinausträgt. Noch vor dem Abend bringt das Schiff ihn zu seinem Ziel: Am Fuß einer Burg an der Küste befindet sich eine Einfriedung mit einer Mauer aus grünem Marmor, wo ein eifersüchtiger alter König seine schöne junge Frau in einer ungemein prachtvollen Kammer gefangen hält. Dort legt Guigemars Schiff an, und die Königin und ihre Maid finden den verletzten Ritter; sie nehmen ihn auf, verstecken ihn und pflegen ihn gesund, während Guigemar und die Königin sich ineinander verlieben. Nachdem Guigemar sich anderthalb Jahre lang als geheimer Geliebter der Königin dort aufgehalten hat, wird seine Anwesenheit entdeckt; er entkommt dem Zorn des Königs jedoch dadurch, dass ihn das Schiff wieder in seine Heimat bringt. Die Königin ist über den Verlust ihres Geliebten so unglücklich, dass sie sich ins Meer stürzen will; auch sie wird allerdings vom selben Schiff fortgebracht, und nach weiteren Abenteuern werden Guigemar und seine Geliebte, die schön ist wie eine Elfe (ki de beuté resemble fee, V. 704), schließlich wieder miteinander vereint. Eine ganze Reihe von Motiven dieses Lais kehrt im anonymen Lai Graelent wieder.⁷⁸⁹ Dieses Gedicht schildert das Schicksal des edlen, aber nicht sehr reichen bretonischen Ritters Graelent. Die Gemahlin des Königs, dem Graelent dient, versucht, Graelent zu verführen. Sie wird jedoch von ihm abgewiesen: Die Liebe sei eine so anspruchsvolle und gewichtige Angelegenheit, dass er sich nicht darauf einlassen wolle, und außerdem will der treue Ritter seinem König keine Schmach antun. Die Königin bringt infolge dieser Zurückweisung den König dazu, Graelent seine Soldzahlungen vorzuenthalten, und er verarmt. Als er mit abgewetzten Kleidern und geliehener Ausrüstung jedoch eines Tages auf die Jagd in den Wald reitet, trifft er auf eine weiße Hirschkuh; er verfolgt dieses Tier und kommt so zu einem Teich, in dem eine wunderschöne Dame badet, die schönste Frau der Welt. Er beobachtet sie eine Weile und wird schließlich ihr Geliebter; dabei wird zunächst der Eindruck vermittelt, dass die Initiative bei Graelent liegt, bis die Dame gesteht, absichtlich um seinetwillen zum Teich gekommen zu sein – sie hat ihm eine Liebesfalle gestellt (V. 329–331).⁷⁹⁰ Ehe sich die beiden Liebenden für den Tag trennen, erlegt die Dame Graelent noch die Regel auf, dass er niemandem von ihr erzählen darf. So kehrt Graelent in seine Unterkunft zurück. Bald darauf sucht ihn ein Diener der Dame auf, bringt Graelent
789 Herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Weingartner 1985. 790 Für eine etwas umständlich anmutende Erklärung dieses scheinbaren Meinungsumschwungs der Anderweltsfrau (der wohl am einfachsten als bloße Koketterie zu deuten ist) als vermeintlicher Einfluss des sog. germanischen „Schwanenmädchenmotivs“ vgl. Cross 1913, S. 384 f. (anders schon Cross 1915, S. 616–621).
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ein Pferd und andere reiche Geschenke und steht ihm auch ansonsten zu Diensten. Für ein Jahr führt Graelent ein glückliches Leben mit seiner geheimen Geliebten. Dieses Glück endet, als der König ein Fest veranstaltet, während dessen er seine Frau zur Schau stellt und die versammelten Edelleute fragt, ob es eine schönere Frau in der Welt gebe. Die Edelleute bestätigen dies – bis auf Graelent, der preisgibt, dass er eine schönere Frau kennt. Die Königin ist über diese Herabsetzung ihrer Schönheit entrüstet und Graelent wird auferlegt, dass er zum selben Fest in einem Jahr die Frau herbeibringen muss, die schöner sein soll als die Königin; sonst muss er die Konsequenzen für diese Beleidigung der Königin tragen. Von nun an sind jedoch sein Diener und seine Geliebte verschwunden. Graelent verzehrt sich vor Kummer, und am Ende der Jahresfrist hat er zu seiner Verteidigung nichts vorzuweisen. Als jedoch das Tribunal versammelt ist, das ihn richten soll, kommen zwei Maiden und bitten um Aufschub des Urteils, dann noch zwei weitere mit derselben Bitte – und sie sind alle schöner als die Königin. Schließlich erscheint Graelents Geliebte selbst, und ihre Schönheit schlägt alle Anwesenden in ihren Bann: So wird Graelent freigesprochen. Als die Dame schließlich den Hof wieder verlässt und Graelent ihr zu folgen versucht, beachtet sie ihn jedoch zunächst nicht. Er folgt ihr bis zu einem Fluss, an dem sie ihn davor warnt, sich ins Wasser zu wagen – er würde ertrinken. Graelent missachtet diese Warnung und versucht, ihr zu folgen; dabei ertrinkt er beinahe und entkommt dem Wasser nur mit ihrer Hilfe. Sie mahnt ihn nochmals, dass er den Fluss trotz aller Anstrengung nicht zu überqueren vermag. Er folgt ihr dennoch ein weiteres Mal, und nur auf das Zureden ihrer Kammerfrauen rettet die Dame ihn ein zweites Mal aus dem Wasser, vergibt ihm und nimmt ihn mit sich. Das Gedicht schließt daran die Bemerkung an, dass die Leute der Region heute noch glauben, dass Graelent am Leben und bei seiner Geliebten ist (V. 733 f.). Die letzten Verse geben kund, dass diese Geschichte in der ganzen Bretagne bekannt und Gegenstand eines bretonischen Gedichts namens Graelent Muer sei. Eine weitere Variation über Themen, wie sie im Guigemar der Marie de France und dem anonymen Graelent verarbeitet werden, stellt das gleichfalls anonyme Lai Guingamor dar.⁷⁹¹ Guingamor ist ein bretonischer Ritter, den der kinderlose König sehr liebt und zu seinem Erben machen will. In weniger angemessener Weise liebt ihn jedoch auch die Königin: Sie versucht, Guingamor zu verführen. Der Ritter weist sie zurück und infolgedessen fürchtet die Königin, dass Guingamor ihr unschickliches Ansinnen dem König verrät. So ersinnt sie eine Weise, um sich Guingamors zu entledigen: Sie wendet sich an die versammelten Ritter des Hofs und fordert sie heraus, den weißen Eber zu fangen, der im Wald lebt. Dem König missfällt dies, da er schon zehn Ritter verloren hat, die sich auf die Jagd nach diesem Eber begeben hatten – der Fluss und die Heide dort seien gefährlich. Guingamor geht jedoch darauf ein und
791 Ebenfalls herausgegeben, übersetzt und kommentiert von Weingartner 1985. Zur Autorenfrage vgl. ibidem S. xiii-xviii.
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zieht am nächsten Morgen los, um den Eber zu jagen. Die Jagdhunde spüren den Eber auf, aber seine Verfolgung zieht sich über alles Maß in die Länge und führt Guingamor über den gefährlichen Fluss (la riviere perilleuse, V. 358); Guingamor hat den Eber beinahe eingeholt, als er einen Palast hinter Mauern aus grünem Marmor sieht, der seine Aufmerksamkeit von der Jagd ablenkt. Der Ritter betritt den Palast, der offen steht, und findet unglaubliche Pracht vor – selbst die Räume sind aus Steinen des Paradieses (pierres de paradis, V. 391); jedoch trifft er keinerlei Bewohner an. Als er die Jagd fortsetzt, führt ihn der Eber zu einem Teich, in dem eine wunderschöne Dame badet. Sie bietet ihm an, von nun an bei ihr zu bleiben. Guingamor verweist auf seine Pflicht, den Eber zu erlegen; die Dame erklärt ihm darauf, dass niemand diesen Eber ohne ihre Hilfe erlegen kann und verspricht Guingamor, ihm den Eber in drei Tagen zu übergeben, wenn er in dieser Zeit bei ihr bleibe. Guingamor, der sich die Dame als Geliebte wünscht (obwohl er der Liebe noch nie zuvor irgendeine Aufmerksamkeit geschenkt hatte), geht darauf gerne ein. Die Dame wird seine Geliebte und bringt ihn zu dem Palast, den er zuvor leer angetroffen hatte; jetzt befindet sich dort eine prächtige Festgesellschaft von mehr als dreihundert Rittern mit ihren Geliebten, einschließlich der zehn Ritter, die der König bei der Jagd nach dem weißen Eber verloren hatte. Als Guingamor nach der vereinbarten Zeit seine Dame bittet, mit dem Eber in sein Land zurückkehren zu dürfen, erklärt diese ihm jedoch, dass seit seinem Aufbruch dreihundert Jahre vergangen sind – alle seine Freunde und Verwandten sind lange tot. Guingamor schenkt diesen Worten keinen Glauben und besteht darauf, aufzubrechen. Die Dame gewährt ihm dies und überlässt ihm, wie vereinbart, den Eber; sie warnt ihn jedoch nachdrücklich, nichts zu essen oder zu trinken, nachdem er den Fluss überquert hat, der sein Land von dem ihren trennt. In einem Boot setzt er auf die andere Seite des Flusses über – und muss bald feststellen, dass die Dame ihm in der Tat die Wahrheit gesagt hat: Seit seinem Aufbruch sind dreihundert Jahre vergangen, und sein eigenes Verschwinden auf der Jagd nach dem weißen Eber ist inzwischen eine Geschichte, die von alten Leuten erzählt wird. So erzählt Guingamor seine Geschichte einem Köhler, den er im Wald trifft, und überlässt ihm zum Beweis den Kopf des weißen Ebers; danach macht er sich auf den Rückweg zu seiner Dame. Unterwegs isst er jedoch Äpfel von einem wilden Apfelbaum, und sofort holt ihn das Alter ein. Der Köhler, der ihm gefolgt ist, beobachtet noch, wie sich zwei reich gewandete Maiden klagend dem vom Pferd gefallenen Ritter nähern; während sie ihn für seine Missachtung des Essverbots tadeln, setzen sie ihn vorsichtig auf ein Pferd und bringen es in einem Boot über den Fluss. Der Köhler aber kehrt heim und erzählt diese Geschichte, aus der die Bretonen ein Lai gemacht haben. Im Rahmen der Diskussion des Helga þáttr Þórissonar ist ferner bereits das Lai de Lanval der Marie de France erwähnt worden.⁷⁹² Auch dieses Gedicht spielt mit
792 Siehe oben S. 63, 66. Spezifisch der altfranzösische Text ist hgg. etwa bei Rychner 1966, S. 72–92, ferner siehe die Literatur oben in Anm. 222.
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ganz ähnlichen Motiven wie der Guigemar, der Graelent und der Guingamor: Ein armer Ritter vom Hof König Arthurs trifft im Wald in der Nähe eines Flusses auf eine anderweltliche Frau, die ihn dort offenkundig erwartet; sie selbst erläutert ihm, dass sie aus Liebe zu ihm aus ihrem Land hierhergekommen ist. Sie macht ihn unter einem Verschwiegenheitsgebot zu ihrem Geliebten und stattet ihn mit unbegrenzten Reichtümern aus. Das Glück des Ritters endet jedoch, als die Königin versucht, ihn zu verführen; denn dabei geht sein Mund mit seinem Verstand durch: Er prahlt mit seiner Geliebten, die unendlich schöner ist als die Königin, wodurch er sowohl seine Liebesbeziehung verrät als auch die Königin beleidigt. Ob dieser Beleidigung wendet die Königin sich an ihren Mann Arthur; um sich vor dem Zorn König Arthurs zu retten, muss Lanval daraufhin bis zu einem festgesetzten Zeitpunkt den Beweis dafür erbringen, dass er tatsächlich eine Geliebte hat, die schöner ist als die Königin. Nachdem er ihr Verschwiegenheitsgebot gebrochen hat, ist seine Geliebte jedoch verschwunden; erst im letzten Augenblick tritt sie auf und rettet den Ritter. Danach folgt er ihr in ihre Welt, die im Lanval als Avalon (Avalun) identifiziert wird, eine sehr schöne Insel (un isle ki mut est beaus, V. 643);⁷⁹³ seitdem hat niemand mehr von ihm gehört. Trotz einiger Variationen in den Details ist die Grundhandlung des Lanval im Wesentlichen mit derjenigen des Graelent identisch, und auch zwischen diesen beiden Gedichten und dem Guigemar sowie dem Guingemor bestehen vielfache Motivparallelen: In dreien der Gedichte spielt die eheliche Untreue einer Königin eine zentrale Rolle; in drei Gedichten ist ein offenkundig übernatürliches weißes Jagdtier von grundlegender Bedeutung für die Herstellung des Kontakts zwischen dem Ritter und seiner Geliebten; in allen Gedichten liegt das Land der Frau, die zur Geliebten des Ritters wird, jenseits eines Gewässers (sei es, dass sie sich auf einer Insel, jenseits des Meeres oder jenseits eines Flusses befindet); alle Gedichte spielen mit dem Motiv der Heilung oder der Verlängerung des Lebens über das normale sterbliche Maß hinaus; und alle Gedichte teilen die grundlegende Abfolge der Motive ‚Treffen mit der Geliebten und Beginn der Liebesbeziehung‘ – ‚Gefährdung der Beziehung durch einen Tabubruch des Ritters‘ – ‚Wiedervereinigung‘ (vgl. die Tabelle auf S. 214). Dabei handelt es sich bei den Damen in dreien der Gedichte (Graelent, Guingomar und Lanval) deutlich um anderweltliche Frauengestalten mit übernatürlichen Fähigkeiten, die zudem in allen drei Fällen in ihrer Beziehung zum Ritter die Initiative übernehmen: Alle drei Anderweltsfrauen bereiten sorgfältig eine Situation vor, in welcher der Ritter sie finden und sich in sie verlieben wird (vgl. besonders Graelent 327–331; Guingomar 453 f., 468–477; Lanval 107–116). Von diesem Muster weicht nur der Guigemar der Marie de France ab, in dem die Frau eine gefangene Königin ist. Das Gedicht als Ganzes macht jedoch auch in diesem Fall deutlich, dass Marie de France in diesem Lai mit dem Motiv der
793 O’Sharkey vertritt die Ansicht, dass die anonyme Anderweltsfrau des Lanval mit Morgain zu identifizieren ist, die in der Vita Merlini (u. a.) als die Herrin von Avalon dargestellt wird: O’Sharkey 1971.
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Anderweltsfrau spielt, die sich einen menschlichen Ritter zum Liebhaber erwählt und ihn mit sich in ihr Land nimmt: Die gefangene Königin heilt den Ritter (man erinnere sich an die Heilkräfte Morgens in Geoffreys Vita Merlini); das Kopfkissen des Betts in dem Schiff, das den Ritter zu ihr bringt, schützt ihn für alle Zeit vor grauem Haar (und damit einem Aspekts des Alters, was diese Reise in die Nähe einer Reise in ein Land der ewigen Jugend rückt); das von alleine segelnde Schiff, mit dem der Ritter seine Geliebte erreicht, ist offenkundig ein Artefakt, das auf einen anderweltlichen Charakter seiner Reise hinweist; die Schönheit der Dame wird ausdrücklich mit derjenigen einer fee verglichen (V. 704);⁷⁹⁴ ihr Aufenthalt in einer außerordentlich schönen Kammer hinter einer Mauer aus grünem Marmor erinnert auffallend an den Palast der Anderweltsfrau des Guingamor mit seiner Pracht und seiner Ummauerung aus grünem Marmor; und schließlich legt auch der Name des Helden nahe, dass Marie hier mit einer Tradition einer Anderweltsreise spielt: Bei der Namensähnlichkeit zwischen Guigemar und Guingamor wird es sich in Anbetracht der Ähnlichkeiten in der Handlung der beiden Gedichte schwerlich nur um einen zufälligen Anklang handeln. Tatsächlich erscheint der Name ‚Guingamor‘ in der einzigen erhaltenen Handschrift des Lais Guingamor auch einmal in der Form ‚Guigamor‘, was nachdrücklich die Austauschbarkeit der beiden Varianten dieses Namens illustriert.⁷⁹⁵ Und wie bereits erwähnt erscheint auch in den verschiedenen Handschriften des Erec des Chrétien des Troyes für den Herrn der Insel Avalon und ami von Morgain la fee sowohl die Namensform ‚Guigomar‘ als auch die Form ‚Guingamar‘.⁷⁹⁶ Damit ist die Diskussion der bretonischen Lais wieder zu dem Punkt zurückgekehrt, von dem sie ihren Ausgang genommen hatte: Dem Erscheinen Guigomars als Herrn der Insel Avalon. Chrétien erwähnt diese Vorstellung in seinem Erec nur in wenigen Versen, ohne auf ihren Hintergrund in irgendeiner Weise einzugehen. Die grob zeitgenössischen bretonischen Lais schließen die Lücke, die Chrétiens Darstellung offengelassen hatte. Isoliert betrachtet vermittelt die kurze Passage bei Chrétien den Eindruck, dass sich Avalon dort nicht in der Hand anderweltlicher Frauengestalten befindet (wie in der Vita Merlini), sondern in der Hand eines männlichen Herrn. Die Lais tragen hierzu jedoch nach, dass dieser Herr nicht Herr Avalons im eigenen Recht ist, sondern (nur) der Geliebte, den die fee sich zum Prinzgemahl erwählt hat.
794 Die Schönheit einer fee erscheint auch ansonsten als Maß für besonderen Liebreiz. In Le Bel Inconnu, einem altfranzösischen Roman des Renaut de Bâgé vom Ende des 12. Jahrhunderts, erscheint Morge la Fee in diesem Sinne Seite an Seite mit Helena und Isolde in einem Vergleich, der die unübertroffene Schönheit der Geliebten des Romanhelden betont (Z. 4349). (Vgl. auch Paton 1960 [1903], S. 151 mit Anm. 1; Le Bel Inconnu ist hgg. und übersetzt von Fresco et al. 1992; Datierung: Lupack 2005, S. 317, vgl. Fresco et al. 1992, S. xi f. [Datierung in eine Zeitspanne von 1191 bis ins 1. Viertel des 13. Jahrhunderts].) Im spezifischen Kontext des Guigemar ist der Vergleich gerade mit einer fee jedoch nichtsdestoweniger auffällig. 795 Vers 245, siehe Weingartner 1985, S. 91 (zu Vers 245), S. xxix. 796 Siehe oben S. 208 mit Anm. 783. Vgl. Simek 2012, S. 155.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
Diese Auffassung, wonach die anderweltliche fee sich aus eigener Initiative einen männlichen Liebhaber wählt und ihn in ihr Land holt, ist dabei in verschiedenen Variationen (aber mit erstaunlich einheitlichen Grundzügen) in der altfranzösischen Literatur des 12. Jahrhunderts so gut etabliert, dass davon auszugehen ist, dass Chrétien und seine Hörer diese Passage des Erec im selben Sinn aufgefasst haben dürften. Tab. 2: Einige der Motivparallelen zwischen den bretonischen Lais Guigemar, Graelent, Guingamor und Lanval. Marie de France: Guigemar
Anonymus: Graelent
Anonymus: Guingamor
Marie de France: Lanval
Untreuemotiv
Untreue der Königin (positiv gewertet)
Untreue der – Königin (negativ gewertet)
Untreue der Königin (negativ gewertet)
Anderweltstier
weiße Hirschkuh
weiße Hirschkuh
weißer Eber
–
Wasserbarriere
Überquerung des Meeres
Überquerung eines Flusses
Überquerung eines Flusses
erstes Treffen in der Nähe eines Flusses; Reise zur Insel Avalon
Unsterblichkeit
Kissen verhindert Altern; Heilung durch die Königin
Graelent lebt noch Entrückung in die immer Anderwelt mit ihrem langsamen Zeitfluss
Entrückung nach Avalon
Anderweltsfrau
‚schön wie eine Fee‘
Anderweltsfrau
Anderweltsfrau
Anderweltsfrau
Gesamtstruktur
Treffen – geheime Beziehung – Trennung nach Tabubruch (Bekanntwerden der Beziehung) – Wiedervereinigung
Treffen – geheime Beziehung – Trennung nach Tabubruch (Bekanntwerden der Beziehung) – Wiedervereinigung
Treffen – Trennung nach Tabubruch (Nahrungsaufnahme jenseits des Flusses) – Wiedervereinigung
Treffen – geheime Beziehung – Trennung nach Tabubruch (Bekanntwerden der Beziehung) – Wiedervereinigung
Die im Erec und den bretonischen Lais in die arthurische Dichtung eingeführte Beziehung zwischen Morgain und Guigomar ist auch außerhalb dieser ersten Generation der altfranzösischen arthurischen Literatur gut bezeugt. Im ersten Drittel des 13. Jahrhunderts findet sie sich im Lancelot-Graal-Zyklus (entstanden ca. 1215–1235):⁷⁹⁷ Im Lancelot wird dort erklärt, wie es zur Feindschaft zwischen Morgain (Morgue) und Guinevere (Genievre) kam: Morgue hatte eine Affäre mit Guiamor de Tarmelide, der
797 Lacy 1993–1996 (Preface), S. ix; Frappier 1959, S. 295; Simek 2012, S. 210.
Die Liebe der Anderweltsfrau
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ein Neffe der Königin war; Genievre entdeckte diese Affäre, als Morgue bereits von Guiamor schwanger war, und brachte den jungen Mann dazu, Morgue aufzugeben. Morgue floh daraufhin zu Merlin und hasste die Königin für den Rest ihres Lebens.⁷⁹⁸ Eine Anspielung hierauf findet sich wahrscheinlich auch im Perlesvaus oder Le haut livre du graal (1. Hälfte des 13. Jahrhunderts),⁷⁹⁹ wo eine wohl mit Morgue zu identifizierende Frauengestalt (deren Name jedoch nicht ausdrücklich genannt wird) Lanzelot in ein hochgefährliches Abenteuer schickt; dies tut sie aus Rache dafür, dass Lanzelot bei einer früheren Gelegenheit einen Liebhaber dieser Frau gezwungen habe, eine andere Frau zu heiraten.⁸⁰⁰ Eine weitere Anspielung auf die Beziehung zwischen Morgain und Guingamor ist in Gaucher de Dourdans Fortsetzung des Perceval des Chrétien de Troyes enthalten.⁸⁰¹ Nur als Ausblick am Rande sei erwähnt, dass es keineswegs für die bretonischen Lais und die Beziehung zwischen Guigomar und Morgain spezifisch ist, dass die anderweltliche Frauengestalt in ihrem Umgang mit dem Ritter die Initiative ergreift. Im Roman de Troie des Benoît de Sainte-Maure, der auf ca. 1165–1170 datiert wird,⁸⁰² findet sich das Motiv der Liebe der Anderweltsfrau für einen Krieger sogar außerhalb der Welt Arthurs und der bretonischen Sagenwelt: Dort wird Morgain in die Welt des trojanischen Krieges eingeführt und wird ihr zugeschrieben, dass sie sich in Hektor verliebt habe; dieser zog sich jedoch ihren Hass zu, indem er ihre Liebe zurückwies (V. 8023–8028).⁸⁰³ Im Huon de Bordeaux (wohl kurz nach 1260) hat Morgain einen Sohn mit Julius Caesar (V. 16–18, 25–27, 3492–3496, 10690–10694).⁸⁰⁴ Und im Partonopeus de Blois (wohl Ende des 12. Jahrhunderts)⁸⁰⁵ werden nahezu alle Hauptzüge der Guingamor-Erzählung auf eine stark fiktionale und obendrein zauberkundige Form der Kaiserin von Byzanz projiziert, die dort in geringfügig vermenschlichter Form die Rolle der Anderweltsfrau spielt; dabei greift dieser Roman wohl weniger direkt auf das bretonische Lai zurück, sondern stellt vielmehr eine Bearbeitung von Material dar, das beiden Dichtungen (und einer Reihe anderer Texte) unabhängig voneinander
798 Micha 1978–1983 Bd. 1, S. 300 f.; Lacy 1993–1996 Bd. 2, S. 311; Simek 2012, S. 251; Paton 1960 (1903), S. 61. 799 Siehe unten S. 237. 800 Nitze und Jenkins 1932–1937 Bd. 1, S. 309 f.; Bryant 1978, S. 199. 801 Schofield 1896, S. 240 f.; Paton 1960 (1903), S. 70. 802 Ziolkowski 2004, S. 676. 803 Paton 1960 (1903), S. 7 (Anm. 1), 21, vgl. ibidem S. 161 (Anm. 3); vgl. Newstead 1946, S. 929, 936; Constans 1904, S. 434 (V. 8023–8030): Hector monta sor Galatee, | Que li tramist Orva la fee, | Que mout l’ama e mout l’ot chier | Mais ne la voust o sei couchier : | Empor la honte qu’ele en ot, | L’en hal tant come el plus pot. | Ço fu li tres plus beaus chevaus | Sor que montast nus hom charnaus, | [...]. (Unter den vielen variationes lectionis des Namens der fee findet sich auch zweimal die Lesung morgain: Constans 1904 ibidem, apparatus criticus.) 804 Hgg. und übersetzt von Kibler und Suard 2003; Datierung: Kibler und Suard 2003, S. XXII. Vgl. Paton 1960 (1903), S. 7 (Anm. 1), 124–135. 805 Harf-Lancner 1984, S. 317.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
zugrunde liegt.⁸⁰⁶ Bei den Motiven der Lais handelt es sich nicht um isolierte, innovative Schöpfungen, sondern um ausgesprochene Standardmotive, die einen Teil einer fest etablierten Tradition bilden. Die Darstellung Avalons und des Verhältnisses zwischen Ritter und Anderweltsfrau in Chrétien de Troyes und den bretonischen Lais scheint in vielfacher Hinsicht und dabei gerade in den zentralsten Zügen von Geoffreys Schilderung in der Historia (die keinerlei Details gibt) und der ausführlichen, aber wohl kaum verbreiteten⁸⁰⁷ Darstellung in der Vita Merlini unabhängig zu sein. In der weiteren Entwicklung der arthurischen Literatur werden die beiden Traditionslinien, die einerseits durch Geoffrey und andererseits durch die Lais repräsentiert werden, zusammengeführt, und die Motive beider werden zum Rohmaterial für weitere literarische Ausgestaltungen. Das in mancher Hinsicht beste Beispiel für diese Entwicklung stellt vermutlich der Didot-Perceval dar. Dabei handelt es sich um eine in zwei Redaktionen erhaltene Prosafassung eines ursprünglich in Versform verfassten Werks, die um 1200 datiert wird.⁸⁰⁸ Für die Geschichte des Avalon-Motivs sind zwei Episoden dieses Texts von unmittelbarem Interesse: Von diesen Episoden scheint die eine spielerisch-kreativ auf Kernmotiven der Lais aufzubauen (Percevaus’ Abenteuer an der „Gefährlichen Furt“), während die andere (die Entrückung des schwer verwundeten Arthur nach Avalon) unmittelbar auf einen Brut zurückgehen könnte. Im Handlungsverlauf des Didot-Perceval die erste dieser beiden Episoden ist das Abenteuer an der „gefährlichen Furt“ (Gué Perellos):⁸⁰⁹ Eines Tages stößt Percevaus bei einem Ritt durch einen großen Wald auf eine wunderschöne Wiese an einer Furt. Jenseits dieser Furt steht ein Zelt; als Percevaus in die Furt reiten und sein Pferd trinken lassen will, stürmt ein Ritter aus diesem Zelt und setzt zum Angriff auf Percevaus an, weil dieser die Furt benutzen wollte. Als der Angreifer sieht, dass Percevaus weder Schild noch Lanze besitzt (die Percevaus in einem vorangegangenen Kampf verloren hatte), weist er eine Dame an, Percevaus mit beidem auszustatten; erst danach beginnt der Kampf. Percevaus erweist sich bald als der überlegene Kämpfer und bringt den Ritter dazu, sich geschlagen zu geben und um Gnade zu bitten. Als Bedingung für die Gewährung des Gnadengesuchs verlang Percevaus von ihm, zu erklären, warum er andere wegen der Benutzung einer Furt zum Kampf herausfordert. Dem leistet der Ritter Folge: Er sei Urbain, der Sohn einer Königin, und nach seinem Ritterschlag durch König Arthur (Artus) zog er durch das Land und maß sich mit vielen
806 Newstead 1946; vgl. Harf-Lancner 1984, S. 317–328; Patch 1950, S. 251–253. 807 Siehe oben Anm. 738. 808 Beide Redaktionen sind herausgegeben von Roach 1941; für eine Übersetzung der Modena-Redaktion vgl. Skeels 1966; Bryant 2001, S. 115–172. Zur Datierung vgl. Skeels 1966, S. vii; Le Gentil 1959, S. 259; Roach 1941, S. 125–130; Lacy et al. 1997, S. 80. Die folgende Diskussion und die dabei angegebenen Zeilennummern orientieren sich am Modena-Text (Modena, Biblioteca Estense, E. 39 [Roach 1941, S. 2]), der als der bessere der beiden Texte gilt (Bryant 2001, S. 2). 809 Roach 1941, S. 195–202; Bryant 2001, S. 136–139; Skeels 1966, S. 38–42.
Die Liebe der Anderweltsfrau
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anderen Rittern. Eines Nachts geriet er in ein furchtbares Gewitter, während dessen sein Pferd durchging und ihn davontrug. Dieser wilde Ritt führte ihn zu einer Dame auf einem Maultier; er folgte ihr, doch konnte er sie nicht einholen, bis sie schließlich in eine der schönsten Burgen der Welt gelangten. Dort beherbergte sie ihn und wurde seine Geliebte unter der Bedingung, dass er bei ihr bleiben und nicht weiter durch das Land ziehen werde. Da Urbain jedoch seine Rittertaten nicht aufgeben wollte, schlug sie ihm vor, jeden Ritter herauszufordern, der die Furt benutzen würde – so hätte Urbain sowohl Rittertaten als auch ihre Liebe. Die Burg der Dame befinde sich hinter dem Zelt, sei für Percevaus aber unsichtbar. Auf das Gespräch zwischen Percevaus und Urbain folgt ein gewaltiger Lärm, begleitet von Rauch und Schatten, aus dem eine Stimme Percevaus verflucht und Urbain zur Eile auffordert – sonst würde er seine Geliebte für immer verlieren. Als Percevaus seinen Gefangenen jedoch nicht seiner Wege ziehen lässt, kommt diesem ein Schwarm schwarzer Vögel zur Hilfe, die Percevaus angreifen. Der Ritter und die Vögel kommen nahe daran, Percevaus niederzuringen; schließlich durchbohrt Percevaus jedoch einen Vogel mit seinem Schwert, so dass die Eingeweide des Vogels herausfallen und er auf den Boden stürzt. Im Fallen verwandelt der Vogel sich in eine tote Frau – die schönste Frau, die Percevaus je gesehen hat. Während ihn hierüber großer Kummer packt, wird die Frau von den Vögeln durch die Luft davongetragen; darauf erklärt Urbain ihm all die Wunder, die er erlebt hat: Der gewaltige Lärm war der Einsturz der Burg, die Urbains Geliebte aus Liebe zu ihm zerstört hat; und die Vögel waren sie und ihre Maiden, die Urbain zur Hilfe kamen, als Percevaus ihn nicht fortziehen ließ. Die Frau, die Percevaus verwundet hat, war die Schwester von Urbains Geliebter; sie hat jedoch nichts zu befürchten, da sie augenblicklich in Avalon ist (mais ele n’avra garde, car or ces eures est ele en Avalon: Z. 1103). Schließlich bittet Urbain Percevaus erneut, ihn zu seiner Dame fort zu lassen, die ihn immer noch erwartet. Percevaus gewährt dies, und kurz darauf sind der Ritter, sein Pferd und die Frauen spurlos verschwunden. Das Avalon-Motiv dürfte im Abenteuer der „gefährlichen Furt“ in zweifacher Hinsicht vertreten sein: Zum einen in der Darstellung Avalons als eines Orts der Heilung einer tödlichen Wunde, an dem die bereits als tot beschriebene Anderweltsfrau (une feme morte: Z. 1085 f.) trotz der Schwere ihrer Verletzung geheilt werden wird; und zum anderen – wenn auch weniger offensichtlich – in der Struktur der Episode, wie sie sich aus der Sicht des Ritters darstellt, der die Furt bewacht. Denn die Geschichte Urbains erinnert auffallend an Ereignisse, wie sie auch in den bretonischen Lais geschildert werden: Sowohl in den Lais als auch in der Erzählung Urbains erscheint das Motiv eines Ritters, der von einer anderweltlichen Frau in deren wunderbare Burg jenseits einer Wasserbarriere gelockt und zu ihrem Geliebten wird. Die Weise, in der die einzelnen Elemente miteinander verbunden sind, weicht im Didot-Perceval zwar so stark von der Darstellung in den Lais ab, dass rein aus den Grundelementen der Handlung heraus eine Verbindung mit dem Avalon-Motiv nicht mehr als eine entfernte Möglichkeit wäre: Gerade die für das Motiv zentrale Wasserbarriere erscheint in der Episode von der „gefährlichen Furt“ nicht als eine Barriere zwischen der Welt
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
der Anderweltsfrau und der Welt gewöhnlicher Sterblicher (obwohl die unsichtbare Burg wie im Graelent und im Guingamor jenseits der Furt liegt), sondern als ein bloßer Ort ritterlichen Kräftemessens. Aber die ausdrückliche Erwähnung Avalons als das Ziel der Entrückung der tödlich verwundeten Schwester von Urbains Geliebter macht deutlich, dass auch der Autor dieser Episode die Herrin der unsichtbaren Burg jenseits der Furt mit den heilkundigen Frauen der Insel Avalon assoziierte. Diese Entrückung ist damit ein starkes Indiz dafür, dass das Abenteuer der „gefährlichen Furt“ insgesamt ein bewusstes literarisches Spiel mit dem Avalon-Motiv darstellt. Deutlich weniger originell ist die Behandlung des Avalon-Motivs in der Schilderung von Arthurs Entrückung:⁸¹⁰ In seiner letzten Schlacht gegen Mordred (Mordrés) wird Arthur durch einen Lanzenstoß durch die Brust tödlich verwundet. Arthur gebietet den Klagen seines Gefolges jedoch durch die Aussage Einhalt, dass er nicht sterben werde, denn er werde sich nach Avalon bringen lassen, wo seine Schwester Morgain (Morghain) seine Wunden versorgen wird. Als Arthur nach Avalon gebracht wird, weist er seine Gefolgsleute noch an, seine Rückkehr zu erwarten; darauf warteten die Bretonen für mehr als 40 Jahre auf ihn, ehe sie einen neuen König bestimmten. Manche hätten ihn seitdem im Wald bei der Jagd gesehen, und einige hofften noch lange auf seine Wiederkunft. Diese Darstellung von Arthurs Entrückung nach Avalon ist fast ganz konventionell, und es ist vermutet worden, dass sie möglicherweise direkt auf dem Brut des Wace oder einer anderen, verlorenen Bearbeitung von Geoffreys Historia regum Britanniae beruht.⁸¹¹ Auffällig ist nur die Notiz, dass Arthur noch nach seiner Entrückung bei der Jagd gesehen worden sei. Bei dieser Vorstellung mag es sich um eine Inversion des aus den bretonischen Lais bekannten Motivs handeln, dass die Jagd beim Übergang des Ritters in die Anderwelt eine zentrale Rolle spielt: Sowohl Graelent als auch Guingamor überschreiten die Grenze zur Anderwelt bei der Verfolgung eines weißen Jagdtiers. Dies mag einen liminalen Charakter der Jagd nahegelegt haben, der vielleicht Sichtungen Arthurs als Jäger auch noch nach seiner Entrückung nach Avalon als plausibel und naheliegend erscheinen lassen konnte. Auch dieses Motiv dürfte jedoch keine Innovation des Autors des Didot-Perceval bzw. des Autors der diesem Text zugrundeliegenden Dichtung sein: Die Vorstellung, dass Ritter aus Arthurs Gefolge bei der Jagd gesehen werden können, ist zeitgenössisch auch anderswo bezeugt.⁸¹²
810 Roach 1941, S. 277 f.; Bryant 2001, S. 171; Skeels 1966, S. 93. 811 Le Gentil 1959, S. 261; vgl. Roach 1941, S. 103–110. Loomis betont die Nähe der Darstellung der Entrückung Arthurs im Didot-Perceval zur Darstellung in Layamons Brut: Loomis 1959 (Brut), S. 109. 812 Siehe unten S. 248, 252 f. und vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 159 f.; Pioletti 1989, S. 28 f.; Chambers 1927, S. 227–229, 278; Loomis 1940–1941, S. 299 f. (dort klassifiziert mit dem Schlagwort der „Wilden Jagd“). Für einige weitere (wenn auch teilweise sehr späte) Belege für das Erscheinen des entrückten Arthur als Jäger vgl. Bruce 1912, S. 191–193. Man mag ferner daran erinnern, dass auch Arthur mit dem Motiv der Jagd auf weißes Wild verbunden ist: Erec et Enide 27–76, 277–284, u. ö.
AD 1191: Glastonbury, Avalon und die Entdeckung von Arthurs Grab
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4.3 AD 1191: Glastonbury, Avalon und die Entdeckung von Arthurs Grab Die bisher angesprochenen Texte berichteten zumeist von einer Entrückung ihres Helden – und vor allem Arthurs – nach Avalon, wo der Held weiterlebt. Eine etwas andere Traditionslinie hat ihren Ausgangspunkt im Glastonbury des späten 12. Jahrhunderts.⁸¹³ Die Abtei von Glastonbury konnte im 11. Jahrhundert bereits auf eine lange Geschichte zurückblicken und war als Stätte von herausragendem Alter und besonderer spiritueller Bedeutung weithin anerkannt. Infolge der normannischen Eroberung (1066) geriet die Abtei jedoch unter zunehmenden ökonomischen und spirituellen Druck: Sie verlor Teile ihrer Besitzungen an normannische Siedler, litt unter einem normannischen Abt, der die Traditionen der Abtei missachtete, und büßte bei der politischen Herrenschicht einen erheblichen Teil ihres früheren Prestiges ein, da die neuen normannischen Herrscher von den vornehmlich northumbrischen und keltischen Heiligenreliquien der Abtei wenig beeindruckt waren. Darüber hinaus musste die Abtei im Jahr 1184 noch einen besonders herben Schlag hinnehmen, als ihre Kirche und andere Gebäude des Klosters einem verheerenden Brand zum Opfer fielen.⁸¹⁴ Eine bei zeitgenössischen Klöstern gängige Antwort auf solchen Druck war der Versuch, das Prestige (und damit das Einkommen) des Klosters durch verstärkte Propaganda in Form von Geschichtswerken und Heiligenviten zu vergrößern. Auch Glastonbury verfolgte diese Strategie; dabei spielte im Fall dieser Abtei das Bestreben eine zentrale Rolle, Ansprüche auf den Besitz der Reliquien des Hl. Patrick und des Hl. Dunstan von Canterbury plausibel zu machen. Im Fall des Hl. Dunstan gingen die Mönche von Glastonbury so weit, eine „Entdeckung“ der Gebeine in den Ruinen ihrer niedergebrannten Klosterkirche zu inszenieren. Diesen Anstrengungen war jedoch wenig Erfolg beschieden; die Lokalisierung des Grabs Dunstans in der Kathedrale von Canterbury war zu gut etabliert, und auch die Ansprüche Glastonburys auf die Reliquien des Hl. Patrick konnten sich nicht durchsetzen.⁸¹⁵ Ein Durchbruch gelang der Abtei erst, als ihre Bestrebungen, sich herausragende Reliquien anzueignen, eine ganz neue Richtung einschlugen: Im Jahr 1191 veranstalteten die Mönche von Glastonbury auf ihrem Klosterfriedhof eine Ausgrabung und
813 Im Detail vgl. insbesondere Gransden 1976 (auch nachgedruckt in Carley 2001 [Glastonbury], S. 29–53), ferner etwa Kennedy 2011, S. 109–116, 124; Carley 2001 (Introduction), S. 1–5. 814 Gransden 1976, S. 338 f.; Kennedy 2011, S. 111. 815 Gransden 1976, S. 339–349; Kennedy 2011, S. 111; spezifisch zur „Wiederentdeckung“ der Gebeine des Hl. Dunstan in Glastonbury vgl. Gransden 1976, S. 347–349; Carey 1999 (Arthur’s Grave), S. 14. Hauptquelle ist eine interpolierte Passage in William von Malmesburys De antiquitate Glastoniensis ecclesiae (Kap. 23–25): Scott 1981, S. 72–79 (mit Anm. 62, S. 195 zum Charakter der Passage als Interpolation); Hearnius 1727 Bd. 1, S. 35–38; vgl. die einschlägige Stelle in der Historia de rebus gestis Glastoniensibus des Adam de Domerham: Hearnius 1727 Bd. 2, S. 335 f.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
exhumierten die sterblichen Überreste von König Arthur und seiner Frau Guinevere.⁸¹⁶ Die frühesten Zeugnisse für dieses Ereignis finden sich bei Giraldus Cambrensis, der zwei Berichte über das Geschehen verfasste: einen in De principis instructione (begonnen vor 1192), und einen weiteren in seinem Speculum ecclesiae (ca. 1217).⁸¹⁷ Seinen Bericht in De principis instructione (I.20) leitet Giraldus mit einer Schilderung der Schirmherrschaft des rex inclytus Arthur über das Kloster in Glastonbury ein: Arthur soll die Kirche der Hl. Maria in Glastonbury großzügig unterstützt und sie in höherem Ansehen gehalten haben als eine jede andere Kirche in seinem Reich, und wenn er in den Krieg zog, hatte er auf der Innenseite seines Schilds ein Bild der Jungfrau. Abfällig erwähnt Giraldus Legenden, die über das Ableben Arthurs berichten, dass sein Leichnam „wie ein Geist beim Tode und wie durch Gespenster in die Ferne entrückt worden sei, und dass er dem Tod nicht verfallen gewesen sei“ (hujus autem corpus, quod quasi phantasticum in fine, et tanquam per spiritus ad longinqua translatum, neque morti obnoxium fabulæ confinxerant); dem gegenüber weiß er zu berichten, dass der Leichnam Arthurs und seiner Frau Guinevere auf dem Friedhof des Klosters Glastonbury in einem Eichensarg gefunden worden sei. Bei der Exhumierung dieses Sargs sei dabei auch ein Bleikreuz gefunden worden, das die Aufschrift getragen habe: Hic jacet sepultus inclitus rex Arthurus cum Wenneuereia vxore sua secunda in insula Auallonia. „Hier liegt der berühmte König Arthur mit seiner guten⁸¹⁸ Frau Guinevere auf der Insel Avalon begraben.“ Die ausschlaggebenden Hinweise für die Entdeckung des Grabs hätten die Mönche von König Heinrich II. von England erhalten, der sein Wissen um das Grab Arthurs seinerseits von einem alten britannischen (d. h. in diesem Fall vielleicht walisischen)⁸¹⁹ Sänger bezogen hatte. Die Knochen wurden dem Grab entnommen und in ein prächtiges Grabmal in der Klosterkirche umgebettet. Der Abt des Klosters zeigte Giraldus einen Schienbeinknochen Arthurs; dieser sei so groß gewesen, dass er – neben dem Fuß des größten Mannes der Region auf den Boden gestellt – drei Finger über dessen Knie hinausragte.⁸²⁰
816 Die Datierung ins Jahr 1191 beruht auf entsprechenden Notizen in etwas späteren Chroniken, wie etwa dem Chronicon Anglicanum des Ralph de Coggeshall (ca. 1223): Gransden 1976, S. 351. Die Chronik des Ralph de Coggeshall ist hgg. bei Stevenson 1875, S. 1–208, dort S. 36; die einschlägige Textstelle ist auch abgedruckt bei Chambers 1927, S. 268. 817 De principis instructione ist hgg. von Warner 1891; das Speculum ecclesiae ist hgg. von Brewer 1873. Beide Textstellen sind zusammengestellt bei Chambers 1927, S. 269–274. Für eine ausführliche Besprechung dieser und weiterer früher Zeugnisse vgl. Gransden 1976, S. 349–358, jüngst ferner Wade 2011, S. 62–64. Einige Details der literarischen Beschreibungen dieser „Exhumierung“ sind nach der Auffassung Careys von einer irischen Wundererzählung über Geschehnisse im Kloster Clonmacnoise entlehnt: Carey 1999 (Arthur’s Grave). 818 Zur Übersetzung von secundus an dieser Stelle – Giraldus Cambrensis selbst interpretierte die uxor secunda eindeutig, aber wohl auch zu Unrecht, als „zweite Frau“ – vgl. Wood 2001, S. 93–97. 819 So Wood 2001, S. 89. 820 Warner 1891, S. 126–129; Chambers 1927, S. 269–271.
AD 1191: Glastonbury, Avalon und die Entdeckung von Arthurs Grab
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Alle wesentlichen Elemente dieser Darstellung werden auch in Giraldus’ zweitem Bericht in seinem Speculum ecclesiae wiederholt: die zentrale Rolle König Heinrichs II. bei der Auffindung des Grabs (II.viii, ix), das bleierne Kreuz mit der Inschrift (II.ix) und die Umbettung der Gebeine in die Klosterkirche (II.x).⁸²¹ Auch in seiner zweiten Darstellung dieser Ereignisse äußert Giraldus sich explizit negativ über den Glauben an ein Fortleben Arthurs. Dabei ist seine entsprechende Invektive im Speculum ecclesiae (II.ix) von auffallender Schärfe – und vielleicht gerade deshalb für die Bewertung dieser Vorgänge von besonderem Interesse: Porro quoniam de rege Arthuro et ejus exitu dubio multa referri solent et fabulæ confingi, Britonum populis ipsum adhuc vivere fatue contendentibus, ut fabulosis exsufflatis, et veris ac certis asseveratis, veritas ipsa de cætero circiter hæc liquido pateat, quædam hic adjicere curavimus indubitate [sic] veritate comperta. Post bellum de Ke[melen] . . . (hier ist ein Abschnitt der Handschrift unleserlich) . . . [...]; itaque Arthuro ibi mortaliter vulnerato, corpus ejusdem in insulam Avaloniam, quæ nunc Glastonia dicitur, a nobili matrona quadam ejusque cognata et Morgani vocata, est delatum, quod postea defunctum in dicto cœmeterio sacro, eadem procurante, sepultum fuit. Propter hoc enim fabulosi Britones et eorum cantores fingere solebant, quod dea quædam phantastica, scilicet et Morganis dicta, corpus Arthuri in insulam detulit Avalloniam ad ejus vulnera sanandum. Quæ cum sanata fuerint, redibit rex fortis et potens, ad Britones regendum, ut ducunt, sicut solet; propter quod, ipsum expectant adhuc venturum sicut Judæi Messiam suum, majori etiam fatuitate et infelicitate, simul ac infidelitate decepti.⁸²² Ferner haben wir uns die Mühe gemacht, hier gewisse Dinge hinzuzufügen, die mit unzweifelhafter Wahrheit ermittelt wurden, damit die Wahrheit selbst – nachdem die fabelhaften Behauptungen weggeblasen und die wahren und sicheren Sachverhalte festgestellt worden sind – was den Rest angeht um diese Dinge klar offenliege; denn vom König Arthur und dessen zweifelhaftem Ende pflegen ja viele Dinge berichtet und Geschichten erdichtet zu werden, wobei die Völker der Britannier in närrischer Weise verfechten, dass er selbst bis heute am Leben sei. Nach der Schlacht von Camlan . . . (hier ist ein Abschnitt der Handschrift unleserlich) . . . [...]; nachdem Arthur dort tödlich verwundet worden war, wurde der Leib desselben daher von einer gewissen edlen und mit ihm verwandten Dame namens Morganis auf die Insel Avalon fortgebracht, die jetzt Glastonbury genannt wird. Dieser wurde nach seinem Tod unter der Aufsicht derselben Dame im besagten heiligen Friedhof bestattet. Deswegen nun pflegten die fabulierfreudigen Britannier und ihre Sänger zu erdichten, dass eine gewisse phantastische Göttin – freilich auch Morganis genannt – den Leichnam Arthurs auf die Insel Avalon fortbrachte, um seine Wunden zu heilen. Wenn diese geheilt sein werden, wird er als ein starker und mächtiger König zurückkehren, um über die Britannier zu herrschen – wie sie meinen –, wie er es gewohnt ist. Deswegen erwarten sie bis heute, dass er zurückkommt, so wie die Juden – getäuscht durch eine noch größere Torheit und Glücklosigkeit gepaart mit Unglauben – ihren Messias erwarten.
Giraldus steht der Vorstellung einer Wiederkehr Arthurs hier so stark ablehnend gegenüber, dass er den Britanniern gegenüber ausfallend wird (wobei der im Ver-
821 Brewer 1873, dort S. 47–51; Chambers 1927, S. 271–274. 822 Brewer 1873, S. 48 f.; vgl. Chambers 1927, S. 272.
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gleich zu seinem 25 Jahre älteren ersten Bericht so auffallend verschärfte Tonfall vielleicht damit zusammenhängen mag, dass man seinem Bericht von britannischer Seite offenbar nur wenig Glauben geschenkt hat): Die Britannier stellen ihre Behauptungen in törichter Weise (fatue) auf und sie sind geschwätzige Geschichtenerzähler (fabulosi); Giraldus geht sogar so weit, den Glauben an die Wiederkehr Arthurs auf eine Stufe mit der jüdischen Erwartung eines Messias zu stellen: Damit kommt er nahe daran, die Arthur-gläubigen Britannier aus der Gemeinschaft der Christenheit auszuschließen. Diesen Glauben an eine Wiederkehr Arthurs, den Giraldus als typisch für die Britannier darstellt, sieht er gerade durch die „Entdeckung“ von Arthurs Grab in Glastonbury widerlegt: Diese Entdeckung betrachtet er als empirischen Beweis dafür (vgl. veris ac certis asseveratis), dass Arthur allen gegenteiligen Behauptungen zum Trotz gestorben ist und begraben wurde. Interessant ist hieran, dass damit die Entdeckung von Arthurs Grab einen markanten politischen Aspekt enthält: Die vorgebliche Exhumierung des britischen Königs wird zu einem Akt, der den Britanniern programmatisch die Hoffnung auf die Wiederkehr ihres politischen Erlösers von unterdrückerischer Fremdherrschaft entziehen soll.⁸²³ Im Kontext der zeitgenössischen Politik schließt sich dieses Programm unmittelbar an die Interessen Heinrichs II. an, von dem die Mönche von Glastonbury ihre Informationen darüber bezogen hatten, wo sie nach dem Sarg Arthurs graben mussten. Dieser König war einerseits eng mit den ersten Jahrzehnten der (erhaltenen) arthurischen Literatur verbunden: So wurde er im Haus Roberts von Gloucester erzogen, dem Geoffrey von Monmouth seine Historia regum Britanniae widmete,⁸²⁴ und die Dichterin Marie de France könnte mit einer Halbschwester Heinrichs II. zu identifizieren sein.⁸²⁵ Und als ein König, der mehrere Feldzüge gegen die Waliser unternahm⁸²⁶ und sich mit einer rebellischen Bretagne auseinandersetzen musste,⁸²⁷ hatte Heinrich andererseits – und insbesondere – ein politisches Interesse daran, der Vorstellung einer Wiederkehr Arthurs und damit einer möglichen Stütze britannischer Kampfesmoral in ihrem Widerstand gegen die Normannen den Boden zu entziehen.⁸²⁸ Zudem
823 Bullock-Davies 1969, S. 135 f. 824 Burgess und Busby 1999, S. 16; Gransden 1976, S. 354; Tatlock 1933 (Draco), S. 124. 825 Burgess und Busby 1999, S. 17. 826 Vgl. Barrow 2004, S. 599. 827 Vgl. Tatlock 1933 (Draco), S. 117–119; Wade 2011, S. 63. 828 Kennedy 2011, S. 112; Wade 2011, S. 63 f.; Carley 2001 (Introduction), S. 2; Barber 2001 (Vera historia), S. 104; Gransden 1976, S. 354; vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 154, 156; Jones 1966, S. 180; Tatlock 1933 (Draco), S. 123; mit anderem Schwerpunkt vgl. Loomis 1959 (Legend), S. 66 f. Eine gewisse indirekte Bestätigung erhält diese Vermutung vielleicht auch dadurch, dass Edward I. das neue Grab Arthurs in einer feierlichen Zeremonie im Jahr 1278 öffnen, versetzen und die Gebeine neu bestatten ließ: Auch dies war wohl mit dem Bestreben Edwards verbunden, Wales der englischen Herrschaft zu unterwerfen (Gransden 1976, S. 355; Kennedy 2011, S. 112; Wade 2011, S. 65; Birkhan 2009 [Keltenrezeption], S. 156 f.; Carley 2001 [Introduction], S. 4 f.; Wood 2001, S. 91 f.; Carey 1999 [Arthur’s Grave], S. 5; vgl. auch Parsons 2001, der in der feierlichen Umbettung eine Legitimationsstrategie für Edward
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war ihm persönlich am Wiederaufbau der Abtei gelegen, den er direkt finanziell förderte;⁸²⁹ die „Entdeckung“ der Gebeine Arthurs konnte in dieser Weise sowohl dem von ihm geschätzten Kloster als auch seinen politischen Interessen dienen.⁸³⁰ Freilich erlebte Heinrich II. selbst die Umsetzung seines Vorschlags nicht mehr: Er verstarb 1189. Sein Nachfolger Richard Löwenherz zeigte im Gegensatz zu Heinrich zunächst wenig Interesse an Glastonbury. Den Anlass zur Wiederbelebung des Plans könnte die Taufe des Neffen Richards auf den Namen Arthur und die Erklärung dieses Arthur zum Thronfolger im Jahr 1190 gebildet haben: Die Exhumierung der Gebeine könnte zu diesem Zeitpunkt zugleich eine Botschaft an den König gewesen zu sein, Glastonbury wieder dieselbe Aufmerksamkeit zu schenken, die Richards Vater Heinrich II. der Abtei zukommen ließ.⁸³¹ Es dürfte kaum ein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass die Auffindung des Grabs von Arthur und Guinevere von den Mönchen von Glastonbury als bewusster Propagandacoup inszeniert wurde:⁸³² Allein schon der Zeitpunkt der Auffindung ist für das Kloster zu günstig, um in irgendeiner Form auf Zufall beruhen zu können, und das deutliche politische Interesse des ausdrücklich hinter dieser Auffindung stehenden Königs ist der Glaubwürdigkeit der monastischen Entdeckung ebenso wenig zuträglich wie die übermenschliche Größe der vorgeblichen Gebeine Arthurs. Zudem ist zu bedenken, dass die Propagandisten von Glastonbury dieselbe Strategie (wenn auch mit wenig Erfolg) zuvor schon mit den Gebeinen des Hl. Dunstan von Canterbury erprobt hatten. Wenn es noch weiterer Indizien für einen vorsätzlichen Betrug bedarf, dürfte es ausreichend sein, auf ein Detail zu verweisen, das in der Darstellung der Exhumierung Arthurs in der Chronik des Adam von Domerham erscheint: Adam vermerkt, dass die Grabung der Mönche hinter einer Abschirmung aus Vorhängen vorgenommen wurde.⁸³³ Ein solches Versteck wäre kaum nötig gewesen, wenn die Mönche bei dieser Exhumierung nichts zu verbergen gehabt hätten.⁸³⁴
als legitimen Nachfolger Arthurs mit Anspruch auf dessen Herrschaftsgebiet sieht; für den Bericht des Adam de Domerham vgl. Chambers 1927, S. 280 f.; Hearnius 1727 Bd. 2, S. 587–589). Im 15. Jahrhundert scheint die Exhumierung der Gebeine Arthurs eine Parallele in einer von Heinrich V. an die Abtei gerichteten Forderung gefunden zu haben, die Gebeine Josephs von Arimathäa aufzufinden und zu exhumieren: Carley 2001 (Introduction), S. 10 f., vgl. Carley 2001 (Grave Event). 829 Kennedy 2011, S. 111. 830 Gransden 1976, S. 354. 831 Carley 2001 (Introduction), S. 2; Wood 2001, S. 87–89. 832 Gransden 1976, S. 352; vgl. Kennedy 2011, S. 112. 833 Gransden 1976, S. 354; Text: Hearnius 1727 Bd. 2, S. 341; Chambers 1927, S. 280. 834 Gransden 1976, S. 352. Vgl. auch Gransden 1976, S. 356 zur wohl bewussten Unterschlagung des Beitrags Heinrichs II. zur „Auffindung“ der Gebeine in Quellen, die auf klösterlichen Propagandaveröffentlichungen beruhen dürften. Ferner vgl. Carley 2001 (Discovery), S. 303–305, 308 zur vorgeblichen Entdeckung eines wundersamen Kreuzes in Montacute um 1035, die so enge Parallelen zur späteren Auffindung der Gebeine Arthurs zeigt, dass der Bericht über diese Entdeckung (De inventione
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Diese Inszenierung und ihre literarische Verarbeitung durch Giraldus Cambrensis scheinen unmittelbar auf der nur wenige Jahrzehnte zuvor erschienenen Bearbeitung des Arthurstoffs durch Geoffrey von Monmouth aufzubauen.⁸³⁵ Die Inschrift auf dem Bleikreuz bezeichnet Arthur als inclitus rex;⁸³⁶ dazu ist bemerkt worden, dass inclitus („berühmt“) für Arthur zum ersten Mal in Geoffreys Historia regum Britanniae verwendet wird.⁸³⁷ Auch Giraldus’ Behauptung, dass Arthur der Kirche der Hl. Maria in Glastonbury besonders verbunden gewesen sein soll und im Kampf stets ein Bild der Jungfrau Maria auf seinem Schild getragen haben – und zwar auf der Innenseite des Schildes – , stellt einen Anklang an die Historia dar (IX.147): Die Schilderung von Arthurs Waffen vor der Schlacht von Mount Badon führt unmittelbar vor Excalibur (Caliburnus), das auf der insula Auallonis geschmiedet worden sei, auch einen Schild an, der das Bild der Hl. Maria trug, um Arthur häufig an sie zu erinnern (clipeus [...], in quo imago sanctae Mariae Dei genitricis inpicta ipsum in memoriam ipsius saepissime reuocabat). Die Bemerkung in der Historia, dass das Marienbild Arthur regelmäßig an die Jungfrau erinnern solle, könnte Giraldus (oder seiner Quelle) die Idee nahegelegt haben, dass dieses Bild sich auf der Innenseite des Schilds befand. Diese beiden Elemente stellen damit, wenn auch keinen schlüssigen Beweis, so doch Indizien dafür dar, dass das Verhältnis zwischen der Entdeckung von Arthurs Grab in Glastonbury und der Historia ein primär direkt-literarisches ist: Konkrete Belege dafür, dass Glastonbury schon vor der Exhumierung über eine eigene arthurische Tradition verfügte, sind ausgesprochen spärlich. Tatsächlich ist der früheste (erhaltene) Text, in dem Glastonbury vor der Entdeckung des Grabs mit dem Arthurstoff verbunden wird, erst das Leben des Hl. Gildas des Caradoc von Llancarfan (ca. 1130).⁸³⁸ Dort ist Glastonbury der Sitz des Königs Melvas. Dieser hat eine militärische Auseinandersetzung mit dem tyrannus Arthur provoziert, indem er dessen Frau Guinevere (Guennuvar) entführte; vor dem Zorn Arthurs zog er sich nach Glastonbury zurück, wo er durch die natürlichen Befestigungen, die durch das Schilf, den Fluss und den Sumpf gebildet wurden, unangreifbar war. Als Arthur sein Heer mobilisiert, gelingt es jedoch dem Abt von Glastonbury und
Sanctae Crucis nostrae in Monte Acuto et de ductione ejusdem apud Waltham, wohl verfasst kurz nach 1177) als Modell für die Ausgrabung von 1191 gedient haben könnte. 835 Für eine weitere potentielle Quelle literarischer Details in Form einer irischen Wundererzählung vgl. Carey 1999 (Arthur’s Grave). 836 Das Kreuz scheint erst im 19. Jahrhundert verlorengegangen zu sein (vgl. Kennedy 2011, S. 111); für Zusammenstellungen der verschiedenen Quellen zu diesem Objekt, die sich in Details der Inschrift teilweise stark voneinander unterscheiden, vgl. etwa Carley 2001 (Introduction), S. 2 f.; Kennedy 2011, S. 111 f. Für eine Abb. nach einer Illustration des 17. Jahrhunderts vgl. Simek 2012, S. 143. 837 Kennedy 2011, S. 112; Watkin 2001, S. 20. 838 Gransden 1976, S. 353; Datierung: Lupack 2005, S. 24; vgl. Chotzen 1948, S. 256 (ca. 1125). Die Vita Gildae des Caradoc von Llancarfan ist hgg. bei Mommsen 1898, S. 107–110. Die fragliche arthurische Passage ist auch abgedruckt bei Chambers 1927, S. 262–264.
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Gildas, zwischen den beiden Herrschern zu vermitteln und eine friedliche Beilegung des Konflikts herbeizuführen (§§ 10 f.). Glastonbury erscheint in der Vita Gildae somit als eine Festung eines mit Arthur verfeindeten Königs; die Landschaft von Glastonbury und insbesondere die quasi-Insellage Glastonburys erhalten keine anderweltliche, sondern eine rein fortifikatorische Interpretation. Die Vita Gildae zeichnet nicht nur ein Bild von Glastonbury, in dem eine Gleichsetzung mit Avalon nicht ausgesprochen wird, sondern sie zeichnet Glastonbury in einer Weise, die zu einer Interpretation Glastonburys als Avalon in direktem Widerspruch steht. In der religionsgeschichtlichen Diskussion über Avalon und verwandte Vorstellungen hat wiederholt das Motiv einer „Glasinsel“ eine zentrale Rolle gespielt.⁸³⁹ In der Vita Gildae, die als erstes Zeugnis Glastonbury in den arthurischen Kreis rückt, findet sich eine hierfür zentrale Stelle (§ 14): Ynisgutrin nominata fuit antiquitus Glastonia at adhuc nominatur a Britannis indigenis; ynis in Britannico sermone insula Latine; gutrin vero vitrea. sed post adventum Angligenarum et expulsis Britannis, scilicet Walensibus, revocata est Glastigberi ex ordine primi vocabuli, scilicet glas Anglice vitrum Latine, beria civitas, inde Glastiberia id est Vitrea Civitas.⁸⁴⁰ Glastonbury wurde in alten Tagen Ynisgutrin genannt und wird bis heute von den einheimischen Britanniern so genannt; ynis in der britannischen Sprache heißt auf Latein insula („Insel“); gutrin gewiss vitrea („gläsern“). Aber nach der Ankunft der Angelsachsen und der Vertreibung der Britannier, d. h. der Waliser, wurde es umbenannt in Glastigberi (Glastonbury) nach der Beschaffenheit des ersten Namens: Offenkundig heißt angelsächsisch glas auf Latein vitrum („Glas“), beria heißt civitas („Stadt“), und von daher Glastiberia, d. h. Vitrea Civitas („Gläserne Stadt“).
Caradoc von Llancarfan vertritt hier somit die Ansicht, dass der englische Ortsname „Glastonbury“/„Glastiberia“ eine direkte Übersetzung eines älteren kymrischen Ortsnamens Ynisgutrin „Glasinsel“ darstelle. Die moderne Ortsnamenforschung leitet den englischen Ortsnamen von einer altenglischen Volksgruppenbezeichnung ab.⁸⁴¹ Für die Interpretation der Tradition einer „Glasinsel“ spielt die Frage jedoch zunächst keine Rolle, ob die Gleichsetzung von Glastiberia und Ynisgutrin faktisch etymologisch korrekt ist: Entscheidend ist vielmehr, welche mythologische Interpretation dem Ort beigelegt wurde. In der Vita Gildae finden sich hierzu keine weiteren Auskünfte. Auch Giraldus Cambrensis spricht die Frage der Etymologie des Ortsnamens an: Etymologische Erläuterungen finden sich in beiden Fassungen seiner Schilderung
839 Etwa Much 1924, S. 102; Krappe 1943, bes. S. 306 f., 310, 314, 322; Krappe 1947; Straubergs 1957, S. 62, 81; Ahl 1982, S. 402–404, 411; Heizmann 1998, S. 86, 89–95; Heizmann 2002, S. 530; vgl. zuletzt und zusammenfassend Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 122–126; Egeler 2015, S. 95–100; Egeler 2014 (Perspektiven), S. 137, 141–143, 161 et passim. Siehe auch oben S. 201 ff. 840 Text: Mommsen 1898, S. 110. 841 Insley in Insley et al. 1998, S. 173.
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der Auffindung des Grabs Arthurs, sowohl in De principis instructione als auch im Speculum ecclesiae. Er ist dabei der erste Autor, der eine Identifizierung von Avalon und Glastonbury vornimmt (De principis instructione I.20; Speculum ecclesiae II.9).⁸⁴² Die ältere der beiden Fassungen von Giraldus’ etymologischen Ausführungen lautet folgendermaßen (De principis instructione I.20): Quæ nunc autem Glastonia dicitur, antiquitus insula Avallonia dicebatur. Est enim quasi insula tota paludibus obsita, unde dicta est Britannice Inis‡ Avallon, id est, insula pomifera. Pomis enim, quæ aval Britannica lingua dicuntur, locus ille quondam abundabat. Unde et Morganis, nobilis matrona et partium illarum dominatrix atque patrona, necnon et Arthuro regi sanguine propinqua, post bellum de Kemelen Arthurum ad sanandum ejusdem vulnera in insulam quæ nunc Glastonia dicitur deportavit. Dicta quoque quondam Britannice Inis※ gutrin fuerat, hoc est, insula vitrea; ex quo vocabulo supervenientes postea Saxones locum illum Glastingeburi vocitabant. Glas enim lingua eorum vitrum sonat, et buri castrum, civitas appellatur.⁸⁴³ ‡ MS: emin ※ MS: eius Was jetzt aber Glastonbury heißt, wurde in alten Tagen die Insel Avalon genannt. Es ist nämlich gleichsam eine Insel, ganz bedeckt mit Sümpfen, weshalb es auf Britannisch Inis Avallon genannt wurde, das heißt: Apfelinsel. An Äpfeln nämlich, die in der britannischen Sprache aval heißen, war jener Ort einst überreich. Weshalb auch Morganis, die eine edle Dame und die Herrin und Patronin jener Gegend und ferner auch mit Arthur durch königliches Blut verwandt war, nach der Schlacht von Camlan Arthur zur Heilung seiner Wunden auf die Insel fortbrachte, die jetzt Glastonbury genannt wird. Einst war sie auf Britannisch auch Inis gutrin genannt worden, das heißt, „Glasinsel“; nach diesem Namen bezeichneten später die Sachsen bei ihrer Einwanderung jenen Ort als Glastingeburi. Glas heißt in ihrer Sprache nämlich „Glas“, und eine Burg oder Stadt wird buri genannt.
In dieser Passage erklärt Giraldus den Namen „Glastonbury“ (Glastingeburi) in derselben Weise, die zuvor auch schon Caradoc von Llancarfan vertreten hatte: als angelsächsische Übersetzung eines britischen Ortsnamens „Glasinsel“. Ferner setzt er Glastonbury mit der insula Avallonia gleich und erklärt den Namen der letzteren unter Verweis auf ein britisches Wort aval („pomum“) als insula pomifera („apfeltragende Insel, Apfelinsel“). Antonia Gransden hat hier – und wohl zu Recht – hervorgehoben, dass Giraldus die beiden Ortsnamen „Glasinsel“ und „Apfelinsel“ zwar gleichsetzt, aber keinerlei etymologische oder mythologische Verbindung zwischen ihnen herstellt:⁸⁴⁴ Die beiden Namen scheinen hier distinkte Überlieferungen zu repräsentieren, für die zwar eine Identifikation postuliert, zwischen denen aber keine wirkliche Beziehung aufgezeigt wird. In der 25 Jahre späteren Behandlung der Etymologien Glastonburys und Avalons in Giraldus’ Speculum ecclesiae (II.9) werden die etymologischen Konturen der Orts-
842 Gransden 1976, S. 354. 843 Warner 1891, S. 128; vgl. Chambers 1927, S. 270. 844 Gransden 1976, S. 356.
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namen der Region noch unschärfer. Dort wiederholt Giraldus einerseits die ApfelEtymologie Avalons, schlägt zugleich als Alternative jedoch auch eine Herleitung des Ortsnamens „von einem gewissen [A]vallo“ vor (a [A]vallone quodam), der ein Herrscher dieses Gebiets gewesen sei. Die Etymologie von Glastonbury (als angelsächsische Übersetzung von Inis Gutrin = insula vitrea) wird beibehalten, aber etwas breiter ausgeführt: Der Ortsname beruhe auf dem Fluss, der die Farbe von Glas hat und um den Ort fließt. Die Herleitung der Bezeichnung Avalon von einem Herrscher [A]vallo ist in der Chronologie des Werks des Giraldus Cambrensis deutlich sekundär. Eine solche Erfindung eines eponymen Heros ist ein typisches Element der zeitgenössischen Literatur, das letztlich auf antiken Vorbildern beruht;⁸⁴⁵ Geoffrey von Monmouth bedient sich mehrfach dieses Mittels zur „Erklärung“ eines Ortsnamens (so etwa, wenn er den Namen der Insel Britannien von König Brutus herleitet: Historia I.21).⁸⁴⁶ Diese zwei Faktoren zusammengenommen – das erst sekundäre Erscheinen des Königs Avallo und die Geläufigkeit der Erfindung eponymer Heroen – lassen die Frage nach einer Herleitung der insula Avallonis von einem eponymen Heros Avallo von vorneherein als hinfällig erscheinen: Hier handelt es sich um ein spätes literarisches Konstrukt. Nur der Vollständigkeit halber ist dabei anzumerken, dass die Idee für diesen spezifischen eponymen Heros für Avalon von der tatsächlich belegten Figur des Auallach/ Afallach abgeleitet sein dürfte, der in verschiedenen Genealogien als Ahnherr mehrerer prominenter Dynastien erscheint – ohne in den entsprechenden Quellen jedoch mit Avalon in Verbindung gebracht zu werden.⁸⁴⁷ Auch der Doppelname „Apfelinsel“/„Glasinsel“ wird durch diese Passage nicht gestärkt: Erneut wird zwar die Identität der beiden Orte postuliert, aber keine Verbindung zwischen ihnen aufgezeigt. Die Herleitung des „Glasinsel“-Namens von der Farbe des den Ort umfließenden Wassers ist zudem auffallend seicht: Giraldus scheint mit keiner mythologischen Tradition vertraut gewesen zu sein, die ihm eine Ätiologie für den Namen an die Hand gegeben hätte, und musste sich so mit einer ganz phantasielosen ad hoc-Erklärung begnügen. Auch die späteren Chronisten Glastonburys scheinen mit dem Ergebnis von Giraldus’ etymologischen Bemühungen nicht zufrieden gewesen zu sein: Die Interpolationen in William von Malmesburys De antiquitate Glastoniensis ecclesiae ergänzen Giraldus’ etymologische Spekulationen um eine neue Geschichte, die die Namen enger aneinander anknüpft: Ein Schweine-
845 Vgl. die Gründung Roms durch Romulus, oder – um ein Beispiel einer antiken mythischen Inselgruppe zu zitieren – Pomponius Melas Erklärung der Bezeichnung „Inseln der Seligen“ (gr. μακάρων νῆσοι) wahlweise aus dem günstigen Klima und fruchtbaren Boden dieser Inseln oder aus einem Herrscher Macar (Pomponius Mela II.vii.100). 846 Gransden 1976, S. 357; vgl. auch Parry und Caldwell 1959, S. 82 f. 847 Vgl. Bromwich 2006, S. 274; Chotzen 1948, S. 258–260; Slover 1931, S. 399 f. Für Versuche einer Rekonstruktion eines Gottes Afallach vgl. Bromwich 2006, S. 450 f.; Watkin 2001, S. 18; Ahl 1982, S. 411; Krappe 1943, bes. S. 313, 322; MacCulloch et al. 1908, S. 691.
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hirt namens Glasteing habe Glastonbury bei der Suche nach einer entlaufenen Sau entdeckt, die er dort unter einem Apfelbaum einholte.⁸⁴⁸ Als alternative Etymologien werden in dieser Textstelle jedoch auch die von Giraldus vorgebrachten Herleitungen reiteriert (einschließlich des eponymen Heros Avallo[c]: „oder es ist nach einem gewissen Avalloc benannt, der wegen der Abgeschiedenheit des Ortes mit seinen Töchtern ebendort gelebt haben soll“ – vel cognominatur de quodam Avalloc, qui ibidem cum suabus filiabus, propter loci secretum, fertur inhabitasse: De antiquitate 4 f.).⁸⁴⁹ Wie oben bereits erwähnt, haben Glastonbury und die in der Glastonbury-Tradition vorgenommene Identifizierung Avalons als sowohl insula pomifera als auch insula vitrea in der religionsgeschichtlichen Diskussion wiederholt eine zentrale Rolle gespielt.⁸⁵⁰ Die detaillierte Diskussion des Materials hat jedoch deutlich werden lassen, dass diese Rolle zu überdenken ist. Sie ist zwar so lange plausibel, wie die Aussagen der Quellentexte für bare Münze genommen werden; die Betrachtung der historischen Umstände, denen diese Texte entstammen, sollte jedoch deutlich gemacht haben, dass diese Texten nicht unbesehen Glauben zu schenken ist. Die Entdeckung der Gebeine König Arthurs und Guineveres in Glastonbury im Jahr 1191 lässt sich aufgrund verschiedener ihrer Details und des zeitgeschichtlichen Kontexts nicht anders deuten als ein bewusst inszenierter Propagandacoup, und die Identifizierung von Glastonbury und Avalon scheint den erhaltenen Zeugnissen nach unmittelbar von diesem Coup abhängig zu sein und einen impliziten Teil dieses Coups zu bilden. Vor dem Bericht des Giraldus Cambrensis gibt es keine Belege für eine Identifizierung Avalons und Glastonburys.⁸⁵¹ Bezeugt ist (durch die Vita Gildae) allein die Identifizierung Glastonburys als Ynisgutrin und insula vitrea; Hinweise auf eine Gleichsetzung von „Glasinsel“ und „Apfelinsel“ fehlen jedoch,⁸⁵² und durch den Kontext und die Darstellungsweise der „Glasinsel“ in der Vita Gildae wird es sogar ausgesprochen unwahrscheinlich, dass dem Verfasser dieses Texts ein Tradition bekannt war, die Avalon und Glastonbury gleichgesetzt hätte. Betrachtet man die Gruppe der lokalhistorischen Quellen zu Glastonbury somit als ganze, so wird durch diese Texte die Vermutung nahegelegt, dass die Identifizierung von Avalon und Glastonbury nicht mehr darstellt als einen Teil der Propagandakampagne der Abtei. Dieser Eindruck mag sich noch weiter erhärten, wenn man die Perspektive etwas erweitert. So hat Ceridwen Lloyd-Morgan die Entlehnung des Ortsnamens „Glastonbury“ ins Kymrische und seine Verwendung in volkssprachlichen walisischen Quellen
848 Gransden 1976, S. 356; Text: Scott 1981, S. 52; Chambers 1927, S. 265 f.; Hearnius 1727 Bd. 1, S. 16 f. – Zum Interpolationscharakter der Stelle vgl. Scott 1981, S. 188 (Anm. 24). 849 Scott 1981, S. 52; Chambers 1927, S. 266; Hearnius 1727 Bd. 1, S. 17. 850 Siehe oben Anm. 839. 851 Watkin 2001, S. 16. 852 Vgl. Carley 2001 (Introduction), S. 1 f.
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untersucht. Dabei kam sie zu dem Ergebnis, dass der englische Ortsname nicht nur ins Kymrische entlehnt, sondern diese Entlehnung auch weithin angenommen wurde – was insofern von Relevanz ist, als walisische Schreiber und Übersetzer in der Regel englische Ortsnamen nicht einfach übernahmen, sondern soweit möglich nach einem traditionellen kymrischen Äquivalent suchten. Hierzu steht in markantem Kontrast, dass walisische Texte für Glastonbury üblicherweise den englischen Ortsnamen verwenden und eine Identifizierung mit der „Apfelinsel“ oder der „Glasinsel“ nur dort vornehmen, wo diese Identifizierung bereits von der jeweils bearbeiteten Quelle vorgenommen wurde; die kymrischen Bearbeiter des Glastonbury-Materials scheinen entsprechend nicht mit einer einheimischen Tradition vertraut gewesen zu sein, die ihnen eine Identifizierung Glastonburys mit der „Glas-“ oder der „Apfelinsel“ nahegelegt hätte.⁸⁵³ Noch klarer ist der Befund des nicht streng lokal auf Glastonbury bezogenen Quellenmaterials: Eine Glasinsel erscheint (wohl) auch mit der Isle de Voirre im Erec des Chrétien de Troyes.⁸⁵⁴ Der Herr dieser Insel ist Maheloas⁸⁵⁵ – ein Name, der auffallend an den Melvas anzuklingen scheint, den die Vita Gildae als Herrn der „Glasinsel“ und Entführer Guineveres beschreibt. Maheloas erscheint zwar nicht als Entführer Guineveres, diese Rolle wird im Werk Chrétiens jedoch von einer Gestalt übernommen, die wiederum einen auffallend ähnlich klingenden Namen trägt: In Chrétiens Lancelot erscheint der Entführer Guinveres unter dem Namen Meleagant.⁸⁵⁶ Dieser Meleagant wird dabei als König von Gorre (roi de Go[i]rre) bezeichnet (V. 641–645);⁸⁵⁷ William W.
853 Lloyd-Morgan 2001, S. 168–170. 854 Siehe oben S. 201 ff.; Rhŷs 1891, S. 330 f.; Watkin 2001, S. 17, der auch auf das kymrische Gedicht Preiddeu Annwn verweist, das einen Beutezug Arthurs in die Anderwelt beschreibt und in welchem eine Glasfestung erscheint (vgl. unten Anm. 969); Lot 1895, S. 327. Ferner vgl. den gläsernen Turm inmitten des Meeres (turris vitrea in medio mari) bei Nennius, Historia Brittonum § 13 (hgg. von Mommsen 1898, S. 111–222, dort S. 155): Lot 1895, S. 328; MacCulloch et al. 1908, S. 691; Patch 1950, S. 230. Für weiteres Vergleichsmaterial in den irischen Texten Navigatio Sancti Brendani, Immram Curaig Maíle Dúin und Immram Curaig Ua Corra vgl. unten S. 294, 298, 309. Zu dieser Aufzählung verschiedener Belege für „Glastürme“ und „Glasfestungen“ in der (lateinischen wie volkssprachlichen) walisischen und irischen Literatur ist freilich zu betonen, dass es sich hier nicht durchgehend um voneinander unabhängige Zeugnisse handelt, die jeweils selbständig auf inselkeltische Traditionen der vorchristlichen Zeit zurückgreifen würden. Vielmehr stellen die irisch-walisischen Motivübereinstimmungen in diesem Fall wohl eher Zeugnisse für einen durchaus auch rein literarischen Austausch zwischen Irland und Wales dar; vgl. etwa Carey 2007 (Bran), S. 173–176, der das Motiv der Glasfestung in der walisischen Literatur plausibel als eine Entlehnung aus Irland erklärt. 855 Oder: Moloas, Meloax, Mahalos, Malehoes, Maccolans (Foerster 1890, S. 72, apparatus criticus zur Stelle [V. 1946]). 856 Loomis 1959 (Oral Diffusion), S. 53; vgl. Bromwich 1965, S. 208; Brown 1943, S. 107. Foerster 1899, S. 25 (mit dem kritischen Apparat zu V. 641) führt die folgenden Namensformen an: Meleaganz, Meleaguanz, Meliaganz, Melleangranz. 857 Foerster 1899, S. 25 (mit dem kritischen Apparat zu V. 643) führt die folgenden Leseweisen an: de Gorre, de Goirre, des Ogres.
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Kibler hat hier in Erwägung gezogen, dass Gorre mit der Isle de Voirre gleichzusetzen sein könnte.⁸⁵⁸ Meleagant, roi de Go[i]rre und Entführer Guineveres, stellt in jedem Fall einen auffallenden Anklang an Maheloas, sire de l’Isle de Voirre, dar. Da die „Glasinsel“ bei Chrétien zudem deutlich als übernatürlich angehauchte Paradiesinsel beschrieben wird (so sehr die einzelnen konkreten Elemente dieser Beschreibung auch der zeitgenössischen Gelehrsamkeit entstammen mögen), könnten diese Parallelen und Anklänge zwischen dem Erec, dem Lancelot und der Vita Gildae nahelegen, dass Glastonbury möglicherweise tatsächlich eine authentische Tradition einer Identifizierung mit einer anderweltlichen (Glas-)Insel und der Entführung Guineveres besaß.⁸⁵⁹ Zugleich macht der Erec jedoch auch deutlich, dass die „Glasinsel“ von der Insel Avalon vor der Exhumierung der Gebeine Arthurs deutlich geschieden war:⁸⁶⁰ Im Erec erscheint die „Glasinsel“ unmittelbar vor, aber auch eindeutig getrennt von der Isle d’Avalon.⁸⁶¹ Chrétien scheint also ganz ähnliche Motive gekannt und verarbeitet zu haben, wie sie auch in die Darstellung der arthurischen Frühgeschichte Glastonburys in der Vita Gildae eingegangen sind; seine Quellen (oder zumindest seine Bearbeitungen dieser Quellen) nahmen jedoch eine ausdrückliche Trennung zwischen der „Glasinsel“ und der „Apfelinsel“ vor, was genau dem Fehlen einer Gleichsetzung von „Glas-“ und „Apfelinsel“ in der Vita Gildae entspricht. Nichtsdestoweniger, und trotz ihres hochgradig synthetischen und propagandistischen Charakters, lassen sich der Glastonbury-Überlieferung für das Problem keltischer Anderweltsinseln einige potentiell relevante Informationen entnehmen. Spezifisch für die Mythologie Avalons von Interesse ist insbesondere Giraldus Cambrensis’ ausdrückliche Bezeichnung Morganis’ als dea phantastica (Speculum ecclesiae II.9): Hier wird mit ungewöhnlicher Deutlichkeit der übernatürlich-anderweltliche Charakter dieser Figur ausgesprochen. Ferner erscheint Glastonbury in der Vita Gildae als ein klares Beispiel für eine Identifizierung einer mythischen Insel, die an anderer Stelle deutlich als eine Paradiesinsel gezeichnet wird, mit einem konkreten geographischen Ort; dass diese Identifizierung nur für die Gleichsetzung von Glaston-
858 Kibler in Kibler und Carroll 2004, S. 512 (Anm. 8); vgl. schon Lot 1895, S. 332; Heizmann 1998, S. 91. 859 Vgl. ferner mit kymrischem Vergleichsmaterial Watkin 2001, S. 17. Es könnte auch beachtenswert sein, dass Melvas in der Vita Gildae (§ 10) als König in aestiva regione, „im Sommerland“, beschrieben wird; dies könnte eine Identifizierung seines Reichs mit einem mythischen Land ewigen Sonnenscheins implizieren, wie es auch in der Schilderung der Isle de Voirre im Erec erscheint. Andererseits könnte es sich aber auch einfach nur um eine spielerische Paraphrase für „Somerset“ handeln: Watkin 2001, S. 18 f. 860 Contra Kennedy 2011, S. 109; Lloyd-Morgan 2001, S. 161. 861 Vgl. Watkin 2001, S. 16, der die Gleichsetzung der Glas- und der Apfelinsel Giraldus Cambrensis zuschreibt. Loomis 1959 (Legend), S. 66 f. hält die Angabe des Giraldus Cambrensis, wonach Heinrich II. seine Informationen über die Lage von Arthurs Grab von einem bretonischen Sänger bezogen hätte, für authentisch und schreibt die Gleichsetzung von Glas- und Apfelinsel einem Missverständnis dieses Sängers zu.
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bury mit der „Glasinsel“ eine möglicherweise authentische vorchristliche Tradition widerspiegelt, während die Verbindung mit Avalon deutlich erst im 12. Jahrhundert hergestellt wird, stellt dabei keine Entwertung des Phänomens für die allgemeine Frage nach dem Verhältnis von geographischem Mythos und realer Landschaft dar.⁸⁶² An diese Gleichsetzung von Glastonbury und einer paradiesähnlichen „Glasinsel“ anschließend wäre es eine Frage von höchstem Interesse, ob sich eine Verbindung zwischen diesem (potentiell vorchristlichen) Phänomen und der späteren Geschichte Glastonburys als (christlicher) Sakralort herstellen lässt. Aufgrund der Probleme der historischen Beleglage lässt diese Frage sich jedoch nicht beantworten: Das Urteil darüber, wie weit die Geschichte der Abtei zurückreicht, ist forschungsgeschichtlich ganz unterschiedlich ausgefallen. Auf der Grundlage der erhaltenen Zeugnisse lässt sich mit Sicherheit sagen, dass die Abtei Glastonbury in 7. Jahrhundert bestand und zumindest eine frühe angelsächsische Gründung darstellt.⁸⁶³ Über die Zeit vor dem 7. Jahrhundert besteht jedoch keine Einigkeit: Teilweise wird eine Kontinuität der Stätte angenommen, die bis in die Zeit der britischen Herrschaft vor der Ankunft der West-Sachsen zurückgeht;⁸⁶⁴ teilweise wird das Fehlen schlüssiger Belege für eine solche Kontinuität betont;⁸⁶⁵ und teilweise zieht die Forschung sich auf die vorsichtige Position zurück, dass die Geschichte der Abtei vor dem 7. Jahrhundert im Nebel von Mythen und Legenden verschwindet.⁸⁶⁶ Ob die Gründung des Klosters als einer irdischen Imitation des Paradieses auf Erden⁸⁶⁷ auf einer bereits vorchristlichen Iden-
862 Siehe unten S. 513 ff. – In Anbetracht des Umstands, dass die Gleichsetzung Glastonburys mit der „Glasinsel“ zum Zeitpunkt des monastischen Propagandacoups von 1191 bereits eine etablierte lokale Tradition gewesen zu sein scheint, lässt sich vielleicht die Frage stellen, ob die bereits bestehende Gleichsetzung Glastonburys mit der mythischen „Glasinsel“ nicht einen Beitrag dazu geleistet haben könnte, die Mönchen der Abtei zur Identifizierung Glastonburys mit einer weiteren mythischen Insel – eben Avalon – zu inspirieren. 863 Kennedy 2011, S. 111; Insley in Insley et al. 1998, S. 174 f.; Wilson in Insley et al. 1998, S. 180; Gransden 1976, S. 344. 864 Watkin 2001, S. 14; Lagorio 2001, S. 55; Gransden 1976, S. 344; vgl. auch die Literatur bei Wilson in Insley et al. 1998, S. 180. 865 Insley in Insley et al. 1998, S. 174, 175; mit ausführlicher Diskussion: Hutton 2003, S. 59–85. 866 Wilson in Insley et al. 1998, S. 179. 867 Vgl. etwa die bauliche Realisierung des Paradieses im karolingischen Idealentwurf eines Klosters im St. Gallener Klosterplan (Auffahrt 2002, S. 59–63); die Bezeichnung der Abtei Glastonbury als neues Jerusalem – womit auf das endzeitliche Paradies der Apokalypse angespielt wird – in der Glastonbury Chronicle (Clarke 2006, S. 72 f.); und die Identifizierung der Klöster von Metz und Fulda mit Jerusalem durch Sedulius Scottus (Doherty 1998, S. 309). Für eine losere Assoziation von Kloster und Paradies vgl. ferner eine Bemerkung in einem Rundschreiben der Mönche des Klosters Anchin (Aquicintum) in Flandern aus Anlass des Todes von Odo von Cambrai: Civitas eorum quasi carcer eis esse videbatur, monasterium paradisus (=Patrologia Latina t.CLX, c.1130B), oder den Vergleich zwischen dem Monte Cassino und dem Paradies in Alphani primi Salernitani archiepiscopi Gregorii VII ponf. max. Coaetanei carmina, XIX: De Casino monte, Str. 21 = Patrologia Latina t.CXLVII, c.1238B.
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tifizierung des Ortes mit einer mythischen Paradiesinsel aufbaute, lässt sich entsprechend nicht entscheiden. Blickt man von den Ereignissen von 1191 nicht in die Vergangenheit, sondern auf die in den folgenden Jahren stattfindende literarische Rezeption der Ansprüche Glastonburys, so wird schnell deutlich, dass die Ansprüche der Abtei zwar keine uneingeschränkte Akzeptanz fanden, aber in der weiteren Entwicklung der arthurischen Literatur doch aufgegriffen wurden. Eine umfassende Aufarbeitung dieses Themas liegt schon aufgrund der unüberschaubaren Materialmenge außerhalb sowohl der Frageabsicht als auch der Möglichkeiten des vorliegenden Kapitels; zumindest einzelne Beispiele seien auf den nächsten Seiten und im folgenden Unterkapitel jedoch herausgegriffen, um die Entwicklung des Avalonmotivs auch in Hinblick auf diesen Aspekt seiner Geschichte exemplarisch an die Schwelle zur Entstehungszeit der nordischen Glæsisvellir-Sagas heranzuführen.⁸⁶⁸ Eine in ihrer Lokalisierung Avalons einzigartige, allerdings der Handschriftenüberlieferung nach in ihren Tagen relativ weit verbreitete⁸⁶⁹ Version des Avalon-Motivs erscheint in einem kurzen Text, der zwischen 1199 und 1203 von einem walisischen Kleriker in Gwynedd in Nordwales verfasst worden sein dürfte: der Vera historia de morte Arthuri.⁸⁷⁰ Dieser Text schildert, wie Arthur in seiner letzten Schlacht gegen Mordred lebensgefährlich verwundet wird und sich nach dem Ende der Schlacht seine Rüstung abnehmen lässt. Da reitet plötzlich ein Jüngling heran und durchbohrt den schon schwerst verwundeten König mit einem Speer; Arthur kann den fliehenden Angreifer mit einem Speerwurf töten, ist nun jedoch ohne Hoffnung, seine Verletzungen zu überleben. So befiehlt er, ihn nach Gwynedd auf die Insel Avalon zu bringen,
868 Vgl. die Beobachtung Simeks zum Rückgang der nordischen Rezeption europäischen Schrifttums nach dem Ende des 12. Jahrhunderts: Während kontinentales Schrifttum im Norden des 12. Jahrhunderts noch binnen weniger Jahrzehnte rezipiert wurde, wurde die nordische Gelehrsamkeit des 13. und 14. Jahrhunderts zunehmend randständig: Simek 1990, S. 392. Ein ähnliches Bild zeigen die Übersetzungen der arthurischen Literatur: Die einschlägige Übersetzungstätigkeit setzte um 1200 mit der Übersetzung von Werken des Geoffrey von Monmouth ein und blühte in der Mitte des 13. Jahrhunderts am Hofe des norwegischen Königs Hákon Hákonarson, kam jedoch bereits am Anfang des 14. Jahrhunderts mit einer (zweiten) Übersetzung des Yvain des Chrétien de Troyes zu einem Ende; bei dieser letzten nordischen Übersetzung eines arthurischen Texts handelte es sich jedoch schon nicht mehr um eine Übersetzung ins Altwestnordische, sondern um eine Übertragung ins Altschwedische (Kalinke 2011 [Introduction], S. 1; vgl. Kalinke 2011 [Introduction of the Arthurian Legend], S. 17). Entsprechend ist es grundsätzlich unwahrscheinlich, dass Entwicklungen in der kontinentalen und britannischen arthurischen Literatur des Spätmittelalters noch einen weitreichenden direkten Einfluss auf die altwestnordische Literatur ausgeübt hätten. Es scheint im gegenwärtigen Zusammenhang daher vertretbar, die Entwicklung des Avalon-Motivs nur bis ins 13. Jahrhundert zu verfolgen. 869 Barber 2001 (Addendum). 870 Hgg. von Lapidge 2001; allgemein zu diesem Text vgl. auch Barber 2001 (Vera historia); Barber 2001 (Addendum). Datierung: Lapidge 2001, S. 115, 124–148, bes. S. 127.
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„weil er beschlossen hatte, wegen der Herrlichkeit des Ortes auf der erquicklichen Insel Avallon zu verweilen (sowohl um der Ruhe willen wie auch um den Schmerz seiner Wunden zu lindern)“ (iubet se transuehi ad Venedociam, quia in Auallonis insula delectabili propter loci amenitatem perendinari proposuerat [et quietis gracia tamquam uulnerum suorum mitigandi dolorem]: § 2). Dort kümmern sich Ärzte um Arthurs Verletzungen, können ihn aber nicht retten. Nach seinem Tod will man Arthur auf seinen Wunsch hin in einer kleinen Marienkapelle begraben; der Eingang dieser Kapelle ist jedoch so eng, dass man den Leichnam nicht ins Innere der Kapelle bringen kann. So wird beschlossen, ihn draußen unmittelbar an der Mauer der Kapelle zu bestatten. Während im Inneren der Kapelle der Begräbnisgottesdienst gefeiert wird, bricht allerdings ein mehrstündiges und von Erdbeben und undurchdringlichem Nebel begleitetes furchtbares Unwetter los. Als das Wetter wieder aufklart, ist das Grab Arthurs fest versiegelt und sein Leichnam verschwunden; seitdem herrscht Uneinigkeit darüber, ob er an einen Ort entrückt worden ist, an dem er heil und unversehrt lebt, oder ob er tot und sein Leichnam in seinem Grab eingeschlossen ist. Diese Darstellung des Todes und der Entrückung Arthurs bildet eine kuriose Mischung weithin etablierter, idiosynkratisch adaptierter und ganz eigentümlicher Elemente. Ein Standardmotiv ist die Darstellung der Insel Avalon als ein Ort der Heilung; dass diese Heilung dabei nicht in der Hand von Frauengestalten, sondern in der von professionellen Ärzten (medici) liegt, ist demgegenüber eigentümlich. Ganz einzigartig ist die Lokalisierung der Insel Avalon in Gwynedd (Venedocia) in Nordwales.⁸⁷¹ Diese Lokalisierung ist dabei nicht nur durch ihre Einzigartigkeit auffallend, sondern auch durch das Spannungsverhältnis, in dem sie zur (scheinbaren?) deutlichen Anspielung auf Glastonbury steht: Der König soll zunächst standesgemäß in der Marienkapelle bestattet werden, erhält dann jedoch aufgrund ganz phantastischer Umstände ein Grab neben der Kapelle. Diese merkwürdige Episode wirkt zunächst wie eine Ätiologie für die Lage des Arthurgrabs, das 1191 neben der Marienkirche in Glastonbury exhumiert wurde – was die Vera historia unmittelbar an Glastonbury anzuschließen scheint, obwohl die Ereignisse zuvor in Gwynedd lokalisiert wurden; Richard Barber hat hier allerdings eine Verbindung mit der nordwalisischen Abtei von Aberconway vorgeschlagen, die der Jungfrau Maria geweiht war.⁸⁷² Diese Ätiologie wird ferner durch das Verschwinden des Leichnams während des Unwetters mit einer Ätiologie für die divergierenden Meinungen über den Tod oder die Entrückung Arthurs verbunden. Es ist vermutet worden, dass die Darstellung der Bestattung Arthurs in der Vera historia die Beschreibung von Arthurs Ende im Lancelot-Graal-Zyklus beeinflusst haben könnte –⁸⁷³ wobei das Avalon-Motiv in diesem Zyklus jedoch weder ausschließ-
871 Lapidge 2001, S. 124; Barber 2001 (Vera historia), S. 108. 872 Barber 2001 (Vera historia), S. 109; vgl. Lapidge 2001, S. 130. 873 Barber 2001 (Vera historia), S. 110.
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lich beim Tod Arthurs erscheint, noch dort seine interessanteste Bearbeitung innerhalb dieses Zyklus erfährt, auf den nun im Folgenden einzugehen sein wird.
4.4 Kapelle, Kloster und Land jenseits des Meeres: Variationen über das Avalon-Thema im Lanzelot-Graal und im Perlesvaus Die monumentalste Gesamtdarstellung der Welt Arthurs entstand zwischen etwa 1215 und 1235 mit dem Lancelot-Graal- oder Vulgate-Zyklus, bestehend aus den fünf Teilen Estoire del Saint Graal, Merlin, Lancelot, Queste del Saint Graal und La Mort le Roi Artu.⁸⁷⁴ Dieser Zyklus sticht nicht nur durch seinen schieren Umfang heraus, sondern auch durch seine zentrale Stellung für die weitere Geschichte der arthurischen Literatur: Der Zyklus fand eine enorme Verbreitung (93 Handschriften sind allein von der altfranzösischen Fassung erhalten),⁸⁷⁵ wurde weithin in andere Volkssprachen übersetzt und diente schließlich auch Sir Thomas Mallory als Hauptquelle für sein wirkungsgeschichtlich bis in die Gegenwart hinein zentrales Werk Le Morte Darthur (Erstdruck 1485).⁸⁷⁶ Avalon ist auch im Lancelot-Graal-Zyklus kein zentraler Schauplatz der Handlung, sondern spielt eine eigenständige Rolle nur als Ziel der Entrückung des Königs am Ende seines Lebens. Über weite Strecken präsent ist Avalon nur indirekt durch die Gestalt Morgains, die hier als die Schwester Arthurs dargestellt wird.⁸⁷⁷ Im Lancelot-Graal-Zyklus erscheint Morgain dabei nicht als die uneingeschränkt positiv gezeichnete Herrin der Insula Pomorum der Vita Merlini Geoffreys, sondern – trotz ihrer Bruder-Schwester-Beziehung zum König – als eine Nemesis Arthurs, die unmittelbar zum Zusammenbruch der arthurischen Welt beiträgt. Damit steht der Lancelot-Graal-Zyklus exemplarisch für eine breite Tendenz späterer Bearbeitungen des Arthurstoffes, in denen Morgain von der weisen und gerechten Heilerin und Herrin der Zauberinsel zur bösartigen und falschen Ränkeschmiedin absinkt. Der schiere Umfang des Morgain betreffenden Materials der mittelalterlichen arthurischen Literatur verbietet es, diese Tendenz im gegenwärtigen Kontext im Detail zu verfolgen; an weiteren prominenten Beispielen außerhalb des Lanzelot-Graal-Zyklus sei jedoch zumindest ihre Zeichnung im Post-Vulgate-Zyklus und im Tristan en Prose erwähnt.⁸⁷⁸
874 Lacy 1993–1996 (Preface), S. ix; Frappier 1959, S. 295; Simek 2012, S. 210. Die Namen der einzelnen Teile des Zyklus sind modern. Der gesamte Zyklus ist herausgegeben von Sommer 1909–1916 (zu den Problemen dieser Ausgabe vgl. Burns 1993–1996, S. xvi [Anm. 5]); für eine Gesamtübersetzung vgl. Lacy 1993–1996 Bd. 1–4; vgl. auch die Ausgabe und Übersetzung von Poirion et al. 2001–2009. 875 Simek 2012, S. 210. 876 Lacy 1993–1996 (Preface), S. x. 877 Zusammenfassend zur Figur Morgains im Lanzelot vgl. Harf-Lancner 1984, S. 270–272. 878 Simek 2012, S. 251 f.; Lacy 1993–1996 Bd. 4, S. 186–189, 254–259, 261–265, 276; vgl. Frappier 1978, S. 194. Im Detail zu dieser Tendenz vgl. Bogdanow 1969. Für ausführliche monographische Behand-
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Im Lancelot-Graal-Zyklus wird diese Entwicklung konkret etwa dadurch illustriert, wie Morgain die Liebe Lancelots zu Guenievre bloßstellt. Diese Episode bildet einen Teil des Mort Artu:⁸⁷⁹ Während einer Jagd verirren Arthur und sein Gefolge sich in einem dichten Wald. Auch nach Einbruch der Dunkelheit haben sie noch keinen Weg aus dem Wald heraus gefunden, und so beschließen sie, die Nacht im Wald zu verbringen; als die Jagdgesellschaft sich jedoch daran macht, ihre Zelte aufzuschlagen, locken zwei Hornstöße sie zu einer nahen Burg. Dort werden sie in ungemein luxuriöser Weise reich bewirtet. Zur Nacht wird Arthur in einem Raum untergebracht, in dem Morgain bei einer früheren Gelegenheit Lancelot zwei Jahre lang gefangen gehalten hatte: Lancelot hatte diesen Raum während dieser Zeit mit Bildern seiner Taten und seiner Liebe zu Königin Guenievre ausgemalt. Am nächsten Morgen gibt Morgain sich Arthur als seine Schwester zu erkennen. Arthur ist überglücklich, seine totgeglaubte Schwester wiedergefunden zu haben, und bittet sie, mit ihm nach Camelot zu kommen; doch sie lehnt diese Einladung ab, da sie, wenn sie diese Burg verlässt, zur Insel Avalon gehen werde, wo die Frauen sind, die alle Zauber der Welt kennen (en l’ille d’Avalon ou les dames conversent qui sevent toz les enchantemenz del siecle).⁸⁸⁰ Dies führt zu einem Gespräch, das andauert, bis es in Arthurs Kammer hell geworden ist und Lancelots gemalte Darstellungen seiner verbotenen Liebe zu Arthurs Königin deutlich sichtbar werden. Die Bilder mit ihren erklärenden Beischriften und Morgains Erläuterungen offenbaren Arthur so den Verrat, den Lancelot und Guenievre an ihm begangen haben. Arthur und Morgain unterhalten sich noch lange und planen die Rache des Königs für die ihm angetane Schmach.⁸⁸¹ Diese Episode hat im Folgenden schwerwiegende Konsequenzen, die letztlich zu der Schlacht führen, in der die Welt der Tafelrunde ihr Ende findet und Arthur tödlich verwundet wird.⁸⁸² Der Erzähler des Mort Artu hat entsprechend wenig Sympathie für Morgain – sie erscheint als Morgain la desloial.⁸⁸³ Nichtsdestoweniger erfüllt Morgain jedoch auch im Mort Artu ihre traditionelle Rolle in der Szene der Entrückung des Königs: Arthur ist im Kampf gegen Mordret tödlich verwundet worden. Der sterbende König hat noch die Kraft, vom Schlachtfeld zu reiten, verbringt die Nacht in einer Einsiedlerkapelle im Gebet, und begibt sich schließlich an die Küste. Dort befiehlt er Girflet, seinem letzten verbleibenden Gefährten, zu einem bestimmten See zu reiten und sein Schwert Excalibur im Wasser zu versenken. Girflet bringt es jedoch nicht über sich, das wunderbare Schwert in den See zu werfen; so versteckt er es und belügt den König. Arthur durchschaut die Lüge jedoch, da Girflet von keinen Wun-
lungen Morgains und verwandter Figuren in der arthurischen Literatur vgl. etwa Paton 1960 (1903); Harf-Lancner 1984; Larrington 2006. 879 Hgg. von Frappier 1964; Sommer 1909–1916 Bd. 6, S. 201–391. 880 Frappier 1964, S. 60, vgl. Sommer 1909–1916 Bd. 6, S. 238. 881 Frappier 1964, S. 55–65; Sommer 1909–1916 Bd. 6, S. 235–241; Lacy 1993–1996 Bd. 4, S. 105–107. 882 Vgl. Burns 1993–1996, S. xxxi. 883 Frappier 1964, S. 55; Sommer 1909–1916 Bd. 6, S. 235.
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derzeichen berichtet, die sich beim Versenken Excaliburs hätten ereignen müssen. Entsprechend schickt Arthur Girflet erneut zum See, wo dieser das Schwert beim dritten Mal schließlich wirklich ins Wasser wirft; dabei taucht eine Hand aus dem See auf, schwingt das Schwert einige Male, und verschwindet dann ins Wasser. Nachdem Girflet Arthur hiervon berichtet hat, schickt dieser Girflet fort. Girflet sieht so nur aus der Ferne, wie ein Schiff mit vielen Damen an Bord sich der Küste nähert; die erste von diesen Damen hält Morgain an der Hand, und als der König seine Schwester sieht, steigt er mitsamt seinen Waffen, seiner Rüstung und seinem Pferd in das Schiff. Girflet versucht darauf, seinen Herrn einzuholen, aber das Schiff entfernt sich zu schnell; so verbringt er drei Tage zuerst an der Küste und dann bei einem Einsiedler. Am dritten Tag reitet er schließlich zu der Kapelle, in welcher der König nach seiner letzten Schlacht sein Gebet verrichtet hatte. Dort findet er ein prächtiges Grab mit der Aufschrift, dass hier König Arthur liegt, der zwölf Königreiche erobert hat (ci gist li rois Artus qui par sa valeur mist en sa subjection .xii. roiaumes). Der Eremit, der in dieser Kapelle die Messe liest, erläutert Girflet, dass einige ihm unbekannte Damen den Leichnam Arthurs hierher gebracht hätten. Girflet identifiziert diese Frauen mit denen, die zuvor Arthur in ihrem Schiff fortgebracht hatten.⁸⁸⁴ Auf den ersten Blick überrascht dieses doppelte Ende: In La Mort le Roi Artu endet die Herrschaft Arthurs einerseits mit der Entrückung auf die Insel der Frauen, die schon in Geoffreys Vita Merlini als der Ort seiner Heilung und seines Wartens auf eine schlussendliche Wiederkehr erscheint; zugleich wird die durch das Entrückungsmotiv geschaffene Erwartung einer Heilung des tödlich verwundeten Königs jedoch nur wenige Sätze später dadurch zerschlagen, dass Girflet das Grab Arthurs findet – Morgain und ihre Damen scheinen Arthur auf ihrem Schiff nur zu dem Zweck fortgebracht zu haben, um seinen Leichnam an anderer Stelle wieder an Land zu bringen. Damit ist das Ende von La Mort le Roi Artu in gewisser Weise ein doppeltes: sowohl Entrückung als auch Tod und Bestattung. Jean Frappier sieht in dieser Verbindung einen Kompromiss, der sowohl altetablierte Vorstellungen eines Fortlebens Arthurs als auch neuere Entwicklungen mit einbezieht, die sich nach der Zeit Geoffreys ergeben haben: Einerseits greift das Motiv der Frauen im Boot die folkloristischen Traditionen der Bretonen auf, wonach Arthur nicht gestorben, sondern entrückt worden sei; andererseits spiegelt Girflets Entdeckung eines Grabs Arthurs in einer Kapelle die „Exhumierung“ Arthurs durch die Mönche von Glastonbury im Jahre 1191.⁸⁸⁵ Die beiden Elemente, die La Mort le Roi Artu zusammenführt, haben trotz ihrer nur bedingten inhaltlichen Kompatibilität somit beide einen legitimen Hintergrund in zeitgenössischen arthurischen Vorstellungen; dass dabei das Grab Arthurs am Ende steht und so in gewisser Weise das Übergewicht erhält, fügt sich zudem in die literarische Komposition des Mort Artu: Der hier beschriebene Untergang der arthurischen Welt verträgt sich nicht gut mit
884 Frappier 1964, S. 245–251; Sommer 1909–1916 Bd. 6, S. 376–382; Lacy 1993–1996 Bd. 4, S. 154–156. 885 Vgl. Wade 2011, S. 65 f.
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der Hoffnung auf eine Wiederkehr des Königs.⁸⁸⁶ Doch letztlich bleibt selbst dieses scheinbar so offensichtliche Ende ungewiss. E. Jane Burns weist zu Recht darauf hin, wie merkwürdig das plötzliche Auftauchen von Arthurs Grab sich gerade zur vorangehenden Schilderung von Arthurs Entrückung verhält: Dort heißt es ausdrücklich, dass Arthur seine Waffen, seine Rüstung und sein Pferd mit an Bord des Schiffes nimmt, ganz so, als würde er fest damit rechnen, sein Ritterdasein bald fortzusetzen. Die Glaubwürdigkeit der Grabinschrift wird so fragwürdig, und das Ende von La Mort le Roi Artu erhält wieder eine gewisse Offenheit.⁸⁸⁷ Selbst das zunächst scheinbar so eindeutige Ende des Mort Artu zeigt damit erneut etwas von der Ambivalenz, die schon Waces Brut gekennzeichnet hatte; es bedient sich zum Ausdruck dieser Ambivalenz nur anderer Mittel. Näher daran, diese Ambivalenz aufzugeben, kommt der altfranzösische Prosaroman Perlesvaus oder Le haut livre du graal.⁸⁸⁸ Die Datierungsvorschläge für diesen Text schwanken im Detail; die extremsten äußeren Rahmenpunkte für den in Frage kommenden Zeitraum reichen von 1191 bis 1250, wobei alle Datierungsvorschläge die erste Hälfte des 13. Jahrhunderts zumindest als die wahrscheinlichste Datierung betrachten.⁸⁸⁹ Dieser Text präsentiert sich als eine Fortsetzung des Perceval des Chrétien de Troyes, widmet jedoch auch den Abenteuern anderer Ritter als Perlesvaus breiten Raum. In einem solchen ‚Exkurs‘ wird auch das Eintreffen Lanzelots (Lanceloz) in Avalon beschrieben: Nach einem Abenteuer in der Burg der Greifen (Chastel des Gripes),⁸⁹⁰ das sich an das Motiv der Liebe zwischen Guiamor de Tarmelide und Morgain anzuschließen scheint,⁸⁹¹ reitet Lanzelot gedankenversunken durch einen Wald. Gegen Abend kommt er zu einem großen, auf allen Seiten von Wald umgebenen Tal, wo er auf einem Berg eine neu gebaute, prächtige Kapelle, drei damit verbundene Häuser mit großen Hainen, eine Quelle und einen schönen Friedhof sieht. Dort findet Lanzelot drei Eremiten vor, die ihm erklären, dass dieser Ort die Isle d’Avalon ist. Im Inneren der überaus prächtig ausgestatteten Kapelle sieht Lanzelot zwei Grabmäler, und die Eremiten geben ihm die Auskunft, dass dies die Grabmäler von König Arthur (Artu) und Königin Guinevere (Guenievre) seien. Lanzelot protestiert, dass der König doch gar nicht tot sei; von den Eremiten erfährt er darauf, dass Guinevere verstorben ist und vor ihrem Tod befohlen hat, diese Kapelle wiederherzustellen und die beiden
886 Frappier 1959, S. 309–311; zur Bestattung Arthurs im Mort Artu vgl. in diesem Sinne auch Lacy 2003, S. 121–123, bes. Anm. 9 (S. 122). 887 Burns 1993–1996, S. xxxi. 888 Hgg. von Nitze und Jenkins 1932–1937 (für eine auf diesem Text basierende Übersetzung vgl. Bryant 1978; Bryant 2007); ferner vgl. die zweisprachige Ausgabe von Strubel 2007. Allgemein zu den Inseln des Perlesvaus vgl. Berthelot 2006; Bouget 2006. 889 Zusammenfassend: Bryant 1978, S. 1; Bryant 2007, S. vii; Nitze 1959, S. 263, 268–270; vgl. Simek 2012, S. 277; Lacy et al. 1997, S. 80; Busby 1996, S. 358. 890 Nitze und Jenkins 1932–1937 Bd. 1, S. 309–317; Bryant 1978, S. 199–204. 891 Vgl. Nitze und Jenkins 1932–1937 Bd. 1, S. 309 f.; Bryant 1978, S. 199 und oben S. 215.
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Grabmäler für sie und ihren Gatten zu errichten, damit Arthur einst nach seinem Tod neben ihr liegen kann. Lanzelot ist von der Nachricht vom Tod seiner Geliebten schwer getroffen und verbringt die Nacht wachend an ihrem Grab; da seine Gefühle für die Gattin Arthurs geheim bleiben müssen, tut er dies unter dem Vorwand, das am Kopf ihres Grabmals befindliche Marienbild zu verehren.⁸⁹² Am nächsten Morgen bricht er wieder auf. Avalon erscheint danach erst ganz am Ende des Perlesvaus ein weiteres Mal: Dort heißt es, dass der vorliegende altfranzösische Text auf einer lateinischen Vorlage beruhe, die von der Isle d’Avalon stamme, einem Kloster an der Grenze zu den Marschen des Abenteuers (Mares Aventurex), wo nach dem Zeugnis der dortigen Mönche Arthur und seine Königin begraben seien.⁸⁹³ Die Darstellung der „Insel Avalon“ übernimmt hier ganz die Vorgaben, die sich aus der 1191 vorgenommenen Identifizierung Avalons mit Glastonbury ergeben:⁸⁹⁴ Avalon wird zu einer monastischen Siedlung am Rande eines Feuchtgebiets, mit einer Marienkapelle als Kern und den Gräbern Arthurs und Guineveres. Besonders sticht dabei heraus, dass Avalon zwar noch als Isle d’Avalon bezeichnet wird, seinen Charakter als Insel jedoch gänzlich einbüßt: Wasser ist in der Beschreibung der Örtlichkeit nur noch in der Form der Marschen und eines aus einer Quelle entspringenden Bachs präsent (welchen Lanzelot nicht einmal überqueren muss); die ‚Insel‘ wird zu einem Berg in einem Sumpf im Wald. Damit erscheint der Mythos von der Insel des Lebens im Perlesvaus zunächst weitestgehend aufgehoben – jedoch nur, solange der Blick des Betrachters auf Avalon gerichtet ist, und nicht auf die Biographie des Haupthelden des Romans: Denn die Aufhebung Avalons als mythische Insel in der Beschreibung Avalons als monastische Siedlung wird am Ende des Perlesvaus dadurch konterkariert, dass Perlesvaus selbst seine Karriere durch eine Entrückung über das Meer beendet. Nachdem er sein letztes Abenteuer bestanden hat, zieht Perlesvaus sich in die Gralsburg zurück, wo er mit seiner Mutter, seiner Schwester und den anderen Bewohnern der Burg ein quasi-monastisches Leben führt. Dies dauert an, bis fast alle Bewohner der Gralsburg verstorben sind; da hört Perlesvaus in der Kapelle der Gralsburg eine Stimme, die ihm ankündigt, dass er die Gralsburg bald verlassen wird, und ihn anweist, die in der Gralsburg befindlichen Reliquien unter den nahebei wohnenden Eremiten zu verteilen. Nachdem dies getan ist, hört Perlesvaus, der sich erneut gerade in der Kapelle befindet, einen Hornstoß von See her; von dort kommt ein Schiff mit einem roten Kreuz auf weißen Segeln, auf dem sich die schönsten Menschen befinden, die Perlesvaus je gesehen hat. Nach einem Gottesdienst in der Kapelle der Gralsburg bringen sie die Leichname des Fischerkönigs, von Perlesvaus’ Mutter und zweiter weiterer Ritter auf das Schiff, und Perlesvaus sticht mit ihnen in See. Als das Schiff die Gralsburg verlässt, steigen Engel von der
892 Nitze und Jenkins 1932–1937 Bd. 1, S. 317–319; Bryant 1978, S. 204 f. 893 Nitze und Jenkins 1932–1937 Bd. 1, S. 409; Bryant 1978, S. 265. 894 Vgl. Carman 1964, S. 94–99.
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Burg auf und empfehlen sie Gott an.⁸⁹⁵ – Die heidnische Anderwelt, in die Arthur in der Vita Merlini entrück wird, ist hier in allen Paraphernalia christianisiert. Die Struktur der lebendigen Entrückung des Helden in ein Paradies jenseits des Wassers bleibt jedoch auch hier unangetastet und mag ein tiefverwurzeltes Bedürfnis des Erzählers nach diesem Motiv als Abschluss der Lebensgeschichte eines arthurischen Helden dokumentieren. So lebt am Ende selbst der hochgradig christianisierten Mythenwelt des Perlesvaus noch ein Reflex vorchristlich anmutender Vorstellungen weiter.⁸⁹⁶
4.5 Freude am Detail: Avalon in den Gesta regum Britanniae und in der Bataille Loquifer In der mittelalterlichen arthurischen Literatur gibt es nur zwei Schilderungen Avalons, die der eingangs diskutierten Avalon-Episode der Vita Merlini in Ausführlichkeit und Detailfreude vergleichbar sind: diejenigen der Gesta regum Britanniae und der Bataille Loquifer.⁸⁹⁷ Der ältere dieser beiden Texte sind die Gesta regum Britanniae, eine Verschronik der Mitte des 13. Jahrhunderts in lateinischen Hexametern, die möglicherweise William von Rennes zuzuschreiben ist.⁸⁹⁸ Wie in Geoffreys Historia regum Britanniae folgt auch hier die Avalonschilderung auf die Schlacht gegen Mordred. Arthur, „dem man die Pforte des Todes verschlossen glaubt“ (cui mortis janua clausa creditur), ist nach der Schlacht schwer verwundet, tritt die Herrschaft an Constantinus ab und begibt sich nach Avalon (Gesta regum Britanniae 4213– 4234): Cingitur Occeano memorabilis insula, nullis Desolata bonis : non fur, non predo nec hostis Insidiatur ibi ; non nix, non bruma nec estas Inmoderata furit ; pax et concordia perpes, Ver tepet eternum. Nec flos nec lilia desunt,
Vom Ozean wird eine bemerkenswerte Insel umgürtet, der nichts fehlt, was gut ist: Weder Dieb, noch Räuber, noch Feind liegt dort im Hinterhalt; weder Schnee, noch Winter, noch maßlose Hitze rast; Friede und Eintracht ist immerwährend, ein ewiger Frühling ist mild. Weder Blume noch Lilie fehlen,
895 Nitze und Jenkins 1932–1937 Bd. 1, S. 407 f.; Bryant 1978, S. 263 f. 896 Vgl. Bouget 2006, S. 78; Simek 2012, S. 277. 897 Paton 1960 (1903), S. 40 (Anm. 2). 898 Lupack 2005, S. 28; Galyon 1996, S. 194; Paton 1960 (1903), S. 28 (Anm. 6). Hgg. von FrancisqueMichel 1862.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
Nec rosa nec viole ; flores et poma sub una Fronde gerit pomus ; habitant sine labe pudoris
Semper ibi juvenis cum virgine. Nulla senectus Nullaque vis morbi, nullus dolor ; omnia plena Leticie ; proprium nichil hic, communia queque. Regia virgo locis et rebus presidet istis, Virginibus stipata suis pulcherrima pulchris Nimpha, decens vultu, generosis patribus orta, Consilio pollens, medicine nobilis arte. Que, simul Arturus regni diadema reliquit Substituitque sibi regem, se transtulit illuc, Anno quingeno quadragenoque secundo Post incarnatum sine patris semine Verbum. Immodice lesus Arturus tendit ad aulam Regis Avallonis, ubi virgo regia vulnus Illius tractans, sanati membra reservat Ipsa sibi ; vivuntque simul, si credere fas est.⁸⁹⁹
noch Rose, noch Veilchen; Blüten und Früchte bringt unter einem einzigen grünen Zweig der Obstbaum hervor; ohne ein Straucheln der Schamhaftigkeit wohnen stets dort der Jüngling mit der Jungfrau zusammen. Kein Alter und keine Macht der Krankheit, kein Schmerz; alles ist voller Freude; nichts ist hier persönliches Eigentum, alle Dinge sind Gemeingut. Eine königliche Jungfrau steht diesen Orten und Dingen vor, umgeben von ihren schönen Jungfrauen die schönste Fee,⁹⁰⁰ schicklich von Angesicht, von edlen Vorfahren abstammend, ratgewaltig, vornehm durch die Kunst der Medizin. Diese, zur selben Zeit als Arthur die Königskrone aufgab und einen König an seiner Statt einsetzte, begab sich dorthin, im fünfhundertundzweiundvierzigsten Jahr nachdem das Wort ohne den Samen eines Vaters Fleisch geworden war. Schwerst verwundet wendet sich Arthur zum Palast des Königs von Avalon,⁹⁰¹ wo die königliche Maid die Wunde jenes Mannes behandelt und selbst die Glieder des Geheilten für sich behält; und sie leben zusammen, wenn man es glauben darf.
Diese Schilderung Avalons erinnert mit ihrer Betonung des paradiesischen Überflusses und des Fehlens von Krankheit und Leid an die Avalon-Schilderung der Vita Merlini des Geoffrey von Monmouth; jedoch sind die Unterschiede zwischen den
899 Text: Francisque-Michel 1862, S. 153 (V. 4213–4234). 900 Zur zeitgenössischen Semantik von nympha als fée vgl. Tatlock 1933 (Draco), S. 115. 901 Diese Übersetzung fasst regis Avallonis im selben Sinne auf, in dem insula Avallonis in der Historia regum Britanniae XI.178 gebraucht wird; zur Möglichkeit, hier entsprechend einiger von Giraldus Cambrensis erwähnter etymologischer Spekulationen zum Namen „Avalon“ mit „König Avallo“ zu übersetzen, siehe oben S. 226 f. und Slover 1931, S. 398 f.
Freude am Detail
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beiden Avalonschilderungen der Gesta und der Vita Merlini in den Details so groß, dass Lucy Allen Paton wohl zu Recht betont, dass eine direkte textliche Abhängigkeit der beiden Stellen voneinander unwahrscheinlich sein dürfte:⁹⁰² Wo der Schwerpunkt der Avalon-Schilderung Geoffreys auf der wundersamen Fruchtbarkeit dieser Insel liegt, betonen die Gesta die Vorzüge ihres Klimas, und wo die Einwohner Avalons bei Geoffrey ein Leben von hundert Jahren genießen, entgehen die Bewohner Avalons in den Gesta dem Alter ganz. Viele Elemente der Darstellung Avalons in den Gesta finden, wie im Fall der Vita Merlini, genaue Entsprechungen in klassischem und patristischem Gedankengut; die engsten Parallelen bestehen allerdings gerade nicht zu den Texten, die der Avalon-Schilderung der Vita Merlini zugrunde zu liegen schienen. Paton verweist als Vergleich zu den zentralsten Elementen der Avalon-Schilderung der Gesta vielmehr auf das traditionell Laktanz zugeschriebene Gedicht De phoenice (V. 1, 9 f., 15–30):⁹⁰³ Est locus in primo felix oriente remotus, [...] Hic Solis nemus est: stat consitus arbore multa Lucus perpetuae frondis honore virens. [...] Non huc exangues morbi, non aegra senectus, Nec mors crudelis, nec metus asper adit; Nec scelus infandum, nec opum vesana cupido, Aut Mars, aut ardens caedis amore furor. Luctus acerbus abest, et egestas obsita pannis, Et curae insomnes, et violenta fames. Non ibi tempestas, nec vis furit horrida venti; Nec gelido terram rore pruina tegit. Nulla super campos tendit sua vellera nubes; Nec cadit ex alto turbidus humor aquae. Sed fons in medio est, quem vivum nomine dicunt, Perspicuus, lenis, dulcibus uber aquis. Qui semel erumpens per singula tempora mensum, Duodecies undis irrigat omne nemus. Hic genus arboreum procero stipite surgens, Non lapsura solo mitia poma gerit.⁹⁰⁴
902 Paton 1960 (1903), S. 47. 903 Paton 1960 (1903), S. 46. 904 Patrologia Latina t.VII, c.277A–278A.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
Es liegt ein glücklicher Ort in der Ferne im äußersten Orient, [...] Hier ist der Hain der Sonne: Er steht bepflanzt mit vielen Bäumen, ein Hain grünend mit der Ehre immergrüner Blätter. [...] Nicht kommen hierher blutlose Krankheiten, nicht das kraftlose Alter, und nicht der grausame Tod, und nicht die elende Furcht; auch nicht unaussprechliches Verbrechen, auch nicht die wahnsinnige Begierde nach Reichtümern, oder der Krieg, oder Raserei, die mit Liebe zum Gemetzel entbrannt ist. Der bittere Kummer ist nicht hier, und Not bedeckt mit Lumpen, und schlaflose Sorgen, und gewalttätiger Hunger. Dort gibt es keinen Sturm, und die wilde Kraft des Windes wütet nicht, und nicht bedeckt der Raureif die Erde mit eisigem Tau. Keine Wolke breitet über den Ebenen ihre Wolle aus; und nicht fällt aus der Höhe die stürmische Nässe des Wassers. Sondern in der Mitte ist eine Quelle, die sie mit dem Namen „Quelle der Lebenden“ ansprechen, klar, sanft, reich an süßen Wassern. Je einmal im Verlauf der einzelnen Monate fließt sie über, zwölf Mal bewässert sie mit ihren Wogen den ganzen Hain. Hier gibt es eine Art von Baum, die sich mit hohem Stamm emporreckt, sie trägt milde Früchte (poma), die nicht zu Boden fallen werden.
Diese Dichtung präsentiert die Schilderung eines Unsterblichkeitsgefildes, wo es weder Krankheit noch Alter, Tod oder Furcht, Verbrechen oder Gewalt, Frost oder Sturm gibt, sondern wo stets eine angenehme Witterung herrscht und wo ein Baum wächst, dessen Früchte nicht zu Boden fallen. Sie stellt damit eine enge Paralelle zur Schilderung Avalons in den Gesta regum Britanniae dar. Dies ist nicht zuletzt insofern von Interesse, als diese Passage aus dem Werk der Kirchenväter primär eine Schilderung des irdischen Paradieses der christlichen Kosmologie darstellt, wie es bereits in Zusammenhang mit der Eiríks saga víðfǫrla angesprochen worden ist.⁹⁰⁵ Die Betonung, die in De phoenice auf der Quelle des Lebens und dem Baum des Lebens liegt, ebenso wie die Fixierung des Gedichts insgesamt auf das Thema von Tod und Wiedergeburt, binden diese Schilderung dabei besonders eng an das eschatologische Paradies der Offenbarung des Johannes an, wo der fluvius aquae vitae und das lignum vitae eine ähnlich zentrale Position einnehmen (Offenbarung 22.1, 22.2).⁹⁰⁶ Wie der Vergleich mit den in anderem Kontext bereits zitierten mittelalterlichen Paradiesdarstellungen deutlich macht,⁹⁰⁷ liegen die Parallelen zwischen dem Avalon der Gesta und De phoenice jedoch nicht in Zügen, die gerade für De phoenice spezifisch wären, sondern stellen typische Elemente des christlichen irdischen Paradieses dar. Diese Parallelen legen nahe, dass der Autor der Gesta einen Teil seiner Inspiration aus
905 Siehe oben S. 41 ff. 906 Allgemein zur christlichen Symbolik des Phönix vgl. Kramer 1971. 907 Siehe oben S. 47.
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zeitgenössischen christlichen Paradiesbeschreibungen bezogen haben dürfte; diese Angleichung Avalons an das irdische Paradies erinnert so an die Verbindung zwischen Avalon und dem paradisus Dei in spacio maris der Navigatio S. Brendani, die in der Vita Merlini durch die Verwendung des Barinthus als Steuermann hergestellt worden war. Freilich wäre eine ‚rein christliche Lesart‘ des Avalon der Gesta trotz der offenkundigen Parallelen stark reduktionistisch: Die Gesta gehen in ihrer Schilderung Avalons weit über die Motive hinaus, die der christlichen Literatur zum Paradies entnommen werden können. Bereits Alfred Nutt hat in seiner Diskussion der Gesta zudem darauf hingewiesen, dass nahezu dieselben Motive, wie sie die Avalon-Schilderung der Gesta prägen, auch in irischen Anderweltsschilderungen erscheinen;⁹⁰⁸ auf die hierdurch aufgeworfenen Fragen wird nach einer Besprechung des irischen Materials noch zurückzukommen sein.⁹⁰⁹ Von besonderem Interesse ist auch, dass das Verhältnis Arthurs zu Morgain in den Gesta nicht das Bruder-Schwester-Verhältnis ist, wie es etwa der Draco Normannicus beschreibt, sondern vielmehr eine Liebesbeziehung,⁹¹⁰ wie sie im Brut des Layamon anzuklingen scheint und wie sie für das Verhältnis des Ritters zur Anderweltsfrau in den bretonischen Lais so typisch ist. Dieser Rückgriff auf das gerade in frühen Arthurtexten überaus geläufige Motiv der Liebesbeziehung zwischen Ritter und Anderweltsfrau lässt das Avalon der Gesta trotz der vergleichsweise späten Datierung des Textes ausgesprochen ‚altertümlich‘ anmuten.⁹¹¹ Dieses Motiv konterkariert so die starke Angleichung Avalons an das irdische Paradies, die für einen mittelalterlichen Leser unübersehbar gewesen sein muss. Das Avalon der Gesta regum Britanniae erscheint damit als zugleich christlich gezeichnet und traditionell arthurisch; es leistet einen Balanceakt zwischen letztlich paganer heroischer Anderweltstradition und christlichen Heilsvorstellungen, der die inselkeltisch-mythologischen Elemente in die Bilderwelt der christlichen Kosmologie einbindet – oder vielleicht auch nur mit einem Lack aus christlich-gelehrten Metaphern überzieht. Die ausführlichste Schilderung Avalons in der mittelalterlichen Literatur findet sich in der Bataille Loquifer,⁹¹² einem altfranzösischen Versroman, der in das späte 12. oder frühe 13. Jahrhundert datiert wird.⁹¹³ Diese Dichtung als ganze ist nicht im Rahmen der matière de Bretagne angesiedelt, sondern gehört dem Zyklus um Guillaume d’Orange und damit der matière de France an.⁹¹⁴ Der Avalon-Abschnitt
908 Nutt 1895, S. 237; vgl. auch Lot 1898, S. 557–563. 909 Siehe unten S. 449 ff. 910 Vgl. Paton 1960 (1903), S. 28 f. 911 So schon Paton 1960 (1903), S. 47. Vgl. aber auch unten S. 462 ff., bes. S. 463 f. 912 Paton 1960 (1903), S. 40 (Anm. 2). 913 Boutet 2009, S. 448. 914 Vgl. Sturm-Maddox und Maddox 1994.
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Avalon: Die Lebensinsel in der matière de Bretagne
der Bataille Loquifer wird als spätere Interpolation betrachtet;⁹¹⁵ Carolyne Larrington datiert ihn ins späte 13. Jahrhundert.⁹¹⁶ Held der Handlung und der Entrückung nach Avalon ist hier nicht Arthur, sondern Renoart. Renoart ist nicht der einzige Sterbliche, der im Rahmen der späteren arthurischen Literatur in diesem Sinne in die Rolle Arthurs schlüpft;⁹¹⁷ vergleichbare Schicksale werden in anderen (späten) Texten auch Lancelot,⁹¹⁸ Alisander l’Orphelin,⁹¹⁹ Gawain⁹²⁰ und insbesondere Ogier le Danois⁹²¹ zuteil – ebenso, wie in der frühen Geschichte der erhaltenen arthurischen Literatur in den bretonischen Lais eine ganze Reihe verschiedener Ritter in die Anderwelt einer ‚Feenfrau‘ gelangt, erwirbt auch in der späteren arthurischen Literatur Arthur kein Monopol auf den Aufenthalt an der Seite der fee. Es würde eine monographische Behandlung des Avalon-Themas erfordern, wollte man diesen Verzweigungen des Motivs der „Apfelinsel“ und ihrer Varianten im Detail nachgehen; im beschränkten Raum, den eine breitere, kulturübergreifende Diskussion des Motivs der Insel der Unsterblichkeit in der nordwesteuropäischen Mythologie und Religionsgeschichte erlaubt, muss sich die Behandlung dieser Entwicklung darauf beschränken, ihr ausführlichstes Beispiel exemplarisch herauszugreifen (Bataille Loquifer 3600 ff.):⁹²² Nachdem er seinen Sohn Maillefer verloren hat, weint Renoart sich am Strand in den Schlaf. Dort finden ihn drei Feen (.iii. faes, V. 3609), von denen später gesagt wird, dass eine Morgain (Morgue) und eine zweite Morgains Schwester war. Die drei Feen sind hocherfreut, den verwegendsten und stärksten Mann der Welt gefunden zu haben, und sie beschließen, ihn in ihre mächtige Stadt Avalon zu bringen (a Avalon, noste cité vaillant, V. 3634), die ungemein weit entfernt ist. Dort kann Renoart für den Rest seines Lebens bleiben und die Gesellschaft von Arthur (Artu), Yvain, Gavain und Roland (Rolant) an dem Ort genießen, wo das Volk der Elfenwelt (la gent faee, V. 3639) lebt – und falls er das nicht wollen sollte, könnten sie ihn dorthin bringen, wohin er wollte. Eine der Feen erklärt noch am Strand, dass sie Renoart zu ihrem Geliebten machen will; darauf beschließt eine ihrer eifersüchtigen Begleiterinnen, die denselben Gedanken gefasst hatte, ihm große Qualen zuzufügen. Zunächst werden
915 Vgl. Boutet 2009, S. 31 f.; Harf-Lancner 1984, S. 268. 916 Larrington 2006, S. 47; Harf-Lancner 1984, S. 275: 2. Hälfte 13. Jahrhundert. – Der Text der Bataille Loquifer als ganzer wurde zuletzt hgg. von Barnett 1975; für die Avalon-Episode siehe dort S. 128–144. Barnetts Text der Avalon-Episode ist ferner auch nachgedruckt und übersetzt bei Boutet 2009, S. 451– 489. 917 Vgl. Paton 1960 (1903), S. 49. 918 Newstead 1946, S. 936 f.; Paton 1960 (1903), S. 51–55; Harf-Lancner 1984, S. 271 f. 919 Paton 1960 (1903), S. 55–59; Harf-Lancner 1984, S. 268, 272–275. 920 Loomis 1937. 921 Newstead 1946, S. 923; Loomis 1959 (Legend), S. 68; Paton 1960 (1903), S. 74–80; Togeby 1969, S. 140–145, 153 f.; Harf-Lancner 1984, S. 268, 279–288; Wade 2011, S. 21. 922 Allgemein zur Avalon-Episode der Bataille Loquifer vgl. etwa Paton 1960 (1903), S. 49–51 et passim; Suard 1981; Harf-Lancner 1984, S. 275–277; Andrieux 1984; Larrington 2006, S. 47.
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jedoch Renoarts Waffen in einen Diener, einen Gaukler, mehrere Harfner und einen Jagdfalken verwandelt – ein Vorgriff auf die Freuden Avalons – und wird Renoart mitsamt all diesem Zauberwerk über das Meer nach Avalon gebracht (V. 3600–3677). Avalon ist eine überaus reiche Stadt, deren Beschreibung vor Gold, Edelsteinen und Edelhölzern strotzt und deren Mauern aus einem einzigen Stein bestehen; die bloße Berührung damit führt zur vollständigen Heilung einer jeden Verletzung. Dort kann Renoart zunächst niemanden sehen, obwohl er sich inmitten der gent faee befindet (V. 3678–3732). Um zu prüfen, ob Renoarts Stärke seinem Ruhm entspricht, lässt Arthur ihn gegen das teuflische Katzenungeheuer Chapalu kämpfen;⁹²³ dieser Kampf bricht den Fluch, der auf Chapalu liegt, und er erhält seine eigentliche, menschliche Gestalt zurück (V. 3733–3869). Dankbar für seine Erlösung, verpflichtet sich Chapalu, Renoart zu Diensten zu sein, und bietet ihm an, ihn zu seinem Sohn zu bringen. Nun treffen ihn auch die Feen und die Ritter des Feenlandes (faes et chevaliers faé, V. 3887) und begrüßen Renoart; selbst Arthur erweist ihm Ehre. Nach einem Festmahl erklärt Arthur Renoart, dass er sich hier inmitten des Volks des Elfenlands befindet, und dass es sich dabei um die Verstorbenen seiner Welt handelt („diese sind das Elfenvolk, und von dieser Welt gekommen und verschieden“ – ce sont la gent faé | et de cest sicle venu et trespassé, V. 3900 f.); Arthur stellt ihm Roland, Gavain, Percevas, seine Frau und Morgain (Morgain) vor. Renoart verbringt die folgende Nacht mit Morgain; in dieser Nacht zeugt er den dämonisch-bösartigen Corbon. Als Morgain Renoart zwei Wochen später von ihrer Schwangerschaft erzählt, trägt er ihr auf, das Kind zu ihm zu senden, wenn es erwachsen ist (V. 3927–3937). Da Renoart im Folgenden nicht in Avalon bleiben, sondern die Suche nach seinem Sohn fortsetzen will, trägt Morgain Chapalu auf, Renoarts Schiff während der Reise zu versenken; denn wenn Renoart seinen Sohn findet, dann verliert Morgains Kind den Anspruch auf Renoarts Erbe (V. 3938–3960). Nach dem Aufbruch von Avalon trifft Renoarts Schiff auf die Sirenen; auf Renoarts Verlangen fängt Chapalu eine Sirene für ihn, aber auf das inständige Bitten dieser Sirene hin schenkt Renoart ihr wieder die Freiheit (V. 3965–3996). Dies rettet Renoart später das Leben, als Chapalu mit dem Schiff einen Felsen rammt, so dass es sinkt: Renoart wird nun von den dankbaren Sirenen gerettet und an Land gebracht (V. 4142–4210). Auch in diesem Text ist Avalon ein vom Übernatürlichen durchdrungenes Land jenseits des Meeres, in dem Morgain eine zentrale Rolle innehat und in dem Arthur lebt; die Herrschaft über Avalon liegt jedoch deutlich nicht bei Morgain, sondern bei Arthur, und auch ansonsten zeigt sich in den Details ein weitreichendes kreatives Abweichen vom Avalonbild der frühen arthurischen Literatur: Avalon ist hier nicht nur die Stätte des Fortlebens Arthurs, sondern auch einer Reihe anderer Helden der
923 Allgemein zu Chapalu vgl. Boutet 2009, S. 32; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 109 f., 118; Bromwich 1991, S. 280; Whitaker 1990, S. 89; Harf-Lancner 1984, S. 284; Bromwich 1983, S. 43; Freymond 1899; grundlegend: Bromwich 2006, S. 50–52, 473–476.
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matière de Bretagne und der matière de France. Avalon wird ausdrücklich zu einer großen Stadt von unvorstellbarem Glanz; Nelly Andrieux sieht – sicher zu Recht – in dieser Beschreibung Avalons als Stadt von überirdischer Pracht das Vorbild des Himmlischen Jerusalem nachgeahmt (vgl. Offenbarung 21 f.).⁹²⁴ Die traditionelle Heilkraft des Ortes wird derweil in einer eigentümlichen Wendung den Mauern dieser Stadt zugeschrieben. Von einem Land des Lebens wird Avalon zudem zu einem Reich der Toten: Die Bewohnter Avalons werden ganz in den übernatürlichen Bereich gerückt, sie sind das „verzauberte Volk“, la gent faé, und dieses Volk wird dabei weiter erklärt als die aus der Welt der Sterblichen Verschiedenen. Avalon wird so von einem Land, in dem der Tod vermieden und das Leben über die normalen Erwartungen eines Sterblichen hinaus verlängert wird, zu einem Land, in das besonders verdiente Heroen nach ihrem Tod gelangen – während der Held des Romans, Renoart, lebend nach Avalon gelangt und es nach kurzem Aufenthalt wieder verlässt.⁹²⁵ Am Rande sei ferner kurz auf die Angleichung zwischen der Insel Avalon und der Insel der Kirke in der Odysseussage hingewiesen, die in der Bataille Loquifer vorgenommen wird. Ebenso wie Kirke in der Odyssee Odysseus zu ihrem Liebhaber macht und ihn bei sich behalten will (bes. IX.31 f.), entführt die Morgain der Bataille Loquifer Renoart auf ihre Insel, wo er zu ihrem Geliebten wird: Beide Frauengestalten übernehmen in der (jeweils explizit sexuellen) Beziehung zum Helden eindeutig die Initiative.⁹²⁶ Dass Renoart während seines Aufenthalts einen dämonisch-bösartigen Sohn zeugt, den Morgain zu ihm schicken soll, wenn er erwachsen ist, entspricht in einer nicht-homerischen griechischen Überlieferung dem Umstand, dass Odysseus mit Kirke einen Sohn zeugt, der als Erwachsener zu seinem Vater aufbricht und ihn tötet (Pseudo-Apollodor, Bibliotheke E7.36). Ebenso ist die (zumindest narrative) Nähe zwischen Avalon und den Sirenen ein Zug, der das Avalon der Bataille Loquifer an die Kirkeinsel der Odyssee angleicht, da die Insel der Sirenen die erste Prüfung ist, die Odysseus nach seinem Aufbruch von Kirke zu bestehen hat (bes. Odyssee XII.39).
4.6 Avalon und Sizilien: Die mediterrane Metamorphose der Apfelinsel In der bisherigen Diskussion sind bereits verschiedene Lokalisierungen Avalons erwähnt worden: So etwa die (ab 1191 klassische) Gleichsetzung Avalons mit Glastonbury und die (idiosynkratische) Lokalisierung Avalons in Gwynedd in Nordwales. Dazu tritt ferner eine unbestimmte Lokalisierung jenseits des Meeres, wie sie in der
924 Andrieux 1984, S. 430 (Anm. 18). 925 Vgl. Andrieux 1984, S. 431. 926 Vgl. auch die Insel der Kalypso, wozu vgl. unten S. 403.
Avalon und Sizilien
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Vita Merlini und der Bataille Loquifer erscheint. Eine weitere Variante der Bestimmung des Aufenthaltsorts Arthurs nach seiner Entrückung findet sich für diese arthurische Anderwelt an einem konkreten Ort im Mittelmeerraum, genauer gesagt: auf Sizilien.⁹²⁷ Der älteste ausführliche Zeuge für diese Traditionslinie ist Gervasius von Tilbury in seinen Otia imperialia (im Wesentlichen abgeschlossen um 1215).⁹²⁸ Gervasius kennt die „gemeine Tradition der Britannier“ (uulgarem Britonum traditionem), wonach Arthur in insulam d’Aualum entrückt worden sei, damit seine jährlich wiederaufbrechenden Wunden a Morganda fatata geheilt würden; ferner erwähnt er, dass die fabulose Britones an die schlussendliche Wiederkehr Arthurs glauben (Otia imperialia II.17).⁹²⁹ Bis auf das Detail des jährlichen Wiederaufbrechens von Arthurs Wunden entsprechen diese Notizen ganz den Vorstellungen, die im Vorangehenden schon mehrfach und in verschiedenen Zeugnissen für die britannische Folklore erwähnt worden sind. Daneben kennt Gervasius jedoch auch eine etwas andere Auffassung vom Schicksal Arthurs (Otia imperialia II.12). In seiner Beschreibung Siziliens erwähnt er, dass den dortigen Einheimischen zufolge Arthur in der jüngsten Vergangenheit in einer einsamen Region des Ätna erschienen sei: Ein Reitknecht des Bischofs von Catania soll eines Tages auf der Suche nach einem entlaufenen Pferd in dieser Bergwildnis einen schmalen Pfad entdeckt haben, der ihn auf „eine überaus weite Ebene, schön und voll aller Freuden“ (spatiosissimam planiciem iocundam omnibusque deliciis plenam) führte. Dort traf er in einem prächtigen Palast König Arthur (Arcturus) an, der ihn fragte, warum er an diesen Ort gekommen sei; und nachdem Arthur die Geschichte vom entlaufenen Pferd gehört hatte, ließ er es dem Knecht sofort übergeben. Arthur erklärte dem Mann darauf noch, dass er schon eine lange Zeit an diesem Ort lebte und an den alten Wunden litt, die er im Kampf gegen Mordred (Modredus) und den Herzog der Sachsen erhalten hatte, und die jedes Jahr neu aufbrachen. Gervasius betont ferner, selbst von den Einheimischen gehört zu haben, dass Arthur dem Bischof Geschenke übersandte, welche viele Leute gesehen haben. Er vergleicht diese Geschichte mit „ähnlichen Dingen“ (consimilia), die sich in den Wäldern der Bretagne und Großbritanniens zugetragen haben sollen: Dort berichten
927 Allgemein vgl. Zimmer 2006, S. 90 f.; Lupack 2005, S. 46; Pioletti 1989 (mit Zusammenstellung zentraler Quellentexte: S. 33–35); Harf-Lancner 1984, S. 269 f.; Paton 1960 (1903), S. 250–252; Micha 1959, S. 383–385; Gardner 1930, S. 12–15. 928 Chambers 1927, S. 220; Pioletti 1989, S. 7; Zimmer 2006, S. 90; Gouttebroze 2003, S. 59 f.; Banks und Binns 2002, S. 336 (Anm. 1); vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 158; Wade 2011, S. 49. Hgg. und übersetzt von Banks und Binns 2002; für die arthurischen Textstellen siehe auch Chambers 1927, S. 276 f. Datierung: Banks und Binns 2002, S. xxxviii-xl. Möglicherweise noch früher (um 1180?) anzusetzen ist nur der okzitanische Jaufré, in dem sich Morgain als la fada de Gibel („die Fee vom Ätna“) vorstellt: Harf-Lancner 1984, S. 268–270; Gouttebroze 2003, S. 60; Newstead 1946, S. 935 f.; Benozzo 2006, S. 134 stellt diesen Text jedoch ins frühe 13. Jahrhundert 929 Chambers 1927, S. 276; Banks und Binns 2002, S. 428; vgl. Paton 1960 (1903), S. 35.
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die Wildhüter, wiederholt kurz nach Sonnenuntergang oder am Mittag Ritter aus dem Gefolge Arthurs bei der Jagd angetroffen zu haben.⁹³⁰ Gervasius hebt ausdrücklich hervor, sich bei diesem Bericht auf die persönlichen Auskünfte Einheimischer zu stützten (ut ab indigenis accepi); dies dürfte seine mündliche Quelle in die späten 1180er oder frühen 1190er Jahre datieren, da Gervasius in den späten 1180ern in den Diensten des Königs von Sizilien stand.⁹³¹ Die chronologisch nächstfolgende Quelle für die Verbindung Arthurs mit dem Ätna ist Caesarius von Heisterbachs Dialogus miraculorum XII.12 (datiert 1219–1223).⁹³² Caesarius erzählt, dass zur Zeit der Unterwerfung Siziliens durch Kaiser Heinrich IV. (1194) ein Dekan des Doms von Palermo sein bestes Pferd verlor. Er schickt einen Diener auf die Suche nach dem Tier, der schließlich von einem alten Mann erfährt, dass das Pferd sich bei seinem Herrn König Arthur (Arcturus) im Ätna (in monte Gyber) befinde. Der alte Mann trägt dem Diener ferner auf, dem Dekan auszurichten, dass Arthur ihn in 14 Tagen an seinem Hof erwarten werde. Der Dekan lacht seinen Diener zuerst aus, erkrankt dann jedoch und stirbt am 14. Tag. Als Quelle beruft Caesarius sich auf die persönliche Mitteilung eines gewissen Gottschalk, Kanoniker in Bonn, der in der fraglichen Zeit dort gewesen zu sein beanspruchte.⁹³³ Die Erzählung entspricht besonders durch das Detail des verlorenen Pferdes dem Bericht Gervasius’ so eng, dass beide letztlich auf dieselbe, möglicherweise mündliche, Tradition zurückgehen dürften. In Caesarius’ Fassung fällt jedoch der grimmige Unterton auf, den die Geschichte hier plötzlich annimmt. Bei Gervasius erscheinen Arthur und sein Reich ganz positiv: Das Land ist schön und der König freundlich und gütig, und das Pferd wird zurückgegeben. Bei Caesarius wird von einer Rückgabe des Pferds nichts gesagt, und das Reich Arthurs erscheint als ein Land des Todes (oder zumindest der Toten), mit dem in Berührung zu kommen für den Besitzer des Pferdes den baldigen Tod verheißt. Im weiteren Zusammenhang von Caesarius’ Werk dürfte dies (zumindest teilweise) damit zusammenhängen, dass der Ätna dort primär als der Eingang zur Hölle erscheint. So erzählt Caesarius in unmittelbarem Anschluss an die Arthurepisode, wie eines Tages eine Stimme aus dem Ätna gehört wurde, die zur Zeit des Verscheidens eines tyrannischen Herzogs im Berg dazu aufrief, für den Neuankömmling ein großes Feuer zu machen (II.13).⁹³⁴ Ein erklärender Nachsatz zu dieser Anekdote bezeichnet den Ätna als Schlund der Hölle (os inferni), wobei die Hölle (infernus) ausdrücklich im engeren Sinne im Gegensatz zum Fegefeuer (purgatorium) verwendet wird.⁹³⁵ Hierfür kann Caesarius sich auf eine schon patristische
930 Banks und Binns 2002, S. 336/337; Chambers 1927, S. 276 f. 931 Banks und Binns 2002, S. xxviii; Pioletti 1989, S. 8; vgl. Chambers 1927, S. 222. 932 Pioletti 1989, S. 8; Zimmer 2006, S. 90; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 158 f. Hgg. von Strange 1851; ohne den kritischen Apparat ist Stranges Text auch abgedruckt bei Schneider und Nösges 2009. 933 Strange 1851 Bd. 2, S. 324 f.; Schneider und Nösges 2009 Bd. 5, S. 2204/2205. 934 Strange 1851 Bd. 2, S. 325 f.; Schneider und Nösges 2009 Bd. 5, S. 2206–2209. 935 Strange 1851 Bd. 2, S. 326; Schneider und Nösges 2009 Bd. 5, S. 2208.
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Tradition berufen: Der Ätna erscheint bereits bei Gregor dem Großen als Eingang zur Hölle (Dialogi IV.30).⁹³⁶ Bei Caesarius zeigt Arthurs Wohnsitz im Ätna somit starke Züge einer Angleichung an das Motiv der Lokalisierung des Eingangs zur Hölle im Ätna. Ganz durchgeführt ist diese Diabolisierung in den 50er Jahren des 13. Jahrhunderts⁹³⁷ beim Dominikanermönch und Inquisitor Etienne de Bourbon: In seinem Tractatus de diversis materiis predicabilibus I.v.158a erscheint unter Berufung auf einen „gewissen apulischen Bruder namens Johannes“ (audiui a quodam fratre Apulo, Iohanne dicto) eine weitere Fassung der Geschichte vom Diener, der am Ätna nach dem verlorenen Pferd seines Herrn sucht. Der Diener findet durch eine „kleine eiserne Tür“ (ostiolum ferreum) Einlass in eine wundersame Stadt und erhält von dem Fürsten im Ätna vier Pferde, die darauf vier Verdammte mit sich forttragen – dass der Ätna dabei ausdrücklich als locus purgatorii identifiziert wird, macht unmissverständlich deutlich, dass hier vier Männer dem (oder zumindest einem) Fürsten der Hölle verfallen sind.⁹³⁸ In den Bearbeitungen des Motivs durch die beiden Kleriker Caesarius von Heisterbach und Etienne de Bourbon zeigt sich somit eine klare und gerade von Etienne bis zur letzten Konsequenz durchgeführte Diabolisierung der Verbindung Arthurs mit dem Ätna.⁹³⁹ Diese Entwicklung dürfte mehr programmatisch als deskriptiv sein: An anderer Stelle in Caesarius’ Dialogus miraculorum (IV.36) findet sich die oft zitierte Anekdote, wonach ein Abt seine während der Predigt schlafenden Mönche durch eine bloße Erwähnung des Namens „Arthur“ aufweckte – um sie danach dafür zu tadeln, dass sie schliefen, während er von Gott sprach, bei „Worten des Leichtsinns“ (verba levitatis) aber sogleich aufwachten.⁹⁴⁰ In ihrem Zeitkontext ordnet sich die Diabolisierung Arthurs im Ätna hier vielleicht in einen Kontext eines klerikalen Missfallens an der Popularität einer für das Seelenheil der Zuhörer nutzlosen Erzähltradition ein. Die weltliche Literatur führte das Motiv hingegen, von klerikaler Ablehnung unbekümmert, in der unbeschwerten Form weiter, in der es zuerst bei Gervasius von Tilbury erschienen war. In der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts spielt es eine zentrale Rolle im altfranzösischen Roman Floriant et Florete,⁹⁴¹ der nach der Analyse der letzten Herausgeber des Textes nach 1268 verfasst worden sein
936 Patrologia Latina t.LXXVII, c.368C–369B; vgl. auch Gottfried von Viterbo, Pantheon: Patrologia Latina t.CXCVIII, c.943D (Schneider und Nösges 2009 Bd. 5, S. 2208 [Anm. 2169]). 937 Berlioz und Eichenlaub 2002, S. XXXVI. 938 Text: Hgg. von Berlioz und Eichenlaub 2002, dort S. 152 f., vgl. auch ibidem S. 440 f. Nach einer älteren Ausgabe ist die einschlägige Textstelle auch reproduziert bei Pioletti 1989, S. 34, vgl. ibidem S. 9 f.; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 159. 939 Pioletti 1989, S. 8–10, vgl. S. 14 f. 940 Strange 1851 Bd. 1, S. 205; Schneider und Nösges 2009 Bd. 2, S. 760–763. 941 Simek 2012, S. 116; Pioletti 1989, S. 10 f., 34; Paton 1960 (1903), S. 250 f. et passim; Gardner 1930, S. 13. Hgg. und übersetzt von Combes und Trachsler 2003.
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dürfte,⁹⁴² möglicherweise am Hof der Könige von Neapel und sicher durch einen Autor mit einer auffallend guten Kenntnis Süditaliens.⁹⁴³ Primär ist dort nicht so sehr Arthur mit dem Ätna verbunden, als vielmehr Morgain (Morgain), die mit ihren Feen (fees) diesen Berg bewohnt. Der Held der Erzählung, Floriant, wird als Halbweise nach dem Mord an seinem Vater, dem König von Sizilien, von Morgain aufgenommen; sie lässt ihn taufen und zieht ihn in ihrem Reich groß, wo er in den sieben Freien Künsten und allen anderen einem Edelmann zustehenden Fertigkeiten unterrichtet wird, bis er im Alter von 15 Jahren aufbricht, um sich als Ritter zu bewähren (V. 33–930, bes. 549–578, 733–930).⁹⁴⁴ Er lebt ein ruhmreiches Leben, und nach vielen Abenteuern und großen Taten am Ende seiner irdischen Tage angelangt, führt ihn ein weißer Hirsch wieder zu Morgain zurück.⁹⁴⁵ Sie klärt ihn darüber auf, dass ihn der Tod erwartet, doch dass er diesem Tod entgehen kann, wenn er von nun an bei ihr in ihrer verzauberten Burg bleibt, in der niemand sterben kann; ebenso wird sie später ihren Bruder Arthur aufnehmen, wenn er tödlich verwundet ist. Da Floriant daraufhin bittere Tränen um seine geliebte Florete weint, schickt Morgain ferner drei Feen (fees) los, um auch sie in ihr Reich zu holen (V. 8177–8277). Wie bei Gervasius von Tilbury wird die Anderwelt des Ätna hier somit nicht negativ konnotiert, sondern Morgain erscheint als die mütterlich-fürsorgliche, liebevolle Retterin eines Waisenkinds, dem sie den Weg zu einem ruhmreichen Leben und später zur einer von Leiden und Tod freien Entrückung in eine Welt ebnet, wo Floriant ein Leben in Glück und Unsterblichkeit mit seiner Liebsten führen kann.⁹⁴⁶ Von einer Dämonisierung der Anderwelt Morgains findet sich hier keine Spur. Weitere Belege für die arthurische Anderwelt des Ätna sind u. a.⁹⁴⁷ möglicherweise die katalanisch-provençalische Dichtung La faula (ca. 1350–1380)⁹⁴⁸ und (als einziges
942 Combes und Trachsler 2003, S. XXV. Etwas früher (1250–1275) wird der Text angesetzt von Simek 2012, S. 116; Lupack 2005, S. 113; Pioletti 1989, S. 10; Micha 1959, S. 383; Gardner 1930, S. 13. 943 Combes und Trachsler 2003, S. XXVII-XXXI. Vgl. jedoch vorsichtiger Micha 1959, S. 383 f. 944 Nur am Rande sei auf den Kontrast zwischen der negativen Zeichnung Morgains im LancelotGraal-Zyklus und ihrer ganz positiven Rolle in Floriant et Florete hingewiesen (Combes und Trachsler 2003, S. 35 [Anm. 1]). 945 Vgl. Newstead 1946, S. 932. 946 Vgl. Harf-Lancner 1984, S. 277–279. 947 Für weitere Belege, die hier jedoch schon aus chronologischen Gründen zu weit führen würden (Le chevalier du papegau; die Erzähltradition um Ogier le Danois; u. a.) vgl. Pioletti 1989, S. 12, 35; Micha 1959, S. 384 f.; Newstead 1946, S. 933 f. 948 Gardner 1930, S. 13; Pioletti 1989, S. 11 f., 35; vgl. aber auch Compagna Perrone Capano 2009, die einer Identifizierung der Insel Avalon von La faula mit Sizilien mit einer gewissen Skepsis gegenübersteht und stattdessen an eine Lokalisierung in einem imaginären Orient denkt, wobei sie hier zudem eine Angleichung Arthurs an den Priesterkönig Johannes annimmt. Larrington 2006, S. 48 betont die Nähe der Insel von La faula zum (und ihre mögliche Identität mit dem) irdischen Paradies; Arthurs Heilung wird hier durch ein Bad im Tigris bewirkt, der einer der Flüsse ist, die im irdischen Paradies entspringen (Simek 2012, S. 155).
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Zeugnis in der frühen italienischen Volkssprache) das toskanische Gedicht Detto del gatto lupesco aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts.⁹⁴⁹ Letzteres Zeugnis behandelt das Motiv augenzwinkernd und geradezu satirisch: Der Held des Gedichts trifft auf zwei Ritter aus Britannien, die eben vom Ätna herkommen; dort waren sie lange in einer Herberge gewesen, um die Wahrheit über ihren Herrn herauszufinden, den König Arthur, den sie verloren haben und dessen Schicksal ihnen unbekannt ist. Jetzt seien sie auf der Rückreise nach England.⁹⁵⁰ Letzteres Zeugnis betont gerade dadurch, dass es das einzige Zeugnis für Arthurs Verbindung mit dem Ätna in der frühen italienischen Volkssprache darstellt, die allem Anschein nach geringe Verwurzelung dieses Motivs im italienischen Kontext; dass es sich dabei noch ausdrücklich über die britannische Idee, König Arthur am Ätna zu suchen, lustig zu machen scheint, unterstreicht nochmals die Distanz zwischen dem Motiv und dem toskanischen Erzähler. Antonio Pioletti hat die allgemein fehlende lokale Verwurzelung des Motivs hervorgehoben⁹⁵¹ und die Ansicht vertreten, dass es sich bei der Übertragung Arthurs in die Ätnaregion um eine Konstruktion von Intellektuellen im Umkreis des normannischen Hofs handelte, die vor allem Propagandazwecken diente:⁹⁵² Das Motiv erscheint erstmals in einer Zeit wachsenden politischen Drucks auf die normannischen Herren Siziliens. In dieser Zeit ist es zudem nicht das einzige arthurische Motiv, das direkt an die Insel Sizilien angebunden wird: Die Gesta regis Ricardi des Benedikt von Peterborough verzeichnen für das Jahr 1191, dass Richard Löwenherz dem normannischen König von Sizilien, Tankred von Lecce, Arthurs Schwert Excalibur zum Geschenk machte (gladium optimum Arcturi, nobilis quondam regis Britonum, quem Britones vocaverunt Caliburnum)⁹⁵³ – ein Akt, in dem Pioletti einen Ausdruck normannischen Gemeinschaftsgefühls und normannischer politischer Propaganda im Angesicht der außenpolitischen Gefährdung durch die Ansprüche Heinrichs VI. von Hohenstaufen sieht (welcher Sizilien schließlich im Jahr 1194 in seine Gewalt brachte).⁹⁵⁴ Piolettis detaillierte Analyse der zeitgeschichtlichen Umstände der frühesten Zeugnisse für Arthur am Ätna zeigt zudem auffallende
949 Simek 2012, S. 85; Zimmer 2006, S. 90 f.; Pioletti 1989, S. 11, 35; Gardner 1930, S. 14 f. 950 Für den entsprechenden Abschnitt des Texts vgl. Gardner 1930, S. 15; Pioletti 1989, S. 35; für Übersetzungen dieses Abschnitts vgl. Gardner 1930, S. 15 (Anm. 1); Zimmer 2006, S. 91. 951 Pioletti 1989, S. 16; ebenso schon Chambers 1927, S. 222: „it forms no part of the abundant native folk-lore of the mountain“; Gardner 1930, S. 14. 952 Pioletti 1989, S. 16–32, bes. S. 32. Einen entscheidenden Schlüsseltext bei der Übertragung von Arthurs anderweltlichem Aufenthaltsort auf den Ätna sieht Pioletti im Draco Normannicus, wo Arthur in satirischer Weise als der König der Antipoden erscheint: Dieser Text präsentiert eine geographische Ausweitung der mit Arthur verbundenen Anderwelt und könnte so bei der Übertragung der arthurischen Anderwelt auf den Ätna (immerhin auf Sizilien und damit, wie Avalon, ebenfalls auf einer Insel gelegen) eine zentrale Vermittlerposition innegehabt haben: Pioletti 1989, S. 21–25. 953 Hgg. von Stubbs 1867, dort Bd. 2, S. 159; Chambers 1927, S. 274. 954 Pioletti 1989, S. 25–28, 30. Vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 156.
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Korrespondenzen zwischen politischen Fraktionen und den Perspektiven der erhaltenen Quellen auf: Die ganz positive Schilderung des Reichs Arthurs auf dem Ätna im Werk des anglonormannischen Gelehrten Gervasius von Tilbury befindet sich in einer Schrift, die Gervasius dem Welfen Otto IV. widmete, dessen Mutter Mathilde die älteste Tochter König Heinrichs II. von England war; die Diabolisierung Arthurs bei Caesarius von Heisterbach stammt hingegen gerade aus der Feder eines deutschen Klerikers, der die von ihm berichteten Ereignisse in die Zeit der Eroberung Siziliens durch Kaiser Heinrich IV. datiert (eo tempore quo Henricus Imperator subiugavit sibi Syciliam).⁹⁵⁵ Die Einbindung des Ätna in die Geographie der arthurischen Welt scheint so direkt an die wechselnden Geschicke der normannischen Herrschaft über Sizilien angebunden, was nahelegen könnte, dass hier nicht nur ein Parallelismus, sondern ein ideologisch-propagandistischer Kausalzusammenhang besteht. Pioletti hat überzeugend darlegen können, dass es sich bei dieser ‚Propagandathese‘ um eine durchaus mögliche Zugangsweise handelt. Jedoch ist das Material letztlich nicht schlüssig; so lässt sich die anti-arthurische Haltung Caesarius von Heisterbachs, wie oben bereits ausgeführt worden ist, etwa auch aus seiner klerikalen Einstellung zur arthurischen Literatur insgesamt und aus dem älteren klerikalen Topos des Ätna als Eingang zur Hölle erklären, ohne dass dabei ein politisches Programm eine Rolle gespielt haben muss. Zudem kann es nicht mehr sein als eine Annahme, dass die Verbindung des Arthurmotivs mit dem Ätna auf eine bewusst propagandistische literarische Fiktion von Literaten der normannischen Oberschicht zurückgeht. Das Fehlen weiterer Zeugnisse in der frühen volkssprachlichen italienischen Literatur könnte zwar als ein Indiz dafür gewertet werden, dass das Motiv in der Tat bei der italienischsprachigen Bevölkerung keinen breiten Anklang fand; dies schließt jedoch nicht aus, dass die Übertragung innerhalb der normannischen Schicht auf eine ‚genuin folkloristische‘ Weise stattgefunden haben könnte. Gervasius gibt als Quelle für seine Anekdote von Arthur auf dem Ätna „Einheimische“ (indigeni) an, während Caesarius sich auf einen weitgereisten Zeitzeugen und Etienne de Bourbon sich auf einen „apulischen Bruder“ beruft; die Möglichkeit lässt sich nicht ausschließen, dass die Ansprüche dieser Autoren, genuin lokale Traditionen mitzuteilen, cum grano salis den tatsächlichen Umständen entsprechen. Ein Indiz für eine solche Interpretation, welche der Vorstellung vom Ätna als arthurischer Anderwelt zumindest im Kontext der normannischen Schicht Siziliens den Status einer genuinen folkloristischen Tradition zugesteht, ist der Vergleich mit anderen arthurischen folkloristischen Traditionen. Schon Gervasius selbst vergleicht die Begegnung zwischen dem Pferdeknecht und König Arthur auf dem Ätna mit bretonischen und britannischen Erzählungen über Begegnungen zwischen Wildhütern und dem Gefolge Arthurs; dass dieser Vergleich auf genuine zeitgenössische Vorstellungen zurückgreift, legt das oben bereits angesprochene Erscheinen dieses Motivs
955 Pioletti 1989, S. 28, 31 f.
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im Didot-Perceval (und damit um 1200) nahe,⁹⁵⁶ und auch Etienne de Bourbon kennt die Vorstellung – wobei der Inquisitor hier eine Erscheinung von Dämonen sieht, die in dieser Gestalt ihr übles Spiel mit den Menschen treiben.⁹⁵⁷ Bereits E. K. Chambers hat diesem Vergleichsmaterial ferner reiche Belege aus der modernen Folklore der Britischen Inseln an die Seite gestellt, in denen Arthur und seine Männer (oder auch nur Arthurs Männer) in einer Höhle schlafen, wo sie von einem Sterblichen gefunden werden können (ggf. von einem Schäfer auf der Suche nach verlorenen Schafen, entsprechend den verlorenen Pferden auf dem Ätna); Chambers führt Belege vor allem aus Wales und Nordengland an.⁹⁵⁸ Die Lokalisierung in einer Höhle entspricht dabei zwar nicht der Darstellung bei Gervasius, da diese die Begegnung nicht in einem unterirdischen Raum stattfinden lässt. Sie findet aber ihre Entsprechung bei Caesarius von Heisterbach, der den Hof Arthurs ausdrücklich „im(!) Berg Ätna“ (in monte Gyber) lokalisiert; und auch die „kleine eiserne Tür“ (ostiolum ferreum) in der von Etienne de Bourbon überlieferten Fassung mag in den Untergrund geführt haben. Diese Entsprechung zwischen folkloristischem Material der Britischen Inseln und den hochmittelalterlichen Berichten über vorgebliche Vorstellungen der mittelalterlichen Folklore stellt ein starkes Indiz für die Authentizität der mittelalterlichen Berichte dar.⁹⁵⁹ Dass ferner eine Verbindung Morgains mit Sizilien zumindest in einem gewissen Umfang über die vergleichsweise engen Grenzen der normannischen Oberschicht Siziliens hinaus etabliert gewesen sein muss, zeigt der bekannteste und bis in die Umgangssprache der Gegenwart hinein wirkmächtige Niederschlag dieses Motivs: die Bezeichnung der in der Straße von Messina mitunter sichtbaren Luftspiegelungen als „die Fee Morgain“ – italienisch: la fata Morgana.⁹⁶⁰
956 Siehe oben S. 218 und vgl. Anm. 812. 957 Berlioz und Eichenlaub 2002, S. 506; Chambers 1927, S. 228, 278. Für den Text dieses Abschnitts des Tractatus de diversis materiis predicabilibus siehe zuletzt Chambers 1927, S. 278 (das Erscheinen des entsprechenden Abschnitts im Rahmen der mehrbändigen Neuedition durch Berlioz und Eichenlaub steht noch aus). 958 Chambers 1927, S. 222–225; vgl. Jones 1966 mit weiteren und insbesondere früheren Belegen (ab dem 13. Jahrhundert); Lloyd-Morgan 2001, S. 173 f.; Lacy et al. 1997, S. 27 f.; Harf-Lancner 1984, S. 279; Paton 1960 (1903), S. 215 f. (auch Ogier von Dänemark verweilt sowohl mit Morgain auf Avalon als auch schlafend in einer Kammer). Hierzu vgl. auch die vielen Varianten der Sage von Barbarossa im Kyffhäuser: Chambers 1927, S. 225–227. 959 Vgl. in diesem Sinne schon Loomis 1959 (Oral Diffusion), S. 61 f.; Loomis 1940–1941, S. 297–299 et passim. 960 Paton 1960 (1903), S. 251 f.; Gouttebroze 2003, S. 60; Pioletti 1989, S. 13; Ruggieri 1966, S. 171; Gardner 1930, S. 14; Chambers 1927, S. 222.
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4.7 Der Name Avalons: Etymologisches zur Apfelinsel Eine für das Problem des ‚Ursprungs‘ Avalons zentrale Frage ist bisher noch nicht angesprochen worden: Die Frage der Etymologie der Insel Avalon.⁹⁶¹ Die älteste bezeugte Namensform findet sich in Geoffreys Historia regum Britanniae XI.178, wo Avalon als insula Auallonis erscheint; bei Geoffrey selbst entspricht diese Bezeichnung der insula pomorum, „Insel der Äpfel“, der Vita Merlini 908. Geoffrey erhebt in der Einleitung zu seiner Historia den Anspruch, dass seine Geschichte der britischen Könige auf einem alten britischen Buch beruht, das er aus der britischen Sprache ins Lateinische übertragen haben will (Historia regum Britanniae, Prologus 2). Im Fall der Insel Avalon legt schon der sprachliche Befund nahe, dass Geoffrey hier – in der einen oder anderen Form – tatsächlich auf eine britische (d. h. wohl kymrische) Quelle zurückgegriffen hat: Im Walisischen existiert Afallach als ein Nomen mit der Bedeutung „Platz von Äpfeln“, so dass die insula Avallonis genau der insula pomorum entspricht; Geoffrey scheint in der Vita somit mit dem kymrischen Begriff ein bewusstes literarisches Spiel zu spielen.⁹⁶² Dabei mag die Namensform geringfügig durch den Namen der Stadt Avallon in Burgund beeinfluss worden sein (welche ihrerseits gleichfalls als „Ort der Äpfel“ zu deuten ist, gall. Aballone/Avallone).⁹⁶³ In kymrischen Bearbeitungen des Arthurstoffs erscheint die insula Avallonis ganz in diesem Sinne als Ynys Afallach. Ceridwen Llyod-Morgan hat eine detaillierte Studie zur Verwendung dieses mythologischen Ortsnamens in den kymrischen Quellen vorgelegt, die eine auffallend seltene Verwendung des Namens in der kymrischen Literatur aufgezeigt hat: Die „Apfelinsel“ Ynys Afallach erscheint dort erst ab dem 13. Jahrhundert, wobei sie zuerst in den walisischen Übersetzungen der Historia regum Britanniae auftaucht. Weitere Belege finden sich später in anderen Texten, die mittel- oder unmittelbar auf Geoffrey beruhen oder auf ihn Bezug nehmen, und in einer walisischen Bearbeitung von Giraldus Cambrensis’ Beschreibung der Exhumierung Arthurs im Jahr 1191, welche jedoch erst ins 14. Jahrhundert datieren mag; ferner ist die Ynys Afallach in walisischen Übersetzungen französischer Arthurtexte und bei einigen späten Dichtern bezeugt. Die Verwendung des Begriffs durch Letztere zeigt dabei erneut keine eindeutig spezifisch walisischen Züge, sondern schließt sich an die Motive der zeitgenössischen internationalen arthurischen Literatur an. Inhaltlich kann die walisische volkssprachliche Literatur zur Frage nach dem mythologischen Hintergrund des Avalon-Motivs somit nichts beitragen, da die wenigen einschlägigen Zeugnisse selbst nur walisische Bearbeitungen von Motiven der französischen und
961 Die maßgebliche Darstellung ist Bromwich 2006, S. 274 f.; ferner vgl. etwa Simek 2012, S. 30; Chotzen 1948; Slover 1931; Cons 1930–1931. Überholt ist Loomis 1959 (Legend), S. 65 f.; Savage 1942. Für eine Zusammenstellung älterer etymologischer Ansätze vgl. auch Paton 1960 (1903), S. 40 f. (Anm. 2). 962 Bromwich 2006, S. 274. 963 Bromwich 2006, S. 274.
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lateinischen arthurischen Literatur darstellen und so keinen unabhängigen Quellenwert haben. Immerhin konnte Lloyd-Morgan in ihrer Bestandsaufnahme des kymrischen Befundes jedoch aufzeigen, dass die kymrischen Quellen zur Übersetzung der insula Avallonis/Isle d’Avalon durchgehend dieselbe Namensform verwenden; diese Konsistenz der Übertragung erlaubt nach Lloyd-Morgan den Schluss, dass der Begriff einen traditionellen walisischen Hintergrund hatte – wobei dies allerdings nichts über die Frage der Verbindung Arthurs mit Avalon oder andere inhaltliche Aspekte aussagt.⁹⁶⁴ Noch ausgeprägter ist die Dürftigkeit der Beleglage in der volkssprachlichen walisischen Literatur für die „Glasinsel“, die seit Giraldus Cambrensis mit der „Apfelinsel“ identifiziert erscheint.⁹⁶⁵ Die frühen Belege für die „Glasinsel“ in der Vita Gildae (§ 14) und in Giraldus Cambrensis’ Beschreibungen der Exhumierung Arthurs in De principis instructione (I.20) und dem Speculum ecclesiae (II.9) spiegeln eine sprachlich korrekte kymrische Form Ynys Wydrin, „Glasinsel“, wieder; in den erhaltenen volkssprachlichen Zeugnissen erscheint eine solche Insel jedoch nahezu gar nicht. Der einzige Beleg für den Namen in einem kymrischen Text vor dem 15. Jahrhundert findet sich in einer Passage, die eine direkte Übersetzung aus Giraldus Cambrensis’ Speculum ecclesiae darstellt; die wenigen weiteren Belege, die Lloyd-Morgan lokalisieren konnte, sind entweder inhaltlich nicht aussagekräftig oder wohl direkt von schriftlichen Quellen abgeleitet, die auch uns noch vorliegen. Auch hier hat die volkssprachliche walisische Literatur somit keinen unabhängigen Quellenwert für die Rekonstruktion eventuell mit der „Glasinsel“ verbundener mythologischer Vorstellungen. Die extrem schlechte Beleglage für Ynys Wydrin in kymrischen Texten hat Lloyd-Morgan sogar zu der Vermutung veranlasst, dass es sich bei der „Glasinsel“ um eine hochmittelalterliche Erfindung handeln könnte, die nur den englischen Namen „Glastonbury“ etymologisch erklären und mit der Apfelinsel verbinden sollte.⁹⁶⁶ Dies dürfte allerdings Hyperkritik sein: Das im Vorangehenden bereits angesprochene Zeugnis der Isle de Voirre in Chrétiens Erec stellt einen von der Glastonbury-Tradition unabhängigen Beleg für eine mythische „Glasinsel“ im arthurischen Kontext dar, der zudem aufgrund der Namensähnlichkeit zwischen den jeweiligen Herren dieser Glasinsel im Erec und in der Vita Gildae nicht nur onomastisch, sondern auch inhaltlich eine mit der britischen Tradition verwandte Überlieferung reflektieren dürfte.⁹⁶⁷ Zudem könnte hier auf die anderweltliche „Glasfestung“ (Caer Wydyr) zu verweisen sein, die im kymrischen Gedicht Preiddeu Annwn (zwischen 850 und 1150)⁹⁶⁸
964 Lloyd-Morgan 2001, S. 163–167, 174. 965 Ausführlich: Lloyd-Morgan 2001, S. 167 f., 174. 966 Lloyd-Morgan 2001, S. 168. 967 Watkin 2001, S. 17; siehe oben S. 201 ff., 229. 968 Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 119.
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erscheint,⁹⁶⁹ sowie auf den gläsernen Turm inmitten des Meeres (turris vitrea in medio mari), den Nennius in der Historia Brittonum § 13 erwähnt.⁹⁷⁰ Wie die vorangehende Diskussion jedoch bereits gezeigt hat, handelt es sich bei der „Glas-“ und der „Apfelinsel“ ohnehin wohl um zwei Vorstellungen, die erst im Zuge der Exhumierung von 1191 miteinander identifiziert wurden. Ein dritter Vorstellungskomplex – der des eponymen Heros Avallach/Afallach als Namensgeber der Insel Avalon – ist oben bereits angesprochen worden; diese ab dem Speculum ecclesiae bezeugte Deutung der insula Avallonis als „Insel des Afallach“ ist von der älteren Forschung mitunter als ursprünglich aufgefasst worden,⁹⁷¹ hat sich aber bei genauerer Betrachtung innerhalb der mittelalterlichen Tradition als deutlich sekundär erwiesen und wird von der rezenten Forschung zu Recht als konventionelles mittelalterliches Konstrukt betrachtet, das für den vorchristlichen mythologischen Hintergrund des Avalon-Motivs keinen Quellenwert hat.⁹⁷² Ein bisher noch nicht angesprochener Grund, der entscheidend dagegen spricht, die hochmittelalterliche Konstruktion des eponymen Heros Afallach als Reflex authentisch-vorchristlicher Vorstellungen zu akzeptieren, ist der irische Befund: Dieses Material wird im Zentrum des folgenden Kapitels stehen. In Hinblick auf die Etymologie Avalons ist hier zunächst ein kurzer Vorgriff ausreichend: Die frühe irische Literatur kennt das Motiv einer Anderweltsinsel, die als Wohnstatt des Gottes Manannán mac Lir aufgefasst wird; in der Mythologie dieser Insel spielen Äpfel bereits von den frühesten Zeugnissen im 7./8. Jahrhundert an eine zentrale Rolle, und das Adjektiv ablach, „Äpfel besitzend“, wird später sogar zu einem stehenden Beiwort dieser Insel.⁹⁷³ Die Existenz nicht nur einer walisischen insula Avallonis = insula pomorum = Ynys Afallach, sondern auch einer irischen mythischen „Apfelinsel“ stellt entsprechend einen weiteren Grund dafür dar, die Ynys Afallach als „Apfelinsel“ aufzufassen. Dabei ist sogar vorgeschlagen worden, dass es sich beim kymrischen Afallach um ein Lehnwort aus dem Irischen (< ablach) handeln könnte.⁹⁷⁴ Dies könnte wiederum die Frage aufwerfen, ob die geringe Zahl der Belege für die Ynys Afallach in den volkssprachlichen walisischen Quellen sich dahingehend interpretieren ließe,
969 Watkin 2001, S. 17; MacCulloch et al. 1908, S. 691; sehr vorsichtig: Lloyd-Morgan 2006, S. 174; für eine Übersetzung von Preiddeu Annwn vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 119–121; Carey 2007 (Grail), S. 81–84; Koch und Carey 1995, S. 290–292 (dort Z. 30); Higley s. a. 970 Vgl. Carey 2007 (Bran), S. 173 f.; Carey 2007 (Grail), S. 85, 122–124, 128 f., 211–214; Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 69; MacCulloch et al. 1908, S. 691. Hgg. von Mommsen 1898, S. 111–222, dort S. 155. Für weitere Literatur zum Motivkomplex der „Glasinsel“ siehe oben Anm. 839. 971 Krappe 1943, S. 313, 322; Lot 1898, S. 553 f., 562 f. et passim; Lot 1895, S. 330; Rhŷs 1891, S. 335 f. 972 Bromwich 2006, S. 274 f.; siehe oben S. 227. 973 Vgl. Bromwich 2006, S. 274 f.; Chotzen 1948, S. 266–269; DIL s.v. ‚1 ablach‘. 974 Bromwich 2006, S. 275; Chotzen 1948, S. 269. Allgemein eine Verwandtschaft zwischen der irischen Paradiesinsel Emain Ablach und der arthurischen Ynys Afallach wird etwa angenommen von Radner 1985, S. 552.
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dass es sich bei der Vorstellung möglicherweise um ein entlehntes irisches Konzept handeln könnte. Eine solche Schlussfolgerung wäre jedoch vorschnell: Wie bereits Lloyd-Morgan vorgeschlagen hat, ließe sich das Schweigen der volkssprachlichen kymrischen Quellen zur „Apfelinsel“ (und der „Glasinsel“) auch dahingehen deuten, dass die Tradition in Wales zwar alt ist, aber bereits an der Schwelle zur Vergessenheit stand, als Geoffreys literarische Verarbeitung in der Historia regum Britanniae ihr neues (literarisches) Leben einhauchte. Ferner könnte das Schweigen der kymrischen Schriftquellen auch ein Symptom eines zunehmenden Auseinanderdriftens der mündlichen Erzähl- und der gelehrten Schrifttradition darstellen, da nur Letztere in den erhaltenen Quellen ihren Niederschlag gefunden hat.⁹⁷⁵ Generell ist im walisischen Kontext zu beachten, dass sich ein erheblicher Teil des literarischen Schaffens im Rahmen einer mündlichen Erzählkultur abspielte; im Vergleich etwa zu Irland wurde dabei nur ein sehr geringer Teil der literarischen Produktion jemals schriftlich niedergelegt, was ein argumentum ex silentio gerade für den walisischen Bereich als grundsätzlich fragwürdig erscheinen lässt.⁹⁷⁶
4.8 Zusammenfassung, Rück- und Ausblick Die Motive von Apfel- und Glasinsel erscheinen in der arthurischen Literatur in einer unüberschaubaren Vielzahl immer neuer Variationen; allein schon der schiere Umfang der arthurischen Literatur macht es von vorneherein unmöglich, die ungezählten Verwandlungen dieses Motivs im Rahmen eines Kapitels erschöpfend zu behandeln. So ließe sich etwa noch die Herrin der „Verborgenen Insel“ in der Festung auf dem Diamantfelsen inmitten des Meeres in einer Fortsetzung des Huon de Bordeaux heranziehen,⁹⁷⁷ oder ließe sich das Erscheinen der „Täler von Avaron“ (vaus d’Avaron) in der Geschichte des Grals diskutieren, wie sie in Robert de Borons Joseph d’Arimathie dargestellt wird.⁹⁷⁸ Oder man könnte auf einen Text des 15. Jahrhunderts aus dem Zyklus um Ogier le Danois eingehen, in dem Avalon in der Nachbarschaft des irdischen Paradieses lokalisiert wird.⁹⁷⁹ Die Liste ließe sich beliebig verlängern. Die im Vorangehenden besprochenen Texte sind jedoch ausreichend, um in exemplarischer Weise einen detaillierten Querschnitt durch zentrale Aspekte und wesentliche Wendepunkte der Geschichte des Avalon-Motivs zu vermitteln. Ihren
975 Lloyd-Morgan 2006, S. 174 f. 976 Vgl. Bromwich 1983, S. 44, 50. 977 Furnivall 1871, S. xviii. 978 Vgl. Le Gentil 1959, bes. S. 252; Watkin 2001, S. 22 f.; Bryant 2001, S. 41; Gallais 1971; Charvet 1967. 979 Vgl. Harf-Lancner 1984, S. 282 (mit Anm. 52 und S. 441), 285 (Zitat [ibidem S. 282:] « le chasteau d’Avallon, qui n’est gueres de ça Paradis Terrestre, la ou furent ravis en une raye de feu Enoc et Helye, et la ou estoit Morgue la Faye »); Togeby 1969, S. 141 f.; Paton 1960 (1903), S. 76; Loomis 1959 (Legend), S. 68 (mit weiterem ähnlichen Material).
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Ausgang nahm die Diskussion dabei vom Werk Geoffreys von Monmouth, des ersten Autors, der das Avalon-Thema behandelt und dessen Werk uns erhalten geblieben ist: Dort erscheint Avalon als eine paradiesische Insel des Lebens und des Überflusses, wo heil- und zauberkundige Frauengestalten den tödlich verwundeten Arthur aufnehmen und ihn gesund pflegen, und wo Arthurs Schwert Excalibur seinen Ursprung hat. Die Beschreibung dieser Insel greift dabei einerseits auf gelehrte Vorstellungen von den Insel der Seligen und andererseits auf die Darstellung des paradisus Dei in spacio maris der Navigatio S. Brendani zurück: Die Behandlung Avalons durch Geoffrey setzt Avalon damit gewissermaßen mit zwei insularen Paradiesen gleich, von denen eines dem klassischen Altertum und das andere dem mittelalterlichen Christentum entstammt. Zugleich geht Geoffreys Avalon in diesen Paradiesmotiven der zeitgenössischen gelehrten Literatur jedoch nicht auf: Zentrale Elemente seiner Avalon-Schilderung, nicht zuletzt die Gestalten Morgains und ihrer Schwestern, gehen über diese gelehrten Quellen hinaus und legen damit nahe, dass es sich bei Geoffreys Avalon um mehr handelt als nur um eine aus Elementen der zeitgenössischen Gelehrsamkeit zusammengesetzte literarische Neuschöpfung des 12. Jahrhunderts. Dieselbe Schlussfolgerung wurde auch durch eine Reihe von Zeugnissen nahegelegt, die sich in zumeist despektierlicher Weise über einen zeitgenössischen Glauben der Britannier äußern, dass Arthur nicht gestorben sei und eines Tages wiederkehren werde; diese Zeugnisse erlaubten es, die Vorstellung vom Fortleben Arthurs über Geoffrey hinaus bis zumindest an den Anfang des 12. Jahrhunderts zurückzuverfolgen, auch wenn die Lokalisierung dieses Fortlebens auf Avalon in keinem dieser Fälle explizit ausgesprochen wurde. Bei Geoffrey und in diesen mündlichen Traditionen blieb die genaue Natur des Verhältnisses zwischen Arthur und Morgain unbestimmt. In den 1160ern beschreibt der Draco Normannicus Morgain darauf als Arthurs Schwester; der Brut des Layamon schildert die Entrückung Arthurs jedoch nur wenig später in einer Weise, die eine Liebesbeziehung zwischen Arthur und Morgain zu implizieren scheint. Dieser Widerspruch warf die Frage auf, welche Stellung die Vorstellung von einer Liebesbeziehung zwischen Entrücktem und Anderweltsfrau im weiteren Kontext der matière de Bretagne innehat. Daher wandte die Diskussion sich im Folgenden der Darstellung Avalons und verwandter, namenloser Anderweltsreiche in der Dichtung Chrétien de Troyes’ und in den bretonischen Lais zu. Diese Zeugnisse datieren in die Frühzeit der arthurischen Dichtung und erheben teilweise ausdrücklich den Anspruch, auf mündliche bretonische Traditionen zurückzugreifen; sie stellen damit eine potentiell von Geoffrey unabhängige Quelle für britannische Anderweltsvorstellungen dar. In diesen Texten sticht dabei heraus, dass die Anderwelt der fee beständig als der Ort einer Liebesbeziehung zwischen einem Ritter und einer anderweltlichen Frauengestalt erscheint; diese Liebesbeziehung wird dabei zumeist von der Frauengestalt initiiert, und der Ritter wird schließlich in die Anderwelt der fee entrückt, wo er mitunter ausdrücklich ein unsterbliches Leben im Glück führt. Dieser Motivkomplex wird mit dem Schicksal einer ganzen Reihe verschiedener Ritter verbunden (Guigomar, Guin-
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gamor, Graelent, Lanval); die Entrückung Arthurs nach Avalon und seine dortige Aufnahme als Geliebter der Anderweltsfrau zeigt sich so als bloßer prominenter Sonderfall eines weiter verbreiteten Motivs. Mit dem Motivkomplex der Entrückung des Helden in die Anderwelt findet in der Entwicklung der Arthurlegende ein intensives Spiel statt. Der Didot-Perceval diente als ein entsprechendes Beispiel für das literarische Spiel mit dem Anderweltsmotiv; größere Aufmerksamkeit widmete die Diskussion jedoch den Ereignissen des Jahres 1191 in Glastonbury, wo die Mönche der dortigen Abtei eine Exhumierung der Gebeine Arthurs und Guineveres inszenierten und damit eine Identifikation Avalons mit Glastonbury vornahmen: Das Spiel mit dem Avalon-Motiv nimmt hier eine lebenswirkliche Dimension an. Eine detaillierte Besprechung der frühesten Zeugnisse für diese Ereignisse machte deutlich, dass die Gleichung Glastonbury=Avalon keinen traditionellen Hintergrund hatte, sondern wohl erst aus Anlass der Exhumierung Arthurs von den Mönchen von Glastonbury aufgestellt wurde. Die Gleichsetzung von Avalon und Glastonbury führte dabei zu einer Gleichsetzung Avalons mit der „Glasinsel“ (Ynisgutrin): Schon vor der Lokalisierung von Arthurs Grab in Glastonbury fand sich in der Vita Gildae eine Tradition bezeugt, wonach Glastonbury mit einer „Glasinsel“ (Ynisgutrin) identifiziert werden konnte. Auch dabei könnte es sich um ein inselkeltisches paradiesisches Anderweltsreich gehandelt haben; jedoch waren die Vorstellungen der „Glasinsel“ und der „Apfelinsel“ Avalons vor der Exhumierung Arthurs in Glastonbury im Jahr 1191 deutlich getrennt. Die Gleichsetzung von „Glas-“ und „Apfelinsel“ fand erst durch die Mönche von Glastonbury statt. Durch die Exhumierung Arthurs in Glastonbury wurde ferner – und wohl vorsätzlich und mit deutlich politischem Unterton – die Vorstellung von Arthurs Fortleben in Frage gestellt. Der folgende Abschnitt des vorliegenden Kapitels verfolgte insbesondere die Rezeption dieser neuen Wendung des Entrückungsmotivs im Lanzelot-GraalZyklus und im Perlesvaus: In beiden Werken wurde die von der Abtei Glastonbury inszenierte und propagierte Exhumierung (und der damit implizierte Tod Arthurs) rezipiert und verarbeitet; in beiden Werken wurde das traditionelle Entrückungsmotiv jedoch nicht aufgegeben, sondern vielmehr in unterschiedlicher Weise mit dem Bestattungsmotiv verbunden: Im Lanzelot-Graal werden die Frauengestalten, die Arthur nach Avalon bringen sollen, zu seinen Totengräberinnen, während die Entrückung über das Meer im Perlesvaus auf den Gralsritter Perlesvaus übertragen wird. Auch nach Glastonbury blieb das Entrückungsmotiv unverzichtbar. In die Mitte und ans Ende des 13. Jahrhunderts führten darauf die zwei umfangreichsten mittelalterlichen Avalon-Schilderungen außerhalb der Vita Merlini: Die Beschreibungen Avalons in den Gesta regum Britanniae und in der Bataille Loquifer. In beiden Fällen zeigte sich ein literarisches Spiel mit gelehrtem Bildungsgut: Während das Avalon der Gesta regum Britanniae mit einem christlich-paradiesischen Unsterblichkeitsgefilde verwandt sein dürfte, wie es etwa Laktanz in seinem De phoenice schildert, liegt das Avalon der Bataille Loquifer in der Nähe der Wohnstatt der Sirenen: Die Jenseitsinsel, auf der Morgain den Ritter zu ihrem Gemahl zu machen
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versucht, evoziert so Kirkes Jenseitsinsel in der Odyssee, die gleichfalls in der Nähe der Sirenen liegt und wo die Anderweltsfrau gleichfalls den Helden zu ihrem Gemahl machen will. Das Avalon gerade der Bataille Loquifer ist jedoch nicht nur eine der klassischen Literatur entnommene Paradiesinsel, sondern scheint zugleich auch an das Himmlische Jerusalem der christlichen Jenseitshoffnung angeglichen und insbesondere zu einem Totenreich umgestaltet: Der Held der Bataille Loquifer trifft dort eine ganze Reihe von Helden der matière de Bretagne und der matière de France, die nach ihrem Tod das Leben in Avalon genießen. Von einem Land der Vermeidung des Todes wird Avalon hier zu einem Land, in dem herausragenden Helden ein paradiesisches Leben nach dem Tod zuteil wird. Auf diese vornehmlich chronologisch geordneten Abschnitte des vorliegenden Kapitels folgten schließlich zwei thematische Sektionen. In den 1180er Jahren, einige Jahre vor der Exhumierung Arthurs in Glastonbury, hielt sich Gervasius von Tilbury auf Sizilien auf. Dort erfuhr er von Einheimischen, dass Arthur und das Wunderland, in das dieser nach seiner tödlichen Verwundung entrückt wurde, sich auf dem Ätna befänden. Im Vergleich zur wenig später vorgenommenen Identifizierung Avalons mit Glastonbury fand die Insel Avalon hier ihren Ort am gegenüberliegenden Ende der normannischen Welt; damit illustriert die Lokalisierung Avalons auf dem Ätna mit außergewöhnlicher Deutlichkeit die geographische Anpassungsfähigkeit des Motivs der Lebensinsel. Ein Überblick über die verschiedenen Belege für die Gleichsetzung der arthurischen Anderwelt mit dem Ätna illustrierte zudem eine weitere Variable: die der Wertung Avalons. Während die Avalon-Schilderung in der Bataille Loquifer an das Himmlische Jerusalem anklingt und die Entrückung des Gralsritters im Perlesvaus das Modell der Entrückung nach Avalon auf eine Entrückung in eine ganz christliche Anderwelt überträgt, wird die Anderwelt des Ätna wiederholt mit der christlichen Hölle identifiziert und ihr Herr Arthur mit einem Höllenfürsten gleichgesetzt; die Entrückung nach Avalon kann dabei sogar zur Entführung eines Verdammten in die Hölle werden. In Sizilien als dem Land der Fata Morgana zeigt sich das Bild Avalons somit nicht nur in seiner ganzen weltlich-geographischen, sondern auch in seiner ganzen kosmologischen Variationsbreite: von den Britischen Inseln bis ins Mittelmeer, und vom Paradies bis zur Hölle. Der letzte Abschnitt des vorliegenden Kapitels wandte sich von den Permutationen des Avalon-Motivs wieder zurück zur Frage nach seinen Wurzeln. Eine Besprechung der Frage der Etymologie des Namens der Insel Avalon stellte die wesentlichen Grundlagen der derzeitigen communis opinio zusammen, wonach es sich beim Inselnamen „Avalon“ um einen authentischen inselkeltischen Namen handelt: Hier ist der schon von Geoffrey von Monmouth vertretenen Ansicht zuzustimmen, dass die insula Avallonis/Isle d’Avalon als eine „Apfelinsel“ (insula pomorum) aufzufassen ist. Dies entspricht im Kymrischen genau der Bezeichnung Ynys Afallach und im Irischen dem Adjektiv ablach („Äpfel besitzend“), welches seinerseits in irischen Kontexten gleichfalls von einer mythologischen Insel gebraucht werden kann, die seit dem Frühmittelalter als eine „Apfelinsel“ beschrieben wird.
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Nach dem derzeitig geläufigsten linguistischen Modell bilden die gälischen Sprachen einerseits (d. h. im mittelalterlichen Kontext das Irische) und die britannischen Sprachen andererseits (d. h. das Bretonische, Kumbrische, Kornische und Kymrische) die beiden Zweige der ‚inselkeltischen Sprachen‘, welche als eine Untergruppe der keltischen Sprachen angesetzt werden.⁹⁸⁰ Das heute noch in Teilen der Bretagne gesprochene Bretonische zählt dabei trotz seiner geographischen Lokalisierung auf dem europäischen Festland zu den ‚inselkeltische Sprachen‘, da diese Sprache erst im Frühmittelalter durch Einwanderer von der Insel Britannien in die Bretagne gelangte.⁹⁸¹ Bei den Bretonen handelt es sich somit um ‚Inselkelten auf dem Festland‘; die bretonischen Sänger, auf die sich gerade die altfranzösische arthurische Dichtung immer wieder beruft, sind entsprechend ebenso Träger inselkeltischer – oder genauer: britannischer – Traditionen wie die keltische Literatur des eigentlichen (Groß-)Britannien. Fragt man nach den inselkeltischen Wurzeln des Avalon-Motivs, so stellt die arthurische Literatur sowohl der Britischen Inseln als auch des Kontinents somit einen (wie stark auch immer gebrochenen) Reflex britannischer Traditionen dar und wirft damit potentielle Streiflichter auf die mythologischen Vorstellungen der östlichen der beiden großen Inseln des britisch-irischen Archipels.⁹⁸² Das nächste Kapitel wird sich hieran anschließen und sich der literarischen Mythologie Irlands zuwenden; dieses Kapitel wird anhand der irischen Literatur des Früh- und Hochmittelalters die Frage stellen, inwieweit die „britannischen“ Vorstellungen, die in der arthurischen Literatur reflektiert erscheinen, ein Gegenstück in der Mythologie Irlands finden.
980 Stifter 2006, S. 1 f.; Maier 1994, S. 296; Maier 2012, S. 232 f. 981 Vgl. Russell 1995, S. 9. 982 Allgemein zum Fortleben keltischer Elemente in der arthurischen Literatur vgl. in neuerer Zeit etwa Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 90–335 passim; Bromwich 2006 passim; Zimmer 2006; Benozzo 2006; Radner 1985, S. 552; und insbesondere Bromwich 1983. Vgl. auch die Literatur oben in Anm. 785.
5 Tír na m-Ban, Emain Ablach und verwandte Inseln: Die Lebensinsel in der irischen Literatur Rachel Bromwich, vermutlich die beste Kennerin der Beziehungen zwischen der arthurischen Literatur und den volkssprachlichen keltischen Literaturen der Britischen Inseln in den letzten Jahrzehnten, hat wiederholt die Bedeutung der irischen Literatur für das Verständnis der keltischen Wurzeln der arthurischen Dichtung betont.⁹⁸³ Dies gilt dabei nicht so sehr für die Namen der Akteure arthurischer Erzählungen: Soweit sich für die Eigennamen von arthurischen Personen und Tieren keltische Äquivalente ausmachen lassen, sind diese üblicherweise in der kymrischen Literatur zu finden,⁹⁸⁴ wie im Fall Parzivals (des walisischen Peredur) oder Gawains (des walisischen Gwalchmai).⁹⁸⁵ Irische Parallelen sind dagegen für viele der Motive von Bedeutung, die in der Handlung dieser Geschichten verarbeitet sind;⁹⁸⁶ eines der bekanntesten Beispiele dürfte das „Enthauptungsspiel“ sein, wie es in der irischen Erzählung Fled Bricrend und in der mittelenglischen Romanze Sir Gawain and the Green Knight erscheint.⁹⁸⁷ Ganz in diesem Sinne wird sich das folgende Kapitel der literarischen Überlieferung des früh- bis hochmittelalterlichen Irland zuwenden und danach fragen, inwieweit diese Überlieferung Vorstellungen kannte, die denjenigen entsprechen, aus denen sich die Behandlung des Avalon-Motivs in der arthurischen Literatur des 12. und 13. Jahrhunderts zusammensetzt. Ein zentraler Anknüpfungspunkt ist dabei die anderweltliche Insel des Manannán mac Lir, die in manchen Texten den Beinamen ablach („Äpfel besitzend“) trägt. Bereits gegen Ende des letzten Kapitels wurde erwähnt, dass dieser Beiname dem Namen der Insel Avalon etymologisch entspricht und dass die etymologische Verbindung zwischen diesen beiden Inselnamen sogar als ein Indiz dafür gedeutet worden ist, dass es sich bei der arthurischen Insel Avalon (bzw. der walisischen Ynys Afallach) um eine direkte Entlehnung aus Irland handeln könnte;⁹⁸⁸ entsprechend ist eine ausführliche Diskussion des einschlägigen irischen Materials für die Frage eventueller keltischer Wurzeln Avalons von grundlegender Bedeutung. Allein schon hierdurch ist die Auseinandersetzung mit dem irischen Material auch für die Geschichte – und insbesondere für das Verständnis der longue
983 Insbesondere vgl. Bromwich 1991, S. 283–285; Bromwich 1983; Bromwich 1965; ferner vgl. Maier 1994, S. 29. 984 Bromwich 1983, S. 41, 42–44 (mit einer ausführlichen Zusammenstellung von Beispielen); Bromwich 1965, S. 213, 216; vgl. Bromwich 1991, S. 276–281. 985 Bromwich 1983, S. 44. 986 Bromwich 1991, S. 285; Bromwich 1983, S. 50–52; Bromwich 1965, S. 213. 987 Sayers 2007 (Irish), S. 79; Bromwich 1983, S. 51; Bromwich 1965, S. 209–211; vgl. Scattergood 1996, S. 420. 988 Siehe oben S. 256.
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durée – des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes unumgänglich: Falls der Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplex Einflüsse der arthurischen Literatur zeigt, kann das irische Material einen wesentlichen Beitrag zum Verständnis eventueller mythologischer Wurzeln dieses Traditionsstrangs leisten. Gleichzeitig kann es jedoch keineswegs als gegeben vorausgesetzt werden, dass eventuelle „keltische“ Elemente im Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex gerade durch die arthurische Literatur vermittelt wurden. Grundsätzlich ist durchaus möglich – und gerade von der älteren Forschung auch mehrmals vorgeschlagen worden –,⁹⁸⁹ dass die mythologischen Traditionen Irlands einen direkten Einfluss auf die nordische Mythologie und Erzählwelt ausgeübt haben. Über die Plausibilität eines solchen direkten irischen Einflusses auf den Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplex zu entscheiden, setzt jedoch zunächst eine ausführliche Auseinandersetzung mit dem irischen Material voraus. Das gegenwärtige Kapitel wird sich bei der Besprechung des irischen Materials nicht auf Manannáns anderweltliche „Apfelinsel“ beschränken, sondern wird versuchen, diese Insel in ihren weiteren Kontext innerhalb der irischen Literatur einzuordnen. Insbesondere wird daher auch das Motiv der Suche asketischer Mönche nach einem irdischen Paradies auf einer Ozeaninsel behandelt werden, das sachlich wie forschungsgeschichtlich von der Vorstellung einer Avalon-gleichen Paradies- und Unsterblichkeitsinsel nicht zu trennen ist. Trotz einer solchen breiten Perspektive sind in Anbetracht des Umfangs der frühen irischen literarischen Überlieferung bei der Kontextualisierung der paradiesischen „Apfelinsel“ Einschränkungen unumgänglich. So ist es im Rahmen eines Buchkapitels nicht möglich, einen vollständigen Überblick über den Motivkomplex der Anderweltsinsel als ganzen zu geben: Die verschiedenen Anderweltsinseln der irischen Literatur stellen zwar zweifellos einen von vielen Kontexten der „Apfelinsel“ Manannáns dar, doch macht die Zahl der einschlägigen Zeugnisse es unmöglich, hier mehr als eine vergleichsweise kleine Auswahl von Zeugnissen ausdrücklich anzusprechen.⁹⁹⁰ Noch weniger ist es möglich, irische „Anderwelts“-Vorstellungen in ihrer ganzen Variationsbreite umfassend zu behandeln.⁹⁹¹ Ebenso, wie sich die Besprechung der Glæsisvellir und des Ódáinsakr weitgehend auf die hierfür unmittelbar relevanten Texte beschränken musste und eine allgemeine Besprechung nordischer Anderweltsvorstellungen (wie etwa Walhalls, Hels, Muspells, Utgards und ähnlicher Orte)
989 Siehe oben S. 2 ff. 990 Ausführlich vgl. etwa Löfflers zweibändige Abhandlung zu irischen Anderweltsinseln: Löffler 1983 (allerdings vgl. Caerwyn Williams 1986 zu den Schwächen dieser Arbeit). Zum folkloristischen Befund vgl. ferner Ó hÓgáin s. a. (insbesondere S. 248, 254 f., 259 mit folkloristischem Material, das auffallende Parallelen zum im Folgenden zu besprechenden mittelalterlichen Material zeigt; aber vgl. auch ibidem S. 256 f.); Mac Mathúna 1994, S. 347. 991 Allgemein zum Begriff der „Anderwelt“ (und den Problemen dieses Begriffs) vgl. Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi); Carey 2006 (Otherworld); Ní Mhaonaigh 2006, S. 50; Maier 2005 (Roman), S. 42 f.; Sims-Williams 1990; Ó Cathasaigh 1977–1979.
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unterbleiben musste, wird auch das vorliegende Kapitel sich auf eine Auswahl einiger weniger, sehr spezifischer Anderweltsorte beschränken müssen. Zumindest sei jedoch ausdrücklich darauf hingewiesen, dass es sich bei der Lokalisierung der Anderwelt auf einer Insel keineswegs um die einzige Variante der Anderwelt in der mittelalterlichen Literatur Irlands handelt.⁹⁹² Neben einer Lokalisierung der bzw. einer Anderwelt auf verschiedenen Inseln ist insbesondere eine Lokalisierung unter der Erde (besonders in Hügeln), in Seen oder unter dem Meer gängig.⁹⁹³ Dabei ist die Identifizierung der Heimat der áes síde, der „Feen“,⁹⁹⁴ mit dem Inneren von „Elfenhügeln“ insgesamt deutlich häufiger als eine Lokalisierung auf einer Insel. Bei solchen Elfenhügeln handelt es sich zumeist um prähistorische Hügelgräber; das berühmteste Beispiel für eine derartige Anderwelt im (Grab-)Hügel ist der Brug na Bóinne, der wohl mit dem Newgrange Tumulus zu identifizieren ist, einem jungsteinzeitlichen Megalithgrab im Tal der Boyne, dessen Errichtung in die Zeit zwischen 3200 und 2600 v. Chr. datiert wird.⁹⁹⁵ Dieser Hügel erscheint in einer Vielzahl von Erzählungen als die Wohnstatt verschiedener prominenter Anderweltsfürsten; als Beispiel sei etwa auf den Text „Über die Inbesitznahme des Elfenhügels“ (De Gabáil in t-Ṡída) verwiesen, den Vernam Hull auf spätestens das 9. Jahrhundert datierte und der von einem anderweltlichen coup d’état in diesem Elfenhügel erzählt.⁹⁹⁶ Eine Anderwelt, die sich nicht unbedingt innerhalb eines Hügels befindet, die aber durch die Passage durch eine Höhle zu erreichen ist, findet sich in der Erzählung von der „Anderweltsfahrt Neras“ (Echtra Nerai), die teils dem 8., teils der Zeit ab dem 10. Jahrhundert zugeschrieben wird.⁹⁹⁷ Als prominentes Beispiel für eine weitere häufige Lokalisierung der Anderwelt – ihre Lokalisierung unter dem Wasser – ließe sich etwa auf die „Anderweltsfahrt Loegaires“ (Echtrae Laegairi) aus dem 9./10. Jahrhundert verweisen.⁹⁹⁸ Die folgenden Seiten werden von den zwei ältesten erhaltenen narrativen Texten ausgehen, in denen Manannáns anderweltliche Insel der Unsterblichkeit und der Frauen behandelt wird: „Connles Anderweltsfahrt“ (Echtrae Chonnlai) und „Brans Seereise“ (Immram Brain). Im Anschluss an die immram Brans soll daraufhin das Thema der monastischen immram angesprochen werden, d. h. der in der irischen Literatur vielfach behandelten Suche christlicher Asketen nach einer Paradiesinsel im Ozean. Die letzten Abschnitte dieses Kapitels werden sich schließlich der Behandlung von Anderweltsinseln der Frauen und der Unsterblichkeit in der heroischen Literatur
992 Vgl. besonders Carey 2000 (1982/1983), ferner z. B. Radner 1985, S. 550; Chadwick 1967, S. 21 et passim. 993 Für Belegstellen vgl. Carey 2000 (1982/1983), S. 116 f. Zur ganz ähnlichen Variationsbreite der Lokalisierung der Anderwelt in der modernen irischen Folklore vgl. Ó Briain 1989, S. 191. 994 Zu einigen der Probleme des Begriffs áes síde vgl. Maier 2013, S. 111–114. 995 MacKillop 2004, S. 61. 996 Hgg. von Hull 1933; Datierung: S. 54. 997 Hgg. von Meyer 1889; zur Datierung siehe unten Anm. 1269. 998 Hgg. von Jackson 1942; Datierung: S. 377 f. Vgl. MacCulloch et al. 1908, S. 689 f.
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und der Frage ihrer realweltlichen geographischen Lokalisierung (oder vielmehr: der Vorstellung ihrer realweltlichen Lokalisierung) zuwenden.
5.1 Die immrama und die Lokalisierung der Anderwelt jenseits der und unter den Wassern 5.1.1 Die ältesten volkssprachlichen Zeugnisse: Echtrae Chonnlai und Immram Brain maic Febail Echtrae Chonnlai: Datierung und Inhalt Die kurze Erzählung Echtrae Chonnlai, „Connles Anderweltsfahrt“, stellt einen der ältesten erhaltenen narrativen Texte der irische Volkssprache dar.⁹⁹⁹ Der Text umfasst kaum drei Druckseiten, enthält trotz dieser Kürze jedoch bereits die Mehrzahl der für die vorliegende Diskussion relevanten Motive ebenso wie grundlegende und kontrovers diskutierte interpretative Probleme.¹⁰⁰⁰ Formal handelt es sich um eine Prosaerzählung mit eingestreuten Verspassagen, wobei die metrischen Abschnitte immer einer wörtlichen Rede entsprechen. Nach linguistischen Kriterien datiert Kim McCone den Archetyp, der den erhaltenen Handschriften dieses Texts zugrunde liegt, ins 8. Jahrhundert; eine Datierung ins 9. Jahrhundert hält er für deutlich weniger wahrscheinlich. Zudem legen vereinzelte Archaismen die Möglichkeit nahe, dass dieser Archetyp des 8. Jahrhunderts seinerseits eine modernisierte Fassung eines frühaltirischen Texts darstellte und Echtrae Chonnlai somit noch ins späte 7. Jahrhundert zurückreicht.¹⁰⁰¹ Dieses frühe Literaturwerk stellt möglicherweise das erste fassbare Zeugnis für das irische Genre der Erzählungen von Reisen in eine maritime Anderwelt (immrama) dar;¹⁰⁰² der ähnlich datierte Text Immram Brain wird in unmittelbarem Anschluss an die Besprechung von Echtrae Chonnlai zu behandeln sein. Die Handlung von Echtrae Chonnlai beginnt auf der Anhöhe von Uisnech, einer eng mit dem Hochkönigtum von Tara und damit dem Hochkönig von Irland verbundenen Versammlungsstätte, die als das Zentrum Irlands galt.¹⁰⁰³ Connlae steht an der Seite seines Vaters, des Hochkönigs Conn Cétchathach („Conn von den hundert Schlachten“). Da sieht er eine Frau „in ungewöhnlicher Kleidung“ (i n-étuch anetargnad). Er fragt sie nach ihrer Herkunft, worauf sie ihm in einer Strophe erläutert, dass sie „aus
999 Zuletzt hgg. und übersetzt von McCone 2000; für eine Edition mit zusammenhängender Übersetzung vgl. Pokorny 1928. Textzitate und Paragrapheneinteilung folgen McCones normalisiertem Text: McCone 2000, S. 121–123. Ausführlich zu älteren Ausgaben vgl. McCone 2000, S. 9–11. 1000 Für eine weit ausgreifende Diskussion verschiedener konkurrierender Forschungsmeinungen zu Inhalt und Deutung von Echtrae Chonnlai vgl. McCone 2000, S. 47–119; zuletzt vgl. Hollo 2011; Maier 2013. 1001 McCone 2000, S. 29–41, 44 f., bes. S. 41, 104 f. 1002 Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1743; vgl. McCone 2000, S. 47. 1003 Zu diesem Hintergrund siehe McCone 2000, S. 54; Hollo 2011, S. 119.
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den Ländern der Lebenden“ (a tírib béo) gekommen sei, wo es weder Tod noch Sünde gebe, sondern ewigwährende Festmähler und Frieden. Da niemand außer Connlae die Frau sehen kann, fragt Connlaes Vater verwundert, mit wem sein Sohn spricht; diese Frage wird ihm von der Frau in einer weiteren Strophe beantwortet, in der sie sich als eine „junge, schöne Frau“ vorstellt, „die weder Tod noch Alter entgegensieht“ (nad:fresci bás na sentaid) und die vom „Volk des Elfenhügels“ (áes síde) herstammt; den Namen áes síde („Volk des síd“) erklärt sie daraus, dass ihr Volk in einem großen Frieden (síd) lebt. Sie gesteht Connlae ihre Liebe und ruft ihn nach Mag Meld („Ebene der Freuden“), wo König Bóadag¹⁰⁰⁴ herrscht; wenn er ihr folgen wird, so verspricht sie ihm, dass er bis zum Tag des Jüngsten Gerichts in ewiger Jungend und Schönheit leben werde. Conn Cétchathach fordert daraufhin seinen Druiden (druí) auf, die Frau zu vertreiben, die ihm seinen Sohn rauben will; ein Gesang des Druiden treibt die Frau fort, doch wirft sie Connlae vor ihrem Verschwinden noch einen Apfel (ubull) zu. Für einen Monat ernährt sich Connlae ausschließlich von diesem Apfel, der dabei jedoch nicht weniger wird. Nun ergreift ihn Sehnsucht nach der Frau. Nachdem ein Monat verstrichen ist, befindet Connlae sich an der Seite seines Vaters auf der (vermutlich imaginären)¹⁰⁰⁵ Ebene von Arcommin. Dort erscheint die Frau erneut und spricht Connlae in einer weiteren Strophe an, in der sie sein gegenwärtiges Leben im Angesicht des Todes mit der Unsterblichkeit kontrastiert, die ihm ein Leben an ihrer Seite bieten würde: Die „ewig-lebenden Lebenden“ (bí bithbí) laden ihn zu den „Leuten des Tethra (oder: des Meeres)“ (do doínib T/tethrach) ein.¹⁰⁰⁶ Conn Cétchathach verlangt hierauf wieder die Hilfe seines Druiden; die Frau ermahnt ihn jedoch, von der druidischen Irrlehre abzulassen, da bald ein Gerechter ein neues Gesetz bringen und dem Druidentum ein Ende bereiten werde. In einem kurzen Wortwechsel mit seinem Vater bringt Connlae seine Zerrissenheit zwischen der Liebe zu seinen Leuten und der Sehnsucht nach der Frau zum Ausdruck. Da spricht die Frau drei weitere Strophen. Sie lädt Connlae auf ihr kristallenes/gläsernes Schiff (long glano) ein, um damit zum Elfenhügel/Frieden des Bóadag (síd Bóadaig) zu gelangen. Das andere Land sei fern, doch könnten sie es trotz der fortgeschrittenen Stunde des Tages noch vor Einbruch der Nacht erreichen. Dieses Land mache jedermanns Sinn froh; „dort gibt es kein anderes Geschlecht als Frauen und Mädchen allein“ (ní:fil cenél and nammá | acht mná ocus ingena). Daraufhin springt Connlae in das Schiff der Frau, und sie fahren davon. Imram moro do:génset nad:aicsea ó sin. „Eine Reise über das Meer ist, was sie machten, und sie wurden seitdem nicht mehr gesehen.“¹⁰⁰⁷
1004 Zur Namensform vgl. McCone 2000, S. 140. 1005 McCone 2000, S. 83, 165. 1006 Zu do doínib T/tethrach vgl. McCone 2000, S. 83 f.; Carey 1995 (Rhetoric), S. 55 f. (mit Anm. 64); de Vries 1961 (Religion), S. 258; Hull 1907, S. 132–134. 1007 Gegen Careys Versuch, dieses Ende der Erzählung als sekundären Zusatz aufzufassen (Carey 1987 [Crux]; Carey 1995 [Rhetoric], S. 59–61) vgl. McCone 2000, S. 91–95.
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Immram Brain: Datierung und Inhalt Echtrae Chonnlai steht nicht für sich allein, sondern ist sowohl chronologisch als auch in Hinblick auf die verarbeiteten Motive und die Handschriftenüberlieferung des Texts eng mit der Erzählung Immram Brain maic Febail assoziiert, der „Seefahrt von Bran Sohn von Febal“.¹⁰⁰⁸ Was die Handschriftenüberlieferung anbelangt, so fällt auf, dass die unabhängigen Textzeugen für Echtrae Chonnlai mit nur einer Ausnahme durchgehend auch Immram Brain enthalten;¹⁰⁰⁹ McCones Analyse des Stemmas von Echtrae Chonnlai und sein Vergleich dieses Stemmas mit dem Stemma von Immram Brain haben darüber hinaus ergeben, dass auch zwischen den Stemmata der beiden Texte eine auffallende Übereinstimmung besteht.¹⁰¹⁰ Dem entspricht eine übereinstimmende Datierung der Texte: Der Archetyp von Immram Brain ist nach McCones Analyse gleichfalls dem 8. Jahrhundert zuzuschreiben, wobei er auch hier eine Abfassung im späten 7. Jahrhundert für nicht auszuschließen hält.¹⁰¹¹ McCone hält es auf dieser Grundlage insbesondere für möglich, dass beide Texte schon in ihrer Erstfassung einen Teil derselben Handschrift bildeten.¹⁰¹² Sie sind sich zudem auch inhaltlich so ähnlich, dass sich eine Diskussion eines jeden dieser beiden Texte zugleich immer auch des anderen bewusst bleiben muss; die Parallelen reichen so weit, dass eine direkte literarische Zusammengehörigkeit der beiden Erzählungen heute allgemein angenommen wird.¹⁰¹³ Vor einer inhaltlichen Analyse von Echtrae Chonnlai ist es daher zunächst nötig, auch Immram Brain vorzustellen. Die Erzählung beginnt abrupt mit der zunächst unverständlichen und damit ungemein betonten Feststellung, dass „die Frau aus den Ländern der Wunder“ (in ben a tírib ingnad) dem Bran mac Febail in der Mitte seines königlichen Hauses fünfzig Strophen vortrug, als das Haus voll mit Königen war; sie wussten dabei nicht, woher die Frau kam, da die Wälle der Burg geschlossen waren. Erst hierauf heißt es: „Das ist der Anfang der Geschichte.“ (Is ed tossach in scéoil.) Die Handlung beginnt nun damit, dass Bran eines Tages bei einem Spaziergang in der Nähe seiner Burg hinter sich eine Musik hört, die ihn einschläfert. Als er wieder erwacht, findet er neben sich einen silbernen Zweig mit weißen Blüten; er nimmt diesen Zweig mit sich in sein
1008 Zuletzt hgg. und übersetzt von Mac Mathúna 1985; vgl. auch Meyer 1895, S. vii-41; van Hamel 1941, S. 1–19, 113–116, 120–124. 1009 McCone 2000, S. 1, 6. 1010 McCone 2000, S. 27–29, 108. 1011 McCone 2000, S. 43–47; akzeptiert von Mac Mathúna 2006 (Immram). 1012 McCone 2000, S. 47. 1013 Vgl. McCone 2000, S. 106–119; Carey 1995 (Interrelationship), S. 83–86; Carney 2000 (1976), S. 89; Carney 1955, S. 292; Nutt 1895, S. 148 f. Eine Alternative zu einem direkten literarischen Zusammenhang zwischen den beiden Texten wurde in den letzten Jahrzehnten nur von Dumville vertreten, der die detaillierten Übereinstimmungen, wie sie von der zitierten Literatur herausgearbeitet werden (vgl. zuletzt die Zusammenfassung des Forschungsstands bei McCone 2000, S. 107), auf einen parallelen Rückgriff auf gemeinsames Traditionsgut zurückführt: Dumville 1976, S. 86.
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Haus. Als dieses voller Menschen ist, erscheint eine Frau in wundersamem Gewand und trägt ihre Strophen vor. In diesen Strophen erklärt sie Bran, dass es sich bei dem silbernen Zweig um einen „Zweig vom Apfelbaum aus Emain“ (cróeb dind abaill a hEmain) handelt und schildert die Schönheit einer weit entfernten Insel voller Blüten und spielender Scharen. Diese Insel steht auf Füßen aus Edelmetall (cossa findru[i]ne foë)¹⁰¹⁴ und ist durch ungemeine Schönheit ausgezeichnet. Auf einem alten Baum rufen dort die Vögel die Stunden aus, und Kummer, Streit, Krankheit, Verfall und Tod sind unbekannt – gerade die Abwesenheit des Todes wird von mehreren Strophen betont. In diesem Land leben Tausende von Frauen inmitten des Meeres; seine dreimal fünfzig Inseln befinden sich fern im Westen im Ozean, jede zwei- oder dreimal größer als Irland. Nach der Schilderung dieses wundersamen Inselreichs wenden sich die Strophen der Frau einem neuen Thema zu und prophezeien die Geburt eines großen Königs, der die Welt geschaffen hat – Glossen in mehreren Handschriften nehmen die offensichtliche Interpretation vorweg, dass hier Jesus Christus gemeint ist. Schließlich wendet die Frau sich ausdrücklich an Bran und fordert ihn auf, zur Reise zum „Land der Frauen“ (Tír na mBan) aufzubrechen. Darauf verschwindet sie und nimmt den Zweig mit sich. Am folgenden Tag sticht Bran mit einer Mannschaft von dreimal neun Männern in See. Nach zwei Tagen auf See kommt ein Mann in einem Streitwagen auf sein Schiff zu, der über das Wasser fährt als wäre es trockenes Land. Dieser Mann stellt sich ihm als Manannán mac Lir vor; er erklärt Bran, dass er auf dem Weg nach Irland sei, um seinen Sohn Mongán zu zeugen, und singt weitere Strophen. In diesen Strophen erläutert er Bran zunächst seine Sicht des Meeres: Während Bran die See sieht, fährt Manannán über eine blühende Ebene, die er mit Mag Meld identifiziert. Unter dem Gebüsch spielen dort Männer und Frauen ein fröhliches Spiel „ohne Sünde, ohne Fall“ (cen peccad cen immarboss); Bran meint über die See zu fahren, doch sein kleines Schiff segelt über die Wipfel eine Waldes voller Früchte und Blüten, aber ohne Verfall. Manannán erläutert Bran in diesen Strophen ferner, dass er und sein Volk vom Anfang der Schöpfung stammen und dass Alter und Verfall sie nicht erreichen, da sie dem Sündenfall entgangen sind: Erst der Sündenfall brachte Leiden und Tod über die Menschen. Die düstere Aussicht, dass die Menschheit durch die Erbsünde dem Leid verfallen ist, relativiert Manannán jedoch durch eine Prophezeiung: Ein König werde kommen, der sowohl Mensch als auch Gott sein und Erlösung bringen wird. Glossen in einigen Handschriften deuten diesen König als Christus; diese zunächst offensichtlich scheinende Schlussfolgerung wird jedoch sogleich dadurch untergraben, dass Manannán in den nun folgenden Strophen bruchlos dazu übergeht, seine eigene Reise nach Irland zu prophezeien. Dort wird er seinen Sohn Mongán zeugen, der König werden wird; er wird mit den Bewohnern der Anderwelt auf gutem Fuß
1014 Bei findruine handelt es sich um eine silberhaltige Legierung, deren Wert zwischen dem von Gold und dem von Bronze lag; ihre genaue Zusammensetzung ist jedoch unklar: DIL s.v. ‚findruine‘.
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stehen, über arkanes Wissen und Wunderkräfte verfügen und nach einer tödlichen Verwundung in die Anderwelt entrückt werden. Manannán beschließt seine Rede mit der Aufforderung, Bran solle weiterrudern: Es sei nicht mehr weit bis zum Land der Frauen (Tír inna mBan), und er werde Emnæ noch vor Sonnenuntergang erreichen. Zunächst verliert Bran jedoch noch einen seiner Gefährten auf der „Insel der Freude“ (Inis Subai), auf die er vor seiner Ankunft im Land der Frauen trifft: Die Bewohner dieser Insel sind zu nichts fähig als dazu, Brans Schiff anzustarren und zu lachen. Als einer von Brans Männern die Insel betritt, erkennt er seine Gefährten nicht mehr und kann nur noch gaffen und lachen. Sie lassen diesen Mann auf der „Insel der Freude“ zurück und erreichen bald das Land der Frauen (Tír inna mBan). Am Hafen dieser Insel befindet sich eine Schar Frauen, deren Anführerin Bran willkommen heißt und zum Anlegen auffordert. Da Bran dies nach der vorangegangenen Erfahrung mit der „Insel der Freude“ nicht wagt, wirft sie ihm ein Garnknäuel zu; dieses haftet an Brans Handfläche, und sie zieht das Schiff so in den Hafen. Bran und seine Gefährten werden nun in ein großes Haus eingeladen, wo ein jeder von ihnen eine Kline und eine Frau bekommt und wo das Essen, das auf jeder Tafel aufgetragen wird, nie weniger wird, und wo ihnen kein Geschmack fehlt. Nach einer Zeit, die den Männern ein Jahr zu sein scheint, packt einen von Brans Gefährten das Heimweh und er bringt Bran dazu, nach Irland zurückzufahren. Die Frau warnt sie hiervor und rät ihnen insbesondere, nicht an Land zu gehen. Als Brans Schiffe an einem Versammlungsplatz die irische Küste erreichen, wird Bran von niemandem an Land erkannt; jedoch kennen die Iren an der Küste „Brans Seereise“ als eine ihrer alten Geschichten. Der von Heimweh geplagte Gefährte springt aus dem Boot und zerfällt zu Staub, als er den Boden Irlands berührt, ganz so, als hätte er Jahrhunderte in der Erde gelegen. Bran erzählt den Leuten an der Küste seine Geschichte und verabschiedet sich von ihnen; danach hat man nie wieder etwas von ihm gehört.
Echtrae Chonnlai und Immram Brain: Monastischer Kontext Trotz ihrer Kürze haben Echtrae Chonnlai und Immram Brain Interpretationen provoziert, die sich auf den ersten Blick ausgesprochen stark voneinander unterscheiden; die Bandbreite reicht dabei von Deutungen als im Kern authentisch-vorchristliche Erzählungen über eine Auffassung als durch und durch ekklasiastische Allegorien bis hin zur Deutung von Echtrae Chonnlai als humoristisches Pastiche.¹⁰¹⁵ Bei genau-
1015 Für (mehr oder weniger) stark vorchristlich-mythologisch ausgerichtete Zugänge vgl. etwa Dillon 1948, S. 101–107; Patch 1950, S. 30; Mac Cana 1972, S. 114–142; Mac Cana 1975; Mac Cana 2000 (1976); Dumville 1976 passim; Wagner 1981, S. 9; Löffler 1983 passim, bes. vgl. Bd. 1, S. 178–191; Mac Mathúna 1985, S. 238–285, bes. S. 262–267 (beachte jedoch auch die Betonung ekklesiastischer Elemente in Mac Mathúna 1994, S. 341–354); Radner 1985, S. 550; Lanczkowski 1986, S. 37–40; Carey 1987 (Time),
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erer Betrachtung unterscheiden sich diese differierenden Deutungen von Immram Brain und Echtrae Chonnlai jedoch weithin nur in der Auffassung und gegenseitigen Gewichtung von Einzelzügen und in der Deutung der Intention des Autors dieser Geschichten: Darüber, dass sich die beiden Erzählungen sowohl mit einheimischirischen, in ihrem Ursprung vorchristlichen Motiven als auch mit Elementen christlicher Gelehrsamkeit auseinandersetzen, besteht allgemeine Einigkeit. Kontrovers und mitunter stark polemisch diskutiert wurde letztlich nur die Frage nach dem Grad der Prägung dieser beiden Texte durch christliche Elemente, nicht die Frage der Existenz solcher Elemente.¹⁰¹⁶ Da für die gesamte erhaltene altirische Literatur eine Herkunft aus klösterlichen Skriptorien anzunehmen ist, ist am Vorhandensein solcher christlicher Elemente ohnehin wenig Überraschendes.¹⁰¹⁷ Die Frage nach dem Verhältnis zwischen christlicher Gelehrsamkeit und vorchristlichem Erbe ist für die Bewertung der mythischen Welt jenseits des Meeres (Mag Meld, „Länder der Lebenden“, „Land der Frauen“, etc.) jedoch von grundlegender Bedeutung, was es nötig macht, an dieser Stelle etwas weiter auszuholen. Auf der Ebene der äußeren Handlung beschreibt Echtrae Chonnlai, wie ein Königssohn mit Hilfe eines übernatürlichen Apfels und des Versprechens von Liebe und ewiger Jugend von einer unsichtbaren Frauengestalt von seiner Familie fortgelockt und in einem gläsernen oder kristallenen Schiff über das Meer in ein Land gebracht wird, in dem Glück, Friede und Unsterblichkeit herrschen und das nur von Frauen und Mädchen bevölkert ist. Handlungsreicher, aber durch ganz ähnliche Grundmotive geprägt ist Immram Brain: Hier verlockt eine übernatürliche Frauengestalt mit Hilfe eines silbernen Apfelbaumzweigs einen König, sich auf die Reise zum Land der Frauen zu begeben, wo es keinen Tod gibt und wo er und seine Mannschaft mit ihren neugefundenen Gefährtinnen ein wundersames, nicht endendes Gelage feiern, das sie der Zeitlichkeit der menschlichen Welt entrückt – solange sie nicht versuchen, in diese Welt zurückzukehren. Die Verbindung der Motive „übernatürliche Frauengestal-
S. 8 f.; Carey 1995 (Rhetoric) (beachte jedoch auch die Betonung christlich-gelehrter Elemente in Carey 2000 [1982/1983]; Carey 2000 [1989], S. 138–142; Carey 2006 [Voyage Literature], S. 1743 f.); Ó hAodha 2003, S. 142; Wooding 2009, S. 70 f.; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 81 f.; Sayers 2012, S. 218, 220 f. Für eine ekklesiastisch-allegorische Deutung vgl. Carney 1955, S. 280–294, bes. S. 282, 293; Carney 1969, S. 162–165; McCone 2000 passim, bes. S. 48–50, 53 f., 55, 71 f., 82, 84–91, 99–105, 114 f., 117–119; Hollo 2011; Wooding 2014, S. 103. Für eine (u. a.) humoristische Deutung von Echtrae Chonnlai vgl. Maier 2013. Grundsätzlich zur Berechtigung einer allegorischen Interpretation von Texten der frühen irischen Literatur vgl. Hollo 2011, S. 123–128. Die teilweise mit großer Schärfe geführte Diskussion zwischen Vertretern einer eher pagan-mythologischen und einer christlich-allegorischen Zugangsweise ordnet sich im größeren forschungsgeschichtlichen Zusammenhang der keltischen Philologie in den Kontext der Kontroverse zwischen den zwei „Schulen“ von Gelehrten ein, deren grundsätzliche Herangehensweisen konventionell als „nativist“ bzw. „anti-nativist“ bezeichnet werden; allgemein zu dieser Kontroverse vgl. Bergholm 2012, S. 21–25; Wooding 2009. 1016 Ausführlich vgl. zuletzt McCone 2000, S. 47–119; Maier 2013. 1017 Vgl. Ní Mhaonaigh 2006, S. 33.
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ten“, „Apfel(zweig)“, „Insel jenseits des Ozeans“ und „Land der Unsterblichkeit“ hat zunächst nichts offenkundig Christliches an sich, und dasselbe gilt für die Entrückung aus dem menschlichen Zeitablauf, die Bran widerfährt, sowie für das Kristallschiff, das Connlae fortträgt. Dies legt grundsätzlich die Annahme nahe, dass hier Traditionsgut verarbeitet wird, dessen Wurzeln eher in einheimischen irischen Vorstellungen als in etablierten christlichen Lehrmeinungen zu suchen sind. Zugleich handelt es sich jedoch sowohl bei Echtrae Chonnlai als auch bei Immram Brain deutlich um Erzählungen, die fest in eine christliche Kosmologie eingebettet, heilsgeschichtlich verortet und von einer Vielzahl christlicher Details und starken Anklängen an christliche Terminologien geprägt sind. So verspricht die Frauengestalt von Echtrae Chonnlai dem Königssohn kein ewiges Leben an ihrer Seite, sondern ein gemeinsames Leben bis zum Jüngsten Gericht (Echtrae Chonnlai § 5): Die „Ewigkeit“, welche die Frauengestalt ihrem Geliebten anbieten kann, bleibt auf den Rahmen dessen beschränkt, was sich in die Vorgaben der christlichen Heilsgeschichte einfügen lässt. Innerhalb dieser Heilsgeschichte markiert das Jüngste Gericht einen unumgehbaren Bruch; die Vorstellung einer Entrückung und Vermeidung des Todes bis zum Jüngsten Gericht ist, im Gegensatz zu einer unbegrenzten Vermeidung des Todes, jedoch auch in einem christlichen Rahmen akzeptabel, da sie sich auf den Präzedenzfall der Entrückung des Elias und des Enoch berufen kann.¹⁰¹⁸ Eine weitere explizite Bezugnahme der Frauengestalt auf ein zentrales Ereignis der christlichen Heilsgeschichte besteht in der Vorhersage der Bekehrung Irlands zu einem neuen Gesetz, welches das Druidentum ersetzen werde (Echtrae Chonnlai § 11); dabei bezieht die Frauengestalt klar Stellung gegen das Druidentum und für das neue Gesetz.¹⁰¹⁹ Sie tritt so als eine Prophetin des kommenden Christentums auf, die sich selbst eindeutig mit dem christlichen Heilsversprechen identifiziert. Dasselbe Motiv findet sich auch in Immram Brain, wo die Frauengestalt die Geburt eines Erlösers prophezeit, der deutlich als Jesus Christus aufzufassen ist (§§ 26–28). Hier scheint dieses Motiv sogar verdoppelt zu werden, da die Geburt eines Erlösers auch von Manannán mac Lir vorhergesagt wird, als dieser in seinem Streitwagen auf hoher See auf Bran trifft – wenngleich die unmittelbar auf diese Prophezeiung folgende Prophezeiung der Geburt Mongáns eine verwirrende potentielle Ambivalenz schafft (§ 48 und §§ 49–59); zumindest die mittelalterlichen Glossatoren hatten jedoch keinen Zweifel an der Bezugnahme von Manannáns erster Prophezeiung auf Jesus Christus.¹⁰²⁰ Von noch größerem Interesse ist Manannáns Erklärung seiner eigenen heilsgeschichtlichen Stellung. Bei Manannán mac Lir handelt es sich um eine derjenigen Gestalten der mittelalterlichen irischen Literatur, für die anzunehmen ist, dass es
1018 Siehe oben S. 58 und siehe unten S. 307 f., 317 ff. 1019 McCone 2000, S. 84 f., vgl. S. 86–88; Carey 1995 (Rhetoric), S. 56–58. 1020 Mac Mathúna 1985, S. 49, kritischer Apparat zu § 48 (Glossen in vier Handschriften). Vgl. Carey 1987 (Time), S. 8.
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sich bei ihnen um direkte Reflexe der Götterwelt des vorchristlichen Irland handelt.¹⁰²¹ Diese mehr-als-menschliche Natur Manannáns spiegelt sich in seinem Verhältnis zum Meer. Während Bran mit seinem Schiff über das Meer fährt, scheint Manannán sich in einer gänzlich anderen Ebene der Wirklichkeit zu bewegen: Er fährt mit seinem Streitwagen über die See und erläutert dem irischen König eine Sicht des Meeres, die von einem paradiesischen Land der Unsterblichkeit kündet und wenig mit dem gemein hat, was Bran mit seinen menschlichen Augen sieht (§§ 33–43). Der Erklärung dieses Umstands widmet Manannán eine eigene Strophe (§ 44): Fil dún ó thossuch dú(i)le cen aíss, cen forbthe n-ú(i)re, ní-frescam de mbeth anguss, nín-táraill int immarbuss.¹⁰²² Wir stammen vom Beginn der Schöpfung ohne Alter, ohne Verfall von Frische, nicht erwarten wir die Kraftlosigkeit der Auszehrung, der Fall hat uns nicht berührt.
Die Stellung Manannáns und seines Volkes beruht darauf, dass sie vom Anfang der Schöpfungsgeschichte stammen und so alt sind, dass sie dem immarbuss entgangen sind, dem Sündenfall.¹⁰²³ Der Verfasser dieser Passage entscheidet sich hier für eine Strategie, die innerhalb der Geschichte der Christianisierung Europas nur in Irland Anwendung gefunden hat, wo sie jedoch mehrfach belegt ist:¹⁰²⁴ Die alten Götter der vorchristlichen Zeit werden nicht euhemerisiert oder als satanische Verführer verdammt, sondern sie werden in die christliche Heilsgeschichte als Wesen eingeordnet, die geboren wurden, ehe der Sündenfall die Menschheit zum Leiden verdammte. Die folgenden Strophen von Immram Brain führen gerade diesen Punkt breiter aus: Die durch die Schlange herbeigeführte Verfehlung führte zu dem Verfall der Welt, der Krankheit, Tod und Qual mit sich brachte (§§ 45–47). Die glückselige Unsterblichkeit eines Manannán wird so in die Heilsgeschichte eingeordnet als ein Relikt der Glückseligkeit vor dem Fall und eine Erinnerung an den Zustand vor der Vertreibung aus dem Paradies.
1021 Dies stellt die communis opinio dar (vgl. etwa Maier 2005 [Imaginary Journeys], S. 166 f.); allgemein zu Manannán mac Lir vgl. Carey 2007 (Grail), S. 63 f.; Busse und Koch 2006; Bromwich 2006, S. 432–434; MacKillop 2004, S. 322–324; Birkhan 1997, S. 507, 676–683, 716; Spaan 1965; de Vries 1961 (Religion), S. 86 f.; Vendryes 1952–1954. 1022 Text: MacMathúna 1985. 1023 Vgl. DIL s.v. ‚immarmus‘. 1024 Vgl. Edel 2001, S. 86; Carey 1995 (Rhetoric), S. 44 f.; Mac Mathúna 1994, S. 345; Carey 1987 (Chinese), S. 75–77; Mac Cana 2000 (1976), S. 57; Carney 1969, S. 165 (=Carney bei McCone 2000, S. 50); ausführlich vgl. Carey 1999 (Single Ray), S. 1–38.
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Eine solche Durchdringung von Immram Brain und Echtrae Chonnlai mit christlichem Gedankengut lässt sich auch auf der Ebene der Begrifflichkeit beobachten. Wenn für die Herkunft der Frauengestalt von Echtrae Chonnlai angegeben wird, dass sie „aus den Ländern der Lebenden“ (a tírib béo) stamme (§ 3), so stellt diese Ortsbezeichnung allem Anschein nach eine Bezugnahme auf das ekklesiastische Konzept der terra viventium dar, die seit den Kirchenvätern einen paradiesischen Jenseitsbereich bezeichnet.¹⁰²⁵ Diese Auffassung findet sich etwa an prominenter Stelle im Werk des Isidor von Sevilla;¹⁰²⁶ aus einer irischen Feder lässt sich auf eine Passage im Periphyseon des Johannes Scottus Eriugena verweisen, wo dieser die terra viventium mit der mystisch gedeuteten terra repromissionis gleichsetzt und als einen Ort auffasst, an dem die Heiligen die Seligkeit sowohl des Körpers als auch der Seele besitzen werden: terra viventium, in qua sancti duplicia possidebunt, hoc est, corporis et animae felicitatem („das Land der Lebenden, in dem die Heiligen zweierlei besitzen werden, das heißt, die Seligkeit von Körper und Seele“: Periphyseon IV.26).¹⁰²⁷ Eine ähnliche patristische Leseweise ist auch möglich für Mag Meld, die „Ebene der Freuden“, die in der folgenden Strophe von Echtrae Chonnlai als Bezeichnung des Ortes fungiert, an den die Frauengestalt Connlae einlädt (§ 5), und die Manannán in Immram Brain als Bezeichnung der blühenden Ebene verwendet, die Bran als die See erscheint (§ 39): Diese Bezeichnung evoziert die Schilderung des irdischen Paradieses in den Etymologien des Isidor von Sevilla, wo Isidor das irdische Paradies als einen „Garten der Freuden“ bezeichnet (hortus deliciarum: Etymologiae XIV.iii.2).¹⁰²⁸ Sogar das Apfelmotiv könnte man in einem solchen christlichen Zusammenhang sehen.¹⁰²⁹ In beiden Texten bildet ein Apfel bzw. Apfelzweig einen wesentlichen Teil der Strategie, mit der die Frauengestalten Connlae und Bran in ihre Welt locken: In Echtrae Chonnlai wirft die Frauengestalt Connlae einen Apfel zu, der ihm für einen Monat als seine ausschließliche Nahrung dient (§§ 7 f.), und in Immram Brain kehrt die verlockende Kraft des Apfels in Gestalt des „Zweigs vom Apfelbaum aus Emain“ (cróeb dind abaill a hEmain) wieder (§§ 2 f., 31). Beides ließe sich als Anspielung auf
1025 Maier 2013, S. 120; Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 70 f.; Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 168; Maier 2005 (Roman), S. 43; McCone 2000, S. 55 f.; Carey 1995 (Rhetoric), S. 45 f.; vgl. Carey 2006 (Otherworld), S. 1404; anders (mit Annahme einer vorchristlichen Verwurzelung des Begriffs): Dumville 1976, S. 81 f.; unter Vorbehalt auch Oskamp 1970, S. 78–85. Zur terra viventium siehe oben S. 45. 1026 Siehe oben Anm. 158. 1027 Patrologia Latina t.CXXII, c.858D–859A. Zu den biblischen Wurzeln der terra repromissionis vgl. Semmler 1993, S. 110 mit Anm. 41. 1028 Patrologia Latina t.LXXXII, c.496C; siehe oben S. 49 und vgl. ähnlich Maier 2013, S. 121. Dumville 1976, S. 79 f. und Oskamp 1970, S. 84 betrachten Mag Mell hingegen als irisch-heidnischen Begriff, ähnlich implizit wohl auch Carey 1995 (Rhetoric), S. 50 f. 1029 Vgl. schon Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 170 mit dem Hinweis auf eine mögliche Parallele zwischen dem Apfel in Echtrae Chonnlai und dem Symbolismus des Apfels in der patristischen Literatur. Mac Mathúna 1994, S. 342 deutet den Apfelbaumzweig der Frauengestalt von Immram Brain als sowohl Symbol der einheimischen irischen Anderwelt als auch Metapher für den Garten Eden.
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Isidor lesen. Im mittellateinischen Sprachgebrauch verengt sich die Bedeutung von pomum von der klassisch-lateinischen Semantik als „Frucht (allgemein)“ zu „Apfel (spezifisch)“,¹⁰³⁰ und solche poma nehmen auch in der Paradiesschilderung Isidors eine zentrale Stellung ein: Er rechtfertigt die Bezeichnung des irdischen Paradies als hortus deliciarum dadurch, dass es omni genere ligni et pomiferarum arborum consitus sei (Etymologiae XIV.iii.2).¹⁰³¹ Das irdische Paradies Isidors, das Land der Lebenden jenseits des Meeres in Echtrae Chonnlai und Manannáns Paradies in Immram Brain tragen also nicht nur nahezu denselben Namen, sondern an diesen Orten wachsen auch dieselben Früchte. Dabei mag zudem von Interesse sein, dass das irdische Paradies nach Isidor nicht nur „apfeltragende Bäume“ enthält, sondern auch das lignum vitae (ibidem; vgl. Genesis 3.24):¹⁰³² Auch in diesem „Garten der Freuden“ lockt ein Versprechen der Unsterblichkeit.¹⁰³³ Eine ähnlich ekklesiastische Stoßrichtung dürfte die Volksetymologie haben, die die Frauengestalt von Echtrae Chonnlai in der ersten von ihr gesprochenen Strophe (§ 3) für áes síde vorschlägt. Dieser gewöhnlich als „Volk des Elfenhügels“ (o. ä.)¹⁰³⁴ übersetzte Ausdruck ist eine konventionelle irische Bezeichnung für die Bewohner der Anderwelt (síd);¹⁰³⁵ hier wird der Begriff jedoch nicht mit síd i.S.v. „Elfenhügel, Anderwelt“¹⁰³⁶ verbunden, sondern mit síd i.S.v. „Frieden“¹⁰³⁷ – womit nochmals unterstrichen wird, dass es sich bei diesem „Volk des Friedens“ um die Bewohner eines ganz christlichen Paradieses handelt.¹⁰³⁸ McCone hat ferner darauf hingewiesen, dass auch der Name des Herrschers über dieses „Volk des Friedens“ hier relevant sein mag: Bei Bóadag (Echtrae Chonnlai § 5) könnte es sich um eine Variante von búadach „siegreich“ handeln, was in der altirischen Literatur häufig als Epithet von Heiligen und in vergleichbaren Verwendungsweisen bezeugt ist.¹⁰³⁹ Auch der Name des Königs über
1030 Siehe oben Anm. 675. 1031 Patrologia Latina t.LXXXII, c.496C; siehe oben S. 49. 1032 Patrologia Latina t.LXXXII, c.496C; siehe oben S. 49. 1033 Vgl. oben S. 47 f. 1034 Vgl. DIL s.v. ‚1 síd‘; Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 56; Carey 2006 (Otherworld), S. 1404; Maier 2005 (Roman), S. 42; Sims-Williams 1990, S. 61 f., 70. 1035 Vgl. etwa DIL s.v. ‚1 síd‘, Z. 74; Carey 2006 (Otherworld), S. 1404; Koch 2006 (Síd); Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 163; Sims-Williams 1990, S. 61. 1036 DIL s.v. ‚1 síd‘. 1037 DIL s.v. ‚2 síd‘; McCone 2000, S. 56 f. Zur Frage, ob die beiden Begriffe síd „Elfenhügel“ und síd „Frieden“ als ursprünglich zusammengehörig oder als bloße Homonyme aufzufassen sind, wurden in der Forschung unterschiedliche Meinungen vertreten; vgl. etwa Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 56 (mit Anm. 18); Carey 2006 (Otherworld), S. 1404; Koch 2006 (Síd); Sims-Williams 1990, S. 61; Hamp 1982; Ó Cathasaigh 1977–1979. 1038 McCone 2000, S. 56 f.; vgl. Maier 2013, S. 123; Hollo 2011, S. 118; Carey 1995 (Rhetoric), S. 47. 1039 McCone 2000, S. 94 f., vgl. aber auch ibidem S. 140. Für eine andere Interpretation – als Name eines vorchristlichen Anderweltsfürsten – vgl. Carey 1995 (Rhetoric), S. 51. Für eine Deutung als Verweis auf den Sieg Christi über den Tod vgl. Maier 2013, S. 120.
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dieses in so auffallend christlich anmutenden Begriffen beschriebene Paradies mag also auf das Christentum verweisen. In den späten 1960er Jahren suchte James Carney den sozialen Kontext von Echtrae Chonnlai in der klösterlichen Novizenausbildung: Texte wie Echtrae Chonnlai hätten hier als Lehrmaterial für den Erwerb der Lese- und Schreibfähigkeit in der Volkssprache gedient. Die Relevanz der Handlung des Texts für einen solchen Leserkreis hätte dabei in einem Beitrag zur Bewältigung der intellektuellen Herausforderungen bestanden, denen sich ein Ire in der Frühzeit des irischen Christentums bei dem Versuch gegenübergestellt sah, ererbte einheimische Vorstellungen mit denen der christlichen Klosterkultur seiner Zeit in Einklang zu bringen: „The tale is partly an effort to rationalise the virtually ineradicable Irish belief in ‘fairies’, or ‘Otherworld Beings’.“ Der Mechanismus dieser Rationalisierung wird dabei besonders aus Immram Brain deutlich (dem sich eine Reihe von parallelen Zeugnissen an die Seite stellen ließe): Bei den Einwohnern der Anderwelt handle es sich um Wesen, die vor dem Sündenfall geboren wurden; dies ordnet sie, wie oben ausgeführt, in den Rahmen der christlichen Kosmologie und Heilsgeschichte ein und macht die Vorstellung von solchen Wesen damit zu einem gewissen Grad akzeptabel. Darüber hinaus verband Carney die Handlung von Echtrae Chonnlai insbesondere mit der Situation eines jungen Klosterschülers, der sich wie Connlae dazu überwinden muss, alles andere – und insbesondere seine Familie – um des ewigen Lebens willen aufzugeben.¹⁰⁴⁰ Diese Zugangsweise wurde in jüngster Zeit von McCone aufgegriffen. McCone liest Echtrae Chonnlai stark allegorisch. Für die Frauengestalt, die Connlae zu sich in das Land der Lebenden einlädt, vertritt er eine doppelte Interpretation (wobei er sich zum Verhältnis der zwei von ihm verfolgten Interpretationsansätze zueinander nicht äußert). Sein Hauptansatz ist eine Deutung dieser Figur als Inversion eines etablierten Motivs der einheimischen irischen Literatur: Er interpretiert die Frauengestalt primär als ein Spiel mit dem weithin geläufigen Motiv einer „Göttin des Landes“ und weiblichen Personifizierung der Königsmacht, die typischerweise einen Anwärter auf das Königtum heiratet und ihm damit die Herrschaft überträgt.¹⁰⁴¹ Ein solches literarisches Spiel ist jedoch als Erklärungsansatz wenig befriedigend, da sich kaum konkrete Berührungspunkte zwischen Connlaes Schicksal und dem Motiv der Übertragung der Königsmacht durch die Heirat eines Thronanwärters mit einer weiblichen Personifizierung des Königtums ausmachen lassen: Das Land der Lebenden, in das Connlae der Frau folgen soll, hat bereits einen König (den besagten Bóadag), so dass
1040 Carney 1969, S. 164 f. (Zitat: S. 165). Carneys Diskussion ist auch nachgedruckt bei McCone 2000, S. 48–50; vgl. McCone 2000, S. 117 f.; Carey 1995 (Rhetoric) passim, bes. S. 63 f.; Radner 1985, S. 551. 1041 McCone 2000, S. 47–119 passim, bes. S. 54, 85, 96, 103, 106, 115; McCone 1990, S. 157 f. Zum Motiv der Heirat des Thronanwärters mit einer weiblichen Personifizierung des Königtums bzw. einer „Souveränitätsgöttin“ vgl. etwa Egeler 2012; McCone 1990, S. 107–137; Mac Cana 1955–1959; Breatnach 1953; O’Rahilly 1946 (Origin), S. 17–21; Thurneysen 1933; Thurneysen 1929; Ó Máille 1928.
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ihn dort keine Königswürde erwarten dürfte. Zudem gewinnt Connlae durch seine Entscheidung zugunsten der Frauengestalt nicht nur keine Königswürde, sondern er verliert sie sogar: Dadurch, dass er der Frau folgt, verzichtet er darauf, seinem Vater Conn Cétchathach im Hochkönigtum von Tara nachzufolgen.¹⁰⁴² Natürlich lässt sich McCones Annahme, dass das Motiv der weiblichen Souveränitätsgestalt in Echtrae Chonnlai auf den Kopf gestellt wird,¹⁰⁴³ nicht im eigentlichen Sinne widerlegen: Der massive Kontrast zwischen diesem etablierten Motiv und der Handlung von Echtrae Chonnlai lässt sich immer in McCones Sinne als bewusster Kontrapunkt zum normalen Schema dieses Motivs deuten. Ebenso lässt sich das Fehlen klarer Übereinstimmungen jedoch auch dahingehend interpretieren, dass zwischen der Handlung von Echtrae Chonnlai und dem Motiv der Heirat des Thronanwärters mit einer weiblichen Personifizierung des Königtums keine Beziehung besteht. Gleichermaßen weder zu widerlegen noch zu erweisen ist McCones zweite Deutung der Frauengestalt: Er hält es für offensichtlich, dass die Frauengestalt, die Conn Cétchathach vor dem Druidentum warnt und sich breit zum Sieg des Christentums über das Druidentum äußert (Echtrae Chonnlai § 11), als ein Symbol der Kirche aufzufassen sei.¹⁰⁴⁴ Um diese Deutung zu untermauern, weist McCone darauf hin, dass der Konflikt zwischen der Frauengestalt und Conn Cétchathach über das weitere Schicksal Connlaes dem Konflikt entspricht, der sich in Muirchús Biographie des Hl. Patrick aus dem 7. Jahrhundert zwischen dem christlichen Missionar und den irischen Druiden entfaltet: „the woman’s struggle with the druid over the royal heir mirrors Patrick’s conflict with the druids over king Lóegaire in Muirchú’s narrative, thus placing her and the saint in the same functional slot.“¹⁰⁴⁵ Diese schlagende Parallele stellt zwar keinen zwingenden Grund dafür dar, eine solche Interpretation von Echtrae Chonnlai zu vertreten,¹⁰⁴⁶ sie zeigt aber immerhin auf, dass diese Interpretation eine plausible Möglichkeit darstellt. Weniger signifikant ist demgegenüber McCones Hinweis darauf, dass die drei von der Frauengestalt gesprochenen Strophen durch lateinische Phrasen eingeleitet werden (mulier respondit: §§ 3, 5; mulier dixit: § 14), und dass solche lateinische Einleitungen in diesem Text ausschließlich für Reden
1042 Vgl. McCone 2000, S. 54, 129 zur Implikation von Echtrae Chonnlai, dass es sich bei Connlae um den Thronfolger handelt. Keine Grundlage hat das Postulat Careys, dass Connlae in der Anderwelt die Königswürde erwartet (Carey 2007 [Grail], S. 242 mit Anm. 66); gegen die diesem Postulat zugrundeliegende Übersetzung von air. barr als „Krone“ vgl. McCone 2000, S. 143; DIL s.v. ‚1 barr‘. 1043 Vgl. McCone 2000, S. 85, 106. 1044 McCone 2000, S. 88; McCone 1990, S. 81 f. 1045 McCone 2000, S. 100, vgl. S. 105 („She thus prefigures Patrick typologically and symbolises the Church allegorically“). 1046 So hat etwa bereits Newstead 1946, S. 945 verschiedene Stellen in der arthurischen Literatur zusammengestellt, die ähnlich enge Parallelen zur Auseinandersetzung um Connlae in Echtrae Chonnlai darstellen und sich daher – falls man so wollte – als Indizien für einen ‚traditionellen‘ Charakter des Motivs deuten lassen könnten.
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der Frauengestalt Verwendung finden. McCone hält dies für bedeutungsvoll, da das Lateinische die Sprache der Kirche sei.¹⁰⁴⁷ Hiergegen ist jedoch daran zu erinnern, dass auch die poetische Rede der Frau des Mac Dathó in den „Geschichten vom Schwein des Mac Dathó“ (Scéla Mucce Meic Dathó) mit einem dixit eingeleitet wird (§ 3).¹⁰⁴⁸ Da letztere Rede sich gänzlich im Rahmen der heroischen Erzählwelt bewegt und ihre Sprecherin sich schwerlich mit der Kirche identifizieren lässt, illustriert dies, dass auch die Wahl einer lateinischen Phrase zur Einleitung der poetischen Reden der Frauengestalt in Echtrae Chonnlai keine Rückschlüsse auf einen eventuellen kirchlichen Symbolismus dieser Figur erlaubt. Falls die Wahl des Lateinischen hier überhaupt eine Signifikanz hat (was keineswegs als gegeben vorausgesetzt werden kann), ließe sich z. B. spekulieren, ob das Lateinische als Sprache höherer Bildung mit der kunstvoll-dichterischen Form der so eingeleiteten Reden korreliert.¹⁰⁴⁹ Mit erheblichen Problemen sieht sich auch der Versuch konfrontiert, im Rahmen einer monastischen Allegorie eine Erklärung für die Verbindung der Frauengestalt mit einem Apfel zu finden. McCone vertritt die Auffassung, dass es sich beim Apfel, mit dem die Frauengestalt von Echtrae Chonnlai den Königssohn in ihre paradiesische Welt lockt, um eine bewusste Inversion des verbotenen Apfels des Sündenfalls handelt, mit dem Eva Adam verführte (Genesis 3.1–24).¹⁰⁵⁰ Hiergegen ist jedoch einzuwenden, dass es sich beim Apfel des Sündenfalls um ein so prominentes Bild der christlichen Heilsgeschichte handelt, dass die Möglichkeit, dieses Bild zu invertieren, grundsätzlich in Frage zu stellen ist: Das Motiv der Überreichung eines Apfels durch eine Frau ist so fundamental negativ konnotiert, dass der Verfasser von Echtrae Chonnlai im Falle einer bewussten Anspielung auf dieses Bild unvermeidlich damit rechnen müsste, dass das Motiv auch in Echtrae Chonnlai in diesem Sinne aufgefasst würde. Oder anders gesagt: Wenn die Überreichung des Apfels durch eine Frau in Echtrae Chonnlai mit der Überreichung des Apfels durch Eva in Genesis 3 zu verbinden ist, dann folgt daraus nahezu unvermeidlich, dass Connlaes Verführung als negativ
1047 McCone 2000, S. 88; ähnlich: Hollo 2011, S. 121. 1048 Hgg. von Thurneysen 1935. 1049 McCone zieht für seine Lesung der Frauengestalt von Echtrae Chonnlai als Symbol der Kirche ferner das Hohelied Salomos heran und sieht in der Frauengestalt von Echtrae Chonnlai eine Entsprechung zur Braut des Hohelieds, die etwa von Gregor dem Großen allegorisch als die Kirche gedeutet wurde: McCone 1990, S. 80–82; McCone 2000, S. 100–104; ähnlich: Hollo 2011, S. 120 f. Dieser Ansatz wird abgelehnt von Carey 1995 (Rhetoric), S. 64 f., u. a. da eine solche Anspielung auf das Hohelied nach Carey nicht mit den ansonsten belegten Rezeptionsweisen dieses Texts übereinstimmen würde. Ebenfalls wenig überzeugend ist der Vorschlag Maiers (Maier 2013, S. 127–129), das „Land der Frauen“ aus einem äthiopischen apokryphen Text herzuleiten; er scheitert insbesondere daran, dass zwischen der Schilderung, die in diesem apokryphen Text gegeben wird, und dem irischen „Land der Frauen“ keine Ähnlichkeiten erkennbar sind, die die Annahme einer Verbindung zwischen den fraglichen Texten rechtfertigen würden (für ein Zitat der entsprechenden Passage vgl. Maier 2013, S. 128). 1050 McCone 1990, S. 82; trotz der gut begründeten Ablehnung durch Carey 1995 (Rhetoric), S. 64 f. wiederholt in McCone 2000, S. 99 f., 105.
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gewertet aufgefasst werden muss. In diesem Fall würde sich jedoch eine unüberbrückbare Spannung zwischen der negativ konnotierten Verführung vermittels des Apfels und der paradiesischen Schilderung der transmarinen Wunderwelt der Frau ergeben. Falls eine Verbindung zwischen dem Apfel und den Früchten des Paradieses besteht, so scheint diese Verbindung nur in dem allgemeineren Sinne gangbar, in dem sie von Bernhard Maier vertreten wird: Maier weist auf den christlichen Topos himmlischer Nahrung hin, der seit dem Manna des Alten Testaments (z. B. Exodus 16.4) eine wichtige Rolle spielt und sich durch die frühchristliche Literatur ebenso zieht wie durch die Literatur des christlichen Mittelalters; der Apfel von Echtrae Chonnlai lässt sich so als ein buchstäblicher Vorgeschmack auf das Paradies deuten.¹⁰⁵¹ Zu dieser Interpretation ist freilich festzuhalten, dass sie zwar gangbar ist und eine plausible christliche Leseweise des Tableaus von Echtrae Chonnlai aufzeigt, aber nicht erklären kann (oder zu erklären versucht), warum ein solcher himmlischer Apfel gerade in der Hand einer Frauengestalt erscheint. Der letztgenannte Punkt ist im gegenwärtigen Kontext jedoch von besonderer Bedeutung. Aus dem Gesagten dürfte deutlich geworden sein, dass Echtrae Chonnlai in einem so großen Maße von christlicher Bildlichkeit und Begrifflichkeit durchdrungen ist, dass es unmöglich ist, in diesem Text einen unmittelbaren Reflex vorchristlichen Gedankenguts zu sehen. Die auf den ersten Blick vermeintlich vorchristlich-anderweltliche Frauengestalt könnte sogar als eine Allegorie der christlichen Kirche aufzufassen sein, dürfte aber in jedem Fall die Spannung zwischen weltlichem Leben und dem Lockruf der Unsterblichkeit ansprechen, wie sie vor dem Sündenfall herrschte und vom monastischen Leben angestrebt wird. John Carey schlägt in diesem Sinne sogar vor, dass die Komposition von Echtrae Chonnlai eine direkte Antwort auf Ereignisse des Jahres 688 dargestellt haben könnte: In diesem Jahr legte der damalige König von Tara, Fínnechta Fledach mac Dúnchada, sein Amt zugunsten des monastischen Lebens nieder – wenn auch nur für ein Jahr.¹⁰⁵² Auch Immram Brain ließe sich in einem solchen Kontext sehen: McCone hat diese Erzählung hypothetisch an die Gestalt des Fínnechtae angeschlossen, indem er hervorhob, dass Fínnechtae das monastische Leben nach einem Jahr aufgab und wieder sein Amt als König antrat; dies ließe sich in Beziehung dazu setzen, dass Bran das paradiesische Land der Frauen nach (wie er meint) einem Jahr wieder verlässt, um einen zum Scheitern verurteilten Versuch zu unternehmen, nach Irland zurückzukehren.¹⁰⁵³ Dabei fasst McCone Echtrae Chonnlai und Immram Brain als ein bewusst geplantes Diptychon von zwei unmittelbar aufeinander bezogenen Erzählungen auf, die sich aus zwei komplementären Perspektiven mit der Spannung zwischen weltlichem und klösterlichem Leben befassen und
1051 Maier 2013, S. 124–126. Mit etwas anderer Stoßrichtung vgl. auch Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 170. 1052 Carey 1995 (Interrelationships), S. 89; akzeptiert von McCone 2000, S. 104. 1053 McCone 2000, S. 118 f.
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die Frage beleuchten, wie die Entscheidung zwischen beiden richtig zu treffen ist; in McCones Auffassung stellt Echtrae Chonnlai ein Positivbild und Immram Brain ein Negativbild für eine solche Entscheidungsfindung dar.¹⁰⁵⁴ In Echtrae Chonnlai beruht die Entscheidung des Königssohns, seine Familie zu verlassen und der Frauengestalt zu folgen (die in dieser Leseweise die Kirche symbolisiert), auf gründlicher, einsamer, von innerlichem Konflikt geprägter Überlegung; Connlaes letztendlichem Aufbruch geht dabei eine Phase voran, in der er sich nur noch vom Apfel der Frauengestalt ernährt, d. h. sich aus seinem weltlichen Umfeld bereits ablöst.¹⁰⁵⁵ Diese gleichermaßen langwierige und schwierige Entscheidungsfindung führt zu einem Aufbruch, der ihn in die „Länder der Lebenden“ führt, d. h. in symbolischer Leseweise: Die wohlüberlegte Entscheidung für das monastische Leben ebnet ihm den schwierigen, aber letztlich gangbaren Weg ins Paradies. In Immram Brain hingegen fehlt eine solche Phase des innerlichen Überdenkens der Entscheidung, der Frauengestalt zu folgen; und ganz im Gegensatz zu Connlaes langsamer, aber letztlich endgültiger Entrückung aus seinem weltlichen Umfeld, die auch seinen Abschied von seiner Familie beinhaltet, bricht Bran nicht nur schnell, sondern auch mit einer großen Zahl an Gefährten auf. Bran trennt sich somit nicht von seinem früheren weltlichen Umfeld, sondern trifft einen spontanen und oberflächlichen Entschluss, der keine wirkliche Abkehr von seinem Leben als König beinhaltet. Eine direkte Folge dieser fehlenden Vorbereitung und mangelnden Tiefe der Entscheidung ist, dass Brans Abkehr von seinem früheren Leben bald einen herben Rückschlag erleidet: Schon nach einem Jahr bringt ihn einer seiner Gefährten dazu, wieder in die Welt zurückzukehren – ein Versuch, der jedoch zum Scheitern verurteilt ist und nur Leiden nach sich zieht. Eine solche Interpretation von Echtrae Chonnlai und Immram Brain ist in Anbetracht der Spärlichkeit der Überlieferung sicherlich nicht die einzige Deutung, die sich für diese Erzählungen vorschlagen lässt.¹⁰⁵⁶ So hat sich neuerdings etwa Kaarina Hollo gegen eine Deutung der Frauengestalt als eine Allegorie der Kirche gewandt und stattdessen eine Auffassung als Allegorie der göttlichen Weisheit vorgeschlagen,¹⁰⁵⁷ Carey deutet die Frauengestalt als vorchristlich-anderweltliche Prophetin des kommenden Christentums („a pre-Christian harbinger of Christian revelation, unfallen and divinely inspired“),¹⁰⁵⁸ und Maier schlägt vor, dass die Verbindung offenkundig christlicher Elemente mit Motiven der vorchristlichen Mythologie primär der Unterhaltung
1054 Vgl. ausführlich McCone 2000, S. 109–119, bes. S. 109–111, 113 f., schlußfolgernd: „Echtrae Chonnlai displays an essentially positive and Immram Brain an essentially negative paradigm of the quest for eternal life as linked to anchoritic or monastic ideals. In this context the basic message of the former boils down to ‘look before you leap’, while that of the latter can be aptly expressed as ‘act in haste, repent at leisure’.“ (Zitat: S. 114.) 1055 McCone 2000, S. 110, vgl. S. 81 f. 1056 Vgl. Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 170. 1057 Hollo 2011, S. 122 f. 1058 Carey 1995 (Rhetoric), S. 64 f.; vgl. Hollo 2011, S. 124.
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gedient haben könnte.¹⁰⁵⁹ Allgemein außer Frage steht jedoch die tiefe christliche Prägung beider Texte, und die Möglichkeit von McCones Interpretation dieser Erzählungen unterstreicht eindringlich, wie problematisch die Verwendung solcher Zeugnisse zur Rekonstruktion von Vorstellungen der vorchristlichen Mythologie Irlands sein kann.¹⁰⁶⁰ Nichtsdestoweniger steht jedoch auch das Fortleben einzelner vorchristlicher Motive in Texten wie Echtrae Chonnlai und Immram Brain nicht in Frage; das grundsätzliche methodologische Problem ist allerdings in vielen Fällen, wie sich die vorchristliche Verwurzelung eines Motivs in Anbetracht der christlichen Prägung solcher Zeugnisse plausibel machen lässt. Um einer Lösung dieser Frage näher zu kommen, müssen in den folgenden Abschnitten zunächst jedoch noch einige Aspekte des christlich-monastischen Hintergrunds und des literarischen Kontexts dieser Texte erläutert werden.
1059 Maier 2013, S. 131. Ebenso gangbar, und mit diesem neueren Ansatz nicht unvereinbar, ist Maiers einige Jahre früher vorgebrachter Vorschlag, die Entrückung Connlaes als eine legendenhafte Erzählung von der Entrückung eines herausragenden Mannes ins Paradies zu deuten, wie sie als Genre auch in jüdischen, christlichen und islamischen Kontexten mehrfach bezeugt ist: Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 169 f. 1060 Der Vollständigkeit halber sei angemerkt, dass die Verwendung christlicher Terminologien in Echtrae Chonnlai und Immram Brain und Ansätze zur Deutung dieser Erzählungen wie McCones allegorische Leseweise nicht die einzigen Gründe dafür sind, dass die Handlung dieser Texte sich nicht als eine getreue Verarbeitung vorchristlichen Erzählgutes betrachten lässt: Andeutungen in frühen irischen Texten scheinen eine Form der Bran-Sage vorauszusetzen, die nicht mit derjenigen von Immram Brain übereinstimmt. Zu dieser Frühgeschichte der Bran-Sage vgl. Dumville 1976, S. 86 f.; Carney 2000 (1976); Carey 2000 (1982/83), S. 114 f.; Mac Mathúna 1985, S. 269–272; Carey 1987 (Time), S. 8 f.; Carey 1995 (Interrelationships), S. 77–83; McCone 2000, S. 74–76, 96 f.; Mac Mathúna 2006 (Bran), S. 238; Carey 2007 (Bran), S. 170–177; ferner vgl. Mac Cana 1975, bes. S. 50 (mit einem abweichenden Interpretationsvorschlag, der mit einem traditionellen Hintergrund der Handlung von Immram Brain vereinbar wäre). Ähnliches gilt für Echtrae Chonnlai: McCone 2000, S. 49, 96 f.; Carey 1995 (Rhetoric), S. 61 f.; Mac Mathúna 1985, S. 273 f.; Carney 1969, S. 164 f. Auf diese Problemstellung im Detail einzugehen, würde hier jedoch zu weit führen und letztlich zu den hier behandelten Fragen keinen substantiellen Beitrag leisten. Festzuhalten ist nur nochmals, dass zwar einzelne Motive von Immram Brain und Echtrae Chonnlai auf vorchristliche Vorstellungen zurückgreifen könnten, nicht jedoch der Handlungsbogen der uns vorliegenden Erzählungen als ganzer (vgl. Oskamp 1970, S. 18 f.). Freilich ist zur Suche nach den literarischen Ursprüngen dieser Erzählungen grundsätzlich anzumerken, dass die eben zitierten Diskussionen über weite Strecken die implizite Annahme zur Voraussetzung haben, dass zu einem frühen Zeitpunkt eine ursprüngliche, „korrekte“ Fassung dieser Erzählungen existierte, die dann sekundär abgeändert wurde. Diese Grundannahme ist jedoch nicht unproblematisch, da etwa die Vielfalt von Varianten innerhalb der griechischen Mythologie nachdrücklich illustriert, dass verschiedene Fassungen einer Erzählung auch ihm Rahmen einer einzigen Kultur durchaus nebeneinander bestehen können, ohne dass dies bedeuten muss, eine davon sei „falsch“. In diesem Sinne vgl. auch Carey 2007 (Grail), S. 355–357, der Parallelen zwischen dem Goldhort von Broighter in Nordirland aus dem 1. Jahrhundert v. Chr. und beiden Versionen der Bran-Sage sieht, sowohl der in Immram Brain bezeugten als auch ihrer „Frühform“, wie sie von den oben zitierten Beiträgen rekonstruiert wird.
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5.1.2 Kleriker auf Anderweltsreise Lebensweltlicher Hintergrund: Die peregrinatio Eines der charakteristischsten Phänomene des irischen Mönchswesens stellte die Bedeutung der peregrinatio dar, der Suche nach einem asketischen Rückzugsort außerhalb der Sicherheiten des heimatlichen Königreichs und, als eine stärkere Form der peregrinatio (potior peregrinatio), insbesondere auch außerhalb Irlands.¹⁰⁶¹ Die peregrinatio hatte wesentliche Wurzeln einerseits in der Suche nach asketischer Entsagung und andererseits in der irischen Rechtsstruktur: Das Verlassen des heimischen Königreichs bedeutete in Irland üblicherweise einen Verlust der rechtlichen und sozialen Stellung.¹⁰⁶² Dieser für das Individuum zunächst schwerwiegend negative Umstand wurde innerhalb der frühen irischen Kirche bald als eine Möglichkeit zur Askese gesehen, und die Aufgabe von Sicherheit und Status durch peregrinatio, das Verlassen der Heimat, wurde zur asketischen Übung in Anlehnung an das Bibelwort: Et omnis qui reliquit domum vel fratres aut sorores aut patrem aut matrem aut uxorem aut filios aut agros propter nomen meum centuplum accipiet et vitam aeternam possidebit („und jeder, der sein Haus oder seine Brüder oder Schwestern oder Vater oder Mutter oder Frau oder Söhne oder Äcker um meines Namens willen verlässt, der wird hundertfach empfangen und das ewige Leben besitzen“: Matthäus 19.29; vgl. Genesis 12.1).¹⁰⁶³ Der Verlust der sozialen Stellung, der in der Frühzeit dieser Praxis durch die peregrinatio innerhalb Irlands angestrebt worden war, wurde als Werkzeug der asketischen Entsagung nach dem Abschluss der Bekehrung Irlands um die zweite Hälfte des 6. Jahrhunderts¹⁰⁶⁴ jedoch schnell hinfällig. Im christianisierten Irland erwarb sich der Asket gerade durch das Verlassen seiner Heimat und durch die Aufgabe seines früheren weltlichen Status ein solches Ansehen, dass der Effekt in sein Gegenteil verkehrt wurde: Statt zu einem Verlust sozialer Sicherheit führte die peregrinatio nun zu einer Statuserhöhung und zum Erwerb von Privilegien.¹⁰⁶⁵ Als Mittel zur Askese wurde die peregrinatio innerhalb Irlands somit sinnlos, und irische Asketen wandten ihre peregrinatio anderen Zielen zu, um die angestrebte Entsagung zu erreichen. Hierfür boten sich dem Asketen zwei Möglichkeiten: einerseits die peregrinatio nach Britan-
1061 Vgl. grundlegend Charles-Edwards 2000 (1976); zusammenfassend: Bergholm 2012, S. 129 f.; Koch 2006 (Peregrinatio); Richter 2005; Edel 2001, S. 100, 103; Bray 2000 (1995), S. 177; Semmler 1993, S. 105–107; Oskamp 1970, S. 7, 76–78; Selmer 1959, S. xxii-xxiv. 1062 Vgl. Maier 2012, S. 249. 1063 Vgl. Selmer 1959, S. xxii f.; Oskamp 1970, S. 24 f.; Semmler 1993, S. 105 f.; Mac Mathúna 1994, S. 325, 326; Bergholm 2012, S. 129 (mit Anm. 150); Wooding 2014, S. 99. Zu Parallelen im orientalischen Eremitentum vgl. Fagnoni 2006, S. 57 f. et passim. 1064 Charles-Edwards 2000 (1976), S. 106; vgl. Oskamp 1970, S. 6 f.; Bergholm 2012, S. 127 f. 1065 Charles-Edwards 2000 (1976), S. 102–108.
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nien oder auf den Kontinent, oder andererseits die Suche nach einem Ort der asketischen Entsagung auf einer der kleinen Inseln vor der irischen Küste.¹⁰⁶⁶ Letztere Strategie, die Verwendung von Inseln vor der irischen Küste als Orte der Askese, bildete ihrerseits ein Sprungbrett für eine deutlich weiter ausgreifende maritime peregrinatio. Im nordischen Kontext findet diese spezifische Form der peregrinatio einen ihrer prominentesten Niederschläge in der Íslendingabók,¹⁰⁶⁷ die von Ari Þorgilsson in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts verfasst wurde und als der älteste erhaltene erzählende Prosatext in altnordischer Sprache gilt.¹⁰⁶⁸ Dort heißt es über Island zur Zeit der Ankunft des ersten norwegischen Siedlers, Ingolfr, „als Harald Schönhaar sechzehn Jahre alt war“, d. h. nach der Rechnung Aris im Jahre 870 bzw. 869 (Kap. 1):¹⁰⁶⁹ Þá váru hér menn kristnir, þeir es Norðmenn kalla papa, en þeir fóru síðan á braut, af því at þeir vildu eigi vesa hér við heiðna menn, ok létu eptir bœkr írskar ok bjǫllur ok bagla; af því mátti skilja, at þeir váru menn írskir.¹⁰⁷⁰ Da waren hier christliche Männer, die die Nordleute papar nennen, und sie fuhren dann weg, weil sie hier nicht mit Heiden zusammen leben wollten; und sie ließen irische Bücher und Glocken und Krummstäbe zurück; daraus konnte man ersehen, dass sie Männer aus Irland waren.
Bei den hier von Ari erwähnten papar dürfte es sich um eben solche irische Anchoriten gehandelt haben, die auf ihrer Suche nach einem Ort asketischer Entsagung ihre Heimat verließen und sich dem Meer anvertrauten. Dass eine solche peregrinatio bis nach Island und auf andere Inseln des Nordatlantik ausgreifen konnte, mag zunächst überraschen, ist aber auch an anderen Stellen der altnordischen wie der inselkeltischen Literatur bezeugt – wenngleich angemerkt werden sollte, dass der Stellenwert der nordischen Quellen als unabhängige Zeugnisse keineswegs über jeden Zweifel erhaben ist: Es ist vorgeschlagen worden, dass die eben zitierte Passage der Íslendingabók einen direkten Rückgriff auf ein Werk des irischen Gelehrten Dicuil darstellt, auf das noch zurückzukommen sein wird.¹⁰⁷¹ Aufgrund der nahezu wörtlichen Anklänge an die Íslendingabók ist ferner die Erwähnung von papar in der Landnámabók (Sturlubók 1, 320; Hauksbók 280)¹⁰⁷² als zumindest teilweise von der Íslendingabók abhängig
1066 Charles-Edwards 2000 (1976), S. 107. 1067 Hgg. von Jakob Benediktsson 1968, S. 1–28. Vgl. Edel 2001, S. 103; Wooding 2000 (Monastic Voyaging), S. 242 f.; Jónas Kristjánsson 1998, S. 261; Mac Mathúna 1997, S. 211 f.; Mac Mathúna s. a., S. 178; Gísli Sigurðsson 1988, S. 24. 1068 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 208. 1069 Zu Aris Datierung vgl. Grønlie 2006, S. 16 (Anm. 11). 1070 Text: Jakob Benediktsson 1968, S. 5. 1071 Wooding 2011, S. 24; Wooding 2000 (Monastic Voyaging), S. 242; ferner vgl. Ó Corráin 1998, S. 446 mit Hinweis auf weitere mögliche Vorlagen für Details dieses Abschnitts der Íslendingabók. 1072 Hgg. von Jakob Benediktsson 1968, S. 29–397.
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zu betrachten. Offenkundig schlecht informiert war der Verfasser der Historia Norvegiae VI, wo die papar als frühe Bewohner der Orkaden erscheinen: Die Historia Norvegiae hält diese papar nach dem Schriftbild ihrer Bücher für afrikanische Juden.¹⁰⁷³ Eine weitere Klasse von Zeugnissen, die in Zusammenhang mit der irischen peregrinatio häufig angeführt wird, stellen die vielen nordatlantischen Ortsnamen mit dem Namenselement pap- dar; solche Namen sind u. a. in Island und auf den Hebriden, Orkaden und Färöern bezeugt. Hier ist als caveat allerdings anzumerken, dass ein Teil dieser Ortsnamen möglicherweise nicht auf irische monastische Siedlungen, sondern auf Traditionen der Ortsnamengebung zurückgeht, die sich in anderen skandinavischen Kolonien ausgebildet haben könnten.¹⁰⁷⁴ Ein Zeugnis vom Beginn der Wikingerzeit, das über jeden Zweifel erhaben scheint, findet sich im eben erwähnten Werk Dicuils.¹⁰⁷⁵ Dicuil war ein irischer Gelehrter, der Irland wohl gegen Ende des 8. Jahrhunderts verließ und sich an den Hof Karls des Großen begab,¹⁰⁷⁶ wo er, neben einer Reihe anderer Werke, auch die geographische Schrift De mensura orbis terrae verfasste; diese Abhandlung wird ins Jahr 825 datiert.¹⁰⁷⁷ Ein Teil dieses Werks widmet sich der Beschreibung wichtiger Inseln der Welt, einschließlich der Inseln des Nordatlantiks. Island erscheint hier als die Insel Thule:¹⁰⁷⁸ Über sie trägt Dicuil zunächst einige Meinungen aus der antiken Literatur zusammen (Plinius, Isidor von Sevilla, Priscian, Solinus), ehe er über die Zusammenstellung eines bloße Florilegiums klassisch-geographischer Meinungen plötzlich hinausgeht und einen Augenzeugenbericht anführt (Liber de mensura orbis terrae VII.11): Trigesimus nunc annus est a quo nuntiauerunt mihi clerici qui a kalendis Febroarii usque kalendas Augusti in illa insula manserunt quod non solum in aestiuo solstitio sed in diebus circa illud in uespertina hora occidens sol abscondit se quasi trans paruulum tumulum, ita ut nihil tenebrarum in minimo spatio ipso fiat, sed quicquid homo operari uoluerit uel peduculos de camisia abstrahere tamquam in presentia solis potest. Et si in altitudine montium eius fuissent, forsitan numquam sol absconderetur ab illis.¹⁰⁷⁹
1073 Grønlie 2006, S. 17 (Anm. 18); zu möglichen Problemen des Quellenwerts dieser Stelle siehe ibidem. Die Historia Norvegiae ist hgg. von Ekrem et al. 2003; zur Stelle vgl. ibidem S. 189. 1074 Grønlie 2006, S. 17 (Anm. 18); Rekdal 1998, S. 284; Jónas Kristjánsson 1998, S. 261; für eine Zusammenstellung von Beispielen vgl. Ahronson 2007, S. 9 (Table 1); zu weiteren methodischen Problemen (entwickelt am Beispiel der pap-Namen auf den Hebriden) vgl. Ahronson 2007. 1075 Wooding 2011, S. 15–26; Ó Corráin 2008, S. 428; Ahronson 2007, S. 1; Edel 2001, S. 103; Wooding 2000 (Monastic Voyaging), S. 238–243; McCone 2000, S. 98; Thrall 2000 (1923), S. 21 (Anm. 24); Jónas Kristjánsson 1998, S. 260; Mac Mathúna 1997, S. 211; Mac Mathúna s. a., S. 177 f. 1076 Tierney 1967, S. 11. 1077 Tierney 1967, S. 17; Edel 2001, S. 103. 1078 Vgl. Wooding 2000 (Monastic Voyaging), S. 241. 1079 Text: Tierney 1967.
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Es ist jetzt das dreißigste Jahr, seit mir Kirchenmänner, die vom ersten Februar bis zum ersten August auf jener Insel geblieben sind, darüber Bericht erstattet haben, dass sich die untergehende Sonne nicht nur zur Sommersonnenwende, sondern auch in den Tagen davor und danach am Abend gleichsam hinter einem kleinen Hügelchen verbirgt, so dass es im selbigen sehr kleinen Zeitraum keine Schatten gibt; sondern was auch immer ein Mensch zu tun wünschte – und sei es auch, Läuse von seinem Hemd zu klauben – das kann er wie in Gegenwart der Sonne tun. Und wenn sie auf dem Gipfel ihrer Berge gewesen wären, wäre die Sonne vielleicht niemals vor ihnen verborgen gewesen.
In diesem Text des frühen 9. Jahrhunderts, der sich auf einen mündlichen Bericht vom Ende des 8. Jahrhunderts beruft, liegt ein Zeugnis aus beinahe erster Hand vor, das eine genaue Parallele zum Bericht der Íslendingabók darstellt, wonach irische Mönche sich schon vor den Skandinaviern in Island niedergelassen hätten – wenngleich diese Besiedlung keine dauerhafte war, sondern sich auf das Sommerhalbjahr beschränkte. Letzteres Detail entspricht einem auch anderweitig bezeugten Verhaltensmuster irischer Anchoriten, sich während des Sommers in der Wildnis aufzuhalten, für den Winter jedoch in ein zentrales Kloster zurückzukehren.¹⁰⁸⁰ Innerhalb von Dicuils Erfahrungshorizont stellten Reisen wie diese asketischen Islandfahrten keinen allzu ungewöhnlichen Ausnahmefall dar. In unmittelbarem Anschluss an seine Diskussion Thules erwähnt Dicuil die persönliche Auskunft eines presbyter religiosus, dass dieser in zwei Tagen und einer Nacht auf See bei günstigem Wind in einem Boot mit zwei Ruderbänken (nauigans in duorum nauicula transtrorum) eine der vielen Inseln nördlich Britanniens erreicht habe (Liber de mensura orbis terrae VII.14). Dicuils weiterer Diskussion zufolge hätten solche Reisen vor dem Beginn der Wikingerüberfälle nahezu ein Jahrhundert lang stattgefunden (Liber de mensura orbis terrae VII.15): Illae insulae sunt aliae paruulae, fere cunctae simul angustis distantes fretis; in quibus in centum ferme annis heremitae ex nostra Scottia nauigantes habitauerunt. Sed sicut a principio mundi desertae semper fuerunt ita nunc causa latronum Normannorum uacuae anchoritis plenae innumerabilibus ouibus ac diuersis generibus multis nimis marinarum auium. Numquam eas insulas in libris auctorum memoratas inuenimus.¹⁰⁸¹ Es gibt noch jene anderen kleinen Inselchen, die beinahe alle durch enge Meeresstraßen voneinander getrennt sind; auf diesen haben für fast hundert Jahre Eremiten gelebt, die zu Schiff aus unserem Irland kamen. Aber wie sie vom Beginn der Welt an immer verlassen waren, so sind sie jetzt aufgrund der nordischen Piraten leer von Anchoriten und voll von zahllosen Schafen und verschiedenen, über alle Maßen vielen Arten von Seevögeln. Niemals haben wir diese Inseln in den Büchern der antiken Autoren erwähnt gefunden.
1080 Vgl. Edel 2001, S. 104. 1081 Text: Tierney 1967.
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Diese kleinen, durch schmale Wasserstraßen voneinander getrennten Inseln sind nach allgemeiner Auffassung wohl mit den Färöern zu identifizieren;¹⁰⁸² dies entspricht nicht nur Dicuils geographischer Beschreibung, sondern auch dem Detail, dass diese Inseln plenae innumerabilibus ouibus seien, sind die Färöer doch Fær-eyjar, „Schaf-Inseln“.¹⁰⁸³ Falls die Identifizierung von Dicuils „Schafinseln“ mit den Färöern korrekt ist, würde diese frühmittelalterliche geographische Notiz nochmals in beredter Weise Zeugnis für die Reichweite der Seereisen irischer Anchoriten ablegen – und dies schon für eine Zeit knapp hundert Jahre vor dem Beginn der Wikingerzeit im späten 8. Jahrhundert.¹⁰⁸⁴
Die Navigatio Sancti Brendani Die peregrinatio auf Inseln des Ozeans hat in der irischen Literatur einen reichen Niederschlag gefunden.¹⁰⁸⁵ Die prominenteste Figur, mit der dieses Motiv dabei verbunden wurde, ist die Gestalt des Heiligen Brendanus, oder – mit seiner irischen Namensform – des Brénaind moccu Alti:¹⁰⁸⁶ Die Beschreibung seiner Pilgerreise zur See, die Navigatio Sancti Brendani, war einer der wirkmächtigsten Texte des Mittelalters und ist im Vorangehenden bereits in Zusammenhang mit altnordischem und arthurischem Material kurz angesprochen worden.¹⁰⁸⁷ Brendans Seereise erscheint innerhalb der irischen Literatur nicht nur in der Navigatio, sondern wird in mehreren Texte erwähnt. Die sogenannte „Litanei der irischen Pilgerheiligen“, die von Carey ins 8. Jahrhundert, i. d. R. aber auf die Jahre um 800 oder 900 n. Chr. datiert wird,¹⁰⁸⁸ geht
1082 Ó Corráin 2008, S. 428; Ahronson 2007, S. 1 (Anm. 2); Ó Corráin 2001, S. 17; Wooding 2000 (Monastic Voyaging), S. 239; Jónas Kristjánsson 1998, S. 260; Mac Mathúna s. a., S. 178; Mac Mathúna 1997, S. 211; Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚fær‘. 1083 Cleasby und Gudbrand Vigfusson 1874 s.v. ‚fær‘; Wooding 2000 (Monastic Voyaging), S. 229 (Anm. 13), 240. 1084 Vgl. auch Herbert 1999, S. 184 für einen möglichen Beleg für Islandreisen irischer Anchoriten in einem irischen Heiligenleben des 8. Jahrhunderts 1085 Vgl. Wooding 2014, S. 93 et passim; Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1744; Koch 2006 (Peregrinatio), S. 1438; McCone 2000, S. 98 f.; Mac Mathúna 1985, S. 281; Dumville 1976, S. 77 f., 89; Thrall 2000 (1923), S. 21. 1086 Carney 2000 (1963), S. 43; Edel 2001, S. 94, 109. Birkhan vertritt die Auffassung, dass die Figur des Hl. Brendan unmittelbar mit der Gestalt des Bran in Immram Brain zu verbinden sei: Birkhan 2009 (Erzählgemeinschaft), S. 98; hierzu vgl. kritisch und differenzierter Carey 2007 (Grail), S. 262–264. 1087 Siehe oben S. 58, 190. 1088 Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1744; Wooding 2014, S. 96 („variously dated to circa 800 and circa 900 CE“); Edel 2001, S. 109 (Datierung auf ca. 800); Herbert 1999, S. 183 („c. AD 800“); Oskamp 1970, S. 16 f., 35 (ebenfalls ca. 800). Sanderlin 1975, S. 251–257 datierte den Text auf ca. 900, was von Dumville 1976, S. 78, Mac Mathúna 1985, S. 284 und Mac Mathúna 1994, S. 334 akzeptiert wird, während Strijbosch 2000, S. 136 diese Datierung für die die immrama betreffenden Passagen in Frage stellt. Strijbosch nimmt eine Datierung um 800 an: Strijbosch 2000, S. 136 f.
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dreimal auf Brendans Reise ein.¹⁰⁸⁹ Dabei ist eine dieser drei Stellen von besonderem Interesse als ein knapper, klarer und früher Beleg für die Vorstellung, dass das „Land der Verheißung“ sich auf einer Ozeaninsel befindet und von Brendan erreicht wurde: In tanchara forránic Brenaind ara chind i tír tharngire cusna huilib noemaib torchratar i nhuilib insib ind ociain [...].¹⁰⁹⁰ Der Anchorit, den Brendan bei seiner Ankunft im Land der Verheißung fand, zusammen mit all den Heiligen, die auf allen Inseln des Ozeans gestorben sind [...].
Ferner wird Brendans Reise in den verschiedenen Versionen der Vita Brendans thematisiert, wobei die meisten erhaltenen Fassungen der Vita einen Einfluss der Navigatio zeigen.¹⁰⁹¹ Ein von der Navigatio in interessanter Weise abweichendes Element, das sich in dieser Überlieferung findet, betrifft Brendans Motivation für seinen Aufbruch. Die volkssprachliche Vita Brendans im Buch von Lismore – eine von nur zwei Viten, die nicht unmittelbar Textpassagen der Navigatio inkorporieren –¹⁰⁹² erzählt diesen Teil von Brendans Geschichte wie folgt (2. Hälfte des 12. Jahrhunderts):¹⁰⁹³ Nachdem Brendan sich für das monastische Leben entschieden und seine Priesterweihe empfangen hat, wächst in ihm ein immer stärker werdendes Verlangen nach einem Ort der asketischen Abgeschiedenheit. Eines Nachts wird er von einem Engel geweckt, der ihm verkündet, dass Gott ihm seinen Wunsch gewährt hätte, nämlich: das „Land der Verheißung“ (tir tairngire: Z. 3564). Eirghis Brenainn iarum, 7 ba maith lais a menma on aitheasc-sin, 7 teit a aenar i Sliabh nDaidche, 7 feghais ind aicen ndermair ndosholachta uadh for cech leth, et is ann sin atconnuic-sium an innsi n-aluind n-airegda co timtirecht[aib] na n-aingel di. IArsin tra anaidh-siumh tredhenus annsin, 7 codlais doridhisi. Tic [tra iarsin] aingeal in Coimdhed dia acallaim annsin, 7 atbert fris: ‘Biat-sa,’ ar se, ‘o sunn imach maroen friut tria bhithu na betha, 7 múinfet[-sa] duit an innsi n-álainn atconnarcais 7 is mian lat d’faghbail.’¹⁰⁹⁴
1089 Hgg. von Plummer 1992, S. 59–75, dort S. 62/63. 1090 Plummer 1992, S. 62. 1091 Wooding 2000 (Introduction), S. xxvii f. (mit Zusammenstellung der Ausgaben der verschiedenen Rezensionen der Vita); Edel 2001, S. 109; vgl. Strijbosch 2000, S. 131–142, 278–288. Für eine Synopse des Inhalts der Viten Brendans vgl. Strijbosch 2000, S. 283–285; für eine Synopse spezifisch des auf Brendans Reisen bezogenen Inhalts der Viten vgl. Plummer 2000 (1905), S. 2–4 oder, mit ausführlicherer Diskussion, Oskamp 1970, S. 20–36; Mac Mathúna 1994, S. 325–334. Für eine Zusammenstellung der Unterschiede zwischen den Viten und der Navigatio vgl. Plummer 2000 (1905), S. 5 f. 1092 Strijbosch 2000, S. 279 f., 282 („VB 6“). 1093 Hgg. und übers. von Stokes 1890, S. 99–116, 247–261. Datierung: Mac Mathúna 2006 (Irish Life), S. 155–158. Vgl. Plummer 2000 (1905), S. 2, 7 mit Verweis auf Parallelstellen. Die zweite Vita, die keine Einschübe von Navigatio-Texten enthält (vgl. Strijbosch 2000, S. 278, 280, 281 [„VB 1“]), ist hgg. von Heist 1965, S. 324–331; für die entsprechende Stelle siehe dort S. 327 (§ 8). Dort wird die Brendan versprochene Insel ausdrücklich dem Gelobten Land der Israeliten parallelgesetzt. 1094 Stokes 1890, S. 106 (Z. 3564–3571).
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Brendan stand dann auf, und er freute sich über diese Antwort, und er geht alleine zum Slieve Aughty¹⁰⁹⁵, und er betrachtete den gewaltigen, lichtlosen(?) Ozean in jeder Richtung vor sich, und es ist da, dass er eine schöne, ausgezeichnete Insel sah, von der Prozessionen von Engeln kamen. Danach bleibt er drei Tage lang dort, und er schlief wieder ein. Danach kam der Engel des Herrn, um sich mit ihm zu unterhalten, und er sprach zu ihm: „Ich werde bei dir sein,“ sagte er, „von jetzt an von Ewigkeit zu Ewigkeit, und ich werde dich den Weg zu der schönen Insel lehren, die du gesehen hast und die du dich zu finden sehnst.“
Die mögliche Bedeutung dieser Stelle liegt insbesondere darin begründet, dass die Insel, die der Engel Brendan verspricht, hier als eine Insel in Sichtweite der irischen Küste dargestellt wird. Zwar wird diese Küstennähe durch den ausdrücklich visionären Charakter der Szene stark relativiert, da im Rahmen einer Vision die gewöhnlichen Beschränkungen des Raums nicht notwendigerweise Gültigkeit besitzen. In Hinblick auf die später näher zu diskutierende Frage der geographischen Lage der Paradiesinsel sei die küstennahe Lage der Brendansinsel in diesem Zeugnis jedoch nichtsdestoweniger festgehalten. Problematisch ist allerdings die Frage der Chronologie: Die Datierung der verschiedenen Fassungen von Brendans Vita ist noch unklar, und für keine Fassung kann eine Datierung vor der Abfassung der Navigatio als gesichert gelten.¹⁰⁹⁶ Als Abfassungszeit der Navigatio Sancti Brendani wurde bis in die jüngste Vergangenheit üblicherweise das Ende des 8. Jahrhunderts angenommen, wobei hierüber aber zu keinem Zeitpunkt absolute Einigkeit bestand; Wooding datiert den Text jetzt ins erste Drittel des 9. Jahrhunderts.¹⁰⁹⁷ Der Beginn der Navigatio ist bereits in Zusammenhang mit der Rezeption dieses Texts in der Vita Merlini des Geoffrey von Monmouth ausführlich zusammengefasst worden.¹⁰⁹⁸ Anders als in der eben zitier-
1095 Vgl. Plummer 2000 (1905), S. 2 (Anm. 8). 1096 Edel 2001, S. 109. 1097 Wooding 2014, S. 96; Wooding 2011 (contra Wooding 2006, S. 1348: „towards the end of the 8th century“; Wooding 2000 [Introduction], S. xiv: „c. AD 800“). Vgl. O’Loughlin 1999, S. 1 („sometime in the latter half of the eighth century“); Dumville 2000 (1988), S. 131 („before 786“); Carney 2000 (1963), S. 46 („sometime about AD 800, possibly some decades later“); Edel 2001, S. 110 (mit Argumenten für eine Datierung in die Mitte des 9. Jahrhunderts oder später); Edel 2001, S. 81 („first half of the tenth century“); Bray 2000 (1995), S. 175 („debated“); Mac Mathúna 2000 (1994), S. 158 f. (Zusammenstellung verschiedener Datierungsansätze); Semmler 1993, S. 119–123 (erste Hälfte des 9. Jahrhunderts); Strijbosch 2000, S. 2 („composed at some time between the eighth and tenth centuries“, aber Strijbosch 2000, S. 127: „a date around 800 would seem a reasonable compromise“). Der Abfassungsort der Navigatio ist nach wie vor umstritten (vgl. Strijbosch 2006, S. 6; Mac Mathúna 2000 [1994], S. 158); in jüngster Zeit vertritt etwa Orlandi 2006 (passim, bes. S. 221–228) eine Abfassung in Irland, während Zelzer 2006 die Abfassung der Navigatio in ihrer uns vorliegenden Form auf dem Kontinent während der Karolingerzeit lokalisiert. Die Standardausgabe ist Selmer 1959, wozu vgl. ferner die ergänzenden Bemerkungen von Carney 2000 (1963). Eine Übersetzung, die letztere berücksichtigt, ist O’Meara 1978. Selmer 1959, S. xxviii datierte den Text in die erste Hälfte des 10. Jahrhunderts 1098 Siehe oben S. 190.
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ten Passage der Vita des Buchs von Lismore geht der Anstoß für Brendans Reise dort nicht von einer durch einen Engel vermittelten Vision aus, sondern von Barinthus (oder vielmehr Barrind):¹⁰⁹⁹ Während eines Besuchs im Kloster des Abts Mernóc wird Barinthus eine wunderbare Insel gezeigt, die sich durch die Offenbarung eines Engels als der Ort erweist, der den Heiligen in Aussicht gestellt ist. Diese Insel wird später ausdrücklich mit dem irdischen Paradies identifiziert (paradisus Dei in spacio maris); die Besucher halten sich dort ein Jahr lang auf, ohne dass ihnen dies bewusst ist, da sie dort weder vom Bedürfnis nach Schlaf noch von Hunger oder Durst heimgesucht werden und es nie Nacht wird.¹¹⁰⁰ Nach seiner Rückkehr berichtet Barinthus Brendan von diesem Erlebnis, und Brendan beschließt, sich selbst ebenfalls zu einer solchen Pilgerreise aufs Meer aufzumachen. Die nun folgende Beschreibung von Brendans Meerfahrt stellt den namengebenden und dominierenden Teil des Texts dar. Die Handlung zeigt dabei zunächst weniger eine einfache lineare Fortbewegung vom Aufbruch zur Landung auf der ersehnten Insel als vielmehr eine Reihe von Kreisbewegungen. Für sieben Jahre¹¹⁰¹ laufen Brendan und seine Gefährten an den hohen kirchlichen Festtagen immer wieder dieselben Inseln an: Sie feiern den Gründonnerstag auf einer Insel voller weißer Schafe (§§ 9, 15, 27), die Osternacht auf dem Rücken des riesigen Wals Jasconius (§§ 10, 15, 27), Ostern und die Zeit bis Pfingsten auf einer paradiesischen Insel übernatürlicher Vögel (§§ 11, 15, 27), und Weihnachten im Inselkloster des Ailbe (§§ 12, 20). Erst nachdem sie sieben solcher Zyklen absolviert haben, erreichen die Mönche ihr Ziel und finden die Insel, von der ihnen Barinthus erzählt hatte: das „gelobte Land der Heiligen“, die terra repromissionis sanctorum (§ 28).¹¹⁰² Von dort kehren sie nach Irland zurück, wo Brendan den Mönchen seines Klosters seine Erlebnisse berichtet und kurz darauf stirbt (§ 29). Rezeptionsgeschichtlich vermutlich unvermeidbar waren Versuche, in der Navigatio Spuren einer realen Reise Brendans nach Amerika zu finden;¹¹⁰³ dies hat sogar dazu geführt, dass eine solche Reise – ganz im Sinne Thor Heyerdahls – in den Jahren
1099 Carney hat in seiner Rezension von Selmers (1959) Ausgabe der Navigatio darauf hingewiesen, dass der Name dieses Mönchs nicht als Barinthus zu lesen ist, wie Selmer dies tut, sondern mit der Mehrzahl der Handschriften vielmehr als Barrindus, zum altir. Namen Barrind: Carney 2000 (1963), S. 43. Nichtsdestoweniger wurde im Vorangehenden und wird im Folgenden die Leseweise Selmers beibehalten; dies ist nicht als textkritische Stellungnahme aufzufassen, sondern soll ausschließlich der internen Konsistenz und der Vermeidung von Missverständnissen dienen, da in der Fachliteratur die Namensform Barinthus deutlich dominiert und auch der Text der Vita Merlini diese Form verwendet (siehe oben S. 186). 1100 Vgl. Bray 2000 (1995), S. 182. 1101 In dieser Zeitspanne sieht Selmer eine Anlehnung an die Äneis, da auch die Reise des Äneas sieben Jahre dauert: Selmer 1959, S. xxiv (Anm. 16). Vgl. jedoch auch die von Bray 2000 (1995), S. 183 hervorgehobenen apokalyptischen Konnotationen dieser Zahl. 1102 Für die Benennung dieser Insel als terra repromissionis sanctorum vgl. § 11 et passim. 1103 Vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 88; Zelzer 2006, S. 341; Almqvist 1997, S. 225; Lehane 1994, S. 84–90; O’Meara 1978, S. xi-xiii; Selmer 1959, S. 83 (Anm. 8).
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1976–1977 von Tim Severin nachgestellt wurde.¹¹⁰⁴ Sieht man von solchen buchstäblich abenteuerlichen Ansätzen ab, so gilt die Navigatio allgemein als eine christliche und insbesondere monastische Allegorie.¹¹⁰⁵ In diesem Sinne dürfte u. a. auch das Motiv zu sehen sein, dass die Mönche zur Feier der hohen kirchlichen Festtage regelmäßig immer auf dieselben Inseln zurückkehren: Dies dürfte einen Tribut an das zeitgenössisch zunehmend wirkkräftige Ideal der stabilitas darstellen, wie es der Orden der Benediktiner in starkem Kontrast zum früheren irischen Wanderasketentum vertrat.¹¹⁰⁶ Wenn im gegenwärtigen Kontext (und in der folgenden Diskussion) nicht die Frage der Deutung, sondern die Frage der Herkunft einzelner Motive im Zentrum steht, so soll die Möglichkeit – und Berechtigung – ihrer allegorischen Interpretation damit keineswegs angezweifelt werden; sie spielt für die hier behandelte Frage der religionsgeschichtlichen Wurzeln des Motivs der Paradies- und Unsterblichkeitsinsel in den Fällen jedoch eine untergeordnete Rolle, in denen ein bereits gegebenes Motiv sekundär mit einer neuen allegorischen Bedeutung versehen wird. Von zentraler Bedeutung sind allegorische Deutungen in diesem Zusammenhang nur insofern, als mitunter die Möglichkeit besteht, dass ein zuvor nicht existierendes Motiv bewusst als Allegorie konstruiert worden sein könnte. Im Folgenden sollen in diesem Sinne einzelne Inseln der Navigatio herausgegriffen und exemplarisch besprochen werden. Die Auswahl der Beispiele orientiert sich dabei primär an der grundsätzlichen Frage der Herkunft des Paradiesinselmotivs, bezieht jedoch auch einige hiervon zunächst unabhängige Inseln mit ein, die die Vielfalt der motivgeschichtlichen Quellen der Navigatio illustrieren sollen. Vor seiner endgültigen Abreise begibt sich Brendan mit seinen Gefährten „zur Insel eines gewissen heiligen Vaters namens Enda“ (ad insulam cuiusdam sancti patris, nomine Ende) und empfängt dessen Segen (§§ 3 f.). Dies ist nicht nur von Interesse, weil die Insellage von Endas Kloster dem maritimen Charakter der Navigatio entspricht, sondern auch, weil hier eine Reminiszenz an Vergils Äneis gesehen worden ist:¹¹⁰⁷ In der Äneis (III.73–98) sucht Äneas den priesterlichen König Anius in Delos auf, wo er von Apollo eine Prophezeiung empfängt, die ihm seinen weiteren Weg weist. Ob die Parallele zwischen diesen beiden Episoden signifikant genug ist, um eine tatsächliche literarische Abhängigkeit annehmen zu können, sei dahingestellt; doch ist festzuhalten, dass die Navigatio nicht nur in einem ekklesiastischen, sondern möglicherweise auch in einem klassisch-gelehrten Zusammenhang zu sehen sein könnte.
1104 Vgl. O’Meara 2000 (1978); Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 88 f.; Semmler 1993, S. 103, 118. 1105 Vgl. etwa Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1744; O’Loughlin 1999; Bray 2000 (1995); Mac Mathúna 1994, S. 314; O’Meara 1978, S. xi. 1106 Edel 2001, S. 81, 111; Bray 2000 (1995), S. 177 f., 185; Mac Mathúna 2000 (1994), S. 164 f.; Oskamp 1970, S. 16 f.; vgl. O’Loughlin 2006, S. 410. 1107 Selmer 1959, S. xxiv (Anm. 16), 84 (Anm. 16); vgl. Zimmer 1889, S. 328.
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Nach dem Besuch bei Enda bauen Brendan und seine Mönche ein mit Häuten bespanntes Boot und brechen gen Westen auf (§§ 4–6). Es dauert nahezu zwei Monate, bis sie ihre erste Insel erreichen (§§ 6–8). In einem ansonsten leer stehenden Haus werden sie dort auf wundersame Weise bewirtet, doch lässt einer der Mönche sich von einem Teufel dazu verführen, einen Gegenstand aus dem Haus zu stehlen – mit unmittelbaren Konsequenzen: Der Missetäter stirb, wenngleich Brendan immerhin seine Seele retten kann. Die Episode ist in wenig subtiler Weise didaktisch und insofern kaum mehr als ein Beispiel für die lehrhafte Tendenz einiger der Inseln der Navigatio; insbesondere die Warnung gegen Diebstahl ist ein wiederkehrendes Anliegen des Texts (vgl. §§ 6, 12, 25). Mit einem signifikanten ‚traditionellen‘ Hintergrund ist hier entsprechend nicht zu rechnen. Dies gilt auch für das Motiv der wundersamen Bewirtung, das in der Navigatio wiederholt verarbeitet wird: Hierbei handelt es sich um ein geläufiges Motiv der christlichen Hagiographie. Ein prominentes Beispiel findet sich etwa in der Vita S. Pauli primi eremitae des Hieronymus (4. Jahrhundert). Dort wird der Hl. Paulus durch himmlisches Brot ernährt, das ihm von einem Raben überbracht wird; bei einer Gelegenheit, als Paulus einen Gast unterhält, wird die Größe der Portion verdoppelt.¹¹⁰⁸ Die himmlische Bewirtung sowohl eines Eremiten als auch eines monastischen Gasts gehört somit seit der Antike zum etablierten Repertoire christlicher Heiligenlegenden. Dies ist für die Deutung dieses Motivs in der Navigatio umso wichtiger, als die Vita Pauli dem Autor der Navigatio sogar direkt vorgelegen haben dürfte.¹¹⁰⁹ Interessanter ist die nächste Insel, die Brendan und seine Mönche erreichen (§ 9). Diese Insel besitzt Quellen und fischreiche Ströme und ist die Heimat so vieler weißer Schafe, dass man den Boden vor Schafen nicht sehen kann. Diese Schafherden haben einerseits einen religiösen Bezug, da die Tiere eine direkte Beziehung zwischen den Charakteristika der Insel und dem Zeitpunkt von Brendans Besuch am Gründonnerstag darstellen (Osterlamm) und Brendans Mönche von ihnen das Fleisch für das Osterfestessen beziehen können.¹¹¹⁰ Zugleich wird die Schafinsel von einigen Interpreten als ein lebensweltlicher Bezug betrachtet, der Berichte realer peregrini über Inseln voller Schafe widerspiegeln könnte – so vermutet Jonathan Wooding, dass die Schafinsel der Navigatio auf denselben Quellen beruht wie Dicuils oben zitierter Bericht von Inseln voller Schafe im Nordwesten.¹¹¹¹ Jüngst schlägt Wooding sogar vor, die Insel voller Schafe, aber ohne Menschen, auf eine konkrete historische Situation
1108 Patrologia Latina t.XXIII, c.25B–C; vgl. Strijbosch 2000, S. 46 f.; Fagnoni 2006, S. 58–66. Ausführlich zu orientalischen eremitischen Motiven in der Navigatio vgl. Fagnoni 2006. 1109 Vgl. Fagnoni 2006, S. 62–65, 76–78 zu auffallenden wörtlichen Übereinstimmungen zwischen der Navigatio und der Vita Pauli (sowie einigen vergleichbaren Texten über orientalische Eremiten). 1110 Bray 2000 (1995), S. 183; vgl. auch Orlandi 2006, S. 232 f. zu alttestamentlichen Bezügen (Opferlamm). 1111 Wooding 2000 (Monastic Voyaging), S. 240; vgl. ganz ähnlich bereits Selmer 1959, S. 86 (Anm. 29) und jüngst Mundal 2011, S. 84; Galván Reula 2007, S. 696; Mac Mathúna s. a., S. 180; Mac Mathúna 1997, S. 213. Siehe oben S. 284.
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zu beziehen: das Ende der irischen Nutzung der Färöer als monastischer Rückzugsort infolge der Heimsuchungen dieser Inseln durch die Wikinger.¹¹¹² Nachdem sie von der Schafinsel wieder aufgebrochen sind und die Osternacht auf dem Wal Jasconius verbracht haben (§ 10), gelangen Brendan und seine Mönche zu der Insel, „die ‚Paradies der Vögel‘ genannt wird“ (que uocatur paradysus auium) (§ 11).¹¹¹³ Diese Insel wird als ein bezaubernder Garten geschildert: „sie sahen eine [...] Insel [...], die sehr reich an Gras und bewaldet und voller Blumen war“ (uiderunt [...] insulam [...] herbosam ualde et nemorosam plenamque floribus). Ein Flusslauf führt sie eine Meile weit ins Landesinnere zu einer Quelle. Eine Besonderheit dieser Quelle ist, dass sie einen Mann für 24 Stunden in Schlaf versetzt; deshalb werden die Mönche später davor gewarnt, aus ihr zu trinken. Über der Quelle erhebt sich ein Baum von außergewöhnlicher Größe; dieser Baum ist „über und über mit rein weißen Vögeln bedeckt“ (cooperta auibus candidissimis). Einer dieser Vögel erläutert Brendan, was dieser Anblick zu bedeuten hat: Bei den Vögeln handelt es sich um Engel, die bei der Auflehnung Luzifers gegen Gott weder für Luzifer Partei ergriffen noch Gott die Treue gehalten haben. Als Strafe hierfür wurden sie aus der Schar von Gottes Getreuen verbannt, erleiden aber keine Qualen, sondern wandern als Geister (spiritus) durch die Welt; doch an Fest- und Sonntagen erhalten sie Körper, wie Brendan sie vor sich sieht, und dürfen Gott preisen und seine Gegenwart sehen.¹¹¹⁴ Der Vogel beschließt darauf seine Rede mit einer Prophezeiung für Brendan: Wo er dieses Jahr Ostern verbracht hat – im Paradies der Vögel – werde er es noch für sechs weitere Jahre verbringen; danach werde er die terra repromissionis sanctorum finden. Im Folgenden begehen die Vögel und Brendans Mönche zusammen die Stundengebete.¹¹¹⁵ Auch diese Insel lässt sich wiederum in ganz unterschiedliche Kontexte einordnen. Wooding sieht sie, wie schon die vorangegangene Insel der Schafe, in einem Kontext mit Dicuils Bericht über die Färöer(?), indem er sie mit Dicuils Betonung der vielen Seevögel auf diesen Inseln verbindet:¹¹¹⁶ Er deutet die Vögel des paradysus auium somit als eine Mythologisierung von realen Seevögeln, wie sie von historischen peregrini auf ihrer Suche nach einem Ort der asketischen Entsagung angetroffen wurden. Einen ähnlichen Gedanken hatte zuvor schon Carl Selmer vorgebracht, der sich von den Vögeln des paradysus auium an die Sturmschwalben erinnert fühlte, die auf vielen kleinen Inseln vor der irischen Küste nisten.¹¹¹⁷ Ferner gemahnt das Motiv
1112 Wooding 2014, S. 105, 109; Wooding 2011 passim. 1113 Zitat: § 9 Z. 39 f. Allgemein zu dieser Insel vgl. Jacobsen 2006. 1114 Für eine ausführliche Diskussion der hiermit verbundenen (v. a. theologischen) Probleme vgl. Jacobsen 2006, S. 102–112. 1115 Zu den Stundengebeten auf der Insel der Vögel vgl. McNamara 2006, S. 164–167. 1116 Wooding 2000 (Monastic Voyaging), S. 240; ähnlich: Mac Mathúna 1997, S. 213; Mac Mathúna s. a., S. 180. Siehe oben S. 284. Ablehnend vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 88; Semmler 1993, S. 118 f. 1117 Selmer 1959, S. 86 (Anm. 31), wo er auch bemerkt, dass das „continuous chirping“ dieser Vögel „resembles the sound of the human voice“.
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an eine Strophe in Immram Brain (§ 7), in der ein alter blühender Baum geschildert wird, in dem die Vögel die Stunden ausrufen.¹¹¹⁸ Eine auffallend enge, möglicherweise aber etwas spätere Parallele in einem irischen ekklesiastischen Text findet sich im „Psalter der Strophen“ (Saltair na Rann); die Datierung dieses Texts ist umstritten, angenommen wurden entweder das Jahr 988 oder das 9. Jahrhundert.¹¹¹⁹ Der Saltair na Rann enthält u. a. eine Beschreibung des Paradieses, die auch dem Baum des Lebens einige Verse widmet; dabei wird der Baum des Lebens als wunderschöner blühender Baum beschrieben, auf dem schöne Vögel mit jeweils hundert Flügeln sitzen und eine Vielzahl von Gesängen singen (Saltair na Rann II.613–624).¹¹²⁰ Wie auch immer es sich mit den Vögeln, den primären Akteuren im paradysus auium, verhalten mag,¹¹²¹ das ‚Szenenbild‘ entstammt deutlich dem biblisch-patristischen Bereich:¹¹²² Die Elemente von Baum, Quelle, Fluss und gartenhaftem Umfeld stellen zentrale Elemente des christlichen Paradieses dar, und zwar sowohl des irdischen Paradieses (wie es vor dem Sündenfall von Adam und Eva bewohnt und von der mittelalterlichen Geographie im fernen Osten lokalisiert wurde)¹¹²³ als auch, wenngleich in deutlich geringerem Maße, des eschatologischen Paradieses der Offenbarung des Johannes.¹¹²⁴ Beim ‚Paradies der Vögel‘ handelt es sich somit um ein Paradies in einem nahezu wörtlichen Sinn – nur dass dieses Paradies nicht im fernen Osten oder am Ende der Zeit zu finden ist, sondern auf hoher See. Nach ihrem Aufbruch vom ‚Paradies der Vögel‘ verbringen Brendan und seine Mönche drei Monate auf See, ehe sie die nächste Insel erreichen. Auf dieser Insel, die „Insel der Gemeinschaft des Ailbe“ (insula [...] familie Ailbei) genannt wird, befindet sich ein Kloster, in dem eine Gruppe von 24 ehrwürdigen Mönchen unter einem strengen Schweigegebot lebt (§ 12). Auch das Leben in diesem Kloster ist stark von Paradiesmotiven durchdrungen: Die Nahrung der Mönche wird auf wundersame Weise bereitgestellt, indem sie in ihrer Speisekammer erscheint, ohne dass die Mönche wissen, woher sie stammt;¹¹²⁵ nie werden die Mönche von Alter und Schwäche überkommen; nie leiden sie an Kälte oder Hitze; nie geht der Brennstoff der Lampen zur Neige, die
1118 Strijbosch 2000, S. 214; siehe oben S. 268 und vgl. Ó hAodha 2003, S. 139; Mac Mathúna 1994, S. 347 f.; Mac Cana 1972, S. 122 f.; Carney 1955, S. 282–285. Ähnlich, aber dezidiert in einem (vorgeblich?) heidnisch-anderweltlichen Kontext angesiedelt, vgl. Serglige Con Culainn § 33, Z. 494–497 (zitiert unten S. 327). Ferner zu irischen volkssprachlichen Parallelen vgl. Oskamp 1970, S. 66; Selmer 1959, S. 86 (Anm. 31). 1119 Carey 1998, S. 276. 1120 Hgg. von Stokes 1883, dort S. 9 f.; für eine Übersetzung vgl. Carey 1998, S. 117 f. 1121 Vgl. die Kontroverse zwischen Mac Cana 1972, S. 122 f. und Carney 1955, S. 282–285. 1122 Vgl. Mac Mathúna 1994, S. 347 f. 1123 Siehe oben S. 47 ff. 1124 Siehe oben S. 242. 1125 Zur Verwurzelung des Motivs der himmlischen Speise in der christlichen Hagiographie vgl. oben S. 290 und Strijbosch 2000, S. 46 f.
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in der Klosterkirche durch ein himmlisches Feuer entzündet werden. So leben die Bewohner dieses Inselklosters seit achtzig Jahren, seit der Zeit des Hl. Patrick und des Hl. Ailbe (Ailbeus), ihres Vaters, und feiern ihre Gottesdienste mit kristallenen Gefäßen an kristallenen Altären in einer Kirche von quadratischem Grundriss. Die kristallene Ausstattung der Klosterkirche und ihr quadratischer Grundriss sind dabei Züge, die eine Anspielung auf das neue Jerusalem der Offenbarung des Johannes darstellen dürften:¹¹²⁶ Auch das neue Jerusalem strahlt wie Kristall und Edelsteine (Offenbarung 21.11), hat edelsteingeschmückte Mauern aus Jaspis und Gold (Offenbarung 21.18–21) und hat einen quadratischen Grundriss (Offenbarung 21.16). Zudem befinden sich in der Kirche 24 Sitze, entsprechend den 24 Thronen, die in der Offenbarung um den Thron Gottes angeordnet sind (Offenbarung 4.4).¹¹²⁷ Die Klosterkirche wird so zu einem Verweis auf die Apokalypse und zum Abbild des zukünftigen Paradieses der Offenbarung, und das Leben im Kloster wird zu einem Vorgeschmack auf das Paradies, das die Rechtschaffenden am Ende der Zeit erwartet. Dieses baulich ausgestaltete, am eschatologischen Paradies der Offenbarung orientierte Paradies der Gemeinschaft des Ailbe tritt damit ergänzend neben das ‚Paradies der Vögel‘, das als Gartenlandschaft im Stile des urzeitlichen Paradieses des Buchs Genesis geschildert worden war: Die Paradiesinseln der Navigatio lokalisieren die ganze Spannweite christlicher Paradiesvorstellungen auf den Inseln, die Brendan ansteuert. Allegorisch gedeutet, mag die Botschaft des Texts sein, dass für den Anchoriten die ganze Bandbreite christlicher Heilsversprechen zum Greifen nahe ist. Brendan und seine Mönche bleiben für das Weihnachtsfest in der Gemeinschaft des Ailbe. In den folgenden Abschnitten der Navigatio begegnen die seefahrenden Mönche danach einer bunten Mischung von maritimen Wundern und kehren zu den hohen Kirchenfesten jeweils an die zugehörigen Orte zurück – zur Insel der Schafe, dem Wal Jasconius, dem Paradies der Vögel und der Gemeinschaft des Ailbe. Es würde hier zu weit führen, auf eine jede dieser Szenen einzeln einzugehen, doch einige wenige weitere Inseln verdienen zumindest erwähnt zu werden. So die Insel der Trauben (§ 18): Eines Tages sehen die Mönche einen großen Vogel, der einen Zweig mit roten Trauben im Schnabel trägt und ihn Brendan in den Schoß fallen lässt; die einzelnen Trauben sind so groß wie Äpfel (poma). Nach einigen Tagen erreichen die Mönche die Insel, von der diese Trauben stammen: Diese Insel ist dicht mit Bäumen bestanden, die alle so schwer mit Trauben behangen sind, dass sie sich bis zum Boden hinab biegen. Die seefahrenden Kleriker bleiben dort für vierzig Tage. Dies ist dieselbe Zeitspanne, die Brendan für seinen Aufenthalt in der terra repromissionis sanctorum versprochen ist (§ 15), was nahelegt, dass sich auch die Insel der Trauben bewusst an das Vorbild des Paradiesgartens anlehnt.
1126 Vgl. Selmer 1959, S. 88 (Anm. 47); Bray 2000 (1995), S. 183. 1127 Bray 2000 (1995), S. 183.
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Eines Tages gelangen Brendan und seine Mönche zu einer gewaltigen Säule, die sich aus dem Meer erhebt (§ 22). Diese Säule ist so groß, dass sie schon aus einer Entfernung von drei Tagesreisen ganz nahe wirkt, und dass es unmöglich ist, zu sehen, was sich auf ihr befindet. Sie besteht aus überaus klarem Kristall (de cristallo clarissimo) und ist in ein Netz gehüllt, das die Farbe von Silber hat, aber härter scheint als Marmor; die Maschen dieses Netzes sind so groß, dass die Mönche mit ihrem Schiff durch sie hindurch fahren können. Jede der vier Seiten der Kristallsäule hat dieselbe Breite – 1400 Ellen – und Brendan verbringt vier Tage damit, diesen Turm (turris) zu vermessen. In einem Fenster an der Südseite der Säule findet er einen Kelch und eine Patene, die er als göttliches Geschenk mit sich nimmt. Die Forschung hat sich von der Kristallsäulen-Episode mitunter an einen Eisberg erinnert gefühlt.¹¹²⁸ Form und Material der Säule legen jedoch vielleicht apokalyptische Assoziationen näher: Der kristallene Wall mit vier Seiten gleicher Länge könnte eine weitere Anspielung auf die Schilderung des neuen Jerusalem in Offenbarung 21 darstellen, auf die eben bereits in Zusammenhang mit der Klosterkirche der Gemeinschaft des Ailbe hingewiesen wurde.¹¹²⁹ Noch konkretere Parallelen finden sich zudem im Rahmen der arthurischen und britischen Literatur: Dort evoziert die Kristallsäule, zumal sie ausdrücklich auch als Turm (turris) bezeichnet wird, den „gläsernen Turm inmitten des Meeres“ (turris vitrea in medio mari) der Historia Brittonum § 13, die Isle de Voirre in Chrétien de Troyes’ Erec, die Bezeichnung Glastonburys als „Glasinsel“ und die anderweltliche „Glasfestung“ (Caer Wydyr) im kymrischen Gedicht Preiddeu Annwn.¹¹³⁰ Einige Tage nach dem Besuch der Kristallsäule gelangen Brendan und seine Gefährten zu einer Insel ohne Vegetation, aber voller Felsen, Schlacke und Schmiedewerkstätten (§ 23). Als sie der Insel so nahe gekommen sind, dass sie den Lärm der Hämmer und Ambosse hören können, werden sie von einem der Bewohner dieses Eilands gesehen; dieser bewirft sie mit einem gewaltigen Klumpen brennender Schlacke, und bald schließen sich ihm auch die anderen Schmiede an, so dass die heißen Schlackeklumpen, die sie nach den Mönchen werfen, das Meer zum Kochen bringen. Brendan und seine Gefährten entkommen, wenn auch nicht ohne einen gehörigen Schrecken – denn ihre Reise hat sie zu einem Ort in der Hölle (in confinibus infernorum) geführt.
1128 Selmer 1959, S. 90 (Anm. 85); Oskamp 1970, S. 61 („probably a romanticized seaman’s story about an iceberg“); Lehane 1994, S. 85; Mac Mathúna 1997, S. 213; Mac Mathúna s. a., S. 180; Bray 2000 (1995), S. 176; Strijbosch 2000, S. 56; Edel 2001, S. 107; Zelzer 2006, S. 345; Galván Reula 2007, S. 697; vgl. Mundal 2011, S. 84. 1129 Selmer 1959, S. 90 (Anm. 85) und siehe oben; Strijbosch 2000, S. 56 f.; vgl. Bray 2000 (1995), S. 183. 1130 Siehe oben S. 229 (mit Anm. 854) und S. 255.
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Auch in dieser Episode ist mitunter eine Bearbeitung eines Naturschauspiels gesehen worden, in diesem Fall eines Vulkanausbruchs.¹¹³¹ Vielleicht naheliegender mag jedoch ein Spiel mit literarischen Motiven sein. Selmer verweist auf die Zyklopen der Äneis (III.639 ff.),¹¹³² deren Insel Äneas auf seiner Irrfahrt nach dem Fall Trojas kurz anläuft. Das Detail der nach den Reisenden geworfenen Schlackeklumpen lässt sich dabei daraus erklären, dass die Zyklopen als die Schmiede galten, die die Donnerkeile des Zeus herstellen (z. B. Mythographus Vaticanus I.33; I.46; I.173; II.151):¹¹³³ Damit waren sie als Hersteller feuriger Wurfgeschosse etabliert. Ihr Wohnort wird schon in der Äneis (III.554–681) am Ätna lokalisiert, und die Zyklopen werden in diesem Text so eng mit diesem Berg assoziiert, dass sie kollektiv als die Aetnaei fratres bezeichnet werden können (III.678). Dies lässt sich bruchlos an Brendans Identifizierung der Insel der Schmiede mit der Hölle anschließen, da sich die Auffassung des Ätna als Eingang zur Hölle bis in die Schriften der Kirchenväter zurückverfolgen lässt.¹¹³⁴ Die Episode der Insel der Schmiede stellt somit eine deutliche Verarbeitung klassischen Bildungsguts dar, die illustriert, aus wie breiten Quellen der Verfasser der Navigatio schöpfen konnte.¹¹³⁵ Nach der Insel der Schmiede besucht Brendan noch verschiedene andere Inseln, u. a. die Insel des Eremiten Paulus, der seit 90 Jahren auf seiner Insel lebt und dort durch göttliche Gnade ernährt und am Leben erhalten wird (§ 26).¹¹³⁶ Dieser
1131 Galván Reula 2007, S. 696 f.; Orlandi 2006, S. 237; Bray 2000 (1995), S. 176; Mac Mathúna s. a., S. 180; Mac Mathúna 1997, S. 213; Lehane 1994, S. 85 f.; Oskamp 1970, S. 64; Selmer 1959, S. 90 (Anm. 86). Vgl. Mundal 2011, S. 84; Edel 2001, S. 107; Semmler 1993, S. 118 f. (ablehnend); Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 88 (ablehnend). 1132 Selmer 1959, S. xxiv (Anm. 16), 90 (Anm. 86); vgl. Zimmer 1889, S. 329. Inhaltlich eine noch engere Parallele zur Szene der Navigatio würde Odysseus’ Begegnung mit Polyphem darstellen (vgl. Selmer 1959, S. xxiv [Anm. 17]; Lehane 1994, S. 88), da Polyphem in der Odyssee (IX.480–499, 536–542) gewaltige Felsen nach Odysseus’ Schiff wirft: Dies entspricht dem Bewurf, dem die Mönche der Navigatio ausgesetzt sind, während das Motiv der von Polyphem geworfenen Steine in der Äneis ebenso fehlt wie in Servius’ Kommentar zur Stelle und in Hygins Zusammenfassung (Fabulae 125). Eine Herleitung dieser Episode der Navigatio aus der Odyssee wäre daher, auf den ersten Blick, naheliegend. Letztlich ist sie aber unwahrscheinlich, da die Odyssee im frühmittelalterlichen Irland nicht bekannt gewesen sein dürfte (vgl. Mac Cana 1972, S. 127; Miles 2011, S. 35; allerdings sollte angemerkt werden, dass der Abfassungsort der Navigatio umstritten ist: vgl. etwa Selmer 1959, S. xxviii f., xxx, der eine Abfassung in Lothringen für wahrscheinlich hält, und vgl. oben Anm. 1097). 1133 Kapitelzählung nach der Ausgabe von Kulcsár 1987. 1134 Siehe oben S. 248. Das Motiv eines Vulkans als Eingang zur Hölle wird auch mit der vulkanischen Insel wieder aufgenommen, die Brendan und seine Mönche in unmittelbarem Anschluss an die Insel der Schmiede anlaufen und wo ihnen ein sündhafter Gefährte entrissen und der Hölle überantwortet wird (§ 24). 1135 Ferner vgl. Orlandi 2006, S. 237 f. zu möglichen biblischen Anklängen. 1136 Vgl. Strijbosch 2000, S. 47, 144–146 zu den deutlichen Anklängen dieser Episode an die oben bereits erwähnte Vita S. Pauli des Hieronymus, und Fagnoni 2006, S. 71–73 mit weiterem Vergleichsmaterial aus verschiedenen vitae patrum.
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Eremit trägt keinerlei Kleider am Leib bis auf die Haare, die seinen ganzen Körper bedecken;¹¹³⁷ erreicht hat er seine Insel mit Hilfe eines Schiffs, das er entsprechend dem Gebot seines verstorbenen Abtes am Strand in der Nähe seines Heimatklosters vorgefunden hatte und das wieder nach Hause zurückkehrte, nachdem der Eremiten auf seiner Insel an Land gegangen war – ein Motiv, das an das Zauberschiff im Lai de Guigemar erinnert. Erst nachdem Brendan in dieser Weise, von Insel zu Insel reisend, sieben Jahre auf See verbracht hat, gelangt er schließlich zur terra repromissionis sanctorum (§ 28). Der letzte Abschnitt der Reise zu diesem „gelobten Land der Heiligen“ führt die seefahrenden Mönche für vierzig Tage nach Osten (§ 28). Obwohl die genauen geographischen Verhältnisse unbestimmt bleiben, legt dies nahe, dass dieser letzte Reiseabschnitt wieder zurück in die Nähe Irlands führt, da die Mönche am Anfang ihrer Reise gen Westen aufgebrochen waren (§ 6). Nach vierzig Tagen gerät Brendans Schiff in einen dichten Nebel, und ihm wird erläutert, dass dieser Nebel die Insel umgibt, die Brendan und seine Mönche sieben Jahre lang gesucht haben.¹¹³⁸ Nach der Durchquerung des Nebels gehen sie in der terra repromissionis sanctorum an Land und finden dieses Land so vor, wie Barinthus es beschrieben hatte:¹¹³⁹ stets von einem hellen Licht durchdrungen, ohne Tag und Nacht, und voller fruchttragender Bäume und Edelsteine. Sie finden den Fluss, den schon Barinthus nicht überschreiten durfte, und treffen dort einen Engel. Dieser Engel begrüßt sie und schickt sie nach ihrem 40-tägigen Aufenthalt in der terra repromissionis sanctorum wieder auf die Reise nach Hause; dabei trägt er ihnen auf, so viele Früchte und Edelsteine mitzunehmen, wie sie tragen können. Die Insel jedoch wird ihren Nachfolgern für die Zeit der Apokalypse versprochen. Die Rückreise nach Irland scheint daraufhin eine sehr kurze zu sein (§ 28). Zuhause angekommen, erstattet Brendan den Mönchen seines Klosters ausführlich Bericht über seine Reise und stirbt bald darauf (§ 29). Der Tod Brendans bildet so den narrativen Schlusspunkt der Navigatio – und erinnert zugleich in auffallender Weise an das Motiv des anderweltlichen Zeitflusses, der vom Zeitfluss der menschlichen Lebenswelt entkoppelt ist.¹¹⁴⁰ Am Beginn der Navigatio macht Barinthus die Erfahrung, dass ein Tag im paradisus Dei in spacio maris einem Jahr in der
1137 Zum wohletablierten Topos des nur mit seinen eigenen Haaren bekleideten Eremiten vgl. Fagnoni 2006, S. 68. 1138 Orlandi (2006, S. 233 f.) verweist zu diesem Nebel auf den Nebel, den Moses durchqueren muss, ehe er auf dem Berg Sinai vor das Angesicht Gottes treten kann: Exodus 20.21 (stetitque populus de longe Moses autem accessit ad caliginem in qua erat Deus); Exodus 24.16–18 (16et habitavit gloria Domini super Sinai tegens illum nube sex diebus septimo autem die vocavit eum de medio caliginis 17erat autem species gloriae Domini quasi ignis ardens super verticem montis in conspectu filiorum Israhel 18 ingressusque Moses medium nebulae ascendit in montem et fuit ibi quadraginta diebus et quadraginta noctibus). 1139 Siehe oben S. 190 und vgl. O’Meara 2000 (1978), S. 112. 1140 Lanczkowski 1986, S. 42.
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Welt der Menschen entspricht;¹¹⁴¹ und noch drastischer ist die Erfahrung von Brans von Heimweh geplagtem Gefährten: Als er nach der Rückkehr aus dem Land der Frauen in Irland an Land springt, zerfällt er sofort zu Staub. Brendans Tod kurz nach seiner Heimkehr mag vielleicht mit demselben Motiv spielen: Wer in die Anderwelt oder ins Paradies reist, der hat die Welt und die Zeit der Menschen verlassen – mitunter ohne Wiederkehr.
Immram Curaig Maíle Dúin Das Thema der peregrinatio zur See wurde in der irischen Literatur nicht nur in der lateinischen Navigatio Sancti Brendani behandelt. Eine Reihe volkssprachlicher Werke befasst sich mit diesem Thema in direkter Anlehnung an die Brendanlegende und folgt dabei einer Struktur, die derjenigen der Navigatio weithin gleicht.¹¹⁴² Die älteste dieser ‚volkssprachlichen navigationes‘ ist die Erzählung von der „Seereise von Máel Dúins Lederboot“ (Immram Curaig Maíle Dúin; immram „Seereise“, wö. „Herumrudern“, ist das direkte volkssprachliche Äquivalent zu lateinisch navigatio). Dieser Text liegt in zwei Fassungen vor: einer Prosafassung und einer davon abgeleiteten Versfassung, die im Wesentlichen eine poetische Paraphrase des Prosatexts darstellt.¹¹⁴³ Von diesen beiden Fassungen soll hier nur die (ältere) Prosafassung angesprochen werden. Dieser Text wird nach v. a. linguistischen Kriterien näherungsweise ins 9. datiert, wobei auch eine noch frühere Datierung ins 8. Jahrhundert als möglich gilt.¹¹⁴⁴
1141 Eine Verbindung von Barinthus’ Zeiterfahrung im paradisus Dei mit dem Motiv des anderweltlichen Zeitflusses wurden schon hergestellt von Bray 2000 (1995), S. 182: „Saint Barrind’s description of the Land of Promise strongly suggests the Celtic idea of the Otherworld, where times moves differently than it does in the human world.“ 1142 Vgl. Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1744; Wooding 2011, S. 25; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 86. Carney 2000 (1963), S. 47–49, 51 betrachtet schon Immram Curaig Maíle Dúin, das älteste dieser volkssprachlichen Werke, als eine direkte Nachahmung der Navigatio. Strijbosch 2000, S. 129–165 et passim setzt die literaturgeschichtliche Priorität anders an und betrachtet die Navigatio als auf einer Frühform von Immram Curaig Maíle Dúin beruhend. Dabei betont sie jedoch auch, dass Immram Curaig Maíle Dúin in der uns vorliegenden Form nicht die Quelle der Navigatio darstellen kann (ibidem S. 130 et passim). Kritisch zu Strijboschs Ansatz vgl. Mac Mathúna 2005, S. 139. Die Priorität der lateinischen Texttradition wird in jüngerer Zeit etwa betont von Wooding 2000 (Introduction), S. xiv f., vgl. Wooding 2011, S. 25. 1143 Beide Fassungen zuletzt hgg. von Oskamp 1970 (mit Übersetzung). Für einen ausführlichen Überblick über Ausgaben und Übersetzungen vgl. Wooding 2000 (Introduction), S. xxv f. Erwähnenswert ist v. a. noch die Ausgabe von Stokes 1888–1889 (Prosafassung) und die Sammelausgabe von van Hamel 1941 (dort S. 20–77, 124–136). 1144 Oskamp 1970, S. 47 f.; van Hamel 1941, S. 24; Clancy 2000, S. 197 f.; Herbert 1999, S. 188 f.; vgl. Phillips 2010, S. 37.
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Immram Curaig Maíle Dúin ist vor allem eine Bekehrungsgeschichte.¹¹⁴⁵ Der Text erzählt davon, wie Máel Dúin auszieht, um dem weltlichen Gebot der Blutrache zu folgen, aber durch die Erlebnisse auf seiner Reise eine tiefgreifende Veränderung erfährt und sich von der weltlichen Ethik ab- und einer christlichen Ethik zuwendet. Die zugrundeliegende Spannung zwischen weltlichem Leben und ekklesiastischen Idealen hat der Autor von Immram Curaig Maíle Dúin seinem Helden schon in die Wiege gelegt: Máel Dúin ist der Sohn einer Nonne und eines Kriegers; er wurde gezeugt, als sein Vater seine Mutter vergewaltigte. Máel Dúins Vater wird noch vor seiner Geburt getötet und Máel Dúin wird von Zieheltern aufgezogen. Erst spät erfährt er von seiner Abstammung und dem Tod seines Vaters. Er wird von der Familie seines Vaters aufgenommen, dort jedoch bald von einem Hetzer dazu angestachelt, seinen Vater zu rächen. Nachdem er einen Druiden konsultiert hat – man erinnere sich an Brendan, der vor seinem Aufbruch den heiligen Vater Enda aufsuchte – sticht Máel Dúin in See. Er und seine Gefährten kommen den Inseln, auf denen die Mörder von Máel Dúins Vater wohnen, so nahe, dass sie diese bereits in ihrer Burg prahlen hören können. Da sagt einer von Máel Dúins Gefährten, dass Gott sie hierher geführt und ihnen ihre Feinde offenbart hat. Bei diesen Worten erfasst ein mächtiger Wind das Boot und trägt es auf das Meer hinaus: Máel Dúins eigentliche Seereise beginnt (§ 1). Der folgende Teil der Erzählung beschreibt, wie Máel Dúin 32 wundersame Inseln besucht, ehe er als neuer Mensch nach Hause zurückkehrt und sich mit den Mördern seines Vaters versöhnt. Unter diesen 32 Inseln befindet sich eine erhebliche Zahl von Stationen, die genaue Entsprechungen zu verschiedenen Inseln der Navigatio darstellen (so findet die Insel der Schmiede von Navigatio § 23 ihr genaues Gegenstück in Máel Dúin § 21, und die Kristallsäule von Navigatio § 22 kehrt in Máel Dúin § 26 als eine silberne Säule wieder, etc.).¹¹⁴⁶ Einige weitere Stationen von Máel Dúins Reise greifen deutlich Motive von Immram Brain auf (so etwa die Insel der Lachenden von Immram Brain § 61, die in Máel Dúin § 31 wiederkehrt).¹¹⁴⁷ Hinzu treten ferner einige Inseln, die nur aufgrund ihres Unterhaltungswerts in die Erzählung eingeführt worden zu sein scheinen, wie die ‚Insel der Ameisen‘, wo Ameisen von der Größe von Pferdefohlen die Reisenden bedrohen (Máel Dúin § 2). Der Autor von Immram Curaig Maíle Dúin scheint sowohl die Navigatio Sancti Brendani als auch Immram Brain unmittelbar herangezogen und das von diesen Erzählungen (insbesondere der Navigatio) vorgegebene
1145 Ní Mhaonaigh 2006, S. 44; vgl. Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1744. Ablehnend zur Deutung als Bekehrungsgeschichte vgl. Aguirre 1990 (bes. S. 205–207, 215 f.), der Immram Curaig Maíle Dúin vor allem als Repräsentant einer „basically pagan tradition overlaid by Christian elements“ betrachtet (Zitat: S. 207). 1146 Für eine Zusammenstellung der von Immram Curaig Maíle Dúin und der Navigatio geteilten Motive vgl. Oskamp 1970, S. 60–66, sowie S. 54 f., 57 f., 69. 1147 Vgl. Oskamp 1970, S. 42, 54 f., 59 f.
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Schema für ein Laienpublikum überarbeitet zu haben:¹¹⁴⁸ Die primär monastischen Anliegen der Navigatio wurden durch das Blutrachemotiv in einen Kontext eingebettet, wie er einem Laienpublikum aus der Heldensage vertraut war. Zugleich wurden die monastisch-allegorischen Themen durch den kritischen Bezug auf die Blutrache um eine lehrhafte Dimension erweitert, die auch im Kontext der Laiengesellschaft eine unmittelbare lebenspraktische Relevanz hatte. Insgesamt scheint das Anliegen von Immram Curaig Maíle Dúin trotz vordergründig heroischer Elemente somit ebenso lehrhaft-ekklesiastisch wie dasjenige der Navigatio; von der stark auf ein monastisches Publikum ausgerichteten Navigatio unterscheidet der Text sich vor allem durch die spezifische Ausrichtung auf ein Zielpublikum von Laien.¹¹⁴⁹ Der starke Rückgriff auf die Navigatio und Immram Brain hat dabei zur Folge, dass Immram Curaig Maíle Dúin kaum wichtige Motive enthält, die in diesem Text zum ersten Mal unabhängig belegt wären. Andererseits hat jedoch gerade die Anpassung einzelner Motive an ein Laienpublikum mitunter interessante Implikationen. Dies gilt etwa für eine Insel wunderbarer Früchte, die Máel Dúin und seine Gefährten als die sechste Insel auf ihrer Reise anlaufen (§ 7). Diese Insel ist bewaldet, aber ringsum von hohen Klippen umgeben; die Klippen erlauben den Gefährten keine Landung, aber Máel Dúin ergreift einen herabhängenden Zweig und nimmt ihn mit sich. Für die nächsten drei Tage hält er diesen Zweig in seiner Hand. Als die Gefährten die ‚Insel der Früchte‘ erreichten, war seit ihrer letzten Landung auf einer Insel bereits geraume Zeit verstrichen und sie wurden von Hunger geplagt. So ist es für sie
1148 Vgl. in diesem Sinne McCone 2000, S. 78; Herbert 1999, S. 189; O’Loughlin 1999, S. 1; Mac Mathúna 1996, S. 248, 251–253, 255–257, 261; Mac Mathúna 1994, S. 330, 337–341; Bieler 2000 (1976), S. 91; Carney 2000 (1963), S. 47–51; Stokes 1888–1889, dort Revue Celtique 9 (1888), S. 450 f. (die Verwendung der Navigatio durch den Autor von Immram Maíle Dúin wird abgelehnt von Strijbosch 2000, S. 159– 161, wozu vgl. oben Anm. 1142; ähnlich: Edel 2001, S. 68). Bei dieser direkten Intertextualität dürfte es sich freilich um nur einen Aspekt einer vielschichtigen motivgeschichtlichen Gemengelage handeln, für die mit einem hochkomplexen Nebeneinander von mündlichen wie schriftlichen „floating stories“ und wechselseitigen Einflussnahmen zu rechnen ist, vgl. Mac Mathúna 2005, S. 139 (Zitat: ibidem); Strijbosch 2006, S. 3; Oskamp 1970, S. 54, 75. Entsprechend ist die Möglichkeit einzugestehen, dass die einzelnen Epsioden von Immram Maíle Dúin sich nicht spezifisch auf die entsprechenden Episoden der Navigatio beziehen, sondern auf (mehr oder weniger identische) Motive solcher (um Mac Mathúnas eben zitierten Terminus zu verwenden) „floating stories“ – vgl. die Auffassung Edels (2001, S. 111, vgl. S. 110 f.): „Behind Máel Dúin, the Navigatio, and the voyage section of the Vita Brendani lies the same oral tale – or more precisely: cluster of tales.“ Vgl. auch Mac Mathúna 1994, S. 341–354, der die Auffassung vertritt, dass Immram Brain und Immram Maíle Dúin gemeinsame Quellen verwenden. Für die folgende Argumentation würde dies jedoch letztlich nur einen rhetorischen Unterschied machen: Entscheidend ist im Folgenden nicht primär, in welcher Weise Immram Maíle Dúin Motive spezifisch der Navigatio oder von Immram Brain abwandelt, sondern vielmehr, wie Immra Maíle Dúin die jeweiligen Motive (ob nun der Navigatio, Immram Brain oder einer parallelen Quelle entnommen) für ein Laienpublikum aufarbeitet. 1149 Contra Oskamp 1970, S. 75, der annimmt, dass der Autor von Immram Maíle Dúin den Kontakt mit den ekklesiastischen Wurzeln des literarischen Genres verloren hat.
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eine willkommene Überraschung, als sich nach drei Tagen plötzlich drei Äpfel an der Spitze des Zweiges zeigen. Jeder dieser drei Äpfel ernährt die Reisenden für vierzig Tage – und dies, obwohl es sich um 21 oder sogar um 64 Mann handelt (der Text selbst stellt beide Möglichkeiten zur Wahl: § 1). Diese Insel zeigt auffallende Anklänge an die ‚Insel der Trauben‘ der Navigatio (§ 18); schon Selmer vermutete hier – wohl zu Recht – ein direktes Abhängigkeitsverhältnis.¹¹⁵⁰ Von den Trauben der ‚Insel der Trauben‘ fühlte er sich dabei an die übergroßen Trauben von Numeri 13.24 erinnert;¹¹⁵¹ ebenso möglich wäre vielleicht eine Assoziation von Trauben und Wein, und damit eine symbolische Verbindung mit dem Messwein als dem Blut Jesu. In jedem Fall ist die Wahl gerade von Trauben als den Früchten der ‚Insel der Trauben‘ in der Navigatio nicht willkürlich, sondern in einem christlichen Kontext symbolisch bedeutungsvoll. Für den Apfelzweig von Immram Curaig Maíle Dúin ist ein christlicher Symbolismus hingegen deutlich weniger offensichtlich, was die Ersetzung der Trauben durch den Apfelzweig aus einer ekklesiastischen Perspektive überraschend macht. Das Motiv des Apfelzweigs erscheint auch in Immram Brain, und das Motiv des nährenden, aber nicht zur Neige gehenden Apfels ist aus Echtrae Chonnlai bekannt. Für das Motiv des Apfels in diesen beiden Texten ist, wie oben ausgeführt, mitunter eine elaborierte christlich-allegorische Deutung vorgeschlagen worden. Eine solche christliche Deutung des Apfelmotivs würde – wie auch immer man sich zu ihrer grundsätzlichen Plausibilität stellen will – in jedem Fall eine deutlich tiefere Auseinandersetzung mit den Feinheiten des christlichen Symbolrepertoires voraussetzen als eine Interpretation der Weintrauben, die sich auch ohne vertiefte Kenntnis christlicher Symbolik an den Symbolismus des Messweins anschließen lassen. Dies macht es äußerst fragwürdig, ob der Apfelzweig in Immram Curaig Maíle Dúin in Analogie zu den für Immram Brain und Echtrae Chonnlai vorgeschlagenen christlich-allegorischen Interpretationen in einem spezifisch christlichen Sinne zu deuten ist. Immram Curaig Maíle Dúin ist ein deutlich volkstümlicherer Text als die Navigatio und wendet sich primär an ein Laienpublikum. Entsprechend ist bei Änderungen einzelner Motive grundsätzlich anzunehmen, dass diese in Immram Curaig Maíle Dúin in einer volkstümlicheren Weise erscheinen als in der Navigatio, um für ein Laienpublikum besser verständlich und eingängiger zu werden. Für eine christliche Deutung des Apfelzweigs, den Máel Dúin von dieser ‚Insel der Früchte‘ mitnimmt, würde jedoch genau das Gegenteil gelten: Falls es sich hier um ein primär christlich-symbolisches Element handelt, dann wurde im Vergleich zur Navigatio ein offensichtliches durch ein elaboriertes und entsprechend schwieriger verständliches Motiv ersetzt. Eine solche Interpretation würde dem gesamten Grundcharakter von Immram Curaig Maíle Dúin zuwiderlaufen und ist entsprechend abzulehnen: Dass die Trauben der Navigatio in Máel Dúin zu Äpfeln umgestaltet werden, deutet darauf
1150 Selmer 1959, S. 89 (Anm. 80). 1151 Selmer 1959, S. 89 (Anm. 80). Vgl. ferner Fagnoni 2006, S. 69 zu hagiographischen Parallelen.
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hin, dass die Verbindung einer Wunderinseln mit Äpfeln ein volkstümlicheres Motiv darstellt als die Verbindung einer solchen Insel mit Trauben. Dies impliziert damit im Umkehrschluss für die Äpfel von Immram Brain und Echtrae Chonnlai, dass auch die Verwendung dieses Motivs (unabhängig von möglichen allegorischen Interpretationen) auf einer ‚traditionellen‘ Assoziation zwischen anderweltlichen Inseln und Äpfeln aufbauen dürfte. Etwas später auf ihrer Reise gelangen Máel Dúin und seine Gefährten zu einer Insel, auf der sich eine Festung befindet (§ 17). Zur Pforte dieser Festung führt eine kristallene Brücke (drochad glainidhe) – doch jedes Mal, wenn Máel Dúin oder seine Männer diese Brücke betreten, fallen sie sofort wieder herunter. Eine Frau tritt aus der Pforte und füllt einen Eimer an einer Quelle, worauf einer von Máel Dúins Gefährten sie auffordert, Máel Dúin willkommen zu heißen. Sie kommt dieser Aufforderung jedoch nicht nach, und als sie die Pforte der Festung wieder schließt, erzeugen die Speere und Klingen an der Pforte eine so süße Musik, dass die Männer bis zum nächsten Tag in Schlaf verfallen. Dies wiederholt sich drei Tage lang. Am vierten Tag heißt die Frau Máel Dúin willkommen und bringt ihn und seine Gefährten zu einem Haus nahe der See. Dort finden sie Betten vor und werden von der Frau bewirtet; die Speise, die sie ihnen vorsetzt, hat für jeden genau den Geschmack, den er sich wünscht. Da die Frau wunderschön ist, fragen Máel Dúins Männer sie, ob sie mit Máel Dúin schlafen will. Ihre Antwort ist abweisend: „Sie sagte, dass sie nie gewusst habe und dass sie nicht wisse, was Sünde ist.“ (IS bertsi na hathghéoin 7 na fitir cia rét pecadh.) Am nächsten Tag stellen die Männer ihr diese Frage erneut, und sie vertröstet sie auf den Folgetag. Als sie an diesem Tag aufwachen, befinden sie sich jedoch in ihrem Schiff, und die Insel, die Festung, die Frau und das Gebäude, in dem sie untergebracht gewesen waren, sind verschwunden. Diese ‚Insel einer Frau‘ ist eine von zwei Episoden von Immram Curaig Maíle Dúin, in denen das Land der Frauen von Immram Brain thematisiert wird. In beiden Texten wird eine Insel geschildert, die einer Frauengestalt untersteht. Ferner teilen die ‚Insel einer Frau‘ von Immram Curaig Maíle Dúin und das Land der Frauen von Immram Brain eine Reihe spezifischer Details: In Immram Brain wird Bran durch die Musik eingeschläfert, die der Apfelzweig von sich gibt, wenn er geschüttelt wird, während Máel Dúin und seine Gefährten in Immram Curaig Maíle Dúin von der Musik eingeschläfert werden, die die Speere und Klingen an der Pforte der Festung erzeugen, wenn diese Pforte geschlossen wird; in beiden Texten kommt es zu wiederholten vorbereitenden Begegnungen zwischen der Frauengestalt und dem Helden, ehe der Held in der Halle der Frauengestalt willkommen geheißen wird; in beiden Texten werden den Gästen in der Halle der Frau Speisen vorgesetzt, deren vielfältiger Geschmack betont wird; und in beiden Episoden spielt das Motiv der Sündenfreiheit des besuchten Landes eine Rolle. Gerade an diesem letzten Punkt wird jedoch deutlich, dass die ‚Insel der Frau‘ in Máel Dúin nicht als Parallele, sondern als bewusstes Gegenbild zum Land der Frauen von Immram Brain konzipiert ist. In Immram Brain erscheint Sexualität als positiv gewerteter und insbesondere ausdrücklich sündenfreier Zug der maritimen Ander-
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welt: Manannán, dem Bran auf hoher See begegnet, schildert eine Welt, in der Männer und Frauen unter dem Gebüsch ein fröhliches Spiel spielen – und dies „ohne Sünde, ohne Fall“ (cen peccad cen immarboss) (§ 41). Dem entspricht, dass Bran und seinen Gefährten nach ihrer Ankunft im Land der Frauen nicht nur ein Festmahl vorgesetzt wird, sondern dass jeder Mann dort sein Lager mit einer der Frauen dieser Insel teilt (§ 62). Dieses Motiv des Beilagers mit der Frauengestalt auf der Insel wird in Immram Curaig Maíle Dúin aufgenommen, dort aber dezidiert negativ gewertet: Als Máel Dúins Männer der Frau vorschlagen, das Bett ihres Anführers zu teilen, lehnt sie dies unter ausdrücklichem Verweis auf ihre eigene Sündenlosigkeit (und damit implizit die Sündhaftigkeit eines solchen Verhaltens) ab. Dabei dürfte es wahrscheinlich kein Zufall sein, dass sie in diesem Kontext dasselbe Wort verwendet, mit dem Manannán in Immram Brain die Sündenlosigkeit der anderweltlichen Sexualität beschrieben hatte: peccad, „Sünde“ im spezifisch christlichen Sinne (ein Lehnwort aus lat. peccatum).¹¹⁵² Die gesamte Episode der ‚Insel der Frau‘ in Máel Dúin wird so zu einer Glosse zum Land der Frauen in Immram Brain: Die Vorstellung einer maritimen Anderwelt sündenfreier Liebe wird aufgenommen – jedoch nur, um dann umso gründlicher zurückgewiesen zu werden. Die ‚Insel der Frau‘ in Máel Dúin bildet so einen bewusst konstruierten Kontrast zum Land der Frauen von Immram Brain. Dieser Kontrast wird bis hin zur Art des Abschieds von diesen Insel durchgeführt: Die Frauengestalt von Immram Brain rät Bran, als er nach Irland zurückkehren will, vom Verlassen ihrer Insel ab (§ 63), während Máel Dúin und seine Männer nach ihrem aufdringlichen Verhalten von der Insel der Frau entfernt werden, ohne dies zu wollen – sie finden sich am Morgen plötzlich in ihrem Boot wieder, und die gastliche Insel ist verschwunden. Als Bran sich auf seiner Seereise zum Land der Frauen befindet, begegnet ihm Manannán mac Lir und erläutert ihm, wie die See aus seiner Perspektive erscheint: nicht als eine Wasserfläche, sondern als eine blühende Ebene, auf der sich Kälber und Lämmer tummeln und wo Männer und Frauen sich miteinander vergnügen (Immram Brain §§ 32–41). Zudem befindet sich unter dem Kiel von Brans Schiff ein schöner Wald (§ 42): Is íar mbarr fedo ro-sná do churchán tar indrada, fil fid fo mess i-mbí gnóe fo braine do beccnoë.¹¹⁵³ Über den Wipfel eines Waldes segelte dein kleines Lederschiff, über Höhenzüge, da ist ein fruchttragender Wald, in dem Schönheit ist, unter dem Bug deines kleinen Boots.
1152 Vgl. Maier 2013, S. 120. 1153 Text: Mac Mathúna 1985, S. 40 (§ 42).
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Das Motiv, dass sich unter der Wasseroberfläche eine Anderwelt befindet, die der Welt der Menschen ähnelt, findet sich auch in Immram Curaig Maíle Dúin (§ 23). Nachdem die ‚Insel der Frau‘ verschwunden ist und Máel Dúin und seine Gefährten eine Reihe anderer Wunder gesehen haben, gelangen sie eines Tages zu einem Teil des Meeres, der ihnen wie eine Wolke scheint. Dieser Teil der Meeresoberfläche ist so substanzlos, dass sie fürchten, er werde ihr Schiff nicht tragen. Da sehen sie unter der Meeresoberfläche prächtige Burgen und ein schönes Land. Dies erinnert zunächst stark an das idyllische Land, das Manannán in Immram Brain beschreibt – eine selige Anderwelt unter den Wellen. Ebenso, wie Immram Curaig Maíle Dúin dem Land der Frauen eine neue Wendung gibt, erhält jedoch auch das Land unter der Wasseroberfläche eine ganz andere Atmosphäre als in Immram Brain; denn bald sehen die Seefahrer, dass ein furchtbares Ungeheuer diese unterseeische Anderwelt heimsucht, und sie werden von Furcht ergriffen. Das Motiv der Anderwelt unter dem Wasser ist in der irischen Literatur gut belegt und dürfte als ein traditionelles Element einheimischer Anderweltsvorstellungen anzusehen sein;¹¹⁵⁴ der an ein Laienpublikum gerichtete, aber nichtsdestoweniger durch und durch ekklesiastische Immram Curaig Maíle Dúin greift dieses Motiv auf – jedoch nur, um einer solchen Anderwelt schreckliche und abstoßende Aspekte zuzuschreiben. Für eine in ihren Wurzeln vorchristliche, aber dennoch selige Unterwasserwelt wie in Immram Brain ist in der Kosmologie von Immram Curaig Maíle Dúin kein Platz. Für das Land der Frauen gilt diese Ablehnung nicht-christlicher Motive dabei in einem solchen Ausmaß, dass der Verfasser von Immram Curaig Maíle Dúin dieses Motiv gleich zweimal kommentierend aufgreift. Einige Stationen nach ihrer Begegnung mit der unterseeischen Anderwelt gelangen Máel Dúin und seine Männer zu einer großen Insel, auf der sich eine Festung mit einem reichverzierten Haus darin befindet (§ 28). Dort werden sie von siebzehn Mädchen und ihrer Königin willkommen geheißen, gebadet und bewirtet. Zur Nacht teilt jeder von Máel Dúins Männern auf Geheiß der Königin sein Bett mit einem der Mädchen; die Königin selbst schläft mit Máel Dúin. Am nächsten Morgen lädt die Königin sie ein, bei ihr zu bleiben, und verspricht, dass die Männer hier nie altern oder sterben werden, und dass ihnen jede Nacht dieselben Annehmlichkeiten zuteilwerden sollen wie in der vergangenen Nacht. Zum Hintergrund ihres Lebens auf dieser Insel erzählt die Königin nur, dass sie einst die Frau des Königs dieses Landes war, nach seinem Tod nun jedoch seine herrscherlichen Pflichten übernommen hat; die siebzehn Mädchen sind ihre Töchter. „Sie waren dann die drei Monate des Winters auf dieser Insel, und es schien ihnen, dass es drei Jahre waren.“ (Batar tri missa an gemridh iarom isan indsi sin 7 andar léo batar .iii. bliadna.) Einer von Máel Dúins Männern schlägt schließlich vor, weiterzuziehen und nach Hause zurückzukehren. Máel Dúin sträubt sich zunächst, gibt seinen Männern
1154 Für eine Zusammenstellung von frühen Belegstellen vgl. Carey 2000 (1982/83), S. 116 (Anm. 18, 19).
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aber nach, als diese drohen, ohne ihn weiterzuziehen. Als sie schon in ihr Boot eingestiegen sind, wirft ihnen jedoch die Königin ein Garnknäuel nach; Máel Dúin fängt es, und da das Garnknäuel an seiner Hand festklebt, kann die Königin sie wieder an Land zurückziehen. Nach dreimal drei Monaten fassen Máel Dúin und seine Gefährten den Beschluss, dass beim nächsten Fluchtversuch ein anderer Mann das Garnknäuel fangen soll; wenn es an der Hand dieses Mannes festklebt, soll ihm die Hand abgeschlagen werden. Dies wird ausgeführt, einer von Máel Dúins Männern verliert seine Hand, und die Königin bleibt schreiend und wehklagend zurück. Wie in der vorangegangenen Episode der ‚Insel der (einen) Frau‘ werden auch hier einige Motive aufgegriffen, die in Immram Brain mit der seligen Anderwelt und insbesondere mit dem Land der Frauen verbunden sind:¹¹⁵⁵ Wie in Immram Brain werden die Gefährten in einem Haushalt aufgenommen, der nur aus Frauen besteht, werden von diesen Frauen bewirtet und werden zu ihren Liebhabern. Wie in Immram Brain verlieren sie ihr Gefühl für den Verlauf der Zeit, und schließlich ergreift einen bzw. die Gefährten das Heimweh. Auch das Motiv des Garnknäuels stammt aus Immram Brain.¹¹⁵⁶ Die Atmosphäre ist jedoch eine ganz andere als in der Erzählung von Brans Seereise:¹¹⁵⁷ Die Wertung des Landes der Frauen wird in ihr Gegenteil verkehrt. In Immram Brain scheint ein Jahr zu vergehen, während in Wirklichkeit Jahrhunderte verstreichen; in Immram Curaig Maíle Dúin hingegen empfinden die Seefahrer drei Monate in der Gesellschaft der Frauen als drei Jahre. Das glückliche Land der Frauen wird in Máel Dúin zu einem Land der sexuell übersättigten Langeweile, das weder ein ewig währendes Bankett noch das Versprechen von ewiger Jugend und Unsterblichkeit erträglich machen kann. Selbst noch die Flucht von dieser Insel wird zu einem schmerzlichen Ereignis: Einer von Máel Dúins Gefährten wird blutig verstümmelt. Vergleicht man die Zeichnung der Königin am Ende dieser Episode von Máel Dúin mit Brans Abschied von der Herrin des Landes der Frauen in Immram Brain (§ 63), so wird zudem deutlich, wie sehr der Autor von Immram Curaig Maíle Dúin der Herrin der Insel ihre Würde nimmt: Die Frauengestalt von Immram Brain trägt den Abschied der Männer mit Fassung und gibt ihnen guten Rat für ihren weiteren Weg; die Königin von Immram Curaig Maíle Dúin hingegen wird zu einem schreienden Häufchen Elend reduziert. In Immram Curaig Maíle Dúin wird das Land der Frauen entzaubert und abgewertet; es erscheint als nicht erstrebenswert und sogar verderblich. Diese Verdammung des Lands der Frauen durch den klerikalen Verfasser von Immram Curaig Maíle Dúin legt nahe, dass er im Land der Frauen eine Vorstellung sah, die in einer christlichen Kosmologie keinen (positiven) Platz haben sollte: Er behandelt das Land der Frauen als eine unchristliche Idee, vor der er die Rezipienten seines Textes
1155 Vgl. Oskamp 1970, S. 59 f. 1156 Zu Parallelen in der modernen irischen Folklore vgl. Mac Mathúna 1996, S. 257–259. 1157 Vgl. Oskamp 1970, S. 59 f.
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warnen will. Dies impliziert, dass es sich beim Land der Frauen – zumindest seiner Auffassung nach – um ein in seinen Wurzeln nicht-christliches Motiv handelt.¹¹⁵⁸ Máel Dúins Kontakt mit solchen nichtchristlichen Vorstellungen und seinem Status als Laie (und gewalttätiger Krieger) entspricht, dass ihm das irdische Paradies im Ozean verschlossen bleibt: Zwar trifft Máel Dúin auf verschiedene glückliche Eremiten (§§ 19, 20, 30, 33), aber anders als der seefahrende Mönch Brendan betritt er keine terra repromissionis sanctorum. Er kommt solchen Orten zwar nahe – so scheint er am ‚Paradies der Vögel‘ der Navigatio vorbeizufahren, ohne dort an Land zu gehen (§ 18) – aber ihm als Laien bleiben sie letztlich verschlossen. In diesem Sinne dürfte eine der letzten Inseln zu verstehen sein, die Máel Dúin vor seiner Rückkehr nach Irland sieht (§ 32). Diese Insel ist von einem sich drehenden Flammenwall umgeben;¹¹⁵⁹ durch eine Pforte in diesem Wall sind die Bewohner der Insel zu sehen, bei denen es sich um schöne, prächtig gekleidete Menschen handelt, die mit goldenem Geschirr ein Festmahl abhalten. Das Motiv des Flammenwalls evoziert dabei die Beschreibung des irdischen Paradieses durch Isidor von Sevilla: Cuius loci post peccatum hominis aditus interclusus est; septus est enim undique romphea flammea, id est muro igneo accinctus, ita ut eius cum caelo pene iungat incendium (Etymologiae XIV.3).¹¹⁶⁰ Es mag also sein, dass Máel Dúin hier ganz nahe am Ende seiner Seereise und unmittelbar vor seiner Rückkehr als neuer Mensch ein kurzer Blick ins irdische Paradies oder auf die terra repromissionis sanctorum gewährt wird.¹¹⁶¹ Danach trifft er auf einem Felsen im Meer noch auf einen letzten Eremiten (§ 33). Dieser gibt ihm eine ausführliche Schilderung seines eigenen sündhaften Lebens und seiner Umkehr und Errettung vor der Hölle; zum Abschied ermahnt er Máel Dúin, dem Mörder seines Vaters zu vergeben und mit ihm Frieden zu schließen. Máel Dúin nimmt sich diese Ermahnung nach seiner Rückkehr nach Irland zu Herzen, versöhnt sich mit seinem früheren Feind und berichtet über die Wunder, die er auf dem Meer gesehen hat (§ 34). Der Immram Curaig Maíle Dúin ist, zusammenfassend betrachtet, in erster Linie eine an ein Laienpublikum gerichtete Bekehrungsgeschichte, die das Beispiel der Blutrache nutzt, um die heroische Ethik der Kriegerschicht in Frage zu stellen: Der Krieger Máel Dúin wird auf die See hinausgetrieben, wo er mit einer Vielzahl
1158 Falls die oben (S. 276 ff.) erwähnten Theorien, wonach es sich beim Land der Frauen von Echtrae Chonnlai und Immram Brain um elaborierte christliche Allegorien handle, zutreffen sollten, so hat zumindest der Verfasser von Immram Curaig Maíle Dúin dies nicht verstanden. 1159 Zum Verhältnis dieses Motivs zur Waberlohe der Siegfriedsage vgl. de Vries 1960, S. 131–134; de Vries 1953, S. 241; de Vries 1962–1965 (Heroic Traditions), S. 33. Grundsätzlich ist allerdings zu bemerken, dass die rotierende Flammenwand dieser Schilderung etablierten christlichen Paradiesvorstellungen zu eng entspricht, als dass es möglich wäre, ihr für die Frage vorgeschichtlicher keltisch-germanischer Kulturbeziehungen irgendeine Relevanz zuzusprechen. (Für eine – wenig überzeugende – Herleitung der Waberlohe aus den sog. „vitrified forts“ vgl. Birkhan 2009 [Erzählgemeinschaft], S. 117 f.) 1160 Siehe oben S. 49 und vgl. Oskamp 1970, S. 74 f. 1161 Vgl. MacCulloch et al. 1908, S. 695.
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von Lektionen konfrontiert wird, die ihn zur Umkehr und einem friedlichen Leben nach christlichen Idealen bewegen. Innerhalb von Máel Dúins Seereise wird dabei auch eine Reihe von etablierten Anderwelts- und Paradiesmotiven aufgegriffen, wie sie in der Navigatio und in Immram Brain und Echtrae Chonnlai bezeugt sind. Die Ausrichtung der Erzählung auf ein Zielpublikum von Laien hat hier zur Folge, dass verschiedene dieser Motive abgeändert werden, um sie entweder für ein Laienpublikum verständlicher zu machen oder um diesem Laienpublikum zu vermitteln, dass manche der etablierten Motive der früheren irischen Literatur in einem christlichen Kontext nicht akzeptabel sind. Die erstere Taktik – eine Anpassung im Interesse besserer volkstümlicher Verständlichkeit – wendet der Autor von Immram Maíle Dúin auf die ‚Insel der Trauben‘ der Navigatio an: Hier werden die ernährenden Trauben des lateinischen (und entsprechend wohl an ein ekklesiastisches Publikum gerichteten) Texts durch die volkstümlicheren wundersamen Äpfel ersetzt. Dies schien dem Autor von Immram Maíle Dúin wohl deshalb akzeptabel, weil Apfelbäume auch einen etablierten Teil des christlichen Paradieses darstellen und die volkstümlich-irische Vorstellung der Apfelinsel so einer interpretatio Christiana offenstand. Nicht mehr akzeptabel waren für diesen lehrhaften Autor jedoch Vorstellungen wie das Land der Frauen oder eine selige Anderwelt unter dem Meer. Diese Motive hat der Verfasser von Immram Maíle Dúin entsprechend in einer Weise abgeändert, die solche Anderwelten als Orte des Schreckens zeichnet oder – im Fall der ‚Insel der einen Frau‘ – ihren eigenen Protagonisten die Verdammung des traditionellen Motivs als sündhaft in den Mund legt. Hierdurch wird Immram Maíle Dúin zu einem Text von höchstem Wert für das Verständnis früher irischer Anderweltsvorstellungen: Gerade durch seine vehemente Ablehnung der einschlägigen Konzepte zeigt der Autor von Máel Dúin auf, dass es sich bei diesen Anderwelten nicht um christliche Allegorien handelt, sondern um wesentlich nicht-christliche Vorstellungen, deren Wurzeln in der vorchristlichen Zeit Irlands zu suchen sind.
Immram Snédgusa ocus Maic Riagla Die „Seefahrt von Snédgus und Mac Ríagla“ (Immram Snédgusa ocus Maic Riagla) ist in drei hauptsächlichen Versionen erhalten: einer poetischen Fassung und zwei Prosafassungen.¹¹⁶² Von diesen drei Versionen ist die poetische Fassung, die von Thomas Owen Clancy ins frühe 10. Jahrhundert datiert wird,¹¹⁶³ die älteste; dieser Text wird im Zentrum der folgenden kurzen Diskussion stehen.¹¹⁶⁴
1162 Für eine Zusammenstellung von Ausgaben und Übersetzungen vgl. Wooding 2000 (Introduction), S. xxvi; Wooding 2004, S. 147. 1163 Clancy 2000, S. 198, 222 f.; vgl. Edel 2001, S. 69 (Datierung allgemein ins 10. Jahrhundert); Ó hAodha 1997, S. 420 („perhaps from the tenth century“). 1164 Zuletzt hgg. von van Hamel 2004 (1941), S. 86–92. Für eine Übersetzung vgl. Ó hAodha 1997.
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Immram Snédgusa ocus Maic Riagla beschreibt acht Abenteuer, die die beiden Mönche Snédgus und Mac Ríagla auf einer maritimen peregrinatio erleben. Zu diesen Abenteuern gehören Begegnungen mit Wesen, die einen Katzen-, Hunde- oder Schweinekopf auf einem menschlichen Körper tragen (Str. 14, 35, 38), und in denen kaum eine tiefere Bedeutung zu suchen sein dürfte. Im Zuge ihrer Reise besuchen die beiden Mönche jedoch auch eine Insel, auf der sie einen gewaltigen, wunderbaren Baum finden, auf dem Chöre von Vögeln singen. Diese Vogelchöre werden von einem besonders ehrwürdigen Vogel geleitet, der den anderen Vögeln die christliche Lehre predigt: die Schöpfungsgeschichte, das Leben Christi und die Apokalypse. Wenn er den Vögeln von der Apokalypse kündet, schlagen sie ihre Flügel gegen ihre Seiten, von wo ein Schauer von Blut fließt (Str. 22–34). Auf einer anderen Insel wird den beiden monastischen Seefahrern berichtet, dass Enoch und Elias auf diesem Eiland leben: Die beiden alttestamentlichen Patriarchen verweilen dort, bis sie während der Apokalypse in die Schlacht ziehen und das Martyrium erleiden werden (Str. 40–66, bes. 54–66). Die Insel der Vögel und die Insel des Enoch und Elias in Immram Snédgusa ocus Maic Riagla scheinen direkte Bezugnahmen auf ein Motiv darzustellen, das etwa auch im Text „Die zwei Kummer des Königreichs des Himmels“ (Dá Brón Flatha Nime) erscheint (wohl 11. Jahrhundert).¹¹⁶⁵ Dieser Text berichtet über das Geschick von Enoch und Elias. Beide wurden aufgrund ihrer Tugendhaftigkeit körperlich ins Paradies entrückt.¹¹⁶⁶ Dort sitzt Elias mit dem Evangelium unter dem Baum des Lebens und predigt den Vögeln und Seelen, nachdem die Vögel von den Früchten des Paradiesbaums gefressen haben.¹¹⁶⁷ Das Thema seiner Predigt ist dabei die Apokalypse.¹¹⁶⁸ Wenn er seine Predigt beendet hat, sind die Vögel aus Angst vor der Apokalypse in große Aufregung versetzt und schlagen ihre Seiten so stark mit ihren Flügeln, dass das Blut in Strömen von ihnen herabfließt.¹¹⁶⁹ Enoch und Elias selbst werden am Ende der Tage dem Antichrist gegenübertreten und durch ihn das Martyrium erleiden, ehe der Erzengel Michael vom Himmel herabkommt und gegen den Antichrist kämpft.¹¹⁷⁰ Die Tradition, wonach Enoch und Elias lebend in den Himmel entrückt wurden, geht bis auf die Bibel zurück und wurde oben bereits kurz in Zusammenhang mit der Eiríks saga víðfǫrla erwähnt.¹¹⁷¹ Die Vorstellung, dass sie von dort am Ende der Zeit zurückkehren, um sich dem Antichristen zu stellen, ist hingegen apokryph;¹¹⁷² nichtsdestoweniger war jedoch auch dieses Motiv im mittelalterlichen Westeuropa weithin
1165 Schon erkannt von Zimmer 1889, S. 217 f. Der Text ist hgg. und übersetzt von Dottin 1900. Datierung: Strijbosch 2000, S. 173. 1166 Dottin 1900, S. 376/377. 1167 Dottin 1900, S. 376–379. 1168 Dottin 1900, S. 378–385. 1169 Dottin 1900, S. 384/385. 1170 Dottin 1900, S. 384–387. 1171 Siehe oben S. 58 und vgl. Dumville 2000 (1988), S. 124; Lanczkowski 1986, S. 41. 1172 Vgl. Edel 2001, S. 69.
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verbreitet und findet sich selbst in den Schriften der Kirchenväter (z. B. Gregor der Große, Moralia in Iob XIV.xxiii.27).¹¹⁷³ Ebenso schon früh explizit bezeugt ist die Lokalisierung des Aufenthalts von Enoch und Elias im irdischen Paradies, wie es in der Genesis als erster Aufenthaltsort Adams beschrieben ist; diese Vorstellung ist bereits im 2. Jahrhundert bei Irenäus von Lyon zu finden (Contra haereses V.v.1).¹¹⁷⁴ Die zentralen Elemente von Dá Brón Flatha Nime sind somit fest in weithin verbreitete christliche Traditionen über das irdische Paradies eingebettet; David N. Dumville nimmt an, dass auch das Detail der Vögel, die sich ihre Seiten blutig schlagen, auf ein früheres apokryphes Werk über die Entrückung von Enoch und Elias zurückgeht,¹¹⁷⁵ was dieses Detail in einen ähnlich breiten Kontext stellen würde. Immram Snédgusa ocus Maic Riagla greift somit auf etablierte, wenn auch teilweise apokryphe christliche Traditionen über einen Aufenthalt von Enoch und Elias im irdischen Paradies zurück und verteilt die einschlägigen Motive über zwei Inseln des Ozeans. Damit illustriert dieser immram zum einen nochmals, wie einfach sich für irische Autoren der Epoche Paradiesmotive aus ihrer gewöhnlichen christlichen kosmologischen Lokalisierung (d. h. im fernen Osten) herauslösen und auf („keltische“?)¹¹⁷⁶ anderweltliche Inseln verpflanzen ließen.¹¹⁷⁷ Zum anderen unterstreicht Immram Snédgusa durch seinen Rückgriff auf das Enoch-und-Elias-Motiv die Vielfalt von Paradiesvorstellungen, die an das Konzept einer maritimen Anderwelt problemlos angepasst werden konnten.
Immram Curaig Ua Corra Die Erzählung von der „Seereise des Lederboots der Uí Chorra“ (Immram Curaig Ua Corra) ist in mehreren Fassungen in durchgehend späten Handschriften erhalten.¹¹⁷⁸ Inhaltliche und linguistische Unstimmigkeiten innerhalb des Texts legen nahe, dass es sich schon bei der ältesten erhaltenen Fassung von Immram Curaig Ua Corra um
1173 Patrologia Latina t.LXXV, c.1053C–D. Mit weiteren Belegen vgl. Dumville 1973, S. 308 f. (mit Anm. 62). 1174 Dumville 1973, S. 309. 1175 Dumville 1973, S. 309 f. 1176 Vgl. Carey 1987 (Time), S. 12. 1177 Vgl. Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1745. 1178 Die älteste erhaltene Fassung wurde zuletzt hgg. von van Hamel 2004 (1941), S. 93–111, 139–141. Van Hamel greift in seiner Ausgabe stark in den handschriftlich überlieferten Text ein, um den Text sprachlich den Standards des 11. Jahrhunderts anzupassen, das er als die Abfassungszeit des Archetyps ansieht (vgl. ibidem S. 94 f.). Breatnach 2003, S. 93 lehnt diese Herangehensweise ab und zieht die Ausgabe von Stokes 1893 (Húi Corra) der Ausgabe van Hamels vor, obwohl van Hamel auf gelegentliche Fehler in Stokes’ Lesungen hinweist (vgl. van Hamel 2004 [1941], S. 95). Für eine Ausgabe der ältesten erhaltenen Fassung von Immram Curaig Ua Corra mit Übersetzung vgl. Stokes 1893 (Húi Corra). Ausführlich zur Textüberlieferung vgl. Breatnach 2003, S. 92–99, zusammenfassend Wooding 2004, S. 148. Die folgende Diskussion beschränkt sich auf die älteste Fassung des Texts, wie sie von van Hamel und Stokes herausgegeben wurde.
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einen sekundär aus zwei Teilen zusammengesetzten Text handelt:¹¹⁷⁹ Der erste Teil präsentiert eine lebhafte Erzählung von teuflischer Intervention und Mordbrennerei, die den Grund dafür ausführt, warum die drei Uí Chorra zu einer peregrinatio aufbrechen; der zweite Teil beschreibt diese peregrinatio zur See und die verschiedenen Wunder, die die drei Pilger auf ihrer Reise zu Gesicht bekommen. Von diesen zwei Teilen dürfte der zweite Abschnitt, in dem die Seereise beschrieben wird, der ältere sein.¹¹⁸⁰ Auch dieser Teil des Texts ist jedoch nicht von besonders hohem Alter; so zieht er etwa ausgibig Motive heran, die unmittelbar dem Immram Curaig Maíle Dúin entnommen sind (u. a. die kristallene bzw. silberne Säule in der See und die ‚Insel der einen Frau‘).¹¹⁸¹ Clancy datiert den Text in der uns vorliegenden Form ins 11./12. Jahrhundert;¹¹⁸² Caoimhín Breatnach schlägt als Datierung die zweite Hälfte des 12. Jahrhunderts vor.¹¹⁸³ Als letzter der irischen volkssprachlichen immrama verdient Immram Curaig Ua Corra im gegenwärtigen Kontext vor allem aufgrund seiner Schilderung einer ‚Apfelinsel‘ eigens erwähnt zu werden. Diese Schilderung bietet eine konzise Zusammenfassung einiger zentraler Elemente des Apfelinselmotivs, die schon durch ihre Anwesenheit in diesem Text nochmals unterstreicht, wie allgegenwärtig dieses Motiv selbst in den ekklesiastischen Schilderungen maritimer Anderwelten ist – und die über die bisher angesprochenen irischen Bearbeitungen dieses Motivs in einem interessanten Detail hinausgeht: Imrait rempa iar sin, co tarfás dóib inis ingnad aile 7 daire álaind étrocht d’ ablaib cumra indi. Sruth fína tre lár in daire. In tan immorro no gluaised in gáeth barrgar in daire, ba binne indá cach ceól a canad. Ro thomuilset Ua Corra ní dina hublaib 7 atibset ní din tsruth fína cor ’ sássad iat fo chétóir, connár airigset cned ná galar indib.¹¹⁸⁴ Danach rudern sie weiter, bis ihnen eine weitere wunderbare Insel gezeigt wurde, und darauf befand sich ein schöner, strahlender Hain von süßduftenden Apfelbäumen. Ein Fluss von Wein floss durch die Mitte des Hains. Wenn aber der Wind die Wipfel des Hains bewegte, war ihr Singen süßer als jede Musik. Die Uí Chorra aßen etwas von den Äpfeln, und sie tranken etwas von dem Fluss von Wein, so dass sie sofort gesättigt waren, und so dass sie weder Wunde noch Krankheit an sich bemerkten.
1179 Vgl. Breatnach 2003, S. 99–10. 1180 Breatnach 2003, S. 99, 105. 1181 Vgl. Oskamp 1970, S. 60–64, 66, 69, 70 f.; allgemein zur direkten Abhängigkeit von Immram Ua Corra von Immram Maíle Dúin vgl. Mac Mathúna 1996, S. 248, 251–254, 261; Carney 2000 (1963), S. 49. Für die silberne Säule, die der silbernen Säule von Immram Maíle Dúin und der kristallenen Säule der Navigatio entspricht, vgl. Stokes 1893 (Húi Corra), § 51 (S. 44/45); van Hamel 2004 (1941), § 8 (S. 103); für die ‚Insel der einen Frau‘, die in Immram Ua Corra stark gekürzt und ihres sexuellen Elements entkleidet wird, vgl. Stokes 1893 (Húi Corra), § 54 (S. 46/47); van Hamel 2004 (1941), § 11 (S. 104). 1182 Clancy 2000, S. 212, vgl. aber auch ibidem S. 198 (Datierung ins 12. Jahrhundert). Ähnlich vgl. Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1745. Edel 2001, S. 70: „around 1100“. 1183 Breatnach 2003, S. 107; vgl. Phillips 2010, S. 42. 1184 Text: van Hamel 2004 (1941), S. 102 (§ 4), vgl. Stokes 1893 (Húi Corra), S. 42 (§ 47).
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Whitley Stokes vermutete, dass es sich bei dieser Episode von Immram Curaig Ua Corra um eine direkte Entlehnung aus Immram Curaig Maíle Dúin § 7 handelt.¹¹⁸⁵ Hiergegen ist anzumerken, dass einige der eigentümlicheren Details der letzteren Passage in Uí Chorra fehlen: Die Apfelinsel von Immram Ua Corra ist weder durch hohe Klippen von der Außenwelt abgeschnitten, noch dauert es Tage, bis aus einem abgebrochenen Zweig Äpfel sprießen. Zudem enthält die Schilderung der Apfelinsel von Immram Ua Corra ein wichtiges Detail, das seinerseits der Apfelinsel von Immram Maíle Dúin fehlt: Die Früchte (und das Wasser) dieser Insel sind heilkräftig. Dabei sind sie sowohl gegen Krankheiten als auch gegen Wunden wirksam, d. h. gegen alle Leiden, die die Gesundheit der Menschen beeinträchtigen können. Man wird nicht umhin kommen, sich an das Versprechen der Unsterblichkeit erinnert zu fühlen, das mit den Inseln von Immram Brain und Echtrae Chonnlai verbunden ist, und noch mehr vielleicht an die Heilung Arthurs auf der arthurischen insula pomorum Avalon.
Literatur oder lebendiger Glaube? Ailbe, die Litanei der irischen Pilgerheiligen und die gedachte Realität der Paradiesinsel Die heute weithin verbreitete Vorstellung, dass Irland von Patrick bekehrt worden sei, galt ursprünglich nicht für die ganze Insel, wenngleich Patrick in der irischen Wahrnehmung des Glaubenswechsels schon im siebten Jahrhundert eine herausragende Stellung einnahm.¹¹⁸⁶ Die Christianisierung von Munster etwa wurde auf den Hl. Ailbe zurückgeführt, einen Bischof von Emly, dessen Tod von den irischen Annalen für das 2. Viertel des 6. Jahrhunderts verzeichnet wird.¹¹⁸⁷ Die älteste Biographie dieses Heiligen stammt aus dem frühen 8. Jahrhundert,¹¹⁸⁸ und dieser Text ist nicht nur für die irische Bekehrungsgeschichte, sondern auch für die Geschichte des Motivs der Paradiesinsel von direkter Bedeutung.¹¹⁸⁹ Das letzte Wunder, das Ailbe in dieser Biographie zuteilwird, ereignet sich, als Ailbe eines Tages mit seinen Brüdern an der Meeresküste sitzt (Vita S. Albei § 54):¹¹⁹⁰ Alio autem tempore, cum sanctus Albeus sedisset cum fratribus suis supra ripam maris in finibus Corchudruoth, viderunt navem eneam magnam, habentem circa se velamen, de occeano ad se venientem, vocesque canentium in choris audiebantur in ea. Que procul ab eis supra mare stetit. Tunc Albeus misit unum de fratribus, ut salutaret eos, sed nullum responsum datum est illi de navi. Igitur omnes fratres unus post unum exierunt, et nichil responsum est eis. Postremo
1185 Stokes 1893 (Húi Corra), S. 43 (Anm. 1). 1186 Vgl. Charles-Edwards 2000 (Ireland), S. 182 f., 237–239. 1187 de Paor 1993, S. 227. 1188 Hgg. von Heist 1965, S. 118–131. Datierung: Wooding 2014, S. 106; Wooding 2000 (Introduction), S. xv, vgl. S. xxviii; Herbert 1999, S. 182 („between the years AD 721 and AD 742“). 1189 Vgl. Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1744. 1190 Thrall 2000 (1923), S. 19 f. Ausführlich zu dieser Episode und anderen Assoziationen Ailbes mit Seereisen vgl. Herbert 1999.
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autem Albeus ipsemet, in suis ficonibus supra mare ambulans, perrexit ad eos. Et statim apertum est ei velamen quod erat circa navem desuper. Et ingressus in navem, iterum navis in occeanum reversa est. Tunc fratres Albei in portu, valde contristati, fleverunt, donec angelus ad eos veniens dixit : « Nolite contristari : in hora enim qua Albeus a vobis recessit, iterum ad vos revertetur. » Crastino autem die, navem supra dictam ad se viderunt, stansque in eodem loco, descendit Albeus de navi, portans in manu sua palmitem cum suo fructu. Et palmes iste apud Albeum tribus annis fuit inseparabiliter, die et nocte, et postea angelus istum palmitem ab eo portavit.¹¹⁹¹ Zu einer anderen Zeit aber, als sich der heilige Ailbe mit seinen Brüdern im Gebiet Corcomruad über der Meeresküste niedergelassen hatte, sahen sie ein großes ehernes Schiff, das einen Schleier um sich hatte, vom Ozean auf sie zukommen, und darin hörte man die Stimmen von Leuten, die in Chören sangen. Das drehte fern von ihnen auf der See bei. Da schickte Ailbe einen der Brüder, damit er sie begrüße, aber ihm wurde vom Schiff keine Antwort gegeben. Also gingen alle Brüder einer nach dem anderen hinaus, und ihnen wurde nichts geantwortet. Zuletzt aber ging Ailbe selbst zu ihnen, indem er in seinen Wickelschuhen über das Meer wandelte. Und sogleich wurde der Schleier für ihn geöffnet, der von oben um das Schiff lag. Und nachdem er das Schiff bestiegen hatte, kehrte das Schiff wieder auf den Ozean zurück. Da weinten Ailbes Brüder im Hafen, von Kummer überwältigt, bis ein Engel zu ihnen kam und sagte: ‚Seid nicht traurig: In der Stunde nämlich, in der Ailbe sich von euch entfernt hat, wird er wieder zu euch zurückkehren.‘ Am folgenden Tag aber sahen sie das Schiff, von dem oben die Rede war, auf sich zukommen, und als es am selben Ort beidrehte, stieg Ailbe aus dem Schiff aus, und er trug in seiner Hand einen Zweig mit seiner Frucht. Und dieser Zweig war drei Jahre unzertrennlich bei Ailbe, Tag und Nacht, und danach trug ein Engel diesen Zweig von ihm fort.
Ailbe wird hier somit die Gnade zuteil, durch ein bronzenes Schiff (navis enea) für eine Weile in ein Land jenseits des Meeres entrückt zu werden, von dem er einen fruchttragenden Zweig mit sich zurück nach Irland bringen darf.¹¹⁹² Durch die Rede, die der Engel an Ailbes Brüder richtet, wird deutlich, dass der Verfasser der Vita Albei diese Reise als ein legitim-christliches Ereignis auffasste; denn die Intervention des Engels stellt nicht nur einen Trost für Ailbes Brüder, sondern implizit auch eine christ-
1191 Text: Heist 1965, S. 130 f. 1192 Wie Wooding zu Recht betont, ist dies ein eher anderweltliches als christliches Motiv (Wooding 2000 [Monastic Voyaging], S. 234), wenngleich Maier in einem anderen Zusammenhang auf ein goldenes Boot hinweisen kann, das in der apokryphen Apokalypse des Paulus als Fahrzeug für eine Reise ins Paradies dient (Maier 2013, S. 122); in Anbetracht der auffallend konsequenten Beschreibung des Boots, das in der irischen Literatur als Fahrzeug für die Anderweltsreise dient, gerade als Boot aus Bronze (siehe unten S. 321, 326, 332, 370, 376, 378, 379), ist eine Verbindung mit dem goldenen Boot dieses apokalyptischen Texts zwar nicht auszuschließen, aber doch auch nicht überzeugend. Zum Detail, dass Ailbe seinen Zweig nach seiner Rückkehr nicht mehr aus der Hand gibt, vgl. die oben (S. 299) angesprochene Episode in Immram Curaig Maíle Dúin, in der Máel Dúin einen vergleichbaren Zweig für drei Tage in seiner Hand behält. Vgl. auch Herbert 1999, S. 184 zum anderweltlichen Charakter des Bronzeboot-Motivs; zum fruchttragenden Zweig vgl. ibidem S. 185 f.; Murray 2000; Mac Mathúna 1994, S. 336; Patch 1950, S. 52 f.; Brown 1923; Hull 1901, bes. S. 435– 444.
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liche Legitimation von Ailbes Seereise dar.¹¹⁹³ Die große Bedeutung dieser Seereise wird dabei durch ihre Stellung in der Vita Albei deutlich: Es handelt sich um das letzte und damit krönende Ereignis im Leben des Hl. Ailbe. Die Knappheit, mit der dieses Ereignis erzählt wird, hat zudem eine weitere wichtige Implikation: Die Episode scheint nicht als Allegorie intendiert zu sein. Die Geschehnisse werden mit wenigen Worten in einer äußerst handlungsbezogenen Weise geschildert, ohne dass der Text irgendeinen Hinweis auf eine intendierte allegorische Leseweise geben würde. Der anekdotenhafte Stil legt vielmehr nahe, dass Ailbes Seereise vom Autor der Vita Albei als ein Ereignis gedacht wurde, das sich wirklich ereignet hat. In Zusammenhang mit der Brendanlegende ist im Vorangehenden bereits kurz die „Litanei der irischen Pilgerheiligen“ erwähnt worden.¹¹⁹⁴ Dieser Text stellt im Wesentlichen eine lange Aufzählung und Anrufung von Heiligen dar, deren verbindendes Element darin besteht, dass alle diese Heiligen sich auf eine wichtige Pilgerfahrt begeben haben – einschließlich solcher maritimer Pilgerfahrten, wie sie in der Navigatio Sancti Brendani und in den volkssprachlichen immrama geschildert werden. In dieser Litanei wird die Seereise Brendans mehrfach angesprochen,¹¹⁹⁵ und von den in volkssprachlichen Texten behandelten Pilgerfahrten zur See wird auch der immram der Uí Chorra verzeichnet.¹¹⁹⁶ Ferner weiß die Litanei auch von Ailbe:¹¹⁹⁷ Cethrur ar fichit de Mumain lotar la Ailbi for fargi do athascnam tiri tarngiri, filet and i mbethaid co bráth, [...].¹¹⁹⁸ Vierundzwanzig aus Munster gingen mit Ailbe auf das offene Meer hinaus, um das Land der Verheißung zu suchen, die dort bis zum Jüngsten Gericht am Leben sind, [...].
Diese Zeilen der Litanei nehmen deutlich auf die Ailbe-Legende in der Form Bezug, in der sie in die Navigatio Sancti Brendani eingegangen ist: Dort treffen Brendan und seine Gefährten auf ebendiese 24 Mönche aus der familia Albei und verbringen mit ihnen das Weihnachtsfest (§ 12). Wie oben ausgeführt, enthält die Schilderung dieser Gemeinschaft in der Navigatio eine Reihe von Anspielungen auf den Bibeltext, die eine bewusst allegorische Komposition dieser Passage der Navigatio nahelegen. Nichtsdestoweniger erscheinen die 24 Gefährten des Ailbe in der „Litanei der irischen
1193 Vgl. auch eine Anekdote aus der Biographie des Hl. Patrick, wonach dieser den Stab, den er als Hirtenstab verwendete, zuerst von einem alterslosen Paar auf einer Insel angeboten bekam, ehe er ihn von Gott selbst erhielt: Carey 2006 (Voyage Litearture), S. 1744; Mulchrone 1939, S. 18 f.; Stokes 1887, S. 28–31. 1194 Siehe oben S. 285. 1195 Plummer 1992, S. 62/63 1196 Plummer 1992, S. 66/67. Dabei ist zu beachten, dass der Immram Curaig Ua Corra in seiner uns heute vorliegenden Form deutlich jünger ist als die Litanei der Pilgerheiligen. 1197 Vgl. Wooding 2014, S. 107. 1198 Plummer 1992, S. 62.
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Pilgerheiligen“ Seite an Seite mit einer Vielzahl anderer heiliger Männer, die kollektiv um ihre Hilfe angefleht werden – wie die Litanei selbst gegen Ende des Textes explizit macht: hos omnes inuoco [in auxilium meum].¹¹⁹⁹ Damit bezeugt die „Litanei der irischen Pilgerheiligen“, dass Figuren wie Brendan, die Uí Chorra und die Gefährten des Ailbe als historische Gestalten angesehen wurden, von denen (zumindest manche) Autoren des irischen Frühmittelalters glaubten, dass sie sich auf wirkliche Reisen in ein irdisches Paradies im Ozean begeben hätten. Zumindest in dieser frühen Zeit wurde die terra repromissionis sanctorum allem Anschein nach nicht immer nur allegorisch aufgefasst, sondern durchaus auch wörtlich genommen und als realweltlich existierend vorgestellt. Falls noch ein weiteres Argument dafür nötig ist, dass eine transmarine Anderwelt im frühmittelalterlichen Irland als realweltliche Gegebenheit aufgefasst werden konnte, so wird dieses Argument vom Fall des Virgilius von Salzburg bereitgestellt. Dieser wurde in der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts zum Gegenstand eines Beschwerdebriefs, den der Hl. Bonifaz an Papst Zacharias richtete. Zacharias’ Antwort aus dem Jahr 748 enthielt u. a. folgende päpstliche Entscheidung (Sancti Zachariae Romani Pontificis epistolae et decreta, epistola XI):¹²⁰⁰ De perversa autem et iniqua doctrina ejus, qui contra Deum et animam suam locutus est, si clarificatum fuerit ita eum confiteri, quod alius mundus, et alii homines sub terra sint, seu sol et luna, hunc, habito consilio, ab ecclesia pelle, sacerdotii honore privatum.¹²⁰¹ Was aber seine perverse und gefährliche Lehre angeht, die gegen Gott und seine Seele gesprochen ist: Wenn bestätigt ist, dass er eine solche Lehre vertritt, dass es eine andere Welt gebe, und andere Menschen unter der Erde, oder [der] Sonne und [dem] Mond,¹²⁰² dann halte einen Rat ab, verstoße ihn aus der Kirche und entkleide ihn seiner Priesterwürde.
Die päpstliche Drohung, dass Virgilius aus dem Priesteramt entfernt werden solle, hat seiner weiteren Karriere keinen Schaden zugefügt: Im Jahr 767 wurde er zum Bischof von Salzburg geweiht und im Jahr 1233 sogar heiliggesprochen.¹²⁰³ Die scharfe Ablehnung von Virgilius’ kosmologischen Ideen durch Papst Zacharias ist jedoch, wenn nicht für Virgilius’ Karriere, so doch für die irische Geistesgeschichte der Epoche von Interesse. Virgilius (ir. Fergail) war einer der vielen peregrini, die Irland im Lauf des Frühmittelalters verließen und in einem Akt der peregrinatio pro Deo auf den Kontinent auswanderten.¹²⁰⁴ Damit war er zwar ein auf dem Kontinent wirkender Geistlicher, primär jedoch nach wie vor auch ein irischer Gelehrter, der in insularen Tra-
1199 Plummer 1992, S. 74. 1200 Carey 2000 (1989), S. 133. 1201 Patrologia Latina t.LXXXIX, c.946D–947A. 1202 Zur Interpretation von seu sol et luna vgl. Carey 2000 (1989), S. 133 (Anm. 2). 1203 Carey 2000 (1989), S. 133. 1204 Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 58.
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ditionen verwurzelt war. Seine häretische Lehre von einer anderen Welt und anderen Menschen wird gemeinhin als die Annahme der Existenz von Antipoden gedeutet.¹²⁰⁵ Diese Ansicht wurde in der Antike zwar weithin vertreten, galt von den Kirchenvätern bis zum Aufstiege der Scholastik jedoch als Irrlehre, die mit der Bibel nicht vereinbar war; John Carey betont nachdrücklich, dass Virgilius in acht Jahrhunderten christlicher Geistesgeschichte bis zum Aufbrechen dieser kosmologischen Orthodoxie durch die Scholastiker nahezu der einzige christliche Gelehrte des Kontinents war, der die Existenz von Antipoden annahm.¹²⁰⁶ Dies sieht Carey in Zusammenhang mit einer Reihe von Passagen der irischen Literatur, in denen gleichfalls die Existenz von Antipoden vertreten wird,¹²⁰⁷ wie etwa der traditionell dem Colum Cille († ca. 597) zugeschriebenen Hymne Altus prosator:¹²⁰⁸ Orbem infra ut legimus incolas esse nouimus quorum genu precario frequenter flectit domino¹²⁰⁹ Wir wissen, dass es unter dem Erdkreis, wie wir lesen, Einwohner gibt, deren Knie sich häufig in Anrufung vor dem Herrn beugt.
Die Vorstellung von Antipoden entsprach zwar einem Konzept der antiken Gelehrsamkeit, war aber mit zeitgenössischen christlichen Ansichten, wie sie außerhalb Irlands allgemeine Geltung hatten, nicht vereinbar. Die Motivation dafür, ein solches Konzept in Irland nichtsdestoweniger zu rezipieren, sieht Carey in einem Bestreben der irischen Intellektuellenschicht, für möglichst viele ihrer ererbten Vorstellungen einen Platz im christlichen und griechisch-römischen Bildungskanon zu finden.¹²¹⁰ Ist diese Interpretation richtig, so dürften die Antipoden des Virgilius von Salzburg eine interpretatio Graeco-Romana irischer Anderweltsvorstellungen und damit ein weiteres Zeugnis für die Vorstellung einer real existierenden ‚Anderwelt‘ darstellen. Dass sich diese Anderwelt dabei sub terra befindet, schließt ihre Konzeption als eine transmarine Anderwelt nicht aus. Als Bindeglied lässt sich etwa auf mehrere Stellen in Servius’ Kommentar zur Äneis verweisen, der zumindest irischen Gelehrten der Karolingerzeit auf dem Kontinent mit Sicherheit bekannt war.¹²¹¹ Aus diesem Werk geht wiederholt hervor, dass das Elysium sich entweder in der Unterwelt oder auf den Inseln der Seligen befindet; unterirdische und transmarine Lokalisierungen der römischen ‚Anderwelt‘ werden hier somit beinahe explizit gleichgesetzt. So heißt es in Servius, Ad Aen. V.735:
1205 Carey 2000 (1989), S. 134 f.; vgl. Carey 1991, S. 156, 158. 1206 Carey 2000 (1989), S. 135. 1207 Carey 2000 (1989), S. 135–137. 1208 Carey 2000 (1989), S. 136 f. 1209 Bernard und Atkinson 1898 Bd. 1, S. 77 (Z. 80 f.). 1210 Carey 2000 (1989), S. 138. 1211 Carey 2000 (1989), S. 140.
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elysium est ubi piorum animae habitant [...]. quod secundum poetas in medio inferorum est suis felicitatibus plenum, ut solemque suum sua sidera norunt. secundum philosophos elysium est insulae fortunatae, quas ait Sallustius inclitas esse Homeri carminibus [...].¹²¹² Das Elysium ist, wo die Seelen der Frommen wohnen [...]. Den Dichtern zufolge liegt es in der Mitte der Unterwelt, voller Glück, so dass sie ihre eigene Sonne und ihre eigenen Sterne kennen. Den Philosophen zufolge ist das Elysium mit den Inseln der Seligen identisch, von denen Sallust sagt, dass sie durch die Gesänge Homers berühmt sind [...].
Vgl. Servius, Ad Aen. VI.640: campi Elysii aut apud inferos sunt, aut in insulis fortunatis, aut in lunari circulo [...].¹²¹³ Die Elysischen Gefilde liegen entweder in der Unterwelt, oder auf den Inseln der Seligen, oder auf der Kreisbahn des Mondes [...].
Hierzu kommt, dass Servius die Idee kannte, es sei möglich, zu Schiff zu den Antipoden zu gelangen (Servius, Ad Aen. VI.532): alii altius intellegunt: qui sub terra esse inferos volunt secundum chorographos et geometras, qui dicunt terram σφαιροειδῆ esse, quae aqua et aere sustentatur. quod si est, ad antipodes potest navigatione perveniri, qui quantum ad nos spectat, inferi sunt, sicut nos illis.¹²¹⁴ Andere haben ein tiefsinnigeres Verständnis: Diejenigen, die wollen, dass sich die Unterwelt unter der Erde befindet entsprechend den Geographen und Geometern, die sagen, dass die Erde σφαιροειδῆ [„ein Sphäroid, eine Kugel“] sei, die von Wasser und Luft getragen wird. Wenn dem so ist, dann kann man zu Schiff zu den Antipoden gelangen, die, soweit man unseren Standpunkt betrachtet, Unterirdische sind, so wie wir für sie.
Carey vertritt die Ansicht, dass die Lokalisierung der Anderwelt jenseits des Meeres in Irland nicht ursprünglich ist, anders als etwa ihre Lokalisierung unter der Erde oder unter der Wasseroberfläche, und dass das Konzept einer transmarinen Anderwelt teilweise von diesen Passagen bei Servius mit inspiriert worden sein könnte.¹²¹⁵ Auf die kontroverse Frage der Vorgeschichte der irischen Anderweltsinseln wird noch mehrfach zurückzukommen sein; für den Augenblick sei diese Frage zurückgestellt. Beschränkt man sich auf die synchrone Frage nach dem Status einer transmarinen Anderwelt im irischen Frühmittelalter, so stellt das Zeugnis des Virgilius von Salzburg zunächst vor allem einen weiteren Beleg dafür dar, dass Vorstellungen einer Anderwelt in dieser Epoche in Irland geläufig waren. Insbesondere untermauert das
1212 Text: Thilo und Hagen 1923–1927 Bd. 1, S. 644 f. Vgl. Stocker und Travis 1965, S. 572. 1213 Text: Thilo und Hagen 1923–1927 Bd. 2, S. 89. 1214 Text: Thilo und Hagen 1923–1927 Bd. 2, S. 76. 1215 Carey 2000 (1989), S. 138–142, bes. S. 140–142; vgl. Carey 2000 (1982/83).
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Zeugnis des Virgilius dabei den schon von der „Litanei der irischen Pilgerheiligen“ und der Vita Albei vermittelten Eindruck, dass eine solche Anderwelt nicht als bloße literarische Allegorie, sondern vielmehr als reale kosmologische Größe aufgefasst wurde – und dies mit solcher Selbstverständlichkeit, dass sie sogar in ekklesiastische Texte Eingang finden konnte.¹²¹⁶ Außerhalb Irlands traf die Vorstellung einer realexistierenden Anderwelt jedoch nicht nur beim Hl. Bonifaz und bei Papst Zacharias auf Unverständnis. Auch bei den Lesern der Navigatio Sancti Brendani wurden derartige Ideen mitunter zu einem Gegenstand des Spotts. Stellvertretend für diese Variante der Rezeption irischer Paradiesinselvorstellungen seien einige Verse aus einem Gedicht zitiert, das sich in einer Handschrift der Navigatio aus dem frühen 13. Jahrhundert findet und ursprünglich wohl aus einer englischen Feder der 1130er oder 1140er Jahre stammt:¹²¹⁷ O quam stultum et uesanum est de sancto credere, / ... / Sanctum pascha supra piscem septem annis facere, / ... . / Istic queque scripta uides, sunt aniles fabule. / ... / Quod est nimis inimicum fidei catholice. / ... / Ergo, frater, has fabellas decet igni tradere, /... / .¹²¹⁸ Oh wie dumm und schwachsinnig ist es, vom Heiligen zu glauben, / ... / dass der Heilige das Osterfest während sieben Jahren auf einem Fisch gefeiert habe, / ... . / Alles, was du in dieser Frage geschrieben siehst, sind Altweibergeschichten. / ... / Das ist dem katholischen Glauben über die Maßen feindlich. / ... / Also ziemt es sich, Bruder, diese Geschichtchen dem Feuer zu überantworten, / ... / .
Die Navigatio wird hier als unsinnige Fabelei abgestempelt und dem Bücherscheiterhaufen anempfohlen. Im Umkehrschluss mag die Warnung vor dem ‚Unsinn‘ der Navigatio freilich implizieren, dass so manche Zeitgenossen den Inhalt dieses Texts wörtlicher nahmen, als es dem spottenden Dichter recht war. Einen konkreten Hinweis
1216 Ein weiteres, wenn auch späteres Beispiel für die Integration offenbar anderweltlicher Elemente in eine christliche Heiligenvita findet sich in der Topographia Hibernica des Giraldus Cambrensis (spätes 12. Jahrhundert, siehe unten S. 360; hgg. von Dimock 1867). Dort (dist. II, cap. 28) wird über den Hl. Kevin erzählt, dass einer seiner Pfleglinge schwer erkrankte. Der kranke Junge wünschte sich einige Äpfel (poma), und aus Mitleid betete Kevin um die Gewährung dieses Wunsches; da trug eine Weide, die in der Nähe der Kirche stand, plötzlich Äpfel von eigentümlicher Form und Farbe, weiß und länglich. Diese Äpfel ließen den Jungen genesen und wachsen seitdem an dieser Weide und ihren Stecklingen; Giraldus zufolge waren sie ein in Irland weithin berühmtes Heilmittel für Krankheiten. Ungeachtet des dezidiert christlichen Kontextes dieser Äpfel gemahnen diese Früchte, wie der Fruchtzweig des Ailbe, mehr an eine Anderwelt, wie sie in Echtrae Chonnlai und Immram Brain geschildert wird, als an den konventionellen Kosmos des (nicht-irischen) Christentums. 1217 Esposito 2000 (1960), S. 40; Carey 2000 (1989), S. 142. Datierung: Howlett 1996, S. 118; vgl. Strijbosch 2000, S. 246: um 1100. Vgl. auch die Diskussion bei Carey 1999 (Single Ray), S. 22–25. 1218 Plummer 1910 Bd. 2, S. 293 f.; vgl. Howlett 1996, S. 113 f. (ein bis auf orthographische Fragen identischer Text). Für eine Zusammenstellung der verschiedenen Editionen dieses Gedichts vgl. Howlett 1996, S. 112.
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hierauf stellt vielleicht auch die mittelalterliche Kartographie dar, da sich die Brendansinsel spätestens vom Hochmittelalter an und bis weit in die frühe Neuzeit hinein immer wieder auf europäischen Karten verzeichnet findet. Prominente Beispiele finden sich etwa auf der mappa mundi von Hereford (Abb. 2);¹²¹⁹ auf der Weltkarte der Brüder Pizigani aus dem Jahre 1367;¹²²⁰ auf dem Globus des Martin Behaim aus dem Jahre 1492;¹²²¹ auf der Weltkarte des Gerhard Mercator aus dem Jahre 1569;¹²²² und auf der Weltkarte des Abraham Ortelius aus dem Jahre 1587.¹²²³ Ebenso fand die Brendansinsel in die kosmographische Literatur Eingang: Honorius von Autun in seinem De imagine mundi beschreibt sie mit größter Selbstverständlichkeit als eine Paradiesinsel im Atlantik, die von Brendan besucht, danach aber niemals mehr wiedergefunden worden sei; deswegen trage sie den Namen Perdita: „die Verlorene [Insel]“ (I.36).¹²²⁴
Zwischen Navigatio, immram und matière de Bretagne: Die Historia de Enoch et Elia Der oben kurz angesprochene Immram Curaig Ua Corra endet damit, dass die Pilger zur See vor dem Rind Espáine auf eine Schiffsbesatzung(?) treffen, die sie an Land bringt; am Ort ihrer Landung gründen sie eine Kirche und ein Kloster.¹²²⁵ Die genaue Lokalisierung des Rind Espáine ist unklar; Stokes vermutet, dass es sich bei dieser „Spitze Spaniens“ um das Kap Finisterre in Galicien handelt.¹²²⁶ Eine andere kontinentale finis terrae ist Anfangs- und Endpunkt einer navigatio, die in Form einer Zusammenfassung im Pantheon des Gottfried von Viterbo erhalten ist. Bei Gottfrieds Pantheon handelt es sich um eine in mehreren Fassungen vorliegende Weltgeschichte aus den 1180er und 1190er Jahren, die den Zeitraum von der Schöpfung bis in die zeitgenössische Gegenwart Gottfrieds behandelt.¹²²⁷ In einem Abschnitt dieses Werks fasst Gottfried unter dem Titel Historia de Enoch et Elia eine Erzählung zusammen, für die er sich auf ein Buch in der Ecclesia sancti Matthaei ultra Britanniam in finibus terrae beruft.¹²²⁸
1219 Vgl. oben Anm. 191; Westrem 2010, S. 388/389 (Nr. 987); The Folio Society 2010. 1220 Jomard 1858–1862 Tafeln 44–45; Babcock 1915, S. 414. 1221 Jomard 1858–1862 Tafeln 52–52bis; Babcock 1915, S. 412, 415. 1222 Jomard 1858–1862 Tafel 76; Babcock 1915, S. 412. 1223 Babcock 1915, S. 412, 416. 1224 Patrologia Latina t.CLXXI, c.132D–133A. Vgl. Galván Reula 2007, S. 700; Cassidy 1969, S. 38. 1225 Immram Curaig Ua Corra: hgg. und übersetzt von Stokes 1893 (Húi Corra), §§ 75 f.; hgg. von van Hamel 2004 (1941), §§ 24 f. 1226 Stokes 1893 (Húi Corra), S. 61 (Anm. 3). 1227 Vgl. Bronner 2009, S. 123–125; Dumville 2000 (1988), S. 124. 1228 Text und Übersetzung nach der ersten Fassung des Pantheons: Bronner 2009, S. 126–137. Die wichtigsten Textabschnitte sind auch abgedruckt bei Esposito 2000 (1960), S. 32–36.
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Bei dieser Ecclesia sancti Matthaei handelt es sich um die (seit der Französischen Revolution aufgegebene)¹²²⁹ Bendiktinerabtei Saint-Mathieu-de-Fine-Terre auf dem Pointe Saint-Mathieu (Finistère, Bretagne), einem der westlichsten Punkte der französischen Atlantikküste – ein Ort, der den Namen finis terrae mit einigem Recht trägt. Die Historia de Enoch et Elia schreibt schon diesem ‚Ende der Welt‘ paradiesische Züge zu (Z. 27–29, Übers.: Bronner): Finibus Oceani maris est locus ultimus orbis, Quo penitus nullis agitantur tempora morbis, Est ibi temperies, perpetuata quies. An den Grenzen des Ozeans liegt der äußerste Ort der Welt, / an dem das Leben von keinerlei Krankheiten geplagt wird. / Dort gibt es ein mildes Klima und immerwährende Ruhe.¹²³⁰
Dort befindet sich nach der Historia de Enoch et Elia ein altehrwürdiges Kloster galiläischer Mönche, von dem aus eine Schar dieser heiligen Männer in See sticht, um die Wunder des Meeres zu erforschen. Nach drei Jahren auf See weisen ihnen zwei eherne Standbilder den Weg zu einem goldenen Land. Dort finden sie eine goldene Stadt, worin eine Kirche aus Gold und Edelsteinen steht; das, was die Mönche dort sehen, hat einen glorreichen Duft wie den des Paradieses (Z. 84: adfuit his visis odor inclytus, ut paradisi). Bei der Erkundung der Kirche finden die Mönche schließlich zwei ehrwürdige Greise. Diese Greise klären sie darüber auf, dass die goldene Stadt von Engel bewohnt und bewacht wird, dass sie von himmlischer Speise leben und einer ihrer Tage hundert Jahre währt. Dies, so betonen die Greise, betrifft auch die seefahrenden Mönche: In drei Tagen im goldenen Land sind ihre Körper um 300 Jahre gealtert, und in ihrer Heimat sind Generationen herangewachsen und vergangen. Die beiden Greise selbst sind Enoch und Elias, die in der goldenen Stadt auf die Apokalypse warten; dann werden sie gegen den Antichrist kämpfen und von ihm getötet werden, ehe Christus selbst den Antichristen besiegt. Enoch und Elias feiern mit den Mönchen die Messe und teilen himmlisches Brot mit ihnen. Schließlich senden die Greise die Seefahrer jedoch wieder in ihre Heimat zurück. Sie erlauben ihnen, Gold und Edelsteine mitzunehmen, und sagen ihnen einen günstigen Reiseverlauf voraus: In nur fünf Tagen werden sie wieder zuhause sein. Jedoch prophezeien die beiden ehrwürdigen Väter den Mönchen auch, dass sie ihre Heimat als Greise erreichen werden (Z. 158–160, Übers.: Bronner): Aura salutifera vestris dabit aequora rebus, Inque domos vestras ducet vos quinque diebus, Hic video juvenes vos, ibi cerno senes.
1229 Esposito 2000 (1960), S. 37. 1230 Text und Übersetzung: Bronner 2009, S. 128/129.
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Ein heilbringender Wind wird eurer Sache eine ruhige See geben / und euch in fünf Tagen in eure Heimat führen. / Hier sehe ich euch als junge Männer, dort erblicke ich Greise.¹²³¹
Diese Prophezeiung erfüllt sich: Die Seereise der Mönche zurück nach Hause dauert nur fünf Tage. Doch als sie ankommen, erkennen sie das Land nicht mehr, die Menschen sprechen eine ihnen fremde Sprache, und die Mönche selbst sind plötzlich gebrechliche Greise. Dennoch gelingt es ihnen, im Kloster aufgenommen zu werden, wo sie von ihren Erlebnissen berichten. Das irdische Paradies auf der anderweltlichen Insel der Historia de Enoch et Elia wird als eine ganz aus Gold erbaute und mit Edelsteinen geschmückte Stadt geschildert. Damit lehnt sich diese Schilderung an das neue Jerusalem der Offenbarung an, welches aus reinem Gold erbaut und von einer Mauer aus Jaspis umgeben ist, deren Fundamente mit Edelsteinen geschmückt sind: 18et erat structura muri eius ex lapide iaspide ipsa vero civitas auro mundo simile vitro mundo 19fundamenta muri civitatis omni lapide pretioso ornata („und die Struktur seiner Mauer war aus dem Stein Jaspis; die Stadt selbst aber war aus reinem Gold, ähnlich reinem Glas; die Fundamente der Stadtmauer waren mit jedem Edelstein geschmückt“: Offenbarung 21.18 f.). Die Adaption des apokalyptischen Paradieses der Offenbarung wird hier somit sehr intensiv durchgeführt, vielleicht intensiver als in anderen bisher besprochenen Texten. Sie ist jedoch kein grundsätzlich neues Motiv: Auch die Gemeinschaft des Ailbe in der Navigatio Sancti Brendani und einzelne Züge der kristallenen Säule in der See im selben Text lehnten sich an das neue Jerusalem an. Ähnliches gilt für die meisten anderen Motive, die in der Historia de Enoch et Elia verarbeitet werden: Die Lokalisierung von Enoch und Elias auf einer Insel im Westen wurde in Immram Snédgusa ocus Maic Riagla angesprochen; der Kontrast zwischen einer langen Reise zum Ziel und einer kurzen Rückreise erschien bereits in der Navigatio; der verlangsamte Zeitfluss der Anderweltsinsel, der den Seefahrer nach seiner Rückkehr aufs Festland einholt, war schon für Immram Brain grundlegend und dürfte auch in der Navigatio Sancti Brendani angedeutet sein, wo es im paradisus Dei in spacio maris keinen Maßstab für die verrinnende Zeit gibt und Barinthus ein Jahr verbringt, ohne dies zu bemerken. Zum Motiv des verlangsamten Zeitflusses auf der Paradiesinsel und des damit verbundenen schnellen Todes der Reisenden nach ihrer Rückkehr in die menschliche Zeit mag vielleicht sogar der baldige Tod Brendans nach seiner Heimkunft gehören – wenngleich es sich hier in diesem Fall um eine freie Umarbeitung dieses Motivs handeln würde, da von einer beschleunigten Alterung Brendans nach seiner Rückkehr nichts gesagt wird. Das Alter der Historia de Enoch et Elia lässt sich letztlich nicht bestimmen – fassbar ist nur ihre Einbindung in das Pantheon des Gottfried von Viterbo als terminus ante quem. Dies bedeutet, dass die Erzählung prinzipiell sehr alt sein könnte,
1231 Text und Übersetzung: Bronner 2009, S. 134/135.
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und so ist von Mario Esposito die Ansicht vertreten worden, dass die bretonische Historia de Enoch et Elia eine Quelle der Navigatio Sancti Brendani darstellen könnte –¹²³² was freilich keineswegs allgemeine Zustimmung gefunden hat.¹²³³ Der Text ist jedoch auch dann von hohem Interesse, wenn man von solchen chronologischen Fragen absieht, die aufgrund der Quellensituation letztlich nicht zu beantworten sind: Durch seine Übertragung und konkrete Lokalisierung einer typischen immram-Handlung in die bzw. in der Bretagne illustriert die Historia de Enoch et Elia die Leichtigkeit, mit welcher der Motivkomplex der Reise zur Anderweltsinsel mit neuen geographischen Orten verbunden werden kann. Auffallend ist dabei auch, dass das Paradies jenseits des Meeres in der Historia auf die finis terrae diesseits des Meeres ausstrahlt: Dies legt die Vermutung nahe, dass die Faszination des irdischen Paradieses jenseits des Meeres eng mit der Faszination des Endes der Welt verbunden sein könnte, wie es am Pointe Saint-Mathieu unmittelbar eindrücklich wird.¹²³⁴
5.2 Die paradiesische Anderweltsinsel in der Heldensage 5.2.1 Tochmarc Becḟola Die kurze Erzählung Tochmarc Becḟola, „Das Werben um Becḟola“, liegt in zwei Rezensionen vor, einer frühmittelirischen Fassung (spätes 9. oder frühes 10. Jahrhundert) und einer modernisierten Rezension vom Ende des 12. Jahrhunderts oder später.¹²³⁵ Die folgende Diskussion bleibt auf die ältere Version von Tochmarc Becḟola beschränkt. Die Handlung von Tochmarc Becḟola beginnt damit, dass Díarmait mac Áeda Sláne, der König von Tara, in Begleitung seines Ziehsohns Crimthann mac Áeda eines Tages eine prächtig gewandete Frau trifft. Auf die Frage, zu welchem Zweck sie gekommen sei, antwortet die Frau, dass sie sich auf der Suche nach Saatgut befinde: Sie habe gutes fruchtbares Land, aber kein Saatgut, um es zu bestellen. Der König geht auf die Doppeldeutigkeit ein und bietet ihr seinen eigenen Samen an. Unter der
1232 Esposito 2000 (1960), bes. S. 38 f. 1233 Ablehnend vgl. etwa Dumville 1973, S. 310. Zusammenfassend zur Forschungsgeschichte vgl. Bronner 2009, S. 125. 1234 Vgl. Esposito 2000 (1960), S. 39: „The impressive view of the vast expanse of ocean seen from the site of the monastery of Saint Matthew must have aroused the curiosity, excited the fantasy, and haunted the dreams of many devout mystics, whose courage was not inferior to their faith.“ 1235 Beide Versionen wurden zuletzt hgg. und übersetzt von Bhreathnach 1984 (mit Diskussion und Kommentar). Datierung: Bhreathnach 1984, S. 68–71, vgl. Carey 1999 (Arthur’s Grave), S. 12. Allgemein vgl. ferner: Sims-Williams 2011 (Becfhola); Carey 1989 (Verbal Worlds); Carey 1987 (Time), S. 3 f.; Dillon 1945. In wichtigen Details falsch ist die Zusammenfassung bei Sayers 2012, S. 214 f.
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Voraussetzung, einen Brautpreis zu erhalten, stimmt die Frau zu. Der König gibt ihr eine kleine Brosche und nimmt sie mit sich nach Hause. Sie gibt dabei jedoch ihren Namen nicht preis; da ihr Brautpreis von geringem Wert ist (§ 3: is bec ind fhola), wird sie fortan Becḟola genannt.¹²³⁶ Becḟolas Herz gehört allerdings nicht dem König, sondern seinem Ziehsohn Crimthann mac Áeda. Es gelingt ihr schließlich, Crimthann dazu zu bewegen, sich mit ihr zu verabreden, um zusammen davonzulaufen. In letzter Minute halten Crimthanns Leute den jungen Mann jedoch davon ab, diesen Plan in die Tat umzusetzen. Becḟola erfährt hiervon offenbar nichts und macht sich früh am Sonntagmorgen zum vereinbarten Treffpunkt auf; ihrem Gatten Díarmait erzählt sie, dass sie Besitztümer holen müsse, die ihre Diener zurückgelassen hätten. Díarmait versucht, sie davon abzubringen, da der Sonntag keine Zeit sei, um zu reisen. Becḟola bricht mit ihrer Magd nichtsdestoweniger von Tara auf und macht sich auf den Weg nach Süden. In Dubthor Lagen verlaufen die beiden sich in einem Wald, und Becḟolas Magd wird von Wölfen getötet. Becḟola selbst trifft im Wald auf einen prächtig gewandeten Krieger, der ein Schwein brät.¹²³⁷ Nachdem er das Schwein gegessen hat, folgt sie ihm zu einem See. In diesem See befindet sich ein Boot aus Bronze, das der Krieger mit einer bronzenen Kette ans Ufer zieht, um damit auf eine Insel inmitten des Sees überzusetzen. Becḟola begleitet ihn auf diese Insel, wo sie in einem schönen Haus zusammen Speisen essen, die auf wundersame Weise erscheinen, als der Krieger die Hand ausstreckt. Die Nacht verbringt Becḟola im Bett des Kriegers, wird von ihm jedoch ignoriert. Am nächsten Morgen wird der Krieger aus dem Haus gerufen, um sich drei anderen Kriegern anzuschließen; zusammen kämpfen sie auf dem Festland gegen vier weitere Männer. Die Auseinandersetzung endet unentschieden. Nach dem Kampf kommt der Mann wieder auf die Insel zurück, wo er nun zum ersten Mal mit Becḟola ein Gespräch führt. Er erläutert Becḟola, dass der Kampf, der eben stattfand, um den Besitz der Insel gefochten wurde; die Insel ist die Insel von Fedach mac in Daill, er selbst sei Flann, der Enkel Fedachs. Diese Insel versorgt jeden Abend bis zu hundert Mann mit einer Mahlzeit – ohne dass Menschen dafür arbeiten müssten. Becḟola schlägt Flann vor, seine Geliebte zu werden. Er jedoch will zuerst die Insel für sich gewinnen und schickt Becḟola bis dahin nach Hause. Becḟola trifft ihre Magd wieder, die die Krieger der Insel vor den Wölfen beschützt hatten(!), und kehrt zu ihrem Mann Díarmait zurück. Bei ihrer Ankunft ist dieser eben dabei, aufzustehen: Obwohl Becḟola einen Tag und eine Nacht unterwegs gewesen war, ist es in Díarmaits Haus noch derselbe Sonntagmorgen, an dem Becḟola aufgebrochen war. Díarmait ist angenehm überrascht, dass sie das Gebot der Sonntagsruhe
1236 Zum Motiv des königlichen Geizes in dieser Erzählung vgl. Sims-Williams 2011 (Becfhola), S. 230– 232. 1237 Bei diesem Detail handelt es sich um ein geläufiges Anderweltsmotiv, vgl. Bhreathnach 1984, S. 65 mit Anm. 42; Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 82–84.
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nun doch nicht verletzt hat, und Becḟola tut so, als wäre dies tatsächlich der Fall. Von nun an spricht sie jedoch gewohnheitsmäßig zwei Strophen über ihre Erlebnisse, die alle anderen verwundern. Auf den Tag genau ein Jahr später kommt Flann schwer verwundet zu Díarmaits Haus und holt Becḟola ab. Díarmait lässt sie davonziehen, da sie ein verderbenbringendes Wesen sei und niemand wisse, wohin sie geht oder woher sie gekommen war. In diesem Moment kommen vier Kleriker zu Díarmait. Er ist entsetzt über diese Verletzung der Sonntagsruhe, doch sie beruhigen ihn damit, dass sie auf das persönliche Gebot ihres Abts Mo Laise von Daminis hin gekommen seien. Ein Mitglied des Klosters von Daminis hat auf der Klosterinsel am Morgen einen Kampf von acht Männern beobachtet, den nur ein Mann überlebte. An den sieben Toten fanden die Mönche große Mengen von Gold und Silber; Mo Laise begrub die Toten und sandte die Kleriker, um dem König seinen Teil des Golds und Silbers anzubieten. Díarmait verzichtet jedoch auf einen Anteil und bestimmt, dass das Edelmetall dazu verwendet werden soll, die heiligen Embleme Mo Laises daraus zu verfertigen. Schon auf den ersten Blick von offensichtlicher Relevanz für die Geschichte des Motivs der paradiesischen Anderweltsinsel ist die Insel von Fedach mac in Daill („Fedach Sohn des Blinden“), die mit Hilfe eines bronzenen Boots erreicht wird und in der sich die Speisen selbst auftragen.¹²³⁸ In Tochmarc Becḟola ist diese Insel, wie schon das paradisus Dei in spacio maris in der Navigatio Sancti Brendani und die Insel von Enoch und Elias in der Historia de Enoch et Elia, außerhalb des gewöhnlichen diesseitigen Zeitflusses angesiedelt. Jedoch kehrt die spezifische Weise, in der die Insel von Fedach mac in Daill außerhalb des normalen Zeitflusses steht, das Muster der navigationes um: Als Becḟola wieder von der Insel zurückkehrt, ist nicht eine längere Zeit verstrichen als von ihr erwartet, sondern nahezu gar keine Zeit. Dabei scheint der Zeitfluss nicht nur angehalten, sondern zu einem gewissen Grad sogar umgekehrt worden zu sein: Obwohl Becḟolas Magd vor ihrem Treffen mit Flann von den Wölfen gefressen wurde, können die anderweltlichen Krieger sie nach Becḟolas Treffen mit Flann noch immer vor den Wölfen retten.¹²³⁹ Der Zeitfluss der Anderwelt scheint vom menschlichen Zeitfluss vollständig entkoppelt. Auf den ersten Blick weniger offensichtlich, aber ebenso wichtig ist die Entkoppelung der Anderwelt von der menschlichen Welt auf geographischer Ebene. Die Insel Daminis, auf der sich das Kloster des Mo Laise befand, liegt im Lough Erne im County Fermanagh im Nordwesten Irlands.¹²⁴⁰ Becḟolas Reiseroute führt hingegen ausdrücklich von Tara nach Süden, nach Dubthor Lagen (§ 6), in der Nähe von
1238 Vgl. Carey 1995 (Rhetoric), S. 46 zum Motiv des Essens, das sich selbst aufträgt (u. ä.), als Anderweltsmotiv. 1239 Etwas anders Carey 1988, S. 70: „the night in which the handmaid is killed and the night in which she is protected are two versions of a single night.“ (Careys Hervorhebung.) 1240 Carey 1989 (Verbal Worlds), S. 36; Carey 1987 (Time), S. 3; Bhreathnach 1984, S. 62.
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Baltinglass im County Wicklow.¹²⁴¹ Dort trifft sie Flann, der sie auf die anderweltliche Insel von Fedach mac in Daill mitnimmt. Diese Anderweltsinsel wird am Ende der Erzählung allem Anschein nach mit Daminis identifiziert, da dort die Krieger gesehen werden, wie sie ihren letzten Kampf um die Insel ausfechten (§§ 10 f.)¹²⁴² – etwa 150 km nördlich von Dubthor Lagen.¹²⁴³ Máire Bhreathnach führte diese auffallende geographische Unstimmigkeit auf eine Reihe von Missverständnissen durch den Verfasser der Erzählung zurück.¹²⁴⁴ Carey hat hiergegen darauf hingewiesen, dass der Text Becḟolas Abenteuer ausdrücklich südlich von Tara lokalisiert und dass das Inselkloster von Daminis zeitgenössisch zu bekannt war, um plausibel zum Gegenstand einer Verwechslung werden zu können, die es statt im Nordwesten im Südosten Irlands lokalisiert hätte.¹²⁴⁵ Entsprechend vertritt Carey die Auffassung, dass der geographische Widerspruch zwischen den zwei Lokalisierungen der Insel beabsichtigt sein müsse: Eine Insel, die sich sowohl im Südosten als auch im Nordwesten Irlands befindet, passt zu einer Reise, die einen ganzen Tag dauert und doch abgeschlossen ist, ehe der König sich am Sonntagmorgen aus seinem Bett erhebt.¹²⁴⁶ Im weiteren Kontext der hier besprochenen Anderweltsvorstellungen scheint dies in der Tat die plausiblere Deutung zu sein – strukturell vergleiche man etwa die Historia de Enoch et Elia, die ebenfalls sowohl chronologische als auch geographische Diskontinuitäten zeigt: Die Mönche meinen, drei Jahre unterwegs gewesen zu sein, doch waren es in Wirklichkeit dreihundert; und die Hinreise zur Insel des Enoch und Elias dauert drei Jahre, während die Rückreise nur fünf Tage in Anspruch nimmt. Die Anderwelt ist anders sowohl in Hinblick auf ihr zeitliches als auch in Hinblick auf ihr räumliches Verhältnis zur gewöhnlichen Welt der Menschen. Und ebenso, wie die maritime Wunderwelt der Historia de Enoch et Elia nicht als keltische Anderwelt, sondern als ein christlich-apokalyptisches irdisches Paradies erscheint, fällt in Tochmarc Becḟola auf, dass die anderweltliche Paradiesinsel eines Kriegers zugleich eine Insel ist, auf der sich ein berühmtes Inselkloster befindet.¹²⁴⁷ Dabei ist es auch in Tochmarc Becḟola das christliche Element, das am Ende (zumindest weitgehend) triumphiert: Die meisten der anderweltlichen Krieger fallen in ihrem Kampf gegeneinander, und ihr Schmuck wird dazu verwendet, christliche heilige Gegenstände zu verzie-
1241 Carey 1987 (Time), S. 3; Bhreathnach 1984, S. 62. 1242 Carey 2000 (1982/83), S. 116 f. (Anm. 20); Carey 1989 (Verbal Worlds), S. 36; Carey 1987 (Time), S. 3; Bhreathnach 1984, S. 62. 1243 Carey 1987 (Time), S. 3. 1244 Bhreathnach 1984, S. 62 f. 1245 Carey 1987 (Time), S. 3 f. 1246 Carey 1987 (Time), S. 4. Vgl., Careys Deutung zustimmend, Sims-Williams 2011 (Becfhola), S. 228 f.; zu möglichen zeitgenössisch-politischen Konnotation der Wahl der spezifischen geographischen Schauplätze der Erzählung vgl. Sims-Williams 2011 (Becfhola), S. 233 f. 1247 Vgl. Carey 1989 (Verbal Worlds), S. 36. Zusammenfassend zu weiteren Anderweltsmotiven in Tochmarc Becḟola vgl. Bhreathnach 1984, S. 65 f.
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ren.¹²⁴⁸ Diesem finalen Triumph des Christentums mag auch ein Detail in der Behandlung der Frauengestalt von Tochmarc Becḟola entsprechen. Nachdem Becḟola König Díarmait mit dem anderweltlichen Krieger davongelaufen ist, bezeichnet er sie als ein verderbenbringendes Wesen (urchód: § 11), von dem niemand wisse, wohin sie geht oder woher sie gekommen ist (ar ní feas cia théit no cia thudchaid: § 11). Dass Díarmait die unbekannte Herkunft und den unbekannten Verbleib Becḟolas betont, erinnert an die Frauengestalt von Immram Brain: Diese Frauengestalt trug in Brans Halle ihre Strophen vor, „während sie nicht wussten, woher die Frau kam“ (a nnád-fetatar can do-lluid in ben: Immram Brain § 1); nach ihrem Vortrag verschwindet sie auf gleichermaßen geheimnisvolle Weise, „während sie nicht wussten, wohin sie ging“ (a nnádfetatar cia-luid: Immram Brain § 31). Die Aussage König Díarmaits, dass niemand wisse, woher Becḟola kam oder wohin sie ging, mag entsprechend eine Anspielung auf die Beschreibung der Frauengestalt in Immram Brain darstellen. Ist diese Vermutung richtig, so würde die Parallelsetzung Becḟolas und der Frauengestalt von Immram Brain in Verbindung mit Díarmaits expliziter Verdammung Becḟolas implizieren, dass der Autor von Tochmarc Becḟola – ebenso wie der Verfasser von Immram Maíle Dúin – die Anderweltsfrau von Immram Brain nicht als christliche Allegorie verstanden hat, sondern als verdammungswürdiges Konzept aus der heidnischen Vorzeit.
5.2.2 Serglige Con Culainn Eine der ausführlichsten Beschreibungen des Umgangs mit einer insularen Anderwelt schöner ‚Feen‘ in der heroischen Literatur findet sich in der Erzählung Serglige Con Culainn, „Cú Chulainns Krankenlager“.¹²⁴⁹ Diese Erzählung ist nicht als ein bruchloser Text aus der Feder eines einzelnen Autors überliefert, sondern in Form einer etwas gewaltsamen Kompilation zweier Versionen derselben Geschichte.¹²⁵⁰ Der Kompilator hat dabei weithin sogar auf die Korrektur der gröbsten sich aus der Kompilation ergebenden Unstimmigkeiten verzichtet, wodurch die Brüche zwischen den verschiedenen Teilen von Serglige Con Culainn deutlich fassbar bleiben.¹²⁵¹ So tritt im ersten Teil
1248 Vgl. Bhreathnach 1984, S. 67: „The final paragraphs give an explanation of the origin of Mo Laise’s sacred emblems. They could also be seen as a proclamation of the triumph of Christianity, represented by the shrine, crozier and credence-table fashioned for Mo Laise, over paganism, represented by the gold and silver on the weapons of the otherworld warriors, and the subordination of an earthly king to the representatives of the heavenly one.“ 1249 Zuletzt hgg. von Dillon 1953 (Serglige). Für eine Übersetzung vgl. etwa Dillon 1953 (Wasting Sickness). 1250 Vgl. McCone 2000, S. 73; Koch 2006 (Serglige), S. 1608. 1251 Detailliert aufgeschlüsselt bei Dillon 1953 (Serglige), S. xi-xiii.
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des Texts Eithne Ingubai als Cú Chulainns Ehefrau auf,¹²⁵² während im zweiten Teil Emer als seine Frau erscheint; zudem werden in den verschiedenen Teilen der Erzählung mehrere Szenen dupliziert.¹²⁵³ Etwa in der Mitte des Texts in seiner vorliegenden Form ist zudem ein Fürstenspiegel eingeschoben, der ursprünglich wohl weder zur einen noch zur anderen Version von Serglige Con Culainn gehört haben dürfte.¹²⁵⁴ Rudolf Thurneysen datierte die beiden Versionen der Erzählung, die in den vorliegenden Text von Serglige Con Culainn eingeflossen sind, einerseits ins 9. Jahrhundert (Version B) und andererseits ins 11. Jahrhundert (Version A).¹²⁵⁵ Eine Neuanalyse des sprachlichen Befunds führte Myles Dillon ebenfalls zu dem Ergebnis, dass es sich bei Version B um die ältere Fassung der Erzählung handelt; eine Datierung ins 9. Jahrhundert hielt er jedoch für fraglich.¹²⁵⁶ Die Geschichte beginnt während einer Versammlung, die die Männer von Ulster zu Samain abhalten (§ 1 [B]). Auf einem See am Versammlungsplatz lässt sich ein Schwarm wunderschöner Vögel nieder, und die anwesenden Frauen wollen, dass jemand diese Vögel für sie fängt. Cú Chulainn lässt sich nach anfänglichem Widerwillen hierzu überreden und macht sich auf die Vogeljagd. Er fängt alle Vögel und verteilt sie an die Frauen. Nur für seine eigene Frau Ethne Ingubai bleibt kein Vogel übrig, und Cú Chulainn verspricht ihr, für sie andere Vögel zu fangen (§§ 4–6 [B]). Bald darauf lassen sich auf dem See zwei Vögel nieder, die durch eine goldene Kette miteinander verbunden sind und deren Gesang die Anwesenden in Schlaf versetzt. Cú Chulainn versucht, diese Vögel mit Schleudersteinen zu treffen – und verfehlt zum ersten Mal seit seiner Waffenleite sein Ziel. Schließlich trifft er einen der Vögel mit seinem Speer in den Flügel, und die Vögel verschwinden unter der Wasseroberfläche (§ 7 [B]). Übellaunig setzt Cú Chulainn sich nieder und schläft ein. Da sieht er zwei prächtig gewandete Frauen auf sich zukommen, die ihn anlächeln und mit Peitschen verprügeln, bis er halb tot ist. Die Männer von Ulster beobachten dies, aber Fergus verbietet ihnen, Cú Chulainn aufzuwecken – man solle seine Traumvision (res) nicht stören. Nachdem er aufgewacht ist, ist er für ein Jahr nicht dazu in der Lage, mit jemandem zu sprechen (§§ 8 f. [B]). Als dieses Jahr verstrichen ist und Samain wieder unmittelbar bevorsteht, kommt ein Mann an Cú Chulainns Krankenlager und trägt ein Gedicht vor, in dem er Cú Chulainn verspricht, dass die Töchter von Áed Abrat
1252 Zu dieser Figur vgl. Carey 1994/95. 1253 Vgl. Dillon 1953 (Serglige), S. ix. 1254 Dillon 1953 (Serglige), S. x; vgl. McCone 2000, S. 73. 1255 Thurneysen 1921, S. 414–416. Ähnlich vgl. Murphy 1956, S. 222 („a composite version consisting of a number of strata, the dates of which vary from the ninth to the late eleventh century“); Hollo 1998, S. 13 („eleventh-century A-recension“). Die im Folgenden angegebene Zuordnung einzelner Passagen zu den Versionen „A“ und „B“ folgt der Analyse von Dillon 1953 (Serglige), S. xiii. 1256 Dillon 1953 (Serglige), S. xiv-xvi. Anders Sayers 2012, S. 217: „earlier recension from no later than 9th century“; Koch 2006 (Serglige), S. 1608: „a composite text combining work of late Old Irish and late Middle Irish dates“.
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ihn heilen könnten, und dass Fand sich wünscht, bei ihm zu liegen; in der Nacht von Samain solle er Lí Ban treffen (§§ 10 f. [B]). Darauf stellt der Bote sich als der Sohn von Áed Abrat vor und verschwindet – „und sie wussten nicht, wohin er gegangen war oder woher er gekommen war“ (7 ní fetatar cia deochaid nó can donluid). Nun kann Cú Chulainn sich aufsetzen und von seiner Vision am vorangegangenen Samain-Tag berichten (§ 12 [B]). Mit seinem Wagenlenker Lóeg bricht er daraufhin zu dem Ort auf, wo er ein Jahr zuvor die Vision erfahren hat. Dort trifft er auf eine der beiden Frauen, die ihn geprügelt haben, und diese bittet ihn um seine Freundschaft: Sie selbst sei Lí Ban, und sie sei von Fand gesandt worden, da Fand von Manannán mac Lir verlassen worden ist und nun ihre Liebe Cú Chulainn geschenkt habe. Cú Chulainn kann Fand zur Frau bekommen – doch nur, wenn er Lí Bans Gefährten Labraid im Kampf gegen seine Feinde hilft. Letzterer hält sich in Mag Mell auf, der „Ebene der Freuden“. Cú Chulainn sagt zunächst weder zu noch lehnt er ab, sondern schickt seinen Wagenlenker Lóeg, um sich ein Bild von diesem Land zu machen (§ 13 [B]). An dieser Stelle kommt es zu einer Umkehrung der üblichen Geschlechterrollen: Lóeg begleitet Lí Ban in ihr Land und steht dort unter ihrem Schutz – ein Umstand, der ihm gar nicht behagt, da er noch nie unter dem Schutz einer Frau gestanden hatte (§ 14 [B]). Zusammen kommen sie an die Küste und setzen mit einem bronzenen Boot auf eine Insel über (§ 15 [B]). Dort wird Lóeg in ein Haus gebracht, in dem ihn dreimal fünfzig Frauen willkommen heißen (§ 16 [B]), und er trifft Fand und Labraid. Hierauf kehrt er zu Cú Chulainn zurück und erstattet ihm Bericht (§§ 16–20 [B]). An dieser Stelle wird der Handlungsfluss von einem eingeschobenen Fürstenspiegel unterbrochen (§§ 21–27). Der zweite Teil von Serglige Con Culainn folgt danach vorwiegend der jüngeren Version A. Der Anschluss an den ersten Teil der Erzählung ist dabei nicht ganz passend: Der zweite Teil setzt noch vor dem Erwachen Cú Chulainns ein, und Lóegs Reise ins Elfenland wird so ein zweites Mal geschildert. Lóeg und Cú Chulainns Frau, als die nun Emer auftritt, sprechen nun zunächst verschiedene Gedichte; diese Gedichte sollen vor allem dazu dienen, Cú Chulainn anzustacheln, seine Schwäche zu überwinden (§§ 28–30 [A]). Dies gelingt und Cú Chulainn und Lóeg brechen auf. Nun treffen sie Lí Ban. Auf die Frage nach Labraids Aufenthaltsort trägt diese ein Gedicht vor, das vornehmlich die kriegerische Tüchtigkeit Labraids preist. Von weitergehendem Interesse ist jedoch die einleitende Beschreibung seines Wohnorts (§ 31 [A]): Atá Labraid for lind glan día n-aithiget buidni ban: [...]¹²⁵⁷
Labraid ist auf einem klaren See, den Gesellschaften von Frauen besuchen: [...]
Hier wird Labraids Aufenthaltsort auf einer Insel lokalisiert, die in einem See liegt;
1257 Text: Dillon 1953 (Serglige), S. 15 (§ 31, Z. 421 f.).
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einige Strophen später im selben Gedicht scheint sich Labraids Insel hingegen jenseits des Meeres zu befinden: Fer co n-ilur gním dar ler Labraid Lúathlám ar claideb: [...]¹²⁵⁸
Ein Mann mit einer Vielzahl von Taten jenseits der See, Labraid Schnell-Hand-am-Schwert: [...]
Cú Chulainn lehnt es zunächst ab, der Einladung einer Frau zu folgen, und schickt Lóeg. Lóeg reist zu Fand – diesmal scheint die Route ausschließlich über Land zu führen – und kehrt danach zu Cú Chulainn zurück (§ 32 [A]). Was er unterwegs gesehen hat, schildert er Cú Chulainn in zwei langen Gedichten. Neben Labraids militärischer Prachtentfaltung werden dort auch verschiedene Wunder der Anderwelt beschrieben, wie etwa die Bäume vor dem Haus des Labraid (§ 33 [A]): Atát arin dorus sair tri bile do chorcor-glain, dia ngair in énlaith búan bláith don macraid assin rígráith.
Vor dem Eingang im Osten sind drei Bäume von Purpurkristall, von denen immerfort die sanfte Vogelschar singt für die Kinder aus der Königsburg.
Atá crand i ndorus liss, ní hétig cocetul friss, crand airgit ris tatin grían, cosmail fri hór a roníam.
Ein Baum ist vor der Umwallung – nicht häßlich wäre Musik, die sich damit vergleichen ließe – ein Baum aus Silber, auf den die Sonne scheint, wie Gold ist sein großes Strahlen.
Atát and tri fichit crand, comraic nát chomraic a mbarr, bíatar tri cét do chach crund do mes ilarda imlum.¹²⁵⁹
Dort sind dreimal zwanzig Bäume, ihr Wipfel: Treffen, die keine Treffen sind. Von jedem Baum werden Dreihundert ernährt, von reichlicher Frucht ohne Hülsen.
Dieses Haus ist ein Ort des Überflusses: Dabach and do mid medrach oca dáil forin teglach: maraid béos, is búan in bés, conid bithlán do bithgrés.¹²⁶⁰
Dort ist ein Bottich mit fröhlichem Met, der der Hausgemeinschaft ausgeschenkt wird: Er geht dennoch nicht zur Neige, unerschöpflich ist der Brauch, und er ist immer ewig-voll.
1258 Text: Dillon 1953 (Serglige), S. 16 (§ 31, Z. 445 f.). 1259 Text: Dillon 1953 (Serglige), S. 17 f. (§ 33). 1260 Text: Dillon 1953 (Serglige), S. 18 (§ 33).
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In mehreren Strophen wird ferner die Schönheit Fands gepriesen, wie etwa (§ 34 [A]): Atbér, úair is lim ro clos, síl nÁdaim cen imarbos, delbaid is Fainne rem ré ná fil and a llethéte.¹²⁶¹
Ich werde es sagen, denn von mir ist es gehört worden, [im] Geschlecht Adams ohne Sündenfall, die Schönheit, die zu meiner Zeit Fand zu eigen ist, hat nicht ihresgleichen.
Von dieser Schilderung überzeugt, reist nun auch Cú Chulainn zu Labraid – der jetzt wieder ausdrücklich auf einer Insel wohnt (§ 35 [B]). Fand, Labraid „und die ganze Frauenschar“ (bantrocht uli) heißen Cú Chulainn willkommen, und mit Cú Chulainns Hilfe trägt Labraid den Sieg über seine Feinde davon (§§ 35 f. [B]). Cú Chulainn und sein Erfolg werden daraufhin in einer Reihe von Gedichten gefeiert (§§ 37 f. [B], §§ 38 f. [A]). Der siegreiche Held verbringt dann die Nacht und den folgenden Monat mit Fand. Danach macht er sich wieder auf den Weg nach Hause, vereinbart aber ein Stelldichein mit Fand, das an der Küste stattfindet.¹²⁶² Hiervon erzählt er auch Emer (Polygamie war in der irischen Oberschicht auch noch nach der Christianisierung Irlands fest etabliert):¹²⁶³ Diese wird eifersüchtig und will Fand töten (§ 39 [A]). Dies führt zu einem poetischen Gespräch zwischen Fand, Cú Chulainn und Emer (§§ 40–44 [A]). Interessant mag hier das Detail sein, dass Fand in diesem Gespräch als ein Mädchen „von den Wogen jenseits der sehr großen Meere“ (do thonnaib dar leraib lánmóraib) bezeichnet wird (§ 42, Z. 714 [A]). Schließlich überlässt Fand ihren Geliebten wieder seiner ersten Frau und beklagt ihr Schicksal (§ 44 [A]). All dies wird Manannán offenbart, der daraufhin über die See aus dem Osten zu Fand kommt. Fand sieht ihn und wird von Reue überkommen; in einem Gedicht beklagt sie das Ende ihrer früheren Liebe zu Manannán und beschließt, wieder mit Manannán fortzugehen (§ 45 [A]). So geht sie zu ihm und wird von ihm willkommen geheißen (§ 46 [A]). Cú Chulainns Trauer hierüber ist so groß, dass er von Wahnsinn befallen wird (§ 47 [A]). Erst Vergessenstrünke können ihn wieder heilen, und Manannán schüttelt seinen Mantel zwischen ihm und Fand, damit sie sich nie wieder treffen (§ 48 [A]). Der Text schließt mit einer theologischen Wertung: Geschehnisse wie die in Serglige Con Culainn Geschilderten hätten sich vor der Ankunft des Christentums ereignet, weil vor dem Glauben die teuflische (demnach) Macht so groß war, dass die Dämonen (demna) körperlich auftraten und den Menschen „Vergnügungen und Geheimnisse“ (aíbniusa 7 díamairi) zeigten, „als wären sie wirklich“ (amal no betis co marthanach). „Und die Unwissenden nennen diese Erscheinungen síde (‚Elfen’) und áes síde (‚Elfenvolk‘).“ (Conid frisna taidbsib sin atberat na hanéolaig síde 7 áes síde.)
1261 Text: Dillon 1953 (Serglige), S. 19 (§ 34). 1262 Dies impliziert der Ortsname Ibur Chind Tráchta (§ 39, Z. 685), wö. „Eibe des Strand-Endes“. 1263 Vgl. Maier 2013, S. 128; Kelly 1988, S. 2, 70 f.
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Die Anderwelt von Serglige Con Culainn ist primär auf einer Insel lokalisiert (§§ 15, 17, 31, 35, 42). Hieran wird innerhalb des Texts jedoch nicht konsequent festgehalten. Als Cú Chulainn seinen Speer nach den beiden anderweltlichen Vögeln wirft, die durch eine goldene Kette miteinander verbunden sind, tauchen diese Vögel unter (§ 7). Da sie nicht wieder auftauchen, entsteht hier der Eindruck, als würden diese Vögel in einer Anderwelt unter dem Wasser verschwinden, vielleicht ähnlich der, die Manannán bei seiner Begegnung mit Bran beschreibt (Immram Brain §§ 42 f.; vgl. Immram Curaig Maíle Dúin § 23).¹²⁶⁴ Zudem scheint eine von Lóegs Reisen in die Anderwelt rein über Land zu führen (§ 32): Hier scheint eine geographisch entfernte Anderwelt auf dem Festland eine weitere Alternative zu einer Inselanderwelt darzustellen. Und selbst innerhalb derjenigen Stellen, in denen die Anderwelt von Serglige Con Culainn auf einer Insel lokalisiert wird, gibt es Inkonsequenzen: Zumeist scheint die Anderweltsinsel als eine Insel in einem Binnensee beschrieben zu werden (§ 15, Z. 152: loch; § 31, Z. 421: lind),¹²⁶⁵ aber zugleich wird die Anderwelt auch jenseits des Meeres verortet, wenn Fand als ein Mädchen „von den Wogen jenseits der sehr großen Meere“ (do thonnaib dar leraib lánmóraib) bezeichnet wird (§ 42, Z. 714),¹²⁶⁶ oder wenn Labraids Wohnsitz sich „jenseits der See“ (dar ler) befindet (§ 31, Z. 445). Dies fällt umso mehr auf, als diese unterschiedlichen Konzeptionen sich nicht einfach den Versionen A und B zuweisen lassen: Die Lokalisierung in einem Binnensee (lind) in Z. 421 wird Version A zugerechnet – ebenso wie die überseeische Lokalisierung in Z. 714. In § 31 erscheint Labraids Insel sogar innerhalb eines einzigen Gedichts einmal jenseits der See (dar ler, Z. 445) und einmal in einem Binnensee (for lind glan, Z. 421) lokalisiert – die Meeresinsel und die Insel im Binnensee erscheinen hier als praktisch austauschbare Konzepte.¹²⁶⁷ Das vielfältige Nebeneinander von geographischen Lokalisierungen der Anderwelt lässt sich somit nicht nur auf den kompilatorischen Charakter des erhaltenen Texts von Serglige Con Culainn zurückführen.
1264 Siehe oben S. 268, 302. 1265 Für beide Begriffe ist freilich anzumerken, dass sie (sekundär) auch für das Meer oder zumindest einen Meeresarm verwendet werden können (DIL s.v. ‚1 linn‘, ‚loch‘); per se liegt jedoch in den entsprechenden Stellen eine solche Auffassung zunächst nicht nahe. 1266 Vgl. hierzu auch, dass Cú Chulainns Verabredung mit Fand an der Küste stattfindet (§ 39). 1267 Dies stellt eine Warnung davor dar, die Lokalisierung der Anderweltsinsel auf hoher See und ihre Lokalisierung in einem Binnengewässer als einander ausschließende Kategorien zu betrachten. Nutt 1895, S. 184 und Ó Cathasaigh 1977–1979, S. 149 (Anm. 44) vertreten die Auffassung, dass die Anderwelt von Serglige Con Culainn jenseits der See lokalisiert ist; dies wird abgelehnt von Carey 2000 (1982/83), S. 116 f. (Anm. 20), der die beiden Belege für eine Lokalisierung jenseits der See (Z. 445 und Z. 714) für nicht signifikant hält. Dass beide Lokalisierungen – in einem Binnensee und jenseits des Meeres – jedoch in ein und demselben Gedicht nebeneinander auftreten können, wirft die Frage auf, ob die Annahme eines Gegensatzes zwischen den beiden Konzepten „anderweltliche Seeinsel“ und „anderweltliche Meeresinsel“ nicht grundsätzlich verfehlt ist. (Ganz in diesem Sinne vgl. Ó Mainnín 2013, S. 260.)
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In geographischer Hinsicht erscheint die Anderwelt von Serglige Con Culainn somit insgesamt (1) auf einer Insel in einem Binnensee; (2) jenseits des Meeres; (3) vielleicht unter Wasser; und (4) an einem Ort, der sich über Land erreichen lässt. Neben diese Vielfalt an geographischen Lokalisierungen treten ferner Variationen in nicht-räumlichen Kategorien: Zeit, Traum und Wachen, Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit. Gleich der erste Satz der Erzählung hebt durch den Verweis auf das SamainFest den Aspekt der Zeit hervor. Samain spielt für die Erzählung eine Schlüsselrolle: Sowohl Cú Chulainns erste Begegnung mit den beiden Anderweltsfrauen, die ihn lächelnd halb zu Tode prügelten, als auch seine Genesung und erneute Begegnung mit einer anderweltlichen Botin spielen sich um Samain ab. Samain (der 31. Oktober oder 1. November), insbesondere die Samain-Nacht, ist in der Literatur des irischen Mittelalters die Zeit für Begegnungen mit der Anderwelt schlechthin. So berichtet die „Nachtwache Fíngens“ (Airne Fíngein) aus dem 9./10. Jahrhundert, wie eine anderweltliche Frau jedes Jahr in der Samain-Nacht zu Fíngen kommt und ihm von den Wundern Irlands erzählt (§ 1).¹²⁶⁸ Ebenso anderweltlich, aber deutlich dunkler wird die Samain-Nacht in „Neras Abenteuerfahrt“ (Echtra Nerai) beschrieben (§ 2), einem Text, der möglicherweise schon dem 8. Jahrhundert, vielleicht aber auch erst der Zeit ab dem 10. Jahrhundert zugehört:¹²⁶⁹ „Groß war die Dunkelheit dieser Nacht und ihr Schrecken, und Dämonen pflegten in dieser Nacht immer zu erscheinen.“ (Ba mor iarum a dorchotai na haidqi sin, ogus a grandatai, ogus doaidbitis demnoie ind oidqi sin dogres.)¹²⁷⁰ In Übereinstimmung mit geläufigen Motiven der zeitgenössischen irischen Literatur scheint in Serglige Con Culainn somit nicht nur der Raum, sondern auch die Zeit eine Rolle für den Zugang zur Anderwelt zu spielen – ein Element, das in den älteren immrama in dieser Form gefehlt hatte. Ebenso, wie die räumliche Konzeptualisierung der Anderwelt in Serglige Con Culainn schwankt, wird jedoch auch der zeitliche Fokus auf Samain nicht konsequent durchgehalten: Als Cú Chulainn und Fand sich wieder treffen und Emer Cú Chulainns neue Geliebte ermorden will, spielt die Kategorie der Zeit offenbar keine Rolle mehr (§ 39). Weitere textinterne Variationen zeigen sich in Hinblick auf die Sichtbarkeit und Körperlichkeit anderweltlicher Gestalten. Als Cú Chulainn nach seiner erfolglosen Vogeljagd in Schlaf verfällt und von den zwei Frauen geprügelt wird, findet diese Begegnung mit der Anderwelt nicht örtlich entrückt, sondern im Rahmen einer Vision statt. Diese Vision des schlafenden Helden wird von den Umstehenden beobachtet; für sie ist nur Cú Chulainn sichtbar, während die Frauen unsichtbar bleiben (§§ 8 f.) – dieser Teil der Anderweltshandlung spielt sich rein im Rahmen eines Traums ab, die Anderwelt wird hier zur (Alp-)Traumwelt. Der anderweltliche Sendbote, der Cú Chu-
1268 Hgg. von Vendryes 1953; Datierung: Vendryes 1953, S. xxi f. 1269 Datierung ins 8. Jahrhundert: Dumville 1976, S. 88; Radner 1985, S. 550; 10. Jahrhundert oder später: Mac Mathúna 1985, S. 250 (Anm. 25). 1270 Hgg. von Meyer 1889. Allgemein zu Samain vgl. Minard 2006; Carey 1988, S. 70–72.
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lainn ein Jahr später an seinem Krankenbett aufsucht, tritt hingegen wieder öffentlich, körperlich und für alle Anwesenden sichtbar auf (§§ 10–12). Die Wesen der Anderwelt können in die Menschenwelt eingreifen, und sie tun dies sowohl als körperliche und konkret sichtbare Akteure, als auch als unkörperliche (aber nichtsdestoweniger wirkkräftige) Traumerscheinungen. Serglige Con Culainn führt seinem Publikum eine breite Palette von Anderweltskonzepten und Möglichkeiten der Interaktion zwischen Menschen und Anderwelt vor: Die Anderwelt erscheint lose mit einer Reihe verschiedener geographischer Lokalitäten assoziiert, ihre Protagonisten treten als unkörperliche Traumerscheinungen ebenso auf wie als körperliche Akteure, und der Kontakt mit ihr erscheint auf Samain fokussiert und ist doch auch außerhalb dieser Zeit möglich. Im Vergleich zu geschlosseneren Kompositionen wie Echtrae Chonnlai oder Immram Brain fällt dies auf und vermittelt zunächst einen Eindruck von Verwirrung und interner Unstimmigkeit. Im breiteren Rahmen der irischen Literatur des Früh- und Hochmittelalters ist eine solche Variationsbreite der Anderweltsvorstellungen jedoch nicht an sich ungewöhnlich. Schon in frühen Zeugnissen kann die Anderwelt an ganz unterschiedlichen Orten lokalisiert sein: Bereits in Immram Brain erschienen sowohl Anderwelten jenseits des Meeres als auch unter der Wasseroberfläche, und auch andere Lokalisierungen sind gängig, insbesondere die Lokalisierung in Hügeln und hier vor allem in prähistorischen Megalithgräbern.¹²⁷¹ Ähnlich gut etabliert sind die anderweltlichen Konnotationen der Nacht von Samain; der oben bereits kurz zitierte Text „Neras Abenteuer“ (Echtra Nerai) ist wohl das bekannteste und anschaulichste einschlägige Zeugnis. Auch andere grundlegende Elemente von Serglige Con Culainn sind keine Innovationen dieser Erzählung, sondern sind im Kontext einer reichen Rezeption älterer, wohletablierter literarischer Motive zu sehen. So ist etwa das Motiv einer Traumerscheinung, die ihr Opfer hilflos macht (Serglige Con Culainn §§ 8 f.), bereits in der Erzählung Aislinge Óenguso, „Óengus’ Traumgesicht“, klassisch bezeugt (dort §§ 1–3).¹²⁷² In dieser altirischen Erzählung, die ins 8. Jahrhundert datiert wird,¹²⁷³ wird Óengus von nächtlichen Visionen einer schönen Anderweltsfrau heimgesucht. Diese Visionen kehren so lange wieder, bis Óengus sich hilflos in diese Frau verliebt und durch die ‚Liebeskrankheit‘ dahinzusiechen beginnt. Dies entspricht zunächst nicht
1271 Als Beispiel für die Anderwelt im Megalithgrab vgl. etwa die altirische Erzählung De Gabáil in t-Ṡída (hgg. von Hull 1933). Für eine Zusammenstellung von Belegen für die verschiedenen Lokalisierungsmöglichkeiten der Anderwelt vgl. Carey 2000 (1982/83), S. 116 f.; Dumville 1976, S. 73; Dillon 1948, S. 51–72, 101–131 passim; MacCulloch et al. 1908, S. 689 f.; und siehe oben S. 264. 1272 Hgg. von Shaw 1934. In einen anderen (schamanistischen) Kontext wird die Szene von Mac Mathúna gestellt: Mac Mathúna 1985, S. 260–262. 1273 Datierung ins 8. Jahrhundert: Smith et al. 2006, S. 994; Chadwick 1972, S. 139; Shaw 1934, S. 37, nach Aussage Shaws (ibidem) mit Zustimmung Thurneysens. Zuvor hatte Thurneysen den Text ins 9./10. Jahrhundert datiert: Thurneysen 1921, S. 301. Datierung allgemein in die altirische Zeit: MacKillop 2004, S. 11.
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offensichtlich der reichlich gewalttätigen Behandlung Cú Chulainns durch die zwei Frauen in seiner Traumvision. Jedoch zeigt es eine sehr ähnliche Wirkung, und in Serglige Con Culainn § 30, Z. 389 [A] muss Cú Chulainn sich vorwerfen lassen, dass es eine Schande für ihn ist, aus ‚Weiberliebe‘ darniederzuliegen: ‚Is mebul duit [...] laigi fri bangrád [...].‘ Dies passt nicht zum ersten Teil der Erzählung, wie er vor allem in der Form von Version B erhalten ist: Dort ist von Liebe keine Rede, sondern nur von den Prügeln, die Cú Chulainn von zwei schönen Anderweltsfrauen erhält. Ein Darniederliegen in einer ‚Liebeskrankheit‘, wie es in § 30 impliziert wird, würde jedoch sehr gut zu einem Szenario wie dem von Aislinge Óenguso passen, in dem der Held sich in eine nächtliche Erscheinung einer Anderweltsfrau verliebt und darüber schmachtend dahinsiecht. Eine (direkte oder indirekte) literarische Abhängigkeit der Erzählung Serglige Con Culainn von Aislinge Óenguso wird zudem auch noch durch weitere Motivparallelen nahegelegt. So kehrt etwa das Motiv der zwei in Vögel verwandelten und durch eine Kette aus Edelmetall miteinander verbundenen anderweltlichen Frauengestalten in beiden Erzählungen wieder (Serglige Con Culainn § 7 f.; Aislinge Óenguso §§ 8, 12–14). Auch das Detail, dass der Gesang der zwei anderweltlichen Vögel in Serglige Con Culainn § 7 die Anwesenden in Schlaf versetzt, findet sich bereits in Aislinge Óenguso (§ 14).¹²⁷⁴ Serglige Con Culainn ist somit ein Text, der – auch abgesehen vom kompilatorischen Charakter seiner erhaltenen Fassung – sehr stark vom direkten Rückgriff auf Elemente älterer Texte geprägt ist. Dies schließt auch Texte mit ein, die im Vorangehenden bereits als Quellen herangezogen wurden. So erinnert Lóegs erste Reise in die Anderwelt (§ 15) auffallend stark an den Besuch der anderweltlichen Insel in Tochmarc Becḟola: Das Ziel von Lóegs Reise ist eine Insel auf einem See, auf die man mit Hilfe eines bronzenen Boots übersetzen kann. Das Motiv, dass eine Anderweltsinsel auf einem See mit Hilfe eines Bronzeboots zu erreichen ist, könnte zwar einen ‚traditionellen‘ Hintergrund haben;¹²⁷⁵ ebenso könnte es jedoch auch vom Verfasser von Serglige Con Culainn § 15 unmittelbar aus Tochmarc Becḟola entnommen worden sein. Noch klarer dürfte der Fall einer direkten literarischen Abhängigkeit für die Szene sein, in der ein anderweltlicher Sendbote Cú Chulainn an seinem Krankenbett aufsucht (§§ 10–12). Diese Szene scheint eine literarische Anspielung auf das Erscheinen der anderweltlichen Frau in Brans Königshalle in Immram Brain darzustellen, da sie mit einer Phrase abgeschlossen wird, die sich als ein (näherungsweises) direktes Zitat aus Immram Brain deuten lässt. Nachdem der geheimnisvolle Besucher sein Gedicht vorgetragen und sich als Sohn von Áed Abrat vorgestellt hat, verschwindet er, und es heißt: „und sie wussten nicht, wohin er gegangen war oder woher er gekommen war“
1274 Für Vögel, die durch Ketten aus Edelmetall miteinander verbunden sind und deren Gesang besondere Macht hat, vgl. auch Airne Fíngein § 11 (hgg. von Vendryes 1953). 1275 Für eine Zusammenstellung von Belegen für das Motiv des anderweltlichen Bronzeboots vgl. Herbert 1999, S. 184 f. (mit Anm. 11).
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(7 ní fetatar cia deochaid nó can donluid). Dies entspricht genau der Art, in der das Erscheinen und Verschwinden der Frauengestalt in Immram Brain kommentiert wird, die dort in Brans Haus erscheint. Zu ihrem Erscheinen hieß es dort: „während sie nicht wussten, woher die Frau kam“ (a nnád-fetatar can do-lluid in ben: Immram Brain § 1); zu ihrem Verschwinden: „während sie nicht wussten, wohin sie ging“ (a nnádfetatar cia-luid: Immram Brain § 31). Dieser enge Anklang in den jeweiligen Formulierungen dürfte umso signifikanter sein, als die Auftritte von Áed Abrats Sohn und der Frauengestalt in Immram Brain in weitgehend parallele Kontexte eingebettet sind: In beiden Fällen sprechen diese Abgesandten der Anderwelt in einem aristokratischen Haus; in beiden Fällen ist eine Versammlung hochrangiger Männer anwesend;¹²⁷⁶ und in beiden Fällen wird die Rede der anderweltlichen Gestalt in Gedichtform vorgetragen und zielt darauf ab, einen untätigen Helden zum Aufbruch zu einer Reise in die Anderwelt anzustacheln.¹²⁷⁷ Eine solche direkte literarische Rezeption von Immram Brain hat unmittelbare Konsequenzen auch für die Darstellung der seligen Anderwelt der Frauen in Serglige Con Culainn. Als Cú Chulainn und sein Wagenlenker Lóeg sich zum ersten Mal auf eine Reise in die Anderwelt begeben, wird der Aufenthaltsort Labraids als Mag Mell benannt (§ 13, Z. 140 f.). Diese „Ebene der Freuden“ erscheint auch in Immram Brain; wenn für Serglige Con Culainn jedoch eine direkte Rezeption von Immram Brain anzunehmen ist, dann hat diese Erwähnung von Mag Mell nicht den Wert eines unabhängigen Belegs, sondern mag nur ein weiteres Zitat aus Immram Brain darstellen. Ähnliches gilt entsprechend auch für die Darstellung der Anderwelt als Land der Frauen. Insbesondere in den Teilen von Serglige Con Culainn, die auf die (ältere) Version B zurückgehen, nimmt die Anderwelt dieses Texts starke Züge eines Lands der Frauen an: Die Frauengestalt Lí Ban fungiert als Lóegs Führerin in dieses Land (§§ 13 f.), und genüsslich wird Lóegs Unbehagen darüber ausgemalt, unter dem Schutz einer Frau zu stehen (§ 14): Die ihm aus der menschlichen Welt vertrauten Geschlechterrollen sind in dieser Anderwelt der Frauen in ihr Gegenteil verkehrt. Auf der Anderweltsinsel angekommen, wird Lóeg zudem von dreimal fünfzig Frauen willkommen geheißen (§ 16). Da Serglige Con Culainn unmittelbar auf Immram Brain zurückzugreifen scheint, stellt dies kein unabhängiges Zeugnis für ‚traditionelle‘ irische Vorstellungen über ein anderweltliches Land der Frauen dar, sondern ist nur ein Beispiel für Intertextualität innerhalb der irischen Literatur des Mittelalters. In jedem Fall wäre hier auch anzumerken, dass die Charakterisierung der Anderwelt als Land der Frauen in Serglige Con Culainn nicht konsequent durchgeführt wird: Die durchgehende Anwe-
1276 Brans Haus ist „voll von Königen“: Immram Brain § 1; um Cú Chulainns Krankenlager sind die wichtigsten Helden der Männer von Ulster versammelt: Serglige Con Culainn § 10. 1277 Für weitere Indizien für eine direkte literarische Rezeption von Immram Brain in Serglige Con Culainn vgl. Carey s. a., S. 83 und vgl. Carney 1955, S. 282, 287–292, 293 f. Allgemein zur literarischen Rezeption anderweitig bekannter Texte in Serglige Con Culainn vgl. Carey s. a.
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senheit einzelner Männer wie des Labraid (§§ 15, 17, et passim) oder des Sohns von Áed Abrat (§§ 10–12), und die häufigen Erwähnungen von Labraids (wohl männlichen) Truppen (z. B. § 15), lassen dieses Land der Frauen niemals so klar als ein reines Land der Frauen erscheinen, wie dies in Immram Brain der Fall gewesen war. Fast gänzlich geht die Auffassung der Anderwelt als Land der Frauen in Version A verloren (die oben zitierte Strophe aus § 31 ist eine vereinzelte Ausnahme). Besonders deutlich wird die weitgehende Auflösung des Landes der Frauen in eine allgemeine, geschlechtlich nicht spezifizierte Anderwelt dort etwa in § 33, wenn Labraids Heerschaaren geschildert werden und von den „Kindern (macrad) aus der Königsburg“ (Z. 497) gesprochen wird; denn für Labraids Truppen kann wohl ein männliches Geschlecht angenommen werden, und der Begriff macrad trägt primär die Konnotation männlicher Kinder und Jugendlicher.¹²⁷⁸ All dies bedeutet nicht notwendigerweise, dass Serglige Con Culainn keinen religionsgeschichtlichen Quellenwert hat. Die Rezeption der Motive von Anderweltsinsel und Land der Frauen könnte als ein Indiz dafür gewertet werden, dass insbesondere für den Verfasser von Version B im 9./10. Jahrhundert solche Motive ein plausibles Bild von Vorstellungen der heidnischen Vorzeit darstellten. Das würde zwar an sich noch nicht bedeuten, dass eine solche Einschätzung eines Autors des 9./10. Jahrhunderts auch sachlich richtig war; jedoch ist die korrekte Tradierung von Wissen über die einheimische Religionsgeschichte innerhalb der irischen intellektuellen Elite immerhin als plausible Möglichkeit zu betrachten. Von Interesse ist die Möglichkeit, dass Autoren des irischen Mittelalters in einem gewissen Umfang Zugang zu Informationen über die vorchristliche Vorstellungswelt Irlands gehabt haben könnten, nicht zuletzt auch in Hinblick auf die oben zitierten Strophen aus § 33, in denen Elemente der Anderwelt geschildert werden. Diese Schilderung enthält u. a. das Motiv von „dreimal zwanzig“ Bäumen, die wundersam nahrhafte Früchte hervorbringen: „Von jedem Baum werden Dreihundert ernährt, | von reichlicher Frucht ohne Hülsen.“ Gerade die Zahl dieser Bäume setzt diese Schilderung vom Apfelbaum-Motiv in der spezifischen Form ab, in welcher es in Immram Brain und Echtrae Chonnlai erscheint, wo jeweils nur ein Zweig oder ein Apfel eine Rolle spielt; ein direkter literarischer Zusammenhang ist hier also keineswegs zwingend. Damit könnte es sich hier vielleicht um ein Motiv handeln, das einen so typischen Zug der Anderwelt dargestellt haben könnte, dass es für den Verfasser dieser Strophen selbst in einem Kontext ein naheliegendes Detail darstellte, in dem diese Fruchtbäume für die eigentliche Handlung der Erzählung keinerlei Rolle spielten. Dasselbe mag auch für die Schilderung des musikalischen silbernen Baums in der vorangehenden Strophe gelten („Ein Baum ist vor der Umwallung | – nicht hässlich wäre Musik, die sich damit vergleichen ließe – | ein Baum aus Silber“, etc.: § 33, Z. 498–501): Dieser Baum entspricht dem Detail von Immram Brain, dass Bran von der
1278 Vgl. DIL s.v. ‚1 mac(c)rad‘. Ferner vgl. besonders §§ 34, Z. 561 f., 567 f., 575 f.; § 45, Z. 789, 793.
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Anderweltsfrau einen silbernen Zweig erhält (§ 2). Eine weitere Parallele findet sich in zwei Rezensionen von Echtra Cormaic, „Cormacs Abenteuer“, die beide dem 12. Jahrhundert entstammen.¹²⁷⁹ In diesen beiden Texten erhält König Cormac von einem anderweltlichen Krieger einen Zweig, an dem drei goldene Äpfel hängen; jedes Mal, wenn dieser Zweig geschüttelt wird, erzeugt er eine so süße Musik, dass die Zuhörer all ihr Leid vergessen und in tiefen Schlaf fallen.¹²⁸⁰ Auch im Fall des ‚Silberzweig-Motivs‘ scheint die Übereinstimmung zwischen Immram Brain und den späteren Texten nicht so detailliert, dass sie notwendigerweise auf eine direkte literarische Entlehnung zurückgehen muss. Somit könnte die spezifische Bearbeitung des Apfelbaum-Motivs in Serglige Con Culainn insgesamt (d. h. sowohl in dessen ernährendem als auch in dessen edelmetallen-musikalischem Aspekt) darauf hindeuten, dass zumindest hier möglicherweise auf ein traditionelles Motiv zurückgegriffen wurde, ohne dass dabei notwendigerweise unmittelbar aus den auch uns heute noch vorliegenden älteren Texten geschöpft worden ist. In jedem Fall von Interesse ist Serglige Con Culainn schließlich noch im selben Sinne, in dem dies schon für Immram Maíle Dúin und Tochmarc Becḟola hervorgehoben wurde: Die explizite Verdammung der als teuflische Mächte angesehenen ‚Elfen‘ der nicht-christlichen Vorgeschichte (und mittelalterlichen Literatur) Irlands legt ein beredtes Zeugnis davon ab, dass innerhalb irischer Literatenkreise keine Rede von einer Auffassung des Landes der Frauen als christliche Allegorie sein konnte.¹²⁸¹
5.2.3 Acallam na Senórach An prominenter Stelle innerhalb der hochmittelalterlichen heroischen Literatur erscheint das Motiv des Landes der Frauen ferner in der Acallam na Senórach, der „Unterredung der Alten“. Bei der Acallam na Senórach handelt es sich um einen der umfangreichsten erzählenden Texte der irischen Literatur des Mittelalters.¹²⁸²
1279 Datierung: Hull 1949, S. 871–873. ‚Rezension 2‘, vermutlich die geringfügig ältere Fassung, ist hgg. und übersetzt von Hull 1949; ‚Rezension 1‘ ist hgg. und übersetzt von Stokes 1891. 1280 ‚Rezension 2‘: Hull 1949, S. 875, 877 f., 883; ‚Rezension 1‘: Stokes 1891, §§ 25–30, 53. 1281 Nur am Rande hingewiesen sei hier auch darauf, dass sich in diesem Schlussabsatz von Serglige Con Culainn nochmals zeigt, wie wenig der letzte Redaktor der Erzählung um interne Stimmigkeit bemüht war. Denn die Verdammung der ‚Elfen‘ und ihre Wertung als teuflische Mächte in diesem Absatz steht in denkbar großem Kontrast zu ihrer Konzeptualisierung in § 34, Z. 557–560 (zitiert oben S. 328), wo sie – wie in Immram Brain – als Nachkommen Adams gedacht werden, die dem Sündenfall entgangen sind. Allgemein zum literaturgeschichtlichen Kontext des Kolophons am Ende von Serglige Con Culainn vgl. Carey s. a., S. 78 f. 1282 Hgg. von O’Grady 1892 Bd. 1, S. 94–233, Bd. 2, S. 101–265 und Stokes 1900 (Acallamh), jeweils mit teilweiser Übersetzung. (Stokes’ Ausgabe enthält Übersetzungen derjenigen Teile, für die O’Gradys Ausgabe keine Übersetzung enthält.) Für eine Gesamtübersetzung vgl. Dooley und Roe 1999.
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Die Acallam ist dabei stark episodisch aufgebaut und versammelt eine Vielzahl von Geschichten, die um den Helden Finn mac Cumaill und seine Gefolgsleute kreisen. Ann Dooley datiert die Entstehung dieses Texts in das frühe 13. Jahrhundert.¹²⁸³ Eine Episode behandelt eine Frauengestalt, die aus einem ‚Land der Maiden‘ (Tír na n-ingen) stammt:¹²⁸⁴ Eines Tages befinden sich Finn mac Cumaill und seine Krieger auf der Jagd, als sie plötzlich eine Frau auf sich zukommen sehen. Diese Frau lässt sich bei Finn auf einem Hügel nieder, wo alle über die Pracht ihrer Kleidung und ihres Schmucks und über ihre außergewöhnliche Größe erstaunt sind – diese Frau ist so groß wie der Hauptmast eines großen Schiffs. Um sich mit ihr unterhalten zu können, heißt Finn sie sitzenbleiben und sich auf ihren Ellbogen aufstützen, während er aufsteht – nur so bringt er seinen Mund nahe genug an ihr Ohr, dass sie ihn auch versteht. So erkundigt Finn sich nach ihrem Namen und ihrer Herkunft. Sie stammt „aus dem Land der Maiden im Westen, wo die Sonne untergeht“ (a Tír na n-ingen aníar mara fuinend grian, Z. 5954) und ist die Tochter des Königs dieses Landes; ihr Name ist Bébind, Tochter von Trén. Finn erkundigt sich darauf, warum dieses Land ‚Land der Maiden‘ heißt; er erhält zur Antwort, dass dieser Name daher rührt, dass dort bis auf Bébinds Vater und seine drei Söhne keine Männer leben. Vielmehr wird das Land vornehmlich von den nahezu hundertfünfzig Töchtern des Königs bewohnt. Das nächste Nachbarland des ‚Landes der Maiden‘ ist das ‚Land der Männer‘ (Tír na fer), wo die Zahlenverhältnisse umgekehrt sind: Der dortige König hat eine Vielzahl von Söhnen, aber nur eine Tochter. Bébinds eigene Geschichte ist hiermit direkt verknüpft: Sie wurde bereits dreimal einem der Königssöhne des ‚Landes der Männer‘ zur Frau gegeben, ist aber jedes Mal entkommen. Schließlich erfuhr sie durch drei Fischer, die der Wind von ihrem Kurs abgetrieben hatte, von Irland und vom Ruhm Finns. So ist sie jetzt, bei ihrer dritten Flucht, zu Finn gekommen, um sich unter dessen Schutz zu stellen. Finn kommt diesem Gesuch nach und nimmt sie unter seinen Schutz; darüber hinaus weist er sie an, sich auch unter den Schutz von Goll mac Morna zu stellen, der neben ihm sitzt. Einer von Finns Gefolgsleuten bereitet daraufhin für die Kriegerschar und Bébind eine Abendmahlzeit zu. Als Bébind ihre Kopfbedeckung abnimmt, sind alle erstaunt über die gewaltigen Kaskaden ihres schönen Haars. Als sie um etwas zu Trinken bittet, lässt Finn ihr einen Becher voller Wasser bringen, der normalerweise für siebenundzwanzig seiner Krieger ausreichend ist. Als ihr dieser Becher gereicht wird, schüttet
1283 Dooley 2004. Etwas früher datiert MacKillop 2004, S. 1 („composed between 1175 and 1200“); zu solchen Frühdatierungen vgl. Dooley 2004, S. 98. 1284 MacCulloch 1918, S. 117; Zimmer 1889, S. 268–271. Texte und Übersetzungen: O’Grady 1892 Bd. 1, S. 210–214, Bd. 2, S. 238–242; Stokes 1900 (Acallamh), S. 163–168 (Z. 5910–6082); Dooley und Roe 1999, S. 166–171. Im Folgenden wird die Passage nach den Zeilennummern von Stokes 1900 (Acallamh) zitiert.
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sie das Wasser daraus in ihre Hand, trinkt einen Teil von dort und sprenkelt den Rest über die Kriegerschar. Alle lachen hierüber, aber Finn ist nichtsdestoweniger neugierig, warum sie nicht direkt aus dem Becher getrunken hat. Darauf erklärt Bébind ihm, dass sie bisher noch nie aus einem Becher getrunken hat, der nicht mit Gold und Silber verziert war. Da sieht Caílte, einer von Finns Gefährten, einen gewaltigen Krieger auf sie zureiten – er ist größer als ein Berg und zugleich so schön, dass kein Mann auf der Welt schöner sein könnte. Bébind erkennt ihn als ihren ungeliebten Verlobten und setzt sich zwischen Finn und Goll, ihre beiden Beschützer. Der riesenhafte Krieger reitet jedoch auf diese Gruppe zu und durchbohrt Bébind ohne Vorwarnung mit seinem Speer. Finn befiehlt daraufhin seinen Kriegern den Angriff, und alle setzen dem riesenhaften Mann nach; nur Finn und Goll bleiben bei der sterbenden Bébind zurück. Nach einer langen Verfolgungsjagd holt eine Gruppe von Finns besten Kriegern den Fliehenden an der Meeresküste ein. Finns Gefährte Caílte kann ihn mit einem Speerwurf schwer verwunden und ihm seinen Speer und seinen Schild entreißen; dann trennt sie jedoch das Meer, und ein großes Ruderboot kommt aus dem Westen und nimmt Bébinds ehemaligen Verlobten auf. Finns Männer wissen nicht, wohin dieses Schiff danach davonsegelt. Eine Handschrift der Acallam vermerkt, dass Klagegeschrei vom Schiff zu hören ist, ehe es ganz auf dem Ozean verschwindet.¹²⁸⁵ Caílte und seine Gefährten kommen noch rechtzeitig zu Finn, Goll und Bébind zurück, ehe das Mädchen stirbt. Sie lebt jedoch nicht mehr lange, verschenkt ihren goldenen Schmuck und wird von Finn begraben. Darüber, dass diese Episode letztlich auf ältere Schilderungen eines Landes der Frauen zurückgeht, wie sie in Immram Brain vorliegen, besteht im Allgemeinen kein Zweifel.¹²⁸⁶ Hierauf verweist das Motiv der (fast) nur von Frauen bewohnten Insel im fernen Westen ebenso wie die wiederkehrende Betonung der Schönheit Bébinds oder ihre Eigenwilligkeit: Wie in Immram Brain übernimmt die Frau die Initiative; die männliche Seite ist nicht dazu befähigt, eine Beziehung anzubahnen. Der mehrfach erwähnte Schmuck der Frau und insbesondere die kleine Szene mit dem Becher betonen ferner den paradiesischen Überfluss, der im ‚Land der Maiden‘ herrscht und der an das immerwährende Bankett erinnert, das Bran und seine Gefährten in Immram Brain genießen können. Und die riesenhafte Größe Bébinds ist vollends geeignet, zu betonen, dass sie nicht von dieser Welt ist.¹²⁸⁷ Von der Atmosphäre und insbesondere von den Machtstrukturen des Lands der Frauen von Immram Brain ist in der nahezu vier Jahrhunderte späteren Acallam na
1285 Stokes 1900 (Acallamh), S. 325 (Anm. zu Z. 6067). 1286 Vgl. Dooley und Roe 1999, S. 242 (Anm. zu S. 166). 1287 Strenggenommen muss dies freilich nicht Anderweltlichkeit anzeigen, sondern könnte auch als Verweis darauf intendiert sein, dass diese ganze Episode sich in ferner Vergangenheit und insbesondere in einer vergangenen Goldenen Zeit abspielt (vgl. Dooley und Roe 1999, S. 242 [Anm. zu S. 166], und vgl. oben S. 220 zur Größe von Arthurs Schienbeinknochen).
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Senórach jedoch nicht viel geblieben. Das Land der Frauen wird rationalisiert, indem das Vorherrschen von Frauen in diesem Land auf die letztlich zufällige Geschlechterverteilung unter den Kindern eines Königs zurückgeführt wird. Die Frauen büßen zudem, wenn nicht ihren eigenen Willen, so doch ihr Recht zur Selbstbestimmung ein: Von herrscherlichen Anderweltsfrauen werden sie zu widerspenstigen, aber nichtsdestoweniger untergeordneten Töchtern degradiert. Ihre Stellung gegenüber den sterblichen Helden Irlands ist dabei ebenso geschwächt wie ihre Stellung auf ihrer eigenen Insel: Sowohl auf ihrer Heimatinsel als auch in Irland ist Bébind entweder eine untergebene Tochter oder eine Schutzsuchende, die sich an einen männlichen Helden wenden muss – der Kontrast zur Frauengestalt von Immram Brain könnte kaum größer sein, die auf ihrer eigenen Insel unumschränkte Herrin ist und deren Besuch in Irland nicht die Form eines Bittgesuchs hat, sondern die einer unwiderstehlichen Verlockung, mit der sie sich einen irischen König untertänig macht. Das einzige, was Bébind von der Macht der Anderweltsfrau von Immram Brain geblieben ist, ist eine eigenwillige, aber letztlich machtlose Widerspenstigkeit. Und selbst in ihrer schutzsuchenden Hinwendung zum Helden Finn führt diese Widerspenstigkeit noch zur Katastrophe und zum Tod Bébinds. Die starke anderweltliche Frauengestalt von Immram Brain erscheint in Acallam na Senórach gerade klar genug angedeutet, um zweifelsfrei erkennbar zu werden. Das Schicksal, dem Bébind zugeführt wird, stellt jedoch ein Urteil über das Konzept einer starken, herrschaftlichen Frauengestalt dar, das an Nachdruck nichts zu wünschen übrig lässt. In Acallam na Senórach wird das Land der Frauen nur eingelassen, um danach umso deutlicher abgeurteilt zu werden.¹²⁸⁸
5.2.4 Die Verortung der Anderweltsinsel Die Isle of Man In verschiedenen Erzählungen der heroischen Literatur Irlands erscheint das Motiv, dass der Held sich zu einer Expedition zu einem transmarinen Ziel mit anderweltlichen Zügen aufmacht; ein prominentes Beispiele ist etwa Fled Bricrenn ocus Loinges mac nDuíl Dermait, „Bricrius Fest und die Verbannung der Söhne des Dóel Dermait“ (9. Jahrhundert).¹²⁸⁹ Nicht alle Texte, die dieses Motiv verarbeiten, sind im gegenwär-
1288 Acallam na Senórach enthält auch eine Episode, in der ein bronzenes Schiff dazu dient, in Manannáns ‚Land der Verheißung‘ zu gelangen, und in der drei der Frauen dieses Landes sich in die Helden dieser Episode verlieben und mit ihnen davonlaufen: Zimmer 1889, S. 271–273; MacCulloch 1918, S. 116; Patch 1950, S. 42 f.; O’Grady 1892 Bd. 1, S. 176–179, Bd. 2, S. 198–201; Stokes 1900 (Acallamh), S. 106–110 (Z. 3725–3858); Dooley und Roe 1999, S. 113–116. Wie in der Episode mit der Riesin aus dem ‚Land der Maiden‘ werden die Motive der älteren Literatur auch dort frei adaptiert, und auch diese Episode hat kein glückliches Ende. 1289 Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1744; vgl. Brown 1943, S. 55–59. Hgg. und übersetzt von Hollo 2005; Windisch 1884; vgl. Thurneysen 1921, S. 467–473. Datierung und Kontext: Hollo s. a.
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tigen Zusammenhang relevant, da die Ziele der jeweiligen heroischen Expeditionen im Einzelnen zumeist kaum oder keine konkreten Anklänge an den hier besprochenen Typus von insularen Anderwelten zeigen, wie er durch das Land der Frauen vom Immram Brain vertreten wird. Trotz des Fehlens direkter Motivübereinstimmungen ist jedoch zumindest ein solcher Text für die Geschichte des Paradiesinsel-Motivs von einiger Bedeutung:¹²⁹⁰ Forfess Fer Fálgae, „die Belagerung der Fir Fálgae“.¹²⁹¹ Diese kurze Komposition ist in mehreren Handschriften erhalten, für deren Archetyp sich rekonstruieren lässt, dass er bereits einen Teil der Cín Dromma Snechta bildete,¹²⁹² einer berühmten (wenngleich verlorenen) Sammelhandschrift. Die Zeit der Niederschrift dieses Manuskripts ist umstritten und ist zwischen der ersten Hälfte des 8. Jahrhunderts und der ersten Hälfte des 10. Jahrhunderts angesetzt worden.¹²⁹³ Forfess Fer Fálgae selbst wurde von Thurneysen sprachlich ins 8. Jahrhundert datiert.¹²⁹⁴ Die Bedeutung von Forfess Fer Fálgae im allgemeinen Rahmen der frühmittelalterlichen irischen Literatur ergibt sich jedoch nicht nur aus dem Alter dieser Erzählung und ihrer Aufnahme in die Cín Dromma Snechta, sondern auch aus ihrem Erscheinen in den zwei mittelalterlichen irischen Sagenlisten: Der Text war zeitgenössisch offenbar prestigeträchtig und weithin bekannt.¹²⁹⁵ Formal besteht Forfess Fer Fálgae aus einer kurzen Prosaeinleitung gefolgt von weitgehend unverständlichen poetischen Passagen. Der Titel lässt sich als „Die Nachtwache gegen die Fir Fálgae“ übersetzen, wobei „Nachtwache“ im kriegerischen Sinne einer Belagerung aufzufassen ist.¹²⁹⁶ Thurneysens Rekonstruktion und näherungsweise Übersetzung des Beginns der Geschichte lautet wie folgt: cipit forfess fer Falgæ .i. fer Manann isiside foillsigthi doUlt- ahEmuin Machae diatubart indhengribb inscoith milidea doib. 7 isiarom luid CuCul- 7 fiu forfess fer Falchæ 7 selaig firu Faal huli argalaib oínfir.¹²⁹⁷
1290 Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1744; Carey 2000 (1982/83), S. 117 (Anm. 21); MacCulloch et al. 1908, S. 688. 1291 Hgg. und übersetzt von Thurneysen 1912, S. 53–58; hgg. von Meyer 1912 (Forfess); vgl. Thurneysen 1921, S. 429–431. 1292 Hellmuth 2006, S. 438; Hellmuth 2004, S. 196; Carney 2000 (1976), S. 74; Thurneysen 1921, S. 17, 429; Thurneysen 1912, S. 53. Allgemein zu dieser verlorenen Handschrift vgl. Carey 2007 (Grail), S. 27– 41 et passim; Hellmuth 2006; Thurneysen 1921, S. 15–18; und siehe unten Anm. 1293. 1293 Vgl. Hellmuth 2006, S. 438 oder Hellmuth 2004, S. 196 für eine Zusammenstellung von Datierungsansätzen; McCone 2000, S. 67 f.; Carey 1995 (Rhetoric), S. 41 (mit Anm. 3); Oskamp 1970, S. 12 f. – Carey 2007 (Grail), S. 27 und Hollo 2005, S. 10 stellen diese Handschrift ins 8. Jahrhundert 1294 Hellmuth 2004, S. 196; Thurneysen 1912, S. 28; vgl. Thurneysen 1921, S. 16; Carey 2007 (Grail), S. 27, 32 f. 1295 Hellmuth 2004, S. 196 f.; vgl. Thurneysen 1912, S. 54. 1296 Thurneysen 1912, S. 54 f.; vgl. Hellmuth 2004, S. 198. 1297 Thurneysen 1912, S. 56.
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Es beginnt die Nachtwache gegen die Fir Falgæ (d. i. die Männer von Man). Die wurde den Ultern von Emuin Machae kundgetan, als der Vogel Greif ihnen die honigsüße Blüte brachte. Und dann ging Cuchulainn und hielt die Nachtwache gegen die Fir Falchæ und fällte alle Fir Faal in Zweikämpfen.¹²⁹⁸
Diese Zweikämpfe gegen die Fir Fálgae führen Cú Chulainn bis zu ihrem König, der dabei als König der Fomoire bezeichnet wird.¹²⁹⁹ Die Fomoire sind in der irischen Literatur als eines der anderweltlichen Völker der Insel fest etabliert, wobei sie üblicherweise stark negativ gewertet werden und so eher gespenstische als paradiesische Konnotationen tragen.¹³⁰⁰ Es ist in der Forschung bereits mehrfach betont worden, dass es sich bei der Expedition gegen die Fir Fálgae um eine Reise in die Anderwelt handelt.¹³⁰¹ Dies geht nicht nur aus der Identifizierung des Königs der Fir Fálgae als ein König der anderweltlichen Fomoire hervor, sondern zeigt sich auch an der Art und Weise, wie die Ereignisse in Gang kommen; denn hier werden erhebliche Parallelen zu Immram Brain deutlich.¹³⁰² Wie in Immram Brain beginnt die Handlung in einem irischen Königssitz (in diesem Fall Emain Macha, dem Königssitz der Männer von Ulster); ein anderweltlicher Bote tritt auf (in Immram Brain eine Frauengestalt mit übernatürlichen Kräften, in Forfess Fer Fálgae ein Greif oder ein ‚schneller Vogel‘);¹³⁰³ dieser Bote bringt ein Emblem der Anderwelt mit sich (in Immram Brain handelte es sich um einen silbernen Apfelbaumzweig voller weißer Blüten, in Forfess Fer Fálgae um eine Blüte, die so süß duftet wie Honig); und darauf folgt ein Aufbruch, der die menschlichen Helden der Geschichte über das Meer führt. Diese Parallelen zwischen Immram Brain und Forfess Fer Fálgae sind dabei umso bedeutungsvoller, als beide Texte wohl einen Teil derselben Handschrift – Cín Dromma Snechta – bildeten.¹³⁰⁴ Die kriegerische Expedition von Forfess Fer Fálgae wird in einigen späteren Texten mehr oder weniger deutlich wieder aufgegriffen. Insbesondere drei Zeugnisse sind
1298 Thurneysen 1912, S. 55 (für Anmerkungen zu dieser Übersetzung siehe dort). 1299 Thurneysen 1912, S. 55, 57 (§ I). 1300 Vgl. Thurneysen 1912, S. 54; Hellmuth 2004, S. 205–208. 1301 Carey 2000 (1982/83), S. 117 (Anm. 21); zuletzt und mit ausführlicher (und wohl abschließender) Begründung: Hellmuth 2004. Carey (ibidem) verweist auf Reicne Fothaid Canainne Str. 26 als mögliche enge Parallele (hgg. und übersetzt von Meyer 1910, S. 1–21). 1302 Hellmuth 2004, S. 199 f. 1303 Der en gribb lässt sich sowohl als „schneller Vogel“ als auch als „Vogel Greif“ deuten: Thurneysen 1921, S. 430; vgl. DIL s.v. ‚grip‘, ‚gríb‘. 1304 Carey 2007 (Grail), S. 32 f., 37–40; Hellmuth 2006; Hellmuth 2004, S. 199; vgl. McCone 2000, S. 69 f. (betrachtet die Zuschreibung von Immram Brain an Cín Cromma Snechtai als naheliegend, aber nicht endgültig bewiesen). Vgl. auch Hellmuth 2004, S. 200 f. für einen entsprechenden Vergleich mit Echtrae Chonnlai; auch diese Erzählung zeigt ähnliche Züge und befand sich wohl in der Cín Dromma Snechta (vgl. Carey 2007 [Grail], S. 30; Carey 1995 [Rhetoric], S. 41; Hellmuth 2006, S. 437; Koch 2006 [Echtrai]).
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wichtig:¹³⁰⁵ Aided Con Roí, „der Tod des Cú Roí“ (die älteste Fassung datiert Thurneysen ins 8./9. Jahrhundert,¹³⁰⁶ wobei Forfess Fer Fálgae jedoch erst in der späteren Fassung im Gelben Buch von Lecan aufgegriffen wird);¹³⁰⁷ Síaburcharpat Con Culainn, „Cú Chulainns Gespensterstreitwagen“ (frühestens 10. Jahrhundert);¹³⁰⁸ und das dinnṡenchas von Findglas (12. Jahrhundert).¹³⁰⁹ Aus diesen Texten geht hervor, was – zumindest nach der Meinung späterer Autoren – von den Männern von Ulster während ihres Kriegszugs gegen die Fir Fálgae erbeutet wurde: drei anderweltliche Milchkühe, die einen Überfluss an Milch erzeugen; ein Kessel, der diese Milch aufnimmt; und die Tochter des Königs. Petra Hellmuth vertritt die Auffassung, dass sich diese späteren Quellen zur Erhellung von Forfess Fer Fálgae heranziehen lassen.¹³¹⁰ Eine solche Verwendung späterer Zeugnisse zur Erklärung früherer Quellen ist nie gänzlich unproblematisch, aber falls Hellmuth in diesem Fall die spätere Überlieferung zu Recht heranzieht, unterstreichen die Beutestücke mit ihrer Betonung von paradiesischem Reichtum an Nahrung nochmals den anderweltlich-paradiesischen Charakter der Lands der Fir Fálgae. Das Land der Fir Fálgae ist kein Land der Frauen.¹³¹¹ Im gegenwärtigen Zusammenhang ist es jedoch dadurch von Relevanz, dass es die Lokalisierung einer insularen Anderwelt in der realen Geographie der menschlichen Welt veranschaulicht; zudem ergeben sich im weiteren Rahmen der irischen Überlieferung direkte Überschneidungen mit dem Land der Frauen. Denn die Fir Fálgae werden gleich zu Beginn des Textes explizit als fir Manann erklärt, „Männer der Isle of Man“,¹³¹² und die Isle of Man ist ihrerseits eng mit Manannán und damit dem Land der Frauen verbunden. Eine Assoziation Manannáns mit dem Land der Frauen war schon in Immram Brain deutlich geworden (§§ 32–60): Dort begegnet Bran auf hoher See einem Mann, der in einem Streitwagen über die Wellen fährt, und dieser stellt sich ihm als Manannán mac Lir („Sohn der See“) vor und beschreibt ihm die maritime Anderwelt, die er sieht, und den heilsgeschichtlichen Status der Wesen dieser Anderwelt (d. h.: Nachkommen
1305 Hellmuth 2004, S. 201–204. 1306 Thurneysen 1921, S. 432. 1307 Zur älteren Fassung vgl. Thurneysen 1921, S. 431–435; Hollo 2005, S. 10 f.; hgg. und übersetzt von Thurneysen 1913, S. 190–196 (mit Korrekturen und Nachträgen in Thurneysen 1915, S. 424 f.). Die Fassung im Gelben Buch von Lecan ist hgg. und übersetzt von Best 1905, vgl. Thurneysen 1921, S. 440–443; Hellmuth 2004, S. 202 f. 1308 Hellmuth 2004, S. 203 f.; vgl. Thurneysen 1921, S. 567–571; Brown 1943, S. 66–70; Hollo 2005, S. 11 f. 1309 Hellmuth 2004, S. 201 f.; hgg. von Best et al. 1954–1983 Bd. 3, S. 755 Z. 22490–22506; hgg. und übersetzt von O’Grady 1892 Bd. 2, S. 482 f., 530. 1310 Hellmuth 2004, S. 201, 204. 1311 Dies gilt trotz Hellmuths Vergleich zwischen der Königstochter, die nach den späteren Quellen in Forfess Fer Fálgae erbeutet wird, und der Frauengestalt von Immram Brain und Echtrae Chonnlai (Hellmuth 2004, S. 202). 1312 Vgl. Thurneysen 1912, S. 54.
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Adams, die dem Sündenfall entgangen sind). In Immram Brain wird freilich nicht explizit ausgesprochen, woher genau Manannán kommt. Deutlich wird nur eine allgemeine Assoziation mit derjenigen Region der See, in der Bran und seine Gefährten wenig später die Insel der Frauen finden; denn von dem Ort, an dem Bran und Manannán sich treffen, heißt es ausdrücklich: „nicht weit ist es zum Land der Frauen“ (ní cían co Tír inna mBan: § 60). Dabei wird Emnae als alternativer Name des Landes der Frauen angegeben (§§ 19, 60; vgl. § 3 mit der geläufigeren Namensform Emain). Eine konkrete Verbindung mit einer spezifischen Insel – der Isle of Man – ist für Manannán bereits früh bezeugt. Deutlich wird diese Verbindung in „Cormacs Glossar“ (Sanas Cormaic) hergestellt. Die kürzere Version dieses Glossars mag direkt mit ihrem Namensgeber, Bischof Cormac ua Cuilennáin von Cashel, verbunden sein;¹³¹³ da Cormacs Todesjahr traditionell mit dem Jahr 908 identifiziert wird,¹³¹⁴ würde dies Sanas Cormaic dem Ende des 9. oder dem Beginn des 10. Jahrhunderts zuweisen. Dieser Text enthält folgenden Eintrag zu Manannán: Manannan mac lir .i. cennaige amra bói aninis Manand. ise luam as deach boi aniarthar Eorpa. noḟindad tre nemgnacht (.i. gnathugud nime) inoiret nobíd insoinind 7 in do[i]nind 7 intan nosclæchlóbad cechtar don dá résin. inde Scoti et Brittones eum deum vocaverunt maris. et inde filium maris esse dixerunt .i. mac lir mac mara. et de nomine Manandan Inis Manand dictus est.¹³¹⁵ Manannán mac lir, das ist ein berühmter Kaufmann, der auf der Isle of Man lebte. Er ist der beste Steuermann, den es im Westen Europas gab. Er wusste durch Himmelskunde (d. h. Vertrautheit mit dem Himmel), wie lange das gute Wetter und das schlechte Wetter vorherrschen würde, und wann jede dieser zwei Zeiten sich ändern würde. Daher nannten die Iren und die Britannier ihn den Gott des Meeres. Und daher sagten sie, dass er der Sohn des Meeres sei, d. h.: mac lir heißt „Sohn des Meeres“. Und nach dem Namen „Manannán“ ist die Isle of Man benannt.
Manannán wird hier in klassischer Weise euhemerisiert: Er sei ein Kaufmann auf der Isle of Man gewesen, der mit dem Meer so vertraut war, dass die Iren und Britannier ihn einen Gott des Meeres nannten; seine Verbindung mit der Isle of Man wird dabei als so eng gezeichnet, dass selbst der Name Mans von Manannán abgeleitet sei. Festhalten lässt sich hier somit eine ungemein enge Assoziation Manannáns mit Man, die von der Lokalisierung seines Wohnortes auf Man bis zur Namensgebung der Insel reicht. Eine Andeutung von Manannáns Beheimatung auf der Isle of Man findet sich ferner möglicherweise im 11. Jahrhundert in Version A von Serglige Con Culainn.¹³¹⁶
1313 Russell 2006. Hgg. von Stokes 1862, S. 1–46. 1314 Russell 2006. 1315 Stokes 1862, S. 31. 1316 Vgl. Carey 2000 (1982/83), S. 117 (Anm. 21). Carey (ibidem) verweist auch auf im Osten gelegene Anderweltsinseln, die in der „Unterredung Colum Cilles und des jungen Mannes am Carn Eolairg“ angesprochen werden und wo sich eine unterirdische Anderwelt befindet (Meyer und Nutt 1899, S. 315–317). Die Beschreibung dieser Inseln erwähnt jedoch auch Asien (als ihre Lokalisierung?), was
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Als Fand und Cú Chulainn sich voneinander trennen, heißt es dort (§ 45, Z. 762 f.): „Manannán kam dann aus dem Osten, um nach dem Mädchen zu suchen“ (tánic íarom Manannán anair do ṡaigid na hingini). Dass Manannán hier gerade „aus dem Osten“ kommt, weist, von Irland aus betrachtet, in die Richtung der Isle of Man. Eine andere Stelle dieses Texts mag zudem die Identifikation der Anderwelt schöner Frauen mit dem Emain unterstreichen, das in Immram Brain als eine alternative Bezeichnung des Landes der Frauen verwendet wird (Immram Brain §§ 3, 19, 60): In Serglige Con Culainn § 32 [A] wird die Reiseroute beschrieben, auf der Lóeg zu Áed Abrat und seinen schönen Töchtern gelangt. Der letzte Ort, den Lóeg vor seiner Ankunft passiert, ist Óenach nEmna, der „Versammlungsplatz von Emain“ (Z. 456 f.). Hierbei mag es sich um dasselbe anderweltliche Emain handeln, das schon in Immram Brain bezeugt ist.¹³¹⁷ Und dies wiederum ist hier von Interesse, weil Emain mitunter ausdrücklich mit der Isle of Man identifiziert wird. Das vielleicht eindringlichste Zeugnis für die Identifizierung der Isle of Man mit dem anderweltlichen Emain, aus dem der Apfelbaumzweig von Immram Brain § 3 stammt, findet sich im Gedicht Baile suthach síth Emhna aus den Jahren um 1200.¹³¹⁸ Hierbei handelt es sich um ein irisches Preisgedicht auf Raghnall, König von Man (†1229), der das Königreich Man von den 1180er Jahren bis in die 1220er Jahre beherrschte, und von dem es in der Orkneyinga saga heißt (Kap. 110): „König Rǫgnvaldr war damals der größte Kriegsmann in den westlichen Ländern.“ (Rǫgnvaldr konungr var þá mestr hermaðr í Vestrlǫndum.)¹³¹⁹ Das Gedicht stellt Raghnall/Rǫgnvaldr als einen jungen Wikinger dar, von dessen Zukunft noch große Taten zu erwarten sind; dies legt nahe, dass es wohl in der ersten Hälfte seiner Herrschaft entstanden sein dürfte.¹³²⁰ Seine Abfassung in irischer Sprache entspricht dabei dem multikulturellen nordisch-gälischen Umfeld, in dem Raghnall/Rǫgnvaldr sich bewegte: Seine Familie war durch Heiraten eng mit gälischen Häusern verbunden, und zwei seiner Vorfahren waren Könige nicht nur über Man, sondern auch über Dublin.¹³²¹ Das Preisgedicht setzt mit einem Lobgesang auf die Isle of Man ein, der die ersten acht der insgesamt 49 Strophen des Gedichts einnimmt. Dabei wird von Emain und Emain Ablach („das apfelreiche Emain“) gesprochen und dieser Ort in stark anderweltlichen Farben gezeichnet:
andeuten mag, dass diese Stelle von christlichen Vorstellungen von der Lage des irdischen Paradieses beeinflusst sein könnte. Zur Datierung von Serglige Con Culainn siehe oben S. 325. 1317 Dillon 1953 (Serglige), S. 39 (Anm. zu Z. 457); vgl. Chotzen 1948, S. 266; Ó Mainnín 2013, S. 283. 1318 Ó Mainnín 2013, S. 266 f.; Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 66; Chotzen 1948, S. 267–269; Knott 1926, S. 215. Hgg. und übersetzt von Ó Cuív 1955–1957. 1319 Ó Cuív 1955–1957, S. 285. Hgg. von Finnbogi Guðmundsson 1965, S. 1–300, Zitat: S. 293. 1320 Ó Cuív 1955–1957, S. 283. 1321 Ó Cuív 1955–1957, S. 284; ausführlich zum historischen Hintergrund: ibidem S. 283–287. Ferner vgl. Chotzen 1948, S. 268.
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1. [B]aile suthach sīth Emhna, cruthach in chrīch a ttarla, rāith chaem os cinn cech dingna ’nab imdha craeb fhinn abhla.
Ein fruchtbarer Ort ist der Elfenhügel (síd) von Emain, schön das Land, wo er sich befindet, eine geliebte Burg, die jede Festung übertrifft, [und] wo viele lichte Zweige eines Apfelbaums sind.
4. Imdha ind Emain fhinn fhērúir d’fheruib ara sill saershūil, marcach eich duinn (go) dīghāir tre dhreich sīdāin chuirr chraebūir.
Viele Männer sind im lichten, frisch-grasigen Emain, auf die ein edles Auge blickt. Ein Reiter eines dunklen Pferdes ungestüm [reitend] durch die Oberfläche eines vorspringenden Elfenhügelchens voller frischer Zweige.
7. Emain Abhlach na n-ibor sleamain barrdhath a biledh, baili nua fan dub droighen ’nar hoiled Lugh ua in fhiledh.
Das apfelreiche Emain (Emain Ablach) von den Eiben, ebenmäßig ist die Farbe seiner Baumwipfel, ein schöner Ort, um den der Schwarzdorn schwarz ist, in dem Lug großgezogen wurde, der Nachkomme des Dichters.
8. Emain na n-aball cumra Teamair Mhanann cin mhebhla, as siat cuaine saer Sadbha abhla craebh n-uaine nEamhna.¹³²²
Emain von den duftenden Apfelbäumen, Tara von Man ohne Täuschungen, sie sind die edle Nachkommenschaft der Sadb, Emains Apfelbäume von grünen Zweigen.
Die Rede ist hier nicht von der Insel als ganzer, sondern spezifisch von Raghnalls Sitz und Machtzentrum;¹³²³ dies geht deutlich aus Str. 8 hervor, wo das „Emain der duftenden Apfelbäume“ als „Tara von Man“ bezeichnet wird, d. h. als Sitz der zentralen Königsmacht von Man (das irische Tara ist der traditionelle Sitz der Macht des irischen Hochkönigs).¹³²⁴ Dieser Ort und das ihn umgebende Land werden in farbigen, lichtbetonten Bildern für ihre Schönheit, Lieblichkeit und Fruchtbarkeit gepriesen. Gerade die Assoziation Emains mit Apfelbäumen wird dabei immer wieder betont – allein in den hier zitierten vier Strophen erscheint das Motiv der Apfelbäume Emains dreimal. Das dritte Hauptmotiv, das neben der Fruchtbarkeit und der Apfelassoziation Emains im Zentrum dieses dichterischen Lobpreises steht, ist der stark anderweltliche Charakter des Ortes.¹³²⁵ Gleich der erste Vers des Gedichts bezeichnet ihn als síd, einen Ort der Anderwelt. Oben wurde dies übersetzt mit „Elfenhügel“, was die konventionelle
1322 Ó Cuív 1955–1957, S. 288 f. 1323 Chotzen 1948, S. 268. 1324 Dobbs 1930, S. 230 (Anm. 13) lokalisiert dieses Emain Ablach an der Westküste von Man, nahe Peel. – Die Identität der Sadb, die in dieser Strophe als Stammmutter des herrschenden Geschlechts von Man erscheint, ist unklar: Ó Cuív 1955–1957, S. 299 (Anm. zu 8c). Insgesamt scheint die Strophe Raghnalls Haus zu preisen, indem sie die Mitglieder seiner Familie mit den prächtigen anderweltlichen Apfelbäumen von Emain vergleicht. 1325 Allgemein zur Verbindung königlicher Zentren mit der Anderwelt vgl. Carey 1987 (Time), S. 4–6.
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Übersetzung darstellt, da ein síd in der irischen Literatur häufig – wenngleich keineswegs immer – in einem prähistorischen Grabhügel angesiedelt wird. Auch im Kontext des Preisgedichts auf Raghnall hat diese Übersetzung ihre Berechtigung, da in Str. 4 von einem Reiter die Rede ist, der die „Oberfläche eines vorspringenden Elfenhügelchens“ als einen Durchgang zwischen Menschenwelt und Anderwelt benutzt; dass das „Elfenhügelchen“ (sídán) als „vorspringend“ (corr) bezeichnet wird, macht deutlich, dass der Dichter es sich als einen Hügel vorstellt, der sich über das Umland erhebt. Die Anderwelt, mit der Emain gleichgesetzt wird, erhält in Str. 7 besonders ruhmreiche Konnotationen: Dort wird das „apfelreiche Emain“ (Emain Ablach) als der Ort bezeichnet, an dem Lug großgezogen wurde.¹³²⁶ Lug ist eine der prominentesten Gestalten der irischen Anderwelt und wird durchgehend positiv als eine heroische Figur charakterisiert; einer seiner berühmtesten Auftritte findet sich in der „Zweiten Schlacht von Mag Tuired“ (Cath Maige Tuired),¹³²⁷ wo er im Krieg der Túatha Dé Danann gegen die Fomoire eine rettende Rolle als Krieger und Heerführer spielt (was vermuten lässt, dass der Verweis auf Lug einen impliziten Verweis auf Raghnalls eigene Kriegstüchtigkeit darstellt). Mit einer weiteren anderweltlichen Figur wird das Emain von Man einige Strophen später verbunden: In Str. 11 wird es als „Emain des Sohns des Ler des Sohns des Midir“ (Emhain mheic Lir m[e]ic Mhighir) bezeichnet. Da Manannán der „Sohn des Ler“ (mac Lir) ist, hat Th. M. Th. Chotzen vermutet, dass sich dieser Vers auf Manannán bezieht.¹³²⁸ In Anbetracht von Manannáns auch ansonsten starker Assoziation mit Man spricht einiges für diese Annahme, wenngleich anzumerken ist, dass der Vater des Lir für gewöhnlich nicht angegeben wird.¹³²⁹ Die Gleichsetzung von Anderwelt und Isle of Man wird im Preisgedicht auf Raghnall so weit durchgeführt, dass Eingänge zur Anderwelt als Zugänge zu Raghnalls Territorium erscheinen. In Str. 15 f. spricht der Dichter den König an:
1326 Für (spätere, frühneuirische) Belege für die Vorstellung, dass Lug mit Emain Ablach verbunden ist, vgl. Ó Mainnín 2013, S. 261 f. (Anm. 31), 267 f.; Ó Cuív 1950–1954, S. 64; Ó Cuív 1955–1957, S. 298 (Anm. 1); Str. 3 f. in Tuathal Ó hUiginns Elegie auf Niall Garbh Ó Domhnaill (gest. 1439; hgg. und übersetzt von McKenna 1939–1940 Bd. 1, S. 89–93, Bd. 2, S. 54–56). Belege, die vor dem 12. Jahrhundert datieren würden, sind mir nicht bekannt geworden (vgl., ebenfalls ohne frühere Belege, Ó Mainnín 2013; Ó Cuív 1950–1954, S. 65 f.). 1327 Hgg. und übersetzt von Gray 1982. 1328 Chotzen 1948, S. 268. 1329 Das Konzept eines „Vaters des Ler“ ist vermutlich nicht ursprünglich, da es sich bei mac Lir wohl nicht um ein Patronym „Sohn des Ler“ handelt; vielmehr dürfte mac Lir als „Sohn der See“ zu übersetzen sein und (ohne dabei irgendwelche genealogischen Implikationen zu haben) einen Ausdruck von Manannáns enger Verbindung mit dem Meer darstellen: Vendryes 1952–1954, S. 247–249, vgl. DIL s.v. ‚1 ler‘.
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15. Doirsi t’fherainn as imdha, soillsi ináit sreabhainn ghorma, is dīb, a chraebh chuain Emna, uaim Ferna, uaim chaem Cnoghdha.
Die Eingänge deines Landes sind zahlreich, sie sind leuchtender als blaue Häute; zu ihnen gehören, du Zweig des Hafens von Emain, die Höhle von Fern, die schöne Höhle von Cnogda.
16. Do-raghainn-si can raluing isin Manaind-si molaim, cu mbeind tuaidh re taeibh t’fheraind dá leanainn uaim caeim Coraind.¹³³⁰
Ich würde ohne ein großes Schiff auf dieses Man kommen, das ich preise, so dass ich an der Seite deines Landes im Norden wäre, wenn ich der schönen Höhle von Corann folgen würde.
In diesen beiden Strophen werden drei „Höhlen“ genannt, die als Zugänge zur Isle of Man dienen können; durchschreitet man eine dieser „Höhlen“, so kann man Man erreichen, ohne ein Schiff zu benötigen. Das hier verwendete Wort úaim bezeichnet in der erzählenden Literatur oft „Höhlen“, die einen Zugang zur Anderwelt darstellen (wie etwa im Fall der „Höhle von Crúachain“, uaim Cruachaon, durch die Nera in Echtra Nerai einer anderweltlichen Heerschar in die Anderwelt folgt: Echtra Nerai § 6);¹³³¹ im Preisgedicht auf Raghnall wird der Begriff offenkundig ebenfalls im Sinne eines anderweltlichen Durchgangs verwendet. Das Phänomen, dass ein Reisender die Anderwelt an einem Punkt der menschlichen Geographie betreten und sie an einem gänzlich anderen Punkt wieder verlassen kann, hatte im Vorangehenden bereits eine wesentliche Rolle in der Erzählung Tochmarc Becḟola gespielt; das Preisgedicht auf Raghnall greift hier auf ein grundsätzlich gut etabliertes Anderweltsmotiv zurück.¹³³² Weniger gut etabliert und möglicherweise nur hier bezeugt ist die spezifische Höhle, die dem Dichter in Str. 16 das Schiff ersetzen soll: die uaim Coraind.¹³³³ Dies bedeutet jedoch nicht, dass diese Höhle nicht existierte: Gerade im Kontext eines Preisgedichts (d. h. einer Literaturgattung, die prinzipiell auf die Realität Bezug nimmt bzw. darauf Bezug zu nehmen vorgibt) ist anzunehmen, dass sich der Dichter hier auf einen Ort der realen Geographie bezieht, auch wenn dieser Ort heute nicht mehr lokalisierbar und anderweitig nicht bezeugt ist. Hierfür spricht auch die Analogie zu den beiden Höhlen in Str. 15, die beide auch außerhalb des Preisgedichts auf Raghnall belegt sind. Die úaim Ferna war im Territorium der Corcu Ui Duibne lokalisiert;¹³³⁴ in den Triaden von Irland (Nr. 42)¹³³⁵ erscheint sie ferner als einer der „drei dunklen Orte Irlands“ (trí dorcha Hérenn): úam Chnogba, úam Slángæ, dercc Ferna, „die Höhle von
1330 Ó Cuív 1955–1957, S. 290 f. 1331 Hgg. und übersetzt von Meyer 1889. 1332 Allgemein zu diesem Phänomen vgl. Carey 1987 (Time), S. 2–4. 1333 Dem Onomasticon Goedelicum ist sie unbekannt, vgl. Hogan 1910, S. 659. 1334 Hogan 1910, S. 659, s.v. ‚uaimh dorcha fearrna‘ (in iarthar Chorca Ui Duibhne). 1335 Hgg. und übersetzt von Meyer 1906. Meyer datiert die Triaden in die 2. Hälfte des 9. Jahrhunderts: Meyer 1906, S. x f.
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Cnogba, die Höhle von Sláne, das Loch von Fern“. Eine uaim Cnoghdha, wie sie am Ende von Str. 15 genannt wird, ist östlich von Clonmacnoise bezeugt.¹³³⁶ Bezüglich der uaim Cnoghdha ist dabei jedoch auch die Möglichkeit zu berücksichtigen, dass hier statt der relativ obskuren Höhle von Cnogda die weit berühmtere Höhle von Cnodba gemeint sein könnte;¹³³⁷ dem letzten Herausgeber des Gedichts lagen zwei Handschriften vor,¹³³⁸ deren jüngere an dieser Stelle entsprechend chnodhbha liest.¹³³⁹ In diesem Fall würden die zwei in Str. 15 genannten Höhlen beide in der Triade der „drei dunklen Orte Irlands“ wiederkehren. Dies mag auf direkter literarischer Entlehnung beruhen und soll möglicherweise andeuten, dass die Anderweltspforten, die nach Man führen, wichtige Anderweltspforten sind. Damit mag dieses potentielle Zitat nochmals die Bedeutung der Isle of Man unterstreichen. Die Isle of Man erscheint im Preisgedicht auf Raghnall somit als ein paradiesisch schöner und fruchtbarer, von Apfelbäumen geprägter und eng mit der Anderwelt verbundener Ort. Dieser paradiesisch-anderweltliche Charakter wird dabei zumeist in Bildern geschildert, die der vorchristlichen Mythologie Irlands entnommen zu sein scheinen. Dies wird jedoch nicht mit letzter Konsequenz durchgehalten. Einmal mischt sich das christliche Paradies unter die ansonsten dominierenden Bilder eines anderweltlich-heidnischen Paradieses, wenn der Dichter Raghnall mit folgenden Worten anspricht (Str. 42.c-d): „der Wind des Ortes Paradies [...] hat die Heide deines Haars gefunden“ (=hat dir das Haar zerzaust: ar fraech h’fhuilt [...] | do ermais gaeth phuirt Pharrdhais).¹³⁴⁰ Wie bereits in Immram Brain wiederholt deutlich wurde, scheint auch hier zwischen der paradiesischen Anderwelt der irischen Vorgeschichte und dem christlichen Paradies keine unüberwindbare Kluft zu liegen. Die Schilderung des Emain der Isle of Man steht in der unmittelbaren Tradition – sei diese Tradition nun mündlich-folkloristisch oder literarisch – der paradiesischen Anderweltsinsel der Äpfel, wie sie bereits vier Jahrhunderte zuvor in Immram Brain erscheint, wenn die anderweltliche Frau dort in der Halle Brans spricht (§ 3): Cróeb dind abaill a hEmain, do-fet samail do gnáthaib, gésci findarc(a)it forra abrait glana co mbláthaib.¹³⁴¹
1336 Hogan 1910, S. 659, s.v. ‚uaimh cnogda‘. 1337 Vgl. MacKillop 2004, S. 287. 1338 Ó Cuív 1955–1957, S. 283. 1339 Ó Cuív 1955–1957, S. 290 (var. lect. zu 15d). Eine Verwechslung zwischen Cnogda und Cnodba wird dadurch erleichtert, dass die beiden Frikative, die durch g und d repräsentiert werden, ab der mittelirischen Zeit zusammenfallen. 1340 Ó Cuív 1955–1957, S. 296. 1341 Text: Mac Mathúna 1985, S. 33.
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Ein Zweig vom Apfelbaum aus Emain, seinesgleichen hat Vorrang(?) vor denen, die man kennt; auf ihm sind Zweiglein aus weißem Silber, Wimpern von Kristall mit Blüten.
Diese Assoziation zwischen Anderweltsinsel und Apfelbäumen, wie sie in Immram Brain, dem Preisgedicht auf Raghnall und anderen oben besprochenen Texten aufscheint, führt in der späteren Literatur dazu, dass Emain mit dem feststehenden Epithet ablach („apfelreich“) verbunden werden und somit als Emain Ablach erscheinen kann. Im Preisgedicht auf Raghnall erscheint die Bezeichnung Emain Ablach zweimal (Str. 2, 7). Weitere Belege finden sich in der spätmittelirischen¹³⁴² Erzählung Altram Tige Dá Medar, „die Pflegschaft des Hauses der zwei Milchkannen“.¹³⁴³ Dort erscheint Emain Ablach mehrfach als schöner Wohnort Manannáns, der im ‚Land der Verheißung‘ (Tir Tarrngaire) liegt oder mit dem ‚Land der Verheißung‘ gleichzusetzen ist (§§ 2, 4, 8, 9).¹³⁴⁴ Dieser Text enthält jedoch keinen über jeden textkritischen Zweifel erhabenen Beleg dafür, dass es sich bei Emain Ablach um eine Insel oder einen Ort auf einer Insel handeln würde.¹³⁴⁵ Zudem wird zwischen Emain Ablach und dem ‚Land der Verheißung‘ auf der einen Seite und dem christlichen Paradies auf der anderen ein ungewöhnlicher Gegensatz aufgebaut. Die Geschichte erzählt, wie ein anderweltliches Mädchen durch eine andere anderweltliche Figur beleidigt wird und infolgedessen von ihrem „Schutzdämon“ (a deman comuidechta: § 8) verlassen wird. Ein Schutzengel tritt an die Stelle dieses Dämons, und von nun an ist das Mädchen nicht mehr dazu fähig, die Speisen der Elfenwelt – einschließlich Emain Ablachs und des ‚Landes der Verheißung‘ – zu sich zu nehmen. Stattdessen muss sie mit der Milch einer Kuh vorlieb nehmen, die aus einem gerechten Land (a tir firen) stammt, nämlich Indien (.i. an India) (§ 8 et passim). Für die Geschichte des irdischen Paradieses in Nordwesteuropa ist dies von doppeltem Interesse: Einerseits dürfte die Herkunft der
1342 MacKillop 2004, S. 13. 1343 Hgg. und übersetzt von Duncan 1932; Dobbs 1930 (wozu vgl. die Kritik bei Duncan 1932, S. 184– 186). 1344 Chotzen 1948, S. 267. Der Begriff Tír tairngiri, „Land der Verheißung“, wird in der irischen Literatur in zwei Bedeutungen verwendet: Einerseits bezeichnet er im Sinne der (und wohl als Übersetzung von) terra repromissionis christliche Gefilde der Verheißung (vgl. etwa oben S. 286); andererseits ist er ein häufig gebrauchter Terminus für die irische Anderwelt (wie in diesem Beleg, wo er das Land Manannáns bezeichnet). Damit illustriert er in ähnlicher Weise wie etwa auch der Begriff des „Landes der Lebenden“ (Tír na m-béo, siehe oben S. 270 ff.) die Verschmelzung christlicher und einheimischirischer Anderwelts- bzw. Paradiesvorstellungen. Für eine ausführlichere Diskussion des Begriffs Tír tairngiri vgl. etwa Maier 2005 (Roman), S. 43; Ó Cathasaigh 1977–1979, S. 149; Dumville 1976, S. 80–82; Bieler 2000 (1976), S. 91; Carney 2000 (1963), S. 47; de Vries 1961 (Religion), S. 258 (mit Anm. 30); van Hamel 1930, S. 360; MacCulloch 1911, S. 389; Plummer 1910 Bd. 1, S. clxxxii f. 1345 In Dobbs’ Text erscheint die Isle of Man ausdrücklich in § 9 (Dobbs 1930, S. 212/213, vgl. S. 191); die entsprechende Leseweise wird jedoch überzeugend abgelehnt von Duncan 1932, S. 185, 197, 217.
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Kuh aus Indien eine Anspielung auf die zeitgenössisch gängige Lokalisierung des irdischen Paradieses in einem Land im Osten und damit in der Nähe Indiens darstellen; schon Isidor lokalisiert das irdische Paradies im Orient und wendet sich in seinen Etymologiae XIV.3 der Beschreibung Indiens in unmittelbarem Anschluss an die Beschreibung des irdischen Paradieses zu.¹³⁴⁶ Andererseits fällt hier auf, dass das ‚Land der Verheißung‘ trotz seines christlichen Namens als eine ganz heidnische und aus christlicher Sicht verdammungswürdige Anderwelt aufgefasst wird. Es entbehrt nicht einer gewissen Ironie, dass eine Anderweltsfrau im ‚Land der Verheißung‘ von einer Kuh ernährt werden muss, die aus der Nachbarschaft des irdischen Paradieses importiert worden ist, wenn man bedenkt, wie sehr ‚Land der Verheißung‘, terra repromissionis und irdisches Paradies anderswo bruchlos ineinander fließen. Belege für Emain Ablach finden sich ferner in mehreren frühneuirischen Gedichten:¹³⁴⁷ so in einem Preisgedicht aus den Jahren um 1300, das ein von Hugh O’Conor errichtetes Haus besingt (dort Str. 20);¹³⁴⁸ und in einem Preisgedicht auf ein Weihnachtsfest, das im Jahr 1351 abgehalten wurde und von einem der Gäste noch vor seiner Heimreise verfasst worden ist (dort Str. 18 [Z. 72]).¹³⁴⁹ In beiden Belegen wird Emain Ablach herangezogen, um die Pracht eines Gebäudes zu illustrieren; geographische Angaben zur Lage von Emain Ablach finden sich hier jedoch nicht. In einer Elegie auf den Tod von Niall Garbh Ó Domhnaill (gest. 1439) wird Emain Ablach erneut ausdrücklich mit der Isle of Man und als Insel des Manannán identifiziert (bes. Str. 1–5, 7).¹³⁵⁰
Arran im Firth of Clyde Die Verbindung von Emain Ablach mit der Isle of Man ist die dominierende Form der Lokalisierung des anderweltlichen Apfellandes. Sie steht jedoch nicht allein.¹³⁵¹ Die expliziteste – aber vielsagenderweise nur unter mehrfachem Vorbehalt vorgebrachte – Alternative findet sich in der Erzählung „das Werben um Luaine“ (Tochmarc Luaine).¹³⁵² Dieser Text, den Liam Breatnach aus sprachlichen Gründen in die
1346 Siehe oben S. 49. Vgl. auch die grob zeitgenössische mappa mundi von Hereford (Abb. 2; vgl. oben Anm. 191). 1347 Ó Cuív 1955–1957, S. 298. Für noch nicht edierte Handschriftenbelege vgl. ibidem. Für weiteres spätes Material vgl. Ó Mainnín 2013, S. 261, 263, 267–269. 1348 Hgg. und übersetzt von Quiggin 1913; zur Datierung vgl. ibidem S. 333. 1349 Ó Mainnín 2013, S. 267; hgg. und übersetzt von Knott und Ó Dálaigh 1911. 1350 Ó Mainnín 2013, S. 268; Ó Cuív 1955–1957, S. 298; hgg. und übersetzt von McKenna 1939–1940 Bd. 1, S. 89–93, Bd. 2, S. 54–56. 1351 Vgl. Hogan 1910, S. 396 (s.v. ‚emain abhlach‘, ‚emain ablach‘, ‚emain mic lir mic uighir‘); Chotzen 1948, S. 267–269; Bullock-Davies 1969, S. 137; Birkhan 1997, S. 681. 1352 Ó Mainnín 2013, S. 264 f.; Birkhan 1997, S. 681; Chotzen 1948, S. 267; vgl. Vendryes 1952–1954, S. 239–241. Hgg. und übersetzt von Stokes 1903; hgg. von Breatnach 1980 (mit identischer Paragrapheneinteilung). Textzitate folgen Breatnach 1980.
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2. Hälfte des 12. Jahrhunderts datiert,¹³⁵³ erzählt die Geschichte vom Tod der schönen Luaine durch den Dichter Athirne und von der Rache, die die Männer von Ulster hierfür nehmen. An einer Stelle enthält dieser Text einen Exkurs über vier Männer namens Manannán, der nichts zur Handlung der Geschichte beiträgt und von Whitley Stokes als Interpolation gedeutet wurde (§§ 6–10).¹³⁵⁴ Diese vier Manannán werden folgendermaßen beschrieben: 1.
Manannán mac Athgno, „König von Man und der Inseln der Ausländer“ (rí Manand 7 Insi Gall). Dieser Manannán sucht die Männer von Ulster mit einer gewaltigen Flotte heim. (§§ 6, 10.) 2. Manannán mac Allóit, ein Zauberer der Túatha Dé Danann, der zur Zeit der Túatha Dé Danann wirkte. „Er ist der Manannán, der auf Arran wohnte, und es ist mit Hinblick auf ihn, dass es Emain Ablach genannt wird“ (is é in Manandán sin ro baí a nAraind 7 as fria side adberar Eamain Ablach). (§ 7.) 3. Manannán mac Cirp, „König der Inseln und Mans“ (rí na nIndsi 7 Manann): „er ist es, der Tuag, die Tochter von Conall Collamair [...] freite, und es ist nach ihr, dass Tuag Inbir benannt ist“ (is é do-rigne tochmarc Tuaide ingine Conaill Collamrach [...], 7 is uaidi ainmnigther Tuagh Inbir). (§ 8.) 4. Manannán mac Lir („Sohn der See“), wie er im oben zitierten Eintrag in Cormacs Glossar beschrieben wird;¹³⁵⁵ dieser Glossareintrag wurde vom Verfasser der Passage von Tochmac Luaine offenbar direkt herangezogen. (§ 9.) Abgesehen von der Vervierfachung und Euhemerisierung Manannáns fällt an dieser Passage auf, dass drei dieser Manannán mit der Isle of Man und dem Königreich der Inseln verbunden werden (1, 3, 4), während einer auf Arran lokalisiert und dieses Arran mit Emain Ablach identifiziert wird (2). Damit stellt Tochmarc Luaine einerseits eine Bestätigung der grundlegenden Assoziation Manannáns mit der Isle of Man dar, erweitert diese Assoziation jedoch andererseits zugleich um eine Variante, die Manannán mit Arran verbindet – wobei nicht übersehen werde sollte, dass auch Arran im Firth of Clyde (wenngleich abhängig von der jeweiligen politischen Großwetterlage) einen Teil des Königreichs der Inseln bildete.¹³⁵⁶ Kuno Meyer vermutete allerdings, dass es sich beim Arran von Tochmarc Luaine nicht um Arran im Firth of Clyde, sondern um die Aran Islands in der Galway Bay handelt;¹³⁵⁷ der Grund für diese Interpretation (den Meyer allerdings nicht expli-
1353 Breatnach 1980, S. 4–6. Thurneysen wies den Text dem Anfang des 13. Jahrhunderts zu: Thurneysen 1921, S. 669. 1354 Stokes 1903, S. 271. Zu Parallelen zu diesem Textabschnitt vgl. Breatnach 1980, S. 3 f.; Thurneysen 1921, S. 516 (Anm. 3). 1355 Siehe oben S. 342. 1356 Vgl. McDonald 2008, S. 56 (das Königreich der Inseln wurde im Jahr 1156 zweigeteilt). 1357 Meyer 1912 (Pokorny), S. 194.
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zit macht) dürfte in einem Detail von Tochmarc Luaine zu suchen sein: Dieser Text berichtet vom Tod des Manannán mac Allóit und der darauf folgenden Bestattung, dass Manannáns Begräbnis zur Entstehung des Loch nOirbsen führte (§ 7), den Stokes mit dem heutigen Lough Corrib im County Galway (ganz in der Nähe der Aran Islands) identifiziert.¹³⁵⁸ Eine explizite Verbindung zwischen Manannáns Bestattung und der Lage seiner Insel wird jedoch vom Text selbst nicht hergestellt, so dass die Gleichsetzung der Insel Arran von Tochmarc Luaine mit den Aran Islands ausgesprochen unsicher bleiben muss.¹³⁵⁹ Einen klareren Hinweis darauf, mit welchem Arran das Arran Manannáns zu identifizieren ist, dürfte der mittelirische dinnṡenchas von Tuag Inbir geben (wenngleich Tuag Inbir in Tochmarc Luine ironischerweise gerade mit einem Manannán verbunden ist, der als König von Man beschrieben wird). Bei Tuag Inbir handelt es sich um das Mündungsgebiet der Bann an der Nordostspitze Irlands.¹³⁶⁰ Der dinnṡenchas von Tuag Inbir leitet den Namen dieser Flussmündung von Tuag, der Tochter von Conall Collamair, her; dieses Mädchen sei hier ertrunken, als einer von Manannáns Gefolgsleuten (oder Manannán selbst) sie zu Manannán ins „Land der langlebenden Frauen“ (Tír Ban Suthain)¹³⁶¹ zu bringen versuchte.¹³⁶² Die Bezeichnung von Manannáns Land als „Land der langlebenden Frauen“ findet sich in allen Prosaversionen dieses dinnṡenchas’, die gedruckt vorliegen;¹³⁶³ sie unterstreicht nochmals die Verbindung Manannáns mit dem Land der Frauen und die Verbindung des Landes der Frauen mit dem Unsterblichkeitsmotiv. Hier von noch größerem Interesse sind jedoch die geographischen Angaben, die sich in der metrischen Fassung dieses dinnṡenchas’ im Buch von Leinster finden, einer Handschrift des 12. Jahrhunderts; dort heißt es über die Lage von Manannáns Wohnstatt (Str. 6):
1358 Stokes 1903, S. 275 (Anm. 2). 1359 Ablehnend vgl. schon Knott 1926, S. 215, die eine Identifizierung dieser Insel mit Arran im Firth of Clyde für wahrscheinlicher hält (vgl. die folgende Diskussion). 1360 Stokes 1894–1895, dort Revue Celtique 16 (1895), S. 153. 1361 Die primäre Bedeutung des Adjektivs suthain ist „ewig“; wenn es auf Personen bezogen ist, wird es jedoch im Sinne von „langlebig“ verwendet: DIL s.v. ‚suthain‘. 1362 Prosafassungen: Bodleian Dinnṡenchas: Stokes 1892, dort § 46 (S. 509–511); Rennes Dinnṡenchas: Stokes 1894–1895, dort § 141 (=Revue Celtique 16 [1895], S. 150–153). Metrische Fassung: Gwynn 1903–1935 Bd. 4, S. 58–69. Teilweise überliefert ist der dinnṡenchas von Tuag Inbir auch im (unvollständig erhaltenen) Edinburgh Dinnṡenchas; jedoch ist dieser Abschnitt in Stokes’ Teilausgabe nicht abgedruckt (Stokes 1893 [Dinnṡenchas], S. 472). Allgemein zur Datierung der dinnṡenchas-Sammlung (12. Jahrhundert) vgl. Mac Eoin 2006, S. 1002. 1363 Bodleian Dinnṡenchas und die Fassung im Book of Ballymote: Stokes 1892, dort S. 509, 511; Rennes Dinnṡenchas: Stokes 1894–1895, dort Revue Celtique 16 (1895), S. 151.
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Cartais Manannán mac Lir techta úad dia hindsaigid otá tech Manannáin múaid fri Túaig Inbir anairthuaid.¹³⁶⁴ Manannán mac Lir sandte Boten aus, um sie aufzusuchen, von dort, wo das Haus des edlen Manannán ist, nach Tuag Inbir aus dem Nordosten.
Der Umstand, dass Manannáns Boten sich „aus dem Nordosten“ (anairtúaid) zur Mündung der Bann aufmachen, ist – wenn man dieser Richtungsangabe irgendeine Bedeutung beimessen will – mit einer Lokalisierung von Manannáns Wohnsitz auf der Isle of Man unvereinbar, da sich die Isle of Man nicht im Nordosten, sondern im Südosten von Tuag Inbir befindet. Noch weniger ließe sich diese Angabe mit einer Lokalisierung von Manannáns Wohnsitz auf den Aran Islands vor der irischen Westküste vereinbaren. Im Nordosten von Tuag Inbir liegt jedoch die Insel Arran im Firth of Clyde, was darauf hindeutet, dass der Dichter des metrischen dinnṡenchas’ von Tuag Inbir Manannáns Sitz mit dieser Insel identifizierte. Damit stellt dieser dinnṡenchas einen bedeutenden Hinweis auf eine Verbindung des Landes der Frauen mit Arran im Firth of Clyde dar, der sich wohl auch auf die Lokalisierung des Arran von Tochmarc Luine übertragen lässt. Die Identifizierung von Emain Ablach und dem ‚Land der langlebenden Frauen‘ mit Arran ist im Vergleich zu Manannáns Assoziation mit der Isle of Man sowohl selten als auch spät; letztere ist schon um 900 mit dem Eintrag zu Manannán in Cormacs Glossar fassbar, während eine Verbindung mit Arran erst im metrischen dinnṡenchas von Tuag Inbir zum ersten Mal klar belegt ist. Hier scheint es sich somit um eine sekundäre Übertragung der anderweltlichen Konnotationen von Man auf Arran zu handeln. Was diese Übertragung motiviert haben könnte, ist heute nicht mehr fassbar. Ein vielleicht vergleichbarer Fall findet sich im Buch von Leinster für das Ziel von Cú Chulainns Expedition gegen die Fir Fálgæ. In Forfess Fer Fálgae wurde das Land der Fir Fálgæ mit der Isle of Man identifiziert.¹³⁶⁵ Der Prosa-dinnṡenchas von Findglas greift den Fir Fálgæ-Stoff auf, um den Bachnamen Findglas („Weißbach“) zu erklären; zur Erwähnung der Fir Fálgæ in diesem dinnṡenchas fügt ein Glossator kommentierend hinzu: .i. Inse Gall indiu, „d. h. heute: die Hebriden“.¹³⁶⁶ Auch hier wird versucht, den mythischen Ort mit einem Ort der realweltlichen Geographie zu verbinden, ohne dass diese Verbindung jedoch unter konsequentem Rückgriff auf frühere
1364 Text: Gwynn 1903–1935 Bd. 4, S. 58. 1365 Siehe oben S. 339. 1366 Best et al. 1954–1983 Bd. 3, S. 755, Glosse zu Z. 22494; Thurneysen 1921, S. 437 (Anm. 1); Stokes 1894–1895, Revue Celtique 15 (1894), S. 449; O’Grady 1892 Bd. 2, S. 482, 530.
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Lokalisierungen geschehen würde. Der einzige gemeinsame Nenner der Inseln, die in diese verschiedenen Identifikationen mit einbezogen werden (Man, Arran und die Hebriden) scheint ihre Zugehörigkeit zum Königreich von Man und den Inseln zu sein.¹³⁶⁷ Ob dies jedoch signifikant ist oder auf Zufall beruht, muss dahingestellt bleiben. Als kleiner Ausblick, der mehr Fragen aufwirft als beantwortet, sei schließlich noch die Insel des Caire Cendfinne erwähnt. Das Lebor Gabála Érenn gibt an einer Stelle eine Liste der wundersamen Gaben, die Lug als Wergeld für den Tod seines Vaters empfing; in dieser Liste, die wohl nicht später als das 12. Jahrhundert sein dürfte,¹³⁶⁸ finden sich auch folgende zwei Einträge (Lebor Gabála § 319):¹³⁶⁹ ui. Ocus fāillsiugad indse Caire Cendfinne fuil fo dīchil etir Ērind 7 Albain. uii. Ocus mess na habla fuil fō muir hi fāil na hindsi sin.¹³⁷⁰ 6. Und Enthüllung der Insel des Caire Cendfinne, die zwischen Irland und Schottland verborgen ist. 7. Und die Ernte der Äpfel, die unter dem Meer in der Nähe dieser Insel ist.
Trotz ihrer enigmatischen Kürze enthält diese Stelle die folgenden Informationen: Zwischen Irland und Schottland befindet sich eine Insel, die in mythischer Vorzeit verborgen war, dann aber enthüllt wurde; bei dieser Insel liegen unterseeische Apfelhaine, deren Ernte ein Wergeld darstellt, das des Vaters eines Gottes würdig ist. Die unterseeische Lokalisierung dieser Apfelhaine weist sie dabei eindeutig als anderweltlich aus – man erinnere sich an die unterseeische Anderwelt, die schon in Immram Brain erwähnt wird und auch dort einen Wald von fruchttragenden Bäumen enthält –,¹³⁷¹ und ihre Lokalisierung zwischen Irland und Schottland erinnert auffallend an die Identifizierungen Emain Ablachs mit der Isle of Man und mit Arran im Firth of Clyde. Ein Zusammenhang der unterseeischen Apfelhaine bei der Insel des Caire Cendfinne mit der „Apfelinsel“ Emain Ablach ist somit überaus naheliegend;
1367 Vgl. Chotzen 1948, S. 268; McDonald 2008, S. 56. 1368 Die einschlägige Textstelle gehört zu Scowcrofts „Recension m“ des Lebor Gabála (Scowcroft 1987, S. 141), deren älteste erhaltene Handschrift aus dem 12. Jahrhundert stammt (Scowcroft 1987, S. 87). Allerdings ist anzumerken, dass diese Handschrift unvollständig ist und die oben zitierte Stelle nicht enthält (vgl. Scowcroft 1987, S. 87). Vgl. zur Datierung ferner Thurneysen 1918, S. 243. Nur eine ungefähre Entsprechung zur hier zitierten Prosa findet sich in einer poetischen Fassung, die nach Thurneysen jedoch ohnehin nicht älter ist als das frühe 12. oder 11. Jahrhundert: Thurneysen 1918, S. 243, 246, 249 (Str. 16). 1369 Hgg. und übersetzt von Macalister 1938–1956, vgl. Ó Riain 2009. Einzeln herausgegeben und übersetzt wurde die einschlägige Episode von Thurneysen 1918. Mit späterem Vergleichsmaterial zur Stelle vgl. Ó Mainnín 2013, S. 261 (Anm. 28). 1370 Text: Macalister 1938–1956 Bd. 4, S. 136. Vgl. Thurneysen 1918, S. 244 (§ I). 1371 Siehe oben S. 268, 302.
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worin genau dieser Zusammenhang besteht, dürfte sich jedoch kaum mehr bestimmen lassen.¹³⁷²
Tech Duinn Die bisherige Diskussion irischer Anderweltsinseln hat sich mit Inseln der Unsterblichkeit befasst;¹³⁷³ schließen soll die Besprechung der realweltlichen Lokalisierung von Anderweltsinseln jedoch mit einem kurzen Ausblick auf eine Toteninsel. Bei der Behandlung der Insel Avalon der arthurischen Literatur im vorangegangenen Kapitel ist darauf hingewiesen worden, dass Avalon, wie das Land der Frauen von Immram Brain, eine Insel der Unsterblichkeit ist – aber auch als eine Insel erscheinen kann, wo Arthur und Guinevere bestattet werden und wo verschiedene tote Helden wohnen, so dass Avalon im Zuge der literarischen Entwicklung mitunter Züge einer Toteninsel annimmt. Diese Entwicklung Avalons zum insularen Königsfriedhof und zur Jenseitsinsel war dabei im Rahmen der arthurischen Literatur deutlich sekundär. Eine ähnliche Ambivalenz zwischen Land der Lebenden und Totenreich war zuvor jedoch auch in der altnordischen Literatur fassbar geworden, wobei sich dort nicht empirisch entscheiden ließ, inwieweit dieser Zug als sekundär anzusehen ist: Dort lokalisieren die Gesta Danorum das Land des Guthmundus in der unmittelbaren Nachbarschaft eines Landes der Toten, nämlich des Landes der Ungeheuer und des Landes des Geruthus, dessen Wohnsitz dem Inneren eines Grabhügels gleicht. Auch ein Totenreich jenseits des Meeres, eine Toteninsel, mag für das Thema der Inseln der Unsterblichkeit somit eine gewisse Relevanz haben.¹³⁷⁴ In Irland ist eine solche Toteninsel in Form des Tech Duinn bezeugt, des „Hauses des Donn“.¹³⁷⁵ Donn, der „Dunkle“, erscheint in Lebor Gabála Érenn, dem „Buch der Eroberung Irlands“, als einer der Anführer der Gälen bei ihrer Einwanderung nach Irland; er ertrinkt jedoch mit einigen seiner Gefährten, ehe er sich in Irland niederlassen kann, „so dass sie bei den Hügeln bei Tech Duinn ertranken. Der Grabhügel
1372 Allgemein zu den Problemen des Lebor Gabála als religionsgeschichtliche Quelle vgl. Carey 2010, S. 319–323. 1373 Dabei wurde im Übrigen keineswegs Vollständigkeit angestrebt; vgl. etwa noch eine folkloristische Lokalisierung des Landes der Lebenden auf einer Insel in der Nähe der Isle of Skye: Ó Briain 1989, S. 189. 1374 Auch in der irischen Folklore gehen die Insel der Toten und die paradiesische Anderwelt ewiger Jugend jenseits des Meeres fließend ineinander über: Müller-Lisowski 1948, S. 149 f. (Nr. 16 und 17), ferner vgl. S. 156–158 (Nr. 45–52). 1375 Die grundlegende Materialsammlung und Diskussion zum Tech Duinn ist Meyer 1919; in neuerer Zeit vgl. ferner Müller-Lisowski 1948; Müller-Lisowski 1953/54; de Vries 1961 (Religion), S. 257; Lincoln 1981, S. 227–229; Löffler 1983 Bd. 1, S. 291–305 et passim; Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 165 f.; Carey 2010, S. 323–331; Sayers 2012, S. 209; Maier 2013, S. 119; Ó Mainnín 2013, S. 283; Waddell 2014, S. 81. Die Figur des Donn, nicht jedoch seine Insel als solche, wird weithin als indogermanisch betrachtet: Meyer 1919, S. 542 f.; Lincoln 1981 (bes. S. 227–230, 239 f.); Carey 2010, S. 328 f.
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eines jeden Mannes ist dort“ (co ro bāitte oc na Dumachaib oc Taig Duind. Duma cacha ḟir and) (Lebor Gabála §§ 385 f., 392–395, 406, Zitat: § 395).¹³⁷⁶ Es ist längst aufgezeigt worden, dass Lebor Gabála für die Rekonstruktion irischer vorchristlicher Mythologie eine ausgesprochen problematische Quelle ist;¹³⁷⁷ die Behandlung der Gestalt des Donn in diesem Text ist hier keine Ausnahme, und die aussagekräftigsten Belege für diese Figur finden sich in anderen Quellen.¹³⁷⁸ Eines der wichtigsten Zeugnisse sind einige Verse in einem Gedicht des Máel Muru von Othan (gest. 887).¹³⁷⁹ Dieses Gedicht stellt eine Versfassung von Lebor Gabála dar, greift bei der Behandlung Donns jedoch auf Vorstellungen zurück, die in Lebor Gabála keinen Niederschlag gefunden haben. Zur Bestattung Donns heißt es dort: Artocbad carn liä chenēl ās lir lethan, sentreb sontech, conid Tech Duinn dē dongarar. Co mba ēsin a edacht adbul dia chlaind chētaig: ‘Cucum dom thig tīssaid uili īar bar n-ēcaib’.¹³⁸⁰ Es wurde von den Seinigen ein Steinhügel über dem breiten Meer errichtet, eine alte feste Wohnstätte, die nach ihm Haus Donns genannt ward. Und dies war seine erhabene letzte Verfügung an seine hundertfältige Nachkommenschaft: ‚Zu mir zu meinem Hause sollt ihr alle nach eurem Tode kommen‘.¹³⁸¹
Das Haus des Donn, Tech Duinn, erscheint hier somit als der Versammlungs- und Wohnort der Toten Irlands. Dieser Versammlungsort liegt „über dem Meer“ (ās lir). Dies stellt an sich noch keinen schlüssigen Beleg für eine Lage auf einer Insel dar, passt jedoch auffallend gut dazu, dass in der realweltlichen Geographie Irlands der Name Teach Duinn für eine kleine Felseninsel bezeugt ist: Eine winzige Insel vor der Südwestspitze der Insel Dursey an der Südwestspitze Irlands, die auf heutigen Karten als „The Bull“ verzeichnet ist, war noch im frühen 20. Jahrhundert bei
1376 Text: Macalister 1938–1956 Bd. 5, S. 38. (Die zitierte Passage gehört zu Scowcrofts „Recension a“ [Scowcroft 1987, S. 140]; diese Rezension ist u. a. vollständig im Buch von Leinster aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts erhalten [Scowcroft 1987, S. 85, 139].) Vgl. Lincoln 1981, S. 228; MüllerLisowski 1948, S. 151–153 (Nr. 21–28). 1377 Vgl. Carey 2010, S. 319–323. 1378 Ausführlich zu Donn in Lebor Gabála und den Problemen, aber auch dem Potential dieses Texts als mythologische Quelle vgl. Meyer 1919, S. 537–540; Carey 2010. 1379 Meyer 1919, S. 538 f.; Müller-Lisowski 1948, S. 152 (Nr. 26); Lincoln 1981, S. 228; Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 165; Carey 2010, S. 323. Das Gedicht als ganzes wurde zuletzt kritisch hgg. und übersetzt von Todd und Herbert 1848, S. 220–271. Die fraglichen Verse sind dort (S. 248/249) mangelhaft ediert und daher neu kritisch hgg. und übersetzt bei Meyer 1919, S. 538 f. Eine Neuedition des ganzen Gedichts ist derzeit in Vorbereitung und weicht von Meyers Text nicht wesentlich ab (Carey 2010, S. 323 [Anm. 4]). 1380 Text: Meyer 1919, S. 538. 1381 Übers.: Meyer 1919, S. 538 f.
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der gälischsprachigen Bevölkerung der Region unter der Bezeichnung Teach Duinn bekannt.¹³⁸² Gute Gründe für die Annahme, dass diese Lokalisierung der Toteninsel vor der irischen Südwestküste nicht erst ein Phänomen der jüngeren Vergangenheit ist, liefert die „Erzählung, aus der hervorgeht, dass Mongán Finn mac Cumaill war“ (Scél asa m-berar co m-bad hé Find mac Cumaill Mongán).¹³⁸³ Dieser Text datiert in die altirische Zeit, möglicherweise noch ins 8. Jahrhundert.¹³⁸⁴ Er erzählt, wie Mongán sich über eine historische Frage in eine Auseinandersetzung mit einem gelehrten Dichter verstrickt. Der hieraus folgende Konflikt wird dadurch zugunsten Mongáns entschieden, dass ein berühmter Krieger aus dem Land der Toten zurückkehrt und als Augenzeuge der strittigen Ereignisse auftritt. Die Route, die der Tote nimmt, wird dabei anhand der Flüsse und Seen beschrieben, die er auf seiner Reise aus dem Land der Toten durchquert: Diese Reise beginnt nur wenige Dutzend Meilen von der Insel Teach Duinn entfernt an einem Fluss, der in die Dingle Bay mündet,¹³⁸⁵ und führt den toten Krieger von dort von Gewässer zu Gewässer in den Nordosten Irlands.¹³⁸⁶ Diese beiden frühen Zeugnisse – das Gedicht des Máel Muru und die Erzählung über Mongán – machen bereits für sich allein genommen äußerst wahrscheinlich, dass es sich bei der Vorstellung einer Toteninsel vor der irischen Südwestküste um ein authentisches einheimisches Motiv mit Wurzeln in der vorchristlichen Zeit handelt. Weitere Belege wurden ausführlich von Kuno Meyer zusammengestellt und müssen hier nicht vollständig wiederholt werden.¹³⁸⁷ Drei besonders deutliche Zeugnisse seien jedoch zumindest noch kurz erwähnt. Eines davon findet sich in der Erzählung Airne Fíngein, „Fíngens Nachtwache“, einem Text des 9./10. Jahrhunderts.¹³⁸⁸ Dort erscheint Tech Duinn als die Grenze der Eroberungen des Königs Conn Cétchathach, eines der legendären frühen irischen Hochkönige; es erscheint damit – wie es einem
1382 Meyer 1919, S. 537; Hogan 1910, S. 623 (s.v. ‚tech duinn‘). Diese Identifizierung beruht auf rezenter mündlicher Tradition. Ausführlich zur Folklore von Teach Duinn vgl. Müller-Lisowski 1948, S. 147–153. Für einen Beleg für Teach Duinn in der neuirischen Literatur vgl. O’Curry 1863, S. 146–149; dort wird Teach Duinn allgemein als eine abgelegene Insel der irischen Westküste beschrieben. Die von Sayers 2012, S. 209 ohne Quellennachweise vorgenommene Identifizierung von Tech Duinn mit Dursey ist falsch. 1383 Meyer 1919, S. 540 f.; Müller-Lisowski 1948, S. 149 (Nr. 15). Hgg. und übersetzt von Meyer 1895, S. 45–52; White 2006 (Text 2). 1384 White 2006, S. 25, 27–29. 1385 Vgl. White 2006, S. 134. 1386 Meyer 1919, S. 540 f.; Meyer 1895, S. 50 f.; White 2006, S. 133–139. Vgl. Müller-Lisowski 1948, S. 180 (Nr. 115). 1387 Vgl. Meyer 1919, S. 541–544. 1388 Meyer 1919, S. 541 f.; Müller-Lisowski 1948, S. 148 (Nr. 12). Hgg. von Vendryes 1953. Datierung: Vendryes 1953, S. xxi f. Für eine Übersetzung vgl. Cross und Brown 1918.
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Land der Toten vielleicht zusteht – als das Ende der (irischen) Welt (Airne Fíngein § 12, Z. 254–257):¹³⁸⁹ Conciuchuil for bruinnib Lúachra línfaid dia bruth sen Mag Sainb co hEss Rúaid, co Find, co Fánait, co Tech Duind frisndálait mairb.¹³⁹⁰ Er wird einen Satz auf die Brust von Lúachair machen, er wird die alte Ebene von Sanb mit seinem Zorn füllen bis Ess Rúaid, bis Find, bis Fánad, bis zum Haus des Donn, wo die Toten sich treffen.
In dieser Strophe wird Tech Duinn nicht nur als das Ende der Welt dargestellt, sondern erscheint darüber hinaus auch ausdrücklich als der Ort, wo sich die Toten versammeln. Dass es sich um eine Insel handelt, wird hier jedoch nicht explizit ausgesprochen, wenngleich die Verwendung von Tech Duinn als Ende der Welt dies implizieren dürfte. Ausdrücklich mit der See verbunden wird Tech Duinn hingegen in einer (ansonsten leider weitgehend dunklen) Passage der Erzählung von der „Zerstörung der Festhalle des Da Derga“ (Togail Bruidne Da Derga); dieser Text als ganzer ist wohl eine Kompilation des 11. Jahrhunderts auf der Grundlage von Materialien des 9. Jahrhunderts.¹³⁹¹ In der fraglichen Passage steht allem Anschein nach einer Kriegerschar der Tod bevor, und dieser Tod geht einher mit dem Aufbruch „auf der morgendlichen Ebbe zum Haus des Dunklen (Tech Duinn), morgen am frühen Morgen“ (for tráig maitne do thig Duind matin moch a mbárach) (§ 79, Z. 717).¹³⁹² Eine Reise der Toten über das Wasser wird schließlich noch in der „Klage der Alten von Beare“ angedeutet, einem Gedicht des 8. oder frühen 9. Jahrhunderts.¹³⁹³ Dort stellt die alte Frau von Beare den Verfall ihrer Gegenwart und den Verlust ihrer Jugend und Schönheit den Freuden der Vergangenheit gegenüber, als sie noch in Königshallen feierte und edle Männer zu Geliebten hatte. Nachdem sie beklagt hat, dass es nun niemanden mehr gibt, der sie aufsucht (Str. 15), sagt sie über die (vor ihr verstorbenen?) Gefährten ihrer Jugend (Str. 16):
1389 Bereits erwähnt als Vater des Helden von Echtrae Chonnlai, siehe oben S. 265. 1390 Text: Vendryes 1953, S. 20. 1391 Hgg. von Knott 1936. Datierung: Knott 1936, S. x f.; Thurneysen 1921, S. 626 f. 1392 Meyer 1919, S. 541; Müller-Lisowski 1948, S. 149 (Nr. 13); zur (insbesondere sprachlichen) Interpretation dieser teilweise verderbten Passage vgl. Meyer 1919, S. 541; Knott 1936, S. 84 f. (Anm. zu Z. 716); Pender 1930, S. 309 (§ 663.9). Zu Donn in anderen Passagen von Togail Bruidne Da Derga vgl. auch Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 165; Müller-Lisowski 1948, S. 189 f. (Nr. 134, 135). 1393 Meyer 1919, S. 543 f.; Müller-Lisowski 1948, S. 149 (Nr. 14). Hgg. und übersetzt von Murphy 1952/53; hgg. von Murphy 1956, S. 74–83. Datierung: Murphy 1952/53, S. 86.
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Is éol dam a ndo-gniat, räit ocus do-räat; curchasa Átha Alma, is úar in adba i fäat.¹³⁹⁴ Mir ist bekannt, was sie tun, sie rudern und rudern fort(?);¹³⁹⁵ das Schilf von Áth Alma, kalt ist die Wohnstatt, in der sie die Nacht verbringen.
Meyer interpretiert diese Strophe als Zeugnis für eine Schiffsreise der Toten in das Totenreich.¹³⁹⁶ Damit würde sie nochmals unterstreichen, dass eine Insel der Toten in der altirischen Zeit ein etabliertes Element der irischen Vorstellungswelt darstellte. Zusammenfassend lässt sich von dieser Toteninsel sagen, dass sie mit einer konkreten Insel vor der irischen Südwestküste identisch war und dass die Toten Irlands sich nach einer Seereise dort versammelten.
Geographische Lokalisierung und geographischer Fluss In Immram Brain wurden die paradiesischen Inseln der Anderwelt im Ozean im Westen Irlands lokalisiert (§ 25):¹³⁹⁷ Fil trí coícta inse cían isind oceon frinn aníar; [...]¹³⁹⁸ Es liegen dreimal fünfzig ferne Inseln im Ozean westlich von uns; [...]
Bei Immram Brain handelt es sich um einen der ältesten uns vorliegenden narrativen Texte der irischen Volkssprache; jedoch ist dieser Text, wie bereits mehrfach betont wurde, keine einfache Niederschrift einheimischer Mythen, sondern ein gelehrtes Konstrukt des christlichen Frühmittelalters, das aus einer Vielzahl von Quellen schöpft. Schon in diesen beiden Versen sind zumindest zwei Elemente fassbar, die deutlich nicht irischen Ursprungs sind: Die in der irischen Literatur allgemein sehr
1394 Text: Murphy 1952/53, S. 96. 1395 Vgl. Murphy 1952/53, S. 97 (Anm. zu 16b); Murphy 1956, S. 266 (s.v. ‚do-raat‘). 1396 Meyer 1919, S. 544. Er vermutet zudem, dass Áth Alma, „Furt von Alma“, mit einem Fluss auf der Dingle Peninsula zu verbinden ist, der Halbinsel, vor der Teach Duinn liegt (ibidem). Murphy hingegen vermerkt für Áth Alma nur: „unidentified place“ (Murphy 1952/53, S. 108, s.v. ‚Áth Alma‘). 1397 Siehe oben S. 268. 1398 Text: Mac Mathúna 1985, S. 37.
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häufige Verwendung des Ausdrucks „dreimal fünfzig“ für „sehr viele“ spielt auf die dreimal fünfzig Psalmen der Bibel an, und das Wort oceon ist ein lateinisches Lehnwort (< oceanus).¹³⁹⁹ Carey hat in Zusammenhang mit der Frage nach der Authentizität des Motivs der Anderweltsinsel gerade auf die Verwendung des lateinischen Lehnworts in diesem Text hingewiesen und sie als Indiz dafür betrachtet, dass die Lokalisierung der Anderwelt auf Inseln im westlichen Ozean auf klassisches Bildungsgut zurückgreift.¹⁴⁰⁰ Auch die Zeugnisse, die auf den vorangegangenen Seiten für die Lokalisierung von Anderweltsinseln herangezogen wurden, untermauern den Eindruck Careys, dass eine Lokalisierung der Anderwelt auf Inseln im fernen Westen ein Problem darstellt.¹⁴⁰¹ Die anderweltlichen Assoziationen der Isle of Man scheinen bis ins 8. Jahrhundert zurückzugehen (Forfess Fer Fálgae), und ihre Verbindung mit Manannán (und damit indirekt dem Land der Frauen von Immram Brain) lässt sich zumindest bis in die Jahre um 900 verfolgen (Sanas Cormaic). Diese Traditionslinie, die ihren kunstvollsten Ausdruck in der detailreichen Identifizierung Emain Ablachs mit Man im Preisgedicht auf Raghnall/Rǫgnvaldr findet, stellt eine frühe und in einer Vielzahl von Zeugnissen aufscheinende Alternative zur westlichen Lokalisierung der Anderwelt dar – was insbesondere deshalb wichtig ist, weil es sich hier um eine Alternative ohne offensichtliche Berührungspunkte mit den Inhalten klassischer Gelehrsamkeit handelt, wie sie in Irland zugänglich waren und ausgiebig genutzt wurden. In diesem klassischen Bildungsgut finden sich hingegen genaue Entsprechungen zur Lokalisierung der Anderwelt auf Inseln im Westen. So äußert sich etwa Isidor, dessen Werk in Irland früh bekannt war, ausführlich über die Inseln der Seligen. Bei ihm heißt es, dass diese Inseln im Ozean lokalisiert sind, und zwar im fernen Westen in der Nähe des Sonnenuntergangs (Etymologiae XIV.vi.8): sitae sunt autem in Oceano contra laevam Mauretaniae, occiduo proximae [...]. („Gelegen sind sie aber im Ozean gegenüber der linken Seite Mauretaniens, dem Sonnenuntergang zunächst [...].“)¹⁴⁰² Da die Stelle in Immram Brain, in der die Anderweltsinseln im Ozean im fernen Westen lokalisiert werden, schon durch ihr Vokabular einen Einfluss der klassischen Gelehrsamkeit verrät, steht sie entsprechend unter dem dringenden Verdacht, dass die genaue Übereinstimmung ihrer Lage mir derjenigen von Isidors Inseln der Seligen auf eine direkte literarische Entlehnung zurückgehen könnte. Falls dem so ist, mag die Verbindung der paradiesischen Inselanderwelt mit der Isle of Man ältere Wurzeln haben als die Behandlung des Motivs in Immram Brain. Wie weit die Assoziation zwischen dem „apfelreichen Emain“ und der Isle of Man ihrerseits zurückreicht, ist jedoch kaum abzuschätzen. Die Varianten dieses Motivs, in denen Emain Ablach mit Arran im Firth of Clyde oder gar den Hebriden identifiziert wird, legen nahe, dass dieses Motiv
1399 DIL s.v. ‚ocían‘. 1400 Carey 2000 (1989), S. 141. 1401 Schon bemerkt von Chotzen 1948, S. 268. 1402 Für die Stelle als ganze siehe oben S. 187.
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ohne größere Schwierigkeiten von einer Insel zur anderen wandern konnte. Andererseits zeigt der Fall von Teach Duinn, dass eine spezifische anderweltliche Assoziation mit ein und derselben Insel über sehr lange Zeiträume verbunden zu sein vermag: Die Übereinstimmung zwischen der oben zitierten Erzählung über Mongán und der modernen irischen Folklore macht wahrscheinlich, dass die Identifizierung als Toteninsel vom 8./9. Jahrhundert bis ins 19. Jahrhundert derselben Insel anhaftete.¹⁴⁰³
5.2.5 Giraldus Cambrensis und die irische Folklore des 12. Jahrhunderts Bei den bisher besprochenen Zeugnissen für irische Inseln der Unsterblichkeit hat es sich durchwegs um Texte gehandelt, die irische Vorstellungen aus einer Innenperspektive heraus beschrieben. Eine mehrere Kapitel lange Beschreibung verschiedener irischer Vorstellungen von ungewöhnlichen Inseln, die irische Ideen aus einer Außenperspektive heraus festhält, findet sich im zweiten Buch der Topographia Hibernica, die Giraldus Cambrensis in den späten 1180er Jahren auf der Grundlage eines einjährigen Irlandaufenthalts verfasste.¹⁴⁰⁴ Von besonderem Interesse ist ein Kapitel, in dem Giraldus eine „Insel der Lebenden“ beschreibt, auf der es unmöglich ist, zu sterben (Giraldus Cambrensis, Topographia Hibernica II.4):¹⁴⁰⁵ De duabus insulis ; in quarum altera nemo moritur ; in alteram feminei sexus animal non intrat. Est lacus in Momonia boreali, duas continens insulas, unam majorem et alteram minorem. Major ecclesiam habet antiquae religionis. Minor vero capellam, cui pauci cœlibes, quos Cœlicolas vel Colideos vocant, devote deserviunt. [ ... Die Beschreibung der beiden Inseln fährt nach dieser Einleitung zuerst mit einer Beschreibung der größeren Insel fort, die kein weibliches Wesen betreten kann, ohne sofort zu sterben. Danach wendet Giraldus sich der kleineren Insel zu: ... ] In minori vero insula nemo unquam mortuus fuit, vel morte naturali mori potuit. Unde et viventium insula vocatur. Morbo tamen letali gravissime interdum vexantur, et usque ad extremam exhalationem miserabiliter afficiuntur. Cumque nihil amplius spei, nihil jam vitæ vitalis superesse præsenti-
1403 In der Folklore finden sich daneben jedoch auch hierzu Variationen, vgl. Müller-Lisowski 1948, S. 153–156 (Nr. 28–44), S. 159 f. (Nr. 59–63), S. 162–189 (Nr. 74, 76, 78, 80–83, 85, 88, 90, 93, 98, 104, 105, 107, 110, 111, 112, 113, 114, 116, 126, 127, 130, 132, 133), S. 195. 1404 Richter 2006, S. 811. 1405 Carey 2000 (1983), S. 116 f. (Anm. 20). Falsch ist die Vermutung von Martínez Hernández 1994, S. 89, dass es sich bei Giraldus’ Unsterblichkeitsinsel um dieselbe Insel Tanatos/Thanatos handeln könnte, deren Erwähnung durch Honorius von Autun und Isidor oben bereits kurz angesprochen wurde (siehe oben S. 204 f.); auch in der ältesten, von Solinus (XXII.8) überlieferten Fassung der Mythologie dieser Insel ist, contra Martínez, nirgends davon die Rede, dass ihre Einwohner „no conocían la muerte“. Zudem ist Thanatos mit der Isle of Thanet an der Ostspitze von Kent identisch (siehe oben S. 205), so dass es sich bei ihr offenkundig nicht um eine Insel in einem Binnensee in Nordmunster handeln kann.
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unt; cumque, invalescente valetudine, tam finaliter afflicti fuerint, ut morte mori malint quam vitam ducere mortis, in majorem demum insulam se navicula deferri faciunt. Qui statim ut terram attingunt, spiritum reddunt.¹⁴⁰⁶ Von zwei Inseln; auf der einen von ihnen stirbt niemand; die andere kann ein Lebewesen weiblichen Geschlechts nicht betreten. Im nördlichen Munster gibt es einen See, der zwei Inseln enthält, eine größere und eine andere, kleinere. Die größere hat eine Kirche von großer Altehrwürdigkeit. Die kleinere aber hat eine Kapelle, der einige wenige Asketen, die sie Coelicolae oder Céili Dé nennen, hingebungsvoll dienen. [ ... Die Beschreibung der beiden Inseln fährt nach dieser Einleitung zuerst mit einer Beschreibung der größeren Insel fort, die kein weibliches Wesen betreten kann, ohne sofort zu sterben. Danach wendet Giraldus sich der kleineren Insel zu: ... ] Auf der kleineren Insel ist fürwahr niemand jemals gestorben, oder hat eines natürlichen Todes sterben können. Daher wird sie auch „Insel der Lebenden“ genannt. Dennoch aber werden sie manchmal aufs schwerste von einer tödlichen Krankheit gequält, und bis zum letzten Atemzug elend geplagt. Und wenn sie fühlen, dass keine Hoffnung mehr, kein lebendiges Leben mehr übrig ist; und wenn sie, während die Gesundheit [keine]¹⁴⁰⁷ Kraft gewinnt, so endgültig niedergeschmettert sind, dass sie lieber den Tod sterben als ein Leben des Todes führen wollen, lassen sie sich schließlich mit einem Boot auf die größere Insel fortbringen. Sobald sie die Erde berühren, hauchen sie den Geist aus.
Giraldus berichtet hier, dass sich im Norden der irischen Provinz Munster ein See mit zwei Inseln befunden hätte. Auf beiden befanden sich Gotteshäuser; eine dauerhafte Besiedlung erwähnt Giraldus aber nur für die kleinere der beiden Inseln, die von Mönchen der asketischen Bewegung der Céili Dé („Diener Gottes“) bewohnt wurde.¹⁴⁰⁸ Diese kleinere Insel zeichnete sich dadurch aus, dass dort niemand sterben konnte (weshalb sie „Insel der Lebenden“ hieß) – und das auch dann nicht, wenn der Betroffene von einer tödlichen Krankheit befallen war und unter furchtbaren Qualen dahinsiechte. In den Fällen, in denen auf Heilung keine Hoffnung mehr bestand und ein Weiterleben unerträglich wurde, wurden die Kranken mit einem Boot von der „Insel der Lebenden“ fortgebracht. Sobald sie auf der größeren Insel den Boden berührten, wurden sie durch einen sofortigen Tod von ihrem Leiden erlöst. Giraldus verfasste seine Topographia Hibernica in den 1180er Jahren,¹⁴⁰⁹ was einen ersten terminus ante quem für die Datierung dieser Lokalsage liefert. Auf einen noch früheren terminus ante quem deutet darüber hinaus die volkssprachliche Überliefe-
1406 Text: Dimock 1867, S. 80 f. 1407 Giraldus scheint hier das Versehen unterlaufen zu sein, in-valescere („erstarken“) in naheliegender Analogie zu Wörtern wie in-validus („schwach“) als „schwach werden, an Kraft verlieren“ missverstanden zu haben. 1408 Zu den Céili Dé vgl. Byrnes 2005; Carey 1998, S. 14 f. et passim. 1409 Richter 2006, S. 811.
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rung hin. Das Buch von Ballymote enthält eine irische Mirabiliensammlung mit dem Titel Do ingantaib Erenn andso da rer lebair Glind da-lacha, „Von den Wundern Irlands nach dem Buch von Glendalough“.¹⁴¹⁰ Eines der in diesem Text angeführten irischen „Wunder“ ist eine Insel im (heute ausgetrockneten) Loch Cré im Co. Tipperary in Munster (§ 31).¹⁴¹¹ Über diese Insel heißt es, dass sie zwei wundersame Eigenschaften habe: Zum einen ist kein weibliches Wesen dazu fähig, sie zu betreten; „und nicht stirbt ein Sünder auf ihr, und nicht ist es möglich, ihn auf ihr zu bestatten“ (7 ni epil pecthach indi, 7 ni cumacar a adnacul inte). Der „Sünder“ dieser Passage ist wohl im allgemeinen Sinne eines „(per definitionem sündhaften) Menschen“ zu verstehen,¹⁴¹² und wenn dem so ist, dann hat diese Insel gerade die Eigenschaften, die Giraldus den zwei Inseln zuweist, die er im eben ausschnittsweise zitierten Abschnitt der Topographia Hibernica behandelt: Unzugänglichkeit für Frauen und die Unmöglichkeit des Todes. Offenkundig referieren beide Texte, die Topographia und Do ingantaib Erenn, dieselbe Überlieferung. Die sehr kurze Fassung dieser Überlieferung in der irischen Mirabiliensammlung kann zwar über die genauere Lokalisierung der Unsterblichkeitsinsel hinaus inhaltlich nichts zum Verständnis des Motivkomplexes beitragen, sie ist jedoch wichtig für die Frage seines Alters. Denn John Carey hat zeigen können, dass die Abfassung von Do ingantaib Erenn auf die Jahre zwischen 1054 und 1118 zu datieren ist;¹⁴¹³ damit rückt der terminus ante quem für die Entstehung dieser Lokalsage um ein Jahrhundert nach unten und so unmittelbar an das Ende der Wikingerzeit heran. Ein weiteres, wenn auch weniger sicheres Indiz für das Alter der Erzählung von der „Insel der Lebenden“ mag sich in der expliziten Zuschreibung des Klosters auf dieser Insel an die Céili Dé verstecken, da es sich bei diesen „Dienern Gottes“ um eine monastische Bewegung des frühen Mittelalters handelt, die bereits im 10. Jahrhundert im Niedergang begriffen war.¹⁴¹⁴ Die Erwähnung dieser Mönchsbewegung könnte daher nochmals darauf hindeuten, dass der Ursprung des von Giradus’ beschriebenen Motivs der „Insel der Lebenden“ bis in die Wikingerzeit zurückreicht, die grob mit der Blütezeit der Céili Dé zusammenfällt und wesentlich zu ihrem Ende beigetragen hat.¹⁴¹⁵ Die Bezeichnung viventium insula, „Insel der Lebenden“, erinnert auffallend an die terra viventium, die in der ekklesiastischen Literatur einen paradiesischen Jenseitsbereich bezeichnet.¹⁴¹⁶ Dieser terminologische Anklang an ein ekklesiastisches
1410 Hgg. und übers. von Todd 1848, S. 192–219. 1411 Todd 1848, S. 216 (Anm. j); vgl. O’Donovan 1856 Bd. 4, S. 1110 (Anm. l); Hogan 1910, S. 466 (s.v. ‚i[nis] l[ocha] cré‘), 468 (s.v. ‚i[nis] na mbéo‘); Heiermeier 1944, S. 271. 1412 Heiermeier 1944, S. 272. 1413 Carey 1999 (Arthur’s Grave), S. 9 f.; akzeptiert von Boyle 2014, S. 247. 1414 Byrnes 2005, S. 71; vgl. Carey 1998, S. 15. 1415 Vgl. Byrnes 2005; Wooding 2011, S. 15; Carey 1998, S. 15. 1416 Siehe oben S. 45, 273.
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Paradieskonzept ist von umso größerer Signifikanz, als die fragliche Insel ein Inselkloster beherbergt; denn die Gleichsetzung von Kloster und Paradies war im europäischen Mittelalter ein weithin verbreiteter Topos,¹⁴¹⁷ der in Irland etwa in der oben bereits angesprochenen Darstellung des Inselklosters des Ailbe in der Navigatio deutliche Niederschläge gefunden hat.¹⁴¹⁸ Der Anklang der insula viventium an die terra viventium dürfte für einen Zeitgenossen entsprechend nahezu unübersehbar gewesen sein. Ein anderes Element von Giraldus’ Beschreibung, das in den bisher besprochenen irischen Paradies- und Anderweltsschilderungen ein auffallendes Gegenstück findet, ist die Verbindung des Verlassens der Insel mit dem Tod. In Immram Brain springt einer von Brans Gefährten nach der Rückkehr aus dem Land der Frauen in Irland an Land – und zerfällt sofort zu Staub. Brendan verbringt in der Navigatio viele Jahre auf See auf einer Pilgerreise von Paradiesinsel zu Paradiesinsel – und als er wieder nach Hause zurückkehrt, stirbt er bald. Die Kleriker der Historia de Enoch et Elia brechen als junge Männer auf – doch als sie nach ihrem Besuch auf der Paradiesinsel Enochs und Elias zurückkehren, sind sie Greise, die dem Tode nahe sind. In all diesen Texten ist das Verlassen der paradiesischen Anderweltsinsel aufs Engste mit dem Tod desjenigen verbunden, der töricht genug ist, dass er meint, in die Menschenwelt zurückkehren zu können. Freilich steht die spezifische Variante dieses Motivs in Giraldus’ Bericht von der insula viventium unter gewissermaßen umgekehrten Vorzeichen: Die insula viventium gewährt Unsterblichkeit, aber keinen Schutz vor Krankheit und Schmerz, so dass ihre Gabe sich in einen Fluch verwandeln kann, der erst durch die Flucht von der Insel des Lebens gebrochen wird. Der Tod außerhalb der Anderweltsinsel ist bei Giraldus kein Verlust des paradiesischen Lebens, das auf der Anderweltsinsel herrschte, sondern eine Befreiung. Was der Ursprung dieser eigentümlichen Verquickung von monastischen und Anderweltsmotiven ist, wird sich nie mehr mit Sicherheit klären lassen. Gerade der Umstand, dass monastische und anderweltliche Motive hier in so merkwürdiger Weise miteinander verbunden sind, könnte jedoch vielleicht nahelegen, dass die Geschichte von der Lebensinsel, auf der man leiden, aber nicht sterben kann, eine populäre Umdeutung der monastischen Idee vom Kloster als Paradies darstellt. Die Gleichsetzung des Klosters mit dem Paradies wurde (man erinnere sich an die Parallele der familia Albei) von den Mönchen dieses Hauses möglicherweise selbst propagiert. Das sich daraus ergebende (Propaganda-)Bild des Inselklosters als Paradiesinsel konnte sich dann leicht mit populären Vorstellungen der Heldensage verbinden – man mag sich in diesem Zusammenhang an Tochmarc Becḟola erinnern, wo ebenfalls eine Gleichsetzung von Klosterinsel und Anderweltsinsel stattfindet. Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt dazu, dieser Anderwelts-Kloster-Insel
1417 Siehe oben S. 231 mit Anm. 867. 1418 Siehe oben S. 292.
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auch das typische Anderweltsmotiv des auf das Verlassen der Insel folgenden Todes zuzuschreiben. Eigentümlich bleibt dann nur noch die Inversion dieses Motivs, die sich daraus ergibt, dass der Todgeweihte durch sein Leiden von der Insel fortgetrieben wird und im Tod außerhalb der Insel die Erlösung von seinen Qualen sucht. Auch dafür mag jedoch, wenn man so will, eine Erklärung möglich sein: Vielleicht ist diese spezifische Fassung der Geschichte eine bewusste, spöttische Distanzierung von der monastischen Selbstauffassung der Klosterinsel als irdisches Paradies. Auf wen dieser Spott zurückginge (falls es sich um Spott handelt), ist freilich schwer zu sagen; eine Möglichkeit wäre die lokale Bevölkerung, die den Kontrast zwischen ideologischem Anspruch und Realität des Klosterlebens zur Genüge gekannt haben mag.¹⁴¹⁹ Solche Überlegungen zum „woher“ dieses Motivs in der Topographia Hibernica und in Do ingantaib Erenn sind letztlich freilich bloße Spekulation. Wichtiger als solche Spekulationen ist die Feststellung, dass die Beschreibung der Topographia Hibernica hier von irischen Vorstellungen über eine heilig-anderweltliche Insel berichtet, die sich eng an geläufige irische Konzepte anschließen, diesen Konzepten aber eine überraschende Wende verleihen – eine Wende, die dazu führt, dass die mit dieser Insel verbundenen Vorstellungen mit der isländischen Folklore über den Ódáinsakur im Hvanndalur praktisch identisch sind. Beide Orte haben die Eigenschaft, dass dort niemand sterben kann, und in beiden Orten erweist sich diese Eigenschaft als ein Fluch für diejenigen Bewohner, die an tödlichen Leiden erkranken: Wer erkrankt, muss aus diesen Orten hinausgetragen werden, um im Tod Erlösung vom Schmerz finden zu können.
5.3 Die irischen Anderweltsinseln: Zusammenfassung und Abschlussdiskussion Zeugnisse wie die Topographia Hibernica des Giraldus Cambrensis, Tochmarc Luaine und das Gedicht Baile suthach síth Emhna führen chronologisch ans Ende der mittelirischen Zeit, für das traditionell das Jahr 1200 angesetzt wird. Die Epochengrenze zwischen der mittelirischen und der frühneuirischen Zeit ist zunächst rein linguistischer Natur und hat insofern keine intrinsische Signifikanz für kulturgeschichtliche Fragestellungen; auch aus den folgenden Jahrhunderten existiert noch eine Reihe von irischen Zeugnissen, die sich mit dem Thema einer Anderwelt der Frauen jenseits des Meeres und verwandten Motiven befassen – man denke etwa an die „Anderweltsfahrt des Art, Sohn von Conn, und das Werben um Delbchaim, Tochter von Morgan“
1419 Für ein Beispiel einer ironischen Distanzierung von klerikalen Verhaltensweisen vgl. das Exemplum Cethrur macclerech im Buch von Leinster: Best et al. 1954–1983 Bd. 5, S. 1229 Z. 36481–36513, vgl. Meyer 1894 (Anecdota). (Für den Hinweis auf diesen Text danke ich Dr. Elizabeth Boyle.)
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(Eachtra Airt meic Cuind ocus Tochmarc Delbchaime ingine Morgain),¹⁴²⁰ die „Anderweltsfahrt des Tadg, Sohn von Cían“ (Echtra Thaidg mheic Chéin),¹⁴²¹ das „Lied von Oisín im Land der Jugend“ (Laoi Oisín ar Thír na n-Óg),¹⁴²² oder den „Tod der Nachkommen des Tuireann“ (Oidhe Chloinne Tuireann).¹⁴²³ Dennoch bietet sich das Ende der mittelirischen Zeit an, um die Besprechung des irischen Materials abzuschließen. Die späten Zeugnisse ab dem Beginn der frühneuirischen Zeit stellen – ungeachtet mancher interessanter Eigentümlichkeiten – insgesamt vor allem Neubearbeitungen von Motiven dar, die aus der älteren Literatur bereits wohlbekannt sind. Ihre Diskussion wäre im vorliegenden Kontext daher vornehmlich eine Diskussion der Rezeptionsgeschichte des Motivs der Anderweltsinsel und des Landes der Frauen innerhalb der irischen Literaturgeschichte; Einblicke in die mythologische „Vorgeschichte“ dieses Motivs und in seine Rolle im Rahmen der vorchristlichen und frühmittelalterlichen Religionsgeschichte und Mythologie wären hiervon nicht zu erwarten. Auch für die Frage des keltischen Einflusses in den nordischen Vorstellungen von den Glæsisvellir und vom Ódáinsakr dürften die neuirischen Zeugnisse keine signifikante Rolle spielen. Das Ende der mittelirischen Zeit um 1200 fällt mit dem Beginn der literarischen Behandlung des Glæsisvellir-Motivs in Skandinavien in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus zusammen; eventuelle grundlegende irische Einflüsse auf dieses Motiv in der nordischen Literatur dürften also in der irischen Literatur vor 1200 zu suchen sein. Das vorliegende Kapitel nahm seinen Ausgang von den zwei ältesten Texten der volkssprachlichen irischen Literatur, die das Motiv der Anderweltsinsel mit den Motiven des Landes der Frauen und der Unsterblichkeit verbanden: „Connles Anderweltsfahrt“ (Echtrae Chonnlai) und „Brans Seefahrt“ (Immram Brain), die beide dem 8., vielleicht sogar noch dem späten 7. Jahrhundert zugehören. Beide Erzählungen sind grundlegend geprägt von der Verbindung der Motive „übernatürliche/ander-
1420 Hgg. und übers. von Best 1907; vgl. etwa Sayers 2012, S. 218 f.; MacKillop 2004, S. 170 f.; Strijbosch 2000, S. 175; Mac Cana 2000 (1976), S. 61 f.; Dumville 1976, S. 73, 91 f.; Patch 1950, S. 41; Dillon 1948, S. 112–116; Brown 1943, S. 83–85. 1421 Hgg. und übers. von O’Grady 1892 Bd. 1, S. xvii, 342–359; Bd. 2, S. 385–401. Für einige knappe Bemerkungen zu diesem hochinteressanten Text, der bisher noch nie Gegenstand einer ihm gewidmeten Untersuchung war, vgl. Sayers 2012, S. 221; Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1745; MacKillop 2004, S. 395; Mac Cana 2000 (1976), S. 60 f.; Carney 2000 (1976), S. 85; Herbert 1999, S. 185; Sopeña Genzor 1995, S. 234 f.; Carey 1987 (Time), S. 10; Mac Mathúna 1985, S. 283; Patch 1950, S. 36–38; Brown 1943, S. 85–88; MacCulloch et al. 1908, S. 693; Hull 1907, S. 164 f.; Hull 1901, S. 441–443; Nutt 1895, S. 201–207; Zimmer 1889, S. 220. 1422 Hgg. und übers. von Ó Flannghaile s. a.; O’Looney 1856; für eine Übersetzung vgl. ferner Cross und Slover 1936, S. 439–456. Allgemein vgl. etwa MacKillop 2004, S. 355 f.; Ó Briain 1989; Tobin 1980, S. 280 f.; Paton 1960 (1903), S. 242 f.; Patch 1950, S. 43; Hull 1901, S. 443 f.; Joyce 1879, S. 385–399. 1423 Hgg. und übers. von O’Duffy 1901, dort §§ 31, 38–40; übers. Joyce 1879, S. 37–96 (dort S. 57 f., 63– 66); vgl. O’Curry in The Gaelic Journal No. 20, Vol. 2, August 1884, S. 235–238. Allgemein vgl. MacKillop 2004, S. 21, 353 f.; O’Rahilly 1946, S. 311–313; Brown 1943, S. 276–279; Macalister 1927.
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weltliche Frauengestalt“, „Apfel(zweig)“, „Insel“ und „Land der Unsterblichkeit“. Von zentraler Bedeutung für Immram Brain (aber ohne genaues Gegenstück in Echtrae Chonnlai) ist ferner das Motiv des andersgearteten Zeitflusses der Anderwelt: Während im Land der Frauen ein Jahr zu verstreichen scheint, sind es in Irland Jahrhunderte. Umgekehrt spielt in Echtrae Chonnlai ein Kristallschiff eine zentrale Rolle, das Connlae in die Anderwelt entrückt, aber ohne genaue Entsprechung in Immram Brain bleibt: Bran sticht mit seinen eigenen Schiffen in See. Diese beiden Erzählungen sind möglicherweise die ältesten volkssprachlichen narrativen Texte Irlands überhaupt. Schon diese frühe Datierung verleiht ihnen für die Rekonstruktion vorchristlicher Anderweltsvorstellungen eine besondere Bedeutung: Kein anderer irischer Text, der sich mit einer insularen Anderwelt befasst, steht zeitlich so nahe an der vorchristlichen Epoche wie diese beiden Erzählungen. Nichtsdestoweniger sind jedoch auch diese beiden Texte nicht unmittelbar in der vorchristlichen Zeit verwurzelt: Die Christianisierung Irlands dürfte bereits in der zweiten Hälfte des 6. Jahrhunderts zu ihrem Abschluss gekommen sein,¹⁴²⁴ so dass auch im Fall der frühestmöglichen Datierung von Echtrae Chonnlai und Immram Brain zumindest ein Jahrhundert zwischen dem Ende des lebendigen Heidentums in Irland und der Abfassung dieser Texte steht. Dieser Sachverhalt wurde anhand einer kurzen Besprechung einiger offenkundig christlicher Elemente in Immram Brain und Echtrae Chonnlai illustriert, die beide Erzählungen tiefgreifend prägen. So werden wiederholt christliche Paradiestermini auf die (vorgeblich?) heidnische Anderwelt des Landes der Frauen angewandt; die anderweltlichen Frauengestalten beider Texte prophezeien das Kommen Jesu Christi und stellen sich explizit gegen das Heidentum und auf die Seite des Christentums; und die Mitglieder des „Elfenvolks“ werden als ungefallene Wesen aus der Zeit vor dem Sündenfall in die christliche Heilsgeschichte eingeordnet. Forschungsgeschichtlich haben diese prominent und offensichtlich christlichen Elemente zu einer heftigen Diskussion darüber geführt, in welchem Umfang sich in Echtrae Chonnlai und Immram Brain Spuren paganer Vorstellungen niedergeschlagen haben. Dabei besteht innerhalb dieser Diskussion allgemeine Einigkeit darüber, dass in Echtrae Chonnlai und Immram Brain sowohl Elemente der christlichen Klosterkultur als auch (umgedeutete) Relikte vorchristlicher Konzepte verarbeitet wurden; Uneinigkeit besteht nur über die Frage der Intention des Autors bei der Komposition dieser Mischung und über verschiedene Details bei der Zuschreibung einzelner Züge an einen christlichen oder einheimisch-irischen Traditionsstrang. Eine Besprechung einzelner prominenter Beiträge, die in jüngerer Zeit zu dieser Diskussion geleistet worden sind, hat illustriert, dass für Echtrae Chonnlai und Immram Brain mit der Möglichkeit zu rechnen ist, dass die Intention des Autors bei der Gestaltung der Gesamtkomposition dieser Erzählungen in der Konstruktion einer christlichen, auf das monastische Leben bezogenen Allegorie bestanden haben könnte. Zugleich
1424 Charles-Edwards 2000 (1976), S. 106; vgl. Oskamp 1970, S. 6 f.; Bergholm 2012, S. 127 f.
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wurde im Zuge dieser Besprechung jedoch auch deutlich, dass McCones Versuch, die christliche-allegorische Interpretation von Echtrae Chonnlai und Immram Brain bis auf die obengenannten Hauptmotive auszudehnen, in ihrer Argumentation teilweise schwerwiegende Probleme aufweist. Besonders problematisch scheint McCones Deutung des zentralen Motivs der Überreichung eines anderweltlichen Apfels durch eine anderweltliche Frauengestalt als Inversion des christlichen Bildes der Überreichung des Apfels durch Eva: Letzteres Motiv ist innerhalb der christlichen Heilsgeschichte so prominent und so fundamental negativ besetzt, dass die Möglichkeit, es zu invertieren, grundsätzlich in Frage gestellt werden muss. Insgesamt endete die Besprechung von Echtrae Chonnlai und Immram Brain am Beginn des vorliegenden Kapitels nichtsdestoweniger in einer Aporie: Beide Erzählungen verarbeiten deutlich sowohl christliche als auch vorchristliche Elemente – doch welche Elemente fallen in welche Kategorie? Mit dieser Frage wandte sich das Kapitel dem kultur- und literaturgeschichtlichen Kontext der beiden Erzählungen zu. Die folgende Diskussion beschäftigte sich zunächst mit der lebensweltlichen Praxis und literarischen Behandlung der monastischen Suche nach einem paradiesgleichen Rückzugsort in den Weiten der See. Ein charakteristisches Element des irischen Mönchstums war die peregrinatio, die Suche nach einem Ort der Askese außerhalb der Sicherheiten der Heimat. Diese peregrinatio konnte dabei u. a. die Form eines Rückzugs auf eine Ozeaninsel annehmen; historische Zeugnisse legen nahe, dass irische Eremiten auf solchen Reisen vor dem Beginn der Wikingerzeit regelmäßig bis zu den Färöern und sogar bis ins vor-landnahmezeitliche Island gelangten. Derartigen Reisen in der realen Lebenswelt irischer Asketen entspricht eine reiche Behandlung des Motivs der peregrinatio zur See in der Literatur. Die über die Grenzen Irlands hinaus wirkmächtigste literarische Behandlung dieses Themas stellt die in lateinischer Sprache verfasste Navigatio Sancti Brendani dar, die zumeist ins späte 8. Jahrhundert datiert wird: In diesem Text begibt sich der Abt Brendan mit einigen seiner Mönche auf die Suche nach dem paradisus Dei in spacio maris, dem irdischen Paradies in den Weiten des Meeres, das er nach einer siebenjährigen Fahrt erreicht. Dabei findet er nicht nur das paradisus Dei, das schon durch seinen Namen ausdrücklich als das irdische Paradies identifiziert wird, sondern auch eine ganze Reihe anderer Inseln, die sich mehr oder weniger deutlich an christliche Paradiesvorstellungen anlehnen – sowohl an solche, die auf das Paradies am Anfang der Heilsgeschichte Bezug nehmen, wie es im Buch Genesis geschildert wird, als auch an solche, die sich am eschatologischen Paradies der Apokalypse des Johannes orientieren. Ein Anklang nicht nur an christliche Paradies-, sondern auch an einheimisch-irische Anderweltsvorstellungen scheint sich darin zu zeigen, dass der Zeitverlauf im paradisus Dei in spacio maris deutlich verlangsamt ist – ganz wie im Land der Frauen von Immram Brain. Die Navigatio wird von der Forschung häufig – und bis zu einem gewissen Grad völlig zurecht – als monastische Allegorie gedeutet, die ein Idealbild klösterlicher Lebensführung zeichnet; die grob zeitgenössische „Litanei der irischen Pilgerheiligen“ zeigt zugleich jedoch deutlich, dass Brendans Reise auf der Suche nach dem
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Paradies schon im Frühmittelalter wörtlich genommen werden konnte und dass das irdische Paradies im Meer manchen Zeitgenossen keineswegs als bloße Allegorie, sondern als geographische Realität galt. Die geographische Lokalisierung dieses Paradieses oszilliert dabei zwischen einer Unfassbarkeit, die eine Lage auf hoher See zu implizieren scheint, und einer Lage in unmittelbarer Nähe der irischen Küste. Monastische Fahrten von einer Wunderinsel zur anderen sind ferner der Gegenstand eines ganzen Genres der volkssprachlichen Literatur: der immrama oder „Seefahrten“. Der älteste dieser Texte ist die Prosafassung der „Seereise von Máel Dúins Lederboot“ (Immram Curaig Maíle Dúin) aus dem 8. oder 9. Jahrhundert. Diese Erzählung greift sehr stark auf Motive zurück, die auch in der Navigatio und in Immram Brain erscheinen; einige dieser Motive werden dabei in einer Weise überarbeitet, die allem Anschein nach der Unterhaltung, Erbauung und Belehrung eines Laienpublikums dienen soll. Dieser Text bringt kaum im eigentlichen Sinne Neues; die Art und Weise, wie Immram Maíle Dúin einige der aus der Navigatio und aus Immram Brain bekannten Motive abwandelt, ist jedoch von größtem Interesse. So wird ein wundersamer fruchttragender Zweig, der in der Navigatio Weintrauben trägt, in Immram Maíle Dúin zu einem Apfelzweig: An die Stelle eines spezifisch christlichen Symbolismus tritt hier ein Rückgriff auf das (einheimisch-irische?) Konzept der Anderweltsinsel als Apfelinsel, wie es bereits in Immram Brain und Echtrae Chonnlai erschien. Dies deutet darauf hin, dass der Autor von Immram Maíle Dúin die Darstellung der paradiesischen Anderweltsinsel als Apfelinsel als die für ein Laienpublikum eingängigste Darstellungsweise betrachtet hat – was wiederum impliziert, dass es sich bei den Äpfeln der Anderwelt keineswegs um eine hochkomplexe christliche Allegorie (Inversion des Apfels des Sündenfalls) gehandelt haben dürfte, sondern vielmehr um ein volkstümliches Motiv. Von noch größerem Interesse ist die Art, wie in Immram Maíle Dúin das Land der Frauen behandelt wird. Dieses Thema war dem Autor von Immram Maíle Dúin so wichtig, dass er es gleich zweimal ansprach. In der ersten einschlägigen Episode trifft Máel Dúin mit seinen Gefährten auf die Insel einer Frau, die sie zunächst großzügig bewirtet. Als Máel Dúin ihr jedoch sexuelle Avancen macht, werden er und seine Männer von der Insel der Frau entfernt und darauf hingewiesen, dass Máel Dúins Ansinnen sündhaft war. Und als ob die Verdammung von Brans Verhalten im Land der Frauen damit nicht schon deutlich genug zum Ausdruck gebracht worden wäre, enthält Immram Maíle Dúin darüber hinaus noch eine Episode, in der eine Insel der Frauen ganz nach Art von Immram Brain erscheint: Dort wird den Seefahrern die Liebe der dortigen Frauengestalten, ein Leben im Überfluss und Unsterblichkeit versprochen, und dort vergeht die Zeit anders als in der Heimat. Doch in Immram Maíle Dúin steht diese Insel unter ganz anderen Vorzeichen als in Immram Brain und in Echtrae Chonnlai: Das Land der Frauen wird hier zu einem Land unerträglicher, sexuell übersättigter Langeweile, eine Sackgasse auf der Suche nach dem Heil des christlichen Paradieses. Die Besucher entfliehen diesem Land bald wieder, um dem wahren, christlichen Heil näherzukommen. Der Autor von Immram Maíle Dúin bemüht sich nach Kräften, das Land der Frauen der Lächerlichkeit preiszu-
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geben und als wertlose, sogar sündhafte Ablenkung vom Pfad des Heils darzustellen. Gerade diese Verdammung des Lands der Frauen macht Immram Maíle Dúin zu einem wertvollen Zeugnis dafür, dass schon beinahe-Zeitgenossen von Immram Brain im Land der Frauen keineswegs eine christliche Allegorie sahen, sondern vielmehr ein unchristliches Konzept, das der Heilssuche nur hinderlich ist. Spätestens im 8./9. Jahrhundert galt das Land der Frauen somit als ein einheimisch-irisches paganes Motiv, das aus klerikaler Sicht zu verdammen war. In ähnlicher Weise stellen auch andere Abschnitte von Immram Maíle Dúin Glossen zu etablierten Anderweltsmotiven dar, die nur zu dem Zweck aufgegriffen werden, um umso nachdrücklicher zurückgewiesen werden zu können. Deutlich später ist die „Seefahrt von Snédgus und Mac Ríagla“ (Immram Snédgusa ocus Maic Riagla), deren älteste Fassung wohl dem frühen 10. Jahrhundert angehört. Dieser Text tritt insbesondere dadurch hervor, dass er auf (etablierte, aber teilweise apokryphe) christliche Traditionen von einem Aufenthalt des Enoch und des Elias im irdischen Paradies zurückgreift – und dieses Paradies auf zwei Inseln im Ozean lokalisiert. Erst ins 11. oder 12. Jahrhundert datiert schließlich die „Seefahrt des Lederboots der Uí Chorra“ (Immram Curaig Ua Corra). Dieser Text enthält eine Schilderung einer „Apfelinsel“, die eine paradiesisch-gartenhafte Insel voller Apfelbäume mit dem Motiv der Heilung verbindet. Dabei sind die Anklänge an das Versprechen der Unsterblichkeit auf der Apfelinsel von Immram Brain und – noch mehr – an die heilkräftige Apfelinsel Avalon einerseits unübersehbar, während die Nähe der Schilderung von Immram Ua Corra zu diesen Vergleichstexten im Detail andererseits nicht so groß ist, dass sie eine direkte literarische Abhängigkeit nahelegen würde. Nach dieser Vorstellung einiger zentraler narrativer Texte wandte die Diskussion sich der Frage zu, inwieweit die in der erzählenden Literatur geschilderten Paradiesinseln im zeitgenössischen Irland als geographische Realitäten gedacht wurden. Eine Biographie des Hl. Ailbe aus dem frühen 8. Jahrhundert erzählt, wie dieser Heilige gegen Ende seines Lebens von einem ehernen Schiff über den Ozean entrückt wird; als er wieder zurückkehrt, bringt er einen Fruchtzweig mit sich, von dem er sich drei Jahre lang nicht trennt, bis ein Engel diesen Zweig fortträgt. Bei diesem Ereignis handelt es sich um das letzte und damit krönende Ereignis im Leben Ailbes; der Hagiograph erzählt es in einer knappen, anekdotenhaften Weise, die nahelegt, dass es sich dabei weniger um eine Allegorie als vielmehr um ein Vorkommnis handelt, von dem geglaubt wurde, dass es sich wirklich ereignet habe. Ähnlich legt die „Litanei der irischen Pilgerheiligen“ nahe, dass die Reisen Ailbes, Brendans und der Uí Chorra zu irdischen Paradiesen im Meer zumindest vom Verfasser dieser Litanei als reale Ereignisse betrachtet wurden. Dem irischen Gelehrten Virgilius von Salzburg brachte seine öffentlich vertretene Annahme der Realexistenz eines alius mundus (d. h. einer letztlich in traditionellen irischen Vorstellungen wurzelnden Anderwelt?) sogar eine päpstliche Exkommunikationsdrohung ein. Solche Zeugnisse suggerieren mit größtem Nachdruck, dass anderweltliche Paradiesinseln in zeitgenössischen irischen Anschauungen als reale kosmologische Größen galten.
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Die Diskussion klerikaler Anderweltsreisen schloss hierauf mit der Historia de Enoch et Elia, erhalten in einer Zusammenfassung des späten 12. Jahrhunderts; dieser Text illustrierte, dass zentrale Motive der klerikalen Anderweltsreise (wie die Paradiesinsel im Ozean und die mit dem Aufenthalt auf solchen Anderweltsinseln verbundene Veränderung des Zeitverlaufs) schon vor dem späten 12. Jahrhundert außerhalb Irlands (in diesem Fall in der Bretagne) bekannt waren, eigenständig verarbeitet wurden und an ein lokales „Ende der Welt“ angebunden werden konnten. Nach dieser Besprechung klerikaler Seereisen zu anderweltlich-paradiesischen Inseln wandte sich die Diskussion Texten der heroischen Literatur zu. „Das Werben um Becḟola“ (Tochmarc Becḟola) aus dem 9./10. Jahrhundert illustrierte hier, wie eine anderweltliche Insel des Überflusses, die in einem bronzenen Boot erreicht wird, mit einer Klosterinsel gleichgesetzt werden kann. Zudem kehrt in diesem Text auch das Motiv des fremdartigen Zeitflusses der Anderwelt wieder, ergänzt um eine ähnliche Fremdartigkeit der Beziehungen zwischen ihrer Geographie und der Geographie der Menschenwelt. Eine mögliche Anspielung auf Immram Brain legte ferner nahe, dass auch der Autor von Tochmarc Becḟola das Land der Frauen von Immram Brain als eine durch und durch heidnische und letztlich verdammungswürdige Anderwelt auffasste. Die Erzählung „Cú Chulainns Krankenlager“ (Serglige Con Culainn) aus dem 9./11. Jahrhundert bietet ein weiteres, textlich wie inhaltlich äußerst vielschichtiges und nicht immer auf logische Stimmigkeit bedachtes Porträt einer insularen Anderwelt der Frauen. Auch hier erscheint wieder ein bronzenes Boot als Mittel zur Reise in diese Anderwelt, die bald auf einer Ozeaninsel und bald auf einer Insel in einem Binnensee lokalisiert wird; zugleich ist diese Anderwelt jedoch auch über Land zu erreichen und befindet sich vielleicht sogar unter Wasser. In dieser Anderwelt wachsen fruchttragende Bäume und leben schöne Frauen, die dem menschlichen Helden freigebig ihre Liebe schenken; zugleich ist diese Anderwelt jedoch kein ausschließlich von Frauen bewohntes Land der Frauen mehr, sondern auch die Wohnstatt einer Heerschar anderweltlicher Krieger. Als unabhängiger Beleg für das Land der Frauen ist Serglige Con Culainn allerdings ohnehin von beschränktem Wert, da dieser Text teilweise unmittelbar auf Immram Brain zurückzugreifen scheint. Dies macht es freilich umso interessanter, dass die von Serglige Con Culainn bearbeiteten Anderweltsvorstellungen am Ende des Texts ausdrücklich als heidnisches Teufelswerk verworfen werden. Als Abschluss der Besprechung des Landes der Frauen in der heroischen Literatur wurde schließlich noch auf die Zeichnung des „Landes der Maiden“ in der „Unterredung der Alten“ (Acallam na Senórach) aus dem frühen 13. Jahrhundert eingegangen: In diesem späten Text werden die anderweltlichen Frauen ihrer exaltierten Stellung weitestgehend beraubt. Die große Zeit des Landes der Frauen in der irischen Literatur ist damit vorbei. Der letzte Abschnitt des vorliegenden Kapitels wandte sich daraufhin der Frage zu: Wo liegen die Anderweltsinseln? In den meisten Fällen ist auf diese Frage keine Antwort zu bekommen. In einigen Texten wird jedoch eine Identifizierung einzelner
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Anderweltsinseln mit konkreten Inseln der realweltlichen Geographie zum Ausdruck gebracht: So erscheint die Isle of Man schon in einem Text des 8. Jahrhunderts, Forfess Fer Fálgae, als eine Anderweltsinsel. Dies ist nicht so sehr aufgrund der spezifischen Charakterisierung dieser Anderwelt in diesem Text relevant, als vielmehr deshalb, weil die Isle of Man wiederholt mit Manannán mac Lir verbunden wird, der im Zuge von Brans Reise zum Land der Frauen einen prominenten Auftritt hat; ein konkretes frühes Beispiel für die Verbindung Mans mit Manannán findet sich in „Cormacs Glossar“ (Sanas Cormaic). Um 1200 findet im Gedicht Baile suthach síth Emhna eine Identifizierung der Isle of Man als eine paradiesische Anderweltsinsel statt, die bis ins Detail ausgeführt wird und Man explizit zu einer anderweltlichen Apfelinsel werden lässt: zu Emain Ablach, dessen Beiname ablach („apfeltragend“) etymologisch direkt mit dem Namen der arthurischen Apfelinsel Avalon verbunden ist. Dieses Zeugnis ist dabei für die Frage keltisch-nordischer Kulturkontakte von besonderer Bedeutung, da es sich hier um ein Preisgedicht handelt, das an den König Rǫgnvaldr der Orkneyinga saga adressiert ist. Die Identifizierung der Isle of Man als anderweltliche Insel ist allerdings nicht die einzige in der irischen Literatur bezeugte realweltliche Lokalisierung einer Anderweltsinsel. In der Erzählung vom „Werben um Luaine“ (Tochmarc Luaine) aus der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts und im dinnṡenchas von Tuag Inbir tritt die Assoziation Manannáns mit Man neben eine Identifizierung von Manannáns Insel mit Arran im Firth of Clyde, von dem es in ersterem Text heißt, dass es um Manannáns willen als Emain Ablach bezeichnet worden sei. Das Lebor Gabála weiß ferner von einer magisch verborgenen Insel und von nahebei gelegenen unterseeischen Apfelhainen zwischen Irland und Schottland zu berichten. Das „Haus des Donn“ (Tech Duinn), eine Insel der Toten, ist ein winziges Inselchen vor der Südwestspitze der Insel Dursey im Südwesten Irlands. Solche Belege für Anderweltsinseln in relativer oder unmittelbarer Nähe der irischen Küste werfen die Frage auf, wie authentisch die von Immram Brain vorgenommene Lokalisierung des Landes der Frauen im Ozean im fernen Westen ist; nicht zuletzt lexikographische Details von Immram Brain und ein Vergleich der dortigen Lokalisierung des Landes der Frauen mit der Lokalisierung der Inseln der Seligen bei Isidor von Sevilla legen nahe, dass Carey mit seinem Vorschlag recht haben dürfte, dass es sich beim Konzept einer Anderwelt im fernen Westen wohl nicht um die authentischste Lokalisierung einer irischen Anderwelt handelt. Zugleich illustriert die Summe der verschiedenen Lokalisierungen von Anderweltsinseln, wie einfach solche Lokalisierungen in Fluss geraten können. Die letzten Texte, die im vorliegenden Kapitel angesprochen wurden, waren schließlich die Topographia Hibernica des Giraldus Cambrensis und die irische Mirabiliensammlung Do ingantaib Erenn. Insbesondere die Topographia, die das ausführlichere dieser beiden Zeugnisse darstellt, beschreibt eine Klosterinsel in einem See in Nordmunster, auf der es unmöglich ist zu sterben; wer dort von einer unheilbaren Krankheit befallen wird, muss von dieser Insel fortgebracht werden, um im Tod Erlösung von seinen Leiden finden zu können. Diese Lokalsage stellt eine auffallende
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Verschmelzung von monastischen und anderweltlichen Motiven dar. Aufgrund einer wohl noch ins 11. Jahrhundert datierenden Parallelstelle in der Mirabiliensammlung Do ingantaib Erenn sowie vielleicht auch der Rolle, die die Bewegung der Céili Dé in der Beschreibung der Topographia Hibernica spielt, lässt diese Sage sich wohl zumindest bis ans Ende der Wikingerzeit zurückdatieren. Dies macht es umso auffallender, wie genau diese kuriose Geschichte der späteren isländischen Folklore über den Ódáinsakr in den Hvanndalir entspricht. * ** Soweit die Zusammenfassung des bisherigen Kapitels. Die Diskussion der beiden Erzählungen Echtrae Chonnlai und Immram Brain, mit der dieses Kapitel begann, endete – wie eben rekapituliert – in einer weitgehenden Aporie über die Frage, inwieweit sich irisch-vorchristliche Wurzeln für die Hauptmotive dieser zwei Texte plausibel machen lassen: die Verbindung von „übernatürlichen Frauengestalten“, „Apfel(zweig)“, „Insel jenseits des Ozeans“, „Land der Unsterblichkeit“, „anderweltlichem Zeitfluss“ und „Kristallschiff“. Im Zuge der Besprechung weiterer Texte der mittelalterlichen Literatur Irlands erwies es sich jedoch als nötig, immer wieder auf Echtrae Chonnlai und Immram Brain zurückzukommen: Die aus diesen Erzählungen bekannten Motive werden bereits vom 8./9. Jahrhundert an immer wieder rezipiert, variiert und kommentiert. Dabei macht schon der erste zweifelsfreie Fall einer solchen Rezeption in Immram Curaig Maíle Dúin überdeutlich, dass der klerikale Autor dieses Texts das Land der Frauen als ein verdammungswürdiges heidnisches Konzept betrachtete. Diese Wertung kehrt später wohl in Tochmarc Becḟola, in Serglige Con Culainn und (wenngleich stärker implizit) in Acallam na Senórach wieder. Innerhalb Irlands galt die von Echtrae Chonnlai und Immram Brain beschriebene Anderwelt somit schon spätestens ein Jahrhundert nach der Abfassung dieser Texte als ein heidnisches Konzept, und diese Auffassung wurde von der späteren Literatur innerhalb des hier besprochenen Zeitraums durchgehend geteilt. Dies suggeriert mit größtem Nachdruck, dass es sich beim Land der Frauen im Kern tatsächlich um ein vorchristliches Konzept handelt, das seinen Ursprung in der heidnischen Mythologie Irlands hat.¹⁴²⁵ Jede andere Deutung wäre nur auf der Grundlage folgender Annahmen möglich: (1) Das Land der Frauen von Echtrae Chonnlai und Immram Brain wurde vom Autor oder von den Autoren dieser Erzählungen frei erfunden; (2) diese Erfindung wurde schon kurze Zeit danach von späteren Autoren missverstanden und fälschlich für ein reales heidnisches Konzept gehalten; (3) und auf der Grundlage dieses Missverständnisses breitete sich das Konzept des Landes der Frauen in der irischen Literatur weithin aus. Eine solche Rekonstruktion der literaturgeschichtlichen Entwicklung des Landes der Frauen ließe sich aufgrund des Fehlens von Quellen, die
1425 Entsprechend vgl. in jüngerer Zeit etwa auch Clancy 2000, S. 207; Mac Mathúna 1994, S. 347.
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unmittelbar der vorchristlichen Zeit entstammen würden, nicht widerlegen. Letzte Sicherheit darüber, ob das Land der Frauen tatsächlich in der vorchristlichen Religionsgeschichte Irlands verwurzelt ist, ist daher nicht zu erreichen. Jedoch scheint die Deutung des Landes der Frauen als rein christliches Konstrukt ohne vorchristliche Wurzeln von ausgesprochen komplexen impliziten Annahmen auszugehen. Dies wiegt umso schwerer, als sich für die grundlegenden Annahmen (1) und (2) in der frühen Literatur keinerlei Anhaltspunkte finden.¹⁴²⁶ Insbesondere in Hinblick auf Annahme (1) ist zu sagen, dass nicht ersichtlich ist, warum ein christlicher Autor ein pseudo-heidnisches Konzept erfinden sollte – zumal sich dieses Konzept nicht einmal problemlos allegorisch deuten lässt, wie das völlig Fehlen allegorischer Deutungsversuche in der späteren Literatur eindrücklich illustriert. Grundsätzlich ist hier die Frage zu stellen, warum der Versuch einer vollständigen Auflösung des Landes der Frauen in rein christliche Konzepte überhaupt unternommen werden sollte. Weder die beiden Erzählungen Echtrae Chonnlai und Immram Brain noch die spätere Rezeption dieser zwei Texte innerhalb der einheimischen irischen Literatur enthalten irgendeinen Hinweis darauf, dass diese zwei Erzählungen jemals als rein aus christlichen Elementen konstruierte Allegorien aufgefasst wurden, wie McCone dies mit seiner Interpretation der Herrin des Landes der Frauen als Allegorie der Kirche und „Inversion“ Evas impliziert;¹⁴²⁷ ganz im Gegenteil wurden diese Erzählungen innerhalb der irischen Literatur einhellig als Bearbeitungen (u. a. auch) einheimisch-irischer vorchristlicher Anderweltsvorstellungen aufgefasst. In Ermangelung irgendwelcher konkreter Hinweise darauf, dass diese Einschätzung grundsätzlich verfehlt wäre, sollte als methodischer Grundsatz davon ausgegangen werden, dass diese einheimisch irische Interpretation dem realen Sachverhalt näher kommen dürfte als eine letztlich willkürliche Interpretation von Erzählelementen ohne offensichtliche christliche Gegenstücke als „Inversionen“ biblischer Motive. Dass in Immram Brain tatsächlich authentisch-vorchristliche Motive verarbeitet wurden, wird innerhalb dieses Texts nicht zuletzt durch das Auftreten Manannáns gezeigt: Bei Manannán mac Lir handelt es sich um eine Figur, deren Wurzeln allgemein und plausibel in der vorchristlichen Religionsgeschichte Irlands gesucht werden.¹⁴²⁸ Das Auftreten dieses Gottes als ein Akteur in Immram Brain zeigt in aller Deutlichkeit, dass der Verfasser dieser Erzählung bewusst heidnisches Material in seine Erzählung eingearbeitet hat.¹⁴²⁹ Selbstverständlich wird dieses Material in einen insgesamt voll-
1426 Falls man sich entschließt, Annahmen (1) und (2) zu akzeptieren, lässt sich zugunsten von Annahme (3) auf die oben (insbesondere zu Immram Curaig Maíle Dúin, Tochmarc Becḟola und Serglige Con Culainn) herausgearbeiteten literarischen Bezugnahmen späterer Texte auf Immram Brain verweisen. 1427 Siehe oben S. 276 und S. 277, vgl. aber auch S. 275. 1428 In neuerer Zeit vgl. etwa Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 166 f., und vgl. die Literatur oben in Anm. 1021. 1429 Vgl. Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 166.
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ständig christianisierten Kosmos integriert, so dass der vorchristliche Gott als Wesen aus der Zeit vor dem Sündenfall in die christliche Heilsgeschichte eingeordnet wird und sogar selbst als Prophet des Christentums auftritt: Immram Brain ist – ebenso wie Echtrae Chonnlai – ein durch und durch christlicher Text.¹⁴³⁰ Dies ändert jedoch nichts daran, dass dieser christliche Text auch auf Motive der ursprünglich vorchristlichen Mythologie Irlands zurückgreift. Ein solches ursprünglich vorchristliches Motiv scheint auch im Land der Frauen vorzuliegen. Einschränkend ist dabei nochmals als selbstverständlich zu betonen, dass eine solche vorchristliche Herkunft nicht unbesehen für alle Details des Landes der Frauen angenommen werden kann. So wurde oben etwa ausgeführt, dass es sich bei der Lage der Anderweltsinsel im fernen Westen jenseits des Meeres, wie sie von Immram Brain beschrieben wird, wohl um eine Detail handeln dürfte, das u. a. vielleicht auf eine gelehrte Rezeption der „Inseln der Seligen“ des Isidor von Sevilla zurückgeht. Auch die Ozeanreisen irischer peregrini mögen ihren Teil dazu beigetragen haben, die paradiesische Anderweltsinsel in der Ferne jenseits des Ozeans zu lokalisieren,¹⁴³¹ führten diese Reisen irische Eremiten auf ihrer Suche nach einem Ort des Heils doch bis zu den Färöern und vielleicht sogar bis nach Island. Innerhalb des frühen Materials zu Anderweltsinseln ist eine Lage spezifisch im fernen Westen außergewöhnlich; repräsentativer und aus irisch-vorchristlicher Sicht wohl authentischer dürfte eine Lokalisierung in Küstennähe, in Binnenseen oder in einem geographisch unbestimmten Bereich sein, wie sie sich in Tochmarc Becḟola oder Serglige Con Culainn findet und wie sie sich in der Identifizierung der Isle of Man und der Insel Arran mit Emain Ablach niedergeschlagen hat. Selbst in den verschiedenen literarischen Bearbeitungen der Brendanlegende wird eine solche Küstennähe wiederholt angedeutet: Der Brendan der oben besprochenen Vita kann die ihm in Aussicht gestellte Insel von einem irischen Berg aus sehen, und die Rückreise aus dem paradisus Dei in spacio maris dauert auch in der Navigatio nur eine kurze Zeit. Einen anderen Problemfall stellt das Motiv des anderweltlichen Apfels dar. Die Frauengestalten von Immram Brain und Echtrae Chonnlai benutzen einen silbernen Apfelzweig bzw. einen Apfel, der einen Mann ernährt und dabei doch nie weniger wird, um die Helden dieser beiden Erzählungen in die Anderwelt zu locken. Für sich genommen ließe sich ein solcher Apfel als Anspielung auf die Schilderung des irdischen Paradieses bei Isidor von Sevilla auffassen.¹⁴³² Im Gesamtkonzept von Echtrae Chonnlai würde eine Herleitung des Anderweltsapfels aus einem Paradiesapfel jedoch Konsequenzen haben, die die Darstellung der Frau als Prophetin des kommenden Christentums und Gegnerin der heidnischen Irrlehre der Druiden schwerwiegend untergraben würden: Die Überreichung eines Paradiesapfels durch eine aus einem
1430 Vgl. Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 167. 1431 Vgl. unten mit Anm. 1438. 1432 Siehe oben S. 273.
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paradiesischen Gefilde stammende Frauengestalt müsste in einem rein christlichen Kontext unweigerlich als Anspielung auf die Überreichung des Apfels vom Baum der Erkenntnis durch Eva aufgefasst werden; damit würde die anderweltliche Frauengestalt von einer Prophetin der christlichen Heilslehre zu einer Personifizierung des Sündenfalls. Die gesamte Komposition von Echtrae Chonnlai würde damit in unauflösbare Selbstwidersprüche zerfallen. Wenn man dem Autor von Echtrae Chonnlai nicht literarische Inkompetenz unterstellen will, dann lässt sich die Überreichung des anderweltlichen Apfels durch eine anderweltliche Frauengestalt in diesem Text nur dadurch erklären, dass er dieses Motiv dem einheimisch-irischen mythologischen Motivrepertoire entnommen hat. Der Apfel von Echtrae Chonnlai und der silberne Apfelzweig von Immram Brain sind somit wohl ursprünglich heidnische Motive, die sich in ein christliches Weltkonzept mit seiner Vorstellung vom Paradies als Garten voller fruchttragender Bäume jedoch nahezu bruchlos einordnen lassen. Im Apfelmotiv scheinen sich die heidnische Vergangenheit und die christliche Gegenwart des frühmittelalterlichen Irland in einer literarischen Bearbeitung zu treffen, die keine Scheu davor hat, Elemente der vorchristlichen Mythologie Irlands in einen neuen, christlichen Sinnzusammenhang zu überführen.¹⁴³³ Ein weiteres mit den anderweltlichen Frauengestalten von Immram Brain und Echtrae Chonnlai verbundenes Erzählelement, das wohl vorchristliche Wurzeln haben dürfte, ist die sexuelle Natur des Umgangs dieser Frauen mit den männlichen Helden der beiden Texte. In Immram Brain teilt Bran nach seiner Ankunft im Land der Frauen das Lager mit der Herrin der Anderweltsinsel, und ebenso teilen seine Gefährten ihre Betten jeweils mit einer der Bewohnerinnen dieser insularen Anderwelt. Ähnliches dürfte Connlae erwarten, nachdem er der anderweltlichen Frauengestalt in ihr Land gefolgt ist, um dort mit ihr die Zeit bis zum Jüngsten Gericht in ewiger Jugend zu verbringen. Zwar ist die Intensität des hier beschriebenen oder zumindest deutlich implizierten sexuellen Umgangs nicht überzubewerten:¹⁴³⁴ Eine ausgesprochen explizite Darstellung sexueller Elemente ist typisch für weite Teile der mittelalterlichen irischen Literatur, so dass die Erwähnung des sexuellen Umgangs, den Bran mit der Herrin der „Insel der Frauen“ pflegt, im weiteren Rahmen dieser Literatur nicht besonders hervorsticht. Auch ist daran zu erinnern, dass – wie Maier bemerkt hat – die Aussicht auf sexuellen Umgang mit einer anderweltlichen Frauengestalt in
1433 Vgl. richtig Maier 2001/02, S. 161: „Ambivalent sind [...] auch zentrale Motive der mittelalterlichen irischen Literatur, so etwa die Symbolik des Apfels in der Erzählung Immram Brain, die wohl nicht auf ‚entweder heidnisch oder christlich‘ festgelegt werden kann, sondern diese Spannung bewußt auszuhalten und zu überbrücken versucht.“ (Ähnlich vgl. Maier 2005 [Imaginary Journeys], S. 166, 170.) 1434 Der Stellenwert von Erotik und Sexualität in diesen Erzählungen wurde in der Forschung ganz unterschiedlich beurteilt. Betont wird die Bedeutung des sexuellen Elements etwa von Radner 1985, S. 550; Mac Cana 2000 (1976), S. 57 f.; Carney 1955, S. 287. Eine geringe Rolle wird dem erotisch-sexuellen Element hingegen beigemessen von McCone 2000, S. 82 f., 92, 101 f.; Maier 2013, S. 128; Carney 2000 (1976), S. 83–85.
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der polygamen Oberschicht des irischen Frühmittelalters nicht unbedingt als erotisch besonders aufreizend empfunden worden sein dürfte.¹⁴³⁵ Dennoch ist der ausdrückliche sexuelle Umgang des menschlichen Helden mit der anderweltlichen Frauengestalt als prominentes Element der Erzählung festzuhalten. Dass dieses Element dabei nicht unbedingt Träger einer christlichen Botschaft ist, legt seine Bewertung in Immram Maíle Dúin nahe:¹⁴³⁶ Dort wird das Motiv des sexuellen Umgangs zwischen der Herrin einer Anderweltsinsel und einem menschlichen Helden gleich zweimal aufgegriffen und beide Male verworfen – einmal als sündhafte Ungehörigkeit, und einmal als unbefriedigende Ablenkung von der Suche nach dem wahren Heil. Ein Motiv, das sich – wie das Apfelmotiv – christlich deuten, aber kaum christlich herleiten lässt, ist das Motiv der Unsterblichkeit auf der Anderweltsinsel. Die Vorstellung, dass ein Sterblicher in ein paradiesisches Land der Unsterblichkeit entrückt wird und damit dem Tod zumindest bis zur Apokalypse entgeht, ist im Christentum grundsätzlich bekannt: Ein solches Schicksal wurde Enoch und Elias zuteil und kann sich damit auf einen Präzedenzfall berufen, dessen Vereinbarkeit mit christlichen Doktrinen außer Frage steht. Dass eine solche Unsterblichkeit jedoch Männern wie Bran und Connlae offen steht, dürfte auf einheimisch-irische Vorstellungen vom Verhältnis zwischen Held und Anderwelt zurückzuführen sein. Enoch und Elias bieten eine Möglichkeit, wie sich die Idee vom Fortleben auf einer Paradiesinsel in die christliche Kosmologie einordnen lässt. Kaum anzunehmen ist jedoch, dass diese Vorstellung ursprünglich erst vom Schicksal dieser Patriarchen inspiriert worden wäre: Dafür fehlt es zu deutlich an konkreten Anknüpfungspunkten zwischen Enoch, Elias, Bran und Connlae. Wahrscheinlich in einheimisch-irischem Traditionsgut verwurzelt sind ferner auch das Motiv des anderweltlichen Zeitflusses, der vom Zeitfluss der Menschenwelt entkoppelt ist, und das Motiv des Anderweltsschiffs. Für das Motiv des eigentümlichen anderweltlichen Zeitflusses ist eine ursprünglich einheimisch-irische Herkunft schon deshalb naheliegend, weil dieses Motiv in der nicht-inselkeltischen ekklesiastischen Literatur kein Gegenstück hat. Zudem handelt es sich hierbei um ein typisches Motiv der irischen Anderweltsliteratur insgesamt, das auch ohne Bezug spezifisch zum Motiv des Landes der Frauen auftritt.¹⁴³⁷ Etwas problematischer ist das Kristallschiff, mit dem Connlae in Echtra Chonnlai in die Anderwelt fährt: In der spezifischen Form des Kristallschiffs steht das Anderweltsschiff hier isoliert da. Jedoch dient in Tochmarc Becḟola und in Serglige Con Culainn (ebenso wie in der Vita Albei) ein bronzenes Boot oder Schiff als Fahrzeug für die Reise in die Anderwelt; die Nähe
1435 Maier 2013, S. 128. 1436 Contra Maier 2013, S. 128, der in den monogamen Beziehungen von Immram Brain eine klerikale Werbung für eine monogame Lebensführung vermutet, die sich gegen die zeitgenössisch durchaus noch geläufige Praxis der Polygynie wende. 1437 Vgl. etwa Echtra Nerai und Carey 1987 (Time), S. 7–12; Carey 1988.
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zwischen dem Kristall- und dem Bronzeboot ist zu groß, um einen bloßen Zufall plausibel erscheinen zu lassen, aber auch zu klein, um eine rein literarische Abhängigkeit nahezulegen. Der gemeinsame Nenner dieser verschiedenen Varianten des Anderweltsschiffs mag in der Konstruktion des Schiffs aus einem wertvollen, glänzenden Material bestehen, und hierin mögen Reflexe vorchristlicher Motive zu finden sein. Mehr oder weniger „authentische“ vorchristliche Elemente des Landes der Frauen dürften sich somit in folgenden Motiven finden: (1) der Insellage; (2) der dominierenden Rolle übernatürlicher Frauengestalten; (3) dem sexuellen Element in der Beziehung des sterblichen Helden zur anderweltlichen Frauengestalt; (4) der Verbindung mit Äpfeln, Apfelbäumen oder Apfelbaumzweigen; (5) der Unsterblichkeit, die auf der Anderweltsinsel herrscht; (6) der Entkoppelung des anderweltlichen Zeitflusses vom Zeitfluss der menschlichen Welt; (7) und dem Anderweltsschiff, sei es kristallen oder ehern. Was ist nun das Verhältnis zwischen dem einheimisch-irischen Konzept einer paradiesischen Anderweltsinsel der Unsterblichkeit einerseits und andererseits dem Genre der klerikalen Seereisen, wie es von der Navigatio, den immrama und der Historia de Enoch et Elia vertreten wird? Es ist vorgeschlagen worden – in jüngster Zeit insbesondere von Kim McCone –, dass die Lage der Anderwelt von Immram Brain in fernen Westen jenseits des Meeres der asketischen Praxis der peregrinatio zur See geschuldet sein könnte.¹⁴³⁸ Dieser Interpretationsansatz vernachlässigt zwar die mögliche literarische Quelle für eine westliche Lokalisierung der Anderwelt in den Etymologien des Isidor von Sevilla, hat – als Ergänzung zu dieser literarischen Quelle betrachtet – grundsätzlich jedoch eine erhebliche Plausibilität: In Anbetracht der Reichweite irischer peregrini, die sogar bis zu den Färöern und nach Island vorstießen, stellten die klerikalen Seereisen irischer Anchoriten Leistungen dar, die ihre Zeitgenossen zumindest ebenso beeindruckt haben dürften wie die modernen Kommentatoren; es ist daher grundsätzlich plausibel, dass diese peregrinationes zur See sich auch ganz wesentlich auf die zeitgenössische Literatur ausgewirkt und in
1438 McCone 2000, S. 64, 96–99 (bes. S. 99: „The seventh and eighth centuries [...] were a time when the theory and practice of seeking spiritual fulfilment on one of the islands in the ocean to the West and North of Ireland were very much in vogue in ecclesiastical circles. Surely one need look no further for the source of the almost certainly non-traditional motif of a sinless overseas paradise, desire for the attainment of which motivates the action of the monastically produced Echtrae Chonnlai and Immram Brain.“); Mac Mathúna 1985, S. 281 (führt die Lage allgemein auf ekklesiastische Vorlagen zurück: „it is extremely likely that the location of the Otherworld in Bran on an island far out in the western sea, is primarily dependent on ecclesiastical inspiration“; vgl. jedoch auch Mac Mathúnas etwas andere Zugangsweise in einer späteren Veröffentlichung, wo er neben ekklesiastischen Einflüssen auch die Rolle von Anderweltsinseln vor der irischen Westküste für die Ausbildung der Anderweltsschilderungen der immrama betont: Mac Mathúna 1994, S. 347). Vgl. ferner Carey 2000 (1982/83), S. 115–119, der den nicht-traditionellen Charakter der Lokalisierung der Anderwelt auf einer Insel in den Weiten des Ozeans betont.
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dieser einen unmittelbaren Niederschlag gefunden haben könnten. Inwieweit ist eine Abhängigkeit der immrama von den realen Erfahrungen und Motivationen irischer peregrini jedoch auch für die phantastischeren Details dieser Texte anzunehmen? Stutzig macht hier schon die Vita Albei. Wie oben ausgeführt, wird der Heilige Ailbe in diesem Text gegen Ende seines Lebens von einem bronzenen Schiff in eine unbestimmte Ferne entrückt. Während Ailbes Abwesenheit tröstet ein Engel die Gefährten des Heiligen mit der Auskunft, dass Ailbe bald zurückkehren werde. Dies ist in der Tat der Fall, und bei seiner Rückkehr trägt der Heilige einen fruchttragenden Zweig bei sich, von dem er sich nie mehr trennt, bis ein Engel diesen Zweig kurz vor seinem Tod wieder fortträgt. Aus einer rein christlichen Perspektive heraus macht im Rahmen dieser Erzählung schon das Eingreifen von Engeln deutlich, dass es sich bei Ailbes Fruchtzweig um eine göttliche (und in diesem Sinne „anderweltliche“) Gabe handelte. Im Kontext christlicher kosmologischer Vorstellungen scheint Ailbe an einen gartenhaften Ort nach Art des irdischen Paradieses entrückt worden zu sein, von wo er einen Gegenstand als greifbaren Beweis seiner Reise mitbringen darf; dies mag ausdrücken wollen, dass die Heiligkeit Ailbes beinahe ebenso groß ist wie die Heiligkeit Enochs und Elias, die gleichfalls zu Lebzeiten ins Paradies entrückt wurden (dort aber freilich bis zur Apokalypse bleiben dürfen). Eine solche christliche Leseweise sieht jedoch nur einen Teil des kulturellen Bodens, in dem die letzte Wundergeschichte von Ailbes Biographie verwurzelt ist. Der Fruchtzweig legt nahe, dass Ailbe ins irdische Paradies entrückt wird – doch das irdische Paradies ist in der ekklesiastischen Tradition, wie sie etwa durch Isidor von Sevilla in Irland bestens bekannt war, im fernen Osten in der Nähe Indiens lokalisiert, und nicht auf einer Insel. (Isidor lehnt eine Lokalisierung des Paradieses auf einer Insel im Westen sogar ausdrücklich ab.) Das Fahrzeug, das Ailbe in dieses geographisch dislozierte irdische Paradies bringt, ist darüber hinaus gerade eine navis enea, ein Bronzeschiff – ein Motiv, das in einem christlichen Kontext ausgesprochen merkwürdig anmutet. In Tochmarc Becḟola und Serglige Con Culainn erscheint das Motiv des Bronzeboots zudem in Verbindung mit einer Anderwelt, die in diesen Texten als dezidiert heidnisch dargestellt und als heidnisch verdammt wird; dies legt nahe, dass die Vita Albei hier ein einheimisch-irisches Anderweltsmotiv in die Lebensgeschichte des Heiligen eingeführt hat. Vor diesem Hintergrund bekommt auch das Motiv des Fruchtzweigs eine neue Signifikanz, den Ailbe von seiner Anderweltsreise mit nach Hause bringt. Eine erhellende Parallele findet sich in der Erzählung von „Neras Abenteuerfahrt“ (Echtra Nerai). Diese Geschichte erzählt, wie ein Krieger namens Nera während einer Samain-Nacht durch eine Höhle in die Anderwelt gelangt. Dort nimmt er sich eine Frau und hält sich eine geraume Zeit bei ihr auf; dann erfährt er jedoch von Plänen des Anderweltsvolks, am nächsten Samain die Burg seines Königs und seiner Königin anzugreifen und zu zerstören. Er bricht auf, um sie vor dieser Gefahr zu warnen. Als er – seinem eigenen Empfinden nach ein volles Jahr nach seinem Aufbruch – in der Menschenwelt wieder nach Hause kommt, findet er den königlichen Haushalt noch am selben Kessel sitzend vor, an dem er ihn verlassen hatte, als er in
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der vorangehenden Samain-Nacht zu seinem Abenteuer aufbrach: Während seines einjährigen Aufenthalts in der Anderwelt ist in der Menschenwelt nahezu keine Zeit verstrichen. Als Beweis dafür, dass er aus der Anderwelt kommt und vor einer wirklichen Gefahr warnt, bringt Nera „Früchte des Sommers“ (toirthe samruid) mit sich, die er in der winterlichen Königshalle vorzeigen kann. Der Fruchtzweig, den Ailbe aus dem irdischen Paradies mitbringt, hat innerhalb der Vita keine narrative Funktion, die derjenigen von Neras „Früchten des Sommers“ entsprechen würde: Ailbes Anderweltsreise wurde seinen Gefährten schon durch einen Engel erläutert, so dass Ailbe bei seiner Rückkehr keinen Beweis für seine Reise braucht. Der Zweig erscheint in der Vita Albei als reines Souvenir. Diese scheinbare oder anscheinende Funktionslosigkeit wirft die Frage auf, ob es sich bei Ailbes Fruchtzweig nicht um ein irisch-einheimisches Anderweltsmotiv handeln könnte, das in die Erzählung nur deshalb Eingang gefunden hat, weil beim Publikum eine entsprechende Erwartungshaltung bestand: Der Anderweltsreisende bringt als Zeichen seiner Anderweltsreise etwas von den Früchten der Anderwelt mit sich zurück in die Menschenwelt. Falls dem so ist, deuten die drei Elemente der (1) Insellage des irdischen Paradieses, des (2) Bronzeschiffs und des (3) Fruchtzweigs in der Vita Albei darauf hin, dass dieses Heiligenleben in der Beschreibung von Ailbes zeitweiliger Entrückung nicht nur auf etablierte pan-christliche, sondern insbesondere auch auf einheimisch-irische Motive zurückgegriffen hat. Die jenseits des Meeres gelegene Anderwelt der Vita Albei scheint ein christlich-heidnisches Palimpsest darzustellen, das zwar in eine christliche Kosmologie eingeordnet ist und christlichen Intentionen dient, dessen Details jedoch teilweise einheimische Wurzeln haben, die bis in die vorchristliche Gedankenwelt Irlands zurückreichen. So gehört das Motiv der Entrückung nach dem Vorbild des Enoch und des Elias der christlichen Tradition an, während es sich beim Fruchtzweig eher um ein einheimisch-irisches Anderweltsmotiv handelt; und ebenso ist die Insellage des Heilsgefildes ein irisch-paganes Motiv, das durch die Lokalisierung der Insel in großer Ferne (statt in Küstennähe oder in einem Binnensee) jedoch deutliche Spuren der ekklesiastischen Praxis der peregrinatio zur See und der Etymologien des Isidor von Sevilla zeigt. Eine Beschreibung als christlich-heidnisches Palimpsest mag – in bald geringerem und bald größerem Maße – auf viele der Wunderinseln zutreffen, die in den immrama und verwandten Literaturwerken geschildert werden. Jan de Vries stellte im Zuge seiner Diskussion von Anderweltsinseln und Konzepten wie der Mag Mell von Immram Brain und Echtrae Chonnlai die Frage in den Raum: „Haben die irischen Anchoreten, die sich so gern in ihrem Korakel dem Meere anvertrauten, nicht auch die heimliche Hoffnung gehegt, von Gottes Hand geführt auf eine dieser Inseln im Meere zu gelangen?“¹⁴³⁹ Noch in jüngster Zeit wurde ganz entsprechend von Francisco
1439 de Vries 1961 (Religion), S. 260. Vgl. jüngst Zelzer 2006, S. 341, die vermutet, dass die seefahrenden Asketen Irlands sich vielleicht „in search of a genuine Terra Repromissionis“ befanden, und
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Marco Simón vorgeschlagen, die irische peregrinatio als in keltischen Vorstellungen verwurzelt zu sehen;¹⁴⁴⁰ Clara Strijbosch nahm an, dass es sich bei der ursprünglichen Legende von der Reise Brendans vielleicht um eine Erzählung von einer Reise in die Anderwelt gehandelt haben könnte;¹⁴⁴¹ und Dáithí Ó hÓgáin sah die prominente Stellung mythischer Inseln in den immrama als einen Reflex einheimisch-irischer Vorstellungen.¹⁴⁴² Über Spekulationen ist hier kaum hinauszukommen, doch ist immerhin auffällig, dass das Konzept der Paradiesinsel in der irischen Literatur zu einer Blüte gelangte, wie sie anderswo in den europäischen Literaturen des Mittelalters vergebens Ihresgleichen sucht. Paradiesinseln, wie sie in der Navigatio, den immrama und der Historia de Enoch et Elia geschildert werden, stellen kein urchristliches Konzept dar: Sie finden sich in der Bibel ebensowenig wie in den Kirchenvätern. Ganz im Gegenteil wird eine Gleichsetzung der „Inseln der Seligen“ mit dem irdischen Paradies von Isidor sogar scharf als heidnische Verirrung gegeißelt (Etymologiae XIV.vi.8).¹⁴⁴³ Das in der irischen Literatur so prominente Konzept der Paradiesinsel ist somit in jedem Fall zunächst eine Eigentümlichkeit der christlichen Literatur Irlands – wenn auch eine Eigentümlichkeit, die durch die Vermittlung der Brendanslegende weit über die Küsten Irlands hinaus Verbreitung fand. Seine prominenteste Entfaltung erfuhr das Paradiesinselkonzept im mittelalterlichen Irland im Kontext einer christlichen Gesellschaft, und hier insbesondere im Kontext eines blühenden Mönchswesens. Dort wiederum ist die Vorstellung der Paradiesinsel nicht zu trennen vom irdischen Paradies des Alten Testaments, den paradiesischen Gefilden der Patristik (wie der terra viventium), Bibelworten wie der neutestamentlichen Aufforderung zum Verlassen der Heimat in Matthäus 19.29, der Blüte der peregrinatio als Mittel der asketischen Entsagung, und wohl noch anderen Faktoren, die in der christlichen Gesellschaft Irlands wirksam waren.¹⁴⁴⁴ Auch in ihrer Summe stellen diese verschiedenen christlichen Faktoren jedoch keine befriedigende Erklärung dafür dar, warum in der immrama-Literatur immer wieder eine Lokalisierung des irdischen Paradieses auf einer Insel vorgenommen wird – immerhin waren die Etymologien, in denen Isidor eine Gleichsetzung
ebenso Pétur Gunnarsson 2009, S. 5: „Is it possible that the Celtic monks who first found Iceland in the early middle ages had set off in search of that earthly paradise?“ 1440 Marco Simón 1997, S. 504. 1441 Strijbosch 2000, S. 242–244. 1442 Ó hÓgáin s. a., S. 256: „The descriptions in the celebrated Navigatio Brendani and in other early Irish monastic sources are largely drawn from Christian metaphor regarding the quest for holiness symbolised as Tír Tairngire (‘the Promised Land’), but the prominence of strange islands in that literature must in some degree be related to native ideas known to these monks.“ Zum Nebeneinander paganer und christlicher Elemente in den immrama vgl. in diesem und ähnlichem Sinne ferner etwa noch Wooding 2014, S. 95; Gouttebroze 2003, S. 53; Edel 2001, S. 105; Bray 2000 (1995), S. 176; sowie Herbert 1999, S. 186 zur maritimen Entrückungsszene im oben besprochenen lateinischen Leben des Hl. Ailbe (siehe oben S. 310). 1443 Siehe oben S. 187. 1444 Vgl. Charles-Edwards 2000 (1976); Byrne 2000 (1932).
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der „Inseln der Seligen“ mit dem Paradies verdammt, in Irland bestens bekannt. Die Überschneidung christlicher Paradieskonzepte und einheimisch-irischer Vorstellungen von paradiesischen Anderweltsinseln, wie sie sich an früher und prominenter Stelle in der Vita Albei findet, mag nahelegen, dass die Lokalisierung des irdischen Paradieses auf einer Insel in der christlichen irischen Literatur von einheimisch-irischen Konzepten von paradiesischen Anderweltsinseln nicht gänzlich unabhängig ist. Dies gilt umso mehr, als sich die Verbindung christlicher und einheimischer Konzepte auch anderswo häufig findet: Hierher gehört die Identität der Anderweltsinsel von Tochmarc Becḟola mit einer Klosterinsel; die gleichzeitige Verwendung irischer Anderwelts- und christlicher Paradiesmotive im mittelirischen Preisgedicht auf Raghnall/Rǫgnvaldr, König von Man;¹⁴⁴⁵ die Zuschreibung von Anderweltsmotiven an die Klosterinsel der Topographia Hibernica; die anderweltliche Entkoppelung vom normalen Zeitfluss, die Barinthus in der Navigatio während seines Besuchs im paradisus Dei in spacio maris erlebt;¹⁴⁴⁶ und der verheerende Effekt der anderweltlichen Zeit auf die Mönche der Historia de Enoch et Elia. In Anbetracht der mehr als fragmentarischen Materiallage muss weitgehend dahingestellt bleiben, ob es sich bei dieser Verschmelzung einheimisch-irischer Anderweltsinseln mit christlichen Paradieskonzepten um einen tatsächlichen religiösen Synkretismus oder um ein rein literarisches Spiel mit literarischen Motiven handelte, das von den irischen literati als literarische Übung gepflegt wurde. Ein gewisses Maß an religiösem Synkretismus ist jedoch nicht auszuschließen. Ein Eintrag in den Annalen des Tigernach zum Jahr 1084 illustriert deutlich, dass Vorstellungen des irischen Heidentums mit dem institutionellen Abschluss der Bekehrung Irlands im 6. Jahrhundert noch nicht völlig erloschen waren. Der fragliche Eintrag berichtet von einer großen Pestepidemie, der ein Viertel der Einwohner Irlands zum Opfer fiel. Von dieser Pest heißt es weiter, dass sie durch Dämonen verursacht wurde, die von den nördlichen Inseln der Welt stammten. Als Quelle für diese Information berufen die Annalen sich auf den vorchristlichen Gott Óengus Óc, den Sohn des Dagda, der den Grund für die Epidemie einem Mann berichtet habe, welcher gewohnheitsmäßig in der Samain-Nacht „den Elfenhügel“ (an sith) aufsuchte (wohl den Newgrange Tumulus, der üblicherweise als der Wohnsitz des Óengus gilt).¹⁴⁴⁷ Dies zeigt, dass ein vorchristlicher Gott noch im späten 11. Jahrhundert als eine wirkmächtige und zumindest nicht übelwollende Macht aufgefasst werden konnte. Wenn dies jedoch im späten 11. Jahrhundert für einen Gott gelten konnte, dann ist keineswegs auszuschließen, dass dasselbe zweihundert Jahre früher auch für einzelne Paradiesvorstellungen möglich gewesen sein könnte. Bei der irischen Lokalisierung des irdischen Paradieses auf einer Insel mag es sich somit um das mythologische Äquivalent der Akkul-
1445 Siehe oben S. 347. 1446 Vgl. Bray 2000 (1995), S. 182. 1447 Annalen des Tigernach (hgg. von Stokes 1895–1897), s. a. 1084.
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turationspolitik handeln, die Gregor der Große in seinem bekannten Schreiben an den Abt Mellitus für die Bekehrung der Angelsachsen empfahl: Um den heidnischen Angelsachsen den Übergang zum Christentum zu erleichtern, sollten die Missionare ihre Tempel nicht zerstören, sondern in Kirchen umweihen, und ebenso sollten sie die alten Opferfeste nicht einfach ersatzlos abschaffen, sondern an den Kirchweihtagen und den Festtagen der Märtyrer Feste mit Schlachtungen und großen Festmählern einrichten.¹⁴⁴⁸ Bernhard Maier geht sogar soweit, zu vermuten, dass die Ähnlichkeit zwischen einheimisch-irischen Vorstellungen von paradiesischen Anderweltsbereichen und christlichen Paradieskonzepten einen Beitrag dazu geleistet haben könnte, die Annahme des Christentums in Irland zu erleichtern und die Kluft zwischen der alten und der neuen Religion zu überbrücken.¹⁴⁴⁹ Wie auch immer es sich mit dem Verhältnis christlicher und ursprünglich irischvorchristlicher Elemente in den Anderweltsinseln der irischen Literatur des Frühmittelalters verhalten mag, zu dem Zeitpunkt, als Irland während der Wikingerzeit in einen (zumindest aus irischer Sicht) allzu engen Kontakt mit dem skandinavischen Kulturraum trat, war Irland ein christliches Land. Eventuelle Religionskontakte zwischen dem nordgermanischen Heidentum der Wikingerzeit und der Religion der zeitgenössischen Iren waren daher in keinem Fall Religionskontakte zwischen zwei vorchristlichen Religionen, die etwa die heidnische Mythologie des Nordens mit der vorchristlichen Mythologie Irlands in Kontakt gebracht hätten, sondern vielmehr Kontakte zwischen den spätheidnischen (oder frühchristlichen) Skandinaviern und den christlichen Iren. Unmittelbar aus der Zeit dieser Kontakte liegt aus Irland eine reiche Textüberlieferung vor: Die oben besprochenen Texte setzen kurz vor der Wikingerzeit ein (Echtrae Chonnlai, Immram Brain, die Vita Albei und vielleicht die Navigatio), ziehen sich quer durch die Wikingerzeit (die späteren immrama, Tochmarc Becḟola und Teile von Serglige Con Culainn) und reichen über das Ende der Wikingerzeit noch hinaus (Acallam na Senórach, Tochmarc Luaine und das Preisgedicht auf Rǫgnvaldr). Daher ließe sich die Frage stellen, inwieweit die mythische Vorgeschichte der irischen Anderweltsinseln für die Erforschung nordisch-irischer Kulturkontakte überhaupt relevant ist – immerhin ist die zeitgenössische Vorstellungswelt des wikingerzeitlichen Irland in einem reichen Quellencorpus direkt bezeugt. Die Bedeutung der Frage nach der Vorgeschichte des irischen Materials beruht jedoch auf dem Beitrag, den sie zum Verständnis der longue durée des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes leisten kann: Dieser Vorstellungskomplex mag während der Wikingerzeit nach Irland gekommen und dabei Quellen entnommen worden sein, die uns auch heute noch
1448 Hgg. von Hartmann 1899, S. 331; Patrologia Latina t.LXXVII, c.1215A–1217A. Zur Bedeutung von Akkulturation für das frühe irische Christentum vgl. O’Loughlin 2006, S. 411. 1449 Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 169, apropos christlicher Paradiesvorstellungen: „I think it was the similarity between such ideas and native beliefs which facilitated the acceptance of Christianity and helped to bridge the gulf between the old religion and the new.“ Vgl. Oskamp 1970, S. 83.
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direkt vorliegen; doch welches Erbe traten die Skandinavier damit an? Wo sind die Wurzel des Vorstellungskomplexes zu suchen, der in Island mit dem Hvanndalur verbunden werden sollte, und wie weit lassen sich diese Wurzeln zurückverfolgen? Oder in anderen Worten: Die Frage nach der Vorgeschichte der irischen Anderwelts- und Unsterblichkeitsgefilde dient nicht so sehr dazu, den Moment der eventuellen Entlehnung dieser Vorstellungskomplexe in den nordischen Kulturraum zu fassen, als vielmehr dazu, zu einem Tiefenverständnis der religionsgeschichtlichen Zusammenhänge zu gelangen, die damit in das geistesgeschichtliche Erbe des Nordens Eingang fanden. In diesem Sinne wird das nächste Kapitel sich dem keltischen Befund der Antike zuwenden und sich anhand dieses Materials der Frage annähern, wie weit sich die Geschichte des anderweltlichen Unsterblichkeitsgefildes jenseits der See in Nordwesteuropa noch verfolgen lässt.
6 Ausblicke auf die keltische Antike, oder: Die longue durée der Anderweltsinsel In den vorangegangenen Kapiteln wurden als Vergleichsmaterial zum nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex einige mittelalterliche keltische Bearbeitungen des Themas anderweltlicher Unsterblichkeitsinseln besprochen. Ihren Ausgang nahm die Diskussion dieses inselkeltischen Materials vom arthurischen Avalon-Mythos, der in der jüngsten Forschung zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir das prominenteste keltische Vergleichsmaterial zum nordischen Unsterblichkeitsgefilde darstellte. Nach einer ausführlichen Besprechung dieses Motivkomplexes der arthurischen Literatur wandte die Diskussion sich einigen der Anderweltsinseln der mittelalterlichen Literatur Irlands zu; dieses Material hatte in der jüngsten Forschung zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir nur eine untergeordnete Rolle gespielt und war seit dem 19. Jahrhundert in diesem Kontext nicht mehr im Detail analysiert worden, erwies sich aber schnell als eine Parallele zum nordischen Befund, die an Bedeutung der arthurischen Literatur zumindest gleichkommt. Die Signifikanz des irischen Materials ist dabei eine doppelte: Einerseits stellen die Ähnlichkeiten zwischen dem irischen und dem arthurischen Material traditionell das grundlegendste Argument dafür dar, dass die Insel Avalon der arthurischen Literatur tatsächlich eine literarische Rezeption genuin mythologischer inselkeltischer Vorstellungen darstellt; dies ist potentiell von einiger Bedeutung für die Frage, ob die Parallelen zwischen dem nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex und dem arthurischen Material rein literarische oder vielmehr religionsgeschichtliche Beziehungen zwischen dem Norden und der inselkeltischen Welt wiederspiegeln. Andererseits sollte die ausführliche Betrachtung einiger Motive der frühen irischen Literatur deutlich gemacht haben, dass das irische Material auch unabhängig von der arthurischen Literatur wichtiges Vergleichsmaterial im eigenen Recht darstellt, das in einer Diskussion des nordischen Befundes nicht außer Acht gelassen werden darf.¹⁴⁵⁰ Wie bei der ausführlichen Besprechung dieses irischen Vergleichsmaterials immer wieder deutlich wurde, stellt das irische Material das literarische Zeugnis einer durch und durch christlichen Kultur dar, die sich zwar einiger Motive mit vorchristlichen Wurzeln zu bedienen scheint, dabei ihren christlichen Charakter aber nie verleugnet. Tatsächlich vorchristliche Schriftquellen liegen aus Irland nicht vor. Textliche Quellen, die genuin der vorchristlichen Zeit zugehören, existieren jedoch in Form antiker ethnographischer Bemerkungen zur Religion der Kelten Britanniens und Kontinentaleuropas. Einige wenige dieser Zeugnisse berühren auch Vorstellungen von mythischen oder heiligen Inseln. Für einen Teil dieser Texte wurde in der
1450 Dass insbesondere die spezifischen Eigenheiten des irischen Materials, die es vom arthurischen Material unterscheiden, für die Frage der historischen Wurzeln des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes von einiger Bedeutung sind, wird im Folgenden noch deutlich werden (unten S. 482 ff.).
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Geschichte der Forschung mitunter ein Zusammenhang mit dem Avalon der arthurischen Literatur und sogar mit vergleichbaren (oder vermeintlich entsprechenden) germanischen Vorstellungen diskutiert. Diese antiken Zeugnisse sollen den Gegenstand des folgenden Kapitels bilden. Das umfangreichste und meistzitierte einschlägige Textzeugnis ist ein Bericht des Prokop über eine Toteninsel „Brittia“ (Britannien), das seine besondere Bedeutung daraus bezieht, dass es einen frühen Beleg für die Eigenheiten des Zeitverlaufs in der keltischen Anderwelt und auf der Reise zu keltischen Anderweltsinseln darzustellen scheint. Zwei Stellen im Werk des Plutarch befassen sich darüber hinaus mit einer Insel des Kronos, die als Aufenthaltsort eines schlafenden Gottes wiederholt mit dem Aufenthalt Arthurs auf Avalon verbunden worden ist. Weitere Zeugnisse für eine Frühform Avalons wurde forschungsgeschichtlich in einigen antiken Bernsteininseln gesehen, insbesondere in der Insel Abalum, wie sie bei Tacitus (unter Rückgriff auf Pytheas) beschrieben wird. Eine schlagende und oft diskutierte, bisher aber vielleicht zu zuversichtlich bewertete antike Parallele zum arthurischen Avalon stellt ferner die Beschreibung dar, die der römische Geograph Pomponius Mela vom Inselheiligtum Sena vor der Küste der Bretagne gibt. Die Möglichkeit einer longue durée entsprechender Vorstellungen wird schließlich auch mit Hinblick auf Zeugnisse der Religionsgeschichte der iberischen Kelten zur Diskussion gestellt.
6.1 Prokop und die Toteninsel Die Geschichtsschreibung der Mittelmeerwelt geht immer wieder auf vermeintliche oder reale Elemente der Religionsgeschichte Nordwesteuropas ein;¹⁴⁵¹ dabei enthält sie auch vereinzelte Zeugnisse, die für die Religionsgeschichte spezifisch der mythischen Anderweltsinseln des Barbaricums von Relevanz sind. Das ausführlichste dieser Zeugnisse findet sich im Werk des byzantinischen Historikers Prokopios aus Caesarea, der im 6. Jahrhundert wirkte, genauer gesagt im 8. Buch seiner Kriegsgeschichte;¹⁴⁵² dieses Buch behandelt Ereignisse der frühen 550er Jahre, und seine Fertigstellung lässt sich auf die Jahre 553/554 datieren.¹⁴⁵³
1451 Vgl. bes. Hofeneder 2005–2011. 1452 Vgl. etwa Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 473–478; Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 65; Marco Simón 2008, S. 56, 59; Birkhan 1997, S. 557–560; Marco Simón 1997; Lanczkowski 1986, S. 12 f.; Thompson 1980; Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 276; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 285; Chadwick 1972, S. 130; Wagenvoort 1971, S. 273 f., 285–287; Le Roux 1962, S. 1057 f.; de Vries 1961 (Religion), S. 257; Straubergs 1957, S. 66 f.; Burn 1955; Patch 1950, S. 28 f.; Müller-Lisowski 1948, S. 149 f.; Much 1924, S. 101; Hull 1907, S. 128; Radermacher 1903, S. 5 f.; Rhŷs 1891, S. 358; Zemmrich 1891, S. 228 f.; Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 694 f.; de la Villemarqué 1867, S. 156 f. Allgemein zum Genre dieser Passage (Paradoxographie) vgl. Marco Simón 1997, S. 499 f., 505–507. 1453 Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 473.
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Die fragliche Passage bildet den letzten Teil eines Exkurses, den Prokop der Landeskunde Britanniens widmet und mit der Beschreibung zweier mythischer Züge dieser Insel abschließt. Beim ersten dieser beiden Züge handelt es sich um eine Mauer, durch welche die Insel in eine bewohnbare und eine unbewohnbare Hälfte geteilt wird: Die Bewohner Britanniens hätten vor langer Zeit eine Mauer errichtet, die ihre Insel zweiteilt; auf der östlichen Seite dieser Mauer geht das Leben seinen gewohnten Gang, das Klima ist nicht unangenehm und das Land fruchtbar. Jenseits der Mauer sei es jedoch für Menschen unmöglich, auch nur eine halbe Stunde zu überleben. Das Land sei dort voller Schlangen, und wer sich in dieses Territorium begebe – egal ob Mensch oder Tier –, der erliege sofort der verpesteten Luft dieser Region (Bella VIII. xx.42–46 = Bell. Goth. IV.xx.42–46). Traditionell wurde die Mauer, die Britannien in eine bewohnbare und eine unbewohnbare Hälfte teil, als eine Reminiszenz an den Hadrianswall gedeutet.¹⁴⁵⁴ Diese Interpretation wurde jüngst jedoch von Francisco Marco Simón in Frage gestellt: Er vertritt die Auffassung, dass es sich bei dieser Mauer nicht um ein reales Monument handelt, sondern um ein keltisch-germanisches mythisches Motiv.¹⁴⁵⁵ Um diese These zu belegen, verweist er vor allem auf Passagen der oben bereits ausführlich angesprochenen irischen immrama.¹⁴⁵⁶ Dem spezifisch klerikalen Kontext dieses Vergleichsmaterials schenkt er dabei jedoch keine Beachtung. So zitiert er als erste Vergleichsstelle eine der Inseln von Immram Curaig Ua Corra (11./12. Jahrhundert):¹⁴⁵⁷ Dieser Text schildert u. a. eine Insel, von der es heißt, dass sich auf einem Teil der Insel tote Männer befinden, auf einem anderen hingegen lebende. Bis zu diesem Punkt lässt sich diese Insel von Immram Ua Corra in der Tat als eine Parallele zur zweigeteilten Insel Prokops auffassen; Marco Simón erwähnt jedoch nicht, dass die Schilderung der zweigeteilten Insel von Immram Ua Corra noch weitergeht und eine Vielzahl von Zügen enthält, die ihre Beschreibung explizit als eine christliche Höllenschilderung ausweisen: Die Menschen auf dieser Insel erleiden furchtbare Qualen durch Feuer und glühende Spieße, die ihre Strafe dafür darstellen, zu Lebzeiten ihre Bußauflagen nicht erfüllt zu haben (Immram Curaig Ua Corra § 53). Als ganze genommen, lässt die Schilderung dieser Insel sich somit eindeutig nicht als Parallele zur zweigeteilten Insel Prokops auffassen. Ähnlich wenig überzeugend sind die übrigen von Marco Simón zum Vergleich herangezogenen Inseln aus dem Repertoire der Immrama (Immram Curaig Maíle Dúin §§ 12, 13, 16, 17, 25, 32; Immram Snédgusa ocus Maic Riagla § 63).¹⁴⁵⁸ Abgesehen von der fehlenden Berücksichtigung des christlich-klerikalen Kontexts dieser Texte fehlen diesem Vergleichsmaterial durchgehend konkrete enge Übereinstimmungen mit
1454 Vgl. etwa Birkhan 1997, S. 559 f.; Thompson 1980, S. 498, 507. 1455 Marco Simón 1997, S. 501 f.; akzeptiert von Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 476 f. 1456 Marco Simón 1997, S. 501. Siehe oben S. 262 ff. 1457 Zu Ausgaben und Datierung siehe oben S. 308. 1458 Siehe oben S. 297 ff. und S. 306 ff.
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Prokops Schilderung; so ist etwa nicht ersichtlich, in welcher Hinsicht die von einer rotierenden Flammenwand umgebene Paradiesinsel in Immram Maíle Dúin § 32 eine Parallele zu Prokops Bericht darstellen soll.¹⁴⁵⁹ Noch fundamentaler ist ferner ein weiteres Problem von Marco Simóns Argumentation: Eine wesentliche Grundlage seines Vergleichs zwischen der zweigeteilten Insel Prokops und den Inseln der immrama stellt die Annahme dar, dass es sich bei den immrama um eine Art inselkeltischer Totenbücher handelt, welche die Aufgabe hatten, dem Toten den Weg für eine sichere Reise ins Jenseits zu weisen.¹⁴⁶⁰ Eine solche Deutung der immrama wurde in den frühen 1960er Jahren von den Brüdern Rees vorgeschlagen,¹⁴⁶¹ lässt sich aus den Texten selbst heraus jedoch nicht rechtfertigen und wird in der Fachwissenschaft heute allgemein abgelehnt.¹⁴⁶² Insgesamt dürfte Marco Simóns Deutung von Prokops Schilderung der britannischen Mauer als tief in lokalen Traditionen verwurzeltes mythisches Motiv damit hinfällig sein; hier handelt es sich vielmehr, wie von der Forschung traditionell weithin angenommen wurde, um eine Mythisierung des Hadrianswalls. Für das Verständnis der folgenden Passage von Prokops Schilderung der Mythologie Britanniens spielt das Mauermotiv somit keine Rolle. Im Anschluss an seine Ausführungen zur Zweiteilung Britanniens durch eine Mauer gibt Prokop eine Erzählung über die Überfahrt der Seelen der Toten vom gallischen (bzw. fränkischen) Festland auf die Insel Britannien wieder, die ihm durch wiederholte direkte Augenzeugenberichte bekannt geworden sei. Diese Passage scheint wichtig genug, um sie trotz ihrer Länge vollständig wiederzugeben (Prokop, Bella VIII.xx.47–58 =Bell. Goth. IV.xx.47–58): ἐνταῦθα δέ μοι γενομένῳ τῆς ἱστορίας ἐπάναγκές ἐστι λόγου μυθολογίᾳ ἐμφερεστάτου ἐπιμνησθῆναι, ὃς δή μοι οὔτε πιστὸς τὸ παράπαν ἔδοξεν εἶναι, καίπερ ἀεὶ πρὸς ἀνδρῶν ἐκφερόμενος ἀναρίθμων, οἳ δὴ τῶν μὲν πρασσομένων αὐτουργοὶ, τῶν δὲ λόγων αὐτήκοοι ἰσχυρίζοντο γεγονέναι, οὔτε
Da ich in meiner Erzählung hier angelangt bin, ist es für mich unumgänglich, eine Geschichte zu erwähnen, die aufs äußerste einem Märchen gleicht und die mir überhaupt nicht glaubwürdig zu sein schien, obgleich sie immer von zahllosen Menschen vorgebracht wird, die fest behaupteten, selbst Durchführer der Tätigkeiten und Ohrenzeugen der Worte
1459 Marco Simón 1997, S. 501; zu dieser Insel, die (zusätzlich zu den fehlenden klaren Übereinstimmungen mit Prokops Schilderung) ebenfalls in einem christlich-klerikalen Kontext zu sehen ist, siehe oben S. 305. Das Fehlen konkreter Übereinstimmungen in spezifischen Details lässt auch das von Marco Simón angeführte germanische Vergleichsmaterial als wenig relevant erscheinen: Marco Simón 1997, S. 502. 1460 Marco Simón 1997, S. 501: „El immram tiene su función propia: se trata de enseñar la “técnica” de morir y de pilotar el espíritu que parte por un mar de peligros y de maravillas [...].“ (Wiederholt auch in Marco Simón 2008, S. 56; Marco Simón 2009, S. 218 f.) Ganz ähnlich vgl. Martínez Hernández 1994, S. 90. 1461 Rees und Rees 1961, S. 325. 1462 Carey 2006 (Voyage Literature), S. 1743 und vgl. die ausführliche Besprechung des Genres oben in Kapitel 5 (S. 262 ff.).
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Ausblicke auf die keltische Antike, oder: Die longue durée der Anderweltsinsel
παριτέος παντάπασιν, ὡς μὴ τά γε ἀμφὶ Βριττίᾳ τῇ νήσῳ ἀναγραφόμενος ἀγνοίας τινὸς τῶν τῇδε ξυμβαινόντων διηνεκῶς ἀπενέγκωμαι δόξαν. Λέγουσιν οὖν τὰς τῶν ἀποβιούντων ἀνθρώπων ψυχὰς ἐς τοῦτο ἀεὶ διακομίζεσθαι τὸ χωρίον. ὅντινα δὲ τρόπον, αὐτίκα δηλώσω, σπουδαιότατα μὲν ἀπαγγελλόντων ἀκηκοὼς πολλάκις τῶν τῇδε ἀνθρώπων, ἐς ὀνείρων δέ τινα δύναμιν ἀποκεκρίσθαι νενομικὼς τὰ θρυλλούμενα. παρὰ τὴν ἀκτὴν τοῦ κατὰ τὴν Βριττίαν Ὠκεανοῦ νῆσον κώμας παμπληθεῖς ξυμβαίνει εἶναι. οἰκοῦσι δὲ αὐτὰς ἄνθρωποι σαγηνεύοντές τε καὶ γῆν γεωργοῦντες καὶ ἐπ’ ἐμπορίαν ναυτιλλόμενοι ἐς τήνδε τὴν νῆσον, τὰ μὲν ἄλλα Φράγγων κατήκοοι ὄντες, φόρου μέντοι ἀπαγωγὴν οὐπώποτε παρασχόμενοι, ὑφειμένου αὐτοῖς ἐκ παλαιοῦ τοῦδε τοῦ ἄχθους, ὑπουργίας τινὸς, ὥς φασιν, ἕνεκα, ἥ μοι ἐν τῷ παρόντι λελέξεται. λέγουσιν οἱ ταύτῃ ἄνθρωποι ἐκ περιτροπῆς ἐπικεῖσθαι τὰς τῶν ψυχῶν παραπομπὰς σφίσιν. ὅσοις οὖν τῇ ἐπιγενησομένῃ νυκτὶ ἐς τὸ ἐπιτήδευμα τοῦτο τῇ τῆς ὑπουργίας διαδοχῇ ἰτέον ἐστὶν, οὗτοι δὴ ἐπειδὰν τάχιστα ξυσκοτάζῃ, ἐς τὰς οἰκίας τὰς αὑτῶν ἀναχωροῦντες καθεύδουσι, προσδεχόμενοι τὸν συναγωγέα τοῦ πράγματος. ἀωρὶ δὲ τῶν νυκτῶν τῶν μὲν θυρῶν σφίσιν ἀρασσομένων αἰσθάνονται, φωνῆς δέ τινος ἀφανοῦς ἐπαΐουσιν ἐπὶ τὸ ἔργον αὐτοὺς ξυγκαλούσης. αὐτοί τε ὀκνήσει οὐδεμιᾷ ἐκ τῶν στρωμάτων ἐξανιστάμενοι ἐπὶ τὴν ἠϊόνα βαδίζουσιν, οὐ ξυνιέντες μὲν ὁποία ποτὲ ἀνάγκη αὐτοὺς ἐς τοῦτο ἐνάγει, ἀλλ’ ὅμως ἀναγκαζόμενοι. ἐνταῦθα δὲ ἀκάτους παρεσκευασμένας ὁρῶσιν ἐρήμους τὸ παράπαν ἀνθρώπων, οὐ τὰς σφετέρας μέντοι, ἀλλ’ ἑτέρας τινὰς, ἐς ἃς δὴ ἐσβάντες τῶν κωπῶν ἅπτονται. καὶ τῶν βάρεων αἰσθάνονται ἀχθομένων μὲν ἐπιβατῶν πλήθει, ἄχρι δὲ ἐς σανίδας τε ἄκρας καὶ τῶν κωπῶν τὴν χώραν τῷ ῥοθίῳ βεβαπτισμένων, ἀποδεουσῶν τε τοῦ ὕδατος ὅσον οὐδὲ δάκτυλον ἕνα, αὐτοὶ μέντοι οὐδένα θεῶνται, ἀλλὰ καὶ μίαν ἐρέσσοντες ὥραν ἐς τὴν Βριττίαν καταίρουσι. καίτοι ταῖς ἀκάτοις ἡνίκα ταῖς αὑτῶν ἰδίαις ναυτίλλονται, οὐχ ἱστίοις χρώμενοι, ἀλλ’ ἐρέσσοντες, ἐς νύκτα τε καὶ ἡμέραν μόλις ἐνταῦθα διαπορθμεύο-
geworden zu sein; und nicht ist sie gänzlich zu übergehen, damit ich mir nicht, während ich die auf die Insel Brittia bezogenen Dinge beschreibe, auf Dauer den Ruf irgendeiner Unkenntnis der Dinge, die sich hier ereignen, erwerbe. Sie sagen also, dass die Seelen der verscheidenden Menschen immer an diesen Ort übergesetzt werden. Auf welche Weise aber, werde ich sofort offenbaren, nachdem ich es oft von den dortigen Menschen in größtem Ernst berichtet gehört habe, wobei ich zur Überzeugung gelangt bin, dass das Gerede die Antwort auf eine gewisse Macht von Träumen dargestellt hat. Es verhält sich so, dass eine Vielzahl von Dörfern an der Küste des Ozeans gegenüber der Insel Brittia liegen. Sie bewohnen Menschen, die fischen und die Erde bebauen und die zu dieser Insel segeln, um Handel zu treiben; sie sind ansonsten zwar den Franken hörig, haben aber niemals die Zahlung eines Tributs geleistet, da ihnen diese Last von alters her erlassen worden ist – wie sie sagen, um eines geleisteten Dienstes willen, von dem von mir sogleich gesprochen werden wird. Die Menschen hier sagen, dass ihnen abwechselnd der Transport der Seelen auferlegt werde. Diejenigen also, die in der nachfolgenden Nacht zur Übernahme des Dienstes zu dieser Aufgabe gehen müssen, diese nun – sobald es äußerst schnell dunkel wird – gehen zurück zu ihren eigenen Häusern und begeben sich zu Bett, wo sie den erwarten, der sie für die Tat zusammenbringt. Zu nachtschlafender Stunde nehmen sie wahr, wie an ihre Türen geklopft wird, und sie hören die Stimme eines Unsichtbaren, die sie zum Werk zusammenruft. Sie selbst erheben sich ohne jeden Widerwillen aus den Betten und gehen an die Küste, ohne zu verstehen, welche Notwendigkeit in der Welt sie dazu treibt, aber nichtsdestoweniger gezwungen. Dort sehen sie abfahrbereite Boote, die gänzlich ohne Menschen sind, jedoch nicht ihre eigenen, sondern irgendwelche anderen; in gerade diese steigen sie ein und ergreifen die Ruder. Und sie nehmen die Schiffe wahr, wie sie mit der Menge der Reisenden beladen werden, bis zum äußersten – zu den obersten Planken und dem Platz der Ruder – in die Brandung eingetaucht sind, vom Wasser nicht so viel wie einen Finger entfernt; selbst freilich sehen sie niemanden, und doch gelangen sie, eine Stunde rudernd, nach Brittia. Wenn sie hingegen mit ihren eigenen leichten Booten fahren und die Segel nicht benutzen, sondern rudern, setzen sie nur mit Mühe und Not in einer Nacht und einem Tag dorthin über.
Prokop und die Toteninsel
νται· ἐς τὴν νῆσον δὲ καταπλεύσαντες ἀποφορτιζόμενοι ἀπαλλάσσονται αὐτίκα δὴ μάλα, τῶν βάρεων σφίσι κούφων γινομένων ἐκ τοῦ αἰφνιδίου κἀκ τοῦ ῥοθίου ἐπαιρομένων ἔν τε τῷ ὕδατι καταδυομένων οὐδέν τι ἄλλο, πλήν γε ὅσα ἐς τὴν τρόπιν αὐτήν. καὶ αὐτοὶ μὲν ἀνθρώπων οὐδένα ὁρῶσιν οὔτε ξυμπλέοντα οὔτε ἀπαλλασσόμενον τῆς νηὸς, φωνῆς δὲ ἀκούειν τινὸς ἐνθένδε φασὶ τοῖς ὑποδεχομένοις ἀπαγγέλλειν δοκούσης πρὸς ὄνομα τῶν συμπεπλευκότων αὐτοῖς ἕκαστον, τά τε ἀξιώματα ἐπιλεγούσης οἷς πρώην ἐχρῶντο καὶ πατρόθεν αὐτοὺς ἀνακαλούσης. ἢν δὲ καὶ γυναῖκες ξυνδιαπορθμευσάμεναι αὐτοῖς τύχωσι, τῶν ἀνδρῶν ἀποστοματίζουσι τὰ ὀνόματα οἷσπερ ξυνοικοῦσαι ἐβίων. ταῦτα μὲν οὖν οἱ τῇδε ἄνθρωποι ξυμβαίνειν φασίν.¹⁴⁶³
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Nachdem sie auf der Insel gelandet sind, löschen sie ihre Ladung und fahren unverzüglich wieder ab, während die Schiffe ihnen unversehens leicht werden, aus der Brandung heraus aufschwimmen und im Wasser nicht mehr versinken als wie weit der Kiel selbst reicht. Und selbst sehen sie keinen von den Menschen, weder mitfahrend noch aus dem Schiff aussteigend; sie sagen aber, eine Stimme von dort zu hören, die denen, die willkommen geheißen werden, in Hinblick auf einen jeden über den Namen der Mitreisenden Kunde zu bringen scheint, und die die Würden mitnennt, die sie letztens innehatten, und die sie mit dem Vaternamen aufruft. Wenn aber auch Frauen mit ihnen übergesetzt sind, nennen sie die Namen der Männer, mit denen sie im Bund der Ehe zusammenlebten. Diese Dinge also sollen sich nach dem Wort der dortigen Menschen ereignen.
Diese Passage erzählt, dass die Einwohner der gallischen Küstendörfer am Ärmelkanal die Aufgabe erfüllen, die Seelen der Toten vom Festland auf die Insel „Brittia“ (Βριττία) überzusetzen. Aus dem weiteren Kontext der Passage wird dabei deutlich, dass es sich bei „Brittia“ mit größter Wahrscheinlichkeit um die Insel Britannien handelt,¹⁴⁶⁴ die hier somit als eine Toteninsel erscheint. Als Quellen für diese Erzählung beruft sich Prokop auf Berichte von Augenzeugen und Teilnehmern der Ereignisse; für die Wiedergabe einer so phantastischen Geschichte entschuldigt er sich dabei damit, dass diese Berichte bei seinen byzantinischen Lesern so gut bekannt waren, dass das Verschweigen dieser Ereignisse ihm den Vorwurf einbringen würde, schlecht informiert zu sein. Auf welche Art genau solche Augenzeugenberichte Prokop jedoch zugänglich geworden sind, hat sich trotz einer ausführlichen Forschungsdiskussion zur Frage nicht bestimmen lassen; festhalten lässt sich nur, dass Prokop angibt, in eigener Person mit den Zeugen dieser Ereignisse gesprochen zu haben.¹⁴⁶⁵
1463 Text: Haury und Wirth 1962/63 Bd. 2, S. 597–600. (~Zwicker 1934–1936, S. 171 f.) 1464 Trotz verschiedener Probleme in Prokops Gebrauch der Namen Βριττία und Βρεττανία wird diese Identifizierung von der jüngeren Forschung allgemein anerkannt, vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 476; Marco Simón 2008, S. 56; Marco Simón 1997, S. 497 (Anm. 1); Birkhan 1997, S. 557 f. et passim; Thompson 1980, bes. S. 498; de Vries 1961 (Religion), S. 257. Straubergs vermutete (allerdings ohne weitere Begründung), dass Brittia mit Avalon identisch sein könnte: Straubergs 1957, S. 66. 1465 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 476; Marco Simón 1997, S. 506; Birkhan 1997, S. 558 f.; Thompson 1980, S. 501, 505 f. Etwas hyperkritisch scheint Birkhans Vergleich von Prokops Bericht mit Erzählungen vom Typ der „Spinne in der Yucca-Palme“ (Birkhan 1997, S. 558 f.). Als gut dokumentiertes Beispiel für die Stärke subjektiver Überzeugungen von der Realität auch extremer übernatürlicher Erfahrungen, das ebenfalls in nahezu unmittelbaren Augenzeugen- und Teilnehmerberichten überliefert ist, vgl. das Phänomen der frühneuzeitlichen benandanti des Friaul; die hierzu existierenden Inquisitionsprotokolle legen teilweise ausdrücklich davon Zeugnis ab, wie bereitwillig die fraglichen Personen ihren Zeitgenossen ihre Erfahrungen mitteilten (wodurch sie mitunter die Aufmerksamkeit
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Trotz dieser expliziten Bezugnahme auf spezifisch einheimisch-gallische Quellen enthält Prokops Erzählung einige Elemente, die für einen klassisch gebildeten Leser des Mittelmeerraums Anknüpfungspunkte an vertraute Traditionen darstellen. So erinnert das Konzept, die Seelen der Toten durch eine Fähre ins Reich der Toten übersetzen zu lassen, an die Figur des Seelenfährmanns Charon;¹⁴⁶⁶ freilich geht die Parallele über eine entfernte Reminiszenz nicht hinaus, da es sich bei Charon nicht um einen Sterblichen, sondern um eine unsterbliche Gestalt im eigenen Recht handelt, und da Charon die Toten nicht auf eine Meeresinsel, sondern über einen Unterweltsfluss übersetzt.¹⁴⁶⁷ Ein anderer Anknüpfungspunkt an klassisch-mediterranes Gedankengut ergibt sich über Passagen wie einen Abschnitt im Panegyricus Latinus VI (VII) (Constantino Augusto, Kap. 9),¹⁴⁶⁸ wo Britannien dafür gepriesen wird, Kaiser Konstantin den Großen hervorgebracht zu haben:¹⁴⁶⁹ O fortunata et nunc omnibus beatior terris Britannia, quae Constantinum Caesarem prima uidisti! Merito te omnibus caeli ac soli bonis Natura donauit, in qua nec rigor est nimius hiemis nec ardor aestatis, in qua segetum tanta fecunditas ut muneribus utrisque sufficiat et Cereris et Liberi, in qua nemora sine immanibus bestiis, terra sine serpentibus noxiis, contra pecorum mitium innumerabilis multitudo lacte distenta et onusta uelleribus; certe, quod propter uita diligitur, longissimae dies et nullae sine aliqua luce noctes, dum illa litorum extrema planities non attollit umbras noctisque metam caeli et siderum transit adspectus, ut sol ipse qui nobis uidetur occidere ibi appareat praeterire. Di boni, quid hoc est quod semper ex aliquo supremo fine mundi noua deum numina uniuerso orbi colenda descendunt? Sic Mercurius a Nilo, cuius fluminis origo nescitur, sic Liber ab Indis prope consciis solis orientis deos se gentibus ostendere praesentes. Sacratiora sunt profecto mediterraneis loca uicina caelo, et inde propius a dis mittitur imperator ubi terra finitur.¹⁴⁷⁰ Oh glückliches und jetzt alle Länder an Seligkeit übertreffendes Britannien, das du Kaiser Konstantin als erstes gesehen hast! Verdientermaßen hat dich die Natur mit allen Gütern des Himmels und des Bodens beschenkt, dich, auf der es weder eine zu strenge Winterstarre noch Sommerhitze gibt, auf der die Fruchtbarkeit der Kornfelder so groß ist, dass sie für die Gaben beider ausreicht, sowohl der Ceres als auch des Liber, auf der die Haine ohne riesige Bestien sind, das Land ohne gefährliche Schlangen ist. Die unzählbare Menge der sanften Herden hingegen ist von Milch aufgebläht und mit Wolle beladen. Gewiss ist dies sicher der Grund, weshalb man das Leben dort liebt: Die Tage sind überaus lang und es gibt keine Nächte ganz ohne Licht; während jene äußerste Küstenebene keine Schatten wirft und die Grenze der Nacht nicht vergrößert, zieht der Anblick des Himmels und der Gestirne vorüber, so dass die Sonne selbst, die uns
der Inquisition überhaupt erst auf sich zogen): Ginzburg 1983. Insofern lässt sich dieses Phänomen als eine typologische Parallele zu Prokops Berufung auf die Berichte von unmittelbaren Teilnehmern der übernatürlichen Ereignisse betrachten, die zeigt, dass dieser Aspekt seines Berichts nicht intrinsisch unmöglich oder notwendigerweise unwahrscheinlich ist. 1466 Vgl. Marco Simón 1997, S. 502; Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 693 f. 1467 Zu Charon vgl. Sourvinou-Inwood 1986; Roscher 1884–1890 (Charon). 1468 Vgl. mit weiteren vergleichbaren Belegen Marco Simón 1997, S. 498 f. 1469 Vgl. Nixon und Rodgers 1994, S. 212–214. 1470 Text: Mynors 1964, S. 192.
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unterzugehen scheint, dort den Anschein hat, vorüberzuziehen. Gute Götter, was ist dies, dass stets von irgendeinem äußersten Ende der Welt neue göttliche Mächte zum ganzen Weltkreis herabsteigen, um ihn zu bewohnen? So haben sich Merkur vom Nil (dessen Flusses Ursprung nicht bekannt ist), so Liber aus Indien (beinahe Zeuge des Sonnenaufgangs) den Völkern als gegenwärtige Götter gezeigt. Heiliger als die am Mittelmeer gelegenen sind in der Tat Orte, die dem Himmel benachbart sind, und von dort, wo die Erde endet, wird von den Göttern eher ein Herrscher gesandt.
Hier erscheint ein Motiv, das – zwar nur indirekte, aber doch deutliche – Parallelen zu Prokops Schilderung der Toteninsel Britannien zeigt, nämlich eine Angleichung Britanniens an die Inseln der Seligen. Diese Angleichung findet schon auf sprachlicher Ebene statt: Britannien wird hier als fortunata bezeichnet, was auf die Bezeichnung insulae fortunatae anspielen dürfte, den lateinischen Terminus für die Inseln der Seligen. Das Motiv der Inseln der Seligen erscheint in der griechischen Literatur zuerst bei Homer und Hesiod (Odyssee IV.561–569; Opera et dies 156 ff.) und zieht sich von da an als beliebter Topos sowohl durch die griechische als auch die römische Kultur- und Literaturgeschichte.¹⁴⁷¹ Die Inseln der Seligen werden dabei immer wieder mit denselben, in verschiedensten Variationen wiederkehrenden Zügen beschrieben: Sie sind Orte größter Fruchtbarkeit und Naturschönheit, die sich insbesondere durch ein mildes Klima ohne drückende Sommerhitze oder besondere Winterkälte auszeichnen und auf denen es keinerlei Leid gibt. Die Charakteristika der fehlenden extremen Hitze und Kälte sowie der ungemeinen Fruchtbarkeit werden vom Panegyricus, ebenso wie die Bezeichnung der Insel als fortunata, nahezu mit der Genauigkeit eines direkten Zitats aufgenommen, während das für die Inseln der Seligen typische Fehlen leidhafter Elemente sich in der Abwesenheit gefährlicher Tiere auf der Insel niederschlägt. Hinzu tritt in der pangyrischen Schilderung Britanniens die besondere Nähe dieser Insel zu den Göttern: Als Ort am Ende der Welt habe sie eine privilegierte Stellung inne, die sie dazu prädestiniert, zum Ort der Herabkunft göttlicher und herrscherlicher Mächte zu werden. Auch damit wird ein Motiv aufgegriffen, das in der Mythologie der Inseln der Seligen ein direktes Gegenstück findet: Schon seit den frühesten literarischen Belegen gelten die Inseln der Seligen üblicherweise als am Ende der Welt lokalisiert und als Wohnort göttlicher Mächte und halbgöttlicher Heroen. Für das gebildete zeitgenössische Publikum dürfte die Bezugnahme der panegyrischen Britannien-Schilderung auf dieses Motiv unübersehbar gewesen sein.¹⁴⁷²
1471 Ausführlich vgl. Egeler 2014 (Perspektiven), S. 36–40, 115–133; Manfredi 1996. Siehe oben S 25, 186 ff., 314 ff., 359 und unten S. 407. 1472 Für eine enge Assoziation Britanniens mit dem Ende der Welt und einer damit einhergehenden besonderen Nähe zum Reich der Götter vgl. auch Panegyricus Latinus VI (VII).7 (Mynors 1964) und die Sammlung vergleichbarer Stellen bei Marco Simón 1997, S. 498 f. Ferner vgl. die Bemerkungen von Marco Simón zur genretypischen Tendenz der Paradoxographie, Merkwürdiges in weit entfernten Regionen anzusiedeln: Marco Simón 1997, S. 499, 505.
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In Hinblick auf Prokops Darstellung Britanniens als Toteninsel ist diese Stilisierung Britanniens zur Insel der Seligen deshalb von Interesse, weil auch die Inseln der Seligen als Toteninseln beschrieben werden können. In den frühesten Belegen bei Homer und Hesiod sind die Inseln der Seligen Orte der Unsterblichkeit, wo ausgewählte Heroen dem Tod entgehen und in Seligkeit ein unsterbliches Leben genießen. Spätestens ab der Zeit Pindars jedoch tritt neben dieses Konzept der Inseln der Seligen als Inseln der Unsterblichkeit eine Auffassung der Inseln der Seligen als ein Paradies, das den Seelen besonders verdienter Toter offensteht (Zweite Olympische Ode 68–83). Wenn Britannien zu einer Insel der Seligen stilisiert werden kann, dann liegt also auch die Möglichkeit einer Stilisierung Britanniens zur Toteninsel nicht fern.¹⁴⁷³ Wiederholt ist in Zusammenhang mit Prokops Schilderung Britanniens als Toteninsel ferner auf das Werk des spätantiken Dichters Claudius Claudianus († wohl 404 n. Chr.)¹⁴⁷⁴ hingewiesen worden.¹⁴⁷⁵ In einer Passage seines Werks erscheint der Eingang zum Totenreich am nordwestlichen Ende des europäischen Festlands lokalisiert (In Rufinum I.123–128): Est locus extremum pandit qua Gallia litus Oceani praetentus aquis, ubi fertur Vlixes sanguine libato populum movisse silentem. Illic umbrarum tenui stridore volantum flebilis auditur questus; simulacra coloni pallida defunctasque vident migrare figuras.¹⁴⁷⁶ Es existiert ein Ort, wo Gallien seine äußerste Küste ausbreitet, den Wassern des Ozeans gegenüber gelegen, wo Odysseus mit vergossenem Blut das Schweigende Volk bewegt haben soll. Dort ist das bejammernswerte Klagen der Schatten zu hören, wie sie mit einem dünnen Zischen fliegen; die Einwohner sehen bleiche Erscheinungen und verstorbene Gespenster fortziehen.
Die dieser Schilderung zugrunde liegende Geschichte ist natürlich die Unterweltsfahrt des Odysseus im 11. Buch der Odyssee, die beschreibt, wie Odysseus ans Ende der Welt an der Küste des Okeanos reist und dort die Schatten der Toten befragt. Die Lokalisierung dieses Orakels gerade am äußersten Ende Galliens (in Aremorika?) ist allerdings eine Eigentümlichkeit, für die sich in der ursprünglichen homerischen Fassung keine Anhaltspunkte finden. Nichtsdestoweniger ist durchaus fraglich, ob
1473 Dies gilt unter dem Vorbehalt, dass die Auffassung der Inseln der Seligen als Toteninsel nur im Rahmen der griechischen, nicht jedoch im Rahmen der lateinischen Bearbeitungen des Motivs belegt zu sein scheint. In Hinblick auf den byzantinischen Historiker Prokop stellt diese Einschränkung jedoch kein Problem dar. 1474 Levy 1935, S. 43. 1475 Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 477; Marco Simón 1997, S. 498; Wagenvoort 1971, S. 273 (Anm. 2); Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 696; de la Villemarqué 1867, S. 156. 1476 Text: Levy 1935, S. 62.
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sich in dieser Passage Claudians tatsächlich authentisch nordwest-gallische Vorstellungen niederschlagen. Vielmehr dürften diese Verse für nicht mehr Zeugnis ablegen als dafür, dass die Ozeanküste der Nordwestprovinzen des Römischen Reiches zeitgenössisch als das Ende der Welt gelten konnte: Auch bei Homer findet Odysseus’ Unterweltsfahrt am Ende der Welt statt, und der oben zitierte und grob zeitgleiche lateinische Panegyricus illustriert, dass die Atlantikküsten Nordwesteuropas in der Spätantike ausdrücklich mit dem Ende der Welt gleichgesetzt werden konnten. Diese Textstelle bei Claudius Claudianus dürfte somit primär auf dem Stereotyp von Nordwesteuropa als dem Ende der Welt beruhen, das darauf wiederum im Anschluss an Homer zum Eingang zur Unterwelt weiterstilisiert werden konnte.¹⁴⁷⁷ Neben den griechisch-römischen sind wiederholt auch keltische Parallelen zu Prokops Toteninsel angesprochen worden.¹⁴⁷⁸ Die deutlichste solche Parallele dürften die oben besprochenen irischen Vorstellungen vom „Haus des Donn“ (Tech Duinn) darstellen, einer Toteninsel vor der irischen Südwestküste, auf die die Seelen aller Verstorbenen Irlands übersetzten.¹⁴⁷⁹ Ferner wurde an prominenter Stelle auf Parallelen in der modernen bretonischen Folklore verwiesen:¹⁴⁸⁰ Diese Folklore soll das Motiv einer Überfahrt der Toten vom Kap Raz an der Westspitze der Bretagne zur winzigen Felseninsel Tevennec kennen,¹⁴⁸¹ die nur wenige Kilometer vor der Küste des Festlands liegt und damit in ihrer Lage dem irischen „Haus des Donn“ direkt vergleichbar ist. Hierher mag auch gehören, dass sich unmittelbar nordöstlich der Pointe du Raz und gegenüber von Tevennec eine „Bucht der Seelen“ oder „Bucht der Toten“ (Baie des Âmes, Baie des Trépassés) befindet.¹⁴⁸² Das wichtigste Element für die Bewertung der Glaubwürdigkeit von Propkops Bericht ist ein kleines Detail seiner Schilderung, das enge Parallelen in der irischen und arthurischen Literatur findet.¹⁴⁸³ Nachdem die Küstebewohner die Seelen der Toten an Bord genommen haben, beträgt ihre Reisezeit nach Britannien nur einen
1477 Zuversichtlicher ist Marco Simón 1997, S. 498: „Este texto remite de nuevo a una geografía extrema y liminal, atravesada por los espíritos de los difuntos, que se dirigen a un destino no concretado, pero que cabe suponer, como del propio texto se deduce, ultramarino y, si no britano, al menos en la vecindad de nuestra isla.“ Für weitere Belege für Lokalisierungen der Reisen des Odysseus an der europäischen Atlantikküste vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 142 f. 1478 Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 477 f.; Marco Simón 2008, S. 54–59; Marco Simón 1997, S. 500–502, 504 f.; Straubergs 1957, S. 66; Müller-Lisowski 1948, bes. S. 149 f.; Rhŷs 1891, S. 348–369, bes. S. 358; Zemmrich 1891, S. 228–230; Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 693–696; vgl. Lanczkowski 1986, S. 12 f. 1479 Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 477; Birkhan 1997, S. 556 f., 559 (mit Anm. 4 [S. 557] und mit Verweis auf weitere mutmaßliche Toteninseln insbesondere vor der walisischen Küste, wozu vgl. auch Rhŷs 1891, S. 353–358); de Vries 1961 (Religion), S. 257; Zemmrich 1891, S. 228 f. Siehe oben S. 354 ff. 1480 Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 477; Chadwick 1972, S. 130; Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 695 f. 1481 Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 477; Clemen 1941/42, S. 142. Siehe unten S. 430. 1482 Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 477; Chadwick 1972, S. 130; Zemmrich 1891, S. 224, 229; Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 695; de la Villemarqué 1867, S. 156 f. Siehe unten S. 430. 1483 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 477; Birkhan 1997, S. 559; Marco Simón 1997, S. 501 f.
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Bruchteil der Zeit, die sie für diese Überfahrt unter normalen Umständen benötigen würden: „Eine Stunde rudernd, gelangen sie nach Brittia. Wenn sie hingegen mit ihren eigenen leichten Booten fahren und die Segel nicht benutzen, sondern rudern, setzen sie nur mit Mühe und Not in einer Nacht und einem Tag dorthin über.“ (μίαν ἐρέσσοντες ὥραν ἐς τὴν Βριττίαν καταίρουσι. καίτοι ταῖς ἀκάτοις ἡνίκα ταῖς αὑτῶν ἰδίαις ναυτίλλονται, οὐχ ἱστίοις χρώμενοι, ἀλλ’ ἐρέσσοντες, ἐς νύκτα τε καὶ ἡμέραν μόλις ἐνταῦθα διαπορθμεύονται.) Dieses Motiv einer „Zeitverschiebung“ ist in den im Vorangegangenen besprochenen keltischen und keltisch beeinflussten Quellen mit der Regelmäßigkeit eines Mantras immer wieder aufgetreten: Beispiele fanden sich etwa im Lai de Guingamor, wo drei Tagen in der Anderwelt der fée dreihundert Jahre in der Welt der Menschen entsprechen; in Immram Brain, wo während eines Jahrs bei der Anderweltsfrau in der Menschenwelt Jahrhunderte verstreichen, so dass ein Rückkehrer, der unvorsichtig das irische Festland betritt, sofort zu Staub zerfällt; oder in der Historia de Enoch et Elia, wo die Körper der Mönche, die das irdische Paradies besuchen, in drei Tagen um dreihundert Jahre altern. Sogar das spezifische Detail der ungleichen Reisezeiten findet in solchen Texten sein genaues Gegenstück: Brendans Reise zur terra repromissionis sanctorum, wie sie von der Navigatio geschildert wird, dauert sieben Jahre, seine Heimreise jedoch nimmt nur eine kurze Zeit in Anspruch. Ebenso verhält es sich in der Historia de Eoch et Elia: Die Reise der Mönche zur Paradiesinsel dauert drei Jahre, die Heimreise jedoch nur fünf Tage. Diese sehr spezifischen Übereinstimmungen zwischen Prokops Schilderung und einem breiten Spektrum keltischer und keltisch beeinflusster Texte stellen ein starkes Indiz dafür dar, dass es sich bei Prokops Toteninsel – trotz verschiedener Anklänge an mediterrane Motive – wenigstens in Grundzügen um einen authentischen mythologischen Motivkomplex des nordwesteuropäischen Barbaricums handelt. Im Umkehrschluss stellt diese Schilderung damit zugleich einen starken Hinweis darauf dar, dass die in den mittelalterlichen Texten Irlands und teilweise noch der arthurischen Dichtung beschriebenen Anderweltsmotive zumindest teilweise Wurzeln haben, die wenigstens bis in die Spätantike zurückreichen.¹⁴⁸⁴
1484 Neben dem Vergleich von Prokops Darstellung des Übersetzens der Toten mit keltischem Material wird auch in Zusammenhang mit germanischen Jenseitsvorstellungen immer wieder auf diese Prokop-Stelle verwiesen; vgl. etwa Oehrl 2010, S. 11 f.; Vierck in Müller-Wille et al. 1978, S. 276 f.; Beck in Müller-Wille et al. 1978, S. 285; Wagenvoort 1971, S. 273 f.; Müller-Wille 1968/69, S. 127 f.; Straubergs 1957, S. 68; Mengis 1935/1936, Sp. 1569 f.; Neckel 1913, S. 47 f.; MacCulloch et al. 1908, S. 707; Waser 1898, S. 7. Eine gewisse Berechtigung bezieht dies daraus, dass die gallischen Fischer, die nach Prokop die Toten nach Britannien übersetzen, Untertanen der Franken und als Gegenleistung für ihre Aufgabe als Fährmänner der Verstorbenen von Abgaben an ihre fränkischen Herren entbunden sind (vgl. Oehrl 2010, S. 11). Allerdings gibt es im germanischen Material keine Entsprechung zu den auffallend spezifischen Parallelen, die sich zwischen Prokops Bericht und keltischen (irischen) Texten festhalten lassen; dies lässt es geraten erscheinen, Prokops Schilderung primär in einem keltischen Rahmen
Die Kronosinsel
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Als rezeptionsgeschichtlicher Ausblick sei nur am Rande erwähnt, dass der byzantinische Grammatiker Tzetzes Prokops Beschreibung Britanniens als Toteninsel im 12. Jahrhundert in seine Scholien zu Lykophrons Alexandra, zu Hesiods Werken und Tagen und zu den Fröschen des Aristophanes einarbeitete (Scholien zu Lykophron, Alexandra 1200;¹⁴⁸⁵ Hesiod, Opera et dies 169;¹⁴⁸⁶ Aristophanes, Ranae 85).¹⁴⁸⁷ Diese Bearbeitungen haben zu Prokops Bericht insofern nichts beizutragen, als sie direkt auf Prokop beruhen und so für den nordwesteuropäischen Befund keinen eigenständigen Quellenwert haben; sie sind jedoch dahingehend von Interessen, dass sie den Mythos von der Überfahrt der Seelen nach Britannien Seite an Seite mit christlichen Vorstellungen vom Paradies in einen Zusammenhang mit antiken griechischen Vorstellungen von den Inseln der Seligen stellen. Diese Verbindungen werden von Tzetzes zwar in rein assoziativer Weise hergestellt, seien hier jedoch immerhin vermerkt, da sie einmal mehr illustrieren, wie leicht solche anderweltliche Gefilde miteinander assoziiert werden konnten; auch im Vorangehenden wurde ja schon mehrfach die Überschneidung von inselkeltischen Anderwelts- und christlichen Paradiesmotiven bemerkt. Die Leichtigkeit und Häufigkeit, mit denen es zu solchen Assoziationen, Gleichsetzungen und Identifizierungen kommt, legt nahe, dass derartige Vorstellungen möglicherweise besonders leicht rezipiert werden können und damit auch einer Vermittlung in einer Kulturkontaktsituation besonders offenstehen.
6.2 Die Kronosinsel 6.2.1 Avienus Als ältestes literarisches Zeugnis für keltische Vorstellungen von mythischen Inseln gilt in der Forschung zur keltischen Religionsgeschichte traditionellerweise oft eine Notiz des spätantiken Dichters Rufius Festus Avienus, in der dieser eine heilige Insel des Saturn behandelt.¹⁴⁸⁸ In seinem Gedicht Ora maritima legte er eine Beschreibung weiter Teile der zu seiner Zeit bekannten Meeresküsten vor; dabei wurde das Zeugnis des Avienus trotz seines späten Wirkens (erst im 4. Jahrhundert n. Chr.) lange als besonders wichtig betrachtet, da er deutlich auf ältere Quellen zurückgreift. Die Datierung dieser Quellen im Einzelnen ist allerdings heftig umstritten; in der kelti-
zu sehen. Dass eine solche keltische Vorstellung (zumindest vorgeblich) von den fränkischen Herren Galliens akzeptiert und gewürdigt wurde, sei jedoch immerhin ausdrücklich hervorgehoben. 1485 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 538 f. 1486 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 540 f. 1487 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 478; Marco Simón 1997, S. 498; Martínez Hernández 1994, S. 90 f., 98; Bennett 1956, S. 123; Radermacher 1903, S. 5 (Anm. 2); Grimm 1875–1878 Bd. 2, S. 696. 1488 Vgl. etwa Zwicker 1934–1936, S. 1; Maier 2001/02, S. 151; etwas vorsichtiger: Maier 2013, S. 118. Vgl. unten Anm. 1489.
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schen Religionsforschung wurde diese Debatte jedoch kaum rezipiert und vor allem vom ältesten Datierungsvorschlag ausgegangen, der den Kern der Ora maritima auf das 6. Jahrhundert zurückgehen lässt und ihn damit ganz an den Beginn der literarischen Überlieferung zur keltischen Religionsgeschichte stellt.¹⁴⁸⁹ Da diese Datierung beim gegenwärtigen Forschungsstand aber als äußerst unsicher betrachtet werden muss, ist u. a. von Helmut Birkhan und Andreas Hofeneder zu Recht betont worden, dass die Ora maritima nur mit entsprechender Vorsicht als Quelle für die keltische Religionsgeschichte heranzuziehen sind.¹⁴⁹⁰ Als erste Lokalität, die Avienus jenseits der Säulen des Herakles anführt, beschreiben die Ora maritima eine „pelagische“ Insel des Saturn (Ora maritima 164–171): [...]. post pelagia est insula herbarum abundans ad¹⁴⁹¹ Saturno sacra. sed vis in illa tanta naturalis est, ut siquis hanc innavigando accesserit, mox excitetur propter insulam mare, quatiatur ipsa et omne subsiliat solum¹⁴⁹² alte intremescens cetero ad stagni vicem pelago silente. [...]¹⁴⁹³
[...]. Dahinter (d. h., hinter den Säulen des Herakles) liegt eine pelagische Insel mit einem Überfluss an Vegetation und dem Saturn heilig. Aber in jener ist eine so große natürliche Kraft, dass – wenn sich ihr jemand durch Heransegeln genähert hat – das Meer um die Insel bald aufgewühlt wird, sie selbst bebt und der gesamte Boden sich aufbäumt und tief zu erzittern beginnt, während die restliche See still wie ein Teich ist.
In der Übersetzung dieses Zitats blieb das Adjektiv pelagius in Anschluss an Hofeneder unübersetzt, da umstritten und bislang nicht zu entscheiden ist, ob pelagius an dieser Stelle eine Lage auf hoher See oder im Umfeld einer Flussmündung bezeichnet.¹⁴⁹⁴ Entsprechend herrscht auch über die geographische Identifizierung dieser Insel des Saturn keine Einigkeit: Die Vorschläge reichen von einer Identifizierung mit der Insel Berlenga gegenüber dem Cabo Carvoeiro in Portugal über eine Insel in der Mündung des Rio Vouga in die Ria de Aveiro (eine portugiesische Brackwasser-Landschaft) bis zur einer Identifizierung mit einer „île Sainte-Claire de Saint-Sébastian“.¹⁴⁹⁵
1489 Zusammenfassend zur Datierungsdebatte mit ausführlichen Hinweisen auf die einschlägige Literatur vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 16 f. Der Grund für die weite Verbreitung der Datierung ins 6. Jahrhundert im Rahmen der keltischen Religionsgeschichtsschreibung dürfte in der unkritischen Präsentation in Zwickers grundlegender Quellensammlung zu suchen sein (Zwicker 1934–1936, S. 1), wo jeder Hinweis auf die Problematik der Datierungsfrage fehlt (vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 17 mit Anm. 33). 1490 Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 17; Birkhan 1997, S. 37 f.; vgl. ähnlich Tomaschitz 2002, S. 22–24. 1491 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 20 (Anm. 58). 1492 Diese Lesung folgt Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 20; Schulten 1922, S. 58 liest salum („See, Meer“). 1493 Text: Schulten 1922, S. 58 ~ Zwicker 1934–1936, S. 1 ~ Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 20. 1494 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 20 f. mit detaillierter Zusammenfassung der Forschungsdiskussion. 1495 Berlenga: Clemen 1941/42, S. 117; Zwicker 1934–1936, S. 1 (Anm. zu Z. 9); Schulten 1922, S. 86; Insel in der Ria de Aveiro: Souto 1933, S. 390 f.; Sainte-Claire: Jullian 1903, S. 88 (Anm. 5). Vgl. ausführlich
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Weitere Probleme stellen sich auf quellenkritischer Ebene: Die Verse 166–171, in denen die gewaltsame Reaktion der Insel auf das Nahen von Schiffen beschrieben wird, gelten weithin als sekundäre Zusätze, die keinen Teil von Avienus’ Quelle gebildet hätten.¹⁴⁹⁶ Aufgrund der sehr späten Datierung des uns vorliegenden, erst spätantiken Avienustexts haben diese Verse daher wohl kaum einen nennenswerten Quellenwert für Fragen der vorchristlichen Religionsgeschichte der Kelten. Immerhin ist der Verlust, der sich hieraus ergibt, überschaubar, da sich das in diesen Versen beschriebene Phänomen ohnehin kaum als Grundlage für weitergehende Interpretationen anbietet. Am ehesten dürfte hier eine literarische Betonung der Heiligkeit der Saturninsel zu sehen sein: Dass die Insel und das sie umgebende Meer beim Nahen von Besuchern zu beben beginnen, mag literarisch zum Ausdruck bringen, dass dieser Boden den Sterblichen verboten ist. Ein weiteres Problem bei der Interpretation dieser Stelle ist die Frage, ob hier überhaupt von einer spezifisch keltischen heiligen Insel die Rede ist. Zwar könnte die Saturninsel in keltischem Gebiet gelegen haben, was eine Interpretation von Avienus’ Beschreibung dieser Insel als Zeugnis für keltische Vorstellungen nahelegen würde;¹⁴⁹⁷ andererseits wurde jedoch auch vermutet, dass es sich beim Saturnus dieser Insel um eine Interpretatio Romana des phönizischen Gottes Baal handeln könnte.¹⁴⁹⁸ Insofern gibt es zunächst nur wenig, das sich aus dem Zeugnis der Ora maritima konkret erschließen lässt – letztlich nicht mehr als die Vorstellung einer mythischen oder zumindest mit einem Gott verbundenen Insel vor der südeuropäischen Atlantikküste, die sich durch eine auffallende Fruchtbarkeit auszeichnete und einem Gott zugewiesen wurde, der sich dem römischen Saturnus gleichsetzen ließ. Immerhin gibt es hierzu Parallelen in anderen Überlieferungen, die sich mit größerer Sicherheit keltischen Völkern zuweisen lassen. So hat Bernhard Maier in
Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 21 mit der Mehrzahl dieser und weiteren Belegen. Versuche einer Identifizierung mit Teneriffa werden von Martínez Hernández 1994, S. 99 zu Recht als haltlos zurückgewiesen. 1496 So schon Müllenhoff 1870–1908 Bd. 1, S. 101. Zuletzt vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 21 (Anm. 63) (mit weiterer Literatur). 1497 In der Forschung ist auch eine keltische Besiedlung der Insel als Möglichkeit hervorgehoben worden: Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 21. Hierzu ist allerdings anzumerken, dass der Text selbst keinerlei Hinweis auf eine solche Besiedlung enthält und in Ermangelung einer gesicherten geographischen Lokalisierung auch externe (archäologische u. a.) Daten fehlen. Es handelt sich hier also um reine Spekulation. Zudem stellt sich die grundsätzliche Frage, ob bei einer Götterinsel überhaupt a priori mit einer menschlichen Besiedlung zu rechnen ist; das Beben der Insel und des umliegenden Meeres, das durch jedes sich nähernde Schiff verursacht wird, legt jedenfalls nahe, dass sich der Verfasser der Verse 166–171 diese Insel als ein verbotenes Land vorstellte. Plausibler ist die Vermutung von Clemens, dass die der Insel gegenüberliegende Festlandküste von Kelten bewohnt war: Clemen 1941/42, S. 117. 1498 Müllenhoff 1870–1908 Bd. 1, S. 101; in jüngerer Zeit vgl. Maier 2001/2002, S. 151. Skeptisch vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 21.
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Zusammenhang mit Avienus’ Saturn-Insel auf ein Zeugnis verwiesen, das in Strabos Geographie (IV.iv.6) erhalten ist:¹⁴⁹⁹ Dort berichtet Strabo unter Berufung auf Artemidoros von Ephesus, der um 100 v. Chr. wirkte,¹⁵⁰⁰ dass vor der Küste Britanniens eine Insel liegt, auf der dieselben Opfer vollzogen werden wie im Kult der Demeter und Persephone auf Samothrake.¹⁵⁰¹ Demeter und Persephone sind aufs Engste mit Fragen der vegetabilen Fruchtbarkeit verbunden; dies dürfte nahelegen, dass das einheimische Konzept, das sich hinter dem Vergleich mit dem griechischen Kult dieser Göttinnen versteckt, ebenfalls in der einen oder anderen Weise mit Fragen der Fruchtbarkeit verbunden war.¹⁵⁰² Somit evoziert diese Insel das üppige Gras der Insel des Saturn und ist damit insofern von Interesse, als sie eine eindeutig keltische Parallele zu seiner heiligen Insel vor der portugiesischen Küste darstellt.¹⁵⁰³ In ganz ähnlichem Sinne ist ferner von Maier darauf hingewiesen worden, dass verschiedene Inseln der walisischen Literatur und Folklore einerseits anderweltlich konnotiert sind und andererseits einen Namen tragen, der entweder unmittelbar mit dem Element ‚Gras‘ gebildet ist oder auf einen Namenspatron Bezug nimmt, dessen Name zugleich Personenname und Bezeichnung für ‚Gras‘ ist.¹⁵⁰⁴
6.2.2 Plutarch Keltisches Vergleichsmaterial, das noch konkretere Parallelen zur Insel des Saturn aufweist, findet sich im Werk des Plutarch.¹⁵⁰⁵ Plutarch (ca. 45 n. Chr. bis ca. 125 n. Chr.)¹⁵⁰⁶ behandelte das einschlägige Material zweimal: Zum einen in einer Passage seines Werks „Über das Verschwinden der Orakel“ (De defectu oraculorum 18 = Moralia 419E, 420A), dessen Abfassung auf die Jahre zwischen 95 n. Chr. und 115 n. Chr. datiert
1499 Maier 2001/02, S. 152; Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 165. 1500 Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 105. 1501 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 109–111. 1502 Ebenso: Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 111. 1503 Für einen weiterführenden Vergleich mit germanischem Material (Nerthuskult) siehe Maier 2001/02, S. 152 f.; Maier 2001 (Religion), S. 98 f.; Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 19–21. Für eine Zusammenstellung von antiken Zeugnissen für die religiöse Bedeutung küstennaher Inseln bei den Kelten vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 21 (Anm. 68). 1504 Maier 2001 (Maponos), S. 87; Maier 2001 (Religion), S. 96; Maier 2001/02, S. 153; vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 22. 1505 Hofeneder 2005–2011 Bd. 1, S. 21 f.; Maier 2001/02, S. 152; Martínez Hernández 1994, S. 98 f.; Le Roux 1962, S. 1053–1057, 1062; Schulten 1922, S. 86; vgl. Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 165. Die Besprechung von Plutarchs Kronosinsel durch Ó hÓgáin vermischt, offenbar versehentlich, Plutarchs Beschreibungen mit der oben besprochenen Schilderung des Prokop und ist entsprechend hinfällig: Ó hÓgáin s. a., S. 258–260. 1506 Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 521.
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wird,¹⁵⁰⁷ und zum anderen in „Über das Gesicht in der Mondscheibe“ (De facie in orbe lunae 26 = Moralia 941A–942A), einem Text, der zu Anfang des 2. Jahrhunderts n. Chr. und in etwa zeitgleich mit De defectu oraculorum entstanden sein dürfte.¹⁵⁰⁸ Die erste dieser beiden Passagen lautet folgendermaßen (De defectu oraculorum 18 = Moralia 419E, 420A): Ὁ δὲ Δημήτριος ἔφη τῶν περὶ τὴν Βρεττανίαν νήσων εἶναι πολλὰς ἐρήμους σποράδας, ὧν ἐνίας δαιμόνων καὶ ἡρώων ὀνομάζεσθαι· πλεῦσαι δὲ αὐτὸς ἱστορίας καὶ θέας ἕνεκα πομπῇ τοῦ βασιλέως εἰς τὴν ἔγγιστα κειμένην τῶν ἐρήμων, ἔχουσαν οὐ πολλοὺς ἐποικοῦντας ἱεροὺς δὲ καὶ ἀσύλους πάντας ὑπὸ τῶν Βρεττανῶν ὄντας. [...] ἐκεῖ μέντοι μίαν εἶναι νῆσον, ἐν ᾗ τὸν Κρόνον καθεῖρχθαι φρουρούμενον ὑπὸ τοῦ Βριάρεω καθεύδοντα· δεσμὸν γὰρ αὐτῷ τὸν ὕπνον μεμηχανῆσθαι, πολλοὺς δὲ περὶ αὐτὸν εἶναι δαίμονας ὀπαδοὺς καὶ θεράποντας.¹⁵⁰⁹
Demetrios sagte, dass viele von den Inseln um Britannien einsam und verstreut gelegen seien, und dass von ihnen einige nach Dämonen und Heroen benannt wären; und dass er selbst, um Erkundigungen einzuziehen und sich umzusehen, im Auftrag des Kaisers zur nächstgelegenen dieser einsamen Inseln gesegelt sei, die nicht viele Einwohner hatte, welche in den Augen der Britannier aber alle heilig und unantastbar waren. [...] Dort sei auch eine Insel, auf der Kronos gefangen gehalten werde, bewacht von Briareos und schlafend; als Fessel sei für ihn nämlich der Schlaf geschaffen worden, um ihn aber seien viele Dämonen als Diener und Lakeien.
Plutarch berichtet hier von lokalen Vorstellungen der Kelten Britanniens, wofür er sich auf das Zeugnis eines gewissen Demetrios beruft. Bei diesem Demetrios handelt es sich um den griechischen Gelehrten Demetrios von Tarsos, der Britannien nach Plutarchs eigenen Angaben in kaiserlichem Auftrag bereiste; die Datierung dieser Reise ist nicht letztgültig gesichert, sie dürfte jedoch mit einiger Wahrscheinlichkeit 82/83 n. Chr. stattgefunden haben.¹⁵¹⁰ Unabhängige Zeugnisse dafür, dass diese Reise nicht nur eine literarische Fiktion Plutarchs, sondern ein reales Ereignis war, liegen in Form von zwei Weiheinschriften aus York vor:¹⁵¹¹ Dort wurden im Jahr 1860 bei Ausgrabungen in einem Heiligtum der Zivilsiedlung von York (Eboracum) zwei versilberte Bronzetäfelchen gefunden, die beide dieselbe Zeitstellung zu haben scheinen und aller Wahrschein-
1507 Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 532. 1508 Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 537. 1509 Text nach Bernardakis 1888–1896 Bd. 3, S. 94 f. mit einer Emendation nach Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 532. (~ Zwicker 1934–1936, S. 65). 1510 Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 532 f.; Haider 2004, S. 977, 979 f.; García Moreno 1994, S. 109; vgl. Martínez Hernández 1994, S. 96. – Unbegründet ist die grundsätzliche Skepsis, die Roller der Demetrios-Episode gegenüber zum Ausdruck bringt (Roller 2006, S. 124 [Anm. 61]); sie beruht offenbar auf dem unkritischen Fehlen einer Unterscheidung zwischen den beiden Berichten in De defectu oraculorum und in De facie in orbe lunae. 1511 R[oman] I[nscriptions of] B[ritain] (=Collingwood und Wright 1965) 662 und RIB 663; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 534; Haider 2004, S. 981; García Moreno 1994, S. 112; Ziegler 1952, S. 306 (Anm. 127.1).
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lichkeit nach auch beide vom selben Dedikanten gestiftet worden sein dürften.¹⁵¹² Das eine dieser Bronzetäfelchen nennt diesen Dedikanten als „Skrib(onios) De[m]etrios“ und ist den Göttern des Hautquartiers des römischen Statthalters geweiht,¹⁵¹³ während das zweite Täfelchen den Stifternamen als „De[m]etri[os]“ angibt und dem Okeanos und der Tethys geweiht ist.¹⁵¹⁴ Die Annahme, dass der Dedikant dieser beiden Weihetäfelchen mit dem Demetrios Plutarchs identisch ist, ist heute nahezu unangefochten.¹⁵¹⁵ Diese Gleichsetzung lässt sich nicht zuletzt aus dem Inhalt der beiden Inschriften heraus begründen. Die Weihung an die Götter des Statthalterhauptquartiers legt nahe, dass Skribonios Demetrios eine enge Verbindung zum römischen Zivilverwaltungsapparat hatte; hier hat Peter W. Haider zurecht betont, dass es ein unwahrscheinlicher Zufall wäre, wenn sich zur fraglichen Zeit gleich zwei Griechen namens Demetrios in Britannien aufgehalten hätten und zudem beide eng mit der römischen Verwaltung verbunden gewesen wären.¹⁵¹⁶ Dieser Zufall wäre umso größer, als sich auch die zweite Weihung (an Okeanos und Tethys) sinnvoll mit der Reise des Demetrios verbinden lässt, wie sie von Plutarch geschildert worden ist. Haider hat hier darauf hingewiesen, dass diese Weihung an zwei der Götter des Meeres mit den Seereisen zu verbinden sein könnte, die einen wesentlichen Teil von Demetrios’ Unternehmen darstellten.¹⁵¹⁷ Zudem dürfte diese Weihung auf literarischer Ebene als eine Anspielung zu verstehen sein, die in gelehrter Weise direkt auf die Reisen Alexanders des Großen Bezug nimmt: Nach Diodor von Sizilien (XVII.civ.1) errichtete Alexander auf einer Ozeaninsel vor der Mündung des Indus zwei Altäre, die er der Tethys und dem Okeanos weihte; diese Insel betrachtete er als den Endpunkt seines Indienfeldzugs. Der griechische Intellektuelle Demetrios dürfte sich durch die Weihung an Okeanos und Tethys, die er auf einer Insel am gegenüberliegenden Ende der antiken Welt darbrachte, somit bewusst an den Eroberer Alexander angeglichen haben.¹⁵¹⁸ Insgesamt ist damit festzuhalten, dass sich Plutarch bei seinem Rückgriff auf einen Augenzeugenbericht auf einen reisenden Gelehrten beruft, der die fraglichen Regionen tatsächlich besucht hat. Damit ist diesem Zeugnis, aus der Perspektive von Plutarchs Quellen heraus betrachtet, potentiell eine besonders große Authentizität beizumessen.
1512 „Schriftduktus, Machart und stratigraphische Fundlage sprechen dafür, daß beide Weihinschriften demselben Zeithorizont (ca. 50–150 n. Chr.) angehören und wohl auch von derselben Person gestiftet wurden“ (Haider 2004, S. 981; akzeptiert von Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 534). 1513 RIB 662; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 534 mit Anm. 3864; Haider 2004, S. 981. 1514 RIB 663; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 534 mit Anm. 3863; Haider 2004, S. 981. 1515 Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 534 (mit weiterer Literatur). 1516 Haider 2004, S. 981; zustimmend: Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 534. 1517 Haider 2004, S. 981; ganz ähnlich vgl. schon Ziegler 1952, S. 306 (Anm. 127.1). Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 534. 1518 Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 534; RIB 662–3 (Kommentar). Vgl. Roller 2006, S. 100 zur vergleichbaren Selbstsicht des Polybios als neuer Odysseus und ibidem S. 106–111 zu den Reisen des Eudoxos, der eine Selbststilisierung nach dem Muster der Argonauten betrieben zu haben scheint (bes. S. 108, 110).
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In Hinblick auf ihren Inhalt ist diese Plutarchstelle im gegenwärtigen Kontext aufgrund ihrer Beschreibung der Insel des Kronos von Interesse: Unter den vielen einsamen Inseln vor der Küste Britanniens befinde sich auch eine Insel, auf der Kronos in einer Höhle gefesselt liegt;¹⁵¹⁹ die Fessel, die ihn gefangen hält, sei dabei der Schlaf. Dieses Motiv des in einer Höhle schlafenden Gottes ist seit dem späten 19. Jahrhundert wiederholt mit Erzählungen verbunden worden, denen zufolge König Arthur in einer Höhle schlafe, bis er eines Tages zurückkehren werde;¹⁵²⁰ damit ist es zumindest forschungsgeschichtlich von unmittelbarer Relevanz für die vorliegende Untersuchung. Vor einer weiteren Diskussion dieses Motivkomplexes ist es jedoch angebracht, zunächst noch die zweite Plutarchstelle vorzustellen, in der die Kronosinsel behandelt wird. Diese Stelle findet sich in Plutarchs nur fragmentarisch erhaltenem Werk „Über das Gesicht in der Mondscheibe“ (De facie in orbe lunae 26 = Moralia 941A–942A). Hier lässt Plutarch den in Karthago ansässigen Römer Sextius Sulla¹⁵²¹ einen Kunstmythos vortragen, der die Schilderung der vor Britannien gelegenen Kronosinsel weiter ausarbeitet und in einen breit ausgeführten Rahmen einflicht; als Quelle für diesen Mythos nennt Sulla einen anonymen heiligen Mann, der selbst auf der Kronosinsel gedient habe (vgl. De facie 30 = Moralia 945D). Die mythische Erzählung beginnt dabei mit dem Zitat eines Homerverses über Ogygia, die Insel der Nymphe Kalypso (Odyssee VII.244), woran der Erzähler seinen eigenen Mythos anschließen lässt: ‘Ὠγυγίη τις νῆσος ἀπόπροθεν εἰν ἁλὶ κεῖται’ δρόμον ἡμερῶν πέντε Βρεττανίας ἀπέχουσα πλέοντι πρὸς ἑσπέραν· ἕτεραι δὲ τρεῖς ἴσον ἐκείνης ἀφεστῶσαι καὶ ἀλλήλων πρόκεινται μάλιστα κατὰ δυσμὰς ἡλίου θερινάς· ὧν ἐν μιᾷ τὸν Κρόνον οἱ βάρβαροι καθεῖρχθαι μυθολογοῦσιν ὑπὸ τοῦ Διός, τὸν δέ ἔχοντα φρουρόν.¹⁵²²
‚Eine Insel Ogygia liegt fern im Meer,‘ eine Fahrt von fünf Tagen von Britannien entfernt für denjenigen, der nach Westen segelt; drei andere Inseln, die gleich weit von jener und voneinander entfernt sind, liegen vornehmlich in Richtung auf den Untergangspunkt der Sommersonne davor. Die Barbaren erzählen die Geschichte, dass auf einer von diesen Kronos von Zeus gefangen gehalten werde, wobei er Briareos als Wächter hat.
1519 Eine Lokalisierung dieser Insel ist auf der Grundlage von Plutarchs Angaben nicht möglich; zwar ist vorgeschlagen worden, dass es sich um eine Insel der Inneren oder Äußeren Hebriden handeln könnte, aber Sicherheit ist hier nicht zu erlangen: Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 533; Haider 2004, S. 983 (mit Anm. 37). 1520 Z.B. Rhŷs 1891, S. 367 f.; Rhŷs 1901, S. 493–497; noch in jüngster Zeit vgl. implizit (die Rede ist allgemein vom „Kyffhäuser-Motiv“) Haider 2004, S. 985; mit Verweis auf das Kyffhäuser-Motiv einschließlich walisischer Parallelen vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 540. Zur entsprechenden Vorstellung über König Arthur siehe oben S. 253 mit Anm. 958. Auf die Frage wird im Folgenden nach der Vorstellung des griechischen Materials und einer Besprechung von dessen Verwurzelung in griechischem Gedankengut wieder zurückzukommen sein. 1521 Vgl. Ziegler 1952, S. 43; Martínez Hernández 1994, S. 99 f., 102. 1522 Text nach Bernardakis 1888–1896 Bd. 5, S. 459 (Moralia 941A), emendiert nach Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 537, 538 (vgl. Ziegler 1952, S. 268, 328 f. [Anm. 268.2]). (~Zwicker 1934–1936, S. 66.) Die Lesung τὸν δέ ἔχοντα φρουρόν anstatt des offenkundig verderbten Texts der Hand-
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Jenseits dieser Inseln liege das Kronosmeer (Κρόνιον πέλαγος), und dahinter wiederum Festland. Die große Menge an Schlamm, der von den Flüssen dieses Festlands ins Meer geschwemmt werde, mache dieses Meer schlammig und dickflüssig; daher stamme die Auffassung, dass dieses Meer gefroren sei. Das Festland jenseits des Kronosmeers sei von Griechen bewohnt, die dem Kronos hohe Ehren erweisen. Alle dreißig Jahre senden sie eine Flotte von Schiffen aus, deren Mannschaft durchs Los bestimmt werde. Diese Schiffe liefen zuerst die Inseln an, welche Ogygia vorgelagert sind; einen Monat lang gehe die Sonne dort weniger als eine Stunde pro Tag unter. Nach einem 90-tägigen Aufenthalt auf diesen Inseln, während dessen die Seefahrer den Einheimischen als heilige Männer gelten, führen sie weiter zur Kronosinsel. Diese Insel sei nur von den Mitgliedern dieser alle 30 Jahre ausgesandten Flotten bewohnt, die dort für 30 Jahre ihren Dienst vollzögen; danach stehe es ihnen offen, nach Hause zurückzukehren oder auf der Kronosinsel zu bleiben. Zumeist falle die Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten zugunsten der Kronosinsel: αἱρεῖσθαι δὲ τοὺς πλείστους ἐπιεικῶς αὐτόθι κατοικεῖν, τοὺς μὲν ὑπὸ συνηθείας, τοὺς δ᾽ ὅτι πόνου δίχα καὶ πραγμάτων ἄφθονα πάρεστι πάντα, πρὸς θυσίαις καὶ χορηγίαις ἢ περὶ λόγους τινὰς ἀεὶ καὶ φιλοσοφίαν διατρίβουσι. θαυμαστὴν γὰρ εἶναι τῆς τε νήσου τὴν φύσιν καὶ τὴν πραότητα τοῦ περιέχοντος ἀέρος, ἐνίοις δὲ καὶ τὸ θεῖον ἐμποδὼν γίγνεσθαι διανοηθεῖσιν ἀποπλεῖν ὥσπερ συνήθεσι καὶ φίλοις ἐπιδεικνύμενον· οὐκ ὄναρ γὰρ μόνον οὐδὲ διὰ συμβόλων, ἀλλὰ καὶ φανερῶς ἐντυγχάνειν πολλοὺς ὄψεσι δαιμόνων καὶ φωναῖς. αὐτὸν μὲν γὰρ τὸν Κρόνον ἐν ἄντρῳ βαθεῖ περιέχεσθαι πέτρας χρυσοειδοῦς καθεύδοντα, τὸν γὰρ ὕπνον αὐτῷ μεμηχανῆσθαι δεσμὸν ὑπὸ τοῦ Διός, ὄρνιθας δὲ τῆς πέτρας κατὰ κορυφὴν εἰσπετομένους ἀμβροσίαν ἐπιφέρειν αὐτῷ, καὶ τὴν νῆσον εὐωδίᾳ κατέχεσθαι πᾶσαν, ὥσπερ ἐκ πηγῆς σκιδναμένῃ τῆς πέτρας· τοὺς δὲ δαίμονας ἐκείνους περιέπειν καὶ θεραπεύειν τὸν Κρόνον, ἑταίρους αὐτῷ γενομένους, ὅτε δὴ θεῶν καὶ ἀνθρώπων ἐβασίλευε· καὶ πολλὰ μὲν ἀφ᾽ ἑαυτῶν μαντικοὺς ὄντας προλέγειν, τὰ δὲ
Die meisten würden vernünftigerweise wählen, sich dort niederzulassen – die einen aus Gewohnheit, die anderen, weil für sie ohne Mühe und Umstände alles reichlich zur Verfügung steht, während sie stets ihre Zeit auf Opfer und Tänze verwenden oder mit irgendwelchen Gesprächen und Philosophie zubringen. Die Natur der Insel und die Mildheit der sie umgebenden Luft sei nämlich wunderbar; und einigen, die im Sinn hatten fortzusegeln, trete das Göttliche sogar in den Weg, wobei es sich offenbarte wie gegenüber Mitbewohnern und Freunden. Denn nicht nur als ein Traumgesicht und auch nicht durch Zeichen, sondern sogar leibhaftig sollen viele den sichtbaren Erscheinungen und Stimmen von Dämonen begegnen. Kronos selbst sei in einer tiefen Höhle von goldgleichem Fels eingeschlossen, wo er schläft; der Schlaf sei für ihn nämlich von Zeus als Fessel erschaffen worden. Vögel, die von der Spitze des Felsens herab hereinflögen, brächten ihm Ambrosia, und die ganze Insel sei von einem Wohlgeruch erfüllt, der sich wie aus einer Quelle vom Felsen her ausbreite. Jene Dämonen sollen Kronos aufwarten und ihn bedienen, da sie zu seinen Gefährten wurden, als er über Götter und Menschen herrschte, und sie sollen vieles von sich selbst aus vorhersagen, da sie zukunftskundig sind. Für die
schriftenüberlieferung beruht im Wesentlichen auf dem Vergleich mit der oben zitierten Parallelstelle in De defectu oraculorum 18 (Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 538; vgl. Cherniss 1951, S. 149; Mayer 1890–1897, Sp. 1482).
Die Kronosinsel
μέγιστα καὶ περὶ τῶν μεγίστων ὡς ὀνείρατα τοῦ Κρόνου κατιόντας ἐξαγγέλλειν· ὅσα γὰρ ὁ Ζεύς προδιανοεῖται, ταῦτ᾽ ὀνειροπολεῖν τὸν Κρόνον [...].¹⁵²³
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größten Dinge aber und für das, was die größten Dinge betrifft, sollen sie herabkommen und sie als Träume des Kronos verkünden; was Zeus nämlich im Voraus bedenkt, das solle Kronos träumen.
In der ausführlichen Fassung des Mythos von der Kronosinsel in De facie in orbe lunae ist unübersehbar, wie weitgehend Plutarch sein Material überarbeitet und in ein Netz von literarischen Bezügen einbindet. Dies beginnt schon mit dem expliziten Homerzitat am Beginn der Erzählung: Als erster Referenzpunkt zur Lokalisierung der Kronosinsel dient die homerische Insel Ogygia, der Aufenthaltsort der Nymphe Kalypso. In der Odyssee ist diese Insel ein Ort von solcher Naturschönheit, dass selbst der Götterbote Hermes bei ihrem Anblick erstaunt innehält (Odyssee V.63–75); Odysseus lebt dort als der Geliebte Kalypsos mit dieser Nymphe zusammen, bis Hermes ihr den Befehl des Zeus überbringt, ihn nach Ithaka weiterziehen zu lassen (bes. Odyssee V.1–269). Ogygia vermag somit als eine Ikone zu dienen, die ein fern am Rande der Welt im Okeanos gelegenes, paradiesisches Inselreich repräsentiert, in dem die Welt der Menschen und die Welt der Götter einander begegnen; in dieser Hinsicht stellt das Homerzitat nicht nur eine Zurschaustellung klassischer Gelehrsamkeit dar, sondern auch eine literarische Anspielung, in der alle zentralen Grundelemente des folgenden Mythos im Kern bereits angelegt sind. An das Homerzitat schließt sich eine breit ausgearbeitete Fassung des Berichts von einer Kronosinsel an, der in De defectu oraculorum als knapper, sachlicher ethnographischer Bericht des Demetrios präsentiert wird. Der erste schlagende Unterschied der Fassung in De facie gegenüber der kürzeren Fassung in De defectu oraculorum ist, dass der sachlich-ethnographische Rahmen eines Reiseberichts in der Lagebeschreibung der Kronosinsel durch eine komplexe literarische Anspielung ersetzt zu sein scheint: Die Kronosinsel von De facie liegt inmitten des Okeanos und stellt ein Glied einer Kette von Inseln dar, die eine Verbindung zwischen Europa und einem Westkontinent jenseits des Okeanos bilden; dabei ist das zwischen Europa und dem Westkontinent liegende Meer abschnittsweise so schlammig, dass die Trägheit dieses Wassers für die Schifffahrt ein ernsthaftes Hindernis darstellt. Jedes dieser Elemente – der Westkontinent, die Inseln zwischen dem Westkontinent und Europa und das Motiv des von Schlamm blockierten Meeres – findet eine Entsprechung in der Atlantis-Schilderung in Platons Timaios (24E–25D); dies hat zur berechtigten Vermutung Anlass gegeben, dass dieser Parallelismus von Plutarch bewusst konstruiert worden ist und es sich hier um eine gezielte literarische Anspielung handelt.¹⁵²⁴
1523 Text: Bernardakis 1888–1896 Bd. 5, S. 461 f. (Moralia 941E–942A); vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 537. 1524 Coones 1983, S. 368; ausführlich vgl. Hamilton 1934, S. 24–27: Hamilton sieht direkte Parallelen zwischen der Atlantis-Schilderung in Platons Timaios und Plutarchs Schilderung der Kronosinsel in De facie in Hinblick auf (1) das Konzept eines westlichen Kontinents, (2) die Lage der Inseln, die auf
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Eine weitere literarische Anspielung findet sich in Form der Bemerkung, der schlammige Charakter des Okeanos sei der Grund für die irrige Annahme, das Meer zwischen den Inseln und dem Westkontinent – das Kronosmeer – sei gefroren: Hierbei dürfte es sich um einen Seitenhieb gegen den Bericht des Forschungsreisenden Pytheas von Massalia handeln (4. Jahrhundert v. Chr.), dessen Beschreibung eines gefrorenen Meeres im hohen Norden bei seinen Zeitgenossen nur eingeschränkt Glauben gefunden hat.¹⁵²⁵ Der Name „Kronosmeer“ für dieses gefrorene Meer lässt sich dabei zwar nicht bis zu Pytheas selbst zurückverfolgen,¹⁵²⁶ ist jedoch gut etabliert.¹⁵²⁷ Der älteste Beleg für ein Κρόνιον πέλαγος findet sich in der Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. in den Argonautika des Apollonios von Rhodos (IV.327; IV.548: ἃλς Κρονίη).¹⁵²⁸ Allerdings ist der geographische Bezug dieser spezifischen Passage nur eingeschränkt deutlich; soweit sich die Darstellung nachvollziehen lässt, scheint sie das Kronosmeer mit der Adria gleichzusetzen.¹⁵²⁹ Damit steht sie in auffallendem Kontrast zu den späteren Belegen, wie etwa der sehr klaren Stellungnahme des Plinius: „Einen Segeltag von Thule entfernt liegt das gefrorene Meer, das von manchen Kronosmeer genannt wird“ (a Tyle unius diei navigatione mare concretum a nonnullis Cronium appellatur; Naturalis historia IV.xvi.104). Auch Plutarchs Verwendung des Begriffs „Kronosmeer“ steht deutlich in der außerhalb der Argonautika üblichen Tradition, diesen Terminus als Bezeichnung für einen Teil des Nordatlantiks zu verwenden. Im Zusammenhang von Plutarchs Bearbeitung des Mythos von der Kronosinsel dürfte der offensichtliche Anklang der „Insel des Kronos“ an das „Meer des Kronos“ es für Plutarch nahegelegt haben, die mit dem Kronosmeer verbundenen Assoziationen des Eismeers und der Entdeckungsreise des Pytheas zu erwähnen. Ein tieferer mythologischer Zusammenhang ist hier hingegen kaum zu suchen. Zwar suggeriert die Vorstellung eines im Norden gelegenen Kronosmeers in Verbindung mit einer britannischen mythologischen Vorstellung von einer Kronosinsel auf den ersten Blick die Möglichkeit, dass das Konzept des Kronosmeers auf ganz ähnliche nordwesteuropäische mythologische Vorstellungen Bezug nehmen könnte wie die Kronosinsel, dass also sowohl „Kronosmeer“ als auch „Kronosinsel“ nordwesteuropäische maritime
der Reise zu diesem Kontinent zu passieren sind, (3) den schlammigen und seichten Charakter des Atlantiks, und (4) die in den beiden Texten vertretenen philosophischen Konzepte von Geist und Seele. 1525 Ziegler 1952, S. 329 (Anm. 268.4); vgl. Roller 2006, S. 53. Der originale Bericht des Pytheas ist nicht erhalten; von den indirekten Zeugnissen vgl. inbesondere Strabon II.iv.1 und Strabon II.v.8 (Treidler 1965, Sp. 352 f.). Allgemein zur Reise des Pytheas vgl. Mund-Dopchie 2009, S. 23–25; Roller 2006, S. 57–91; Cunliffe 2001. 1526 Treidler 1965 Sp. 353. 1527 Für eine ausführliche Zusammenstellung der Belege vgl. Treidler 1965 Sp. 352–354 und schon Müllenhoff 1870–1908 Bd. 1, S. 410–417. Zur Rezeption des mare concretum im Mittelalter (und teilweise zu den antiken Quellen) vgl. Strijbosch 2000, S. 63–67, 69–73, 184–188. 1528 Treidler 1965 Sp. 352. 1529 Neumann 2008, S. 174 = Neumann 1984, S. 103; Treidler 1965, Sp. 354 f.; vgl. Ahl 1982, S. 399 f.
Die Kronosinsel
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Mythen reflektieren, die in einer interpretatio Graeca mit Kronos verbunden werden konnten. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die Verbindung des Kronosmeers mit der Kronosinsel in Plutarchs De facie in orbe lunae ausschließlich auf einer Assoziation Plutarchs beruht und für die nordwesteuropäische Religionsgeschichte keinen Quellenwert hat: Die Bezeichnung des kalten Nordmeeres als Kronosmeer lässt sich rein aus Vorstellungen der griechisch-römischen Mythologie heraus erklären, ohne dass es nötig wäre, einen lokalen nordwesteuropäischen Beitrag anzunehmen.¹⁵³⁰ Der griffigste einschlägige Beleg ist vermutlich die Bemerkung des Servius, wonach KronosSaturn der umoris totius et frigoris deus sei, der „Gott der gesamten Feuchtigkeit und Kälte“ (Comm. ad Verg. Georg. I.12);¹⁵³¹ das älteste einschlägige Zeugnis (4. Jahrhundert v. Chr.) ist eine nur indirekt überlieferte Aussage Theopomps, wonach diejenigen, die gegen Westen wohnen,¹⁵³² den Winter mit Kronos verglichen und nach ihm benannt
1530 Neumann 2008, S. 174 = Neumann 1984, S. 103; Treidler 1965, Sp. 354–356; vgl. schon Mayer 1890–1897, Sp. 1482. Abzulehnen sind entsprechend auch Deutungen wie die von Svennung 1974, S. 28 f. vertretene Etymologisierung des mare Cronium als „Walmeer“ (vgl. Neumann 2008, S. 174 = Neumann 1984, S. 103), oder Ahls Herleitung aus dem Irischen (Ahl 1982, S. 399). Ebenso hinfällig ist die nordwesteuropäisch-mythologische Deutung, die Much in Zusammenhang mit seiner Diskussion des Ódáinsakr als mögliche Alternative zu einer Deutung als „Walfischmeer“ betrachtet: Much 1924, S. 100 f. Dies gilt ungeachtet dessen, dass Haider in jüngster Zeit einen ganz ähnlichen Zugang wie Much gewählt und die Bezeichnung „Kronosmeer“ mythologisch interpretiert hat: Haider 2004, S. 984. Haider verweist dafür einerseits auf die bei Tertullian bezeugte Vorstellung, dass Kronos-Saturn eine träumende Figur sei (De anima XLVI.10), und andererseits auf die Bezeichnung „Kronosmeer“; beides beruhe nach Haider auf einer inselkeltischen mythologischen Vorstellung, die durch Pytheas von Massilia aufgegriffen, uminterpretiert und der griechischen Welt bekannt gemacht worden sei. Auf eine argumentative Begründung für dieses sehr komplexe (und allem Anschein nach jeder empirischen Grundlage entbehrende) Konstrukt verzichtet Haider; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 536–540 scheint auf den Vorschlag nicht einzugehen, was möglicherweise (und dann zu Recht) als Werturteil aufzufassen ist. Nur am Rande erwähnt sei in diesem Zusammenhang die ebenfalls überholte Deutung des Meers Morimarusa [...], hoc est mortuum mare (Plinius, Naturalis historia IV.xiii.95) als „not Mortuum Mare, but Mortuorum Mare, or the Sea of the Dead; that is, as one may suppose, the sea which the dead had to cross“ (Rhŷs 1891, S. 358 f., Zitat: S. 359; im selben Sinne vgl. Straubergs 1957, S. 66): Auch hier lässt sich eine mythologische Interpretation nicht aufrechterhalten, vgl. Roller 2006, S. 122; Reichert 2002 (Morimarusa), S. 246; Svennung 1974, S. 26–28; Kauffmann 1913, S. 225. 1531 Neumann 2008, S. 174 = Neumann 1984, S. 103. 1532 Wer genau hiermit gemeint ist, lässt sich kaum bestimmen; aus der Sicht des Theopomp, der gegen Ende seines Lebens in Alexandria wirkte (vgl. Meister 2002 Sp. 396), lassen sich die Bewohner nahezu des gesamten Mittelmeerraums als „Bewohner des Westens“ beschreiben. Eine mögliche Interpretation ist, wie schon von Mayer vorgeschlagen (1890–1897, Sp. 1472), eine Deutung der „Bewohner des Westens“ als Bewohner Großgriechenlands. Maier 2001 (Maponos), S. 86 und Maier 2001/02, S. 151 fasst die „Bewohner des Westens“ hingegen als Kelten auf. Auch in diesem Fall wäre die Stelle jedoch ein Beleg für die griechisch-römische Assoziation zwischen Kronos-Saturn und der Kälte (des Winters); denn falls es sich bei Theopomps Kronos als Gott der Kälte um eine interpretatio Graeca eines keltischen Gottes handelt, dürfte in Ermangelung der Erwähnung anderer Züge gerade die Assoziation mit der Kälte das tertium comparationis gewesen sein, das erst zur Idenfizierung des fraglichen Gottes mit Kronos geführt hat. Dies wird von späteren Belegen wie dem des Servius nochmals bestätigt.
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hätten (τοὺς δὲ πρὸς ἑσπέραν οἰκοῦντας ἱστορεῖ Θεόπομπος ἡγεῖσθαι καὶ καλεῖν τὸν μὲν χειμῶνα Κρόνον).¹⁵³³ Das kalte Nordmeer lässt sich somit als Kronosmeer bezeichnen, weil Kronos der Gott der Kälte sein kann. Weitere literarische Beziehungen dürften zur Schilderung der Hyperboräer bestehen, die Hekataios von Abdera im 4. Jahrhundert v. Chr. vorlegte (in Zusammenfassung überliefert bei Diodor von Sizilien II.47).¹⁵³⁴ W. Hamilton weist hier auf die folgenden strukturellen Übereinstimmungen hin:¹⁵³⁵ (1) Ebenso, wie die von Plutarch in De facie beschriebenen Lande westlich von Britannien liegen, befindet sich das Land der Hyperboräer nach Hekataios jenseits des Keltenlands (Κελτική); (2) der intensive Kronoskult der Atlantikbewohner des Plutarch entspricht der Hingabe der Hyperboräer an den Kult des Apollon; (3) sowohl die Atlantikbewohner des Plutarch als auch die Hyperboräer des Hekataios werden als ausgesprochen hellenophil gezeichnet, wobei es in beiden Fällen auch zu Besuchen von Mitgliedern dieser Atlantikvölker im Mittelmeerraum gekommen sei; (4) vom Land der Hyperboräer aus betrachtet, ist der Mond nur eine ganz kleine Strecke von der Erde entfernt, was der zentralen Stellung des Mondes im Gesamtgefüge von De facie in orbe lunae entspricht. (Plutarch stellt die Verbindung zwischen dem Mond und der Kronosinsel im weiteren Verlauf von De facie dadurch her, dass der Reisende von der Kronosinsel, der als Quelle des Mythos von der Kronosinsel angegeben wird, Sulla über die Bedeutung des Mondes belehrt.) Aus diesen Übereinstimmungen schließt Hamilton, dass Plutarch die HyperboräerSchilderung des Hekataios als eine seiner literarischen Quellen verwendet haben dürfte. Diese Schlussfolgerung ist umso überzeugender, als sich die von Hamilton zusammengestellten Parallelen auf eine Auswahl der offenkundigsten Übereinstimmungen beschränken und Hamiltons Liste sich durchaus noch erweitern ließe. So lokalisiert Plutarchs Erwähnung des Eismeers und der extrem kurzen Nächte auf den Inseln, die der Kronosinsel vorgelagert sind, seine Beschreibung implizit hoch im Norden; dem entspricht, dass das Land der Hyperboräer ganz explizit im Norden angesiedelt ist: Die Heimat der Hyperboräer liegt nach Hekataios so weit im Norden, dass sie sich jenseits des Nordwinds (Boreas) befindet. Ferner verdient hevorgehoben zu werden, dass es sich sowohl beim Land der Hyperboräer als auch bei der Kronosinsel um ausgesprochene irdische Paradiese handelt: In beiden Fällen herrscht
1533 Plutarch, De Iside et Osiride 69 (378E) = FGrH 115 F 335. Treidler 1965, Sp. 355. Für weitere Belege vgl. Mayer 1890–1897, Sp. 1471–1473. 1534 Hamilton 1934, S. 24 f. (Anm. 1, S. 24); vgl. Martínez Hernández 1994, S. 88, 101 f., 103 f. (der die Hyperboräerschilderung allerdings sehr unkritisch als reale Ethnographie aufzufassen scheint). Die Stelle ist FGrH 264 T 6c = FGrH 264 F 7 = BNJ 264 T 6c = BNJ 264 F 7 = F.H.G. (ed. Müllerus [1841–1872]) Bd. 2, S. 386 f. 1535 Hamilton 1934, S. 24 f. (Anm. 1, S. 24), wo auch auf literarische Anklänge an andere Autoren hingewiesen wird, die ausführlich zu besprechen hier zu weit führen würde. Vgl. auch Roller 2006, S. 52 f. zur Genrezugehörigkeit von Plutarchs Schilderung der Kronosinsel in De facie.
Die Kronosinsel
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ein besonders mildes Klima, die Menschen haben keinerlei Mühsal zu erdulden und widmen sich ganz den Künsten, dem Kult und der Philosophie.¹⁵³⁶ Durch diesen paradiesischen Charakter wird die Kronosinsel ferner in den Umkreis der Inseln der Seligen gerückt.¹⁵³⁷ Die Inseln der Seligen erscheinen in der griechischen Literatur zuerst bei Homer und Hesiod. In der Odyssee wird erwähnt, dass Menelaos dem Tod entgehen und in die Elysischen Gefilde an den Grenzen der Erde entrückt werden wird, wo das Leben für die Menschen einfach und das Klima stets mild ist (Odyssee IV.561–569). Die Benennung dieser Elysischen Gefilde als „Inseln der Seligen“ (μακάρων νῆσοι) findet sich das erste Mal in den Werken und Tagen des Hesiod; dort sind die Inseln der Seligen der Ort, der dem Geschlecht der Heroen als paradiesische Wohnstatt angewiesen ist (Opera et dies 156 ff.). Diese Inseln der Seligen liegen an der Küste des Okeanos, die Erde trägt dort dreimal im Jahr Frucht, und es gibt keinerlei Kummer. In Hinblick auf die Kronosinsel Plutarchs ist ferner von besonderer Bedeutung, wer hier die Herrschaft über die Inseln der Seligen innehat: Denn beherrscht werden sie einer späteren Interpolation zufolge¹⁵³⁸ von Kronos (Opera et dies 173a–e).¹⁵³⁹ Damit entspricht Hesiods Darstellung der Inseln der Seligen in der interpolierten Form, in der sie Plutarch vorgelegen haben dürfte, der Beschreibung der Kronosinsel von De facie auffallend eng: Beide Inseln sind charakterisiert durch (1) ein mildes Klima, (2) paradiesischen Reichtum, der jegliche Mühen unnötig macht, (3) ihre Identifizierung als Herrschaftsbereich des Kronos und (4) ihre Lage am Ende der Welt. Ein weiteres Motiv der Kronosinsel, das eine direkte Entsprechung in der griechischen Mythologie findet, ist das Amt des Briareos als unterirdischer Wächter titanischer Gefangener: Hesiods Beschreibung der Titanomachie nennt Briareos als einen treuen Verbündeten des Zeus, der dem Göttervater dabei hilft, die Titanen in den Tartarus zu werfen, wo sie daraufhin – tief unter der Erde – gefangen gehalten werden. Briareos ist einer der Wächter dieses unterirdischen Gefängnisses, ganz wie er auf Plutarchs Kronosinsel den in einer Höhle gebundenen Kronos bewacht (Hesiod, Theogonia 713–735).¹⁵⁴⁰ In Hesiods Beschreibung der Einkerkerung der Titanen in der
1536 Dass die Geographie des westlichen Ozeans, wie sie von De facie beschrieben wird, somit in einem primär literarischen Zusammenhang zu sehen ist, lässt auch sämtliche Versuche hinfällig werden, in Plutarchs Beschreibung des Westkontinents einen Beleg für eine frühe Entdeckung Amerikas zu sehen; zusammenfassend zu solchen ‚amerikanischen Ansätzen‘, die bis in die frühe Neuzeit zurückgehen, vgl. Martínez Hernández 1994, S. 100–102. 1537 Schon Schulten sah die Hyperboräer des Hekataios in einem Zusammenhang mit den Inseln der Seligen und mit Plutarchs Schilderung der Länder des Westens in De facie: Schulten 1930, Sp. 631 f. Als spätere (spätantike) Parallele vgl. auch die im siebten Panegyricus Latinus (Constantino Augusto, Kap. IX) vorgenommene Identifizierung Britanniens mit den Inseln der Seligen, siehe oben S. 390. 1538 Solmsen et al. 1990, apparatus criticus zu Z. 173a (S. 56); Most 2006, S. 101 (Anm. 10). 1539 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 539; Haider 2004, S. 984; Radermacher 1903, S. 5 f. (Anm. 2). 1540 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 539; Haider 2004, S. 984; Ahl 1982, S. 400 (Anm. 87).
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Theogonie wird dabei zwar nur impliziert, dass auch Kronos sich unter den unterirdischen Gefangenen befindet, ohne dass dies explizit ausgesprochen wird; dass die Vorstellung einer unterirdischen Gefangenschaft des Kronos jedoch weithin geläufig war und auch für Hesiod ursprünglich vorausgesetzt werden darf, zeigen Belege wie Ilias VIII.477–481, wo die Einkerkerung des Kronos im Tartarus ausdrücklich erwähnt wird.¹⁵⁴¹ Ein weiteres typisch griechisches Motiv ist die Götterspeise Ambrosia, von der Kronos sich ernährt.¹⁵⁴² Sogar der Umstand, dass Kronos in seiner Gefangenschaft träumt, mag einen griechischen Hintergrund haben: Tertullian erwähnt die Vorstellung, dass Kronos-Saturn träume; dabei scheint er dieses Motiv dem Aristoteles zuzuschreiben (De anima XLVI.10). Somit wäre auch der träumende Kronos ein Motiv, das Plutarch aus der griechischen Mythologie bezogen haben könnte.¹⁵⁴³ Selbst die Verbindung der spezifischen Lage der Kronosinsel vor der nordwesteuropäischen Atlantikküste mit ihrer Assoziation mit gerade der Figur des Kronos ist nicht ohne Anknüpfungspunkte in der griechischen und römischen Literatur. So erwähnt schon Plinius in der oben zitierten Stelle (Naturalis historia IV.xvi.104)¹⁵⁴⁴ das Kronosmeer in der Umgebung der Insel Thule im hohen Norden; da diese Lokalisierung älter ist als die Werke Plutarchs, besteht grundsätzlich die Möglichkeit, dass die Verbindung der Kronosinsel gerade mit Kronos unmittelbar auf die damals schon etablierte Verbindung des Kronos mit den Meeren des Nordwestens zurückgreift.¹⁵⁴⁵ Zugunsten einer solchen extrem kritischen Deutung ließe sich auch darauf hinweisen, dass nach einem Fragment des Aristoteles die Säulen des Herakles einst „Säulen des Briareos“ genannt und erst später in „Säulen des Herakles“ umbenannt worden seien (überliefert bei Älian, Varia historia V.3). Ein Fragment des Charax, der im 2. Jahrhundert n. Chr. wirkte, berichtet zudem, dass diese Säulen ursprünglich „Säulen des Kronos“ genannt worden wären (überliefert in einem Scholion zu Dionysios Periegetes, Orbis descriptio 64).¹⁵⁴⁶ Die Assoziation des Kronos mit dem Nordwesten ist aus griechisch-römischer Sicht somit keineswegs revolutionär.¹⁵⁴⁷
1541 Vgl. Haider 2004, S. 984 (Anm. 45). 1542 Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 539; Haider 2004, S. 984; ausführlich zur Ambrosia vgl. Roscher 1884–1890 (Ambrosia). 1543 Mayer 1890–1897, Sp. 1483; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 539. Zum Vorschlag Haiders, dass es sich bei diesem Motiv um eine Entlehung aus der inselkeltischen in die griechische Mythologie handle (Haider 2004, S. 984), siehe oben Anm. 1530. 1544 Siehe oben S. 404. 1545 So bereits Müllenhoff 1870–1908 Bd. 1, S. 416 f. 1546 FGrH 103 F 35 = BNJ 103 F 35 (mit Kommentar); vgl. Martínez Hernández 1994, S. 99; Ahl 1982, S. 401. 1547 Insofern wird die Neuartigkeit der Lokalisierung der Inseln der Seligen im Norden von García Moreno vielleicht etwas überbetont: „Con ello se habría producido ciertamente una traslación septentrional del mito paradoxográfico de las «islas de los bienaventurados», hasta ese momento y sin excepción siempre situadas en aguas cálidas“ (García Moreno 1994, S. 113). Als spätantike Parallele zu einer Lokalisierung der Inseln der Seligen im hohen Norden vgl. Panegyricus Latinus VI.7, wo Irland,
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Insgesamt lässt sich festhalten, dass Plutarchs Schilderung der Kronosinsel kaum ein Element enthält, das nicht auf Vorbilder der griechischen Mythologie zurückgeführt werden kann; nahezu die einzigen Elemente ohne klare literarische Vorlagen sind die Vögel, die Kronos versorgen, und die Konzeption der Kronosinsel als Ort prophetischer Offenbarung.¹⁵⁴⁸ Dies ist umso bedauerlicher, als keines dieser beiden Elemente intrinsisch von besonderer Signifikanz ist: Die Verbindung einer Gottheit mit ihr heiligen Vögeln ist zu häufig, um dieses Element notwendigerweise als besonders aussagekräftige Eigenheit der Kronosinsel betrachten zu können – man denke an die Eule der Athena oder die Tauben der Aphrodite. Dabei gibt es auch durchaus Paralellen dazu, dass solche Vögel nicht nur als Attributtiere fungieren, sondern selbständig am Kult und an der Tempelpflege mitwirken und so der Gottheit in gewisser Hinsicht aufwarten; so wurde ein Schrein des Diomedes auf einer Insel in der Adria einer Notiz bei Plinius zufolge täglich von den dort lebenden Vögeln mit Meerwasser gereinigt (Plinius, Naturalis historia X.lxi.127; vgl. Solinus, De mirabilibus mundi II.49). Ebenso ist die Funktion einer heiligen Insel als Orakelinsel ein extrem geläufiges Motiv – auf das Beispiel etwa der Insel Sena wird noch zurückzukommen sein. In Anbetracht
Thule und die Inseln der Seligen in einem Atemzug genannt werden. Für einen ausführlichen Überblick über die Geschichte der Assoziation Großbritanniens mit den Inseln der Seligen (wenngleich mit Fokus auf der frühen Neuzeit) vgl. Bennett 1956. 1548 Vgl. schon Mayer 1890–1897, Sp. 1481–1484; beachte auch, dass Mayer 1890–1897, Sp. 1483 f. den prophetisch-schlafenden Kronos mit verschiedenen Inkubationsorakeln zusammenstellt, ohne allerdings eine genau passende und explizit mit Kronos verbundene Entsprechung aufzeigen zu können. Nichtsdestoweniger ist die Möglichkeit nicht auszuschließen, dass auch das Motiv des prophetischen Höhlenbewohners von griechischen Vorstellungen beeinflusst sein könnte, vgl. Rohde 1921 Bd. 1, S. 123: „Und gerade die Sage vom Amphiaraos [...] beweist, dass bereits zur Zeit des noch blühenden Epos homerischen Styls der Glaube an höhlenhausende Unsterbliche und deren mantische Kraft und Bethätigung lebendig war.“ – Haider hat jüngst spekuliert, dass die Vögel, die Kronos in seiner Höhle mit Ambrosia versorgen, „eigentlich“ mit den Dämonen identisch sind, die ihn in der Höhle bedienen, und dass Vögel und Dämonen erst von Plutarch aus literarischen Gründen voneinander unterschieden wurden (Haider 2004, S. 984; zustimmend: Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 540). Auf dieser Grundlage sieht Haider in De facie die folgenden nichtgriechischen Elemente verarbeitet: „die Vorstellung von einem Gott, der in einer tiefen und goldfarbenen Felshöhle auf einer der einsamen Inseln westlich von Britannien schläft (bzw. sich dort aufhält) und von Vögeln versorgt wird, welche auch prophetische Fähigkeiten besitzen“ (Haider 2004, S. 984). Dem ist aus verschiedenen Gründen nicht zuzustimmen. Haider selbst hat in seiner vorangehenden Diskussion darauf hingewiesen, dass für den unterirdischen Aufenthalt des Kronos (im Tartarus) und seine Assoziation mit den Inseln der Seligen reiche griechische Parallelen existieren (Haider 2004, S. 984); dies macht es etwas überraschend, dass er diese beiden Motive nun doch für keltisch hält. Ferner bleibt die Identifizierung der Dämonen mit den Vögeln rein spekulativ und ist zwar möglich, aber letztlich nicht zu untermauern. Und das Detail, wonach die Höhle des Kronos gerade goldfarben sei, dürfte wenig mehr sein als ein Farbtupfer, der diese Höhle auf literarischer Ebene an den paradiesischen Charakter der Insel angleicht, auf der sie lokalisiert ist; vgl. etwa die „Blumen von Gold“ (ἄνθεμα χρυσοῦ), die in der Schilderung der Inseln der Seligen bei Pindar erscheinen (Zweite Olympische Ode 72), oder die reichliche Verwendung von Gold und Edelsteinen auf den Inseln der Seligen des Lukian (Verae historiae II.11).
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dieser durchgehenden Verwendung etablierter Topoi in De facie verwundert es nicht, dass Gerhard Baudy den Mythos vom auf seiner Insel schlafenden Kronos vor kurzem als eine bloße Entwicklung griechischer ‚utopischer Phantasie‘ behandelt hat.¹⁵⁴⁹ Der einzig klare textinterne Grund, die Vorstellung einer Insel des Kronos vor der britischen Küste überhaupt in einem keltischen Zusammenhang zu sehen, liegt somit in der ausdrücklichen Stellungnahme von De defectu oraculorum, dass es sich hierbei um eine einheimisch britannische Überlieferung handle, die Demetrios von Tarsos im Zuge einer Britannienreise aus erster Hand bekannt geworden sei. In De facie in orbe lunae hat Plutarch diesen Mythos wieder aufgegriffen und unter höchster literarischer Stilisierung in einen Kunstmythos eingebunden, der auf so vielfältige Quellen zurückgreift wie Platons Atlantis-Schilderung, die Darstellung des Landes der Hyperboräer durch Hekataios von Abdera¹⁵⁵⁰ und traditionelle Vorstellungen über Kronos, die Titanomachie und die Inseln der Seligen. Dies legt nahe, dass die Schilderung der Kronosinsel in De facie trotz ihres weit größeren Detailreichtums praktisch keinen unabhängigen Quellenwert hat.¹⁵⁵¹ Dies ist bedauerlich nicht nur wegen
1549 Baudy 1999, Sp. 865. In diesem Sinne vgl. auch Malten 1913, S. 45 (Anm. 6), der Plutarchs Bericht von der Kronosinsel in De facie als „späte Fabeleien“ abtut. 1550 Die Inspiration zur Heranziehung des Hekataios mag vielleicht darin zu finden sein, dass die von Demetrios besuchte Insel heiliger Männer Plutarch an die Hingabe der Hyperboräerinsel an den Apollonkult erinnert haben könnte. 1551 Contra Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 539 (vgl. Haider 2004, S. 984 f.). Dort wird die Annahme vertreten, dass Plutarch in De facie aus einer von Demetrios unabhängigen Quelle schöpft, da er diesen sonst als seinen Informanten angegeben hätte. Wie wenig plausibel diese Annahme ist, wird jedoch deutlich, wenn man sich ihre impliziten Annahmen bewusst macht: Denn die Annahme einer unabhängige Quelle setzt voraus, dass derselbe Autor (Plutarch) denselben Mythos zweimal verwendet, dafür aber aus zwei unabhängigen Quellen geschöpft habe. Formuliert man den Sachverhalt in dieser Weise, sollte deutlich werden, wie unnötig die Annahme einer zweiten, von Demetrios unabhängigen Quelle ist. Ihre forschungsgeschichtliche Grundlage hat die Annahme einer solchen zweiten Quelle in einer (falsch gestellten) Frage nach der Identität einer der Figuren von De facie in orbe lunae: Dort wird der Mythos von der Kronosinsel von der Figur des Karthagers Sulla erzählt; dieser wiederum beruft sich als Quelle seiner Ausführungen auf einen Reisenden, der selbst vom Westkontinent stamme, von dort für 30 Jahre auf die Kronosinsel gesandt worden sei und sich nach dem Ende seiner verpflichtenden Dienstzeit auf dieser Insel auf weitere Reisen begeben habe (De facie 26). Dieses literarische Konstrukt hat zu einer Diskussion darüber geführt, ob der anonyme Reisende vom Westkontinent mit Demetrios von Tarsos zu identifizieren sei (vgl. jüngst noch Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 539; Haider 2004, S. 983 [mit Anm. 41], beide mit weiterer Literatur; García Moreno 1994, S. 110; Martínez Hernández 1994, S. 100). Dieser Frageansatz geht jedoch grundsätzlich am Problem vorbei, da es sich bei der Figur des „Weisen von der Wunderinsel“ um einen literarischen Topos handelt, der schon von Hekataios im Zuge seiner Beschreibung des Landes der Hyperboräer angewandt wurde und dessen Verwendung durch Plutarch, wie Hamilton richtig gezeigt hat, als literarische Anspielung aufzufassen ist: Hamilton 1934, S. 24 f. (Anm. 1, S. 24). So betrachtet ist das Verschweigen des Demetrios als Quelle des Kronosmythos und seine literarische Ersetzung durch den „weisen Reisenden“ weniger ein Akt der Respektlosigkeit, wie dies Hofeneder voraussetzt, als vielmehr ein elaboriertes Kompliment.
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der erheblichen Zahl zusätzlicher Details, die für das Studium der Kronosinsel selbst verlorengehen, sondern auch, da die von De facie hergestellte Beziehung zwischen der Kronosinsel, Britannien und der Insel Ogygia im Analogieschluss gleichfalls als rein literarisches Produkt Plutarchs gelten muss; die homerische Insel Ogygia wäre in diesem Zusammenhang aber insofern von Interesse gewesen, als sie auffallende Ähnlichkeiten zur Insel der Frauen von Immram Brain zeigt.¹⁵⁵² Wenn De facie in orbe lunae 26 somit auch keinen eigenen Quellenwert für die keltische Religionsgeschichte hat, so ist diese Bearbeitung des Berichts von De defectu oraculorum jedoch immerhin von allgemeinem Interesse für den griechischen Umgang mit dem Motiv der Paradiesinsel: Sie stellt ein hervorragendes Beispiel für die Leichtigkeit dar, mit der verschiedenste Vorstellungen von mythischen Paradiesinseln miteinander kombiniert und aufeinander übertragen werden können. Dieses Phänomen war in den vorangegangenen Kapiteln schon in der nordischen, arthurischen und inselkeltischen Literatur deutlich geworden; De facie ist ein Zeugnis dafür, dass ein solcher Umgang mit Paradiesinselkonzepten auch die griechische Literatur wesentlich mitprägte und somit ein ausgesprochen internationales Phänomen ist. Von all dem bleibt Plutarchs explizite Versicherung unberührt, dass die kurze, nur zwei Sätze umfassende Beschreibung der Kronosinsel in De defectu oraculorum eine einheimisch-britannische Vorstellung wiedergebe und auf lokalen Auskünften beruhe. Da die Reise des Demetrios, die Plutarch als seine Informationsquelle angibt, ein reales historisches Ereignis war, ist dieser Anspruch grundsätzlich plausibel.¹⁵⁵³ In Anbetracht der weitgehenden Überformung des inselkeltischen Elements im Bericht des Demetrios durch eine äußerst weitreichende interpretatio Graeca besteht das Problem jedoch darin, das hinter dieser interpretatio stehende lokale Element zu bestimmen. Die Forschung hat hier wiederholt darauf hingewiesen, dass es sich beim Motiv des in einer Höhle schlafenden Gottes um eine Variante des Kyffhäuser-Motivs handle.¹⁵⁵⁴ Namensgebend für dieses Motiv ist seine bekannteste Ausformung in der Sage von Friedrich Barbarossa, der im Kyffhäuser schläft und erst aufwachen wird, wenn sein Bart dreimal um einen steinernen Tisch gewachsen ist. Dieses Motiv ist in der europäischen Kulturgeschichte mit einer Vielzahl verschiedener Gestalten verbunden worden; das Spektrum reicht von den Sieben Schläfern von Ephesus über den serbischen König Marko bis hin zum Gott Odin.¹⁵⁵⁵ Im gegenwärtigen Kontext ist dies insbesondere deshalb relevant, weil auch König Arthur als ein solcher Höhlenbe-
1552 Vgl. Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 125 f.; Egeler 2014 (Perspektiven), S. 125, 148 f., 161. 1553 Vgl. García Moreno 1994, S. 112. 1554 Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 540; Haider 2004, S. 985 f.; Ziegler 1952, S. 329 (Anm. 270.1); vgl. Mayer 1890–1897, Sp. 1483. 1555 Für eine Sammlung einer Vielzahl von Beispielen vgl. Chambers 1927, S. 225–227. Für den Aufenthalt Odins in einer Höhle siehe ibidem S. 226 f.; MacCulloch et al. 1908, S. 707; der Vergleich von Plutarchs Kronosinsel mit einem „bergentrückten Wuotan“ geht zurück bis zumindest Grimm 1875– 1878 Bd. 2, S. 694 f. (Anm. 4).
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wohner erscheinen kann;¹⁵⁵⁶ entsprechend ist die Insel des schlafenden Kronos spätestens seit den Arbeiten John Rhŷs’ immer wieder mit dem Schicksal Arthurs verglichen worden, der einerseits auf die Insel Avalon entrückt wird, um von dort ggf. eines Tages zurückzukehren, während er andererseits in einer Vielzahl britischer Höhlen schlafend gedacht ist.¹⁵⁵⁷ Unter den in jüngerer Zeit erschienenen Beiträgen sei hier etwa die Interpretation Geoffrey Ashes herausgegriffen: Ashe nimmt an, dass sowohl die Entrückung Arthurs auf die „Apfelinsel“ Avalon als auch sein Schlaf in einer Höhle wahrscheinlich auf den keltischen Mythos zurückgehen, der seinen Niederschlag in Plutarchs Kronosinsel gefunden hat. Dieser Mythos sei auf einen menschlichen Helden übertragen und im Verlauf dieses Übertragungsprozesses in zwei Mythen aufgespalten worden.¹⁵⁵⁸ Zu einer solchen Interpretation ist jedoch kritisch anzumerken, dass die Übereinstimmungen zwischen der arthurischen Überlieferung und Plutarchs Kronosinsel letztlich sehr allgemein bleiben: Die Kronosinsel und die „Apfelinsel“ Avalon zeigen keine spezifischen Gemeinsamkeiten, die über ihren paradiesischen Charakter und ihre anderweltlichen Konnotationen hinausgehen würden;¹⁵⁵⁹ in dieser unspezifischen Form mag der paradiesische Charakter der Kronosinsel jedoch den griechischen Inseln der Seligen und den Hyperboräern des Hekataios mehr verdanken als einem zugrundeliegenden inselkeltischen Mythos. Ähnliches gilt letztlich auch für die Parallele zwischen dem schlafgebundenen Kronos und dem schlafenden Arthur: Auch hier fehlen konkrete Übereinstimmungen in spezifischen Details, die über das allgemeine (und extrem weit verbreitete) Kyffhäuser-Motiv hinausgehen würden. Insbesondere ist als wesentlicher Unterschied zwischen Kronos und Arthur anzumerken, dass es sich bei Kronos um einen urzeitlichen Gott und bei Arthur um einen sterblichen Menschen handelt. Die Annahme einer Übertragung dieses Mythos von einer inselkeltischen Göttersage in die Heldensage ist hier eine notwendige, aber letztlich unbeweisbare und ad hoc postulierte Hilfsannahme. Dies bedeutet nicht, dass eine Verbindung zwischen der Kronosinsel und der Arthursage ausgeschlossen ist; sie verbleibt jedoch letztlich im Bereich der Spekulation. Spezifischer ist eine mögliche Parallele zwischen Plutarchs Kronosinsel und Motiven der walisischen und arthurischen Literatur, die zuletzt von Maier ausführ-
1556 Siehe oben S. 253 mit Anm. 958. 1557 Rhŷs 1891, S. 367 f.; Rhŷs 1901, S. 493–497; Chambers 1927, S. 230; Loomis 1959 (Legend), S. 71; Lacy et al. 1997, S. 27 f.; Carey 2006 (Otherworld), S. 1403 f. 1558 Lacy et al. 1997, S. 27 f. (zur Autorenzuschreibung vgl. ibidem S. XV). 1559 Beachte schon Rhŷs’ Skepsis gegenüber einer Verbindung zwischen Arthurs Entrückung nach Avalon und seinem Schlaf in einer Höhle (Rhŷs 1901, S. 496 f.): „there cannot be much room for doubt, that the story representing him [d. h., Arthur] going to fairyland to be healed is far older than any which pictures him sleeping in a cave with his warriors and his gold around him. [...] In other words, most of our cave legends have combined together two sets of popular belief originally distinct, the one referring to a hero gone to the world of the fairies and expected some day to return, and the other to a hero or god enjoying an enchanted sleep with his retinue all around him.“
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lich aufgearbeitet wurde.¹⁵⁶⁰ Maiers Ansatz nimmt seinen Ausgangspunkt vom Motiv der Gefangenschaft: Verschiedene Gestalten der walisischen und arthurischen Literatur erscheinen als anderweltliche Gefangene und lassen sich damit als Parallelen zum Kronos des Plutarch auffassen, der auf einer anderweltlichen Insel in Banden liegt. Die wichtigste einschlägige Gestalt ist die Figur des Mabon fab Modron. Mabons besondere Bedeutung beruht insbesondere auf zwei Faktoren: einerseits darauf, dass die Namen von Mabon und seiner Mutter Modron in römischen Weiheinschriften erscheinen, was die Verwurzelung dieser Gestalten in vorchristlichen Götterfiguren belegt;¹⁵⁶¹ und andererseits darauf, dass Mabon sowohl in der walisischen als auch in der kontinentalen arthurischen Literatur gerade als ein prominenter Gefangener erscheint. Die prominente Stellung Mabons als Gefangener belegt etwa die 52. Triade der Triaden der Insel Britannien, die „die drei erhabenen Gefangenen der Insel Britannien“ verzeichnet, nämlich: Llŷr Lledyeith, Mabon Sohn von Modron, und Gwair Sohn von Geirioedd.¹⁵⁶² Weit ausführlicher als die knappe Aufzählung der Triade ist die Behandlung von Mabons Gefangenschaft in der Erzählung Culhwch und Olwen. In diesem Text, der ältesten walisischen Arthurerzählung, müssen Arthur und seine Männer verschiedene Aufgaben erfüllen, zu denen u. a. auch die Befreiung Mabons aus seiner Gefangenschaft zählt. Hierzu berichtet Culhwch und Olwen, dass Mabon seiner Mutter drei Tage nach seiner Geburt geraubt wurde und jenseits des Flusses Severn in Caer Loyw festgehalten wird.¹⁵⁶³ Vor dem Hintergrund der plutarchschen Kronosinsel betrachtet, ist dieser Bericht insofern von Interesse, als sich hier eine (1) auf einer vorchristlichen Gottheit beruhende Sagengestalt (2) hinter einer Wasserbarriere (3) in Gefangenschaft befindet. Dass zumindest das Motiv der Gefangenschaft mit Mabon aufs engste verbunden war, legt dabei neben der 52. Triade auch der Befund der kontinentalen arthurischen Literatur nahe, wo Mabon mehrfach in entsprechenden Kontexten erscheint – sei es als Gefangener (so im Lanzelet des Ulrich von Zatzikhofen aus dem späten 12. Jahrhundert), als Wächter eines Gefängnisses (so im Bel Inconnu als dem 13. Jahrhundert), oder in beiden Funktionen zugleich (so im Erec des Chrétien de Troyes aus dem späten 12. Jahrhundert).¹⁵⁶⁴
1560 Maier 2001 (Maponos). Vgl. Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 320–330; García Moreno 1994, S. 113. 1561 Maier 2001 (Maponos), S. 81; ausführlich zu den epigraphischen Belegen für Maponos und Matrona vgl. Bromwich 2006, S. 425, 449. 1562 Hgg. und übers. von Bromwich 1978, dort S. 140 f.; Bromwich 2006, dort S. 146. 1563 Maier 2001 (Maponos), S. 83 f. (mit Textzitat); Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 165 f.; für eine Gesamtübersetzung von Culhwch und Olwen vgl. Davies 2007, S. 179–213, dort S. 204 f. 1564 Bromwich 1978, S. 435 f. (mit detaillierten Quellennachweisen); Bromwich 2006, S. 427 f. (mit Quellennachweisen); Maier 2001 (Maponos), S. 83 f.; Gruffydd 1953, S. 92–95. Für eine sehr allgemein gehaltene Einordnung von Plutarchs Kronosinsel in einen arthurischen Kontext vgl. auch Walter 2004, S. 67 f.
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Eine auffallende inhaltliche Parallele hierzu findet sich ferner in der Überlieferung zur Figur des Gwair, der in der 52. Triade neben Mabon als einer der „erhabenen Gefangenen der Insel Britannien“ genannt wird.¹⁵⁶⁵ Im Gedicht Preiddeu Annwn wird auch über ihn erzählt, dass er an einem Ort jenseits des Wassers festgehalten wurde; dabei wird dieser Ort durch die Anderweltsbezeichnungen Annwn und Caer Siddi ausdrücklich als ein anderweltliches Gefilde charakterisiert.¹⁵⁶⁶ Hier könnte auch von Interesse sein, dass zwei Inseln der realweltlichen Geographie Britanniens – die Isle of Wight und Lundy Island – den Namen Ynys Weir, „Gwairs Insel“, tragen konnten; dies mag anzeigen, dass diese Inseln als die Orte von Gwairs anderweltlicher Gefangenschaft gedacht waren.¹⁵⁶⁷ Zudem schafft die Doppelbedeutung von Gwair/gwair im Walisischen als Personenname einerseits und Bezeichnung für „Gras“ andererseits eine Ambivalenz in der Deutung von Ynys Weir, die so einerseits auf das Motiv des anderweltlichen Gefangenen und andererseits auf die Grasinsel des Saturn verweisen mag, wie sie von Avienus beschrieben wird.¹⁵⁶⁸ Gwair wird in Preiddeu Annwn darüber hinaus mit der Figur des Pryderi assoziiert; dies ist von Interesse, weil Pryderi im ersten und dritten der Vier Zweige des Mabinogi entführt wird bzw. verschwindet.¹⁵⁶⁹ Solche Textstellen legen die Vermutung nahe, dass eine Figur eines (göttlichen) Gefangenen, der in einer anderweltlichen Lokalität jenseits einer Wasserbarriere festgehalten wird, in der vorchristlichen Religion Britanniens eine wichtige Stellung innegehabt haben könnte. Darüber hinaus weist Maier noch auf die Möglichkeit hin, dass eine Verbindung zwischen dieser Gefangenschaft und der Kälte des Winters bestehen könnte: In einigen mittelkymrischen Strophen wird die Gefangenschaft des Owein fab Urien mit der Kälte des Winters verbunden. Dies mag von mythologischer Relevanz sein, da Owein anderswo eng mit Mabon fab Modron assoziiert wird – wenngleich beachtet werden muss (wie Maier nachdrücklich betont), dass hier über die bloße Möglichkeit eines Zusammenhangs nicht hinauszukommen ist, da ein solcher im fraglichen Text nicht ausdrücklich hergestellt wird und eine explizite Verbindung der Gefangenschaft des Mabon mit der Winterkälte auch sonst fehlt.¹⁵⁷⁰ Falls die Vermutung jedoch zutreffen sollte, dass zwischen der Einkerkerung des Mabon und der Kälte des Winters eine Verbindung besteht, so würde sich hierüber ein möglicher Anschluss an
1565 Maier 2001 (Maponos), S. 84 f.; Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 165 f.; vgl. Bromwich 2006, S. 146; Bromwich 1978, S. 141; Gruffydd 1953, S. 91. 1566 Maier 2001 (Maponos), S. 84 f. (mit Textzitat); vgl. Maier 2001/2002, S. 153. Für Gesamtübersetzungen von Preiddeu Annwn siehe oben Anm. 969. Vgl. Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 320. 1567 Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 66; Bromwich 1978, S. 141; Maier 2001 (Maponos), S. 84 f.; Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 188; Rhŷs 1901, S. 679. 1568 Maier 2001/02, S. 153; vgl. Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 66; Maier 2013, S. 119; und siehe oben S. 395 ff. 1569 Maier 2001 (Maponos), S. 85; vgl. Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 321; Gruffydd 1953, S. 91. 1570 Maier 2001 (Maponos), S. 85 f., 89.
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die Assoziation des Kronos mit dem Winter ergeben, die oben bereits kurz angesprochen worden ist.¹⁵⁷¹ In diesem Fall bestünden die möglichen Anknüpfungspunkte zwischen Plutarchs Kronosinsel und dem britischen Motiv einer göttlichen Einkerkerung darin, dass (1) eine Gestalt mit Wurzeln in der vorchristlichen Götterwelt (2) auf einer Insel oder zumindest jenseits einer Wasserbarriere (3) gefangen gehalten wird, wobei (4) diese Gefangenschaft mit der Kälte des Winters zu verbinden ist. In Anbetracht der Überlieferungslage kann dies jedoch nicht mehr sein als eine Möglichkeit.¹⁵⁷² Insgesamt ist somit festzuhalten, dass sich der Quellenwert von Plutarchs Bericht über eine Kronosinsel vor der britannischen Küste auf der Grundlage des möglichen Vergleichsmaterials in der griechischen und römischen Literatur einerseits und der mittelalterlichen walisischen Literatur andererseits auf ganz unterschiedliche und einander diametral entgegengesetzte Arten interpretieren lässt. Einerseits besteht die Möglichkeit, praktisch jedes inhaltliche Elemente von Plutarchs Beschreibung mit etablierten Topoi der griechischen und römischen Literatur zu verbinden; auf dieser Grundlage ließe sich argumentieren, dass es sich beim gesamten Komplex um ein rein literarisches Konstrukt ohne Beziehung zu etwaigen inselkeltischen Vorstellungen über Götterinseln handelt. Andererseits lassen sich für mehrere Elemente der Kronosinsel Parallelen auch in der mittelalterlichen kymrischen Literatur aufzeigen; auf dieser Grundlage ließe sich argumentieren, dass Plutarchs expliziter Anspruch, eine authentisch inselkeltische Vorstellung wiederzugeben, durchaus ernst zu nehmen ist. Damit ist abschließend nochmals auf die Frage zurückzukommen, welche Rolle diese Insel im weiteren Kontext der vorliegenden Untersuchung spielt. Auf einer Ebene ist einzuräumen, dass es sich bei Plutarchs Beschreibungen der Kronosinsel im Kontext einer Geschichte des Motivs der Paradiesinsel um Quellen handelt, die nicht im Stande sind, das einzulösen, was sie auf den ersten Blick zu versprechen scheinen. Plutarch gibt in De facie eine Beschreibung einer Anderweltsinsel, die zwar als ein Gefängnis des Kronos fungiert, dabei jedoch auch markant paradiesische Züge aufweist, die sie unmittelbar in den Rahmen des Paradiesinselmotivs einordnen. Bei näherer Betrachtung wird jedoch schnell deutlich, dass es sich gerade bei diesen Zügen um Elemente handelt, die klare Parallelen in griechischem Gedankengut finden und sich ohne Weiteres als griechische literarische Stilisierung ohne Grundlage in inselkeltischen Vorstellungen erklären lassen. Diese Einschätzung ändert sich auch nicht grundlegend, wenn kymrische Quellen zum Vergleich herangezogen werden: Zwar lassen sich mögliche Anknüpfungspunkte zwischen kymrischem Material und Plutarchs Schilderung eines gefangenen Gottes aufzeigen, die nahelegen, dass hinter Plutarchs interpretatio Graeca tatsächlich ein inselkeltisches Konzept gestanden haben könnte. Zugleich wird jedoch auch deutlich, dass das paradiesische Element gerade nicht zu den Überschneidungspunkten zwischen den griechischen
1571 Vgl. Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 323 f.; Maier 2001/02, S. 152. Siehe oben S. 405 mit Anm. 1532. 1572 Vgl. Maier 2001 (Maponos), S. 89; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 540.
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Berichten und den kymrischen Quellen gehört: Plutarchs Beschreibung der Gefängnisinsel als ein paradiesisches Gefilde lässt sich am einfachsten aus ihrer Angleichung an die Inseln der Seligen erklären. Auf der Ebene der Quellenkritik ist die Kronosinsel als Beleg für ein inselkeltisches Paradiesinselkonzept somit auszuscheiden. Auf der Ebene der Frage nach den Prozessen interkultureller Umdeutungen ist sie jedoch nichtsdestoweniger von einigem Interesse als Beispiel für die Leichtigkeit, mit der Paradiesinselmotive auch dann auf anderweltliche Inseln übertragen werden können, wenn diese ursprünglich allem Anschein nach nicht paradiesisch vorgestellt waren (was für ein Gefängnis zunächst grundsätzlich nicht anzunehmen ist).¹⁵⁷³
6.3 Äpfel und Bernstein Bei Ashes Vorschlag, eine Verbindung zwischen der Kronosinsel des Plutarch und dem Avalon König Arthurs in Erwägung zu ziehen,¹⁵⁷⁴ handelt es sich nicht um den einzigen Ansatz, der die Existenz von antiken Belegen für die arthurische „Apfelinsel“ annimmt. Eine weitere Insel, die als Frühform Avalons gesehen worden ist, findet sich in der Naturgeschichte des Plinius, im Kontext seiner Diskussion des Bernsteins (Naturalis historia XXXVII.xi.35 f.): [...], Pytheas [credidit] Gutonibus¹⁵⁷⁵, Germaniae genti, accoli aestuarium oceani Metuonidis nomine spatio stadiorum sex milium; ab hoc diei navigatione abesse insulam Abalum; illo per ver fluctibus advehi et esse concreti maris purgamentum; incolas pro ligno ad ignem uti eo proximisque Teutonis vendere. huic et Timaeus credidit, sed insulam Basiliam vocavit.¹⁵⁷⁶ Pytheas [glaubte], dass von den Gutonen – einem Stamm Germaniens – ein Wattengebiet(?) des Ozeans namens Metuonis bewohnt werde, das sich über einen Raum von sechstausend Stadien erstreckt; einen Segeltag von diesem entfernt befinde sich die Insel Abalum/Abalus; an jener werde er [d. h. der Bernstein] während des Frühlings durch die Wogen angeschwemmt, und er sei eine Ausscheidung des geronnenen [=gefrorenen?] Meeres; die Einwohner würden ihn anstelle von Holz zum Feuermachen verwenden und den nächstwohnenden Teutonen verkaufen. Ihm [d. h. dem Pytheas] schenkte auch Timaios Glauben, aber er nannte die Insel Basilia.
Plinius erwähnt hier unter Berufung auf Pytheas eine insulam Abalum, die er unter Bezugnahme auf ein aestuarium (Flussmündung? Mündungsgebiet? Wattengebiet?
1573 Vgl. auch, dass die Gefangenschaft in den kymrischen Quellen, die Maier 2001 (Maponos), S. 83 f. zitiert, als leidhaft beschrieben wird. 1574 Siehe oben S. 412. 1575 Zur Lesung Gutonibus vgl. Reichert in Reichert und Timpe 1999, S. 182; Reichert 2002 (Metuonis), S. 1. 1576 Text: Mayhoff 1897, S. 395 f.
Äpfel und Bernstein
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Brandungsgebiet?)¹⁵⁷⁷ namens Metuonis und einen germanischen Stamm der Gutones lokalisiert. Trotz (oder wegen) ihrer Kürze wirft diese Stelle eine erhebliche Zahl bislang ungelöster Probleme auf. Diese beginnen bereits damit, dass sich die Nominativform des Inselnamens nicht bestimmen lässt: Da die fragliche Insel nur in der vorliegenden Plinius-Stelle bezeugt ist und in diesem einzigen Beleg im Akkusativ erscheint, ist nicht zu entscheiden, ob sie richtiger als Abalum oder als Abalus aufzufassen ist.¹⁵⁷⁸ Auch eine geographische Lagebestimmung ist nicht sicher möglich: Zwar ist wiederholt eine Identifizierung Abalums mit Helgoland vorgeschlagen worden,¹⁵⁷⁹ aber dies ist nicht abzusichern, da weder für die Gutones noch für Metuonis unabhängige Anhaltspunkte für deren Lokalisierung vorhanden sind und einem Versuch einer Lagebestimmung Abalums so jeder sichere Referenzpunkt fehlt.¹⁵⁸⁰ Auch eine Heranziehung weiterer Zeugnisse trägt zur Lösung dieser Fragen nichts bei, bestätigt bzw. vermehrt jedoch die alternativen Namen der Bernsteininsel Abalum. Plinius führt an, dass Timaios die Insel Abalum unter dem Namen Basilia kannte. Da Timaios seinerseits als Quelle für die Geographie des fernen Nordwestens nur der Reisebericht des Pytheas vorgelegen haben dürfte, ist davon auszugehen, dass auch diese Benennung letztlich in der einen oder anderen Form auf Pytheas beruht.¹⁵⁸¹ Ein direkter Beleg für die griechische Form dieses Namens findet sich bei Diodor von Sizilien (V.23), der eine Bernsteininsel Βασίλεια beschreibt.¹⁵⁸² Da es sich
1577 Vgl. Roller 2006, S. 89 f.; Reichert 2002 (Metuonis), S. 1 f.; Magnani 2002, S. 219, 223; Cunliffe 2001, S. 145; Wenskus 1985, S. 96 f.; Svennung 1974, S. 35; Wenskus in Wenskus und Ranke 1973, S. 5; Krogmann 1963, S. 217; Krappe 1943, S. 303 f.; Much 1924, S. 103. 1578 Ausdrücklich anerkannt wird dieses Problem von Krappe 1943, S. 304. Nichtsdestoweniger wird in der Forschung jedoch zumeist von einer Namensform Abalus ausgegangen, ohne dass dies problematisiert oder begründet wird (z. B. Ihm 1894; Wenskus und Ranke 1973; Svennung 1974, S. 35 et passim; Magnani 2002, S. 213 et passim; Roller 2006, S. 88 et passim). 1579 Etwa Much 1924, S. 103; Krogmann 1963, S. 212–217 et passim; Wenskus in Wenskus und Ranke 1973, S. 5; Svennung 1974, S. 35; Wenskus 1985, S. 97 f. et passim; Cunliffe 2001, S. 147, 150. Krappe 1943, S. 304 identifiziert Abalum mit „Helgoland or one of the Frisian islands“. Ein Problem der Identifizierung mit Helgoland ist, dass Helgoland nie signifikante Bernsteinvorkommen besaß; wie Wenskus überzeugend dargelegt hat, ließe sich dieses Problem jedoch durch die Annahme eines Missverständnisses durch Gewährsmänner ohne unmittelbare Ortskenntnis lösen: Die Insel Abalum/Helgoland war möglicherweise nicht der Fundort, sondern ein wichtiger Umschlagplatz für den Bernstein; bei Fehlen unmittelbarer Ortskenntnis konnte ein Außenstehender so leicht zu der Auffassung gelangen, dass der Haupthandelsplatz des Bernsteins mit seinem Ursprungsort identisch sei: Wenskus 1985, S. 97; ähnlich: Cunliffe 2001, S. 149. 1580 Reichert 2002 (Metuonis), S. 1; Reichert in Reichert und Timpe 1999, S. 182. Roller 2006, S. 90 hält sowohl eine Identifizierung von Abalum mit Helgoland als auch eine Identifizierung mit Gotland, Skandinavien oder dem osteuropäischen Festland für möglich. Magnani 2002, S. 222–233 lokalisiert Abalum im Baltikum. Hennig 1944, S. 174–176 nimmt an, dass es sich bei Abalum um eine heute verschwundene Insel handelt, die dem Landverlust an der Westküste von Schleswig zum Opfer gefallen sei. 1581 Wenskus 1985, S. 99. 1582 Krogmann 1963, S. 205; Wenskus 1985, S. 104; Magnani 2002, S. 214.
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bei der Bezeichnung Βασίλεια/Basilia um einen sprechenden Namen handelt („die Königliche“), ist bei diesen Belegen weniger von einem direkten Reflex eines nordwesteuropäischen Inselnamens auszugehen,¹⁵⁸³ als vielmehr von einer beschreibenden Neubildung. Reinhard Wenskus verweist etwa darauf, dass die Königsburg von Atlantis ebenfalls den Namen Βασίλεια trägt (Platon, Kritias 115C; 116A), und schlägt vor, dass Pytheas’ Beschreibung der Bernsteininsel bei Timaios die Assoziation von Platons utopischem Land im Westen geweckt haben könnte.¹⁵⁸⁴ Alternativ ließe sich auch vermuten und ist häufig vorgeschlagen worden, dass die Insel in anderer Hinsicht einen „königlichen“ Charakter gehabt haben könnte, etwa durch die Oberherrschaft eines Königs über das Eiland.¹⁵⁸⁵ Plinius selbst setzt die Insel Basilia des Pytheas an anderer Stelle (Naturalis historia IV.xiii.95) mit einer Insel Balcia gleich, die er dem Werk des Xenophon von Lampsakos entnimmt;¹⁵⁸⁶ bei Solinus, der von einer Insel Abalcia spricht, scheint der Name Balcia mit dem Namen Abalum verschmolzen zu sein (Solinus XIX.6).¹⁵⁸⁷ Die Liste der antiken Namen von Bernsteininseln ließe sich noch fortsetzen,¹⁵⁸⁸ in der Geschichte der Forschung zu keltischen und germanischen Paradiesinseln hat jedoch nur noch eine weitere Bezeichnung solcher Bernsteininseln eine Rolle gespielt; auch diese ist bei Plinius überliefert (Naturalis Historia IV.xvi.103): [...] et ab adversa in Germanicum mare sparsae Glaesiae, quas Electridas Graeci recentiores appellavere, quod ibi electrum nasceretur.¹⁵⁸⁹ [...], und von der gegenüberliegenden Seite [Britanniens] in Richtung auf das Germanische Meer liegen die Glaesiae verstreut, welche die Griechen in neuerer Zeit die Bernsteininseln genannt haben, weil dort der Bernstein entstehe.
1583 Krogmanns Vorschlag, für Βασίλεια eine germanische Etymologie zu finden (Krogmann 1963), wird von Wenskus 1985, S. 99 zu Recht als „reichlich konstruiert“ abgelehnt. 1584 Wenskus 1985, S. 99. 1585 Cunliffe 2001, S. 146 f.; Svennung 1974, S. 34; Hennig 1944, S. 173; Krappe 1943, S. 304; vgl. Roller 2006, S. 88. Wenskus 1985, S. 100 f. und Svennung 1974, S. 35 schlagen vor, dass die Bezeichnung „die Königliche“ eine Übersetzung einer einschlägigen einheimischen Bezeichnung sein könnte. Einfacher und daher plausibler ist die etwa von Cunliffe vertretene Auffassung, dass es sich um einen von Griechen geprägten beschreibenden Namen handelt (Cunliffe 2001, S. 146 f.). 1586 Krogmann 1963, S. 206. 1587 Krogmann 1963, S. 206; Wenskus in Wenskus und Ranke 1973, S. 5. Vgl. Wenskus 1985, S. 100 f. 1588 Vgl. etwa die Zusammenstellung von Zeugnissen bei Krogmann 1963, S. 205 f.; Kauffmann 1913, S. 225. Für eine ausführliche textkritische Diskussion einer Vielzahl von Namensformen vgl. Magnani 2002, S. 213–222. 1589 Text: Mayhoff 1906, S. 349.
Äpfel und Bernstein
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Hier dokumentiert Plinius die Existenz von Bernsteininseln in der See gegenüber Britannien,¹⁵⁹⁰ die den Namen Glaesiae tragen sollen.¹⁵⁹¹ An anderer Stelle (Naturalis Historia IV.xiii.97) erwähnt er ferner eine (erneut nicht identifizierbare)¹⁵⁹² Insel, die von den römischen Truppen wegen ihres Bernsteins als Glaesaria bezeichnet wurde, bei den „Barbaren“ aber Austeravia hieß; Wenskus fasst dies so auf, dass es sich bei Glaesaria um den Namen einer individuellen Insel handelte, bei Glaesiae hingegen um die allgemeine Bezeichnung der Britannien gegenüber liegenden Inseln.¹⁵⁹³ Beide Namen, Glaesiae ebenso wie Glaesaria, sind von der germanischen Bezeichnung des Bernsteins abgeleitet, die Tacitus in latinisierter Form als glesum überliefert (Germania XLV.4: sucinum, quod ipsi glesum vocant) und Plinius, nur geringfügig hiervon abweichend, als glaesum (Plinius, Naturalis historia XXXVII.iii.42).¹⁵⁹⁴ Die Namen dieser germanischen „Bernsteininseln“ gehören etymologisch zusammen mit altenglisch glæs „Glas“¹⁵⁹⁵ und glær „Bernstein, Harz“,¹⁵⁹⁶ althochdeutsch glas „Glas“,¹⁵⁹⁷ anord. gler „Glas“¹⁵⁹⁸ und den oben besprochenen Glæsisvellir/Glasisvellir sowie dem Hain Glasir.¹⁵⁹⁹ Auf die etymologische Verbindung spezifisch zwischen den „Bernsteininseln“ und den Glæsisvellir wurde von Friedrich Kauffmann bereits am Beginn des 20. Jahrhunderts hingewiesen;¹⁶⁰⁰ spätestens seit Much hat die Forschung darüber hinaus wiederholt die Möglichkeit in Betracht gezogen, dass zwischen den germanischen „Bernsteininseln“ und den Glæsisvellir nicht nur ein etymologischer, sondern auch ein mythologisch-religionsgeschichtlicher Zusammenhang bestehen könnte.¹⁶⁰¹ Die Brücke zwischen den Bernsteininseln und dem paradiesischen Gefilde der Glæsisvellir wurde – von der etymologischen Verbindung abgesehen – in einer Mythologisierung der Herkunft des Bernsteins vermutet. Dieser Mythologisierungsprozess wurde von Much und Alexander Haggerty Krappe folgendermaßen angesetzt: Schon in der Antike war bekannt, dass es sich beim Bernstein um ein Baumharz handelt; da der fossile Charakter dieses Harzes jedoch noch nicht erkannt worden war, legte dies die Vorstellung von Bäumen nahe, die den Bernstein ausschwitzen.
1590 Vgl. Reichert 2002 (Metuonis), S. 3. 1591 Zu den möglichen historischen Umständen der römischen Entdeckung dieser Inseln vgl. Magnani 2002, S. 222. 1592 Wenskus 1973, S. 511. 1593 Wenskus 1973, S. 512. 1594 Heizmann 2002, S. 531; Magnani 2002, S. 222 f. 1595 de Vries 1961 (Wörterbuch), S. 172 (s.v. ‚Glasir‘), S. 173 (s.v. ‚gler‘). 1596 de Vries 1961 (Wörterbuch), S. 172 (s.v. ‚Glasir‘), S. 173 (s.v. ‚gler‘). 1597 de Vries 1961 (Wörterbuch), S. 173 (s.v. ‚gler‘). 1598 de Vries 1961 (Wörterbuch), S. 172 (s.v. ‚Glasir‘), S. 173 (s.v. ‚gler‘). 1599 de Vries 1961 (Wörterbuch), S. 172 (s.v. ‚Glasir‘); siehe oben S. 37. 1600 Kauffmann 1913, S. 227 (Anm. 4). 1601 Vgl. Much 1924, S. 101; Krappe 1942, S. 359, 363–365; Krappe 1943 (bes. S. 303–310); Straubergs 1957, S. 62; Heizmann 1998, S. 92–94; Heizmann 2002, S. 531 f.; Nordberg 2003, S. 31.
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Aus größerer geographischer Entfernung von den Bernsteininseln betrachtet, an denen das kostbare Harz angeschwemmt oder gehandelt wurde, konnte so aufgrund einer abnehmenden Ortskenntnis die Vorstellung entstehen, dass die Bernsteininseln nicht Fund- und Handelsplatz des Bernsteins sind, sondern dessen Ursprungsort, an dem die bernsteinerzeugenden Bäume wachsen. Damit ist der Mythologisierungsprozess der Bernsteininseln bei der Vorstellung eines Inselreichs angelangt, in dem der Reichtum buchstäblich von den Bäumen tropft. Von hier ist es dann nur noch ein kleiner Schritt zur Vorstellung eines insularen irdischen Paradieses; sowohl Much als auch Krappe verweisen zum Vergleich auf die Entwicklung der Vorstellung von Eldorado.¹⁶⁰² In derselben Weise wurden auch keltische bzw. arthurische Konzepte mit den Bernsteininseln des Plinius verbunden. Bereits von Much stammt der Vorschlag, die germanischen Bernsteininseln mit der arthurischen Glasinsel zu verbinden;¹⁶⁰³ sowohl Much als auch Krappe verweisen hier insbesondere auf die oben bereits angesprochene Isle de Voirre im Erec des Chrétien de Troyes, wo die Glasinsel als irdisches Paradies erscheint.¹⁶⁰⁴ Ein naheliegendes Gegenargument gegen eine solche Verbindung wäre, dass hier germanisches Material nicht mit germanischem, sondern mit keltischem Material verglichen wird; der Vergleich der germanischen Bernsteininseln mit der keltischen Glasinsel setzt entsprechend voraus, dass die Mythologisierung der Bernsteininseln zum insularen irdischen Paradies sowohl von Kelten als auch von Germanen vorgenommen wurde – eine Annahme, die Krappe explizit ausspricht.¹⁶⁰⁵ Unproblematisch wäre an einer solchen Gleichsetzung von Bernstein- und Glasinsel immerhin die Annahme einer Äquivalenz von Bernstein und Glas: Wilhelm Heizmann hat zu Recht darauf hingewiesen, dass Bernstein und Glas kulturgeschichtliche Entsprechungen darstellen, wie dies an der etymologischen Verbindung der beiden Materialien in den germanischen Sprachen deutlich wird – einige Beispiele für etymologisch miteinander verwandte Bezeichnungen für „Glas“ einerseits und „Bernstein“ andererseits wurden oben bereits genannt (altenglisch glæs „Glas“ und glær „Bernstein, Harz“, anord. gler „Glas“, althochdeutsch glas „Glas“, lateinisch-germanisch glesum „Bernstein“).¹⁶⁰⁶
1602 Much 1924, S. 101 f.; Krappe 1942, S. 363 f.; Krappe 1943, S. 309 f. 1603 Much 1924, S. 102. Für neuere Vorschläge, eine Verbindung zwischen den germanischen Bernsteininseln und der keltischen Glasinsel zu sehen, vgl. Krappe 1942, S. 359, 363–365; Krappe 1943 (bes. S. 303–307, 322); Straubergs 1957, S. 62; Ahl 1982, S. 402–404; Heizmann 1998, S. 92–95; Heizmann 2002, S. 531 f. 1604 Much 1924, S. 102; Krappe 1943, S. 310. Siehe oben S. 201. 1605 Krappe 1943, S. 310. 1606 Vgl. Heizmann 1998, S. 94 f.; Krappe 1943, S. 310; Krappe 1942, S. 365; Much 1924, S. 102 („so wie das wort glas selbst ursprünglich ‚bernstein‘, dann ‚glas‘ bedeutet hat, wird aus einer bernstein- eine glasinsel geworden sein“).
Äpfel und Bernstein
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Dies führt schließlich zur Insel Abalum/Abalus zurück, die am Beginn dieses Abschnitts stand. Zu Abalum wurde schon von Kauffmann bemerkt, dass der Name dieser Insel auffallend an den der arthurischen Insel Avalon anklingt und entsprechend möglicherweise keltischer Herkunft sei.¹⁶⁰⁷ Dieser Vorschlag, Abalum mit Avalon zu verbinden, wird seitdem mit großer Regelmäßigkeit immer wieder vorgebracht; in jüngster Vergangenheit wurde er zuletzt von Heizmann vertreten.¹⁶⁰⁸ Als Argument zugunsten einer solchen Verbindung lässt sich neben dem Namen der Insel Abalum, für den sich eine sprachgeschichtliche Verbindung mit Avalon tatsächlich nicht ausschließen lässt,¹⁶⁰⁹ insbesondere der allem Anschein nach paradiesische Charakter Abalums anführen: Das von Plinius überlieferte Detail, dass die Einwohner Abalums Bernstein als Brennmaterial verwenden, lässt sich als eine Variante eines antiken ethnographischen Topos auffassen, wonach in den Herkunftsregionen von Luxusgütern ebendiese Luxusgüter als Brennstoff verwendet werden. Krappe verweist hier zum Vergleich auf die Behauptung des Diodor von Sizilien, dass in Arabien Aromatika in solchem Überfluss vorhanden sind, dass sie unter den Kochtöpfen als Feuerholz dienen (Diodor II.49; vgl. ganz ähnlich Strabon XVI.iv.19).¹⁶¹⁰ Aus dieser Perspektive betrachtet erscheint die Bernsteininsel Abalum als eine Insel von paradiesischem Überfluss, die sich hierin der Paradiesinsel Avalon vergleichen lässt.¹⁶¹¹ Allerdings wurde gegen eine Gleichsetzung Abalums mit Avalon auch Kritik vorgebracht. Kurt Ranke wendet dagegen ein, dass eine germanische mythologische Vorstellung von einer „Apfelinsel“ für das 4./3. Jahrhundert v. Chr. (d. h. die Zeit des Pytheas)¹⁶¹² unwahrscheinlich sei.¹⁶¹³ Gerade in Bezug auf Abalum ist jedoch anzumer-
1607 Kauffmann 1913, S. 226 (Anm. 3). 1608 Much 1924, S. 103; Gutenbrunner 1939, S. 71 f.; Krappe 1942, S. 363–367, 369; Krappe 1943 (bes. S. 303–307, 322); Hennig 1944, S. 173 f.; Ahl 1982, S. 402–404; Heizmann 1998, S. 92–94; Heizmann 2002, S. 531 f.; sehr vorsichtig ferner auch Eichholz 1962, S. 191 (Anm. b). Cunliffe 2001, S. 146 vermutet eine Verbindung zwischen Abalum und „the Celtic word aball – ‘apple’“, stellt aber keine explizite Verbindung zu Avalon her. 1609 Für sprachgeschichtliche Auskünfte danke ich hier Dr. Nicholas Zair. 1610 Krappe 1943, S. 305. 1611 Vgl. Heizmann 1998, S. 93. 1612 Zur Datierung der Reise des Pytheas mit einem Überblick über die verschiedenen Forschungsmeinungen vgl. Roller 2006, S. 64–66; Roller selbst setzt als Datierung die 320er Jahre v. Chr. (oder wenig später) an (ibidem S. 64). 1613 Ranke in Wenskus und Ranke 1973, S. 6. Abgelehnt wird die Annahme eines Zusammenhangs zwischen Abalum und Avalon auch von Wenskus 1985, S. 99, der sich mit dem Vorschlag allerdings nicht selbst argumentativ auseinandersetzt, sondern nur auf Krogmann 1963, S. 209 f. verweist. Krogmann wendet am angegebenen Ort vor allem ein, dass „jeder Anhalt dafür zu fehlen [scheint], daß es sich bei der Bernsteininsel um ein Elysium handelte“ (Krogmann 1963, S. 210). Die empirische Grundlage für eine Deutung Abalums als ein potentielles irdisches Paradies beruht jedoch auf dem Überfluss an Reichtum, der im Topos von seiner Verwendung als Brennstoff zum Ausdruck zu kommen scheint.
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ken, dass hier von einer germanischen Vorstellung vermutlich kaum die Rede sein kann. Die Reise des Pytheas führte diesen – unabhängig von den Unsicherheiten bei der Rekonstruktion seiner genauen Route – zumindest über weite Strecken durch keltisches Gebiet,¹⁶¹⁴ und dafür, dass er die Bernsteininsel Abalum selbst betreten hätte, gibt es keinen Anhaltspunkt.¹⁶¹⁵ Es ist dementsprechend möglich, dass Pytheas von der Bernsteininsel weder durch eigene Anschauung noch aus germanischem Munde, sondern durch keltische Mittelsmänner erfahren hat.¹⁶¹⁶ Eine entscheidende Bestätigung hierfür lässt sich nach Wenskus im Lautstand des Inselnamens ausmachen: Der Name Abalum/Abalus lässt den eigentlich zu erwartenden Einfluss der germanischen Lautverschiebung vermissen. Dies hat Wenskus zur Folgerung veranlasst, dass Pytheas diesen Namen von keltischsprachigen Informanten erfahren haben muss, die seine Lautung an das Lautinventar ihrer keltischen Muttersprache angepasst hätten; Abalum/Abalus sei somit ein germanischer Name, der mit einem keltischen Akzent überliefert worden ist.¹⁶¹⁷ Hier ist es nun allerdings möglich, noch einen Schritt weiter zu gehen und zu fragen, ob es sich bei Abalum, das Pytheas somit nur aus keltischen Quellen gekannt haben dürfte, nicht gänzlich um einen keltischen Namen handeln könnte. Falls man sich der Gleichsetzung von Abalum mit Avalon anschließen will, bestünde dann sogar die Möglichkeit, dass es sich bei Abalum zu keinem Zeitpunkt um eine realweltliche Bernsteininsel gehandelt hat, sondern vielmehr um eine (halb-?)mythische. Ob eine solche mythologische Paradiesinsel dabei als eine interpretatio Celtica eines germanischen Motivs aufzufassen wäre,¹⁶¹⁸ sei hier dahingestellt; die empirische Grundlage für eine solche Annahme wäre jedoch ausgesprochen dünn. Ein weiteres – und deutlich gewichtigeres – Gegenargument gegen eine Deutung Abalums als ein irdisches Paradies ließe sich auf der Grundlage volkskundlicher Zeugnisse aus dem norddeutschen Raum entwickeln. Willy Krogmann hat hier auf Berichte aus dem späten 18. Jahrhundert hingewiesen, die verzeichnen, dass in Schleswig-Holstein insbesondere (aber nicht ausschließlich) minderwertige Stücke des lokal gefundenen Bernsteins von den ärmeren Teilen der Bevölkerung als Lam-
Die Interpretation der Signifikanz dieses Topos bleibt freilich mit schwerwiegenden Unsicherheiten behaftet (siehe unten). 1614 Vgl. Roller 2006, S. 60–91; Cunliffe 2001. 1615 Vgl. Roller 2006, S. 88–90. 1616 Vgl. schon Kauffmann 1913, S. 226 (Anm. 3); Much 1924, S. 103; Krappe 1943, S. 306; Magnani 2002, S. 219. Cunliffe 2001, S. 149 f. hält sowohl eigene Anschauung als auch eine Vermittlung durch Informanten für möglich. 1617 Wenskus 1985, S. 102. 1618 So Much 1924, S. 103, der Abalum für „eine keltische übertragung eines germanischen namens nach art von Glesiae“ hält; diese Übertragung führt Much auf die „begleiter und führer“ des Pytheas zurück (ibidem).
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penersatz verwendet wurden.¹⁶¹⁹ Auf dieser Grundlage ließe sich argumentieren, dass der bei Plinius über Abalum überlieferte Bericht von der Verwendung des Bernsteins als Brennmaterial eine im Kern korrekte ethnographische Notiz darstellt.¹⁶²⁰ Falls es sich hier aber um keinen Reichtums-Topos handelt, fällt ein zentrales Argument für die Annahme weg, dass Abalum als eine Insel von paradiesischem Reichtum (und damit als ein potentielles irdisches Paradies) vorgestellt wurde. Damit ist es an der Zeit, den Versuch einer zusammenfassenden Gesamtbewertung des Vorschlags religionsgeschichtlicher Kontinuitäten zwischen den Bernsteininseln der Antike und den Paradiesinseln der mittelalterlichen Literatur zu unternehmen. Gegen die Annahme einer Kontinuität lässt sich anführen, dass in keiner der antiken Quellen zu den nordeuropäischen Bernsteininseln davon die Rede ist, dass es sich bei diesen Inseln um jenseitige oder anderweltliche Orte handle. Auf eine Auffassung dieser Inseln als eine Art irdisches Paradies mag nur der Topos der Verwendung des Luxusguts Bernstein als Brennstoff hinweisen; jedoch lässt sich nicht mit letzter Sicherheit ausschließen, dass es sich bei diesem Motiv um eine ethnographische Notiz mit realem Hintergrund handelt. Ferner ist zu einem Vergleich der antiken Bernsteininseln mit den verschiedenen Paradiesgefilden der mittelalterlichen Literatur allgemein anzumerken, dass auf beiden Seiten der Gleichung sowohl germanisches als auch keltisches Material steht. Hier wäre kritisch anzufragen, ob tatsächlich sowohl für die nordischen Glæsisvellir als auch für das keltische Avalon religionsgeschichtliche Kontinuitäten angenommen werden sollen, die in beiden Fällen bis zu antiken Bernsteininseln zurückreichen würden. Zu bedenken ist dabei insbesondere die große Zeittiefe, die im Falle einer solchen Verbindung für die nordwesteuropäischen Motive vorausgesetzt würde; im Fall Avalons führt ein derartiger Ansatz bis in die Zeit des Pytheas im 4. Jahrhundert v. Chr. zurück, während im Fall der germanischen Bernsteininseln Kontinuitäten bis zumindest zum Anfang unserer Zeitrechnung anzunehmen wären. Zugunsten einer Verbindung zwischen den antiken Bernsteininseln und mittelalterlichen Paradiesgefilden lässt sich an erster Stelle auf die auffallende Namensübereinstimmung zwischen Abalum und Avalon verweisen; bedenkt man den keltischen Lautstand des Namens Abalum und die bei Plinius/Pytheas möglicherweise vorgenommene Charakterisierung dieser Insel als Land paradiesischen Reichtums, so würde sich hier der ausgesprochen suggestive Fall ergeben, dass zwei (1) in einem vergleichbaren geographischen Raum lokalisierte und (2) in beiden Fällen auf keltischen Erzählungen beruhende (3) Inseln (4) einen ähnlichen oder sogar denselben Namen tragen und zudem beide (5) als besonders paradiesische Orte aufgefasst wurden. Bei
1619 Krogmann 1963, S. 220. Kauffmann 1913, S. 226 (Anm. 6) gibt an, dies sei noch zu seiner Zeit der Fall gewesen. Vgl. auch Cunliffe 2001, S. 147, der das Verbrennen von Bernstein ebenfalls (nahezu) wörtlich nimmt und es für eine rituelle (Opfer-)Praxis hält. 1620 So Krogmann 1963, S. 220.
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oberflächlicher Betrachtung könnte sich hier auch der Vergleich mit der mittelalterlichen Gleichsetzung Avalons mit der insula vitrea aufdrängen, da diese Assoziation Avalons mit dem Glas-Motiv eine auffallende Parallele zur Verbindung Abalums mit dem Bernstein darstellen würde; eine Berücksichtigung der Konzeption Avalons als Glasinsel wäre in einem antiken Kontext jedoch ein Anachronismus, da Avalon erst ab dem späten 12. Jahrhundert mit der Glasinsel gleichgesetzt wurde.¹⁶²¹ Deutlich weniger detailliert als die Parallelen zwischen Abalum und Avalon, aber immerhin auffallend, sind die Übereinstimmungen zwischen einerseits den Glæsisvellir und den germanischen Bernsteininseln und andererseits der arthurischen Glasinsel und den Bernsteininseln. Auch hier ist die etymologische Verwandtschaft bzw. die vergleichbare Semantik des Inselnamens sowie der Inselcharakter dieser Orte zu vermerken. Ferner impliziert schon die Charakterisierung der Bernsteininseln gerade durch den Bernstein mit einiger Wahrscheinlichkeit einen besonderen Reichtum an diesem Luxusgut. Dies bleibt letztlich davon unberührt, dass dieser Reichtum im Fall der Glaesiae von der antiken Überlieferung nicht noch ausdrücklich durch einen literarischen Reichtumstopos unterstrichen wird. Die seit Much immer wieder vertretene Auffassung einer Kontinuität zwischen den antiken Bernsteininseln und den transmarinen Anderwelten der späteren Literatur (wie auch immer man sich diese Kontinuität im einzelnen genau vorstellen mag) wird durch einige Züge des Materials somit immerhin in suggestiver Weise nahegelegt. Dabei kann in Anbetracht der gewichtigen potentiellen Gegenargumente gegen eine Kontinuität freilich nicht genug betont werden, dass es sich bei einer solchen Interpretation um nicht mehr handeln kann als um eine Möglichkeit; die Annahme einer antik-mittelalterlichen Kontinuität kann dabei zudem in Bezug auf Avalon eine deutlich größere Plausibilität beanspruchen als in Bezug auf die Glasinsel und die Glæsisvellir, da die Übereinstimmungen zwischen Abalum und Avalon deutlich spezifischer sind als die Parallelen zwischen den Glæsisvellir, der Glasinsel und den antiken Bernsteininseln. In keinem Fall sind die Übereinstimmungen jedoch so eng, dass sie die Annahme eines Zusammenhangs als zwingend erscheinen lassen. Trotz aller Suggestivität lässt der in höchstem Maße fragmentarische Zustand des Materials keine im engeren Sinne beweisbaren Schlussfolgerungen zu.
1621 Contra Krappe 1942, S. 365; siehe oben S. 225–230.
Sena
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Tab. 3: Tabellarische Zusammenfassung der möglichen Parallelen zwischen den nordeuropäischen Bernsteininseln der antiken Ethnographie und den Paradiesinseln der mittelalterlichen Literatur Nordwesteuropas. Glaesiae/ Glaesaria
Glæsisvellir Germanisch ---
Bernstein (und etym. Äquivalent Glas)
Bernstein
irdisches Paradies
[als Bernstein- Paradiesfundplatz nur charakter implizit reich] + +
Etymologie: Bernstein/ Glas/Glanz
Etymologie: Apfel(insel)
---
---
Abalum
Avalon
Keltisch [Gleichsetzung mit der Glasinsel erst ab 12. Jahrhundert] paradiesischer ParadiesReichtum(?) charakter
Bernstein
---
---
+(?)
+
Isle de Voirre
Glas
Paradiescharakter [semantische statt etymologischer Parallele des Inselnamens: Glas ~ Bernstein] [Gleichsetzung mit der Apfelinsel erst ab 12. Jahrhundert]
6.4 Sena Ein weiterer Bericht über eine antike Insel, in dem ein Reflex der religionsgeschichtlichen Wurzeln Avalons gesehen wurde, findet sich im 1. Jahrhundert n. Chr. beim römischen Geographen Pomponius Mela. In seiner Schrift De chorographia, deren Abfassung sich auf die Jahre 43/44 n. Chr. datieren lässt, legte dieser aus Spanien stammende Gelehrte eine Beschreibung der zu seiner Zeit bekannten Meeresküsten vor;¹⁶²² über eine Insel vor der Küste der Bretagne hatte er dabei Folgendes zu berichten (III.48): Sena in Britannico mari Ossismicis adversa litoribus, Gallici numinis oraculo insignis est, cuius antistites perpetua virginitate sanctae numero novem esse traduntur: Gallizenas vocant, putantque ingeniis singularibus praeditas maria ac ventos concitare carminibus, seque in quae
1622 Zur Person des Pomponius Mela und der Datierung seines Werks vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 264.
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Ausblicke auf die keltische Antike, oder: Die longue durée der Anderweltsinsel
velint animalia vertere, sanare quae apud alios insanabilia sunt, scire ventura et praedicare, sed nonnisi deditas navigantibus, et in id tantum ut se consulerent profectis.¹⁶²³ Sena liegt in der Britannischen See gegenüber den Küsten der Ossismii und zeichnet sich durch das Orakel einer gallischen Gottheit aus, deren Hohepriesterinnen durch ewige Jungfräulichkeit geheiligt und neun an der Zahl sein sollen. Man nennt sie Gallizenae und man glaubt, dass sie – mit einzigartigen Gaben gesegnet – die Meere und die Winde mit Gesängen aufpeitschen und sich in diejenigen Tiere verwandeln, die ihnen belieben, heilen, was bei anderen unheilbar ist, die Zukunft kennen und vorhersagen, sich aber nur Seeleuten widmen und dabei nur denen, die aufgebrochen sind, um sie zu konsultieren.
Der Wert dieser Textstelle als Quelle für die keltische Religionsgeschichte wurde grundsätzlich in Frage gestellt von Salomon Reinach.¹⁶²⁴ Seiner Meinung nach gibt es innerhalb des keltischen Materials keine Parallelen für die Rolle von Frauen als Prophetinnen, wie sie in Melas Beschreibung erscheint; zudem fühlt Reinach sich vom wundersamen Charakter der Insel Sena an die häufigen Beschreibungen von Wunderinseln in der griechischen Literatur erinnert, was ihn den Einfluss einer griechischen Kompilation von Wundergeschichten über Inseln vermuten lässt. Den Ursprung von Pomponius Melas Schilderung der Insel Sena sieht Reinach letztlich in der Schilderung der Insel der Zauberin Kirke in der Odyssee: Auf dieser Insel werden die Gefährten des Odysseus zeitweilig in Tiere verwandelt; Odysseus erhält von Kirke den Rat, den toten Seher Teiresias in der Unterwelt zu befragen; und Kirke sendet Odysseus einen günstigen Wind, der ihm seine Fahrt erleichtert. In Homers Beschreibung ist Kirkes Insel zudem nur eine kurze Reise von der Unterwelt entfernt. Letzterer Punkt veranlasst Reinach dazu, auf die oben zitierte Stelle im Werk des Claudian hinzuweisen, in der Odysseus’ Befragung der Toten in Aremorika lokalisiert zu werden scheint:¹⁶²⁵ Seiner Meinung nach impliziert die dort vorgenommene Lokalisierung des Totenorakels an der gallischen Küste, dass sich die Insel der Kirke – wie Sena – nach zeitgenössischer Auffassung unmittelbar vor der gallischen Küste befunden haben muss. Dabei stelle Sena eine genaue Entsprechung zur Insel der Kirke dar: Auf Sena wohnen neun Zauberinnen, während Kirke auf ihrer Insel mit ihren Gefährtinnen zusammen wohnt; sowohl die Zauberinnen von Sena als auch Kirke gebieten über die Winde; die Frauen von Sena sind zukunftskundig, während Kirke dem Odysseus zur Konsultation eines toten Sehers rät; und die Priesterinnen von Sena können sich selbst in Tiere verwandeln, während Kirke die Gefährten des Odysseus in Tiere verwandelt. Aufgrund dieser Parallelen zwischen Sena und der Insel der Kirke nimmt Reinach an, dass Sena an die Kirke-Insel assimiliert worden ist. Entsprechend habe die Beschreibung von Sena in De chorographia keinen Quellenwert für die keltische Religionsgeschichte.
1623 Text: Frick 1968, S. 66 f. (~Zwicker 1934–1936, S. 45 f.) 1624 Reinach 1897 = Reinach 1905, S. 195–203. 1625 Siehe oben S. 392.
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Die von Reinach zusammengestellten Parallelen zwischen den Priesterinnen von Sena und der homerischen Kirke-Insel stellen eine wichtige Erinnerung daran dar, dass Pomponius Melas Schilderung als Werk der römischen Literatur nicht nur in einem keltisch-mythologischen, sondern auch in einem klassisch-literarischen Rahmen zu sehen ist, und dass die Möglichkeit literarischer Einflüsse in diesem Rahmen stets bedacht werden muss.¹⁶²⁶ Allerdings wurden nicht alle von Reinach vorgeschlagenen Parallelen zwischen Sena und der Kirke-Insel von der späteren Forschung akzeptiert,¹⁶²⁷ und insbesondere seine extreme Skepsis, die die Beschreibung Senas als religionsgeschichtliche Quelle gänzlich verwirft, fand zumeist keinen Anklang.¹⁶²⁸ Ein konkretes linguistisches Argument für die Annahme, dass Pomponius Melas Bericht authentisches keltisches Material enthält, wurde in jüngerer Zeit von Maier vorgebracht. Die Bezeichnung der Priesterinnen als Gallizenae ist ein hapax legomenon, für das schon seit dem 19. Jahrhundert auf verschiedenste Weisen Erklärungen gesucht wurden.¹⁶²⁹ Maier schlägt für diese crux die elegante Lösung vor, Gallizenas vocant unter Berücksichtigung der zeitgenössischen Aussprache und Orthographie zu Galli genas vocant zu emendieren; genas wäre dabei der Nom./Akk. Pl. zu einem gallischen Nom. Sg. *genā „Mädchen“, das als Element in gallischen Personennamen gut belegt ist. Zu übersetzen wäre die Phrase dann als „die Gallier nennen sie genas (Jungfrauen, Mädchen)“.¹⁶³⁰ Falls diese Rekonstruktion korrekt ist, würde dies implizieren, dass der Bericht des Pomponius Mela – zumindest auf sprachlicher Ebene – genuin keltische Details enthält.¹⁶³¹ Für die Geschichte des Avalon-Motivs ist dies von Bedeutung, da bereits seit dem 19. Jahrhundert immer wieder auf auffallende Parallelen zwischen Pomponius Melas Beschreibung der Insel Sena und der Schilderung Avalons in der Vita Merlini des Geoffrey von Monmouth hingewiesen worden ist.¹⁶³² Zwischen diesen beiden Inselschilderungen lassen sich folgende Übereinstimmungen ausmachen:¹⁶³³ (1) Auf
1626 Vgl. Maier 2001 (Religion), S. 95; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 274; de Vries 1961 (Religion), S. 218. Nicht eine literarische, sondern eine religionsgeschichtliche Verbindung zwischen der Insel der Kirke, der Insel Sena und dem Avalon der Arthursage wird vertreten von Clarke 1973, S. 203; vgl. Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 353 f. 1627 So betont Clemen, dass die von den Priesterinnen von Sena gegebenen Prophezeiungen keine Entsprechung zu Kirkes Rat an Odysseus darstellen, die Seele des Teiresias zu konsultieren: Clemen 1941/42, S. 140. 1628 Vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 273 f.; Sims-Williams 2011 (Kaer Sidi), S. 63; Sims-Williams 1990, S. 68. 1629 Vgl. Reinach 1897, S. 2 = Reinach 1905, S. 195 f.; de Vries 1961 (Religion), S. 218; Hofeneder 2005– 2011 Bd. 2, S. 274. 1630 Maier 1997; Maier 2001 (Religion), S. 95; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 274. 1631 Maier 1997; zustimmend: Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 274. 1632 Siehe unten Anm. 1634. 1633 Für die Avalonschilderung von Geoffreys Vita Merlini siehe oben S. 185.
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Sena erfüllen neun Priesterinnen ihren Dienst; Avalon wird von neun zauberkundigen Schwestern beherrscht. Dabei ist zu betonen, dass hier eine Übereinstimmung in (a) der Zahl, (b) dem Geschlecht und (c) der Funktion der beiden Personengruppen vorliegt. (2) Sowohl die neun Priesterinnen von Sena als auch die neun Herrinnen von Avalon besitzen außerordentliche Heilkräfte, die sogar anderswo Unheilbares zu heilen vermögen. (3) Sowohl die Priesterinnen von Sena als auch Morgen, die Herrin von Avalon, können sich in Tiere verwandeln. (4) Die Herrinnen von Sena dienen als Orakelpriesterinnen und sind zukunftskundig; ganz Ähnliches gilt für die Herrinnen von Avalon, da diese die Astrologie beherrschen. (5) Die Priesterinnen auf Sena bieten ihre Dienste nur Seefahrern an, was in der Vita Merlini eine Entsprechung darin findet, dass Avalon nur mit der Hilfe des legendären Seefahrers Barinthus zu erreichen ist. (6) Die Priesterinnen von Sena beherrschen die Winde, was daran erinnert, dass den Avalon-Reisenden der Vita Merlini bei ihrer Rückfahrt ein günstiger Wind die Segel füllt. Die Parallelen zwischen Sena und Avalon werden spätestens seit den Arbeiten Roger Sherman Loomis’ nahezu allgemein als ein Beleg dafür gedeutet, dass die Avalon-Schilderung der Vita Merlini selbst in spezifischen Details auf authentisch keltische mythologische Motive zurückgreift, die sie einem ungebrochenen Traditionsfluss entnimmt.¹⁶³⁴ Diese Interpretation beruht auf der Annahme, dass Geoffrey den Text von De chorographia bei der Abfassung der Vita Merlini nicht als unmittelbare literarische Quelle herangezogen hat.¹⁶³⁵ In Anbetracht der extrem genauen Übereinstimmungen zwischen der Avalon-Schilderung der Vita Merlini und der Beschreibung Senas in De chorographia scheint diese Annahme jedoch nicht unproblematisch: Gerade der Detailgrad dieser Übereinstimmungen wirft die Frage auf, ob eine zumindest eintausendjährige mündliche Überlieferung tatsächlich eine plausible Erklärung solch exakter Parallelen darstellen würde. Diese Frage stellt sich mit umso größerem Nachdruck, als die Avalon-Schilderung der Vita Merlini im breiteren Rahmen des Avalon-Bildes der Literatur des 12. Jahrhunderts in mancher Hinsicht ungewöhnlich ist. So fällt die Asexualität von Geoffreys Avalon auf, die in einem merklichen Kontrast zum häufig verführerischen Charakter steht, den die fees der arthurischen Anderwelt in Texten ähnlicher Zeitstellung zeigen (man erinnere sich etwa an das Lai de Lanval
1634 Vgl. Ó Mainnín 2013, S. 258; Maier 2013, S. 119; Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 273; Walter 2004, S. 152; Maier 2003, S. 139; Heizmann 2002, S. 531; Maier 2001 (Religion), S. 95; Heizmann 1998, S. 89; Birkhan 1997, S. 919 f.; Ashe 1996, S. 25; Maier 1994, S. 33, 269; Mac Cana 2000 (1976), S. 68 f.; Clarke 1973, S. 203, 206; de Vries 1961 (Religion), S. 218 f.; Loomis 1959 (Legend), S. 71; Loomis 1956, S. 129 = Loomis 1945, S. 201 f.; Loomis 1941, S. 907 f.; Chambers 1927, S. 219; Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 191 f.; Parry 1925, S. 122 f. (Anm. 48); de la Rue 1834, S. 62–64. Scharf ablehnend zu Mac Cana 2000 (1976), S. 68 f. vgl. McCone 1990, S. 80. 1635 Vgl. explizit Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 192: „there is no suspicion that Geoffrey is drawing upon Pomponius Mela“.
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der Marie de France).¹⁶³⁶ Noch wichtiger ist vielleicht eine Abweichung des Avalon der Vita Merlini vom sonst geläufigen Avalon-Bild, die zuerst von Paton hervorgehoben wurde: Unter allen erhaltenen Avalon-Schilderungen ist die Avalon-Schilderung der Vita Merlini die einzige, in der von gerade neun Schwestern die Rede ist.¹⁶³⁷ Da dieses nummerische Detail eine der zentralen Übereinstimmungen zwischen Geoffreys Avalon und Sena darstellt, unterstreicht der isolierte Charakter dieser Parallele den Verdacht, dass die entsprechenden Details bei Geoffrey weniger ein ‚traditionelles‘ Avalon-Bild als vielmehr eine direkte literarische Abhängigkeit wiederspiegeln; denn wenn es sich bei der Vorstellung von neun Schwestern als Herrinnen von Avalon um ein etabliertes Element einer alten und in Geoffreys Tagen noch lebendigen folkloristischen Tradition gehandelt hätte, wäre es ausgesprochen überraschend, wenn diese Tradition ausschließlich in der gelehrten Darstellung der Vita Merlini rezipiert worden wäre. Dass De chorographia im Angevinischen Reich grundsätzlich zugänglich war, zeigt ein Bibliothekskatalog aus den Jahren 1142–1164, der die damaligen Buchbestände der Abbaye Notre-Dame du Bec in der Normandie erfasst und unter den Büchern, die in diesem Kloster vorhanden waren, auch dieses Werk Pomponius Melas anführt.¹⁶³⁸ Die Bibliothek von Bec liefert zudem eine konkrete Illustration dafür, dass sich die literarischen Welten Geoffreys und Pomponius Melas überschneiden konnten: Ein zweiter, wohl spätestens auf 1154 zu datierender Katalog aus Bec verzeichnet unter den Beständen der Abtei auch ein Exemplar von Geoffreys Historia regum Britanniae einschließlich der Prophetiae Merlini.¹⁶³⁹ Dass De chorographia und die Werke Geoffreys im Angevinischen Reich somit schon in den 1150er Jahren nebeneinander im selben Bücherschrank stehen konnten, stellt zwar keinen letztgültigen Beweis dafür dar, dass Geoffrey persönlich Zugang zu De chorographia hatte; es zeigt jedoch, dass mit dieser Möglichkeit grundsätzlich zu rechnen ist. Entsprechend dürfte es naheliegender sein, die engen Übereinstimmungen zwischen Sena und dem Avalon der Vita Merlini auf ein literarisches Zitat zurückzuführen, als eine tausendjährige gemeinsame mündliche Tradition anzunehmen.¹⁶⁴⁰
1636 Vgl. Paton 1960 (1903), S. 38–42. 1637 Paton 1960 (1903), S. 44 (Anm. 2). Die einzige mögliche Ausnahme findet sich in der kymrischen Literatur: Als Vergleichsmaterial zur Neunzahl der Priesterinnen auf Sena wird häufig auch auf das mittelkymrischen Gedicht Preiddeu Annwn verwiesen, in dem der Atem von neun Jungfrauen in der Anderwelt einen Kessel erwärmt: Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 273 f.; Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 164; Heizmann 2002, S. 531; Maier 2001 (Religion), S. 95; Heizmann 1998, S. 88 f.; Birkhan 1997, S. 919 f.; Ashe 1996, S. 25; Clarke 1973, S. 206; vgl. Lacy et al. 1997, S. 23. Wie spezifisch der Aufenthaltsort dieser neun Jungfrauen mit Avalon zu verbinden ist, lässt sich jedoch kaum entscheiden. 1638 Becker 1885 Nr. 86.64 (S. 201); Tatlock 1933 (Draco), S. 7. Vgl. Reynolds 1983, S. 291. 1639 Becker 1885 Nr. 127.117 (S. 264); Datierung: Tatlock 1933 (Draco), S. 7. 1640 Eine direkte literarische Abhängigkeit wird vertreten von Faral 1928, S. 248 f., 252 f.; Cons 1930– 1931, S. 393 f.; Frappier 1978, S. 194; Egeler 2014 (Sena); einen indirekten Zusammenhang vermutet Paton 1960 (1903), S. 43–45.
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Die Insel Sena wird heute allgemein mit der Île de Sein identifiziert.¹⁶⁴¹ Dies ist eine kleine Insel im Atlantischen Ozean, die etwa 8 km vor der Pointe du Raz an der Westspitze der Bretagne liegt; sie stellt damit einen der exponiertesten Außenposten Europas vor der weiten Leere des Atlantiks dar. Die mit dieser Region verbundene Folklore ist in der Forschung zur keltischen Religionsgeschichte wiederholt zitiert worden.¹⁶⁴² So galt die Île de Sein in der Bretagne noch im frühen 19. Jahrhundert als der Ort der Geburt und Gefangenschaft des Zauberers Merlin.¹⁶⁴³ Auf dem Festland, das der Île de Sein gegenüberliegt, befindet sich in der Nähe der Pointe du Raz eine kleine Bucht, die den suggestiven Namen Baie des Trépassés, „Bucht der Hingeschiedenen“,¹⁶⁴⁴ oder Baie des Âmes, „Bucht der Seelen“, trägt.¹⁶⁴⁵ Etwa auf halber Strecke zwischen der Pointe du Raz mit ihrer Bucht der Toten und der Île de Sein, nur etwas nach Norden verschoben, liegt ferner die kleine Felseninsel Tevennec, die in der bretonischen Folklore als der Bestimmungsort der Toten galt.¹⁶⁴⁶ Eine solche Vorstellung ließe sich mit de Vries’ Vorschlag verbinden, dass es sich bei Sena ursprünglich um eine Toteninsel gehandelt habe;¹⁶⁴⁷ über Spekulationen ist hier jedoch letztlich nicht hinauszukommen.¹⁶⁴⁸ Insbesondere ist zu bedenken, dass die
1641 Etwa Walter 2004, S. 152; Birkhan 1997, S. 919; Ashe 1996, S. 25; Clarke 1973, S. 203; de Vries 1961 (Religion), S. 218; und schon Nansen 1911 Bd. 1, S. 29; vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 273 (Anm. 1917). In der Lokalisierung der Insel noch unsicher ist Reinach 1897, S. 6 = Reinach 1905, S. 200 f. (vgl. Hofeneder 2005–2011 Bd. 2, S. 273). 1642 Z.B. Hofeneder 2005–2011 Bd. 3, S. 477; de Vries 1961 (Religion), S. 218 f.; Clemen 1941/42, S. 142; Loomis 1927 (Celtic Myth), S. 188; siehe oben S. 393. 1643 Plumptre 1810, S. 187: „The enchanter Merlin, they say, was born in the isle of Sein, a little islet off the western coast of Brétagne, between the points of Raz and of Croissant: according to some traditions he is still alive, enclosed in a tree somewhere thereabouts by the power of a greater enchanter than himself, though the exact spot no one knows for certain.“ Vgl. de Vries 1961 (Religion), S. 219, der diese Notiz in etwas impressionistischer Weise in Hinblick auf den antiken Bericht des Pomponius Mela als Indiz dafür wertet, dass „der Bericht von der Wahrsagekunst dieser neun Jungfrauen nicht ganz aus der Luft gegriffen“ sei. 1644 Plumptre 1810, S. 214. 1645 de la Villemarqué 1867, S. 156 f. 1646 Clemen 1941/42, S. 142. Siehe oben S. 393. 1647 de Vries 1961 (Religion), S. 219. 1648 Möglicherweise interessanter, aber in seiner Signifikanz gleichfalls unklar, ist vielleicht der von MacCulloch bemerkte Umstand, dass eine Insel vor der bretonischen Küste als „Insel der Frauen“ bezeichnet wurde, was MacCulloch mit dem irischen „Land der Frauen“ verbindet: MacCulloch 1911, S. 385; MacCulloch et al. 1908, S. 693. Eine solche Fraueninsel fand sich auch in der Folklore der westlichen Inseln von Schottland, wo die Insel Eigg bei der einheimischen Bevölkerung den Namen „Insel der großen Frauen“ (Nim-Ban-More) trug: MacCulloch et al. 1908, S. 693; Martin 1716, S. 279. Bei der Bewertung solcher Notizen ist ohne eine detaillierte historische Aufarbeitung, die hier zu weit führen würde, jedoch einige Vorsicht geboten; immerhin befindet sich auch im bayrischen Chiemsee eine „Fraueninsel“ (so die lokal allgemein gebräuchliche Bezeichnung), die in diesem Fall nach dem dort befindlichen Benediktinerinnenkloster benannt ist. Dafür, dass zumindest für den schottischen der beiden von MacCulloch angeführten Fälle eine ganz ähnliche Erklärung anzunehmen sein könnte,
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Verbindung der Folklore dieser Region gerade mit dem Tod eine natürliche Erklärung in den Gefahren finden könnte, die diese Gewässer für die Seefahrt darstellen. Die Gewässer um die Pointe du Raz sind seit langem berüchtigt, und die vielen Opfer, die sie im Lauf der Zeit gefordert haben, könnten der anwohnenden Bevölkerung auch gänzlich unabhängig von ‚keltischen‘ Konzepten im Prinzip zu jeder Zeit eine besondere Verbindung zwischen dem Meer und dem Tod nahegelegt haben.¹⁶⁴⁹ Daneben dürfte bei der Mythologisierung dieser Region zudem auch ihre Lage gerade an der äußersten Atlantikküste des Finistère eine Rolle gespielt haben. Lehrreich ist vielleicht der Vergleich mit der nur wenige Dutzend Kilometer nördlich der Pointe du Raz gelegenen Pointe Saint-Mathieu, der Stätte der ehemaligen Bendiktinerabtei SaintMathieu-de-Fine-Terre:¹⁶⁵⁰ In der Historia de Enoch et Elia wird diese geographisch ganz ähnlich gelegene Landspitze zum Ausgangs- und Endpunkt einer Anderweltsreise und zugleich selbst zu einem paradiesischen Wunderort stilisiert. Die verschiedenen Aspekte der reichen Mythologie, die mit der Westspitze des Finistère verbunden ist, scheinen ihren gemeinsamen Nenner in der Faszination des „Endes der Welt“ (finis terrae!) zu haben, das bald als Paradies und bald als Totenreich ausgestaltet werden kann. Der Bericht des Pomponius Mela über Sena belegt, dass die Region mit ihrer extremen geographischen Lage schon in der Antike ein Faszinosum darstellte; gerade aufgrund der andauernden, gleichsam „zeitlosen“ Faszination des „Endes der Welt“ stellt sich jedoch mit besonderer Dringlichkeit die Frage, inwieweit bei konkre-
spricht, dass sich auf Eigg eine der Hl. Katharina geweihte Heilquelle und ein der Jungfrau Maria geweihter Steinhügel befanden: Martin 1716, S. 276–279. 1649 Vgl. in diesem Sinne schon Plumptre 1810, S. 214: „Between the point of Croissant [...] and the point of Raz [...] is a very small bay called the Baye des Trépassés, The Bay of the Departed, from the great number of vessels that are lost here through the violence of the winds and waves. The island of Sein [...] lies off the point of Raz, and the navigation between them is very difficult on account of the rocks below the water and the great force of the waves, so that the mariners have two sayings with regard to this point:–Biscoas den ne drémenas ar Raz, nun devezé aoun peglas ;–No one ever passed the point of Raz without experiencing some mischief, or at least being in danger of it. And again;–Nep ne sent gel, onc’h ar stur onc’h, ar garrecq a ra sur ;–He who commits the least error in guiding his vessel off the point of Raz inevitably perishes. The result is, that they always repeat the following prayer before they attempt to turn the point:–Va Doué va sicouret da dremen ar Ros, Raz va lestr aso bian pa armor aso bras ;–Assist me, great God, in the passage of Raz, my vessel is so small, and the sea is so mighty.“ Vgl. auch Plumptres Bemerkungen zur akustischen Seite dieser Region (ibidem): „The constant roar of the sea about the Baye des Trépassés, from its unusual violence, occasions noises which are popularly ascribed to the moanings and cries of the spirits of those who have been here swallowed up: this bay is even sometimes called the entrance to the infernal regions. All along the coast the rocks are very much broken, with large cavities in them which lend greatly to the superstitious propensities of the people. Many of the cavities are inhabited by vast quantities of sea-fowl, whose cries are easily converted into the yells of spirits and dæmons.“ Ferner vgl. die Schilderung der Region bei de la Villemarqué 1867, S. 156 f. 1650 Siehe oben S. 317.
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ten Vorstellungen der modernen Folklore nicht eher von potentiell jungen Neubildungen als von einem bis in die keltische Antike zurückreichenden Erbe auszugehen ist. Insgesamt ist somit festzuhalten, dass zwar auffallend enge Parallelen zwischen der Avalon-Schilderung der Vita Merlini und der Beschreibung Senas in De chorographia bestehen, dass diese Ähnlichkeiten aber am ehesten durch eine direkte Verwendung von De chorographia als literarische Quelle der Schilderung in der Vita Merlini zu erklären sind. Anderen Behandlungen des Avalon-Themas fehlen Übereinstimmungen mit der Schilderung Senas, die spezifisch genug wären, um die Annahme eines konkreten historischen Zusammenhangs rechtfertigen zu können. Auch die moderne Folklore erlaubt keine einschlägigen Schlussfolgerungen. Die Insel Sena stellt somit nur insofern eine Parallele zu den im Vorangehenden behandelten paradiesischen Inseln anderweltlicher Frauengestalten dar, als es sich bei Sena um eine (1) Insel handelt, die ausschließlich von (2) Frauengestalten mit (3) übernatürlichen Fähigkeiten bewohnt wird und die durch ihren Charakter als Heiligtum möglicherweise (4) an der Anderwelt Anteil hat. Die verbleibende Spannung zwischen Inselheiligtum und Anderweltsinsel wird durch diese strukturellen Parallelen jedoch nicht überbrückt. Das Inselheiligtum Sena ist mit ähnlichen Motiven verbunden wie die paradiesischen Anderweltsinseln Nordwesteuropas, ist mit ihnen jedoch nicht identisch.
6.5 Die sechs „Inseln der Götter“ In den Kontext keltischer Vorstellungen von paradiesischen Anderweltsinseln dürfte auch eine Notiz gehören, die sich im 1. Jahrhundert n. Chr. in der Naturgeschichte Plinius’ des Älteren findet.¹⁶⁵¹ Diese Notiz führt vor die Atlantikküste der Iberischen Halbinsel (Naturalis historia IV.xxii.119): Ex adverso Celtiberiae conplures sunt insulae, [...], et e regione Arrotrebarum promunturi Deorum VI, quas aliqui Fortunatas appellavere.¹⁶⁵² Keltiberien gegenüber sind mehrere Inseln, [...], und dem Kap der Arrotrebae genau gegenüber liegen die sechs Inseln der Götter [oder: Inseln der sechs Götter], die manche ‚Selige Inseln‘ genannt haben.
Die „sechs Inseln der Götter“ (Deorum [insulae] VI), die Plinius an dieser Stelle beschreibt, liegen dem Kap der Arrotrebae gegenüber; bei diesem Kap dürfte es sich um das Kap Finisterre im äußersten Nordwesten Galiciens handeln, das oben bereits
1651 Konrad 1994, S. 108. 1652 Text: Mayhoff 1906, S. 358.
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in Zusammenhang mit Immram Curaig Ua Corra erwähnt worden ist.¹⁶⁵³ Bei dieser Wiederkehr einer Lokalisierung am Kap Finisterre handelt es sich freilich um Zufall – oder bestenfalls um ein weiteres Beispiel der eben erwähnten „Faszination des Endes der Welt“.¹⁶⁵⁴ Von direkter mythologischer Relevanz ist hingegen die Gleichsetzung der galicischen „Inseln der Götter“ mit den „Seligen Inseln“ (Fortunatae). Bei den insulae Fortunatae der römischen Literatur handelt es sich um eine Adaption der griechischen „Inseln der Seligen“ (μακάρων νῆσοι), eines gartenhaften, Unsterblichkeit verheißenden Inselparadieses;¹⁶⁵⁵ die Gleichsetzung der galicischen Inseln mit diesen Inseln der römischen geographischen Mythologie impliziert daher eine Zuschreibung eines paradiesischen Charakters an die Inseln vor dem Kap Finisterre. Zugleich steht ihre Identifizierung mit den Inseln der Seligen in einem interessanten Spannungsverhältnis zu ihrer Bezeichnung als „Inseln der Götter“: Falls letztere Benennung impliziert, dass diese Inseln als Wohnorte von Göttern gedacht waren, passt dies zwar insofern zu den klassischen Vorstellungen von den Inseln der Seligen, als für die Wohnorte von Göttern grundsätzlich ein besonders paradiesischer Charakter anzunehmen ist; zugleich ergibt sich aus dieser Benennung jedoch auch ein Spannungsverhältnis zur traditionellen griechischen Konzeption, die die Inseln der Seligen nicht als Wohnstatt der Götter, sondern als Aufenthaltsort ausgewählter Heroen auffasst. Von den mächtigeren Wesen ist nach griechischer Vorstellung allein Kronos auf den Inseln der Seligen ansässig, wo er sich in einer Art Exil befindet. Noch größer ist die Spannung zur üblichen Konzeptualisierung der Seligen Inseln in der lateinischen Literatur, wo der übernatürliche Aspekt dieser Inseln weitgehend verblasst und sie primär (oder gar ausschließlich) als Inseln überbordender Fruchtbarkeit aufgefasst werden. Die „sechs Inseln der Götter“ vor dem Kap Finisterre verbinden somit einen klassisch-paradiesischen Charakter mit einer Auffassung als Götterinseln, die keinen Rückhalt in griechischen oder römischen Vorstellungen findet und entsprechend auf einheimisches Gedankengut zurückgehen dürfte. Ein weiteres mögliches Argument dafür, dass hier lokale keltische Vorstellungen ihren Niederschlag finden, könnten Parallelen in der mittelalterlichen Literatur Irlands darstellen: Dort erscheint wiederholt das Motiv, dass eine in paradiesischen Farben gezeichnete Anderweltsinsel als Wohnort der „Leute des Elfenhügels“ dient – man erinnere sich an die Anderweltsinsel von Serglige Con Culainn oder an die enge Assoziation Manannáns mit der Isle of Man.¹⁶⁵⁶ Dies könnte den Verdacht
1653 Siehe oben S. 317. Zur geographischen Identifizierung vgl. die Lokalisierung der Heimat der Ἄρταβροι bei Klaudios Ptolemaios 2.6.22 (vgl. Stückelberger et al. 2006 Bd. 1, S. 178 f.; Stückelberger et al. 2006 Bd. 2, S. 780 f.). Vgl. jedoch auch, dass Ptolemaios an anderer Stelle zwei(!) „Inseln der Götter“ erwähnt, die er etwas weiter südlich vor der Westküste der iberischen Halbinsel lokalisiert: Klaudios Ptolemaios 2.6.76; Stückelberger et al. 2006 Bd. 2, S. 780 f. 1654 Siehe oben S. 431. 1655 Siehe oben S. 391 mit Anm. 1471. 1656 Siehe oben S. 324 ff. und S. 338 ff.
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untermauern, dass die Konzeptualisierung von Inseln vor dem Kap Finisterre als sowohl Götter- als auch Paradiesinseln keltische Vorstellungen widerspiegelt – Marco Simón spricht gar von einer longue durée derartiger Vorstellungen an der ‚keltischen Atlantikküste‘.¹⁶⁵⁷ Über das Anstellen mehr oder weniger plausibler Vermutungen ist hier in Anbetracht des fragmentarischen Zustands unserer Quellen jedoch letztlich nicht hinauszukommen. In der Forschung zur Religionsgeschichte der Kelten der iberischen Halbinsel ist bereits mehrfach vorgeschlagen worden, dass die religiöse Vorstellungwelt dieser Völker das Konzept eines anderweltlich-jenseitigen Bereichs jenseits einer Wasserbarriere kannte. Insbesondere haben mehrere Forscher – wie etwa Alberto J. Lorrio und Gonzalo Ruiz Zapatero, Gabriel Sopeña Genzor oder Maria Luisa Cerdeño und Rosario Garcia Huerta – in diesem Kontext auf die typische Topographie keltiberischer Bestattungsplätze hingewiesen: Keltiberische Friedhöfe befinden sich mit auffallender Regelmäßigkeit in der Nähe von Wasserläufen, was auf eine entsprechende symbolische Verbindung zwischen dem Übergang ins Jenseits und dem Wasser hindeuten könnte.¹⁶⁵⁸ Ein textlicher Beleg dafür, dass in Teilen der iberischen Halbinsel eine symbolische Verbindung zwischen einer Wasserbarriere und dem Übergang ins Totenreich bestanden haben könnte, mag sich in Form einer interpretatio Graeca bzw. Romana bei Strabon (III.iii.5), Pomponius Mela (III.10) und Plinius (Naturalis historia IV.xxii.115) finden; denn diese drei Autoren berichten davon, dass einer der Flüsse Galiciens den Beinamen „Fluss des Vergessens“ trug, ganz entsprechend dem griechischen Unterweltsfluss Lethe. Bei Plinius heißt es (Naturalis historia IV.xxii.115): ab Minio [...] CC [...] abest Aeminius, quem alibi quidam intellegunt et Limaeam vocant, Oblivionis antiquis dictus multumque fabulosus [...].¹⁶⁵⁹ Vom Minius [...] ist der Aeminius [...] 200 Meilen entfernt, den gewisse Leute anderswo annehmen und Limaea nennen, und er wurde von den Alten „[Fluss] des Vergessens“ genannt und ist mit vielen Geschichten verbunden [...].
Die Beschreibung dieses Flusses als „Fluss des Vergessens“ wirft zumindest die Möglichkeit auf, dass dieser Fluss in der lokalen galicischen Mythologie als Unterwelts-, Toten- oder Anderweltsfluss galt und daher von einem griechisch-römischen Beobachter als Äquivalent eines der Unterweltsflüsse der klassischen Mythologie interpretiert wurde.¹⁶⁶⁰
1657 Marco Simón 2008, S. 59; vgl. Marco Simón 2007, S. 500 f.; Marco Simón 2009, S. 211. 1658 Lorrio und Ruiz Zapatero 2005, S. 204; Sopeña 2005, S. 386 f.; Cerdeño und Garcia Huerta 2000, S. 120 (vgl. die Karte Abb. 2 [S. 138]); Sopeña Genzor 1995, S. 165 f., 244. 1659 Text: Mayhoff 1906, S. 356. 1660 Konrad 1994, S. 108 f. Zu Lethe in der griechisch-römischen Mythologie vgl. Stoll 1890–1897 (Lethe). Strabon (III.iii.5) leitet die Benennung des Flusses als Lethe von den desaströsen Ereignissen
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Eine Sammlung weiterer Argumente, die sich für die Annahme einer transaquatischen Anderwelt als Teil der Kosmologie der Kelten der iberischen Halbinsel anführen lassen, wurde jüngst von Marco Simón vorgelegt.¹⁶⁶¹ Die wichtigsten von ihm angeführten Punkte sind die folgenden: (1) Keramik aus Numantia, wie die „Vase der Hippokampen“ mit der Darstellung einer ‚verschleierten Göttin‘ zwischen zwei Meerpferden, lege durch verschiedene aquatische Elemente ihrer Bilderwelt das Konzept einer seligen Anderwelt jenseits des Wassers nahe.¹⁶⁶² Dies werde durch aquatische Elemente in der Ikonographie einiger Grabstelen weiter untermauert, die deutlich einer einheimischen Tradition entstammen.¹⁶⁶³ (2) Die Ikonographie der Golddiademe von Moñes (Piloña, Asturien), die aus einem asturischen Fürstengrab stammen (wohl 2. Jahrhundert v. Chr. – 1. Jahrhundert n. Chr.), deute durch ihre Verbindung aquatischer Elemente mit der Darstellung eines Übergangs ins Jenseits gleichfalls auf ein Jenseits hin, das als jenseits des Wassers liegend vorgestellt wurde.¹⁶⁶⁴ (3) Eine Grabstele aus der galicischen Provinz Lugo, die in römischer Zeit angefertigt wurde und deutliche Züge einer bereits weit fortgeschrittenen Romanisierung aufweist, zeigt auf ihrer Rückseite eine Schifffahrts-Szene; Marco Simón wendet sich gegen ältere Deutungen dieser Szene als eine Variante des Sirenen-Abenteuers der Odyssee oder als Anspielung auf den Beruf des Verstorbenen und vertritt die Auffassung, dass hier eine einheimische Vorstellung von einer Schiffsreise in die Anderwelt dargestellt werde.¹⁶⁶⁵ (4) All dies lasse sich bruchlos in das Bild einfügen, das von mittelalterlichen und folkloristischen Quellen der iberischen Halbinsel und von keltischen Zeugnissen außerhalb der iberischen Halbinsel gezeichnet werde, wie etwa dem Bericht des Prokop über die Überfahrt der Seelen nach Britannien.¹⁶⁶⁶ Solche Zeugnisse sind zu wenige, zu weit verstreut und in ihrer Deutung im Detail häufig zu unsicher, um zweifelsfrei gesicherte Schlussfolgerungen zuzulassen. Jedoch zeigen sie in suggestiver Weise auf, dass auch für die – oder einige der – Kelten der iberischen Halbinsel zumindest mit der Möglichkeit einer Anderwelt jenseits des Wassers
her, die sich dort ereignet hätten; ob dieser sehr ad hoc scheinenden Erklärung irgendein Gewicht beizumessen ist, ist jedoch fraglich. 1661 Marco Simón 2009; Marco Simón 2008, S. 54–59. 1662 Marco Simón 2009, S. 212 (mit Abb. 1 und 2); Marco Simón 2008, S. 54 f. mit Abb. 2 und 3 (S. 57). Zu aquatischen Elementen der numantinischen Keramik vgl. auch Sopeña Genzor 1987, S. 122 f., 124– 126. Zu anderen einschlägigen keltiberischen Keramikfunden vgl. Sopeña Genzor 1995, S. 239. 1663 Marco Simón 2008, S. 55; Marco Simón 2009, S. 212. Zu aquatischen Elementen auf Stelen vgl. auch Sopeña Genzor 1987, S. 125 f. 1664 Marco Simón 2009, S. 212–214 (mit Abb. 3 und 4); Marco Simón 2008, S. 55; vgl. Marco Simón 2007, S. 498, 501 (mit Abb. auf S. 504); Marco Simón 1994. 1665 Marco Simón 2009, S. 215–217 (mit Abb. 5 und 6); Marco Simón 2008, S. 55 f. mit Abb. 6 (S. 58); vgl. Marco Simón 2007, S. 500, 501 (mit Abb. auf S. 503). 1666 Marco Simón 2009, S. 218–220 et passim; Marco Simón 2008, S. 56, 59; vgl. Marco Simón 2007, S. 498–501. Zu einem der Probleme von Marco Simóns Verwendung dieses Vergleichsmaterials siehe oben S. 387.
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zu rechnen ist. Dies wiederum bestärkt nochmals den Verdacht, dass auch die „sechs Inseln der Götter“ tatsächlich einen Reflex lokaler mythologischer Vorstellungen von paradiesischen Götter- oder „Anderweltsinseln“ vor der galicischen Atlantikküste darstellen könnten. Hier mögen somit ganz ähnliche Vorstellungen bestanden haben wie im inselkeltischen Bereich, wenngleich nochmals ausdrücklich zu betonen ist, dass das höchst fragmentarische Material kaum mehr zulässt als allgemeine Vermutungen.
6.6 Die Küsten des antiken Barbaricums: Zusammenfassung Das vorliegende Kapitel befasste sich mit einigen antiken ethnographischen Notizen zur keltischen Religionsgeschichte, die auf mythische oder heilige Inseln mit (zumindest forschungsgeschichtlichen) Berührungspunkten zur arthurischen Isle d’Avalon oder zu irischen Anderweltsvorstellungen Bezug nehmen. Die dem Kapitel zugrunde liegende Frage war dabei, inwieweit zwischen dem besprochenen antiken Material und den arthurischen bzw. inselkeltischen Zeugnissen des Mittelalters konkrete mythologische Kontinuitäten angenommen werden können. Das erste hier besprochene Zeugnis stammt aus der Feder des byzantinischen Historikers Prokop. Er berichtet, wie die Einwohner einiger Fischerdörfer am Ärmelkanal nächtens die Seelen der Toten vom fränkischen Festland auf die Insel „Brittia“ (Britannien) übersetzen; die Fahrt über den Kanal, die normalerweise zumindest einen Tag und eine Nacht in Anspruch nimmt, dauert bei diesen Gelegenheiten jeweils nur eine Stunde. Propkops Bericht enthält einige Anknüpfungspunkte an Standardmotive der klassischen griechisch-römischen Literatur, insbesondere an Motive, die mit den Inseln der Seligen verbunden sind; er lässt sich jedoch nicht gänzlich in klassische Elemente auflösen. Insbesondere das Motiv der „anderweltlichen Zeit“, die während der Fahrt zur Anderweltsinsel zu herrschen scheint, ist kein klassisch-mediterranes Element. Vielmehr stellt dieses Motiv eine schlagende Parallele zum Motiv des charakteristisch fremdartigen Zeitverlaufs in der Anderwelt dar, wie es sowohl in der mittelalterlichen Literatur Irlands als auch in der matière de Bretagne eine zentrale Rolle spielt. Damit dürfte Prokops Bericht eine Bestätigung dafür darstellen, dass es sich bei (zumindest) diesem Element der irischen und arthurischen Literatur um ein Motiv handelt, das seine Wurzeln in der vorchristlichen Mythologie der Britischen Inseln hat. Eine Reihe von Zeugnissen sprechen ferner von einer Insel des Kronos. Die wichtigsten einschlägigen Belege sind zwei Schilderungen, die Plutarch von einer Insel gibt, auf der Kronos in einer Höhle schlafe. Dieser Schlaf des Kronos auf seiner Insel wurde in der Forschung wiederholt mit dem Aufenthalt Arthurs auf Avalon in Verbindung gebracht; in Plutarchs Bericht wurde sogar eine Urform der späteren Arthursage gesehen. Eine detaillierte Analyse von Plutarchs Bericht zeigt jedoch, dass eine solche Annahme in höchstem Maß problematisch ist. Eines der relevanten Probleme ist ein quellenkritisches: Praktisch alle Elemente von Plutarchs Darstellung der Kronosinsel lassen sich aus etablierten Topoi der griechischen Literatur ableiten, so dass aus
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Plutarchs Text selbst heraus nicht ersichtlich ist, was an seiner Schilderung überhaupt auf keltische Vorstellungen zurückgeht; die Annahme, dass Plutarchs Bericht überhaupt keltische Elemente enthält, beruht letztlich nicht so sehr auf seinem Inhalt, als vielmehr auf dem ausdrücklichen Anspruch Plutarchs, den Augenzeugenbericht eines Britannienreisenden wiederzugeben. Diese Behauptung Plutarchs erhält jedoch dadurch einiges Gewicht, dass ein Britannienaufenthalt von Plutarchs Gewährsmann tatsächlich historisch bezeugt ist. Dies lässt es trotz der starken griechischen Überformung von Plutarchs Bericht als legitim erscheinen, in der mythologischen Literatur Britanniens nach einem Gegenstück zu Plutarchs Schilderung zu suchen. Hier zeigt sich jedoch schnell ein weiteres Problem einer „arthurischen“ Deutung von Plutarchs Kronosinsel: Maier konnte aufzeigen, dass die auffallendsten Parallelen zu Plutarchs Schilderung in der kymrischen Literatur mit den Gestalten des Mabon und des Gwair verbunden sind – und nicht mit der Figur des Arthur. Eine andere Insel, die in der Forschung mitunter als eine Frühform Avalons gedeutet wurde, ist die Bernsteininsel Abalum (oder: Abalus). Überliefert ist der Name dieser Insel bei Plinius, der sich auf den griechischen Reisenden Pytheas beruft; letzterer bezog seine Informationen wiederum wohl von keltischen Gewährsmännern. Abalum(?) liegt nach Pytheas vor einem von Germanen bewohnten Abschnitt der Nord- oder Ostseeküste und zeichnet sich durch paradiesischen Überfluss aus; zudem trägt diese Insel einen Namen, der einen keltischen Lautstand zeigt und auffallend an die arthurische Paradiesinsel Avalon anklingt. Damit zeigt die Insel Abalum(?) einige sehr suggestive Ähnlichkeiten zur arthurischen Isle d’Avalon: (1) Bei beiden Orten handelt es sich um Inseln; (2) beide sind – wenn auch auf einer imaginären Ebene – in einem vergleichbaren geographischen Raum lokalisiert; (3) die Berichte über beide berufen sich auf keltische Quellen; (4) beide tragen einen auffallend ähnlichen und sprachgeschichtlich möglicherweise direkt verwandten Namen; (5) und beide Inseln galten als paradiesische Orte. Neben solchen Ähnlichkeiten, die sich als Argumente für eine direkte historische Verbindung zwischen Abalum(?) und Avalon anführen ließen, stehen jedoch auch erhebliche Unsicherheiten und Quellenprobleme, so dass hier über eine suggestive Möglichkeit nicht hinauszukommen ist – eine solche ist jedoch immerhin festzuhalten. Ebenfalls bei Plinius überliefert sind zwei andere, in diesem Fall zweifellos germanische Bezeichnungen für Bernsteininseln: Glaesiae und Glaesaria (vgl. germ.-lat. glesum, „Bernstein“). Etymologisch sind diese Bernsteininseln eindeutig mit den nordischen Glæsisvellir verwandt; darüber hinaus wurde mitunter auch ein mythologischer Zusammenhang zwischen diesen Inseln und den Glæsisvellir postuliert, der zudem auch auf die arthurische „Glasinsel“ ausgeweitet wurde. In Anbetracht von Problemen wie dem Fehlen detaillierter inhaltlicher Übereinstimmungen zwischen den Vorstellungen von diesen verschiedenen Orten und der erheblichen chronologischen Entfernung der Quellen voneinander ist die Annahme mythologischer Verbindungen hier jedoch mit Skepsis zu betrachten. Eine überaus häufig zitierte antike Parallele zur Beschreibung Avalons in der Vita Merlini ist die Beschreibung des Heiligtums auf der Insel Sena in Pomponius Melas
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De chorographia. Diese beiden Texte zeigen weitreichende Übereinstimmungen: (1) Der Dienst im Tempel auf Sena wird von neun Priesterinnen erfüllt, denen in der Vita Merlini die neun Schwestern entsprechen, die über Avalon herrschen; diese beiden Gruppen von Frauen stimmen dabei (a) in ihrer Neunzahl, (b) in ihrem Geschlecht und (c) in ihrer Funktion als Herrinnen ihrer jeweiligen Inseln überein. (2) Beide Gruppen von Frauen besitzen übernatürliche Heilkräfte, die auch anderswo unheilbare Leiden zu heilen vermögen. (3) Die Priesterinnen von Sena können sich ebenso in Tiere verwandeln wie Morgen, die Herrin von Avalon. (4) Die Priesterinnen von Sena dienen einem Orakel und besitzen Kenntnis der Zukunft; solche Kenntnisse stehen auch den Herrinnen von Avalon offen, die der Astrologie kundig sind. (5) Während die Priesterinnen von Sena ihre Hilfe ausschließlich Seefahrern zukommen lassen, ist das Avalon der Vita Merlini nur mit der Hilfe des legendären Seefahrers Barinthus zu erreichen. (6) Die Priesterinnen von Sena haben Macht über die Winde; dem mag entsprechen, dass sich Arthurs Gefährten bei ihrer Rückreise von Avalon eines günstigen Winds erfreuen. Die communis opinio deutet diese Übereinstimmungen zwischen Pomponius Melas Beschreibung des Inselheiligtums Sena und dem Avalon der Vita Merlini als Beleg dafür, dass Geoffreys Beschreibung Avalons bis in spezifische Details hinein auf eine ungebrochene Tradition mit Wurzeln in der keltischen Mythologie zurückgreift. Eine Durchsicht der mittelalterlichen Bibliothekskataloge der Abtei von Bec in der Normandie illustriert jedoch nicht nur, dass De chorographia im Angevinischen Reich grundsätzlich vorhanden war, sondern zeigt sogar, dass sich die Werke Pomponius Melas und Geoffreys von Monmouth schon in den 1150er Jahren in derselben Bibliothek befinden konnten. Dass Pomponius und Geoffrey in dieser Weise Teile derselben literarischen Welt waren, macht deutlich, dass in keiner Weise davon ausgegangen werden kann, dass Geoffrey zu De chorographia keinen Zugang hatte. In Anbetracht der äußerst engen Übereinstimmungen zwischen der Vita Merlini und De chorographia ist daher anzunehmen, dass Geoffrey De chorographia bewusst als eine literarische Quelle herangezogen und in der Vita Merlini direkt verarbeitet hat. Die engen Übereinstimmungen zwischen dem Avalon der Vita Merlini und der Insel Sena sind daher nicht als Beleg für einen „traditionellen“ Charakter von Geoffreys Avalon-Beschreibung zu werten, sondern zeigen ganz im Gegenteil den primär gelehrten Charakter der Avalon-Schilderung in der Vita Merlini. Abschließend wandte das Kapitel sich einer weiteren geographischen Notiz des Plinius zu, die „sechs Inseln der Götter“ (Deorum [insulae] VI) vor dem Kap Finisterre an der galicischen Atlantikküste lokalisiert. Plinius vermerkt dabei, dass diese Inseln mitunter auch Fortunatae genannt werden, d. h. „Inseln der Seligen“. Die Bezeichnungen als „Inseln der Götter“ einerseits und „Inseln der Seligen“ andererseits stehen vor dem Hintergrund der klassischen griechisch-römischen Mythologie in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander, da die griechisch-römischen „Inseln der Seligen“ nicht als Wohnstatt der Götter dienen. Dies lässt vermuten, dass in der Doppelbezeichnung als „Inseln der Götter“ und „Inseln der Seligen“ lokale keltische Vorstellungen ihren Niederschlag finden; mehr als die klassische Mythologie bietet sich
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die literarische Mythologie Irlands zum Vergleich an, wo etwa Manannán aufs engste mit der Isle of Man assoziiert wird, die somit sowohl eine „Götterinsel“ als auch die halb-anderweltliche Paradiesinsel Emain (ablach) sein kann. Ferner lässt sich eine lokal-keltische Interpretation der „sechs Inseln der Götter“, die diese Inseln als einen Reflex mythologischer Vorstellungen von paradiesischen Götter- oder „Anderweltsinseln“ auffasst, an verschiedene Versuche anschließen, insbesondere archäologische Zeugnisse als Belege für das Konzept eines anderweltlich-jenseitigen Bereichs jenseits einer Wasserbarriere im keltischen Teil der iberischen Halbinsel zu deuten. Insgesamt bleiben die Ergebnisse freilich vage: Zu verstreut und zu fragmentarisch ist das Material, um ein detailliertes Bild von den mythischen Anderweltsinseln „der“ keltischen Mythologie zeichnen zu können. Zwar werden auch in jüngster Zeit mitunter noch äußerst optimistische Einschätzungen der Tragweite unserer Quellen vorgebracht; so betonte Marco Simón erst vor wenigen Jahren noch die Einheit und Geschlossenheit der Religion der ‚atlantischen Kelten‘ in Bezug auf eine Ideologie einer Jenseitsreise über das Wasser:¹⁶⁶⁷ La conclusión que podemos sacar parece obvia: tanto los textos literarios como los documentos iconográficos [...] apuntan a un complejo mítico que define como pocos la ideología funeraria, persistente hasta tiempos muy recientes, de los “celtas atlánticos”: el del pasaje al Allende por la vía acuática, complementada por otra aérea [...].¹⁶⁶⁸
In Anbetracht des fragmentarischen Zustands und der häufigen extremen Deutungsoffenheit des Materials, wie sie in der oben gegebenen Diskussion einiger weniger Zeugnisse immer wieder aufgeschienen waren, scheint eine solche Aussage vielleicht über die Maßen zuversichtlich. Falls sich in den verschiedenen hier besprochenen Zeugnissen tatsächlich eine einheitliche Ideologie der ‚atlantischen Kelten‘ widerspiegelt, scheint mir dies weder widerlegbar noch beweisbar. Festhalten lässt sich jedoch immerhin, dass sich immer wieder einzelne Zeugnisse finden, für die eine Interpretation als Hinweise auf Anderweltsinseln im Sinne der frühen irischen und der arthurischen Literatur zumindest möglich ist. Dies wiederum leistet einen wesentlichen Beitrag dazu, plausibel zu machen, dass die vorgeblich heidnischen Motive der irischen Literatur tatsächlich Wurzeln in der Vorstellungswelt der vorchristlichen Zeit haben.
1667 Marco Simón 2007, S. 495–501, bes. S. 501; allgemein zu einer einheitlichen religiösen Identität der ‚atlantischen Kelten‘ vgl. ibidem S. 479 f.: Marco Simón nimmt zwar keine einheitliche keltische Religion im Sinne eines geschlossenen Systems an, aber sieht genügend gemeinsame Elemente, um eine unitarische Perspektive für gerechtfertigt zu erachten. Für eine ganz ähnliche ältere Auffassung vgl. etwa Chadwick 1972, S. 129. Spezifisch zu mythischen Anderweltsinseln vgl. in diesem Sinne auch Mac Cana 2000 (1976), S. 55. 1668 Marco Simón 2007, S. 501.
7 Unsterblichkeit im Nordmeer, Religionskontakte und literarischer Austausch, oder: Die Frage nach Schlussfolgerungen 7.1 Die Materiallage: Eine kurze Zusammenfassung Der zentrale Fokus der letzten fünf Kapitel lag auf einer ausführlichen Darstellung des empirischen Materials, das für die Frage nach eventuellen keltischen Beziehungen des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes von Relevanz ist, sowie auf einer Diskussion einiger der unmittelbar mit diesem Material verbundenen lokalhistorischen und einzelphilologischen Probleme. Fragen interkultureller Kontakte blieben weitgehend ausgespart. Diese Fragen des Kulturkontakts – die sowohl den Kontakt zwischen Kelten und Germanen als auch das Verhältnis des im engeren Sinne keltischen Materials zur arthurischen Literatur betreffen – sollen nun im Zentrum des vorliegenden Kapitels stehen. Vor der Hinwendung zu solchen übergreifenden, komparatistischen Fragen ist es jedoch vielleicht angebracht, das bisher Gesagte zumindest im Umriss kurz zusammenzufassen. Die Behandlung der empirischen Grundlagen der vorliegenden Untersuchung nahm ihren Ausgang vom nordischen Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex, der vor allem in einigen hoch- bis spätmittelalterlichen Vorzeitsagas eine Rolle spielt; die Hauptquellen in der Saga-Literatur, die sich chronologisch von etwa 1200 bis ins 15. Jahrhundert erstrecken, sind dabei die Gesta Danorum des Saxo Grammaticus (um 1200), eine Rezension der Hervarar saga (um 1300), die Eiríks saga víðfǫrla (14. Jahrhundert), der Helga þáttr Þórissonar (14. Jahrhundert), der Norna-Gests þáttr (14. Jahrhundert), die Hálfdanar saga Eysteinssonar (14. Jahrhundert), der Þorsteins þáttr bæjarmagns (14. Jahrhundert), die Bósa saga ok Herrauðs (14./15. Jahrhundert), und die Samsons saga fagra (14./15. Jahrhundert). Eine ausführliche Besprechung dieser einzelnen Quellen jeweils im eigenen Recht machte deutlich, dass es sich bei diesen Literaturwerken keineswegs um Texte handelt, die den Anspruch erheben könnten, unmittelbar aus einer mündlichen Tradition heraus mythische Vorstellungen in einer gewissermaßen „folkloristischen“ Weise aufzuzeichnen. Vielmehr spielen literarische Zitate, Anspielungen und Stilisierungen schon von den frühesten Zeugnissen an eine zentrale Rolle für alle fraglichen Texte. Schon Saxos Behandlung des Themas zeigt umfassende Anleihen u. a. bei der Motivwelt der klassisch-lateinischen Gelehrsamkeit. Dennoch vermittelten zumindest die Gesta Danorum, die Hervarar saga und der Helga þáttr Þórissonar den Eindruck, in ihrer Behandlung des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Themas zumindest teilweise auf Material zurückzugreifen, das in diesen Texten jeweils entweder zum ersten Mal oder allem Anschein nach unabhängig überliefert ist. Durch diese Präsentation einer von direkten literarischen Wechselwirkungen weitgehend unabhän-
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gigen Materialbasis definierten diese drei Texte den „Idealtypus“ des Glæsisvellir/ Ódáinsakr-Motivkomplexes, der sich aus folgenden Elementen zusammensetzt: der Assoziation zwischen Glæsisvellir und Ódáinsakr, der Notwendigkeit einer Schiffsreise zum Erreichen dieser Gefilde, der Herrschaft Guðmunds über diese Gefilde, der Schönheit und dem verführerischen Charakter von Guðmunds Töchtern, dem Ruhm von Guðmunds Obsthain und der Auffassung der Glæsisvellir und des Ódáinsakr als heidnische Konzepte. Die ausführliche Besprechung der übrigen relevanten Texte der Sagaliteratur – Eiríks saga, Norna-Gests þáttr, Hálfdanar saga, Þorsteins þáttr, Bósa saga, Samsons saga – ergab hingegen, dass keine dieser Erzählungen eine unabhängige Quelle für weitere Züge des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Motivkomplexes darstellt. Die Eiríks saga beruht ganz auf einer Gleichsetzung des (immerhin explizit heidnischen) Ódáinsakr mit dem irdischen Paradies und der terra viventium der christlichen Kosmologie, ohne in der Beschreibung dieses Jenseitsgefildes irgendwelche erkennbar heidnischen Elemente zu verarbeiten; die verbleibenden Texte, vom Norna-Gests þáttr bis zur Samsons saga, bezogen ihre Kenntnis des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Motivkomplexes entweder explizit aus den älteren, auch uns noch vorliegenden Bearbeitungen des Themas, oder zeigten zumindest keine Elemente, die eine solche direkte literarische Abhängigkeit als unwahrscheinlich erscheinen lassen würden. Nach der Besprechung dieses im engeren Sinne literarischen Materials wandte das Kapitel sich den historischen und folkloristischen Überlieferungen zu, die mit dem isländischen Ódáinsakur im Hvanndalur verbunden sind. In einigen Zeugnissen der frühen Neuzeit und des 18. Jahrhunderts werden lokale Vorstellungen erwähnt, die das Hvanndalur bzw. den dort gelegenen Ódáinsakur einerseits als ausgesprochen unzugängliche Orte kennen, die diesen Orten aber zugleich Züge eines Paradiesgartens und eines Ortes der Unsterblichkeit zuschreiben. Das früheste einschlägige Zeugnis findet sich bei Thomas Bartholin dem Jüngeren im späten 17. Jahrhundert; dieses Zeugnis schreibt der lokalen Bevölkerung der Héðinsfjord-Region den Glauben zu, dass es im Ódáinsakur unmöglich sei zu sterben, und dass dieser Ort gerade aus diesem Grund verlassen worden sei: Denn es sei elend, leidend dahinzusiechen, ohne sterben zu können. Solche folkloristische Lokalisierungen des Ódáinsakur im Hvanndalur lassen sich wiederum an eine Episode der Landnámabók anschließen: Zwei Landnehmer gerieten über den Besitz dieses Tales in einen Streit, der zum größten Blutvergießen führte, das aus der Landnahmezeit für einen Disput über Landrechte überliefert ist. Aus rein profan-geographischer Sicht ist dies überraschend, da das Hvanndalur weder besonders groß ist noch über gute Zugänge verfügt – ganz im Gegenteil ist es von Land und See gleichermaßen unzugänglich und damit im Grunde ein keineswegs erstrebenswerter Siedlungsplatz. Eine Erklärung für die Verbissenheit, mit der der Streit um das Hvanndalur geführt wurde, ist nur dann ersichtlich, wenn die Vorstellung schon bis in die Landnahmezeit zurückreicht, dass es sich beim Hvanndalur um die Lokalisierung des Ódáinsakr und damit um einen Ort der Unsterblichkeit handelt. Falls aber der Ódáinsakr schon in der Landnahmezeit im Hvanndalur lokalisiert wurde, würde dies implizieren, dass die Vorstellung vom
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Ódáinsakr zumindest bis in die spätheidnische Zeit zurückreicht – eine Schlussfolgerung, die trotz der späten Datierung aller Hauptquellen eine gewisse Bestätigung darin findet, dass die erhaltenen mittelalterlichen Quellentexte die Vorstellung vom Ódáinsakr durchgehend und explizit als ein heidnisches Konzept auffassen. Für den Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex ist in der Forschung wiederholt ein inselkeltischer Einfluss vermutet worden. Das nächste Kapitel (Kapitel 3) widmete sich entsprechend der Frage, welche nordischen Vorstellungen eine Grundlange für solche Einflüsse dargestellt haben könnten. Oder mit anderen Worten: Welche Elemente der nordischen Mythologie und Religionsgeschichte könnten potentielle Anknüpfungspunkte für keltische Einflüsse geboten haben, wie sie in der Vorstellung von einem Land der Unsterblichkeit jenseits der See vermutet werden? Eine Aufnahme externer Einflüsse dürfte in Situationen besonders einfach sein, in denen die externen, neu importierten Elemente dazu in der Lage sind, sich an bereits Bekanntes und Vertrautes anzuschließen – ganz in dem Sinne, in dem Gregor der Große in seinem Schreiben an den Abt Mellitus für die Bekehrung der Angelsachsen empfahl, alte Opferfeste nicht einfach abzuschaffen, sondern an die Märtyrer umzuwidmen. Entsprechend fragte dieses Kapitel nach Elementen der nordischen Mythologie und Religionsgeschichte, die eine Vorstellung von einem anderweltlichen Gefilde jenseits der See nahelegen; dabei wurde der „anderweltliche“ Charakter breit gefasst, nicht zuletzt, da das Reich des Guðmundr bei Saxo in unmittelbarer Nachbarschaft eines Landes der Toten und eines Reichs der Gespenster liegt: Die transmarinen Länder der Unsterblichen und der Toten mögen einander nicht so diametral entgegengesetzt sein, wie es zunächst den Anschein haben könnte. Zumindest für die frühe Existenz transmariner Totenreiche im Norden fanden sich dabei im Folgenden tatsächlich vielfältige Indizien. Das prominenteste einschlägige literarische Zeugnis dürfte die Beschreibung von Balders Schiffsbestattung in der Gylfaginning sein, deren Wurzeln in Anbetracht der dort zitierten Skaldenstrophen zumindest in wesentlichen Elementen bis in die spätheidnische Zeit zurückreichen und die eine Schiffsreise ins Reich der Toten schildert. Diesem Zeugnis ließen sich im Rahmen der altnordischen Literatur eine Reihe weiterer Beschreibungen von Schiffsbestattungen, die „Leichenküste“ Nástrǫnd, das Totenschiff Naglfar und die Entrückung Sinfjǫtlis an die Seite stellen; dazu kamen literarische Beschreibungen germanischer Schiffsbestattungen in altenglischen und arabischen Quellen (Beowulf; Ibn Faḍlān). Dass die Vorstellung einer Anderwelt jenseits des Meeres möglicherweise sehr weit verbreitet war, könnte ferner der überaus reiche archäologische Befund andeuten: Hier sind an erster Stelle die zu Hunderten bekannten Boots- und Schiffsgräber v. a. der Wikingerzeit zu nennen, ferner die schiffsförmigen Steinsetzungen Islands, Skandinaviens und des Baltikums, und der ikonographische Befund insbesondere der gotländischen Bildsteine. Diese verschiedenen Zeugnisse stellen ihrer religionsgeschichtlichen Interpretation mitunter zwar ganz erhebliche Schwierigkeiten in den Weg; in ihrer Zusammenschau machen sie jedoch deutlich, dass Konzepte einer Anderwelt jenseits des Meeres im nordgermanischen Kulturraum allem Anschein nach schon früh und insbesondere
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schon vor dem Einsetzen nennenswerter Kontakte mit dem inselkeltischen Bereich fest etabliert waren. Nach diesen Vorarbeiten wandte die Diskussion sich dem keltischen Vergleichsmaterial zum Motivkomplex des Ódáinsakr und der Glæsisvellir zu. Schon forschungsgeschichtlich an erster Stelle steht hier die Insel Avalon der arthurischen Literatur. Das vierte Kapitel legte daher eine ausführliche Diskussion des Avalon-Motivs vor, die sich chronologisch von der ersten Bezeugung Avalons in der Historia regum Britanniae des Geoffrey von Monmouth (um 1136) bis ins 13. Jahrhundert erstreckte und die damit bis unmittelbar an die Schwelle zur Entstehungszeit auch der späteren Glæsisvellir-Sagas heranführte. Dieses Kapitel beschränkte sich bewusst nicht auf eine Behandlung der für den Vergleich mit dem Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex unmittelbar relevanten Züge, sondern machte es sich zum Ziel, ein Gesamtbild des AvalonMotivs und seiner frühen Entwicklung zu zeichnen. Nur so wird nachvollziehbar und bewertbar, welche Rolle die forschungsgeschichtlich vertretenen Parallelen zwischen Avalon und dem Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex tatsächlich spielen. Den Anfang der Geschichte Avalons in der arthurischen Literatur bildet das Werk Geoffreys von Monmouth, der in seiner Historia regum Britanniae den Namen dieser mythischen Insel zum ersten Mal erwähnte und in seiner Vita Merlini eine der ausführlichsten Avalon-Schilderungen der mittelalterlichen Literatur vorlegte. Dabei ist Geoffrey jedoch deutlich nicht Schöpfer, sondern Rezipient und Bearbeiter des Avalon-Motivs: Verschiedene Zeugnisse machen deutlich, dass Geoffrey das Motiv der Entrückung Arthurs – und damit wohl auch die Insel Avalon als das Ziel dieser Entrückung – nicht selbst geschaffen, sondern in der zeitgenössischen Folklore bereits vorgefunden hat. Dass er dabei als Bearbeiter mit seinem Material vergleichsweise frei umgeht, zeigt eine detaillierte Analyse der Avalon-Episode der Vita Merlini: Obwohl es sich hier um eine der detailreichsten Avalon-Schilderungen des Mittelalters handelt, enthält dieses Zeugnis kaum Züge, die nicht aus zeitgenössischen gelehrten Texten entlehnt sind. Als Quelle für einen „ursprünglichen“ Avalon-Mythos hat dieser Text, seiner prominenten Stellung zum Trotz, daher nur einen sehr beschränkten Wert; offenbar authentisch „vor-galfridische“ Züge sind nur die Deutung des Inselnamens „Avalon“ als „Apfelinsel“, die Herrschaft von mit übernatürlichen Mächten begabten Frauengestalten (insbesondere Morgens) über die Insel, die Langlebigkeit der Bewohner Avalons und die dortige Heilung des tödlich verwundeten Arthur. Ergiebiger sind in mancher Hinsicht altfranzösische Quellen wie die Werke des Chrétien de Troyes und die bretonischen Lais, die sich für ihren Stoff explizit auf die Lieder bretonischer Sänger als ihre Quellen berufen und die damit eine weit stärker „folkloristisch“ geprägte Literaturgattung darstellen als das hochgelehrte Werk Geoffreys. Auch in diesen Texten spielen Avalon und offenbar verwandte, aber namenlose Anderwelten eine wiederkehrende Rolle; Avalon erscheint dabei als der paradiesische Wohnort wunderschöner, verführerischer „Feen“, die sich einen sterblichen Helden zum Geliebten erwählen und ihm in ihrem Land jenseits einer Wasserbarriere die Unsterblichkeit schenken können.
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Im Jahr 1191 inszenierten die Mönche der Abtei von Glastonbury die „Entdeckung“ der Gebeine Arthurs und Guineveres. Mit diesem Propagandacoup, der u. a. der Finanzierung eines Neubaus ihrer Klosterkirche diente, wurden wesentliche Aspekte des Avalon-Motivs umgeschrieben. Statt Arthurs Heilung erscheint in der arthurischen Literatur von nun an immer wieder Arthurs Grab (so im Lancelot-GraalZyklus und im Perlesvaus), und Avalon wird mit Glastonbury identifiziert. Bei genauer Betrachtung erweist sich ferner, dass in diesem Coup der Mönche von Glastonbury auch die Gleichsetzung der „Apfelinsel“ mit der „Glasinsel“ ihren Ursprung hat. Diese Gleichsetzung wurde mehrfach als eine Parallele zum Namen der nordischen Glæsisvellir („Glanzgefilde“) aufgefasst, und dies wiederum wurde als Argument für einen keltischen Einfluss auf die letzteren angeführt; detailliert in ihren historischen Kontext eingeordnet, erweist sich die Identifikation der „Apfelinsel“ mit der „Glasinsel“ jedoch als ein rein sekundäres Motiv, das nicht über das Jahr 1191 hinausgeht. Auf die Besprechung der Ereignisse des Jahre 1191 folgten Abschnitte zum AvalonBild des Lancelot-Graal- oder Vulgate-Zyklus, des Perlesvaus, der Gesta regum Britanniae und der Bataille Loquifer. Diese Diskussionen illustrierten die Variationsbreite des Avalon-Motivs in der hochmittelalterlichen Literatur, wo Avalon in der Bataille Loquifer sogar zu einem Reich der Toten werden kann, in das verschiedenste Helden nach dem Ende ihres Lebens gelangen. Weitere Metamorphosen der „Apfelinsel“ ließen sich in einem Unterkapitel verfolgen, das der Lokalisierung von Arthurs Entrückung auf Sizilien gewidmet war. Die hier vorgenommene Identifizierung Avalons mit Sizilien findet sich in einer weiten Spannweite von Quellen bezeugt – und macht schlagend deutlich, wie einfach ein „geographischer Mythos“ wie Avalon auf die unerwartetsten Lokalitäten projiziert werden kann. Der letzte Teil des Kapitels wandte sich der Etymologie Avalons zu. Eine etymologische Deutung „Avalons“ als eine keltische „Apfelinsel“ steht hier außer Frage, was sich sowohl durch kymrisches als auch durch irisches Vergleichsmaterial untermauern lässt – womit die Untersuchung zum ersten Mal auf Irland zu sprechen kam. Irland stand darauf im Zentrum des folgenden, fünften Kapitels. Es ist schon längst erkannt worden, dass der Vergleich mit der irischen Literatur für die Bestimmung des keltisch-mythologischen Elements in der arthurischen Literatur eine grundlegende Rolle spielt. Will man der Frage nach eventuellen keltisch-mythologischen Einflüssen im Ódáinsakr und in den Glæsisvellir nachgehen, so führt entsprechend an der irischen Literatur kein Weg vorbei. Zwar spielte in der jüngsten Forschung die matière de Bretagne die zentrale Rolle als Lieferant von keltischem Vergleichsmaterial zum nordischen Ódáinsakr, doch die „Keltizität“ von arthurischen Motiven kann nicht notwendigerweise als gegeben angenommen, sondern muss stets erst begründet werden – und im Fall Avalons liefert irisches Vergleichsmaterial hier die zentralsten Argumente. In Anbetracht der extrem divergierenden Interpretationen, die für das fragliche irische Material vorgeschlagen worden sind, war es auch hier nötig, etwas weiter auszuholen. Dabei wurde bald deutlich, dass das irische Material nicht nur als Vergleichsmaterial zur Arthurüberlieferung (und damit gewissermaßen indirekt)
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für die Frage keltisch-germanischer Kulturkontakte von Bedeutung ist, sondern auch und gerade im eigenen Recht als Vergleichsmaterial zum nordischen Befund eine ganz wesentliche Stellung innehat. Ausgangspunkt dieses Kapitels waren zwei der ältesten – vielleicht die ältesten – narrativen Texte der irischen Literatur: „Connles Anderweltsfahrt“ (Echtrae Chonnlai) und „Brans Seefahrt“ (Immram Brain), beides Texte, die spätestens dem 8. Jahrhundert entstammen. Diese Erzählungen berichten von den Reisen zweier Edelleute in ein Land der Frauen, wo ihnen eine anderweltliche Frauengestalt ein Leben in Glück und Unsterblichkeit an ihrer Seite verspricht. Dabei spielt das Motiv eines anderweltlichen Apfels oder Apfelzweigs in beiden Fällen eine zentrale Rolle für den Übergang der menschlichen Helden in diese Anderwelt, und während für Immram Brain ferner das Motiv des spezifisch andersartigen Zeitflusses der Anderwelt von zentraler Bedeutung ist, kennt Echtrae Chonnlai daneben das Motiv eines kristallenen Boots, das als Fahrzeug für die Anderweltsreise dient. Forschungsgeschichtlich wurden diese beiden Texte in erstaunlich unterschiedlichen Weisen gedeutet, wobei die Spannweite der Interpretationen von einer Auffassung als ein nahezu rein heidnischer Mythos bis zu einer Deutung als eine klerikale Allegorie für das monastische Leben reicht, die kaum einheimisch-irische Elemente heranzieht und die Frauengestalt als eine Personifizierung der Kirche deutet. Auch Deutungsansätze mit einer extrem ekklesiastischen Ausrichtung sind jedoch Teil einer communis opinio, die in beiden Texten sowohl christlich-ekklesiastische als auch einheimisch-irische Motive mit letztlich paganen Wurzeln verarbeitet sieht. Zur Abschätzung des Verhältnisses zwischen diesen beiden – christlichen und paganen – Traditionssträngen war es im Folgenden nötig, auf einige Aspekte des frühen irischen Mönchstums und seiner literarischen Verarbeitung etwas detaillierter einzugehen. Zentral ist hierbei das Phänomen der peregrinatio, d. h. des Verlassens der Heimat als asketische Übung der Heilssuche. Die irische peregrinatio nahm u. a. die Form einer Suche nach einem Heilsort in den Weiten der See an; diese maritime Heilssuche führte irische Mönche bis auf die Färöer und wohl sogar nach Island. Auf literarischer Ebene wurde die peregrinatio zur See zum Gegenstand einer reichen und wirkmächtigen Literatur, deren bekanntester Exponent die Navigatio Sancti Brendani ist. In dieser Erzählung wird das irdische Paradies auf einer Inseln in den Weiten des Meeres lokalisiert; diesem paradisus Dei in spacio maris tritt zudem eine Vielzahl von weiteren paradiesischen Inseln zur Seite, die zwar nicht explizit mit dem irdischen Paradies der christlichen Kosmologie identisch sind, aber sich in vieler Hinsicht stark an verschiedene christliche Paradiesvorstellungen anlehnen. Ein offenbar einheimisch-irischer Einschlag, der an Anderweltsmotive der irischen und arthurischen Literatur anklingt, ist der eigentümliche Zeitfluss im paradisus Dei in spacio maris: Wer die Paradiesinsel betritt, an dem fließt für die Dauer seines Aufenthalts die menschliche Zeit einfach vorbei. Monastische Fahrten zu Wunder- und Paradiesinseln in den Weiten des Ozeans wurden in der irischen Literaturgeschichte zum Gegenstand eines ganzen literarischen Genres, der immrama. In der „Seereise von Máel Dúins Lederboot“ (Immram
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Curaig Maíle Dúin), der „Seefahrt von Snédgus und Mac Ríagla“ (Immram Snédgusa ocus Maic Riagla) und der „Seefahrt des Lederboots der Uí Chorra“ (Immram Curaig Ua Corra) erscheint eine Vielzahl von Paradiesinseln, die immer und immer wieder illustrieren, mit welcher Begeisterung und Selbstverständlichkeit irische Autoren das irdische Paradies und verwandte Paradiesgefilde auf Inseln in den Weiten des Ozeans lokalisierten. Damit werden diese Texte zu einem Zeugnis dafür, wie sehr die Leere des Ozeans mit der Erwartung besetzt war, dort ein Paradies auf Erden zu finden – wobei Texte wie die Vita des Hl. Ailbe und die „Litanei der irischen Pilgerheiligen“ deutlich machen, dass die Annahme der Existenz von Paradiesinseln im Ozean nicht nur eine literarische, sondern auch eine realweltliche Dimension hatte. Zugleich findet in den immrama auch eine Auseinandersetzung mit den Motiven des Landes der Frauen und der Bedeutung anderweltlicher, heilkräftiger Äpfel statt; diese Auseinandersetzung legt durch die Art ihres Umgangs mit diesen Motiven stark nahe, dass es sich dabei um Motive mit Wurzeln in authentisch vorchristlichem Traditionsgut handelt. Dass zumindest die Motive der klerikalen Anderweltsreise und des damit verbundenen anderweltlichen Zeitflusses spätesten im 12. Jahrhundert auch außerhalb Irlands (nämlich in der Bretagne) bekannt waren, eigenständig verarbeitet und insbesondere neu verortet wurden, illustrierte schließlich die Historia de Enoch et Elia. Daraufhin wandte die Diskussion sich paradiesischen Anderweltsinseln in der irischen Heldensage zu. „Das Werben um Becḟola“ (Tochmarc Becḟola) zeigte hier u. a., dass die Grenze zwischen heidnisch-anderweltlicher Insel und christlicher Klosterinsel durchaus fließend sein kann, während „Cú Chulainns Krankenlager“ (Serglige Con Culainn) ein weiteres Porträt des Landes der Frauen lieferte; beide Texte erwähnen ferner bronzene – und nicht kristallene – Anderweltsschiffe. Ein Ausblick auf die Behandlung des Themas in der „Unterredung der Alten“ (Acallam na Senórach) zeigte darauf, wie dieser hochmittelalterliche Text das Land der Frauen systematisch seiner Würde entkleidete und damit das literarische Ende des Motivs in der Form markierte, in der es aus Immram Brain und Echtrae Chonnlai bekannt war. Der vorletzte Abschnitt des Kapitels widmete sich schließlich der Lokalisierung der irischen Anderweltsinseln. Dabei wurde deutlich, dass die in Immram Brain vorgenommene – und auch für die explizit ekklesiastischen immrama typische – Lokalisierung anderweltlicher Inseln in den Weiten des Ozeans wohl eine ekklesiastische Neuerung darstellt; typischer für die einheimische Tradition scheint eine Lokalisierung auf küstennahen Inseln oder auf Inseln in Binnenseen gewesen zu sein. Von besonderem Interesse für keltisch-nordische Kulturbeziehungen ist im ersteren Fall die Identifizierung der Isle of Man mit Emain ablach, dem „apfelreichen Emain“, wie sie u. a. in einem gälischen Preisgedicht auf den König Rǫgnvaldr der Orkneyinga saga breit ausgeführt wurde. Die letzte Textstelle, die das Kapitel daraufhin vorstellte, ist die Beschreibung einer Klosterinsel in der Topographia Hibernica des Giraldus Cambrensis. Diese Insel war mit genau denselben Motiven verbunden wie der Ódáinsakur im isländischen Hvanndalur: der Unmöglichkeit, dort zu sterben, und der Notwendigkeit, diese Insel zu verlassen, um im Tod die Befreiung von unerträglichem Leid finden zu können.
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Das Kapitel schloss mit einer Diskussion der Frage, für welche der Motive, die von der irischen Literatur mit dem Land der Frauen verbunden werden, vorchristliche Wurzeln angenommen werden können. Möglich schien eine solche Annahme dabei mit einiger Wahrscheinlichkeit für (1) die Konzeptualisierung des Landes der Frauen als Insel; (2) die dominierenden Rolle anderweltlicher Frauengestalten; (3) die sexuelle Beziehung des menschlichen Helden zur Anderweltsfrau; (4) die anderweltlichen Äpfel, Apfelbäume oder Apfelzweige; (5) die Unsterblichkeit auf der Anderweltsinsel; (6) das Motiv des spezifisch anderweltlichen Zeitflusses; (7) und das Motiv des bronzenen Anderweltsschiffs. In jedem Fall waren diese Motive zur Zeit der wikingerzeitlichen Kontakte zwischen Iren und Skandinaviern geläufige Motive der irischen Erzählliteratur. Das sechste Kapitel verließ das Mittelalter und wandte sich einigen ethnographischen Notizen lateinischer und griechischer Autoren zur Religionsgeschichte der Kelten der Antike zu. Die Diskussion dieses Materials hatte zwei Stoßrichtungen: Einerseits sollten verschiedene antike Zeugnisse besprochen werden, die in der bisherigen Forschung mit mehr oder weniger großer Berechtigung als Frühformen oder frühe Belege für die arthurische Insel Avalon und Arthurs Entrückung auf diese Insel gedeutet worden waren. Andererseits sollte durch die Aufnahme einiger Zeugnisse, die nicht in einen spezifisch arthurischen Kontext zu stellen sind, allgemein die Frage beleuchtet werden, inwieweit die von der mittelalterlichen Literatur reflektierten Vorstellungen von keltischen Anderweltsinseln als Fortsetzungen bis in die Antike zurückreichender paganer Vorstellungen gelten dürfen. Die erste – und bekannteste – einschlägige Stelle findet sich im Bellum Gothicum des byzantinischen Historikers Prokop. Dort beschreibt er, wie die Bewohner einiger Fischerdörfer am Ärmelkanal nächtens die Seelen der Toten vom fränkischen Festland nach Britannien übersetzen; diese Fahrt, die unter normalen Umständen eine Nacht und einen ganzen Tag in Anspruch nimmt, dauert dabei nur eine Stunde. Dies dürfte ein früher Beleg für den eigentümlichen Zeitfluss der Anderwelt sein, wie er sich so häufig in der irischen und arthurischen Literatur beschrieben findet: Während der Reise zur Anderweltsinsel – auch wenn es sich dabei in diesem Fall um eine Toteninsel handelt – sind die normalen Regeln der Zeit außer Kraft gesetzt. Plutarch überliefert zwei Beschreibungen einer paradiesischen Insel vor der britannischen Küste, auf der der Gott Kronos schlafend gebunden ist; dabei beruft er sich als Quelle auf die Auskunft eines ortskundigen und historisch auch anderweitig bezeugten griechischen Reisenden. Aufgrund der tiefgreifenden griechischen Überformung von Plutarchs Beschreibungen lässt sich der eigentlich keltische Gehalt dieses Berichts allerdings nur schwer fassen. Insbesondere zeigt eine genauere Analyse, dass die forschungsgeschichtlich mehrfach vorgeschlagene Interpretation dieses Mythos als Frühform der Überlieferung von Arthurs Entrückung nach Avalon nicht aufrechtzuerhalten ist. Plinius überliefert verschiedene Notizen über antike „Bernsteininseln“, die forschungsgeschichtlich wiederholt mythologisch interpretiert wurden. Insbesondere
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eine Bernsteininsel Abalum oder Abalus, für die Plinius sich auf den griechischen Reisenden Pytheas beruft, wurde verschiedentlich als Frühform des arthurischen Avalon gedeutet. Einer solchen Deutung stehen gewichtige Probleme und Unsicherheiten entgegen, doch lässt sich zu ihren Gunsten immerhin anführen, dass es sich bei Abalum und Avalon um zwei (1) Inseln handelt, die beide auf (2) Berichte keltischer Gewährsmänner zurückgehen, (3) möglicherweise sprachgeschichtlich direkt miteinander verbundene Namen tragen, (4) in einem vergleichbaren geographischen Großraum lokalisiert gedacht waren – in beiden Fällen handelt es sich um keltische Berichte über Inseln des Nordseeraums oder Nordatlantiks –, und (5) denen Charakteristika eines paradiesischen Gefildes zugeschrieben wurden. Eine historische Verbindung zwischen dem Avalon-Mythos und der Abalum-Erzählung scheint daher im Bereich des Vorstellbaren zu liegen. Weitaus kritischer sind hingegen Versuche zu bewerten, zwischen germanischen Bernsteininseln namens Glaesiae bzw. Glaesaria, den nordischen Glæsisvellir und der arthurischen „Glasinsel“ eine mythologische Verbindung zu sehen. Eine solche ist in Anbetracht der Materiallage zwar empirisch nicht widerlegbar; die Indizien für die Existenz einer derartigen Verbindung sind jedoch alles andere als zwingend. Schlagende Ähnlichkeiten bestehen hingegen zwischen der Beschreibung Avalons in der Vita Merlini des Geoffrey von Monmouth und der Beschreibung der heiligen Insel Sena bei Pomponius Mela. In beiden Fällen handelt es sich um Inseln, die von (1) neun Frauen beherrscht werden; diese zwei Gruppen von Frauen entsprechen einander dabei (a) in ihrer Zahl, (b) in ihrem Geschlecht und (c) in ihrem Rang als Herrinnen ihrer jeweiligen Inseln. (2) Diese Frauen vermögen in beiden Fällen, alle Leiden zu heilen, und zwar auch dann, wenn diese anderswo unheilbar sind. (3) Sowohl die neun Priesterinnen von Sena als auch Morgen, die Herrin Avalons in der Vita Merlini, können Tiergestalt annehmen. (4) Die Priesterinnen von Sena sind Orakelpriesterinnen und zukunftskundig; als Astrologinnen verfügen ebenso auch die Herrinnen von Avalon über Kunde von der Zukunft. (5) Die Priesterinnen von Sena bieten ihre Hilfe nur Seefahrern an, ähnlich wie die Reise nach Avalon des berühmten Seefahrers Barinthus bedarf. (6) Die Herrinnen von Sena beherrschen die Winde; die Gefährten, die Arthur nach Avalon bringen, haben bei ihrer Rückreise einen günstigen Wind. Diese detaillierten Übereinstimmungen zwischen Sena und Avalon wurden in der Geschichte der Forschung nahezu allgemein als Beleg dafür gewertet, dass Geoffreys Avalon-Schilderung auf authentisch vorchristliches Traditionsgut zurückgreift, das Geoffrey einer ungebrochenen mündlichen Tradition entnimmt. Ein Seitenblick auf die Handschriftenüberlieferung der Werke Geoffreys und Pomponius Melas macht es demgegenüber jedoch wahrscheinlicher, dass Geoffrey bei der Abfassung seiner Avalon-Schilderung direkt auf den Text des Pomponius Mela zurückgegriffen hat; die engen Parallelen zwischen den beiden Texten sind dann als direkte literarische Zitate zu werten, die den hochgradig gelehrten Charakter der Vita Merlini unterstreichen. Abschließend sprach das Kapitel eine Notiz wiederum des Plinius an, in der dieser „sechs Inseln der Götter“ vor der galicischen Küste erwähnt, die auch den Namen „Inseln der Seligen“ trügen. Die Auffassung dieser Inseln als sowohl Götter-
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inseln als auch „Inseln der Seligen“ steht in einem gewissen Spannungsverhältnis zu klassischen Konzeptionen der „Inseln der Seligen“ und legt damit nahe, dass hier möglicherweise lokale keltische Vorstellungen ihren Niederschlag gefunden haben – Vorstellungen, die denen entsprechen könnten, deren Reflexe in der irischen Literatur erhalten zu sein scheinen. In diesem Zusammenhang fanden ferner auch verschiedene andere, insbesondere archäologische Zeugnisse Erwähnung, die in der spanischen Forschung in jüngster Zeit diskutiert und als Indizien für lokale keltische Vorstellungen von einer Jenseitsreise über das Wasser gedeutet wurden. All dieses Material mag – der vielen und schwerwiegenden Probleme zum Trotz, die mit seiner Interpretation verbunden sind – einen Hinweis darauf darstellen, dass Vorstellungen von mythologischen, heiligen und anderweltlichen Inseln auch in der religiösen Welt der (oder zumindest einiger der) Kelten der Antike eine prominente Rolle gespielt haben dürften. Dies fügt dem Bild, das die irischen Quellen für das irische Mittelalter gezeichnet hatten, eine zeitliche Tiefendimension hinzu: Die antiken Stellen belegen, wenn auch sonst nicht viel, so doch immerhin die lebensweltliche Relevanz mythischer Inseln für die vorchristlichen Kelten der europäischen Atlantikküste. Für die erhebliche Bedeutung, die heilige, anderweltliche und paradiesische Inseln in den irischen Texten spielen, könnte hier eine longue durée sichtbar werden. Eine solche longue durée würde in diesem Fall nochmals plausibel machen, dass die Wurzeln solcher Vorstellungen auch in Irland bis in die vorchristliche Zeit zurückgehen dürften und die irische Literatur uns somit nicht nur monastische allegorische Konstruktionen vorführt, sondern Motive, die ihren Ursprung in einer lebendigen mündlichen Tradition haben.
7.2 Irland, Arthur und Avalon: Eine „inselkeltische Mythologie“? In den vorangegangenen Kapiteln wurde eine umfangreiche Auswahl des Materials zu den Glæsisvellir, zum Ódáinsakr, zu Avalon, zu Anderweltsinseln in der irischen Literatur und zu antiken keltischen mythischen Inseln zusammengestellt, gesichtet und in seine lokalen und literarischen Kontexte eingeordnet. Nach dem Abschluss dieser mythologischen tour de force durch die germanische, arthurische und (insel-) keltische Welt ist es nun an der Zeit, die Frage zu stellen, was dieses Material über die Kultur- und Religionsbeziehungen zwischen Kelten und Germanen – oder genauer vielleicht: zwischen Inselkelten und Nordgermanen – aussagen kann. Als typisch „keltisches“ Vergleichsmaterial zum Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex wurde in der jüngsten Forschung vornehmlich die arthurische „Apfelinsel“ Avalon herangezogen;¹⁶⁶⁹ inhaltliche Ähnlichkeiten zwischen arthurischen Avalon-Beschrei-
1669 Vgl. Egeler, im Erscheinen (Encounters 6: Celtic); Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 122–124; Vennemann 2003, S. 637 f.; Heizmann 2002, S. 530–532; Vennemann 1998, S. 55; Heizmann 1998, S. 82–95.
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bungen und dem Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex wurden dabei als Hinweise auf einen keltischen mythologischen Einfluss im Norden gewertet. Dieses Vorgehen bezog seine Berechtigung daraus, dass eine keltische Verwurzelung der Insel Avalon und ihrer anderweltlichen Herrinnen schon früh als eine etablierte Tatsache galt.¹⁶⁷⁰ Im gegenwärtigen Zusammenhang kann eine keltische Verwurzelung Avalons und der verschiedenen mit Avalon verbundenen Einzelmotive jedoch nicht mehr einfach als gegeben angenommen werden. Größere Vorsicht als in der bisherigen Forschung ist vor allem aus zwei Gründen geboten: Zum einen ist eine detaillierte Studie, die eine ausführliche Begründung für die Zuschreibung der einzelnen mit Avalon verbundenen Motive – und nicht nur des Inselnamens „Avalon“ – an eine inselkeltische Mythologie geben würde, bisher ein Desiderat. Diese Forschungslücke zu füllen, konnte von den bisher vorgelegten Vergleichen zwischen dem Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex und Avalon nicht erwartet werden, da es sich dabei durchgehend um kurze Ideenskizzen oder Aufsätze handelte, die eine umfassende Aufarbeitung der keltischen Primärquellen weder leisten konnten noch zu leisten beabsichtigten; das Ausgehen vom jeweils zeitgenössischen Forschungsstand war für diese Arbeiten ausreichend und legitim. Eine monographische Behandlung wie die vorliegende hat hier hingegen anderen Maßstäben zu genügen und muss die Begründung für die Annahme, Avalon und die damit verbundenen Einzelmotive seien in einer „inselkeltischen Mythologie“ verwurzelt, im Detail vorlegen. Dies ist umso mehr der Fall in Anbetracht des zweiten der beiden Gründe, warum eine vergleichende Untersuchung heute bei der Verwendung arthurischen Materials größere Vorsicht walten lassen muss, als dies noch vor einigen Jahren nötig war: Denn der frühere Konsens einer weitreichenden keltischen Verwurzelung Avalons ist inzwischen in Frage gestellt worden. So vertrat Carolyne Larrington erst in jüngster Zeit die Auffassung, dass Arthurs Entrückung nach Avalon erst von Geoffrey von Monmouth in die arthurische Literatur eingeführt wurde, und dass Morgain und ihre Schwestern nahezu keine Bezüge zur einheimischen Mythologie Irlands und Britanniens haben;¹⁶⁷¹ ähnlich verwirft James Wade einen keltischen Hintergrund für Morgain in Bausch und Bogen.¹⁶⁷² Nimmt man in einer solchen Weise an, dass Geoffrey nicht der erste fassbare Rezipient, sondern der Schöpfer der Avalon-Mythologie ist, wird die Schlussfolgerung hinfällig, dass Ähnlichkeiten zwischen Avalon und dem Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex auf keltisch-germanische Religionskontakte hinweisen. Entsprechend ist es im Folgenden zunächst nötig, ausführlich darzulegen, warum und inwieweit das arthurische Avalon-Material als Reflex keltischer mythologischer Überlieferungen aufgefasst werden kann. Grundlage dafür ist in erster Linie der Vergleich mit dem irischen Material, für das die Frage seiner vorchristlichen Wurzeln insbesondere im fünften Kapitel ausführlich disku-
1670 Vgl. etwa Chotzen 1948. 1671 Larrington 2006, S. 7 f. 1672 Wade 2011, S. 52.
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tiert wurde.¹⁶⁷³ Erst nachdem die keltischen Grundlagen des inselkeltisch-nordischen Vergleichs in dieser Weise gesichert sind, wird die Untersuchung zu einem ausführlichen Vergleich des keltischen Materials mit dem Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex fortschreiten.
7.2.1 Die Sage von König Arthur und die keltischen Literaturen Als Bran inmitten des Meeres auf Manannán trifft, erzählt ihm dieser, dass er sich gerade auf dem Weg nach Irland befinde; dort werde er einen Sohn namens Mongán zeugen.¹⁶⁷⁴ Dieser wird Manannáns Vaterschaft zum Trotz von Fiachnae anerkannt werden (Immram Brain § 51) – offenbar zeugt Manannán seinen Sohn mit der Frau eines anderen Mannes, der diesen Sohn dennoch als seinen eigenen annimmt.¹⁶⁷⁵ Dieses Kind, Mongán, wird zu einem großen König heranwachsen: Er wird engen Umgang mit den Wesen der Anderwelt pflegen und sich durch große Weisheit auszeichnen; zugleich wird er ein großer Krieger sein, der seine Feinde auf dem Schlachtfeld niedermäht (§§ 52–56). Seine Tage in der Welt der Menschen werden jedoch begrenzt sein: Nach einem herausragenden Leben wird er eine tödliche Wunde empfangen und in die Anderwelt entrückt werden (§§ 58 f.): Bíëd bes ngairit a ré coícait mblédne i mbith ché, oircthi ail dracoin din muir isind níth i Senlabuir. Timgéra dig a lLoch Láu in tan friss-seill sidán cráu, gébtha[i] in drong find fu roth nél dund nassad nád-etarlén.¹⁶⁷⁶ Einer wird leben, dessen Lebenszeit kurz sein wird, fünfzig Jahre in dieser Welt, ein Drachenstein aus dem Meer tötet ihn im Kampf bei Senlabor.
1673 Siehe oben S. 262 ff., sowie oben S. 384 ff. passim. 1674 Siehe oben S. 268. 1675 Ausführlich vgl. die Erzählung von der Geburt Mongáns: Compert Mongáin („Die Empfängnis Mongáns“), hgg. und übersetzt von Meyer 1895, S. 42–45; White 2006, S. 71 f. (Übers. auf S. 78 f.). Eine andere Version – Compert Mongáin ocus Serc Duibe-Lacha do Mongán („Die Empfängnis Mongáns und Dub-Lachas Liebe für Mongán“) ist hgg. und übersetzt von Meyer 1895, S. 58–84. 1676 Text: Mac Mathúna 1985, S. 43.
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Er wird nach einem Trunk aus Loch Ló verlangen, während er den Rinnsal des Bluts betrachtet, wird ihn die weiße Schar unter einem Nebelrad fortbringen zur Versammlung, die frei von Sorgen ist.
Die Biographie Mongáns, wie sie hier beschrieben wird, stellt eine auffallend enge Parallele zur Biographie Arthurs dar: Sowohl Mongán als auch Arthur entspringen der Vereinigung einer verheirateten Frau mit einem anderen Mann; beide sind Musterkönige und große Helden; beide stehen in enger Verbindung mit dem Übernatürlichen (man erinnere sich an die enge Bindung zwischen Arthur und Merlin); beide werden am Ende ihres Lebens in einer Schlacht tödlich verwundet; und beide werden vor dem Eintritt ihres Todes von Abgesandten der Anderwelt in ein paradiesisches Land entrückt. Die „heroischen Biographien“ Mongáns und Arthurs entsprechen einander von der Zeugung bis zur Entrückung der beiden Helden selbst in grundlegenden Einzelheiten. Solche Paralellen zur Biographie Arthurs sind innerhalb der irischen Literatur nicht auf die Gestalt des Mongán beschränkt. Eine Parallele zwar nicht zur Gesamtbiographie, aber doch zum Ende Arthurs findet sich etwa in der Erzählung vom „Rinderraub von Cúailnge“ (Táin Bó Cúailnge).¹⁶⁷⁷ Eine Passage, die ins 8. Jahrhundert zu datieren sein dürfte,¹⁶⁷⁸ erzählt dort vom Tod des Helden Fróech mac Idaid.¹⁶⁷⁹ Dieser Held steht auf der Seite der Männer von Connacht und fordert Cú Chulainn, den Haupthelden der Männer von Ulster, an einer Furt zu einem Zweikampf heraus. Dabei erweist er sich schnell als der weit unterlegene Kämpfer. Cú Chulainn bietet ihm an, sein Leben zu schonen, doch Fróech weigert sich, sich geschlagen zu geben; so wird er von Cú Chulainn in der Furt ertränkt. Die Heerschar der Männer von Connacht ist zutiefst betroffen (Táin Bó Cúailnge, Z. 855–857): Coínti a ndúnad n-ule Fráech. Co n-accatar banchuri i n-inaraib úanib for colaind Fraích meic Idaid. Focessat úadib issa síd. Síd Fraích ainm in tsída sin íarom.¹⁶⁸⁰ Das ganze Lager klagte um Fróech. Sie sahen eine Gruppe von Frauen in grünen Tuniken über dem Leichnam von Fróech mac Idaid. Sie trugen ihn von ihnen fort in den Elfenhügel. Der Name dieses Elfenhügels ist dann ‚Fráechs Elfenhügel‘.
1677 Hgg. und übersetzt von O’Rahilly 1976. 1678 Zur Datierung vgl. Thurneysen 1921, S. 109–113, 140 (Materialien des 9. Jahrhunderts in einer Kompilation des 11. Jahrhunderts) und die Korrektur der Datierung des zugrundeliegenden Textmaterials durch Breatnach 1977, S. 101–103, 107. 1679 Cross 1923, S. 292 f. 1680 Text: O’Rahilly 1976, S. 27.
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In dieser Passage erscheint eine Variante des Motivs der Entrückung des tödlich verwundeten Helden: Die Hilfe kommt hier zwar zu spät, aber der Held wird dennoch in die Anderwelt entrückt. Etwas glücklicher verlief demgegenüber ein früherer „Schwimmunfall“ Fróechs: In einer Episode der Erzählung von „Fróechs Rinderraub“ (Táin Bó Fraích),¹⁶⁸¹ die ins frühe 8. Jahrhundert datiert wird,¹⁶⁸² wird Fróech bei einem Bad in einem Teich von einem Seeungeheuer angegriffen und schwer verwundet (§ 18). Seine Wunden werden notdürftig versorgt (§ 19 f.), und dann trifft schon Hilfe aus der Anderwelt ein (§ 20): Dobreth ass íarum 7 dogníth dérguth. Co cúalatar ní, a ṅgolgaire for Crúachnaib, co n-accas na trí coícait ban co n-inaraib corcraib, co cenbarraib úanidib, co mílechaib arggait fora ndóitib. Tíagair chuccu do ḟis scél dús cid ro chaínset. ‘Fráech mac Idaith’, ol in ben, ‘macdreittel ríg síde ṅHérenn.’ La sin rochluinethar Fráech a ṅgolgaire. ‘Domthócbaid ass’, ol sé ria muintir. ‘Gol mo mátharsa inso 7 bantrochta Bóinni.’ Tócabair immach la sodain, 7 berair cucu. Dothíagat na mná immi, 7 berdait úadib i ssíd Crúachan. Co n-accatar ní in tráth nóna arna bárach, dotháet 7 coíca ban imme, iss é úagṡlán cen on cen anim.¹⁶⁸³ Er wurde dann [aus dem Bad, wo man sich zwischenzeitlich um ihn gekümmert hatte] hinaus gebracht und ein Lager wurde [für ihn] bereitet. Sie hörten etwas: den Klageruf auf Crúachain; und man sah sechzig Frauen mit purpurnen Umhängen, mit grünen Kopfbedeckungen, mit tiergeschmückten Armbändern aus Silber an ihren Armen. Man geht zu ihnen, um die Neuigkeiten zu hören, um herauszufinden, worüber sie weinten. „Fróech macc Idaith,“ sagt die Frau, „den jungen Liebling der Könige der Elfenhügel von Irland.“ Darauf hört Fróech den Klageruf. „Tragt mich hinaus,“ sagt er zu seinem Gefolge. „Dies ist das Weinen meiner Mutter und der Frauen der Boand.“ Er wird darauf hinausgetragen und zu ihnen gebracht. Die Frauen kommen um ihn herum und sie tragen ihn von ihnen weg in den Elfenhügel von Crúachu. Sie sahen etwas am folgenden Abend: Er kommt zusammen mit fünfzig Frauen, und er ist heil und gesund, ohne Entstellung und ohne Makel.
Tom Peete Cross wies bereits vor nahezu einem Jahrhundert auf die genaue Entsprechung zwischen der Entrückung und Heilung Fróechs und der Entrückung und Heilung Arthurs in Layamons Brut hin.¹⁶⁸⁴ In beiden Fällen wird ein großer Held tödlich verwundet; eine Gruppe anderweltlicher Frauen erscheint und nimmt den Helden mit sich in die Anderwelt; und die Heilung und Rückkehr des Helden wird in Aussicht gestellt bzw. folgt kurz darauf. Cross zog aus den Parallelen zwischen dem Ende Arthurs und dem Ende Fróechs den Schluss, dass die Beschreibungen von Arthurs Ende in der mittelalterlichen arthurischen Literatur auf keltische Überlieferungen
1681 Hgg. von Meid 1967; hgg. und übersetzt von Meid 1970; Meid 2009. 1682 Meid 1967, S. xxiv f.; vgl. Breatnach 1977, S. 102; MacKillop 2004, S. 242; Meid 2009, S. 16. 1683 Text: Meid 1967, S. 9 f. 1684 Cross 1923, bes. S. 289–291. Zu Fróechs Tod in der Táin Bó Cúailnge vgl. ibidem S. 292 f.
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zurückgehen.¹⁶⁸⁵ Schon auf der Grundlage des von Cross gesammelten Materials war diese Schlussfolgerung grundsätzlich plausibel.¹⁶⁸⁶ Die noch weitergehenden Parallelen zwischen den Biographien Arthurs und Mongáns, die Cross entgangen zu sein scheinen, tragen wesentlich dazu bei, Cross’ Schlussfolgerung noch weiter zu stärken.¹⁶⁸⁷ Einzelne Zufallsübereinstimmungen lassen sich freilich nie ausschließen. Das Motiv der Entrückung Arthurs steht jedoch nicht allein, sondern ist nur ein Beispiel aus einer Vielzahl von Motivübereinstimmungen zwischen Texten der arthurischen Literatur und Texten der inselkeltischen Literaturen des Mittelalters. Zu solchen Motiven, die sowohl in der arthurischen Literatur als auch in den inselkeltischen Literaturen erscheinen, ohne dabei in letzteren auf den Einfluss der arthurischen Literatur zurückgehen zu können, zählen etwa die „Jagd auf den weißen Hirsch“,¹⁶⁸⁸ Arthurs Schwert Excalibur,¹⁶⁸⁹ die Figur des Zauberers Merlin,¹⁶⁹⁰ die Figur des Mabon als anderweltlicher Gefangener,¹⁶⁹¹ das Katzenungeheuer Chapalu,¹⁶⁹² die „rotierende Festung“,¹⁶⁹³ das „Enthauptungsspiel“¹⁶⁹⁴ und vielleicht sogar der Gral.¹⁶⁹⁵ Die Breite und Spannweite dieser Motivübereinstimmungen stellt ein schlagendes Argument
1685 Cross 1923, S. 294: „The passing of Arthur as described in medieval romance originated in a Celtic tradition similar to that attached to certain early Irish heroes and best preserved in the Táin bó Fráich.“ Der Aufsatz schließt mit den auch heute noch gültigen Worten (ibidem): „It is not infrequently dangerous to try to settle Arthurian problems on the basis of the Arthurian romances alone.“ 1686 Vgl. Cross 1923 mit weiterem irischem Vergleichsmaterial. 1687 Auf eine weitere Parallele, die sich Cross’ Materialsammlung hinzufügen lässt, wurde jüngst von Dooley und Roe hingewiesen: In der oben (S. 335) besprochenen Passage des Acallam na Senórach wird der tödlich(?) verwundete Verlobte der Bébind von einem Schiff aufgenommen, das aus dem Westen kommt, und von diesem Schiff fortgebracht; Dooley und Roe vergleichen dies zu Recht mit der Entrückung Arthurs: Dooley and Roe 1999, S. 242 (Anm. 166). 1688 Vgl. Egeler, im Erscheinen (Hunt and Otherworld); Benozzo 2006, S. 134; Tobin 1980, S. 281; Frappier 1973, S. 571 f.; Lange 1972, S. 176; Bromwich 1965, S. 212, 214; Newstead 1946, S. 919–922; Lot 1901. 1689 Vgl. Ó Mainnín 2013, S. 256; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 129 (mit Anm. 1); Barron und Weinberg 2001, S. xxxix; Parry und Caldwell 1959, S. 84; Chotzen 1948, S. 262 f.; Chambers 1927, S. 72; Thurneysen 1921, S. 114 f.; Brown 1913, S. 246; Lot 1898, S. 563. 1690 Vgl. Zimmer 2006, S. 171–175; Lange 1972, S. 183–185. 1691 Sayers 2007 (Joie), bes. S. 17–22; Maier 2005, S. 164 f.; Maier 2001 (Maponos), S. 83 f. mit Verweis auf Bromwich 1978, S. 433–436; Bromwich 1991, S. 278, 286; Bromwich 1983, S. 47; Mac Cana 1972, S. 130. 1692 Siehe oben Anm. 923. 1693 Walter 2004, S. 64 f.; Lange 1972, S. 179; Bromwich 1965, S. 212; MacCulloch et al. 1908, S. 690; vgl. Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 120; zusammenfassend zum irischen Vergleichsmaterial: Patch 1950, S. 56. 1694 Bromwich 1983, S. 51; Bromwich 1965, S. 209–211. 1695 So etwa Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 199 f.; Carey 2007 (Grail); Zimmer 2006, S. 177–181; MacKillop 2004, S. 172; Lange 1972, S. 190–194; Loomis 1963; O’Rahilly 1952, S. 20; Brown 1943; van Hamel 1930; Brown 1913; MacCulloch et al. 1908, S. 694. Skeptisch vgl. z. B. Maier 1994, S. 150.
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dafür dar, dass keltische Überlieferungen tatsächlich einen wesentlichen Beitrag zur arthurischen Dichtung geliefert haben: Einzelne Übereinstimmungen ließen sich leicht als Zufall bewerten, doch in ihrer Summe legen solche Parallelen ein beredtes Zeugnis für konkrete Kontinuitäten ab – selbst wenn diese Kontinuitäten sich auf einzelne Namen und Motive beschränken und in keinem Fall so weit gehen, dass etwa ganze Handlungsgefüge arthurischer Texte auf keltischen Mythen beruhen würden.¹⁶⁹⁶
7.2.2 Avalon und das Land der Frauen: Ein Vergleich An dieser Stelle wurde aus der Vielzahl von arthurisch-inselkeltischen Motivübereinstimmungen gerade das Motiv von Arthurs Entrückung herausgegriffen, weil es den unmittelbaren narrativen Verbindungspunkt zwischen der „Apfelinsel“ und dem Rest der arthurischen Literatur bildet; insofern ist es besonders geeignet, zu veranschaulichen, dass die Motivübereinstimmungen zwischen den „Apfelinseln“ der inselkeltischen und der arthurischen Literatur nicht isoliert dastehen. Worin bestehen die Übereinstimmungen zwischen Avalon und dem Land der Frauen jedoch im Einzelnen? Nachdem im Vorangehenden die irischen Anderweltsinseln der Frauen und der Unsterblichkeit und die arthurische Anderweltsinsel Avalon jeweils ausführlich im eigenen Recht besprochen worden sind, ist es nun an der Zeit, Avalon und das Land der Frauen einander im Detail gegenüberzustellen.
[1] Die Anderwelt als Insel Die erste und offensichtlichste Übereinstimmung zwischen Avalon und dem Land der Frauen ist ihre Auffassung als Inseln. Allerdings ist dieser grundlegende Punkt – aller Offensichtlichkeit zum Trotz – nicht in allen Teilen der Überlieferung frei von Problemen. So wird die isle d’Avalon nach der „Entdeckung“ der Gebeine Arthurs und Guineveres in Glastonbury im Jahre 1191 zu einer Stätte, die zwar immerhin noch in einem Sumpfgebiet, aber doch deutlich im Landesinneren angesiedelt ist. Jedoch hatte die Diskussion der Einzelheiten dieser „Entdeckung“ deutlich gemacht, dass es sich bei der Gleichsetzung Avalons mit Glastonbury keineswegs um ein traditionelles Motiv handelte: Die Identifizierung dieser beiden Orte wurde erst durch die Mönche der
1696 Maier 1994, S. 29 contra Loomis bei Lange 1972, S. 178. Allgemein zum keltischen Hintergrund der arthurischen Literatur vgl. etwa Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 90–335 passim; Carey 2007 (Grail); Sayers 2007 (Joie); Bromwich 2006 passim; Zimmer 2006; Benozzo 2006; Maier 1994, S. 28–30; Radner 1985, S. 552; Bromwich 1983; de Caluwé 1983 passim; Tobin 1980; Frappier 1978; Frappier 1973; Lange 1972; Koubichkine 1972; Bullock-Davies 1969; Bromwich 1965; Newstead 1946; Krappe 1929; Cross 1915; Cross 1913; Cross 1910; Paton 1960 (1903); Schofield 1896.
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Abtei Glastonbury im Zuge ihres arthurischen Propagandacoups vorgenommen und hat keine Grundlage in älteren arthurischen Überlieferungen. Für die „Vorgeschichte“ des Avalonmotivs können die Ereignisse des Jahres 1191 ebenso wie ihre spätere literarische Rezeption daher außer Acht gelassen werden. Wie stark Avalon, den Mönchen Glastonburys zum Trotz, als Insel aufgefasst wurde, wird im Übrigen schon dadurch deutlich, dass es selbst im Perlesvaus als Isle d’Avalon bezeichnet wird – obwohl dieser Text Avalon, unter Bezugnahme auf die Ereignisse des Jahrs 1191, als ein Tal im Wald beschreibt. Ein weiterer Punkt, der die Auffassung Avalons als Insel zwar nicht in Frage stellt, der aber immerhin hervorzuheben ist, sind die Variationen in der Lokalisierung der Anderwelt in den bretonischen Lais. Im Lai de Guigemar liegt das Land der schönen Frau jenseits des Meeres, im Graelent und im Guingamor jenseits eines Flusses, und im Lanval auf der ‚schönen Insel Avalon‘. Da diese vier Lais weitestgehend parallele Erzählungen präsentieren, dürften diese Variationen signifikant sein: Die Anderwelt der schönen, verführerischen Frau liegt hier jenseits einer Wasserbarriere; eine Lokalisierung der Anderwelt spezifisch auf einer Insel ist dabei nur eine unter verschiedenen Möglichkeiten, diese Lokalisierung konkret umzusetzen. Dass somit auch die Anderwelt der matière de Bretagne nicht immer auf einer Insel liegen muss, stellt für den Vergleich mit dem irischen Material jedoch kein schwerwiegendes Problem dar: Auch die Grenze der irischen Anderwelt kann auf ganz unterschiedliche Weisen markiert sein. So steht in Immram Brain die Anderwelt in den Weiten des Ozeans neben einer unterseeischen Anderwelt, und in Echtra Nerai wird die Anderwelt durch eine Höhle erreicht. Die Lokalisierung der Anderwelt auf einer Insel ist sowohl in der arthurischen Literatur als auch in der irischen Literatur nur eine unter einer Vielzahl von geläufigen Optionen. Eine weitere Frage ist die der genauen Lage der Anderweltsinsel. In der Vita Merlini liegt Avalon in den Weiten des Meeres, ebenso wie das Land der Frauen von Immram Brain im Ozean im fernen Westen liegt. Im literarischen Gesamtzusammenhang der Vita Merlini kommt die Lokalisierung Avalons auf hoher See durch die Verwendung des Barinthus als Steuermann zum Ausdruck, der auf der Reise nach Avalon nach den Sternen navigiert. Die Verbindung der Lage Avalons mit dieser Figur legt dabei zugleich jedoch auch die Möglichkeit nahe, dass es sich bei der Lokalisierung Avalons auf hoher See überhaupt erst um eine Folge der Einführung des Barinthus in die Erzählung handeln könnte: Diese stellt ein literarisches Zitat aus der Navigatio dar, das Avalon mit dem irdischen Paradies gleichsetzt; daher ist die Vita Merlini trotz ihrer frühen Datierung kein aussagekräftiges Zeugnis für die Lokalisierung Avalons in der frühesten Arthurüberlieferung. Nichtsdestoweniger war eine Lage Avalons im Meer eine weitverbreitete Vorstellung: Eine Lokalisierung der Anderweltsinsel jenseits der See findet sich außerhalb der Vita auch im Brut des Layamon, im Guigemar, im Lancelot-Graal-Zyklus, in den Gesta regum Britanniae, in der Bataille Loquifer und (implizit) in allen Zeugnissen, die Avalon auf Sizilien lokalisieren. Neben diese Belege, in denen die Anderweltsinsel im Meer liegt, tritt zwar eine Reihe von Zeug-
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nissen, in denen die Lage Avalons nicht spezifiziert wird (Historia regum Britanniae; Lanval; Didot-Perceval); eine klare Lokalisierung in einem Binnensee findet jedoch nirgends statt. Eine (lose) Assoziation Avalons mit einem Binnensee findet sich erst in Arthurs Todesszene im Lanzelot-Graal: Dort kommt die Barke, die Arthur abholt, erst an die Küste, nachdem Excalibur – das der Historia regum Britanniae zufolge in Avalon geschmiedet worden war – in einen See geworfen worden ist. Die Lokalisierung des Landes der Frauen in Immram Brain geht wohl ebenso auf den Einfluss lateinischer Gelehrsamkeit und der Praxis der peregrinatio zurück wie der Auftritt des Barinthus in der Vita Merlini. Im Unterschied zur Situation in der arthurischen Literatur wird die Lage der Anderweltsinsel jenseits der See von der irischen Literatur außerhalb von Immram Brain jedoch nur mit Einschränkungen bestätigt. Üblicher als die von Immram Brain vertretene Lokalisierung im fernen Westen ist eine Lokalisierung auf Inseln in Binnenseen oder auf (mehr oder weniger) küstennahen Meeresinseln; Beispiele für erstere Variante finden sich etwa in Tochmarc Becḟola und Serglige Con Culainn, während letztere Variante sich in einer Reihe von Zeugnissen niederschlägt, die eine Verbindung des Landes der Frauen bzw. Emains mit der Isle of Man und Arran im Firth of Clyde herstellen. Eine direkte Anschlussfähigkeit an die Lage Avalons in der arthurischen Literatur besteht vor allem im Fall dieser letzteren Lokalisierungsvarianten: Bei diesen Inseln handelt es sich – wie im Fall des Avalon der arthurischen Literatur – um Meeresinseln; dass diese Meeresinseln nicht in großer Ferne liegen, stellt keinen Widerspruch zur Masse der arthurischen Zeugnisse dar, da die genaue Lage Avalons insbesondere in den frühen Zeugnissen üblicherweise nicht spezifiziert wird (vgl. etwa den Brut des Layamon). Ein scharfer Gegensatz zwischen der Lage Avalons und der Lage des irischen Landes der Frauen lässt sich auch deshalb nicht aufbauen, weil das Zeugnis von Serglige Con Culainn in aller Deutlichkeit illustiert, dass die Konzepte von „Meeresinsel“ und „Insel in einem Binnensee“ in der irischen Literatur offenbar nicht als streng zu trennendes Gegensatzpaar aufgefasst wurden: Selbst innerhalb ein und desselben Texts kann eine Anderweltsinsel bald als das eine und bald als das andere beschrieben werden. Wesentlich für die irischen Anderweltsinseln ist nur die Insellage im minimalsten Sinne; eine Unterscheidung zwischen Meer und Binnengewässern scheint weitgehend irrelevant. Ungeachtet der vielfältigen Deutungsprobleme des antiken Materials scheinen auch die in Kapitel 6 besprochenen Zeugnisse griechischer und römischer Autoren eine ausgesprochene longue durée des Motivs der mythischen, anderweltlichen Insel bei den Kelten der europäischen Atlantikküsten nahezulegen. Relativierend ist hier freilich anzumerken, dass mythologische Inseln ebenso wie die Mythologisierung realweltlicher Inseln wohl ein weltweit beobachtbares Phänomen sind, das für sich allein genommen und ohne weitere Spezifizierung noch kaum weitere Schlüsse erlaubt.
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[2] Die Anderweltsinsel als Apfelinsel Die Insel Avalon wird schon in ihrer ersten ausführlichen Beschreibung in der Vita Merlini als insula pomorum bezeichnet. Die bereits mehrfach angesprochenen Probleme der Vita Merlini als Quelle für frühe Vorstellungen von Avalon greifen in diesem Fall nur bedingt: Die Passage, in der Avalon als insula pomorum beschrieben wird, beruht zwar deutlich auf der Schilderung der Insel der Seligen in den Etymologien des Isidor von Sevilla, und in Isidors Text spielen auch poma eine Rolle; diese poma sind bei Isidor aber bei weitem nicht so prominent wie in der Beschreibung der Vita Merlini. Daher ist es durchaus möglich, dass die Prominenz der Äpfel in Geoffreys Schilderung ein authentisches Motiv inselkeltischer Traditionen aufgreift. Der Name „Avalon“ wurde schon von Giraldus Cambrensis in seinem De principis instructione aus dem Walisischen hergeleitet: „in der britannischen Sprache heißt sie Inis Avallon, das heißt: apfelreiche Insel“ (dicta est Britannice Inis Avallon, id est, insula pomifera). Dieser Erklärung entspricht, dass die kymrische arthurische Literatur tatsächlich eine „Apfelinsel“ (Ynys Afallach) kennt; zumindest in sprachlicher Hinsicht gibt es daher keinen Grund, Giraldus’ Erklärung des Inselnamens „Avalon“ als „Apfelinsel“ anzuzweifeln. In der Handlung der arthurischen Avalon-Erzählungen spielen die Äpfel Avalons, nach denen die Insel benannt sein soll, allerdings kaum eine Rolle. Die Beschreibung Avalons als insula pomorum in der Vita Merlini hat keinen Bezug zur Handlung der Geschichte: Die Bezeichnung als insula pomorum illustriert die enge Assoziation Avalons mit Äpfeln, aber wird im weiteren Verlauf der Ereignisse kein einziges Mal aufgegriffen und mag somit nicht mehr sein als eine gelehrte Übersetzung des volkssprachlichen Namens ins Lateinische. Eine Interpolation in William von Malmesburys De antiquitate Glastoniensis ecclesiae verbindet den Namen Avalons im Zuge einer „etymologischen“ Erklärung des Namens Glastonbury mit einer Sau unter einem Apfelbaum; diese Ortsnamensgeschichte ist jedoch offenkundig erst von ihrem Verfasser frei erfunden worden.¹⁶⁹⁷ Ansonsten fallen inhaltliche Bezugnahmen auf die Äpfel Avalons vornehmlich durch ihre Abwesenheit auf. Dies steht in scharfem Kontrast zur irischen Situation. In Immram Brain dient ein silberner Apfelzweig als Lockmittel, mit dem eine Anderweltsfrau den Kontakt mit Bran herstellt. Noch zentraler ist die Rolle des Apfels in Echtrae Chonnlai: Connae ernährt sich für einen Monat ausschließlich von einem anderweltlichen Apfel, und während dieses Monats wird seine Sehnsucht nach der Anderweltsfrau stetig größer. Eine ähnliche, übernatürlich-nährende Rolle spielt ein Apfel in Immra Curaig Maíle Dúin, und weitere vergleichbare Äpfel, Früchte und Apfelzweige finden sich in der Vita Albei, in Serglige Con Culainn, Echtra Cormaic¹⁶⁹⁸ und im Lebor Gabála Érenn.¹⁶⁹⁹ In
1697 Siehe oben S. 227. 1698 Siehe oben S. 10 und S. 335. 1699 Siehe oben S. 353.
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der irischen Literatur ist der Anderweltsapfel ein handlungstragendes Element, das nicht nur in der Onomastik, sondern auch im Umgang mit der Anderwelt eine Rolle spielt. Diese Rolle des Apfels als Handlungselement hat in der arthurischen Literatur kein Gegenstück. Avalon ist eine „Apfelinsel“, weil sie als „Apfelinsel“ benannt ist, nicht weil Äpfel dort eine konkrete handlungstragende Rolle spielen würden. Umgekehrt ist die Benennung der Anderweltsinsel als „Apfelinsel“, die in der arthurischen Literatur allgegenwärtig ist, in Irland sekundär: Die Anderwelt der Frauen und Apfelbäume wird als „Land der Frauen“ (Tír na m-Ban), „Land der Lebenden“ (Tír Béo, Tír na m-Béo), „Ebene der Freuden“ (Mag Meld), oder als Emain/Emnæ bezeichnet. Äpfel hingegen finden in die Nomenklatur der Anderweltsinsel erst gegen Ende der mittelirischen Zeit Eingang, als der schon von alters her gebräuchliche Name Emain mit dem Adjektiv ablach („apfeltragend“) zu einer festen Einheit verbunden wird: Emain Ablach. Dies scheint jedoch ein Phänomen erst des 12. Jahrhunderts zu sein. Insgesamt lässt sich somit sagen, dass sowohl das irische Land der Frauen als auch das arthurische Avalon mit vollem Recht als „Apfelinseln“ anzusprechen sind. Die Art der jeweiligen Assoziation zwischen Anderweltsinsel und Äpfeln zeigt jedoch einen auffallenden Unterschied: In Irland beruht die Identifizierung als „Apfelinseln“ auf Elementen der Handlung der jeweiligen Texte, während die Identifizierung der Insel Avalon als „Apfelinsel“ auf der (schon mittelalterlichen) Etymologisierung ihres Namens beruht. Das antike Material ist für das mögliche Bestehen einer longue durée des Apfelmotivs nur bedingt aussagekräftig, aber doch immerhin suggestiv: Die Vorstellung einer Anderweltsinsel als paradiesischer (Obst-)Garten findet eine entfernte Parallele im üppigen Grün der „Insel des Saturn“ und mag sich zudem tentativ an die Bernsteininsel Abalum(?) anschließen lassen, die eine Verbindung mit Äpfeln in ihrem Namen tragen könnte. Eine erhebliche Zeittiefe dieses Mythenmotivs ist also auch aus Sicht des antiken Materials durchaus möglich, wenn auch letztlich nicht schlüssig zu erweisen.
[3] Die Herrinnen der Apfelinsel Nach der Vita Merlini wird Avalon von neun heilkundigen, weisen und überaus schönen Schwestern beherrscht. Diese Neunzahl der Herrinnen von Avalon steht, wie von Paton zu Recht hervorgehoben wurde, in der arthurischen Literatur isoliert da;¹⁷⁰⁰ zugleich findet sie eine unmittelbare Parallele in der Neunzahl der Priesterinnen, die beim römischen Geographen Pomponius Mela die heilige Insel Sena beherrschen. Dies dürfte insbesondere deshalb von einiger Signifikanz sein, weil sich gerade zwischen der heiligen Insel Sena des Pomponius Mela und dem Avalon der Vita Merlini
1700 Siehe oben S. 429 mit Anm. 1637.
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auffallend viele Detailübereinstimmungen festhalten lassen – so viele, dass sie den Verdacht einer direkten literarischen Abhängigkeit der Vita Merlini von Pomponius Melas De chorographia nahelegen.¹⁷⁰¹ Dies impliziert im Umkehrschluss für die Vita Merlini, dass die Neunzahl der Herrinnen Avalons in diesem Text kein folkloristisches, sondern ein rein literarisch-gelehrtes Element darstellt, das wohl erst von Geoffrey von Monmouth in die arthurische Literatur eingeführt und im Mittelalter auch nur von diesem Autor verwendet wurde. Für die Frage keltischer Wurzeln des Avalon-Motivs ist die Neunzahl der Vita Merlini somit irrelevant. In anderen Texten ist in Verbindung mit der Insel Avalon zumeist entweder nur von Morgain la fee die Rede, oder die Zahl der Frauen auf dieser Insel bleibt unbestimmt. Der Brut des Layamon schildert, wie Arthur in einem von zwei Frauen gesteuerten Boot nach Avalon gebracht wird; die Herrschaft über Avalon liegt diesem Text zufolge jedoch in der Hand einer einzigen Frauengestalt (namens Argante). Der Erec des Chrétien de Troyes erwähnt nur die Fee Morgain (Morgain, la fee) als Herrin Avalons. Im Lanval der Marie de France erscheinen eine anderweltliche Dame und mehrere – durchgehend weibliche – Bedienstete dieser fee; ähnlich wird das Thema in den übrigen oben besprochenen bretonischen Lais behandelt (im Guigemar, Graelent und Guingamor). Das Abenteuer an der „gefährlichen Furt“ (Gué Perellos) im Didot-Perceval impliziert eine Vielzahl von Anderweltsfrauen in Avalon, da ihre Zahl groß genug ist, um – in Vögel verwandelt – einen ganzen Vogelschwarm zu bilden. Ein ganz entsprechendes Bild zeichnet der Mort Artu im Lancelot-Graal-Zyklus: Dieser Text spricht ausdrücklich davon, dass sich auf Avalon eine Vielzahl zauberkundiger Frauen aufhält, und auch das Boot, das den tödlich verwundeten Arthur in diesem Text nach Avalon holt, ist mit einer Mehrzahl von Frauengestalten bemannt. Nach den Gesta regum Britanniae wird Avalon von einer „königlichen Jungfrau“ (regia virgo) beherrscht, die ein Gefolge von schönen Jungfrauen um sich hat. In der Bataille Loquifer wird Renoart von drei Feen nach Avalon entführt, wobei Avalon in diesem Text als eine große Stadt der Feen und der toten Helden geschildert wird. In Floriant et Florete hat Morgain ein Gefolge von Feen, das in seiner Größe unbestimmt bleibt, aber wohl erheblich ist. Insgesamt lässt sich über diese Zeugnisse somit Folgendes sagen: Zwar scheint zumeist davon ausgegangen zu werden, dass Avalon von einer einzigen Frauengestalt beherrscht wird; neben dieser herrscherlichen Frauengestalt steht jedoch eine erhebliche Zahl von Frauengestalten in untergeordneter Position. Die Gesamtzahl der Frauen von Avalon bleibt dabei unbestimmt. Die irische Literatur zeigt ein ganz ähnliches Bild.¹⁷⁰² Auch hier findet die Neunzahl der Herrinnen von Avalon, wie sie in der Vita Merlini behauptet wird, kein Gegenstück; vielmehr steht üblicherweise eine einzelne Frauengestalt im Zentrum, neben die eine unbestimmte, aber große Zahl untergeordneter weiterer Frauengestalten tritt.
1701 Siehe oben S. 427 ff. 1702 Vgl. schon MacCulloch et al. 1908, S. 690.
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In Echtrae Chonnlai wird der Königssohn Connlae von einer einzigen Anderweltsfrau dazu überredet, ihr in die „Länder der Lebenden“ zu folgen; dort lebt ein ganzes Volk in höchstem Glück, wobei es „keine anderes Geschlecht als Frauen und Mädchen“ gibt. In Immram Brain tritt ebenfalls eine einzelne Frauengestalt als die zentrale Figur der Erzählung auf, die die Handlung ins Rollen bringt, indem sie Bran zu sich ins Land der Frauen ruft; und auch in Immram Brain wird das Land dieser Frauengestalt von einer Vielzahl von Frauen und Mädchen bewohnt – es heißt ausdrücklich, es handle sich um „viele Tausende“ (ilmíli). Die doppelte Karikatur dieses Motivs in Immram Curaig Maíle Dúin lässt Máel Dúin und seine Gefährten einmal auf eine einzelne Frau und einmal auf eine Königin mit einem umfangreichen Gefolge von Mädchen stoßen, deren Anzahl der Zahl von Máel Dúins Gefährten entspricht. Tochmarc Becḟola kehrt die Geschlechterverteilung um, indem die Insel primär einem männlichen anderweltlichen Krieger zugewiesen wird. Am Beginn von Serglige Con Culainn wird Cú Chulainn von zwei anderweltlichen Frauen verprügelt und auf die Reise zu einer Anderweltsinsel geschickt, wo er und sein Wagenlenker Lóeg auf Lí Ban und ihre „dreimal fünfzig“ (d. h.: sehr viele) Frauen treffen. Der späte Text Acallam na Senórach erzählt von einem „Land der Maiden“ (Tír na n-ingen) unter der Herrschaft eines Königs, der fast hundertfünfzig Töchter hat. Insgesamt lässt sich somit sowohl von der Insel Avalon der arthurischen Literatur als auch vom irischen Land der Frauen sagen, dass diese Orte üblicherweise unter der Herrschaft einer einzelnen Frau stehen, die ein mehr oder weniger umfangreiches Gefolge untergeordneter Frauengestalten hat. Einzelne Texte weichen von diesem Bild ab (wie insbesondere die Vita Merlini); in Anbetracht des durchgehend literarischen Charakters der vorhandenen Quellen ist jedoch auch nichts anderes zu erwarten. Wie in den ausführlichen Besprechungen der einzelnen Quellentexte immer wieder betont worden ist, handelt es sich bei allen uns erhaltenen Quellen um primär literarische Texte, die neben Motiven mit letztlich mythologischen Wurzeln auch vielfache andere literarische Anregungen aufgreifen und alle diese Elemente in freier Weise ihren jeweiligen narrativen Intentionen unterordnen. Eine völlig einheitliche Verwendung des Avalon-Motivs wäre daher ausgesprochen unwahrscheinlich; die Zeichnung der Frauengestalten der Apfelinsel ist im Grunde weit einheitlicher, als dies in Anbetracht der Quellenlage zu erwarten gewesen wäre. Ganz anders ist die Situation der antiken Überlieferung: Hinweise auf eine weibliche Dominanz der Anderwelt, die als Indizien für eine bis in die kontinentalkeltische Antike zurückreichende longue durée des Landes der Frauen gelten könnten, fehlen hier weitgehend. Frauengestalten spielen in den besprochenen antiken Zeugnissen überhaupt nur für die Orakelinsel Sena eine Rolle; bei dieser handelt es sich jedoch um ein Inselheiligtum und nicht um eine Anderweltsinsel. Freilich ließe sich aus rein typologischer Perspektive relativierend darauf hinweisen, dass es immer wieder zu einer Imitation eines Jenseitsbereichs durch die entsprechende Priesterschaft kommt; so wird der Kult im Glastonbury Goddess Temple im heutigen Glastonbury durch Priesterinnen bestritten, die sich mit den anderweltlichen fees der arthurischen Mytholo-
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gie in Parallele setzen,¹⁷⁰³ und der weiße Habit der Zisterzienser verweist durch die Verwendung der Farbe der Seligen, der Engel und der Märtyrer auf die Beziehung des monastischen Lebens zum Paradies.¹⁷⁰⁴ Es ist somit durchaus möglich, dass eine Priesterschaft das Spiegelbild ihrer eigenen Vorstellungen von einem Jenseitsbereich darstellt. Dass ein solcher Schluss aber keineswegs zwingend ist, zeigt schon die delphische Pythia, die keiner Göttin, sondern dem Apollon dient.
[4] Sexualität Weit geringer ist die Einheitlichkeit der Quellen in Hinblick auf die Rolle der Sexualität auf der Anderweltsinsel. Bei Geoffrey von Monmouth fehlt ein sexuelles Element völlig, was in Anbetracht der Identifizierung Avalons mit dem irdischen Paradies, die Geoffrey durch die Verwendung des Barinthus als Steuermann literarisch andeutet, jedoch auch nicht überrascht. Im Draco Normannicus wird Morgain ferner als Arthurs Schwester beschrieben, ebenso im Erec des Chrétien de Troyes und später im Didot-Perceval und im Lancelot-Graal-Zyklus; im Speculum ecclesiae des Giraldus Cambrensis wird Morgen allgemein als Verwandte Arthurs bezeichnet. Ganz anders ist die Situation hingegen im Brut des Layamon, dessen Behandlung von Arthurs Entrückung in einer Reihe von Details deutlich von Geoffrey unabhängig zu sein scheint; dort lebt Arthur nach seiner Entrückung nach Avalon „mit der schönsten aller Elfenfrauen“ (mid fairest alre aluen) zusammen – ein erotischer Unterton wird für dieses Zusammenleben zwar nicht explizit gemacht, scheint jedoch äußerst naheliegend. Eine solche Behandlung des Verhältnisses zwischen dem sterblichen, in die Anderwelt entrückten Helden und der anderweltlichen fee entspricht genau dem typischen Verhältnis zwischen Held und Anderweltsfrau in den bretonischen Lais: In diesen Zeugnissen – die durch ihre frühe Datierung für die Frühgeschichte des Motivs von besonderer Bedeutung sind – ist das Verhältnis zwischen Ritter und fee ein dezidiert erotisches (Guigemar; Graelent; Guingamor; Lanval). An früher und prominenter Stelle außerhalb der Lais findet sich das Motiv der Liebesbeziehung zwischen Held und fee ferner in Chrétiens Erec, wo Guigomars in Avalon als der Geliebte (amis) der Fee Morgain erscheint. Spezifisch auf Arthur bezogen erscheint das Motiv außerhalb von Layamons Brut ferner noch in den (späten) Gesta regum Britanniae, wo Arthur und Morgain nach Arthurs Heilung „zusammenleben“ (vivuntque simul). In der arthurischen Literatur laufen hier somit zwei Stränge anscheinend unabhängig nebeneinander her: Ein Strang, in dem Arthur als ein Verwandter (insbesondere der Bruder) der Herrin von Avalon erscheint, und ein zweiter Strang, in dem der nach Avalon entrückte Held (und zwar auch, aber doch nur ausnahmsweise Arthur) die Rolle des Geliebten der Anderweltsfrau übernimmt. Beide Stränge finden sich schon in frühen
1703 Vgl. , letzter Abruf: 15. Mai 2015. 1704 Auffahrt 2002, S. 121.
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Texten gut bezeugt, die noch aus dem 12. Jahrhundert und damit der frühesten erhaltenen Überlieferungsphase der matière de Bretagne stammen. Aus chronologischen Erwägungen heraus kann somit keine der beiden Varianten eine klare Priorität vor der anderen beanspruchen. In der irischen Literatur findet sich eine ganz ähnliche Ambivalenz. In Echtrae Chonnlai und Immram Brain wird der Held offenkundig zum Geliebten der Anderweltsfrau, die ihn in ihre Anderwelt jenseits des Meeres lockt. Zwar lässt sich mit einigem Recht die Frage stellen, wie dominant dieses sexuelle Element im Rahmen der irischen Anderweltskonzeption ist;¹⁷⁰⁵ seine Existenz steht jedoch außer Frage. Dies ist umso deutlicher, als die Karikatur des Landes der Frauen in Immram Curaig Maíle Dúin die Kritik an diesem sexuellen Element ins Zentrum ihrer Ablehnung des heidnischen Motivs der Anderwelt der Frauen stellt. Gerade diese klerikal-puritanische Zurückweisung stellt ein wichtiges Indiz für den heidnischen Charakter des Motivs dar – oder zumindest dafür, dass das Motiv in einer solchen, erotisierten Form spätestens im 8./9. Jahrhundert als heidnisch galt. Dieselbe Interpretation wird von der Art nahegelegt, wie spätere Texte das Motiv behandeln (insbesondere Serglige Con Culainn und Acallam na Senórach). Auch in Irland steht der Erzählungstyp, in dem ein Held mit durchaus erotischer Absicht von einer Anderweltsfrau in eine Anderwelt gelockt wird, jedoch nicht allein. Eine zweite Variante findet sich in den beiden weiter oben in diesem Kapitel zitierten Textpassagen. In Immram Brain wird von Manannán mac Lir prophezeit, dass er einen Sohn namens Mongán zeugen werde; dieser werde ein großer König und Krieger sein und am Ende seines Lebens, tödlich verwundet, in die Anderwelt entrückt werden.¹⁷⁰⁶ Ähnlich ist die Beschreibung von Fróechs Entrückung in Táin Bó Fraích: Dort hört der schwerverwundete Held das Klagen seiner Mutter und ihres Gefolges von Frauen; diese anderweltlichen Frauen tragen ihn daraufhin in den Elfenhügel von Crúachu, wo seine Wunden geheilt werden.¹⁷⁰⁷ Sowohl Mongán als auch Fróech stehen somit zu den Wesen der Anderwelt in einem Verwandtschaftsverhältnis und werden aufgrund dieser Verwandtschaft in die Anderwelt entrückt, als sie lebensbedrohlich verwundet worden sind. Ein erotisches Element spielt hier keine Rolle. Damit stellt die irische Literatur zwei genaue Parallelen zu den beiden Strängen des Verhältnisses zwischen Held und Anderweltsfrau in der Literatur der matière de Bretagne bereit: Ein Held kann in die Anderwelt entrückt werden, (a) weil sich eine anderweltliche Frauengestalt diesen Helden zu ihrem Geliebten erwählt hat, oder (b) weil der Held mit den Wesen der Anderwelt verwandt ist und in die Anderwelt entrückt werden muss, weil er sonst lebensbedrohlichen Wunden erliegen würde. Das Schicksal des tödlich verwundeten Arthur gehört logisch zu Typ (b), während der
1705 Siehe oben S. 375 f. 1706 Siehe oben S. 451. 1707 Siehe oben S. 453.
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gänzlich anders geartete Handlungsbogen der Lais dem Typ (a) entspricht. Die Unterscheidung zwischen den beiden Typen wird von den Werken der arthurischen Literatur mit weitgehender Konsequenz aufrechterhalten. Eine offenkundige Ausnahme bilden nur der Brut des Layamon und die späten Gesta regum Britanniae, die Arthur zum Geliebten der Anderweltsfrau zu machen scheinen und damit die beiden Typen (a) und (b) miteinander verschmelzen. Diese Verschmelzung geht freilich in einem gewissen Grade zulasten der logischen Stimmigkeit der Erzählung; denn wenn die Anderweltsfrau Arthur aus einer erotischen Motivation heraus bei sich aufnimmt, warum wartet sie dann damit, bis Arthur beinahe in der Schlacht gefallen ist? So nimmt es nicht Wunders, dass eine solche Verschmelzung der beiden Motivtypen ein Ausnahmefall geblieben ist. Der antiken Überlieferung fehlen Hinweise auf anderweltliche Frauengestalten mit einem betont sexuellen oder verführerischen Charakter. Die Priesterinnen von Sena – die einzigen Frauengestalten, die in der oben diskutierten antiken Überlieferung auch nur in die Nähe der „Anderwelt“ gerückt werden – sind „durch ewige Jungfräulichkeit geheiligt“ (perpetua virginitate sanctae).
[5] Heilung Im ältesten erhaltenen Zeugnis für die Vorstellung von Arthurs Entrückung nach Avalon, der Historia regum Britanniae des Geoffrey von Monmouth, heißt es lakonisch, dass der tödlich verwundete Arthur zur Heilung seiner Wunden auf die Insel Avalon gebracht wurde (ad sananda uulnera sua in insulam Auallonis euectus). Eine Reihe weiterer Literaturstellen legt ferner in indirekter Weise Zeugnis dafür ab, dass es sich bei diesem Motiv bereits zu Geoffreys Zeiten um ein fest etabliertes Standardmotiv der Arthurüberlieferung handelte; zentrale Beispiele waren etwa der Spott, den William von Malmesbury in seinen Gesta regum Anglorum über die „alten Ammenlieder“ (antiquitas næniarum) ergießt, die von einer bevorstehenden Rückkehr Arthurs berichten, oder die Episode in den Wundern der Hl. Maria von Laon des Hermann von Laon, in welcher der Streit über die Frage von Arthurs Wiederkehr zu Handgreiflichkeiten führt: Die Vorstellung der Rückkehr Arthurs dürfte auch in diesen Fällen die Heilung der Wunden voraussetzen, die er in seiner letzten Schlacht empfangen hatte. Das Heilungsmotiv wird entsprechend in einer Vielzahl von Stellen aufgegriffen: Die Vita Merlini räumt ihm eine zentrale Rolle bei der Charakterisierung Morgens ein; im Draco Normannicus wird Arthur durch seine Schwester Morgain von seinen Wunden geheilt und unsterblich gemacht; der Brut des Layamon erwähnt, dass kein Britannier an den Tod Arthurs glaube, da Arthur nach seiner schweren Verwundung selbst gesagt habe, dass seine Wunden auf der Insel Avalon mit einem heilenden Balsam geheilt werden würden; in zwei Werken des Chrétien de Troyes – im Erec und im Yvain – werden Heilsalben erwähnt, die von Morgain hergestellt worden sind und die jede Verletzung des Körpers oder des Geistes zu heilen vermögen; und im DidotPerceval erscheint Avalon als ein Ort, wo nicht nur Arthur Heilung findet, sondern
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wo sogar eine Frau geheilt werden kann, deren Eingeweide aus ihrem aufgeschlitzten Bauch herausgefallen sind und die an dieser Wunde gestorben ist. Auch die sizilianische Variante Avalons kennt das Heilungsmotiv: Gervasius von Tilbury in seinen Otia imperialia kennt eine Tradition, wonach Arthurs Wunden jährlich wieder aufbrechen und von Morgain geheilt werden; eine Variante dieses Motivs siedelt er ausdrücklich auf dem Ätna an. Noch expliziter findet sich die Heilung Arthurs im sizilianischen Avalon in Floriant et Florete: Dort wartet Morgain darauf, ihren Bruder Arthur aufzunehmen, wenn er dereinst tödlich verwundet werden wird. Daneben existieren einige Texte, die der bretonischen Vorstellung von der Wiederkehr Arthurs demonstrativ kritisch gegenüberstehen. So referiert der Roman de Brut des Wace den britannischen Glauben an Arthurs bevorstehende Rückkehr, betont jedoch ausführlich, wie zweifelhaft diese Vorstellung ist. Noch brüchiger wird die Vorstellung von Arthurs Heilung nach der „Entdeckung“ der Gebeine Arthurs durch die Mönche von Glastonbury im Jahre 1191. Giraldus Cambrensis folgt ganz der Fassung der Ereignisse, wie sie von der Abtei Glastonbury propagiert wurde, und lehnt die Vorstellung von der Heilung Arthurs aufs Schärfste ab: Arthur wurde seiner Auffassung nach nicht geheilt, sondern starb und wurde in Glastonbury begraben. Auch in den späteren Texten Perlesvaus und La Mort le Roi Artu, dem Abschluss des Lanzelot-Graal-Zyklus, wurde das Ende Arthurs in unmittelbarem Anschluss an die Version der Mönche von Glastonbury erzählt. Selbst spätmittelalterliche Literaturwerke wollten sich der Faszination des Heilungsmotivs jedoch nicht immer entziehen.¹⁷⁰⁸ Die Gesta regum Britanniae kehren wieder zur Vorstellung zurück, dass Arthur geheilt wurde: Die Herrin von Avalon ist in diesem Text eine edle Jungfrau, die sich durch ihre Heilkunst auszeichnet (medicine nobilis arte) und die Arthur heilt und danach mit ihm zusammenlebt. In der Bataille Loquifer wird Avalon als eine prächtige Stadt gezeichnet, deren Mauern aus einem einzigen Stein bestehen – und ihre bloße Berührung führt zur vollständigen Heilung einer jeden Wunde. Auch außerhalb der im engsten Sinne arthurischen Literatur wurde das Motiv der Anderwelt als Ort übernatürlicher Heilung aufgegriffen: Im Guigemar – dem einzigen unter den oben besprochenen Lais, in dem die Elfenfrau zu einer menschlichen Königin euhemerisiert ist – erscheint auch das Motiv der Heilung durch die (vermenschlichte) Königin des Landes jenseits des Meeres. Dem irischen Land der Frauen fehlt eine explizite Verbindung mit dem Heilungsmotiv im engeren Sinn, d. h. mit der Heilung von Leiden und Verletzungen derjenigen, die in die Anderwelt der Frauen gelangen. Weder Bran (in Immram Brain) noch Connlae (in Echtrae Chonnlai) oder Cú Chulainn (in Serglige Con Culainn) bedürfen einer Heilung – wenn man davon absieht, dass Cú Chulainn in Serglige Con Culainn durch die anderweltlichen Frauengestalten von der Schwäche geheilt wird, die zuvor durch deren eigene Misshandlung des Helden verursacht worden war. Diese Margi-
1708 Vgl. Wade 2011, S. 17 f.
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nalität des Heilungsmotivs ist in unmittelbarem Zusammenhang mit der narrativen Struktur der einschlägigen Texte zu sehen: Diese Texte entsprechen dem Schema der bretonischen Lais, in denen eine amouröse Anderweltsfrau einen Helden in ihre Anderwelt lockt, wo er zu ihrem Geliebten wird; eine Heilungsszene hat in diesen Texten keinen Platz, weil in Ermangelung einer vorangegangenen Verletzung für sie kein Bedarf besteht. Nichtsdestoweniger wird auch in der frühmittelalterlichen Literatur Irlands deutlich gemacht, dass es sich beim Land der Frauen um eine Anderwelt handelt, die von körperlichem und gesundheitlichem Heil geprägt ist. Denn das Land der Frauen von Immram Brain ist ein Land ohne Wunden und ohne Krankheit (§ 10):¹⁷⁰⁹ Cen brón, cen dubai, cen bás, cen nach galar, cen indgas: is ed etargnae nEmnæ, ní comtig a comamræ.¹⁷¹⁰ Ohne Leid, ohne Trauer, ohne Tod, ohne irgendeine Krankheit, ohne Kraftlosigkeit: Das ist die Bedeutung von Emain. Ein Wunder, das ihm gleicht, ist nicht häufig.
In diesen Zusammenhang dürfte auch der heilende insulare Apfelhain in Immram Curaig Ua Corra gehören: Dort erscheint eine „Apfelinsel“, durch die ein Fluss von Wein fließt; nach dem Genuss der Äpfel und des Weins dieser Insel finden sich die Uí Chorra frei von Krankheit und Wunden. Eine wichtige Parallele zur Heilung Arthurs auf Avalon ist schließlich noch die eben erwähnte Heilung Fróechs – die zwar nicht auf einer Insel stattfindet, aber immerhin durch eine Gruppe anderweltlicher Frauen durchgeführt wird. Die irische Anderwelt (nicht nur, aber auch in ihrer Form als insulares Land der Frauen) zeigt in prominenten Zeugnissen dieselbe enge Assoziation mit Heilung oder der Abwesenheit von Krankheit und Wunden, wie sie für die arthurischen Erzählungen von Avalon typisch ist. Unter den antiken Zeugnissen für keltische sakrale und mythische Inseln weist nur die Insel Sena einen betonten Charakter als Heilort auf. Bei Sena handelt es sich jedoch um ein Inselheiligtum, nicht um eine Anderweltsinsel. Die Beschreibung dieser Insel kann daher nur unter größtem Vorbehalt als möglicher Reflex zeitgenössischer Anderweltsvorstellungen betrachtet werden.¹⁷¹¹
1709 Vgl. oben S. 268. 1710 Text: MacMathúna 1985, S. 35. 1711 Siehe oben S. 461 f.
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[6] Unsterblichkeit und [7] anderweltlicher Zeitfluss Arthur entgeht auf Avalon dem Tod durch die Wunden, die er in der Schlacht von Camlann empfangen hat; dass er sich auf Avalon jedoch tatsächlich der Unsterblichkeit erfreut (und nicht nur einer zeitweisen Rettung) wird keineswegs immer explizit ausgesprochen. Die Vita Merlini verspricht den Bewohnern von Avalon eine Lebensspanne von hundert und mehr Jahren – aber keine Unsterblichkeit. Die vielen, im vorangegangenen Abschnitt teilweise eben nochmals kurz erwähnten Literaturstellen, denen zufolge Arthur dem Tod entgeht und bis zu seiner Rückkehr in Avalon weilt, gehen zumeist nicht explizit auf die Frage ein, inwieweit Arthur sich in Avalon tatsächlich der Unsterblichkeit erfreut – oder ob er vielmehr aus dem Zeitverlauf der menschlichen Welt heraustritt. Denn daraus, dass in der Gegenwart des Hochmittelalters noch immer auf die Rückkunft eines Helden des 6. Jahrhunderts gewartet werden konnte, ergeben sich für die Auffassung der Lebenszeit dieses Helden zumindest zwei grundsätzliche Möglichkeiten: Die eine Möglichkeit ist, dass Arthur auf Avalon unsterblich gedacht war und ihm das Verstreichen der Jahrhunderte daher nichts anhaben konnte; die andere Möglichkeit ist, dass Arthur – wie der Held des Guingamor – als dem menschlichen Zeitverlauf entrückt gedacht war und selbst überhaupt nicht dessen gewahr wurde, wie die Zeit der menschlichen Welt an ihm vorüberging. Logisch betrachtet würde die Vorstellung der Rückkehr Arthurs vor dem Hintergrund der Handlung des Guingamor implizieren, dass Arthur tatsächlich unsterblich ist; denn ein Held, der nicht unsterblich ist, kann nicht in die menschliche Welt zurückkehren, da ihn die verstrichenen Jahrhunderte bei seinem Wiedereintritt in die menschliche Zeit schlagartig einholen würden. Eine solche logische Argumentation ist in Anbetracht des fiktionalen Charakters der matière de Bretagne jedoch nicht statthaft. Immerhin finden sich vereinzelte Literaturstellen, die Arthur auf Avalon explizit die Unsterblichkeit zuschreiben. Der früheste entsprechende Beleg ist wohl der Draco Normannicus des Étienne de Rouen, wo Morgain ihren Bruder Arthur heilt „und unsterblich macht“ (perpetuumque facit), und die Gesta regum Britanniae vermerken allgemein, aber deutlich, dass auf Avalon das Alter keine Macht habe. Auch impliziert die Erzählung von Arthur im Ätna in den Otia imperialia, dass Arthur dort in den Zeitfluss der menschlichen Welt eingebunden bleibt und somit eher unsterblich als der Zeit entrückt ist. Noch deutlicher ist dies in Floriant et Florete: Dort verkündet Morgain ausdrücklich, dass in ihrer Burg niemand sterben kann; ihr Reich ist somit ein wahres Reich der Unsterblichkeit. Tendenziell dürfte Avalon daher zumeist wohl als Unsterblichkeitsinsel aufgefasst worden sein – auch wenn die Feen der Bataille Loquifer den Aufenthalt Renoarts auf Avalon ausdrücklich auf den Rest seines Lebens beschränken.¹⁷¹² Die zweischneidige Entrückung aus dem menschlichen Zeitfluss, wie sie im Guingamor beschrieben wird, scheint typischerweise nicht mit Avalon verbunden gewesen zu sein.
1712 V. 3636, siehe oben S. 244.
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Das irische Land der Frauen ist ausdrücklich ein Land der Unsterblichkeit – solange der Held nicht versucht, aus der Anderwelt in die Welt der Menschen zurückzukehren. Sowohl in Immram Brain als auch in Echtrae Chonnlai wird den jeweiligen Helden von der anderweltlichen Frauengestalt die Unsterblichkeit an deren Seite versprochen. Zugleich wird in Immram Brain jedoch auch deutlich gemacht, dass es sich bei der Reise in die Anderwelt um eine Reise ohne Wiederkehr handelt: Als Bran sich von seinen Gefährten zur Rückfahrt nach Irland überreden lässt, zerfällt derjenige von seinen Männern, der seinen Fuß auf irischen Boden setzt, sofort zu Staub, als hätte er Jahrhunderte im Grab gelegen. Dieses Motiv des spezifischen anderweltlichen Zeitflusses, der sich vom Zeitfluss in der Welt der Menschen grundlegend unterscheidet, findet sich in der irischen Literatur immer wieder. In der Navigatio Sancti Brendani verliert der Besucher des paradisus Dei in spacio maris auf der Paradiesinsel jegliches Zeitgefühl (und hierher mag auch gehören, dass Brendan kurz nach seiner Rückkehr stirbt); in Tochmarc Becḟola nimmt eine zweitägige Reise zu einer Anderweltsinsel nicht mehr Zeit in Anspruch, als der König an einem Sonntagmorgen im Bett verbringt; in der Historia de Enoch et Elia altern die seereisenden Kleriker bei ihrer Rückkehr vom irdischen Paradies auf einen Schlag um Jahrhunderte. Das anderweltliche Versprechen der Unsterblichkeit scheint im Allgemeinen fest an die Bedingung geknüpft, dass diese Unsterblichkeit in der Anderwelt genossen und kein Versuch einer Rückkehr in die Welt der Menschen unternommen wird. Hierin entspricht die irische Anderweltskonzeption in vielen ihrer Varianten genau derjenigen des bretonischen Lais Guingamor: In beiden Fällen bietet die Anderwelt dem Helden ein Leben im Paradies, aber keine Rückkehr. Diese Verbindung markiert einen grundsätzlichen Unterschied zwischen der Behandlung des Themas in der matière de Bretagne und in der irischen Literatur: In Irland ist die Verbindung der Unsterblichkeit im Land der Frauen mit der Eigentümlichkeit des Zeitflusses der Anderwelt fest etabliert; in der matière de Bretagne bleibt diese Verbindung nur ausnahmsweise in den bretonischen Lais bestehen, während die Avalon-Erzählungen das Motiv der Unsterblichkeit vom Motiv des spezifisch anderweltlichen Zeitflusses entkoppeln. Die antiken Quellen enthalten das Motiv des spezifisch andersartigen Zeitflusses der Anderwelt in Prokops Bericht von den Seelenfährmännern am Ärmelkanal: Die Fischer, die die Seelen über den Kanal übersetzen, brauchen dafür nur eine Stunde – während dieselbe Strecke unter normalen Umständen einen Tag und eine Nacht in Anspruch nimmt. Damit wird für dieses Element mit – in Anbetracht der Materiallage – ungewöhnlicher Deutlichkeit eine zumindest bis in die Spätantike reichende longue durée nahegelegt. Für die Auffassung einer Anderweltsinsel als Unsterblichkeitsgefilde fehlen hingegen antike keltische Belege.
[8] Prophetie Die Vita Merlini beschreibt die Herrinnen der „Apfelinsel“ als Astrologinnen, d. h. als Frauen, die von der Zukunft Kunde haben. Dieser Zug ist in der Literatur insgesamt
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gesehen marginal. Ferner ist zu bedenken, dass es sich bei Geoffreys Zuschreibung von Zukunftswissen an die Herrinnen von Avalon um ein Motiv handelt, das zu den auffallenden Parallelen zwischen der Beschreibung Avalons in der Vita Merlini und der Beschreibung des Inselheiligtums Sena bei Pomponius Mela zählt; da mit der Möglichkeit einer direkten literarischen Abhängigkeit der Vita Merlini von Pomponius Melas De chorographia zu rechnen ist, mag es sich beim prophetischen Zug der Herrinnen von Avalon somit nur um eine rein literarische Schöpfung Geoffreys handeln. In der irischen Literatur findet dieser prophetische Zug eine entfernte Parallele darin, dass die Anderweltsfrauen von Echtrae Chonnlai und Immram Brain als Prophetinnen des kommenden Christentums auftreten. Dieser entfernten Übereinstimmung ist jedoch schon in Anbetracht der problematischen Stellung des prophetischen Elements in der Avalon-Literatur kaum Bedeutung beizumessen – selbst wenn man von der Frage absieht, inwieweit für das christlich-prophetische Element im Charakter der irischen Anderweltsfrauen überhaupt ein traditioneller Hintergrund mit Wurzeln in der vorchristlichen Mythologie Irlands anzunehmen ist. In jedem Fall stellt das Element der „Zukunftskunde“ als Vergleichspunkt zwischen übernatürlichen Gestalten verschiedener Mythologien einen Vergleichspunkt von nur sehr beschränkter Signifikanz dar: Solches übermenschliches Wissen ist ein potentiell trivialer Zug, der den meisten übermenschlichen Gestalten zukommen dürfte und daher als Parallele zwischen zwei Arten von Wesen kaum Gewicht hat. Nur der Vollständigkeit halber erwähnt sei, dass auch die antiken Zeugnisse keine schlüssigen Belege für die Auffassung einer Anderweltsinsel als Ort prophetischer Offenbarung enthalten. Sena wird zwar in aller Deutlichkeit als Orakelinsel beschrieben, kann aber nur unter größtem Vorbehalt – wenn überhaupt – herangezogen werden, um zeitgenössische Anderweltsvorstellungen zu rekonstruieren.¹⁷¹³ Die Kronosinsel des Plutarch wird in deutlicherer Weise als eine anderweltliche Orakelinsel beschrieben; allerdings ist das Motiv der Orakelinsel in Griechenland zu weit verbreitet, um ihm im Kontext von Plutarchs Schilderung notwendigerweise große Glaubwürdigkeit beizumessen.¹⁷¹⁴ Dies gilt umso mehr, als dieses Element nur in der längeren, zutiefst literarisch geprägten der beiden plutarchschen Beschreibungen der Kronosinsel enthalten ist.
[9] Glas/Glanz/Kristall In der Geschichte der Forschung wurde wiederholt auf die Parallele zwischen den Glæsisvellir als den „glänzenden Gefilden“ einerseits und der arthurischen „Glasinsel“ andererseits hingewiesen. Dem entspricht beim Vergleich zwischen dem arthurischen und dem irischen Material, dass der arthurischen „Glasinsel“ in der irischen
1713 Siehe oben S. 461 f. 1714 Siehe oben S. 409.
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Literatur einzelne „kristallene“ Elemente gegenüberstehen: So reist Connlae in Echtrae Chonnlai in einem kristallenen oder gläsernen Schiff (long glano) in das Land der Frauen,¹⁷¹⁵ dem in anderen Texten ein bronzenes Schiff oder Boot entspricht; in der Navigatio Sancti Brendani und in den immrama tauchen wiederholt kristallene oder silberne Säulen im Meer auf; und in der Anderwelt können kristallene Bäume wachsen.¹⁷¹⁶ Dies mag sich als Indiz dafür werten lassen, dass auch die arthurische „Kristallinsel“ in einem gewissen Maße auf vorchristliche mythologische Motive zurückgreift. Eine ganz andere Frage ist jedoch die Identität dieser „Glasinsel“ mit der „Apfelinsel“ Avalon. Oben wurde bereits ausführlich gezeigt, dass die Gleichsetzung der „Apfelinsel“ mit der „Glasinsel“ wohl erst eine Folge der „Entdeckung“ von Arthurs Grab in Glastonbury und der damit implizierten Identifizierung Glastonburys mit Avalon war. Die Gleichung „Apfelinsel“ = „Glasinsel“ ist somit wohl sekundär und erst auf das Jahr 1191 zu datieren. Für die Frage nach den mythologischen Wurzeln des AvalonMotivs ist diese Parallelsetzung daher irrelevant.¹⁷¹⁷ Dies bleibt auch davon unberührt, dass in Anbetracht der antiken Zeugnisse für nordwesteuropäische Bernsteininseln eine long durée des „Kristallinsel“-Motivs nicht auszuschließen ist. * ** Tritt man vom detaillierten Vergleich zwischen der arthurischen „Apfelinsel“ Avalon und dem Land der Frauen der frühen irischen Literatur nun einen Schritt zurück und bemüht sich um eine Zusammenschau und Bewertung dieses Vergleichs, so lässt sich vielleicht Folgendes festhalten: Trotz Unterschieden in verschiedenen Details bestehen zwischen Avalon und dem Land der Frauen insgesamt erhebliche Ähnlichkeiten in Hinblick auf [1] die Konzeptualisierung der Anderwelt als Insel; [2] die spezifische Auffassung dieser Anderweltsinsel als Apfelinsel; [3] die Herrschaft anderweltlicher Frauen über diese Apfelinsel; [4] die dezidiert sexuelle Beziehung zwischen Held und Anderweltsfrau in zumindest einem von zwei auf anderweltliche Inseln der Frauen bezogenen Erzählungstypen; [5] die Assoziation der fraglichen Inseln mit Heilung, Gesundheit und körperlichem Wohlergehen; [6] die Möglichkeit, auf diesen Inseln der Unsterblichkeit teilhaftig zu werden; und [7] die charakteristische Andersartigkeit des Zeitflusses der Anderwelt. Kaum signifikant waren Parallelen zwischen irischem und arthurischem Material, die sich auf [8] den Zugang der anderweltlichen Frauen zu übernatürlichem Wissen bezogen. Als Vergleichspunkt gänzlich hinfällig ist der forschungsgeschichtlich wichtige Komplex [9] „Glas/Glanz/Kristall“. Trotz der Abstriche, die in Hinblick auf die beiden letzteren Punkte zu machen sind, bestehen somit erhebliche Ähnlichkeiten zwischen dem irischen Land der
1715 Vgl. Heizmann 2002, S. 530; Heizmann 1998, S. 92. 1716 Für die „Kristallbäume“ siehe oben S. 327, 347 f. 1717 Siehe oben S. 225-230.
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Frauen (und verwandten Komplexen) und der arthurischen „Apfelinsel“ Avalon. Diese Ähnlichkeiten sind so eng, dass sie als Hinweis auf einen konkreten historischen Zusammenhang zwischen diesen beiden Motivkomplexen zu werten sein dürften.¹⁷¹⁸ Zugleich ließ sich festhalten, dass sich in den antiken Zeugnissen zu keltischen Anderweltsinseln und verwandten Phänomenen zwar verschiedene Einzelzüge des von Irland und der arthurischen Literatur geteilten Motivkomplexes wiederfanden, eine wirklich zwingende Übereinstimmung jedoch nicht festzustellen war. Die auffallendsten Parallelen zur mittelalterlichen Überlieferung fanden sich in Form der Bernsteininsel Abalum(?), die den Namen und den paradiesischen Charakter Avalons enthalten könnte, in Prokops Erwähnung der Andersartigkeit des anderweltlichen Zeitflusses und in der Priesterinneninsel Sena bei Pomponius Mela. Unter diesen Zeugnissen galt die Priesterinneninsel Sena aufgrund ihrer detaillierten Parallelen zur insula pomorum der Vita Merlini bis in jüngste Zeit als ein zwingender Beleg für eine antike Vorgeschichte des Avalon-Motivs; wie eine Neubetrachtung des Materials gezeigt hat, sind diese engen Übereinstimmungen jedoch wohl als literarische Zitate zu deuten und als Beleg für das Alter der Avalon-Vorstellung damit hinfällig. Bestehen bleiben so nur einige allgemeine Übereinstimmungen zwischen Sena und dem Avalon-Komplex: die Verbindung einer Insel mit Frauengestalten, deren übernatürliche Kräfte und ihre Heilkunst. Insbesondere da es sich bei Sena nicht um eine Anderweltsinsel handelt, sondern um ein Inselheiligtum, können diese Parallelen nicht mehr als die Möglichkeit einer bis in die Antike reichenden longue durée des Motivkomplexes „Avalon/Land der Frauen“ erweisen.
7.2.3 Avalon und das Land der Frauen: Möglichkeiten einer Verhältnisbestimmung Oben wurde bereits darauf hingewiesen, dass nicht nur in Hinblick auf die Insel Avalon und das Land der Frauen mitunter schlagende Parallelen zwischen irischen Erzählmotiven und Motiven der arthurischen Literatur bestehen, sondern auch in einigen weiteren Fällen, die vom Motiv der „Jagd auf den weißen Hirsch“ bis zur
1718 Neu hieran ist natürlich nicht diese Schlussfolgerung, sondern „nur“ ihre in dieser Form bisher fehlende ausführliche Begründung. Für Autoren, die – zumeist mehr oder weniger en passant – die wahrscheinlich keltische Verwurzelung des Avalon-Motivs betonen, vgl. etwa Simek 2012, S. 30; Birkhan 2009 (Keltenrezeption), S. 80 f., 153; Sterckx 2006, S. 309; Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 166; Walter 2004, S. 70 f., 151–170, 211 passim; Maier 2001/02, S. 154; Marco Simón 1997, S. 500 f.; Ashe 1996; Maier 1994, S. 33; Bromwich 1991, S. 285 f.; Harf-Lancner 1984, S. 250; Dumville 1976, S. 82; BullockDavies 1969, S. 137 f.; Loomis 1959 (Legend), S. 71; Knott 1926, S. 215; Meyer 1912 (Pokorny), S. 194; MacCulloch 1911, S. 369; Lot 1898, S. 563 et passim. Die bisher ausführlichste Diskussion der Frage wurde vorgelegt von Chotzen 1948.
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Gralslegende reichen mögen.¹⁷¹⁹ Die Existenz solcher Übereinstimmungen hat schon früh die Frage nach sich gezogen, wie genau das Verhältnis zwischen der irischen Literatur und der matière de Bretagne zu bestimmen sei. Rachel Bromwich fasste den Forschungsstand hierzu vor etwa einer Generation folgendermaßen zusammen – und unterwarf diesen damaligen Forschungsstand dabei zugleich einer scharfen Kritik: Owing to the fact that a considerable number of parallels undoubtedly do exist between [the story-themes of Arthurian romance] and themes which occur in early Irish tales, there has been a widespread view held among Arthurianists that the majority of such themes are of Irish origin, and that they passed over from Ireland into Britain, to be transferred again by the Welsh and Cornish to the Normans and French. But this is extremely improbable [...].¹⁷²⁰
Als einen wesentlichen Grund für die (nach Bromwichs Auffassung) verfehlte Ansicht, dass arthurische Erzählmotive in Irland ihren Ursprung genommen hätten, dann von Irland nach Großbritannien weitergereicht und dort schließlich in die Arthursage integriert worden seien, sieht Bromwich den wesentlich geringeren Umfang der erhaltenen walisischen Literatur im Vergleich zur großen Menge der erhaltenen irischen Literatur. Das sehr ungleiche Verhältnis in der Menge der überlieferten Texte und das damit einhergehende Fehlen von walisischen Belegen für viele arthurische Erzählmotive hätte weiten Teilen der Arthurforschung suggeriert, dass die entsprechenden Motive in der walisischen Literatur nicht vorhanden gewesen seien. Hierin sieht Bromwich jedoch eine fundamentale Fehleinschätzung, die den wesentlich mündlichen Charakter der walisischen Literatur übersehe: Auch das mittelalterliche Wales verfügte nach Bromwichs Auffassung über die entsprechenden Erzählungen – nur wurden sie dort in einem sehr viel geringeren Maße als in Irland schriftlich festgehalten. Der wesentliche Unterschied zwischen Irland und Wales hätte somit nicht im Vorhandensein von arthurischen Erzählmotiven bestanden, sondern im Grad der Verschriftlichung der entsprechenden Narrative.¹⁷²¹ Als Alternative zur Annahme einer Entlehnungskette, die in Irland ihren Ausgang nimmt und in der arthurischen Literatur endet, vertritt Bromwich die Auffassung, dass von einem allen keltischen Völkern gemeinsamen Fundus von Erzählmotiven auszugehen sei: „we should think far more in the terms of a common fund of narrative themes which were once shared among all the Celtic peoples and moved about freely among them“.¹⁷²² Gerade für die ‚mythologischen‘ Erzählmotive, die sowohl in der arthurischen Literatur als auch in der irischen Literatur wiederkehren, sieht Bromwich eine Verbindung, die nicht über eine irisch-britisch-arthurische Entlehnung, sondern über diesen „keltischen“ Fundus von Erzählmotiven verläuft, der Iren und Walisern gemein war, aber nur in Irland
1719 Siehe oben S. 451 ff. 1720 Bromwich 1983, S. 50. 1721 Bromwich 1983, S. 50; vgl. Bromwich 1991, S. 285. 1722 Bromwich 1983, S. 51, vgl. ibidem S. 52; Bromwich 1991, S. 285; Bromwich 1965, S. 215.
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schriftlich festgehalten wurde. In einem etwas früheren Aufsatz schrieb Bromwich entsprechend: Themes of mythological origin were common to both branches of the Celtic peoples, but those which recur in Arthurian romance can for the most part be illustrated more fully from Irish than from Welsh sources [...].¹⁷²³
Dieser Auffassung zufolge, die Bromwich auch in späteren Jahren weiter vertrat,¹⁷²⁴ liegen die Entsprechungen zwischen irischen und arthurischen Motiven darin begründet, dass sowohl die irische als auch die arthurische Literatur auf ein inselkeltisches, von den Sprechern der gälischen und den Sprechern der britannischen Sprachen gleichermaßen geteiltes Erbe zurückgreifen.¹⁷²⁵ Im Fall der arthurischen Literatur sei dieser Rückgriff durch eine britannische Erzähltradition vermittelt, die selbst jedoch nicht erhalten ist, da sie nie in einem Maße schriftlich fixiert wurde, das der vergleichsweise weitgehenden Verschriftlichung irischer Erzählungen vergleichbar wäre. Die Auffassung, die von Bromwich so entschieden abgelehnt wird, war mit Bromwichs Urteil jedoch keineswegs begraben. Ungeachtet der Proteste Bromwichs stellt die Annahme einer irisch-britannisch-arthurischen Kette von Entlehnungen nach wie vor ein Modell zur Erklärung irisch-arthurischer Motivübereinstimmungen dar, das auch von der jüngsten Forschung noch herangezogen wird. Vor wenigen Jahren veröffentlichte John Carey eine ausführliche Monographie, die sich zum ersten Mal seit mehreren Jahrzehnten im Detail mit der Frage nach den keltischen Wurzeln der Gralssage auseinandersetzte.¹⁷²⁶ Careys Analyse kam dabei zu dem Schluss, dass nahezu alle Kernelemente der Gralssage, wie sie uns in den frühesten altfranzösischen Zeugnissen entgegentritt, ihr Gegenstück in verschiedenen irischen Texten fanden, die insbesondere in einer berühmten verlorenen Handschrift enthalten waren: der Handschrift Cín Dromma Snechtai.¹⁷²⁷ Diese Handschrift schreibt Carey dem 8. Jahrhundert zu und datiert sie damit früh genug, um sie und ihr Umfeld als Quelle für die weitere Entwicklung der Gralslegende betrachten zu können.¹⁷²⁸ Die fraglichen irischen Erzählmotive, wie sie in Cín Dromma Snechtai verarbeitet waren, hätten im frühen 9. Jahrhundert im Gepäck eines irischen Gelehrten (oder mehrerer irischer Gelehrter) ihren Weg nach Wales gefunden. In Wales seien die entsprechenden Geschichten rezipiert worden und seien dort in Texten wie den Vier Zweigen des Mabinogi und dem Gedicht Preiddeu Annwn fassbar. Von Wales seien die Gralsmotive daraufhin nach Frankreich
1723 Bromwich 1965, S. 216. 1724 Vgl. Bromwich 1991, S. 285. 1725 Zum Stammbaum der inselkeltischen Sprachen vgl. oben S. 261. 1726 Carey 2007 (Grail). 1727 Vgl. oben S. 339. 1728 Vgl. oben S. 339.
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vermittelt worden. Carey versucht für diesen Schritt sogar, der für die Vermittlung der Gralsmotive nach Kontinentaleuropa verantwortlichen Person tentativ einen Namen zu geben: Eine Fortsetzung von Chrétiens Conte del Graal erzählt, dass ein Waliser mit dem Namen Bleheris in Poitiers eine Geschichte erzählt habe. Carey zieht für diesen Bleheris – wenn auch unter Vorbehalten – eine Identifizierung mit Bleddri ap Cadifor in Erwägung, der in den ersten Jahrzehnten des 12. Jahrhunderts über große Teile von Dyfed in Südwales herrschte. Das Erzählgut des Bleheris/Bleddri, das Carey aufgrund verschiedener Indizien als u. a. eine Gralsgeschichte deutet, sei dann schriftlich niedergelegt worden, und Philip von Elsass hätte das resultierende Buch schließlich an Chrétien de Troyes weitergegeben. Dieser letzte Schritt der Motivübermittlung – das von Philip an Chrétien überreichte Buch – kann sich dabei auf eine Aussage stützen, die Chrétien selbst in seinem Gralsroman macht. Careys Rekonstruktion der Frühgeschichte des Grals wurde von der Forschung sehr unterschiedlich aufgenommen. Jimmy P. Miller, Craig R. Davis und Matthieu Boyd bewerten Careys Vorschläge und Herangehensweise in höchstem Maße positiv;¹⁷²⁹ Jessica Hemming hebt insbesondere Careys Vorschläge zu den Mechanismen der Vermittlung des Gralsmotivs von Irland über Wales bis in die altfranzösische Literatur als gut ausgearbeitet und weitgehend überzeugend hervor, distanziert sich jedoch zugleich von verschiedenen Einzelargumenten;¹⁷³⁰ David Krätzer steht der Tragfähigkeit von Careys Rekonstruktion trotz einer grundsätzlich positiven Einschätzung des Werts seines Buches eher skeptisch gegenüber;¹⁷³¹ und Antone Minard lehnt Careys Thesen mit allem Nachdruck ab.¹⁷³² Das letzte Wort zur Frage der keltischen Wurzeln des Grals dürfte somit nach wie vor nicht gesprochen sein, und in Anbetracht der fragmentarischen Materiallage mag auch in Zukunft kein Konsens über diese Frage erreicht werden. Im gegenwärtigen Zusammenhang würde es zu weit führen, eine detaillierte Bewertung von Careys Vorschlägen zu versuchen; zitiert wurde Careys Arbeit hier nur aufgrund ihrer Implikationen für die Frage nach den keltischen Wurzeln des Avalon-Mythos. Denn in Hinblick auf das Verhältnis zwischen dem Avalon der arthurischen Literatur und dem irischen Land der Frauen ist Careys Herleitung der Gralssage aus zwei miteinander verbundenen Gründen von Interesse: Zum einen illustriert sie, dass –
1729 Miller 2008; Davies 2009; Boyd 2009. 1730 Hemming 2010, S. 114: „I found the historical arguments concerning possible routes of transmission very well worked out and quite convincing“, aber auch: „occasionally the argument seems either a little too tortuous, or else stretched just a little too far“ (ibidem). 1731 So äußert Krätzer sich folgendermaßen zu Careys Argumentation (Krätzer 2009–2010, S. 192): „Viele dieser Argumente sind dabei, wie der Autor selbst einräumt, nicht mehr als ‚guesswork, and sketchy guesswork at that‘ (S. 349)“; dabei hält Krätzer es für eine „Tatsache, dass nicht wenige seiner Thesen Widerspruch von Seiten der Keltologie oder der Romanistik hervorrufen dürften und letzten Endes wohl nicht belegbar sein werden“ (ibidem). 1732 Minard 2010.
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Bromwichs heftiger Ablehnung zum Trotz – die Hypothese einer rein literarischen Vermittlung irischer Erzählmotive nach Wales und von dort in die arthurische Literatur nach wie vor diskutiert wird; dabei dürfte Careys ungemein detailreiche Arbeit zumindest aufgezeigt haben, dass der von ihm vorgeschlagene literarische Vermittlungsweg von Irland über Wales in die altfranzösische arthurische Literatur zumindest eine ernstzunehmende Möglichkeit darstellt (ob man sich nun davon überzeugen lässt oder nicht, dass diese Möglichkeit auch tatsächlich wahrscheinlich ist). Zum anderen bezieht Careys Fokus auf die Cín Dromma Snechtai-Texte auch zwei der zentralsten irischen Zeugnisse für das Land der Frauen mit ein: Echtrae Chonnlai und Immram Brain, die Carey beide dieser verlorenen Handschrift zuschreibt.¹⁷³³ Falls Carey mit seinem Vorschlag recht hat, dass das von den Cín Dromma SnechtaiTexten repräsentierte Erzählgut im Gepäck irischer Gelehrter seinen Weg nach Wales und von dort in die arthurische Literatur gefunden habe, besteht zumindest auf den ersten Blick keine Notwendigkeit mehr für die Annahme, dass die Mythologien des Landes der Frauen einerseits und Avalons andererseits jeweils unabhängig voneinander auf ein gemeinsames inselkeltisches Substrat zurückverweisen: Das Land der Frauen könnte dann als Teil der Cín Dromma Snechtai-Erzählungen Echtrae Chonnlai und Immram Brain auf demselben Weg in die arthurische Literatur gelangt sein, den Carey für den Gral vorschlägt. Ein Element von Careys Argumentation, zu dem sich sowohl Boyd als auch Minard kritisch äußern, ist Careys starke Betonung der literarischen Vermittlung durch individuelle Texte und Personen. So merkt Boyd an, dass Careys Vorschlag einer Motivvermittlung durch den Waliser Bleheris/Bleddri sich durch eine elegante Einfachheit auszeichnet; zugleich warnt Boyd jedoch auch davor, die keltischen Beiträge zur Grals- und Arthurlegende in ihrer Gesamtheit auf einen einzigen Vermittler zurückzuführen. Gegen eine solche Annahme verweist er auf die vielfältigen Kontakte, die Irland, Großbritannien, die Bretagne und Frankreich während des 12. Jahrhunderts miteinander verbanden; diese vielfältigen Kontakte legen für Boyd nahe, dass keltische Einflüsse die altfranzösische Literatur auf einer Vielzahl von Wegen erreicht haben.¹⁷³⁴ Eine ähnliche Stoßrichtung hat ein Kritikpunkt Minards: Minard wirft Carey eine Überbetonung der Vermittlung durch individuelle Texte vor, die in Minards Augen den Verdacht aufwirft, dass Carey der oralen Literatur zu wenig Gewicht beimesse.¹⁷³⁵
1733 Carey 2007 (Grail), S. 30, 37–40, 335 f. Vgl. oben S. 340 mit Anm. 1304. 1734 Boyd 2009, S. 81. 1735 Minard 2010, S. 122, bes.: „Carey goes out of his way to promote unlikely textual relationships over oral tradition, perhaps in part because he does not value orality sufficiently. On page 97 he says of the medieval Irish texts, ‘These narratives were not folktales, but part of the mental equipment of a man of learning.’ On the contrary, folktales were, in fact, part of the mental equipment of men of learning [...].“
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Zugunsten von Careys stark „buchorientiertem“ Zugang lässt sich immerhin anführen, dass Chrétien de Troyes selbst angibt, den Stoff für seinen Gralsroman einem Buch entnommen zu haben;¹⁷³⁶ damit liefert Chrétien eine Vorgabe, an die sich eine gelehrt-buchorientierte Vermittlung des Gralsmotivs zumindest elegant anschließen lässt. Wie ein solcher Vermittlungsweg spezifisch für das Gralsmotiv letztlich zu bewerten ist, kann hier nicht entschieden werden. Hier von Bedeutung ist allerdings der Hinweis Boyds und Minards, dass ein solcher Zugang nicht als ein allgemeines Erklärungsmodell für keltisch-arthurische Parallelen gelten kann. Denn dass eine mündliche Vermittlung von Erzählungen und Motiven für die Arthursage insgesamt eine kaum zu überschätzende Rolle gespielt hat, wurde im Vorangehenden (Kapitel 4) schon daran deutlich, wie oft das Material der matière de Bretagne als gerade mündliche Erzähltradition erschien: Hierher gehören etwa die ‚alten Ammenlieder‘ über die bevorstehende Wiederkehr Arthurs, die William von Malmesbury schon um 1125 verständnislos vermerkt;¹⁷³⁷ Hermann von Laons Bericht über die Prügelei vor der wundertätigen Statue der Maria von Laon kurz vor der Mitte des 12. Jahrhunderts;¹⁷³⁸ oder die wiederholte – und für das Genre namensgebende – Berufung altfranzösischer bretonischer Lais auf mündliche bretonische Vorlagen.¹⁷³⁹ Selbst Chrétien de Troyes beruft sich in einem seiner Werke auf eine mündliche Tradition: Im Prolog seines Erec gibt Chrétien kund zu wissen, dass er hier eine kunstvolle Behandlung eines Themas vorlege, welches ansonsten von professionellen Geschichtenerzählern in völlig inadäquater Weise malträtiert werde.¹⁷⁴⁰ Die Existenz einer solchen, schon beim Einsetzen der ersten erhaltenen Arthurtexte weithin populären Erzähltradition ist auch in der bildenden Kunst fassbar: In der Kathedrale von Otranto in Apulien wurde bereits im Jahr 1165 ein großes Bodenmosaik gelegt, das neben einer Vielzahl christlicher Motive auch König Arthur zeigt und durch die Beischrift Rex Arturus eindeutig identifiziert.¹⁷⁴¹ Noch älter dürfte die Archivolte der Porta della Pescheria der Kathedrale von Modena sein, die nach einer kontrovers geführten Forschungsdebatte heute in das zweite Viertel des 12. Jahrhunderts datiert wird (Abb. 27).¹⁷⁴² Die Reliefs dieser Archivolte zeigen mehrere Figuren, die durch ihre Namensbeischriften ausdrücklich der Arthursage zugeordnet werden, darunter Artus de Bretania und seine Frau Winlogee (=Guinevere); letztere wird dabei in einer Burg gefangen gehalten. Von beson-
1736 Vgl. Kibler 2004, S. 11. 1737 Siehe oben S. 194. 1738 Siehe oben S. 194. 1739 Siehe oben S. 210, 211. Vgl. Frappier 1978, S. 184 f., 204 f.; Lange 1972, S. 164 f. 1740 Vgl. Kibler 2004, S. 9. 1741 Stokstad 1996 (Otranto); Whitaker 1990, S. 88 f.; für eine Abbildung vgl. Stiennon und Lejeune 1963 Tafel XI (Abb. 24). 1742 Zur Datierung vgl. Stokstad 1996 (Modena), S. 325; Whitaker 1990, S. 52, 88; Stiennon und Lejeune 1963, S. 287. Allgemein vgl. Whitaker 1990, S. 52, 86–88, 91; Stiennon und Lejeune 1963; Patch 1950, S. 287–289; Loomis 1927 (Modena).
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Abb. 27: Die Archivolte der Porta della Pescheria der Kathedrale von Modena. Ca. 2. Viertel des 12. Jhs. © M. Egeler, 2013. Abgedruckt mit freundlicher Genehmigung der Kathedrale von Modena (Francesca Fontana).
derem Interesse ist an diesen Reliefs neben ihrer frühen Datierung, dass die in den Beischriften verwendeten Namensformen spezifisch bretonisch zu sein scheinen.¹⁷⁴³ Diese beiden monumentalen Darstellungen von Sujets der matière de Bretagne in Otranto und Modena illustrieren, dass das Material der Arthursage schon zur Abfassungszeit der ältesten erhaltenen normannischen Arthurtexte ungemein weit verbreitet war. Damit, und durch die vielleicht bretonischen Formen der Namensbeischriften in Modena, tragen das Bodenmosaik von Otranto und der arthurische Reliefschmuck der Kathedrale von Modena wesentlich dazu bei, die schon in den frühesten mittelalterlichen Zeugnissen immer wieder betonte Assoziation der Arthurüberlieferung mit einer populären bretonischen Erzähltradition plausibel zu machen. Für die Frage nach der Frühgeschichte der Insel Avalon ist dies sowohl von allgemeinem als auch von spezifischem Interesse. Allgemein impliziert die Bedeutung der bretonischen Erzähltradition für die matière de Bretagne – ganz im Sinne Bromwichs – eine mögliche Alternative zu einem Vermittlungsweg keltischer Motive, der deren Herkunft aus Irland und ihre Vermittlung über Wales annimmt: Bei den Bretonen handelt es sich um ‚Inselkelten auf dem Festland‘, die im Frühmittelalter aus Großbritannien in die
1743 Stokstad 1996 (Modena), S. 325; vgl. Whitaker 1990, S. 88; Loomis 1927 (Modena), S. 214, 222.
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Bretagne auswanderten; im Zuge dieser Wanderung könnten sie einheimisch-britannische, in einer ursprünglich inselkeltischen Mythologie verwurzelte Motive mit sich in die Bretagne gebracht und dort weiter überliefert haben, bis diese Motive schließlich in die matière de Bretagne Eingang fanden. Spezifisch für die Geschichte der Insel Avalon ist die Bedeutung der populären bretonischen Erzähltradition für die Frühphase der matière de Bretagne dabei nicht zuletzt deshalb relevant, weil Avalon und verwandte Formen eines arthurischen Landes der Frauen von zeitgenössischen Quellen explizit mit ebendieser Erzähltradition verbunden werden. So bezeichnet Gervasius von Tilbury die Entrückung Arthurs in insulam d’Aualum und seine dortige Heilung durch Morganda fatata um 1215 ausdrücklich als eine „gemeine Tradition der Britannier“ (uulgarem Britonum traditionem).¹⁷⁴⁴ Diese Aussage ist zwar relativ spät – immerhin datiert sie grob 80 Jahre nach der ersten Erwähnung Avalons in der Historia regum Britanniae des Geoffrey von Monmouth –, sie stimmt aber dazu, dass sich die wesentlich früheren Entrückungsgeschichten in den bretonischen Lais Graelent und Guingamor gleichfalls auf eine bretonische Tradition berufen.¹⁷⁴⁵ Hinzu kommt das Zeugnis der eben erwähnten Werke des William von Malmesbury und des Hermann von Laon: Nach diesen Autoren lässt sich die Popularität der Vorstellung von der Entrückung und bevorstehenden Wiederkehr Arthurs unter den Briten und Bretonen zumindest bis an den Anfang des 12. Jahrhunderts zurückzuverfolgen – und gehört damit zu den am frühesten fassbaren Motiven der matière de Bretagne. Eine explizite Verbindung mit Avalon wird von unseren Quellen für diese älteste Schicht der Überlieferung zwar nicht hergestellt; da Arthur sich zwischen seiner Entrückung und seiner erwarteten Wiederkehr jedoch in einem anderweltlichen Unsterblichkeitsgefilde aufhalten muss, wo er dem Tod und dem menschlichen Alterungsprozess entgeht, setzt diese Überlieferungsschicht zumindest ein genaues funktionales Äquivalent Avalons voraus. Dass dieses funktionale Äquivalent Avalons um 1100 bereits den Namen „Avalon“ trug, ist nicht explizit belegt, darf jedoch als wahrscheinlich gelten, da diese Benennung wenige Jahrzehnte später bei Geoffrey von Monmouth bereits fest etabliert zu sein scheint. Die von den mittelalterlichen Quellen so oft betonte populäre Komponente des Avalon-Motivs schließt somit aus, dass dieses Motiv erst ähnlich spät ein Teil der matière de Bretagne geworden wäre wie der Gral nach Careys Rekonstruktion. Dies ist von besonderer Bedeutung in Hinblick auf den oben kurz erwähnten Vorschlag, den kymrischen Namen Avalons, Ynys Afallach (wovon die isle d’Avalon wohl nicht mehr als eine ‚romanisierte‘ Form darstellen dürfte), als irisches Lehnwort zu erklären. Diese Theorie leitet afallach von irisch ablach („apfelreich“) ab, dem Epithet von Manannáns Anderweltsinsel Emain, dem Land der Frauen.¹⁷⁴⁶ Dass dieser Vorschlag
1744 Wade 2011, S. 45 (mit weiteren Belegen für die Assoziation zwischen den Bretonen und dem Glauben an Arthurs Wiederkehr); siehe oben S. 247. 1745 Siehe oben S. 210, 211. 1746 Siehe oben S. 256.
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auch der jüngsten Forschung noch gangbar schien,¹⁷⁴⁷ beruht letztlich jedoch vor allem darauf, dass die genaue Beleglage für die Fügung Emain ablach in der einschlägigen Diskussion bisher nie in der nötigen Ausführlichkeit untersucht wurde.¹⁷⁴⁸ Denn die in Kapitel 5 vorgelegte detaillierte Untersuchung der irischen Belege für das Land der Frauen zeigte deutlich, dass die Fügung Emain ablach in den frühen Zeugnissen nicht vorkommt. Der früheste Beleg für Emain ablach findet sich erst in Tochmarc Luaine; dabei handelt es sich um einen Text erst der 2. Hälfte des 12. Jahrhunderts. Die fragliche Passage wurde von Stokes zudem als eine Interpolation gedeutet; falls Stokes hier recht hat, würde dies eine noch spätere Datierung für den Erstbeleg von Emain ablach nahelegen.¹⁷⁴⁹ Weitere Belege für Emain ablach setzen erst um 1200 ein, und erst ab dieser Zeit scheint die Fügung tatsächlich geläufig zu werden.¹⁷⁵⁰ In Anbetracht der relativ guten Beleglage für das irische Land der Frauen dürfte das Fehlen von älteren Belegen für Emain ablach als signifikant zu betrachten sein. Eine Erklärung von afallach (und damit Avalon) als Lehnwort aus dem Irischen ist damit aus chronologischen Gründen abzulehnen: Diese Entlehnung hätte zumindest ein Jahrhundert vor der Etablierung des entsprechenden irischen Begriffs als feststehendes Epithet eines irischen Anderweltsgefildes stattgefunden haben müssen. Dieser Befund ist nicht zuletzt in Hinblick auf das eigentümliche Verhältnis interessant, das die irische und die arthurische Variante des „Apfelmotivs“ zueinander zeigen: Die irische anderweltliche „Apfelinsel“ ist eine Apfelinsel, weil anderweltliche Äpfel mit wundersamen Eigenschaften auf ihr und beim Umgang mit ihr eine zentrale Rolle spielen. Die arthurische Apfelinsel Avalon hingegen ist eine Apfelinsel ausschließlich aufgrund der Semantik ihres Namens, der selbst noch für Geoffrey von Monmouth und die auf ihn folgende Generation von Autoren Avalon deutlich erkennbar als „Apfelinsel“ benannte. Eine Entlehnung des Namens Avalon/Ynys Afallach aus dem Irischen ist aufgrund der irischen Beleglage auszuschließen; zugleich ist der vom irischen Land der Frauen und Avalon geteilte „Apfelaspekt“ jedoch ein Bestandteil
1747 Siehe oben S. 256 und zuletzt Ó Mainnín 2013, S. 253, 256–259, 285 (Anm. 98). Vgl. auch die beiläufige Zusammenstellung von Emain ablach mit Avalon bei MacKillop 2004, S. 29, 180; Maier 2001/2002, S. 154; ebenso schon bei Knott 1926, S. 215 (Anm. zu § 9); Meyer 1912 (Pokorny), S. 194. Ó Mainnín verweist als Argument für eine direkte Entlehnung der arthurischen insula Avalonis aus dem irischen Emain Ablach auch auf die Handschriftenüberlieferung von Giraldus Cambrensis’ De principis instructione I.20, wo Inis Avallon einmal zu emin Avallon verschrieben ist, was Ó Mainnín als Reflex der ursprünglichen irischen Form wertet: Ó Mainnín 2013, S. 258 f. (für eine frühere Fassung dieses Arguments vgl. Bullock-Davies 1969, S. 137 f.). Diese Verschreibung ist jedoch schwerlich signifikant, da kurz darauf auch Inis gutrin verschrieben ist, in diesem Fall zu eius gutrin (siehe oben S. 226). 1748 Vgl. etwa die zwar nur beiläufige, aber nichtsdestoweniger ahistorische Bezeichnung der Anderweltsinsel von Immram Brain als Emain ablach bei MacKillop 2004, S. 180; Lincoln 1981, S. 230. Selbst noch die neueste (und wohl ausführlichste) Behandlung von Emain (ablach) ist weitgehend ahistorisch: Ó Mainnín 2013, bes. S. 260–265. 1749 Siehe oben S. 349 f. 1750 Siehe oben S. 343 ff.
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eines detaillierten Komplexes von irisch-arthurischen Parallelen, was nahelegt, dass die Charakterisierung des irischen Landes der Frauen als Apfelinsel von der Benennung Avalons als Apfelinsel allen Problemen zum Trotz nicht zu trennen ist. Eine Erklärung dieses Befundes ist nur in hypothetischer Weise möglich. Ein denkbares Szenario wäre das folgende: Die Bezeichnung Avalons als „Apfelinsel“ könnte eine Entwicklung sein, die zur Etablierung der Bezeichnung Emain ablach in Irland genau parallel, aber historisch von ihr unabhängig verlaufen ist, d. h. eine ursprünglich inhaltlich begründete Assoziation Avalons mit Äpfeln könnte zur Benennung Avalons als „Apfelinsel“ geführt haben. (Diese Annahme ist hypothetisch, aber in gewissem Sinne nichtsdestoweniger selbstverständlich, da Avalon nicht als „Apfelinsel“ benannt worden wäre, wenn Äpfel dort nie eine Rolle gespielt hätten.) Zu einem nicht mehr bestimmbaren Zeitpunkt nach der Etablierung der Benennung Avalons als „Apfelinsel“ verlor das Apfelmotiv daraufhin seine inhaltliche Bedeutung für die Avalon-Erzählungen – was den Zustand geschaffen hat, den wir in den erhaltenen Arthurtexten antreffen, wo die Anderweltsinsel als „Apfelinsel“ benannt ist, Äpfel für die Handlung dieser Erzählungen jedoch keine Rolle spielen. Oder in anderen Worten: Die Benennung der arthurischen Unsterblichkeitsinsel als Avalon (=Apfelinsel) setzt voraus, dass zum Zeitpunkt der Prägung dieses Namens Äpfel in der Mythologie dieser Unsterblichkeitsinsel eine Rolle spielten; bis zum 12. Jahrhundert hatten die anderweltlichen Äpfel für die Mythologie Avalons jedoch in einem solchen Maße an Bedeutung verloren, dass sie aus der arthurischen Literatur in der Form, in der diese uns im 12. Jahrhundert entgegentritt, vollständig verschwunden sind. Zwischen dem Zeitpunkt der Benennung der arthurischen Unsterblichkeitsinsel als „Apfelinsel“ und dem 12. Jahrhundert muss somit eine Zeitspanne liegen, die ausreicht, um einem fundamentalen Bedeutungsverlust des Apfelmotivs Raum zu geben: Während es zum Zeitpunkt der Benennung der Unsterblichkeitsinsel als „Apfelinsel“ zentral gewesen sein muss, existierte es im 12. Jahrhundert nur noch als Fossil in Namen Avalons. Falls diese Überlegungen ihren Gegenstand nicht völlig verfehlt haben, legen die Parallelen und Unterschiede zwischen dem irischen Land der Frauen und der arthurischen Apfelinsel den Schluss nahe, dass zwischen beiden eine direkte historische Beziehung besteht, die wesentlich vor dem 12. Jahrhundert anzusiedeln ist. Wie lange genau diese Verbindung vor der Zeit Geoffreys und der bretonischen Lais liegt, lässt sich dem erhaltenen Material nicht entnehmen. Grundsätzlich bestehen zwei Möglichkeiten: die eines gemeinsamen irisch-britischen Erbes aus der Zeit der Einheit der inselkeltischen Sprechergemeinschaft, und die einer späteren – dabei aber offenbar nichtsdestoweniger vergleichsweise frühen – Entlehnung. Eine klare Entscheidung zwischen diesen beiden Möglichkeiten ist in Anbetracht der fragmentarischen Materiallage nicht möglich. Einen Fingerzeig, der zumindest eine Tendenz angeben könnte, gibt jedoch möglicherweise die Überlieferung zur keltischen Religionsgeschichte der Antike. Beim oben vorgelegten Vergleich zwischen Avalon, dem Land der Frauen und der antiken Überlieferung wurde immer wieder deutlich, dass sich zu Avalon und dem Land der Frauen keine ausführlich belegten
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Paralellen finden, die zwingend eine bis in die Antike reichende longue durée der anderweltlichen Unsterblichkeitsinsel bezeugen würden. Aber dennoch wurden immer wieder Ähnlichkeiten zwischen dem mittelalterlichen und dem antiken Material sichtbar, die forschungsgeschichtlich verschiedentlich als Indizien für solche Kontinuitäten gewertet worden sind und auch noch beim jetzigen Stand der Diskussion durchaus solche Indizien darstellen könnten; hierher gehören insbesondere die paradiesische Insel Abalum(?) des Pytheas und die Insel Sena mit ihren heilkräftigen Priesterinnen.¹⁷⁵¹ Falls die einschlägigen Ähnlichkeiten als signifikant gelten können – eine Entscheidung, für die ein objektiver Maßstab fehlt und die daher dem subjektiven Empfinden des Lesers überlassen bleiben muss –, legen sie nahe, dass der vom Land der Frauen und von Avalon repräsentierte Motivkomplex zur Zeit der Einheit der inselkeltischen Sprechergemeinschaft zumindest in Grundzügen bereits existierte. In diesem Fall wären die Ähnlichkeiten zwischen dem Land der Frauen und Avalon am einfachsten als gemeinsames Erbe aus inselkeltischer Zeit zu erklären.¹⁷⁵² Ein späterer, vielleicht sogar bis ins Hochmittelalter fortdauernder Kontakt wäre damit freilich nicht ausgeschlossen. Der Komplex von Parallelen zwischen Avalon und dem Land der Frauen kann in der Form, in der er in den mittelalterlichen Texten bezeugt ist, nicht unbesehen für die inselkeltische Zeit vorausgesetzt werden, da sowohl das spätere Land der Frauen als auch das spätere Avalon seit der inselkeltischen Zeit erhebliche gemeinsame Veränderungen durchgemacht haben könnten. Nichtsdestoweniger würden sich die Ähnlichkeiten zwischen Avalon und dem Land der Frauen in einem solchen Szenario in ein schlüssiges Gesamtbild einfügen, das für das irische Land der Frauen von einer tiefgreifenden Verwurzelung in mythischen Vorstellungen der vorchristlichen Zeit ausgeht. Das hier vorgeschlagene Szenario, wenngleich nicht das einzig denkbare, könnte sich so an die schon aus der Detailanalyse des irischen Materials gezogene Schlussfolgerung anschließen, dass das Land der Frauen auf Motiven der vorchristlichen Mythologie Irlands beruht, und könnte diese Schlussfolgerung in einen weiteren inselkeltischen Kontext einordnen. Sei es nun jedoch, dass Avalon und das Land der Frauen auf gemeinsames mythologisches Erbe aus inselkeltischer Zeit zurückgehen, oder sei es, dass der Mythos von Avalon eine frühe Entlehnung aus Irland darstellt, in jedem Fall liefern die schlagenden Übereinstimmungen zwischen Avalon und dem Land der Frauen einen weiteren Beleg dafür, dass es sich beim Land der Frauen nicht um eine christliche Allegorie, sondern um paganes Mythengut handelt. Falls die erstere Erklärung der Ähnlichkei-
1751 Vgl. Mac Cana 2000 (1976), S. 68 f. 1752 Eine solche Bestimmung des Verhältnisses zwischen dem irischen und dem britannischen Material wurde in der Vergangenheit u. a. bereits vertreten von Krappe 1943; Paton 1960 (1903), S. 1–4 et passim; Mac Cana 2000 (1976), S. 68 f.; Heizmann 1998, S. 88 f., 92–95; Maier 2001/02, S. 154; Heizmann 2002, S. 531; Maier 2005 (Imaginary Journeys), S. 166; vgl. Nutt 1895, S. 237; Walter 2004, S. 152 f. et passim.
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ten zwischen diesen beiden mythischen Gefilden zutrifft und es sich bei beiden um (mehr oder weniger) unabhängige Reflexe eines ur-inselkeltischen Mythos handelt, impliziert dies selbstverständlich, dass das Land der Frauen nicht erst lange nach der Christianisierung Irlands als christliche Allegorie konstruiert worden ist. Und falls es sich beim Avalon der arthurischen Literatur um eine frühmittelalterliche britannische Entlehnung des irischen Landes der Frauen handelt, so weist diese zumindest im selben Sinne auf einen mythischen Charakter des Landes der Frauen hin, in dem dies innerhalb der irischen Überlieferung etwa Immram Curaig Maíle Dúin getan hatte: Das Avalon der bretonischen Folklore des Hochmittelalters ist ein Heilsort, aber es ist ein Heilsort ohne christliche Bezüge. Eine Herleitung dieses Heilsorts aus einer christlichen Allegorie würde zwingend den Schluss nahelegen, dass schon ihre Zeitgenossen diese Allegorie völlig missverstanden haben – was in einer zutiefst christlichen Gesellschaft ausgesprochen unwahrscheinlich schiene.
7.3 Avalon, das Land der Frauen und der Ódáinsakr: Das keltische und nordische Material im Vergleich Das letzte Unterkapitel schloss mit der These, dass Avalon und das irische Land der Frauen in der einen oder anderen Weise auf gemeinsame Wurzeln zurückgreifen, die diese beiden mythischen Inselgefilde in der ursprünglich vorchristlichen inselkeltischen Mythologie verankern. Für den Vergleich mit nordischem Material ist dies vor allem aus zwei Gründen von Interesse. Zum einen bietet der vergleichende Befund eine neue Grundlage für die Annahme, dass die Isle d’Avalon nicht nur ihrem Namen nach, sondern auch in Hinblick auf wesentliche Details auf inselkeltischen mythologischen Motiven beruht; damit eröffnet sich eine entsprechend vertiefte Perspektive auf die longue durée des hier behandelten Themas. Und zum anderen verbreitert sich die Grundlage für nordisch-inselkeltische Vergleiche damit erheblich. Die jüngste Forschung war stark auf die Parallelen zwischen dem nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex und der arthurischen Anderweltsinsel Avalon fokussiert; durch die detaillierte Heranziehung des irischen Befunds wird das inselkeltische Vergleichsmaterial nahezu verdoppelt. Dies gilt dabei nicht nur für die schiere Materialmenge, sondern – was noch wichtiger sein dürfte – auch für die chronologische und soziale Verteilung des Materials. Falls zwischen dem inselkeltischen Motiv einer insularen Anderwelt der Unsterblichkeit und dem nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex signifikante Ähnlichkeiten bestehen, die auf eine historische Verbindung zwischen diesen Motivkomplexen hindeuten, so gibt es vier grundsätzliche Möglichkeiten, diese Verbindung zu lokalisieren: 1.
Die Übereinstimmungen spiegeln ein gemeinsames Erbe wieder, das einer vorgeschichtlichen Epoche entstammt, in der die fraglichen Kulturen eine kulturelle Einheit bildeten (z. B. indogermanisches Erbe);
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2. 3.
die Übereinstimmungen spiegeln Kulturkontakte in vorchristlicher Zeit wieder; die Übereinstimmungen spiegeln Kulturkontakte während der Wikingerzeit wieder, während der das nordische Heidentum noch lebendig, die vorchristlichen Religionen der Britischen Inseln aber längst dem Christentum gewichen waren; 4. die Übereinstimmungen spiegeln literarische oder folkloristische Kontakte zwischen den Kulturen des christlichen Mittelalters wieder. Das arthurische Material erlaubt trotz seines ungemeinen Reichtums einen direkten Zugriff auf die „keltische“ Seite des nordisch-inselkeltischen Vergleichs nur für Szenario (4). Die wikingerzeitlichen Kontakte – wie etwa die Gründung des Königreichs Dublin oder der Raub von irischen Frauen als Sklavinnen durch skandinavische Plünderer – liegen bereits wesentlich vor dem Zeithorizont dieser Quellen. Dagegen eröffnet das irische Material einen direkten Zugang zur zeitgenössischen irischen Welt der Wikingerzeit; damit ist es weit geeigneter als die Texte der arthurischen Literatur, um Szenario (3) zu beurteilen. Auch für die Beurteilung der Szenarien (1) und (2) hat das irische Material wesentliche Vorteile, da es der vorchristlichen Zeit nicht nur chronologisch, sondern auch sozial näher steht als das arthurische Material: Bei den irischen Texten handelt es sich um (wirkliche oder vorgebliche) Bearbeitungen vorchristlicher irischer Motive der Eisenzeit durch christliche Iren des Früh- und Hochmittelalters; beim arthurischen Material handelt es sich, vereinfacht gesagt, hingegen um (wirkliche oder vorgebliche) Bearbeitungen vorchristlicher inselkeltischer Motive der Eisenzeit (bzw. der Antike) durch christliche Normannen (u. a.). Zusätzlich zum größeren chronologischen Abstand des arthurischen Materials von der vorchristlichen Zeit ist das arthurische Material von der Vorgeschichte somit noch durch einen zusätzlichen Rezeptionsschritt getrennt, da es sich bei seiner Trägerschicht nicht – wie im irischen Fall – um substantiell dieselbe, wenn auch christianisierte Bevölkerung handelt, sondern die arthurische Literatur auch von einer ganz anderen ethnischen Gruppe getragen wurde als die ihr (teilweise) zugrundeliegende vorchristliche Mythologie. Es versteht sich von selbst, dass der Grad der inhaltlichen Verfremdung von der „ursprünglichen“ vorchristlichen Form der jeweiligen Motive damit in einer ganz anderen Größenordnung liegen dürfte als im Fall Irlands. Diesen Hintergrund stets im Auge behaltend, ist es damit an der Zeit, das arthurische und irische Material dem Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex im Detail gegenüberzustellen. Wie bereits oben beim Vergleich zwischen Avalon und dem irischen Land der Frauen, soll auch dieser Vergleich nach den relevanten Leitmotiven geordnet werden: (1) dem Inselcharakter der jeweiligen Anderweltsorte und ihrer Assoziation mit (2) Unsterblichkeit, (3) anderweltlichen Frauengestalten, (4) Sexualität, (5) Licht/ Glanz/Kristall und (6) Gärten.¹⁷⁵³
1753 Die Zusammenstellung dieser Motive will keine Originalität beanspruchen; die meisten dieser Elemente wurden spätestens von Heizmann identifiziert, der folgende Motive als die grundlegenden
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[1] Das Land der Unsterblichkeit als Insel Die Reise des Thorkillus zum Reich des Guthmundus führt diesen soweit nach Norden, dass er Sonne und Sterne hinter sich lässt und sich für diese Unternehmung sogar eigene Schiffe bauen muss. An keiner Stelle von Saxos Thorkillus-Episode wird gesagt, dass das Ziel von Thorkillus’ Reise auf einer Insel liegt; in Anbetracht der von Thorkillus unternommenen maritimen Fernexpedition ist die Annahme jedoch vertretbar, dass es sich bei der Lokalisierung von Guthmundus’ Reich zumindest um das funktionale Äquivalent einer Insel handelt. Nicht gänzlich andersgeartet ist die Situation auch für alle übrigen Sagas, in denen die Glæsisvellir oder der Ódáinsakr eine Rolle spielen: Die Hervarar saga lokalisiert das Reich Guðmunds und den Ódáinsakr jenseits des Weißen Meeres, der Helga þáttr lässt Helgi auf einer Fahrt in die Finnmark mit Guðmunds Tochter zusammentreffen, und der Held des Þorsteins þáttr gelangt auf einer Ostlandfahrt zu Guðmundr. Allen Texten gemeinsam ist, dass man Guðmunds Reich, wo sich nach der Hervarar saga auch der Ódáinsakr befindet, am Ende einer langen Seereise erreicht. In all diesen Fällen befindet sich Guðmunds Land jedoch in einem Gebiet, das grundsätzlich auch über Land erreichbar wäre. Betrachtet man dies freilich nicht aus einer geographischen, sondern aus einer reisepraktischen Perspektive, so besteht kaum ein Unterschied zwischen der Lage der Glæsisvellir in den Sagas und einer Insellage: Denn in Anbetracht der reisepraktischen Gegebenheiten des Mittelalters würde eine Reise in ein Land jenseits des Weißen Meeres oder ins östliche Baltikum mit derselben Selbstverständlichkeit zu Schiff unternommen wie eine Reise zu einer Insel.¹⁷⁵⁴ Eine ähnliche Situation zeigt die Lage des isländischen Ódáinsakur im Hvanndalur: Auch dieser Ódáinsakr ist nicht etwa auf einer Island vorgelagerten Insel lokalisiert, sondern befindet sich in einem Tal der Insel Island selbst. Dieses Tal ist jedoch zum Meer hin geöffnet und vom Rest der isländischen Landmasse durch Berge
Elemente des Komplexes festhält: „Inseln, Glas bzw. Bernstein, Äpfel, Frauengestalten, Unsterblichkeit“ (Heizmann 1998, S. 95). Frühere Beiträge stellen demgegenüber ihre Vergleiche in einer deutlich weniger systemtischen Weise an, bei der die Vergleichspunkte kaum je in einem systematischen Überblick zusammengefasst werden und über weite Strecken oft sogar gänzlich implizit bleiben (vgl. Much 1924, S. 99–106; Krappe 1943; Davidson 1991; u. a. – siehe oben S. 2 ff.). Auch von diesen Beiträgen wurde jedoch üblicherweise auf ganz ähnliche Elemente Bezug genommen. Die Leistung der vorliegenden Arbeit besteht nicht in der Identifizierung der potentiellen Vergleichspunkte zwischen dem keltischen und dem nordischen Material, sondern in der detaillierten Analyse und ggf. Neubewertung ihrer Signifikanz. 1754 Vgl. aus einer anderen Perspektive, aber mit ähnlichen Konsequenzen auch Heide 2011, S. 58: „What is an island? The obvious answer is: ‘a piece of land surrounded by water.’ Our idea of islands is heavily influenced by maps, however, we have a from-above perspective that in pre-modern times was an exception, restricted to mountainous areas. In a cultural context, the concept of islands should be understood from the horizontal perspective of a person standing on a beach looking over to an island. From this perspective an island is a place on the other side of water.“ Von Interesse ist hier auch eine Bemerkung Ó Mainníns zum nordirischen Sprachgebrauch: „hills bounded by water on more than one side are often termed ‘islands’, at least in the North of Ireland“ (Ó Mainnín 2013, S. 281).
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abgeschnitten; in gewissem Sinne entspricht die Lage des Ódáinsakur im Hvanndalur damit genau der Lage der Glæsisvellir in den Sagas: Auch hier handelt es sich um einen Ort, der mit dem Siedlungsgebiet der Skandinavier zwar eine Landverbindung teilt, aber zu Schiff deutlich leichter zu erreichen ist als über Land – zumindest bei entsprechend ruhiger See, da dem Hvanndalur ein natürlicher Hafen fehlt. Zudem teilt dieser Ódáinsakr die Lage an der Küste des Nordmeers, die auch die Glæsisvellir der Hervarar saga und des Helga þáttr kennzeichnet. Im inselkeltischen – irischen wie arthurischen – Fall steht dieser Küstenlage eine echte Insellage gegenüber. Das Avalon der arthurischen Literatur ist von Anfang an explizit als Insel bestimmt: Schon die erste Erwähnung Avalons in der Historia regum Britanniae spricht ausdrücklich von der insula Auallonis. Erst die „Entdeckung“ der Gebeine Arthurs und Guineveres im Jahre 1191 ändert diese Situation ein wenig: Da es sich bei Glastonbury offenkundig um keine Insel handelt, sondern nur um ein höher gelegenes und daher trockeneres Gebiet inmitten von Marschland, relativierte die Identifizierung Avalons mit Glastonbury auch die Auffassung Avalons als Insel. Das neue, in Glastonbury geschaffene Avalon-Bild wurde in der Avalon-Schilderung des Perlesvaus vorbehaltlos übernommen: Avalon trägt dort zwar – ironischerweise – immer noch die Bezeichnung Isle d’Avalon, doch handelt es sich bei diesem Avalon nicht mehr um eine Insel, sondern um ein Tal inmitten eines Waldes. Diese Entwicklung des Avalon-Bildes ist jedoch sekundär und eindeutig datierbar; falls man sie mit dem zweifelhaften Inselcharakter der Glæsisvellir verbinden will, würde dies die dahinterstehenden Kontakte auf frühestens das Ende des 12. Jahrhunderts datieren. Eindeutig ist auch der Inselcharakter des irischen Landes der Frauen. Auch hier machen dies schon die frühesten Quellen deutlich: Immram Brain beschreibt explizit eine Reise zu einer Ozeaninsel, während Echtrae Chonnlai immerhin das Kristallschiff erwähnt, mit dem die Anderweltsfrau Connlae in das Land der Frauen bringt. Wie prominent das Motiv der paradiesischen Insel als eines Orts des Heils in der irischen Geisteswelt spätestens der Wikingerzeit war, illustrieren die vielfachen Variationen dieses Motivs in den immrama. Eine gewisse Unsicherheit in der Lokalisierung des Landes der Frauen auf einer Insel zeigt der (stark kompilatorische und erst mittelirische) Text Serglige Con Culainn, wo die Reise ins Land der Frauen einmal über Land zu führen scheint; auch hier wird jedoch mit ausreichender Häufigkeit die Lage des Landes der Frauen auf einer Insel betont, um an dieser Lokalisierung keine ernstlichen Zweifel aufkommen zu lassen. Ein weiterer Unterschied zum nordischen Befund mag darüber hinaus in der Frage der Entfernung festzustellen sein: Eine Lage der Unsterblichkeitsinsel in großer Ferne erscheint zwar schon in Immram Brain, scheint insgesamt gesehen jedoch ein spezifisch klerikal-gelehrtes Motiv zu sein, das von klassischen Motiven und der asketischen Praxis der peregrinatio beeinflusst sein dürfte. Im engeren Sinne einheimischirische, „folkloristische“ Vorstellungen von Anderweltsinseln scheinen diese eher in Küstennähe oder in Binnenseen zu lokalisieren, und damit in der unmittelbaren Nähe der menschlich bewohnten Welt.
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[2] Unsterblichkeit Der Ódáinsakr ist sowohl in Hinblick auf seinen Namen („Feld des Ungestorbenen“) als auch in Hinblick auf seine narrative Rolle ein Unsterblichkeitsgefilde: Die Hervarar saga berichtet ausdrücklich, dass der Ódáinsakr ein Ort ist, „wo von jedem Mann, der dorthin kommt, Krankheit und Alter abfällt, und niemand sterben kann“ (er aff huorium manni, er þar kiemur, huerfur sott og elli, og ma eingi deya). Diese Saga lokalisiert den Ódáinsakr in den Glæsisvellir und zeigt damit die Zusammengehörigkeit der Glæsisvellir und des Ódáinsakr mit aller wünschenswerten Deutlichkeit. Darüber hinaus findet die enge Verbundenheit von Ódáinsakr und Glæsisvellir in der Kombination verschiedener literarischer Anspielungen in der Hálfdanar saga, in der Verwendung von „Guðmundr“ als „unsterblicher“ Titel im Þorsteins þáttr und in der langen Lebensspanne von Guðmunds Sohn in der Samsons saga ihren Niederschlag. Die Insel Avalon der arthurischen Literatur erscheint zunächst als eine Insel der Heilung: Der tödlich verwundete Arthur wird bei Geoffrey dorthin gebracht „zur Heilung seiner Wunden“ (ad sananda uulnera sua). Die Vita Merlini schreibt den Herrinnen Avalons phantastische Heilkräfte und den Bewohnern Avalons eine Lebenserwartung von hundert und mehr Jahren zu (annis centenis aut ultra vivitur illic); von Unsterblichkeit ist jedoch keine Rede. Dies bedeutet allerdings nicht, dass eine Auffassung Avalons als Unsterblichkeitsinsel wesentlich verfehlt wäre. Das in der Vita Merlini aufscheinende Motiv, wonach Avalon der Ort eines verlängerten Lebens sei, gehört zu den (vergleichsweise wenigen) Zügen dieser Schilderung, die Geoffrey nicht offenkundig seinen gelehrten Quellen entnommen hat; gerade dieses Motiv ist damit ein Kandidat dafür, auf inselkeltisch-mythologische Wurzeln zurückzugehen. Davon wiederum ist vielleicht nicht zu trennen, dass verschiedene Autoren des 12. Jahrhunderts einen zu ihrer Zeit nach wie vor herrschenden Glauben an eine bevorstehende Wiederkehr Arthurs bezeugen. In Anbetracht des Umstands, dass zeitgenössische Auffassungen das Wirken Arthurs dem 6. Jahrhundert zuschreiben,¹⁷⁵⁵ impliziert diese Hoffnung auf die Wiederkehr des Königs seine Entrückung aus dem Bereich der Sterblichkeit: Nur ein unsterblicher Herrscher kann noch sechs Jahrhunderte nach seinem Verschwinden wiederkehren. Eine entsprechende, explizite Zuschreibung von Unsterblichkeit an den in die Anderwelt entrückten Arthur findet sich verschiedentlich – insgesamt aber nicht besonders häufig – tatsächlich bezeugt (Draco Normannicus; Gesta regum Britanniae; Floriant et Florete). In der irischen Literatur ist das Versprechen der Unsterblichkeit weit expliziter und prominenter als in der arthurischen Literatur: Sowohl in Immram Brain als auch in Echtrae Chonnlai gehört das Versprechen der Unsterblichkeit zu den zentralen Lockmitteln, mit denen die anderweltliche Frauengestalt die menschlichen Helden zur Reise ins Land der Frauen bewegen will. Dies stellt gerade für den Vergleich zwischen dem keltischen Material und dem Ódáinsakr einen wichtigen Zug dar, der
1755 Siehe oben S. 184.
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zum Befund der arthurischen Literatur einen merklichen Kontrast bildet: Denn auch der Ódáinsakr enthält sowohl durch seinen Namen als auch durch seine literarische Beschreibung ein sehr explizites Versprechen der Unsterblichkeit. Im Zentrum der Darstellungen von Arthurs Entrückung hingegen steht nicht das Versprechen von Unsterblichkeit, sondern das Versprechen seiner Heilung und der darauf folgenden Rückkehr in die Menschenwelt; ein permanentes Verbleiben in der Anderwelt scheint gerade in den frühen Zeugnissen nicht intendiert (wenngleich es für die spätere Literatur – wie Floriant et Florete illustriert – durchaus eine Option darstellt). In eine ähnliche Richtung weisen auch die bretonischen Lais: Die Helden dieser erzählenden Gedichte sind typischerweise Ritter, die vor langer Zeit von einer anderweltlichen Frau in deren anderweltliches Land jenseits einer Wasserbarriere entrückt wurden und die in der Gegenwart des Erzählers nach wie vor in diesem Land leben. Die Verlockung, die zur Reise des Ritters in die Anderwelt führte, besteht in diesen Texten jedoch nicht im Versprechen der Unsterblichkeit, sondern in der erotischen Anziehungskraft der Anderweltsfrau. Dass die Reise in die Anderwelt den Ritter aus dem menschlichen Zeitverlauf herausführt und ihm damit zumindest eine Art von Unsterblichkeit schenkt, ihm zugleich jedoch jede Rückkehr in die Menschenwelt unmöglich macht, kommt für die Protagonisten eher als eine böse Überraschung. Die irische Literatur und die bretonischen Lais messen dem Versprechen der Unsterblichkeit als Lockmittel für den menschlichen Krieger somit ein sehr unterschiedliches Gewicht bei, wodurch der altnordische Befund dem irischen hier sehr viel näher kommt als dem arthurischen. Das Motiv, wonach die verflossene Zeit bei der Rückkehr in die Menschenwelt auf den Anderweltsreisenden zurückfällt, ist dagegen der irischen Literatur und der matière de Bretagne in gleichem Maße gemeinsam: Als einer von Brans Gefährten wieder den Boden Irlands betritt, zerfällt er zu Staub, ganz so wie Guingamor von der verflossenen Zeit eingeholt wird, als er in der Menschenwelt einen Apfel isst. Im Material zum Ódáinsakr findet dieses Motiv jedoch kein Gegenstück – es sei denn, man will die Vorstellung hierher stellen, dass die Opfer von Krankheiten den Ódáinsakr verlassen müssen, um sterben zu können. In diesem eigentümlichen Zug der folkloristischen Überlieferung zum isländischen Ódáinsakur eine komplexe Halb-Inversion eines Motivs aus der arthurischen Literatur oder aus Texten wie Immram Brain sehen zu wollen, schiene jedoch unnötig komplex: Denn genau dasselbe Motiv überliefert Giraldus Cambrensis von einer Klosterinsel in einem See in Munster. Diese spezifische Variante des Unsterblichkeitsmotivs war somit in Irland – und nur in Irland – in genau der Form bekannt, in der sie später wieder in der Folklore zum Ódáinsakur im Hvanndalur auftaucht.
[3] Anderweltsfrauen Prominente weibliche Gestalten finden sich im nordischen Material zum Ódáinsakr und den Glæsisvellir in Form der Töchter Guðmunds. Diese Töchter fungieren in der Thorkillus-Episode der Gesta Danorum entsprechend den Wünschen ihres Vaters
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Guthmundus als verführerische Köder, um die Gefährten des Thorkillus in ihr Verderben zu locken. Im Helga þáttr handelt eine von Guðmunds Töchtern offenbar aus eigenem Antrieb; sie wird dabei nicht als intrinsisch bösartig dargestellt, führt aber nichtsdestoweniger den Tod ihres Liebhabers Helgi herbei, als sich König Ólafr in die Angelegenheit einmischt. In der Bósa saga wird Guðmunds Schwester zunächst beinahe zum Opfer einer heidnischen Priesterin, die sie in ein Monster verwandeln und zu ihrer Nachfolgerin machen will, wird dann jedoch vor diesem Schicksal gerettet und heiratet einen der Helden der Geschichte. Bald darauf wird die Frau allerdings ein weiteres Mal geraubt und muss erneut gerettet werden. Der Þorsteins þáttr überträgt Guðmunds verführerische Verwandtschaft, ebenso wie einige andere Elemente, auf den Jarl Agði. Die Samsons saga mag dadurch mit dem Motiv von Guðmunds weiblichen Verwandten spielen, dass Guðmunds Sohn die Herrschaft über das „Land der kleinen Mädchen“ erwirbt. Die anderweltlichen Frauen der matière de Bretagne haben im Vergleich zu den Töchtern (und der Schwester) Guðmunds eine weitaus prominentere Stellung in der Literatur. Morgain, die zusammen mit mehreren (vielleicht von Geoffrey erfundenen) Schwestern ihren ersten Auftritt in der Vita Merlini hat, ist die Herrin von Avalon, heilkundig, weise, mit übernatürlichem Wissen begabt und niemandem untertan. Trotz verschiedenster Variationen in den Details findet sich diese prominente Rolle und Stellung Morgains noch in einem so vergleichsweise späten Text wie Floriant et Florete. Morgain kann im Rahmen der arthurischen Literatur als Arthurs Schwester beschrieben werden, seine Geliebte sein, oder in einem unbestimmten Verhältnis zu ihm stehen. Daneben wird sie noch mit anderen Helden verbunden; so etwa in Chrétiens Erec, wo Guigomars der amis Morgaines ist. In den frühesten Zeugnissen ist das Verhältnis zwischen Arthur und Morgain durchgehend positiv, während sie ab dem Lancelot-Graal-Zyklus immer wieder zu einer Heimsuchung Arthurs wird, die einen wesentlichen Beitrag dazu leistet, die Welt der Tafelrunde zum Einsturz zu bringen. Auch in dieser negativen Metamorphose ist sie jedoch noch eine starke, unabhängige Gestalt. In dieser Stärke und Unabhängigkeit erinnert sie an die Tochter Guðmunds, die eine der Hauptrollen des Helga þáttr innehat, hat jedoch wenig mit den Töchtern und der Schwester Guðmunds zu tun, wie sie in den übrigen Glæsisvellir-Texten erscheinen, ohne je eine signifikante Eigeninitiative zu ergreifen oder einen eigenen Charakter zu entwickeln. Inwieweit die Parallele zwischen der starken Morgain der arthurischen Literatur und der gleichermaßen willensstarken Anderweltsfrau des Helga þáttr jedoch mehr belegen kann als eine direkte literarische Rezeption der matière de Bretagne, muss in höchstem Maße fragwürdig bleiben – immerhin war der Verfasser des Helga þáttr nachweislich zumindest mit einigen arthurischen Texten vertraut, da er den Anfang des Helga þáttr in unmittelbarer Anlehnung an den Lanval der Marie de France modellierte. Ebenfalls eine ausgesprochen starke und unabhängige Stellung haben die anderweltlichen Frauen der frühen irischen Literatur inne. Die Anderweltsfrau von Immram Brain dringt in Brans Burg ein, spricht vor den dort versammelten Königen und bewegt
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Bran zur Reise ins Land der Frauen; dort erscheint sie dann als die Herrin dieses Gefildes. Unterwegs trifft Bran auf Manannán mac Lir; dieser wird als herrscherliche Gestalt, aber nicht – zumindest nicht explizit – als Herr des Landes der Frauen dargestellt. Die anderweltliche Frauengestalt von Echtrae Chonnlai handelt ebenfalls offenbar allein und aus eigenem Antrieb. Die beiden ekklesiastischen Karikaturen des Landes der Frauen in Immram Curaig Maíle Dúin zeigen zwei Frauen, die als Herrinnen ihrer jeweiligen Inseln dargestellt werden; dabei gibt eine dieser beiden Frauen jedoch preis, dass sie einst die Frau des Königs ihrer Insel war und die Regierungsgeschäfte selbst erst nach dem Tod ihres Mannes übernommen hat. Die anderweltliche Frau, die Cú Chulainn in Serglige Con Culainn in ihre insulare Anderwelt ruft, ist die frühere Ehefrau Manannáns, die sich von Manannán getrennt hat; am Ende der Erzählung versöhnt sie sich jedoch wieder mit ihrem früheren Mann und kehrt zu ihm zurück. Ausdrücklich als Herr des „Landes der langlebigen Frauen“ erscheint Manannán erst im mittelirischen – und damit vergleichsweise späten – dinnṡenchas von Tuag Inbir. Dass eine solche Vorstellung jedoch nicht gänzlich ohne Grundlage in früheren Überlieferungen ist, mag die schon spätestens um 900 etablierte Verbindung Manannáns mit der Isle of Man (in Cormacs Glossar) einerseits und dem Land der Frauen (in Immram Brain) andererseits implizieren, da Man später ausdrücklich mit Emain (ablach), und damit dem Land der Frauen, identifiziert wird. Insgesamt lässt sich somit wohl festhalten, dass die irischen Anderweltsfrauen des Landes der Frauen eine ausgesprochen unabhängige Position innehaben; zugleich ist durch die immer wieder auftauchende Assoziation Manannáns mit diesem Motivkomplex jedoch auch eine männliche Herrschergestalt fest mit dem Land der Frauen verbunden. Damit stellt das irische Material eine engere Parallele zum nordischen Befund dar als das arthurische Material, da Manannán als eine – wenn auch entfernte – Entsprechung zu Guðmundr gedeutet werden könnte.¹⁷⁵⁶ Im arthurischen Material ist hingegen keine Gestalt ersichtlich, die sich als Entsprechung Guðmunds deuten ließe.
[4] Sexualität In Saxos Thorkillus-Erzählung erhalten die schönen Töchter des Guthmundus von ihrem Vater den Auftrag, König Gormo zu verführen; wenn ihnen dies gelänge, wäre Gormo dem Guthmundus verfallen. Zum Glück für die skandinavischen Abenteurer scheitern Guthmundus’ Töchter jedoch. Erfolgreicher ist die Tochter Guðmunds, die im Helga þáttr den glücklosen Helgi verführt; diese Frau scheint dabei ganz aus eigenem Antrieb zu handeln. Weitere potentielle Anspielungen auf die sexuelle Aktivität von Guðmunds weiblichen Verwandten finden sich nur noch in der Bósa saga und – noch
1756 Vgl. Davidson 1991, S. 177: „the figure of Gudmund could have been introduced from Norwegian tales to replace that of Manannan as ruler of the bright realm visited by kings and heroes.“ (Vgl. Davidson 1988, S. 187.)
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weit unsicherer – in der Samsons saga. Guðmunds Schwester, die ihren Auftritt in der Bósa saga hat, wird als eine schöne und begehrenswerte Frau gezeichnet, bleibt aber während der gesamten Erzählung ein bloßer Spielball ihrer männlichen Umwelt: Sie wird entführt, gerettet, geheiratet, nochmals entführt und wieder gerettet, ohne selbst einen wesentlichen Einfluss auf ihr – auch sexuelles – Schicksal nehmen zu können. In der Samsons saga schließlich erscheint zwar das „Land der kleinen Mädchen“, besondere sexuelle Konnotation sind an diesem Land jedoch nicht wahrnehmbar. Die arthurischen Anderweltsfrauen bilden in Hinblick auf die Behandlung des Themas „Sexualität“ zum nordischen Befund einen denkbar großen Kontrast. Die fee der matière de Bretagne ist typischerweise in höchstem Maße selbstbestimmt – und zwar auch und insbesondere in sexueller Hinsicht. Die Anderweltsfrau des Lanval, die sich einen sterblichen Ritter zu ihrem Liebhaber erwählt und ihn am Ende mit sich nach Avalon nimmt, behält während der gesamten Erzählung die Fäden der Handlung fest in ihren Händen. Sie ist zu keinem Zeitpunkt dem Willen eines Mannes untertan und findet damit innerhalb der Glæsisvellir-Sagas eine Entsprechung ausschließlich im Helga þáttr – was wiederum nicht im geringsten verwundert, da der Verfasser des Helga þáttr weite Teile seiner Erzählung dem Lanval direkt nachempfunden hat. Da die fee des Lanval für die anderweltlichen Frauengestalten der matière de Bretagne als repräsentativ gelten kann, hat dies schwerwiegende Folgen für den nordischarthurischen Vergleich: Zwar ist in beiden Literaturen häufig ein sexuelles Element mit den jeweiligen anderweltlichen Frauengestalten verbunden, dessen spezifische Beschaffenheit ist jedoch auffallend unterschiedlich. Dies gilt umso mehr, als das sexuelle Elemente nur in einem spezifischen Teil der matière de Bretagne erscheint: Es ist grundlegend für Texte wie die bretonischen Lais und die Bataille Loquifer, wo eine anderweltliche Frau einen Helden mit erotischen Absichten in eine Anderwelt jenseits einer Wasserbarriere entführt, aber es ist marginal für die Entrückung Arthurs nach Avalon, da Morgain zumeist nicht als Arthurs Geliebte, sondern als seine Verwandte aufgefasst wird. Auch dieses Fehlen eines sexuellen Aspekts und seine Ersetzung durch ein Verwandtschaftsverhältnis finden im nordischen Material keine Parallele. Ähnlich problematisch ist der Vergleich mit dem irischen Material. Die Verlockung der anderweltlichen Frauengestalten von Immram Brain, Echtrae Chonnlai und Serglige Con Culainn hat eine deutliche und explizite erotische Komponente; nochmals unterstrichen wird dies durch die monastische Karikatur dieses Motivs in Immram Curaig Maíle Dúin, die gerade dieses erotische Element zum zentralen Ziel ihrer Kritik macht. Dabei liegt die Initiative in jedem Fall deutlich bei der anderweltlichen Frauengestalt. Die Situation ist mit derjenigen der bretonischen Lais im Wesentlichen identisch: Die anderweltliche Frauengestalt ist die dominierende Figur, die eine selbstbestimmte Entscheidung trifft, sich einen sterblichen Mann zum Liebhaber zu nehmen. Ebenso wie im Fall der bretonischen Lais, bildet damit auch die Behandlung des Themas der Sexualität im irischen Land der Frauen nur in dem beschränkten Sinne eine Parallele zum nordischen Material, als die anderweltlichen Frauengestalten in beiden Fällen als besonders schön und verführerisch beschrieben werden und sexuell aktiv sind. Die –
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auch sexuellen – Machtverhältnisse zwischen Männern und Frauen, wie sie in den keltischen Literaturwerken einerseits und der Sagaliteratur andererseits beschrieben werden, kontrastieren jedoch eher miteinander: Während die keltischen Anderweltsfrauen in der Beziehung zwischen den Geschlechtern stets die dominierende Rolle spielen, treten die Töchter und die Schwester Guðmunds außerhalb des Hega þáttr primär als Geschöpfe unter der Herrschaft eines männlichen Willens auf.¹⁷⁵⁷
[5] Licht/Glanz/Kristall Die Glæsisvellir haben als splendidi campi („glitzernde Felder“), die etymologisch mit dem goldenen Hain Glasir und verschiedenen germanischen Termini für Glas, Eis und Bernstein verbunden sind, in ihrem Namen einen gewissermaßen „kristallenen“, glänzend-lichthaften Aspekt. Außerhalb des Namens dieses anderweltlichen Gefildes spielt ein solcher „kristallener Aspekt“ für die Glæsisvellir allerdings keine Rolle: Die Glæsisvellir sind „glänzende Gefilde“ nur, weil sie „glänzende Gefilde“ heißen; in keiner der verschiedenen Glæsisvellir-Sagas spielen Elemente wie „Licht“, „Glanz“ oder „Kristall“ eine Rolle für die Handlung der jeweiligen Geschichten. Im keltischen Bereich wurde der „kristallene Aspekt“ der Glæsisvellir mehrfach mit der arthurischen „Glasinsel“ verglichen, die als Isle de Voirre, insula vitrea oder Ynys Wydrin in mehreren Quellen erscheint. Diese Vergleiche bezogen ihre Berechtigung jedoch aus der Annahme, dass die „Apfelinsel“ und die „Glasinsel“ schon in ihrem mythologischen Substrat identisch sind. Eine genaue Durchsicht des Materials und der Beleglage für die Identifizierung von „Apfelinsel“ und „Glasinsel“ zeigte hingegen, dass die Identifizierung dieser beiden Anderweltsinseln erst im Jahr 1191 durch die Mönche der Abtei Glastonbury vorgenommen wurde. Für Beziehungen zwischen dem Norden und der inselkeltischen Welt vor 1191 kann die arthurische „Glasinsel“ daher keine Rolle spielen. „Kristallene“ Elemente erscheinen jedoch in Schilderungen des Landes der Frauen in der irischen Literatur. In Echtrae Chonnlai dient ein gläsernes oder kristallenes Schiff als Fahrzeug für die Reise ins Land der Frauen; in anderen Texten entspricht diesem Kristallschiff so häufig ein – gleichermaßen glänzendes – Bronzeboot, dass dieses Motiv durchaus fest etablierte folkloristische, vielleicht sogar mythologische Wurzeln gehabt haben könnte. Die Beschreibungen des Landes der Frauen in Immram Brain und Serglige Con Culainn lassen dort Bäume aus Silber und Kristall wachsen.¹⁷⁵⁸ Immram Brain lässt die Insel, auf der sich das Land der Frauen befindet, sogar auf „Füßen aus Silberbronze“ stehen (cossa findru[i]ne foë):¹⁷⁵⁹ Überwältigender, leuchtender Glanz wird hier zu einem grundlegenden und monumentalen Element des Bildes,
1757 Vgl. schon Nutt 1895, S. 308. 1758 Siehe oben S. 327, 347 f. 1759 Siehe oben S. 268.
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das vom Land der Frauen gezeichnet wird. Das irische Land der Frauen wird zwar nie als „Kristallgefilde“ o. ä. benannt, aber es wird in einer Weise beschrieben, die eine Benennung als „glitzerndes Gefilde“ als überaus treffend erscheinen lassen würde.
[6] Gärten Eines der Lockmittel, mit denen Guthmundus in der Thorkillus-Episode seiner Gesta Danorum seine Gäste zu Fall bringen will, sind die Früchte seines Gartens: Guthmundus preist seinen Garten an, um König Gormo dazu zu verleiten, von seinen Früchten zu kosten – was zur Folge hätte, dass Gormo seine Erinnerung an die Heimat verlieren würde und fortan im Reich des Guthmundus bleiben müsste. Diese kurze Episode der Thorkillus-Erzählung ist die einzige Stelle in der mittelalterlichen Literatur des Nordens, die den Garten Guðmunds und die dort wachsenden Früchte explizit erwähnt; daneben erscheinen sie nur noch im Þorsteins þáttr, wo sie offenbar zusammen mit einigen anderen Elementen, die sonst Guðmundr charakterisieren, auf den Jarl Agði übertragen sind.¹⁷⁶⁰ Diese dürftige Beleglage ist umso bedauerlicher, als das Motiv des Gartens in der Form, in der es bei Saxo erscheint, unmittelbar an das Lotophagen-Motiv der Odysseus-Sage erinnert: In beiden Fällen führt der Genuss besonderer Früchte bei einem scheinbar freundlichen Gastgeber zum Verlust des Gedächtnisses und damit der Heimkehr (z. B. Hygin, Fabulae 125). In Anbetracht der auch ansonsten deutlichen Anspielungen auf die Odysseus-Sage, die Saxo an verschiedenen Stellen seiner Thorkillus-Erzählung eingearbeitet hat, wirft dies in aller Schärfte das Problem der mythologischen Authentizität dieses Details von Guthmundus’ Reich auf. In der frühen Neuzeit erscheint allerdings wieder ein zumindest entfernt vergleichbares Motiv: Brynjólfur Sveinsson erwähnt im Saxo-Kommentar des Johannes Stephanus Stephanius (1645), dass es sich beim Ódáinsakr um ein Gefilde mit überaus fruchtbarem Boden handle;¹⁷⁶¹ Olaus Olavius notiert im Jahr 1777, dass die Hvanndalir für ihre „seltenen und wohlriechenden Kräuter“ berühmt waren und dass der Ódáinsakr dort ein „grasreiches“ Feld war, dessen Kräuter den Tod abhielten;¹⁷⁶² und der nur wenige Jahre ältere Bericht der Islandexpedition des Eggert Olafsen und des Biarne Povelsen verzeichnet die Existenz von „verschiedene[n] Fabeln von der übermäßigen Fettigkeit der Milch daselbst“ und dem guten Gedeihen des Viehs.¹⁷⁶³ In die arthurische Literatur wird das Element eines Gartens im Land der Unsterblichkeit durch den Namen der Insel Avalon eingeführt: Avalon ist die „Apfelinsel“, die insula pomorum. Die Äpfel Avalons sind in der matière de Bretagne jedoch nie hand-
1760 Siehe oben S. 81. 1761 Siehe oben S. 39. 1762 Siehe oben S. 102. 1763 Siehe oben S. 103.
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lungsrelevant: Avalon ist eine „Apfelinsel“ nur, weil sie „Apfelinsel“ heißt, jedoch nicht, weil diese Äpfel dort irgendeine weitere Rolle spielen würden. Eine konkrete Rolle für die Handlung der jeweiligen Geschichten spielen jedoch die Äpfel des Landes der Frauen in der irischen Literatur. In Immram Brain verwendet die Anderweltsfrau, die Bran zur Reise ins Land der Frauen bewegen will, einen silbernen Apfelzweig mit wundersamen Eigenschaften als eines ihrer Lockmittel. Ähnlich ist der Fall von Echtrae Chonnlai: Die Anderweltsfrau gibt Connlae dort einen anderweltlichen Apfel, der ihn für einen Monat ernährt, ohne je weniger zu werden – und am Ende dieses Monats ist Connlae einer unwiderstehlichen Sehnsucht nach der anderweltlichen Frauengestalt verfallen. Solche anderweltliche Früchte und Fruchtzweige spielen in der irischen Literatur eine gleichermaßen häufige und prominente Rolle; das Motiv hat sogar in eine lateinische Vita des Hl. Ailbe Eingang gefunden, wo Ailbe einen solchen Fruchtzweig von einem Besuch im irdischen Paradies(?) mitbringt. Für den Vergleich mit dem nordischen Material ist dabei von besonderer Bedeutung, dass die irischen Anderweltsäpfel nicht nur als funktionslose Staffage erscheinen (wie ihr Äquivalent in der arthurischen Literatur), sondern gerade in den frühesten Zeugnissen eine Rolle beim Versuch der anderweltlichen Mächte spielen, den menschlichen Helden zu sich in die Anderwelt zu locken – ganz wie im nordischen Fall des Guthmundus, der die Früchte seines Gartens verwenden will, um Gormo und Thorkillus bei sich zu behalten. * ** Der detaillierte Vergleich des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Motivkomplexes mit Texten der arthurischen Literatur und irischem Erzählgut insbesondere des Frühmittelalters ergibt somit, dass in Hinblick auf alle betrachteten Leitmotive grundsätzliche Ähnlichkeiten zwischen dem nordischen und dem keltischen Material bestehen. Diese Ähnlichkeiten sind jedoch längst nicht für jeden der traditionellen Vergleichspunkte gleichermaßen stark ausgeprägt: So bestehen in Hinblick auf den „Inselcharakter“ der verschiedenen besprochenen Anderweltsorte trotz struktureller Parallelen unleugbare Unterschiede zwischen dem nordischen und dem keltischen Material,¹⁷⁶⁴ die noch zu diskutieren sein werden,¹⁷⁶⁵ und auch die erotischen Konnotationen der anderweltlichen Frauengestalten werden durch tiefgreifende Unterschiede in ihren Gesamtcharakteren stark relativiert. Ferner muss das „Gartenmotiv“ als Vergleichspunkt aus quellenkritischer Perspektive zumindest potentiell hinterfragt werden, da sich sein ältester Beleg im Norden nicht nur als heidnisches Mythologem, sondern auch als literarisches Zitat (Lotophagen) deuten lässt. Der detaillierte nordisch-keltische Vergleich erbrachte neben solchen kritischen Anfragen jedoch auch positive
1764 Vgl. schon Nutt 1895, S. 308. 1765 Siehe unten S. 516 ff.
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neue Perspektiven auf den Grad der Ähnlichkeit zwischen Glæsisvellir/Ódáinsakr und dem keltischen Material: Durch die detaillierte Berücksichtigung des irischen Materials wurde deutlich, dass zwischen dem irischen Land der Frauen und dem nordischen Motivkomplex mitunter deutlich engere Übereinstimmungen bestehen, als sich diese zum arthurischen Material nachweisen lassen; diese Übereinstimmungen bezogen sich dabei auch auf teilweise auffällige, aber nichtsdestoweniger bisher übersehene Details (wie die nordisch-irische Parallelität in der spezifischen Verwendung des Apfelmotivs). Der nächste Abschnitt dieses Kapitels wird nun die Frage zu stellen haben, wie diese Übereinstimmungen zu deuten sind.
7.4 Zufall, indogermanisches Erbe, Religionskontakt und literarische Entlehnung: Mögliche Bewertungen der nordisch-keltischen Parallelen 7.4.1 Das methodische Problem der Signifikanz Jede kulturvergleichende Untersuchung, die mögliche Beispiele interkultureller Rezeptionsprozesse behandelt, hat sich die Frage zu stellen, ob die beobachteten Motivparallelen signifikant genug sind, um eine zufällige Polygenese als Erklärung plausibel auszuschließen. Dieses ‚Problem der Signifikanz‘ hat dabei zwei zentrale Aspekte: Zum einen die Komplexität der wiederkehrenden Motivverbindung, und zum anderen das Verhältnis dieser Komplexität zur Enge des anderweitig bezeugten kulturellen Austauschs zwischen den fraglichen Kulturen. Die Komplexität der Motivverbindung bemisst sich dabei danach, aus wie vielen und wie spezifischen unabhängigen Einzelzügen sich der Motivkomplex zusammensetzt: Je größer die Anzahl seiner Charakteristika, desto unwahrscheinlicher ist, dass alle diese Charakteristika in einer anderen Kultur wiederkehren, ohne dass diese Wiederkehr auf einem direkten oder indirekten Kultureinfluss beruht. Eine wichtige Einschränkung ist hier freilich, dass diese Charakteristika von einander „unabhängig“ sein müssen, d. h.: Ein Charakteristikum ist nur dann von Relevanz, wenn es nicht von einem anderen Charakteristikum bereits impliziert wird. Im gegenwärtigen Fall wär es somit z. B. nicht statthaft, sowohl die „Insellage“ als auch die Notwendigkeit einer Seereise zum Erreichen eines anderweltlichen Gefildes als unabhängige Charakteristika zu zählen: Die Lage der Anderweltsinsel in den Weiten des Ozeans impliziert bereits, dass diese Anderwelt nur zu Schiff zu erreichen ist; die „Insellage“ der Anderwelt und die Notwendigkeit einer Seereise zu ihrem Besuch sind somit nur zwei unterschiedliche Formulierungen ein und desselben Charakteristikums. Die Komplexität der Motivverbindung ist zugleich zur Intensität des Kontakts zwischen den fraglichen Kulturen in Beziehung zu setzen: Je enger der Kontakt zwischen den jeweils verglichenen Kulturen, umso weniger streng müssen die Ansprüche sein, die an die Komplexität einer Motivverbindung zu stellen sind, um eine historische
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Verbindung zwischen den verglichenen Materialien plausibel zu machen. Ebenso gilt der Umkehrschluss: Je geringer die Intensität historisch bezeugter Kontakte zwischen zwei Kulturen ist, desto komplexer muss eine in beiden Kulturen wiederkehrende Motivverbindung sein, um einen historische Zusammenhang plausibel zu machen. Konkret heißt dies etwa, dass ein Vergleich zwischen den Kulturen der Maya und des alten Ägypten in Anbetracht des Fehlens von Hinweisen auf historische Kontakte ungemein detaillierte Übereinstimmungen aufweisen müsste, um die Möglichkeit historischer Verbindungen ernsthaft in Erwägung ziehen zu können; ein Vergleich zwischen den Lokalkulturen der beiden Kykladeninseln Paros und Naxos hingegen könnte schon bei vergleichsweise trivialen Übereinstimmungen von der Existenz eines historischen Zusammenhangs ausgehen. Das Verhältnis der Komplexität des im gegenwärtigen Zusammenhang behandelten Motivkomplexes der nordischen und keltischen „Unsterblichkeitsinseln“ zur Intensität (und Art) der anderweitig historisch bezeugten nordisch-inselkeltischen Kulturkontakte soll jedoch der Gegenstand eines späteren Abschnitts sein; denn ehe dieses Verhältnis sinnvoll diskutiert werden kann, ist zuerst noch die Frage zu stellen: Wie komplex ist die hier untersuchte Motivverbindung für sich allein betrachtet? Der nordische Motivkomplex, für den hier die Hypothese einer keltischen Herkunft untersucht wird, zeigt in Hinblick auf folgende Leitmotive Parallelen zum keltischen Vergleichsmaterial: (1) die Lokalisierung der jeweiligen Anderweltsorte jenseits einer Wasserbarriere – insbesondere, aber nicht notwendigerweise auf einer Insel im engeren Sinne – und ihre Assoziation mit (2) Unsterblichkeit, (3) anderweltlichen Frauengestalten, (4) Sexualität, (5) Licht/Glanz/Kristall und (6) Gärten. Rein nummerisch bewegt sich dieser Katalog von Übereinstimmungen in einem problematischen Mittelfeld zwischen extrem detaillierten Übereinstimmungen einerseits und trivialen Parallelen andererseits: Sechs übereinstimmende Charakterzüge sind zwar deutlich mehr, als in der Forschungsgeschichte zu keltischen Einflüssen in der germanischen Religionsgeschichte üblicherweise vorgebracht wurden, um das Postulat historischer Verbindungen zu untermauern;¹⁷⁶⁶ zugleich ist diese Zahl paralleler Einzelelemente jedoch auch nicht so groß, dass sie den Schluss eines historischen Zusammenhangs unmittelbar erzwingen würde. Wie die Übereinstimmungen zwischen dem nordischen Befund und dem keltischen Vergleichsmaterial zu bewerten sind, ist somit nicht „offensichtlich“. Dies ist umso problematischer, als ein im strengen Sinne objektiver Maßstab zur Bewertung von interkulturellen Parallelen bislang fehlt und auch für die Zukunft nicht zu erwarten ist; damit ist gerade die Bewertung von unklaren Zweifelsfällen in einem sehr hohen Maß dem subjektiven Empfinden überlassen. Es sei daher schon jetzt eingestanden, dass es hier nicht darum gehen soll – und nicht darum gehen kann – eine
1766 Für einen umfassenden kritischen Überblick über die Geschichte der Forschung zu keltischen Einflüssen in der germanischen Religionsgeschichte vgl. Egeler 2013 (Celtic Influences).
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„objektive“ und vermeintlich sichere Antwort auf die Frage nach der Signifikanz der nordisch-keltischen Parallelen zu geben. Erreichbar ist nur das deutlich bescheidenere Ziel, einige Aspekte der Frage soweit zu beleuchten, dass die im Folgenden näherungsweise vorgeschlagene Bewertung für den Leser nachvollziehbar wird, ohne ihre Unsicherheiten zu verbergen oder zu verleugnen. Eine Möglichkeit, eine Perspektive darauf zu gewinnen, wie signifikant der hier behandelte Motivkomplex ist, stellt der Vergleich mit religionsgeschichtlichen Befunden dar, die von Vorstellungen des nordischen und keltischen Bereichs mit Sicherheit unabhängig sind.¹⁷⁶⁷ Zusammenstellungen von entsprechendem Material sind bereits mehrfach vorgelegt worden, insbesondere unter dem Schlagwort „Inseln der Seligen“. An erster Stelle ist hier eine monographische Materialsammlung Günter Lanczkowskis zu nennen,¹⁷⁶⁸ die ungeachtet der Probleme ihrer phänomenologischen Methode einen breiten Überblick über eine Vielzahl von einschlägigen religionsgeschichtlichen Materialien gibt. Diesem Buch sind ferner verschiedene ältere Materialsammlungen in Artikellänge an die Seite zu stellen; trotz ihres Alters eine der grundlegendsten stammt aus der Feder von Johannes Zemmrich.¹⁷⁶⁹ Die in diesen Veröffentlichungen vorgelegten Materialsammlungen zu insularen Anderwelten und irdischen Paradiesen eignen sich dazu, als Vergleichsmaterial zum Glæsisvellir/ Ódáinsakr-Komplex und seinen keltischen Parallelen zu dienen: Der Vergleich mit diesem Material kann eine Perspektive darauf eröffnen, ob die keltisch-nordischen Parallelen trivial oder ungewöhnlich detailliert sind. Dies gilt unabhängig davon, dass Materialsammlungen wie diejenigen Lanczkowskis und Zemmrichs gewiss keine Vollständigkeit beanspruchen können:¹⁷⁷⁰ Bei dem Material, das diesen Sammlungen zugrunde liegt, handelt es sich nicht um eine (unmögliche) erschöpfende Sammlung des gesamten potentiell relevanten Vergleichsmaterials, sondern jeweils nur um eine breite Auswahl. Falls der Vergleich mit diesen Materialsammlungen kein Vergleichsmaterial zum Vorschein bringt, das alle nordisch-keltischen Merkmale zeigt, so erlaubt dies entsprechend nicht die Schlussfolgerung, dass die nordisch-keltischen Parallelen weltweit einzigartig wären; denn die Nichtexistenz genau entsprechender Vorstellungen in anderen Kulturen ist grundsätzlich nicht beweisbar. Ein Fehlen entsprechenden Materials in diesen Sammlungen würde jedoch zumindest einen starken
1767 Außer Acht bleiben daher die „Inseln der Hesperiden“, die „Inseln der Seligen“ und verwandte mediterrane Vorstellungen, da für diese das vollständige Fehlen kulturgeschichtlicher Verbindungslinien zu den keltischen und nordischen Unsterblichkeitsgefilden nicht von Vorneherein als gegeben vorausgesetzt werden kann, siehe oben S. 8 f. mit Anm. 31. 1768 Lanczkowski 1986. 1769 Zemmrich 1891; ferner vgl. etwa Perry 1921; MacCulloch et al. 1908. 1770 Contra Lanczkowskis Anspruch, alle wichtigen Quellen zum Thema der „Inseln der Seligen“ zu erfassen: „Das Thema, das bisher monographisch nur in wenigen Aufsätzen eine auswahlweise Behandlung gefunden hat, soll auf den folgenden Blättern in größerer Ausführlichkeit und unter Berücksichtigung aller wesentlichen Belege dargestellt werden“ (Lanczkowski 1986, S. 15).
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Hinweis darauf darstellen, dass die nordisch-keltischen Übereinstimmungen typologisch selten und aufgrund dieser Seltenheit vermutlich signifikant sind. Eine Durchsicht der genannten Materialsammlungen fördert einige außereuropäische Vorstellungskomplexe zu Tage, die auffallende Parallelen zum nordisch-keltischen Motivkomplex aufweisen. So steht der mit Blattgold belegte „Goldene Tempel“ der Sikhs im nordwestindischen Punjab auf einer Insel im „See der Unsterblichkeit“ (Amritsar);¹⁷⁷¹ er verbindet so die Elemente „Inselcharakter“, „Glanz“ (Gold!) und „Unsterblichkeit“ und zeigt damit drei der sechs Elemente des nordisch-keltischen Komplexes. Von den südpazifischen Tongainseln liegen seit dem frühen 19. Jahrhundert Berichte über damals dort geläufige Vorstellungen von einer Anderweltsinsel namens Bulotu vor, die im fernen Nordwesten der Tongainseln lokalisiert wurde. Dort wohnten die Götter und die Seelen der Vornehmen, und sie sei voller Früchte, Blumen und essbarer Tiere. Für Menschen ist diese Insel grundsätzlich zugänglich – wenn auch schwer erreichbar –, doch können Sterbliche nichts berühren, was sich dort befindet, da die Früchte, Gebäude und Einwohner von Bulotu für sie die Konsistenz von Schatten haben; zudem führt der Besuch von Bulotu für Sterbliche zu einem baldigen Tod.¹⁷⁷² Insgesamt handelt es sich bei Bulotu somit um eine stark gartenhafte Anderweltsinsel, die in dieser Weise zumindest zwei der Charakteristika des keltisch-nordischen Komplexes teilt (Garten und anderweltliche Insel). Ferner ist unter den maritim-mythologischen Vorstellungen des Südpazifiks eine Erzählung von einer „Insel der Frauen“ erwähnenswert:¹⁷⁷³ The Tonga people have also a story among them respecting an island of immortal women existing somewhere to the north-west of Fiji; but this is suspected to be rather a Fiji tale than a tradition of their own, and consequently is not much believed among them. These immortal women are considered to be hotooas ;¹⁷⁷⁴ but they are thought to have all the passions and propensities properly belonging to women of this world, insomuch that it is dangerous for canoes to put in there; not that the crew would be positively ill-treated by these fair goddesses, but too much kindness sometimes destroys as effectually, though perhaps not so quickly, as too much severity. It is reported that a Fiji canoe was once driven there by a gale of wind. The men landed, and were charmed with the truly kind reception they met with; but in a day or two, finding the climate much too warm for their constitution, they wisely betook themselves again to their canoe, and with some difficulty reached the Fiji Islands, bringing sundry marvellous accounts of the nature of the country, and the reception they met with. This story is prevalent, not only at Tonga and Fiji, but also at Hamoa (the Navigator’s Island). Some of the Fiji people believe it: the Hamoa people doubt it very much; and the generality of the Tonga people deny it altogether.¹⁷⁷⁵
1771 Lanczkowski 1986, S. 84. 1772 Lanczkowski 1986, S. 45 f.; Jevons 1896, S. 123; Zemmrich 1891, S. 221; Martin 1827, S. 102 f. 1773 Vgl. Zemmrich 1891, S. 223. 1774 Die „Hotooas“ sind Martin zufolge „gods, or superior beings, who have the power of dispensing good and evil to mankind, according to their merit, but of whose origin they form no idea, rather supposing them to be eternal“: Martin 1827, S. 99. 1775 Martin 1827, S. 116 f. (=Martin 1817, S. 128 f.). Für eine kurze Erwähnung dieser Insel göttlicher Frauen in einer fidschianischen Geschichte, die schon von MacCulloch in die Diskussion um das iri-
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Diese Erzählung von einer anderweltlichen Insel göttlich-übermenschlicher, verführerischer Frauen teilt mit dem hier analysierten germanisch-keltischen Komplex zumindest auf einer abstrakten Ebene die Motive „Anderweltsinsel“, „Unsterblichkeit“, „Frauengestalten“, „Sexualität“ und „Gärten“ (wobei letztere im hier zitierten, stark gerafften Bericht wohl in den „marvellous accounts of the nature of the country“ impliziert sein dürften). Auf einer abstrakten Ebene liegt somit eine fast vollständige Übereinstimmung mit dem nordisch-keltischen Motivkomplex vor; nur das Element „Licht/Glanz/Kristall“ fehlt. Freilich ist diese Übereinstimmung mit Hinblick auf die konkrete Erzählung stark zu relativieren, da die „Unsterblichkeit“ im pazifischen Bericht den menschlichen Besuchern gerade nicht zuteil wird; vielmehr ist das dortige Klima für Sterbliche sogar besonders ungesund. Eine ähnlich enge, aber letztlich gleichfalls nicht identische Schilderung eines pazifischen Inselparadieses wird ferner von L. Radermacher zitiert:¹⁷⁷⁶ Dort wird das Jenseits, das die guten Verstorbenen erwartet, als eine gartenhafte, fruchtbare Insel beschrieben, die mit „einer überreichen Menge schöner Frauen“ bevölkert ist.¹⁷⁷⁷ Auch hier finden sich enge Parallelen zum nordisch-irischen Komplex (Anderweltsinsel; Garten; Frauen), doch keine genaue Übereinstimmung, da es sich nicht um ein Land der Unsterblichkeit handelt, sondern um ein Totenreich. Typologisch von besonderem Interesse sind ferner die chinesischen „Inseln der Seligen“, die W. Perceval Yetts und J. A. MacCulloch schon vor einem Jahrhundert mit der Anderweltsinsel von Immram Brain verglichen haben:¹⁷⁷⁸ Vor allem taoistische Texte lokalisieren Inseln im Pazifischen Ozean, deren Einwohner ein ewiges Leben genießen. Dort gibt es ganze Wälder aus Bäumen voller Perlen und Edelsteine, und dort wachsen duftende Blumen und Früchte, deren Genuss die Unsterblichkeit verleiht. Die Bewohner dieser Inseln leben in Palästen, die aus Gold, Silber, Jade und Kristall erbaut sind, und die dortigen Tiere sind von leuchtend weißer Farbe.¹⁷⁷⁹ Mit
sche „Land der Frauen“ eingebracht wurde (MacCulloch 1911, S. 386 [Anm. 1]), vgl. Williams 1858, S. 115. 1776 Radermacher 1903, S. 33 (Anm. 1). 1777 Zitat: ibidem. 1778 Yetts 1919, S. 49; MacCulloch 1911, S. 385; MacCulloch et al. 1908, S. 693. 1779 Lanczkowski 1986, S. 23–25; Bauer 1971, S. 144–147; Perry 1921, S. 158; Yetts 1919, bes. S. 35–46. Für die genau entsprechenden japanischen Vorstellungen von Inseln der Seligen vgl. Perry 1921, S. 159; MacCulloch 1911, S. 385; MacCulloch et al. 1908, S. 693, 701. MacCulloch verweist als Vergleichsmaterial zum irischen „Land der Frauen“ ferner auch auf eine Erzählung der Ainu, eines der Urvölker Japans, in der von einer Insel der Frauen berichtet wird (MacCulloch 1911, S. 385; MacCulloch et al. 1908, S. 693). In dieser Geschichte werden drei Männer in ihrem Boot durch einen Sturm auf die Insel der Frauen verschlagen und dort freundlich aufgenommen. Da sie im Frühling im Land der Frauen ankommen, müssen sie aufgrund einer ‚Eigenheit‘ dieses Landes bis zum Winter warten, ehe sie die Herrinnen dieses Landes heiraten können. Die Zeit bis zum Wintereinbruch verbringen die Männer daraufhin hinter einem goldenen Netz, und im Winter werden sie zu den Ehegatten der drei Herrscherinnen dieses Landes gemacht. Im darauffolgenden Frühling wird ihnen jedoch gesagt, dass es nun
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dem nordisch-keltischen Material teilt dieser chinesische Motivkomplex somit die Elemente „Insellage“, „Unsterblichkeit“, „Licht/Glanz/Kristall“ und „Gärten“. Der im Vergleich zu den nordwesteuropäischen Anderweltsinseln wesentlichste fehlende Punkt sind die verführerischen Frauengestalten, die auf den chinesischen „Inseln der Seligen“ kein Gegenstück haben; dieses Fehlen eines sexuellen Elements wurde schon von Yetts als ein wichtiger Unterschied hervorgehoben.¹⁷⁸⁰ Die Verbindung des Unsterblichkeits- und des Gartenmotivs mit einer anderweltlichen Frauengestalt findet sich dafür in einem chinesischen geographischen Mythos über das Innere Zentralasiens: Im Kunlun-Gebirge – einem Fundgebiet von Jade und Gold – befinde sich ein Reich unsterblicher Wesen unter der Herrschaft einer unsterblichen Königin, wo ein Pfirsichbaum wächst, dessen Früchte das Leben verlängern.¹⁷⁸¹ W. J. Perry vergleicht den Umstand, dass dieses Land der Unsterblichkeit einer weiblichen Herrschergestalt untersteht, mit dem keltischen Befund;¹⁷⁸² freilich handelt es sich bei diesem zentralasiatischen Land der Unsterblichkeit jedoch um keine Insel, so dass auch hier nur eine sehr näherungsweise Analogie zum nordisch-keltischen Komplex vorliegt. Diese hier kurz zusammengefassten und zum nordisch-keltischen Komplex der Unsterblichkeitsinseln in Beziehung gesetzten Vorstellungskomplexe sind die engsten außereuropäischen Parallelen, die sich in den genannten Materialsammlungen zum Motiv der „Inseln der Seligen“ finden lassen.¹⁷⁸³ Diese außereuropäischen Parallelen machen einerseits deutlich, dass der nordisch-keltische Motivkomplex keineswegs Motive miteinander verbindet, deren Kombination per se typologisch unwahrscheinlich wäre: Alle sechs Grundmotive, die den nordisch-keltischen Komplex kennzeichnen, tauchen in unterschiedlichen Kombinationen auch in diesem außereuropäischen Material auf. Zugleich findet sich in diesem Material andererseits jedoch kein Zeugnis, das eine vollständige Übereinstimmung mit dem nordisch-keltischen Komplex darstellen würde.¹⁷⁸⁴ Dies lässt zwar nicht den Schluss zu, dass ein solches Zeugnis in der außereuropäischen Religionsgeschichte nicht existiert oder gar nie existiert hat, es stellt jedoch möglicherweise ein Indiz dafür dar, dass der nordisch-
an der Zeit für sie ist, das Land der Frauen wieder zu verlassen. Jetzt wird den Männern erklärt, worin die ‚Eigenheit‘ des Landes der Frauen besteht: Im Frühling wachsen den dortigen Frauen Zähne in ihrer Vagina, so dass sie bis zum Winter keinen Mann haben können. (Englische Übersetzung der Ainu-Erzählung nach einem mündlichen Vortrag im Jahr 1886: Chamberlain 1888, S. 37–39.) Eine tatsächliche Vergleichbarkeit mit dem irischen Motiv scheint hier nicht vorzuliegen, da den Männern kein Versprechen von Unsterblichkeit gemacht wird und dieses Land der Frauen auch ansonsten schwerlich einen besonders paradiesischen Charakter hat. 1780 Yetts 1919, S. 49, vgl. S. 46, 47, 48. 1781 Perry 1921, S. 163, 170; vgl. Bauer 1971, S. 142–144. 1782 Perry 1921, S. 163. 1783 Lanczkowski 1986; Perry 1921; MacCulloch et al. 1908; Zemmrich 1891. 1784 Vgl. Jevons 1896, S. 123.
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keltische Komplex als ganzer typologisch vergleichsweise selten sein könnte. Das wiederum würde bedeuten, dass die Parallelen zwischen dem nordischen und dem inselkeltischen Befund zumindest dann als signifikant gelten dürfen, wenn intensive nordisch-inselkeltische Kontakte aufgezeigt werden können, die einen einfachen Vermittlungsweg für diesen Motivkomplex dargestellt haben könnten. Ähnliches dürfte im Übrigen auch für die enge Übereinstimmung zwischen Thomas Bartholins Erzählung über den Ódáinsakur im Hvanndalur und Giraldus Cambrensis’ Bericht über eine Klosterinsel in einem See in Munster gelten. Beide Texte berichten von einem Unsterblichkeitsgefilde am oder im Wasser, dessen Versprechen der Unsterblichkeit durch das Fehlen ewiger Jugend und Gesundheit zu einem Fluch wird, der nur dadurch aufgehoben werden kann, dass der Leidende dieses Gefilde verlässt – und sofort darauf stirbt. Die genauen Übereinstimmungen zwischen den Berichten des Giraldus Cambrensis und Thomas Bartholins des Jüngeren dürften aller Wahrscheinlichkeit nach signifikant sein. Ein caveat besteht aufgrund der idiosynkratischen Natur dieser Erzählungen jedoch dahingehend, dass für dieses sehr spezifische Motiv keine Materialsammlungen vorliegen, die zum Vergleich herangezogen werden und als Maßstab zur Bewertung seiner Signifikanz dienen könnten. Immerhin sei auf den bekannten griechischen Mythos vom Schicksal des Tithonos hingewiesen, wie er etwa im fünften Homerischen Hymnus erzählt wird („An Aphrodite“, dort Z. 218–238): Eos nimmt sich den sterblichen Mann Tithonos zu ihrem Geliebten und erbittet für ihn von Zeus die Unsterblichkeit. Dieser Wunsch wird ihr gewährt. Eos hatte jedoch vergessen, auch um die Gabe ewiger Jugend zu ersuchen, so dass Tithonos vom Alter schließlich all seiner Kraft beraubt wird, ohne im Tod Erlösung finden zu können. Diesem griechischen Mythos fehlt die Anbindung des Motivs an einen unsterblichkeitsspendenden Ort, an eine Lokalität im oder am Wasser, und die Möglichkeit des Entrinnens durch das Verlassen dieses Ortes; auch scheinen die nordwesteuropäischen Texte das zentrale Problem eines solchen ewigen Lebens in unheilbaren Krankheiten zu sehen, während Tithonos nicht an einer Krankheit, sondern am Alter leidet. Die Übereinstimmungen sind aber dennoch immerhin eng genug, um zu einer gewissen Vorsicht bei der Bewertung der Signifikanz des nordisch-irischen Motivs zu raten.¹⁷⁸⁵ In Anbetracht dieses Umstands gilt somit auch für dieses Motiv, dass es nur dann als signifikant gelten kann, wenn ein kulturgeschichtlicher Vermittlungsweg klar ersichtlich ist.
1785 Ferner vgl. auch die japanische Erzählung von Wasoblowe, der nach einer langen Reise auf die japanische Insel der Seligen gelagt, sich in Anbetracht des dortigen Glücks schließlich jedoch so langweilt, dass er sich nach dem Tod oder der Flucht zu sehnen beginnt – wobei ihm der Tod auf dieser Unsterblichkeitsinsel aber verwehrt ist. Am Ende flieht er auf dem Rücken eines riesigen Storchs. (MacCulloch et al. 1908, S. 701.)
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7.4.2 Zur Typologie möglicher historischer Beziehungen Falls es sich bei den Parallelen zwischen dem Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex und dem keltischen Vergleichsmaterial nicht um Zufall, sondern um einen Reflex historischer Beziehungen handelt, dann gibt es – wie oben bereits kurz ausgeführt – vier grundsätzliche Möglichkeiten, diese historischen Beziehungen zu konzeptualisieren:¹⁷⁸⁶ (1) gemeinsames vorgeschichtliches Erbe; (2) Kulturkontakt in vorchristlicher Zeit; (3) Kulturkontakt zwischen den christlichen Inselkelten und den noch heidnischen Nordgermanen während der Wikingerzeit; und (4) literarische oder folkloristische Kontakte zwischen den Kulturen des christlichen Mittelalters. Die Möglichkeiten (1) und (2) dürften im vorliegenden Fall beide aus chronologischen Gründen und aus Gründen der nordischen Beleglage auszuschließen sein. Indogermanische Deutungen des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplexes wurden in der Geschichte der Forschung zwar vorgeschlagen: In der bisher ausführlichsten Behandlung der Parallelen zwischen dem Ódáinsakr und Vorstellungen von ‚seligen Anderwelten‘ insbesondere in den Mythologien Irlands und Griechenlands gelangte Alfred Nutt am Ende des 19. Jahrhunderts zur Schlussfolgerung, dass es sich bei den einschlägigen Vorstellungen – und damit auch dem Ódáinsakr und dem Land der Frauen – in ihrem Kern um indogermanisches Erbe handle.¹⁷⁸⁷ In jüngerer Zeit wurde der Ódáinsakr von Bruce Lincoln als ‚authentischer germanischer Reflex‘ indogermanischer Paradiesvorstellungen gedeutet.¹⁷⁸⁸ Solchen Ansätzen steht innerhalb der neueren fachphilologischen Forschung jedoch die Auffassung gegenüber, dass die Ausbildung des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplexes innerhalb der literarischen Mythologie Nordeuropas eine späte Entwicklung darstellt.¹⁷⁸⁹ Das wesentlichste Argument für diese Auffassung ist das vollständige Fehlen jeglicher Anspielungen auf den Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplex in den Hauptquellen für die Mythologie des vorchristlichen Nordens: der Skaldendichtung, der eddischen Dichtung und Snorris Prosa-Edda. Das völlige Schweigen dieser Quellen legt nahe, dass der Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex zumindest nicht zum Kernbestand der spätheidnischen Mythologie Nordeuropas gezählt haben dürfte – wenngleich absolute Sicherheit in Anbetracht des fragmentarischen Zustands der Quellen natürlich nicht zu erreichen ist. Falls die Quellenlage jedoch nicht extrem irreführend ist, stellt sie zumindest ein starkes Argument dafür dar, dass die Annahme eines großen Alters für den Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex alle Wahrscheinlichkeiten gegen sich hat. Eine Interpretation der Parallelen zwi-
1786 Siehe oben S. 482. 1787 Nutt 1895. 1788 Lincoln 1980 (Paradise), bes. S. 159: „an authentic German reflex of a Proto-Indo-European idea“. 1789 Vgl. Simek 1993, S. 112, 121. Skeptisch gegenüber einer indogermanischen Deutung vgl. schon MacCulloch et al. 1908, S. 703.
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schen dem Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex und dem keltischen Vergleichsmaterial als gemeinsames indogermanisches (o. ä.) Erbe ist entsprechend sehr unwahrscheinlich. Dasselbe gilt für eine Lokalisierung des Ursprungs dieser Parallelen in Religionskontakten der vorchristlichen Zeit (=Deutungsmöglichkeit [2]): Da die Christianisierung Irlands bereits im 6. Jahrhundert ihren Abschluss fand, hätten entsprechende Kulturkontakte spätestens zu dieser Zeit stattfinden müssen – und damit zumindest drei Jahrhunderte vor dem Einsetzen unserer Quellen für die nordische Mythologie. Eine solche Interpretation sähe sich denselben Problemen gegenübergestellt wie eine indogermanische Deutung, da auch sie sich der Frage zu stellen hätte, wie eine solche frühe Entlehnung sich zum von den Quellen vermittelten Eindruck verhält, dass es sich beim Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex innerhalb der nordischen Mythologie um ein gleichermaßen spätes und randständiges Phänomen handelt. Damit verbleiben die Deutungsmöglichkeiten (3) und (4): Kulturkontakte während der Wikingerzeit und literarische oder folkloristische Beziehungen zwischen den Literaturen des christlichen Mittelalters. Keine dieser beiden verbleibenden Deutungsmöglichkeiten kann ohne Weiteres einen Alleingeltungsanspruch erheben. Falls Wilhelm Heizmanns Interpretation des landnahmezeitlichen Streits um die Hvanndalir als indirekter Beleg für eine schon landnahmezeitliche Verbindung dieses Tals mit dem Ódáinsakr richtig ist – und diese Interpretation stellt bisher die eleganteste Deutung des Materials dar –, dann ergibt sich daraus unmittelbar, dass zumindest einzelne Elemente des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplexes Island bereits mit der ersten nordischen Besiedlung erreicht haben. Dies würde den Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex zumindest in der Form, in der er mit den Hvanndalir verbunden war, zu einem Element der noch spätheidnischen Mythologie Islands machen. Zugleich sind auch rein literarische Bezüge eindeutig fassbar: Der Helga þáttr beginnt mit einem Zitat des Lanval der Marie de France – und stellt damit eine eindeutig literarische Überformung des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplexes nach dem unmittelbaren Vorbild der arthurischen Literatur dar.¹⁷⁹⁰ Insgesamt lässt sich zur Bewertung der nordisch-keltischen Parallelen somit Folgendes festhalten: Falls die vom Vergleich zwischen dem nordischen und dem keltischen Material aufgezeigten Parallelen als signifikante Indizien für eine direkte historische Beziehung zwischen dem nordischen und dem keltischen Befund gelten können, dann sind die historischen und sozialen Kontexte dieser Beziehung einerseits in Kulturkontakten während der Wikingerzeit und der isländischen Landnahmezeit zu suchen, und andererseits in literarischen Beziehungen zwischen der altnordischen und (zumindest) der arthurischen Literatur. Aufgabe der folgenden Seiten wird es sein, ein Modell für eine mögliche historische und soziale Kontextualisierung ent-
1790 Contra Nutt 1895, S. 304, der das arthurische Material nicht berücksichtigte und eine literarische Beziehung zwischen dem nordischen und dem inselkeltischen (irischen) Material auf dieser lückenhaften Grundlage noch ausschloß.
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sprechender landnahmezeitlicher Kulturkontakte zu entwickeln und einige Gedanken zu ihrer Gewichtung gegenüber den rein literarischen Beziehungen während des Hochmittelalters vorzulegen.
7.5 Hvítramannaland und Írland et mikla, oder: Von den Britischen Inseln zum Hvanndalur Die Existenz enger und intensiver Kontakte zwischen den wikingerzeitlichen Skandinaviern und den Britischen Inseln ist seit langem fest etabliert. Einen Hinweis darauf, wo genau auf den Britischen Inseln die für die vorliegende Fragestellung relevanten Kontakte stattgefunden haben dürften, hat der oben vorgelegte detaillierte Vergleich zwischen dem nordischen Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex, der arthurischen Insel Avalon und dem irischen Land der Frauen gegeben: Dieser Vergleich hat wiederholt aufgezeigt, dass die nordisch-keltischen Parallelen gerade zwischen dem isländischen und dem irischen Material besonders ausgeprägt sind. Wo die arthurische Literatur und die literarische Mythologie Irlands sich in der Behandlung ihrer jeweiligen anderweltlichen Unsterblichkeitsinseln in Hinblick auf einzelne Punkte unterschieden, dort stellte das nordische Material generell eine engere Parallele zum irischen als zum arthurischen Befund dar. Dies legt nahe, dass zumindest ein wesentlicher Teil der Vermittlung des Motivkomplexes – falls den Parallelen tatsächlich eine Motivvermittlung zugrunde liegt – seinen Ausgang in nordisch-irischen Kulturbeziehungen genommen haben dürfte. Die Existenz enger Kontakte zwischen der nordischen und der gälischen Kultur während der Wikingerzeit ist im Grunde eine längst etablierte Selbstverständlichkeit; nicht umsonst wird traditionell die Plünderung des Klosters Lindisfarne – und damit ein nordisch-gälisches ‚Kontaktereignis‘ – als der Beginn der Wikingerzeit angesetzt. Diese Kontakte beschränkten sich dabei keineswegs auf die Verwüstung irischer und schottischer Klöster.¹⁷⁹¹ Skandinavische Siedler etablierten feste Niederlassungen auf irischem Boden – das Königreich Dublin ist hier das bekannteste, aber keineswegs das einzige Beispiel –¹⁷⁹² und waren durchaus willens, mit einheimischen Herrschern zu kooperieren: So erwähnen die Annalen von Ulster für das Jahr 863 eine Kollaboration zwischen drei Königen der „Ausländer“ und Lorcán mac Cathail, dem König von Mide, um zusammen das Land von Flann mac Conaing zu plündern.¹⁷⁹³ Dass sich auf der Ebene der Oberschicht sogar eine veritable nordisch-gälische Mischkultur ausbil-
1791 Allgemein zu den gälisch-nordischen Kontakten der Wikingerzeit vgl. Griffiths 2010 passim; Valante 2008; Ó Corráin 2008; Holman 2007; Larsen 2001; Clarke et al. 1998; Gísli Sigurðsson 1988. 1792 Für einen Überblick über die politische Geschichte der skandinavischen Siedlungen in Irland vgl. Ó Corráin 2001; Ó Corráin 2008, S. 429–433. 1793 Hgg. und übersetzt von Mac Airt und Mac Niocaill 1983 (dort S. 318/319).
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den konnte, illustrierte bereits das oben ausführlich besprochene irische Preisgedicht Baile suthach síth Emhna auf Rǫgnvaldr, König von Man.¹⁷⁹⁴ Kontakte zwischen Iren und Skandinaviern fanden zudem nicht nur auf dem Boden Irlands, Schottlands und der Inseln der Irischen See statt, sondern auch in Island selbst. Die Verschleppung einer erheblichen Zahl irischer Sklaven und irisch-nordische Mischehen brachten ein gewichtiges irisches Bevölkerungselement nach Island:¹⁷⁹⁵ Sicher die bekannteste einschlägige Anekdote innerhalb der Sagaliteratur ist die Geschichte von der Abstammung des Óláfr pái, dessen Mutter der Schilderung der Laxdœla saga zufolge eine versklavte irische Prinzessin war (Laxdœla saga 12 f.).¹⁷⁹⁶ Dabei mag es sich bei den Einzelheiten dieser Geschichte um literarische Konstruktionen handeln; dass die dahinterstehende Idee der Verschleppung irischer Frauen als Sklavinnen in den nordischen Raum jedoch der historischen Wirklichkeit entspricht, bestätigen Zeugnisse wie ein Eintrag in den Annalen von Ulster, der für das Jahr 821 den Raub einer großen Anzahl von Frauen durch nordische Plünderer verzeichnet.¹⁷⁹⁷ Derartig enge Kontakte konnten auch an der isländischen Kulturgeschichte nicht spurlos vorübergehen; dies zeigt sich schon daran, dass so prominente altwestnordische Personennamen wie Kormakr und Njáll unmittelbar aus dem Irischen entlehnt sind (< air. Cormac, Niall).¹⁷⁹⁸ Selbst im Bereich der nordischen Mythologie gibt es für die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit irischer wikingerzeitlicher Einflüsse Präzedenzfälle: So hat Rosemary Power gewichtige Argumente für eine irische Herkunft der Útgarðaloki-Episode in Snorris Gylfaginning (Kap. 45–47) vorgelegt.¹⁷⁹⁹ Ähnlich findet der Eber Sæhrímnir, der in Walhall täglich geschlachtet, gesotten, gegessen und wiederbelebt wird (Gylfaginning 38), eine genaue Entsprechung in Schweinen der irischen mythologischen Literatur.¹⁸⁰⁰ Irisch-nordische Kontakte spielten für die Siedler der Landnahmezeit nicht zuletzt auch deswegen eine wichtige Rolle, weil nordische Auswanderer auf ihrer Reise nach Island nicht immer den direkten Weg einschlugen, sondern mitunter auf den Britischen Inseln Zwischenstation einlegten;¹⁸⁰¹ andere Siedler wiederum waren
1794 Siehe oben S. 343 ff. 1795 Zur Verschleppung irischer Sklaven vgl. Valante 2008, S. 86–90 (bes. S. 89: „Judging by the names listed in the Landnámabók of the first settlers in Iceland in the 860s, something like one seventh of the colonists had some sort of Irish heritage.“); Gísli Sigurðsson 1988, S. 30–34; Holm 1986, bes. S. 323: „A conservative estimate puts the population of Iceland at 20,000 around AD 930. Perhaps a quarter of this population were slaves, most of them of Celtic origin.“ Zu Mischehen vgl. Gísli Sigurðsson 1988, S. 19 f. 1796 Hgg. von Einar Ól. Sveinsson 1934. 1797 Mac Airt und Mac Niocaill 1983 (dort S. 276/277). 1798 Vgl. Böldl 2013, S. 34; Jónas Kristjánsson 1998, S. 264 f. 1799 Power 1985 (An Óige); vgl. Egeler 2013 (Útgarðaloki); Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 33–43. 1800 Egeler, im Erscheinen (Encounters 6: Celtic) (mit besonderer Berücksichtigung von Fragen der Quellenkritik); Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 81–84; von Sydow 1910, S. 78. 1801 Vgl. Böldl 2013, S. 34; Simek 2009, S. 9; Jónas Kristjánsson 1998, S. 264; Mac Mathúna 1997, S. 212; Mac Mathúna s. a., S. 178; Gísli Sigurðsson 1988, S. 19.
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schon vor ihrer Auswanderung mit Irland vertraut. Beides hat nicht zuletzt in einigen Passagen der Landnámabók einen Niederschlag gefunden. Ein entsprechendes Beispiel, das bereits ganz am Anfang der Landnámabók erscheint, ist die Geschichte von der Benennung der Vestmannaeyjar: Diese „Westmännerinseln“ tragen der Landnámabók zufolge ihren Namen daher, weil dort einige irische Sklaven (=Westmänner) erschlagen wurden, die ihren Herrn ermordet hatten; bei diesem Herrn handelte es sich um einen der ersten isländischen Siedler, und er hatte die besagten Sklaven vor seiner Auswanderung nach Island bei einem Plünderzug in Irland erbeutet (Landnámabók SH 6–8). Von deutlich größerem religionsgeschichtlichem Interesse ist eine Anekdote über einen religiösen Synkretismus, dessen Wurzeln dem Aufenthalt in Irland zugeschrieben wurden: Dieses Motiv erscheint in der Geschichte von Helgi enn magri, der der Landnámabók (S 217 f.) zufolge in Irland erzogen worden und – wohl genau aus diesem Grund – „im Glauben sehr gemischt war; er glaubte an Christus und rief Thor an bei der Seefahrt und in Bedrängnissen“ (Landnámabók S 218: Helgi var blandinn mjǫk í trú; hann trúði á Krist, en hét á Þór til sjófara ok harðræða). Und von direkter Relevanz für das Thema der vorliegenden Arbeit ist schließlich die Erzählung von Hvítramannaland und Írland et mika. Kapitel 122 der Sturlubók-Fassung der Landnámabók berichtet Folgendes über einen Vorfahren des Ari Þorgilsson inn fróði,¹⁸⁰² eines Mitverfassers der verlorenen ältesten Fassung der Landnámabók:¹⁸⁰³ [...]; þeira son var Ari. Hann varð sæhafi til Hvítramannalands; þat kalla sumir Írland et mikla; þat liggr vestr í haf nær Vínlandi enu góða; þat er kallat sex dœgra sigling vestr frá Írlandi. Þaðan náði Ari eigi á brutt at fara ok var þar skírðr. Þessa sǫgu sagði fyrst Hrafn Hlymreksfari, er lengi hafði verit í Hlymreki á Írlandi. Svá kvað Þorkell Gellisson segja íslenzka menn, þá er heyrt hǫfðu frá segja Þorfinn í Orkneyjum, at Ari hefði kenndr verit á Hvítramannalandi ok náði eigi brutt at fara, en var þar vel virðr.¹⁸⁰⁴ [...]; ihr Sohn war Ari. Er wurde nach Hvítramannaland („Weißmännerland“) abgetrieben; das nennen einige Írland et mikla („Großirland“); das liegt gegen Westen im Meer nahe Vínland dem Guten; es heißt davon, dass es sechs Segeltage westlich von Irland liegt. Von da konnte Ari nicht zurückfahren, und er wurde dort getauft. Diese Geschichte erzählte zuerst Hrafn Hlymreksfari („der Limerick-Fahrer“), der lange in Limerick in Irland gewesen war. So sprach Þorkell Gellisson, dass isländische Männer sagten, als sie es Jarl Þorfinn auf den Orkneys erzählen gehört hatten, dass Ari in Hvítramannaland erkannt worden sei und nicht zurückfahren konnte, und dass er dort gut angesehen war.
Diese Beschreibung von Hvítramannaland („Weißmännerland“) bzw. Írland et mikla („Großirland“) ist eine vor nur drei Stellen in der altnordischen Literatur, die dieses
1802 Ahronson 2015, S. 12; Mundal 2011, S. 81. 1803 Vgl. Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 17 f., 242. 1804 Text: Jakob Benediktsson 1968, S. 162 (S 122, H 94).
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Land erwähnen. Die beiden anderen Stellen in der Eiríks saga rauða und der Eyrbyggja saga sind chronologisch später anzusetzen, von der Landnámabók-Passage teilweise direkt abhängig und kaum dazu in der Lage, zum Verständnis der Ursprünge dieses geographischen Mythos einen Beitrag zu leisten; im gegenwärtige Kontext können sie außer Acht gelassen werden.¹⁸⁰⁵ Die Schilderung der Landnámabók enthält die folgenden Hauptelemente: (1) Die Bezeichnung „Großirland“ stellt einerseits eine Verbindung mit Irland her, während sie andererseits impliziert, dass das fragliche Gefilde größer ist als Irland; (2) der Name „Weißmännerland“ impliziert eine Verbindung mit Männern und der Farbe Weiß; (3) dieses Land liegt im Ozean westlich von Irland; (4) es ist ein christliches Land; (5) der Besucher wird dort willkommen geheißen und in Ehren gehalten, kann dieses Land jedoch nicht mehr verlassen; und (6) der erste, der die Geschichte von „Großirland“ erzählte, war Hrafn Limerick-Fahrer, „der sich lange in Limerick in Irland aufgehalten hat“. Bereits Fridtjof Nansen erkannte, dass alle diese Elemente genaue Gegenstücke in der mittelalterlichen irischen Literatur finden.¹⁸⁰⁶ So lässt sich sowohl die Lage im Ozean westlich von Irland als auch die Bezeichnung als Írland et mikla, „Großirland“, unmittelbar mit der Beschreibung des Landes der Frauen vergleichen, die in Immram Brain gegeben wird (§ 25):¹⁸⁰⁷ Fil trí coícta inse cían isind oceon frinn aníar; is mó Érinn co fa dí cach aí díïb nó fa thrí.¹⁸⁰⁸ Es liegen dreimal fünfzig ferne Inseln im Ozean gen Westen; es ist zweimal größer als Irland eine jede von ihnen, oder dreimal.
1805 Für eine Zusammenstellung aller Belege und eine ausführliche Diskussion der Geschichte der Forschung zu Hvítramannaland/Írland et mikla vgl. Ahronson 2015, S. 8–37. Ferner vgl. jüngst Mundal 2011. 1806 Nansen 1911 Bd. 1, S. 353–355; Bd. 2, S. 42–51. Die (zumindest in wesentlichen Zügen) irische Herkunft der Hvítramannaland-Vorstellung wird auch akzeptiert von Young 1937, S. 120–126; de Vries 1956/57, § 580; Löffler 1983 Bd. 1, S. 338; Ingstad 1985, S. 318; Almqvist 1997, S. 229; Ó hÓgáin s. a., S. 256; Mac Mathúna 1997, S. 214–221; Mac Mathúna s. a., S. 180–187; Mundal 2011, S. 83–86. Für ein weiteres Beispiel einer Rezeption der immrama-Erzähltradition und der irischen Praxis der maritimen peregrinatio im Norden vgl. Rekdal 1998 zur Sunniva-Legende. 1807 Siehe oben S. 268; vgl. Nansen 1911 Bd. 1, S. 355; Bd. 2, S. 48. 1808 Text: Mac Mathúna 1985, S. 37.
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Dieses irische maritime Wunderland im Westen wird hier unter Bezugnahme auf die Größe Irlands beschrieben, die es wesentlich übertrifft – ebenso wie das im Westen gelegene „Großirland“ der Landnámabók. Ähnliche Parallelen bietet die irische Literatur zur Bezeichnung „Weißmännerland“ (Hvítramannaland) in Verbindung mit dem christlichen Charakter dieses Orts und dem dortigen Verbleib des Besuchers. Nansen verweist zum Vergleich insbesondere auf eine der Inseln der Navigatio Sancti Brendani, die an einer Stelle der Navigatio als insula anachoritarum bezeichnet wird (Kap. 12), während sie an einer anderen den Namen insula uirorum fortium trägt (Kap. 17). Auf dieser Insel befinden sich drei Chöre in ununterbrochenem Lobgesang: Ein Chor von Knaben, einer von jungen Männern und einer von ehrwürdigen Alten; diese drei Chöre tragen Roben von jeweils einer Farbe: weiß, blau und purpurn. Die Anchoriten dieser Insel fordern Brendan auf, ihnen ‚ihren Bruder zu geben‘ (reddite nobis fratrem nostrum); daraufhin lässt Brendan einen seiner Gefährten auf dieser Insel zurück, wo er in die Gemeinschaft der dortigen Anchoriten aufgenommen wird (Kap. 17). Hier bestehen Übereinstimmungen mit der Hvítramannaland-Schilderung der Landnámabók in zumindest dreifacher Hinsicht: Bei beiden Gefilden handelt es sich um dezidiert christliche Orte (Ari wurde in Hvítramannaland getauft); der Besucher wird in Ehren dort aufgenommen, kann den Ort danach aber nicht mehr verlassen (Ari wurde die Heimreise verwehrt, aber zugleich wurde er mit Hochachtung behandelt); und an beiden Orten spielt die Farbe „Weiß“ eine zentrale Rolle (Hvítramannaland ist das „Weißmännerland“).¹⁸⁰⁹ Eine enge Verbindung der Farbe Weiß mit Anchoriten auf Ozeaninseln ist dabei auch anderweitig gut bezeugt:¹⁸¹⁰ So trifft Brendan in der Navigatio auch auf den Eremiten Paulus, der auf einer kleinen, kreisrunden Felseninsel lebt; dieser Eremit trägt als Kleidung nur die Haare seines Körpers, die ihn zur Gänze bedecken und so weiß sind wie Schnee (Kap. 26). Und in ebensolcher Weise weiß bekleidet ist auch der letzte Anchorit, den Máel Dúin auf seiner Seereise trifft und der ihm seine letzten und entscheidenden Belehrungen zuteilwerden lässt (Immram Curaig Maíle Dúin § 33). Dass die Assoziation (irischer) Anchoriten mit der Farbe Weiß auch in Skandinavien bekannt war, legt ferner die Historia Norvegiae nahe (Kap. VI), wenn sie angibt, dass die papae Alben – und damit weiße Kleidung – trugen: „Die papae sind aber wegen der Alben, mit denen sie sich wie Kleriker bekleideten, so benannt, woher in der deutschen Sprache alle Kleriker ‚Pfaffen‘ genannt werden.“ (Pape uero propter albas, quibus ut clerici induebantur, uocati sunt, unde in Theutonica lingua omnes clerici ‘pape’ dicuntur.)¹⁸¹¹ Romantisierende irische Erzählungen in einer aus den Jahren um 1700 stammenden Handschrift kennen zudem sogar ein Tír na fer fionn, ein „Land der
1809 Vgl. Nansen 1911 Bd. 2, S. 43 f.; Mac Mathúna 1997, S. 219 f.; Mac Mathúna s. a., S. 186 f. 1810 Vgl. Nansen 1911 Bd. 2, S. 44–46 mit diesen und weiteren Beispielen; Mac Mathúna 1997, S. 219 f.; Mac Mathúna s. a., S. 186 f. 1811 Vgl. oben S. 283 und vgl. Ahronson 2015, S. 28. Zitat: Ekrem et al. 2003, S. 64.
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weißen Männer“, das zumindest seinem Namen nach dem nordischen Hvítramannaland genau entspricht.¹⁸¹² Vielleicht ist es auch angebracht, zum Motiv der ‚verwehrten Rückkehr bei hochachtungsvoller Behandlung‘ an Immram Brain und Echtrae Chonnlai zu erinnern: In beiden Texten ist die Heimkehr des edlen Seefahrers nicht vorgesehen; vielmehr bleibt er auf der Anderweltsinsel, wo er in höchstem Ansehen steht und alle erdenklichen Annehmlichkeiten genießt. Tab. 4: Hvítramannaland / Írland et mikla und die irische Literatur Hvítramannaland / Írland et mikla
Irische Anderweltsinseln und maritime Heilsorte
(1) „Großirland“: Verbindung mit Irland und Größenvergleich (2) „Weißmännerland“: Verbindung mit Männern und der Farbe Weiß (3) Lage im Ozean westlich von Irland
Anderweltliche Inselwelt gewaltiger Inseln in Immram Brain Weißgekleidete und weißbehaarte Anchoriten der Navigatio und der immrama Lagebeschreibung des Landes der Frauen in Immram Brain; Seefahrt (zumindest implizit) nach Westen in der Navigatio und den immrama Maritime christliche Heilsorte der Navigatio und der immrama insula anachoritarum der Navigatio; Unmöglichkeit der Rückkehr in Immram Brain und Echtrae Chonnlai Geläufige Motive der irischen Erzählliteratur, deren einfache Rezipierbarkeit nicht zuletzt der internationale Erfolg der Navigatio illustriert
(4) Christliches Land (5) Besucher wird geehrt, kann die Insel jedoch nicht mehr verlassen (6) Quelle für „Großirland“: Hrafn LimerickFahrer(!)
Es ist somit deutlich, dass die Hvítramannaland-Episode der Landnámabók gänzlich aus Motiven der frühmittelalterlichen Literatur Irlands aufgebaut ist (vgl. die zusammenfassende Tabelle). Dass es sich dabei schwerlich um einen Fall von Polygenese handeln wird, zeigt die Angabe, die die Landnámabók zur Quelle der Hvítramannaland-Episode macht: „Diese Geschichte erzählte zuerst Hrafn der Limerick-Fahrer, der sich lange in Limerick in Irland aufgehalten hatte.“ Damit wird explizit gemacht, dass diese so merkwürdig irisch anmutende Erzählung ihren Ursprung tatsächlich im Seemannsgarn eines Nordmanns nahm, der eine lange Zeit in Irland gelebt hatte und dabei mit irischem Erzählgut unmittelbar in Kontakt kommen konnte. Dass diese imaginäre Inselwelt im Fall von Hvítramannaland an eine reale zeitgenössische Persönlichkeit angebunden werden konnte, dürfte wohl wesentlich dadurch erleichtert worden sein, dass Ari offenbar auf See verschollen war: Anstatt den Tod des Ver-
1812 Nansen 1911, S. 44 (Anm. 1); Hogan 1910, S. xi, 638 (s.v. ‚tír na fer fionn‘); Ahronson 2015, S. 16.
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schwundenen anzunehmen, wurde ihm hier ein Verweilen an einem paradiesischen Heilsort nach irischer Façon zugeschrieben.¹⁸¹³ Hvítramannaland stellt ein Beispiel dafür dar, wie einfach irische Erzählmotive von anderweltlichen Ozeaninseln im nordischen Raum rezipiert werden konnten. Damit zeigt es spezifisch für die Skandinavier, was in einem breiteren Kontext durch den großen, europaweiten Erfolg der Navigatio Sancti Brendani illustriert wird: Die einfache Übertragbarkeit der irischen immrama in neue Kulturräume. Im Fall von Hvítramannaland scheint diese Rezeption irischer Motive dazu geführt zu haben, dass in der nehmenden Kultur – oder zumindest bei einigen Mitgliedern dieser Kultur – die Vorstellung von der Realexistenz eines mythischen Inselreichs im Westen entstand. Dass hieran nichts über die Maßen Überraschendes ist, illustriert die Parallele des kartographischen Materials. Oben wurde bereits erwähnt, dass die Brendansinsel spätestens im Hochmittelalter zu einem Standardmotiv der mittelalterlichen mappae mundi wurde – und damit wohl auch zu einem festen Bestandteil des Weltbilds ihrer Verfasser.¹⁸¹⁴ In Hinblick auf ein „Gefilde der Lebenden“ – einen „Ódáinsakr“ – findet sich eine besonders interessante kartographische Parallele hierzu auf der Weltkarte von Hereford: Zwischen der Südwestspitze Großbritanniens und der Südspitze Irlands lokalisiert diese Karte eine Insel mit der Legende viuencium, d. h.: viventium, „[Insel] der Lebenden“ (Abb. 28).¹⁸¹⁵ Diese Insel entspricht – zumindest dem Namen nach – der insula viventium des Giraldus Cambrensis und stellt als ausgesprochene „Lebensinsel“ mit einiger Wahrscheinlichkeit ein Zeugnis dafür dar, dass irische Vorstellungen von anderweltlichen Unsterblichkeitsinseln über Irland hinaus ausstrahlen und auch außerhalb Irlands Teil der Kosmographie des Meeres werden konnten.¹⁸¹⁶ Das auf den letzten Seiten Gesagte zusammenfassend, lässt sich somit festhalten, dass für eine nordische Rezeption irischer Vorstellungen von einem Land der Unsterblichkeit im Ozean sowohl historisch gut bezeugte Vermittlungswege als auch Präzedenzfälle fassbar sind. Dabei ist insbesondere zu betonen, dass mit der Entlehnung des Hvítramannaland-Motivkomplexes eine genaue Analogie zu einer hypothetischen Entlehnung irischer Vorstellungen von Unsterblichkeitsinseln vorliegt: Im Fall des Hvítramannaland-Motivkomplexes wurden von einem Skandinavier während eines längeren Irlandaufenthalts Vorstellungen aus dem Bereich der immrama rezipiert und im Folgenden als realweltliche Elemente der Geographie des Atlantischen Ozeans aufgefasst. Eine solche Rezeption irischer Vorstellungen von anderweltlichen, paradiesischen Gefilden im Ozean ist im spezifischen Kontext der isländischen
1813 Vgl. oben Anm. 136. 1814 Siehe oben S. 317. 1815 Vgl. The Folio Society 2010; Westrem 2010, S. 320/321 (Nr. 826); Lelewel 1850 Tafel XXV. Die Schreibung von viventium als viuencium entspricht der üblichen Orthographie der mappa mundi von Hereford, vgl. etwa Westrem 2010, S. 95 (Nr. 200): ars habitancium (u. ö.). 1816 Westrem schlägt für die Insel viuencium hingegen eine Deutung als eine Korruption der Isle of Wight oder der Belle-Île-en-Mer (lat. Vindelis) vor: Westrem 2010, S. 320 (Nr. 826).
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Abb. 28: Die „Insel der Lebenden“ (vivencium) auf der mappa mundi von Hereford. Jomard 1858– 1862, Tafel 7/8.
Landnahmezeit besonders leicht nachvollziehbar: Ein skandinavischer Siedler, der nach dem Verlassen seiner alten Heimat auf dem Weg nach Island in Irland eine Zwischenstation einlegte, befand sich bereits in einer Situation, in der seine Hoffnungen auf eine bessere Zukunft ganz auf die Inselwelt des Atlantiks fokussiert waren; wo ein solcher Siedler im Verlauf seiner Auswanderung mit inselkeltischen Vorstellungen von paradiesischen Inseln in Berührung kam, dort konnten solche Vorstellungen sich unmittelbar an eben die Hoffnungen anschließen, die seine Auswanderung
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überhaupt erst motiviert hatten. Die verschiedenen Varianten einer Hoffnung auf ein besseres Leben im Ozean – die ‚inselkeltisch-mythologische‘ und die pragmatische des Landnehmers – konnten sich so mit besonderer Leichtigkeit miteinander verbinden und dazu führen, dass das Ziel der Landnahmefahrt – Island – in der Vorstellungswelt einzelner Landnehmer Züge eben des insularen Paradieses annahm, das irische Erzählungen dem Seemann verhießen, der sich bis zu den Inseln im Westen vorwagte.¹⁸¹⁷ Hiermit wird ein Vermittlungsmechanismus unmittelbar fassbar, wie er so auch einen denkbar guten Vermittlungsweg für Motive aus dem Motivkomplex des irischen Landes der Frauen darstellen würde – was umso mehr gilt, als die Vertrautheit zumindest mancher Nordmänner mit den entsprechenden irischen Motiven zumindest für die spätere Zeit sogar ausdrücklich bezeugt ist, wo dieses mythische Gefilde im Preisgedicht Baile suthach síth Emhna auf Rǫgnvaldr, König von Man, verarbeitet wird.¹⁸¹⁸ Dies bringt uns zur Bewertung der Signifikanz des nordisch-keltischen Vergleichs zurück: Die weiter oben vorgelegte Diskussion der Frage, als wie signifikant die Ähnlichkeiten zwischen dem nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex und dem keltischen Vergleichsmaterial einzustufen sind,¹⁸¹⁹ war zu dem Ergebnis gelangt, dass diese Ähnlichkeiten nur dann als signifikante Indikatoren für einen nordischkeltischen Kulturkontakt gelten können, wenn eine plausible Möglichkeit für einen Vermittlungsweg klar fassbar ist.¹⁸²⁰ Zum selben Ergebnis gelangte auch die Diskussion des Signifikanz-Problems für die insula viventium des Giraldus Cambrensis und die Folklore um den Ódáinsakur im Hvanndalur.¹⁸²¹ Mit Blick auf Hvítramannaland lässt sich nun festhalten, dass intensive und in ihrem Charakter zum Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplex passende Vermittlungswege klar greifbar sind. Damit dürfte nun auch die Frage zu bejahen sein (wenn auch mit aller gebotenen Vorsicht), ob die Parallelen zwischen dem Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex und dem keltischen Vergleichsmaterial als signifikante Indikatoren für einen kulturellen Austausch aufzufassen sind. Diese Schlussfolgerung wird noch durch einige weitere Züge der Wikinger- bzw. landnahmezeitlichen Religionsgeschichte des Nordens gestützt. So ließe sich bei kritischer Betrachtung des Hvítramannaland-Materials auf einen Unterschied zwischen diesem und dem Ódáinsakr-Material verweisen, der auf den ersten Blick die Vergleichbarkeit dieser beiden Komplexe in Frage stellen könnte: Die isländische Hvítramannaland-Rezeption greift auf irische Vorstellungen von mythischen, nicht näher
1817 Allgemein zur Attraktivität, die Vorstellungen von „Inseln der Seligen“ gerade im Kontext einer Kolonisationszeit gewinnen können, vgl. Bichler 1995, S. 30–33 am Beispiel griechischer Inselutopien. 1818 Siehe oben S. 343 ff. 1819 Siehe oben S. 494 ff. 1820 Siehe oben S. 500. 1821 Siehe oben S. 500.
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lokalisierten Heilsorten im Atlantik zurück und lokalisiert diese Heilsorte wiederum in einem nicht näher bestimmten Teil des Ozeans; das Element der geographischen Unbestimmtheit bleibt damit erhalten. Im Fall des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes scheint dies hingegen nur eingeschränkt der Fall gewesen zu sein: Während Saxo und die Sagaliteratur die geographische Unbestimmtheit dieses Unsterblichkeitsgefildes beibehalten, indem sie es in unspezifischer Weise fernen Regionen im Norden und Osten zuweisen, nimmt die isländische Folklore am Héðinsfjord eine ganz spezifische Lokalisierung vor, indem sie den Ódáinsakr mit einem Teil des Hvanndalur identifiziert. Dies wirft die Frage auf, wie ein so offenkundig irreales Gefilde mit einem konkret zugänglichen Landstrich gleichgesetzt werden konnte. Eine klare Antwort auf diese Frage wird vermutlich niemals möglich sein, da detaillierte zeitgenössische Quellen fehlen, die einen Zugriff hierauf erlauben würden. Immerhin sticht bei der Durchsicht des Materials jedoch ins Auge, dass die „Faszination des Endes der Welt“ bei der Lokalisierung vergleichbarer mythischer Gefilde immer wieder eine Rolle zu spielen scheint –¹⁸²² und auch mit dem Hvanndalur verbunden ist. In der Folklore und den Reiseberichten des 18. Jahrhunderts wurde das Hvanndalur mitunter einerseits geradezu als das Ende der Welt und andererseits zugleich als ein Ort von völlig unverhältnismäßiger Fruchtbarkeit beschrieben.¹⁸²³ Dies erinnert unmittelbar an die Historia de Enoch et Elia, die das Paradies auf einer Insel im Westen lokalisiert und die diese Assoziation des westlichen Ozeans mit dem Paradies zugleich auf das westliche Ende des Festlands ausstrahlen lässt, indem sie die Abtei Saint-Mathieu-vom-Ende-der-Welt(!) als ein irdisches Paradies beschreibt.¹⁸²⁴ Auch für Immram Brain, die Navigatio Sancti Brendani und die weiteren immrama scheint eine Faszination des Endes der Welt prägend zu sein: Die dort geschilderten Anderwelts-, Wunder- und Paradiesinseln werden gerade westlich von Irland und damit aus irischer Perspektive am Ende der Welt angesiedelt. Selbst die mittelalterliche nordische Glæsisvellir-Literatur zeigt mehrfach eine Assoziation zwischen dem paradiesischen Gefilde der Glæsisvellir und dem Ende der Welt; dies findet etwa einen Niederschlag, wenn Saxos Beschreibung der Expedition des Thorkillus deutliche Anklänge an zeitgenössische „historische“ Erkundungsfahrten zum Abgrund am Ende der Welt zeigt;¹⁸²⁵ wenn die Hervarar saga die Glæsisvellir jenseits des Weißen Meers im Land der Riesen lokalisiert;¹⁸²⁶ oder wenn die Bósa saga das Reich Guðmunds in die Nähe von Bjarmaland rückt, das mitunter buchstäblich als das Ende der Welt betrachtet wurde.¹⁸²⁷ Sogar noch die Eiríks saga lokalisiert den
1822 Siehe oben S. 25 f., 357, 390 f. (mit Anm. 1472), 403, 431, 433 und die im Folgenden resümmierten Beispiele. 1823 Siehe oben S. 103. 1824 Siehe oben S. 317 ff., bes. S. 320; oben S. 370, 431. 1825 Siehe oben S. 22 ff., 32. 1826 Siehe oben S. 35. 1827 Siehe oben S. 91.
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Ódáinsakr am Ende der Welt, auch wenn diese ganz christlich geprägte Saga sich für das südöstliche Ende der Welt entscheidet.¹⁸²⁸ Hier wird möglicherweise ein gemeinsamer Nenner sichtbar, der die folkloristische Lokalisierung des Ódáinsakur im Hvanndalur, die nördliche oder östliche Lage der Glæsisvellir in der mittelalterlichen Erzählliteratur und die irischen immrama in ihren verschiedenen Formen (und einschließlich ihrer Rezeption in der Bretagne) miteinander verbindet: In jedem Fall liegt das Paradies, die Anderwelt und das Land der Unsterblichkeit am Ende der Welt; ob dieses Ende der Welt im fernen Westen, im Hvanndalur oder in der Nähe von Bjarmaland gesucht wird, ist dabei nichts anderes als die jeweilige lokale – und offenbar auch weitgehend austauschbare – Konkretisierung eines gemeinsamen Grundmotivs. Ein möglicher Einwand gegen eine solche Erklärung des Umstands, dass gerade das Hvanndalur mit dem Land der Unsterblichkeit identifiziert wurde, könnte in der Frage bestehen, wie plausibel es sein kann, einen konkreten geographischen Ort mit einem mythischen Gefilde zu identifizieren. Anhand der Quellen zur frühen Geschichte Islands lässt sich jedoch eindeutig sagen, dass solche Identifizierungen wiederholt vorkamen;¹⁸²⁹ ihre Annahme für das Hvanndalur stellt daher kein Gegenargument gegen eine inselkeltische Herkunft des Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplexes dar. Wichtig ist hier etwa das in Island mehrfach belegte Phänomen, dass Landnehmer einzelne Berge für besonders heilig erachteten und in ihnen den Ort sahen, in den sie und ihre Nachkommen nach ihrem Tod eingehen würden.¹⁸³⁰ So berichtet die Eyrbyggja saga Folgendes über den Landnehmer Þórólfr Mostrarskegg und den Berg Helgafell (Abb. 29) an der Küste der Snæfellsnes-Halbinsel (Kap. 4):¹⁸³¹ Þórólfr kallaði Þórsnes milli Vigrafjarðar ok Hofsvágs. Í því nesi stendr eitt fjall; á því fjalli hafði Þórólfr svá mikinn átrúnað, at þangat skyldi enginn maðr óþveginn líta ok engu skyldi tortíma í fjallinu, hvárki fé né mǫnnum, nema sjálft gengi í brott. Þat fjall kallaði hann Helgafell ok trúði, at hann myndi þangat fara, þá er hann dœi, ok allir á nesinu hans frændr.¹⁸³² Þórólfr gab der Landzunge zwischen dem Vigrafjord und Hofsvágr („Tempelbucht“) den Namen Þórsnes („Thors Landzunge“). Auf dieser Landzunge liegt ein Berg; für diesen Berg hatte Þórólfr eine so große Verehrung, dass er gebot, kein ungewaschener Mann sollte seinen Blick dorthin richten und man sollte auf dem Berg nichts und niemanden töten, weder Vieh noch Menschen, außer wenn das Opfer selbst wegginge. Diesen Berg nannte er Helgafell („Heiligen Berg“)¹⁸³³ und
1828 Siehe oben S. 41. 1829 Vgl. auch oben S. 231, 246 ff., 260, 338 ff., u. ö. 1830 Vgl. Heizmann 2007; Jón Hnefill Aðalsteinsson 2005, S. 501; Brink 2001, S. 100. 1831 Hgg. von Einar Ól. Sveinsson und Matthías Þórðarson 1935, S. 1–186. Allgemein zu dieser Landnahmeepisode vgl. Jón Hnefill Aðalsteinsson 2005. 1832 Text: Einar Ól. Sveinsson und Matthías Þórðarson 1935, S. 9. 1833 Die Endung des Vorderglieds Helga- stellt eine fossilierte schwache Adjektivendung dar (hit helga fell). Für eine aufschlussreiche Diskussion des Ortsnamens „Helgafell“ danke ich Óskar Guðmundsson.
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Abb. 29: Der Helgafell, Snæfellsnes-Halbinsel, Island. © M. Egeler, 2010.
glaubte, dass er dorthin gehen würde, wenn er sterben würde, und alle seine Verwandten auf der Landzunge ebenso.
Ganz entsprechend heißt es in der Landnámabók (S85, H73): Þórólfr nam land frá Stafá inn til Þórsár ok kallaði þat allt Þórsnes. Hann hafði svá mikinn átrúnað á fjall þat, er stóð í nesinu, er hann kallaði Helgafell, at þangat skyldi engi maðr óþveginn líta, ok þar var svá mikil friðhelgi, at øngu skyldi granda í fjallinu, hvárki fé né mǫnnum, nema sjálft gengi á braut. Þat var trúa þeira Þórólfs frænda, at þeir dœi allir í fjallit.¹⁸³⁴ Þórólfr nahm Land vom Fluss Stafá hinein bis zum Fluss Þórsá („Thors Fluss“) und nannte das alles Þórsnes („Thors Landzunge“). Er hatte eine so große Verehrung für den Berg, der auf der Landzunge lag und den er Helgafell („Heiliger Berg“) nannte, dass er gebot, kein ungewaschener Mann sollte seinen Blick dorthin richten, und da war eine so große Friedheiligkeit, dass man auf dem Berg nichts und niemandem einen Schaden zufügen sollte, weder Vieh noch Menschen, außer wenn das Opfer selbst wegginge. Das war ihr Glaube – derjenige Þórólfs und seiner Verwandten –, dass sie alle in den Berg hinein sterben würden.
Diese beiden Textstellen berichten, wie Þórólfr Mostrarskegg im Zuge seiner Landnahme auf einen Berg stößt, in dem er den Ort zu erkennen meint, in welchen er und seine Nachkommen nach ihrem Tod eingehen werden. Die zu diesem Zeitpunkt kulturell noch ganz unbeschriebene Landschaft der Snæfellsnes-Halbinsel wird so plötzlich vom einem reinen Naturraum zu einem Ort, mit dem sich intensive religiöse
1834 Text: Jakob Benediktsson 1968, S. 125.
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Erwartungen verknüpfen; dabei ist im gegenwärtigen Zusammenhang von besonderer Bedeutung, dass sich die religiöse Sinnzuschreibung an den von nun an „Helgafell“ genannten Berg nicht auf eine Tradition beruft oder in irgendeiner Weise institutionell vermittelt ist, sondern offenbar – zumindest soweit man den hochmittelalterlichen literarischen Berichten hier Glauben schenken darf – spontan geschieht. Der Landnámabók zufolge handelt es sich hier zudem um keinen isolierten Einzelfall: Das Phänomen, wonach ein Berg als der Ort identifiziert wird, in den die Toten eingehen, wird dort schon in der ältesten Rezension des Texts, der Sturlubók-Fassung, noch für drei weitere Orte vermerkt (Landnámabók S 68, S 97, S 197 [=H 164]).¹⁸³⁵ Darüber hinaus ist in der heutigen isländischen Toponymie der Ortsname „Helgafell“ zusätzlich zum von Þórólfr Mostrarskegg so benannten Berg zumindest noch fünf Mal belegt;¹⁸³⁶ wenngleich sich nicht für alle diese Fälle erweisen lässt, dass der jeweilige Helgafell in der spätheidnischen Zeit auch tatsächlich als Totenberg galt, mag dies zumindest für einen Teil dieser Belege der Fall gewesen sein.¹⁸³⁷ Mit Hinblick auf die (vermutlich) landnahmezeitliche Lokalisierung des Ódáinsakr in den Hvanndalir illustriert diese insgesamt sehr gute Beleglage für die Identifizierung einzelner Berge als Aufenthaltsorte der Toten, dass eine derartige Assoziation einer übernatürlichen Lokalität mit einem konkreten, neu entdeckten Ort der physischen Geographie innerhalb des nordischen Raums an sich durchaus nichts Ungewöhnliches ist.¹⁸³⁸ Ähnliches lässt sich im Übrigen auch innerhalb der irischen Kulturgeschichte beobachten: Die Iren selbst neigten dazu, ihren Anderweltsgefilden – und insbesondere ihren Anderweltsinsel – konkrete geographische Orte zuzuweisen (man denke an Tech Duinn vor der irischen Südwestküste) und diese Ortszuweisungen auch immer wieder zu verändern (man erinnere sich an die Wanderungen von Manannáns „Apfelinsel“ Emain, die zwar zumeist, aber längst nicht immer mit der Isle of Man identifiziert wurde). Diese Wandlungsfähigkeit der Lokalisierung der Anderweltsinsel, ihr „geographischer Fluss“, mag ein Weiteres dazu beigetragen haben, dem Unsterblichkeitsgefilde zu erlauben, eine neue Heimat im Nordatlantik zu finden.¹⁸³⁹
1835 Vgl. Heizmann 2007, S. 187. 1836 Ferðakort 2007, S. 68 (s.v. ‚Helgafell‘). 1837 Als ein caveat ist freilich zu erwähnen, dass die moderne isländische Toponymie auch zumindest 13 Beispiele für den Ortsnamen „Ásgarður“ kennt: Ferðakort 2007, S. 62 (s.v. ‚Ásgarður‘). 1838 Im selben Sinne, aber außerhalb des nordischen Kulturbereichs, vgl. etwa Scafi 2006, S. 240 f.: Als Christoph Kolumbus sich während seiner dritten Amerikareise (1498) der Mündung eines großen südamerikanischen Stroms gegenübersah (wohl derjenigen des Orinoco), glaubte er einem Eintrag in seinem Reisejournal zufolge, einen der Flüsse gefunden zu haben, die im irdischen Paradies entspringen. 1839 Zumindest von typologischem Interesse ist, dass sich ein solches geographisches Fließen auch im Fall der arthurischen Apfelinsel beobachten lässt: Auch Avalon kann gleichermaßen in einem unbestimmten Bereich, in Nordwales, in Somerset und auf Sizilien angesiedelt werden. Anderweltsbereiche wie die Apfelinsel scheinen sich grundsätzlich durch eine bemerkenswerte Re-Lokalisierbarkeit auszuzeichnen. Dieses Phänomen lässt sich auch an den „Inseln der Seligen“ der griechischen
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Unsterblichkeit im Nordmeer, Religionskontakte und literarischer Austausch
Ein weiterer Aspekt der nordisch-keltischen Unsterblichkeitsgefilde, der die Rezeption entsprechender keltischer Vorstellungen durch isländische Landnehmer erleichtert haben dürfte, ist die Existenz einheimisch-nordischer Vorstellungen, an die sich die Rezeption keltischer Motive unmittelbar anschließen konnte. Hier liegt die zentrale Bedeutung des oben in Kapitel 3 ausführlich besprochenen Materials zur Schiffsreise ins Jenseits: Der Mythos von Balders Schifffahrt ins Land der Toten, der praktisch im gesamten Siedlungsgebiet der Skandinavier archäologisch wie literarisch reich und in vielfältigen Variationen bezeugte Brauch der Boots- und Schiffbestattung, die „Leichenküste“ Nástrǫnd als ein Zeugnis für ein am Meer gelegenes Totenreich, die Vorstellung vom Totenschiff Naglfar, der tausendfach belegte und wohl eng mit der Jenseitsreise des Toten verbundene Brauch der schiffsförmigen Steinsetzungen, die Verwendung des Schiffsmotivs in der Ikonographie der Jenseitsreise, vielleicht sogar die Entrückung von Sinfjǫtlis Leichnam in einem kleinen Nachen – solche Materialien mögen im Einzelfall einer religionsgeschichtlichen Deutung erhebliche Probleme entgegenstellen, zeigen in ihrer Gesamtheit jedoch mit größtem Nachdruck, dass Vorstellungen von einer Anderwelt jenseits des Meeres und von einer Schiffsreise in diese Anderwelt im vorchristlichen Norden tief verwurzelt waren. Der Wert gerade des reichen archäologischen Materials liegt dabei nicht zuletzt darin, die lebenspraktische Bedeutung und weite Verbreitung solcher Vorstellungen aufzuzeigen; insbesondere macht dieses Material in einer über jeden Zweifel erhabenen Weise deutlich, dass solche Vorstellungen von einer maritimen Anderweltsreise im Norden bereits vor der isländischen Landnahme fest etabliert waren. Das Gefilde, das als das Ziel solcher sepulkraler Schiffsreisen betrachtet wurde, dürfte dabei zwar mit den Glæsisvellir oder dem Ódáinsakr nicht identisch gewesen sein – immerhin handelt es sich beim Ódáinsakr nicht um ein Land der Toten, sondern um ein Land der Unsterblichkeit. Für den Glæsisvellir/Ódáinsakr-Komplex ist dieses Material aber nichtsdestoweniger von unmittelbarer Bedeutung: Es zeigt, dass die isländischen Landnehmer schon von alters her mit der Vorstellung vertraut waren, dass im Meer jenseits des Horizonts ein anderweltliches Land zu finden sei; die Existenz solcher Vorstellungen in der vor-landnahmezeitlichen skandinavischen Religionsgeschichte stellt damit eine Basis dar, auf deren Grundlage inselkeltische Motive von maritimen Anderwelten besonders einfach rezipiert werden konnten. Die Übernahme inselkeltischer Vorstellungen von einem Land der Unsterblichkeit jenseits des Meeres stellt sich vor dem Hintergrund des reichen einheimisch-nordischen Symbolschatzes maritimer Anderwelten nicht als die Entlehnung vollständig neuer Ideen dar, sondern vielmehr als die Rezeption von Vorstellungen, die an bestens etablierte einheimische Motive unmittelbar anschlussfähig waren: Die Existenz von einheimisch-nordischen transmarinen Anderweltsvorstellungen ebnet so den Weg für die Assoziation neuer,
und römischen Mythologie beobachten, wozu vgl. mit einer Sammlung entsprechender Belege Egeler 2014 (Perspektiven), S. 118–121.
Hvítramannaland und Írland et mikla, oder: Von den Britischen Inseln zum Hvanndalur
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mit der See verbundener Anderweltskonzepte mit dem schon Bekannten und Etablierten und erleichtert damit deren Rezeption. Dass dabei zwischen den alteingesessenen einheimischen Vorstellungen von einem Totenreich jenseits des Wassers und dem Motiv eines Landes der Unsterblichkeit jenseits des Wassers kein unüberwindbarer Widerspruch bestand, zeigt innerhalb der nordischen Literatur schon die Behandlung des Themas durch Saxo Grammaticus: In der Thorkillus-Episode seiner Gesta Danorum lokalisiert Saxo das Reich des Guthmundus in zweifacher Hinsicht in der unmittelbaren Nachbarschaft eines Totenreichs, da es sich zum einen in der Nähe der goldenen Brücke ins Land der Ungeheuer befindet, und da zum anderen das gleichfalls nahebei gelegene Land des Geruthus mit seinen Anspielungen auf den klassischen Tartarus und auf nordische Megalithgräber ganz in der Farbpalette eines Landes der Toten gehalten ist. Diese Verschwägerung von Unsterblichkeitsgefilde und Totenreich bei Saxo Grammaticus könnte sich dabei vielleicht gerade aus der historischen Genese von Saxos Erzählung erklären, die potentiell inselkeltische Vorstellungen (Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex) mit altetablierten einheimisch-nordischen Vorstellungen von einem transmarinen Totenreich verbindet und so erst durch die Verschmelzung von Motiven mit unterschiedlichen kulturellen Wurzeln das Land der Toten und das Land der Unsterblichkeit ganz nahe zusammenrückt. Als typologische Parallele für die Leichtigkeit, mit der Paradiesinselkonzepte auch auf Anderweltsgefilde übertragen werden können, die zunächst nicht als paradiesisch galten, wurden oben bereits auf die Kronosinsel des Plutarch verwiesen.¹⁸⁴⁰ Eine typologische Parallele zur Möglichkeit einer Verschwägerung von Unsterblichkeitsgefilde und Totenreich bieten ferner die „Inseln der Seligen“ Griechenlands: Die ersten Zeugnisse für die Inseln der Seligen im Werk Homers und Hesiods zeichnen diese Inseln noch als Gefilde der Unsterblichkeit, in welche die großen Helden der Vorzeit entrückt wurden, um dort dem Tod zu entgehen und ein seliges Leben zu führen; schon bei Pindar hat sich dieses Land der Unsterblichkeit jedoch zu einem Land der Toten gewandelt, wo die Seelen der Verstorbenen in einer paradiesischen Umgebung ein seliges Dasein genießen.¹⁸⁴¹ Diese Parallele zeigt, dass transmarine Länder der Unsterblichkeit einerseits und des Todes andererseits vielleicht nicht immer in dem Gegensatz zueinander stehen, den sie aus einer modernen Perspektive vielleicht zu bilden scheinen.¹⁸⁴²
1840 Siehe oben S. 398 ff., bes. S. 416. 1841 Siehe oben S. 391 f. 1842 Zur problemlosen Möglichkeit einer Verbindung spezifisch von Unsterblichkeits- und Totenreich vgl. auch die zwar stark generalisierende, zumindest in europäischen Kontexten aber nichtsdestoweniger häufig zutreffende Bemerkung von Heide 2011, S. 69: „Most traditions do not make a sharp distinction between the realm of the dead and the other Otherworlds.“ Die von Saxo vorgenommene Verbindung von Land der Unsterblichkeit und Totenreich dürfte allerdings in jedem Fall erst im Norden entstanden sein, da sie sich aus dem keltischen Material nicht herleiten lässt. Zwar zeigt die Bataille Loquifer, dass auch Avalon zu einem Totenreich werden kann (siehe oben S. 243 ff.);
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Unsterblichkeit im Nordmeer, Religionskontakte und literarischer Austausch
Falls im Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex eine nordische Entlehnung inselkeltischer Motive ihren Niederschlag gefunden hat, die sich unmittelbar an altetablierte nordische Vorstellungen von transmarinen Anderweltsgefilden anschließt, dann mag dies auch einen allgemeinen Unterschied zwischen den Ausformungen des Ódáinsakr-Themas in der nordischen Literatur und dem inselkeltischen Vergleichsmaterial erklären. Das inselkeltische Vergleichsmaterial lokalisiert das Land der Unsterblichkeit stets auf einer Insel, wobei der „Inselbegriff“ hier durchaus im engeren Sinne gebraucht werden kann. Die Zeugnisse der nordischen Literatur hingegen lokalisieren die Glæsisvellir und den Ódáinsakr nahezu ausnahmslos in einer Region, die grundsätzlich auch über Land erreichbar wäre (wenngleich eine Reise über Land unter den reisetechnischen Rahmenbedingungen des Mittelalters in keinem Fall „praktisch“ in Frage käme): in der Finnmark, in Sibirien, im östlichen Baltikum. Selbst aus dem Bericht des Saxo, in dem das Land des Guthmundus nach einer Seereise ans Ende der Welt erreicht wird, geht nirgends ausdrücklich hervor, dass es sich beim Ziel von Thorkillus’ Fahrt um eine Insel handelt, und nicht etwa um einen anderen Kontinent oder um eine extrem weit nach Norden vorstoßende Landzunge der eurasischen Landmasse.¹⁸⁴³ Ähnliches gilt für die folkloristische Lokalisierung des Ódáinsakur im Hvanndalur: Dieser Ódáinsakur liegt zwar auf einer Insel (Island), aber auch in diesem Fall besteht eine Landverbindung zum menschlichen Siedlungsgebiet (dem Rest Islands). In keinen Fall liegt der Ódáinsakr somit eindeutig auf einer Insel, die als Insel vom menschlichen Siedlungsgebiet getrennt wäre. Gerade dies scheint jedoch ein wesentliches Element des inselkeltischen Vergleichsmaterials zu sein: Die Anderweltsinsel ist als Insel vom menschlichen Lebensraum abgesondert. Eine solche Lage des Unsterblichkeitsgefildes, wie sie sich in der nordischen Literatur zeigt, ist jedoch nur vor dem Hintergrund des inselkeltischen Materials verwunderlich, nicht vor dem Hintergrund der einheimisch-nordischen Kosmologie. Die Besprechung des Mythos von Balders Bestattung hatte deutlich gemacht, dass der tote Balder in diesem Mythos zwar zu Schiff zur Hel reist; zugleich wurde aber gleichermaßen deutlich, dass sich das Totenreich der Hel nicht auf einer Insel befindet, sondern in einem Bereich, der auch über Land zu erreichen ist: Während Balder zu Schiff zur Hel fährt, erreicht Hermóðr das Totenreich zu Pferde. Die dahinterstehende Kosmologie scheint sich das Verhältnis zwischen dem Land der Lebenden und dem anderweltlichen Reich der Toten ganz ähnlich vorgestellt zu haben wie das Verhältnis
diese Entwicklung ist innerhalb des arthurischen Materials jedoch zu spät, als dass sie einen Einfluss auf Saxo ausgeübt haben könnte. Auch aus Irland lässt sich diese Verschmelzung nicht herleiten: Die Überlieferungen zu Tech Duinn belegen zwar in aller wünschenswerten Deutlichkeit die Vorstellung von einer Toteninsen (siehe oben S. 354 ff.), aber diese Toteninsel wird im mittelalterlichen Irland nie mit dem Unsterblichkeitsgefilde gleichgesetzt, wie es vom Land der Frauen repräsentiert wird. 1843 Vgl. das kosmologische Diagramm bei Simek 1986, S. 274 (Abb. 10).
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zwischen zwei Orten in der Nähe der nordnorwegischen Küste: Die Möglichkeit einer Reise von einem dieser Orte zum anderen besteht grundsätzlich auch über Land – eine Seereise ist jedoch sowohl schneller als auch einfacher. Die Vorstellung der „Insellage“ des Unsterblichkeitsgefildes scheint im Fall des Ódáinsakr/GlæsisvellirKomplexes somit an einheimisch-nordische Vorstellungen angeglichen worden zu sein, die transmarine Anderweltsgefilde nicht auf einer Insel im strengen Sinne lokalisieren, sondern auf einem Teil des Festlands, der reisepraktisch nur zu Schiff zu erreichen ist. Ein ähnlicher Rückgriff auf einheimisch-nordische Vorstellungen mag auch dem Namen „Glæsisvellir“ zugrundeliegen. Dieser Name hat im inselkeltischen Material keine klaren formalen Vorlagen: Die insula vitrea der arthurischen Literatur würde zwar eine vergleichsweise enge Entsprechung zu diesem Namen darstellen, scheidet bei Annahme einer wikingerzeitlichen Datierung des Namens als Vorlage jedoch aus, da die „Glasinsel“ erst ab 1191 mit der „Apfelinsel“ gleichgesetzt wurde. In der irischen Literatur findet sich hingegen gar keine Vorlage für die Namensbildung „Glæsisvellir“ als solche; immerhin zeigen die „Apfelinseln“ dieser Literatur jedoch Glanz- und Kristall-Assoziationen, die zumindest einen Anknüpfungspunkt für das inhaltliche Konzept eines „Glanzgefildes“ bieten können, wenn schon nicht für seine Benennung als „Glanzgefilde“. Eine potentielle Erklärung für den Namen „Glæsisvellir“ findet sich aber möglicherweise in der einheimischen Literatur des Nordens:¹⁸⁴⁴ Diese kennt einen Hain oder Baum mit goldenem Laub, der vor Walhall steht und den Namen Glasir trägt; dieser Baum lässt sich an die Glæsisvellir insbesondere deshalb direkt anbinden, weil für diese mehrfach die Namensvariante Glasisvellir bezeugt ist, „Felder des Glasir“. Die Vorstellung vom goldenen Baum Glasir scheint schon bis in die Wikingerzeit zurückzugehen, da sie u. a. im Bjarkamál in fornu erscheint (zitiert in Skáldskaparmál 45, Strophe 188), das bereits im 10. Jahrhundert entstanden sein könnte.¹⁸⁴⁵ Der goldene Baum Glasir hätte dabei für einen wikingerzeitlichen Skandinavier, der mit irischen Vorstellungen vom Land der Frauen in Berührung kam, einen unmittelbaren Anknüpfungspunkt darstellen können, mit dessen Hilfe er das irische Land der Frauen in seine nordische Gedankenwelt übersetzen konnte: Auch der Apfelzweig aus Emain, den die Anderweltsfrau von Immram Brain (§ 3) an den Hof Brans bringt, „hat Zweiglein aus weißem Silber, | Wimpern von Kristall mit Blüten“ (gésci findarc(a)it forra | abrait glana co mbláthaib).¹⁸⁴⁶ Für ein Gefilde, das mit solchen Bäumen bewachsen ist, hätte eine nordische Benennung als „Gefilde des Goldbaums Glasir“ und damit als Glasisvellir, Glæsisvellir unmittelbar nahegelegen. Bei diesem Namen könnte es sich somit um eine direkte und vielleicht schon wikingerzeitliche
1844 Siehe oben S. 37. 1845 Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 41. 1846 Siehe oben S. 347.
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Unsterblichkeit im Nordmeer, Religionskontakte und literarischer Austausch
Übersetzung von Elementen des irischen Landes der Frauen in nordische Konzepte handeln.¹⁸⁴⁷
7.6 Avalon und der Ódáinsakr, oder: Arthurische Einflüsse in den Glæsisvellir-Sagas? Die Diskussion der vorangegangenen Seiten hatte sich mit der Frage befasst, wie das keltische Motiv einer anderweltlichen Unsterblichkeitsinsel während der Wikingerbzw. Landnahmezeit von skandinavischen Siedlern rezipiert und mit einem Tal der realweltlichen Geographie Islands verbunden werden konnte. Die Annahme einer solchen frühen Rezeption dieses inselkeltischen Motivkomplexes im Norden beruhte dabei im Wesentlichen auf der Beobachtung Heizmanns, dass nur die Hypothese einer schon landnahmezeitlichen Datierung der Ódáinsakr-Vorstellung in den Hvanndalir die ungewöhnliche Brutalität und Verbissenheit erklären kann, mit der während der Landnahmezeit um den Besitz dieses Tals gekämpft wurde. Neben den auf den vorangegangenen Seiten vorgebrachten Argumenten für einen frühen inselkeltischen Einfluss im Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex steht jedoch die Gewissheit eines hochmittelalterlichen literarischen Einflusses der arthurischen Literatur auf die Literatur zu den Glæsisvellir. Der Helga þáttr, einer der drei wichtigsten mittelalterlichen Quellentexte zu den Glæsisvellir, enthält eine lange Passage, die direkt auf den entsprechenden Teilen der altnordischen Übersetzung des Lai de Lanval beruht;¹⁸⁴⁸ ein direkter Einfluss der arthurischen Literatur auf die mittelalterliche Literatur zu den Glæsisvellir wird hier unmittelbar fassbar und dürfte nicht zuletzt in der Charakterisierung von Guðmunds Tochter einen direkten Niederschlag gefunden haben, die in diesem Text in einzigartiger Weise als starke, unabhängige Frauengestalt erscheint, wie sie für die arthurische und irische Literatur gleichermaßen typisch ist, den sonstigen Glæsisvellir-Texten jedoch fehlt. Die altnordische Übersetzung des Lanval, deren Einfluss im Helga þáttr so deutlich greifbar wird, gehört zu den Strengleikar, einer Sammlung von Übersetzungen von 21 altfranzösischen Lais, die in der Mitte des 13. Jahrhunderts am norwegischen Königshof unter König Hákon Hákonarson angefertigt wurden.¹⁸⁴⁹ Diese Übersetzungssammlung dürfte älter sein als alle in altnordischer Sprache abgefassten Quellen zum Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex; denn diese setzen erst mit der Hervarar saga ein, deren hier relevante Rezension möglicherweise erst kurz nach 1300 entstanden ist.¹⁸⁵⁰
1847 Vgl. Davidson 1988, S. 185. 1848 Siehe oben S. 63 f. 1849 Kalinke 2011 (Introduction of the Arthurian Legend), S. 11 f.; Larrington 2011; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 363; Kalinke 1981, S. 6 f.; hgg. von Cook und Tveitane 1979. 1850 Siehe oben S. 35.
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Ebenso älter als die altnordischen Glæsisvellir-Texte ist fast die ganze Gruppe der übersetzten Rittersagas, deren wichtigste Exponenten gleichfalls am Hof des norwegischen Königs Hákon Hákonarson entstanden und insbesondere den größten Teil der Werke des Chrétien de Troyes (Ívens saga; Erex saga; Parcevals saga) und die Tristrams saga ok Isoldar umfassen.¹⁸⁵¹ Das breite Interesse, das diese höfische Literatur im Norden fand, zeigt sich nicht zuletzt darin, dass ab dem späten 13. Jahrhundert eine umfangreiche Produktion sogenannter „originaler“ Rittersagas einsetzt; hierbei handelt es sich um altnordische Literaturwerke, die zwar aus dem Motivfundus der mittelalterlichen Ritterromane schöpfen, aber keine direkten Übersetzungen altfranzösischer (o. ä.) Originale darstellen, sondern selbständige nordische Kreationen.¹⁸⁵² Bereits vor den Strengleikar und den übersetzten Rittersagas entstanden sind derweil die Breta sǫgur, die altnordische Übersetzung von Geoffrey von Monmouths Historia regum Britanniae, die schon im frühen 13. Jahrhundert ins Altnordische übertragen wurde.¹⁸⁵³ Altnordische Fassungen zentraler Werke der arthurischen Literatur – von wichtigen bretonischen Lais über Geoffreys Historia bis zu den Romanen des Chrétien des Troyes – lagen somit schon wenige Jahrzehnte nach deren Abfassung vor. Ein ähnliches Bild wird möglicherweise auch von der zeitgenössischen Kunst gezeichnet: Auf der Kirchentür von Valþjófsstaður in Island scheint schon im frühen 13. Jahrhundert die Geschichte vom Löwenritter Yvain dargestellt worden zu sein; ist eine solche Deutung der Schnitzereien dieser Tür richtig, so legen sie ein beredtes Zeugnis davon ab, wie schnell sich die arthurische Erzählwelt in den Norden ausbreitete.¹⁸⁵⁴ Auch dies zeigt nochmals, dass eine Analyse des Glæsisvellir/Ódáinsakr-Materials grundsätzlich mit einem direkten Einfluss arthurischer Erzählungen zu rechnen hat. Dasselbe gilt auch für die Thorkillus-Episode in den Gesta Danorum des Saxo Grammaticus. Dieser Text mit seiner Abfassungszeit um 1200 datiert zwar vor der Entstehung altnordischer Übersetzungen der angevinischen arthurischen Literatur. Es ist jedoch anzunehmen, dass Saxo einen wesentlichen Teil seiner Ausbildung als lateinischer Schriftsteller in Frankreich erhielt, möglicherweise in Reims, Paris oder Orléans.¹⁸⁵⁵ Damit befand sich Saxo zu ebender Zeit im angevinischen Frankreich, als einige der wichtigsten erhaltenen bretonischen Lais entstanden und als Chrétien de
1851 Kalinke 2011 (Introduction of the Arthurian Legend), S. 9–11; Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 82 f., 210, 301, 317 f.; Glauser 2005; Uecker 2004, S. 171–176; Kalinke 1981, S. 1–8; vgl. Böldl 2013, S. 41; Bornholdt 2011. Die altnordischen Fassungen der Ritterromane des Chrétien de Troyes sind gesammelt hgg. und übersetzt in Kalinke 1999. 1852 Vgl. Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 316 f.; Glauser 2005, S. 377; Uecker 2004, S. 186–190; Kalinke 1981, S. 221–241. Vgl. Kalinke 2011 (Echoes). 1853 Siehe oben S. 183. 1854 Simek 2012, S. 223. Zur literarischen Rezeption des Löwenrittermotivs im Norden vgl. Kalinke 1981, S. 228–236, 238; Kalinke 2011 (Echoes), S. 161–163. Für andere Deutungsmöglichkeiten vgl. Bauer 2006, S. 63. 1855 Friis-Jensen 1987, S. 14–18; vgl. Malm 1990, S. 50; Böldl 2013, S. 90.
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Unsterblichkeit im Nordmeer, Religionskontakte und literarischer Austausch
Troyes mit seinen Versromanen Erec et Enide, Cligès, Lancelot, Yvain und Perceval einen der Grundsteine für die spätere Entwicklung der arthurischen Literatur legte – wobei seine Wirkungsstätte Troyes sowohl von Reims als auch von Paris nur knapp über 100 km entfernt liegt. Diese literarischen Entwicklungen dürften am Literaten Saxo nicht unbemerkt vorübergegangen sein, umso weniger, als es sich bei den in dieser Zeit in literarischer Form verschriftlichten arthurischen Dichtungen wohl nur um einen kleinen Teil einer umfangreichen und primär mündlichen Erzähltradition handelte. Auch für Saxo Grammaticus ist daher eine enge Vertrautheit mit zeitgenössischen Motiven der arthurischen Literatur anzunehmen. Dies bedeutet insgesamt, dass grundsätzlich für jedes Motiv der literarischen Glæsisvellir-Texte potentiell mit einem direkten oder indirekten literarischen Einfluss der arthurischen Dichtung zu rechnen ist. Schon aus diesem Grund war es unumgänglich, die Diskussion des inselkeltischen Materials nicht auf den irischen Befund zu beschränken, sondern gerade auch das arthurische Material im Detail miteinzubeziehen.¹⁸⁵⁶ In Anbetracht dieses „arthurischen Generalverdachts“, unter dem die Glæsisvellir-Texte unvermeidlich stehen, ist es nun jedoch angebracht, nochmals auf die Ergebnisse des arthurisch-irisch-nordischen Vergleichs zu verweisen, der oben bereits vorgelegt wurde.¹⁸⁵⁷ Dort war das arthurische, irische und nordische Material in Hinblick auf die sechs Leitmotive miteinander verglichen worden, die für die Frage nach inselkeltisch-nordischen Kulturbeziehungen im Bereich der anderweltlichen Unsterblichkeitsgefilde wesentlich sind: (1) transmarine bzw. Insellage; (2) Unsterblichkeit; (3) anderweltlichen Frauengestalten; (4) Sexualität; (5) Licht/Glanz/Kristall; (6) Gärten. Dieser Vergleich ergab Folgendes: (1) Die Lage des Unsterblichkeitsgefildes in der nordischen Literatur und Folklore entspricht dem arthurischen und irischen Befund gleichermaßen schlecht; wie die spätere Diskussion zu zeigen versucht hat, dürfte dies auf einer Angleichung der Lage solcher Anderweltsgefilde an einheimisch-nordische Konzepte beruhen.¹⁸⁵⁸ (2) Die schon im Namen des „Ódáinsakr“ zum Ausdruck kommende zentrale Rolle des Unsterblichkeitsmotivs für den nordischen Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex findet im arthurischen Material nur mit erheblichen Einschränkungen ein Gegenstück, da die Insel Avalon zumeist primär eine Insel der Heilung ist, nicht eine Insel der Unsterblichkeit, und da die Verlockung der fee in den bretonischen Lais typischerweise primär in ihrer erotischen Anziehungskraft besteht, und nicht im Versprechen ewigen Lebens. In der irischen Literatur spielt das Unsterblichkeitsmotiv hingegen eine prominente und zentrale Rolle, da das Versprechen der Unsterblichkeit dort von der Anderweltsfrau explizit und prominent eingesetzt wird, um den menschlichen Helden zur Reise in die Anderwelt zu bewegen. (3) Anderweltliche Frauengestalten erscheinen im Glæsisvellir-Material in Form der
1856 Siehe oben S. 181 ff. (Kapitel 4). 1857 Siehe oben S. 483 ff. 1858 Siehe oben S. 516 ff.
Avalon und der Ódáinsakr, oder: Arthurische Einflüsse in den Glæsisvellir-Sagas?
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Töchter Guðmunds, die außerhalb des Helga þáttr (wo ihre Charakterisierung direkt auf den Lanval zurückgreift) jedoch kaum jemals eine eigene Initiative entwickeln. Die anderweltlichen Frauengestalten sowohl der arthurischen als auch der irischen Literatur sind demgegenüber weitaus unabhängigere Figuren, die ihre Handlungen selbst bestimmen und als machtvolle Persönlichkeiten im eigenen Recht auftreten. Insbesondere in der frühen arthurischen Literatur sind diese anderweltlichen Frauen niemandem untertan; damit fehlt der arthurischen Literatur jede Parallele zum Verhältnis Guðmunds zu seinen Töchtern, die ihm untergeben sind. Eine entfernte Parallele hierzu findet sich nur in der irischen Literatur: Ungeachtet der Tatsache, dass auch die irischen Anderweltsfrauen eine sehr unabhängige Position innehaben, wird das Land der Frauen wiederholt mit der Gestalt Manannáns assoziiert und so auch mit einer männlichen Herrschergestalt verbunden. (4) Die Töchter und die Schwester Guðmunds erscheinen mehrfach als schöne, verführerische und sexuell aktive Figuren, die jedoch auch in Hinblick auf ihre Sexualität nur im Helga þáttr selbstbestimmt handeln (wobei diese Selbstbestimmtheit dort wiederum auf der Prägung durch den Lanval beruht). Ihr verführerischer Charakter stellt eine Parallele zu den anderweltlichen Frauengestalten sowohl der arthurischen als auch der irischen Literatur dar, während ihre fehlende Selbstbestimmtheit sowohl zum arthurischen als auch zum irischen Vergleichsmaterial einen merklichen Kontrast darstellt. (5) Als „Glanzgefilde“ finden die Glæsisvellir ihr Gegenstück sowohl in der arthurischen „Glasinsel“ als auch in Zügen der Beschreibung des irischen Landes der Frauen. Eine Verbindung mit der arthurischen „Glasinsel“ wäre jedoch aus chronologischen Gründen höchst problematisch, da die „Apfelinsel“ Avalon erst ab 1191 mit der „Glasinsel“ gleichgesetzt wird. Der glänzend-kristallene Charakter des irischen Landes der Frauen hingegen erscheint schon in den frühesten Zeugnissen. Die „kristallenen“ Aspekte des irischen Materials sind dabei umso auffallender, als die dortigen Anderweltsgefilde Bäume aus Edelmetall und Kristall enthalten können: Dies erinnert an den goldenen Baum oder Hain Glasir der nordischen Literatur – eine Übereinstimmung, die wiederum im Namen Glæsisvellir/Glasisvellir einen unmittelbaren Niederschlag gefunden haben mag.¹⁸⁵⁹ (6) Die in Guthmundus’ Garten wachsenden Früchte erscheinen explizit nur bei Saxo, wo sie dazu dienen sollen, Guthmundus’ Gästen ihr Gedächtnis zu rauben und sie für immer in seinem Reich zu halten. Aufgrund der engen Parallele zum Lotophagen-Motiv der Odysseussage wirft diese Belegsituation erhebliche quellenkritische Probleme auf, wenngleich verschiedene spätere Zeugnisse zumindest näherungsweise Parallelen zu Guthmundus’ Garten enthalten. In der arthurischen Literatur erscheinen Äpfel nur im Namen Avalons, sind aber nie handlungsrelevant; insofern ist der arthurische Befund mit dem nordischen kaum vergleichbar. In der irischen Literatur sind Äpfel dagegen prominente Elemente der Handlung vieler Anderweltserzählungen; dabei sind sie insbesondere deshalb mit
1859 Siehe oben S. 519.
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Unsterblichkeit im Nordmeer, Religionskontakte und literarischer Austausch
Saxos Bericht eng vergleichbar, weil auch die Anderweltsäpfel der irischen Literatur die Funktion eines Lockmittels haben können, das den Helden zu einer Anderweltsreise ohne Rückkehr bewegt. Aus diesem kurzen Résumé wird klar ersichtlich, dass trotz einiger Unterschiede auffallend enge Parallelen zwischen dem nordischen und dem inselkeltischen Material bestehen – und insbesondere, dass die Parallelen zwischen dem nordischen und dem irischen Material fast ausnahmslos größer sind als die Parallelen zwischen dem nordischen und dem arthurischen Material. In den Fällen, wo das arthurische Vergleichsmaterial dem nordischen Befund besonders nahe steht, ist dies darauf zurückzuführen, dass es sich bei den fraglichen Zügen um Motive des Helga þáttr handelt, die dieser dem Lanval entnommen hat. Mit Hinblick auf die hier untersuchten Parallelen lässt sich somit festhalten, dass direkte literarische Einflüsse der arthurischen Literatur nur für den Helga þáttr anzunehmen sind; für alle anderen Texte deuten die spezifischen Details der nordisch-inselkeltischen Übereinstimmungen eher auf eine Beziehung zu Irland hin. Die Ähnlichkeiten zum arthurischen Befund scheinen hier nur auf einer „Familienähnlichkeit“ zwischen dem irischen und dem arthurischen Material zu beruhen, die darin begründet ist, dass die mythologischen Elemente der arthurischen Literatur und die mythologischen Elemente der frühen irischen Literatur zwei Zweige derselben inselkeltischen Mythologie wiederspiegeln.¹⁸⁶⁰ In dieselbe Richtung eines spezifisch irischen Einflusses auf den Ódáinsakr/ Glæsisvellir-Komplex weist im Übrigen auch das Motiv der insula viventium, wie es von Giraldus Cambrensis und der irischen Mirabiliensammlung Do ingantaib Erenn geschildert wird und in der Folklore zum Ódáinsakur im Hvanndalur wiederkehrt. Hierzu findet sich in den Avalon-Schilderungen der arthurischen Literatur kein Gegenstück: Auch dieses Motiv verweist für den Ursprung der nordisch-inselkeltischen Parallelen somit auf Irland. Der Vollständigkeit halber sei allerdings angemerkt, dass dieses Motiv unter Vermittlung durch die irische Mirabilientradition spätestens um 1260 im Norden bekannt war, wo es zu diesem Zeitpunkt in den norwegischen Königsspiegel (Konungs skuggsjá) aufgenommen wurde;¹⁸⁶¹ dieser Text erlangte nach Ausweis einiger isländischer Handschriften auch in Island eine gewisse Bekanntheit.¹⁸⁶² Es ist
1860 Siehe oben S. 449 ff. 1861 Hgg. von Holm-Olsen 1983, dort S. 23=134 f. Der See, in dem sich die Unsterblichkeitsinsel befindet, wird im Königsspiegel mit Lough Ree (logri) identifiziert (Holm-Olsen 1983, S. 160). Da diese Angabe bei Giraldus Cambrensis kein Gegenstück hat, deutet dies darauf hin, dass diese Passage des Königsspiegels nicht von der Topographia Hibernica, sondern direkt von einem irischen Strang der Mirabilienüberlieferung abhängig ist; vgl. Heiermeier 1944, S. 265 f., 270–273; Meyer 1894 (Mirabilia), bes. S. 306, 315 f.; Boyle 2014, S. 259. Vgl. auch die ebendort im Königsspiegel erzählte Geschichte von einer schwimmenden Insel in einem irischen Binnensee, deren Kräuter jegliche Krankheit heilen sollen: Holm-Olsen 1983, S. 22=134. 1862 Zur Datierung und zur Bekanntheit dieses Texts in Island vgl. Simek und Hermann Pálsson 2007, S. 234.
Abschlussgedanken
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jedoch nicht ersichtlich, wie die gelehrte literarische Schilderung des Königsspiegels die Folklore des Hvanndalur hätte beeinflusst haben sollen, auch wenn eine solche späte Beeinflussung nicht mit letzter Sicherheit auszuschließen ist. Die von Heizmann für eine schon landnahmezeitliche Lokalisierung des Ódáinsakr in den Hvanndalir vorgebrachten Argumente würden hiervon ohnehin unberührt bleiben.
7.7 Abschlussgedanken: Der Ódáinsakr, die komplexe Stratigraphie der altwestnordischen Mythologie, und einige methodologische Bemerkungen Im August 2007 kam beim aufgelassenen Hof Litlu-Núpar, etwa 10 km südlich der nordisländischen Stadt Húsavík, ein wikingerzeitliches Bootsgrab zu Tage. In einem etwa 6,5 m langen Boot waren hier die sterblichen Überreste von zumindest drei Personen bestattet (wohl zwei Männer und eine Frau); unter den Grabbeigaben befand sich unter anderem eine sechseckige konische Bronzeglocke, zu der Parallelen aus Nordengland und Schottland bekannt sind.¹⁸⁶³ In gewissem Sinne stellt das Bootsgrab von Litlu-Núpar das archäologische Äquivalent zur Geschichte von Hvítramannaland und der Lokalisierung des Ódáinsakr in den Hvanndalir dar: Der alteingesessene nordische Brauch der Bootsbestattung mit seinen Konnotationen einer Reise in eine Anderwelt jenseits des Meeres zeigt hier deutlich die Spuren der engen Verbindungen, die während der Wikinger- bzw. Landnahmezeit zwischen den skandinavischen Siedlern in Island und der Welt der Britischen Inseln bestanden. Diese Kontakte führten dabei zu einer Bereicherung der spätheidnischen isländischen Religionsgeschichte um einzelne Elemente, die jedoch wenig am grundsätzlichen Charakter des nordischen Heidentums geändert zu haben scheinen (wenngleich sich eine solche Aussage in Anbetracht der extrem fragmentarischen Quellenlage nur unter größtem Vorbehalt treffen lässt):¹⁸⁶⁴ Wie im Bootsgrab von Litlu-Núpar die Verstorbenen ein insulares Artefakt auf ihre letzte Schiffsreise mitnehmen, ohne dass dadurch der grundsätzliche Charakter des Bestattungsritus ersichtlich modifiziert wird, so haben sich Hvítramannaland und der Ódáinsakr trotz einer allem Anschein nach inselkeltischen Herkunft in die Kosmologie der isländischen Siedler eingefügt, ohne deren Charakter tiefgreifend zu verändern. Wie die Betrachtung des Materials zu transmarinen Anderwelten und zu Boots- und Schiffsgräbern in Kapitel 3 gezeigt hat, war das Konzept einer Anderwelt jenseits des Meeres in Skandinavien wohl schon vor dem Einsetzen intensiver Kulturkontakte mit der
1863 Roberts 2008/09; die Glocke: ibidem S. 38, 39 (Abb.). Für eine allgemeine Zusammenstellung einiger Boots- und Schiffsgräber mit irisch-angelsächsischen Metallarbeiten als Beigaben vgl. MüllerWille 1968/69, S. 85. 1864 Vgl. allgemein Egeler 2013 (Celtic Influences).
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inselkeltischen Welt bestens bekannt; wie Hvítramannaland, so fügt auch der Ódáinsakr dieser einheimischen Kosmologie einen Aspekt hinzu, der von einer intensiven Auseinandersetzung mit inselkeltischen und spezifisch irischen Vorstellungen zeugt, der das Weltbild der isländischen Siedler der Wikingerzeit jedoch ebensowenig revolutionierte wie die Beigabe einer inselkeltischen Glocke das Bestattungsritual von Litlu-Núpar. Im Gesamtbild der nordischen Religionsgeschichte blieb der Ódáinsakr letztlich marginal. Die marginale Stellung des Ódáinsakr im Gesamtbild der nordischen Religionsgeschichte bedeutet jedoch nicht, dass die vorliegende Untersuchung die darauf verwendete Mühe nicht wert gewesen wäre. Die wichtigsten Schlussfolgerungen der vorliegenden Arbeit lassen sich etwa folgendermaßen zusammenfassen: Für den Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex der altwestnordischen Literatur sind mit einiger Wahrscheinlichkeit inselkeltische Wurzeln anzunehmen. Dabei dürfte die Rezeption dieses Motivkomplexes durch die Skandinavier in erster Instanz im Kontext der Bekanntschaft skandinavischer Siedler mit spezifisch irischen Vorstellungen während der isländischen Landnahmezeit zu lokalisieren sein. Ihr historischer und sozialer Kontext ist entsprechend in den Kontakten heidnischer Landnehmer mit der christlichen Kultur Irlands zu suchen: Das Christentum des insbesondere frühmittelalterlichen Irland war von der Idee besessen, im Ozean nach dem Paradies zu suchen, und hier mag auch die Wurzel der Vorstellung liegen, bei der Fahrt nach Westen – nach Island – das irdische Paradies und das Land der Unsterblichkeit finden zu können. Die Reise nach Island, die dort den Ódáinsakr findet, ist in gewissem Sinne eine paganisierte und aus der Legende und der monastischen Praxis in das Leben heidnischer Siedler verschobene immram, angereichert mit einigen geläufigen Motiven der irischen Erzählkultur, die ihre Wurzeln letztlich in der vorchristlichen Mythologie Irlands haben. Die forschungsgeschichtlich prominente arthurische Literatur dürfte zur isländischen Rezeption des Motivs eines Unsterblichkeitsgefildes in der spätheidnischen Zeit hingegen keinen Beitrag geleistet haben; einen direkten Einfluss auf den Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex übte das arthurische Material erst im Hochmittelalter aus, als es im Helga þáttr zu einer sekundären Überformung dieses Motivkomplexes durch die Verwendung literarischer Motive des Lanval kam. Einen wichtigen Beitrag leistet das arthurische Material jedoch zum Verständnis der longue durée des Motivs der „Unsterblichkeitsinsel“: Der Vergleich des arthurischen Materials mit den Zeugnissen der irischen Literatur untermauert den schon aus internen Gründen der irischen Literatur naheliegenden, dort in den letzten Jahren jedoch an prominenter Stelle in Frage gestellten Verdacht, dass es sich beim Land der Frauen um ein Motiv mit Wurzeln in der inselkeltischen Mythologie handelt. Dieser Verdacht lässt sich ferner auch durch die Heranziehung antiker Zeugnisse zu keltischen Inselheiligtümern und mythischen Inseln weiter wahrscheinlich machen, wenngleich das antike Material aufgrund vielfacher Quellenprobleme nur wenige konkrete Aussagen ermöglicht. Insgesamt scheint sich aus diesem Material für das Motiv des Ódáinsakr eine lange, von vielfachen Umdeutungsprozessen geprägte Geschichte zu ergeben:
Abschlussgedanken
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Der Motivkomplex scheint zumindest in Teilaspekten bis in die keltische Religionsgeschichte der Antike zurückzugehen; die vergleichende Analyse des irischen und arthurischen Materials legt nahe, dass zentrale Kernaspekte des Motivkomplexes den vorchristlichen Mythologien Irlands und Britanniens auf einer „inselkeltischen“ Ebene gemein waren; insbesondere in Irland wurden wichtige Elemente des Motivkomplexes nach der Christianisierung der Insel nicht nur in der „säkularen“ Erzählliteratur fortgeführt, sondern auch aufs Engste mit dem dezidiert monastischen Phänomen der peregrinatio (einschließlich der damit assoziierten Literatur) verbunden; während der Wikingerzeit wurden zentrale Teile dieses Motivkomplexes auf der Grundlage einheimisch-skandinavischer Vorstellungen (Bootsbestattungen!) von heidnischen Skandinaviern rezipiert, über die der Motivkomplex während der isländischen Landnahmezeit nach Island gelangte und dort zu einer starken, lebenspraktisch wirksamen Mythologisierung eines nordisländischen Tals führte; und nach der Christianisierung Islands wurde der Motivkomplex auf rein literarischer Ebene weiter am Leben erhalten. Der Ódáinsakr/Glæsisvellir-Komplex scheint somit in paganen keltischen Vorstellungen seinen Ausgangspunkt genommen zu haben und nach einer langen Geschichte als inselkeltischer mythologischer Anderweltsbereich in Irland christianisiert, von isländischen Siedlern re-paganisiert und am Ende dieser Entwicklung dem literarischen Genre der Vorzeitsagas überantwortet worden zu sein. Er trägt so potentiell kontinentalkeltische, inselkeltische, irisch-pagane, christliche und nordische Strata in sich und wirft damit ein zwar vielleicht marginales, aber nichtsdestoweniger schillerndes Schlaglicht auf die komplexe Stratigraphie der nordischen Mythologie und Religionsgeschichte. Auch auf methodischer Ebene hat die vorliegende Untersuchung wichtige Implikationen. So illustriert sie, dass auch das als religionsgeschichtliche Quelle üblicherweise mit einiger Skepsis betrachtete Genre der Vorzeitsagas potentiell eine wichtige mythologische Quelle darstellen kann – wenngleich es aufgrund der späten Datierung dieser Texte selbstverständlich nötig ist, die Verwendung von Vorzeitsagas als religionsgeschichtliche Quellen in jedem Einzelfall ausführlich zu begründen. Dasselbe gilt, wie die Überlieferung zum Ódáinsakur im Hvanndalur illustriert, auch für die isländische Folklore und die Gelehrsamkeit der frühen Neuzeit. Ferner hofft die vorliegende Arbeit gezeigt zu haben, dass die historisch-vergleichende Methode nach wie vor ein wesentliches (und bislang nur ungenügend ausgeschöpftes) Potential zur Erforschung keltisch-germanischer Kulturbeziehungen insbesondere im Bereich der Religionsgeschichte hat – ungeachtet der weitverbreiteten Skepsis gegenüber vergleichenden Zugängen zur nordischen Mythologie, die nicht zuletzt aufgrund der methodischen Schwächen vieler älterer Arbeiten spätestens ab den 1990er Jahren in weiten Teilen der Forschung dominant geworden ist.¹⁸⁶⁵ Dabei sollte zugleich auch deutlich
1865 Allgemein zur spätestens ab den 1990er Jahren weitverbreiteten grundlegenden Skepsis gegenüber komparatistischen Arbeiten zu keltischen Einflüssen in der nordischen Religionsgeschichte vgl.
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geworden sein, dass für solche vergleichende Arbeiten eine detaillierte Aufarbeitung sowohl des nordischen als auch des Vergleichsmaterials, seine historische Kontextualisierung, quellenkritische Analyse und literaturgeschichtliche Untersuchung unumgänglich ist. Forschungsgeschichtlich prominente Fehleinschätzungen wie der Versuch, den Namen der arthurischen Insel Avalon als Entlehnung aus dem Irischen zu erklären, oder der Vorschlag, die nordischen Glæsisvellir mit der arthurischen „Glasinsel“ zu verbinden, konnten sich in der hier vorgelegten ausführlichen Untersuchung nur deswegen als unhaltbar erweisen, weil das Material in einem Umfang und insbesondere in einer Tiefe aufgearbeitet wurde, die bisherigen Untersuchungen gefehlt hat. Nicht zuletzt erwies es sich dabei auch als unumgänglich, das frühe irische Material ausführlich zu berücksichtigen: Erst die detaillierte Berücksichtigung sowohl des arthurischen als auch des irischen Materials konnte zeigen, dass die Ähnlichkeiten zwischen dem irischen und dem nordischen Material außerhalb des Helga þáttr deutlich spezifischer sind als die nordisch-arthurischen Parallelen. Diese Bedeutung des irischen Materials für die Erforschung nordisch-keltischer Religionsbeziehungen hat dabei natürlich auch unerfreuliche Konsequenzen. Dieses Material zeichnet sich in einem Maß, das in Fächern wie der Nordistik seit Generationen nicht mehr bekannt ist, durch eine ausgesprochen schlechte Zugänglichkeit aus;¹⁸⁶⁶ insbesondere fehlt es fast vollständig an verlässlichen, detaillierten Überblickswerken, die nicht-Keltologen den Zugang zum aktuellen Forschungsstand ermöglichen und das Auffinden aktueller Editionen und Übersetzungen, ja selbst die grundsätzliche Suche nach Belegstellen erleichtern würden: Es sagt vermutlich alles, dass bisher z. B. noch kein seriöser Versuch unternommen wurde, eine „irische Religionsgeschichte“ zu schreiben.¹⁸⁶⁷ Dazu kommen grundlegende Probleme der Quelleninterpretation, zu denen auch innerhalb der Keltologie keinerlei Einigkeit besteht.¹⁸⁶⁸ An der eigenständigen und intensiven Auseinandersetzung mit den Primärquellen führt bei der Verwendung irischen Materials daher kein Weg vorbei. Ein weiterer methodischer Punkt, der es vielleicht verdient, nochmals explizit hervorgehoben zu werden, ist das „Problem der Projektionsebenen“. Damit ist die Frage gemeint, auf welcher Ebene des historischen Kontakts oder sprachgeschichtlichen Stammbaums Parallelen zwischen zwei Kulturen zu lokalisieren sind: indo-
mit weiterer Literatur Egeler, im Erscheinen (Encounters 6: Celtic); Egeler 2013 (Útgarðaloki), S. 157 f.; Egeler 2013 (Celtic Influences), S. 3, 5 f. et passim. Allgemein zu den methodischen Problemen vieler (nicht nur) älterer Arbeiten zu keltisch-germanischen religionsgeschichtlichen Beziehungen vgl. Egeler 2013 (Celtic Influences). 1866 Vgl. Maier 2012, S. 27. 1867 Der Anspruch, eines solches Buch vorzulegen, wird zwar von Ó hÓgáin 1999 erhoben; diese Arbeit aus der Feder eines Folkloristen scheitert jedoch schon aufgrund des Umstands, dass sie die mediävistische Forschung zur mittelalterlichen Textüberlieferung Irlands fast vollständig außer Acht lässt. 1868 Vgl. etwa Maier 2002 zur unveränderten Neuauflage (2000) von McCone 1990.
Abschlussgedanken
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germanisch; urgermanisch – urkeltisch; nordgermanisch – inselkeltisch; irisch – isländisch; oder gar erst im Rahmen der hoch- und spätmittelalterlichen Rezeption westeuropäischer höfischer Literatur? Im vorliegenden Fall sind zumindest zwei Ebenen zu unterscheiden, auf denen sich eine nordische Rezeption keltischer Motive des „Avalon-Typs“ abgespielt haben dürfte: Eine isländische Rezeption irischer Motive während der Landnahmezeit und eine deutlich spätere literarische Rezeption des Lanval im Helga þáttr. Zwei verschiedene keltische Formen desselben, ursprünglich (im sprachwissenschaftlichen Sinne) inselkeltischen Motivs wurden in zwei verschiedenen historischen Situationen auf zwei verschiedene Weisen und mit unterschiedlichen Intentionen rezipiert, fanden dabei aber beide ihren Niederschlag in ein und demselben Text. Dieses Beispiel stellt eine nachdrückliche Warnung davor dar, bei der Interpretation nordisch-keltischer Parallelen zu schnell und zu zuversichtlich eine Schlussfolgerung dazu zu ziehen, in welchen historischen Kontexten eine potentielle Übernahme der entsprechenden Motive zu verorten ist. Ein Aufstellen begründeter Hypothesen zur historischen und sozialen Lokalisierung solcher Zusammenhänge ist nur auf der Grundlage einer detaillierten Untersuchng möglich, die sich auf das Material mit aller nötigen Sorgfalt einlässt und die nicht davor zurückscheut, der Analyse des Vergleichsmaterials ebenso viel oder vielleicht sogar noch mehr Raum zuzugestehen als der Analyse des – oftmals sehr beschränkten – eigentlich nordischen Materials. Auch einer solchen Detailanalyse wird es jedoch nicht immer gelingen, die spezifischen sozialen und historischen Kontexte zu bestimmen, in denen es zu einer Übertragung der jeweiligen keltischen Motive in den germanischen Kulturraum kommen konnte. Dennoch sollte der Versuch einer solchen sozialen und historischen Kontextualisierung ein zentrales Ziel komparatistischer Studien zum keltisch-germanischen Kulturkontakt sein. Denn auch wenn aufgrund der Beleglage in vielen Fällen über eine bloße Motivgeschichte nicht hinauszukommen sein dürfte, ist die Genealogie von Motiven doch nicht das eigentliche Ziel religionsgeschichtlicher Forschung; dieses Ziel liegt vielmehr in der Vertiefung unseres Verständnisses der religiösen Handlungen von konkreten Menschen in konkreten historischen Situationen und unter konkreten sozialen Umständen, ihrer Sehnsüchte und Hoffnungen, und der Art, wie diese Hoffnungen und der Umgang mit ihnen das zeitgenössische Leben mitprägten. Die Hoffnung darauf, in einem Tal im hohen Norden Islands Unsterblichkeit zu finden, kann hier nicht mehr sein als ein Beispiel unter vielen.
8 Bibliographie Sonderzeichen: ø und ǫ wurden unter o eingeordnet; þ wird, außer im Verzeichnis der altnordischen Quellentexte, als th gewertet. Akzente wurden bei der Alphabetisierung nicht berücksichtigt. Isländer sind, der isländischen Konvention entsprechend, nach den Vornamen eingeordnet.
8.1 Quellen (Ohne griechisch-römische Texte der Antike und Texte der Patrologia Latina.)
8.1.1 Quellen in altnordischer Sprache Eddalieder werden zitiert nach der Ausgabe von → Neckel und Kuhn 1983; vgl. Dronke 1997, 2011. Bósa saga ok Herrauðs → Jiriczek 1893 (hgg.) Breta sǫgur → Finnur Jónsson und Eiríkur Jónsson 1892–1896, S. 231–302 (hgg.) Duggals leiðsla → Cahill 1983 (hgg. u. übers.) Eiríks saga víðfǫrla → Jensen 1983 (hgg.) Erex saga → Kalinke 1999 (hgg. u. übers.) Eyrbyggja saga → Einar Ól. Sveinsson und Matthías Þórðarson 1935, S. 1–186 (hgg.) Gísla saga Súrssonar → Björn K. Þórólfsson und Guðni Jónsson 1943, S. 1–118 (hgg.) Grettis saga → Boer 1900 (hgg.) Gylfaginning → Faulkes 2005 (hgg.) Hákonar saga góða → Finnur Jónsson 1893–1901 Bd. 1, S. 165–222 (hgg.) Hálfdanar saga Eysteinssonar → Schröder 1917 (hgg.) Hálfs saga ok Hálfsrekka → Seelow 1981 (hgg.) Haraldskvæði (Hrafnsmál) → Finnur Jónsson 1908–1915 Bd. 1.A, S. 24–29; 1908–1915 Bd. 1.B, S. 22–25 (hgg. u. übers.) Helga þáttr Þórissonar → Ólafur Halldórsson 2000, S. 38–44 (hgg.); Guðbrandur Vigfússon und Unger 1860, S. 359–362 (hgg.) Hervarar saga → Jón Helgason 1924 (hgg.); Tolkien 1960 (hgg. u. übers.) Húsdrápa → Finnur Jónsson 1908–1915 Bd. 1.A, S. 136–138; 1908–1915 Bd. 1.B, S. 128–130 (hgg. u. übers.) Íslendingabók → Jakob Benediktsson 1968, S. 1–28 (hgg.) Ívens saga → Kalinke 1999 (hgg. u. übers.) Jómsvíkinga saga → af Petersens 1882 (hgg.) Konungs skuggsjá → Holm-Olsen 1983 (hgg.) Landnámabók → Jakob Benediktsson 1968, S. 29–397 (hgg.) Laxdœla saga → Einar Ól. Sveinsson 1934 (hgg.) Merlínússpá → Horst 2012 (hgg. u. übers.) Njáls saga → Einar Ól. Sveinsson 1954 (hgg.) Norna-Gests þáttr → Ólafur Halldórsson 2000, S. 15–38 (hgg.) Ólafs saga hins helga → Finnur Jónsson 1893–1901 Bd. 2 (hgg.) Ólafs saga Tryggvasonar → Finnur Jónsson 1893–1901 Bd. 1, S. 255–459 (hgg.) Orkneyinga saga → Finnbogi Guðmundsson 1965 (hgg.)
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9 Register Abalum/Abalus 385, 416–425, 437, 447 f., 459, 471, 481 Abbaye Notre-Dame du Bec 429 Acallam na Senórach 335–338, 370, 372, 382, 446, 454, 461, 463 Adam de Domerham, Historia de rebus gestis Glastoniensibus 219, 223 Adam von Bremen, Gesta Hammaburgensis ecclesiae pontificum 22–24, 29, 43, 65, 78, 91, 179 áes síde 264, 266, 274, 328 Aided Con Roí 341 Ailbe 288, 292–294, 310–313, 316, 319, 363, 369, 378–380, 446, 493 Airne Fíngein 330, 332, 356 f. Aislinge Óenguso 331 f. Albinovanus Pedo 25 Ales stenar 158 f. Altram Tige Dá Medar 348 f. Änge 168 Annalen der vier Meister 31 Annalen des Tigernach 381 Annalen von Ulster 31, 503 f. Antipoden 197, 251, 314 f. Anundshög 157 f. Apokalypse 231, 293, 296, 307, 311, 318, 367, 376, 378 Apollonios von Rhodos 404 Argante 199 f., 460 Arran 349–354, 359, 371, 374, 457 Asgard 12, 37, 118 Atlantis 403, 410, 418 Ätna 247–253, 260, 295, 465, 467 Augustinus 46, 50 Aurvandill 76 f. Avienus 395–398, 414 Babylon 61–63 Baie des Âmes 393, 430 Baie des Trépassés 393, 430 Baile suthach síth Emhna 343–348, 364, 371, 504, 511 Balder 115, 57, 114–118, 120, 134, 141 f., 150, 171–173, 175–180, 442, 516, 518 Baldrs draumar 30 Barinthus 58, 186, 190–194, 243, 288, 296 f., 319, 381, 428, 438, 448, 456 f., 462 Bartholin, Thomas d. J. 1, 104 f., 441, 500
Bataille Loquifer 239, 243–246, 247, 259 f., 444, 456, 460, 465, 467, 490, 517 Beatus (Weltkarte des) 51 f., 186, 188 Beda Venerabilis 50 Behaim, Martin 317 Benedikt von Peterborough, Gesta regis Ricardi 251 Benoît de Sainte-Maure, Roman de Troie 215 Beowulf 131 f., 141, 150 f., 442 Bīrūnī, Kitāb Taḥdīd al-Amākin 23 Bjarmien 20, 71, 84 f., 88–92, 94 f., 100, 512 f. Blomsholm 152 f. Bodleian Dinnṡenchas 13, 351 Breta sǫgur 183 f., 521 Briareos 399, 401, 407 f. Bro kyrka 169 f. Broighter 280 Brynjólfur Sveinsson 39, 87, 101, 104, 492 Buch von Leinster 351–353, 355, 364 Bulotu 497 Caesarius von Heisterbach, Dialogus miraculorum 248 f., 252 f. Caradoc von Llancarfan, Vita Gildae 224–226, 228–230, 255, 259 Cath Maige Tuired 345 Chapalu 245, 454 Charon 108, 128 f., 149, 390 Charybdis 25, 91 Chrétien de Troyes, Erec et Enide 201–208, 213 f., 218 f., 230, 255, 294, 413, 420, 460, 462, 464, 476, 488, 522 Chrétien de Troyes, Lancelot 229 f., 522 Chrétien de Troyes, Yvain 202, 232, 464, 521 f. Cín Dromma Snechtai 339 f., 473, 475 Claudius Claudianus 392 f. Colum Cille 314, 342 Compert Mongáin 451 Compert Mongáin ocus Serc Duibe-Lacha do Mongán 451 Conn Cétchathach 265 f., 276, 356 Cormac ua Cuilennáin 342 Culhwch und Olwen 413 Dá Brón Flatha Nime 307 f. Dagda 381 De Gabáil in t-Ṡída 264, 331 Demeter 398 Demetrios von Tarsos 399 f., 403, 410 f.
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Register
Detto del gatto lupesco 250 f. Dicuil 282–285, 290 f. Didot-Perceval 216–218, 253, 259, 457, 460, 464 Diodor von Sizilien 400, 406, 417, 421 Djupvik 164 f. Do ingantaib Erenn andso da rer lebair Glind da-lacha 362, 364, 371 f., 524 Draupnir 115, 117 Dublin 343, 483, 503 Duggals leiðsla 55 f., 58 Eachtra Airt meic Cuind ocus Tochmarc Delbchaime ingine Morgain 364 f. Echtra Cormaic maic Airt 9–14, 335, 458 Echtra Nerai 57, 264, 330 f., 346, 376, 378, 456 Echtra Thaidg mheic Chéin 365 Echtrae Laegairi 264 Edinburgh Dinnṡenchas 351 Edward I. 222 Eigg 430 f. Einherjer 11, 86 f., 171 Eismeer 22, 28 f., 91, 404, 406 Elias 58, 271, 307 f., 318 f., 322 f., 363, 369, 376, 378 f. Emain 256, 262, 268, 273, 340, 342–350, 352 f., 359, 371, 374, 439, 446, 457, 459, 466, 478–480, 489, 515, 519 Emain Ablach 256, 343–345, 348–350, 352 f., 359, 371, 374, 446, 459, 479 f., 489 Ende der Welt 22–29, 32–34, 36, 41, 43, 65, 91–93, 100, 102 f., 317 f., 320, 357, 370, 391–393, 407, 431, 433, 512 f., 518 Enoch 58, 271, 307 f., 318 f., 322 f., 363, 369, 376, 378 f. Entdeckungsfahrt 22 f., 26, 32, 92, 108 Eos 500 Erex saga 521 Étienne de Bourbon, Tractatus de diversis materiis predicabilibus 249, 252 f. Étienne de Rouen, Draco Normannicus 197–200, 243, 251, 258, 462, 464, 467, 486 Excalibur 184, 198 f., 224, 235 f., 251, 258, 454, 457 Eyrbyggja saga 175, 506, 513 Färöer 283, 285, 291, 367, 374, 377, 445 Fata Morgana 253 La faula 250 Felsbilder 172–175 Fiji 497
Filidh Éreann Go Haointeach 349 Finisterre 317, 432–434, 438 Finnland 74, 137 Finnmark 35, 59, 61, 100, 104, 484, 518 Fled Bricrenn ocus Loinges mac nDuíl Dermait 338 Floriant et Florete 249 f., 460, 465, 467, 486–488 Forfess Fer Fálgae 339–341, 352, 359, 371 Forgallaskeppet 153 f. Freyja 84, 86, 115 Freyr 88, 115, 141 Frigg 88, 114 f. Gålrum 161 f., 166 f., 169 Gannarve 164 f. Geirrøðr 28–32, 74–81, 95; → Geruthus Gelübde → heitstrenging Geruthus 20 f., 26–28, 30–32, 34, 80, 108, 180, 354, 517 Gervasius von Tilbury, Otia imperialia 247 f., 465, 467 Ginnungagap 28 Giraldus Cambrensis, De principis instructione 220, 226, 255, 458, 479 Giraldus Cambrensis, Speculum ecclesiae 220 f., 226 f., 230, 255 f., 462 Giraldus Cambrensis, Topographia Hibernica 316, 360–364, 371 f., 381, 446, 524 Gísla saga Súrssonar 121–125, 150 f. Gjallarbrú 57, 179 Gjallarhorn 77 Gjǫll 29, 57, 115, 117, 178 f. Glaesaria/Glaesiae 418 f., 424 f., 437, 448 Glasir 36–38, 419, 491, 519, 523 Glossa ordinaria 50 Gnipahellir 80 Gnipalundr 80 Gnisvärd 161, 163 Gormr inn gamli 22, 160 Gotland 113 f., 129, 142, 153, 155 f., 161–173, 175, 179, 417, 442 Göttin des Landes 275 Graelent 202, 209 f., 212, 214, 218, 259, 456, 460, 462, 478 Graislemier 201 f., 204 Gral 238, 257, 259, 260, 454, 471 f., 473–476, 478 Grettis saga 31, 130
Register
Grímnismál 11, 28, 30, 86 Grönland 91, 93 Guðmundr Arason 111 f. Guigomar 201–206, 208, 213–215, 258, 462, 488 Guingamor 210–215, 218, 394, 456, 460, 462, 467 f., 478, 487 Gwair 413 f., 437 Hades 27 Hadingus 57, 65 Hadrianswall 386 f. Hákon Hákonarson 232, 520 f. Hákonar saga góða 120 Hálfs saga ok Hálfsrekka 88 Harald Klak 172 Haraldr blátǫnn 160 Haraldr Gormsson 29 Haraldr harðráði 22 f., 26, 28 f., 91 Haraldskvæði 30 Hebriden 283, 352 f., 359, 401 Heimdall 115 Heinrich II. 197 f., 220–223, 230 Heinrich V. 223 heitstrenging 43, 45 f. Hekataios von Abdera 406 f., 410, 412 Helgafell 175, 513–515 Helgi enn magri 505 Helgoland 417 Helios 26 f., 29 Helschuhe 122–125 Hereford (mappa mundi von) 51, 53, 91, 186, 317, 349, 509 f. Hermann von Laon 194, 464, 476, 478 Hermóðr 30, 114 f., 117 f., 178, 518 Higden, Ranulf (Weltkarte des) 51, 54, 186 Historia de Enoch et Elia 317–320, 322 f., 363, 370, 377, 380 f., 394, 431, 446, 468, 512 Hölle 31, 33, 41, 55, 56, 59, 126, 248 f., 252, 260, 294 f., 305, 386 Honorius von Autun 47 f., 204, 317, 360 Hringhorni 115 Hugh O’Conor’s House at Cloonfree 349 Huon de Bordeaux 215, 257 Húsdrápa 116 f., 150, 176 Hvítramannaland 506–509, 511, 525 f. Hyginus 25–27, 295, 492 Ibn Faḍlān, Risāla 132–136, 176, 178 f., 442 Île de Sein 430
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Immram Curaig Maíle Dúin 229, 297–306, 309 f., 311, 324, 329, 335, 368 f., 372 f., 376, 386 f., 446, 458, 461, 463, 482, 489 f., 507 Immram Curaig Ua Corra 229, 308–310, 312, 317, 369, 386, 433, 446, 466 Immram Snédgusa ocus Maic Riagla 306–308, 319, 369, 386, 446 Indogermanen 2, 5 f., 205, 354, 482, 501 f. Inseln der Seligen 4, 9, 25 f., 29, 52, 54, 113, 142, 186–188, 192, 206, 227, 314 f., 359, 371, 374, 380 f., 391 f., 395, 407–410, 412, 416, 433, 436, 438, 448 f., 496, 498 f., 511, 515, 517 Irdisches Paradies 41–54, 56, 58, 69, 98 f., 109 f., 191 f., 204, 206 f., 211, 231, 242 f., 250, 257, 260, 263 f., 272–275, 278, 281–320, 343, 347, 348 f., 362–364, 366–370, 374–382, 394, 395, 441, 445 f., 456, 462, 468, 493, 496, 512 f., 515, 526 Isidor von Sevilla 24 f., 46, 48, 187, 188 f., 191–194, 204, 206, 273 f., 283, 305, 349, 359 f., 371, 374, 377–380, 458 Isle of Man 338–350, 352 f., 359, 371, 374, 433, 439, 446, 457, 489, 515 Isle of Skye 354 Isle of Wight 414, 509 Íslendingabók 282, 284 Ívens saga 521 Jaufré 247 Jelling 160 f. Jenseitsbrücke 21, 29, 31, 41 f., 56 f., 77, 91 f., 108, 115, 117, 178 f., 301, 517 Jerusalem 191 f., 231, 246, 260, 293 f., 319 Johannes Scottus Eriugena 46, 273 Jómali 84, 89 f. Jómsvíkinga saga 43 Kalypso 246, 401, 403 Kerberos 27 Kessel der Dichtkunst 13 Kirke 190, 246, 259 f., 426 f. Klage der Alten von Beare 357 Kolumbus 515 Konungs skuggsjá 524 Kronos 385, 395–416, 433, 436 f., 447, 449, 517 Kronosmeer 402, 404–406, 408 Kunlun-Gebirge 499 Kyffhäuser-Motiv 253, 401, 411 f. Kyklopen 24–26, 295 Ladby 137, 139 f., 142 f.
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Register
Lancelot-Graal 214, 233–235, 250, 444, 456, 460, 462, 488 Landgeister → landvættir Landnámabók 5, 19, 107, 120 f., 136, 175, 178, 282, 441, 504–508, 514 f. Landschaft 31, 57, 155, 157 f., 166, 225, 231, 293, 514 landvættir 29 Laoi Oisín ar Thír na n-Óg 365 Lärbro Stora Hammars I 169–171 Laxdœla saga 504 Layamon, Brut 198–200, 218, 243, 258, 453, 456, 457, 460, 462, 464 Lebor Gabála Érenn 353, 354 f., 458 Lejre 153 f. Léraðr 11 Lethe 27, 30, 434 Lillbjärs III 129 Limerick 505 f., 508 Lindholm Höje 139, 151 Litanei der irischen Pilgerheiligen 285 f., 312 f., 316, 367–369, 446 Lofta 174 Loki 31, 33, 127 f. Lotophagen 27, 30, 108, 492 f., 523 Ludwig der Fromme 172 Lug 344 Lugnaro 152, 174 Lukian 29, 409 Lundy Island 414 Mabon fab Modron 413–415, 437, 454 Máel Muru von Othan, Duan Eireannach 355 f. Maeshowe 31 Mag Mell 266, 268, 270, 273, 326, 333, 379, 459 Maheloas 201, 205–207, 229 f. Manannán mac Lir 11, 256, 262–264, 268 f., 271–274, 302 f., 326, 328 f., 338, 341–343, 345, 348–352, 359, 371, 373, 433, 439, 451, 463, 478, 489, 515, 523 Marie de France, Lai de Guigemar 208–210, 212–214, 296, 456, 460, 462, 465 Marie de France, Lai de Lanval 4, 63 f., 66–68, 82, 183, 212, 214, 259, 428 f., 456 f., 460, 462, 488, 490, 502, 520, 523 f., 526, 529 Martianus Capella 25 Meleagant 229 f. Mellitus 381 f. Mercator, Gerhard 317
Merlínússpá 183 Metrischer Dinnṡenchas 351 f. Metuonis 416 f. Midgardschlange 124, 127 Mímir 11, 77 f. Modena 476 f. Mongán 268, 271, 356, 360, 451 f., 454, 463 Morimarusa 405 La Mort le Roi Artu 234–237, 460, 465 Mosfell-Tal 152, 175 Mythographus Vaticanus 295 Naglfar 124, 127 f., 442, 516 Nástrandir/Nástrǫnd 30 f., 125 f., 442, 516 Nennius, Historia Brittonum 229, 256, 294 Njáls saga 109 Njǫrðr 141 Obolus 149 Odin 11, 29, 37, 43 f., 77, 84, 86–88, 109, 114–117, 119 f., 128 f., 171 f. Odysseus/ Odysseus-Sage/ Odyssee 25–27, 32, 246, 260, 295, 391–393, 400 f., 403, 407, 426 f., 435, 492, 523 Óengus Óc 331 f., 381 Ogygia 401–403, 411 Ohthere 90 Oidhe Chloinne Tuireann 365 Óláfr pái 117, 504 Ólafr Tryggvason 59, 67, 69, 71, 73 Ólafs saga hins helga 89 Ólafs saga Tryggvasonar 29, 66, 71 Olafsen, Eggert 103 f., 92 Olaus Olavius 102–105, 492 Origenes 50 Orkney 24, 31, 505 Orkneyinga saga 31, 343, 371, 446 Ortelius, Abraham 317 Ǫrvar-Odds saga 89 Oseberg 144–148, 150 f., 161, 178 Otranto 476 f. Ovid 27 Owein fab Urien 414 papar 282 f. Parcevals saga 521 Partonopeus de Blois 215 Paulus Diaconus 25, 51, 91 Pazifischer Ozean 497 f. Perlesvaus 215, 234, 237–239, 259 f., 444, 456, 465, 485 Persephone 27, 398
Register
Petrus Lombardus 50 Pizigani 317 Platon 403, 410, 418 Plinius der Ältere 283, 404 f., 408 f., 416–423, 432, 434, 437 f., 447 f. Plutarch 385, 398–416, 436 f., 447, 469, 517 Pointe du Raz 393, 430 f. Pointe Saint-Mathieu 318, 320, 431 Pomponius Mela 227, 385, 425–432, 434, 437 f., 448, 459 f., 469, 471 Pontoppidan, Erik d. J. 110 f. Porta della Pescheria 476 f. Post-Vulgate-Zyklus 234 Povelsen, Biarne 103 f., 492 Preiddeu Annwn 229, 255 f., 294, 414, 429, 473 Prokop 385–395, 398, 435 f., 447, 468, 471 Pryderi 414 Pytheas von Massalia 385, 404 f., 416–418, 421–423, 437, 448, 481 Raghnall → Rǫgnvaldr Ralph de Coggeshall, Chronicon Anglicanum 220 Rannarve 153, 156, 161 Reicne Fothaid Canainne 340 Renaut de Bâgé, Le Bel Inconnu 202–204, 213, 413 Rennes Dinnṡenchas 13, 351 Renoart 244–246, 460, 467 Richard Löwenherz 223 Riese 12, 28–32, 35–37, 75–81, 84–86, 88 f., 91, 94 f., 100, 108 f., 115 f., 124, 127, 177 f., 337 f. Rittersagas 95, 521 Rǫgnvaldr 343–348, 359, 371, 381 f., 446, 504, 511 Rūs 132–134 Sæhrímnir 11, 504 Saint-Mathieu-de-Fine-Terre 318, 431, 512 Saltair na Rann 292 Samain 325 f., 330 f., 378 f., 381 Sanas Cormaic 342, 359, 371 Saturn 395–399, 405, 408, 414, 459; vgl. → Kronos Säulen des Herakles 408 Scél asa m-berar co m-bad hé Find mac Cumaill Mongán 356 Scéla Mucce Meic Dathó 277 Scyld Scēfing 131 f. Sebbersund 138 f.
589
Sena 385, 409, 425–432, 437 f., 448, 459, 461, 464, 466, 469, 471, 481 Seneca der Ältere 25 Serglige Con Culainn 292, 324–335, 342 f., 370, 372–374, 376, 378, 382, 433, 446, 457 f., 461, 463, 465, 485, 489–491 Servius 25, 27, 295, 314 f., 405 Sibylle 27 Sinfjǫtli 128–130, 442, 516 Sirenen 245 f., 259 f., 435 Skíðblaðnir 95, 141 Skjöldunga saga 119 f., 151 Skylla 91 Sleipnir 114, 116, 171 Solinus 24 f., 187, 193, 206, 283, 360, 409, 418 Sonatorrek 178 Sǫrla þáttr 30 Stephanius 37, 39 f., 87, 101, 103, 492 Strabo 398, 404, 421, 434 Strengleikar 520 f. Strudel (Meer) 25, 51, 91 Sturlaugs saga starfsama 88 Sunniva 506 Sutton Hoo 137, 148–151 Táin Bó Cúailnge 452 f. Táin Bó Fraích 453 f., 463 Taliesin 186 f. Tara 10, 265, 276, 278, 320 f., 322 f., 344 Telemark 110, 112 terra repromissionis 46, 190–192, 273, 288, 291, 293, 296, 305, 313, 348 f., 379, 394 terra viventium 45 f., 273, 362 f., 380, 441 Tertullian 405, 408 Tevennec 393, 430 Theopomp 405 Þiðranda þáttr ok Þórhalls 68 f. Thor 21 f., 28–32, 75–79, 83 f., 86–88, 95, 115–117, 177–179, 505, 513 f. Þorleifs þáttr jarlaskálds 66 Þórsdrápa 28, 30 Thule 24 f., 187, 283 f., 404, 408 f. Timaios 416–418 Tír Tairngiri 11, 286, 348, 380 Tithonos 500 Tjelvars grav 153, 155, 161 Tochmarc Becḟola 320–324, 332, 335, 346, 363, 370, 372–374, 376, 378, 381 f., 446, 457, 461, 468 Tochmarc Luaine 349–351, 364, 371, 382, 479
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Register
Togail Bruidne Da Derga 357 Tongainseln 497 Triaden der Insel Britannien 413 Triaden von Irland 346 f. Tzetzes 395 Ultima Thule → Thule Útgarðaloki 77 f., 504; vgl. → Utgarthilocus Utgarthilocus 32 f. Valþjófsstaður 521 Vendel 143 f. Vera historia de morte Arthuri 232 f. Vergil 23, 25–28, 108, 289 Vetus Latina 50 Vínland 25 f., 505 Virgilius von Salzburg 313–316, 369 Visio Godeschalci 31 Visio Tnugdali 31, 55–58 Vita sancti Albei 310–312, 316, 376, 378 f., 381 f., 458 Vita sancti Brendani 286 f., 299 Vita sancti Pauli 290, 295 Vǫlospá 30 f., 80, 124, 125–128
Vǫlsunga saga 30, 128–131 Vulgata 45, 50, 191 Wace, Roman de Brut 198, 205 f., 218, 237, 465 Walhall 30 f., 37, 39, 86 f., 92, 109, 120, 122, 125, 129, 171 f., 263, 504, 519 Walküren 116, 171 Weltkarte des Beatus → Beatus William von Malmesbury 194 f., 219, 227 f., 458, 476, 478 William von Newburgh, Historia rerum Anglicarum 196 William von Rennes(?), Gesta regum Britanniae 239–243, 259, 444, 456, 460, 462, 464 f., 467, 486 Winland → Vínland Yggdrasill 11 Ynglinga saga 43–45, 77, 120 Ynys Weir 414 Zeus 26, 295, 401–403, 407, 500 Zwerg 43 f., 74 f., 78 f., 115 f., 177 Zyklopen → Kyklopen