Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen: Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867–1900 9783110831450, 3110040190, 9783110040197


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German Pages 310 [312] Year 1974

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Vorwort
Inhaltsverzeichnis
Abkürzungen
Nietzsche und der deutsche Geist
200 Meyer, R. M., (JbNDL 4. Bd., 1895, IV 5: 170—202)
Zusammenfassung
Namensverzeichnis: Nietsche und ...
Namensverzeichnis: ... und Nietzsche
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Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen: Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867–1900
 9783110831450, 3110040190, 9783110040197

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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

w DE

G

Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung

Herausgegeben von

Mazzino Montinari · Wolfgang Müller-Lauter Heinz Wenzel

Band 3

1974

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Nietzsche und der deutsche Geist Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum bis zum Todesjahr des Philosophen Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1867—1900

•on

Richard Frank Krümmel

1974

Walter de Gruyter · Berlin · New York

Anschriften

der

Herausgeber:

Prof. Dr. Mazzino Montinari via Gabriele d'Annunzio 237,1-50 135 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter 1 Berlin 45, Adolf-Martens-Straße 11 Prof. Dr. Heinz Wenzel 1 Berlin 33, Harnackstraße 16

ISBN 3 11 004019 0 Library of Congress Catalog Card Number 72-81559 Copyright 1974 by Walter de Gruyter & Co., vormals G. J . Göschen'sche Verlagshandlung — J . Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit & Comp. — Printed in Germany — Alle Rechte des Nadidrudts, cinsailießlidi des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Drude: Saladruck, Berlin 36 Bindearbeiten: Lüderitz tc Bauer, Berlin 61

„Für alle Zukunft giebt es nun ein neues Kriterium des denkenden Menschen —: Was ist ihm Nietzsche?" Christian Morgenstern (s. Nr. 274)

VORWORT Die vorliegende Arbeit stellt den Versuch dar, alle Veröffentlichungen und Äußerungen zusammenzutragen, die für die Verbreitungsgeschichte des Nietzscheschen Werks von irgendwelchem Belang sind. Die Einschränkung „von irgendwelchem Belang" weist lediglich darauf hin, daß bloße Anzeigen bzw. Anzeigen, denen keine Stellungnahme des (in solchen Fällen fast immer anonymen) Verfassers zu entnehmen ist, unberücksichtigt geblieben sind. Die aufgeführten Werke haben mir im Original oder in einer Ablichtung vorgelegen. Um sie dem Benutzer dieser Arbeit ein wenig zu erschließen, wurden die bibliographischen Daten durch eine Beschreibung des Inhalts und der Stellungnahme des jeweiligen Verfassers ergänzt. Anfangs war geplant, die Arbeit bis in die Gegenwart zu führen — zumal angenommen werden konnte, daß zu diesem Zweck die vorhandenen Bibliographien nur geringfügig ergänzt und die einzelnen Werke etwas näher beschrieben werden müßten. Diese Annahmen ließen sich bei näherem Eindringen jedoch nicht aufrechterhalten. Der Stoff wuchs derart an, daß es sich als unumgänglich erwies, eine Eingrenzung vorzunehmen, wenn überhaupt in angemessener Frist eine Arbeitshilfe erstellt werden sollte. Auch die zwischendurch ins Auge gefaßte Fortführung der Arbeit bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs ließ sich nicht verwirklichen. Als zweckdienlich erwies sich schließlich eine Begrenzung auf den Zeitraum von 1871—1900; von Nietzsches erster philosophischer Veröffentlichung bis zum Ende seines Todesjahres. Für den behandelten Zeitraum wurden mehr als dreimal so viele Arbeiten ermittelt, als in der von H . Reichert und K. Schlechta herausgegebenen „International Nietzsche Bibliography" (1960, 19682) erfaßt sind. Zwölf der darin angegebenen Titel konnten nicht ermittelt werden, wobei in den meisten Fällen nicht daran zu zweifeln ist, daß es die Arbeiten gibt bzw. zum mindesten gegeben hat. Ferner sind nicht alle Auflagen einzelner von Reichert/Schlechta oder anderen erwähnter Arbeiten erhältlich gewesen. Aus verschiedenen Quellen sind mir schließlich Nachrichten über weitere ca. 35 Monographien und 30 Aufsätze bekannt geworden, ich habe mich aber vergebens bemüht, diese Arbeiten zu erhalten. Es ist zu vermuten, daß sich ein Teil der Nachrichten als falsch herausstellen wird. Diesen kleinen

Vili

Vorwort

Mängeln zum Trotz hoffe ich, mit der vorliegenden Arbeit der NietzscheForschung ein brauchbareres Werkzeug in die Hand zu geben, als ihr in den bisherigen bibliographischen Hilfsmitteln zur Verfügung steht. Ich möchte an dieser Stelle den Bibliotheken danken, die mich bei meiner Arbeit unterstützt haben. Von den amerikanischen sind vor allem die der Princeton University und der University of Minnesota, deren Collegesystem ich angehöre, hervorzuheben: sie haben mir dankenswerterweise das von ihnen besorgte oder hergestellte Material — es war nicht wenig — kostenlos überlassen. Mißlich und zu bemängeln ist, daß viele amerikanische Bibliotheken offensichtlich kein in Fremdsprachen bewandertes Personal beschäftigen. Allzuoft erhielt ich z. B. von Aufsätzen, die in Fortsetzungen veröffentlicht worden waren und bei denen dies deutlich gekennzeichnet war, nur den mir zunächst bekannt gewordenen Teil; ich mußte viel Zeit auf ein- oder mehrmalige Rückfragen verwenden. Es geschah nur äußerst selten, daß mir über das ausdrücklich Angeforderte hinaus Hilfe gewährt wurde. Außerdem erhielt ich öfter als mir lieb sein konnte schlecht belichtete oder in anderer Weise fehlerhafte Kopien zugesandt. Im Unterschied dazu haben mir die Bibliotheken im deutschsprachigen Raum in entgegenkommender Weise geholfen. Sie haben durchweg weit mehr Mühe auf die Nachforschungen verwendet, als ich es von den amerikanischen Bibliotheken gewohnt bin. Im besonderen seien folgende Institute hervorgehoben: Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz. Marburg/Lahn. österreichische Nationalbibliothek. Wien. Bayerische Staatsbibliothek. München. Staatsbibliothek Bremen. Deutsche Presseforschung. Staats- und Universitätsbibliothek Hamburg. Schweizerische Landesbibliothek. Bern. öffentliche Bibliothek der Universität Basel. Universitäts- und Stadtbibliothek Köln. Universitätsbibliothek Bonn. Universitätsbibliothek Heidelberg. Bibliothek der Evangelischen Kirche der Union. Berlin. Landesarchiv Berlin (West). Stadt- und Universitätsbibliothek/Senckenbergische Bibliothek. Frankfurt am Main. Zentralbibliothek. Zürich. Nodi möge es gestattet sein, dreier Herren zu gedenken, deren Gewerbe und dessen Dienste bei solcher Arbeit wie der vorliegenden meist vergessen werden: die Berliner Budihändler Herr Carl Wegner, Herr Paul Schultz und Herr Gerd Rosen, die dem Verfasser persönlich sehr nahestehen bzw.

Vorwort

IX

standen und manches Sammlerstück durdi die Jahre dieser Arbeit zugesteuert haben. Es ist ferner angebracht, daß an dieser Stelle der Vorarbeit anderer gedacht werde, auf daß die vorliegende Arbeit sich dadurch einordne. Neben den bibliographischen Verzeichnissen in vielen Werken der Sekundärliteratur, denen mancher Hinweis verdankt wird, sind die hauptsächlichen schrifttumsnachweislichen Werke folgende: Würzbach, Friedrich, Nietzsche. Ein Gesamtüberblick über die bisherige Nietzsche-Literatur. (Literarische Berichte aus dem Gebiet der Philosophie. Hg. v. A. Hoffmann. Erfurt. 1929, H. 19/20, S. 4—11; 1932, H. 26, S. 4—29). (Bringt schon 118 Einzelhinweise zur Zeit vor der Jahrhundertwende). Oehler, Max, Deutsche Nietzsche-Literatur. Von 1890 an. Privatdruck v. Prof. Dr. Ernst Seidel, Jena, f. d. Nietzsche-Gedenkzimmer d. Gemeinde Sils Maria. (1936). 44 S. (Bringt einiges zur Werk- bzw. Entstehungsgeschichte, sonst ausschließlich Einzelschriften — Aufsätze nur wenn in Sammelbänden enthalten — sowie Erwähnungen Nietzsches in größeren Werken. Aus der Zeit 1890—1900 77 Einzelhinweise). Jacoby, Karl, Die Erstausgaben Friedrich Nietzsches. Eine bio-bibliographische Übersicht der von Nietzsche selbst veröffentlichten oder druckfertig hinterlassenen Schriften. (Philobiblon. 11. Jg. (1939), H. 1/2, S. 49—59; auch als Sonderdruck: Schriften des Philobiblon. R. M. Rohrer Vlg. Brünn). (Umfaßt vornehmlich die Werke von der „Geburt" bis zu „Ecce homo"). Verzeichnis der bis 1939 erschienenen Ausgaben der Werke, Kompositionen und Briefe Nietzsches. Bericht üb. d. 14. ordentliche Mitgliederversammlung d. Gesellschaft d. Freunde d. Nietzsche-Archivs am 11. Dez. 1939 u. Jahresbericht f. 1939 d. Stiftung Nietzsche-Archiv. (1940), S. 27—40. Reichert, H. W. u. K. Schlechta, International Nietzsche Bibliography. Univ. of Ν. Carolina. Chapel Hill, NC. (1961), 8 Bll., 133 S. ( = Studies in Comparative Literature. Nr. 29). Dass., Revised and Expanded. 1968. 10 Bll., 162 S. ( = Studies in Comparative Literature. Nr. 45). Diese zweite, „Revised and Expanded" Auflage des neuesten bibliographischen Versuches das Schrifttum über Nietzsche betreffend bringt gegenüber der ersten lediglich einige wenige Zusätze aus der Zeit vor 1900 und weist leider nodi dazu alle Mängel auf, die die Erstauflage gezeigt hatte: unter 199 Einzelhinweisen enthalten 17 falsche Angaben, neun sind unvollständig, und bei fünf handelt es sich um Doppelaufnahmen. Daß die Mangelhaftigkeit nicht allein auf die deutschsprachigen Hinweise über die Zeitspanne zutrifft, s. a. : Thatcher, David S., Nietzsche in England 1890 to 1914. The Growth of a Reputation. Univ. Of Toronto Press (1970), S. 8—11. Zimmermann, Rolf, Bibliographische Notizen über das Werk Friedrich Nietzsches. (Librarium. 1968, S. 207—227). (Eine wesentliche Ergänzung zu der Arbeit Jacobys).

Vorwort

χ

Cowen, Roy C., Neunzehntes Jahrhundert (1830—1880). Francke. Bern, Mchn. (1970), S. 176, 184—198. ( = Handbuch d. dt. Literaturgesch. 2. Abt.: Bibliographien. Hg. v. Paul Stapf. Bd. 9). (Bringt trotz zahlreicher Einzelsdiriften und Aufsätze recht wenig aus der Zeit vor der Jahrhundertwende). Drei weitere neuere Arbeiten, die verbreitungsgeschichtliche Uber- oder Einsichten gewähren, sind: Pütz, Peter, Friedrich Nietzsche. 1967. Metzler. St. X I I , 104 S. ( = Sammlung Metzler. Abt. D : Literaturgeschichte. Nr. 62). (Bringt rund 30 Arbeiten aus dem behandelten Zeitraum, die aber in der Auswahl leicht irreführend sind). Nicholls, R. Α., Beginnings of the Nietzsche Vogue in Germany. (Modern Philology. Bd. 56, 1958/59, S. 24—37). (Erwähnt oder behandelt rund 30 Arbeiten aus dem Zeitraum 1890—1900). Brinton, Crane, „The Growth of a Reputation", als 7. Abschnitt in seinem: Nietzsche. Harper Torchbooks. N Y (1965), S. 172—181. Erwähnt 18 Arbeiten aus der Zeit 1880—1900, auch (S. 176), daß „a good bibliography of the ,discoverers' of Nietzsche in Germany" sich finde bei: Albert, Henri, Friedridi Nietzsche. (Mercure de France. Jan. 1893, S. 47 f., Anm. 2 u. 3). (Dieser führt 17 Titeln aus den Jahren 1889—1892 an). In dieser Hinsicht s. a.: Robertson, John G., The Literary Movement in Germany. Friedrich Nietzsche and his Influence. Cosmopolis. Bd. 12, Nr. 34 ν. Okt. 1898, S. 31—48. Verfasser bespricht die Werke von Brandes (Nr. 97), Steiner (Nr. 230), Ludwig Stein (Nr. 155 a), Riehl (Nr. 313), Andreas-Salomé (Nr. 185), Förster-Nietzsche (Nrn. 238, 285), Leo Berg (Nr. 316), von Grotthuß (Nr. 351) sowie den Einfluß Nietzsches auf Werke von Sudermann, Hauptmann, Wilbrandt (Nr. 207), Widmann (Nr. 151), von Leixner und Franz Evers. Einen letzten, besonderen Dank für wissenschaftliche Lehre und menschliches Entgegenkommen den Lehrern, die diese Arbeit teils bewußt, teils unbewußt gefördert haben: Prof. Gelsinger, Fritz Kaufmann, George C. Sdioolfield, Carl Weitlanner, A. Wayne Wonderley, Norman H . Binger, Bernd Kratz, Lawrence S. Thompson, Paul K. Whitaker. Juni 1974

R. F. Krümmel

INHALTSVERZEICHNIS

Vorwort Abkürzungen Nietzsche und der deutsche Geist

VII XIII 1

Zusammenfassung

272

Namensverzeidinis: Nietsche und

277

Namens Verzeichnis: . . . und Nietzsche

288

ABKÜRZUNGEN Abkürzungsschlüssel zu den angeführten Zeitschriften, Zeitungen und dergleichen, unter Angabe der Nummern der enthaltenen Aufsätze und Beiträge: AAZg ABl AC

ADUZg AELKZg AGPh

ALAED

AMZg

Aula AZJ Β BasN BB

Allgemeine Zeitung. Augsburg. (18, 34). Akademische Blätter. Zeitschrift des Kyffhäuser-Verbandes der Vereine Deutscher Studenten. Berlin. (287, 513). Antisemitische Correspondenz und Sprechsaal für innere Partei-Angelegenheiten. Leipzig. Vlg. u. Schriftleitung: Theodor Fritsch. (77, 88). Allgemeine Deutsche Universitätszeitung. Zeitschrift für geistige Bestrebungen. Berlin. (70, 492). Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung. Leipzig. (289, 334). Archiv für Geschichte der Philosophie in Gemeinschaft m. Wilh. Dilthey, Benno Erdmann, Paul Natorp, Christoph Sigwart u. Ed. Zeller hg. v. Ludw. Stein. Georg Reimer. Berlin. (360,427). Allgemeiner litterarischer Anzeiger für das evangelische Deutschland. Kritische Rundschau und Besprechung der bedeutenderen Erscheinungen auf dem Gesamtgebiete der inund ausländischen Litteratur, Kunst und Musik. Gütersloh. Vlg. C. Bertelsmann. (24/1). Allgemeine Musik-Zeitung. Wochenschrift für die Reform des Musiklebens der Gegenwart. Red.: Otto Lessmann. Charlottenburg(-Berlin). (243, 251, 505, BO). Die Aula. München. (216). Allgemeine Zeitung des Judenthums. Leipzig, Berlin. (143, 519). Der Bund. Bern. (64, 78, 83, 84,125, 206, 306). Basler Nachrichten. (19, 87). Bayreuther Blätter. Monatsschrift des Bayreuther Patronatvereines. (Später: Deutsche Zeitschrift im Geiste Richard

XIV

BlLU BMs BrN Bst BT BurBl BW

Abkürzungen

Wagners.) Redigirt v. Hans von Wolzogen. Vlg. Ernst Sdimeitzner. Chemnitz. (45, 503). Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig. (37, 67, 87/1, 140, 142,168, 192, 239, 272, 328). Baltische Monatsschrift. Reval. (199, 213, 321). Bremer Nachrichten. (479). Bausteine. Monatsblatt für innere Mission. Dresden, Leipzig. (548). Berliner Tageblatt. (145, 158, 308, 539). Burschenschaftliche Blätter. Berlin. Wilh. Baensch. (279, 309, 336, 339). Bühne und Welt. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben. Berlin. (386).

CW

Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Leipzig. Vlg. v. Fr. Wilh. Grunow. (241, 247, 259, 266, 408, 541).

D DAbl DD

Deutschland. Weimar. (91). Deutsches Adelsblatt. Berlin. (324). Deutsche Dichtung. Hg. v. Karl Emil Franzos. Vlg. Ad. Bonz. Stuttgart, seit 3. Jg.: L. Ehlermann. Dresden; seit 7. Jg.: Fr. Fontane. Berlin; seit 10. Jg.: Dt. Vlgs.-Anst. Stuttgart. Halbmonatsschrift. (99). Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe. Hg. v. Fr. Naumann. Vlg. d. Hilfe. Berlin. Wochenschrift. (432, 550). Der Kyffhäuser. Linz. (460). Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde. Hg.: Josef Ettlinger. Vlg. Fr. Fontane. Berlin. (434, 511,512). Deutsche Litteraturzeitung. Hg. v. Dr. Aug. Fresenius, später v. P. Hinneberg, Vlg. W. Spemann, Berlin; ab 1892 Herrn. Walther; ab 1897 Wilh. Hertz; ab 1900 B. G. Teubner. Berlin, Leipzig. (66, 90, 148, 153, 182, 226, 246, 300, 327, 338, 370,402,437, 553). Das neue Jahrhundert. Berliner Wochenschrift. Hg. v. Hans Land. Vlg. Janus. (392, 397 a, 398, 400, 413). Das neue Jahrhundert. Illustrierte deutsche Wochenschrift. Köln. (352, 353, 430, 508). Deutsches Protestantenblatt. Bremen. Hg. v. O. Beeck u. R. Emde. Vlg. Carl Schünemann. (525 a).

DH

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Abkürzungen

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XV

Deutsche Rundschau. Hg. v. Julius Rodenberg. Vlg. Gebr. Paetel. Berlin. Monatsschrift. (48, 74, 79/1, 97, 105, 155, 278). Der Thürmer. Monatsschrift für Gemüth und Geist. Hg. v. Jeannot Emil Frhrn. v. Grotthuß. Vlg. Greiner & Pfeiffer. Stuttgart. (411, 526). Die Umschau. Ubersicht über die Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft, Technik, Litteratur und Kunst. Hg. v. J. H. Bechhold. Frankfurt am Main. (412, 469,531). Das Volk. Wien. (349). Der Volkserzieher. Blatt für Familie, Schule und öffentliches Leben. Berlin. Begründer: Wilh. Schwaner. (379, 486, 496, 532). Deutsche Volksstimme. Berlin. (374). Deutsche Warte. Umschau über das Leben und Schaffen der Gegenwart. Red. v. Bruno Meyer. Vlg. O. Weigand. Leipzig. (24). Deutsches Wochenblatt. Zeitschrift für nationale Politik, für Litteratur, Kunst und Wissenschaft. Berlin. (141, 501, 502). Deutsche Worte. Monatshefte. Berlin. (106). Deutsche Zeitung. Wien. (472, 477, 484, 485). Das Zwanzigste Jahrhundert. Blätter für deutsche Art und Wohlfahrt. Vlg. H . Lüstenöder. Berlin. Von April 1895 bis März 1896 von Heinrich Mann herausgegeben, dann bis zum Schluß im gleichen Jahr zus. m. Th. Schröter. Monatsschrift. (258/1, 272/1). Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen. Begr. v. G. v. Gizycki. Hg. v. Dr. Fr. W. Foerster. Vlg. Ferd. Dümmler. Berlin. (290). Evangelisch-Kirchlicher Anzeiger von Berlin. (322). Die Fackel. Hg. v. Karl Kraus. Wien. Dreimal monatlich. (481,491). Freie Bühne für modernes Leben. (Wochenschrift); ab 3. Jg. 1892: Freie Bühne für den Entwicklungskampf der Zeit. (Monatsschrift) bis März 1894 (s. NDRs). S. Fischer. Berlin. Hg.: Otto Brahm, seit 1891 Wilh. Bölsche, zuerst mit Brahm zusammen; 1893 Julius Hart, dann O. J. Bierbaum; seit 1894 Oscar Bie. (93, 94, 95, 96, 98, 104, 111, 117, 130, 131, 169, 170).

Abkürzungen

XVI

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Fremden-Blatt. Wien. (183). Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. Hg. v. Helene Lange u. W. Moeser. Berlin. (302, 418). Frankfurter Zeitung. (89 b, 172, 193, 197, 403, 419, 474, 495,497). Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Hg. v. Theophil Zolling. Vg. Georg Stilke. Berlin; seit 1892: Vlg. d. Gegenwart. (25, 54, 58, 92, 120, 135, 186, 220, 232, 234, 239/1, 447, 517, 518, 533, BP). Die Gesellschaft. Realistische Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben (seit 2. Jg. Monatsschrift), seit 3. Jg.: Monatsschrift für Litteratur und Kunst, ab 7. Jg: Monatsschrift für Litteratur, Kunst und Sozialpolitik (seit 14. Jg. 1898 Halbmonatsschrift). Hg. v. Michael Georg Conrad; Mithg. Jg. 4 (1888 f.) C. Bleibtreu, Jg. 10 (1894 ff.) H. Merian, Jg. 14 (1898 ff.) L. Jacobowski. Vlg.: G. Franz. München, seit Jg. 3 W. Friedrich. Leipzig, seit 13. Jg. H. Haacke, Leipzig, Jg. 15 J. C. Bruns, Minden, Jg. 16 E. Pierson, Dresden. (86/1, 89/1 AB, 107, 123, 124, 126, 127, 128, 180, 222,335,451,459, 463). Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst. Hg. v. Johannes Grunow. Vlg. v. Fr. Wilh. Grunow. Leipzig. Wochenschrift. (21,144, 342, 364). Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. Hg. v. Edmund Jürg u. Franz Binder. München. In Commission d. Literarisch-artistischen Anst. (236, 378). Hamburger Nachrichten. (490, 493). Die Insel. Hg. v. O. J. Bierbaum, A. W. Heymel, R. S. Schröder. Insel-Vlg. Schuster & LoefFler. Berlin. (524, 537,

BM).

Internationale Monatsschrift. E. Schmeitzner. Chemnitz. (56, 57, X). Illustrine Zeitung. (165/1).

JP

Jahresberichte für neuere deutsche Literaturgeschichte. (176, 200, 201, 256, 257, 385). Die jüdische Presse. Organ für die Gesammtinteressen des Judenthums. Hg. v. Dr. Hirsch Hildesheimer. Berlin. Monatsschrift. (500).

KFA

Die Kunst für Alle. München. F. Bruckmann. (248).

JbNDL

Abkürzungen

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XVII

Die Kunst im Leben. Berlin. (552). Kirchliche Monatsschrift. Berlin. (389). Die Kritik. Wochenschau des öffentlichen Lebens. Hg. v. Karl Schneidt. Berlin. (235, 249, 262, 273, 292, 547). Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen. Hg. v. Ferd. Avenarius. Anfangs im Selbstvlg., ab 1894: G. D. W. Callwey. München. Halbmonatsschrift. (81, 85, 86, Z, 218, 509, 510, BL). Kölnische Zeitung. (476). Lutherthum. Neue kirchliche Zeitschrift. Erlangen, Leipzig. A. Deichert. (421, 554). Literaturblatt. Verantwortl. Red.: Anton Edlinger. Wien. Vlg. J. Klinckhardt. (46). Literarisdies Centraiblatt für Deutschland. Hg.: Friedrich Zarncke. Leipzig. Ed. Avenarius. (Β, E, F, G, H, I, L, O, 9, 31, 39, 40, 47, 55, 60, 62, 64/1, 76,173,198). Litterarischer Merkur. Kritisches und bibliographisches Wochenblatt. Weimar. (134). Leipziger Tageblatt und Anzeiger. (482). Litterarische Warte. (445). Allgemeine Zeitung. München. (115, 165, 167, AG, 215, 223, 371,422,473,483, 514). Moderne Dichtung. Monatsschrift für Literatur und Kritik. Hg. ν. Ε. M. Kafka. Vlg. v. Rudolf M. Rohrer. Brünn. (Jan. bis Dez. 1890). S. a. MRs (99/1,102 a, 105/1,107/1). Monatsblätter für deutsdie Literatur. Leipzig. (341). Das Magazin für Litteratur. Hg. v. Fritz Mauthner (bis 1893) u. Otto Naumann-Hofer (bis 1897); seit 1897: Rud. Steiner u. Ο. E. Hartleben. Berlin. (S. a. MLIA). (132, 146, 164, AD, 174, AE, AH, 217, 227, 344, 354, 372, 376, 415, 428, 446, 448, 449, 450, 465). Magazin für die Literatur des Auslandes. Begr. v. J. Lehmann. Berlin. (Jan. 1881 in MLIA übergegangen). (11). Das Magazin für die Literatur des In- und Auslandes. Wochenschrift der Weltliteratur. Hg. v. Alfred Stössel u. W. v. Resiwitz. Dresden. (Okt. 1890 in ML übergegangen). (62/1, 103). Moderne Rundschau. Halbmonatsschrift. Hg. v. Dr. J. Joachim u. Ε. M. Kafka. Vlg. v. Leopold Weiß. Wien. (1. 4. bis 15. 9. 1891). Fortsetzung von MD. (118/1).

XVIII

MV MW

Ν

Abkürzungen

Der Moderne Völkergeist. Organ des Socialitären Bundes. Berlin. (271). Musikalisches Wochenblatt. Organ für Musiker und Musikfreunde. Hg. u. Verleger: E. W. Fritzsdi. Leipzig. (6, T, 12, 13, 15,28, 33,41,75, 82).

NSKBl NWT NZ NZg NZZg

Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswissenschaft und Literatur. Hg. v. Th. Barth. Im Kommissionsvlg. b. Meidlinger. Berlin. (139,175, 191, 329, 538). Norddeutsche Allgemeine Zeitung. (3, 5, 478). Neue Deutsche Rundschau. S. Fischer. Berlin. Fortsetzung von FB, ab 5. Jg., 1894. (190, 194, 233, 252, 274, 277, AQ, 380, BD, 410, 431,436, BI, 529.) Neue evangelische Kirchenzeitung. Gebr. Unger (Th. Grimm). Berlin. (27). Neue Freie Presse. Wien. (32, 92/1, 161, 171, 187, 244, 325, 471,480, 507,515). Neue Jahrbücher für klassisches Altertum, Geschichte und deutsche Literatur. Hg. v. Johannes Ilberg. Leipzig. B. G. Teubner. (534). Neue Jahrbüdier für classische Philologie und Pädagogik. (Ging in NJKA über). (29). Neuland. Berlin. (301). Neue Musikalische Presse. (205,499). Neue Musikzeitung. (304, 320). Neue Preußische Kreuzzeitung. Berlin. (203). Die neue Rundschau. S. Fischer. Berlin. Nord und Süd. Breslau. S. Schottlender. (72, 100, 116, 521, 528). Neues Sächsisches Kirchenblatt. Leipzig. (365). Neues Wiener Tagblatt. (494). Die Neue Zeit. (147, 299, 429). National-Zeitung. Berlin. (68, 80). Neue Zürcher Zeitung. (69).

ÖLBl

österreichisches Litteraturblatt. Wien. (154).

Ρ PA Pan

Patria. Berlin. Philologischer Anzeiger. Göttingen. (10). Pan. Berlin. Hg.: O. J. Bierbaum u. J. Meier-Gräfe, mit dem 4. Heft: C. Flaischlen u. R. Graul. Zuerst im Pan-Vlg., ab 2. Jg.: Fr. Fontane. Vierteljahressdirift. (AK, AL, 242, 253, AO, AP, 276, 326, AV, BB, 454, 455).

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NEK NFPr NJKA

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Abkürzungen

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PKED Pro ProMh PS R Rfa RhMus

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ThLBl ThLZg ThZs UZ V

XIX

Philosophische Monatshefte. Hg. v. F. Asdierson, J. Bergmann u. E. Bratuscheck. Berlin. (2). Prochaska's illustrine Monatsbände. Wien, Leipzig. (263). Preußische Jahrbücher. Berlin. Hg. seit 1889: Hans Delbrück: Vlg. Georg Reimer; seit 1893: H. Walther; seit 1896: Georg Stilke. Monatsschrift. (119, 270, 315, 366, 368, 384, 551). Protestantische Kirchenzeitung für das evangelische Deutsch-· land. Berlin. (240). Der Protestant. Evangelisches Gemeindeblatt. Berlin. (333, 417). Protestantische Monatshefte. Berlin. (464). Psychische Studien. Leipzig. (468). Reform. Zeitstimmen aus der Schweizer Kirche. (26). Revue franco-allemande. Deutsch-französische Rundschau. (423). Rheinisches Museum für Philologie. Vlg. Joh. David Sauerländer. Frankfurt/Main. Hg. v. F. G. Weldker u. F. Ritsehl; ab 1869, 24. Jg. m. A.Klette; ab 1870, 25. Jg. ohne F. G. Welcker. (A, C, D, J, N, P, R, U). Die betreffenden Bände jetzt auch im Nachdruck erhältlich: Johnson Reprint Corp. New York 1971. Sphinx. Monatsschrift für Seelen- und Geistesleben. Leipzig. (181,184,188,189). Schweizer Grenzpost und Tagblatt der Stadt Basel. (1, 17, 20, 22). Schweizer Reformblatt. (536). Schweizer Rundschau. Stanz/Einsiedeln. (544). Schweizer Volksfreund. Anzeigeblatt der Stadt Basel. Red.: W. Klein. (16, 23). Schmoller Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft. Leipzig. Duncker & Humblot. (275). Sozialistische Monatshefte. Berlin. (527). Stimmen aus Maria Laach. Stimmen der Zeit. Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart. Herder. Freiburg/Breisgau. (166,178, 261). Theologisches Literaturblatt. Bonn. (36). Theologische Literaturzeitung. Leipzig, Berlin. (390). Theologische Zeitschrift aus der Schweiz. Zürich. (357). Unsere Zeit. Leipzig. Hg. v. Fr. Bienemann. (89). Vorwärts. Berliner Volksblatt. (487).

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VDAV VWPS VZg Wage WAp WeZg Wh WKRs WMh Woche WRs

Ζ

Zeit

ZEPh ZfdW ZGSr ZKG ZPhK ZPhP ZThK ZürP

Abkürzungen

Veröffentlichungen der Deutschen Akademischen Vereinigung zu Buenos Aires. (443). Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Philosophie und Soziologie. Leipzig. (350, 545). Vossische Zeitung. Berlin. (114, 150,160, 303, 323). Die Wage. Wien. (426, 506). Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung. (475). Weser Zeitung. Bremen. (414, 498). Die Wahrheit. Hg.: Chr. Schrempf. Fr. Frommann. Stuttgart. (225, 254, 281, 282, 307, 331, 489). Wiener klinische Rundschau. (467, 522). Westermanns Monatshefte. Illustrierte Deutsche Monatshefte. Braunschweig. (179, 264). Die Woche. Berlin. (488, BJ). Wiener Rundschau. Hg.: 1. Jg. Rudolf Strauß; 2. Jg. Gustav Schoenaich u. Felix Rappaport; 3. Jg. Constantin Christomanos u. Felix Rappaport, mit dem Zusatz: Zeitschrift für Cultur und Kunst (nur zum 3. Jg.); im 4. Jg. wurde Rappaport mit dem 22. Heft alleiniger Hg. (296, 358, 375, AZ, 409, 435,439, 535). Die Zukunft. Hg. v. Maximilian Harden. Berlin. Georg Stilke; ab 5. Bd. (Okt. 1893): O. Häring; ab 17. Bd. (Okt. 1896): Vlg. d. Zukunft. (157, AF, AI, 195, AJ, AM, 255, AR, 284, AS, AT, 310, 311, 319, 332, 337, 343, 359, 363, 367, 369, AY, 382, 394, 395, 407, 416, 444, BF, 452, 457, 458, 461, BH, 520 b, 530, BK). Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Kunst. Hg.: Josef Singer, Herrn. Bahr u. Heinr. Kanner. Vlg. K. F. Koehler. Leipzig. (214, AN, 265, 356, 456, 462, 466, 557). Zeitschrift für exacte Philosophie im Sinne des neueren Realismus. Leipzig. (In ZPhP übergegangen). (35). Zeitschrift für deutsche Wortforschung. Straßburg. (453). Zeitschrift für die gesamte Strafrechtswissenschaft. (470). Zeitschrift für Kulturgeschichte. Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Leipzig. C. Ε. M. Pfeffer. (30, 260). Zeitschrift für Philosophie und Pädagogik. (224). Zeitschrift für Theologie und Kirche. (219). Züricher Post. (549).

Am 29. Dezember 1871 lag folgende Schrift fertiggedruckt vor: I Die / Geburt der Tragödie / aus dem / Geiste der Musik. / Von / Friedrich Nietzsche, / ordenti. Professor der classischen Philologie an der / Universität Basel. / (Titelbildchen des befreiten Prometheus) / Leipzig. / Verlag von E.W. Fritzsch. / 1872. IV, 143 S. (Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig). 8°. Als der Verfasser in Basel am 2. Januar 1872 die ersten Freiexemplare zugeschickt bekam, waren seine Gedanken erst einer geringen Anzahl von Freunden und Bekannten, ehemaligen Lehrern und neuen Basler Kollegen einigermaßen vertraut. 1 1

In den Jahren 1866 bis 1868 hatte Nietzsche in dem im Dezember 1865 von ihm mitbegründeten „Philologischen Verein" an der Universität Leipzig, dessen erster Vorsitzender er audi wurde, sechs Vorträge gehalten: „Die letzte Redaction der Theognidea" am 1 8 . 1 . 1 8 6 6 ; „Über die literarhistorischen Quellen des Suidas" am 1. 6 . 1 8 6 6 ; »Die Π Ι Ν Α Κ Ε Σ der aristotelischen Schriften" am 1. 2 . 1 8 6 7 ; „Der Sängerkrieg auf Euboea" im Juli 1867; „Über die Varronisdien Satiren und den Cyniker Menippus" am 6 . 1 1 . 1 8 6 8 ; „Die Gleichzeitigkeit Homers und Hesiods". Er war auch des öfteren an den sogenannten „Miscellenabenden", die anstelle von Vortragsabenden gelegentlich eingesetzt werden mußten, hervorgetreten. Seine Stellung innerhalb des Vereins wird folgendermaßen umrissen: „Er war die Seele des Vereins, das spricht aus den Berichten jener Zeit, und die damaligen Mitglieder bekennen gerne, daß sie mit Bewunderung zu der geistigen Überlegenheit ihres Altersgenossen emporgeschaut hätten." (s. Nr. 109, S. 4). Zu den einstweiligen Mitgliedern des Vereins zählten zu damaliger Zeit folgende Studenten: Andresen, Georg, aus Holstein, später Gymnasialprofessor in Berlin; Angermann, Constantin Th., aus Höckendorf, später Gymnasialdirektor in Plauen; Arnoldt, Richard, aus Gumbinnen, später Direktor des städtischen Gymnasiums in Prenzlau; Cron, Heinrich, aus Erlangen, gestorben zu Anfang der 70er Jahre als Studienlehrer in Ansbach; Heynemann, Sußmann; Kallmeyer, F. Oskar, aus Dresden, noch als Student im Oktober 1866 gestorben; Kinkel, Gottfried, Sohn des gleichnamigen Dichters, später Privatdozent und Kustos der Kupferstichsammlung in Zürich; Kohl, Otto, später Oberlehrer in Barmen; Kohlschütter, Otto, gestorben als Oberlehrer am Realgymnasium in Osnabrück; Rohde, Erwin (Hamburg 9 . 1 0 . 1 8 4 5 — Heidelberg 1 1 . 1 . 1 8 9 8 ) , nähere Bekanntschaft mit Nietzsche seit dem Sommersemester 1866 in Leipzig, zuletzt Professor der klassischen Philologie in Heidelberg; Romundt, Heinrich, geb. 1845, später, Herbst 1872 bis Frühling 1875, Privatdozent der Philosophie in Basel, zuletzt Gymnasiallehrer; Roscher, Wilhelm Heinrich (Göttingen 12.2.1845—Dresden 9 . 3 . 1 9 2 3 ) , Sohn des Professor der Nationalökonomie in Leipzig, 1893—1905 Gymnasialdirektor in Würzen;

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1871 Die Geburt der Tragödie und frühere Schriften

In der ersten Hälfte des Dezembers waren die letzten Seiten des Manuskripts an den Verleger2 gesandt. Die Auflage betrug 1000 Stück, wofür Nietzsche 100 Taler erhielt; hinzu kamen 25 Freiexemplare, davon fünf auf besonderem Papier. 3 Während Nietzsche nun gespannt auf den breiteren Widerhall zu seinem Werke wartete, arbeitete er auf Einladung der Basler „Akademischen Gesellschaft" an einer Reihe von sedis Vorträgen „Uber die Zukunft unserer Bildungsanstalten", von denen fünf dann audi ausgearbeitet und am Windisch, Ernst (Dresden 4 . 9 . 1 8 4 4 — Leipzig 30.10.1918), habilitierte sich sdion 1869 in Leipzig, 1872—75 o. Professor der indogermanischen Philologie in Heidelberg, 1875—77 in Straßburg, danach in Leipzig als Professor der keltischen und indischen Philologie, redigierte 1880—1902 die „Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft"; Wisser, Heinrich Wilhelm (1843—1935), Märchenforscher, später Gymnasiallehrer in Eutin. Der erste der genannten Vorträge war aus einer im Sommer 1864 entstandenen Pfortenser Valediktionsarbeit „De Theognide Megarensi" hervorgegangen und hatte seinerseits in Leipzig auf Anregung von Nietzsches Lehrer und Gönner: Ritsehl, Friedrich Wilhelm (Großvargula b. Erfurt 6.4.1806—Leipzig 9.11.1876), Lehrer Nietzsches sowohl in Bonn wie auch in Leipzig, zuletzt Professor der klassischen Philologie an der Universität Leipzig, die erste gedruckte Arbeit gezeitigt: A Zur Geschichte der Theognideischen Spruchsammlung. (RhMus NF. 22. Jhg., 1867, S. 161—200). Abdrucke gingen an die vormaligen Leipziger Studiengenossen: Gersdorff, Carl Freiherr von (1844—1904), Schüler in Sdiulpforta seit Ostern 1861, nähere Bekanntschaft mit Nietzsche dort aber erst seit 1863, damals in Berlin, zuletzt Landwirt in Hohenheim; Mushacke, Hermann (Berlin 15.7.1845 — Hildesheim 12.7.1906), damals in Berlin, zunächst Oberlehrer und zuletzt Professor in Hildesheim; sowie an den vormaligen Pfortenser Schulfreund: Deussen, Paul (Oberdreis/Westerwald 7 . 1 . 1 8 4 5 — Kiel 6.7.1919), Bekanntschaft mit Nietzsche seit 1859 in Schulpforta, dort bis 1864 mit ihm zusammen, darauf gemeinsame Ferien und Studiensemester in Bonn bis August 1865, wurde gleichzeitig mit Nietzsche Mitglied der Burschenschaft Franconia in Bonn, ging damals gerade nach Berlin, seit 1889 Professor der Philosophie in Kiel, Begründer und bis zu seinem Tode Vorsitzender der Schopenhauer-Gesellschaft. Dieser Arbeit waren dann in der gleichen Zeitschrift gefolgt: C Beiträge zur Kritik der griechischen Lyriker. /I./ Der Danae Klage. (RhMus NF. 23. Jg., 1868, S. 480—489). Hiervon erhielt von Gersdorff einen Abdruck. D De Laertii Diogenis fontibus / scripsit / Fridericus Nietzsche. / I. De Diocle Magnete. II. De Favorino Arelatensi. (RhMus NF. 23. Jg., 1868, S. 632—653). Hiervon erhielt Rohde in Hamburg einen Einzelabzug. J De Laertii Diogenis fontibus / scripsit / Fridericus Nietzsche. / (cf. vol. X X I I I p. 632 sqq.) / III. De Demetrio Magnete. IV. De Demetrio Dioclis fonte. V. De ceteris Dioclis fontibus. VI. De Laertio et Hesychio. (RhMus NF. 24. Jg., 1869, S. 181—228). Hiervon erhielt Rohde wiederum einen Abzug. Diese letzte mehrteilige Arbeit stellte den wenig geänderten Abdruck einer preisgekrönten Arbeit dar, die in Erfüllung der von Ritsehl zum Universitätsfest vom 31. Oktober 1867 gestellten Preisaufgabe zwischen Dezember 1866 und Juli 1867 geschrieben worden war.

1871 Die Geburt der Tragödie und frühere Schriften

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16. Januar, 6. und 27. Februar und 5. und 23. März gehalten wurden. Unter den Zuhörern in Basel befanden sich Jacob Burckhardt und Franz Overbeck, das Manuskript machte dann auch Wagner und Cosima, Rohde, Romundt, von Gersdorff und Malwida von Meysenbug, Olga und Natalie Herzen und Sdiuré mit den vorgetragenen Gedanken vertraut. Zunächst sollten die Vorträge umgearbeitet als zweites Werk erscheinen, aber der Plan zerschlug sich noch vor Jahresende. Am Anfang des Jahres 1873 bot sich Malwida an, die Vorträge ins Italienische zu übertragen, daraus wurde Ν Analecta Laertiana / scripsit / Fridericus Nietzsdie. (RhMus NF. 25. Bd., 1870, S. 217—231). Hiervon erhielt Franz Overbeck später einen Sonderabdruck. Ρ Der Florentinische Tractat über Homer und Hesiod, / ihr Geschlecht und ihren Wettkampf. / I. Die Form des Wettkampfes. II. Alcidamas als der Urheber der Form des Wettkampfes. (RhMus NF. 25. Bd., 1870, S. 528—540). R Registerheft zu Band I—XXIV der neuen Folge (1842—1869). 1871. Im April 1868 hatte dann audi Nietzsches Tätigkeit als Budibesprecher angefangen; die Anzeigen erschienen sämtlich im „Literarischen Centraiblatt für Deutschland", das von dem Leipziger Germanisten: Zarncke, Friedrich (1825—1891), Professor der deutschen Philologie in Leipzig, herausgegeben wurde: Β Die hesiodische Theogonie, ausgelegt und beurtheilt von G. F. Sdioemann. Bln. 1868. Weidmann. 308 S. (LCBl Nr. 18 v. 25. 4.1868, Sp. 481 f.). E Anacreontis Teii quae vocantur Συμποσιακά ήμιάμβια. Ex anthologiae Palatinae vol II. nunc Parisiensi post Henr. Stephanum et Jos. Spalletti tertium edita a Val. Rose. Lpz. 1868. Teubner. XXIV, 70 S. (LCBl Nr. 45 ν. 31. 10.1868, Sp. 1224). F Richard Nitzsche, Quaestionum Eudocianarum capita quatuor. Altenburg 1868. 46 S. (LCBl N r . 48 v. 21.11.1868, Sp. 1309). G Theognidis Elegiae. E codicibus Mutinensi Veneto 522 Vaticane 915 edidit Christopherus Ziegler. Tüb. 1868. Laupp. VIII, 68 S. (LCBl Nr. 6 v. 30.1.1869, Sp. 144). H Jacob Bernays, Die Heraklitischen Briefe. Ein Beitrag zur philosophischen und religionsgeschichtlichen Litteratur. Bln. 1869. Hertz. 2B1L, 159 S. (LCBl Nr. 6 v. 30.1.1869, Sp. 145). I Άριστοξένου αρμονικών τα σωζόμενα. Die harmonischen Fragmente des Aristoxenus. Griechisch und deutsch mit kritischem und exegetischem Commentar und einem Anhang die rhythmischen Fragmente des Aristoxenus enthaltend, hg. v. Paul Marquard. Bln. 1868. Weidmann. XXXVI, 415 S. (LCBl Nr. 6 v. 30.1.1869, Sp. 145 f.). L Erwin Rohde, Uber Lukians Schrift Λούκιος η "Ονος und ihr Verhältnis zu Lucius von Patrae und den Metamorphosen des Apulejus. Eine litterarhistorische Untersuchung. Lpz. 1868. Engelmann. 52 S. (LCBl Nr. 15 v. 3.4.1869, Sp. 426 f.). O S. Α . Byk, Der Hellenismus und der Piatonismus. Lpz. 1870. Pernitzsch. 45 S. (LCBl N r . 37 v. 3.9.1870, Sp. 1001 f.). Nach der Schwester, Elisabeth Förster-Nietzsche, rezensierte er „gelegentlich für die .Deutsche Allgemeine Zeitung' Concerte und Vorlesungen" im Winter 1868/69 in Leipzig (s. Nr. 238, S. 287). Sie stützt sich hierbei vermutlich auf eine Äußerung ihres Bruders in einem Brief an Erwin Rohde vom 27. Oktober 1868: „Gelegentlich gehe ich jetzt als Vertreter der Deutschen Allgemeinen in Conzerte und Vorlesungen; ja sogar die Kritik der Oper ist mir o f î e r i r t . . . " Der Nachbericht zu dieser Briefstelle (BAB II, S. 458) stellt aber fest, daß diese Zeitung keine Beiträge Nietzsches gebracht habe. Nach seiner Berufung nach Basel war ihm am 23. März 1869 das Doktordiplom ohne Prüfung und Dissertation auf Grund der schon bis dahin im „Rheinischen Museum" (s. A, C, D, J, Ν , P, R) veröffentlichten Arbeiten von der Universität Leipzig ausge-

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1872 Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten

jedoch audi nichts. Einen Beridit über den ersten Vortrag brachte eine Basler Zeitung: 1 F . D., Akademisdie Vorlesung von Hrn. Prof. Nietzsche über die Zukunft unserer Bildungsanstalten. (SchwGr v. 2 3 . 1 . 1 8 7 2 ) . Berichterstatter erwähnt, daß „die Aula beinahe vollständig gefüllt" gewesen sei, und rühmt „die sdiöne Form und gewählte Diction" des Redners. S. a. die Meinung Burckhardts: „Über Nietzsche's Vorträge wird Ihnen H r . Beck 4 das Genaueste mittheilen; den letzten, von welchem wir einige Lösung der so keck und groß aufgeworfenen Fragen und Klastellt worden, und am 28. Mai desselben Jahres hatte er seine Antrittsrede „Über die Persönlichkeit Homers" in der Aula des Museums zu Basel gehalten. Diese war dann das ganze Jahr hindurch im Manuskript umhergewandert: nadi Leipzig an Romundt und Ritsdil, nach Naumburg an Mutter und Schwester: Nietzsche, Franziska, geb. Oehler (Pobles 2 . 2 . 1 8 2 6 — Naumburg 20.4.1897), seit Juli 1849 verwitwet; Nietzsche, Elisabeth (Röcken 10.7.1846 — Weimar 8.11.1935), 1885—1889 mit Bernhard Förster verheiratet, zuletzt NachlaßVerwalterin in Weimar; sowie an: Wenkel, Friedrich August, Oberpfarrer in Naumburg, seit Sommer 1868 ein Schopenhauerverehrer und nähere Bekanntschaft mit Nietzsche; nach Tribsdien an: Wagner, Richard (Leipzig 22.5.1813 — Venedig 13.2.1883), Bekanntschaft mit Nietzsche seit dem 8.11.1868 in Leipzig; Bülow, Cosima von, geb. Liszt (Bellagio am Comersee 25. 12.1837 — Bayreuth 1927), Bekanntschaft mit Nietzsche seit dem 17. 5.1869 in Tribschen. Endlich war sie dann im Dezember 1869 als Privatdruck, „nur für den engsten Kreis bestimmt", an eine beschränkte Öffentlichkeit gelangt: Κ Homer / und / die klassische Philologie. / Ein Vortrag / von / Friedrich Nietzsche. / Basel, / 1869. 24 S. 8°. Das Werk ging dann an die Schwester und Wenkel in Naumburg, Rohde in Kiel, Ritsehl und dessen Frau in Leipzig: Ritsehl, Sophie, Bekanntschaft mit Nietzsche durch ihren Gatten seit dem 4 . 1 2 . 1 8 6 5 ; an Gersdorff in Berlin und durch diesen an: Krüger, Paul, geb. 1842, Jurist, ehemaliger Pfortenser und Schulkamerad des Ernst Freiherrn von Gersdorff, des im Januar 1867 verstorbenen ältesten Bruders des Carl von Gersdorff; Wiesike, Carl Ferdinand (Brandenburg a. d. Havel 24.12.1798 — Plauerhof b. Brandenburg 11.10.1880), Gutsbesitzer, Landwirt und Schopenhauerverehrer, Oheim Krügers, durch den von Gersdorff ihn schon im Spätsommer 1868 kennengelernt hatte. Die letzte Erwähnung Wiesikes fällt in einem Brief von Gersdorff an Nietzsche vom 1. Februar 1872. Darin schreibt Gersdorff, daß er „die Geburt" dem „alten Wiesike angelegentlichst" empfohlen habe. Ob dieser sich das Werk sowie später etwa „Schopenhauer als Erzieher" angeschafft hat, ließ sich nicht ermitteln; durch Cosima von Bülow an: Porges, Heinrich (Prag 25.11.1837 — München 17.11.1900), früher Anhänger Wagners, 1864 nach München berufen, wo er 1871 zum königlich bayerischen Musikdirektor ernannt wurde. Als unmittelbare Vorläufer der „Geburt" sind die öffentlichen Vorträge anzusehen, die Nietzsche am Anfang des Jahres 1870 im Museum zu Basel gehalten hatte: „Das griechische Musikdrama" am 18.1.1870; „Sokrates und die Tragödie" am 1.2.1870. Als dem Vortragenden wohl wichtigster Zuhörer ist anzunehmen:

1872 Zur Geburt der Tragödie

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gen erwarten, ist er uns nodi schuldig, hat sich aber einstweilen zur Erholung auf 10 Tage ins Waadtland begeben. Sie hätten die Sachen hören sollen! es war stellenweise ganz entzückend, aber dann hörte man wieder eine tiefe Trauer heraus, und wie sich die Auditores humanissimi die Sache eigentlich

tröstlich

zu rechte

legen sollen, sehe ich nodi nicht. Eins hatte man sicher: den Menschen von hoher Anlage, der Alles aus erster H a n d hat und weitergiebt." (An Arnold von Salis, Basel, den 21. 4 . 1 8 7 2 in: Jacob Burckhardt, Briefe. Vollst, u. krit. Ausg. bearb. v. Max Burckhardt. Schwabe. Basel/St. Bd. 5, 1963, S. 112).

Burckhardt, Jacob (Basel 25. 5.1818 — ebd. 8. 8.1897), Professor der Geschichte und Kunstgeschichte in Basel 1858—1893. Der zweite der beiden Vorträge ging dann sofort im Manuskript an Wagner und Frau von Bülow nach Tribschen. Der in Basel geborene Lyriker Rudolf Binding erzählt aus Berichten seines Vaters, der 1867—1870 dort ordentlicher Professor für Strafrecht war: „Ein ganz junger kam: Friedrich Nietzsche. Mein Vater sagte mir von jener Zeit: er habe sozusagen die .Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' noch als Kolleg gehört; denn die jungen Dozenten besuchten gegenseitig ihre Vorlesungen. ,Hat man ihn denn damals dort schon erkannt?' fragte ich, als von dem Basel jener Zeit die Rede war. ,Daß er ein geistreicher Kerl war merkte natürlich jeder und gab es zu', antwortete mein Vater. ,Aber einer der eigentlich nur in Aphorismen redete —? so was galt damals nichts rechtes — J a ! Es falle ihm doch wenigstens etwas ein, habe einer zur Verteidigung Nietzsches bemerkt. — Nun ja! aber er gehe ja audi den ganzen Tag spazieren! da müsse ihm doch auch etwas einfallen.'" (R. G. B., Erlebtes Leben. Rütten & Loening. Ffm. 1932, S. 12). Aus der gleichen Zeit erzählt der damals zwölfjährige Walther Siegfried vom Leben in Basel: „Regelmäßig wie eine Uhr ging Tag für Tag um die Mittagszeit ein Herr, von einer jugendlichen Dame begleitet, vor unseren Fenstern vorüber, der nur ein deutscher Professor sein konnte. Er hatte einen auffallend großen braunen Schnurrbart und eine goldene Brille, ging in sehr aufrechter Haltung und trug stets schwarzen Rock, hellgraue Beinkleider und einen hellgrauen breitrandigen Filzhut, alles peinlich frisch und gebürstet wie eben aus der Schachtel. Ebenso unabänderlich war das Fräulein in die zartesten Farben gekleidet, himmelblau oder rosa; Vergißmeinnidit oder Röschen auf dem Hut. An ihrem gleichen, kinderhaften Teint ,Milch und Blut' und an ihrem ähnlichen Gange, mit ganz kurzen Schritten, vermutete man, daß es Geschwister sein mußten. Es war der Herr Professor Friedrich Nietzsche und seine Schwester Elisabeth. Sie wohnten am nahen Schützengraben, später am Spalentorweg, und gingen ins Schützenhaus zu Tisch.'' (W. S., Aus dem Bilderbuch eines Lebens. Asdimann & Scheller. Zür. u. Lpz. (1926), S. 20 f.) Am 4. April 1870 war Nietzsche zum ordentlichen Professor ernannt worden, und im selben Monat war eine Gratulationsschrift des Paedagogiums zu Basel zur Feier der 50jährigen Lehrtätigkeit dortselbst von Prof. Dr. Fr. D. Gerladi erschienen. Diese enthielt neben Schulmäßigem folgenden Beitrag Nietzsches: M Beiträge zur Quellenkunde und Kritik des Laertius Diogenes. (Basel. C. Sdiultze's Universitätsbuchdruckerei. 1870. S. 1—36). 4°. Ritsehl hatte im März 1870 damalige oder ehemalige Mitglieder seiner „Societät" angeregt, philologische Arbeiten abzufassen oder schon vorhandene drucken zu lassen. Nietzsche hatte daraufhin im Laufe des Jahres „eine ganze Kette von Untersuchungen über Homer und Hesiod im gegenseitigen Verhältnis" verfaßt, die dann als gewünschter Einleitungsbeitrag zu den von Ritsdil herausgegebenen „Acta societatis philologae Lipsiensis" erschienen:

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1872 Zur Geburt der Tragödie

Auf Grund seiner die Philosophie und Pädagogik berührenden Vorlesungen, der Vorträge „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten", der „Geburt der Tragödie" und seiner Abhandlungen über Laertius Diogenes sah sich Nietzsche im Mai 1872 unter die Philosophieprofessoren aufgenommen: 2 Die Vertreter der Philosophie an der Universität Basel. (PhM 8. Bd. 1872, S. 93 ff., 150 f.). Q Certamen quod dicitur Homeri et Hesiodi / e codice Florentino / post Henricum Stephanum / denuo edidit / Fridericus Nietzsdie / Numburgensis. (Lpz. Teubner. 1871. I, S. 1—23). Auf Wunsch der Frau von Bülow ließ Nietzsche im Juni 1870 eine gebundene Abschrift beider obenerwähnten Vorträge zur griechischen Tragödie anfertigen und schenkte sie ihr. Hinzu kam, als Weihnachtsgeschenk, die eigenhändige Abschrift einer im Sommer 1870 entstandenen Abhandlung „Die Geburt des tragischen Gedankens". Schon im April 1871 war die Aus- und Umarbeitung seiner Gedanken über die griechische Tragödie soweit gediehen, daß er eine Druckvorlage „Musik und Tragödie" (wie „Griechische Heiterkeit" und „Sokrates und die griechische Tragödie" ein geplanter Titel zur „Geburt") an den Verleger Engelmann in Leipzig schicken konnte. Dieser zögerte aber solange mit der Annahme, daß der Verfasser einen Teil „herausschälte" und diesen in 30 Exemplaren, „zur Verteilung unter Freunden", auf eigene Kosten im Juni 1871 drucken ließ: S Sokrates und die griechische Tragödie. / Von / Dr. Friedrich Nietzsche. / Basel 1871. 40 S. 8°. Dieser Wortlaut ging dann mit geringfügigen stilistischen Änderungen vollständig in die Abschnitte 8—15 der endgültigen Fassung der „Geburt" über. Die Schrift selbst ging an Gersdorff in Marienbad, Deussen in Marburg, Wagner in Tribschen und durch diesen an: Brockhaus, Clemens (1837—1877), Pfarrer an der Johanniskirche zu Leipzig, Neffe Wagners; an Romundt, der die Abhandlung auf Wunsch Nietzsches im „Philologischen Verein" in Leipzig vorlas, an Rohde in Kiel und durch letzteren an : Ribbeck, Otto (Erfurt 23. 7.1827 — Leipzig 18. 7.1898), klassischer Philologe, 1865—72 in Kiel, 1873—76 in Heidelberg, 1877—98 in Leipzig; und durch: Overbeck, Franz Camill (Petersburg/Rußland 16.11.1837 — Basel 26.6.1905), protestantischer Theologe, Professor der Kirchengeschichte zu Basel seit dem 23. 4.1870, wo er bis August 1875 im selben Hause wie Nietzsche wohnte, trat am 31.3. 1897 in den Ruhestand. Sein Exemplar trägt die Widmung: „Herrn Prof. Overbeck zum Andenken an Winter und Frühjahr 1871. F. N . " ; an: Treitschke, Heinrich von (Dresden 15.9.1834 — Berlin 28.4.1896), Professor der Geschichte in Heidelberg. Mit der Obersendung dieses Exemplars versuchte Nietzsche das ganze Werk in den „Preußischen Jahrbüchern" unterzubringen. Treitschke war damals Herausgeber der Zeitschrift und Overbeck seit Ende 1867 Mitarbeiter; Zeller, Eduard (1814—1908), Professor der Philosophie in Heidelberg; s. eine spätere Äußerung zu Nietzsche (DRs 26. Jg., Bd. 101, H . 1 v. Okt. 1899, S. 80 in: Über Systeme und Systembildung, S. 80): „ . . . was von ihm die Blicke vorzugsweise auf sich zog, was am meisten zur Bewunderung und Nacheiferung anreizte, waren gerade d i e Schriften, in denen die Leidenschaftlichkeit und Selbstüberhebung, die schon frühe für seine weitere Entwicklung besorgt machen mußten, sich immer mehr ins Krankhafte

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1872 Zur Geburt der Tragödie

Über Nietzsche auf S. 94 f., sonst aufgeführt werden Karl Steffensen, Rudolf Eucken, Jacob Mähly und J. G. Müller. Hiermit begann die Zeitschrift, „biographische Notizen über die jetzt lebenden Vertreter der Philosophie in Deutschland" zu bringen. Man setzte mit Basel ein, da die „alphabetische Reihenfolge" beachtet werden sollte. Es wird dabei weder auf den Inhalt der Schriften nodi auf die Einstellung des Verfassers eingegangen.5 N a c h d e m eine Anzeige der „ G e b u r t " , v o n E r w i n R o h d e v e r f a ß t , schon Ende Januar

1872 vom

„Literarischen C e n t r a l b l a t t "

abgelehnt

worden

auswuchsen, in denen der Sinn fürs Thatsächliche, die nüchterne Beobachtung, die Scheu vor Widersprüchen, die Strenge des Verfahrens, der Grundsatz, nichts ohne Beweis zu behaupten, kurz alle die Züge, welche die Wissenschaft erst zur Wissenschaft machen, sich immer vollständiger verloren, die Philosophie mehr und mehr in aphoristische, bald geistreiche, bald phantastische, nach dem Auffallenden haschende und jede vorangehende Paradoxie durch die folgenden überbietende Orakelsprüche überging." 2 Fritzsch, Ernst Wilhelm (1840—1902), Verleger Wagners und Nietzsches, des letzteren 1 8 7 1 — 7 4 , 1 8 8 6 — 8 7 , in Leipzig. " Ein Prachtexemplar auf gelbem Papier ging an Cosima. Wagner selbst erhielt zunächst ein einfaches und darauf ein Prachtexemplar. Sonst ging das Werk an die Schwester in Naumburg, Burckhardt in Basel, Ritsehl und Brockhaus in Leipzig, Gersdorff und Krüger in Berlin, Rohde und Ribbeck in Kiel, Deussen in Marburg, Romundt auf Reisen in Italien, Treitschke in Heidelberg sowie a n : Gelzer-Thurneysen, Heinrich (Berlin 1 . 7 . 1 8 4 7 — J e n a 1 1 . 7 . 1 9 0 6 ) , klassischer Philologe, 1 8 6 9 — 7 3 Gymnasiallehrer in Basel, 1 8 7 3 — 7 8 in Heidelberg, später in J e n a als Professor für klassische Philologie und Alte Geschichte. Dieser erzählt von der A u f nahme Burckhardts wie folgt: „Auch Nietzsche betrachtete er bei aller hohen Anerkennung und trotz liebevollem Eingehen auf seine einsamen Gedankengänge in letzter Linie immer etwas skeptisch, soweit das eben einem jüngeren, ihn rückhaltlos bewundernden Kollegen gegenüber seine edit französische Höflichkeit zuließ. Als ,die Geburt der Tragödie* erschienen war, äußerte er sich mir gegenüber voll Bewunderung, aber mit jener nicht angenehmen Bewunderung, der man sofort anmerkt, daß sie im Grunde nur schlecht verhüllte beißende Ironie war. So ist in der That auffällig, daß Burckhardt, wie wenige ein echter Sohn des 19. Jahrhunderts, diesen beiden genialen Trägern und letzten Verteidigern seiner Kultur (Bismarck ist der andere) nicht mit dem Verständnis entgegengekommen ist, wie wir wohl wünschten." (H. Geizer, J a k o b Burckhardt als Mensch und Lehrer. Z K G V I I , 1. H e f t , 1899, S. 39). Auffallend ist bei dieser Würdigung Burckhardts, daß der Verfasser trotz mehrjähriger Anwesenheit in Basel und jährlicher Besuche dorthin von Heidelberg und J e n a aus nichts Unmittelbares von Nietzsche zu berichten weiß. Kelterborn-Fisdier, Ludwig Wilhelm (Basel 2 4 . 9 . 1 8 5 3 — W a l t h a m / U S A 1 7 . 1 2 . 1 9 1 0 ) , Student der Rechtswissenschaften, Schüler Nietzsches in Basel im Schuljahr 1870/71, seit 1884 Schriftsteller in Boston, U S A ; Krug, Gustav (1843 — 2 7 . 7 . 1 9 0 2 ) , Jugendfreund, damals in Naumburg, zuletzt Oberregierungsrat zu Freiburg im Breisgau; Pinder, Wilhelm ( 1 8 4 4 — 1 9 2 8 ) , Jugendfreund, damals in Naumburg; Rothpietz, I d a (1848 — 16. 1 1 . 1 9 3 3 ) , hatte Nietzsche schon im Sommer 1870 im Maderanertal flüchtig kennengelernt, seit dem 8. 8 . 1 8 7 6 mit Franz Overbeck verheiratet; Visdier, A d o l f ( 1 8 3 3 — 1 9 0 2 ) , Basler K a u f m a n n ; Visdier, Sophie ( 1 8 3 9 — 1 9 1 5 ) , Frau des Wilhelm Vischer-Heußler ( 1 8 3 3 — 1 8 8 6 ) , P r o fessors der Geschichte in Basel; Vischer-Bilfinger, Wilhelm (1808—1874), klassischer Philologe und Mitglied des kleinen

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war,® erschien schließlich eine zweite vom selben Verfasser als erstes öffentliches Wort in Deutschland: 3

Rohde, Erwin, Friedrich Nietzsdie's „Die Geburt der Tragödie aus dem

Geiste der Musik". Eine Recension. ( N A Z g Sonntagsbeil. N r . 21 v. 26. 5. 1872). Rohde weist zuerst auf das „befremdliche Stillschweigen" seitens der „sonst so geschäftigen Kritik" hin und hebt dann den Wert des Werkes für die Ästhetik und die klassische Philologie hervor. E r betont Nietzsches Abhängigkeit von Schopenhauer, „zu dessen Anschauungen er (d. i. Nietzsche) sich überall bekennt", und Rats in Basel, der als Präsident des Erziehungscollegs und der Universitäts-Kuratel die Berufung Nietzsches nach Basel durchgesetzt hatte; durch Overbeck, der die Korrekturbogen mitlas und alles während der Entstehung mit Nietzsche „immer wieder nach allen Richtungen" besprochen hatte (s. seinen Brief vom 21. 8. 1871 an Heinrich von Treitschke: „Ich kann nicht alles mitmachen, am wenigsten unbedingt, was daran über Wagnersche Opern zu lesen steht; aber überzeugt bin ich, daß die Arbeit eine der gedankenreichsten und tiefsinnigsten ist, die wir in Deutschland seit Jahrzehnten auf dem Gebiete der Ästhetik gelesen." Studien z. Gesch. d. Wissenschaften in Basel. X I I : Overbedriana. 1. Tl. 1962, S. 97), an: Ebers, Georg (Berlin 1.3.1837 — Tutzing/Obb. 7.8.1898), Ägyptologe und Schriftsteller, Privatdozent in Jena, Professor in Leipzig, schrieb an Overbeck aus Leipzig am 9 . 4 . 1 8 7 2 : „Nietzsches Schrift las ich mit großem Interesse. Ihr Freund spielt mit schweren Gedanken und großartigen Bildern Fangball." (Ebd., S. 98) ; Hartenstein, Gustav (1808—1890), Philosoph, seit 1834 Professor in Leipzig, seit 1859 im Ruhestand in Jena lebend, s. den Brief des Nachstehenden an Overbeck aus Jena vom 1 0 . 3 . 1 8 7 3 : „Das Buch Ihres Baseler Freundes Nitzsche ,Die Geburt der Tragödie' etc. ist mir unverständlich geblieben und wegen der sich darin zeigenden Wagner-Vergötterung und auffälligen Parteitendenz absolut unsympathisch; ebenso ging es auch Hartenstein, der audi aus dem Traum- und Rausch-Schwindel nicht klug werden konnte." (Ebd., S. 100); Naumann, Ernst (1832—1910), Universitäts-Musikdirektor und Stadtorganist in Jena; durch Gersdorff an: Gersdorff, Ernst August von, Vater des Vorigen und Mitglied des Preußischen Herrenhauses; Rau, Leopold (Nürnberg 1847 — Rom 1880), Schüler von Reinhold Begas, Bildhauer und Zeichner des Titelbildchens zur „Geburt"; durch Wagner bzw. Cosima an: Baligand, Max von, Hauptmann, Kammerjunker Sr. Maj. des Königs von Bayern, Vorsitzender des Münchner Wagner-Vereins; Brockhaus, Ottilie, Frau des Hermann Brockhaus (1806—1877), Professors der indischen Philologie in Leipzig, Schwester Wagners und Anhängerin Schopenhauers; Bülow, Hans Guido Freiherr von (Dresden 8 . 1 . 1 8 3 0 — Kairo 12.2.1894), erster Gatte der Cosima, 1869—77 zog er als gefeierter Pianist in der Welt herum, faßte erst 1877 als Kapellmeister in Hannover wieder festen Fuß, übernahm 1880 die Leitung der Hofkapelle in Meiningen und machte sie zu einem Instrument ersten Ranges; Dittmar, Dekan, evangelischer Kirchenrat in Bayreuth, gest. am 31.1.1877 ebendort; Dohm, Ernst (Breslau 24.5.1819 — Berlin 5.2.1883), Schriftsteller, seit 1849 Leiter der Zeitschrift „Kladderadatsch"; Großmann, Rector des Bayreuther Gymnasiums; Herzen, Olga, Tochter des damals schon verstorbenen russischen Revolutionärs Alexander Herzen, Ziehtochter der Malwida von Meysenbug, seit März 1873 Gattin des französisdien Geschichtswissenschaftlers Gabriel Monod; Herzen, Natalie (1844—1936), ältere Schwester der vorigen;

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bringt das Werk abschließend in Verbindung mit „jener großen Wirksamkeit edelster Kunstbegeisterung, die sich eben in diesen Tagen in Bayreuth den festen Grund legt zu einem Ehrentempel deutscher Nation". 3 a E(rwin) R(ohde), Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Von Friedrich Nietzsche. Lpz. 1872. 16 S. (Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig). Ein von Nietzsche selber veranlaßter und bei Fritzsch erschienener Separatdruck in 50 Abzügen, zur Versendung an Freunde.7 Krokow, Gräfin Elisabeth, Liszt, Franz (Raiding 22.10.1811 — Bayreuth 31. 7.1886); Ludwig II. König von Bayern (Nymphenburg 25. 8. 1845 — 13. 6.1886); Meysenbug, Malwida von (Kassel 28.10. 1816 — Rom 26. 4.1903), damals in Florenz, kannte Wagner seit dem Frühjahr 1855 und war ihm seit dem Winter 1859/60 nähergetreten, Nietzsche wurde ihr am 22. Mai 1872 bei der Grundsteinlegung in Bayreuth vorgestellt; Maier, Mathilde (1834—1910), Freundin Wagners; Monod, Gabriel (Ingouville 7.3.1844 — Versailles 10.4.1912), französischer Historiker, seit Anfang 1866 mit Malwida von Meysenbug bekannt, 1873 heiratete er Olga Herzen ; Muchanoff-Kalergis, Marie von, geb. Nesselrode (1823—1874), auf Schloß Ottenheim b. Linz, Freundin Liszts, Wagner hat ihr seine „Aufklärung über das Judentum in der Musik" gewidmet; Pohl, Richard (Leipzig 12.9.1826 — Baden-Baden 17.12.1896), Musikschriftsteller, befreundet mit Bülow, Liszt und Wagner, trat auch sehr früh für sie ein, lebte 1864—96 in Baden-Baden; Schleinitz, Marie von, geb. von Buch, Frau des Grafen Alexander Gustav von Schleinitz, eines preußischen Ministers, gest. 1912; Schuré, Edouard (1841—1929), französischer Schriftsteller, damals in Florenz, trat seit 1867 in Paris für das Werk Wagners ein; Laussot, Jessie, geb. Taylor (1827—1905), seit dem Sommer 1879 die Frau Karl Hillebrands; durch letztere an: Hillebrand, Karl (Gießen 17.9.1829 — Florenz 18.10.1884), eine Zeitlang Sekretär Heines in Paris, wurde 1863 Professor der romanischen Literaturen in Douai, lebte seit 1870 als Korrespondent der englischen „Times" in Florenz; zu seinem Verhältnis zu Nietzsche s. Leo Haupts, Karl Hillebrand als Publizist und Politiker. Diss. d. Univ. Köln 1959, S. 170—199. Verfasser sieht den Einfluß Nietzsches auf Hillebrand am deudidisten in dessen Gervinus-Aufsatz: Hillebrand habe hierin „im Grunde nur ein Todesurteil vollstreckt, das schon von Nietzsche gesprochen worden" sei, nämlich in der „ersten Unzeitgemäßen", (S. 179); Otto Ribbeck empfahl die Schrift mit folgenden Worten: „Aber kennen Sie denn schon des Basler Nietzsche .Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik' und was sagen Sie dazu? Ein kunstphilosophischer Dithyrambus in Schopenhauer-Wagnerschem Geist. Etwas holder Wahnsinn und gärender Most, aber doch in der Hauptsache — die freilich im Grund nicht eben ganz neu ist — treffend und durchaus interessant. Wir können diese A r t ingenium in unsrer verknöcherten Philologie recht wohl zur Erfrischung gebraudien, zumal die solidesten Studien zu Grunde liegen . . ( O . Ribbeck. Ein Bild seines Lebens aus seinen Briefen 1846—1898, St. 1901. Cotta Nf., S. 297 f.) an: Dilthey, Wilhelm (Biebrich a. Rh. 19.11.1833 — Seis am Sehlem 1.10.1911), Professor der Philosophie in Kiel, später in Breslau und seit 1882 in Berlin; sonst war die Sdirift auch zu Händen von:

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10 3 b

Auch in: Erwin Rohde, Kleine Schriften. J . C . B. Mohr. Tüb. 1902. Bd. 2,

S. 3 4 0 — 3 5 1 , wovon es auch einen Separatdruck gibt. 3 c

Audi in: Der Streit um Nietzsches „Geburt der Tragödie". Die Sdiriften

von E . Rohde, R . Wagner, U. v. Wilamowitz-Möllendorff. Zusammengest. u. eingeh v. Karlfried Gründer. 1969. G. Olms. Hildesheim, S. 1 5 — 2 6 .

Ende Mai 1872 erschien auch die erste Gegenschrift, von Ulrich Wilamowitz-Möllendorff verfaßt: 8

Ambros, August Wilhelm (Mauth/Böhmen 17.11.1816 — Wien 28.6.1876), Musikschriftsteller, seit 1871 Professor der Musik am Konservatorium zu Wien; Asdier, David, geb. 1818 zu Dresden, damals in Leipzig, hatte sich durdi mehrere Schriften um die Nachfolge Schopenhauers verdient gemacht, so durch: Sendschreiben an Schopenhauer. 1855 / Schopenhauer als Interpret des Goethisdien Faust. 1859 / Arthur Schopenhauer. 1871 / Das Endergebnis der Schopenhauerschen Philosophie in seiner Übereinstimmung mit einer der ältesten Religionen. 1885; Bernays, Jacob (1824—1881), seit 1866 Oberbibliothekar der Universitätsbibliothek und als Nachfolger Ritschis Professor der klassischen Philologie in Bonn; Conrad, Michael Georg (Gnodstadt/Unterfranken 5. 4.1846 — München 20.12.1927), zuerst in Genf, dann seit 1871 in Neapel Lehrer an der Deutschen Schule, 1876—1882 freier Schriftsteller in Paris, ging 1882 nach München, wo er im Jahre 1885 zusammen mit Wolfgang Kirchbach „Die Gesellschaft" gründete; s. sein: „Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne." Lpz. 1902. Herrn. Seemann Nf., S. 35: „ . . . ich war Nietzscheaner, als ich fünfzehn Jahre später (d.i. 1872) in der Buchhandlung von Detken und Rodiell zu Neapel die ersten Seiten von der .Geburt der Tragödie' gelesen hatte." Constantin, Großfürstin, geb. Prinzessin von Altenburg, Schülerin von Nietzsches Vater; Daedisel, Bernhard (1823—1888), Justizrat in Sangerhausen, ehemaliger Vormund Nietzsches; Diodati, Gräfin, Dräseke, Johannes Felix (Coburg 7 . 1 0 . 1 8 3 5 — Dresden 16.2.1913), Komponist, lernte das Werk durch Bülow, aber Nietzsche persönlich erst im Juli 1875 in Basel kennen; Frieß, Professor, Frommann, Gymnasiallehrer in Büdingen; von der Goltz, Alexander Georg Maximilian Hermann Frhr. (Düsseldorf 17. 3. 1835 — Berlin 25.7.1906), evangel. Theologe, ab 1865 a. o., ab 1870 o. Professor in Basel, später in Bonn, Köln und Berlin; Gustedt, Baronin Jenny von, s. über sie: Im Schatten der Titanen. Erinnerungen an Baronin Jenny von Gustedt v. Lily Braun. Dr. Vlgs.-anst. St., S. 353 ; Hagen, Hermann (1844—1898), Sohn des Geschichtswissenschaftlers Karl Hagen in Heidelberg-Bern, seit 1874 a. o., seit 1879 o. Professor der klassischen Philologie an der Berner Hochschule; Hoffmann, Ernst Emil (1827—1877), Professor der Medizin in Basel; Huber, Hans (1852—1921), Komponist, damals in Leipzig, später in Basel, mit Louis Kelterborn befreundet (s. KGW IV, 4, S. 59); Joachim, Gymnasiallehrer in Görlitz; Kretzer, Eugen, Lange, Friedrich Albert (Wald b. Solingen 28.9.1828 — Marburg 21.11.1875), 1848—51 Student in Bonn, wo er u. a. die „strenge philosophische Schule F. W. Ritschis" durchmachte, 1870—72 Professor für induktive Philosophie an der Universität Zürich; Lese- und Redehalle der deutschen Studenten in Prag; aus seiner Studentenzeit auf der

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4 Zukunftsphilologie! eine erwidrung auf Friedrich Nietzsdies geburt der tragödie. Bln. 1872. Bornträger. 32 S. Verfasser gesteht am Schlüsse, was er eigentlich hätte vorausschicken sollen: „ich bin eben kein mystiker, kein tragischer mensch, mir wird es immer nur ,ein lustiges nebenbei, ein recht wol zu missendes schellengeklingel am ernst des daseins', auch am ernst der Wissenschaft sein können: eines berauschten träum oder eines träumers rausch." Mit einer solchen Einstellung konnte er nur tun, was er tat: in recht bösartiger Sprache am Einzelnen herumnörgeln. Anhebend behauptet er, der Hauptanstoß des Buches liege in „ton und tendenz", und glaubt Universität Prag (1869—73) erzählt Fritz Mauthner von dieser Einrichtung: „Doch gab es einen anderen Sammelpunkt (d. i. außer dem Verbindungsleben) für uns, die .Lesehalle der deutschen Studenten'; es war Ehrensache für jeden deutschen Studenten, für die Finken sowohl wie für die farbentragenden jungen Herren, der ,Halle' als Mitglied anzugehören. In der Halle wurde weder gefochten noch gekneipt. An kritischen Tagen wurden dort die entscheidenden Beschlüsse gefaßt. Sonst war die Halle unser Lesesaal und unser Debattierklub. In einzelnen wissenschaftlichen Sektionen wurden von uns — es war eine neue Einrichtung — wissenschaftliche Vorträge gehalten." F. M., Erinnerungen. I. Prager Jugendjahre. 1918. Mchn. Georg Müller, S. 172; s. a. ebd., S. 321—325; Leutsdi, Ernst von, geb. 1808, klassischer Philologe, Herausgeber des „Philologus", damals Professor in Göttingen; Mendelsohn, Karl, Sohn des Komponisten, Professor der Geschichte in Freiburg; Nägelsbach, Professor, Nielsen, Frau Rosalie, Dänin, Wagnerverehrerin, in den 80er Jahren bildete sich um sie ein Kreis in Leipzig, zu dem u. a. Edgar Steiger, Hans Merian und Hermann Conradi gehörten (s. die Einleitung zu: Hermann Conradi, Ges. Schriften. 1. Bd. Hg. von P. Ssymank u. G. W. Peters. Mchn. u. Lpz. G. Müller 1911, S. CLXXI f.); Roggenbach, Franz Frhr. von (1825—1907), badischer Staatsmann; Schenkel, Moritz (1834—1909), Pfarrer in Colditz, Oheim Nietzsches; Schöll, Rudolf, Privatdozent in Berlin, Freund von Wilamowitz-Moellendorff, ging kurz darauf als Professor nach Greifswald; Schönberg, Gustav von (1839—1908), Professor der Nationalökonomie in Basel und Freiburg, später in Tübingen; Senger, Hugo von (1835—1892), damals Generaldirektor des Genfer Orchesters, lernte Nietzsche im Juni 1872 kennen; Tönnies, Ferdinand (Oldenswort/Schleswig 26. 7.1855—1936), 1881 Privatdozent, 1913 o. Professor in Kiel, wirkte besonders auf sozialphilosophischem Gebiete; s. seine Selbstdarstellung in : Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Hg. v. R. Schmidt. Lpz. F. Meiner. 1922, S. 203: „Aus meinem ersten Semester (d.i. Wintersemester 1872/ 73 in Jena) möchte ich noch erwähnen, daß ich im Doebereinersdien Schaufenster ein Büchlein liegen sah, dessen Aufschrift mich mächtig ergriff: ,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' von Friedrich Nietzsche — wer achtete damals d a r a u f ? . . . Das Nietzsche-Büchlein zu kaufen konnte der Student sich wohl nicht entschließen; er fand es aber in den Sommerferien 1873 in seiner alten Husumischen Schulbibliothek und las es mit Genuß, ja beinahe mit dem Gefühl einer Offenbarung." Usener, Hermann (Weilburg a. d. Lahn 23.10.1834 — Bonn 21. 10.1905), klassischer Philologe, 1863 o. Professor in Greifswald, kam 1866 nach Bonn; Volkmann, Diederidi (1838—1903), Professor in Pforta; Wallnöfer, Adolf, Opernsänger und Komponist, lernte das Werk vor dem Jahre 1876, in dem er Nietzsche in Bayreuth persönlich begegnete, kennen (s. Sophie Rützow, Richard Wagner und Bayreuth. Ausschnitte und Erinnerungen. 2. Aufl. Karl Ulrich. Nürnberg (1953), S. 160 f.); Wenzel, Ernst, Musiker, Professor am Conservatorium in Leipzig.

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sich somit berechtigt, nun alle Zügel des Anstandes schießen zu lassen: Nietzsche wird als „Metaphysiker, Apostel, dionysischer Prophet, Dionysos, gläubiger Zukunftsphilologe" bezeichnet, seine Meinungen als „nonsense, Nest voll Blödsinn, sinnlos, Fabelei, Hallucinationen, Entstellungen" gebrandmarkt, ihm werden „erträumte Genialität, Frechheit, Mangel an Wahrheitsliebe, kindische Unwissenheit" sowie Unkenntnis Homers, Euripides und der griechischen Tragödie überhaupt vorgeworfen. Erwähnenswert ist, daß der Absatz von Wilamowitzens Schrift nicht nur deren Kosten einbrachte, sondern auch die der zweiten Gegenschrift (s. Nr. 8), während Stücke der „Geburt" noch im Jahre 1886 unverkauft beim Verleger lagen. 9 U n b e k a n n t w a r e n sich beide nicht: W i l a m o w i t z w a r w i e Nietzsche ehemaliger P f o r t e n s e r , w e n n auch v i e r J a h r e jünger, und hatte auf einem Besuch in P f o r t a im O k t o b e r 1 8 7 1 einen Abstecher nach N a u m b u r g gemacht, um „dem Basler Professor seine R e v e r e n z " zu machen. Nietzsche schrieb dazu, d a ß er den jüngeren Kollegen sogar auf das bevorstehende Erscheinen der „ G e b u r t " aufmerksam gemacht habe, deren M a n u s k r i p t er gerade in jenen Tagen dem Verleger Fritzsch übergeben hatte. R o h d e bot sich n u n in einem Brief v o m 5. J u n i v o n selbst z u m Gegenangriff an, weil Nietzsche es w o h l unter seiner W ü r d e halte, „ d a r a u f zu a n t w o r t e n " . Nietzsche n a h m das A n g e b o t w i l l i g an, aber w ä h r e n d R o h d e Beck, August (1844—1911), Freund und Studiengenosse des Arnold von Salis, nadi seinem theologischen Kandidatenexamen als Lehrer für Deutsch und die klassischen Sprachen am Basler Gymnasium wirkend. • Eucken, Rudolf (Aurich/Ostfriesland 5.1.1846 — Jena 14.9.1926), Philosoph, Professor seit 1871 in Basel, seit 1874 in Jena, Nobelpreisträger für Literatur 1908; Steffensen, Karl (Flensburg 1816—1888), 1854—1879 Ordinarius für Philosophie in Basel; Mähly, Jacob Achilles (Basel 24.12.1828 — ebd. 18.6.1902), 1861—1890 Lehrer für alte Sprachen am Pädagogium, bzw. am Oberen Gymnasium zu Basel, 1875—1890 Ordinarius für lateinische Sprache und Literatur an der Universität Basel. • Diese nicht erschienene erste Besprechung findet man in BAB III, S. 451—456; in 3 c, S. 9—14. Nietzsche las sie Franz Overbeck vor und sdiickte sie dann sofort nach Tribschen. 7 Exemplare gingen an Baligand, Dächsei, Gräfin Diodati, Krug, Frau von Mudianoff, Overbeck, Pinder, Romundt, Schenkel, Frau von Schleinitz, Senger, Treitschke, Frau Visdier, Visdier-Bilfinger und Zarncke sowie an: Curtius, Georg (Lübeck 16.4.1820 — Hamsdorf/Riesengeb. 12.8.1885), Professor der klassischen Philologie in Leipzig seit 1861; Haupt, Moritz (Zittau 27.7.1808 — Berlin 5.2.1874), klassischer Philologe und Germanist, seit 1853 als Nachfolger K. Lachmanns Professor für klassische Literatur in Berlin. 8 Wilamowitz-Moellendorff, Ulrich von (Markowitz b. Inowraclaw 22. 12.1848 — Berlin 25. 9.1931), damals Dr. phil. in Berlin, war am 20. 7.1870 promoviert, habilitierte sich im Herbst 1874 in Berlin, 1876—83 o. Professor in Greifswald, Herbst 1883 Ubersiedlung nadi Göttingen. • S. hierzu überhaupt die Ausführungen und Ansichten des alten Wilamowitz in: Erinnerungen. 1848—1914. Koehler. Lpz. 1928, S. 128 ff. 4

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noch an der Ausarbeitung feilte, trat Richard Wagner öffentlich als Verteidiger des Geschmähten auf: 5 An Friedrich Nietzsche, ordenti. Professor der klassischen Philologie an der Universität Basel. (Ein Offener Brief, NAZg Sonntagsbeil. v. 23. 6.1872). Da Wilamowitz sich als Verteidiger seiner Wissenschaft und, was zum Teil den groben Ton seiner Schrift erklären könnte, fast unbewußt als der der Wissenschaft schlechthin, aufgeführt hatte, fühlte sich Wagner zweifellos berechtigt, die ganze philologische „Zunft" anzugreifen und, um deren Daseinsberechtigung anzuzweifeln, die Frage: „Wie steht es um unsere deutschen Bildungsanstalten?" an Nietzsche zu stellen, wobei er selbstverständlich wußte, daß Nietzsche sich schon viel mit dieser Frage beschäftigt hatte, zuletzt in den kurz zuvor darüber gehaltenen Vorträgen. Sonst hebt Wagner nur die Grobheit der Wilamowitzschen Schrift hervor und geht auf einige wenige Vorwürfe ein, die keine Fachkenntnisse voraussetzten. 5 a Auch in: R. W., Ges. Schriften u. Dichtungen. Fritzsch. Lpz. 1873. Bd. IX, S. 350—358. 5 b Auch in: 3 c, S. 57—64. Audi unter der breiteren Gefolgschaft Wagners wurde unter Berufung auf den Meister selber auf das Werk aufmerksam gemacht: 6 „Indem wir diese II. Redaction unseres Materials unter Mitgliedern übersenden, wollen wir nicht unterlassen, dieselben noch auf das ungemein bedeutende und geistvoll geschriebene Werk des Prof. Fr. Nietzsche: ,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' aufmerksam zu machen. Wir befinden uns in jedem Punkte im Einklang mit den darin ausgesprochenen Ansichten und halten die geistig ungemein bedeutende Behandlung und Lösung der schwebenden Fragen über die neue Kunst für die allein richtige. Das Werk ist von R. Wagner selbst besonders empfohlen." (Dt. Festspiele in Bayreuth. II. Redaction: Juli 1872. Anruf des Akademischen Wagner-Vereins. Der Anruf kam als Beilage zum „Musikalischen Wochenblatt" vom 26. 7.1872 zur Verteilung.) Nadidem ein Versuch Nietzsches, mit Hilfe von Ritsehl die zweite Rohdesche Stellungnahme bei Teubner unterzubringen, fehlgeschlagen war, erschien diese endlich Mitte Oktober 1872 bei Fritzsch: 7 Afterphilologie. Zur Beleuchtung des von dem Dr. phil. Ulrich von Wilamowitz-Möllendorff herausgegebenen Pamphlets: „Zukunftsphilologie!" Sendschreiben eines Philologen an Richard Wagner. Lpz. Fritzsch. 1872. 48 S.10 Eine mit der Grobheit der Wilamowitzschen Schrift verglichen sehr gehaltene, dennoch aber den Angegriffenen vernichtende Verteidigung des Freundes. Nach10

Rohdes Schrift ging an: Bülow, Burckhardt, Cosima, Dohm, Gersdorff und dessen Vater, Olga Herzen, Joachim, Krug, Malwida, Frau von Mudianoff, Overbeck, Rau, Ritsehl, Romundt, die Schwester, Senger, Vischer-Bilfinger und Wagner sowie an: Immermann, Hermann (1838—1899), seit 1871 Professor der Medizin in Basel; Schnietzer, Sanitätsrat in Görlitz.

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dem er Wilamowitzens Unfähigkeit, auf das eigentliche Vorhaben Nietzsches einzugehen, hervorgehoben hat, bringt Rohde eine ins Einzelne gehende, doch ohne gelehrte Zitate geschmückte Abfertigung. Wie tief die Rohdeschen Pfeile eingedrungen sein und wie fest sie gesessen haben müssen, lehren einige über 40 Jahre später geschriebene Äußerungen v o n Wilamowitz, in denen er den Kampf noch weiterführen zu müssen glaubt mit Behauptungen wie: Deussen habe dem Freund (d. i. Nietzsche) in Pforta nicht nur von seiner Mathematik, sondern audi v o n seinem Griechischen abgeben müssen, die Berufung Nietzsches sei als Nepotismus und unerhörte Bevorzugung eines Anfängers zu verurteilen, Nietzsche habe doch bei Rohde einiges über Dionysos gelernt (s. a. Anm. 9). Rohdes fortwährende Bezeichnung Wilamowitzens als einen Pasquillanten und dessen Schrift als ein Pasquill beruht wohl darauf, daß sowohl er wie auch Nietzsche in Wilamowitz nicht den eigentlichen Urheber des Angriffs erkennen wollten. 7 a

Auch in: 3 c, S. 65—111.

Eine der unmittelbaren Folgen von Nietzsches Erstling, die ihm auch sehr naheging, war das Ausbleiben der Philologiestudenten an der Universität Basel im Wintersemester 1872/73. Gegenüber 21 Hörern im Sommersemester hatte er nun nur zwei Hörer, einen Juristen und einen Germanisten.11 Zur sonstigen Aufnahme der „Geburt" in wissenschaftlichen Kreisen sei folgende Stelle aus einem Brief Nietzsches an Erwin Rohde vom 25. Oktober 1872 angeführt: „In Leipzig ist e i n e Stimme über meine Schrift: wie sie lautet, hat der brave und von mir sehr geachtete Usener in Bonn, vor seinen Studenten, die ihn gefragt haben, verrathen, ,es sei der bare Unsinn, mit dem rein gar nichts anzufangen sei: jemand, der so etwas geschrieben habe, sei wissenschaftlich todt'. Es ist, als ob ich ein Verbrechen begangen hätte; man hat zehn Monate jetzt geschwiegen, weil wirklich alles glaubt, so 11

Zu Weihnachten hatte Nietzsche eine Handschrift, die Arbeiten aus jenem Herbst und Winter enthielt, zum Geschenk an Cosima Wagner angefertigt; sie trägt das Datum vom 29. Dezember 1872: „Fünf Vorreden zu fünf ungeschriebenen Büchern". Die einzelnen Vorreden heißen: „Über das Pathos der Wahrheit" ; „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten"; „Der griechische Staat" ; „Uber das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie zu einer deutschen Cultur" ; „Homer's Wettkampf". Sonst waren erschienen : Τ Ein Neujahrswort an den Herausgeber der Wochenschrift „Im Neuen Reich". (MW 17. 1.1873, S. 38). U Der Florentinisdie Tractat über Homer und Hesiod, / ihr Geschlecht und ihren Wettkampf. / (Schluß von Bd. XXV S. 528 bis 540.) / III. Das Museum des Alcidamas. IV. Der Tod Hesiods nach Alcidamas. V. Die Uberlieferung des Certamen. (RhMus NF. 28. Bd., 1873, S. 211—249). Nachdem er im August 1872 diese Arbeit erhalten hatte, glaubte Ritsehl Nietzsche nun ins „alte vertraute sympathische Fahrwasser eingelenkt", worüber Nietzsche sidi sehr ärgerte.

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gänzlich über meine Schrift hinaus zu sein, daß kein Wort darüber zu verlieren sei. So schildert mir Overbeck den Eindruck aus Leipzig." Als letzte Stimme in der Auseinandersetzung mit den Fachgenossen erhob sidi dann nochmal die von Wilamowitz-Möllendorff im Februar 1873 in einer zweiten Gegenschrift: 8 Zukunftsphilologie! Zweites Stück, eine erwidrung auf die rettungsversudie für Fr. Nietzsches „geburt der tragödie". Bornträger. Bln. 1873. 24 S. Um einer Auseinandersetzung mit den vernichtenden Argumenten Rohdes auszuweichen, versucht der Verfasser wiederholt, ihm zu unterstellen, sein Glaube an die Behauptungen des Freundes sei nur geheuchelt. Sein Abwehrkampf gilt immer noch fast ausschließlich dem Buche Nietzsches und nicht den Stößen Rohdes, die ihn sicherlich recht empfindlich getroffen hatten. Wiederum erst am Schluß wird Ton und Heftigkeit von Angriff und Abwehr erklärlich, denn erst hier offenbart Wilamowitz den Urgrund seines Mißmutes: „mir ist die höchste idee die gesetzmäßige, lebens- und vernunftvolle entwicklung der w e i t . . . und hier sah ich die entwiddung der jahrtausende geleugnet; hier löschte man die Offenbarungen der philosophie und religion aus, damit ein verwaschener pessimismus in der öde seine sauersüße fratze schneide..." Der „sokratische Mensch" gebärdete sich letzten Endes dann doch noch recht dionysisch: „mein verletztes gefühl reagierte eben religiös".12 8 a Audi in: 3 c, S. 113—135. Um dieselbe Zeit erschienen zwei kurze, anonyme Anzeigen der „Geburt", ohne Erwähnung der Streitschriften von Wilamowitz und Rohde: 9 (LCB1 Bd. 24, Nr. 7 v. 15 .2. 1873, Sp. 194 f.). Als Verfasser vermutete Rohde Robert Zimmermann. 13 Als bezeichnend für das starre Befangensein in herkömmlichen Auffassungen, das den meisten Beurteilern ein Eingehen auf Nietzsches Gedanken verwehrte, so eigentlich auch Wilamowitz, mag der Schlußsatz der Anzeige hier angeführt werden: „Daß aber in Consequenz dieser geistreich schillernden Theorie der Verfall der griechischen Tragödie nicht etwa erst bei Euripides, dem Dichter der dem Verf. verhaßten ,Sokratik', sondern schon bei Sophokles begonnen haben soll, mag genügen, um unser Urtheil zu begründen, daß wir dem Resultate dieses übrigens in einem sehr hohen Stile geschriebenen Buches nicht zustimmen können." Sonst geht der Verfasser mehr auf die Fehlschlüsse von Nietzsches „Autoritäten", Wagner und Schopenhauer, als auf die Gedanken Nietzsches selber, ein. 10 (PA 5. Jg., Nr. 3, 1873, S .134—139). Dieser Beurteiler, dem das Buch im großen und ganzen als „versuch, die grund12

Um Wilamowitzens hierauf erfolgte Abneigung gegen Rohde zu verfolgen, s. a. : Mommsen und Wilamowitz. Briefwechsel 1872—1903. Bln. Weidmann 1935, S. 32 (1877), 80 (1880), 113 (1881); erst S. 187 (1884) findet sidi die Spur einer Wendung. " Zimmermann, Robert (Prag 2.11.1824 — ebd. 31.8.1898), Ästhetiker, 1861—1895 Professor der Philosophie an der Universität Wien, Verfasser einer „Geschichte der Ästhetik als philosophischer Wissenschaft", Wien. Braumüller. 1858, und einer „Allgemeinen Ästhetik als Formwissensdiaft", Wien 1865.

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läge für eine Zukunftsästhetik zu schaffen", die dann im Dienste der Wagnersdien „Zukunftsmusik" stünde, gilt, kann es sich dennodi nicht versagen, Nietzsche als einen „gelehrten, dem es an geist durchaus nicht fehlt, wie mancherlei einzelheiten des buches beweisen", zu bezeichnen. Am

16. April 1 8 7 3 hielt D r . C a r l Fuchs 1 4 einen V o r t r a g über die

„Geburt der Tragödie" auf der Leipziger Tonkünstlerversammlung

des

Allgemeinen Deutschen Musikvereins. Weitere Beachtung fand die „Geb u r t " noch im selben J a h r e an folgenden Stellen: 11 Seemann, O . S . , Die Geburt der Tragödie. (MLA 42. Jg., N r . 16 u. 17 v. 19. u. 26. 4 . 1 8 7 3 , S. 233 ff., 250 f.). Eine äußerst ablehnende Beurteilung, die meist Nietzsche selbst anführt, um ihn aber dabei in ungünstiges Licht zu stellen, und „des Pudels Kern" in der Gestalt Wagners sieht. 12 Dräseke, Johannes, Beiträge zur Wagner-Frage. (MW 4. Jg., Nr. 30 ff. v. 25. 7., 1. u. 8. 8 . 1 8 7 3 , S. 438—441, 453—456, 470 ff.). Verfasser beruft sich in diesem Angriff auf Bruno Meyer (s. Nr. 24) wiederholt auf die „Geburt", um „zugleich dadurch zu sorgfältigem Studium derselben zu reizen". 13 Falckenberg, Richard, 16 Nietzsche und Schletterer. (MW 4. Jg., Nr. 40 v. 3 . 1 0 . 1873, S. 580 f.). Vergleicht die „Geburt" mit H. M. Sdiletterers 1873 erschienener Schrift „Uber die Entstehung der Oper". Die Wurzel des Mißmutes des Augsburger Kapellmeisters liege darin, daß er in „keinerlei geistigem Rapport mit unserem Opernreformator (d. i. Wagner)" stehe, wogegen Nietzsche in „seinem gewaltigen Werke" mit Wagner „wie mit einem Gegenwärtigen verkehrt" habe. 14 Lange, Friedrich Albert, Geschichte des Materialismus und Kritik seiner Bedeutung in der Gegenwart. Iserlohn. J . Baedeker. 1873. 2., verbess. u. verm. Aufl. Bd. I, S. 133 f. ( = Anm. 44). Zur Einordnung von Sokrates unter die „gläubigen Reformatoren" wird in diesem Hauptwerk des Verfassers auf die „Geburt" hingewiesen: „Der apollinische Zug der sokratischen Geistesrichtung ist neuerdings in eigentümlicher Weise scharf hervorgehoben worden von Nietzsche, die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik (Leipzig 1872)." Die erste, einbändige Auflage des Werkes war noch ohne Anmerkungen erschienen, die zweite wurde dann u. a. um diese vermehrt.

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15

Fudis, Dr. Carl (1838—1922), Pianist und Musikschriftsteller, promovierte 1870 zu Greifswald mit einer Arbeit über „Präliminarien zu einer Kritik der Tonkunst", später Organist in der Petrikirche zu Danzig und von 1887-1920 Musikdirektor der „Danziger Zeitung"; Bekanntschaft mit Nietzsche seit 1872, beide trafen sich zufällig im Hause des Musikverlegers Fritzsdi, eine weitere Begegnung 1873 zu Naumburg, dann nur noch brieflich. Falckenberg, Richard (Magdeburg 23.12.1851 — Jena 28.9.1920), Philosoph, 1889 bis 1920 Professor in Erlangen, 1885—1917 Herausgeber der „Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik".

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In Nietzsches Briefwechsel taucht der Name David Friedrich Strauß erstmals in einem Brief von Cosima Wagner auf. Sie erwähnt ihn im abfälligen Sinne. Im darauffolgenden Monat, April 1873, erwähnt Nietzsche ihn zum ersten Male, in bezug auf Wilamowitzens Schrift, und schon am 18. des Monats schreibt er an Wagner von einer „Schrift gegen David Strauß unter den Händen". Infolge von Augenschwäche wurde das Druckmanuskript von Carl von Gersdorff angefertigt; die Schrift wurde im Juli bei C. G. Naumann gedruckt und erschien Anfang August 1873: II Unzeitgemässe / Betrachtungen / von / Dr. Friedrich Nietzsche, / ordenti. Professor der classisdien Philologie / an der Universität Basel. / Erstes Stück: / David Strauss / der Bekenner und der Schriftsteller. / Leipzig. / Verlag von E. W. Fritzsch. / 1873. 1.B1., 101 S. (Druck von C. G. Naumann in Leipzig). 8°. ( + 1 loses Blatt Berichtigungen).16 16

Exemplare in Händen von: Bülow, Deussen, Fuchs, Gersdorff, Hillebrand, Kelterborn, Kretzer, Krug, Liszt, Malwida, Mathilde Maier, Overbeds, Pinder, Rau, Ribbeck, Prof. u. Frau Ritsdil, Rohde, Romundt, Ida Rothpietz, Schuré, Senger, Tönnies (s. seine Darstellung, a. a. O., S. 6 f.: „In Leipzig (Wintersemester 1873/74) fand ich Nietzsches Unzeitgemäße Betrachtungen, erstes Stüde ,David Strauß, der Bekenner und der Schriftsteller'. Es bezog sich auf den mir wohlbekannten ,Alten und neuen Glauben'. Keineswegs die erste Kritik, die ich kennen lernte, aber die erste, die starken Eindruck auf midi machte. Eines Tages sah ich dann in einem Buchladen die zweite .Unzeitgemäße': ,Vom Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben*. Ich kaufte sie mir und war tief bewegt. Seitdem habe ich jedes Nietzsche-Werk gleich nach Erscheinen mir zu eigen gemacht, wenn auch mit allmählich abnehmender Begeisterung."), Treitschke und Wagner sowie an: Bauer, Bruno (Eisenburg/S.-Altenburg 6.9.1809 — Rixdorf/Bln. Neukölln 13.4. 1882), Junghegelianer und Jugendfreund von Karl Marx, habilitierte sich 1834 in Berlin für Theologie, 1839 in Bonn, 1842 wurde ihm wegen zu freier Ansichten die venia legendi entzogen; Baumgartner, Adolf (Lörrach 15.6.1855 — Basel 16.12.1930), seit 1873 Schüler Nietzsches am Pädagogium, seit Frühjahr 1874 Studium der Geschichte und klassischen Philologie an der dortigen Universität, leistete Nietzsche schon zu der Zeit Schreibeund Vorlesedienste, Herbst 1874 — Herbst 1875 Einjähriger in Bonn, Herbst 1875 — Herbst 1877 wiederum in Basel, jedoch die beiden Sommersemester 1876 und 1877 beim Militär in Danzig, erst im Wintersemester 1877/78 konnte er das mehrfach unterbrochene Studium vollaufnehmen, vorerst in Jena und Tübingen, dann ab 1880 wieder in Basel, wo er sich Juni 1881 habilitierte, später Professor der Geschichte ebendort; in einem Brief vom 17. 2.1878 schrieb er an Jacob Burckhardt: „Er (d. i. Nietzsche) hat zuerst in mir das große Rad umgedreht." (Emil Dürr, Adolf Baumgartner 1855—1930, in: Basler Jahrbuch 1932, S. 217); Ewald, Heinrich (1803—1875), in Göttingen, seit 1867 im Ruhestand; Gast, Peter (d.i. Johann Heinrich Köselitz, Annaberg 10.1.1854 — ebd. 15.8.1918), Komponist, sein Freund Widemann machte ihn um diese Zeit auch auf die „Geburt" aufmerksam. Nach einem zufälligen Treffen mit Overbeck bei dem Verleger Sdimeitzner in Chemnitz beschlossen beide, nadi Basel überzusiedeln, wo Gast von seiner Immatrikulation 1875/76 bis 1878 Vorlesungen vor allem bei Nietzsche, Overbeck und Burckhardt hörte; Keller, Gottfried (Züridi 19.7.1819 — ebd. 16. 7.1890);

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Infolge des Herbst 1874 erfolgten Verlagswechsels gibt es auch Exemplare mit dem Verlagszeichen von E. Sdimeitzner in Chemnitz.

Im Gegensatz zur „Geburt" erregte diese Schrift fast sofort ziemlidi große Aufmerksamkeit: 15

anonym, Vom „Bildungsphilister". ( M W 1873, S. 35 ff.).

Die Anzeige behauptet, daß, „wenn auch die specielle Polemik der Nietzsche'schen Sdirift von der ersten bis zur letzten Zeile bestritten werden sollte", seine Kennzeichnung des Bildungsphilisters unwiderlegt bliebe. Hierauf folgt über fünfeinhalb Spalten die Stelle aus dem Werk, die eben diese Kennzeichnung enthält. 16

anonym, Deutsche Kultur. (SchwV N r . 2 1 7 v. 13. 9 . 1 8 7 3 ) .

Eine Anzeige zu Nietzsches Buch sowie gleichzeitig zu Overbecks „Christlidikeit der heutigen Theologie". Eine sich der damaligen „liberalen Theologie" verschreibende, ablehnende Kritik des Nietzsdiesdien Werkes, die aber nicht umhin Kuh, Emil (Wien 13.12.1828 — Meran 30.12.1876), seit 1864 Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Wiener Handelsakademie; s. Kuhs Schreiben an Keller vom 14.11. 1873: „Ist Ihnen etwas über die Person des Professors Friedrich Nietzsche in Basel bekannt? Derselbe hat eine Schandbroschüre gegen Strauß geschnellt und ein wahnwitziges Buch über die .Geburt der Tragödie aus dem Geist der Musik' zu Ehren Ridiard Wagners, dieses betrunkenen Schulmeisters, geschrieben. Ich frage deshalb, weil ich vier Wochen angestrengter Arbeit an eine Kritik über Nietzsche schon gewendet habe, welche idi selbständig herauszugeben gedenke." sowie Kellers Antwortschreiben vom 18.11. 1873: „Das knäbisdie Pamphlet des Herrn Nietzsche gegen Strauß habe idi auch zu lesen begonnen, bringe es aber kaum zu Ende wegen des gar zu monotonen Schimpfstiles ohne alle positiven Leistungen oder Oasen. Nietzsche soll ein junger Professor von kaum 26 Jahren sein, Schüler von Ritsehl in Leipzig und Philologe, den aber eine gewisse Großmannssucht treibt, auf anderen Gebieten Aufsehen zu erregen. Sonst nicht unbegabt, sei er durch Wagner-Sdiopenhauerei verrannt und treibe in Basel mit ein paar Gleichverrannten einen eigenen Kultus. Mit der Straußbroschüre will er ohne Zweifel sich mit einem Coup ins allgemeine Gerede bringen, da ihm der stille Schulmeisterberuf zu langweilig und langsam ist. Es dürfte also zu erwägen sein, ob man einem Spekulierburschen dieser Art nicht noch einen Dienst leistet, wenn man sich stark mit ihm beschäftigt. Doch werden Sie wohl am besten selbst das Bedürfnis hierfür beurteilen. Ich halte den Mann für einen Erz- und Kardinalphilister; denn nur solche pflegen in der Jugend so mit den Hufen auszuschlagen und sich für etwas anderes als für Philister zu halten, gerade weil dieses Wähnen etwas so Gewöhnliches ist." (G. Keller, Ges. Briefe. Hg. v. Carl Helbing. Bern 1952. Benteli. Bd. 3, 1. Hälfte, S. 170 f.; zuerst in: Gottfried Kellers Leben. Seine Briefe u. Tagebücher. Hg. v. J. Baeditold. 2. Bd., 3. Aufl. Bln. 1897. W. Hertz, S. 121 f., dodi mit einer Lüdce im Briefe Kuhs). Mende, Oberpfarrer, dessen Sohn Theodor aus Seidenburg in der Oberlausitz ehemaliger Obergeselle Nietzsches in Pforta war; Meyer, Hugo (1837—1902), Jurist, Professor in Tübingen, ein Freund Overbecks; Nohl, Karl Friedrich Ludwig (1831—1885), durch Bülow; Plüß, Theodor, klassischer Philologe, Professor der Geschichte in Pforta, 1880—1907 Nachfolger Nietzsches am Basler Pädagogium; Widemann, Paul Heinrich, Komponist und Schriftsteller in Chemnitz, Freund Peter Gasts, Verfasser u. a. von : Über die Bedingungen der Obereinstimmung des discursiven Erkennens mit dem intuitiven, eine Untersuchung des Ursprungs der Formen und Gesetze des Denkens. E. Sdimeitzner. Chemnitz 1876.

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kann, wenigstens im Vergleich zu Overbeck, dem Verfasser eine gewisse „Sprachgewandtheit" zuzugestehen. 17 anonym, David Strauß und sein neuester Kritiker. (SchwGr Nr. 218 f. v. 15. u. 16. 9. 1873). Eine scharfe Ablehnung der Schrift des „Zukunftsprosaikers", da „unredliche Mittel und ernstes Pathos sich nicht mit einander vertragen", und der Verfasser, „erstere mit Händen greifen zu können", meint. 18 Hillebrand, Karl, Nietzsche gegen Strauß (AAZg N r . 265 f. v. 22. u. 23. 9. 1873). Verfasser weist in diesem Aufsatz anfangs auf Nietzsches „Homer" und „Geburt" hin, welche Werke deren Verfasser als ernsthaft ausweisen müßten. Sonst sieht er in dem neuesten Werke das „Banner deutscher Humanität" gegen die „Beschränkung nationaler Selbstbewunderung" erhoben und nennt die Sprache „geistreidi, lebendig, gedrängt". Bekritteln will er nur Nietzsches Auffassung der Kultur als Einheit der Form und seine Feindschaft gegen Hegel, dem seit der Entdeckung Schopenhauers nun eine rechte Würdigung gebühre. Diese ist die erste Stellungnahme, die Nietzsches Wollen überhaupt zu ahnen scheint. 18 a Unter dem Titel: Einiges über den Verfall der deutschen Sprache und der deutschen Gesinnung. (Bei Gelegenheit einer Schrift von Dr. Friedrich Nietzsche gegen David Strauß) in: Κ. H., Zeiten, Völker und Menschen. 2. Bd: Wälsches und Deutsches. Oppenheim. Bln. 1875, S. 291—310. Im Tone durchgehend und merklich gemildert; die Zustimmung zum Inhalt wie auch zur Form des Werkes ist stark eingeschränkt. 18 b bis 299.

Dass., 2. verbess. u. verm. Aufl. Straßburg. K . J . Trübner 1892, S. 281

18 c Unter dem Titel: Sprachverfall und Gesinnungsverfall? in: Κ. H., Abendländische Bildung, hg. v. J. Hofmiller. Langen. Mdin. o. J. (1924), S. 86 bis 100. Unverändert. 19 anonym (BasN Beilage z. Nr. 226 v. 24. 9.1873). Ablehnende Anzeige, da die meisten nicht gewillt seien, die geschilderte Kulturlosigkeit der Zeit zuzugeben noch den großen Strauß, vor dem sie immer noch trotz seiner Unheimlichkeit Achtung haben, von einem jungen Gelehrten angegriffen zu sehen. 20 anonym, Friedrich Nietzsche und sein neuester Kritiker. (SchwGr v. 25. 9. 1873). Eine Entgegnung auf den etwas früher erschienenen Aufsatz „David Strauß und sein neuester Kritiker" (s. Nr. 17). Mit Bezug auch auf Stellen aus der „Geburt" verteidigt der Verfasser den Ernst Nietzsches und die Riditigkeit von dessen Feststellungen gegen Strauß. Er versetzt auch dem Verfasser der Anzeige im „Volksfreund" (s. N r . 16) einen Seitenhieb.

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21 B. F.,17 Herr Friedrich Nietzsche und die deutsche Cultur. (Gr 32. Jg., 2. Semester, 2. Bd. Okt. 1873, S. 104—110). Eine sehr beißende Verurteilung der „ersten Unzeitgemäßen", in der Basel unter die „ Winkeluniversitäten " geredinet und Nietzsches Berufung als „Kunststück Ritschis" bezeichnet werden. Es werden vor allem zwei Seiten des Werkes als besonders anrüchig beleuchtet: die Form des Angriffes auf Strauß und die „Gehässigkeit des Verfassers gegen deutsches Staats- und Gesellschaftsleben". 22 anonym, David Strauß und sein neuester Kritiker. II. (SchwGr v. 3.10. 1873). Eine Erwiderung auf den Aufsatz in der „Grenzpost" (s. Nr. 20) und erneute scharfe Ablehnung der „ersten Unzeitgemäßen" unter Erwähnung auch der Besprechung von Hillebrand (s. Nr. 18). 23 anonym (SchwV v. 8.10.1873). Unter den örtlichen Nachrichten findet sich diese Zurückweisung der ebenfalls im „Volksfreund" erschienenen Ablehnung der „ersten Unzeitgemäßen" (s. Nr. 16). Der Schreiber dieser als „Einsendung" bezeichneten Bemerkungen findet, daß Nietzsche die Schweizer nicht mit in seine Verurteilung der „deutschen Cultur" einbezogen habe. Eine solche Vermengung der Schweiz mit Deutschland habe vielmehr Strauß sich zu Schulden gemacht. Die „erste Unzeitgemäße" habe aber zu „ernsthaftem Nachdenken angeregt", man blicke durch sie „in den geistigen Lebensstrom einer tüchtigen Persönlichkeit". 24 Meyer, Bruno, Beiträge zur Wagner-Frage. In eigener Sache. (DW 5. Bd., 11. H e f t v. Nov. 1873, S. 641—673). Verfasser verteidigt sich hiermit gegen die Vorwürfe des Herrn Dräseke (s. N r . 12). Er weist mehrfach und eingehend auf Dräsekes Abhängigkeit von Nietzsche hin, unter Anführung der „Geburt" und der inzwischen erschienenen „ersten Unzeitgemäßen", worin er „Phrasenkram" und „apollinisdi-dionysischhybride Gedankenverbergungskünste" feststellt. Jene Nietzschesche Theorie von der Geburt der Tragödie sei nicht mehr als „eine Fiction, die erfunden und behauptet" worden sei, „um Wagner's Neuerungen zu stützen". Er müsse denjenigen „für einen Feind der Cultur erklären, der den Baum unseres modernen Lebens zu entwurzeln droht". 24/1 Hoffmann, Franz, (ALAED 12. Bd., Nov.- u. Dez.-heft 1873, S. 321 bis 336, 401—408).«° 17

Hinter den Buchstaben „B. F." sind folgende Verfasser vermutet worden: Dr. Hans Blum, geb. am 8. 6.1841 zu Leipzig, Sohn von Robert Blum und früherer Reidistagsabgeordneter, Redakteur der „Grenzboten" von 1871—1878; Dr. Bernhard Förster, späterer Gatte der Sdiwester Nietzsches; s. hierzu: Ernst Jäckh, Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauß. Beiträge zur „modernen Kultur", in: Ρ Bd. 9, 1909, S. 237 Anm. 170 Hoffmann, Franz Karl (Aschaffenburg 19.1.1804 — Würzburg 22.10.1881), hörte in München seit 1826 bei Franz von Baader, dessen Schüler und Herausgeber er auch später wurde, 1834 Professor der Philosophie am Lyzeum zu Amberg, 1835—1877 an der Universität Würzburg.

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Als Anhänger Franz von Baaders und Herausgeber von dessen Schriften freut sich der Verfasser, daß sich hier Schopenhauer und Strauß befehden. Von Baader habe eben „in allen Hauptsachen in tiefsinniger Wahrheitserkenntnis unsere größten Forscher überflügelt". Sonst hat Verfasser viel Rühmliches zum Nietzscheschen Werke zu sagen: es sei „eine Kritik, welche große Beachtung" verdiene, er habe den „ausgezeichnet trefflichen Stil Schopenhauers sich in durchaus eigentümlicher Weise angeeignet". Fast prophetisch klingen folgende, fast am Schluß stehende Worte: „ . . . wenn das zürnende Niederdonnern des greisenhaft und matt gewordenen Strauß nicht verflackerndes Strohfeuer ist, sondern aus einem wirklich energischen, von großer Begabung getragenen Quell hervorsprudelt, so kann die Ausbildung seines Atheismus zu einer folgenreichen Krisis führen." 24/la Dass, in: F. H., Philosophische Schriften. Bd. 5. Erlangen. A. Deidiert. 1878, S. 409—447. Bis auf drei unwesentliche Kürzungen unverändert. Eine einleitende Anmerkung der Redaktion, in der die „Unzeitgemäße" als „unzweifelhaft eine der originellsten und gehaltvollsten Entgegnungen" bezeichnet wurde, ist auch weggefallen. 25 Binder, Gustav (Schönthal),18 Herr Nietzsche. (Geg 4. Bd., Nr. 49—52 v. 6., 13., 20. u. 27.12.1873, S. 362 f., 375 ff., 402 ff., 420 f.). Hervorgerufen angeblich nicht so sehr durch Nietzsches Schrift gegen Strauß, als vielmehr durch deren „schallverstärkende Fortpflanzungen" in Deutschland, nämlich Hillebrands Aufsatz (s. Nr. 18), übertrifft der Verfasser noch Wilamowitz an Schimpffreude. Seine Verurteilung geht von der Überzeugung aus, daß Nietzsche eigentlich „gar nicht weiß, wen er in Strauß vor sich hat". 26 (Pfarrer H. Lang), Zwei seltsame Käuze. (R 2. Jg., Nr. 25 v. 13.12.1873, S. 451—455). In dieser Doppelbesprechung von Overbecks „Christlichkeit" und Nietzsches „erster Unzeitgemäßen" geht es dem reformgläubigen Verfasser darum, der „Baslerischen Rechtsgläubigkeit" einen Schlag zu versetzen, indem er auf die Unstimmigkeit von „Kanzel" und „Katheder" aufmerksam macht. Doch ist es bemerkenswert, daß er dem Nietzscheschen Werke, das er „mit dem größten Interesse" und „mehr als ein Mal" gelesen habe, dennoch die meisten Worte widmet (S. 452—455). Im Oktober 1873 wurde Nietzsche auf Vorschlag Wagners von dem Wagnerverehrer Emil Heckel aufgefordert, einen „Mahnruf an die Deutschen" zugunsten der Wagnersache zu verfassen. E r wurde in wenigen Tagen vollendet, und Nietzsche ließ auch eine Anzahl Exemplare bei Bonfantini in Basel drucken, die aber, obwohl er eins an Carl von Gersdorff

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Binder, Gustav, Sohn des gleichnamigen, langjährigen Freundes von Strauß, damals Professor am evangelisch-theologischen Seminar in Schönthal.

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1874 Die zweite unzeitgemäße Betrachtung

schickte, nur als Werkexemplare dienen sollten. 19 Anfang November wurde der „Mahnruf" in Bayreuth von den Delegierten der Wagnervereine zugunsten eines milderen, von einem Professor Stern geschriebenen, abgelehnt. Im neuen Jahr setzte sich dann die Kritik fort: 27 anonym (NEK Nr. 1 v. 3. 1.1874, Sp. 14 ff.). In einer „Anti-Strauß" betitelten Besprechung des Buches „Dr. Fr. Strauß' alter und neuer Glaube und seine literarischen Ergebnisse. Zwei kritische Abhandlungen von L. W. G. Rauwenhoff und Fr. Nippold", in dessen Anhang „nicht weniger als vierzig abweisende Kritiken" von Seiten der „Naturwissenschaft und Philosophie, Nationalökonomie und Staatswissenschaft, Kunst-, Kultur- und Literaturgeschichte, des Judentums, der Freien Gemeinde und des Altkatholizismus" aufgeführt und begrüßt werden, fügt der Verfasser drei im Buche nicht beachtete Anti-Strauß-Schriften hinzu, darunter Nietzsches „erste Unzeitgemäße", der er dann den größten Raum gewährt. Er findet die Sdirift eine „derbe Geißel des Satirikers", der hier „vernichtend" wirke, meint jedoch, daß darunter auch „ein tiefer Ernst" verborgen sei. 27/1 anonym (Theologischer Jahresbericht. Wiesbaden. 9. Jg., 1874, Nr. 7, S. 306 f.). In dieser Sammelbesprechung dreier Werke über Strauß wird der „ersten Unzeitgemäßen" wiederum der größte Raum gewährt, obwohl der Verfasser sich zum Sdiluß davon „mit Widerwillen wegwenden" zu müssen glaubt. „Der Schlüssel zur Erklärung solches unklaren und wilden Gebahrens dürfte darin gegeben sein, daß Hr. N. Anhänger Schopenhauer's i s t . . . " Verfasser spricht als „Patriot und Christ" und kann, obwohl er einiges wenige an der Schrift bejahenswert findet, nicht umhin, sie als „Beispiel der Classicität" abzulehnen: „Sie strotzt von Fremdwörtern, für deren Begriffe die besten deutschen Ausdrücke nahe genug liegen, und pleonastische Zusammenstellungen, wie ,Bildung und Cultur' möchten auch nicht zu den Eleganzen gehören." A m Anfang des Jahres 1874 hielt Theodor Plüß, Professor der Geschichte in Pforta, einen Vortrag „über Fr. Nietzsches ,Geburt der Tragödie' und .Unzeitgemäße Betrachtungen'" vor der „Litteraria in Naumburg". 2 0 In einem Brief vom 27. Oktober 1873 an von GersdorfF fällt die erste Erwähnung einer „zweiten Unzeitgemäßen", die dann im Januar fertig 19

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V Mahnruf an die Deutschen. 1 Doppelbl. 4 S. gr. 8°. (ohne Namen, Verlag und Jahreszahl). Heckel, Emil (1831—1908), Inhaber einer Musikalienhandlung u. Pianofortefabrik in Mannheim, Vorstand der Wagnervereine, s. den Brief Wagners an ihn v. 2 3 . 9 . 1 8 7 3 , abgedruckt in: Briefe Richard Wagners an Emil Heckel. Zur Entstehungsgeschichte der Bühnenfestspiele in Bayreuth. Hg. v. Karl Heckel. Bln. S. Fischer 1899, S. 66 sowie ebd., S. 68 f. BAB IV, S. 375 (Nadibericht) erwähnt, daß Plüß einen Vortrag über die „Geburt der Tragödie" gehalten habe. S. hierzu aber neben den brieflichen Äußerungen Nietzsches auch: Album der Litteraria in Naumburg a. d. Saale. 1896, S. 83 f.

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wird und Ende Februar erscheint; da aber Nietzsches Augenleiden sich gerade wieder merklich verschlimmert hatte, schrieb von Gersdorff den Text für das Druckmanuskript ab, und Rohde las dann die Korrekturbogen: 21 I I I Unzeitgemässe / Betrachtungen / von / Dr. Friedrich Nietzsche, / ordenti. Professor der classischen Philologie / an der Universität Basel. / Zweites Stück: / Vom Nutzen und Nachtheil / der Historie für das Leben. / Leipzig. / Verlag von E . W. Fritzs di. / 1874. VI, 111 S. 8 ° . « Infolge des im Herbst des Jahres zustande gekommenen Verlagswechsels gibt es audi Exemplare mit der Verlagsfirma E . Schmeitzner in Chemnitz. In zweierlei Hinsicht reagierte Nietzsche in dieser Schrift auf die wohlwollende Kritik Hillebrands (s. N r . 18): er blieb bei seiner Forderung nach einer einheitlichen Kultur, die „ohne Trennung von Innen und Außen" eine „Einhelligkeit zwischen Leben, Denken, Scheinen und Wollen" herstelle, und er setzte seinen Angriff auf Hegel und die ,Hegelei' fort.

Im selben Monat erschien eine Besprechung von Band I X der Gesamtausgabe von Grillparzers Werken, worin Nietzsche auch bedacht wurde: 28

Fuchs, Dr. Carl, Gedanken aus und zu Grillparzer's Aesthetischen Studien.

( M W 5. Jg., N r . 9, 1 1 — 1 3 v. 2 7 . 2 . , 13., 20. u. 27. 3 . 1 8 7 4 , S. 105 ff., 129 ff., 145 ff., 1 6 1 — 1 6 4 ) .

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Entgegen Gersdorffs eigener späterer Behauptung (s. Die Briefe d. Frhn. C. v. Gersdorff an Fr. Nietzsche. Tl. IV, S. 63, dazu Anm. 296), die Unzeitgemäßen zwei bis vier seien ohne seine Mitwirkung zustande gekommen. Exemplare waren in den Händen von: Bülow, Burckhardt, Cosima, Gast, Gersdorff und dessen Vater, Kelterborn, Liszt, Malwida, Mathilde Maier, Hugo Meyer, Rau, Ida Rothpietz, der Schwester, Tönnies (s. Anm. 16), Treitschke, Wagner und Widemann sowie von: Förster, Bernhard (Delitzsch 3 1 . 3 . 1 8 4 3 — Paraguay 3.6.1889), Dr. phil., Gymnasiallehrer in Berlin und dann Neusiedler in Paraguay, seit 1885 Schwager Nietzsches; Guerrieri-Gonzaga, Emma, Marchesa in Florenz; Mauthner, Fritz (Horsitz b. Königsgrätz/Böhmen 22.11.1849 — Meersburg 29. 6.1923), er schrieb in einem Aufsatz „Friedrich Nietzsche" in der „Nation", 1894, S. 582 (s. Nr. 191): „Im Jahre 1874 veröffentlichte er als zweites Stück seiner unzeitgemäßen Betrachtungen die Broschüre: ,Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben'. Ich erinnere mich noch genau, welch starken Eindruck dieser Schüler Schopenhauers auf unseren kleinen Kreis machte, und ich kann die Bemerkung nicht unterdrücken, daß dieser Eindruck auf uns von den späteren, berühmteren Schriften nie wieder erreicht worden ist." S. a. etwas ausführlicher, u. a. auch über die „Geburt" und die „erste Unzeitgemäße", in: F. M., Erinnerungen. I. Präger Jugendjahre. 1918. Mchn. G. Müller, S. 219—226, sowie in: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Hg. v. Dr. Raymund Schmidt. (3. Bd.) Lpz. Felix Meiner, 1922, S. 127: „Kein Philosophieprofessor war in der Hauptsache mein Lehrer gewesen, nur etwa der philosophierende Dichter Nietzsche und der Positivist Ernst Mach . . . " und S. 128, wo er Nietzsche als den bezeichnet, der ihn „vom wortabergläubischen Historismus befreit" habe.

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1874 Zur Geburt und ersten Unzeitgemäßen

Der Verfasser ergreift diese Gelegenheit, um auf Nietzsches „Geburt" sowie auf Wagners „Beethoven" und seine eigenen „Präliminarien zu einer Kritik der Tonkunst" als auf „ästhetische Betrachtungen aus Schopenhauersdier Sicht" hinzuweisen. Sonst stellt er Nietzsche als „Goethenatur" anstatt als „Kantnatur" hin und erwähnt audi seine „Lutherisch kräftige erste ,Unzeitgemäße'", dabei weist er die Angriffe in der „Gegenwart" (s. Nr. 25) und die in den „Grenzboten" (s. Nr. 21) entschieden zurück. Als mit Nietzsches „Geburt" gesinnungsverwandt gedenkt er auch Overbecks „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie". Ebenfalls am Jahresanfang erschien eine längere Besprechung der „Geburt", die auch der beiden Gegenschriften von Wilamowitz und des Verteidigungsversuches von Rohde gedachte: 29 Guhrauher, Heinrich (Breslau), (NJKPP 44. Jg., Bd. 109, H. 1, 1874, S. 49—63). Verfasser findet, daß schon durch die Art der Darstellung das Buch „außerhalb der Reihe philologischer, ja wol überhaupt außerhalb der streng wissenschaftlicher Werke" anzusetzen sei, es gehöre vielmehr „in die Kategorie der Wagner-Litteratur". Nietzsches „künstlerische Cultur" sei nichts weiter als „wieder aufgewärmte, ins musikalische übersetzte Novalis-Schlegelsche Romantik". Sonst redet der Verfasser fast überall Wilamowitz das Wort, geht aber im einzelnen auf die Streitschriften überhaupt nicht ein. Sodann folgten eine kürzere Anzeige der „ersten Unzeitgemäßen" sowie deren Erwähnung zum Schluß einer Sammelbesprechung von fünf Werken zu „Strauß" und zu dessen „alten und neuen Glauben": 30 Richter, Dr. Arthur, (ZPhK Bd. 64, 1874, S. 153—158). Diese erste Stimme zur „ersten Unzeitgemäßen" aus ausdrücklich christlidiem Lager ist durchaus zustimmend, wenn auch mit Einschränkungen, besonders zu Nietzsches Äußerungen über die Kulturlosigkeit der Deutschen. Die Schrift wird „originell, geistreich, geistvoll, charaktervoll" genannt. 31 (LCB1 Bd. 25, Nr. 19 v. 9. 5.1874, Sp. 618—622). Verfasser bezeichnet Nietzsches Auftreten als „gespreiztes Geckentum", falls es überhaupt nottue, darüber ein Wort der Entrüstung zu verlieren. Aus der Feder Karl Hillebrands stammte die erste und auf lange Zeit hin einzige Besprechung der „zweiten Unzeitgemäßen" : 32 Hillebrand, Karl, Über historisches Wissen und historischen Sinn (NFPr Morgenbll. Nr. 3542 u. 3544 v. 7. u. 9. 7. 1874). Sieht in Nietzsche einen der „geistvollsten und muthigsten Häuptlinge" einer neuen „Schaar von Stürmern und Drängern", dodi nicht den Herder. Er nennt ihn „talent- und geistvoll, selbstdenkend und erregt" und seine Sprache „lebendig, originell" und „stellenweise hinreißend"; mit wiederholten Einschränkungen, aber wiederum dem zugrunde liegenden Wollen Nietzsches zustimmend. Die Redaktion glaubte eine Rechtfertigung beifügen zu müssen, die durch Nietzsches Behandlung des „berühmten Kritikers" David Strauß veranlaßt worden sei: „Wenn wir nun die folgenden Feuille-

1874 Verlagswechsel/Zur „zweiten Auflage" der Geburt

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tons geben, so geschieht es weniger um der besprochenen Schrift, als um der geistvollen Reflexionen willen, die unser geehrter Mitarbeiter an dieselbe anknüpft." 32 a Auch in: 18 a, S. 311—338. Leidit geändert, doch entschieden gemildert in der Zustimmung. 32 b Auch in: 18 b, S. 330—326. Unverändert. 32 c Unter dem Titel: Überschätzen wir die Geschichte? in: 18 c, S. 100—120. Unverändert.

Im Juli 1874 leitete sich ein Verlagswechsel ein, da, wie Nietzsche an den neuen Verleger Ernst Schmeitzner schrieb, „private Verhältnisse es dem Fritzsch wünschenswert machten, seine gesamte Verlegerthätigkeit zu sistiren". Jener hatte sich ganz von selbst Mitte Juli als neuer Verleger angeboten. Bei dem Verlagswechsel ging es vorerst um die Fortsetzung der „Unzeitgemäßen"; erst gegen Ende Oktober desselben Jahres gingen die Restbestände der beiden ersten Stücke in den neuen Verlag über. Es sind nun vermutlich diese Vorgänge, die Nietzsche Einblick in den bisherigen buchhändlerischen Erfolg seiner Werke gewährten. Im November 1874 schrieb er enttäuscht an die Schwester, daß von der „ersten Unzeitgemäßen Betrachtung" erst „c. 500", von der „zweiten kaum 200" Exemplare verkauft worden und daß von der „Geburt" noch „ein paar hundert Exemplare übrig" seien. Aus dem zuletzt erwähnten Grund sollte auch die zweite Auflage der „Geburt", deren Zustandekommen erstmalig schon im April 1872 erwähnt, zu der die nötigen Änderungen und Korrekturen dann Ende Januar 1873 an den Verleger Fritzsch geschickt worden waren und die seit Juli fertig gedruckt lag, noch nicht erscheinen. Der Druck hatte sich infolge eines Druckerstreiks und der inzwischen gedruckten „ersten" und „zweiten Unzeitgemäßen" so lange hinausgezögert. Trotz der wiederholten Erwähnungen der zweiten Auflage der „Geburt" in den Briefen Nietzsches ist aber anzunehmen, daß der Drude erst im März 1874 begonnen (s.d. Brief Nietzsches an Rohde v. 31.12. 1873) und frühestens im Juli 1874 beendet wurde (s.d. Brief Nietzsches an Schmeitzner v. 15. 7. 1874). Diese zweite Auflage sollte aber erst dann an die Öffentlichkeit, wenn die übrigen Exemplare der ersten Auflage verkauft worden wären. Es ist sehr fraglich, ob diese Exemplare, d. h. solche mit unüberklebter Verlagsangabe: „Leipzig. Verlag von E. W. Fritzsch. 1874", jemals regelrecht in den Handel gelangt sind.23 Daß Fritzsch die „Geburt" weiterhin im Verlage behielt, jedenfalls a

S. hierzu: Kayser, Bücher-Lexicon. Bd. 20. 1871 bis 1876. Lpz. T. O. Weigel 1877, S. 199: „Nietzsche, Friedr., die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, gr. 8. (IV, 143 S.) Leipzig 872. Fritzsch." sowie: dass., Bd. 22. 1877—1882. 1883: „Nietzsche, Frdr., die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. 2. Aufl. gr. 8. (IV, 144 S.) Leipzig 874. Chemnitz, Schmeitzner."

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1874 Die dritte unzeitgemäße Betrachtung

b i s i n d a s F r ü h j a h r 1 8 7 8 hinein, e r h e l l t aus e i n e m B r i e f O v e r b e c k s

an

N i e t z s c h e v o m 9 . 3 . 1 8 7 8 (s. Fr. N i e t z s c h e s B r i e f w e c h s e l m . F r a n z O v e r beck. H g . v . R . O e h l e r u. C . A . B e r n o u l l i . Insel. L p z . 1 9 1 6 , S. 7 3 ) . E i n e Ü b e r s e t z u n g der „ G e b u r t " ins Französische, d e r e n erste E r w ä h n u n g i n d e n Juli 1 8 7 2 f ä l l t u n d d i e durch d i e G r ä f i n D i o d a t i b e i G e n f b e s o r g t w e r d e n sollte, ist nicht v e r w i r k l i c h t w o r d e n . V o n einer b e v o r s t e h e n d e n Ü b e r s e t z u n g ins Italienische, e r w ä h n t i n e i n e m B r i e f v o m 5 . O k t o b e r 1 8 7 2 , ist auch nichts m e h r l a u t g e w o r d e n . I n d e r z w e i t e n J a h r e s h ä l f t e 1 8 7 4 e r h e b t sich d a n n d i e l e t z t e S t i m m e i n dem Meyer-Dräseke-Streit: 33 Dräseke, Dr. Johannes, Beiträge zur Wagner-Frage. (MW 5. Jg., N r . 33, 3 4 u. 36 v. 14., 21. 8. u. 4. 9 . 1 8 7 4 , S. 403 ff., 418 ff., 4 3 8 — 4 4 2 ) . U . a. verteidigt er geflissentlich Nietzsdies „Geburt" und „erste Unzeitgemäße" gegen die Angriffe Meyers (s. N r . 24), diesmal unter Heranziehung der Streitschriften von Rohde und Wilamowitz. E n d e F e b r u a r 1 8 7 4 fiel d i e erste E r w ä h n u n g e i n e r „ d r i t t e n

Unzeit-

g e m ä ß e n " , d i e d a n n i m S e p t e m b e r f e r t i g w u r d e u n d i m O k t o b e r erschien: I V Unzeitgemässe / Betrachtungen / v o n / Dr. Friedrich Nietzsche, / ordenti. Professor der classischen Philologie / an der Universität Basel. / Drittes Stück: / Schopenhauer als Erzieher. / Verlag v o n Ernst Sdimeitzner. / 1874. 113 S., 1 Bl. ( = Berichtigungen). 8°. 2 4

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Exemplare in Händen von: Dittmar, Gast, Gersdorff, Emma Guerrieri-Gonzaga, Kelterborn, Krüger, Krug, Malwida, Mathilde Maier, Olga Monod, Rau, Rohde, Ida Rothpietz, Tönnies, Treitschke, Wagner, Widemann und durch Bülow (der am 19.11.1874 von London aus an Karl Hillebrand schrieb: „Wie gefällt Ihnen Nietzsche's dritte Predigt? Einiges nicht übel — aber im Ganzen too thin, wie der Yankee sagt. Ich habe ihm gerathen, er solle Leopardi's Prosa verdeutschen. Das würde sidi .zeitgemäßer betrachten' lassen." in: H . v. Bülow, Briefe u. Schriften. Hg. v. M. v. Bülow. 6. Bd. Lpz. Breitkopf u. Härtel 1904, S. 232) an: Dannreuther, Eduard (Straßburg 4.11.1844 — London 12.2.1905), seit 1863 in London lebend, erwarb sich große Verdienste um die Einbürgerung von Wagners Musik in England, 1872 hatte er die Londoner Wagner Society gegründet, deren Konzerte er leitete; Hueffer, Dr. Franz, Leipziger Studiengenosse Nietzsches, schrieb damals für deutsche Zeitungen audi Berichte über das Londoner Musikleben; sonst Bekanntschaft mit der Schrift bei: Arnold, Carl Franklin, Sohn eines Missionars in Amerika und Pflegesohn des Bremer Patriziers C. H . Gildemeister (s. Tönnies' Selbstdarstellung, a. a. O., S. 205 : „Im November 1874 schrieb mir Arnold aus Königsberg: ,Was sagst Du zu Nitzsdies (so) neuestes Werk?' (es wird .Schopenhauer als Erzieher' gewesen sein). Dieselben Widersprüche die im Schopenhauer stecken. Mir geht es so, daß ich ihm bald die Hand drücken möchte und ihm sagen: ,Ja! ganz das fühle ich ja auch und will ich ja auch!' — Und dann wieder möchte ich, daß ich einen Köcher hätte voll der allerspitzesten Pfeile schneidigster Satire, zu zeigen, daß das was er sagt, Lüge ist, daß er sich selbst belügt, und andere, aber n i c h t ohne Schuld.*");

1874 Zur dritten Unzeitgemäßen

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Infolge des im Sommer 1886 erfolgten Verlagswechsels gibt es Exemplare dieses Werkes mit der Firma E. W. Fritzsch in Leipzig ohne Jahreszahl. E i n e U b e r s e t z u n g dieser „ d r i t t e n U n z e i t g e m ä ß e n " i n s F r a n z ö s i s c h e durch M a r i e B a u m g a r t n e r , schon i m D e z e m b e r 1 8 7 4 a n g e f a n g e n u n d v o n N i e t z s c h e „ i n Betreff des G e d a n k e n s r e v i d i r t " , w u r d e A n f a n g F e b r u a r 1 8 7 5 fertig, g e l a n g t e aber nicht i n d e n D r u c k . K a r l H i l l e b r a n d h i e l t auch diese „ d r i t t e U n z e i t g e m ä ß e " einer B e sprechung w e r t , d i e i m N o v e m b e r 1 8 7 4 e n t s t a n d u n d k u r z d a r a u f erschien: 34 Schopenhauer und das deutsche Publikum. ( A A Z g N r . 352 v. 18. 1 2 . 1 8 7 4 ) . Nietzsches Schrift dient dem Verfasser „nur zum Anlaß ein paar Worte zur Verständigung über den Denker und Schriftsteller" Schopenhauer zu sagen. Er behauptet, Nietzsche schieße weit über sein Ziel hinaus und mache sich der schreiendsten Ungerechtigkeit gegen den deutschen Gedanken, namentlich in der Gestalt Hegels, schuldig. Aus den von Nietzsche angegriffenen Zeitgenossen nimmt er Zeller heraus, u m ihn zu loben. Sonst will er die „gemeinverständlichen Schriften des genialen Denkers (d. i. Schopenhauers), seine geistreichen Beobachtungen über Menschen und Dinge — Leidenschaften, Handlungen, Zustände, Schicksal, Kunst, Wissenschaft, Staat, R e l i g i o n . . . in der Bibliothek jedes gebildeten Deutschen stehen" sehen. 34 a 34 b 34 c

Auch in: 18 a, S. 353—366. Unverändert. Auch in: 18 b, S. 341—354. Unverändert. Unter dem Titel: Was ist uns Schopenhauer? in: 18 c, S. 120 bis 129.

Baumgartner-Köchlin, Marie (Mühlhausen 1831 — 3. 7.1897), heiratete den ebenfalls aus Mühlhausen stammenden Chemiker und Teilhaber der Baumwolldruckerei Koedilin in Lörrach, Jacob Baumgartner (1815—1890), und wurde dadurdi deutsche Staatsbürgerin, bei immer nodi starker innerer Verbindung mit ihrer früheren Heimat und intensivem Kontakt mit dem zeitgenössischen literarischen Frankreich. Durch ihren Sohn Adolf gewann sie Anfang November 1874, zunächst brieflich, Verbindung mit Nietzsche, dessen Protest gegen die deutsche Kultur sie mit verhaltener Leidenschaft teilte; Brenner, Albert, stud, jur., geb. 1856 zu Basel, gehörte, nachdem er am dortigen Pädagogium Schüler Nietzsches im Griechischen gewesen war, auch zu dessen Universitätshörern, verbrachte den Winter 1876/77 zusammen mit Malwida von Meysenbug, Nietzsche und Rèe in Sorrent, kehrte im April 1877 zur Wiederaufnahme seiner Studien nach Basel zurück, sein Lungenleiden verschlimmerte sich im darauffolgenden Winter und er starb im Mai 1878; Harnack, Adolf von (Dorpat 7. 5.1851 — Heidelberg 10. 6.1930), Dozent der Theologie in Leipzig, später Kirchenhistoriker, Professor in Gießen, Marburg und Berlin; Liditenstein, Rudolf, Fürst, geb. 1800, damals in Wien, Verehrer Wagners und dessen Musik; Möbius, Paul Julius (Leipzig 24.1.1853 — ebd. 8.1.1907), Nervenarzt und medizinischer Schriftsteller in Leipzig; Opitz, Theodor, Übersetzer der Werke von Petöfi; Pfleiderer, Eduard von (1842—1902), Professor der Philosophie in Kiel, später in Tübingen; Stein, Heinridi Marcus, geb. 1828, Direktor des Gymnasiums in Oldenburg; Thurneysen-Gemuseus, Eduard, Präsident des Appellationsgeridits in Basel.

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1875 Zur esten und dritten Unzeitgemäßen

Zu Anfang des Jahres 1875 erschien, ohne Namensnennung des Verfassers, eine recht ablehnende Besprechung von Strauß' „altem und neuem Glauben"; in einem kurzen Anhang zu dieser Besprechung wurde neben einer Schrift von J . B. Meyer auch Nietzsches „erste Unzeitgemäße" erwähnt: 35 (ZEPh 11. Jg., 1875, S. 65—76). Die Nietzsche betreffende Stelle auf S. 75 f. Darauf ließen sich weitere Stimmen zur „dritten Unzeitgemäßen" vernehmen, u. a.: 36 Langen, H. (Seminar-Direktor in Eltern), Schopenhauer. (ThLBl Bd. 10, 1875, Nr. 14, Sp. 328 ff.).240 Erschöpft sich in einer Inhaltswiedergabe, um mit der Behauptung zu schließen: „Hauptaufgabe der Erziehung ist die Verwirklichung in den Menschen der unvergänglichen Ideen des Christentums." 37 Ascher, David, Eine neue Stimme über Schopenhauer. (B1LU Nr. 28, Juli 1875, S. 443 ff.). Nietzsche durchaus zustimmend, meint der Verfasser, das Buch gemahne an die Schriften eines Carlyle und Emerson. 38 Riimelin, Gustav (Kanzler der Universität Tübingen), in seinen: Reden und Aufsätze. Tüb. 1875. H. Laupp. VII, 454 S. In den „Kleine Betrachtungen und Bekenntnisse vermischten Inhalts" befindet sich als Nr. 8 ein Aufsatz mit der Überschrift „Strauß" (S. 395—404). Obwohl der Verfasser den Inhalt der Straußschen Schriften eher abwertend behandelt, stellt er Strauß des Stiles wegen sogar über Lessing und behauptet dabei, daß „die unzeitgemäßen Betrachtungen' mit ihrem kleinlichen Genergel an dem öffentlichen Urtheil nichts ändern" würden (S. 402). Im Juli 1875 besuchte Paul Förster aus Berlin 25 Nietzsche in Basel, empfing aber „durch f r e i e Äußerungen einen abstoßenden Eindruck". A m 13. März 1876 schrieb Overbeck an Nietzsche vom Besuch des „jungen theologischen Docenten Harnack aus Leipzig", der audi Nietzsche einen Besuch zugedacht hatte, „da man sich im Kreise junger Leute, in welchem er in Leipzig verkehrt — er nannte besonders einen philosophischen Docenten oder vielmehr einen Docenten der Philosophie Goring 2 6 — viel mit Deinen Schriften beschäftigt" (Fr. Nietzsches Briefwechsel m. Franz Overbeck, a. a. O., S. 42 f.). Im April erhielt Nietzsche dann einen Brief 240

28 28

Langen, Heinrich (Köln 2 1 . 3 . 1 8 3 9 — Bad Homburg 2 8 . 8 . 1 8 9 8 ) , Priester seit 1862, wurde 1874 Direktor des Lehrerseminars zuerst in Eltern, dann 1878 in Büren, seit 1882 in Odenkirchen. Förster, Paul, Gymnasiallehrer in Berlin, Bruder von Nietzsches späterem Schwager. Göring, Carl (1841—1879), a. o. Professor der Philosophie in Leipzig.

1876 Die vierte unzeitgemäße Betrachtung

29

von Josef R. Ehrlich aus Wien, 27 der „im Namen Ihrer begeisterten Verehrer in der hiesigen Universität" schrieb (s. K G W I V , 4, S. 22). Die „vierte Unzeitgemäße" wurde sdion im Februar 1875 begonnen und bis Mai fortgesetzt, da erlahmte die Arbeit. 28 Nietzsche hatte im selben Monat erfahren, daß bis dahin erst „gegen 350 Exemplare" der „dritten" verkauft worden seien. Peter Gast, der Herbst 1875 als Hörer nach Basel gekommen war, gab zur Vollendung der „vierten" dann den entscheidenden Anstoß, indem er Nietzsche dazu drängte und eine Reinschrift des schon bis zum achten Abschnitt gediehenen Werkes anfertigte. Erst Mitte Juni 1876, als der Druck der ersten acht Abschnitte fast vollendet war, schrieb Nietzsche die Schlußabschnitte und schickte sie an Naumann. Das Werk erschien dann Mitte Juli 1876 in einer Auflage von 1500 Stück: V

Unzeitgemässe / Betrachtungen / von / Dr. Friedrich Nietzsche, / ordenti.

Professor der classisdien Philologie / an der Universität Basel. / Viertes Stück: / Richard Wagner in Bayreuth. / Sdiloss-Chemnitz. / Verlag von Ernst Schmeitzner. / 1876. / London E . C . : E. Wohlauer. 98 S., 1 Bl. (Leipzig. Druck von C. G. Naumann). 8 ° . 2 8

Noch kurz vor dem Erscheinen der „vierten Unzeitgemäßen" war eine kurze Abfertigung der „dritten" erschienen: " 88

29

Ehrlich, Josef Ruben (Brody/Galizien 3 . 2 . 1 8 4 2 — Vöslau b. Wien 26.12.1899), Journalist. Schon im Oktober 1874 erwähnt Nietzsche, daß ihm der Inhalt der „vierten Unzeitgemäßen" ungefähr aufgegangen sei. Diese Fassung war aber nicht die im Juli 1876 erschienene, sondern eine schon im Frühjahr 1875 unter dem vorläufigen Titel »Wir Philologen" fast fertiggestellte. Von den Nietzsche zustehenden Freiexemplaren wurden fünf als Festexemplare gedruckt. Bekanntsdiaft mit dem Werk bei: Baumgartner und seiner Mutter, Brenner, Cosima und Wagner in Bayreuth, beide durch Festexemplare, Fuchs in Hirschberg/ Schlesien, Gersdorff in Hohenheim b. Stuttgart, Hillebrand in Florenz, Kretzer in Godesberg bei Bonn, Krug in Düsseldorf, Malwida, Mathilde Maier in Mainz, Olga Monod, der Mutter in Naumburg, R.Pohl (er erwähnte das Werk flüchtig in seinen: „Bayreuther Erinnerungen. Freundschaftliche Briefe. Lpz. C. A. Kahnt. (1877), S. 36 und stellte dessen Verfasser seinen Lesern als „den tiefen Denker, den ächten und ganzen Philosophen unter den Bayreuther Freunden" vor), Rau, Ida Rothpietz, Frau Ritsehl in Leipzig, Rohde in Jena, Romundt in Oldenburg, Schuré in Paris, Schemann, Senger in Genf, Overbeck in Bayreuth sowie bei: Eiser, Otto, Dr. med., aus Frankfurt, lernte Nietzsche im Sommer 1877 kennen; s. seinen Brief an Hans von Wolzogen: „Die Verehrung, welche idi dem Autor der .Unzeitgemäßen Betrachtungen' seit langem bewahrte — dazu mannigfache Verwandtschaft der Interessen und Empfindungen liessen uns in kurzer Zeit einander nahekommen." (Curt von Westerhagen, Richard Wagner. Sein Werk, sein Wesen, seine Welt. Atlantis Vlg. (Zür. 1956), S. 490); Mitglied des neugegründeten Frankfurter Wagner-Vereins und selbst Verfasser von: Andeutungen über Wagners Beziehungen zu Schopenhauer und zur Grundidee des Christentums. 1879 / Exegetischer Versuch über Richard Wagners „Ring der Nibelungen"; Brevem, Baronin Claudine von, hatte zusammen mit der Freiin von der Pahlen Nietzsche im Oktober 1876 kennengelernt;

1876 Michael Georg Conrad

30

39 anonym, (LCB1 Bd. 27, Nr. 25 v. 17. 6 . 1 8 7 6 ) . Eine knappe halbe Spalte widmet der Besprecher „dem barocken Verf. der ,unzeitgemäßen Betrachtungen"* und dessen „Apotheose v o n Schopenhauer". V o n einer

flüchtigen

Begegnung mit Nietzsche in Bayreuth im Sommer

1 8 7 6 schrieb d i e S ä n g e r i n L i l l i L e h m a n n : „Manchmal saß ich mit Friedrich Nietzsche in irgendeiner stillen Ecke, w o er mir v o n dem großen Wissen Wagners erzählte, mir die Quellen nannte, aus denen er geschöpft, sich begeistert in der Verherrlichung Wagners erging, trotzdem er ruhig und leise zu mir sprach. Damals wußte er nodi nichts v o m ,bösen, alten Zauberer': Wagner. Aber auch ich wußte leider damals nodi nicht viel v o n N i e t z sche, und das bedauere ich heute mehr, als ich sagen kann." 8 0 A u s d e m S e p t e m b e r 1 8 7 6 berichtete M i d i a e l G e o r g C o n r a d ü b e r e i n i g e T a g e , d i e er m i t e i n e r k l e i n e n R e i s e g e s e l l s c h a f t i n S o r r e n t v e r l e b t e : sie w ä r e n v o n der P e n s i o n s m u t t e r d e r V i l l a R u b i n a c c i g e b e t e n w o r d e n , „ w ä h r e n d der N a c h t ihre S a n g e s g e w a l t e i n w e n i g z u z ü g e l n , d a seit W o c h e n e i n s c h w e r n e r v e n l e i d e n d e r gelehrter H e r r m i t einer ältlichen D a m e , e i n e r b e r ü h m t e n d e u t s c h e n Schriftstellerin, i m H a u s e " w o h n e . A u f A n f r a g e

er-

f u h r e n sie, d a ß „ d i e B e r ü h m t h e i t " F r ä u l e i n v o n M e y s e n b u g sei, f r a g t e n aber nicht w e i t e r n a c h d e m H e r r n . V o m nächsten T a g e a m

Mittagstisch

erzählt Conrad dann weiter: „ . . . da saßen bereits zwei Gäste, schweigsam ihre Suppe löffelnd: eine ältliche, schmächtige Dame, ganz in schwarzer Seide, mit klugem, vornehmem Gesicht, Jonquiéres, Dr. med., in Bern; Köckert, Marie, Frau eines Genfer Bankiers, lernte das Werk schon im April aus dem noch unvollendeten Manuskript kennen; Marbach, Oswald (Jauer/Schlesien 13.4.1810 — Leipzig 28.7.1890), H o f r a t und Professor der Tedinologie in Leipzig, vielseitiger Schriftsteller, Schwager Wagners, hatte 1874 schon die „Geburt" kennengelernt und stand zu der Zeit mit Nietzsche im Briefwechsel; Ott, Mad. Louise, geb. von Einbrod, in Paris; Pahlen, Isabella von der, später Freifrau von Ungern-Sternberg, lernte Nietzsche im Oktober 1876 auf der Reise nadi Genua kennen; Rèe, Dr. Paul (Bertelshagen/Pommern 21.11.1849—28.10.1901 im Inn tot aufgefunden), damals in Stibbe b. Tütz, Marienwerder/Westpreußen, schon seit dem Sommer 1873 durch Romundt in Basel mit Nietzsche bekannt, die engere Freundschaft erst seit dem Erscheinen von Rees „Psychologische Betrachtungen" (1875). Er schenkte Nietzsche das Werk mit der Widmung: „Herrn Professor Friedrich Nietzsche, dem besten Freunde dieser Schrift, dem Quellwassererzeuger seines ferneren Schaffens dankbarst Basel, September 1876 der Verfasser." Zuletzt als Arzt tätig, 1890—1900 auf dem väterlichen Gut in Stibbe, 1900 bis zum Tode im Oberengadin; Sdieffler, Ludwig von, lernte Nietzsche im April 1876 kennen, hörte bei ihm im Sommersemester desselben Jahres „Ober Piatons Leben und Lehre", war einmal danach bei ihm zu Besuch und hörte bei ihm noch einmal im Herbst 1878; Schürmann, Ferdinand; Seydlitz, Freiherr Reinhart von (1850—1931), Schriftsteller und Maler, lernte Nietzsche im Juli 1876 in Bayreuth flüchtig kennen, worauf Nietzsche ihn zum bevorstehen-

1876 Michael Georg Conrad

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etwas gouvernantenhaft. Zu ihrer Rechten ein breitschultriger Herr, bis zum Hals in einen eleganten schwarzen Rock geknöpft, einen roten Fez auf dem mächtigen runden Kopf, in dem sorgfältig rasierten bleichen Gesicht einen phänomenal üppigen pechschwarzen Schnurrbart, buschig überhängend, an den Enden nach Tartarenart abwärts gedreht. Noch auffallender waren seine wundersam großen Augen, die unter der grauen Schutzbrille nodi dunkler erschienen und wie mit Demantblitzen aufleuchteten, als er, unsern Gruß stumm erwidernd, den Kopf gegen uns erhob und wieder neigte. Dann löffelte er schweigsam, wie in tiefer Andacht, seine Suppe zu Ende. Frappierend wie die ganze Erscheinung waren auch die ungewöhnlich schönen Hände. Ich kam dem merkwürdigen Herrn gegenüber zu sitzen, zu meiner Linken und Rechten reihten sich meine F r e u n d e . . . Das fremdartige stille Mensdienpaar ignorierte zwar unsere launigen Reden vollständig und verzog selbst bei einigen sehr annehmbaren Witzen kaum eine Miene, allein die Dame schien dodi aus unserer Aufgeräumtheit die Anregung zu schöpfen, um ihrerseits mit dem Herrn im roten Fez das Schweigen zu brechen. Mit etwas dünner, grämlicher Stimme richtete sie allerlei belanglose Fragen an ihn, ob er sich dieses und jenes Budies über Sorrent erinnere, ob er diesen oder jenen Aussichtspunkt hübscher finde, ob er diese oder jene landesübliche Speise vorziehe. Es lag zugleich etwas matronenhaft Sorgendes im Tone und in der Art der Fragestellung. Ohne aus seiner reservierten Haltung zu treten, beantwortete er Frage um Frage mit herablassender Geduld mit halblauter, aber ungemein sympathischer Stimme. Man merkte, daß das alles seine eigene Welt gar nicht berührte, daß sein Geist in einem fernen, unzugänglichen Reiche thronte. N u r eins gab ihm plötzlich einen drollig heiteren Zug ins Gesicht: ihre Frage, ob die Kopfbedeckung, die er auf ihren Rat

den Sorrentiner Aufenthalt einlud, dieser kam dann audi Anfang April 1877 mit seiner Gattin dorthin, wo er Nietzsche und Fräulein von Meysenbug noch antraf. Im August 1877 gab es ein kurzes Wiedersehen in Rosenlaui im Berner Oberland und im September ein abermaliges in Basel. 1885 besuchte ihn Nietzsche in München auf der Durchreise. Marie Baumgartner begann im September 1876 eine Ubersetzung der „vierten Unzeitgemäßen" ins Französische, die im Januar 1877 erschien: W Richard Wagner à Bayreuth par Frédéric Nietzsche. Traduit par Marie Baumgartner avec l'autorisation de l'auteur. Schloss-Chemnitz. Ernest Schmeitzner, LibraireEditeur 1877. 197 S. 8 o . Exemplare gingen an: Burckhardt, Cosima, Gräfin Diodati, GersdorfF, Marchesa Guerrieri, Liszt, Natalie Herzen, Monod, Mad. Ott, Overbeck, Isabella von der Pahlen, Rèe, Romundt, Sdiuré und Wagner sowie an: Dönhoff, Marie, Gräfin, spätere Frau von Bülow; Herzen, Alexander (1839—1906), Sohn des russischen Schriftstellers und Revolutionärs gleichen Namens, Physiologe, 1877 Professor am Instituto superiore in Florenz, 1881 an der Akademie in Lausanne; Metschersky, Alexander (1839—1914), russischer Fürst, Schriftsteller; Minghetti, Laura, Frau des italienischen Ministers Minghetti, Mutter der Gräfin Dönhoff; Sayn-Wittgenstein, Carolina Fürstin von, Freundin Liszts, damals in Rom. *· L. L„ Mein Weg. S. Hierzel. Lpz. 1913, S. 292; Lehmann, Lilli (1848—1929), Opernsängerin.

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1877 Ein Jahr des Schweigens

so gewissenhaft trage, ihm die gehoffte Annehmlichkeit bereite? Seine Antwort war ein vollendetes Skeptiker-Lächeln."

Noch am selben Abend erfuhren sie, daß es sich bei dem Gelehrten um einen Deutschen handele, der Tag und Nacht schreibe. Am nächsten Morgen beim Abschied überraschte Conrad als einzigen die Auskunft, daß es „Professor Nietzsche aus Basel" sei. (A. a. O., S. 13—19). Ende August 1876 erfuhr Nietzsche, daß trotz der Festwochen in Bayreuth erst um 100 Stück der „vierten Unzeitgemäßen" verkauft worden seien. Im Oktober sprach er in einem Brief von einer fertigen „fünften", in der man „Der Freigeist", eine Vorstufe zu „Menschliches, Allzumenschliches" zu sehen hat. Eine andere Vorstufe des Buches wurde das Aphorismenheft, das er unter dem Titel „Die Pflugschar", Peter Gast im Herbst 1876 in die Feder diktierte. Im Winter 1876/77, dem „Sorrentiner Winter", wurden aus der einen „Unzeitgemäßen", dem „Freigeist", neun, die ungefähr den neun Abschnitten des jetzigen „Menschliches" entsprechen. Sdion im Februar 1877 bat er dann seinen Verleger Ernst Schmeitzner, die „Unzeitgemäßen Betrachtungen" als abgeschlossen anzusehen. Gegen Ende des Jahres 1876 erschienen noch eine Anzeige und eine Besprechung der „vierten Unzeitgemäßen": 40 anonym, (LCBl Bd. 27, Nr. 44 v. 28 .10.1876, Sp. 1467 f.). Verfasser hebt die „Wärme der Empfindung" hervor, spricht aber einige Bedenken um die Zukunft der Musik aus. 41 Falckenberg, Richard, (MW 7. Jg., N r . 48 f. v. 10. u. 17.11.1876, S. 639 f., 655 ff.). Verfasser spricht durchaus als Jünger Wagners und sieht Nietzsche als Anhänger Wagners und Schopenhauers, aber audi als Erneuerer Fidites, und bedauert dabei, daß Nietzsche diesen durch die „schopenhauerische Brille" sehe. Bemerkt bei Nietzsche einen ausgesprochen aristokratischen Zug in dessen Überschätzung der Begabung auf Kosten eines bescheidenen und achtungswerten Wirkens im kleinen Kreise. Hebt dann die Schreibweise als „eigenartig, kräftig, schön" hervor unter Erwähnung auch der früheren „Unzeitgemäßen".

Hinweise auf Nietzsches Werke finden sich zu dieser Zeit auch in: 42 Schuré, Edouard, Das musikalische Drama. Verdt. v. Hans von Wolzogen. Lpz. 1877. Feodor Reinboth. 2 Tie. 1 Taf., IX, 212 S. / 1 Taf., 1 Bl., 172 S. (Erschien französisch im Juli 1875: Le drame musical. 2 Bde. Paris. Perrin.) Verfasser macht sich Nietzsches Ansichten über die Entstehung der Tragödie zu eigen, besonders was die gegenseitige Durchdringung des Dionysischen und Apollinischen und die Einstellung zu Euripides betrifft. Auch seine Ansichten über die nidit-klassische Oper kommen denen Nietzsches sehr nah. Er verweist zweimal ausdrücklich auf Nietzsche und dessen Werk (S. 44, Anm. u. S. 60, Anm.).

1877 Stimmen aus Wien und Berlin

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43 Glasenapp, Carl Fr., 81 Richard Wagner's Leben und Wirken. In sechs Büdiern dargestellt. Cassel u. Lpz. Carl Maurer. 1876/77. 2 Bde. Auf S. 80, 303 und 347 bringt der Verfasser Zitate aus der „vierten Unzeitgemäßen", auf S. 370 erwähnt er Wagners offenen Brief an Nietzsche in Sachen „Geburt" (s. Nr. 5), diese selbst bleibt aber unberücksichtigt. 43 a Dass., Neue verm. Ausg. Lpz. Breitkopf & Härtel. 1882. 2 Bde. Hinsichtlich Nietzsche unverändert. 43 b Dass., 6 Bde. Die Nietzsche betreifenden Bände sind folgende: 3. Bd. 1. Abt. Dritte, gänzlich neu bearb. Ausg. 1904 = 4. Bd. Vierte, durchges. u. ergänzte Ausg. 1908; 5. Bd. Dritte u. vierte, gänzlich neu bearb. Ausg. 1907; 6. Bd. 1.—3. Aufl. 1911. Verfasser schöpft nun reichlich aus den inzwischen erschienenen Briefbänden, der Biographie der Schwester sowie weniger reichlich aus mündlichen Äußerungen verschiedener Wagnerianer. An Schriften Nietzsches werden die „Geburt", die „erste", „dritte" und „vierte Unzeitgemäße", „Menschliches" und die „fröhliche Wissenschaft" erwähnt. Wiederholt wird die Darstellung der Schwester als Wagner nicht gerecht werdend angegriffen, dabei kommt die Stellungnahme des Verfassers am deutlichsten in einem Nachtrag zum fünften Band zum Ausdruck, wo er über den Nietzsche der „dritten" und „vierten Unzeitgemäßen" spricht: „Während er der Nietzsche zu sein schien, der Befähigste im Dienst eines großen deutschen Genius, war er innerlich verarmt und leer; er hatte sich der erneuten Anregung in ängstlicher Scheu geflissentlich entzogen und war damit aus einem ,Wagnerschriftsteller' im besten Sinne und Mitwirkenden an einer schöpferischen Kulturtat ein hohler Sdiall und ein hochtrabendes leeres Nichts, mit einem Worte, ein — ,Nietzscheschriftsteller' geworden, der von jetzt ab, anstatt der höchsten, die minderwertigsten Einflüsse auf sich wirken ließ, deren Nichtigkeit er selber durchschaute." (S. 390). Im Jahre 1877 hört man aus beiden Hauptstädten des deutschsprachigen Raumes von Nietzsche-Kreisen: von dem Bestehen eines Nietzsche-Vereins in Wien mit u. a. Siegfried Lipiner als Mitglied; 32 und von einem „ganzen Kreis in Berlin", der Nietzsche liebe und verehre und u. a. Bernhard Förster zum Mitglied habe. 33 Nietzsche hatte Beridite über Lipiner in Briefen von 81 88

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Glasenapp, Carl Friedrich (Riga 3 . 1 0 . 1 8 4 7 — ebd. 14.4.1915), Musiksdiriftsteller. Lipiner, Siegfried (Jaroslav/Galizien 2 4 . 1 0 . 1 8 5 6 — Wien 6 . 1 . 1912), ein Freund des Jenaer Privatdozenten der Philosophie Johannes Volkelt, damals in Jena, 1881 als Bibliothekar zum österreichischen Reidisrat ernannt, 1894 zum Regierungsrat gehoben, Verfasser von: Der entfesselte Prometheus. 1876 / Renatus. 1878 / Das Buch der Freude. 1880 / Totenfeier. 1887. Bemerkenswert ist, daß Förster audi noch im Jahre 1883 in einem Aufsatz „Zur Frage der .nationalen Erziehung', eine Bayreuther Studie", Nietzsche wenigstens in einer Anmerkung (S. 214) zu erwähnen wagte, und zwar als einen unter anderen, „welche u n s gerade etwas sein und sagen können". (BB 1.—3. Stk. 1883, S. 189—228).

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1878 Stimmen aus Wien und Berlin

Rèe und Rohde, die beide zu der Zeit in Jena weilten, erhalten. Zu seinem Geburtstag am 15. Oktober erhielt er dann einen Brief aus Wien von Lipiner, Max Gruber, Victor Adler, Sigmund Adler, Heinrich Braun, Engelbert Pernerstorfer und Seraphim Bondi unterzeichnet, zu dem Lipiner bemerkte: „Wir hätten viel mehr Unterschriften haben können, wenn wir's weniger strenge genommen hätten."34 Im Oktober tritt audi Emeridi DuMont, 35 durch Lipiner auf Nietzsche aufmerksam gemacht, in einen Briefwechsel mit Nietzsche. Um diese Zeit entsteht auch ein Briefwechsel mit einem „ungarischen Edelfräulein" in Wien, Irma Regner von Bleyleben. Und aus Berlin berichtete Paul Rèe gegen Ende des Jahres: „Mein hiesiger Buchhändler sagt mir, daß er einen großen Kreis habe, der Ihre Schriften stets mit Begeisterung entgegennehme, unter ihnen, mit Verlaub zu sagen, auch Prinz Georg."38 Im Februar 1878 erhielt Nietzsche warme bis begeisterte Briefe von Otto Busse, Ludwig Schemann,360 den er in Bayreuth flüchtig kennengelernt hatte, und Julius Bahnsen.37 Aus dem Jahre 1878 erzählt Richard Kralik von dem Wiener Kreis, dem, nach seiner Aussage, neben den obigen Unterzeichnern auch Gustav Mahler, ein Mediziner Josef Winter, ein Soziologe Hans Sax, ein Maler

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Adler, Sigmund (1853—1920), Rechtshistoriker; Adler, Victor (1852—1918), österreichischer Sozialistenführer; Bondi, Seraphim, Wiener Advokat; Braun, Heinrich (1854—1927), österreichischer Sozialist; Gruber, Max von (1853—1927), Hygieniker in Wien; Pernerstorfer, Engelbert (1850—1918), österreichischer Journalist und Politiker. 35 DuMont, Emeridi Frhr. von, geb. 1846, philosophischer Schriftsteller in Graz. »· Georg, Prinz von Preußen (1826—1902). 36 α Schemann, Ludwig (Köln 16.10.1852—1938), Wagnerianer und vor allem GobineauBegeisterter; von einer Begegnung mit Nietzsche zu den Festspielen in Bayreuth im August 1876 berichtet er: „Einen schmerzlichen Gegensatz zu der Hochstimmung dieser Stunden, wie vor allem auch zu der dithyrambischen Begeisterung, weldie seine Schrift ,Richard Wagner in Bayreuth' kurz zuvor ausgestrahlt und mir als Echo zugeworfen hatte, bildeten die Verfassung, in der ich Nietzsche bei einem Besuche am Morgen des 18. August antraf und die Auslassungen, die ich von ihm zu hören bekam. Er war ersichtlich schon sehr leidend, die vorerwähnten ungünstigen Umstände mochten auch auf ihn ihre Wirkung nicht verfehlt haben. Vor allem aber drückte das Gefühl, daß er von Bayreuth Unmögliches erhofft, und daß er in diesen Hoffnungen sich dort getäuscht sah, schwer auf ihn. Er sprach mir geradezu die Befürchtung aus, daß dies Bayreuther Ereignis ein vereinzelter Ausbruch oder Aufschwung ohne dauernde Beeinflussung und Hebung der deutschen Volksseele bleiben werde. Ich gestehe, daß mich der Eindruck der Traurigkeit, die er empfand, weil er offenbar schon damals im Begriffe stand, Wagner zu verlieren, tief bewegt hat und noch heute bewegt, mir ihn jedenfalls weit sympathischer nahebradite als das krampfhafte Gejauchze, mit dem er sich später, Wagner fern, über die tragischen Abgründe des Lebens hinwegzuhelfen gesucht hat." (L. S., Lebensfahrten eines Deutschen. Erich Matthes. Lpz., Hartenstein 1925, S. 106). 37

Bahnsen, Julius (1830—1881), Philosoph.

1878 Menschliches, Allzumenschliches

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Buchbinder und Walter Klein angehört haben, sowie von der eigenen Bekanntschaft mit den Werken Nietzsches: „Audi mit Nietzsches Schriften machte midi Lipiner bekannt. Beide standen sich nahe, korrespondierten auch miteinander. Wir entschiedene Wagnerverehrer hatten die unzeitgemäßen Betrachtungen mit Begeisterung gelesen. Nun erschien aber gerade das Buch, das den Bruch Nietzsches mit dieser idealistischen Phase einleitete: ,Menschliches, Allzumensdiliches'. Mir ist es kurios, darüber in einem Brief, den ich am 26. Oktober 1878 an einen Freund nach Berlin schrieb, folgende Stelle zu finden: ,Nietzsches letztes Buch kenne ich wohl und es hat mich nicht bald etwas so tief erschüttert wie der Umschlag dieses interessanten Mannes. Er ist das Zünglein an der Waage der Zeiten. Sein inneres Schicksal muß wahrhaft tragisch sein. Lipiner ist ganz unglücklich über die Veränderung. Mir ist sie verständlicher und verwandter.' Allerdings fand ich bei Nietzsche manches, was sich bei mir gleichmäßig zu entwickeln begann, so die Betonung der Persönlichkeit, der Widerstand gegen das sentimentale Mitleiden nach Schopenhauers Theorie. Aber die weitere Entwicklung Nietzsches, die ich genau verfolgte, hat mich seinem Denken immer mehr entfremdet, da seine Kritik immer unproduktiver wurde. Idi bin überzeugt, daß er das selber eingesehen hat und daran zugrunde ging." 38 Im Winter 1877/78 wurde das Manuskript zu dem nächsten Werk fertiggestellt und um den 20. Januar 1878 an den Verleger gesandt. Die Korrekturbogen lasen sowohl Nietzsche selbst in Baden-Baden als auch Peter Gast in Venedig. Aus mancherlei Erwägungen hatte der Verfasser geplant, das Ganze unter einem Pseudonym zu veröffentlichen, allein der Verleger, der auf den Schriftstellernamen Nietzsche offenbar Wert legte und sich wohl auch aus dem Wagner-Lager den entsprechenden Lärm erhoffte, protestierte erfolgreich dagegen. Das Werk erschien dann Anfang Mai 1878: VI Menschliches, / Allzumenschliches. / Ein Buch für freie Geister. / Dem Andenken Voltaire's / geweiht zur Gedächtniss-Feier seines Todestages, / des 30. Mai 1878. / Von / Friedrich Nietzsche. / Chemnitz 1878. / Verlag von Ernst Sdimeitzner. (Darunter: Paris Sanoz & Fischbacher 33 Rue de Seine. St. Petersburg H. Schmitzdorff (C. Roettger) Kais. Hofbuchhandlung 5 Newsky Prospect. Turin (Florenz, Rom) Ermanno Loescher Via de Po 19. New-York E. Steiger

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R . K., Tage und Werke. Lebenserinnerungen. Wien 1922. Vogelsang-Vlg., S. 61 ; s. a. ebd., S. 124 f. über seine spätere, im Jahre 1891 endgültig gewordene Abkehr von Nietzsche, als er ihn „ganz" studierte, „da idi es als meine Verpflichtung ansah, die Fackel der Philosophie aus der Hand meines nächsten Vorgängers zu empfangen und sodann weiterzugeben". Kralik, Richard von (Eleonorenhain/Böhmen 1 . 1 0 . 1 8 5 2 — 1 9 3 4 ) . katholischer Schriftsteller, vornehmlich Dramatiker.

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1878 Zu Menschliches, Allzumenschlithes

22 & 24 Frankfort Street. London David Nutt 270 Strand.) 4 BI1., 377 S. 1 Bl. (Druck von R. Oschatz, Chemnitz). 8°. 39 Diese Schrift forderte sofort die kaum verschleierte Kritik Wagners heraus: 45 Wagner, Richard, Publikum und Popularität. (BB 3. Jg., 8. Stk. v. Aug. 1878, S. 213—222). 40 Er brandmarkt ein stetes „Umsidiherumdrehen" als Kennzeichen der neuen Verfahrensweise und bezichtigt Nietzsche, ohne dessen Namen zu nennen, der „Oberflächlichkeit des Urteils". Sonst wirft er ihm vor, er feiere „Saturnalien der

se

Exemplare an: Baumgartner, der in einem Brief vom 15.6.1878 an Burckhardt schrieb: „Ich habe das neue B u c h . . . mit den besten Erwartungen ernsthaft durchgelesen und midi erstaunt über die Möglichkeit so verkehrter Reden. Er bildet sich leibhaftig ein, er werde mit ein paar mathematischen und chemischen Analogien wirkliche Formeln aufstellen können für das menschliche Herz, und meint, er rücke der Wahrheit ganz besonders nahe, wenn er seine besten Empfindungen zertrampelt und als Reminiszenzen aus irgendeiner fabelhaften Tierwelt ausgibt. Wenn er dabei nur audi noch konsequent wäre; aber das ist er nicht einmal; denn wenn überhaupt Instinkte nicht sollen zugelassen werden, dann ist sein ganzes Streben nach Wahrheit und sein ganzes reines Denken, auf das er sich so gerne beruft, und sein ganzer Wunsch, daß Gerechtigkeit werde, natürlich auch unlogisch... aber wenn man am Ende dodi auf solche Instinkte rekurrieren will, so kann man das auch schon vorher tun und sich diese ganze zynische Interpretation seiner Empfindungen ersparen. ·— Ich kann mit aller Gewalt nicht glauben, daß Nietzsche bei solchen Ansichten bleiben werde, sondern über kurz oder lang kommt er ganz gewiß wieder und erzählt, er könne doch den Gedanken nicht loswerden, daß die Sicherheit und der Wert des menschlichen Herzens den des Verstandes, sei es auch der größte, noch um viele tausend Parasangen überrage, und daß die Logik am Herzen ungeschickt sei wie die Maßlatte an der Kugel. Idi wenigstens habe an meinem nie gezweifelt; denn ob eine Empfindung an mir zieht oder mich trägt, so lasse idi midi tragen und schikaniere sie nicht. — Und daß idi mich dabei nicht als Tier fühle, davor bewahren mich die Griechen, in die idi ganz und gar eingetaucht b i n . . . " (Emil Dürr, Adolf Baumgartner. 1855—1930, in: Basler Jb., 1932, S. 218 f.); Bülow, der am 22.5.1878 an Frau Jessie Laussot schrieb: „A propos, das Buch von Nietzsche ist doch gut, stellenweise sogar s e h r gut. Möge mein voreiliges Urtheil Dich von der Bekanntschaft damit nicht abschrecken." (in: H . v. B., Briefe, a. a. O. 6. Bd., S. 504); Burckhardt, der von Basel aus, mit den Daten: 8. bis 10.12. 1878, an Friedrich von Preen schrieb: „A propos haben Sie bemerkt daß Nietzsche in seinem Buch wieder eine halbe Wendung zum Optimismus vollzieht? Leider ist sein Befinden (gänzliche Augensdiwäche und ewiger Kopfschmerz mit heftigen Crisen alle paar Tage) keineswegs die Veranlassung zu dieser Aenderung. Er ist ein außerordentlicher Mensch, zu gar Allem hat er einen eigenthümlichen, selbsterworbenen Gesiditspunct." (in: J.B., Briefe. Vollst, u. krit. Ausg., a . a . O . , Bd. 6, 1966, S. 293); Fuchs, Gast in Venedig; Harnack, der am 13.6.1878 an Overbeck schrieb: „Seine jetzigen Anschauungen über den Wert der Religion, in specie des Christenthums, sind nicht die m e i n e n . . . Aber ein so edler Geist, der beschlossen hat, den Weg der Gerechtigkeit zu wandeln, wird auch über den furor intellectualis hinauskommen, der mir und gewiß audi anderen bei ihm jetzt befremdlich ist." (in: Studien z. Gesch. d. Wissenschaften in Basel. XII, a . a . O . , S. 127); Hillebrand; Kelterborn, der später schrieb: „Die erste Aphorismen-Sammlung Nietzsches fand begeisterte Aufnahme in manchen Kreisen, von denen der Verfasser vielleicht nie etwas erfuhr, und ich könnte manche

1878 Die zweite Auflage der „Geburt"

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Wissenschaft", und verteidigt dabei die geoffenbarte Religion in der Gestalt Jesu, indem er diesen von dem „Judengott Jehovah" abhebt. 45 a

Auch in: Richard Wagner, Ges. Sdiriften u. Dichtungen. Fritzsch. Lpz.

1883. Bd. X , S. 1 0 9 — 1 2 2 .

Im September 1878 wurde die zweite Auflage der „Geburt" endlich herausgegeben: I a

Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik. Von Friedrich Nietz-

sche, ordenti. Professor der classischen Philologie an der Universität Basel. („2.

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hervorragende Gelehrte, Künstler, Musiker in verschiedenen Schweizer Städten nennen, die das Buch mit Entzücken lasen und sich enthusiastisch über die Fülle der von ihm ausgehenden Anregung a u s s p r a c h e n . . D a r a u f erwähnt er einen Maler, „Carl Brunner, damals in Basel wohnhaft, welcher sein Atelier mit einer ganzen Reihe von Aphorismen aus ,.ΜΑ.' geschmückt hatte." (KGW, IV, 4, S. 60); Lipiner, Mathilde Maier, Malwida, Monod, Overbeck, Freiin von der Pahlen, Rèe, Ribbeck, der in einem Brief vom 6 . 6 . 1 8 7 8 an Heinrich Geizer schrieb: „Welche Abgründe unnatürlicher, sich selbst überschlagender, alles Ideale vernichtender Grübelei in diesem widerwärtigen neuesten Budi von Nietzsche! Er ist unheilbar krank." (O. Ribbeck, Ein Bild seines Lebens, a. a. O., S. 309), Schemann, die Schwester, Seydlitz und Wagner, zu Letzterem s. a. Cosimas Mitteilung in einem Brief an Marie von Schleinitz: „Der junge Schemann beklagt das Buch, aber findet es das Schönste, welches geschrieben worden ist. Malwida findet wunderschöne Gedanken darin, und der felsenfeste Wolzogen sagt, daß er nun die früheren Schriften nicht mehr lesen könne." Zur sonstigen Aufnahme in Bayreuth s.a.: Curt von Westerhagen, Richard Wagner, a . a . O . , S. 74: »Wie Daniela Thode-von Bülow dem Verfasser aus der Erinnerung ihrer Mutter Cosima mitteilte, habe man in Wahnfried viele der Aphorismen geradezu als eine .Verhöhnung' gemeinsamer Gespräche empfunden." Sonst war das neue Werk zu Händen von: Bismarck, Otto von (1. 4. 1815 — Friedrichsruh 30. 7. 1898); Pachnike, Hermann (1857—1935), Dr. phil., später Reichstagsabgeordneter, stellte sich auf das Werk hin in einem Brief vom 6.12.1878 Nietzsche als dessen „Verehrer" vor, lernte ihn aber erst im September 1890 nach dem Zusammenbruch persönlich kennen; Preen, Friedrich von (1823—1894), Jurist; Wolzogen, Hans von (1848—1938), seit 1877 Herausgeber der „Bayreuther Blätter". S. hierzu den Brief Karl Klindworths an Hans von Bülow vom 28. 8 . 1 8 7 8 : „ . . . Nietzsche — der übrigens nicht mehr zu den Vertrauten gehört, infolge .Menschliches' — indem die Spitze des Theiles über die .Seele der Künstler' — wohl auch etwas .trop fort' — direkt gegen W. gerichtet angenommen wird — also .Abtrünniger'..." (in: Η. v. Bülow, Briefe. V. Bd., a. a. O., S. 8, Anm. 1); in einem Brief vom 12.1.1879 an Gersdorff bemerkt Cosima über „Menschliches": „Sdimeitzner sagt das Buch würde in Nord Deutschland viel gekauft und gelesen, gewiß mehr als die .Geburt der Tragödie'! Ich bleibe dem verstorbenen Nietzsche treu, und idi lasse den Lebenden in der Gesellschaft welche er sich erwählte, Petrarca, Erasmus, Voltaire, möge ihm wohl dabei sein!" (in: Die Briefe d. C. v. G. an Fr. Nietzsche. III. Tl. 1936, S. 124); ähnlich hatte Wagner an Overbeck am 2 4 . 5 . 1 8 7 8 geschrieben: „Ich habe für ihn die Freundschaft bewahrt, sein Buch — nachdem ich es beim Aufschneiden durchblättert — ni c h t zu lesen, und möchte weiter nichts wünschen und hoffen, als daß er mir dies dereinst nodi danke." (in: R. W. Ausgewählte Schriften u. Briefe. Eingel. v. Alfred Lorenz, Bernhard Hahnefeld Vgl. Bln. (1938). 2. Bd., S. 323).

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1879 Zu Menschliches, Allzumenschliches

Auflage. Verlag von E . W . Fritzsdi. 1874" überklebt mit: „2., theilweise veränderte Auflage. Chemnitz 1878. Verlag von Ernst Sdimeitzner"). Schon im Frühjahr 1874 bei C. G. Naumann in Leipzig nach einem geänderten Exemplar der ersten Auflage neugesetzt und -gedruckt, hatte sie seitdem erst bei Fritzsdi und nachher bei Schmeitzner zur Herausgabe fertiggelegen (s. Anm. 23). Es lagen immer nodi 170 Stück der ersten sowie die ganzen 750 der zweiten Auflage vor (s. K G W IV, 4, S. 55).

Aus dem Nachlaß des Literaturhistorikers und Hebbelbiographen Emil Kuh (s. Anm. 16, S. 18), der Ende 1876 gestorben war, erschien eine Studie, die er kurz nach dem Erscheinen der „ersten Unzeitgemäßen" verfaßt hatte: 46 Kuh, Emil, Professor Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauß. Eine kritische Studie. (LB1 2. Jg., Bd. II, H . 19—22 v. Sept. u. Okt. 1878, S. 577 bis 583, 609—612, 641—645, 673—679). Nennt die „erste Unzeitgemäße" eine „Schandschrift" und geht dann auf die „Geburt" ein; versucht Nietzsches Entlehnungen von Schopenhauer als falsch verstanden hinzustellen, um dann die „erste Unzeitgemäße" als Rache auf das Stillschweigen über den Erstling zu erklären. Die Schrift gegen Strauß „überbietet alles, was jemals in der deutschen Literatur an Verbal-Injurie, an Roheit und Pöbelhaftigeit dem Papier anvertraut worden" sei. Er führt dann Schopenhauer und Goethe an, um auf spradiliche Fehler Nietzsches hinweisen zu können, nennt aber zum Schluß Strauß' Buch „Der alte und der neue Glaube" auch ein „flaues", dem „viele arge stylistische Nachlässigkeit mit untergelaufen" seien.

Nodi vor Jahressdiluß erfuhr „Menschliches" eine einzige, kurze Anzeige: 47 anonym (LCBl Bd. 29, Nr. 42 v. 19.10. 1878, Sp. 1370 f.). Verfasser begrüßt die Tatsache, daß Nietzsches „glänzend angelegter und durch ausgebreitete und ernste Studien gebildeter Geist sich wenigstens principiell von den Irrwegen früherer Jahre abgewandt und die Vorzüge des wissenschaftlichen methodischen Denkens vor allen geniemäßigen Gedankensprüngen und Gedankenspänen würdigen gelernt" habe.

Im neuen Jahre erwähnte Karl Hillebrand das Werk fast nur nodi im Vorübergehen :41 48 Halbbildung und Gymnasialreform. Ein Appell an die Unzufriedenen. (DRs Bd. 18, 5. Jg., H . 6 v. März 1879, S. 422—451; über Nietzsche auf S. 425, 450 Anm. 2). Verfasser führt Nietzsche neben E. Lasker, Dubois-Reymond, Fr. Kreyssig, von Bonitz und „vor allem aber Paul de Lagarde" als einen an, dessen Schriften ihn zu öffentlicher Aussprache über deutsche Zustände im allgemeinen und das 41

Obwohl er kurz darauf Nietzsche in einem Brief vom 23.4.1879 auf die „Besprechung" aufmerksam machte. Lagarde, Paul de (Berlin 2.11.1827 — Göttingen 22.12.1891), eigentlich Böttidier, seit 1869 Professor der Orientalistik in Göttingen.

1879 Vermisdite Meinungen und Sprüdie

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Mißbehagen darüber im „gebildeten deutschen Mittelstand" im besonderen angeregt haben: „Friedrich Nietzsche ist, obsdion kein Neuling, doch ein Werdender, dessen Ansichten sich nodi nicht ganz geklärt haben; wenn er audi auf dem Wege von Damaskus umgekehrt zu sein scheint, so hat er dodi erst eine zu kleine Strecke darauf zurückgelegt, um der praktischen Wirklichkeit, wie sie als zu bewältigende Aufgabe uns vorliegt, sehr nahe gekommen zu sein. Man wird seine fragmentarischen Bemerkungen über Religion und Moral, Kunst und Staat, Cultur und Familie mit dem lebhaften Interesse lesen, welches eigene Gedanken in einer musterhaften Sprache stets zu erwecken pflegen; aber man wird vergeblich darin nach einer zusammenhängenden Erörterung der Ursachen suchen, aus denen die herrschende Hypochondrie Deutschlands hervorgegangen, nodi vergeblicher nach bestimmten Vorschlägen, wie man der Krankheit wehren könnte." 42 48 a In zwei Aufsätze aufgeteilt als „Deutsche Stimmungen und Verstimmungen" und „Halbbildung und Gymnasialreform" in: K. H., Zeiten, Völker und Menschen. Bln. 1882. Oppenheim. VI. Bd.: Zeitgenossen und Zeitgenössisches. Abschnitt XII, XIII, S. 333—361, 362—400; über Nietzsche auf S. 337 Anm. 1, wo der erste Satz wegfiel und die Äußerung also um fast die Hälfte gekürzt wurde. In „Halbbildung und Gymnasialreform" wird er einmal in einer neuhinzugekommenen Anmerkung auf S. 363 erwähnt als einer, dessen Schriften „die Sdilußfolgerungen fehlen". 48 b Audi in: Dass., 2. Ausg. Straßburg. K. J. Trübner 1886. Unverändert. 48 c Unter dem Titel: Halbbildung oder Bildung? in: 18 c, S. 62 bis 85. Unter Heranziehung der Zeitschrift- sowie Budifassungen versuchte der Herausgeber die ursprüngliche Einheit der Arbeit wiederherzustellen; es waltet jedoch eine ziemlich weitgehende Willkür in der neuen Zusammensetzung. Zur Fortsetzung bzw. als Anhang des zuletzt erschienenen Werkes fertigte Marie Baumgartner gegen Ende des Jahres 1878 das Druckmanuskript an, und Peter Gast las von Januar bis März 1879 wiederum Korrektur zum nädisten, in der zweiten Hälfte des März 1879 erschienenen Werk: VII Menschliches, / Allzumenschliches. / Ein Buch für freie Geister. / Von / Friedrich Nietzsche. / Anhang: / Vermischte Meinungen und Sprüche. / Chemnitz 1879. / Verlag von Ernst Schmeitzner. (darunter wie zu VI). 163 S., 5 Bll. (Drude von Ridiard Oschatz. Chemnitz). 8°. 43 48

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Die ersten zwei Abschnitte des Aufsatzes (S. 422—434) erschienen dann audi englisch: On the Sources of German Discontent, in: Contemporary Review. Lond., Bd. 38, 1880, S. 40—54; und in: The Living Age. Boston. Bd. 146, 1880, S. 497—506; mit vier größeren Zusätzen und einer Auslassung, die gerade die Nietzsche betreffende Stelle mit verschwinden ließ. Es ist auch dieser erweiterte Text, der, zurückübersetzt (?), in die Buchausgabe als „Deutsche Stimmungen und Verstimmungen" aufgenommen wurde. Exemplare an: Frau Baumgartner, Burckhardt in Basel, O. Busse, DuMont, Gast, Hillebrand, Frau Köckert, Overbeck, Rèe, Rohde, die Schwester, Seydlitz und Malwida, die einiges schon von der Entstehungszeit, dem Frühjahr 1877 her, aus den handschriftlichen Blättern kannte, sowie an: Rothpietz, Frau Louise, in Zürich, Schwiegermutter Overbecks, 1882 nach München umgezogen.

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1879 Amtsniederlegung/Der Wanderer und sein Schatten

Zu Ostern 1879 gab Nietzsche infolge körperlidien Leidens seine Lehrtätigkeit endgültig auf, und am 14. Juni wurde er aus seiner Professur amtlich entlassen; er bezog bis zum Jahre 1889 jährlich 3000 Franken, von da an jährlich 2000 Franken Ruhegehalt. Uber die Amtsniederlegung brachte die „Deutsche Zeitung" unter „Hof- und Personal-Nachrichten" folgende Meldung als „Tagesneuigkeit" : „Einer der begabtesten unter den jungen deutschen Gelehrten, der Autor der ,Unzeitgemäßen Fragen', Professor der classischen Philologie in Basel, Dr. Friedrich Wilhelm Nietzsche, ist wegen gänzlich erschütterter Gesundheit (Nietzsche zählt erst 3 4 Jahre) in den Ruhestand versetzt und an seiner Stelle der PrivatDocent D r . Phil. Wackernagel zum außerordentlichen Professor der griechischen Literatur ernannt worden." (DZg Nr. 2 7 3 2 v. 10. 8 . 1 8 7 9 , S. 4 ) 4 4

Ende Mai 1879 hatte Nietzsdie von Schmeitzner erfahren, daß von „Menschliches" nach der Ostermessen-Abrechnung nur 120 Stück verkauft 44

Daß die Amtniederlegung mindestens ein Gerücht zeitigte, erhellt folgender Brief von Ferdinand Tönnies an Friedrich Paulsen vom 2 9 . 2 . / 1 . 3 . 1 8 8 0 ; Tönnies war gerade bei Schmeitzner in Chemnitz gewesen und erzählte: „Nietzsche ist durchaus nicht geistig krank (das sei von irgendwelchem Gesindel ausgesprengt worden), lebt in Naumburg bei seiner Mutter; leidet in furchtbarem Maße an Kopfschmerzen, so stark, daß er wahrscheinlich nicht mehr lange zu leben hat. — Nietzsche und seine Freunde haben sich von dem Richard Wagner'schen Kreis losgemacht, weil dieser immer mehr in Gedankendüsternis der Metaphysik und des Mystizismus versinke, so etwa sagt Herr Schmeitzner, und demnach natürlich von dem neuen (Aufklärungs-) Nietzsche nichts wissen will." (F. T./Fr. Paulsen. Briefwechsel 1876—1908 hg. v. O. Klose, E. G. Jacoby, I. Fischer. F. Hirt. Kiel 1961, S. 74 f.); Paulsen, Friedrich (Langenhorn 16.7.1846 — Steglitz b. Berlin 14.8.1908), 1873 in Berlin habilitiert, 1878 daselbst a. o., 1893 o. Professor, durch seine zahlreichen pädagogischen Schriften hatte er lebhaften Anteil an den Schulreformbestrebungen seiner Zeit; s. seinen Brief an Tönnies v. 4 . 1 1 . 1 8 8 0 : „Ich hab kürzlich Nietzsche, Menschliches — Allzumenschliches gelesen. Etwas klarer und besser Gefaßtes las ich lange nicht. Er ist übrigens ein anderer geworden. Aus der Metaphysik rein in den Positivismus übergetreten. Den Aufsatz gegen Strauß hätte er heute kaum noch geschrieben, wenigstens so nicht. Er folgt ganz Epikur, wie es scheint; auch Schopenhauers Metaphysik wird abgestreift. Ich wundere mich über die Wandlung und zweifle, ob sie Bestand hat, freilich hat er sich das Festhalten daran zu Pflicht und Tugend gemacht. Sonst hat er dodi zu viel Empfindung für Geist, als daß er aus freien Stücken auf der Geistlosigkeit der Welt bestehen könnte. Oder hat sich die Askese, die er sonst so entschieden verwirft, an ihm gerächt und sich auf den Intellekt geworfen, so daß er nun immer denken muß, wie er nicht möchte? nicht eher die Wahrheit zu haben meint, ehe sie beleidigt? Vielleicht hat auch Rèe Anteil an der Wandlung." (Ebd., S . 9 7 ) ; s.a. Tönnies Antwort, ebd., S. 98 sowie die spätere Meinung Paulsens in: DRs Bd. 59, 15. Jg., H. 8 v. Mai 1889, S. 251: in einem Aufsatz „Hamlet. Die Tragödie des Pessimismus" verglich er einen Hamlet, dessen „lockendes Zukunftsbild . . . , ein Leben in Genuß geschmackvoll verwendeten fürstlichen Reichthums, umgeben von geistreichen Freunden und schönen Freundinnen, denen geistvolle Geselligkeit der höchste Genuß", sei, mit Nietzsche: wären „Stunden der Sättigung" nicht ausgeblieben, so hätte er gleich Nietzsche „in Aphorismen ,mit dem Hammer philosophiert', an alle Größen, die die Zeit verehre, anklopfend und ,mit Entzücken' überall den Ton vernehmend, den leere Hohlräume geben".

1880 Begegnung mit Gottfried Keller

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w o r d e n seien, dennoch entstand als letzter Teil dazu im Juli und August 1 8 7 9 in St. Moritz ein zweiter Nachtrag, dessen Druckmanuskript i m September auf Grund der ihm übersandten, endgültigen Entwürfe v o n Peter Gast hergestellt wurde. Auch zu diesem Werk lasen Gast und Nietzsche selber Korrektur, so daß das Werk endlich im Dezember 1879 erscheinen konnte: V I I I Der / Wanderer und sein Schatten. / Von / Friedrich Nietzsche. / Chemnitz 1880. / Verlag von Ernst Schmeitzner. (darunter wie zu VI bis auf die Londoner Stelle, die nun heißt: Williams & Norgate 14 Henriette-Street, Covent Garden.) 185 S. (Druck von Richard Oschatz, Chemnitz). 8°. 45 D e n Werken des Verlages v o n Ernst Schmeitzner wurde ab Ende 1879 ein Anhang beigegeben: 49 Erster Verlagsbericht der Verlagsbuchhandlung von Ernst Schmeitzner in Chemnitz. X V I I I S . (Dez. 1879). Auf den S. I I — V I I I befinden sich Anzeigen von „Friedrich Nietzsche's Schriften", deren Inhaltswiedergaben ohne Nietzsches Wissen und durch Veranlassung des Verlegers Peter Gast zum Verfasser haben, 46 deren Abschnittsüberschriften (so zur „Geburt" und zu den „Unzeitgemäßen") aber wohl erst nach Rücksprache mit Nietzsche verfaßt worden sind. Sonst zeigt Schmeitzner noch Werke von Overbeck, Rèe, Widemann, E. Dühring u. a. an. 47 Robert Freund erzählt einiges Bemerkenswerte über Nietzsche, allem aus den 80er Jahren:

vor

„Nietzsche, der Keller sehr verehrte, ihn aber noch nicht persönlich kannte, sagte mir einmal, daß er Keller am nächsten Vormittag besuchen werde. Nachdem der Besuch stattgefunden, ging ich am Nachmittag mit Nietzsche spazieren und f r a g ihn, wie es bei Keller gewesen sei. Er sei sehr nett gewesen, antwortete Nietzsche, nur entsetze ihn das entsetzliche (sie) Deutsch, das Keller spreche und die mühsame Art, mit der sich der große Schriftsteller mündlich ausdrücke. Am nächsten Sonntag frug idi dann Keller, ob Herr Nietzsche ihn besucht habe. Keller bejahte und setzte hinzu: ,Ich glaube, dä Kerl ischt verruckt.' Kennen lernte ich 45

Exemplare an: Frau Baumgartner, Eiser, Gast, Malwida, Rèe, Rohde in Tübingen, Romundt, Widemann, und durch Rohde an: Kühl, Franz, in Königsberg, durch Peter Gast an: Raskowitsdi, Robert, dalmatinischer Maler, damals in Venedig, und durch diesen im Sommer 1881 an: Salis-Marschlins, Meta von (Schloß Marschlins 1. 3.1855 — Basel 15. 3.1929), damals als Erzieherin der Dina von Wöhrmann in Venedig, studierte darauf von Okt. 1883 'bis Mai 1887 in Zürich und Bern, Dichterin und Frauenrechtlerin; durch von Gersdorff an: Nerina Finocdiietti, eine junge adlige Italienerin, in die er sich 1876 verliebt hatte. " S. KGW IV, 4, S. 71 f. 47 Dühring, Karl Eugen (Berlin 12.1.1833 — ebd. 21. 9.1921), Philosoph und Nationalökonom.

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1880 Begegnung mit Gottfried Keller

Nietzsche entweder 1878 oder 1879, ohne ihn von Angesicht zu Angesidit zu sehen. Er war bei Frau Rothpietz auf Besuch, aber so krank, daß er sein Zimmer nicht verlassen konnte. Genanntes Zimmer lag aber gerade über dem Salon, in dem der Flügel stand, und um ihn zu zerstreuen, bat midi Frau Rothpietz, ihm etwas vorzumusizieren. Wenn ich mich recht erinnere, lernte idi dann Nietzsche im Sommer 1883 wirklich kennen. Auf seinen Reisen nach und von dem Engadin blieb er häufig einige Tage in Zürich, wo er in der ,Pension Neptun' an der Mühlebadistraße wohnte. War sein Befinden gut und das Wetter günstig, so gingen wir spazieren. An Gesprächstoffen war nie Mangel, denn er war ein herrlicher Causeur. Von Wagner hatte er sich abgewandt und so vermieden wir dieses Thema. Hingegen hatte er großes Interesse für die zeitgenössische französische Literatur, die ja damals besonders reich an Talenten war. Abgesehen von den erstrangigen Schriftstellern wie Taine, Renan, Flaubert, Zola, Daudet und Maupassant erregten auch die zweitrangigen wie Barbey d'Aurevilly, Paul Bourget, Huysmans und die Frères Goncourt Hoffnungen, die sie nicht ganz erfüllten. Nietzsche gehörte zu den wenigen bedeutenden Menschen, mit denen man verkehren konnte, ohne vollständig ihrer Ansicht zu sein. Die meisten vertragen keinen Widerspruch, wenigstens nicht in ihrem eigenen Fadi. Natürlich las idi alle Sdiriften Nietzsches sofort nach ihrem Erscheinen, ergötzte mich aber immer mehr an dem ,Wie' als an dem ,Was', d. h. idi zog den unvergleichlichen poetischen Sdiriftsteller dem paradoxalen Denker vor. Und audi jetzt (d. i. 1915) noch bin idi der Ansicht, daß seine Briefe, die das Bild des herrlidien, edlen Menschen so treu wiedergeben, lesenswerter sind als alle seine philosophischen Bücher', die ,Götzendämmerung' und der ,Fall Wagner' von den späteren und einige der .Unzeitgemäßen Betrachtungen' von den früheren ausgenommen." (Als Anm. d. Hg. zum letzten Satz:) „Nach dem Wortlaut dieses Satzes hätte also der Wagnerianer Robert Freund in späteren Jahren ähnlidi wie Nietzsche eine Häutung durchgemacht. Dodi enthält das Original dieser Memoiren so viele stilistische Unachtsamkeiten und Ungereimtheiten — die wir zu rektifizieren hatten —, daß es nicht ausgeschlossen ist, daß Freund sagen wollte: .überhaupt ausgenommen', d. h. nidit ernst zu nehmen." 47a U m diese Zeit wurde Nietzsches bisherige Schaffen verschiedentlich gewürdigt: 48 47a

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(R. F.), Memoiren eines Pianisten. Hug. Zürich 1951 (In: C X X X I X . Neujahrsblatt d. Allgem. Musikges. Zürich a. d. Jahr 1951), S. 24 f. Freund, Robert (Budapest 1.4.1852—1936), nach Studium in Leipzig und Berlin 1875—1912 als Konzertpianist und Klavierlehrer in Zürich. Daß zumindest Nietzsches frühere wissenschaftliche Arbeiten nodi um diese Zeit philologisch ernstgenommen wurden, beweist folgendes Werk: Dr. Hans Flach (a. o. Prof. in Tüb.), Untersuchungen über Eudokia und Suidas. Lpz. Teubner. 1879. VIS., 1 BL, 192 S. 21 mal wird hierin auf Nietzsches Aufsätze „Zur Geschichte der Theognideisdien Sprudisammlung" und „De laertii Diogenes fontibus" hingewiesen, und auf S. 49—55 fühlt sich der Verfasser verpflichtet, sich mit Nietzsches Ansicht, „daß Hesychios und Diogenes Laertios eine gemeinsame Quelle benutzt haben", voll auseinanderzusetzen.

1880 Nodi im Banne Schopenhauers

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50 Siebenlist, August, Schopenhauers Philosophie der Tragödie. Preßburg 1880. S. 5 f. Das Werk erschien im Mai 1880. Die ersten Seiten des Buches dienen der Rechtfertigung des Werkes, wozu mit vielen schon erschienenen Arbeiten abgerechnet wird. So stellt der Verfasser bei Nietzsches „Geburt" fest, daß darin „der unzweifelhaft begabteste Jünger Schopenhauers" rede, daß er aber auch, wie seine Werke beweisen, ein solch genialer Kopf sei, der nicht das Zeug habe, sich mit Darlegung oder Erweiterung dessen zu begnügen, was andere geleistet haben, sondern im selbständigen Schaffen eigener Gedanken seinen Schwerpunkt suchen müsse. Er weist dabei auf die „Unzeitgemäßen" sowie auf die drei Bände von „Menschliches" hin. 51 Laban, Ferdinand, Die Schopenhauer-Literatur. Versuch einer chronologischen Ubersicht derselben. Lpz. F. A. Brockhaus 1880. 3 Bll., 123 S. Das Werk führt alle Schriften Nietzsches bis einschließlich des ersten Nachtrags zu „Menschliches" (I—VII), dazu nodi Besprechungen und Streitschriften, auf; Aufführung hier verdient das Werk selber aber wegen einer Äußerung des Verfassers in der Einleitung: „Unübertrefflich in ihrer schlichten Gedrängtheit und schlagenden Argumentation ist die Darstellung Nietzsche's in folgenden Sätzen . . . " Es folgt darauf über zwei Seiten hin (18 ff.) ein Zitat zur Widerlegung der Kantischen „intelligibeln Freiheit", auf der Schopenhauer seine Ethik aufgebaut hat. 49 52 Bauer, Bruno, Zur Orientierung über die Bismarck'sche Ära. Schmeitzner. Chemnitz 1880. 2 Bll., 325 S„ 5 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Verfasser hebt im 25. Abschnitt „Treitschke und Victor Hugo", Treitschkes „oberflächliche" Berücksichtigung der deutschen Philosophie hervor und empfiehlt ihm, Nietzsches Werke, besonders die „erste Unzeitgemäße", zu lesen, für den Fall einer eventuellen neuen Auflage seiner Schriften. 53 Friedrich Überwegs Grundriß der Geschichte der Philosophie. 3. Tl.: Die Neuzeit. 5. Aufl. bearb. u. hg. v. Dr. Max Heinze. Bln. 1880. E. S. Mittler u. Sohn. S. 387. In der zweiten Unterabteilung des dritten Abschnittes: „Die Philosophie der Gegenwart", findet Nietzsche erstmalige Aufnahme in dieses Werk, in Absatz 32: „Anhänger Schleiermachers, Schopenhauers, Benekes". Sieben Zeilen geben Titel, Erscheinungsjahr und -ort seiner Werke bis einschließlich „Der Wanderer und sein Schatten" an. 53 a Dass. 8. Aufl. 1897. In der 2. Hälfte „Nachkantische Systeme und Philosophie der Gegenwart" des jetzt zweiteiligen dritten Teiles, im 5. Abschnitt, Absatz 33 „Die absolute Freiheit des Individuums", S. 290—296, werden zuerst Stirner (S. 290—292) und dann Nietzsche (S. 292—296) behandelt. Verfasser meint, Nietzsche sei „ein vollendeter · ' Laban, Ferdinand, geb. am 1.2.1856 zu Preßburg/Ungarn, siedelte 1883 von Preßburg nach Berlin über, wo er 1895 zum Bibliothekar der kgl. Museen ernannt wurde. S. den Brief Heinrich von Steins an Nietzsche, 17.5.1884: „Viel gedachte ich Ihrer in letzter Zeit im Gespräch mit Ferdinand Laban, der den Winter über in Berlin war, nun leider wieder, wir wissen kaum wohin, von uns gegangen ist."

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1881 Aufnahme unter die Philosophen/Morgenröte

Künstler des Stiles, wie es keinen zweiten in der Gegenwart gibt", dodi werde „kein Schriftsteller neuerer Zeit so verschieden beurteilt wie er". Er habe „großen Einfluß auf die halb oder ganz belletristische Litteratur und auf die Journalistik ausgeübt". Auf Rudolf Steiner, der „einen ähnlichen, nur modificierten Standpunkt" einnehme, wird schon hingewiesen. 53 b Dass., 9. Aufl. 1902. (Jetzt:) 4. Tl.: Das neunzehnte Jahrhundert. Im 5. Abschnitt der „Philosophie der Neuzeit: Die Philosophie der Gegenwart" haben sowohl Stirner wie auch Nietzsche je einen eigenen Absatz (Nietzsche: Absatz 37, S. 332—341). Die Zurückhaltung der früheren Auflage ist etwas gewichen, im Anhang wird neben Steiner auch Paul Mongré erwähnt. 53 c Dass., 12. Aufl. 1923, völlig neubearb. v. T. K. Oesterreich. Im 4. Tl: Die deutsche Philosophie des 19. Jahrhunderts und der Gegenwart, Absatz 52: Die Kulturphilosophie Nietzsches, S. 543—551; zusätzliches Schrifttum auf S. 716 bis 720. Nietzsche sei „der geistig bedeutendste und einflußreichste unter den ethischen Denkern am Ausgang des 19. Jahrhunderts", seine „Kulturphilosophie eine Synthese des klassischen deutschen Kulturidealismus seiner Zeit". Als ähnliche oder von ihm beeinflußte Denker werden neben R. Steiner und P. Mongré aufgeführt: Alex. Tille, Ludw. Kuhlenbeck, August und Ernst Hornefier, Ernst Berg, Hans Blüher und Richard Müller-Freienfels. 54 Herrig, Hans, Ein moderner „Freigeist". (Geg 18. Jg., Nr. 32 v. 7. 8. 1880, S. 85 ff.). Der Verfasser, bekannt auch mit der „Geburt" und den „Unzeitgemäßen", hebt hier „Menschliches" und dessen zwei Anhänge äußerst lobend hervor. Er weist darauf hin, daß hier ein glühender Verehrer Schopenhauers und Wagners eine gründliche Wandlung erfahren habe, die manch Unverwandeltem bisher noch gar nicht aufgefallen sei. Obwohl er nur in einzelnen Fällen die Anschauungen Nietzsches teilen könne, wolle er nicht durch eine widerlegende Kritik der Verbreitung dieser zuletzt erschienenen Werke entgegenwirken.50 Sdion im Sommer 1880 wurde dann in Venedig ein Teil der nächsten Schrift, vorläufig „Die Pflugschar" genannt, Peter Gast diktiert. Sie wurde erst im Januar 1881 fertig und im Manuskript an Peter Gast, der noch in Venedig weilte, zur Reinschrift geschickt. Nietzsche trug darauf selbst einiges nach, und das Werk erschien im Juni 1881 : IX Morgenröthe. / Gedanken / über / die moralischen Vorurtheile. / Von / Friedrich Nietzsche. / [Leitspruch:] „Es giebt so viele Morgenröthen, die / noch nicht geleuchtet haben." / Rigveda. / Chemnitz 1881. / Verlag von Ernst Schmeitzner. / 363 S. (Druck von B. G. Teubner in Leipzig). 8°. 51 M 51

Herrig, Hans (Braunschweig 1 0 . 1 2 . 1 8 4 5 — Weimar 4 . 5 . 1 8 9 2 ) , Dramatiker. Exemplare gingen an: Marie Baumgartner, Burckhardt, Gast, Gersdorff, Overbeck, Rèe, Meta von Salis-Marschlins, Rohde in Tübingen und an:

1882 Eine Gesamtwürdigung

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Die wahrscheinlich einzige Einzelbesprechung der „Morgenröte" ersdiien dann erst im März des folgenden Jahres: 55 anonym, (LCB1 Bd. 33, Nr. 12 v. 18. 3.1882, Sp. 387 f.). Bespredier findet es „bedauerlich, daß der Verf. hier wiederum seine Gedanken in aphoristischer Form ohne allen systematischen Zusammenhang" gebe, dennoch glaubt er „bei allem Läugnen der Sittlichkeit, Spuren von sittlichem Idealismus in den eigenen Bemerkungen des Verf.'s" zu finden. Kurz darauf ersdiien eine zweiteilige Gesamtwürdigung des Nietzsdiesdien Werkes bis hin zu „Der Wanderer und sein Schatten" : 56 Lehmann, Rudolf, Friedrich Nietzsche. Eine Studie. (IMs 1. Jg., H. 4 u. 6 v. April u. Mai 1882, S. 253—261, 306—322). 62

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Lanzky, Paul, geb. am 8. 4 .1852 zu Weissagk b. Forst/Niederlausitz, studierte zunächst romanische Literatur und Philosophie in Zürich, Pisa und Rom, seit 1879 ständiger Aufenthalt in Italien, wandte sich im Dezember 1883 zunächst brieflich an Nietzsche und lernte ihn dann im Februar 1884 persönlich kennen, Verfasser von: Abendröte. 1887 / Erlöst vom Leid. Novelle. Rostods 1887 / Am Mittelmeer. Gedichte. St. 1890 / Herbstblätter. Gedichte. Lpz. 1891 / Neue Gedichte. Lpz. 1893 / Auf Dionysospfaden. Gedichte. 1895 (2. Aufl. Dresd. 1898) / Sophrosyne. Gedichte. Dresd. 1897 / Aphorismen eines Einsiedlers. 1897; hatte „Menschliches" schon im Frühjahr 1880 kennengelernt durch: Tempel, Wilhelm, Astronom, damals auf der Sternwarte von Arcetri bei Florenz, lernte Nietzsche 1885 durch Lanzky persönlich kennen. Durch Ferdinand Tönnies soll auch die Bekanntschaft Theodor Storms mit den Werken Nietzsches im Jahre 1881 oder etwas später erfolgt sein. S. Anm. zu dem Brief Storms vom 29. 8.1881 an Paul Heyse in: Der Briefwechsel zw. P. Heyse u. Th. Storm. Hg. u. eri. ν. G. J . Plotke. 1. Bd. 1854—1881. J . F. Lehmann. Mndin. 1917, S. 220. Erst im Frühjahr 1881 machten Carl von Gersdorff und Fürst Liditenstein die Bekanntschaft mit Nietzsches seit der „vierten Unzeitgemäßen" erschienenen Werken. Peter Gast hatte sie vermittelt und schrieb darüber an Nietzsche aus Venedig am 31. März 1881: „Ihre letzten Schriften werden in der Familie Wagners verdächtigt und ebenso gegen alle dort Einkehrenden; so kannten dann der Fürst Liechtenstein und der Baron dieselben nicht, bis ich denn durch wochenlange Vorbereitungen und Einleitungen beide darauf gebracht hatte, daß alle die Ansichten, denen sie mit Vergnügen beistimmten, da und dort in Ihren Schriften zu finden seien; jetzt schwärmen sie also und wundern sich, wie sie so mit Blindheit geschlagen sein konnten." Bemerkenswert ist auch, daß in dem Werk: Otto Ribbeck, Friedrich Wilhelm Ritschi. Ein Beitrag z. Gesch. d. Philologie. 2 Bde. Lpz. B. G. Teubner 1879/81 (photomech. Neudr.: Osnabrück 1967), Nietzsche, außer Anführung unter den „Bonner Zuhörern" Ritschis und den „Ordentlichen Mitgliedern des Ritschlsdien societas philologa", nur zweimal erwähnt wird: im 2. Band in einer Anmerkung auf S. 401 steht er neben E. Rohde und Wilh. Clemm als „zum Häuflein junger Colonisten" gehörig, welches der Meister von Bonn nach Leipzig mitbrachte, und auf S. 442 als Anfertiger des Registerheftes zu den ersten 24 Jahrgängen des „Rheinischen Museums". Peter Gast irrte sich, als er Mai und Juli als Erscheinungsmonate nannte (s. Fr. Nietzsches Briefe an Peter Gast. Lpz. 1908, S. 458, Anm. 100). Lehmann, Rudolf (Krefeld 26. 3.1855 — Breslau 27. 3.1927), Philosoph und Pädagoge, damals Oberlehrer am Luisenstädtischen Gymnasium in Berlin. Zum Eindruck von „Menschliches" auf den Verfasser s.a. seine spätere Bemerkung: „Das Ergebnis (von Studien zu einem Vergleich zwischen Fidites und Schopenhauers Willenslehre) für mich

1882 Die fröhliche Wissenschaft

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Verfasser nennt Nietzsche einen Denker „von ungewöhnlicher Tiefe des Geistes und Gemüthes", einen Schriftsteller „von außerordentlichem Geist und Gehalt". In der „zweiten Unzeitgemäßen" findet er, daß sich „ein kritisches und stilistisches Talent allerersten Ranges" offenbare. Auf Grund von „Menschliches" spricht er Nietzsche ein Anrecht auf einen bleibenden Platz in der deutschen Literatur zu. Hiermit behandelt er zusammenraffend alle drei Teile. Die „Morgenröte" erwähnt er nur in einer Anmerkung, da er das W e r k „aus Mangel an Zeit" nicht mehr habe berücksichtigen können.

Im Dezember 1881 begann schon die Arbeit am nächsten Werk, das vorerst als eine Fortsetzung der „Morgenröte" gedacht war. Ende Januar 1882 sdiickte Nietzsche das Manuskript an Peter Gast, diesmal aber nur zur Durdisidit, da Gast nicht zur Abschrift kam. Im April las er aus dem Manuskript im Kreise Malwida von Meysenbugs in Rom vor. Zum Kreise gehörten u. a. Paul Rèe und Lou Salomé. Im Juni wurde das Manuskript dann endlidi fertig und in Naumburg mit Hilfe der Schwester einem Schreiber diktiert. Das Werk erschien im August 1882 mit Hilfe von Peter Gast* der audi hierzu Korrektur las: X

Die / fröhliche Wissenschaft. / Von / Friedrich Nietzsche. / [Leitspruch:]

„Dem Dichter und Weisen sind alle Dinge be- / freundet und geweiht, alle Erlebnisse nützlich, / alle Tage heilig, alle Menschen göttlich." / Emerson. / Chemnitz 1882. / Verlag von Ernst Sdimeitzner. / (darunter wie zu V I I I mit folgenden Änderungen: Paris C. Klincksieck 11 Rue de Lille. Rom (Turin, Florenz) Loescher & Co. 3 0 7 Via del Corso.) 2 5 5 S. (Druck von Β. G. Teubner in Leipzig). 8 0 . 5 3

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war ganz im Einklang mit dem Geiste jener Zeit, soweit dieser überhaupt eine philosophische Einstellung zuließ, ein geschlossener, kritisch begründeter Positivismus, der allem, was in der Erfahrung und ihren Formen nicht unmittelbar zu erfassen war, ein für allemal absagte und Metaphysik, religiöse wie philosophische, nur als Gegenstand psychologischer und historischer Forsdiung gelten ließ. Auf diesem Standpunkt wurde idi übrigens durch den Wandel bestärkt, den Nietzsches .Menschliches allzu Menschliches' in der Entwicklung dieses Denkers bezeichnete: das dem Andenken Voltaires gewidmete ,Budi für freie Geister' war ja nichts anderes als ein Bekenntnis zum Positivismus und Evolutionismus." (Die Pädagogik d. Gegenwart in Selbstdarstellungen hg. ν. E. Hahn. F. Meiner Lpz. 1926, S. 119 f.) Exemplare gingen an: Marie Baumgartner, Bülow, Burckhardt, Gast, Gersdorff, Keller, Overbeck in Dresden, Rohde, Frau Rothpietz in Mündien sowie an: Brahms, Johannes (Hamburg 7. 5.1833 — Wien 3. 4.1897); Bungert, August, geb. am 14. 3.1846 zu Mülheim a. d. Ruhr, Komponist, lernte Nietzsche in Genua Anfang März 1883 persönlich kennen; Heinze, Max (1835—1909), Professor der Philosophie in Basel seit Ostern 1874, später in Königsberg und Leipzig; Salomé, Lou(ise) (St. Petersburg 12.2.1861 — Göttingen 5.2.1937), Toditer eines russischen Generals hugenottischer Abkunft, Sept. 1880 traf sie mit ihrer verwitweten Mutter in Zürich ein und besuchte die Universität, Jan. 1882 reiste die Mutter mit der inzwischen lungenkrank gewordenen Lou nach Rom zur Erholung; durch Gottfried Kinkel, bei dem sie in Züridi Kunstgeschichte gehört hatte, erhielt Lou ein Empfehlungsschreiben an Malwida von Meysenbug, bei ihr lernte sie dann im März 1882 Paul Rèe

1883 Nodi mal Conrad

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Einige Monate vergingen, bevor die ersten Besprechungen erschienen: 57 Wagner, Ernst, Friedrich Nietzsche's neuestes Buch: „Die fröhliche Wissenschaft". (IMs v. Nov. 1882, S. 685—695). In dieser durdiaus zustimmenden Anzeige nennt Wagner Nietzsche den bisher einzigen „Poet dieser Zeitschrift",680 lobt die „Classicität der Sprache" und erwähnt audi kurz den „Wanderer und sein Schatten". 58 H. D., (Geg Nr. 3 v. Jan. 1883, S. 46). Eine kurze Anzeige der „fröhlichen Wissenschaft", in der behauptet wird, Nietzsches „eigentliche Domäne ist die Seelenprüfung, doch schüttet er in der Kritik unserer moralischen Urtheile oft das Kind mit dem Bade aus", dennoch müsse man „immer seine Gedankenfülle, seine stilistische Meisterschaft bewundern". Als erster der späteren Führer der „Grün"- oder „Jüngstdeutschen" wurde und machte M. G. Conrad auf Nietzsche aufmerksam: 59 Conrad, M. G., Madame Lutetia! Neue Pariser Studien. Lpz. Wilh. Friedrich. o. J. (1883). 1 Bl., IV, 465 S. In beriditartigen Aufsätzen datiert vom 15. Oktober 1881 bis zur Jahreswende 1882/83 schreibt der Verfasser über französische Zustände meist kultureller, aber auch politischer Art. Immer wieder betont er dabei, daß Deutschland sich von der Ausländerei lossagen und eigene Wege suchen müsse. Im XXII. Abschnitt unter dem Datum vom 1. Februar 1882 (S. 278—302) nimmt er die Zusendung von den ersten drei Heften der Schmeitznerschen „Internationalen Monatsschrift" zum Anlaß, sich über diese im besonderen und internationale Zeitschriften im allgemeinen auszulassen. Darin erwähnt er anerkennend, wenn auch nicht zustimmend den Namen Nietzsche zweimal: „Ich bin keineswegs mit dem hochachtbaren Denker Friedrich Nietzsche einverstanden, wenn er das Paradoxon aufstellt: ,Gut deutsch sein heißt sich entdeutschen'. Denn wenn man auch die nationalen Unterschiede nur im Unterschiede verschiedener Kulturstufen finden wollte, wie Nietzsche thut, so ist damit noch nichts über den inneren Werth dieser Unterschiede selbst ausgesagt. Wenn man aus einem gegebenen Nationalcharakter heraus gegen die und im März oder April darauf durch diesen Nietzsche kennen; wiederholtes Zusammensein bis Anfang Nov. 1882. Sie heiratete den Orientalisten Friedridi Carl Andreas (1846—1930) im Jahre 1887, Herbst 1903 Übersiedlung nach Göttingen; Stein, Karl Heinrich Frhr. von (12. 2.1857 — 20.6.1887), in Halle, er erhielt von Nietzsche die Aushängebogen zugeschickt; in einem Brief an Nietzsche vom Mai 1876 hatte Rèe ihn sdion erwähnt; Zdekauer, Konrad Ritter von, geb. am 13. 5.1847 zu Prag, Jurist in Österreich-ungarischem Staatsdienst, trat 1898 in den Ruhestand, Bekannter Gasts in Venedig. 530 Im Mai 1882 waren sedis Gedidite Nietzsches erschienen: X Idyllen aus Messina. (d.s.: Vogel-Urtheil, Prinz Vogelfrei, Die kleine Hexe, Das nächtliche Geheimniß, Vogel Albatroß, Lied des Ziegenhirten). IMs 1. Jg., H. 5 v. Mai 1882, S. 269—275. Schwester und Mutter erfuhren von den Gedichten durch das ihnen zugesandte Manuskript. Die Gedidite wurden dann mit leichten Änderungen in die „neue Ausgabe" der „fröhlichen Wissenschaft" 1887 aufgenommen. Hier irrt sidi Peter Gast nochmal, der Juni als Ersdieinungsmonat angibt (a. a. O., S. 458).

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1883 Also sprach Zarathustra

Ausländerei argumentiert, so geschieht dies eben unter steter Hervorkehrung des Wesentlichen, Eigentümlichen, Wurzelhaften, Bleibenden der Volksseele, und auf die Frage: was ist deutsch? lassen wir uns nidit mit der ironischen Gegenfrage abspeisen: was ist g e r a d e j e t z t deutsch?" (S. 289 f.) Ob der Name Nietzsche dem Verfasser durch den Verlegernamen Sdimeitzner oder durch die eigene Beschäftigung mit Wagner und Schopenhauer nahegelegt wurde, geht aus dem Buche nicht hervor. Der Verfasser hielt laut Angaben auf S. 166 f. im Wintersemester 1881/82 im deutschen Turnverein in Paris u.a. zwei Vorträge: „Richard Wagner" und „Schopenhauer und Leopardi". Die Stellen bei Nietzsche sind im Anhang zu „Menschliches": „Vermischte Meinungen und Sprüche", 1879, S. 141, Nr. 323, nur das Wort „gerade" ist ein Einschub Conrads. S.a.: M. G.C., Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann, S. 60 f.: „In den Wintern 1880—82 hielt ich in Paris selbst Vorträge in französischer und deutscher Sprache, zunächst mit Max Nordau und anderen jüngeren Gelehrten im deutschen Turnverein, in der Association internationale, dann eine ganze Serie im Institut Polyglotte. Ich sprach über Richard Wagners Meistersinger, über Schopenhauer (mit Herbeiziehung der Nietzscheschen berühmten Unzeitgemäßen),..." Vom Dezember 1882 bis zum Winter 1886/87 bildete sich um Rèe und Lou Salomé ein Kreis in Berlin. Unter den Mitgliedern befanden sich zeitweilig: Heinrich von Stein, Georg Brandes, der Historiker H a n s Delbrück, Paul Deussen, der experimentelle Psychologe Hermann Ebbinghaus 54 , W. H a l b f a ß , der Metaphysiker Ludwig Heller, Max Heinemann, Julius Gildemeister, Hugo Göring, Paul Güßfeldt, Wilhelm Grube, Ferdinand Laban, Rudolf Lehmann, Heinridi Romundt, Georg Runze, Baron Carl von Schultz aus Livland, Ferdinand Tönnies und Ludwig Hüter. D a ß Nietzsche und seine Werke des öfteren den Gesprächsstoff hergaben, lassen die Namen der Beteiligten kaum bezweifeln. Im Frühjahr 1883 machte Nietzsche die Bekanntschaft von Levin Sdiücking und dessen Tochter Theo in Rom. 55 Im Januar und Februar 1883 entstand der erste Teil des „Zarathustra", zu dem Nietzsche selbst das Druckmanuskript fertigte. Peter Gast las aber wieder Korrektur mit, und das Werk erschien im Juli 1883: XI Also / sprach Zarathustra. / Ein Buch / für / Alle und Keinen. / Von / Friedrich Nietzsche. / Chemnitz 1883. / Verlag von Ernst Schmeitzner. (darunter wie zu VI bis auf: Paris W. Fischbacher 33 Rue de Seine. New-York E. Steiger & Co. 25 Park Place, und die Londoner Stelle wie zu VIII). 114 S. (Druck von B. G. Teubner, Leipzig). 80.5« 51

Ebbinghaus, Hermann (Barmen 24.1.1850 — Halle 26. 2.1909), seit 1894 Professor in Breslau, seit 1908 in Halle. M Sdiücking, Levin (Klemenswerth 6.9.1814 — Bad Pyrmont 31. 8.1883). s ' Exemplare an: Marie Baumgartner, Bülow, Burckhardt, Gast, Hillebrand, Keller, Malwida, Overbeck, Rohde, Lou Salomé, die Schwester, von Stein, Tönnies und Hans

1883 Zarathustra 2

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Kurz vor dem „Zarathustra" war eine kurze, wohlwollende Anzeige der „fröhlichen Wissenschaft" erschienen: 60

LCB1 Bd. 34, Nr. 19 v. 5. 5.1883, Sp. 644 f.

Im Erscheinungsmonat des „Zarathustra" entstand dann auch schon ein zweiter Teil, zu dem Nietzsche wieder selbst das Druckmanuskript fertigte und Peter Gast Korrektur las. Er erschien Anfang September: XII Also / sprach Zarathustra. / Ein Buch / für / Alle und Keinen. / Von / Friedrich Nietzsche. / 2. / Chemnitz 1883. / Verlag von Ernst Schmeitzner. (darunter wie zu XI). 2 B1L, 103 S. (Druck von C. G. Naumann in Leipzig.) 8 0 . 57

Dann wurde das, was Nietzsche damals als der Schluß seines „Zarathustra" schien, Januar 1884 fertig, Peter Gast las wieder Korrektur, und es erschien Anfang 1884:

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von Wolzogen; s. hierzu die Meinungen von Bülow und Hillebrand: „Ein verrücktes Buch, aber interessant, gar nicht unbedeutend, von Nietzsche ist mir neulidi zu Händen gekommen. ,Also sprach Zarathustra' ist's betitelt und im Offenbarungsstile aufgesetzt. Idi hätte Lust es Dir zu senden, wenn Du nicht dagegen protestirst." (von Bülow an Hillebrand, Meiningen, den 8.9.1883 in: H . v. B., Briefe u. Schriften. a . a . O . , Bd. 7, S.220); „Mit dem Zarathustra ist mir's sonderbar ergangen. Im Mai, ehe ich Florenz verlassen, schickte mir's N(ietzsche),... Ich finde wirklich Bewundernswerthes, geradezu Großes darin: aber die Form iäßt keine rechte Freude daran aufkommen. Idi hasse das Apostelthum und die Apostelsprache, und gar d i e s e Religion, als der Weisheit letzter Spruch, bedarf der Einfachheit, Nüchternheit, Ruhe im Ausdruck. Audi hab' idi keine rechte Sympathie mit Mensdien, die nach dem 40. Jahre noch Wertherisch an sich herumlaboriren, anstatt frank und frei vor sich in den Tag hinein zu leben; deßhalb bedauere ich solche Geisteskranke, denn das sind sie, nicht minder. Aber Nachdenken über sich selber und nicht Herauskommen aus sich selber ist eine böse Kinderkrankheit; die sollte man mit dem 30. Jahre überwunden haben." (Hillebrand an von Bülow, Gersau, den 16.9.1883, ebd., S.222); sowie die Selbstdarstellung von Tönnies, a . a . O . , S. 214: „Einige Wochen nachher (d.i. im Sommer 1883) begab idi midi von da (d. i. Berlin) nadi der Schweiz, wo idi einige Zeit mit Fräulein Lou v. Salomé und Dr. Paul Rèe, zwei interessanten Menschenkindern, zusammen verlebte. Beide waren sdiwer verzankt mit ihrem ehemaligen Freunde Nietzsche; dies wurde auch Ursadie, daß idi nidit in der Lage war, Nietzsches persönliche Bekanntschaft zu machen, obwohl ich zuletzt von jenen beiden mich getrennt hatte und einige Tage in Sils-Maria verweilte, wo idi mehrmals dem Einsiedler begegnet bin und den stechenden Blick seiner sdvwachen Augen auf midi gerichtet fand. Ich glaube, daß er von mir wußte, bin aber dessen nicht sicher. Idi habe ihn einmal in Naumburg besuchen wollen, und da er nicht anwesend war, ein inniges Gespräch mit seiner anmutigen Mutter geführt. Lange Briefe habe ich ihm zuweilen — in Gedanken gesdirieben, sie wirklich zu schreiben und abzuschicken hielt midi meine gewohnte Schüchternheit ab. Jetzt muß ich midi doch wundern, daß ich so an Nietzsche vorbeigegangen bin. In der Post zu Sils-Maria sah idi die Korrekturbogen des ersten Stückes ,Also sprach Zarathustra', und als idi im Herbst in München Lou Salomé wiedersah, brachte ich ihr das frische Buch und las ihr daraus vor. Das Pathos und die Salbung darin kamen uns etwas komisch vor. Wir meinten den echteren Nietzsche in jenen Schriften wiederzufinden, die dem Andenken Voltaires gewidmet und unter dem Einflüsse Rées entstanden waren." Exemplare an: Gast, Gersdorff, Overbeck, Rohde, von Stein und Wolzogen (s. den Brief von Wolzogen an H . v. Stein vom Anfang Okt. 1883: „Die Weisen

1884 Zarathustra 3

50 XIII

Also / sprach Zarathustra. / Ein Buch / für / Alle und Keinen. / Von /

Friedrich Nietzsche. / 3. / Chemnitz 1884. / Verlag von Ernst Schmeitzner. (darunter wie zu X I ) . 2 B1L, 119 S. (Druck von C. G. Naumann in Leipzig). 8 ° . 5 8

Max Halbe erzählt aus seiner Studentenzeit in München im Jahre 1884 von seiner Bekanntschaft mit dem „Schwaben Gottreich Christaller": „Man konnte die Essenz seiner Weltanschauung mit dem Schlagwort .Aristokratie des Geistes' kennzeichnen. Der Gegensatz seiner Ideen zu denen des demokratischen Sozialismus, zu dem Gedanken von der Besitzergreifung der politischen Macht durch die proletarischen Massen, der das Zeitalter immer mehr zu beschäftigen begann, war Christaller vollauf bewußt. Ich weiß nicht, ob er schon damals mit Nietzsches Gedankenwelt bekannt war. Bei unseren

bescheidenen

Symposien kam er jedenfalls nie auf sie zu sprechen; mir selbst war Nietzsche in jener Zeit noch ganz fremd. Als ich später in seinen Zauberkreis trat, wurde mir bewußt, daß ich vieles schon von Christaller gehört hatte, dem allerdings das dieser Welt können nidit genug die trübsinnigen Andersgläubigen schelten, daß sie so viel von den Leiden der Welt zu reden haben; aber von den großen Beglückern wollen diese Feinde des Leidens nichts wissen, sondern sie kehren sich von den Gipfeln fort und recken und strecken sidi mit lautem Rufe: .Seht doch, wie glücklich ich bin — wo steckt das Leiden? — idi bin der lebensfrohe .Zarathustra' mit der fröhlichen Wissenschaft, und .mein Gott' muß .tanzen'.' So sagt Nietzsche im Neuesten. Bis zum tanzenden Gott hat es selbst Hartmann nodi nicht gebracht..." in: H. v. Steins Briefwechsel m. H. v. Wolzogen. Ein Beitrag z. Gesch. d. Bayreuther Gedankens hg. u. eingel. v. Η. v. Wolzogen. Behr. Bln. u. Lpz. (1914), S. 71; von Stein antwortete am 14.10.1883 von Berlin: „Uber die Form, die er wählen zu müssen glaubte, das affektirte Pathos, mit welchem er Nebenzüge auszustatten pflegt, den Grundzug dadurch verwischend — hierüber sind wir von vornherein einverstanden. Aber selbst in dem .tanzenden Gott' erkenne ich noch den .künstlerischen Menschen' Wagner's, freilich durch die Willkür eines .Sprachvirtuosen' entstellt." Ebd., S. 72 f.); sowie an: Sdiirnhofer, Resa von, Studentin der Philosophie aus Wien, Bekanntschaft mit Nietzsche im April 1884 in Nizza, er traf sie noch einmal im Mai 1887 in Zürich und schrieb ihr bis ins Jahr 1888. " Exemplare an: Burckhardt, Gast, Overbeck, von Stein, Rohde und durch diesen an: Volkelt, Johannes (Leipnik/Galizien 1848 — Leipzig 1930), Philosoph, Professor in Basel, Würzburg und Leipzig. Daß Rohde die Bekanntschaft mit Nietzsches Werk etwas früher vermittelt haben kann, nämlich zur Zeit seiner Professur in Jena (1876—78), als Volkelt ebendort Privatdozent war, geht aus folgender Darstellung jener Zeit hervor: „Dafür gewann er (d. i. Rohde) bald erfreuliche Ansprache bei dem Philosophen J . Volkelt. Auch ein junger Landsmann Volkelts, S. Lipiner, kam ihm damals näher; es war die Vertrautheit mit den Jugendschriften Nietzsche's, die sofort, wie das Symbol eines Geheimbundes, ein Verhältnis zwischen dem reifen Mann und dem Studenten herstellte." (O. Crusius, Erwin Rohde. Ein biographischer Versuch. Tüb. u. Lpz. J . C. B. Mohr 1902, S .87). S. a. Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. M. e. Einf. hg. v. Dr. Raymund Schmidt. 2.. verbess. Aufl. Lpz. Felix Meiner 1923, S. 240: „Seit langem war es mir Bedürfnis, mich in einer Sondervorlesung mit Nietzsche auseinanderzusetzen. Erst jetzt in meinem Alter glaube ich die nötige Objektivität ihm gegenüber gewonnen zu haben. Und so habe ich denn zweimal in der letzten Zeit in einer bis ins Einzelne ausgearbeiteten Vorlesung kritisch zu ihm Stellung genommen. Wie kaum ein anderer Philosoph, hat Nietzsche erregend und aufwühlend auf midi gewirkt. Gerade weil idi ihm, besonders den Schriften seiner Frühzeit, manche Befreiung meines Denkens und Wertens verdanke und mir die Beschäftigung mit seiner

1884 Zu Zarathustra

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dithyrambische Pathos Nietzsches vollkommen mangelte; der vielmehr durdi die unerbittliche Schärfe seiner Logik wirkte. Zwischen den Welten Christallers und Nietzsches, des schwäbischen und des sächsischen Pfarrersohnes, bestand aber ohne Zweifel eine nahe geistige Verwandtschaft, mag sie nun auf einer bewußten A n lehnung des Jüngeren beruht haben oder nicht." (M. H . , Scholle u. Schicksal. D i e Geschichte meiner Jugend. Vlg. „Das Bergland-Buch". Salzburg (Neue, durchges. u. Überarb. Ausg. = 55. Tsd. 1940), S. 290 f.) 5 8 a 61 Kulke, Eduard, Richard Wagner, seine Anhänger und seine Gegner. Mit besonderer Berücksichtigung des Fundamental-Motivs im „Ring der Nibelungen". Prag/Lpz. 1884. F. Tempsky/G. Freytag. 3 Bll., 2 3 9 S. D a s Werk trägt eine leicht irreführende Überschrift, denn nur der X . und letzte Abschnitt befaßt sich ausdrücklich mit den „Anhängern und den Gegnern" Wagners (S. 204—239). Bemerkenswert ist die Schrift dennoch vor allem deswegen, weil Nietzsche immer noch als fest im Lager der Wagnerianer stehend gesehen Philosophie zu einer Angelegenheit persönlichen Erlebens wurde, empfand ich andere Seiten seiner Philosophie (und sie überwiegen bei dem späteren Nietzsche) als midi im Innersten verwundend und kränkend. Jetzt erst darf ich sagen, daß ich Nietzsche innerlich verarbeitet habe und — negativ wie positiv — durch ihn hindurchgegangen bin." Im Jahre 1884 verwies Rohde auf Nietzsches Schriften: Seidl, Arthur (München 8.6.1863 — Dresden 11.4. 1928), damals Student in Tübingen und Mitglied des dort neu begründeten „Akademischen Wagner-Vereins", später Publizist und Musikschriftsteller, 1898/99 Herausgeber am Nietzsche-Archiv. (S. A. S., Neue Wagneriana. Ges. Aufsätze u. Studien. 2. Bd. Bosse. Regensburg (1914), S. 80); sowie an: Glogau, Fräulein, Novellistin, eine „Berliner Verehrerin" Nietzsches; Knauer, (Peter Gast berichtete am 9. Dezember 1885 aus Wien von zwei neuen Verehrern Nietzsdies: „Ihr ,Mensdil., Allzum.' fand idi neulidi auf dem Pult des Dr. Kisa aufgeschlagen, sehr z e r l e s e n . . . Ihr eifrigster und begeistertster Leser hier ist jedenfalls der Haushofmeister bei Altgrafen Salm, Knauer, ein Mathematiker von großem Witz.") ; Paneth, Josef (1857—1890), hatte Nietzsche Ende Dezember 1883 in Nizza kennengelernt, ein Wiener Gelehrter, der damals physikalisch-geologische Studien betrieb; Studienfreund Freuds, der diesen um diese Zeit und später verschiedentlich audi geldlich unterstützte (s. Sigmund Freud, Briefe 1873—1939. 2., erw. Aufl. (Ffm. 1968). Ausgew. u. hg. v. Ernst u. Lucie Freud, für Erwähnungen Paneths aus der Zeit vom 22. 8.1883 bis 3.5.1889); Freud, Sigmund (Freiberg/Mähren 6. 5.1856 — London 23.9.1939), „In meiner Jugend bedeutete er (d. i. Nietzsche) eine unzugängliche Vornehmheit, ein Freund von mir, Dr. Paneth, hatte im Engadin seine Bekanntschaft gemacht und mir viel von ihm geschrieben. Idi stand auch später so zu ihm wie ungefähr in der .Bilanz'." (aus: Sigmund Freud, Arnold Zweig. Briefwechsel. Hg. v. Ernst L. Freud. S. Fischer. (4.—5. Tsd. Ffm. 1968), S. 89, Brief vom 12.5.1934); vgl. hiermit folgende Stelle aus Freuds „Selbstdarstellung" in: Ges. Werke. 14. Bd. Imago Pubi. Co. London (1848), S. 86: „Nietzsche, den anderen Philosophen (der erste war Schopenhauer), dessen Ahnungen und Einsichten sich oft in der erstaunlichsten Weise mit den mühsamen Ergebnissen der Psychoanalyse decken, habe ich gerade darum lange gemieden; an der Priorität lag mir ja weniger als an der Erhaltung meiner Unbefangenheit." (laut bibliographischer Anm., ebd., S. 576, zuerst erschienen in: Die Medizin der Gegenwart in Selbstdarstellungen, hg. v. L. R. Grote, Felix Meiner. Lpz. 1925); s.a. Wittels, Fritz, Sigmund Freud. Der Mann, die Lehre, die Schule. 1924. E. P. Tal. Lpz., Wien, Zür., S.53, 224 ff., 234; C. G. Jung, Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet u. hg. v. Aniela Jaffé.

1884 Verlegersorgen

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wird, als „vielleicht der einseitigste, zugleich aber der hervorragendste der Anhänger" (S. 212). Erwähnung findet er beiläufig auf S. 130, 134, 145, 206, 222 und 232, die „vierte Unzeitgemäße" dazu auf S. 127 f. und eingehend auf S. 212—221. I m X . Abschnitt wird diese zusammen mit Wagner-Schriften v o n Porges, W o l z o gen und H a g e n behandelt und als „aphoristische Luftballonfahrten i m Reiche der Ideen" (S. 222) verworfen. Nebenbei findet der Verfasser, der Nietzsches „Arbeiten gelesen" habe: „Es glüht darin etwas v o n dem heiligen Zorn der Propheten des alten Bundes" (S. 128), doch scheint er dabei nur die „Geburt" und die „Unzeitgemäßen, I, I I I " und „IV" zu kennen. 5 8 b I m A p r i l 1 8 8 4 k a m e n Nietzsche die ersten ernsthaften Bedenken u m die w i r t s c h a f t l i c h e L a g e seines V e r l e g e r s S c h m e i t z n e r . I m L a u f e des Jahres v e r suchte dieser d e n V e r l a g u n d die R e s t b e s t ä n d e v o n N i e t z s c h e s W e r k e n z u v e r k a u f e n , f a n d aber k e i n e n A b n e h m e r . Z u A n f a n g des n e u e n Jahres b e m ü h t e N i e t z s c h e d a n n seinen O h e i m , d e n J u s t i z r a t B e r n h a r d D ä c h s e i , g e richtlich g e g e n i h n v o r z u g e h e n . E n d l i c h i m D e z e m b e r 1 8 8 5 w u r d e n N i e t z sches

geldliche

Forderungen

an

den

Verleger

gerichtlich

anerkannt;

S c h m e i t z n e r b e h i e l t aber d i e Schriften n o c h w e i t e r h i n i m V e r l a g e ,

und

N i e t z s c h e e r f u h r d a n n auch, d a ß v o m „ Z a r a t h u s t r a nicht h u n d e r t E x e m p l a r e v e r k a u f t ( u n d diese f a s t n u r a n W a g n e r i a n e r u n d

Antisemiten!!)"

w o r d e n seien. I m S o m m e r 1 8 8 6 e r f u h r er durch Fritzsch a n l ä ß l i c h dessen V e r h a n d l u n g e n m i t Schmeitzner, d a ß v o m „ Z a r a t h u s t r a je 6 0 — 7 0 E x e m p l .

ίβα

t8b

Rascher Vlg. Zür. u. St. 1962, S. 157: „Freud hatte, wie er mir selber sagte, Nietzsche nie gelesen." In diesem Zusammenhang erwähnenswert ist das Werk des Erdmann Gottreich Christaller: Prostitution des Geistes. Satirischer Roman. Bln.-Schmargendorf. Renaissance-Vlg. 1901. 375 S. Verfasser will in diesem sicherlich zum Teil autobiographischen Roman die Mißstände in der evangelischen Kirdienhierarchie bloßlegen und an den Pranger stellen. Der Held des Werkes, Oskar Moser, kommt 26jährig in die Dorfpfarre Markrode, aber nur der „klaren juristischen Verpflichtung" wegen, die er sich infolge „genossener Stipendien" aufgebürdet hat. Der Kirchenpatron und Graf von Markrode, dessen Tochter Helene „fromm" ist, bekennt ihm: „Mit meiner Tochter hab idi schon alles versucht, um sie zu heilen, hab ihr Bücher gegeben, die einen Pfarrer verführen könnten, das allergottloseste Zeug, den Strauß, den Nietzsche, — alles umsonst." (S. 15) Über einen neugewonnenen Freund und Kollegen, Pfarrer Haller, berichtet der Vorgesetzte, Dekan Seeger: „Nichts steckt hinter ihm. Er ist der vollendete Nihilist. H a t Nietzsche und andere Hauptsatanisten mit großem Schaden gelesen." (S. 45) Verhältnismäßig rasch verlieben sich Oskar und Helene, und Oskar gesteht sich dabei: „Das schwärmerische und vollkommene Wohlgefallen an dem Mädchen erstreckte sich auch auf ihre Lieblingsideen, die sie aus Nietzsche und der neuen Theosophie, übrigens in eigenartiger Weise entnommen hatte, nämlich die irdische Wiedergeburt und das mögliche Übergehen zu überirdischem Sein." (S. 100) Oskar wird darauf als „freier Geist" aus dem Kirchendienst entlassen, geht nach der Großstadt Leipzig, verkommt dort, wird aber zum Schluß mit seiner Geliebten im Tode vereinigt. Kulke, Eduard (Nikolsburg/Mähren 28.5.1831 — Wien 20.3.1897), zuerst im jüdischen Schulwesen tätig, dann Musikschriftsteller.

1884 Reisebekanntschaften

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verkauft" seien, und daß Schmeitzner noch einen Verkaufsversuch unternommen hatte: „ . . . nämlich meine ganze Literatur an eine der schmutzigsten und anstößigsten Figuren des sächsischen Buchhandels zu verkaufen (der Betreffende ist mehrfach wegen Vertriebs obscöner Schriften bestraft, auch Socialdemokrat, anerkannt käuflich usw.)." 59 Der Sommer 1884 brachte die Bekanntschaft mit den Engländerinnen Emily Fynn und ihrer gleichnamigen Tochter sowie mit einem Fräulein von Mansuroff, ehemaliger Hofdame der russischen Kaiserin. Nietzsche begegnete ihnen noch in den darauf folgenden Sommern 1885, 1886 und 1887; sie scheinen aber keine nähere Kenntnis von seinen Werken gehabt zu haben.60 Im Oktober 1884 lernte er die Studentinnen Helene Druscowitz, Fräulein Willdenow und Fräulein Blum in Zürich kennen. In dieser Hinsicht erwähnenswert ist etwas, das er am 5. Juli 1885 an seine Schwester schrieb: „Vielleicht kommen die Züricher Mädchen, welche D u kennst, etwas zu dem Einsiedler herauf, nämlich Frl. Willdenow und Frl. Blum. Übrigens gelte ich, in den Studentinnen-Kreisen, als d a s ,b ö s e T h i e r ' — es scheint, daß eine gewisse Anspielung auf ein lärmmachendes und klatschendes Instrument geradezu bezaubernd gewirkt hat!" Wozu die Schwester bemerkt, daß es wohl „eine Anspielung auf die Peitschengeschichte im Zarathustra" sei.

In einem Brief aus dem Winter 1884 schrieb Helene Druskowitz an Conrad Ferdinand Meyer: 59

Sdion im Winter 1884/85 entstand „Mittag und Ewigkeit" als erster Teil einer neuen dreiteiligen Fortsetzung von „Zarathustra". Nietzsche hatte aber um diese Zeit Schwierigkeiten mit seinem Verleger, der einen vierten Teil nicht mehr übernehmen wollte, und da Nietzsche einem neuen Verleger nicht mit einem „vierten Teil" kommen wollte, so hatte er sich diese Idee einer mehrteiligen Folge ausgedacht. Da er aber keinen neuen Verleger dafür fand, ließ er den viertel Teil auf eigene Kosten und „nidit für die Öffentlichkeit" drucken. Gast las wieder Korrektur, und das Werk wurde Ende April 1885 in 40 Exemplaren ausgedruckt: Y Also / sprach Zarathustra. / Ein Buch / für / Alle und Keinen. / Von / Friedrich Nietzsche. / Vierter und letzter Theil. / Leipzig. / Druck und Verlag von C. G. Naumann. / 136 S., 1 Bl. 8°. Exemplare an: Georg Brandes (erst Anfang 1888), B. Förster, Fuchs (erst im Spätsommer 1888), Gast, Gersdorff (mit eigenhändiger Widmung: „Meinem Freunde Carl v. Gersdorff mit den herzlichsten Grüßen! Ein verbotenes Buch, Vorsicht es beißt!"), Lanzky, Overbeds, von Stein und Widemann sowie an: Bartels, Hans von, und seine Frau: Bartels, Wanda von, geb. am 22. 3.1861 zu Düsterwalde/Ostpr., Schriftstellerin; Druskowitz, Helene (Hietzing b. Wien 2. 5.1858 — 31. 5.1918 in einer niederösterreichischen Heilanstalt), promovierte 1878 an der Universität Zürich zum Dr. phil., seit 1882 Schriftstellerin in Wien, geisteskrank seit Frühjahr 1891; sie hatte Meyer im September 1881 kennengelernt und später mit ihm im Briefwechsel gestanden sowie ihn öfters besucht. S. Quelques souvenirs sur Frédéric Nietzsche, in: Bibliothèque universelle. Revue suisse. Bd. 52, 1908, S. 340—353, 545—558, worin die Tochter Fynn Stellen aus Briefen Nietzsches an ihre Mutter wiedergibt, leider aber in französischer Ubersetzung.

54

1885 Tiefstand

„Prof. Nietzsdie wüßte mir wol wenig Dank, wenn er hörte, daß idi Ihre Aufmerksamkeit einer seiner ersten Schriften zugewendet habe. Er ist seither zu ganz anderen und vielfach neuen Resultaten gekommen. Sein letztes Werk heißt: ,Also sprach Zarathustra. Ein Buch für Alle und Keinen.' Es gehört, ich möchte sagen, in die Reihe der ,heiligen Bücher', der Vedas, des alten Testaments usw. Es lebt in N. etwas von dem Geiste und rhapsodisdien Schwung des alten Propheten."®00 Dodi am 22. Dezember desselben Jahres hatte ihre Meinung sich wesentlich geändert: „Meine Begeisterung für Nietzsches Philosophie hat sich nur als eine passion du moment, als ein armseliges Strohfeuer erwiesen. Nietzsches Propheten-Miene kommt mir nun redit lächerlich vor. Wer wollte dem Manne Geistesfülle und großes Formtalent absprechen? Seine Begeisterung reicht aber doch nur dafür aus, sich über dies und jenes in Form von Reflexionen feinsinnig auszusprechen; nicht aber, wie er glaubt, für die großen philosophischen Probleme, die er ohne wahren Ernst und recht oberflächlich behandelt. " eob Alle drei öffentlichen Teile des „Zarathustra" hielten dann lediglich zwei Gesamtwürdigungen: 62 anonym (LCB1 Bd. 36, Nr. 12 v. 14. 3.1885, Sp. 378). Bemerkenswert an dieser Anzeige ist der Sdilußsatz: „Von einem größeren Kreise werden diese Reden kaum aufmerksam gelesen werden, aber Ref. kann wohl glauben, daß, wie es der Fall sein soll, manche besonders geartete Naturen mit Entzücken Nietzsche's Werken lauschen." 62/1 Lanzky, Paul (Florenz), (MLIA Nr. 21, 1885, S. 328 f.). Klingt in der Aufforderung aus: „Geistiger Krieg also allem, was das Leben verneint oder hindert und schwächt; Krieg den eignen müden und niedrigen Empfindungen und allem, was sie stärkt; Erbarmungslosigkeit gegen das unheilbar Kranke und was verzweifeln will, sollten wir [es] selbst sein und uns in den Abgrund stürzen müssen." Die Bekanntschaft Paul Natorps mit dem Nietzscheschen Werke während der 80er Jahre, wahrscheinlich erst nach seiner Habilitation an der Universität Marburg im Jahre 1881, läßt sich aus zweierlei mutmaßen, seiner näheren Bekanntschaft mit Siegfried Lipiner ( „ . . . ein tiefes Begegnen mit einem echten Dichter, der fast ebenso sehr Musiker und Philosoph, vor allem aber religiöser Mensch war: Siegfried Lipiner") und der Bemerkung: „ . . . ich meine nicht den öden Indifferentismus, auch nicht den damals (d. i. zur Kaiserzeit) höchst zeitgemäßen Naturalismus und Empirismus, der für nur etwas Tieferblickende entweder schon erledigt war oder eben damals unter den grausa600

Louise von Francois und Conrad Ferdinand Meyer. Ein Briefwechsel. Hg. v. Anton Bettelheim. 2., verm. Aufl. Bln. u. Lpz. 1920, de Gruyter, S. 304 f. Mb Ebd., S. 305. Meyer, Conrad Ferdinand (Zürich 12. 10.1825 — ebd. 28.11.1898).

1885 Reisebekanntschaften

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men Streichen des .Unzeitgemäßen' zusammenbrach, sondern den viel gefährlicheren, durch Nietzsche erst recht genährten Selbstbetrug einer Vernunft und Erfahrung gleichermaßen überfliegen wollenden, unmittelbaren Erfassung des selbstgelebten Lebens des Einzelnen in der Zuspitzung des Augenblicks, den allgemeinen nicht bloß künstlerischen Impressionismus'." (Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. M. e. Einf. hg. v. Dr. R. Schmidt. 2., verbess. Aufl. Lpz. Felix Meiner 1923. S. 164 f.). Im Mai 1885 fand die Vermählung der Schwester mit dem Gymnasialprofessor Dr. Berhard Förster statt. Sie wanderten im März 1886 nach Paraguay als Neusiedler in die von Förster gegründete Kolonie „NuevaGermania" aus. Im Juli 1885 erwähnte den „Zarathustra" nodi kurz Paul Heinrich Widemann in der Schlußbetrachtung zu seinem „Erkennen und Sein". Lösung des Problems des Idealen und Realen, zugleich eine Erörterung des richtigen Ausgangspunktes und der Principien der Philosophie. Karlsruhe u. Lpz. H . Reuther. 1885, S. 239: „Auf welche Weise die Philosophie sich zu einer solchen Lehre von der Lebensführung nach Wirklichkeits-Idealen' zu erweitern hat, dieß hat uns Eugen Dühring in seinem ,Ersatz der Religion durch Vollkommeneres' mit eben so besonnenem als weitschauendem Geiste gezeigt, während uns Friedrich Nietzsche in seinem tiefsinnigen Evangelium vom Übermenschen, Zarathustra, in dichterischer Einkleidung ein lebendiges Stück solcher Lebensführung und eine klassische Formulirung des höchsten Ideals alles menschlichen Strebens geboten hat." Uber den Umgang ihres Bruders Alfred mit Nietzsche im Jahre 1885 β1 erzählt Isolde Kurz: „Als er einmal bei einem Besuch in Florenz einen Band Nietzsche auf meinem Tische fand, erinnerte er sich plötzlich, mit dem Verfasser, der zu ihm in die Sprechstunde gekommen war, einen Sommer lang nahe verkehrt zu haben, da Nietzsche ihn täglich zu langen Spaziergängen auf den Lido abholte und unterwegs mit großer Aufmerksamkeit seinen Ausführungen über naturwissenschaftliche Dinge folgte. Wir wunderten uns beide gleichermaßen bei dieser Entdeckung: er, daß sein Klient eine so berühmte Person war, ich, daß man mit Nietzsche verkehrt haben konnte, ohne von seinem Geiste einen Eindruck zu empfangen. Der stille Prophet und Umwerter der Werte war offenbar auf diesen Spaziergängen niemals zu Worte gekommen."®2 61 ,ä

Es könnte sich aber auch um das Jahr 1880 oder 1884 handeln. Kurz, Isolde, Florentinisdie Erinnerungen. 3. u. 4. durdiges. u. verm. Aufl. DVA St. u. Bln. 1919, S. 170; Kurz, Hermann Alfred (Stuttgart 4. 8.1855 — Venedig 2.3.1905), Arzt, seit Sommer 1878 in Venedig ansässig; Erwähnenswert ist, daß die Verfasserin in ihrem Budi: Die Pilgerfahrt nach dem Unerreidilidien. Lebensrückschau. R. Wunderlich. Tüb. (1938), Nietzsches nur einmal, auf S. 481, gedenkt.

1886 Jenseits von Gut und Böse

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A n die K i n d e r z e i t in S i l v a p l a n a u m die M i t t e d e r 8 0 e r J a h r e e r i n n e r t sidi G e o r g S d i m ü c k l e : „Oft kam ein Mann mit einem großen hängenden Schnauzbart von Sila Maria herunter, meinen Vater besuchen. Da saßen dann die beiden Männer an einem runden Tischlein auf der Straße vor dem Hause und sprachen Dinge, die die andern Menschen nicht verstanden. H i n und wieder saß eine schwarzgekleidete Frau im weißen H a a r dabei, zu der wir Tante Haarmann s a g t e n . . . Der Mann hieß Friedrich Nietzsche." 9 2 0 M e t a v o n Salis-Marsdilins e r z ä h l t aus dieser Z e i t ( H e r b s t 1 8 8 5 )

fol-

gende Geschidite: „Auf dem Rückweg nadi der ,Alpenrose' erheiterten wir uns (d. s. sie und Nietzsche) an der Aufregung, die mein Erscheinen bei dem Theil der Gäste hervorgerufen hatte, die im Jahr vorher (eben 1885) den Besuch zweier anderen Studentinnen zu Ehren Nietzsche's erlebt. Ihr kurzes H a a r und ihr Gesiditstypus waren auf Slaventhum und Nihilismus gedeutet worden. Nun trug ich audi kurzes H a a r — ich war also wohl audi Nihilistin?" (S. 30). E i n e S o m m e r b e k a n n t s c h a f t des J a h r e s 1 8 8 6 w a r M i ß H e l e n Z i m m e r n . 6 3 A l s F r u d i t des W i n t e r s

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Jenseits / von Gut und Böse. / Vorspiel / einer / Philosophie der Zukunft.

/ Von / Friedrich Nietzsdie. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann. / 1886. VI, 271 S. +

1 Bl. Berichtigungen. 8 ° . 6 4

•2o G. S., Mein Leben. Eine Plauderei vom Werdegang eines Dichters. 1936. Junker u. Dünnhaupt. Bln., S. 14; der Vater war Besitzer zweier Hotels in San Remo und verbrachte, bis zum fünften Lebensjahre des Knaben, die Sommer mit der Familie in Silvaplana; Schmüdde, Georg (Eßlingen a. N. 18. 8. 1880 — Stötten a. Anerberg Sept. 1948), zuerst Rechtsanwalt, später Gaukulturwart u. Landesleiter der Reidissdirifttumskammer, vornehmlich Lyriker. " Zimmern, Helen (1846—1934), Nietzsche gedenkt ihrer nodi im Jahre 1888 kurz vor seinem Zusammenbruch als der Verfasserin eines Schopenhauers-Buches (London 1876) und verhandelte mit ihr zu der Zeit wegen einer Übersetzung von „Götzendämmerung" ins Englisdie. Später erinnerte sich Frl. Zimmern (s. The Living Age. Boston, USA. Bd. 331 v. Nov. 1926, S. 272), Nietzsche schon im Jahre 1876 in Bayreuth kennengelernt zu haben. Ihre Angaben sind aber sonst leicht irrig und wenig ergiebig, außer einer Anekdote über Nietzsches Verhalten gegenüber dem kranken Frl. von Mansuroff. Gegen die Jahrhundertwende übersetzte sie „Jenseits" ins Englische, fand aber erst 1907 einen Verleger dafür. 6 4 Exemplare an: Burckhardt, Brahms, Deussen, Β. Förster, Gast, Keller, Malwida, C. F. Meyer (s. seinen Brief an Francois Wille v. 12.12.1888: „Liebster Freund, hier sende idi Ihnen dankend das geistreiche Büdilein (Nietzsches Jenseits von Gut und Böse') zurück, das während dieses schwierigen Jahres vergessen b l i e b . . . " in: Briefe C. F. Meyers, hg. v. Adolf Frey. H. Haessel. Lpz. 1908. Bd. 1, S. 199; bemerkenswert

1886 M. G. Conrad und Zarathustra

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Unter den „Neuen" war es wiederum M. G. Conrad, der auf Nietzsche aufmerksam machte und diesmal in unmittelbarem Zusammenhang mit der neuen Literatur: 63

In einer Rüdswidmung an Karl Bleibtreu®® schreibt er zu dessen Buch:

Schlechte Gesellschaft. Realistische Novellen. Lpz. Wilh. Friedrich. 1886, wie folgt: „Also sprach Zarathustra: ,Red ich von schmutzigen Dingen? Das ist mir nicht das Schlimmste. Nidit, wenn die Wahrheit schmutzig ist, sondern wenn sie seicht ist audi Meyers Brief an Luise v. Francois ν. 15.10.1888, worin er auf das Buch der Helene Druskowitz, „Eugen Dühring", zu sprechen kommt: „Audi sollte sie einmal aufhören, den Prof. Nietzsche (pa. 61) öffentlich zu züchtigen, ihm die Ruthe zu geben. Man wird sagen, sie hätte ihn gern geheiratet." In: Louise v. Francois u. C. F. M. Ein Briefwechsel. Hg. v. Anton Bettelheim. A. a. O., S. 235.), Overbeck (s. den Brief an seine Gattin vom 7 . 9 . 1 8 8 6 : „Mit diesem letzten bin ich nun fertig und habe weniger an seinen Aphorismen auszusetzen... als an der Stimmung, die durch das Ganze waltet und schließlich . . . einen recht fatalen Eindruck hinterläßt. Audi vermisse ich empfindlich in diesem letzten Buche einen Fortschritt, eine lichtere Aufhellung über Ns Grundgedanken und Absichten; und ohne Fortschritt in diesem Sinne darf kein Buch gedruckt werden, zu denen hinzu, die man schon verbrochen hat." (Studien z. Gesch. d. Wissenschaften i. Basel. X I I , a. a. O., S. 147), Rohde (s. seinen Brief an Overbeck v. 1.9. 1886: „Es sind Einsiedlervisionen und Gedankenseifenblasen, die zu bilden gewiß dem Einsiedler Vergnügen und Zerstreuung gewährt; aber warum sie, wie eine Art Evangelium, der Welt mitteilen?", ebd., S. 146), Meta von Salis-Marschlins und Widemann sowie an: Brandes, Georg Morris Cohen (Kopenhagen 1842 — ebd. 1927), zuerst Journalist, dann Literaturdozent in Kopenhagen, Sept. 1877 — Febr. 1883 in Berlin ansässig, hielt im April 1888 in Kopenhagen über Nietzsches Philosophie zwei öffentliche Vorträge, den ersten vor rund 150 Zuhörern und den zweiten vor rund 300 (s. G. B., Friedrich Nietzsche. N Y . Macmillan (1914, übers, v. A. G. Chatir), S. 82 f.); als er „Jenseits" erhielt, kannte er erst „Menschliches", und erst nach dem Eintreffen der „Genealogie" eröffnete er den Briefwechsel mit Nietzsche am 2 6 . 1 1 . 1 8 8 7 (s. ebd., S. 62 f.); er hatte aber Rèe und Lou Salomé schon vorher in Berlin kennengelernt (s. ebd., S. 67). Über Brandes' erste Einschätzung Nietzsches und den Erfolg der Vorträge s. a. G. B., Levned. 3. Bd.: Snevringer og Horizonter. Gyldendalske Boghandel. Kjobenhavn, Kristiania 1908, S. 229 f., bes.: „Straks da Nietzsche havde henvendt sig til mig, skrev jeg i et Privatbrev: ,Han er saavidt je kan sk0nne uden Spergsmaal Tykslands dybeste og betydningsfuldeste Aand."* sowie: „For ferste Gang, dien jeg var vendt tilbage til Danmark, svigtede Tilherenene mig; de fyldte Salen; men en Gentagelse var overfhadig, hvorvel Forelaesningerne holdtes uden Verderlag." S. a. ebd., S. 270 f., 311, 318, 387. Levi, Hermann (1839—1900), Dirigent, 1872—1896 in München, 1882 der erste Dirigent des „Parsifal" in Bayreuth; Sieber, Ludwig, Universitätsbilbiothekar in Basel, Taine, Hippolyte, Widmann, Joseph Victor (Nennowitz/Mähren 2 0 . 2 . 1 8 4 2 — Bern 6.11.1911), studierte in Basel, auch Schüler Burckhardts am Gymnasium, verbrachte kurze Zeit in Jena und Heidelberg als Theologiestudent, wurde 1866 evangelischer Pfarrhelfer in Frauenfeld, 1868 Schulleiter in Bern, schließlich Redakteur am Berner „Bund", stand mit G. Keller im Briefwechsel, befreundet mit C. Spitteier, Verfasser von Dramen: Arnold von Bescia. 1867 / Orgetorix. 1867 / Jenseits von Gut und Böse. 1893 / Die Maikäfertragödie. 1897 / Der Heilige und die Tiere. 1905; Wille, François.

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1886 Erneuter Verlagswedisel/J. V. Widmann

ist, steigt der Erkennende ungern in ihr Wasser.' Du bist als Erkennender wie als Nachschaffender der Wahrheit bis in ihre abgründigsten Tiefen nachgegangen. Dem ästhetisirenden Gesindel mit seiner oberfaulen Sittlichkeit mag dein Thun fatal sein. Wir achten der grinsenden Mäuler nicht und der lüsternen Fratzen, und wo man uns ob unserer rücksichtslosen Lust an der reinen Kunst und Erkenntnis mit denunziatorischen Blicken verfolgt, gehen wir mit stolzer Verachtung vorüber." (S. V.) Das Werk selbst enthält vier durch zahlreiche Gedichte aufgelockerte Novellen und einen Aufsatz; die Worte Conrads tragen das Datum: „München, in den Hundstagen 1885." Mitte Juli begannen Verhandlungen mit E. W. Fritzsdi, Nietzsches früherem Verleger, zur Rückübernahme seiner Schriften; sie wurden schon Ende des Monates erfolgreich abgeschlossen. Aus einer von Sdimeitzner verlangten Summe von 2500 Mark, für die Nietzsche die noch unverkauften Exemplare von „Menschliches" bekommen sollte, hatte Peter Gast im Januar 1886 geschlossen, daß von diesem Werke noch 250 Exemplare bei Schmeitzner gelegen hätten. Aus einem Brief Nietzsches an Fritzsch aus dem August 1886 geht jedoch hervor, daß nicht weniger als 511 Stück noch unverkauft vorlagen. Im September desselben Jahres erschien die erste Besprechung des neuesten Werkes: 64 J(oseph) V(ictor) W(idmann), Nietzsche's gefährliches Buch. (B 37. Jg., Nr. 256 f. v. 16. u. 17. 9.1886). Ohne den Autor oder sein Werk tadeln zu wollen, glaubt der Verfasser ganz aussprechen zu müssen, daß hier „Dynamit" liege. Ihm mißfallen sonst als „grundfalsche Aussprüche" insbesondere Nietzsches „Ausfälle gegen Demokratie, Volksaufklärung und höhere Bildung des Weibes". Jedoch glaubt er, Nietzsche im tiefsten Grunde „aus dem durch und durch künstlerisch-dichterischen Naturell" heraus verstehen zu können. 64/1 Druskowitz, Dr. H., Moderne Versuche eines Religionsersatzes. Ein philosophischer Essay. Heidelberg. G. Weiß 1886. 90 S. Behandelt die Ansichten von Comte, J. St. Mill und Feuerbach in der Hauptsache, widmet aber dabei Nietzsche, vornehmlich dessen „Zarathustra", da es „zu den bemerkenswerthen Bemühungen, das uns beschäftigende Problem zu lösen, zählt", mit den größten Raum (S. 45—59). Da seine „zahlreichen Werke bis jetzt von Publikum und Kritik in hohem Maße unbeachtet geblieben", zeigt sich die Verfasserin mit fast allen Werken vertraut, obwohl ihre Kritik „freilidi im Wesentlich negativ ausfallen muß". „Der ,Zarathustra' zu Grunde liegende Gedanke ist eine Consequenz des Darwinismus und schon vor Nietzsche wiederholt ausgesprochen worden. Doch muß Nietzsche das Verdienst eingeräumt werden, denselben affektiver erfaßt zu haben, als irgend ein Anderer. Freilich wird Nietzsche durch den Affekt, wie so oft, dazu verleitet, weit über das Ziel hinaus" Bleibtreu, Carl (Berlin 13. 1.1859 — Locamo 30.1.1928), Schriftsteller.

1886 Conradi/Immer nodi im Gefolge Schopenhauers

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zuschießen." Erörtert werden auch die Ansiditen von Julius Duboc, F. A. Lange, E. Dühring und W. S. Salter. S. noch die Besprechung im LCB1 N r . 41 v. 2.10. 1886: „Was den Verf. bewogen hat, auch die verworrenen Reden Nietzsche's beizuziehen, ist um so weniger ersichtlich, als er von dessen Evangelium ,Also sprach Zarathustra' nur das anzuerkennen weiß, daß dasselbe ,zu den eigentümlichsten Erscheinungen der paradoxen Literatur gehört'."

Der Jurist Dr. Kurt Hezel richtete 1886 in Leipzig einen Lesezirkel ein; dort wurden unter seiner Leitung „Friedrich Nietzsches ,Geburt der Tragödie' und Wagners ,Das Kunstwerk der Zukunft' behandelt", und in diesen Kreis trat Hermann Conradi ein: „Hezel war ein leidenschaftlicher Anhänger Wagners und Nietzsches. Conradi hatte schon 1883/84" in Magdeburg Jenseits von Gut und Böse' gelesen, ohne daß es jedoch — ebenso wie das Werk Max Stirners — tieferen Eindruck auf ihn gemacht hätte. Jetzt drang er tiefer in Nietzsches Schriften ein, und besonders zusammen mit Carl Korn (Altphilologe aus Saarbrücken) warf er sich auf den .Zarathustra', den er im Sommer 1866 eifrig studierte."

Conradi besuchte audi den Kreis um die Dänin Rosalie Nielsen, in der er „eine liebe, mütterliche Freundin" fand.87 Zu dieser Zeit fand Nietzsdie erneut Aufnahme unter die Philosophen: 65 Falckenberg, Dr. Richard, Geschichte der neueren Philosophie von Nikolaus von Kues bis zur Gegenwart. Im Grundriß dargestellt. Lpz. Veit & Co. 1886. VII, 493 S. (Über Nietzsche auf S. 422 f.). Im 2. Theil: Von Kant bis zur Gegenwart, X I V . Kapitel: Die Opposition gegen den konstruktiven Idealismus: Fries, Herbart, Schopenhauer, II. Abschn.: Der Pessimismus: Schopenhauer, findet Nietzsche, als zu „den verständnisvollsten Verehrern des Frankfurter Philosophen und des Bayreuther Dramatikers" gehörend, einen Platz. In der zehnzeiligen Würdigung stellt Falckenberg fest, Nietzsdie habe „in den Schriften seit 1878 die Rolle ¿ines deutschen Rousseau mit der eines Voltairianers vertauscht, um neuerdings (Also sprach Zarathustra, 3 Hefte) eine religiös-mystische Wendung zu nehmen". 65 a Dass., 1892. 2., verbess. u. verm. Aufl. (Über Nietzsche auf S. 441). N u r um Literaturangaben erweitert. 65 b Dass., 1898. 3., verbess. u. verm. Aufl. (Über Nietzsche auf S. 451 ff.). Hier sind die wenigen Zeilen auf zweieinhalb Seiten angewachsen, aber immer noch im Kreise Schopenhauers. Die Erweiterungen wurden durch die Zunahme · · Hier irrt sich der Biograph, denn Conradi kann „Jenseits" nicht vor 1886 gelesen haben. · ' Die Angaben dieses ganzen Absatzes nach und aus dem „Leben Hermann Conradis" von P. Ssymank in: H. Conradis Ges. Schriften. Hg. v. P. Ssymank u. G.W. Peters. Bd. I. G. Müller. Mdin. u. Lpz. 1911, S. CXVIII ff. Conradi, Heinrich Gottlieb Hermann (Jeßnitz/Anhalt 12. 7.1862 — Würzburg 8. 3. 1890), s.a. seinen Brief vom 14.7.1886 an Blume: „Der Keim zum Übermenschen liegt in jedem. Nur e i n e m gelang die Τ a t : Ν i e t ζ s c h e. — Er hat das d r i t t e Testament geschrieben. Geht und lest seinen Zarathustra — !" (Ebd., S. CLX).

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1886 „Neuauflagen"

an Ausgaben und Sekundärliteratur, biographischen Einzelheiten und nicht zuletzt durch eine deutlichere Stellungnahme des Verfassers verursacht. Er findet nun bei Nietzsche „bestimmte Tendenzen", die allen „drei Perioden" gemeinsam seien: „das Problem einer neuen Kultur; der Philosoph ein Richter und Gesetzgeber des Lebens; die Neigung zur Paradoxie; die ungeschichtliche Denkart; der Individualismus". 65 c Dass., 1905. 5. verbess. u. ergänzte Aufl. (Über Nietzsdie auf S. 471 bis 475). Hier ist die Anzahl der Seiten um eine vermehrt, diesmal aber fast ausschließlich dank zusätzlicher Literaturangaben. 65 d Dass., 1927. 9. Aufl., verbess. u. ergänzt v. Prof. Dr. E. v. Aster-Gießen. Bln. u. Lpz. de Gruyter, (Über Nietzsdie auf S. 499—505). Durdi weitgehende Einschränkung der Literaturangaben ist der darstellende Teil verdoppelt: Bei Schopenhauer habe sich „der den Idealismus der Fichte und Hegel ablösende Naturalismus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts" in dem „Streben nach rücksichtsloser Aufdeckung und Aussprache gerade audi der peinlichen, trostlosen, erschreckenden Seiten des Daseins" angedeutet: „der Naturalismus der Darwin und Marx bis hin zu Zola und Ibsen", welcher „wieder zu einer kräftigen Lebensbejahung strebt und gerade aus der .harten Ehrlichkeit* seines Lebensbildes den Ernst zu dieser Lebensbejahung sdiöpfen will". Von hier aus verstehe man am besten, was Nietzsche in Schopenhauer gesehen habe. Bei allem Wechsel seiner Anschauungen im einzelnen „zieht dies Problem einer neuen Kultur . . . sich durch die ganze Arbeit und das ganze Leben Nietzsches". Als zweiten einheitlichen Zug sieht der Verfasser dessen „ausgesprochenen Individualismus" an. Und obwohl Nietzsdie einen „edit romantischen Kultus der Kraft" anstrebe, bleibe seine Lehre von der ewigen Wiederkunft „der Höhepunkt der naturalistischen Lebensbejahung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts". Im August 1886 befaßte sich Nietzsdie mit der Ausarbeitung von Einleitungen zu seinen schon erschienenen Werken, teils um mit dem Vergangenen abzurechnen, teils um den Zugang zu den Werken zu erleichtern und vordergründig um deren Absatz möglicherweise zu fördern. Ende Oktober 1886 erschienen folgende Werke dann in teilweise leicht geänderter Form, zu allen las Peter Gast wieder Korrektur: I b Die / Geburt der Tragödie. / Oder: / Griedientum und Pessimismus. / Von / Friedrich Nietzsche. / Neue Ausgabe / mit dem Versuch einer Selbstkritik. / Leipzig. / Verlag von E. W. Fritzsdi. XVIII, IV, 143 S. (Druck von Breitkopf und Härtel in Leipzig). 8 0 .« 8 Bei der Herstellung dieser Neuausgabe wurden die liegengebliebenen Exemplare der ersten und zweiten Auflagen verwendet, die E. W. Fritzsdi von Schmeitzner zurückübernommen hatte, so daß der Neudruck lediglich die „Selbst-

•8 Exemplare an Gast und Overbeck.

1886 Weitere „Neuauflagen"

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kritik" betraf, die dann den vorhandenen Ausgaben vorgebunden wurde. Infolgedessen gibt es diese „Neue Ausgabe" mit Wortlaut der ersten sowie der zweiten Auflage. VI a Mensdilidies, / Allzumenschlidies. / Ein Buch für freie Geister. / Von / Friedrich Nietzsdie. / Erster Band. / Neue Ausgabe / mit einer einführenden Vorrede. / Leipzig, / Verlag von E. W. Fritzsch. / 1886. XVS., 1 BL, 377 S., 2 Bll. g o 89

Die Widmung an Voltaire sowie die Vorrede nach Cartesius fehlen, dagegen sind neuhinzugekommen: das Vorwort und ein Schlußgedicht „Unter Freunden. Ein Nadispiel". Letzteres war Anfang 1882 gedichtet und niedergeschrieben, Herbst 1884 zu Zürich in vorliegende Form gebracht. VII/VIII a Menschliches, / Allzumenschliches. / Ein Buch für freie Geister. / Von / Friedrich Nietzsche. / Zweiter Band. / Neue Ausgabe / mit einer einführenden Vorrede. / Leipzig, / Verlag von E. W. Fritzsch. / 1886. (Druck von C. G. Röder, Lpz., betrifft nur das Titelblatt und das Vorwort). X I I I , 163, 185 S. 8°. 7 0 In der zweiten Jahreshälfte 1886 ließ Fritzsch audi die drei öffentlichen Teile des „Zarathustra" zusammenbinden und als Einzelband herausgeben: X I - X I I I a Also / sprach Zarathustra. / Ein Buch / für / Alle und Keinen. / Von / Friedrich Nietzsche. / In drei Theilen. / Leipzig. / Verlag von E. W. Fritzsch. 114 S., 2 Bll, 103 S„ 2 Bll., 119 S. 8°. Ebenso machte er es mit den „Unzeitgemäßen", die einzeln mit neuen Titelblättern ohne Jahreszahl versehen wurden und die „vierte" dabei als „zweite Auflage" bezeichnet: II-V a Unzeitgemäße / Betrachtungen / von / Friedrich Nietzsche. / Erstes Stück: / David Strauss / der Bekenner und der Schriftsteller. / (bzw.: Zweites Stück: / Vom Nutzen und Nachtheil der / Historie für das Leben. // Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. / Viertes Stück: / Richard Wagner in Bayreuth. / Zweite Auflage.) / Leipzig. / Verlag von E. W. Fritzsch. Es erschienen um diese Zeit auch fünf weitere Besprechungen von „Jenseits" : 66 Glogau, Gustav (Kiel), (DLZg 7. Jg., Nr. 44 v. 30. 10. 1886, Sp. 1555 f.). Er meint, „Nietzsche ist der Edelsten einer, der hier nichts geradlinige und nichts für schwache Geister schreibt". 67 Hermann, Conrad, Neuere philosophische Literatur. (B1LU Dez. 1886, S. 714 ff.). Als das dritte von vier Werken wird „Jenseits", das dem Besprecher wie „Fragmente eines edeln Pessimisten" vorkomme, mit leichter Ironie kurz besprochen.70"

·* Exemplare an Gast und Overbeck. 7 0 Exemplare an Gast und Overbeck. 7 0 a Hermann, Conrad (Leipzig 30. 5 . 1 8 1 9 — Klosterlausnitz 15. 7.1897), seit 1860 a. o., seit 1881 o. Honorarprofessor der Philosophie in Leipzig.

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1887 Johannes Schlaf

68 Michaelis, P., (NZg v. 4.12.1886). Verfasser gibt eine ziemlich breite Inhaltswiedergabe des Werkes, ohne auf irgendein früheres hinzudeuten. Abschließend findet er, daß „die aristokratisdie Strömung unserer Zeit nun auch ihren philosophischen Vertreter" gefunden habe: er sei „der Philosoph der junkerlichen Aristokratie und aller derer, die .Carriere machen' wollen". 69 Welti, Dr. Heinrich (Mdin.), Litteraturbriefe, IV. (NZZg Nr. 346 v. 13.12. 1886). Verfasser zeigt auch eine Bekanntschaft mit den früheren Werken, denen die „höchste Wahrhaftigkeit eigen" sei, und sieht in Nietzsche einen „feinen und gründlichen Kenner seines Gebietes". Ein starker, gewaltiger Strom geistiger Anregungen dränge dem Vorurteilslosen und Gedankenfreien aus diesem seltenen und eigenartigen Buche entgegen, es solle den Ernsten und Sinnenden empfohlen sein. 70 Schlaf, Johannes, (ADUZg v. 8.1.1887). In dieser ablehnenden Kritik von „Jenseits" stellt der Besprecher die Systemlosigkeit des Werkes sowie „ein krankhaft gesteigertes Selbstbewußtsein" seitens des Verfassers fest. 70 a Auch in: H. Conradis Ges. Schriften. A. a. O., S. CLX f. 71 Conradi, Hermann, Phrasen. Roman. Lpz. Wilh. Friedrich. 1887. 2 Bll., II, 378 S. Der Roman handelt vom Studentenleben in Leipzig im Sommersemester 1886. In einem der vielen Monologe der stark autobiographischen Hauptgestalt des Heinrich Spalding kennzeichnet sich dieser wie folgt: „Unter den Triumpfklängen Wagners, unter den Melodien dieser gewaltigen Gewitterpsalms-Musik, werden wir armen Schacher — wir .Idealisten' san phrase sterben — wir Jünger Nietzsches, dieses .Philosophen der Zukunft', der den großen Musikanten der Gegenwart längst übertrumpft hat und unterweilen in einem stillen Alpenthale sich damit befaßt, alle .Werte umzuwerten'..." (S. 43).71 72 mk, (NS 41. Bd., Mai 1887, S. 312). Verfasser streicht die „Herrenmoral" und den „Willen zur Macht" als wichtigste Gedanken von „Jenseits" heraus und behält sich vor, nach Erscheinen von 71

Conradi soll sich im Winter 1888/89 auch mit einem „Fall Nietzsche" befaßt haben, der aber wohl unausgeführt blieb. (H. Conradis Ges. Schriften, a. a. O., S. CCIII). S. ebd., S. CLX audi folgende Ausführungen: „Hatten sich in den Sünderliedern Conradis Nietzschesche Gedanken erst sdiüditern gezeigt, so traten sie in den .Phrasen' deutlicher hervor. Offen bekennt sidi Conradi als Jünger Nietzsches, und in vielen Worten, Wendungen und Äußerungen gemahnt er an seinen Meister, und der ganze Roman wird zu einem wertvollen Zeitdokument, an dem man das Eindringen der Nietzscheschen Ideenwelt in das deutsche Schrifttum gut verfolgen kann. Von irgendwelcher gedanklichen Selbständigkeit gegenüber Nietzsche war damals bei Conradi noch keine Rede, noch verehrte er ihn völlig kritiklos . . . voller Zorn war er, als Johannes Schlaf . . . Nietzsche als Parasiten bezeichnete; er erklärte, er werde seinen alten Jugendfreund deswegen ohrfeigen, wenn er ihn träfe." Die „Lieder eines Sünders" waren im selben Monat wie „Phrasen" erschienen. In seinem letzten Roman: Adam Mensdi. Lpz. Wilh. Friedrich. (1889), sind die An-

1887 Immer nodi „Neuauflagen"

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weiteren, schon „angekündigten Werken" Nietzsches auf dessen „interessante Philosophie" zurückzukommen. Nietzsche schrieb nun weiter an den Vorreden zu zwei anderen älteren Werken, die dann im Juni und Juli 1887 in neuer Gestalt erschienen — Peter Gast las wieder zu allem Korrektur: IX a Morgenröthe. / Gedanken / über / die moralischen Vorurtheile. / Von / Friedrich Nietzsche. / [Leitspruch:] „Es giebt so viele Morgenröthen, die / noch nicht geleuchtet haben." / Rigveda. / Neue Ausgabe / Mit einer einführenden Vorrede. / Leipzig. / Verlag von E. W. Fritzsdi. / 1887. XI, 363 S. 8°.72 Neugedruckt sind nur das Titelblatt und die Vorrede. X a Die / fröhliche Wissenschaft. / („la gaya scienza") / Von / Friedrich Nietzsche / [Leitspruch:] Ich wohne in meinem eignen Haus, / Hab Niemandem nie nichts nachgemacht / Und — ladite noch jeden Meister aus, / Der nicht sich selber ausgelacht. / Ueber meiner Hausthür. / Neue Ausgabe / Mit einem Anhange: / Lieder des Prinzen Vogelfrei. / Leipzig. / Verlag von E.W. Fritzsdi. / 1887. XII, 350 S., 1 Bl. ( = Berichtigungen). (Druck von Adolph Mehnert, Leipzig). 8°.73 Neu sind Titelblatt, Vorrede, das fünfte Buch „Wir Furchtlosen", die „Lieder des Prinzen Vogelfrei" und die Berichtigungen. Um diese Zeit, Mitte 1887, erschien ein Werk, dessen Titel eine deutliche Anspielung auf Nietzsches „Morgenröte" aufwies: 73 Lanzky, Paul, Abendröte. Psychologische Betrachtungen. Duncker. Bln. 1887. 2 Bll., 134 S., 1 Bl. Aus der Sprache der 500 aphoristisch-erzählerischen Episoden sowie aus der Unterteilung (Aus der Seele des Weisen, Aus dem Bereidi der Erkenntnis, An den Grenzen der Sitte, Leidenschaft und Leidenschaftslosigkeit, Freiheit und Knechtschaft, Wider den Pessimismus, Religion und Kunst, Der Freund, Das Weib und die Liebe, Der Mensch nach außen, Die Einsamkeit, In tiefster Stille) geht der Einfluß von Nietzsches „Zarathustra" sowie der anderer seiner Werke deutlich hervor. Dem dritten der zwölf Abschnitte ist ein Leitspruch von Nietzsche vorangestellt, der somit in die Gesellschaft von La Rochefoucauld, Leopardi, Pascal,

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klänge an Nietzsche nur noch hohle Worte im Munde des aufgeblähten Helden, der seine Zeit damit zubringt, zwischen drei Frauen umherzutändeln. „Modern" heißt ihm „zu Grunde gehen" (S. 62), die Religion ist ihm ein „Mittel" zur Erhaltung der „Herrenmoral und Sclavenmoral" (S. 68), sich selber zählt er zu den „Aristokraten der Zukunft" (S.220); hinzu kommen redit eigene Vorstellungen des „Modernen": „ . . . w i r glauben an das Germanenthum, das seine höchste Mission: die Überwindung und Kneditung des semitischen Geistes, erfüllen wird — mag dann nachher der Konflikt zwischen germanischem Nationalismus und europäischem Internationalismus gelöst werden . . . Allerdings! ein Bedenken dürfen wir nicht verschweigen: vielleicht kann der semitische Geist in seinen Wurzeln nur durch die gewaltsamen Expropriationsakte der Zukunftsdemokratie ausgerodet und ausgerottet werden." (S. 235). Das Werk erschien posthum am 1. 4.1889 und wurde im Juni desselben Jahres beschlagnahmt. Exemplare an Gast, Malwida, Overbeck und Taine. Exemplare an Gast, Malwida, Overbeck, Taine und Widmann.

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1887 Hymnus an das Leben

Vauvenargues, Shelley, Euripides, La Bruyère, Petrarca, Chamfort und Tibullus gebracht wird. Der Verfasser kannte Nietzsche seit dem Februar 1884 (s. Anm. 51). Der September brachte dann drei weitere Stellungnahmen auf einmal, zwei zu „Jenseits" und eine zu „Menschliches", letztere durch die Neuausgabe angeregt: 74 Gizycki, G. v., Briefe über die neuere philosophische Literatur. (DRs Bd. 52,13. Jg., 11. Heft, 1887, S. 305—317). In dieser Sammelbesprechung philosophischer Neuerscheinungen wird „Jenseits" auf S. 312 f. behandelt. Das Werk ist dem Verfasser „eine Sammlung stylistisch vollendeter, geistreicher, origineller, jedoch großentheils barocker und bizarrer Aphorismen", dennoch gewährt er dem Werk mehr Raum als jedem anderen außer Eugen Diihrings Gesamtwerk, da er diesen „für den größten Philosophen der Gegenwart und einen der größten aller Zeiten" hält. Dabei werden 30 Werke und der Inhalt einiger Zeitschriften besprochen.74 75 Wirth, Moritz, Die Zukunft der Reminiscenz. Variationen über Themen von Friedrich Nietzsche. (MW 18. Jg., Nr. 37 v. 8. 9.1887, S. 441 ff.). Er nennt „Menschliches" ein „merkwürdiges Buch" und, sich in der Hauptsadie auf Nietzsdies Behauptung, „an sich ist keine Musik tief und bedeutungsvoll", beziehend, versucht er eine Verulkung des Nietzscheschen Gedankens dadurch, daß er ihn ernst nimmt und sich dann die Zukunft der Musik vorstellt. 76 A. K., (LCBl Bd. 38, Nr. 38 v. 17. 9.1887, Sp. 1291 f.). Besprecher findet „Jenseits" bedeutend und dessen Verfasser von „hoher Geistigkeit", doch werde diese von „Excentricitäten leicht ganz verdunkelt". Im Juni 1887 waltete Peter Gast noch über 27 Exemplaren vom vierten Teil des „Zarathustra", und vom „Jenseits" waren „erst 114 verkauft", während 66 „an Zeitungen und Zeitschriften verschenkt worden waren". In einem Brief an Overbeck vom 30. August 1887 schrieb Nietzsche von „60 Freiexemplaren" und „106 verkauften". Im Juli 1887 wurde bei E. W. Fritzsdi gestochen und im Oktober erschien — nach Peter Gast schon Anfang August 1882 bei einem Aufenthalt in Naumburg komponiert —: XV Hymnus / an das Leben / für / gemischten Chor und Orchester / componirt / von Friedrich Nietzsche. / Partitur Pr. 2 Mk. / Chorstimmen à 15 Pf. / Orchesterstimmen compi. 2 M. 50 Pf. / Separat: Viol. I. II, Viola, Baß à 15 Pf. / Eigenthum des Verlegers für alle Länder / Leipzig / E.W. Fritzsch / 1887. 11 S. 4075 74 7C

Gizycki, Georg von (1851—1905), a. o. Professor der Philosophie in Berlin. Exemplare an: Brahms (über seinen Empfang des „Hymnus" sowie der „Genealogie" s. Max Kalbeck, Joh. Brahms. Bd. IV, 1. Hbd. 2. verbess. Aufl. Dt. Brahms-Ges. Bln. 1915, S. 157 f.: „Brahms befand sidi, wie er mir sagte, in arger Verlegenheit. Was sollte er dem geistreichen Philosophen, von dem er schon manches mit Interesse, Be- und Verwunderung gelesen hatte, antworten? — .Nietzsche ist besorgt und aufgehoben', empfing er midi bei meinem nächsten Besuche mit vergnügtem Lachen. ,Habe mich

1887 Zur Genealogie der Moral / Die Antisemiten

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Im Juli 1887 hatte Nietzsche geklagt, daß er in den letzten drei Jahren 500 Taler Druckkosten gehabt habe und dazu kein Honorar, aber im selben Monat entstand das nächste Werk, Peter Gast las dazu Korrektur, und es erschien Anfang November: XVI Zur / Genealogie der Moral. / Eine Streitschrift / von / Friedrich Nietzsche. / Leipzig / Verlag von C. G. Naumann. / 1887. XIVS., 1 Bl., 182 S., 1 Bl. (Druck von C. G. Naumann.) 8 0 . 7 6 Gegen Ende des Jahres erfuhr Nietzsche eine scharfe Zurechtweisung aus dem antisemitischen Lager: 77 Frey, Thomas (d. i. Theodor Fritsch, der Herausgeber der Zeitschrift), Der Antisemitismus im Spiegel eines „Zukunfts-Philosophen". (AC Nr. 19 f. v. Nov. brillant aus der Affaire gewickelt.' — Wie denn? — ,Ich habe ihm meine Visitenkarte geschickt und sehr höflich unter meinen Namen geschrieben: dankt für die anregenden Studien, die ihm die Lektüre Ihres Buches (oder Ihrer Bücher) verschafft hat.' (Der Wortlaut seiner Äußerung ist mir nicht mehr gegenwärtig, desto lebendiger aber blieb mir ihr Sinn im Gedächtnis.) — Ja, was ist denn aber mit dem Hymnus? fragte ich dagegen. Ich meine nicht den von Nietzsche, sondern den, den er sich von Ihnen für den seinigen versprochen hat? — ,Das ist ja eben der Witz, daß ich mich um die Musik sanft herumgedrückt habe!' Ich sehe noch sein bestürztes Gesicht, als ich ihm bewies, daß die ehrlich gemeinte Karte, und was darauf geschrieben stand, eine doppelte Beleidigung, für den gleich dem ersten besten Schreiber bedankten Philosophen wie für den unbedankt gebliebenen Musiker, bedeutete. Gleich darauf lachte er wieder: ,Adi, was, eine Lektion kann dem eingebildeten Kerl, der den Mund immer voll Eigenlob nimmt, nicht schaden.'"), Brandes, Bülow, Fuchs in Danzig, Krug in Köln, Levi in München, Overbeck und Widemann sowie an: Hegar, Friedrich, Kapellmeister in Zürich, Kalbeck, Max (Breslau 4 . 1 . 1 8 5 0 — Wien 4. 5.1921), Musik- und Kunstkritiker, schrieb unter dem Pseudonym Jeremias Deutlich; Klindworth, Karl (1830—1916), Pianist und Dirigent, Sdiüler Liszts, Verfasser der Klavierauszüge zu Wagners „Ring des Nibelungen"; Lassen, Eduard (1830—1904), Dirigent und Komponist, 1858—1895 Hofkapellmeister in Weimar; Motti, Felix, Hofkapellmeister in Karlsruhe, gest. 1903; Nikisdi, Arthur (1855—1922), Gewandhauskapellmeister in Leipzig und zugleich Dirigent der Berliner Philharmoniekonzerte; Richter, Hans (1843—1916), hielt sich 1866/67 in Luzern bei Wagner auf und kopierte dort den „Lohengrin" für den Druck, 1876 führte er als erster in Bayreuth den RingZyklus auf, mit Nietzsche durch Wagner persönlich bekannt seit Anfang 1872; Riedel, Carl, Professor, Dirigent des Riedeischen Vereins in Leipzig; Ruthardt, in Leipzig, Spitteier, Carl (Liestal 24. 4 . 1 8 4 5 — Luzern 2 9 . 1 2 . 1924), seit 1893 freier Schriftsteller in Luzern, nachmaliger Nobelpreisträger (1919); Tappert, Wilhelm, geb. am 1 9 . 2 . 1 8 3 0 zu Ober-Thomaswaldau/Schlesien, Musiksdiriftsteller und -lehrer, seit 1866 in Berlin; Volkland. ™ Exemplare an: Brahms, Burckhardt, Gast, Gersdorff, Overbeck, Frl. Salis-Marschlins, Sieber, Rohde und Widmann sowie an: Knortz, Karl (Garbenheim b. Wetzlar 2 8 . 4 . 1 8 4 1 — Tarrytown, USA 2 8 . 7 . 1 9 1 8 ) , wanderte 1863 nach den USA aus, trat im Spätfrühling 1888 brieflich mit Nietzsche in Verbindung.

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1888 Eine Stellungnahme Spittelers

u. Dez. 1887, S. 10 f., 12—15). In einer Besprechung von „Jenseits" geht es dem Verfasser hauptsächlich um eine „Art Verherrlichung der J u d e n " und die „sdiroffe Verurteilung des Antisemitismus", die er darin findet. Nietzsdie ist ihm ein „philosophisdier Seiditfischer", dem „all und jedes Verständnis für nationales Wesen" abgehe, und der „im J e n s e i t s von Gut und Böse' philosophischen Altweiber-Kohl" anbaue. Gegen die von Fritsch selbst angeführten „himmelschreienden Thatsachen" über das wahre Judentum seien Nietzsches Behauptungen nur „der flache geistreichelnde Schwatz eines angejüdelten Stuben-Verlehrten". Aber „zum Glück werden Nietzsches Bücher kaum von mehr als zwei Dutzend Menschen gelesen", seufzt er zum Schluß. 77

Aus der Zeit gegen Ende der 80er Jahre erzählt Henry van de Velde, der damals in Wedel der Zande in der ländlichen Umgebung Antwerpens weilte: „Mit Vorliebe las ich soziologische Bücher oder Romane mit sozialer Tendenz. Unter den soziologischen Sdiriften solche radikalster Richtung, unter den R o m a nen Werke von Zola, die mir zum ersten Male die Hintergründe des Elends der Arbeiter in den Städten und der Bauern enthüllten, sodann Büdier von Gladel und russische Romane in miserablen französischen Ubersetzungen. Die Abende waren der Lektüre des .Zarathustra' und anderer Werke Nietzsches gewidmet. Lange meditierte idi über die Gedanken des ,Philosophen mit dem Hammer' — wie er sich selber nannte, — die mich besser nährten als die wirkliche Nahrung. D a n n griff ich zu der an meinem Kopfende liegenden Bibel, und die elementare Weisheit der Patriarchen des Alten Testaments beruhigte meinen Geist, bis mich der Schlaf hinwegtrug." 7 7 "

Am Anfang des neuen Jahres erschien wiedermal der Versuch einer Gesamtwürdigung, fand Nietzsche nochmals Aufnahme in einem philosophischen Werke und erfuhr die „Genealogie" die ersten und auf lange Zeit hin einzigen Einzelbesprechungen: 78 Spitteier, Carl, Friedrich Nietzsche aus seinen Werken. (B N r . 1, Sonntagsbeibl. v. 1 . 1 . 1888, S. 3—7). Der Verfasser kann Nietzsche „sogar persönliche Sympathie" entgegenbringen, obwohl dieser durch seinen Angriff auf Strauß ihm „auf J a h r e die Lust raubte, mit seinen Werken fernerhin Bekanntschaft zu schließen"; selbst beim Wiederlesen der „ersten Unzeitgemäßen" bleibe es ein „böses Budi". E r geht dann kurz rühmend

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Die Bitterkeit dieser Besprechung läßt sidi leicht erklären, wenn man die beiden Briefe Nietzsches an Fritsch aus dem März desselben Jahres liest; abgedruckt in: Anton Groos, Nietzsche und die „Antisemitische Correspondenz". DRs 86. Jg., H. 4 v. April 1960, S. 333—337. H. v. d. V., Gesdiidite meines Lebens. Hg. u. übertr. v. Hans Curjel. Piper. Mdin. (1962), S. 37; s. a. S. 54: nochmalige Erwähnung des Zarathustra; Velde, Henry van de (Antwerpen 3. 4.1863 — Oberägeri/Schweiz 1957), Baukünstler, bedeutender Führer des Jugendstils.

1888 Eine geheime Spende aus Berlin

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über die nächsten drei „Unzeitgemäßen" hinweg, stellt Nietzsches Abkehr von Wagner ausdrücklich fest, und ergeht sich bei der „Geburt" in folgendem Lobe: „Ich wüßte keinen Menschen der Gegenwart, welcher sich mit Nietzsche in der Erkenntnis des Tragischen messen dürfte." Erst im „Menschliches" (alle drei Teile werden zusammen besprochen) bekomme er aber einen Stil. Trotzdem vermag Spitteier in dem Werke nur eine „Sammlung von Abfällen" zu sehen, dagegen sei die „Morgenröte" ein „Werk" und die „fröhliche Wissenschaft" ein „Schatzkästlein". Der „Zarathustra" bedeutet ihm aber nur einen Seitensprung. In einem Nachtrag befaßt er sich dann mit der „Genealogie" und findet den Stil „das Gegenteil eines guten". Oberhaupt ist die streckenweise sehr rühmende Besprechung voll versteckter, zum Teil sehr bitterer Kritik. N u r „Jenseits" bleibt unberücksichtigt. 79 Brasch, Dr. Moritz, Die Philosophie der Gegenwart. Ihre Richtungen und ihre Hauptvertreter. Für die Gebildeten dargestellt. Greßner & Schramm. Lpz. 1888. XII, 732 S. (Darin zum Schlüsse des Abschnittes: Die Schopenhauersche Schule, vier Seiten über Nietzsche, S. 671—674). Verfasser findet, Nietzsche sei „unzweifelhaft einer der interessantesten und anziehendsten Physiognomien der ganzen Gruppe von Schopenhauerianern". Obwohl er die Bedenken Hartmanns teilt, Nietzsche der Schopenhauerschen Schule zuzurechnen, findet er doch, daß ohne Schopenhauer eine so „eigenartige, romantische Erscheinung ganz undenkbar" wäre. Ihm klingt der Grundton der „Geburt" in allen folgenden Schriften durch, und er hört eine Ähnlichkeit mit Gedanken Fr. Schlegels und Ludwig Wienbargs heraus. Er zeiht Nietzsche eines gewissen „Aristokratismus, ethischen Skeptizismus und kühnen künstlerischen Romantizismus". Zum Schluß behauptet er, daß Nietzsche „sowohl den philosophischen und wissenschaftlichen Bestrebungen, als auch dem eigentlichen Geiste der Zeit sehr fern" stehe. 79/1 anonym, (DRs Bd. 54, März 1888, S. 479). Eine halbspaltige Anzeige der „Genealogie", in der es zum Schluß heißt: „Der Grundgedanke des Buches ist eine Ungeheuerlichkeit, die unser Empfinden empört; aber die Art der Ausführung, die auch sehr viel Wahres, Treffendes, tief Gedachtes in den Dienst dieses Gedankens zu stellen weiß, macht die Schrift gefährlich, denn sie macht sie bedeutend und interessant." 80 Michaelis, P., Zur Genealogie der Moral. (NZg N r . 164 v. 11. 3. 1888). Er meint, „man wird das vorliegende Buch nicht ohne Nutzen lesen", denn, obwohl Nietzsche „grob" sei, versuche er es wenigstens, ehrlich zu sein. Verfasser kennt auch „Jenseits" (s. Nr. 68) und den „Zarathustra", vor dessen Übermenschen „man sich entsetzen" könne.

Im Sommer 1888 näherte sich ein „junger Privatdocent" Deussen in Berlin und erkundigte sidi über Nietzsche, „dessen Sdiriften er gelesen hätte". Nachdem Deussen ihn über die „bescheidene Lebensführung" Nietzsches erzählt hatte, erschien der junge Gelehrte zwei Tage darauf wieder und berichtete, „daß es ihm gelungen sei, für Nietzsche die Summe von

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1888 Carl und Gerhart Hauptmann

2000 Mark zusammenzubringen". 78 Der Spender war laut Hans von Müller Richard M. Meyer. 79 Zwischen Mai und Herbst 1888, als er zu Besuch bei seinem Bruder Carl in der Freien Straße in Zürich weilte, lernte Gerhart Hauptmann Nietzsches Werk kennen und zugleich ablehnen: „Die Welterneuerer, Weltverbesserer tauchten überall auf. Audi Nietzsche, dessen ,Zarathustra* eines Tages als Zeitsymptom im Asyl der Freien Straße lag, gehörte darunter." Mit Bezug auf Nietzsches Angriffe auf Wagner setzt er fort: „Nein, der weinerliche Vortrag schwerster Beleidigungen eines Freundes, von schwächlich-heuchlerischem Gewinsel gefolgt, das wahrhaftig nichts Übermenschliches an sich hat, konnte uns Junge damals nur abstoßen. Friedrich Nietzsche w a r nicht unser Mann. Es fehlte uns auch damals die Zeit, subtile und komplizierte Gespinste des Gehirns, die wesentlich Selbstzweck schienen, zu verfolgen. Nein, wir hatten Besseres zu tun. W i r wollten blühen, wir wollten Frucht bringen." 8 0

In dem um 1900 verfaßten und 1903 erschienenen, stark autobiographischen Roman „Ellen Olestjerne" von Franziska Gräfin zu Reventlow findet sich folgendes Erlebnis, das sich im Spätsommer des Jahres 1888 in L(übeck) abspielt: 78 74

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Paul Deussen, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. Lpz. F. A. Brockhaus 1901, S. 84 f. J. Hofmiller, Briefe. 2. Tl.: 1922—1933. Ausgew. u. hg. v. Hulda Hofmiller. Karl Rauch Vgl. Dessau (1941 = J . Hs. Schriften 6. Bd.), S. 325. Meyer, Richard Moritz (Berlin 5. 7.1860 — ebd. 8.10.1914), seit 1903 Professor für deutsche Sprache und Literatur in Berlin. Das Abenteuer meiner Jugend, in: Die großen Beichten. Propyläen Vlg. Bln. (1966), S. 628, 631; sonstige Erwähnungen Nietzsches auf S. 629 f., 635, 649. Das Buch erschien zuerst im Jahre 1937 in zwei Bänden. Hauptmann, Carl (Obersalzbrunn 11.5.1858 — Schreiberhau 4 . 2 . 1 9 2 1 ) , s. folgende undatierte Äußerung: „Wir kamen auf Nietzsche. Ich ging davon aus, daß ich zwischen monumentalen und ornamentalen Geistern unterscheide, und daß ich in Nietzsche einen monumentalen Geist nicht finden könnte — und keinen Geist des schöpferischen Affektes, so sehr er Lachen und Tanz und Leichtigkeit gepriesen hat. Wenn ich ihn früher las, habe ich mir immer einen Mann vorstellen müssen, der mit erhitztem Kopfe zu mir redete, einen Mann in Erregung, nicht in Verzückung... In Nietzsche war allzeit einer, der neben seiner Ideen- und Formenwelt herlief, und manchmal mit den Fingern, wie ein Gassenbube, darauf wies, lachend und höhnend, manchmal wie ein müder Kranker sie verächtlich entwertend, manchmal wie ein wütender mit der geballten Faust dagegen rennend, wie gegen böse Schatten, oder auch wie ein Zauberkünstler mit ihnen mit mephistophelischer Miene jonglierend. Kein Zweifel, seine Ideen und Formen waren in einer großangelegten Seele, aus flutendem Lebenskampfe geboren, es handelt sich bei ihm allzeit um köstliche Dinge. Man muß zugeben, daß es Brillanten waren, die er ausgestreut. Und man kann sich mit Brillanten schmücken. Er hat sie üppig ausgestreut, genug für viele Bettelleute, die plötzlich wieder Ideen haben in heller Menge. Ja, mit Brillanten kann man die Seele schmücken. Aber monumentale Geister sind Felsen, auf denen die Seele festen Fuß und festen Grund findet. Und das sind ornamentale Geister nie. Nietzsche hatte Fülle und Glanz und Schönheit, auch wahres und tiefes Erlebnis auf Schritt und Tritt, aber die eherne Ruhe und das schlichte, notwendige Wahre fehlten ihm . . . Denn Nietzsches Schönheits- und Wahrheitswelt wurzelt nicht in den Lichtgründen der Menschenseele, . . . sie wurzelt in vergifteten, gewaltsamen und gespannten

1888 Zarathustra und die Jugend

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„Eines Abends kam Detlev mit einem Budi nach Hause. Die Eltern waren aus, und dann machten die beiden Jüngsten es sich in des Vaters Zimmer bequem. Sie holten sich ihren Tee herüber, vor dem Ofen schliefen die Hunde, Ellen lag auf dem Sofa, Detlev saß neben ihren Füßen und las vor — es war Nietzsches Z a r a thustra. Sie bebten beide — der Himmel tat sich über ihnen auf in lichter blauer Ferne — jedes W o r t löste einen Aufschrei aus tiefster Seele, band eine dumpfe, schwere Kette los, sagte etwas, was kein Mensch sagen konnte oder je gesagt hatte, wonach man im Dunkeln herumgetappt hatte und geglaubt es nie zu finden. Das war nicht mehr Verstehen und Begreifen — es w a r Offenbarung, letzte äußerste Erkenntnis, die mit Posaunen schmetterte — brausend, berauschend, überwältigend. Und alles andere, der Alltag, das Alltagsleben und -Empfinden schrumpfte in eine öde, farblose Masse zusammen, verlor sein Dasein — nur das wahre, das heilige, große Leben leuchtete und lachte und tanzte. Sie konnten sich nicht mehr zurückfinden — noch spät in der Nacht saß der Bruder an Ellens Bett und las immer weiter — wie aus einer andern Welt hörten sie die Eltern und Schwester heimkommen, die Haustür zufallen und alles wieder ruhig werden. U n d von nun an lasen sie jeden Abend, der Zarathustra wurde ihre Bibel, die geweihte Quelle, aus der sie immer wieder tranken und die sie wie ein Heiligtum verehrten. Auch wenn sie mit ihren Freunden zusammen waren, — da gab es Gespräche, bei denen sie Affekten, die grotesk aufwuchsen und ein launisches Spiel trieben. Deswegen mag man ihn bewundern, wie man ein glänzendes Feuerwerk bewundert. Aber um unser Menschenleben zu erleuchten und zu erwärmen, wird nur ein Kind oder ein Narr nach Sprühsonnen und Leuchtkugeln greifen." (C. H., Aus meinem Tagebuch. List. Lpz. (1923, 3. erw. Aufl. hg. v. Will-Erich Peuckert), S. 235 f. Die Erstauflage erschien schon 1900. Hauptmann, Gerhart (Obersalzbrunn 15.11.1862 — Agnetendorf 6 . 6 . 1 9 4 6 ) ; auf die Zusendung von „Vor Sonnenaufgang" antwortete Georg Brandes später abschließend mit der Aufforderung: „Lesen Sie von Nietzsche die Bücher Jenseits von Gut und Böse' und ,Zur Genealogie der Moral'." (Abgedruckt in: Voigt, Felix Α., HauptmannStudien. Untersuchungen über Leben und Schaffen Gerhart Hauptmanns. l . B d . Aufsätze über die Zeit von 1880 bis 1900. 1936 Maruschke u. Berendt. Breslau, S. 72; zum Nietzscheschen Einfluß, der „unverkennbar" sei, auf Hauptmann zur Zeit dessen Helios-Fragmente Mitte der 90er Jahre s. ebd., S. 119 ff.). S . a . : Voigt, Antike und antikes Lebensgefühl im Werke Gerhart Hauptmanns. 1935 Maruschke & Berendt. Breslau, S. 52—55 ( = Deutschkundliche Arbeiten. Veröffentlichungen a. d. Dt. Institut d. Univ. Breslau. B. Schlesisdie Reihe. Bd. 5), sowie den Bericht von Moritz Heimann: Gerhart Hauptmann, Züge zu seinem Porträt, der einige Äußerungen Hauptmanns zu Nietzsche wiedergibt: „ . . . was sei das doch für ein sonderbares Buch (d. i. die „Geburt"), in welchem so unendlich viel vom Dionysischen und von Dionysos die Rede sei und das Wort ,Wein' nicht vorkomme. Ein anderes Mal wendete er sich mit Entschiedenheit gegen den bekannten Satz Nietzsches, daß Goethe ein versetzter Maler und Wagner ein versetzter Schauspieler sei; . . . Nietzsche will mit seinem Wort ein jähes, schnell vorübereilendes, aber nachwirkendes Licht auf Goethe, Wagner und ein paar andere Heroen werfen; Hauptmann glaubt, daß damit die Einmaligkeit der Gestalt verletzt werde." (Mit G. H. Erinnerungen und Bekenntnisse aus seinem Freundeskreis. Hg. v. Walter Heynen. 1922. Georg Stilke. Bln., S. 189 f.). Noch im Jahre 1939 streifte Voigt das Thema des Nietzsche-Hauptmann-Verhältnisses in: Grundfragen der Gerhart-Hauptmann-Forschung. Germanisch-Romanische Monatsschrift. Bd. 27, S. 284 f.

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1888 Der Fall Wagner

alle fieberten: die alte morsche Welt mir ihrer Gesellschaft und ihrem Christentum fiel in Trümmer, und die neue Welt, das waren sie selbst mit ihrer Jugend, ihrer Kraft, mit allem, was sie schaffen und ausriditen wollten. Es war wie ein gärender Frühlingssturm in ihnen, jeder träumte v o n einem ungeheuren Lebenswerk, und sie alle hätten sich jeden Tag für ihr Lebensredit und ihre Überzeugung hinschlachten lassen, wenn es nötig gewesen wäre." 800

Ende Februar klagte Nietzsche, daß die Zeitungen und Zeitschriften, welchen Fritzsch „durch ein artiges Circular letzten Herbst" ein GesamtExemplar seiner Schriften angeboten hätte, zum Zweck einer Besprechung, ihm samt und sonders nicht geantwortet hätten. Anfang September aber erschien dann, wozu Peter Gast wieder Korrektur las: X V I I Der Fall Wagner. / Ein Musikanten-Problem. / Von / Friedrich Nietzsche. / Leipzig. / Verlag von C. G. Naumann. / 1888. 4 Bll., 57 S. (Druck von C. G. Naumann.) 8°. 8 1

Sehr bald darauf erschienen die ersten vier Besprechungen, voran eine sehr sachlich gehaltene Anzeige unter der Rubrik „Musik" im „Kunstwart", einer Zeitschrift, der Nietzsche im September 1887 schon seine Mitarbeit zugesagt hatte, ohne aber jemals etwas zu liefern: 81 M. W. ( K w 2. Jg., 2. Stück, 2. Oktoberheft, S. 20). Hierzu gab die Redaktion in dem nächsten Stück der Zeitschrift bekannt: „Auf Anfragen bemerken wir hiermit ausdrücklich, daß der mit M. W. unterzeichnete Bericht über Nietzsches Buch ,Der Fall Wagner' (Kunstwart 2) nicht von Moritz

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F. Gräfin R., Ellen Olestjerne. Eine Lebensgesdiichte. J. Mardilewski. Mdin. 1903, S. 120 ff. Audi in: Ges. Werke. Hg. v. Else R e v e n t W . Langen. Mdin. (1925), S. 575 f.; Reventlow, Franziska Gräfin zu (Husum 18.5.1871 — Muralto 27.7.1918), Schriftstellerin. Exemplare an: Bülow, Deussen, Burckhardt, Fuchs, Gast, Gersdorff, Malwida, Seydlitz, Spitteier und durch Brandes an: Frau Bizet, Strindberg, August, in Holte b. Kopenhagen; Brandes glaubte später Nietzsches Einfluß besonders im „Tschandala" und „Auf offenem Meere" deutlich zu spüren; Ténidieff, Fürstin Anna Dmitrievna, in Petersburg; von dem Exemplar schrieb Brandes: „That his sense of propriety was beginning to be deranged was already shown when sending the book to Princess Ténidieff. This lady wrote to me in astonishment, asking what kind of a strange friend I had recommended to her: he had been sufficiently wanting in taste to give the sender's name on the parcel itself as 'The Antichrist'." (G. B., Friedrich Nietzsche. NY. Macmillan [1914, übers, v. A. G. Chatir], S. 98) Urussow, Fürstin, in Petersburg, durch Deussen an dessen Schwiegervater : Volkmar, Lothar, Reditsanwalt in Berlin, sowie an : Avenarius, Ferdinand (Berlin 20.12.1856 — Kampen auf Sylt 22.9.1923), Neffe Wagners, seit 1887 Hg. d. „Kunstwart"; Paul, ein Geiger in Berlin.

1888 Eugen Dühring gegen Nietzsche

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Wirth verfaßt ist. Übrigens wiederholen wir unsere Mitteilung, daß Nietzsches Schrift mit jener Inhaltsangabe für unser Blatt nodi nicht erledigt ist." 82 Pohl, Richard, Der Fall Nietzsche. Ein psychologisches Problem. (MW 19. Jg., Nr. 44 v. 25.10.1888, S. 517—520). Verfasser will, wie die Uberschrift schon andeutet, den Spieß umdrehen und in Nietzsche „den Kranken, Geistesschwadien und -gestörten" sehen. Er stellt weiterhin fest, daß Nietzsche eine unmusikalische Natur sei; er habe aber trotzdem einen „Hymnus an das Leben" und vor längerer Zeit auch eine Oper komponiert, zu welch letzterer Richard Wagner „dummes Zeug" gesagt haben soll — also hierin, glaubt der Verfasser, könne man den „Causal-Nexus" für Nietzsches Abfall sehen. Bemerkenswert ist, daß Pohl in Nietzsche das „Seitenstück zu Max Nordau" sieht. 83 Spitteier, Carl (B 39. Jg., Nr. 309 v. 8. 11. 1888). Verfasser verrät hier sehr deutlich, was er in seiner ersten Stellungnahme zu Nietzsdie (s. Nr. 78) nur gelegentlich durchblicken ließ, nämlich warum er sich endlich, wenigstens bedingterweise, an Nietzsches Werken erfreuen konnte: er begrüßte dessen Abfall von und Angriff auf Wagner aufs herzlichste, „Der Fall Wagner" gehöre zu den einfachsten und besten Schriften Nietzsches. 84 Widmann, J. V., Nietzsches Abfall von Wagner. (B 39. Jg., Nr. 321 f. v. 20. u. 21.11. 1888). Nietzsche ist ihm ein „Federheld"; er pflichtet den zustimmenden Äußerungen Karl Spittelers bei, findet aber, daß „die Kehrseite dieser eigentümlichen Denkmünze" nicht beleuchtet worden sei. Hier gäbe es eine „affenartige Behendigkeit und Schamlosigkeit" und die „verzweifelte Lustigkeit eines Zirkusclowns". Doch will Widmann Wagner „rein als Musiker" verteidigen, der selbst durch seine Schriftstellerei seine Musik vielen verleidet habe. Gegen Nietzsches Betonung der Dekadenz, die kein „drinsteckender Zeitgenosse übersehen" könne, stellt er die verbesserten Gesundheitsverhältnisse der modernen Menschheit; mit nichts aber so sehr als seinem Angriff auf Brahms habe sich Nietzsdie unsterblich blamiert: er leide an Größenwahn. Der Denker, den er früher achten und beachten zu sollen glaubte, sei nun für ihn tot. Schon im Herbst 1888 muß auch das Buch der Helene Druskowitz: „Eugen Dühring. Eine Studie zu seiner Würdigung. Heidelberg. G. Weiß. 1889" (s. Anm. 64), erschienen sein, aus dem folgende lange und recht giftige Anmerkung bezüglich der „Genealogie" anführenswert ist: „Dühring's Begründung der Gerechtigkeit auf die Rache tritt Friedrich Nietzsche in seinem neuesten Werke ,Zur Genealogie der Moral' (Leipzig 1887) entgegen (S. 63). Doch steht fest, daß eine Form der Gerechtigkeit im reaktiven Gefühle wurzelt und sind Nietzsche's eigene Auseinandersetzungen über diesen Gegenstand unvollkommen und vage — Eigenschaften, die übrigens allen Erörterungen dieses Schriftstellers anhaften. Es ist bedauerlich, wie wenig Professor Nietzsche Dühring zu schätzen versteht, in dem er hauptsächlich den Agitator und Antisemiten sieht. Kaum aber traut man seinen Augen, wenn man folgende Stelle liest (S. 133): ,Man blidke i n . . . (Zitat) ...diese physiologisch Verun-

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1888 Zum Fall Wagner

glückten und Wurmstichigen.' Doch ist diese Stelle in jeder Beziehung für Nietzsche characteristisch und als ein unbewußter Racheakt der geringeren und schwächeren Natur an der höheren, stärkeren, gesunden, an dem ,Rache-Apostel' Dühring aufzufassen. Wir fürditen daß in die Kategorie der physiologisch Verunglückten' Allen voran Professor Nietzsche selbst wird einzureihen sein. Denn es kommt ihm immer mehr der Sinn für einfach menschliche Empfindungen und für natürliches Denken abhanden, er sciiwelgt in immer haltloseren und zugleidi gefährlicheren Paradoxien, gefällt sich in immer abstoßenderen Gesalbader, und Großmannsucht und Dünkelhaftigkeit nehmen immer bedenklichere Dimensionen bei ihm an. Wir erinnern die Leser seiner letzten Schriften, mit welcher unbeschreiblichen Verachtung er, und er thut es unzählige Male, von jenen spricht, die das Unglück haben, ,pöbelhaft' zu sein und welch' abgöttliche Verehrung er mit den ,Vornehmen' treibt. Schließlich ergibt sich aber, daß seine Auffassung der Vornehmheit eine völlig verkehrte ist, da Napoleon I. als ,das fleischgewordene Problem des vornehmen Ideals an sich' bezeichnet wird. (S. 30). Einer der glänzendsten Stilisten und geistvollsten Köpfe unserer Zeit, täuscht er sich und die Welt über die gleichwohl bestehende Insufficienz seines Wesens und den Mangel an selbständigen Gedanken, es wären denn solche, die jeder Haltbarkeit und Berechtigung entbehren. So ist er nach jahrzehntelangem Umhertasten zu Resultaten gelangt, die mit Leichtigkeit ad absurdum können geführt oder geradezu als ungeheuerlich müssen bezeichnet werden, wie ζ. B. die Behauptung, daß die fortschreitende ,Moralisirung' der Menschheit den Untergang des höheren menschlichen Typus bedeute, eine Anschauung, die eben in einer grundfalschen Auffassung des Humanitätsideals wurzelt." 810 Daß der „Fall Wagner" Nietzsche einige neue Leser aus dem Lager der Wagnergegner brachte, zeigen drei Briefe des Chirurgen Theodor Billroth an den Wiener Musikprofessor Eduard Hanslick vom 20. Oktober 1888, 1. und 16. Juli 1889. 8 2 Trotz seiner Wagnerfeindschaft findet Billroth aber sowohl im „Fall Wagner" wie auch in der „Götzendämmerung" den versteckten Wagnerianer, „litterarisdien Wagnerianismus in blödester Formlosigkeit". 81(3

82

S. 61 f . ; s. a. ebd., S. 6 5 : „Bezüglich der Schätzung des Genies nimmt Dühring eine Mittelstellung ein zwischen Carlyle's, des .Censors des Zeitalters' maßlosem Heroencultus, (dem in Deutschland Friedrich Nietzsche eine höchst bizarre Wendung gegeben) und der nüchternen, demokratischen Auffassung Buckle's." Das Exemplar der H a r v a r d Universität, das mir vorgelegen hat, trägt eine Widmung der Verfasserin an Dr. Μ. Β rasch, datiert vom 18. 8. 1888. Abgedruckt in: Ed. Hanslick. Aus meinem Leben. 2. Bd. Bln. Allgem. Verein f. Dt. Litt. 1894, S. 344, 346 ff. Der zweite Brief v. 1 . 7 . 1 8 8 9 , den Hauptteil der Kritik an der „Götzendämmerung" enthaltend, auch in: F Z g 38. Jg., N r . 152 v. 3. 6 . 1 8 9 4 , S. 2. Billroth, Theodor (1829—1894), lehrte und arbeitete von 1867 an in Wien, Bahnbrecher der modernen Chirurgie, die Leidenschaft zur Musik war seine andere Natur, mit Brahms eng befreundet; Hanslick, Eduard (Prag 1 1 . 9 . 1 8 2 5 — Wien 6 . 8 . 1 9 0 4 ) , lehrte als Musikästhetiker an der Universität Wien 1 8 5 6 — 1 8 9 5 .

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1888 Zum Fall Wagner

I m zweiten N o v e m b e r h e f t des „ K u n s t w a r t "

erschien dann eine B e -

sprechung v o n Peter Gast, der als Einleitung und Schluß eine A r t E r k l ä r u n g des Herausgebers der Zeitschrift beigegeben w u r d e : 85 Gast, Peter, Nietzsche-Wagner. ( K w 2. J g . , 4. Stück, S. 52—55). Hier spricht der erste Jünger Nietzsches, der in ihm weder den Wagnerianer, noch den Schopenhauerianer sieht, noch freut er sich vordergründig über Abfall oder Angriffe. Nietzsche ist ihm eine „Kultur für sich, antiromantisch, antichristlich, antirevolutionär, antidemokratisch, kurz vornehm". 86 (Die Worte von Ferdinand Avenarius zu obiger Besprechung, ebd., S. 52 u. 55 f.). Zugestehend, daß Nietzsche „einer der geistvollsten und tiefsten Denker unserer Zeit" sei, bleibt diese Schrift ihm eine unerfreuliche, Nietzsche komme ihm hierin wie ein „espritreicher Feuilletonist" vor, der mit großen Gedanken spiele. Dodi dürfe es keinem länger einfallen, diesen Nietzsche vornehm zu belächeln oder überlegen abzutun. 83 86/1 Conrad, M. G., (Ges 12. H . v. Dez. 1888, S. 1156 ff.). Eine fünfspältige Besprechung der „Genealogie", die anfangs einen Vergleich mit Dostojewski „Raskolnikow" anschlägt, um diesen aber zugunsten Nietzsches, dieses „außerordentlichsten, phänomenalsten Kopfes, den bis jetzt der Skeptizismus auf deutschem Boden gereift hat", dann gänzlich aufzugeben. Verfasser meint, seinen „Lesern diese Schrift als eine der kühnsten und geistreichesten Erscheinungen im Bereiche philosophischer Spekulation nicht dringend genug empfehlen" zu können. A u f die Erscheinung des Pohlschen Angriffes im v o n E . W . Fritzsch herausgegebenen „Musikalischen Wochenblatt" hin leitete sich ein neuer V e r lagswechsel ein, der aber erst im J a h r e 1 8 9 2 m i t der Ü b e r n a h m e der R e s t bestände aus dem Fritzsch'schen Verlage seitens C . G. N a u m a n n s

abge-

schlossen wurde. E n d e des Jahres

1888,

falls die Angaben

stimmen

sollten,

madite

L u d w i g Stein Bekanntschaft m i t W e r k e n Nietzsches:

M

Im zweiten Dezemberheft des „Kunstwart" ergriff dann Nietzsche selbst in der Form von zwei Briefen an den Herausgeber das W o r t : Ζ (Zwei Briefe, in denen die Schlußworte von Avenarius zu Gasts Anzeige (s. o. Nr. 86) angegriffen werden. S. 89. Daß der Herausgeber Avenarius noch einen Brief von Nietzsche erhielt, erhellt aus folgender Äußerung aus der Abteilung „Verkehr" ( K w 2. Jg., 15. Stk. v. Mai 1899, S. 2 3 8 ) : „K. Sdì. in D. Wir haben von Nietzsches Erkrankung s. Z. nicht Kenntnis gegeben, weil es uns nach der Polemik zwischen Nietzsche, Peter Gast und dem Herausgeber d. Bl. nicht angebracht schien, irgendwelche Vorurteile zu erwecken, die einer sachlichen Prüfung der Gründe entgegenarbeiten konnten. Übrigens erhielt nach dem im .Kunstwart' abgedruckten der Herausgeber noch einen weiteren Brief von Nietzsche, der vom Ausbruche der Krankheit leider unverkennbar zeugte und uns bestimmte, die Verhandlung in Sachen Nietzsdie-Wagner sofort zu schließen."

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1889 Götzendämmerung

„Mit meiner Tätigkeit als Chefredakteur und Herausgeber des ,Archiv der Geschichte für Philosophie' hängt bis zu einem gewissen Grade mein Verhalten zu Friedrich Nietzsche zusammen. Eines Tages erhielt idi in Zürich von Nietzsche selbst, den ich damals nicht einmal dem Namen nach kannte, drei seiner Werke mit der Bitte zugeschickt, sie in meinem ,Archiv' entweder selbst zu besprechen oder besprechen zu lassen. Diese drei Werke waren ,Fröhliche Wissenschaft', Jenseits von Gut und Böse' und ,Götzendämmerung'. Nach meiner Gepflogenheit schnüffelte ich erst in den mir zugesendeten Rezensionsexemplaren, bevor idi sie den betreffenden Referenten fürs .Archiv' weitergab. Der Titel,Götzendämmerung oder wie man mit dem Hammer philosophiert', mutete mich so sonderbar an, daß idi gleich zu dieser vergleichsweise kleinen Schrift griff, um mich an den Autor anzupirsdien, bevor idi das Exemplar weitergab. Nach dem ersten Durchblättern dieser Sdirift war ich wie vor den Kopf gestoßen und fragte mich: ,bin idi verrückt, oder ist es der Verfasser?' Der unerhörte Stil, verbunden mit einer Tiefe und Fülle von aufpeitschenden philosophischen Gedanken, packte mich dermaßen, daß ich Speise und Trank vergaß, die drei Bücher in eine Droschke packte und midi mit ihnen auf den Zürichberg fahren ließ, um dort unter freiem Himmel das aufgewühlte Blut und die irritierten Nerven zu besänftigen." 84 Anfang November 1888 wurde die nächste Schrift, vorerst „Müßiggang eines Psychologen" betitelt, fertiggedruckt. Zwischen dem 28. Dezember 1888 und dem 3. Januar 1889 brach aber Nietzsdie in Turin zusammen; Overbeck reiste am 7. Januar hin und brachte den nun Geisteskranken am 10. Januar vorerst nach Basel zurück. So gelang das neue Werk erst Mitte Januar 1889 in den Handel: XVIII Götzen-Dämmerung / oder / Wie man mit dem Hammer philosophirt. / Von / Friedrich Nietzsdie. / Leipzig. / Verlag von C. G. Naumann. / 1889. II, 144 S., 2 Bll. (Druck von C. G. Naumann.) 8°.e« Vom plötzlichen Bekanntwerden Nietzsches in manchen Kreisen in den letzten Monaten des Jahres 1888 und kurz danach zeugen folgende Briefstellen Detlev von Liliencrons: „Wenn Sie Brandes sehn, so lassen Sie sich von ihm ,Nietzsches Werke' geben. In diesem Augenblick ist alles über diesen Autor in furchtbarer Anregung hier; einige sagen:,Nietzsche sei eine Kultur für sich' ρ. p." 8e 84

81

L. S., Aus dem Leben eines Optimisten. 1930. Brückenvlg. Bln., S. 42 f., s. ebd. weiter bis S. 48; Stein, Ludwig (Erdô-Bénye/Ungarn 1 2 . 1 1 . 1 8 5 9 — Salzburg 13.7.1930), zuerst Rabbiner in Berlin, seit Frühjahr 1886 Privatdozent der Philosophie an der Universität Züridi und am dortigen Polytechnikum, ab 1890 Professor in Bern, übersiedelte Herbst 1909 nadi Berlin und widmete sich der Publizistik und Politik, seit Januar 1912 Leiter der Monatsschrift „Nord und Süd". Exemplare an: Burckhardt, Fuchs, Gast, Taine und durch Overbeds an: Bunge, Gustav von (Dorpat 1 9 . 1 . 1 8 4 4 — Basel 5 . 1 1 . 1 9 2 0 ) , Physiologe, seit 1885 Professor in Basel.

1889 Detlev von Liliencron

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„Es ist Friedrich Nietzsche, über den Deutschland ζ. Z. außer sich in Aufregung, durch seine Schrift: ,Der Fall Wagner'. Sein H a u p t w e r k soll sein: .Also sprach Zarathustra'. Wir Deutschen müssen jetzt schöne Dinge darüber hören, so u . a . daß Taine — in Savoien — und B r a n d e s in Kop. ihn erkannt haben; w i r natürlich nicht." 87

Trotz der Begeisterung Liliencrons aber blieb die öffentliche Wirkung im Jahre 1889 nodi mäßig: 87 anonym, (BasN 45. Jg., N r . 34 v. 4. 2 . 1 8 8 9 ) . D a s Bemerkenswerte dieser sonst unauffälligen Besprechung der „Götzendämmehrung" ist, daß sie Bekanntschaft mit den früheren Werken Nietzsches bei den Lesern voraussetzt. Ansonsten meint der Bespredier, stelle „die neueste Schrift wieder eine wahre Fundgrube origineller und fruchtbringender Gedanken vor". 87/1 anonym, ( B I L U 7. 2 . 1 8 8 9 , S. 89 f.). Eine Anzeige des „Fall Wagner", in dem Nietzsche „in einer so giftigen, v o r allem so endlos abgerissenen, zerhackten Sprache, in so zugespritzten Wendungen" rede, daß sein Buch genau das in Worten sei, was er so sehr bekämpfe, „nämlich .unendliche Melodie' (im Wagner'sdien Sinne)". Verfasser beklagt es „um so mehr, als dadurch der Erfolg des Schriftchens nur beeinträchtigt werden könnte". 88 Hentsdiel, Willibald, Irrende Spekulation oder wahre ( A C N r . 45 v. 17. 2. 1889, S. 4 f.).

Geistes-Kultur?

· · Am 21.11.1888 von Kellinghusen aus an Hermann Friedrichs, der damals in Kopenhagen war, in: D. v. Ls. Brief an Herrn. Friedrichs aus den Jahren 1885—1889. M. Anm. v. H . Friedrichs. Vollst. Ausg. Concordia Dt. Vlgs.-Anst. Bln. 1910, S. 326. 87 Am 7. 2.1888 an denselben, ebd., S. 329. Daß Liliencron Nietzsche nodi nicht kannte, geht aus einem Brief an Friedrichs vom 5.12.1888 eindeutig hervor: „Wenn Sie Bücher von Nietzsche bekommen, dann bitte leihen Sie (sie) mir einige Tage." (Ebd., S. 330) ; sowie aus dem Brief an denselben vom 28.12.1888: „Nietzsche will ich sehen, zu bekommen. Aber wo?" (Ebd., S. 334). Die Bekanntschaft erfolgte dann zwischen Ende Dezember 1888 und Ende Januar 1889 und wird in einem Brief an Reinhold Fuchs vom 19.1.1889 bezeugt: „Lesen Sie ja das Neueste von Friedridi Nietzsche: Götzendämmerung. Ich bin lange nicht in Allem da einverstanden, aber —" (D. v. L. Ausgewählte Briefe. l . B d . Schuster 8c Loeffler. Bln. 1.—3. Aufl. 1910, S. 189). D a ß aber die Bekanntschaft eine allmählig erfolgende war, spiegelt sich in folgenden Briefen wieder: zuerst an Reinhold Fuchs vom 5. 2.1889: „Nietzsche lesen Sie nur: Ich will ihn erst lesen, wenn idi mit meiner Correktur fertig bin, um nicht etwa von ihm beeinflußt zu werden." (Ebd., S. 192); an M. G. Conrad vom 15.4.1889: „ . . . e r war der geistig höchst stehende Deutsche. Aber der ausbrediende Wahnsinn war fast vorauszusehen. Man merkte ihn sdion in seiner Antwort an Avenarius. Idi las eigentlich nur von ihm ganz: ,Götzendämmerung'." (Ebd., S. 196); an Karl Henckell am 27.5.1890: „Idi lese jetzt Nietzsche. Ich bin hingerissen von ihm. Es ist selbstverständlich, daß die guten Bier- und Skatdeutsdien ihn nicht kennen. Zu empörend." (Ebd., S. 214). Nodi dreizehn Jahre später aber muß er gestehen, in einem Brief an Fritz Bockel vom 27.11. 1903: „Friedrich Nietzsche liebe ich außerordentlich. Aber idi habe nodi nicht alle seine Werke gelesen." (Ebd., Bd. II, S. 260). Liliencron, Detlev Frhr. von (Kiel 3. 6.1844 — Alt-Rahlstedt t>. Hamburg 22. 7.1909); Henckell, Karl (Hannover 17.4.1864 — Lindau 30. 7.1929), Schriftsteller, Lyriker des Naturalismus, Sozialrevolutionär, lebte seit 1886 in der Schweiz.

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1889 Wieder die Antisemiten/Ola Hansson

Verfasser weist voll billigend auf die Zurechtweisung Nietzsches durch Theodor Fritsdi hin (Nr. 77), erinnert aber, als einer, den „eine frühere zu warme Anteilnahme an den Schriften und Geschicken Nietzsches" festhalte, an den „früheren Vorkämpfer für die Wagner'sche Musik", den „unermüdlichen Verfechter einer reinen Geistigkeit" u. a., um zu beklagen, daß „die Juden-Liebhaberei sidi seither wie ein roter Faden durch seine Schriften" ziehe. Er sei „das Opfer eines im Absterben begriffenen Zeit-Alters". 89 Hansson, Ola, Friedrich Nietzsche. Die Umrißlinien seines Systems und seiner Persönlichkeit. Kritischer Entwurf. (UZ 2. Jg., Nr. 11 v. Febr. 1889, S. 400 bis 418).88 Verfasser weiß schon Nietzsches Zusammenbruch zu berichten und scheint, obwohl er irrtümlich mitteilt, Nietzsche befinde sich in einer italienischen Irrenanstalt, die Geistesstörung als einen möglicherweise vorübergehenden Zustand anzusehen. Er faßt die „Geburt" als nach den „Unzeitgemäßen" geschrieben auf, und vermerkt bei „Menschliches", daß man hier schon das Gefühl habe, es handele sich um einen verstörten Geist. Nach einer Inhaltswiedergabe der Werke bis zur „Götzendämmerung" — nur den „Fall Wagner" läßt er unberücksichtigt — bezeichnet er Nietzsche als eine „sowohl im Wesen wie in der Form gewaltsame Reaktion gegen im Grunde alle die Richtungen und Tendenzen, die man vorzugsweise die der Gegenwart" nennen könne, er stehe „wie eine Granitklippe mitten im Flußbett, und die Zeitwellen brechen sich an ihrem Fuß", er sei der tiefste aller modernen Geister. Nach Hervorhebung der „auffallenden Ähnlichkeiten" zwischen Einsichten Nietzsches und den Ergebnissen Lombrosos schließt er mit der Behauptung, Nietzsches Streben bezeichne die größte Revolution, die die Geschichte der Moral seit dem Kampf des Christentums mit der Antike aufzuweisen habe. Die Redaktion der Zeitschrift glaubte, ein Wort der Rechtfertigung beibringen zu müssen, um die Aufnahme des Aufsatzes zu erklären und dämpfend auf die „bewundernde und sympathische Stellungnahme des Herrn Verfassers" zu wirken. 89 a Dass., Separat-Abdruck im Verlag von E. W. Fritzsch. 1890. 30 S. (Ohne die Bezeichnung: Kritischer Entwurf). Die Zustimmung des Verfassers ist hier weitgehend ungehaltener. Auch stellte er dem Aufsatz zwei neue Abschnitte voran, in denen er Nietzsche als „Sturmherd und Ausgangspunkt großer Wogen" mit Taine, Mill und Darwin als „kleinen Wellen auf dem großen Entwicklungsozean" vergleicht, und teilt einige biogra-

M

Hansson, Ola (Hönsinge/Schonen 1 2 . 1 1 . 1 8 6 0 — Böjükdere b. Istanbul 2 6 . 9 . 1 9 2 5 ) , Schriftsteller, verh. m. Laura Marholm, Anreger und Mittler zwischen deutschem und skandinavischem Geistesleben in den Jahren des erwachenden Naturalismus, hat auf Gerhart Hauptmanns Generation, unter der er in Berlin und München lebte, einen nachhaltigen Einfluß geübt. Seine Werke sind: Parias. Fatalistische Geschichten. Bln. 1890 / Alltagsfrauen. Ein Stück moderner Liebespsychologie. Bln. 1891 / Seher und Deuter. 2. Aufl. Bln. o. J. (enthält Aufsätze über Poe, Gersdiin, Stirner, Bourget und Böcklin) / Sensitive amorosa. Neue Herzensprobleme. Bln. 1892. E. F. Podach bezeichnet ihn irreführenderweise als „Die Dänin Ola Hansson" in: Der kranke Nietzsche. Briefe seiner Mutter an Franz Overbeck. Bermann-Fischer. Wien 1937, S. 238.

1889 Aufnahme unter die „großen Männer"

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phische Einzelheiten, angeblich von einer Familie, „die mit Nietzsches von Kindheit an verkehrte", mit. (Neu sind: S. 3—8, 29 f.: Abschn. I, II, VIII). 89 b Ders. (z. Z. Berlin), Friedrich Nietzsche. (FZg v. März 1890). Bringt den Wortlaut der neuhinzugefügten I., II. und VIII. Abschnitte des Separatabdruckes als Abschnitte I, II und IV und faßt die dazwischenliegenden in stark verkürzter Form als III. zusammen. Z/A Brodtbeck, Karl Adolf, Geistesblitze großer Männer. Für freie Denker gesammelt. Lpz. C. G. Naumann. (1889). VIII, 182 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz. hauptsächlich der vier Verlagswerke Nietzsches sowie Auszüge aus acht Besprechungen dazu). Das Buch ist ein „Citatenschatz" aus den Werken derer, die „W i s s e η wollten, w i s s e n mußten". Worte Nietzsches führen den Reigen an und beschließen ihn; mit 91 Beiträgen ist sein Werk audi am häufigsten vertreten: Morgenröte 27, Menschliches 20, Fröhliche Wissenschaft 14, Götzendämmerung 11, Jenseits 10, Zarathustra 7, Genealogie und Fall Wagner je 1. Die anderen „großen Männer" sind, nach Häufigkeit: Joh. Sdierr 62, Schopenhauer 41, Treitschke 30, Börne 29, Goethe 21, Lichtenberg 19, Ranke 16, Heine 15, K. J. Weber 14, R. v. Ihering 12, L. Büchner 9, A. E. F. Schäffle 8, F. A. Lange 7, J. Lippert 6, Kant, Bismarck, J. Burckhardt, Η. v. Sybel, Schiller, Fichte, Jean Paul, Th. Mommsen u. H. Pestalozzi je 4, O. Henne am Rhyn, F. Th. Visdier, G. W. Rabener, Freytag, Shakespeare, Moritz Carriere u. J. V. Widmann je 3, Georg Weber, Th. B. Macaulay, Leopold Sdiefer, Lessing, Oskar Jäger, Comte de Mirabeau u. Ed. v. Hartmann je 2, K. Biedermann, W. v. Giesebrecht, Ferd. Gregorovius, Lor. Stein, Anastasius Grün, Constantin Bulle, Julius Mosen, Friedrich II., Spinoza, Björnson, Dickens, E. Lasker, Walter Scott, Campanella, W. v. Humboldt, Droysen, Pindar, Montaigne, Epikur, J. St. Mill, Luther u. L. Feuerbach je 1. Wie die Verlagsverhältnisse der Nietzsdieschen Schriften sich nun zu wandeln anfingen, erhellt aus einem Brief Overbecks an Gast vom 23. Februar 1889: „Er (d. i. Naumann) zweifelt nicht daran, daß der Fall Wagner und die Götzendämmerung in kurzem seine Kosten decken."89 89/1 Hammer, Fritz, (Ges H . 4 v. April 1889, S. 581 f.). Eine Anzeige der „Götzendämmerung", in der es heißt: „Die Nietzsdieschen Schriften folgen jetzt Schlag auf Schlag nacheinander, wie bei einem großen, schönen Gewitter die Donnersdiläge — Nietzsche ist ein solches Gewitter am dumpfschwülen europäischen Kulturhimmel... Summa: jede Zeile in diesem Buch eine Kriegserklärung." 69

Fr. Overbeck, Briefe an Peter Gast. N R s 17. Jg., Bd. 1, 1906, S. 39 f. In einer beschränkten Auflage von hundert Stück ersdiien Mitte Februar 1889: AA Nietzsche contra Wagner. / Aktenstücke eines Psychologen. / Von / Friedrich Nietzsche. / Leipzig. / Verlag von C. G. Naumann. / 1889. 1 Bl., 41 S. 8°. Overbeck, der die Schrift schon im Januar durch das von ihm aus Turin zurückgebrachte Korrekturexemplar kennengelernt hatte, erhielt 20 Stück und gab einzelne an: Rohde, Gersdorff, Volkelt; Peter Gast hatte die übrigen.

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1889 Leo Berg

Über seine Begegnung mit dem Werk Nietzsdies im Jahre 1889 schrieb der Schriftsteller Wilhelm Weigand: „Der Name Nietzsche war mir zum ersten Mal in einer Frühnummer der .Gesellschaft' aufgestoßen, . . . und der Zufall wollte es, daß idi am Vorabend meiner Abreise von Berlin, in einer Buchhandlung in der Markgrafenstraße, die ,Götzendämmerung' ausgelegt sah und den dünnen Band zum Lesen auf der Reise erwarb. Gewisse Aphorismen der aufreizenden Gelegenheitsschrift schlugen wie der Blitz in meine Seele, und aus der knappen Sprache klang mir ein Rhythmus entgegen, den ich noch vor keinem deutschen Buch empfunden hatte In München suchte ich mir nun sofort die sämtlidien Schriften Nietzsches zu verschaffen, und ich fand sämtliche Erstausgaben, halb verstaubt, in einer Buchhandlung an der Theatinerstraße... Was aber auf mich wie der Blitz einer Eingebung gewirkt hatte, war vor allem die Äußerung des Philosophen über eine ,Rückkehr zur Natur' in der ,Götzendämmerung'... Der ganze selige Sommer des Jahres 1889 ist mir mit der herrlichen Erinnerung an die Schriften Nietzsches verknüpft." 890 90 Glogau, Gustav (Kiel), (DLZg 8. Jg., Nr. 23 v. 8. 6. 1889). Mit manchem Vorbehalt empfiehlt der Besprecher die „Götzendämmerung" als ein Werk, aus dem man „recht wertvolle Anregungen" gewinnen könne. 91 Berg, Leo, Friedrich Nietzsche. Studie. (D Nr. 9 f., 1889, S. 148 f., 168

ff.)·90

In diesem Versuch einer Gesamtwürdigung hebt der Verfasser das Dichterische des Stiles besonders hervor und heißt den vom „Jenseits" und von der „Morgenröte" den „reifsten" der Werke, den „virtuosesten, den je ein deutscher Schriftsteller seit Heine und Schopenhauer geschrieben hat, und den beider hinter sich lassend": Nietzsche sei „der größte Virtuos der deutschen Sprache" schlechthin. Seine inhaltliche Tiefe liege „vor allem im Psychologischen", und der „Grundgedanke", an dem er überall festhalte, sei seine Lehre von der „Herren- und Sklavenmoral". Deutliche Anzeichen von Größenwahn findet er im Übermaß erst in der „Götzendämmerung". Trotz Hervorhebung der späteren Werke weiß der Verfasser aber auch die „Geburt" zu schätzen.

»° W. W., Welt und Weg. Aus meinem Leben. Ludw. Röhrsdieid. Bonn (1940), S. 14—18; anführenswert ist audi folgendes aus dem Jahre 1900: „ . . . a l s nadi dem Hinscheiden Nietzsdies eine abgezogene Erklärung an die Vertrauten des Hauses Wahnfried erging, in der dargelegt war, was man, als getreuer Wagnerianer, von Nietzsche zu halten habe, schrieb Frau Cosima an den Rand einer Stelle, wo von den Ideen Nietzsdies die Rede war: .Nietzsche hatte überhaupt niemals eine Idee, sondern nur eine Krankheit.*" Ebd., S. 16; s. a. ebd., S. 77, 78, 83—86 (Nietzsche über die Dekadenz), 87—90 (Nietzsche und der Süden), 189, 197, 204, 206 (Henri Albert), 212, 244 (Nietzsche im Vergleich mit Stefan George), 329, 333 (Nietzsche und Galiani), 339 f., 346, 359, 364, 371 (über Eisners Nietzsche-Schrift), 374, 385, 389; Weigand, Wilhelm (Gießigheim/Tauberland 13. 3.1862—1949), wirkte nach Studium der romanischen Sprachen und Kunstgeschichte in Brüssel, Paris und Berlin seit 1889 als freier Schriftsteller in München. 9 0 Berg, Leo (Zempelburg 1862 — Berlin 1908).

8

1889 Rudolf Steiner/Franz Blei

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92 Mähly, Jacob, Friedrich Nietzsche. (Geg 36. Bd., N r . 36 v. 7.9.1889, S. 148 ff.). Hebt das Vornehme und Künstlerische an Nietzsche als unentbehrlich zum Verständnis seiner Werke hervor; sonst weitgehend ablehnend. Verteidigt ihn aber gegen die Gegner, die mit ihm schnell und leicht fertig zu werden gedenken.

Noch in Wien im Jahre 1889 kurz vor seiner Übersiedlung nach Weimar als Mitarbeiter an der Sophien-Ausgabe lernte Rudolf Steiner Nietzsches „Jenseits" kennen und schrieb darüber wie folgt: „In dieser Stimmung lernte ich Nietzsdies Schriften zuerst kennen. Jenseits von Gut und Böse' war das erste Buch, das ich von ihm las. Ich war auch von dieser Betrachtungsart zugleich gefesselt und wieder zurückgestoßen. Ich konnte schwer mit Nietzsche zuredit kommen. Ich liebte seinen Stil, idi liebte seine Kühnheit; ich liebte aber durchaus die Art nicht, wie Nietzsche über die tiefsten Probleme sprach, ohne im geistigen Erleben mit der Seele bewußt in sie unterzutauchen. N u r kam mir wieder vor, wie wenn er viele Dinge sagte, die mir selbst im geistigen Erleben unermeßlich nahe standen. Und so fühlte ich mich seinem Kämpfen nahe und empfand, ich müsse einen Ausdruck für dieses Nahestehen finden. Wie einer der tragischsten Mensdien der damaligen Gegenwart erschien mir Nietzsche. U n d diese Tragik, glaubte ich, müsse sich der tiefer angelegten Menschenseele aus dem Charakter der geistigen Verfassung des naturwissenschaftlichen Zeitalters ergeben." 91 92/1 Hansson, Ola (Holte, den 2. Okt. 1889), Nietzscheanismus in Skandinavien. (NFPr N r . 9031 v. 15.10.1889, 3 S). Verfasser vergleicht die Vorlesungen von Georg Brandes, denen die „Hauptströmungen im neunzehnten Jahrhundert" entsprungen seien und die „nun wie ein Markstein zwischen zwei Epochen der skandinavischen Schönliteratur" stehen, mit dessen Vorlesungen über Nietzsche, die „Brandes' zweiter großer Einsatz in die Cultur des Nordens" seien. An unmittelbaren Wirkungen verzeichnet er Strindbergs „Tschandala" und Eduard Brandes' „Ein Politiker". Unter diesem Einfluß strebe die skandinavische Literatur „aus der Oberfläche des Alltagslebens und den engen Horizonten des Partei-Dogmatismus hinauf zu d e n Aussichtspunkten, von denen das Leben sich in der Vogelperspective überblicken läßt, und hinab in d i e Tiefen, von denen es ausstrahlt, als aus seinem Mittelpunkte."

Daß noch im Jahre 1889 Schopenhauer für manchen einen Umweg bildete, auf dem man zu Nietzsche kam, erhellt aus folgender Stelle in der Lebensbeschreibung Franz Bleis:

91

R. S., Mein Lebensgang. Hg. v. Marie Steiner. 12.—14. Tsd. 1932. Philosophisdi-anthroposophisdier Vlg. Goetheanum. Dörnach/Schweiz, S. 127. Steiners Bekanntschaft mit der Gedankenwelt Nietzsdies sollte sidi aber erst in Weimar in den Jahren 1890—1896 vertiefen; s. ebd., XVIII. Abschn., S. 174—185. Steiner, Rudolf (Kraljevec 27.2.1861—30.3.1925), gehörte seit 1902 der theosophisdien Bewegung an.

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1890 Max Halbe

„Auf dem Wege stieß er (d. i. der Verfasser) auf eine Schrift Schopenhauer als Erzieher' und erfuhr, daß ihr Verfasser irrsinnig in Naumburg den Tod erwarte, den ihm Viele seiner Zeit als Strafe Gottes für Irrlehre und Jugendverderbnis wünschten. Wie auch, daß sich im Fall Nietzsche die Gegensätzlichkeit von Lehre und Lebensführung noch viel ungewöhnlicher äußerte. Daß einer fromm tat und unfromm lebte, war einem ja geläufig. Aber daß einer den Stolz, die Wollust und die Selbstherrlidikeit des Individuums lehrte, in seinem persönlichen Leben aber demütig, keusch und mönchisch war, das erschien doch höchst ungewöhnlich. Beide, dieser Nietzsche und der, von dem er als Erzieher eine Schrift geschrieben hatte, hatten hier spirituelle Welten von größter Eindringlichkeit gebaut, jener die seine krönend mit der heroischen Tugend der gepredigten Abtötung bei lasterhaftem Leben, dieser mit dem heroisierten Laster bei tugendhaftestem Leben im Verzicht, also im Widerspruch mit sich selber, indem sie in der Tat Selbstmord für ihre Welt begingen. Nietzsche war das zweite aufregende Erlebnis unserer achtzehnjährigen Jugend, und der tragische Glücksfall seiner Verbindung mit Richard Wagner fiel wie eine Fackel in die Nacht unseres Wagnertums und ließ eine weit tiefere und gegliedertere feindliche Front erkennen, als wir sie bisher in den Musikern bloß gesehen hatten, in Meyerbeer, Rossini, Verdi. Was wir bisher musikalisch mit den Nerven erlebt und als eine Weltdeutung nur geahnt hatten, das wurde nun durch Nietzsche offenbar: daß diese Kunst uns wieder dorthin verführte, woher wir gerade geflohen waren, bis zum öffentlichen Bekenntnis unserer Abtrünnigkeit und Ablegung der Bezeichnung Christ. Der uns in Bayreuth unerreichbare Parsifal war uns, was wir Nietzsche glaubten, die zugefallene Klappe der Falle, aus der es nur einen engen Ausweg gab, der in die Messe führte. Gerade hatten wir vor der versammelten Lehrerschaft in ganz christlichem Märtyrerstolz erklärt, die Sdiulmesse nicht mehr besuchen zu können, da uns dies als Ungläubigen durchaus als ein Sakrileg vorkomme. " 9 2 Vom Anfang der 90er Jahre erzählt M a x Halbe: „Das große Säkularereignis jener Epoche war Nietzsche. Sein Geist war in seiner körperlichen Wesenheit damals bereits umnachtet. Aber seine unsichtbaren Strahlen drangen bis in die fernsten Bezirke, revolutionierten die Geister, wühlten den Urgrund der Seelen auf und bereicherten unser Sprachgut in Rhythmus und Wortbildung, wie es seit Luthers Tagen nicht mehr geschehen war. Ich denke hier zuvörderst an den Zarathustra, dessen ungeheurer Wirkung ich für einige Zeit ganz erlag. Wie es aber in der Natur aller dieser unsichtbaren Strahlen liegt, deren geheimnisvolle Welt sich erst langsam zu erschließen beginnt: falsch gehandhabt, als Werkzeug von Unberufenen, können sie ebenso großen Schaden stiften wie im umgekehrten Falle unermeßlichen Segen. Audi Nietzsches Wort ist diesem Ver»2 Blei, Franz (Wien 1 8 . 1 . 1 8 7 1 — Westbury/Long Island, U S A 10. 7.1942), sein Freund zu dieser Zeit war ein um zwei Jahre älterer Joseph Strasser. Angeführte Stelle aus: F. B., Erzählung eines Lebens. Paul Liszt. Lpz. (1930), S. 122 ff.; weitere Hinweise auf Nietzsche in dem mit keinem Namenverzeichnis versehenen Werk: S .126, 213, 252 (Ähnlichkeit mit Galiani), 259 (Stellung in den „Blättern für die Kunst"), 291, 384 (Einfluß auf Gide), 389 (Einfluß auf Rémy de Gourmont).

1890 Harry Graf Kessler

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hängnis nicht entgangen. Sein Herrenmensch, seine blonde Bestie, um nur ein paar von jenen damaligen falsch verstandenen ModebegrifFen zu nennen, haben in den Köpfen der Mittelmäßigen eine heillose Verwirrung angerichtet und sind von der Schar unserer auswärtigen Feinde sogar als politisdie Argumente gegen uns verwertet worden." 93 Harry Graf Kessler, der im Winter 1889/90 auf die Universität Leipzig übersiedelte, erzählt aus jener Zeit, vermutlich dem Jahre 1890, folgendes: „In uns entstand ein geheimer Messianismus. Die Wüste, die zu jedem Messias gehört, war in unseren Herzen; und plötzlich erschien über ihr wie ein Meteor Nietzsche. In mir und noch vielen anderen versengte er die letzten noch übriggebliebenen Halme des Kindheitsparadieses. ,Menschliches, Allzumenschliches' und .Jenseits von Gut und Böse* wirkten zunächst radikal nihilistisch. Jetzt erst merkte idi, wieviel von meinem Leben noch aus Überresten kindlichen Glaubens wuchs, aus Wurzeln, die ich kaum nodi beachtet hatte, mit einer Art von masochistischer Wut ging ich daran, sie auszujäten. Der jüngere Bruder von Gustav Richter, Raoul, der Philosophie und Biologie studierte und ein sdiarfer kritischer Verstand war, unterstützte mich nächtelang bei dieser Arbeit. Ich geriet in Gefahr, jeden Halt zu verlieren." 94 „Die Rolle der Gefahr als Erweckerin von Seelenkräften, die ohne sie schlummern würden: des starken und langen Willens, des Opfermuts, der Tapferkeit, die seelischen Abenteuern nicht aus dem Wege geht, lehrte uns Nietzsche. Der Nachweis, daß eine Anschauung gefährlich sei — menschlich, politisch oder sozial gefährlich —, überzeugte uns daher nicht ohne weiteres, daß sie auch schädlich sei. Im Gegenteil: Gefährdung — die Vorstellung von einer dem Einzelnen oder der Gesamtheit drohenden Gefahr, gegen die Abwehr und Mut not tat — war der Grundstein der neuen Sittlichkeit Nietzsche-Zarathustras, einer Sittlichkeit, die im Heldentum statt in Gott wurzeln wollte. Ja, gerade die Ableitung einer Moral aus den Gefahren, mit denen die immer weiter fortschreitende Zivilisierung den Menschen bedrohte — aus dem Pessimismus und Nihilismus, in die die moderne Welt wie in giftige Nebelsdiwaden hineintrieb —, bezeichnete den Punkt, wo der Weg umbog, auf dem Nietzsche seiner Zeit voranleuchtete, wo er .unzeitgemäß' wurde und hinausführte in unerforschtes Gelände, über dem unbekannte Sterne aufgingen." 95 „Die Art, wie Nietzsche uns beeinflußte, oder richtiger gesagt in Besitz nahm, ließ sich mit der Wirkung keines anderen zeitgenössischen Denkers oder Dichters vergleichen. Er sprach nicht bloß zu Verstand und Phantasie. Seine Wirkung war umfassender, tiefer und geheimnisvoller. Sein immer stärker anschwellender 93

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M. H., Scholle und Schicksal. Die Geschichte meiner Jugend. Vlg. „Das Bergland-Buch". Salzburg (Neue, durdiges. u. überarb. Ausg. = 55. Tsd. 1940), S. 369 f. Halbe, Max (Güttland a. d. Weichsel 4.10.1865 — Burg b. Neuötting 30.11.1944). H . G . K . , Gesichter und Zeiten. Erinnerungen. l.Bd.: Völker und Vaterländer. S. Fischer. Bln. (1935), S. 267. Kessler, Harry Graf (Paris 23. 5.1868 — Lyon 1.12. 1937). Ebd., S. 280 f.

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1890 Eugen Kühnemann

Widerhall bedeutete den Einbrudi einer Mystik in die rationalisierte und medianisierte Zeit. Er spannte zwischen uns und den Abgrund der Wirklichkeit den Schleier des Heroismus. Wir wurden durch ihn aus dieser eisigen Epoche wie fortgezaubert und entrückt. Seit Byron hatte kein Rattenfängergenie so unwiderstehlich die Besten einer ganzen Jugend hinter sich hergezogen."96 Eugen Kühnemann, der gerade in München promoviert hatte, erzählt von seiner ersten Begegnung mit den Werken Nietzsches im Winter 1889/ 90 und im darauffolgenden Sommer: „Bald nach meinem Einzug in Berlin besuchte mich meine Mutter. Wir verließen an diesem Sonntagnachmittag das Haus überhaupt nicht, denn ich las ihr den ganzen Nachmittag Nietzsches .Zarathustra' vor . . . Es war eine meiner ersten Besorgungen in Berlin, daß ich mir den Zarathustra' anschaffte. Das war im Frühling 1890. Zur Schande Deutschlands muß es gesagt sein: es war nodi immer die allererste Auflage, nur daß der Verleger inzwischen gewechselt hatte und demnadi das Titelblatt erneut war. Es war mir mit Nietzsche eigen ergangen. Ich hatte ihn eigentlich erst spät, nämlich bald nach meinem Doktorexamen, kennengelernt. Das erste Buch, das ich las, war Jenseits von Gut und Böse', das einzige Buch von ihm, das die öffentliche Bücherei besaß, die ich in Hannover mit Vorliebe benutzte. Nie hat ein Buch bei der ersten Bekanntschaft einen ähnlich gewaltigen Eindruck auf mich gemadit wie dies. Es war, als würde ein Reiter, der leichtherzig und sorgenlos dahintrabte, durch einen Wirbelwind vom Pferde geworfen und stürzte nun in einen bodenlosen Abgrund. Ich kam mir in philosophischer Wahrheit so gefestigt vor und war meiner Weisheit so gewiß. Da starrte mich aus dem Buche das Haupt von Gorgo an, nämlich die erste Ahnung von der bodenlosen Fragwürdigkeit der gesamten sittlich-geschichtlichen Welt. Wo bisher Gewißheit gewesen war, stand unerbittlich fordernd das Problem. Alles wurde Frage, was bisher Antwort war. Natürlich fing mich der unheimliche Zauberer in seinem Netze. Und wenn der Fisch zuweilen atemlos zappelte, so umglänzte ihn das tausendfältige Flimmern dieser nie gehörten Sprache und ihrer Pracht und bald zärtlichen, bald fürchterlichen Gewalt. Den Nachgesang ,Aus hohen Bergen' schrieb ich mir a b . . . Mein Verhältnis zu der Nietzscheschen Welt war tiefste Ergriffenheit wie von einer verborgenen Liebe. Ich hielt sie geheim vor jedermann; nicht einmal mit den vertrautesten Freunden sprach ich von ihm. Ich mußte allein fertig werden mit diesem Ungeheuren. Die Wirkung in den Einzelnen, den Einsamen, den Unbekannten, den geheimen Freunden war die Nietzsches würdigste Wirkung, die ihm zuteil ward, der später im lauten Lärm der anmaßenden Anhänger richtig entwürdigt wurde. "ββα

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Ebd., S. 283, s.a. überhaupt S. 279—291. Die Seiten 264 m—290 u abgedruckt audi in: NRs 46. Jg., Bd. 1, April 1935, S. 391—407. >βα Ε. Κ., Mit unbefangener Sitrn. Mein Lebensbudi. 1937. Eugen Salzer. Heilbronn, S. 67 f. ; s.a. weiter bis S. 69 einen Vergleich mit Kant: „In Kant gefestigt sein und jeder Nietzschefrage ein williges und nachgiebiges Ohr leihen ist vielleicht die Vollendung aller philosophischen Bildung."

1890 Die „Freie Bühne"

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Folgende Schrift, die schon im Januar 1890 erschien, gehört, obwohl kein einziger Hinweis auf Nietzsche darin vorkommt, aus mindestens zwei Gründen hierher: erstens der Anklang des Titels an „Schopenhauer als Erzieher" sowie die Hervorhebung einer Künstlergestalt als „Erzieher"; zweitens da der Verfasser zur Zeit ihres Zustandekommens in das Leben des kranken Nietzsche einzugreifen suchte. Das Werk erlebte schon im Erscheinungsjahr über 30 Auflagen und stand um die Jahrhundertwende in 45. Auflage: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. Lpz. C. L. Hirsdifeld. 1890. VII, 329 S.87

Noch ehe die „Freie Bühne für modernes Leben" einen ausdrücklichen Aufsatz über Nietzsche brachte (s. Nr. 98), wurde der Name schon in vier vorhergehenden Arbeiten erwähnt:

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Kühnemann, Eugen (Hannover 28.7.1868 — Fisdibach/Riesengebirge 12.5.1946), Literaturwissensdiaftler, 1895 Privatdozent, 1903 a. o. Prof. in Marburg, 1906 o. Prof. in Breslau. Langbehn, Julius (Hadersleben/Nordschleswig 26.3.1851 — Rosenheim/Obb. 30.4. 1907), suchte im Oktober 1889 die Mutter zu Naumburg auf und bot sich ihr und dem Kranken an. Er war zu der Zeit noch mit den Korrekturbogen seines Werkes beschäftigt. Seit Mitte November erlaubte man ihm unter Zuraten der Mutter, Nietzsche zweimal am Tage spazierenzuführen. Er blieb dann natürlich in Jena, reiste aber schon Anfang Dezember 1889 wieder ab, spielte aber noch weiterhin mit dem Gedanken, den Kranken aus der Anstalt zu sich nach Dresden zu nehmen, und hierzu bemerkte Peter Gast im Januar 1890: Die Kosten zur Verwirklichung dieses Planes sollten „zum Theil von einigen hochgesinnten Herren, die Nietzsches Anhänger" seien, bestritten werden. Einzelne Hinweise auf Nietzsche befinden sich in: Der Geist des Ganzen von Julius Langbehn dem Rembrandt-deutschen. Zum Buch geformt von Benedikt Momme Nissen. 1.—15. Tsd. Herder. Freiburg i. Br. 1930. S. a. die Äußerung des Benedikt Momme Nissen: „Mein allererstes Gesprädi mit Langbehn, im Januar 1891, betraf sein sachliches Verhältnis zu jenem (d. i. Nietzsche). Auf meine Frage danach faßte er es gleich zusammen in die Worte: ,Nietzsche ist Autokrat, ich bin Aristokrat. Nietzsche ist wie ein orientalischer Eroberer' — dabei wies er hin auf dessen Abstammung aus dem Osten —, ,wie ein Dsdiingiskhan, ich wie ein altsächsischer Herzog.' Kurz vor seinem Tode, schrieb er: ,Wo sind die nationalen Aufbauer? . . . Nietzsche, der zweite Voltaire und vielleicht ein Sturmvogel wie er, zerstörte nur und wollte von Volk und Geschichte, von Christus, wie auch von Shakespeare nichts wissen. Halbasiaten, man denke an Tolstoi, können nicht aufbauen.' Langbehn fand sich einst in etwa mit Nietzsche zusammen in der Gegensatzstellung zum tonangebenden deutschen Gelehrtentum des letzten Jahrhunderts, vorübergehend haben ihn einzelne seiner Probleme gefesselt, er schätzte den Zarathustradichter als großen Sprachkünstler; sah sein eigenes Geistesantlitz aber, schon 1892, bei aller innigen Teilnahme an Nietzsches erschütterndem Schicksal als ,das gerade Gegenteil' an von dem des unglückseligen Philosophen, soweit es in dessen Schriften zutage tritt. Ist doch die Wegrichtung der beiden Denker grundverschieden: dort das Kultureuropäer- und Antichristentum, — hier eine kerndeutsche Seele, die, wenn sie auch bis in die Mannesjahre einen stark heidnischen Einschlag aufweist, von Natur aus der Religion der Liebe zugewandt ist, um hernach tief und tiefer in sie einzudringen." Aus der Einführung zu: Rembrandt als Erzieher. Von einem Deutschen. 85.—90. Aufl. W. Kohlhammer. St. (1936), S. 32 f.

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1890 Georg Brandes

93 Holz, Arno, Zola als Theoretiker. (FB 1. Jg., 4. H . v. 26. 2.1890, S. 101 bis 104). Im Schlußabsatz findet sich die erste Erwähnung Nietzsches in dieser Zeitschrift, die zugleich ihres Inhalts und ihres Verfassers wegen Beachtung verdient: „Uns scheint, dieser Geist des Zweifels (von dem der Fortschritt der Menschen abhänge) ist heute in Deutschland bei uns erwacht. Wir erinnern hier nur an Einen, dessen Intellect ganz von ihm erfüllt war: an Friedrich Nietzsche. Zwar sein ,Hammer' ist seinen müden Händen bereits entsunken, aber seine ganze Arbeit hat er darum noch nicht gethan. Es wäre hohe Zeit, mit ihm endlich audi an das alte Götzen mysterium zu klopfen, das sich ,Kunstphilosophie' nennt. Vielleicht, daß man dann die Entdeckung macht: Es giebt keins, das hohler klingt." 98 94 Benda, Carl, Die Ehre des Armen. (FB 1. Jg., 5. H . v. 5. 3.1890, S. 129 bis 132). Es geht dem Verfasser um die Anerkennung der „Menschenwürde des Armen, .Enterbten'"; er schränkt dann aber gegen Sdiluß ein: „Friedrich Nietzsche, der Philosoph mit dem Hammer, macht mehr als einmal auf die Gefahr aufmerksam, die in diesem à la modischen Humanitäts- und Fraternitätsdusel unserer Bildungsphilister, unserer ,Demokraten', .Revolutions-Ideologen' und ,Bruderschafts-Schwärmer' liegt, und warnt vor der ,autonomen Herde'." 95 Schlaf, Johannes, Prüderie. (FB 1. Jg., H . 6 v. 13. 3.1890, S. 161—164). Eine Verhöhnung Nietzsches und dessen „dionysischen Menschen" als „kranker und unfreier Opfer der Prüderie", zugunsten derer, welche die „Früchte" vom „Goldenen Baum des Lebens ohne bitteren Beigeschmack genießen können". 96 Marholm, L(aura), Der Erdboden des Talents. (FB 1. Jg., H . 7 v. 19. 3. 1890, S. 201—205). Hierin widmet die Verfasserin Nietzsche als dem „Genie" zwei volle Absätze: „Nicht blos das deutsche, sondern d a s Genie, der Unberechenbare, der Nichtclassificirbare, der Neusdiöpfungsvorläufer, in dem eine neue Culturepoche zum Bewußtsein erwachte." 980 97 Brandes, Georg, Aristokratischer Radikalismus. Eine Abhandlung über Friedrich Nietzsche. (DRs Bd. 63,16. Jg., H . 7 v. April 1890, S. 52—89). Er behauptet, Nietzsches „bleibende Bedeutung liegt auf dem Gebiete der moralischen Vorurteile". Zum Vergleiche zieht er Kierkegaard, Renan, Flaubert, Rées „Die Entstehung des Gewissens", Taine, Lassalle, Ibsen, Eduard von H a r t mann und dessen Bekämpfung der Mitleidsmoral, Eugen Dühring und dessen Bekämpfung des Pessimismus heran. Bei „Zarathustra" hebt er die Entlehnung aus dem Persischen hervor und nennt als Werke ähnlichen Tones und Stiles: Mickiewics' „Buch der polnischen Pilger", Slowackis „Anheli" und Lamennais „Das Wort eines Gläubigen". Er teilt Nietzsches Hochschätzung des Werkes nicht und nennt es „nicht gestaltenbildend genug", merkt ihm auch eine „gewisse Monotonie ·« Holz, Arno (Rastenburg/Ostpr. 26.4.1863 — Berlin 26.10.1929). Mahrholm, Laura (d.i. Laura Hansson, geb. Mohr), geb. am 19.4.1854 zu Riga, seit 1889 mit Ola Hansson verheiratet.

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1890 Georg Brandes

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der archaistischen Darstellung" an, kurz: „es ist ein Buch für Diejenigen, welche die nur Gedanken enthaltenden Werke Nietzsches nicht zu bewältigen vermögen." 97 a Dass, in: Georg Brandes, Menschen und Werke. Essays. Ffm. 1894. Rütten 8c Loening, S. 137—224, mit umstellter Überschrift: Friedrich Nietzsche. Eine Abhandlung über aristokratischen Radicalismus. (1888). Mit einer „Nachschrift. (1893)", in der (S. 204—213) Stellung zur inzwischen erschienenen Nietzsche-Literatur genommen wird, nämlich zu Lou Salomés Mitteilungen in der „Freien Bühne" (Nr. 111, 131) und Ludwig Steins Aufsatz in der „Deutschen Rundschau" (Nr. 155). Angehängt (S. 213—224) sind auch zwölf mit wenigen Lücken wiedergegebene Briefe Nietzsches an den Verfasser, hier im Erstdruck, vom 2. Dezember 1887 bis zum 4. Januar 1889. Der Aufsatz ist stilistisch durchweg umgearbeitet worden, aber die Stellungnahme im wesentlichen unverändert geblieben. 97 b Dass. 1895. 2. durchgeseh. u. ergänzte Aufl., S. 137—224. In die Besprechung der Nietzsche-Literatur werden am Anfang wie auch etwas ausführlicher zum Schluß des Aufsatzes Peter Gasts Einführungen zu Nietzsches Werken aufgenommen. Obwohl der Satz augenscheinlich neu ist, stellt die zweite Auflage einen fast genauen Abdruck der ersten dar. Wenige stilistische Änderungen befinden sich nur in der Nachschrift, die auch um anderthalb Seiten, Peter Gast betreffend, erweitert worden ist. Durch kleineren Druck wurde die Gesamtzahl der Seiten einbehalten. 97 c Dass. 1900. 3. von neuem durchgeseh. u. verm. Aufl., S. 137 bis 225. Mit einigen sehr wenigen rein stilistischen Änderungen. 98 Diner, Joseph, Friedrich Nietzsche. Ein Dichterphilosoph. (FB 1. Jg., H . 13 v. 30. 4. 1890, S. 368—371). Anführungswert ist der erste Satz des Aufsatzes: „Aus Skandinavien, dem gelobten Lande der Litteratur, kommen seit einiger Zeit ganz merkwürdige Nachrichten. Der Nietzscheanismus, heißt es, hat dort festen Fuß gefaßt. Georg Brandes hält Vorlesungen über Nietzsche, Strindberg und Eduard Brandes lassen sich von ihm zu neuen Schöpfungen begeistern, und Ola Hansson sendet Artikel auf Artikel nach Deutschland, in denen er als Apostel dieses neuen Heilands auftritt." Sonst schwelgt der Verfasser in Aussprüchen wie: „er hat die Menschen nicht bloß, er hat die Menschheit ergründet", er sei ein „wahrhaft begnadeter Dichter", „sonst dürfen deutsche Büdier nur gelesen werden; Nietzsches Bücher müssen vorgelesen werden..." 98 a Auch in: Diner-Dénes, Josef, Vergangenheit und Zukunft. Studien und Eindrücke. Bln. S. Fischer 1896, S. 53—56. Zusammen mit Nr. 105/1. 99 Oswald, J(ohann) G(ottlieb), Friedrich Nietzsche. (DD Bd. 12, 1890, S. 173). Ein Lobgedicht auf Nietzsche, aus zwei Sonetten bestehend, in dem es u. a. heißt: „Es mögen Andre deine Hochflut dämmen, / Sidi wuchtig ihrer Wucht entgegenstemmen, — / Ich bin der Perlenfischer am Gestad." 99/1 Herzfeld, Marie (Wien), Essays von Georg Brandes. Fremde Persönlichkeiten. (MD 1. Bd., H . 5 v. 1. 5.1890, S. 318—322).

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1890 Otto Erich Hartleben

Bespricht hier die dänische Urfassung einiger Essays von Brandes, die z. Tl. erst geraume Zeit später in deutscher Übersetzung (Nr. 97 a) erschienen sind. Den weitaus größten Raum (S. 320 ff.) gewährt sie dem Essay über Nietzsche, „welcher deutsche Leser am meisten interessiert". Verfasserin bemängelt an der Darstellung, daß man sich daraufhin frage, ob Nietzsche „nur ein Fortsetzer und Ausbauer der englischen Sociologen ist, welche die Wolfahrt der größtmöglichen Anzahl von Menschen als Ziel aller Culturarbeit betrachten". Dem entgegen will sie hervorheben, daß er „der bewußte G e g e n s a t z , der verkörperte Protest gegen Utilitarismus" sei. Dennoch ist er ihr „ganz und gar noch nicht viel mehr als eine große, lockende, fesselnde Fragwürdigkeit", der das „Centrale... der Machtwille" sei. 100 Kulke, Eduard (Wien), Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. (NS Bd. 53, H. 158 v. Mai 1890, S. 234—250). Unmittelbar nach dem Erscheinen des „Fall Wagner" als Erwiderung darauf geschrieben, verzögerte sich die Veröffentlichung um etwas über ein Jahr. Verfasser findet in der erwähnten Schrift wenige Argumente gegen Wagners Schaffen, sondern vielmehr nur Behauptungen, denen er dann seine eigenen gegenüberstellt. Dieser Aufsatz bildet den Schlußteil von Nr. 101, er wurde nur leicht geändert als S. 39—70 darin aufgenommen. 101 Ders., Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Lpz. C. Reißner. 1890. VII, 70 S., 1 Bl. Er hebt das Wirken eines Darwin und J . R. Meyers sowie technische Leistungen als Beweise der Gesundheit der Zeit hervor. Die Zeit kranke eigentlich am Mangel an Gerechtigkeit. Gutgeheißen werden Nietzsches Hiebe gegen die Wagnerianer sowie im großen und ganzen dessen Einschätzung des „Parsifal". Soweit Nietzsche „für Aufklärung, geistige Freiheit, Humanität etc. gegen alle die Strömungen, welche man unter dem Namen ,Bayreuth' zusammenfaßt, in die Schranken tritt, wird er jeden freien Denker als Kampfgenossen an seiner Seite finden". Über einige Seiten hin werden Stellen aus „Richard Wagner in Bayreuth" angeführt, um Nietzsches frühere Einstellung zu kennzeichnen, gegen die dann der Verfasser seine eigene widerwillige Aufnahme der Schrift dartun kann. Sodann sucht er nach persönlichen Beweggründen und führt Pohls (Nr. 82) Behauptung an, Wagner habe mal vor Zeiten eine musikalische Komposition Nietzsches verworfen. Dieser Behauptung zustimmend hebt er dann aber als Hauptgrund Nietzsches Beschäftigung mit Voltaire hervor. Tagebuchaufzeichnungen von Otto Erich Hartleben aus dem Sommer 1 8 9 0 werfen auch etwas Licht auf die Art und Weise, wie sich die Wirkung des Nietzscheschen Werkes vollzog: „(Magdeburg) 22. Juni (1890) Gestern war ,Menschenclub' in den ,Drei Kaisern'. Anwesend waren — in der Reihenfolge der Wahlverwandtschaftsnähe — College Hans, Feustel, Papa, Schlaf, ein Herr Buch, Philologe seines Zeichens, und der ,Dichter', Carl Wilhelm Geißler, dessen Comödie in Versens, ,Glykerion' von dem hiesigen Sommertheater angenommen wurde. Es wurde natürlich Nietzsche

1890 Hartleben/von Liliencron

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verhandelt. Wo würde jetzt nicht über Nietzsche gesprochen! Feustel wandte sidi heftig gegen die ,Verschraubtheit' und den ,frivolen Atavismus* des Zarathustra*. Vor allem hatte der Abschnitt ,An meine Brüder im Kriege' seinen Zorn erregt: ist dodi noch Einjähriger. Der Papa, welcher Nietzsche nodi nidit gelesen hat, nahm ihn natürlidi in Schutz — ebenso wie er stets, wenn man etwas, das er noch nicht kennt, lobt, dieses Lob kritisiert und der entgegengesetzten Meinung ist: das hängt mit seiner grundsätzlichen Verneinungsfreude, mit seiner Lüsternheit des Mißtrauens im allgemeinen zusammen. College Hans Schloß sich mir an, als ich wieder einmal betonte, daß Nietzsche immer nur in erster Linie ästhetisch aufgefaßt, genossen — eben genossen! — werden wolle und müsse. Idi sehe eine Zeit herankommen, in der man diesen graziösen ,Tänzer' mit plumpen Händen greifen und auf das Prokrustesbett der ernsthaftesten ,Philosophie', der grausamsten Systematisiererei zu fesseln versuchen wird. Man wird ihm seine .Widersprüche' nadiweisen, ihm die ,Unhaltbarkeit' seiner ,Ansichten* vordemonstrieren, und ein jeder wird ihn sich dann mitleidlos zureditschneiden. Armer Kerl! Heute hab' ich mir ein Leitwort (auf deutsdi: ,Motto') für meine Angele (,Verachte das Weib') aus seiner ,Fröhlichen Wissenschaft' notiert: ,und wie viel feine Freude, wie viel Geduld, wie viel Gütigkeit selbst verdanken wir gerade unserm Verachten! Zudem sind wir damit die ,Auserwählten Gottes': das feine Verachten ist unser Geschmack und Vorrecht, unsre Kunst, unsre Tugend vielleicht...' Ich will übrigens nicht vergessen, daß C. W. Geißler, welcher den Nietzsche auch noch nicht kennt, gestern Abend feierlich erklärt hat, derselbe sei für ihn ,der Philosoph κατ' εξοχήν'." 99 102 Liliencron, Detlev von, Der Haidegänger und andere Gedichte. Lpz. Wilh. Friedrich (1890), S. 99 enthält ein Leitwort aus Nietzsches „Fröhlicher Wissenschaft" (S. 18, Nr. 59) zum Hauptgedicht „Der Haidegänger". Das Leitwort fehlt jedoch nachher in den „Gesammelten Werken", 2. Bd., Dt. Vlgs.-Anst. St., Bln., Lpz. 1923, S. 170. Das Werk erschien erst im Spätherbst 1890. 102 a Auch in: MD 2. Bd., H . 3 ν. 1. 9. 1890, S. 539—548. 103 Hansson, Ola, Skandinavische Literatur. (MLIA 59. Jg., Nrn. 20, 22, 26, 30, 33, 38 v. 17. u. 31. 5., 28. 6., 26. 7., 16. 8. u. 22. 9.1890, S. 305 f., 337 f., 404 f., 457 ff., 513 ff., 593 f.). 99

Hartleben, Otto Eridi (Klaustal/Harz 3.6.1864 — Villa Halkyone b. Salò am Gardasee 11.2.1905), aus: Tagebudi. Fragment eines Lebens. 1.—3. Aufl. Langen. Mdin. 1906, S. 117 ff. Der „Menschenclub" war nadi Hartleben „eine freie Gruppierung der isolierten ,Menschen' beim Biere" in Magdeburg und von ihm selber ins Leben gerufen. College Hans = Hans Große; Papa = Arno Holz; Schlaf = Johannes Schlaf. Hartleben war zuerst Jurist, dann freier Schriftsteller, Lyriker, Dramatiker, Erzähler; verbrachte das Wintersemester 1886/87 in Leipzig, wo er u. a. mit Hermann Conradi und dem Verleger Wilhelm Friedrich verkehrte. Das erwähnte Stück wurde noch im selben Jahre auf der „Freien Volksbühne" in Berlin uraufgeführt und ging mit dem Nietzsdiesdien Leitspruch kurz darauf als dramatischer Erstling in den Druck: Angele. Komödie (Ο. E. Hs. ausgew. Werke. 3. Bd. S. Fischer. Bln. (1908), S. 1—38). Es ist aber die Strindbergsdie Losung „Verachte das Weib", die das Stück durchklingt. Geißler, Carl Wilhelm, geb. am 15. 8.1863 zu Döhlen b. Dresden, seit 1890 verantwortlicher Redakteur des „Magdeburger Tageblatts", sonst Verfasser vor allem von Lustspielen.

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1890 Paul Ernsts Ablehnung

Im Rahmen einer Darstellung der allgemeinen damaligen Lage der skandinavischen Literatur und der eingehenden Besprechung einzelner Werke, gedenkt der Verfasser in Nr. 20 einschränkend des Verdienstes von Georg Brandes um die Einführung Nietzsches in Skandinavien, weist dann in Nrn. 22 und 38 auf den Einfluß Nietzsches auf Strindberg hin, bes. dessen „Gläubiger" und „Die Kleinen". Vgl. auch in seiner Geißelung des Naturalismus (Uber Naturalismus. Kw 3. Jg., 1890, 15. Stk., S. 225 ff.) die Bezeidmung Nietzsdies als „des größten aller Antinaturalisten" (S. 225). 104 Ernst, Paul, Friedrich Nietzsche. Seine historische Stellung. Seine Philosophie. (FB 1. Jg., H . 18 u. 19 v. 4. u. 11. 6.1890, S. 489 ff., 516—520). Verfasser spricht als „Dialektiker", der „ebenso gut wie Nietzsche jede absolute Moral leugnet, der weiterhin darauf verzichtet, Werthe zu schaffen, der schließlich nichts will, als die Einsicht in den Weltprozeß, als das Höchste was er erreichen kann". Ihm ist „die Moral — das Wort vorsichtig aufgefaßt — die Mutter der Erkenntnistheorie und der Metaphysik". Nun sieht er in Nietzsche „den Philosophen der Dekadence", der „Brutalität", er gehöre, „zu jener Klasse der bürgerlichen Dekadents, welche in Opposition zu dem erreichten Ziel des bürgerlichen Denkens" stehe. Sein Publikum sei das Bürgertum der Dekadenz, dem seine nur lose zusammenhängenden Aufsätze und Aphorismen, ohne eigentliches Zusammentreffen des Geistes verständlich seien. „Geistreich, trivial, phrasenhaft, alles im übelsten Sinne", sei er und noch dazu auf dem besten Wege Modephilosoph zu werden. Seine Gedanken seien schief, von welcher Seite man sie auch betrachten möge. „Verkehrt, abstrus, unrichtig, er ist ein Weltverbesserer, wie man sie jetzt auf allen Straßen findet und unterscheidet sidi von einem Björnson nur dadurch, daß dieser beträchtlich plumper ist." 100 105 (DRs Bd. 64, 16. Jg., H . 10 v. Juli 1890, S. 146). Bringt ein Berichtigungsschreiben von F. C. Andreas zu dem Aufsatz von Brandes (Nr. 97). Andreas madit darauf aufmerksam, daß seine Frau Verfasserin des „Hymnus an das Leben" sei, und veröffentlicht hierzu zwei diesbezügliche Stellen aus Briefen Nietzsches an sie. 105/1 Diner, Joseph (Budapest), Friedrich Nietzsche. (MD 2. Bd., H . 1 u. 4 ( = Nrn. 7 u. 10) v. 1. 7. u. 1.10.1890, S. 429—431, 634—638). Verfasser ist der Ansicht, daß es keine „gründliche Heilung" gebe „von Historismus, Moralismus, Idealismus, Romantismus, und wie all die anderen metaphysi-

100

Ernst, Paul (Elbingerode 7. 3.1866 — St. Georgen a. d. Stiefing/Steiermark 13. 5. 1933); Verfasser, der damals nodi tätiger Sozialdemokrat war, schrieb später: „Nietzsches hat sidi damals Niemand gegen midi angenommen, aber für Ibsen trat Hermann Bahr gegen midi auf." (Paul Ernst, Jünglingsjahre. 1931. G. Müller. Mdin., S. 229) ; „Ob idi damals sdion merkte, daß Nietzsche schließlich dodi ein großer Geist war und Ibsen nur ein kleiner, das weiß idi nicht." (Ebd., S. 228). Bemerkenswert hierzu ist eine Tagebucheintragung Hartlebens vom 26. 6. 1890: „ . . . heut' Morgen schrieb ich eine kurze Entgegnung auf die Paul Ernstschen Aufsätze über Nietzsche für die ,Freie B ü h n e ' . . ( O . E. H., Tagebuch, a. a. O., S. 123). Von einer Veröffentlichung dieser „Entgegnung" findet sidi aber keine Spur im ersten Jahrgang der „Freien Bühne".

1890 Die ersten Bruchstücke von Ecce homo

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sehen Vergangenheitskrankheiten heißen mögen", kein „vollständiges Hinüberspringen in das C a u s a l - N a t u r n o t h w e n d i g e " : erst „wenn wir die , B e s s e r e n ' — und deshalb auch S c h w ä c h e r e n , allmählich gelernt haben werden umzudenken, und was viel schwerer ist, umzufühlen, dann wird die neue Cultur entstehen, die der Causalität, die naturalistische Cultur". Und zu diesem allem habe Nietzsche „den Weg gebahnt". „Aber wir müssen noch weit, weit über ihn hinaus, müssen ihn überspringen, ihn hinter uns lassen, und wo er uns im Wege steht, da müssen wir ihn vernichten, ohne Bedauern, mit Lust." So habe er es selber gefordert. 105/1 a Audi in 98 a, S. 56—75. Mit wenigen, rein stilistischen Änderungen. 105/2 Stern, Maurice von (Zürich), Zwanglose Betrachtungen über Erzeugnisse der russischen Literatur. (MD 2. Bd., H . 3 ( = Nr. 9) v. 1. 9. 1890, S. 585 ff.). Bespricht als einziges Werk Dostojewskis „Aus dem todten Hause" und umklammert die Erörterung mit einem von Vergleich dessen Gedanken mit denen Nietzsches im „Jenseits": der Leser beider Werke werde entdecken, „daß die praktische Erfahrung Dostojewski's die Theorien Nietzsches über die ethischen Gegensätze auf das glänzendste bestätigt". 1 0 0 " A B Conrad, M. G., Aus Friedrich Nietzsches Leben. Seinen eigenen Aufzeichnungen entlehnt. (Ges 6. Jg., H . 9 v. Sept. 1890, S. 1253—1262). 1 0 1 Es handelt sich um den Erstdruck von Stellen aus „Ecce homo", aus Abschnitten 1—5,7 und 8 von „Warum ich so weise bin" und 1—3 von „Warum ich so klug bin", also um weniger als ein Zehntel des Gesamtwerkes. Es ging dem Herausgeber anscheinend darum, ein stark gekürztes, zusammenhängendes Ganzes zu bringen, wobei Umstellungen notwendig wurden, jedoch wurde dabei nichts absichtlich entstellt. E r bemerkt, daß „einige jüngere Leute" bereits Miene machen, „die Philosophie Nietzsches als Kanon modernen Denkens auszurufen", und will mit diesen Auszügen bewiesen haben, daß „was für Nietzsche Berechtigung und Wahrheit hatte, deswegen noch lange nicht Wahrheit und Berechtigung für den ersten besten Hinz oder Kunz hat". A B a Dass. Aus Nietzsche's Leben. (Nach Auszügen aus seiner noch unveröffentlichten Selbstbiographie.). „Ecce homo." I n : M. G. C., Ketzerblut. Mchn. Münchner Handelsdruckerei & Vlgs.-Anst. M. Poeßl. o. J . (1892), S. 177—189.

iMa Stern, Maurice Reinhold von (Reval/Estland 3 . 4 . 1 8 5 9 — Linz 1938), diente zuerst im russischen Heer, war als Arbeiter in Nordamerika, wurde später Buchhändler in Zürich und Linz. 101

Uber die Einstellung von Conrads „Gesellschaft" s. M a x Halbe, Jahrhundertwende. Geschichte meines Lebens 1 8 9 3 — 1 9 1 4 . A . W . Kafemann. Danzig 1935, S. 2 2 8 : „Von den heftigen weltanschaulichen Spannungen der damaligen jungen Generation, der ja audi idi angehörte, von ihrer auf neue künstlerische und soziale Ziele gerichteten revolutionären Gärung ist schon im ersten Teil dieser Erinnerungen öfter die Rede gewesen. In Michael Georg Conrads Wodien- und Monatsschrift ,Die Gesellschaft', die eine deutsche Erneuerung aus den Ideen Nietzsches und Wagners anstrebte, und in seiner .Gesellschaft für modernes Leben' hatte sie ihren frühesten Ausdruck gefunden."

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1890 Heinrich Hart

Es fehlt nur ein Satz Nietzsches gegen Ende und der Schlußsatz Conrads ist neu, sonst unverändert. 106

Berg, Leo (Berlin), Friedrich Nietzsche. ( D W o 1890, S. 4 2 6 — 4 3 1 ) .

Eine knappe Gesamtwürdigung (vgl. N r . 92), die wie ein Weckruf wirken möchte: „ . . . die Zeit ist nicht mehr fern, da es in Europa eine große Nietzsche Gemeinde geben wird . . . , im Auslande, zumal in Dänemark und Schweden, gehört Nietzsche heute schon zu den gefeiertsten Schriftstellern." 107 Ders., Friedrich Nietzsche. Ein Essay. (Ges 6. Jg., H . 10, Bd. 4, S. 1415 bis 1428). Ein nochmaliger Versuch, unter Verarbeitung und Erweiterung seiner beiden früheren Abhandlungen (Nrn. 92, 106), eine Gesamtwürdigung zu schreiben. Der Aufsatz reicht bis an den „Zarathustra" und sollte fortgesetzt werden, doch ließ sich keine Fortsetzung in dieser Zeitschrift finden. 107 a Auch in: Leo Berg, Zwischen zwei Jahrhunderten. Ges. Essays. Ffm. Rütten & Loening. 1896, S. 3 — 2 1 oben. Bis auf wenige Stellen unverändert. Hier findet sich dann auch die Fortsetzung S. 21 oben—33, die bis auf zwei neue Absätze auf S. 25 eine fast wörtliche Wiedergabe der Ausführungen in „Deutschland" (S. 149, 168 ff.) darstellt. 107/1 Conrad, M. G. (München), Eine Begegnung mit Friedrich Nietzsche. (MD 2. Bd., H . 4 ( = N r . 10) v. 1. 1 0 . 1 8 9 0 , S. 611 f.). Beschreibt eine Begegnung mit Nietzsche aus dem Herbst 1876 in Sorrent; s. hieraus S. 30 f. 107/1 a Auch in N r . 5 3 7 a, S. 1 2 — 1 9 . Mit nicht ganz unwesentlich geändertem Wortlaut. 108

H a r t , Heinrich, A m Ausgang des neunzehnten Jahrhunderts. Betrach-

tungen über Entwicklung, Sonderung und Ziel moderner Weltanschauung. ( 1 8 9 0 . ) (In: H . H . , Ges. Werke. H g . v. Julius H a r t . E . Fleischel. Bln. 1907. Bd. 3, S. 159 bis 199). In diesem Aufsatz, der das Wirken von Feuerbachs, Tolstois, Nietzsches und Ibsens Beiträgen zur Schaffung der „modernen Weltanschauung" untersucht, wird Nietzsche der breiteste R a u m gewährt (S. 1 8 2 — 1 9 3 ) . E r beginnt mit folgendem Satz: „Wer an Tolstoi erkrankt ist, wird an Nietzsche gesunden." Dieser ist dem Verfasser „ein Prophet der Skepsis" und zugleich „der konsequenteste aller Skeptiker". E r findet ihn „in demselben Grade Dichter und Künstler wie Philosophen" und behauptet: „Wer sich in die moderne Weltanschauung einzuleben strebt, kann an Nietzsche nicht vorbeigehen." E r befreie den Menschen „von der Vergangenheit und fordert ihn auf: entscheide dich für und wider aus dir s e l b s t . . . " Er wirft ihm aber auch in seinen Behauptungen „Mangel an Tatsächlichkeit, Definitionen und Erklärungen" vor. Seine Anschauungen beruhen auf einer „Einseitigkeit des Empfindens", er sei der „Urgermane" dem „Urslawen Tolstoi" gegenüber und betone als solcher Individuum, Kampflust und Lebensfreude, nur sei keiner von beiden ein Mensch. 102 102

Hart, Heinrich (Wesel 30.12.1855 — Tecklenburg/Westfalen 11. 6.1906).

1890 Richard Dehmel

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109 Weber, Robert, Geschichte des Klassisch-Philologischen Vereines zu Leipzig von 1865—1890. Lpz. G. Kreysing. 29 S. Verschiedentliche Erwähnung Nietzsches als Mitbegründer des Vereins, s. a. Anm. 1. „Nietzsche war nodi nicht entdeckt", als Arno Holz Ende 1887 mit seinem Naturalismusgesetz auftrat. Im Verein „Durch" und dessen Fortsetzung „Genie-Klub" fanden Ibsen, Nietzsche, Stirner begeisterte Verkünder (Gründung Aug./Sept. 1886). Unter den Mitgliedern befanden sich: Julius Türk, Leo Berg, Sanitätsrat Küster, Eugen Wolff, Arno Holz, Johannes Schlaf, Franz Held, Wilhelm Bölsdie, Bruno Wille, Gerhart Hauptmann und die Gebrüder Hart: „Was dieser Geist (d. i. der Zeitgeist) im übrigen erstrebte, das wird am einfachsten durch den Namen Nietzsches gekennzeichnet. Über Nacht war der Philosoph der schrankenlosen Ichsetzung aus dem Dunkel ins hellste Licht getreten. Alle individualistisch-anarchistischen Bestrebungen empfingen durch ihn eine Art religiöser Weihe. Mit einer Art Begeisterung, die vorderhand allen Widerspruch niederwarf, wurde er zum Führer der neuen Generation proklamiert, er oder vielmehr sein Werk, denn er selbst war ein lebendig Begrabener." (Am Anfang der 90er Jahre:) „Wir (d. s. Heinrich und Julius Hart) fanden uns mit Nietzsche so gut ab wie mit Spiritismus und Theosophie, wir studierten beides, ohne uns einem gefangen zu g e b e n . . . Kaum ein andrer hat so wie er (d. i. der Pole Przybyszewski) den Ubermenschen in sich gezüchtet und den Wahn bis zur Tollheit gesteigert . . . Die Rolle, die in Garborgs Leben der Pietismus spielte, spielte bei Przybyszewski die katholische Mystik, mit deren Dämmer und Weihrauch seine Jugend erfüllt war. Die andere Rolle spielte der Geist Nietzsches und die dritte gleichfalls Dämon Alkohol." Ein Kreis bildete sich um das junge Dehmeische Ehepaar (am 4. Mai 1889 Hochzeit Dehmels mit Paula Oppenheimer — Anfang November 1893 Flucht Dehmels nach Hamburg) bestehend aus: Heinrich und Julius Hart, Liliencron, Otto Julius Bierbaum, Hans von Gumppenberg, 103 Hedwig Lachmann, Doktor Schleich, Przybyszewski, Franz Oppenheimer 1030 Arno Holz, Johannes Schlaf, Wilhelm Bölsche und Bruno Wille: „In diesem Kreis regten sich zuerst oder doch wenigstens am stärksten und nachhaltigsten jene Stimmungen, welche über die Epoche des Naturalismus, Pessimismus und Sozialismus hinausstrebten. Man hatte sie satt, übersatt, die graue Nüchternheit und Elendsliteratur, die engbrüstige Moral der Massenprediger, den herrschenden Rationalismus und die herrschende Politisiererei. Man träumte von einer neuen Renaissance, einem neuen, sinnen- und kunstfreudigen Heidentum. Die Worte Lebensfreude, Ausleben, Sinnlichkeit, Freiheit gewannen neuen Inhalt. 105

Gumppenberg, Hanns Frhr. v. (Landshut 4.12.1866 — München 29. 3.1928), Theaterkritiker, Mitbegründer des Kabaretts „Die elf Scharfrichter", tosa Oppenheimer, Franz, geb. am 30.3.1864 zu Berlin, seit 1887 Arzt ebd., später bedeutend als Nationalökonom, Schwager Dehmels.

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1890 Gabriele Reuter

Die Werte, die Nietzsche geahnt, sollten sich in Leben und Tat umsetzen. Ein neues Weltempfinden, heller, sonniger, •weitherziger als das alte, eine neue Weltanschauung war im Keimen." 104

Aus der Zeit von 1890 bis 1894 erzählt Rudolf Steiner von einem Kreis um Hans Olden105 und dessen Frau Grete in Weimar: „Was in Ibsens Dramen lebte, was in Nietzsches Geist rumorte, darüber wurden in seinem Hause endlose, aber immer anregende Diskussionen geführt." 106

Gabriele Reuter, die damals in Weimar wohnte und mit zum Kreise gehörte, erzählt von der eigenen Bekanntschaft mit Nietzsdies Werk sowie etwas ausführlicher aus der Zeit: „Ich war mit Nietzsdies Schriften in München (Ende der 80er Jahre) auf eine wunderliche Weise bekannt gemacht worden. Ein Empfehlungsbrief führte mich zu einem älteren adligen Fräulein, die in einem katholischen Damenstift lebte. Idi fand in ihr eine jener merkwürdigen Frauen, an denen Deutschland so reich ist, die unter den allerbesdiränktesten äußeren Umständen sich eine umfassende Bildung und schöne Freiheit des Geistes zu erkämpfen wußten — moderne Einsiedlerinnen, die in Dörfern, in kleinen Städten, in klösterlichen Stiften ihr unscheinbares, innerlich reich und schön ausgefülltes Wesen treiben. Auf dem Tisch des armen Fräuleins im katholischen Stift lag Zarathustra und die fröhliche Wissenschaft. Hier hätte der große einsame eine glühende Jüngerin und verstehende Seele gefunden. Auf midi wirkte er wie ein wundervoller Rausch. Zum erstenmal, seit ich die .Moderne* studierte, wurde ich von einer starken Dichterkraft durch und durch geschüttelt. Gegen die reiche Fülle seines Wesens schien mir der Max Stirner und sein Einziger in seinem Eigentum arg dürftig. Hier eröffneten sich Königreiche voll gewaltiger Schätze — hier führten Tore zu Landschaften, deren Farbigkeit und Frische wie die Kühnheit der Linien bezaubernd wirkten. Und die helle sonnenheiße Luft des Südens! Die feinen blauen Nebel einer tiefen Mystik, die die Formen duftig verschleierten und hehre Göttersitze ahnen l i e ß e n . . . Eine Fülle von Geist wurde ausgestreut bei endlosen Debatten in dem schönen großen 104

Aus- und Anführungen aus: Wir Westfalen. 1905 (enthalten in: H. Hart, Ges. Werke, a. a. O., S. 62—92; s. a.: Ida Dehmel, Uber Ridiard Dehmel und seine Zeitgenossen, in: R. Dehmel. Dichtungen, Briefe, Dokumente. Hg. v. P. J. Schindler. Hoffmann u. Campe. Hamb. 1963, S. 263—268); Dehmel, Richard (Wendisdi-Hermsdorf 18.11.1863 — Blankenese 8. 2.1920). 105 Olden, Hans, geb. 1859 in Frankfurt am Main. ,0 « Dr. Rud. Steiner, Mein Lebensgang. Hg. v. Marie Steiner. 1 2 . - 1 4 . Tsd. 1932, S. 157 f. S. a. den Brief Steiners an Richard Specht vom 30.11.1890 aus Weimar: „Als ich neulidi an Naumburg vorüberfuhr, kam mir lebhaft die Erinnerung an Nietzsche. Idi braudie Ihnen wohl nicht zu sagen, daß das .klassisch-gebildete* Weimar den ganzen Nietzsdie-Rummel verschlafen hat." Gemeint sind wohl die Mitarbeiter Steiners im Goethe-Sdiiller-Archiv. (R. S., Briefe Bd. I 1881—1891. 2. Aufl. Hg. v. Edwin Froböse u. Werner Teidiert. Selbstvlg. d. Rudolf Steiner-Nadilaßverwaltung. Dornadi/Schw. 1955; über Steiners weiteres Verhältnis zu Nietzsche sowie zum Nietzsche-Archiv s. ebd., Bd. II. 1892—1902. 1953, S. 174 f., 177 (1894), 180 ff., 184—192, 196 f. (1895), 202 f. (1896), 210 (1897), 232 f. (1900).

1890 Frank Wedekind/Hermann Sudermann

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Hause am Horn, w o der Goetheardiivar Eduard v. d. Hellen mit seiner jungen Frau wohnte, oder auf der Veranda des kleinen weißen Hauses an der Tiefurter Allee, w o die kluge Grete Olden ihren Empfangstag hatte." 1 0 7

Daß auch Frank Wedekind spätestens zwischen Herbst 1890 und Ostern 1891 Nietzsches Werk kennenlernte, beweisen seine späteren Anmerkungen zu dem damals entstandenen „Frühlings Erwachen" : „Es widerstrebte mir, das Stück, ohne Ausblick auf das Leben der Erwachsenen, unter Schulkindern zu schließen. Deshalb führte idi in der letzten Szene den Vermummten Herrn an. Als Modell für den aus dem Grab gestiegenen Moritz Stiefel, die Verkörperung des Todes, wählte idi die Philosophie Nietzsches." 1 0 8

Über die frühen 90er Jahre in Elberfeld, wo er als Lehrer tätig war, schreibt Wilhelm Schäfer: „Wir (d. s. er und der Volkssdiullehrer Ernst Löwer) lasen die dünnen grünen Hefte, aus denen später die ,Neue Rundschau 1 wurde, wir schwärmten für den jungen Gerhart Hauptmann, für die Skandinavier und die Russen, wir erlebten den naturalistischen Widerspruch gegen die platte oder süßliche Bürgerlichkeit der damals beliebten Literatur als die Auflehnung des verleugneten Mensdiengeistes und sahen in Nietzsches flackernden Händen den Funken des Prometheus." 1 0 8 0

Am 5. November 1890 fand die Uraufführung eines neuen Stückes von dem erfolgreichen Verfasser der „Ehre" statt: 110

Sudermann, Hermann, Sodoms Ende. Drama in fünf Akten. 2 3 . Aufl.

St. 1901. J . G. Cotta Nf. (Die Erstausgabe erschien Anfang 1891). 1 0 »

Gabriele Reuter, Vom Kinde zum Menschen. Die Gesdiidite meiner Jugend. 1921. S. Fischer. Bln., S. 448 f. Im selben Abschnitt: Begegnung mit Friedrich Nietzsche (S. 447—460), erzählt sie audi Eingehendes über Rudolf Steiner als Mitglied des Kreises und über Fritz Koegel als Vorleser aus den Handschriften zum „Antichrist" und „Ecce homo" sowie von Besuchen in Naumburg bei Mutter und Schwester. Besonders eindrucksvoll schildert sie einen einmaligen Besuch beim kranken Nietzsche. Das Ganze wurde, wenn audi mit unwesentlichen Kürzungen und leichten Änderungen, vorabgedruckt in: NFPr Morgenbl. Nr. 20409 v. 24. 6.1921, 3 S. Reuter, Gabriele (Alexandria 8 . 2 . 1 8 5 9 — 16.11.1941). 108 F. W., Ges. Werke. 9. Bd. Mchn. G. Müller. 1924, S. 424. Wedekind, Frank (Hannover 24. 7.1864 — München 9. 3.1918); s. a. den Brief an den älteren Bruder Arnim vom 14.3.1892 aus Paris: „ . . . u n d einem jungen Pariser Philosophen bin ich bei der Obersetzung von Nietzsche behülflidi." (F. W. Briefe. l . B d . Mdin. G. Müller. 1924, S. 230). Anführenswert ist auch folgende Bemerkung des Herausgebers Fritz Strich: „Wedekind hatte Lou Andreas-Salomé in Paris kennengelernt (d. i. im Jahre 1894). In einem Briefe Wedekinds an seinen Bruder, der sich der Veröffentlichung entzieht, findet sich ohne Namensnennung eine überaus scharfe, ablehnende Beurteilung ihrer menschlichen und geistigen Eigenschaften. Von ihren Beziehungen zu Nietzsche und Richard Wagner behauptet Wedekind, daß ,nichts als blauer Dunst' hinter ihnen sei." (Ebd., 2. Bd., S. 369). 1 0 8 0 W. S., Lebensabriß, Mchn. 1918, S. 15 f. Schäfer, Wilhelm (Ottrau/Hessen 20.1.1868—Überlingen 19.1.1952), Schriftsteller. 109 Sudermann, Hermann (Matziken/Ostpr. 30. 9.1857 — Berlin 21.11.1928). 107

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1891 Sudermann/Margarete Susman

Hierin gestaltet Sudermann den Menschen, dessen Freundin ihn mit folgenden Worten kennzeichnet: „Heute bist du G o t t . . . Du kannst und du darfst alles, d e n n . . . es kleidet dich." (S. 90) Es ist der Maler Willy Janikow, der, frühberühmt durch sein Gemälde „Sodoms Ende", in eine Gesellschaft von selbstgefälligen „Freien Geistern" (S. 36) geraten ist und darin langsam verkommt. Sein Freund Riemann, der sich, als „Mittelware", als Mallehrer in Karlsruhe beschieden hat, hält ihm eine Strafpredigt über die „sogenannte Genialität": „Kaum hat so ein Kiek-in-die-Welt herausgefunden, daß ein Podex rund ist, und daß ein Ahornblatt anders gemacht wird wie ein Lindenblatt, da schreien schon alle Vettern und Basen: Ein Genie, ein Genie! Na, und für das Genie sind die Weltgesetze nicht gemacht. — — Das steht jenseits von Gut von Böse, wie man jetzt sagt das kann lumpen, so viel es will." (S. 79). 111 Andreas-Salomé, Lou, Zum Bilde Friedrich Nietzsches. Eine psychologische Studie. (FB 2. Jg., H . 3 ff. v. Jan. u. Febr. 1891, S. 64—68, 88—91, 109 bis 112). Verfasserin betont das Periodische im Schaffen Nietzsches: „Die Welt der Metaphysik (bis zu „Menschliches") hatte er entsagt, über die Welt verstandesnüchterner Forschung (bis zu „Zarathustra") war er hinausgeflogen, — so verflog er sich in die Mystik." Sie nennt ihn den „Philosphen der Moderne", denn jene „Anarchie in den Instinkten schöpferischer und religiöser Kräfte, die sie in ihrer Tiefe bewegt, hat in ihm typische Gestalt bekommen". Sie meint auch, daß es Nietzsche der Mensch und nicht der Theoretiker sei, auf den wir unseren Blick richten müssen. Hierzu fügt sie mehrere Brudistücke aus Gesprächen und Briefen sowie zehn bisher ungedruckten Aphorismen Nietzsches bei. Im wesentlichen, doch großenteils durch Zitate aus Nietzsches Werken um das Doppelte erweitert, auf S. 11—44 von Nr. 185 aufgenommen. Nach Beendigung der „höheren Töditersdiule" in Zürich um den Anfang der 90er Jahre begegnete Margarete Susman dem Werk Nietzsches: „Vor allem aber war es Nietzsche, die überwältigende Schönheit seines .Zarathustra', von dem aus eine goldene Abendröte mir alles Leben überstrahlte."1090 10βα

M. S., Idi habe viele Leben gelebt. Erinnerungen. DVA St. (2. Aufl. 1964), S. 27; s. a. ebd., S. 28, 103, 104, 129, 179 u. bes. S. 32 f. (von der Zeit ums Jahr 1895 in Hannover:) „Denn kurz darauf bradi Nietzsche nun zum zweitenmal in mein Leben ein, und zwar war es diesmal nicht die Schönheit der Sprache seines ,Zarthustra', sondern das strenge Jenseits von Gut und Böse', das mit seiner unversdileierten Wahrheit auf mich eindrang. Nietzsche, dem aus dem Nichts die Fülle unsterblichen Lebens quoll — hier ahnte idi ein dunkles Geheimnis, das zu begreifen mir immer das Schwerste gewesen ist. Die von je gestellte Frage nadi Gut und Böse erschien hier in einer neuen Gestalt. Jenseits von Gut und Böse' — wie konnte ich das begreifen? Und hier begegnete mir nun der nobelste und sicher audi der gütigste Mensch, der das Leben jenseits von Gut und Böse als das allein Wahre verkündete und damit zugleich unter Qualen das ewige Wort ,Gott' vom Horizont der Menschheit auszulösdien versuchte. Ich ahnte wohl etwas von der Umwertung aller Werte, dodi saßen damals die alten in mir noch zu fest, als daß ich ganz hätte begreifen können, daß hier das Böse höher gewertet wird als das Gute, weil es im Leben das Mächtigere ist. Das Jenseits von Gut und Böse war mir, der das Gute, die Güte als der höchste aller Werte erschien, zu fremd, als daß

1891 Hugo von Hofmannsthal

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Im Sommer 1891 oder kurz davor m u ß H u g o v o n Hofmannsthals Bekanntschaft mit Nietzsches Werk erfolgt sein, denn am 13. Juli 1891 schreibt er an Arthur Schnitzler: „En attendant les' ich Nietzsche und freue mich wie in seiner kalten Klarheit, der .hellen Luft der Cordilleren', meine eigenen Gedanken schön crystallisieren."110 Im März des folgenden Jahres bedankt er sidi bei Schnitzler für etwas v o n Nietzsche 1 1 1 und schreibt am 17. Mai 1896 über das eigene Bekanntwerden mit Nietzsche: „Mir ist eingefallen, wie mir der Goldmann zum ersten Mal von Nietzsdie und von Bahr erzählt hat, das ganze kleine Redaktionszimmer und unsre ersten Begegnungen."112 Schnitzler beantwortete den Brief H o f m a n n s t h a l s 27. Juli 1891 u. a. mit folgenden Worten:

vom

13.7.

am

„Gelesen wird mancherlei... besonders Nietzsche — zuletzt hat mich ein Schlußcapitel und das Schlußgedicht zu Jenseits von Gut und Böse ergriffen. — Erinnern Sie sich? Nietz'sche Sentimentalität! — Weinender Marmor! Stellen, die sogar auf Weiber wirken, ohne daß man den Stellen oder den Weibern bös werden müßte." 113 Hofmannsthals Beschäftigung mit Nietzsche läßt sich an folgenden Äußerungen noch weiter verfolgen: „Zuletzt hat mir nodi Bahr eine sehr gesdieidte kleine Abhandlung über ,Nietzsche und Chopin' von einem Herrn Stanislaus Przybyszewski (Berlin, Fontane) mitgegeben; kennen Sie den Namen?" 114 idi den ganzen gewaltigen Umsturz, das Dynamit, das in dieser Lehre lag, damals hätte fassen können... Ich glaubte, daß diesem adligen Geist das Gute wie das Böse in unserer Zeit nur zu lau und zu schwach geworden wäre, und in einer Hinsidit war idi ja damit audi dem Verständnis Nietzsdies nähergekommen." Susmann, Margarete (verh. v. Bendemann, Hamburg 14.10.1874 —Ziiridi 16.1.1966), Schriftstellerin. 110 H. v. H./A. S. Briefwechsel. Hg. v. T. Nicki u. H. Sdinitzler. 1964. S. Fischer, S. 7; s. ebd. den Entwurf zu diesem Brief auf S. 323. 111 Ebd., S. 17. 112 Ebd., S. 65. Uber Goldmann schrieb Schnitzler: „Der Unterschied der Lebensumstände und des Alters brachte es mit sich, daß idi ihm (d. i. dem Fedor Manroth, eigentlichem Redakteur der Beilage zur „Neuen Freien Presse", „An der schönen blauen Donau", und Oheim Goldmanns), trotzdem ich audi ärztlidi manchmal in den Kreis seiner Familie Eingang fand, nidit so nahe trat als seinem Neffen, mit dem mich durch viele Jahre eine der stärksten Beziehungen meines Lebens verbunden hat und von dem daher in diesen Blättern, wenn sie fortgesetzt werden sollten, noch öfters die Rede sein wird." (A. S., Jugend in Wien. Eine Autobiographie. Hg. v. T. Nidd u. H. Sdinitzler). Molden. Wien, Zür., Mchn. (1968), S. 320. 11S A. a. O., S. 9. 114 An Marie Herzfeld vom 21. 7.1892, in: H. v. H., Briefe an Marie Herzfeld. Hg. v. H. Weber. Lothar Stiehm. Heidelberg (1967), S. 28.

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1891 Arthur Schnitzler

„Hier haben mir die Büdier, die ich mitgebracht habe, Gedichte, Nietzsche und N o v e l l e n v o n Maupassant, großes Vergnügen gemacht." 115

In Sdinitzlers Werk fällt die erste Erwähnung des Philosophen in der Novelle »Sterben": „Er (d. i. Felix) wandte sich den Philosophen zu und ließ sich v o n Marie Schopenhauer und Nietzsche aus dem Bücherschrank geben. Aber nur für kurze Zeit strahlte diese Weisheit ihren Frieden über ihn aus." 118

Im Jahre 1891 sdimückte eigenartig den sozialen Roman von Felix Hollaender:117 112 Jesus und Judas. Ein moderner Roman. 1891. Sallis'scher Vlg. Bln. folgendes Zitat: »Der Mensch ist schwer zu entdecken und sich selber noch am schwersten; o f t lügt der Geist über die Seele. Also schafft es der Geist der Schwere. Was uns das Leben verspricht, das wollen wir dem Leben halten. Fr. Nietzsche. Also sprach Zarathustra III, 62."

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An Edgar Karg von Bebenburg vom 27. 5.1896, in: H . v. H./E. K. v. B. Briefwechsel. Hg. v. M. E. Gilbert. 1966. S. Fischer, S. 119). Ähnliches hatte er an Leopold von Andrian geschrieben (H. v. H./L. v. A. Briefwechsel. Hg. v. H . Perl. 1968. S. Fisdier, S. 64), und dieser hatte am 4. 5.1896 geantwortet: » . . . im Nietzsche arbeite ich weiter und stehe bei Jenseits von Gut und Böse' (auch gegen Nietzsche habe ich jetzt eine Art Mißtrauen)", ebd., S. 62 In einem späteren Brief vom 18.7.1898 schrieb Andrian an Hofmannsthal von den „Modernen, die ich nicht entbehren möchte, die Einfluß auf mich gehabt haben", und führt Nietzsche als ersten von sechs auf. Ebd., S. 104. NDRs 5. Jg., Nov. 1894, S. 1088. Als sein Freund Alfred ihn darauf beim Lesen von Schopenhauer antrifft, bezeichnet Felix „diese Herren" als „niederträchtige Poseure" und erklärt: „Das Leben verachten, wenn man gesund ist wie ein Gott und dem Tod ruhig in's Auge schauen, wenn man in Italien spazieren fährt und das Dasein mit den buntesten Farben ringsum blüht, — das nenn' idi ganz einfach Pose." Der Hinweis auf Italien paßt viel eher auf Nietzsche, der seit dem Winter 1876/77 bis zum Zusammenbruch im Januar 1889 wiederholt in Italien reiste und wohnte, als auf Schopenhauer, der nur zweimal dort war, 1818/19 und 1822/23, jeweils auf ein knappes Jahr. Auch Felix' Gefühllosigkeit gegenüber dem Leiden eines Nietzsche trüge weitaus mehr zur Darstellung seines Wesens bei. Die ganze Novelle erschien in: NDRs 5. Jg., H . 10—12, Okt.—Dez. 1894, S. 969—988, 1073—1101, 1179—1191. Hofmannsthal, Hugo von (Wien 1.2.1874 — Rodaun b. Wien 15. 7.1929), Goldmann, Paul (1865—1935), Journalist, Kritiker, Berliner und Pariser Korrespondent der Wiener „Neuen Freien Presse" und Redakteur deren Beilage „An der schönen blauen Donau", in der Hofmannsthals früheste Arbeit im Juni 1890 erschien und die seit Mai 1889 frühe Arbeiten von Schnitzler brachte; Bebenburg, Edgar Karg von (22.12.1872—1905), 1892 in das Seeoffizierskorps aufgenommen; Andrian, Leopold von (Berlin 9. 5.1875 — Fribourg/Sdiweiz 19.11. 1951). Besonders bemerkenswert ist Schnitzlers Erwähnung Nietzsches angesichts der einzigen Arbeit über „Nietzsche und Schnitzler" von H . W. Reichert in „Studies in Arthur Schnitzler. Chapel Hill. Univ. of North Carolina Press 1963, S. 95—107, wonach „no specific references to Nietzsche" bis zum „Weg ins Freie" bei Schnitzler festzustellen wären. Hollaender, Felix (Leobsdiütz/Schlesien 1.11.1867 — Berlin 29. 5.1931).

1891 Cäsar Flaisdilen

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Im selben Jahre wählte auch Cäsar Flaischlen zu seinem Gesprächsstück um eine an den Idealen des Verlobten strandende Liebe: 1 1 8 113 Toni Stürmer. Eine Alltagsgeschichte in fünf Scenen. Bln. F. Fontane. 1891. einen Leitspruch aus Nietzsches Werken: „Man soll sich von dem sdiönsten Vermögen — dem, die Dinge in's Ideal zu heben — nidit tyrannisiren lassen: sonst trennt sich eines Tages die Wahrheit von uns mit dem bösen Worte: ,Du Lügner von Grund aus, was habe idi mit Dir zu schaffen?' Friedrich Nietzsche Menschliches, Allzumenschliches. N. A. II, 149." Laut Angabe des Verfassers im Werk ist das Stück zwischen Weihnachten 1890 und Ostern 1891 entstanden, und es trägt auf dem Umschlag im Gegensatz zu der Angabe auf der Titelseite das Jahr 1892. 114 Andreas-Salomé, L., Friedrich Nietzsche. (VZg Sonntagsbeil. Nr. 2 ff. v. 11., 18. u. 25.1. 1891). Verfasserin bringt hier die Gedanken, die sie später in stark erweiterter Form in ihr Buch (Nr. 185, S. 3 f., 5, 7—11, 47 bis zum Sdiluß) aufnahm, hier jedoch noch ohne die ausdrückliche Betonung des Religiösen im Wesen Nietzsches. 115 Carriere, M., „Jenseits von Gut und Böse". (MAZg Nr. 42 ( = Beilage Nr. 35) v. 11.2.1891). 1 1 9 Verfasser möchte vor Nietzsches Herrenmenschen warnen, dessen Verwirklichung „nicht einen Übermenschen, sondern den Untermenschen, die Bestie im Menschen frei machen" werde, und verweist dazu wiederholt auf Worte Christi. Es geht ihm jedoch hauptsächlich darum, „gegen das Unheil, das in sittlicher, gegen die Verwirrung, die in intellectueller Hinsicht durch Nachbeter angestiftet werden könnte". 116 Adler, Georg (Prof. a. d. Univ. Freiburg i. B.), Friedrich Nietzsche, der Social-Philosoph der Aristokratie. (NS 14. Jg., Bd. 56, H. 168 v. März 1891, S. 224—240). Er nennt Nietzsche einen klassischen Virtuosen der Aphoristik und meint, daß selbst Heine und Schopenhauer hierin nicht mit ihm zu vergleichen seien. Er teilt sein Schaffen in zwei Zeitspannen mit 1876 als Wendepunkt ein, dann um 1887 gehe seine verwegene Einseitigkeit in beklagenswerten Größenwahn über. Bei Feststellung seines Zieles „einer aristokratischen Cultur", glaubt Adler, haben platonische, Sdiopenhauersche sowie darwinistische Ideen mitgewirkt, aber die Erreichung seines Vorhabens sei ein Ding der Unmöglichkeit, da es aller Kulturgeschichte schnurstracks zuwiderlaufe. Er sieht voraus, daß Nietzsches Lehre „der Ausgangspunkt einer raffinirten aristokratischen Geistescultur innerhalb eines Teils der Bourgeoisie" sein werde, glaubt aber, daß seinem Ziele entschieden entgegenzuarbeiten sei. „Trotz allerdem aber bleibt Nietzsche auch für den Gegner seines principiellen Grundgedankens ein Autor, der schon um seiner Lebensweisheit, 118

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Flaisdilen, Cäsar (Stuttgart 12. 5 . 1 8 6 4 — Gundelsheim/Württ. 1 6 . 1 0 . 1 9 2 0 ) , redigierte 1 8 9 5 — 1 9 0 0 die Zeitschrift „Pan". Carriere, Moritz (Griedel/Oberhessen 5. 3 . 1 8 1 7 — München 1 9 . 1 . 1 8 9 5 ) , Philosoph.

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1891 M. G. Conrad und die Gesellschaft für modernes Leben

seines vornehmen Geschmacks, seiner klassischen Stilistik, seines rücksichtslosen Wahrheitsstrebens willen eines eingehenden, eindringenden Studiums nur all zu würdig erscheint." 117 Grottewitz, Curt, Der Kultus der Persönlichkeit. (FB 2. Jg., 1891, S. 233 bis 236). Ibsen sei derjenige, durch den „jene seltsame Begeisterung zuerst verbreitet worden, die allmählich zur Religion zu werden scheint", doch wirke Nietzsche in dieser Beziehung mächtiger. Verfasser findet, daß man vom Negativen, vom „absoluten Liberalismus" loskommen und zu „neuen Wahrheiten, neuen Idealen, neuen Autoritäten" vordringen müsse, allerdings zu solchen, die „die Menschheit auf einer sicheren Bahn leiten zu stetig aufsteigender Höherentwicklung". u e a 118 Türck, Dr. Hermann, Fr. Nietzsche und seine philosophischen Irrwege. Dresden. Glöß 1891. 72 S.120 Ratlos gegenüber Nietzsches Äußerungen über die Bestie im Menschen und seiner Verwerfung des Gewissens stützt er sich auf Ola Hanssons Behauptung einer Disposition für Geisteskrankheiten sowohl väterlicher- wie auch mütterlicherseits bei Nietzsche und versucht, den Fall Nietzsche als moralischen Irrsinn zu fassen. Um Nietzsches Ideal vor Augen zu stellen, führt er Zolas Jacques Lantier (La Bète Humaine) sowie eine Stelle aus Dostojewskys „Memoiren aus einem Totenhaus" heran. Er will aber sorglich zwischen dem wissenschaftlichen Realismus eines Zola und Dostojewsky, dem humanen Tolstois und dem bestialischen Ibsens, welch letzterer so richtig in die Gesellschaft Nietzsches gehöre, unterschieden haben. Ibsen verherrliche dichterisch, was Nietzsche in System gebracht habe. Aber audi er gesteht, daß die Form seiner Ausführungen eine ausgezeichnete sei, so daß der halbgebildete Durchschnittsliterat davon geblendet werde. Er stellt audi fest, daß das Geistesproletariat der Großstädte schon über die Entdeckung Nietzsches jubele. Er nennt ihn den „Propheten des Teufels und des Vaters der Lüge", den jetzt alle freien Geister in Kopenhagen, Berlin, München und anderwärts anbeten; überhaupt sei Nietzsche, was den Größenwahn anlange, ganz „modern". 118 a Dass. Neue Ausgabe. Jena 1894. Fr. Mauke's Vlg. Unverändert. M . G . C o n r a d berichtet aus den ersten J a h r e n der „Gesellschaft f ü r modernes Leben" in München v o n einer Verleumdung der „Gesellschaft" seitens der Münchner S t a d t k o m m a n d a n t u r , die eine Eingabe der „Gesellschaft" a n das bayerische Kriegsministerium z u r Folge hatte. Es h a t t e der „dritte öffentliche Vortragsabend" der „Gesellschaft" a m 20. M ä r z 1891 der „Militärbehörde den nächsten A n l a ß gegeben". A n diesem Abend hatten „ D r . P a n i z z a über Genie u n d W a h n s i n n " als erster u n d H a n s v o n

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Grottewitz, Curt, geb. am 22. 2.1866 zu Grottewitz b. Grimma, Schriftsteller. Türck, Hermann (1856—1933).

1891 Eduard von Hartmann

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Gumppenberg über „Karl Henckell, ein Diditerproträt", als letzter gelesen, und dazwischen: „Den zweiten Vortrag bildete eine Vorlesung Dr. Conrads aus dem Buche ,Also sprach Zarathustra* von Professor Dr. Nietzsche, dem bekannten Vertreter der Philosophie des Radikal-Aristokratismus und Antisozialismus. In diesem Vortrag soll die gebildete Gesellschaft kurzweg als Gesindel behandelt worden sein. Das an sich Widersinnige und Unglaubwürdige dieser Anklage ergibt sich zur Evidenz, wenn man das betreffende Kapitel ,Vom Gesindel' bei Nietzsche selbst nachliest; der Vortragende hat kein Wort davon- noch dazugethan. Das Buch ist überall zu haben." 121 118/1 Herzfeld, Marie (Wien), Der Roman vom Uebermenschen. (MRs 3. Bd., l . H . v. 1.4.1891, S. 23—26). Unter dieser Überschrift bespricht die Verfasserin Strindbergs „Am Meeresufer" als „im Zeichen Nietzsche's . . . entstanden": „ . . . was Nietzsche dachte, hat die bildende Hand des Künstlers zu lebendigen Menschen gestaltet." Er habe „in ihm den interessanten Versuch gemacht, einen höheren Menschentypus im Sinne Nietzsche's zu schaffen, eine Brücke zum Zukunftsmenschen, gewissermassen eine Vorstudie, einen Entwurf des U e b e r m e n s c h e n". 119 Hartmann, Eduard von, Nietzsche's „neue Moral". (PJb Bd. 67, H. 5 v. Mai 1891, S. 504—521). 122 Er stellt auch drei Perioden fest: in der ersten stütze sich Nietzsche auf Wagner und Schopenhauer, in der zweiten auf die sensualistische Psychologie, in der dritten nähere er sich wieder den verlassenen Idealen seiner Jugend. Er sei ohne Zweifel als Schopenhauerianer im weiten Sinne zu bezeichnen, wie Schopenhauer komme er nicht über ein Sdiwanken zwischen subjektivem Idealismus und metyphysischem Willensrealismus hinaus, nur in einem entscheidenden Punkte befinde er sich seit seiner zweiten Periode im Gegensatz zu Schopenhauer, in seiner Stellungnahme zu Moral. Bei Nietzsche entpuppe sich die höchste Moral als höchste Immoralität nicht bloß im Sinne der alten Moralen, sondern in jedem möglichen Sinne des Wortes Moral. Nietzsches Endergebnis, das so nur auf Umwegen und nur andeutungsweise erreicht sei, sei schon von Max Stirner (Der Einzige und sein Eigentum) im Jahre 1845 in meisterhafter Form mit einer nichts zu wünschen übrig lassender Deutlichkeit und Offenheit dargelegt worden. So solle die umsturzlüsterne Jugend eines zuchtlosen Geschlechts, die sich an Nietzsches Vexirmasken als an einer neuen und tiefen Weisheit erbaue, auf Stirners geniales Meisterwerk zurückgreifen, das in

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M. G. C., Ketzerblut. Mdin. Münchner Handelsdruckerei & Vlgs.-anst. o. J . (1892), S. 2 1 ; s . a . ebd., S. 46 u. 95 f. Bemerkenswert ist, daß Panizza, der „LandwehrAssistenz-Arzt I. Klasse" war, darauf „plötzlich mit sdiliditem Abschied aus Charge und Armeeverband entlassen", und „Baron Hanns v. Gumppenberg . . . wegen Majestätsbeleidigung . . . zu zwei Monate Festungshaft verurteilt" wurde, während Conrad anscheinend unbescholten davonging. Hartmann, Eduard von (Berlin 2 3 . 2 . 1 8 4 2 — Großlichterfelde 5 . 6 . 1 9 0 6 ) , Philosoph, Hauptwerke: Philosophie des Unbewußten; Phänomenologie des sittlidien Bewußtseins.

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1891 Friedrich Meineke

stilistischer Hinsicht hinter Nietzsches Schriften nicht zurückstehe, an philosophischem Gehalt aber sie „thurmhoch" überrage. 119 a Dass., in umgearbeiteter Form in: E. v. H., Ethische Studien. Lpz. 1898. Haacke. S. 34—89. Der Aufsatz ist hier zusammen mit N r . 234 verarbeitet und etwas erweitert worden. Er entspricht weitgehend dem Inhalt von S. 38—61. Die Kritik ist viel ungehaltener, dafür aber auch umgreifender: Nietzsche wolle nicht erleuchten, erhellen oder aufklären, sondern blenden; die Armut seines Gedankengehalts habe sich nur hinter einer aphoristischen Geistreichelei verbergen können. Der „Zarathustra", den Hartmann in dem Zeitschriftenaufsatz verschwiegen hatte, enthalte rhetorische, poetische und prophetische Ergüsse, untermischt mit paradoxen, bizarren und teilweise cynischen Zutaten, deshalb müsse sich die Kritik des von Nietzsche Erreichten hauptsächlich an „Jenseits" anknüpfen. Er findet bei Nietzsche eine Ähnlichkeit mit dem Realdialektiker Bahnsen, erwähnt nur kurz den „Antichrist". Hier weist er auf die Wahrscheinlichkeit hin, daß Nietzsche auch Stirners Werk gekannt habe; überhaupt wird der Vergleich mit Stirner weitgehender beleuchtet. Wahrscheinlich im Anschluß an Türck nennt er jetzt Nietzsches Philosophie die des moralischen Irreseins, findet auch im Glauben der Inder die Philosophie des Übermenschen bereits praktisch durchgeführt. Aus den frühen 90er Jahren schrieb Friedrich Meineke über das, „ w a s die M o d e von damals an erregenden Bildungsstoffen" an ihn herangeführt habe. Anerkennende Worte findet er zunächst f ü r Ibsen: „Aber Nietzsche? Furchtlos war er auch wie nur einer, und das war mir schon recht. Wir spürten natürlich die Genialität und bewunderten seine sprachliche Kraft und Schönheit. Aber der Zarathustra, den ich mir von Hintze entlieh, stieß mich unwillkürlich ab. Ich blieb, bis heute, immun gegen ihn. Eine solche Anarchie des Subjektivismus konnte ich nicht ertragen. Denn gerade die Sicherheit der naturgewachsenen Bindungen des Menschen schien mir hier gefährdet zu sein. Mag er anderen als der Sturmwind erscheinen, der die Luft reinigte. Mir aber erschien die zerstörende Wirkung größer als die reinigende. In der Kriegszeit unterhielt ich mich einst mit Troeltsch über die verhängnisvollen Wirkungen Nietzsches auf den deutschen Geist und daß die Generationen sich heute unterschieden, je nachdem sie Nietzsche im Magen hätten oder nicht. J a , sagte er lachend, er ist wie Rattengift im Gedärm." 1 2 2 0 120 Hansson, Ola, Friedrich Nietzsche und der Naturalismus. (Geg Bd. 39, Nr. 18 f. v. 2. u. 9. 5.1891, S. 275—78, 296—299). Verfasser versteht nicht, warum „innerhalb der Bestrebungen zur Hervorbringung einer neuen Literatur in Deutschland neben „Pygmäen" und „allzumenschlichen Lilliputanern" wie Zola, Ibsen und Tolstoi „Friedrich Nietzsche gar keine Rolle zuerkannt" werde. „Vielleicht deshalb", meint er, „weil er den Gegensatz des Naturalismus bildet: ein subjektiver Dichter ist", „dessen Werk der Zukunftsbrief der Menschheit ist". 1220

F. M., Erlebtes 1862—1901. Koehler & Amelang. Lpz. (1941), 184 f. Meineke, Friedrich (1862—1954), Geschichtsforscher.

1891 Franz Mehring

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121 Mehring, Franz, Kapital und Presse. Ein Nachspiel zum Falle Lindau. Bln. Kurt Brachvogel. 1891. 139 S., 2 Bll. Das Werk enthält als neunten und letzten Absdinitt: Zur Philosophie und Poesie des Kapitalismus, worin über Nietzsche als „Philosophen des Kapitalismus" auf S. 119—127 gesprochen wird. Das einzige Werk aber, das der Verfasser zu kennen scheint, ist „Jenseits". Er sieht in Nietzsche den Schüler Schopenhauers, der als Gegner Hegels der Philosoph des rentenbeziehenden Spießbürgertums gewesen sei. Nietzsche umkränze das ausbeutende Großkapital mit seinen Lorbeeren. Er habe selbst aber einiges aus Hegel, nur daß er es nicht habe zu Ende denken wollen oder können. Mit Hilfe von Lassalle, Marx und Engels sei er jederzeit zu widerlegen.123 121 a Auch in: F. M., Zur Geschichte der Philosophie. Mit Einl. u. Anhang v. August Thalheimer. Soziolog. VA (Bln. 1931), S. 170—177. ( = Ges. Schriften u. Aufsätze, Bd. 6). 121 b Auch in: Franz Mehring/Georg Lukács, Friedrich Nietzsche. AufbauVlg. Bln. 1957, S. 7—16. ( = Philosophische Bücherei. Bd. 14). 122 Dehmel, Richard, An Friedrich Nietzsche, in: Erlösungen. Eine Seelenwandlung in Gedichten und Sprüchen. St. Göschen 1891, S. 132 f. 122 a Dass, in: Ges. Werke. S. Fischer. Bln. 1906. Bd. 1 ( = dritte, nochmals veränderte Ausgabe der „Erlösungen"), S. 113 fi. Mit mancher Änderung in der Zeileneinteilung, Zeichensetzung und Wortwahl. Knapp sechs Jahre nach der ersten Auflage und im Gegensatz zu allen anderen Werken erschien im Mai 1891 eine edite Neuauflage von: XIV a Jenseits / von Gut und Böse. / Vorspiel / einer / Philosophie der Zukunft. / Von / Friedrich Nietzsche. / Zweite Auflage. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann. / 1891. VIII, 269 S. 8°. Wie unbekannt Nietzsche noch war, selbst in einer Stadt wie Würzburg und nodi dazu im dortigen Budihandel, geht aus folgender Schilderung Max Dauthendeys hervor: „Ich sah zum erstenmal in der Gesellschaft' . . . das Bild Nietzsches, des Dichterphilosophen, im Lesesaal der Würzburger ,Harmonie* im Jahre 1891, und zugleidi war da ein begeisterter Aufsatz mit einer kurzen Angabe aller seiner Werke und mit der Nachricht, daß der große Mann geistig umnachtet bei seiner Mutter in Naumburg lebe und wahrscheinlich nie mehr die Klarheit seiner Gedanken zurückerhalten werde. Ich eilte vom Lesesaal sogleich zur Stubertschen Buchhandlung und verlangte dort Nietzsches Werk ,Also spradi Zarathustra'. Niemand in der Universitätsbuchhandlung kannte den Namen des deutschen Philosophen. Man bestritt sogar, daß ein Philosoph dieses Namens in Deutschland 123

Mehring, Franz (Schlawe/Pommern 27.2.1846 — Berlin 28.1.1919), sozialistischer Schriftsteller, seit den 90er Jahren Mitherausgeber der „Neuen Zeit".

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1891 Max Dauthendey

lebe oder gelebt habe. Man lädielte und sdirieb den N a m e n . . . nur ungern a u f . . . Drei Tage später bekam ich aus Leipzig das B u c h . . . Auch Nietzsches Buch J e n seits von Gut und Böse' schlug wie mit Keulen an die guten alten Bücherschränke. U n d es war eigentlich kein Wunder, das an der Provinzuniversität der N a m e eines solchen Umwerters alle Werte noch unbekannt blieb, auch nach dem der Zyklopengeist dieses Denkers bereits aufgehört hatte, dem Leib zu gehorchen." 124 123 Ludwigs, G. (Darmstadt), Psychophilosophie. Kritische Gänge. 7. Jg., 3. Quartal, H . 7 f. v. Juli u. August 1891, S. 935—940, 1079—1084).

(Ges

Verfasser bespricht zwei Werke: Robert Hamerlings „Atomistik des Willens" und Albert Kniepfs „Denken und Weltanschauung oder Theorie der Grundprobleme", jenes als das eines Denkers, der Nietzsche „nicht einmal dem Namen nach gekannt haben" möchte, und dieses als das „wertvollste, erfreulichste Buch", das ihm „an Fortbildungen Nietzschescher Gedanken bis jetzt begegnet" sei.

Im Oktober 1891 wurden zwei weitere Neuauflagen nötig: X V I a Zur / Genealogie der Moral. / Eine Streitschrift / v o n / Friedrich Nietzsche. / Zweite Auflage. / Leipzig / Verlag von C. G. Naumann. / 1892. XIVS., 1. Bl., 182 S., 1 Bl. ( = Inhaltsverzeichnis). 8°. X V I I a Der Fall Wagner. / Ein Musikanten-Problem. / Von / Friedrich Nietzsche. / Zweite Auflage. / Leipzig. / Verlag von C. G. Naumann. / 1892. 4 Bll., 57 S. 8°. 124 Ludwigs, G. (Darmstadt), Von der Selbstzucht. Ein Zarathustralied. (Ges 7. Jg., 4. Quartal, H . 10 v. Okt. 1891, S. 1360 f.). 124

M. D., Gedankengut aus meinen Wanderjähren. In: Ges. Werke. l . B d . : Autobiographisches. Langen. Mchn. 1925, S. 339—405. Das Werk erschien zuerst zwei bändig ebenda im Jahre 1913. Dauthendey, Max (Würzburg 27.7.1867 — Malang/Java 29.8.1918). S. aus der gleichen Zeit seinen Brief aus Würzburg an Siegfried Löwenthal vom 27.6.1891: „Der Dichter ist ein Zwittergesdiöpf. Aber in einem Falle wiegt mehr die Männlichkeit über, dann ist er umfassender, heroischer wie Tolstoi, Nietzsche,..." (Herrn. Gerstner, Max Dauthendey und Franken. Langen/Müller. Mchn. (1958), S. 65; s.a. ebd., .S 67; von dieser frühen Zeit könnten auch Teile seines „Bänkelsang vom Balzer auf der Balz" (M. D., Ges. Werke. 4. Bd. Langen. Mchn. (1925), S. 573—698), der zuerst 1904 erschien, zeugen. Es handelt sich u. a. um eine Verulkung der „Moderne", deren Anhänger sich als „Übermenschen" fühlen: „Doch uns Modernen heutzutage/ Uns ist die Seel die größte Plage,/Wir haben für die schwächsten Stunden/Als Wehr den Übermensch erfunden." (S. 575) // „,Ein Übermensch bist du, ei was!/ Adi, sage mir, wie macht man das?'/,Mein Lieber, das ist gar nidit schwer,/Man ist einfach nicht menschlich mehr./Bist du von dir steif überzeugt./Es jeden andern auch so deucht./ Nie danke, wenn man dir gibt,/Nimm einfach, weil es dir beliebt ;/Denn Dank ist eine Kneditaktion./Du nimmst, und das sei andern Lohn./Und Achtung sollst du niemals suchen,/Die ganze Menschheit sei dir Kudien./Geld kennt man nicht, weil's zu viel gibt,/Und weil es jeder weiterschiebt./Mit Schulden sollst du alles zahlen,/Das wird dir auch viel leichter fallen./Man spreche immer nur von sich,/Und alle denken dann an dich,/Denn du allein sollst weiterleben,/Weil das dem Übermensch gegeben.'" (S .578) Sonst gefällt der Verfasser sich noch in Bildungen wie „Übersommerabend, Übermann" und „Übervieh".

1891 Kurt Eisner

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125 (Widmann, J . V.), Zwei Jünger Nietzsches. (B Nr. 321 f. v. 11/12 u. 1 2 / 1 3 . 1 1 . 1891). Besprechung zweier Bücher beim „Nietzscheverleger C. G. Naumann" : Albert Kniepfs „Theorie der Geisteswerte" und Paul Lauterbachs „Aegineten". Er gibt sich hauptsächlich mit dem Kniepfschen Werk ab und führt zum Schlüsse nur einige Sprüche aus Lauterbachs an. Was am Meister schon als ein „mit Affektation zur Schau getragenes geistiges Junkertum ein entschieden geckenhafter Zug" gewesen sei, werde an den „Schülern und Nachahmern ekelhaft". 1 2 5 126 Sommerfeld, A. v., (Ges 7. Jg., H . 10 v. Okt. 1891, S. 1407 f.) Eine Anzeige von John Henry Mackays 126 „Die Anarchisten", bei der einem Vergleich Mackays mit Nietzsche breitester Raum gewidmet wird. Nur scheint dem Verfasser „Nietzsches Philosophie greifbarer, verständlicher, da er mit menschlichen Eigenschaften mehr rechnet als Mackay". 127 C(onrad), M. G., (Ebd., S. 1424). Eine Abfertigung Türcks anläßlich seines Nietzsche-Buches (Nr. 118): „Dreierlei möchten wir dem klugen Verfasser aber raten: stets den Abstand zu beachten, der zwischen ihm und einem unglücklichen Genie von der Größe und Erhabenheit der Begabung und des Leids eines Friedrich Nietzsche besteht; in psychologischen Untersuchungen moralische Salbadereien zu vermeiden; Ausfälle auf Personen und Richtungen zu unterlassen, denen seine Kritik, sofern sie ernst genommen sein will, auch lange nicht gewachsen ist." 128 Eisner, Kurt (Ffm.), Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft. Beiträge zur modernen Psychopathia spiritualis. (Ges 7. Jg., 4. Quartal, H . 11 f. v. Nov. u. Dez. 1891, S. 1505—1536, 1600—1664). 1 2 7 Ihm ist „,Der Fall Wagner* das beste Feuilleton, das die deutsche Literatur kennt", „Zarathustra" ein „Kunstwerk wie Faust". Nietzsche selber gemahne an „die Romantik und an Rousseau". E r findet, daß „die Geschichte des Nietzscheschen Einflusses zu schreiben, bereits jetzt eine dankbare, weitgreifende Aufgabe" wäre, doch müsse man sich dabei beeilen, „damit die Nietzsche-Episode nicht früher fertig werde, als die Arbeit". In diese „Geschichte des Nietzscheanismus" gehörten hinein: Hermann Conradi, Bahr, Ola Hansson, Alfred Kniepf, M a x Bewer, K a r l Henckell und Langbehn, bei welch letzterem der Verfasser dann etwas länger verweilt. Nietzsche habe sogar im sozialistischen Lager „jene eigenartige Gruppe der Jungen* geschaffen, die unter der Führung Bruno Willes" stehen. Mehrings

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S. a. Widmanns Brief an Henriette Feuerbach vom 6 . 1 2 . 1 8 9 1 aus Bern: „Endlich band idi audi mit zwei Philosophen aus Nietzsdie's Schule an, die jenen Unsinn von einer besonderen ,Herrenmoral der menschlichen Elite' gegenüber der allgemeinen bürgerlichen Moral in allgemeinen Kurs setzen möchten." (J. V. Widmann, Briefwechsel m. H . Feuerbach u. Ricarda Hudi. H g . v. C. v. Dach. Artemis-Vlg. Zur. u. St. (1965), S. 143 Mackay, John Henry (Greenock/Schottland 6. 2 . 1 8 6 4 — Berlin 21. 5 . 1 9 3 3 ) . Eisner, Kurt (Berlin 1 4 . 5 . 1 8 6 7 — München 2 1 . 2 . 1919), Redakteur der „Frankfurter Zeitung" von 1891—1893, Mitarbeiter am „Vorwärts" 1898—1905, 1919 in München erschossen.

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1892 Ricarda Hudi/Stefan George

Behauptung, Nietzsche sei der Philosoph des Kapitalismus, spridit er nur wenig Berechtigung zu. Trotz wiederholter Lobsprüche ein Angriff, der vernichtend sein will und in der Parole ausklingt: „Werdet weich!" 128 a Dass, mit umgestellter Überschrift als Buch: Psychopathia spiritualis. Friedrich Nietzsche und die Apostel der Zukunft. Lpz. Wilh. Friedrich. (1892). 99. S. Neu sind das einseitige Vorwort (S. III f.) und trotz der Beteuerung darin, seine Arbeit „ganz unverändert" hier zu bringen, zwei mehrzellige, doch unwesentliche Zusätze (S. 53 u. 74) sowie eine Auslassung ( = die letzten drei Zeilen des Aufsatzes). Ricarda Hudis Bekanntschaft mit Nietzsches Werk muß spätestens 1891 erfolgt sein, denn schon am Anfang des Jahres 1892, am 17. Februar, schreibt sie aus Zürich an J . V . Widmann: „Einem Schopenhauer oder Nietzsche verzeihe idi es (d. i. daß sie ihre „Meinung über das Weib abgeben") leidit, weil die ja noch manches andre gesagt haben." 128 Ungefähr zur gleichen Zeit muß Stefan George auf Nietzsdies Werk gestoßen sein, denn Edith Landmann berichtet wie folgt über ein Gesprädi mit George über ihn: „Über Nietzsche: Daß auf ihn Nietzsche nie im aufbauenden Sinne gewirkt habe. Er hätte Ausschau gehalten immer nur nach Leben und Gebild. Hätte er etwas Eindrucksvolles von seinem Leben gehört, daß er Schüler hätte, so wäre ihm das näher gegangen. Der Zarathustra wäre ihm peinlich, ein Zwischen- und Mittelding. Nachher, 1892 schon, hätte er Nietzsche geschätzt als Orator, als Kämpfer, den man brauchen konnte. Aber ihn interessierte einer nicht, der noch gegen das Christentum kämpfte. .Wogegen man kämpft, da steckt man noch drin. Nicht Nietzsdie war jenseits von Gut und Böse, sondern Algabal.' Ursprünglich vertraten auch die Blätter diesen Standpunkt: erst mußte einmal eine künstlerische Höhe in Deutschland erreicht sein, eine abgesonderte Höhe. Die erleuchtetsten Geister damals waren grad so weit, diese künstlerische Ferne zu lieben. Weiter gingen sie nicht. Da blieben sie hängen. Die Blätter gingen weiter. Nur was aus dem Leben kommt, ist Kunst, die wieder aufs Leben wirkt." 128

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Huch, Ricarda (Braunschweig 18.7.1864 — Sdiönberg/Taunus 17.11.1947), Briefstelle aus: J. V. Widmann, Briefwechsel m. H. Feuerbadi u. R. H., a.a.O., S. 178; s. ebd., S. 227 (Brief aus dem Jahre 1893). Dennoch verwundert es, daß Nietzsdie in dem Erinnerungsbudi ihrer Studienjahre (1887—1896) in Zürich nur einmal erwähnt wird: Frühling in der Schweiz. Jugenderinnerungen. Atlantis-Vlg. Zür. (1938), S. 83; s.a.: Marie Baum, Leuditende Spur. Das Leben Ricarda Hudis. R. Wunderlich. Tüb. (4. Aufl. 1964), S. 165, 363; sowie: Ricarda Huch. Briefe an Freunde. Ausgew. u. eingel. v. Marie Baum. R. Wunderlidi. Tüb. (1955), S. 181 f. George, Stefan (Büdesheim b. Bingen 12. 7. 1868 — Minusio b. Locarno 4. 12. 1933); angeführte Stelle aus: E. L., Gespräche mit Stefan George. Helm. Küpper. Düsseldorf u. Mdin. 1963, S. 100; s.a. ebd., S. 10 (1896), 21 (1896: „In Georges Wesen wurde uns, die wir unter dem Einfluß vor allem von Nietzsche die alte Moral zumindest

1892 Karl Wolfskehl

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Uber das eigene Bekanntwerden mit Nietzsches Werk sowie über die Zeit zwischen 1885—1890 beriditet Karl Wolfskehl wie folgt: „Von Nietzsche war — es scheint heute kaum glaublich — nodi nichts in unseren Provinzwinkel ( d . i . Darmstadt) gedrungen, ich selber habe ihn erst 1892 kennengelernt, und mir gleich die heute bibliophil so köstliche, in jenen Tagen aber noch sehr unvergriffene erste Zarathustra-Ausgabe erstanden. Die deutschen Zeitungen schwiegen sich über ihn aus, gerade I . V . Widmann im Berner ,Bund' und Georg Brandes in seinen berühmten Kopenhagener Vorlesungen hatten eindringlich auf ihn gewiesen, ein wenig wohl auch M a x Kalbeck in Wien. Irgendwie zitterte natürlich die Geistesluft audi von ihm, und sicher ist unsere tiefe, fanatische Stellungnahme zu Ibsens Problem vorbewußt davon mitbestimmt worden. Aber unsere geistige Arbeit, unsere sittliche Idealbildung vollzog sich unter dem unerbittlichen Druck des Norwegers." 1 3 0 „Bald gab den Wenigen, auf die mein Gedenken eben sich lenkt, Nietzsche das Gesetz, Stefan George die G e s t a l t . " 1 3 1 129 Berg, Leo, D e r Naturalismus. Zur Psychologie der modernen Mchn. M . Poessl 1892. V I I I , 2 4 4 S., 2 Bll.

Kunst.

Auf dem Titelblatt steht als Leitspruch: „Ich sage Euch: M a n muß noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können. Also sprach Zarathustra I. 5 . " , Worte, die dann auf dem Deckblatt (S. 1) des „Ersten Teiles: D e r Naturalismus" und auf S. 15 „Annäherung an die N a t u r " wiederkehren. Es finden sich auch weitere Zitate im T e x t aus der „Geburt" (S. 23), „Jenseits" (S. 43 f.) und „Zarathustra" (S. 140) sowie Erwähnungen Nietzsches auf S. 60, 88 (als eines der „Helden und Schöpfer der modernen K u n s t " ) , 94 (als einer der „Sphinxe", die „am Ausgang unseres Jahrhunderts vor den Eingängen des Lebens gelagert" und „über den Sinn dieses Lebens und der in ihm waltenden Gottheit in tiefes Nachsinnen versunken" seien), 9 9 (neben Schopenhauer als „Lehrer in der Interpunktionskunst"), 101 (hinsichtlich seiner „genialen Ausführungen über das Wesen der Décadence"). Doch sowohl in der aphoristischen Anlage des Buches (116 Einzelabschnitte), als auch in der Sprache (Wortbildungen wie: Philisternase, -neigung, -moral, -Vernunft, Rückwärtsler, götzendämmern; Sätze wie: „Man lebt nicht umsonst jenseits der Vernunft! Man kann vielleicht ein Riese sein. Aber

lso

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theoretisch abgetan hatten, über eine neue aber nodi sehr im Unklaren tasteten, eine Norm wiederum sichtbar, eine Norm, die sidi in der Formung seines ganzen Wesens ausprägte, darin, daß Wesen, Leben und Lehre so völlig eins in ihm waren, daß sein Leben bei extremer Einfachheit, Gleichförmigkeit und Unscheinbarkeit dodi in jedem Zuge einer höchsten geistigen Forderung gemäß und bis ins letzte von dem durchwaltet war, was Nietzsche den großen Stil nannte."), 23 sowie in: Briefwechsel zwischen George und Hofmannsthal. 2., ergänzte Aufl. Helm. Küpper (1953), S. 44 f., den Brief vom 31. Mai 1897, worin er auf einen Satz Nietzsches aus der Genealogie der Moral anspielt. K. W., Bild und Gesetz. Ges. Abhandlungen. Dt.-Sdiweizerisdie Vlgs.-anst. (Bln., Zür. 1930), darin: Ibsen-Jugend. Schüler Erinnerungen, S. 121 f. Wolfskehl, Karl (Darmstadt 17. 9. 1869—Bayswater/Neuseeland 30. 6 . 1 9 4 8 ) . Ebd., S. 126 zum Sdiluß der Abhandlung.

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auch die Riesenkraft zeugt nicht von Gesundheit; sie ist immer schon ein Beweis von irgend einer Erkrankung oder Not in uns! Man spannt nicht um sonst seine Kräfte so riesenmäßig an! Er hat seine Gefahren, dieser Sprung — mitten in die Natur hinein!" S. 122) merkt man den Einfluß Nietzsches auf den Verfasser noch deutlicher. Der Schriftsteller Wilhelm von Scholz erzählt aus seiner Gymnasiastenzeit Anfang der 90er Jahre zu Konstanz vom Einschreiben ins Fremdenbuch im Hohentwielgasthaus: „Einige Tage vorher hatte ich ein Bild Friedrich Nietzsches mit seiner sehr einprägsamen Unterschrift gesehen, die idi oberflächlich aus dem Kopfe nachahmen konnte. Einer der anderen, der über alle unmittelbar zeitgenössischen literarischen Dinge mehr unterrichtet war als ich, kritzelte mit einer einigermaßen weiblich sein sollenden Hand dazu: ,Elisabeth Förster-Nietzsche.' Der dritte wurde veranlaßt, sich als ,Schulze, Krankenwärter bei Nietzsches' den beiden ersten zuzugesellen . . . Wie erschrak ich, als ich vierzehn Tage drauf eine Notiz fand, die durch die Zeitungen lief: Es sdieine dem Philosophen Friedrich Nietzsche etwas besser zu gehen. Er reise, sei neulich auf dem Hohentwiel gewesen und habe mit kräftiger Hand einen Spruch ins Fremdenbuch eingetragen, der durchaus seinen scharf aphoristischen Stil zeige: ,Ich kann mir keinen größeren Gegensatz denken, als Poesie und Fremdenbücher!' . . . Wie oft habe i c h . . . dem von mir bald immer tiefer verehrten Dichter und seiner gütigen gastfreundlichen Schwester in Weimar, in deren Haus auf dem Silberblick ich nach Jahren viele anregende Stunden mit bedeutenden Geistern der Zeit verbringen sollte, wo ich Max Klinger, Henry van de Velde, den Grafen Harry Keßler, Ludwig von Hofmann, Hans Olde, Wilhelm Hegeler und andere kennenlernte, diesen mir wie ein schweres Verbrechen erscheinenden Streich abgebeten."1310 Etwas später heißt es: „Als Nietzsche alle Geister beherrschte und mit seinen großartigen Willensschriften beeinflußte, ergriff und beschäftigte er mich mit seinem unvergänglichen Gedichtkreis ,Die Sonne sinkt' tiefer als selbst mit dem ,Zarathustra'." 131b 130 Servaes, Franz (Bln.), Nietzsche und der Sozialismus. Subjektive Betrachtungen. (FB 3. Jg., H. 1 f. v. Jan. u. Febr. 1892, S. 85—88, 202—211). In der Sozialdemokratie als „Kampfpartei", denn „zur Selbständigkeit der Geister' gehört der Kampf", sowie in Nietzsche, glaubt der Verfasser, „eine Identität des Pathos und der Gesinnung" zu finden. In beiden sieht er ferner, „den Radikalismus, das Revolutionäre, das Zukunftsträchtige und Siegeszuversichtliche". Aufschlußreich ist seine Bemerkung, daß Nietzsche „bei jüngeren Sozialdemokraten manche Anhänger, wenn auch konfuse" habe, und er bedauert, daß es schon „von ihm inspirierte neugebackene Aristokraten" gebe, „die mit schmutzigen isla -ψ y g., Berlin und Bodensee. Erinnerungen einer Jugend. List. Lpz. (1934), S. 255 f. Scholz, Wilhelm ! ' l b Ebd., S. 296.

von,

geb.

am

15.7.1874

zu

Berlin,

Dichter

und

Schriftsteller.

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Hemdkragen und unrasierten Gesichtern über die Leipziger Straße watscheln und die Allüren eines Übermenschen zur Schau tragen". In einem Versuch, Nietzsches „Persönlichkeitsgrenzen " abzustecken, hält er ihm vor, er wurzele viel zu sehr im klassischen Altertum, um ganz modern sein zu können, habe Furcht vor der Wirklichkeit gehabt, leide am ästhetischen Schauder und Größenwahn. Seine Bedeutung bleibe die unendliche Anregung. Für Nietzsche sei der Übermenschenbegriff an die Stelle des Gottbegriffes getreten, aus individuellstem Gemütsbedürfnis, wozu als Erkenntnismoment eine Anregung von Seiten des Darwinismus gekommen sei. Er sieht im Kapitalismus den Auswuchs der Herrenmoral, in der „Nonresistance" à la Tolstoi den Auswuchs der Sklavenmoral und versucht, zwischen beide hindurch zu steuern zu einer neuen „freien Moral". Er schließt mit der Meinung, Nietzsches neue Psychologie weise uns den Weg zur rastlosen Durchforschung des Menschen, und daß es die Dichter sein werden, die zunächst diesen Weg betreten und so zu den geistigen Führern der Menschheit des kommenden Jahrhunderts werden. 132 Am 9. Februar 1892 erhielt C. G. Naumann vertraglich den Verlag der sämtlichen Schriften Nietzsches und kaufte die Restbestände der bei E. W. Fritzsdi bzw. von E. Schmeitzner verlegten und an E. W. Fritzsch 1886 verkauften, d.h. alles außer „Jenseits von Gut und Böse", „Zur Genealogie der Moral", „Der Fall Wagner" und „Götzendämmerung", die schon in Kommission in seinen Händen waren. 131 Andreas-Salomé, Lou, Zum Bilde Friedrich Nietzsches. (Mit Beigabe ungedruckter Briefe.) (FB 3. Jg., H. 3 u. 5 v. März u. Mai 1892, S. 249—257, 483—496). Sein Gedankenleben unterliege in ausschließlicher Bedingtheit seinem Affektleben, es lasse sich nur als Ableitung seines Gemütslebens bezeichnen. Sie betont nun den Einfluß Rées auf Nietzsches Abwendung von Wagner und Schopenhauer und seine Hinwendung zu den französischen Moralisten, bes. Rées 1875 erschienenen „Psychologischen Betrachtungen" und 1877 erschienenen „Ursprung der moralischen Empfindungen"; dies alles trotz einer „tiefgehenden Verschiedenheit ihrer Naturen". Sie erkennt in Rèe die „verklärte Persönlichkeit des erkennenden Menschen, der hinter der ganzen Philosophie Nietzsches in dieser positivistischen Periode seines Schaffens gestanden und dieser ihr eigentümliches Gepräge verliehen hat". Noch die „Morgenröte" und die „fröhliche Wissenschaft" rechnet sie zu der positivistischen Periode. Sie fügt dem Ganzen auch gekürzte Briefe Nietzsches an sie und an Rèe bei. Nietzsches Willenstheorie sieht sie als ,M

Servaes, Franz (Köln 17.6.1862 — 1947), Schriftsteller in Berlin seit 1887, siedelte 1899 nach Wien über, wo er in die Redaktion der „Neuen Freien Presse" eintrat, sonst Verfasser von: Die Poetik Gottscheds und der Schweizer. Straßburg. K. J. Trübner 1887 / Berliner Kunstfrühling. Bln. Speyer & Peters 1893 / Stickluft. Eine moderne Tragödie. Bln. Schuster & Loeffler 1896 / Goethe am Ausgang des Jahrhunderts. S. Fischer. Bln. 1897 / Gährungen. Aus dem Leben unserer Zeit. Dresden. C. Reißner 1898 / Präludien. Ein Essaybuch. Schuster & Loeffler. Bln. u. Lpz. 1899.

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1892 Also spradi Zarathustra

Vermischung seiner ursprünglichen metaphysischen Anschauungen mit seinem späteren Determinismus. Die Aufsätze gingen umgearbeitet und erweitert in die Buchausgabe (s. Nr. 185) auf S. 53 ff., 9 7 — 1 4 9 , 2 5 0 — 2 5 6 über.

Im Frühjahr 1892 erschien die erste öffentliche Ausgabe vom vierten Teile des „Zarathustra" : X I X Also / sprach Zarathustra. / Ein Budi / für / Alle und Keinen. / Von / Friedrich Nietzsche. / Vierter und letzter Theil. / Leipzig. / Druck und Verlag von C . G. Naumann. / 1891. 1 Taf., 135 S. + 23 S. ( = Dionysos-Dithyramben).8°. Schon im Dezember 1890 wurden die Rezensionsexemplare verschickt, doch durch Anfertigung eines Bildes verzögerte sich der Versand in den Buchhandel so lange, daß die Bedenken von Mutter und Schwester eine Stillegung bewirken konnten. 132 Servaes, Franz, Der vierte Teil des „Zarathustra". Erste Eindrücke. ( M L 61. Jg., Nr. 11 v. 12. 3 . 1 8 9 2 , S. 169 ff.). Dem , „Philosophen' Nietzsche verdankt unser deutsch eine Fortbildung, an der mehrere Menschenalter zu arbeiten haben werden", und neben „dem Sprachschöpfer" stehe aber audi „der Psychologe" und „der gewaltige Poet", doch glaubt der Verfasser, daß Nietzsche es „mit den n i e d e r e n Menschen" hätte versuchen sollen, dort, wo „Unverbrauchtheit und Unverdorbenheit, Hoffnungsfähigkeit, Freudigkeit, Bildsamkeit, Geradheit und unendlich viel guter Wille steckt". 133 Kaatz, Dr. Hugo, Die Weltanschauung Friedrich Nietzsches. 1. T l . : Cultur und Moral / 2. T l . : Kunst und Leben. Dresd. u. Lpz. E. Pierson. 1892/93. 1 Bl., 1 Taf., I X S . , 1 Bl., 127 S., 1 B1./3 Bll., 105 S. Dem „verehrten Freunde" Georg Adler (s. Nr. 116) gewidmet, sollte laut Vorrede dieser Arbeit noch eine folgen, der die Kritik vorbehalten bliebe, da hier nur die Anschauungen Nietzsches gebracht würden, d. h. die Weltanschauung, zu der er sich schließlich durchgedrungen und die sich in „Menschliches" vorzubereiten beginne. Demzufolge berücksichtigt der Zusammenstellende die „Geburt" und die „Unzeitgemäßen" überhaupt nicht; „Zarathustra" und „Der Fall Wagner" werden äußerst selten angeführt; doch wird aus der „Morgenröte", der „Fröhlichen Wissenschaft" und „Menschliches" ergiebig geschöpft. Aufsdilußreich für das Verhältnis der Zeit zum Werke Nietzsches ist folgendes Zitat, ebenfalls der Vorrede entnommen: „ . . . heute kann man, von den Fachzeitschriften abgesehen, kaum einen Aufsatz lesen, welcher das philosophische Gebiet auch nur streift, ohne dem Namen Nietzsches zu begegnen." 133 a Dass. Zweite Auflage. 1899. Einbändige Titelauflage. Nur der Umschlag ist neu. 134 Steiner, Rudolf (Weimar), Nietzscheanismus. (LM 12. Jg., Nr. 14 v. 2. 4. 1892, S. 105—108). Nietzsche ist ihm einer der „radikalsten Zerstörer der Kulturerrungenschaften . . ., welche mit Notwendigkeit von Zeit zu Zeit erscheinen". Er umreißt kurz Nietzsches Moraltheorien vom Übermenschen und geht dann dazu über, die Bücher von Türck (Nr. 118), Kaatz (den l . T L , Nr. 133) und Finck abzulehnen.

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Zu Türdk meint er, daß man im Falle Nietzsche „keine theoretische Widerlegung" brauche, ein Buch wie das von Kaatz diene höchstens dem „Nietzschegigerltum", aber „noch weniger erbaulich sind die Bücher der Fortsetzer und Ausbauer", wie das von Finck eines sei. Nadi manchem abfälligen Wort über Nietzsche selber endet er aber doch mit der Empfehlung Nietzsches an alle, „die nicht wollen, daß ihr Gehirn sauer wird". S. f.: Steiner, Rudolf (Weimar), Die Philosophie in der Gegenwart und ihre Aussichten für die Zukunft. (LM 12. Jg., Nr. 1 v. 2.1.1892, S. 1—5), worin er Nietzsche bloß streift (S. 1), um sich in der Hauptsache Eduard von Hartmann und Johannes Volkert lobend zu widmen. 135 Werner, Max, Bismarck und Friedrich Nietzsche. (Geg Bd. 42, 1892, S. 211—215). Obwohl der Verfasser glaubt, sich dem „philosophischen System" Nietzsches gegenüber „skeptisch, ja ablehnend verhalten zu müssen", holt er dessen „Ausführungen" über „Ausnahmemenschen", die von „überwältigender Wirkung und Wahrheit" seien, heran, um das Zwiespältige im Wesen Bismarcks zu erklären: „den Prometheus, der der Menschheit das Licht vom Himmel herunterholt", und den „Titanen der Vernichtung". Aus der „Genealogie" und dem „Jenseits" führt er wiederholt Worte des „kündigen Führers" an, „der uns die richtigen Wege weist, zu dieser Höhe empor zu klimmen". Der Sänger Robert Kothe erzählt aus seiner Münchner Studentenzeit am Anfang der 90er Jahre von dem Eindruck der Nietzscheschen Schriften auf ihn im Vergleich zu dem eines „Philosophieprofessors", der seine „unpathetische Rede oft mit Sarkasmen gewürzt" habe: „Wie funkelten dagegen die Speere, die Nietzsche in die Welt schleuderte. Auch midi trafen sie, und mein stiller, guter Vater mußte manchen Schmerz, den ihm meine jugendliche Skepsis zufügte, überwinden." 1320 136 Schellwien, Robert, Max Stirner und Friedrich Nietzsche. Erscheinungen des modernen Geistes, und das Wesen des Menschen. Lpz. C. Ε. M. Pfeffer. 1892. 2B11., 117 S.133 132

° R. K., Saitenspiel des Lebens. Schicksal und Werk. Knorr & Hirth. Mchn. (1944), S. 38; s. a. ebd., S. 49 (1895 promovierte er, nahte sich wieder den Philosophen, diesmal Kant und Nietzsche, und vergleicht sie folgendermaßen:) „ K a n t , . . . der M a n n , . . . auf dessen Schultern jahrelang die Kritik des ganzen Menschenglaubens ruhte, bis er sie ins Leben warf, so sie den Menschen ihren Gott zerschlug, ohne daß sie einen anderen erhielten, mit dem sie leben konnten! Nietzsche dagegen, — der Gottsucher, der Dichter; sein Leben Trunkenheit im Schauen, im Gestalten. Ein Sonnenanbeter, dem die wolkenlose Bläue des Firmaments, die Bergeinsamkeit im Engadin ewige Sehnsucht und tiefstes Bedürfnis war; der in dichterischer Versunkenheit weit weg von Mensdien und kunstvollen Gedankengebäuden sidi von Intuition, dichterischen Visionen überströmen ließ." Kothe, Robert (Staubing 1869—1944), Mitbegründer der 1901 ins Leben gerufenen „Elf Scharfrichter", zuerst Rechtsanwalt, darauf Volksliedsänger und Lautenspieler. 133 Schellwien, Robert (1821—1900), Verfasser auch von: Das Gesetz der Causalität in der Natur. Bln. 1876. G. W. F. Müller / Optische Häresien. Halle 1886. C . E . M . Pfeffer / Der Wille, die Lebensgrundmadit / Die Arbeit und ihr Recht.

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1892 Stanislaus Przybyszewski

Verfasser sieht in der Geschichte den Fortschritt des Menschen zum Selbstsein dargestellt, die Strebung nadi „wesensgleicher Übereinstimmung des vorhandenen Seins mit dem Selbstsein". Ihm sind Stirner und Nietzsche „die consequentesten Propheten des Individualismus", deren Wahrheit es gerecht zu werden heiße, ebenso wie ihre Einseitigkeit zu überwinden. Überhaupt sind ihm die „Tagesgrößen" Stirner und Nietzsche nur Anlaß, seine eigene Philosophie vorzutragen. Der große Unterschied zwischen beiden Denkern sei, daß Stirner kritisch Nietzsche dagegen dogmatisch sei. Die nietzschesche Weltanschauung entstamme zwei Quellen, der schopenhauerschen Philosophie und dem Darwinismus, die dann eine eigenartige Entwidmung erfahren. Nach kurzer Wiedergabe der Gedanken Stirners und Nietzsches in den ersten zwei Abschnitten versucht er in drei weiteren (die Wahrheit, die Ethik, das Recht), mehr Stirner verwandt als Nietzsche, das Ich als den menschgewordenen, als den im Menschen wiedergeborenen Gott zu beweisen, so will er den ihm zu eng gewordenen Boden Stirners erweitern. Das Überindividuelle sei der Wille als Lebensgrundmacht, der Allgemeingültigkeit besitze und so die Möglichkeit der Verständigung und der Diskussion unter den Menschen bedinge. Zur Frage einer möglichen Beeinflussung Nietzsches durch Stirner äußert er sich überhaupt nicht. 137 Zerbst, Dr. Max, Nein und Ja! Antwort auf Dr. Hermann Türck's Broschüre Friedrich Nietzsche und seine philosophischen Irrwege. Lpz. C. G. Naumann. 1892. VIII, 84 S., IBI. 1 3 4 Verfasser sagt nein zu Türcks Arbeit über Nietzsche und ja zu diesem selber. In Nietzsche habe er einen „neuen Gott, einen frischen, fröhlichen Erdengott, einen Siegfried im Reiche der Geister, einen machtvollen übermütigen Drachentöter" gefunden. Das Werk besteht zu drei Vierteln aus längeren Auszügen aus Nietzsches Werken und kürzeren aus dem Türcks, womit der Verfasser „die Einseitigkeit und Oberflächlichkeit der Türckschen Behauptung klarzulegen und zugleich einige Grundgedanken von Nietzsches ,Philosophie' in großen Zügen zu entwickeln" versuchen möchte. Bei seiner Darstellung geht es ihm hauptsächlich um Nietzsches Auffassung der Moral, was zum Teil wenigstens auf Türcks Hervorkehrung der „moral insanity" zurückzuführen sein wird. 138 Przybyszewski, Stanislaus, Zur Psychologie des Individuums. I. Chopin und Nietzsche. Bln. Fontane. 1892. 47 S.135 „Individuum" bedeutet dem Verfasser das, was man früher „Genie" genannt habe, und sei „in erster Instanz nichts als ein automatischer Oxydationsapparat, dessen ganzes intellektuelles Leben in erster Linie nur eine Einrichtung bedeutet, welche die vegatativen Lebensäußerungen psychisch umzuwerten und zu inter134

Verfasser sonst von: Gedichte / Funken und Flammen. Gedichte / Ex undis. Neue Gedichte / Gesetz. Dramatische Dichtung. 135 Przybyszewski, Stanislaus (Lojewo b. Inowrazlaw 7 . 5 . 1 8 6 8 — Jaronty 2 3 . 1 1 . 1 9 2 7 ) , polnischer Dichter, der auch in deutscher Sprache schrieb; s. a. folgende Äußerung Przybyszewskis : „Nietzsche und ich stecken in derselben Mutterlauge, in der s 1 a v i s c h e n Erde; ich weiß nicht, ob er die polnische Sprache gekannt hat, jedenfalls ist ihm durch Vererbung die slavisdie Getragenheit, die Liebe für das Prächtige und Schwere geblieben. Nietzsche's Styl, der in Deutschland neu ist, ist der slavisdie Styl

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pretieren haben, und so den einzelnen vor dem Untergange schützt, indem sie ihm das Fördernde als Glücksgefühle, das Schädliche als Mißbehagen und Schmerz umdeutet". Die beiden „ausgesprochensten Individualitäten unseres Jahrhunderts" findet er dann eben in Chopin und Nietzsche. Wo Chopin aufhöre, setze Nietzsche an. Der kritisch-philosophische Teil der Arbeit Nietzsches sei eine „Übersetzung Chopinscher Musik in die philosophische Sprache, Analyse und Deduktion aus dem Material, das Chopin geliefert hat". Seit Nietzsche sei das Problem der Moral in ein neues Stadium getreten, „es ist zu einer Magen-, Geschlechts- und Machtfrage geworden"; er sei der „Schöpfer der Molekularpsychologie". Und das ist es eben, „was uns an ihm berauscht, die Fähigkeit, für seine überreiche Seele in der Sprache Symbole gefunden zu haben: seine Psychologie . . . , den Dingen einen passionierten, makrokosmischen Ausdruck zu geben, das ist die große Kunst Nietzsches, wie sie sich am herrlichsten in: Also sprach Zarathustra offenbart". 138 a Dass. 1906 ( = 2. Aufl.). 48 S. Der Vorname des Verfassers lautet nun: Stanislaw, und das Abfassungsdatum zum Schluß: Dezember 1890 anstelle von 1891, sonst aber ist der Wortlaut unverändert. Später schrieb Przybyszewski über seine Begegnung m i t dem W e r k Nietzsches in den f r ü h e n 90er Jahren, wobei er andeutungsweise auch auf die anderer einging: „Oft traf ich Mackay bei Dr. Asch — Asch stand fast mit der ganzen damaligen Literatur auf gutem Fuße —, und oft versuchte idi, mit ihm auszukommen. Aber es war nicht möglich. Auf alles hatte er nur eine Antwort: .Lesen Sie meinen Roman ,Die Anarchisten'!' ,Aber ich habe ihn ja gelesen; leider habe ich darin jenen Kommentar zu Stirner nicht gefunden, von dem Sie reden.' ,In diesem Falle: wenden Sie sich an Nietzschke.' ,Sie meinen Nietzsche?' .Nietzsche — Nietzschke, das ist dasselbe.' ,Sie kennen Nietzsche?' ,Wozu? Idi kenne Stirner?' Und das war gerade zu der Zeit, da ich midi in Nietzsches Schriften vertiefte. Ich hatte midi bis dahin neben dem offiziellen Medizinstudium ausschließlich mit der Psychologie beschäftigt: ,De l'intelligences' machte mir einen starken Eindruck, ich arbeitete den ganzen Ribot durch, Paulhan, von den deutschen Psychologen Wundt und Münsterberg, nun, und natürlich audi den seinerzeit vergötterten Spencer. So ist es kein Wunder, daß Nietzsche mir mit seiner wissenschaftlichen Psychologie nicht imponieren konnte, weil ich das alles schon kannte, und auch die Relativität seiner ethischen Anschauungen — ,Jenseits von Gut und Böse' — stak mir im Blut: ich wußte schon lange, was gut ist, was böse, was schön oder häßlich, ich hatte par excellence. Sehen Sie sich daraufhin Mickiewicz, Slowacki in ,Anhelli', besonders aber Krasinski in ,Irydion' und ,Niebosko Komedja' an. Lesen Sie den .Todten Ton' von Kornel Ujejski, den Richard Dehmel mit meiner Hilfe übersetzt hat. Das also was an Nietzsche originell erscheint und was man mir von deutscher Seite als Nachahmung auslegen möchte, ist das nationale Gemeingut, die Eigenthümlidikeit der slavisdien Sprache, ebenso wie der litauischen und des S a n s k r i t . . ( a n g e f ü h r t von Alfred Neumann in seinem Aufsatz „Zur Charakteristik Stanislaw Przybyszewski's" in: WRs 1. Jg., 2. Bd., Nr. 17 v. 15. 7.1897, S. 666).

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aufgehört, mit Kategorien zu operieren. Was dagegen meine höchste Begeisterung und Bewunderung erregte, war Nietzsches Sprache. Nicht Nietzsches Hauptwerk .Menschliches, Allzumenschliches' war für mich eine Offenbarung — nur ein paar Seiten sagten mir etwas Neues —, sondern das königliche, in seiner unendlichen poetischen Schönheit majestätische Werk ,Also sprach Zarathustra'!" 136 139 Bamberger, L(udwig), Unsere Neuesten. (N Nr. 43 v. Juli 1892, S. 640 bis 643). 137 Nietzsche wird als Exportware neben anderer (Schopenhauer, Wagner, Staatssozialismus, Bier) angeführt. Sein Erfolg im In- und Ausland sei nur aus dem herrschenden Zeitgeist als aristokratischer Rückschlag gegen den Demokratismus zu verstehen. Er sei überhaupt eben wie der „Fürst des Macchiavell, Hobbes, Joseph de Maistre, Zeuge einer demokratisdien Bewegung in der Menschheit". Er arbeite im Geist der analytischen Dialektik Hegelscher Manier. Nietzsche sowohl wie Schopenhauer wären bemüht und befähigt, schönes und gemeinverständliches Deutsch zu schreiben, und hätten so zum ersten Mal das weltliche Publikum in die Kreise ihres abstrakten Denkens gezogen, blieben jedoch für die gelehrte Welt bedeutungslos, also bewährten sie, wider Willen, daß sie dem Zeitalter der Demokratie folgten. Auch die ganze Auflösung von Gut und Böse mit Allem, was in der „Genealogie der Moral" daraus folge, sei ebenso wie die Verleugnung des Mitleids schon in Spinozas Ethik niedergelegt. Zum Schluß betet der Verfasser um das tägliche Brot des gesunden Verstandes von Gottes Gnaden gegen solche Kraftmeierei. 139/1 Stoeckert, Dr. Georg (Oberlehrer am königl. Pädagogium zu Züllichau), Der Bildungswert der Geschichte. Bln. 1892. R. Gaertner. 46 S. Verfasser setzt sich bei seiner Erörterung vor allem und so gut wie ausschließlich mit der zweiten „Unzeitgemäßen" auseinander, denn „unter den Denkern neuerer Zeit, die sich mit diesem Problem ehrlich und ernsthaft beschäftigt haben, ragt vor allem Fr. Nietzsche hervor". 140 Weis, L., (BlLU 1892, S. 204 ff.). Eine anerkennende Besprechung der Nietzsche-Bücher von Kaatz (Nr. 133) und Eisner (Nr. 128 a) unter Erwähnung von Hansson, Kniepf und Langbehn: „Der unglückliche Nietzsche freilich war in erster Linie krank am Gemüth; seine gemüthlosen Schüler glauben aber Geistesfülle durch Geistreichsein ersetzen zu können." 141 H., Friedrich Nietzsche. (DWBl 1892, 5. Jg., Nr. 31, S. 373 f.). Verfasser nimmt den ersten Teil des Werkes von Kaatz (Nr. 133) zum Anlaß, Nietzsche in Gesellschaft derer zu sehen, „die einen tiefen Groll gegen die fortschreitende Kultur empfinden". Bei ihm sei „kein bestimmter positiver Grundge136

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S. P., Erinnerungen an das literarische Berlin. M. e. Geleitwort v. Willy Haas. WinklerVlg. Mdin. (1965, a. d. Poln. v. Klaus Staemmler), S. 89 f., sowie ebd. bis S. 93 und über seinen Eindruck vom kranken Nietzsche in Weimar auf S. 196 f. Asdi, Max, Arzt, Kollege Carl Ludwig Sdileidis. Bamberger, Ludwig (Mainz 22. 7 . 1 8 2 3 — Berlin 14. 3 . 1 8 9 9 ) , Reichstagsabgeordneter 1867—1893.

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danke vorhanden", doch enthalten seine Schriften „neben vielem freilich recht Mittelmäßigen auch eine Fülle guter und fruchtbarer Ansichten". 142 Immisch, Otto, Friedrich Nietzsche. (BlLU Nr. 29 v. 21.7.1892, S. 449 ff.). 138 In der Hauptsache eine Besprechung des vierten Teiles von „Zarathustra" sowie der Nietzsche-Biidier von Przybyszewski (Nr. 138), Schellwien (Nr. 136), Zerbst (Nr. 137) und von „Vox humana". N u r „wo, wie im ,Zarathustra', Nietzsche der Künstler in seiner Kunstform zu uns spricht, ,da zucken Blitze und schwefelgelbe Wahrheiten', da reißt er hin, da erfüllt er die Seelen mit seinem Geist, audi die widerstrebenden", dagegen sei „sein Raisonnement, wo er sich gewöhnlicher Formen bedient, nichts weniger als bündig". 143 Berg, Leo, Friedrich Nietzsche über das Judenthum. (AZJ 56. Jg., 1892, S. 282 ff.). Verfasser will hiermit „die interessanten und geistreichen Ausführungen Nietzsches über das Judenthum zusammenstellen, vergleichen und einem weiteren Leserkreise übermitteln", denn dieser habe „in der Judenfrage ein politisches Problem von europäischer Bedeutung, im Juden selbst aber den Vertreter einer für die moderne Fortentwicklung durch ihre Art, Vergangenheit und Geschichte ganz besonders tüchtigen und wichtigen Rasse" gesehen. 144 Buddensieg, Rudolf, Die Philosophie des Übermenschen. (Gr Bd. 4, 1892, S. 22—31, 79—88). Dem Verfasser, der mit Nietzsche „im Herbst 1858 in die Untertertia der Fürstenschule zu Pforta aufgenommen" wurde, aber leider nur wenig über diese Zeit zu berichten weiß, ist „die Lösung der sozialen Frage . . . die Aufgabe unsrer Zeit". In dieser Zeit beginne Nietzsche trotzdem „durch die stahlharte Rücksichtslosigkeit seiner Schlüsse, den Hochflug seiner Phantasie und die ,sieghafte Schönheit' der Sprache in dem alles verschlingenden sozialen Einerlei eine Gemeinde von Kraftnaturen um sich zu sammeln", denn er sei „der Prophet eines krassen Individualismus". Man könne ihm aber nur „bis zu einem gewissen Grade die Kulturwidrigkeit der demokratischen Verfladiung zugeben", denn „eine vernünftige Aristokratie... beteiligt die Massen an dem Kulturfortschritt" : „Der Einsame, als Schlußpunkt im Nietzscheschen Weltplan, ist Inkonsequenz, logischer Widerspruch und lauter Protest gegen alle Prämissen; die Lösung der Zeitfrage also, die alle Gemüter in Anspruch nimmt, darf von diesem wahnwitzig gewordenen Individualismus nicht erwartet werden." Das Christentum werde „ohne allen Zweifel" erst die Lösung bringen. Sonst bringt der Verfasser einen lebens- und werkgeschichtlichen Uberblick, den manche irreführenden Einzelheiten trüben. 145 Dohany, Conrad, Friedrich Nietzsche und die Philosophie der Zukunft. (BT Nr. 412 v. 16. 8.1892). Ohne sich auf ein einzelnes Werk zu beziehen, findet der Verfasser, Nietzsche habe überhaupt das Recht eines Weisen verwirkt, seine Philosophie erhebe uns nicht über „unsere schwer empfundene Unzulänglichkeit", er verschmähe gerade 1,8

Immisch, Otto, geb. 1862, später Professor der klassischen Philologie in Gießen.

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1892 Aufnahme unter Diditer

die Moralbegriffe, die „jenes unausbleibliche Weltgericht darstellen, das sich zum Schlüsse in allen Dingen immer bewahrt". Er predige die „freie Liebe" und den „Weiberhaß", und in seinen Untersuchungen über den Pessimismus bringe er „weder Neues noch Gutes". Er stehe dodi schließlich „ganz unter dem Banne der Gegenwart mit ihren wandelbaren Verirrungen und vergänglichen Wünschen". Anfang Oktober 1892 berichtete die Mutter an Overbeck von einer „Frau d'Albert bei Konstanz", die ihr geschrieben habe und „welche zwar meinen Sohn niclit kennt, aber voller Verehrung für ihn und seine Werke ist, indem sich allda ,eine kleine Gemeinde von Anhängern und Verehrern seiner Werke gebildet habe'". 139 In diesem Jahre fand Nietzsche erstmalige Aufnahme in eine Anthologie: AC Friedrich Nietzsche: Nicht mehr zurück? (Ein Gedicht in: Moderne Lyrik. Sammlung zeitgenössischer Dichtungen. Hg. v. Leo Berg u. Wilh. Lilienthal. Bln. 189.2 L. Waldau, S. 214). Mit kurzem Lebensabriß und Werkangaben auf S. 360. I l - V b Unzeitgemässe / Betrachtungen / von / Friedrich Nietzsche. / Erster Band. / Erstes Stüde: David Strauss, der Bekenner und Schriftsteller. / Zweites Stüde: Vom Nutzen und Nachtheil der Hitorie für das Leben. / (bzw.: Zweiter Band. / Drittes Stück: Schopenhauer als Erzieher. / Viertes Stück: Richard Wagner in Bayreuth.) / Zweite Auflage / mit einem Vorwort des Herausgebers. / (Verlagszeichen) / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1893. XVS., 1 Bl., 206 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.) / 205 S., 1 B1 ( = Vlgs.-anz.). 8°. Trotz der Jahreszahl schon im Oktober 1892 erschienen; mit siebenzeiligem Vorwort des Herausgebers Peter Gast, dem zwei Gespräche Nietzsches sowie Ungedrucktes aus dem Jahre 1876 beigegeben, und dem eine fünfeinhalbseitige, bisher ungedruckte Stellungnahme Nietzsches zu den „Unzeitgemäßen" aus dem Jahre 1888 folgt. Hiervon gibt es Exemplare mit leicht geändertem Titelblatt: die Bezeichnung „Zweite Auflage" erhielt einen Punkt, und der Zusatz „mit einem Vorwort des Herausgebers" fiel weg, infolgedessen wurden, wie sich von selbst versteht, die Seiten III bis XV nicht mehr mitgebunden. 146 Andreas-Salomé, Lou, Ein Apokalyptiker. Uber die Wiederkunftslehre Friedr. Nietzsches nebst Beigabe ungedruckter Briefe. (ML 61. Jg., Nr. 47 f. v. 19. u. 26.11.1892, S. 753 ff., 777 ff.). Unter Beifügung dreier Briefe und eines Zettels Nietzsches an die Verfasserin versucht diese, die Entwicklung des Wiederkunftsgedankens, den sie als Haupt- und Kerngedanken auffaßt, aufzudecken. Sie behauptet, dieser sei zur Zeit der Niederschrift der „fröhlichen Wissenschaft" entstanden, entspringe also einer Zeit, in der er sich „zum Schritt vom nüchternen und konsequenten Positivismus seiner ,Freigeisterei* gerüstet hat, und", so schließt 139

E. F. Podadi, Der kranke Nietzsdie. Briefe seiner Mutter an Franz Overbeck. 1937. Bermann-Fischer. Wien, S. 154 f.

1893 J. V. Widmanns Jenseits von Gut und Böse

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sie, „sollte dazu dienen, einem sehr tiefen Pessimismus Ansporn zu sein, dem Sinnlosen einen Sinn zu geben, den Geist zur Erzeugung neuer und ewiger Lebenswerte zu zwingen". Sie erwähnt auch kurz den Einfluß Schopenhauers und den der indischen Philosophie, letzteren durch Paul Deussens 1883 erschienenes „System der Vedânta" vermittelt. Der Inhalt ging etwas geändert und erweitert in die Seiten 220—230 der Buchausgabe (Nr. 185) über. 147 Mehring, F(ranz), (NZ 10. Jg., 1892, Bd. 2, S. 667 ff.). Eine Besprechung von Eisners Nietzsche-Buch (Nr. 128 a), den der Verfasser auf halbem Wege „von Nietzsche zum Sozialismus" sieht. Trotz mancher Beanstandung wird die Schrift aber als „ein anschauliches Bild des Nietzsche Problems" den Lesern der „Neuen Zeit" dringend empfohlen. Bemerkenswert an Mehrings Äußerungen ist der wiederholte Hinweis darauf, daß Nietzsches materielles Wohlergehen seine Entwicklung vollauf erkläre. 148 Tönnies, F. (Kiel), (DLZg 13. Jg., Nr. 50 v. 10. 12.1892, Sp. 1612 f.). In dieser Besprechung des vierten Teiles von „Zarathustra" meint der Verfasser: „ . . . wilde und kindliche Seelen mögen vor dem Feuerwasser Zarathustras gewarnt werden — zahme und reife können sich dagegen einen eigenen Genuß herausschlagen." 149 Hart, Heinridi, Ein Typus. (1892), (In: H . H., Ges. Werke hg. v. J. Hart. III. Bd., S. 285—295). Gegen Nietzsche (S. 287 ff.) als „das Genie fin de siècle", der aber zu groß sei, „um ein Typus zu sein"; diesen findet Hart in Max Nordau, der dann abgefertigt wird. 150 Hansson, Ola, Die Philosophie des Egoismus. (VZg Sonntagsbeil., Nr. 1 f. v. 1. u. 8.1.1893). Verfasser behandelt die „merkwürdige Verwandtschaft... zwischen Stirner und Nietzsche ausführlicher: 140 . . . die intime Verwandtschaft, d i e . . . sich nicht bloß auf das Centraiprinzip der beiden Systeme, auf ihre Hauptpunkte und ihre Einzelheiten, sondern auch oft genug auf die Einkleidung, auf die Ausdrücke erstreckt". Stirner mehr gewogen als Nietzsche, läßt er die Frage der Beeinflussung dennoch unbeantwortet. Zum Schluß verurteilt er die Versuche, in Stirners Buch „positive und reelle Handhaben für moderne soziale Umgestaltungsarbeit zu finden", als „eitel". 151 Widmann, J. V., Jenseits von Gut und Böse. Schauspiel in drei Aufzügen. St. 1893. J. G. Cotta N f . 152 S. (Eine zweite Auflage erschien noch im selben Jahre). In einem Brief vom 21. Mai 1891 aus Bern schreibt er an Henriette Feuerbach und erwähnt sein Drama „Jenseits von Gut und Böse" zum ersten Male als noch „im tiefsten Grund" seiner Seele liegend, erzählt aber dabei schon die ganze Fabel: „Ein moderner Professor (Kunsthistoriker, der eine Geschichte der Malatesta von Rimini schreibt) vernachlässigt seine gute und schöne junge Frau einer koketten 140

Vgl. Hansson, Ola, Max Stirner (VZg Sonntagsbeil. 1892, N r . 35 f., wo er die Ähnlichkeit im Vorbeigehen feststellt).

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1893

geistreichen Baronin zu Liebe. Und er tut's mehr und mehr mit dem Bewußtsein, daß dem Starken Alles erlaubt ist; er identifiziert sich unwillkürlich mit seinem Helden, dem furchtbaren und prächtigen Sigismondo Malatesta. Wie es nun motiviert ist, daß er in einen Schlaf verfällt, sage idi hier nicht; es ist kein gewöhnlicher Schlaf. In diesem Schlaf träumt er das 2. in das moderne Stück eingepackte Drama. Nun haben wir nämlich Sigismondo Malatesta vor uns, der seine Gattin Polissena (Toditer des Sforza von Mailand) der schönen Isotta zu Liebe erwürgte. Natürlich spielen dieselben Schauspieler im eingeschlossenen Stück wie im einschließenden. Also der Professor den Malatesta, die Baronin die Isotta, die Gattin des Professors die Polissena usw. Zum Schlüsse des mittelalterlichen Stückes erliegt Malatesta in allem Glück seiner gelungenen Anschläge dem endlich dodi erwachten Gewissen. In diesem Augenblick setzt das moderne Stück ein; Malatesta erwacht als Professor und genießt das Glück, nicht der furchtbare Mensch gewesen zu sein, als den er sich träumte. Er ist geheilt, versöhnt mit seiner Gattin. Das Stück wird den Titel tragen Jenseits von Gut und Böse'. Es ist gegen Nietzsches Philosophie gerichtet und soll mit Goethe's Worten schließen: ,Edel sei der Mensch, hilfreich und gut.'" 141 152 Dosmer, Mads (d. i. vermutlich Julius Stinde), Fr. Nietzsche's Philosophie und das Torfmoor. Als einer (S. 45—52) von fünf „literarischen Beiträgen", die dem Stück angehängt sind: Das Torfmoor. Naturalistisches Familien drama in einem Aufzuge (Aufführung verboten) von Julius Stinde. Bln. 1893. Freund & Jeckel. 57 S., 3 Bll. 1 « Wie das Stück selbst und die anderen „Beiträge" ist dies ein lustiger, satirisch übertriebener Versuch, das naturalistische Drama ernst zu nehmen. Durch Auszüge aus der „Morgenröte" und der „fröhlichen Wissenschaft" unternimmt der betreffende Beitrag die philosophische Untersuchung: „Das Torfmoor hat die Examination bestanden und wird mit dem Testamonium demissionirt, daß es, moderne Philosophie, moderne Kunst, moderne Aesthetik diifundirend, einen Schritt vorwärts signifizirt, daß wir Nordischen stolz darauf sind, so vielversprechende Schule gemacht zu haben, wenn auch das Höchste noch nicht assequirt ist." 141

142

J. V. W., Briefwechsel mit H. Feuerbach u. R. Hudi, a. a. O., S. 135 f. Das Stüde ist am 29. Januar 1893 am Hoftheater zu Meiningen uraufgeführt worden und soll dort „tiefen Eindruck" gemacht haben. (S. ebd., S. 197 f., 199, 506). Ober die ablehnende Aufnahme Mitte November desselben Jahres in Berlin s. ebd., S. 234 f., 518. Eine zustimmende Meinung zum Stück bei Gelegenheit der Berliner Aufführung äußerte Karl Frenzel (DRs Bd. 78, 20. Jg., 4. H. v. Jan. 1894, S. 129 f.). Das Stück erfuhr dann weitere Aufführungen 1894 in Zürich und Weimar, 1896 in Basel und Bern. Zur Uraufführung s . a . : Carl Spitteier, Künstlerisches aus Meiningen, in: NZZg Nr. 52 f. v. 21. u. 22.2.1893. Stinde, Julius (Kirch Nüchel b. Eutin 28. 8.1841 — 1905), zuerst Journalist in Hamburg und Verfasser zahlreicher Schwanke und Volksstücke, seit 1876 in Berlin; erlebte seit 1883 einen ungeheuren Erfolg mit seinen Berliner Budiholz-Romanen (Buchholzens in Italien, die Familie Buchholz usw.), von denen er es bis auf sieben Bände brachte, die in über hundert Auflagen verbreitet wurden.

1893 Emil Gött

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153 Jodl, Fr. (Prag), (DLZg 14. Jg., Nr. 6 v. 11. 2.1893, Sp. 166 f.). Eine mit einigem Vorbehalt geschriebene Empfehlung der Schrift von Zerbst (Nr. 137), die „einen hübschen Anfang" dazu biete, einigen Zusammenhang in die Lehren Nietzsches hineinzubringen.148 154 Schindler, F.M. (Wien), (ÖLB1 2. Jg., Nr. 7, 1893, Sp. 197—200). Besprechung der Zweitauflagen vom „Jenseits" und von der „Genealogie" sowie der Nietzsche-Schriften von Schellwien (Nr. 136) und Kaatz (Nr. 133). Eine scharfe Ablehnung der „Kraftsprüche und Paradoxen" Nietzsches und deren „aphoristischer und hochpathetischer Form", die mehr „zu blenden als zu überzeugen sucht". Trotzdem findet er „einzelne" Gedanken „über die Frauenfrage, über die schwachen Seiten der modernen Wissenschaft und ihr Auswachsen ins Kleinliche sehr zutreffend". Der Inhalt der Bücher von Schellwien und Kaatz wird mit je zwei Sätzen sehr sachlich umrissen. U m diese Zeit machte noch ein weiterer Dichter, Emil Gött, die Bekanntschaft mit Nietzsches Werk: „Was bei Schwächlingen und Absterbenden noch verzeihlich ist, das ist absurd bei einem Künstler, also einem Könnenden, Schaffenden, Aufstrebenden. In ihm beweist sich ja eben der — und allerdings sub specie humani unverständliche — Wert des Lebens, der noch mächtiger ist als der Tod, der eben schlechterdings nichts bedeutet. Seufzend gestand ich mir dies schon lange ein, ohne aufzuwachen. Dazu bedurft es eines Rufers und der fand sich. Nur den Mund tat er auf, und beim bloßen Hauche, noch eh er zum Schall wurde, fuhr ich ahnend empor. Der Zündstoff lag ja schon doch gehäuft, ja, die Lunte brannte schon, es bedurfte also nur eines schwachen Wehens. Du weißt, wen ich meine — den neuen Freund und Lehrer Nietzsche!"144 155 Stein, Ludwig (Bern), Friedrich Nietzsche's Weltanschauung und ihre Gefahren. (DRs Bd. 74 f., 19. Jg., H. 6. u. 8 v. März u. Mai 1893, S. 392—419, 230—254).145 143

145

Jodl, Friedrich (Mündien 23. 8.1849 — Wien 26.1.1914), Philosoph. Gött, Emil (Jeddingen am Kaiserstuhl 13. 5.1864 — Freiburg i. B. 13.4.1908), angeführte Stelle aus einem Brief vom 23. Mai 1893 über den vorigen Herbst (E. Gs. Ges. Werke. 1. Bd. C . H . Bede. Mdin. 1911, S. XLI). Nach den Tagebüchern Götts zu urteilen, erreichte seine Nietzsche-Begeisterung im Jahre 1897 ihren Höhepunkt, dodi noch am 1. Januar 1901 machte er den Einschnitt: „1901. Jahr 1 nadi Nietzsches Tod und hoffentlich Jahr 1 von Götts Aufstand", und im Winter 1903 in Berlin hörte er bei Georg Simmel „Neuere deutsche Philosophie von Fichte bis Nietzsche", (s. E. G. Tagebücher u. Briefe. 2., verm. Aufl. 1943. Hg. v. Ph. Harden-Rauch. Hünenburg-Vlg. Straßburg). Ober das angeführte Werk schrieb Stein später: „Als Rodenberg mein Manuskript erhielt, schrieb er mir einen enthusiastischen Brief und bat um die Fortsetzung meiner Nietzsche-Studien, die sich zu einem besonderen Buche unter dem Titel ,Friedrich Nietzsches Weltanschauung und ihre Gefahren' auswuchsen. Die Veröffentlichungen in der .Deutschen Rundschau* trugen mir so viele Kundgebungen der rückhaltlosen Zustimmung zuständiger Kreise ein, daß idi mich entschloß, meinen Kampf gegen Nietzsche, den ich als literarischen ,Dynamitard' angesprochen, rückhaltlos weiterzuführen." (A. a. O.,

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1893

Hervorgegangen aus einem Berner akademischen Museumsvortrag will der Verfasser seine Ausführungen als „ein Warnungssignal — ein literarisches Sturmläuten" aufgefaßt wissen. Sie stellen „den unmittelbaren, unreflektierten Entrüstungsruf einer durch Nietzsche in ihren heiligsten Gefühlen beleidigten Seele" dar. Unter Vergleichen mit Antisthenes, Epiktet, Aristipp, Kleanthes, Agrippa von Nettesheim, Diogenes, Rousseau und Tolstoi findet er, daß Nietzsche eben mit „cynischen Mitteln η adi hedonisdien Zielen" ringe. Nur der Neo-Cynismus Nietzsches, nicht sein Hedonismus sei jedoch zu bekämpfen, da dieser als Gegengift gegen den Buddhismus Schopenhauers sogar nützlich genannt werden könnte. Ihm ist aber der Aphorismus in der Philosophie eine Ausdrucksform „philosophischer Schwächlichkeit und Bequemlichkeit". Die Philosophie des Katheders habe sich dennoch mit ihm zu befassen, nicht weil er Philosoph, sondern vielmehr da er Symptom eines um sich greifenden Kulturüberdrusses sei. Seine Kraft liege vor allem in der Sprache, die einen poetischen Duft ausströme, der die Sinne umschmeichele, die Phantasie umnebele und das Urteil betäube. Trotz seiner Abstempelung Nietzsches zur Tagesgröße und zum Modephilosophen kann er aber nicht umhin, in ihm den radikalsten Cyniker, den die Weltliteratur hervorgebracht habe, zu sehen. Zu den Fahnenträgern des nietzsdieanischen Neo-Cynismus zählt er Lauterbach, Brodtbeck, Zerbst und Hansson. In einem Lebensabriß Nietzsches verbessert er einige fehlerhafte Äußerungen anderer und bringt einige neue hinzu: hierbei stützt er sich des öfteren auf ehemalige Hörer Nietzsches und auf „Basler Gewährsmänner". Er erwähnt Nietzsches Achtung vor J. Burckhardt, Gottfried Keller, Arnold Böcklin und seine Freundschaft mit Overbeck sowie die gegenseitige Beeinflussung Rées und Nietzsches. Er lehnt die Meinung entschieden ab, daß die Werke Nietzsches aus dem letzten Schaffensjahr, 1888, die bevorstehende Umnachtung ankündigten, und räumt bei dieser Gelegenheit ein, daß seine Werke schriftstellerisch zu dem Vornehmsten und Erlesensten gehören, was die Weltliteratur hervorgebracht habe. Unter strenger Betrachtung sdirumpfe aber Nietzsches Philosophie auf eine geschichtsphilosophische Theorie zusammen, die in der wissenschaftlichen Tendenz auf der gleichen Linie mit Herder, Hegel und Marx stehe. Verfasser verfällt auch der Meinung von Nietzsches slawischer Herkunft, um an ihm dann weit mehr Slawisches als Deutsches zu finden. Nietzsches Egoismus überbiete alles, was bisher aus gebildeter Feder geflossen, der Max Stirners eingeschlossen. Neben einzelnen Nietzscheanern wie Zerbst, Ola Hansson u. a. geißelt er auch die „Freie Bühne" und die „Gesellschaft" und „ihre sozialistischen wie freigeisterischen Anhänger". Er schließt mit der Meinung, daß der Neo-Cynismus Nietzsches, ungeachtet seiner philosophischen Unzulänglichkeit und soziologischen Naivität, die Modephilosophie der nächsten Zukunft sein werde. 155 a Dass, mit dem Zusatz: Ein kritischer Essay. G. Reimer. Bln. 1893. IV S., 2 Bll., 103 S. Unverändert. S. 45 f.); s. ebd., S. 58: „Infolge der Anerkennung, die mein Nietzsdie-Budi in literarischen Kreisen gefunden hatte, traten angesehene Zeitschriften mit dem Ansuchen um Beiträge an midi heran."

1893 Hermann Bahr/Maximilian Harden und die Zukunft

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156 Bahr, Hermann, Studien zur Kritik der Moderne. Ffm. Riitten 8c Loening 1894.146 In diesem Werk wird Nietzsche nur gelegentlich am Rande gestreift, so im Zusammenhang mit dem „philosophischen Anarchismus" eines Mackay (S. 58), eines Barrés (S. 165), mit der „feinen, hochmütigen, empfindlichen Grazie" einiger Verse Hofmannsthals (S. 84) sowie mit dem „Fröhlichen, dem Leichten, dem Tänzerischen" derselben (S. 128). Seine Stellung als „Apostel der Zukunft" für die deutsche Jugend wird verglichen mit der des Maurice Barrés in Frankreich (S. 163). Dodi erwähnenswert ist das Buch wegen einer Unterredung des Verfassers mit eben diesem Maurice Barrés aus dem Dezember 1892: „Manche wollen audi Spuren von Nietzsche, der jetzt bei uns sehr modern ist, in ihren Werken finden." — „Ich kenne von Nietzsche nichts als ein paar Seiten, die neulich in einer von unseren Revuen waren. Die haben nicht besonders auf midi gewirkt. Ich weiß nicht warum, aber sie sagten mir Nichts, sie gaben mir Nichts, es geschah Nichts in mir. Vielleicht wenn ich mehr von lesen würde-" — „Ich glaube nicht. Idi kenne so ziemlich den ganzen Nietzsche, aber idi kann auch die große Bewunderung nicht begreifen und nicht theilen. Man darf das ja jetzt in Deutschland nicht sagen, aber ich halte ihn auch für einen redit geschickten und amüsanten Feuilletonisten, der freilich, was bei uns sehr selten und darum wirklich ein Verdienst ist, einen leserlichen Stil schreibt." (S. 170 f.). 157 anonym, Neues von Friedrich Nietzsche. (Z 3. Bd., N r . 27 v. 1. April 1893, S. 39 f.). 147 Berichtet über das Schicksal Nietzsches, des „größten lyrischen Denkers der Zeit", seit seinem Zusammenbruch und weist die Auffassung, dieser sei durch Vererbung verursacht, entschieden zurück. Zugleich auch eine Ankündigung der Gesamtausgabe von Peter Gast. I m Mai 1893 erschienen zwei weitere N e u a u f l a g e n : X I - X I I I b / X I X a Also / sprach Zarathustra. / Ein Buch / für / Alle und Keinen. / Von / Friedrich Nietzsche / Zweite Auflage, mit Portrait und Brieffacsimile des Autors. / (Verlagszeidien) / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann. / 1893. 1 Taf., 1 Faks., 3 Bll., X X X V S. ( = Vorwort des Herausgebers Peter Gast), 2 Bll., 472 S. Im Vorwort, von dem es auch einen Sonderabdruck gibt, unterstreicht Gast das Aristokratisdie des Werkes und drückt den Glauben aus, daß „mit ihm allem Demokratismus und Amerikanismus der Garaus zu madien" wäre. Im einzelnen erteilt er Zurechtweisungen an Türck (Nr. 118), Hansson (Nrn. 89, 103, 150) und Lou Andreas-Salomé (Nrn. 111, 114, 131, 146) und gibt einige wenige Einblicke aus erster Hand. " · Bahr, Hermann (Linz/Donau 19. 7.1863 — München 15.1.1934), Kritiker. ,47 Mit diesem verhältnismäßig sachlich gehaltenen Bericht beginnt der kunft" um die Sache Nietzsches, der nicht zuletzt der Gesinnung entsprungen sein wird: Harden, Maximilian (eigentl.: Felix Ernst Witkowski, Berlin 1861 —

Schriftsteller und Einsatz der „Zudes Herausgebers Sdiweiz 1927).

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1893 Max Nordau

X V I I I a Götzendämmerung / oder / Wie man mit dem Hammer philosophirt. / Von / Friedrich Nietzsche. / Zweite Auflage. / (Verlagszeichen) / Leipzig. / Druck und Verlag von C. G. Naumann. 3 Bll., II, 116 S. 8°. 158 Andreas-Salomé, Lou, Ideal und Askese. Ein Beitrag zur Philosophie Fr. Nietzsches. (BT Beibl. „Der Zeitgeist" N r . 20 v. 15. 5.1893). Verfasserin stellt fest, daß besonders zwei Lehren Nietzsches die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hätten: die „anscheinend gefährliche", die seiner „Bekämpfung aller bisherigen Moral" zugrunde liege, und die „geheimnisvolle" vom „Ubermenschen". Sie kennzeichnet jene als den „Moralweg", f ü r den „das Anti-asketische allerdings" bezeichnend sei, und diese als das „Moral-Ziel", das als „Idealziel" einem „extrem-asketischen Grundzug" entstamme. Ihre Ausführungen entsprechen mit Auslassungen und Umschreibungen denen auf S. 201—216 der Buchausgabe (Nr. 185). Der Brief, dort als „Vorwort" faksimiliert wiedergegeben, wurde auch hier beigefügt. 159 Nordau, Max, Entartung. 2 Bde. Bln. Duncker. 1892/93. VIII, 374/ 506 S. 1 « D a das Werk kein Namensverzeichnis aufweist, seien hier die Nietzsche betreffenden Stellen aufgeführt: Bd. II, S. 54 f., 62 Anm., 63, 225 und Abschnitt V : Friedrich Nietzsche, S. 272—357; Der erste Band dieser Auflage ließ sich nicht auffinden. Das Buch gewährt vor allem einen klaren und, insofern es der behandelte Gegenstand zuläßt, erschöpfenden Einblick in den damaligen Stand der Seelenheilkunde. Der Verfasser zieht das einschlägige russische, italienische, deutsche, englische und vor allem französische Schrifttum heran. Er überträgt dann auch die Vorgangsweise und Feststellungen Lombrosos, dem das Buch auch gewidmet ist, u. a. auf das Gebiet „der Kunst und des Schrifttums". Der Ausgangspunkt des Verfassers ist eine ausschließlich organische Auffassung aller menschlichen Empfindungen, Denkvorgänge, Urteile und Handlungen. Seine Hauptangriffe gelten den Präraphaeliten in der Malerei, Wagner in der Tonkunst, Verlaine, Mallarmé, 148

Nordau, Max (d. i. Max Simon Südfeld, Pest 29. 7.1849 — Paris 1923), zuerst Journalist dann Doktor der Medizin, reiste viel herum und ließ sich erst 1880 als Arzt in Paris nieder, kehrte aber gleichzeitig auch zur Sdiriftstellerei zurück. Schon seine Studien über Paris und das Pariser Leben, bes. das Buch „Paris unter der dritten Republik. Neue Bilder aus dem wahren Milliardenlande". Lpz. 1881, erregten Aufsehen; nodi mehr war das mit den Kulturstudien der Fall, welche er unter dem Titel „Vom Kreml zur Alhambra", 2 Bde. Lpz. 1880, als Frudit seiner mehrjährigen Reisen veröffentlichte ; aber erst das Buch „Die Conventionellen Lügen der Menschheit", Lpz. 1884 (73. Tsd. 1922) brachte den Namen Nordaus in aller Mund. Sowohl E. Engel (Gesch. d. dt. Lit. d. 19. Jhdts. u. d. Gegenwart. 8. Aufl. 1922, S. 478), wie auch R. F. Arnold (Das moderne Drama. 1908, Anm. z. S. 117) sahen in ihm den Nicolai des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Mit Theodor Herzl bekannt, wandte er sich später dem Zionismus zu. Seine weiteren Schriften sind: Paris. Studien und Bilder aus dem wahren Milliardenlande. 2 Bde. Lpz. 1878 / Seifenblasen. Federzeichnungen und Geschichten. Lpz. 1879 I Der Krieg der Missionen. Schauspiel in 5 Akten. Lpz. 1882 / Paradoxe. Lpz. 1885 / Ausgewählte Pariser Briefe. Kulturbilder. Lpz. 1887 / Die Krankheit des Jahrhunderts. Roman. 2 Bde. Lpz. 1889 / Gefühlskomödie. Roman. Bresl. 1892 / Seelenanalysen. Novellen. Bln. 1892 / Das Recht zu lieben. Schauspiel in

1893 Die Entartung

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Moréas, Baudelaire, Gautier, Wilde, Ibsen in der Dichtung, Tolstoi als Mystiker und Nietzsche als Philosophen. Stärkere Nebenangriffe erleiden auch Whitman und Maeterlinck. Alle diese werden als „Entartete" höheren oder geringeren Grades hingestellt, bei denen der Verfasser jedoch mitunter einige Kunstfertigkeit, vor allem bei Ibsen, glaubt zugestehen zu müssen. Er stellt fest, daß „deutsche und selbst französische Kritiker" Nietzsche f ü r den ersten deutschen Schriftsteller der Gegenwart erklärten. Obwohl er Nietzsche in seinem Angriff auf Wagner mehrmals anführt, findet er den „Fall Wagner" eine „wahnwitzige delirierende Verleugnungsbroschüre, eine idiotische Wortwitzelei". Er rechnet Nietzsche zu den „Graphomanen", dieser sei ein „Parnassier" und leide am „moralischen Irrsinn". Paul Bourget in seinen „Essais de psychologie contemporaine" nehme die ganze wahnwitzige Philosophie Nietzsches voraus. Wie die Ichsucht in Ibsen ihren Dichter, so habe sie in Nietzsche ihren Philosophen gefunden. Zu den Jüngern zählt er Kaatz, Zerbst, Schellwien, Georg Brandes, Albert Kniepf („Theorie der Geisteswerthe"), Ola Hansson, Kurt Eisner, Lou Salomé. Er meint, Nietzsches „Individualismus" finde sich vollständig in Max Stirner, einem tollgewordenen Hegelianer, wieder. Ähnlichkeiten mit Nietzsche findet er auch unter den Worten Oscar Wildes, Huysmans, Baudelaires und anderer „Diaboliker und Decadenten". Im Gegensatz zu Türck (Nr. 118), den er sonst lobend anführt, will er Nietzsches angeborene sittliche Verirrung lediglich auf die Denktätigkeit beschränkt und nicht als Folge von Triebunterdrüdsung sehen. Sie greife nicht auf die Willens- und Bewegungszentren über. Er leide u. a. an allein auf die geistige Sphäre beschränktem Sadismus, der sich in Gedanken-Schwelgerei befriedige. Er sei unverkennbar von Geburt an wahnsinnig, und seine Bücher tragen auf jeder Seite den Stempel des Wahnsinns. Nebst dem „Ibsenismus" (132 S.) wird Nietzsche der größte Raum (95 S.) gewidmet. 159 a Dass. 2. Aufl. 1893. V I I I , 425 S., 1 B1./2 Bll., 562 S., 1 Bl. Unverändert, aber durch neuen Satz lauten die Fundstellen nun: Bd. I, S. 26 f., 327, 344 f., 349, 365, 374, 376; Bd. II, S. 59 f., 68 Anm., 70, 250, 303—398. vier Aufzügen. Bln. 1894 / Die Kugel. Schauspiel in 5 Aufzügen. Bln. 1895 / Doktor Kohn. 1898 / Der Sinn der Geschidite. Bln. 1909. Über Nordau erzählt Michael Georg Conrad aus den frühen 80er Jahren wie folgt: „,Entartung' war damals schon eines seiner beliebten Totschlagworte. Persönlich sprach er sich mir gegenüber über Wagner, Liszt, Nietzsche, Zola, Dostojewski, Ibsen und die anderen Größen der Revolution in der Kunst noch sehr viel heftiger und wegwerfender aus, als in seinen späteren Schriften." (Conrad, M. G., Von Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne. Lpz. 1902. Herrn. Seemann Nf., S. 64). S. a. M. N., Erinnerungen. Erzählt von ihm selbst und von der Gefährtin seines Lebens. Renaissance-Vlg. Lpz., Wien (A. d. Französ. 1928), S. 148: „Es ist unmöglich, die Sensation zu beschreiben, die .Entartung' in Deutschland hervorgerufen hat. Ein Schrei wilder Entrüstung kam aus den Reihen der Jungen' und ihrer Führer, die sich betroffen fühlten; und so wie die Anzahl der Ubersetzungen in den andern Ländern wuchs, so schwoll auch der Chor der Widersacher immer mehr an." Es wird dann von der Aufnahme des Werkes im Ausland, bes. in Frankreich und England, weiter berichtet. Nur die 1883 erschienenen „Conventionellen Lügen" hatten noch größeres Aufsehen erregt: „In vier Wochen sind 3500 Exemplare des Buches vergriffen und immer noch werden neue verlangt." (Ebd., S. 114).

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1893

159 b Dass. 3. Aufl.: 5. u. 6. Tsd. 1896. VIII, 427 S./2 Bll., 559 S. Unverändert, dodi durch neuen Satz lauten die Fundstellen wiederum anders: Bd. I, S. 27, 329, 346 f., 351, 367; Bd. II, S. 57 f., 66 Anm., 68, 248, 301—396. Neu sind lediglich die Anmerkungen 1 auf S. 303 und 2 auf S. 395. 160 Fellner, R., (VZg Nr. 259,1. Beil. v. 4. 6.1893, 3 S.). Eine weitläufige Besprechung des zweiten Bandes von Nordaus „Entartung" (Nr. 159), einem Buch, das in den weitesten Kreisen gelesen und beherzigt zu werden verdiene „als die Grundlage für eine dringend nöthige geistige Hygiene". Nordaus Behandlung Nietzsdies nennt er, deren Ergebnisse voll billigend, eine „tadellos psychiatrische Kritik". S.a. Jodl, Fr., (DLZg Nr. 44 v. 3.11.1894, Sp. 1381 ff.), der über beide Bände schreibt: „ . . . idi wüßte nichts, was diesem Buche an gesundem Menschenverstände und unbestechlichem sittlichen Urtheil gleichkäme. Ich möchte Nordau einen Nicolai des 19. Jhs. nennen." 161 Meysenbug, Malvida von, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. (NFPr Nr. 10349 f., Morgenbll., v. 16. u. 17. 6.1893). Nietzsche sei der „hervorragendste Repräsentant einer Übergangsperiode" in der Kulturgeschichte des „Kampfes zweier Weltanschauungen" gewesen. Sie erkennt in seinem Schaffen nur zwei Epochen: die erste bis zum „Menschliches" und die zweite bis zur Umnachtung, und ist ferner der Meinung, „der Nietzsche der dritten Epoche würde zum Grundprinzip seiner Philosophie kein anderes gewählt haben, als das schon in der ersten Epoche ausgesprochene". Sie selbst habe sich „erst von ihm losgesagt, als die Schrift ,Der Fall Wagner* erschienen" sei. Der Darstellung sind längere Stellen aus zahlreichen Briefen Nietzsches an die Verfasserin einverleibt. 161 a Auch in: Individualitäten. Bln. u. Lpz. 1901. 161 b Auch in: M. v. M., Ges. Werke. Hg. v. Berta Sdileidier. 3. Bd. Dt. Vlgs.-Anst. St., Bln., Lpz. 1922, S. 35—61 Hier ist außer wenigen rein stilistischen Änderungen nur der letzte Absatz hinzugekommen. Hinsiditlidi der Verbreitung von Nietzsdies Einfluß in der Literatur ist folgender Vergleich in einer kleinen anekdotenhaften Erzählung von Otto Erich Hartleben bemerkenswert: „Es war etwas Besonderes, dieses alte Gastzimmer. Es hatte seine verborgenen Tiefen und gefährlichen Heimlichkeiten wie ein Budi von Friedridi Nietzsche. Da ging es plötzlich ein paar Stufen in die Höhe, dann wieder unvermutet um die Ecke und auf einmal stand man in einer Ecke vor einem niedrigen, breiten Block oder Kasten, der in seiner geheimnisvollen Einfachheit alles begriffsmäßige Denken zu suspendiren drohte. Man atmete erleichtert auf, wenn einem Eberhard nach Aufheben eines ungeheuren Deckels den Einblick in ein friedliches Lager von Rotspohn und Cigarren gewährte."149 " » V o m gastfreien Pastor, zuerst in: FB v. Juli 1893, S. 805—815; die betreffende Stelle auf S. 808, die Budiausgabe bei S. Fisdier, Bln. 1895.

1893 Jenseits in dritter Auflage

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X I V b Jenseits / von Gut und Böse. / Vorspiel / einer / Philosophie der Zukunft. / Von / Friedrich Nietzsche. / Dritte Auflage. / Leipzig. / Druck und Verlag von C. G. Naumann. / 1894. 2 BU., 292 S. 8°. ( = Nietzsche's Werke. Achter Band. 1. Abtheilung. Jenseits von Gut und Böse.). Das Werk erschien schon im Juli 1893. Die einzelnen Gedankensplitter und -ketten sind durchgehend von Peter Gast mit Überschriften sowie mit Anmerkungen auf S. 15 und 48 und einem Register (S. 287—292) versehen. Die dreimalige Doppelzählung der einzelnen Abschnitte (65, 65; 73, 73; 237, 237) wurde von Gast durch eine fortlaufende berichtigt. Diese Beigaben Gasts wurden jedoch ab der fünften Auflage wieder entfernt, die Überschriften mit der Begründung, daß dadurch „den in zusammenhängender Gedankenentwicklung geschriebenen Capiteln der Anschein aphoristischen Charakters gegeben" worden sei. 162 Kirchner, Prof. Dr. Friedrich, Gründeutschland. Ein Streifzug durch die jüngste deutsche Dichtung. Wien u. Lpz. Kirchner & Schmidt. 1893. XIX, 246 S., IBI. Da die im Namen- und Sachverzeichnis aufgeführten Fundstellen zu Nietzsche unvollständig sind, seien hier alle angegeben: S. 50, 65—70, 96 fi., 105 f., 113 f., 166 ff., 184, 192, 203, 244. Gustav Freytag gewidmet, stellt das Werk Nietzsche neben Häckel in der Verkennung des eigentlichen Darwinismus, neben Ibsen in der Bekämpfung des „Willens zum Nichts". Der Verfasser nimmt bei Nietzsche eine moralisch-verkehrte Anlage an. Er sieht ähnliche Ansichten bei Karl Bleibtreu, Cäsar Flaischlen (in dessen „Toni Stürmer"), August Strindberg, M. G. Conrad, Felix Holländer (in dessen Roman „Jesus und Judas"), Hermann Sudermann (in dessen Roman „Der Katzensteg" und Drama „Heimath") und mads Dosmer. Max Stirner wird ganz kurz als Vorläufer Nietzsches bezeichnet. Zugejubelt werde ihm von allen Materialisten strenger Observanz, von allen Geistesproletariern und „freien Geistern". Er sei ein Mystagoge des Naturalismus. 1490 163 Weigand, Wilhelm, Friedrich Nietzsche. Ein psychologischer Versuch. G. Franz. Mchn. 1893.1 Bl., 116 S.150 Nietzsche ist dem Verfasser zugleich „ein Ereignis und ein Verhängnis in der modernen europäischen Cultur", dem man nicht allein als Philosoph beikommen könne, sondern man müsse auch Psychologe und Künstler sein. Er habe sich mit Recht gerühmt, einen neuen Zugang zu der Welt der Griechen gefunden zu haben, obwohl ihm der Vorwurf nicht erspart bleiben könne, er habe durch seine rein

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Kirchner, Friedrich (Spandau 1 . 5 . 1 8 4 8 — Berlin 6 . 3 . 1 9 0 0 ) , seit 1874 am kgl. Realgymnasium zu Berlin, zuletzt als Professor. Über das Werk schrieb er später: „Ich hatte die Reaktion gegen den französischen Naturalismus im französischen Kulturkreis miterlebt und sah in der Enge der naturalistischen Theorien eine Gefahr für unser Schrifttum, und die Oberflächlichkeit, mit der meine Altersgenossen das Erlebnis Nietzsche hinnahmen, stimmte mich vollends polemisch." In: Josef Hofmiller. Briefe. 2. TL 1922—1933. Ausgew. u. hg. v. H . H o f miller. K. Rauch Vlg. Dessau (1941), S. 367.

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ästhetische Betrachtung sie als „Form des Romantikers" gesehen. In der „zweiten Unzeitgemäßen", die immer wieder von Neuem anrege, finde man die Ideen, welche der Verfasser des wunderlichen Rembrandt-Buches (s. S. 85 f.) unter allerlei Geistreicheleien und Paradoxien verstecke. Das Hauptereignis in Nietzsches späterem Leben sieht er in dessen „Bekanntwerden mit der älteren einheitlichen französischen Cultur". Er sieht in den Schriften der „positivistischen" Mittelperiode eine gewollte antiromantische Selbstbehandlung. Zu der Zeit sei Nietzsche „kritischer Dilettant" gewesen, dessen Einstellung schon von Ernst Renan und Paul Bourget eingenommen worden sei. Neben diesen zwei sowie Baudelaire und Huysman, findet er Darwin, Comte, Stendhal und Dostojewsky als „leibliche und geistige Vorfahren" Nietzsches. Trotz Nietzsches Haß auf Rousseau zählt der Verfasser ihn zu dessen „mißratenen Söhnen". Mit jenem aber sei der moderne Individualismus — des erst aus Mangel schöpferisch gewordenen Individuums — in eine neue Periode getreten. Er sei eigentümlicher Romantiker und sein Positivismus nur ein „Intermezzo". Zu seinen Anhängern zählen die „schwankenden Seelen, die jeder Gewalt unterliegen", „jene jüngeren Sozialdemokraten, die ihr Durst nach Rache und Empörung in die Arbeiterbewegung getrieben hat", und dann die „unvermeidlichen Romantiker sowie die politischen und ästhetischen Anarchisten und die geistigen Asketen aus N o t oder Neigung". Nietzsche, dessen Weltanschauung Verfasser als „sophistischen Eudämonismus" bezeichnet, sei aber, als „großer Anreger", doch noch ein „Glücksfall für unsere Cultur". V I — V I I I b Menschliches, / Allzumenschliches. / Ein Buch für freie Geister. / Von / Friedrich Nietzsche. / Erster (bzw.: Zweiter) Band. / Zweite Auflage. / Mit einem Brieffacsimile und einem Vorwort des Herausgebers. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1894. 1 Bl., 1 Faks. ( = 4 S.), X L V I I , 408 S./ 379 S. 8 ° . (Schon im August 1893 ausgegeben). Peter Gast setzt sich im Vorwort mit den bis dahin in Zeitschriften, Zeitungen und Einzelschriften erschienenen Behauptungen von Richard Pohl (Nr. 82), Eduard Kulke (Nrn. 100, 101), Lou Andreas-Salomé (Nrn. 111, 114, 131, 146, 158) und Malwida von Meysenbug (Nr. 161) auseinander und weist sie entschieden zurück: Nietzsche sei nicht von Wagner abgefallen, sondern dieser sei „von sich abgefallen, und damit zugleich von Nietzsche's Art abgefallen"; „der Verkehr Nietzsche's mit Frau Andreas, damaligem Fräulein Salomé, ist von zu kurzer Dauer gewesen und hat unter zu sonderbaren Aspekten gestanden, als daß sie sich eine zutreffende Vorstellung von Nietzsche, wie er früher oder später gewesen ist, hätte machen können"; „Menschliches" sei zu Anfang des Sorrentiner Aufenthalts mit Paul Rèe schon zu weit gediehen, als daß man von einer Beeinflussung durch diesen sprechen könne — „nicht Rèe, sondern Nietzsche's Erkrankung war die Ursache, die mit ihrer entsinnlichenden Wirkung jene Helle und Ernüchterung herbeiführte, welche das charakteristische Merkmal des Nietzsche'schen Geistes in dieser Epoche ist" — ; Fräulein von Meysenbug tut Gast kurz mit der Bezeichnung „Nicht-Wisserin" um den Zweck, zu dem „die Psychologie der Herren- und Sklaven-Moral" unternommen worden sei, ab. „Er wird stürmen, dieser Cyclon

1893 Wilhelm Jordan

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Friedrich Nietzsche; und was auch die Ressentiments- und Entartungsmännlein sagen mögen: die kommenden Jahrhunderte können ihn nicht loswerden!" Es gibt auch einen „Separatabdruck von Peter Gast's Einleitung zu Friedrich Nietzsche's Menschliches, Allzumenschliches II. Auflage" von C. G. Naumann in Leipzig verlegt. S. a. N r . 172. 164 Eisner, Kurt, Über und unter Nietzsche. (ML Bd. 62, Nr. 35, 1893, S. 555—560). Eine Sammelbesprechung der Werke von Nordau (Nr. 159), Zerbst (Nr. 137), Kaatz (Nr. 133), Schellwien (Nr. 136), Koegel („Vox humana") und Finds („Weltfremd — Weltfreund"), in der die ersten drei und das letzte ziemlich scharf bemängelt werden. Verfasser erklärt Nietzsches „Wirkung auf die nachdenklichen Weltkinder" daher, daß er „kein Schulphilosoph", sondern „Weltphilosph" sei: „ . . . sein Evangelium der lachenden Stärke ist der Trost und die Hoffnung der trauenden Schwäche, der tatenlosen Sehnsucht... Die Gefahr des Nietzschetums liegt in dem Mißbrauch ideologischer Visionen zur Rechtfertigung zynischer Ausschweifung . . . Seine Lebensbejahung sollte sich vom egoistischen zum altruistischen Individualismus, zum eudämonistischen Christentum bekehren; dann würde aus einer Träumerei eine Möglichkeit werden." 165 Jordan, Wilhelm, Ein Truggeist. Terzone. (MAZg Nr. 248, Beil. Nr. 207 v. 7. 9. 1893).181 Nach kurzer Erwähnung des „Rembrandtdeutschen" Julius Langbehn und dessen „neuen, argen Unfugs" sowie Streifung Schopenhauers, Hartmanns, Ibsens und „Konsorten", bezichtigt er Nietzsche des literarischen Diebstahls: „seine stärksten Drucker hat er unverkennbar mir gestohlen"; nämlich aus dem „Demiurgos" und den „Nibelungen", und zum Schluß ruft er voll Entrüstung: „Werden Scham und Ekel nimmer Wirken eine Geisterwende, / Die zum Sieg in Kunst und Dichtung führt das Schöne, Schlichtgesunde?"

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Jordan, Wilhelm (Insterburg 8 . 2 . 1 8 1 9 — Frankfurt/Main 2 5 . 6 . 1 9 0 4 ) , Theologe, Philosoph, Schriftsteller und reisender Rhapsode seiner eigenen Dichtungen. Seine Stabreimdichtungen, mit denen er an Vortragsabenden auftrat, „Die Nibelungen" und „Hildebrands Heimkehr", fanden längere Beachtung. S. a. den Brief Richard Dehmels aus Pankow vom 8 . 9 . 1 8 9 3 an Georg Ebers: „O, wenn's doch v i e l e solche ,Alten' gäbe wie Sie! — Heute Morgen las idi in der ,Münchener Allgemeinen' die Terzone von Wilh. Jordan gegen Nietzsche. Sehen Sie: solchen ,Alten' können wir im besten Falle nur komisch nehmen. Ich mußte laut loslachen: ich dachte an jenen Schulmeister, der Schakespeare für einen schlechten Geographen erklärte. Schrecklich: der Mann hatte Recht. Dann aber schien mir diese unverfälschte Selbstgefälligkeit eines Menschen, der dodi selbst nur schwulstiger Apostel Größerer ist, doch zu stark, und idi schrieb dem aufgeblasenen Neidhammel per Postkarte folgenden psychologischen Rutenhieb aus dem Sdiwanengesange jenes unglücklichen Genies: ,Aber während idi im Schlafe lag, da fraß ein Schaf am Epheukranze meines Hauptes" Also sprach Zarathustra. (Natürlich unter meinem Namen). Unbegreiflich bleibt mir bloß, wie die .Allgemeine' solche läppische Reimdresdierei überhaupt veröffentlichen konnte." (R. D., Ausgew. Briefe a. d. Jahren 1883 bis 1902. 1923. S. Fischer. Bln., S. 122 f.).

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165/1 Salomon, Ludwig (IZ Nr. 2619 v. 9. 9. 1893, S. 293 f.). Nietzsches Lehre ist ihm eine Verschmelzung der Ergebnisse Schopenhauers und Darwins und überhaupt „keine Philosophie im engern Sinne, sondern eine Sociologie, in der alle Consequenzen mit grausamer, ja selbst mit brutaler Rücksichtslosigkeit gezogen werden". Da aber „das von ihm ersehnte Zeitalter der Übermenschen . . . sich nie verwirklichen lassen wird", liege sein Verdienst in der Anregung zur Erkenntnis, „daß da, wo die Masse regiert, die Wohlfahrt eines Volkes nie geschaffen werden kann, sondern nur dort, wo die Auslese, das Häuflein der Tüchtigen, die Geschicke bestimmt". 166 Nostitz-Rieneck, R. v. (S. J.), Friedrich Wilhelm Nietzsdie und die zünftige Wissenschaft. (SML 45. Bd., H. 3 v. 24. 9.1893, S. 229—246). Ein Angriff auf Steins Aufsatz (Nr. 150) und die Kathederphilosophie überhaupt, augenscheinlich weil jener trotz seiner allgemeinen Abneigung ein Wohlgefallen an Nietzsdie dem Hedoniker und Schriftsteller gefunden hatte. Verfasser wirft Stein vor, er und seinesgleichen haben mit ihrer Forderung nach freier Wissenschaft und freiem Denken erst ein solches Kind gezeugt. Ihm sind die Schriften Nietzsches wie „literarische Präludien zu einem Umsturz ohnegleichen, zu einer Schreckensherrschaft ohne Beispiel". 167 Lanzky, Paul (Vallombrosa), Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. (MAZg 1893, N r . 240). Berichtet über seine Bekanntschaft mit Nietzsche aus der Zeit Winter 1884/85 bis in den Herbst 1886. Sehr lesenswert sind die Einsichten des Verfassers in Nietzsches Arbeits- und Lebensweise der 80er Jahre. Er bringt auch einige wenige Gesprächsfetzen und das Bruchstück eines Briefes Nietzsches an ihn. 168 Rüttenauer, Benno, Von der Entartung der Kunst. (B1LU Nr. 37 v. 14. 9.1893, S. 577—581). Eine weitgehend ablehnende Besprechung der zweiten Auflage von Nordaus „Entartung" (Nr. 159 a) sowie zweier früheren Werke desselben Verfassers, bei der die Verteidigung Nietzsches durch den Besprecher bemerkenswert ist: „Der interessanteste Fall ist für mich der Fall Nietzsche." Dieser werde „eine dauernde geistige Macht sein", er sei „ein Schriftsteller ersten Ranges", mit seiner „einzigen Verschmelzung von Dichter und Denker" habe er „eine neue Gattung gezeugt".1510 169 Bierbaum, Otto Julius, Reim-Epistel an die Friedrichshagener. Ad vocem „Ein Truggeist" von Wilh. Jordan. (FB 1893, S. 1280 f.). Eine Entgegnung auf Jordans „Terzone" (Nr. 165), dem er entgegenstellt: „Neuer Glaube, neue Sehnsucht schreiten siegreich durch die Welten." 151b Im Oktober 1893 brachte das „Musikalische Wochenblatt" folgende Meldung:

1Ma

15lb

Rüttenauer, Benno, geb. am 2.2.1855 zu Wittstadt/Baden, seit 1888 Gymnasiallehrer in Mannheim. Bierbaum, Otto Julius (Grünberg/Schlesien 28. 6.1865 — Dresden Febr. 1910), nacheinander Schriftleiter der „Freien Bühne", Gründer des „Pan", Herausgeber der „Insel".

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„Friedr. Nietzsche's ,Hymnus an das Leben' für gemischten Chor und Orchester gelangte zu seiner erstmaligen Aufführung im 1. Concert der Museumsgesellschaft zu Annaberg unter der Leitung des Oberlehrers Hrn. Thalemann. Das Werk machte in seiner herben Schönheit und durch die Eigenartigkeit seiner Contraste einen bedeutenden Eindruck." (MW 24. Jg., N r . 44 v. 26. 10.1893, S. 599). AD Friedrich Nietzsche. Ein ungedrucktes Vorwort zur Götzendämmerung. Erläutert von Fritz Koegel. (ML 62. Jg., N r . 44 v. 4.11.1893, S. 702 ff.). 152 Erstdruck dieses ungedruckt gebliebenen Vorworts zur „Götzendämmerung" nach „drei Folioblättern gelben Konzept-Papiers", die einem Freund des Verfassers vom „freundlichen Wirt" in Sils Maria als „Andenken" geschenkt worden seien. Die Beschäftigung Nietzsches in diesem Vorwort mit der Kritik vornehmlich von „Jenseits" benutzt der Herausgeber, um der „Menge und Länge der NietzscheKritiken, -Essais und -Broschüren" das rechte Verständnis für das Nietzschesche Werk überhaupt abzusprechen. 170 Thorel, Jean, Die Väter des Anarchismus. (FB 3. Jg., 1893, S. 1375 bis 1380). Nadi einigen kurzen erklärenden Anmerkungen über den Aufsatz (der laut derselben zuerst in der „Revue bleue" erschien) folgt eine deutsche Übersetzung. Der Aufsatz befaßt sich mit Bakunin, Stirner und Nietzsche, eben als den „Vätern des Anarchismus". Man erkennt den Franzosen an den kaum verschleierten Seitenhieben gegen die Deutschen. Im Falle Bakunins heißt es: „ . . . die Russen erweisen sich denn auch nicht weniger geschickt als die Deutschen selbst, aus dieser (d. i. der Hegelischen) Philosophie die widersprechendsten Folgerungen zu ziehen." Deutschland ist ihm sowieso „das Land, wo das Leben sich am meisten in Träume auflöst". Die neuerliche Beschäftigung mit Stirner schreibt er der eingesehenen Notwendigkeit zu, Nietzsche „sicherer beurteilen — und sicherer verurteilen zu können". Er meint, daß „die Idee der Freiheit, ins Extrem getrieben", zu dem führen müßte, was Nietzsche „den legitimen Despotismus" nennen würde, oder auch zu dem „heuchlerischen Banditentum eines Stirner". Dem Anarchismus eines Bakunin, Stirner oder Nietzsche hält er die dem „Wahlspruch unserer Republik" entnommene „Brüderlichkeit" und das Gebet Christi „Liebet euch unter einander" entgegen. 171 Meysenbug, Malvida von, Aus meinem Tagebuch über Nietzsche. (NFPr Nr. 10469, Morgenbl. v. 14.10.1893, S. 1—3). Verfasserin bringt hiermit „Aufzeichnungen meiner Gedanken in Folge von Gesprächen mit Nietzsche oder vom Lesen seiner Schriften". Dabei sind natürlich manche Gedanken Nietzsches mitgefaßt. 172 Gast, Peter (Annaberg), Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. (FZg N r . 286 v. 15.10.1893, 3 S.).

152

Koegel, Fritz (Hasserode/Hessen 2. 8.1860 — 1904), studierte Philosophie, seit Frühjahr 1894 Herausgeber im Nietzsche-Archiv, sonst Verfasser von: Vox humana. 1892 / Gastgaben. Sprüche eines Wanderers. 1894.

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1894 Fritz Mauthner

Bringt die Wagner und Nietzsche betreffenden Stellen aus dem Vorwort zu VI—VIII b (S. 124). Bemerkenswert ist nur ein Zusatz der Redaktion (S. 2), der einen Teil eines Schreibens von Gast zur inzwischen erschienen „Terzone" von Jordan enthält. Auf diese Äußerungen Gasts machte man dann auch im „Kunstwart" (1894/95, S. 64) aufmerksam: Obwohl sie „von sehr wenig Verständnis für Wagner" zeugen, fassen sie „die Entfremdung der beiden Männer denn doch so viel tiefer, als die bisher über diesen .Fall' veröffentlichten Gedankchen und Histörchen". 173 anonym, (LCB1 Nr. 43 v. 21. 10.1893, Sp. 1531). Eine kurze Anzeige von Weigands Nietzsche-Buch (Nr. 163), das als „geistreich andeutend" doch zu wenig „auf die persönlichen, die pathologischen Zustände Nietzsche's — „dieser fesselnden Erscheinung" — eingehend bemängelt wird. 174 Poppenberg, Felix, Friedrich Nietzsches Schriften und Nachlaß. (ML Bd. 62, N r . 44 v. 4.11.1893, S. 710). Dank der „Güte von Nietzsches Schwester" bringt der Berichterstatter hier eine „authentische Mitteilung" über die Fortsetzung der Werkausgabe, die Verwertung des Nachlasses und eine von der Schwester geplante Lebensbeschreibung, da in dieser Hinsicht „bisher so unsichere, zum Teil widersprechende Angaben gemacht worden" seien. 175 Mauthner, Fritz, Jordan gegen Nietzsche. (N 1893, Nr. 52, S. 787 f.). Eine Zurechtweisung Jordans seiner „Terzone" (Nr. 165) gegen Nietzsche wegen bei Anerkennung seiner als Junghegelianer der Bewegung von 1848. Doch meint der Verfasser auch: „Wer sich Schopenhauer, Max Stirner und Emerson ganz zu eigen gemacht hat, dem kann Nietzsche an discursiver Erkenntniß nichts Neues bieten, nur den hohen Reiz einer Persönlichkeit, in welcher das nihilistische Denken und unendliche Wollen sich zu eigenem Unglück verbunden und verkörpert haben." Stirner sei „der Hauptanreger Nietzsches" gewesen, von Schopenhauer habe er den „Wahrhaftigkeitsrausch" und von Emerson „das Uebermenschenthum". AE Ueber die Zukunft unserer Bildungs-Anstalten. Sechs, im Auftrag der „Akademischen Gesellschaft in Basel gehaltene, öffentliche Reden. Von Friedrich Nietzsche. (Mit einer Einleitung von Elisabeth Förster-Nietzsche. ML 62. Jg., N r . 52, 63. Jg., Nr. 1—6, 9, 13, 14, 19 v. 30.12.1893, 6., 13., 20., 27.1., 3. u. 10. 2., 3. u. 31. 3., 7. 4. u. 12. 5.1894, S. 825—829, Sp. 1—11, 47—50, 65—70, 97—103, 129—134, 161—166, 268—275, 399—403, 432—436, 582—589). Erstdruck der Vorträge, die dann in den neunten Band der Gesamtausgabe (S. 217—347) aufgenommen wurden. In einem Vorwort bringt die Schwester dann die Bruchstücke des sechsten, nichtgehaltenen Vortrages nebst einigen biographischen Einzelheiten. 176 Meyer, R. M., (JbNDL 3. Bd., 1894, IV 5 : 87—105). Bespricht die Literatur des „Berichtsjahres 1892" über Nietzsche, diesen „meistbesprochenen Philosophen der Gegenwart" und „genialen Virtuosen des Skeptizismus". Stellt hier schon die Verwandtschaft Stirners fest; lobt dazu bes. das Werk des Franzosen G. Valbert.

1894 Bruno Wille

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177 Wille, Dr. Bruno, Philosophie der Befreiung durch das reine Mittel. Beiträge zur Pädagogik des Menschengeschlechts. Bln. S. Fischer 1894. 4B1L, 399 S. Zwei der 14 Abschnitte dieses Buches, das den Weg zum „freien Vernunftmenschentum" weisen will, werden Leitsprüche aus „Zarathustra" (S. 67, Ζ. I ; 243, Ζ. I) vorangestellt, welche Nietzsche in Gesellschaft von Whitman, J. G. Vogt, Ferdinand Lassalle, Buddha, Bakunin, Theodor Hartzka, Eugen Dühring, Proudhon und Schleiermacher bringen. Sonst führt der Verfasser Worte Nietzsches an oder erwähnt ihn auf S. 68 f., 183 (Ζ. I), 228, 242 (Ζ. I), 245 (Ζ. I), 246 (Ζ. II), 252 (Z. III), 267 (Ζ. I), 269 (Ζ. II), 270 (Ζ. II), 287 (Ζ. I), 305 (UB. III). Auffällig ist, wie aus diesen Angaben hervorzugehen scheint, daß der Verfasser lediglich die ersten drei Teile des „Zarathustra" kennt, denn die Worte aus „Schopenhauer als Erzieher" werden gekürzt, in der Form der geflügelten Worte, angeführt: „öffentliche Meinungen — private Faulheiten." 1520 Aus den Jahren 1 8 9 4 — 1 8 9 7 in Weimar erzählt Rudolf Steiner von einem Kreise um Conrad Ansorge, einen Pianisten und Komponisten, der damals unter anderem Nietzschesche und Dehmeische Dichtungen komponierte, dessen Schwager von Crompton und deren Frauen: „Der ganze Kreis stand sozusagen im Zeichen Nietzsches. Man betrachtete die Lebensauffassung Nietzsches als dasjenige, was von allergrößtem Interesse ist; man gab sich der Seelenverfassung, die sich Nietzsche geoffenbart hatte, als derjenigen hin, die gewissermaßen eine Blüte des echten und freien Menschentums darstellte. Nach diesen beiden Richtungen hin war besonders von Crompton ein Repräsentant der Nietzsdie-Bekenner der neunziger Jahre. Mein eigenes Verhältnis zu Nietzsche änderte sich innerhalb dieses Kreises nicht. Da idi aber derjenige war, den man fragte, wenn man über Nietzsche etwas wissen wollte, so projizierte man die Art, wie man sich selbst an Nietzsche hielt, auch in mein Verhältnis zu ihm hinein. Aber es muß gesagt werden, daß gerade dieser Kreis in verständnisvoller Art zu dem aufsah, was Nietzsdie zu erkennen vermeinte, daß er auch verständnisvoller darzulegen versuchte, was in Nietzsches Lebens-Idealen lag, als dies von manchen anderen Seiten geschah, wo das ,Übermenschentum' und das Jenseits von Gut und Böse* nicht immer die erfreulichsten Blüten trieben." 153 Unter den Mitgliedern des Kreises befanden sich außer den schon erwähnten auch Paul Böhler, der weimarische Redakteur, August Fresenius, Philologe, Franz Ferdinand Heitmiiller, Archiv-Mitarbeiter und Schriftsteller, Fritz Koegel und Otto Erich Hartleben.

152a Wille, Bruno (Magdeburg 6 . 2 . 1 8 6 0 — 1928), Schriftsteller. 158 A. a. O., S. 217. Ansorge, Conrad (Budiwald/Sdilesien 1 5 . 1 0 . 1 8 6 2 — Berlin 13. 2 . 1 9 3 0 ) ; Heitmiiller, Franz Ferdinand, geb. am 16. 3.1864 zu Hamburg, seit 1893 Assistent am Goethe-Sdiiller-Archiv in Weimar.

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178 anonym, Nietzsche und kein Ende. (SML Bd. 45, 1894, S. 119—122.) Verfasser bedauert, daß sich über Nietzsche „bereits eine ganze Literatur gebildet" habe, geht aber dennoch dazu über, eine mit kurzen Bemerkungen untermengte Übersicht derselben zu geben. Diese umfaßt nidit weniger als acht Bücher und fünf Zeitschriftenaufsätze. Anschließend gesteht er: „Es sind in der That sehr düstere Schatten, welche die Nietzsdie-Bewegung auf das moderne Geistesleben unserer Nation wirft." Adolf Damasdike erzählt von einem Besuche gemeinsam mit Philo vom Walde bei Schwester und Mutter in Naumburg im Jahre 1894 und deren Versuchen, den Bruder vom Gebrauch des Chlorals abzubringen. 1530 AF Gedichte und Epigramme. ( = An Hafis, Arthur Schopenhauer, Der „echte" Deutsche, An Spinoza, Beim Anblick eines Schlafrocks, Unter Feinden.), (Z 6. Bd., 31. 3. 1894, S. 614 f.). 179 Achelis, Thomas, Friedrich Nietzsche. (WMh Bd. 76, April 1894, S. 99 bis 111). Er sieht in Nietzsche wunderlidierweise „den Abgott der auf die Lehre des Milieu schwörenden, aller Aristokratie von Herzen abgeneigten Naturalisten". Seine Philosophie sei nur „eine socialpsychologische Untersuchung der socialen Zustände der Menschheit". Trotzdem sei er selber „ein Kulturphänomen ersten und zwar verhängnisvollen Ranges". In seiner Weltanschauung sehe man „die vollendete Anarchie des Denkens, den völligen Bankerott des philosophischen Bewußtseins, insbesondere die Zucht- und Schamlosigkeit des durch keine sittlichen Verpflichtungen mehr gebundenen Gefühls". 179 a Dass. Hamb. Vlgs.-anst. u. Druckerei A. G. 1895. 39 S. ( = Slg. gemeinverständl. Wissenschaftl. Vorträge. N. F. 10. Serie Heft 217). Dieser Einzelabdruck erweist sich als weitgehend umgearbeitet und im Tone leicht gemildert. Wenn der Verfasser seinen Grundstandpunkt auch nicht geändert hat, so behandelt er Nietzsche nicht mehr so ganz von oben herab. 180 Steinmayer, Joseph (Mchn.), Stein gegen Nietzsche. (Ges 1894, S. 250 bis 253). 164 Eine scharfe Verurteilung des Nietzsche-Buches von Stein (Nr. 155 a), „dem Philosophie p r o f e s s o r " , die mit dadurch veranlaßt worden sein kann, daß dieser die „Gesellschaft" „des blinden Nietzsche-Kultus'" bezichtigt hatte. 181 Lanzky, Paul, Friedrich Nietzsche. Nach persönlichem Umgange. (S. Bd. 18, Heft 99 v. Mai 1894, S. 333—340). Neben viel Persönlichem aus seinem Umgang mit Nietzsche in den 80er Jahren bringt der Verfasser die eigene Feststellung: obwohl bei Nietzsche „viel prächtiges 1680

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A. D., Aus meinem Leben. Grethlein. Lpz., Zur. (1924), S. 2 0 0 — 2 0 3 ; Damasdike, Adolf ( 1 8 6 5 — 1 9 3 5 ) , Begründer der Bodenreformbewegung; Walde, Philo vom (d. i. Johannes Reinelt), geb. am 5. 8 . 1 8 5 8 zu Kreuzendorf/Schlesien, Lehrer und Heimatdichter. Steinmayer, Joseph (München 30. 8 . 1 8 7 2 — 1939), Sprachforscher.

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Material und ein Plan zu einem Wunderbau vorhanden" seien, sei dieser Bau dodi „eine Dichtung, nicht ein philosophisches System". 182 Jodl, Fr. (Prag), (DLZg 15. Jg., Nr. 20 v. 19. 5.1894, Sp. 614 f.). Dem Verfasser, der hier Weigands Nietzsche-Buch (Nr. 163) sowie dessen „Essays" bespricht, ist es bei jenem, „als hörte man Nietzsche in seiner aufgeregt sibyllinischen Art über sich selbst reden". 183 Ludassy, J. v., Friedrich Nietzsche. (FBI Nr. 146 v. 30.5.1894, S. 13 f.). 1540 Eine ungehaltene, scharfe Ablehnung der Lehren des „moralischen Bummlers", sie seien „nichts als eine krankhafte Teufelei, ein Wahnsinn ohne Methode". Nietzsche selber ist ihm „ein philosophischer Frondeur; es wäre schon Überschätzung, wollte man in ihm einen frondierenden Philosophen erblicken". 184 Hübbe-Schleiden, Dr., Nietzsche, Grün-Deutschlands Verführer. Nach einem Vortrage am 13. April im Esoterischen Kreise. (S Bd. 18, H . 100 v. Juni 1894, S. 421—434). 155 Eine Verurteilung aus theosophischer Sicht von Nietzsches „Übermenschen" als „Übertier". Verfasser meint, Nietzsches „Lehren sind das fratzenhafte Zerrbild aller Theosophie, d. i. alles Idealismus in der Wissenschaft und im religiösen Empfinden", bei Nietzsches Ende „werden wir Theosophen uns der i n n e r l i c h e n individuellen Ursachen und Wirkungen des Karma bewußt": „ . . . s e i n W i l l e n s streben ist seiner E r k e n n t n i s fähigkeit vorausgeeilt und irre gegegangen." Verfasser erkennt den „Nietzsche-Kultus . . . unter unsern sogenannten ,grün-deutschen' Naturalisten" und meint, dessen Ideale lägen „dem jüngst-deutschen Anarchismus zugrunde, . . . der sich von der Sozialdemokratie losgesagt hat". Verfasser beschäftigt sich mit dem „Zarathustra" und den danach erschienenen Werken, weist nur einmal darüber hinaus auf die „fröhliche Wissenschaft". VI—VIII c Menschliches, / Allzumenschliches. / Ein Buch für freie Geister. / Von / Friedrich Nietzsche. / Erster (bzw. Zweiter) Band. / Dritte Auflage. / Leipzig / Drudk und Verlag von C. G. Naumann / 1894. 1 Bl., 1 Faks., 408 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.) / 379 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Ausgedruckt und daher gleichlautend mit der zweiten Auflage vom Juli 1893, aber erst im Juli 1894 herausgegeben. Nur das Vorwort von Peter Gast wurde nicht mehr mitgebunden und das vierseitige Brieffaksimile durch ein einseitiges ersetzt. 185 Andreas-Salomé, Lou, Friedrich Nietzsche in seinen Werken. Wien. C. Konegen. 1894. 2 Taf., 3 Bll., 3 Faks. ( = Briefe Nietzsches an die Verfasserin), 263 S. Verfasserin meint, Nietzsche sei „der erste lebende Stilist", „er setzt sein eigenes Selbst in Gedanken um", allein aus seiner geistigen Eigenart könne seine 1540 155

Ludassy, Julius Gans von, geb. am 13. 4.1858 zu Wien, Journalist. Hübbe-Schleiden, Wilhelm (Hamburg 1846 — Göttingen 1916), Kolonialpolitiker, Begründer der deutschen Theosophischen Bewegung, 1886—1896 Herausgeber der

okkultischen Monatsschrift „Sphinx".

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Philosophie und deren Entwicklung verstanden werden. Sein Leben und Schaffen fallen in drei Perioden: 1868—78, 1878—Herbst 1882, Herbst 1882 bis zum Schluß. In ihm „lebten in stetem Unfrieden, nebeneinander und sich gegenseitig tyrannisierend, ein Musiker von hoher Begabung, ein Denker von freigeisterischer Richtung, ein religiöses Genie und ein geborener Dichter". Sie ist der Ansicht, daß „eine rechte Nietzsche-Studie in ihrer Hauptsache eine religions-psychologische" sei. Dabei sieht sie als Kern alles Religiösen „einen ,sublimen Egoismus', der frei und naiv ausströmt, indem er sidi auf eine von außen gegebene Lebens- oder Gottesmacht zu beziehen glaubt". Nietzsche sei in so hohem Maße zum Philosophen unserer Zeit geworden, da in ihm typische Gestalt gewonnen habe, was sie in ihrer Tiefe bewege: jene „Anarchie in den Instinkten schöpferischer und religiöser Kräfte, die zu gewaltig nach Sättigung begehren, um sich mit den Brosamen begnügen zu können, welche vom Tisch der modernen Erkenntnis für sie abfallen". Das Kennzeichen seiner ganzen Geistesart sei „eine in sich selbst zurücklaufende, niemals stillstehende Bewegung". Sie beschreibt dann eingehend den Einfluß Rées und dessen Werke „Psychologische Betrachtungen" (1875) und „Der Ursprung der moralischen Empfindungen" (1877) und durch diesen den der englischen und französischen Moralisten, besonders auf „Menschlidies". Er habe „einen neuen Stil in der Philosophie" geschaffen: „den Stil des Charakteristischen, der den Gedanken nicht nur als solchen, sondern mit dem ganzen Stimmungsreichtum seiner seelischen Resonanz ausspricht, mit all den feinen und geheimen Gefühlsbeziehungen, die ein Wort, ein Gedanke weckt". Seine letzte Periode bestehe in der philosophischen Ausdeutung des eigenen Seelenlebens. Sein tiefster Wesensgrund sei ein „Leiden an sich selbst", so daß seine Philosophie schließlich „ein tragisches Weltbild" habe zeichnen müssen. Verfasserin meint nodi zum Schluß, „man könnte seine Zarathustra-Dichtung das Hohe Lied modernen Individualismus" nennen. Das Buch enthält neben zahlreichen Auszügen aus Briefen Nietzsches an die Verfasserin einen achtzeiligen Widmungsspruch aus einem Exemplar der „fröhlichen Wissenschaft" an Paul Rèe, 10 Aphorismen „Zur Lehre vom Stil" und zwei Gespräche Nietzsches mit der Verfasserin. Das Wesentliche des Inhaltes war schon in Zeitungen und Zeitschriften erschienen (Nrn. 111, 114, 131,146, 158). 185 a Dass. 2. Aufl. 1911. Unverändert. Neu ist lediglich eine Erklärung auf der Titelrückseite: „Nicht Willens mich auseinanderzusetzen, weder mit dem inzwischen veröffentlichten Nachlaß Nietzsches, noch mit Anderen über Nietzsche, lasse ich diese Schrift in unverändertem (anastatischem) Drude neu auflegen." 185 b Dass. Carl Reißner. Dresden (1924). 230 S., 1 Bl. Der Leitspruch auf dem Titelblatt ist fortgelassen, sonst ein lediglich in der Rechtschreibung geänderter Neudruck. 186 Dohany, Conrad, Friedrich Nietzsche's Geistesleben. (Geg Bd. 45, Nr. 24, S. 378 ff.). Verfasser wird in seiner Stellung zu Nietzsche durch den Glauben bestimmt, „der Lauf der Cultur ist doch unabänderlich nach der idealen Höhe bestimmt und

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gerichtet", so daß er in Nietzsche nur eine tragisdie Gestalt sehen kann, die in die „wirren, unsteten Zustände unserer Zeit" geraten sei. 187 Federn, Dr. Karl, R. W. Emerson und Friedrich Nietzsche. (NFPr Morgenbl. N r . 10732 v. 10. 7. 1894, 4 S.). Beleuchtet die „Parallele" zwischen beiden Denkern, wobei der Vergleich entschieden zugunsten Emersons ausfällt. Emerson ist ihm „der letzte große Vertreter und Lehrer der Idealistischen Philosophie" und verdiene „gerade in Deutschland besondere Beachtung, da er es gewesen ist, d e r . . . unserer Literatur in Amerika maßgebende Geltung verschafft hat". N a d i Aufführung vieler Ähnlichkeiten zwischen Emerson und Nietzsche stellt er fest, daß „die Nietzsche'sche L e h r e . . . just jene Übertreibung des Emerson'schen Individualismus" enthalte, die er vermieden habe. Nietzsches „letzte Schriften, aus denen, man möge sagen, was man wolle, der beginnende Wahnsinn spricht, kann man nur mit Schaudern lesen". Er gehöre zu den Menschen, „die man bemitleiden, genießen, bewundern, lieben kann, die aber niemals Erzieher werden können, denen wir keinen Einfluß auf uns einräumen dürfen". 187 a Auch in der Einleitung zu: Essays von Ralph Waldo Emerson. Übers, v. Dr. Karl Federn u. Thora Weigand. Hendel. Bln. 1896/97. 3 Tie. i.e. Bd., 2. Tl., S. 1 f., 6—10, 12—19. Mit einer kleinen, unwesentlichen Auslassung und mehreren größeren Zusätzen, die aber meist der Darstellung Emersons dienen. 188 Schack, D . Th. von, Nietzsche — ein Doppelgesicht? Offener Brief an den Herausgeber der Sphinx. (S. Bd. 19, H . 102 v. Aug. 1894, S. 119—128). Verfasser schreibt als „getreuer Sphinxleser" und „überzeugter Theosoph" in Antwort auf Hübbe-Schleidens Aufsatz (Nr. 184). Er möchte hiermit eine „Ehrenrettung, nicht des P h i l o s o p h e n , sondern des M e n s c h e n Nietzsche" gesdirieben haben. Dabei hat er hauptsächlich Nietzsche-Zarathustra vor Augen und versucht zu erklären, wie die „Verwandlung des ,mitleidigen' Weisen in die verfolgungslustige Bestie" möglich wurde, und endet mit der Feststellung: „ . . . daß all sein rücksichtsloses und brutales Machtverlangen im eigentlichen Sinne nur auf geistige Wertesteigerung aller menschlichen Erkenntnisfähigkeit und Selbstbesinnung abgesehen gewesen ist, also eine intellektuelle Revolution, nicht aber eine moralische Anarchie bezweckt hat". Angehängt (S. 128) ist eine „Nachschrift des Herausgebers" Hübbe-Schleiden, in der dieser sich mit den vorangehenden Ausführungen „einverstanden" erklärt. 188/1 Mensch, E(lla), Der neue Kurs. Litteratur, Theater, Kunst, Journalismus der Gegenwart. Neue Folge von Neuland. Menschen und Bücher der modernen Welt. St. Levy & Müller. (1894). Über Nietzsche zusammenhängend auf S. 239 ff., s. sonst das leider nicht ganz vollständige Namensverzeichnis. Im etwas irreführend betitelten letzten Abschnitt: „Führende Geister im Journalismus", wird Nietzsches Stellung in der „Tagespresse", worunter audi Zeitschriften verstanden werden, knapp umrissen: Aufsätze von Kurt Eisner, Ludwig Stein, Lou Andreas-Salomé, Leo Berg, Franz Servaes, W. Johannes, Peter Gast und Armin (so!) Tille kurz besprochen; mit der

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1894 Wilhelm Bölsche

Schlußbemerkung: „Jedenfalls legen alle diese Kommentare beredtes Zeugnis ab f ü r den Fortschritt, welcher sich bezüglich der verständnisvollen Anteilnahme an philosophischen Fragen für weitere Kreise vollzogen hat." 189 Goring, Dr. Hugo, Der „Übermensch" als Bühnenspuk. (S Bd. 19, H . 102 v.Aug. 1894, S. 129—135). Eine Verurteilung des Stückes „Ikarus" von Victor Naumann anläßlich der Aufführung in Berlin am 16. Juni. „Daß er das Richtige g e w o l l t hat", ist dem Verfasser „zweifellos", nämlich „die Konsequenzen der Nietzsche-Richtung plastisch und drastisch darzustellen", er sei aber „doch nur bei der n a t u r a l i s t i s c h e n Photographie stehen geblieben". Diesem allem stellt er „die kernige Kraft der Bühnencharaktere Wilhelm Jordans" entgegen. AG Homer und die classisdie Philologie. Ein Vortrag von Friedrich Nietzsche. (MAZg N r . 218 ( = Beil. Nr. 183) v. 9.8.1894). Vorabdruck dieses Vortrages (s. K), der erst gegen Ende 1895 in Buchform (GIX, S. 1—24) an die breitere Öffentlichkeit kam. 190 Bölsche, Wilhelm, Das Geheimnis Friedrich Nietzsches. (NDRs 5. Jg., H . 10 v. Okt. 1894, S. 1026—1033)."« Ein Lob des Werkes von Lou Andreas-Salomé (Nr. 185), in dem audi das von Weigand (Nr. 163) anerkennend gestreift wird. Bei Nietzsches zwei Überwindungen (d. s. Schopenhauer und der Positivismus) habe ihm zur letzten die „Wappnung" gefehlt. „Alles, was er jenseits davon (d. i. vom Positivismus) gesagt hat, hat nicht im eigentlichen Sinne darübergestanden", und „darin ist er ein typischer Fall". „Am Ende des Jahrhunderts steht Darwin, nicht Zarathustra." 191 Mauthner, Fritz, Friedrich Nietzsche. (N Nr. 39, 1894, S. 582 ff.). Verfasser findet es „wahrscheinlich, daß der rasche und blendende Erfolg von Nietzsche's Schriften auf eine verhältnismäßige Minderwertigkeit" schließen lassen könne. Der Aufsatz läuft dann in einer Besprechung der Nietzsche-Bücher von Ludwig Stein (Nr. 155 a) und Lou Andreas-Salomé (Nr. 185) aus, in der er die Ansichten der letzteren weitgehend würdigt und billigt. 192 Immisch, Otto, Friedrich Nietzsche. (B1LU Nr. 41 f. v. 11. u. 18.10. 1894, S. 641—644, 657—660). Eine eingehende Besprechung der Nietzsche-Bücher von Lou Andreas-Salomé (Nr. 185) und Ludwig Stein (Nr. 155 a) u. a. Unter Anerkennung Nietzsches als Künstler lehnt er ihn aber als Philosophen entschieden ab. 193 Tille, Dr. Alexander, Nietzsche und England. (FZg Nr. 289, 39. Jg., I. Morgenbl. v. 18.10. 1894)."'' 159 157

Bölsche, Wilhelm (Köln 2.1.1861 — Oberschreiberhau 31. 8.1939), Schriftsteller. Tille, Alexander (1866—1912), wurde 1895 Herausgeber der englischen Übersetzung von Nietzsches Werken und übertrug selber den „Zarathustra"; hatte schon Ende 1894 Vorträge über „Friedrich Nietzsche, the Herold of Modern Germany" in Glasgow vor der dortigen „Goethe Society" gehalten; über ihn, der im Jahre 1890 „upon the Glasgow scene straight from Leipsic" angekommen war, schrieb R. M. Wenley: „Tille — so the report ran — represented the very last word in modes and moods fashionable with youngest Germany. He was understood to be the Alexander Lauenstein of the

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Verfasser findet in Nietzsche den Utilitarier, „wie alle anderen Ethiker es sind, solange sie überhaupt von Zielen der sittlichen Entwicklung reden". Während seiner letzten Periode habe er der englischen Gefühlswelt nahegestanden, d. h. „dem unausgesprochenen englischen Empfinden mit seinen Herreninstinkten". Er habe sich eingehend mit der inneren englischen Moralwissenschaft befaßt und die Relativität aller Moralgebote von H. Spencer gelernt, erst von dem biologischen Utilitarismus Spencers habe er seinen evolutionistischen Utilitarismus entwickeln können. Unter den Vertretern der Entwicklungslehre, mit der er vertraut gewesen sei, sei er Rolph, dessen Werk „Biologische Probleme" er einiges Wesentliche entnommen habe, am verwandtesten. AH Gedichte von Friedrich Nietzsche. ( = An die Melancholie, Der Wanderer, Der Herbst, Am Gletscher, An die Freundschaft, Vereinsamt, Venedig. ML Nr. 27, 28, 30, 45 v. 7., 14. u. 2 8 . 7 . u. 10.11.1894, Sp. 852 f., 882 f., 943 f., 1430 f.). 194 Tervachoff, Iwan der Vierte. Eine Studie aus dem Zarenreiche. (NDRs 5. Jg., H. 11 v. Nov. 1894, S. 1109—1120). Versuch einer Ehrenrettung Iwans des Vierten als geschichtlichen „Obermenschen". AI Friedrich Nietzsche: Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen. (Z 9. Bd. 3.11.1894, S. 201—207). Erstdruck der ersten zwei einleitenden Abschnitte des von Nietzsche selbst nicht veröffentlichten Werkes. 195 Tille, Alexander, Nietzsche als Ethiker der Entwicklung. (Z 9. Bd. 10. 11.1894, S. 268—278). Er sieht in Nietzsche „den ersten wirklich evolutionistischen Moralphilosophen", der dem von Darwin, H. Spencer, L. Stephan, W. Wundt, Th. Huxley, R. Wallace, Morison, Balfour, Jordan, Häckel, Carneri, Besser, Radenhausen und Büchner angefangenen Dome „die Kuppel wölbt". Die Weltanschauung Westeuropas verdanke ihm die Schöpfung eines neuen sittlichen Ideals. Hierin sei er ein Kind seiner Zeit, aber in seiner Stellung gegen den sozialen Zug trete er heraus und ihr entgegen. Sein Denken sei von Rolphs „Biologischen Problemen" (1884) tief beeinflußt worden. Diese Gedanken sind im wesentlichen, wenn auch stark umgearbeitet und erweitert, in den Abschnitt „Das neue Ideal", den letzten von Tilles NietzscheBuch (Nr. 250), aufgenommen. Aus seiner Münchner Studentenzeit erzählt Ludwig Curtius: „Eines Tages schenkte er (d. i. Hugo Sinzheimer) mir Nietzsches Morgenröte in der damals noch nicht verkauften ersten Auflage und sagte, wer das nicht gelesen habe, sei kein moderner Mensch.. ," 1 5 7 0 Im Vergleich zu den Generationen ,Magazin für Literatur' of the eighties, the Kurt Grottewitz of .Neues L e b e n ' . . . He turned out to be a furious Nietzsdiean, his ,Von Darwin bis Nietzsche' rumbling in his head already." (Nietzsche — Traffics and Discoveries. Monist X X X I , Jan. 1921, S. 136). 1 5 7 0 L. C , Deutsche und antike Welt. Lebenserinnerungen. DVA. St. (1950), S. 126.

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1894 Die „erste" Gesamtausgabe

der in den 80er und 90er Jahren Geborenen stellt er fest: „Bedeutete es in meiner Generation den entscheidenden Einschnitt, ob einer von Nietzsche gepflügt war oder nicht, so prägte jetzt das Neue Naturerlebnis die Jahrgänge. " 157b

Im Herbst und Winter 1894 erschienen in rasdier Folge die ersten acht Bände der zweiten158 Gesamtausgabe: G l Die Geburt der Tragödie. / Unzeitgemässe Betrachtungen. / Erstes bis viertes Stück. / Von / Friedrich Nietzsche. / Vierte Auflage der Geburt der Tragödie. / Dritte Auflage der Unzeitgemässen Betrachtungen. / Leipzig / Drude und Verlag von C. G. Naumann / 1895. 5 Bll., 1 Taf., 1 Faks., 589, X X I I S . ( = N a d i beridit des Herausgebers Fritz Koegel sowie Lesarten und vergleichende SeitenTafel). 8°. ( = Nietzsche's Werke. Erste Abtheilung. Bd. I). Im September 1894 ausgegeben enthält dieser Band den Text des zweiten Druckes (1874) der „Geburt", mit den „wichtigeren Abweichungen des ersten Druckes" in den Lesarten. Bei der „zweiten Unzeitgemäßen" wurden „eigenhändige Niederschriften Nietzsches, welche die Vorstufen des Druckmanuskripts bilden", benutzt, um „eine nicht geringe Zahl von Verderbnissen, welche die v o n fremder H a n d gemachte Abschrift verschuldet" habe, zu beseitigen. Nietzsches Handexemplar wurden auch eine umgearbeitete Fassung des Vorworts und der ersten vier Seiten sowie zwei weitere Lesarten entnommen. G I V Morgenröthe. / Gedanken / über die moralischen Vorurtheile. / Von / Friedrich Nietzsche. / „Es giebt so viele Morgenröthen, / die nodi nicht geleuchtet 157b

158

Ebd., S. 239; s.a. seine zweifellos zeitlich viel spätere Erörterung des Humanismus: „Der Erwecker des neuen deutschen Humanismus, den man mit einem gewissen Recht den dritten nennt, ist Friedrich Nietzsche,... der eigentliche, der moderne Entdecker des archaischen heroischen Griechentums, dessen Verständnis die Konstruktion des romantischen ablöste. Auf mich selbst haben die frühen Schriften Nietzsches, die .Unzeitgemäßen Betrachtungen' und ,Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten* stärker gewirkt als die späteren. Und in den neunziger Jahren, in denen erst die Lehren Nietzsches begannen sich auszuwirken und Stefan George mit seinen Freunden, auf das tiefste von ihm ergriffen, sein Ringen um eine neu zu schaffende, jetzt heraufkommende deutsche Kultur begann, wirkten aus verschiedenen Quellen, wie Lagarde und dem ,Rembrandtdeutschen', gespeiste Kräfte zusammen." Ebd., S. 457. Die 1893 angekündigte und begonnene Gesamtausgabe, auch von Naumann verlegt und von Peter Gast besorgt, umfaßte folgende Bände: II Die unzeitgemäßen Betrachtungen, III und IV Menschliches, Allzumenschliches, VII Zarathustra, VIII/1 Jenseits von Gut und Böse; die Herausgabe, auf neun Bände geplant, wurde von der Schwester unterbrochen und die erschienenen Bände aus dem Handel zurückgezogen. Peter Gast war schon seit Anfang September 1892 mit der Herausgabe der Werke, d. h. mit dem Schreiben von Vorworten und Entziffern des handschriftlichen Nachlasses, beschäftigt gewesen und hatte durch die Mutter Ende Oktober desselben Jahres auch die Sachen, die Overbeck bis dahin aufbewahrt hatte, erhalten. Die Schwester war kurz vor Weihnachten 1890 auf 18 Monate nach Deutschland zurückgekehrt; Ende Mai 1892 war sie wieder nach Paraguay abgereist. Anfang September 1893 war sie dann erst endgültig wieder angekommen, hatte im Februar 1894 das Nietzsche-Archiv, vorerst im elterlichen Hause in Naumburg, gegründet, nachdem ihr Gast den Nachlaß am 23.11. 1893 übergeben hatte.

1894 Die Gesamtausgabe

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haben." / Rigveda. / Zweite Auflage. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1895. 3 Bll., 372, XIVS. ( = Nachbericht des Herausgebers Fritz Koegel, Aphorismen-Register u. vergleichende Seiten-Tafel). 8°. ( = Nietzsche's Werke, Erste Abtheilung. Bd. IV). Im September 1894 herausgegeben. GV Die / fröhliche Wissenschaft / („la gaya scienza"). / Von / Friedrich Nietzsche. / Ich wohne in meinem eignen Haus, / Hab Niemandem nie nichts nachgemacht / Und — lachte noch jeden Meister aus, / Der nicht sich selber ausgelacht. / Über meiner Hausthür. / Zweite Auflage. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1895. 3 Bll., 362, XVS. ( = Nadibericht des Herausgebers Fritz Koegel sowie Register und vergleichende Seiten-Tafel). 8°. ( = Nietzsche's Werke. Erste Abtheilung. Bd. V). Im September 1894 herausgegeben, enthält im Nachbericht die Abweichungen der sechs in der „Internationalen Monatsschrift" (s. X) erschienenen „Lieder des Prinzen Vogelfrei". GV a Dass. 6. und 7. Tausend. 1900. 3 Bll., 1 Faks., 362, XVIIIS., ( = Nadibericht v. Arthur Seidl, Register u. vergleichende Seiten-Tafel), 7 Bll. (=Vlgs.anz.). GVI Also / sprach Zarathustra. / Ein Buch für Alle und Keinen. / Von / Friedrich Nietzsche. / Fünfte Auflage. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1896. 3 Bll., 1 Taf., 1 Faks., 476, XIIIS. ( = Nachbericht vom Herausgeber Fritz Koegel u. vergleichende Seiten-Tafel). 8°. ( = Nietzsche's Werke. Erste Abtheilung. Bd. VI). GVI a Dass. 12. und 13. Tausend. / 1899. 3 Bll., 1 Taf., 1 Faks., 533 S., 4 Bll. ( = Vlgs.-anz.). 8°. S. 479—533 = Nachberidite („Die Entstehung von ,Also sprach Zarathustra'" ν. E. Förster-Nietzsche, „Einführung in den Gedankenkreis von ,Also sprach Zarathustra'" ν. Peter Gast, „Philologischer Nadibericht" v. E. Förster-Nietzsche) u. vergleichende Seiten-Tafel. GVI b Dass. 7 5 . - 7 7 . Tausend. / Alfred Kröner Verlag / 1910. 3 Bll., 1 Taf., 3 Faks., 531 S., 3 Bll. ( = Vlgs.-anz.). 8°. S. 477—531 = Nachberidite v. E. Förster-Nietzsdie, Peter Gast u. Dr. Otto Weiß sowie die vergleichende Seiten-Tafel; der Nadibericht von Weiß bringt einige wenige Änderungen, die Nietzsche in sein Handexemplar eingetragen hatte. GVII Jenseits von Gut und Böse. / Zur Genealogie der Moral. / Von / Friedrich Nietzsche. / Sechste Auflage des Jenseits von Gut und Böse. / Fünfte Auflage der Genealogie der Moral. / Leipzig. / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1896. 3 Bll., 484, XVS. ( = Nachberidite von Eduard von der Hellen und Fritz Koegel sowie vergleichende Seiten-Tafel). 8°. ( = Nietzsche's Werke. Erste Abtheilung. Bd. VII). Herausgabe Ende November 1894. GVII a Dass. 8. und 9. Tausend des Jenseits von Gut und Böse. / 6. und 7. Tausend der Genealogie der Moral. / 1899. 5 Bll., 1 Faks., 484, XVIS. ( = Nachberidite v. Arthur Seidl u. vergleichende Seiten-Tafeln), 6 Bll. ( = Vlgs.-anz.).

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1894 Im Brockhaus

GVIII Der Fall Wagner. / Götzen-Dämmerung. / Nietzsche contra Wagner. / Der Antidirist. — Gedichte. / Von / Friedrich Nietzsche. / Dritte Auflage des Fall Wagner und der Götzen-Dämmerung. / Erste Auflage von Nietzsche contra Wagner, des Antichrist / und der Gedichte. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1895. VIS., 1 Faks., 2 Bll., 378, XIS. ( = Nachberichte vom Herausgeber Fritz Koegel und vergleichende Seiten-Tafel.). 8°. ( = Nietzsche's Werke. Erste Abtheilung. Bd. VIII). Herausgabe Ende November 1894. GVIII a Dass. Der Fall Wagner. / Götzen-Dämmerung. / Nietzsche contra Wagner. / Der Wille zur Macht / (I. Buch: Der Antichrist). / Dichtungen. / Von / Friedrich Nietzsche. / 6. und 7. Tausend des Fall Wagner und der Götzen-Dämmerung; 5. und 6. Tausend der Dichtungen; / 4. und 5. Tausend von Nietzsche contra Wagner; 3. und 4. Tausend des Antichrist. / 1899. VIS., 1 Faks., 2B1L, 469 S., 4 Bll. ( = Vlgs.-anz.). S. 435—469 = Nachberichte v. Arthur Seidl, vergleichende Seitentafeln u. Berichtigungen. GII/III Menschliches, / Allzumenschliches. / Ein Buch für freie Geister. / Von / Friedrich Nietzsche. / Erster (bzw.: Zweiter) Band. / 8. und 9. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1900. 3 Bll., 1 Faks., 418, XXXIVS. ( = Nachbericht und Lesarten von Arthur Seidl, Aphorismen-Register und vergleichende Seiten-Tafel), 3 Bll. ( = Vlgs.-anz.) / 3 Bll., 2 Faks., 375, XXVS. ( = Nachbericht von Arthur Seidl, Aphorismen-Register und vergleichende SeitenTafel), 4 Bll. ( = Vlgs.-anz.). 8°. ( = Nietzsche's Werke. Erste Abtheilung. Bd. II und III). Im „Brockhaus" findet Nietzsdie gegen Ende des Jahres 1894 erstmalige Aufnahme; in der „dreizehnten vollständig umgearbeiteten Auflage, 1885", hatte er noch gefehlt: 196 Brockhaus' Konversations-Lexikon. 14. vollst, neubearb. Aufl. 12. Bd. F. A. Brockhaus. Lpz. 1894, S. 362 f. „Nietzsche ist ein Stilist ersten Ranges, der die deutsche Sprache um neue Stilformen und Ausdrucksmöglichkeiten bereichert hat, als Dichter der Schöpfer eines neuen Dithyrambenstils; er verbindet das feinste künstlerische Formgefühl mit großer Leidenschaft des Denkens." 196 a Dass. 1896, S. 362 f. Um weitere Werk- und Literaturangaben vermehrt, sonst heißt es jetzt: „Nietzsche ist ein Psychologe ersten Ranges und ein Stilist, der . . . " (wie oben) 196 b Dass. Revidierte Jubiläums-Ausg. 1898, S. 362 f. Nochmals um Werk- und Literaturangaben erweitert. 196 c Dass. Neue revidierte Jubiläums-Ausg. 1902, S. 369 f. Nochmals um Werk- und Literaturangaben erweitert. 197 Albert, Henri (Paris), Nietzsche's „Antichrist''. Eine Besprechung des VIII. Bandes der Werk-Ausgabe. (FZg 39. Jg., Nr. 327, l.Morgenbl. v. 25.11. 1894).

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Er meint, hier gebe es den Einzigen, „der Einhalt gebietet dem Werke des Niedergangs", und findet schon bei Heine in dessen Buch über Börne Nietzsches Ansicht von der Wesensgleichheit von Juden und Christen gegenüber Hellenen. 198 anonym, (LCB1 Nr. 49 v. 1.12.1894, Sp. 1756 f.). Eine kurze Anzeige von Lou Andreas-Salomés Nietzsdie-Buch (Nr. 185), das als der „ernsthafteste und gründlichste" Versuch, aus Nietzsches „eigenthümlicher Anlage und den Einflüssen, die auf ihn wirkten, die Wandlungen zu erklären, die er durchgemacht hat", gerühmt wird. Es sei ein „willkommener Commentar zu den Schriften des unglücklichen Philosophen". Sicherlich in den 90er Jahren wurzeln folgende Ansichten von Alfred Hoche, die er in dem Abschnitt: „Bildungsquellen", seiner Lebensbeschreibung bringt: „Nietzsche, dessen betäubender Anziehungskraft jeder eine Zeitlang unterliegt, gehört nicht zu den Philosophen; er war ein Geist, funkelnd im Übersdiuß seines Reichtums, ein Rhetor, ein Stüde von einem Dichter, ein blendender Stilist; aber man kann nicht viel von ihm lesen, ohne hinterher von einem Gefühl des Katzenjammers befallen zu werden; es liegt das zum Teil an der von ihm bevorzugten Form des Aphorismus, der seinem Wesen nach nur Halbwahrheit bedeuten kann und den Autor auf die Dauer in Widersprüche mit sich selber verwickeln muß. Wie wenig Nietzsche als konsequenter Denker bedeutet, erkennt man, wenn man sidi vorstellt, man sei genötigt, eine kurze Darstellung seiner Lehre zu schreiben; niemand ist dazu imstande; seine breite Wirkung geht schließlich auf eine Handvoll Schlagworte zurück, durch die das Publikum ihn für ausreichend gekennzeichnet hält. Die Nietzsche-Literatur hat für den Psychiater etwas besonders Peinliches durch die laienhaften Betrachtungen über seine Krankheit; es gibt noch immer Darstellungen, die seine auf organischen Hirnveränderungen beruhende Geistesstörung, wie bei Lenau, Schumann und anderen, psychologisch aus seinen seelischen Voraussetzungen zu erklären versuchen; das ärztliche Interesse liegt ganz woanders als die Erklärer meinen; es liegt in der Feststellung, wie erstaunlich lange dieses glänzend ausgestattete Gehirn auch in der den Geist schließlich vernichtenden Krankheit nodi Funken zu sprühen vermochte; der ,Fall Wagner' z. B., in dem das Gescheiteste, das Beste und das Böseste steht, was über Wagner gesagt werden kann, entstammt der Krankheitszeit. Nietzsche wird noch eine Weile der verführerische Prophet der Jugendlichen, der Halbgaren und der Unklaren bleiben."1580 199 Glasenapp, Gregor von, Friedrich Nietzsche, der Philosoph der Gegenwart. (BMs Bd. 41 f., 1894 u. 1895, H. 5, 8, 7 u. 8/9, S. 313—330, 457—475, 492—513, 583—596). Er sieht einen Vergleichsgrund zwischen Nietzsche und Tolstoi darin, daß beide „gegen den Strom des Jahrhunderts ankämpften mit gleicher Aufrichtigkeit, Redlichkeit und künstlerischer Veranlagung", auch seien beide Schüler Schopen158α

Α. Ε. Η., Jahresringe. Innenansicht eines Menschenlebens. J. F. Lehmann. Mdin. 1934, S. 188 f. Hoche, Alfred E. (1865—1943), zuletzt Professor der Psychiatrie in Freiburg i. Br.

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hauers gewesen. Durch diesen Vergleich mit dem Antipoden will der Verfasser audi zeigen, daß „an den Leistungen Nietzsches in manchen wichtigen Einzelheiten ein bleibender Wert anzuerkennen" sei. Da Nietzsches Elternhaus aber sich nicht in der Stadt befunden, und Pforta sich neben anderem durch Abgeschlossenheit von der Bewegung unseres modernen Kulturlebens ausgezeichnet habe, sei es ein Unglück gewesen, daß er so jung und so wenig vorbereitet Professor geworden sei: „Er konnte unmöglich alles, worüber er Vorlesungen halten mußte, lesen." Um Menschenkenner zu werden, sei ein Touristenleben ungeeignet. Doch möge sein Leben als Reisender „zu der spielenden Lebendigkeit und sinnlichen Fülle seines Stiles" beigetragen haben. Nietzsche fange dort an (d. i. beim Instinkt), wo Tolstoi aufhöre. Sie bleiben unvereinbar und könnten höchstens gegenseitig als Gegengifte empfohlen werden. Trotzdem begrüßt der Verfasser Nietzsches Verherrlichung der Leidenschaften, des Egoismus und seinen Titanenkultus als heilsames Gegengewicht gegen den wohlgemeinten, aber übelerwogenen Idealismus des Demokratismus. 199 a Dass, mit verändertem Titel: Friedrich Nietzsche und Graf Leo Tolstoi bis zum Jahre 1897, in: Essays. Kosmopolitische Studien zur Poesie, Philosophie und Religionsgeschidite. Riga. Jonck & Poliewsky 1899, S. 245—349. Mit einigen kaum wesentlichen Zusätzen. 200 Meyer, R. M., (JbNDL 4. Bd., 1895, IV 5: 170—202). Bespricht unter dem Gesichtspunkt „Poetik und ihre Geschichte" auch einen des Tages": „Was in unserer Zeit nach Philosophie strebt — und was ihr widerstrebt, das findet einen Vereinigungspunkt in dem wunderbaren Mann, der alle Geisteskämpfe dieser Zeit im eigenen Herzen durchlebt hat." Die Werke von Lanzky, Malwida, Stein und Weigand werden besonders hervorgehoben. 201 Werner, R. M., (JbNDL 4. Bd., 1895,1 12: 378—388). Bespricht unter dem Gesichtspunkt „Poetik und ihre Geschichte" audi einen Teil der Nietzsche-Literatur des „Berichtsjahres 1893": „Unter den Geistern, die auf den Entwicklungsgang der deutschen Weltanschauungen, den entsdieidensten Einfluß ausüben, steht in erster Reihe Friedrich Nietzsche..." Dem Werk von Ludwig Stein (Nr. 155 a) widmet er den weitaus größten Raum. 202 Conrad, M. G., Der Übermensch in der Politik. Betrachtungen über die Reichs-Zustände am Ausgange des Jahrhunderts. St. Rob. Lutz. 1895. 84 S. Der Feind Conrads ist in der Tat Bismarck und im Reiche der Gedanken Nietzsche, und die auslösende Tat die Umsturzvorlage, die, „als Symptom, die moralische, geistige, soziale und wirtschaftliche Bankrotterklärung des von Bismarck ins Reich gebrachten Regierungssystems" sei: „Wer, der sich unbefangen in der Naturgeschichte der Staaten umgesehen, wüßte für einen modernen Staat von der eigentümlidien Zusammensetzung des deutschen Reiches eine zweckmäßigere und natürlichere Politik als die d e m o k r a t i s c h e , bei welcher jeder Volksgenosse sein Recht finden und das Maß seiner Kraft in möglichst weitem Umfange bethätigen könnte? . . . Abseits von dem Wahn eines willkürlich konstruierten, wurzellosen Übermenschen, den die Nietzscheaner gegen die Demokratie auftrumpfen . . . " Nietzsche selber ist ihm „ein Moralphilosoph, dessen Auge so im

1895 Theodor Fontane

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aristokratischen Wahnsinn rollt, daß es die soziologischen Thatsadien nicht mehr festzuhalten und ruhig zu prüfen vermag": »Der moderne Übermensch ist eben trotz der geistreichen Legitimation, die ihm Nietzsche ausstellt, doch nur eine Spottgeburt aus Dreck und Feuer, aus Fusel und Schlechtem Blut. Und seine gewaltsamen historischen Allüren verleugnen die Herkunft aus dem Komödiantentum nicht." Dennoch sei Nietzsche „ein sonst tiefer und furchtloser Denker", und „Incipit Zarathustra" stehe über der Schwelle am Eingang des Neuen. 203 anonym, Der Umsturz im Salon. (NPrKz Abendausgabe v. 28.1.1895). Die bei der Umsturzgesetzdebatte im Reichstag „schon wiederholentlich erwähnten zersetzenden Einflüsse, wie die liberale Theologie, die mit dem Sozialismus kokettirende Nationalökonomie, die die gemeinsten menschlichen Instinkte verherrlichende naturalistische Literatur, die vielfach auch in wohlgesinnten Kreisen herrschende falsche Sentimentalität mit der Hefe des Volkes", kann der Verfasser noch „quasi v e r t h e i d i g e n , als Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, bestimmter künstlerischer Anschauungen, mißgeleiteten Mitleids usw.", doch „gilt dies nicht von den Erzeugnissen eines als .Philosophen' gepriesenen Mannes — den Produkten Friedridi Nietzsches". Verfasser schließt, nach Anführung einiger Gedankensplitter aus „Jenseits" und „Zarathustra", die den „ekelhaften Wahnwitz" dartun sollen, mit der Hoffnung, daß sein Hinweis genügen mödite, „um die Augen der maßgebenden Gewalten darauf hinzulenken, daß man thatsächlich oft die kleinsten Diebe hängt und die großen laufen läßt". Die Bekanntschaft Theodor Fontanes mit Nietzsches Werken liegt nicht später als Winter 1894/95, denn vom März bis August 1895 geistert der Name Nietzsche durch seine Briefe. Am 1. März schreibt er an Otto Neumann-Hofer ein ziemlich ausführliches Urteil über den Aufsatz von Fritz Koegel „Friedridi Nietzsche und Frau Lou Andreas-Salomé" (Nr. 2 1 7 ) ; 1 5 9 an die Tochter Meta am 9. August heißt er das „Nietzschesche Wort vom , H e r d e n v i e h ' . . . leider w a h r " ; 1 6 0 an dieselbe am 30. August bekennt er, daß „das Wort Nietzsches von der .Umwertung' der Dinge, die durchaus stattfinden müsse, überall zutrifft"; 1 6 1 an Colmar Grünhagen am 14. Oktober findet er, daß „die berühmte ,Umwertung' auf die Nietzsdie dringt, auf nichts so sehr paßt wie auf unseren Kommiß-Adel, der nichts ist, als eine Blüte einer absterbenden Rohheits-Epoche"; 1 6 2 und knapp zwei Jahre später, am 14. März 1897, eröffnet er seinen Briefwechsel mit Friedrich Paulsen mit einem zustimmenden Schreiben zu dessen Aufsatz „Über den

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Briefe Th. Fontanes. 2. Slg. Hg. v. O. Pniower u. P. Sdilenther. 2. Bd. 3. Aufl. (1910). Bln. F. Fontane, S. 339 f. Fontane, Theodor (Neu Ruppin 30.12. 1819 — Berlin 20. 9.1898). Briefe an seine Familie. 2. Bd. 4. Aufl. Bln. F. Fontane 1906, S. 311. Heiteres Darüberstehen. Familienbriefe. Neue Folge. Hg. v. Fr. Fontane. M. e. Einl. v. H. M. Elster. Bln. 1937. G. Grote, S. 255. Briefe an die Freunde. Letzte Auslese. Hg. v. Fr. Fontane u. Herrn. Fricke. 2. Bd. G. Grote. Bln. (1943), S. 561.

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1895 Thomas Mann

wunderbaren und audi wieder nicht wunderbaren ,Einfluß Nietzsdies auf unsere Reservelieutenants und die, die's werden wollen V 6 3 Im Jahre 1895 begegnete auch der zwanzigjährige Thomas Mann dem Werke Nietzsches: „Zweifellos ist der geistige und stilistische Einfluß Nietzsches schon in meinen ersten an die Öffentlichkeit gelangten Prosaversuchen kenntlich (es) war eine komplizierte Art, die sidi zur Mode- und Gassenwirkung des Philosophen, allem simplen ,Renaissancismus', Übermenschenkult, Cesare-Borgia-Ästhetizismus, aller Blut- und Sdiönheitsgroßmäuligkeit, wie sie damals bei groß und klein im Schwange war, durchaus verachtungsvoll verhielt. Der Zwanzigjährige verstand sich auf die Relativität des ,Immoralismus' dieses großen Moralisten; wenn ich dem Schauspiel seines Hasses auf das Christentum zusah, so sah ich seine brüderliche Liebe zu Pascal mit und verstand jenen Haß durchaus moralisch, nicht aber psychologisch, — ein Unterschied, der sich mir in seinem — kulturkritisch epochalen — Kampf gegen das bis in den Tod Geliebteste, gegen Wagner zu bewähren schien. Mit einem Worte: ich sah in Nietzsche vor allem den Selbstüberwinder; ich nahm nichts wörtlich bei ihm, ich g l a u b t e ihm fast nichts, und gerade dies gab meiner Liebe zu ihm das Doppelgesichtig-Passionierte, gab ihr die T i e f e . . . Mein Nietzsche-Erlebnis bildete die Voraussetzung einer Periode konservativen Denkens, die ich zur Kriegszeit absolvierte; zuletzt aber hat es mich widerstandsfähig gemacht gegen alle übel-romantischen Reize, die von einer i n h u m a n e n Wertung des Verhältnisses von Leben und Geist ausgehen können und heute so vielfach ausgehen... Übrigens war dies Erlebnis nicht Sache einer einmalig raschen Entdeckung und Rezeption, sondern es vollzog sich gleichsam in mehreren Sdiüben 163

Briefe an Friedrich Paulsen. Karl Dürr. Bern (1949), S. 4. Es wäre aber doch noch immerhin möglich, daß Fontane zuerst schon bei Wiesike auf den Namen Nietzsche gestoßen ist. Er besuchte ihn schon am 25. Mai 1874 zum erstenmal und war von der Begegnung tief beeindruckt (s. Th. F., Fünf Schlösser. Altes und Neues aus der Mark Brandenburg. Bln. 1899, S. 139—153; s.a. den Brief an die Tochter vom 17. Juni 1876: „ . . . idi werde nach dem 3. August, bis wohin idi keinen Tag fehlen darf, auf eine halbe Woche zu Wiesike gehn, die Wirkung von Apfelwein und Schopenhauer auf midi abwarten und dann an meinen Schreibtisch zurückkehren." in: Briefe an seine Familie. l . B d . 4. Aufl. Bln. F. Fontane 1906, S. 233 f.). S.a. Fontanes 1897 erschienenen und die Zeit um das Jahr 1895 schildernden Roman „Der Stedilin". Die Schwester Adelheid, Domina zu Kloster Wutz in der Mark, erzählt ihrem Neffen Woldemar von den zu ihr aus Berlin dringenden Neuigkeiten: „Und kurz und gut, er sagte: das mit dem .Wortlaut', das ginge nidit länger mehr, die .Werte' wären jetzt anders, und weil die Werte nidit mehr dieselben wären, müßten audi die Worte sich danach richten und müßten gemodelt werden. Er sagte .gemodelt'. Aber was er am meisten immer wieder betonte, das waren die ,Werte' und die Notwendigkeit der .Umwertung'." (Ges. Werke. 1. Serie, Bd. X, S. 126); sowie ebd., S. 365, wo der Vater Dubslav von Stechlin dem Hofprediger Frommel gegenüber meint: „Jetzt hat man statt des wirklichen Menschen den sogenannten Übermenschen etabliert; eigentlich gibt es aber bloß nodi Untermenschen, und mitunter sind es gerade die, die man durchaus zu einem .Über' machen will. Ich habe von solchen Leuten gelesen und auch welche gesehn. Ein Glück, daß es, nach meiner Wahrnehmung, immer entschieden komische Figuren sind, sonst könnte man verzweifeln."

1895 Martin Buber

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und verteilte sich auf Jahre. Seine früheste Wirkung betraf eine psychologische Reizbarkeit, Hellsichtigkeit und Melancholie, deren Wesen ich mir heute kaum redit klarzumachen weiß, unter der ich aber damals unbeschreiblich zu leiden hatte." 1 · 4 Aus dieser Zeit erzählt auch nodi Martin Buber von der Begegnung mit der Erscheinung Nietzsche: „Etwa zwei Jahre danach (d. i. im siebzehnten Lebensjahr) bemächtigte sich meiner das andere Buch, das zwar ebenfalls das Werk eines Philosophen, aber kein philosophisches war: Nietzsches ,Also sprach Zarathustra'. Ich sage: ,bemächtigte sich meiner'; denn hier trat mir nicht eine Lehre schlicht und gelassen gegenüber, sondern ein gewollter und gekonnter — großartig gewollter und großartig gekonnter — Vortrag stürzte auf mich zu und über midi her. Dieses Buch, vom Verfasser als das größte Geschenk bezeichnet, das der Menschheit bisher gemacht worden sei, hat auf mich nicht in der Weise einer Gabe, sondern in der Weise des Uberfalls und der Freiheitsberaubung gewirkt, und es hat lang gedauert, bis ich mich loszumachen vermocht habe." 165 „Ich war damals von dem Buch so eingenommen, daß ich es ins Polnische zu übersetzen besdiloß und den ersten Teil auch übersetzt habe. Ich war eben an den zweiten gegangen, als ich den Brief eines namhaften polnischen Autors erhielt, der ebenfalls mehrere Abschnitte des Buches übertragen hatte und mir vorschlug, die Arbeit gemeinsam zu machen. Ich habe es vorgezogen, zu seinen Gunsten zu verziditen." lee In diesem Jahr erschien ein Zukunftsroman, der, voll des Nietzscheschen Geistes, über die Gegenwart aus der Rückschau aburteilte: 204 Conrad, Georg Michael, In purpurner Finsterniß. Roman-Improvisation aus dem dreißigsten Jahrhundert. Bln. Verein für Freies Schriftthum. (1895). 359 S. Es geht um das Land Teuta, das wie Nordika und das der Slavakos, Angelos, Frankos und Amerikanos u. a., nach den Verheerungen am Ende des 20. Jahrhunderts übriggeblieben und dessen Bevölkerung nun eine unterirdische geworden ist: „Größe und Glück unseres Teutalandes, seine Einzigkeit und sein Ruhm begründen sich darauf, daß wir über die Natur hinaus sind, seit Jahrhunderten, seit 164

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Th. M., Lebensabriß, in: N R s 41. Jg., H . 6 v. Juni 1930, S. 741 f.; s . a . Betrachtungen eines Unpolitischen. 1918. S. Fischer. Bln., S. 321: „Ich war zwanzig Jahre alt, als idi zum ersten Male die Sätze l a s : . . . " (es folgt dann ein Zitat aus „Menschliches"); Mann, Thomas (Lübeck 6. 6 . 1 8 7 5 — Kilchberg b. Zürich 12. 8.1955). S . a . im 9. Notizbuch, S. 58 f. (1908): „Nichts von brennenderem Interesse, als die Kritik der Modernität: D a s fühlte idi sdion mit neunzehn, als idi zum ersten Mal Nietzsche's Wagner-Kritik las." Zitiert nach: T. M./Heinr. Mann. Briefwechsel 1900 bis 1949. S. Fischer 1968, S. 268 f. Μ. Β. H g . v. Paul Arthur Sdiilpp u. Maurice Friedmann, W. Kohlhammer. (St. 1963), darin: Μ. Β., Autobiographische Fragmente, S. 10; Buber, Martin (Wien 8 . 2 . 1 8 7 8 — Jerusalem 13. 6.1965), wirkte seit 1898 als Redner, Herausgeber und Erzieher in der zionistischen Bewegung. Ebd., S. 34.

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1895 Ein Zukunftsroman

Jahrtausenden. Alles ist Mechanik und Mystik." (S. 24) Von Jala, der Geliebten des Helden Grege, heißt es: „Ausland und Fremde war ihr die weite, feste Erde gewesen, wo die Vielzuvielen und Zusammenhängenden wohnen, der dichte driikkende Schwärm der Gleidimäßigen, die traurigen Völker, verblödet im Glück des Niemalsglücklichseins und des stumpfgewordenen Willens." (S. 18) Die „Teutaleute" verehren den „Zarathustra-Nietzischki" als „Nationalheiligen" und feiern jedes Jahr das „Zarathustra-Fest" als höchstes: „Er lebte um die Wende des zweiten Jahrtausends. Er war ein Heiliger und ein Märtyrer. Erst fünfhundert Jahre nach seinem Tode wurde er anerkannt. Bei Lebzeiten mußte er sich wahnsinnig stellen, um seinen Henkern zu entgehen. Nachdem er gestorben war, hörte man nodi fünfzig Jahre seine Stimme aus dem Sarge murmeln, und über sein Grab sah man bei Tag seinen dunklen Schatten und bei Nacht seinen lichten Schein als Abbild der entschwundenen Gestalt — Er hat den damals mächtigsten Papst der Welt, einen Musikzauberer, der in Bayreuth einen Tempel errichtet hatte, als modernen Minotaurus entlarvt, in einer mit Blut und Galle geschriebenen Schrift ,Der Fall Wagner', die seitdem verschollen ist, weil die Verbündeten des Zauberers alle vorhandenen Exemplare an sich gebracht und vernichtet haben . . . Als er seinen Tod nahen fühlte, floh sein Geist in den Leib eines mystischen Mechanikers und tadellosen Gelehrten, der viele Geheimnisse der griechischen Götter ergründet hatte, und wirkte hier nodi lange in sdirecklidien Schriften..." In Teutaland nannte man ihn „Nietzischki, denn er stammte von dem inzwischen von der Erde verschwundenen Volksstamme der Polen. Und hier beginnt schon unser Mysterium. Der Name Nietzischki darf in Teuta nur einmal im Jahre öffentlich ausgesprochen werden, am Zarathustra-Feste, und zwar nur von m i r . . ( S . 235-239) So erzählt Grege, Hauptdarsteller beim Fest und zu Anfang des Romans Flüchtling vom Lande der Teutaleute. Durch seine Gastgeberin in Nordika, die Lehrerin Maikka, muß er sidi folgende Worte gefallen lassen: „Euer Zarathustra-Kult ist eine Hanswurstiade . . . wer die Hanswurstiade mitspielt, ist ein Hanswurst, und wer den Zarathustra mimt, ist ein Komödiant und zwar kein guter." (S. 187) Doch durch sie lernt er auch den „vollständigen Zarathustra" kennen, und kurz vor seiner Wiederkehr nach Teutaland liest er den Abschnitt „Vom neuen Götzen", der in vollem Wortlaut angeführt wird (S. 313—317). Zum Schluß kehrt Grege wie neugeboren aus Nordika wieder und verwirft die „alte Elendsordnung": » . . . noch weht das Banner des heiligen Aufruhrs von der Königsburg in Teuta, b i s . . . Keiner mehr unter der Erde vegetirt, der berufen ist zu einem glücklichen Leben im Lichte der Sonne." (S. 359) An Neubildungen findet sidi nur das Wort „Zarathustraismus" (S. 187). Aus der Zeit um 1895 schrieb Arthur Holitscher: „Die verlorenen Jahre! Sie schienen mir unwiederbringlich. Auf meinem Klavier hatte idi eine kleine Reihe von Büchern aufgereiht. Da stand Buckle und Mommsen, Burckhardt und Fourier. Da stand Nietzsches die Geburt der Tragödie, Jenseits von Gut und Böse und das Wagner-Pamphlet, Lombroso und Kraepelin. Da stand Lissagarays Geschichte der Kommune und Mignet, Carlyle und Krapotkins Werk über die französische Revolution. Da stand neben den beiden Bänden

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Hamsun Dostojewskis Karamasofï, Baudelaire und Poe. Aber aucb zehn Bände deutscher Klassiker standen da, und Gottfried Keller und Hermann Conradi. "1ββ° Im Jahre 1900 erschien von ihm bei S. Fischer in Berlin der Roman „Der vergiftete Brunnen", von dem er schrieb: „In der Arbeit von Jahren, die von Erkenntnissen und Erlebnissen mancher Art bedrängt worden waren, hatte ich einen umfangreichen Roman, den .Vergifteten Brunnen' geschrieben (nach dem Ausspruch Nietzsches, daß, wo das Gesindel mittrinkt, alle Brunnen vergiftet sind), es war ein Budi, das auf gewisse Art das Ergebnis meiner Münchner Zeit festhielt. " l e e b 205 Jodea, L., Richard Wagner im Urtheile seiner Zeitgenossen. I. Friedrich Nietzsche. (NMPr 4. Jg., 1895, Nr. 1—6, S. 3 f., 3. f., 2 ff., 2 ÍÍ., 3 ff., 2 ff.). Verfasser beschreibt kurz die Wirkung des „Fall Wagner", stellt als Erfordernis zur kritischen Würdigung Nietzsches auf, „man muß Wagnerianer und Schopenhauerianer gewesen sein", und geht dann bei dem, was Nietzsche „für und gegen Wagner" vorbringe, zur Scheidung des „Haltbaren und Aufklärenden von dem Irrthümlichen und Mißverständlichen" über. „Alle anderen Gegner Wagners kann man, wenn man will, einfach ignorieren", meint er dazu. Im „Parsifal" will er nicht den Grund zum „Abfall" sehen: Nietzsche habe „Wagnern irgendwann einmal die Gefolgschaft aufkünden müssen, . . . vor allem, um bei sich selbst einzukehren", und im Jahre 1876 sei es eben so weit gewesen. Er verfolgt dann die Weitung der Kluft in den Werken zwischen der „vierten Unzeitgemäßen" und dem „Fall Wagner" und verteidigt Wagner weitgehend, wenn auch nicht sklavisch. Er vertritt auch die Meinung, daß Nietzsches Geistesstörung wahrscheinlich bis ins Jahr 1882, nach Vollendung der „fröhlichen Wissenschaft", zurückreiche. 205 a Dass., ebd. 9. Jg., Nr. 35/36, 37/38, 39, 41, 43, 45 v. 9., 23. u. 30. 9., 14. u. 28.10. u. 11. 11.1900, S. 252 f., 264 f., 274 f., 291 f., 311 f., 328 f. Unverändert. 206 Widmann, J. V., Über Nietzsches „Antichrist". (B Nr. 7—11 v. 8.—12.1. 1895). Obwohl der Verfasser meint, Nietzsche sollte für ihn schon „tot" sein, findet er im vorliegenden Werk noch „glänzende Gedanken, geistreiche Einfalle von blenìeea a . H., Lebensgeschichte eines Rebellen. Meine Erinnerungen. 1924. S. Fischer. Bln., S. 118; Holitsdier, Arthur (Budapest 22. 8.1869 — 1939 in der Emigration), Schriftsteller, neb Ebd., S. 204. S. a. den Sdiluß des zweiten Bandes seiner Lebensgeschichte: „Mein Leben in dieser Zeit. Der .Lebensgesdiidite eines Rebellen' zweiter Band. (1907—1925)", Potsdam 1928, Gustav Kiepenheuer, S. 243: „Jetzt beende idi diese Niederschrift der Geschichte meines gequälten, rätselhaften Seins. Eines Seins, das mir in seiner Gesamtheit bedeutsam und nidit vertan erscheint. Als Sdiluß schreibe idi ein Wort Nietzsches auf die letzte Seite dieses meines Budies. Es lautet: ,Solchen Menschen, die midi etwas angehen, wünsdie idi Leid, Verlassenheit, Krankheit, Mißhandlungen, Entwürdigung — ich wünsche, daß ihnen die tiefste Selbstveraditung, die Marter des Mißtrauens gegen sich, das Elend des Überwundenen nicht unbekannt bleibt — ich habe kein Mitleid mit ihnen, weil idi ihnen das einzige wünsdie, was heute beweisen kann, ob einer Wert hat oder nicht — daß er standhält!'"

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1895 Adolf Wilbrandt

dendster Leuchtkraft und viele sehr wahre richtige Urteile". Jedoch trieft die Besprechung vor allem von Schadenfreude über die „Pfarrer", die Nietzsches Werk entsetzlich finden werden, über die deutschen Nietzsdieaner, die es sidi als Deutsdie „von ihrem angebeteten Modephilosophen" gefallen lassen müssen, viel Unangenehmes vorgeworfen zu bekommen, über die Sozialdemokraten, die „gern für Nietzsche eintreten und so borniert seien, den Erfinder der Herrenmoral für einen Freund zu halten", über Nietzsches Abfertigung von Renan, die ihm ein besonderes „Vergnügen" gemacht habe. Verfasser zählt sich zu den „freisinnig Denkenden", deren jeder Nietzsche in vielem Recht geben müsse, wenn es gelte, die Heuchelei des Christentums aufzudecken. Die „hündische Bewunderung" des „rudilosen Übermenschen" und der „Vornehmheit" tragen Nietzsche aber zum Sdiluß den Namen „Nervendekadent" ein.167

Über das Bekanntwerden Nietzsches schreibt Hermann Uhde-Bernays mit Bezug auf die frühen 90er Jahre: „Nietzsches Übermensdientum, das uns durch seinen energischen Idealismus hätte anziehen können, war noch nicht zu einer allgemeinen Kenntnis gelangt, was erst seit dem Jahre 1895 geschah."168

Im Jahre 1895 regen die Gestalt Nietzsches und seine Lehren zwei weiteren Schriftsteller zu romanhafter Gestaltung bzw. Auseinandersetzung an:169 207 Wilbrandt, Adolf, Die Osterinsel. Roman. 5. Aufl. St. u. Bln. 1908. J. G. Cotta Nf. 443 S„ 3 Bll. Die Erstausgabe erschien 1895.170 „In der alten deutschen Hafenstadt R." an der Ostsee wacht Dr. Helmut Adler 47jährig am Totenbett seiner frühverstorbenen Gattin am 17. November 1881

1.7

S. a. Widmanns Brief vom 26.12.1894 an Ricarda Hudi: „Haben Sie den sehr interessanten ,Antichrist' von Nietzsche sdion gelesen? (Im VIII. Bd. der Neuausgabe der gesammelten Werke zum erstenmal gedruckt). Es steht dodi viel Wahres in diesem über alle Vorstellungen heftigen Angriff auf das Christentum. Aber zu viel Leidenschaft, zu wenig umsichtige Beweisführung." (J. V. W. Briefwechsel m. H . Feuerbach u. R. Hudi, a. a. O., S .281). 1.8 Im Lichte der Freiheit. Erinnerungen aus den Jahren 1880 bis 1914. Insel. 1947, S. 76; Uhde-Bernays, Hermann, geb. 1875 zu Weimar, 1901—1903 Assistent am Germanischen National-Museum in Nürnberg, danach freier Schriftsteller. 16 · Ein Werk, das nicht hierher gehört, aber gelegentlich als Verhöhnung Nietzschescher Gedanken empfunden wurde, ist Ludwig Fuldas: Die Kameraden. Lustspiel in drei Aufzügen. St. 1895. J. G. Cotta Nf. 191 S. Die Verulkung nimmt sich „die sogenannte moderne Frau" in der Gestalt der Frau Thekla Hildebrand und „den Kaffeehaus- und Wochenblatt-Pessimist" in der Gestalt des Dr. Egon Wulff zu Zielscheiben. Doch sind beide, obwohl sie sich als „Übermenschen" (S. 44, 161) vorkommen, Vertreter eines oberflächlich empfundenen Pessimismus Schopenhauerscher und einer ebenso oberflächlich empfundener Problematik Ibsenscher Prägung. Der Nietzschesdie Geist ist kaum anderswo als in dem zweimaligen Gebrauch des Wortes „Übermensch" zu finden, und die Betonung des Pessimismus und der Frauenrechte wäre mehr denn genug, diesen vergessen zu machen. Wilbrandt, Adolf (Rostock 24. 8.1837 — ebd. 10.6.1911).

1895 Die Osterinsel

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und sieht sich dabei in einem Wachtraum als Phönix aus der Äsche steigen. Im Tone des „Zarathustra" entwickelt er nun seinen „fertigen Gedanken", der wie folgt ausläuft: „Wie der Affe der Übergang war zu euch, so führt hinüber zu dem Göttermenschen; oder zum Vollmensdien, zum reinen, zum ganzen Menschen — oder wie ihr ihn heißen wollt. Verjüngt euch wie der Phönix! Werdet euer Traum! Überwindet den ,Menschen', wie er den Affen überwand; steigt empor, empor auf der Erde Gipfel!" (S. 37) Mitte Januar kann ein junger Komponist, Hans Bergmann, dann schon seinem Freund, dem Arzt Karl Schweitzer, die beide an der „gegenwärtigen Verpöbelung der Menschheit" leiden, vom „Phönix" erzählen, dessen „erstes H e f t " erschienen sei und von dem audi „das zweite und dritte schon unter der Presse" seien. Durch Zufall hört Dr. Adler das Gespräch der beiden mit und ladet sie zu sich ein. Nach dem Abendessen breitet er ihnen sein Vorhaben aus, „die Heranzüchtung des Vollmenschen", die nur abgesondert möglidi sei, und erzählt, daß er dabei schon an die Osterinsel im Stillen Ozean denke. Der Ertrag seiner Schriften soll nun die Fahrt dahin ermöglichen. Im Laufe der Handlung erfährt man, daß Adler, Pastorensohn aus Thüringen, Morphium als Schlafmittel einnehme, sich immer einsiedlerischer verhalte und eine „dionysische, hochfliegende Heiterkeit" offenbare. Durch einen verkommenen Neffen, Emil Wiese, wird er aber langsam um sein ganzes Geld gebracht, und zum Schluß verrät dieser Adlers Gedanken an die Sozialisten. Bei einer sozialistischen Versammlung versucht Adler den Neffen nun zu entlarven, wird dabei zusammengehauen, aber bevor er zusammenbricht, sagt er der Menge und dem Neffen ins Gesicht: „Er weiß, daß ich mit den Gleichmachern, den Kleinmachern nichts zu schaffen habe; daß ich nicht den Sozialismus oder Kommunismus oder Volksherrschaft predige, sondern eine neue Aristokratie der Menschheit... lieber mit der alten ,verrotteten' Gesellschaft verfaulen, als an ihre Stelle eine Pöbelwelt setzen, in der der allerniedrigste Affenmensch gebietet." (425) Adler stirbt im Sommer 1882, und der junge Arzt Karl Schweitzer erklärt der Tochter Malwine seine Liebe und tröstet sie mit den bescheidenen Worten: „Es gab Zeiten, denk' ich zuweilen, da konnte es noch werden: als so viel von der Erde noch ,zu haben' war, noch eine Art von Nebel lag auf ihr, in dem man sidi verstecken konnte. Da fehlte der Gedanke, der Plan! Nun ist der Gedanke da — und die Erde besetzt; bekannt; alles so hell, so klar, es könnte nidits mehr in der Stille wachsen. Auch dem größten aller Menschen möcht* es nidit gelingen. Uns bleibt am Ende nidits als die innere Osterinsel; wenig, Fräulein Malwine. Aber was will der Mensch! Er hat die Welt nicht gemacht. Er muß wollen, was er kann!" (S. 431) 208 Heyse, Paul, Über allen Gipfeln. Roman. 10. Aufl. Bln. Wilh. Hertz 1899. 300/441 S. Die Erstausgabe erschien 1895.171 Der Held des Romans, Erk von Friesen, kehrt nadi siebenjähriger Abwesenheit, während der er „die halbe Welt" als Legationsrat bereist hat, nach seinem Geburtsort Blendheim, der Residenz171

Heyse, Paul (Berlin 15. 3 . 1 8 3 0 — München 2. 4.1914), Erzähler, Lyriker, Dramatiker, Nobelpreisträger 1910, 1854 wurde der junge Romanist aus Berlin durch Vermittlung des Freundes Geibel von König Maximilian II. nach München berufen, w o er bis zu seinem Lebensende blieb.

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1895 Paul Heyse

Stadt eines kleinen Fürstentums, zurück. Kaum angekommen erzählt er in Gesellschaft: „Ich sehe Blendheim ist eine Oase in der Wüste der deutschen Welt. Denn Sie wissen ja, überall sonst ist man jetzt der Meinung, der richtige Mensch, l'homme qui se respecte, stehe jenseits von Gut und Böse und habe den Teufel nach der abgelebten alten Moral zu fragen. Das ganze große Menschengewimmel habe nur den Zweck, ein paar Übermenschen zu züchten, die souveränen Naturen, die den übrigen den Fuß auf den Rücken setzen . . ( S . 28) Dem zynischen ersten Minister des Ländchens sind diese Gedanken aber auch nicht fremd, denn er erzählt dem jungen von Friesen bei dessen ersten Besuch: „Was aber jene .jüngste Weisheit' betrifft, so ist sie ja die älteste der Welt und nur von dem unglücklichen Menschen, der jetzt vom Fieber seiner glänzenden Aphorismen in geistiger Umnachtung ausruht, der heutigen Gesellschaft, die ein so kurzes Gedächtnis hat, wieder einmal vorgehalten worden als etwas Unerhörtes und Neues. Daher der lächerliche Lärm, hier der rasende Beifallsjubel unreifer Köpfe, die f ü r ihre ohnmächtigen Gelüste plötzlich einen geistreichen Anwalt gefunden haben, und dort das Geheul sittlicher Entrüstung der Dutzendmenschen. Wir anderen, die wir, abgesehen von den absurden Übertreibungen, den Extravaganzen mit der ,blonden Bestie' und der Assassinenmoral, an der Richtigkeit der Grundansichten nie gezweifelt haben, sollten nur die Sdiwachen schonen und nicht offen einstimmen in ein Credo, das den Biedermännern stets als satanisch erscheinen wird, während jeder klare politische Kopf zu allen Zeiten danach gehandelt hat." (S. 78 f.) In einer Unterhaltung zwischen von Friesen und dem seinem Vater entfremdeten Sohn des ersten Ministers, Hans Wolfhardt, fallen neben den schon erwähnten Schlagwörtern audi solche wie: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt", „Umwertung aller Werte" sowie erstmals der Name Nietzsche. Bemerkenswert ist auch Hansens Ansicht: „Es ist charakteristisch, daß von unseren Nachbarn weder Franzosen noch Italiener von der Seuche, die unter unserer grünen Jugend grassiert, sich haben anstecken lassen." (S. 114 f.) Es gelingt dem zynischen ersten Minister jedoch nur vorübergehend den jungen von Friesen auf die Wege der Machtpolitik zu locken. Dieser verschmäht dann Aussicht auf Einfluß und Ansehen, dazu die Neigung der Landesfürstin und einer Baronesse, um seiner Liebe zur „tugendstolzen" Mallehrerin Madeleine Valentin treu zu bleiben. Er gesteht seinem Freund H a n s Wolfhardt, der sich als Dorfschulmeister bescheidet: „Du hast es mir auf den Kopf zugesagt, mir fehle das Talent zum Ubermenschen, zur ,blonden Bestie' des H e r r n Nietzsche . . . " (S. 236) Sonst finden sich einige Nietzschesche Schlagwörter im Texte verstreut, besonders die Wendung „jenseits von Gut und Böse". 209 Maxi (d. i. Maximilian Stein), „Nietzsche-Kritik." Ein Betrag zur Kulturbeleuchtung der Gegenwart. Zür. 1895. Vlg.-Magazin (J. Schabelitz). 36 S. Verfasser verteidigt Nietzsche gegen die Kritik, bes. die von Ludwig Stein (Nr. 155 a) und O t t o Immisch (Nr. 192), und zeigt sonst eine weitreichende Kenntnis der damaligen Nietzsche Literatur. Nietzsche ist ihm der „Seelenbegriff unseres heutigen in die Sackgasse wirrer Unsicherheit geratenen Jetztmenschentums", doch könne „das Individuum eines Nietzsche nicht in die Zeit hineingezwängt werden, der es doch entsprossen ist".

1895 Tolstoi

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210 Eisler, Dr. Rudolf, Geschichte der Philosophie im Grundriß. Bln. 1895. S. Calvary. VII, 328 S. Im 3. und letzten Teil: Die Philosophie der Neuzeit, darin im ebenfalls 3. und letzten Abschnitt: Die Philosophie der Gegenwart, Absatz 59: Die deutsche Philosophie, widmet der Verfasser Nietzsche eine knappe Seite (S. 296 f.), doch damit schon mehr Raum als z. B. Strauß, Feuerbach, Stirner u. v. a. 211 Schellwien, Robert, Der Geist der neueren Philosophie. 2. Tl. Lpz. Alfred Janssen 1895. 168 S. Unter Hinweis auf ein früheres Werk (Nr. 136) erledigt der Verfasser Nietzsche hierin im Anhang an Schopenhauer mit einer knappen Seite (S. 154 f.). Nietzsche habe seinen Gedankengang auf Schopenhauers Individualismus gegründet, indem er dessen „Willenstheorie mit Darwinistischen Ideen verbunden" habe. 212 Kretzer, Lic. Dr. Eugen, Friedrich Nietzsche. Nach persönlichen Erinnerungen und aus seinen Schriften. 1895. Lpz., Ffm. Kesselringsche Hofbhdlg. 1 Taf., 38 S., 1 Bl. Verfasser, der Nietzsche als „einen der gütigsten und schönsten, liebevollsten und liebenswürdigsten Menschen" persönlich kannte und hier „ausschließlich wiedergeben" will, was er selber „im persönlichen Verkehr mit Nietzsche und ihm nahestehenden Personen" erfahren habe, malt ein an Persönlichem sehr dürftiges Bild. Auf Seite 10 bringt er den Lichtdruck eines einzelnen Briefes Nietzsches an ihn vom 20. 11. 1873. Seine Stellung zu Nietzsches Schriften gibt er in folgenden Worten wieder: „Wir haben nicht in Nietzsches Schriften aus der Zeit vor 1876 Jugendarbeiten zu sehen, wie seine neuesten Verehrer wollen, die ihn im Vollbesitz leiblicher und geistiger Gesundheit nicht gekannt haben, und in den späteren Schriften Produkte seiner geistigen Reife, sondern in letzteren vielmehr Produkte des Prozesses, welcher auf die Reife folgt, der beginnenden Zersetzung, welche Nietzsches geistige Umnachtung einleitete, in der er gegenwärtig lebt." 213 Glasenapp, Gregor von, M. R. v. Stern und V. v. Andrejanoff. (BMs Bd. 41, H . 11/12 v. Febr. 1895, S. 700—736). 1 ™ Hebt Nietzsches Einfluß auf jenen, bes. dessen „Die Insel Ahasvers, ein episches Gedicht" (1893), hervor (S. 707 f.). 213 a Dass, mit der Überschrift: Zwei baltische Diditer: M. R . v. Stern und V. v. Andrejanoff, in: Essays. A. a. O., S. 143—194. Neben dem Einfluß Nietzsches auf von Stern stellt er nun auch einen solchen auf Viktor von Andrejanoff und dessen „Friedrich Nietzsche" und „Weltgericht" (S. 185) fest. 214 Tolstoi, Graf Leo Nie., Widersprüche der empirischen Moral. Dt. v. Louis Flachs. (Zeit N r . 19—21 v. 9., 16. u. 23. 2. 1895, S. 89—92, 105 f., 120 f.). In einer flüchtigen Erwähnung des „kürzlich so berühmt gewordenen unglücklichen Nietzsche" stellt Tolstoi fest, daß jener unwiderlegbar sei, „wenn er sagt, daß alle Regeln der Moral von dem Standpunkt der existierenden, nicht christlichen Philosophie betrachtet, bloß Lüge und Heuchelei sind". Hierauf gründet 171

Andrejanoff, Viktor von (Koslow/Rußland 22.7.1857 — Berlin 1.12.1895), nach Studium in Riga, Dorpat und Jena seit 1894 in Berlin wohnhaft, vorwiegend Lyriker.

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er dann seine eigene Ansicht, daß nur die Religion die Grundlage einer Moral der Nächstenliebe ergeben könne. 214 a Dass. Separat-Abdruck. Hugo Steinitz. Bln. 1895. 65 S., 3 Bll. Über Nietzsche auf S. 50—53. 215 P. L., Der Antichrist. (MAZg N r . 45 ( = Beilage-Nr. 37) v. 14. 2.1895). Das Werk sei „mit noch größerer Reserve zu verstehen, als die übrigen Werke des Philosophen". In „keinem seiner Werke zeigt es sich so sehr, daß er an der Aufgabe, die er sich gestellt hat, zugrunde gegangen ist, hat zugrunde gehen müssen". Die Urteile, die Nietzsche im Werke fälle, und die dann vom Verfasser angeführt werden, „richten sich auf der einen Seite von selbst; auf der anderen Seite wird man aber seinen Augen nicht trauen, daß ein Philosoph, der Evolutionist und Positivist zu sein vorgegeben hat, so wenig historisches Verständnis zeigt, nicht einmal die leitenden Ideen von Jahrtausenden zu begreifen und ihre Werthe anzuerkennen". 216 Stein, Dr. Ludw., Das letzte Werk Friedrich Nietzsches. (Aula Nr. 6 f., 1895, Sp. 172—178, 198—205) Verfasser bekennt sich zu denen, die „das Darwin-Spencersche Evolutionsprinzip auf geistige Erscheinungen übertragen". Nietzsche gegenüber könne man entweder mit Nordau, „seine gesamte schriftstellerische Produktion für entartet halten" — oder „die mehr dichterischen denn streng philosophischen Schöpfungen dieses groß angelegten Manns als Ausstrahlungen eines wirklichen Genius" verehren, „der sich mit der glühenden, verzehrenden Leidenschaftlichkeit einer lyrisch gestimmten Dichternatur in eine zum mindesten einseitige geschichtsphilosophische Doktrin immer mehr verbohrt hat, dann bedeutet der ,Antichrist' die Krönung dieser Einseitigkeit —" Dieses „letzte Werk Nietzsches" ist ihm zugleich „die galligste, verbitterste Anklage, die jemals gegen Juden- und Christentum erhoben worden ist". Doch scheint er sich zu widersprechen, wenn er etwas später „die gesamte philosophische ,Weltanschauung' Nietzsches — den pseudowissenschaftlichen Traum eines Haschischrauchers" nennt. „Unter dem Banner Nietzsches" sieht er eine neue „Romantik, die Verherrlichung des brutalen Kraftmeiertums" sich verbreiten. Verfassers Vertrauen und das des „Europäers von heute" beruht „auf dem Stimmzettel gegen den zähnefletschenden Aristokratismus des Nietzschetums" und „dem gesunden Menschenverstand gegen sein blindwütiges Lospoltern auf Juden- und Christentum". 216 a Auch in: An der Wende des Jahrhunderts. Versuch einer Kulturphilosophie. Freiburg i. B. J. C. B. Mohr 1899, S. 144—159. 217 Koegel, Fritz, Friedrich Nietzsche und Frau Lou Andreas-Salomé. (ML 64. Jg., Nr. 8 v. 23. 2.1895, S. 225—235). Da der Verfasser sich seit Jahren mit dem Studium Nietzsches und seit fast einem Jahre mit der Herausgabe seiner Werke beschäftigt habe, glaubt er sich dazu berechtigt, nach kurzer Streifung der bisherigen Nietzsche-Literatur das falsche Bild, das Lou Andreas-Salomé in ihren Aufsätzen und zuletzt in ihrem Buch über Nietzsche aufgestellt habe, ins rechte Licht zu stellen. Frau Salomé habe in diesem „gefährlichen Buch" versucht, durch „neurotische Weiber-Psychologie"

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alles Lebensbildende an dem Nietzsdiesdien Werk „zum Rauschtraum eines fiebernden Gehirns" zu verflüchtigen. 218 Chth., Nietzsche und seine Bedeutung. (Kw 8. Jg., 12. H. = 2. MärzHeft 1895, S. 177—181). In dem Hin und Her zwischen den Verschmähern und Anhängern Nietzsches stellt sich der Verfasser, wenn audi zögernd, auf die Seite der „ehrlich Beschränkten" gegen die „kritiklose Verherrlichung". Er führt dabei das Werk der Lou Andreas-Salomé (Nr. 185) wiederholt lobend an und schließt in Übereinstimmung mit der Verfasserin: „Was in Nietzsches Werken System ist, ist leicht zu widerlegen. Aber die P e r s o n ist ,gar nicht tot zu machen'." AJ Friedrich Nietzsche: Der griechische Staat. (2 10. Bd., 30. 3. 1895, S. 599 bis 608). Erstabdruck dieser Abhandlung, s. Anm. Nr. 11. AK Zarathustra vor dem Könige. Von Friedrich Nietzsche. (Fragment). (Pan Bd. 1, H. 1 v. April 1895, S. 1). Mit diesem Bruchstück eröffnete die Zeitschrift ihre erste Nummer. 219 Nitzsch, Dr. Fr., Die Weltanschauung Friedrich Nietzsche's. (ZThK 5. Jg., 4. H., 1895, S. 344—360). Obwohl Nietzsche dem Verfasser „als ein bloßer Feuilletonist" erscheint, glaubt er sich dennoch mit dessen „Ausführungen" befassen zu müssen, da er „in breiten Kreisen unserer gebildeten Zeitgenossen großes Aufsehen erregt". Ausdrücklich erwähnt werden aber nur die Schriften von Weigand (Nr. 163) und L. Stein (Nr. 155 a). Die Abhandlung versucht dann Vorbilder für die einzelnen Lehrsätze und Meinungen Nietzsches, wozu vor allem die Spätwerke ab „Morgenröte" herangeholt werden, ausfindig zu machen: „Seine Berührungen mit verschiedenen früheren Philosophen sind zahlreich. Dennoch kann man ihn nicht für einen bloßen Eklektiker erklären. Seine Schwärmerei für die wilden Instinkte der Urzeit stempelt ihn zu einem Romantiker, sein Antimonismus zum Libertin, seine Protektion der Selbstsucht zu einem Egoisten, sein Haß gegen alles Demokratische zum Aristokraten oder Autokraten, sein Urtheil über den Staat zum Anarchisten — praktisch genommen ist sein ganzes System eine einfach lächerliche Utopie." 220 Stümcke, Heinrich, Nietzsche als Dichter. (Geg Bd. 47, Nr. 12, 1895, S. 185 ff.). Beim Erscheinen des achten Bandes der Gesamtausgabe sieht der Verfasser eine Ähnlichkeit zwischen Nietzsche und dem jungen Goethe; Nietzsches Anerkennung Heines kann er aber nicht verstehen.1720 220 a Auch in: Zwischen den Garben. Essays. Lpz. 1899. P. Friesenhahn Nf., S. 69—77. 221 Stümcke, Heinrich, Aristokratie und Nietzscheanismus. (1895). Verfasser ist der Meinung, daß beim Streit um die Umsturzvorlage eine Broschüre des Freiherrn Ernst von Wolzogen, „Linksum kehrt schwenkt — Trab!", 1720

Stümcke, Heinrich, geb. am 7. 5.1871 zu Jekatarinenburg/Rußland, Schriftsteller.

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Beachtung verdiene, weil sie einen Versuch darstelle, „gewisse Prinzipien der Ethik Friedrich Nietzsches ins Praktische umzusetzen". 221 a Audi in 220 a, S. 89—99. 222 Asmus, Martha (Berlin), Ein Blick in Nietzsches Jenseits von Gut und Böse. (Ges 11. Jg., H. 4, 1895, S. 535—542). Verfasserin singt ein Loblied auf Nietzsche und dessen neue Moral; „nur ein trüber und kurzer Blick kann darin einen Übertritt in das Reich des Bösen sehn". Sie möchte aber anstelle seiner Auffassung der „Aristokratie", als der infolge des „Willens zur Macht Herrschenden", die der Sozialisten setzen, denn diese „wollen nicht nivellieren in dem Sinne des Gleichmachens vor Gott, sondern in dem des Freie Bahn-Machens für alle zum Lebenskampfe". Zum Schluß lehnt sie auch noch „den Gedanken des Kreislaufes" ab. 172b 223 P. L., Zur Nietzsche Literatur. (MAZg Nr. 94, 1895). Eine Besprechung von Kretzers Nietzsche-Buch (Nr. 212), dessen „schwache Seite" das „Nichtverstehen, das Niditverstehenkönnen des Zieles Zarathustra's" und das darüber hinaus nodi darin „einseitig" sei, daß es „die ersten Werke Nietzsches überschätzt". Besprecher verliert das Werk aber schnell aus dem Auge und gerät dann an das von Lou Andreas-Salomé (Nr. 185), an dem er lobend hervorhebt, daß es „die drei Hauptriditungen" in Nietzsches Schaffen erkannt habe, glaubt aber bemängeln zu müssen: „ . . . einmal, wo der erste Wendepunkt des Denkers, zweitens, wo der vermeintliche Widerspruch zwischen dem zweiten und dritten Bestreben zu suchen ist". 1877 beginne „für uns der wahre Nietzsche", und der Zarathustra eröffne „keine neue Epoche, sondern gibt uns in einem Intermezzo, das latent weiterwirkt, die Quintessenz" von Nietzsches Empfindungs- und Anschauungsweise unter dichterischer Form. 224 O. F(lügel), (ZPhP Bd. 2, 1895, S. 225 f.). Eine leicht ironisierende Besprechung des Nietzsche-Buches von Lou AndreasSalomé (Nr. 185), die von Hinweisen auf die abfälligen Urteile von Billroth, Nordau und Stein über Nietzsche eingerahmt wird. 225 (Schrempf, Chr.), „Der Antichrist". (Wh N r . 37, 1895, S. 18—31).17S Verfasser zeigt sich „enttäuscht", daß Nietzsche nicht die Aufgabe, „rettender Feind der Christenheit" zu sein, „in wünschenswerter Weise" ausfülle, eine Aufgabe, die „seit Kierkegaards Tode erledigt oder doch nur mangelhaft besetzt" sei. Audi in anderer Hinsicht bringt Verfasser Nietzsche und Kierkegaard zueinander in Beziehung. 226 Busse, L. (Marburg), (DLZg 16. Jg., Nr. 15 v. 13. 4. 1895, Sp. 454 f.)." 4 Eine durchaus zustimmende Besprechung des Nietzsche-Buches von Ludw. Stein (Nr. 155 a), nur habe dieser „die drohende Gefahr" Nietzsches überschätzt, 172b

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Asmus, Martha, geb. am 20.6.1844 zu Pillkallem/Ostpr., seit 1895 in Berlin als Schriftstellerin ansässig. Schrempf, Christoph (1860—1944), evangelischer Theologe und Philosoph, trat 1909 aus der Kirche aus, machte sich darauf durdi Herausgebertätigkeit und biographische Forschungen um Kierkegaard verdient. Busse, Ludwig (Braunschweig 27.9.1862 — Halle a. d. Saale 13.9. 1907), Philosoph.

1895 Nodi mal Rudolf Steiner

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denn „der Nietzsdiekultus hat seinen Höhepunkt bereits überschritten". Es gelte, in „der ganzen, gegen unsere schwer errungenen nationalen und sittlichen Güter feindlich zudringenden zersetzenden Strömung, mit der Nietzsche treibt", die Gefahr zu erkennen. 227 Romundt, Heinrich, Nodi einmal Friedrich Nietzsche und Frau Lou Andreas-Salomé. (ML 64. Jg., Nr. 17 v. 27. 4. 1895, Sp. 523—526). Nimmt Lou Andreas-Salomés Buch (Nr. 185) in Schutz gegen die Verdächtigungen und Verunglimpfungen Koegels (Nr. 127) und veröffentlicht hierzu Bruchstücke zweier Briefe, die er von Nietzsche erhalten hat. Gibt auch bekannt, daß er Nietzsche und Rèe „lange vor dem Jahre 1876" zusammengeführt habe. 228 Schultze, Dr. Siegmar (Privatdoz. a. d. Univ. Halle-Wittenberg), Der Zeitgeist der modernen Litteratur Europas. Ein Kapitel zur vergleichenden Literaturgeschichte. Halle. C. A. Kaemmerer 1895. VII, 91 S. Das Werk ist wie folgt gegliedert: I. Die philosophische Grundlage der modernen Litteratur; II. Die Entartung der Menschheit; III. Heilmittel; IV. Die Geistesaristokratie; V. Der Mystizismus. Es befaßt sich in der Hauptsache mit nichtdeutscher Literatur, eine zweite Arbeit sollte sich dann mit der deutschen befassen. Unter den erwähnten Deutschen erfährt nur Nietzsche eine längere Würdigung, die längst des ganzen Buches, und zwar im IV. Abschnitt auf S. 64—75. 229 Grosse, B. J., Buch der Erinnerungen. (Gedichte.) Selbstvlg. d. Verfs. Straßb. i. E. 1895. 258 S., 1 Bl. Enthält im 10. und letzten Abschnitt fünf Gedichte mit der Sammelüberschrift „Herren-Moral", in denen diese als „das neu Gebot der Zeit" besungen wird. 230 Steiner, Dr. Rudolf, Friedrich Nietzsche. Ein Kämpfer gegen seine Zeit. Weimar. Emil Felber 1895. X I I , 125 S., 1 Bl. Das Werk erschien im April 1895. Verfasser sieht in den Schriften ab Zarathustra den eigentlichen Nietzsche; die früheren „zeigen ihn als Suchenden... als rastlos aufwärts Strebenden", und demzufolge könne man von keinem „MeinungsWechsel" reden. Im Anfange habe sich Nietzsche getäuscht über das, was „seine Instinkte von der Kunst verlangten, deshalb ist er damals ein Anhänger Wagners gewesen", und durch das Studium der Schopenhauerschen Philosophie habe er sich „zum Idealismus verführen lassen". Seine Abkehr von Wagner wird in der Erkenntnis begründet gesehen, daß Wagner „in der letzten Zeit seines Schaffens den Schopenhauerschen Jenseitsglauben audi auch in seinen Kunstwerken verkörpert" habe, daß er seine Musik dazu verwendet habe, „die Flucht vor der Wirklichkeit zu verherrlichen". Erst im weiteren Verlauf seines Lebens merkte er, daß „aller Idealismus seinen Trieben gerade entgegengesetzt" sei. Das „Endziel" seines Wirkens sei „die Zeichnung des Typus .Übermensch'". Der Übermensch sei „das souveräne Individuum, das weiß, daß es nur aus seiner Natur heraus leben kann, und das in einer seinem Wesen entsprechenden Lebensgestaltung sein persönliches Ziel sieht". Er ist der „schaffende Einzelwille, die starke Persönlichkeit, die Ziele schafft und rücksichtslos ist in der Ausführung derselben". Nietzsche selber wolle in seinen eigenen Meinungen nichts als „ein Ergebnis seiner persönlichen Instinkte und Triebe" geben. Einige Kritik übt der Verfasser erst bei Hervorhebung der „moralischen Antriebe" unter den Instinkten,

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1895 Christian Morgenstern

denn Nietzsche habe alle diese Antriebe recht ununterschiedlich zusammengefaßt: „Erst derjenige Mensch ist vollkommen frei, der audi Gedanken produzieren kann, die zum Handeln führen," der eine „moralische Phantasie" besitze, und gerade diese fehle in Nietzsches Ausführungen. Zu Nietzsches Entwicklungsgang beklagt er, daß dieser nicht Stirner anstelle von Schopenhauer zum Erzieher gehabt habe, da jener „im vollsten Sinne dem entspricht, was Nietzsche von dem Übermenschen fordert". Stirner habe seine Weltanschauung in „krystallklaren Gedanken" ausgesprochen, „neben denen sich Nietzsches Aphorismen allerdings oft wie ein bloßes Stammeln ausnehmen". Im Vorwort stellt er sich dennoch entschieden auf die Seite der Schwester und Fritz Koegels gegen die von Lou Andreas-Salomé. Sonst kommt Ludwig Stein und dessen Buch (Nr. 155 a) am schlechtesten weg. 231 Morgenstern, Christian, In Phanta's Schloß. Ein Cyclus humoristischphantastischer Dichtungen. Dem Geiste Friedrich Nietzsches gewidmet. Vlg. v. Rieh. Taendler. Bln. 1895. Das Werk erschien als Morgensterns erste Buchveröffentlichung schon im Frühjahr 1895. Daß er mit der Widmung nicht scherzte, zeigt das Widmungsexemplar, das er an Nietzsches Mutter schickte.178 AL Der Riese / Friedrich Nietzsche. (Pan 1. Jg., 2. H . v. Juni 1895, gegenüber S. 94). Umrahmt von einer Zeichnung von E. M. Geyger. 232 Caliban, Zarathustra der Politiker. (Geg Bd. 48, Nr. 30, 1895, S. 61 f.). Gegen die „Demokratisirung der Gesellschaft, die in diesem Jahrhundert schier unaufhaltsam vorgeschritten ist", sieht der Verfasser „ganz in der Stille die Axt erhoben": „Die Politik einer ganzen Epoche, so voller Gärung und brausenden Lebens wie unsere, sollte nicht von Klageweibern gemacht werden." Er würdigt Kaiser Wilhelm II., weiß ihn aber vom Zarathustra zu unterscheiden und wendet seine Aufmerksamkeit mehr Gestalten wie Crispi, Strambulow und vor allem Bismarck zu, auf die sich dann sein Schlußspruch bezieht: „Zarathustra und die Seinen verbluten, doch sie sterben nicht." A m 16. Juli 1895 linden sich in dem Briefwechsel Eberhard von Bodenhausens mit Alfred Liditwark die ersten Spuren einer tiefen und über 23 Jahre hin anhaltenden Achtung vor der Gestalt Nietzsche: „Überhaupt der Takt in der modernen Literatur! Und dann wieder dieses infame Streifen an die Gotteslästerung; das empört mich geradezu, obwohl ich doch gewiß nicht fromm und Frömmling und gläubig bin. Und dann berufen sich diese Zwerge immer auf den Riesen Nietzsche; Nietzsche mit seinem heiligen Ernst, 175

Der Begleitbrief ist abgedruckt in: C. M. Ein Leben in Briefen. Hg. v. Margarete Morgenstern. Insel 1952. Wiesbaden, S. 65; s. ebd. den Erklärungsversuch Morgensterns in dem Brief vom 1 0 . 1 1 . 1 8 9 6 an Herrn Gauß, S. 88. Wie tiefgehend und anhaltend der Einfluß Nietzsches auf ihn gewesen ist, erhellt besonders aus folgenden Briefstellen in dem genannten Werk: S. 69 (1895), 90 f. (1897), 109 (1899), 122 f. (1901), 128 f. (1901), 136 ff. (1902), 201 (1906), 257 (1907), 326 (1908). Die erste Erwähnung Nietzsches erscheint aber schon in einem Brief v o m 3 0 . 1 0 . 1 8 9 3 an Marie Goettling; Morgenstern, Christian (München 6. 5.1871 — Meran 31. 3.1914).

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der jedes von ihm gesprochene Wort adelte und dieser Meister des feinen Taktes, des vornehmen Geschmacks. " 1750 233 Zerbst, Max, Nietzsche's christliche Täuschungen. Eine Studie. (NDRs 6. Jg., H . 7 v. Juli 1895, S. 682—694). Verfasser findet in Nietzsches „.Psychologie des Erlösers' eine Auskunfts-Quelle ersten Grades für die Beurteilung der intimsten Geistesnatur Nietzsches". „Aus dem Instinkt des homo religiosus" sei Nietzsche das Bedürfnis gekommen, „sich mit allen großen Fragen des Lebens, der Kultur und Geschichte, in Form eines typischen Heros oder Anti-Heros abzufinden", doch sei dieser „religiöse Instinkt" sein „Verhängnis, sein Denker-Verhängnis" auch geworden, denn der Erfolg des „Zarathustra" ließe sich auch so erklären: „Der Übermensch", „Der Wille zur Macht" und „die ewige Wiederkunft" bieten „eine vollgültige ErsatzWelt" für „Gott", „Freiheit", „Unsterblichkeit". In seiner Beurteilung des Römerreichs habe sein „Todhaß gegen das Christentum den großen Psychologen... zu einer exakt nachweisbaren tendenziösen Geschichtskonstruktion und Wirklichkeits-Entstellung verführt". Das „unglückseligste Gespenst im Reiche Zarathustras, ,Der Wille zur Macht'", habe ihn zu der Überschätzung des „imperium Romanum" verleitet und verkennen lassen, daß anstatt diesem Reich den Todesstoß gegeben zu haben, das Christentum dessen „Erbschaft angetreten" habe. Zum Schluß streift er Nietzsches „Welt-Idyll des Buddhismus" und den darin enthaltenen „nicht zu unterschätzenden orientierenden Wink über den Autor selbst". 234 Hartmann, Eduard von, Bemerkungen über Friedrich Nietzsche. (Geg 1895, S. 149—152). Der positive Gedankenkern in Nietzsches Philosophie sei sehr arm und eng, werde aber in den „verschiedensten Wendungen immer neu variiert". Diese „Armuth wäre in einer methodischen und systematischen Darstellung sofort zu Tage getreten und hat sich nur hinter einer aphoristischen Geistreichelei verbergen können". Der Ausgangspunkt Nietzsches sei und bleibe Schopenhauers „Wille zum Leben" ; in erkenntnistheoretischer Hinsicht habe er sich an Feuerbachs Sensualismus angelehnt, in seiner Verspottung der Wahrheit und seinem Skeptizismus folge er nur einem Zuge der Zeit, in seiner Cultur der Souveränität des Ichs aber sei er lediglich ein Jünger Max Stirners. Er sei offenbar „weiblich geartet und wartet manchmal wie eine Salondame mit amüsanten oder chocanten kleinen Malicen i7sa

y. B., Ein Leben für Kunst und Wissenschaft. Hg. v. Dora Freifrau v. Bodenhausen-Degener. Diederidis. (Düsseldorf/Köln 1955), S. 66 f.; einige Monate später schrieb er an denselben: „Bitte lehnen Sie bloß Nietzsche nicht ab, weil er den Antichrist geschrieben hat. Wir brauchen Nietzsche; er ist wirklich unser Goethe, und für midi ist er mehr." Ebd., S. 117; s.a. 117 f. (über Nietzsche und Shakespeare), 130 (Nietzsche und Bismarck), 138, 140 (und Ibsen), 151, 203 f. (über die „Geburt"), 254 (Nietzsche als Landschafter), 263—275 („Um Nietzsches Erbe"), 304, 306 (im Briefwechsel mit Pannwitz) ; Bodenhausen, Eberhard von (Wiesbaden 12.6.1868 — Hollsteitz 6.5.1918), seit 1891 im Verwaltungsdienst, Bekanntschaft mit u. a. Dehmel, Bierbaum, Przybyszewski, Holz und von Liliencron, Mitbegründer der Zeitschrift „Pan", seit 1897 in der Industrie tätig, 1906—1916 bei Krupp, zuletzt im Aufsichtsrat der Disconto-Bank.

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auf oder verfällt wie ein zeterndes Fisdiweib in wüstes Gebelfer und überschnappendes Gekeife". Aber obwohl der Verfasser es komisdi findet, daß gerade „Demokraten, Sozialisten, Kommunisten, Kollektivisten und Anarchisten sich auf ihn stützen wollen", will er auch Zeichen bemerken, daß „das Publikum es müde wird, den manierierten Stil Nietzsches mit seinem ungesunden Pathos und seiner undeutsdi gezwungenen Stellung der Wörter im Satze sich nodi länger von nachahmungsfertigen Feuilletonisten vorführen zu lassen".176 234 a Diese Gedanken wurden im wesentlichen mit in Nr. 119 a verarbeitet, S. 34 ff., 56, 57 f. u. 61—69. 235 Reuter, Richard (Naumburg a. d. Saale), Ein Besuch bei dem jungen Nietzsche. (Kr 2. Jg., 1895, S. 1275—1281). Als Naumburger und ehemaliger Pfortenser, obwohl „um vier oder fünf Jahre älter" als Nietzsche, habe er „das wirkliche Vergnügen gehabt", mit der Schwester „von klein auf" zu verkehren. Erwähnenswert ist seine Bemerkung, daß Nietzsche schon damals, im Sommer 1876, als Haupt einer Gruppe meist jugendlicher Genossen, die aber nicht näher beschrieben wird, betrachtet worden sei: „ . . . als ein großes Licht der Zukunft, als ein bahnbrechender Genius und als Vorkämpfer für eine neue Philosophie." Nietzsches damalige Abkehr und Eintritt in eine „zweite Periode" will der Verfasser zum Teil aus politischer Enttäuschung herleiten und zum anderen als „unter ganz augenscheinlicher Einwirkung Lagardes" vor sich gegangen wissen. Nietzsche habe ihm einmal beim Abschied einen Aufsatz Lagardes mitgegeben; er will sogar „in bezug auf den Stil, in dem die Werke der zweiten Periode geschrieben sind, in Nietzsche geradezu den Schüler Lagardes" sehen. Aber auch in bezug auf „Sache und Inhalt" sei die Einwirkung Lagardes auf die spätere Entwicklung Nietzsches unverkennbar. Der betreffende Aufsatz Lagardes sei eine der Abhandlungen in dessen „Deutschen Schriften" gewesen. 236 Grupp, Dr. G., Fried. Nietzsche's Geistesentwicklung und Geistesphilosophie. (HBKD 106, N r . 11/12,1895, S. 823—831, 865—873). Gleich anfangs bezeichnet er Nietzsche als den „in weitesten Kreisen gelesenen, bekannten und gefeierten Philosophen der Gegenwart" und stellt ihn als „Modephilosophen" Voltaire an die Seite. Nietzsche sei ein durch Schopenhauer hindurchgegangener Heine, da er „schwerfällig, düster und dunkel geworden". „Gegen Nietzsdies Satanismus ist alles bisher Dagewesene Kinderspiel." Er sieht hierin „das Ende des Liberalismus". Doch stecke Nietzsche auch mit vollen Wurzeln im Boden der Zeit, „herausgewachsen aus den Strebungen und dem Drange des ausgehenden Jahrhunderts, entspricht er den herrschenden Bedürfnissen". S.a. seine Worte über Nietzsche in dem Aufsatz: Der Anarchismus (Geg 1897, N r . 1, S. 2). Von Carlyles „Heroencultus" über Stirner, der nodi in dem Wahn befangen gewesen sei, die Individuen würden von ihrer unbeschränkten Freiheit „bloß einen friedlichen und freundschaftlichen Gebrauch" machen, kommt er auf Nietzsche, der „diese Illusion zerstört" habe. „Stirner und Nietzsche werden künftig eine ähnliche Bedeutung für die Anarchisten haben, wie Marx und Engels für die Socialdemokratie gehabt haben und nodi h a b e n . . . In diesen beiden Denkern hat sich die klare Herausstellung und theoretische Durchbildung des anarchistischen Princips vollzogen."

1895 Elisabeth Förster-Nietzsche

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237 Dehmel, Richard, Lebensblätter. Gedichte und Anderes. Bln. 1895. Vlg. d. Genossenschaft PAN. 1 Bl., 172 S., 1 Bl. Anführenswert ist das Werk der Vorrede wegen, in der Dehmel den ausgefallenen Versuch unternimmt, Nietzsche und Lassalle: „zwei Gegenwartserscheinungen von stärkster Sonderwirkung auch einmal kulturoganisch zu würdigen." (S. 21—27). 238 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Das Leben Friedrich Nietzsche's. l . B d . Lpz. C. G. Naumann. 1895. 3 Taf., VIII, 369 S., 3 BU. ( = Vlgs.-anz.), enthält auch 4B11. Noten ( = Mondschein auf der Pußta, Das Kind an die erlosdiene Kerze) und 1 Faks. ( = Brief an die Mutter). Nietzsches Leben aus der Sicht der Sdiwester, beginnend mit den Urahnen und bis zum Abschied Nietzsches von Naumburg und Leipzig und seiner Berufung nach Basel, April 1869. Zum größeren Teile bestehend aus Aufzeichnungen Nietzsches, seinen Briefen an Familienmitglieder (Mutter, Schwester, Tante) und Freunde (W. Pinder, C. v. Gersdorfï, E. Rohde), Gedichten, Gesprächen u. a., meist im Erstdruck. Im Anhang befinden sich weitere Aufsätze und Aufzeichnungen, jedoch ohne verbindenden Text, die, laut Angabe, von Dr. E. von der Hellen 177 und Dr. Fritz Koegel ausgewählt und zusammengestellt wurden. 239 Immisch, Otto, Das Leben Nietzsche's. (B1LU 1895, S. 715 ff.). Eine anerkennende Besprechung der Lebensbeschreibung (Nr. 238). 239/1 Fokke, Arnold, Friedrich Nietzsche's Jugend. Geg Bd. 48, Nr. 48, 1895, S. 340 ff.). Bemerkenswert an dieser durchaus lobenden Besprechung des ersten Bandes der Lebensbeschreibung (Nr. 238) ist, daß „dem Schreiber dieser Zeilen von einer Dame, die mit dem Philosophen Jahre lang in intimem freundschaftlichen Verkehr gestanden hat, unter anderen Mitteilungen auch die gemacht worden ist, daß in den Beziehungen zwischen den Geschwistern schon seit längerer Zeit eine Erkaltung eingetreten wäre, und daß Nietzsche lange vor seiner Erkrankung der Schwester die innere Berechtigung, das heißt also die Befähigung abgesprochen hätte, aus seinem Leben das zu veröffentlichen, was seinem Wirken und seiner Bedeutung gerecht zu werden vermöchte . . . " 240 Schmidt, P. W. (Basel), Friedrich Nietzsche's „Antichrist". (PKED 42. Jg., Nr. 29 v. 17. 7. 1895, Sp. 673—682).1™ Besprechung des „Antichrists" anläßlich dessen Veröffentlichung im achten Band der Gesamtausgabe, in der der Verfasser ein großes Einverständnis kundtut: Nietzsche habe „der geschichtlichen Wahrheit über den Nazarener mehr genähert, als viele der eifrigsten und eiferndsten großen und kleinen Apologeten". Er geht dann dazu über, Nietzsche abzufertigen, wobei auch Seitenhiebe gegen J. V. Widmann ausgeteilt werden. Aber der Protest gilt weniger „dem schwer 177

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Hellen, Eduard von der (Gut Wellen b. Hannover 27.10.1863 — Stuttgart 17.12. 1927), Schriftsteller und Literaturwissenschaftler, war als Archivar des Goethe und Schiller Archivs in Weimar an der Einrichtung des Nietzsche-Archivs beteiligt. Schmidt, Paul Wilhelm (1845—1917), Neutestamentier, Privatdozent in Berlin, seit 1876 Professor in Basel.

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heimgesuchten Verfasser", als vielmehr der Nietzsche-Gemeinde, deren Begehrlichkeit schuld daran sei, daß solch ein Antchirist veröffentlicht werden könnte. Nietzsches Glaubensbekenntnis findet er eher im Ästhetismus als im Antidiristentum. 241 Schubring, Paul, Friedrich Nietzsche. (CW 9. Jg., Nr. 40 f., 1895, Sp. 959—962, 987—990). Verfasser glaubt es nicht wie sonst „unsere christlichen Blätter" machen zu sollen, nämlich Nietzsche mit einigen Kraftwörtern aus dessen eigenen Werken, dann „drei Ausrufungszeichen" und „Hände-über-den-Kopf-Zusammenschlagen abzutun". Er will vornehmlich seine Leser mit Nietzsche als dem „zweifellos bedeutendsten Gegner, den wir vor uns haben, — einem hodibeanlagten Gegner, — der uns noch ordentlich zu schaffen machen wird", bekannt machen. Zu diesem Zweck zieht er das eben erschienene Werk der Schwester heran (Nr. 238). Sein Unternehmen läuft dann auf eine Besprechung der Lebensbeschreibung, die sich in einer Inhaltswiedergabe erschöpft, hinaus. 242 Stoeving, Curt, Friedrich Nietzsche. (Pan 1. Jg., 3. H . v. Sept. 1895, erstes Blatt). Ein Bildnis des Philosophen. 243 Moos, Paul, Friedrich Nietzsche als Wagnerianer. (AMZg 22. Jg., N r . 40 ff. v. 4., 11. u. 18.10.1895, S.499f., 517 f., 533 f.). „Krankhafte Überreiztheit" habe Nietzsche Wagners Musik „rein physisch nicht mehr ertragen lassen", auch habe seine Verehrung wie seine nachmalige Gegnerschaft schon überhaupt „jeder gesunden und festen Basis entbehrt". Sogar in bezug auf die „vierte Unzeitgemäße" fragt der Verfasser, „ob Nietzsche nodi gesund gewesen" sei, als er das alles geschrieben habe. Nur in Einzelheiten werde Nietzsche dem Meister gerecht. 244 Necker, Moritz, Nietzsche's Jugend. (NFPr Morgenbl. N r . 11182 v. 11. 10.1895, 3 S.). Eine Besprechung der Lebensbeschreibung (Nr. 238), die mit der Behauptung eingeleitet wird: „Es gibt meines Wissens keinen anderen Philosophen, bei dem die Kenntniß seines Lebens zur vollen Würdigung seiner Schriften so unentbehrlich ist, wie Friedrich Nietzsche." AM Friedrich Nietzsche: Heraklit. (Z 5.10. 1895, 13. Bd., S. 24—33). Erstdrude der Abschnitte 5—8 aus dem von Nietzsche nicht selbst veröffentlichten Werke „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen". A N Ein Brief Friedrich Nietzsches über den Vortrag antiker Verse. Mitgetheilt u. erläutert v. Dr. Carl Fuchs. (Zeit Nr. 53 ff. v. 5., 12. u. 19.10.1895,' S. 8 ff., 24 ff., 39 ff.). Verfasser benutzt den undatierten Brief Nietzsches an ihn besagtes Thema betreffend, um seine eigenen Theorien über Metrisches und Rhythmisches zu entwickeln. Zwischendurch erzählt er einiges über seine Bekanntschaft mit Nietzsche und bringt zum Schluß einen zweiten Brief Nietzsches an ihn vom 14. April 1888. 245 Duboc, Julius (Dr. phil.), Jenseits vom Wirklichen. Eine Studie aus der Gegenwart. Dresden 1896. Hellmuth Heukiers Vlg. VII, 148 S.1780 ΐ78α Duboc, Julius, geb. am 10.10.1829 zu Hamburg, philosophischer Schriftsteller.

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Das Buch enthält vier Abhandlungen: Die Bebel-Bibel, Kunstsiechthum und Gesundheit, Gleiche Bildung für Ungleiche, Friedrich Nietzsche's Übermenschlichkeit, letztere auf S. 110—144. Verfasser versucht, den Erfolg Nietzsches zu erklären, und findet, daß der Pessimismus eines Schopenhauer, Bahnsen und Ed. von Hartmann, da er „unverdaulich" und „nicht zu assimiliren" gewesen, in den „ethischen Materialismus umgeschlagen" sei, dessen „Praxis" sich in der „Gründerperiode" dargetan habe. Zu dieser Praxis „der Genußsudit und Ungebundenheit" habe Nietzsche „die Theorie" geliefert. Dazu habe er „die Bohème und das in derselben gährende hypergeniale Stück Anarchie gewissermaßen in ein philosophisches System" gebracht. Von der „richtigen Würdigung des Gewissens" als „eines mit elementarer Ursprünglichkeit wirkenden Vermögens" müsse der Einspruch gegen Nietzsche ausgehen. Von Stirner unterscheide sich Nietzsche trotz mancher Berührungspunkte durch seine Verachtung der Menschenliebe, zu der sich jener ausdrücklich bekannt habe. Zum Schluß führt er Stein (Nr. 155 a), den er öfters erwähnt, über das Slawische an Nietzsche an und verweist „die blinden deutschen Bewunderer Nietzsches" auf „die große Gestalt unseres kerndeutschen Luthers". 245 a Ders., Anti-Nietzsche. Dresden 1897. Hellmuth Heukiers Vlg. 47 S. ( = Erweiterter Separat-Abdr. obiger Abhandlung über Nietzsches „Ubermenschlidikeit", neu sind das Vorwort, die ersten vier Zeilen sowie Anmerkungen auf S. 15 und S. 34—40 oben). Der Zusatz (S. 35—40 oben) befaßt sich mit dem „Antichrist" und läuft in eine Abweisung von Schrempfs Versuch, „die Verekelung Nietzsches am Christenthum rein aus dessen ästhetischer N a t u r abzuleiten", aus. Nietzsche sei eben doch dem „bacchantischen Taumel der wieder zum Leben erwachten ,Wurzel unseres Seins'", der auf „den Pessimismus Schopenhauers und dessen Kastration des Willens" gefolgt sei, zum „Opfer gefallen". 246 Biese, Alfred (Schleswig), (DLZg 16. Jg., N r . 43 v. 26.10.1895, Sp. 1351 f.).«» Bei dieser Besprechung von Dubocs „Jenseits vom Wirklichen" (Nr. 245) streicht der Verfasser den vierten Abschnitt des Buches als den „bei Weitem interessantesten" heraus, glaubt aber, daß die Frage, ob Nietzsches „Theorie aus seiner allmählich sich entwickelnden Verrücktheit stamme, . . . unschwer zu entscheiden" sei. 247 R (vermutlich der Herausgeber der Zeitschrift Pfarrer D. Martin Rade), Unter Verschiedenes: Nietzsches Mutter. (CW N r . 46, 1895, Sp. 1106). In dieser Notiz gibt die Redaktion das Schreiben eines Pfarrers Schenkel (vermutlich der Oheim Nietzsches Moritz Schenkel, s. S. 11), Herausgebers des Sächsischen Kirchen- und Schulblatts, bekannt, das zu Schubrings Kennzeichnung der Mutter als Anhängerin eines engherzigen Christentums (Nr. 241) Stellung nimmt. Die Mutter sowie alle Familienmitglieder seien nicht engherzig gewesen, und niemand aus der Familie oder Verwandtschaft habe auf Nietzsches Entwicklung Einfluß gewonnen. m

Biese, Alfred (Putbus auf Rügen 25. 2. 1856 — Bonn 7. 3. 1930), Literaturhistoriker.

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1895 Rainer Maria Rilke

248 Fudis, Georg, Friedridi Nietzsche und die bildende Kunst. ( K F A 11. Jg., H . 3, 5, 6 v. 1., 15. u. 2 2 . 1 1 . 1 8 9 5 , S. 33—38, 71 ff., 85—88). Mit bildender Kunst meint der Verfasser f a s t ausschließlich die Malerei und hierin vornehmlidi die Landschaftsmalerei. Er befaßt sich mit Nietzsches Ästhetik und nennt J a c o b Burckhardt, den er mehrmals anführt, darin seinen Vorläufer. Die Ästhetik sei die köstliche kleine Insel in der allgemeinen Lehre Nietzsches. Von ihm seien tausend künstlerische Fragen neu, zum ersten Male wissenschaftlich, beantwortet worden. Über Rosetti und die Präraffaeliten ziemlich weit ausholend zielt der Verfasser zuletzt auf Max Klinger und Arnold Böcklin, der Ähnlichkeit wegen, welche der Künstler, der Dichter, der Landschafts- und Menschenmaler Nietzsche mit beiden gehabt habe.

Rainer Maria Rilke muß Nietzsches Werk spätestens 1895 kennengelernt haben, denn in seinen „Böhmischen Schlendertagen" fällt dessen erste Erwähnung in seinem Werke: „Ich gehöre zu jener Gruppe von Menschen, die Nietzsche die .historischen' nennt. — So kehre ich denn, weil mich die Gegenwart frieren macht, den Blick zu einer sommerwarmen Vergangenheit zurück." 1 8 0 249 Andrejanoff, Viktor von (Charlottenburg), Friedrich Nietzsche. (Kr 2 3 . 1 1 . 1 8 9 5 , S. 2245 ff.). Eine dreiteilige Gedankendichtung zu Ehren Nietzsches als „Zarathustra", „Antichrist" und „Dionysos". 250 Tille, Alexander, Von Darwin bis Nietzsche. Ein Buch Entwicklungsethik. Lpz. C . G . N a u m a n n 1895. X S . , 1. Bl., 241 S., 1 Bl.

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R . M . R., Sämtl. Werke. V. Bd. Insel Vlg. (Ffm.) 1965, S.294; nadb den Anmerkungen ebd., BdVII, 1966, S. 1318, zuerst abgedruckt in: Jung-Deutsdiland und Jung-Elsaß. 3. Jg., Nr. 21 u. 22 v. 15. 11.1895, S. 180 f. Rilke, Rainer Maria (Prag 4.12.1875 — Val-Mont b. Montreux 29.12.1926); S.a. aus dem Jahre 1900: Marginalien zu Friedridi Nietzsche. „Die Geburt der Tragödie", ebd., Bd. VI, S. 1163—1177, worin Rilke die Gedanken Nietzsches meist weiterspinnt und nur gelegentlich daran Kritik übt; nur einmal stellt er sich zu der Erscheinung Nietzsche: „Es scheint mir, daß der Zufall Wagner Schuld hat, daß N . seine Erkenntnisse und Hoffnungen, die zum deutschen Wesen so wenig passen, gleich auf diese nächste (zu nahe!) Gelegenheit anwandte; dadurch wird das letzte Drittel des Buches stark beeinträchtigt. Dieser Schaden ist viel größer als der Gebrauch Kant'scher und Sdiopenhauer'scher Terminologie. Wenn besonders Schopenhauers Auffassung der Musik viel dazu beitrug, N.'s Absichten zu fördern, so nimmt die sofortige Anwendung alles eben Entdeckten auf die Schöpfungen Wagner's das Aussehen einer Enttäuschung an; man w i l l gar nicht, daß Alles dieses Hohe, Verheißene sich s c h o n erfüllt haben soll, vor allem glaubt man, daß der Verfasser des Buches, selbst geeignet ist (als D i c h t e r ) den Versuch zu machen zu einer .Auferstehung des Dionysos'." (S. 1174 f.) Nadi den Anmerkungen, ebd., S. 1521, gab es zu den „Marginalien" eine „Fortsetzung auf Blatt M", dodi sei dieser „Sdiluß der Betrachtungen als verloren anzusehen". S. f. die bemerkenswerte Erwähnung aus dem Jahre 1902: „Das Suchen der Wahrheit. Scheint das nicht vor allem und ganz besonders die Pflicht des Philosophen zu sein, war das nicht das treue und tägliche Streben aller Weisen von Plato bis auf Spinoza und Kant und Nietzsche?" (Ebd., Bd. V, S. 530).

1895 Der Nadilaß

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Dem Verfasser geht es um den Ausbau einer „Darwinistischen Sozialethik —, deren Einrichtungen der Ausdruck der naturgegebenen Verhältnisse der Menschen zueinander sind und die als praktische Wirtschaftskunst des Volksstandes lebendige Früchte trägt". Gerade in Nietzsches „Zarathustra" sdieint ihm „der große leitende Gedanke der Entwicklungslehre Darwins zum ersten Male rein und ungetrübt durch herrschende sittliche Vorstellungen auf die heutige Menschheit und die künftige Menschheitsentwidklung angewandt". Die Versuche, die „moderne christlich-human-demokratische Ethik" mit dem von der Naturwissenschaft entworfenen Weltbilde in Einklang zu bringen, reichten von Darwins Ja zu Nietzsches Nein: „Von Darwin bis Nietzsche reicht das Stück moderner Geistesgeschichte, das sich mit diesem Problem beschäftigt." Er verfolgt dann die Entwicklung der ethischen Gedanken und Lehren hauptsächlich von Bentham über Leslie Stephen, Wilhelm Wundt, Spencer, Fiske, Williams, Harald HöfFding, August Bebel, Balfour, Huxley, Morison, Wilhelm Jordan, Ernst Häckel, Bartholomäus von Carneri, C. Radenhausen, Ludwig Büchner zu Nietzsche, dem „konsequentesten Entwicklungsethiker". Ihm ist erst Nietzsches Ethik echter „evolutionistischer Utilitarismus". Hierzu in Betracht gezogen werden seine letzten drei Werke: „Jenseits", „Genealogie" und „Götzendämmerung" sowie „Zarathustra", sein „schönstes" Buch. Beeinilußt sei Nietzsche vor allem von Darwin selbst und von Rolphs „Biologischen Problemen", nur habe er, „seinem eigenen Volke halb entfremdet", nodi nicht daran gedacht, daß „jeder Mensch zuerst einem Volke angehört und daß niemand der Menschheit besser dienen kann, als indem er seinem Volke dient". Der letzte Abschnitt im wesentlichen schon in Nr. 195; weitaus mehr nodi entsprechen sich Verfassers Abhandlungen „Charles Darwin und die Ethik", „Deutsche Darwinisten als Sozialethiker" und „Die Überwindung des Mathusianismus" (Z 1894, S. 302—314, 510—521, 155—164) und die Abschnitte eins, fünf und sechs. 251 Moos, Paul, Friedrich Nietzsche als Antiwagnerianer. (AMZg 22. Jg., Nr. 48 f. v. 19. 11. u. 6. 12. 1895, S. 623 f., 637 ff.). „Musikalische Narrheit, Thorheiten, kindisch, Tollheit" sind die Worte, mit denen der Verfasser die Äußerungen Nietzsches über Wagner kennzeichnet. „So ganz im Unrecht" möge Nietzsche nur dort nicht sein, wo er gegen „die schriftstellerische Tätigkeit" Wagners etwas vorbringe.

Es erschienen um diese Zeit auch die ersten Bände, die dem Nachlaß gewidmet waren: G I X Friedrich Nietzsche / Werke, Band I X . / Schriften und Entwürfe / 1869 bis 1872: / Homer und die classische Philologie. / Nachträge und Vorarbeiten zur Geburt der Tragödie. / Empedokles. Homer als Wettkämpfer. / Uber die Zukunft unserer Bildungsanstalten. / Bayreuther Horizontbetrachtungen. / Das Verhältnis der Schopenhauerischen Philosophie / zu einer deutschen Cultur. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1896. 2 Bll., XLIS. ( = Inhaltsverzeichnis u. Vorberichte des Herausgebers Fritz Koegel), 2 Bll., 385 S. 8°. ( = Nietzsche's Werke. Zweite Abtheilung. Bd. IX).

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1895 Der Nadilaß

G I X a Dass. 1903. ( = 2., völlig neu gestaltete Ausgabe. 1. u. 2. Tsd.), XXIS. ( = Inhaltsverzeichnis, Vorbericht v. E. Förster-Nietzsche u. Vorwort v. Ernst Holzer), 2 Bll., 474 S., 6 Bll. ( = Vlgs.-anz.). 8°. S. 477—474 = Nachberichte von Ernst Holzer u. August Horneffer, chronologisches Verz. u. Anmerkungen. Der Band war im April 1903 ausgedruckt. G X Friedrich Nietzsche / Werke, Band X. / Schriften und Entwürfe / 1872 bis 1876: / Die Philosophie im tragischen Zeitalter / der Griechen. / Über Wahrheit und Lüge im aussermoralisdien / Sinne. Der Philosoph. / Die Philosophie im Bedrängniss. / Nachträge und Vorarbeiten zu den Unzeit- / gemässen Betrachtungen. / Prometheus. / Einzelne Gedanken und Entwürfe. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1896. 2 Bll., IVS., 2 Bll., 478 S. 8°. (S. 453—478 = Nachberichte des Herausgebers Fritz Koegel). ( = Nietzsche's Werke. Zweite Abtheilung. Bd. X). G X a Dass. 1903. ( = 2., völlig neu gestaltete Ausgabe. 1. u. 2. Tsd.) VIS., IBI., 528 S., 4 Bll. ( = Vlgs.-anz.; S. 497—528 = Nachberichte v. Ernst Holzer u. August Horneffer, chronologisches Verz. u. Anmerkungen). 252 Mayreder-Obermayer, Rosa (Eremo), Der Klub der Übermenschen. (NDRs 6. Jg., H . 12 v. Dez. 1895, S. 1212—1228).1»1 Eine Erzählung über das Leben von sieben Wiener Studenten in den ersten Semestern und deren Gründung eines „Immoralisten-Klubs". Die Bezeichnung „Friedrich Nietzsche-Verein nach Analogie der Richard Wagner-Vereine" wird aus dem Grunde abgelehnt, daß die Mitglieder keine Nachbeter sein möchten. Auf der ersten Seite der „Tafel der Satzungen" steht: „Nichts ist wahr, Alles ist erlaubt." 253 Flaischlen, Caesar, Zur modernen Dichtung. Ein Rückblick. (Pan 1. Jg., 4. Η . v. Dez. 1895, S. 235—242; über Nietzsche S. 240 f.). Der Rückblick richtet sich in der Hauptsache auf die vorangegangenen 15 Jahre; nach Würdigung Zolas und Ibsens wendet sich der Verfasser Nietzsche zu: „Eine neuentdeckte Welt that ihre Thore auf, und wenn man ihre erhabene fremde Großartigkeit vorderhand auch nur mit dem Instinkt verstand — und wenn man sie auch auf langhinaus noch kaum anders verstehen wird und wenn es vielleicht auch noch Jahrzehnte dauern wird, ehe man ihre Abgründe und ihre Gipfel erstiegen haben wird — so fühlte man überall doch den Herrn und Sieger, . . . dessen Sprache allein schon die ganze alte Philosophie allmählich unmöglich machen wird... Die letzten Jahre der Entwicklung gehören fast ausschließlich ihm." 254 Riehl, A(lois) (Freiburg i. B.), Friedrich Nietzsche. Die Schriften und die Persönlichkeit. (Wh Anfang Dez. 1895, S. 129—140).182 Aus der Aufzählung der Schriften ragt nur die „erste Unzeitgemäße" hervor, sie zähle „zu den besten Erzeugnissen unserer polemischen Litteratur". Nietzsche ist ihm „von den Schriftstellern der ernsten Gattung der gelesenste", der Einfluß 181

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Mayreder-Obermayer, Rosa (Wien 30.11.1858 — ebd. 19.1.1938), Malerin, Schriftstellerin, Frauenrechtlerin. Riehl, Alois, geb. am 27.4.1844 zu Bozen, nach akademischer Lehrtätigkeit in Graz, Freiburg i. B., Kiel und Halle seit 1905 an der Berliner Universität.

1896 Josef Hofmiller/Kurt Hildebrandt/Georg Kaiser

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seines Stiles auf die Vertreter der „.Moderne' in unserer Litteratur ist unverkennbar". Doch sieht der Verfasser in dem Aphorismus, der Sentenz, „wenn sie als Regel, nicht als Ausnahme gebraucht wird, den Stil der décadence", und Nietzsche ist ihm zum Schluß „eigentlich kein führender Geist". 255 Hofmiller, Josef (Freising), Nietzsches Lehrjahre. Nach neuen Dokumenten. (Z 13. Bd., 28. 12.1895, S. 602—605).»» Bespricht die beiden ersten Nachlaßbände sowie den ersten Band der Lebensbeschreibung (Nr. 238) und findet, indem er sich entschieden gegen die Darstellung der Lou Andreas-Salomé (Nr. 185) wendet, daß nun endlich „die Legende von dem aus einem Extrem ins andere springenden, sich in intellektuellen Martern genießenden, nur im Raffinierten und Exaltierten zufriedenen Décadent à la Dostojewski zerstört" sei. In selbstgegründeten Lesevereinen geriet manch junger Mensch in den Bannkreis Nietzsches, so ging es höchstwahrscheinlich Georg Kaiser und Kurt Hildebrandt: „Im Sappho Verein wurde jedoch nicht nur gelesen. Wichtig für die Entwicklung Kaisers mag vor allem ein Nietzsche-Vortrag gewesen sein, den Kurt Hildebrandt, der nachmalige Platon-Ubersetzer und Schriftsteller, hielt. Es ist auffallend, daß das spätere Schaffen Kurt Hildebrandts vor allem drei Gestalten gewidmet war, dié auch im Werk Kaisers eine wichtige Rolle spielten: Nietzsche, Plato und Sokrates. Zwar fand der Nietzsche-Vortrag bei Kaiser zunächst keine sichtbare Resonanz, was jedoch bei seiner verschlossenen Natur noch nichts besagt. Nach der Rückkehr von Amerika (1901) führte er jedenfalls mit einem anderen Sapphofreund, Wilhelm Andreae, lange Gespräche über Nietzsche."1830 256 Meyer, R. M„ (JbNDL 5. Bd., 1896, IV 5:158—181). Bespricht die heransteigende „Hochflut" der Nietzsche-Literatur des „Berichtsjahres 1894", darunter das Werk von Lou Andreas-Salomé (Nr. 185) im besonderen. 257 Ziegler, Th., (JbNDL 5. Bd., 1896, IV 5 a: 33—42). Bespricht unter dem Gesichtspunkt „Philosophie und Theologie des 18./19. Jahrhunderts" weitere Nietzsche-Literatur und klagt, daß „auch in diesem Be183

Hofmiller, Josef, (Kranzegg b. Immenstadt/Allgäu 26.4.1872 — Rosenheim 11.10. 1933), studierte 1890/91 zwei Semester Philosophie in München, „wobei ihn — mehr als die Vorlesungen des berühmten Hertling — die Lektüre Feuerbachs und Nietzsches fesselten", wechselte dann zur Theologie und darauf zur Neuphilologie über, schon 1895 Präfekt am Realschulinstitut in Freising, promovierte er aber erst 1901, später Gymnasiallehrer bzw. -professor in München und Freising, zuletzt Oberstudienrat; wurde spätestens schon im Winter 1891 mit dem Werke Nietzsches bekannt, s. J. H. Briefe 1.T1.: 1891 bis 1921. Ausgew. u. hg. v. Hulda Hofmiller. Karl Rauch Vlg. Lpz. (1940 = J.Hs. Schriften. 5. Bd.), S. 14; weitere Äußerungen ebd., S. 20, 24, 26, 28, 31 f., 43 f., 72 f., 81, 141 f., 192, 199; sowie 2. Tl. 1922—1933. Dessau (1941 = Schriften 6. Bd.), S. 113, 117, 118, 177, 242, 245, 268 f., 275, 277 S., 281 f., 286 f., 295, 298 f., 303, 307 f., 310 f., 314 f., 318, 320, 323—327, 331, 334 f. („Audi ich hätte einmal Herausgeber am Nietzsche-Archiv werden sollen. M. G. Conrad sollte midi keilen. Es wird 1896 gewesen sein. Aber ich war damals schon mißtrauisch.").

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1896 Ludwig Klages

richtjahr die Begeisterung für Friedrich Nietzsche immer noch zunimmt". Allein den Aufsatz von Simmel hebt er lobend hervor. Von einem eigenartigen Hilfeversuch um den kranken Nietzsdie, der freilich nicht über die Vorbereitungsstufe hinaus gedieh, berichtet Ludwig Klages: „Nietzsche erkrankte in den letzten Tagen des Jahres 1888 und starb nach fast zwölfjährigem Siechtum 1900. Wenn sogar heute seine Krankheit zwar von den meisten, aber immer noch nidit von allen Ärzten als .atypische Paralyse' gedeutet wird, so war sie vollends 1896 in dichtes Dunkel gehüllt. Es k o n n t e sich allenfalls um Folgeersdieinungen einer furditbaren Erschöpfung handeln, hervorgerufen nach Auffassung Schulers nicht etwa nur durch übermäßigen Gebrauch von Schlafmitteln, sondern erst redit durch den sichtbaren und unsichtbaren Haß einer Zeitgenossenschaft, die durch seine Werkreihe Wunschbilder und Ordnungsformen tödlich befehdet sah. — Wie großes Gewicht zu jener Zeit Schuler dem Zarathustraweisen beimaß, erkenne man daraus, daß er wieder und wieder erwog, wie ihm zu helfen sei, um endlich zu dem Ergebnis zu kommen: wenn überhaupt, dann durch die Korybantiasis! Sobald ihm das feststand, machte er sich vertraut mit dem Überlieferungsstoff, änderte ab, nahm hinweg, tat hinzu gemäß den Aufschlüssen, die ihm durch Befragung seines Innern geworden waren, und betrieb fast zwei Jahre lang die Vorbereitung, freilich nur in — Gesprächen. Der Gründe, weswegen es darüber nicht hinauskam, sind mindestens drei: einmal pflegte er infolge eines noch zu berührenden Charakterzuges die p r a k t i s c h e n Schritte zur Verwirklichimg vom Nebenmensdien zu erwarten; sodann türmten sich je länger je mehr die Bedenken, ob es möglich sei, die für den kultischen Tanz seelisch geeigneten Jünglinge zu finden; endlich erschien es aussichtslos, die erforderlichen Mittel aufzubringen. So hätten z. B. die Rüstungen der Tänzer aus reinem Kupfer sein müssen, weil er vor allen Metallen diesem symbolischen Gehalt und magische Kraft beimaß. — Während Nietzsche wie so vielen freilich auch unserm Mystiker Gedankenwege zu neuem Leben gebahnt hatte, so schien doch dieses selbst, wenn audi minder wissensstark, andern Gestalten der Zeitwende

jeja Wolfgang Fix, Die Ironie im Drama Georg Kaisers. Diss. d. Univ. Heidelberg 1951, S. 12; Verfasser schöpft laut eigener Angabe viel aus mündlichen Berichten der Zeitgenossen; s.a. S. 11: „In den literarischen Vereinen ,Sappho' mit Georg Kaiser (von diesem und Hans Hildebrandt 1895 oder 1896 gegründet), .Shakespeare' mit mir selber und Wilhelm Waetzold, herrschte eine sehr hochgespannte geistige Stimmung..." (so nach Prof. Richard Hamann); vgl. noch S. 9 (1901), 22 (Besudle in Sils Maria), 41 ff. (Nietzsches Sokratesbild), 122 (Spuren Nietzsches in der „Jüdischen Witwe"") wie im allgemeinen S. 47, 85, 87, 99, 107, 147, 150, 158 f., 181, 188; über Nietzsches „Sokratesbild" sonst noch S. 160 f., 164, 166—173; vgl. audi nodi: Wolfgang Paulsen, Georg Kaiser. Die Perspektiven seines Werkes. Max Niemeyer. Tüb. 1960, S. 16 f., 103—109; s. a. neuerdings: H. W. Reichert, Nietzsche und Georg Kaiser, Studies in Philology. Bd. 61, 1964, S. 85—108. Kaiser, Georg (Magdeburg 25.11.1878 — Ascona am Lago Maggiore 4.6.1945), Dramatiker; Hildebrandt, Kurt (Florenz 12.12.1881 — Kiel 20. 5.1966), Philosoph und Psychiater,

1896 Wieder unter den Dichtern

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reiner und voller zuteil geworden." (Hierbei denkt der Verfasser an die Kaiserin Elisabeth von Österreich, der Schuler darauf sich zu nähern versuchte). 184 R u d o l f Kassner, d e r die beiden Semester 1895/96 an d e r philosophischen F a k u l t ä t der U n i v e r s i t ä t in Berlin verbrachte, schreibt ü b e r die Z e i t : „Treitschkes Vorlesungen dürfen f ü r mich als eine Art Vorbereitung f ü r Nietzsche gelten, wozu gleich bemerkt werden soll, daß damals um 1895 herum weder Lehrer nodi Schüler von Nietzsche viel mehr als den Namen w u ß t e n . . . Ich habe mich im Innern sehr lange gegen Nietzsches ,Willen zur Macht' g e w e h r t . . . Nietzsche ist ein Schicksalsmensch erster Ordnung, und so ist sein Buch: ,Der Wille zur Macht' ein Schicksalsbuch... Nietzsche ist der Mann der Weltwende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert, keiner kann neben ihm als das gelten, und so ist dieses eine Buch das einer Weltwende, sooft ich es aufschlage... Ich habe die ,Geburt der Tragödie' nie ganz einsehen können, . . . und doch ist es ein wundervolles B u c h . . . Ich habe Nietzsches Bücher der Konversion zum Freigeist ^Menschliches — Allzumensdilidies', ,Fröhliche Wissenschaft', ,Morgenröte' usw.) immer eher langweilig gefunden. ,Also sprach Zarathustra' formlos und in seiner Formlosigkeit direkt unglücklich... Je mehr idi den Wahnsinn in den nächsten, in den letzten Büchern, zu spüren meinte, um so aufmerksamer wurde mein Ohr, und um so wichtiger erschienen mir diese nächsten, letzten. Gleich von Anfang an. Damals, als ich sie in Göggingen in der Hessingschen Anstalt zu lesen begann. Welche U r sachen dieser Wahnsinn immer gehabt haben mochte im Physischen, im Zufälligen, im Arbiträren eines im Grunde gequälten Menschenlebens, er war schicksalhaft." 1 8 4 0 258 Deutsche Lyrik von Heute und Morgen. M. e. geschiditl. Einl. hg. v. Dr. Alexander Tille. Lpz. C. G. Naumann 1896. 1 Taf. (Nietzsche darstellend), LXXVIIS., 1. Bl., 183 S., 4 Bll. Herausgeber ist der Meinung, „erst das letzte Vierteljahrhundert, die Zeit des neuen deutschen Reiches, hat eine größere Anzahl neuer lyrisdier Ansätze gebracht". Das Buch enthält demzufolge „nur Dichtungen aus den Jahren 1869 bis 1895 und beschränkt sidi auf solche, die in irgend einer Weise f ü r das geistige Leben unserer Zeit bezeichnend sind". „Modern" seien die enthaltenen Gedichte entweder dem „Gegenstand", dem „Gesichtspunkt" oder der „Darstellungsweise" nach. Er meint frener, „die Entwicklung der modernen deutschen L y r i k . . . ist durch zwei geistige Mächte b e s t i m m t . . . : die reißenden Fortschritte der N a t u r 184

Alfred Schüler, Fragmente und Vorträge aus dem Nadilaß. M. Einf. v. Ludwig Klages. 1940. J. A. Barth. Lpz., S. 60 f. Über Nietzsches Einfluß auf Schuler sowie auf die Zeit im allgemeinen während der Jahre 1890—1896 s. ebd., S. 27 f., 33, 34, sowie die Erwähnungen Nietzsches in den Vorträgen Schülers auf S. 170, 244, 275. Schuler, Alfred (Main 22.11.1865 — München 1923), seit 1887 in München, wo er zunächst Jura, dann Geschichte, Kunstgeschichte und Archäologie jedoch ohne Abschluß studierte, mystischer Denker und Vortragender, mit Klages seit dem Herbst 1893 bekannt. 1840 R. K , Buch der Erinnerung. Rentsdi. Erlenbadi-Zür. (1954), S. 115—123; Kassner, Rudolf (Gr. Pawlowitz/Mähren 11.9.1873 — Sierre/Sdiweiz 1.4.1959), Kunstphilosoph, Essayist und Erzähler.

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1896

Wissenschaft und das Eintreten sozialer Probleme in den Mittelpunkt der allgemeinen Teilnahme". Nietzsche ist dem Herausgeber „ein Jordan vielfach verwandter und von ihm stark beeinflußter Geist", und Jordan sei es, der „die neue frohe Botschaft... des Darwinismus" als „ein Stück neue Weltanschauung" in die Lyrik eingeführt habe. Dieser habe erst in Nietzsche „einen eifrigen Leser und Schüler" bekommen und sei „dadurch das entscheidende Ereignis in der geistigen Entwicklung eines Philosophen, der noch bei Lebzeiten im stärksten Maße auf die Litteratur und vor allem auf die Lyrik gewirkt hat"; Hermann Conradis „Lieder eines Sünders" seien die „erste lyrische Sammlung, die Nietzsdies Einfluß auf die deutsche Lyrik zeigt", aber audi sein „Adam Mensch" sowie seine Flugschrift „Wilhelm II. und die junge Generation" zeigen „nur allzu deutlich" Nietzsches aphoristischen Stil. Den Nietzscheschen Einfluß findet er auch nodi bei Johannes Grosse, Richard Dehmel und Fritz Koegel. In der Anthologie sind neben Nietzsche (Mädchenlied, Richard Wagner und sechs Sprüche) mehrmals vertreten: Arno Holz, J. Hart, O. E. Hartleben, Reinhold Fuchs, Eduard Grisebadi, Th. Fontane, H. Conradi, Rudolf Baumbadi, W. Jordan, R. Dehmel, Alberta von Puttkammer, Heinrich Leuthold, O. J. Bierbaum u. D. v. Liliencron. Mit je einem Gedicht vertreten sind: Heinridi von Reder, Anna Klie, H. Löns, Georg Vogel, Otto Ernst, Heinrich Seidel, Wolfgang Kirdibadi, Gertrud Triepel, Ludwig Fulda, Ada Christen, Carl Frhr. v. Gumppenberg, Otto Bruhnsen, Paul Voigt, Josef Kitir, Hans Hopfen, M. Herbert, Robert Waldmüller, Karl Henckell, C. Flaischlen, Adolf Wilhelm Ernst, Robert Hamerling, Hermann Hango, Johannes öhquist, Maria Janitschek, J. G. Oswald, Hans v. Gumpenberg, Wilhelm Gitterman, Johannes Grosse, Arthur Fitger, Wilhelm E. Backhaus, Wilhelm Jensen, Arthur Pfungst, Franz Herold, Friedrich Adler, Rudolf Knussert und Fritz Koegel. In Hinsicht auf das vorhergehende Werk sind einige Bemerkungen von Alfred biese beachtenswert. 185 Er findet, daß bei den „Jüngstmodernen" „der Immoralismus Friedrich Nietzsdies die Modephilosophie geworden" sei, und stellt die Franzosen als die geistvollsten Vertreter des Immoralismus hin: auf deren und der alten Sophisten Schultern Nietzsche steht, den wir den ,Erzieher der Jüngstmodernen' nennen können. Auf ihn schwören sie; sein blendender Geist ist der Irrwisch, der sie in die Sümpfe lockte. Ein phänomenaler Genius, hat er sich selbst verzehrt, ein flackerndes Feuer, schimmernd und schillernd wie seine Zeit. Seine Lyrik ist dithyrambisch, ekstatisch. Er fühlt sich als Prophet der Umwertung aller Werte. Und was er mit virtuoser Sprachbehandlung in blendenden Gedankenblitzen, in verführerisch-genialen Aphorismen, die ihrem Wesen gemäß da abbrechen, wo die Schwierigkeit des Denkens beginnt, niedergelegt hat, — je nachdem die Stimmung ihn hierhin und dorthin trieb; denn er ist ein Augenblicks- ein Stimmungsphilosoph, ein Chamäleon, ein hinundherschwankender Begriffspoet —, was er hohnlachend an Bosheiten in die Welt schleuderte, das ward berauschendes Gift für die brausende Jugend . . . Und so rückten die littera185

A. B., Lyrische Dichtung und neuere deutsche Lyriker. Bln. Wilh. Hertz 1896, S. 228 f.

1896 Gustav Mahler/Heinridi Mann

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risdien Stürmer unter dem Schlachtruf: Hie Herren-Mensch! (im Gegensatz zu dem Herden-Menschen!) in geschlossenen Reihen vor. Und soweit sie gegen die Philister, die Fürchteseelen, gegen die ,dickbreiige Masse der Mittelmäßigkeit', gegen die ,Sumpfzufriedenen', die ,knechtschaffenden Bücklingsmacher' u. s. w. u. s. w. in ,Freiheitssucht', in keckem Jugendungestüm vorstürmten, war das Schauspiel ergötzlich. Denn wer wollte leugnen, daß nicht jede Zeit viel Morsches mit sich führt, das der Vernichtung harrt? Aber ,Philister' war schließlich jeder, der nicht auf sie schwor." I m J a h r e 1896 w u r d e n in Berlin der zweite u n d dritte Satz v o n Gustav Mahlers D r i t t e n Symphonie u r a u f g e f ü h r t . D a s W e r k sollte ursprünglich „Die Fröhliche Wissenschaft" heißen, denn der Verfasser h a t t e „zwei Gedichte aus ,Des K n a b e n W u n d e r h o r n ' u n d ein herrliches Gedicht von Nietzsche den Gesängen der kurzen Sätze" zugrunde gelegt. 188 258/1 (Mann, Heinrich. D J Z 6. Jg., Bd. 1,1896, S. 561 f.). Angeregt durch einen Aufsatz von Reinhold Franke in der „Täglichen Rundschau": „Friedrich Nietzsche und das Deutschthum", stellt Mann fest, daß Nietzsche „bis zum ,Fall Wagner' eine einheitliche, charaktervolle Erscheinung" gewesen sei, danach aber „zerrissen und überreizt". Seine „Verbitterung" gegenüber „seinem Vaterlande" sei „Schwäche", und die „Äußerungen eines Verstimmten" seien nur „pathologisch interessant". 259 Kaftan, (Julius), Eine neue Moral. (CW 10. Jg., Nr. 5 v. 30.1.1896, Sp. 103—110).187 Im Vordergrund steht die Kritik des Buches von Tille (Nr. 250) und der darin verkündeten „neuen Moral", dodi weiß der Verfasser auch um einen den Leser überschüttenden „Goldregen" aus Nietzsches Werken, sowie um den „Genuß der Stunde", die „Impulse zu mancherlei Gedanken und Überlegungen, die uns ohne 186

187

S. hierzu: Natalie Bauer-Lediner, Erinnerungen an Gustav Mahler. Ε. P. Thal. 1923. Lpz., Wien, Zür., S. 19; Über Mahlers Lebensweise in Hamburg aus der Zeit von September/Oktober 1896 erzählt sie weiter: „Fühlt er sidi wohl, dann sind das am Morgen für ihn Götterstunden, die einzigen auch im Winter, welche ihm allein und seiner Arbeit gehören. Bei Kaffee und Zigarette wird erst ein wenig gelesen (,Des Knaben Wunderhorn', Goethe und Nietzsche hatte er gerade vor . . . " (S. 57) ; Zur Überschrift der Symphonie schrieb seine Frau Alma: „Mahler ließ die Überschrift fallen, weil man dabei an die ,fröhliche Wissenschaft' von Nietzsche hätte denken können." (Gustav Mahler, Briefe, 1879—1911. Hg. v. Alma Maria Mahler. P. Zsolnay. Bln., Wien, Lpz. 1925, S. 140). Daß das Nietzschesdie Werk dennodi dem Komponisten die Überschrift eingab, dürfte ziemlich offenkundig sein, s. ebd., S. 107 f., 487 (letztere Seite enthält einen Brief an Bertha Lohr vom Jänner 1891: „Und nodi heute geht ein Band Nietzsche an Sie ab."); Das Werk war im August 1895 entworfen, im Sommer 1896 fertiggestellt und erschien im Jahre 1898; Eine vollständige Aufführung erlebte es aber erst im Jahre 1902 beim Tonkünstlerfest des Allgemeinen Musikvereins in Krefeld; Mahler, Gustav (Kalischt/Böhmen 7. 7.1860 — Wien 18. 5.1911). Kaftan, Julius (Loit b. Apenrade 30. 9.1848 — Berlin 27. 8.1926), Dogmatiker, Privatdozent und Professor in Basel, seit 1883 Professor in Berlin, Mitglied und später Vizepräsident des Evangelischen Oberkirchenrats; nachdem er am 26. 10.1873 Kollege Nietzsches in Basel geworden war, hat er längere Zeit mit diesem zusammen zu Mittag gegessen.

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1896 Georg Simmel

ihn und die Blitze seines Geistes so nicht gekommen wären". N u r gebärden sich die „Jünger des Propheten" unerträglich, sie sind ihm ein „kleines Husten", das „den Sturmwind nicht ersetzen kann, den uns Zarathustra verheißen hat". 260 Simmel, Georg, Friedrich Nietzsche. Eine moralphilosophische Silhouette. (ZPhK 107. Bd., H . 2, 1896, S. 202—215). 188 Er rügt die Berufsdenker, daß sie in Nietzsches Schriften den Gedankenkern, „zu dem jedes System doch nur Körper ist", übersehen haben. „Hier wird zum ersten Male in der modernen Ethik das Kriterium selbst ein anderes"; es sei „eine Kopernikanische That". Aber auch für Simmel ist er „sicher einer der größten litterarischen Artisten aller Zeiten, der Geschmack und die Vornehmheit seiner Ausdrucksweise" sei, „in Deutschland wenigstens", unerreicht. 261 anonym, Nietzsches Geistesblitze. (SML Bd. 51, 1896, S. 227—231.) Verfasser will offensichtlich die Komik der „Begeisterung nationaler Kreise für Nietzsche" dadurch aufdecken, daß er aus dem 8. Band zusammenstellt, was Nietzsche über „uns Deutsche" gedacht habe. 261/1 Meyers Konservations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 5., gänzl. neubearb. Aufl. 12. Bd. Lpz. u. Wien. Bibliograph. Inst. 1896, S. 988. Zwei volle Spalten werden Nietzsche eingeräumt: „Als Stilist ist er in der Gegenwart unübertroffen, seine Sprache hat oft einen geradezu bestrickenden Zauber, u. ihr ist zum Teil die große Wirkung seiner Werke zuzuschreiben... Die Nietzscheschen Ansichten haben viele Gegner gefunden, wie dies bei dem vielen Paradoxen und Umstürzenden in ihnen natürlich, andererseits auch viele Freunde besonders in der jungen Generation, in dieser zum Teil wegen der Zersetzung des Traditionellen." 261/1 a Dass. 6., gänzl. neubearb. u. verm. Aufl. 14. Bd. 1906, S. 684 f. Um eine halbe Spalte vermehrt; neben zusätzlichem Schrifttum die Feststellung: „Im ganzen hat die Verehrung Nietzsches nach seinem Tod eher noch zuals abgenommen; namentlich hat sein ,Zarathustra' große Verbreitung und Bewunderung erfahren. Man fängt an, das dauernd Wertvolle bei N., namentlich sein Streben nach einer höheren Kultur und seinen Individualismus anzuerkennen und betont, daß N . selbst eine vornehme reine Natur voller Ideale war, und daß niedriger Egoismus in seiner Lehre keine Stelle findet." 261/1 b Dass. 1909, S. 684 f. Unverändert. 261/1 c Dass. Meyers Lexikon. 7. Aufl. In vollst, neuer Bearbeitung. 8. Bd. Lpz. 1928, Sp. 1318—1321. Der Inhalt ist nun rein wiedergebend bzw. darstellend; Jede Bewertung oder Stellungnahme ist weggefallen. 261/1 d Dass. Meyers kleines Lexion. 8., gänzl. neu bearb. Aufl. in 3 bdn. 2. Bd. Lpz. 1932, Sp. 964. Eine dreiundzwanzigzeilige Aufnahme, die aber Nietzsche als „den größten Philosophen des ausgehenden 19. Jh.s" darstellt. 188

Simmel, Georg (1858—1918), Philosoph und Soziologe.

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262 Gerhard, H . F. (Hamburg), Die künstlerischen Mittel der Darstellung in Nietzsches „Zarathustra". (Kr 3. Jg., 1896, S. 1830—1842). Nietzsches Zarathustra findet er „eine der merkwürdigsten Dichtungen aller Zeiten und Völker" : er sei zugleich der Heiland aller übernervösen, übersensitiven Menschen, der Theoretiker des rücksichtslosen Kampfes und der Praktiker der Welt- und Menschenflucht, der Optimisten des fern winkenden Ideals und der Pessimisten der Wirklichkeit. Die Objektivisten, Naturalisten, Subjektivisten, Idealisten, Romantiker und Symbolisten sehen alle in ihm etwas. Abschließend stellt er noch fest, daß „Faust der Zarathustra von Gestern; Zarathustra der Faust von Heute" sei. 263 Walde, Philo vom, Bei Friedrich Nietzsche. (PIM 8. Jg., Bd. 3, 1896, S. 162—175). Verfasser erzählt von einem Besuch in Naumburg bei der Schwester im Archiv und darauf bei der Mutter und dem Sohn in der Weingartenstraße. 264 D., (WMh Bd. 79, N r . 474 v. März 1896, S. 651 f.). Eine kurze, im großen und ganzen lobende Anzeige des Nietzsche-Buches von Steiner (Nr. 230). 265 Servaes, Franz (Berlin), Nietzsche, Wagner und Hellas. (Zeit N r . 75 f. v. 7. u. 14. 3. 1896, S. 155 ff., 172 ff.). Verfasser begrüßt die Tatsache, daß Nietzsche schon „unpopulär" geworden sei, denn nun könne man sich ihm „ernsthaft nähern". Unterstützt wird er bei seinem Vorgehen durch das Erscheinen der ersten zwei Nachlaßbände, die er dann heranzieht, um Nietzsches Verhältnis zu Wagner zu untersuchen und den Schluß zu ziehen, daß Nietzsche „alles in allem doch schließlich an Wagner zugrunde gegangen" sei. 266 Kaftan, J(ulius), Diesseits von Gut und Böse. (CW 10. Jg., H . 14 v. 2. 4.1896, Sp. 320—326). Verfasser meint hier, „wer in sich gefestigt einen andern Weg der Wahrheit kennt, kann manch goldenen Apfel in ihm (d. i. Nietzsche) holen". Das Verbrechen seiner Anhänger an ihm selbst und seinen Schriften sei, daß sie „einen Philosophen" aus „einem Dichter" machen wollten. Anschließend an Nietzsches Worte von „Jenseits von Gut und Böse" will er Gott als das wahre, das „ewige Jenseits" verstanden wissen. Nietzsches Jenseits dagegen sei immer noch ein „Diesseits" und sein Machtideal nichts als die „Phantasmagorie eines kranken, leidenden Menschen, dem unwillkürlich die ihm versagte physische Gesundheit und Kraft als ein höchstes Ziel vorgeschwebt hat". Bemerkenswert ist die Tatsache, daß der Verfasser im Herbst 1888 in Sils-Maria „viel" mit Nietzsche verkehrt habe und im Text drei auf persönlichen Gesprächen beruhenden Stellen bringt. 267 Kreibig, Dr. Josef, Clemens, Geschichte und Kritik des ethischen Skepticismus. Wien 1896. Alfred Holder. VI, 102 S.1880 Im sechsten und letzten Abschnitt: Ethischer Skepticismus der neuesten Zeit, wird Nietzsche zwischen Max 188o

Kreibig, Josef Clemens, geb. am 18.12.1863 zu Wien, promovierte zum Dr. phil 1893 in Innsbruck.

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Stirner und Krapotkin auf S. 122—143 zusammenhängend behandelt, für andere Fundstellen siehe das Register. Mit dieser Schrift will der Verfasser dem „ethischen Skepticismus" die „Dogmatik einer evolutionistisdien Moraltheorie" gegenüberstellen, die „dem Gedanken an eine sittliche Vervollkommnung unserer Art eine gewichtige wissenschaftliche Stütze" verleihe. In je einem Abschnitt behandelt er den Gedanken des „ethischen Skepticismus" in der Antike, im Mittelalter, in neuerer und in neuester Zeit. Bei Nietzsche, der ihm „ungleich tiefer angelegt" ist als Stirner, widmet er sich ausschließlich „Jenseits", dem „Hauptwerke", und der „Genealogie". Um ihn zu widerlegen, stellt er drei Wertskalen auf: die der „Archetik (Stärke)", der „Ästhetik (Pracht)" und der „Ethik (Güte)", und meint, — sollten sie „ausnahmsweise" in Streit miteinander geraten, neige er im Gegensatz zu Nietzsche, „zur Hödistwertung des Guten". Nietzsches „Wertfundament, der außermoralische Übermensdi", ist ihm „ein völlig unbefriedigendes", und, da er diesen „Irrtum" verallgemeinert habe, büßen „alle darauf gebauten Lehren ihre Bündigkeit" ein. Nietzsches „sittlich Guter" ist ihm „ein Pedant, eine passive Sclavenseele, ein Erzphilister". Doch indem „den Moralisten von heute das asketische Selbstzerfleischen und die ängstliche Wehleidigkeit" nicht mehr als „der Inhalt reifer Sittlichkeit" gelten, haben sie „das Wertvollste" an Nietzsches Lehren in sich aufgenommen. U. a. glaubt der Verfasser, mit dieser Schrift „die erste Gelegenheit" zu bieten, in Nietzsches Lehren „eine historisch einzugliedernde Erscheinung" festzustellen, und hebt als Vorläufer hervor: Theodor, die späteren Sophisten, Hobbes, Carlyle, Haller, Montaigne und Charron. Bemerkt muß auch werden, daß einige seiner Angaben Nietzsches Leben und Entwicklung betreffend sehr in die Irre gehen. 268 Laurentius, Dr. (d. i. Josef Clemens Kreibig), Krapotkins Morallehre und deren Beziehungen zu Nietzsche. Dresd. u. Lpz. E. Pierson 1896. 2 Bll., 100 S. Verfasser will sich mit dem Anarchismus in der Gestalt von Krapotkins 1891 erschienenen „La morale anarchiste", die hier bis auf einige Auslassungen in deutscher Übersetzung wiedergegeben wird, auseinandersetzen und sich damit an der „gründlichen Ausrottung anarchistischer Ideen" durch „Aufklärung" beteiligen. „Für uns Deutsche wird es überdies von besonderer Bedeutung erscheinen, die Fäden aufzuzeigen, welche die Weltanschauung Krapotkins mit der Friedrich Nietzsches in vielen zentralen Punkten verbinden, andrerseits die Gegensätze kennen zu lernen, welche unbeschadet der inneren Verwandtschaft zwischen beiden Naturen bestehen." Darüber hinaus ist Verfasser der Meinung, daß Krapotkin Nietzsches „Jenseits" gekannt habe. Nietzsche wird viel seltener angeführt, als man nach dem Titel erwarten könnte — und dazu in den meisten Fällen zur Widerlegung Krapotkins. „Die Lehre Nietzsches ist (neben Stirners ,Der Einzige und sein Eigenthum') das flammendste Evangelium des Individualismus und damit der Erzfeind alles Kommunismus." 269 Berg, Leo, Friedrich Nietzsche. (1889 und 90.). (In: L. B., Zwischen zwei Jahrhunderten. Gesammelte Essays. Ffm. Rütten & Loening 1896, S. 3—33). „Kaum je ist von einem Philosophen (selbst von Schopenhauer nicht) eine solche Gesamtverneinung des modernen Lebens ausgegangen als von ihm." So sieht

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der Verfasser in Nietzsche „den großen in allen Farben schillernden und glänzenden Regenbogen, der, aufgespannt am Himmel der europäischen Kultur, ihr Gestern und Morgen überschlägt". Er ist „der große Niederreißer unserer Zeit". „Man mag einst über Nietzsche denken, wie man will, über den Schriftsteller in ihm wird es bald keinen Zweifel mehr geben. Er ist der größte Virtuose der deutschen Sprache." Gegen Ende stellt der Verfasser einschränkend einen gewissen Größenwahn fest, ruft aber dann aus: „ . . . der Verlust für die deutsche Literatur ist ein unermeßlicher", da „der Wille zur Macht" unausgeführt geblieben. An zwei Stellen dieser Abhandlung meint der Verfasser, daß Nietzsche die „Naturalisten" beeinflußt habe, das eine Mal in ihrem vermeintlichen Pessimismus und das andere in ihrer Übertragung der Geschichte auf die Kunst. In diesem Zusammenhang ist folgende, einem 1891 datierten, „Die Romantik der Moderne" betitelten Aufsatz entnommene Stelle, die im selben Sammelband enthalten ist, bemerkenswert: „ . . . und wie ward diese Starrheit (d. i. die der Naturalisten im Hasse) gebrochen? Ich glaube hier einen Namen nennen zu dürfen, einen Geist, der wie ein großes Licht am Horizonte des litterarischen Europa aufflammte und Alles in einer Farbe erscheinen ließ, Abgründe aufdeckend und Fernsichten eröffnend und jäh in das ferne unbekannte Land weisend: Friedrich Nietzsche. Seit ihm datiert die Abkehr vom Naturalismus." (S. 364) 270 Gallwitz, Hans, Friedrich Nietzsche als Erzieher zum Christenthum. (PJb 1896, Bd. 83, H . 2, S. 324—347). Nach dem Verfasser war es Nietzsche darum zu tun, „ein hohes sittliches Ideal (d. i. das Christentum) von den Flecken zu reinigen, die sich im Laufe der Jahrtausende daran gesetzt haben". Auch Nietzsches Denken und Empfinden sei „wider Wissen und Wollen von diesem evangelischen Ideal beherrscht". In einer längeren Auseinandersetzung mit Eduard von Hartmann (Nr. 119) behauptet er: daß dies „eine philosophische Weltanschauung" sei, „mit welcher die Glaubensbotschaft, die Jesus Christus gebracht hat, sidi widerspruchslos vereinigen läßt, wird jedermann einleuchten". Dodi sei er in seinen letzten Schriften seinem eigenen Ideal untreu geworden. Das psychologische Problem Nietzsche laute, „wie der Philosoph, welcher tiefer als die große Mehrzahl in den Geist des biblischen Christentums eingedrungen ist und den großen Beruf gehabt hat, unserer Zeit Erzieher zum Christentum zu werden, zum Antichristen hat werden können". Die Schrift vergleicht nicht nur Nietzsche-Worte mit denen Christi, sondern auch noch beide Gestalten und findet in beiden Hinsichten eine verblüffende Ähnlichkeit. Der Verfasser bringt auch eine Stelle aus einem Brief Nietzsches an Peter Gast vom 31. Mai 1878. 271 -t -n, Friedrich Nietzsche, ein Stück Juden- und Irrenfrage. (MV 3. Jg., N r . 9—13 v. Anfang Mai bis Mitte Juli 1896, S. 65 f., 73 f., 81—84, 90—94, 100—103). Eine ungehaltene Verurteilung aus antisemitischer Sicht. Angeregt durch Bemerkungen Nietzsches zu Dührings „Wert des Lebens", die gerade aus dem Nadilaß veröffentlicht worden waren, verteidigt der Verfasser, ein „im Dühringschen Sinne Aufgeklärter", Dühring. Er ist der Ansicht, daß Nietzsches „um 1876 er-

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folgte Lektüre" des Dühringschen „Wert des Lebens" und später „wahrscheinlich nodi der Mehrzahl der anderen Schriften Diihrings einen Wendepunkt seiner inneren geistigen Entwicklung" bewirkt habe. An anderer Stelle heißt es, daß Diihring „folgenschwer in das Nietzsdiesche Schicksal durch seine Schriften eingegriffen" habe. Nietzsche habe ihn nicht nur angegriffen, sondern vielmehr gleichzeitig versucht, ihn „zu kopieren und zu übertrumpfen", dodi sei dieser Versuch „ins Gegenteil ausgesdilagen". Er habe geglaubt, „nodi Größeres zu leisten, wenn er noch mehr und Dühring dazu negiert". Neben dem allen her läuft die antisemitische Beschimpfung. Trotz des Mangels an „innerem Wert" werden die Schriften Nietzsches „vom Publikum mit großer Vorliebe gekauft und gelesen, da sich besonders hebräische Reklame" für ihn „gewaltig ins Zeug legt". Er wird sogar als „Hebräeranwalt" hingestellt: „Erst seitdem Nietzsche sich von Schopenhauer und Wagner abwendete und anfing, für die Juden einzutreten, änderte sich sein Ruf in der öffentlichen — Judenmeinung; er fing an, berühmt und gelesen zu werden." Seine „Ausdrucksweise . . . Größen" wie Sokrates und Schiller gegenüber, die beide vom Verfasser entschieden verteidigt werden, „trägt in ihrer Unflätigkeit ein judäisches Gepräge". Zum Schluß wird Nietzsche als „Verbrechernatur auf judäisdier Charaktergrundlage" gekennzeichnet und Dühring als der „Quell, aus dem neue Bestrebungen und eine neue Kulturwendung ihren Ursprung nehmen": „Nur aus seinen Schriften und seinem persönlichen Vorbild können wir das bessere Wissen und Wollen schöpfen." 272 Immisch, Otto, Neueres von und über Nietzsche. (BlLU Nr. 24 f. v. 11. u. 18. 6. 1896, S. 369—372, 404 ff.). Verfasser geht schnell — in einem Absatz — über die Nietzsche-Schriften von Maxi (Nr. 209), Adielis (Nr. 179 a) und Laurentius (Nr. 267) hinweg, um zum 8. Band der Gesamtausgabe und bes. zum „Antichrist" zu kommen, dem er als einer, der sidi seines „altväterlichen Glaubens völlig sidier" fühle, aufs heftigste die „wissenschaftliche Aufrichtigkeit" abspricht: „Im ganzen wird der Leser, der Nietzsdie kennt, im ,Antichristen' wenig Neues finden, nichts, was sich aus Nietzsche's aristokratischem Cynismus nicht mit Nothwendigkeit von selbst ergäbe." Darauf bespricht er, hier sich als „Philologe" gebend, die beiden ersten Nadilaßbände; er hebt dabei die „subjektiv philosophische Haltung von Nietzsche's Philologie" als „eine Schwäche und Gefahr innerhalb einer Wissenschaft, die mit einer tiefen Bescheidenheit, Thatsachen und nichts als Thatsachen festzustellen strebt", hervor. Über die „Kunst des Schriftstellers Nietzsche" entschlüpfen ihm allerdings gelegentlich anerkennende Worte. 272/1 Mann, Heinrich, Zum Verständnis Nietzsches. (DZJ 6. Jg., Bd. 2, 1896, S. 246—251). Verfasser bestreitet eine Abhängigkeit Nietzsches von Stirner und lehnt die Bezeichnung „Philosophie des Kapitalismus" für Nietzsches Denken ab. Im Übermenschen erkennt er „nichts a n d e r e s . . . als ein soziales und ein Rassen-Symbol". „ . . . er war nicht ein fremddienerischer Verächter seines Stammes, denn es bekundet keine verwerfliche Gesinnung, sich im Zorne von dem abzuwenden, dem man zu viel zugetraut, weil man ihn zu sehr geliebt hat."

1896 Kurt Breysig

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273 Runze, Prof. Dr. Geo (Großlichterfelde b. Bln.), Friedrich Nietzsche als Theologe und als Architekt. (Kr H . 84/85, 1896, S. 862—872, 911—920). Die Bezeichnung „Architekt" ist offensichtlich ein Druckfehler anstelle von „Antichrist". Erkennt in Nietzsche den „letzten Theologen" und versucht, in Form wie audi im Inhalt, diesen hervorzukehren. „Er ist ein irrender, strebender, leidenschaftlicher, aber ehrlicher, wahrheitsdurstiger Mensdi, von selten schöpferischer Gedankenkraft, aber in seinen Sympathien und Antipathien einseitig und rücksichtslos, ein Prometheus und Faust, ein ödipus " Verfasser weist unter besonderer Berücksichtigung von Overbecks „Über die Christlichkeit unserer heutigen Theologie" auf die gegenseitige Beeinflussung von Overbeck und Nietzsche hin. Die Schrift enthält auch einiges Mündliche über Nietzsche, so von „einem Basler Kollegen" und von „ehemaligen Dienstleuten der Familie Nietzsche". 273 a Dass. Bln. Kritik-Vlg. 1896. (4. Tsd.) Sonderdruck. ( = Fragen des öffentlichen Lebens. Hg. v. Karl Schneidt u. Richard Wrede. Heft 5). Um zwei unwesentliche Sdilußzeilen vermehrt, sonst unverändert. 274 Morgenstern, Christian (Friedrichshagen), Nietzsche, der Erzieher. (NDRs 7. Jg., H . 7 v. Juli 1896, .S 709—712). Aus Anlaß der ersten zwei Nachlaßbände findet der Verfasser, daß es „für alle Z u k u n f t . . . nun ein neues Kriterium des denkenden Menschen" gebe: „Was ist ihm Nietzsche?" S. a. den Brief Morgensterns an Marie Goettling vom August 1896: „Ich habe im VII. Heft 1896 der Neuen Deutschen Rundschau einen kleinen Aufsatz gehabt .Nietzsche der Erzieher', den idi mit sehr viel Liebe geschrieben habe." (A. a. O., S. 81). 275 Breysig, Kurt, Nietzsches ethische und sociologische Ansdiauungen. (SJb 20. Bd., H . 2, 1896, S. 1— 23).w» Verfasser hält sich vor allem an die Werke ab „Zarathustra" und findet in Nietzsche „den ersten unter den Deutschen, der das Epigramm der Prosa, den Aphorismus, das Aperçu zu handhaben gewußt und diese Kunstform zu wahrhaft blendender Vollkommenheit ausgebildet hat". Er habe „kein Ende finden können in dem höchsten Genuß, der dem Menschen beschieden ist, in geistigem Produzieren". Der größte Denkfehler seiner Weltanschauung sei, daß er „in seinem eigenen höchsten Bedürfnis das Bedürfnis aller, einen Maßstab allen menschlichen Strebens und Denkens" gesehen habe. Er sei „ein Dichter unter den Denkern". Alle seine Schriften haben soziologische und ethische Erkenntnis in schwer trennbarer Mischung zum Gegenstand oder doch wenigstens zum Ziele. Immer wieder betont er, daß Nietzsche Willen, Verstand und Phantasie auf Kosten des Gemüts hochhalte. Der „Antichrist" ist ihm „wohl die feindseligste, erbitterste Schrift, die 18s

Breysig, Kurt (Posen 5.7.1866 — Berlin 16.6.1940), 1892 Privatdozent, 1896 a. o. Professor, 1923 ord. Professor der Geschichte in Berlin; hat Nietzsches Werk wahrscheinlich viel früher kennengelernt: „Zwei Enthusiasmen haben mich in den Jahren nach 1892 und nach 1899 ergriffen: der für Nietzsches Verkündigung und der für Georges D i c h t u n g , . . ( K . B., Aus meinen Tagen und Träumen. Memoiren, Aufzeichnungen, Briefe, Gespräche. A. d. Nachlaß hg. v. Gertrud Breysig u. Michael Landmann, de Gruyter Bln. 1962, S. 168; s. a. ebd., 91—95 (1895/96), 99 (1898), 102 (1900).

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1896 Das Archiv in Weimar

je gegen die diristlidie Kirche geschrieben ist". Die deutsche Wissenschaft habe nun die Aufgabe, den schädlichen Samen, den er ausgestreut habe, noch im Keime zu vernichten, sowie in der überreichen Ernte seines Schaffens die Hunderte von fruchtbringenden Wahrheiten, die er gefunden habe, aufzunehmen und zu verwerten. AO Friedrich Nietzsche: Aus den Sprüchen Zarathustras. (Fragmente)., (Pan 2. Jg., 2. H. v. Aug. 1896, S. 85—88). AP Die junge Fischerin. Gedichtet und componirt von Friedrich Nietzsche. (In den Jahren 1862 und 1865)., (Pan 2. Jg., 2. H . v. Aug. 1896, 4 Bll. nach S. 120). 276 Koegel, Fr(itz), Friedrich Nietzsches Musik. (Pan 2. Jg., 2. H . v. Aug. 1896, S. 144). Ein kurzer Überblick über Nietzsches musikalisches Schaffen; die Musik sei „die Kunst seiner Jugend" gewesen. 277 Heckel, Karl, Richard Wagner und Friedrich Nietzsche. Eine Betrachtung aus der Vogelschau. (NDRs 7. Jg., H. 8 v. Aug. 1896, S. 721—737).18βα Versucht die „scheinbar plötzliche Scheidung der beiden Männer einfach aus ihrer innersten Natur und Entwicklung als nothwendig und unabwendbar darzustellen". Er konnte sich dabei auch auf den „umfangreichen Briefwechsel" seines Vaters Emil Heckel stützen, woraus er zwei Briefe Nietzsches sowie eine Stelle aus einem Briefe Nietzsches an Rohde veröffentlicht. Er bezeichnet Wagner als Sohn der Reformation, als Denker und Verklärer der Vergangenheit, Nietzsche dagegen als „Sproß der Renaissance, als Seher einer Zukunft". Er empfindet Nietzsche als ergänzenden Gegensatz zu Wagner selbst und dessen künstlerischer Offenbarung des Erlösungsbedürfnisses. 278 Meyer, Richard M., Der Kampf um den Einzelnen. (DRs Bd. 87, 22. Jg., H . 9 v. Juni 1896, S. 442—464). Verfasser verfolgt den Gedanken der Gegenüberstellung vom Einzelnen und Staat, Natur und Gesellschaft im 18. und 19. Jahrhundert. Von Hamann, Herder, Humboldt und Rousseau über Goethe, Arndt, Wackernagel, Wolfgang Menzel, Brentano, Görres, Justinus Kerner, E. Th. A. Hoffmann, Schleiermacher, H. Chr. Anderson, J. P. Jacobson, Kierkegaard, Feuerbach, Stirner, Dühring, Renan, Flaubert, Taine, Ibsen, Björnson und Tolstoi stößt er zum Schluß auf Nietzsche. Da Nietzsche im Gegensatz zu den Romantikern auch „den Vielen ein gewisses Recht auf ihre Moral zugesteht", sei mit ihm ein neuer Schritt von größter Bedeutung getan. Im September 1896 siedelte die Schwester mit dem Archiv nach Weimar über. 279 Meyer, Johann Georg, Friedrich Nietzsche als Aesthetiker und Patriot. (BurBl H. 9, 1896, S. 234—240). Verfasser befaßt sich so gut wie ausschließlich mit der „Geburt" und stellt fest, daß Nietzsche „im Grunde" weder „Metaphysiker" noch „Schüler Schopenhauers" gewesen sei: Er sei sich „über die tiefe (oft allerdings inconséquente) Lehre Schön a Heckel, Karl, geb. am 23.6.1858 zu Mannheim.

1896 Sozialaristokraten

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penhauer's wohl nicht klar geworden... u n d . . . auch selbst zu keiner eigenen klaren metaphysischen Anschauung gekommen". Doch seine Ästhetik findet die begeisterte Billigung des Verfassers: » . . . die Jugend soll nicht sokratisch und philisterhaft nur von kalten Vernunftmotiven geleitet werden, sondern sich dionysisch an dem Genüsse neuer Ideen berauschen." Einen Einblick in die Wirkung Nietzsches auf die Kreise des Berliner, oder vielmehr Friedrichshagener Literatentums um die Mitte der neunziger Jahre gewährt folgendes Stück: 280 Holz, Arno, Sozialaristokraten. Komödie. (In: Α. H. Werke [Hg. v. Wilh. Emrich u. Anita Holz], Bd. IV. Luditerhand [Neuwied/Th. 1961], Das Werk erschien 1896 und wurde am 15. 6.1897 in Berlin uraufgeführt. Es handelt sich um ein Schlüsselstück, in dem Bruno Wille, John Henry Mackay, Stanislaw Przybyszewski und Holz selber nur dürftig verschleiert als Dr. Benno Gehrke, Frederick S. Bellermann, Taddeus von Styczinski und Hahn auftreten. Alles umkreist die rein wetterwendische Entwicklung des „Schriftstellers" Gehrke vom Sozialismus über Sozialaristokratismus bis zur Bekenntnis zur völkisdien „antikratischen, Sozialitäten Gesellschaftsform der Zukunft". Neben dem Sozialismus bildet Nietzsche den weltanschaulichen Ausgangspunkt der Dargestellten. In einem Gespräch mit dem jungen ahnungslosen Schriftsteller Herrn Hahn, dessen 4000 Mark die Verlegung der Zeitschrift „Der Sozialaristokrat" erst ermöglichen, belehrt der „Gelegenheitsdichter" Oskar Fiebig ihn über ein Werk von Gehrke: „Bloß Lieder eenes Ibermensdin . . .? De janze Welt redt jetzt von Ibermenschn! Nitschkn ham Se doch jelesn?" worauf Herr Hahn mit „schweigender Zustimmung" antwortet (S. 14). Etwas später erklärt der Verfasser selber: „O, ich lege jetzt keinen Wert auf die kleinen Sachen. Stammen nodi aus meiner früheren Periode. Haben eigentlich nur noch literarhistorische Bedeutung." (S. 23) Und dann etwas ausführlicher zu seiner Stellung zu Nietzsche überhaupt: „Ich gehöre nicht zu den verworrenen Jüngern eines Nietzsche. Leutchen, die ihre zufällige Individualität in Gänsefüßchen mit einer gewissen Naivität heute in den Vordergrund zu stellen belieben. Mein Ideal ist nicht, wie das jener Pseudogröße einer überwundenen Epoche, der bloße sogenannte Übermensch, sondern, wohlgemerkt, die Übermenschheit! Ein Ideal, dessen erstmalige Schöpfung mein geistiges Eigentum ist." (S. 55) Kennzeichnend wohl für das wahre Verhältnis der Dargestellten zu Nietzsche mögen die Worte Fiebigs sein: „Nitschkn hab'k ja ooch janz gehappt. Den hat natierlich Spredoskn! Ick hab η selbst noch nidit jelesn: Ich habe bloß mal erst so in die .Fröhliche Wissenschaft' geschmökert. Der Titl hat mer so jefalln." (S. 72) Erwähnungen Nietzsches sonst auf S. 43, 60, 75 sowie der „Herrenmoral" (S. 40) und des „Willens zur Macht" (S. 65). AQ Friedrich Nietzsche: Aus der Einsamkeit des Denkers. Zeit der Fröhlichen Wissenschaft 1881 bis 1882. (NDRs 7. Jg., H. 10 v. Okt. 1896, S. 1022 bis 1027). Bringt 31 Sprüche, von denen 29 dann im XII. Band der Gesamtausgabe in teilweise anderem Wortlaut aufgenommen wurden (Nr. 79, 93, 111, 114, 115,

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117, 118, 119, 121, 123, 125, 126, 127, 129, 130, 131, 132, 134, 135, 136, 137, 141, 143, 144,145, 150, 151, 152,155). 281 Riehl, A(lois) (Kiel), Friedrich Nietzsche als Denker. (Wh 7. Jg., H. 1, 2, 3, 5 v. Okt., Nov. u. Dez. 1896 u. Febr. 1897, S. 1—10, 51—60, 85—92, 140 bis 150). Ihm ist die „mittlere" Periode im Leben Nietzsches „in manchem Betrachte die erfreulichste", es sei die Zeit seiner Genesung „von dem doppelten Gift der philosophischen und musikalischen Romantik". Doch sei Nietzsche nie ein „richtiger Philosoph der Aufklärung" gewesen; die neue Periode, „in die wir mit dem Zarathustra eintreten", könne man als einen Bund „der Romantik und des Positivismus" bezeichnen. 282 Riehl, A(lois) (Freiburg i. B.), Friedrich Nietzsche als Künstler. (Wh 1896, S. 219—224). Er meint, „Nietzsche verhält sich zur Sprache als Musiker, Dichter und Maler zugleich", doch „zur höchsten Meisterschaft" fehle ihm ein Wesentliches : „ . . . seinem Stil mangelt Einfachheit und schlichte Größe". Nietzsche habe zur Zeit seiner „philosophischen ,Wanderbücher' am maßvollsten" geschrieben, später falle seine Schreibart „ins Barocke". Seine Kunst sei „zu reif, um ein neuer Anfang der Entwicklung zu sein". AR Friedrich Nietzsche: Gedanken aus der Zeit der „Morgenröte". (Z Bd. 17, 3.10.1896, S. 8—12). Vorabdruck von Stellen, die darauf im XI. Band der Gesamtausgabe auf S. 206—393 erschienen sind. 283 Chamberlain, Houston Stewart, Richard Wagner. Mchn. Vlgs.-anst. f. Kunst u. Wissenschaft 1896.190 Bemerkenswert an dieser Schrift ist dreierlei: erstens wird Nietzsche als einer der „fähigsten Köpfe unseres Jahrhunderts" bezeichnet; zweitens wird lediglich auf sein „Richard Wagner in Bayreuth" hingewiesen, welches „unstreitig zu dem Besten, was dieser hervorragende Mann je geschrieben hat", gehöre, und woraus wiederholt Stellen angeführt werden (S. 20, 67, 207, 338, 343, 348); drittens erkennt der Verfasser aber an mancher Stelle dieser Schrift schon „die krankhafte Anlage dieses scharfen Geistes" (S. 207, geschrieben kurz ehe die ersten Anzeichen des furchtbaren Leidens sich einstellten, das diesen herrlichen Verstand zertrümmern und ihn zum Hofnarren eines frivolen, skandalsüchtigen fin de siècle machen sollte" S. 67, Anm. 1). Wohl vom Ende der 90er Jahre berichten folgende Worte Felix Weingartners, eines begeisterten Anhängers von Schopenhauer und Wagner: „Der .Übermensch* Nietzsches stieß mich ab. Meine Versuche, mit der Gedankenwelt dieses Philosophen vertraut zu werden, mißlangen, obwohl die Bejahung des Lebens, zu der ich mich aus den Klammern der Verneinung durchgerungen 190

Chamberlain, Houston Stewart (Portsmouth/England 9. 9.1855 — Bayreuth 9.1.1927),

Schriftsteller.

1897 Ridiard Strauss/Eugen Diederidis

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hatte, midi eigentlich auf seine Bahn hätte leiten müssen. Vielleicht verstimmte mich die unduldsame Art des mit ihm getriebenen Kultus. Doch scheint mir viel eher, daß ich mich auf dieses Jonglieren mit Worten, das als Endsumme nur allzu oft Null ergibt, ebensowenig einstellen konnte, wie auf die Klangspiele der ,Neutoner*, die mir das gleiche Resultat liefern. Wenn ich mit ehrlicher Mühe ein Kapitel Nietzsches durchgearbeitet hatte, mußte ich mich zuweilen fragen, was ich nun eigentlich gelesen hatte. Wie unendlich mehr sagten eine Seite, ja nur ein Satz des sonnenhellen, aber gewiß nicht bequemen Kant und des nachttiefen, bald hymnischen bald polternden Zauberers Schopenhauer.. ." l w ) 0 Am 27. November 1896 leitete Richard Strauss die Uraufführung seiner Tondiditung „Also sprach Zarathustra" in Frankfurt am Main. 1 9 1 284 Marschalk, Max, „Frei nach Nietzsche." (Z Bd. 17, 26. 12.1896, S. 615 bis 619). Eine Ablehnung von Richard Strauss' Vertonung von „Also sprach Zarathustra" als „Sensationsmacherei". 285 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Das Leben Friedridi Nietzsches, 2. Bd. (1. Abt.) Lpz. C. G. Naumann. 1897. 1 Taf., 1 Faks., IXS., 1 Bl., 341 S., 1 Bl. ( = Pressestimmen zum 1. Bd.). Erschien schon im Dezember 1896. Verfasserin ergeht sich im Vorwort in langatmigen Angriffen gegen das Buch von Lou Andreas-Salomé (Nr. 185), das voller „Mißverständnisse und Erfindungen" stecke, da diese „den Charakter und die Entwicklung meines Bruders im Grundkern auf rein pathologische Ursachen zurückzuführen" suche. Sonst im Buche selbst wehrt sie sich am entschiedensten gegen einen möglichen Einfluß Rées auf die Entstehung vom „Menschliches" sowie auf Nietzsches Abkehr von Wagner überhaupt. Sie bedient sich bei ihrer Darstellung reichlich der Briefe ihres Bruders an Rohde und Gersdorff sowie eingestreuter Stellen aus „Ecce homo". Sie bringt auch viele seiner Briefe an Cosima, Wagner, Malwida von Meysenbug, sie selbst und die Mutter, an Frau Baumgartner und Freiherrn von Seydlitz sowie Briefe von Cosima und Richard Wagner an Nietzsche. Daneben werden einzelne Briefe folgender Personen miteingeflochten: Ritsehl, Liszt, Prof. Hagen, H. v. Bülow, Burckhardt und anderes biographische Material. Uber die Zeit seiner Verlagsgründung und Niederlassung in Leipzig 1896/97 schreibt Eugen Diederichs: woo p. w . , Lebenserinnerungen. 2. Bd. Füßli. Zur., Lpz. 1929, S. 3 2 2 ; 181

Weingartner, Felix (Zara/Dalmatien 2. 6 . 1 8 6 3 — Winterthur 7. 5 . 1 9 4 2 ) , Kapellmeister. Strauss, Richard (1864—1949), s. hierzu: „Als ich in Ägypten (1892/93) mit Nietzsches Werken bekannt geworden, dessen Polemik gegen die christliche Religion mir besonders aus dem Herzen gesprochen war, wurde meine seit meinem fünfzehnten J a h r mir unbewußte Antipathie gegen diese Religion, die den Gläubigen vor der eigenen Verantwortung für sein Tun und Lassen (durch die Beichte) befreit, bestärkt und begründet." In dem Aufsatz „Aus meinen Jugend- und Lehrjahren" enthalten in: Betrachtungen und Erinnerungen. H g . v. Willi Schuh. Atlantis-Vlg. Zür., Freiburg i. Br. (1949), S. 169.

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1897 Carl Gustav Jung

„Ibsen und Nietzsche hatten damals großen Einfluß auf mein Denken, ich verstand audi so gut das Anspringen Nietzsches gegen sein periodisches körperliches Versagen."192 Über die Jahre 1896/97 auf der Universität Basel schreibt Carl Gustav Jung: „Nietzsche hatte schon für einige Zeit auf dem Programm gestanden, aber ich zögerte mit der Lektüre, da ich mich ungenügend vorbereitet fühlte. Nietzsche wurde damals viel diskutiert, aber meistens abgelehnt, am heftigsten von den .kompetenten' Philosophiestudenten, woraus ich meine Schlüsse auf die in höheren Sphären herrsdienden Widerstände zog. Höchste Autorität war natürlich Jakob Burckhardt, von dem verschiedene kritische Äußerungen in bezug auf Nietzsche kolportiert wurden. Zudem gab es einige Leute, die Nietzsche persönlich gekannt hatten und darum imstande waren, allerhand Curiosa nicht gerade sympathischer Art über ihn zu beriditen. Meistens hatten sie auch nichts von ihm gelesen und hielten sich dementsprechend bei äußerlichen Mißverständlichkeiten auf, z. B. bei seiner ,gentleman'-Spielerei, seiner Manier, Klavier zu spielen, seinen stilistischen Übertriebenheiten, lauter Eigentümlichkeiten, die dem Basler von damals auf die Nerven gehen mußten. Diese Dinge dienten mir nun allerdings nicht zum Vorwand, die Nietzschelektüre hinauszuschieben — im Gegenteil, sie waren für mich der stärkste Anlaß gewesen —, sondern es war eine geheime Angst, idi könnte ihm vielleicht ähnlich sein, wenigstens in dem Punkte des ,Geheimnisses', das ihn in seiner Umwelt isolierte. Vielleicht, wer weiß, hatte er innere Erlebnisse gehabt, Einsichten, worüber er unglücklicherweise reden wollte und von niemandem verstanden wurde? Offenbar war er eine Ausgefallenheit, oder galt wenigstens als eine solche, als ein Jusus naturae, was idi unter keinen Umständen sein wollte. Ich fürchtete mich vor der möglichen Erkenntnis, daß ich wie Nietzsche ,Auch einer' war. Natürlich — si parva componere magnis licet — war er ja ein Professor, hatte Bücher geschrieben, also traumhafte Höhen erreicht; er kam zwar auch aus einem Theologenhause, aber in dem großen und weiten Deutschland, das sich bis zum Meer ausdehnte, während ich nur ein Sdiweizer war und aus einem

192

E. D., Der deutsche Buchhandel der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Hg. v. Prof. Dr. G. Menz. 2. Bd., H . 1, S. 16; s. a. die Erwähnung Nietzsches in einem Brief an Ferd. Avenarius v. 2 2 . 9 . 1 8 9 6 (in: E. D., Leben u. Werk. Ausgew. Briefe u. Aufzeichnungen hg. v. Lulu v. Strauß u. Torney-Diederichs. Diederidis. Jena (1936), S. 41) ; s. a. ebd., S. 54 f. (Eindruck vom kranken Nietzsche in Naumburg und Teilnahme an der Trauerfeier in Röcken), 123 f. (Brief an die Schwester v. 1 6 . 1 . 1 9 0 5 betreffend einen Nietzsdie-Auswahlband in der Reihe „Erzieher zu deutscher Bildung"), 133 ff. (über „Ecce Homo", „das ich in der glücklichen Lage bin, leihweise in Abschrift in der Hand zu haben", an Fr. v. d. Leyen, 18. 4. 1906), 189, 215 (aus dem Jahre 1913: „Vor zirka 20 Jahren vertiefte Nietzsche durch die mit seinem Blut geschriebenen Prosa des Zarathustra das Sprachgefühl der deutschen Dichter, ja in uns allen."), 315, 361 (aus dem Jahre 1920: „Er — ein späterer Historiker — wird erkennen, daß ich den Verlag auf das Antäusgefühl, auf Friedrich Nietzsche aufbaute . . . " ) ; Diederidis, Eugen (Lobnitz b. Naumburg 2 2 . 6 . 1 8 6 7 — Jena 10.9.1930), Verlagsbuchhändler.

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kleinen Grenzdörfchen stammte. Er sprach ein geschliffenes Hochdeutsch, kannte Latein und Griechisch, vielleicht auch Französisch, Italienisch und Spanisch, während ich nur über Waggis-Baseldeutsch mit einiger Sicherheit verfügte. Er, im Besitze all dieser Herrlichkeiten, konnte sich schließlich eine gewisse Ausgefallenheit leisten, aber ich durfte nicht wissen, inwiefern ich selber ihm ähnlich sein könnte. Trotz meiner Befürchtungen war idi neugierig und entschloß mich, ihn zu lesen. Es waren die .Unzeitgemäßen Betrachtungen', die mir zunächst in die Hände fielen. Ich war restlos begeistert, und bald las ich auch ,Also sprach Zarathustra'. Das war, wie Goethes ,Faust', mein stärkstes Erlebnis. Zarathustra war der Faust Nietzsches, und Nr. 2 war mein Zarathustra, allerdings mit der angemessenen Distanz des Maulwurfhügels vom Montblanc; und Zarathustra war — das stand mir fest — morbid. War Nr. 2 auch krankhaft? Diese Möglichkeit versetzte mich in einen Schrecken, den ich lange Zeit nicht wahrhaben wollte, der mich aber trotzdem in Atem hielt und sich immer wieder zu ungelegener Zeit meldete und mich zum Nachdenken über mich selber zwang. Nietzsche hatte sein Nr. 2 erst später in seinem Leben entdeckt, nach der Lebensmitte, während ich Nr. 2 schon seit früher Jugend kannte. Nietzsche hat naiv und unvorsichtigerweise von diesem Arrheton, dem nicht zu Nennenden, gesprochen, wie wenn alles in Ordnung wäre. Ich aber habe sehr bald gesehen, daß man damit schlechte Erfahrungen macht. Er war aber andererseits so genial, daß er schon in jungen Jahren als Professor nach Basel kam, nichts ahnend von dem, was ihm bevorstand. Gerade vermöge seiner Genialität hätte er doch beizeiten merken müssen, daß etwas nicht stimmte. Das also, dachte ich, war sein krankhaftes MißVerständnis: daß er Nr. 2 ungescheut und ahnungslos herausließ auf eine Welt, die von dergleichen Dingen nichts wußte und nichts verstand. Er war von der kindischen Hoffnung beseelt, Menschen zu finden, die seine Ekstase mitfühlen und die ,Umwertung aller Werte' verstehen könnten. Er fand aber nur Bildungsphilister, ja tragikomischerweise war er selber einer, der, wie alle anderen, sich selber nicht verstand, als er in das Mysterium und das Nichtzusagende fiel und dies einer stumpfen, von allen Göttern verlassenen Menge anpreisen wollte. Daher die Aufschwellung der Sprache, die sich übersteigernde Metaphern, die hymnische Begeisterung, die vergebens versuchte, sich dieser Welt, die sich dem zusammenhanglosen Wissenswerten verschrieben hatte, vernehmbar zu machen. Und er fiel — dieser Seiltänzer — sogar noch über sich selbst hinaus. Er kannte sich nicht aus in dieser Welt — ,dans ce meilleur des mondes possibles' — und war darum ein Besessener, einer, der von seiner Umwelt nur mit peinlicher Vorsicht umgangen werden konnte. Unter meinen Freunden und Bekannten wußte ich nur zwei, die sich offen zu Nietzsche bekannten, beide homosexuell. Der eine endete mit Selbstmord, der andere verkam als unverstandenes Genie. Alle anderen standen vor dem Phänomen Zarathustra nicht etwa fassungslos, sondern waren schlechthin immun. Wie mir der ,Faust' eine Türe öffnete, so schlug mit,Zarathustra' eine zu, und dies gründlich und auf lange Zeit hinaus." 193 195

C. G. J., Erinnerungen, Träume, Gedanken. Aufgezeichnet u. hg. v. Aniele Jaffé. Rasdier Vlg. Zür. u. St. 1962, S. 108 ff.; s.a. ebd., S. 79, 157ff. (1910: Freud und

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1897 Aufnahme in die Literaturgeschichte

Im Jahre 1897 wird Nietzsche der Aufnahme in umfassendere literaturgeschichtliche Werke würdig: 285/1 Vogt, Prof. Dr. Friedrich u. Prof. Dr. Max Koch, Geschichte der Deutschen Litteratur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Lpz. u. Wien. Bibl. Inst. 1897. Erwähnt wird Nietzsche im letzten Abschnitt: Die jüngste Dichtung, S. 749: „Die naturwissenschaftlichen Lehren sind allmählich durch unzählige Kanäle auch in den Vorstellungskreis der breitesten Volksschichten geleitet worden, während die Gebildeten von Schopenhauer zu Eduard von Hartmanns ,Philosophie des Unbewußten' (1869) übergingen, um dann von Friedrich Nietzsche (geboren 1844 zu Naumburg) ,Jenseits von Gut und Bös' die Umwertung aller bisher geltenden sittlichen Werte, das Recht der Herrenmoral des Übermenschen zu lernen (,Also sprach Zarathustra', 1883—1891)." Sonst streift der Verfasser nur noch Nietzsches Einfluß auf Sudermanns „Glück im Winkel" (S. 756). 285/1 a Dass. 2., neubearb. u. verm. Aufl. 2. Bd.: Die neuere Zeit. Vom 17. Jahrhundert bis zur Gegenwart. Von Prof. Dr. Max Koch. 1904, S. 492 f. Etwas über eine halbe Seite wird nun dem „um jeden Preis nach Aufsehen erregenden neuen Anschauungen Hastenden" gewidmet, doch: so groß sein Einfluß auf die Jugend und Literatur ist, so verderblich zeigt sich die schwerlich lang andauernde Vorherrschaft der in blendenden Trugschlüssen und Sucht nach Paradoxen sich überstürzenden Philosophie Nietzsches." 285/1 b Dass. 4., neubearb. u. verm. Aufl. 3. Bd.: Neuere und neueste Zeit. Von der weimarischen Blütezeit bis zur Gegenwart. Von Prof. Dr. Max Koch. 1920. Nietzsche wird nun mehrmals erwähnt (s. Namensverz.), dodi bleibt die eigentliche Stellungnahme (S. 230 f.) mit Ausnahme einer unwesentlichen Erweiterung unverändert. Nietzscheschen Einfluß findet Verfasser bei Conrad (S. 246), Sudermann (S. 271), Schnitzler (S. 291), Hermann Burte (S. 310) und Gött (S. 322, 347 f.). 285/2 Leixner, Otto von, Geschichte der Deutschen Litteratur. 4., verm. u. verbess. Aufl. 2. TL Lpz. O. Spamer 1897. Im letzten, 48. Abschnitt: Ein Versuch. (Die Zeit von 1880 bis 1896), wird Nietzsche mit sechs Zeilen, als „Mischnatur von Dichter und Denker, die im Kerne krankte", abgetan. Doch begrüßt der Verfasser „die Wendung zum Idealanarchismus, trotzdem dieser auch ein Irrtum ist und in der Fassung Nietzsches viel Unheil in unreifen Köpfen anrichtet... Er wirkt als Gegengift gegen die Überspannung der Sozialdemokratie und wird helfen den berechtigten Individualismus umzugestalten, der innerhalb der Gemeinsamkeit sich zu behaupten vermag." (S. 1029) 285/2 a Dass. 7., m. d. 6. gleichlautende Aufl. 1906. Die Behandlung Nietzsches ist um eine Zeile angewachsen, ohne daß sich aber die Einstellung des Verfassers geändert hätte. (S. 1032 f.). Adler in ihrem Verhältnis zu Nietzsche), 193 (1916), 238. Jung, Carl Gustav (1875—1961), Psychiater und Psychologe.

1897 Hermann Hesse

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Im selben Jahr verglich Carl Gustav Vollmoeller in einem knappen Umriß Sturm und Drang und „ Jüngstdeutschland" : „Und was die grossen Persönlichkeiten anbelangt — in der zweiten H ä l f t e des Jahrhunderts treffen wir Richard Wagner, der Gründer des Reichs ist eine Persönlichkeit, die das ganze Ende des Jahrhunderts beherrscht: Bismarck, — und der Philosoph der Zeit und der Zukunft ist Friedrich Nietzsche, der Prediger des Individualismus, der Typus und Prophet des ,neuen Menschen*, der consequenteste, unerschrockenste Denker aller Zeiten und dabei einer der ausgeprägtesten Charactere in der Geschichte der Menschheit. — S e i n e Person ist es auch, die auf die bedeutungsvolle Strömung hinweist, welche sich in den letzten Jahren ,neben und im Gegensatz zum Realismus* in der Malerei, ebenso in der Philosophie und zuletzt auch in der Dichtung bemerkbar zu machen beginnt. Das Schlagwort dafür ist schon gefunden; — es heißt: ,Neu-Idealismus'." 193G

Im Jahre 1897 oder kurz davor wird audi Hermann Hesse der Gestalt Nietzsches begegnet sein, denn unter den vielen Bildnissen, die die Wände seines Zimmers in der Tübinger Zeit (Okt. 1895—Sept.1898) geziert haben, sollen zwei Bilder des Denkers gewesen sein;193b auch schrieb er im September 1897 an die Eltern: „Was Nietzsche Wagner war, ist für mich Chopin — oder noch mehr."19Sc

issa Die Sturm- und Drangperiode und der moderne deutsche Realismus. Ein Vortrag. Bln. 1897. Herrn. Walther, S. 48 f. i»3b Bernhard Zeller, H . H . in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. Rowohlt (Reinbeck b. Hamb. 1963), S. 32 f. Hesse, Hermann (Calw/Württemberg 2. 7.1877 — Montagnola 9. 8.1962), Schriftsteller, Nobelpreisträger 1946. " S c Ebd., S. 36. Über den Umzug nadi Basel sdirieb er: „Ich hatte keinen anderen Wunsch, als wieder nadi Basel zu kommen . . . Es gelang, und im Herbst 1899 kam idi wieder in Basel an, mit Nietzsches Werken (soweit sie damals erschienen waren) und mit Böddins gerahmter Toteninsel... idi hatte sdion ein kleines Heft Gedichte veröffentlicht, hatte Schopenhauer gelesen und war jetzt für Nietzsche begeistert. Basel war für midi jetzt vor allem die Stadt Nietzsches, Jacob Burckhardts und Böddins . . . Hier aber war alles getränkt vom Geist, vom Einfluß und V o r b i l d . . . Jacob Burckhardts, . . . aber ich war noch allzutief von Nietzsche bezaubert, um seinem direkten Einfluß ganz offen zu stehen." In: Ein paar Basler Erinnerungen. (Die Weltwodie. Zür. 22. 3.1951), zitiert n. Bernh. Zeller. H . H. Eine Chronik in Bildern. Suhrkamp (Ffm. 1960), S. 34. Die briefliche Äußerung des noch 17jährigen an Dr. E. Kapff vom 15.6.1895 verrät eigentlich mehr Altklugheit als wahre Kenntnis: „Den Richtungen der heutigen Literatur gegenüber verhalte ich midi ziemlich n e u t r a l . . . Außer der alten Sdiule, die von Weimar aus dirigiert wird, sehe ich vor allem zwei Strömungen. Die Eine, größere, ist französisdi-russisdi Die zweite ,Sdiule' umfaßt die aus dem Epigonenfludi emporringenden titanischen Geister, deren krampfhaftes Pathos oft recht unerquicklich ist. Der Erste dieser Richtung ist Richard Wagner — nicht nur in der Musik. Zu dieser Strömung gehört audi Nietzsche, der ,Übermensch', der neue Prophet." (Kindheit u. Jugend vor Neunzehnhundert. H . H . in Briefen u. Lebenszeugnissen 1877—1895. (Ausgew. u. hg. v. Ninon Hesse). 1966. Suhrkamp. (Ffm.), S. 491.

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1897 Karl Bleibtreu

286 Ritsehl, Otto D. theol. (a.-o. Prof. d. Theologie in Bonn), Nietzsches Welt- und Lebensanschauung in ihrer Entstehung und Entwicklung dargestellt und beurteilt. Freiburg i. B., Lpz. 1897. J. C. B. Mohr. VI, 58 S. Verfasser läßt Nietzsche auf den ersten 46 Seiten selber zu Worte kommen, um darzutun, daß es drei Perioden in dessen Entwicklung gegeben habe: „ . . . aus den atheistischen Voraussetzungen, die er von Schopenhauer mitgebracht hat", sei ein „überspannter Intellectualismus" hervorgewachsen, der sich zersetzt habe und in einen „instinctivistischen Standpunkt" übergegangen sei. „Das einzige constante Element in allen drei Perioden" sei der Atheismus gewesen. Durch „die Discrepanz zwischen Theorie und Praxis" aber ist es dem Verfasser „überhaupt fraglich", ob Nietzsches Sache, „wenn sie erst einmal den Reiz der Neuheit verloren hat, ein wesentlich größerer Erfolg bevorsteht, als derjenige Schopenhauers". 286 a Dass. (ord. Prof. d. Theologie in Bonn), 2. Aufl. Freiburg i. B. 1899. 2 Bll., 107 S. Die Seiten 1—7 ( = 1—5 d. 1. Aufl.) sind etwas umgeschrieben, die Seiten 76—107 ( = 46—58 d. 1. Aufl.) dagegen neugeschrieben. Am Anfang wie am Ende wird nun angesichts des inzwischen erschienenen zweiten Bandes (l.Abt., N r . 285) der Lebensbeschreibung der Schwester das Persönliche mehr hervorgehoben und der Verfasser stellt nun fest, daß von den Hauptgedanken Nietzsches „doch nur das Ideal der geistigen Vornehmheit und T a p f e r k e i t . . . als ein wirklicher, weil lebendiger Werth bestehen" bleibe. Während in der Erstauflage sich lediglich ein Hinweis auf die Schrift von Stein (Nr. 155 a) befand, lobt er nun die Schriften von Tönnies (Nr. 291), Kaftan (Nr. 298) und Riehl (Nr. 313). 287 Mumm, Reinhard (Düsseldorf), Nietzsche und der Nationalismus im Kyffhäuserverband. (ABl 11. Jg., 1896/97, S. 238 f., 255 ff.). Verfasser lehnt Nietzsche aus „deutschnationaler" sowie „christlicher" Sicht ab, läßt ihn aber dennoch zum Sdiluß als „Tod der herrschenden, flachen moralistischen Richtung..., die an christlicher Ethik unter Verwerfung christlichen Glaubens festhalten will", gelten. 288 Bleibtreu, Karl, Byron der Uebermensch, sein Leben und sein Dichten. Jena, Herrn. Costenoble (1897). 2 Bll., 263 S. Der Überschrift wegen fühlt sich der Verfasser verpflichtet, sich mit der „Nietzsche'sdien Phrase vom ,Übermensdien'" (S. 2) auseinanderzusetzen. Dies tut er aber erst auf S. 137 ff., nachdem er verschiedentlich auf die „aphoristische Geistreichigkeit" des „poetisirenden Philosophen" (S. 74), den „baaren Widersinn der Nietzsche'sdien verrückten Verbrechertheorie seines .Übermenschen'" (S. 90) und seine „verehrte Übermenschenbestie" (S. 103) hingewiesen hat. „Sein (d. i. Byrons) dämonischer Kraftüberschuß, sein im Selbstgenuß schwelgender Urwille, den nur kindisches Unverständniß mit blasirter Zerrissenheit verwechseln kann, fand lange vor Nietzsche das Jenseits von Gut und Böse. Aber es ist Nietzsche aus einem dichterisch angehauchten Denker in einen denkenden Dichter übersetzt und aus einem deutschen Philologen in einen englischen Lord." Nietzsche lebe „trotz all' seiner Betonung realistischer Lebensanschauung dennoch vollkommen im Wolkenkukuksheim". Zum Schluß stimmt er

1897 Ferdinand Tönnies

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Byron zu, daß Christus der Übermensch sei: „Dieser Gott-Mensch ist der Übermensch, nicht die Nietzsche'sdie Bestie." (S. 248) 289 anonym, Moderne Sophistik. Ein Wort über den Nietzsche-Kultus. (AELKZg 30. Jg., Nr. 3—7 v. 22. u. 29. 1., 5., 12. u. 19. 2. 1897, Sp. 49—52, 74—78, 98 ff., 124—127, 148—151). » . . . da man neuerdings versucht, durch öffentliche Vorträge die NietzscheGemeinde zu erweitern und insbesondere die studirende Jugend für ihn zu interessieren, so mag es angezeigt sein, audi hier ein Wort über die neueste Philosophie zu sagen." Nietzsche ist dem Verfasser eher als ein „Europäer von Übermorgen, ein Hellene von vorgestern", denn „Sophist ist er selbst durchaus in seiner radikalen Skepsis, in seinem Mißtrauen gegen jedes System". Dazu sei er „viel zu undeutsch, viel zu paradox, viel zu k r a n k h a f t . . . Wir trauen unserem deutschen Volk und der Macht der christlichen Bildung in ihm die Kraft zu, die Krankheit des Nietzsche-Kultus ohne Mühe zu überwinden." 290 Tönnies, Prof. Dr. F. (Hamburg), Nietzsche und die Humanität. (EK 5. Jg., Nr. 4 f. v. 23. u. 30. 1.1897, S. 28 ff., 36 f.). Vorabdruck des Schlußabschnittes des folgenden Werkes, S. 96—114. 291 Tönnies, Ferdinand (Hamburg), Der Nietzsche-Kultus. Eine Kritik. Lpz. O. R. Reisland 1897. XII, 115 S. Erschien audi schon im Januar. „Der schwärmerische, phantastisch-leidenschaftliche, überschwängliche Künstlergeist — das ist der echte Nietzsche. Im Kerne seines Wesens ist er immer ein ästhetischer Schöngeist geblieben." Dem Verfasser ist „das neueste und flüssigste Element in diesen Systemen (von Comte und Spencer), aus der Biologie hervorsprießend, die Lehre von den Thatsachen und der Entwicklung des menschlichen Zusammenlebens, die Sociologie". Nietzsche habe aber mit diesen Gedanken (d. h. biologischen und soziologischen Erwägungen) nur „gespielt", überall fehle „die wissenschaftlich brauchbare Begründung". Dem Verfasser ist ferner „der Geist des Zeitalters . . . nach seinen überwiegenden Merkmalen wissenschaftlich, nicht künstlerisch". Trotz alledem gibt er an, von „frühester Jugend (d. h. vom 16.—20. Lebensjahre) an, für diesen Autor geschwärmt" zu haben. 292 Engels, Eduard (Ulm a. d. D.), Darwin und Nietzsche. (Kr Bd. 10, Jan./Febr. 1897, S. 346—353). Verfasser ist im wesentlichen der Vorstellung der „natürlichen Auslese" verpflichtet, erkennt aber, daß man sie nidit länger „blind walten" lassen dürfe. Man müsse „ein bestimmtes Ideal aufstellen", und „unter all den vielen Idealen", die bisher aufgetaucht seien, findet er den „Übermenschen des Nietzsche am wenigsten willkürlich". Doch geht er dann dazu über, die Einwände gegen dessen Verwirklichung aufzuführen, und stellt zum Sdiluß fest, daß sich vom „Standpunkt des Darwinismus dem stolzen Traum einer Höher- und Herrlichergestaltung unseres Geschlechts nur ein wenig günstiges Horoskop stellen" lasse. 293 Bartels, Adolf, Die Deutsche Dichtung der Gegenwart. Die Alten und die Jungen. Eine Litteraturgesdiiditlidie Studie. Lpz. Eduard Avenarius 1897. Verfasser erwähnt Nietzsche nur an vier Stellen, doch ist seine entschiedene Ablehnung bemerkenswert. Ihm ist Nietzsche „eine Decadencenatur wie wenige,

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1897 Adolf Bartels

der Philosoph und Prophet der Decadence", der als „der größere Magus" des letzten „Sturm und Dranges" Peter Hille „verschlungen" habe und bei den Symbolisten „namentlich . . . zur Geltung" gekommen sei: „ . . . hatte doch auch er sdion etwas wie eine symbolistische Poesie geschaffen, die jetzt formell vielfadi maßgebend wurde; kurze prosaische Stücke im Orakel ton oder aus lauter farbigen, aber unklaren Bildern bestehend, wurden die Lieblingsform des Symbolismus." md 293 a Dass. 2. Aufl. (Neue erw. Ausg.) 1899. (Die Bezeichnung „Eine Litteraturgesdiichtliche Studie" ist weggefallen). Was Nietzsche betrifft, ist nur eine kurze Erwähnung im Zusammenhang mit Hebbel (S. 23 d. 1. Aufl.) entfallen und auf S. 252 ein Zugeständnis: „ . . . (dessen persönliche Größe und dessen Kämpfen gegen die Decadence ich selbstverständlich nicht verkenne)...", eingerückt. 294 Wilhelmi, J. H., Th. Carlyle und F. Nietzsche. Wie sie Gott suchten, und was für einen Gott sie fanden. 2. durchgesehene Aufl. Gött. Vandenhoeck & Ruprecht 1900. 114 S., 1 Bl. Dem Verfasser bedeutet Carlyle „eine Epoche", Nietzsche dagegen, „der .Feuilleton-Philosoph', nur eine Episode". Dieser habe „dem Egoismus des alten Adam, dem intensivsten Ich-Kultus auf den kürzesten Ausdruck verholfen und ihm ein neues, in Geistreidiigkeit glitzerndes Mäntelchen umgehängt, das seine Blöße und Mißgestalt nicht verhüllen kann". Was es dennoch erlaube, die beiden nebeneinander zu stellen, sei der „eigentümliche Parallelismus . . . ihrer beiderseitigen Entwicklung,... eine ganz von religiösen Antrieben beherrschte innere Entwicklung", bei der es sich „um nichts Geringeres" handle „als die Frage nach einem Gott in der entgötterten Welt dieser Zeit". Sie seien beide „aus einer christlich behüteten Jugend in die scharfe Luft des modernen Geisteslebens" gekommen, haben „im Ringen um die W a h r h e i t . . . das Studium der Theologie aufgegeben", „ringen sich los aus dem großen Nein und erreichen mit äußerster Kraftanstrengung eine neue, aber entgegengesetzte Weltbejahung". Nietzsche werde durch „den Schatten des Göttlichen, das er verleugnet hat, in den Abgrund geführt", während Carlyle entdecke, „daß G o t t n i c h t t o t ist". 295 Fudis, Georg Friedrich, Friedrich Nietzsche. Sein Leben und seine Lehre mit besonderer Berücksichtigung seiner Stellung zum Christentum. St. Chr. Belser 1897.41 S. ( = Zeitfragen d. diristl. Volkslebens. Hg. v. Frhn. v. Ungern-Sternberg u. Pfarrer Th. Wahl. Bd. X X I I , H . 8, S. 355—395, = H . 168 der ganzen Reihe). Nach „allgemeinen, auf das christlich-sittliche Wesen der Lehre Nietzsches" bezüglichen Sätzen beleuchtet der Verfasser als „besondere Partie . . . das Verhältnis von Mann und Weib, ein Gebiet, auf dem die christliche Lehre unter den verschiedenartigsten Völkern ihre großartigen neuen Ideen in Fluß gebracht hat", und wie Nietzsche sich zu der „christlichen Auffassung der Geschlechter als sittlicher Gleichheit (nicht Einerleiheit) teilhaftig und gleichen sittlichen Wertes" verhalte. Daß man aber Nietzsche „ernsthaft, . . . als einen deutschen Schriftsteller und Philosophen zu nehmen" habe, will der Verfasser dann beweisen mit dessen 183d

Bartels, Adolf, geb. am 15.11.1862 zu Wesselburen/Holstein.

1897 Paul Mongré

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„Urteilen über deutsche Klassiker", um schließlich darzutun, daß er „mit allen seinen natürlichen Gaben der Pfahlwurzel" entbehrt habe, „die ein Herz fest macht". Hierzu wendet er sich dem Lebensgeschichtlichen zu: „Das Experiment seiner ersten Periode ist gescheitert: die Kunst an die Stelle Christi und des Christentums zu setzen," so mache er „in der zweiten und dritten den Versuch, auf atheistischer und materialistisch-darwinistischer Grundlage ein System aufzubauen, welches das, was das Christentum durch die Erlösung und Seligkeit gibt, ersetzen will durch die Erziehung, die Ausbildung der natürlichen Anlagen der besonders begabten Menschen und die Fortpflanzung ihrer Gaben in der Menschheit". Zum Schluß ruft er zur ernsten Abwehr auf und vergleicht Nietzsche mit „einem Karlstadt zur Zeit des Bildersturms, einem Thomas Münzer zur Zeit des Bauernkriegs und Rousseau und Voltaire zur Zeit der französischen Revolution". 296 Weisengrün, Dr. Paul (Wien), Zur Psychologie Nietzsche's. (WRs BD. 1, Nr. 4 v. 15.1.1897, S. 186—190). Mit diesem Aufsatz möchte der Verfasser Nietzsche „vor den Nietzscheanern retten, ohne ihn den Philosophieprofessoren, den falschen Systematikern und den Moralisten preiszugeben". Nietzsche sei „instinctsicher" gewesen, aber seine „Instinctsicherheit" sei bloße „Philologendenkgewohnheit, höhere Interpretationskunst". Die „Grundformel seines Wesens" sei, daß er „Dekadent durch und durch" sei: „Sein Verhältniss zu seinem Übermenschen ist das der Romantiker zu Shakespeare oder zum deutschen Mittelalter." „Als Individualpsychologe" sei er „höchstens fähig, mit Vollendung S e l b s t a n a l y s e zu treiben, nie aber Seelenkunde des fremden Ichs". AS Friedrich Nietzsche: Von Gesellschaft und Staat. (Z Bd. 18, 16.1.1897, S. 106—113). Vorabdruck von Stellen, die darauf im XI. Band der Gesamtausgabe auf S. 30—79 erschienen sind. AT Friedrich Nietzsche: Die Gefahr Wagner. (Z Bd. 18, 23.1.1897, S. 167 bis 174). Vorabdruck von Stellen, die darauf im XI. Band der Gesamtausgabe auf S. 99—137 erschienen sind. 297 Mongré, Paul (d. i. Prof. Dr. Felix Hausdorff), Sant' Ilario. Gedanken aus der Landschaft Zarathustras. Lpz. C. G. Naumann. 1897. VIII, 378 S., 3 Bll.194 194

Hausdorff, Felix (Breslau 8.11.1868 — Bonn 26.1.1942, durch Selbstmord angesichts der Judenverfolgungen), Astronom, Professor der Mathematik in Leipzig, Greifswald und Bonn, Schöpfer der axiomatisdien Grundlage von Mengenlehre und Topologie, sonst Verfasser von: Das Chaos in kosmischer Auslese. Ein erkenntniskritischer Versuch. C. G. Naumann, Lpz. 1898/Ekstasen. Lpz. 1900. Herrn. Seemann N f . 2 Bll., 216 S. ( = ein Gedichtband, in dem sich auf S. 206: „Zarathustras Liebeslied", wie auch sonst in manchem Gedicht Anklänge an Nietzsches Gedanken und Wendungen finden lassen) / Der Arzt seiner Ehre. Komödie in einem Akt m. e. Epilog. 1910. Leipziger Bibliophilen-Abend. 12 Bll., 8 Holzschn., 71 S., 1 Bl. ( = beschränkte Aufl. v. 99 Exemplaren).

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1897

„ D e r Philosoph nach Nietzsches T r a u m " , d. h. „der cäsarische Züditer und Gewaltherr mit ökumenischen Zielen", ist dem Verfasser ein „recht unbedenklicher Altruist". Diesem entgegen stellt er den „Egoisten", auf dessen Seite er „alle Vernunft und Wissenschaft" findet. „Was wir Neueren erstreben . . . : dem Individuum bei gegebenem Volumen ein Maximum von Oberfläche anbilden, seine Verwundbarkeit, die Fülle seiner Beziehungen, das Bereich seiner Erlebnisse steigern, seine Empfindlichkeit auf alle Töne und Farben und Vierteltöne und Zwischenfarben stimmen." „ M a n bemüht sich umsonst", meint er gegen Schluß, „die immer erneute Parteinahme gegen sich selbst, die schmerzliche Stufenfolge von Selbstentzweiung und Selbstüberwindung aus Nietzsches Entwicklung fortzudenken; der bei modernen Seelen ohnehin schon so hoch hinauf getriebene ,innere Widerstand' ist bei ihm ein Maximum — daher die Widersprüche vor- und rückwärts, die beständige Überschreitung der Gleichgewichtslage". „Nietzsche hatte, wie Wagner, ein Auge f ü r bezaubernde Halbwahrheiten, Beiden fehlt der dürre Ernst der wissenschaftlichen Verallgemeinerung." Dem Verfasser ist die Philosophie „Religion oder Kunst auf Umwegen", daher sind ihm „die philosophischen Gedanken, die aufblitzenden und schon wieder verschwindenden Perspektiven, jene Plötzlichkeiten und Abgrundblicke, die uns mitten im Nebel etwas vom Hochgebirge verrathen", die wertvollsten. Zarathustra-Worte finden sich auf S. 81, 85, 96, 200, 222 f., 225, 238 f., 289, 313 fif., 346 f., 349 f. Zum Schluß bringt er eine Anzahl Sonette und Rondels, unter denen sich zwei finden: „ D e r Übermensch. (Novalis an Nietzsche.)" und „Die blaue Blume. (Nietzsche an Novalis.)", die er als Gegenpole auftreten läßt. Sonst strotzt das Werk von Nietzschesdiem Wortschatz und Nietzschescher Ausdrucksweise. 298 K a f t a n , D . Julius (ord. Prof. d. Theologie a. d. Univ. Berlin), D a s Christentum und Nietzsches Herrenmoral. Ein Vortrag gehalten im Berliner Zweigverein des Evangelischen Bundes. Bln. G. Nauck. 1897. 24 S. Nachdem der Verfasser Nietzsches Werdegang und dessen Herrenmoral umrissen hat, stellt er zum Schluß dieser die Lutherworte: „Durch die Liebe jedermanns Knecht, durch den Glauben aber Herren und Könige aller D i n g e " , entgegen. 299 (Mehring, Franz), Nietzsche gegen den Sozialismus. ( N Z 15. Jg., l . B d . , N r . 18 v. 30. 1.1897, S. 545—549). Schopenhauer, H a r t m a n n und Nietzsche werden als „die drei Modephilosophen" des deutschen Bürgertums hingestellt. Die ersten beiden werden schnell abgetan, um zu Nietzsche zu gelangen und dessen Ansichten über den Sozialismus, wie sie in der „ Z u k u n f t " (s. A S ) erschienen waren, als Abklatsch und Plagiat von Gedanken von Leo und von Treitschke darzutun. Zum Schluß heißt es: „ E s ist beinahe nodi eine Beleidigung für die Börsenjobber und die Reptile, wenn man sagt, daß sie den Sozialismus aus denselben Gedankenkreisen heraus bekämpfen, wie Nietzsche." 1 9 5 1,5

Ähnliche Gedanken entwickelt der Verfasser in seiner „Geschichte der Deutschen Sozialdemokratie." 2. Tl.: Von Lassalles Offenem Antwortschreiben bis zum Erfurter Programm. 1863 bis 1891. St. J . H . W . Dietz Nf. 1898. ( = Die Gesch. d. Sozialismus in

1897 Wilhelm Arent

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299 a Auch in: F. M., Zur Geschichte der Philosophie. M. Einl. u. Anhang v. Aug. Thalheimer. Soziologische VA (Bln. 1931, S. 188—193). ( = Ges. Schriften u. Aufsätze. Bd. 6). 299 b Auch in 121 b., S. 17—24.

Wie offen ein „Führer" der Jüngstdeutschen noch im Jahre 1897 seine Ablehnung und noch dazu seine Unkenntnis Nietzsches aussprechen konnte, beweisen Worte von Wilhelm Arent: „Nietzsche schrieb ein Werk — wahrscheinlich in seiner von den guten Baslern ,Gifthütte' getauften Wohnung zu Basel: — ,Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik'. Ich kenne dies Werk leider nicht, wie ich überhaupt v o n Nietzsche fast nichts gelesen haben (desto mehr allerdings über ihn und Extrakte seiner Schriften, wie sie Anhänger und Schüler bieten.) Nur in seinem Zarathustra blätterte idi, seine Hymne an die Einsamkeit und ähnliches an Gedichten aus seinem Nachlasse bewundere ich, und jüngst wurde mir die so prächtig pietätvolle Biographie der Schwester Nietzsche's, der Frau Förster, zugesandt. Aber der geistreiche österreichische N o v e l l i s t . . . Josef Stolzing hat mir kurz und prägnant den Inhalt skizziert. Auf Grund dieser Wiedergabe des Inhalts der Broschüre komme ich zu dem Schluß: Nietzsdie's Arbeit ist mehr eine sehr feine, parallelenwütige, hochgeistreiche, ästhetisch-historische Klügelei und dürften Nietzsche's Resultate betreffs des Falles Wagner nicht als vom Vollblutodem, von der heißen Thatsadien-Wahrheit des lebendigen Lebens getragene unumstößlidie Axiome verehrt werden." 1950 300 Holtzmann, H. (Straßburg i. E.), (DLZg 18. Jg., Nr. 7 v. 20.2.1897, Sp. 247 ff.).1»» Besprechung der Nietzsche-Bücher von Kaftan (Nr. 298) und Ritsehl (Nr. 286). Verfasser findet es „durchaus gerechtfertigt, wenn die Werke des ersten Stilisten, den die deutsche Litteratur der Gegenwart aufzuweisen hat, nunmehr auch theologischerseits eingehend auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden". Obwohl er beide Werke lobt, ist ihm das Ritschis „sehr viel eingehender". 301 Hasse, Robert, Zur Moralphilosophie Friedr. Nietzsche's. (NI Bd. 2, 1897, S. 25—31). Verfasser weist die Behauptung zurück, daß „die modernen Großkapitalisten jene Herrenklasse" vorstellen, „deren Leben in Schönheit und Glück Nietzsche in Einzeldarstellungen. 3. Bd., 2. Tl.), worin es heißt: die Kritiker der „Modernen Sdiule" hätten „ihr paar rasselnden Schlagworte von Nietzsche gelernt, dem Philosophen der großkapitalistischen ,Ubermenschheit', der seinerseits die alten Hefte Leos und Treitschkes plünderte, um überhaupt etwas vom Sozialismus sagen zu können, und wäre es nicht mehr, als der erste beste Jobber oder das erste beste Reptil davon zu sagen hat. Begabte Jünger Nietzsches wurden Bismarckische Pack- und Preßknedite des gewöhnlichsten Schlages, feierten übersdiwenglidi die russische Knute, härteten ihre Hand durch Begrüßung mit dem schlimmsten Polizeigesindel des Sozialistengesetzes". »»5a w . Α., Auf neuen Bahnen. Bln. 1897. Aug. Deubner, S. 79 f. Arent, Wilhelm, geb. 1864 zu Berlin, vornehmlich Lyriker. 1M Holtzmann, Heinridi Julius (Karlsruhe 17. 5.1832 — Baden-Baden 8. 8.1910), evangelischer Theologe, Professor für Ν . T. in Straßburg 1874—1904.

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1897 Der Widmann-Gast-Streit

so leuchtenden Farben malt" — er denkt hierbei wahrscheinlich an Mehring (Nr. 299). Nietzsche stamme „aus einer Klasse, die den Höhepunkt ihrer Entwicklung überschritten hat", und vermöge sich nicht „zur Erkenntnis seiner Klasse f ü r die fernere Entwicklung der Menschheit in aufsteigender Linie durchzuringen". Dem Verfasser ist eben „der Emanzipationskampf des Proletariats . . . nothwendige Vorbedingung alles Weiteren"; es ist ihm gerade der „vielgeschmähte ,Klassenkampf'", der dem Zwecke diene, den „höheren Menschentypus heranzuzüchten". 302 Poppenberg, Felix, Nietzsche-Episoden. (Fr März 1897, S. 350—357). Eine warme Besprechung der ersten beiden Bände der Lebensbeschreibung (Nrn. 238, 285), bei der die Gestalt Wagners und die der Cosima etwas über Gebühr gewürdigt werden. 303 Paulsen, Friedrich, Zum Nietzsche-Kultus. (VZg Sonntagsbeil. N r . 11 v. 14. 3.1897). Nimmt die Nietzsche-Bücher von Tönnies (Nr. 291) und Kaftan (Nr. 298), die er beide „namentlich jugendlichen Lesern Nietzsches empfehlen" möchte, zum Anlaß, Nietzsche des „intellektuellen Anarchismus" zu bezichtigen. Er findet, die Nietzsche-Begeisterung „Jungdeutschlands" sei eine „Reaktion des Subjekts gegen das lange Niedergeredet- und Niederkorrigirtwerden, dem es in der Schule und in der Kirche, in der Gesellschaft und im Staat ausgesetzt ist". 304 anonym, Aus der Biographie Fr. Nietzsches. (NMZg Bd. 18, 1897, S. 85 f., 97 f.). Umreißt das Nietzsche-Wagner Verhältnis, wie es im zweiten Band der Lebensbeschreibung (Nr. 285) dargestellt wird. 305 Bettelheim, Anton, (Cosmopolis. London. Vol. 6, N o . 16, 1897, S. 275 bis 278). In den ersten zwei von drei Abschnitten betitelt: Deutsche Bücher, bespricht der Verfasser Werke von Fr. Naumann, Paul Göhre und Peter Rosegger; im dritten wendet er sich dem zweiten Band der Lebensbeschreibung der Schwester (Nr. 285) zu und erzählt dessen Inhalt nach. 306 Widmann, J. V., „Kölnische Zeitung", „Temps", Nietzsche und Brahms. (Β 8. 4. 1897). Veranlaßt durch zwei Aufsätze, die sich gegen Brahms richteten und dazu den Spruch Nietzsches: „Brahms steht mir am höchsten, wenn er die Melancholie seines Unvermögens besingt", verwerteten, meint Widmann, wenn man Nietzsche von diesem Spruch her beurteile, habe man „die Wahl zwischen einem in seiner Autoreitelkeit gekränkten und sich rächenden oder einem über seiner musikalischen Uberzeugungen niemals ganz sichern, wetterwendischen Schriftsteller". 307 Riehl, A(lois), Nietzsches Lehre von dem Übermenschen. (Wh 8. Jg., 2. April-Heft 1897, S. 33—41). In Nietzsches Gedankenkreis nehme diese Lehre „die Stelle der Religionsphilosophie" ein. Er habe aber dabei „die Lebenskraft und Erneuerungsfähigkeit des Christentums" unterschätzt. Obwohl er die „Ausdrucksfähigkeit unserer Sprache erweitert und Probleme aufgeworfen" habe, „welche die Philosophie der

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Kultur und Moral nodi beschäftigen werden", bleibe der Weg, den er selbst zu ihrer Lösung gezeigt habe, „verbaut". 308 Walde, Philo vom, Die Mutter Friedrich Nietzsches. (BT v. 4. 5.1897). Ein Nachruf auf den Tod der Mutter, bei dem einige Einblicke in das Leben des kranken Nietzsche gegeben werden. 309 Meyer, Dr. Johann Georg, Friedrich Nietzsche als Ethiker. (BurBl Bd. 11, 1897, S. 90—97, 117—122). Als Zweck des Aufsatzes will der Verfasser es verstanden wissen, „der Jugend eine Waffe" gegen die Gefahr, die die Ansichten der zweiten Periode (d. h. alles nach den „Unzeitgemäßen") darstellen, „in die Hand zu geben", denn „aus dem deutschen Patrioten ist ein ,Heimathloser' und Deutschenverächter, aus dem Verehrer der Religion ein fanatischer Hasser derselben... geworden". Weitgehend Nietzsche selber zu Worte kommen lassend stellt der Verfasser Ansicht gegen Ansicht, um dann behaupten zu können: alles (d. h. „tiefe Gedanken von psychologischer Wahrheit, von großer Menschen- und Selbstkenntnis") werde von „Widersprüchen und Unklarheiten überwuchert". Doch da, „wo er als Dichter spricht, ahnen wir den ganzen Reichthum seiner Gefühle", und so endet der Verfasser mit einigen Versen aus „Ruhm und Ewigkeit". 310 Gast, Peter (Annaberg im Erzgebirge), Nietzsche und Brahms. (2 Bd. 19, 8. 5.1897, S. 266—269). Erwiderung auf den Aufsatz von Widmann im Berner Bund (Nr. 306). Nietzsche habe aus Dankbarkeit ein Exemplar seines „Hymnus an das Leben" an Brahms geschickt, da er erfahren hatte, dieser habe „Jenseits" schon gelesen und wolle sich dann an die „fröhliche Wissenschaft" machen. Hierzu bringt Gast das Dankschreiben von Brahms. Einige Aufmerksamkeit dürften auch seine Ansichten über das, was Nietzsche zu Brahms hinzog und von ihm abstieß, verdienen. 311 Widmann, J. V. (Bern), Brahms und Nietzsche. (2 5. Jg., Nr. 33 v. 15. 5.1897, S. 326 ff.). Findet die Entgegnung von Peter Gast (Nr. 310) nicht stichhaltig und besteht darauf, daß die scharfen Worte Nietzsches gegen Brahms im „,Fall Wagner' gekränkter Eitelkeit" zuzuschreiben seien. Gasts Behauptung, „die Karte von Brahms hat Nietzsche gefreut", gelten lassend, führt er drei kurze Stellen aus Briefen Nietzsches an den Verfasser an, die beweisen sollen, wie „wetterwendisch der große Philosoph" sei. Hier im Falle der Besprechung seiner Werke durch Carl Spitteier (Nr. 78). 312 Servaes, Franz, Goethe am Ausgang des Jahrhunderts. Bln. S. Fischer. 1897. 4 Bll., 48 S. Verfasser gibt Hinweise auf Nietzsches Stellung zu Goethe auf S. 29, 32 f., 45, sonst verrät sich Nietzsches Einfluß in der Fragestellung und Sprache des Verfassers. 313 Riehl, Alois, Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker. Ein Essay. St. Fromman. 1897. 1 Taf., 132 S. ( = Frommanns Klassiker der Philosophie VI).

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Eine Um- und Ausarbeitung von früher erschienenen Aufsätzen (Nr. 254, 281, 282, 307). Im ersten Teil (S. 9—25) ist die Schrift um mehrere Zeilen umfassende Stellen verkürzt und um absatzlange vermehrt, letztere zumeist eine Frucht des inzwischen erschienenen ersten Bandes der Lebensbeschreibung (Nr. 238) sowie der beiden Nadilaßbände. Im zweiten nur unwesentlich geänderten Teile findet sich nur ein Neues: Nietzsche habe sich ein großes Verdienst erworben, indem er „dem Naturalismus in der Behandlung der Sprache den Stil gegenübergestellt und wieder gezeigt, was Stil in der Sprache ist". Im dritten Teil, Abschnitt 1—4, finden sich hauptsächlich kleinere Hinzufügungen aus dem zweiten Band der Lebensbeschreibung (Nr. 285). Der fünfte Abschnitt dieses dritten Teiles ist das einzige bisher Unveröffentlichte an der Schrift. Hierin findet der Verfasser, das moralische Schema Nietzsches sei „nur schlechte Hegeische Geschichtskonstruktion, deren Resultate bereits vor der Untersuchung festliegen". Bis auf eine längere Stelle entspricht dann wieder der sechste Abschnitt dem früher erschienenen Aufsatz. Sonst ist in der gesamten Schrift eine etwas negativere Einstellung gegenüber Nietzsche zu bemerken, als in den einzelnen Aufsätzen. 313 a Dass. 6. Aufl. 1920. 1 Taf., VIII, 171 S., 4B11. ( = Vlgs.-anz.). Etwas erweitert, aber im wesentlichen unverändert geblieben; die Seiten 167—171 enthalten neu Namen- und Sachregister. 313 b Dass. 8. Aufl. 1923. 1 Taf., VIII, 156 S., 2 BU. ( = Vlgs.-anz.). Namenund Sachregister sind fortgefallen, sonst unverändert. 314 Salis-Marschlins, Meta von (Dr. phil.), Philosoph und Edelmensch. Ein Beitrag zur Charakteristik Friedrich Nietzsche's. Lpz. C. G. Naumann. 1897. 2 Bll., 110 S., 1 Bl. Das Werk erschien erst nach Mai 1897. Sieht in Nietzsche einen Verkünder der langsam emporkommenden „Aristokratisierung", die sich der „großen Schlammwelle der Demokratisierung" entgegenstemme. Bekanntschaft mit Nietzsches Schriften in Venedig im Sommer 1881 durch einen „damaitinischen Maler", einen Herrn R(askowitzsch), Schützling von Peter Gast, der Nietzsche auch persönlich kannte. Nachdem sie im Kreis der Malwida in Rom im Winter 1878/79 von Nietzsche gehört hatte, lernte sie im Sommer darauf in Naumburg Mutter und Schwester und am 14. Juli 1884 als Studentin in Zürich Nietzsche persönlich kennen. Über „seine Stellung zu den Frauen und die zunehmende Schärfe des Tons im Urtheil über sie", meint die Verfasserin, man müsse ihm das Recht zugestehen, „in einem Punkte fehlzugreifen". Sie traf ihn, der gerade in Begleitung von Helen Zimmern und den Engländerinnen Fynn war, vom 8.—10. September 1886 in Sils Maria wieder. Am 3. Mai 1887 in Zürich begegneten sie einander nochmals. Sie waren beide sieben Wochen zur gleichen Zeit in Sils und haben des öfteren miteinander gesprochen (Ende Juni 1887 — Anfang September 1887). Ende Juli 1888 traf sie ihn wieder in Sils auf „ein paar Wochen". Unter den vielen Gesprächsstellen bringt die Verfasserin audi Stellen aus elf Briefen Nietzsches an sie. 315 Gallwitz, H . (Sigmaringen), (PJb Bd. 88, H . 2, 1897, S. 324—342). Eine Sammelbesprechung der Nietzsche-Bücher von Tönnies (Nr. 291), Ritsehl (Nr. 286) und Kaftan (Nr. 298) und der vier Aufsätze von Riehl (Nrn. 254, 281,

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282, 307). „Den ersten Platz" verdiene die Sdirift von Tönnies, „nicht nur weil sie auf genauester Kenntnis der Nietzsdiesdien Schriften beruht, sondern vor allem, weil N.s Meinungen und Irrungen für den Verfasser die Bedeutung einer persönlichen Angelegenheit haben". Besprecher findet auch, daß „den Einwänden gegen einzelne Sätze N.'s in der Regel beigestimmt" werden müsse. An den Aufsätzen Riehls lehnt er die Bezeidinung Nietzsches als eines „Buddhistischen Heiligen" ab; er sei in allen drei Perioden „immer Kraftmensch": „Sein Extravagiren und seine Haltlosigkeit in jeder Phase der Entwicklung rühren daher, daß er niemals die rechte Stellung zum Objekt findet." In seinem Bemühen, „jegliche Abhängigkeit von den Objekten der Erfahrung von sich abzustreifen", habe er „die letzten Konsequenzen der Kantsdien Freiheitslehre gezogen". Er lehnt Ritschis These ab, der Atheismus sei „das Stück . . . , in welchem N. sich immer gleich geblieben ist", da dieser als „negativer Begriff niemals ein Bindeglied zwischen verschiedenen Perioden fruchtbarer, schöpferischer T h ä t i g k e i t . . . sein" könne. Wolle man „N. gerecht werden, so muß man zugestehen, daß er ernster und strenger als andere Denker sein Leben in den Dienst der Moral gestellt hat". Kaftans Werk tut er kurz ab: jener urteile schließlich, „als ob der Inhalt der Moral als eine unverbindliche Größe gegeben sei und von jedem Vernünftigen als selbstverständlich anerkannt werden müsse", und so könne man „freilich N . nicht gerecht werden". Durdi einen „Mangel seines Innern" sei sein „reicher, tiefer Geist wie ein Feuerwerk verpufft" : „Es ist der Mangel an Religion, die ihr größter Prophet in diesem Jahrhundert als Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit gedeutet hat." „Er hat aber nicht nur sich selbst verzehrt, auch auf dem Acker der Moralwissenschaft hat er viele dürre, theoretische Formeln, Gesetze und Vorurtheile verbrannt und den Boden für eine neue Saat bereitet." 316 Berg, Leo, Der Übermensch in der modernen Litteratur. Ein Kapitel zur Geistesgeschichte des 19. Jahrhunderts. Paris, Lpz., Mchn. Albert Langen 1897. XIS., 1 Bl., 281 S., 1 Bl. Verfasser will mit diesem Werke „die Genealogie des Begriffes .Übermensch'" geben und beginnt, da „der alte Jehova tot" sei, mit einer Darstellung des neuen Gottesbegriffes bei Kant, Fichte und Feuerbach unter Hinweisen auf Schelling und Hegel. Dabei findet er aber auch schon Andeutungen des „Über- und Unterganges des Pantheismus in den Individualismus, . . . des Überwesens in den Übermenschen", in Sprüchen des Angelus Silesius. Er setzt seine Untersuchung über Stirner, Kierkegaard, Carlyle, Emerson, Schopenhauer, Flaubert, Renan und Comte fort, um darauf nach Deutschland zurückzukehren, das „den Ruhm" habe, „wie es den Keim des Übermenschen ausgestreut hat, daß in ihm auch der Baum des neuen Glaubens in die Krone geschossen ist". Er knüpft bei Paul de Lagarde an und führt dann unmittelbar auf Nietzsche, bei dem „alle die Motive zusammenkommen, die in einzelnen vorher zu den Ideen des neuen Adels, der starken Individualität, des neuen Heros führten". Bei ihm werde „aus einem Begriffe ein neuer Gott, nachdem aus dem alten Gotte ein Begriff" geworden sei. Auf dem Gebiet der Literatur sieht er ähnliche Strömungen in Kleist (Michael Kohlhaas), Otto Ludwig (Erbförster), Immermann (Merlin), Hebbel (Judith), Wagner (Sieg-

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fried) und Heine; ebenso bei Dostojewski (Raskolnikow) und Ibsen (Kronprätendenten, „das hier angeschlagene Thema vom königlichen Ubermenschen klingt durch Ibsens ganze Dramatik hindurch"). Strindberg (Tschandala, An offener See) ist ihm „derjenige moderne Dichter, der zuerst von Nietzsche ausgegangen ist". In Wilbrandts „Osterinsel" (Nr. 207 „ . . . die bedeutendste Arbeit" und „einer der vortrefflichsten Romane, die unsere Zeit hervorgebracht hat") sieht er „einstweilen das wichtigste und lehrreichste Phänomen, das die Begegnung Zarathustras mit den deutschen Bildungsidealen" hervorgebracht habe. Bei Paul Heyse (Über allen Gipfeln, Nr. 208) „kapituliert der Übermensch vor der höheren Tochter". Weitere Gestaltungen findet er bei Hans Hoffmann (der eiserne Rittmeister, Landsturm, Der Teufel im Sande), J. V. Widmann (Jenseits von Gut und Böse, N r . 151) und Viktor Naumann (Ikaros). Bei den „Jungdeutschen" angelangt stellt er fest, daß die „Geschichte des Übermenschen" in ihrem Falle „beinahe die Geschichte ihrer Bewegung ausmacht". Er behandelt darauf Karl Bleibtreu (Der Ubermensch), Hermann Conradi (Phrasen, N r . 71), Arno Holz ( „ . . . der gesundeste und mithin uninteressanteste Typus des Jungdeutschthums"), Hauptmann (Heinrich in der „Versunkenen Glocke" sei aber „kein Übermensch, nicht einmal ein Mann, sondern ein schwaches, schwankendes Menschenkind, das ins Lidit will, aber in die Finsternis hineinstolpert"), Ludwig Fulda, Richard Voß, Hartleben (Hanna Jagert, „ . . . die Komödie von dem weiblichen Ubermenschen"), Sudermann (Heimat), Laura Marholm (Karla Biihring), Wedekind (Der Erdgeist), Langbehn („Das philosophische Grundbuch des jungen Deutschland war bis vor kurzem nicht das Zarathustra-, sondern das Rembrandtbuch"), Dehmel (Der Mitmensch), Przybyszewski, Mackay, Maria Janitschek, Julius Hart, Franz Evers, Robert Steinhauser, Morgenstern, um sehr anerkennend mit Björnson (Über unsere Kraft, „ . . . das Schwanenlied des Übermenschen") zu schließen. Anführenswert sind einige Eindrücke des Verfassers vom frühen „Nietzscheanismus": „Nachdem Nietzsche aber sein Zauberwort ausgesprochen hatte, war in Deutschland plötzlich alles Übermensch... Man machte Schulden, verführte Mädchen und besoff sich, alles zum Ruhme Zarathustras. Einen sogar kenne ich, der meint, zu den besondern Rechten des Übermenschen gehörte auch, in Gesellschaft um sich herumzuspeien und mit den Fingern in schmutziger Gier zu essen. Bei einem Renkontre mit den Nachbarn, die gegen diese Schweinerei energisch protestierten, berief er sich stolz auf seine Individualität, und daß er Nietzscheaner wäre . . . Ein Anderer giebt seinem kleinen Buben Schnaps zu saufen, und wenn man sich solcher Gemeinheit verwundert, erklärt er ganz entschieden: der soll ja doch der Übermensch werden und muß früh dazu angehalten werden." (S. 216 f.) 317 Türck, Hermann, Der geniale Mensch. Jena u. Lpz. O. Rassmann. 1897. 4 Bll., 263 S., 2 Bll. Über Nietzsche zusammen mit Stirner, Ibsen und Strindberg im letzten Abschnitt: „Der bornierte Mensch als Gegensatz zum genialen, und die Philosophie des Egoismus", S. 245—263. Nennt Stirner Nietzsches Vorgänger, der, „nur mit ein wenig andern Worten, aber im Grunde viel klarer und präziser als Nietzsche", die Lehre „des Anarchismus oder der auf sich beschränkten oder bornierten Indi-

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vidualität entwickelt" habe, und stellt Nietzsche neben Stirner, Ibsen (bes. in „Hedda Gabler" und „Baumeister Solneß") und Strindberg (bes. in „Fräulein Julie") als Vertreter der „sittlichen, intellektuellen und künstlerischen Borniertheit" hin. 317 a Dass. 2. Aufl. 1897. 4 Bll., 263 S. Bis auf wenige stilistische Änderungen ein unveränderter Abdruck der ersten Auflage. 317 b Dass. 3. stark verm. Aufl. Bln. 1898. Ferd. Dümmler. IXS., I B I . , 378 S., 1 Bl. Verfasser berichtet im Vorwort: „Die Vorlesung über Stirner, Nietzsche und Ibsen ist durch eine größere Abhandlung über Nietzsche vermehrt worden, die sich im wesentlichen mit dem Hauptteil meiner Schrift .Friedrich Nietzsche und seine philosophischen Irrwege' (Nr. 118) deckt." Der Abschnitt heißt nun: „Der bornierte Mensch als Gegensatz zum genialen, und die Antisophie des Egoismus", S. 307—366. Nietzsche-Fundstellen sonst auf S. 47 ff., 67 ff., 195, 236 f., 251, 257, 259, 260, 277 ff., 282, 298, 370 f. Zum dritten Abschnitt sind sieben Absätze hinzugekommen, in denen der Apostel Johannes, Jacob Böhme und Luther auf Seiten der „Guten" zu Worte kommen. In drei Absätzen ist auch einiges zum Schluß des vierten Abschnittes hinzugefügt. Der Schluß des fünften Abschnittes ist leicht geändert und um zehn Absätze verlängert. Dem achten Abschnitt sind 31 Absätze angehängt, in denen ein erneuter Seitenhieb gegen Nietzsche geführt wird. Der ganze neunte Abschnitt ( = Das weltliche Übermenschentum Alexanders, Cäsars, Napoleons, S. 253—282) ist neu. Hierin will der Verfasser gezeigt haben, „daß das weltliche Übermenschentum nur äußerlich und in seiner Entfremdung von sich selbst, in seiner krankhaften Entartung mit dem Stirner-Nietzscheschen Übermenschentum verwandt ist, in seiner ursprünglichen und reinen Gestalt aber eine innere Beziehung zum religiösen Übermenschentum eines Christus und Buddha aufweist". Dabei entdeckt er in Anaxarchus wiederum einen Vorgänger Nietzsches. Zwischen dem letzten und vorletzten Absatz des zehnten (früher neunten) Abschnittes werden drei neue Absätze eingefügt. Zum elften (früher zehnten) Abschnitt fügt er seinen Worten über Nietzsche 48 neue Absätze hinzu, bevor er darauf zu Ibsen übergeht. Den Worten über Ibsen ist lediglich eine Rezension über eine Aufführung von „Baumeister Solneß" im Burgtheater neu beigegeben. Obwohl Nietzsche seine Anhängerschaft dem „spitzfindigen Scharfsinn des Moralisch-Schwachsinnigen" verdanke, muß der Verfasser gestehen: „Nietzsche ist konsequent, er ist keiner von den H a l b e n . . . , er verfolgt das asketische Ideal bis in seine letzten Schlüpfwinkel hinein." Im ganz neuen zwölften Abschnitt ( = Schlußbetraditung) wendet er sich in einem Vergleich mit Napoleon wieder gegen Nietzsche. 3 1 7 c Dass.7.verm.Aufl.(= 11.—12.Tsd.) 1910.XIVS., 1 bl.,529S.,4B11. Der betreffende Aufsatz nun auf S. 377—488. Nietzsche-Fundstellen sonst nun auf S. 54 ff., 77 ff., 234, 280 f., 304, 318, 320 f., 322, 341 ff., 347 f., 520 ff. Im zweiten Abschnitt wird nun auch Newton im Gegensatz zu Nietzsches „Egoisten" den „Asketen" zugerechnet. Dabei behauptet der Verfasser, „von anderer, sehr gut orientierter Seite" zu wissen, daß Nietzsche „erblich belastet gewesen"

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sei. Audi habe einer, „der im Nietzsdie-Ardiiv gearbeitet hat", ihm mitgeteilt: „ . . . er fand dort eine handschriftliche Bemerkung Nietzsches, in seiner Familie habe ein unwiderstehlicher Hang zum Lügen geherrscht; er selbst habe nur mit großer Mühe dagegen ankämpfen können." Vor der „Schlußbetraditung" als XII. Abschnitt ist nun ein Abschnitt „Pandora- und Sündenfall-Mythus" eingefügt. Strindberg, „der sich selbst", nach der dritten Auflage, „einen Schüler Nietzsches" genannt habe, fehlt nun ganz. 517 d Dass. 11. verbess. Aufl. ( = 31.—35. Tsd.) Wilh. Borngräber. Bln. 1920. XVI, 406 S., 1 Bl. Der betreffende Abschnitt, der nun: „Der bornierte Mensch als Gegensaz zum genialen; die Misosophie des Egoismus: Stirner, Nietzsche und Ibsen" heißt, auf S. 285—374. Nietzsche-Fundstellen sonst auf S. 40 ff., 56 f., 170, 177, 213, 231, 241, 243, 245, 260 f., 265, 396 f., 403. Seit der achten Auflage ist dem Werk ein Personenverzeichnis angefügt. Hier nennt Türck auch seine Quellen mit Namen: Professor Max Heinze und Dr. Max Zerbst. 317 e Dass. 14., verbess. Aufl. m. e. neuen Einl. Verus-Vlg. Weimar 1931. 4 Bll., 429 S., 1 Bl. Über Nietzsche S. 310—396. Die neue Einleitung (S. 3—16) befaßt sich mit dem „Verhältnis des genialen, schöpferischen Menschen zur Religion und zur Wissenschaft". Er meint, Nietzsche habe „schärfer gesehen als alle Freidenker", da er beide verworfen und somit ihre Zusammengehörigkeit negativ bewiesen habe. Sonst bis auf einige Streichungen und wenige Zusätze unverändert. 318 Schellwien, Robert, Nietzsche und seine Weltanschauung. Eine kritische Studie. Lpz. Alfr. Janssen 1897. 45 S., 1 Bl. Verfasser stellt dem „Willen" Nietzsches, den er als „Indi vidual willen" auslegt, den „schöpferischen Allwillen" entgegen, der „sich in der Mannigfaltigkeit der Individualwillen bejaht und durch die Negativität hindurch, die der Individualwille nothwendig an sich trägt, als Allwille zum Leben aufrecht erhält vermöge einer relativen Verneinung dieser Negativität". Er findet auch, daß die Nietzschesche Philosophie „offenbar Anregungen" vom Darwinismus empfangen, ihn aber zugleich „verinnerlicht" habe. Doch ist ihm Nietzsche ein „tiefgründiger Denker", wovon „wohl am wenigsten die Nietzscheaner einen erschöpfenden Begriff" haben. Zum Schluß ruft er aus: „Wenn er (d. i. Nietzsche) nur gewußt hätte, wie viel weiser sein Herz war, als sein Verstand! Es war das Schicksal dieses Mannes, vermeintlich unvermeidbare intellektuelle Konsequenzen zu ziehen gegen den Einspruch des Herzens." 319 Hofmiller, Josef (Freising), Nietzsche und Wagner. (Z Bd. 19, 10.4. 1897, S. 58—67). Verfasser bespricht den zweiten Band der Lebensbeschreibung (Nr. 285) und stellt fest, daß er Klarheit über Nietzsches Verhältnis zu Richard Wagner und „über die psychologischen Voraussetzungen seines Buches ,Menschliches, Allzumenschliches'" bringe. Eine bemerkenswerte Einsicht in die zweideutige Einstellung der Frau zu Nietzsche sowie ein einsichtiges Urteil über manch Gegenschriftchen liefert eine kurze Novelle der Schriftstellerin Ilse Frapan:

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319/1 Sie. Novelle. (In: I. F., In der Stille. Novellen und Skizzen. Bln. Gebr. Paetel. 1897, S. 1—48). Die Justizrätin Sophie Heller begräbt gerade ihren überraschend gestorbenen, wohlhabenden Mann. Da alle sie bemitleiden möchten, in dem Glauben, sie habe 16 Jahre eine glücklidie Ehe geführt, kehrt sie allein nach Hause zurück und verbringt die darauffolgende Zeit allein mit der Niederschrift ihrer Gedanken über das eheliche Verhältnis im allgemeinen und das zu ihrem Gatten im besonderen. Sie war „aus der Gewalt des Vaters in die des Gatten" gekommen. Dieser hatte „ihr die Menschen gezeigt, wie er sie sah — kaltherzig und schadenfroh bei fremdem Unglück", so hatte sie ihre frühere Meinung von einer „Welt von Freunden" über Bord geworfen. Er hatte nach dem Spruch gehandelt: „Wer Gefühl hat, der ist schwach; wer es hat und noch dazu zeigt, der ist dumm; aber wer es nicht hat und es dennoch zeigt, der ist unüberwindlich." Kurz vor seinem Tode hatte er, schon Reichstagsabgeordneter, in der Absicht, auch noch Minister zu werden, eine Schrift gegen Nietzsche verfaßt, die auch an den Kaiser gesandt wurde. Als sie ihre Verwunderung über diese Gegnerschaft des Gatten aussprach, erklärte er ihr „bleich vor Wut": „Wer hat ihm erlaubt, unsere Geheimnisse der Herde preiszugeben? Die allererste Wahrheit, daß die Wahrheit das Geheimniß der Auserwählten sein und bleiben muß, die hat er vergessen! Warum? Aus Eitelkeit, aus ganz gemeiner kleinmenschlicher Eitelkeit, weil es ihn juckte, von einer Horde LafFen angestaunt zu werden!" Die „Flugschrift" fand dann auch reißenden Absatz, „obgleich sie sich nicht sehr von anderen, ungefähr gleichzeitig veröffentlichten unterscheidet. Sie war, wie jene meistens auch, im Ton moralischer Entrüstung gehalten, Christenthum und Ethik wurden warm in Schutz genommen, das Zusammenstehen aller ,Guten' gegen solche jugendverderbliche Irrlehren gefordert." Diesen Gatten zählt sie eben zu den kleinlichen Menschen, eher könne eine Frau einen großen Mann ehren und verstehen.1980 Eine eher an Heyses „Uber allen Gipfeln" erinnernde Gestaltung findet sich in einem Werke von Otto von Leixner: 319/2 „Also sprach Zarathustras S o h n . . . " Aus der Geistesgeschichte eines Modernen. 2. Aufl. Bln. O. Janke (1903). 3 Bll., 222 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Die Erstausgabe erschien 1897. Die Darstellung umfaßt knappe sechs Jahre (Spätherbst 1891 bis Sommer 1896) im Leben des zu Beginn 26jährigen Dr. phil Karl Schreiner. Er ist Lehramtskandidat in Berlin und Verfasser einer zu zwei Dritteln fertigen Fortsetzung und Überwindung Nietzsches, die eben den Titel trägt: „Also sprach Zarathustras Sohn". Er liest daraus seitenlang in einer Gesellschaft der „Freiherren aus eigenen Gnaden": „Du sprachst Weltenuntergänge, Gottüberwindungen, Du Hammerschwinger, Blitzeschmieder, Du Donnerzüngiger... Du hattest in Dir Todesängste von Deiner weichen Schwachheit und wandest Dich in Fieberkrämpfen, und da t r ä u m t e s t Du die Werke des Starken, die Härte des Edelsten . . . Und nun, Ihr Jünger, tretet in den Tempel! I c h will Euch künden den imo Frapan, Ilse (eigentlich Elise Therese Levien, verh. Akunian, Hamburg 3.2.1852 — Grand Lancy b. Genf Dez. 1908 durch Selbstmord), Schriftstellerin.

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e c h t e n H e r r n , der sich selbst krönt im eigenen R e i c h e . . . In meines Vaters Seele hat gelebt die Sehnsucht und sah hundertäugig hinaus in das Land des Kommenden. Ich habe keine Sehnsucht mehr. Den Stab des Königs habe idi geworfen auf die Lande meines Selbst." Man sieht Karl in seiner tiefsten Niedertracht die Verführung seiner Freundin Elisabeth, einer 20jährigen Gelehrtentoditer, vorbereiten. Doch mißlingt ihm der Versuch, die Mutter, die als Geheimrätin jahrelang zu Hause in Thüringen gehungert hat, um den Sohn „ohne Sorge leben zu lassen", stirbt, er erkrankt, aber Elisabeth und seine Schwester Maria versorgen ihn, und mit Hilfe des Schwagers Kurt kommt er langsam zu sich: „Das Wort Kurts, daß die Aufgabe des Einzelnen sei, ,in den sittlichen Kosmos hineinzuwachsen', wurde langsam zum Grundsatze seiner Anschauung des geschichtlichen Werdens." Er nimmt eine Dozentur f ü r neuere Geschichte und Philosophie an und hält seine Antrittsvorlesung über „Die sittlichen Gedanken und das Gesellschaftsleben". „Begraben war der harte ,Sohn Zarathustras', der vom Gipfel verächtlich hinabsah auf die ,Allzuvielen'. Auch sie waren ja leidende, irrende Menschen oft von falschem Herrentum unterdrückt, und auch für sie muß kämpfen im Geiste der Liebe und Wahrhaftigkeit, wer sich durch das Urgesetz des Lebens mit ihnen verbunden weiß." 1Mb AU Nietzsches Briefe an Louise Ott. (Hg. v. Henri Lichtenberger in: Cosmopolis. Mai 1897, S. 470—474). 1 « Enthält die sieben Briefe Nietzsches an Madame Ott, ohne daß ihr Name erwähnt wird. 320 Sv., Friedrich Nietzsche über Musik. (NMZg Bd. 18, 1897, S. 184 f., 196 f., 209 f.). Bringt „eine Blütenlese" der Aussprüche Nietzsches über Musik und Musiker. Die häufig vorkommenden Bemerkungen „abgeschmackt" und „ungereimt" verraten die Einstellung des Verfassers. 321 Diederichs, H „ (BMs Bd. 44, 1897, S. 305 ff.). Im allgemeinen die Schrift von Wilhelmi (Nr. 294), besonders ihre Kennzeichnung Carlyles anerkennend, weist der Besprecher aber die Behauptung zurück, daß „in Nietzsche religiöse Regungen und Momente zu finden" seien. Es ist ihm „ein Trost, daß diese Philosophie sich nicht mehr überbieten läßt, denn damit ist zugleich die Hoffnung gegeben, daß bald eine Reaktion des idealen Geistes, durch den einst das deutsche Volk allen anderen vorangeleuchtet hat, eintreten wird". 322 anonym, Die Gefahr Nietzsche. (EKA 48. Jg., 1897, S. 244 f.). Bringt unter dieser Uberschrift die Gedanken eines Pastor Neidhart, die dieser „kürzlich in einem Vortrag in Hamburg" entwickelt habe. Sie zielen eher auf die „Nietzscheaner" als auf den Denker selber: „Die heute Nietzsche zujubeln, sind nicht erst durch ihn krank geworden, sondern sie standen schon nicht mehr auf gesunden Füßen, als sie zu ihm kamen. Wenn Nietzsches Philosophie ihnen den lieb

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Leixner von Grünberg, Otto (Schloß Saar/Mähren 2 4 . 4 . 1 8 4 7 — Großlichterfelde b. Bln. 12. 4.1907), Schriftsteller und Literaturhistoriker. Liditenberger, Henri (Mülhausen 12. 3 . 1 8 6 4 — Biaritz 4 . 1 1 . 1 9 4 1 ) , Germanist.

1897 Weitere Nadilaßbände

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Todesstoß giebt, so erfüllt sie doch vielleicht noch eine Mission als Sturmwind, der den Baum des Lebens schüttelt, um die kranken, faulenden Früchte abzuwerfen." GXI Friedrich Nietzsche / Werke, Band XI. / Schriften und Entwürfe / 1876—1880: / Die Pflugschar. / Die Sorrentiner Papiere. / Der neue Umblick. / Nachträge zu den „Vermischten Meinungen / und Sprüchen". / Nachträge zu „Der Wanderer und sein / Schatten". / Vorarbeiten und Nachträge zur „Morgenröthe". / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann. / 1897. VHS., 1 Bl., 437 S. 8°. ( = Nietzsche's Werke. Zweite Abtheilung. Band XI.). (S. 415—437 = Nachbericht vom Herausgeber Fritz Koegel). Der Band erschien schon im Mai 1897, wurde aber im Dezember 1898 von der Schwester aus dem Buchhandel zurückgezogen, „weil in wissenschaftlich ganz verfehlter Weise veröffentlicht". GXI a Dass. 1901. ( = 2., völlig neu gestaltete Ausgabe. 1. u. 2. Tsd.). XIIIS. ( = Inhaltsverz. u. Vorwort der Herausgeber Ernst und August Horneffer), 1 Bl., 422 S„ 5 Bll. (S. 393—422 = Nachbericht u. Anmerkungen). GXII Friedrich Nietzsche / Werke, Band XII. / Schriften und Entwürfe. / 1881—1885: / Die Wiederkunft des Gleichen. / Nachtrag zur „Fröhlichen Wissenschaft". / Vorarbeiten und Nachträge zu / „Also sprach Zarathustra". / Bruchstücke zu den Liedern Zarathustra's. / Gedicht-Fragmente. / Böse Weisheit: Aphorismen und Sprüche. / Zweite Auflage. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1899. VIS., 1 Bl., 440 S. 8°. (S. 427—440 = Nachbericht vom Herausgeber Fritz Koegel). ( = Nietzsche's Werke. Zweite Abtheilung. Band XII.). Zuerst Ende Mai 1897 erschienen, soll auch dieser Band aus demselben Grunde von der Schwester schon im Dezember 1898 aus dem Buchhandel zurückgezogen worden sein. GXII a Dass. 1901. ( = 2., völlig neu gestaltete Ausgabe. 1. u. 2. Tsd.). XS. ( = Vorwort der Herausgeber Ernst und August HornefFer), IBI., 437 S., 7 Bll. (S. 421—437 = Nadiberidit und Anmerkungen). Aus diesem Jahre erzählte Heinrich Geizer folgende Anekdote: „Als im Frühjahr 1897 Band XI und XII von Nietzsches Schriften erschienen, hatten 50 Reichsboten der Reihe nach auf das Exemplar der Reichtagsbibliothek pränumeriert. Kaufen konnte es natürlich keiner dieser führenden Geister auf dem Gebiete des Staatslebens." 1 ' 8 323 Saenger, S., Friedridi Nietzsche und die Kathederphilosophie. (VZg Sonntagsbeil. Nr. 24 v. 13. 6.1897). Verfasser glaubt mit Nietzsche, daß man zugleich „Held" und „Philosoph" sein müsse, „mit dem Sinn und den Sinnen". Hiermit habe er „eine heilsame, dringend H. G., Jakob Burckhardt als Mensch und Lehrer, in: ZKG VII, 1. H. 1899, S. 21, Anm. 1.

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nothwendige Erinnerung, Ermahnung, Einschär fung" gegeben und zugleich „den Schlüssel zum Verständnis" seiner eigenen Persönlichkeit. Als „Kathederphilosophen" müssen Stein (Nr. 155 a), Tönnies (Nr. 291) und Riehl (Nr. 313) herhalten. 324 Grotthuß, Jeannot Emil Frhr. v., Das Christenthum und Nietzsche's Herrenmoral. (DAbl 15. Jg., 1897, S. 270—275). 1980 Verfasser lehnt Nietzsche vom Standpunkt des christlichen Adels aus ab: „ . . . weil alle wahrhafte Aristokratie sich dessen bewußt ist, daß sie nur bestehen kann auf dem Grunde des aristokratischen Ρ r i η c i ρ s , dieses Princip aber sich aus der Idee der g ö t t l i c h e n A u t o r i t ä t herleitet." Das Christentum habe „die Mittelmäßigkeit... gegen das Vornehme, Große, Aristokratische eine Demuth" gelehrt, durch die sie sich dodi nicht habe erniedrigt fühlen können. Sonst pflichtet der Verfasser den Ansichten Kaftans bei und bedient sich eines längeren Auszuges aus dessen Werk (Nr. 298), um „das System Nietzsche's" zu umreißen. Dennoch vergleicht er die Größe von Nietzsches Schicksal mit der eines Ikarus, Prometheus und Luzifer. 325 Stein, Dr. Ludwig, Friedrich Nietzsche als „philosophischer Klassiker". (NFPr Morgenbl. N r . 11803 v. 3. 7.1897, 3 S.). Lehnt die Einreihung Nietzsches unter die „Klassiker der Philosophie" entschieden ab, lobt aber Riehls (Nr. 313) Betonung des Künstlerischen sowie dessen Bloßstellung der philosophischen Mängel bei Nietzsche. 325 a

Auch in 216 a, S. 160—166. Unverändert.

326 Schmitz, Oskar A. H., Über Dichtung. (Pan 3. Jg., H . 1 v. Juli 1897, S. 31 ff.). le8b Eine Abhandlung über das Verhältnis der „Persönlichkeit" zur „Ausdrudssform" im allgemeinen und das Wesen des „künstlerischen Schaffens" im besonderen, die wegen der Bezeichnung der gesamten „jungen Generation" schöpferischer Menschen, unter besonderer Erwähnung von Hofmannsthal, George und Fuchs, als „das junge Geschlecht Zarathustras", gleich zu Anfang sowie der Mahnung zum Schluß: „Vergesset mir des Lebens nicht, ihr rosenbekränzten Tänzer, ihr schönen Kinder Zarathustras!" anführenswert erscheint. 327 Paulsen, Fr(iedrich), (DLZg 18. Jg., N r . 27 v. 10. 7. 1897, Sp. 1046 ff.; über Nietzsche Sp. 1047 f.). In einer Sammelbesprechung von drei Werken über Rousseau, Spencer und Nietzsche widmet der Verfasser etwas mehr als die Hälfte seiner Ausführungen dem Gegenstand Nietzsche, das Werk Riehls (Nr. 313) nur als Anlaß dazu nehmend. Zum „Schöpfer einer neuen Kultur, eines neuen höheren Menschentypus... hat ihm denn doch nicht viel weniger als alles g e f e h l t . . . " 328 Immisch, Otto, Schriften über Friedrich Nietzsche. (BlLU 1897, S. 588 ff.). Verfasser entwickelt zuerst seine eigenen Gedanken über Nietzsche als durch1980 le8b

Grotthuß, Jeannot Emil Frhr. v., geb. am 24. 3.1865 zu Riga, Schriftsteller. Schmitz, Oskar A. H. (Homburg v. d. H . 1 6 . 4 . 1 8 7 3 — Frankfurt a. M. 1931), Schriftsteller.

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aus zeitbedingte Erscheinung, um dann die Verkennung dieser Zeitbedingheit bei Steiner (Nr. 230) zu bemängeln. Die „höchst erfreuliche Schrift" Riehls (Nr. 313) dagegen findet das fast uneingeschränkte Lob des Besprechers. 329 Bolin, Wilhelm (Helsingfors), Zur Würdigung Nietzsche's. (N 1897, Nr. 41, S. 624 f.). Einer durchaus anerkennenden Besprechung von Riehls Nietzsche-Buch (Nr. 313) stellt der Verfasser einen Vergleich Nietzsches mit Schelling voran: von Kant und Fichte zu Schelling und von diesem über Schopenhauer zu Nietzsche, so stellt sich der Verfasser die „inzwischen durchlaufene Entwicklung unseres Geisteslebens" vor. Der eigentlichen Besprechung ist dann eine Lobpreisung Feuerbachs als Vorläufer Nietzsches in dessen Stellung zur Metaphysik eingeflochten: „Alle positiven Ergebnisse der Philosophie, soweit sie echte Wissenschaft und nicht eitel Begriffsund Wortspielerei, weisen unvermeidlich auf Ludwig Feuerbach hin —" 330 Rode, Albert, Hauptmann und Nietzsche. Ein Beitrag zum Verständnis der „Versunkenen Glocke". 2. verm. Aufl. Hamburg 1897. Jean Haring. 22 S. Verfasser versucht, den „engen Zusammenhang" zwischen Hauptmanns „Versunkenen Glocke" und der Philosophie Nietzsches an Hand der „Genealogie" und des „Zarathustra" darzustellen. Er stellt in Aussicht, daß „wir . . . von dem Dichter der Tragödie einen zweiten Teil noch zu erwarten haben" könnten, der „den vollendeten Übermenschen zum Gegenstand" haben werde. 331 Dessoir, Max, Shakspere und Nietzsche. (Wh 8 Jg., H. 10 ( = 94. Heft), 2. Aug.-Heft 1897, S. 289—301).»» Durch die weltanschaulichen Ähnlichkeiten zwischen Shakespeare und Nietzsche, glaubt der Verfasser, von dem „uns genau bekannten Individuum Nietzsche auf den weniger bekannten Shakspere zurückschließen zu können". So will er einiges zugunsten Shakespeares in dem alten Streit um die Verfasserschaft der Dramen liefern. Nietzsche ist ihm „der letzte Vertreter der Weltanschauung der Renaissance, deren größter Shakspere ist". Eben daraus folgt aber, daß „Nietzsche rückwärts" weise, und der Verfasser ruft aus, „wir harren aber derer, die uns vorwärts führen". AV Jugendgedichte von Friedrich Nietzsche. (Pan 3. Jg., 2. H . v. Sept. 1897, das Blatt nach S. 102 u. S. 103 f.). Bringt sechs Jugendgedichte Nietzsches, eins davon im Lichtdruck. 332 Breysig, Prof. Dr. Kurt, Ein Besuch bei Jakob Burckhardt, (Ζ Bd. 20, 21. 8.1897, S. 334—338). Es handelt sich bei diesem Aufsatz um eine Würdigung Burckhardts zu dessen Tode, der die Schilderung eines Besuches des Verfassers bei ihm im März 1896 angehängt wird. Anführenswert ist die Gesprächsstelle, die Burckhardts Verhältnis zu Nietzsche streift: „Noch ergreifender war mir die Art, wie Burckhardt von Nietzsche sprach, der ihm einst in Basel persönlich nahegestanden hatte. Er bedauerte vor Allem, daß er, ein gar nicht philosophischer Kopf, ihm so wenig habe 1M

Dessoir, Max (Berlin 8.2.1867 — Königstein/Taunus 19.7.1947), Philosoph und Psychologe, seit 1897 Professor in Berlin.

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sein können. ,Man hatte immer das Gefühl, Dem kann man mit seiner Prosa nichts Neues sagen, Der steckt Unsereinen hundertmal in den Sack.' Audi von Nietzsches griechischen Studien sprach er mit unparteiischer Würdigung: er hat kühne Gleidinisse gehabt." (S. 337 f.). 332 a Auch (d. h. die Stelle über Nietzsche) in: Κ. B., Aus meinen Tagen und Träumen, de Gruyter. Bln. 1962, S. 80. 333 König, Karl, Nietzsche. (Pro 1. Jg., 1897, Sp. 907 ff., 931 ff.). Nach einer verhältnismäßig langen Einleitung, in der als „sittlicher Kern" von Nietzsches Leben und Lehre „der heroische Kampf gegen Leiden und Krankheit" unterstrichen wird, folgt eine zustimmende Besprechung der Nietzsche-Sdiriften von Wilhelmi (Nr. 294) und Riehl (Nr. 313). 334 anonym, Schriften über Fr. Nietzsche. (AELKZg 30. Jg., 1897, Sp. 772 bis 775). Von der Einstellung aus, „Nietzsches Entwicklung durchmißt den W e g . . . von vornehmer Schöngeisterei zum macht-materialistischen Sensualismus, allerdings nicht ohne recht häufiges Hinüberschwanken zu dem ursprünglichen Ausgangspunkt", bespricht der Verfasser die Nietzsche-Schriften von Riehl (Nr. 313), Kaftan (Nr. 298) und Tönnies (Nr. 291). Bei der ersten bedauert er, daß die „trostlose Zerfahrenheit unseres Philosophen" nicht „schärfer beleuchtet" worden sei. Kaftans Arbeit findet weitgehende Zustimmung, wogegen bei der von Tönnies „eine durchgreifende Gesamtanschauung, welche Nietzsche's Irrthümem gegenübergestellt" werden könnte, vermißt wird: „ . . . gegenüber solchen Irrwegen modernen Denkens, wie Nietzsche sie repräsentirt, hat nur derjenige einen festen Stand, dessen Weltanschauung und sittliche Uberzeugung im Ewigen wurzelt." 335 Klein, Robert, Nietzsche und unsere Zeit. (Ges 13. Jg., H . 10 v. Okt. 1897, S. 48—55). Weist den Satz, den „jeder von uns wohl schon vernommen hat, Nietzsche ist ein Befruchter, ein Neuschöpfer oder gar gefährlicher Verführer unserer jungdeutschen Litteratur", entschieden zurück, findet aber einen solchen in Darwin, „von dessen Geist sich gewissermaßen wie von Planeten Ringe lösen und diese, in Dunst zerfließend, sich dem Denk- und Empfindungsvermögen der Generation assimilieren. . . " Nietzsche sei „nur ein gleidizeitiger Typus dieser Generation", „der Zeitgemäßeste unter den Zeitgemäßen". Dies erkläre, daß „er so rasch anerkannt und verstanden worden" sei von Schriftstellern wie Ola Hansson und „Prcybiscewsky". Für das „Zerfließen der Form" (aus welchem „Unvermögen" auch „die aphoristische Form Nietzsches entsprungen ist") wird Peter Altenberg als „typisches Beispiel" angeführt. Zum Schluß meint er: „ . . . wir möchten wieder auf vertrautem Fuße mit der Ewigkeit leben, und, in der Erde wurzelnd, den Himmel verstehen durch eine Kunst, die, wie die Böcklins, ihres organischen Wachstums und synthetischen Fühlens wegen Philosophie, und eine Philosophie, die ihrer organischen Synthese wegen Kunst." 336 Langguth, Dr. Α., Friedrich Nietzsche als Burschenschafter. (BurBl 12. Jg., N r . 1 ν. 1.10. 1897, S. 5—10).

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Der Verfasser hält Nietzsche für „ein Ereignis allerersten Ranges in der europäischen Kultur, dessen Wirkungen für die Zukunft noch gar nicht abzuschätzen sind". Doch erschöpft sich sein Aufsatz in einer Beschreibung von Nietzsches Leben als Burschenschafter ganz nach der Darstellung der Schwester im ersten Band der Lebensbeschreibung (Nr. 238). 337 Förster-Nietzsche, Elisabeth (Weimar), Wie der Zarathustra entstand. (Z 6. Jg., 21. Bd., 2.10. 1897, S. 11—24). Unter Beigabe mehrerer Stellen aus „Ecce homo" und Briefen ihres Bruders an sie, erzählt die Schwester, wie der Zarathustra entstanden ist. 338 Simmel, G. (Berlin), (DLZg 18. Jg., Nr. 42 v. 23.10.1897, Sp. 1645 bis 1651). Eine weitgehende Ablehnung der Schrift von Tönnies (Nr. 291), da sie an Nietzsche „vom Standpunkt eines modernen, sozialistisch gefärbten Evolutionisten" herantrete und seine „Werthungen nach einem definitiven Maassstabe kritisirt, den Nietzsche selber nicht anerkennt". Der Auffassung von Tönnies hält er entgegen, daß „hier eine strenge und feine Moral zu Worte" komme: Nietzsche habe „die thatsächlich in den ethischen Schätzungen von je wirksame, aber in der ethischen Systematik bisher übersehene Kategorie der Vornehmheit sozusagen für die Moralwissenschaft entdeckt". Als andere bleibende Leistung komme „seine psychologische Analyse" hinzu. Dennoch rühmt der Verfasser an Tönnies Schrift, daß sie „die Irrthümer" nachweise, „zu denen Nietzsche durch seine ideologische' Geschichtsauffassung verführt worden ist".

Im Oktober 1897 reiste der Holländer Albert Verwey zu Stefan George nach Berlin, und beide besuchten kurz darauf Melchior Lediter, über den Verwey dann erzählt: „In seiner Wohnung, Kleiststraße 3, war nichts — vom gebrannten Fenster bis zum Einband und Serviettenzeug — das nicht von ihm selbst gemacht oder nach seinen Zeichnungen und unter seiner Aufsicht angefertigt war. Nach Jahren verborgener Arbeit hatte er eben, durch eine große Ausstellung, Aufsehen erregt in der Welt der Berliner Kunstkenner. Daß um den Kronleuchter an der Decke seines Zimmers die Namen Nietzsche, Wagner, Böcklin gemalt waren, bewies mir genügsam, daß er in einer andern Welt lebte als der meinen. Aber man brauchte ihn nur zu sehen, inmitten seiner Arbeit, strahlend von Güte und Eifer, um zu verstehen, daß man mit diesem Mann nicht streite. Gerne sah ich nach dem Spruch von Nietzsche, den er in seinen Werkstattschrank eingeschnitten hatte: „Trachte ich denn nach Glück? Ich trachte nach meinem Werke." 200 339 Ziegler, Prof. Dr. Theobald (Straßburg i. E.), Friedrich Nietzsche über die Burschenschaft. (BurBl 12. Jg., Nr. 5 v. 1. 12. 1897, S. 130 f.).

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Mein Verhältnis zu Stefan George. Erinnerungen aus den Jahren 1895—1928. Heitz. Straßburg 1936, S. 19; Lediter, Melchior (Münster 2.10.1865 — Raron/Wallis 8.10.1937), Maler, Buchkünstler.

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Angeregt durch den Aufsatz Langguths (Nr. 336) bringt Ziegler, der in jenem Winter gerade eine Vorlesung über Nietzsche gehalten habe, hier eine von jenem übersehene Stelle aus der fünften Rede „Über die Zukunft unserer Bildungsanstalten", die mit dem Ursprung der Burschenschaft zu tun hat. 340 Henne am Rhyn, Otto, Kulturgeschichte der jüngsten Zeit. Von der Erriditung des Deutschen Reiches bis auf die Gegenwart. Lpz. Otto Wigand. 1897. XI, 609 S.201 ( = Allgemeine Kulturgeschichte von der Urzeit bis auf die Gegenwart. 7. Bd.: Die jüngste Zeit). Über Nietzsche zusammenhängend auf S. 452—459, sonst einzelne Hinweise auf, bzw. Seitenhiebe gegen ihn. Gleich zu Anfang stellt er Nietzsche als eine der „vier Säulen dieses verderblichen Einflusses" dar, nämlich neben Zola, Ibsen und Tolstoi: Alle vier in ihrer Krankhaftigkeit bilden „das in Europas Litteraturen herrschende Hospital". Zu seiner Darstellung Nietzsches schöpft er fast ausschließlich aus der anscheinend schon gängig gewordenen Nietzsche-Literatur (Ritsehl, Achelis, Stein, Tille, Steiner, Tiirck, Zerbst, Duboc u. a.). Zum Schluß stellt er all dem Carneris „Ethik der Erziehung" entgegen. 341 Knodt, Karl Ernst, Die Gefahr „Nietzsche" und ihre Nachwirkung in der neuesten deutschen Lyrik. Eine Abhandlung. (MDL 1. Jg., 1897, S. 364 bis 369, 395—402). Schließt sich der Meinung Schrempfs (Nr. 225) an: „Nietzsche (d. i. im Gegensatz zu Kierkegaard) habe die richtige Methode für sich nicht gefunden, da er sonst nicht wahnsinnig geworden wäre". Mit Kaftan (Nr. 298) weist er auf die „verborgene Tragik des Schicksals Nietzsches" hin, die in „seinem leidvollen Lebenslos, in seiner kranken Beanlagung" und in seinem „verzweifelten Kampf gegen Gott" sich offenbare. Die Nachbeter, zu denen er Conradi, Henckell, Arent und vor allem Dehmel, dessen „Weib und Welt" Verfasser aus Nietzsche selbst im einzelnen zu widerlegen sucht, zählt, haben „das en masse vermaterialisiert, was Nietzsche immer nur mit Beschränkung auf die von ihm gesuchten, höheren Menschen frei gegeben hat". 2010 342 anonym (Carl Jentsdi), Nietzscheana. (Gr 56. Jg., 1897, N r . 31, S. 238 f.). Eine warme Empfehlung der Nietzsche-Bücher von Ritsehl (Nr. 286) und Tönnies (Nr. 291) als gegnerische Schriften, noch dazu mit der Begründung, „weil man niemandem die Lektüre dieses Schwärmgeistes anraten kann". Verfasser selbst gesteht, „bisher immer nodi besseres und notwendigeres" zu tun gehabt zu haben.

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Henne am Rhyn, Otto (Sankt Gallen 26.8.1828 — Weiz/Steiermark 1.5.1914), 1885—1912 Staatsardiivar in St. Gallen, veröffentlichte audi: Aria, das Reich des ewigen Friedens im 20. Jahrhundert. Pforzheim 1895 / Das Christentum und der Fortschritt. Zur Versöhnung von Religion und Forschung. Lpz. 1892. î01 ° Knodt, Karl Ernst, geb. am 6.6.1856 zu Eppelsheim/Rheinhessen, seit 1882 Pfarrer in Ober-Klingen/Odenwald.

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Aus seiner Münchner Studentenzeit kurz vor der Jahrhundertwende erzählt Hans Carossa von einem Vorleseabend Richard Dehmels: „In dem erleuchteten Saal, dessen hohe Spiegelwände eine ewige Wiederkehr von Räumen vorblenden, war etwa die Hälfte der Sesselreihen besetzt, als wir eintraten . . . Vor uns ging die Zarathustrine, so nannten wir damals ein mageres, rothaariges Fräulein, das täglich im Café Stephanie Absinth genoß, stets violett gekleidet und Nietzsches Buch neben dem G l ä s c h e n . . . Jetzt aber zog uns die Dichtung vom Sichtbaren fort. Aus großer Tiefe kommend, weithin schwingend war die Stimme Dehmels, als er Nietzsches .Nachtlied' sprach; in sehnsüchtiger Verzückung näherte sie sich dem Gesang." 2 0 1 b

Der Vortragsabend scheiterte aber am Unverständnis zahlreicher Zuhörer, und Carossa erklärt das Mißlingen folgendermaßen: „Die Kluft, die den künstlerischen Menschen vom bürgerlichen scheidet, sie hatte sich durch Nietzsches Einwirkung ungeheuerlich vergrößert, und so kamen besonders jene neuen Dichter, die den Traum vom Übermenschen weiterträumten, in eine empfindliche Lage. Entweder blieben sie einsam, adlerstolz wie der Siedler von Sils Maria auf ihren Höhen und nahmen Verkennung und N o t auf sich, oder sie ließen sich in die städtischen Sprechsäle hinunterlocken; dann standen sie oft Menschen gegenüber, die sich allzusehr von ihnen unterschieden, und mußten es hinnehmen, wenn in trüben und nüchternen Seelen ihre Phantasien sich verwischten und entfärbten." 2 0 1 c H. C., Das Jahr der schönen Täuschungen. Insel. Lpz. 1941, S. 118 ff.; Carossa, Hans (Tölz 15.12.1878 — Rittstreit b. Passau 12.9.1956), Arzt und Dichter. 2 0 1 c Ebd., S. 126 f. Vom Todesjahr Nietzsches erzählt Carossa, damals in Passau: „In unsere Reisewoche fiel jedoch die Nachricht vom Tode Friedrich Nietzsches, und während die bürgerliche Welt dieses Ereignis kaum zur Kenntnis nahm, entstand in der geistigen Jugend eine so starke Bewegung, als wären ,Die fröhliche Wissenschaft' und das Buch .Zarathustra' eben erst erschienen. Mich ergriff Erinnerung an die Zeit, wo ich meinem Freund Hugo als Morgengruß zuzurufen pflegte: .Sonne, du großes Gestirn! Was wäre dein Glück, wenn du nicht die hättest, welchen du leuchtest?' Und unter dem Einfluß gewisser Aufsätze, die dem verstorbenen Denker wie einem Halbgott huldigten, vermochte ich meine Begeisterung für ihn, dessen Wahnsinn mir allein schon eine Bürgschaft für seinen Genius war, nicht für mich zu behalten . . . und groß war meine Überraschung, als ,die Madame', die sonst so duldsam und freundlich war, etwas ärgerlich sagte, der Antonius Lang, der Christus-Darsteller von Oberammergau, wäre ihr tausendmal sympathischer als der .stocknarrische Spekulierer', der mit seinem Geschwätz vom Übermenschen die jungen Leute nur um ihr bißchen Vernunft und Christentum brächte." (H. C., Der Tag des jungen Arztes. Insel. Wiesbaden 1955, S. 200 f.; s. a. ebd., S. 202 ff. Nietzsches Einfluß verglichen mit dem Mainländers auf Carossa im Jahre 1905). Über sein letztes Jahr (1896/97) auf dem Gymnasium zu Tölz hatte Carossa geschrieben: „Was in der fernen Welt erklang, blieb uns nach wie vor verborgen. Dort hatte Nietzsche Seelen geweckt; schon entwarf Stefan George den Grundriß zu seiner goldenen Stadt; Loris, fast noch ein Knabe wie wir, sang den Tod des Tizian mit unvergänglicher Melodie, und Alfred Momberts glühender Adlergeist regte einsam dunkle Traumesschwingen; aber davon traf uns keine Kunde." (H. C., Verwandlungen einer Jugend. Insel. Lpz. 1928, S. 218). î0,b

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343 Grot, Prof. Nikolaus (Moskau), Nietzsche und Tolstoi. (Z Bd. 21, 4.12. 1897, S. 414—424). Verfasser sieht in den „beiden moralischen Protagonisten unserer Zeit" den „unversöhnlichen Gegensatz der kantischen reinen und praktischen Vernunft und die alte Antithetik des Demokrit und Sokrates, des Aristoteles und Plato, des Nominalismus und Realismus" oder „die Hyperkultur des Westens gegenüber osteuropäischer werdender Kultur". Obwohl beide Richtungen ihm als Extreme erscheinen, gehört seine Neigung eher der von Tolstoi. 343 a Dass. Autorisierte Uber. a. d. Russ. v. Dr. Alexis Markow. Bln. Hugo Steinitz 1898. 24 S. Der Schlußsatz fehlt, sonst unverändert. 344 Grottewitz, Curt, Nietzsche's Herrenmoral und die Naturwissenschaft. (ML 66. Jg., Nr. 50 v. 18.12.1897, Sp. 1519—1524). Verfasser zählt sich zu denen, die Nietzsche „als Jünglinge einst so begeistert" habe, und die ihn „nun hassen und noch immer lieben". Aus den Ergebnissen der Naturwissenschaft, vornehmlich aus Darwin, Haeckel und Brehm, will er Nietzsches Herrenmoral, die auf dem Egoismus beruhe, berichtigen, indem er aufzeigt, daß neben dem Egoismus audi der Altruismus nichts „Angewöhntes, Angelerntes, Sekundäres" sei, sondern „ein ganz eminentes Bildungsprinzip des Lebens". Aber selbst wenn „die Theorie von dem alleinigen Egoismus fällt", so bleiben ihm Nietzsches Taten „trotzdem groß und zeitbewegend". Nur sei er eben „kein Reformator", der „einen Mittelweg zu finden" suche, sondern „ein Revolutionär". Es sollte gegen Ende des Jahres 1897 ein Berliner Wochenblatt im Stile der Münchner „Jugend", an dem Otto Julius Bierbaum und Dr. Ludwig Abels, damals in Berlin, interessiert waren und an dem Christian Morgenstern mitarbeiten sollte, den Titel „Zarathustra" tragen. Morgenstern aber plädierte eifrig dagegen, und die Zeitschrift erhielt daraufhin den Namen „NarrenschifF".202 345 Knortz, Karl (Evansville, Indiana), Friedrich Nietzsche und sein Übermensch. Zür. u. Lpz. 1898. 40 S. Nietzsche sei es vorbehalten geblieben, „die schrecklichsten Konsequenzen der Darwinistischen Lehre für die Menschheit zu ziehen". Verfasser findet, daß „der jetzige Kampf ums Dasein mit Meineid, Grausamkeit, Lüge, Schwindel und List, also mit Nietzscheschen Herrentugenden" geführt werde. Nietzsche selber „dürfte als giftiger Hasser und abstoßender Schimpfbold schwerlich seinesgleichen finden", und sein Stil sei „selten von einer unangenehmen, erzwungenen Maniriertheit und von der Sucht, unter jeder Bedingung, selbst bei der Wiedergabe längst bekannter Wahrheiten originell zu sein, frei zu sprechen". Nebst einem Briefe Nietzsches an den Verfasser vom 21. Juni 1888 ist dessen Behauptung bemerkenswert, daß er nach Veröffentlichung eines Artikels über Nietzsche in einer New Yorker Zeitung 202

C. M., Ein Leben in Briefen, 1952, a. a. O., S. 96 f. Abels, Ludwig, geb. am 16. 3.1867 zu Wien, redigierte die Zeitschrift kurze Zeit.

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zu der Überzeugung gekommen sei, daß er durdi weitere Veröffentlichungen nicht nur ihn, sondern auch die gesamte neue Philosophie Deutschlands in Mißkredit gebracht hätte. 346 Waldmann, Dr. Wilhelm, Friedrich Nietzsche. Ein Blick in seine Werke vom Standpunkte eines Laien. Lpz. Fr. Fleischer. 1898. 32 S. Das Werk erschien im März 1898. Verfasser meint, Nietzsche wolle „uns verleiten, zurückzugreifen zu einem Zustande, den wir mit unserem ehrlichsten Erkennen ablehnen; — der Menschengeist kann nicht zurück!" — „solange wir unsere Menschennatur haben und Menschen-Bedürfnisse, solange ist das Ubermenschenidol ein Hirngespinst." Seine Philosophie als Lehre stelle „unmögliche Forderungen". Zum Sdiluß bekennt er sich als Arzt und meint: „ . . . die Religion des Mitleids, der Nächstenliebe wird bestehen, — Nietzsches Lehre vom Ubermenschen wird sehr bald überwunden und vergessen sein." Neben Schriften Nietzsches stützt er sich weitgehend auf die von der Andreas-Salomé (Nr. 185) und von Riehl (Nr. 313). 347 Bernhard, Johannes, Friedrich Nietzsche Apostata. Ein Vortrag. Lübeck. Lübcke & Hartmann. 1898. 56 S. 202 ° Verfasser will vor allem nachweisen, „wie allein die christliche Ethik dasjenige zu lehren und zu leisten vermag, was, im Gegensatz zu Nietzsche, als das Wahre und für die Menschheit Nötige erscheinen muß". Sein Grundsatz „des Willens zur Macht" sei falsch, weil „unter keinen Umständen der Mensch ein intelligentes, .moralinfreies' Raubtier" sei; der Übermensch ist ihm daher „das unheimliche Phantom eines krankhaft überreizten Geistes". Er geht dabei kurz auf die Dichtund Malkunst ein und macht zwei auffallende Bemerkungen: „ . . . der modernen Poesie, die ohne Nietzsche nicht mehr scheint fertig werden zu können, ist nicht zu trauen", und die moderne Malerei mute „uns in ihren Auswüchsen Starkes zu, wenn sie verlangt, daß wir an himmelblaue Bäume, an rosenrotes Gras und an eine mit grünem Rande umgebene Sonne glauben sollen". Sonst ist der Verfasser mit dem damaligen Nietzsche-Schrifttum wohl vertraut und erwähnt die Schriften von Schellwien (Nr. 318), Türck (Nr. 317), Kaftan (Nr. 298), Wilhelmi (Nr. 294), Runze (Nr. 273), Gallwitz (Nr. 355), Waldmann (Nr. 346), Rode (Nr. 330) und Gast. 348 Naumann, Gustav, Antimoralisches Bilderbuch. Ein Beitrag zu einer vergleichenden Moralgeschichte. Lpz. H. Haessel.1898. IV, 377 S„ 1 Bl. Ganz vom Nietzscheschen Geist angeregt und angefüllt holt der Verfasser Beispiele aus der Bibel, von Burckhardt, aus ethnographischen Werken und dergleichen, um seinen Grundsatz des „Antimoralin" zu rechtfertigen. Die Zitate aus Nietzsches Werken sowie die Hinweise darauf sind vor allen Erwähnungen anderer Schriften bei weitem am zahlreichsten. Längere Anführungen bzw. Auseinandersetzungen befinden sich auf S. 19—23 und 221—247: „Immerhin wird eine Epoche mit Herreninstinkten u n s e r e m Geschmacke besser zusagen, als eine !02a

Bernhard, Johannes, geb. 1846 zu Boren, seit 1882 Prediger an der St. Lorenzkirche in Lübeck.

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1898 Robert Musil

dem Herdenideale zuneigende, und im Hinblick auf die Mattheit, Müdigkeit der Gegenwart erwarten und erhoffen wir ein baldiges wiederkehren der Herrenzeit. " (S. 243 f.). Im „Schlußwort" greift er bis auf indische Spruchsammlungen, bezeichnenderweise nach Nietzsche zitiert, zurück, um das Alter des „Antimoralin" darzulegen, kommt aber dann auf das „wichtigere Heraufkommen und Erstarken der Antimoral in unserer Zeit". Er fängt dabei mit Max Stirner und dessen „Der Einzige und sein Eigentum" an, kommt dann auf Nietzsche, der „seine Antimoral nicht, wie es bei Stirner der Fall gewesen ist, für die Gesamtheit, sondern nur für die ausgereifte Individualität verkündet", nur habe dieser „seine Erkenntnis insofern wieder zur Moral ausbauen zu dürfen geglaubt, als er den Gegensatz des bisherigen Gut, das Böse, nunmehr geradezu als wesentliche Ingredienz für den Einzelnen dargestellt hat". Als dritten führt er Paul Mongré an, der „seinem antichristlichen Heiland Nietzsche, wo dieser zur Herrenmoral, also M o r a l , aufruft, mit bescheiden ablehnender Skepsis zu begegnen" wisse. Der Ethik stellt der Verfasser die Ästhetik gegenüber, der Moral den Geschmack: „Bist du Entwickelter, ein Einzelner, kein Unfertiger und Dutzendmensch, so urteile und handle getrost nach deinem Geschmack; deinen Geschmack freilich mußt du eben haben." (S. 360) In dieses Jahr fällt die Bekanntschaft Robert Musils mit dem Werke Nietzsches: „Schicksal; Das ich Nietzsche gerade mit achtzehn Jahren zum ersten Male in die Hand bekam. Gerade nach meinem Austritt vom Militär. Gerade im soundsovielten Entwicklungsjahr." 203 „Nietzsche. Habe ich in meiner Jugend auch nur 1¡3 von ihm aufgenommen? Und dodi entscheidender Einfluß." 204 Friedrich Spielhagens bei L. Staackmann in Leipzig im Jahre 1898 erschienene Novelle „Faustulus" wird oft als Reaktion auf das Erscheinen Nietzsches und dessen Gedanken genannt, doch ist nichts daran, weder in der Hauptgestalt des Arno, noch in der Sprache, das sich damit verbinden ließe. Es wäre ja auch leicht anachronistisch, da sie im Jahre 1854 spielt. 349 Henne am Rhyn, Dr. Otto, Der Übermensch vor und nach Nietzsche. (DV 1. Jg., 1898, S. 425—434, 489—506). Obwohl der Verfasser den „Edelmensthen" dem „Übermenschen" Nietzsches vorzieht, ist er „darin mit Nietzsche völlig einverstanden, daß die Menschheit eine Aristokratie haben muß, wenn sie nicht im Gleichheitstaumel alle die Wohltaten, die ihr hervorragende Geister in Kunst, Literatur, Wissenschaft und sogar in 203

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R. M., Ges. Werke: Tagebücher, Aphorismen, Essays und Reden. Hg. v. Adolf Frisé. Rowohlt. Hamb. 1955, S. 37; mit dieser Eintragung von 15.5.1902 vergleiche die zahlreichen sonstigen Erwähnungen Nietzsches (s. d. Namensverz. im genannten Werke); Musil, Robert Edler von (Klagenfurt/Kärnten 6.11.1880 — Genf/Schweiz 15. 4.1941). Ebd., S. 401.

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der Politik erweisen, einbüßen und damit in eine fortschritts- und culturlose Barbarei versinken will". Sonst verfolgt er Gedanken und Gestalt des Übermenschen von der klassischen Zeit bis zu den „Nachfolgern von Ibsen und Nietzsche". 350 Hensel, Paul (Straßburg i. E.), (VWPS 1898, H. 1, S. 115—121).205 Eine im großen und ganzen zustimmende Besprechung von Riehls Nietzsche-Buch (Nr. 313), doch kann der Verfasser weder Riehls Verurteilung der Romantik unterschreiben, noch dessen Hoffnung, „daß auf den ,Antichrist' eine Umkehr zur deutschen Philosophie hat erfolgen können", teilen. Dem Besprecher ist Nietzsche „Zeit seines Lebens ein Epigone aus dem 18. Jahrhundert" gewesen. 351 Grotthuß, Jeannot Emil Frhr., Probleme und Charakterköpfe. Studien zur Litteratur unserer Zeit. St. Greiner & Pfeiffer. 1898. VIIIS., 1 Bl., 418 S., 2 Bll. Der 2. Abschnitt: Friedrich Nietzsche, S. 22—74; da das Werk ohne Namenverzeichnis, seien hier die auf Nietzsche bezüglichen Stellen angeführt: S. 3 ff., 103 f., 118 ff., 161, 173 ff., 269 f., 273, 321, 323. Er meint, „was sich in der modernen Litteratur gärend ans Licht drängt, der Naturalismus eines Zolas, der Individualismus eines Ibsens, die politische Machtmoral und der nationale Chauvinismus Neudeutschlands finden ihre philosophische Ausgestaltung und Rechtfertigung in dem großen Nietzsche-Zarathustra". Die Sozialdemokratie dagegen sei eine „ausgleichende Kraft" gegen „den antichristlichen, alle Zügel abstreifenden Individualismus der oberen Gesellschaftsklassen". Beide sind dem Verfasser „drohend anschwellende Mächte". Nietzscheschen Einfluß findet er bei Hauptmanns „Die versunkene Glocke", Sudermanns „Die Heimath", „Katzensteg", „Sodoms Ende", „Es war" und „Glück im Winkel". Erst mit „Johannes" habe sich für letzteren „der Kampf zwischen alter und neuer Moral" entschieden, wohl zugunsten jener. Auch seien Richard Dehmel und Ibsens „John Gabriel Borkmann" von Nietzsche beeinflußt. Verfasser meint, „ganz prosaisch ausgedrückt: Nietzsche hat aus der Not eine Tugend gemacht". 351 a Dass. 11.—12. Tsd. o. J. VIII, 425 S., 10 Taf. Durch neuen Satz haben sich die betreffenden Seitenzahlen etwas verschoben: S. 3 ff., 103 f., 119 ff., 162,174 ff., 273 f., 277, 326 f., 328. 352 Tille, Dr. Alexander (Glasgow), Zarathustras Leben. (DNJk 1. Jg., Nr. 4,1898, S. 86—90). Verfasser bringt eine Nacherzählung des Inhaltes vom Zarathustra I—IV. 353 Tille, Dr. Alexander (Glasgow), Zarathustras Lehre (DNJk 1. Jg., Nr. 5, 1898, S. 109—113). 805

Hensel, Paul (Groß-Barthen b. Königsberg 17. 5.1860 — Erlangen 11.11.1930), 1889—1898 Privatdozent in Straßburg, 1898—1902 in Heidelberg a. o., 1902—1930 in Erlangen o. Professor der Philosophie; s. seinen Brief an die Schwester Lili vom 10.2.1904: „Man kann sich nur insofern Anhänger Nietzsches überhaupt nennen, als man dadurch zu erkennen geben will, daß man das Kulturproblem für das wichtigste aller Probleme erklärt und in diesem Sinne sind wir alle N i e t z s c h e a n e r . . ( P . H., Sein Leben i. Briefen. Wolfenbütteler Vlgs.anst. Wolfenbüttel-Hannover (1937), S. 180); s. a. ebd., S. 110 (1896), 113 f. (1897, über Riehls Nietzsche-Budi), 173 (1903), S. 179 f. (u. a. über den „Antichrist").

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1898 Rudolf Pannwitz/Helene Stöcker

Faßt den Zarathustra als „Anwalt der Entwicklung" auf, dem diese „zwei verschiedene Seiten gezeigt" habe: die des „ungeheuren Kreises" und die andere einer „geraden Linie, die aus der Unendlichkeit kommt und nadi der Unendlichkeit geht", auf welch letztere „weit mehr" Nachdruck entfalle.

Aus der Zeit kurz vor seinem Abitur Ende der 90er Jahre in Berlin berichtet Rudolf Pannwitz: „dann brachte mir mein freund ernst hoffmann ein kleines heft über nietzsdie das mich tief erstaunte auch erschütterte aber noch nicht weiter führte, dann borgte er mir den Zarathustra, ich wurde auf das furchtbarste ergriffen, ich dachte an keine kritik aber auch an keinen billigen rausch fühlte nur daß ich das brauchte wie nichts und dodi ohnmächtig sein würde je so zu denken fühlen leben, ich las und schrieb mir da ich das buch zu kaufen nicht geld hatte drei schulhefte voll das was ich am wenigsten entbehren konnte heraus, am wichtigsten war mir das stück ,vom wege des schaffenden'."206 354 Stöcker, Helene, Friedrich Nietzsche und die Frauen. (ML 67. Jg., Nr. 6 f. ν, 12. u. 1 5 . 2 . 1 8 9 8 , Sp. 128—132, 153—158 = Vortrag, gehalten am 26. Jan. 1898 im „Verein studierenden Frauen" zu Berlin). 207 Verfasserin ist der Ansicht, daß „keiner, der daran geht, sich eine eigene, moderne Weltanschauung zu bauen, an ihm vorübergehen" könne: „Er stellt eben die eine Seite unserer Kultur dar, wie der Sozialismus — im weitesten Sinne gefaßt — die andere." Trotz manch bitteren Wortes über die Frau, findet sie daneben viele sehr hohe. 355 Gallwitz, Hans, Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild. Dresd. u. Lpz. Carl Reißner 1898. 3 Bll., 1 Taf., 274 S. Erschien schon im März 1898. ( = Männer der Zeit. Lebensbilder hervorragender Persönlichkeiten der Gegenwart und jüngsten Vergangenheit. Hg. v. Dr. Gustav Diercks. 4. Bd.). Die Darstellung schöpft ganz aus gedruckten Werken über Nietzsche, vornehmlidi aus der Lebensbeschreibung der Schwester. Die Stellungnahme des Verfassers, der ein Neffe Nietzsches war, ist ganz die des protestantischen Menschen, doch sieht er in Nietzsche den „redlichen Heiden", der seine „tragische Schuld" · R . P . , Grundriß einer Geschichte meiner Kultur 1881 bis 1 9 0 6 . 1921. Regensburg. F r . L u d w . Habbel, S. 2 2 ; Pannwitz, Rudolf (Crossen a. d. Oder 2 5 . 5 . 1 8 8 1 — Ciona—Carona/Tessin 2 3 . 3 . 1 9 6 9 ) , Kulturphilosoph. U b e r die erste Gymnasiastenzeit in Berlin hatte er gemeint: „Schopenhauer und wagner bezeichneten die moderne Schopenhauer der fast geglaubte philosoph wagner der grosze deutsche der neuen zeit, nietzsdie nach seinem bruch mit wagner wurde abgelehnt aber ohne leidenschaft weil ohne begriff." (Ebd., S. 14) Dann, aus der Zeit um die J a h r hundertwende in Marburg und Berlin: „am tiefsten lebte ich in nietzsdie george kant göthe jean paul und den v o r s o k r a t i k e r n . . . nietzsdies Zarathustra kaufte ich mir antiquarisch und eroberte ihn mir immer eigener . . . ich . . . las nietzsdies morgenröte die mein denkproblem ja meine denkmethode zur entsdieidung brachte . . . " (Ebd., S. 28, 30, 31) 2 0 7 Stöcker, Helene (Elberfeld 1 8 6 9 — N e w Y o r k 1 9 4 3 ) .

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1898 Gedichte und Sprüche

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nicht selbst geschaffen, sondern die, welche „die deutsche Bildung in Jahrhunderten angesammelt hat, abgebüßt" habe. AW Gedichte und Sprüche / von / Friedrich Nietzsche. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1898. 1 Bl., XXIIS. ( = Inhaltsverz. u. Einleitung der Herausgeberin Elisabeth Förster-Nietzsche), 203 S., 6 Bll. ( = Vlgs.-anz.). S. 189—203 = Nachbericht der Herausgeberin. Erschien sdion Anfang April 1898. Diese Ausgabe verdreifacht die Zahl der veröffentlichten Dichtungen unter Ausschluß von zwei, die im VIII. Band der Gesamtausgabe erschienen waren: „Timon spricht" und „,Menschliches, Allzumenschliches'". 356 Kühl, Gustav (Kiel), Dehmel und Nietzsche. (Zeit Nr. 187 v. 30. 4.1898, S. 71 ff.). „Aus dem tragisch in sich abgeschlossenen Vollmenschen Goethes, aus dem über seine Tragik hinauswollenden Übermenschen Nietzsches" habe Dehmel „den Allmenschen entwickelt, dem ein tragischer Gegensatz von Ich und Welt im Grunde gar nicht mehr faßbar ist". 208 357 Christ, Prof. P., Über Friedrich Nietzsche. (ThZs 1898, 15. Jg., 1. u. 2. Vierteljahresh., S. 54—64, 104—118). ( = Nach einem in der Versammlung des Liberal-theologischen Vereins in Zürich gehaltenen Vortrag). Schon kann der Verfasser behaupten: „.Nietzsche und kein Ende!' möchte man gegenwärtig nicht selten ausrufen." Ihm ist Nietzsche „eine pathologische Erscheinung . . . in jedem Falle". Er fühlt sich durch „freiere Theologen", die „in Anerkennen und Hervorheben von Lichtseiten an ihm des Guten zu viel getan haben", zu seinen Äußerungen gezwungen. „Wie kein Theologe, so ist Nietzsche eigentlich auch kein Philosoph, sondern ein philosophischer Dilettant von glänzendem Talent." Der Aufsatz erschöpft sich in einem Vergleich Nietzsches mit Schopenhauer, von dem „sein ganzes Philosophieren" ausgehe, sowie in einer Kritik von Nietzsches Ethik. Angesichts dieser Einstellung wirkt es ein wenig komisch, daß 508

S. zu diesem Aufsatz die Randbemerkungen R. Dehmels: „Nietzsche redet immerfort von Lebensbejahung, hat sie aber n i e g e h a b t . M e i n höchster Wille ist vollkommen das zu s e i n , was midi in Einklang mit dem Leben setzt, nicht aber etwas zu werden, was midi h i n w e g setzt über das L e b e n . . . Ein Allmensch will idi sein, kein Ubermensch... Zarathustra, der ü b e r dem Leben Tanzende, ist keineswegs ein Ausdruck für den E i n k l a n g mit dem Leben. Und seine unglückliche Liebe zu denen, die ,an sich zugrunde gehen', wohl erst recht nicht!" (Elisabeth Darge, Lebensbejahung in der deutschen Dichtung um 1900. 1934. Marusdike & Berendt. Breslau, S. 41; laut Anmerkung: „Aus dem Dehmel-Archiv zitiert bei: Slodiower, Harry, R. Dehmel, der Mensdi und der Denker. Dresden 1928, S. 178 f." Vgl. ferner: „Das war Nietzsche's Unzulänglichkeit, daß er ,nie das Weib fand, von dem er Kinder haben mochte,' dieser übermenschliche Homunculus! Sich selbst im Gleichgewicht zu jedem Andern fühlen, das ist die wahre Welt- und Gottes-Weisheit; das Über- wie das Unterlegenheitsgefühl, d a s ist das Allzumenschliche." (Brief Dehmels an Friedrich Binde, Uhrmacher und späteren Volksmissionar, vom 17. 3.1896, abgedruckt in: Unbekannte Briefe Richard Dehmels. Mitgeteilt v. Helmut Henrichs. Euphorion. Bd. 28. 1927, S. 476).

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1898 Wilhelm Dilthey

Verfasser an einigen Stellen Nietzsche gegen Schopenhauer ausspielt und behauptet, er sei diesem gegenüber dann „vollkommen im Rechte". 358 Walde, Philo vom (Neiße), Friedrich Nietzsche in Weimar. (WRs Bd. 2, 1. 5.1898, S. 441—446). Beschreibt einen erneuten Besuch bei Nietzsche, diesmal in Weimar, und bringt dabei vieles ihm von Mutter und Schwester über die Pflegejahre Erzählte. Zum Schluß bringt die Redaktion einen Brief der Schwester, der Gerüchte unterbinden soll, es sei eine Besserung in Nietzsches Zustand eingetreten. 359 Müller, Hans von (Marburg i. H.), Nietzsches Vorfahren. (Z Bd. 23, 6. Jg., H . 35 v. 28. 5.1898, S. 403 f.).209 Bringt einen Auszug aus dem Kirchenbuch zu Bibra, Nietzsches Vorfahren von 1709—1784 betreffend. 360 Dilthey, Wilhelm, Die drei Grundformen der Systeme in der ersten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. (AGPh Bd. XI, 1898, 552 f.). 214 ( = Jahresbericht üb. d. nachkantische Philosophie v. W. Dilthey, Α. Heubaum u. A. Sdimekel). Über Nietzsche als „schreckendes Beispiel dafür, wohin das Brüten des Einzelgeistes über sich selbst führt". 360 a Auch in: Wilh. Diltheys ges. Schriften. IV. Bd. Teubner. Lpz. u. Bln. 1921, S. 528 f. 361 Schoeler, Dr. Heinrich von, Kritik der wissenschaftlichen Erkenntnis. Eine vorurteilsfreie Weltanschauung. Lpz. Wilh. Engelmann 1898. Laut Vorwort will das Werk „den Wahn . . . zerstören, als ob die Naturwissenschaften die dunklen Rätsel der kosmischen, organischen und psychischen Prozesse erklärt hätten", und „das Interesse der Menschheit wieder mehr der Welt des Schönen und dem veredelnden Einflüsse des Familienlebens sowie der Begründung eines glücklicheren individuellen Daseins" zuleiten. Im achten Abschnitt (S. 190 bis 218) wird „der Nietzscheanismus" als „ein Seitenstück zu dem Wahne Schopenhauers, das Problem der Welt gelöst zu haben", behandelt. Zwei krankhafte Züge ließen sich an Nietzsche entdecken, meint der Verfasser: die „Sucht, die Sonnen des Mi

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Müller, Hans von, geb. am 30. 3.1875 zu Kiel, 1897—1899 im Nietzsche-Archiv tätig, seit 1899 in Berlin, seit 1915 Hilfsarbeiter an der Preußischen Staatsbibliothek, machte sich um E. Th. A. Hoffmann durch Herausgabe von dessen Briefen, Tagebüchern und Handzeichnungen verdient. S. a. den Briefwechsel zw. Wilh. Dilthey u. d. Grafen Paul Yorck v. Wartenburg 1877—1897 Halle/Saale. M. Niemeyer 1923, S. 229 f.: die Meinung Yorck v. Wartenburgs am 3 0 . 1 2 . 1 8 9 6 : „Bandloser selbstsüchtiger Nietzscheanismus und genußsüchtiges Heerdenbewußtsein sind nur verschiedene Tonarten desselben Systems."; der Dilthey dann beispfliditet, S. 238 f.: „Nietzsche hat dodi wirklich das furchtbare Wort der Zeit ausgesprochen. Der zweite Band seiner Biographie von seiner Schwester (Verhältnis zu R. Wagner) ungeheuer amüsant. Zwei gescheite aber ohnmächtige Gegenschriften gegen ihn von Tönnies und Riehl. Die berühmte .Socialisierung' ist nur die andre Seite desselben jetzigen Lebensgefühls. Nur das geschichtliche Bewußtsein, daß der Mensch weder seine Häute abschälen und sich finden kann wie er an sidi ist (worüber Nietzsche verrüdct wurde) noch eine Gesellschaft machen (sowenig als eine Religion), kann über diese Standpunkte hinausführen."

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geistigen Firmamentes (Wagner, Schiller, Kant, Dante u. a.) zu schwärzen", und „der Widerwille gegen das sittliche Fühlen". Seine „Lehren haben sich als Irrlehren erwiesen, als Irrlichter, die den unvorsichtigen Wanderer in den Sumpf eines frivolen philosophischen Nihilismus l o c k e n . . D o d i als Stilist sei er „der unerreichte Meister einer mächtigen, lebensvollen, geistsprühenden, verführerischen und fascinierenden S p r a c h e . . . " Gegen Schluß folgert der Verfasser: „Der Kampf gegen das Sittliche ist daher ein Zeichen geistiger Degeneration, das jede Philosophie, die ihn unternimmt, zu einer Philosophie der moral insanity stempelt." 362 Schmitt, Dr. Eugen Heinrich, Friedrich Nietzsche an der Grenzscheide zweier Weltalter. Versuch einer Beleuchtung vom Standpunkte einer neuen Weltanschauung. Lpz. Alfred Janssen 1898. VS., 1 Bl., 151 S."» Verfasser meint, es sei „ganz ungerecht und ganz unmöglich, diesen Geist, diese historische Kolossalgestalt mit dem kleinlichen Maßstabe der bisherigen Weltanschauung und der bisherigen Moral zu messen". Er habe „nur die schon vollendete innere geschichtliche Zersetzung der moralischen Grundlagen der bisherigen Welt zum klar bewußten Ausdruck gebracht". „Während Sokrates der große Frager und Zweifler ist angesichts der Weltanschauung der naiven Sinnlichkeit, ist Nietzsche der große Frager und Zweifler angesichts der niedergehenden Weltanschauung des abstrakten Gedankens, welche eben Sokrates verbreitet hatte." Nur habe Nietzsche Sokrates einseitig beurteilt und habe nicht auch die Größe von dessen Tat zu würdigen gewußt. Erst „in jenem dritten Reich, welches den Kultus der Geisteshoheit der christlichen Idee mit dem Kultus der Leibesschönheit, wie ihn die Hellenen übten, verschmilzt", werde die „lebendige Vollgestalt" des „Allbewußtseins" sich kulturell verwirklichen. Aus dieser Sicht ist dem Verfasser neben Nietzsche Tolstoi „einer der Großen und Heiligen und Propheten der lebendigen Gottheit". 362 a Dass. Neue Ausgabe. E. Diederichs. Lpz. 1902. Bl., V, 151 S. Mit leicht geändertem Untertitel: Versuch einer Beleuchtung durch eine neue Weltanschauung; sonst ein unveränderter Abdruck der ersten Auflage. 363 Hofmiller, Josef (Freising), Nietzsches Nachlaß. (Z 23. Bd., Nr. 33 v. 14. 5.1898, S. 279—291). „Die bedeutendste Folge" der „skandinavischen Invasion" am Anfang der neunziger Jahre ist ihm „das Bekanntwerden Nietzsches", dessen Wirkungen abzumessen, vielleicht in den nächsten hundert Jahren möglich sein werde. So leitet der Verfasser das ein, was im Grunde eine Besprechung der beiden Nadilaßbände, elf und zwölf, ist. Darin kann er einiges zur Herabsetzung „der jetzt herrschenden maßlosen Überschätzung Emersons" finden. Er stößt sich aber entschieden an der Wiederkunftlehre, die „ebenso gut nicht da sein könnte". Er erklärt sie sich aus Nietzsches Anfälligkeit für Traumzustände und einer besonderen Art von religiösem Atavismus. 364 Jentsch, Carl, Friedrich Nietzsche. (Gr 57. Jg., 2. Vierteljahr 1898, N r . 17, 19, 22, 23, S. 176—189, 276—288, 432—444, 473—485; 3. Vierteljahr N r . 31, 111

Schmitt, Eugen Heinrich, geb. 1851, Anarchistenführer, gab seit 1897 die Zeitschrift „Ohne Staat" heraus.

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1898 Verulkung in den Preußischen Jahrbüchern

33, S. 213—225, 297—308). Der Verfasser, der bisher Nietzsche abgeneigt gewesen sei, ohne etwas von ihm gelesen zu haben, findet nun, daß „seine Sentenzen soviel Lebensweisheit und Gedankenblitze enthalten, daß man sie neben Goethes Prosasprüche stellen darf". Nietzsche ist ihm zugleich audi „der moderne Mikrokosmos im strengsten und zugleich umfangreichsten Sinne des 'Wortes", nur habe dieser nicht das Glück des Verfassers gehabt, „durch allen Wirrwarr und alle Verrücktheiten des Lebens immer das Walten einer ordnenden Vernunft durchschimmern zu sehen". Der Verfasser findet im „Geist des Neuen Testaments die Vollendung jenes antiken Philosophengeistes, der alle bloß äußerliche Scheingröße verachtet", und von dieser Überzeugung aus bekrittelt er Nietzsche immerzu, wenn er audi immer wieder Worte des Lobes dazwischenstreut : letztenendes bleibt ihm Zarathustra „eine ungenießbare Kuriosität". Bezeichnend für die Stellungnahme des Verfassers ist, daß er, der „von der Nietzsdieliteratur wenig gelesen" habe, das Buch von Gallwitz (Nr. 355) als das bedeutendste empfiehlt. 364 a Dass, um zwei Drittel gekürzt und mit geringen stilistischen Änderungen unter der irreführenden Überschrift: „Friedridi Nietzsdie und Ibsen" in: Wandlungen. Lebenserinnerungen. 2. Tl. Lpz. Fr. Wilh. Grunow. 1905, S. 314 bis 346. Ähnlichen Aufsätzen über Ibsen wurden die S. 346—373 entnommen und unvermittelt den vorangehenden angehängt. Lediglich eine Erwähnung Nietzsches im Zusammenhang mit Ibsen findet sich auf S. 350 f.: „Das erste, woran ich bei dem Lesen von Brand dachte, war der Zarathustra, und wie hodi Ibsen über Nietzsdie stehe. Nietzsche hat zwar in seiner Jugend Verse geschrieben — welcher deutsche Jüngling täte das nicht? —, aber ein Dichter ist er nidit; wäre er einer,..." 365 Friedrich, P. Dr. (Freiberg), Nietzsche-Kultus. Konferenz-Vortrag. (NSKB1 5. Jg., Nr. 20 ff. v. 22. u. 29.5. u. 5.6.1898, Sp. 305—310, 325—330, 339—344). Verfasser stellt fest, daß es diesem „Dynamitard im Reiche der Kultur und des Geistes" gelungen sei, „eine merkbar wachsende Gemeinde um sich zu sammeln, deren Apostel durch Vorträge und Schriften immer siegesfreudiger den NietzscheKultus auf ihre Fahnen zu schreiben bemüht sind". Die „Nietzsche-Verehrer" teilt er in zwei Klassen ein: „ . . . die sich von der Form und Selbstsicherheit des Philosophen blenden lassen", und jene die „sich mit ihm auf dem antichristlichen Standpunkte zusammenfinden". Er sieht aber in Hegel die Wurzel allen Übels und verfolgt dessen Wirken über Feuerbach, Darwin, Stirner, die „moderne Sozialdemokratie" und „deren Väter" Marx, Engels und Lassalle bis auf Nietzsche. „Nietzsches Weltanschauung" bezeichnet er „als die Blüte des Materialismus", über die hinaus „keine Entwicklung derselben mehr möglich" sei. 366 Brand, Franz (d. i. Arthur Bonus), Unter den Geistern der sieben Embryonen Zarathustras. Gedichte und Sprüche Friedrich Nietzsches aus dem Jahre 1868), (PJb Bd. 92, H. 3 v. Juni 1898, S. 385—396).212 Bonus, Arthur (1864—1941), evangelischer Theologe.

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In einer gelungenen Satire werden das Nietzsche-Archiv und Nietzsche-Nachbeter verhöhnt. Der Verfasser gibt vor, Nietzsche in seiner Leipziger Zeit gekannt und „Schätze jenes Jahres" von Nietzsches Hand bekommen zu haben, von denen er hier einiges veröffentliche. 367 Im „Notizbuch" der „Zukunft", Bd. 23, 4. 6.1898, S. 453 f. Eine Zurechtweisung der „Preußischen Jahrbücher" wegen der Veröffentlichung von dem „schnöden, witzlosen Bierulk": „Unter den Geistern der sieben Embryonen Zarathustras". (Nr. 366) 368 Die Geister der sieben Embryonen Zarathustras. (PJb Bd. 93, H. 1, 1898, S. 94—101). Unter dieser Überschrift veröffentlicht die Redaktion (d. i. Hans Delbrück) einige witzige Zuschriften, die die Satire von Brand (Nr. 366) gezeitigt hatte, den Begleitbrief von Bonus zur Satire sowie einen Nachtrag: Pöbel kontra Zarathustra. 369 Förster-Nietzsche, Elisabeth (Weimar), Nietzsches Ahnen. (Z Bd. 23, 25. 6.1898, S. 576—578). In einem offenen Brief an den Herausgeber Maximilian Harden kräftigt die Schwester die Ansicht, daß die Familie adliger polnischer Abkunft sei. 370 Stock, Otto (Eldena b. Greifswald), (DLZg 19. Jg., Nr. 31 v. 6. 8.1898, Sp. 1228—1233). Eine Besprechung der Nietzsche-Bücher von Gallwitz (Nr. 355) und Lichtenberger, letzteres in der französischen Urfassung. Das Werk von Gallwitz wird im allgemeinen gelobt, nur vermisse man „manchmal die klare, nüchterne Kritik", und er bemühe sich „vergebens darum, zwischen den Grundgedanken des Christenthums und Nietzsches Weltanschauung eine innere Verwandtschaft zu konstatiren". Das Werk Lichtenbergers dagegen gehöre „dem Besten, was überhaupt über N. geschrieben worden ist", an, nur hätte er der „objektiven Wahrheit", dem „berechtigten und werthvollen Nerv des Nietzscheschen Denkens", mehr Beachtung schenken sollen. 371 Garin, Paul, Religion und Moral. (MAZg Nr. 185 ff. Beilage v. 16., 17. u. 18. 8.1898). Verfasser setzt sich fast ausschließlich mit Nietzsche, der „den Gegenstand zum letztenmale behandelt" habe, auseinander. Seine Wirkung, weithinausgehend „über seinen Lehrer und Vorläufer" (d. i. Schopenhauer) verdanke sich der Tatsache, daß er „nicht nur die ungeheure Summe pessimistischen Empfindens der Zeit mit wirklich virtuoser Geste zusammengefaßt", sondern „ihm audi die über alles wirksamste Einkleidung, die poetische verliehen hat", und — „das wichtigste von allem — er hat einen Ausweg gezeigt: den Übermenschen". In seiner frühen Berufung nach Basel liege „das entscheidende Unglück seines Lebens, . . . seinem Leben ist die Seele entrissen — das Erleben". Diesem allem stellt der Verfasser die christliche Religion und Moral entgegen, indem er Nietzsches Verurteilung derselben heftig bekämpft. Gegen Sdiluß geht er etwas näher auf Schopenhauer ein, dessen „Forschung nadi einem allgemein gültigen Moralprinzip ein Anachronismus" gewesen sei, wie Nietzsdies Fragestellung „eine Leugnung der Thatsachen".

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372 Steiner, Rudolf, Nietzsche in frommer Beleuchtung. (ML 67. Jg., Nr. 33 v. 20. 8. 1898, Sp. 769—772). Als einer, der zu denen gehöre, „die . . . mutig genug sind, ,Ja' zu sagen, wo Nietzsches Psychologie Geschichte und Natur, die gesellschaftlichen Institutionen reinigen will von den tausendjährigen Vorurteilen und Altweiberempfindungen der Theolgie", als einer, dem es obliege, „treue Wache zu halten gegen das Andringen aller derer, die ihn (d. i. Nietzsche) ausnützen wollen im Dienste irgendwelcher althergebrachten Anschauungen", macht der Verfasser Front gegen den „frommen Gärtner" Gallwitz (Nr. 355). 373 Kaiina, Paul E., Fundament und Einheit in Friedrich Nietzsche's Philosophie. Lpz. Wilh. Friedrich. (1898). VIS., 1 Bl., 124 S. Erst nach Mai 1898 erschienen. In einem erdichteten Gespräch sokratisdier Art zwischen einem Albrecht und einem Oskar entwickelt jener den Gedanken, daß Nietzsche „einzig und allein durch Schopenhauer zu seinen Resultaten gekommen" sei: er sei von Schopenhauers Erkenntnis, daß die Welt schlecht sei, ausgegangen, habe aber dessen „metaphysische Erklärung" dazu abgelehnt; er habe „Zeit seines Schaffens die Resultate Schopenhauer's benutzt, um mit ihnen nach Akrobaten-Manier seine Trie's zu machen", sei also in Wirklichkeit nichts als „eine harmlose Protuberanze Schopenhauer's". Die „Grund-Voraussetzung", unter der „die Philosophie des Übermenschen möglich" sei, wolle er in der „Verneinung der Vernunft" sehen, und „an Stelle der Vernunft" setze er „die Sprache, das leere Spielen mit nichts besagenden Worten", womit dann „der Pessimismus vernichtet und der Obermensch gegeben" sei. Eben hierin zeige sich bei ihm „der gänzliche Mangel an pholosophisch-kritischer Begabung." In bezug auf Nietzsches Ansicht von der Sprache führt er S. Stern als Vorläufer und dessen 1835 erschienene „Vorläufige Grundlegung zur Spradiphilosophie" an. Selbst der Stil bleibt nicht ungeschoren: Nietzsche sei „ein Hallunke, ein Hochstapler", da er „auf das Gewand, in dem er aufgetreten ist, so ungeheures Gewicht gelegt" habe. In einem Anhang (S. 103 bis 124) setzt sich der Verfasser dann mit Riehls Nietzsche-Buch (Nr. 313) auseinander. Der „verehrte Herr Professor" habe behauptet, daß „die Einheit bei Nietzsche eine persönliche sei", dennoch aber versucht, „eine sachliche verständlich zu machen". Nach dieser Bemängelung stellt er vieles fest, worin Riehl mit ihm übereinstimme, nur dringe jener nidit weit und nicht scharf genug vor. Das Buch ist „Dem Andenken Arthur Schopenhauer's" gewidmet, doch greift der Verfasser auch häufig auf Kant, Locke und Hume zurück sowie in die Gegenwart auf die Ansichten von Lou Andreas-Salomé (Nr. 185), um seine Abfertigung zu untermauern. Nebenbei greift er wiederholt die Schwester und das Nietzsche-Archiv an. Im Wintersemester 1898/99 hielt Kurt Breysig in Berlin Vorlesungen über „Moderne Sozial- und Staatstheoretiker von Rousseau bis auf Nietzsche", die im darauffolgenden Wintersemester wiederholt wurden. AX Friedrich Nietzsche. (Gedichte: Vereinsamt, „Mein Glück!", An den Mistral, An die Melancholie, Höchstes Gestirn des Seins, Venedig, in: Sonnen-

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blumen. Blütenlese der Lyrik aller Völker, in Sammelmappen und Einzelblättern. Hg. v. Karl Henckell. Vlg. v. Karl Henckell. Zür. u. Lpz. Mappe IV (1898/99), Nr. 1 vermutlich v. 1.10.1898, 4 S. Mit einigen Angaben über Leben und Werk, die mit dem Satz schließen : „Ein Tänzer durch Himmel und Hölle, ein Taucher in Höhen und Tiefen, ein Fechter auf allen Böden des Geistes, ein Renner auf allen Bahnen der Seele." (S. Ernst Zinn in den Anmerkungen zu: Rainer Maria Rilke, Sämtl. Werke. Bd. VI. InselVlg. (Ffm.) 1966, S. 1322 ff., für eine vollständige Liste der 96 gewürdigten Dichter.) 374 Dr. Pfannkuche, Macht und Recht. Nietzsche und Carlyle. (DVSt 1898, S. 293—298). Verfasser untersucht als „Nationalsozialer", inwiefern Macht und Redit „in einem unlöslichen Gegensätze" stehen. Er verwirft dabei, fast nur im Vorübergehen, Nietzsches „Gleichsetzung von Macht und Recht" als „nicht nur unsittliche, sondern auch unwahre Phantasterei", um Carlyle ausführlich anzuführen und ihm beizupflichten. 375 Lanzky, Paul (Vallombrosa), Friedrich Nietzsche als Mensch. (WRs Bd. 4, Nr. 23 v. 15.10. 1898, S. 884—888). Verfasser hat Nietzsche zur Zeit der Entstehung der „Morgenröte" kennengelernt und ist ihm nach der Veröffentlichung des zweiten Teiles vom „Zarathustra" persönlich nähergetreten. Er bringt hier aber aus den Gesprächen herzlich wenig und aus dem „seit Jahr und Tag" bestehenden Briefwechsel mit Nietzsche überhaupt nichts. Er betont den Widerspruch zwischen „Einsicht" und „Gemüth" bei Nietzsche und will damit das Widersprüchliche in seinen Schriften und den endgültigen Untergang des „Meisters" erklären. 376 Steiner, Rudolf, Ein wirklicher „Jünger" Zarathustras. (ML 67. Jg., Nr. 43 v. 29.10.1898, Sp. 1010 ff.). Den „wirklichen Jünger Zarathustras" findet er in Eugen Heinrich Schmitt in dieser Lobpreisung von dessen Nietzsche-Buch (Nr. 362). 377 Siebert, Dr. phil. Otto, Geschichte der neueren deutschen Philosophie seit Hegel. Ein Handbuch zur Einführung in das philosophische Studium der neuesten Zeit. Gött. Vandenhoeck & Ruprecht 1898. VIII. 496 S. Über Nietzsche, dessen „System... ein romantischer, libertinistischer, egoistisch aristokratischer beziehungsweise autokratischer Anarchismus" sei, auf S. 243 ff., in dem Abschnitt: Arthur Schopenhauer und seine Anhänger. 378 Grupp, Dr. G., Nietzsche's Bedeutung für unsere Zeit. (HBKD 1898, Bd. 122, H. 2 f., S. 89—100, 176—185). Nach ziemlich allgemein gehaltenen Erörterungen zieht Verfasser gegen Gallwitzens Versuch (Nr. 355), Christus mit dem Ubermenschen zu vergleichen, sowie gegen den Protestantismus im allgemeinen, heftig zu Felde. Nietzsches „Anschauungen schillern zwischen einem tugendhaften Puritanismus und einem cynischen Epicureismus bunt und unfaßbar; seine Phantasie schwelgt zwischen dem dionysischen Orgiasmus und einer impotenten Leere, die man vergebens als einen erhabenen Piatonismus auszugeben sich bemühen wird". „Wahres und Brauchbares ist

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1898 Ein Nietzsdie-Denkmal

kaum bei ihm zu finden, seine Lehre ist fast durchweg verwerflich, gefährlich, ein wahres Gift für die moderne Gesellschaft." Lehren könne uns Nietzsche nur, „mit der Humanitätsschwärmerei Einhalt zu tun und die sociale Begeisterung zu mäßigen", denn der Verfasser glaubt fest, daß die „Ungleichheit unvermeidlich" sei. Im Jahre 1898 madite der Baumeister Fritz Sdiuhmadier den Kohleversudi eines Nietzsche-Denkmals — „ein stiller Rundtempel in einsamer Hochebene; oben breitet ein Menschheitsgenius die Arme sehnend in die Höhe, unten recken sich finstere Giganten in ihren Fesseln" —, der die Aufmerksamkeit des Nietzsche-Archivs weckte und ihm eine Einladung nach Weimar brachte. Er verbrachte einen Tag bei der Schwester, Ernst Horneffer und dem Kranken und nahm im Jahre darauf an der Trauerfeier in Weimar teil. 2120 379 Stöcker, Helene, Zur Nietzsdie-Lektüre. (DVE 2. Jg., Nr. 45 f. v. 6. u. 13.11.1898, S. 353 f., 361 f.). „Nietzsche gehört nur in die Hand derjenigen, die bereit sind, sein Verlangen nach jahrelangem, ernstem, eindringendem Studium, nach .Auswendiglernen' zu erfüllen und die genügende innere Freiheit haben, ihn audi zuweilen — ablehnen zu können." Verfasserin geht aber dennoch weiter und behauptet, „ . . . kein Mensch, der daran geht, sich eine eigene, moderne Weltanschauung zu bauen, kann an ihm vorübergehen", doch müsse man dort die Grenze ziehen, „wo es sich um Fragen des wirtschaftlichen, sozialen Lebens handelt". Zum Schluß, nadidem sie sich etwas überlang über Nietzsche und die Frau ausgelassen und dabei Peter Gast, den sie sonst lobend anführt, in seinem Verständnis Nietzsches der Enge bezichtigt hat, wiederholt und unterstreicht sie: „Wer danach strebt, seine Zeit geistig in sidi aufzunehmen, zu erfassen, der kann ohne Nietzsche gar nicht auskommen — es wäre dasselbe, wie die Griechen verstehen wollen ohne Plato." AY (Friedrich Nietzsche), Bismarck und die Deutschen. (Z Bd. 25, 19.11. 1898, S. 321—325). Eine Zusammenstellung „bisher unbekannter Aphorismen" aus den „Jahren 1884 und 85". AZ Friedrich Nietzsche über Wagner. (WRs 3. Jg., Nr. 1 v. 15.11.1898, S. 7 ff.). Unter dieser Uberschrift „freut sich die Redaction", „den Freunden des großen Denkers einige nodi ungedruckte Aphorismen bieten zu können, wenn auch dieselben bereits den Schatten der Verdunklung dieses strahlenden Geistes deutlich merken lassen". 2l2a

F. S., Stufen des Lebens. Erinnerungen eines Baumeisters. DVA. St. u. Bln. (2. Aufl. 1935), S. 199 ff.; eine Abbildung der „Skizze zu einem Nietzsdie-Denkmal" findet sich im Anhang unter den Tafeln; wie bleibend die Wirkung Nietzsches auf den Verfasser gewesen sein mag, bezeugen Geleitworte aus Nietzsdies Werken, die drei der vier Teile des Budies vorangestellt werden. Schuhmacher, Fritz (1869—1947), Baumeister.

1898 Karl Joël

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380 Joël, Prof. Karl, Stirner. (NDRs 9. Jg., 1898, S. 995—1015). An dieser vernichtenden Kritik zweier Werke von John Henry Mackay als „Evangelisten" Stirners (Max Stirner. Sein Leben und sein Werk. Bln. 1898 / Max Stirners kleine Schriften. Bln. 1898) ist die entschiedene Zurückweisung einer Zusammenstellung von Stirner und Nietzsche (S. 1004 f.) bemerkenswert. 380 a Audi in: K. J. (Prof. a. d. Univ. Basel), Philosophenwege. Ausblicke und Rückblicke. Bln. 1901. R . Gaertner, S. 228—262. Getreuer Abdruck bis auf einen erweiterten Absatz auf S. 244 f., worin der Verfasser auf Friedrich Albert Lange als denjenigen hinweist, der Nietzsche auf Stirner aufmerksam gemacht haben könne, und E. v. Hartmanns Behauptungen in dieser Hinsicht entschieden zurückweist. 213 381 Ziegler, Theobald, Nietzsche und Hölderlin. („Hie gut Württemberg allewege". Erster (und einziger) Bd. Heilbronn. Vlg. Eugen Salzer. 1898. 381 a Auch in: T. Z., Menschen und Probleme. Reden, Vorträge und Aufsätze. Bln. Georg Reimer 1914, S. 383—399. Vergleichsflächen findet er im Wahnsinn, Mangel an „männlicher Leistung" von früher Jugend an, in der „Mißachtung des eigenen Volkes", in der „Griechenbegeisterung" und auch darin, daß „endlich beide Künstler Dichter" seien. Sie haben sich auch beide an dem Empedokles als tragischem Helden berauscht. Doch widerspricht sich der Verfasser zum Schluß und entschuldigt Nietzsches Herabsetzung unter Hölderlin mit den Worten, daß jener nicht zum Dichter geworden sei, „weil dazu die brutalen Machtinstinkte nicht taugen". Auch dem „Philosophen" Nietzsche könne man einen anderen Schwaben vorziehen, eben Hegel. BA (Friedrich Nietzsche), Vereinsamt, Venedig, Die Sonne sinkt, in: Die Perlenschnur. Eine Anthologie moderner Lyrik. H g . v. Ludw. Gemmel. Schuster & Loeffler. Bln. u. Lpz. 1898, S. 257—262. Das Werk erschien im Dezember 1898. » . . . die Aufnahme sollte sich in erster Linie durch das g e s a m t e S c h a f f e n oder durch die P e r s ö n l i c h k e i t , wie sie sich aus den Werken darstellt, rechtfertigen." Die Gedichte Nietzsches sind den „Gedichten und Sprüchen" (AW) entnommen. Enthalten sind sonst Arbeiten von: Ferd. Avenarius (2 S.), Hans Benzmann (7), Hans Bethge (5), O . J. Bierbaum (12), Emanuel Frhr. v. Bodmann (5), Max Bruns (6), Carl Busse (10), Conradi (8), Anna Croissant-Rust (10), Dehmel (23), Adolph Donath (3), Franz Evers (10), Gustav Falke (18), Cäsar Flaischlen (10), Julius H a r t (8), O . E . Hartleben (4), Karl Henckell (3), Arno Holz (5), »» Joël, Karl (Hirsdiberg/Sdilesien 27. 3.1864 — Bad Ragaz/Schweiz 22. 7.1934), Dozent in Basel seit 1893, 1898 a. o., 1902 o. Professor der Philosophie ebendort. Auf Nietzsche wird er schon zu seiner Leipziger Studentenzeit (1883—1886) gestoßen sein, wie aus folgender Bemerkung zu schließen: „,Das Prinzip der Kultur' suchte ich in einem Vereinsvortrag (des Akademisch-Philosophischen Vereins zu Leipzig) vielmehr in möglichst vielen großen Männern', und diesen audi durch Schopenhauer genährten Heldenkult fand idi damals mit staunender Erregung wieder in Nietzsches .Unzeitgemäßen Betrachtungen'." (Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. M. e. Einf. hg. v. Dr. Raymund Schmidt. 2., verbess. Aufl. Lpz. Felix Meiner 1923, S. 83).

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1898 Alfred Kerr

Wilhelm Holzamer (10), Ludw. Jacobowski (4), Maria Janitsdiek (3), Kurt Kamlah (3), Liliencron (45), Anton Lindner (5), Thekla Lingen (4), John Henry Mackay (4), Karl Maria (3), Morgenstern (20), Hermione v. Preuschen-Telmann (6), Paul Remer (9), Hugo Salus (6), Ludwig Scharf (4), Richard Schaukal (10), Georg Sdiaumberg (4), Thassilo v. Scheffer (14), Johannes Schlaf (3), Wilh. v. Scholz (3), Ernst Schur (4), Fritz Stern (11), Paul Wilhelm (5) und Bruno Wille (9). 382 Dohm, Hedwig, Nietzsche und die Frauen. (Z Bd. 25, 24.12. 1898, S. 534—543). 214 Verfasserin wundert sich über „die Männer ersten Ranges", die, „sobald die Frauenfrage auftaucht, . . . ihre Vernunft, ihre Logik verleugnen und verraten". Nach einleitenden Worten über Guy de Maupassant, Strindberg und Schopenhauer kommt sie auf den „genialen, erschütternden Dichter" Nietzsdie, der „zugleich ein glühender Denker" sei. Sie schwärmt fortwährend für ihn, „nur mit und über Frauen" könne er nicht reden. 383 Meysenbug, Malwida von, Der Lebensabend einer Idealistin. Nachtrag zu den „Memoiren einer Idealistin". Schuster & Loeffler. Bln. u. Lpz. 1898. 1 Taf., 2 BU., 475 S. (Fundstellen zu Nietzsche: S. 4, 41, 44—68, 143, 158—162, 346, 392). Bringt eingehendes über den Sorrentiner Aufenthalt 1876/77; über die Zeit unmittelbar darauf schöpft die Darstellung aus Briefen der Verfasserin an Paul Rèe. Sonst nur einige Stellen, die deutlich belegen, daß die Verfasserin Nietzsche seit „Menschliches" nicht mehr beipflichten konnte. 383 a Auch in 161 b, 2. Bd., S. 203—548. (Fundstellen zu Nietzsche: S. 207 f., 232 f., 235—252, 303, 312—315, 440, 470). 384 Bonus, (Arthur), (PJb Bd. 93, H. 1,1898, S. 132—141). Eine sehr lobende Besprechung von Gallwitzens Nietzsche-Budi (Nr. 355) mit kurzer Erwähnung und Bemängelung dessen von Kaftan (Nr. 298). Da Nietzsche „ein Opfer seines Kampfes" gegen Gott geworden sei, sei er „für uns Gottesanbeter die verehrungswürdigste Gestalt aus der neueren Kriegsgeschichte des Geistes". Er habe „die Thür aufgerissen und die religiöse Athmosphäre entbunden, herausströmen lassen". „.Antichristen' sind die Retter des Christenthums; ob mehr positiv wie Luther, Kierkegaard, Lagarde, oder mehr negativ wie Nietzsche, das ist lediglich Sache der geschichtlichen Situation." Es gilt dem Besprecher als „sicher, daß Nietzsche... das Problem der Religion — a l l e r Religion! — wieder entdeckt hat und damit eben das eigentliche Problem unserer Kultur". Einige abweisende Bemerkungen hat er noch für die „ethische Kultur", die Schwester und das Nietzsche-Archiv. Wie abschätzend der Kritiker Alfred Kerr über die Erscheinung Nietzsches urteilte, geht aus seiner Besprechung von Hauptmanns „Fuhrmann Henschel" vom 1. Dezember 1898 hervor: " 4 Dohm, Hedwig (Berlin 2 0 . 9 . 1 8 3 3 Frau von Ernst Dohm.

— ebd. 4 . 6 . 1 9 1 9 ) , Frauenrechtlerin, seit 1855

1899 Burckhardts Griechische Kulturgeschichte

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„Er (d. i. der Dramatiker Hauptmann) kann uns zurückführen. Die Deutschen gaben der Welt die neue Politik, die neue Musik, die neue Philosophie. Wenn man die drei Werte betrachtet, Bismarck, Wagner, Nietzsche, und nach dem Gemeinsamen forscht, findet sich mancherlei von der Bestie. Am wenigsten in der Persönlichkeit des armen Nietzsche. Doch in der Theorie dieses magenkranken Mannes, der vor Schwäche umfiel und das Ideal der Starken aufstellte; der zerrüttet durch Schlafmittel war und ein tänzerisdies Ideal aufstellte; der ein verzweifelter Kreischender war und sieghafte Überlegenheit kündete. Neben ihn tritt der Blut- und Eisenmann; daneben der sächsische Agitator. Sie sind nicht bloß von der Größe . . . etwa an der Tassoweit und der Iphigeniensphäre: sondern sie sind von innerlichster Menschenkultur überhaupt getrennt. Dieser Gerhart kann uns zurückführen."2140 BB Fuenf Freundesbriefe von Friedrich Nietzsche. (Pan 4. Jg., 3. H. v. Dez. 1898, S. 167—170). Je ein Brief an Gustav Krug, R. v. Seydlitz und Paul Deussen sowie zwei an Heinrich von Stein, alle aus den 80er Jahren. Ende des Jahres 1898 fing mit den ersten beiden Bänden Jakob Burckhardts „Griechische Kulturgeschichte" zu erscheinen an, die dann mit Band drei und vier 1900 bzw. 1902 abgeschlossen wurde. Nietzsche hatte in seiner „Götzendämmerung" (S. 136) geschrieben, daß Bruckhardt, angeregt durch die „Geburt", seinem Werke „einen eigenen Abschnitt über das genannte Phänomen", nämlich das „Dionysische" am griechischen Wesen, eingefügt habe. Theobald Ziegler brachte dann eine ähnliche, vermutlich sich auf Nietzsches Bemerkung stützende Feststellung: „ . . . so war es sachlich doch ein großer Triumph für Nietzsche, daß Jakob Burckhardt den Grundgedanken des Buches vom Vorhandensein eines Dionysischen acceptierte und seiner griechischen Kulturgeschichte einverleibte..." (S. 33). Auf die „Geburt" wird in der „Kulturgeschichte" in den Anmerkungen an vier Stellen ausdrücklich hingewiesen: Bd. III, S. 210, Anm. 3 u. 4; 243, Anm. 2; 249, Anm. 2 u. Bd. IV, S. 400, Anm. 2. 215

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s,s

A. K., Das neue Drama. Erste Reihe der Davidsbündler-Sdiriften. S. Fisdier. Bln. 1912. 4. Aufl., S. 44 f. S. a. ebd., S. 33, wo er in einem vom 1. 7.1896 datierten Aufsatz über den „Ahnherrn" (d. i. Ibsen) des neuen deutsdien Dramas K. Frenzel bezüglich dessen Verurteilung von Ibsens „Gespenstern" einer Roheit bezichtigt, die „nietzscheanisch" wäre. Kerr, Alfred (Breslau 25.12.1867 — Hamburg 12.10.1948). Eine eingehende Beurteilung des Nietzschesdien Einflusses auf das Werk findet sidi in der Einleitung Felix Stähelins zum ersten Band der von ihm besorgten Ausgabe des Werkes ( = J. B.-Gesamtausg. 8. Bd. DVA. St., Bln., Lpz. 1930, S. XXIII—XXIX). Die Fundstellen der Anmerkungen in dieser Ausgabe: Bd. III, S. 193, Anm. 113 f.; 223, Anm. 185; 228, Anm. 197; Bd. IV, S. 385, Anm. 318. S.a. von Karl Joël, der ja seit 1893 Dozent in Basel war: Jakob Burckhardt als Gesdiiditsphilosoph. Basel. Helbing & Liditenhahn 1918, bes. S. 8. 14 f., 53, 109, 124, 127—132, für weitere Hinweise auf Ähnlichkeiten und Gegensätze im Denken Burckhardts und Nietzsches.

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1899 Kaul Hofer / Frederick Delius

385 Werner, R. M., (JbNDL 6. Bd., 1899, 1 10: 797—813). Bespridit die Literatur der „Berichtsjahre 1894/95" über den „deutschen Führer der jungen Generation", dabei nur auf das Werk von Lou Andreas-Salomé (Nr. 185) näher eingehend. Aus der Zeit um 1898/99 erzählt der Maler Karl H o f er von einer mitunter körperlichen Abneigung Nietzsche gegenüber: „Auf andere Weise scheiterte später mein Versuch, in die Gedankenwelt Nietzsches einzudringen, obwohl hier dichterisch-plastische Elemente das Werk erhöhen. Diesem gewiß großen Denker gegenüber empfand ich eine im Instinkt ruhende Abneigung, insbesondere gegen seine Konzeption des Ubermenschen, die ich heftig und radikal als eine, wie idi zu fühlen glaubte, Überkompensation seiner defekten Physis a b l e h n t e . . . Der Übermensch wollte mir als ein geistig verklausulierter Atavismus erscheinen, wie denn auch die primitiven Totschläger Hitlers in den übersteigerten Konstruktionen dieses Neurotikers ihre Legimation zu finden glaubten. Psychologisch überaus aufschlußreich ist es, wie Nietzsche mit dem Instinkt des Gleichgearteten das Angreifbare in Wagners Werk herausfand. Dieses Innere Widerstreben gründete sich audi auf eine den Zeitgenossen gewiß als Argument unverständliche Abneigung gegen die physische Erscheinung Nietzsches, dessen völlig ungeformtes Gesicht mit der lächerlidien Zier seines ,Schnurr'bartes (welch gräßliches Wort), die hektischen Augen, all das schob für mich eine Nebelbank vor sein Werk. Gewiß kein zureichender Grund, aber für mich ausreichend, audi wenn ich weiß, daß diese subjektive Empfindung Ungerechtigkeit bedeuten könnte." 2150 Frederick Delius vertonte verschiedene Lieder Nietzsches im Jahre 1898: Nachtlied Zarathustras, Der Wanderer und sein Schatten, Der Einsame, D e r Wanderer, Nach neuen Meeren; das erste, für Baß und Orchester, wurde am 30. Mai 1899 in London uraufgeführt, dann auf dem Tonkünstlerfest zu Basel 1903 und bildete darauf den Schlußteil zur „Messe des Lebens" (für Soli, Chor und Orchester). Der zweite Teil der „Messe" wurde zum erstenmal auf dem Tonkünstlerfest zu München im Juni 1908 gespielt. 216 2150

K. H., Erinnerungen eines Malers. F. A. Herbig. Bin (1953), S. 55; Hofer, Karl (Karlsruhe 1878—1955), Maler. "« Delius, Frederick (Bradford/England 29.1.1863 — Graz-sur-Loing 10.6.1934), deutscher Abstammung, sein Vater war erst im Jahre 1850 mit 28 Jahren Engländer geworden, 1879—1881 in Chemnitz, August 1886 — Frühling 1888 in Leipzig, sonst verschiedentlich zu kürzeren Aufenthalten in Deutschland. Hubert Foss schrieb über ihn: „His philosophy was a selfcentred Nietzdiism; it did not extend Nietzsche's doctrines to world affairs." In: Warlock, Peter, Frederick Delius, Reprinted with additions, annotations and comments by Hubert Foss. New York. Oxford University Press 1952, S. 181. S. a. die Lebensbeschreibung von der Hand seiner Schwester: Delius, Clare, Frederick Delius. Memories of my Brother. Nicholson & Watson. London 1935, S. 179: „Early in life he shed all forms of ecclesiasticism and became a desciple of Nietzsche." sowie ebd., S. 210 u. 222.

1899 Richard Voß /Gabriel d'Annunzio

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386 Sdiücking, Theo, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. (BW 2. Jg., 1899, S. 18—20) Erzählt von ihrer Begegnung mit Nietzsche im Frühjahr 1883 in Rom. Dabei waren auch ihr Vater Levin Schütting und die Schwester Elisabeth. Sie verkehrten alle auch im Kreise um Malwida von Meysenbug. Von einem Besuch beim kranken Nietzsche in Weimar, vermutlich während des Jahres 1899, erzählt Richard Voß: „Nach den schwankenden Gestalten nodi eine Erscheinung aus einem Grabe. Nein — schrecklicher als ein Grab war in Weimar die Gruft, in welcher ein Lebender die Tage,, die Monate, die Jahre verbrachte. Und dieser Lebende war Friedrich Nietzsche! Ich besuchte seine Schwester, die durch treue Schwesterliebe ihres großen Bruders Unsterblichkeit teilt. Eine fast überzarte Gestalt trat mir entgegen, eine fast überfeine Wesensart enthüllte sich mir. Und bei solcher fraulichen Zartheit und Feinheit diese Liebeskraft und Willensmacht! Idi war gerührt und ergriffen. Ich hatte für den Lebend-Toten Blumen mitgebracht, Rosen und Nelken. Seine Schwester wollte, ich sollte sie ihm selbst übergeben. Sie sagte: ,Scheuen Sie sich nicht. Er ist sanft wie ein Kind und wird Sie mit einem Kinderlädieln begrüßen. Es ist kein furchtbarer, es ist ein fast lieblicher Anblick. Also kommen Sie und bringen Sie meinem Bruder Ihren Blumengruß selbst.' Ich aber folgte der Schwester nicht zum Bruder, brachte Friedrich Nietzsche meine Blumen nicht, ich war feige. Ein Grauen faßte mich bei der Vorstellung, ich sollte den Sänger des ,Zarathustra' sehen, einen fast lieblichen Anblick bietend und mit einem Kinderlächeln midi grüßend. Meine Rosen und Nelken legte ich unter Friedrich Nietzsches Büste, die im Zimmer feierlich aufgestellt war und die mit Blumenschmuck einen ,fast lieblichen Anblick' gewährt haben würde, wenn — in den weit offenen Augen nicht schon die Flamme des Wahnsinns geglüht hätte. Also verließ ich das Haus, darin der große Tote immer noch lebte, mit einem Grauen in meiner Seele."217 387 D'Annunzio, Gabriele, der Triumph des Todes. Roman. 2. Aufl. Bln. 1902. S. Fischer. 2 Bll., IXS., 1 Bl. 580 S., 2 Bll. (Il trionfo delle morte. Romanzo. Erschien zuerst 1894 in Milano; A. d. Ital. ν. M. Gagliardi; laut Kayser. Bd. 31, 1899—1902, S. 59, erschien die erste deutsche Auflage ebd., 1899 mit 532 S. Da kein Exemplar dieser Auflage zu ermitteln war, konnte nicht festgestellt werden, ob das zur 2. Gesagte auch auf die 1. Auflage paßt.) Das Werk enthält auf der Titelseite einen Leitspruch aus „Jenseits": „Es giebt Bücher, . . . welche die Tapfersten zu ihrer Tapferkeit herausfordern." Noch dazu enden die einleitenden Worte an Franceso Paolo Midietti mit der Zuversicht: „Wir aber, mein einsamer Heiliger, lauschen der Stimme des edlen Zarathustra; " 7 Voß, Richard, Aus einem phantastischen Leben. Erinnerungen. 1923. J. Engelhorns N f . St., S. 348; s. a. ebd., S. 84, 89.

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1899 Otto Ernst

und wir bereiten mit fester Zuversicht in der Kunst die Ankunft des Übermenschen vor." 218 388 Ernst, Otto, Jugend von heute. Eine deutsche Komödie in vier Akten. 8.—10. Tsd. Lpz. L. Staackmann o. J. Das Werk erschien zuerst im Jahre 1899.219 Erich Goßlar, dem Studienfreund des Helden Hermann Kröger, der sich nadi „Willensmenschen — brutalen Instinktmenschen" sehnt und vom Mann als „geborenem Herrenmenschen", von der Frau als „geborenem Sklavenmenschen" und „festester Stütze aller Sklavenmoralen" und von den „Allzuvielen" redet, werden auch persönliche Züge Nietzsches angedichtet: eine eigenartige Empfindlichkeit und ein Verlangen nach einer „reinlichen Umgebung", womöglich auch in dessen „romantischem Hange": „Ich bin für alten Glauben, alten Adel, alte Privilegien, alte Bücher." Aber audi Clara Hendricks, Blumenmalerin und Freundin des Helden, weiß aus ihren Jahren in Paris um den „Übermenschen", wenigstens soviel, daß sie die beiden „modernen Menschen" Eridi Goßlar und Egon Wolf, den lächerlichen Literaten des Stückes, als solche bezeichnen kann. Es bleibt aber dem jungen naseweisen Obersekundaner Hans Kröger überlassen, Nietzsche ausdrücklich anzuführen: „Wahr? .Nichts ist wahr; alles ist erlaubt!* sagt Nietzsche." (S. 95) Natürlich kehrt sich der Held doch zum Schluß von seinen beiden Verführern ab, doch nicht ohne den Ideen, denen er auf der Universität begegnet ist, Dank zu wissen: „Sie waren brennend interessant wie a l l e Reaktion. Sie setzten gegen das schleichende Unredit das brutale Unrecht, gegen den Stumpfsinn den Wahnsinn. Und idi segne diese Ideen; denn sie haben es mir unmöglich gemacht, ein Spießbürger zu werden." BC Briefe Richard Wagners an Emil Heckel. Zur Entstehungsgeschichte der Bühnenfestspiele in Bayreuth. Hg. v. Karl Heckel. Bln. S. Fischer 1899, S. 31 bzw. 68 f. Ein Telegramm (Dez. 1871/Jan. 1872) sowie ein Brief (v. 19.10.1873) Nietzsches an Emil Heckel im Erstdruck; s. a. ebd., S. 27, 29, 35, 45 ff., 66, 70 f., 119 f. für weitere Äußerungen Heckeis über Nietzsche im persönlichen Verkehr. 389 Heyn, P. (Siegroth/Schlesien), Die Wahrheit über Nietzsche. (KMs 1899, S. 41—50, 91—100). 8,8

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S. hierzu die Meinung der Lady Blennerhassett, die schon im Februar 1898 bemerkte: „ . . . unter dem Einfluß von Nietzsche, sind die Romane geschrieben worden, die d'Annunzio's Ruhm über die heimathlidien Grenzen trugen." (Ein italienischer Romandichter. Gabriele d'Annunzio, in: DRs Bd. 94, 24. Jg., H. 5 v. Febr. 1898, S. 239; auf S. 245 f. bringt sie dann audi das obenerwähnte Vorwort in vollem deutschen Wortlaut); s.a. Ernst Schur, Gabriele d'Annunzio: Der Triumph des Todes, in: Ges. 16. Jg., 1900, Bd. 1, S. 365—371; D'Annunzio, Gabriele (Pescara/Abruzzi 12. 3. 1863 — Gardone/Gardasee 1. 3.1938). Emst, Otto (d. i. Otto Ernst Schmidt, Ottensen 7.10.1862 — Groß-Flottbek 5. 3.1926), 1893—1900 Volksschullehrer in Hamburg; zur Aufführungsgeschichte s. Kummer, Fr., Dt. Literaturgesdi. d. 19. Jhs. Dresd. Carl Reißner 1908, S. 694: „Die meistgegebenen Stücke. Spieljahr 1900 bis 1901. Moderne Bühnensdiriftsteller. Sudermann 1366 Aufführungen (Johannesfeuer), Otto Ernst 1134 (Flachsmann als Erzieher und Jugend von heute)..

1899

223

Verfasser behandelt die Werke ab „Morgenröte" und will „denen die Augen öffnen, die Nietzsche bisher für einen harmlosen Schwärmer gehalten und an seinen Schlagworten von der ,blonden Bestie', dem .Herdentier' und dem Machenden Löwen' sich mit billigem Witze ergötzt haben", denn ihm ist Nietzsche „eine schwere Gefahr . . . für unsere gebildete deutsche Jugend". 390 Ritsehl, O(tto) (Bonn), (ThLZg 1899, Nr. 13, Sp. 400—404). Eine Besprechung von von Hartmanns „Ethischen Studien" (Nr. 119 a) und dabei von dem Aufsatz „Nietzsches ,neue Moral'". Besprecher teilt von Hartmanns Ansicht nicht, Nietzsche habe das Stirnersdie Werk gekannt. Über Nietzsche Sp. 401. 391 Tienes, Dr. Georg A. (Bármen), Nietzsche's Stellung zu den Grundfragen der Ethik genetisch dargestellt. Bern. C. Sturzenegger 1899. 50 S., 1 Bl. Verfasser will einen „Beitrag zur Würdigung und zum Verständnis von Nietzsches Moralphilosophie und damit von ihm selbst leisten" und durchmißt dazu dreimal zeitfolgend die Werke des Denkers. Beim ersten Gang, nach der „Herleitung der Moral", findet er, daß es Nietzsche gelungen sei, „seine früheren, gelegentlichen, oft disparaten Ausführungen zu einem organischen Ganzen, einem geschlossenen System zu verschmelzen"; bei der zweiten Durchsicht, nach den „Grundprinzipien der Moral", kennzeichnet er die „drei Epochen der Nietzscheschen Entwicklung" als „Gefühlsmoral, Vernunftmoral, Instinktmoral": er mache schließlich „das aufsteigende Leben" und dessen „Forderung zum Prinzip der Moral" und stelle somit „die Ethik unter die Biologie"; beim dritten Gang verfolgt er die Nietzsdiesche Auffassung vom „Willen" und findet in dieser Hinsicht, daß „sich zwei disparate Auffassungen die Wage halten: die theoretische entschieden deterministisch-fatalistisch, — die praktische, in verschiedener Stärke und Deutlichkeit, aber wenigstens r e l a t i v indeterministisch; am meisten... der Zarathustra..." BD Förster-Nietzsche, Elisabeth, Jakob Burckhardt und Friedrich Nietzsche. Briefwechsel mit einer Einleitung. (NDRs 10. Jg., Febr. 1899, S. 151—161). Vorabdruck der Briefe, bis auf die ersten beiden, die darauf in den gesammelten Briefen erschienen sind. 392 Henne am Rhyn, Dr. O(tto), Zur Frage der Ausführbarkeit von Friedrich Nietzsches Ideen (DNJb Bd. 1, 1. Jg., Nr. 21 v. 18. 2. 1899, S. 652—659). Der Aufsatz enthält den Kern des Verfassers „Anti-Zarathustra" (Nr. 393), auf dessen baldiges Erscheinen auch zum Schluß hingewiesen wird. 393 Henne am Rhyn, Dr. Otto, Anti-Zarathustra. Gedanken über Friedrich Nietzsches Hauptwerke. Altenburg, S.-A. Alfred Titel's Vlg. 1899. XV, 160 S. Unter den Hauptwerken versteht der Verfasser „Zarathustra", „Jenseits", die „Genealogie" und die „Götzendämmerung". Er erstrebt hiermit die „Entlarvung eines .Dilettanten', der ,Operntexte' für tiefe Weisheit ausgibt und dem es gelungen ist, seine kolossalen Vorurteile bei einer verblendeten Gemeinde geradezu als das Gegenteil, als Vernichtung von Vorurteilen erscheinen zu lassen". 393 a Dass. 2., unveränderte Aufl. (1903). XV, 164 S. (davon S. 161—164 = Vlgs.-anz.). Unveränderter Abdruck der ersten Auflage.

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1899 Julius Hart

394 Förster-Nietzsdie, Elisabeth (Weimar), Nietzsche und die Franzosen. (Z Bd. 26, 18. 3.1899, S. 462—472). UnterVerwertung von Briefen und Stellen aus „Ecce homo" entwirft die Schwester hier ein Bild von Nietzsches Verhältnis zu Frankreich und den Franzosen. Der Aufsatz wurde bis auf einen „unvollenden Essay aus dem Sommer 1885" über Stendhal, Mérimée, Taine, Renan, St. Beuve, Flaubert, Baudelaire, Victor Hugo, Michelet und Georg Sand (S. 466—470) in leicht geänderter Fassung und anderer Anordnung in die Abschnitte 5, 6 und 7 der Einleitung zu der Übersetzung von Lichtenbergers Nietzsche-Buch (Nr. 405) eingeflochten. 395 Conrad, Michael Georg (München), Zarathustra. (Ζ Bd. 26, 18. 3.1898, S. 475). Ein Lobgedicht auf Nietzsche-Zarathustra. 395 a Auch in: M. G. C., Salve Regina. Lyrischer Cyklus. Bln., Lpz. Schuster & Loeffler 1899, S. 95 f. 396 H a r t , Julius, Der neue Gott. Ein Ausblick auf das kommende Jahrhundert. E. Diederichs. Florenz u. Lpz. 1899. 5 Bll., 350 S., 2 Bll. 280 ( = Zukunftsland. l . B d . : Im Kampf um eine neue Weltanschauung.) Fundstellen zu Nietzsche: S. 14, 31, 79—97, 100 f., 104—111,113, 155, 242—246. „Am Ende des Jahrhunderts" sieht der Verfasser einen „Nietzscheschen Bacchantenzug, der die längst begrabenen Ideale der Renaissance als Götzenbilder mit sich führt". Hierin, ebenso wie in den „Glocken des Mittelalters", die „am Anfang dieses Jahrhunderts geläutet haben", erkennt er die Romantik, „die schwerste Krankheit, an der solange unsere Kultur dahinsiedite". Die Empfindungen der Nietzschesdien Welt sind ihm „romantisch-dilettantisch-weibisdi" und der „Herrenmensch Nietzsches ein guter alter Vertrauter aus der Kindheit, der romantische Hurone, der Naturmensch Rousseaus, der Held aus dem Stamme der Chateaubriandischen Natchez, Coopers letzter Mohikaner". Nietzsche sei kein „Schöpfer, kein Eigener, sondern nur ein Schmarotzer, ein schwärmerischer Nachempfinder, ein Dilettant". Aber noch wesentlicher begründet ist seine Verurteilung Nietzsches in der Ansicht, daß er als „ein romanischer Geist und Denker aufgetreten" sei, in seiner „Ruhmeshalle erblickt man kaum einen Germanen". Da „der Romane nichts als der ewige Anarchist" sei, „ein geborener Macht- und Gewaltbekenner", hofft H a r t auf die „blonden nordischen Männer". Doch ist Nietzsche ihm auch „Sproß und echter Vertreter der westlichen slawischen Welt", und „die eunudiische Romantik des Übermenschen war der Ausdruck des unfruchtbaren polnischen Geistes". Doch Stirner, „der an Tiefe des Geistes, an Weite des Blicks, an kritischem Scharfsinn, über Nietzsche so weit emporragt, daß allerdings die Beiden gar nicht miteinander verglichen werden sollten", habe zumindest die „Synthese aus dem rein idealen, absoluten Ich Fichtes und dem realen Ein-Ich des Buddhas und des Christus" geahnt, die dem Verfasser als Ideal vorschwebt.

220

Hart, Julius (Münster 9. 4.1859 — Berlin 7. 7.1930).

1899

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396 a Unter demselben Titel in: N M J b Bd. 1, 1. Jg., Nr. 24 v. 11.3. 1899, S. 762—767). Eine Selbstanzeige des Werkes. Über Nietzsche S. 764. 398 Cohn, Dr. Richard, Friedrich Nietzsche's Ideen. (DNJb l.Bd., l . J g . , Nr. 26 v. 25. 3. 1899, S. 807—816). Eine Zurückweisung der Behauptungen von Otto Henne am Rhyn (Nr. 392). 399 Naumann, Gustav, Das Meer in Nietzsches Zarathustra-Dichtung. (In: Allerlei Leute. Ein Stammbuch Hermann Adolf Haessel von Freunden dargebracht am 26ten März 1899 zu seinem achtzigsten Geburtstage. Lpz. Fischer & Wittig. 1899, S. 49—60). Verfasser findet, daß in dieser Dichtung „die See uns allenthalben entgegentönt und entgegenleuchtet", denn „zu drei Vierteln hat sie der warme Anhauch südlicher Seewinde gereift". Die See sei Nietzsche-Zarathustra „einer lieben Heimat gleich" gewesen und dies zu verfolgen, bekräftige das Gefühl, wie stark das Werk „persönlich empfunden" und „einen wie stark individuellen Geschmack sie auch nodi in Nebenwerk und Einzelzug zum Ausdruck" bringe. 400 Henne am Rhyn, Dr. O(tto), Replik auf den Artikel von Dr. Richard Cohn über Fr. Nietzsches Ideen. (DNJb 2. Bd., l . J g . , Nr. 31 v. 29.4.1899, S. 978—982). 401 Hudi, Rudolf, Mehr Goethe. Lpz. u. Bln. Georg Heinr. Müller. Ende 1899. 2 . - 4 . Tsd. 170 S., 3 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Die Erstausgabe erschien im selben Jahre. 821 Fundstellen zu Nietzsche: S. 23 f., 29 ff., 36—40, 42—62, 65—81, 85, 97, 102, 109, 112, 141, 160. Verfasser nimmt Goethe als Maßstab, um die „Moderne" zu messen und ihre Mängel aufzudecken. Dabei stößt er am häufigsten auf Nietzsche und die Literatur der Nietzsdieaner. Er findet, daß bei Nietzsche zweierlei ins Auge falle: „das Feminine und Scholastische". Der „Zarathustra" ist ihm „auch ein Teil der schalen Komödie ,Moderne Literaturgeschichte'", doch meint er, „Götz von Berlichingen und die Leiden des jungen Werthers haben die Litteratur jener Zeit nicht annähernd so beeinflußt, wie der .Zarathustra' unsere m o d e r n e . . . " Angesidits der „Moderne" läßt er dennoch bei Nietzsche zweierlei gelten: er habe die Kunst der Sprache geübt und sei höchst geistreich gewesen. 401 a Dass. Mdin. u. Lpz. 1904 ( = 5 . - 7 . Tsd.) G. Müller. 188 S. Fundstellen zu Nietzsche: S. 24 f., 30 ff., 37—41, 43—63, 66—82, 90, 102 f., 107 f., 114, 117, 155, 178. Was Nietzsche betrifft sonst unverändert.

121

Hudi, Rudolf (Porto Alegre/Brasilien 28.2.1862 — Bad Harzburg 13.1.1943), Bruder der Ricarda, Jurist, zuerst in Wolfenbüttel, dann in Bad Harzburg, als Schriftsteller in der Hauptsache Erzähler; s.a. R.H., Mein Weg. Lebenserinnerungen. 1937. Bernhard Sporn. Zeulenrode, S. 45 (zu Nietzsches Meinungen über Frauen); die einzige Erwähnung Nietzsches im ganzen 420seitigen Werk, die Hudis Abneigung als noch ungesdiwächt zeigt.

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1899 Henri Liditenberger

402 Meyer, Richard M. (Berlin), (DLZg 20. Jg., N r . 14 v. 3.4.1899, Sp. 532—536). Eine Besprechung von Harts „Der neue Gott" (Nr. 396), bei dem dem Besprecher „die überragende Bedeutung Nietzsches . . . deutlicher als aus mancher Lobpreisung hervorzugehen" scheine. Sowohl in der Form wie auch im Inhalt sei Nietzsches Einfluß auf H a r t unverkennbar, doch sei dieser ein „theoretischer Gegner Nietzsches" und stehe „näher zu Schopenhauer und seinen Indern". 403 Plodi, Arthur, Heinrich Heine und die ewige Wiederkunft aller Dinge. (FZg v. 18. 4.1899). Führt eine Stelle aus Heines italienischen Reisebildern an, in der die H y p o these der ewigen Wiederkehr „wetterleuchtet", doch sei sie ihm „kaum mehr als ein schöner poetischer Einfall, eine flüchtige Träumerei, eine Seifenblase der Phantasie" gewesen. Dennoch meint der Verfasser, könne man Heine „nicht mit Unredit als einen Vorläufer Nietzsches bezeichnen". 404 Grimm, Eduard, Das Problem Friedrich Nietzsches. Bln. C. A. Schwetschke. 1899. 2 Bll., 264 S., 4 Bll. Verfasser, Hauptpastor an der Nikolaikirche zu Hamburg, meint, „eine Fülle von Geist, einen Reichtum an Problemen, das wird man stets an Nietzsche rühmen können". Dodi bleibe der Genuß seiner Vorträge ein solcher „an Einzelnem". E r findet sonst wenig an Nietzsche, was er bejahen könne, und r u f t freudig aus: „Er hat sich selbst von seinem Volke gewandt; so braucht das deutsche Volk ihn nicht erst von sich abzustreifen." Der Einfluß seiner Philosophie „rührt zu einem guten Teile mit daher, daß dieser Unzeitgemäße weit mehr Zeitgemäßes an sich hat, als er selbst sich wohl eingestehen möchte". Etwas neu ist Verfassers Einteilung der Entwicklung Nietzsches in fünf Zeitstufen. 405 Lichtenberger, Henri (Prof. a. d. Univ. Nancy), Die Philosophie Friedrich Nietzsches. Eingeleitet u. übers, v. Elisabeth Förster-Nietzsche. Dresd. u. Lpz. Carl Reißner 1899. 1 Taf., LXXIXS., 1 Bl., 216 S. In der Einleitung gibt die Schwester an, daß H e r r von Oppeln-Bronikowski 222 „der eigentliche Übersetzer" gewesen sei. Sonst enthält die Einleitung eine Zusammenfassung der Einflüsse auf Nietzsche: „Griechentum, Ritsdil, Schopenhauer, Wagner, Pascal, Montaigne, Stendhal, Goethe, Emerson, Burckhardt, Gobineau, Stifter, Byron, Heine, französische Kultur, Vereinsamung und Migräne." Die Behauptung von Einfluß seitens Blanqui, Le Bon, Rèe, Stirner, der Lou Andreas und Jordan wird entschieden zurückgewiesen. Im Hauptteil des Werkes meint Lichtenberger, „wie Nietzsche Atheist aus Religion und Immoralist aus Moral, so ist er auch Individualist aus Altruismus g e w o r d e n , . . . bei dem Historiker und Philosophen eine Fülle von Beobachtungen finden können, die nicht allein als Kundgebungen des Nietzscheschen Ich, sondern auch an sich sehr wertvoll sind". „In einer Zeit, wie der unsrigen, die sich sicherlich nicht durdi einen Überfluß an physischer wie moralischer Energie auszeichnet", scheint dem Verfasser Nietzsches Philosophie dazu berufen, „einen wohltätig anregenden Einfluß auszuüben". ta

Oppeln-Bronikowski, Friedrich von (1873—1936).

1899 Arthur Moellcr-Brutk

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405 a Dass. Elisabeth Förster-Nietzsche und Henri Lichtenberger, Nietzsche und sein Werk. 1928. Dresd. 309 S., 1 Bl. (Von E. Förster-Nietzsche S. 7—62). Gobineau wird von der Schwester nidit mehr erwähnt, dafür aber Nietzsches Einfluß auf Vaihinger, Maximilian Harden und Oswald Spengler. Es wird dazu Nietzsche nun als einem „leidenschaftlichen deutschen Patrioten" mehr Raum gewidmet. Audi ist die Polemik gegen Rèe, Stirner u. a. entfallen. Im Hauptteil wird anstelle des Schlusses und des Anhangs ein sechstes Buch: „Der Wille zur Macht" und ein siebtes: „Schluß", angehängt, die völlig neu bzw. umgeschrieben sind. Im inzwischen erschienen „Willen zur Macht", der „für die Nietzschekenner keine Überraschung" gewesen sei, findet er die Bestätigung dessen, was man „längst gewußt hat, daß das Denken Nietzsches durchaus systematisch" gewesen sei. Im Schluß gibt der Verfasser einen Überblick über den neueren Einfluß Nietzsches, vor allem auf Frankreich. 406 Moeller-Bruck, Arthur, Tschandala Nietzsche. 1899. Schuster & Loeffler. Bln. u. Lpz. 54 S. 2 ä s ( = Die moderne Literatur in Gruppen- und Einzeldarstellungen. Bd. 1). „Der erste, der mit visionärer Deutlichkeit erkannte, daß sich in unserer Zeit — wie die Frucht im Mutterschoße — in ihren primitivsten Keimen Entwicklungsfaktoren regten, die dereinst zu einer machtvollen europäischen Neukultur a n wachsen würden, war Friedrich Nietzsche." „Durch den Individualismus den Mythus und durch diesen Mythus die neue Kultur zu gewinnen: das ist die Metamorphose, die Nietzsche einer Gegenwart vorgeschrieben hat", meint der Verfasser und beurteilt Nietzsche weniger als Philosophen und Ethiker, sondern vielmehr als Künstler, als Verfasser der Gedichte und des Zarathustra. Daher nennt er die „Geburt" die „denkbar erschöpfendste Psychologie des künstlerischen Schaffens", Nietzsches „erste Umwertung aller Werte". Doch bleibt er dem Verfasser nur ein „Vorläufer", denn „was er eigentlich nie besessen hat, war der praktische Kontakt mit der Gegenständlichkeit der Dinge", beides „Leben und Kunst tragen bei Nietzsche dieses Merkmal der Einseitigkeit". Nietzsche habe „gar nicht gewußt, daß er in dieser Form, die er seinen Dichtungen gegeben hat, den Kunststil einer ganzen Epoche ausdrückt". — Die weiteren elf Bändchen dieser Reihe von „Gruppen- und Einzeldarstellungen" verfolgen nun die Welle, die von Nietzsche ausgegangen sei: 2. „Neutöner!" 36 S.(bes. Herrn Conradi, über Nietzsche S. 5 f., 8,10,13,20,36). 3. Die Auferstehung des Lebens. 52 S. (bes. Ludw. Scharf u. D. v. Liliencron, über Nietzsche S. 9—12, 17—20, 22—27, 36 f., 43, 48 f., 51 f.). 123

Moeller-Bruck, Arthur (Solingen 23. 4 . 1 8 7 6 — Berlin 30. 5 . 1 9 2 5 ) , Ludwig Sdiemann schrieb über ihn u . a . : „Wiewohl nun audi midi mancherlei von diesem modernen Denker — er war unter anderem Nietzsdie-Enthusiast, während midi meine Wege immer mehr von Nietzsche ab- und eher zu Hartmann hingeführt hatten — trennte, hatte idi doch meine helle Freude an diesem himmelstürmenden Jugendmut, an dieser Zielsicherheit, diesem stolzen durch keinerlei Nichtbeachtung zu brechenden Selbstbewußtsein . . ( L . S., Lebensfahrten eines Deutschen. Eridi Matthes. Lpz., Hartenstein 1925, S. 331.

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1899 Herbert Eulenberg

4. Die deutsche Nuance. 174 S. (bes. Arno Holz, Joh. Schlaf u. G. Hauptmann, über Nietzsche S. 36, 78). 5. Mysterien. 47 S. (bes. Stanislaw Przybyszewski, über Nietzsche S. 8,16,30,37). 6. Richard Dehmel. 1900. 98 S. (über Nietzsche S. 7, 24, 48, 53, 67 ff., 73, 87 f., 90). 7. Unser aller Heimat. 74 S. (bes. Joh. Schlaf, Max Halbe u. Herrn. Stehr, über Nietzsche S. 23, 25 f., 41, 50, 60). 8. Bei den Formen. 1901. 56 S. (bes. Arno Holz, über Nietzsche S. 14, 18, 26 f., 36). 9. Stilismus. 74 S. (bes. O. J. Bierbaum u. Stefan George, über Nietzsche S. 10, 36, 38 f., 60 f., 70). 10. Das junge Wien. 1902. 61 S. (bes. Hugo von Hofmannsthal u. Peter Altenberg, über Nietzsche S. 12, 28). 11. Der neue Humor. Varietestil. 46 S. (bes. Paul Scheerbart u. Frank Wedekind, über Nietzsdie S. 44 f.). 12. Propheten. 39 S. (bes. Maximilian Dauthendey u. Alfred Mombert, über Nietzsdie S. 25, 28 f., 38 f.). 407 Sandberg, Dr. Richard (Breslau), Aus Nietzsches Leben und Schaffen. (Z Bd. 27, 6. 5.1899, S. 246—260). Besprechung des zweiten Bandes der Lebensbeschreibung (Nr. 285), in der „uns diese Weltanschauung als eine einheitliche, in ihrer Entwicklung kontinuierliche" entgegentrete. Aus seinem Leipziger Studentenleben im Sommer 1899 erzählt Herbert Eulenberg, der damals gerade sein zweites Bühnenstück, „Anna Walewska", fertigstellte: „Da war vor allem ein redit schnodderiger Mainzer Sdimock, Fritz Stern, der sich für einen großen Dichter der Zukunft hielt und dabei nur eine sehr kleine musikalische Begabung hatte. Er warf mit Gedanken und Aussprüchen Nietzsches um sich, auf den sidi zu berufen damals besonders in der Jugend an der Tagesordnung war. Nie ist wohl ein Denker mit seinen Einfällen und widersprechenden Ansichten bei uns so in aller Munde gewesen, wie es dem .Weisen von Sils Maria' geschieden war. Mit ihm setzte sich damals ein jeder auseinander, der einen Anspruch auf Geistesrittersdiaft erhob. Die Schauspieler und Sprecher trugen ihn vor. Die Tondichter setzten seine Gedichte und Gesänge in Musik, und die Lehrer der Weisheit in den Hochschulen bemühten sich, nadi dem Vorbild von Georg Brandes in den Geist der Lehren Nietzsches einzudringen. Ich selber stand audi eine längere Zeit ganz unter seinem Bann und bewunderte mit allen die hinreißende glänzende Sprache dieses Mannes, der unserm Deutsch wieder eine ganz neue Schwingung und Färbung gab."2230 Î2S

° H. E., So war mein Leben. Die Fähre. Düsseldorf-Kaiserswerth (1948), S. 93 f. S. a. ebd., S. 94 f. (über einen Besuch Eulenbergs bei der Sdvwester in Weimar im Jahre 1899, bei dem er auch Peter Gast antraf) ; Eulenberg, Herbert (Mülheim a.Rh. 25.1.1876 — Düsseldorf 4.9.1949), Dramatiker.

1899 Annette Kolb

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408 Bonus (Arthur), Nietzsche und Lagarde. (CW Anfang Juni 1899, Nr. 24, Sp. 562—571). Verfasser nimmt das Erscheinen von Nietzsches „Gedichten und Sprüchen" und Lagardes „Gedichten" zum Anlaß, „beide Gestalten als Dichter" sowie überhaupt zu vergleichen. Der Vergleich fällt zugunsten Lagardes aus, der in „seiner weniger bunten Welt stellenweise eine Ausdrucksfähigkeit und Schlagkraft" erreiche, „an die Zarathustra nidit herankommt". 409 Kolb, Annette (Mündien), Wagner-Entweihung. (WRs 3. Jg., Nr. 16 v. Juni 1899, S. 389 f.).224 Mit der Überschrift kennzeichnet die Verfasserin eine Münchner Aufführung der „Walküre", vergleicht aber in ihren Bemerkungen Wagners „Unbefangenheit" mit Nietzsches „düsterm Hochmut". 410 Seydlitz, R(einhart) Frhr. v., Friedrich Nietzsche. Briefe und Gespräche. (NDRs 10. Jg., Juni 1899, S. 617—628). Eine durchaus schwärmende, wenn audi gerade dadurch etwas dürftige Darstellung seiner Freundschaft (Sept. 1876 — Dez. 1888) mit Nietzsche, der zahlreiche Briefstellen und einige Gesprächsfetzen eingefloditen sind. 411 (Grotthuß, J. E.), Nietzsche-Prometheus? — Die Tragödie des Einsamen. — Genie, Wahnsinn und Verbrechen. — Die Umwertung aller Werte und die Artillerie des Herrn Josef Lauff. (Im „Tagebuch" von: DTh 2. Jg., Juli 1899, S. 376—380). Verfasser kann nicht umhin, Nietzsche „in seinem ganz p e r s ö n l i c h e n Sein und Gebahren so rein und keusdi wie nur ein Kind" zu finden, dennoch habe dieser „das Feuer stehlen wollen", anstatt es aus der Hand des „alleinigen Spenders allen Lidites" zu empfangen. „Nie hat ein Dichter ein erschütternderes Schauspiel geschrieben, als es diese Tragödie des Einsamen ist!" — „Die letzten Nietzsche'schen Schriften bieten durdiaus das Schauspiel eines an Monomanie leidenden, im übrigen aber noch nicht sichtbar erkrankten Geistes; nur war dieser Geist eben der eines Nietzsche, einer genial veranlagten Persönlichkeit, eines hodibegabten Denkers und Künstlers, eines ausgezeichneten Stilisten." Dodi was er gelehrt habe, sei „in der Regel konfuses Zeug, vorsichtiges Um-den-Brei-herum-Tasten, dunkle, mysteriöse Andeutungen, mit einem Wort viel blauer Dunst ohne irgend einen greifbaren Kern". Verfasser findet dann die „Umwertung" in der Gestalt der „Sozialdemokratie", der „Diener der Kirche", der „Anhänger Nietzsches" und des Bruno Wille und Josef Lauff schon im vollen Gange. 412 Oppeln-Bronikowski, Friedridi von, Friedridi Nietzsche als DiditerPhilosoph und Künstler. Essai. (DU 3. Jg., Nr. 27 ff. v. 1., 8. u. 15.7. 1899, S. 519—523, 541—545, 567—571). Verfasser sieht Nietzsches „poetisches Talent" als „ernstlich behindert" durch seine „moralisch-philosophisdie und wissensdiaftlidi-intellektualistisdie Doppelbegabung". Dodi habe diese „vielseitige Begabung ihn auch nicht zur einseitigen ,Begriffsspinne' verkümmern lassen"; „das Ich ist in der Tat der Brennpunkt, in K4

Kolb, Annette (Mündien 3.2.1875 — ebd. 3.12.1967), Schriftstellerin.

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1899 Gustav Lawdauer

dem sich alle Strahlen der Innen- und Außenwelt vereinigen", und „dieses Zusammenwachsen aller Triebe und Affekte um einen Mittelpunkt, das Ich", mache ihn in Gefolge von Fichte und Novalis zum „Romantiker der Philosophie". Ähnlich dem Barock aber habe er sich stilistisch auch „zum Überbieten des Ausdrucks, zum Übertrumpfen des Maßes, zur Verheerung treiben lassen", und die „Zunahme des Barocks in den späteren Werken ist unleugbar". Darüber hinaus „durchklaffen den ganzen Riesentorso des Nietzsche'schen ,Systems'" zwei „Wiedersprüche": die antike, seiende, ruhende Seele" und die „christlich-moderne, die das Werden, das Wirken liebt". 413 Loewenfeld, Dr. Hans, Der lachende Löwe. (DNJb Bd. 2, 1. Jg., Nr. 41 v. 8. 7.1899, S. 1290—1296.) Eine Erzählung, zu der Titel sowie Auslösung der Handlung der Nietzscheschen Gedankenwelt entnommen sind. Weil „das Übermenschliche Aufsehen macht", will der Chefredakteur einer Pariser Zeitung, daß sein Feuilletonist eine Geschichte über „die blonde Bestie, den Löwen, der lacht", schreibe. 414 K., Anti-Zarathustra. (WeZg Mittags-Ausg. Nr. 18920 v. 20. 7.1899). Eine lobende Besprechung von Henne am Rhyns Werk gleichen Namens (Nr. . 393), die aber auf knappem Raum auch versucht, Nietzsches Leben und Werk zu umreißen. Die Schrift wird „allen zur Lektüre angerathen, weil wir völlig Henne's am Rhyn Standpunkt theilen". Gustav Landauers Bekanntschaft mit dem Werke Nietzsches fällt spätestens in den Sommer des Jahres 1899. 2 2 5 415 Oppeln-Bronikowski, Friedrich von, Gedanken über das Pathologische bei Nietzsche. Eine Plauderei. (ML 68. Jg., H. 29 v. 22. 7. 1899, Sp. 681—686). Nietzsche ist ihm der „letzte große Sohn" des Humanismus, „die lebendige Proklamation der Persönlichkeit in der Welt des Geistes, deren Bestand durch die Entpersönlichung des Wissens immer mehr in Frage gestellt wird". So ist es auch überall „die Form seiner selbsteigenen Persönlichkeit, die unbestreitbar manchen pathologischen Zug aufweist". 416 Grosse, Johannes, Nietzsches Geisteskrankheit. (Z 28. Bd., 29. 7.1899, S. 208—214). Nietzsdie ist dem Verfasser einer, der „seine bedeutendsten Gedanken zu einer grandiosen Psychologie des menschlichen und des genialen Geistes gefaßt" habe, und „an den äußersten Konsequenzen des Denkens, die er unerschrocken gezogen hat, intellektuell und sittlich zugrunde" gegangen sei. Die Werke nach „Menschliches" enthalten „nirgends neue grundlegende Gedanken", doch „wetterleuchtet darin bes. in ,Zarathustra' der Wahnsinn eines glänzenden Geistes, der ,geniale' Wahnsinn eines ,genialen' Künstlers".

2:5

Siehe: G. L. Sein Lebensgang in Briefen. Unter Mitwirkung v. Ina Britsdigi-Sdiimmer hg. v. Martin Buber. Riitten & Loening 1929. Ffm., S. 3 7 ; weitere Äußerungen ebd., S. 117 f., 325, 331, 372, 4 1 1 ; Landauer, Gustav (Karlsruhe 7. 4 . 1 8 7 0 — München 2. 5.1919), Philosoph.

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417 Gebhardt, Max (Hirschberg), Nietzsche. (Pro 3. Jg., N r . 32 v. 12. 8.1899, Sp. 594—599). D a Philosophie „die Wissensdiaft von den Prinzipien, den letzten Gründen des Seins" sei und Nietzsche dazu „gar nichts" beigebracht habe, so habe man es bei ihm nicht mit Philosophie „im eigentlichen Sinne zu tun", sondern „höchstens mit der Moralphilosophie". Hierin erscheine der „absolute Egoismus Nietzsches als der notwendige Rückschlag gegen den absoluten Altruismus Schopenhauers". Auch seine „Verachtung der Masse" lasse sich als „Konsequenz des Schopenhauerschen Pessimismus" verstehen. Vorläufer Nietzsches findet der Verfasser in den „Anhängern der jüngeren Sophistik" und einen Widerleger in Plato. N u r eines könne er an Nietzsche bejahen, er sei „jedenfalls Sprecher des vielen Männern unbewußten Abneigungsgefühles gegen jene versanftelnde Auffassung der christlichen Sittlichkeit gewesen, die wenigstens unter dem jüngeren Theologengeschlecht so gut wie verschwunden" sei. 418 Hecht, Marie, Friedrich Nietzsches Einfluß auf die Frauen. (Fr 6. Jg., H . 8, 1899, S. 486—491). Indem sie den Einfluß eingesteht und zu erklären versucht, stellt sie aus christlicher Sicht fest, daß er bei „in sich geschlossenen, besonnenen, selbständigen N a t u ren" nur eine Ablehnung zeitigen könne. 419 Seiling, Prof. Max (München-Pasing), Nietzsche und Mainländer. (FZg N r . 225 v. 15. 8.1899, Morgenbl.). 22 « Veranlaßt durch Nietzsches einzige Erwähnung Mainländers in der „fröhlichen Wissensdiaft" ergreift der Verfasser die Sache des letzteren und legt nahe, daß Nietzsche von Mainländer und dessen 1876 erschienenem Hauptwerk „über Schopenhauer, d. h. über dessen „Irrtümer", „belehrt worden" sei. 420 Merian, Hans, Richard Strauß* Tondichtung Also sprach Zarathustra. Eine Studie über die moderne Programmsymphonie. Lpz. 1899. Carl Meyers Graph. Inst. 55 S. Nach dem Vorwort, die Ausarbeitung von Gedanken, die zuerst zu Anfang des Jahres in der „Leipziger Kunst" erschienen waren. Verfasser analysiert „den Bau der Zarathustra-Symphonie", einer „der bedeutendsten Tonschöpfungen unserer Tage", und zeigt „den Parallelismus zwischen dem musikalischen ,Programm' des Komponisten und dem Zarathustra-Buche Nietzsches" auf. Strauß sei „dem Nietzschesdien ,Zarathustra' nicht kapitelweise gefolgt, sondern hat die Zarathustra-Philosophie als Ganzes gefaßt und seine Tondichtung auf ihren Endergebnissen frei aufgebaut". 421 Naumann, O., Friedrich Nietzsches antichristliche Philosophie. (L Bd. 10, H . 7 f. v. Juli u. Aug. 1899, S. 582—602, 670—686). Aus Besorgnis hauptsächlich um die akademische Jugend sieht der Verfasser, aus christlicher Sicht argumentierend, in Nietzsche den jüngsten und energischsten Gegner des Christentums. 422 Oppeln-Bronikowski, Friedrich v., Nietzsche und die Lehre von der Ewigen Wiederkunft. (MAZg Beilage, N r . 205 v. 9. 9.1899). Verfasser ist der " · Seiling, Max (Mittenwald 1852 — Speyer 1928).

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Meinung, daß es Nietzsches „Religionsstifter-Seele" gewesen sei, die den Gedanken von der „Ewigen Wiederkunft" geboren habe. Sie habe „psychologischen, nidit moralischen Werth" und lehre uns wieder einmal, daß „kein Mensch ohne Irrthum und Wahn, d. h. ohne subjektiven Glauben auskommt". 423 Eßwein, Hermann, Hölderlin und Nietzsche. (Rfa 1. Jg., 2. Bd., Nr. 18 v. 25. 9.1899, S. 169—174). Verfasser holt gleich zu Anfang weit aus, um das Romantische an der Gegenwart zur eigentlichen Periode der Romantik in Beziehung zu bringen. Ihm schwebt als Höhepunkt des deutschen Geistes „die völlige Verschmelzung von Romantischem und Hellenischem" vor, und er erkennt in Nietzsche wie in Hölderlin die „in diesem Kampfe höchst ehrenvoll Besiegten". 424 Falkenfeld, Max, Marx und Nietzsche. Lpz. Wilh. Friedrich 1899. 29 S., 4 Bll. Ein recht verworrenes „Schriftchen", das der „Versöhnung" zwischen Sozialismus und Individualismus dienen möchte. Unter anderem wird neben Nietzsche auch Theodor Fontane gegen die Vorwürfe der Sozialisten, vor allem Franz Mehrings verteidigt. 425 Ziegler, Theobald, Friedrich Nietzsche. 1.—3. Tsd. Bln. Georg Bondi. 1900. XII, 302 S., 1 Bl. Erschien schon Ende 1899. ( = Vorkämpfer des Jahrhunderts. Eine Sammlung von Biographien. 1. Bd.). Laut Vorwort „eine vielfach wortgetreue Wiedergabe" von Vorlesungen, die der Verfasser im Winter 1897/98 an der Straßburger Hochschule über Friedrich Nietzsche gehalten hatte. Nach ihm begann die „geistige Zerrüttung" zwischen den Jahren 1882 und 1885; dies will er vor allem am Stil festgestellt haben. Trotzdem und trotz der Bemängelung vieles Einzelnen an Nietzsche bleibt dieser dem Verfasser ein „Vorkämpfer", der „die Fahne des ,ethischen Personalismus' wieder ergriffen und die große Gegenströmung gegen den Socialismus kräftig eingeleitet und theoretisch begründet" habe. 426 Conrad, Dr. Michael Georg (München), Der Kampf um Nietzsche. (Wage 1899, H . 48, S. 811—814). Eine Zurückweisung der Werke von Otto Henne am Rhyn (Nr. 393), Ziegler (Nr. 425), Eduard Grimm (404), Gustav Naumann (1.T1., N r . 440) und Paul Mongré (Das Chaos in kosmischer Auslese) zugunsten Nietzsches, dessen „innerstes Wesen" dem Besprecher „heldenhafte Wahrhaftigkeit" gewesen ist.

Im Herbst und Winter 1899 begann die Gesamtausgabe in Kleinoktav zu erscheinen: G k l Die Geburt der Tragödie. / Unzeitgemäße Betrachtungen. / Erstes bis viertes Stück. / Von / Friedrich Nietzsche. / 23./24. Tsd. der Geburt der Tragödie. / Unzeitgemäße Betrachtungen: / 23. Tausend des ersten und zweiten Stückes. / 23./24. Tausend des dritten und vierten Stückes. / Leipzig / C. G. Naumann Verlag / 1909. 1 Taf., XIIIS., 2 Bll., 617 S., 6 Bll. ( = Vlgs.-anz.). S. 591—617 enthalten Nachbericht und Vergleichende Seiten-Tafel. ( = Nietzsche's Werke. 1 Abt., Bd. I).

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G k l l Menschliches, / Allzumenschliches. / Ein Buch für freie Geister. / Von / Friedrich Nietzsche. / Erster Band. / 6. und 7. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C . G . Naumann / 1899. 3 Bll., 414 S., 2 Bll. ( = Unter Freunden. Ein Nachspiel), X X X V I S. ( = Nachbericht v. Arthur Seidl, Aphorismen-Register u. Vergleichende Seiten-Tafel), 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = Nietzsche's Werke. 1. Abt., Bd. II). G k l l l Menschliches, / Allzumenschliches. / Ein Buch für freie Geister. / Von / Friedrich Nietzsche. / Zweiter Band. / 6. und 7. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1899. 3 Bll., 375, X X I S . ( = Nachbericht v. Arthur Seidl, Aphorismen-Register u. Vergleichende Seiten-Tafel), 6 Bll. ( = Vlgs-anz.). ( = Nietzsche's Werke. 1. Abt., Bd. III). G k I V Morgenröthe. / Gedanken über die moralischen Vorurtheile. / Von / Friedrich Nietzsche. / „Es giebt so viele Morgenröthen. / die noch nicht geleuchtet haben." / Rigveda. / 4. und 5. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1899. 3 Bll., 372, X V S . ( = Nachbericht v. Arthur Seidl, AphorismenRegister u. Vergleichende Seiten-Tafel), 3 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = Nietzsche's Werke. 1. Abt., Bd. IV). GkV Die / fröhliche Wissenschaft / („la gaya scienza"). / Von / Friedrich Nietzsche. / Ich wohne in meinem eignen Haus, / Hab niemandem nie nichts nachgemacht / Und — lachte nodi jeden Meister aus, / Der nicht sich selber ausgelacht. / Über meiner Hausthür. / 4. und 5. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1899. 3 Bll., 362, X I X S . ( = Nachbericht v. Arthur Seidl, Register u. Vergleichende Seiten-Tafel), 6 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = Nietzsche's Werke. 1. Abt., Bd. V). GkVI Also / sprach Zarathustra. / Ein Buch für Alle und Keinen. / Von / Friedrich Nietzsche. / 31.—33. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1902. 3 Bll., 1 Taf., 476, X V I I I S . ( = Die Entstehung von „Also sprach Zarathustra" ν. E. Förster-Nietzsche, Nachbericht ν. Peter Gast u. Vergleichende Seiten-Tafel), 8 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = Nietzsche's Werke. 1 Abt., Bd. VI). GkVII Jenseits von Gut und Böse. / Zur Genealogie der Moral. / Von / Friedrich Nietzsche. / 19.—21. Tausend des Jenseits von Gut und Böse. / 15.—17. Tausend der Genealogie der Moral. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1905. 5 Bll., 484, X V I S . ( = Nachbericht v. Peter Gast u. Vergleichende Seiten-Tafel), 9 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = Nietzsche's Werke. 1. Abt., Bd. VII). G k V I I I Der Fall Wagner. / Götzen-Dämmerung. / Nietzsche contra Wagner. / Der Wille zur Macht / (I. Buch: Der Antichrist). / Dichtungen. / Von / Friedrich Nietzsche. / 8. und 9. Tausend des Fall Wagner und der Götzen- / Dämmerung; 7. und 8. Tausend der Dichtungen; 6. und 7. / Tausend von Nietzsche contra Wagner; / 5. und 6. Tausend / des Antichrist. / Leipzig / Druck und Verlag C. G. Naumann / 1899. VIS., 2 Bll., 474 S., 6 Bll. ( = Vlgs.-anz.). S. 435—474 ( = Nachberichte v. Arthur Seidl u. Vergleichende Seiten-Tafel). ( = Nietzsche's Werke. 1. Abt., Bd. V I I I ) .

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427 Heubaum, A(lfred), (AGPh 12. Bd., N. F. Bd. 5, H . 3, 1899, S. 361 bis 375). In dieser Sammelbesprechung von 13 Werken über Nietzsche (Tiirck, N r . 118; Zerbst, N r . 137; Schellwien, Nrn. 136, 318; Adielis, N r . 179 a; Maxi, N r . 209; Kretzer, N r . 212; Steiner, N r . 230; Runze, Nr. 273 a; Ritsehl, Nr. 286; Tönnies, Nr. 291; Wilhelmi, Nr. 294 u. Riehl, Nr. 313) hebt der Verfasser das von Riehl zur besonderen Würdigung hervor. Er findet bei ihm den eigenen Standpunkt vertreten: „Nietzsche interessiert uns nur als Persönlichkeit..., sofern er in unserer Zeit möglich war und bis zu gewissem Grade ihrem Denken und Empfinden Ausdruck verlieh." 428 Schmitt, Dr. Eugen Heinrich, Der sittliche Adel der Weltanschauung Nietzsches. (ML Nr. 50, 1899, Sp. 1185—1189). Verfasser nimmt M. Helles „Übermenschentum und Zuchtstaat" zum Anlaß, die Verurteilung Nietzsdies seitens der „moralischen Worthelden" zu verwerfen. Das anscheinend Brutale an Nietzsche (die „blonde Bestie" u. a.) sei nur eine Maske mehr, die ihn vor der „sehr ernsten Gefahr" geschützt habe, „selbst für einen solchen moralischen Worthelden betrachtet zu werden". 429 Mehring, Franz, Aesthetische Streifzüge. IX. ( N Z 17. Jg., Bd. 1, 1899, S. 569—576). Verfasser untersucht das Verhältnis des Naturalismus zu Nietzsche und bespricht dabei die Nietzsche-Werke von Duboc (Nr. 245 a) und Tönnies (Nr. 291), deren gelegentliche Preisung Nietzsches er aber nicht teilen kann. Er meint, daß die „unintelligente Wut" auf den Sozialismus „dem Denker Nietzsche den Todesstoß gegeben" habe. Er meint ferner, daß der Nietzsche der dritten Periode dem Naturalismus nur „die sicherste Rückendeckung" bedeute „gegen jede gefährliche Verwechselung mit der revolutionären Arbeiterbewegung" und liefere ihm darüber hinaus „viele zwar konfuse, aber wunderschöne Schlagworte". 429 a 429 b

Auch in 299 a, S. 178—188. Auch in 121 b, S. 25—38; nur der einleitende Absatz fehlt.

430 Oppeln-Bronikowski, Friedrich von, Nietzsche als Systematiker. (DNJk 1899, 1. Jg., S. 813 ff.). Eine sehr lobende Besprechung und Empfehlung des Nietzsche-Buches von Lichtenberger (Nr. 405), bei der der Besprecher u. a. feststellt, „die ,décadence', der pathologische Zug", sei Nietzsches ganzem Wesen eigentümlich, denn es sei wie „eine prophetische Vorahnung seines eigenen Geschickes gewesen, wenn er von der griechischen Tragödie sagt, auch sie sei durch Selbstmord gestorben". 431 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Friedrich Nietzsche über Weib, Liebe und Ehe. (NDRs 10. Jg., H . 10 v. Okt. 1899, S. 1058—1078). Aus Werkstellen, Briefen und Gesprächsteilen stellt hier die Schwester ein Bild von Nietzsches Verhältnis zur Frau zusammen. 432 Bonus, Zum Nietzsche-Problem. ( D H 5. Jg., Beibl. z. Nr. 40 f. v. 1. u. 8.10.1899, S. 9 f., 9 f.). Das „ausgezeichnet geschriebene" Nietzsche-Buch von Riehl (Nr. 313) dient dem Verfasser nur zum Anlaß, seine eigenen Gedanken über Nietzsche zu ent-

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wickeln: es gelte, „das Problem Nietzsche zu fassen als einen dreimaligen Versuch, von zum Teil geradezu entgegengesetzten Standpunkten aus die Kultur der Zeit zu überrennen"; man müsse „die ganze Nietzschesche Weltdichtung in drei G e s ä n g e n . . . als ein Experiment ernstlich auf etwa annehmbare Ergebnisse prüfen". Dabei sei „die kulturwertlidie Ausbeute völlig leer an Schlußresultaten, aber überrasdiend groß an neuen, genialen Fragestellungen". 433 Ziegler, Theobald, Die geistigen und socialen Strömungen des Neunzehnten Jahrhunderts. 1.—5. Tsd. Bln. Georg Bondi. 1899. ( = Das Neunzehnte Jahrhundert in Deutschlands Entwicklung. Hg. v. P. Schienther. Bd. 1). Im letzten von vier Teilen: „1871 bis zum Ende des Jahrhunderts", und darin im 3. (bzw. 14.) Kapitel: „Fin de siècle", gibt es zwei Abschnitte: „Friedrich Nietzsche" (S .586—598 m. e. Taf. η. d. Gemälde v. C. Stoeving) und „Die Wirkung Nietzsches" (S. 598—605), denen „Der Anarchismus" voraufgeht und „Andere Vertreter des Individualismus" folgt. Zum Schluß heißt es: „So ist der Einsame, dem vor seinen ersten Jüngern graute und der am liebsten gegen den Strom schwamm, selbst ergriffen worden vom breiten Strom der Mode und der Masse, und sein vom Größenwahn verzerrtes Bild nur immer verzerrter geworden. Erst wenn dieser Strom abgelaufen ist, wird sich bestimmen lassen, ob er ein vorübereilendes Meteor und Irrlicht war, oder ein Gestirn, das leuchtet, schwerlich wärmt." 433 a Dass. m. leicht geändertem Titel: Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im neunzehnten Jahrhundert. 15.—20. Tsd. Ungekürzte Volksausg. 1911. Uber Nietzsche zusammenhängend auf S. 588—607 (m. e. Taf. η. d. Statue v. Max Klein). Hinsichtlich Nietzsches Wirkung weiß der Verfasser jetzt zu bemerken: „ . . . in dem Maße, in dem sich unsere Dichter diesen beiden (Ibsen ist mitgemeint) genähert und sie zu Führern und Vorbildern genommen haben, sind sie auf Irr- und Abwege geraten, sich selbst immer unverständlicher, uns nur immer ungenießbarer geworden." (S. 674) Sonst nur wenige stilistische Änderungen in der Darstellung Nietzsches. 433 b Dass. Die geistigen und sozialen Strömungen Deutschlands im 19. und 20. Jahrhundert. 21.—23. Tsd. Neue, vollst, überarbeitete Volksausg. 1916. Zusammenhängend über Nietzsche auf S. 517—533. Trotz der „Überarbeitung" sind die Nietzsche betreffenden Stellen nur geringfügig geändert worden. 434 Seidl, Dr. Arthur (Weimar), Neuere Nietzsche-Literatur. (DLE 1899, Sp. 1195—1201). Besprechung der Werke von Lichtenberger (Nr. 405), Gallwitz (Nr. 355), Karl Knortz (Nr. 345), Paul E. Kaiina (Nr. 373), Arthur Moeller-Bruck (Nr. 406), Henne am Rhyn (393), Eugen Heinrich Schmitt (Nr. 362) sowie der Erwähnung Nietzsches in den Philosophiegeschichten von Otto Siebert (Nr. 377), ÜberwegHeinze (Nr. 53 a) und R. Falckenberg (Nr. 65 b). N u r die Werke von Lichtenberger und Ε. H . Schmitt finden weitgehende Zustimmung, doch bei jenem findet er, daß der „gallische Geist Halt machen" müsse „vor ,Also sprach Z a r a t h u s t r a ' ! . . . dies ist unser, so laßt uns spredien und so es behaupten". Zur Verbreitungsgeschichte

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des Nietzschesdien Werkes sind folgende Beobachtungen Seidls, die er im Ardiiv auf das Erscheinen des Werkes von Gallwitz gemacht haben will, bemerkenswert: „ . . . wieviel fern abstehende Zirkel es für Nietzsche und sein Lebensproblem lebhaft zu interessiern gewußt hat Das aber ist auf alle Fälle ein großer Gewinn, und wenn man da z. B. verfolgte, wie dies bis in die Blätter von der Farbe der .Kreuzzeitung' oder der .Preußischen Jahrbücher' seine guten Früchte trug, kann man doch nicht umhin, es für ein entschiedenes Verdienst anzusehen, was alles das Buch im guten bereits gewirkt hat." 435 de Gourmont, Remy (Paris), Pariser Briefe. Nietzsche in Frankreich. — Aus der Provinz. (WRs 3. Jg., Nr. 24 v. 15.11.1899, S. 569—572). Aus dem Manuskript übers, v. Clara Theumann. Er glaubt, „daß die französische Literatur von Nietzsche gut beeinflußt wird", und daß die „scheinbare Ungerechtigkeit, die im socialen Kampf den Schwachen durch den Starken zerschmettert, unser letzter Rettungsanker, unsere letzte Kräftequelle als Schutz gegen die Vorherrschaft der Schwächern und des Verfalls" sei. 436 Mongré, Paul, Tod und Wiederkunft. (NDRs 10. Jg., . H 1 2 v. Dez. 1899, S. 1277—1289). In einem erdichteten Antwortschreiben an eine „liebe Freundin", die sich Gedanken gemacht hat über Schopenhauers Ausführungen über den Selbstmord, entwickelt der Verfasser den Gedanken, daß es unmöglich sei dem Leben ein Ende zu setzen. In dieser Hinsicht habe Nietzsche „vor einer letzten schauerlichen und entzückenden Folgerung nicht Halt gemacht: mit der Wiederkunft sind wir zum e w i g e n L e b e n , zum ununterbrochenen ewigen Leben verurtheilt!" Wie jung mandi angehender Dichter in die Welt Nietzsches geriet, erhellt aus Aufzeichnungen Felix Brauns. Durch einen Schulfreund, Leo Brüll, lernte er Nietzsche im Jahre 1898 kennen. Brüll habe als einer der ersten Brauns Gedichte ernst genommen, nur habe er angesichts dessen „Liebe zu den Klassikern und epigonischen Dichtern" gemeint: „Es wirke in der Zeit ein starker umstürzender Wille, der sich überall offenbare: In Wagners Opern, in Schopenhauers und Nietzsches Philosophie, in der Naturwissenschaft, in den Dramen von Ibsen, Hauptmann, Schnitzler."227 Etwas später, im Jahre 1900, heißt es vom „Zarathustra": „Von diesem Buch, aus dem er (d. i. Leo Brüll) mir in der Zehnuhrpause im Hof des Gymnasiums einzelne Stücke vorlas, schlug mir ein fiebriger Ostwind entgegen, der aber gar nicht vom Sonnenaufgang her wehte, sondern wie für eine innere Bühne künstlich hervorgebracht war. Den Verführungen, falschen Luftspiegelungen, geschliffenen nachgeahmten Halb-Edelsteinen einer gezüchteten Sprache, die mit der Gewalt zimbrisdier oder bilderstürmender Waffen die Seele des Bezauberten gewann, erlag ich leicht, und wenn mich ihr böse funkelnder Hohn 227

Braun, Felix, geb. am 4. 11.1885 zu Wien; s. F. B., Das Licht der Welt. Geschichte eines Versuches als Dichter zu leben. Thomas-Morus-Presse. Wien (1949), S. 176 f.

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abstieß, so riß mich ihr Preis der Weitherzigkeit und Einsamkeit des Genius hin, der ja audi ich midi längst zugeschworen wußte." 228 „Der Treibhausgerudi des Zarathustra' dünkte midi um nidits weniger kalt, so heiß er sidi gab. Die großartige Sprache der Parabeln, der schillernde Glanz der Paradoxe, deren böses Gift ich mit der Angst von mir weghielt, wie ich sie vor Schlangen empfunden, der Mut des Bekennens, hinter dessen Offenheit die Verzweiflung eines von Natur kleinen Herzens über seine Unfähigkeit, zu lieben, mir schon damals ahnbar wurde; wie zog all dies midi an und stieß mich doch ab, idi mochte noch so verwundern und verehren; die Schönheit der Prosa Nietzsches glich der eines gestreiften oder gefleckten Raubtieres, besser, der Zeichnung einer Schlangenhaut, und liebte er nicht das Bild des sich Häutens als Gleichnis seiner Wandlungen? War es nidit selbst die Schlange des Paradieses? Luzifer? strahlend und rebellisdi wie er? Wie Kapaneus war er, dessen Hybris Zeus von Thebans Mauerturm hinabschmetterte. Noch sehe ich das Zeitungsblatt, das seinen Tod anzeigte. Wenige Zeilen nur waren dem höchststrebenden Deutschen der Zeit gewidmet worden. Die verhängnisvolle Bedeutung der ,Umwertung aller Werte', dieser scheinbar spontanen Tat eines nicht durdi den Zufall einer Krankheit mit Wahn Geschlagenen, dessen Drachensaat erst nadi einem Mensdienalter aufgehen sollte, der Proklamation der ,Götzendämmerung', des .Übermenschen', des ,Willens zur Macht' schien damals auch denen nicht bewußt, die ihn als cäsarisdien Eroberer vergötterten. Das mongolische Gesicht des größten Zerstörers Europas war noch von keinem gedeutet: hinter der tragischen Maske lauerte Furchtbareres als Tragik. Er selbst ahnte es und schauderte wie ein griediisdier Heros vor seiner Moira. Wie Orestes mußte er seine Mutter töten. Aber von den Erinnyen entsühnte sein östlicher Gott ihn nicht. Es ist keine Katharsis in Nietzsche." 229 437 Menzer, Paul (Berlin), (DLZg 20. Jg., Nr. 52 v. 30.12.1899, Sp. 1948 f.).»» Eine kurze Besprechung der Nietzsche-Büdier von Ziegler (Nr. 425), Grimm (Nr. 404) und Tienes (Nr. 391). Das Buch von Ziegler wird zur Einführung empfohlen und die von Grimm und Tienes werden insofern bemängelt, als jener übersehen habe, daß Nietzsche „nicht Probleme gelöst, sondern erlebt" habe, und als dieser erst „die Vorarbeit" zu der im Titel angekündigten Darstellung geliefert habe. 438 Vowinckel-Mettmann, Lic. Dr. Ernst, Die psychologische Grundlage von Nietzsches Philosophie. (Deutsch-Evangelisches Jb. f. 1900. Bln. Jg. 2., 1899, S. 189—214). Verfasser sdireibt als „Kirchlicher und Sozialer" und will sich an Nietzsche, dem „die ganze Philosophie in der Psychologie aufgegangen" und dem die Psychologie dem eigenen „inneren Erlebnis" gleich gewesen sei, versudien, um aus der Begegnung lernen zu können: „Er bringt uns dazu, uns fester auf die Funda*» Ebd., S. 216. Ebd., S. 243 f. 130 Menzer, Paul (Berlin 3. 3.1873 — Halle 21.5.1960), Philosoph, seit 1906 Professor in Marburg, 1908—1948 in Halle.

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mente unseres Glaubens zu stützen, uns von neuem in seine wunderbare Struktur zu versenken." Vor allem habe er „uns gelehrt, daß jener verhängnisvolle Bund des Christentums mit der rationalistischen und idealistischen Philosophie dasselbe wehrlos gegen hundert Angriffe macht und ihm seinen innersten Kern verschrumpfen läßt". Dazu eröffne er eine Einsicht „in das Rätsel des Leidens", in die Gefahren des Positivismus. Er habe „tief, unendlich tief in die Wirklichkeit des menschlichen Wesens hineingesehen. Aber er hat auch mit fürchterlicher Entschlossenheit diejenige Auslegung des Erlebten sich zu eigen gemacht, welche sein über alles menschliche Maß hinausgehender Hochmut ihm vorgeschrieben hat." 439 Hartmann, Franz (Florenz), Wer ist Zarathustra? (Friedrich Nietzsche und seine Philosophie.), (WRs 2. Jg., Nr. 27 v. 31. 12.1899, S. 639—642). 231 Nietzsche ist dem Verfasser „viel mehr als ein moderner .Philosoph'; aus vielen seiner Schriften leuchtet uns die Theosophie oder Gottes-Erkenntnis im wahren Sinne dieses Wortes entgegen". Zarathustra könne man nicht „intellektuell", sondern vielmehr nur „intuitiv und geistig" erkennen. 440 Naumann, Gustav, Zarathustra-Commentar. 1.—4. Tl. Lpz. H . Haessel. 1899—1901. (Die Teile erschienen vom Ende 1899 bis in den Anfang des Jahres 1901). 1 Taf., 224 S./174 S., 1 B1./196 S., 2 B11./329 S., 3 BU. ( = Berichtigungen u. Vlgs.-anz.). 232 Trennt sich im Vorwort ebenso von den „dummen Gläubigen" wie von den „geifernden Widersachern", aber am entschiedensten von der Schwester und deren Biographie (Nrn. 238, 285), die über die tiefe Fremdheit, die der selbständig gewordene Nietzsche ihr gegenüber empfunden habe, hinwegtäuschen wolle. Er meint, „der Wert des Wiederkunftsgedankens, der Übermenschenlehre, des Zarathustrabuches" finde „sein Schwergewicht nicht in logischem Intellektualisiern, sondern in religiösem Empfinden". Im Vorwort zum zweiten Teil bringt er zahlreiche Stellen aus Briefen (vom 10. März 1893 — 3. Dez. 1896) der Schwester an ihn zum Herausgeberstreit, betreffend Dr. Max Zerbst, Peter Gast, Rudolf Steiner, Eduard von der Hellen, Ernst Horneffer und vor allem Fritz Koegel sowie zum Schluß sich selbst. In der Vorrede zum dritten Teil wird neben Zurückweisung einer Behauptung Rudolf Steiners, daß der Wiederkunftsgedanke im Zarathustra nicht vom ersten Range sei, auf die Vergleichsmöglichkeiten zwischen Zarathustra und Hölderlins „Hyperion" hingewiesen. Als „arger Skeptiker" glaubt der Verfasser dennoch „an den Glauben" und ferner, „daß sich die lebensbejahende dionysische Lehre in tausend Jahren auf dem Wege zum Siege befinden werde". 441 Horneffer, Ernst, Nietzsches Lehre von der Ewigen Wiederkunft und deren bisherigen Veröffentlichungen. Lpz. C. G. Naumann 1900. 1 Bl., 84 S. Erschien Anfang Dez. 1899.2»3 231 232

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Hartmann, Franz (Donauwörth 1838 — Kempten 1912), Arzt und Theosoph. Naumann, Gustav, war ehemaliger Buchhändler und Geschäftsteilhaber der Firma C. G. Naumann, ein Neffe des Chefs der Firma Konstantin Georg Naumann, sonst Verfasser von : Geschlecht u. Kunst Prolegomena ζ. e. physiologisdien Aesthetik. Lpz. H . Haessel. 1899. 200 S. Horneffer, Ernst (Stettin 7.9.1871 — Iserlohn 5.9.1954), seit 1920 Professor der Philosophie in Gießen.

1900 Oskar Walzel / Friedrich Wilhelm Förster

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Verfasser will „den Nachweis liefern, daß man vorläufig überhaupt nicht über die ewige Wiederkunft sich aussprechen dürfe, wenigstens nicht beurteilend, richtend, weil Nietzsche selbst hierüber noch nicht genügend zu Worte gekommen ist". Dieser „Nachweis" stellt eine eingehende „wissenschaftliche" Begründung für die Zurückweisung des 12. Bandes der Gesamtausgabe dar und läuft in eine vernichtende Kritik der herausgeberischen Tätigkeit von Dr. Fritz Koegel aus. Dabei wird die Zuverlässigkeit aller von diesem bearbeiteten Bände (I—XII), besonders aber die der Bände II, XI und XII in Zweifel gezogen. Als Beilagen bringt der Verfasser (S. 61—82) eine Neuordnung und berichtigte Fassung von 44 Aphorismen Nietzsches, um seine Beanstandung der Koegelschen Bearbeitung zu erhärten. Aus der Zeit um die Jahrhundertwende sind folgende Worte anfiihrenswert: „Der Ruf zu einer härteren männlicheren Haltung kam ihm (d. i. Martin Buber) zuerst von jener großen geistigen Macht, die von der Jahrhundertwende das neue Jahrhundert beherrschen sollte und die, ohne daß man sich damals stets dessen bewußt wurde, auf Friedrich Nietzsche zurückging. Nietzsche war in einer von äußerem Erfolg geblendeten und nach ihm wertenden Zeit der Rufer nach reinstem Dienst am Geist. Er hat in seinem Leben die harte einsame Askese des geistigen Menschen vorgelebt. Er hat, Schüler Schopenhauers, inmitten einer auf Verstand und Berechenbarkeit gegründeten Geschäftigkeit die Ehrfurcht vor den dämonischen Mächten, das Wissen um Abgründe bekannt. Nur er, außer Kierkegaard, hat die stündliche Gegenwart vor Gott, den Sinn der neuen Religion geahnt. Er hat in einer vom Kulturbewußtsein berauschten Menschheit das Problem der Kultur mit letzter Schärfe zur Frage gestellt. Einer im Geistigen unheroischen Zeit, die das Risiko auszuschalten suchte, hat er die Losung der Gefahr und den Mut entgegengestellt, sich um der Aufgabe willen immer weher zu tun, das Äußerste zu verlangen und zu geben. Eine Grenzerscheinung war er, die doch vor Humanität, Geistigkeit und Kontinuität Ehrfurcht hatte. Durch sein Auftreten erhielten die Vorstellungen vom Leben und Geist einen neuen Sinn, sie wurden in ihrer wahren verpflichtenden und gefahrvollen Gestalt wiederentdeckt." 234 Zur weiteren Kennzeichnung der Lage um die Jahrhundertwende mögen auch folgende Worte Oskar Walzeis und Friedrich Wilhelm Foersters angeführt werden: „Meine Altersschicht und in ihr alle, die meinen Weg um 1900 beschritten, wir waren ein für allemal zu Überschätzung des Ganzpersönlichen geneigt. Man brauchte noch lange nicht das Überspitzen der Persönlichkeitsansprüche so weit zu treiben wie Nietzsche und war gleichwohl überzeugt, das Wichtigste und Wesent2S4

Hans Kohn, Martin Buber. Sein Werk und seine Zeit. Ein Beitrag z. Geistesgesch. Mitteleuropas 1880—1930. Nachwort: 1930—1960 v. Robert Weltsch. Jos. Melzer Vlg. Köln (2., erw. Aufl. 1961), S. 20 f. Hans Kohn gehörte neben Max Brod, Hugo Beckmann und Robert Weltsch zum „Barkochba", einem Prager Studentenkreis.

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1900 Übermensdiengesdiiditen

lidiste seiner innern Anliegen allein und gar nicht im Zusammenhang mit andern erledigen zu müssen. Das war gewiß auch Hochmut: es war indes audi Versuch, sich und nur sich für alles verantwortlich zu machen, was man dachte und tat." 2340 „Als ich mich gegen Ende des vorigen Jahrhunderts dieser Aufgabe ( „ . . . die ethischen Probleme unserer Zeit und das Erbgut, das dahinter steht, neu zu durchdenken . . . " ) zu widmen begann und mich in der modernen Literatur orientierte, die sich diesen Problemen widmete, war ich tief beeindruckt von dem Umfange der zu Tage tretenden Zersetzung aller überlieferten ethischen Werte. Nietzsches ,Umwertung aller Werte' schien mir in dieser Beziehung viel mehr in die Weite gewirkt zu haben, als ich es gewußt hatte, oder vielmehr: er war der meistens logische Exponent aller der auflösenden Tendenzen, die aus dem Rückzug der Religion in die Sakristei (man könnte ebenso gut sagen: aus der Vertreibung der Religion aus den wichtigsten Angelegenheiten der menschlichen Gesellschaft und aus der Auslieferung dieser Angelegenheiten an die sogenannte .Eigengesetzlichkeit' der einzelnen Lebensgebiete) notwendig folgen mußte." 234b Aus dem München der Jahrhundertwende erzählt Georg Fuchs von der Stadt im allgemeinen und zwei „Ubermenschen" im besonderen: » . . . was die gebildeten', das heißt wohlhabenden Kreise betraf, so galten sie in ihren eigenen Augen wie in denen der großstädtischen Öffentlichkeit für Jenseits von Gut und Böse'. Wie weit ,man' in diesem Mißbraudi des Nietzscheworts zur Rechtfertigung der eigenen bequemen sittlichen Haltlosigkeit ging, das machte mir ein damals sehr angesehener Schriftsteller klar, der heute mit mehreren Romanen und erfolgreichen Schauspielen der Literaturgeschichte angehört und den ich immer glücklich gepriesen hatte um seiner prächtigen Gattin willen, die ihm nicht nur einen gesunden Jungen geschenkt, sondern auch sein häusliches Dasein mit unendlicher Liebe und hausmütterlicher Sorgsamkeit ganz nach seinen Neigungen gestaltete, überdies von seinen mannigfachen Beziehungen zu der Weiblichkeit der Premierenbühnen und der Literatur mit der Unberührbarkeit einer in sich gefestigten Frau keinerlei Notiz zu nehmen schien. Als ich nach ihr fragte, erwiderte er kurz: J a , ja, sie ist ein braves Weib. Aber sie kann mir selbstverständlich auf die Dauer nicht genügen. Es fehlt doch zu sehr an der höheren Geistigkeit. Ich

M4a o . W., Wachstum und Wandel. Lebenserinnerungen. Aus dem Nachlaß hg. v. Carl Enders. Erich Schmidt. (Bln. 1956), S. 325; s.a. ebd. die einzige andere Erwähnung Nietzsches auf S. 338 : „Ganz an Gott gebunden, ist er dennodi ein Freier. Von soldier Warte gesehen, ist Christentum Überwindung jeder Sklavenmoral, überwindet Sklavenmoral siegreicher als der Mann, der zur Zeit meiner Anfänge gegen die angebliche Sklavenmoral des Christentums die Lehre vom Übermenschen ausspielte. Anders drüdce ich das noch aus: Wer sich beglückt als Kind Gottes fühlt, wer Gott als Vater anspricht, wie er das durdi Christus gelernt hat, ist ein Freierer und seiner Freiheit Bewußterer als Nietzsches Übermensch." ta