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German Pages 718 [720] Year 1983
Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung
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Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung Herausgegeben von
Ernst Behler · Mazzino Montinari Wolfgang Müller-Lauter · Heinz Wenzel
Band 9
1983
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Nietzsche und der deutsche Geist Band II
Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Weltkrieges Ein Schrifttumsverzeichnis der Jahre 1 9 0 1 - 1 9 1 8
von
Richard Frank Krümmel
1983
Walter de Gruyter · Berlin · New York
Anschriften der Herausgeber: Prof. Dr. Ernst Behler Comparative Literature GN-32 University of Washington Seattle, Washington 98195, U.S.A. Prof. Dr. Mazzino Montinari via d'Annunzio 237, 1-501 35 Florenz Prof. Dr. Wolfgang Müller-Lauter Klopstockstraße 27, D-1000 Berlin 37 Prof. Dr. Heinz Wenzel Harnackstraße 16, D-1000 Berlín 33
CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek K n m n e l , Rickard Frank: Nietzsche und der deutsche Geist / von Richard Frank Krümmel. — Berlin ; New York : de Gruyter (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 2. ->· Krümmel, Richard Frank: Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraun vom Todesjahr bis zum Ende des Weltkrieges Krümmel, Richard Frank ι Ausbreitung und Wirkung des Nietzscheschen Werkes im deutschen Sprachraum vom Todesjahr bis zum Ende des Weltkrieges : e. Schrifttumsverz. d. Jahre 1901 — 1918 / von Richard Frank Krümmel. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1983. (Nietzsche und der deutsche Geist / von Richard Frank Krümmel ; Bd. 2) (Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung ; Bd. 9) ISBN 3-11-008867-3 N E : 2. G T
© Copyright 1983 by Walter de Gruyter iL Co., vormals G. J. Göschen'sche Verlagshandlung — J. Guttentag, Verlagsbuchhandlung — Georg Reimer — Karl J. Trübner — Veit Sc Comp. — Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechtes der Herstellung von Photokopien und Mikrofilmen, vorbehalten. Satz und Druck: H . Heenemann G m b H & Co., Berlin Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin
„Er ist wirklich — u n s e r Christus!" Alfred Kubin (s. S. 416)
Meinen Töchtern Susan Irene Karen Ann Barbara Marion
Vorwort Wie man auch Nietzsches Werk einschätzen mag — es läßt sich nicht bestreiten, daß es den deutschen, und darüber hinaus den gesamten abendländischen Kulturraum in starkem Maße beeinflußt hat. Der vorliegende Band umreißt den Einfluß des Philosophen auf das deutsche Geistesleben zwischen 1900 und 1918. Er macht deutlich, daß Nietzsches Einfluß auch nach seinem Tod nicht zurückgegangen ist, sondern, im Gegenteil, ständig zugenommen und immer weitere Kreise erfaßt hat. Der erste Band dieses Scbrifttumsverzeichnisses, der die Jahre 1867 bis 1900 umfaßte, ist 1974 erschienen. Bei der Ausarbeitung und Drucklegung des Buches war noch nicht abzusehen, ob und wann weitere Bände erscheinen konnten. Deswegen habe ich darauf verzichtet, es als ersten Band zu kennzeichnen. Daß eine Fortsetzung nötig würde, war freilich schon erkennbar, und ich habe es im Vorwort auch angedeutet. Die Kriterien fUr die Aufnahme und Darstellung des Materials sind im großen und ganzen dieselben wie im ersten Band. Auch dieses Mal kam es mir darauf an, möglichst alle deutschsprachigen Äußerungen über Nietzsche bzw. Stellungnahmen zu seinem Werk nachzuweisen. Alle genannten und erläuterten Veröffendichungen haben mir entweder im Original oder in einer Ablichtung vorgelegen. Wie schon für die frühe Zeit, habe ich auch für den Zeitraum von 1900 bis 1918 beträchtlich mehr Titel ermittelt, als von den bisher vorliegenden einschlägigen Arbeiten berücksichtigt worden sind. Meine Arbeit gestaltete sich schwierig, weil die meisten amerikanischen Bibliotheken, Archive etc. nicht über fremdsprachig bewandertes Personal verfügen. Um so mehr möchte ich zwei Mitarbeitern der hiesigen Universität danken, die sich große Mühe gegeben haben, mir bei der Beschaffung der benötigten Texte zu helfen: Mrs. Frances C. Spadafore und Mrs. Sharon Chapman. Ohne die überaus freundliche Hilfe zahlreicher europäischer Bibliotheken hätte die Arbeit nicht zu einem erfolgreichen Abschluß gebracht werden können. Insgesamt 101 Institutionen und ihre Mitarbeiter haben durch freigiebig gewährte Auskünfte, Fernleihen und Ablichtungen zum Gelingen meiner Arbeit beigetragen. Ich hätte gerne alle einzeln genannt, aber da es so viele sind, muß ich es bei einem pauschalen herzlichen
χ
Vorwort
Dank bewenden lassen. Nicht unerwähnt dürfen zuguterletzt das Entgegenkommen und die Unterstützung des Verlags, seiner Konsulenten und der Herausgeber der Monographien und Texte zur Nietzsche-Forschung bleiben, wobei ich besonders Prof. Dr. Heinz Wenzel, Prof. Dr. Mazzino Montinari und Dr. Jörg Salaquarda erwähnen möchte. Januar 1983
R. F. Krümmel
Inhaltsverzeichnis Vorwort
IX
Abkürzungen ( = Zeitungs- und Zeitschriftenverzeichnis)
XI
Nietzsche und der deutsche Geist
1
Namenverzeichnis: Nietzsche und
657
Namenverzeichnis:. . . und Nietzsche
680
Sachverzeichnis
686
Abkürzungen Abkürzungsschlüssel zu den angeführten Zeitschriften, Zeitungen und dergleichen, unter Angabe der Nummern der enthaltenen Aufsätze und Beiträge: Aar Der Aar. Regensburg. (1112). Allgemeine Deutsche Lehrerzeitung. Zugleich Organ der ADLZg Deutschen Leserversammlungen. Leipzig. (118). Allgemeine Deutsche Universitàtszeitung. Zeitschrift für geiADUZg stige Bestrebungen. Berlin. (14a, 65, 66, 70, 78, 91, 97, 110, 114, 115, 117,215, 282). Ähre Die Ähre. Wochenschrift für Dichtung, Theater, Musik, Kunst. Hg. v. J. V. v. Venner. Zürich. (1121, 1279). Allgemeine Evangelisch-Lutherische Kirchenzeitung. LeipAELKZg zig. (202, 1028). Archiv für Geschichte der Philosophie in Gemeinschaft m. AGPh Wilh. Dilthey, Benno Erdmann, Paul Natorp, Christoph Sigwart u. Ed. Zeller hg. v. Ludw. Stein. Georg Reimer. Berlin. (355, 605, 1085, 1094, 1145, 1287, 1318). Allgemeine Konservative Monatsschrift für das christliche AKMCD Deutschland. Monatsschrift für Stadt und Land. Hg. v. W. v. Nathusius u. U. v. Hassel. Vlg. v. E. Ungleich. Leipzig. (137). AL Allgemeines Literaturbdatt. Wien. (72, 182, 184, 950). Akademische Monatsblätter, Organ des Verbandes der KaAMBII tholischen Studentenvereine Deutschlands. (176, 222, 751). Allgemeine Musik-Zeitung. Wochenschrift für die Reform AMZg des Musiklebens der Gegenwart. Red.: Otto Lessmann. Charlottenburg(-Berlin). (30, 464, 489, 1092, 1163, 1171, 1176). ANJ Der Almanach der neuen Jugend auf das Jahr 1917. Vlg. d. Neuen Jugend. Berlin. (940b). APDTh Archiv für physikalisch-diätetische Therapie. Frankfurt/ Main. (850). Augsburger Postzeitung. (278). APZg Ar Aristokratismus. Zeitschrift für Kunst und Leben. Hg. v. Fr.
XIV
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Abkürzungen
Wüst. Vlg. Hans Priebe. Berlin. Wochenschrift. (291). Archiv für Rechts- und Sozialphilosophie. Berlin. (728). Akademische Rundschau. (1333). Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik. Hg. v. Edgar Jaffé. J. C. B. Mohr. Tübingen. (987, Anm. 425). Arbeiter-Zeitung. Zentral-Organ der österreichischen Sozialdemokratie. Wien. (804). Allgemeine Zeitung des Judenthums. Ein unparteiisches Organ für alles jüdische Interesse in Betreff von Politik, Religion, Literatur, Geschichte, etc. Begr. v. Ludw. Philippson. Leipzig, Berlin. (1412). Der Bund. Bern. (175,306,682,692b, 726,731,807,926,1368). Basler Nachrichten. (581, 618, 834, 1039, 1345, CC, 1359). Bayreuther Blätter. Monatsschrift des Bayreuther Patronatvereines. (Später: Deutsche Zeitschrift im Geiste Richard Wagners.) Redigirt v. Hans von Wolzogen. Vlg. Ernst Schmeitzner. Chemnitz. (273, 525, AN, 840, 867, 1219). Das Blaubuch. Wochenschrift für öffentliches Leben, Literatur und Kunst. Begr. v. Albert Kalthoff. Hg. v. Heinr. Ilgenstein u. Herrn. Kienzl. Berlin. (316b, 691, 747, 760, 776). Berliner Börsen-Courier. (815, 1363). Berliner Börsen-Zeitung. ( 1395). Börsenblatt für den deutschen Buchhandel. (892). Blätter für deutsche Erziehung. (40, 1068, 1089). Beweis des Glaubens im Geistesleben der Gegenwart. Monatsschrift für Gebildete zur Begründung und Verteidigung der christlichen Weltanschauung. Hg. v. E. Pfennigsdorf. Vlg. C. Bertelsmann. Gütersloh. (707, 774, 877, 1350). Blätter für Unterhaltung. Tägliche Beilage zur Germania. (38, 39). Blätter für die Kunst. Begr. v. Stefan George. Hg. v. Carl August Klein. Berlin. (61, 62, 929). Bayerischer Kurier, Münchener Fremdenblatt und Münchener Bote. (67). Baltische Monatsschrift. Reval. (962). Berliner Neueste Nachrichten. (68). Bohemia. (256). Borromäus-Blätter. Bonn. (471). Bonner Zeitung. (595b, 979, 1034). Blätter zur Pflege des persönlichen Lebens. Vlg. der Grünen Blätter. Schloß Meinberg. (544).
Abkürzungen
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XV
Bremer Beiträge zum Ausbau und Umbau der Kirche. Hg. v. Jul. Burggraf. (539). Berner Rundschau. Halbmonatsschrift für Dichtung, Theater, Musik und bildende Kunst in der Schweiz. Hg. v. F. O. Schmid. Vlg. Gust. Granau. Bern. (571, 891). Bremer Schulblatt. (651). Breslauer Zeitung. ( 102, 814). Berliner Tageblatt, (s. a. Zgt). (144, 147, Anm. 61, 229, 419, 469, 473, 481, Anm. 214, 570, 688, Aja, S. 273, 1140, 1174, 1197, 1252, BT, 1299, Anm. 473, 1304, 1339). Burschenschaftliche Blätter. Wilh. Baensch. Berlin. (566, 596). Bibliothèque universelle et revue suisse. (812). Bühne und Welt. Monatsschrift für das deutsche Geistesleben. (ab 1917 = DVt). (391, 649, 1292, 1295). Bericht der wissenschaftlichen Gesellschaft Philomathie in Neiße. (836). Christliche Frau. Freiburg im Breisgau. (298). Chemnitzer Tageblatt. 95/1. Christlich-pädagogische Blätter für die österreichisch-ungarische Monarchie. (116). Christliche Schul- und Eltern-Zeitung. Hg. u. Red.: Josef Moser, Bürgerschul-Direktor in Wien. (272). Christentum und Gegenwart. Evangelisches Monatsblatt. Hg. v. J. Kern. Nürnberg. (1156). Die christliche Welt. Evangelisch-Lutherisches (später nur: Evangelisches) Gemeindeblatt für Gebildete aller Stände. Vlg. v. Fr. Wilh. Grunow. Leipzig, (danach: Marburg i. H.). (E, 300, 305, 405, 846a, 1353). Deutschland. Weimarische Landeszeitung. (225, 739, 1181, 1221). Die Aktion. Wochenschrift für Politik, Literatur, Kunst. Hg. v. Franz Pfemfert. Stuttgart. (316 c, BE, 1046, 1052, 1056, BJ, 1138, BN, Anm. 412, 1170, 1217, 1237a, 1296, BZ, CE, 1377). Deutsches Adelsblatt. Wochenschrift für die Aufgaben des christlichen Adels. Organ der deutschen Adelsgenossenschaft. Berlin. (143, 226). Davoser Blätter. Schriftleitung: Dr. Erhard Branger. (788). Der alte Glaube. Leipzig. (335, 1273). Die Alpen. Monatsschrift für schweizerische und allgemeine
XVI
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Abkürzungen
Kultur. Hg. v. Franz Otto Schmid. Vlg. Dr. Gust. Granau. Bern. (948). Der Anarchist. Berlin. (532). Deutsche Alpenzeitung. München. (1047). Der Banner der Freiheit. (637, 638). Der Brenner. Halbmonatsschrift für Kunst und Kultur. Hg. v. Ludw. Ficker. Brenner-Vlg. Innsbruck. (963, 1222). Dokumente des Fortschritts. Reimer. Berlin. (1026). Die deutsche Schule. J. Klinkhardt. Leipzig. (131,1271). Der Einzige. Berlin. (1052a). Deutsch-Evangelische Blätter. (80, 170). Deutsch-Evangelische Kirchenzeitung. (146). Die Feder. (572, 585). Die Frauenbewegung, (jetzt:) Publikationsorgan der fortschrittlichen Frauenbewegung. Hg. v. Minna Cauer. W. & S. Loewenthal. Berlin. (1397). Die Furche. Monatsschrift zur Vertiefung des christlichen Lebens in der akademischen Welt. Hg. v. G. Niedermeyer. Furche-Vlg. Cassel. (1342, 1343). Das Freie Wort. Frankfurter Halbmonatsschrift für Fortschritt auf allen Gebieten des geistigen Lebens. Hg. v. Carl Saenger. (28, 168, 308, 583, 1208, 1410). Die Gartenlaube. Illustriertes Familienblatt. (1148). Die Glocke. Wochenschrift für Politik, Finanz, Wirtschaft und Kultur. (1392). Der Greif. Cotta Nf. Stuttgart. ( 1162, 1232). Die Hilfe. Gotteshilfe, Selbsthilfe, Staatshilfe, Bruderhilfe. (später einfach: Wochenschrift für Politik, Literatur und Kunst). Hg. v. Fr. Naumann. Vlg. d. Hilfe. Berlin. (1226, 1275, 1291). Das humanistische Gymnasium. Zeitschrift des deutschen Gymnasialvereins. (289). Der Hausvater. Evangelisch-Kirchliches Monatsblatt für Leipzig und Umgegend. (283, 557). Das junge Deutschland. Monatsschrift für Theater und Literatur. Hg. v. Deutschen Theater. Reiß. Berlin. (Anm. 341). Deutsche Juristen-Zeitung. (559). Die Kultur. Halbmonatsschrift für Wissenschaft, Literatur und Kunst. Köln. (6, 207, 208, 307). Der Katholik. (152, 197,410). Der Lotse. Hamburgische Wochenschrift für deutsche Kultur. (87).
Abkürzungen
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DLe DLy DLz DLZg DM
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DMGLG
DMM DMo DMP
DMS DN DNG DNM DNW DO DP
XVII
Das litterarische Echo. Halbmonatsschrift für Litteraturfreunde. Hg. v. Josef Ettlinger. Vlg. Fr. Fontane. Berlin. (90, 223a, 232, 378, 407, 494, 495, 502, 599, Anm. 249, 675, 763, Anm. 273, 768, 769, 771a, 777b, 786, 848, 852, 901, 986, 1004, 1060, 1098, BLa, Anm. 399, 1183, 1229, 1239, 1250, 1268, BTa, 1301, 1310, 1313, 1341, BYa, 1354a, 1360, 1365, 1366, 1405, 1414). Die Lese. Wochenschrift für das deutsche Volk. Hg. v. Theodor Etzel. (1228). Die Lyra. Allgemeine deutsche Kunstzeitschrift für Musik und Dichtung. Wien. (7l 1). Der Lesezirkel. Zürich. (712 a). Deutsche Litteraturzeitung. Hg. v. P. Hinneberg. Vlg. B. G. Teubner. Berlin, Leipzig. (37, 77, 93, 113, 133, 558, 598, 708). Die Musik. Illustrierte Halbmonatsschrift. Hg. v. B. Schuster. Vlg. Schuster & Loeffler. Berlin, Leipzig. (L, 246, 248, 409, AE). Der Merker. Österreichische Zeitschrift für Musik und Theater. Hg. v. R. Batka u. R. Specht. Wien. (993, 1316, 1388, 1389). Deutsche Monatsschrift für das gesamte Leben der Gegenwart. Hg. v. Julius Lohmeyer. Vlg. A. Duncker. Berlin. (195, 216, 224). Der Meister der Menschheit. Beiträge zur Besserung der Gegenwart. (1195b). Der Morgen. Wochenschrift für deutsche Kultur. Red. v. W. Sombart. Vlg. Marquardt. Berlin. (677, 787, 798). Deutsche Medizinische Presse. Zeitschrift für das Gesamtgebiet der Heilkunde mit besonderer Berücksichtigung der wirtschaftlichen und Standesinteressen der Ärzte. Hg. v. Dr. Karl Gumpertz. Vlg. J. Goldschmidt. (955, 990). Der Musiksalon. Internationale Zeitschrift für Musik und Gesellschaft. Berlin. (1141). Deutsche Nachrichten. (948a). Die neue Generation. Zeitschrift für Mutterschutz und Sexualreform. (1029). Das neue Magazin. Berlin. (372). Der neue Weg. Berlin. (844). Der Osten. (729). Der Panther. Deutsche Monatsschrift für Politik und Volkstum. Hg. v. Axel Ripke. Leipzig. (1294, 1372, 1373).
XVIII
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Abkürzungen
Deutsches Protestantenblatt. Bremen. Hg. v. O. Veeck u. E. Emde. Vlg. Carl Schünemann. (94, 262). (später: PB1). Deutsche Revue über das gesammte nationale Leben der Gegenwart. Hg. v. Richard Fleischer. Vlg. v. Carl Habel. Berlin; ab 2. Jg., 3. Bd. (April 1878): Vlg. v. Otto Janke; ab 8. Jg. (Jan. 1883): Vlg. v. Eduard Trewendt. Breslau (u. Berlin); ab 19. Jg., 3. Bd. Quii 1894): Deutsche Verlags-Anstalt. Stuttgart (Leipzig, Berlin, Wien); ab 26. Jg. (Jan. 1901): Eine Monatsschrift. (H). Dresdener Anzeiger. (323, 823). Die Revolution. München. (1132). Die Rheinlande. Düsseldorf. (692a). Dresdner Nachrichten. (968). Deutsche Rundschau. Hg. v. Julius Rodenberg. Vlg. Gebr. Paetel. Berlin. Monatsschrift. (486, 650, 745, 759, 810, 883, Anm. 312, 1196). Der Samstag. Baseler Wochenschrift. (455, Anm. 181, 669). Der Sammler. Beilage zur Augsburger Abendzeitung. Münchner-Augsburger Abendzeitung. (1022, 1263). Die Schaubühne. Schriftleiter: Siegfried Jacobsohn. Vlg. Erich Reiß. Berlin. (1050, 1185, 1311). Dichterstimmen der Gegenwart. Baden-Baden. (1161). Der Spiegel. Blätter für Literatur, Musik und Bühne. Hg. v. Lion Feuchtwanger. München. (752). Der Schwabenspiegel. Wochenschrift der Württemberger Zeitung. Geleitet v. Eduard Engel. (827, 866a, 966a). Der Sturm. Wochenschrift für Kultur und die Künste. Hg. u. Schriftleiter: Herwarth Waiden. Berlin, Wien. (928, 1005, 1030). Das Suchen der Zeit. Blätter für deutsche Zukunft von Fr. Daab u. Hans Wegener. Töpelmann. Düsseldorf. (269). Der Thürmer. Monatsschrift für Gemüth und Geist. Hg. v. Jeannot Emil Frhrn. v. Grotthuß. Vlg. Greiner & Pfeiffer. Stuttgart. (510, 988, 992, 998, 1290). Deutsche Heimat. (292). Deutsche Kultur. Leipzig. (538a, 551). Der Turmhahn. Leipzig. (1230). Deutsche Welt. Wochenschrift der Deutschen Zeitung. Berlin. (780). Deutsches Wort. (Anm. 317). Deutsche Tageszeitung. ( 1021, 1043).
Abkürzungen
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XIX
Die Umschau. Übersicht über die Fortschritte und Bewegungen auf dem Gesamtgebiet der Wissenschaft, Technik, Litteratur und Kunst. Hg. v. J. H. Bechhold. Frankfurt/Main. (453, 490). Du. Schweizerische Monatsschrift. Vlg. Conzett & Huber. Zürich. (Anm. 358). Der Volkserzieher. Blatt für Familie, Schule und öffentliches Leben. Begr. v. Wilh. Schwaner. Berlin. (368, 1199, 1206, 1207, 1404). Deutsches Volkstum. Monatsschrift für das Kunst- und Geistesleben. Hg. v. Wilh. Kiefer. Hamburg. (1391). (Fortsetzung von BW). Der Vortrupp. (1328). Die Wartburg. Deutsch-evangelische Wochenschrift. München. (894, 927). Die weißen Blätter. Eine Monatsschrift. Hg. v. Réne Schikkele. Vlg. Rascher & Cie. Zürich. Leipzig. (1375). Der Weltfreund. (704). Der Ziegelbrenner. München. Hg.: Ret Marut. (639a). Deutsche Zeitung. Unabhängiges Tageblatt für nationale Politik. Hg. v. Friedrich Lange. Berlin. (702, 1408). Die Zeit. Wiener Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Kunst. Hg. v. Josef Singer, Herrn. Bahr u. Heinr. Kanner. Vlg. K. F. Koehler. Leipzig. (247, 285, 304, 306a, 321). (Die Zeitschrift stellte ihr Erscheinen im März 1904 ein). Das Zwanzigste Jahrhundert, Revue für fortschrittlichen Katholizismus. Wochenschrift für Politik, Wissenschaft und Kunst, (darauf: Organ für fortschrittlichen Katholizismus). Hg. v. Joh. Bumüller. (später: Dr. Th. Engert). München. (274, 319, 749). Deutsche Zeitung für Spanien. Barcelona. (1386). Deutsche Zeitschrift. Berlin. (108, 112, 120, 198). Europa. Wochenschrift für Kultur und Politik. Hg. v. Heinrich Michalski. Verlagsges. „Europa". Berlin. (463). Einiges Christentum. (463). Evangelische Freiheit. (1220). Ethische Kultur. Wochenschrift für sozial-ethische Reformen. Begr. v. G. Gizycki. Hg. v. Dr. Fr. W. Foerster. Vlg. Ferd. Dümmler. Berlin. (126, 148, 180, 371). Evangelisch-Kirchlicher Anzeiger von Berlin. Red. v. Th. Brandin. (161).
XX
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Abkürzungen
Evangelische Kirchen-Zeitung. Helmstedt, (später: Berlin; mit dem Zusatz: Organ der Vereinigung der EvangelischLutherischen innerhalb der preußischen Landeskirche (Konfessionelle Gruppe). (13, 1288). Evangelisches Schulblatt. (296). Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte. (245. 984, 1007). Evangelische Volksschule. (Deutsche Lehrerzeitung). Hg. v. Vorstand des Deutschen Evangelischen Schulkongresses. Berlin. Vlg. Fr. Zillessen. (10, 88, 132, 161a, 293). Ernstes Wollen. (281,398, 406). (1340). Freistatt. München. (295, 303, 315, 333). Fremden-Blatt. Wien. (479, 693). Frankfurter Oder-Zeitung. (776/1). Die Frau. Monatsschrift für das gesamte Frauenleben unserer Zeit. H g . v. Helene Lange u. W. Moeser. Berlin. (84, 487). Fränkischer Courier. (1344a). Freier Rätier. (1045). Frauenrundschau. Berlin. (821). Frankfurter Zeitung. (135a, 204, 219, 230, 322, 352, 353/1, 422, 500, 512, 513, A H , 703a, 717, 740, 743, 750, 762, 771, 811, 813, 846, 881, 902, 959, 964, 974, 1001, 1023, 1053, BFa, 1059, 1065, 1113, BL, 1167, 1168a, 1175, 1204, Anm. 437, 1258, 1330, 1374). Germania. Zeitung für das deutsche Volk und Handelsblatt. Berlin. (50, 121, 584). Die Gegenwart. Wochenschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Hg. v. Richard Nordhausen (seit 1906 v. Adolf Heilborn). Vlg. d. Gegenwart (seit 1908 Vlg. H . Hillger). Berlin. (220, 236, 270, 290, 316, 393, 423, 461, 472, 619a, Anm. 239, 886, 1384). Die Gesellschaft. Münchner Halbmonatsschrift f ü r Kunst und Kultur. H g . v. A. Seidl. Selbstvlg. München. (173, 178, 196). II Giornale d'Italia. Rom. (666/1). Goethe Jahrbuch. Hg. v. Ludw. Geiger. Rütten & Loening. F r a n k f u r t / M a i n . (63). Gesundes Leben. Medizinalpolitische Rundschau. Leipzig. (921).
Abkürzungen
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XXI
Graphologische Monatshefte. (351). Die Grenzboten. Zeitschrift für Politik, Literatur und Kunst. Hg. v. Johannes Grunow. Vlg. Fr. Wilh. Grunow. Leipzig. Wochenschrift. (27, 109, 154, 214, 375, 397, 448, 781, 871, 1152, 1231). Gral. Monatsschrift für schöne Literatur. (1327). Hammer. Blätter für deutschen Sinn. Hg. v. Theodor Fritsch. Leipzig. (376, 1019, 1278). Halte was du hast. Zeitschrift für Pastoral-Theologie. (199). Historisch-politische Blätter für das katholische Deutschland. Hg. v. Edmund Jürg u. Franz Binder. In Commission d. Literarisch-artistischen Anst. München. (647, 956, 1020). Hamburgischer Correspondent. (69, 806, 1036, 1133, 1179, 1259). (s. a. ZgLKW). Hamburger Fremdenblatt. (1001a, 1305). Hannoverscher Kurier. (242, 1300). Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst. H g . v. Karl Muth. Kösel. Kempten. (574, 600, 1235, 1240). Hamburger Nachrichten. (259a, 379, 484, 580, 629, 709, 765, 792). (s. a. ZsWLK). Die Insel. Monatsschrift mit Buchschmuck und Illustrationen, hg. v. O. J. Bierbaum, A. W. Heymel u. R. A. Schröder. Insel-Vlg. Leipzig, (D, 74,1, K). Insel-Almanach. Insel-Vlg. Leipzig. (561a, AK, AT, BG, BH, BS, C D , 1358a). Illustrine Frauen-Zeitung. Hg.: A.Grosse, A. Beetschen u. R. Thomas. Vlg. Franz Lipperheide. Berlin, Wien, Leipzig. (76). Internationale Monatsschrift zur Erforschung des Alkoholismus. Basel. (878). Internationale Monatsschrift für Wissenschaft, Kunst und Technik. (1383). Illustrierte Zeitung. Vlg. J. J. Weber. Leipzig. (29, 331, 985). Jugend. Münchner illustrierte Wochenschrift für Kunst und Leben. H g . v. Georg Hirth. Red.: Fritz v. Ostini. Vlg. d. Münchner Jugend. (C, J, 135b, 288). Janus. Jena. (470). Janus. München. (1139). Jahrbuch Freies Deutsches Hochstift. Frankfurt/Main. (221).
XXII
JbGB JbMK
Abkürzungen
Jahrbuch für die geistige Bewegung. Hg. v. Fr. Gundolf u. Fr. Wolters. Vlg. d. Blätter für die Kunst. Berlin. (912). Jahrbuch Mannheimer Kultur. Hg. v. Dr. Karl Hönn. (1116).
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JbNDL
JPN JZg Κ Kar KBGS
Jahrbuch moderner Menschen. Beiträge zur Förderung des philosophischen und sozialpolitischen Interesses. Vlg. A. W. Zickfeldt. Osterwieck/Harz. (705). Jahresberichte für neuere deutsche Litteraturgeschichte. (19, 20, 21, 145, 354, 432, 505, 506, 507, 630, 631, 714, 715, 843, 923, 1104, 1285, 1335). Journal für Psychologie und Neurologie. J. A. Barth. Leipzig. (556). Jenaische Zeitung. (450). Kultur. Zeitschrift für Wissenschaft, Litteratur und Kunst. Österreichische Leo-Gesellschaft. (1321). Die Karpathen. Halbmonatsschrift für Kultur und Leben. (767). Kritische Blätter für die gesamten Sozialwissenschaften. (662).
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KWs KZg
Kirchenblatt für die reformierte Schweiz. Bern. (1109). Kritik der Kritik. Zeitschrift für Künstler und Kunstfreunde in zwanglosen Heften. Hg. v. A. Halbert(hal) u. Leo Horwitz. Breslau. Vlgs.-Anst. v. S. Schottlaender. (567, 568, 676). Kladderadatsch. Berlin. (BU). Konservative Monatsschrift für Politik, Literatur und Kunst. (689, 1042). Konservative Monatsschrift. Reimar Hobbing. (1131, 1266). Korrespondenz des Priester-Gebetsvereins „Associatio Perseverantiae Sacerdotalis". Wien. (41, 58). Königsberger Zeitung. (1390). Die Kritik. Wochenschrift des öffentlichen Lebens. Hg. v. Karl Schmidt. Berlin. (101). Kantstudien. Philosophische Zeitschrift. (644, 1090). Kölnische Volkszeitung. (36, 761). Der Kunstwart. Rundschau über alle Gebiete des Schönen. Hg. v. Ferd. Avenarius. München. Halbmonatsschrift. (233, 658, 692, 754, 755, 1002, 1144, 1203, 1242). Kirchliche Wochenschrift für evangelische Christen. Berlin. (228,255, 301). Kölnische Zeitung. (782, 831, 916, 965, 1184, 1280, 1338).
Abkürzungen
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XXIII
Lutherthum. Neue kirchliche Zeitschrift. A. Deichert. Erlangen, Leipzig. (356, 899). Literatur-Berichte der Comenius-Gesellschaft. Hg. v. Ferd. Jakob Schmidt, Berlin. Vlg. Eugen Diederichs. Jena. (1351). Literarisches Centralblatt für Deutschland. (55, 57, 86, 89, 103, 130, 186, 200, 203, 237, 264, 336, 339, 353, 357, 395, 417, 435, 437, 442, 451, 456, 462, 496, 497, 516, 526, 528, 535, 563, 565, 593, 603, 635, 770, 824, 847, 907, 1086, 1364). Leben. Ein Blatt für denkende Menschen. Hg. v. Heinr. Lhotzky. Eugen Salzer. Heilbronn. (932). Literarischer Handweiser zunächst für alle Katholiken deutscher Zunge. Hg. u. red. v. Dr. Franz Hülskamp. Münster. (757, 900). Lehrproben und Lehrgänge aus der Praxis der Gymnasien und Realschulen. Halle. (142). Leipziger Lehrerzeitung. (1024, 1309, 1396). Leipziger Neueste Nachrichten. (Anm. 117, 975). Logos. Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Tübingen. (935). Leipziger Tageblatt und Anzeiger. (32, 915). März. Halbmonatsschrift für deutsche Kultur. Hg. v. L. Thoma, H . Hesse, A. Langen u. K. Aram (H. Fischer). Langen. München. (670, 884, Anm. 386, 1302). Masken. Halbmonatsschrift des Düsseldorfer Schauspielhauses. Hg. v. Hans Franck. Vlg. G. Lindemann u. Luise Dumont. (1044, 1275a). Das Magazin. Dreyer. Berlin. (AL). Allgemeine Zeitung. München. (7, 71, 92, 119, 205, 235, 413, 498a, 501, 534, 560, 569, 578, 626, 701, 777, 779, 791, 832, 854, 902, 988a, 1040). Monatsberichte über Kunst und Kunstwissenschaft. München. (252). Monatsblätter des Wissenschaftlichen Club in Wien. Verantwortl. Red.: Dr. Josef Spatenka. Druck u. Vlg. Adolf Holzhausen. (75, 1146, 1213). Mädchenbildung auf christlicher Grundlage. Kempten. (885). Monatsschrift für christliche Sozialreform. (1035). Monatsschrift für das deutsche Geistesleben. (1224). Monatsblätter für deutsche Literatur. Leipzig. (54).
XXIV
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Abkürzungen
Monatshefte der Comenius-Gesellschaft für Volkserziehung. Schriftleitung: Ferd. Jakob Schmidt. Vlg. Eugen Diederichs. Jena. (1356). Monatsschrift für höhere Schulen. Hg. v. R. Köpke u. A. Matthias. Weidmannsche Buchhdlg. Berlin. (1227). Das Magazin für Litteratur. Vereinsorgan der Freien Litterarischen Gesellschaft zu Berlin. (127, 201, T). Mitteilungen der literarhistorischen Gesellschaft. Bonn. (773, Anm. 346). Münchener medizinische Wochenschrift. (425). Mitteilungen und Nachrichten für die evangelische Kirche in Rußland. (99). Münchner Neueste Nachrichten. (722, 741, 742, 796, 893, 1260). Montags-Revue. Wien. (165). Mitteilungen des Vereins zur Abwehr des Antisemitismus. (60, 79, 369). Magdeburger Zeitung. (14, 777a, 790, 1415). Die Nation. Wochenschrift für Politik, Volkswirtschaft und Literatur. Hg. v. Th. Barth. Im Kommissionsvlg. b. Meidlinger. Berlin. (454). Norddeutsche Allgemeine Zeitung. (157, 238). Neue Bahnen. Monatsschrift für wissenschaftliche und praktische Pädagogik. Wiesbaden. (128, 136, 174). Neue Badische Landeszeitung. (822). Neue Badensche Zeitung. (1261,1307). Neu-Deutschlands Frauen. Eine Zeitschrift für die gebildeten Stände. Hg. v. Luise von Brandt. Norddeutsche Monatshefte. Hg. v. Carl Erich Behrens u. Robert Walter. Drei Türme Vlg. Hamburg. (1314). Neue Deutsche Rundschau. S. Fischer. Berlin. (A, F, N, 244, S, 284). (ab 14. Jg., 1904 = NRs). Neue Freie Presse. Wien. (73, G, 105, 122, 253, 259, 380, 477, 482, 485, 581a, 673, 712, 785, 789, 817, 882, 977, 1120, 1337, 1358). Natur und Glaube. (399). Neue Hamburger Zeitung. (833). Neue Jahrbücher für das klassische Altertum, Geschichte und deutsche Literatur und für Pädagogik. Hg. v. Joh. Ilberg u. Bernh. Gerth. B. G. Teubner. Leipzig. (611, 652, 1037, 1095).
Abkürzungen
NKZs NM NMZg NpBIl NPJ NPrKz NR NRs
NS NTBl NWJ NWT NZ NZg NZM
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XXV
Neue kirchliche Zeitschrift. (895). Der Neue Merkur. München. (1253). Neue Musikzeitung. Vlg. Carl Grüninger. Stuttgart, Leipzig. (764, 943a, 1062). Neuphilologische Blätter. (9, 480, 589). Neues Pester Journal. (820). Neue Preußische Kreuzzeitung. Berlin. (129, 299). Neue Revue. Berlin. (746, 829). Die Neue Rundschau. S. Fischer. Berlin. (W, 402, 468, 498, 514, 541, 639, 665, AJ, 898, Anm. 339, 1054, BM, 1355, 1370). (s. a. NDRs). Nord und Süd. S. Schottlender. Breslau. (64, 367, 1346, 1411). Neues Tageblatt. Stuttgart. (1210). Neues Wiener Journal. Unparteiisches Tagblatt. Hg. v. J. Lippowitz. (1036a, 1101). Neues Wiener Tagblatt. Demokratisches Organ. (172, 227, 243, 286, 969, 1087). Die Neue Zeit. (408). National-Zeitung. Berlin. (267, 978). Neue Zeitschrift für Musik. Organ des Verbandes Deutscher Orchester- und Chorleiter. Schriftleitung: Prof. Friedrich Brandes. Vlg. v. Gebr. Reinecke. Leipzig. (1168, 1173, 1177, 1178). Neue Zürcher Zeitung. (287, Anm. 117, 415, 466, 475, 478, 488, 491, 520, 591, 686, 1336, 1399). Ostdeutsche Rundschau. Deutsches Tageblatt. Wien. (970). Österreichische Rundschau. Wien. (474, 732, AX, 875, 1233, 1277). Österreichisch-Ungarische Revue. Wien. (240). Ost und West. Illustrierte Monatsschrift für modernes Judentum. Hg. v. Davis Trietsch u. Leo Winz. Vlg. S. Calvary. Berlin. (160, 317). Patria. Berlin. (866). Pädagogische Abhandlungen. A. Helmrich's Vlg. Bielefeld. (360). Pädagogisches Archiv. Quelle u. Meyer. Leipzig. Monatsschrift. (931, 1099). Pädagogische Blätter für Lehrerbildung und Lehrerbildungsanstalten. (1267). Pädagogisches Jahrbuch. Wien. (906).
XXVI PäS PäW PAMs PauZg Pb PBl
Ph PhJbG PJb PL PMBJ
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Abkürzungen
Pädagogische Studien. NF. Dresden. (48, 1376). Pädagogische Warte. (660, 1241). Politisch-anthropologische Monatsschrift. Leipzig. (499, 573). Pauliner Zeitung. (619). Pastor bonus. Trierer Theologische Zeitschrift. (12, 250). Protestantenblatt. Wochenschrift für den deutschen Protestantismus. Hg. v. R. Emde u. M. Fischer. Berlin — Bremen. (515, 546, 1385). (s. a. DPB1). Pharus. Katholische Monatsschrift für Orientierung in der gesamten Pädagogik. (924). Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft. Hg. v. Constantin Gutberiet. Fulda. (56, 338, 449, 643, 1180, 1352). Preußische Jahrbücher. Berlin. (374, 872, 1088). Pester Lloyd. Budapest. (217, 738, 803, 819, 1115, 1186). Dr. Adolf Brüll's Populärwissenschaftliche Monatsblätter zur Belehrung über Judentum für Gebildete aller Konfessionen. Organ des Mendelssohn-Vereins in Frankfurt am Main. (35). Die Propyläen. München. Wochenschrift. (316a, 561a, 696a, 830, 853, 909, 910, 922a, 966,993a,1142,1223). Praktischer Schulmann. Archiv für Materialien zum Unterricht in der Real-, Bürger- und Volksschule. Hg. v. Rudolf Schmidt. Leipzig. (49, 174a). Philosophische Wochenschrift und Literatur-Zeitung. Hg. v. Dr. Hugo Renner. Vlg. H . Rohde. Leipzig. (529, 531, 547, 601,625, 648). Preußische Zeitung. Berlin. (328). Die Reformation. Berlin. (177, 251, 280, 540). Renaissance. München. (467). Religion und Geisteskultur. Göttingen. (719, 730). Revue germanique. Paris. (Z). Roseggers „Heimgarten". Monatsschrift für Unterhaltung und Aufklärung. (699). Rheinische Musik- und Theaterzeitung. Allgemeine Zeitschrift für Musik. Hg. v. Dr. Gerhard Tischer. Cöln-Bayenthal. Wochenschrift. (BO, 1169). Rhein-Westfälische Zeitung. Essen. (BF). Raschers Jahrbuch. Zürich. (905). Reformirte Kirchenzeitung. Organ des reformirten Bundes für Deutschland. Schriftleiter: Th. Lang. Vlg. G. Diederich. Elberfeld. (1347).
Abkürzungen
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Tat
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XXVII
Roland. (911). Richard-Wagner-Jahrbuch. Hg. v. Ludw. Frankenstein. Leipzig, (ab 2. Bd., 1907: Herrn. Paetel Vlg. Berlin; ab 4. Bd., 1912: Hausbücher-Vlg. Berlin). (511, 620, 1063, 1064, 1125). Der Säemann. (604). Stern der Jugend. Illustrierte Wochenschrift für Schüler höherer Lehranstalten. (575). Süddeutsche Monatshefte. Hg. v. P. N. Coffmann. München. (576, AI, 679, 684a, 690, 723, 766, AU, BA, 896, 897, 1154). Sächsisches Kirchen- und Schulblatt. Schriftleitung: Pfarrer Richter in Langenbergsdorf. Vlg. Dörffling & Franke. Leipzig. (440). Sozialistische Monatshefte. Berlin. (249, 1371, Anm. 508). Stimmen aus Maria Laach. Stimmen der Zeit. Katholische Monatsschrift für das Geistesleben der Gegenwart. Herder. Freiburg im Breisgau. (81, 530, 1182). Signale für die musikalische Welt. Verantwortl. Red.: August Spanuth. Berlin. (800, 1315). Sokrates. Zeitschrift für das Gymnasialwesen. Berlin. (1407). Sexual-Probleme. Frankfurt/Main (1172). Sächsische Schulzeitung. Organ des Sächsischen Lehrervereins und seiner Zweigvereine, sowie des Sächsischen Pestalozzi-Vereins. (337, 361, 426). Schlesische Zeitung. Vlg. Wilh. Gotti. Korn. Breslau. (1212). Straßburger Post. ( 1262). Sprachwissenschaft für alle. (983). Süd-West-Deutsche Rundschau. (163). Saale-Zeitung. (976). Der Tag. Berlin. (96, 209, 320, 564, 582, 597, 636, 642, 671, 799, 889, 908, 913, 914, 996, 997, 1032, 1111, 1114, 1134, 1147, 1200, 1251, 1298). Die Tat. Wege zu freiem Menschtum. Eine Monatsschrift. (ab 4. Jg., H. 7: Eine sozial-religiöse Monatsschrift.) Hg. v. Ernst Horneffer (ab 3. Jg.: u. K. Hoffmann; ab 5. Jg., H . 7: v. E. Diederichs u. K. Hoffmann). Vlg. Die Tat. Leipzig, (ab 4. Jg., H . 7: Vlg. E. Diederichs. Jena). (903, 981, 1008a, 1048,1055,1084, 1158, 1159, 1236, 1247, 1326). Thüringer Kirchliches Jahrbuch, (s. Nr. 608). Theologisches Literaturblatt. Leipzig. (1248, 1249).
XXVIII ThLZg ThR TJb TP TRs
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Abkürzungen Theologische Literaturzeitung. Leipzig, Berlin. (654, 1254). Theologische Revue. Münster. (640). Türmer Jahrbuch. (171). Tagespost. Graz. (948b, 957, 973). Tägliche Rundschau. Berlin. (Na, 211, 241, 318, 404, 577, 581b, 586, 588, 683, 685, 700, AS, 801, 934, 972, 974a, 1066, 1091, 1160, 1256, 1257, BR, CA). Tiroler Tagblatt. Organ der Deutschen Volkspartei in Tirol. Innsbruck. (167). Vegetarische Warte. Vegetarische Rundschau. Vereinsblatt für Freunde der natürlichen Lebensweise. Zeitschrift für naturgemäße Lebenskunst. Schriftleiter: G. Selß. Frankfurt/ Main. (1137). Vossische Zeitung. Berlin. (424, 527, 667, 958, 1069a, 1108, 1128a, 1192, 1306, 1308, BY, 1354, 1400, 1406). Wiener Almanach. (1362). Die Wage. Wien. (111, 138, 294, 329, 332, 492, 663, 672). Wiener Abendpost. Beilage zur Wiener Zeitung. (51, 169, 185, 206, 684b, 753, 784). Wiener Allgemeine Zeitung. (107,818). Weltchronik. Bern. (914/1). Weimarische Zeitung. Amtliches Nachrichtenblatt für das Großherzogtum Sachsen. (666a). Weser-Zeitung. Bremen. (659, 825, 1223a, 1245a, 1387). Wissen und Glaube. Zürich. (1061). Die Wahrheit. Hg. v. Philipp Wasserburg. Leutkirch, München. (362). Wissenschaftliche Rundschau. Halbmonatsschrift für die Fortschritte aller Wissenschaften. Hg. v. M. H . Baege. Vlg. Theod. Thomas. Leipzig. (1100, 1107). (ging 1913 in D U über). Wiener Jugend. (623). Wissen und Leben. Neue Schweizer Rundschau. Zürich. (718, 1051, 1214, 1223b). Westermanns Monatshefte. Illustrirte Deutsche Monatshefte. Braunschweig. (5, 418, 991, 1038). Wege nach Weimar. Monatsblätter von Fritz Lienhard. Greiner & Pfeiffer. Stuttgart. (483). Wiener Rundschau. (33). Wiener Sonn- und Montags-Zeitung. (106, 218). Wartburgstimmen. Eisenach. (400, 403).
Abkürzungen
WSMBl WZM X XA Ζ
ZÄAKw ZAP Zeit ZERHL ZfDk ZfdS ZfdU ZfP ZgLKW Zgt ZIP
ZOG ZPA ZPhK
ZRHS ZRSW ZSW
XXIX
Württembergisches Schulwochenblatt. Stuttgart. (721). Wiener Zeitschrift für Musik. Hg. v. Richard Specht. (703). Xenien. Eine Monatsschrift für literarische Ästhetik und Kritik. Leipzig. (629a, 775, 794, 809, 841, 842, 1105). Xenien-Almanach. Xenien-Vlg. Leipzig. (775a). Die Zukunft. Hg. v. Maximilian Harden. Vlg. d. Zukunft. Berlin. (11, 85, 179, 330, Anm. 131, 401, 414, 438, 443, 452, 562, 595, AG, 627, 628, 641, 646, 653, 668, 674, 678, 681, 710, 758,967, 1201). Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft. (524, 549, 1245). Zeitschrift für angewandte Psychologie. (1033, 1155). Die Zeit. Tageszeitung. Wien. (254, 392, 634, 684, 695, 713, 725, 795, 797, 802,816, 849). Zeitschrift für evangelischen Religionsunterricht an höheren Lehranstalten. Reuther & Reichard. Berlin. (870). Zeitschrift für Deutschkunde. (394). (später = ZfdU). Zeitschrift für deutsche Sprache. (1129). Zeitschrift für den deutschen Unterricht. (509, 1097). (s. a. ZfDk). Zeitschrift für Politik. (1369). Zeitung für Literatur, Kunst und Wissenschaft. Beilage des H C . (737, 778, 805, 1317). Der Zeitgeist. Beiblatt zum BT. (95, 234, 239, 279, 412, 476, 724, 826, 971, 1234, 1255, 1269, Anm. 453, 1367). Zeitschrift für Individualpsychologie. Studien aus dem Gebiete der Psychotherapie, Psychologie und Pädagogik. Hg. v. Alfred Adler, Carl Furtmüller u. Charlott Straßer. Vlg. Ernst Reinhardt. München. (1238). Zeitschrift für die österreichischen Gymnasien. (1303). Zentralblatt für Psychoanalyse. (1157). Zeitschrift für Philosophie und philosophische Kritik. Hg. v. R. Falckenberg. H . Haacke. Leipzig. (53, 59, 271, 340, 373, 434, 465, 508, 606, 645, 845, 859, 874, 879, 880, 887, 888, 1008, 1009, 1031, 1069, 1102, 1103, 1128, 1130, 1164, 1165, 1166, 1189, 1243, 1244, 1246). Zeitschrift Zeitschrift ber. Wien. Zeitschrift 1398).
für die Reform der höheren Schulen. (1276). für das Realschulwesen. Schriftleitung: E. Czu(1027). für Sexualwissenschaft. Leipzig. (720, 1361,
XXX ZsWLK ZTb
Abkürzungen
Zeitschrift für Wissenschaft, Literatur und Kunst. Beilage der H N . (748, 1344). Zürcher Taschenbuch. (0).
1 Schacht, Wilhelm, Nietzsche. Eine U n t e r s u c h u n g . Schmid & Francke. Bern ( = Vlgs.-anz.).
psychiatrisch-philosophische 1901. 2 Bll., 161 S., I B I .
Verfasser möchte vor allem „unbefangenen und jüngeren" Lesern am Beispiel des Verfassers von „Jenseits von Gut und Böse" zeigen, „wohin regelloses, wenn auch geistreich scheinendes Phantasieren, das für philosophisches Denken ausgegeben wird, führen kann", und solche Leser so zum „ernsten Studium unserer bedeutendsten Philosophen Kant und Herbart" anregen. Von anderen Philosophen, „den Zeitgenossen Nietzsches oder den ihm vorausgehenden", heißt es: als „ . . . hervorragende Männer, Strauß, Zeller, Vischer, aus der Hegeischen Schule hervorgegangen, sich von dieser abwandten, da war der Selbstauflösungsprozeß der Hegeischen Philosophie entschieden" — und von dem Einfluß Schopenhauers: „. . . auf denkende und d e n k f ä h i g e Deutsche hat er nie welchen ausgeübt". Eine große Ähnlichkeit mit Nietzsche findet er bei der „Jugend der romantischen Schule um die W e n d e des 18. Jahrhunderts" und führt Schelling, Novalis und Fr. Schlegel ausdrücklich an. Erwähnenswert ist noch der Vergleichsversuch des Verfassers hinsichtlich Gedanken Nietzsches und Max Müllers, bes. über die Metapher. „Jenseits" wird in Anamnese, 2. und 3. Handschrift zergliedert: in der Anamnese haben sich „ursächliche Momente" finden lassen, „welche pathologische Erscheinungen herbeiführen könnten", in der „2. Handschrift . . . Äußerungen . . . , welche unzweifelhaft pathologische Erscheinungen darstellen, und in der „3. . . . nur Pathologisches". Bezeichnungen wie „Größenwahn", „Begriffsverwirrung", „Gedankenflucht", „Delirium", „Perversität", „exaltierte Verrücktheit und Narrheit" bekräftigen das Schlußurteil: „ . . . er w a r b e r e i t s g e i s t e s k r a n k als er das Buch Jenseits von G u t und Böse schrieb."
2 Kronenberg, Dr. M(oritz), Friedrich Nietzsche und seine Herrenmoral. C. H. Beck. Mchn. 1901. 35 S. (Laut Vorwort gleich einem Vortrage, „der vor Abteilungen der deutschen Gesellschaft für ethische Kultur gehalten wurde".). Nietzsche ist dem Verfasser „ein Repräsentant seiner Zeit", indem er „am umfassendsten und leidenschaftlichsten die ganze Betrachtungsweise des Historismus auf die Moral überträgt". Für die „Tiefen des Unbewußten" sei wohl selten ein Mensch „mit größerer Sehergabe ausgerüstet gewesen". Dennoch bleibe er der „gereiften Sittlichkeit" ferne, die „eben durchweg . . . durch die Einheit und Harmonie von Egoismus und Altruismus" gekennzeichnet werde, da sich „sein Denken mit rücksichtsloser F e i n d s e l i g k e i t . . . gegen den Altruismus der Moral" richte und „entschlossen die Partei des reinen Egoismus ergreift".
2
1901 D a s J a h r „ 1 "
3 Steiner, Rudolf, Die Persönlichkeit Friedrich Nietzsches. Eine Gedächtnisrede, gehalten im Kreise der „ K o m m e n d e n " am 13. September 1900. In: Die K o m m e n d e n . Erste Veröffentlichung aus den Darbietungen der „ K o m m e n d e n " an den Donnerstag-Abenden im Nollendorf-Casino. Red. v. Dr. Α. N . G o t e n d o r f , Dr. H . Lux, v. Méville, E. Rossius v. Rhyn, Dr. Rudolf Steiner. Im Selbstvlg. Bln. 1901, S. 16 — 25. E i n e s e h r l o b e n d e R e d e , d i e a b e r in d i e W o r t e a u s k l i n g t : „ A l l e s , w a s d a s n e u n z e h n t e J a h r h u n d e r t an I d e e n h e r v o r g e b r a c h t h a t , w ä r e a u c h o h n e N i e t z s c h e d a . E r w i r d d e r Z u k u n f t nicht ein o r i g i n e l l e r P h i l o s o p h , nicht ein R e l i g i o n s s t i f t e r P r o p h e t s e i n ; er w i r d ihr ein M ä r t y r e r d e r E r k e n n t n i s s e i n , d e r in d e r
oder
Dichtung
W o r t e f a n d , u m z u s a g e n , w a s er litt."'
3 a Auch in: R. S., Friedrich Nietzsche. Ein K ä m p f e r gegen seine Zeit. 2., durch Aufnahme mehrerer Aufsätze erw. Aufl. 2 . - 6 . Tsd. Philosophisch-Anthroposophischer Vlg. a. Goetheanum. Dornach 1926,· S. 203 — 217. Unverändert. 3 b Dass. Vlg. d. Rudolf Steiner-Nachlaßverwaltung. 1963 (3. Aufl. = 7.—10. Tsd.). ( = Rudolf Steiner Gesamtausg. Schriften). 3 c Dass. (Taschenbuchausg. 1. —6. Tsd. D o r n a c h 1977). Rudolf Steiner Vlg. ( = Taschenbücher a. d. Gesamtwerk v. Rudolf Steiner Nr. 621). 4 Steiger, A(ugust, Pfarrer am Münster in Basel), Friedrich Nietzsche. V o r t r a g gehalten den 11. N o v e m b e r 1900 im Bernoullianum in Basel). H . R. Sauerländer. Aarau 1901. 27 S.
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Über Ludwig J a c o b o w s k i und sein Verhältnis zur Gesellschaft der „ K o m m e n d e n " schrieb Alfred Gotendorf aus nächster N ä h e : „Zahlreich sind die Fäden, die sich von ihm zu anderen Menschen spannen; und aus solchen Beziehungen heraus entwickelte sich innerhalb seines Freundeskreises die Idee, eine Gesellschaft zu bilden, die sich allwöchentlich zusammenfindet. Künstler, Gelehrte, Dichter und Freunde des Geisteslebens überhaupt fanden sich zusammen zur Aussprache und Mitteilung ihrer S c h ö p f u n g e n . Wichtige Ereignisse wurden gemeinschaftlich gefeiert, man besprach künstlerische und wissenschaftliche Fragen, und manches junge Talent fand hier Aufmunterung, A n r e g u n g und fruchtbaren Boden zur Entwicklung. J a c o b o w s k i selber, der innerhalb der Gesellschaft als Vorsitzender thätig war, suchte als eine vielseitige Persönlichkeit jede Einseitigkeit zu vermeiden, und so kam es, daß kein Zweig des Geisteslebens ausgeschlossen blieb." (Ebd., S. 10). Als Beitragende zu diesem „ersten Buch" der „ K o m m e n d e n " sind neben den schon erwähnten vertreten: Schlaf, H . W . F i s c h e r , K. Kollwitz, A. Costenoble, Carl Spilling, Knut Hansen, Maria Markowitsch, Gustav Schüler, Margarethe Beutler, Charlotte Singer, L. G o e t z e - V a Sek, Ο . A. Schneider, Martha Asmus, Ilse Stach von Goltzheim, Franz Flaum, Otto Goetze, Peter Baum, Robert K o r n , Anselm Heine, Max Möller, C . Flaischlen, Paul H a a s e , Lasker-Schüler, Max Tilke, Grete Landsberg, Victor von Reisner, Petko T h o d o r o f f , Miriam E c k , Α. K . Thielo, Frau E. Slepjan, Inge Maria, G . M o r é , Maria Schneider, L. Katsch, Fritz Stöber, Wilhelm D a m m , Johannes 0 h q u i s t , H a n s Mützel, Viktor Rydberg, Adolf Flachs, Peter Hille, Wilhelm C o n r a d Gomoll, H e r m a n n Hirzel, G. LehmannWienbrack, Frau A. Hertwig, Tischmayer.
1901 Das Jahr „1"
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Verfasser meint, „daß sich bei Nietzsche Wahres und Falsches, Vernünftiges und Widersinniges, Gesundes und Krankes, Schönes und Häßliches, mächtig Anziehendes und widerlich Abstoßendes dicht nebeneinander findet". — „Müssen wir, wenn wir aufrichtig sein wollen, nicht gestehen, daß er mit seiner Kritik unserer heutigen, für das Leben vielfach unfruchtbaren, ja geisttötenden Bildung in manchen Punkten den Nagel auf den Kopf getroffen und Wahrheiten gesagt hat, die es verdienten, öffentlich angeschlagen und namentlich uns Jugendbildnern zur täglichen Betrachtung vor Augen gehalten zu werden?" — „So schief und ungerecht nun aber vielfach Nietzsche's Beurteilung des Christentums ist, — er gibt uns doch auch darin einen wichtigen Fingerzeig. Lange Zeit hat man nämlich das Christentum zu einem weichen, sentimentalen und süßlichen Ding gemacht, so daß wir uns nicht wundern dürfen, wenn solche, die nach männlicher Kraft verlangen, sich davon abgestoßen fühlen." — „Noch nach anderer Richtung gibt uns Nietzsche manchen guten Fingerzeig: Es ist keine Frage, daß unsere gegenwärtige Kultur vielfach zur Uberkultur und Unnatur ausgeartet ist — um so mehr Berechtigung hat sein Ruf: ,Mehr N a t u r ! Zurück zur Natur!' . . . Durch unsere Zeit geht eine Tendenz zur allgemeinen Nivellierung, ein Zug zur Gleichmacherei, zur Reglementierung und Schabionisierung aller Lebensverhältnisse und Lebensbetätigungen . . . Demgegenüber macht Nietzsche das bedrohte Recht der Individualität und Persönlichkeit geltend, und das ist ein großes Verdienst." Doch sein „Individualismus und Atheismus endet in Selbstvergötterung". Im „zahlreichen Gefolge" Nietzsches sieht Verfasser „die nächsten Freunde . . . , die von der christlichen Religion in ihrer überlieferten Form nicht befriedigt sind, . . . eine Gesellschaft von Aristokraten, von Geistes-, politischen und andern Aristokraten, welche in diesem Erzfeind der Demokratie oder der ,Herdenvertierung', den Mann ihres H e r z e n s erkennen . . . , eine Schar Sozialisten, namentlich sozialistischer Schriftsteller, . . . die Blasierten und Raffinierten, welche, um noch an etwas Geschmack zu finden, der stärksten Reize bedürfen, . . . ,verkannte Genies', verlotterte Talente, zerfahrene Existenzen, moralisch Zuchtlose, . . . den muntern T r u p p junger Leute, Studenten mit Cerevis und Flaus, Jünglinge von 18 — 22 Jahren, von jenem Alter, w o man so furchtbar gescheit ist und fast ein jeder sich ein Genie dünkt, . . . auch zahlreiche Nachfolgerinnen, gebildete Frauen, auf welche das Poetische und Dämonische an ihm, zum Teil auch schon der Modephilosoph, eine Z u g k r a f t üben mag", und „den Zug beschließen junge Damen, die kokett mit dem Fächer spielen und dazu aus einem NietzscheBuch lesen, die zwar davon sehr wenig oder nichts verstehen, aber mit ihrem ,Nietzsche-Schwarm' sich interessant machen, . . . hat man mir doch zuständigen Orts mitgeteilt, daß aus der Bibliothek der hiesigen ,Allgemeinen Lesergesellschaft' die Nietzsche-Schriften am meisten von jungen Töchtern verlangt werden". Er schließt mit der Meinung: „Die Gedanken Nietzsche's werden gerade in dem Maße Boden finden und wachsen, als sie im Schöße des christlichen Geistes schon als Keime liegen, als mit ihnen eine Seite am Christentum zur Entfaltung und Ausreifungen k o m m t . . ."
5 Stock, Otto, Friedrich Nietzsche. (WMh H. 532 f. v. Jan. u. Febr. 1901, S. 5 7 0 - 5 8 2 , 686—696).
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1901 Anton von Webern V e r f a s s e r m e i n , N i e t z s c h e h a b e als „ p h i l o s o p h i s c h N a i v e r " auf d e m G e b i e t d e r
P h i l o s o p h i e „ g e w i l d e r t u n d d i l e t t i e r t " : „ D a h e r das A n r e g e n d e , Frische, N a t ü r l i c h e seines P h i l o s o p h i e r e n s , d a h e r a b e r a u c h d a s U n z u l ä n g l i c h e seiner positiven Leis t u n g , das ihm selbst i m m e r f o r t ein Stachel blieb, . . . dessen S c h m e r z e r schließlich n u r d u r c h S e l b s t b e t ä u b u n g in k ü n s t l e r i s c h g e s t e i g e r t e m S e l b s t b e w u ß t s e i n a u f h e b e n k o n n t e . " — „Weil er n i c h t d e r S o h n e i n e r g r o ß e n Z e i t w a r , d i e u m h o h e geistige Ziele ringt, ist er kein D e n k e r u n d P r o p h e t ersten R a n g e s . "
5 a Dass. Stock, Dr. Otto (Privatdozent d. Philosophie a. d. Univ. Greifswald), Friedrich Nietzsche, der Philosoph und der Prophet. Westermann. Braunschweig 1901. 62 S., 1 Bl. N e u sind n u r die U b e r s c h r i f t e n z u d e n e i n z e l n e n A b s c h n i t t e n u n d ein V o r w o r t , in d e m steht: „. . . m e h r u n d m e h r s c h ä t z e ich N i e t z s c h e s G e d a n k e n als F e r m e n t e in u n s e r e r G e g e n w a r t s k u l t u r , d e r e n W i r k u n g ich t r o t z allem nicht e n t b e h r e n m ö c h t e . "
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anonym, Nietzsche's Tod. ( D K 2. Jg., H. 1, 1901, S. 44).
Ein 20zeiliges G e d i c h t , d a s in d e n S c h l u ß z e i l e n a u s k l i n g t : „ W e s s e n Blitz traf Dich, Titan?/Rollender D o n n e r , D u kündest I h n
6 a
an!"
Auch in 29 b, S. 58 f. Unverändert.
A Förster-Nietzsche, Elisabeth, Malwida von Meysenbug und Friedrich Nietzsche. Briefe, mit Erläuterungen. ( N D R s 12. Jg., Nr. 1 v. Jan. 1901, S. 65 — 81). Bringt die Briefe N r . 6 6 — 7 0 , 72, 74 u n d 75 d e r s p ä t e r e r s c h i e n e n e n g e s a m m e l ten Briefe ( A C ) , d a z u einen e t w a s a n d e r s l a u t e n d e n v e r b i n d e n e n T e x t sowie zwei Briefe N i e t z s c h e s an M a l w i d a , die in d e m b e t r e f f e n d e n B a n d k e i n e A u f n a h m e f a n den.
Eine verhältnismäßig frühe Beschäftigung mit den Werken Nietzsches läßt sich im Leben Anton von Weberns verfolgen. Über seine Tagebucheintragungen um die Jahrhundertwende meinen seine Biographen: „Er war gebannt von Nietzsches Lehren, dessen Gedanken über ,Sternenfreundschaft' in .Fröhliche Wissenschaft' die erste Eintragung in einem der Tagebücher sind."2 Uber den anschließenden Studiengang auf der Universtität Wien heißt es, daß neben den musikalischen Studien „eine breite Skala von Vorlesungen über Philosophie und Literatur" einhergegangen sei: „Wie umfassend die Unterrichtung war, läßt sich ablesen an Themen wie ,Kant, Herder, Schiller, Schopenhauer, Nietzsche . . .' "3.
1
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Moldenhauer, Hans u. Rosaleen, Anton von Webern. Chronik seines Lebens und Werkes. Atlantis. (Zür. 1980), S. 32; Webern, Anton von (Wien 3. 12. 1883 — Mittersill 15. 9. 1945), Komponist. Ebd., S. 41
1901 Wieder unter den Dichtern
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Und etwas später: „Aus dem Jahre 1904, ohne Monats- und Tagesbestimmung, datiert eine Vertonung des Gedichts ,Heiter' von Nietzsche, ein unbeschwertes Liedchen des sonst so ernsten deutschen Philosophen. Weberns Realisierung, ,Anmutig gehend' überschrieben und im trällernden 6/8-Takt gehalten, fängt in 19 Takten die Stimmung des Gedichts ein.'" GkXI Nachgelassene Werke. / Von / Friedrich Nietzsche. / Unveröffentliches / aus der Zeit des Menschliches, Allzumenschliches / und der Morgenröthe. / (1875/76—1880/81.) / Zweite, völlig neu gestaltete Ausgabe. / 3. und 4. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1901. XIII S. ( = Inhalt u. Vorw. d. Hg. Ernst u. August Horneffer), IBI., 421 S., 5 Bll. ( = Vlgs.-anz.). S. 3 9 3 - 4 2 1 = Nachbericht u. Anmerkungen. ( = Nietzsche's Werke. Zweite Abtheilung. Bd. X I (Dritter Band der zweiten Abtheilung. Β Friedrich Nietzsche, Der Einsame / Aus hohen Bergen. (In: Die Deutsche Lyrik des 19. Jahrhunderts. Eine poetische Revue Zusammengest, v. Theodor von Sosnosky. Cotta Nf. St. 1901, S. 3 6 2 - 3 6 5 ) . Der Band erschien zu Anfang des Jahres. Von den 145 vertretenen, chronologisch von Ernst Moritz Arndt bis auf Max Dauthendey reichenden Dichtern wird nur folgenden mehr Raum gewidmet als Nietzsche: R. Baumbach, C. Busse, Chamisso, F. Dahn, F. Dingelstedt, Eichendorff, Fontane, Freiligrath, L. Ganghofer, Geibel, Grillparzer, A. Grün, Heine, Herwegh, Holz, L. Jacobowski, W. Jensen, J. Kerner, Körner, Lenau, H. Leuthold, Liliencron, W. Müller, J. Mosen, Platen, R. Prutz, A. Ritter, F. v. Saar, J. V. v. Scheffel, J. G. Seidl, Storm, M. v. Strachwitz, Uhland u. F. T. Vischer. 5
7 Bartels, W a n d a von (München), So solltet ihr Nietzsche verstehen. (MAZg Nr. 4, Beil. v. 5. 1. 1901, 3 S.). Schilt recht im Zarathustraton auf die „Jünger" Nietzsches, die ihn „mißverstehen". Man solle ihn nehmen als „Einen, der voll war von hochfliegenden Gedanken, als einen Erzieher zum Edlen, als einen Musiker der Sprache, als einen Hasser alles Gemeinen". Dabei berichtet sie von einem fast täglichen, mehrwöchigen Zusammensein mit Nietzsche, als sie und ihr Mann, Hans von Bartels, Aquarellist und Professor an der Münchner Kunstakademie, ihn zufällig in Venedig im Frühsommer 1885 kennenlernten, sowie von zwei Briefen Nietzsches und einem Besuch desselben in München im Mai 1886.
8 Riehl, Alois, Friedrich Nietzsche. In: Das neunzehnte Jahrhundert in Bildnissen. Bd. V. Hg. v. Karl Werckmeister. Photograph. Ges. Bln. 1901, S. 891 — 895 m. e. Bildnis (Nr. 585) n. e. Aufnahme a. d. Jahre 1882. 4 5
Ebd., S. 54. Sosnosky, Theodor von (Budapest 4. 1. 1866 - Wien 13. 12. 1943).
6
1901 Der Vollender der Lehre Macchiavellis V e r f a s s e r m e i n t , N i e t z s c h e sei „von d e n S c h r i f t s t e l l e n d e r e r n s t e n G a t t u n g d e r
gelesenste", seine S c h r i f t e n seien „wie ein Spiegel d e r m o d e r n e n Seele" u n d bilden „ f ü r die G e s c h i c h t e des geistigen L e b e n s im letzten D r i t t e l d e s n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s . . . eine u n m i t t e l b a r e Q u e l l e " . E r stelle v o r allem „ e i n e k ü n s t l e r i s c h e N a tur" dar, aber auch den Philosophen der Kultur, den Kritiker ihrer G e g e n w a r t , den S e h e r „ u n d z u g l e i c h , wie er g l a u b t e , S c h ö p f e r i h r e r Z u k u n f t " . W a s die M o r a l bet r e f f e , so wolle er „ n i c h t h i n t e r die M o r a l z u r ü c k " , s o n d e r n „ ü b e r die bisherige M o ral h i n a u f " ; „ d a ß die w a h r e , H e r r e n m o r a l ' des a u t o n o m e n W i l l e n s schon g e f u n d e n w a r , als er sie n o c h s u c h t e , b e m e r k t e er nicht". Seine beiden G l a u b e n s s ä t z e h ä n g e n z u s a m m e n : „ D e r G l a u b e an die e w i g e W i e d e r k u n f t ist die B r ü c k e z u m Ü b e r m e n schen, n u r d e r G l a u b e an d e n U b e r m e n s c h e n m a c h t d e n G e d a n k e n d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t erträglich . . ." Aus d e r B e r ü h r u n g seiner G r u n d t r i e b e mit „ m o d e r n - p o s i t i vistischen, ja
skeptisch-nihilistischen
Gedanken"
entstehe
„eine
neue
Art
von
S c h w ä r m e r e i u n d R o m a n t i k " . D e n n o c h sei er als A n t i p o d e S c h o p e n h a u e r s d e r „Besieger des Pessimismus". — „ M e h r u n d m e h r w i r d m a n l e r n e n , N i e t z s c h e aus d e m G a n z e n seiner A n s c h a u u n g e n h e r a u s z u v e r s t e h e n , als d e n , w e l c h e n die Zeit nötig hatte, weil er ihren M ä n g e l n seine I d e a l e g e g e n ü b e r s t e l l t . "
9 Roesel, Ludwig Karl, Friedrich N i e t z s c h e und das Deutschland. (NpBll Bd. 8, 1901, S. 1 2 - 1 5 , 4 1 - 4 5 , 75 — 79).
jüngste
D i e Ü b e r s c h r i f t ist e t w a s i r r e f ü h r e n d , d e n n V e r f a s s e r s c h r e i b t aus e i n e m rein p e r s ö n l i c h e n E r l e b e n N i e t z s c h e s : „ N i c h t im b l i n d e n T a u m e l d e s A u g e n b l i c k s , nicht im R a u s c h e d e r D i o n y s o s f e s t e , nicht in d e r A n b e t u n g d e r F o r m e n s c h ö n h e i t Apollos liegt u n s e r Ziel — das Ziel d e r M e n s c h h e i t liegt nicht an i h r e m E n d e , s o n d e r n in ihren h ö c h s t e n E x e m p l a r e n . . ."
10 F., Carlyle und S. 26 f.).
Nietzsche. ( E V
14. Jg., N r . 4 v.
12.1.1901,
Eine B e s p r e c h u n g d e r S c h r i f t v o n W i l h e l m i (s. Bd. I), w e l c h e „ u n s e r n Lesern aufs w ä r m s t e z u m S t u d i u m e m p f o h l e n " w i r d . Sie z e i g e , wie C a r l y l e „ein F ü h r e r . . . zur Selbstbesinnung, z u r .Bekehrung', zur moralischen und sozialen E r n e u e r u n g seiner N a t i o n " h a b e w e r d e n k ö n n e n , „ w ä h r e n d N i e t z s c h e w e s e n t l i c h n u r P f e i l e g e schnitzt h a t f ü r d e n g e d a n k e n a r m e n u n d h e r z l o s e n V e r t r e t e r d e s ö d e s t e n E g o i s m u s , d e r ,trostlosen W i s s e n s c h a f t ' , — wie C a r l y l e das n e n n t , w a s N i e t z s c h e f ü r , f r ö h l i che W i s s e n s c h a f t ' a u s g i e b t " . — „Sie sind T y p e n f ü r die b e i d e n e i n z i g e n M ö g l i c h k e i ten, die d e m m o d e r n e n M e n s c h e n bleiben, w e n n e r d e n religiösen T r i e b nicht g a n z in sich erstickt h a t : Z u r S e l b s t v e r g o t t u n g o d e r z u m l e b e n d i g e n G o t t . "
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Lublinski, S(amuel, D r e s d e n ) , Macchiavelli u n d Nietzsche. (Z
9. J g . , B d . 3 4 , 12. 1. 1 9 0 1 , S. 7 3 - 8 2 ) . V e r f a s s e r sieht in N i e t z s c h e d e n V o l l e n d e r d e r L e h r e Macchiavellis, d e r „ e i n e r d e r g r ö ß t e n W o h l t ä t e r des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s " g e w e s e n sei, „ d a e r d e r G e w a l t zu einer g e b ü h r e n d e n S t e l l u n g v e r h o l f e n u n d d a d u r c h das M i t t e l a l t e r u n d die T h e o kratie f ü r i m m e r beseitigt h a t " . N i e t z s c h e s L e b e n s w e r k sei es g e w e s e n , z u z e i g e n , d a ß „die G e w a l t , n a c k t wie sie ist, i h r e g r o ß e n h e r r l i c h e n T u g e n d e n h a t u n d d e r Alt r u i s m u s nicht i m m e r eine T u g e n d ist, s o n d e r n m a n c h m a l e i n R e s s e n t i m e n t , ein
1901 Kuno Fischer
7
ekelhaftes Gebräu aus Neid und Schwäche". Doch glaubt der Verfasser, daß der neue „Held" weder ein Cesare Borgia noch ein Torquemada sein werde. 12 Buchholz, M. L. (Heimbach-Weiß), Nietzsche und seine „Moral". ( P b Bd. 14, 14. 1. 1901, S. 5 3 - 5 8 ) . Verfasser meint, „kaum je hat ein Philosoph in so cynischer Weise den Moralskepticismus vertreten, der Emancipation des Fleisches und dem krassesten Egoismus das Wort geredet". 13 H e f f t e r , Pfarrer E. (Rohrbeck), Friedrich Nietzsche. ( E K Z g 75. Jg., Nr. 3 v. 20. 1. 1901, Sp. 4 9 - 5 3 ) . Verfasser ist der Ansicht, daß Nietzsche „nächst dem großen Einsiedler von Friedrichsruh dem deutschen Geistesleben des letzten Vierteljahrhunderts wohl am schärfsten den Stempel seines Geistes aufgeprägt" habe; doch sei er auch „das jüngste Opfer geworden der satanischen Weisheit: Eritis sicut Deus". Ein Programmzettel der „ N e u e n Gemeinschaft" vom 20. Januar 1901 verkündet f o l g e n d e Veranstaltung: „Vortrag Gustav Landauers: Nietzsche und die neue Generation. Aus Nietzsches ,Zarathustra', vorgelesen von Dr. Emil Geyer. Violinvortrag v o n M. Natrowski. Largo von Händel. Charfreitagszauber von Wagner. Gedichte von Stefan George, vorgelesen von H e d w i g Lachmann, Ansprache von Heinrich Hart." 6 14 (Faber, Robert), Nietzsche als Student. ( M Z g v. 30. 1. 1901). Als Richtigstellung der Darstellung Deussens über Nietzsches Austritt aus der Franconia veröffentlicht dieser Beitrag sowohl die Eintragung im Album der Burschenschaft, die über Aufnahme und Austritt knapp berichtet, als auch erstmals den Brief Nietzsches an die Verbindung vom 20. Oktober 1865. 14 a Dass., w a s das Urkundliche betrifft: die burschenschaftliche Eintragung und den Brief Nietzsches, in: A D U Z g 15. Jg., 1901, Nr. 4, S. 32. Bringt dazu auch einiges über die Verhältnisse in den Burschenschaften der 60er Jahre, um Deussens Verurteilung noch weiter zu entkräften. 15 Fischer, K u n o , Geschichte der neuern Philosophie. Jubiläumsausg. 8. Bd.: H e g e l s Leben, Werke und Lehre. 2. Tl. C. Winter. Heidelberg 1901. Im letzten, 53. Kapitel unter der Zusammenstellung: Bruno Bauer. Die reine Kritik. Max Stirner. Nihillismus und Anarchismus. Die Ubermenschen, heißt es: „Der Einzige und sein Eigenthum, das souveräne allmächtige Ich verhält sich zu Hegel, wie vierzig Jahre vor ihm die schlegelsche Ironie zu Fichte, und vierzig Jahre nach ihm Nietzsches Ubermensch zu Schopenhauer. Was Zarathustra sprach, hatte in der Hauptsache schon Caspar Schmidt verkündet: die Herrenmoral jenseits des Guten und Bösen. Jeder dieser Übermenschen hat, gleich dem Rattenfänger, eine
6
Nach Elazar Benyoetz in: Castrum Peregrini, H . 71, Amsterdam 1966, S. 45.
1901
8
H e e r d e s o l c h e r A n h ä n g e r n a c h sich g e z o g e n , w e l c h e S c h o p e n h a u e r
begeisterte
S c h a f e ' z u n e n n e n p f l e g t e . " ( S . 116 f.) 7 16
Steiner,
Dr.
Rudolf,
Welt-
und
Lebensanschauungen
im
z e h n t e n J a h r h u n d e r t . 2. B d . S i e g f r i e d C r o n b a c h . Bln. 1 9 0 1 . Ü b e r auf S. ( =
Am
neun-
Nietzsche
179—183. Ende
des Jahrhunderts.
Rückschau
auf
100 J a h r e
geistiger
Ent-
wicklung Bd. X I X ) . V e r f a s s e r b e h a n d e l t N i e t z s c h e im A n s c h l u ß a n W . H . R o l p h u n d d e s s e n „ B i o l o g i s c h e P r o b l e m e " u n d m e i n t , j e n e r sei v o n d i e s e m in H i n s i c h t a u f die E n t w i c k l u n g s i d e e a n g e r e g t : „ A u s d e m V e r e h r e r d e r Illusion w u r d e ein V e r g ö t t e r e r
der
W i r k l i c h k e i t . " S e i n e W e l t a n s c h a u u n g sei a b e r letztlich „ d e r A g n o s t i c i s m u s als p e r sönliche E m p f i n d u n g , als individuelles E r l e b n i s und S c h i c k s a l " ,
und
ein „ G e g e n b i l d " h a b e d i e s e W e l t a u f f a s s u n g in d e r „ m a t e r i a l i s t i s c h e n G e s c h i c h t s a u f f a s s u n g u n d L e b e n s a n s c h a u u n g , die ihren p r ä g n a n t e s t e n A u s d r u c k d u r c h K a r l M a r x g e f u n d e n h a t " . A u c h T i l l e u n d sein B u c h „ V o n D a r w i n bis N i e t z s c h e " (s. B d . I), d a s d e m V e r f a s s e r s o w o h l „ b e m e r k e n s w e r t h " als a u c h „ b e d e u t e n d " e r s c h e i n t , w e r d e n e r w ä h n t : T i l l e h a b e in s e i n e m W e r k „ m i t e i s e r n e r K o n s e q u e n z d i e F o l g e r u n g e n d i e ser A n s c h a u u n g für die Ethik g e z o g e n " . 17
Rüttenauer,
Benno, Aphorismen
aus
Stendhal.
Uber
Schönheit,
K u n s t u n d K u l t u r . A u s g e z o g e n u. i. d t . U b e r s , z u s a m m e n g e s t e l l t . J . H . Heitz. Straßburg
Ed.
(1901).
Im V o r w o r t ( S . V I — X X I V ) stellt H e r a u s g e b e r f e s t , d a ß S t e n d h a l in D e u t s c h l a n d n u r a u f einen „ G e i s t e s v e r w a n d t e n " g e s t o ß e n sei, e b e n N i e t z s c h e , u n d leitet s o e i n e n l ä n g e r e n V e r g l e i c h d e r A n s i c h t e n b e i d e r ein. 18
W e i t b r e c h t , C a r l , D e u t s c h e L i t t e r a t u r g e s c h i c h t e d e s 19. J a h r h u n -
d e r t s . 2. T l . G ö s c h e n . L p z . ( =
1901.8
Slg. G ö s c h e n Bd. 135). Im 6. A b s c h n i t t : D i e M o d e r n e , e r s c h e i n t „ N i e t z s c h e " ( S . 143 ff.) als d r i t t l e t z t e
Unterabteilung, vor „Bemerkenswerte
Einzelerscheinungen"
und dem
„Schluß".
V e r f a s s e r läßt h e r z l i c h w e n i g a n s e i n e m G e g e n s t a n d g e l t e n , u n d s o g a r d e r Stil bleibt nicht u n g e s c h o r e n : „ U n d f o r m e l l ä s t h e t i s c h w a r d e r G l a n z u n d p o e t i s c h e S c h i m m e r , d e n s e i n e V e r k ü n d i g u n g e n v i e l f a c h h a b e n , a u c h nicht d a z u a n g e t h a n , Stils t r e n g e u n d k ü n s t l e r i s c h e K o n z e n t r a t i o n z u f ö r d e r n , v i e l m e h r hat a u c h s e i n e F o r m nur d e m fragmentarischen, aphoristischen, feuilletonistischen W e s e n noch einmal V o r s c h u b g e l e i s t e t , a n d e m w i r s c h o n seit H e i n e litten." S . a. die B e h a n d l u n g J o r d a n s , bei d e m sich „ a l l e s , w a s a n d e r m o d e r n e n G e i s t e s e n t w i c k l u n g w e s e n t l i c h u n d — g e s u n d i s t " , f i n d e , u n d v o n d e m es f e r n e r heißt, d a ß er N i e t z s c h e s „ b e s s e r e I d e e n
7
8
Fischer, Kuno (Großsandwalde/Schles. 23. 7. 1824 — Heidelberg 5. 7. 1907), Philosoph, lehne bis zu seiner Emeritierung 1906 an der Universität Heidelberg. Weitbrecht, Carl (Neu-Hengstett b. Calw 8. 12. 1847 — Stuttgart 10. 6. 1904), Literaturwissenschaftler, seit 1893 Professor der Ästhetik und deutschen Literatur an der Technischen Hochschule zu Stuttgart.
1901 Reinhard Piper
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poetisch vorweggenommen" habe (S. 58): „ . . . eine Reihe Ideen, die später Nietzsche . . . ins Einseitige und Krankhafte übersteigert, die der Nietzscheanismus zur Karikatur verzerrt" habe (S. 60 f.). Nietzschesche Problematik findet auch er in Sudermanns „Das Glück im Winkel", nur daß man sich dabei vergeblich frage, „wiefern der ganze Apparat aus Nietzsche nötig sei, um einen ganz gewöhnlichen brutalen Genußmenschen kraftmeierisch zum Ubermenschen aufzublähen". (S. 159) U b e r seine Begegnung mit dem Werke Nietzsches schrieb der spätere Verleger Reinhard Piper aus seiner Zeit um 1900 in Berlin als Buchhandlungsgehilfe: „Tausende von Angestellten strömten allmorgendlich mit mir zugleich in die innere Stadt. Gerade im Gedränge zwischen unbekannten Menschen konnte ich mich gut konzentrieren. Damals las ich viel Nietzsche. D i e feierlich-pathetischen Worte des Zarathustra standen allerdings in sonderbarem Gegensatz zu der U m g e b u n g , in der sie auf mich einwirkten."' Aus ungefähr gleicher Zeit stammt auch folgende Bemerkung: „Durch einen Abschnitt in Nietzsches ,Menschliches, Allzumenschliches' war ich auf Chamfort aufmerksam geworden." 1 0 Ü b e r seine Bekanntschaft mit dem damaligen Hilfsarbeiter an der Dresdener Königlichen Bibliothek, die im D e z e m b e r 1902 erfolgte, erzählt er von einer Zusammenkunft mit diesem und dessen Bruder Franz: „An einem andern Abend lasen wir abwechselnd Nietzsches prachtvolle Darstellung der frühgriechischen Philosophie, w o z u — als besonders stilgemäß — griechischer W e i n von der Insel Samos getrunken wurde."" 19 Adickes, E., ( J b N D L 8. Bd., 1901, IV 5d: 141 — 189).' 2 Für das Berichtsjahr 1897 beginne das Nietzsche-Schrifttum „nachgerade in beängstigender Weise anzuschwellen". Befaßt sich darauf mit den Nachlaßbänden XI und XII und aus dem sonstigen Schrifttum eingehender nur mit den Werken von Salis-Marschlins (Philosoph und Edelmensch) und Mongré (Sant* Ilario). Hebt auch die Werke von Riehl (Friedrich Nietzsche. Der Künstler und der Denker) und Tönnies (Der Nietzsche-Kultus) als die bedeutendsten der sonstigen Bücher hervor, ohne jedoch auf sie sonst einzugehen. (S. z. allem Bd. I) 20 Hensel, P., (Ebd., IV 5 c : 4 9 - 7 1 ) . Begrüßt ganz besonders den neuesten Band der Lebensbeschreibung (2. Bd., 1. Abt.), wenn auch nicht ohne gelegentliche Bemängelung, und erwähnt noch die Arbeiten von Runze (Friedrich Nietzsche als Theologe und als Antichrist), Ritsehl ' R. P., Vormittag. Erinnerungen eines Verlegers. R. Piper. Mchn. (1947), S. 241; Piper, Reinhard (Penzlin/Mecklenburg 31. 10. 1879 — München 18. 10. 1953), Verleger. 10 Ebd., S. 308. " Ebd., S. 319. 12 Adickes, Erich (Lesum b. Bremen 29. 6. 1866 — Tübingen 8. 7. 1928), Philosoph, habilitierte sich 1895 in Kiel, 1902 Professor der Philosophie in Münster, 1904 in Tübingen.
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1901 Ein „Kunsttempel für Nietzscheane!-"
(Nietzsches Welt- und
Lebensanschauung. . .), Weisengrün
(Zur
Psychologie
Nietzsche's) und Biede'nkapp (Denkdummheiten). S. z. allem Bd. I. 21 T i l l e , Al., ( E b d . , I 1 1 : 8 3 — 9 0 ) . Rezensent erwähnt unter der Abteilung „Weltanschauungsgeschichte" zunächst seine eigene Herausgebertätigkeit im Zusammenhang mit der englischen Ausgabe von Nietzsches Werken und geht erst dann zu den Werken von Kaftan (Das Christentum und Nietzsches Herrenmoral), Ritsehl (Nietzsches Welt- und Lebensanschauung . . .), G. F. Fuchs (Friedrich Nietzsche. Sein Leben und seine Lehre . . .) und Tönnies (Der Nietzsche-Kultus) über. (S. z. allem Bd. I) 22
B é l a r t , H a n s , Friedrich N i e t z s c h e s Ethik. H e r r n . S e e m a n n
Nf.
L p z . 1901. 78 S., 1 Bl. ( = V l g s . - a n z . ) . ' 3 Verfasser möchte, „der hohen Bewunderung für die Philosophie Nietzsches" voll, zur „Erkenntnis der Bedeutung der Ethik dieses großartigen Denkers beitragen" und tut es, indem er die Lehren Nietzsches denen Schopenhauers, Wagners und auch Darwins gegenüberstellt: „Im Kampfe gegen die Ethik, gegen die Verneinung des Lebens, zeigt Nietzsche seine ganze Größe . . . N o c h sind wir in Nietzsches Sinne Komödianten des christlich-moralischen Ideals; das Gesetz der notwendigen Selbstüberwindung im Wesen des Lebens wird uns andere Bahnen weisen!" In einem „Nachtrag zum Schlußworte" stellt er „Anklänge an die Philosophie Ludwig Feuerbachs, wie sie Richard Wagner in seinen Revolutionsschriften und in seinem großen Revolutionsgedichte gedeutet hat", bei Nietzsche fest. Lesenswert ist der Anhang: Von der Ethik in Wolzogens Uberbrettl, in dem es u. a. heißt: „ D a s Bestreben des Uberbrettls geht in musikalischer Beziehung nach künstlerischer Ausgestaltung des deutschen Chansons in Verbindung mit einer lebensvollen Dramatik, letztere vielleicht da und dort etwas raffiniert, fatalistisch-populär, immerhin von den Instinkten des Lebens beseelt, dabei unterstützt durch eine, wie Nietzsche sagt, leichte, auf zarten Füßen wie das Göttliche laufende Musik . . . , daß es unter anderem dazu berufen sein könnte, gegenüber den Bestrebungen in Bayreuth mit der Zeit künstlerisch ein wirkliches, in gewisser Richtung notwendiges G e g e n g e w i c h t (und damit auch teilweise einen Kunsttempel für Nietzscheaner und Parsifal-Müde) zu bilden." 23
B i e d e n k a p p , D r . G e o r g , Friedrich N i e t z s c h e und F r i e d r i c h N a u -
m a n n als Politiker. Fr. W u n d e r . G ö t t . 1901. 70 S., 1 Bl. ( = I n h a l t s v e r z . u. Vlgs.-anz.). Faßt Nietzsche als „Telepolitiker, Politiker für Jahrtausende" auf und bringt ihn somit in eine Vergleichsnähe zu Freidrich Naumann. Bedauert, daß Nietzsche nicht „die tabakgeschwängerten Diskutier- und Versammlungsräume politischer Deutscher aufgesucht" habe — „ g a n z u n d g a r v e r f e h l t " sei seine Stellung zur Arbeiterfrage, „gleich schwach" sein „Räsonnement" über die Demokratie, und im Falle der Frauenfrage habe er „über den weniger anmutenden Zügen dieser Erschei-
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Bélart, H a n s ( B r u g g / S c h w e i z 1. 11. 1856 Wagner-Schriftsteller.
W i n d i s c h / A a r g a u 26. 4. 1920), vornehmlich
1901 Die jungen Elsässer
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nuing die guten Seiten übersehen". Man könne nicht umhin, Nietzsches politische Ideen als „im wesentlichen r e a k t i o n ä r " zu bezeichnen, und der Verfasser wundert sich dabei, „daß sich unsre Konservativen diesen reaktionär-politisierenden Philosophen noch nicht angeeignet haben." Was Naumann und seine nationalsoziale Bewegung betrifft, so ist der Verfasser der Meinung, daß man jenen „neben den Philosophen und über den Politiker Nietzsche" stellen könne. Der Vergleich läuft aber in der zweiten Hälfte der Arbeit (S. 46 — 70) eher in eine Verteidigung und Darlegung der parteipolitischen Tätigkeit der nationalsozialen Bewegung aus. 24 Barth, Dr. Alfred, Friedrich Nietzsche. H. Schildberger. Bln. (1901). 20 S. ( = Bedeutende Männer aus Vergangenheit u. Gegenwart. H g . v. H . Fr. v. Ossen. H. 4). Wie leicht man immer noch mit einer Schrift über Nietzsche verfahren konnte, veranschaulichen folgende Fehler: das Geburtsdatum als „13. Oktober", das Pensionsjahr als „1870" und überhaupt die Meinung, am meisten habe sich Nietzsche mit der Untersuchung sittlicher Fragen beschäftigt und sei dazu „durch das Werk von Paul Rèe ,der Ursprung der moralischen Empfindungen' veranlaßt". Trotz manch anerkennenden Wortes machen folgende Sätze die Einstellung des Verfassers überaus deutlich: „Seine Bedeutung und sein Einfluß beruhen nur darauf, daß er in verständlicher und anziehender Form die wichtigsten sozialen, religiösen und sittlichen Fragen behandelt." — „Seine Philosophie ist eine Geschmacksphilosophie, und als solche hat sie den Stempel des Launenhaften, des Wechselvollen und Widerspruchsreichen an sich." 25 Busse, Dr. Carl, Geschichte der Deutschen Dichtung im neunzehnten Jahrhundert. F. Schneider. Bln. 1901. Über Nietzsche auf S. 154 f. ( = Das Deutsche Jahrhundert in Einzelschriften. H g . v. G e o r g Stockhausen. 1. Bd., Abth. I). Zur Abwehr gegen „die alleinseligmachende Naturwissenschaften" habe „die lange verachtete Philosophie . . . neue Werbekräfte" bewiesen, und dies sei nicht zuletzt durch „das glänzende Gestirn Friedrich Nietzsches" ermöglicht: „Es ist das aristokratische, antidemokratische Ideal Nietzsches, das man bewunderte . . . , mit flatternden Fahnen ging die Jugend aus dem sozialdemokratischen Lager in das des feminen Scholastikers über . . . , aus Sozialdemokraten wurden im Handumdrehen ,Sozialaristokraten' . . . Hier haben wir die dritte Phase der modernen Bewegung, die künstlerisch ergiebigste und reichste." Mit f o l g e n d e m Absatz leitete Paul Savreux aus Straßburg im Elsaß seine Gedanken über „Die Dichtung von morgen" ein: „Die M o d e ist nichts, die Persönlichkeit alles. Sie machte N a p o l e o n z u m großen Schlachtenleiter, Bismarck z u m genialen Staatsmann, N i e t z sche zum — Philosophen. N u r seine Persönlichkeit konnte dem widerspruchsvollen, willkürlichen Zarathustra und seinem W o r t e die W u c h t verleihen, die eine g a n z e Jugend erschütterte. N u r als ein Ganzes, Unteilbares betrachtet ist N i e t z s c h e groß. N u r als der der ausschließlichsten Subjektivi-
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1901 Eine „außerordentliche Culturabnormität"
sten w i r d sein N a m e in m o r g i g e n G e s c h l e c h t e r n f o r t l e b e n . D i e M o d e ist nichts, d i e P e r s ö n l i c h k e i t alles — bei j e d e m U n s t e r b l i c h e n , b e s o n d e r s a b e r beim Künstler, beim Dichter."14 26
D u b o c , D r . J . u. P. W i e g l e r 1 5 , G e s c h i c h t e d e r d e u t s c h e n P h i l o s o -
p h i e im n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t . F . S c h n e i d e r . B l n . 1 9 0 1 . ( = D a s D e u t s c h e J a h r h u n d e r t in E i n z e l s c h r i f t e n . H g . v. G e o r g S t o c k h a u sen. 1. B d . , III. A b t h . ) . Über Nietzsche im 5. und letzten Abschnitt: Die Naturwissenschaften und ihre Consequenzen für die moderne Philosophie, nach Stirner (5 S.), auf S. 441—456. N u r Kant zu Anfang wird mehr Raum gewidmet. Verfasser zählt Nietzsches Weltanschauung „zu den größten, wunderprächtigsten Ereignissen dieses Jahrhunderts" und nennt die Persönlichkeit eine, „in der die subtilsten Regungen unserer Kultur ihre Stätte hatten". Darauf folgt eine ähnlich gehaltene, eingehende Darstellung der Entwicklung der einzelnen Lehren. „Ansätze zu einer über Nietzsche hinausgehenden modernen Philosophie" findet er bei J . und H . H a r t , Max Messer und Matthieu Schwann. 26 a 27
D a s s . 2. A u f l . 1 9 0 4 . W a s N i e t z s c h e b e t r i f f t , u n v e r ä n d e r t . a n o n y m , ( G r 6 0 . J g . , 1. V i e r t e l j a h r , H . 8 v. F e b r . 1 9 0 1 , S . 3 7 2 f.).
Eine Besprechung des Werkes von Kalthoff (Friedrich Nietzsche und die Kulturprobleme unserer Zeit), dessen Beanstandungen gutgeheißen, dessen Anerkennung jedoch gänzlich abgelehnt wird. Lediglich „zwei Probleme" könne man „als spezifisch nietzschisch bezeichnen": die Wiederkunft des Gleichen und die Züchtung von Ubermenschen, „die aber beide so verrückt sind, daß sie kein vernünftiger Mensch im vollen Ernst als Probleme aufstellt". 28
M a n n h e i m e r , P r o f . Adolf ( F r a n k f u r t / M . ) , N i e t z s c h e und die an-
tike S o p h i s t i k . ( D F W B d . 1, 1. J g . , N r . 3, 1 9 0 1 , S . 5 7 - 6 4 ) . Verfasser meint, „die antike Kultur ist ein ästhetischer Individualismus der sozial und geistig Bevorzugten", der vornehmlich durch die Sophistik gepredigt und verbreitet worden sei. S o ist es ihm ein leichtes, in der Antike die Gedanken der „ewigen Wiederkehr", der „Wertumwandlung" und des „Jenseits von Gut und B ö s e " aufzudecken und hauptsächlich den Sophisten zur Last legen. 29
a n o n y m , ( I Z g N r . 3 0 0 7 v. 14. 2. 1 9 0 1 , S . 2 1 8 ) .
Begrüßt das Werk des bewährten Kulturhistorikers H e n n e am Rhyn (Anti-Zarathustra) über die „außerordentliche Culturabnormität" Nietzsche, dessen Lehren „vermessener und unverhohlener, als dies jemals geschehen ist, jene ganze Reihe von Grundsätzen hinwegtilgen möchten, die bisher als heilsamste Schranke gegen Barbarei und Verwilderung, als geheiligstes Erbgut und unantastbare Errungenschaft des menschheitlichen Civilisationsprocesses gegolten haben".
14 15
L W 2. J g . , H . 5 v. Febr. 1901, S. 257. Wiegler, Paul ( F r a n k f u r t / M a i n 15. 9. 1878 — Berlin 22. 8. 1949), Literaturwissenschaftler.
1901 „eine Kultur auf atheistischer Grundlage"
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30 Lang, Prof. Dr. Albert, Nietzsche und die deutsche Kultur. (AMBII 13. Jg., Nr. 5 v. 25. 2. 1901, S. 95 — 102). Nietzsches Philosophie sei „der Ausdruck einer gewaltigen, immer stärker anwachsenden Zeitströmung, f ü r die er eine glänzende und verführerische Sprache geschaffen hat". Verfasser beschränkt sich zunächst auf Nietzsches „erste Periode (1868—1878)" und versucht, seine damalige Stellung zur „modernen und speciell z u r deutschen Kultur" herauszuarbeiten. Er findet „Nietzsches künstlerische Kultur . . . eine Kultur ohne Gott, eine Kultur auf atheistischer Grundlage".
30 a ändert.
Dass. J. P. Bachem. Köln (1901). 29 S. Sonderabdruck. Unver-
30 b Auch in: A. L., Nietzsche und die deutsche Kultur. 2., verm. Aufl. J. P. Bachem. Köln 1903, S. 3 — 30. Mit wenigen geringfügigen Zusätzen und sonstigen Änderungen.
31 Horneffer, Dr. Ernst, Zu Nietzsches Gedächtnis. Franz Wunder. Gött. 1901. Enthält zwei Reden des Verfassers: Rede, gehalten am Sarge Nietzsche, und: N a c h Nietzsches T o d . Vortrag.
31 a Beide auch in: E. H., Nietzsche-Vorträge. 12.—14. Tsd. Erweiterte Ausg. Lpz. 1908. Werner Klinkhardt, S. 133—187, letztere mit der Überschrift: Nietzsche und die Gegenwart. In dieser ist Nietzsche dem Verfasser nicht nur Denker und Künstler, sondern auch „ein Heiliger", der „eine neue Sittlichkeit aufbaut". 32 Deussen, Dr. Paul (Prof. a. d. Univ. Kiel), Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. F. A. Brockhaus. Lpz. 1901. 1 Taf., VII S., 1 Bl., I l l S., 3 Faks. ( = Briefe Nietzsches an den Verfasser). Enthält insgesamt 26 Briefe Nietzsches an den Verfasser, 24 davon im Erstdruck, die dann in die 3. Auflage des 1. Bandes der „Gesammelte Briefe" aufgenommen wurden. Der Darstellung wird auch Bemerkenswertes aus Gespräch und persönlichem Eindruck beigeflochten. Ab S. 91 u wurde, bis auf den 26. Brief, der Inhalt in der W R s (s. Bd. I) vorabgedruckt. Vorabdruck einer anderen Stelle, S. 18 u—26 u, mit einigen Auslassungen, erfolgt unter der Überschrift „Nietzsche als Student" in der 1. Beilage zum LTB1 Nr. 41 v. 23. 1. 1901, Morgenausgabe.
32 a Paul Deussen, Mein Leben. Hg. v. Dr. Erika Rosenthal-Deussen. F. A. Brockhaus. Lpz. 1922. 3 Bll., 1 Taf., 360 S. Die Nietzsche betreffenden Stellen auf S. 69—74, 81 — 86, 89, 106 f., 129, 133, 234 f., 263 schon im wesentlichen in N r . 32, S. 3—9, 15 f., 18 — 23, 24, 27, 61 f., 80 ff., 85, 87, 91 f., 93, 96 f.
33 Heckel, Carl (Mannheim), Friedrich der Unzeitgemäße. (WRs Nr. 4 v. 15. 2. 1901, S. 8 6 - 8 9 ) .
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1901 D e r „ W i n k e l m a n n des 19. J a h r h u n d e r t s "
Im wesentlichen eine Besprechung des ersten Briefbandes (s. Bd. I), bei der nahegelegt wird, „daß die H e r a u s g a b e unter dem V e r l a n g e n nach einer möglichst frühzeitigen V e r ö f f e n t l i c h u n g gelitten hat". 1 6
34 Seidl, Arthur, Moderner Geist in der deutschen Tonkunst. Vier Vorträge. „Harmonie" Vlgs.-ges. f. Lit. u. Kunst. Bln. (1901). Im ersten A u f s a t z : W a s ist m o d e r n ? , heißt V e r f a s s e r N i e t z s c h e einen von denen, die g e w u ß t haben, d a ß es sich ja damals um „ J a h r h u n d e r t - A n f a n g , nicht mehr J a h r h u n d e r t - E n d e " handle, und vergleicht dessen „persönliche Schaffensweise" mit dem sonstigen Kunstwollen der Zeit: sie verhalte sich „zur philosophischen Gelehrsamkeit der S t u b e n h o c k e r g a n z m o d e r n etwa . . . wie das ,plein-air' zur Atelier-Kunst im Reiche der Farbe". — „ U n d wie, wenn sein auf solchen Spaziergängen unmittelbar erlebter und wie eine A n von M o m e n t p h o t o g r a p h i e ins N o tizbuch alsbald h i n g e w o r f e n e r A p h o r i s m u s ' z u r D o g m a t i k e r - A r b e i t d e r systematisch z u s a m m e n t r a g e n d e n P h i l o s o p h i e - K ä r r n e r — abermals g a n z m o d e r n — so etwa wie die ,Impression' zum w o h l k o m p o n i e r t e n Staffeleibild d e r akademischen Figuren-Malerei sich stellte?" — „ G e r a d e wie z. B. R o d i n ' s f r a g m e n t a r i s c h e r Styl in der Plastik bedeutet Nietzsche's .Aphorismus' hier R e v i s i o n v o n G r u n d a u s . " Als einen der „Lichtträger" einer „ f e r n e r e n Z u k u n f t " , der „gleich einem Fokus alle Strahlen des m o d e r n e n Lebenslichtes in sich a u f g e f a n g e n zu haben scheint", stellt er Nietzsche hin, als „ W i n k e l m a n n des 19. J a h r h u n d e r t s " , seine Einsichten als V o r w e g n a h m e d e r Leistungen eines R ö n t g e n und G r a f e n Z e p p e l i n : „ K u r z , es d ü n k t fast ebenso unglaublich, als es f ü r alle Zeiten d e n k w ü r d i g bleiben wird, wie dieser N a m e an der W e n d e des J a h r h u n d e r t s , ein gründlicher K e n n e r d e r Rätsel des 19. und ein ernster Seher d e r A u f g a b e n des 20. J a h r h u n d e r t s , f ü h r e n d e r und gebietender Geist in E i n e m , unser heutiges Leben auf der g a n z e n Linie beherrscht." (S. 24—43) — D e r dritte A u f s a t z heißt „Also sang Z a r a t h u s t r a " u n d handelt eingehend von Richard S t r a u ß und dessen Verhältnis zu N i e t z s c h e , bes. und d u r c h a u s zustimmend im Hinblick auf seine V e r t o n u n g zu „ Z a r a t h u s t r a " . D a s Nietzschesche W e r k ist Seidl „an sich mit das Allermusikalischste, was sich auf philosophischem Gebiete als t o η künstlerischer V o r w u r f ü b e r h a u p t n u r finden läßt", „das h o h e C e n traiwerk aus Nietzsche's g e s a m t e m Geistesschaffen" und ein „ M a r k s t e i n unserer Geisteskultur fin de siècle". (S. 89—117) — Im vierten A u f s a t z : M o d e r n e musikalische Lyrik, f ü h r t er die damaligen V e r t o n u n g e n N i e t z s c h e s c h e r D i c h t u n g e n an: „ . . . eine Reihe seiner J u g e n d d i c h t u n g e n (,Mailied', , H e i m w e h ' , , D u hast g e r u f e n , H e r r —' und , D e m u n b e k a n n t e n G o t t e ' ) von dem jugendlichen W e i m a r e r T o n künstler E m g e ; , D e r W a n d e r e r ' von eben demselben E m g e , W . J o r d a n und H a n s P o g g e ; , D e r H e r b s t ' von E u g e n Lindner; ,Die f r o m m e Beppa' u n d , S t e r n e n - H y m nus' von J o r d a n ; ,Liebeserklärung' und ,Dichters B e r u f u n g ' von Fr. K o e g e l ; ,An den Mistral' von P o g g e ; ,Pia caritatevole amorosissima!' v o n J o r d a n und Jos. Schmid; , N a c h neuen M e e r e n ' von J o r d a n , Koegel und G. K r u g ; ,Mein G l ü c k ' von G. K r u g und Fr. Koegel; ,Vereinsamt' von Fr. Koegel, G . K r u g u n d Ernst Baeker; 16
O b w o h l „Weiteres" folgen sollte, läßt sich laut A n g a b e d e r Ö s t e r r e i c h i s c h e n N a t i o n a l b i bliothek keine F o r t s e t z u n g in d e n f o l g e n d e n N u m m e r n 5 — 1 8 f i n d e n . M i t der N r . 18 v o m 30. 9. 1901 stellte die Zeitschrift ihr Erscheinen ein.
1901 Julius Rodenberg
15
,Venedig' von Koegel, Krug und Pogge; ,Die Sonne sinkt' von Conrad Ansorge, Jordan, Lindner und Pogge; ,Ruhm und Ewigkeit' (4.) von Hans Pogge; endlich drei Strophen aus dem ,Nachtliede' Zarathustra's von Arn. Mendelssohn." (S. 139 f.) 35
a n o n y m , N i t z s c h e u n d das J u d e n t h u m . ( P M B J 21. Jg., N r . 3 v.
1. 3. 1 9 0 1 , S. 4 9 — 5 2 ) . Obwohl der N a m e durchweg falsch geschrieben wird, bietet der anonyme Verfasser eine durchaus anerkennende knappe Darstellung; wenn auch einiges zurückgewiesen wird, bezeichnet er Nietzsche in dem gewählten Zusammenhang als „den großen Ethnologen". 36
a n o n y m , M i t Friedrich N i e t z s c h e . ( K V Z g 42. Jg., Literar. Beil.
N r . 10 v. 6. 3. 1 9 0 1 , S. 6 7 f.). Eine Sammelbesprechung der Werke von Deussen (Nr. 32; der gleich Nietzsche „der Abkömmling eines protestantischen Pfarrhauses" gewesen und dessen „Endurteil über ihn nicht in unserem Sinne geschrieben" sei), Friedrich (Nr. 52; das „von christlichem Geiste durchweht" sei und in dem man gern „über ein paar protestantisch gefärbte Stellen" hinwegsehe) und Fischer (Nr. 42; das „die lange gewünschte eingehendere katholische Äußerung über die Philosophie des Übermenschenthums" darstelle und eine „warme Empfehlung" verdiene).
Eine recht unzweideutige Ablehnung Nietzsches, obwohl offenbar aufgrund nur mittelbarer Kenntnis der Werke, drückt sich in folgender Tagebucheintragung vom 6. März 1901 des Herausgebers der „Deutschen Rundschau" Julius Rodenberg aus: „Vorträge über Nietzsche von H o r n e f f e r gelesen, der der Apostel dieses Propheten ist, oder der, wie er sich nennt, .Herausgeber im NietzscheArchiv zu Weimar'. Die Schrift war mir insofern interessant, als man daraus einen Einblick in die Lehre Nietzsches, so wie er sie verstanden haben will, gewinnt, denn seine ,Gesammelten Werke' — zwölf Bände — zu lesen, dazu fehlt mir doch die Neigung, ganz abgesehen davon, daß ich daraus die Klarheit nicht gewinnen würde, die dieser Extrakt mir gewährt. Soviel ich sehe, kommt seine ,Herrenmoral' schließlich auf die ,Heldenverehrung' hinaus, und auch in der dithyrambischen Ausdrucksweise scheint Nietzsche von Carlyle gelernt zu haben — aber wieviel schwülstiger noch sein Stil, wie brutal seine Lebens-, wie einseitig seine Gefühlsauffassung. Schon aus Deussens (seines ältesten Freundes) ,Erinnerungen' haben wir diesen Mann kennen gelernt, als von unerträglichem Hochmut besessen; derselbe Hochmut, der zum Größenwahn ausarten und im Wahnsinn enden mußte, spricht aus den Zügen, die uns in diesem Kommentar von seinen Werken gegeben wurden." 17 17
J. R., Aus seinen Tagebüchern. E. Fleischel. Bln. 1919, S. 175; Rodenberg, Julius (eigentl.: Levi, Rodenberg/Hessen 26.6. 1831 — Berlin 11.7. 1914), Begründer und Herausgeber der „Deutschen Rundschau" 1874—1914.
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1901 Ein „Geheimer Kammerherr Sr. Heiligkeit des Papstes"
37 Lichtenberger, Henri ( N a n c y ) , ( D L Z g N r . 10 v. 9. 3. 1901, Sp. 592 ff.). Eine verhältnismäßig sachliche Besprechung des Nietzsche-Buches von Zeitler (s. Bd. I), das etwas an Dogmatismus und Uberschätzung der „zweiten Periode" leide. 38 anonym, D e r Übermensch. ( B f U Nr. 61 v. 14. 3. 1901). Bringt lediglich eine knappe Zusammenfassung der diesbezüglichen Veröffentlichungen in der ZfdW. 39 p., D e r Übermensch. ( B f U Nr. 64 v. 17. 3. 1901). Berichtet von dem Vorkommen des Wortes schon in einem Schreiben vom Jahre 1527. 40 Winterer, Konrad (Freiburg i. Br.), Friedrich Nietzsche und die Bestrebungen der „Blätter für deutsche Erziehung". ( B D E 1901, S. 134 ff.). Findet die Bestrebungen der Zeitschrift, was die Schwächen und Fehler „unserer gesamten Schulen" betrifft, im vollen Einklang mit denen Nietzsches, wozu er Stellen aus der „Morgenröte" und „Götzendämmerung" anführt. 41 anonym, Nietzsche über Cölibat und Ohrenbeichte. (KPG Nr. 3 v. 24. 3. 1901, S. 43). Die Meinung vertretend, daß „einzelne Aussprüche des hochbegabten, aber leider entgleisten Pastorensohnes für uns von Interesse" seien, bringt das Blatt die betreffende Stelle aus dem Abschnitt der „Fröhlichen Wissenschaft" vom „Bauernaufstand des Geistes". In einer Anmerkung wird dann auf E. L. Fischers Schrift (Nr. 41), die „zur Orientierung über Nietzsche und seine Weltanschuung . . . gute Dienste" leiste, verwiesen. C Friedrich N i e t z s c h e : Gedanken. (J Nr. 15 v. 27. 3. 1901, S. 230). So überschreibt die Schriftleitung der Zeitschrift sieben Auszüge aus den Briefen Nietzsches an Paul Deussen, dessen Werk „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche" entnommen (Nr. 32). 42 Fischer, Msgr. Dr. Engelbert Lorenz (Geheimer Kammerherr Sr. Heiligkeit d. Papstes, Stadtpfarrer in Würzburg), Friedrich Nietzsche. D e r „Antichrist" in der neuesten Philosophie. Eine Ergänzung zu meinem Werk: „Der Triumph der christlichen Philosophie". Vlgs.-Anst. vorm. G. J. Manz. Regensburg 1901. VII, 257 S. Einleitend meint der Verfasser, „noch nie, solang die Welt steht, wurde das Christentum in so leidenschaftlicher, so gehässiger, so excessiver Weise angegriffen als am Ausgange des 19. Jahrhunderts von Nietzsche". Der erste Teil der Schrift (S. 1 — 87) verfolgt dann Nietzsches Werdegang, wobei aus den Veröffentlichungen der Schwester mitunter seitenweise abgeschrieben wurde. Auch sonst zeigt sich der Verfasser mit einem umfassenden Nietzsche-Schrifttum vertraut. Im zweiten Teil weist er die einzelnen „Widersprüche" in der Philosophie Nietzsches auf, um zu schließen: „Nietzsche war wohl ein sehr geistreicher, aber kein klarer, kein besonnener, kein ruhiger Denker, denn sonst hätte er sich unmöglich so oft selbst wider-
1901 „der Philosoph der Kultur"
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spirochen . . . W i e fernes Wetterleuchten schimmern noch seine W e r k e , aber ihre G e w a l t ist durch die Kritik gebrochen . . 42a
Dass. 2., verbess. Aufl. 1906. VII,
1 9 6 S . , 2 Bll. ( = V l g s . - a n z . ) .
Im wesentlichen unverändert; das neuere Schrifttum findet einige Beachtung, so Möbius (Nr. 187) auf S. 32, D r e w s (Nr. 324) auf S. 64 u. 107 und N a u m a n n (s. Bel. I) auf S. 106. Auf S. 33 ist die Anm. 1 neu, der Text auf S. 55 ist um zwei Sätze erweitert, und S. 1 9 3 u — 1 9 4 u ist neu. Kürzungen wurden auf S. 160, 225 u. 249 vorgenommen. 43
Prock,
E u g e n Α., Nietzsches
Stellung zur Mitleids-Moral.
Ein
B e i t r a g z u m T h e m a „ S c h o p e n h a u e r u n d N i e t z s c h e " . D i s s . d. U n i v . W i e n 19-01. 1 7 0 S. Verfasser ist der Ansicht, daß „die Spuren der ersten jugendfrischen Einwirk u n g " S c h o p e n h a u e r s auf N i e t z s c h e sich „noch in seinen spätesten Schriften entd e c k e n " lassen s o w i e daß „Nietzsches Bedeutung als originaler Philosoph hauptsächlich" auf ethischem Gebiete zu suchen sei. D a h e r stellt sich ihm das Problem v o n N i e t z s c h e s Stellung z u m Mitleid v o n selbst. Etwas im Widerspruch hierzu steht d a n n die Behauptung: „ N i e t z s c h e ist der Philosoph der Kultur . . . D i e s e A u f g a b e wird von d e m W a n d e l seiner Anschauungen nicht berührt; sie verbindet die Perio-
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Über die Entstehung des Buches schrieb er: „Da aber Nietzsche der Gipfelpunkt der neueren und neuesten antichristlichen Strömung ist, so machte ich mich nun daran, auch seine Welt- und Lebensauffassung näher in Betracht zu ziehen und sie auf ihre Berechtigung zu prüfen, zumal da er mit seinen Werken ein so großes Aufsehen gemacht und immer noch im Kreise der modernen Gebildeten das lebhafteste Interesse erweckt. Dazu kommt, daß auf katholischer Seite eine größere bedeutende Schrift noch nicht erschienen war . . . Ich suchte . . . vor allem den etwaigen inneren systematischen Zusammenhang seines philosophischen Denkens zu eruieren . . . Ich habe gezeigt, daß sich in Nietzsches Gedankenleben drei Entwicklungsphasen unterscheiden lassen und habe ihn demgemäß dargestellt 1. als Kunstphilosoph, 2. als Freigeist und 3. als Übermensch-Prophet, und durch das Ganze geht als Grundzug ,der Antichrist', wie er sich selbst mit Emphase bezeichnet hat. Aber nicht nur dargestellt habe ich ihn auf Grund seiner zahlreichen Werke nach dieser vierfachen Beziehung, sondern auch e i n g e h e n d p h i l o s o p h i s c h - k r i t i s c h g e w ü r d i g t , wie es bisher noch von keiner Seite geschehen w a r . . . " Es folgen Auszüge aus sechs Besprechungen des Werkes. (Erinnerungen und Grundsätze aus meinem Leben. Vlgsanst. vorm. G. J. Manz. Regensburg 1904, S. 3 3 6 - 3 4 4 ) . S. a. S. 20, 21, 39 f., 318 (über einen Besuch bei der Schwester in Weimar 1902). In einem kurze Zeit später erschienenen Werk „Überphilosophie" — „Wer denkt da nicht unwillkürlich an Nietzsches Übermenschen?!" —, in dem Verfasser aber bemüht ist, „an die Stelle der Décadence-Philosophie eine Ascensions-Philosophie" zu setzen, wird auch Nietzsches mehrmals gedacht. Obwohl die Ablehnung eine ausdrückliche geblieben ist, wird er dennoch etwas milder beurteilt, so ζ. B.: „Zwar ist sein Kampf gegen den Niedergang der modernen Kultur-Menschheit und seine a l l g e m e i n e Idee vom Übermenschentum, d. h. von einer Erhebung des Menschen auf eine höhere Bildungsstufe, berechtigt; aber wenn wir seine s p e z i e l l e Ansicht vom Übermenschen ins Auge fassen, so erscheint uns derselbe viel eher als Unter-, denn als Übermensch, eher wie ein Moloch als wie ein Gott." (Ein Versuch, die bisherigen Hauptgegensätze der Philosophie in einer höheren Einheit zu vermitteln. Gebr. Paetel. Bln. 1907, S. 267 f.); Fischer, Engelben Lorenz (Aschaffenburg 12.10.1845 — Würzburg 17. 1. 1923), Stadtpfarrer und Päpstlicher Hauptprälat in Würzburg.
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1901 „der Lehrer der Entwicklungsmoral"
d e n seines D e n k e n s u n d s t e h t im M i t t e l p u n k t e seiner P h i l o s o p h i e . . . A u c h das P r o blem d e r M o r a l o r d n e t sich bei ihm d e m K u l t u r p r o b l e m u n t e r . .
E r s t mit seinem
Z w e i f e l a n d e m W e r t e des Mitleids h a b e a u c h sein „ G l a u b e an die M o r a l zu w a n k e n " b e g o n n e n , also „im G e g e n s a t z e zu S c h o p e n h a u e r u n d eben d a h e r in A b h ä n gigkeit v o n i h m " . „ V o n t i e f e r B e d e u t u n g " sei d a n n a u c h Rées „ D e r U r s p r u n g d e r m o r a l i s c h e n E m p f i n d u n g e n " g e w o r d e n . V e r f a s s e r v e r f o l g t d a n n in g r o b e n Z ü g e n die E n t w i c k l u n g v o n N i e t z s c h e s e t h i s c h e m D e n k e n bis auf dessen „ l e t z t e P h i l o s o p h i e " : „ D i e s e C o r r e c t u r v o m Pessimistischen ins O p t i m i s t i s c h e ist d e r eigentliche U n t e r s c h i e d z w i s c h e n N i e t z s c h e s a n f ä n g l i c h e m u n d s p ä t e r e m D e n k e n . . ." V e r f a s ser g e h t d a n n erst p e r i o d e n w e i s e d e n S p u r e n v o n „ N i e t z s c h e s Stellung z u m Mitl e i d s p r o b l e m " n a c h . In d e r e r s t e n P e r i o d e f i n d e t er ihn n o c h „im G r o ß e n u n d G a n zen im B a n n e d e r S c h o p e n h a u e r s c h e n G e d a n k e n w e l t " , o b w o h l „ a u c h hier u n d d a . . . d e r A b f a l l " sich a n k ü n d i g e . D i e z w e i t e P e r i o d e , einschließlich d e r „ f r ö h l i c h e n W i s s e n s c h a f t " , b e d e u t e erst die A u f d e c k u n g des Mitleids als „im h ö c h s t e n G r a d e schädlich u n d d a r u m v e r w e r f l i c h " . E r m ö g l i c h t sei diese T a t d u r c h die gleichzeitige V e r w e r f u n g v o n M e t a p h y s i k u n d Pessimismus. In d e r d r i t t e n P e r i o d e sei er „beim d e n k b a r s c h ä r f s t e n e t h i s c h e n G e g e n s a t z " a n g e l a n g t : „ I m m e r a b e r bleibt sein P h i l o s o p h i e r e n in B e z i e h u n g
z u S c h o p e n h a u e r s . " D e m Mitleid setze N i e t z s c h e die
H ä r t e , d e r V e r n e i n u n g des Willens die B e j a h u n g des W i l l e n s z u m L e b e n , d e r Befreiung vom Wiederkunftszwange Sansara entgegen.
44 Schwarz, Hermann (Privatdozent a. d. Univ. Halle), Das sittliche Leben. Eine Ethik auf psychologischer Grundlage. Mit einem Anhang: Nietzsche's Zarathustra-Lehre. Reuther & Reichard. Bln. 1901. XI, 417 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Der Anhang: Zum Verständnis von Nietzsche's Zarathustra-Lehre, auf S. 383—403. V e r f o l g t „drei G e d a n k e n f ä d e n " N i e t z s c h e s im „ Z a r a t h u s t r a " : „Aus d e r H a n d d e r G e s c h i c h t s w i s s e n s c h a f t " — „die G e s c h i c h t e klassischer u n d m o d e r n e r V ö l k e r liefert hier die F ä d e n " — „ r i n n t d e r eine, aus d e r H a n d d e r N a t u r w i s s e n s c h a f t " — D a r w i n — d e r a n d e r e , aus d e r H a n d d e r P h i l o s o p h i e — „ E n t e l e c h i e - G e d a n k e n des Aristoteles" — d e r dritte. A b e r N i e t z s c h e ä n d e r e z u m S c h l u ß d a s P r o b l e m , i n d e m er die „ L e h r e v o n d e r N o t w e n d i g k e i t d e r Z u f ä l l e f ü r d a s L e b e n " e i n f ü h r e , u n d k o m m e so z u r „ L e h r e v o n d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t aller D i n g e " . D i e s e k ö n n e m a n d a n n als E n t w i c k l u n g s m o r a l o d e r H e r r e n m o r a l d e u t e n , u n d dieser z w e i t e n D e u t u n g , die sich „mit e t h i s c h e r G e s i n n u n g " w i d e r s p r e c h e , sei er selber „in seinen spät e r e n S c h r i f t e n " e r l e g e n : „Es ist z u b e d a u e r n , d a ß N i e t z s c h e d e m lesenden u n d nicht lesenden P u b l i k u m v o r allem als P r e d i g e r dieser , H e r r e n m o r a l ' b e k a n n t ist. Ein a n d r e r N i e t z s c h e , d e r V e r f a s s e r des . Z a r a t h u s t r a , ' d e r L e h r e r d e r E n t w i c k l u n g s m o r a l , w i r d in d e r G e s c h i c h t e d e r P h i l o s o p h i e l e b e n . " E r w ä h n u n g e n N i e t z sches im H a u p t t e i l des W e r k e s sind im N a m e n v e r z e i c h n i s a n g e g e b e n . "
" S. a. die Erwähnungen Nietzsches in Verfassers: Psychologie des Willens. Zur Grundlegung der Ethik. W. Engelmann. Lpz. 1900, S. 24, 26, 198, 209 ff., 233; Schwarz, Hermann (Düren 22. 12. 1864 — Darmstadt 20. 12. 1951), Philosoph, Herausgeber der ZPhK, 1908 Professor in Marburg, 1910—1933 in Greifswald.
1901 „nicht fern . . . vom Reiche Gottes" 45 und
Klepl, G e o r g Reinhold, D i e „ M o n o l o g e n "
19 Fr.
Schleiermachers
Fr. N i e t z s c h e s „Jenseits v o n G u t u n d Böse". E i n e S t u d i e z u r
s c h i c h t e d e r i n d i v i d u a l i s t i s c h e n Ethik. A d o l p h A d a m . N i e d e r l ö ß n i t z
Ge1901.
9 4 S., 1 Bl. ( = V i t a ) . ( = Diss. d. U n i v . L e i p z i g ) . Bei zwei e i n g e s t a n d e n e r m a ß e n so verschiedenen D e n k e r n wie Schleichmacher u n d Nietzsche findet Verfasser d e n n o c h „bei beiden M ä n n e r n eine tiefgehende, bedeutungsvolle V e r w a n d t s c h a f t : in ihrem Individualismus, in der u n g e h e u e r e n Bed e u t u n g , die sie der organischen Entwicklung der Persönlichkeit beilegen". Auch m e i n t er, daß „der Individualismus . . . in dem bezeichneten Sinne . . . eine der tiefsten S t r ö m u n g e n des 19. J a h r h u n d e r t s " sei. V e r f a s s e r ist beiden D e n k e r n sehr gew o g e n : „ D e r , d e r sich w e d e r vom Hyperidealismus Schleiermachers, noch von dem M a c h t e n t h u s i a s m u s Nietzsches g e f a n g e n n e h m e n läßt, und der ü b e r h a u p t den D r a n g zu eigenem Leben in sich trägt, wird beide mit tiefer D a n k b a r k e i t als F ü h r e r z u r Selbstbefreiung r ü h m e n . " E r w ä h n e n s w e r t ist seine Ansicht, d a ß „besonders zwischen Friedrich Schlegel und Nietzsche die interessantesten Parallelen" sich aufstellen ließen. 46
W e i c h e l t , H a n s , N i e t z s c h e s M i s s i o n . In: D e r m o d e r n e
Mensch
u n d das C h r i s t e n t u m . S k i z z e n u n d V o r a r b e i t e n II. J. C . B. M o h r . T ü b . u. L p z . 1 9 0 1 , S. 1 — 2 3 . ( = H e f t e z u r „ C h r i s t l i c h e n W e l t " N r . 4 9 ) . „Am Christentum Jesu" pralle die Kritik Nietzsches, dieses „reichen und vorn e h m e n Geistes", ab, doch treffe sie „seine gegenwärtige Ausgestaltung". V e r f a s s e r g e b r a u c h t Nietzsche d a n n weitgehend als Geißel gegen die „satten christlichen P h a risäer und Philister": „ M a g auch selbst von christlichen Kanzeln und K a t h e d e r n aus m a n c h e s schlimme W o r t über ihn gesagt w e r d e n , ob nicht t r o t z seiner Feindschaft g e g e n das C h r i s t e n t u m ihn ein A n d e r e r zu d e n e n rechnen w ü r d e , die nicht fern sind vom Reiche Gottes?" 47
Stern, A d o l f , D i e D e u t s c h e Nationallitteratur v o m T o d e G o e t h e s
bis z u r G e g e n w a r t . 4., n e u b e a r b . u. v e r m . A u f l . N . G . E l w e r t .
Marburg
1901." Im letzten Abschnitt: Das E n d e des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s , heißt es über N i e t z s c h e : „Für die g a n z e G r u p p e d e r V e r t r e t e r symbolistischer Poesie ist es besonders b e z e i c h n e n d , daß gerade die talentvollsten nicht völlig zu ihr g e h ö r t e n , überall noch mit d e r W a h r h e i t der N a t u r z u s a m m e n h i n g e n . S o Friedrich N i e t z s c h e aus P f a r r h a u s R ö c k e n , der als lyrischer D i c h t e r in der G e t r a g e n h e i t und Feierlichkeit uralter H y m n e n t ö n e die Sehnsucht und den T r o t z seiner ringenden Seele ausatmete, dessen poetisch durchhauchtes, prophetisch-visonäres H a u p t w e r k in Prosa ,Also sprach Z a r a t h u s t r a ' der n ä h r e n d e H a u p t q u e l l f ü r die symbolistische Lyrik w u r d e . " (S. 192 f.) Auf S. 223 stehen d a n n noch einige Lebensdaten. In der 3. A u f lage (1894) fehlte Nietzsche noch.
20
Stern, Adolf (Leipzig 14. 6. 1835 — D r e s d e n 15. 4. 1907), seit 1868 o r d . P r o f e s s o r f ü r Lit e r a t u r - und Kulturgeschichte am P o l y t e c h n i k u m in D r e s d e n , auch V e r f a s s e r z a h l r e i c h e r R o m a n e und B ü h n e n w e r k e .
20
1901 Norbert Jacques 47a
D a s s . 5., n e u b e a r b . u. v e r m . A u f l . 1 9 0 5 , S . 1 8 8 u. 2 1 9 .
W a s N i e t z s c h e betrifft, unverändert. 47b
D a s s . 6 . , ( v o n H e i n r i c h L ö b n e r ) n e u b e a r b . u. v e r m . A u f l . 1 9 0 8 ,
S . 2 0 9 u. 2 4 4 . W a s N i e t z s c h e betrifft, unverändert. 48
Reuschert,
W.
(Oberlehrer
z. D .
in S t r a ß b u r g
i. E . ) ,
W i l h e l m N i e t z s c h e . ( P ä S 22. J g . , H . 4 ff., 1 9 0 0 / 0 1 , S. 2 7 8 - 2 8 7 ,
Friedrich 338-350,
391-405). Ein gutes Beispiel d a f ü r , wie flüchtig und irrig, d e n n o c h aber lang und breit man sich noch zu dieser Zeit über N i e t z s c h e auslassen konnte. D i e Arbeit, obwohl sich ihre V e r ö f f e n t l i c h u n g über M o n a t e erstreckte, strotzt vor Fehlern: „ Z a r a d u stra" ( d u r c h w e g ) , „helenisch K u l t u r " , „Fräulein von M e i s e n b u r g " , „ K a r l e i " (womit Carlyle vermutlich gemeint ist), „Fräulein K o s i m a W a g n e r " , „ L e o B e r g e r " , „Willbrandt" u . v . a . Außer dem „ Z a r a d u s t r a " kennt V e r f a s s e r noch f o l g e n d e W e r k e : „Menschliches, nur Allzumenschliches", „ V o n der M o r g e n r ö t e " , „ V o n der fröhlichen Wissenschaft". Er scheint dem eigenen R a t , den er z u m Schluß gibt, g e f o l g t zu sein: „ D a s Beste ist, durch die Kritik N . kennen zu lernen, um eben den subjektiven Menschen zu e r g r ü n d e n . " (S. 404) „ J e n s e i t s " erwähnt er nur einmal: „Im 5. Buch der .Fröhlichen W i s s e n s c h a f t ' treten uns bereits A n n o r m a l i t ä t e n entgegen (erschienen 1881), desgleichen im Buch von ,Gut und Böse' ( 1 8 8 5 ) . , Z a r a d u s t r a ' steht auf der Schwelle zwischen N o r m a l i t ä t und Annormalität des G e i s t e s . " (S. 283) D i e inhaltliche V e r w o r r e n h e i t verraten f o l g e n d e S ä t z e : „ D e r S o z i a l i s m u s unserer T a g e sucht alles zu nivellieren, alle H e r r e n unterzukriegen. Z w i s c h e n diesem und N ' s . Philosophie finden wir verwandtschaftliche Faktoren. Bei beiden ist der Individualismus a u s g e p r ä g t ; beide k ä m p f e n um ein Kulturideal; beide f ü h r e n den K a m p f um den Einzelnen." (S. 280) M a n lese d a z u die Schlußworte: „. . . von B e d e u t u n g bleibt . . . , daß N i e t z s c h e zu E n d e des 19. Jahrhunderts die F a h n e des Individualismus wieder erhoben und hochgehalten hat im K a m p f e g e g e n den alles nivellierenden S o zialismus, w o f ü r ihm die einen im neuen J a h r h u n d e r t fluchen, die andern ihn segnen werden." A u s s e i n e m e r s t e n S e m e s t e r in B o n n im F r ü h l i n g 1 9 0 1 e r z ä h l t N o r b e r t J a c q u e s von einer eigenartigen
Begegnung:
„ E i n M a n n n a m e n s F r i t z B i n d e hielt e i n e n V o r t r a g , V o n N i e t z s c h e z u Jesus' . . . E r sprach inbrünstig seine Glaubensartikel. E r hatte v o n
Nietz-
s c h e s s e l b s t h e r r l i c h e m G e b o t f o r t g e f u n d e n u n d s e i n e n A n k e r im H a f e n eines v o n ihm r e f o r m i e r t e n J e s u s g e w o r f e n . . . Ich w a r nicht e n t t ä u s c h t , d e n n der Inhalt seines V o r t r a g s w a r mich ja eigentlich nichts a n g e g a n g e n , ich w a r s e h r s t a r k e r s t a u n t , u n d ich r i e f i h m z u , a u s Z a r a t h u s t r a s
doch
Nacht-
lied: , W a s spricht die finstere M i t t e r n a c h t — o F r i t z ? ! ' . . . Ich k o n n t e rasch b e m e r k e n , d a ß ich bei i h m in e i n e Ü b e r g a n g s z e i t stieß. J a , v i e l l e i c h t w a r es d e r l e t z t e T a g , a n d e m er n o c h z w i s c h e n N i e t z s c h e u n d J e s u s
endgültig
s c h w a n k t e , und die K a r n e v a l s n a c h t hatte w o h l als d e r letzte Blick z u r ü c k
1901 Hermann Diels
21
zui gelten gehabt, bevor er sich auf den Weg machte, um den von ihm neu he rgestellten Ruhm eines von den Irrlehren der Kirche gereinigten Jesus zu verkünden und ihn den W e g einer neuen xten Wiederauferstehung zur Rettung der Menschheit beschreiten zu lassen."21 Im Fachschrifttum wird Nietzsche immer noch, wenn auch nur beiläufig erwähnt, so von H e r m a n n Diels: „Heraklit eröffnet also die Reihe der einsamen Menschen, welche ihre grübelnden weltverachtenden, selbstbewußten Gedanken in der dafür allein passenden Form des Aphorismus niedergelegt haben. ,Also sprach Herakleitos' begann aller Wahrscheinlichkeit nach dieses Buch. ,Also sprach Zarathustra' ist der jüngste Sproß dieser vielgepflegten Gattung, die mit dem Pessimismus eine innere Verwandtschaft zeigt. An diesem uns nahestehenden Beispiel sieht man zugleich, wie sich hier Bewußtes und Unbewußtes, Kunst und Manier, klingende Spielerei und blutiger Ernst, kluge Berechnung und heller Wahnsinn zu einem ebenso anziehenden wie abstoßenden Ganzen vereinigt. Vor allem aber sieht man hier die Zusammenhangslosigkeit der einzelnen Steine, welche das Mosaik bilden." 22 49 Thieme, P., „Also sprach Zarathustra". Vortrag, gehalten im Weißenfelser Lehrerverein am 13. Dez. 1900. (PrS 1901, H . 3, S. 218 — 235). Nietzsche ist dem Verfasser „durch und durch Ethiker, ein Hauptvertreter der Entwicklungsethik des Evolutionismus", und darüber hinaus „aktuell". Dabei ist ihm auch „,Also sprach Zarathustra' der Höhepunkt des Nietzscheschen G e i s t e s . . . alles Spätere ist unvollkommen, weil vom Verfall angekränkelt". Erst später sei Nietzsche zur „falschen Lehre von der Herren- und Sklavenmoral" gekommen.
50 Seydlitz, R(einhold) v(on), Nietzsche und die Musik. (Ges 17. Jg., Bd. 14, 1901, S. 94—103). Verfasser meint, „die Geschichte der Stellung Nietzsches zur Musik ist die Geschichte eines Irrtums", und möchte damit die Abkehr von Wagner weitgehend erklären. Nietzsche habe Wagners „Wahrhaftigkeit angezweifelt, weil er, als Gelehrter, der er durchaus sein wollte, und immer mehr wurde, sich nicht in die Seele des schaffenden Künstlers hineinversetzen konnte".
D Genueser Gedankengaenge, Buch-/plaene und Aphorismen (Ende Winter/1881), von Friedrich Nietzsche. (I 2. Jg., 3. Quartal, H. 7 v. April 1901, S. 3 - 1 6 ) . Bis auf drei Aphorismen (Nr. 11, 22, 51) Vorabdruck zum Bande XI der Werke, S. 162 f., 1 6 9 - 1 7 2 , 284 f., 302, 3 0 4 - 3 0 7 , 334, 358, 362, 3 7 8 - 3 9 1 , 410 ff. und XII, S. 6; mit einer einleitenden Anmerkung der Schwester. 21
22
N.J., Mit Lust gelebt. Roman meines Lebens. Hoffmann u. Campe. (Hamburg 1950), S. 29 f.; Jacques, Norbert (Luxemburg 6. 6. 1880 — Koblenz 15. 5. 1954), Schriftsteller. A. d. Einleitung zu: Herakleitos von Ephesos. Griechisch u. Dt. Weidmann. Bln. 1901, S. IX; Diels, Hermann (Biebrich 18. 5. 1848 - Berlin 4. 6. 1922), seit 1882 Professor der klassischen Philologie in Berlin.
22
1901 „ N i e t z s c h e ä h n l i c h e G e d a n k e n " bei G o r k i
51
phil., M a x i m
Gorkij
und
Friedrich
Nietzsche.
(WAp
Nr. 152,
1901). Findet eine weitgehende Ähnlichkeit Gorkis mit Nietzsche, vor allem in dem Roman „Foma G o r d j e j e w " : „Immer klingen dabei Nietzscheähnliche
Gedanken
über die Intoxication der ursprünglichen Unschuld der T r i e b e durch überlieferte Gedankengifte an." Sein Lob des Schriftstellers aber etwas einschränkend heißt es dann: „Er kann uns wohl nach keiner Richtung so weit führen wie Nietzsche, aber er giebt uns sicheres Geleite denselben Zielen zu." 52 und
Friedrich, D r . ( R i c h a r d , H o f p r e d i g e r in D r e s d e n ) , Die religiösen sittlichen
Gefahren
in
der
Philosophie
Nietzsche's.
Wilh.
B a e n s c h . D r e s d e n 1 9 0 1 . 2 8 S. Verfasser ist fest davon überzeugt, daß Nietzsche „vergessen sein und mit all' den zahlreichen Büchern, die er geschrieben, nur noch ein Dasein in den Bibliotheken fristen" werde. Er versuche, „auf materialistischer Grundlage eine Verkörperung des Materialismus im Ubermenschen herbeizuführen", und werde in dem Augenblick verschwinden und der Vergessenheit anheimfallen, „wo im grassierenden Materialismus der Umschwung eintritt". D e n n o c h müsse man „dem Anschwellen des Nietzscheanismus" entgegentreten, denn „darüber kann keine Frage sein, daß es unberechenbaren Schaden anrichtet". Er verweist dann auf „drei hervortretende Jünger des Meisters": Gerhart Hauptmann, Detlev von Liliencron und Richard Dehmel. „Hierzu treten die freien Bühnen, zum Teil wahre Brutstätten des Übermenschen . . ." Die Anerkennung Nietzsches in Hinsicht auf dessen Ablehnung Schopenhauers „mit seinem Pessimismus, dieser feigsten und elendsten Verneinung des Lebens", ist noch erwähnenswert. 53
Tienes,
Dr.
Georg
A.
(Erlangen),
(ZPhK
117.
Bd.,
1901,
S. 2 8 6 ff.). Sehr lobende Besprechung des X I . Bandes der Werkausgabe ( G X I ) : „Die Nachtragbände beseitigen
endgültig die verbreitete
Meinung von
mehrfachem
plötzlichen und unmotivierten Bruch Nietzsches mit früheren Ansichten . . 54 Urteil
M e e r h e i m b , H e n r i e t t e v o n , F r i e d r i c h N i e t z s c h e , insbesondere sein über
die
Frauen.
(MDL
Bd. 5 ,
H . 4 f.,
1901,
S. 1 6 0 - 1 7 0 ,
218 —225).22a Behandelt die W e r k e bis zum „Zarathustra" unter Auslassung der ersten zwei „Unzeitgemäßen" sowie der „fröhlichen Wissenschaft" und der „Morgenröte" und versucht, den Einfluß Wagners und Schopenhauers hervorzukehren.
Nietzsches
Frauenfeindschaft wirke aber „noch abstoßender" als die Schopenhauers, „weil man sich nicht enthalten kann, der aufopfernden weiblichen Liebe zu gedenken, die den Verfasser von der Wiege bis zu seiner traurigen körperlichen und geistigen Auflösung hin begleitet hat". Neben anderen Nachlässigkeiten in der Arbeit läßt die V e r fasserin Nietzsche „in Berlin seine Studien der Philosophie fortsetzen" und auch dort die Bekanntschaft mit W a g n e r stattfinden. 22aBünau,
G r ä f i n M a r g a r e t e H e n r i e t t e , geb. Freifrau von M e e r h e i m b ( S c h m a g e r o w / P o m m . 28. 7. 1859 - W e i m a r 30. 1. 1 9 2 0 ) , Erzählerin.
1901 Der entgleiste Pastorensohn
55
23
anonym, (LCB1 Nr. 14/15 v. 13. 4. 1901, Sp. 617 f.).
Eine Besprechung des Gedichtwerkes von Benndorf (s. Bd. I), in der folgendes Urteil gefällt wird: „Daß B. freilich mehr dem Philosophen als dem Dichter Nietzsche huldigt, scheint mir f ü r seine eigene Entwicklung als Dichter nicht ganz unbedenklich."
56
Ott, W. (Hechingen), (PhJbG Bd. 14, 1901, S. 1 9 7 - 2 0 1 ) .
In dieser Besprechung des Werkes von Tienes (s. Bd. I) meint der Rezensent, d a ß „ein Schriftsteller, der dem Guten einen Dienst erweisen will", nicht so mit Nietzsche verfahren dürfe wie Tienes, „vielmehr muß er unter beständigem Protest gegen die heillosen Anschauungen desselben in die Öffentlichkeit treten, sonst muß er den Vorwurf hinnehmen, die Unmoral befördert zu haben".
57
anonym, (LCB1 Nr. 16 v. 20. 4. 1901, Sp. 638 f.).
Eine Besprechung des Grimmschen Werkes (s. Bd. I): „So viel Dankenswertes und Anregendes auch die vorliegende Schrift enthält, so will es uns doch scheinen, daß der Verf. die einzelnen Einfälle Nietzsches zu schwer und ernsthaft nimmt, daß er ihn zu sehr systematisiert."
58 anonym, Noch einmal Nietzsche über Cölibat und Ohrenbeichte. (KPG Nr. 4 v. 21. 4. 1901, S. 57). Entgegen der Zuschrift eines „Mitbruders" gegen die Anführung einer Nietzscheschen Stelle zu Zölibat und Ohrenbeichte (s. Nr. 41), bleibt die Zeitschrift bei der Meinung: Es liege eben „doch ein Wahrheitskern in dem Nietzsche'schen Satz, wenn es auch niemandem einfällt, die volle Wahrheit in ganz correctem Ausdruck darin zu suchen; aber i n t e r e s s a n t ist das W o r t des entgleisten Pastorensohns auf jeden Fall".
59 Leser, Dr. Hermann, Zur Würdigung Nietzsches. Eine kulturphilosophische Studie über das persönliche Heldentum in der Geschichte. (ZPhK Bd. 118, H. 1, 1901, S. 107—119, 167—183). Was der Verfasser an Nietzsches Vorstellung vom Ubermenschen bemängelt, ist, daß er „mit einer geradezu erstaunlichen Naivität aus der Lösung des Kulturproblems das gewaltige Moment der Geschichte eliminieren" wolle. Bei ihm wie bei Rousseau finde sich der Fehler, daß „einfach eine bestimmte durch analytischen Regressus gewonnene Kulturstufe als die N a t u r an sich zur Beweisbasis angenommen wird". Das seit Kant aufgestellte und von Fichte zuerst gewürdigte „neue W a h r heitsprogramm . . . : das Gewinnen einer volleren und tieferen Wirklichkeit", erfahre bei Nietzsche inhaltlich eine „einseitig biologische Ausgestaltung". Dem entgegen stellt der Verfasser Euckens „neue idealistische Richtung, die dasselbe neue W a h r heitsprogramm in einer ganz vergeistigten Weise verinhaltlicht" und die „Nietzschesche soweit hinter sich läßt, als ein tieferes Verständnis des Geisteslebens über die einseitig naturalistische Weltanschauung von heute erhaben" sei. N u r Nietzsches „Eingangswahrheit" will sich der Verfasser „im umfassendsten Sinne aneignen . . ., einmal die Persönlichkeit. . .: die Großen selbst in ihrem echten Wesensbestande sind immer nur vorhanden in großen, diese Werte nachlebenden, ja neuproduzierenden Persönlichkeiten . . . Und das andremal der Heroismus. Die charakte-
24
1901 „ein Opfer des Antisemitismus"
ristischen persönlichen Träger dieser w e l t e n s c h a f f e n d e n N o r m e n sind jene großen Menschen, jene Auserwählten, jene Träger dessen w a s Carlyle ,das H e l d e n t u m in der Geschichte' nennt." D o c h „stehen jene G r o ß e n in einem großen geschichtlichen Zusammenhang, in w e l c h e m persönlicher H e r o i s m u s keineswegs so einfach mit individueller Willkür zusammenfällt"; aber d e n n o c h „bedeutet N i e t z s c h e in einem tieferen Sinne, als man g e w ö h n l i c h glaubt, die schließliche Selbstüberwindung des neunzehnten Jahrhunderts, zugleich eine E r ö f f n u n g von tiefen Problemen und einer großen Perspektive für ihre Lösung, w e l c h e beide tief ins neue Jahrhundert hineinreichen".
60 anonym, Nietzsche, Nr. 15, 1901, S. 135).
ein
Opfer
des Antisemitismus.
(MVAA
U n t e r dieser Überschrift bringt das Blatt diesbezügliche A u s z ü g e aus dem A u f satz der Schwester über N i e t z s c h e s Krankheit, der A n f a n g Januar 1900 in der „Zukunft" (s. Bd. I) erschienen war.
61 S. 7)."
W(olfskehl), K(arl), Zarathustra. (BK 5. Folge, 1. Bd., Mai 1901,
Ein z w ö l f z e i l i g e s Gedicht auf Nietzsche-Zarathustra.
62
G(eorge), S(tefan), Nietzsche. (Ebd., S. 5 f.). 24
Ein Gedicht auf N i e t z s c h e bestehend aus vier achtzeiligen Strophen.
23
24
S. hierzu den Brief seiner Frau Hanna an Ludwig Klages vom Juni 1900, abgedruckt in: Stefan George 1868—1968. Der Dichter u. s. Kreis. Ausstellungskat. d. Dt. Literaturarchivs im Schiller-Nationalmuseum. Marbach a. N. Nr. 19, 1968, S. 96. S. hierzu Gundolfs Brief an Wolfskehl v. 19. 12. 1900: „. . .Nietzsches Haus sah ich in der Frühe von den Morgenwinden umfegt auf der H ö h e über Stadt und Hügelland unter fahlgoldnen Schneewolken." sowie die Anmerkung dazu: „Gundolf reiste also über Weimar zurück, vielleicht mit George, dessen Nietzschegedicht im Mai 1901 in den Blättern erschien." (S. G.—F. G. Briefwechsel hg. v. R. Boehringer u. G. P. Landmann. Helm. Küpper. Mchn. u. Düsseldorf 1962, S. 65; s. a. ebd., S. 94, den Brief Gundolfs an George v. 26. 6. 1901 : „. . . zwei neue Bände Nietzsche sind erschienen mit manchen wunderschönen Sätzen und Seiten, in das allgemeine flache und grelle Geschnatter wie ein dröhnender Ruf und Donner aus dem Himmel ein-schlagend." sowie ebd., S. 99, den von „Stefan, Friedrich Gundolf und Ernst Gfr." unterzeichneten Brief v. 3. 10. 1901 an Wolfskehl: „Teurer Karl: aus der Stadt des jungen Nietzsche, mit dem herrlichen dom und den schönen deutschen frühbildhauern"; ebd., S. 202, den Brief Georges an Gundolf v. 11. 6. 1910, worin er zweimal Nietzsche-Worte anführt und schließt: „In Nietzsche steht doch ziemlich alles. Er hat die wesentlichen großen dinge verstanden : nur hatte er den p l a s t i s c h e n G o t t nicht (daher sein mißverstehen der Griechen, besonders Piatons.)"; ebd., S. 224, den Brief Gundolfs an George v. 23.2. 1911: „Neulich las ich wieder einmal den Nietzsche Nachtgesang aus hohen Bergen — ,Ο Lebens Mittag' das ist doch eines der größten Gedichte die je geschaffen wurden — . . . insbesondere Nietzsches eigenes Schicksal steht so überwältigend groß darin, daß einem alles biographische und psychologische Geschwätz über ihn ganz unerträglich wird. Was man auch gegen sein Werk, seinen Willen und sein Wissen, von seiner kreisschließenden Liebe aus einwenden kann, er war einfach eine große Seele und hatte erhabenes inneres Schicksal: wirklich ein Recht zu seinen höchsten Worten." S. a. ebd., S. 239, Anm. 3, 271; Gundolf, Ernst (1882—1945), Bruder von Friedrich, Zeichner und Philosoph.
25
1901
62a
Auch in: B K Eine Auslese a. d. Jahren 1 8 9 8 — 1 9 0 4 . G. Bondi.
BUn. 1904, S. 28 f. 63
Meyer,
Richard
M.,
Friedrich
Nietzsche
( = Nekrolog).
(GJb
2 2 . Bd., 1901, S. 277 — 2 8 1 ) . Als Art Nachruf bringt Meyer hier eine „möglichst vollständige" Zusammenstellung dessen, „was Nietzsches W e r k e über sein Verhältniß zu Goethe bezeugen". U n d wenn es auch zusammenfassend heißt: „Der Große war ihm ein Vorbild als Meister der Kunst, der auf Nietzsches Lyrik (insbesondere in den freien Rhythmen) und auf seine Prosa erziehend eingewirkt h a t . . .", so klingt doch gerade an diesem O r t folgendes Urteil etwas gewagt: „Man wird es hier wohl aussprechen dürfen, d a ß Nietzsches Entdeckung des .dionysischen' Elements in der Antike eine wirklic h e Vertiefung unserer Kenntniß gegenüber der
Winckelmann-Lessing-Goethi-
schen Anschauung bedeutet . . .; und man wird es ebenfalls Nietzsche zugeben müssen, daß Goethes .conciliante Natur' der tiefsten Tragik bewußt auswich."
64
Goldschmidt, K u r t W a l t e r (Breslau), Psyche. Eine Bekenntnis-
schrift. ( N S Bd. 97, Mai u. Juni 1901, S. 2 2 3 - 2 4 7 ,
329-350)"
Unter einem Geleitwort aus „Jenseits" beginnt Verfassers „Bekenntnis" mit einer Anklage gegen „die Durchschnittsprofessoren" : diese „sprachen über den großen Schopenhauer, als ob er es sich noch im Grabe zur Ehre anrechnen müßte, von ihnen ,bewiesen' oder ,widerlegt' zu werden; . . . erklärten den Nietzsche für v e r rückt' oder günstigsten Falles für einen geistreichen, aber widerspruchsvollen und unphilosophischen Essayisten'". E r vermisse „mit Nietzsche die .reifen, süß gewordenen Kulturen' als geistige Erzieher an unseren Bildungsanstalten". „Aus ähnlicher Gesamtstimmung heraus" müsse Nietzsche „seinen großen Lehrer Schopenhauer" gesucht und gefunden haben. D e m Verfasser liegt aber die Kunst am nächsten, und gerade in Sachen der Kunst gehe uns nichts mehr an „als der K ü n s t l e r
selbst
und s e i n Kunstwerk, in seiner Art und seiner E n t s t e h u n g s g e s c h i c h t e " ,
und
ein „von den genialsten Völker- und kunstpsychologischen Intuitionen durchleuchtetes W e r k Nietzsches", die „Geburt", werde uns „das Verständnis" dieser „subjectivistischen" Ästhetik „vielleicht wesentlich erleichtern": „Die kritische Dumpfheit a h n t ja bisher kaum, was alles hier an ungemünztem Gold ruht und glimmert." Nietzsches „leider im Ansatz stecken gebliebene .physiologische Ästhetik'" sei „als erste Wiederbelebung einer w e r t h e n d e n Beurtheilungsweise" freudig zu begrüßen. „Umfang und Inhalt des Weltbildes" sind dem Verfasser die „beiden Grundfactoren jedes künstlerischen Werthurtheils", und „kraft jahrtausendlanger verfeinernder Entwicklung" übertreffen „so ziemlich alle Neueren die Alten" an Inhalt. S o brauche Goethe zwar an Weite des Blickes „Niemandem zu weichen, während ihn ζ. B. Nietzsche in berauschender Klangfülle der modernen Seele übertrifft". — „Die
Ästhetik
wird
Seelengeschichte."
—
„Das
Beste"
über
die
frühen
Entwicklungstatsachen „zur Psychologie des Griechenthums" habe „wohl wieder Nietzsche geschrieben": „Unanzweifelbar ist jedenfalls Nietzsches und Burckhardts 25
G o l d s c h m i d t , K u r t W a l t e r , geb. a m 2. 7. 1 8 7 7 zu Breslau, seit 1907 D o z e n : für Literatur und Philosophie in Berlin.
26
1901 „kritische Enthusiasten"
Feststellung eines tragischen Unterstroms im Wesen der Griechen." Nietzsche habe auch „die Thatsache" einer „ f o r t s c h r e i t e n d e n I n d i v i d u a l i s i r u n g der Menschheit" in einem „wundervollen Zarathustrawort auf die kürzeste und bezeichnendste Formel gebracht". Noch dazu habe „wohl wieder Nietzsche das große e r o t i s c h e D i l e m m a des modernen M e n s c h e n . . . gefühlt und ausgedrückt": „Man versteht ihn nach meiner tiefsten Uberzeugung falsch, wenn man ihm jeden erotischen Antrieb abspricht." — „Die Krone der modernen Romantik aber und nur als Romantiker par excellence zu verstehen ist Friedrich Nietzsche. Als Romantiker par excellence — obwohl und g e r a d e w e i l er die große Sehnsucht hatte und heroischen Versuch wagte, v o n d e r R o m a n t i k l o s z u k o m m e n . . . Die größten Erzieher und Befreier der von romantischen Sehnsüchten gequälten modernen Seele . . . heißen Friedrich Nietzsche und Maurice Maeterlinck." — „Es ist seine Riesengröße und sein Verhängnis zugleich, daß in ihm a l l e d r e i T y p e n d e s p r o d u c t i v e n M e n s c h e n g l e i c h z e i t i g a u s g e b i l d e t erscheinen. Er war zugleich ein großer Dichter, ein großer Philosoph und ein großer Thatmensch." — „. . . was uns zu Nietzsche zieht . . . als k r i t i s c h e E n t h u s i a s t e n , das ist neben der Fülle und Vorbildlichkeit seines modernen Künstlerthums doch vor Allem, daß er ein so wundervoller A n a c h r o n i s m u s ist, ein Seelen- und Geistesaristokrat in einer Zeit demokratischer Verflachung und Allverbrüderung, eine wahrhaft kosmische Erscheinung im großen ehrfurchtslosen Eintags-Wellenschlag." — „Aber nur das Z i e l , von unklaren Zukunftsschleiern noch maskirt, hat uns Nietzsche gezeigt. Es heißt mit e i n e m Worte: E n t r o m a n t i s i r u n g in Leben und Kunst, aber mit allen heimlichen Süßigkeiten unserer bisherigen Romantik versetzt." Unter den sonstigen „Modernen", welche neben Nietzsche, aber bei weitem nicht so oft hervorgehoben werden, versteht Verfasser Ibsen, Garborg, Dostojewsky, Przybyszewski, Klages, Zola, Lou Andreas-Salomé, Ola Hansson, Hofmannsthal und vor allen außer Nietzsche Maeterlinck. 64a Auch in: Zur Kritik der Moderne. Studien und Bekenntnisse. O s kar Hellmann. Jauer 1909, S. 1—56. Bis auf die durchgehende Erneuerung der Schreibweise und Streichung des letzten Satzes, unverändert. S. a. im selben Band die Aufsätze „Die Tragödie der Sensibilität" (S. 60 f., 64, 66, 67, 69, 70: gegen „die Tragödie der Sensibilität" als „bedrohliches Wetterzeichen" eines bevorstehenden „Nihilismus" ersehnt Verfasser einen dionysischen Pessimismus, „wie ihn Nietzsche nicht verwirklicht, aber ersehnt hat, der nichts anderes als ein tragisch-heroischer Optimismus ist"), „Sprach-Kultus und Sprach-Kritik" (S. 73, 74, 75 f., 82), „Neue Kulturformen" (S. 87, 89, 91, 92, 93), „Rasse und Individualismus" (S. 101, 103, 104, 105, 106: „Es ist Jakob Burckhardts und vor allem Nietzsches großes Verdienst, uns von jener seicht-süßlichen Auffassung der Griechen befreit zu haben, die in ihnen nur die rosaroten, epikureischen Heiterlinge sah."), „Aus der Werkstatt der Geschichtswissenschaft" (S. 113: „. . . so sehr Nietzsche aller Metaphysik abschwor, der Künder des Ubermenschen und der ewigen Wiederkunft hat uns doch erstmals wieder eine von den großen Schauern der Metaphysik umwitterte Ethik und, gerade unter darwinistischen Einflüssen, eine Moralkritik und Moralphilosophie großen Stils geschenkt.", 116),
1901 Emanuel von Bodman „ H ö h e n k u n s t " (S. 121, 122 f f . : „ D a s eigentliche T h e m a m o d e r n e r
27 Höhenkunst"
v o l l z i e h e sich „wesentlich im Z e i c h e n N i e t z s c h e s . . ., der . . . die m o d e r n e Künstlerseele in vorbildlicher Intensität und Vollständigkeit in sich trug. . . U n d als reifstes, reichstes, kränkstes P r o d u k t seiner Kultur ist er z u g l e i c h ein Kulturproblem, der a u s g e s p r o c h e n e T y p u s des m o d e r n e n Künstlermenschen, der an zuviel Kultur leidet . . .", 125), „Zur P s y c h o l o g i e des Kritikers" (S. 129, 131), „Phantasie und T h e a ter" (S. 145 f., 149 f.), „Wir und Shakespeare" (S. 161).
In einer 1901 erschienenen Erzählung „Der neue Mensch" lieferte Emanuel von Bodman eine recht witzige Verspottung der Versuche eines Haarschneiders Karl Rübsamen, mit Hilfe seines Freundes, des Bildhauers Fritz Langbein, „der Verbesserung der Menschenart" dadurch zu dienen, daß letzterer, dessen Wuchs „die Ähnlichkeit mit dem Gliederbau unserer Altvorderen" nicht verleugnen ließ, mit einer Magd noch größeren Wuchses ein Kind zeugen solle. Die Überredung des Freundes zu dem Unternehmen wird wie folgt geschildert: „Er bestätigte sein redliches Wollen mit einem Zitat aus einer Broschüre . . . Sie enthielt allerhand Auszüge aus den Werken deutscher Dichter und Denker. Er schlug sie auf und legte den Mittelfinger auf eine Stelle, die von dem Philosophen Nietzsche stamme, oder, wie er vertraulicher zu sagen pflegte, dem Friedrich. ,Über dich sollst du hinausbauen', hieß es da, ,aber erst mußt du mir selber gebaut sein, rechtwinklig an Leib und Seele.' Und dann: ,Einen höheren Leib sollst zu schaffen.' Er klappte das Büchlein zu und sah Langbein herausfordernd ins Gesicht. D e m waren nun die letzten Bedenken gewichen. Mit brennenden Augen und heißen Backen saß er da, und in überströmendem Gefühl drückte er Rübsamen die Hand." 26
26
Nach dem Druck in den Gesamten Werken. Bd. 8. H g . v. Karl Preisendanz. Reclam. St. (1955), S. 55 f. In der Darstellung vom Herausgeber, „Leben und Werk Emanuel von Bodmans", die die lObändige Ausgabe einleitet, meint der Verfasser zu dieser Erzählung, Bodman sei sich „über den konstruktiven Charakter und das unwahrscheinliche Geschehen seines Stoffes . . . nicht im Ungewissen" gewesen: „. . . er wollte die seinerzeit häufige Profanation des von Nietzsche proklamierten ,Übermenschen', nicht die Lehre des Philosophen selbst ironisieren, den er persönlich hoch schätzte." (Bd. I (1960), S. 53 f.) Hierzu vermerkte er noch : „ N a c h einem Besuch bei Nietzsches Schwester Frau Elisabeth Förster schrieb ihr Bodman (aus Emmishofen, 11. September 1910) mit seinem Dank f ü r freundliche Aufnahme in Sils-Maria: ,Mir hat das Wenige, was Sie über Nietzsche sagten, viel gegeben. Ich hätte ihn so gerne persönlich gekannt, aber das Gesetz der Welt will es anders. Es freut mich, einige Fußspuren im Sand von Silser See zu sehen, teure Spuren.'" (Ebd., S. 186 f.) Anfang 1915 trug Bodman, als einzige Erwähnung Nietzsches, Folgendes in sein Tagebuch: „Nietzsche forciert das Männliche etwas sehr, so daß man daraus schließen muß, daß das Weibliche in seiner Seele ihm allzuviel zu schaffen machte. Deshalb verstieg er sich oft zu Behauptungen, die grotesk wirken. Ahnlich Strindberg. Geister wie Goethe und Kant, die das Männliche und Weibliche in sich harmonisieren konnten, hatten das nicht nötig." (Ebd., Bd. 10: Vermischte Schriften. (1960), S. 139); Bodman, Emanuel Frhr. v. (Friedrichshafen 23. 1. 1874 — Gottlieben b. Konstanz Ende Mai 1946), Erzähler.
28
1901 „ein genialer Schwätzer"
65 Q u e n z e l , Karl (Charlottenburg), H e g e l —Feuerbach und Schop e n h a u e r - N i e t z s c h e . ( A D U Z g 15. Jg., Nr. 9 v. 1. 5. 1901, S. 81 ff.). Sieht in Hegel und Schopenhauer „Brüder", die „beide zur philosophischen Romantik" gehört haben. Was die christliche Dogmatik betreffe, sei Hegel „die Blüte und Vollendung der christlichen Gedanken", Schopenhauer seinerseits, was die christliche Moral betreffe, „der größte Freund des Christentums". Beiden aber entstehe in den jeweiligen Schülern Feuerbach und Nietzsche das Verhängnis. Jener habe „nachgewiesen, wie viel Lüge dazu notwendig ist, um den abgeschiedenen Geist des Christentums künstlich zu einem Scheinleben zu erwecken". Bei diesem stelle sich als „Kern" seiner Lehre heraus, „daß es gar keine moralischen Thatsachen gibt": „Jetzt ist der Horizont wieder frei, ungemessene Weiten liegen vor dem Menschen, erst jetzt wird es Ernst. Die Möglichkeit einer neuen Kultur steigt auf, von der man sich bisher nichts hat träumen lassen." 66 Wihan, R o b e n (Trautenau), Friedrich Nietzsche. (Ebd., S. 85 ff.). Verfasser gibt zu, als einziges Werk Nietzsches „Jenseits" zu kennen, ansonsten schöpft er ein weiteres Verständnis aus dem Aufsatz Stocks (Nr. 5). So verwundert es nicht, wenn er behauptet: „Er ist ein n u r d i c h t e r i s c h begabter, genialer Schwätzer, der sich die höchsten, wichtigsten Fragen der Menschheit zum Gegenstande seiner leichtfertigen Causerie gewählt hat." Doch will der Verfasser gegen ihn ernsthaft und eindringlich gewarnt haben. Mit diesem Aufsatz eröffnete die Zeitschrift, laut Anmerkung des Herausgebers Konrad Küster, ein „Rede-Tournier über Nietzsche . . ., in dem Verehrer und Gegener zu Worte kommen sollen". 67 P., (BKr Nr. 1 2 4 / 2 5 v. 5 . / 6 . 5. 1901, S. 2 f.). Eine durchaus zustimmende Besprechung von Fischers Werk (Nr. 42), das „gründlich und wissenschaftlich" und in „glänzendem Stile geschrieben" sei. 68 F. S., Nietzsches Stellung zum Soldatenthum. ( V o n einem deutschen Soldaten.), ( B N N Nr. 221 v. 12. 5. 1901). Dem Verfasser geht es „um die Wehrhaftigkeit des deutschen Volkes", und, da „gewisse literarische und künstlerische Kreise" nicht müde werden, „den Militarismus herabzuziehen, den sogenannten Hurrahpatriotismus zu höhnen", führt er Nietzsche dagegen als Zeugen, als „Erzieher" an. 69 S(ittard), J., Nietzsche in seinen Briefen. ( H C 171. Jg., N r . 221, Morgenausg. v. 12. 5. 1901). Eine trotz manch lobenden Wortes — die Briefe seien „ein wahrer Schatz unserer Literatur; als Stilist gehört Nietzsche unbedingt zu den Klassikern" — recht deutliche Ablehnung Nietzsches anläßlich einer Besprechung des ersten Briefbandes (s. Bd. I). Anführenswert erscheint eine dem Rezensenten gemachte Äußerung Hans Richters, daß die Musik zu Nietzsches vierhändigem Stück „Nachhall einer Sylvesternacht", das Richter zusammen mit Cosima gespielt habe, „entsetzlich" gewesen sei. 70 Quenzel, Karl (Charlottenburg), Friedrich Nietzsche. Mehr Ernst und mehr Philologie. ( A D U Z g 15. Jg., Nr. 10 v. 15. 5. 1901, S. 96 f.).
29
1901 „das wahre Bild der Zeitirrtümer"
Eine Erwiderung auf die Schmähungen Wihans (Nr. 66), bei der auch an Fritz Maiuthner gerügt wird, daß er behauptet habe, „Nietzsche käme für die Erkenntnistheorie nicht in Betracht". Dem entgegen stellt der Verfasser, „daß in Nietzsches Aphorismen die tiefsten Erkenntnisse niedergelegt sind, die die Kulturmenschheit heute besitzt, wissen wenige". 71
Ziegler,
Theobald,
Nietzsche-Briefe.
(MAZg
Beil.
Nr. 111
v. 15. 5. 1901, S. 1 — 3 ) . Eine Besprechung des ersten Briefbandes (s. Bd. I) sowie Deussens „Erinnerungen" (Nr. 32). Sowohl an Aufmachung, Preis und Anordnung des Briefbandes wie auch am Briefschreiber Nietzsche hat der Rezensent einiges auszusetzen. Er kann es auch nicht unterlassen, fast in jeder Hinsicht D. F. Strauß zum Vergleich heranzuziehen. E Albrecht, O . , Ein Brief Nietzsches. ( C W Nr. 18, 1901, Sp. 4 1 3 ) . Veröffentlicht einen Beileidsbrief Nietzsches vom Mai 1875 an Frau Appellationsgerichtsrat Pinder zum Tode ihres Mannes. 72
Willmann,
O.
(Prag),
(AL
10. Jg.,
Nr. 20
v. 15. 10. 1901,
Sp. 6 1 5 f.). Lehnt Horneffers „Vorträge über Nietzsche" (s. Bd. I) als „rückhaltlos" parteinehmend ab: der rechte Gesichtspunkt zur Beurteilung von Nietzsches Philosophie sei der „psychopathologische: . . . Verstörung des Gemüthes und Geistes spricht aus jeder Zeile, die Nietzsche geschrieben hat; er irrte nicht bloß, sondern er war irre . . . In Nietzsche's irren Worten erhalten wir das wahre Bild der Zeitirrthümer; in seinem Wahnsinn werden die modernen Wahngebilde durchsichtig." 27 73
Truth,
Ubermenschen.
Erlebtes
und
Erlauschtes
aus
einem
„ G r a n d " . ( N F P r N r . 13201 v. 2 6 . 5. 1 9 0 1 , S. 3 0 - 3 5 ) . Eine witzige Skizze über die Hohlheit mancher Nietzsche-Begeisterung, in der u. a. eine d'Annunzio ähnliche Gestalt vorhöhnt wird. In einem Schweizer Grand Hotel im Jahre 1900 verschmachtet Enrico d'Emilio, der „Italien den Ubermenschen schenkte" und Verfasser des Romans „Cypressenzweige" ist, nach der Sängerin Stella Neerina, die er „von sich gestoßen hat — einfach um einem Wahn zu huldigen, die Theorien eines wahnsinnigen Modephilosophen durch die That zu krönen — ,wenn Du zum Weibe gehst, vergiß die Peitsche nicht'." „Im Drawingroom" empfängt die Prinzessin Elenore Czertowska zum „Five o'clock": „Ein Schreibtisch voll Bibelots, Wirrwarr und Nietzsche's Werke, ein aufgeschlagener Flügel mit Noten bepackt, dann Büsten von Nietzsche, Schopenhauer, eine Bronzefigur .Barbédienne', Zarathustra . . Unter den vielen Gästen tritt besonders hervor ein vor nicht allzulanger Zeit geadelter deutscher Baron Meyer-Schmid, der „für ein Nietzsche-Denkmal 6000 Mark gezeichnet" hat und dessen Frau Vorsitzende „des Elitevereins der Übermenschen" ist. Es nimmt dann wenig Wunder, wenn Enrico sich mit einem Zimmermädchen begnügt, da ein Brief an die Neerina unbeant-
27
Willmann, O t t o (Lissa/Posen 24. 4. 1839 — Leitmeritz 1. 7. 1920), 1 8 7 2 - 1 9 0 3 Professor der Philosophie und Pädagogik in Prag.
30
1901
wortet bleibt, die Prinzessin eines amerikanischen Milliardärs wegen die „Geburt" vom Schreibtisch fliegen läßt und den „Umschlagdeckel von Strauß' .Zarathustra' . . . zum Depeschenformular benützt" und der deutsche Baron, weil die Nachricht von seiner Nietzsche-Spende ohne Adelsbezeichnung bekannt gegeben wurde, eine Richtigstellung verlangt: „— sonst hat sich's ausgeiibermenscht!" 74 B(ierbaum), O. J., (I 2. Jg., 3. Quartal, Nr. 9 v. Juni 1 9 0 1 , S. 3 1 1 ) . Eine Anzeige des ersten Briefbandes (s. Bd. I), deren Kürze so erklärt wird: „Auf keinem Fall ist es nötig, eine Sammlung Nietzschescher Briefe zu empfehlen; es genügt, etwaige Vergeßliche daran zu erinnern, daß wir so glücklich sind, eine Ausgabe der brieflichen Äußerungen unsres großen Dichters und Lehrers zu besitzen." Nur die Ausstattung des Bandes wird bemängelt. F Förster-Nietzsche, Elisabeth, D e r Fall „Nietzsche contra Wagner". ( N D R s 12. Jg., H. 6 v. Juni 1 9 0 1 , S. 6 0 9 - 6 2 3 ) . Der Darstellung des Nietzsche-Wagner-Verhältnisses werden vier Briefe an Malwida (Nr. 82, 84, 85, 86), zwei an Peter Gast sowie ein an Reinhold von Seydlitz eingeflochten. 75 O f n e r , Dr. Julius, Die Philosophie Friedrich Nietzsche's in der „Geburt der Tragödie". ( M B W C 22. Jg., 1 9 0 1 , Nr. 6, S. 4 4 - 4 7 ) . 2 8 Findet, daß in dem Erstlingswerk es sich bereits zeige, „daß Nietzsche der Vorstellung (Schopenhauers) eine sehr bescheidene Rolle zuweist, ihre Herrschaft nicht als Erlösung, sondern direct als Decadence erklärt und ebenso das theoretische Kunstwerk (Wagners) verwirft". Der spätere Nietzsche habe „nur den Gedanken entwickelt, der schon hier erkennbar war und auch von Einzelnen schon frühzeitig erkannt wurde". Trotz seiner „Unterschätzung des bewußten Denkens" gehöre er „unstreitbar zu den Lehrmeistern der Menschheit". Es handelt sich bei diesem Aufsatz um Auszüge aus einem am 24. J a n u a r 1901 im Wissenschaftlichen Club gehaltenen Vortrag, die laut Anmerkung „in der Regel von den Herren Vortragenden selbst verfaßt" worden seien. G K a u f m a n n , M a x (Zürich), Die G r o ß e n unter sich. (NFPr Nr. 1 3 2 0 7 v. 2. 6. 1 9 0 1 , S. 34 f.). 28a Bringt neun Briefe verschiedener Absender an Gottfried Keller, darunter den von Nietzsche vom Juni 1883 zur Ubersendung des „Zarathustra". G k XII Nachgelassene W e r k e . / V o n / Friedrich Nietzsche. / U n veröffentlichtes / aus der Zeit der Fröhlichen Wissenschaft / und des Zarathustra. ( 1 8 8 1 — 1886.) / Zweite, völlig neu gestaltete Ausgabe. / 3. und 4. Tausend. / Leipzig / D r u c k und V e r l a g von C. G. Naumann / 1 9 0 1 . X S . ( = Inhalt u. V o r w . d. Hg. Ernst u. August H o r n e f f e r ) , 1 Bl., 4 3 6 S., 4 Bll. S. 4 2 1 — 4 3 6 = Nachbericht u. Anmerkungen.
28 281
O f n e r , Julius (Horoschenz/Böhmen 20. 8. 1845 - W i e n 26. 9. 1924), Jurist. Kaufmann, M a x , geb. am 24. 6. 1864 zu H a m b u r g , Privatgelehrter, lebte in Italien, Zürich und H a m b u r g .
1901 Nochmals Nietzsche und der Antisemitismus
31
ι = Nietzsche's Werke. Zweite Abtheilung. Bd. XII. (Vierter Bd. d. zwei.en Abth.) "6 Schorn, Adelheid von, Elisabeth Förster-Nietzsche. (IFZg 28. Jg., H. 12 f. v. 13. 6. u. 1.7. 1901, S. 94 f., 102 m. e. Abb. a. S. 97). Verfasserin, die Nietzsche „1872 bei der G r u n d s t e i n l e g u n g in Bayreuth" kennengelernt hatte und der Schwester erst seit deren Ubersiedlung nach W e i m a r nah e s t a i d , singt hier ein einziges Loblied auf „die kleine, zierliche, blonde Frau mit d e n s.hönen blauen Augen". Sie beschreibt auch recht eingehend einen Besuch bei d e m Kranken in den letzten Lebensjahren: „Bildhauer K r a m e r m o d e l l i n e eine kleine, sitzende Statuette von ihm; ich sollte die Ähnlichkeit beurtheilen, deswegen f ü h r t e mich Frau Förster zu ihrem Bruder."
77 Lichtenberger, Sp. 1 4 8 1 - 1 4 8 4 ) .
Henri
(Nancy),
(DLZg
Nr. 24 v.
15.6.1901,
Besprechung des E r i n n e r u n g s w e r k e s von Deussen ( N r . 32), dessen A n h a n g „lehrreich und interessant" g e n a n n t wird, sowie zweier Schriften von H o r n e f f e r („Nietzsches Lehre von d e r Ewigen W i e d e r k u n f t . . und „ V o r t r ä g e über Nietzsche"; s. Bd. I), die im allgemeinen begrüßt und gelobt w e r d e n , n u r lehnt Rezensent d i e B ; h a n d l u n g Kants als des Vaters „des m o d e r n e n Agnostizismus" und „Zerstörers cer Metaphysik" ab.
78 Küster, Dr. Konr., Friedrich Nietzsche. Sein Streben, sein Wollen. (ADUZg 15. Jg., Nr. 12 v. 15. 6. 1901, S. 116 f.). Verfasser lobt vor allem zwei Bücher in Z u s a m m e n h a n g mit einem möglichen Verständnis Nietzsches, das von H o r n e f f e r ( „ V o r t r a g e über N i e t z s c h e " ; s. Bd. I), d e r e¡ verstanden habe, „leicht und faßlich den Nietzscheschen, großartigen G e d a n k e n b a u darzustellen", und eines des ihm „ebenbürtigen" J. G . V o g t „Entstehen u n d Vergehen der W e l t als kosmischer K r e i s p r o z e ß auf G r u n d des pyknotischen S u b s u n z b e g r i f f e s " . Beide Nietzsche und V o g t k o m m e n S c h o p e n h a u e r g e g e n ü b e r „zu e n e m gesunden Optimismus; sie geben damit auch dem öden Materialismus . . . einen energischen F u ß t r i t t . . ."
79
anonym, (MVAA Nr. 25, 1901, S. 215).
Führt Ä u ß e r u n g e n d e r Schwester (s. F) an, die nahelegen, d a ß Nietzsches Abfall von W a g n e r mit durch dessen Antisemitismus bedingt war.
SO Ströle, Pfarrer Dr. A. (Laufen a. Eyach), Nietzsches Moral und seine Stellung zum Christentum. (DEB11 26. Jg., 1901, S. 407 — 425). Verfasser setzt voraus, daß N i e t z s c h e „der Philosoph der K u l t u r " schlichtweg sei u r d d a ß „von der Fassung des Kulturbegriffs . . . seine moralischen und religiösen G e d a n k e n abhängig" seien. Er verfolgt d a n n äußerst sachlich Nietzsches Entw i c k b n g d u r c h die drei Perioden und f i n d e t Ähnlichkeit o d e r g a r Einfluß im V e r gleich mit D a r w i n und Feuerbach. Etwas einzigartig ist sein Urteil über den „Antichrist": „ N i c h t als ein krankes Buch . . . haben wir den Antichrist zu betrachten, sondern als das gesundeste seiner W e r k e . . ." K u r z darauf meint er: „ N i e t z s c h e hat mit Emst und Tiefe die religiöse Frage behandelt. Die Z e r s t ö r u n g des Gottesglaubens st ihm als etwas U n g e h e u r e s erschienen . . ." Auch d ü r f e man ihn „mit Recht
32
1901
zu den Klassikern unserer modernen L i u e r a t u r zählen". Angesichts solcher Ä u ß e rungen verwundert es, daß Verfasser den S c h l u ß dann zieht: „. . . er kann nicht verteidigt und braucht eigentlich auch nicht widerlegt zu werden, er widerlegt sich selbst . . . Allein im Blick auf die vielen A n h ä n g e r , auf die Schule, die er gemacht hat, auf die Benutzung seiner Philosophie gegen das Christentum, ist immerhin auch eine sachliche Polemik am Platze." D a r a u f führt er „vier Gesichtspunkte gegen ihn ins F e l d " : es fehle bei ihm nicht an „Widersprüchen und Unbestimmtheiten", seine Aufstellungen seien „reich an historischen V e r s t ö ß e n " , man könne ihm „den V o r w u r f eines Reaktionärs nicht ersparen" und endlich müsse man ¡hm „auch noch den V o r w u r f des Phantastischen m a c h e n " . 81
a n o n y m , ( S t Z B d . 7 1 , N r . 1, S. 9 7 ) .
Eine knappe Anzeige der „fesselnden und klaren Darstellung" der Philosophie Nietzsches von Fischer (Nr. 42). Man k ö n n e „sich nur freuen, daß sie von einem so bewährten philosophischen Schriftsteller unternommen wurde". 82
Jesinghaus, D r . W a l t e r , D e r innere Z u s a m m e n h a n g der G e d a n -
ken v o m U b e r m e n s c h e n bei N i e t z s c h e . C a r l G e o r g i . B o n n „Unhaltbar"
findet
Verfasser
Nietzsches
„doppelte
1 9 0 1 . 3 2 S. 2 9
Moral",
auch
ist
er
„schmerzlich berührt" von dessen Angriffen auf „Religion, Christentum, Vaterland u. s. w . " , will aber dennoch die Lehre vom U b e r m e n s c h e n herausarbeiten als den „Kern seiner ganzen Weltanschauung". V e r f a s s e r glaubt, daß diese Lehre „nicht viele Anhänger finden wird" und daß Nietzsche „zur christlichen Lehre zurückgekommen wäre, wenn er noch eine weitere Entwicklung hätte durchmachen dürfen". Er berichtet u. a. von einem Gespräche mit einer D a m e , bei der Nietzsche im J a h r e 1882 gewohnt hat. 83
Reiner, D r . Julius, Friedrich N i e t z s c h e . F ü r gebildete Laien
ge-
schildert. H e r r n . S e e m a n n N f . L p z . 1 9 0 1 . 2 Bll., 7 6 S . ( = Kulturträger. Schilderungen b e d e u t e n d e r M e n s c h e n v o n heute und einst in g e m e i n v e r s t ä n d l i c h e n
Darstellungen,
h g . v. D r .
V.
Schweizer,
N r . 12). Bei Nietzsche finde man nur „Stimmungsbilder, etwas gespannte, zuweilen überspannte Seelenzustände, die durch ihre meisterhafte Darstellung den Leser pakken". Verfasser fügt den Namen Dostojewski der Reihe von Nietzsches V o r g ä n gern hinzu, der in „ R a s k o l n i k o w " den T y p u s des Übermenschen „schon geschildert" habe. Auch meint er, daß Strindberg „der erste moderne D i c h t e r gewesen, der von Nietzsche ausgegangen" sei. 83a
Dass.
Friedrich
Nietzsche.
9 . — 1 2 . Stereotypauflage, (um
Leben
und
Wirken.
Bln.
u.
Lpz.
1910).
Inhaltlich unverändert.
29
Jesinghaus, W a l t e r ( B a r m e n 2 8 . 7 . 1 8 7 1 — nach 1 9 3 5 ) , promovierte 1901, P r o f e s s o r , O b e r r e g i e r u n g s r a t , vortragender R a t im T h ü r i n g e r Volksbildungsministerium, V o r s t a n d s mitglied des Nietzsche-Archivs.
1901 „ D e r Germanoslave"
33
84 Poppenberg, Felix, Nietzsche und seine Freunde. (Fr Bd. 8, 1901, S. 4 0 7 - 4 1 3 ) . E i n e w o h l w o l l e n d e B e s p r e c h u n g des e r s t e n B r i e f b a n d e s (s. B d . I).
85 Stöcker, Helene (München), Nietzsches Frauenfeindschaft. 9. J g . , 1901, Bd. 34, S. 4 2 8 - 4 3 3 ) .
(Z
V e r f a s s e r i n l e h n t die B e h a u p t u n g s e i n e r F r a u e n f e i n d s c h a f t als „ L e g e n d e "
ab.
W e r d e e r „ a u c h n i c h t allen E n t w i c k l u n g s z i e l e n d e r F r a u in d e m M a ß e g e r e c h t , w i e w i r es w ü n s c h e n m ö c h t e n , s o w ä r e es d o c h e i n Z e i c h e n e n g e n , u n f r e i e n G e i s t e s v o n u n s , ihn d e s h a l b a b z u l e h n e n
und
u n s s o s e l b s t u m die h o h e n
unvergleichlichen
S c h ö n h e i t e n seiner W e r k e zu bringen".
In diesem Jahre diente Nietzsche neben Tolstoi dem Verfasser eines rassenkundlichen Werkes als ein „hervorragender Typus slavischer und germanischer Blutmischung": „ D e r Germanoslave Friedrich Nietzsche läßt uns wiederum deutlich erkennen, daß die Rassenkreuzungen auf germanischer mütterlicher Basis den r e v o l u t i o n ä r e n Charakter erhalten." Er habe „in gewissem Sinne zu wenig Kopf, oder einen seinem deutschen H e r zen nicht angemessenen K o p f " gehabt. „Seiner Antipathie gegen das ,Reich', gegen Preußen, gegen England, seinem Sympathesieren mit den romanischen Völkern, ja, ungeachtet des radikalen Atheismus dieses s e h r freien Geistes, selbst mit dem Katholizismus, der ihm .vornehmer' als der bäuerliche Protestantismus erscheint, liegen unverkennbar polnische Rasseninstinkte zum Grunde. Ferner verrät sein Widerwille gegenüber dem Gedanken der natürlichen Entwickelung im Sinne Darwins, der Grenzen unseres empirischen Erkennens im Sinne Kants und gegenüber der Goethischen Forderung, das Unerforschliche schweigend zu verehren, den ungermanischen, den s l a v i s c h e n K o p f . Aber der unbändige Freiheitsdrang, das ,heilig glühend H e r z ' dieses Prometheus, der A l l e s s e l b s t v o l l e n d e n will, offenbart den Germanen mütterlicher Abkunft." T r o t z manch „sarmatischen" Zuges von „Grausamkeit und Wildheit" sei er „mit uns verwachsen": „Wenn wir deutsch handeln wollen, dürfen wir uns nicht gegen ihn wenden, sondern gegen diejenigen, die ihn kläffend und heulend anspringen, weil er sie aus ihrem dogmatischen und wissenschaftlichen Schlummer aufgestört." 3 0 86
anonym, (LCB1 Nr. 27 v. 6. 7. 1901, Sp. 1085 f.).
E i n e r e c h t k ü h l e , a b e r s a c h l i c h w ü r d i g e n d e B e s p r e c h u n g des e r s t e n B r i e f b a n des (s. B d . I), d e r „ z u d e n w e r t v o l l e r e n P u b l i c a t i o n e n d i e s e r G a t t u n g g e h ö r t " .
30
Driesmans, Heinrich, D i e Wahlverwandtschaften der deutschen Blutmischung. D e r Kulturgeschichte der Rasseninstinkte zweiter T e i l . Diederichs. Lpz. 1901, S. 180 bis 186; Driesmans, Heinrich (Bockenheim b. F r a n k f u n / M a i n 7 . 5 . 1 8 6 3 — Berlin 7 . 5 . 1 9 2 7 ) , Schriftleiter der Zeitschrift „Ernstes W o l l e n " , verfaßte hauptsächlich rassenkundliche Werke.
34
1901 O t t o von T a u b e 87
L i c h t e n b e r g e r , H e n r i ( P r o f . a. d. U n i v . N a n c y ) , D e u t s c h l a n d
F r a n k r e i c h i m U r t e i l F r i e d r i c h N i e t z s c h e ' s . D t . v. F r . v.
und
Oppeln-Bronikow-
s k i . ( D L 1. J g . , H . 4 1 f. v . 1 3 . u . 2 0 . 7 . 1 9 0 1 , S . 4 7 7 - 4 8 4 ,
532—540).
M a h n t z u r V o r s i c h t bei e i n e r z u w ö r t l i c h e n A u s l e g u n g v o n N i e t z s c h e s
Haß
auf Deutschland und seiner Liebe zu Frankreich. Ei g e h ö r e vielmehr zu denen, „die ihre V a t e r l a n d s l i e b e nicht d u r c h S c h m e i c h e l e i e n b e k u n d e n , s o n d e r n d a d u r c h , d a ß sie ,die W a h r h e i t s a g e n ' , a u c h w e n n sie, j a , b e s o n d e r s , w e n n sie u n a n g e n e h m i s t " . 88
C. D.,
Etwas
vom
Übermenschen.
(EV
14. J g . ,
Nr. 60
v.
2 7 . 7. 1 9 0 1 , S . 4 8 7 f.). Beschreibt recht anschaulich eine gesellige Z u s a m m e n k u n f t von Lehrern
in
B e r l i n : „ M a n k a m , w i e g e w ö h n l i c h in d i e s e m K r e i s e , s e h r b a l d a u c h a u f N i e t z s c h e , d e n alle A n w e s e n d e n in- u n d a u s w e n d i g z u k e n n e n s c h i e n e n . . . M a n
begeisterte
sich w i e g e w ö h n l i c h g a n z b e s o n d e r s f ü r s e i n e n Ü b e r m e n s c h e n . " Ein J ü n g l i n g d e s K r e i s e s m e i n t : „ , D a s ist e t w a s , w a s d e n M e n s c h e n e r h e b t , w a s in W a h r h e i t d e n N a m e n , E v a n g e l i u m ' v e r d i e n t . W e n n d e r N a z a r e n e r s e i n e S t u d i e n bei u n s e r m N i e t z s c h e a b s o l v i e r t h ä t t e , d ü r f t e er e h e r a u f die A n e r k e n n u n g d e r g e b i l d e t s t e n G e i s t e r u n d a u f d a u e r n d e n E i n f l u ß r e c h n e n als mit s e i n e m s c h w ä c h l i c h e n , b l o ß f ü r p a s s i v e S e e l e n b e r e c h n e t e n s o g e n a n n t e n E v a n g e l i u m . ' " D e r B e r i c h t e n d e f l ü c h t e t ins N e b e n z i m m e r und trifft dort auf einen Gleichverstimmten, d e m N i e t z s c h e auch höchs t e n s ein „ M o d e g ö t z e " ist: „ , D e r g a n z e N i e t z s c h e - K u l t u s ist k i n d l i c h e A b g ö t t e r e i , ist b e w u ß t e A u f l e h n u n g g e g e n d e n stillen M a n n v o n N a z a r e t h . ' " — „ W e r , d e r d a s H e r z a u f d e m r e c h t e n F l e c k e h a t , m u ß nicht z u g e b e n , d a ß g e g e n d i e s e n a u s G o t t geborenen
Ubermenschen,
unsern einigen Erlöser, der U b e r m e n s c h
Nietzsches
s c h l e c h t e r d i n g s n u r als K a r i k a t u r w i r k t ? " Aus seiner Göttinger richtet O t t o Freiherr v o n
Studentenzeit im S o m m e r
des Jahres
1901
be-
Taube:
„ Z u m ersten M a l e h ö r t e ich v o n N i e t z s c h e — v o n d e m mir trotz
oder
w e g e n W e i m a r bisher k a u m m e h r als d e r N a m e b e k a n n t g e w e s e n w a r a n d e r s als n u r v o n e i n e m W a h n s i n n i g e n
—
reden."31
„ A u c h d i e G e s p r ä c h e m i t B r u n o F u c h s b e r e i c h e r t e n . N i e t z s c h e s t a n d in i h r e m M i t t e l p u n k t e ; B r u n o las mir Stellen a u s vielen s e i n e r W e r k e v o r , ich selbst, v o m F r e u n d e a n g e r e g t , las die G e n e a l o g i e d e r M o r a l , die G e b u r t d e r T r a g ö d i e u n d , ich g l a u b e s c h o n d a m a l s , d e n Fall W a g n e r u n d a n d e r e s .
Er-
w e c k t e n u n N i e t z s c h e in m i r e i n e n G e i s t , d e r a u f d a s A b s t r e i f e n v o n
Fes-
seln hin sich regte, s o e r g a b ich m i c h n o c h e i n e m z w e i t e n M e i s t e r , d e r die V e r e h r u n g d e s S c h ö n e n u n d d e r K u n s t in m i r b i s z u m a l l e r ä u ß e r s t e n
stei-
g e r n s o l l t e : d a s w a r W a l t e r P a t e r . . ."32
31
32
Wanderjahre. Erinnerungen aus meiner Jugendzeit. K. F. Koehler, St. (1950), S. 111; Taube, Otto Freiherr von (Reval/Estland 2 1 . 6 . 1879 — Tutzing 30. 6. 1973), Schriftsteller. Ebd., S. 114; aus der Zeit um 1902/03 erzählt er dann weiter: „. . . der ganze Mensch war in mir seit Göttingen erstorben, und als er sich nun wieder unter dem Einfluß Bruno Fuchs
1901
89
35
anonym, (LCBl Nr. 30 v. 27. 7. 1901, Sp. 1221).
Eine recht sachliche Anzeige des Werkes von Deussen (Nr. 32), der „Wärme dec Empfindung mit Nüchternheit des Urteils und tiefer vornehmen Unbefangenheit verbindet".
90 Berg, Leo (Berlin), Nietzsche-Schriften. (DLE 3. Jg., H. 22 v. Auig. 1901, Sp. 1535—1539). Gleich zu Anfang dieser Sammelbesprechung steht ein etwas einzigartiges Urteill über den ersten Briefband (s. Bd. I): Nietzsches Briefe „gehören . . . nicht zu den großen Erscheinungen" auf dem Gebiet der Nietzsche-Literatur, da er des Briefes „als einer besonderen litterarischen Form" bedurft habe. Ganz kurz wird darauf Deussens Schrift (Nr. 32) abgetan und dessen Beurteilung Nietzsches abgewiesen. Rezensent geht dann auf die Briefveröffentlichung der Schwester in der „Neuen Deutschen Rundschau" (F) über und bedauert, daß „die Darstellung und gerechte Würdigung" des Nietzsche-Wagner-Verhältnisses nicht besser ausgefallen sei. Da.nn kommen H o r n e f f e r („Vorträge über Nietzsche"; s. Bd. I) — seine Vorträge haben „etwas Akademisches, Lehrhaftes, dem die überzeugende Kraft fehlt" —, FaLkenfeld („Marx und Nietzsche"; s. Bd. I) — er sei weder Marx noch Nietzsche gerecht geworden und behandle seinen Stoff „mit verblüffender Naivetät" —, Tantzscher („Friedrich Nietzsche und die Neuromantik"; s. Bd. I) — der seine Sache „mit etwas mehr Geschick" mache —, Reiner (Nr. 83) — an dem kaum etwas heil gelassen wird —, Schacht (Nr. 1) — „Diese Untersuchung scheint eine liegengebliebene Rezension zu sein." — und zuletzt die französische Ubersetzung des „Zarathustra" von H e n r i Albert: „Ein französischer ,Zarathustra' ist nahezu ein Unding." — an die Reihe.
91 Wihan, R., Friedrich Nietzsche. Zur richtigen Beurteilung der Lehren Nietzsche's. (ADUZg 15. Jg., Nr. 15 v. 1. 8. 1901, S. 146 f.). Eine Erwiderung auf die Äußerungen Küsters (Nr. 78), bei der der Verfasser seine Ablehnung Nietzsches noch weiter zu erhärten sucht. Der Herausgeber (d. i. eben Küster) bringt dem Aufsatz acht recht entkräftende Anmerkungen bei, z. B.: „Alles dies ist falsch aus N.'s Worten herausgelesen; es fallen damit auch die auf solchen Sätzen aufgebauten weiteren Behauptungen."
zu regen begann, geschah das nicht im Zeichen des Kreuzes, sondern im Zeichen Nietzsches . . . H a t t e Nietzsche mich nun als Individualisten wiedererwachen lassen, als einen, der an eigene Menschenrechte glaubte und in ihrer Verwirklichung Menschenpflicht und Lebensziel zu sehen begann, so schienen, der Haltung des damaligen Protestantismus nach, Christentum und Individualismus einander nicht auszuschließen; habe doch erst das Christentum den unendlichen Wert einer jeden Menschenseele entdeckt und gelehrt. W a r ich auch jetzt ein Nietzschejünger — sein Wahnsinnserzeugnis, ,der Antichrist', war damals noch nicht erschienen —, ich sah bei ihm gehässige Urteile über Jesus mit ehrfürchtigen wechseln . . ( e b d . , S. 206 f.). S. a. s. 216, 225 f., 340, 341 (über seine Besuche bei der Schwester in Weimar in dem Jahre 1903 und danach).
36
1901 Herman Schell
Die spärlichen, aber nicht ganz bedeutungslosen Äußerungen Herman Schells über Nietzsche sind in seinen „Kleineren Schriften" vereinigt. 33 H Förster-Nietzsche, Elisabeth, Friedrich Nietzsche und Hippolyte Taine. Briefwechsel mit Erläuterungen. ( D R Aug. 1901, S. 1 4 7 — 1 5 4 ) . Bringt die drei Briefe Taines und die zwei Nietzsches, die erst J a h r e später, unter Auslassung der Erläuterungen zu der z. Tl. durch R o h d e s Äußerungen
über
T a i n e veranlaßten E n t f r e m d u n g zwischen Nietzsche und R o h d e (S. 1 5 0 — 1 5 3 ) , in die erste Hälfte des dritten Briefbandes ( X ) a u f g e n o m m e n wurden.
92 Höfler, Prof. Dr. Alois (Wien), Zur Wandlung des ersten in den zweiten Nietzsche. (MAZg Beil. Nr. 176 f. v. 3. u. 4 . 8 . 1 9 0 1 , S. 1 — 5 , 3-6). N a c h Ansicht des Verfassers haben „Nietzsche und seine Schwester schon damals", d. h. zur Zeit der ersten Festspiele, verlernt, „den feineren Mannichfaltigkeiten im Innenleben des g r o ß e n Freundes (lies: W a g n e r ) überall zu folgen", und so
13
Hg. v. Karl Hennemann. Schöningh. Paderborn 1908, S. 288 (in einer 1901 erschienenen im allgemeinen wohlwollenden Besprechung des Werkes von Ludwig Stein „An der Wende des Jahrhunderts" reiht Besprecher die Einwände Steins gegen Nietzsche auf und läßt ihnen dann die Überlegung folgen: „Ich denke im Hinblick auf den jüngst Verewigten, das tragische Opfer tragischer Gedanken: Die geistige Größe ist auch bei Philosophen nicht nach e i n e m Maßstab allein zu messen. Manche Denker sind groß, nicht durch das, was sie e r k a n n t , sondern was sie g e d a c h t und w i e sie gedacht haben oder wie in ihnen gedacht wurde. Es gibt einen Ringkampf der Ideen mit dem Geiste. Er ahnt in ihnen wohl Dämonen; aber er erliegt dem dämonischen Zauber, mit dem ihn der Gedanke anhaucht . . ."), 379 (Ubereinstimmung in den Ansichten Harnacks und Nietzsches angelegentlich einer Besprechung von Harnacks „Wesen des Christentums"), 427 ff. (Ähnlichkeit zwischen dem Ubermenschen der Urzeit und dem Nietzsches). Uber Schell schrieb Alois Dempf (Albert Ehrhardt. Der Mann und sein Werk in der Geistesgeschichte um die Jahrhundertwende. Alsatia Vlg. Kolmar/Elsaß (1946), S. 21:) „Schell ist der erste deutsche Hochschullehrer, der Vorlesungen über und gegen Nietzsche gehalten hat, als man ihn in Universitätskreisen noch nicht ernst nahm." Er schrieb ferner über einen „Direktor des Priesterseminars, Gustav Müller, dessen Ängstlichkeit so weit ging, daß er seinen doch schließlich zu Großstadtseelsorgern oder Religionslehrern an Gymnasien bestimmten Alumnen nicht nur die Lektüre Nietzsches verbot — ihretwegen sollen Philipp Funk, Hermann Hefele und Josef Eberle aus dem Tübinger Priesterseminar entlassen worden sein — , sondern sogar die Lektüre katholischer Apologeten gegen so gefährliche moderne Denker, insbesondere aber die Romanlektüre." (Ebd., S. 121). Josef Hasenfuß berichtete schon 1956 (Herman Schell als existentieller Denker und Theologe. Zum 50. Todestag. Echter-Vlg. Würzburg, S. 16), daß es von Schell Nietzsche-Vorlesungen in den unveröffentlichten Schriften gebe, und diese 1901/02 gehaltenen Vorlesungen über „Nietzsche und das Christentum" sind jetzt in der Nachschrift von einem Schüler Hugo Paulus von J. Hasenfuß veröffentlicht worden: H. S. als Wegbereiter zum II. Vatikanischen Konzil. Schöningh. Paderborn, Mchn., Wien, Zür. 1978, S. 105—134 = Abhandlungen zur Philosophie, Psychologie, Soziologie der Religion und Ökumenik hg. v. J. H. H. 38 d. Neuen Folge; Eberle, Joseph (Ailingen/Kr. Tettnang 2. 8. 1884 — Salzburg 12. 9. 1947), katholischer Publizist; Funk, Philipp (1884—1935), Historiker in Freiburg im Breisgau; Hefele, Hermann (Stuttgart 1 3 . 1 0 . 1 8 8 5 — Frauenburg/Ostpr. 3 0 . 3 . 1 9 3 6 ) , Literaturwissenschaftler; Schell, Herman (Freiburg/Br. 2 8 . 2 . 1850 — Würzburg 31. 5. 1906), Priesterweihe 1873, seit 1885 Professor der Theologie in Würzburg.
1901
37
eröffne „Menschliches . . . die lange Kette von Schriften des zweiten Nietzsche". Verfasser stellt dann folgende Frage: „Waren die Ideale, denen der erste Nietzsche gehuldigt hatte, von der Art, daß sie ein bestimmtes Maß von G e s u n d h e i t , von Vollkraft fordern, wenn man ihnen treubleiben soll — oder aber war wirklich, wie Nietzsche selbst meinte und lehrte, die Abwendung von ihnen das Anzeichen erst eingetretener Gesundung?" Die Antwort überrascht kaum: „ U n k r a f t war es, die Nietzsche von den Idealen seiner Jugend abgedrängt hat — und ein mehr oder minder dunkles, jedenfalls aber immer quälendes Bewußtsein dieser Unkraft hat als einzig noch mögliche Form einer scheinbar kraftvollen Abwehr die Feindseligkeit hinzugethan." Um das Fehlen eines „,urkräftigen Behagens' ursprünglicher Produktivität" auch in den Schriften des „ersten Nietzsche" aufweisen zu können, behauptet er: „Niemand aber, der die Drei: Schopenhauer, Richard Wagner und den ersten Nietzsche völlig kennt, kann verkennen, wie jeder Gedanke jener fünf Schriften Nietzsches schon längst von Schopenhauer und von Wagner vorgedacht gewesen war." 93 Lichtenberger, Henri ( N a n c y ) , ( D L Z g Nr. 31 v. 3 . 8 . 1901, Sp. 1928 ff.). Eine recht sachliche Besprechung des Werkes von Fischer (Nr. 42), das aber „manchmal von seinem Gegner ein wahres Zerrbild" gebe. 94 Dreydorff, D . (Leipzig), D i e große Frage. Unter Bezugnahme auf Nietzsche, Strauß und Tolstoi. Ein Vortrag. (DPB1 32. Jg., Nr. 31 f. v. 3. u. 10.8. 1901, S. 244 f., 2 5 0 - 2 5 3 ) . Es sei „die Frage nach unseres Lebens Sinn und Bedeutung", gegenüber welcher der Verfasser „die modernen Führer der antichristlichen Bewegung" zu Worte kommen lassen möchte. Im Falle Nietzsches unterstreicht er dessen Behauptungen, das Christentum sei „kulturfeindlich", „demokratisch", „lebensfeindlich", lehre eine „kr.echtische Gesinnung" und die Gleichwertigkeit des Weibes, und versucht dann, sie vom christlichen Standpunkte aus zu widerlegen. Strauß ist ihm ein „ungleich beceutenderer Gegner des Christentums" und Tolstoi ein „wackerer", der nur „in seiner Rechnung" einiges übersehen habe. 95 Mauclair, Camille, Nietzsche und Frankreich. A. d. unveröffentlichten Ms. übers, v. Wilhelm Thal. (Zgt Nr. 31 v. 5. 8. 1901). 34 Eine einzige Vergötterung Nietzsches. Besonders er werde „in der Provence und in allen toulousanischen und gascognischen Gegenden . . . von einer bedeutender Anzahl junger Leute, die ihn als Meister anerkennen, geliebt und verstanden", im Gegensatz zu „den nordischen Gegenden Frankreichs", wo „Ibsen und Tolstoi vorzugsweise . . . als Erzieher angesehen werden": „Man liest ihn allgemein an den Universitäten, wie Aix und Montpellier zum Beispiel, wo Bücher wie die ,Götzendänmerung' und ,Menschliches und allzu Menschliches' sich in den Händen aller Phlosophie Studirenden befinden." Er sei den Franzosen „gleichzeitig . . . Protestler des Paganismus gegen den Christianismus, des Realismus gegen den Symbolis34
vlauclair, Camille (Paris 29. 11. 1872 — ebd. 23. 4. 1945), Schriftsteller.
38
1901 „der Protest des lateinischen Geistes gegen den germanischen Geist"
mus und des S ü d e n s g e g e n den N o r d e n " . — „. . . er ist . . . der Protest des lateinischen Geistes g e g e n den germanischen G e i s t . " V o n f r a n z ö s i s c h e n „ I d e o l o g e n " w e r den ausdrücklich e r w ä h n t : L é o n D a u d e t , Paul A d a m und R e m y de G o u r m o n t . 95/1
W i d e m a n n , Paul Heinrich, E r i n n e r u n g e n an Friedrich
Nietz-
s c h e . ( C h T b l v. 6. 8. 1 9 0 1 ) . 95/la unter
A u c h i n : B e g e g n u n g e n m i t N i e t z s c h e h g . v. S a n d e r L. G i l m a n
Mitwirkung
v.
Ingeborg
Reichenbach.
Bouvier.
Bonn
1981,
S. 2 4 7 - 2 5 0 . Berichtet (mit einem? längeren S e t z f e h l e r ) über einen V o n r a g , den W i d e m a n n in C h e m n i t z vor der „ G e s e l l s c h a f t f ü r Litteratur und K u n s t " über seine Baseler Zeit in den 70er J a h r e n gehalten hatte. V o n einiger Wichtigkeit ist die wörtliche Wiederg a b e von Nietzsches W i d m u n g an W i d e m a n n in einer Partitur der „ M e i s t e r s i n g e r " , die N i e t z s c h e von W a g n e r 1869 erhalten hatte und z u m N e u j a h r s t a g e 1878 an Widemann weiterschenkte. 96
Servaes, Franz, Skizzen aus d e m E n g a d i n . ( T a g
Unterhaltungsbl.
N r . 3 3 7 v. 7. 8. 1 9 0 1 ) . Erzählt ausführlich von einem Besuch im E n g a d i n und von seinem G e s p r ä c h mit dem „Friedensrichter D u h r i s c h " , dem H a u s w i r t N i e t z s c h e s in Sils-Maria „von a n n o 81 bis 88, jeden S o m m e r " , über N i e t z s c h e s d a m a l i g e Lebensweise. 97
Glarner, J., Friedrich Nietzsche.
Zur
richtigen
Beurteilung
der
L e h r e n N i e t z s c h e ' s . ( A D U Z g 15. J g . , N r . 16 v. 15. 8. 1 9 0 1 , S . 154 f.). Weist die B e h a u p t u n g e n Wihans ( N r . 91) z u r ü c k unter A n f ü h r u n g zahlreicher Stellen aus N i e t z s c h e s W e r k e n , die beweisen sollen, d a ß er kein „Lehrer der Selbstsucht" sei, nach dessen Lehren „sich jeder k ü h n e , mutige Bösewicht, jeder rücksichtslose S c h u r k e , R ä u b e r , M o r d b r e n n e r und T y r a n n als eine v o r n e h m e H e r r e n n a tur bezeichnen" dürfe. 98
Reishaus, Th., Uber Nietzsche's Also sprach Zarathustra.
Briefe
a u s T h ü r i n g e n . B r e m e r . S t r a l s u n d 1901. 37 S . , 1 Bl. ( = D r u c k f e h l e r b e r i c h t i g u n g e n ) .3,a Verfasser,
der sehr volkstümlich
und
von
betont christlicher W a r t e
aus
schreibt, lehnt das W e r k als einen „ A u s b r u c h des W a h n s i n n s " entschieden ab. D a ß Z o r o a s t e r , der N a m e n und Gestalt habe hergeben müssen, so nie „gesprochen und geschrieben" hätte, wird über eine g a n z e Seite hin d a r g e t a n und im weiteren immer wieder unterstrichen. N a c h dem V o r w o r t erschienen diese „ B r i e f e " zuerst im „Stralsunder T a g e b l a t t " . 99
Kaspar, Pastor W. (Schujen), D e r Ubermensch Nietzsche's. V o r -
t r a g a u f d e r e r w e i t e r t e n P a s t o r a l - K o n f e r e n z in W e n d e n i m J a h r e
1901.
( M N E K R 57. Bd., N f . 34. Bd., 1901, S. 2 4 8 — 2 7 9 ) .
341
Reishaus, Theodor (Brandenburg a. Havel 25. 9. 1836 — Stralsund 27. 3. 1905), Professor.
1901 „Der amerikanische Nietzsche"
39
Versucht, recht gehalten Nietzsches Lehre vom Übermenschen aus den W e r kem nachzuzeichnen, um zu d e m Schluß zu k o m m e n : „. . . ein klaffender, gar nicht zu überbrückender Gegensatz t r e n n t dieselbe von der christlichen Weltanschauung umd ihrer T u g e n d l e h r e ; sie ist eine vollständige V e r k e h r u n g derselben in ihr Gegentheil." Die W i r k u n g des U b e r m e n s c h e n auf „die großen und kleinen Geister" erk l ä r t er folgendermaßen: „ D e r k u l t u r m ü d e , neuerungssüchtige Mensch, die eben au:s dem Schulzwange g e k o m m e n e J u g e n d , sie empfinden es als ein erlösendes Evangelium, endlich einmal von der Bibel und von allen Autoritäten los geworden zu sein und o h n e Gewissensruhe mit Behagen auf allen Vieren kriechen zu dürfen."
100 Biedenkapp, Dr. Georg, Der amerikanische Nietzsche. (EC 4. Jg., Nr. 76, 1901, S. 2 4 6 - 2 4 9 ) . Einen solchen erkennt V e r f a s s e r in Emerson, den er dann eben in Z u s a m m e n h a n g mit Nietzsche — „Die Ubereinstimmungen mit Nietzsche sind überraschend zahlreich" — und sogar Multatuli bringt.
101 Schlüter, Willy (Cadenberge), Vom bösen Blick. Ein Beitrag zur Nietzsche-Kritik. (Kr Bd. 16, 1901, S. 422 ff.). Eigentlich eine E m p f e h l u n g des „flott und lichtvoll geschriebenen Büchelc h e n s " von K r o n e n b e r g ( N r . 2), die aber mit einem Vergleich Nietzsches mit dem S a t a n des Korans, dessen „böser Blick" das W e r k Gottes nicht verehren wollte, einsetzt.
102 Goldschmidt, Kurt Walter, Aus Nietzsches Nachlaß. (BrZg 82. Jg., Nr. 580, Morgenausg. v. 20. 8. 1901). Eine begeisterte Besprechung der N a c h l a ß b ä n d e X I und X I I ( G X I a u. G X I I a ) , in der Nietzsche-Zarathustra mit d e r Faustgestalt verglichen und das Verdienst der „jungen intelligenten Forscher" Simmel u n d Breysig sowie das der Schwester um Nietzsche hervorgehoben wird.
103
anonym, (LCB1 Nr. 34 v. 24. 8. 1901, Sp. 1381).
Eine g a n z knappe Anzeige des W e r k e s von Kalthoff (s. Bd. I), das „eine S a m m l u n g von Vorträgen, die ein liberaler, geistreicher Pastor in Bremen gehalten hat", biete.
104 Mauthner, Fritz, Beiträge zu einer Kritik der Sprache. 1. Bd. Sprache und Psychologie. Cotta Nr. St. 1901. In dem Abschnitt: Zufallssinne, setzt sich Verfasser eingehender mit Nietzsche als „Autorität" auseinander, S. 329—336. Er erörtert dessen „Ahnung des Zufalls in der Erscheinungswelt" und dessen „Bedeutung in der Geschichte der Sprachkritik". Weil Nietzsche gemeint habe, d a ß „unser Weltbild auf einem Irrtum beruhe", hätte er „eine Sprachkritik mit gewaltigeren Sprachmitteln herstellen k ö n n e n , . . . wenn er sich nicht einseitig mit moralischen Begriffen abgegeben hätte, und wenn ihn nicht seine prachtvolle S p r a c h k r a f t v e r f ü h r t h ä t t e , D e n k e r und z u g l e i c h Sprachkünstler sein zu wollen. Sein Mißtrauen gegen die Sprache ist unbegrenzt; aber nur solange es nicht s e i n e Sprache ist." Die sonstigen E r w ä h n u n g e n Nietzsches sowohl in diesem Bande (S. 272, 565, 613, 646) wie a u c h im zweiten (Zur G r a m m a t i k und Logik. 1902, S. 98, 138, 563, 624) sind r e c h t k u r z und d u r c h w e g abschätzig.
40
1901 Der Todestag jährt sich 104a
D a s s . 1 9 0 6 , b z w . 1 9 1 3 . D i e F u n d s t e l l e n j e t z t : 1. Bd., S. 3 0 1 ,
3 6 4 — 3 7 2 , 6 1 8 , 6 6 9 , 7 0 2 ; 2. Bd., S. 9 8 , 1 3 8 , 5 5 2 , 6 1 4 . D i e H a u p t s t e l l e hat m e h r e r e n i c h t g a n z u n w e s e n t l i c h e E r g ä n z u n g e n e r f a h r e n , die
sonstigen
sind u n v e r ä n d e r t g e b l i e b e n . 105
Ganz,
Hugo,
Ubermensch
oder Gentleman? (Zu
Nietzsche's
T o d e s t a g , 2 5 . A u g u s t ) , ( N F P r N r . 1 3 2 8 9 v. 24. 8. 1901, 4 S.). Versucht, sich die W i r k u n g Nietzsches zu erklären, und stellt d a r a u f h i n dessen U b e r m e n s c h e n den „ G e n t l e m a n " e n t g e g e n : „Es sind am letzten Ende die g r o b e n , unfeinen Instincte der neuen Gesellschaft, der .freigelassenen', die heute eine V e r g ö t t e r u n g gerade des N i e t z s c h e - Z a r a t h u s t r a , des kreischenden, lallenden Paralytikers möglich machen." 106
T h . , C . , L o u A n d r e a s S a l o m é . Z u N i e t z s c h e ' s T o d e s t a g , 25. A u -
g u s t 1900. ( W S M Z g 39. J g . , N r . 3 4 v. 26. 8. 1901). Frau Salomé zähle „unstreitig w e n n nicht zu den hervorragendsten, so doch zu den interessantesten Frauengestalten der G e g e n w a r t " , und „das große Ereignis in ihrem Leben, das bestimmend auf ihr D e n k e n und Fühlen eingewirkt hat", bilde Nietzsches „ W e r b u n g um sie". Sein Einfluß sei „in allen ihren W e r k e n zu spüren". Ausdrücklich e r w ä h n t w e r d e n „ R u t h " und „Fenitscha". Bemerkenswert ist die genaue Beschreibung des erst später veröffentlichten Bildes von Nietzsche, Lou und Rèe, das „in den Kreisen des geistigen W i e n . . . vor nicht allzu langer Zeit . . . die R u n d e " gemacht habe. Die T a t s a c h e , d a ß Rée mit keinem W o r t als M i t a u f g e n o m mener e r w ä h n t wird, läßt v e r m u t e n , d a ß es wenigstens zwei A u f n a h m e n gegeben habe. 107
Dr. e.g-r.,
Mehr Nietzsche!
(WAZg
N r . 7 0 3 8 v.
28.8.1901,
S. 2). Verfasser meint es mit seinem A u f r u f ernst, da Nietzsche ungelesen „noch immer zu den Einsamen" g e h ö r e : „ N e h m e t ihn so, wie er ist; nicht, wie ihn die große Schaar seiner G e g e n e r darstellt, nicht, wie ihn ein kindisches Gefolge unreifer N a c h t r e t e r verhimmelt, das nicht ihm, sondern seinen verblüffenden Schlagworten nachtrabt." Er empfiehlt dabei die W e r k e von Gallwitz, Zeitler und H o r n e f f e r („Vorträge ü b e r N i e t z s c h e " ; s. zu allen drei Bd. I), die „ihr Möglichstes" getan haben, „den N a m e n des g r o ß e n Philosophen in's V o l k zu tragen". 108
Rau,
Albrecht
(München),
Nietzsche-Studien.
(DZs
H . 13, 15 u. 17, 1 9 0 1 , S. 4 0 9 — 4 1 8 , 4 6 8 — 4 7 5 , 5 3 2 — 5 4 2 ; 15. Jg.,
14. Jg., 1902,
H . 2, 3, ?, ?, S. 5 5 — 5 9 , 8 5 — 8 8 , 2 6 2 — 2 7 2 , 4 5 4 — 4 6 6 ) . Lesenswert ist die einleitende Ansicht des Verfassers: „Ursprünglich von Schop e n h a u e r ausgehend . . . hat N i e t z s c h e eine selbständige, von keinem anderen D e n ker beeinflußte Entwicklung d u r c h g e m a c h t . . . " Es folgt dann eine längere Darstellung des D o g m a t i s m u s und des Skeptizismus, die darauf hinausläuft, d a ß Nietzsche zu den kritischen Realisten g e r e c h n e t wird: „ D e r kritische Realismus erkennt die Welt und die Einzeldinge darin so an, wie sie sich den gesunden Sinnen darstellen." N u n kann V e r f a s s e r feststellen: „. . . so ist Nietzsche hier auf dem allein richtigen W e g e . . . " — „Mit d e r A n e r k e n n u n g der Wirklichkeit und der Untrüglichkeit der
41
1901
sinnlichen Erkenntnis hat Nietzsche den wichtigsten Schritt gethan, der heute überhaupt gemacht werden kann . . ." Auch habe er den „direkten Zusammenhang zwischen den Ideen des Christentums, der spekulativen Philosophie und modernen N a turforschung" erschaut und hierauf sei „seine Abneigung gegen das Christentum, die spekulative Philosophie und die ,mechanische Naturauffassung' z u r ü c k z u f ü h ren": „Er hat mit größter Energie und wahrhaftem Heldenmute, nur auf sich gestützt, den Kampf gegen die wissenschaftlichen und religiösen Irrtümer unserer Zeit eröffnet, und darin liegt seine bahnbrechende Bedeutung." „Erst durch Nietzsche" sei das Publikum „wieder darauf aufmerksam gemacht" worden, daß „ein seichter Eklekticismus einerseits und eine alexandrinische Geschichtsschreibung andererseits . . . mit wenigen Ausnahmen die Signatur der Universitätsphilosophie" seien. Es folgt eine seitenlange „Begründung von Nietzsche's Beurteilung der Kantischen Philosophie": „Wenn es aber Nietzsche gelungen sein sollte, das Ansehen, welches Kant immer noch bei uns genießt, durch seine heftigen Angriffe zu erschüttern, . . . so müßte ich dies zu den besten Ergebnissen seines freien und furchtlosen Forschens und Denkens zählen." Als nächster kommt Plato und seine „Beurteilung durch Nietzsche" an die Reihe: „Plato ist der unselige Mann gewesen, der die einheitliche Natur des Menschen in zwei Hälften zerriß . . . Seit ihm krankt die Menschheit an dem Widerspruch der Seele und des Leibes, der Sinne und des Verstandes . . ." Dieser „spezifisch christlicher Philosoph", ohne den „das Christentum keinen oder doch nur einen sehr geringen Rückhalt bei der griechischen Philosophie g e f u n d e n " hätte, bildet dann das Bindeglied zum nächsten Gegenstand: „Nietzsche über Entstehung und Wesen des Christentums", und hier erst werden ernsthafte Einwände hörbar, die zum Schlußsatz f ü h r e n : „In der Hauptsache ist der Standpunkt, den Nietzsche dem Christentum gegenüber einnimmt, veraltet; er entspricht ungefähr dem der Freigeister des vorigen Jahrhunderts." Zu Nietzsches Ansichten über „Ursprung und Bedeutung der Reformation" steht Verfasser im strengen Gegensatz: der Protestantismus habe es vermocht, „Vergangenheit, Gegenwart und Z u k u n f t in sich aufzunehmen und so organisch zu wachsen bis zu dem heutigen T a g , während die von den Italienern ausgehenden Bestrebungen der Renaissance, welche kein mit der Religion verquicktes Prinzip in sich trugen, lautlos ausgeklungen sind". Im Laufe seiner Arbeit setzt er sich sonst mit dem Nietzsche-Schrifttum wiederholt auseinander, bes. mit den Ansichten Ludwig Steins in dessen 1893 erschienenem „Friedrich Nietzsche's Weltanschauung und ihre G e f a h r e n " (s. Bd. I), und scheint Feuerbach, „diesem großen, ursprünglichen und urkräftigen Denker", noch mehr gewogen als Nietzsche.
109 anonym, S. 41 ff.).
Nietzsche
und
andere.
(Gr Nr. 14, Bd. 2,
1901,
Veranlaßt durch das Nietzsche-Buch Riehls (s. Bd. I), das ihm zuviel Lobenswertes am Künstler Nietzsche findet, stellt Verfasser einen Vergleich mit Jean Paul an, bei dem er „Beobachtung, Psychologie, H u m o r und Stil" feststellt, bei Nietzsche dagegen „nur Stil".
110 Bauch, Bruno, Friedrich Nietzsche. Zur Würdigung Nietzsche's. (ADUZg 15. Jg., Nr. 17 v. 1. 9. 1901, S. 166).
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1901 „der rücksichtsloseste, consequenteste Titane"
Will sich in den Streit (Nr. 65, 66, 70, 78, 91, 97) eigentlich nicht einmischen, möchte aber doch „vor der Überschätzung Nietzsches als systematischen Denkers" und „der Unterschätzung . . . als Künstler" warnen. 111 Seidl, Arthur, Nietzsche-Bildwerke. (Wage 4. Jg., 1901, H. 42 f., S. 667 f., 684 ff.). Verzeichnet „einige 40 Bilder und Vervielfältigungen" sowie alle damals verfertigten Kunstwerke des Denkers und endet mit einem Aufruf zur Unterstützung „eines würdevollen Baudenkmals an irgend einem geeigneten Platze" zu Ehren Nietzsches. lila Auch in: A. S., Kunst und Kultur. Aus der Zeit — für die Zeit — wider die Zeit! Produktive Kritik in Vorträgen, Essais, Studien. Schuster & Loeffler. Bln. u. Lpz. 1902, S. 380 — 400. Unverändert. I Aus Friedrich Nietzsches „Umwertung / aller Werte". /Fragmente zur „Physiologie der Kunst". (I 2. Jg., 4. Quartal, H . 12 v. Sept. 1901, S. 2 4 1 - 2 6 0 ) . Vorabdruck von Stellen aus „Der Wille zur Macht" (GXV), S. 3 7 6 - 3 8 1 , 383 ff., 3 8 5 - 3 8 9 , 381 ff., 392, 393, 390 f., 389 f., 391 f., 3 9 4 - 3 9 9 ; (GXIV), S. 165 f. In der Anordnung weitgehend anders, in der Satzzeichensetzung häufig verschieden sowie gelegentlich auch in der Wonwahl. 112 Rau, Albrecht, ( D Z s Nr. 24, 1901, S. 806 f.). Eine recht schneidende Ablehnung des Werkes „Nietzsches Ästhetik" von „Zeidler" (s. Bd. I), der darin Nietzsche „seine Bedeutung als Philosophen ganz" abspreche, ihn „selbst als Moralisten . . . kaum gelten" lasse. 113 anonym, ( D L Z g Nr. 37 v. 14. 9. 1901, Sp. 2318). Eine recht knappe und sachliche Anzeige des Werkes von Paul Ernst (s. Bd. I). 114 Wihan, Robert, Zur richtigen Beurteilung der Lehren N i e t z sche's. ( A D U Z g 15. Jg., Nr. 18 v. 15. 9. 1901, S. 174 ff.). Erwiderung auf die Anmerkungen Küsters (Nr. 91) sowie auf die Einwände Glarners (Nr. 97). 115 Küster, Konr., Meine Erwiderung. (Ebd., S. 176 f.). Entgegnung Küsters, in der er zum Schluß Wihan als mit Nietzsche geistesund richtungsverwandt sieht: „Sie beide marschieren auf verschiedenen Wegen, jedoch zu demselben Ziele, zur Schaffung eines idealen Menschengeschlechts, von Übermenschen, welche die tierischen Naturtriebe ganz überwunden haben." 116 Schneider, Pfarrer Franz, Nietzsche-Zarathustra. ( C P B Ö U M 24. Jg., Nr. 18 ff. v. 20. 9., 5. u. 20. 10. 1901, S. 317 ff., 333 ff., 3 5 3 - 3 5 6 ) . Verfasser sieht in Nietzsche das folgerichtige Endergebnis des Wirkens von Feuerbach, Darwin, Häckel, Hellwald, Drews, Morison, Hartmann, Spicker, Paulsen, Comte, Tolstoi, Mill und Max Müller: „Im XIX. Jahrhunderte suchten die führenden Geister den Kampf gegen Gott und die christliche Weltanschauung zur Entscheidung zu bringen, der rücksichtsloseste, consequenteste Titane ist jedoch erst Nietzsche, welcher nicht nur die Grundmauer der christlichen Welt, die christliche
1901 Ein „vorwärts zeigender Prophet"
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Metaphysik, hinweggeräumt wissen will, sondern auch in dämonischer Lust die christliche Weltanschauung, das christliche Sittlichkeitsideal unbarmherzig zertrümmert." Auch dem Monismus habe er den Endstoß gegeben. Doch kann Verfasser gegen Schluß beruhigt feststellen: „Nietzsche thürmte Geschütz auf Geschütz gegen die Gottheit und er wurde — vom Blitze getroffen. Er starb im Wahnsinn." J Ein ungedrucktes Blatt Friedrich Nietzsche's. (J Nr. 41 v. 25. 9. 1901, S. 670). Bringt eine sonst, noch heute (?) ungedruckte „erste Fassung des Aphorismus 38 3 der .Fröhlichen Wissenschaft'" (GV), S. 344 f. Dazu zeigt das Blatt eine Zeichnung von Max Hagen zu einem Spruch Nietzsches aus dem „Zarathustra". Diese Nummer der Zeitschrift wird gelegentlich als „Nietzsche-Heft" bezeichnet, wohl deswegen, weil das Titelblatt ein Bild von Nietzsche aufweist, das „nach einer Porträtbüste von Karl Donndorf (Stuttgart) hergestellt" wurde, sonst enthält die Nummer nichts von noch über Nietzsche. Κ Aus Friedrich Nietzsches „ U m w e r - / tung aller Werte". / Fragmente aus dem Kapitel „Die Philo- / Sophie als Decadence". (I 3. Jg., Nr. 1 v. Okt. 1901, S. 6 - 2 0 ) . Vorabdruck von Stellen aus „Der Wille zur Macht" (GXV), S. 2 3 1 - 2 3 4 , 235 — 242, 234 f., 242 — 246. In Anordnung, Satzzeichnung und Wortwahl wie zu I. 117 Hahnemann, M., Friedrich Nietzsche. ( A D U Z g Nr. 19 v. 1. 10. 1901, S. 186). Sich nur an den Anfangsaufsatz im Streite wendend (Nr. 65) meint der Verfasser, „der Ruf" Nietzsches führe „zurück in tierische . . . Natur". 118 Böhme, Alfred, Nietzsches und die Kultur der Gegenwart. ( A D L Z g 53. Jg., Nr. 4 0 - 4 3 v. 6., 13., 20. u. 27. 10. 1901, S. 465 f., 477 ff., 491 f., 502 ff.). Verfasser sieht „die moderne Kultur . . . im Zeichen des .Dualismus'", des „Gegensatzes zwischen dem Individuum und der Gesellschaft", und Nietzsche ist ihm dann auch „die treffendste Illustration der Zeit": „Wie diese, so ist auch er in sich zerrissen, zerfleischt von Gegensätzen, seine Lehre ein wahres Nest von Widersprüchen." In dem „Verfall der Form" findet er Nietzsches Einfluß in Dichtungen von Georg Stolzenberg, Ludwig Reinhard, Robert Reß und Arno Holz, im Inhaltlichen bei Wilbrandt und Spielhagen. Verfasser schließt dennoch mit der Behauptung, daß Nietzsche „den Weg fortgesetzt hat, den der neuerwachte kritische Geist zur Zeit der Reformation begonnen, und den vor ihm schon ein Lessing und ein Schopenhauer beschritten". Er sei ein „vorwärts zeigender Prophet". 119 Hengster, Heinrich, Richard Wagners Unrecht gegen Friedrich Nietzsche. (MAZg Beil. z. Nr. 231 v. 8. 10. 1901, S. 1 ff.). Eine Verteidigung der Handlungsweise Nietzsches und der Schwester in Sachen Wagner, gegen den Aufsatz von Höf 1er (Nr. 92). 120
v. M., ( D Z s Nr. 24, 1901, S. 807).
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1901 Gabriele Reuter — Georg Simmel
Eine wohlwollende Besprechung der Schrift von Fischer (Nr. 42), deren Schwäche „in den kritischen Ausführungen" liege. „Wie wäre es auch dem höchstgebildeten gläubigen Katholiken möglich, in einer kurzen Schrift Nietzsche zu kritisieren? Müßte er doch vorerst die gesamte moderne Wissenschaft und die dem Thomas von Aquino nachfolgende Spekulation, aus der Nietzsche als letzte Konsequenz herausgewachsen, kritisieren!" 121 Sabene, Cl., Friedrich N i e t z s c h e . (G Wissenschaftl. Beil.: Blätter f. Litt., Wissenschaft u. Kunst. Nr. 43 v. 24. 10. 1901, S. 3 3 7 — 3 4 0 ) . Versucht anfangs die „Nietzsche-Begeisterung" zu erklären und findet, daß sie nicht allein „dem moralischen Emancipationsgelüste", „der Vorliebe des Decadents für selbsttäuschende hohe Phrasen" oder „der hinreißenden Gewalt seiner Rede" zuzuschreiben sei, sondern es habe eine Stimmung „in weiten Kreisen" geherrscht, in der sich ein „idealloser nackter Egoismus" ausdrücke, und in dieser Stimmung habe seine „Lehre vom ,Herrenmenschen' und seiner Herrlichkeit wie ein Blitz die verhaltene Spannung zur Auslösung gebracht". Verfasser kommt dann auf das Werk von Fischer (Nr. 42), an dem einiges bemängelt wird, dessen „principielle Auseinandersetzung" aber „vortrefflich" sei. „Nicht den Zukunftstraum des kommenden Ubermenschen zu erfüllen soll unsere Aufgabe sein, sondern der ,Väter werth zu sein', wie es uns in der Jugend gelehrt wurde, der Väter in der treuen Ahnenzeit und vor allem der Väter im Glauben, in Christo." 122 Reuter, Gabriele, Eine N i e t z s c h e - B ü s t e . ( N F P r N r . 13357 v. 31. 10. 1901). Beschreibt die Nietzsche-Büste von Max Kruse — „Er gibt in seiner Büste nicht die kranke Hülle des im Kampf zerbrochenen Menschen, sondern in der Form des Nietzsche-Kopfes die Idee des Ubermenschen, der mit allen finsteren Dämonen gerungen hat und Sieger geblieben ist." — und erzählt dabei von einer Begegnung mit dem kranken Nietzsche in Weimar. 123 Albrecht, O. (Pastor Lic.), Blicke in N i e t z s c h e s Weltanschauung. Vortrag, gehalten am 22. Januar 1901. (Im: N a c h t r a g z. Dritten Album d. Litteraria in Naumburg a. d. Saale. N a u m b u r g 1901. Heinr. Sieling, S. 4 7 - 7 8 ) . Eine Art Nachruf, in dem einiges wenige aus Naumburger Kreisen zum Bilde Nietzsches beigetragen wird und zum Schluß „der Versuch, Nietzsche als Erzieher zum Christentum hinzustellen", entschieden zurückgewiesen wird. Erwähnung verdient vielleicht folgende Bemerkung des Verfassers: „In der Königlichen Bibliothek zu Berlin sind zur Zeit, wie ein Beamter versichert hat, Nietzsches Werke die am meisten begehrten Bücher." Ab Wintersemester 1 9 0 1 / 0 2 hielt G e o r g Simmel Vorlesungen in Berlin, die Nietzsche ausdrücklich zum Gegenstand hatten: Philosophie des 19. Jahrhunderts, von Fichte bis Nietzsche. W i d e r h o l t wurden sie dann verhältnismäßig regelmäßig: Wintersemester 1 9 0 2 / 0 3 , 1 9 0 3 / 0 4 , 1 9 0 5 / 0 6 und 1 9 0 9 / 1 0 . 1 9 0 7 / 0 8 wurde die Benennung etwas geändert: Philosophie des 19. Jahrhunderts, von Fichte bis zu N i e t z s c h e und Maeterlinck. 1 9 1 0 / 1 1 ,
1901 D e r Wille zur Macht
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1 9 1 1 / 1 2 und 1 9 1 2 / 1 3 u m f a ß t e n sie die Zeit v o n Fichte bis zu N i e t z s c h e und Bergson, und im W i n t e r s e m e s t e r 1 9 1 4 / 1 5 an der Universität Straßburg fiel der N a m e N i e t z s c h e schließlich fort. 35 124 a n o n y m , Zarathustras V e r s ö h n u n g . J. G. Findel. Lpz. 1901. 62 S., 1 Bl. ( = V l g s . - a n z . ) . Läßt den umherirrenden Zarathustra auf einen ehemaligen Schüler Johannes, der inzwischen Landwirt geworden ist, stoßen. Zusammen begegnen sie dann einem „Briefträger", einem „sozialdemokratischen Agitator" und einem zweiten, ehemaligen, inzwischen selbst Lehrer gewordenen Schüler Markus. Gespräche mit den früheren Schülern, die seine Werte „je nach ihrer Weise" umgewertet haben, stimmen Zarathustra versöhnlich. Hierauf tritt ein dritter ehemaliger Schüler, der Arzt Lukas auf. Zum Schluß kehrt Zarathustra mit Johannes zurück, lernt „die Pflege des Gartens" und bringt seine Lehre in Einklang mit der freimaurerischen Auffassung, ehe er stirbt. 125
Seidl, Arthur, W a s d ü n k e t Euch um Peter Gast? ( 1 9 0 1 / 0 2 ) .
125a A u c h in l i l a , S. 401 — 4 2 8 . Ein ziemlich durchsichtiger Versuch, die Aufführung von Gasts Musikwerken zu fördern, angeblich um darüber entscheiden zu können, ob Nietzsches Urteil darüber zu Recht bestehe. Dennoch scheint folgende Äußerung ernst gemeint: „Ich fürchte, sein überanstrengter Geist konnte die neue, a s y m m e t r i s c h e Melodik, jene ,unendliche Melodie' der Modernen seit Wagner, die den Parallelismus der Ton-Phrasen, T h e m a und Antwort etc. etc. fast grundsätzlich meidet, allmählich nicht mehr gut — ich will nicht sagen: erfassen, aber doch: e r t r a g e n . Ja, fast scheint es, als war dies grade der allerursprünglichste Ausgangspunkt seiner eigenen Sinnesänderung in der Wagner-Frage und die allererste mahnende Ankündigung einer bei ihm sich langsam vorbereitenden Erkrankung der Geistesfunktion . . ." GXV N a c h g e l a s s e n e W e r k e . / D e r Wille zur Macht. / V e r s u c h einer U m w e r t h u n g aller W e r t h e . / (Studien und Fragmente.) / V o n / Friedrich N i e t z s c h e . / Leipzig / D r u c k u n d V e r l a g v o n C. G. N a u m a n n / 1901. X X I I S . ( = Inhalt u. V o r w . v. E. F ö r s t e r - N i e t z s c h e ) , 1 Bl., 541 S., 5 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = N i e t z s c h e ' s W e r k e . Z w e i t e Abtheilung. Bd. X V . (Siebter Bd. d. zweiten Abth.) GkXV
Dass. 3. und 4. T a u s e n d . Unverändert.
126 Ernst, Dr. Paul, Z u r Entstehung des Ü b e r m e n s c h e n . (EK 9. Jg., Nr. 44, 1901, S. 348). Findet zwei Bemerkungen in der Neuauflage des zwölften Bandes der Gesamtausgabe (GXIIa) „besonders merkwürdig", „weil sie ein helles Licht auf den Seelen-
35
S. das Vorlesungsverzeichnis in: Buch des Dankes an Georg Simmel. Briefe, Erinnerungen, Bibliographie. Zu seinem 100. Geburtstag am 1. März 1958 hg. v. K. Gassen u. M. Landmann. Duncker & Humblot. Bln. (1958), S. 345 — 349.
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1901 Die Jugendbewegung
zustand w e r f e n , in w e l c h e m N i e t z s c h e die N ö t i g u n g f ü r die K o n z e p t i o n seines Ubermenschen empfand". 127
Steiner, R u d o l f , Tolstoi
und
Nietzsche.
( M L Bd. 7 0 , N r . 4 5 ,
1 9 0 1 , Sp. 1 0 6 8 — 1 0 7 1 ) . Als „tiefere Impulse im Geistesleben der G e g e n w a r t " stellt der V e r f a s s e r H a e k kel, Tolstoi und N i e t z s c h e hin und findet in Nietzsche wie auch in Tolstoi „die christliche V e r a c h t u n g des materiellen Daseins", um beide somit in Gesellschaft von Luther und K a n t zu bringen. 127a
M i t d e r U b e r s c h r i f t : H a e c k e l , T o l s t o i u n d N i e t z s c h e , a u c h in:
R. S., G e s . A u f s ä t z e z. K u l t u r - u. Z e i t g e s c h . V l g . d. R. S . - N a c h l a ß v e r w a l t u n g . D o r n a c h 1 9 6 6 , S. 4 9 7 — 5 0 4 . D e r S p e r r d r u c k der V o r l a g e ist weitgehend unberücksichtigt, sonst unverändert. 128
a n o n y m , D e r naturalistische I n d i v i d u a l i s m u s . ( N B B d . 12, 1 9 0 1 ,
S. 6 3 0 - 6 3 5 ,
682-702).
Nietzsche ist dem V e r f a s s e r in der A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit d e m Sozialismus bei den Fragen der K u n s t und Philosophie eben „der V e r t r e t e r des naturalistischen Individualismus", in ihm habe sich der v o n den Z y n i k e r n des Altertums, von der Renaissance über Fichte, Stirner und S c h o p e n h a u e r ü b e r k o m m e n e Individualismus „mit dem aus der N a t u r w i s s e n s c h a f t und aus dem D a r w i n i s m u s h e r v o r g e g a n g e n e n Naturalismus v e r b u n d e n " . S o g a r die W a g n e r - N i e t z s c h e - E n t f r e m d u n g lasse sich mit Hinsicht auf „die beiden G e g e n s ä t z e , die unsere Zeit b e h e r r s c h e n " , e r k l ä r e n : in ihnen sei „der Individualismus und der Sozialismus immer m e h r " h e r v o r g e t r e t e n ; „daher mußten sie sich t r e n n e n " . D e r V e r f a s s e r , d e r m e h r aus dem S c h r i f t t u m über Nietzsche (Gallwitz, K a l t h o f f , Reiner, Riehl, Steiner, T i e n e s und v o n G r o t t h u ß ) als aus diesem selber s c h ö p f t , faßt N i e t z s c h e recht zweideutig auf. G e g e n Schluß heißt es: „Seine ersten Schriften enthalten m a n c h e gute G e d a n k e n ; in den letzten h a t ihn der Wirklichkeitssinn g a n z und g a r verlassen, so d a ß er sich in leere, unwirkliche und u n w ü r d i g e Phantastereien verliert. H i e r s c h m ä h t und v e r h ö h n t er alles W a h r e , Schöne und G u t e . . ." Einige Zeilen darauf aber liest m a n : „Die B e d e u t u n g N i e t z sches f ü r unser Kulturleben liegt in seinen N e g a t i o n e n ; was er schlecht n e n n t erweist sich bei rechter A u f f a s s u n g auch als schlecht." U b e r die E n t s t e h u n g der W a n d e r v o g e l b e w e g u n g , d e r e n „erste a n e r k a n n t e O r g a n i s a t i o n " als „ A u s s c h u ß f ü r S c h ü l e r f a h r t e n " a m 4. N o v e m b e r 1901 in B e r l i n - S t e g l i t z g e g r ü n d e t w u r d e , s c h r i e b E l s e F r o b e n i u s .
Nach
W ü r d i g u n g des u n m i t t e l b a r e n V e r d i e n s t e s v o n W o l f g a n g K i r c h b a c h u n d L u d w i g Gurlitt u m G r ü n d u n g u n d erste A u s b i l d u n g g e h t sie z u d e n g e i s t i g e n V ä t e r n ü b e r , e r w ä h n t P a u l d e L a g a r d e , Julius L a n g b e h n u n d E l l e n K e y und schließt den ersten Abschnitt mit den W o r t e n : „Als b e d e u t e n d s t e n d e r Z e i t g e n o s s e n , v o n d e n e n d e r W a n d e r v o g e l sein e n i n n e r e n G e h a l t herleitet, n e n n e ich n o c h F r i e d r i c h N i e t z s c h e .
Er
hat n e u e l e u c h t e n d e M e n s c h h e i t s z i e l e a u f g e s t e l l t , d i e m a g i s c h l o c k t e n , u n d
1901 Aby Warburg
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rief die Jugend auf neue Kampfbahnen . . . Nietzsche ist der große Zukunftsweiser, der in der Jugend das Bewußtsein ihres Wertes und ihrer Bestimmung, die Zukunft zu gestalten weckt. Seine Verachtung von Philistertum und Halbbildung, von gesellschaftlicher Lüge und Eitelkeit ist tief in die J u g e n d b e w e g u n g eingedrungen. Nietzsches Geist wird immer wieder lebendig in ihr. D e n n er ist der Prophet des unentdeckten Landes, das die J u g e n d b e w e g u n g aufbauen will." 36 129 M u f f , Christian (Pforta), D e r geniale Mensch. ( N P r K z Nr. 561 v. 30. 11. 1901). Eine fast durchweg bejahende Besprechung der fünften Auflage von Tiircks Werk (s. Bd. I). Der Rezensent findet gerade das elfte Kapitel „vortrefflich und wohl das Beste, was das Buch bringt". 130 anonym, (LCB1 Nr. 48 v. 30. 11. 1901, Sp. 1956 f.). Eine recht zweideutige Beurteilung des Werkes von Zeitler (s. Bd. I). Da dieser Nietzsche als Künstler verstanden wissen wolle, aber „der Künstler mit der Ästhetik ebensowenig zu thun" habe „wie die schaffende Natur mit der Naturwissenschaft", „so ist denn auch die ästhetische Ausbeute aus seinen Schriften nicht sonderlich reich, zumal er nur immer an Musik und Dichtkunst denkt, wenig oder gar nicht an die bildenden Künste". Dennoch sei das Buch „reich an originellen, feinsinnigen Bemerkungen". 131 G r a m z o w , Dr. O t t o (Berlin), Friedrich Nietzsches Herrenmoral. ( D D S 5. Jg., H . 12, 1901, S. 7 1 2 - 7 6 0 ) . " Eine durchaus anerkennende, wenn auch nicht in allem zustimmende Darstellung, denn Verfasser meint, „Nietzsche hat mit seinem Lebenswerk eine philosophische Großtat vollbracht, die für alle Zeiten unvergessen bleiben wird. Er hat uns die Moral mit vollster Deutlichkeit und in zündenden Worten als ein Gebiet des Lebens und der Entwicklung, als ein Veränderliches und Fließendes hingestellt." 131a Dass. m. d. Untertitel: „Eine sachliche Würdigung, allen Verehrern und allen Verächtern Nietzsches gewidmet." ( N a c h dem Verfasser jetzt: D o z e n t d. Philos, a. d. Humboldt-Akademie zu Berlin). Jul. Klinkhardt. Lpz. (1901). 40 S. ( = Sonderdruck). Ein unveränderter Abdruck. In einem Bruchstück über ein Fresko Ghirlandajos in Florenz beschrieb Aby Warburg die Italienurlauber der Jahrhundertwende:
3
' E. F., Mit uns zieht die neue Zeit. Eine Geschichte der deutschen Jugendbewegung. Dt.Buch-Gem. Bln. (2. Aufl. 1929), S. 35 f. Der Einführung sowie dem letzten Abschnitt des Buches sind auch Nietzsche-Worte vorangestellt (S. 9 u. 420); Frobenius, Else, geb. Gaehtgens (Lasdohn/Livland 27. 7. 1875 — Schleswig 3. 8. 1952), Frauenrechtlerin. 37 Gramzow, Otto, geb. 1864 zu Greiffenberg, Dozent an der Humboldt-Akademie in Berlin.
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1901 Paula Modersohn-Becker
„Mit einem diskreten Lächeln innerer Überlegenheit wendet sich der moderne müde Kulturmensch auf seiner italienischen Erholungsreise von so viel banalem Realismus ab: ihn zieht Ruskins Machtgebot hinaus auf den Klosterhof, zu einem mittelmäßigen Giottesken Fresko, w o er in den lieben, unverdorbenen einfachen Trecentisten sein eigenes primitives Gemüt wieder zu finden hat. Ghirlandajo ist eben kein ländlich murmelnder Erfrischungsquell für Präraphaeliten, aber auch kein romantischer Wasserfall, dessen tolle Kaskaden dem anderen Reisetypus des Ubermenschen in den Osterferien, mit Zarathustra in der Tasche seines Lodenmantels, neuen Lebensmut einrauscht zum Kampf ums Dasein, selbst gegen die Obrigkeit . . ,"38 Aus der Künstlersiedlung Worpswede unmittelbar nach der Jahrhundertwende erzählte Heinrich V o g e l e r von der jungvermählten Paula Modersohn-Becker: „An schöpferische Kräfte der Masse glaubte Paula nicht. Sie hielt die Wiederaufrichtung eines kaiserlichen Frankreichs für die einzige Rettung der Pariser Kultur. Sie glaubte, daß Führertypen wie Napoleon und Bismarck Gestalter des Lebens waren, Riesen, unabhängig von äußeren Verhältnissen, die sie umgaben. Sie betonte (und daher kam wohl auch diese Anschauung) ihre große Verehrung für Nietzsche." 3 9 38
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Gombrich, E. H., Aby W a r b u r g . An intellectual Biography. With a Memoir of the History of the Library by F. Saxl. T h e W a r b u r g Inst. Univ. of London 1970, S. 111 ; Warburg, Aby ( H a m b u r g 13.6. 1866 — ebd. 29. 10. 1929), Kulturwissenschaftler, promovierte 1892 in Straßburg; in einer Tagebucheintragung v. 9. 12. 1905 verrät sich das eigentliche Verhältnis zu Nietzsche erst deutlich: „Mir wird klar . . . daß eine stilgeschichtliche Iconographie des Todes des O r p h e u s eigentlich das Nietzschesche Problem vom Ursprung der Tragödie trifft; in ganz auffälligem Zusammentreffen, nur müßte es heißen: ,Der Ursprung der T r a gödie aus dem apollinischen Stile des dionysischen Tanzspiels'. Ich sah auch erst vorgestern, daß Nietzsche über die Entwicklung des Stile rappresentativo zum Schluß schreibt. W e n n Nietzsche doch nur mit den Tatsachen der V ö l k e r k u n d e besser vertraut gewesen wäre! Sie hätten selbst f ü r ihn durch ihr spezifisches Gewicht regulierende Kraft für seinen Traumvogelflug besessen." (ebd., S. 185) Etwas später, in einem im Dezember 1908 in H a m b u r g gehaltenen V o r t r a g , meinte er: „Jede Zeit kann nur schauen, was sie auf Grund eigener Entwicklung ihrer inneren Sehorgane von den olympischen Symbolen erkennen und vertragen kann. U n s z . B . lehrte Nietzsche Dionysos zu schauen." (ebd., S. 191) 1926/27 hielt er dann Vorlesungen an der Universität H a m b u r g , in denen es ihm um Burckhardt und Nietzsche als „Auffänger" mnemischer Wellen ging: „Beide sind sehr empfindliche Seismographen, die in ihren Grundfesten beben, wenn sie die Wellen empfangen und weitergeben müssen . . . Es prallen in Jacob Burckhardt und Nietzsche in diesem Grenzgebiet zwischen Romanismus und Germanismus die uralten Sehertypen zusammen . . . Bei Nietzsche ist der antikisierende Orgiasmus ein Wunschbild, dem er nicht gewachsen war, wobei er als Dichter Anrufe hervorgebracht hat, die aus einem musikalischen Gebiet herausgekommen sind, das Burckhardt nie erreichte . . . Dieses Sichaussetzen den stärksten Erschütterungen als Einsamer, daran ist Nietzsche mit seiner überlegenen Logik des Schicksals zugrunde gegangen . . (ebd., S. 254—258) H . V., Erinnerungen. H g . v. Erich Weinert. Rütten & Loening. Bln. (1952), S. 116; Modersohn-Becker, Paula (Dresden 8. 2. 1876 — W o r p s w e d e 20. 11. 1907), Malerin.
1901 „eine G e f a h r im eminenten Sinne des Wortes
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132 Böhme, A. (Lehrer in Köln), Friedrich N i e t z s c h e . ( E V 14. Jg., N r . 9 6 - 1 0 2 v. 30. 11., 4., 7., 11., 14., 18. u. 21. 12. 1901; 15. Jg., N r . 2 ff. v. 4., 8. u. 11. 1.1902, S. 785, 792 f., 801 f., 808 f., 817, 828 f., 838 f., 11 f., 20 f., 26 ff.). Nietzsche ist dem Verfasser „eine der interessantesten Persönlichkeiten in der Geschichte des modernen Geisteslebens", dessen Werke „zu dem Vornehmsten und Erlesensten, was die Weltlitteratur je hervorgebracht hat", gehören. Als Denker sei er „gleich Goethe . . . Zeit seines Lebens ein Suchender, ein Werdender, gleich Schelling ein philosophischer Proteus" gewesen. Seine Weltanschauung sei „eine anthropocentrische", und in dieser Beziehung geselle er sich zu Feuerbach, Friedrich Vischer, Paul de Lagarde, Heyse, Wagner, Ibsen und Tolstoi als „ein vorwärtszeigender Prophet, als ein Bildner der Menschheit, als ein Erzieher des Menschengeschlechts". In Nietzsches Schriften komme der „ganze aufgewühlte, von Gegensätzen erschütterte Boden unserer Zeit in zusammengefaßtester Weise zum Ausdruck". Gerade dadurch habe er „Mode" werden können „bei emanzipierten Frauen und Mädchen, bei den sog. .Deutschtümlern', . . . bei den jungnaturalistischen Dichtern, . . . bei der Sozialdemokratie". Philosophiegeschichtlich finden sich bei ihm „Anklänge an und Beziehungen zu" den Sophisten und vor allem zu den „Cynikern", zum „antiken und modernen Sensualismus der französischen Encyklopädisten und H . Czolbes", wie zu Herder, Hegel, Marx, den „englischen Psychologen", Schopenhauer und Darwin. Er stehe „als Endglied in der Reihe Darwin, Spencer, Huxley, Wallace, Häckel und Carneri". Die „unerläßliche Pflicht" des Lehrers sei es nun, „sich mit einer geistigen Strömung auseinanderzusetzen, die die gesamte Atmosphäre durchdringt, in der unsre Zöglinge, deren Familien, wie selbst atmen". Von christlicher Warte aus macht dem Verfasser die Auseinandersetzung keine allzugroße Mühe: Nietzsches „naturalistische Weltanschuung" müsse abgelehnt werden, da sie „eine Gefahr im eminenten Sinne des Wortes" darstelle, weil „ihre Grundvoraussetzung . . . willkürlich" sei und „sich nicht auf exakte Beobachtung" stütze, weil seine „Lehre von der Herrenmoral . . . das Gemeinschaftsleben der Menschen" zerstöre usw. usw. Zur anfänglichen Überschwänglichkeit des Lobes, welche besonders die ersten fünf Teile der Arbeit beherrscht, glaubte die Schriftleitung vermerken zu müssen: „In der im ersten Teile der Arbeit hervortretenden überschwänglichen Bewunderung Nietzsches können wir dem Verfasser freilich nicht zustimmen . . . In unseren Augen ist Nietzsche vornehmlich eine tragische Größe, ein erschreckender Beweis dafür, wohin ein begabter Menschengeist gerät, wenn er all und jede Gottesfurcht über Bord wirft, sich selbst ungebührlich überhebt und in dieser seiner Selbstüberhebung den Mut besitzt, nichts mehr heilig zu halten, sondern alles von oberst nach unterst zu kehren." 133 Lichtenberger, Henri ( N a n c y ) , ( D L Z g N r . 49 v. 7. 12. 1901, Sp. 3097). Bespricht das Werk von Kronenberg (Nr. 2), in dem er Nietzsches Herrenmoral „als konsequenten und rücksichtlosen Egoismus" vereinfacht findet. Nietzsches Ethik sei „von derjenigen Stirners durch eine breite Kluft getrennt" und die Un-
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1901 Hermann Uhde-Bernays — Otto Flake
möglichkeit des extremen Egoismus als ethisches Prinzip widerlege „wohl die Ethik Stirners, nicht aber auch die Nietzsches". Über das eigene Bekanntwerden mit Nietzsches W e r k im Winter 1901/02 in Nürnberg schrieb Hermann Uhde-Bernays : ,c „Nach der modernen Dichtung, nach Hofmannsthal, George, Rilke, die nicht in mein Inneres gedrungen waren, wollte ich die moderne, besser gesagt, die aktuelle deutsche Philosophie kennenlernen und ihren Propheten Friedrich Nietzsche. Der Anstoß kam von außen, durch einen Freund, dem Zarathustra ein Lebensbegleiter geworden war. Ich vertiefte mich lange Wochen hindurch in Nietzsches Werke, nicht ohne die poetische Schönheit seiner Sprache zu bewundern, nicht ohne den wogenden Schwall seiner idealistischen, aristokratischen Gedanken anzustaunen und mich seinen zu selbständiger kritischer Sammlung auffordernden, in historische, philologische, symbolische Formeln gefaßten Ideen — häufig mit dem Gefühl, ein süßes Gift zu genießen — hinzugeben, endlich jedoch entsetzt, erschütten, zerbrochen." Ende 1901/Anfang 1902 wurde auch O t t o Flake mit dem Werke Nietzsches bekannt: 41 „Hier (d. i. auf dem philosophischen Seminar der Universität Straßburg) wurde ich mit Nietzsche bekannt: die erste Gesamtausgabe war im Erscheinen begriffen, die Bände waren zum Teil funkelnagelneu. Mehr als das Inhaltliche machte mich der Stil dieses Mannes betroffen. Sprache als Waffe, als Instrument, das ging mich an. Seine rein literarische, durch keinen Aufenthalt in Paris richtiggestellte W e r t u n g des französischen Geistes beeinflußte mich. Ich sah die französischen Zustände in einem idealistischen Licht und spielte sie gegen die Deutschen aus, ein Frankophile in Reinkultur, der mit einer Fiktion, dem französischen Menschen, arbeitet und ihn zum Maßstab machte . . . Wenn ich aber hinsichtlich der Franzosen an demselben Mangel wie Nietzsche litt, an Anschauung, so darf ich doch, was die kritische Einstellung gegen den neudeutschen Menschen, den seit 1870 auftretenden Typus, betrifft, sagen, daß sie aus der Anschauung hervorging, aus der täglichen Berührung." Aus den ersten Jahren des neuen Jahrhunderts erzählt Hedda Eulenberg manches Anführenswerte, vor allem aus dem Künstlerleben um ihren Mann:
40 41
Im Lichte der Freiheit. Erinnerungen aus den Jahren 1880—1914. Insel-Vlg. 1947, S. 237. Es wird Abend. Bericht aus einem langen Leben. Sigbert Mohn Vlg. (Gütersloh 1960), S. 79; s. a. S. 68, 81, 523, 543, 549 f., 553, 555, 557, 559, 561, 562, 564, 567, 568, 577, 583; Flake, Otto (eigentl. Leo F. Kotta, Metz 29. 10. 1880 — Baden-Baden 10. 11. 1963), Schriftsteller.
1901 „die H o f h a l t u n g auf dem Silberblick"
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„Ein immer wieder gehörtes Schlagwort, das in der Presse und in den zahlreichen literarischen Vereinigungen der damals sehr in den Vordergrund tretenden geistigen Jugend der Reichshauptstadt ausgesprochen wurde und das neue, nicht mehr naturalistische Kunstwerk, das alle so sehnlich für das Theater erwarteten, bezeichnen sollte, war das Wort: ,Das große Drama'. Man hoffte darin so etwas im Bilde zu sehen wie Wesen und T a t eines Renaissancemenschen. Denn bei dieser umfänglichen Gruppe von Menschen, Kritikern, Künstlern und Schriftstellern jeder Art war durch Nietzsche eine wahrhafte Besessenheit für die Renaissance und den Renaissancemenschen erwacht, den man sich, so scheint es uns heute, viel geistiger, überlegender und unnaiver, schöner im besten Sinne als er wohl je gewesen, vorstellte." 42 1903 erlebte sie mit ihrem Mann Venedig zum ersten Male: „Schwanenflügelweich lag die Luft auf dem einzig herrlichen Platze und unser Leitmotiv, daß sich Eulenberg angesichts des rosa und weißen Gemäuers immer wieder vorsang war diesmal Nietzsches ,Die Tauben von San Marco seh ich wieder'. Wir schleppten den kleinen eben erschienenen Gedichtband Nietzsches mit uns herum und sangen und summten uns ,Tag meines Lebens' oder ,Heiterkeit, güldene komm' vor, in der abendgoldfarbenen Weise die unser Freund Conrad Ansorge als erster diesen Gedichten gegeben hatte." 43 Wilhelm von Scholz, vom Sommer 1900 bis zum Herbst 1907 in Weimar wohnhaft, beschrieb das Leben und Treiben im Nietzsche-Archiv im ersten Jahrzehnt des neuen Jahrhunderts : „Weimar besaß nun noch einen zweiten, den geistigen und künstlerischen Menchen ungleich wichtigeren H o f , zu dem nicht Adel und Ahnenschaft sondern Leistung, erworbene Anerkennung, allenfalls gute Empfehlung den Eingang verschafften. Ich meine die Hofhaltung auf dem Silberblick. Sie hatte das mit einem richtigen monarchischen Hof gemeinsam, daß auch hier der Mittelpunkt, die Sonne, um die der Sterne Schar bewundernd sich stellte, ein legitimer Erbe war, eine Erbin, wie Frau Cosima die Erbin von Bayreuth: Frau Elisabeth Förster-Nietzsche . . . Ich habe die
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H . E., Im Doppelglück von Kunst und Leben. D i e Fähre. Düsseldorf, S. 8. Ebd., S. 30. Erwähnungen N i e t z s c h e s sonst auf S. 10, 71, 140, 143, 196 u. 347 (an dieser letzten Stelle in einem Brief T h o m a s Manns an Eulenberg: „Ihren Nietzsche-Aufsatz werde ich mir verschaffen. Er wird nicht unedelmütig sein gegen den, dessen schlimmste Verirrungen noch im Edelmut geschahen. Ich habe in meiner unzulänglichen Studie, die in der . N e u e n Rundschau' erscheinen wird, versucht, zwischen Kritik und Ehrfurcht das Gleichgewicht zu halten. Im Grunde ist dies Schicksal auch der Gegenstand des Musikerromans, der jetzt hier gedruckt wird und im Herbst erscheinen soll. Es ist ein enorm, ein unheimlich deutsches Buch. Es hat mir stärker zugesetzt, als irgendein früheres . . .").
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1902 Erich Becher
Schwester des verehrten Mannes — der mir vor allem Dichter (Dichter der herrlichen unsterblichen Strophen ,Die S o n n e sinkt — ' ! ) war und ist — als die liebenswürdig-gütige Herrin eines gastfreundlichen und großzügigen geistigen Hauses mit einer Verkehrsrunde bedeutender Menschen kennengelernt und ihr in menschlicher Sympathie nahegestanden . . . J e t z t war das Nietzsche-Archiv auf dem Silberblick der Mittelpunkt geistiger Menschen für W e i m a r ; war es ebenfalls weit über Weimar hinaus . . . Allwöchentlich war ein ,jour fix', ein Nachmittag, an dem die Frau des Hauses ihre Freunde empfing, sie mit auswärtigen Gästen von Bedeutung bekannt machte oder, in stillen besuchsarmen Zeiten, mit den Getreuen allein hofhielt — den H o f hielt, an den die große geistige Weimarer Tradition nun übergegangen war . . . Als ich wegen irgendeiner besonderen Sache einmal unangesagt und nicht am T a g e des J o u r s ' zu Frau Förster-Nietzsche kam, fand ich sie in Gesellschaft einiger Pastorenfrauen und einer Lehrersgattin aus Naumburg; statt bei T e e und Hohlhippengebäck bei Kaffee und Streuselkuchen! Ohne Philosophie, Ästhetik, Schrifttum, in Gesprächen aus dem Umkreis der kleinen Stadt und des Standes." 4 4 Erich Becher berichtet wie folgt über seine Bonner 1901 — 1904:
Studentenzeit
„Unter heftiger innerer Opposition las ich Nietzsches wichtigste W e r k e . Mein Studium der Mathematik hatte mich daran gewöhnt, hohe Anforderungen in bezug auf Beweisen und Begründen von Behauptungen zu stellen. Diesen logischen Ansprüchen wurde Nietzsche ganz und gar nicht gerecht. Seine Lehren vom Willen zur Macht, von der ewigen W i e derkehr usw. erschienen mir unbewiesen und unbeweisbar, seine antisoziale Richtung widersprach schroff meinen ethischen Uberzeugungen und Idealen, seine Maßlosigkeiten stießen mich ab. Mit der Idee einer Höherentwicklung des Menschen war ich sehr einverstanden; sie ergab sich mir aus meinen darwinistischen und eugenischen Ansichten. Indessen erstrebte ich einen wesentlich anderen Ubermenschentypus als Nietzsche, einen Typus, dessen wesentliche Eigenschaften Vernunft und Liebe sind." 45
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W . v. S., An Ilm und Isar. Lebenserinnerungen. List. Lpz. (1939), S. 9 7 — 104; zu den Menschen, denen er auf dem Silberblick begegnet ist, zählen Graf Harry Kessler, Wilhelm Hegeler, Max Klinger, Ludwig von Hofmann, Henry van de Velde, Paul Ernst, Hans Olde, Baronin von Grotthuß, Fräulein von Scheel, Frau von Ende, Otto von Taube, Marcus Behmer, Karl Scheffler, Hans Rosenhagen „und natürlich deutsche wie ausländische Nietzsche-Verehrer". Die Philosophie d. Gegenwart i. Selbstdarstellungen. M. e. Einf. hg. v. Dr. Raymund Schmidt. 2., verbess. Aufl. F. Meiner. Lpz. 1923, S. 22 f.; Becher, Erich (Rheinshagen b. Remscheid 1 . 9 . 1 8 8 2 — München 5 . 1 . 1 9 2 8 ) , Philosoph, 1907 Privatdozent in Bonn, 1909 Professor in Münster i. W . , 1916 in München.
1902 Karl Jaspers
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Aus der eigenen Studentenzeit unmittelbar nach der Jahrhundertwende verallgemeinernd schrieb Karl Jaspers: „Leicht ist die Kritik der Universitätsphilosophie. W i r sind schon als Studenten in dieser Kritik aufgewachsen und sind inzwischen selbst Gegenstand dieser Kritik. Man klagte an: das Akademische, Weltfremde, das nur Szientifische, die Beschäftigung mit Gleichgültigkeiten, die behagliche U n betroffenheit. In sie brach Nietzsche ein, der damals die nach eigentlicher Philosophie verlangenden Jünglinge hinriß. Man verlachte die Züge von Erbaulichkeit und situationsgebundener Pathetik. Man hörte Erlebnis und Leben betonen; aber wenn dies ansprach, so war es doch schnell als ein Halbes erkannt, als die Linie von Dilthey her, bei dem der Ernst der Philosophie, scheinbar gespürt, doch durchaus aufhörte zugunsten eines verstehenden Wissens von vergangenen Philosophien aller Art. Man sah die künstlich wirkende Sachlichkeit, in Nachahmung der Mathematiker, die gewollte Schlichtheit, die Echtheit betonen sollte und darum wiederum unecht und befangen wirkte." 4 6 134 Külpe, Oswald, Die Philosophie der Gegenwart in Deutschland. Eine Charakteristik ihrer Hauptrichtungen nach Vorträgen, gehalten im Ferienkurs für Lehrer 1901 zu Würzburg. B. G. Teubner. Lpz. 1902. Darin über Nietzsche auf S. 4 7 — 5 7 , in dem vierten Abschnitt: D e r Naturalismus. ( = Aus Natur u. Geisteswelt. Slg. wissenschaftlich-gemeinverständl. Darstellungen aus allen Gebieten d. Wissens. 41. Bdchn.). Als Naturalist will Verfasser N i e t z s c h e verstanden wissen, in der N a c h f o l g e Stirners und v o r allem Feuerbachs. M a n könne ihn „zugleich den Rousseau des 19. Jahrhunderts nennen" t r o t z wesentlicher Abweichung beider Ideale von einander. Verfasser ist dem Naturalismus, der ja „nicht nur auf eine umfassende W e l t a n schauung, sondern auch auf die Begründung der Einzelwissenschaften, ja auf das Begreifen und die theoretische E r k l ä r u n g überhaupt" verzichte, deutlich abgeneigt. Dennoch meint er, daß Nietzsches „Zeit k o m m e n " w e r d e : „ D a n n werden wir in ihm einen Dichter verehren, dessen Bilder und Gleichnisse, dessen hinreißendes P a thos und unvergleichliche Lebenswärme des Ausdrucks ihm einen Ehrenplatz auf dem deutschen P a r n a ß anweisen." 4 7
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K. J., Vernunft und Widervernunft in unserer Zeit. R. Piper. Mchn. (1950), S. 68. Angesichts der spärlichen Erwähnung Nietzsches sowohl hier als auch in Verassers „Philosophischen Autobiographie" (in: K. J. Hg. v. P. A. Schilpp. W . Kohlhammer. St. 1957) ist es vielleicht nicht unwichtig zu vermerken, daß sich in einem 1902 gerade in Sils Maria gefaßten Entschluß eine entscheidende Wende in seinem Leben niederschlug (geschildert im letztgenannten Werk, S. 3); Jaspers, Karl (Oldenburg 2 3 . 2 . 1883 — Basel 2 6 . 2 . 1969), 1909 Dr. med., 1908—1915 an der psychiatrischen Klinik in Heidelberg, habilitierte sich 1913 für Psychologie, erhielt 1922 den ordentlichen Lehrstuhl für Philosophie in HeidelDerg, den er bis 1933 innehatte, seit 1948 an der Universität Basel. Külpe, Oswald (Candau/Kurland 3 . 8 . 1862 - München 30. 12. 1915), Philosoph, 1894 Professor in Würzburg, 1909 in Bonn, 1912 in München.
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1902 Die Zeit der „Reizsamkeit" 134a
D a s s . 3., v e r b e s s . A u f l . 1 9 0 5 , S . 5 2 — 6 5 .
U m einige Seiten v e r m e h r t , a b e r ohne wesentliche Ä n d e r u n g des Urteils, noch der Darstellung. 134b
D a s s . 7., verbess. A u f l . 3 7 . - 4 6 . T s d . 1920, S. 57 — 6 7 .
U m einige Seiten v e r k ü r z t , j e d o c h w i e d e r u m o h n e wesentliche Ä n d e r u n g der Einstellung. 135
L a m p r e c h t , K a r l , Z u r j ü n g s t e n d e u t s c h e n V e r g a n g e n h e i t . 1. B d . :
T o n k u n s t , B i l d e n d e K u n s t , D i c h t u n g , W e l t a n s c h a u u n g . 1. u . 2. A u f l . 4. u. 5. T s d . R . G a e r t n e r . B l n . 1 9 0 2 . Ü b e r N i e t z s c h e a u s S . 2 7 4 f . ,
407-417.
( = D t . G e s c h i c h t e . 1. E r g ä n z u n g s b d . ) . V e r f a s s e r streift N i e t z s c h e z u n ä c h s t unter „ D i c h t u n g " als einen, der „ z u m M u sikalischen, z u r Intensivierung d e r Farben und G e r ü c h e , z u r U m g e s t a l t u n g in stilisierte Linien und auch z u r S y m b o l i k " neige, dessen „tief ethisches Pathos und . . . religiös und verehrend g e s t i m m t e L e i d e n s c h a f t d e r W a h r h a f t i g k e i t " sich über die „bloß S t i m m u n g s v o l l e n " erheben ( S . 274 f.); d o c h erst bei seiner Behandlung der „ W e l t a n s c h a u u n g " dieser Zeit der „ R e i z s a m k e i t " w i d m e t V e r f a s s e r sich ihm am allerausführlichsten. D i e s e r sei in diesem Z u s a m m e n h a n g a b e r „kein P h i l o s o p h " , sondern „Künstler, D i c h t e r , S e h e r " g e w e s e n . Ähnlichkeiten finde man bei L u d w i g , H e b b e l , G u t z k o w und W a g n e r , auch der Einfluß D a r w i n s sei festzustellen. D a r a u f verfolgt er die „ U m b i l d u n g der p r o b l e m a t i s c h e n N a t u r ' d e r dreißiger bis f ü n f z i g e r J a h r e in den m o d e r n e n , H e r o s ' " von Dingelstedt, A u e r b a c h , S p i e l h a g e n , Carlyle und E m e r s o n bis auf G o b i n e a u und den „ S i e g e s z u g " der S c h r i f t e n Nietzsches. D a s Schwergewicht legt er auf den W i e d e r k u n f t s g e d a n k e n , die W e n d u n g vom Ethischen ins Metaphysische. K e n n z e i c h n e n d z u r G e s a m t e i n s t e l l u n g des V e r f a s s e r s zu N i e t z s c h e sind f o l g e n d e vorletzten Seiten des B a n d e s : „. . . und d e r Schrei der G e bildeten nach einer sittlichen W i e d e r g e b u r t und die religiöse S e h n s u c h t der besonders R e i z s a m e n : sind sie wirklich bloß R e a k t i o n s g e f ü h l e g e g e n die Langeweile und g e g e n die Ü b e r s p a n n t h e i t z w e i d e u t i g e r E r f a h r u n g e n ? M a n p r ü f e das Leben von N i e t z s c h e , dies M a r t y r i u m einer verkörperten Idee, und m a n wird die F r a g e beantworten können, so viel auch in N i e t z s c h e s N a m e n v o n T h o r e n u n d Nichtsnutzigen gesündigt werden m a g . " (S. 471) 4 8 135a
V o r a b d r u c k der S. 407 — 416 unverändert
in: F Z g
N r . 2 9 7 v.
2 6 . 10. 1 9 0 1 , 1. M o r g e n b l a t t . 135b
V o r a b d r u c k der S. 403 — 407 mit zwei neuen
unter der Überschrift: V o r l ä u f e r Nietzsches, 135c
in: J
Einleitungssätzen
1901, N r . 45, S. 743.
D a s s . 1. u. 2 . A u f l . 6 . u. 7. T s d . H e r r n . H e y f e l d e r . F r e i b u r g i. B r .
1905. W a s N i e t z s c h e betrifft, unverändert. 135d
D a s s . 3., u n v e r ä n d e r t e A u f l . W e i d m a n n . Bln.
1912.
W a s N i e t z s c h e betrifft, unverändert. 48
Lamprecht, Karl (Jessen 25. 2. 1856 — Leipzig 10. 5. 1915), Geschichtswissenschaftler, seit 1891 Professor in Leipzig.
1902
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136 Schmidt, Rektor M. (Steinach s.-M.), U n f u g einer sittlichen Idee. (Mit Beziehung auf N i e t z s c h e s Ethik.)· ( N B 13. Jg., H . 1 v. Jan. 1902, S. 5 - 1 4 ) . Dem Verfasser geht es, nach Herbart, um eine „der fünf sittlichen Ideen", nimlich um die der Vollkommenheit, die nicht der Quantität, sondern der Qualität nach zu beurteilen sei. Die Kraft müsse „im Dienste des sittlich Schönen" stehen. Doch habe selbst die „christliche Moral" dazu beigetragen, „durch Zurückführung alles Löblichen auf Gnade" die „Auslöschung oder wenigstens unverhältnismäßige Zurückversetzung" dieser Idee zu vollziehen, und hierauf sei der „extreme Rückschlag . . . in der Ethik Nietzsches", zumindest teilweise, zurückzuführen. 137 Weller, Pfarrer Fr. (Adolzfurth), N i e t z s c h e als A p o l o g e t des Christentums. ( A K M C D 59. Jg., I, Jan.—Juni 1902, S. 39 — 48). „Der philosophische Obergötze, der Zeitgötze schlechthin" ist dem Verfasser der „Intellektualismus", der mit Sokrates angefangen, über die Aufklärung des 18. Jahrhunderts, den Materialismus und Pantheismus in die Sozialdemokratie" gemündet und zugleich der „Gegner unseres auf Offenbarung gegründeten religiösen Glaubens" sei. Von solcher Einstellung aus begrüßt er den Angriff auf den „Liberalismus" eines Strauß. Nietzsche habe erkannt, daß „die Religion die Wurzel des ethischen Idealismus" sei, und habe so einem neuzeitlichen Idealismus wie dem der Gesellschaft für ethische Kultur den Boden entzogen. Gegenüber der „gnädigen Erhabenheit, mit welcher die Naturalisten, Pantheisten . . . das Christentum in die Kinderstube der Kultur verweisen", könne „einem selbst der H a ß Nietzsches eine erfreuliche Erscheinung werden": „Es ist eine alte Wahrnehmung, daß im ehrlichen H a ß ein gut Stück Achtung steckt." Sonst reiht Verfasser anerkennende Worte Nietzsches über Luther, die Bibel und das Christentum überhaupt aneinander, doch nicht ohne auch auf die sich in ihm bergende Gefahr aufmerksam zu machen. 138 Hollitscher, Dr. J., Nietzsche's Nachlaß. ( W a g e 5. Jg., Nr. 2 v. 5. 1. 1902, S. 25 ff.). Eine Besprechung der Nachlaßbände 11 (GXIa) und 12 (GXIIa), in denen sich „Aphorismen über alles und jedes, verblüffend durch die Sicherheit der Kritik, durch die Kraft des Unheiles, Ehrfurcht gebietend durch die tiefe, innere Kraft der Uberzeugung" finden. Das Wichtigste sei die Stelle, „in der Nietzsche seine Theorie von der Wiederkehr alles Lebens erläutert". Hierin findet Verfasser den Einfluß der griechischen Philosophie, insbesondere Piatons: man brauche „an die Stelle der ,Kraft' nur die ,Idee' zu setzen, so hat man die Grundzüge der Lehre Plato's von der Wiedergeburt des Lebens . . .", nur lasse Nietzsche „dem Kreislauf, dem Leben selbst kein Streben, kein Ziel innewohnen". Zusammenfassend meint er: „Es läßt sich nur sagen: jener mächtige Glaube an die alles überwindende Kraft des menschlichen Geistes, jenes tiefe Ehrfurchtsgefühl und religiöse Bewußtsein, das wahre Pathos der Distanz, das Nietzsche in allen seinen Schriften so sehr auszeichnet — das hat in dieser Lehre seinen schönsten und bedeutsamsten Ausdruck gefunden." Zum Schluß bringt er ein Nietzsche-Wort (Bd. 11, S. 142, Aph. 450) sowohl für diejenigen, die sein „Ideal eines Zukunftsmenschen . . . für rohe Herrschaftsgelüste" miß-
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brauchen, wie auch für solche die ihn daraufhin zum „Philosophen des Großkapitalismus" abstempeln wollen. 139 Benndorf, Friedrich Kurt, Lyrische Symphonie. N e u e Gedichtkreise mit musikalischen Beigaben. „Harmonie" Vlg. f. Lit. u. Kunst. Bln. 1902. E n t h ä l t : G r a b s c h r i f t f ü r N i e t z s c h e (S. 164 f., 3 4 z e i l i g ) , u n d : D e r W i l l e
zur
M a c h t (S. 166 ff., 6 7 z e i l i g ) .
140 Bronner, Ferdinand (Franz Adamus), N e u e s Leben. Drama in 4 Akten. C. W. Stern. Wien 1902. 3 Bll., 175 S. ( = Jahrhundertwende. Ein Dramencyklus. 2. Tl.). Das Pflegekind eines reichen, sonst kinderlosen Elternpaares feiert seinen neunzehnten Geburtstag und muß gerade an diesem Tage die Wahrheit um seine Herkunft erfahren. Sein Erzieher und seine Pflegemutter sind beide recht begeisterte Anhänger Nietzsches, und gleich im ersten Akt gibt es eine lange Auseinandersetzung über den Wert des „Kinder Landes" gegenüber dem des „Vaterlandes". Darauf erfolgt dann die Aufklärung des Pflegesohns. Im zweiten Akt wenden sich die Eltern und sonstige Freunde und Bekannte in einem Traumbilde von dem Sohne ab. Er sucht und findet die leibliche Mutter im dritten Akt, muß aber nach einigen Monaten erfahren, daß diese sich seiner nur der Unterstützung wegen, die sie von den Pflegeeltern heimlich bekommen, angenommen hat. Er flieht ein zweites Mal, wird aber vom Erzieher aufgefunden und dazu gebracht, die Pflegeeltern ein letztes Mal zu besuchen, ehe er auf immer nach Brasilien auswandert. Von dem Leiter des Amerikaunternehmens spricht der Sohn in glühenden Worten: „Ein herrlicher Mensch! Wir sind alle von ihm begeistert! Und wie er alles so wunderbar zu schildern versteht! Das Land, ,Unserer Kinder Land', wie er es mit Vorliebe nennt . . . Da ist nichts von dem Elend der alten Heimat, von der alten unausrottbaren sozialen Mißwirtschaft — man ist wie neugeboren — der neue Mensch!" — Doch wird ihm kurz danach erklärt, daß er der Sohn des ehemaligen Schloßbesitzers sei, und er entschließt sich nun zu bleiben: „O, ich Blinder, der ich war! Eine Heimat hab' ich gesucht — und habe in ihr gelebt vom ersten Tage an!" 49 Eine lesenswerte Erwähnung Nietzsches im Verhältnis zur katholischen Kirche machte der Professor an der Universität W i e n Dr. Albert Ehrhard. In dem Abschnitt über „Das 19. Jahrhundert" seines Werkes: D e r Katholizismus und das zwanzigste Jahrhundert im Lichte der kirchlichen Entwicklung der N e u z e i t , erkennt Verfasser die Merkmale des Jahrhunderts in der Verweltlichung des öffentlichen Lebens und dem Ubergang von der antichristlichen zur antireligiösen und antitheistischen Aufklärung. Verantwortlich dafür seien vor allem „die naturwissenschaftlichen Materialisten Moleschott, C. V o g t , L. Büchner und E. Haeckel". H i n z u k o m m e n „die Begründer des deutschen Sozialismus, Fr. Engels und K. Marx", die 49
Bronner, Ferdinand (Auschwitz 15. 10. 1867 — Goisern/Oberösterr. 8.6. 1948), zunächst Realschullehrer, danach Gymnasialprofessor in Wien.
1902 Krapotkin
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„diese materialistische Weltanschauung ihrem wirtschaftlichen System zu Grunde legten". Darüber hinaus trage das 19. Jahrhundert aber „auch einen spezifisch antikatholischen" Zug an sich: „Am prägnantesten zeigte sich das darin, daß die furchtbarste aller Anklagen, die je ein Ankläger in den Mund genommen', die Anklage, welche der Philosoph des Ubermenschentums, Fr. Nietzsche, gegen das Christentum schleuderte, eigentlich gegen die katholische Kirche gerichtet ist; der Protestantismus war ihm ja nur ,die halbseitige Lähmung des Christentums'." 50 Von einer ganz zufälligen Begegnung mit einem Exilrussen im Januar 1902 im Zuge und darauf in Lissa in Böhmen erzählte der damalige Marineoffizier Bogislav von Selchow. Aufgrund eines ihm Jahre später zu Gesicht gekommenen Bildes glaubte er in dem Mann den Fürsten Peter Krapotkin erkennen zu müssen. Das Gespräch, zu dem von Selchow nur weniges beitrug, drehte sich nicht unwesentlich um die Gestalt und Bedeutung Nietzsches: „.Heute steht im Vordergrunde ein Mann, an dem niemand, der um die letzten Fragen ringt, vorbeigehen kann. Dieser Mann ist umstritten und angefochten, umjubelt und verhöhnt wie Jesus Christus. Die Schwarzen und die Weißen beanspruchen ihn für sich, die roter Gesinnung und die blauen Blutes sind. Dieser Mann hat hochweise Hochschulphilosophen zur Weißglut gebracht, hat Gott seinen Himmel zerbrochen und anderes mehr getan. Vorüber kann niemand an ihm. Er zwingt jeden zur Stellungnahme. Auch dich. Und sei es nur, um anderer Menschen Taten und Gedanken an seiner Unerbittlichkeit zu messen. Ich will dir einen kurzen Überblick geben, wie es zu Nietzsche kam und kommen mußte . . . Wenn auch der Westen nicht mehr so echt fühlte wie wir, die wir den Urtiefen des Lebens näher waren, so hat doch auch er an den Grundlagen der christlichen Ethik nie zu rütteln gewagt. Bis Nietzsche kam und, auf Darwin fußend, diese christliche Ethik verwarf . . . Nietzsche verband Darwins ,Das Leben ist Kampf' mit Schopenhauers ,Die Welt ist Wille* zu dem Satz ,Der Wille ist Kampf, also Macht'. Gäbe es einen Gott, dann wäre das Höchste schon erreicht. Dann bedürften wir keines Kampfes . . Aus der Art, wie er das sagte, schien mir hervorzugehen, daß er selbst gar kein Anhänger Nietzsches war, sondern mich offenbar nur in seine Gedankenwelt einführen wollte . . . ,Hat denn Nietzsche überhaupt eine Moral?' — ,Eine Moral gewiß nicht, nicht einmal eine Ethik, aber ein Ethos, das einem schon Achtung abnötigen kann . . . Für mich ist er der einzige Gegner, den ich ernst
50
2. u. 3., verm. Aufl. Roth. St. u. Wien 1902, S. 223; Ehrhard, AJbert (Herbitzheim/Elsaß 14.3. 1862 — Bonn 23.9. 1940), Professor der Kirchengeschichte in Würzburg, Wien, Freiburg, Straßburg und Bonn.
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1902 „ein gefährlicher Verführer der heranwachsenden Jugend"
nehme, aber auch der gefährlichste. Das sieht man wieder einmal daran, wie schnell er einen jungen gesunden Menschen wie dich im Sturm erobert.'" 5 1 141
Nathusius, Annemarie von, Freie W o r t e ! Lieder und Skizzen.
Rieh. Eckstein Nf. Bln. 1902. Darin: An Friedrich Nietzsche, S. 2 5 - 3 9 . " E i n e siebenteilige G e d i c h t g r u p p e : D i e n e u e W e l t — D e r G r ö ß t e — H ö h e n l u f t — Ein R i e s e — D a s k o m m e n d e R e i c h — E r k a m zu uns — D e r E i n z i g e F r e u n d ; die alle d e n P h i l o s o p h e n z u m b e g e i s t e r t b e s u n g e n e n M i t t e l p u n k t haben.
142
Baumeister, Dr. A. (München), Friedrich Nietzsche, ein gefährli-
cher Verführer der heranwachsenden Jugend. ( L L P G R H . 70 v. Jan. 1902, S. 1 — 1 9 ) . " V e r f a s s e r f i n d e t , d a ß „es z u den P f l i c h t e n eines g e w i s s e n h a f t e n Lehrers g e h ö r t , g e g e n die v o n m a n c h e r S e i t e so gewissenlos b e t r i e b e n e V e r h i m m e l u n g N i e t z s c h e s S t e l l u n g zu n e h m e n " , dessen S c h r i f t e n „auf ö f f e n t l i c h e n B i b l i o t h e k e n seit einem J a h r z e h n t " wie k e i n e a n d e r e n g e f o r d e r t w e r d e n . T r o t z g e l e g e n t l i c h e r A n e r k e n n u n g überwiegen
dann
auch
Kennzeichnungen
wie
„poetisierende
Überspanntheit",
„ V i e l s c h r e i b e r " , „weit d a v o n e n t f e r n t , ein D i c h t e r zu s e i n " , „wesentlich nur S p r a c h k ü n s t l e r " , „ T a s c h e n s p i e l e r k u n s t " . V e r f a s s e r findet a b e r in seinem W e s e n
keinen
„ R i ß " , „mit u n e n t w e g t e r B e h a r r l i c h k e i t v e r f o l g t e r den S o k r a t e s " , dessen „ T u g e n d l e h r e " ihm „der A n f a n g alles Ü b e l s " g e w e s e n sei, und „hierin liegt N i e t z s c h e s f o l g e n r e i c h s t e r I r r t u m " : e r h a b e „das W e s e n des G r i e c h e n v o l k e s d u r c h a u s einseitig und s c h i e f g e f a ß t " .
143 anonym, Fr. Nietzsche und die Zukunft Deutschlands. (DAbl 1902, S. 38 — 41). M a n m ü ß t e N i e t z s c h e , d e m „ U n s i n n d e n k e r " , sein Mitleid z u w e n d e n , „ G o t t e s G e r i c h t an ihm e r k e n n e n " und es damit g e n u g sein lassen, d o c h werden
seine
S c h r i f t e n „ n i c h t n u r g e l e s e n , s o n d e r n finden a u c h ein lautes E c h o bei vielen", und das müsse m a n zu e r k l ä r e n v e r s u c h e n . D e r M a t e r i a l i s m u s d e r „ G r ü n d e r p e r i o d e " sei „die A t m o s p h ä r e " g e w e s e n , „die ihn g r o ß z o g " , und dieser sei vornehmlich aus F r a n k r e i c h und E n g l a n d h e r g e k o m m e n : „ D i e E n g l ä n d e r sind als geschlossene N a tion s c h o n längst d e m N i e t z s c h e t h u m v e r f a l l e n . " H i e r m i t v e r b i n d e t V e r f a s s e r den „ K a p k r i e g " und das „ M a n c h e s t e r p r i n z i p " . In D e u t s c h l a n d h a b e N i e t z s c h e „zahlreic h e . . . V o r a r b e i t e r " , d a r u n t e r den „ L e h r e r d e r T h e o l o g i e " H a r n a c k , der „die P e r son unseres H e r r n und H e i l a n d e s zu e i n e m M e n s c h e n wie w i r h e r a b z u d e g r a d i r e n v e r s u c h t " , die S o z i a l d e m o k r a t i e , den S p o r t , der „als S e l b s t z w e c k . . . unsittlich" sei, W o l z o g e n s Ü b e r b r e t t l v o r s t e l l u n g e n und die h e r r s c h e n d e G e s c h ä f t s m o r a l .
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B. v. S., Hundert T a g e aus meinem Leben. Koehler & Amelang. Lpz. (1936), S. 95 ff.; s. a. S. 57: Einfluß Nietzsches auf ein Gespräch unter Seekadetten im Jahre 1899. Nathusius, Annemarie von (Rittergut Ludom i. Posen 29. 8. 1875 — Berlin 26. 10. 1926), Erzählerin. Baumeister, Karl August (Hamburg 24. 4. 1830 — München 22. 5. 1922), Erzieher.
1902
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144 Kappstein, T h e o d o r , Das Testament Friedrich Nietzsches. ( B T N r . 45, 1. Beibl. v. 25. 1. 1902). Unter dieser Uberschrift bespricht Verfasser den 15. Band der Gesamtausgabe (GXV); das Werk, obwohl „ein Torso" und kaum geeignet, „die Bekanntschaft mit dem Philosophen zu beginnen", biete den „wirklich Vertrauten . . . den größten Genuß": „denn hier stehen wir unmittelbar in der Geisteswerkstatt eines ganz Großen!" L Aus Friedrich N i e t z s c h e s / Briefwechsel mit Erwin R o h d e / Mitgeteilt von / H a n s Embacher-Charlottenburg. ( D M 2. Jg., H . 2 f., 1902, S. 8 3 - 9 1 , 193 — 201). Bringt einen Vorabdruck mehrerer Stellen aus den Briefen Nietzsches an Rohde (s. P, Nr. 13, 14, 16, 22, 31, 33, 35, 39, 41, 45, 50, 74, 77, 83, 91, 95, 97, 1C0, 109, 115, 121, 126, 133, 134, 136, 143, 147, 153, 155, 170, 171, 173, 176, 178, l&'l, 211), um das Verhältnis zu Wagner zu beleuchten und „Aufschluß über den Abfall" zu gewinnen. Am Ende muß er aber gestehen, daß „auch dieser zweite Band der Briefe" die Frage nicht beantwortet habe, und der Vermutung Ausdruck geben: „. . . vielleicht, weil Erwin Rohde die Briefe über dieses Ereignis vernichtet hat." 145 Kronenberg, M., ( J b N D L 9. Bd., 1902, IV 5 b: 1 9 — 3 5 ) . Nachdem und obwohl Rezensent feststellt, daß „neben Kant, ja ihn vielleicht übertreffend . . ., kein anderer Philosoph in den litterarischen Erzeugnissen auch dieses Jahres so dominierend" hervorgetreten sei wie Nietzsche, befaßt er sich eingehender nur mit den Schriften von Gallwitz (Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild), der es verstanden habe, „in angenehm-lesbarer Darstellung ein einheitlich abgerundetes Lebensbild zu geben", Schmitt (Friedrich Nietzsche an der Grenzscheide zweier Weltalter), von dessen Schrift man „mit weniger befriedigenden Gefühlen" scheide, und Lichtenberger (Die Philosophie Friedrich Nietzsches), der „innerhalb des Berichtjahres die bedeutendste und beste Publikation über den deutschen Philosophen" geliefert habe. N u r gestreift werden die Arbeiten von H . Dohm (Nietzsche und die Frauen), H . Stöcker (Friedrich Nietzsche und die Frauen) und C. Jentsch (Friedrich Nietzsche; zu allen erwähnten Arbeiten s. Bd. I). 146 V o w i n c k e l , Lic. Dr. E., N i e t z s c h e und Jesus v o n Nazareth. ( D E K Z g 16. Jg., 1902, S. 29 f., 35 f., 44 ff.). Verfasser steht bei diesem Vergleich unzweideutig und fest auf Seiten des Christentums. Nietzsche habe trotz verschiedentlicher Einflüsse immer nur sich selbst gesucht, habe geglaubt erst zerstören zu müssen, um danach Neues schaffen zu können. Jesus dagegen habe zuerst geschaffen, „da er sich hingeben wollte", er wolle „viele Menschen retten, nur sich selbst hingeben". T r o t z unmißverständlicher Ablehnung aber unterlaufen dem Verfasser Äußerungen wie die folgende: „. . . mit bewunderungswerter Schärfe entdeckt Nietzsche jede Schwäche der überlieferten Sitte, jede Lücke in der Ethik und vor allem jeden, ja so häufigen Widerspruch zwischen Forderung und Erfüllung, zwischen Anspruch und Leistung . . . Es ist jedem, der weiß, worauf er steht, zu raten, sich in die bedeutendsten Schriften Nietzsches zu vertiefen, um sich selbst in diesem brennend scharfen Spiegel kennen zu lernen."
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1902 Aus dem Tagebuch einer „Emancipierten"
A u f die F r a g e : „ W e r w a r N i e t z s c h e ? " , a n t w o r t e t e r : „ U n s t r e i t i g e i n e r v o n den w e n i g e n h e l d e n h a f t e n S e e l e n , die ü b e r diese E r d e g e h e n , eine a b g r ü n d l i c h tiefe Seele."
146a
Dass, als Einzelschrift: Bln. 1902. 19 S.
( = Kirchlich-soziale Flugschrift. 3) Unverändert.
147 Kappstein, Th., Friedrich Nietzsches Neuer Mensch. (BT 31. Jg., Nr. 71, 1. Beil. v. 8. 2. 1902). Im A n s c h l u ß an die B e s p r e c h u n g in N r . 45 d e r Z e i t u n g ( N r . 144) b r i n g t K a p p stein hier l ä n g e r e A u s z ü g e u n d Z u s a m m e n f a s s u n g e n aus d e m 15. B a n d d e r G e s a m t a u s g a b e ( G X V ) u n d schließt mit d e n W o r t e n : „ W i r h a b e n die Bilder g e s c h a u t mit i h r e r F a r b e n g l u t h , u n d die M u s i k ist an u n s e r O h r g e k l u n g e n , w i r h a b e n Friedrich N i e t z s c h e s T e s t a m e n t v e r n o m m e n . So viel S c h l i m m e s u n d G r o ß e s u n d Freies — — u n d d o c h n u r ein T o r s o . . ."
148 Ernst, Dr. Paul, Der Wille zur Macht. (EK 10. Jg., 1902, Nr. 5, S. 34 ff.). V e r f a s s e r f i n d e t im d r i t t e n Teil des 15. B a n d e s d e r W e r k e ( G X V ) „ N e u e s . . . n u r in d e n e r k e n n t n i s t h e o r e t i s c h e n u n d m e t a p h y s i s c h - k r i t i s c h e n P a r t i e e n " . Bei g e h a l t e n e r A n e r k e n n u n g bleibt ihm N i e t z s c h e „eine p r o b l e m a t i s c h e N a t u r , ein D i c h t e r , w e l c h e r nichts d i c h t e n k a n n , u n d ein s t a r k e r M e n s c h , w e l c h e r n i c h t zu h a n d e l n v e r m a g " . E r h a b e vielleicht d e m „ D i c h t e r u n d P s y c h o l o g e n in sich G e w a l t a n g e t a n , weil er P r o p h e t u n d H e r r s c h e r sein w o l l t e " .
149 Conrad, Michael Georg, V o n Emile Zola bis Gerhart Hauptmann. Erinnerungen zur Geschichte der Moderne. Herrn. Seemann N f . Lpz. 1902. Z u d e n l ä n g e r e n A b s c h n i t t e n ü b e r N i e t z s c h e s. die im 1. B a n d a n g e f ü h r t e n Stellen, sonst u n v e r ö f f e n t l i c h t sind n u r die Seiten 83 — 88, G e d a n k e n aus u n d zu Z a r a t h u s t r a e n t h a l t e n d . E r w ä h n u n g e n N i e t z s c h e s sonst auf S. 23, 37 ff., 40 f., 52, 6 0 , 62 f., 69, 82, 100, 106, 118, 137, 140, 141, 150, 153.
In dem Tagebuch einer „Emancipierten", das in diesem Jahre veröffentlicht wurde, finden sich auch einige anführenswerte Stellen: „Und die Philosophie? Ach! Schopenhauer ist tot, Nietzsche ist tot — und diese beiden, die die Ehrlichkeit des Beobachtens hatten, sind in den Lehrbüchern nur mit kürzester Geringschätzung behandelt." 54 „Darauf ging ich aus und begegnete Keilen. Welch ein beschränkter Mensch! Ich hätte mir nie gedacht, daß so etwas Einfältiges existieren könne. Ich weiß wahrhaftig nicht, wer von uns beiden bornierter ist — er oder ich, die ich es nicht für möglich hielt, daß so etwas Dummes existiere. D a sieht man wieder die moderne Plebejerthorheit der allgleichmachenden
54
Asenijeff, Elsa (d. i. Elsa Nestonoff), Tagebuchblätter einer Emancipierten. Herrn. Seemann Nf. Lpz. 1902, S. 41 f.
1902
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Bildung durch gleiche Erziehungsmittel. Er hat Nietzsche ,ganz gerne', findet den Zarathustra ,sehr hübsch' und Klingers Kassandra ,menschlich ansprechender' als die Salome!"' 5 „Eine meiner größten Qualen erlebe ich immer in Gesellschaft. Man ist auferlegt, kampflustig, echauffiert sich. Man gehört zum Kreis der Intellektuellen. Es wird heftig diskutiert. Was, wenn ich fragen darf? Einer sprach in Eigenworten Nietzsche 7. Band, Seite so und soviel. Worauf der Gegenpolemiker in seinen Ausdrücken Schopenhauer 3. Band Seite so und soviel antwortete. Dabei diese bedeutsamen Blicke und entdeckenden H a n d b e w e g u n g e n der unbewußten Schauspieler. Jeder hat das gegencitierte Werk auch gelesen, weiß deshalb sowohl, was ihm erwidert wird, als auch, was er zu entgegnen hat. Beide Gegner sind von sich eingenommen und finden sich sehr geistvoll. Es dürfen allerdings auch andere Erinnerungen sein: N i e t z s c h e — W a g n e r , Flechsig—Wundt, sogar Hartmann g e g e n Schopenhauer! ! !"56 150 Crusius, O., Erwin Rohde. Ein biographischer Versuch. J. C. B. Mohr. Tüb. u. Lpz. 1902. 1 Taf., VIS., 1 Bl., 296 S. ( = Ergänzungsheft zu Erwin Rohdes kleinen Schriften). Einleitend beschreibt Verfasser Rohdes „äußerliches" Leben als eines, das „sich ganz und gar zwischen den engen Ufern, innerhalb deren sich die Gelehrtenexistenz an einer kleinen deutschen Universität zu bewegen pflegt", gehalten habe. Erst durch die Beziehungen zu Wagner und Nietzsche sei diesem schlichten Lebenslauf „eine einheitliche Bewegung und erhöhten Schwung" verliehen worden. Dem Verfasser stand Nietzsches Nachlaß durch die Schwester sowie manches andere (Briefe Rohdes an die Mutter, Ribbeck, Overbeck, Franz Rühl und Volkelt und manches Mündliche der Freunde und Bekannten) zur Verfügung. Daß Nietzsche „Genösse und Führer", „in den meisten Fällen das primum mobile, zumal auf seinen Lieblingsgebieten, Musik und Philosophie", gewesen sei, wird mit solchen und ähnlichen Worten immer wieder betont. Als Gründe der Entfremdung werden angeführt: „Nietzsche's Verhalten gegen Wagner, das Rohde ,quälte und peinigte'", und „der französisch gestimmte, nahezu deutsch feindliche Kosmopolitismus des ,Prinzen Vogelfrei', sein ätzender Spott über die ,Vaterländerei'", der „jenem schlichten patriotischen Gefühl zuwider" gewesen sei, „das sich Rohde in allem Wechsel der Meinungen und Stimmungen stets unverändert erhalten hat". Das Werk enthält auch eine eingehende Erörterung zu Rohdes „Psyche" und deren Verhältnis zu der Gedankenwelt Nietzsches und Äußerungen Rohdes zum damaligen Nietzsche-Schrifttum, nämlich über L. Stein (Friedrich Nietzsche's Weltanschauung und ihre Gefahren), Brandes (Aristokratischer Radikalismus) und Lou Andr;as-Salomé (Friedrich Nietzsche in seinen Werken; s. zu allen Bd. I).
55 56
Ebd., S. 47. Ebd., S. 182.
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1902
151 Pfennigsdorf, Lic. theol. E. (Dessau), Friedrich Nietzsche und das Christentum. Vortrag. Selbstvlg. Dessau 1902. 16 S. Verfasser meint, daß „die Revolution des Einzelmenschen gegen die Gesellschaft . . . für unsere Zeit in Friedrich Nietzsche ihren typischen V e r t r e t e r gefunden" habe. Dieser habe versucht, „die moralischen durch ästhetische Urteile zu ersetzen", und darin liege „das Verblüffende und für ästhetisch gestimmte Gemüter das Verführerische seiner T h e o r i e " . Seine Verirrung sei darauf zurückzuführen, daß er „ein armer K r a n k e r " gewesen sei, „und weil der Leidende ein philosophisch veranlagter Mensch war, darum bildet sich in ihm aus persönlichen Leiden, K ä m p fen und Wünschen heraus ein philosophisches System, in welchem die K r a f t als E r löserin der Menschheit erscheint". D e n n o c h könne man ihm in manchem beipflichten, da seine G r ö ß e „in der Kritik der bestehenden Lebensverhältnisse" liege, nämlich in seinen Angriffen auf den „platten Alltagsverstand", „die konventionelle M o ral" und sogar in dem auf das Christentum, d. h. auf das, „Welches den W e g des Lebens so breit macht, K a m p f und O p f e r scheut und am liebsten durch bloßes H e r r - H e r r sagen sich den Himmel sicherte".
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Seydl, Dr. Ernst (Wien-St. Stephan), Friedrich Nietzsche. Be-
richt über E. L. Fischer's neuestes Werk. ( D K a 1902, S. 7 2 - 7 7 ) . Das W e r k Fischers (Nr. 42) wird wärmstens empfohlen, da „die ruhige, sachliche Kritik, die der gelehrte katholische Auetor den Irrungen des entgleisten Pastorensohnes angedeihen läßt, . . . jedermann angenehm berühren und befriedigen" müsse.
153 Diels, Hermann — eine Rede über „Wissenschaft und Romantik" in: Sitzungsberichte d. königl. preußischen Akademie d. Wissenschaften zu Berlin. 1902. IV. Bd., S. 25 — 43. D e m Festredner geht es um die Bedrohung der „Cultur", d. s. „Kunst und W i s senschaft", seitens deren „ B e k ä m p f e r " : „die Sekte der C y n i k e r und Skeptiker" des Altertums, „die christliche Asketik", „der wunderliche Schwarzkünstler" Agrippa von Nettesheim und vor allem Rousseau. D a r a u f sei die „ganze romantische R e a c tion" erfolgt, die „von der Wissenschaft aufgesogen", „monumentale Leistungen der Historie . . . angebahnt und ermöglicht" habe, doch habe sie auch „einen Seitenschößling getrieben, der sich abseits von Akademie und Universität entwickelte und darum der Wissenschaft abgeneigte und abträgliche Ableger bis in die G e g e n w a r t entsendete". „Zwei V o r k ä m p f e r " erkennt er im V o r d e r g r u n d „dieser streitbaren J u g e n d " : Nietzsche und den „Rembrandtdeutschen". Mit diesem wird er in einem Absatz fertig, da das „verworrene und unreife Buch . . . heute bereits vergessen" sei, doch jenem widmet er sieben. Seine Wissenschaftsfeindlichkeit sei darauf zurückzuführen, „daß er sich in der W a h l seines Berufes vergriffen" habe: „Seine gelehrten Jugendarbeiten sind zwar lebhaft, zum Theil glänzend geschrieben, aber unmethodisch gearbeitet." E r sei ein „typisches Beispiel" der „Selbstvernichtung der Wissenschaft an der eigenen P e r s o n " . N a c h dem Bruch mit W a g n e r habe er wieder Eingang in den „ernsten T e m p e l der Wissenschaft" gesucht: „ D o c h hier giebt es für den Abtrünningen keine R ü c k k e h r , keine Gnade für den Reuigen." Auch möge er später erkannt haben, daß „ihm zur wirklich gelehrten Forschung die tiefere histori-
1902 W i l h e l m von P o l e n z
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sehe und naturwissenschaftliche Bildung abgehe", sowie „zu größeren, zusammenhängenden künstlerischen Leistungen . . . die innere Concentration". Hierauf folgt ei ne Gleichsetzung Nietzsches mit Gorgias, Kallikles und der Sophistik Athens, deren „Überwinder" Plato, „der Begründer der echten Wissenschaft", gewesen sei. 154 anonym, Nietzscheana. (Gr Nr. 6, 1902, S. 111 f.). Eine Anzeige des Werkes von Deussen (Nr. 32), der „ein wenig zu tief in Schopenhauer und die indische Philosophie versunken" sei und dessen Weltanschauung daher „nur zum Teil die unsre" sein könne. Diese Einschränkung verhindert aber nicht, daß „die Kritik, die er von seinem Standpunkt aus an Nietzsches L'bermenschentum übt", für „vollkommen treffend" erklärt wird. Auch der 15. Band der Werkausgabe [GXV), der „eine Vorratskammer von wahren, falschen und schiefen, immer aber geistreichen Gedanken" biete, wird mitangezeigt. 155 Landsberg, Dr. Hans, Friedrich Nietzsche und die deutsche Litterateur. Herrn. Seemann N f . Lpz. 1902. 2 Bll., 139 S. Verfasser stellt zuerst fest, daß „Deutschland niemals eine nationale Kunst als Ausfluß einer einheitlichen Kultur besessen hat", um dann das „Ziel" von Nietzsches Streben darin zu erkennen, daß er „die Deutschen zu einer nationalen Kultur" habe erziehen wollen. Da er auch „mehr Künstler als Philosoph" sei, sehe er in der Kultur „die Herrschaft der Kunst über das Leben". Als Gegner Nietzsches sieht Verfasser „die ältere Generation", darunter Wilhelm Jordan, Wilbrandt, Heyse, Spielhagen, Widmann, sowie die Zeitschriften „Die Grenzboten" und die „Deutsche Rundschau". Trotzdem aber sei „die erzieherische Bedeutung Nietzsches . . . schon heute unbestreitbar"; „wie kein zweiter hat er auf die Jugend gewirkt". Als Vorläufer werden angeführt: Lessing, Goethe, Fr. Schlegel, Heine, Hebbel, Ibsen. „Weit stärker als in Drama und Roman" aber lasse sich sein Einfluß „in der Skizze und in der Lyrik verfolgen". Hier nennt Verfasser Conradi, Dehmel, Mombert, Morgenstern, Franz Evers, M. G. Conrad, Hartleben, Schlaf und Scheerbart. Gerade in Nietzsche habe die deutsche Jugend „einen Erzieher" gefunden. S. a. Verfassers: Die Moderne Literatur. L. Simion Nf. Bln. 1904, S. 13 f., 17 f., 26, 28, 67, 68, 101. 156 Polenz, Wilhelm von, Wurzellocker. Roman in zwei Bänden. F . F o n t a n e . Bln. 1902. 3 Bll., 281 S . / 2 Bll., 282 S., 3 Bll. ( = Werkverz. d. Verfs.) Das Werk stellt etwa zwei Jahre im Werdegang des zu Anfang 26jährigen Dichters Fritz Berting dar. Mit einem Drama „Leiser Schlaf" ist er in Berlin schon durchgefallen und trägt sich nun mit dem Gedanken, „den großen, deutschen, naturalistischen Roman" zu schreiben. Er ist nach einer mittelgroßen Stadt zu seinem 5 Jahre älteren Freund Dr. Heinrich Lehmsink, der beim „Feuilleton einer politischen Tageszeitung" angestellt ist, geflohen und gerät in das gesellschaftliche Leben in und um den Salon einer verwitweten Frau Hilschius, Verfasserin eines seichten Machwerkes „voll Indiskretion, Sentimentalität und Aktualitätssucht". Mit ihm ist die 19jährige Alma Lux, mit der er schon länger in „wilder Ehe" lebt und die „in ihren litterarischen Interessen nicht über den Kolportageroman" hinausgekommen ist.
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1902 „Wurzellocker"
Ü b e r bisherige Bildungseinflüsse heißt es: „ U n d H a n d in H a n d mit dem K o m p o n i sten des Tristan k a m ein a n d e r e r Magier über seine vom Pessimismus schon ergriffene Seele: S c h o p e n h a u e r . D e r eine f ü h r t e ihn ein in die Schrankenlosigkeit mystischer U r g e f ü h l e , d e r a n d e r e lehrte ihn die b e w u ß t e V e r a c h t u n g der Welt, die Flucht ins , N i r w a n a ' . " V o n S c h o p e n h a u e r aus stößt er dann auf H a r t m a n n , V o g t , Moleschott, Büchner und D a r w i n . Alle Gestalten, auf die Berting nun in seiner neuen U m w e l t trifft, sind sicherlich als „ w u r z e l l o c k e r " a n z u s e h e n ; ihre schriftstellerischen Versuche entbehren den festen Boden einer weiteren o d e r engeren H e i m a t , kreisen zunächst um den a u f k o m m e n d e n Impressionismus. Am E n d e des ersten Bandes entschließt sich Berting, eine N o r d l a n d r e i s e zu m a c h e n , denn er „brauchte in dieser Zeit den Anblick von G r o ß e m , U r s p r ü n g l i c h e m " . Er hat nämlich gerade einen g r o ßen R o m a n fertiggestellt, „Das Geschlecht", in dem er versucht hat, „das G e schlechtsleben in seiner g a n z e n Wildheit und alles beherrschenden herrlichen K r a f t und U n b ä n d i g k e i t . . . dazustellen". Als einziges Buch n i m m t er den „ Z a r a t h u s t r a " mit auf die Reise, und von dieser erstmaligen Begegnung mit Nietzsche heißt es n u n im zweiten Band: „Wie d e r F r o m m e die Bibel o d e r das G e s a n g b u c h , so schlug er das hohe Lied des g r o ß e n antichristlichen Sängers auf, an jeder beliebigen Stelle, und berauschte sich an dem gewaltigsten D i t h y r a m b u s auf den Menschen. W u n d e r lich verschmolz ihm der Inhalt des Gedichtes mit der Szenerie um ihn her. Beide waren sie f ü r ihn neu, der O z e a n und Nietzsche, und bald w u ß t e er nicht mehr, w e r von dem P a a r e d e r g r ö ß e r e H e x e n m e i s t e r sei. Etwas H e r b e s , Salzgeschwängertes, wie der b o s h a f t u n b e r e c h e n b a r e Seewind, w e h t e aus diesen Blättern. Ein Riesenhorizont, g r o ß e , gesammelte Einsamkeit, klare, eisige Luft, d a r u n t e r die g r a u e , kühle Flut mit der A h n u n g u n e r h ö r t e r W u n d e r in ihrer gefährlichen T i e f e . U n d als k ü h ner W i k i n g n u r das eine Boot mit dem einen M a n n e darin, d e r das W o r t g e p r ä g t hatte: , D e r Mensch ist etwas, das ü b e r w u n d e n werden m u ß ! ' — W i e er mit Bewußtsein hinaussegelte, in seinem R ü c k e n lassend alles, w a s bisher als Festland gegolten hatte: Staat, Familie, G o t t . . . Mit diesem Lotsen zu segeln, w a r f u r c h t b a r schmerzliche Lust. E m p o r g e h o b e n w u r d e man auf die steilsten H ö h e n d e r E r k e n n t nis und Freiheit, um gleich darauf hinabgestürzt zu w e r d e n in das W o g e n t h a l engster beängstigender W i d e r s p r ü c h e . . . Eine ehern einherschreitende g e b u n d e n e Sprache, gleich dem R h y t h m u s der Meereswellen, d e r ältesten Musik der Welt. So tönte es aus diesem Buche, so starrte er einen an, wie das g r a u s a m versteinernde, unmenschliche Medusengesicht des O z e a n s . . . Fritz w a r es, als w ü r d e jeden T a g eine Welt in ihm z e r s t ö r t und eine W e l t aufgerichtet. Seit Richard W a g n e r s T o n s c h ö p f u n g e n z u m ersten Male auf ihn eingestürmt w a r e n , hatte er ein solches W ü h len in den G e f ü h l e n , ein solches Z e r r e n an den N e r v e n , wie von einer Riesenfaust, nicht gespürt . . . Ein T o n aus diesen scheinbar gottlosen S t r o p h e n r ü h r t e an die innerste religiöse N a t u r des Menschen . . . H i e r k o n n t e man n u r staunen und sich w e h r e n , niemals n a c h w a n d e l n . . . Für einen, der sich mit Z a r a t h u s t r a hinausbegeben hatte in die Einsamkeit grandiosester M e n s c h e n v e r a c h t u n g , w a r es schwer sich z u r e c h t z u f i n d e n auf dem Ententeiche alltäglicher Geselligkeit." (S. 7 ff.) Als er wiederkehrt, e r f ä h r t er, d a ß Alma sein Kind trägt. Er kann sich d a m i t g a r nicht abfinden und besucht Lehmsink, um sich mit ihm d a r ü b e r auszusprechen. Dieser ist aber freudig überrascht. Fritz sieht bei ihm den „ Z a r a t h u s t r a " stehen und liest d a r a u s
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eiine Stelle über die E h e vor, w o r a u f L e h m s i n k erwidert: „ A c h , lieber B e r t i n g , ich k e n n e meinen N i e t z s c h e ! S e i n e W o r t e haben etwas mit der Bibel gemein . . .: man k a n n sie a u f Schritt und T r i t t mit sich selbst beweisen und mit sich selbst widerleg e n . Als R a t g e b e r taugt N i e t z s c h e gar nicht, h ö c h s t e n s als W e t z s t e i n für den Geist. W i e ein riesiger S c h e i n w e r f e r wirft er sein grelles Licht weit hinaus, daß du das F e r n s t l i e g e n d e N i e e r b l i c k t e in tagheller B e l e u c h t u n g zu sehen vermeinst; und trittst du heraus aus dem L i c h t k e g e l , dann stehst du doppelt in der N a c h t , bist der G e n a s führte. Lassen wir N i e t z s c h e aus dem Spiele, wenn es sich um das praktische L e b e n h a n d e l t . " (S. 3 9 f.) Als k u r z e Z e i t später L e h m s i n k sein eigenes W e r k
„Deutsche
P e r s ö n l i c h k e i t e n " , dessen G l a u b e lautet: „Aus Religiosität und Heimatsliebe wird d e r M e n s c h der Z u k u n f t seine K r ä f t e z i e h e n " , und das ihm eine P r o f e s s u r einträgt, e r s c h e i n e n läßt, w u n d e n sich Berting, d a ß er N i e t z s c h e u n e r w ä h n t gelassen h a b e , w o r a u f der V e r f a s s e r e r w i d e r t : „ N i e t z s c h e hat kein F ü h r e r sein wollen und ist auch k e i n e r g e w o r d e n . Seine W o r t e sind h a a r s c h a r f e M e s s e r o h n e G r i f f e ; man kann sie nicht n u t z e n . E r ist Artist von h ö c h s t e r F o r m . T ä n z e r , D i c h t e r und darum — L ü g n e r . . . U n s R e f o r m a t o r sein zu k ö n n e n , fehlt ihm etwas; das ist: ein T r o p f e n von M a n i n L u t h e r s bestem H e r z b l u t , von Luthers g e s u n d e r , s t a r k e r B a u e r n a n . . .
Er
hat auch w e d e r j e n e T r e u e , n o c h j e n e G l u t , die das L e b e n einsetzt für die L e h r e . . . D a s G r ö ß t e , was e r uns g e g e b e n hat, ist etwas s c h e i n b a r N e g a t i v e s , eine kritische Leistung . . . S e i n e K r i t i k der A b k e h r v o m L e b e n , der F l e i s c h a b t ö t u n g , der Askese . . . D e m G e k r e u z i g t e n hat er nichts a n z u h a b e n v e r m o c h t ; a b e r die knechtsseligen V e r w ä s s e r e r seiner L e h r e hat e r für alle Z e i t e n g e b r a n d m a r k t mit unauslöschlichem H o h n . D a s ist N i e t z s c h e s V e r d i e n s t um das C h r i s t e n t u m . " ( S . 190 f.) Ein gänzlich anders g e a n e t e r Freund t a u c h t dann a u f : M i c h a e l B a r o n C h u b s k y , ein P o l e , der in Paris zu H a u s e ist und dessen „ B e o b a c h t u n g s f e l d " der „ m o d e r n e S e x u a l i s m u s " ist. D i e s e r e r k e n n t in N i e t z s c h e einen „ V o r l ä u f e r der k o m m e n d e n
Nervenepoche":
„ D i e M o r g e n r ö t e des ästhetischen Zeitalters steigt h e r a u f , und dieses wird a u f g e b a u t sein a u f N e r v e n . D i e Z u k u n f t g e h ö r t der N e u r o s e . " ( S . 6 0 ) Ü b e r eine der schriftstellernden F r e u n d i n n e n , H e d w i g von L a v a n , die durch F r i t z mit N i e t z s c h e b e k a n n t g e m a c h t wird und k u r z e Zeit später ihr V e r h ä l t n i s mit B e r t i n g in einer N o velle der Ö f f e n t l i c h k e i t preisgibt, heißt e s : „ H e d w i g verschlang die g e b o t e n e K o s t und schien sie auch zu verdauen . . . sie ließ ihr I n n e r e s nicht überwältigen von der S c h ö n h e i t des Z a r a t h u s t r a - L i e d e s . N u r mit d e m V e r s t ä n d e schien sie zu g e n i e ß e n , o h n e die S e e l e h i n z u g e b e n . " ( S . 125) A l m a stirbt d a n n , L e h m s i n k s S c h w e s t e r übernimmt die P f l e g e des inzwischen zur W e l t g e k o m m e n e n K i n d e s , und B e r t i n g b e scheidet sich mit dem feuilletonistischen T e i l einer K o r r e s p o n d e n z in B e r l i n ; er fühlt j e t z t , d a ß er, durch seine Erlebnisse vertieft, „in t i e f e r e m B o d e n w u r z e l e " . Ü b e r das schließliche V e r h ä l t n i s zu L e h m s i n k — und dabei fällt das letzte W o r t über N i e t z s c h e — heißt e s : „ Ü b e r den W e r t ästhetischer K u l t u r , ü b e r den Sinn der D e k a d e n z , die J u d e n f r a g e , über N i e t z s c h e und anderes würden sie ewig g e t r e n n t e r M e i n u n g b l e i b e n . " ( S . 2 3 9 ) S o n s t i g e E r w ä h n u n g e n N i e t z s c h e s a u f S. 12, 2 2 , 109. 5 7
57
Polenz, Wilhelm von (Schloß 13. 11. 1903), Schriftsteller.
Obercunewalde/Oberlausitz
14. 1. 1861
—
Bautzen
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1902 „maßlose, blasierte, junkerhafte, freche Selbstüberhebung"
157 Trost, Karl, V o m Anfang und Ende des Naturalismus. ( N A Z g Nr. 40 v. 16. 2. 1902). Besprechung der Werke von Conrad (Nr. 149), Landsberg (Nr. 155) und Bélart (Nr. 22), bei der letzteres aber nur angezeigt wird. Landsberg habe trotz „viel Gährung, viel krauser Mischung von Gedankengängen" diese dennoch „in der Hauptsache . . . richtig erfaßt und hervorgehoben": „Beherrschende Ideen gehen von Herrschernaturen aus, in welchen der Wille zur Macht lebendig ist, . . . daher die Forderung einer aristokratischen Gemeinschaft der höheren Individuen." Der Wagner-Nietzsche-Zola-Verehrer Conrad veranlaßt den Rezensenten zu folgendem Schluß: „Aus dem Zusammenfließen der von moderner Wirklichkeits-Erfassung und andererseits von Nietzsches Autoipsismus ausgehenden Wirkungen hat sich der neue deutsche Geist gebildet, der . . . mehr und mehr zur Klarheit über sich selbst und zum Glauben an sich als die beherrschende Lebensmacht der Zukunft hindurchdringt . . . Uberall ein: Los vom Vernünfteln, vom Schulgezänk, von verwirrenden Gelehrtenmeinungen! Überall ein Verlangen nach Glauben und Offenbarung . . ." 158 Rheinhard, Dr. W., D e r Mensch als Tierrasse und seine Triebe. Beiträge zu Darwin und Nietzsche. T h . Thomas. Lpz. (1902), IV, 235 S. Verfasser befaßt sich erst in den letzten zwei Abschnitten eingehend mit Nietzsche: „Die Grundlagen der Weltanschauung Nietzsches. Der Ubermensch und die Umwerthung der Moralanschauungen" und „Schlußfolgerungen. Zur Lehre von der ewigen Wiederkehr". Obwohl dann auch verschiedentlich festgestellt wird, daß Nietzsche „im Großen und Ganzen mit der von mir vorgetragenen Weltanschauung harmonirt" und daß in Sachen der Moraltheorie „er ganz auf dem hier vorgetragenen Standpunkt steht", werden „Übermensch", „Umwerthung" und „ewige Wiederkehr" nach eingehender Erwägung verworfen. 159 Schneider, O t t o (Küstrin), Nietzsches Zarathustra-Dichtung in der Beleuchtung eines Modernen. Programm. Küstrin 1902. 15 S. Angeregt wurde die Schrift durch Meyers „herausfordernde, maßlose Lobeserhebung" Nietzsches in den NJKA (s. Bd. I) und das Werk „Zarathustra" selbst und will einer „abweichenden Ansicht" Ausdruck verleihen. Das Aphoristische des Werkes nennt er „eiteles, übergeistreiches Gethue", das „mehr dem Romanen als dem Deutschen" zusage. Bei den „Sprachbildungen" spendet Verfasser sowohl gelegentliches Lob als auch Tadel. Die Behandlung des Rhythmus sei „eintönig", erlaube „etwas zuviel Blech". Den Reim behandle Nietzsche „geringschätzig", „den Contrast, den möglichst grellen" dagegen liebe er und demzufolge finde sich ausgesprochener „Schmutz" in dem Werk. „Auf die homerische Kunst der Naturbeobachtung, besonders auf das Gleichnis", verstehe er sich, doch „nur zu oft giebt er in seiner hochmütigen, krankhaften Grundstimmung der Sucht nach, die Naturschönheit zu verzerren". Auch „Klarheit der Situation und Handlung" fehle: „Zarathustra bleibt auf den 476 Seiten im weitaus größten Teile der alleinige Vortragende . . . Der Knalleffekt triumphiert über die Klarheit und plastische Anschaulichkeit." Die Hauptgestalt, „Zarathustra-Nietzsche" selbst, zeige als „charakteristischen Grundzug maßlose, blasierte, junkerhafte, freche Selbstüberhebung". Erkenntnis-
1902 Achad Ha'am
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theoretisch versuche er, „in Eins zu dichten und z u s a m m e n z u t r a g e n , was B r u c h stück und Rätsel und g r a u e r Zufall ist", und auf seine S i t t e n l e h r e g e n a u e r e i n z u g e hen, erlaube sich nur denen g e g e n ü b e r , die gewillt seien, „gar zu Triviales und Unsinniges sich n o c h einmal breittreten zu lassen". D i e v o r g e t r a g e n e n „politischen und r e c h t l i c h e n " A n s c h a u u n g e n ähneln den e t h i s c h e n , und auch die „ästhetischen" seien „ v e r s c h r o b e n " . D a s Gesamturteil
lautet: „Auf unwissenschaftlicher,
unge-
schichtlicher, u n p s y c h o l o g i s c h e r , unphilosophischer G r u n d l a g e sich k e c k e r h e b e n d , ist dieses G e b ä u d e o h n e jeden W e r t für die menschliche C u l t u r g e m e i n s c h a f t . "
160 Achad Ha'am, Nietzscheanismus und Judentum. A. d. Hebr. v. Dr. J. Friedlaender. ( O W 2. Jg., H. 3 f. v. März u. April 1902, Sp. 1 4 5 — 1 5 2 , 2 4 1 — 2 5 4 ) . B e s c h ä f t i g t sich mit dem E i n f l u ß des U m w e r t u n g s - G e d a n k e n s auf die j ü n g e r e n jüdischen Schriftsteller, „die einen R i ß in ihrem I n n e r n empfinden und ihn durch die E i n f ü h r u n g . e u r o p ä i s c h e r ' G e d a n k e n in unsere Litteratur heilen zu k ö n n e n verm e i n e n " . V e r f a s s e r d a g e g e n meint, sie h ä t t e n diesen f r e m d e n G e d a n k e n n ä h e r untersuchen sollen, dann hätten sie h e r a u s g e f u n d e n , daß er „tatsächlich ,zwei verschiedene P u n k t e ' , einen allgemeinen m e n s c h l i c h e n und einen speziellen arischen e n t h ä l t " . In der „sittlichen S t ä r k e und d e r inneren S c h ö n h e i t " des J u d e n t u m s stehe „schon seit uralten Zeiten ein j ü d i s c h e r N i e t z s c h e a n i s m u s fix und fertig v o r uns". D e m z u f o l g e ist dem V e r f a s s e r das j ü d i s c h e V o l k das „ Ü b e r v o l k " , das „den f r u c h t baren B o d e n bildet, der von vorne herein b e s o n d e r s günstige W a c h s t u m s b e d i n g u n gen f ü r den Ü b e r m e n s c h e n besitzt". Als V o r l ä u f e r in dieser H i n s i c h t stellt e r J e h u d a H a l e w i hin. E r wirft den „jungen S c h r i f t s t e l l e r n " v o r , d a ß sie in ihrer V e r h e r r l i c h u n g der „arischen ,blonden B e s t i e ' . . . viel w e i t e r g e h e n , als ihr M e i s t e r selbst". D e n n „ N i e t z s c h e selbst, t r o t z seiner b e s o n d e r e n V o r l i e b e f ü r die K r a f t der Faust und die brutale W i r k l i c h k e i t des realen L e b e n s , hat d e n n o c h die G e r e c h t i g k e i t f ü r die h ö c h s t e V o l l k o m m e n h e i t e r k l ä r t " . Ü b e r h a u p t findet V e r f a s s e r die „jüdischen N i e t z s c h e a n e r " s c h l i m m e r als ihren „ M e i s t e r " , v o n dessen Ä u ß e r u n g e n er m a n c h e mit voller Z u s t i m m u n g anführt. 5 8
160a Auch in: Α. H., Am Scheidewege. 1. Bd. 2. verbess. u. verm. Aufl. Jüd. Vlg. Bln. 1913, S. 2 5 2 - 2 7 1 ; die erste Auflage war schon 1904 erschienen, enthielt aber laut Vorrede des Übersetzers zur zweiten (S. VII) diesen Aufsatz nicht. U n v e r ä n d e r t ; nur die erste und l e t z t e , einige Z u r ü c k h a l t u n g aussprechenden A n m e r k u n g e n des Ü b e r s e t z e r s sind w e g g e f a l l e n .
161
ss, Friedrich Nietzsche. ( E K A 53. Jg., Nr. 11 v.
14.3.1902,
S. 82 f.). V e r g l i c h e n mit H o u s t o n S t e w a r t C h a m b e r l a i n , dem „ungelehrten D i l e t t a n t e n " , und d e m R e m b r a n d t d e u t s c h e n sei N i e t z s c h e „ein d u r c h g e b i l d e t e r G e i s t , gründlich und vielumfassend, von h o h e m S t r e b e n u n d u n g e w ö h l i c h e r K r a f t " , aber d e n n o c h
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Ha-am, Achad (eigentl. Ascher Ginzberg, Skwira 5 . 8 1856 — Tel Aviv 2 . 1 . 1 9 2 7 ) , Schriftsteller.
68
1902 Zum „Willen der Macht"
„ein Verirrter": „. . . die Nietzsche-Stimmung, auch wo sie wie im Zarathustra mit bestrickendem Wohllaut, in geistreicher Wendung zu uns spricht, ist Geisteskrankheit" 161a Auch in: E V 15. Jg., Nr. 39 v. 14. 5. 1902, S. 313 f. Mit der Überschrift: Nochmals Friedrich Nietzsche, sonst unverändert. 162 Köhler, Lic. theol. Jul. (Schloßprediger in Hannover), Friedrich Nietzsche nach seiner Stellung zum Christentum. Carl Meyer. Hannover, Bln. 1902. 31 S. Veröffentlicht hier einen Vortrag, der „in der Aula des Lyceums I zu Hannover" gehalten wurde. Umreißt Nietzsches Entwicklung und kommt zu dem Schluß, daß dessen „Feindschaft gegen das Christentum" daher rühre, daß „er in den Bann eines wissenschaftlichen Materialismus sich fangen ließ, weil er dementsprechend diese Welt ohne Gott zu erklären suchte", und weil er mit „der christlichen Moral gebrochen hatte, so fand er den Weg zu seinem Heiland und zu seinem himmlischen Vater nicht zurück". Doch könne man auch einiges von ihm lernen, er sei gerade den Christen ein vielfacher „Warner": „.. . daß wir uns hüten, unseren Glauben in träger Gewohnheit jemals etwas Totes, Unlebendiges, Weitabgewandtes werden zu lassen"; daß man dessen bewußt bleibe, „wie eng der christliche Glaube und die christliche Sittlichkeit zusammengehören"; daß man es „ernst gegenüber dem Pessimismus unserer Tage mit der Hochachtung unserer christlichen Uberzeugung" nehme. 163 Gutmann, Paul, Nietzsches Vermächtnis. ( S W R s 2. Jg., H . 6 v. 15.3. 1902, S. 2 1 8 - 2 2 3 ) . Eine Begrüßung des 15. Bandes der Werkausgabe (GXV): „Auch in dem vorliegenden Fragment tritt das positive Element noch in den Hintergrund, während die Kritik an Vielseitigkeit und Tiefe alles übertrifft, was wir sogar bei Nietzsche gewöhnt sind." — „Seine psychologische Arbeit ist von so großartiger Kühnheit, daß dafür kein Ausdruck der Bewunderung passend erscheint." 59 164 Ungern-Sternberg, Isabella, Freifrau von (geb. Freiin von der Pahlen), Nietzsche im Spiegelbilde seiner Schrift. C. G. Naumann. Lpz. (1902). 2 Taf., VIII, 174 S., 1 Bl., 36 BU. ( = Hss.-faks.), 10 BU. ( = Vlgs.anz.). Mit Hilfe der „Handschriftdeutungskunde" als des „jüngsten Sprößlings der psychologischen Wissenschaft" versucht die Verfasserin, „die Natur von NietzscheZarathustra zu ergründen". Dabei erzählt sie recht lebhaft von zwei kurzen Begegnungen mit ihm im Oktober 1876. Sie widmet zwölf Schriftstücken seiner Hand eine eingehende Ausdeutung und stellt dann handschriftliche Vergleiche mit solchen von Wagner, Cosima, Burckhardt, Gobineau, Rohde, Gast, C. v. Gersdorff, Nietzsches Eltern und der Schwester sowie von Goethe, Beethoven, Napoleon und Bismarck an.
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Gutmann, Paul (Berlin 27. 1. 1873 — Mexiko August 1953), Bühnenschriftsteller.
1902 Zum „Willen der Macht"
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165 Weißl, August, Das aristokratische Ideal Nietzsches. (MR Nr. 13 v. 30. 3. 1902, S. 5 f.). Bespricht den 15. Band der Gesamtausgabe (GXV), dessen „ungeheures Gedankenmateriar kein „kurzer Aufsatz abtun" könne. So erlaubt Rezensent sich, „eine der vielen Ideen zu übermitteln", die des „Adelsmenschen". Auch hier, „wie so oft bei Nietzsche", klinge „durch die aufwühlendsten Gedanken, durch all die Aufpeitschungen zu kalter Härte plötzlich ein warmer zitternd-weicher Ton". M Friedrich Nietzsches: Zarathustras Lied / Vereinsamt / Venedig, in: Bartels, Adolf, Aus tiefster Seele. Eine Blütenlese der deutschen Lyrik von Klopstock bis zur Gegenwart. Moritz Schauenburg. Lahr (1902), S. 351 f. In der ersten Auflage (o. J.) fehlt Nietzsche, die zweite konnte nicht ermittelt werden.
166 Bräutigam, Prof. Dr. L. (Bremen), Friedrich Nietzsche und die Kulturprobleme unserer Zeit. Vorträge gehalten von Dr. A. Kalthoff, Pastor an St. Martini in Bremen. ( Z f d U 16. Jg., Nr. 4, 1902, S. 2 3 2 — 2 3 8 ) . Verfasser meint, „wenn nicht alle Anzeichen trügen", daß Nietzschekultus, Nietzscheschwärmerei und Nietzschetum „ihren Höhepunkt bereits überschritten" haben, möchte aber dennoch auf das Buch Kalthoffs (s. Bd. I) hinweisen, „das in der Nietzsche-Litteratur einen allerersten Platz einnehmen wird". Kalthoff weise Nietzsche „eine viel bescheidenere Stelle" an, als „sie seine kritiklosen Bewunderer ihm zuschreiben", und stelle seine Lehre als „ein notwendiges Erzeugnis bestimmter kulturgeschichtlicher und zeitgeschichtlicher Faktoren" hin. N u r „einen Hauptgegenstand", „das Pathologische an Nietzsche", vermisse man an dem Buch, das so „recht für den höheren Lehrerstand" geschrieben sei. Ν Eine Vorrede v o n Friedrich Nietzsche. / Bruchstück. ( N D R s 13. Jg., H . 4 v. April 1902, S. 3 3 7 — 3 4 1 ) . Vorabdruck einer Vorrede zu „Menschliches" aus dem Nachlaß, die darauf erst in Band 14 (GXIV) der Gesamtausgabe (S. 383, 384—393) veröffentlicht wurde. Na Teilweise auch in: TRs Nr. 76, Beil. 1902). Die Nummern 1, 2, 7, 8 u. 10 fehlen, sonst unverändert.
167 Bienenstein, Karl, Ellen Key. (TTB1 37. Jg., Nr. 76 f. v. 4. u. 5. 4. 1902). Von der Feststellung ausgehend, daß Nietzsche „heute . . . Modephilosoph" sei. „jedoch nicht aus eigener Schuld, sondern aus Schuld derer, die sich seine Jünger nennen", und anläßlich zweier Werke von Ellen Key in deutscher Ubersetzung (Essays — Die Wenigen und die Vielen; s. Bd. I) erkennt der Verfasser in der schwedischen Schriftstellerin „eine Gestalt . . ., in deren Augen echtes Nietzschefeuer leuchtet" : „In der Begründung der großen reformatorischen Ideen Nietzsches
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1902 Die „erste Praktikerin der Morallehre Nietzsches"
hat Ellen K e y g a n z a u ß e r o r d e n t l i c h e s g e l e i s t e t . .
M a n k ö n n e sie die „erste P r a k t i -
kerin der Morallehre Nietzsches nennen".60
168 Simmel, Georg, Zum Verständnis Nietzsches. ( D F W 2. Jg., Nr. 1 v. 5 . 4 . 1902, S. 6 - 1 1 ) . Verfasser meint, Nietzsche verdanke „ R u h m und Wirksamkeit . . . einer Mannigfaltigkeit v o n A u f f a s s u n g e n , die alle gleich u n b e r e c h t i g t sind". E r ist w e d e r „ P r e d i g e r des egoistischen G e n u s s e s " , n o c h d e r „ a n a r c h i s t i s c h e n Z u c h t l o s i g k e i t " , n o c h d e r „ G l e i c h g ü l t i g k e i t g e g e n die M e n s c h h e i t a u ß e r h a l b des Ich". G e g e n die B e h a u p t u n g , d a ß „die L e h r e N i e t z s c h e s d e n G e g e n s a t z seiner P e r s ö n l i c h k e i t " bilde, stellt V e r f a s s e r die „ V o r n e h m h e i t " hin als d e n P u n k t , w o r i n „ d a s Ideal, das N i e t z s c h e lehrte, u n d die W i r k l i c h k e i t seiner N a t u r sich g e t r o f f e n h a b e n " .
169 Hollitscher, Dr. J., Friedrich Nietzsche's Herrenmoral. (WAp Nr. 97 v. 28. 4. 1902). B e s p r e c h u n g des W e r k e s v o n G r a m z o w ( N r . 131a), das „ d e m Besten z u g e z ä h l t w e r d e n m u ß , was ü b e r N i e t z s c h e g e s c h r i e b e n w u r d e " . D i e s e s G e s a m t u r t e i l h i n d e r t R e z e n s e n t e n a b e r nicht, W e s e n t l i c h e s an d e m W e r k zu b e m ä n g e l n . V e r f a s s e r h a b e v e r k a n n t , „ d a ß die , H e r r e n m o r a l d e r Z u k u n f t ' alle w e s e n t l i c h e n M e r k m a l e einer längst e n t s c h w u n d e n e n u n d ü b e r w u n d e n e n M o r a l a n s c h a u u n g , nämlich d e r griec h i s c h - r ö m i s c h e n , in sich b i r g t u n d d a ß d e r , U b e r m e n s c h ' w o h l nicht e i n e V o r w e g n a h m e d e r Z u k u n f t , s o n d e r n eine B e s c h w ö r u n g d e r V e r g a n g e n h e i t ist". „ U n s e r e C u l t u r e n t w i c k l u n g " w e r d e „ d e n ihr e n t s p r e c h e n d e n u n d speciell e i g e n t h ü m l i c h e n W e g g e h e n , w e d e r mit, n o c h o h n e d e n U b e r m e n s c h e n N i e t z s c h e ' s , w o h l aber ü b e r denselben h i n w e g " .
170 Siebert, Dr. Otto (Fermersleben), Friedrich Nietzsches „Der Wille zur Macht. Versuch einer Umwertung aller Werte". (DEB11 27. Jg., 1902, S. 1 4 9 - 1 7 0 ) . E i n e w e n n a u c h a b l e h n e n d e u n d v o m christlichen S t a n d p u n k t a u s geschrieb e n e , d e n n o c h r e c h t sachlich g e h a l t e n e I n h a l t s w i e d e r g a b e des 15. B a n d e s d e r G e samtwerke (GXV).
171 Heman, S. 1 8 1 - 2 1 0 ) .
Prof.
(K. F.),
Nietzsches
„Antichrist".
(TJb
1902,
N i e t z s c h e s S c h r i f t k ö n n e „ n u r mit d e r des Celsus v e r g l i c h e n w e r d e n " u n d be-' sitze „in d e r g a n z e n u n c h r i s t l i c h e n u n d antichristlichen L i t t e r a t u r sonst kein Seitenstück". N i e t z s c h e selber sei „ein T i t a n e n g e i s t " g e w e s e n : „ E r stellte sich d i e T i t a n e n a u f g a b e , eine g a n z n e u e , bessere, h ö h e r e K u l t u r ,
als die bisherige, wesentlich
christliche, z u s c h a f f e n . " — „ D i e vielen B ä n d e seiner S c h r i f t e n h a b e n d a h e r alle ein u n d d e n s e l b e n I n h a l t : V e r n i c h t u n g d e r M o r a l u n d A u f s t e l l u n g eines n e u e n L e b e n s ideales." D a s b e s p r o c h e n e B u c h sei „ z w a r n o c h m i t g e s u n d e m V e r s t a n d , a b e r mit f u r c h t b a r ü b e r r e i z t e m G e m ü t g e s c h r i e b e n u n d läßt die n a h e K a t a s t r o p h e v o r a u s s e h e n " . — „ D e r g r ö ß t e F e h l e r N i e t z s c h e s , seine s c h l i m m s t e T h o r h e i t , ist diese, d a ß e r
60
Bienenstein, Karl (Wieselburg a. d. Erlaf 1.11. 1869 — Bruck a. d. Murr 1. 2. 1917), seit 1896 Lehrer, zuletzt Bürgerschuldirektor, Verfasser vorwiegend von Kurzprosa.
71
1902 „eine neue künstlerische Renaissance im Elsaß"
m i t e i n e m , B u c h ' u n d n o c h g a r mit e i n e m s o l c h e n L ä s t e r b u c h , g e g e n d a s C h r i s t e n t u m z u F e l d e z o g . " D e n n o c h e r s t a u n t den V e r f a s s e r N i e t z s c h e s „ Z e i c h n u n g
der
P e r s o n J e s u " , die „ n i c h t als E r n s t e s , d e r W ü r d e , d e r G r o ß a r t i g k e i t " e n t b e h r e . 6 0 "
O Schär, Alfred, Einiges aus Gottfried Keller's Briefwechsel. ( Z T b N f . , Bd. 26, 1902, S. 2 0 7 - 2 2 2 ) . A b d r u c k v o n s e c h s B r i e f e n an K e l l e r , d a r u n t e r b e f i n d e n sich alle drei e r h a l t e n e n N i e t z s c h e s an ihn, z w e i d a v o n in e r s t m a l i g e r V e r ö f f e n t l i c h u n g , d e r erste v o m S e p t . 1882 u n d d e r l e t z t e v o m 14. O k t . 1886.
172 N(ecker, Moritz), Nietzsche's Freundin. ( N O T 36. Jg., Nr. 116 v. 28. 4. 1902). B e s p r i c h t d a s W e r k „ I n d i v i d u a l i t ä t e n (s. B d . I) v o n M a l w i d a v o n M e y s e n b u g in z w e i t e r A u f l a g e . D a s F r e u n d s c h a f t s v e r h ä l t n i s z w i s c h e n ihr u n d N i e t z s c h e sei „ w o h l e i n e s d e r d e n k w ü r d i g s t e n in d e r L i t e r a t u r g e s c h i c h t e d e r G e g e n w a r t " , und sie h a b e „ d a r ü b e r mit w a h r h a f t c l a s s i s c h e r S c h l i c h t h e i t " g e s c h r i e b e n .
Der Herausgeber der Werke Ernst Stadlers, Karl Ludwig Schneider, beschreibt die Bestrebungen der jungen Elsässer, René Schickele, Otto Flake, René Prévôt, Bernd Isemann, Hermann Wendel, H a n s Koch und Stadler, die „eine neue künstlerische Renaissance im Elsaß heraufzuführen" versuchten, und zwar in der Gestalt einer neuen Zeitschrift, „ D e r Stürmer", die es vom Mai 1902 bis Anfang 1903 auf neun Nummern brachte. Er knüpft an Äußerungen Otto Flakes, die, im dritten H e f t , sich „gegen das bürgerliche Kulturideal" richten, an und meint d a z u : „Hier bekundet sich, wie in anderen Äußerungen und im ganzen Habitus dieses Kreises die Wirkung Nietzsches, die auch Stadler damals ergriffen haben muß, denn gerade er hat ja in seiner reifen Dichtung die rauschhafte Erfahrung des Lebens gestaltet." 6 1 173 Hofmiller, Dr. J o s . (Freising), Nietzsche, und kein Ende! (Ges 18. J g . , Bd. II, 1902, H . 7, S. 5 9 - 6 7 ) . Eine
größere
Sammelbesprechung
der
Arbeiten
von
Stock
(Nr. 5 a),
die
„ m a n c h r i c h t i g e n G e d a n k e n " e n t h a l t e , d e r im g a n z e n a b e r „ d e r M u t " f e h l e , K r o n e n b e r g ( N r . 2 ) , d e r „ g e g e n W i n d m ü h l e n " k ä m p f e u n d d e s s e n S t e l l u n g als C h e f r e dakteur der „Ethischen K u l t u r " d e m Rezensenten zu einem Angriff auf diese veran60a
61
H e m a n , C . F. (Griinstadt/Pfalz 1839—1902), seit 1888 Professor der Philosophie und P ä d a g o g i k in Basel. E. S., Dichtungen. 1. Bd. Heinr. Ellermann. H a m b u r g (1954), S. 13; Isemann, Bernd (Schiltigheim b. Straßburg/Elsaß 19. 10. 1881 — 4. 10. 1967), Schriftsteller; Prévot, René ( M o o s c h / E l s a ß 1 4 . 1 2 . 1 8 8 0 — München 1 0 . 6 . 1 9 5 5 ) , Journalist und Dramatiker; Schickele, René (Oberehnheim/Elsaß 4. 8. 1883 — S a n a r y / S ü d f r a n k r . 31. 1. 1940), Schriftsteller. Uber die eigene Einstellung und die seiner Altersgenossen zu Gottfried Keller schrieb er im „Berliner Tageblatt" am 10. 8. 1932: „Für beide L a g e r : die Anhänger Liliencrons und Dehmels wie für die Partisanen Georges, Rilkes und Hofmannthals waren ,Gottfried Keller' und ,Schweizer Spießer' ein und derselbe Begriff . . . Wir Zwanzigjährigen waren der Meinung, zwischen Goethe und Nietzsche klaffe in der Literaturgeschichte ein leerer Raum, und es gab nur einen, den wir aus dem Höllensturz der langweiligen Po-
72
1902
laßt, Tienes (s. Bd. I), dessen Studie „zu dem Solidesten, was bisher über Nietzsche geschrieben wurde", gehöre, Gramzow (Nr. 131 a), dem beides Falsches und Richtiges unterlaufen sei, Lichtenberger (französisch, Paris 1901), dessen „Aufsatz . . . zu dem Gehaltvollsten" zähle und eine „positive Weiterbildung von Gedanken Nietzsche's" darstelle, „Schmidt" (s. Bd. I), bei dem man „im Vorhinein sicher sein" dürfe, „selbständigen und eigentümlichen Gedanken zu begegnen", Grimm (s. Bd. I), dessen Buch „schwerfällig, aber tüchtig gearbeitet" sei, Kalthoff (s. Bd. I), dessen Vorträge „wohl das Durchdachteste und Freieste, was von theologischer Seite über Nietzsche gesagt worden", seien, Fischer (Nr. 42), der trotz „apologetischer Gemeinplätze, die mit belustigender Selbstgefälligkeit und Salbung vorgetragen werden", ein Werk geschrieben habe, das sich durch Kenntnis des „ganzen Nietzsche" und Ehrlichkeit „aus der Masse der Nietzschelitteratur" heraushebe, Biedenkamp (Nr. 23), der mit „polternder Debattierklubberedsamkeit und mit billigen Seitenhieben" verfahre, Schacht (Nr. 1), der sich in „dilettantenhaft arrogante Schulmeistereien" ergehe, Reiner (Nr. 83), dessen Schrift „ein Gewebe von Mißverständnissen, Irrtümern und direkten Unrichtigkeiten" sei, Naumann (s. Bd. I), dessen „Belehrungen . . . von hausbackener Harmlosigkeit" und dessen Kritik „unreif" seien, Ernst (s. Bd. I), bei dem Falsches und Richtiges sich finden, Unger (s. Bd. I), der seine Problemstellung „oberflächlich" auffasse, Landsberg (Nr. 155), dessen Schrift „mehr" enthalte, als „der Titel verspricht, . . . vor Allem selbständige und kluge Gedanken", Zeitler (s. Bd. I), dessen Buch trotz „grundsätzlicher Einwände . . . urteilsfähigen Kennern" empfohlen wird, Horneffer (Nr. 31 u. „Vorträge über Nietzsche" in der 1901 erschienenen 2. Auflage; s. Bd. I), dessen Vorträge „nach wie vor als geeignete Einführung in des Denkers Gedankenwelt gelten" können. Lesenswert sind auch die einzelnen Äußerungen Hofmillers, die mehr am Rande herlaufen: Ausfälle gegen „die akademische Philosophiererei", die Ähnlichkeit zwischen Nietzsches Darstellung des religiösen Problems und der Harnacks, das allgemeine Urteil über die theologische Beschäftigung mit Nietzsche, die Ubereinstimmung von „Nietzsche's Urteil über den Buddhismus und das Gesetzbuch des Manu mit demjenigen bedeutender Orientalisten, z. B. Oldenburgs". 174 H e i n e , Heinrich (Nordhausen), Friedrich Nietzsche als Pädagoge. ( N B 13. Jg., H . 5 f. v. Mai u. Juni 1902, S. 2 7 5 - 2 8 7 , 3 2 9 - 3 4 3 ) . Verfasser bekennt sich zu denen, „die wir Bildung des Volkes auf unsere Fahnen geschrieben haben", und findet daher Nietzsches pädagogische „Zielsetzung saunenengel gerettet sehn wollten, das war Jean Paul." (Zitiert nach: R. S. Leben u. Werk in Dokumenten. Hg. v. F. Bentmann. Vlg. Hans Carl. N ü r n b e r g (1974), S. 179.) S. a. die Äußerungen in: R. S., Werke in 3 Bdn. (Hg. v. H . Kesten). Kiepenheuer & Witsch. Köln, Bln. (1959), Bd. 3, S. 1094 (Tagebucheintragung v. Ende April 1934), 1140 (Brief an H a n s Brandenburg v. 9. 3. 1903), 1174 (an Thomas Mann v. 9. 1. 1933; über Nietzsche und Hölderlin), 1239 f. (an denselben v. 19. 12. 1936), 1258 (an den Sohn Rainer v. 20.6. 1938; eine äußerst scharfe Ablehnung der ewigen Wiederkehr); Stadler, Ernst (Colmar 11. 8. 1883 — 30. 10. 1914 bei Zandvoorde gefallen), Dichter, promovierte 1906 in Straßburg, weiteres Studium in O x f o r d ; Wendel, H e r m a n n (Metz 3. 3. 1884 — 10. 10. 1936), Verfasser geschichtlicher und politischer Werke, bis 1933 Schriftleiter des „Wahren Jakob".
1902 Eine „tiefe intellektuelle Rechtschaffenheit"
73
von vornherein unverständlich". Wenn auch an seinen Worten „manches Wahre" liege, „so vermögen wir nicht, seinen Standpunkt, daß die Wissenschaft nur für wenige Bevorzugte da ist, zu teilen": „Es ist ein Unding, die Masse des Volkes zu Gunsten einiger Weniger vernachlässigen zu wollen." Nietzsche verkenne „völlig" die soziale Frage und wisse „Lebens- und Bildungskraft des Christentums" nicht zu „würdigen". Doch sei er „von allen ernsten Schriftstellern" wohl der „am meisten" gelesene, und so sei „auch für Pädagogen von Fach . . . das Studium seiner Schriften nicht ohne Interesse", auch „da er den Erziehungsfragen manche neue Seite abgewinnt und in eigenartiger Beleuchtung erscheinen läßt". 174a Auch in: PrS 55. Bd., 4. H., 1906, S. 2 9 1 - 3 1 2 . An wenigen Stellen etwas verkürzt, verlängert oder unwesentlich umgeschrieben, ohne aber daß die Einstellung des Verfassers sich mehr als geringfügig gemildert hätte. 175 W i d m a n n , J. V., Nietzsche's „Der Wille zur Macht". (Versuch einer U m w e r t u n g aller Werte.), (B Nr. 135 ff., 1 3 9 - 1 4 4 , 146—149 v. 16., 17., 18., 20. —25., 2 7 . - 3 0 . 5. 1902). Eine lange, recht ausgeglichene Besprechung des 15. Bandes der Gesamtausgabe (GXV), in der sich Äußerungen wie „außerordentlich gescheit" und „unverzeihlich geschmacklos" die Wage halten. Erst gegen Schluß verrät Verfasser eine uneingeschränkte Anerkennung der „Ehrlichkeit" Nietzsches als „Grundzug seiner Geistesarbeit": „Der blendende Glanz, den viele seiner Aussprüche haben, beweist nichts gegen die tiefe intellektuelle Rechtschaffenheit, aus der seine ganze Lebensarbeit zu erklären ist. Aus dieser intellektuellen Rechtschaffenheit stammt aber auch die Leidenschaftlichkeit seiner Philosophie." 176 Lang, Prof. Dr. Albert, Darwin und Nietzsche. (AMBII 14. Jg., H . 9 u. 11, S. 2 0 3 — 2 0 7 , 2 4 0 - 2 4 3 ) . Verfasser möchte die Aufmerksamkeit der Leser auf die „Lehre vom Übermenschen" lenken, denn diese werde „wohl das einzige sein, was von der Nietzscheschen Philosophie noch übrig bleiben wird, wenn sich einmal die künstlich gesteigerte Begeisterung für den Modephilosophen abgekühlt haben wird", und sie lasse sich „sehr gut begreifen und verstehen als logische Folgerung aus den darwinistischen Prinzipien, wenn wir die letzteren auf das Gebiet des ethisch-sozialen Lebens übertragen". Bis in die achtziger Jahre hinein sei die ganze darwinistische Ethik „human" geblieben, erst Nietzsche, und zwar schon in der ersten „Unzeitgemäßen", sei davon überzeugt gewesen, „daß der Darwinismus die heutige ,Sklavenmoral' Lügen strafe", und habe den Gedanken an die „Herrenmoral" zum „Grundpfeiler seiner aristokratischen Weltanschauung gemacht". Auch der Sozialismus, besonders Bebel, habe versucht den Darwinismus für sich in Anspruch zu nehmen, doch sei Nietzsches Idee einer aristokratisch gegliederter Gesellschaft „konsequenter". Beiden Anschauungen stellt Verfasser entgegen: „Kommunismus und extremer Individualismus bedeuten die Verneinung der Gesellschaft; denn der Mensch ist weder ein ,Einzelner' noch ein ,Herdentum'; er ist ein individuelles und gesellschaftliches Wesen . . . Was uns not thut . . . ist . . . eine Moral der wahren, christlichen Nächstenliebe."
74
1902 „der letzte bedeutende Denker seit Schopenhauer"
176a
Auch in 30 b, S. 30 — 58. Mit nur geringfügigen Änderungen.
177 Repke (Freiburg i. Schi.), Gerhart Hauptmanns „Die versunkene Glocke" und der Naturalismus Friedrich Nietzsches. (Ref 1. Jg., 1902, S. 3 0 9 - 3 1 2 ) . D e m Verfasser ist H a u p t m a n n s H e i n r i c h „der U b e r m e n s c h , der Vertreter des Nietzscheschen N a t u r a l i s m u s " : „Diesem Philosophen sind die A n s c h a u u n g e n , die G e d a n k e n , ja teilweise die W o r t e entlehnt, welche H a u p t m a n n seinem Helden in den M u n d legt." D e r H e l d des Stückes unterliege z w a r , aber die Dichtung lasse „den Ausblick auf eine z u k ü n f t i g e , dem U b e r m e n s c h e n günstigere Zeit o f f e n " , sie schließe „ganz ähnlich" wie das H a u p t w e r k Nietzsches. „ N u n , der Antichrist-Übermensch wird sicher seinen T a g haben. Aber er hat ebenso sicher auch seinen Abend und — seine N a c h t . "
178 Hofmiller, Josef, Nietzsches Testament. Bd. 2, 1902, S. 5 - 1 5 ) .
(Ges
18. Jg., H. 9,
D u r c h die V e r ö f f e n t l i c h u n g des 15. Bandes der G e s a m t a u s g a b e ( G X V ) w e r d e „aufs N e u e bewiesen, d a ß Nietzsche mit den J a h r e n immer systematischer die g r o ßen Fragen des menschlichen Lebens betrachtet hat, in immer umfänglicheren Kreisen seine Interessen a u s d e h n e n d , b e w u ß t e r stets und stets schärfer mit seinen philosophischen Ahnen sich a u s e i n a n d e r s e t z e n d , vorsichtiger im P r ü f e n , strenger in der M e t h o d e " . Er ist dem V e r f a s s e r „der Philosoph, d e r die j ü n g e r e n D e u t s c h e n , die um die Zeit des g r o ß e n Krieges auf die W e l t g e k o m m e n sind, am nachhaltigsten angeregt" habe, „der letzte b e d e u t e n d e D e n k e r seit S c h o p e n h a u e r " .
178a Auch in: J. H., Versuche. Mchn. 1909. Süddt. Monatshefte GmbH., S. 7—28. U m den ersten Absatz g e k ü r z t , um zwei (S. 16—18o) v e r m e h r t und d u r c h g e hend in der Ausdrucksweise geändert. In den h i n z u g e k o m m e n e n Zeilen will er betont wissen, „daß N i e t z s c h e ethische F o r d e r u n g e n nur f ü r sich und die Seinen a u f stellt".
179
Saenger, Dr. Samuel, Glossen. (Z Bd. 39, 1902, S. 204 ff.).
W a s als eine allgemeine Bloßstellung der deutschen G e r i n g s c h ä t z u n g des Essayisten, Feuilletonisten und Aphoristikers a n f ä n g t , bei d e r N i e t z s c h e dem V e r f a s ser als „vielleicht der g r ö ß t e Aphorismenschreiber aller Zeiten und V ö l k e r " gilt, läuft in eine verhältnismäßig schrankenlose W ü r d i g u n g des 15. Bandes der Gesamtausgabe ( G X V ) aus: dieser Band habe „in seiner äußerlichen V o l l e n d u n g den Anspruch, neben J e n s e i t s von G u t und Böse' und der .Genealogie d e r Moral' als H a u p t q u e l l e f ü r die Lehre Nietzsches zu gelten". — „ K e n n t n i ß des G a n z e n ist nöthig, z u r Bekräftigung d e r U b e r z e u g u n g , daß Nietzsche, d e r so gern mit seinen M e i n u n g e n spielte, es nie mit seinen G e s i n n u n g e n that."
180
Spiegel, Else (Berlin), (EK 10. Jg., 1902, S. 238 f.).
Eine recht lobende Besprechung d e r zweiten Auflage des W e r k e s von Schmitt (s. Bd. I), der zu den „ w a h r e n J ü n g e r n " Nietzsches zu r e c h n e n sei, „die weiter bauen und, nicht seinen s o n d e r n ihren W e g e n folgen".
1902 „ein Warnungszeichen für unsere Zeit"
75
181 Seydl, Dr. Ernst (Subrektor am Wiener F.-e. Klerikalseminar), A l s o sprach Zarathustra. Eine Nietzsche-Studie. Breer & Thiemann. H a m m i. W. 1902, 30 S. ( = Frankfurter Zeitgemäße Broschüren. N . F. Bd. X X I , H. 9 v.Juni 1902, S. 2 6 3 - 2 9 2 ) . Es nimmt nicht wunder, daß Verfasser den „Atheismus" als „erste und wichtigste Grundlage der Philosophie Nietzsches" hinstellt und die „Fundamental-Thesen der neuesten Unphilosophie" wie folgt bezeichnet: „Es giebt keinen allmächtigen Gott, es giebt keine unveränderliche Wahrheit, es giebt kein unumstößliches Sittengesetz. So wird die Religion durch den Atheismus gestürzt, die Wissenschaft durch die vollendete Skepsis, die Sittlichkeit und das Recht durch einen schrankenlosen Autonomismus." Warum seine Schriften eine „Lieblingslektüre vieler Tausende" geworden seien, beantwortet Verfasser mit der Behauptung: das bewirke „seine Sprachgewandtheit, seine Geistesrichtung und seine aristokratische Art". Daß aber seinem Wirken ein „bleibender Wert" zuzugestehen sei, bezweifelt Verfasser. Er sei vielmehr „ein Opfer unserer Zeit, auch e i n W a r n u n g s z e i c h e n f ü r u n s e r e Z e i t " . In einem „Anhang. Ein Vorläufer Nietzsches auf althellenischem Boden", stellt er den Kallikles des platonischen „Gorgias" als einen solchen hin. 182 Seydl (Wien), (AL 12. Jg., Nr. 12 v. 15. 6. 1902, Sp. 364). Eine Kurzanzeige der zweiten Auflage des Werkes von Vaihinger (Nr. 183), die in die Feststellung ausläuft: „Wer sich für das Nietzsche-Problem interessiert, wird V.s Arbeit nicht unbeachtet lassen dürfen." 183 Vaihinger, Dr. H a n s (Prof. a. d. Univ. Halle), Nietzsche als Philosoph. Reuther & Reichard. Bln. 1902. 105 S., 3 Bll. ( = Vlgs.-anz.). „Das Grundprinzip Nietzsches . . . ist die positive Wendung der Schopenhauerschen Willenslehre, unter dem Einfluß des Darwinismus", und daher erklären sich die „antimoralische, antisozialistische, antidemokratische, antihumanistische, antiintellektualistische, antipessimistische" und „antichristliche Haupttendenzen" seines Wesens. Verfasser glaubt dann auch hiermit gezeigt zu haben, „daß Nietzsches Gedanken trotz ihrer aphoristischen Form, trotz ihrer systemlosen Folge einen streng geschlossenen, logisch befriedigenden Zusammenhang darstellen". 183a Dass. 3. verm., billige Aufl. 1905. 126 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Auf S. 104—109 werden Ausführungen zu Nietzsches Übermenschen gemacht, in denen die Lehre von der „ewigen Wiederkunft" als „unentbehrlicher Schlußstein" seiner Philosohie hingestellt wird. Im „Anhang" (S. 113—126) werden weitere „Fäden des Gewebes der Nietzscheschen Philosophie" aufgedeckt, so „Nietzsche als Antimetaphysiker, Antiplatoniker, Antikantianer, Anti-Absolutist, Antispiritualisten, Antihedoniker" u. a. 183b Dass. 4. v. Verf. neu durchgeseh. Aufl. Feldausg. 1.—15. Tsd. 1916. 8 0 S . , 4B11. ( = Vlgs.-anz.). Im Vorwort stellt Verfasser fest, daß „das Interesse an Nietzsche in dem Jahrzehnt von 1904— 1914 allmählich etwas abgenommen hatte" und erst die „Verleumdung und Verdrehung der Nietzscheschen Lehre durch die Gegner Deutschlands"
76
1902
dazu geführt habe, „daß man sich nun in Deutschland gerade wieder recht eingehend" mit ihm beschäftige. Sonst enthält dieser Druck nur wenige, unwesentliche Zusätze, weist aber dagegen eine vielleicht zeitbedingte Kürzung, nämlich die Stelle über Nietzsches „antideutsche und antiprotestantische Stellung" (S. 122 ff. d. 3. Aufl.), auf. 183c Dass. 5., erw. u. verm. Aufl. Herrn. Beyer. Langensalza 1930. 108 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = Fr. Manns Pädagog. Magazin. H. 1170. Bausteine z. e. Philosophie des Als-Ob. N . F. H g . v. H . Vaihingen H . 1). Zunächst lesenswert ist die Auseinandersetzung Vaihingers mit August Vetters Buch über Nietzsche (1926) im Vorwort zu dieser neuen Auflage. Diesem erscheine Nietzsche „als eine Gestalt, die überhaupt nicht rational zu erfassen sei und die man auf logischem Wege überhaupt nicht verstehen könne", Verfasser dagegen wolle mit seiner Schrift dazu anleiten, „das Phänomen ,Nietzsche' wissenschaftlich zu verstehen und denkend zu begreifen". Das Vorwort enthält auch eine dreiundhalbseitige Würdigung Nietzsches zu dessen 25. Todestag, die „damals vielfach nachgedruckt wurde". Nicht unwichtig ist Verfassers Zeugnis, daß „eine neue große Nietzsche-Welle entstanden" sei: „eine neue und mehr in die Tiefe gehende Bewegung für das Verständnis von Nietzsches Wollen". Der Hauptteil der Schrift folgt dann weitgehend dem der vierten Auflage. Ein größerer Zusatz findet sich auf S. 26 f., kleinere auf S. 19, 38, 52, 76 u. 82, und sämtliche 19 Anmerkungen sind neu. Inhaltlich von einigem Belang sind die Behauptung, daß „die Figur des Zarathustra . . . wohl dem Einflüsse von Fechner" zu verdanken sei, eine überraschende Übereinstimmung zwischen Schiller und Nietzsche, die Erörterung von A. Spirs Einfluß, der auf den „in seiner ersten Entwicklungsperiode befindlichen Nietzsche einen großen Eindruck gemacht hat", und die Beweisführung an den Beispielen Kant, Wagner, Schopenhauer und Darwin, daß Nietzsche „demselben Philosophen, den er bekämpft, derselben Lehre, die er verwirft, selbst sehr viel verdankt". Die Stellen über Nietzsches antideutsche und antiprotestantische Einstellung sind wieder aufgenommen und sogar jeweils um einige Seiten erweitert. Die Seiten 89—95 enthalten eine Zusammenfassung der Nietzsche betreffenden Seiten 771 — 790 von Verfassers „Die Philosophie des Als Ob" (Nr. 1011). Als ein erster Nachtrag steht: Nietzsches Antidemokratische Tendenz und ihre Beeinflussung durch die Schrift von C. Th. Groddeck „De morbo democratio"; als zweiter: Nietzsches Wahlspruch von „Amor Fati", seine Entstehung und sein Wert (dabei wird das 1930 erschienene Werk von Pourtales als „zu feuilletonistisch gehalten" abgetan; und als dritter: Nietzsches „Zusammenbruch" und das Nietzsche Archiv (eine Stellungnahme zu dem 1930 erschienenen Werk von Podach, die mit einer recht beherzten Inschutznahme und Würdigung der Schwester und ihres Wirkens endet: „Es ist bewunderungswürdig, daß und wie sie das alles zustande brachte, und wie sie kein Opfer scheute, um das Nietzsche-Archiv zu einer Musteranstalt zu gestalten." 184 Willmann, O. (Prag), (AL 12. Jg., Nr. 12 v. 15. 6. 1902, Sp. 364). Bespricht das Werk von Seydl (Nr. 181) und unterstreicht Verfassers Ansicht, daß Nietzsche „ein Warnungszeichen für unsere Zeit" sei. Die eigene Einstellung
1902 „der Epigone der modernen Philosophie"
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bietet folgender Satz: „Nur vom Standpunkte der christlichen, d. i. der katholischen Wahrheit aus läßt sich das ungeheuerliche Gebilde von Irrtum, Wahn- und Seelenkrankheit überblicken und beurteilen, welches der Epigone der modernen Philosophie zutage gefördert hat." 185 Ubell, Dr. Hermann, Erinnerungen an Friedrich Nietzsche. (WAp Nr. 141 v. 2 1 . 6 . 1902)." Bespricht das Buch von Deussen (Nr. 32), das ihm „eine einzige lange Rache dafür zu sein" scheine, daß Deussen „die geistige Inferiorität gegenüber Nietzsche stets stark gespürt" habe. Die Darstellung lasse einen „kleinlichen, versteckt-gehässigen und manchmal klatschsüchtigen Ton" vernehmen. „Das ungetrübte Helle in dem Buche sind die 26 Briefe Nietzsche's . . ." 186 anonym, (LCB1 Nr. 25 v. 21. 6. 1902, Sp. 828). Eine äußerst knappe Anzeige des Werkes von Schacht (Nr. 1), die ablehnend ausläuft: „Die Analyse ist oft überfein und gekünstelt und verliert dadurch an überzeugender Kraft." 187 Möbius, Paul Julius, Über das Pathologische bei Nietzsche. J. F. Bergmann. Wiesbaden 1902. V I S . , 1 Bl., 106 S., 3 BU. ( = Vlgs.-anz.). ( = Grenzfragen d. Nerven- u. Seelenlebens. Einzel-Darstellungen f. Gebildete aller Stände. H g . v. Loewenfels u. H. Kurella. 17. H.). Verfasser meint, „der Zarathustra trägt deutlich die Spuren der Gehirnkrankheit und kurz vor ihm muß diese zum ersten Male sich bemerkbar gemacht haben". Er stellt eine „von vornherein vorhandene Instabilität" und eine „seit 1870 durch die schwere Migräne gesteigerte Nervosität" fest. Die „progressive Paralyse", deren „Zeit der Incubation" von 1876 bis August 1881 reiche, habe erst die Krankheit hervorgebracht, wovor der Verfasser zum Schluß den Leser Nietzsches warnt: „Seid mißtrauisch, denn dieser Mann ist ein Gehirnkranker." Sonst enthält das Buch einiges Bemerkenswerte über die Krankengeschichte Nietzsches, das dem Verfasser durch „Vertrauenspersonen" zu Ohren gekommen sei.63
6;
Ubell, Hermann (Graz 3. 3. 1876 - Linz 13. 8. 1947). S. a. folgende Ablehnung Nietzsches, der eine ebenso deutliche „unserer classischen Literatur", die sich zu einer „Unterschätzung des Christlichen" habe verleiten lassen, folgt: „Das Ideal der höheren Klassen der Gesellschaft, besonders das Adelsideal, trug vorwiegend römisch-germanische Züge, während der Masse des Volkes das christliche Ideal vorgehalten wurde. Zu diesem bekannten sich auch die Vornehmen mit dem Munde, im Stillen aber hielten sie sich zu dem, was Nietzsche im Gegensatze zur christlichen oder Sclaven-Moral die Herren-Moral nennt. Nietzsche hat diese D i n g e schön geschildert, ihn selbst aber trieb seine wunderliche Natur zu neuer Einseitigkeit, indem er, um nur die ihm als schwächlich erscheinende Christen-Moral loszuwerden, einseitig die Kraft pries." (P. J. M, Im Grenzlande. Aufsätze über Sachen des Glaubens. J. A. Barth. Lpz. 1905, S. 127. = Ausgewählte Werke Bd. VI). S. noch die Würdigung von Möbius' Arbeit in: Kraepelin, Dr. Emil (Prof. a. d. Univ. München), Psychiatrie. Ein Lehrbuch für Studierende und Ärzte. 7., vielfach umgearb. Aufl. 1. Bd. J. A. Barth. Lpz. 1903, S. 310 f.: „Möbius hat sich der außerordentlich verdienstvollen Arbeit unterzogen, planmäßig die Unterlagen für die psychiatrische Beurteilung hervorragender Persönlichkeiten zu schaffen; bei
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1902
187a Dass. (Jetzt nur:) Nietzsche. 3., m. d. 2. übereinstimmende Ausg. J. A. Barth. Lpz. 1909. 2 Taf., XI, 194 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). ( = Ausgewählte Werke. Bd. V). N e u sind ein „ V o r w o r t zur neuen Ausgabe" (Vff.), A u s z ü g e aus Briefen Nietzsches an R o h d e , dem zweiten Briefband (P) e n t n o m m e n (S. 29, 48 f., 71, 82 f., 104 f., 144), eine Stelle aus C. G. J u n g s Dissertation ( N r . 223), die einen Einfluß von Justinus K e r n e r auf eine Stelle im Z a r a t h u s t r a nahelegt (S. 120 f.), eine A n m e r kung auf S. 170 und ein Z u s a t z z u r A n m e r k u n g auf S. 159 f. des Inhaltes, d a ß Nietzsche womöglich auch vom G r a f e n G o b i n e a u beeinflußt w o r d e n sei.
188 Moos, Paul, Moderne Musikästhetik in Deutschland. Historischkritische Übersicht. H. Seemann N f . Lpz. 1902. VI, 455 S. In einer A n m e r k u n g zu der ausführlichsten E r ö r t e r u n g der Ansichten E d u a r d von H a r t m a n n s fällt die einzige und recht ablehnende E r w ä h n u n g Nietzsches, dessen „ G e b u r t " V e r f a s s e r „ f ü r eine Phantasie über künstlerische und ästhetische P r o bleme" hält, „die einem hohen und edlen, das gewöhnliche alltägliche Philistertum weit hinter und unter sich lassenden Geistes entspringt, die aber einer sachlichen P r ü f u n g , wie wir sie üben und üben müsssen, nicht e n t f e r n t Stand hält. Für D e n , der g e r a d e g e w a c h s e n e G e d a n k e n liebt, ist die Lektüre der N i e t z s c h e ' s c h e n Schrift peinlich — auch deshalb, weil N i e t z s c h e die Sache, die er zuerst mit schrankenlosem Enthusiasmus vertrat, später als erbitterter Feind b e k ä m p f t e . " (S. 455)
188a jetzt: Die Philosophie der Musik von Kant bis Eduard von Hartmann. Ein Jahrhundert deutscher Geistesarbeit. 2., ergänzte Aufl. Dt. Vlgs.-Anst. St., Bln., Lpz. 1922. 666 S., 1 Bl. ( = Teilbesprechungen zu zwei anderen Werken des Verfassers). J e t z t beansprucht N i e t z s c h e einen besonderen Abschnitt (S. 4 1 9 — 4 6 5 u. Anm e r k u n g e n d a z u auf S. 630—636) unter „der Pessimismus und N a t u r a l i s m u s " in dem g r ö ß e r e n Abschnitt des W e r k e s „ D e r Idealismus" und damit, nach H a r t m a n n , den g r ö ß t e n R a u m . V e r f a s s e r umreißt z u n ä c h s t eingehendst den Inhalt d e r „ G e burt" und der vierten „ U n z e i t g e m ä ß e n " und b e t o n t dabei w i e d e r h o l t den Einfluß von S c h o p e n h a u e r und W a g n e r . Letzterer habe ihn „aus den Bahnen sachlicher Z u verlässigkeit und G r ü n d l i c h k e i t " gerissen und „in haltlose S c h w ä r m e r e i " g e d r ä n g t . D a r a u f folgt die Darstellung des „Gesinnungswechsels", d e r „schwerlich . . . auf K r a n k h e i t z u r ü c k z u f ü h r e n ist": „Im G e g e n s a t z zu allem Antikisiren und R e i m w e sen . . . e r s c h a f f t er aus der Sprache Luthers und der poetischen F o r m der Bibel die G r u n d l a g e einer neuen deutschen Poesie . . ." Mitbedingt d u r c h seine A b l e h n u n g W a g n e r s sei seine „Feindschaft gegen die deutsche Brunst f ü r H a r m o n i e als den spezifisch nordischen Willen z u m N e b e l " , und diese lasse ihn Urteile „über die G r o ß m e i s t e r des musikalischen S c h a f f e n s " fällen, „die in ihrer ungeschichtlichen
Goethe und Schopenhauer hat er die krankhaften Züge aufgedeckt, bei Rousseau und Nietzsche eine klare Krankengeschichte geliefen." In der 8. Auflage (1909, S. 429 f.) heißt es etwas ausführlicher: „In Nietzsches Krankengeschichte zeigte er die Entwicklung einer Paralyse auf dem Boden einer psychopathischen Veranlagung . .
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1902 „einer der feinsten und anregendsten Geister"
S c h r o f f h e i t kaum m e h r ernst zu n e h m e n sind". Z u m S c h l u ß h a b e e r „in seiner allgemeinen S t e l l u n g n a h m e z u r M u s i k , z u r K u n s t überhaupt und zu den grundlegenden F r a g e n des menschlichen Lebens . . . jeden festen H a l t v e r l o r e n " . D e n n o c h : „ N i e t z sche w a r eine der glänzendsten B e g a b u n g e n seiner Z e i t , vielleicht aller Zeiten überhaupt . . . E r beginnt als h o c h b e g a b t e r J ü n g e r S c h o p e n h a u e r s , e r f a ß t die L e h r e des Meisters in ihren G r u n d z ü g e n mit seltenem V e r s t ä n d n i s , wird zugleich aber auch G e f o l g s m a n n W a g n e r s , ü b e r n i m m t dessen Einseitigkeiten und Ü b e r t r e i b u n g e n , teilt mit ihm die V o r z ü g e und die S c h w ä c h e n : neben dem scharfen B l i c k , dem g r o ß z ü g i gen E r f a s s e n , der f a r b e n r e i c h - h i n r e i ß e n d e n S p r a c h e die willkürliche K o n s t r u k t i o n und Geschichtsklitterung . . . D e r idealistische Ä s t h e t i k e r sank herab zum platten Sensualismus . . . G r e i f b a r e Ergebnisse von bleibendem W e n k o n n t e diese E n t w i c k lung nur bedingt zeitigen." 189
Bartels, Adolf, Geschichte der deutschen Litteratur. 2. Bd.:
neunzehnte Jahrhundert.
Ed. Avenarius.
N i e t z s c h e a u f S. 6 5 2 — 6 5 5 , s. s o n s t d a s
Lpz.
1902.
Die
Hauptstelle
Das zu
Namensverzeichnis.
Lesenswert ist, wie V e r f a s s e r die eigene Z u n e i g u n g und A b l e h n u n g in S a c h e n N i e t z s c h e reimt. D i e s e r ist ihm als „historischer B e o b a c h t e r und E m p f i n d e r und als M o r a l p s y c h o l o g einer der feinsten und a n r e g e n d s t e n G e i s t e r . . ., die wir j e g e h a b t h a b e n " . — „ U n a n g e n e h m ist mir freilich sein m o d e r n e s E u r o p ä e r t u m , das zu d i r e k ten U n g e r e c h t i g k e i t e n g e g e n das D e u t s c h t u m und e c h t e deutsche G e i s t e r verführt . . . " — „ W e n n N i e t z s c h e von ,atavistischen Anfällen von V a t e r l ä n d e r e i und S c h o l lenkJeberei' geredet hatte, so hatte er damit nur erwiesen, d a ß e r in der c h a r a k t e r i stischen W e l t f r e m d h e i t des deutschen G e l e h r t e n dahinlebte . . . "
S o n s t stellt er
N i e t z s c h e in einen Z u s a m m e n h a n g mit d e m „ S y m b o l i s m u s " , a u f den er „stärker als alle A u s l ä n d e r " gewirkt habe. 189a
Dass. 6 . — 1 0 . Tsd.
3. u. 4 . A u f l . 2 . B d . : D i e n e u e r e
Literatur,
S. 4 8 6 — 4 9 0 . M i t zwei geringfügigen Z u s ä t z e n a u f S . 4 8 7 u. 4 8 9 . 189b
D a s s . 1 1 . — 1 5 . T s d . 5. u. 6 . A u f l . 1 9 0 9 , S . 5 0 9 — 5 1 2 .
Unverändert. 189c
Dass. Kleine Ausgabe
in e i n e m B a n d e .
20. T s d . G. W e s t e r m a n n . H a m b u r g ,
7. u. 8 . A u f l .
B r a u n s c h w e i g , Bln.
1919
1 6 . bis
^Fortset-
z u n g d e r z w e i b ä n d i g e n A u s g a b e ) , S. 5 3 4 — 5 3 7 . Bis auf vier r e c h t kleine Z u s ä t z e a u f S. 5 3 6 u. 5 3 7 unverändert. 189d
D a s s . 9 . u. 1 0 . A u f l . 2 1 . — 2 5 . T s d . 1 9 2 0 . U n v e r ä n d e r t .
189e
D a s s . G r o ß e A u s g a b e in d r e i B ä n d e n . 3 . B d . : D i e n e u e s t e Z e i t .
H . H a e s s e l . L p z . 1 9 2 8 . S . 4 0 1 ff. M i t f ü n f Z u s ä t z e n b z w . kleineren Ä n d e r u n g e n . G ä n z l i c h neu ist das „3. K a p i tel. Friedrich N i e t z s c h e " , im A b s c h n i t t : D i e Z e i t w e n d e . S t u r m und D r a n g und N a turalismus. H i e r i n heißt es, d a ß der „ p o è t e - p r o p h è t e . . . in der deutschen D i c h t u n g mit ,Also sprach Z a r a t h u s t r a ' " stehe und falle, w e n n man seiner Lyrik „ d o c h auch einige A u f m e r k s a m k e i t z u w e n d e n " müsse. D i e D a r s t e l l u n g w i d m e t sich dann bei-
1902 Einer der „größten Helden aller Zeit"
80
den Seiten seines dichterischen Wesens, doch entschieden zugunsten der des Lyrikers. Zu den Gedichten lautet das Gesamturteil: „Es ist nicht zu bestreiten, daß alle diese Gedichte, mögen auch Einflüsse von G o e t h e und Hölderlin, vielleicht noch Byron her unverkennbar sein, in unserer Dichtung unvergleichlich sind." Die W e r tung des Zarathustra dagegen ist durchaus abfällig. Beeinflussung durch Spitteier, die Bibel, G o e t h e , H o m e r , „vielleicht noch aus Novalis", Hölderlin, Heine, „wahrscheinlich" Flaubert, „vielleicht" W h i t m a n , Lichtenberg, J e a n Paul, W e b e r s „ D e m o kritos" und Dingelstedts „Lieder eines kosmopolitischen N a c h t w ä c h t e r s " wird zunächst festgestellt und dann behauptet, daß man vom „wahrhaft Gestalteten . . . nicht allzuviel" darin finde, gelegentlich „eben nur Symbolismus, der ja eben auch bei solchen Geistern der Ersatz der wirklichen Künstlerschaft ist". Was die „Gesamtpersönlichkeit" betreffe, so habe es „doch auch immer Deutsche gegeben, die ihn rundweg ablehnten, und es sind ernst zu nehmende Leute wie die beiden D i c h ter O t t o Ernst und J o h a n n e s Schlaf darunter". Im Abschnitt: Weltkrieg, Revolution und Expressionismus, steht dann die ziemlich eindeutige Äußerung:
„Friedrich
Nietzsche, dessen Zeitbedeutung ich nicht verkenne, den ich aber nicht für einen wirklichen G r o ß e n , mehr für einen .Verblüffenden' halte, scheint mir durch die völkische Bewegung beinahe überwunden zu sein, kann jedoch für die Unreifen späterer Zeiten natürlich immer noch einmal wieder auftauchen."
189f
Dass. Kleine Ausgabe. 11. u. 12. Aufl. 2. Abdr. m. Nachträgen
üb. d. allerneueste Zeit. G. Westermann. Braunschweig, Bln. u. Hamburg 1933. D e r N u m m e r 189d
gegenüber unverändert.
189g
Dass. 13. u. 14. Aufl. 3 0 . - 3 4 . Tsd. 1934. Unverändert.
189h
Dass. 15. Aufl. 1936. Unverändert.
189i
Dass. 19. Aufl. 1943, S. 545 — 548.
Mit geringfügigen Zusätzen und einer, wenn auch kleinen, so doch nicht unwesentlichen Änderung. Bartels drückt den Glauben aus, „daß eine Revision unserer sämtlichen Kulturwerte an seiner (d. i. Nietzsches) H a n d nur ersprießlich sein k a n n " (soweit schon in der Ausgabe 1936, jetzt aber mit dem Einschub:) „wie man sie jetzt im Zeitalter des Nationalsozialismus erstrebt".
190
Friedrich, Karl, Nietzsche und der Antichrist. Gose & Tetzlaff.
Bln. 1902. 88 S. D a Nietzsche „in den V ö l k e r n der Gegenwart . . . Ermattung, Entartung, V e r fall" gesehen und sich „die Riesenaufgabe" gestellt habe, „das Leben an einem wertvollen Inhalte" aufzurichten, müsse man ihn „den edelsten Menschen, den ersten D e n k e r n , den größten Helden aller Zeit" zuzählen. N u r habe er „einen Edelstein von ewigem W e r t e für wertlose N a c h a h m u n g " gehalten, und das sei sein Irrtum. Verfasser scheidet streng zwischen „der O f f e n b a r u n g des neuen Testaments und dem Christentum der K i r c h e " und darf dann Nietzsche in dessen Verurteilung des letzteren des öfteren beitreten. „Sein Antichrist, mit dem er das große W e r k der Läuterung begann, ist in der T h a t der heftigste Aufschrei eines gequälten Herzens, der Hilferuf einer unter ungeheurer Last seufzenden Heldenseele . . . in diesem
1902 „Auch in seinen Irrtümern ist er klar und scharfkantig"
81
Sinne steht sein tadelfreies Leben mit seiner Philosophie in erhabenstem Einklänge." Verfasser kann Nietzsche sogar in dessen Verurteilung des Paulus zum großen Teile rechtgeben: „Wenn auch Paulus nicht alle die Vorwürfe verdient, die ihm von Nietzsche gemacht werden . . ., so hat er doch trotz seiner großen Verdienste zu Mißverständnissen Anlaß gegeben, d i e d e m C h r i s t e n t u m e z u m u n e n d l i c h e n N a c h t e i l e g e w o r d e n s i n d . " — „Er hat die Unlogik der tiefsten Dekadenz des Altertums zur Grundlage des religiösen Denkens gemacht und damit die Menschheit zwei Jahnausend lang um den Gebrauch ihrer Vernunft gebracht." 191 Bilharz, Dr. Alfons (ärztl. Director d. Fürst-Carl-Landeshospitals in Sigmaringen), Die Lehre vom Leben. J. F. Bergmann. Wiesbaden 1902. Ü b e r Nietzsche auf S. 4 5 2 - 4 9 4 . Die Einstellung des Verfassers zu Nietzsche wird gleich anfangs gekennzeichnet: Dieser sei ein Denker, „dessen Begabungen, Wahrheitsliebe, Unerschrockenheit, philosophischer Tiefsinn und künstlerische Kraft auf gleicher Höhe stehen und nur wenige über sich lassen". Es folgt dann eine eingehende Würdigung der Frühschriften bis auf „Menschliches", das nur noch „Splitter" enthalte: „Die höchste Leistung des Geistes, das Zusammenschauen des Ganzen, das Erfassen eines obersten Begriffs, mit anderen Worten die systembildende Kraft blieb ihm fortan versagt." — „.. . der Künstlerphilosoph wird Moralphilosoph; denn Nietzsche ist von Natur durch und durch Ethiker." Der „Zarathustra" ist dem Verfasser „sein unerquicklichstes Buch", der „Prophetenstil . . . nur ein Symptom des Niederganges". Seine „Auffassung der Zeit" kennzeichne ihn „als echten Philosophen", doch habe ihm „die streng kritische, d. h. mathematische Erkenntnis ihres Verhältnisses zum Raum" gefehlt. In diesem Zusammenhang stellt Verfasser Vergleiche mit dem ebenso erfolglosen Ringen von Descartes, Schopenhauer, Hartmann und Kant an. Doch gegen Schluß meint er: „Auch in seinen Irrtümern ist er klar und scharfkantig; nie trifft man auf Verschwommenheit des Ausdrucks und das Zudecken der Unklarheit, das die Leetüre vieler philosophischen Schriften so unerquicklich und oft wirklich qualvoll macht; daher die hohe Verständlichkeit seiner Schriften." 192 Eisler, Dr. Rudolf, Nietzsche's Erkenntnistheorie und Metaphysik. Darstellung und Kritik. Herrn. H a a c k e . Lpz. 1902. IV S., 2 Bll., 118 S. Untersucht zunächst Nietzsches Auffassung der „Wahrheit", in dessen Ausführungen darüber er einen „haltbaren Kern" findet: „Es fragt sich nur: erschöpft sich der Begriff .Wahrheit' mit der Bedeutung des ,Lebenerhaltenden' . . . ? " Hinsichtlich der „Subjektivität der Erkenntnis" übertreibe er so viel, als er „die Leistung des Denkens" unterschätze. Es folgen eingehende Erörterungen von Nietzsches Angriffen auf die „Kategorien des Erkennens" und seiner Auffassung der „Welt als ,Wille zur Macht'", wobei Ähnlichkeiten mit Ansichten von u. a. Heraklit, Spinoza, Goethe, Schopenhauer, F. A. Lange, Helmholtz, H . Spencer, Simmel, Mach, Mauthner, Kirchhoff, W. Ostwald, R. Avenarius und G. Bruno festgestellt werden. Gegen Schluß steht folgendes zusammenfassendes Urteil: „In Nietzsche's Persönlichkeit ist Stärke, Kraft, Gesundheit gepaar mit Schwäche, Weichheit, Krankheit, Reizbarkeit. Seine Lehren sind gewiß nicht die eines dekadenten, entarteten, vielleicht gar wahnsinnigen Mannes . . . nur die Einzelheiten und die Polemik deuten häufig in
82
1902 „ein Warnungszeichen an der Schwelle des neuen Jahrhunderts"
dem
Übertriebenen,
Einseitigen,
Maßlosen,
Allzuscharfen
auf die
infolge
der
K r a n k h e i t s e n t w i c k l u n g und Ü b e r a r b e i t u n g z u n e h m e n d e N e r v o s i t ä t , Ü b e r r e i z u n g , Impulsivität h i n . " Fast wie eine Abbitte klingen die A n f a n g s w o r t e des letzten A b s a t z e s : „ D a s K ü n s t l e r i s c h e in N i e t z s c h e ' s N a t u r v e r l e u g n e t sich auch in seiner P h i l o s o phie nicht, sein W e l t b i l d ist ein ästhetisches, dann ein ethisches und zuletzt erst ein metaphysisches im eigentlichen S i n n e des W o r t e s . Ihn, der k e i n e absolute W a h r h e i t kennt, darf man nicht mit dem M a ß s t a b des streng dialektischen D e n k e n s messen wollen . . ."
193 Schian, Lic. theol. Dr. Martin (Diaconus in Görlitz), Friedrich Nietzsche und das Christentum. Drei Vortrage. Rud. Diilfer. Görlitz 1902. 77 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). N i e t z s c h e ist dem V e r f a s s e r „der b e w u ß t e s t e , e n e r g i s c h s t e ,
konsequenteste
Feind, den das C h r i s t e n t u m seit langen Zeiten erlebt h a t " : „In weiterem Sinn g e h t Alles, was N i e t z s c h e g e d a c h t , g e g e n das C h r i s t e n t u m . " E r b e f e h d e „die H a u p t p o s i tionen des C h r i s t e n t u m s " . D o c h sein „schweres G e s c h ü t z " sei nur „in der F o r m und Art der P o l e m i k , in der K r a ß h e i t der A u s d r ü c k e , . . . in der G r o b h e i t der B e s c h i m p fung, . . . nicht . . . in der K r a f t der G r ü n d e " . V e r a n l a ß t , laut V o r w o r t , durch die „Spätwinter 1902 in G ö r l i t z , wie vordem in anderen S t ä d t e n " von H o r n e f f e r g e h a l tenen „ V o r t r ä g e über N i e t z s c h e " , dessen D a r s t e l l u n g d e m z u f o l g e wiederholt in F r a g e gestellt wird. 6 4
194 Witte, R. (Pastor in Groß Schlönwitz/Kr. Schlawe i. Pomm.), Friedrich Nietzsche ein Warnungszeichen an der Schwelle des neuen Jahrhunderts. Ein Vortrag. H . Hildebrandt. Stolp i. Pomm. (1902). 37 S. V e r f a s s e r will auf dem „ B o d e n christlicher W e l t a n s c h a u u n g " N i e t z s c h e und N i e t z s c h e a n i s m u s u n t e r s u c h e n , denn es liege „doch zu viel H ö h e und T i e f e , zu viel Fascinierendes, zu viel g e r a d e z u D ä m o n i s c h e s in den S c h r i f t e n dieses M a n n e s , als daß man ihnen nur E i n t a g s f l i e g e n w e r t beimessen k ö n n t e " . N a c h einer allgemeinen Darstellung des W e r d e g a n g s „ N i e t z s c h e s c h e r W e l t - und L e b e n s a n s c h a u u n g " k e n n zeichnet V e r f a s s e r ihn dann als M o r a l - , G e s c h i c h t s - und R e l i g i o n s p h i l o s o p h e n , um zum S c h l u ß auf den „ E r z i e h e r " , auf die W i r k u n g zu k o m m e n . E r habe den „landläufigen Materialismus . . . dem S p o t t der S t r a ß e p r e i s g e g e b e n " , „den Pessimismus eines S c h o p e n h a u e r und den Agnosticismus eines H u x l e i . . . mitleidslos z e r p f l ü c k t " , den „Intellektualismus" und „selbstgerechten M o r a l i s m u s mit der S c h e r e
erbar-
mungsloser K r i t i k z e r s c h n i t t e n " . I n s o f e r n k ö n n e man ihn „als ein reinigendes G e witter b e z e i c h n e n " , d o c h sei seine S a a t „unrein a u f g e g a n g e n " . Als Beispiel m u ß der „ D i c h t e r l i n g " D e h m e l herhalten. Schließlich k ö n n e e r „ u n s " nichts g e b e n , „den logischen A n f o r d e r u n g e n unserer V e r n u n f t schon in k e i n e r W e i s e g e n ü g e n " ; „unser religiöses G e f ü h l m u ß bei einem N i e t z s c h e v e r h u n g e r n " .
195 Bartels, Adolf, Friedrich Nietzsche ( D M G L G Bd. 1. H . 7, 1902, S. 8 1 — 9 4 ) .
64
und
das
Deutschtum.
Schian, Manin (Liegnitz 10.8. 1876 — Breslau 11.6. 1944), evangelischer Theologe, seit 1908 Professor der praktischen Theologie in Gießen.
83
1902 „die letzte Station eines langen Irrweges"
V e r f a s s e r stellt N i e t z s c h e als „ D e u t s c h e n g a n z und g a r " in eine R e i h e mit G o e t h e , H e g e l und H e b b e l . „ W a s aber v o r allem N i e t z s c h e s falsche Stellung
zum
D e u t s c h t u m verschuldet hat, ist seine R ü c k k e h r zur A u f k l ä r u n g g e w e s e n , die j a imm e r nationalitätenfeindlich gewesen ist." D o c h stecke „in der R e g e l ein S t a c h e l in seinen Auslassungen, den man sich nur h e r z h a f t ins Fleisch d r ü c k e n soll, aber die v e r n i c h t e n d e W a f f e führt N i e t z s c h e n i c h t " .
196
(Seidl, Α.), Aeschylos' „Orestie" nach Ulrich von Wilamowitz-
Moellendorff und Max Schillings. (Ges 18. Jg., Bd. 3, H. 13, S. 2 5 - 3 9 ) . Anlaß zu dieser A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit W i l a m o w i t z - M o e l l e n d o r f f und Schillings ist die „bedeutsame M ü n c h n e r , O r e s t i e ' - A u f f ü h r u n g " g e w e s e n . J e n e m werden n o c h sowohl die A b l e h n u n g N i e t z s c h e s wie auch die G e r i n g s c h ä t z u n g B u r c k h a r d t s ausdrücklich n a c h g e t r a g e n . Anstatt „den m o d e r n e n M e n s c h e n zum G r i e c h e n t u m nun zu b e k e h r e n , d. h. z u r ü c k zu e r z i e h e n " , versuche er „ d i e s e s " einfach zu m o dernisieren. Als B u n d e s g e n o s s e n im K a m p f e gegen solche B e s t r e b u n g e n werden neben N i e t z s c h e , der öfters und weitläufig a n g e f ü h r t wird, R o h d e , Philipp Spitta und M a x S t e i n i t z e r ins Feld g e f ü h r t . T r o t z m a n c h lobenden W o r t e s über „solche V e r s u c h e als ernst zu n e h m e n d e S y m p t o m e einer tieferen S e h n s u c h t " kann V e r f a s s e r n i c h t u m h i n , wie folgt zu s c h l i e ß e n : „ N i c h t umsonst ist man j a durch die S c h u l e des ,humanistischen*
Gymnasiums
seinerzeit
gegangen;
nicht
,ungestraft'
hat
man
R . W a g n e r s und Friedrich N i e t z s c h e s S c h r i f t e n später g e l e s e n . "
197
Seydl, Dr. Ernst (Wien), A. Kalthoff über Friedrich Nietzsche.
( D K a 25. Jg., 1902, S. 5 3 1 - 5 4 2 ) . E i n e r e c h t sachlich g e h a l t e n e , ü b e r den Inhalt e r s c h ö p f e n d
nachberichtende
B e s p r e c h u n g „des durchaus a n r e g e n d und a n s p r e c h e n d g e s c h r i e b e n e n B u c h e s " von K a l t h o f f (s. Bd. I). N i e t z s c h e ist dem R e z e n s e n t e n „die letzte S t a t i o n eines langen I r r w e g e s , an dessen A n f a n g der W e g w e i s e r mit den W o r t e n s t a n d : B e f r e i u n g der G e i s t e r v o m B a n n e der A u c t o r i t ä t . " N u r h a b e „ P a s t o r K a l t h o f f nicht g a r zu e n e r g i s c h " d a r a u f hinweisen k ö n n e n , „er hätte j a damit eine T e n d e n z verurtheilt, der auch die R e f o r m a t i o n letztlich ihren U r s p r u n g v e r d a n k t e " .
198 Lichtenberger, Henri (Prof. a. d. Univ. Nancy), Der Individualismus Nietzsches. Dt. v. Fr. v. Oppeln-Bronikowski. (DZs 15. Jg., 1902, S. 3 7 2 - 3 8 0 ) . V e r f a s s e r gibt zu, d a ß die N i e t z s c h e s c h e „ M o r a l p h i l o s o p h i e " auf den ersten Blick „individualistisch, aristokratisch, e g o i s t i s c h " e r s c h e i n e ; befasse m a n sich aber mit d e r „ M o r a l des guten S k l a v e n " anstatt mit der des „aufsässigen", so trete ein „Altruismus" h i n z u : „ N i e t z s c h e w u r d e z u m Individualisten a u s Altruismus, denn s e i n Individualismus ist, psychologisch g e s p r o c h e n , nichts w e i t e r als eine V e r f e i n e rung und , S e l b s t a u f h e b u n g ' des Altruismus." N i e t z s c h e h a b e „die B a h n v o m guten Sklaven bis z u m U b e r m e n s c h e n selbst d u r c h l a u f e n , und seine M o r a l ist nichts anders, als die W i e d e r g a b e dieser inneren E r f a h r u n g e n " .
199 Janisch, S. 4 4 7 — 4 5 0 ) .
E.,
Nietzsche-Schriften.
(Halte
Nr. 7,
1902,
84
1902 Der Einfluß Gobineaus
Eine S a m m e l b e s p r e c h u n g d e r W e r k e v o n Friedrich ( N r . 52), d e r irrtümlicherweise „in Nietzsches .Philosophie' g r o ß e sittliche und religiöse G e f a h r e n " sehe, H o r n e f f e r ( N r . 31 u. „ V o r t r ä g e ü b e r N i e t z s c h e " , s. Bd. I), einem „echten Schüler Nietzsches", dem „der Maßstab f ü r menschliche G r ö ß e allgemach entglitten zu sein" scheine, Schacht ( N r . 1), einem „an H e r b a r t s c h e r Begriffsphilosophie geschulten Geist", der „die g l ä n z e n d e n S ä t z e " e r b a r m u n g s l o s z e r p f l ü c k e , Reiner ( N r . 83), dessen W e r k sich „durch klare D a r s t e l l u n g und g e s u n d e s U r t e i l " auszeichne, Steiger ( N r . 4), dessen W e r k „vortrefflich" sei, G r i m m (s. Bd. I), einem „besonnenen und wohlwollenden Kritiker", Kalthoff (s. Bd. I), bei d e m nicht g e n u g zur Geltung k o m m e , daß Nietzsche „auch s c h a r f e n T a d e l verdient, n a m e n t l i c h seiner O b e r flächlichkeit und Flatterhaftigkeit w e g e n " , S t o c k ( N r . 5a), d e r Nietzsches G r ö ß e mit deswegen anzweifele, da dieser kein „Sohn einer g r o ß e n Zeit" sei, worauf Rezensent a u s r u f t : „Man m u ß doch f r a g e n , was S t o c k sich u n t e r einer großen Zeit vorstellt.", Deussen ( N r . 32), dessen W e r k „anspruchslos" sei, Lichtenberger (s. Bd. I), der „ein sehr liebevoll gezeichnetes Bild" g e l i e f e n h a b e , d o c h o h n e gegen die Mängel darin blind zu sein, und Wilhelmi (s. Bd. 1), d e r „eine b e m e r k e n s w e r t e Parallele" biete.
200
anonym, (LCB1 Nr. 27 v. 5. 7. 1902, Sp. 899).
Eine sehr k u r z e gehaltene A b f e r t i g u n g der S c h r i f t von K r o n e n b e r g (Nr. 2), der „doch zu wenig auf das Eigenartige in N i e t z s c h e eingeht, als d a ß man darin eine wirkliche Bereicherung der N i e t z s c h e l i t e r a t u r erblicken d ü r f t e " .
201 Ernst, Dr. Paul, Nietzsches Briefe und der Wille zur Macht. (ML 71. Jg., Nr. 28 v. 12. 7. 1902, S. 217 f.). Eine bis gegen den Schluß a b l e h n e n d e B e s p r e c h u n g beider W e r k e (des ersten Briefbandes, s. Bd. I, u. G X V ) . D i e Briefe b e k r ä f t i g e n die Ansicht des Verfassers, d a ß Nietzsche „ n u r ein Kind seiner Zeit", dessen „ F r e u d e . . . n u r das E r k e n n e n , nicht das H a n d e l n " gewesen sei. E r beschreibe eine „ S e h n s u c h t d e r Schwachen und Weiblichen, die einen H a l t sucht". — „ N i e t z s c h e w a r einer von d e n M ä n n e r n , die endlich z u m Katholizismus geraten." Erst d e r dritte Teil des N a c h l a ß w e r k e s bringe „ G e d a n k e n von g a n z erstaunlicher B e d e u t u n g " : „Seine P h i l o s o p h i e ist ein wirkliches ,System' g e w o r d e n . Dessen W e r t und B e d e u t s a m k e i t zu p r ü f e n , m u ß natürlich einer langen Beschäftigung mit ihm v o r b e h a l t e n bleiben."
202
anonym,
Übermenschen.
(AELKZg
Nr. 29
v.
18.7.1902,
Sp. 673). Stellt die „Weisheit Gottes vom U b e r m e n s c h e n t h u m " d e r weltlichen gegenüber, o h n e Nietzsche auch nur zu e r w ä h n e n .
203
anonym, (LCB1 Nr. 29 v. 19. 7. 1902, Sp. 973 f.).
Eine verhalten a n e r k e n n e n d e B e s p r e c h u n g zweier W e r k e v o n H o r n e f f e r , der 2. Auflage der „ V o r t r ä g e über N i e t z s c h e " , s. Bd. I, u n d N r . 31.
204 Kretzer, Eugen (Lic. Dr., Frankfurt), Gobineau, Nietzsche, Chamberlain. (FZg 46. Jg., Nr. 201, 1. Morgenbl. v. 22. 7. 1902). Verfasser liegt „die B e d e u t u n g d e r Schriften des s p ä t e r e n N i e t z s c h e auf der erfolgreichen K o m b i n a t i o n d e r Ethik mit d e r A n t h r o p o l o g i e und E t h n o l o g i e " , und er
1902 „Im letzten G r u n d e gehört er uns, den Christen."
85
raeint, „nur von Gobineau aus ist dieser spätere Nietzsche völlig zu verstehen". Jener sei „der geheime Quell, welcher die Unterströmung speist, die das um Nietzsche w o g e n d e geistige Leben der Gegenwart bewegt". Verfasser umreißt dann den „Grundgedanken von Gobineau's Hauptwerk" und stellt darauf Ubereinstimmungen Nietzsches in sechs „Kardinalpunkten" fest. Als wesentlicher Unterschied sei Nietzsches Ideal des Ubermenschen, das sich gegen die „pessimistische Dissonanz" in Gobineaus Auffassung stelle. Bemerkenswert sind die folgenden sich daran anschließenden „Mittheilungen": „. . . auf meine Frage antwortete mir Nietzsche's Schwester sofort: Selbstverständlich hat mein Bruder Gobineaus Schriften gekannt, und w i e hat er ihn verehrt! Das Rassenbuch hatte sie in den siebziger Jahren in Basel ihm vorgelesen, — in einem der beiden Winter 1875 —76 oder 1877—78. Nach Gobineau's Tode, zu Anfang der achtziger Jahre, hatte die Schwester Nietzsche's Nomadenleben beklagt, das ihn auf die Gesellschaft der reisenden Herdenmenschen beschränke. ,Aber mit wem soll ich denn umgehen?' erwiderte der Bruder, und als ihm Gobineau's N a m e entgegengehalten wurde, fügte er hinzu: ,Ja, der ist doch dahin, und solche, wie er, gibt es nur wenige!' Diese Mittheilungen der Schwerster Nietzsche's bestätigte mir H e r r Professor Dr. Overbeck, sein vertrautester Freund in Basel. Nietzsche hat schon in Basel von Gobineau gewußt und wiederholt mit großer Hochschätzung von dem Manne gesprochen . . ." Auch Chamberlains Werk, „Grundlagen des 19. Jahrhunderts", wäre , o h n e Gobineau einfach u n m ö g l i c h gewesen", nur folge er in manchem mehr „den Andeutungen Nietzsche's" und bekenne seine Schuld jenem gegenüber nirgends. Lesenswert ist auch Verfassers Erklärung der Wahl Zarathustras als Namensträger in Nietzsches „bekanntestem W e r k e " : Der N a m e bedeute „zugleich den .Umwerther', und der geschichtliche Zarathustra" habe bei der T r e n n u n g der „zoroastrischen Völker von der Hindu-Familie" die „brahmanischen Werthe in ihr Gegentheil" umgewertet. 65
205 Pfannkuche, Dr. A. (Osnabrück), Nietzsche als Prophet. (MAZg Beil. z. Nr. 171 v. 29. 7. 1902, S. 193—197). Zum Philosophen habe Nietzsche „so gut wie alles" gefehlt: „der historische Sinn, die strenge Objektivität, die klare Nüchternheit des Verstandes"; und auch das Dichterische bei ihm sei „nur Zugabe" gewesen: „Im Dichter steckt der P r o p h e t , der geistige Kraftmensch, der mit dem Sturm prophetischer Leidenschaft seine Zeitgenossen aus dem Flachlande der trägen Gewohnheit und des Stumpfsinns herausreißen will, neuen Glauben predigend, neue Ziele weisend." T r o t z mancher Verirrung treffe er sich mit dem Christentum: „. . . der Kernpunkt, besser der Zielpunkt seiner Mora' ist gesund, ist aber kein anderer als der christliche. ,Das ist die höchste Moral: aus sich eine Person machen.'" — „Der Nietzschesche Glaube ist ein verkümmerter, besser gesagt, ein noch nicht zur Entfaltung gekommener christlicher Glaube . . . Im letzten G r u n d e gehört er uns, den Christen."
65
Ähnlich, wenn auch viel knapper, äußerte er sich über das Nietzsche-Gobineau-Verhältnis in: E. K., Joseph Arthur Graf von Gobineau. Sein Leben und sein Werk. H . Seemann Nf. Lpz. 1902, S. 149 ff. ( = Männer d. Zt. Lebensbilder hervorragender Persönlichkeiten d. Gegenwart u. jüngsten Vergangenheit. N . F. 11 Bd.).
86
1902
2 0 5 a Auch als S o n d e r d r u c k : Rackhorst. Osnabrück 1 9 0 2 . 15 S. U n verändert. 2 0 6 Schaukai, Dr. Richard, Friedrich Nietzsche in Sils Maria. (Ein Gedenkblatt.), ( W A p Nr. 2 0 5 , 1902). Berichtet über seine Eindrücke bei einem Besuch in Sils Maria, indem er nach den Aussagen der Einwohner nachzuzeichnen versucht, wie Nietzsche seine Tage dort verbracht habe: „. . . wir müssen von einem Kranken erfahren, der hinter verschlossenen Scheiben gebückt am Schreibtisch schafft, ein kümmerlicher Fremder «66
2 0 7 Simchowitz, Dr. S. (Köln), Richard Dehmel. ( D K Aug. 1902, S. 4 7 - 5 3 ) . Verfasser widmet Dehmels Verhältnis zu Nietzsche drei Sätze, bringt aber auch dessen „Nachruf an Nietzsche" ganz. Den Vortrag hatte er Dehmel im Manuskript zugesandt, damit dieser noch im selben Heft dazu Stellung nehmen konnte. 208 O f f e n e r Brief von Richard Dehmel an den Herausgeber der „Kultur". (Ebd., S. 54 — 66). Hierin beansprucht Dehmel vier Seiten (S. 58—62), um Simchowitzens Behauptung, „kein anderer Denker und nur wenige Dichter hatten Dehmel so stark beeinflußt wie Nietzsche", zurückzuweisen. 6 7 2 0 9 Goldschmidt, K u r t W a l t e r (Berlin), D e r W i l l e zur Macht. Nietzsches letztes Nachlaßwerk. (Tag Nr. 329, 1902). Nirgends sei das Problem um die Versöhnung der ästhetischen und ethischen Weltanschauung „mächtiger ausgeprägt als in der großen Gestalt Nietzsches", nirgends entschäle sich dieses Problem „klarer als in seinem letzten Nachlaßwerk, . . . dem .Willen zur Macht'". Dieses sei „das reifste, abschließendste und positivste W e r k des großen Dichter-Denkers", es bedeute „den entschiedenen und endgültigen Bruch mit allen unter unverfänglichen Masken heut in Religion, Kunst und Philosophie herrschenden Décadencewerten". 2 1 0 P(auli), A(ndreas) D(i), „Gott starb!" Ein W o r t an alle V e r e h r e r Friedrich Nietzsches zu seinem Todestage, den 25. August 1 9 0 0 . A . A u e r . Bozen 1902. 26 S. Verfolgt Nietzsches antichristliche Entwicklung von früher Jugend an: der 18jährige Nietzsche habe „über das Christentum und Religion bereits den Stab gebrochen". Man könne sich „diesen ganz fabelhaften Haß gegen alles Christliche nur dadurch erklären, daß er zur Einsicht der Unmöglichkeit der Existenz des Ü b e r menschen' gekommen, doch einen Grund für seine ganz eigenartige Moral finden wollte, aber, was leicht begreiflich, keinen fand und daher über das Christentum als Hauptfeind und Gegner seiner Moral, in tobende Raserei verfiel".
66 67
Schaukai, Richard von (Brünn 27. 5. 1874 — Wien 10. 10. 1942), Schriftsteller. S. a. den Brief Dehmels an H u g o Lyck v. 19. 9. 1902 in: R. D., Ausgewählte Briefe a. d. Jahren 1883 bis 1902. S. Fischer. Bln. 1923, S. 4 2 6 - 4 2 9 .
1902 Ein Kreis um Kurt Breysig
V o n einem Kreis u m K u r t Breysig, d e m er v o n M ü n c h e n sich im J a h r e 1902 a n s c h l o ß , e r z ä h l t K u r t H i l d e b r a n d t :
87 kommend
„Bald n a c h d e m J a h r h u n d e r t a n f a n g h a t t e sich in S c h ö n h a u s e n , a m R a n d e des f r i e d e r i z i a n i s c h e n S c h l o ß p a r k s , ein k l e i n e r Kreis v o n S t u d e n t e n e n g z u s a m m e n g e s c h l o s s e n , die sich v o n P r o f e s s o r K u r t Breysig b e s t i m m t f ü h l t e n u n d ihn ihren M e i s t e r n a n n t e n : F r i e d r i c h W o l t e r s , B e r t h o l d V a l l e n tin, Friedrich A n d r e a e , R u d o l f v o n H e c k e l u n d K u r t H i l d e b r a n d t . . . Breysig, F o r s c h e r e i n e r l e b e n d i g e n W i s s e n s c h a f t d e r M e n s c h h e i t s - u n d Geistesg e s c h i c h t e , d a m a l s V e r ä c h t e r v o n R a t i o n a l i s m u s u n d Positivismus, w a r durch den ,Stufenbau der Weltgeschichte' V o r l ä u f e r von Spengler, aber d u r c h sein Interesse an d e n primitiven V ö l k e r n , seinen E n t h u s i a s m u s f ü r G o t i k u n d Mystik, e b e n s o f ü r N i e t z s c h e , d e m er die G r a b r e d e g e h a l t e n h a t t e , w e i t m e h r f ü r d e n Geist d e r K u l t u r , die W e i h e des S c h ö n e n e m p f ä n g l i c h als S p e n g l e r . " — „Einig w a r e n wir mit N i e t z s c h e , die K u n s t u n d d e n G e i s t des E r k e n n e n s gleichzeitig z u v e r e h r e n . . . M i c h z o g er (d. i. Breysig) b e s o n d e r s an d u r c h seinen N i e t z s c h e - E n t h u s i a s m u s . . ."68 211
L e i x n e r , O t t o v o n , Ein F ü h r e r d u r c h N i e t z s c h e . ( T R s N r . 2 0 3 v.
30. 8. 1902, S. 809 f.). Einen solchen findet Verfasser in Vaihingers Werk (Nr. 183), dem er hier eine längere Besprechung widmet und das er zum Schluß „sehr angelegentlich" empfiehlt. Er erhebt nur einen einzigen Einwand gegen die Darstellung, die „alles in Zusammenhängen" bringe, welche „so wirken, als wären sie rein verstandesmäßig gesonnen": „Der Werdegang der Gedanken, wie er hier beschrieben ist, widerspricht dem Wesen Nietzsches. Dieser hat nicht aphoristisch gedacht, weil er durch Kopfschmerzen dazu geführt worden ist, sondern weil seinem erregbaren, innerlich leidenschaftlichen Gefühl die scharfe, rein logische Tätigkeit widersprach . . . Mir scheint, als ließen sich die Leitgedanken N's überhaupt nicht logisch, sondern nur psychologisch im Zusammenhange fassen, weil er auch im Denken niemals Gefühl und Phantasie ausschaltet." 212 D o w e r g , R u d o l f , F r i e d r i c h N i e t z s c h e s „ G e b u r t d e r T r a g ö d i e " in ihren B e z i e h u n g e n z u r P h i l o s o p h i e S c h o p e n h a u e r s . Ein B e i t r a g z u r B e u r teilung N i e t z s c h e s . O s w a l d S c h m i d t . L p z . 1902. 9 7 S., 1 Bl. 6 ' ( = Diss. d. U n i v . Leipzig). Verfasser stellt fest, „daß die Schopenhauerschen Ideen vielfach recht äußerlich" von Nietzsche angenommen worden seien. Auch da er versucht habe, „Griechentum, Wagnersche Anschauungen und Schopenhauersche Metaphysik und Mystizismus in seiner Schrift zu verbinden", habe er „den Grundgedanken derselben:
68
69
K. H., Erinnerungen an Stefan George und seinen Kreis. H . Bouvier. Bonn 1965, S. 25 f. u. 323 f; Wolters, Friedrich (Uerdingen b. Krefeld 2. 9. 1876 - München 14. 4. 1930), Literaturwissenschaftler. Dowerg, Rudolf, geb. am 28. 1. 1879 zu Sommerfeld/Preußen.
88
1902
die Kunst als die höchste Form des Wahnmechanismus zur Ermöglichung des Lebens, nicht zur rechten Durchführung gebracht". Schopenhauer sei für Nietzsche „eine Anlehnung, deren er bedurfte, weil er selbst viel mehr Künstler als abstrakter Denker war". Zum Schluß erscheint dem Verfasser „die ,Geburt der T r a g ö d i e ' mit ihren Vorarbeiten als der Schlüssel zum Verständnis aller anderen Schriften Nietzsches. Der Gedanke des Wahnmechanismus, verbunden mit dem Kulturgedanken, ist das Fundament, auf dem sie alle sich aufbauen." Der Einfluß von Ed. v. H a r t manns „Philosophie des Unbewußten" wird verschiedentlich gestreift, aber jedesmal als vorübergehend und unwesentlich abgetan. 213
Seile, C a r l F r i e d r i c h , H e r b e r t S p e n c e r und F r i e d r i c h N i e t z s c h e .
V e r e i n i g u n g der G e g e n s ä t z e auf G r u n d einer neuen T h e s e . J. A . L p z . 1 9 0 2 . 4 Bll., 7 4 S.
Barth.
70
( = Diss. d. U n i v . L e i p z i g , u n t e r M . H e i n z e ) . Die „neue T h e s e " des Verfassers heißt: „Rhythmus-Ästhetik ist das Axiom aller Erkenntnis, der objektiven, wie der subjektiven, d. h. des Wissens, wie des D e n kens", welche ihm u. a. „aus dem eingehenden Studium der beiden Antipoden unserer Zeit und Kulturwelt", d. h. Spencer und Nietzsche, erwachsen sei, denn „der axiomatische Doppelbegriff" finde sich „angedeutet, bewußt oder unbewußt bei beiden". Nietzsche habe „besonders das ästhetische Moment als grundlegend für Erkenntis festgehalten, Spencer besonders das rhythmische Moment". Lesenswert ist noch die Darstellung einer möglichen Beeinflussung Nietzsches bei der Eingebung des Gedankens von der „Wiederkunft des Gleichen" durch J. G. V o g t und dessen W e r k : Die Kraft. Eine real-monistische Weltanschauung. 213a
Dass., j e t z t : D i e Philosophie d e r W e l t m a c h t . E i n E n t w u r f . V I I ,
7 4 S. Neu ist nur die „Vorrede" (S. I I I — V I ) , in der Verfasser die Umbenennung der Schrift damit rechtfertigt, daß er seine „These" nun ein „nicht weiter beweisbares aber notwendiges letztes Gesetz der Erkenntnis" nennt. Unter diesem Gesetz werde „eine einheitliche Organisation der Kultur . . . möglich, die Entwicklung unseres Kulturlebens in allen seinen Vorgängen . . . wird mit immer größerer Wahrscheinlichkeit berechenbar, übersehbar als Rhythmus im Gesamtrhythmussystem und zugleich wahrt das Korrelatprinzip Ästhetik, als subjektiv-primärer Rhythmus, der nur dem Ich seiner Wahrscheinlichkeit nach berechenbar sein kann, die persönliche Freiheit äußeren Faktoren gegenüber . . . W e r derart mit dem Blick freier Sicherheit über die Kultur es wagen wird, sich an ihre Spitze zu stellen, wagen wird die äußere und innere Macht über die ganze Kultur zu haben und zu halten, er muß notwendig Weltherrscher sein . . . gerade die Selbstregulierung des Ganzen ist das N e u e , das sowohl den Ubermenschen Nietzsches, wie die glückselige Maschine Spencers zu Lächerlichkeiten stempelt . . ." U b e r die A n f ä n g e seiner W i r k u n g s z e i t als H a u p t p r e d i g e r an d e r S e b a l der K i r c h e in N ü r n b e r g , seit d e m A u g u s t 1 9 0 2 , e r z ä h l t C h r i s t i a n G e y e r :
70
Seile, Carl Friedrich, geb. am 23. 2. 1 8 7 9 zu Leipzig.
1902 Eine „echt jüdisch-polnische, cynische Verhöhnung"
89
„In den Köpfen mancher Kollegen rumorten damals noch Gedanken über die Predigt, die mich höchst seltsam anmuteten . . . D a ß ein N a m e wie Nietzsche nicht v o m Prediger in den Mund g e n o m m e n werden dürfe, verstand sich von selbst, aber es wurde auch die N e n n u n g Goethes als unstatthaft verworfen. U m diese und ähnliche Nichtigkeiten hatte ich mich noch nie gekümmert . . ,"71 Uber Friedrich Rittelmeyers Tätigkeit in München zwischen 1902 und 1910 erzählt er dann folgendes: „Rittelmeyer hatte seit Jahren in seinem Hause einen ,Diskussionsabend' eingerichtet, in dem an H a n d von Pfleiderers Religionsphilosophie oder Euckens Lebensanschauungen, eine Zeitlang auch im Anschluß an Nietzsches Zarathustra alle uns bewegenden Fragen mit gebildeten Laien besprochen wurden." 72 214 anonym, Anti-Nietzscheana. (Gr 61. Jg., Bd. 4, S. 447 f.). Eine recht gehässige Beschimpfung Nietzsches, der „die echt jüdisch-polnische, cynische Verhöhnung und Verleumdung alles dessen" darstelle, „was uns wert und teuer ist und war". Als Beweggrund seines Angriffs gibt Verfasser an, daß „die Verhimmlung dieses Schriftstellers in den Zeitschriften noch immer nicht aufhören will".
215 Biermann, Dr. W. Ed. (Bonn), Eine neue Schrift über Nietzsche. ( A D U Z g 16. Jg., Nr. 15 v. 1. 9. 1902, S. 1 1 3 - 1 1 6 ) . Eine durchaus zustimmende Besprechung des Werkes von Vaihinger (Nr. 183), der „die Philosophie des einsamen Denkers vom Standpunkt des objektiven Historikers" aus darstelle und somit „die Diskussion in streng wissenschaftliche Bahnen" leite. 216 Siebert, Otto, Friedrich N i e t z s c h e und sein letztes veröffentlichtes Werk. ( D M G L G 1. Jg., H . 12 v. Sept. 1902, S. 8 6 8 — 8 7 4 ) . Bei der recht abfälligen Besprechung des 15. Bandes der Gesamtausgabe (C-XV) schließt der Verfasser, daß „das ganze System nur als Produkt eines geisteskranken Menschen" zu begreifen sei. 217 Pollacsek, C., Nietzsche's Übermensch. Zum Todestage des Philosophen. (PL 49. Jg., Nr. 209 v. 2. 9. 1902). 721 Findet, daß an Nietzsche überhaupt der Stil ihn von anderen unterscheide, denn er „sagte beinahe dasselbe, was uns Schopenhauer und Darwin in aller Ruhe bereits gelehrt hatten". Doch seine „Prosa ist eine vulkanische Eruption, ein fernes Donnern, ein plötzliches Aufleuchten, und dann Feuer, Flammen, Blitze, leuchteade Steine, sengende Asche, mißduftiger Schwefel, erstickender Rauch — alle Sinne werden gefangen, betäubt, vernichtet, und all das durch die bloße Macht des 71
C. G., Heiteres und Ernstes aus meinem Leben. Chr. Kaiser. Mchn. 1929, S. 184. Ebd., S. 231. 72 · Pollaczek, Clara Katharina, geb. Lob (Wien 15. 1. 1875 — ebd. 22. 7. 1951), Erzählerin. 72
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1902 „ein Frauenkenner . . . wie Wenige"
Wortes". W a s den Inhalt der W e r k e betrifft, beginne „das selbständige D e n k e n und P h i l o s o p h i r e n . . . erst b e i m Ü b e r m e n s c h e n - K a p i t e l " . S e i n e J ü n g e r , „die W i r k l i c h e n , die E c h t e n , die S i c h s e l b s t t r e u e n , die A l l e i n b l e i b e n k ö n n e n d e n , d i e E i n s a m e n , die S c h ö n h e i t s t r u n k e n e n , sie w e r d e n vielleicht d i e n e u e A r t sein".
218 Eva, Nietzsche v. 15. 9. 1902, S. 2 f.).
und
die
Frauen.
(WSMZg
40. Jg.,
Nr. 37
N i e t z s c h e ist d e r V e r f a s s e r i n „ein F r a u e n k e n n e r . . wie W e n i g e " g e w e s e n , u n d weil er „stetig U m g a n g mit geistig so h o c h s t e h e n d e n F r a u e n " (die S c h w e s t e r , L o u , M a l w i d a ) g e h a b t , h a b e er „ A n f o r d e r u n g e n . . an das weibliche G e s c h l e c h t " gestellt, die „so u n e n d l i c h h o h e w a r e n " . Sie belustigt sich v o r allem ü b e r die „ u l t r a r a d i k a l e n F e m i n i s t i n n e n , G e n r e H e d w i g D o h m " , die „ h a l b g e b i l d e t e n F r a u e n , B l a u s t r ü m p f e , die in Allem d i l e t t i r t e n " : „ O h n e Sinn f ü r die historische E n t w i c k l u n g d e r D i n g e , sehen sie in ihm n u r d e n V e r k ü n d e r d e r Fessellosigkeit. E v o l u t i o n , d a s allmälige A b streifen v e r j ä h r t e r , in d e r J e t z t z e i t d e r B e r e c h t i g u n g zu e n t b e h r e n d e r V o r u r t h e i l e existiert f ü r sie nicht."
219 Sallwürk, Dr. Edmund v. (Karlsruhe), Die goldne Mitte und der Übermensch. (FZg Nr. 252, 1902). Bringt eine G e g e n ü b e r s t e l l u n g d e r b e i d e n B e g r i f f e an H a n d v o n Stellen aus S o p h o k l e s , C i c e r o , H o r a z , Apuleis v o n M a d a u r a , R ü c k e r t u n d M ö r i k e einerseits u n d aus G o e t h e u n d M o r i t z G r a f e n S t r a c h w i t z a n d e r e r s e i t s . „ M a n m a g a b e r s a g e n , w a s m a n will, beide A n s i c h t e n w e r d e n stets t h e o r e t i s c h e u n d p r a k t i s c h e A n h ä n g e r f i n d e n , o h n e d a ß eine V e r s ö h n u n g m ö g l i c h w ä r e , u n d d o c h sind beide gleich u n haltbar."
220 Meschke, Paul, Der religiöse Zug in Nietzsche's Philosophie. (Geg Bd. 62, 31. Jg., Nr. 37, 1902, S. 171 — 174). V e r f a s s e r m e i n t , N i e t z s c h e f ü h l e „religiös u n d seine L e h r e t r ä g t z u m T h e i l ein e n religiösen C h a r a k t e r " , u n d z u r A u f z e i g u n g dessen k o m m e „ v o r a l l e m " d e r Z a r a t h u s t r a in B e t r a c h t : „ W e r die T i e f e , die Lust u n d d e n S c h m e r z seiner Z a r a t h u s t r a w o r t e einmal g e f ü h l t h a t , d e m g r a b e n sie sich u n v e r g e ß l i c h in's H e r z . " D o c h müsse m a n seine „ Z ü c h t u n g des U b e r m e n s c h e n " , d e r an G o t t e s s t e l l e t r e t e , als „ T r a u m " b e z e i c h n e n , „als d e n s t o l z e s t e n u n d h ö c h s t e n T r a u m a l l e r d i n g s , d e n ein M e n s c h g e t r ä u m t h a t " . D i e L e h r e v o n d e r e w i g e n W i e d e r k e h r a b e r sei e i n f a c h „philosophisch u n h a l t b a r " .
221 Ziegler, Prof. Dr. Theobald (Straßburg), Schopenhauer und Nietzsche. (JbFDH 1902, S. 3—28). V e r f a s s e r will S c h o p e n h a u e r „ g e w i s s e r m a ß e n als Folie" g e b r a u c h e n , auf d a ß N i e t z s c h e „ v e r s t ä n d l i c h " w e r d e , d o c h v e r r ä t sich die eigene A b n e i g u n g d i e s e m geg e n ü b e r n u r allzu f r ü h u n d deutlich. N i e t z s c h e s A u f f a s s u n g e n v o n W i s s e n s c h a f t , W a h r h e i t , D e n k e n seien „ l a u t e r r o m a n t i s c h e G e d a n k e n " . Bei s e i n e m Ü b e r m e n s c h e n h a n d e l e es sich „ u m einen n e u e n A d e l n a c h A r t j e n e r m ä r k i s c h e n J u n k e r , bei d e n e n die b l o n d e Bestie gelegentlich w i e d e r z u m V o r s c h e i n k o m m t " . In seinem V e r h ä l t n i s z u r W i s s e n s c h a f t e n t r o l l e sich „ d a s u n e r f r e u l i c h s t e u n d z e r r i s s e n s t e , d a s w i d e r spruchvollste u n d haltloseste Bild". V o n d e r P h y s i o l o g i e h a b e e r „so g u t w i e nichts"
91
1902
v e r s t a n d e n , von J u g e n d auf habe es ihm „an allem Verständnis f ü r die M a t h e m a t i k " gefehlt, ebenso habe er „keinerlei irgendwie gründlichere historische Kenntnisse" g e h a b t . Die Lehre vom U b e r m e n s c h e n ruhe z w a r auf dem Darwinismus, doch „ger a d e der M i ß b r a u c h , den er mit diesem treibt, daß er . . . einen phantastischen Z u k u n f t s t r a u m darauf gebaut hat, zeigt, wie wenig er in den Geist naturwissenschaftlic h e r Arbeit e i n g e d r u n g e n war". Seine Darstellung des W e r d e g a n g s des Sklavenaufstands sei eine „ K l i t t e r u n g " und d a z u nicht mal „original", sondern vom Kallikles schon v o r g e t r a g e n w o r d e n . „Für die Psychologie des Erlösers" habe er bei anderen, „vor allem D. Fr. S t r a u ß , Anleihen m a c h e n " müssen. Mit dem „Antichrist" habe er n u r sich selbst verurteilt: „. . . in solchen grellen, schrillen T ö n e n zeigt sich ja nur d e r G r ö ß e n w a h n und das deutliche Anzeichen des gleich darauf ausbrechenden W a h n s i n n s . " Die Lehre von der ewigen W i e d e r k u n f t habe er aus dem altgriechischen Mystizismus d e r P y t h a g o r e e r , und mit dieser „ U t o p i e " schließe der „eschatologische T r a u m " des „ M o d e p h i l o s o p h e n " . Etwas b e m e r k e n s w e r t ist Verfassers Verteidigung des n u r „scheinbar g a n z antiindividualistischen Sozialismus": „In W i r k lichkeit h a n d e l t es sich freilich auch bei diesem um Individualisierung und Differ e n z i e r u n g , um die B e f r e i u n g d e r Einzelnen und um die G l i e d e r u n g d e r Massen."
222 Lang, Universitätsprof. (AMBII 15. Jg., 1902, S. 5 2 - 5 9 ) .
Dr. Albert,
Goethe
und
Nietzsche.
Beide, sowohl „der g r ö ß t e deutsche D i c h t e r " wie auch „der vielgenannte und vielgelesene K u l t u r k r i t i k e r der G e g e n w a r t " , seien „Apologeten des Lebens", haben „Kunst u n d Leben d e r W i s s e n s c h a f t v o r g e z o g e n " . G o e t h e aber sei „weit davon entf e r n t " gewesen, „der W i s s e n s c h a f t jeden selbständigen W e r t a b z u s p r e c h e n etwa in dem Sinne, wie N i e t z s c h e es getan". Z u r Frage einer möglichen Beeinflussung meint V e r f a s s e r , d a ß „auch G o e t h e einer d e r F a k t o r e n gewesen ist, die in d e r Entwickelungsgeschichte d e r Nietzscheschen Philosophie eine Rolle gespielt haben", doch sei d e r E i n f l u ß kein „ b e s o n d e r e r " gewesen. D e r Gestalt des Faust entschieden geneigter als d e r Z a r a t h u s t r a s l ä u f t der Vergleich beider d e n n o c h in f o l g e n d e V e r urteilung aus: Z a r a t h u s t r a s Lebensweisheit strafe „das in d e r P e r s o n des D r . Faustus uns v o r g e f ü h r t e Lebensideal Lügen. Also h a t w e d e r G o e t h e noch Nietzsche das Problem des Lebens gelöst!" — „ D i e w a h r e L ö s u n g " finde man in der „Weisheit Christi".
223 Jung, Dr. med. C. G. (1. Assistenzarzt d. psychiatrischen Universitätsklinik in Zürich), Zur Psychologie und Pathologie sogenannter occulter Phänomene. Eine psychiatrische Studie. Oswald Mütze. Lpz. 1902. Bringt auf S. 112— 115 ein Beispiel d e r „ C r y p t o m n e s i e " in Nietzsches Z a r a t h u stra, eine „associative V e r k n ü p f u n g " mit einer Stelle aus Justinus Kerners „Blätter aus Prevorst". D a z u v e r m e r k t J u n g : „Wie mir die Schwester des Dichters, Frau E. F ö r s t e r - N i e t z s c h e , auf meine diesbezügliche A n f r a g e a n t w o r t e t e , hat N i e t z s c h e , zwischen d e m 12. u n d 15. J a h r bei seinem G r o ß v a t e r P a s t o r O e h l e r in Pobles sich lebhaft mit Just. K e r n e r beschäftigt und später sicher nicht m e h r . "
223a Dass, (was die Stelle über Nietzsche betrifft), (DLE 5. Jg., H. 4 v. Nov. 1902, Sp. 284 f.).
92
1902 H a n s M u c h
Als j u n g e r M e d i z i n s t u d e n t k a m H a n s M u c h im H e r b s t 1 9 0 2 nach m e h reren S e m e s t e r n in M a r b u r g , Kiel u n d Berlin n a c h W ü r z b u r g , und über diese Zeit schrieb er viel später: „ D a n n kam W ü r z b u r g . N o c h einmal ein w i l d e s K o r p s s t u d e n t e n l e b e n , aber diesmal voll A u f g e b l ä h t h e i t . . . In W ü r z b u r g m a c h t e ich in N i e t z s c h e s Zarathustra, der g u t z u m e i n e m ä u ß e r e n L e b e n paßte . . . Ich w a r für e i n e Liebe viel z u unstet und viel z u sehr v o n N i e t z s c h e b e e i n f l u ß t , d e s s e n g r o ß e W o r t e ich für den A u s d r u c k seines e i g e n e n L e b e n s , das ich in seiner P s y c h o p a t h i e nicht k a n n t e , hielt. u 7 2 b 224
Golther, W o l f g a n g (Rostock),
Erwin Rohde.
(DMGLG
Okt.
1902, S. 115 ff.). Bespricht das Werk von Crusius über Rohde (Nr. 150) und verweilt dabei am längsten bei dessen Verhältnis zu Nietzsche, der Rohde zu dessen hohen Idealen begeistert habe. Doch „als der überreizte Nietzsche mit abschreckenden Trivialitäten und mit Verleugnung jeglichen Anstandsgefühles deutsche Art und Kunst beschimpfte, war er von Rohde geschieden". 225
Lipps, T h e o d o r , V o n der „Individualität" u n d ihrem „Rechte".
( D Bd. 1, O k t . 1902, S. 1 9 — 3 5 ) / J Behandelt den Begriff der „Individualität", vor allem im Sinne Nietzsches, nennt diesen aber ausdrücklich erst unten auf der vorletzten Seite seiner Arbeit. Es sei kein Wunder, „wenn die Sehnsucht erwacht nach sittlicher Kraft, wenn der Ruf ertönt nach Individualitäten . . . Aber Nietzsche ist nicht der Apostel der Kraft, der Selbst- und Lebensbejahung . . . Sondern er ist der Ausdruck der Krankheit und der Sehnsucht und des Wahnes der Zeit." Als „Prediger der Individualität" nennt er Kant, Sokrates, Christus, Luther, Giordano Bruno und, „mit Betonung", Fichte.
72b
H . M., V e r m ä c h t n i s . Bekenntnisse von einem A r z t a n d M e n s c h e n . R e i ß n e r . D r e s d e n 1933, S. 125 f. Eine weitere E r w ä h n u n g N i e t z s c h e s f i n d e t sich in d e m A u f s a t z „ D i e beiden G r u n d r i c h t u n g e n d e r K u n s t " , in d e m v e r s u c h t w i r d , eine „ G r o b s t o f f k u n s t " von einer „ F e i n s t o f f k u n s t " zu u n t e r s c h e i d e n . M u c h m e i n t : „Im G r u n d e ist alle K u n s t Diesseitskunst, n u r d a ß sich die eine aufs Diesseits b e s c h r ä n k t , die a n d e r e mit d e n Mitteln des Diesseits auch etwas vom Jenseits begreiflich zu m a c h e n v e r s u c h t , w o b e i es in der N a t u r der Sache liegt, d a ß sie das Jenseitige nie rein darzustellen v e r m a g . " — „ G o t i k , Ägyptik, Iranik sind hohe Blüten der F e i n s t o f f k u n s t , Klassik ist die Blüte d e r G r o b s t o f f k u n s t . B a r o c k n i m m t eine Zwitterstellung ein." — Die S c h l u ß s ä t z e lauten d a n n : „ D i e h ö c h s t e H ö h e der Feins t o f f k u n s t ist Beethoven in seinen letzten J a h r e n . D a s ä u ß e r s t e E n d e talentierter G r o b s t o f f k u n s t ist Ibsen, das Seitenstück zu N i e t z s c h e , d e r die A f t e r w e i s h e i t des G r o b s t o f f s mit talentierter, aber u n s a g b a r b e s c h r ä n k t e r Brutalität v e r n e h m b a r g e n u g v e r k ü n d e t hat." (Ebd., S. 231, 233). In seinem L e b e n s u m r i ß in: D i e M e d i z i n d. G e g e n w a r t i. Selbstdarstellung hg. v. L. R. G r o t e . Bd. 4. F. Meiner. Lpz. 1925, S. 1 8 9 — 2 3 5 , e r w ä h n t e er N i e t z s c h e u n t e r den vielen Einflüssen auf seine E n t w i c k l u n g n i c h t ; M u c h , H a n s ( Z e c h l i n / M a r k B r a n d e n b u r g 24. 3. 1880 — H a m b u r g 28. 11. 1932), seit 1914 P r o f e s s o r in H a m b u r g und Leiter des serologischen Instituts H a m b u r g - E p p e n d o r f , w a r a u c h verschiedentlich schriftstellerisch tätig.
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Lipps, T h e o d o r ( W a l l h a l b e n / P f a l z 28. 7. 1851 - M ü n c h e n 17. 10. 1914), P h i l o s o p h , 1884 P r o f e s s o r in B o n n , später in Breslau und seit 1894 in M ü n c h e n .
1902 Wilhelm Stekel
93
226 Wedel, Heinrich von, Friedrich Nietzsche und sein Menschheitsideal. (DAbl 20. Jg., Nr. 41 —46 v. 12., 19., 26. 10. u. 2., 9., 16. 11.1902, S. 665 ff., 682 f., 697 f., 713 ff., 733 f., 750 f.). E i n e durchaus l o b e n d e B e s p r e c h u n g der Darstellung von V a i h i n g e r ( N r . 1 8 3 ) , der sich „der mühevollen A u f g a b e " u n t e r z o g e n habe, „jene c h a o t i s c h e Masse von A p h o r i s m e n , in d e n e n N i e t z s c h e seine O f f e n b a r u n g e n enthüllt, systematisch
zu
o r d n e n " . O b w o h l die christliche Einstellung und A b n e i g u n g des V e r f a s s e r s d u r c h s c h i m m e r n , stellt e r sich selten o f f e n gegen die Darstellung V a i h i n g e r s . Lediglich die B e h a u p t u n g , d a ß „ m e c k l e n b u r g i s c h e B a r o n e , deren geistige N a h r u n g sonst nur in der K r e u z z e i t u n g und im Adelsblatt b e s t e h t " , mit N i e t z s c h e sympathisieren, sei „ins R e i c h der P h a n t a s i e zu v e r w e i s e n " : „ D e r deutsche Adel hat mit einem N i e t z sche und seinem A r i s t o k r a t i s m u s auch nicht die mindeste G e m e i n s c h a f t . "
227 Stekel, Dr. Wilhelm, Möbius über Nietzsche. ( N W T 36. Jg., Nr. 290 v. 21. 10. 1902, S. 1—4). 74 H o l t weit aus und u m r e i ß t das g a n z e „literarische W i r k e n
Möbius'",
der
„ f ö r m l i c h von dem G e d a n k e n hypnotisirt zu sein" scheine, „überall erbliche Belastung zu finden". D e n n o c h hält V e r f a s s e r dessen N i e t z s c h e - W e r k ( N r . 187) „für eines seiner b e s t e n " : „ E s spricht so k l a r und ü b e r z e u g e n d z u m n ü c h t e r n e n V e r s t ä n d e und z u r ärztlichen L o g i k , d a ß es E i n e m t r o t z aller R e s e r v e d e n n o c h ü b e r z e u g t . " N u r an einer S t e l l e a u ß e n d e r R e z e n s e n t e i g e n e s : „Sein (d. i. N i e t z s c h e s ) Liebesleben w a r sehr m e r k w ü r d i g und ist m e i n e r Ansicht nach einer der g r ö ß t e n Beweise für einen p a t h o l o g i s c h e n
Charakter. Während
ihm einige F o r s c h e r eine
ewige
K e u s c h h e i t a n d i c h t e n w o l l e n , s p r e c h e n a n d e r e Literaten mit R ü c k s i c h t auf einige M ä n n e r f r e u n d s c h a f t e n in B a s e l v o n sexueller Perversität."
228 Siebert, Otto (Fermersleben), Einiges über den neuesten Nietzscheband. (KWs Nr. 43 v. 24. 10. 1902, Sp. 6 7 8 - 6 8 2 ) . Bespricht e r n e u t (s. N r . 2 1 6 ) den neuesten N a c h l a ß b a n d ( G X V ) , der „ N i e t z sches W e l t a n s c h a u u n g in e i n e r systematischen Z u s a m m e n f a s s u n g bringt wie keins seiner früheren B ü c h e r " . V e r f a s s e r b e g n ü g t sich h i e r a b e r mit einer eingehenden sachlichen D a r s t e l l u n g des I n h a l t s , u m mit den W o r t e n zu s c h l i e ß e n : „ . . . wir w o l len n u r s c h m e r z l i c h b e d a u e r n , d a ß dieser W a h n s i n n eines wahnsinnigen M e n s c h e n so viele o f f e n e O h r e n g e f u n d e n hat und n o c h i m m e r findet, w e n n auch die W i s s e n schaft d a r ü b e r längst z u r T a g e s o r d n u n g ü b e r g i n g . "
74
Stekel, Wilhelm (Boyan/Bukowina 1 8 . 3 . 1 8 6 8 — London 2 5 . 6 . 1 9 4 0 durch Freitod), Nervenarzt. Seine Erinnerungen (The Autobiography of Wilhelm Stekel. The Life Story of a Pioneer Psychoanalyst. Ed. by Ε. Α. Gutheil. Liveright. New York 1950) enthalten nur eine einzige Erwähnung Nietzsches, im Zusammenhang mit einer Schilderung des ersten Kongresses für Freudsche Psychologie in Salzburg am 27. 4. 1908: „Attending the meeting was also the highly gifted Otto Groß. In his inspiring speech he compared Freud to Nietzsche and hailed him as a destroyer of old prejudices, an enlarger of psychological horizons, and a scientific revolutionary." (S. 122)
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1902
229
D e r n b u r g , Friedrich, N i e t z s c h e s L e b e n s t r a g ö d i e . ( B T N r . 5 4 5 ,
1. Beibl. v. 26. 10. 1902). 7 5 Eine einzige Lobpreisung Nietzsches und der Darstellung von der H a n d d e r Freifrau von U n g e r n - S t e r n b e r g ( N r . 164). 230
W e y g a n d t , D r . m e d . et phil. W . ( W ü r z b u r g ) , D a s P a t h o l o g i s c h e
bei N i e t z s c h e . ( F Z g N r . 3 0 2 v. 30. 10. 1902). 7 6 Eine sehr sachliche und a n e r k e n n e n d e Besprechung des W e r k e s von Möbius ( N r . 187): „Soviel ist sicher, w e r ärztlich denken gelernt hat, wird in den wesentlichen P u n k t e n ü b e r z e u g t sein." 231
Wobbermin,
Georg
( D r . phil., Lic. t h e o l . ,
Privatdozent
a. d.
U n i v . Berlin), D e r christliche G o t t e s g l a u b e in s e i n e m V e r h ä l t n i s z u r g e g e n wärtigen Philosophie. Allgemeinverständliche wissenschaftliche Vorlesung e n . A. D u n c k e r . Bln. 1 9 0 2 . 2 Bll., 127 S., 2 Bll. ( = V l g s . - a n z . ) . 7 7 D e r erste Abschnitt des W e r k e s heißt: Die m o d e r n e Philosophie und die wissenschaftliche Philosophie der G e g e n w a r t . Nietzsche und Avenarius in ihrem V e r hältnis z u r gegenwärtigen Philosophie, S. 1 — 17. N i e t z s c h e , „der M o d e p h i l o s o p h unserer T a g e " , steht somit, o b w o h l er „als Philosoph im eigentlichen Sinne des W o r t e s . . ü b e r h a u p t nicht . . . und folglich auch nicht als R e p r ä s e n t a n t der g e g e n wärtigen Philosophie" gelten k ö n n e , am A n f a n g . Die „Lehre der ewigen W i e d e r k u n f t " sei, „wenigstens in der A n w e n d u n g " Nietzsches, „die reinste M y t h o l o g i e " ; der G e d a n k e „von der N o t w e n d i g k e i t einer U m w e r t u n g aller W e r t e " stütze sich auf eine „dichterisch-phantasiemäßige K o n z e p t i o n o d e r besser K o n s t r u k t i o n " ; und die Idee vom U b e r m e n s c h e n sei „eine die E r f a h r u n g gänzlich überspringende D i c h tung". Verfasser glaubt, mit solcher A b f e r t i g u n g das Recht b e g r ü n d e t zu h a b e n , „über Nietzsche und seine stetig z u n e h m e n d e , in den letzten Schriften bereits den W a h n s i n n a n k ü n d i g e n d e Feindschaft gegen den christlichen Gottesglauben . . . z u r T a g e s o r d n u n g ü b e r z u g e h e n " . Die Bewegung, die d u r c h ihn ausgelöst w o r d e n , sei „schon jetzt wieder stark im Abfluten". „Eine ernstgemeinte sachliche A u s e i n a n d e r setzung mit Nietzsche über den Gottesglauben ist w e d e r möglich noch nötig." „Mit viel g r ö ß e r e m R e c h t " k ö n n e man Richard Avenarius, d e r sich „in d e r radikalen Bek ä m p f u n g jedes Gottesglaubens" mit Nietzsche z u s a m m e n t r e f f e , als „ R e p r ä s e n t a n ten der gegenwärtigen Philosophie" ansehen. S. a. die A n m e r k u n g e n auf S. 99 f., in denen Verfasser die W e r k e von Riehl (s. Bd. I) und V a i h i n g e r ( N r . 183) aus d e m damaligen N i e t z s c h e - S c h r i f t t u m hervorhebt. 232
K ü h n e m a n n , E u g e n ( M a r b u r g ) , Friedrich N i e t z s c h e s
Nachlaß.
( D L E 5. Jg., H . 3 v. N o v . 1 9 0 2 , Sp. 1 4 9 - 1 5 5 ) .
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Dernburg, Friedrich (Mainz 3. 10. 1833 — Berlin-Grunewald 3. 12. 1911), Journalist und Reiseschriftsteller, 1 8 7 5 — 1 8 9 0 Schriftleiter der „Nationalzeitung". Weygandt, Wilhelm ( 1 8 7 0 — 1 9 3 9 ) , Professor der Psychiatrie in Würzburg, später in Hamburg. Wobbermin, Georg (Stettin 27. 10. 1869 — Berlin 15. 10. 1943), evangelischer T h e o l o g e , 1906 Professor der systematischen T h e o l o g i e in Marburg, später in Breslau, Heidelberg, Göttingen und Berlin.
1902 Der Briefwechsel mit Erwin Rohde
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Eine eigenartig zwiespältige Besprechung der Bände XI, XII und X V (GXI a, GXII a u. G X V ) der Gesamtausgabe. „. . . was Nietzsche uns ist . . das ist er uns ganz und gar durch die Reinheit und Kraft, mit der ein seltener Menschentypus in ihm wiederauflebt: der Typus des Propheten." Er sei „der Philosoph der Genialität", dennoch fühle „jeder die Unwahrheit der nietzschischen Theorien", wenn man an „irgend eine der großen Dichtungen" denke, in denen die moralischen und religiösen Gedanken wirklich leben, ζ. B. an die „Wahlverwandtschaften" oder „die besten Sachen von Jeremias Gotthelf". Auch die „Kenntnis seiner philosophischen Vorgänger" sei eine „ganz geringe" gewesen, die Kritik über Descartes „schülerhaft". „. . . was ist er anders als der große Schauspieler einer durch und durch phantastischen Rhapsodie! . . . Aber die Hoffnung der Zeit ruht darauf, — nach dem geistreichen Virtuosen und Schauspieler der einfache, ehrliche Handwerksmann, der ein großes, stilles, arbeitsames Leben führt, ohne mit seinem kleinen Schicksal sich gleich als Träger des Menschheitsloses aufzubauschen . . ." 2 3 3 A(venarius, F.), Nietzsche und Spitteier. ( K w 1. Nov.-heft 1 9 0 2 , S. 1 3 4 f.). Die Zeitschrift brachte unter dieser Aufschrift einen Brief Spittelers an die Schriftleitung, in dem er die Ansicht, er sei ein „persönlicher Freund oder Schüler Nietzsches . . . oder . . . irgendein Mittelding von beidem" gewesen, als Irrtum nachweist. Avenarius schrieb dazu, daß die Zeitschrift allerdings die „fünfzehnjährige Mitarbeit" Spittelers einer Empfehlung Nietzsches verdanke. 2 3 3 a Auch in: C. S., Ges. W e r k e . Bd. 10/11: Geleitbd. Artemis-Vlg. Zür ( 1 9 5 8 ) , S. 268 ff., mit ausführlichen Anmerkungen. Ρ Friedrich Nietzsches / Briefwechsel mit Erwin R o h d e / Herausgegeben von / Elisabeth Förster-Nietzsche und Fritz Schöll / (Verlagszeichen) / Berlin und Leipzig / Schuster & L o e f f l e r / 1 9 0 2 . X X V I I I S., 1 Taf., 6 2 8 S. ( = Friedrich Nietzsches Gesammelte Briefe Zweiter Band). Enthält 119 Briefe Nietzsches an Rohde und 96 Briefe Rohdes an Nietzsche sowie einen Brief Rohdes an die Mutter Nietzsches in den Anmerkungen. Pa Dass. Friedrich Nietzsches / Briefwechsel mit E. Rohde / H e r ausgegeben von Elisabeth / Förster-Nietzsche u. Fritz Schöll / Leipzig im Insel-Verlag. (Zweite A u f l a g e 1903). Unverändert. Pb Dass. 1923. (3. Aufl.). X X , 4 5 9 S. Bis auf zwei Umdatierungen (Briefe 33 u. 46) unverändert. 2 3 4 Kohler, Prof. Dr. J(osef), A u f den Spuren Nietzsches. (Zgt Nr. 4 5 v. 10. 11. 1902). 7 8 „Zwei große Vorstellungen" seien „das sichere und unanstastbare Ergebnis N:etzschescher Forschung": die Fortbildung des Menschen zum Übermenschen und
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Kohler, Josef (Offenburg 9. 3. 1849 sor in W ü r z b u r g , seit 1888 in Berlin.
Charlottenburg 3. 8. 1919), Jurist, seit 1878 Profes-
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1902 Alfred Döblin
die Forderung nach Fernstenliebe. D e n n o c h dürfe man auch seine Fehlurteile nicht übersehen: sein „Angriff gegen den größten Geist seiner Zeit, gegen Richard W a g ner", sei „ein Irrgang"; „sein Widerstreben gegen das Mitleid als Allgemeintugend . . . verfehlt"; auch seine „Auffassung des Christentums als Moral der Dekadenz". Für den Stil dagegen findet Verfasser kaum noch einen Vergleich: „die Auswahl der Worte" sei „eine so bedeutsame, die Ausdrucksform eine so gewaltige, die Bildersprache eine so mächtige, daß man kecklich sagen kann, daß seit Jesaja und der Apokalypse nichts so Gewaltiges dagewesen ist".
234a Auch in: J. K., Aus Kultur und Leben. Ges. Essays. O t t o Eisner, Bln. 1904, S. 3 - 1 0 . Unverändert. Q Friedrich Nietzsche: Aus Zarathustras Nachtlied / Aus h o h e n Bergen / Vereinsamt / U m Mitternacht, in: Avenarius, Ferdinand, H a u s b u c h Deutsche Lyrik. Callwey. Mchn. 1904. 3. verm. u. verbess. Aufl., S. 39, 347 ff., 249 f., 265. Die Sammlung erschien im N o v e m b e r 1902 in erster Auflage. Qa
Dass. 5. verbess. Aufl. 1904. Unverändert.
Qb
Dass. 6. Aufl. 1905. U n v e r ä n d e r t .
Q c Dass. 8., stark veränderte Aufl. 5 1 . - 6 0 . Tsd. 1907, S. 46, 257 ff., 260, 277; h i n z u g e k o m m e n ist: D e m unbekannten Gott, S. 341. Qd
Dass. 9. Aufl. 6 1 . - 7 0 . Tsd. Unverändert.
Qe
Dass. 10. Aufl. 71. —90. Tsd. Unverändert.
Qf
Dass. 11. Aufl. 91.—110. Tsd. 1913. U n v e r ä n d e r t .
Q g Dass., jetzt: Lyrikbuch. E r n e u e n v. H a n s u. H e d w i g Steingruben Vlg. St. 1952 ( = 2 9 0 . - 2 9 5 . Tsd. d. Gesamtauflage).
Böhm.
U m „Aus Zarathustras Nachtlied" und „Um Mitternacht" gekürzt; um „Unter Feinden", „Ecco homo", „Nach neuen Meeren", „Das trunkene Lied" und „Heiterkeit, güldene, komm!" vermehrt; S. 202 ff., 211 f., 219, 330, 343, 350, 375 f.
Zu seinen „geistigen P a t e n " zählte Alfred Döblin, neben Kleist, H ö l derlin und Dostojewski, auch Nietzsche. Zu Beginn der Studienzeit in Berlin, um 1902, habe er ihn „in einer kleinen Leihbibliothek an der S c h ö n hauserstraße" entdeckt: „Ich w a r nun 24 J a h r e alt und studierte Medizin . . . Damals also fielen mir Dostojewskis ,Raskolnikow' und einige N i e t z s c h e b ü c h e r in die H a n d . . . Ich erinnere mich, wie ich im Z i m m e r sitze und nach der L e k t ü r e der ,Genealogie der M o r a l ' das Buch schließe, beiseitelege und mit einem H e f t bedecke, buchstäblich zitternd, fröstelnd, und wie ich aufstehe, a u ß e r mir, im Zimmer auf und abgehe und am O f e n stehe. Ich w u ß t e nicht, w a s mir geschah, was man mir hier antat. K a n n t e ich G o t t , trotz alledem? G o t t , gegen den es hier ging? W u ß t e ich von ihm? Ahnte und ersehnte ich ihn? Ich weiß nicht. Aber ich sah, daß es hier schrecklich ernst w u r d e , d a ß es um
1902 „Donner, ein ganzes Gewitter, Blitz nach Blitz"
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G o t t ging, und daß ich daran beteiligt w a r . . . W i e d e r einmal stieß einer auf den U r s p r u n g zu. Ich verhielt mich bei der Lektüre dieser W e r k e wie ein M a n n , der, o h n e Alpinist zu sein, unversehens genötigt wird, eine gefährliche Gletscherpartie zu machen, der diese Abenteuer aber besteht und der w ä h r e n d seines Verlaufs und nun erst nachher konstatiert, was eigentlich in ihm ruht, welche K r ä f t e er in sich trägt . . . und dann die ,Genealogie der Moral', — D o n n e r , ein ganzes Gewitter, Blitz nach Blitz, so daß man sich schön ängstlich nach der alten Bläue des Himmels sehnt . . . Und da kam Nietzsche, er hatte nicht Medizin studiert und wußte auch nicht viel von Naturwissenschaften, aber mit dem, was er w u ß t e und hatte, verstand er u m z u g e h e n . Er w a r ehrlich, verlangte W a h r h e i t und nur die Wahrheit. (Es w a r m e h r die Besessenheit hinter einer W a h r h e i t , die infolgedessen nicht die W a h r h e i t war.) Atemlos verfolgte ich, was er trieb und hörte auf seine Äußerungen. Ich nahm seine G e d a n k e n w e d e r an, noch lehnte ich sie ab. Ich ließ sie auf mich wirken. Sie bedeuteten eine Aufhellung und Erschütte«79
rung. Ü b e r die Zeit um die J a h r h u n d e r t w e n d e und deren geistige Mächte ü b e r h a u p t schrieb er in einem anderen Z u s a m m e n h a n g : „Die Ideen der Wissenschaft w u r d e n rasch T h e m e n der A u f k l ä r u n g und der Populärphilosophie. Auch die schöngeistige Literatur, soweit sie Kampfliteratur war, k o n n t e sich ihrer bemächtigen, bis d a n n nach 1870 ein von der Zeit ergriffener und phantasiebegabter Philosoph, Friedrich N i e t z sche, Sohn eines protestantischen Pfarrers, die Möglichkeiten der darwinistischen Idee und des Entwicklungsgedankens erkannte. Er z o g Konsequenzen f ü r die Moral und alles menschliche Streben aus dem Darwinismus: der Ubermensch sei zu schaffen, der U b e r m e n s c h : die h ö h e r e Tiergattung. Sein Gehirn, das in antiken heidnischen Vorstellungen lebte, ließ sich von der ästhetischen Figur einer Ü b e r a r t b e z a u b e r n , und er machte sich z u m P r o p h e t e n dieser von ihm e r t r ä u m t e n und ausgemalten Species 79
A. D., Schicksalsreise. Bericht und Bekenntnis. Vlg. Josef Knecht. Ffm. (1949), S. 159 ff., s. a. S. 184 f. u. 374. Man lese aber auch die etwas frühere Zeitangabe in dem Werk: A. D. u. Oskar Loerke, Alfred Döblin. Im Buch — Zu Haus — Auf der Straße. S. Fischer. Bln. 1928, S. 101 f.: „In der Prima oder schon vorher die Begegnung mit Nietzsche: die .Genealogie der Moral', die ich mit Zittern und atemlos las. Den .Zarathustra' mochte ich nicht so, er schien mir aufgeblasen, künstliche Prophetie und dazu ein unreines Genre, Mischung von Kunst und Philosophie, übrigens Pseudokunst, von ein paar echten Stellen abgesehen. Es ist philosophische Wagnerei." Für die spätere Angabe sprechen zwei erst jetzt zugängliche Arbeiten Döblins über Nietzsche aus dem Herbst 1902 und Spätwinter 1903 (Erstdruck bei B. Hillebrand, Nietzsche und die deutsche Literatur. Bd. I. Texte zur Nietzsche-Rezeption 1 8 7 3 - 1 9 6 3 . Dt. Taschenbuch Vlg./M. Niemeyer. Tüb. (1978), S. 315 bis 358); Döblin, Alfred (Stettin 10. 8. 1878 — Emmendingen b. Freiburg 28. 6. 1957), promovierte 1905, 1912—1933 Facharzt f ü r Nervenkrankheiten in Berlin, und daneben Schriftsteller.
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1902 „Die Wirklichkeit kam nicht an ihn heran."
(sie t r u g von vornherein schon bei ihm ,blonde Bestie' germanische Züge). W i e es sich f ü r einen Utopisten gehört, w a r er gegen Religion, das heißt: mißdeutete die Religion, die angeblich den Menschen um das Dasein prelle. Er mißdeutete sie mit derselben Entschlossenheit wie ein Utopiekollege von der sozialen Linie, Karl Marx . . . Friedrich Nietzsche, gewiß P r o p h e t der T h e o r i e von Ü b e r m e n s c h e n , auch Anbeter des H e r o i s c h e n und D ä m o n i schen, erkannte den besonderen Sinn und das Ziel dieser gewaltigen Aufmachung, dieser V e r b i n d u n g von germanischer Mythologie mit neudeutscher G r o ß m a c h t p l ä n e n , und denunzierte f r ü h genug den schlechten großmannssüchtigen C h a r a k t e r der politischen Entwicklung nach 1870. Er sah noch nicht voraus, daß seine Idee mit in diese Masse eingehen würde. Er w u r d e noch nicht g e w a h r , wie er, von einer g a n z a n d e r e n , nicht mythologischen Seite her, z u r S t ä r k u n g , z u r Beschleunigung des Prozesses bis zur Bildung einer germanischen Utopie beitrug. Er distanzierte sich immerhin vom neuen Reich und vom W a g n e r t u m . . . u8 ° An noch anderer Stelle heißt es, Nietzsche habe „geträumt, gedichtet und mit W o r t e n und Bildern gespielt. Die Wirklichkeit kam nicht an ihn heran. Er brauchte sich nicht an ihr zu reiben." 81 235 Flake, O t t o (Straßburg i. E.), Nietzsches zweite Periode. (MAZg Beil. N r . 260 v. 12. 11. 1902, S. 281—284). Verfasser will die Auffassung, Nietzsches „zweite Periode" sei eine „Ubergangsperiode", bloße „Vordergrundsphilosophie", widerlegen; man habe „bisher den Wert von ,Menschliches-Allzumenschliches' nicht erkannt, den Wert nämlich für die Weiterführung der Philosophie, damit die wissenschaftliche Bedeutung Nietzsches": „Pointiert gesagt, ist der Fundamentalsatz der zweiten Periode: nicht historisch das Existierende, auch die Moral, betrachten, ist u n m e n s c h l i c h . " Mit der „Geburt" schon habe er sich in „eine Reihe mit den höchsten Exemplaren" des „klassisch-romantischen Humanitätsideals" gestellt, die „Unzeitgemäßen", „eine Mischung von Metaphysik und Positivismus, Altem und Neuem", machen die eigentliche „Ubergangsperiode" aus, und erst 1876 „war Nietzsche so herangereift, daß er völlig brach, von da ist er originaler Philosoph": „Es spricht aus M.-A. jenes unendlich intime und feine Tönen, das nur eine schöpferische Philosophie hervorbringen kann . . . " — „Die dritte Periode" sei aber eine „Weiterführung des . . . Aristokratieanarchismus des Individuums", und somit habe er „mehr und mehr . . . das Ziel einer Menschtumsphilosophie aus den Augen" verloren.
236 Marsop, Paul, W a g n e r i a n e r und Wahrheitssucher. (Geg Bd. 61, 1902, N r . 12, S. 1 8 6 - 1 8 9 ) .
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A. D., Die literarische Situation. P. Keppler. Baden-Baden 1947, S. 7 f.; eine weitgehend umgearbeitete und nicht unwesentlich erweiterte Fassung von: D i e deutsche Utopie von 1933 und die Literatur, in: Das goldene Tor. i. Jg., 1946, H . 2, S. 138 f. Ebd., S. 59; die Stelle fehlt in der Zeitschriftenfassung.
1902
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Verfasser setzt sich u. a. mit Chamberlain, Max Graf, Arthur Seidl, Richard Strauß und Hans Pfitzner auseinander, dabei aber auch mit Nietzsches „Fall Wagner", der „am Ende der Verzweifiungsschrei des ohnmächtigen Musikers" sei, „dem nichts einfiel, entgegengeschleudert einem anderen großen und glücklichen Musiker, der über alles verfügte". 237 a n o n y m , (LCB1 N r . 46 v. 15. 11. 1902, Sp. 1517 ff.). Eine recht abfällige Besprechung des Werkes von Naumann (s. Bd. I), der „den Zarathustra in seinem Commentar noch eintöniger" mache, „als er es ohnehin schon ist". 238
Ernst, D r . (Paul), Friedrich Nietzsches Geisteskrankheit. ( N A Z g
N r . 271 v. 18. 11. 1902). Eine Besprechung des Werkes von Möbius (Nr. 187), das hauptsächlich „in der Zurückdatierung der ersten Anzeichen in den Schriften" sowie in der Darstellung stilistischer Einzelheiten als pathologisch zu weit gehe, sonst aber überzeugend wirke.
239 Dernburg, Friedrich, Neues aus Nietzsches Jugend. Unbekannte Verse und Entwürfe Friedrich Nietzsches. (Zgt Nr. 47 v. 24. 11. 1902). Bringt einen Brief Nietzsches vom 28.7. 1862 an Raimund Granier, der erst BAB I, S. 192 f., wiederabgedruckt wurde, sowie ein Begleitschreiben Graniers an den Herausgeber Dernburg, dem folgendes entnommen wird: „In Schulpforta war Nietzsche, wie ja bekannt, ein ausgezeichneter Schüler, nur die Mathematik war, wenn ich mich recht besinne, nicht seine starke Seite. Unter den Mitschülern trat er nicht besonders hervor, er versenkte sich in die Aufgaben der Schule, besonders in die alten Sprachen, und in seine besonderen Studien. Eine führende Rolle spitelte er unter Denen, die geistige Regsamkeit zeigten, nicht; diese Rolle fiel zwei Anderen zu, die schon lange vor Nietzsche gestorben sind. Auf die lärmenden Spiele im Schulgarten ließ er sich nicht ein, doch ging er als Primaner, wie wir Anderen, gern nach dem nahe gelegenen Dorfe Altenburg (Almerich genannt), trank dort aber nicht Bier, sondern mit großem Behagen Chokolade. Er war schon auf der Schule außerordentlich kurzsichtig, und seine tiefliegenden Augen hatten einen eigenthümlichen Glanz. Seine Stimme konnte sehr tief sein, im Allgemeinen war sie sanft wie sein ganzes Wesen . . . Sein später so außerordentlich starker Schnurrbart fing schon auf der Schule an, sich zu zeigen . . . Musik trieb Nietzsche schon in Pforta eifrig, und er hat mir . . . manch liebes Mal vorgespielt — wenn ich mich recht besinne, viel Chopin." Es folgen darauf das Bruchstück „Euphorion" und der Gedichtkreis „Heimkehr. Fünf Lieder" (Musarion-Ausgabe Bd. I, S. 93 ff.).
240 Wymetal, Willy, von, Neue Nietzschebriefe. (OUR Bd. 29, 1902, S. 3 1 9 - 3 2 6 ) . Bespricht den neuesten Briefband (P), mit dem „ein W a h r - und Leuchtzeichen neidloser Freundschaft" hinterlassen worden sei, „das sich dem Briefwechsel Goethe—Schiller und dem Bunde Wagner—Liszt, zum Stolze Deutschlands, ebenbürtig anreiht". Man merke „vom ersten Anfang an", daß Nietzsche „der Stärkere der Brüder im Geiste" sei. Der Schluß lautet: „Wer seiner Zeit um Jahrhunderte voraus-
100
1902 Stimmen zum zweiten Briefband
eilt, erkauft sich die Größe mit dem Schmerz, daß niemand Ohren hat, ihn zu hören . . . Werden späte Enkel und Urenkel die Schulden ihrer Vorfahren abtragen . . .? Werden Knabe, Jüngling und Mann auch in diesen B r i e f e n eine Lern-, Lese- und Erbauungsbibel finden?" 241 Strecker, Karl, N e u e Nietzsche-Briefe. (TRs Unterh.-Beil. 276 f. v. 25. u. 26. 11. 1902). Mit dieser Besprechung des zweiten Briefbandes (P) möchte Verfasser dem Leser eine Andeutung vom „ungeheuren Wert" des Buches gegeben haben: „Es ist eine Fülle von Geist und Liebe, die das Buch durchströmt . . . Und doch legt man den Band, wenn man ihn ausgelesen hat, mit einem Gefühl leiser Trauer aus der Hand." 242 χ. y. z., Nietzsches Briefwechsel mit Erwin Rohde. ( H K Nr. 24106, 1902). Besprechung des zweiten Bandes der Briefe (P): „Es ist ein köstliches Buch! Ein Buch der Freundschaft, wie wir wenige haben. Ein Buch der Gesundheit, ein Buch treuester Unmittelbarkeit und Ehrlichkeit." 243 F., W., N e u e Nietzsche-Briefe. ( N W T 36. Jg., Nr. 327 v. 29. 11. 1902, S. 1 ff.). Besprechung des zweiten Bandes der gesammelten Briefe (P), mit größeren Auszügen. 244 Mongré, Paul, D e r Wille zur Macht. ( N D R s D e z . 1902, S. 1 3 3 4 - 1 3 3 8 ) . In dieser Besprechung des 15. Bandes der Gesamtausgabe (GXV) hebt Mongré gerade die Punkte hervor, „die zum Widerspruch reizen", „weil Nietzsche gerade mit seinen schwachen Punkten populär" sei. Das seien vor allem seine unlogische und unhistorische Einstellung zum Christentum, „seine Moral der Züchtung" und das „Primitive" an seinem letzten Weltbild. Dennoch finde man auch hier „auf Schritt und Tritt fruchtbare Gedanken, tiefe Zusammenhänge und subtile Zergliederungen, exquisiten Sprachzauber, flüsternde Zartheit und flammendes Pathos und blitzenden Hohn und die ganze Scala des Stilvirtuosen". 245 Woerner, R. (Freiburg i. Br.), (Eu Bd. 9, 1902, S. 822 f.). Eine Besprechung des Werkes von Landsberg (Nr. 155), das, „wenn auch nicht für uns Wissenschaftsbeflissene geschrieben", eine „ebenso scharfe wie gerechte Charakteristik der neuesten Dichtkunst oder der älteren und neueren Romantik" biete.82 246 Lorenz, Alfred (Gotha), Parsifal als Übermensch. ( D M 1, 1902, Bd. 4, S. 1 8 7 6 - 1 8 8 2 ) " Verfasser findet „gerade in dem von Nietzsche am meisten geschmähten Werke, ,Parsifal'" die Verkörperung des Ubermenschen, „während uns der la82
83
Woerner, Roman (Bamberg 5. 8. 1863 — Würzburg 20. 10. 1945), Literaturwissenschaftler, 1901 Professor in Freiburg i. Br., später in München und Würzburg. Lorenz, Alfred (Wien 11.7. 1868 - München 20. 11. 1939), Musikwissenschaftler, 1894 bis 1920 Kapellmeister.
1902 Isadora Duncan — Ina Seidel
101
chende, tanzende und genießende Übermensch, den Zarathustra verkündet, als Verzerrung dieses Idealbildes erscheinen muß".
247 Conrad, Michael Georg (München), Friedrich Nietzsche und die deutsche Literatur. (dZeit Nr. 428 v. 13. 12. 1902, S. 127). Besprechung von Landsbergs Buch (Nr. 155), das „eine hochachtbare, durchaus fesselnde geistige Leistung und in Anbetracht des T h e m a s einer der interessantesten Versuche, der N i e t z s c h e - F o r s c h u n g neue Gebiete zu erobern", sei.
248 Egidi, Arthur (Berlin), Gespräche mit Nietzsche im Parsifaljahr 1882. Tagebuchblätter. (DM 1, 1902, Bd. 4, S. 1892—1899). Erzählt von Begegnungen mit N i e t z s c h e Ende Juli und A n f a n g August 1882 in Tautenburg und D o r n d o r f , der damals „mit dem Verlangen nach Bayreuth zur Parsifalauffiihrung zu g e h e n gekämpft" habe. Verfasser war vorerst von N i e t z s c h e sehr beeindruckt, d o c h habe „der gewaltige Eindruck des Parsifal sowohl Nietzsches Kritik als auch meine eigenen T h e o r i e n völlig über den H a u f e n geworfen".
Von der Vermittlerrolle Karl Federns bei ihrer Begegnung mit dem Werke Nietzsches in Berlin 1902/03 erzählte die Tänzerin Isadora Duncan: „Unter den bei uns verkehrenden Künstlern und Schriftstellern befand sich auch ein junger Mann mit auffallend intelligenten Zügen, hoher Stirn, und durchdringenden Augen hinter scharfen Brillengläsern. Er hieß Karl Federn und hatte es sich in den Kopf gesetzt mir das Genie Friedrich Nietzsches zu enthüllen. ,Nur durch Nietzsche', lauteten seine Worte, ,werden Sie zur vollen Erkenntnis jenes Ausdruckes im T a n z gelangen, den sie suchen!' Jeden Nachmittag erschien er bei mir und las aus dem Z a r a thustra', wobei er mir Sätze und Ausdrücke, die mir unverständlich waren, erklärte. Nietzsches Geist nahm mich vollkommen gefangen und die liebgewordenen Stunden mit Federn übten eine derartige Anziehung aus, daß ich nur mit Widerstreben dem Drängen meines Impresarios nachgab, wenigstens kurze Gastspiele nach Hamburg, Hannover, Leipzig usw. zu absolvieren . . ."84 Daß auch zwei 17jährige Mädchen sich mit Nietzsche beschäftigen konnten, beweist ein Erlebnis Ina Seidels aus der Zeit 1902/03, die sie zu-
84
Memoiren. Amalthea-Vlg. Zür., Lpz., Wien 1928, S. 139 f.; gerade der letzte Satz scheint, verglichen mit dem englischen Original (My Life. London. V. Gollancz 1968, S. 151), weit schwächer und leicht irreführend: „The seduction of Nietzsche's philosophy ravished my being, and those hours which Karl Federn devoted to me each day assumed a fascination so potent that it was with the greatest reluctance . . S. a. die Bemerkung Federns in seiner Einleitung zu: Der Tanz der Zukunft. (The Dance of the Future). Eine Vorlesung von Isadora Duncan. E. Diederichs. Lpz. 1903, S. 7: „Was Nietzsche ahnte und in künstlerisch-poetischer Erkenntnis schaute, das hat Isadora Duncan zur Tat gemacht. Wenn er sagte: ,1m Tanze nur weiß ich der höchsten Dinge Gleichnis zu reden' — ihre Tänze versuchen Gleichnisse der höchsten Dinge zu sein."
102
1902 Kurt Hiller
sammen mit „etwa achtzehn Schülerinnen" auf der Kochschule in München zubrachte: „,Lernen wir uns besser freuen, so verlernen wir am ersten, anderen wehe zu tun und Wehes auszudenken' — dieses Nietzsche-Wort schrieb Heidi mir in den ersten Wochen unserer Bekanntschaft auf, und gleichzeitig kamen wir dazu, den griechischen Gruß ,Freue dich' zu unsrem Losungswort zu machen." 85 Schon als sechzehnjähriger Schüler auf dem Askanischen Gymnasium in Berlin stieß Kurt Hiller auf den „Zarathustra": „Ich hatte Weihnachten 1902 den ,Zarathustra' geschenkt bekommen, das Buch wühlte mich ungeheuer auf, und ich begann nun, unter den Einfluß Nietzsche's zu treten. Manche Zeile meiner Schulaufsätze spiegelte den Einfluß wider." 86
85
86
I. S., Meine Kindheit u. Jugend. Ursprung, Erbteil u. Weg. Dt. Vlgs.-Anst. St., Bln. (1935), S. 153; s. a. über das Jahr 1903/04: „Wir lasen Carlyle, Ruskin, Nietzsche, Harnack und Ellen Key durcheinander . . ." (S. 170); Seidel, Ina (Halle a. d. Saale 15. 9. 1885 - Ebenhausen 2. 10. 1974), Schriftstellerin. K. H., Leben gegen die Zeit. (Logos). Rowohlt (Hamburg 1969), S. 42. Folgende Äußerungen mögen die Tiefe des Eindrucks, den Nietzsche mit der Zeit auf Hiller machte, bezeugen: „ Friedrich Nietzsche ist schon allein deshalb einer der paar ganz überragenden Denker seit Echnaton, weil im Mittelpunkt seiner Lehre das unübertreffbar leidenschaftliche Ja zum Leben steht. Ich bin kein -aner, mithin auch kein Nietzscheaner; doch Nietzsche ist für mich (seit mehr als sechzig Jahren, ohne Schwanken je) kraft seines geschriebenen Werks der größte Mensch aus beiden letzten Jahrtausenden. Sein Verfall, im Winter 1888/89, bedeutet kein Fragezeichnen am Rande seiner Größe, sondern eine der fürchterlichsten aller Tragödien und so sehr einen Einwad gegen die Weltordnung wie der Giftbecher des Sokrates, die Kreuzigung Christi, das Jahrzwölft Hitler's, die Einrichtung Krieg, der Tod." (S. 8 f.); (Aus dem Winter 1908/09 über ein Gespräch mit dem schweizer Psychiater Professor Eugen Bleuler:) „Nie wieder im Leben habe ich mit einem Menschen ein so aufregend herrliches Gespräch über Nietzsche geführt wie damals mit Bleuler." (S. 77); „Bis tief in unser Jahrhundert hinein gab es an den preußischen Schulen, vermutlich an allen deutschen, .Rangordnung' — ein Begriff, den Nietzsche mit Recht in die Philosophie gerettet hat." (S. 25); „Es gibt ein Heldentum, das nach-theistische und neuhellenische, wie Nietzsche es verkündet hat, und dem gehöre ich mit ganzer Seele an . . ." (S. 138); „Es ist der Auftrag an das Jahrhundert, die Geistlinie, die von der Bergpredigt zum Kommunistischen Manifest führt, konvergieren zu lassen mit jener andern gewaltigen Linie: Platon-Nietzsche. Das Christentum muß hell, heidnisch, hellenisch werden — Dionysos den Gekreuzigten in seine Seele nehmen." (S. 141); (Aus dem Jahre 1945:) „Die interessanteste Reaktion, die aus dem Sammelband mein Beitrag ,The Problem of Constitution' hervorrief, war ein Privatbrief, den ich dazu von einem Antipoden der Demokratie erhielt, von Englands Obernietzscheaner Dr. Oscar Levy (1867 — 1946). Dieser nicht unverdiente Mann diagnostizierte mich schlankweg als das genaue Gegenteil dessen, was ich, irrigerweise (meinte er), zu sein behaupte; als jemand, der keine Zeile Nietzsche begriffen habe; der Vulgärchirst und Vulgärdemokrat sei und der Grundidee Nietzsche's radikal entgegenarbeite! Dieser Orthodoxe (nichtmal der ja unstarren, ozeanisch bewegten Nietzscheschen Philosophie, sondern gewisser Redewendungen innerhalb ihrer, die er billig-flächig danebenverstand) trug die gleichen Scheuklappen, die die Antlitze der bekannten ,Dia-
1903 Miniatur-Ausgabe des „Zarathustra"
103
R Also sprach Zarathustra. / Ein Buch für Alle und Keinen. / V o n / Friedrich Nietzsche. / 34., 35., 36. und 37. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. N a u m a n n / 1903. 2 Bll., 488 S., 6 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Auf S. 477 — 488: Die Entstehung von „Also sprach Zarathustra" von E. Förster-Nietzsche. ( = Miniatur-Ausgabe). 249 Hellpach, Willy, (SMh 7. Jg., H. 1, 1903, S. 94 f.). Eine äußerst abfällige Besprechung der neuen Ausgabe des Werkes von Schmitt (s. Bd. I), der eine „unangenehme Religionstheatralik" biete. 250 Busch, Pet. (Mayen), Christ oder Antichrist — Christus oder Nietzsche? (Pb Bd. 16, 1903, S. 2 4 - 3 1 ) . Vergleicht beide als „Welterlöser, Welterneuerer" sowie als „Personen" in ihrer Handlungsweise, um zu dem Schluß zu kommen, daß Nietzsche „nicht einmal der Antichrist" sei. Sein System leide vor allem an einem Grundübel: alle wirklichen Reformatoren seien demütig genug gewesen, dem Alten den ersten Raum zu lassen, als Substrat aller Reformation das Vorhandene zu nehmen. Nietzsche habe „die alten Werte zerschlagen und wußte keine neuen an ihre Stelle zu setzen . . . sein Wahnsinn, das traurige Dunkel, in dem er schied, ist das Omen seiner Philosophie und Religion." 251 Blau (Hofprediger, Wernigerode a. H . ) , Moderne Propheten. (Ref 2. Jg., 1903, S. 5 9 - 6 3 ) . Beklagt den Einfluß Nietzsches im allgemeinen, besonders aber den auf die „Nachtreter" auf dem „Gebiet des religiösen Lebens", nämlich Johannes Müller und Arthur Bonus. Diese stellen die These auf, „daß das Christentum oder allgemein die Religion nichts anderes sei als — subjektivistischer Individualismus". 252 Seydlitz, R. von, N i e t z s c h e und die bildende Kunst. ( M b K K w Bd. 3, 1903, S. 21 f., 7 8 — 8 2 ) . Verfasser verfolgt den „chronologischen Weg, um Nietzsches Beziehungen zur bildenden Kunst darzustellen", greift aber immerzu weiter aus und stellt die Einseitigkeit und Fehlerhaftigkeit von Nietzsches Urteilen über die Kunst wiederholt fest. Die Darstellung reicht aber nur bis in die Zeit von „Menschliches" und sollte laut Hinweis auf der letzten Seite noch in weiteren Heften fortgesetzt werden; die Zeitschrift stellte aber mit diesem Band ihr Erscheinen ein.
mant'-Pfaffen zieren; ideologisch der kräftigste Gegensatz, charakterologisch kein Unterschied." (S. 356); (über Leonhard Nelson:) „Wer Nietzsche gelesen und erlebt hat, fühlt sich von keiner Ethik angezogen, die imgrunde nur Theologie ohne Mythos, nur mathematifizierte Altmoral ist. Ich ziehe den H u t vor Nelson; aber Nietzsche blieb ihm verschlossen, er sah in ihm den Psychologen und Stilisten, f ü r einen Philosphen — Piaton sei's geklagt — hielt er ihn nicht. Das Primordiale an Nietzsche hat er leider keineswegs e r f a ß t . . ( S . 391 f.); Bleuler, Eugen (Zollikon b. Zürich 30. 4. 1857 - ebd. 15. 7. 1939), Psychiater; Hiller, Kurt (Berlin 17. 8. 1885 — H a m b u r g 1. 10. 1972), Schriftsteller.
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1903 Die „kühne und wahrhaft grandiose Herausforderung der Moral"
253
Servaes, Franz, Nietzsche-Briefe. (NFPr Nr. 13799, 1903).
Begrüßt die ersten beiden B r i e f b ä n d e : „ D e n n Mensch u n d Lehre, das f ü h l t m a n , sind hier aufs zarteste u n d zäheste mit einander verfädelt und v e r k n ü p f t . " — „Wir k o m m e n in ein f r o h e s S t a u n e n , diesen M a n n , zu dem wir wie zu wunderlicher Eiseshöhe hinaufschauten, uns so menschlich nahe zu fühlen, ja g a n z als Menschen und Bruder, von nichts weiter e n t f e r n t als von der d ü n k e l h a f t e n U b e r m e n s c h e n p o s e derer, die ihm n a c h z u e i f e r n vermeinen."
254 Haentler, Adolf, Nietzsche und Rohde. (Zeit 2. Jg., Nr. 105, Morgenbl. v. 13. 1. 1903, S. 1 ff.). Besprechung des zweiten Bandes der gesammelten Briefe (P), die mit dem Satz schließt: „Es gibt Leute, welche R o h d e ' s .Psyche' f ü r den besten C o m m e n t a r zu Nietzsche halten — nach Nietzsche's eigenen Schriften."
255 Blau (Hofprediger, Wernigerode a. H.), Friedrich Nietzsche und das Christentum. (KWs Nr. 4—7 v. 23. u. 30.1., 6. u. 13.2.1903, Sp. 4 9 - 5 2 , 75 f., 83—87, 1 0 0 - 1 0 3 ) . Verfasser schreibt in ernster Besorgnis um den Einfluß Nietzsches, dessen J ü n ger „heute . . . nach Z e h n t a u s e n d e n " zählen: „In einer Gerichtsverhandlung des vorigen Jahres erklärte ein M ö r d e r seiner Geliebten, er habe das Recht, sich seine M o ral selbst zu schaffen, von N i e t z s c h e gelernt. V o r k u r z e m erschoß sich ein junger O f f i z i e r unter B e r u f u n g auf Nietzsche . . . " In der Wissenschaft bürgere sich mit ihm der „Dilettantismus" ein, noch d a z u sei er „der disharmonischste, widerspruchvollste Mensch, den m a n sich d e n k e n kann". N u r in dem einen P u n k t , „in seiner ablehnenden Stellung g e g e n ü b e r dem C h r i s t e n t u m " , sei er sich „gleich geblieben". Sein H a ß darauf erkläre sich aus seinem Kranksein und der Erkenntnis, d a ß in dem Christentum „der glücklichere, weil ihm himmelhoch überlegene Rivale bei dem Versuch einer V e r e d e l u n g der Menschheit" zu finden sei.
256 Spindler, Dr. Josef, Nietzsche. Ein Nachwort zu den drei Vorträgen Dr. Horneffers. (Bo Beil. z. Nr. 27, 33, 40 v. 27. 1. u. 3. u. 10. 2. 1903). Verfasser will seine A u s f ü h r u n g e n als eine „Vervollständigung" des von H o r neffer e n t w o r f e n e n Bildes verstanden wissen und erklärt sich gleich zu A n f a n g eins mit ihm „in der unbedingten und höchsten W e r t s c h ä t z u n g seines Propheten als Menschen, M a n n e s und lyrischen Künstlers". H o r n e f f e r habe es jedoch unterlassen, Nietzsches G e h i r n k r a n k h e i t zu e r w ä h n e n , w o z u Verfasser auf Möbius ( N r . 187) hinweist. Auch habe er seine Darstellung des U b e r m e n s c h e n dem „ Z a r a t h u s t r a " entn o m m e n und dessen E i n s c h r ä n k u n g in den „späteren Schriften unberücksichtigt" gelassen. N a c h A u f f a s s u n g der Verfassers sind „Übermensch" und „ewige W i e d e r k u n f t " die „zwei H a u p t g r u n d l a g e n " des „ Z a r a t h u s t r a " und beide nichts als „ P h a n tasiegebilde". D e n n o c h bedeute Nietzsche „ f ü r die Menschheit einen h o h e n Gew i n n " : „. . . seine k ü h n e und w a h r h a f t grandiose H e r a u s f o r d e r u n g der M o r a l " bleibe „eine T a t " , die den „ d e n k b a r stärksten Antrieb und Sporn enthält, das m o r a lische Problem ernst zu n e h m e n . . ."
105
1903 Ein „genialer Gegner"
257 W e i n l , H e i n r i c h , Jesus im n e u n z e h n t e n Jahrhundert. J. C. B. M o h r . T ü b . 1903. 87 Das Werk beginnt noch im 18. Jahrhundert mit Reimarus, Lessing und der Aufklärung und reicht bis zu Harnack, Rosegger und Schell. Von Nietzsche (S. 188—196) heißt es, daß er eine „zarte, sensitive und dabei doch leidenschaftliche und stürmische Seele", ein „genialer Gegner" gewesen sei, dessen Auffassung des Evangeliums und des Heilands aber lediglich dem „ins Buddhistische hinübergewandelten Jesusbild seiner pietistischen Jugend" entstamme. 258 V o r l ä n d e r , Dr. Karl, Geschichte der Philosophie. II. Bd. Philosophie der N e u z e i t . Dürr. Lpz. 1903. ( = Philos. Bibl. Bd. 106). 88 Uber Nietzsche auf S. 498 — 503, mit der zusätzlichen Bezeichnung „Die Philosophie des Individualismus". Nach knapper Darstellung des Lebens und etwas breiterer der schon herkömmlich gewordenen dreistufigen Entwicklung seiner Philosophie gipfelt Verfassers Meinung darin, daß Nietzsches Philosophie „nur als E n t w i c k l u n g s g e s c h i c h t e einer g e n i a l e n P e r s ö n l i c h k e i t zu betrachten" sei. „Der ungeheuere Einfluß" seines Wirkens verblasse aber schon, wenn auch „erst in der allerletzten Zeit". Von ihm beeinflußt seien Rudolf Steiner und Bruno Wille, mit ihm verwandt Multatuli. 258a
Dass.
2. Aufl.
( 4 . — 6 . Tsd.).
1908.
Über
Nietzsche
auf
S. 4 6 3 - 4 6 8 . Um kleine, unwesentliche Zusätze vermehrt; zu den Beeinflußten werden jetzt die Gebrüder H o r n e f f e r hinzugezählt. Einer der wenigen Zusätze enthält folgende Bemerkung: „Überhaupt scheint, trotz der noch immer starken Literatur über ihn, der Einfluß Nietzsches, wenigstens an Breite, allmählich abzunehmen." 258b
Dass.
3. Aufl.
( 7 . — 9 . Tsd.).
1911.
Über
Nietzsche
auf
S. 4 6 4 — 469. So gut wie unverändert. 258c
Dass. 4. Aufl. ( 1 0 . — 1 2 . Tsd.). 1913. F. Meiner. Ü b e r N i e t z s c h e
auf S. 4 6 9 - 4 7 5 . Kaum verändert. 258d Dass. 6. Aufl. ( 1 6 . — 1 9 . Tsd.). 1921. Ü b e r S. 4 6 9 — 4 7 4 . Die Erwähnung Multatulis fehlt, sonst kaum verändert. 258e
Nietzsche
auf
Dass. 7. Aufl. ( 2 0 . — 2 2 . Tsd.). 1927. III. Bd.: D i e P h i l o s o p h i e
des 19. und 20. Jahrhunderts. Ü b e r N i e t z s c h e auf S. 1 9 2 — 1 9 7 . Um einige Schrifttumshinweise ergänzt, sonst unverändert.
87
Weinel, Heinrich (Vonhausen/Kr. Büdingen 2 9 . 4 . 1874 — Jena 2 9 . 9 . 1936), evangelischer Theologe, 1907 Professor für Neues Testament. " Vorländer, Karl (Marbuirg 2. 1. 1860 — Münster 6. 12. 1928), Philosoph.
106
1903 Von „hyperaristokratischem Geist mißleitet" 259
T h o m a s , T h . , D e r k r a n k e N i e t z s c h e . ( N F P r v. 1. 2. 1 9 0 3 , S . 1 1 ) .
E r z ä h l t einleitend v o n seiner in W e i m a r im A u g u s t 1899 e r f o l g t e n B e k a n n t s c h a f t mit E r n s t H o r n e f f e r , d e r n u n n a c h W i e n g e k o m m e n sei, u m V o r t r ä g e ü b e r N i e t z s c h e z u h a l t e n , u n d b r i n g t d a n n H o r n e f f e r s S c h i l d e r u n g des K r a n k e n d e r l e t z ten L e b e n s j a h r e . Ein Beispiel d a r a u s m ö g e g e n ü g e n : „ M u s i k m a c h t e g r o ß e n E i n d r u c k auf ihn. W e n n m a n ihm sagte, n u n solle M u s i k g e m a c h t w e r d e n , so g e r i e t h er gleich in E k s t a s e u n d stieß u n s c h ö n e , u n a r t i k u l i r t e L a u t e aus, ein d u m p f e s , s c h r e c k liches S t ö h n e n . H a t t e a b e r die M u s i k b e g o n n e n , s o v e r k l ä r t e sich sein g a n z e s G e sicht u n d s t r a h l t e in e i n e r nicht zu s c h i l d e r n d e n W e i s e . A b e r dieser A u s d r u c k d e r ü b e r m ä ß i g e n F r e u d e w a r in seiner K r a n k h a f t i g k e i t nicht m i n d e r f u r c h t b a r als d a s thierische G e h a b e n k u r z v o r h e r . " 259a
A u c h in: H N 2. Beil. z . N r . 5 5 , M o r g e n a u s g . v. 3. 2. 1 9 0 3 .
N u r d e r viertletzte S a t z fehlt, sonst u n v e r ä n d e r t . 260
Krebs,
Robert
(Pfarrer
zu
Werningshausen),
Nietzsches
M e n s c h h e i t s i d e a l u n d w i e h a b e n w i r u n s als C h r i s t e n d a z u z u s t e l l e n ? K e y s e r s c h e B h d l g . E r f u r t ( 1 9 0 3 ) . 4 6 S . , 1 Bl. V e r f a s s e r hält sich „im w e s e n t l i c h e n " u n d das heißt so g u t wie ausschließlich a n „ Z a r a t h u s t r a " bei seiner A u s e i n a n d e r s e t z u n g . D a s W e r k biete eine „ ä u ß e r s t d ü r f t i g e u n d reizlose , H a n d l u n g ' " , u n d sein „ h ö c h s t e s Ideal", d e n „ U b e r m e n s c h e n " , m ü s s e d e r C h r i s t v e r w e r f e n . E i n s t e l l u n g des V e r f a s s e r s w i r d g e g e n S c h l u ß in f o l g e n d e n W o r t e n ü b e r a u s d e u t l i c h : „ M a n c h e s in seinen S c h r i f t e n ist g e w i ß b e a c h t e n s w e r t , u n d in z a h l r e i c h e n E i n z e l h e i t e n w e r d e n w i r ihm g e w i ß R e c h t g e b e n . D o c h d a s d a r f uns nicht a b h a l t e n , N i e t z s c h e s M e n s c h h e i t s i d e a l als solches z u v e r u r t e i l e n . " E r w ä h n e n s w e r t ist d i e H i l f e s t e l l u n g , d i e N i e t z s c h e - W o r t e e i n e m W e r k w i e d e m f o l g e n d e n leisten m u ß t e n : Schallmayer, Dr. Wilhelm ( M ü n c h e n , Vererbung und Auslese im Lebenslauf der Völker.
Eine staatswissenschaftliche S t u d i e auf G r u n d
der
n e u e r e n B i o l o g i e . G u s t a v Fischer. J e n a 1903.89 ( = N a t u r u. S t a a t , B e i t r ä g e z . n a t u r w i s s e n s c h a f t l .
Gesellschaftslehre.
3. T l . ) . N i e t z s c h e ist n u r einer u n t e r vielen, d e r e n W o r t e hier a n g e f ü h r t w e r d e n z u r S t ü t z u n g d e r A n s i c h t : „ W i r . . . sind auf f o r t s c h r e i t e n d e S o z i a l i s i e r u n g , d. i. z u n e h m e n d e Stärke und Leistungsfähigkeit der sozialen Organisation, angewiesen u n d d e m g e m ä ß auf eine M o r a l , w e l c h e die E n t f a l t u n g d e r h ö c h s t e n G e m e i n s c h a f t s k r ä f t e b e g ü n s t i g t . " D o c h b e m ä n g e l t d e r V e r f a s s e r an N i e t z s c h e , d a ß dieser v o n „ h y p e r a r i s t o k r a t i s c h e m G e i s t mißleitet . . ., sein A u g e n m e r k s o einseitig n u r auf die E n t f a l t u n g b e s o n d e r s h o c h g e a r t e t e r I n d i v i d u e n g e r i c h t e t " h a b e , „ d a ß er f ü r die Bed e u t u n g d e r s o z i a l e n K r ä f t e n a h e z u blind zu sein scheint". E r w ä h n u n g N i e t z s c h e s sonst auf S. 1 A n m . , 87, 182, 194 f. A n m . , 226, 231 A n m . , 243, 265.
89
Schallmayer, Wilhelm, geb. 1857 zu Mindelheim, Arzt in München.
1903 Eine „Prophetennatur" mit Jesus und Luther vergleichbar
107
Dass. m. verändertem Titel: Vererbung und Auslese in ihrer soziologischen und politischen Bedeutung. 2., durchwegs umgearb. u. verm. Aufl. 1910. Die auf Nietzsche bezüglichen Stellen so gut wie unverändert: S. 144 Anm., 311 Anm., 342 Anm., 420 Anm., 450 Anm., 451 f. Anm. Dass. m. nochmals verändertem Titel: Vererbung und Auslese. Grundriß der Gesellschaftsbiologie und der Lehre vom Rassedienst. Für Rassehygieniker, Bevölkerungspolitiker, Arzte, Anthropologen, S o z i o l o g e n , Erzieher, Kriminalisten, höhere Verwaltungsbeamte und politisch interessierte Gebildete aller Stände. 4. Aufl. Unveränderter Neudr. d. (1918 erschienenen) 3. Aufl. 1920. Die eigene Stellungnahme zu Nietzsche wird jetzt ausdrücklich: „Ich nannte Nietzsche unsern letzten Geistesheros. Für ihn solche Hochschätzung zu verraten, wirkt in den Augen regulärer Autoritäten entschieden degradierend. Diese Regulären haben nämlich mit so vielen Nietzscheverehrern etwas Bedauerliches gemein, nämlich daß ihnen Nietzsches Gedankenwelt ebenso unverständlich ist wie einem abgehetzten Kuli Wagners Götterdämmerung." (S. 98); Erwähnungen Nietzsches sonst auf S. 136 Anm., 168 Anm., 169, 199 Anm., 275, 290 Anm., 374 Anm., 408, 439 Anm., 441 Anm., 462. 261 Tappert, Wilhelm, Richard W a g n e r im Spiegel der Kritik. W ö r terbuch der Unhöflichkeit, enthaltend grobe, höhnende, gehässige und verleumderische Ausdrücke, die g e g e n den Meister Richard Wagner, seine Werke und seine Anhänger von den Feinden und Spöttern gebraucht wurden. Zur Gemütsergötzung in müßigen Stunden gesammelt. 2., bedeutend verm. u. umgearb. Aufl. d. „Wagnerlexikons". C . F . W . Siegel. Lpz. 1903. Unter den Stichwörtern: Abtun (S. 1), Décadent (S. 15) und Dilettant (S. 19) stehen Äußerungen Nietzsches gegen Wagner; unter: Pandur (S. 62) und Verrückt (S. 92) wird Nietzsche von dritter Seite mitangegriffen. 262 Pfannkuche (Osnabrück), Nietzsche — Prophet oder Philosoph? (DPB1 Bd. 36, 1903, S. 1 0 6 - 1 0 9 ) . Eine Besprechung des Werkes von Vaihinger (Nr. 183), das, obwohl es „Beachtung" verdiene und „neue Gesichtspunkte zum Verständnis Nietzsches" biete, „in der Gesamtauffassung zum entschiedensten Widerspruch" herausfordere. Nietzsche sei durchaus eine „Prophetennatur" gewesen und somit mit Jesus und Luther vergleichbar. So verstanden liefere er „eine Fülle positiv-fruchtbarer Anregungen zur Herausarbeitung des reinen Christentums Christi sowohl in religiöser wie vor allem in ethischer Beziehung". Von einer solchen Warte aus lassen sich seine Ausfälle gegen Sozialismus und Demokratie, die er beide nicht verstanden habe, dennoch eher würdigen. S Aus Friedrich S. 225 —236).
Nietzsche's
Nachlaß.
(NDRs
14. Jg.,
1903,
108
1903 Das „Evangelium der Menschheitserhöhung"
Vorabdruck von Stellen, die darauf im 14. Bande der Gesamtausgabe (GXIV) erschienen sind als Nr. 285, 287, 288, 292, 308 II—XII, 3 1 0 - 3 1 4 , 316, 322, 323, 325, 326, 329, 330.
263 H e i n z e , Paul, Geschichte der D e u t s c h e n Literatur von G o e t h e s T o d bis zur Gegenwart. M. e. Einl. üb. d. dt. Lit. ν. 1800—1832. Vollst, umgearbeitete, unter bes. Berücksichtigung d. jüngsten Vergangenheit ergänzte u. bedeutend verm. 2. Aufl. F. A. Berger. Lpz. 1903. In der zusammen mit Rudolf Goette verfaßten, 1890 erschienenen ersten Auflage des Werkes wurde Nietzsche nicht erwähnt. Behandelt wird Nietzsche im ersten Abschnitt: Die Lyriker und Epiker neuzeitlicher Geistesrichtung, des zweiten Teiles: Neuer Sturm und Drang, auf S. 466 f.: „Freilich hat fast zur selben Zeit oder doch nur wenig später (d. i. als der Naturalismus) die Philosophie Friedrich Nietzsches mit ihrem in der Herrenmenschenmoral zur höchsten Potenz gesteigerten Individualismus in der neueren Literatur gleichfalls eine starke, ja gegenwärtig überwiegende Anhängerschaft gewonnen." Und auf S. 484 f. als Wegweiser des Symbolismus: „Dieser Einfluß vermochte um so tiefer Wurzel zu schlagen, als Nietzsche mit der ganzen überlegenen Kraft eines echten Genies für das Sonderrecht des Individuums gegenüber der Masse der ,Vielzuvielen' zu einer Zeit eintrat, deren nervös zerfahrene und herabgedrückte Stimmung die von Nietzsche verkündete Lehre einer jenseits der Grenzen von Gut und Böse auf die Umprägung aller bisher gültigen Werte sich stützenden rücksichtslos egoistischen Herrenmoral, eines in geistiger wie leiblicher Gesundheit strotzenden Übermenschentumes als erlösendes Evangelium willkommen hieß . . . Für uns kommen neben seiner groß und gewaltig angelegten, von biblischprophetischem Schwünge getragenen Prosadichtung, dem Evangelium der Menschheitserhöhung ,Also sprach Zarathustra' (1891), das die dunkelsten Rätsel des Daseins zu erfassen strebt, in die tiefsten Abgründe religiöser Mystik hinabtaucht, eigentlich nur seine .Gedichte und Sprüche' (1898) und von diesen vorzugsweise wieder die ,Dionysos-Dithyramben' in Betracht, deren vom Rausche des erregten Gefühls beflügelter Hymnenschwung ungeachtet ihres ureigenen Ideengehaltes vielfach an gleichartige Schöpfungen althellenischer Dichter erinnert."
264 anonym, (LCBI Nr. 10 v. 7. 3. 1903, Sp. 349 ff.). Besprechung des 11. und 12. Bandes der Gesamtausgabe in der „zweiten, völlig neu gestalteten Auflage" (GXIa u. GXIIa) sowie des 15. Bandes (GXV). Die ersten beiden Bände werden kaum mehr als angezeigt, doch wird letzterer eingehend zerpflückt. Es handele sich hierbei zwar um Gedanken, die „meist alte Bekannte" seien, doch stolzieren sie „nicht in den schimmernden Bühnengewändern, in denen wir sie sonst zu schauen gewöhnt sind, sie gehen noch im Negligé, sie studieren erst ihre Rolle . . . wer bisher angesichts der früheren Werke N.s in naivem Glauben gemeint hatte, das ernste Ringen einer großen Seele um die Rätsel des Daseins zu schauen, entdeckt hier zu seinem Befremden bloße Schauspielerei."
1903 Buddha und Nietzsche: „traumversunkene, weltflüchtige Idealisten"
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265 Falke, Robert, D e r Buddhismus in unserem modernen deutschen Geistesleben. Eine Studie. Eugen Strien. Halle a. S. 1903. 74 S.90 Uber Nietzsche im ersten Abschnitt: Der Buddhismus in unserer deutschen Philosophie, S. 20 — 24, nach Schopenhauer und Eduard von Hartmann, als letzten der drei behandelten Philosophen. Verfasser meint, die Nietzschesche Weltanschauung sei „bedeutend von buddhistisch-Schopenhauerschen Geiste durchtränkt", nur sei die „rücksichtslose Weltbejahung . . . entschieden viel rationaler als die buddhistische Negation". Beide Buddha und Nietzsche seien „traumversunkene, weltflüchtige Idealisten gewesen, die ihr Glück auf den Trümmern dieser von ihnen verachteten Welt suchten und weder für sich, noch für andere gefunden haben". In der „neobuddhistischen Weltanschauung" erblickt der Verfasser „einen nicht zu unterschätzenden Gegner . . ., auf dessen energischen Angriff wir uns mehr und mehr rüsten müssen". 266 Oehler, Richard, Nietzsches Verhältnis zur vorsokratischen Philosophie. Halle 1903. 2 Bll., 53 S." ( = Diss. d. Univ. Halle-Wittenberg). Verfasser geht von der Grundeinstellung aus, daß das klassische Altertum „eine nachhaltigere Einwirkung auf Nietzsche ausgeübt" habe als die von Wagner und Schopenhauer ausgehende: „Seine grundsätzliche Stellung . . . zum klassischen Altertum, insonderheit zu den Griechen" habe sich während „seines ganzen Lebens nicht wesentlich geändert". Auch seine „antichristliche Stimmung" hänge „mit seiner Hinneigung zum klassischen Altertum, mit seinem antiken Empfinden" zusammen. Der vorliegende, „mehr vorbereitende Teil der Untersuchung", auf deren Erscheinen als Buch dann hingewiesen wird, gipfelt in dem Satz: „Zeitlebens hat Nietzsche die Meinung behalten, daß die vorsokratischen Philosophen ungeheure Persönlichkeiten, große Menschen waren." 266a Dass, als S. 3 — 53 von Verfassers: Friedrich Nietzsche und die Vorsokratiker (Nr. 387), unverändert. 267 Landsberg, H a n s , Nietzsche-Briefe. ( N Z g Nr. 93, 1903). Besprechung des zweiten Bandes der Briefe (P): „ . . . diese beiden groß angelegten Naturen stellen einmal einen Typus der Freundschaft dar, wie er wohl in Sagen und Gedichten mannigfach vertreten, im modernen Leben aber fast unerhört ist." Gegen Ende versetzt Verfasser dem jüngst erschienenen Buch von Möbius (Nr. 187) einen Hieb: „Gegenüber dieser tiefen und bedeutenden Bereicherung der Nietzsche-Literatur" habe seine Schrift „nur einen sehr problematischen Werth"; „Gerade die Briefe, die bis ins Jahr 1888 eine absolute Geistesklarheit verrathen, bieten jetzt den schönsten Gegenbeweis der kühnen Hypothese." 90
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Falke, Robert (Dinslaken 12. 3. 1864 — Wernigerode 27. 5. 1948), Pfarrer, zuletzt H o f prediger. Zum Schluß des beigegebenen Lebenslaufs heißt es, daß „die Anregung zur vorstehenden Arbeit" dem H e r r n Professor Vaihinger, der „mit seinem Rate" auch die Ausführung unterstützt habe, zu verdanken sei; Oehler, Richard (Heckholzhausen 27. 2. 1878 — Wiesbaden 13. 11. 1948), N e f f e Nietzsches.
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1903 „ein gebrochener, bewußter Dekadent"
268 Wiecki, Ernst von (Dr. phil.), Carlyle's „Helden" und Emerson's „Repräsentanten" mit Hinweis auf Nietzsche's „Ubermenschen". Kritische Untersuchungen. Bernh. Teichert. Königsberg i. Pr. 1903. 1 Bl., 74 S., 1 Bl. ( = Literatur).' 2 Der „Hinweis auf Nietzsche's ,Übermenschen'" macht den vierten und letzten Teil der Arbeit (S. 71 —74) aus, also knappe vier Seiten; sonst wird Nietzsche überhaupt nicht erwähnt. Obwohl Nietzsche „in vieler Beziehung" an Emerson erinnere, sei er „ein Schwärmer, ein Phantast, ein Künstler mit geistreichen Ideen und eigenartigen Einfallen", „ein gebrochener, bewußter Dekadent". — „Hoch über den Übermenschen stellen auch Carlyle und Emerson — d e n M e n s c h e n , und dabei wird es wohl bleiben müssen!" Im Jahre 1903 vertonte Ε. N . von Reznicek den Gedichtkreis „Ruhm und Ewigkeit" aus den „Dionysos-Dithyramben": „Auf der Partitur, März 1903, nennt sie Reznicek , M o n o l o g e ' . . . D e m Dramatiker in Reznicek mußten diese Texte willkommen sein . . . D i e gesteigerte Rede Nietzsches bot reichste Anregungen für musikalische Ausdeutung, und so geschah es auch; daher das Orchestergewand dieser Gesänge mit dem man allen Erregungen des Dichters folgen konnte." 93 269 Lhotzky, Ubermensch und Herdenmensch. Auch eine Geschichte. ( D S Z 1. Bd., 1903, S. 154—174). 9 4 Erzählt eine Geschichte vom Übermenschen „Kraft" und Herdenmenschen „der Junge" als Fortsetzung der Geschichte um Kain und Abel. Einstellung des Verfassers wird überaus deutlich dargetan: „Der Übermensch haßte, verfolgte und zertrat stets den Herdenmenschen. Er fürchtete ihn. Sein letztes Ziel hat er selbst nie erreicht. Aber er fürchtete, der wahre Fortschritt könne doch vielleicht vom Herdenmenschen kommen, und der Unterlegene doch noch obsiegen. Darum verfolgte er ihn, weil er ihn fürchtete. Denn es haßt nur, wer Furcht hat." 270 Ruppin, Dr. Arthur, M o d e r n e Weltanschauung und N i e t z sche'sche Philosophie. (Geg 32. Jg., Bd. 63, Nr. 10, 1903, S. 147 ff.). 95 Dem Verfasser sind der Staat und das gesellschaftliche Zusammenleben der Menschen die beiden, eine moderne Weltanschauung bestimmenden Mächte. Hinzu kommt „die Idee von der Fortentwickelung des Menschen über seinen heutigen Artcharakter hinaus", welche sowohl von Zoologen und Anthropologen wie auch von
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Die Arbeil war zunächst als Dissertation der Universität Königsberg (R. L. Leupold. 2B11., 53 S., IBI.) erschienen, doch reichte diese nur bis S. 53 der vorliegenden Fassung, enthielt also keine Erwähnung Nietzsches; Wiecki, Ernst von, geb. am 22. 9. 1879 zu Danzig. Reznicek, F. v., Gegen den Strom. Leben und W e r k von E. N. v. Reznicek. Amalthea-Vlg. Zür., Lpz., Wien (1960), S. 270 f.; Reznicek, Emil Nikolaus Frhr. v. (Wien 4. 5. 1860 Berlin 2. 8. 1945), Tonkünstler. Lhotzky, Heinrich (Klaußnitz b. Mittweida/Sachsen 21.4. 1859 — Ludwigshafen a. Bodensee 24. 11. 1930), bis 1901 Pfarrer, seitdem ausschließlich schriftstellerisch tätig, gab 1904—1911 die Vierteljahresschrift „Leben" heraus. Ruppin, Arthur (Rawitsch 1. 3. 1876 — Jerusalem 1. 1. 1943), Gesellschaftswissenschaftler.
1903 „immer mehr semitische ,Werthe'"
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Nietzsche vertreten werde. Nur müsse man Nietzsches Lehre vom Übermenschen in Sachen Staat und soziales Leben „rectificiren": „Die in der Gegenwart wirksame Tendenz, den Staat zu stärken", stehe mit dem „Ideal des Übermenschen trotz Nietzsche nicht im Widerspruch". 271 Pflaum, Chr. D . , ( Z P h K Bd. 122, H . 2, 1903, S. 204 f.). Eine Besprechung des Werkes von Eisler (Nr. 192), der „eine sehr umständliche Beweisführung für die Berechtigung der Nietzsche als einem P h i l o s o p h e n nun ziemlich überall begegnenden Zurückweisung" liefere. Er benutze die Gelegenheit, „seine eigenen bezw. Wundts Anschauungen ausgiebig mitzuteilen". 272
Seydl, Universitätsprof. Dr. Ernst (Wien), Friedrich N i e t z s c h e
und sein „Antichrist". ( C S E Z g 6. Jg., Nr. 7 v. 1. 4. 1903, S. 1 0 1 - 1 0 6 ) . Drei Grundzüge bemerke man in allen Schriften Nietzsches: „einen atheistisch-antireligiösen, einen individualistisch-antidemokratischen und einen autonomistisch-antimoralischen". Es sei also „klar, daß Nietzsche im Banne der Zeitirrtümer und Zeitströmungen" stehe. Keiner der Kerngedanken im „Antichrist" vermöge „vor dem Forum ehrlicher Kritik standzuhalten". Seine Lehre sei „höchstens dazu geeignet, ein Geschlecht abnorm Denkender, abnorm Wollender zu erzeugen". 2 7 3 Golther, W o l f g a n g ( R o s t o c k ) , N i e t z s c h e und Rohde. (BB 26. Jg., 1902, S. 1 5 2 - 1 5 7 ) . Eine recht eigenartige Besprechung des Nietzsche-Rohdeschen-Briefwechsels (P), in der versucht wird, Rohde, am Maßstabe der Wagnertreue gemessen, höher als Nietzsche einzustellen: „Nietzsche ist uns verehrungswürdig als hochgesinnter, furchtloser Vorkämpfer für den Bayreuther Gedanken. So erscheint er in den Briefen bis 1877, so lebt er einzig im Andenken seines Freundes Erwin Rohde, dessen wahrhaft edle Persönlichkeit eine wohlthuende Ergänzung zu Nietzsche ist. Schade, daß wir von Rohde keine eigentlichen Wagnerschriften besitzen . . . In Rohde lebte das bessere Teil von Nietzsche ungetrübt und unverdorben fort." Mit Erwähnungen Lipiners und Rées nämlich habe Nietzsches Wandlung sich angekündigt: „Bei der ,Umwertung' treten doch schließlich immer mehr semitische ,Werthe' an Stelle der ursprünglich klar und hell erschauten deutschen Ideale." 274 a n o n y m , „ D e r Antichrist" Friedrich N i e t z s c h e s . (DZJm Nr. 14 f., 1 7 - 2 1 , 23 f. u. 26 v. 4., 11., 25. 4., 2., 9., 16., 23. 5., 6., 13. u. 27. 6. 1903, S. 1 5 7 - 1 6 0 , 172 ff., 1 9 6 - 1 9 9 , 211 ff., 221 ff., 231 ff., 2 4 3 ff., 271 ff., 2 8 1 - 2 8 4 , 307 ff.). Nach einem Umriß der Werke und des Lebens bis auf den „Antichrist" befaßt sich Verfasser mit diesem und meint, daß nach anfänglicher Verblendung „eine nähere Untersuchung" ergebe, daß man „den ganzen Angriff" auf das Christentum „als im Grunde verfehlt und die Kampfesweise als unerlaubt" werde „brandmarken" können. „Das Mißverständnis zwischen Lehre und Leben war bei ihm so groß, daß man den ganzen ^Antichrist' als reines Verstandesphänomen ansehen kann . . E r hibe „seine Lehre mit seinem Leben widerlegt". Die Ansichten Nietzsches werden immer wieder als „lächerlich, grotesk", als „unbewiesene Verdächtigungen, gemeine Beschimpfungen, fanatische Bosheiten, wahnsinnige Verranntheiten, Torheiten"
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gekennzeichnet. Im Zusammenhang mit der Ansicht, daß „eine Kritik des .Antichrist' . . . im Auge zu behalten" habe, „daß eine Widerlegung Nietzsches mit wissenschaftlichen Mitteln allein unmöglich ist", macht Verfasser das Geständnis: „Damit, daß wissenschaftliche Beweise für und gegen das Christentum von untergeordneter Bedeutung sind, dürfte Nietzsche recht haben." — „Sein geschriebenes Wort . . . ist raffiniertester Virtuosenstil, wie er in der ganzen deutschen, ja vielleicht der Weltliteratur, einzig dasteht." Gerade darum sei aber „die Möglichkeit des Eindringens ins Volksbewußtsein für die Nietzscheschen Gedanken ausgeschlossen". „Unsere moderne Kultur" habe überhaupt „in ihrer Gesamtheit . . . keinen Schaden von Nietzsche zu fürchten". — „Würde dagegen Nietzsche ein Anlaß werden, daß sich die moderne Kultur wie an ihrem Gegensatz orientiert und ihre Hauptaufgabe, die reinste Erfassung und Herausbildung des christlichen Ideals, schärfer ins Auge faßt, so hätte sie auch einen Nietzsche nicht umsonst hervorgebracht." 275 Richter, Raoul (Privatdozent a. d. Univ. Leipzig), Friedrich Nietzsche, sein Leben und sein Werk. 15 Vorlesungen gehalten an der Universität Leipzig. Dürr. Lpz. 1903. V I S . , 1 Bl., 288 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Eine eingehende, sympathische Darstellung des Lebens sowie der Entwicklung der Lehren. Dem Verfasser ist „der Schritt, durch den er sich den Einlaß vom Positivismus zu erneutem Idealismus, von der Kritik zu erneutem Enthusiasmus eroberte", das Wichtigste, und dieser werde „von nun an immer wieder den Gegenstand erneuter Prüfung, ernstesten Nachsinnens, unvergeßlichen Gedenkens bilden". Den „eigentlichen Rumpf dieser Philosophie" sieht Richter im Gegensatz zu Zeitler (s. Bd. I) in der „Werttheorie oder Ethik" Nietzsches, zu der sich „Erkenntnistheorie und Metaphysik" wie „Kopf und Schwanz" verhalten. Seine größte geschichtliche Bedeutung werde wohl in dem „Anreiz" liegen, „den er zur Entstehung einer größeren und nun wahrhaft wissenschaftlichen Ethik der Zukunft geben wird". Auch habe man „kein wissenschaftliches Recht, den Ausbruch der Geisteskrankheit vor das Jahr 1889 zu legen". 96 275a Dass. 2., umgearb. u. verm. Aufl. (es sind aber jetzt:) 16 Vorlesungen. 1909. VIII, 356 S. Die Darstellung des Lebens ist um etwa 10 Seiten erweitert, wobei die inzwischen erschienene Literatur zur Ergänzung herangezogen wurde. Bei den „Entwicklungsphasen" des Nietzscheschen Werkes verschiebt Verfasser nur den Einschnitt von 1882/83 um ein Jahr vor auf 1881/82. Die früheren elfte und zwölfte Vorlesungen sind an Umfang verdoppelt und in drei aufgeteilt (11 —13), so daß die
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Zum Empfang des Werkes schrieb Hofmannsthal an den Verfasser am 7. 7. 1903: „Sie werden mir wohl erlauben, nicht nur die bezeichneten Kapitel, sondern das ganze Buch vom Anfang bis zum Ende mit großer Aufmerksamkeit zu lesen, denn ich wüßte nichts, was mir nützlicher sein könnte als im Zusammenhang über eine geistige Erscheinung bekehrt zu werden, die mehrmals, besonders im frühen Entwicklungsalter, imponierend und aufregend in mein Leben getreten ist, ohne daß diese Eindrücke in mir eine rechte Kontinuität gefunden h ä t t e n " (H. v. H. Briefe 1900—1909. Bermann-Fischer. Wien (1937), S. 117 f.).
1903 „Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit"
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weitere Entsprechung der Vorlesungen sich verschoben hat (z.B. 15== 16). Die 14. Vorlesung ( = 15.), um „die sachliche Bedeutung dieser Philosophie", ist beinahe verdreifacht. Verfasser findet, daß inzwischen „die laute und revolutionäre Wirkung dieser Gedanken ihren Höhepunkt bereits überschritten" habe, jedoch beginne „erst die stille reformatorische ihren Gang". 275b ändert. 275c
Dass. F. Meiner. 1917. 3., m. d. 2. gleichlautende Aufl. UnverDass. 4. Aufl. 1922. VI, 356 S. Unverändert.
GXIII Nachgelassene Werke. / V o n / Friedrich Nietzsche. / Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit. / ( 1 8 8 2 / 8 3 — 1888.) / 1. und 2. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. N a u m a n n / 1 9 0 3 . 1 Bl., X I I S. ( = Inhalt u. Vorwort v. E . F ö r s t e r - N i e t z s c h e ) , 1 Bl., 383 S., 8 Bll. ( = Vlgs.-anz.). S. 365 —383 = Nachbericht, Aphorismen-Verzeichnis u. Anmerkungen d. H g . P. Gast u. A. Horneffer). ( = Nietzsche's Werke. Zweite Abteilung. Bd. XIII. 5. Bd. d. 2. Abth.). GkXIII
Dass. 3. und 4. Tausend.
276 Overbeck, Franz, Uber die Christlichkeit unserer heutigen T h e o l o g i e . 2., um eine Einleitung u. e. N a c h w . verm. Aufl. C. G. Naumann. Lpz. 1903. In der Einleitung berichtet der Verfasser über Bekanntschaft und Umgang mit Nietzsche in der Zeit der Entstehung des vorliegenden Werkes (S. 13—19): „Indessen auch einen Einfluß so ganz unabsehbarer Art sollte ich noch auf Basler Boden erfahren; es ist der stärkste der Art, der mich auf meiner Wanderschaft durch das Leben, und zwar nel mezzo del cammin, getroffen; er hat auch an meiner .Christlichkeit' mitgeschrieben. Ich habe meine Freundschaft mit Friedrich Nietzsche im Sinne." 277 Baumann, Dr. J. (o. Prof. d. Philos, a. d. Univ. Gött.), Deutsche und außerdeutsche Philosophie der letzten Jahrzehnte dargestellt und beurteilt. Ein Buch der Orientierung auch für Gebildete. F. A. Perthes. Gotha 1903. VIII, 533 S., 1 Bl. Über Nietzsche auf S. 181—236; von 39 behandelten Philosophen wird hinter W. Ostwald Nietzsche somit der größte Raum gewidmet. Ihn könne man schon „von 1870 an nicht unter die geistig Gesunden rechnen", und, obwohl Kinder und Narren „die Wahrheit" reden, müsse, „was sie sagen, auch die nachträgliche Probe der Reflexion bestehen", und gerade das sei „bei Hauptpuncten Nietzsches nicht der Fall". 278 anonym, Friedrich Wilhelm Nietzsche — ein modernes Irrlicht. ( A P Z g Nr. 87 v. 18. 4. 1903). Nietzsche ist dem Verfasser einer, dessen „wüthender H a ß gegen das Christenthum" und dessen „Sittenlehre, welche die Selbstsucht verherrlicht und den Reichen und Mächtigen alles für erlaubt erklärt", den Anlaß gegeben haben, „daß so viele im
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1903 „ein genialer Darsteller der Rauschgefühle"
liberalen Lager ihm zujubelten". Die eigentliche Schuld an seiner Verirrung tragen „die herrschende liberal-protestantische Philosophie und Theologie", die ihn „zur Verachtung des Christenthums" geführt haben. 279 Ziegler, Prof. Dr. Theobald (Straßburg), Nietzsche und kein Ende. (Zgt Nr. 17 f. v. 27. 4. u. 4. 5. 1903). Die Überschrift sei „ernsthaft Nietzsche selbst gegenüber" gemeint, wie Goethe es in bezug auf Shakespeare geprägt hatte, doch „ironisch" den „Nietzscheanern" gegenüber. Nietzsche sei „ein durch und durch g e n i a l e r Mensch" gewesen, „aber freilich nicht von der gesunden und normalen Genialität eines Goethe oder Bismarck". Nicht als großer Denker wirke er, sondern als „großer Künstler, ein Künstler der Sprache und ein genialer Darsteller der Rauschgefühle". 280 Blaß, F. (Halle), Antike Grundlage modernster Philosophie (F. Nietzsche). (Ref 2. Jg., 1903, S. 2 1 0 - 2 1 4 , 2 3 3 - 2 3 8 ) " Zu den „dämonischen Naturen", zu deren Erklärung und Darstellung Plato und Goethe herangezogen werden, zähle Nietzsche nicht, denn er habe „in zwanzig Jahren des Philosophierens drei verschiedene Philosophien" hervorgebracht und noch dazu „Gott den Krieg erklärt"; „Nicht Goethe und nicht Shakespeare und nicht Immanuel Kant und nicht Plato und nicht Homer usw." hätten so etwas getan. Er gehöre zu denen, „welche lernen und beeinflußt werden, nicht von höheren Mächten, sondern von Menschen, und nun bald so, bald so denken, je nachdem dieser oder jener Einfluß sie beherrscht". Solche Einflüsse sucht Verfasser dann in Schopenhauer, Darwin und vor allem in der „antimoralischen Lehre der Sophistik", doch wird letztere weitgehend freigesprochen: „Die Musen sind wahrhaftig unschuldig an der Nietzscheschen Antimoral." Weitaus wichtiger als die Ansichten des Verfassers sind einige wenige lebensgeschichtliche Einblicke, die er seiner Aburteilung einflicht: „Als Genius kann ich . . . den . . . Mann nicht ansehen; den Eindruck hat er auch keineswegs auf mich gemacht, als ich vor mehr als dreißig Jahren ihn in Naumburg a. S. kennen lernte. Die klassische Philologie . . . zog mich zu ihm und ließ mir seinen Umgang begehrenswert erscheinen, so lange der Philologe blieb, denn als solcher imponierte er mir. Als er aufhörte das zu sein, und Philosoph wurde, unter dem Einfluß erst Schopenhauers, dann Rieh. Wagners, da hörte auch der Zauber auf! Von der Irreligiosität trat in seiner philologischen Zeit noch kaum etwas hervor . . . " — „Aus einem dort (d. i. in Naumburg) gehaltenen Vortrage eines kundigen Mannes weiß ich, daß er als Knabe nichts lieber tat, als Choräle spielen (wie er denn hervorragend für Musik begabt war), und daß, als er geistesschwach geworden war und nun wieder von seiner Mutter wie vordem als Kind gepflegt wurde, das Kind auch in dieser Hinsicht wieder hervortrat: er spielte wieder Choräle, und als er einmal auf den Kirchhof geführt war, sagte er beim Eintritt: Hier muß man wohl den H u t abnehmen und ein Vaterunser beten." Wahrscheinlich in die Studentenzeit ( 1 9 0 2 — 1 9 0 5 ) des Erzählers fällt folgende recht zufällige und flüchtige Begegnung mit dem Werke N i e t z sches : 97
BÜß, Friedrich Wilhelm (1843—1907), klassischer Philologe, promovierte 1863 zu Bonn.
1903 D e r „federfertige Schwächling"
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Als mein V a t e r einmal einen v o n mir im Manifeststil geschriebenen Brief gelesen hatte, schrieb er mir b e s c h w ö r e n d , ich m ö c h t e ein Jahr lang keinen N i e t z s c h e lesen. Ich hatte noch niemals N i e t z s c h e gelesen. N u n las ich ihn natürlich. Aber nicht viel, nur Zarathustra, dessen A n f ä n g e ich so langsam und so o f t las, daß ich niemals g a n z durchkam." 98 281 D(riesmans), H(einrich), ( E W 5. Jg., S. 47 f.). Begrüßt die Schrift von Kar! Friedrich (Nr. 190) ob „Natürlich hindert ihn sein Offenbarungsstandpunkt, in als was er gewertet werden muß: den Bahnbrecher eines
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v.
1.5.1903,
ihrer naiven Redlichkeit: Nietzsche das zu finden, höheren Menschentums."
282 Glarner, J., D e r Aphorismus bei N i e t z s c h e . ( A D U Z g 17. Jg., Nr. 9 f. v. 1. u. 15. 5. 1903, S. 68 ff., 76 f.). Versucht die „so plötzliche Wandlung in Nietzsches Schreibweise", welche in „Menschliches" zu Tage getreten, zu ergründen. Zunächst seien „es wohl äußere Ursachen gewesen . . ., die ihn verhinderten, ein logisch und künstlerisch ganzes und einheitliches, in sich abgeschlossenes Werk zu schreiben". Doch als „einen der entschiedensten Gründe" müsse man den „übergroßen, gleichsam überwältigenden Reichtum der Gedanken, welcher eine breitere, gründlichere und systematische Darlegung verbietet", anführen. Auch der Einfluß der französischen Meister möge „ein klein wenig" mitgewirkt haben. Erst im Jahre 1882, nach Eintritt „einer wesentlichen Besserung" in seinem Befinden, „sehen wir den Philosophen in der That wieder nach der Gestaltung eines Ganzen, eines systematisch und übersichtlich geordneten Buches streben", nur sei er schon „zu sehr an die bisherige Methode des Schaffens gewöhnt" gewesen, „um wieder die H ö h e zu erreichen, welche er in der Jugendzeit mit ihren frischen, enthusiastischen .Unzeitgemäßen Betrachtungen' eingenommen hatte". 2 8 3 T e s c h n e r , Karl (Aus d e m „Quellwasser"), Friedrich N i e t z s c h e als Anarchist. ( D H V N r . 8 v. Mai 1903, S. 2 2 7 — 2 3 0 ) . Der betont christliche Verfasser meint, „dieser federfertige Schwächling" — „daß er ein Schwächling war, hat die Zerrüttung seines Gehirns erwiesen" — habe so ein Gefolge, „weil er die wilden Triebe, die Zügellosigkeit und die unbeschränkte Genußsucht" predige. Seine „ganze philosophische Erkenntnis'" sei aber „nicht einen Schuß Pulver wert, weil sie nicht auf Menschenerkenntnis fußt". 2 8 4 Joël, Karl, N i e t z s c h e und die Romantik. ( N D R s 14. Jg., H . 5 v. Mai 1903, S. 458 — 501). An den Ansichten der Romantiker, hauptsächlich denen von Fr. Schlegel und Novalis, sowie an denen von Nietzsche stellt Verfasser zuerst das Grundsätzliche fest, um dann die tiefe Verwandtschaft hervorzukehren: „Sehnsucht und Liebe, die
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A. B., Aus nächster N ä h e . Lebenserinnerungen 1884—1927. Dt. Vlgs.-anst. St. (1966), S. 6 1 ; Brecht, Arnold, geb. am 26. 1. 1884 zu Lübeck, 1921 — 1 9 2 7 Ministerialdirektor im Reichsministerium, wanderte 1933 nach den U S A aus, Staatswissenschaftler.
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1903 „Nietzsche und das ,neue W e i b ' "
durch Spiel und Spott übergehen in H a ß und Krieg und umgekehrt — auf dieser Gefühlsskala bewegen sich die Romantik und Nietzsche . . . vor hundert Jahren wäre Nietzsche wohl Romantiker gewesen wie die Romantiker heute Nietzscheaner." Wolle man sie verstehen, so höre man in ihnen „die Stimme der Jugend, der ewigen Jugend". (S. a. Nr. 436, S. 1 - 2 0 1 ) . 285 Ular, Alexander (Paris), Jenseits von Nietzsche. (dZeit Nr. 448 v. 2. 5. 1903, S. 55 ff.). Erst „Ein Denker" habe bis jetzt „jenseits von Nietzsche" gestanden, und das sei „der große Chinese" Lao-Tse. Im Gegensatz zu Nietzsche habe er nicht wie dieser „in erschütterndem Kampf, sondern in lächelnder Überlegenheit den Prachtbau unserer albern zusammengeträumten Geistesgröße dem Staube" gleichgemacht. Doch erst die Vorstellung von der Entwicklung und „mit dieser wieder Nietzsche" haben das Verständnis für ihn gebracht: „Von Lao-tse zu Nietzsche beschreibt die Philosophie eine Spirale. Beide sind einander nahe. Bei welchem ist aber der Anfangspunkt, bei welchem der Endpunkt der Curve? Man könnte zweifeln." Die Darstellung ist eine Art Selbstanzeige folgenden Werkes: Die Bahn und der rechte Weg der chinesischen Urschrift des Lao-tse in deutscher Sprache nachgedacht von Alexander Ular. Insel. Lpz. 1903. 45 Bll. Erst der zweiten Auflage des Werkes (1912. 107 S., 1 Bl.) fügte Ular ein N a c h w o n bei, in das er den Vergleich Nietzsche— Lao-ste fast unverändert aufnahm. 286 Marriot, Emil, Nietzsche und das „neue Weib". ( N W T Nr. 121 v. 3 . 5 . 1903, S. 2 f.). Das „neue Weib" habe „nicht mit Unrecht" Nietzsches „grimmigen Spott" herausgefordert. Er gehe aber damit zu weit und verwechsele „bedauerliche und abgeschmackte Auswüchse . . . mit der eisernen Notwendigkeit, die den Frauen den Weg zur Arbeit, zur Bildung und zur Aufklärung weist". Er betrachte die Frau nach „Männerart". Was ihm vorgeschwebt habe, sei „das reizvolle, junge Weib, die ,süße Bestie'", doch gebe es „Legionen Frauen und Mädchen, die nicht schön, nicht reizend sind" und „die selber zusehen müssen, wo sie bleiben". Schließlich sei Nietzsches Frauenideal „nichts anderes als das Haremsweibchen". Doch werde es keinem mehr gelingen, „orientalische Zustände bei uns einzuführen". Etwas versöhnlich klingt die Versicherung, daß es „trotz alledem . . . den geistig arbeitenden Frauen im allgemeinen fern" liege, „sich mit den Männern messen oder gar sich über die Männer stellen zu wollen"." 287 (Trog, Hans), Malwida von Meysenbug und Friedrich N i e t z sche ( N Z Z g 124. Jg., Nr. 122 v. 3. 5. 1903). Eine Art Nachruf auf den Tod der Malwida von Meysenbug, in dem unter Anführung ihrer 1893 erschienenen „Erinnerungen an Friedrich Nietzsche" (s. Bd. I) und Stellen aus den ersten beiden Briefbänden das Verhältnis zu Nietzsche, ohne Neues zu bringen, beleuchtet wird.
99
Marriot, Emil (eigentl. Emilie Mataja, Wien 20. 11. 1855 rin.
ebd. S. S. 1938), Schriftstelle-
1903
117
288 Stöcker, Dr. H e l e n e , D e r Wille zur Macht. (J 1903, Nr. 18, S. 306 ff.). Besprechung des 15. Bandes der Werke (GXV), bei der einiges wenige an Nietzsche als beschränkt angesehen wird. Es sei mit ihm aber „aller Pessimismus und Nihilismus uberwunden", und somit habe „niemand mehr das Recht, Nietzsche nur einen verneinenden, zersetzenden Philosophen zu nennen". 289 Wiesenthal, Oberi. Dr. Max, Friedrich Nietzsche und die griechische Sophistik. Vortrag, gehalten i. d. Ortsgruppe Barmen d. Niederrheinischen Zweigverbandes d. Gymnasialvereins. ( D H G 14. Jg., 1903, S. 1 5 3 - 1 7 2 ) . In der „bunten Gedankenwelt" Nietzsches findet Verfasser die Vorstellung einer ewig gleichen Wiederkunft aller Dinge „als das seltsamste und originellste ihrer Gebilde". Doch stelle sich diese „als ein Wiederaufblitzen der Erinnerung an frühere Forschungen", nämlich an die Lehre von Pythagoras, Heraklit, den Stoikern und Schopenhauer, und mit letzterem an den „uralten indischen Seelenwanderungsglauben", dar. Daher unternimmt es der Verfasser, Nietzsches „eigene Stellung und Wirkung innerhalb des modernen Geisteslebens dadurch zu veranschaulichen, daß wir ihn mit verwandten Erscheinungen der hellenischen Kulturentwicklung zusammenstellen". In der nachperikleischen Zeit habe sich in Athen der Gegensatz zwischen Aristokratie und Demokratie verschärft. Die Besitzenden suchten ihren Einfluß durch eine neue Art Bildung zu erhalten und zu mehren, und diese neue wissenschaftliche Bildung habe in den Sophisten „ihre Verbreiter" gefunden: „Durch den sophistischen Unterricht verband sich dann die Aufklärung vollends mit der politischen Aristokratie . . ." Ebenso wie diese „Wanderlehrer" Kinder des voraufgehenden „naturphilosophischen" Jahrhunderts, das zugleich „materialistisch", „atheistisch", „intellektualistisch" und „aristokratisch" gewesen, so sei auch Nietzsche das Kind des ähnlich gearteten 19. Jahrhunderts. Aber auch Plato zähle zu den Vorgängern, denn Nietzsches Andeutungen „über seine aristokratische Gesellschaftsordnung der Zukunft . . . ergeben fast Zug um Zug eine getreue K o p i e d e s p l a t o n i s c h e n S t a a t e s " , sowie auch Zeno, dessen „cynisch-stoische Philosophie auf die Sophistik" zurückgehe. Erst Sokrates habe den Ausweg „aus der Verwirrung der Geister" gefunden, indem „er in sich schärfstes kritisches Denken mit abgeklärter Sittlichkeit vereinigte", und das humanistische Gymnasium könne „den Weg für den neuen Sokrates freimachen mit der Waffe, die der alte Sokrates uns hinterlassen hat, seiner Methode". 289a Dass. Sonderabdr. C. Winter. Heidelberg 1904. 1 Bl., 20 S. U n verändert. 290 Meschke, Paul, Nietzsche's Briefe. ( G e g 32. Jg., Nr. 16, S. 246 bis 249). Besprechung der beiden ersten Briefbände: „In diesen Briefen tritt uns ein großer Geist und edler Mensch unverhüllt entgegen."
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1903 „die Zahl der Nachtöner . . . ist geradezu Legion"
291 W ü s t , Fr., G e h t alles so, wie es gehen sollte? (Antwort auf den Aufsatz „Wille z u r M a c h t " in der „Jugend" von Dr. H e l e n e Stöcker.), (Ar 1. Jg., N r . 5 v. 9. 5. 1903, S. 74 ff.). Meint, Verfasserin (s. N r . 2 8 8 ) hätte auch z u d e n e n g e h ö r t , vor w e l c h e n N i e t z sche sich gegraut hätte. „ N i e t z s c h e meint so: D e r jetzige v e r k o m m e n e M e n s c h ist etwas, das ü b e r w u n d e n w e r d e n muß: , D e s h a l b g e h ö r e jede Art U n v o l l k o m m e n h e i t und das Leiden an ihr mit hinein in die höchste Wünschbarkeit'. V o n diesem relativen Standpunkt also ist dieser N i e t z s c h e ' s c h e Ausspruch nur s o zu verstehen . . ." 292
K n o d t , Karl Ernst, Friedrich N i e t z s c h e — N u r Dichter. ( D t H 6. Jg.,
H . 32 f. v. 10. u. 17. 5. 1903, S. 9 9 3 - 1 0 0 7 ,
1041-1051).
Eine äußerst l o b e n d e D a r s t e l l u n g und Beurteilung des D i c h t e r s N i e t z s c h e . Es lasse sich „die E n t w i c k l u n g des D i c h t e r s und . P h i l o s o p h e n ' N i e t z s c h e nicht trennen : sie ist nur die E n t w i c k l u n g des e i n e n k ü n s t l e r i s c h e n M e n s c h e n ! "
Nach
e i n g e h e n d e r Erörterung vieler der Lieder, Sprüche und G e d i c h t e k o m m t Verfasser zu d e m kaum v e r w u n d e r l i c h e n Schluß, daß „ N i e t z s c h e , der tiefste N i e t z s c h e — Dichter ist und einzig als solcher g e w e r t e t w e r d e n soll".
Am A n f a n g des V o r w o r t s zu einem Gedichtband schrieb Karl Ernst K n o d t als H e r a u s g e b e r : „ S e h n s u c h t ist die Seele unsrer Zeit und der modernen Literatur und Lyrik. In ungezählten Gesängen der verschiedenartigsten Dichter k o m m t sie, bald mit Menschen- und E n g e l z u n g e n , bald mit Zungen der D ä m o n e n , zur Aussage und Klage, und noch ist sie nicht ausgesungen. In Friedrich Nietzsche und seiner besonderen Z a r a t h u s t r a Dichtung hat diese nach neuen, unentdeckten Ländern aufgelegte Sehnsucht die originalsten Laute, die stärksten A k k o r d e und eine geradezu flügelbrausende Melodie angeschlagen — (es folgt eine Stelle aus dem „Zarathustra"). Diese s t e u e r l o s e Sehnsucht — o h n e W e g . . . und o h n e Z i e l . . . ist seitdem die N o t vieler g e w o r d e n , ja die Zahl der N a c h t ö n e r Nietzsches ist g e r a d e z u Legion. Aber selbst in Z a r a t h u s t r a , diesem ,Frommsten aller Gottlosen', glüht noch der u n z e r s t ö r b a r e Funke heißer Sehnsucht nach einem Uberweltlichen, Unirdischen, Ewigen, nach Gott. Nietzsche-Zarathustra nennt ihn nur im W a h n den — U b e r m e n s c h e n . Ebenso ist S e h n s u c h t , aber eine s t e u e r s i c h e r e , die Seele derer, die, fern dieser N i e t z s c h e - N o t und erlöst von ihr, den ewig unwandelbaren Sternen a u f n e u e n W e g e n zustreben." 1 0 0 Τ
Ein Aphorismus von Friedrich Nietzsche. (Aus der Zeit: W i n t e r
1884/85). (ML 72. Jg., 1903, S. 349). V o r a b d r u c k eines A p h o r i s m u s , der erst
1911 in der z w e i t e n A u f l a g e
des
15. Bandes ( G X V a ) der G e s a m t a u s g a b e auf S. 4 8 7 ff. ( N r . 4 6 3 f.) a u f g e n o m m e n w u r d e , j e d o c h hier mit drei nicht im Buch v e r ö f f e n t l i c h t e n S ä t z e n am Schluß. too
s j n £ | ¿¡g Sehnsucht. Liederlese moderner Sehnsucht. Greiner & Pfeiffer. St. (1903), S. III f. Das Werk enthält aber keine Gedichte von Nietzsche, wohl da „nur lebende deutsche Lyriker" aufgenommen worden seien.
1903 Otto Weininger
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293 Blau (Hofprediger in Wernigerode), Die Grundlagen der Moral nach Kant, Schopenhauer und Nietzsche. (EV 16. Jg., Nr. 42 f. v. 27. u. 30. 5. 1903, S. 339 ff., 348 f.). U n t e r d e n e n , w e l c h e „die F r a g e n a c h d e n P r i n z i p i e n d e r M o r a l " z u b e a n t w o r te η s u c h t e n , „stehen o b e n a n d r e i : K a n t , S c h o p e n h a u e r , N i e t z s c h e " . D i e K a n t i s c h e M o r a l h a b e „ e t w a s F r o s t i g e s u n d U n f r e i e s an s i c h " u n d k ö n n e s o g a r „im n a c k t e n F^goismus" e n d e n . In S c h o p e n h a u e r s M i t l e i d s m o r a l sei „ m e h r w a r m e s M e n s c h e n b l u t " , d o c h f o l g e r i c h t i g z u E n d e g e d a c h t sei a u c h sie „ein U n s i n n " , d e n n „die h ö c h s t e M o r a l , u m nicht a n d e r n im W e g e zu s t e h e n " , w ä r e „ f r e i w i l l i g a u s d e m L e b e n s c h e i d e n " . N i e t z s c h e s V e r s u c h h a f t e „ W i l l k ü r in d e r g e s c h i c h t l i c h e n K o n s t r u k t i o n " u n d „ v ö l l i g e V e r k e n n u n g d e r c h r i s t l i c h e n S i t t l i c h k e i t " a n ; a b e r s c h l a g e n d e r sei, d a ß , d a alles L e b e n „ G e m e i n s c h a f t s l e b e n " sei, d i e M o r a l „die B e z i e h u n g auf a n d e r e " n i c h t e n t b e h r e n k ö n n e . D e r U r s p r u n g d e r M o r a l l i e g e e b e n „ ü b e r u n s ; e r liegt in G o t t , d e s s e n W i l l e d i e N o r m , d e s s e n G e i s t d i e K r a f t sittlichen H a n d e l n s ist".
294 Orbilius, Prof., Schiller und Nietzsche. (Wage 8. Jg., Nr. 19, 1 9 0 3 , S. 445 f.). T r o t z v i e l e r G e g e n s ä t z e h a b e n b e i d e als „ D i c h t e r " u n d „ K ü n s t l e r " e i n e r W e l t g e g e n ü b e r g e s t a n d e n , „ d i e sich z u m g r o ß e n A r b e i t s h a u s e a u s z u b i l d e n d r o h t , in d e m es n u r n o c h A r b e i t e r u n d B e a m t e g i b t " . V e r f a s s e r stellt e i n e w e i t g e h e n d e Ä h n l i c h keit zwischen dem Schiller der „Briefe über die ästhetische Erziehung des M e n s c h e n " ( v o r a l l e m d e s 6. B r i e f e s ) u n d d e m N i e t z s c h e d e r „ F r ö h l i c h e n W i s s e n s c h a f t " ( A p h . 3 9 9 , 5, 4 0 , 3 6 6 ) d a r u n d e n d e t m i t d e r F e s t s t e l l u n g : „ S o w a n d e r t d i e D i o g e n e s - L a t e r n e a u f d e r S u c h e n a c h d e m M e n s c h e n d u r c h d i e J a h r h u n d e r t e von H a n d zu Hand."
In dem Ende Mai erschienenen Hauptwerk des frühverstorbenen und damals vielgelesenen Otto Weininger finden sich mehrere Spuren Nietzschescher Einwirkung. Der zweite Abschnitt: Männliche und weibliche Sexualität, trägt neben einem Geleitwort aus Kant eines aus „Jenseits" (S. 101). Nietzsches Aufdeckung der „Wiederkunftslehre" wird als Beispiel des Vorganges, der „jeder wissenschaftlichen Entdeckung, jeder technischen Erfindung, jeder künstlerischen Schöpfung" vorangehe, angeführt (S. 117). Wiederum als Beispiel dient Nietzsche dazu, um darzutun, „wie vielen leicht zu blendenden mittelmäßigen Köpfen, insbesondere aber d e n F r a u e n . . . im allgemeinen geistreich und genial als dasselbe" gelten: „So gilt ihnen denn auch der geistreiche Mensch als der geniale, Nietzsche als der Typus des Genies . . . Leider scheint auch Friedrich Nietzsche, in seinen späteren Schriften . . ., an seinen Einfällen manchmal vor allem das interessiert zu haben, was seinem Vermuten nach die Leute recht chokieren mußte. Er ist oft gerade dort am eitelsten w o er am rücksichtslosesten s c h e i n t . " (S. 127)"" 105
Geschlecht und Charakter. Eine prinzipielle Untersuchung. Hier nach der 24., unveränderten Aufl. W. Braumüller. Wien u. Lpz. 1922. S. a. die Erwähnungen Nietzsches in dem
120
1903 O t t o W e i n i n g e r
Er kennzeichnet Nietzsches Verhältnis zum Meer und Gebirge (S. 136). Den hervorragendsten Männern der Wissenschaft gegenüber stehe Nietzsche zusammen mit Fichte, Schleiermacher und Carlyle „an der äußersten Grenze . . . dessen . . ., w o die Bezeichnung genial noch statthat" (S. 173). V o n einer Ähnlichkeit Nietzsches mit Kant hinsichtlich der Auffassung der Pflicht sprechen folgende Sätze: „. . . es gibt Pflicht nur gegen sich selbst. . . Wenn von der Herakles-Sage, von einigen Stellen Nietzsches und eher noch Stirners, aus denen man Kant-Verwandtes herauslesen kann, abgesehen wird, so hat das Prinzip der Kantischen Ethik bloß Ibsen (im ,Brand' und ,Peer Gynt') selbständig gefunden." (S. 201) Der Vergleich wird dann mit der Feststellung abgeschlossen: „Kantens einsamster Mensch lacht nicht und tanzt nicht, er brüllt nicht und jubelt nicht: er hat es nicht not, Lärm zu machen, weil der Weltraum zu tief schweigt. Nicht die Sinnlosigkeit einer Welt ,νοη ohngefähr' ist ihm Pflicht, sondern s e i n e Pflicht ist ihm d e r S i n n d e s W e l t a l l s . Ja sagen zu dieser Einsamkeit, das ist das ,Dionysische' Kantens; das erst ist Sittlichkeit." (S. 204) Zur Behauptung: „Nichts ist so gefehlt, als von der Bescheidenheit' großer Männer reden", führt er neben Schopenhauers Selbsteinschätzung gegenüber Kant an: zuerst 1904 aus d e m N a c h l a ß v e r ö f f e n t l i c h t e n : Ü b e r die letzten D i n g e . M. e. b i o g r a p h . V o r w . v. D r . M o r i z R a p p a p o r t . 2. v e r ä n d e r t e Aufl. W . Braumüller. W i e n u. Lpz. 1907, S. 8, 14 (über Ibsen und „jene Pseudo-Individualisten . . . , die an d e r allgemeinen Identifikation von Individualismus u n d Egoismus die Schuld t r a g e n ; die ihre U n l u s t sich d u r c h P h ä n o m e n e wie K r a n k h e i t u n d A r m u t im G e n ü s s e d e r T a f e l - u n d B e t t f r e u d e n o d e r a u c h n u r im Eifer der Z e i t u n g s l e k t ü r e und in d e r W ä r m e des S a l o n t r a t s c h e s s t ö r e n zu lassen, mit d e m N a m e n des z u m D a r w i n i s t e n a u s g e d e u t e t e n N i e t z s c h e d e c k e n . Ibsens Individualismus ist viel e n t s c h i e d e n e r , weil viel g e k l ä r t e r als d e r N i e t z s c h e s . " ) , 26 ( n o c h m a l i g e r Vergleich Ibsens mit N i e t z s c h e ) , 27 (über „ N i e t z s c h e s Stilkünste"), 31 ff. (zu N i e t z s c h e s H a ß und Selbsthaß und d e r e n Einfluß auf das V e r h ä l t n i s zu W a g n e r , S c h o p e n h a u e r , K a n t , Pascal und S p i n o z a , zu d e m es in einer A n m e r k u n g heißt: „In der . N u o v a A n t o l o gia' w a r einmal ein Bericht zu lesen über einen Besuch, den j e m a n d N i e t z s c h e s T u r i n e r W o h n u n g und seinen d o r t i g e n Mietsleuten g e m a c h t hatte. D a e r z ä h l t e n diese, wie N i e t z sche, z u r selben Zeit, als er d e n .Fall W a g n e r ' schrieb, immer zu ihrem des Klavierspiels k u n d i g e n T ö c h t e r l e i n k a m , u n d i m m e r w i e d e r n u r d e n .Ring des N i b e l u n g e n ' zu h ö r e n verlangte."), 81 ( „ N i e t z s c h e w a r lange S u c h e r ; erst als Z a r a t h u s t r a tat er d e n P r i e s t e r m a n tel u m , u n d da stiegen n u n jene R e d e n v o m Berge h e r u n t e r , die b e z e u g e n , wie viel Sicherheit er d u r c h die V e r w a n d l u n g g e w o n n e n hat. D e s Priesters (als des Sehers!) Erlebnisse sind intensiver als die des S u c h e r s ; u n d d a r u m ist er ü b e r z e u g t e r v o n sich, er f ü h l t sich als e r k o r e n e n S e n d b o t e n von S o n n e , M o n d u n d S t e r n e n , u n d h o r c h t n u r , u m d e r e n S p r a c h e so g a n z zu verstehen, wie e r es als seine Pflicht fühlt."), 167 („Auch d e r [originelle] Philosoph sechsten und siebenten Ranges, H e g e l , S c h l e i e r m a c h e r , K r a u s e , M a i n e de Biran, Carlyle, N i e t z s c h e , steht n o c h immer weit h ö h e r als d e r g r ö ß t e u n d originellste N u r - W i s senschaftler . . ."). In einer späteren V e r ö f f e n t l i c h u n g : O . W . , T a s c h e n b u c h und Briefe an einen F r e u n d , . E. P. T a l . W i e n , Lpz. 1921 (5. u. 6. Tsd.), wird N i e t z s c h e n u r zweimal erw ä h n t (S. 51, 9 2 ) ; W e i n i n g e r , O t t o (Wien 3. 4. 1880 - ebd. 4. 10. 1903 d u r c h F r e i t o d ) , p r o m o v i e r t e 1902.
1903 Arthur Drews
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„Wenn Nietzsche seinen Zarathustra für das tiefste Buch der Welt erklärt, so spielt außerdem wohl noch die Enttäuschung durch die schweigenden Zeitungsschreiber und das Bedürfnis, diese zu reizen, mit — allerdings auch keine sehr vornehme Motive." (S. 211) Weininger ist weiter der Ansicht, daß es so etwas wie ein unmoralisches Genie nicht geben könne, und meint: „Und Nietzsche darf man in diesen Dingen — wenn er von den Borgias zu reden anfängt — am wenigsten Vertrauen hegen." (S. 228) Der Meinung über Schopenhauers Verhältnis zur höheren Erotik — „man stellt keine Mitleidsethik auf, wenn man selbst sehr mitleidig ist" — fügt er hinzu: „Die mitleidigsten Menschen sind die, welche sich ihr Mitleiden am meisten verübeln: Kant und Nietzsche." (S. 310) Zu Sokrates: „Nietzsche hatte wohl recht, als er in ihm keinen echten Hellenen erblickte . . ." (S. 436) Zum „Geist der Modernität": „Der unglückliche Nietzsche ist wahrhaftig nicht verantwortlich für die große Vereinigung von natürlicher Zuchtwahl und natürlicher Unzuchtwahl, deren schmählicher Apostel sich Wilhelm Bölsche nennt. E r hat Verständnis für die Askese, und nur unter der eigenen zu sehr gelitten, um nicht ihr Gegenteil oft wünschenswerter zu finden." (S. 441) Zum Aphorismus 238 im „Jenseits" und das „Grundproblem ,Mann und Weib'", den er über eine Seite hin anführt, meint er: „Der Individualist denkt hier durchaus sozialethisch: seine Kasten- und Gruppen-, seine Abschließungstheorie sprengt, wie so oft, die Autonomie seiner Morallehre . . (S. 453 f.) Zum Philosemitismus: „Als hervorragendere ,Philosemiten' könnten nur der sehr überschätzte G. E. Lessing und Friedr. Nietzsche in Betracht kommen, der letztere aber wohl bloß infolge eines Oppositionsbedürfnisses gegen Schopenhauer und Wagner . . . " (S. 588) 295 Drews, Prof. Dr. Arthur (Karlsruhe), Nietzsches „Wille zur Macht". (F 5. Jg., 1903, S. 628—631, 646—649).' 02 Eine Besprechung des 15. Bandes der Gesamtausgabe ( G X V ) , in der es heißt: „Es sind immer wieder dieselben G e d a n k e n , z u m hundertsten Male variiert, die wir auch schon aus den früheren Schriften kennen, es ist derselbe verhältnismäßig e n g e Umkreis, in w e l c h e m der Leser von Seite zu Seite herumgeführt wird, es sind dieselben Übertreibungen, Verzerrungen und Einseitigkeiten, deren objektiver W e r t darum auch ein höchst zweifelhafter ist, und die im Grunde nur als Ausdruck der Persönlichkeit des Philosophen ein tieferes Interesse haben." Daraufhin fragt sich nur, warum Verfasser es dann über sieben volle Seiten hin versucht hat, die Gedanken des Werkes noch einmal breitzutreten? Schließlich sei es „das Verdienst N i e t z -
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Drews, Arthur (Uetersein 1.11. 1865 — Achern 19. 7. 1935), promovierte 1889, 1898 Professor an der Technischen Hochschule zu Karlsruhe.
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1903 Paul von Winterfeld
sches . . . g e z e i g t zu haben, daß der Irrationalismus w e d e r als absoluter, wie bei Schopenhauer, n o c h als individueller wie bei ihm selber haltbar ist".
296 von S. 4 4 8 - 4 5 6 ) .
Rohden,
Friedrich
Nietzsche.
(ESB1
Bd. 47,
Verfasser nimmt sich Richters „sehr sachliche und maßvolle
1903,
Darlegung"
(Nr. 275) als „Anleitung" dazu, das „Körnlein Wahrheit" bei N i e t z s c h e z u suchen. Richter sei es „durchaus gelungen, die o f t betonten schroffen Widersprüche in den drei Phasen der N i e t z s c h e s c h e n Philosophie befriedigend zu erklären". D a ß d e m Verfasser die Abfertigung Strauß' zusagen mußte, liegt bei seiner betont christlichen Einstellung auf der H a n d , aber auch seine Darstellung der späteren Schriften geht ins Versöhnliche über. G e g e n Schluß h o f f t er, „die Leser zu . . . w o h l w o l l e n d e r , verständnisvoller W ü r d i g u n g N i e t z s c h e s angeregt zu haben".
297 Piper, Kurt, Goethe—Nietzsche, in: K. P., Fegefeuer. Gedichte. K. Henckell-Sonnenblumen-Vlg. Lpz. u. Bln. 1903, S. 34.'" Ein zweiteiliges, 14zei!iges Gedicht, dessen zweiter Teil lautet: I I . / N i e t z s c h e . / M a n hört als Menschenhaß v e r s c h r e i n , / W a s Menschenliebe a b g r u n d t i e f , / S o tief, daß sie der A u g e n s c h e i n / A l s ihren Widerpart verrief. Sonst weisen auch die letzten zwei Abschnitte des Bandes Geleitworte aus N i e t z s c h e s W e r k e n (S. 67 u. 73) auf.
Uber den Frühling und Sommer des Jahres 1903 und seine damalige Begegnung mit Paul von Winterfeld schrieb Hermann Reich: „Seinem angstvollen Rufen antwortete nirgends die Stimme eines lebenden Menschen, nur aus dem Geisterreiche tönte Nietzsches, des Dichterphilosophen Wort, der den gleichen Kampf gekämpft hatte wie er und in starrer Einsamkeit ähnlich seiner eigenen zerbrochen war, umbellt von H o h n und Neidhaß objektiver Gelehrter. Weil er auch Nietzsches Blut war, hat er diesen ,gekreuzigten Dionysos', wie sich Nietzsche im letzten verzweifelten Aufschrei nannte, unsäglich geehrt und geliebt, denn Winterfelds H e r z war ehrfürchtig vor allem wahrhaft Großen." 104 Die damalige Behausung des Freundes beschrieb er wie folgt: „Wahrlich, die Höhle Zarathustras war ein Himmelreich gegen diese strenge, mönchische Einsiedelei. Zarathustra wohnte doch im Hochgebirge, im braunen Fels, wo die klaren Quellen rauschen und singen, wo die hellen Winde brausen und die weißen Wolken ziehen, und nachts die gro105 104
Piper, Kurt (Altona 23. 12. 1875 - Stuttgart 3. 8. 1952), Schriftsteller und Arzt. Vorrede z. 3. u. 4. Aufl. v.: Deutsche Dichter des lateinischen Mittelalters in deutschen Versen v. P. v. Winterfeld. Hg. u. eingeleitet v. H. Reich. Beck. Mchn. 1922, S. LH; Reich, Hermann (Königsberg 8. 10. 1868 — Berlin 19. 12. 1934 durch Freitod), Altphilologe, 1903 als Privatdozent in Berlin aufgrund seines Hauptwerkes vom „Mimus", 1908 ans Gymnasium und erst Mai 1920 zum Leiter der „Arbeitsgemeinschaft für vergleichende Literaturwissenschaft" in Berlin ernannt; Winterfeld, Paul von (Tynwalde/Westpr. 20. 8. 1872 — Berlin 6 . 4 . 1905), Habilitierte sich 1899, wurde 1904 zum Professor ernannt, Herausgeber der Werke von Hrotsvitha von Gandersheim und Mitarbeiter an den „Monumenta Germaniae histórica".
1903 Ein notwendiger Bestandteil des „.modernen' Damenboudoirs"
123
ßen Sterne leuchten und die weißen Gletscher, und w o mancher Wanderer vorüberging." 105 298 Schorer, Dr. Hans, Nietzsche's Frauenkarikatur. (CF 1903, 1, Nr. 6, S. 2 0 9 - 2 1 2 ) . N i e t z s c h e w a n d e l e , was die S c h m ä h u n g d e r Frau b e t r e f f e , in d e n G e d a n k e n g ä n g e n eines R o u s s e a u , V o l t a i r e u n d vor allem eines S c h o p e n h a u e r „getreulich weit e r " . N a c h A n f ü h r u n g t r i f f t i g e r Stellen aus N i e t z s c h e s W e r k e n b e f r a g t V e r f a s s e r die Statistik über die K r i m i n a l i t ä t d e r F r a u e n u n d stellt fest: „ S o bleiben auch t r o t z aller M ä n g e l die F r a u e n n o c h die .reinsten E n g e l ' g e g e n ü b e r d e n M ä n n e r n , die z u m m i n d e s t e n f ü n f m a l so h ä u f i g lügen u n d stehlen." U n d d o c h g e h ö r e n „ N i e t z s c h e s W e r k e zu d e m n o t w e n d i g e n I n v e n t a r des , m o d e r n e n ' D a m e n b o u d o i r s " .
299 Simon, Theodor, Friedrich Nietzsche. Ein Lebensbild. (NPrKz 1903, Nr. 149, 151, 153, 155, 157). U m r e i ß t das Leben N i e t z s c h e s , d e r einem I r r s t e r n gleiche, in d e u t l i c h e r u n d fast ausschließlicher A n l e h n u n g an die D a r s t e l l u n g d e r S c h w e s t e r . V e r f a s s e r , o b w o h l G e g n e r N i e t z s c h e s „bis in die letzten W u r z e l n u n d F a s e r n " , f i n d e t sein E r scheinen „von g r o ß e r B e d e u t u n g " , d e n n eine „ S c h e i d u n g d e r G e i s t e r " b a h n e sich an, d a „nie g e g e n das W a h r e u n d G u t e " s o „rücksichtslos, aus so d ä m o n i s c h e m H a ß " h e r a u s gestritten w o r d e n sei. D a s G a n z e klingt d a n n d o c h e t w a s v e r s ö h n l i c h aus: „Es ist etwas in dieser P e r s ö n l i c h k e i t , das w i r lieben m ü s s e n . "
300 Weinel, Heinrich, Nietzsches Anklage Bd. 17, Nr. 28 f., 1903, Sp. 6 5 4 - 6 5 7 , 684 ff.).
gegen
Paulus.
(CW
„ U n t e r allen G e g n e r n des C h r i s t e n t u m s von Celsus an bis auf E r n s t H a e c k e l u n d E u g e n Losinsky ist k e i n e r k ü h n e r u n d t i e f e r g e w e s e n als F r i e d r i c h N i e t z s c h e . " T r o t z eines s o l c h e n A n f a n g s s a t z e s h a t V e r f a s s e r es n i c h t s c h w e r , P a u l u s g e g e n dessen A n k l ä g e r zu v e r t e i d i g e n . N i e t z s c h e s „ w ü t e n d e r A n g r i f f auf die B e k e h r u n g des P a u l u s " sei „nichts als d e r A u s f l u ß des H a s s e s g e g e n die pietistische F o r m des C h r i s t e n t u m s , in d e r er es als K i n d k e n n e n g e l e r n t u n d d u r c h das S t u d i u m Pascals, d e n er stets f ü r d e n klassischen C h r i s t e n hielt, n e u e r f a h r e n h a t t e " . E b e n s o schief sei sein Urteil ü b e r P a u l u s n a c h d e r B e k e h r u n g : „ E s f e h l t ihm d e r r e c h t e historische S i n n , die G e d u l d , sich in d a s W e l t b i l d , in d i e A n s c h a u u n g e n d e r A n d e r n h i n e i n z u d e n ken."
301 Samtleben, Dr. (Thondorf), Wie Tolstoi über Nietzsche urteilt. (KWs 1903, Nr. 28, Sp. 441 ff.).' 06 O b w o h l V e r f a s s e r einige B e d e n k e n ü b e r das „ D i e s s e i t s c h r i s t e n t u m " T o l s t o i s ä u ß e r t , w e i s t er auf dessen „ W a s ist R e l i g i o n u n d w o r i n b e s t e h t ihr W e s e n ? " (s. Bd. I) als ein „ h o c h i n t e r e s s a n t e s " Buch hin u n d f ü h r t die N i e t z s c h e b e t r e f f e n d e Stelle voll billigend u n d im vollen W o r t l a u t an.
,0; 101
Ebd., 1913, S. 6. Samtleben, Gustav, geb. am 14. 2. 1861 zu Wimmelrode, Pfarrer und Schriftsteller.
1903
124 302
Diefke, M a x , W a s muß man von N i e t z s c h e wissen? Allgemein-
v e r s t ä n d l i c h e D a r s t e l l u n g seines L e b e n s u n d s e i n e r L e h r e . H . S t e i n i t z . Bln. 1903. 63 S. Die recht belanglose Darstellung, die Nietzsches Philosophie „möglichst sachlich, frei von den genialen Übertreibungen und phantasiereichen Ausschmückungen des Dichterphilosophen" wiedergegeben haben möchte, mündet in den Ausspruch: „Aber daß Nietzsche den Mut gehabt hat, die Abgründe unserer modernen Gesellschaft der Welt in schonungsloser Offenheit vor Augen zu führen, und daß er den Menschen den Anstoß gegeben hat, sich wieder auf sich selbst zu besinnen — das sichert ihm für immer einen ehrenvollen Platz in der Geschichte der menschlichen Kultur."' 0 7 303
Drews,
Prof.
Dr.
Arthur
(Karlsruhe),
Nietzsches
Briefe.
( F 5. J g . , N r . 12 f., 1903, S. 970 f f . , 1013 f f . ) . Besprechung der ersten beiden Briefbände, wobei der erste, „bereits in dritter Auflage", kaum mehr als angezeigt wird. Es ist der zweite, der die Aufmerksamkeit des Rezensenten auf sich zieht, denn dieser lasse „uns beide als so überaus sympathische und edle Geister erscheinen", liefere „wertvolles Material" für die „intimere Kenntnis von Nietzsches gedanklicher Entwicklung" und zeige „zugleich, wie frühzeitig Rohde das Ungesunde und Forcierte in der Denkweise des Freundes herausgefühlt hat". 304
Blei, F r a n z ( M ü n c h e n ) , N i e t z s c h e in F r a n k r e i c h . ( d Z e i t N r . 4 5 9
v. 18. 7. 1 9 0 3 , S . 193 ff.). Verfolgt den Einfluß Nietzsches von Wyzewa und Valbert über Henri Albert und Jules de Gaultier bis auf Remy de Gourmont und André Gide. Am lesenswertesten sind aber Einblicke in die deutsche Aufnahme Nietzsches, die sich aus den wiederholt angestellten Vergleichen des Verfassers ergeben, so etwa: „. . . die Franzosen haben ein stärkeres Gefühl für die Culturwertung Nietzsche's als die Deutschen, die sich am liebsten aus der Lehre einen crüden Individualismus heraussuchten . . . " — „Hier vernichtete ihn die zünftige Intelligenz, als es mit dem Totschweigen nicht mehr ging, und als sich auch das Vernichten als dem O p f e r nicht weiter schädlich erwies, da begann man eine bekannte Trennung des Wahren vom Falschen und die Ausschälung jenes berüchtigten berechtigten Kerns." — „Sollte es in Deutschland an dem Nichtvorhandensein eigenthümlicher Persönlichkeiten liegen, daß Nietzsche's Einfluß nicht mehr als eine Phrase zutage gebracht hat?" 305
S c h o l z , H e r m a n n , N i e t z s c h e in n e u e r B e l e u c h t u n g .
Nietzsche
und E r w i n R o h d e . ( C W 17. J g . , N r . 30 v. 23. 7. 1 9 0 3 , S p . 7 0 9 - 7 1 6 ) . Besprechung des Nietzsche-Rohde-Briefwechsels (P) mit Betonung auf dem Verhältnis beider zu Schopenhauer. Rezensent gesteht, „weit und breit im Lande im Umkreis unserer gegenwärtigen Litteratur Nichts zu kennen, was diesem Austausch selbstverleugnender Freundschaft an die Seite zu stellen wäre".
107
D i e f k e , M a x , geb. am 29. 7. 1874 zu Friedrichshagen.
1903 Wie „fromm dieser Dichter des gottlosen Zarathustra gewesen"
125
306 Frankel, Dr. J o n a s , Nietzsche und seine Freunde. (B Nr. 203 ff. v. 2 3 . - 2 5 . 7. 1903, 6 S.). 108 U n t e r H e r a n z i e h u n g der ersten beiden B r i e f b ä n d e und des Buches von D e u s s e n ( N r . 32), „bei dessen L e k t ü r e ich aber den E i n d r u c k hatte, als sähe ich eine r o h e , schwere, s c h m u t z i g e H a n d , die sich einer zierlichen weißschimmernden Statuette n a h t " , versucht V e r f a s s e r ein Bild von einem „Virtuosen der F r e u n d s c h a f t " zu e n t w e r f e n , d a s z u m Schluß f o l g e n d e G e s t a l t gewinnt: „Indessen seine Freunde tief unten in den N i e d e r u n g e n wie G e s p e n s t e r umherirrten, erklomm N i e t z s c h e jene H ö h e n , auf denen er sich selbst und den treuesten aller F r e u n d e : Zarathustra f a n d . "
306a
Auch in: dZeit Nr. 489 v. 13. 2. 1904, S. 77 ff. Unverändert.
307 S(imchowitz), S., Nietzsches Freund. ( D K Bd. 1, H. 14, 1903, S. 8 6 0 - 8 6 8 ) . B e s p r e c h u n g des zweiten B a n d e s d e r Briefe (P), der „ z u den großen K o r r e s p o n d e n z e n unserer L i t e r a t u r " g e h ö r e .
308 Kalthoff, A. (Bremen), Schleiermacher und Nietzsche. ( D F W Bd. 2, H . 21, 1903, S. 663—668). V e r f a s s e r meint, es g e b e „ i m V e r l a u f e des 19. J a h r h u n d e r t s keine ernstere Bew e g u n g der Geister auf religiösem G e b i e t e , die nicht von dem G e n i u s Schleiermachers ihre wenn auch o f t unbewußten Impulse erhalten hätte", und es leben in N i e t z s c h e „wesentliche Seiten S c h l e i e r m a c h e r s c h e r F r ö m m i g k e i t " wieder auf. D e n n n o c h S c h l e i e r m a c h e r sei R e l i g i o n „ e i n e W e i s e des E m p f i n d e n s : d a s G e f ü h l des U n endlichen im E n d l i c h e n , ein I n n e w e r d e n der Ewigkeit in der Z e i t " . „ D e r G o t t m e n s c h bei S c h l e i e r m a c h e r , d e r U b e r m e n s c h bei N i e t z s c h e sind aber beide nur die ins Menschliche übersetzten E m p f i n d u n g e n des ewigen und unendlichen L e b e n s " u n d , wie „ f r o m m dieser D i c h t e r des gottlosen Z a r a t h u s t r a g e w e s e n , wird recht deutlich", wenn m a n „ d i e E l e m e n t e seiner F r ö m m i g k e i t an Schleiermacher verstehen und w ü r d i g e n lernt".
309 Schwartzkopff, Prof. Dr. Paul, Nietzsche der „Antichrist". Eine Untersuchung. Wilh. Schäfer. Schkeuditz b. Lpz. 1903. 67 S. O b w o h l der V e r f a s s e r als „ C h r i s t " wiederholt v o m „ ü b e r s p a n n t e n " und „verstiegenen Individualismus" N i e t z s c h e s spricht und „nur mit A b s c h e u . . . einige W o r t e N i e t z s c h e s " über das N e u e T e s t a m e n t anführt, reiht er ihn mit Augustin und R o u s s e a u als E r f o r s c h e r der „ A b g r ü n d e des M e n s c h e n l e b e n s " ein. E r solle den Christen eine „ernste M a h n u n g sein, sich v o n jeder S c h w ä c h e und Unlauterkeit zu lösen und in die G o t t e s k r a f t des w a h r e n Christentums der G e s i n n u n g und T a t einzudringen".'09
108
109
Frankel, Jonas (Krakau 12. 8. 1879 — Hünibach b. Thun 4. 6. 1965), habilitierte sich 1909 für deutsche Literatur an der Universität Bern, 1921 — 1949 a. o. Professor, bemühte sich sehr um das Werk Kellers, Spittelers und Widmanns. Schwartzkopff, Paul, geb. 1849 zu Stettin, Gymnasialprofessor in Wernigerode.
126
1903 Der „Mangel an historischem Sinn" 310
R i e h l , A l o i s , Z u r E i n f ü h r u n g in die P h i l o s o p h i e d e r G e g e n w a r t .
A c h t V o r t r ä g e . B. G . T e u b n e r . L p z .
1 9 0 3 . 3 Bll., 2 5 8 S. ( L a u t
Vorwort
w u r d e n d i e V o r t r ä g e s c h o n im H e r b s t 1 9 0 0 in H a m b u r g g e h a l t e n ) . D a r i n : S c h o p e n h a u e r und Nietzsche. Z u r Frage des Pessimismus, S. 200—235. Verfasser untersucht die Stellung Nietzsches zum Pessimismus und dabei besonders zu dem S c h o p e n h a u e r s . Er unterstreicht, d a ß Nietzsche „uns die Liebe zum Leben gelehrt" habe. Auch habe er „ P r o b l e m e a u f g e w o r f e n , a u f g e g r a b e n , wie die von Evolution und E n t a r t u n g , welche die Philosophie der Kultur und Moral noch lange beschäftigen w e r d e n " . Er „resümiert die M o d e r n i t ä t , er hat sie zugleich vollendet und ü b e r w u n d e n " . S. a. den ersten V o r t r a g : Wesen und E n t w i c k l u n g der Philosophie — Die Philosophie im Altertume, S. 1—26. Aus dem D r a n g nach anderen Zielen, der die J u g e n d nach „der g r o ß e n Zeit des Krieges" e r f a ß t habe, sei „die plötzliche und ausgebreitete E r r e g u n g " zu erklären, „die von den Schriften Fr. Nietzsches ausging. W i e ein Gewittersturm brausten die Aphorismen des tragischen D e n k e r s aus dem letzten Drittel des v e r g a n g e n e n J a h r h u n d e r t s über die Zeit hinweg, und rüttelten an den G r u n d f e s t e n unserer g a n z e n bisherigen Kultur. Sie sollten aber nicht bloß zerstören und die alten W e r t e zerbrechen, sondern neue W e r t e s c h a f f e n ; und eben in dem, was Nietzsche v e r k ü n d e t e , in den Idealen, w a h r e n o d e r falschen, die er aufrichtete, lag das Geheimnis seines Erfolges. N i e t z s c h e glaubte der Seher einer übermenschlichen Z u k u n f t des Menschen zu sein; in W a h r h e i t w a r er ,die Stimme eines R u f e n d e n in der W ü s t e ' , und die Sehnsucht d e r Zeit nach Kulturern e u e r u n g horchte auf diese Stimme." (S. 4); und den achten: G e g e n w a r t und Z u k u n f t der Philosophie, S. 2 3 6 - 2 5 8 . Hierin wird Nietzsche (S. 2 5 1 - 2 5 4 u. 257) erw ä h n t und als der „ g r o ß e Philosoph d e r neuen G e i s t e s f ü h r u n g " v e r w o r f e n : „Alle seine A n s c h a u u n g e n verraten ein G r u n d g e b r e c h e n : den Mangel an historischem Sinn". Dabei verweist d e r V e r f a s s e r auf G o e t h e und Kant. 310a D a s s . 2. d u r c h g e s e h . A u f l . 1904. 3 Bll., 2 7 4 S. Fundstellen jetzt auf S. 4 f., 213 — 250, 266—270, 273, sonst unverändert. 310b D a s s . 3. d u r c h g e s e h . u. e r g ä n z t e A u f l . 1 9 0 8 . D e r V o r t r a g erhielt einen unwesentlichen Z u s a t z auf S. 243, sonst ist alles, was Nietzsche betrifft, unverändert. 310c
D a s s . 4., d u r c h g e s e h . u. verbess. A u f l . 1 9 1 3 . V I I , 2 5 2 S., 2 Bll.
( = Vlgs.-anz.). Fundstellen jetzt auf S. 4, 196—230, 245 — 248, 252, sonst unverändert. 31 Od
D a s s . 5., d u r c h g e s e h . u. e r g ä n z t e A u f l . 1 9 1 9 . V I S . , 1 Bl., 2 3 0 S.,
1 Bl. ( = V l g s . - a n z . ) . Fundstellen jetzt auf S. 3 f., 173 — 203, 224—227, 230, sonst unverändert. 310e D a s s . 6., fast u n v e r ä n d e r t e A u f l . 1921. W a s Nietzsche betrifft, unverändert. U
Friedrich
Nietzsche:
Dem
Unbekannten
Gott/Vereinsamt.
In:
D e u t s c h e Lyrik d e s 19. J a h r h u n d e r t s . A u s w a h l f. d. o b e r e n K l a s s e n h ö h e r e r
1903 Friedrich Rittelmeyer
127
Lehranstalten hg. v. D r . M. C o n s b r u c h u. Dr. Fr. Klincksieck (Oberlehrern a m S t a d t g y m n a s i u m zu H a l l e a. S.). A m e l a n g . L p z . 1903, S. 286 ff. S o n s t v e r t r e t e n sind H ö l d e r l i n , H e b e l , A . W . v. S c h l e g e l , T i e c k , N o v a l i s , B r e n tano,
Eichendorff,
G. Schwab,
Kleist,
J. Kerner,
Arndt,
Chamisso,
Th. Körner, Wilh.
Müller,
M . v. S c h e n k e n d o r f , Rücken,
Platen,
Uhland,
Grillparzer,
H e i n e , H e r w e g h , Freiligrath, Dingelstedt, L e n a u , A. G r ü n , D r o s t e - H ü l s h o f f , M ö r i k e , H e b b e l , K e l l e r , S t o r m , K l a u s G r o t h , E . G e i b e l , M . G r a f v. S t r a c h w i t z , H e y s e , J u l . G r o s s e , A . F. G r a f v. S c h a c k , H . L i n g g , M . G r e i f , K a r l G e r o k , J . G . F i s c h e r , Fr. V i s c h e r ,
Hamerling,
V . v. S c h e f f e l , F. W . W e b e r ,
C . M. Meyer, T h . Fontane,
W . J e n s e n , F. D a h n , H e r r n . A l l m e r s , F . v . S a a r , K . S t i e l e r , E . v. W i l d e n b r u c h ,
Li-
liencron, H o l z , D e h m e l und G . Falke.
311 Rittelmeyer, Friedrich, Friedrich N i e t z s c h e und das Erkenntnisproblem. Ein m o n o g r a p h i s c h e r V e r s u c h . Wilh. E n g e l m a n n . Lpz. 1903. 1 Bl., V , 109 S., 1 BI. ( = D r u c k f e h l e r - B e r i c h t i g u n g ) . N a c h einer U n t e r s u c h u n g v o n N i e t z s c h e s Ä u ß e r u n g e n ü b e r d a s E r k e n n t n i s p r o b l e m , n a c h den „ d r e i P e r i o d e n " a u f g e g l i e d e r t , stellt V e r f a s s e r f e s t , d a ß N i e t z s c h e „ n i e ein u n k r i t i s c h e r S c h o p e n h a u e r i a n e r " u n d d a ß s e i n e „ E r s t l i n g s s c h r i f t ein , A b s c h i e d n e h m e n ' " v o n i h m g e w e s e n sei. S e i n e „ E r k e n n t n i s t h e o r i e w i e s e i n e g a n z e P h i l o s o p h i e , ist ein R ä t s e l , d e s s e n L ö s u n g s e i n e P e r s ö n l i c h k e i t i s t " , u n d
dieser
„ g r o ß e K r i t i k e r d e r D é c a d e n c e " sei „ d e r t y p i s c h e D e k a d e n t s e l b e r g e w e s e n " . D e n n o c h „ r e i h t er sich mit s e i n e r E r k e n n t n i s t h e o r i e ein u n t e r d i e S k e p t i k e r g r o ß e n S t i l e s " , die „ w i e R e v o l u t i o n e n u n d G e w i t t e r v o r ü b e r g e h e n " , a b e r a u c h „ d i e L u f t reinigen und neuem L e b e n Bahn b r e c h e n " . " '
312
S t e f f e n , E., Friedrich N i e t z s c h e s W e l t a n s c h a u u n g und Lebens-
maximen nach seinen W e r k e n . 7 Essais. L. H o r s t m a n n . G ö t t . 1903. 96 S. Einzelabhandlungen über „Aphorismus, Staat und Kultur, Kunst, E h e
und
Weib, M o r a l und Christentum, Wille z u r M a c h t " und „ D i o n y s o s " aus christlicher S i c h t , d o c h mit ü b e r r a s c h e n d e m W o h l w o l l e n u n d W ä r m e .
" c Das Werk entstand als Doktorarbeit auf Anregung des Würzburger Philosophieprofesors Oswald Külpe hin: „Ich hatte durch einen der geistig angeregten jungen Mediziner, denen man in Würzburg begegnen konnte, Nietzsches Zarathustra in die H a n d bekommen und las nun, soweit ich konnte, mit größtem Interesse jede Ziele, die Nietzsche geschrieben hatte. Jetzt erzählte mit Külpe, der dieses Interesse kannte, es sei soeben der letzte Nachlaßband von Nietzsches Werken erschienen, aus dem überraschenderweise hervorgehe, daß Nietzsche sich auch viel mit Erkenntnistheorie beschäftigt habe. Ich könne durch eine Doktorarbeit über Nietzsches Erkenntnistheorie einen wichtigen philosophischen Beitrag leisten. Als ich mir den neuen Band angesehen hatte, sagte ich zu, erklärte ihm aber, man könne nicht über Nietzsches Erkenntnistheorie schreiben, sondern nur Nietzsches Ringen um das Erkenntnisproblem in seiner dramatischen Entwicklung schildern." (F. R., Aus meinem Leben. Vlg. Urachhaus. St. [ 6 . - 9 . Tsd. 1949], S. 172 f.; Rittelmeyer, Friedrich (Dillingen 5. 10. 1872 — Hamburg 23. 3. 1938), 1895—1902 Stadtvikar in Würzburg, 1903—1916 Pfarrer in Nürnberg, 1916—1922 Pfarrer an der „ N e u e n Kirche" zu Berlin, 1924—1938 Herausgeber und Schriftleiter der Monatsschrift zur religiösen Erneuerung „ D i e Christengemeinschaft".
128
1903 Oskar Ewald
313 Rèe, Paul, Philosophie. (Nachgelassenes Werk.) C. Duncker. Bln. 1903. 3 Bll., 363 S. Bringt
als
„Anhang":
Ein
Urteil
Paul
Rées
über
Friedrich
Nietzsche
(S. 3 6 1 ff.), das ä u ß e r s t a b s c h ä t z i g e B e m e r k u n g e n R é e s über N i e t z s c h e s S c h r i f t e n enthält. D i e S c h w e s t e r v e r m u t e t e L o u A n d r e a s - S a l o m é als H e r a u s g e b e r i n .
314 Ewald, Oscar (Wien), Nietzsches Lehre in ihren Grundbegriffen. Die ewige Wiederkunft des Gleichen und der Sinn des Ubermenschen. Eine kritische Untersuchung. E . H o f m a n n , Bln. 1903. 2 Bll., 141 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Das Werk ist Paul Deussen gewidmet.'" D e m V e r f a s s e r ist d i e I d e e d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t „das e i g e n a r t i g s t e " u n d z u g l e i c h „ b e d e u t s a m s t e E l e m e n t in N i e t z s c h e s Lehre", und s e i n e A r b e i t will in d e r H a u p t s a c h e untersuchen, ob diese Vorstellung „neben der Idee des U b e r m e n s c h e n w i d e r s p r u c h s l o s z u d e n k e n sei". Sie läuft in die F e s t s t e l l u n g aus, d a ß d e r Lehre v o n der e w i g e n W i e d e r k u n f t „ b l o ß
symbolische
G e l t u n g " z u k o m m e , die sich erst
„im U b e r m e n s c h e n z u r Realität k o n d e n s i e r t e " . J e n e sei „ e b e n nichts als der W e r t g e d a n k e , eine F o r m e l , nichts w e i t e r " , d i e s e r j e d o c h „ e i n e S c h ö p f u n g , w e n n er a u c h z u v o r s c h o n im M e n s c h e n lag und e i g e n t l i c h a u c h i m m e r im M e n s c h e n verbleibt". D e r I d e e d e r e w i g e n W i e d e r k u n f t „im S i n n e N i e t z s c h e s " aber k o m m e eine „ m e h r als s y m b o l i s c h e D e u t u n g " z u ; „und d a s , m e h r ' b a r g in sich d e n F e h l e r q u e l l , aus d e m die a n d e r e n k l e i n e r e n und g r ö ß e r e n Irrtümer s e i n e r L e h r e n h e r v o r g i n g e n " . N i e t z s c h e s W e l t a n s c h a u u n g leide e i g e n t l i c h an d e m W i d e r s p r u c h z w i s c h e n d e m „ e l e m e n taren u n d d e m h i s t o r i s c h e n C h a r a k t e r " , w o r a u s
1,1
sich s e i n e
Widersprüchlichkeit
Ewald, O s k a r (eigentl. O s k a r Friedländer, geb. am 2. 9. 1881 zu St. G e o r g i e n , damals Privatdozent in W i e n ; s. seine Darstellung der eigenen Entwicklung in: O . E., Die E r w e k kung. Selbsterkenntnis und Weltgestaltung. E. H o f m a n n . Bln. 1922, S. 26 („ . . . dem Z u g e der Zeil gehorchend, las ich bereits in den obersten Gymnasialklassen einiges von N i e t z sche, sah mich indessen noch außerstande, es zu verarbeiten. U m so m e h r packte mich der Z a r a t h u s t r a ' , mit dem ich mich im ersten J a h r g a n g der H o c h s c h u l e beschäftigte. S c h o p e n hauer und Kant folgten nach . . . " ) , 31 ff. (über den dritten „ J a h r g a n g " : „Persönliche N e i gungen, Einflüsse Stirners und Nietzsches hatten mich in die Richtung eines einseitigen Individualismus getrieben, der mir die Aufstellung einer allgemeinen Sittlichkeitsnorm als absurd, ja als verwerflich erscheinen ließ . . . Damals leuchtete mir auch sein (d. i. der des kategorischen Imperativs) Z u s a m m e n h a n g mit Nietzsches Lehre vom Ü b e r m e n s c h e n ein und es entstand der Entwurf meiner ersten, bald darauf veröffentlichten Arbeit "), 35 — 40 (längere Stellen über K a n t und Nietzsche sowie über Nietzsche und D a r w i n , zu denen Verfasser einleitend erklärt: „ . . . dieser D e n k e r hatte in meinen ersten Universitätsjahren einen unverlöschlichen Eindruck auf mich geübt, er hatte mich wie das g a n z e Zeitalter beherrscht und w a r auch durch Kant keineswegs in den H i n t e r g r u n d gedrängt. Im G e g e n teil, ich glaubte, erst jetzt den Schlüssel zu seinem tiefsten Verständnis g e w o n n e n zu haben. D a ß hinter dem Immoralismus seiner Lehre sich eine hohe ethische F o r d e r u n g verbarg, w a r mir längst klar geworden."), 54 f. („Abrechnung mit W a g n e r " : „ . . . beinahe von Anbeginn w u ß t e ich, d a ß er mich in dem M a ß e v e r d a r b , in dem ich mich ihm g e f a n g e n gab. Ich w u ß t e es, wie es Nietzsche g e w u ß t h a t . . ."), 62 (über seinen U m g a n g mit O t t o Weininger: „ . . . er w a r mir, dem unruhig und ängstlich S u c h e n d e n in d e r O r i e n t i e r u n g so weit voraus, daß ich ihn gar nicht einholen zu können besorgte; auch zeigte er sich verschlossen und in sich gekehrt. Das einzige, was uns verband, w a r die A n h ä n g e r s c h a f t zu N i e t z s c h e " ) , 137.
1903 Kar! Dallago
129
ü b e r h a u p t erkläre: „ D e r h i s t o r i s c h e M e n s c h i s t d e r S i n n , der e l e m e n t a r e M e n s c h ist der W i d e r s i n n seiner L e h r e n . " E l e m e n t a r e Menschen seien eher „ans c h a u l i c h e " , solche, die „sich immer voll und g a n z , ungeteilt, nicht gebrochen im Z e i t m e d i u m , sondern in der lebendigen Plastizität der G e g e n w a r t " erleben, historische d a g e g e n eher „ b e g r i f f l i c h e " , „sie suchen sich in der V e r g a n g e n h e i t und suchen die V e r g a n g e n h e i t in sich". Im L a u f e seiner Beweisführung liefert V e r f a s s e r eine a n r e g e n d e Auslegung des „ Z a r a t h u s t r a " , mit dem er sich überhaupt fast ausschließlich befaßt.
315 Dallago, Karl, Nietzsche und die Landschaft. (F 5. Jg., H. 48, 1903, S. 948 ff.). G e h t von der A n n a h m e aus, daß das „völlig Ausreifen des Uberwindens und des großen Stils bei N i e t z s c h e . . . eine Frucht der L a n d s c h a f t — des S ü d e n s im weitesten S i n n e " sei. Als „den N i e t z s c h e schaffensverwandtesten K ü n s t l e r " stellt er Giovanni Segantini hin: „ D i e schönsten Stellen N i e t z s c h e s tragen die Helligkeit und durchsichtige T i e f e der oberen Partien von Segantinis Bildern an sich." D i e eigene Stellungnahme zu N i e t z s c h e gibt sich in folgenden W o r t e n : „ E s handelt sich hier nämlich um eine Persönlichkeit mit der vollen nötigen V e r w e g e n h e i t zu sich selber . . . D a f ü r ist N i e t z s c h e auch der D e u t s c h e , der bis jetzt a m weitesten g e k o m men ist, weiter als G o e t h e . J a , man kann g u t s a g e n , der am weitesten g e k o m m e n e E u r o p ä e r , . . . was f ü r uns D e u t s c h e (der S p r a c h e nach) wohl wichtiger ist als f ü r Nietzsche.""2
316 Ilgenstein, Dr. Heinrich (Berlin), Nietzsche und Hölderlin. (Geg Bd. 65, 1903, 32. Jg., Nr. 40, S. 215 ff.)." 2 a Beiden fehle „ d a s Gottesbewußtsein, das den Künstler erfüllt, der Gestalten und Menschen bildet und seinen G e s c h ö p f e n die Seele einhaucht". Beide wollen „die Menschheit opfern, um z u m Menschen zu k o m m e n " : „ S i e gehen auf der S u c h e nach dem Ü b e r m e n s c h e n zu G r u n d e . " D o c h bleiben sie „die beiden größten W e g weiser f ü r eine K u n s t der Z u k u n f t " .
316a
Dass, in: Prn 2. Jg., Nr. 73 v. 27. 6. 1905, S. 733 ff.
N u r die einzige A n m e r k u n g ist fortgefallen, sonst unverändert.
316b
Dass, in: Bb 1. Jg., 1906, H . 21, S. 845 — 851.
U m die letzten acht S ä t z e verkürzt, sonst unverändert.
316c
Dass, in: D A Nr. 39 f., 1911, Sp. 1 2 3 6 - 1 2 3 9 , 1261 ff.
Einige wenige Ä n d e r u n g e n in der A u s d r u c k s w e i s e , sonst unverändert.
317 Steinberg, Dr. phil. Auguste (Zürich), Nietzsche und das Judentum. ( O W Bd. 3, H . 8, 1903, Sp. 5 4 7 - 5 5 6 ) . O b w o h l die Verfasserin „ m a n c h e n A u s f ü h r u n g e n , b e s o n d e r s den historischen, nicht z u s t i m m e n " könne, findet sie es „reizvoll sich d a s G e s a m t b i l d des J u d e n t u m s
Dallago, Carl (Bozen/Tirol 14. 1. 1869 — Innsbruck 18. 1. 1949), Schriftsteller, Hauptmitarbeiter des „Brenner". " 2 'Ilgenstein, Heinrich (Memel 3. 7. 1875 — Gentillina b. Lugano 5. 4. 1946), Schriftsteller, Verfasser vornehmlich von Dramen. 112
130
1903 M a x B e c k m a n n
einmal so vor Augen zu bringen", wie Nietzsche es gesehen habe. Dabei werden seine Schätzung des jüdischen Altertums „als eine der bedeutungsvollsten geistigen Mächte" sowie sein Glaube an die künftige „Herrschaftsrolle" des jüdischen Volkes in Europa hervorgekehrt. 318
S i m o n , T h e o d o r , F r i e d r i c h N i e t z s c h e s religiöse J u g e n d e n t w i c k -
lung. ( T R s U n t e r h . - B e i l . v. 2 8 . u. 3 1 . 8 .
u.
1.9.1903,
S. 8 0 1 f.,
8 1 0 f.,
8 1 3 ff.). Unter Benutzung der schwesterlichen Lebensbeschreibung und des Werkes von Deussen (Nr. 32) verfolgt Verfasser die Entwicklung des „unerbittlichsten, fanatischsten Hassers des Christentums, den unsere Zeit geboren hat", bis zu dessen Entdeckung Schopenhauers. Man sehe „bis in die letzten Schriften die Auffassung vom Christentum nachwirken, die er aus diesem Philosophen aufgesogen hat". 319
(St. B e r n h a r d ) , E i n i g e G e d a n k e n zu N i e t z s c h e s
„Zarathustra".
( D Z J m N r . 4 1 , 1 9 0 3 , S. 4 8 4 — 4 8 8 ) . Verfasser beklagt, daß das W e r k „das Mißgeschick" erlebe, „zum Buch des Salons, zum Buch der Dekadenten, der ,viel zu vielen' zu werden": „Der tiefste lebenslänglich schmerzliche Konflikt, von dessen Wunden der Zarathustra immer wieder
erzählt,
ist
die
schmerzlich
erkämpfte
Uberwindung
der
konfessionell-religiösen Ansichten, um so schmerzlicher, je heiliger und echter die Jugendbegeisterung war, mit der sich die edle Jünglingsseele einmal der Religion in die Arme geworfen hatte." — „Im letzten Grunde ist an Nietzsche etwas Unstätes, ein krankhaftes in Fernen Herumjagen und nie erreichen, ruhig besitzen Können, eine flügelbrausende Sehnsucht, die nie Erfüllung finden kann." 320
Anwand, O., V o n Nietzsche zum Christentum. ( T a g Nr. 365,
1903).1,3 Untersucht den Einfluß Nietzsches auf Melchior Lechter, Strindberg und Gerhart Hauptmann. Lechters „Rauschkunst" bedeute „nichts als ein Wiedererwachen der die Sinne einschläfernden und berückenden weihrauchschweren Kirchenkunst des Katholizismus"; in seinem „Rausch" betitelten Drama entsage Strindberg „dem Streben nach Macht und kehrt zur Moral des Christentums . . . zurück"; auch Hauptmanns „Versunkene G l o c k e " bekunde, daß der Stolz „etwas Gott nicht Wohlgefälliges" sei. R e c h t knapp, d o c h d u r c h a u s nicht belanglos sind die
Erwähnungen
N i e t z s c h e s in den A u f z e i c h n u n g e n M a x B e c k m a n n s . A m 2 9 . A u g u s t
1903
v e r m e r k t e e r in W e i m a r : „ N i e t z s c h e . N u n ja, c'est la f e m m e p o u r tous. D i e G r o ß e n k ö n n e n bei ihm g r o ß sein, die Kleinen a u c h , n u r die M i t t e l m ä ß i g keit m u ß e t w a s suchen. V e r w e n d e t viel Geist, schimpft aus
Erbarmen.
S c h r e i b t anscheinend mit H e r z b l u t und hat sehr viel gelesen. E i g n e t sich
115
A n w a n d , O s k a r (Breslau schichtlicher R o m a n e .
1 6 . 7 . 1872 — Berlin
1 5 . 5 . 1 9 4 5 ) , vorwiegend Verfasser
ge-
1903 Eine „kommende, lichtere und mildere Cultur"
131
auch besonders für solche, die in Zitaten lieben."" 4 Im April 1904 beschrieb er einen recht bedrückenden T a g „in einem kleinen Stink-Café" in Chalons sur Saône — „Eigentlich kann ich mir kaum vorstellen, daß es noch irgend etwas Schönes in der Welt gibt." — und schließt dann mit der Bemerkung: „Es ist zwar gemein, in diesem Lokal Nietzsche zu lesen. Mais. — ""5 V Friedrich Nietzsche: An den Mistral/An G o e t h e / V e r e i n s a m t / N a c h neuen Meeren/Sils-Maria/Bei der dritten H ä u t u n g / N i e d e r g a n g / D e r W e i s e spricht/Sternenmoral/Die Sonne sinkt (doch nur der zweite T e i l ) / U m Mitternacht. In: Moderne Deutsche Lyrik. M. e. literargeschichtl. Einl. u. biograph. N o t i z e n hg. v. H a n s Benzmann. Reclam. Lpz. (1903), S. 4 0 2 - 4 0 7 . In der Einleitung, „Die Entwicklung der deutschen Lyrik", wird verschiedentlich auf Nietzsche hingewiesen, so im Zusammenhang mit Liliencron (S. 34), Dehmel (39), Franz Evers (40, 42) und Morgenstern (51 f.). Auf S. 36 heißt es über die Zeit um 1890: „An Stelle der Sozialethiker und Gesellschaftsreformatoren trat der Denker und Dichter und vor allem der Stilist Friedrich Nietzsche." Lediglich folgenden Dichtern wird mehr Raum als Nietzsche in der Sammlung gewidmet: Hans Benzmann, Bierbaum, K. Busse, Dehmel, Franz Evers, G. Falke, Fontane, J. Hart, K. Henckell, Holz, Liliencron, C. F. Meyer, Mombert, Morgenstern, SchoenaichCarolath, G. Schüler und K. G. Vollmoeller." 6 V a Dass. 2. gänzl. veränderte Aufl. (1907), S. 422 — 428. „An Goethe" fehlt, dafür aber ist „Die Sonne sinkt" mit allen drei Teilen vollständig enthalten; sonstige Fundstellen in der Einleitung auf S. 35 f., 37, 41, 42, 44, 53. 321 Schmitt, Dr. Eugen Heinrich (Budapest), Nietzsche's Culturgedanke. (dZeit Nr. 467 v. 12. 9. 1903, S. 289 ff.). Nietzsches „große Schöpfung" sei der „Gedanke des Ubermenschen", dem er sein „Zarathustra" geweiht habe, „eines der herrlichsten prophetisch-mystischen Gedichte der Weltliteratur". — „Die Sprüche der heiligen Gnosis umrauschen uns und ihre Mysterien weben wieder um uns ihre Kreise." „Nicht . . . die reißende prachtvolle blonde Bestie" sei Nietzsches „letztes Geheimnis", er verkünde vielmehr eine „kommende, lichtere und mildere Cultur". 1.4
1.5
M. B., Sichtbares und Unsichtbares. H g . u. m. e. Nachw. versehen v. Peter Beckmann. Einf. v. Peter Selz. Chr. Belser. (St. 1965), S. 48; Beckmann, Max (Leipzig 12. 2. 1884 — New Y o r k / U S A 27. 12. 1950), Maler. Ebd., S. 58. Drei weitere, sonst unveröffentlichte Tagebuchstellen aus derselben Zeit, die Erwähnungen Nietzsches enthalten, bringt Ernst-Gerhard Giise (Das Frühwerk Max Beckmanns. Z u r Thematik seiner Bilder aus den Jahren 1904—1914. = Kunstwissenschaft!. Studien. Hg. v. Alexander Perrig. Bd. 6. Lang. Ffm., Bern 1977, S. 61, Anm. 103. Güse stellt den Einfluß Nietzsches, bes. von dessen „Lebensphilosophie", auf den jungen Beckmann als entscheidend dar, einen Einfluß, der bis in den Weltkrieg hinein andauerte. Eine Abkehr verzeichnet sich deutlich erst in Randbemerkungen zum „Zarathustra", die wahrscheinlich 1935 gemacht worden sind. (Ebd., S. 56 u. 77, Anm. 474). Benzmann, Hans (Kolberg 27. 9. 1869 — Berlin-Steglitz 7. 1. 1926), Dichter.
132
1903 Die Einweihung des neugestalteten Archivs
322 Müffelmann, Dr. L. (Rostock), Die „ewige Wiederkunft" und ihr moderner Vorkämpfer. (FZg v. 12. 9. 1903). D e m V e r f a s s e r ist die e w i g e W i e d e r k u n f t „der f o l g e n s c h w e r s t e , tiefschneidenste, größte und furchtbarste G e d a n k e , den je eines M e n s c h e n H i r n konzipierte". D i e Lehre sei aber w e d e r wissenschaftlich, n o c h sittlich z u erhärten, sie k ö n n e e b e n s o z u „Optimismus und M e n s c h h e i t s e r h ö h u n g , w i e zu Pessimismus und fatalistischer Tatenlosigkeit" führen. G e b o r e n sei sie „aus d e m auf die Spitze getriebenen Individualismus": „. . . der stärkste A u s d r u c k des Subjektivismus".
Am 15. Oktober 1903 wurden die unter der Leitung Henry van de Veldes umgebauten und umgestalteten Räume des Nietzsche-Archivs in Weimar eingeweiht. Karl Albrecht Bernoulli berichtete darüber recht ausführlich, wie mit dieser Feier, deren „privater Charakter auch durch Ausschluß der Presse gewahrt" worden sei, „einer der wirkungsfähigsten Geister der jüngsten Vergangenheit von einer engeren Gemeinde seiner Getreuen Haus und Ehrenmal gestiftet erhielt". Als Festredner werden Riehl aus Halle, Lichtenberger aus N a n c y , Rudolf Burckhardt aus Basel und Dr. Francesco Orestano, „Docent an der Universität Palermo", erwähnt, und es wird die Ansprache des Vorletzten, der von „Nietzsches Liebe zu dem Süden" sprach, im wesentlichen wörtlich wiedergegeben." 7 323 Stadler, Margarete, Sils Maria. Ein Gedenkblatt zum 15. Oktober, dem Geburtstage Friedrich Nietzsches. (DrA v. 15. 10. 1903). Erzählt recht unergiebig v o n einem Besuch in Sils, bei dem sie nicht nur mit d e m Wirt N i e t z s c h e s , s o n d e r n auch mit einem „Einheimischen", einem früheren
117
NZZg. v. 20. u. 21. 10. 1903; s . a . den Bericht von Dr. Paul Kühn: Die Einweihung des Nietzsche-Archivs und die Nietzsche-Gedächtnisfeier in Weimar. ( L N N v. 20. 10. 1903). Zur Feier gab es auch: Das Programm zur Enthüllung einer Nietzsche-Büste. 1 Bl., in dem der Verlauf der Einweihungsfeier der Räume und die Teilnehmer verzeichnet werden. Siehe noch: Burckhardt, Prof. Rud. (Basel), Worte gesprochen bei Anlaß der Feier des Gedächtnisses an Friedrich Nietzsche in Weimar den 15. Oktober 1903. 3 S. Lesenswert ist folgende darin enthaltene Äußerung: „Zeitlebens hat Nietzsche gewußt, was seine frühe Verpflanzung auf den traditionell humanistischen Boden von Basel bedeutet hatte. Von seiner seltenen Anhänglichkeit an den Schauplatz seines unmittelbarsten Einwirkens auf andere Menschen habe ich ihn selbst sprechen hören . . . Seine Schriften haben ihm die Welt erobert, die ihn während seines Lebens kaum gekannt hat. Wir aber haben in höherem Maße als irgendein Fleck Erde mehr von ihm genossen; wir haben seine Person erlebt. Diese hat die mächtigsten Eindrücke bei all denen ausgelöst, die ihm in regelmäßigem Verkehr nahe treten durften." Burckhardt, Rudolf (1866—1908), Professor der Zoologie in Basel, Sohn des Carl Friedrich Burckhardt, Rektors des Pädagogiums zur Zeit von Nietzsches Befreiung vom dortigen Unterricht; Bernoulli, Carl Albrecht (Basel 10. 1. 1868 — Arlesheim b. Basel 13. 2. 1937), hörte seit Sommer 1888 bei Overbeck und hat bei ihm 1895 seine Licentiatenarbeit angefertigt, habilitierte sich im selben Jahr als Privatdozent für Kirchengeschichte. Eine ausführliche Darstellung und Beurteilung des Verhältnisses Bernoullis zu Overbeck sowie zum Werk Nietzsches und dem Streit mit dem NietzscheArchiv bietet: Pfeiffer, Arnold, Franz Overbecks Kritik des Christentums. Vandenhoeck & Ruprecht. Gott. 1975, S. 2 5 - 7 8 .
1903 „es fehlt ihm leider an allem wirklichen H u m o r "
133
Friiedensrichter, mit dem Nietzsche „sich gern zu unterhalten" pflegte, einige Zeit verbrachte. 324 Drews, Dr. Arthur (a. o. Prof. d. Philosophie a. d. Techn. H o c h schule in Karlsruhe), N i e t z s c h e s Philosophie. C . W i n t e r . Heidelberg 1904. 1 Bl., X , 561 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). D a s W e r k erschien schon Ende 1903. Schon einleitend stellt Verfasser Nietzsche in einen Zusammenhang mit Spinoza, Leibniz, Kant, Fichte, Schelling, Hegel und Schopenhauer in deren Bestreben nach „einer unmittelbaren Erfassung des Seins im eigenen Bewußtsein", im „Cogito ergo sum" des Descartes, in „der ebenso naiv vorausgesetzten Indentität des Seins und des Bewußtseins". Etwas später heißt es noch deutlicher und folgenschwerer: „An der Unmöglichkeit einer Lösung des Problems auf dem Boden des Cogito ergo sum ist auch Nietzsche als Philosoph gescheitert. Für die Geschichte der Philosophie ist er aber gerade deshalb eine so bedeutsame und typische Gestalt, weil er in vorbildlicher Weise zeigt, wohin ein solches Unternehmen notwendig führen muß, nämlich zur Auflösung und Zerrüttung aller geistigen Individualität, zum völligen Zusammenbruche des Ich, zum Wahnsinn." Verfasser stellt dann das Leben Nietzches kurz dar und verfolgt darauf das Erscheinen der einzelnen Schriften „in genetischem Zusammenhang". Über die Frühwerke fällt das Urteil öfters günstig aus: Die „Geburt" sei „nicht bloß eines der erfreulichsten, vielleicht das erfreulichste aller seiner Werke, ein Buch, so gedankenvoll, so überreich an neuen Ahnungen und tiefsten Einsichten, in einer Sprache vorgetragen, die, wie Wagnersche Musik, die Seele ergreift", sondern gehöre „zu den schönsten und gehaltvollsten Büchern unserer gesamten Litteratur überhaupt". Am meisten habe man zu bedauern, daß seine „Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen" unvollendet geblieben sei, „denn wenn irgend jemand, so war Nietzsche im stände, ein lebensvolles und originelles Bild jener Epoche zu entwerfen, und was wir von seinem Werke besitzen, ist zum Teil so schön und geistvoll und dringt so tief in das Innerste des griechischen Wesens, daß so leicht kein anderer den spröden Stoff in ähnlicher Vorzüglichkeit wieder wird gestalten können". Bei der letzten der vier „Unzeitgemäßen" fühlt sich Verfasser veranlaßt, die beiden Gegenschriften aus der Zeitfolge hervorzuziehen und wie folgt zu kennzeichnen: „Der Angriff Nietzsches ist geistreich, gewiß; Nietzsche versucht, witzig zu sein, und greift dabei selbst zu den gewagtesten Mitteln. Aber es fehlt ihm leider an allem wirklichen H u m o r , sein Witz hat etwas von dem Bösartigen, Vergifteten und Stacheligen des ,Simplizissimus' oder mancher jüdischer Litteraten, aber Paul Lindau ist harmloser und auch lustiger." Hierauf verweist er auf die 1890 erschienene Schrift von Kulke (s. Bd. I), welche „die Widerlegung der Einwände Nietzsches gegen Wagner vom ästhetischen Standpunkte aus bereits so gründlich besorgt" habe. Verfassers Behandlung von „Menschliches" und dessen zwei Anhängen, die die „Zweite Periode: Nietzsche unter dem Einflüsse des Positivismus", bilden, beansprucht den kleinsten Raum: „Mit einer Rücksichtslosigkeit, die etwas Heroisches an sich h a t , . . . nimmt Nietzsche . . . gegen sich selbst Partei . . . " Die „Morgenröte" und „Fröhliche Wissenschaft" bilden dann den „Übergang zur dritten Periode": „Die Philosophie des freien wollenden Selbst: die Kultur als das Reich des Übermenschen." Mit und seit dem „Zarathustra" tue sich
134
1903 „Das sarmatische Herrentum"
„die Künstlichkeit, das G e m a c h t e , A u s g e r e c h n e t e " hervor, „das ist in der T a t d e r C h a r a k t e r dieses neuen Stiles Nietzsches, auf den sich der letztere selbst so viel zu gute getan hat": „Aber was d o r t im dichterischen G e w ä n d e erträglich schien, das wird n u n m e h r in der Prosadarstellung seiner G e d a n k e n m e h r und m e h r z u r M a n i e r und damit abstoßend und unleidlich." N u r der Kritik am C h r i s t e n t u m kann V e r f a s ser noch einiges abgewinnen und d r ü c k t dies sehr u n u m w u n d e n aus: „ V o n dem g e r manischen Stamme der arischen Rasse wenigstens ist sicher, d a ß er u n t e r der christlichen Infektion mit semitischer Geistesart schwer gelitten hat . . . D e n n man t ä u sche sich nicht d a r ü b e r , daß die Geschichte des Christentums bei den germanischen V ö l k e r s c h a f t e n die Geschichte einer beständigen o f f e n e n o d e r geheimen A u f l e h nung gegen die fremdrassigen Elemente darstellt, d a ß mit dem E r w a c h e n des g e r manischen Selbstbewußtseins in der Mystik und Scholastik der K a m p f gegen den christlichen Semitismus beginnt und immer neue ketzerische R e g u n g e n zu T a g e f o r d e n , welche die Kirche vergeblich zu u n t e r d r ü c k e n strebt, und d a ß die g e s a m t e germanische Spekulation bis auf H e g e l , S c h o p e n h a u e r und H a r t m a n n mit ihrer instinktiven H i n n e i g u n g z u m Pantheismus im tiefsten G r u n d e antichristlich ist." V e r fasser verschmäht es nicht, sogar C h a m b e r l a i n in einer längeren A n m e r k u n g noch als G e w ä h r s m a n n a n z u f ü h r e n . Auch ist er dem P o l e n g e r ü c h t verfallen und gebraucht die „ursprünglich polnische A b s t a m m u n g " nicht n u r d a z u , N i e t z s c h e s „ w a h r h a f t groteske D e u t s c h e n v e r a c h t u n g " zu erklären und ein „neues Licht auch auf Nietzsches Verhältnis zu W a g n e r " zu w e r f e n , s o n d e r n meint n o c h : „ D a s sarmatische H e r r e n t u m in ihm tut den Firnis der westeuropäischen Zivilisation von sich ab, der sein W e s e n bisher vor den Blicken der W e l t v e r b o r g e n hat, und erklärt sich selbst in u n g e z ü g e l t e r Freiheit seines Machtwillens f ü r den höchsten erstrebenswerten Zustand des Daseins." Schließlich habe man es bei N i e t z s c h e „mit einem e i n z i g e n G e d a n k e n zu t u n " , mit d e r „Frage nach dem W e s e n und d e r V e r w i r k lichung der K u l t u r " , welche jedoch f ü r ihn „mit d e r a n d e r e n Frage nach dem W e s e n und der V e r w i r k l i c h u n g d e s e i g e n e n S e l b s t " z u s a m m e n f a l l e . Er habe aber w e d e r „einen haltbaren Kulturbegriff aufgestellt", noch „viel w e n i g e r . . . d e r W e l t eine neue M o r a l " geliefert: „Die höchste Moral ist — die U n m o r a l , die höchste Kultur — die U n k u l t u r : in diesen bis zu einem gewissen G r a d e von N i e t z s c h e selbst g e z o g e n e n K o n s e q u e n z e n seiner Philosophie k o m m t der W i d e r s p r u c h in d e r V o r aussetzung derselben klar z u m V o r s c h e i n . " Seine E r k e n n t n i s t h e o r i e verdiene „nicht einmal diesen N a m e n " , und seine „neue Logik" sei, „wissenschaftlich betrachtet, wertlos". W i e d e r h o l t verweist Verfasser auf die Ähnlichkeit N i e t z s c h e s mit H ö l d e r lin, und ebenso o f t stellt er den Einfluß von a n d e r e n auf N i e t z s c h e fest, ζ. B. den Lagardes, W a g n e r s , S c h o p e n h a u e r s , F. A. Langes, D ü h r i n g s , Rées, G o b i n e a u s , Burckhardts und v o r allem E d u a r d von H a r t m a n n s , von dem es in einer A n m e r k u n g heißt: „Ein E. v. H a r t m a n n steht als Philosoph, sowohl was T i e f e , W e i t e , G r o ß a r tigkeit und R e i c h t u m seiner G e d a n k e n , wie V o r z ü g l i c h k e i t d e r F o r m , d. h. A n g e messenheit derselben an ihren Inhalt betrifft, t u r m h o c h ü b e r N i e t z s c h e und h a t es n u r dem U m s t ä n d e , d a ß er seiner Zeit so weit v o r a u s und diese philosophisch so wenig gebildet ist, zuzuschreiben d a ß solches nicht allgemein a n e r k a n n t ist."
1903 Der Zurückgebliebene
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325 Gießler, Dr. Willy, Das Mitleid in der neueren Ethik mit besonderer Rücksicht auf Fr. Nietzsche, R. Wagner und L. Tolstoi. C. A. Kaemmerer. Halle a. S. 1903. 178 S. Befaßt sich verhältnismäßig kurz mit den Ansichten von Arnold Geulincx, Shaftsbury, Mandeville, Francis Hutcheson, Hume, Adam Smith, Montaigne, Charron, La Rochefoucauld, Helvetius, Diderot, Destutt de Tracy, Christian Wolff, Mendelssohn, Lessing, Fichte, Herbart, Feuerbach, Wilhelm Stern, Eduard von Hartmann, Friedrich Paulsen und Wilhelm Wundt, etwas eingehender mit denen von Spinoza, Rousseau, Kant, Schopenhauer, Wagner und Tolstoi, und am ausführlichsten mit denen Nietzsches (S. 129—168). Diesem fehle „in der Tat jedes Verständnis für die im Christentum innewohnende Lebenskraft; er ist undankbar und blind gegen die betreffende Wirkung der Reformation". Indem er „schnöden Priestertrug und bewußte Fälschung" herausziehe, um Christentum und Judentum zu erklären, kennzeichne er sich selber „in der Tat als .Unzeitgemäßen', als Zurückgebliebenen, als würdigen Zeitgenossen eines Reimarus und der Deisten des 18. Jahrhunderts, denen die Gabe geschichtlicher Betrachtung vollständig abging": „Kaum wird sich des Lächelns erwehren können, wer den Abschnitt liest, in dem Nietzsche den Verlauf der Christianisierung der antiken Welt schildert . . . In der Christianisierung Roms und der gesamten antiken Welt fiel die .Herrenmoral' dem verdienten Untergange anheim und bezeugte die .Mitleidsmoral' durch die Überwindung jener ihre Kraft, ihre Wahrheit, ihr alleiniges Existenzrecht." Nur dürfe man ihm „das Verdienst nicht schmälern, daß er in unserer demokratisch gerichteten Zeit den Mut gehabt hat, die Kulturwidrigkeit des demokratischen Nivellements zu betonen. Mit Recht hat er unserer Zeit die Gefahren vorgehalten, die aus allem blinden Gleichschätzen und Gleichmachen erwachsen, und den Grundwert des einzelnen Individuums hervorgehoben."
326 B(arbaros), H(erbert), Kunst und Moral. Briefwechsel zwischen William Shakespeare und Madame Gâches-Sarraute. D o k t e u r en Médecine à Paris. N a c h authentischen Quellen hg. Vlg. v. Cäsar Schmidt. Ziir. 1903. 99 S. Ein erfundener Briefwechsel zwischen dem englischen Dichter und einer 1903 lebenden Ärztin und Korsettfabrikantin. Die Briefschreiberin erwähnt u. v. a. „Nietzsches Geistesflüge" (S. 25) und bezeichnet ihn als „Seigneur de Nietzki, einen neuen deutschen Aesthetiker und Moralphilosophen" (S. 44). Der Engländer antwortete, daß er ihn sogar „wohl" kenne: „Er bemüht sich ernstlich, seine Ansichten hier zu ändern. Er sagte mir, daß die Einsamkeit und seine Kränklichkeit ihm manchen bösen Streich gespielt hätten . . . Jedenfalls hätte er sehr viel ungeschrieben gelassen, wenn er sich ernstlich mit den Naturwissenschaften beschäftigt hätte . . . Er hält gute Kameradschaft mit uns allen . . . Länger dauernde Gespräche z. B. mit mir, mit Sokrates und Immanuel Kant, mit Charles Darwin oder mit Multatuli sucht er zu vermeiden." (S. 44 f.) Eine recht lächerliche Gestalt bietet Nietzsche in der
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1903 „Tatsächlich war es Nietzsche, den sie alle suchten"
„ K o m ö d i e der Irrungen in Immente", die dem Briefwechsel beigegeben ist und in der noch N a p o l e o n , S h a k e s p e a r e , Multatuli und Ariel auftreten (S. 63—71). 1 1 8
327 Spiro, F. ( R o m ) , Nietzsche, Friedrich Wilhelm. (Biograph. Jb. u. Dt. Nekrolog. H g . v. A. Bettelheim. V. Bd. G . R e i m e r . Bln. 1903, S. 388 —426)..Gegenüber der Titelseite des Bandes ist eine T a f e l mit einem Bildnis Nietzsches. Ein im ganzen seinem Gegenstand durchaus geneigter N a c h r u f , der sich in der Darstellung auf den gesamten bis dahin erschienenen lebensgeschichtlichen Stoff stützt. Verfasser betont, daß Nietzsches „rein philologische Arbeiten, von der Preisschrift über D i o g e n e s " bis auf den „ W e u k a m p f zwischen H o m e r und H e s i o d " , schon „heute vergessen" und „ ü b e r w u n d e n " seien. Es verwundert dann nicht, daß er entschieden auf Seiten von Wilamowitz in der Auseinandersetzung um die „ G e b u r t " steht. N u r in der „ H o m e r r e d e " findet V e r f a s s e r eine reiche Gedankenfülle, vor allem den „ t r e f f e n d e n " S a t z vom „unwirklichen .idealen' Altertum, ,das vielleicht nur die schönste BlUte germanischer Liebessehnsucht nach dem S ü d e n ist' . . . es war der erste Schritt auf der Bahn, die zu der Erkenntnis führte, wie f r e m d uns in Wahrheit die Griechen sind . . ." Bei E r ö r t e r u n g von Nietzsches Verhalten „seinen einstigen Führern" gegenüber sei es wichtig, daß er zu ihnen die Fühlung nicht verloren habe; „er trat in ein neues Verhältnis zu ihnen, zu den Griechen wie zu Schopenhauer". Über die S p r a c h e des letzteren habe er „nicht im unklaren bleiben" können, „diese altertümliche Sprödigkeit brachte wirklich der deutschen P r o s a nicht die Erlösung, die selbst G o e t h e noch nicht herbeigeführt hatte; erst N . gab der Sprache die Vollkommenheit und Freiheit, die H a r m o n i e und Geschmeidigkeit, die bis dahin nur die Idiome S ü d e u r o p a s besessen hatten, und seine Fortschritte in dieser Richtung gingen der Entwicklung seiner positiven Erkenntnisse parallel".
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anonym, Zur Nietzche-Literatur. ( P Z v. 29. 10. 1903).
Eine sachlich anerkennende Besprechung der Werke von Richter ( N r . 275) und D r e w s ( N r . 324) sowie eine wärmere desjenigen von Wiesenthal ( N r . 289).
329 Jalloux, E d m o n d (Marseille), Friedrich Nietzsches Einfluß auf Frankreich. A. d. Manuskript übers, v. Wilh. Thal. ( W a g e 6. J g . , 1903, N r . 48 f., S. 1279 f., 1305—1308). V e r f a s s e r meint, daß „keiner" der jungen Franzosen, „die heute schreiben", dem Einflüsse Nietzsches entgangen sei: „Tatsächlich war es Nietzsche, den sie alle
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Im nächsten J a h r f o l g t e : N a t u r und Kunst. Fortsetzung von K u n s t und Moral. Briefwechsel zwischen William S h a k e s p e a r e und M a d a m e G â c h e s - S a r r a u t e , D o c t e u r en Médecine à Paris. N a c h authentischen Q u e l l e n hg. ν. H . Β. Vlg. v. C ä s a r Schmidt. Zur. 1904. 311 S. H i e r ist nur der längere Vergleich des „englischen N i e t z s c h e " O s c a r Wilde mit dem deutschen D e n k e r von B e l a n g (S. 1 9 — 3 1 ) . D i e Einstellung wird durch folgenden S a t z hinlänglich gekennzeichnet: „ W i e viel gesunde und große G e d a n k e n G o e t h e s mochten in Nietzsches und Wildes Gehirn kreisen, ohne den geringsten E i n d r u c k zu hinterlassen, oder um vergessen zu werden und später als vermeintlich eigene G e d a n k e n unbewußt herausgehoben und als vermeintlich eigene geniale Einfälle aufgetischt zu w e r d e n , nachdem sie längst Gemeingut geworden!"
1903 „jeder große Schöpfer . . . notgedrungen ein Nietzscheaner!"
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suchten, denn sie w a r e n z u lebenskundig, zu mißtrauisch, zu sehr an den Pessimismus, der v o r a n g e g a n g e n war, g e w ö h n t , um sich mit d e m etwas faden Optimismus Emersons zufrieden g e b e n z u k ö n n e n ; aber sie w o l l t e n keine Pessimisten sein." Er erwähnt Henri Albert, T é o d o r de W y z é w a , Lichtenberger, D ' A n n u n z i o , Maeterlinck, Alfred Fouillée, Jules de Gaultier, Pierre Lasserre, Charles Chauvin, Paul Gernier und vor allem André Gide, aus dessen „Prétextes" er f o l g e n d e längere Stelle anführt: „Wir sind N i e t z s c h e eine tiefe Dankbarkeit schuldig; o h n e ihn wären vielleicht G e n e r a t i o n e n d a h i n g e g a n g e n , die nur scheu z u flüstern w a g t e n , was er kühn, wild und meisterhaft behauptet. V o n ihm m u ß man a u s g e h e n , w e n n man schaffen will, dann ist ein Kunstwerk möglich. — D a r u m betrachte ich sämtliche Werke N i e t z s c h e s als eine V o r r e d e , man könnte sagen, als eine V o r r e d e zu jeder künftigen Dramaturgie. N i e t z s c h e weiß das und beweist das unaufhörlich. N i e t z sches Wirken muß z u s a m m e n mit dem v o n Shakespeare, B e e t h o v e n und Michel A n g e l o betrachtet w e r d e n , d e n n in ihnen allen ist N i e t z s c h e enthalten. Es ist sogar einfacher zu sagen: jeder g r o ß e Schöpfer, jeder g r o ß e Lebenskünder ist n o t g e d r u n g e n ein
Nietzscheaner!""9
330 Hofmiller, Dr. Josef (München), Nietzsche und Rohde. (Z Bd. 45, 12. Jg., 14. 11. 1903, S. 241—253). Besprechung des N i e t z s c h e - R o h d e - B r i e f w e c h s e l s (P), w o r i n sich „eins der schönsten und bedeutsamsten Kapitel der neueren Geistesgeschichte" widerspiegele.
330a
Auch in Nr. 178a, S. 29—52. Unverändert.
Franz Blei lernte Gide 1904 kennen und schrieb später dazu: „Im Augenblick dürfte die Dürre dieser symbolischen Askese stärker auf Gides H u n g e r gewirkt haben als die Dürre des Protestantismus. Er befreite sich davon in der Satire .Paludes' und in dem Hymnenbuch der ,Nourritures'. Gleich darauf las er Nietzsche und erfuhr beglückt Bestätigung. So wie er sie brauchte. Keineswegs im Sine Nietzsches. Wir waren in jenen Wiener Tagen einmal mit Rudolf Kaßner zusammen, dem Manne, dem aus den anständigsten Gründen diese Schrift abscheulich sein mußte. Als das Gespräch auf Nietzsche kam, machte er kritische Einwendungen, zur großen Bestürzung Gides. Er schien nicht zu merken, daß Kaßners Bemerkungen weniger auf Nietzsche gingen als auf Gides psychologische Zurechtlegung der Doktrin vom Guten und Bösen als einer Art Freibriefes, was immer zu tun, wenn es nur mit aller Intensität gefüllt sei. Ein Dutzend Jahre zuvor war mir Nietzsche in nicht anderer Weise ,der Befeier' gewesen, wenn auch nicht so stürmisch entzückt empfangen wie von dem protestantisch geplagt und in zwei feindliche Welten geteilt gewesenen Gide, der nun für eine kurze Weile, die des heftigsten Rückschlages, aus einem Puritaner so was wie ein Impuritaner wurde . . . " Zeitgenössische Bildnisse, enthalten in: F. B., Schriften in Auswahl. M. e. Nachw. v. A. P. Gütersloh. Biederstein Vlg. Mchn. (1960), S. 272. In dem Erstdruck, A. de Lange. Amsterdam 1940, S. 37, hieß es kurz: „Vom schlechten Gewissen befreite ihn Nietzsche. So heftig war die letzte Wirkung, daß aus dem Puritaner Gide ein Impuritaner wurde. Zunächst." Man lese auch über den expressionistischen Stil: „ . . . es vollzog sich diese Abwendung vom Amüsierbetrieb der Künste in der Malerei, der Plastik, der Musik, der Dichtung — sie alle stellten, radikal und tief, antiliberal und unopportunistisch, inmitten eines allgemeinen Wertzerfalls und einer grauenhaften Wirklichkeitsverkehrung, die Frage: wie ist künstlerische Gestaltung möglich, und bekannten sich zu dem Satz Nietzsches, daß die Kunst die einzige metaphysische Tätigkeit sei, zu der das Leben uns noch verpflichtet." (S. 290; mit demselben Wortlaut im Erstdruck, S. 231); Jalloux, Edmond (Marseille 19. 6. 1878 — Lausanne 22. 8. 1949), französischer Schriftsteller.
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1903 Leopold Ziegler — Robert Faesi 331
R., M., Ein neues N i e t z s c h e - B i l d n i s . Bildwerk v o n M a x
Klein.
( I Z g N r . 3 1 5 2 v. 2 6 . 11. 1 9 0 3 , S . 7 9 4 ) . Bringt eine r e c h t b e g e i s t e r t e S c h i l d e r u n g des Bildwerkes v o n Klein, das g e r a d e in d e n T a g e n in Berlin ausgestellt w u r d e : „In d e n Blick dieser A u g e n h a t d e r K ü n s t ler d e n N e r v seines W e r k e s gelegt, m a n k a n n ja nicht h i n e i n s c h a u e n , o h n e im T i e f sten e r s c h ü t t e r t zu w e r d e n . " 332
E w a l d , O s k a r , N i e t z s c h e u n d die Frauen. ( D i e P e i t s c h e Z a r a t h u -
stras.). ( W a g e 6. J g . , 1 9 0 3 , N r . 5 0 , S.
1324-1328).
D a s „ m o d e r n e W e i b " h a b e ein „ d o p p e l t e s V e r h ä l t n i s z u r P e i t s c h e " : im N a m e n d e r „ E m a n z i p a t i o n " m ö c h t e es sich „von d e r Peitsche b e f r e i e n " , aber d e r
„ur-
s p r ü n g l i c h e , u n v e r t i l g b a r e H a n g " d r ä n g e „ z u r Peitsche z u r ü c k z u k e h r e n " . D a ß eine F r a u N i e t z s c h e a n e r i n sei, sage alles: „ d e n n sie ist es u m d e r Peitsche willen". — „ N i e t z s c h e selber bleibt f r e i v o m V o r w u r f e d e r Brutalität." 333
Z i e g l e r , L e o p o l d , N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e . ( F 5. J g . , 1 9 0 3 , N r . 5 1 ,
S. 1 0 0 8 - 1 0 1 1 ) . Eine sehr l o b e n d e B e s p r e c h u n g des W e r k e s von D r e w s ( N r . 324), das i n s o f e r n erstmalig sei, d a es „ N i e t z s c h e nicht als ein g a n z u n d g a r w u n d e r b a r e s , mit d e r ges a m t e n p h i l o s o p h i s c h e n E n t w i c k l u n g in keinerlei i n n e r l i c h e m Z u s a m m e n h a n g e steh e n d e s P h ä n o m e n a n s i e h t " , u n d das als H a u p t g e d a n k e n a u f w e i s e : „ . . . N i e t z s c h e das tragische O p f e r e i n e r f a l s c h e n M e t a p h y s i k , als das edelste u n d b e d e u t e n d s t e O p f e r des S c h o p e n h a u e r i a n i s m u s . " E i g e n e s ä u ß e r t R e z e n s e n t in f o l g e n d e n W o r t e n : „. . . er h a t t e keine A h n u n g v o n d e m W e s e n d e r d e u t s c h e n P h i l o s o p h i e (wie sein g a n z e s Z e i t a l t e r nicht) . . . Als e c h t e s t e r R o m a n t i k e r b e s a ß er kein G e f ü h l f ü r die historische K o n t i n u i t ä t . . . V o n allen g r o ß e n D e n k e r n u n s e r e r P h i l o s o p h i e k a n n t e N i e t z s c h e n u r S c h o p e n h a u e r , K a n t vielleicht aus z w e i t e r H a n d , die ü b r i g e n g a r nicht." — „ U n d so ist N i e t z s c h e s L e b e n s w e r k v o r w i e g e n d n e g a t i v g e w e s e n ; es erhält n u r d a d u r c h G r ö ß e u n d B e d e u t u n g , d a ß N i e t z s c h e es mit seinem Blute s c h r i e b , d a ß er sein L e b e n d a r a n s e t z t e , u m ein P r o b l e m z u lösen, d a ß auf G r u n d
seiner
P r i n z i p i e n u n l ö s b a r war." 1 2 0 A u s s e i n e r S t u d e n t e n z e i t in B e r l i n u m d a s J a h r 1 9 0 3 s o w i e a u s s p ä t e r e r Zeit erzählt Robert Faesi: „ H e m m u n g s l o s lebten T a l e n t e und T r i e b e sich aus. A u s l e b e n w a r , aus N i e t z s c h e leichtfertig ü b e r n o m m e n , ein L o s u n g s w o r t , Individualismus die Signatur und das Ideal, das auch mir vorschwebte."121 „ E i n P r o p h e t hat freilich jene Zeit überdauert, und auf diesen e c h t e n H ö h e n w a n d e r e r , der sich tragisch verstieg, g e h e n w o h l direkt o d e r indirekt soviele tragikomische o d e r komische Verstiegenheiten zurück.
Nietzsches
g e i s t i g e n K o s m o s als G a n z e n h a t t e m a n d a m a l s n o c h k a u m v e r a r b e i t e t , u n d s e l b e r m a c h t e ich m i c h h i n t e r s e i n e z e i t k r i t i s c h e P r o s a l e i d e r z u s p ä t : d a n n 120 121
Ziegler, Leopold (Karlsruhe 30. 4. 1881 - Überlingen 25. 11. 1958), Philosoph. R. F., Erlebnisse, Ergebnisse. Atlantis Vlg. (Ziir. 1963), S. 104; Faesi, Robert, geb. am 10. 4. 1883 zu Zürich, Literaturwissenschaftler und Schriftsteller.
1903 Otto Rank
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erst erkennend, welche Massen von Gedankengut, ja von ganzen Büchern die Ausbeute seiner Schächte waren. Aber den ,Zarathustra' glaubte ich mir schon damals schuldig zu sein . . ."I22 „Der verneinende Nietzsche überzeugte mich, nicht der krampfhaft Bejahende. In jenem liefen wie in einem Brennglas alle Strahlen aus der Zeitatmosphäre zusammen. Hundert andre Bücher hätte ich mir ersparen können, hätte ich mir Nietzsches Prosaschriften schon früher einverleibt . . . Wieviel andre Künstler bis zu Gottfried Benn haben sich seither zu diesem Glauben bekannt. Mag er für ihre eigene Person halbwegs erbaulich und wenigstens ein schwacher Trost sein, was soll die überwältigende Mehrheit der leidenden Menschen damit anfangen? Er wird ihnen unverständlich und wertlos bleiben."123 „Nietzsche hat zwar als Psychologe seine (d. i. Freuds) Ergebnisse vorausgenommen, aber als H o m o religiosus, der er im Innersten blieb, mit großartiger Gewaltsamkeit eine Ersatzreligion zu gründen versucht: Gott ist tot, es lebe der Ubermensch! Das ewige Leben: im Diesseits, nicht im Jenseits sei es zu suchen."' 24 Den in den Jahren 1903 bis 1905 geführten Tagebüchern Otto Ranks läßt sich vieles auf die tiefe Einwirkung Nietzsches Bezügliche entnehmen, so: „After saying this in advance, I note a third period, whose goal and climax was Friedrich Nietzsche. T o him also I will set up a special memorial, for he was to me at once ideal leader and guide. At the same time, through his works, actually guided by them, I learned to know the music of Richard Wagner . . . Since I had at last finished with my study period, they pressed me to take a position as soon as possible. Fortunately up to then I could not find one and so it drove me again to Nietzsche, to whose entire works I had not yet been able to return. So I left gladly my dark cold milestone and since in the distance before me, far away, no new goal was to be seen, while cold gray mist covered everything, I willingly turned round again; I bathed, as it were, in Nietzsche's spirit and got charmed, weatherproof, bulletproof skin, that should protect me in the meantime against external attacks . . . T o d a y I learned that Nietzsche died of syphilis and although I am not narrow-minded in the comprehension of such things the information shattered me. I had hitherto taken him for a man, brought into the world by a suffering nervous father addicted to drink, in the beginning too sensitive and in-
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Ebd., S. 109. Ebd., S. 180 f. Ebd., S. 409; sonstige mehr beiläufige Erwähnungen Nietzsches auf S. 102, 105, 158, 216, 247, 347, 350, 351, 415.
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1904 Johannes Schlaf
stinctively shy, was diverted to masturbation by his disgust for the woman, which he also maintained later, and was brought to grief on the one hand partly by inheritance from the father, on the other through continued selfabuse; finally however in conjunction with this, the unwholesome, grinding, enervating mental activity, which however only because of the above mentioned conditions was so feverish, irregular, and exhausting. But syphilis! I could not grasp it. Probably because it shattered my pretty theories in which I had considered all points as correct . . . T o represent time as a serpent is a contribution of genius, for first through it came the idea of time, together with that of end and death in the world. Serpent — paradise — Nietzsche . . . W h e n c e would I have had my practical psychological knowledge if I had not been guided by J . F. N. (Nietzsche)."' 2 5 In „Der Kleine. Ein Berliner Roman in drei B ü c h e r n " , schildert J o h a n nes Schlaf mit seitenlanger Ausführlichkeit die Begegnung des Helden mit dem W e r k Nietzsches: „Die Bücher waren Nietzsches .Zarathustra' und J e n s e i t s von Gut und Böse*. D e r Zufall hatte es gewollt, daß gerade Uhse Donald in das Studium Nietzsches einführte . . . Im Grund erschien ihm das alles als nichts anderes, denn eine große geniale sophistische Mystifikation, die ihn in einer unbestimmten und verdrießlichen Weise wieder zu sich selbst zurückführte, ihn wieder vor sich selbst stellte und ihn seinen Ratlosigkeiten mit einem gewissen Satanismus wieder preiszugeben schien . . . Ein besonders großer Philosoph war er auch nicht. Er löste vielmehr die Philosophie in eine aperçuhafte, aphoristische Gaukelei auf; in ein wahres, schillerndes Seifenblasenspiel . . . die Psychophysiologie der W u n d t und F e c h n e r und ihr Monismus etwa begannen ihm seit einiger Zeit weit positivere und furchtbarere Gesichtspunkte, und wie weite und herrliche H o r i z o n t e zu eröffnen . . . Nietzsche war ein großer Provacateur auf ,Teufel k o m m 'raus'. E r war der Berufer irgend einer neuen und modernen Mannheit."' 2 6 Ganz unabhängig von den Caféhauskreisen, in denen er sonst fast ausschließlich verkehrt, lernt Donald Fräulein Ruth Sommerfeld kennen, die sich für die „Nietzscheanerin" Laura Marholm und deren Mann O l a Hans125
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Hier leider nach der englischen Übersetzung enthalten in: T a f t , J . , O . R. A Biographical Study based on Notebooks, Letters, Collected Writings, Therapeutic Achievements and Personal Associations. Julian Press. New Y o r k 1958, S. 15, 17, 32, 34, 47. Der Nachlaß befindet sich in der Butler Library der Columbia University; Rank, O t t o (eigentl. Rodenfeld, Wien 2 2 . 4 . 1884 - New Y o r k / U S A 31. 10. 1939), Psychoanalytiker. Axel Juncker. St. 1904. 2 Bll., 491 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.), S. 1 5 0 — 1 5 5 . Der Held ist Donald Wegener, eben „der Kleine" genannt, 23jährig, Buchhändler, noch völlig keusch in fast jeder Hinsicht und Sohn „sehr wohlhabender Leute". Erst durch seine Liebe zu Ruth und die Ehe entkommt er schließlich den Caféhausgestalten Edwin, dessen verheirateter Freundin Nelly („Sie war so sehr Weib. So völlig Weib.") und sonstigem Anhang.
1904 W a l t e r C a l é
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son interessiert und als Telephonistin eine Broschüre, „Das Recht auf die Mutterschaft", geschrieben hat. Kurz bevor sie sich selbst eingesteht, daß sie in Donald verliebt ist, denkt sie: „Wenn sie nun vielleicht eines von jenen Ubergehirnen war, von denen die da sprachen und die diesen heiligen Urwahnsinn zu ertragen vermögen? In denen er wühlt mit einer neuen Schöpferbrunst? Sie, die n i c h t s mehr zu fürchten haben? . . . Das w a r es! Das Neue, Drängende! — Der zwingende, siegende W i l l e ! H i e r w a r die Kraft, die sie hielt und stählte. Das, w a s ihre Bewegungen elastisch machte; was ihr so viel Energie geben konnte; was unbeirrbares, sicheres Gefühl und Zuversicht w a r ; was ihre Stimme zu tiefem, vollem Metallklang stählte; was die Seele ihrer Brustlinie, ihres Bauches, ihrer Hüften und Schenkel, ihres Nackens und ihrer Armlinien w a r ; das, was die Männer in sie närrisch machte; die Magie des Vollweibes! Ach! Es gab, es m u ß t e eine Welt, eine Heimat ü b e r dem Tierglück der Philister und der Herde geben! — Diese übermenschliche befreite W e l t w a r ! " ' 2 7 In seinem T a g e b u c h aus dem Anfang des Jahres 1904 vermerkte W a l ter Calé Folgendes: 1 2 8 „Nietzsche spricht von den ,Tücken' und ,Fangstricken' seiner Bücher, weil er der ,Immoralist' sei. Das ist jedoch lange nicht so gefährlich, wie er selber glaubt; die W u t , das Pathos, mit dem er die alte Moral bekämpft, mit der er neue ,Werte' setzt, zeigt an, daß das rein formale Sollen in ihm eine starke Macht w a r ; sonst hätte der bestimmte ,Inhalt', an den es bis zu seiner Zeit geknüpft w a r (das Moralische), ihn nicht so sehr abgequält; er wendet sich nicht gegen die Moral als solche, sondern gegen einen bestimmten Inhalt derselben, und gibt ihr einen n e u e n Inhalt: nicht jenseits von Gut und Böse, sondern nur auf Seiten des Bösen, nicht Immoralist, sondern Antimoralist. Die Begeisterung, die er weckte, besonders bei der begeisterungsfähigen und -bedürftigen J u g e n d , zeugt von seiner starken m o r a l i s c h e n Qualität; und wenn diese Nietzscheaner sich noch so übermenschlich gebärden, sie glauben doch mit ihrem ,Bösen' das Wertvolle, i. e. Gute zu tun, und kommen, ob sie wollen oder nicht, ins Paradies grad' wegen ihrer Nietzsche-Begeisterung; denn die ist n a i v . — Einen Punkt gibt's allerdings, wo N. wirklich Immoralist wird und gefährlich wirkt: in der Psychologie, mit der er W a g n e r aufdeckt, H a l t ! denkt man; wenn er dem so auf
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Ebd., S. 278. W . C., Nachgelassene Schriften. M. e. V o r w . v. Fritz Mauthner. H g . u. eingeleitet v. Arthur Brückmann. S. Fischer. Bln. 1920, S. 343 f.; noch eine einzige, beiläufige Erwähnung Nietzsches findet sich in dem W e r k , auf S. 341; Calé, W a l t e r (Berlin 8. 12. 1881 - ebd. 3. 11. 1904 durch Freitod), studierte zunächst J u r a und darauf Philosophie in Berlin.
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1904 Heinrich Lilienfein
die S c h l i c h e k o m m t , — w a s muß d a s f ü r ein g e r i e b e n e r M e n s c h sein, — w e n n er vielleicht W . u n r e c h t tut ( w a s ich nicht g l a u b e ) , — d a ß er solch ein U n g e h e u e r , wie s e i n W a g n e r ist, d a n n a u s sich e r z e u g e n k o n n t e ! B e d e n k lich! — ist d a n n v i e l l e i c h t sein P a t h o s nicht a u c h . . . still — — b e d e n k lich!" 334
Lilienfein, H e i n r i c h , M o d e r n u s . D i e T r a g i k o m ö d i e seines L e b e n s
— aus B r u c h s t ü c k e n ein B r u c h s t ü c k . 2. A u f l . C . W i n t e r . H e i d e l b e r g 1905. 3 Bll., 2 2 0 S . , 2 Bll. ( = V l g s . - a n z . ) . D i e E r s t a u f l a g e , v o n d e r kein E x e m p l a r e i n z u s e h e n w a r , erschien s c h o n 1904. Modernus wird von den Mitstudierenden für einen „Mucker gehalten, der noch an Mutters Schürze hängt". Sein Glaube erleidet bei diesem Umgang auch kleine Erschütterungen, aber erst nachdem Marianne, die 16jährige Tochter seiner Wirtin, in sein Leben getreten ist, Gegenstand seiner Liebe wird und kurz darauf stirbt, verliert er Gott gänzlich und erkennt in ihm nur noch ein „kindliches Hirngespinst". Drei Jahre später sieht man ihn „eine dürftige Hauslehrerstelle auf einem einsamen Rittergut, einige Meilen von Berlin", antreten. Nach anfänglicher Einsamkeit und Mißbehagen wird er von der gräflichen Hausherrin — „Ohne Wagner gibt es keine moderne Bildung!" — mit Wagners Musik bekanntgemacht. Er wird von ihrem Spiel vollkommen überwältigt: „An den Wurzeln meiner Nerven rissen die T ö n e : ich glaubte, jeden Augenblick zusammenzubrechen." Nach einem gemeinsam verbrachten Tristanabend in Berlin muß er erkennen, daß er nun in die Gräfin verliebt ist, ohne daß sie sich aber anders gegen ihn benimmt. Einige Zeit darauf lernt er bei ihr einen „düstren Gast" kennen, einen gewissen Scarpina. Dieser zitiert Nietzsche schon bei der ersten Begegnung, doch ohne ihn zu nennen. Modernus verabschiedet sich von der Gräfin und zieht zu seinem „neuen, fast unheimlichen Freund" Scarpina auf dessen Landhaus in einem Berliner Vorort. Durch Scarpina wird er zum Zuschauer eines lebenden Bildes, das die Vereinigung von Jesus und Dionysos zum Inhalt hat. Es ist nämlich eine Gruppe von „Bacchanten" um Scarpina als ihren Mittelpunkt versammelt. Sie veranstalten „Bacchenfeste" und geben eine Zeitschrift „Der Thyrsos" heraus. Scarpina wird nach kurzer Zeit als „unechter Zarathustra" verschrieen, und jetzt erst erfährt der Held von dem „tanzenden Philosophen": „Die Siegel ist erbrochen. Wie aus einer Zauberflasche strömt er mir entgegen: Schwerer, süßer, betäubender Würzeduft! . . . Seltsam-gewaltige Lehre, der längst ich zugereift, und die sich nun über mich senkt, mit des Sommers Segenskraft meine Frucht vollendend!" Der Held wird als neuer Zarathustra anerkannt; aber ohne Scarpinas „klingendes G o l d " verblüht „Der Thyrsos", und die Bacchanten verlassen ihren neuen Sänger. Aus der erneuten Armut reißt ihn der eigene Bruder und bietet ihm „die erbärmlichste Lehrstelle an einer Privatschule" in der Heimat an. N u r sein Nietzsche-Erlebnis hält ihn noch aufrecht und ermöglicht die Annahme der brüderlichen Hilfe: „Ein halbes Jahr früher — und ich hätte ihn nicht überlebt! Aber zu guter Stunde faßte ich dich, du ,Geländer am Strom'! liebte ich dich, du Rätselrater und Erlöser des Zufalls und Sänger des großen Mittags! kamst du über mich, ,der Wind mit schrillem Pfeifen, der den Burgen des T o d e s die T o r e aufreißt'! T u deinen Schlund auf, Zukunft, und drohe mir, trostloser noch als alle
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G e g e n w a r t , mit d e i n e m A b g r u n d : , W e r d e n A b g r u n d sieht, a b e r mit A d l e r s - A u g e n , w e r mit A d l e r - K r a l l e n d e n A b g r u n d f a ß t — d e r h a t M u t ! ' " ( S . 166 f.) K a u m w i e d e r z u H a u s e verliebt er sich in die F r a u s e i n e s B r u d e r s , n i m m t ihren S c h r e i u m bald i g e E r l ö s u n g aus d e r E h e a b e r nicht e r n s t , u n d sie w i r d w a h n s i n n i g . E r will j e t z t nichts m e h r mit „ g e d a c h t e n " M e n s c h e n u n d W e l t e n zu tun h a b e n , s o n d e r n u m „einen l e b e n d i g e n G o t t " r i n g e n , und es k o m m e n ihm j e t z t e r n s t h a f t e B e d e n k e n ü b e r Z a r a t h u s t r a : „ W e r k e i n e n W i l l e n hat, lebt nicht. V e r f l u c h t , ein B e t t l e r , eine M i ß g e b u r t , w e r nur f ü h l t und d e n k t , a b e r nicht hat, w a s G e f ü h l u n d G e d a n k e m e i s t e r t , d a ß sie nicht W o r t e , s o n d e r n T a t e n w e r d e n ! O Z a r a t h u s t r a — ich w e i ß , d a ß d u viel v o m W i l l e n z u mir r e d e t e s t , u n d dein U b e r m e n s c h ist ein A u s b u n d , s t r o t z e n d v o n W i l l e n . A b e r mir a h n t : W e r w i r k l i c h W i l l e h a t , m u ß ü b e r d e i n e n W i l l e n z u m W i l l e n — in sich h i n e i n l a c h e n . O d e r w ä r e nicht d e s W i l l e n s K e u s c h h e i t — sein S c h w e i gen?"129
Aus dem frühen ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts erzählte Werner Weisbach: „Wenn ich den Namen Nietzsches bisher nicht genannt habe, so geschah es, weil ich in meiner früheren Jugend, als seine Werke sich eben in weiterem Kreise durchzusetzen begannen, noch keine stärkeren Impulse durch ihn empfing. Meine Auseinandersetzung mit ihm fiel in die Zeit, als ein Widerwille gegen die Wilhelminische Zivilisation in mir um sich griff. Daß mich die künstlerische Form seiner Sprache entzückte, bedarf keines Wortes. Und konnte es anders sein, als daß ich mich seinem Bildungsideal verbunden fühlte und mächtig dadurch angezogen wurde, daß er einen heroischen Geist für die denkerische Sphäre aufrief? Kultur- und Moralkritik fand in jenem Augenblick, als ich mich von bestehenden Verhältnissen abgestoßen fühlte, ein williges Ohr. Aber der von Nietzsche bekundete Radikalismus und Machtenthusiasmus war meiner Natur zu wesensfremd und übte als Wunschbild keine Gewalt über mich aus. Mit Goethes Weltsicht vertraut, rückte ich die fanatisch zerschmetternde und Luftschlösser aufbauende Gestalt des Dichterphilosophen mehr in die Peripherie meines Denkens, wenn ich mir auch nicht verhehlte, daß das tragische Konfliktempfinden, in das wir Späteren uns gestellt sahen, für den Weimarer Goethe eine terra incognita war." 1 3 0 In Begleitung von Nietzsches Schwester besuchte G e o r g Groddeck 1904 Nietzsches Grab in Röcken und erzählte geraume Zeit später in einem Brief an Hans Vaihinger folgendes, wohl durch die Schwester vermitteltes Ereignis aus damaliger Zeit:
Lilienfein, Heinrich (Stuttgart 20. 11. 1879 — Weimar 20. 12. 1952), Bühnenschriftsteller und Erzähler. ne ^ / w . , „ U n d alles ist zerstoben." Erinnerungen aus der Jahrhundertwende. Reichner. Wien, Lpz., Zür. (1937), S. 392; Weisbach, Werner (Berlin 1. 9. 1873 - Basel 9. 4. 1953), Kunstwissenschaftler. ,2i
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1904
„Wie sonderbar es in Pforte, das ich v o n g a n z e m H e r z e n liebe, manchmal zuging, geht daraus hervor, daß man es im Jahre 1904 noch nicht wagte, ein Bild N i e t z s c h e s , ein G e s c h e n k der Schwester, aufzuhängen." 1 3 0 1 335 T h o m ä , J., N i e t z s c h e und das Christentum. ( D A G 6, 1904, Nr. 1 - 4 , Sp. 3 — 7, 3 4 - 3 9 , 5 1 - 5 6 , 81 — 84). Meint, „das Beste in ihm" sei an „seiner Gottesfeindschaft" gestorben und seine Lehre sei „die von allen Halbheiten und Verkleidungen gelöste Moral des natürlichen Menschen": „Wir lernen nicht nur aus dem, was Nietzsche hatte, sondern noch mehr aus dem, was ihm fehlte." Verfasser begrüßt besonders die klare Scheidung der Geister, welche Nietzsches Schriften fördern. 336 Ki., Α., (LCB1 Nr. 1 v. 2. 1. 1904, Sp. 6 f.). Eine knappe Anzeige des Werkes von Rittelmeyer (Nr. 311), dessen „Beurteilung der vorgeführten Lehren Nietzsches . . . besonnen und maßvoll" sei. 337 Ball, Adolf (Oberlehrer), D i e P ä d a g o g i k Friedrich Nietzsches. Vortrag, gehalten in der H a u p t k o n f e r e n z d. Schulinspektionsbezirkes Chemnitz I. ( S S Z g N r . 5 f. v. 29. 1. u. 5. 2. 1904, S. 63 — 67, 7 9 - 8 3 ) . Verfasser macht den ernsthaften Versuch, das pädagogisch Wertvolle der Philosophie Nietzsches zu entnehmen, die er einleitend als „antisozial, antiliberal, antidemokratisch — antifeministisch — antitheatralisch — überhistorisch, übernational, übermoralisch, zwar nicht als antireligiös, aber als antichristlich" kennzeichnet. Nietzsche habe zwar das Christentum „nicht als Gährungsferment des Lebens" anerkannt, „das allen Neuschöpfungen und Neuanpflanzungen sich bisher als günstig erwiesen" habe, doch sei es sein „Verdienst", „das große schöpferische Lebensgebiet der Religion der Domäne des Verstandes und der Logik entrückt zu haben": „Seine Prosa in Zarathustra ist erhaben und erinnert an den Stil der Psalmen." Die Wichtigkeit seiner Philosophie für die Pädagogik behandelt Verfasser eingehend in bezug auf Religion, Geschichte, Gesang, Deutsch und Naturgeschichte. Beim Deutschunterricht kommen ihm fast die größten Bedenken, denn er sieht in Nietzsches „Verachtung von Begriff und Grammatik und in dem Appell an das Sprachge-
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C. G., D e r Mensch und sein Es. Briefe, Aufsätze, Biografisches. ( H g . v. Margaretha H o negger.) Limes (Wiesbaden 1970), S. 125, in einem recht langen Brief an Vaihinger über Groddecks Vater und den möglichen Einfluß von dessen 1849 erschienener Doktorarbeit „Die demokratische Krankheit, eine neue Wahnsinnsform" auf Nietzsche. S. a. S. 120 (Groddecks Gebrauch des Begriffes „Es" „im Anschluß an Nietzsche"), 140 (zu einer Nietzsche-Stelle über „die Folgen der Ächtung männlicher Homosexualität"), 190 u. 196 f. ( N i e t z s c h e über das W e s e n des „Es"), 208 (über den Willen zur Macht und Adlers Gebrauch davon), 376 (zu den frühen Einflüssen auf sein „Sprechen, Schreiben und Denken" vermerkt G r o d d e c k zunächst die Einwirkung Carlyles, F. T . Vischers, Tacitus' und Heines und schließt dann mit f o l g e n d e m Satz: „Erst g e g e n die Jahrhundertwende drängte der Einfluß Nietzsches sich vor, w o d u r c h die Sache g e w i ß nicht besser wurde."); Groddeck, Walther G e o r g (Bad K o s e n 13. 10. 1866 — Schloß K r o n a u / S c h w e i z 11. 6. 1934), Enkel des während Nietzsches Schulzeit in Pforta wirkenden Liteaturhistorikers August Koberstein und selber von 1878 an 6 Jahre Schüler in Pforta, wurde praktischer Arzt, gründete 1900 eine Klinik in Baden-Baden, seit 1917 im Briefverkehr mit Freud.
1904 Ellen Key über „Moderne Liebe"
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fühl als letzten und alleinigen Richter eine neue Gefahr". Zusammenfassend meint er, was Nietzsche predige, sei „keineswegs aristokratischer Anarchismus, sondern e t h i s c h e r P e r s o n a l i s m u s " : „Seine Philosophie bildet somit einen mächtigen Damm gegen die alles verheerende Springflut des Sozialismus, der um den einzelnen kämpft, um ihn als ,Herdentier' zu verwerten." Vor dem „Furchtbaren" seiner Philosophie habe man das „Fruchtbare" nicht gesehen; seine Negationen haben öfters „die Bedeutung einer befreienden, reformatorischen Tat". 338 Baur, Dr. Ludwig (Tübingen), (PhJbG 17. Bd., 1904, S. 31 1 - 3 3 7 ) . Eine Besprechung der Schriften von Richter (Nr. 275) und Drews (Nr. 324), die bei aller Anerkennung einzelner Vorzüge — Richters „Beurteilung der Nietzscheschen Metaphysik und Erkenntnistheorie" dürfe als „gelungen" bezeichnet werden, Drews gebe „eine einläßliche und präzise . . . Analyse der einzelnen Schriften" — beide, vor allem aus christlich-katholischer Sicht wertend, schwer bemängelt. Eigentümlich jedoch klingt die Bevorzugung der Arbeit von Drews, die „eine rückhaltlos anerkenneswerte Leistung gewesen" wäre, hätte ihr Verfasser „sich entschließen können, die rassentheologischen Schnörkel wegzulassen". Gerade bei Drews, mit seiner Betonung der „persönlichen körperlichen und geistigen Zustände, Stimmungen, Anlagen, Einflüsse", vermißt Rezensent die Bloßstellung von Nietzsches unhistorischen, inhaltlich falschen, formell pöbelhaften und oberflächlichen Angriffen auf das Christentum. 339 a n o n y m , (LCB1 N r . 5 v. 30. 1. 1904, Sp. 155 f.). Eine sachlich kühle Besprechung der dritten Auflage der ersten und der zweiten Auflage des zweiten Briefbandes. 340 Siebert, Dr. O . (Fermersleben), ( Z P h K Bd. 123, H . 1, 1904, S. 1 0 1 - 1 0 4 ) . Besprechung der 2. Auflage des Werkes von Riehl (s. Bd. I), der „sein, im ganzen gefaßt, gediegenes Urteil, seine gerechte Kritik und eigene Stellungnahme zu Nietzsche offen ausspricht und damit ebenso bekehrend als klärend wirken muß". Die eigene ablehnende Einstellung verrät sich in folgender Kennzeichnung: „Kein Gebildeter kann gleichgültig an diesem bleichen, landflüchtigen Mann vorübergehen, der in sich selbst verzehrender Sehnsucht am südlich blauen Gestade der Riviera traumverloren einherirrte, bis ihn die ewige Nacht des Wahnsinns umfing . . Lesenswertes über N i e t z s c h e bringt ein A u f s a t z v o n Ellen K e y über „ M o d e r n e Liebe", in d e m es u. a. heißt: „ D e r z w e i t e g r o ß e ,Frauenschmäher' der Zeit (d. i. nach Strindberg) ist N i e t z s c h e . U n d d o c h hat kein M a n n g r ö ß e r e W o r t e v o n der Mutterschaft gesagt als er, der p r o p h e z e i t , daß die Frau als Mutter die W e l t erlösen wird. Kein Z e i t g e n o s s e hat stärker die B e d e u t u n g der S c h ö n h e i t u n d G e s u n d h e i t der Ehe für die S t e i g e r u n g des M e n s c h e n g e s c h l e c h t s betont. Kein D i c h t e r hat reichere W o r t e über das W e s e n der g r o ß e n Liebe gesagt. A b e r keiner hat den neuen W i l l e n des W e i b e s z u eben dieser Liebe w e n i g e r verstanden. Kein Seelenforscher der neueren Z e i t hat tiefere E n t d e c k u n g e n in der
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Menschennatur gemacht, aber f ü r keinen hat ,Mensch' ausschließlicher , M a n n ' bedeutet . . . In der Unempfindlichkeit f ü r den W e r t h weiblicher Persönlichkeit auf dem Gebiete der Erotik kann Nietzsche mit Luther verglichen werden. D e r redet freilich in der groben M u n d a r t des Stallknechtes, Nietzsche dagegen mit der beflügelten A n m u t h des Dichters . . . N a c h der Begegnung mit Nietzsche d ü r f t e es der Frau von heute so ergehen wie Psyche nach der Begegnung mit Pan, der sie g e m a h n t hatte, sich der Sorge des Suchens zu entschlagen und mit leichter e r r u n g e n e n Freuden zu t r ö sten: sie wird erneute K r a f t fühlen, das große Ziel ihrer Sehnsucht zu erreiL «UI chen.
Welch eigenartigen Einfluß W o r t e Nietzsches manchmal ausüben konnten, zeigt ein Erlebnis H e r m a n n Bahrs: „In meiner Lebenskraft und in meiner Lebensform blieb ich immer K a tholik. Als ich mich, 1904, sterbenskrank darauf besann, w a r ich zunächst noch zu stark in der abergläubischen Furcht vor der Kirche b e f a n g e n ; Kirche klang mir von Jugend auf als Schreckenswort. Burckhard und ich gefielen uns damals eine Zeitlang als neue R o s e n k r e u z e r ; wir wollten K a t h o lizismus, aber einen sozusagen selbstgebackenen, ,ohne P f a f f e n ' . Da w a r ' s ein Satz Nietzsches, der mir den letzten Star stach. In Jenseits von G u t und Böse' las ich: ,Denn , a u t o n o m ' und ,sittlich' schließt sich aus.' G e r a d e solche Selbstverständlichkeiten müssen uns immer erst gesagt werden, um einzuleuchten." 1 3 2 341 Liliencron, Detlev von, P o g g f r e d . K u n t e r b u n t e s Epos in vierundzwanzig Cantussen. 4., veränderte u. um die H ä l f t e verm. Aufl. Schuster & Loeffler, Bln. u. Lpz. 1904. (Die ersten zwei Auflagen enthielten nur 12 Cantusse; wie die vorliegende 4. ist die im selben J a h r e erschienene 3.). ( = Sämtl. W e r k e . 12. Bd.). S. darin den vierzehnten Cantus: Unterm Schirm; der Dichter besucht Weimar im Traume, zuerst die Stätte Goethes und darauf die N i e t z s c h e s , letztere beschrieben in Strophen 22— 25, S. 32 f. D e r Cantus wurde schon im Mai 1900 geschrieben (s. d. Brief v. 4 . 6 . 1900 an die Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche in: D . v. L. Ausgew. Briefe. 2. Bd. Schuster & Loeffler. Bln. 1910, S. 174). In späterer Auflage, ζ. B. Ges. Werke. 1. Bd. Dt. Vlgs.-Anst. St., Bln., Lpz. 1923, S. 206 f., ist es der siebzehnte Cantus.
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Ζ Bd. 46, 1904, S. 295 f. Η. B., Selbstbildnis. S. Fischer. Bln. 1923, S. 295; s. a. die sonst ziemlich beiläufigen Erwähnungen Nietzsches auf S. 46, 89, 172, 181, 221, 222, 223 („Noch bevor wir die Formulierung bei Nietzsche fanden, lebten wir .jüngsten Deutschen' ja längst schon jenseits von Gut und Böse. D a f ü r war in unserer ,materialistischen Geschichtsauffassung' kein Platz"), 240. 243.
1904 „ D a s Evangelium v o m n e u e n M e n s c h e n "
342
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Martin, C a r l , D a s E v a n g e l i u m v o m n e u e n M e n s c h e n . C. G . N a u -
m a n n . Lpz. ( 1 9 0 4 ) . 2 Bll., 118 S., 1 Bl. Verfasser stellt sich als J ü n g e r dessen d a r , der „zur Zeit, da d e r dritte Kaiser des neuen deutschen Reiches regierte", aufgetreten sei und „gewaltiglich von dem, das er den .neuen M e n s c h e n ' nannte", gepredigt habe. „Er w a r es g e w ö h n t , in einer s o n d e r b a r e n Sprache zu uns zu sprechen, ähnlich der, die Martin Luther gesprochen . . ." Auf die Ähnlichkeit mit dem A u f t r e t e n und den Aussagen Christi wird ausdrücklich und d u r c h g e h e n d hingewiesen. N u r eine einzige Stelle weist aber sonst deutlich auf Nietzsche hin: „Wisset ihr aber, was die Kindlein mit der ,blonden Bestie' gemein haben? D a ß sie tun m ü s s e n , was sie tun. W e r d e t so, daß ihr tun m ü s s e t , was ihr tuet. W e r aber nicht weiß, was das mit der .blonden Bestie' ist, d e m schadet's nichts." (S. 8 9 ) ' " 343
Kluge, Prof. Dr. H e r m a n n , Geschichte der deutschen National-
Literatur.
Zum
Gebrauche
an
höheren
Unterrichtsanstalten
und
zum
S e l b s t s t u d i u m bearbeitet. 35., verbess. A u f l . O s k a r B o n d e . A l t e n b u r g 1904. E r w ä h n u n g findet Nietzsche, der in d e r 34. Auflage noch fehlte, auf S. 263 f. Verfasser zählt zunächst die „Vorbilder" d e r „jüngsten naturalistischen R i c h t u n g " auf : Ibsen, Zola, Tolstoi und Dostojewski, und verzeichnet d a n n S c h o p e n h a u e r und Nietzsche als solche, die „von Einfluß auf die neue R i c h t u n g " gewesen seien. Bei letzterem, der „gleichfalls ein Meister im Stil und ein dichterischer Geist" gewesen, werden schließlich die „ U m w e r t u n g " , d e r „ U b e r m e n s c h " und die „ H e r r e n m o r a l " recht sachlich als M e r k m a l e a n g e f ü h r t . 343a D a s s . 58. A u f l . v. R e i n h o l d Besser. 1937. Laut V o r w o r t ist P r o f . D r . O e r t e l d e r B e a r b e i t e r d e s 9. A b s c h n i t t e s , S. 2 4 5 — S c h l u ß . Ü b e r N i e t z s c h e auf S. 251 ff. Die zwei Sätze d e r 35. Auflage sind n u n auf anderthalb Seiten erweitert. Nietzsche habe z w a r im G e f o l g e der Zeit und d e m n a c h auch z u s a m m e n mit dem Naturalismus an „der Revolutionierung d e r Geister" mitgearbeitet, aber gerade der Naturalismus habe sich an ihm arg vergriffen, denn seine Botschaft lasse sich nicht mit d e r von der „Gleichheit aller M e n s c h e n " verbinden. S. a. S. 268 (Nietzsche f ü r den Symbolismus „von gewaltiger Bedeutung"). 344
Bélart, H a n s , N i e t z s c h e s M e t a p h y s i k . F r a n z W u n d e r . Bln. 1904.
V I I , 120 S. 133
D e m Verfasser ist Richard Benz in seinem ersten Studiensemester 1902 in H e i d e l b e r g begegnet und er überliefert f o l g e n d e E i n d r ü c k e : „Ein p a a r seltsame Existenzen hatten sich neben uns in dem alten W i r t s h a u s O b d e r Bruck niederglassen: ein älterer S t u d e n t , der nicht in die V o r l e s u n g ging, s o n d e r n eine eigne abstruse Philosophie in den S t u n d e n mündlich und schriftlich p r o d u z i e r t e , in d e n e n e r nicht von seiner M i g r ä n e u n d a n d e r e n Leiden geplagt w a r — einer d e r M o n o m a n e n , wie ich bald h e r a u s f a n d , die eine eigne W e l t a n s c h a u u n g zu leben s u c h e n ; wie ich später e n t d e c k t e , ein K o n g l o m e r a t von N i e t z sche und C h r i s t e n t u m — er hat es später wirklich in einem Buch im Z a r a t h u s t r a - S t i l , , D a s Evangelium vom neuen M e n s c h e n ' , z u m D r u c k g e b r a c h t . " (R. B., L e b e n s - M ä c h t e u. Bild u n g s - W e l t e n m e i n e r J u g e n d . D r e s d n e r u. H e i d e l b e r g e r E r i n n e r u n g e n . C. W e g n e r . H a m b . 1950, S. 110).
1904 Leonard Nelson
148
V e r f a s s e r b e h a n d e l t „im wesentlichen n u r . . . die g r o ß a r t i g e Periode N i e t z sches von d e r U m w e r t u n g aller W e r t e " . Sein K a m p f g e g e n die Ethik habe d e n K a m p f gegen die M e t a p h y s i k „ n o t w e n d i g " b e d i n g t , d e n n „ i n f o l g e des engen Z u s a m m e n h a n g s d e r M o r a l mit d e r M e t a p h y s i k w a r eine U m w e r t u n g der metaphysischen W e r t e f ü r N i e t z s c h e u n m i t t e l b a r g e g e b e n " . V e r f a s s e r stellt Nietzsches A n sichten u n t e r gelegentlicher H e r a n z i e h u n g d e r e r K a n t s , P i a t o n s , D a r w i n s , H a e k kels u n d W a g n e r s , vor allem aber und fast o h n e U n t e r l a ß im Vergleich zu d e n e n S c h o p e n h a u e r s d a r : „ D a ß M e t a p h y s i k h e u t e noch möglich ist, hat zur Evidenz N i e t z s c h e gezeigt. Seine Lehre vom Willen z u r M a c h t ist d o c h weit großartiger als die Lehren S c h o p e n h a u e r s vom Willen z u m L e b e n ; d e n n diese f ü h r t zur V e r n e i n u n g des Lebens, w ä h r e n d jene z u r V e r h e r r l i c h u n g desselben u n d z u r Z ü c h t u n g des h ö h e r e n M e n s c h e n f ü h r t . " Dies sei „die einzige M ö g l i c h k e i t d e r U b e r w i n d u n g des G o t t e s g l a u b e n s in d e r M e n s c h h e i t " . A b z u l e h n e n d a g e g e n seien die „ W i e d e r k u n f t s lehre" und „ N i e t z s c h e s K r ä f t e t h e o r i e " , d e n n beide stehen „mit d e r Wissenschaft heute im W i d e r s p r u c h " . 345
Zerbst, D r . M a x , D i e Philosophie der Freude. C. G. N a u m a n n .
L p z . ( 1 9 0 4 ) . 4 Bll., 2 1 6 S. D e r Einfluß N i e t z s c h e s auf den V e r f a s s e r läßt sich s o w o h l im g a n z e n Buch an W o r t w a h l und A u s d r u c k s w e i s e feststellen, wie auch an den ausdrücklichen E r w ä h n u n g e n des D e n k e r s , S. 8, 19, 21, 34, 57 f., 86, 123, 135 ff. (erst hier deutet sich eine A b l e h n u n g a n : „ W i e tief steckt N i e t z s c h e s Ü b e r m e n s c h e n - und W i l l e - z u r M a c h t - M o r a l noch im Geiste und im B a n n e d e r t a u s e n d j ä h r i g e n K a m p f - und Leid e n s - A r a d e r bisherigen M e n s c h h e i t , wie voll a t m e t sie n o c h die schwüle Luft der alten W e r t u n g s - W e l t mit ihrer T e n d e n z ins U n b e d i n g t e , ins absolute Ich, ins Göttliche! . . . D e r g a n z e Z a r a t h u s t r a ist ein Z ä h n e k n i r s c h e n gegen die u n a b ä n d e r l i c h e brutale T a t s a c h e a u s n a h m s l o s e r D e t e r m i n a t i o n bis ins kleinste!"), 139, 172 f. (hier heißt N i e t z s c h e aber n o c h der „ g r ö ß t e M e n s c h e n t u m s - K e n n e r , d e r je gewesen ist. Die psychologischen , S t a m m b ä u m e ' d e r h e r r s c h e n d e n , K u l t u r - I d e e n ' und geistigen W e r t e , die er aufgestellt h a t , sind a u s n a h m s l o s b e w u n d e r u n g s w ü r d i g e und einzig d a s t e h e n d e T a t e n d e r M e n s c h e n - und L e b e n s - F o r s c h u n g . Erst Friedrich N i e t z s c h e e r ö f f n e t uns das volle V e r s t ä n d n i s f ü r die zweite E n t w i c k l u n g s - P e r i o d e des menschlichen Geistes, die n o c h jetzt allenthalben in Blüte steht, in d e r sich noch jetzt der weitaus g r ö ß t e und m a ß g e b e n d e Teil d e r K u l t u r - M e n s c h h e i t befindet.") E i n e l e s e n s w e r t e A u f t e i l u n g in d e r G e s c h i c h t e
der Philosophie
des
19. J a h r h u n d e r t s m a c h t e L e o n a r d N e l s o n im J a h r e 1 9 0 4 : „ D a s Schicksal einer p h i l o s o p h i s c h e n Lehre h ä n g t zunächst meist dav o n ab, in w e l c h e m G r a d e sie sich d e n B e d ü r f n i s s e n d e s Z e i t g e i s t e s a n p a ß t und die Interessen der T a g e s l a u n e begünstigt. M a n erhält daher zwei ganz v e r s c h i e d e n e Bilder v o n der G e s c h i c h t e der P h i l o s o p h i e des letzten Jahrh u n d e r t s , je n a c h d e m m a n sie aus d e m G e s i c h t s p u n k t d e r ö f f e n t l i c h e n V e r b r e i t u n g o d e r aus d e m d e s w i s s e n s c h a f t l i c h e n F o r t s c h r i t t s b e t r a c h t e t .
Da
e r g i e b t sich a l l e r d i n g s i m e i n e n Falle d i e R e i h e : K a n t , F i c h t e , S c h e l l i n g , H e g e l , Schopenhauer, Nietzsche. D i e Geschichte der Ausbildung des wis-
1904
149
senschaftlichen Geistes aber hat eine g a n z andere Gestalt; da heißt die Rieihe: Kant, Fries, Apelt . . . Es giebt also . . . eine Reihe von solchen, die [Kants] kritische M e t h o d e verlassen und durch Bildung eigener ,Systeme' ih re Zeitgenossen geblendet haben, während eine geringe Schar anderer . . . d a s von Kant b e g o n n e n e W e r k der wissenschaftlichen Einsicht auf dem von ihm eingeschlagenen W e g e fortgebildet haben . . . U n d so werden in den A u g e n eines späteren, philosophisch reiferen Jahrhunderts jene zu ihrer Z e i t in so g l ä n z e n d e m Ruhme stehenden Schwärmer keine andere Rolle spielen als etwa für unsere heutige Naturwissenschaft ein Patricius, Robert Fludd und Jakob Böhme. a l 3 < W Briefwechsel zwischen Friedrich Ritsehl und Friedrich Nietzsche. ( H g . v. Curt Wachsmuth). ( N R s 1904, S. 2 5 7 — 2 7 6 , 474 — 501). Teilweise unvollständiger Vorabdruck der Briefe 4—17, 22, 24 — 27, 29, 30, 3 2 - 4 0 , 4 5 - 4 7 , 4 9 - 5 5 , 58, 6 0 - 6 5 , 6 7 - 7 1 (s. X). Die einleitenden Worte Wachsmuths sowie der verbindende Text erfuhren in der Buchausgabe eine Erweiterung. 346 Friedrich, Paul, D e r Kampf um den neuen Menschen. N e u e Reden an das deutsche V o l k . (18 Kapitel zu einer Geschichts-Philosophie der Gegenwart). J. H . E. H e i t z . Straßburg i. E. 1904.' 35 Unter den „Motti" zu dem Werk stehen vier aus dem „Zarathustra" neben solchen von Schiller, Goethe, Beethoven, Dranmor, Grabbe, O t t o Weißenfels, Heinrich von Stein und dem Verfasser selber. Diesem liegt es sehr an der Schaffung einer deutschen Kultur. Nietzsche gegenüber empfindet er eine deutliche Abneigung gegen den „Philosophen", dafür aber eine um so schwärmerische Zuneigung zu dem „Lyriker", dem „Dichterphilosophen". Ehe er sich eingehend mit ihm und seinem Einfiuß (S. 51 — 89) befaßt, sind die Äußerungen recht zweideutig : S. X I V (der „Wolkenkukuksheimer Fetisch Nietzsches"), 28 (die „Geburt" eine „höchst unreife und hysterisch-ekstatische Huldigung"), 36 (Einfiuß auf Beibtreu), 48 (auf Hauptmanns „Versunkene Glocke"), 49 f. (Einbruch Nietzsches in die „überlebte soziale Mache" der 90er Jahre, „des einzigen genialen Mannes, den uns die neuere Zeit bescheerte"). Auf S. 51—85 verfolgt er Nietzsches Entwicklung an Hand der Gedichte. Er habe gegen die „öffentliche Meinung mit ihren Millionen Anhängern und
134
135
Abhandlungen d. Fries'schen Schule. N . F. H g . v. G. Hessenberg, K. Kaiser u. L. Nelson. 1. H . V a n d e n h o e c k & Ruprecht. Gött. 1904, S. X I f. Es sind die Schlußsätze a. d. V o r w . z.: Die kritische Methode und das Verhältnis der Psychologie zur Philosophie; auch in: L. N . Ein Bild seines Lebens u. Wirkens. A. s. W e r k e n z u s a m m e n g e f ü g t u. eri. v. W . Eichler u. M. H a n . Editions nouvelles internationales. Paris 1938, S. 151 f.; N e l s o n , Leonhard (Berlin 11. 7. 1882 — Göttingen 29. 10. 1927), Philosoph, habilitierte sich 1909 in Götting e n für Philosophie, seit 1919 a. o. Professor ebendort, Gründer der „Jakob-FriedrichFries-Gesellschaft", hatte nach dem Weltkrieg führenden Anteil an dem „Internationalen Jugend-Bund" und dem daraus hervorgegangenen „Internationalen Sozialistischen Kampf-Bund". Friedrich, Paul (Weimar 2. 10. 1 8 7 7 - 1 9 4 7 ) , Schriftsteller.
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1904 „vielleicht das e r s c h ü t t e r n d s t e lyrische Bekenntnis d e r W e l t l i t e r a t u r "
gegen — G o t t " gekämpft. Gegen jene habe er gesiegt, „so weit man siegen kann". Gegen diesen sei er unterlegen, „doch so groß, so gewaltig, wie einst Prometheus und himmelstürmenden Giganten": „Die Besten unsres Volkes, auf deren Schultern die Z u k u n f t ruht, sind durch ihn aufgestachelt und verwandelt worden. Und einen solchen Niederschlag des Materialismus und Pessimismus, wie ihn das 19. J a h r h u n dert zurückließ, haben wir vorläufig Gottlob nicht mehr zu erwarten." Das Lied „Aus hohen Bergen" sei das „größte Nietzschesche Gedicht, vielleicht das erschütterndste lyrische Bekenntnis der Weltliteratur". Unter den möglichen Einflüssen auf Nietzsches Lyrik werden Goethe, H e i n e und Hölderlin a n g e f ü h r t ; unter denen, die wiederum von Nietzsche beeinflußt werden, Franz Evers, Fidus, Richard Schaukai, Paul Mongré, Viktor von A n d r e j a n o f f , Stefan George und H u g o von H o f m a n n s thal. Weitere E r w ä h n u n g e n Nietzsches auf S. 102 (und die Sozialdemokraten), 147 (Liszts Brief an Nietzsche z u r Ubersendung der „Geburt"), 150, 171, 177 (und Max Klinger), 179, 196, 210, 213, 226, 229 f. (und Christus), 239 f. (und Ruskin), 256, 283, 291. 346a
Das
Eigentliche
und
Zusammenhängende
zu
Nietzsche
(S. 5 1 — 8 5 ) , auch in N r . 5 3 8 , d u r c h g e h e n d aber u n w e s e n t l i c h g e k ü r z t . 347
M i c h e l , W i l h e l m , A p o l l o n und D i o n y s o s . In: W . M., A p o l l o n
und D i o n y s o s . D u a l i s t i s c h e S t r e i f z ü g e . A . J u n c k e r . St. 1904, S. 9 — 1 6 . Behandelt „jenen Unterschied", jenen „Gegensatz", „der zum ersten Male bei Nietzsche in ein Bewußtsein emporstieg und N a m e wurde". Dieser habe „alle Beziehungen, die von diesen ehrwürdigen N a m e n irgendwie ausgehen", durch seine „grenzenverspottende Penetration f ü r alle Zeiten giltig festgelegt". Besonders aber auch Heraklit habe diesen „Zwiespalt" schon begriffen, sich schon „über einen Mangel an dionysischer Einsicht" empört. 1 3 6 348
D a n z i g , S a m u e l , D r e i G e n e a l o g i e n der M o r a l . Bernard de M a n -
deville, Paul R è e und Friedrich N i e t z s c h e . A d o l f A l k a l a y . P r e ß b u r g 1904. V I I I , 113 S. ( = Diss. d. U n i v . Bern). Verfasser geht von der U b e r z e u g u n g aus, daß die drei behandelten Philosophen „nicht nur in den G r u n d g e d a n k e n ihrer Moralphilosophie, sondern auch in der losen, u n z u s a m m e n h ä n g e n d e n Darstellungsweise derselben einen gemeinsamen Zug" aufweisen. Der „ G r u n d g e d a n k e " ist, daß der Egoismus der Ausgangspunkt der Genealogie der Moral sei. Bevor er aber auf „Die Genealogie der Moral nach Friedrich Nietzsche" ausdrücklich eingeht, verweist er auf dessen Ablehnung des „ethischen Utilitarismus, wie ihn Mandeville vertritt", und auf die Bemängelung der Réeschen Behauptung, „auf das rein Äußerliche der Benennung" sei die gegenwärtige Moral der Kulturvölker z u r ü c k z u f ü h r e n . Er meint aber dennoch, daß in den „Moralsystemen" Rées und Nietzsches „eine auffällige Ähnlichkeit" an den T a g trete: „Der gegenseitige Einfluß dieser beiden Freunde mußte umso intensiver sein, zumal die Beiden fast auf sich allein angewiesen waren, denn bekanntlich war
136
Michael, Wilhelm ( M e t z 9. 8. 1877 — D a r m s t a d t 16. 4. 1942), Literaturwissenschaftler.
1904 „er wusch die Menschen rein von dem Blute Christi"
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N i e t z s c h e s F r e u n d e s k r e i s in d e n J a h r e n v o n 1878 an sehr e n g g e z o g e n . " N a c h D a r stellung v o n N i e t z s c h e s A u f f a s s u n g d e r M o r a l m e i n t V e r f a s s e r in seiner „ K r i t i k " d a z u , d a ß „ N i e t z s c h e s Leben u n d Sein . . . eben M o r a l p h i l o s o p h i e " , u n d diese „ein gigantisches R i n g e n u n d K ä m p f e n n a c h a b s o l u t e r Freiheit" sei: „ D i e n o t w e n d i g e K o n s e q u e n z dieses R i n g e n s u n d K ä m p f e n s ist d e r A p h o r i s m e n s t i l . " E r b e f r e i e von d e m B e e n g t e n u n d G e b u n d e n e n „eines e n g a n e i n a n d e r g e k n ü p f t e n G e d a n k e n g a n ges". D a s Streben n a c h „ U n g e b u n d e n h e i t und Z ü g e l l o s i g k e i t " e r k l ä r e auch die Abw e n d u n g s o w o h l von W a g n e r , wie a u c h von S c h o p e n h a u e r , s o w o h l v o n sonstigen F r e u n d e n , wie auch von d e r Religion. „ N i e t z s c h e s M o r a l p r i n z i p ist in W a h r h e i t ein P r i n z i p des s i t t l i c h e n A n a r c h i s m u s . " D a b e i f o r d e r e er a b e r a u c h „von d e r allg e m e i n e n M e n s c h h e i t d e n b l i n d e n G e h o r s a m , u n d legt ihr eine A u t o r i t ä t a u f , die s o g a r das religiöse , D u m u ß ! ' weit ü b e r s t e i g t " . D o c h erleide sein „ k r a s s e r I n d i v i d u a lismus . . . S c h i f f b r u c h an d e r sozialen T a t s a c h e , d a ß die M e n s c h e n a u f e i n a n d e r a n gewiesen sind, u n d das erst d u r c h die W e c h s e l b e z i e h u n g P e r s ö n l i c h k e i t s w e r t e e n t stehen". „Im E i n z e l n e n w ä r e n N i e t z s c h e n o c h viele g e w a l t s a m e
Übenreibungen
und skurile K a r i k a t u r e n u n d p s y c h o l o g i s c h e U n r i c h t i g k e i t e n v o r z u w e r f e n . A b e r schon aus d e m g r u n d l e g e n d e n G e d a n k e n erhellt, wie w e n i g seine P h i l o s o p h i e auf reale W a h r s c h e i n l i c h k e i t u n d M ö g l i c h k e i t A n s p r u c h e r h e b e n k a n n . "
349 Friedrich Schlegel. Fragmente. Ausgew. u. hg. v. Fr. v. Leyen. Diederichs. Jena u. Lpz. 1904.( = Erzieher z. dt. Bildung 2. Bd.). D e r H e r a u s g e b e r reiht in seiner E i n l e i t u n g eine z i e m l i c h e A n z a h l ü b e r r a s c h e n der „ Ä h n l i c h k e i t e n " Schlegels mit N i e t z s c h e a n , d o c h d ü r f e m a n „ n i c h t vergessen, daß sie alle n u r die O b e r f l ä c h e b e d e c k e n u n d d a ß , w e r sie f o r t h e b t , sogleich g r u n d v e r s c h i e d e n e M e n s c h e n sieht" (S. 1 0 — 1 4 ) .
350 1904.
Levy, Oscar, Das neunzehnte Jahrhundert. E. Pierson. Dresden
Sieht im 19. J a h r h u n d e r t eine n e u e „ R e n a i s s a n c e " e n t s t e h e n , die an drei N a men a n k n ü p f e : S t e n d h a l , G o e t h e u n d N i e t z s c h e , u n d im l e t z t e r e n d e n „ d r i t t e n u n d g r ö ß t e n H e l d e n d e r n e u e n R e n a i s s a n c e " , dessen D a r s t e l l u n g d a n n fast die H ä l f t e des W e r k e s b e a n s p r u c h t (S. 5 2 — 8 1 , 1 2 3 — 1 5 5 ) . „ S t e n d h a l s u n d G o e t h e s S t i m m e n w a r e n n u r das u n t e r i r d i s c h e G r o l l e n d e r b e g r a b e n e n G e i s t e r e i n e r v e r g a n g e n e n , g e s u n d e r e n Zeit g e w e s e n — mit N i e t z s c h e e x p l o d i e r t d e r V u l k a n , u n d ü b e r christliche K r : u z e u n d Klöster u n d F o l t e r w e r k z e u g e h i n w e g e r g o ß sich d e r g l ü h e n d e Lavastrom des H e i d e n t u m s , d e r die alte K u l t u r h i n w e g z u s c h w e m m e n b e s t i m m t w a r , u n d P k t z f ü r eine g l ü c k l i c h e r e N a c h w e l t s c h a f f e n sollte." — „. . . e r w u s c h die M e n schen rein von d e m Blute Christi, das sie b e s c h m u t z t h a t t e . . . " — „ N i e t z s c h e s W o r t war ein Fluch, ein l a n g a t m i g e r F l u c h , e i n e f ü r c h t e r l i c h e A n k l a g e , die s c h w e r s t e , die je e r h o b e n , die e i n z i g e , die je e r n s t g e m e i n t w a r , die erste, die je ins H e r z traf — gegen d a s C h r i s t e n t u m . " Beim F ü r u n d W i d e r in S a c h e n N i e t z s c h e stellt V e r f a s s e r fes-.: „Auf Seiten d e r S e m i t e n (d. s. die C h r i s t e n ) stritten stolze A r i e r , die v o r g a b e n , die J u d e n zu hassen — auf Seiten N i e t z s c h e s a b e r t r a t e n einige N a c h k o m m e n jenes Volkes, das einst d e r s c h ö n e n D a p h n e e r b i t t e r s t e r G e g n e r g e w e s e n : die J u d e n . " E r versucht d a n n diesen Z u s t a n d zu e r k l ä r e n u n d k o m m t auf S p i n o z a : „ D i e s e r M a n n war d e r erste J u d e seit A l e x a n d r i a , d e r w i e d e r hellenisiert w a r , d e r erste w i e d e r er-
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1904 der größte Psychologe, „von dem die Weltgeschichte weiß"
wachende Heide der Reformationszeit, der erste, der das baufällige Haus seines Glaubens verließ und das Fundament für ein größeres, schöneres, freudigeres legte, für den Palast von Nietzsche's Philosophie . . . " — „Der Messias sollte nicht aus davidischem Geschlechte kommen . . . er war ein Abkömmling eines polnischen Grafengeschlechts . . . die Kultur des neunzehnten Jahrhunderts, jene verzweifelnde, müde, pessimistische, gehetzte Mutter, gebar . . . in ihren Schmerzen, trotz ihrer Schmerzen, durch ihre Schmerzen einen großen Sohn, der die Menschheit zu höheren und lichteren Regionen hinaufleiten sollte." Wie aus dem Angeführten deutlich hervorgeht, schreibt der Verfasser von betont jüdischer und ebenso betont antichristlicher Einstellung aus. Ansonsten betont er immer wieder die Ubereinstimmung der An- und Einsichten Goethes und Stendhals mit denen Nietzsches. 351 Axel, Dr. Erwin (d. i. Ludwig Klages), Graphologische Prinzipienlehre. (Fortsetzung). III. D i e persönliche Ausdrucksschwelle. (Schluß.) 5. D e r Fall W a g n e r . ( G M h 1904, S. 8 1 - 9 8 ) . Verfasser möchte die „unerfreuliche Diagnose, die wir der Gegenwart stellten", an Nietzsches, des „größten Psychologen, von dem die Weltgeschichte weiß", Analyse „der biologischen Bedeutung Richard Wagners" erhärten. Die obige Bezeichnung Nietzsches ist dabei nur ein Beispiel unter vielen, welche Verfassers Hochschätzung des Denkers bezeugen. Im Gedankengange Nietzsches hinsichtlich Wagners lassen sich „drei Stufen" unterscheiden: „In Wagners Kunst walte despotisch der Hang zur großen Attitüde: sie sei die , H e r a u f k u n f t des Schauspielers' in der Musik — sie bilde damit die Selbstverherrlichung der europäischen ,décadence' als einer Falschheit des Blutes, das ob an Lebensqualitäten arm doch den Anschein der Fülle wecken möchte — der aber liege zugrunde die zweitausendjährige Wirksamkeit des Christentums, das die alten Rassen vergiftet und dafür einen instinktlosen Plebjeismus gezüchtet habe." Darauf prüft Verfasser, „ob Wagners Handschrift uns zu ähnlicher Auffassung seines Wesens" nötige. Die Untersuchung endet dann in der Feststellung: „. . . der Mangel an L e b e n verschwindet hinter den Ubertreibungen der leidenschaftlichen G e b ä r d e , an die Stelle des ächten tritt ein gemachtes Pathos, der Mensch verbraucht sich im Schauspieler und der Erfolg gilt als der letzte Maßstab alles Wertes." Doch das Urteil des Verfassers klingt noch härter aus im Anhang: „Und an dieser Stelle scheidet sich unser Urteil noch von demjenigen Nietzsches. Wir hätten Wagner eine weltgeschichtliche Bedeutsamkeit nicht einmal im Negativen beizumessen. Seine Operntexte sind affektiert, geschmacklos und voller Sprachgreuel; die ,Weltanschauung' seiner Dramen ist von bürgerlichster Seichtheit und seine Musik als G a n z e s genommen, als musikalische Stylrichtung ist einfach s c h l e c h t e Musik, wenn auch effektvoll aufgedonnert." Lesenswert ist schließlich auch seine Erklärung des Falles Nietzsche-Wagner: „Unter der Voraussetzung jedoch, daß Wagners Werk allerdings nicht sonderlich mehr sei als eine Transponierung seines Charakters (und zwar in das Medium des Mimen), daß es folglich jene falsche Lebendigkeit seines Wesens s t y l i s t i s c h verkörpere, würde verständlicher, warum vorübergehend auch der hellste und durchdringendste Kopf geblendet ward und selbst nach erfolgter Umkehr mit der Vehemenz seiner Gegnerschaft noch die Stärke der Fessel bezeugen mußte, die ihn zuvor gefangen hielt.
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Denn nicht weniger schwer als im Leben, ja vielleicht noch schwieriger dürfte in der Kunst das hysterisch Bedingte vom Achten zu trennen sein, falls ein außerordentlicher Intellekt oder die virtuoseste Begabung für geschickte Inszenierung Sorge trug. Und wenn gar noch wie bei Wagner magische Lichter darüberflackern, so ist für Mitlebende die volle Freiheit des Urteils wohl nur um den Preis des Irrtums und der Enttäuschung feil. Verhält es sich so, dann könnte der Fall Nietzsche-Wagner eine Lehre für die Z u k u n f t bergen." Eine judenfeindliche Einstellung verrät sich in dem Ganzen. 351a Dass, unter der Uberschrift: D e r Fall N i e t z s c h e - W a g n e r in graphologischer B e d e u t u n g , in: L. K., Zur Ausdruckslehre und Charakterkunde. Ges. Abhandlungen. N. Kampmann. Heidelberg (1927), S. 1 0 8 - 1 3 4 , 3 7 7 - 3 8 3 ( = A n m e r k u n g e n ) . Im wesentlichen unverändert, wenn auch um die Anm. 64—68 u. 71 gekürzt und um 19 u. 21 vermehrt. Als wichtigster Zusatz wäre der längere zu Anm. 20 (S. 379—382) zu erwähnen, doch handelt Verfasser hier ausschließlich von der eigenen Stellung zu Stefan George. 352
Joël, Prof. D r . Karl (Basel), N i e t z s c h e und die Antike.
(FZg
Nr. 57 f. v. 26. u. 27. 2. 1904). Vorabdruck des gleichnamigen Abschnittes aus dem W e r k : Nietzsche und die Romantik (Nr. 436, S. 279—342), doch hier um mehr als die H ä l f t e gekürzt. 353 a n o n y m , (LCB1 N r . 9 v. 27. 2. 1904, Sp. 2 9 2 f.). Eine etwas längere Besprechung des Werkes von Richter (Nr. 275), die in die Bemängelung ausläuft: der „schließliche Eindruck" sei kein „ganz reiner", und der Grund liege darin, daß „wir zwischen Bewunderung und tadelnder Kritik hin- und hergezogen werden und zuletzt doch nicht recht wissen, wie wir uns zu Nietzsche zu stellen haben". Rezensents Ablehnung des Gegenstandes wird hier vielleicht etwas deutlicher als in früheren Besprechungen, doch verrät er hier erst seine Grundeinstellung dazu. Ihm ist die „Geburt" zugleich „das f ü r Nietzsche am meisten charakteristische" W e r k , an diesem habe „wirklich der ganze Nietzsche in seiner vollen Kraft mit Herzen, Mund und H ä n d e n gearbeitet", hier erklinge „der Grundton seines Wesens", „der durch all seine Entwicklungsphasen bis an das Ende seines Lebens durchklingt". 353/1 χ, Z w e i N i e t z s c h e - A n e k d o t e n . ( F Z g 48. Jg., N r . 69, 2. M o r gtnbl. v. 9. 3. 1904, S. 1). Schildert zwei Begebnisse aus Nietzsches frühen Jahren in Basel, die eine nach einer Mitteilung eines ehemaligen Schülers, die andere nach der eines „Herrn Pfarre: P " . 354 K o r n o r z y n s k i , E. v., ( J b N D L 11. Bd., 1904, I V 5 b: 4 9 — 1 1 4 ) . Eine recht sachlich gehaltene Ubersicht über das Nietzsche-Schrifttum aus den Jairen 1899 und 1900. 355 S c h w a r t z k o p f f , Prof. D r . Paul ( W e r n i g e r o d e ) , N i e t z s c h e und die Entstehung der sittlichen V o r s t e l l u n g e n . ( A G P h Bd. 17, 1904, H . 1, S.94-125).
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1904 „eine ausgeführte Philosophie der Zuchtlosigkeit"
Verfasser möchte dartun, „ d a ß j e d e z u k ü n f t i g e E t h i k m i t N i e t z s c h e s A n s c h a u u n g e n z u r e c h n e n h a t " . Ihm gebühre ein Verdienst, da er der von Schopenhauer eingeführten buddhistischen Ethik durch die Betonung des Wertes des Individuums Einhalt gebiete. Ein weiteres Verdienst sei die Gründung der Sittlichkeit „auf das Prinzip des Lebens"; er reiße die Sittlichkeit „aus den Wolken der Abstraktion" heraus. „Nur müssen wir uns . . . vor seinen Einseitigkeiten hüten. Was sich ihm zuerst aufhellte, und worin seine schöpferische Eigenart lag, in dessen Lichte erschien ihm vielfach das Ganze." Es seien vor allem der Altruismus und das das Einzelleben umschließende Gesamtleben der Menschheit, die bei Nietzsche einseitig behandelt werden. 356 Simon, Lic. Dr. T h e o d o r , D e r Geist des Antichristen in Friedrich N i e t z s c h e s Schriften. (L Bd. 15, 1904, S. 4 2 - 7 6 ) . Eine scharfe Ablehnung des „Propheten des Antichristen . . . " — „Die Grundtriebfeder der Gedankenarbeit Nietzsches ist zuchtlose Willkür, seine Lehre eine ausgeführte P h i l o s o p h i e d e r Z u c h t l o s i g k e i t . " — „Der Nietzschesche Übermensch ist der Antichrist, von dessen einstigem Kommen die gläubige Christenheit weiß." Dennoch räumt Verfasser dem „Zarathustra" „einen hervorragenden Platz in der Literaturgeschichte der Deutschen" ein und sagt ihm „noch eine weltgeschichtliche Bedeutung, freilich im Sinn der Entwicklung zum Bösen hin", voraus. 357 a n o n y m , (LCB1 Nr. 13 v. 26. 3. 1904, Sp. 420 f.). Eine recht kühle Besprechung des 13. Bandes der Gesamtausgabe (GXIII) sowie des 9. Bandes in der neuen, von Ernst Holzer besorgten Auflage (GlXa). 358 Wüst, Fritz, D i e U m w e r t u n g aller Werte. 2. Aufl. J. Harrwitz N f . Bln. 1904. 2 Bll., 106 S., 1 Bl. ( = Werkverzeichnis d. Verfs.). ( = D i e U m w e r t u n g aller Werte. 1. Bd. Eine Philosophie des modernen Lebens.) Mit diesem Werk, „dem Andenken Friedrich Nietzsches" gewidmet, will Verfasser zeigen, daß „eine Lösung" des Problems um die Umwertung aller Werte möglich sei. „Die Philosophieen von Kant, Schopenhauer, Nietzsche sowie anderen" zeigen „zur Genüge . . . direkt oder indirekt den Bankerott der christlichen Weltanschauung, die Unmöglichkeit der heutigen christlichen Welt". Das Werk strotzt auch förmlich von Nietzschescher Ausdrucksweise, obwohl dieser selten ausdrücklich erwähnt wird. Ein gutes Beispiel des Ansteckungsgrades ist folgende Äußerung: „Wir wissen: es gibt eine Region des menschlichen Geistes, wo Kants Philosophie und Schillers Dramen nicht mehr in Betracht kommen; dahin gehören Goethes ,Faust' (Anfang) und Nietzsches Werke, dahin gehört meine ,Umwertung aller Werte'." Erst auf den Seiten 80 bis 91 setzt er sich mit Nietzsches „fixen Idee", daß „Strafe und Rache überhaupt garnicht gerechtfertigt" seien, auseinander. Nietzsches Wahnsinn könnte sogar so zu erklären sein, „daß er über den furchtbaren Widerspruch der Willensunfreiheit des Menschen . . . und der strafenden und rächenden Gerechtigkeit nicht hinweggekommen und an dieser Schopenhauerschen Krankheit . . . zu Grunde gegangen ist". An anderer Stelle legt er „das Pathos der Distanz" höchst eigentümlich aus: es entstehe nämlich, „wenn ein Urteil nicht frei"
1904 Kaiser Wilhelm II. als Verwirklicher des Willen z u r M a c h t
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sei, und verursache „die Leidenschaft für etwas, das gar nicht da ist": „Aus dem Pathos der Distanz erklärt sich auch der stets wiederkehrende Reinfall der modernen Ehe." 1 3 7
Eine recht begeisterte Darstellung Kaiser Wilhelms II. als Verwirklichers des Nietzscheschen „Willen zur M a c h t " lieferte G e o r g Fuchs in diesem J a h r : „Wilhelm II. hat das deutsche Denken verändert. Man preist ihn als den ,Kaiser des Friedens' und rühmt mit christlichen W o r t e n sein großes Entsagen auf Kriegerruhm und doch könnte man seine Majestät nicht mehr beleidigen. Er hat das deutsche Denken verändert, er hat den ,Willen zur Macht' auf den Ozean gerufen und ihm eine Erweiterung, eine Vertiefung verliehen, gegen welche selbst das römische Kaisertum der Hohenstaufen als ein rein-dynastisches, das Volkstum nicht berührendes, klein erscheinen mag. Welchen Reiz könnten für ihn europäische Händel haben? Müssen sie nicht dem, der den deutschen Machtgedanken der Zukunft einmal gedacht, wie alberne Tierquälereien erscheinen? Ist der ein ,Entsagender', der das verschmäht, was ihm zu gering erscheint? Nietzsches Zarathustra entzündete auf den Höhen einen himmelumlodernden Brand. Aber er konnte die Deutschen nicht zwingen, so zu denken und so zu glauben wie er: Wilhelm II. stieß in den Tiefen das eiserne Schiff in die See, und die Deutschen haben keine Wahl mehr, nun mußten sie denken und glauben wie er? O d e r wie Nietzsche? — W e n n Nietzsches letzter Gedanke der ,Wille zur M a c h t ' war, wenn die T a t Wilhelms II. dahin führt, daß der ,Wille zur M a c h t ' im Deutschen den W e g einschlage, auf dem allein er seine letzten, fernsten Folgerungen ziehen kann — bedarf es dann noch eines Beweises für die alle Individualgegensätze überströmende Flutgewalt des Blutes und für die im Wesentlichen, im Geschehnis unlösliche Einheit der Rasse?" 1 3 8 137
S. a. sein: Ideale Erziehung. Ein Buch für h ö h e r e Menschen. H . Priebe. Bln.-Steglitz 1 9 0 5 , S. 12 (Nietzsche sei „die einzige Autorität, der ich mich unbedingt beugen w ü r d e . . . doch habe er hinsichtlich der Willensfreiheit „denselben S c h o p e n h a u e r ' s c h e n F e h l e r " g e macht, „den ich in meiner T h e o r i e unwiderleglich beweisen h a b e " ) , 14 ( „ U n d der größte D e n k e r der bisherigen Kulturmenschheit, Friedrich N i e t z s c h e ! Ist nicht sein Z a r a t h u s t r a ' ein einziges Bekenntnis für den Glauben und die H o f f n u n g , daß der Mensch A l l e s k a n n ! " ) , 2 9 („Und die Krankheit, die immer stärker an der Kulturmenschheit ausbricht, ist der Wahnsinn, und gegen den gibt es nur ein Heilmittel, das ist die V e r n u n f t , und das ist z. B. die Vernunft par excellence des H e r r n Friedrich Nietzsche. F ü r uns, die wir mit den entsetzlichsten Qualen den rapiden Verfall erkennen, ist er g e r a d e z u der rettende O p e r a teur, und seine W e r k e und seine Vernunft sind die Medizin, die uns allein heilen k a n n . " ) , 3 0 ; sonst zeugt auch die Ausdrucksweise eindeutig vom Nietzscheschen Einfluß. E r ist Verfasser sonst von: Die Neue Weltanschauung (Mai 1 9 0 3 ) / D i e N e u e Kunst (Juni 1 9 0 3 ) / Ü b e r die Freiheit des Willens. Philosophische Abhandlung (Sept. 1 9 0 3 ) / K r i t i k der m o d e r nen militärischen Ausbildung. Alle bei H a n s Priebe, Berlin-Steglitz.
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G. F., D e r Kaiser und die Zukunft des deutschen Volkes. Mchn. u. Lpz. Müller. 1 9 0 6 , S. 72 f. ( = 3. Aufl. v.: Der Kaiser, die Kultur und die Kunst. B e t r a c h t u n g e n aus den Papieren eines Unverantwortlichen. Ebd. 1904).
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1904 Emil Strauß
Eine ablehnende Einstellung zu Nietzsche verrät sich in der H a l t u n g der Hauptgestalt in einem 1904 erschienen R o m a n von Emil Strauß. H e r man Anshelm, ein junger Finanzpraktikant, g e w ä h r t seiner Bekannten dreier T a g e in F r a n k f u r t am Main, Elfriede, die nun sein Kind trägt, mit vollkommener Selbstverständlichkeit Unterschlupf bei sich, noch d a z u in getrennten Zimmern, obwohl er sich bewußt ist, daß seine Stellung d a d u r c h gefährdet wird. Seine jugendliche Liebe und Bäslein Klara H ö p f n e r w o h n t auch am O r t . Es bleibt nicht aus, daß er „wegen unsauberen Lebenswandels" geschaßt wird. Elfriede bleibt ihm gegenüber zurückhaltend, und der Klara wird auf ihre V e r l o b u n g hin e r ö f f n e t , daß sie ein a n g e n o m m e n e s Kind sei. Sie verkracht sich mit den Pflegeeltern, zieht aus, findet Arbeit und wird langsam flügge. Das Kind k o m m t , Elfriede kränkelt, das Kind stirbt, und Elfriede zieht von H e r m a n weg, um sich auf das Medizinstudium vorzubereiten. H e r m a n versucht sich in der Gärtnerei, und Klara, die bei sich eine Begabung z u m Zeichnen entdeckt hat, verabschiedet sich am Ende auch von H e r m a n , um auf die Kunstgewerbeschule in M ü n c h e n zu gehen, obwohl sie und H e r m a n gerade beim Abschied ihre Liebe zueinander erkannt haben. Es ist nun g e r a d e in der Zeit, als Klara sich selbständig gemacht hat und unter neue Freunde g e k o m m e n ist, d a ß sie durch einen Studenten der Naturwissenschaft mit dem „ Z a r a t h u s t r a " bekannt gemacht wird. Sie erzählt H e r m a n davon: „,Er hat mir viel von Nietzsche gesprochen und seiner Kritik der moralischen Vorurteile, durch die er die G r u n d lage f ü r eine neue Lebensgestaltung gegeben habe, f ü r eine kräftige, tapfere Lebensfreude mit gutem Gewissen, eine neue bewußte Renaissance.' ,Verflucht! — Das hat der Nietzsche getan — ? D a m u ß er ja ein Mordskerl sein!' ,Hast du ihn noch nicht gelesen—?' ,Freilich, freilich! Aber d a ß er so was z u w e g ' gebracht hat, hab' ich nicht gemerkt, — das ist mir gänzlich entgangen.' ,Mokier du dich nur! Das rührt mich gar nicht. Was ich von ihm e r f a h r e n habe, erleichtert mir das H e r z und hebt mich u n d gibt mir ein Gefühl von Berechtigung und Freude und Unternehmungslust. Als ich gestern abend nach dem Gespräch heimging, kam ich noch einmal so frei und leicht daher. Das tut gut, das ist schön! Ihr mögt sagen, was Ihr wollt.' Er sagte nichts mehr. In H e r m a n w a r nach seinen W o r t e n , als sich Klara zur E n t g e g n u n g anschickte, wie ein Schmerz die B e f ü r c h t u n g a u f g e z u c k t , sie möchte ihm v o r w e r f e n , er wollte von Nietzsche nichts wissen, weil dieser ihr von Gabler gebracht w o r d e n sei. Das w a r ja nicht der Fall. Seinem T a t sachensinne k o n n t e eine Philosophie nicht eingehen, die ihm die natürlichen Rechte und Ansprüche der gesunden und stolzen K r a f t zu romantischen Postulaten zu überhitzen, aufzutreiben und zu verzerren schien, weil sie o f f e n b a r von gegnerischen Postulaten und D o g m e n ausging statt von der Anschauung des wirklichen, unbändigen, alle Formen wieder ver-
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w a c h s e n d e n M e n s c h e n . G l e i c h w o h l h a u e er jenen V o r w u r f g e f ü r c h t e t u n d , als er ausblieb, f ü h l t e er sich r o t w e r d e n . E r sah v o r sich hin, w a r f rasche Blicke auf Klara und E l f r i e d e n u n d a t m e t e s c h w e r in j ä h e r H i t z e . " G a n z u n w i c h t i g ist diese Stelle a u c h f ü r die E n t w i c k l u n g d e r H a n d l u n g nicht, d e n n hier schlägt in H e r m a n z u m ersten Male seine N e i g u n g zu Klara d e u t l i c h e m p o r . D e m V e r m i t t l e r G a b l e r ist N i e t z s c h e n u r ein V o r w a n d , „sich frei und u n v e r k ü m m e r t auszuleben" 1 3 9 359 S t a u d i n g e r , F r a n z , S p r ü c h e d e r Freiheit. W i d e r N i e t z s c h e ' s und A n d e r e r H e r r e n m o r a l . E d . R o e t h e r . D a r m s t a d t 1904. 185 S., 1 Bl. ( = Inhaltsverz.). Ein Buch von mehrseitigen kleinen Prosastücken, in der Form so recht in der Manier Zarathustras, doch entschieden christlich gefärbt. Nur eins der Abschnitte befaßt sich ausdrücklich mit Nietzsche: „Vom Prediger des Zerbrechens" (S. 13 ff.): „Ein Dichter warst du voll Launen und Blumen und Tiefen, nicht Künder der Wahrheit; denn wahr schien dir, was des Dichters Gemüt aus den Quellen des Zufalls trank. O Ikarus der Freiheit! Edler! Unseliger! Manchen hast du losgerissen vom alten P o n und hinausgeschlagen in die spielenden Bälle der Wogen. Aber wen machtest du — frei? —" l40 360 H i e r o n y m u s , D . ( R e k t o r in Leer), Jenseits von G u t u n d Böse. Ein Beitrag z u r B e u r t e i l u n g d e r P h i l o s o p h i e N i e t z s c h e s . ( P ä A N . F. 10. Bd., N r . 3, 1904, S. 3 3 — 4 3 ) . Verfasser beabsichtigt hiermit eine „prinzipielle Stellungnahme" zu Nietzsches Ideen, wie diese sich vor allem im „Jenseits" darstellen. Seine Beurteilung läuft dann in eine Verteidigung der Religion, der Ethik und des Vaterlandes aus. „Man sieht an Nietzsche, wie der Individualismus als Lebensauffassung die größte Gefahr für die Kulturentwicklung birgt, wie er führt zum Egoismus, Skeptizismus und Pessimismus." Verfasser führt diese Verirrung auf eine „hereditäre Neurose" zurück, „die bereits 1876 . . . in die äußere Erscheinung" getreten sei. 361 Schädel, Emil, L e h r e r in C h e m n i t z , N o c h m a l s N i e t z s c h e - P ä d a g o g i k . E i n e nicht „ u n z e i t g e m ä ß e " p h i l o s o p h i s c h - p ä d a g o g i s c h e Studie. ( S S Z g 71. Jg., N r . 14 v. 1. 4. 1904, S. 213 — 218). Geht von der Ansicht aus, daß „kein Gebildeter, am allerwenigsten aber ein Lehrer . . . an Nietzsche . . . gleichgültig vorübergehen" solle, und untersucht zunächst dessen Auffassung von der Seele und vom Sittlichen, da diese Gegenstand der Grundwissenschaften der Pädagogik, nämlich der Psychologie und der Ethik, seien. Er stellt fest: „Der Nietzschesche Seelenbegriff führt zum Materialismus, und die Annahme einer schattenhaften Seele kann uns für die Erklärung unseres Seelenlebens nicht nützen." — „Nietzsche, der neue Prophet, hat die großartige Entdek139
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E. S., Kreuzungen. Roman. S. Fischer. Bln. ( 5 8 . - 6 2 . Aufl. 1925), S. 185 f.; Strauß, Emil (Pforzheim 31. 1. 1866 - Freiburg i. Br. 10. 8. I960), Schriftsteller. Staudinger, Franz (Wallerstädten/Hessen 15. 2. 1849 — Darmstadt 20. 11. 1921), Philosoph, damals Oberlehrer in Darmstadt.
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1904 „Nietzsche-Elend"
k u n g g e m a c h t , d a ß alle M o r a l d u r c h a u s überflüssig u n d d e r E n t w i c k l u n g des einzelnen n u r schädlich sei." A u c h sein Ziel d e r E r z i e h u n g als „die B i l d u n g , d e r g r o ß e n E i n z e l n e n ' " m ü s s e d e n e n , „die wir uns die Bildung des V o l k e s z u r L e b e n s a u f g a b e g e m a c h t h a b e n , . . . h ö c h s t w u n d e r l i c h u n d u n v e r s t ä n d l i c h " v o r k o m m e n . N a c h solchen D a r l e g u n g e n v e r w u n d e r t es nicht, d a ß N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e d e m „ernstlich s t r e b e n d e n P ä d a g o g e n in k e i n e r W e i s e " i m p o n i e r e : „ W i r sind ü b e r z e u g t , d a ß seine g e s a m t e P h i l o s o p h i e mit d e m ,vergeblichen W ü h l e n in d e r e i g e n e n S u b j e k t i v i t ä t ' ( , N i e t z s c h e - E l e n d ' g e n a n n t ) f ü r die E t h i k g a n z b e d e u t u n g s l o s sein w i r d . " V e r f a s s e r v e r m a g in k e i n e r W e i s e d e r B e h a u p t u n g Balls ( N r . 337) z u z u s t i m m e n , d a ß seine W e r k e „eine u n e n d l i c h reiche, ergiebige F u n d g r u b e an r e f o r m a t o r i s c h - p ä d a g o g i schen Ideen seien".
362 Renz, Dr. Barbara Klara (München), Friedrich Nietzsche und das Christentum. (Whl 10. Bd., 1904, S. 2 2 4 - 2 3 5 ) . V e r f a s s e r i n , die s c h o n einleitend aus ihrer A b l e h n u n g N i e t z s c h e s k e i n e n H e h l m a c h t , will hier einige seiner A n g r i f f e g e g e n das C h r i s t e n t u m , „wie wir sie in .Menschliches, A l l z u m e n s c h l i c h e s ' u n d in , M o r g e n r ö t e ' f i n d e n , i h r e m w i s s e n s c h a f t lichen W e r t n a c h p r ü f e n " . D a ß diese sich als „ u n l o g i s c h " , „ u n r i c h t i g " , „ u n s t a t t h a f t " u n d „ u n w i s s e n s c h a f t l i c h " h e r a u s s t e l l e n , ist k a u m v e r w u n d e r l i c h . E i n i g e A u f m e r k s a m k e i t v e r d i e n t ihre D a r s t e l l u n g v o n N i e t z s c h e s H i n n e i g u n g „ z u m B r a h m a n e n t u m " , o b w o h l diese „mit d e m Ü b e l l i t e r a r i s c h - h i s t o r i s c h e r U n k e n n t n i s b e h a f t e t " sei. A m lesenswertesten sind a b e r die S c h l u ß s ä t z e , in d e n e n V e r f a s s e r i n d a s „ P f l i c h t g e f ü h l " b e s c h r e i b t , „das i m m e r w i e d e r u n d w i e d e r in u n s e r e m B e w u ß t s e i n a u f t a u c h t , w e n n w i r Z e u g e w a r e n , d a ß die z a h l r e i c h e n , auf d e r H o f - u n d S t a a t s b i b l i o t h e k M ü n c h e n b e f i n d l i c h e n N i e t z s c h e - E x e m p l a r e bei w e i t e m nicht g e n ü g e n , u m die Beg i e r d e des P u b l i k u m s z u b e f r i e d i g e n u n d d a ß es g e r a d e eine l e r n b e g i e r i g e J u g e n d ist, w e l c h e die P r o d u k t e d e r g ä h r e n d e n P s y c h e eines N i e t z s c h e mit f i e b e r h a f t e r H a s t in sich a u f n i m m t . W e l c h s o n d e r b a r e B e g r i f f e w i r d sich diese J u g e n d bilden, w e n n sie sieht, d a ß christliche S t a a t e n T a g e b l ä t t e r u n d Z e i t s c h r i f t e n k o n f i z i e r e n , im Falle dieselben m e n s c h l i c h e A u t o r i t ä t e n v e r l e t z e n , w ä h r e n d d e r N i e t z s c h e ' s c h e Z a r a t h u s t r a mit seinen L ä s t e r u n g e n g e g e n m e n s c h l i c h e u n d g ö t t l i c h e A u t o r i t ä t u n b e h i n d e r t k u r s i e r e n d a r f , s o d a ß J u n g u n d Alt, G e b i l d e t u n d U n g e b i l d e t , G l ä u b i g u n d U n g l ä u b i g beispielsweise lesen k a n n , wie die h ö c h s t e A u t o r i t ä t , C h r i s t u s , d e r S t i f t e r u n s e r e r R e l i g i o n , in E s e l s g e s t a l t v e r h ö h n t u n d d a s h e r r l i c h e G o t teslob d e r A p o k a l y p s e E s e l s a n b e t e r n in d e n M u n d gelegt w i r d . W i r f r a g e n : W o bleibt d a die L o g i k ? "
363 Baur, Prof. Dr. Ludwig (Tübingen), Friedrich Nietzsche. Vortrag, gehalten zu Stuttgart am 15. 3. 1904 u. in erw. Form hg. Vlg. d. „Dt. Volksblatt". St. 1904. 33 S. ( = Populär-wissenschaftl. Vorträge. V , S. 9 5 125). V e r f a s s e r s c h ö p f t sein „sittliches Ideal u n d die G n a d e n k r a f t , d e n E n e r g i e z u f l u ß , es z u e r f ü l l e n " , aus d e n „ G r u n d l a g e n d e r k a t h o l i s c h e n S i t t e n l e h r e " , u n d so d ü r f t e es k a u m v e r w u n d e r n , d a ß e r N i e t z s c h e g ä n z l i c h v e r w i r f t . In s e i n e r „wissens c h a f t l i c h e n " W i d e r l e g u n g heißt es, d a ß „ N i e t z s c h e s T h e o r i e . . . u n h a l t b a r in ihrer
1904 Ein weiterer Briefband
159
G r u n d l a g e " sei, weil sie sich auf „die darwinistische H y p o t h e s e " stütze, deren Beweise „völlig u n g e n ü g e n d und i n k o n k l u d e n t " seien. Seine „sittliche W e r t t a f e l " sei „so willkürlich, so p a r a d o x , so ungeschichtlich als möglich". Am aufschlußreichsten ist Verfassers A u f r e i h u n g aller derjenigen, welche „ N i e t z s c h e - W a r e zu M a r k t e " t r a g e n : der Künstlerkreis, der sich an Böcklin angeschlossen habe, Klinger, H a u p t m a n n , S u d e r m a n n , H a l b e , Fulda, H a r t l e b e n , Bleibtreu, H o l z , C o n r a d i , Frenssen („Jörn Uhi"), Maeterlinck ( „ M o n n a V a n n a " ) , D ' A n n u n z i o , Strindberg, Brandes sowie Zeitschriften in England („The Eagle and the Serpent"), Amerika („The Eye") und Deutschland ( „ P a n " und die „Politisch-anthropologische Revue"), von denen letztere „ganz im Nietzscheschen Geiste den Darwinistischen Z ü c h t u n g s g e d a n k e n auf Politik und Ethik und P ä d a g o g i k ausdehnen und beide nicht auf feste, geistig a n e r k a n n t e G r u n d s ä t z e , sondern auf die Rasse, aufs Blut a u f b a u e n will". G e g e n E n d e des V o r t r a g e s entschuldigt sich d e r R e d n e r : „. . . lange g e n u g habe ich Sie beleidigt mit den S c h m ä h u n g e n , welche dieser M a n n gegen unser Heiligstes ausgestoßen." X
F r i e d r i c h N i e t z s c h e s / B r i e f w e c h s e l mit Fr. Ritsehl, / J. B u r c k -
hardt, H . T a i n e , / G. K e l l e r , Frhrn. v. S t e i n , G . B r a n d e s /
Herausgegeben
v o n /Elisabeth Förster-Nietzsche und Curt W a c h s m u t h / (Verlagszeichen) / Berlin u n d L e i p z i g / S c h u s t e r & L o e f f l e r / 1904. V I I I S., 1 T a f . , 3 3 0 S. ( = G e s a m m e l t e B r i e f e 3. Bd., 1. H ä l f t e ) . m Xa
D e r B r i e f w e c h s e l mit T a i n e a u c h in: H . T . S e i n L e b e n in Briefen.
H g . u. eri. ν. G u s t a v M e n d e l s s o h n B a r t h o l d y . Bd. II. D r . W a l t h e r R o t h schild. Bln. u. L p z . 1 9 1 1 , S. 7 6 3 — 7 7 4 . Die Briefe T a i n e s in deutscher U b e r s e t z u n g ; Brief N r . 2 mit zwei Lücken, N r . 3 o h n e den letzten Satz, N r . 5 mit unvollständigem letztem Satz. 364
W e i n g a r t n e r , Felix, Carl Spitteier. Ein k ü n s t l e r i s c h e s
Erlebnis.
G . M ü l l e r . M c h n . u. Lpz. 1904. ( = M ü n c h n e r B r o s c h ü r e n . H g . v. G . M ü l l e r . H . 2). Verfasser, ein K o m p o n i s t , vergleicht darin (S. 51 ff.) Nietzsches „ Z a r a t h u s t r a " mit Spittelers „ P r o m e t h e u s " als einziges W e r k , das d a z u tauglich sei. D o c h meint er, d a ß N i e t z s c h e „ E x p e r i m e n t a t o r " , Spitteier „Künstler" sei. 365
K u e h n , Paul ( L e i p z i g ) , D a s N i e t z s c h e - A r c h i v z u W e i m a r . A l e x .
K o c h . D a r m s t a d t 1904. 4 Bll., 3 7 S., 2 Bll. ( = V l g s . - a n z . ) m. 17 A b b . ( = K o c h s M o n o g r a p h i e n III). Behandelt hauptsächlich H e n r y van de Veldes Ausgestaltung d e r I n n e n r ä u m e des Archivs und findet dessen „Kunstideal" ein gleiches wie das Nietzsches. D a n e ben hat V e r f a s s e r auch einiges über das künstlerische Wollen M a x Klingers zu sagen.
141
Diesen Band hatte die Schwester in e i n e m Brief vom 4. 3. 1904 E u g e n Diederichs z u m V e r l a g e a n g e b o t e n ; a b g e d r u c k t in: E. D., Selbstzeugnisse und Briefe d e r Zeitgenossen. Diederichs. ( D ü s s e l d o r f / K ö l n 1967), S. 145.
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1904 „das Gewissen unserer Zeit"
In seinem „ersten z u s a m m e n f a s s e n d e n V e r l a g s k a t a l o g " im F r ü h j a h r 1904 beendete Eugen Diederichs die D a r s t e l l u n g des V e r l a g s p r o g r a m m s mit den W o r t e n : „ D e n n das Gewissen unserer Zeit, das in den T a g e n unseres g r ö ß t e n Tiefstandes und der Veräußerlichung sich in Friedrich N i e t z s c h e v e r k ö r perte, schlägt jetzt in allen denen, die sich g e d r u n g e n f ü h l e n , f ü r eine neue deutsche Kultur ihr bestes einzusetzen." Später schrieb er über diese Zeit u n d seinen V e r l a g : „Die religiöse Bewegung innerhalb des Verlages, auf den Leibbinden meiner Verlagswerke, zuerst als religiöse K u l t u r bezeichnet und d a n n später, als das W o r t ,Kultur' anrüchig g e w o r d e n w a r , f o r m u l i e r t als ,Lebensgestaltung durch Glauben', hatte bereits in Leipzig 1902 mit einem gewissermaßen als P r o g r a m m dienenden Buche: ,Religion als S c h ö p f u n g ' von A r t h u r Bonus eingesetzt. Aber erst in dem J e n a e r J a h r z e h n t gelangte sie z u r Ausgestaltung. 1905 gab der Bremer P f a r r e r Albert Kalthoff seine ,Zarathustra-Predigten' heraus, die er in der Kirche gehalten hatte. An diese und die folgenden Bücher k n ü p f t e sich eine B e w e g u n g , die G o t t aus der Gegenwärtigkeit des Lebens und nicht aus d e r H i s t o r i e heraus erfassen wollte." 143 366 André, M. C., Die Kunst des Lebens. D r a m a in vier A k t e n . D e m A n d e n k e n Nietzsches gewidmet. E. Pierson. D r e s d e n 1904. 3 Bll., 135 S. Als G e l e i t w o r t e sind d e m W e r k z w e i längere Stellen aus d e m „Zarathustra" vorangestellt. D e r 32jährige Herbert W a r n e c k , M a l e r und „ v e r b u m m e l t e s Genie", g e h t , z u s a m m e n mit seiner Geliebten, an d e n M a c h e n s c h a f t e n u n d der G e m e i n h e i t seiner unmittelbaren m e n s c h l i c h e n U m g e b u n g z u g r u n d e . S e i n e m n ä c h s t e n Freund erklärt er v o n seinem Verhältnis z u N i e t z s c h e : „ M e i n g u t e r Franker . . . w a s N i e t z sche aus mir g e m a c h t hat, . . . was ich ihm d a n k e — das k ö n n e n Sie gar nicht fassen! weil Sie kein S c h a f f e n d e r , vor allem, weil Sie kein Künstler sind! D e n n N i e t z s c h e ! N i e t z s c h e war Künstler durch und durch; das in allererster Linie . . . w a s mir S c h o penhauer, der damals in jener Verbitterungs- und E h r g e i z - P e r i o d e mein R a t g e b e r w a r — w a s der mir nahm . . . das gab mir N i e t z s c h e w i e d e r ! . . . in mir steckt mehr Heiterkeit — als ihr alle miteinander ahnt!" (S. 9 0 )
367 Zimpel, Helen (Breslau), Kleist der Dionysische. ( N S 108, 1904, H . 323, S. 1 8 7 - 2 1 4 ) . Verfasserin nimmt sich die „Geburt", die „mit g e n i a l e m W u r f s o viel d e u t s c h e Z u k u n f t an die herrlichste aller m e n s c h l i c h e n V e r g a n g e n h e i t e n , die g r i e c h i s c h e , knüpft", zu H i l f e , um Kleist als den „ D i o n y s i s c h e n " d a r z u s t e l l e n ; „der ein D e u t scher war und z u g l e i c h ein G r i e c h e , ein christlicher J u n k e r u n d d o c h ein B e k e n n e r des Antichrist, der kein Musiker war und d o c h ein M u s i s c h e r d u r c h u n d durch,
143
E. D., Der deutsche Buchhandel der Gegenwart in Selbstdarstellungen. H g . v. Prof. Dr. G. Manz. 2. Bd. H . 1, S. 41.
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1904 „der Prophet der neuen Weltära"
er, d e r viel gelitten, um schön zu w e r d e n " : „Dasselbe Schönheitsideal f ü r V e r g a n genheit und Z u k u n f t lebt im H e r z e n Kleists und Nietzsches: in S c h ö n h e i t l e ben."
368 Schmitt, Eugen Heinrich (Budapest), Christus und NietzscheZarathustra. ( D V E 12. Jg., 1904, S. 115 f., 145 f., 160 f., 171 f., 176 f., 193 f.). Christus ist dem V e r f a s s e r „die Enthüllung des Geheimnisses des Menschen", und sein S p r u c h , „ d a ß d e r A r c h o n dieses Weltalls gerichtet ist", stehe „in m e r k w ü r diger U b e r e i n s t i m m u n g " mit d e m des „angeblichen .Antichristen'", „daß ,dieser alte G o t t tot ist'". „So wie nämlich d e r neue, d e r universelle Mensch keinen äußeren H i m m e l , keinen ä u ß e r e n G o t t m e h r kennt, so k e n n t er auch kein Sittengebot mehr, welches ihm irgend eine M a c h t geböte, die nicht sein W e s e n , sein Leben, die nicht eins mit ihm wäre. Alle die ä u ß e r e n Fesseln d e r Moral, die noch Sokrates und seine Schule a n e r k e n n e n , diese H e i l i g t ü m e r d e r G e d a n k e n s c h a t t e n zerstört also der g r o ß e ,Immoralist' N i e t z s c h e . " E r sei „der P r o p h e t der neuen W e l t ä r a " und sein Geheimnis „das aller Religionen und aller Philosophien: das d e r Selbsterkenntnis".
369 anonym, Nr. 14, S. 366 f.).
Nietzsche
und der Antisemitismus.
(MVAA
1904,
Weist auf f r ü h e r e V e r ö f f e n t l i c h u n g e n z u m selben G e g e n s t a n d hin ( M V A A N r . 15 u. 25, 1901, S. 135 u. 215) u n d bringt dann eine ähnliche Zusammenstellung solcher Beweise von N i e t z s c h e s j u d e n f r e u n d l i c h e r Einstellung aus d e r Vossischen Zeitung vom 11.11. 1903.
370 Strunz, Dr. phil. Franz (Berlin-Gr. Lichterfelde), Das Werden und die Lehre Friedrich Nietzsches. Calve. Prag 1904, S. 73—90. ( = Slg. Gemeinnütziger Vorträge. Hg. v. Dt. Vereine z. Verbreitung gemeinnütziger Kenntnisse in Prag. Nr. 308, Mai 1904). Ein einziges Loblied auf d e n D e n k e r , das n u r eine einzige leise angebrachte Bemängelung bringt, und das in einer A n m e r k u n g : „ G e w i ß hätten seine religiösen W e r t e a n d e r e n Inhalt b e k o m m e n , w e n n er gleich frühzeitig f r e i e r e u n g e z w u n g e nere E i n d r ü c k e über das W e s e n des C h r i s t e n t u m s in sich a u f g e n o m m e n haben w ü r d e und nicht den ö d e n u n d trostlosen Pietismus." — „Sein Bild von dem Stifter der christlichen Religion ist ebenfalls v e r z e r r t . " D a s Loblied besingt sogar die Schwester mit, aus d e r e n D a r s t e l l u n g V e r f a s s e r die eigene weitgehend schöpft. Sie ist N i e t z s c h e „die treueste F r e u n d i n seines Lebens" gewesen, und an a n d e r e r Stelle heißt es: „. . . seine letzten t r e u e n F r e u n d e , seine Schwester Elisabeth und deren G e mahl Dr. Foerster." Sonst z e i c h n e t er die philosophische E n t w i c k u n g Nietzsches nach den schon g ä n g i g g e w o r d e n e n drei P e r i o d e n : „Künstlerische W e l t a n s c h a u u n g aus pessimistischer Willenslehre heraus . . ., die Zeit intellektualistischen Positivismus, . . . optimistische Willenslehre (Voluntarismus) . . D a s g a n z e klingt in den W o r t e n aus: „ D a s eine ist aber sicher: s e i t G o e t h e h a t K e i n e r u n t e r u n s D e u t s c h e n g e l e b t , d e r u n s e r e S p r a c h e s o b e h e r r s c h t h a t und der es mit einem solch f o r m e n r e i c h e n und melodischen Stil beschenkte. An ihm lernte die
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1904 S a l a m o Friedländer
ganze moderne Schriftstellerei. Besonders auch von seiner symbolischen Α π der Rede und ihren seltenen ästhetischen Kräften." 1 4 4 371
Frost, Laura, A u s den Briefen Friedrich N i e t z s c h e s . ( E K 12. Jg.,
N r . 9 v. 1. 5. 1904, S. 6 5 - 6 8 ) . Zeigt die beiden ersten Briefbände an, bespricht aber nur den zweiten: „Wer die Briefe Nietzsches liest, erhält einen Begriff von der erschütternden Tragik seines Lebens, aber auch von der Reinheit seiner Seele und von seinem Ringen um die Erfüllung seiner Lebenspflicht."' 4 5 372
Friedländer, D r . S., Friedrich N i e t z s c h e . Ein W i n k z u m V e r -
ständnis seiner Lehre. ( D N M 7 3 , H . 17, 1904, S. 5 2 9 - 5 3 5 ) . Nietzsche habe so sehr an dem „Willen zur W a h r h e i t und zur sittlichsten Sitte" gelitten, „daß, mit ihm verglichen, alle bekannten Wahrheitssucher und Moralisten nicht ernst genug, allzu genügsam, fast oberflächlich erscheinen". Mit Kant und Schopenhauer habe er das gemeinsam, „daß sie mit hellen Augen d i e G e f a h r d e s g o t t l o s e n M e n s c h e n sehn: Die G e f a h r der Freiheit". D o c h seien beide V o r g ä n ger „im Dienst des Göttlichen" geblieben. Er erst habe an die Stelle der „Wahrheiten und der Moralen" den „Versuch, das Wagnis" gesetzt; „die Schöpfung des Menschen selbst" habe noch zu erfolgen. Mit dem H a m m e r philosophiere er „ n i c h t , um zu zerschmettern, sondern um das verborgene, verleugnete, verhunzte Individuum herauszuarbeiten". — „Sein Imperativ ist p r o b l e m a t i s c h , versucherisch und also zwar gefährlich, aber möglicherweise glückend, jedenfalls der einzige Ausweg nach dem Sturz der alten, der nur das Geschaffene erlaubenden, das Schöpferische als verbrecherisch verbietenden Moral." D e r eigentliche „Charakterzug" seiner Philosophie sei die „im weitesten Sinne g e n o m m e n e S e l b s t s u c h t " : „Es gilt, sich von sich weg zu sich hin zu erlösen." Durch solche Erkenntnis sei Nietzsche auf die „ewige W i e d e r k e h r " g e k o m m e n , worin Verfasser „kein bloßes schmückendes Beiwerk, sondern den Kern seiner Lehre" sieht, „woher alle die furchtbare und himmlische Bedeutsamkeit derselben rührt". 1 4 6 373
Siebert, D r . O .
(Fermersleben),
(ZPhK
Bd. 124, Η . 1,
1904,
S. 118 f.). Empfiehlt das W e r k von Schacht (Nr. 1) „allen Nietzscheverehrern unserer Zeit nur zu ihrem eigenen Besten . . .: es ist ein gutes Rezept, das manchen von seiner Schwärmerei kurieren kann". 374
Stern, Julius (Bruchsal), Ein N i e t z s c h e des Altertums. (PJb 117,
1904, S. 5 1 5 - 5 2 3 ) . Einen solchen findet Verfasser in Heraklit, und die Darstellung der Ähnlichkeiten beider gipfelt etwa in der Meinung, daß „bis in die letzten mystischen
1,4 145
146
S t r u n z , F r a n z , geb. 1877 zu Eger, P r i v a t d o z e n t an der T e c h n i s c h e n H o c h s c h u l e in Wien. Frost, L a u r a , geb. Lemmel ( B a r t e n s t e i n / O s t p r . 8. 11. 1851 — D o r t m u n d 4. 12. 1924), Schriftstellerin. F r i e d l ä n d e r , S a l a m o ( G o l l a n t s c h / P o s e n 4 . 5 . 1 8 7 1 — Paris 9 . 9 . 1 9 4 6 ) , philosphischer Schriftsteller und H u m o r i s t , p r o m o v i e r t e 1902.
1904 „dionysischer Hedonismus"
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Träume von dem Weltschicksale hinein . . . die beiden Denker auf verwandten Wegen" gehen. 375 Bruchmann, K., Die ewige Wiederkehr. (Gr 63. Jg., Bd. 2, 1904, S. 5 6 4 - 5 7 4 ) . Findet „mannigfaltige Schattierungen des Gedankens der periodischen Wiederkehr" im Alten Testament, bei Seneca, in der „indischen Spekulation", in der „nordischen Phantasie der Edda", bei den Griechen und bei Orígenes. In der Darstellung werden alle mehr oder weniger verspottet und ihrer Unwissenschaftlichkeit überführt, so daß Verfasser auf die Behauptung des „freien Tänzers" schließen kann: „Die ewige Wiederkehr ist nichts als eine antizipierte Anekdote, mit demselben unbekümmerten Anspruch auf Glaubwürdigkeit, wie sie vielen anderen Anekdoten zukommt." 376 Ettlinger, Dr. Max, N e u e r e Nietzscheliteratur. ( H 1904, S. 749 f.).' 47 Eine Besprechung der Werke von Lang (Nr. 30 b; es sei in einer „leichtverständlichen Darstellungsweise und der klugen Beschränkung auf zwei durchgehends wichtige Punkte der Nietzscheschen Gedankenentwicklung" verfaßt und biete eine „treffende Kritik" des „fragwürdigen, darwinistischen Unterbaues"), Richter (Nr. 275; er unternehme den „kühnen und interessanten Versuch", die Gedankenentwicklung Nietzsches „als eine in sich geschlossene und folgerichtige darzustellen") und Drews (Nr. 324; das „am geeignetsten" sei, die Lektüre Nietzsches „fördernd zu begleiten und in gewissem Umfang zu ersetzen", und sich durch die „Bezugnahme auf Nietzsches geistige Umgebung zu einem Überblick über die Gedankenströmungen der letzten Jahrzehnte" ausweite). 377 Hollitscher, Jakob J. (Phil. Dr.), Friedrich Nietzsche. Darstellung und Kritik. W. Braumüller. W i e n u. Lpz. 1904. 1 Taf., X V , 270 S., 1 Bl. Hervorgegangen aus Vorträgen „vor einem erlesenen Kreis von Herren und Damen" in Wien ist das Buch im wesentlichen als Einführung gedacht, ein Versuch, „von jedem Werk ein Exzerpt zu bieten". Lesenswert ist Verfassers Darstellung der Abhängigkeit Nietzsches von Burckhardt und Goethe sowie einiges in dem Schlußteil: „Nietzsche ist im Wesen durchaus p e s s i m i s t i s c h e r I d e a l i s t , in einer Abart, die, von dem Persönlichen abstrahiert, nicht mit Unrecht als d i o n y s i s c h e r H e d o n i s m u s bezeichnet werden dürfte." Es führe „ein zwar wunderlicher, doch durchaus ununterbrochener Weg von dem . ä s t h e t i s c h e n Z u s c h a u e r ' des griechischen Theaters, der, ferne allen moralischen Problemen, in dionysischer Erregung aus den Schrecknissen der Tragödie neue Lebenslust schöpft, sich eins fühlt mit dem Mythos und selbst schon Jenseits von Gut und Böse' ist, über den i d e a l i s t i s c h e n S o k r a t i k e r , der furchtlos und verzichtend über Menschen, Sitte, Recht
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Ettlinger, Max Emil (Frankfurt/Main 31. 1. 1877 — Ebenhausen/Obb. 12. 10. 1929), damals, 1903—1907, Redakteur an der Zeitschrift „Hochland", habilitierte sich 1914, wurde 1917 ordentlicher Professor der Philosophie in Münster/Westfalen.
1904 „eine An .hinterlistiger Christ'"
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und Moral schwebt, bis zu dem immoralistischen Übermenschen, dem Philosophen der vornehmen Instinkte, der die alten W e r t g ö t z e n bricht und neue Werte, ein neues ,Gut und Böse' verbricht — dem d i o n y s i s c h e n H e d o n i k e r . . . " — „Er ist keiner von jenen Wenigsten, Überragenden . . ., keiner von jenen spärlich gesäten, harten, gleichsam erzenen, durchaus geradlinigen Denkern . . . " — „Er ist im Grund nichts anderes, als was er behauptete, daß es Kant sei — eine A n .hinterlistiger Christ'." Sein „ethisches Ideal" trage „alle Kennzeichen des Romantizismus": „Höchste Subjektivität, vollste Erdenflucht, völlige Unvereinbarkeit mit aller Realität." Er selber sei ein „pastoraler Romantiker". Auch der Stil bleibt nicht ungeschoren: „Er ist kein Sprachenbildner im eigentlichen Verstand des Wortes, er findet nie oder höchst selten einen wesentlich neuen, die Sprache wirklich bereichernden Begriff f ü r seine Sache . . . er legt das Hauptgewicht auf Reichtum des Wortschatzes, statt nach ,Begrenzung zu trachten', nach Meisterschaft innerhalb des enger begrenzten Besitzes, und ist damit ein typischer Vertreter jenes ,unreifen oder verderbten Geschmackes', der die psychische Grundlage jedes Barockstiles bildet." O b wohl Verfasser am Schluß auch von „Perlen" spricht, welche man „im G r u n d e von Nietzsches Wesen" finden könne, erwähnt er in dieser Beziehung nur dessen „Konservatismus", in Hinsicht auf die Wissenschaft, auf das soziale Leben und auf die Ethik. 378
W o l l f , Karl (Karlsruhe), N e u e s v o n und über N i e t z s c h e . ( D L E
6. Jg., H. 17 v. 1.6. 1904, Sp. 1 2 0 8 - 1 2 1 4 ) . Eine Sammelbesprechung des 13. Bandes der W e r k e ( G X I I I ; aus dem sich keine „neuen Gesichtspunkte f ü r die Beurteilung der Philosophie Nietzsches" ergeben, „wohl aber eine Überfülle an feinsten und wertvollsten Einzelheiten") sowie der W e r k e von Drews (Nr. 324; „das umfassendste W e r k der bisherigen NietzscheLitteratur, mit gründlichster Gelehrsamkeit u n t e r n o m m e n und auf breitester Grundlage aufgebaut", doch leide es daran, daß Drews als „konsequenter A n h ä n g e r von H a r t m a n n s Metaphysik" Nietzsches Entwicklung „nicht um ihrer selbst willen" schildere, sondern „um eine These, H a r t m a n n s ,konkreten Monismus des u n b e w u ß ten absoluten Geistes', ex contrario zu beweisen"), Richter ( N r . 275; bei dem man wohl sagen dürfe, „daß der bedeutsame Versuch, d e n s t r e n g s a c h l i c h e n Z u s a m m e n h a n g d e r e i n z e l n e n S t a d i e n in N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e z u e r w e i s e n , gelungen ist". — „Ich wüßte keine gleich gediegene und anregende Einf ü h r u n g in Nietzsches Ideenwelt."), Hollitscher (Nr. 377; „Mit welch unzulänglichen Mitteln wird der Versuch gewagt, eine einheitliche Weltanschauung als Grundlage des wandlungsreichen Schaffens Nietzsches zu erweisen! Wie verschwommen wird diese Weltanschauung selber charakterisiert . . .") und Ewald (Nr. 314; Verfasser gehöre zu denen, die „über Nietzsche hinaus, wenn auch zuweilen gegen Nietzsche philosophieren wollen", und der Leser werde „aus den außerordentlich scharfsinnigen, tiefdringenden, niemals trivialen Ausführungen Ewalds reiche A n r e g u n g schöpfen"). 379
U r t e l , H . , Im N i e t z s c h e - A r c h i v . ( H N N r . 2 5 , Belletristisch-Lite-
rar. Beil. v. 19. 6. 1904). Die Schilderung eines Besuches im neuumgebauten Archiv.
1904 „gefeiertes und unübertroffenes Vorbild des Impressionismus"
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380 Stein, Dr. Ludwig (Bern), N i e t z s c h e und kein Ende. ( N F P r Beil. N r . 14309 v. 26. 6. 1904, S. 31 ff.). Verfasser, der sich noch zu den „ausgesprochenen Widersachern" Nietzsches bekennt, sieht in ihm depnoch „schriftstellerisch ein europäisches Ereignis . . ., wie einst Voltaire". Er gehöre in eine Reihe mit den „großen Dichterphilosophen", „ein Genie freilich allerpersönlichsten Gepräges". Gegen das „öde ,Kommentieren', ,Paraphrasieren', ,Sezieren', ,Analysieren', interpretieren' der Werke Nietzsches" müsse man aber „laut und vernehmlich Verwahrung einlegen". Er streift dann viele solche Werke, um das von Richter (Nr. 275) auszunehmen und hervorzuheben; dieser habe nämlich „in kongenialem Nachtasten den Künstler in Nietzsche, den Propheten, den Dichterphilosophen in tiefster Seele erfaßt". 381 Lublinski, S(amuel), D i e Bilanz der Moderne. S. Cronbach. 3. Aufl. Bln. 1904. D i e Erstauflage erschien im selben Jahr. Enthält manches Lesenswerte zum Gegenstand Nietzsche, so: S. 34—38 (Wagner-Nietzsche), 41 (Langbehn, „ein sehr seltsamer Vorläufer"), 44—49 („Der damalige ungeheure Augenblickserfolg des Buches (d. i. Langbehns) war nicht zum wenigsten dadurch bedingt, daß es die Konfusion des Zeitalters getreulich widerspiegelte, während man gleichzeitig ahnte, daß hier ein erster Versuch vorlag, diese Konfusion zu überwinden. Eben deshalb mußten der Mann und sein Werk sofort von der Bildfläche verschwinden, als endlich der Einfluß Nietzsches mit siegreicher Gewalt zum Durchbruch kam." Dieser sei „eine durchaus klassische Natur", unterscheide sich aber „von der ältern klassischen Kunstauffassung etwa eines Goethe gerade durch seinen ausgeprägten politischen Instinkt." — „Er zerlöste mit einem harten und sichern Schnitt die Nabelschnur, durch die die Moderne mit der älteren Romantik, aus der Wagner und Schopenhauer schließlich herstammten, noch zusammenhing."), 119—136 (Ähnlichkeit mit Luther; Nietzsche als „Soziologe"; Zarathustra als „Gipfel der modernen Romantik" — „Dieses Bekenntnisbuch wird für alle Zeiten zu den sprachlichen Wunderwerken gehören und allein schon wegen seiner monumentalen und granitenen Ausdrucksform die Zeiten überdauern."), 147 (Vergleich mit Mitarbeitern des „Simplizissimus"), 160 (im Zusammenhang mit Mombert), 161 —164 (als „gefeiertes und unübertroffenes Vorbild" des Impressionismus), 166, 169, 179, 180 f., 188 f., 190, 213, 220, 228, 236, 239 (und der Antisemitismus), 245, 262, 287, 290 f. (Im Anschluß an die Ablehnung Chamberlains und als eine „Wiedererinnerung an den schon fast verschollenen Rembrandtdeutschen" heißt es: „Tatsächlich liegt im heutigen Deutschland die Frage so: Nietzsche oder Schopenhauer-Wagner?"), 311, 314, 317, 321, 3 2 2 - 3 3 9 (Nietzsche als „homo religiosus", der durch die „neureligiöse Bewegung" etwa eines Gustav Landauer „in einem ganz neuen Licht erschien und zwar in seinem eigentlichen Licht". — „Bis jetzt" sei er „das letzte Wort der modernen Religion geblieben, ein gewaltiges Kraftzentrum allerdings, ein notwendiger Durchgangspunkt, aber zugleich in mehr als einem Sinn ein großer Abseitsstehender, der Unendliches zu gewähren hat, um den allein jedoch ohne Gefahr eine ganze Kultur nicht kreisen kann." — „Nur wer Nietzsches tragischen Heroismus in sich aufzunehmen und zu Ende zu leben und dadurch allein zu überwinden vermag, nur wem alle blutenden Wunden Nietzsches
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1904
zu ausgeheilten ehrenvollen N a r b e n g e w o r d e n sind, der allein darf h o f f e n , dieses letzte und gewaltigste Ziel d e r M o d e r n e zu erreichen: eine G e m ü t s w u c h t von kosmischer Urgewalt"), 361 (im Vergleich zu D e h m e l ) .
381a Dass. m. e. Nachw. neu hg. v. Gotthart Wunberg. M. Niemeyer. Tüb. (1974). 2 Bll., VII, 424 S. (— Dt. Texte. Hg. v. G. Wunberg. Nr. 2 9 / = Ausgewählte Schriften I). S. 369—424 = eine W ü r d i g u n g Lublinskis vom H e r a u s g e b e r , N a m e n Sachregister, sonst unverändert.
u.
382 Lévy, Albert, Stirner et Nietzsche. Paris 1904. 113 S. ( = Diss. d. Univ. Paris). Enthält auf S. 9 3 — 1 1 3 als A n h a n g ein Verzeichnis d e r von N i e t z s c h e in d e r Zeit vom W i n t e r s e m e s t e r 1869/70 bis z u m S o m m e r 1879 aus d e r Basler Universitätsbibliothek entliehenen Bücher.
383 Witte, Erich, Das Problem des Tragischen bei Nietzsche. C. A. Kaemmerer. Halle a. S. 1904. 128 S. ( = Diss. d. Univ. Halle-Wittenberg). Verfasser erstellt Nietzsches A u f f a s s u n g des T r a g i s c h e n nach den „ b e k a n n t e n drei P e r i o d e n " unter ständiger vergleichender H e r a n z i e h u n g der Ansichten von Aristoteles, J. Bernays, B u r c k h a r d t , H e r m a n n B a u m g a r t , M o r i t z C a r r i è r e , D u b o s , Fechner, G. Freytag, Karl G r o o s , H e g e l , H e b b e l , Ed. v. H a r t m a n n , H e r m a n n H e t t ner, H o m e , J. H . v. K i r c h m a n n , Köstlin, K a n t , Lessing, R o h d e , Schiller, Schelling, S c h o p e n h a u e r , Sulzer, Valentin, Fr. T h . Vischer, Volkelt, W a g n e r , v. W i l a m o w i t z Möllendorff und Adolf Zeising, sowie des einschlägigen N i e t z s c h e s c h r i f t t u m s . Lesenswert ist seine B e n e n n u n g „einiger übermenschlichen tragischen H e l d e n " , „welche einige dem U b e r m e n s c h e n im Sinne Nietzsches z u k o m m e n d e n E i g e n s c h a f t e n besitzen", so Shakespeares Richard III., H a u p t m a n n s G l o c k e n g i e ß e r H e i n r i c h und Hebbels H o l o f e r n e s . Abschließend findet er, d a ß N i e t z s c h e t r o t z m a n c h e r im L a u f e der drei Perioden erfolgten W a n d l u n g sich „in einer Beziehung . . . k o n s t a n t " geblieben sei, „nämlich insofern derselbe stets den von Zeising, C a r r i è r e , H e g e l , Vischer der T r a g ö d i e zugeschriebenen Z w e c k v e r w i r f t . . . N i e ist er der M e i n u n g gewesen, die T r a g ö d i e solle den ewigen Sieg des G u t e n , die Existenz einer sittlichen W e l t o r d n u n g zeigen; nie hat er jener b e r ü h m t e n T h e o r i e von Schuld und S ü h n e des tragischen H e l d e n z u s t i m m e n k ö n n e n . " Für „freundliche A n r e g u n g " zu dieser Arbeit und die „liebenswürdige U n t e r s t ü t z u n g bei derselben" d a n k t V e r f a s s e r b e s o n ders „ H e r r n P r o f . D r . Vaihinger". 1 4 8
384 Willy, Rudolf, Friedrich Nietzsche. Eine Schultheß. Zür. 1904. 279 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.).' 49
Gesamtschilderung.
In der Form einer „Geschichte meines geistigen Interesses an N i e t z s c h e " möchte V e r f a s s e r über dieses „geschichtliche E l e m e n t a r - E r l e b n i s " schreiben, ü b e r 148 1,9
W i t t e , Erich, geb. am 9. 9. 1881 zu Wollin i. P. Willy, R u d o l f , geb. 1855, lebte damals in M e l s / S t . Gallen.
1904 „ein einziges, großes Geistesgewitter"
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den „tragischen, schrecklichen, aber auch erhabenen Widerstreit . . . zwischen Genie und Gesellschaft im weitesten Sinne". Er will zeigen, daß „das Positiv-Produktive bei Nietzsche sehr viel stärker ist als die décadence". Dieser ist ihm „ein einziges, großes Geistesgewitter", „der große Mensch und Menschenkenner", „die Sonne der Redlichkeit selbst". Doch sei er bisweilen von „Geniehochmut und von den Dünsten der Metaphysik angefallen und überfallen" und, „um seine gewaltsame Verleugnung des Altruismus durchzusetzen, vor den gewaltsamsten Verrenkungen des psychologischen Tatbestandes" nicht zurückgeschreckt. Vor allem aber der „Lockruf des Willens zur Macht" habe ihn verführt und ihn „jene Distanz-Kluft zwischen Mensch und Mensch" aufreißen lassen, die auch in der „Herren-Moral" zum Ausdruck komme. Auch „die ewige Wiederkunft" sei ein „in die Abgründe weisender Wahn", wenn auch „ein schöner, ein freudestrahlender". Es verwundert daher nicht, daß dem Verfasser „die eigentlich aphoristische Schriften-Gruppe" der zweiten Epoche „das Produkt der wertvollsten Schaffenszeit des Philosophen" ist. 385 Tschirn, Gustav, Friedrich Nietzsche dargestellt und beurteilt. Oskar Hensel. Breslau 1904. 31 S. Dem Verfasser ist die Gedankenwelt Nietzsches „freisinnig und voll tiefer Wahrheit", obwohl „durch die Verschmelzung von Schopenhauerianismus und Darwinismus unzweifelhaft gekennzeichnet". Auch dem „Widersinn der Kantischen Erkenntnistheorie", welche Schopenhauer „verrückt gepriesen" habe, sei Nietzsche „verfallen und bis ans Ende verfallen geblieben": „Ist mir die Selbsterkenntnis gewiß, dann ist die ganze Welt ein Traum, und mein Selbst schließlich auch. Das ist die einfache Konsequenz der von Kant abhängigen Philosophie." Besonders „verwunderlich und bedauerlich" sei Nietzsches Verkennung des „ungeheuren Wertes der Arbeit". „Der gesunde Ekel einer kraftvollen Individualität" schlage bei ihm „in die krankhafte Empfindsamkeit des Verwöhnten, Uberzarten" um. „Einseitig, wie Nietzsche ist", stecke er „den Sozialismus einfach dem Individualismus quasi in die Tasche", anstatt zu erkennen, daß „die richtige Vereinigung beider . . . die Erklärung ihrer Gleichwertigkeit" sei. Verfasser beschreibt sich, „um mit Goethe zu reden", als „decidierten Nicht-Christ", und meint gegen Schluß trotz der obenangedeuteten Einschränkungen : „Noch kein Drama ist erdichtet worden, so fesselnd bis zur Atemlosigkeit, so furchtbar bis zum Wahnsinnsmitgefühl, so packend jeden geistigen Menschen, wie Nietzsche es in seinem Innern durchlebte, uns in seinen Niederschriften vorlebt, wie er vor unseren Augen den erschütternden Kampf und tragischen Untergang sich grausam folgerichtig abspielen läßt." 386 Rittelmeyer, Dr. phil. Fr. (Pfarrer in Nürnberg), Friedrich N i e t z sche und die Religion. Vier Vorträge. Heinr. Kerler. U l m 1904. 95 S. Verfasser meint einleitend, man könne „der deutschen Kultur gegenwärtig nicht viele wertvollere Dienste leisten . . ., als wenn man mithilft, daß das glänzende, aber gefährliche Phänomen Nietzsche zu einem segensreichen Leuchten über unsrer Geisteswelt gezwungen wird". Dieser sei Atheist geworden, „weil ihn der Atheismus ehrlicher erschien . .., weil ihm der Gottesglaube die volle Freiheit des Denkens und Handelns zu bedrohen schien"; seine Lehre sei aber „von religiösen Elementen durchsetzt von Anfang bis zu Ende": „Wo wir hinabhorchen in ihre
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1904 Ein „Helfer zu einem größeren Christentum"
T i e f e , da hören wir die uralten Brunnen der religiösen Sehnsucht der Menschheit rauschen!"
Seine
„bleibende
Bedeutung"
werde
auf
seiner
„unvergleichlichen
Sprachkünstlerschaft und Sprachmeisterschaft", auf seinem Kampf „gegen allen erdrückenden Sozialismus", auf seiner G e g n e r s c h a f t g e g e n den Pessimismus und d e n Intellektualismus beruhen. — „Vielleicht w e r d e n sich in den k o m m e n d e n Jahrtausenden einmal z w e i g r o ß e W e l t a u f f a s s u n g e n gegenüberstehen, die man kurz bez e i c h n e n kann mit den beiden N a m e n : Buddha und Jesus! D a n n wird man auch N i e t z s c h e s Stimme hören im Streit, — aber nicht auf Seite Buddhas! — "'5-
386a Dass. Zweite überarbeitete Aufl. 1911. 2 Bll., 97 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). U n w e s e n t l i c h verändert; Verfasser scheint hauptsächlich bemüht, seiner Schrift das V e r t r a g s m ä ß i g e z u n e h m e n .
386b Dass. 3. Aufl. Christian Kaiser. Mchn. 1920. ( = unveränderter Abdruck d. 2. Auflage). Unverändert. 387 Oehler, Dr. Richard, Friedrich Nietzsche und die Vorsokratiker. Dürr. Lpz. 1904. VIII, 167 S. S. den Teilvorabdruck der S. 1 — 5 3 (hier unverändert) in der als Dissertation gedruckten Arbeit ( N r . 266). In den übrigen Teilen stellt Verfasser zunächst N i e t z sches Ä u ß e r u n g e n über T h a i e s , A n a x i m a n d e r , Heraklit, X e n o p h a n e s , Parmenides, Z e n o , A n a x a g o r a s , E m p e d o k l e s , D e m o k r i t , die Pythagoreer und die Sophisten z u s a m m e n , w o b e i er die Frage, o b N i e t z s c h e mit seiner Auffassung und Beurteilung der altgriechischen P h i l o s o p h i e „in der T a t das Richtige getroffen" habe, „mit Ab-
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Über die Entstehung der Schrift, die neben dem gründlichen Studium der Evangelien als Vorbereitung zu einem Buch über Jesus gedacht war, schrieb er: „Auf der andern Seite wollte ich, um das rechte Augenmaß zu gewinnen, zum Vergleich eine Reihe anderer Geister durchleben. Zunächst den entschlossensten Christusgegener der Geschichte: das war für mich Nietzsche . . . Bald wußte ich aber, als ich Nietzsche kennen lernte: von diesem Geist wirst du jede Zeile lesen, die er geschrieben hat. Ich wußte auch: mit diesem Geist mußt du um das Christentum ringen, diesem Geist mußt du das Christentum abgewinnen. Erst dann kannst du sicher deiner Zeit gegenübertreten. Und bald wußte ich auch: dieser Geist darf nicht bloß als Christusgegner gesehen werden, sondern als Helfer zu einem größeren Christentum . . . wer so tief die Christusfrage ausgekostet hat, der erweckt in sich ein neues Auge für Christus . . . In solcher Stimmung habe ich vor allem die Stellen gesucht, wo Nietzsche selbst nicht weiter konnte, oder auch die Stellen, wo Nietzsche, über das Christentum hinausstrebend, vor einem verschleierten Götterbild stand, das sich uns als ein g r ö ß e r verstandenes Christentum enthüllen kann. — In Nürnberger kirchlichen Kreisen hatte man allerdings für eine solche Einstellung nicht den Schimmer eines Verständnisses. Man hatte nur Angst und Mißtrauen. Mein oberster Vorgesetzter ließ mich kommen und wollte verhindern, daß ich Nietzsche-Vorträge überhaupt hielt. Andre hochgestellte Geistliche urteilten noch schärfer . . . In der Nürnberger Öffentlichkeit hatte ich dagegen durch diese Vorträge ein gewisses Ansehen errungen . . . Man schickte mir junge Leute zu, die in den Einfluß Nietzsches geraten waren . . . Die Stunden, die ich mit Nietzsche verbracht habe, glänzen in meiner Erinnerung als unvergeßlich lebensreich und geistesschön. Ihnen verdanke ich vor allem den Hintergrund von Sicherheit, auf dem ich dann für das Christentum eintreten konnte." (F. R., Aus meinem Leben, a. a. O., S. 2 0 7 - 2 1 0 ; s. a. ebd., S. 131, 257, 435).
1904 „er ist unser Pfadfinder, unser Führer"
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sieht in den Hintergrund gedrängt" habe. Es komme vor allem darauf an, „was Nietzsche in jenen Weisen sah". Hierauf widmet sich der Verfasser der Darstellung der Verwandtschaft einzelner Lehren Nietzsches mit denen der vorsokratischen Philosophie. „Sein antichristliches Empfinden", „die antipessimistische Grundstimmung", „der Antiintellektualismus", „seine Beurteilung des Weibes", „seine hochgespannten aristokratischen und individualistischen Neigungen", „selbst das Ideal der Zukunft, der Ubermensch", alles dieses könne auf seine vielfältige Berührung mit der Antike zurückzuführen sein. Vor allem will Verfasser aber die Lehren, „welche bezeichnet werden durch die Worte: ,Werden', ,Krieg', ,ewige Wiederkunft'", auf solche Berührung hin untersuchen. Bei den ersten beiden falle fast ausschließlich Heraklit ins Gewicht, bei der letzten dagegen die Lehre der Pythagoreer. Zum Schluß findet er Nietzsches Immoralismus auch schon in der vorsokratischen Philosophie vor und schildert hierzu die Einstellungen von Protagoras, Gorgias, Hippias, Thrasymachus und Kallikles; der Vergleich mit Epikur oder Karneades ergebe vielleicht auch Bemerkenswertes. 388 Lory, Dr. Carl, N i e t z s c h e als Geschichtsphilosoph. Eine Quellenstudie. Albert Köhler. Bln. 1904. 4 Bit., 53 S., 1 Bl. ( = Die neue Weltanschauung. Beiträge zu ihrer Geschichte u. V o l l e n dung Nr. 1). Die Frage, ob es Nietzsche gelungen sei, „eine geschichtsphilosophische Weltanschauung zu erringen, die unsere Beachtung verdient", bejaht der Verfasser und fügt hinzu: er habe „auch die leisesten Untertöne in dem Flüstern des weltgeschichtlichen Stromes" vernommen. Als Sprachgelehrter mit philosophischer Veranlagung und modernem Geist habe er sich gegen die „politische Historie" und für die „Kulturgeschichte" entschieden. Seine Anschauung von dem mit einem Rückschritt notwendig verknüpften „Kulturfortschritt" sei „eine durchaus selbständige . . . Anschauung". Im Vergleich zu Goethe bleibe dieser „der H ö h e r e " — „Nietzsche aber ist uns der Notwendigere . . . er ist unser Pfadfinder, unser Führer". Wir können „nur durch Uberwindung der verkehrten demokratischen Instinkte unserer Zeit, wie er es uns zeigte, wieder in die Aufwärtsbewegung gelangen." — Um Nietzsche ais „Kulturhistoriker" auszuweisen, erwähnt Verfasser dessen „innige und dauernde Freundschaft, inniger und dauernder vielleicht als jede andere", mit Burckhardt und bedauert, daß es Nietzsche nicht vergönnt gewesen sei, zu erleben, wie seine Ideen auch Breysigs „Kulturgeschichte der Neuzeit" befruchteten, denn „der eigentliche Grundgedanke auch dieser Arbeit, eine Art Entwicklungsgeschichte des Individuums zu geben", sei „unter dem direkten Einfluß Nietzsches gefaßt . . .; wie denn Breysig mit unserem Philosophen in nahen persönlichen Beziehungen stand . . 389 Kalthoff, Albert, Zarathustra-Predigten. R e d e n über die sittliche Lebensauffassung Friedrich N i e t z s c h e s . 1. u. 2. Tsd. E. Diederichs. Lpz. 1904. 2 Bll., 170 S., 1 Bl. In fünfzehn Predigten bietet Verfasser eine wahrhafte Verchristlichung Nietzsches als des „Propheten einer neuen Kultur". In der Predigt über „Mensch und Übermensch" (2) heißt es vom letzteren: „. . . er ist ein Menschenideal, in dem alles
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1904 „gegen den gehalten selbst ein Goethe wie ein Plebejer erscheint"
U n l e b e n d i g e , U n r e i f e , alles A b s t e r b e n d e , S c h w ä c h l i c h e u n d K r a n k h a f t e am M e n s c h e n ausgetilgt, alle g r o ß e n , s c h ö p f e r i s c h e n W i l l e n s k r ä f t e e n t f a l t e t u n d zu K u l t u r w e r t e n a u s g e p r ä g t sein sollen." Z u m G e g e n s t a n d
„ K u n s t s c h a f f e n " (3) d e r Z e i t
m e i n t V e r f a s s e r , d a ß N i e t z s c h e a u f g e t r e t e n sei, „ K u n s t u n d Leben w i e d e r z u s a m m e n z u b r i n g e n , eine L e b e n s a n s c h a u u n g z u r ü c k z u e r o b e r n , sie neu z u s c h a f f e n u n d zu b e g r ü n d e n , in d e r d e r M e n s c h w i e d e r S c h ö n h e i t s e h e n , S c h ö n h e i t s c h a f f e n " lerne. „ D a s G e s e t z des L e b e n s " (4) bietet die G e l e g e n h e i t , „ N i e t z s c h e - Z a r a t h u s t r a " als „ B r a u s e w i n d " zu k e n n z e i c h n e n , d e r „ ü b e r alle W e g m ü d e n u n d
Lebensmüden
d a h i n g e f a h r e n " sei; „er h a t das Leid d u r c h d a s Leben b e z w u n g e n , e r h a t d e m Leid eine M a c h t g e g e n ü b e r g e s t e l l t , die auch sein S t e r b e n in Leben v e r w a n d e l t und j e d e n T o d e s t a g n o c h zu e i n e m F e s t t a g e d e r Seele gestaltet". Seine „ E w i g k e i t s l i e b e " (5) erweise ihn als „ E w i g k e i t s p r e d i g e r " , als „ E w i g k e i t s b i l d n e r " , seine „Vision ist u n e r h ö r ter n o c h als die, von d e r das H i m m e l f a h r t s f e s t u n d seine biblische L e g e n d e uns e r z ä h l t " : „ E w i g e W i e d e r k u n f t — das ist die letzte P r o b e auf das E x e m p e l des Lebens, o b es auch W e r t e in sich t r a g e , die v o r E w i g k e i t e n sich a u s w e i s e n m ö g e n . " „ U b e r die S e h n s u c h t " (6) h a b e N i e t z s c h e g e l e h r t , d a ß sie „ i m m e r ein Altes b e g r ä b t u n d zu e i n e m N e u e n die B r ü c k e schlägt". — „ W e r h ö r t e aus diesem Jubellied d e r S e h n s u c h t nicht die alten K l ä n g e h e r a u s , die einst als f r o h e B o t s c h a f t , als E v a n g e l i u m d e r M e n s c h h e i t v e r k ü n d i g t ! " „ D i e stillsten S t u n d e n " ( 7 ) v e r a n l a s s e n V e r f a s s e r zu f o l g e n d e r Ü b e r l e g u n g : „ W i e , w e n n n u n diese V e r g ö t t e r u n g des K r a f t m e n s c h e n t u m s u n d G e w a l t m e n s c h e n t u m s bei N i e t z s c h e a u c h n u r solch eine O b e r f l ä c h e g e w e s e n w ä r e , die er sich a n g e h e u c h e l t , u m seine P e r l e n g e g e n die S ä u e u n d sein H e i l i g t u m g e g e n die H u n d e z u s c h ü t z e n ? " N i e t z s c h e b e t o n e „die P e r s ö n l i c h k e i t " ( 8 ) u n d f o r d e r e , „ d a ß j e d e r M e n s c h sein einmaliges W u n d e r a u c h b e w a h r e u n d e t w a s E i g e n e s w e r d e , eine K u l t u r f o r d e r u n g , die sich d o c h wesentlich als e i n e E r g ä n z u n g u n d F o r t b i l d u n g des sittlichen Lebensideals a n z e i g t , wie u n s e r e g r o ß e n P r o p h e t e n a m A n f a n g des 19. J a h r h u n d e r t s aus d u n k l e r N a c h t des V o l k s l e b e n s h e r a u s es v e r k ü n digt". „ D i e n e u e T r e u e " (9) n a c h N i e t z s c h e b e s t e h e in d e r „ P f l i c h t d e r V e r w a n d l u n g " . — „ U n d n u r d e r h a t die K r a f t in sich, sich wirklich z u w a n d e l n , d e r eben die n e u e T r e u e an sich t r ä g t ; die T r e u e , nicht g e g e n seine M e i n u n g , g e g e n sein A n g e lerntes o d e r a u c h A n g e e r b t e s , s o n d e r n die T r e u e g e g e n sein W e r d e n , g e g e n das g r o ß e , e w i g e Ziel seines L e b e n s , g e g e n j e d e g r o ß e , heilige A u f g a b e , die er im Leben n o c h z u e r f ü l l e n h a t . " „ D i e s c h e n k e n d e T u g e n d " (10) z e i c h n e N i e t z s c h e als „vorn e h m s t e n G e i s t " aus, „ d e n d a s v e r g a n g e n e J a h r h u n d e r t g e h a b t h a t " , diesen „Aristok r a t v o m Scheitel bis z u r S o h l e , g e g e n d e n g e h a l t e n selbst ein G o e t h e wie ein P l e b e j e r erscheint". „ D i e h a r t e Liebe" (11), w e l c h e das Mitleid v e r w e r f e , sei a u c h d e r f r o h e n B o t s c h a f t nicht u n ä h n l i c h , die „ d o c h a u c h n i c h t ein K l a g e l i e d , s o n d e r n ein H e l d e n l i e d , ein Siegeslied, ein R u f an die S c h a f f e n d e n " g e w e s e n sei. A u c h g e g e n „die S c h u l m e i s t e r " (12) h a b e N i e t z s c h e r e c h t : „. . . w i r m ö g e n die S a c h e a u f f a s s e n wie w i r w o l l e n : an d e r S c h u l e bleibt i m m e r etwas h ä n g e n v o n S c h u l m e i s t e r e i u n d S c h r i f t g e l e h r s a m k e i t ; u n d d e s h a l b w a r N i e t z s c h e ihr s o bitter f e i n d , weil er
Men-
s c h e n h a b e n w o l l t e , die g e w a l t i g r e d e n , d e n k e n u n d e m p f i n d e n u n d nicht wie die S c h r i f t g e l e h r t e n . " „ D e r häßlichste M e n s c h " (13) Z a r a t h u s t r a s ist V e r f a s s e r d e r M ö r d e r des l e b e n d i g e n G o t t e s als Z e u g e n d e s s e n , w a s die M e n s c h e n „ d o c h v o r sich
1904
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selbst, vor aller Welt verbergen wollen". In dieser Predigt erklingen aber auch die ersten Einschränkungen: Es sei Nietzsche entgangen, daß schon „die christliche Kunst dem häßlichsten Menschen das schönste Menschenbild gegenübergestellt: das H a u p t voll Blut und Wunden, den König in der Dornenkrone, der das Sterben verstanden, weil er zu leben verstanden" habe. Auch der Staat als „der neue Götze" (14) fordere sowohl zum Zuspruch wie auch zum Widerspruch auf. „Anarchisten" sind dem Verfasser die „Kämpfer gegen den Staat", d. s. Fürst Krapotkin, Graf Tolstoi, der ehemalige Oberstleutnant v. Egidy und Nietzsche, welch letzterer „erst eigentlich den Reigen aller Dichter und Denker" führe, „die in der Verneinung, in der Überwindung des Staates die Zukunftsaufgabe der Menschheit erblicken". Im Staate liege aber „eine Entwicklungsstufe menschlicher Kultur vor uns", und „darum ist es doch auch ein Wahn und Aberglaube, auch ein Götzendienst des eigenen Ich und der eigenen Persönlichkeit, wenn ein Mensch die Fülle des Menschlichen in der Abkehr vom Staate in sich entfalten zu können meint". „Der tote Gott" (15) wird als der „Gott der Theologen" gedeutet, an den zu glauben „alles Lebendige versteinern" lasse. 389a Dass. 3. u. 4. Tsd. Jena 1908. Unverändert. 390 H a u f f , Walther, D i e Uberwindung des schopenhauerschen Pessimismus durch Friedrich Nietzsche. C. A. Kaemmerer. Halle a. S. 1904. VI, 82 S., 1 Bl. ( = Diss. d. Univ. H a l l e - W i t t e n b e r g ) . ' 5 1 Verfasser vertritt den Standpunkt, daß Nietzsches „Stellung zum Pessimismus . . . von ganz besonderer Wichtigkeit für ein richtiges Gesamtbild seiner Philosophie" sei, und verfolgt deren Entwicklung nach den bekannten, nur geringfügig umgedeuteten „drei Perioden". Schon in der „ersten Periode" zeige sich ein „innerer Gegensatz gegen Schopenhauer trotz der äußeren Bejahung des Schopenhauer'schen Pessimismus". Die „zweite Periode" sei nur eine „Ubergangsperiode", da Nietzsches Änderung sich nicht „abrupt" vollzogen habe, und umfaßt die Werke von „Menschliches" bis einschließlich „Morgenröte". Erst in der „Zweiten HauptPeriode" habe er sich „von dem Einfluß des Schopenhauer'schen Pessimismus frei gemacht". — „Schopenhauer hatte die Erlösung in der Resignation und Askese gesehen, Nietzsche sieht sie im Schaffen, im rastlosen Schaffen, so daß man auch noch die Müdigkeit überwindet." Zu dieser Zeit unterscheide er „einen doppelten Pessimismus: den romantischen Schopenhauers und den dionysischen", doch sei letzterer „kein Pessimismus mehr". Im Gegensatz zu Dühring, dessen Ansichten öfters neben denen von Bahnsen und Ed. v. Hartmann erwähnt werden, meint Verfasser im Einklang mit Vaihinger, Nietzsche habe den Pessimismus Schopenhauers von „,innen heraus, von seinen eigenen Voraussetzungen aus'" überwunden. Er setzt sich dann mit Einwänden von Drews (Nr. 324) auseinander und wiederholt zum Schluß die Ansicht, „daß Nietzschè durch Wort und Tat den Pessimismus überwunden hat für jeden, der die Kraft in sich fühlt, sich zu einer solchen Höhe wie Nietz151
H a u f f , Walter von ( H o l z m a d e n - T e c k / W ü r a . 16.7. 1876 steller und Lehrer, seit 1917 Professor in Berlin.
Berlin 13. 3. 1949), Schrift-
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1904 Der „Prophet der heroischen Lebensbejahung"
sehe durchzuringen". Verfasser drückt dem Herrn Prof. Vaihinger seinen „besonderen Dank . . . für die Anregung zur Wahl des Themas und f ü r die Ratschläge bei der Ausführung der vorliegenden Arbeit" aus. 391 Stöcker, Dr. phil. H e l e n e , Friedrich N i e t z s c h e und die Frauen. (BW 6. Jg., H . 20, 1904, S. 8 5 7 - 8 6 0 ) . Verfasserin verteidigt „den großen Moralpsychologen" gegen „die törichte Phrase", daß er „ein arger Frauenverächter" gewesen sei. Als „Prophet der heroischen Lebensbejahung" stehe er seinem großen Lehrer Schopenhauer, „dem Prediger der Willensverneinung", gegenüber, und habe nicht nur die Freude, sondern „auch die Liebe heilig" gesprochen: „Vielleicht auf keinem andern Gebiete, wie auf dem einer höheren und ernsteren Auffassung von Liebe und Ehe, ihrer Bedeutsamkeit für die Zukunft der Rasse, für die Erhöhung des Typus Mensch lassen sich seine Wirkungen so sicher und segensreich spüren." 392 Michel, Wilhelm (München), Nietzsches Lyrik. (Zeit Nr. 511 v. 16.7. 1904, S. 30 f.). Verfasser ist der Ansicht, daß Nietzsche „die dichterische Äußerung gerade so nahe gestanden hat wie die philosophierende", und erkennt in dem Gedicht „der Wanderer" „das früheste Denkmal" seines dichterischen Werkes; alles was davor liege, sei „Stil, fast Manier; Maske und kein Leben". Der T o n seiner „ersten Periode" lyrischen Schaffens sei „schwermütig und tiefernst" und schließe schon mit dem Jahre 1878 ab. Nur mit Goethe lasse sich Nietzsche in seiner „zweiten Entwicklungsphase" auf dem Gebiete des „fabelhaft leicht rhythmisierten lyrischen Apercüs" vergleichen. Hier herrsche die Selbstironie vor: „Das ,Lied an den Mistral' entrückt uns schon fast den Grenzen dessen, was wir Ironie zu nennen berechtigt sind." Erst „Mein Glück" mit seinem „schwermutsvollen Tone" bedeute „nicht nur ein m o m e n t a n e s Aufgeben des ironischen Standpunktes" und bilde „die Uberleitung zu der dritten und letzten Periode . . ., die als rein dithyrambisch" zu kennzeichnen sei. Der Schluß lautet dann: „Nietzsche als Dichter hat vielleicht die ergreifendsten Ausdrücke des Zwiespaltes geliefert, unter welchem die Menschen dieser Ubergangszeit gelitten haben. Seine Lyrik verdient daher einen Ehrenplatz in der neueren Literaturgeschichte . . ." 393 Ewald, Oscar, Das Weib in Nietzsche's Philosophie. (Geg Nr. 28 f., 1904, S. 2 2 - 2 6 , 39 ff.). Untersucht Nietzsches Stellung zum Weib als „erkennendem, wollendem und fühlendem Geschöpf" und kommt zu dem Ergebnis, daß es in „intellectueller", „moralischer" und „ästhetischer" Hinsicht gleich minderwertig sei. Verfasser glaubt mit seiner Darstellung und Beweisführung auch gezeigt zu haben, „daß die an Nihilismus streifende Skepsis, die Nietzsche dem Begriff der Wahrheit gegenüber vertrat, durch seine eigenen kritischen Bemühungen widerlegt wurde; daß er selbst im Kampfe um die Wahrheit, wenn auch nicht um die Wahrheit der Tradition, Zeugenschaft ablegte gegen jenen Antilogismus, der jenseits von Wahr und Falsch seine Stellung zu nehmen schien".
1904 Ein einsamer und überarbeiteter Stubengelehrter
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394 H e i n t z e , Prof. A l b e n (Stolp i. P.), Familien-Legenden. ( Z f D k Bd. 18, 1904, S. 605 f.). Liefert eine Erklärung des Namens Nietzsche, der eine „vergröberte Nebenform von Nitze" (zu ahd. Nizo als „regelrechte Koseform von Nidhart") darstelle.152 395 anonym, (LCB1 Nr. 31 v. 30. 7. 1904, Sp. 1023 f.). Eine recht abwertende Besprechung des Werkes von Drews (Nr. 324), an dem „Parteilichkeit für Wagner", „eine gewisse Neigung zum Moralisieren", sachliche Unrichtigkeit sowie Stilblüten und „zahlreiche" Druckfehler vermerkt werden. 396 Foerster, Dr. Fr. W. (Privatdozent f. Philos, am eidgenöss. Polytechnikum u. a. d. Univ. Zürich), Jugendlehre. Ein Buch für Eltern, Lehrer und Geistliche. Reimer. Bln. 1904. Darin ein Abschnitt: Nietzsches „Umwertung aller Werte", S. 556 — 562. Verfasser weist die von Nietzsche empfohlene Handlungsweise des Stärkeren gegenüber „den Wehrlosen und Zurückgebliebenen" entschieden zurück; sein „Gedankenwerk" sei eben nur das „und nicht ein Lebenswerk", die „Gehirnkonstruktion eines einsamen und überarbeiteten Stubengelehrten". Einem solchen Menschen stellt er Goethe und Christus entgegen. S. a. S. 479 f., 541, 551 f., 647—650, 699. Wohl weil er dennoch Nietzsche dreimal zur Stützung eigener Ansichten anführt, vermerkt er bei einer längeren Stelle aus dem „Zarathustra": „Nietzsche zitiere ich hier trotz sonstigen diametralen Gegensatzes zu seinen Ansichten, und obwohl diese Worte aus dem Zarathustra keineswegs aus einer tieferen Auffassung der Keuschheit stammen: Sie sind aber für junge Leute einer bestimmten Altersstufe recht wirksam — gerade weil es Nietzsche ist, der sie sagt." 153 396a Dass. 16.—20. Tsd. 1906. W a s Nietzsche betrifft, unverändert. 396b Dass. 5 1 . — 5 5 . Tsd. 1911. Der Hauptabschnitt (S. 555 — 562) ist umgeschrieben und um etwa zwei Seiten erweitert worden, wobei einige versöhnlichere Worte eingeflochten wurden: „Und wie man auch zu Nietzsche stehe, jedenfalls soll er uns die Wachsamkeit schärfen für alle die Gefahren, die in gesellischen und liebenswürdigen Naturen ganz besonders in Wirksamkeit treten." Sonst (S. 479, 540, 645 ff., 696) unverändert. 396c Dass, (ohne den Untertitel). Mathias-Grünewald-Vlg. Mainz (1959. 1 1 6 . - 1 1 8 . Tsd.). Ü b e r N i e t z s c h e auf S. 121 f., 132, 136 f. Die Ablehnung der Philosophie Nietzsches als einer letzten und radikalsten Folge des „geistigen Individualismus" ist bedeutend knapper gefaßt, hat aber an Schärfe eher zugenommen. Neu ist der Zusammenhang mit Hitler, der „ganz offen 152
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Heintze, Albert ( N a u g a r d / P o m m e r n 30.3. 1831 — Stolp 20.3. 1906), Gymnasiallehrer, seit 1895 im Ruhestand. S. a. von demselben Verfasser: Autorität und Freiheit. Betrachtungen zum Kulturproblem der Kirche. Kösel. Kempten u. Mchn. 1910, S. 44—48, in dem Abschnitt: Individualismus und religiöse Autorität, in dem hervorgehoben wird, daß Nietzsche zu „konsequenter Kritik" a u f r u f e : „Nietzsche ist einer der wenigen, die die individualistische Position bis zu Ende durchdenken und durchleiden . . ."
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1904 Ein „Gegner der katholischen Kirche"
die ,blonde Bestie' im Sinne Nietzsches als das neue Ziel d e r männlichen J u g e n d e r z i e h u n g bezeichnete", ja die „ U m w e r t u n g aller W e r t e " sei „vom Nationalsozialismus g e r a d e z u z u m pädagogischen P r o g r a m m e r h o b e n " w o r d e n .
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anonym, N e u e Nietzschebücher. (Gr 63, 31, 1904, S. 2 7 1 - 2 7 9 ) .
Als „christlicher Theist", der meint, Nietzsches Verdienst beschränke sich „in den meisten Fällen d a r a u f , d a ß er einem alten G e d a n k e n eine neue, p a c k e n d e o d e r schlagende Fassung gegeben hat", bespricht Verfasser die W e r k e von Rittelmeyer ( N r . 386), D r e w s ( N r . 324), Willy ( N r . 384), Richter ( N r . 275), Hollitscher ( N r . 377) und O e h l e r ( N r . 387). Keines findet bei ihm G n a d e , vor allem das von D r e w s nicht, dem als A n h ä n g e r der „Religion des U n b e w u ß t e n " , „die es in f ü n f u n d dreißig J a h r e n auf drei Bekenner g e b r a c h t hat: ihren Stifter H a r t m a n n , seine Frau und D r e w s " , schlicht „ U n k e n n t n i s des N e u e n T e s t a m e n t s " a n g e m e r k t wird. In einer abschließenden A n m e r k u n g f ü h r t er W o r t e Foersters an, aus der damals gerade erschienenen „Jugendlehre" ( N r . 396).
398 Driesmans, H., Friedrich Nietzsche und die Religion. 6. Jg., Nr. 113 v. 1. 8. 1904, S. 161 — 166).
(EW
Sieht in Nietzsche einen D e n k e r , dessen „Leben zu einer so gewaltsamen H ö h e e m p o r s t r e c k t , wie nie z u v o r " , und bespricht von solcher Einstellung aus das „ g r o ß angelegte und genial d u r c h g e f ü h r t e W e r k " von D r e w s ( N r . 324) sowie die „lesensw e r t e kleine Schrift" von Rittelmeyer ( N r . 386), „die zweifellos mit z u m v e r n ü n f t i g sten g e h ö r t , was bisher über diesen D e n k e r gesagt w o r d e n ist". Er b e g r ü ß t auch, d a ß „ein Kalthoff in Bremen von der Kanzel . . . jetzt gar über Nietzsches . Z a r a t h u stra' predigen" k ö n n e .
399 Gotzes, Heinrich (Luxemburg), Nietzsche und der Darwinismus. ( N G 7. Jg., H . 8, 1904, S. 3 3 7 - 3 4 9 ) . Nietzsches „ganze T h e o r i e des Ü b e r m e n s c h e n t u m s " sei „brutal und zynisch im höchsten Sinne" und gipfele d e n n o c h „im theologischen Gebiete und reiht sich ein in die unabsehbare P h a l a n x der G e g n e r der katholischen Kirche". Sie w e r d e aber u n z w e i f e l h a f t „einstens in der Kulturgeschichte der Menschheit zu den kuriosen Erscheinungen und k r a n k h a f t e n Ausgeburten des Menschengeistes g e z ä h l t w e r d e n " . T r o t z d e m d ü r f e man nicht leugnen, „daß Nietzsche im G r o ß e n und G a n z e n das darwinistische Prinzip in der Entwicklung in seiner g a n z e n B e d e u t u n g e r k a n n t und es mit eiserner Logik bis zu den äußersten K o n s e q u e n z e n d u r c h g e f ü h r t hat". D e m Sozialismus gegenüber, d e r sich „seltsamerweise a n g e w a n d t e W i s s e n s c h a f t zu sein" brüste, habe der Aristokratismus Nietzsches „den V o r z u g einer g r o ß e m Logik".
400 Mey, Kurt (Dresden), Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. (WSt Bd. 2, 1. Augustheft 1904, S. 5 7 2 - 5 8 1 ) . Verfasser liefert z u n ä c h s t eine „biographische Darstellung d e r F r e u n d s c h a f t " , vornehmlich a n h a n d der Darstellung von Glasenapp, um d a r a u f „den G r ü n d e n n a c h z u s p ü r e n , welche den so m e r k w ü r d i g e n Abfall" h e r b e i g e f ü h r t haben. Diese find e t er in Nietzsches völligem „Mißverstehen des ewigen Sinnes des ,Parsifal' ", der nicht „die Resignation, s o n d e r n die R e g e n e r a t i o n " predige, und in einem „bis z u r w a h n s i n n i g e n Selbstüberhebung" gesteigerten Selbstbewußtsein. N i e t z s c h e habe
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sich „ganz" von Schopenhauers Philosophie gelöst und sich somit auch von „ihrem Ergänzer und Vollender Richard Wagner trennen" müssen; dennoch werde die „Geburt" für alle Zeiten „ein Merkstein in der Geschichte der echten Ästhetik sein; seiner Schrift,Richard Wagner in Bayreuth' aber wird jeder wahre Kunst- und Musikfreund dauernd einen Ehrenplatz in seiner Bibliothek anweisen". 401 Förster-Nietzsche, Elisabeth, (Z v. 14. 8. 1904, S. 272 — 275). Die Schwester nimmt eine anerkennende Äußerung Hellpachs im letzten JuliH e f t derselben Zeitschrift über die Schrift von Möbius (Nr. 187) als Anlaß, diesen im „Notizbuch" der Zeitschrift erneut anzugreifen. Harden selbst nimmt darauf den Angegriffenen in Schutz und bringt dazu Äußerungen von Möbius und Hellpach. 402 Dieselbe, N i e t z s c h e über seine Entwicklung. ( N R s 1904, S. 1 0 9 9 - 1 1 0 8 ) . Der Aufsatz befaßt sich in der Hauptsache mit den Werken von der „Geburt" bis zu „Menschliches" und besteht vornehmlich aus Briefen Nietzsches an den Verleger E. W. Fritzsch sowie aus Aufzeichnungen Nietzsches über seine frühe Schaffenszeit. Vorabdruck von Stellen im zweiten Band der Lebensbeschreibung (Nr. 416), nämlich S. 6 4 0 - 6 5 2 , 657 ff. 403
Schubert, Dr. Joh. (Friedrichshagen), N i e t z s c h e s „neue" Moral.
( W S t Bd. 2, 2. Augustheft 1904, S. 6 1 9 - 6 2 7 ) . Gerade in seiner „zweiten Periode", in der von „Morgenröte" und der „Fröhlichen Wissenschaft", werde Nietzsche f ü r den, der in ihm „nur ein höchst wertvolles Kultursymptom von stimulierendem Interesse sieht" und dazu den „Psychologen" höher schätze als den „ichvergötternden Größenwahnsinnigen", „ein Symptom der geistigen und seelischen Anarchie unserer Kultur". Doch auch in dieser „verhältnismäßig gesunden" Periode könne man keine Berechtigung dafür entdecken, daß er „eine Entwicklungsethik" aufgestellt habe: „Dazu verwirft er viel zu entschieden alle Historie." 4 0 4 Strecker, Karl, N e u e N i e t z s c h e - B r i e f e . II. ( T R s Unterh.-Beil. N r . 2 3 5 , 1904). Gibt eine längere Besprechung des ersten Teiles des dritten Briefbandes (X) und meint dazu schlicht: hier lerne man „einen Menschen" kennen. 405 Weichelt, H a n s , Nietzschelitteratur. ( C W Bd. 18, N r . 33, 1904, Sp. 7 8 2 — 7 8 7 ) . Findet darin einen „erfreulichen Z u g " in der neueren Nietzscheliteratur, daß man „trotz großer Gegensätze" den Denker „ernst" nehme und „ihm und seinem Werke gerecht zu werden" suche. Bespricht dann die Werke von Vaihinger (Nr. 183a; das trotz einiger Bedenken als „knapp, durchsichtig und übersichtlich" empfohlen wird), Richter (Nr. 275; der in „seiner ruhig vornehmen Art, in seiner klaren und folgerichtigen Darstellung, in seiner rein wissenschaftlichen und dabei verständlichen Behandlung des Stoffes sehr zur Klärung des Urteils über Nietzsche beitragen" werde), Strunz (Nr. 370; in dem Besprecher einen „warmen Verehrer" Nietzsches erkennt), Biedenkapp (Nr. 23; der „eine aus warmer Verehrung geborene Würdigung Naumanns" biete), Friedrich (Nr. 190; dessen Werk „sich weniger
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1904
mit Nietzsche als mit dem C h r i s t e n t u m " beschäftige und n e b e n einem „ a n f e c h t b a ren G r u n d g e d a n k e n . . . manches einseitige und schiele U r t e i l " e n t h a l t e ) , K ö h l e r ( N r . 162) und Albrecht ( N r . 123), beide z u s a m m e n mit einem S a t z , W i t t e ( N r . 383; dessen „starkes, sittliches P a t h o s " ihn „etwas einseitig . . . urteilen o d e r vielmehr aburteilen" lasse), G. Fuchs (2. Aufl., s. Bd. I; das „wohl nicht g a n z in die T i e f e d e r Nietzscheschen G e d a n k e n w e l t g e d r u n g e n " sei, „ w e n n er in seinen W e r k e n n u r den Ausbruch einer brutalen antichristlichen W e l t a n s c h a u u n g sehen k a n n " ) , Schian ( N r . 193; der als evangelischer T h e o l o g e mit „Ernst und G e s c h i c k auf H o r n e f f e r s V o r t r ä g e " a n t w o r t e ) , S c h w a r t z k o p f f ( N r . 309; dessen W e r k „schon d a d u r c h . . . eine wesentliche Bereicherung der N i e t z s c h e l i t t e r a t u r " darstelle, d a ß es „das bisher ungelöste Problem einmal ernstlich in Angriff n i m m t , wie ein ,tiefreligiöser M e n s c h ' z u m Antichristen w e r d e n k o n n t e " ) , P f a n n k u c h e ( N r . 2 0 5 a ; d e r „bis z u m letzten Satze geistvoll" sei), Rittelmeyer ( N r . 386; dessen V o r t r ä g e „eine d e r erfreulichsten und erquickendsten Erscheinungen der gesamten N i e t z s c h e l i t t e r a t u r " seien), Willy ( N r . 384; dem mit am meisten Platz e i n g e r ä u m t u n d eine „gewisse K o n g e n i a l i t ä t " z u g e s p r o c h e n wird), Kalthoff ( N r . 389; bei welcher G e l e g e n h e i t R e z e n s e n t als T h e o l o g e „ f ü r die christliche V e r k ü n d i g u n g nach F o r m u n d Inhalt sehr, sehr viel von Nietzsche lernen" zu k ö n n e n gesteht, d o c h d ü r f e m a n „ihn d o c h nicht in den Mittelpunkt einer irgendwie gearteten V e r k ü n d i g u n g " stellen: „. . . wie kann mir, d e r ich mitten im Leben und im Dienste des Lebens stehe, ein M a n n vorbildlich sein, der alle Beziehung z u m Leben und den M e n s c h e n v e r l o r e n hat?") u n d d e r 2. Auflage des ersten Briefbandes (s. Bd. I: „Je g e n a u e r wir ihn aus seinen Briefen k e n n e n lernen, desto liebenswerter wird uns dieser M a n n mit seiner ungestillten Sehnsucht nach Liebe und Verständnis.").
406 Schlüter, Willy (Eutin), Zur „Genealogie" der Ethik. (EW 6. Jg., Nr. 114 v. 1. 9. 1904, S. 214 f.). Bespricht das W e r k von K r o n e n b e r g ( N r . 2) und f i n d e t einen „besonderen Reiz" darin, wie dieser „überall der ,lastenden Schicksalsschwere' d e r Ideen N i e t z sches, den nicht minder tiefgründigen aber g e s u n d e r e n O p t i m i s m u s u n s e r e r klassischen Dichter und D e n k e r gegenüberstellt".
407 Berg, Leo (Berlin), Nachträgliches zur (DLE 6. Jg., H. 24 v. 15. 9. 1904, Sp. 1699—1703).
Nietzsche-Literatur,
Bespricht den zweiten Briefband (P) sowie die S c h r i f t e n v o n Kalthoff ( N r . 389), welche „den ehrlichen V e r s u c h " darstelle, „die L e h r e J e s u mit d e r N i e t z sches zu versöhnen o d e r g a r zu vereinigen", o b w o h l dabei N i e t z s c h e s L e h r e n öfters „die Spitze" a b g e b r o c h e n o d e r u m g e b o g e n w e r d e , u n d , wesentlich k ü r z e r , von Willy ( N r . 384), von der Rezensent „ n u r w e n i g e Bogen h e r u n t e r g e w ü r g t " habe.
408
M(ehring), F(ranz), ( N Z 22. Jg., Bd. 2, 1904, S. 638 f.).
Bespricht das W e r k von Richter ( N r . 275), das „eine a k a d e m i s c h e Leistung im besten Sinne des W o r t e s " sei, welcher A u s s p r u c h aber e b e n s o g u t als T a d e l aufgef a ß t werden k a n n : M a n habe nämlich „hier w i e d e r die leidige V e r w e c h s e l u n g von Bedürfnissen der akademischen Lehrtätigkeit mit den sachlichen Interessen der Wissenschaft". N i e t z s c h e habe „ f ü r das P r o b l e m des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s , die
1904 „die feinste Salon- und Boudoirphilosophie"
177
p r o l e t a r i s c h e K l a s s e n b e w e g u n g , nichts als einige b a n a l e P h r a s e n , wie sie j e d e r k a p i talistische u n d o f f i z i ö s e F e d e r h e l d gleich s c h o c k w e i s e auf L a g e r h a t " , g e h a b t .
409 Scharlitt, Bernhard (Krakau), Das musikalische Element in Friedrich Nietzsche. ( D M 4. Jg., H. 2 v, Okt. 1904, S. 1 0 8 - 1 1 2 ) . Will d e n N a c h w e i s e r b r i n g e n , „wie das musikalische E l e m e n t in N i e t z s c h e einerseits zu e i n e r L e i d e n s q u e l l e f ü r ihn g e w o r d e n , a n d e r e r s e i t s a b e r d e n U n t e r g r u n d gebildet f ü r d a s Z u s t a n d e k o m m e n seiner E i g e n a r t o h n e g l e i c h e n " . Sein „vergeblic h e s R i n g e n . . . mit d e r U n z u l ä n g l i c h k e i t seiner m u s i k s c h ö p f e r i s c h e n
Begabung"
bilde die T r a g ö d i e seines Lebens. E r sei d e s w e g e n „ w e d e r G a n z - P h i l o s o p h Ganz-Musiker,
sondern
der
größte
Stilist
der
Menschheit
noch
geworden":
„ N i e t z s c h e s g r a n d i o s e m u s i k a l i s c h e B e g a b u n g , die in M u s i k w e r k e n einen v o l l e n d e ten A u s d r u c k n i c h t z u f i n d e n v e r m o c h t e , f i n d e t n u n m e h r
eine andere
v o n A u s l ö s u n g , i n d e m s i e s i c h in s e i n e m u n v e r g l e i c h l i c h e n , vollen
Stile
zu
einer
Sprach-Symphonieen
in
Worte
umbildet,
gesetzten deren
Musik,
,Neunte'
zu
sein
Art
wunder-
gewaltigen .Zarathustra'
b e d e u t e t !"
410 Gilge, Ed. K. zur, Friedrich Nietzsche. (DKa Bd. 30, 10. Heft, 1904, S. 3 8 4 - 3 9 0 ) . D e m V e r f a s s e r ist N i e t z s c h e d e r , d e r „ d e n reinsten intellektuellen A n a r c h i s m u s " a u s r u f e , ein „ w i s s e n s c h a f t l i c h e r C h a r l a t a n " , seine P h i l o s o p h i e „die feinste S a l o n - u n d B o u d o i r p h i l o s o p h i e , die es je g e g e b e n h a t " . K o n s e q u e n t sei e r n u r d a r i n , „ d a ß er aus d e r ihm t r a d i e r t e n P h i l o s o p h i e die l e t z t e logische K o n s e q u e n z z o g " . Einige w e n i g e g u t e W o r t e h a t V e r f a s s e r n o c h f ü r d e n Stil; m a n k ö n n e an ihm e r k e n n e n , „ w a s h e u t e n o c h ein p r a c h t v o l l e s r h e t o r i s c h e s G e s c h m e i d e , w a s ein m e i s t e r h a f ter Aphorismus vermag."
411 Berolzheimer, Dr. jur. Fritz, Kritik des Erkenntnisinhaltes. C. H. Beck. Mchn. 1904. 153i ( = System d. Rechts- u. Wirtschaftsphilosophie. 1. Bd.). Im e r s t e n A b s c h n i t t d e s W e r k e s : G e s c h i c h t e des E r k e n n t n i s - P r o b l e m s
in
G r u n d z ü g e n , w i r d N i e t z s c h e , S. 111 — 114, b e h a n d e l t , o b w o h l e r „eine eigentliche E r k e n n t n i s t h e o r i e e b e n ü b e r h a u p t n i c h t gibt". E r sei „ein e c h t e s K i n d seiner Zeit. E r zeigt eine c h a r a k t e r i s t i s c h e M i s c h u n g z w i s c h e n a b s o l u t e r Skepsis u n d u n b e d i n g t e r G l a u b e n s f r e u d i g k e i t . " S e i n e P h i l o s o p h i e verliere sich „ a u s d e m G l a u b e n in d e n Dunstkreis unendlichen mystischen Nebels". Im f ü n f t e n Abschnitt: Kritik der Erkenntniswahrheit,
S. 262 — 2 6 6 , w i r d die A b l e h n u n g w o m ö g l i c h
noch
schärfer.
N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e sei n u r „ d a r u m so h o c h b e d e u t s a m , weil sie die p h i l o s o p h i sche K o n s e q u e n z des D a r w i n i s m u s ( d e r S e l e k t i o n s t h e o r i e ) z u z i e h e n u n t e r n i m m t " . A u c h bilde er die e i n z i g e A u s n a h m e u n t e r d e n P h i l o s o p h e n seit V e r k ü n d i g u n g d e r „christlichen I d e e " , d e s s e n e t h i s c h e s System u n d ethisches Ideal d e m „ K e r n d e r christlichen E t h i k " w i d e r s p r e c h e . D a a b e r seine P h i l o s o p h i e s c h l e c h t h i n u n h i s t o risch, atavistisch, u n d e r selber u n l o g i s c h sei, v e r w u n d e r t d e n V e r f a s s e r viel m e h r :
153a
Berolzheimer, Friedrich (Bamberg 3. 1. 1869 — Berlin 30. 9. 1920), Rechtsphilosoph.
178
1904
„Was verschaffte der Philosophie Nietzsches die begeisterte Bewunderung, die glühende Anhängerschaft so vieler guter Köpfe?" Die Antwort findet er vor allem darin, daß die Welt in einer „überwuchernden pandemokratischen Idee" zu versumpfen drohe, und da müsse „notwendig die Reaktion einsetzen". Die Folge seiner Lehre sei aber nicht der „Renaissancemensch, sondern umgekehrt der seine Willenssymptome stetig beachtende, ängstlich zur Geltung bringende Neurastheniker". Im siebenten Abschnitt des zweiten Bandes (Die Kulturstufen der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, 1905): Der Übergang zum modernen Klassenstaat, leitet die Behandlung Nietzsches, S. 473 f., den Absatz: Staats- und Sozialphilosophie auf Grund der Deszendenztheorie, ein. Hier heißt es wieder, daß er „in der pan-demokratischen Zeit im letzten Viertel des verflossenen Jahrhunderts der Verkünder des sozialaristokratischen Gedankens" werde, doch verkenne er „das Wesen der Ethik", d. h. „die positive Bedeutung der Ethik als des kulturellen (artifiziellen) Kraftfaktors". — „Er faßt speziell die christliche Ethik äußerlich und unhistorisch auf." Zu sonstigen Fundstellen des fünfbändigen Werkes (1904—1907) s. das Namenverzeichnis in einem jeden Band. 412 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Friedrich N i e t z s c h e und sein Verkehr. (Zgt Nr. 40 v. 3. 10. 1904). Teilweiser Vorabdruck der Seiten 819—833 der zweiten Hälfte des zweiten Bandes der Lebensbeschreibung (Nr. 416). 413 Michel, Wilhelm, Nietzsche und Novalis. ( M A Z g Nr. 229 v. 6. 10. 1904, Beil. S. 33 — 36). Als „Leitgedanken der Romantik" erscheint dem Verfasser der „monistische Grundzug ihrer Weltanschauung", und er findet in dieser Hinsicht „die erstaunlichsten Übereinstimmungen" zwischen Nietzsche und Novalis. Diesem entschieden mehr zugetan, sieht er in dessen „Ideal der Sittlichkeit" eine Verurteilung der Nietzscheschen Umwertung, die man nach Novalis als „durch Schwäche" bedingt auslegen könnte; das Übermenschenideal ließe sich als „ein typisches Symptom des Niederganges, der Decadence und der ,Verwilderung'" verstehen. Noch deutlicher wird die Ablehnung Nietzsches in den Schlußabsätzen, denen Folgendes entnommen wird: „Nietzsche, ein starker Intellekt, gebunden an einen kranken, zarten, lebensunlustigen Willen, konnte sich aus der monistischen Erkenntnis nur Gift und Untergang saugen . . ." Als Fortentwickler der Philosophie Ludwig Feuerbachs stellte Karl Quenzel Nietzsche hin, nämlich in einer Einleitung zur Neuausgabe von Feuerbachs „Das Wesen des Christentums". Er, „der bedeutendste Philosoph des vergangenen Jahrhunderts", habe an Feuerbachs Religionsphilosophie — „wenn auch unbewußt" — angeknüpft. 153b 414 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Nietzsches T o d . (Z 13. Jg., Nr. 3 v. 15. 10. 1904, S. 9 3 — 9 7 ) .
,53b
L. F., Das Wesen des Christentums. Kritische Ausg. M. Einl. u. Anm. hg. v. Karl Quenzel. Reclam. Lpz. (1904 = Reclams Univ.Bibl.Nr. 4571 — 4575), S. 7—10 u. 12.
1904 Der Abschluß der Lebensbeschreibung
Bis auf kleinere Änderungen entsprechen diese Absätze solchen S. 9 2 3 — 9 2 9 und 932 im letzten Abschnitt der Lebensbeschreibung (Nr. 416).
179 auf
415 T(rog, Hans), Nietzsche-Briefe. (NZZg 125. Jg., Nr. 287, Morgenbl. v. 15. 10. 1904). Eine dem Gegenstand recht gewogene Besprechung der ersten Hälfte des dritten Briefbandes ( X ) . Hinsichtlich des Briefwechsels mit Burckhardt vermerkt Rezensent aber: „Die gegenseitige Befruchtung dieser zwei feinen Geister hat durch die Erläuterungen, die Frau Förster dem Briefwechsel beifügte, ihr volles Licht entschieden noch nicht erhalten."
416 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Das Leben Friedrich Nietzsche's. 2. Bd., 2. Abt. C. G. Naumann. Lpz. 1904. 2 Taf., 1 Bl., VIS., S. 3 4 5 - 9 1 4 , 8 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Am 15. Oktober zum 60. Geburtstage Nietzsches herausgegeben. Behandelt die Jahre 1879/80 bis zum T o d e ; stützt sich in der Darstellung auf Briefe an die Schwester und Peter Gast, zahlreiche Auszüge aus „Ecce homo" sowie mehreren längeren Stellen aus sonstigem Veröffentlichtem wie Unveröffentlichtem. Anscheinend gab es gleich im Jahre des Erscheinens eine „neue Ausgabe" dieses Bandes, denn unten auf Seite I mancher Exemplare steht folgende Anmerkung: „Diese neue Ausgabe des Bandes II (2. Halbband, Schlußband der Biographie) ist fast völlig unverändert geblieben. Nur die auf S. 481 ff. abgedruckten Briefe haben eine Abänderung erfahren, weil seit dem Erscheinen der ersten Ausgabe ein neuer Brief aufgefunden wurde, der eine Anzahl für Friedrich Nietzsche charakteristischer Stellen enthält. Um diesen Brief aufnehmen zu können, mußten mit Rücksicht auf den verfügbaren Raum einzelne minderbezeichnende Teile der Briefe fortbleiben." Es handelt sich dabei um die Briefe Paneths an „seine in Wien lebende Braut", besonders um den vom 3. 1. 1884, der von drei Zeilen auf über drei Seiten erweitert wurde. Deswegen mußten die vom 26. 12. 1883, 25. 1., 29. 1., 15.2., 7. u. 2 6 . 3 . 1884 um einige bis etliche Zeilen gekürzt werden. 154
416a Dass., jetzt: Der einsame Nietzsche. A. Kröner. Lpz. 1914. X I , 592 S. (S. 551 — 592 = Anmerkungen u. Verzeichnis d. Zitate u. Namenregister v. Dr. Richard Oehler zu diesem wie auch zum ersten Bande, s. Bd. I). Im wesentlichen (S. 102—550) unverändert, wenn auch weitgehend umgeschrieben und um mehrere Werk- und Briefstellen aus noch Unveröffentlichtem erweitert. Als Beispiel einer nicht unwichtigen Kürzung sei vermerkt, daß die Darstellung von der Hand Paneths um mehr als die Hälfte gekürzt wurde; alles nach dem 3. 1. 1884, außer einem Teil des Briefes vom 7. 3., fehlt. Obwohl die Schwester den Feldzug gegen Lou Andreas-Salomé fortführte, galten ihr Overbeck und besonders dessen Frau als neue Zielscheiben. Das Werk bringt auch verhältnismäßig vieles aus dem Nietzsche-Schrifttum von u. a. Simmel, Vaihinger, Leo Berg, Riehl und R. Richter. Es fehlen die zwei Tafeln der Erstausgabe. 154
Gerade zu diesem Band s. die lesenswerten Einwände Overbecks (Overbeckiana II. Tl. Basel 1962, S. 142 ff.).
1904 Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit
180
416b Dass. 1925 ( 1 1 . - 1 5 . Tsd.). 1 Bl., 5 Taf., VIII, 589 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). ( = Das Leben Friedrich Nietzsches. Kleine Ausgabe in zwei Bänden. Bd. II). Die Darstellung (S. 103 — 547) ist um einiges gekürzt bzw. umgeschrieben: S. 176 f., 182, 184, 187, 189, 193, 197, 236; Zusätze erscheinen auf S. 177 ff., 293 ff., 441, 541.
GXIV Nachgelassene Werke. / Von / Friedrich Nietzsche. / Unveröffentlichtes aus der Umwerthungszeit. / (1882/83—1888) / 1. und 2. Tausend. / Leipzig / Druck und Verlag von C. G. Naumann / 1904. XS. ( = Inhalt u. Vorw. v. P.Gast), 1 Bl., 442 S., 5 Bll. ( = Vlgs.-anz.). S. 421—442 = Nachbericht, Aphorismen-Verzeichnis, Anmerkungen d. Hg. E. Förster-Nietzsche u. P. Gast. ( = Nietzsche's Werke. Zweite Abtheilung Bd. XIV. 6. Bd. d. 2. Abth.). GkXIV 416/1
Dass. 3. u. 4. Tausend. Galli, Eugenie, Ein Nietzsche-Kenner. (BT v. 21. 10. 1904).
416/la
Auch in Nr. 9 5 / l a , S. 597 ff.
Eine im Wortlaut unwesentlich veränderte Fassung von Verfasserins schon 1899 veröffentlichten Wiedergabe eines Gesprächs mit H e r r n Durisch, Nietzsches Hauswirt in Sils-Maria; um die einleitende Wiedergabe der Begegnung mit dem Wirt zur „Alpenrose" gekürzt.
417
anonym, (LCB1 Nr. 44 v. 29. 10. 1904, Sp. 1454).
Eine Besprechung der Schrift von Ewald (Nr. 314), die „mancherlei Anregendes" enthalte, obwohl es „fraglich" sei, daß „ihre Gedanken . . . wirklich so fein und tief sind, wie der Verf. wiederholt andeutet".
418 Stern, Heinrich, Nietzsche und die Frauen. (WMh Nr. 97 v. Nov. 1904, S. 278 — 282). Verfasser meint, es sei grundverkehrt, Nietzsche als Weiberverächter abzustempeln, denn gerade er habe „ihnen in der Menschheit eine Stelle angewiesen, die sie weit über das Niveau hinausträgt, auf das sie die von ihm nicht minder hart gescholtenen Männer von heute herabzudrücken gewohnt sind".
419 D(emburg), F(riedrich), Die Nietzsche Biographie. (BT Nr. 590, l.Beibl. v. 19. 11. 1904). Eine Besprechung des Schlußteiles des zweiten Bandes der schwesterlichen Lebensbeschreibung (Nr. 416), die „sich oft mehr wie eine Materialsammlung als wie eine Biographie" anmute, doch umso „unentbehrlicher . . . allen weiteren Biographien Nietzsches" sein werde.
420 Bjerre, Poul, Der Geniale Wahnsinn. Eine Studie zum Gedächtnisse Nietzsches. A. d. Schwed. übers. C. G. Naumann. Lpz. (1904). 1 Bl., 119 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.).
1904 Die Germanen-Bibel
181
Unter dem leitenden Gedanken, daß „unter gewissen Voraussetzungen . . . auflösende Kräfte in der Seele des Genies ihm dazu verhelfen" können, „schöpferische Werke hervorzubringen", untersucht Verfasser Nietzsche als Einzelfall, zunächst unter weitgehender Ablehnung des Werkes von Möbius (Nr. 187), das ihm „ausschließlich ein wissenschaftliches Dokument" ist: „Sobald der Forscher das Gebiet des rein Wissenschaftlichen verläßt, macht man die schmerzliche Wahrnehmung, daß er zugleich aus seiner Sphäre herausgetreten ist. Jedesmal wenn er Veranlassung findet, einen menschlichen Zug seines Patienten zu berühren, so zeigt er brutales Unverständnis." Erst Nietzsches Krankheit, die „ihn als Mensch brach", habe „ihn als Dichter und Denker" aufgerichtet. Besonders im letzten Teil des „Zarathustra", im Abschnitt „Unter Töchtern der Wüste", empfinde man, wie sein Geist mit dem Wahnsinn kämpfe und zumindest vorübergehend erliege. Was Nietzsche dem Verfasser bedeutet, geht mit am deutlichsten aus folgendem Satze: „Trotzdem Nietzsche, dem sicheren Urteil der Wissenschaft nach, krank war, als er seine besten Werke schrieb, haben diese in einem ganzen Teil der Welt Widerhall gefunden, und der Geist, der sich in ihnen offenbarte, hat eine Lebenskraft bekundet, die zuvor nur wenige zeigten, — eine Kraft, die das Leben dieses Geistes durch alle Zeiten hin tragen wird." 155 421 Bauch, Bruno, Ethik. (In: D i e Philosophie im Beginn des z w a n zigsten Jahrhunderts. Festschrift f. K u n o Fischer hg. v. Wilh. Windelband. 1. Bd. C . W i n t e r . Heidelberg 1904, S. 5 4 — 1 0 3 ) darin über Nietzsche der zweite Abschnitt: D e r „immoralische" Individualismus, S. 73 — 85. Verfasser stellt die drei ethischen Richtungen, welche „in der Gegenwart wirklich und wirksam sind", dar: den „ethischen Dogmatismus", der einen jeden „von allen unbequemen Autoritäten" befreie und „ihn nur unter die einzige unfehlbare und doch so milde Autorität eines behaglichen Moralphilisteriums" stelle; den „,immoralistischen' Individualismus" eines Nietzsche, der die Moral des „ethischen Dogmatismus" sowie alle „auf biologischer, soziologischer Grundlage aufgebaute Ethik" gestürzt habe: „Hier offenbart sich in gewaltiger Tragik das Ringen einer mächtigen Individualität um ihre innerste Freiheit." Doch habe Nietzsche es nicht vermocht, „eine Moral zu begründen", noch den Standpunkt zu erreichen, der „jenseits der Umwertung aller Werte" stehe. Das eben ist der Standpunkt der zuletzt dargestellten Richtung, der „kritischen Ethik" Kants, deren „prinzipiellen Fundamente unverrückbar festgelegt" seien, möge sie „im einzelnen der Berichtigung, in manchem einer Weiterentwicklung und Fortbildung bedürfen". Sie allein werde den „antiethischen Individualismus" treffen und erschüttern, „dessen Schwäche im Naturalismus" liege.
Y Germanen-Bibel. Aus den heiligen Schriften germanischer Völker. Hg. v. Wilhelm Schwaner. Volkserzieher-Vlg. Bln. (1904), S. 2 2 1 - 2 2 7 : Nietzsche. Enthält Stellen aus „Menschliches", der „Genealogie", „Schopenhauer als Erzieher", „Zarathustra" und „Jenseits". 155
Bjerre, Poul Carl (1876—1964), schwedischer Arzt, Psychologe, Philosoph und Publizist.
182
1904 Ludwig Derleth
Ya sche.
Dass. 2., vollständig umgearb. Aufl. 1910, S. 215 —224: Nietz-
Herausgeber nahm z w e i Berichtigungen vor, die leichte Umstellungen
zur
Folge hatten, und erweiterte den Beitrag um eine Stelle aus „Menschliches": „ A n greifen oder eingreifen". Mit einem Bild N i e t z s c h e s v o n H a n s Volkert, M ü n c h e n .
Yb
Dass. 4., stark verm. Aufl. Schlachtensee 1918.
Enthält nichts mehr von Nietzsche.
Yc
Dass. N u r wenig veränderte 5. Aufl. 1920.
N i e t z s c h e fehlt noch.
Yd Dass. 6., vollständig umgearb. Aufl. Dt. Vlgs.-Anst. St., Bln. (1934), S. 485 — 491: Friedrich Nietzsche. U m f o l g e n d e sechs Stellen gekürzt: „Willkür im Strafmaß" (2), „Angreifen oder eingreifen" (3), „ D i e Juden" (4), „Unter Freunden" (8) und „ D i e Juden" ( 3 0 u. 31).
Ye Dass. 7., vollständig umgearb. S. 400 — 405: Friedrich Nietzsche.
Aufl.
26. —30. Tsd.
(1941),
N e u h i n z u g e k o m m e n ist das Gedicht „ D e m unbekannten Gott", sonst um „ U n sere Erzieher" und „ D i e erste und die z w e i t e W e i h e " gekürzt.
Uber das Erstlingswerk von Ludwig Derleth, „Die Proklamationen", das am 1. Dezember 1904 im Insel Verlag zu Leipzig erschien, schreibt Dominik Jost, der das Ludwig-Derleth-Archiv in St. Gallen betreut: „Die Terminologie der P r o k l a m a t i o n e n ' deutet Derleths Geistergespräch in seinen Nachtwachen an: die ununterbrochene Auseinandersetzung mit Friedrich Nietzsche. Derleths Handexemplare einzelner Werke des Philosophen mit dem Hammer, vor allem ,Also sprach Zarathustra', Jenseits von Gut und Böse', ,Zur Genealogie der Moral' und ,Der Wille zur Macht', wurden hauptsächlich in der Germersheimer und Dillinger Zeit unermüdlich mit dem Stift in der H a n d gelesen und wiedergelesen. Wie kritisch dieser den ,Collegen' gegenüber äußerst verschwiegene Geist Seite für Seite prüfte, erkennt man etwa daran, daß früher (um 1900) als bedeutend unterstrichene Abschnitte später leidenschaftlich annulliert werden: Die Wahrheit von gestern hatte sich aufgelöst. . . Wenn Nietzsche als Forderung erhob, man müsse alles Christliche durch ein Uberchristliches überwinden, nicht bloß von sich abtun: wie konnte man diese Kritik am Christentum gegenstandlos machen, ihr den Boden entziehen? Indem man ein dionysisches Christentum konzipierte. Dieses dionysische Christentum ist der Kern der Proklamationen'. An Jesu-Jünger werden hier Forderungen gestellt, die Nietzsche eben noch als antichristliche, als dionysische Prärogative gefeiert hatte . . . Das titanische Jesus-Bild der .Proklamationen' fügt
1904 Overbeck tritt gegen die Schwester auf
183
s i c h in N i e t z s c h e s V i s i o n v o n D i o n y s o s e i n . , D i e P r o k l a m a t i o n e n ' s i n d e i n e , U m w e r t u n g aller W e r t e ' auf d e m B o d e n des Christentums."156 U b e r s e i n l e t z t e s S e m e s t e r a l s T h e o l o g i e s t u d e n t in E r l a n g e n i m J a h r e 1 9 0 4 / 0 5 schrieb W i l h e l m
Stählin:
„ I c h l e b t e d a m a l s m e h r in N i e t z s c h e als in d e r B i b e l . E i n m a l b e s u c h t e m i c h m e i n S c h w a g e r G o t t f r i e d S e i l e r in m e i n e r S t u d e n t e n , b u d e ' u n d f a n d mich über dem Zarathustra, dessen Sprache mich berauschte. Seine Frage, warum
ich nicht lieber das J o h a n n e s - E v a n g e l i u m
lese, beantwortete
ich
frech u n d ehrlich, w e i l m i c h das nicht interessiere."157 422
O v e r b e c k , F r a n z , M e i n e A n t w o r t auf Frau D r .
Förster-Nietz-
s c h e s n e u e s t e P u b l i k a t i o n , i h r e n B r u d e r b e t r e f f e n d . ( F Z g N r . 3 4 3 , 1. M o r g e n b l . v. 10. 12. 1 9 0 4 ) . Mit diesem o f f e n e n Brief setzt O v e r b e c k die S c h w e s t e r d a v o n in Kenntis, daß er eine e i g e n e S a m m l u n g v o n 2 2 5 N i e t z s c h e b r i e f e n besitze, deren V e r ö f f e n t l i c h u n g „eines T a g e s der D i s k u s s i o n der Frage" d i e n e n w e r d e , „was denn N i e t z s c h e selbst
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D.J., Ludwig Derleth. Gestalt und Leistung. Kohlhammer. St. (1965), S. 50 f.; s. a. S. 40, 49, 55, 58, 70, 112, 128, 130, 139, 150. Derleths Schwager, Wilhelm Ulrich, der ihm von 1909 bis 1921 nahestand, überliefert folgende Äußerung Derleths über Nietzsche: „Von Nietzsche sagte er einmal, daß dieser sich soviel mit den Griechen beschäftigt habe und doch an dem Schönsten, was sie hervorgebracht hätten, der Mythologie, verständnislos vorübergegangen sei." (In: L. D. Gedenkbuch. Castrum Peregrini Presse. Amsterdam 1958, S. 34 = Sonderdr. d. H e f t e s X X X V I bis X X X V I I ) . Unterm 22. 8. 1908 schrieb Pieter van der Meer de Walcheren, „der große Vorkämpfer der katholischen Jüngeren in den Niederlanden", in sein Tagebuch von einer Erzählung seines Schwagers, eines Bildhauers, der Derleth „ V o r j a h r e n " in Paris kennengelernt hatte: „Er war ein frommer Katholik mit Nietscheanischen Ideen! Sein T r a u m war, die Kirche zu reformieren, zu reinigen und eine neue Theokratie zu bilden, in der er selbst eine hohe Stelle einnehmen würde." Die Erzählung veranlaßt den Schreibenden u. a. zu folgender Vorstellung: „Ein anderer steigt zu den höchsten H ö h e n der Einsamkeit empor, er will eine neue Lebenslehre schöpfen und sie den Menschen geben, aber plötzlich bricht sein Geist zusammen, die Spannung war zu groß. D e r Wahnsinn umhüllt ihn mit seinem düsteren Mantel und hält ihn f ü r immer in der engen U m m a u e r u n g eines kranken Stammeins." Am 2. 11. 1908 schildert er den Eindruck der Allerseelenfeier in San Lorenzo: „ . . . wie würden diese Behauptungen mich bedrücken, mich, der ich empfänglich sein will f ü r alle Strömungen, für alle Lebensmanifestationen; mich, der ich die Einsamkeit und die kühne Rücksichtslosigkeit eines Nietzsche ebenso bewundere wie die heilige Liebe eines Sankt Franziskus." (Heimweh nach Gott. Tagebuch von P. v. d. M. d. W. M. e. Einf. v. Léon Bloy. Übertr. u. Nachw. v. Dr. H . v. d. Mark. Herder. Freiburg i. Br. 1937, S. 52, 58 f. u. 93); Derleth, Ludwig ( G e r o l z h o f e n / U f r . 3 . 1 1 . 1 8 7 0 — Sanpietro de Stabio/Schweiz 13.1.1948), 1893—1906 Gymnasiallehrer, darauf längere Zeit in München. W. . S., Via Vitae. Lebenserinnerungen. Johannes Stauda Vlg. Kassel 1968, S. 57 f. Daß der Einfluß Nietzsches von einiger Dauer gewesen ist, läßt die Erinnerung an die bei der zweiten Theologischen P r ü f u n g gestellten Fragen in der Zeit 1926 bis 1954 vermuten. Unter den drei Fragen, die vom Verfasser angeführt werden, lautet die zweite: „Was ist aus Nietzsches Beurteilung der Reformation zu lernen?" (Ebd., S. 256); Stählin, Wilhelm, geb. am 24. 9. 1883 zu Günzenhausen, evangelischer Theologe, wurde 1917 Pfarrer in N ü r n berg.
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1904 O t t o zur Linde — Rudolf Paulsen
wohl zum Treiben mit seiner Person und seinem Nachlaß, das sich zur Zeit in Weimar an dem nach ihm genannten .Archiv' etabliert hat, sagen würde". 423 Messer, Dr. Max, N e u e Nietzsche-Briefe. (Geg 33. Jg., Bd. 66, Nr. 50, 1904, S. 376 f.). Bespricht die erste Hälfte des dritten Briefbandes (X), deren Veröffentlichung bedauert wird, da sie Briefe „an eine Öffentlichkeit" zerre, „die seiner in Erz gegossenen Werke nicht würdig ist". Diese Briefe beweisen nur, daß Nietzsche „keinen" gefunden habe, „der seinem Fluge ganz folgen konnte, weder einen Gefährten, noch einen Schüler, weder einen Gleichen, noch einen Größeren". 424 Salinger, Dr. R., Nietzsches Lehre von der Wiederkehr des Gleichen und der geschichtsphilosophische Optimismus. ( V Z g Beil. Nr. 50, 1904, S. 4 0 3 - 4 0 6 ) . Gibt sich große Mühe zu beweisen, daß Nietzsches Lehre weder neu sei, noch „geschichtsphilosophisch einen evolutionistischen Optimismus als Unterlage" dienen könne. 425 Weygandt, ( M M W s v. 20. 12. 1904, S. 2305). Eine kurze Besprechung von Möbius' Nietzsche-Buch (Nr. 187, Ausg. v. 1904): „Jedes Lob des großartigen Buches ist überflüssig. Freuen sollten wir uns dieses Besitzes, und vor allem als Arzte Protest einlegen gegen die Anmaßung von Laien, die immer noch Nietzsches Krankheit als Folge des übermäßigen Gebrauchs von Arzneimitteln ansehen." 426 Ball, Adolf, Oberlehrer in Chemnitz, Z u m letzten Chemnitzer Konferenz-Vortrage, Nietzsches Pädagogik betr. ( S S Z g 71. Jg., Nr. 52 f. v. 23. u. 30. 12. 1904, S. 8 3 9 - 8 4 2 , 857 — 860). Eine Erwiderung auf die Äußerungen Schädels (Nr. 361) zu Verfassers Vortrag (Nr. 337). Er besteht weiterhin darauf, daß Nietzsche dem Pädagogen Wertvolles biete und verweist jetzt dazu wiederholt auf die Darlegungen Kalthoffs (Nr. 389): „Es ist Nietzsches Verdienst, den Pädagogen auf die Bestrebungen des Darwinismsus aufmerksam gemacht zu haben." Schiller sei in seiner Ablehnung von „Kants Verwerfung der Triebe" sogar „ein Vorbote" Nietzsches, und Wundt, „der, unabhängig von Nietzsche, die Wurzel des Psychischen ebenfalls im Triebe sucht", stimme somit auch mit diesem überein. Uber das eigene Verhältnis zu Nietzsche sowie das O t t o zur Lindes zur Zeit des „Charon", 1 9 0 4 — 1 9 1 4 , schrieb Rudolf Paulsen: „Von ,Reichsverdrossenheit' konnte trotzdem nicht die Rede sein, wohl aber von einer schöpferischen Kritik. D o c h h a u e er einen anderen Ausgangspunkt als Nietzsche. S o sehr er diesen achtete, war er doch vom Christentum her sein Antipode. S o heftig er sich damit in Gegensatz zu den meisten bewegten Geistern stellte, blieb er unbeirrt bei seinem, natürlich völlig undogmatischen Christentum. In Christus sah er die eigentliche le-
1904 H a n s Blüher
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bendige Freiheit und glaubte, daß Nietzsche sich um des Weibes willen einen Dionysos in sein liebeglühendes Herz gelogen habe."'58 „Der Begriff der Dichtung war ja in den Jahrzehnten des Naturalismus sehr einseitig und eingeschränkt, obwohl er nach Nietzsche und dessen Wiederbelebung antiker Vorstellungen weit genug hätte sein sollen."159 Hans Blühers Bekanntschaft mit Nietzsche mag beispielhaft sein für so manchen Oberprimaner um die Jahre 1904/05: „Robert Lück (Gründer und erster Direktor des Steglitzer Gymnasiums in Berlin) war aber ein pädagogischer Exponent der damals sinken-
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R. P., Mein Leben. Natur und Kunst. Junker u. Dünnhaupt. Bln. 1936, S. 24 f. ( = Die Lebenden. Hg. v. Hellmuth Langenbucher); Paulsen, Rudolf (Berlin 1 8 . 3 . 1 8 8 3 — ebd. 30. 3. 1966), Schriftsteller, „stieß" schon im Mai 1931 zur Partei und dann zur SA-Reserve; Linde, O t t o zur (Essen 26. 4. 1873 — Berlin 16. 2. 1938), Begründer zusammen mit Rudolf Pannewitz der Zeitschrift „Charon" und eigentliches Haupt des Charon-Kreises. Ebd., S. 29; ähnliche Bemerkungen auch auf S. 55 u. 63; s. a. S. 49 (aus späterer, nationalsozialistischer Sicht:) „Wir sind genötigt, zumal aus Nietzsches Lehre das Brauchbare säuberlich herauszuschälen bzw. das Unbrauchbare auszuschneiden, was seine Anhänger in aller Welt hineinmischen. Jede Befreiung des Einzelnen ohne gleichzeitige Bindung durch eine völkische Religion führt ins Irrenhaus oder zum wenigsten in eine .schöngeistige', unfruchtbare Vereinsamung . . . " 42 u. 57 f. (über den Vater und dessen Zeit:) „Gewiß aber lagen die radikalen Entscheidungen nicht in jener Zeit, außer bei solchen Propheten wie Nietzsche, Lagarde und einigen anderen." — „Die vorige Generation nahm es aus dem Vollen: die Geistigen konnten von der Sicherheit ihres guten Bankkontos aus Philosophie, Philologie und Kunst behaglich treiben. Kein Wunder, daß Nietzsches Seherrufe ungehört verhallten!. . . Mein Vater hatte Nietzsches erste Schriften freudig begrüßt, sie wenigstens in Briefen an Freunde weiterempfehlend, später aber wandte er sich scharf gegen den ,Nietzsche-Kultus', nicht bemerkend, daß eine Krisis ungeheuersten Ausmaßes wirklich bevorstand, wie jener sie voraus durchlitt und voraussagte. D a ß der T o n , gemessen an Lagarde, den mein Vater schätzte, immer schärfer wurde, war begreiflich; kam doch der Moment der größten Gefahr immer näher . . . N u r die größten Meister sprechen auch aus der Einsamkeit heraus das allgemein Geltende. Wir müßten sonst ja einen großen Teil unserer klassischen Dichtung darangeben und etwa auf Nietzsche völlig verzichten." Daß Paulsen die Einstellung zur Lindes oben richtig kennzeichnet, beweisen dessen Äußerungen in: O . z. L., Prosa, Gedichte, Briefe. Ausgewählt u. m. e. Nachw. versehen v. Helmut Röttger. Fr. Steiner. Wiesbaden 1974 ( = Akademie d. Wissenschaften u. d. Lit. Schriftenreihe d. Klasse d. Lit. Verschollene u. Vergessene): „Es war Nietzsches tragischer Irrtum, daß er im Alten Testament den ,Mythus vom Menschen' n i c h t erkannte." (S. 37, a. d. Aufsatz „Der Mythus") — „Daher mein Zorn gegen Nietzsche. Denn das ist mir doch wahrlich egal, was er über ein B U C H kritisch denkt. Sondern: er ist wider mich! Ich darf also noch nicht mal sagen: er bekämpft Christus. Sondern: Nietzsche bekämpft Otto zur Linde. M E I N Christentum wird von Nietzsche schofel g e m a c h t . . . Aber ,geschichtskritisch' das immer wieder: selbst die Gesundbeter und Blödstammler und ganz grobe Stumpfhirne des N . T. s i n d keine revolutionierenden Sklaven. So soll man sie nicht verschofeln. Ich bin .gütiger' als der pathologische Keifer Nietzsche. Ich liebe a u c h ihn, aber er muß sterben, damit ich m e i n W E R K tuen kann, ehe es N A C H T ist." (S. 158, a. e. Brief an Fritz Henning v. 22. 12. 1913; in einer Anmerkung hierzu bringt der Herausgeber zwei weitere Stellen aus dem Werk zur Lindes, die Ablehnung sowohl der ewigen Wiederkehr als auch des Ubermenschen betreffend). Etwas geneigter sind zwei spätere Briefstellen auf S. 163 f., 169 f.
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1905 „der . Z a r a t h u s t r a ' eine Bibel"
den Kirche. Dieser sonst so besonnene Greis geriet ins Predigen und Schimpfen, wenn er auf den N a m e n Nietzsches stieß — den er nie gelesen hatte. Er stellte ihn auf eine Stufe mit Polos und KallikJes in Piatons D i a l o g Gorgias, und die Schlagworte von den Viel zu Vielen, vom Herdenmenschen und der blonden Bestie belebten sonderbar seinen zelotischen V o r trag. Als würdige Lektüre aber außerhalb der Schule und zur Förderung der sittlichen Reife, wie es hieß, empfahl er ,Dichtung und Wahrheit'". Diese Strafversetzung jugendlicher Gemüter in Goethesche Altersprosa hatte natürlich den entgegengesetzten E r f o l g : man kaufte sich von seinem Taschengelde ,Also sprach Zarathustra' — und der Abfall war geschehen. Mir jedenfalls erging es s o . " " 0 Blüher ging darauf auf die Universität und studierte sein erstes Semester 1905/06 in Basel: „Was mich sonst nach Basel z o g , war die Erinnerung an Nietzsche. Die reichlich platten Invektiven, die Lück in der Oberprima gegen ihn geführt hatte, konnten naturgemäß bei erregbaren Gemütern nichts anderes hervorrufen als die Sucht, jede Zeile von ihm zu lesen und gar seinen Spuren zu folgen. Nietzsche war bei Rudi (d. i. Rudolf Schwandt) und mir zum Heiligen avanciert, und zwar zuerst weniger wegen des Zarathustra als wegen seines Liedes ,Die Krähen schrei'n und ziehen schwirren / Flugs zur Stadt . . .', das Rudi zu vertonen begann. W a s hier in uns wach wurde, war die Ehrfurcht für eine echte Denkergestalt, die auch dann echt und sogar richtig bleibt, wenn alles, was er sagte, sich als falsch erwiese.""' August Messer schrieb über das Schuljahr 1 9 0 4 / 0 5 : „Während des in W ü r z b u r g verbrachten Urlaubs fand ich endlich noch Zeit, mich zum ersten Male in Nietzsches Werke zu vertiefen. Den besten Schlüssel dazu fand ich in der ausführlichen Nietzsche-Biographie seiner Schwester Elisabeth Förster-Nietzsche. Durch sie wurde mir Nietzsches Persönlichkeit lieb und verständlich, und von der Persönlichkeit aus verstand ich auch die Werke, zuletzt den ,Zarathustra', zu dessen tiefer Würdigung mir diejenige nicht wenig verhalf, mit der ich 1909 den Bund fürs Leben Schloß: Paula Platz, einer Tochter des Oberregierungsrates Dr. Platz aus Stuttgart, zu der sich die ersten Beziehungen ebenfalls in Würzburg angeknöpft hatten. Uns beiden ist der ,Zarathustra' eine Bibel geworden. Mit Freude bin ich darum jüngst der A u f f o r d e r u n g eines Stutt-
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H . B., W e r k e und T a g e . Geschichte eines D e n k e r s . List. Mchn. (1953), S. 18; Blüher, H a n s ( F r e i b u r g / S c h l e s . 17. 2. 1888 — Berlin 4. 2. 1955), philosophischer Schriftsteller. Ebd., S. 283 f.
1905 Gustav Frenssen
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garter Verlegers nachgekommen, einen Kommentar zu diesem unsterblichen Werke zu schreiben." 162 Aus der Zeit um das Jahr 1905 müssen auch folgende Erinnerungen von Franz Sawicki, damals Professor an dem Priesterseminar in Pelplin, stammen : „Mehrere Jahre hat mich dann vornehmlich das Problem der P e r s ö n l i c h k e i t beschäftigt, in dem ich ein Zentralproblem der modernen wie der christlichen Ethik erkannte. Den ersten Anstoß dazu gab Nietzsche: Nietzsches Evangelium vom Übermenschen und die zwar nicht neue, aber von Nietzsche mit unerhörter Leidenschaftlichkeit erhobene Anklage, daß das Christentum mit seiner Forderung der Demut, des Gehorsams, des Opfers, der Selbstverleugnung eine Ethik der Schwäche und eine Feindin der starken, freien Persönlichkeit sei. So entstand die Schrift ,Wert und W ü r d e der Persönlichkeit im Christentum' . . . Nietzsche mißversteht das Christentum, das er mit Schopenhauer allzu sehr dem lebensverneinenden Buddhismus gleichstellt. Der tiefere Grund der Feindschaft ist allerdings, daß Nietzsche ein anderes Ideal menschlicher Größe hat. Nietzsches Ideal ist die elementare, durch das Gesetz des Geistes nicht gehemmte Entfaltung der Triebnatur. Das Christentum aber will in erster Linie — und darin entspricht es dem Ideal der Persönlichkeit — Größe und Freiheit des Geistes, und um des Geistes willen legt es der sinnlichen N a t u r Zügel an." 163 In den tagebuchartigen Aufzeichnungen Gustav Frenssens aus der Zeit 1900—1905 finden sich zwei anführenswerte Stellen: „Als ich zuerst anfing, mich mit Jesus, dem Menschen, zu beschäftigen, sah ich in ihm unbewußt das Optimistische, Jasagende; das entsprach der Neigung meiner Natur. Es ist ein tragischer Optimismus, ein Trotzoptimismus. Er ist metaphysisch fundiert und also anders als der Nietzsches; es ist ein amor fati propter deum. D e r Unterschied zwischen Kirche und Nietzsche ist ungeheuer; sie sind Todfeinde. Aber der Unterschied zwischen dem Heiland, wie er wirklich war, und Nietzsche ist nicht fundamental. Sie sind beide gleich in feuriger N a t u r , Kraft, Mut, Menschenliebe, Zutrauen zur menschlichen Natur, hoher menschlicher H o f f n u n g ; und sie sind beide an einem erhabenen Glauben an das Menschengeschlecht zugrunde gegangen,
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Die Philosophie d. G e g e n w a r t i. Selbstdarstellungen. H g . v. R. Schmidt. Bd. 3. F. Meiner. Lpz. 1922, S. 159; Messer, August (Mainz 11. 2. 1867 — R o s t o c k 11. 7. 1937), Gymnasiallehrer seit 1894, habilitierte sich 1899 an der Universität Gießen für Philosophie und Pädagogik, 1 9 1 0 — 1 9 3 3 Professor ebendort. Die Religionswissenschaft d. G e g e n w a r t i. Selbstdarstellungen. Bd. 3 hg. v. E. Stange. F. Meiner. Lpz. 1927, S. 135; Sawicki, Franz, geb. am 13. 7. 1877 zu Gardschau/Westpr., Priesterweihe 1900, seit 1903 Professor am Priesterseminar in Pelplin, seit 1920 D o m k a p i tular.
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1905 Oskar Loerke
Adler, zu hoch gestiegen und in allzu dünner Luft abgestürzt. Die wichtigsten Unterschiede sind diese: Während Nietzsche nur auserwählte Übermenschen erwartete, ist Jesu H o f f n u n g und Wille, daß die ganze Menschheit zur H ö h e komme, Übermenschheit werde. Zweitens: Während Nietzsche dies Ziel durch hohe Gewaltmenschen erreichen will, wollte Jesus es auf dem Wege des rein edlen, geistigen Mutes und Glaubens. Während Nietzsche Napoleon liebte und empfahl, würde Jesus Goethe geliebt haben, besonders den jungen Goethe. Drittens: Während Nietzsche sich mit dem irdischen, sichtbaren, bunten Spiel der Schöpfung begnügte, ist Jesus ,Hinterweiter'. Er ist es aber nicht in der Weise der Kirche, sozusagen von oben (vom Himmel) nach unten, sondern von unten nach oben, entwicklungsgeschichtlich. u,M „Seit dem Tode Jesu ist wohl das Ende Nietzsches das erschütterndste Menschenschicksal, das ruchbar geworden ist. Denn was sich im geheimen in manchem Menschenherzen an gewaltigem Gedankenkampf abspielt, das weiß Gott allein. Er und all seine guten Geister stehn uns bei; es ist ein allzu schweres Los, Mensch zu sein."165 Eine Ablehnung der Gestalt Nietzsche, allerdings mit leisem Vorbehalt, schrieb Oskar Loerke am 6. Januar 1905 in sein Tagebuch: „Nietzsche ist doch wohl nur eine vorübergehende Erscheinung. Sein Ganzes ist anfechtbar, sein Einzelnes ist meist anfechtbar. Freilich, gewisse Keime liegen überall verborgen, die auch wohl fruchtbar werden kön« 166 nen. Aus der Zeit um das Jahr 1905 und darnach in Weimar und besonders im Nietzsche-Archiv erzählt der damals in N a u m b u r g tätige O t t o Freiherr von Taube: „Ich ward nach dem ,Silberblick' mitgenommen (von der Freifrau Isabella von Ungern-Sternberg) und freundlich empfangen, auch aufgefordert, sooft ich wollte, an den Nachmittagen der Samstage wiederzukommen, an denen Frau Förster-Nietzsche f ü r ihre Freunde zu Hause war. Ich habe seitdem viel Gutes dort erfahren: die ersten Anregungen und ersten Hilfen auf meiner Laufbahn als Schriftsteller. Ich schulde D a n k dieser Frau."' 67 164
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G. F., Grübeleien. Grote. Bln. 1921 (14. Tsd.), S. 3 4 3 f.; Frenssen, Gustav (Barlt 19. 10. 1863 — ebd. 1 1 . 4 . 1945), zunächst Prediger im Dithmarschen, legte dann 1902 sein Amt nieder. Ebd., S. 346; s. noch die beiläufige Erwähnung auf S. 133. O. L., Tagebücher 1903—1939. H g . v. Herrn. Kasack. L. Schneider. H e i d e l b e r g - D a r m s t . 1955, S. 25; sonst fast immer nur beiläufige Erwähnungen N i e t z s c h e s in den Tagebüchern, so auf S. 25, 31, 111, 139, 149, 170, 304; Loerke, Oskar (Jungen/Westpr. 1 3 . 3 . 1884 Berlin 24. 2. 1941), Dichter und Schriftsteller. Wanderjahre. Erinnerungen aus meiner Jugendzeit. K. F. Koehler. St. (1950), S. 216.
1905 Auf dem Silberblick -
Ernst Wiechert
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„Im Hause der Frau Förster-Nietzsche machte ich an ihren Samstagen wertvolle Bekanntschaften, so mit dem Jenaer Archäologen Professor Bothio Graf, der dem Stefan-George-Kreise als Bruder der Sabine Lepsius nahestand . . . ,Große Männer' waren auf dem ,Silberblick' zu sehen, die aus ihren Werken in geladenem Kreise vortrugen. Ich hörte in diesem Hause Hufmannsthal zwar erst einige Jahre später vorlesen, doch lernte ich in diesem und den zwei folgenden Jahren dort das Ehepaar Dehmel kennen und wurde Johannes Schlaf und Detlev von Liliencron vorgestellt; Liliencron las schlecht, . . . Dehmel ausgezeichnet . . . Zu den von mir im Nietzsche-Archiv gemachten Bekanntschaften gehörte auch der junge italienische Philosoph Francesco Orestano, ein Sizilianer; er hatte . . . das erste italienische Buch über Nietzsche veröffentlicht. Ich lernte ihn kennen, als er im Nietzsche-Archiv einen V o n r a g in deutscher Sprache hielt."168 „Angestellt war in N a u m b u r g auch ein älterer Korpsbruder von mir, der Assessor Joachim von Oertzen : der führte mich zu seiner rund achtzigjährigen Mutter. Das war eine altertümliche strenge Frau. Als ich ihr verriet, daß ich in Weimar bei Frau Förster-Nietzsche verkehrte, rief sie empört auf: ,Und Sie, junger Mann, Sie gehen zu Nietzsche ins Haus!"" 6 9 „Frau Förster-Nietzsche bat Johannes Schlaf, der einmal bei ihr vortragen sollte, er möchte nur ja nichts Anstößiges vorlesen, da unter den Zuhörern einige junge Mädchen sein würden. Johannes Schlaf wählte daraufhin eine Erzählung aus, die unter Kaiser N e r o in Rom spielte und an Anstößigkeit kaum zu übertreffen war."" 0 Uber die letzten Jahre der Schulzeit in Königsberg, sich zunächst an den Einfluß Schopenhauers erinnernd, erzählte Ernst Wiechert: „Hier fanden wir alles, was unsrer Seele gemäß war: Erbarmungslosigkeit der Betrachtung, Entblößung aller Phrase, Verachtung des Weibes, der Philister, des Herkömmlichen, Heiligung des Leidens und schließlich die düstere Sehnsucht, diesem allem zu entgehen und eine Welt aufhören zu lassen, die neu zu schaffen uns auf keine Weise gelingen wollte . . . Erst später gewann dieses Weltbild eine heilvolle oder auch unheilvolle Umwandlung und Ergänzung durch das Bild des ,Ubermenschen', das sich vermöge seiner glanzvolleren und poetischen Darstellung noch leichter auf unsren Altären niederlassen konnte als das Nirwana-Bild Schopenhauers. Und wie herrlich ließ es sich in der absoluten Verachtung des Herdenmenschen leben, des Staates, des Christentums, und wie großartig war es, sich vorzustellen, daß uns versprochen und verheißen war, mit der Peitsche zum
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E b d , S. 225. Ebd., S. 226. Ebd., S. 341.
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1905 „eines d e r interessantesten Kapitel d e r g a n z e n K u l t u r g e s c h i c h t e "
Weibe zu gehen und so alle Schmerzen zu vergelten, die dieses dunkle und unbeständige Geschlecht uns bereitet hatte! U n d doch darf ich, noch unter dem Schatten dieser beiden großen N a m e n nicht zu bekennen unterlassen, daß mehr als sie beide derjenige N a m e damals auf uns eingewirkt hat, den als Philosophen neben ihnen zu nennen eine V e r s ü n d i g u n g sein würde der N a m e Haeckels." 17 ' 427 Döbrich, Dr. Gustav, Friedrich N i e t z s c h e . Ein Vortrag. O t t o Kirchhoff. Coburg um 1905. Eine Nietzsche durchaus gewogene kleinere Darstellung von Leben und Werk; er sei „ e r n s t zu nehmen, denn er war ein e r n s t e r Mann, der sich zu seiner Anschauung und Überzeugung d u r c h g e r u n g e n hat". Er führe weiter aus, „was die Dichter der Aufklärungsperiode mit der Verherrlichung der Menschenschönheit, Menschengröße, dem Menschenglück angedeutet haben". 428 Wollenberg, Albert ( D o m p r e d i g e r zu G ü s t r o w ) , Nietzsche's Gigantomachie. Vortrag, gehalten in der Aula des Güstrower Realgymnasiums. Opitz. Güstrow 1905. 21 S. Als Deutscher, religiöser Mensch, Christ und lutherischer Pastor empfindet Verfasser eine vierfache Abneigung seinem Gegenstand gegenüber. Der „Grundgedanken" im Werke Nietzsches gebe es nur zwei: die ewige Wiederkunft und den Übermenschen, welch beide sich schon weitgehend bloßstellen lassen, indem man aufzeige, daß an ihnen nicht allzuviel Neues sei. Abschließend ruft er seinen Zuhörern zu: „. . . lassen Sie sich von niemandem, auch nicht von dem großen Antichristen, Atheisten und Immoralisten Nietzsche Christum in Ihrem Herzen morden!" 429 Seligmann, Dr. Caesar, Judentum und m o d e r n e Weltanschauung. Fünf Vorträge. J. Kauffmann. Ffm. 1905. Darin: N i e t z s c h e und das Judentum, S. 6 9 — 8 9 . Verfasser spricht als „Lehrer der Religion und des Judentums" und behandelt „Naturwissenschaft", „Pantheismus", „Schopenhauer", „Nietzsche" und „Die ethische Kultur" jeweils unter Hinzusetzung „und das Judentum". In dem vierten, Nietzsche betreffenden Vortrag findet er in diesem „zweifellos eines der interessantesten Kapitel der ganzen Kulturgeschichte". Er sei „vielleicht unter allen christlichen Philosophen der einzige, welcher den Mut findet, das alte Testament über das neue Testament zu stellen". — „Kein chauvinistischer Jude kann größer über die
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E. W . , W ä l d e r und M e n s c h e n . Eine J u g e n d . L a n g e n / M ü l l e r . M c h n . 1936, S. 232 f.; W i e c h e r t , Ernst ( K l e i n o r t / O s t p r . 18. 5. 1887 — U e r i k o n / S c h w e i z 24. 8. 1950), Schriftsteller. N i c h t u n b e a c h t e t bleiben sollte auch n o c h die einzige E r w ä h n u n g N i e t z s c h e s in dem letzten E r i n n e r u n g s w e r k : J a h r e und Zeiten. E r i n n e r u n g e n . E. R e n t s c h . E r l e n b a c h —Ziir. (1949), S. 397. In dem drittletzten Abschnitt gibt W i e c h e r t sein Urteil ü b e r die Literatur, „die vor 1933 eine gleichsam t o n a n g e b e n d e Literatur w a r u n d d e r e n S c h r e i b e n d e fast alle ins Ausland g e g a n g e n sind . . . Sie h a t t e n Geist u n d sie h a t t e n a u c h W i t z , u n d bei m a n c h e n w u r d e der W i t z zu einem kalten H o h n . . . J a , bei vielen b e b t e die H a n d nicht nur vor S c h m e r z s o n d e r n auch in H a ß . Sie alle h a t t e n g r o ß e V o r g ä n g e r , a u c h im H a ß . Nietzsche und Strindberg gehörten dazu . .
1905 „Er ist überhaupt nicht tot zu machen."
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Bedeutung des Judentums und — der Juden denken als Nietzsche." — „Er ist überhaupt nicht tot zu machen. Mit seinen unheimlich lastenden Titanengedanken haben die Religionen, gegen die er Sturmblöcke schleudert, haben die kommenden Philosophen zu rechnen . . . Ein Sturmherd ist er geworden und ein neuer Prophet." U m ihm dennoch entgegentreten zu können, müsse man bei ihm die „Wurzelerde" aufdecken, und Verfasser sucht diese ausschließlich in Darwin und Schopenhauer. Sie haben in ihm den „geistigen Nährboden" zu seinen „beiden Hauptgedanken" geschaffen: „die Lehre von der Verderblichkeit unserer moralischen Kultur und die Lehre vom Recht des Stärkeren". Aber bloße „Dichter-Phantasien" seien seine „berauschenden Gedanken", „packende, berückende Phantasien eines großen, tiefsinnigen, gottbegnadeten Dichters, der zugleich ein tiefer kritischer Denker" gewesen. S o hat Verfasser trotz des einleitenden, überschwenglichen Lobes keine große Mühe, die „gewaltsamen Geschichts-Konstruktionen, aus denen er seine ganze Lehre aufbaut", zu widerlegen, denn sie halten eben „vor keiner ernsthaften Kritik" stand. Die Zweideutigkeit der Einstellung zu Nietzsche bekundet sich dann auch im Schlußsatz des letzten Vortrages: „Bekennen wir uns mit wiedererwachendem Selbstgefühl zur Weltanschauung des Judentums, die sich, nach dem zitierten W o r t e Nietzsches, ,vor den modernen Ideen nicht zu schämen braucht!'"
430 Gaster, Dr. Bernhard (Direktor d. Allgemeinen Dt. Schule zu Antwerpen), Die deutsche Lyrik in den letzten fünfzig Jahren. Neun Vorträge. Heckners Vlg. Wolfenbüttel 1905. Als erster Dichter im letzten Vortrag: Die neuesten der neueren Lyriker — Rückblick und Ausblick, wird Nietzsche behandelt, und dazu werden folgende Gedichte abgedruckt: G r u ß / Ludwig XV. / Dem unbekannten Gott / Sternenmoral / Diesen ungewissen Seelen / Das W o r t / Aus hohen Bergen / Vereinsamt / Sprüche. Verfasser meint, es sei „unzweifelhaft", daß Nietzsche „am allermeisten auf die modernen Anschauungen eingewirkt" habe, insbesondere auf die der Jugend, auch daß er „bei all seinen Eigenheiten und Überspanntheiten eine geniale Natur" sei: „Nicht Nietzsche ist anzuklagen, wenn man der heutigen Jugend größere Verderbtheit und Unreife vorwirft . . . , sondern diejenigen, welche in oberflächlicherweise aus seinen Werken bloß die Schlagworte herauslesen." Mehr Raum als Nietzsche wird nur acht Dichtern gewährt: Geibel, Hebbel, Holz, H . Lingg, J. V. v. Scheffel, H . Seidel, Storm u. J . T r o j a n ; weniger den folgenden: J.Ambrosius, H . Allmers, F. Avenarius, Bierbaum, W . Busch, E. Bormann, V. Blüthgen, Bleibtreu, R. Bunge, H . Bethge, Fr. v. Bodenstedt, A. Bartels, M. Boetlitz, G. Busse-Palma, R. Baumbach, K. Busse, A. Christen, Dehmel, Conradi, F. Dahn, W. Dreesen, EbnerEschenbach, O. Ernst, L. Eichrodt, F. Evers, A. Fitger, Fontane, G. Falke, L. Fulda, I. Frapan, Flaischlen, J. G. Fischer, E. Griesebach, M. Greif, George, K. Groth, J. Grosse, Fr. Geßler, J. E. Frhr. v. Grotthuß, K. Gerok, Grillparzer, A. Grün, H . v. Gilm, H. H a r t , K. Henckell, Hartleben, R. Huch, M. Holm, Heyse, Hofmannsthal, Hamerling, L. Jakobowski, W . Jensen, M. Janitschek, R. Jahnke, W . Kirchbach, I. Kurz, Keller, H . Kurz, F. v. Kobell, Lenau, J. Lohmeyer, H . Leuthold, Liliencron, F. Lienhard, M. v. Mlencovicz, J. H . Mackay, K. F. Meyer, Mörike, K. G. Nadler, E. Paulus, A. v. Puttkamer, R. Presber, K. Proli, A. Pichler, A. Ritter, R. Reß, O. v.
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1905
Redwitz, O. Roquette, G. Renner, E. Ritterhaus, J. Rodenberg, F. ν. Saar, Η. Salus, Graf Schack, F. Schanz, Schönaich-Carolath, P. Scheerbart, G. Schüler, E. Scherenberg, C. Sylva, Κ. Spitteier, Κ. Stieler, J. Ph. Spitta, J. Sturm, Α. Träger, W. Vesper, H. Vierordt, Fr. Th. Vischer, A. v. Wallpach, Jul. Wolff, A. Graf ν. Westarp, F. W. Weber, E. v. Wildenbruch, B. Wille, E. Zittelmann, R. Zoosmann. Ζ Trois lettres inédites de Friedrich Nietzsche a H u g o von Senger. ( R g 1. Jg., H. 1 v. Jan./Febr. 1905, S. 8 2 - 8 7 ) . Vorabdruck der ersten drei erhaltenen Briefe Nietzsches an H u g o von Senger ( = Nr. 1, 3 u. 4 in der zweiten Hälfte des dritten Briefbandes, AC) mit Einleitung von der Schwester und französischer Übersetzung. AA Friedrich Nietzsche: Im Süden / D e r geheimnißvolle N a c h e n / „Mein Glück!" / N a c h neuen Meeren / Mädchenlied / Spruchartiges. D e r Einsiedler spricht / Gib Acht! / Rimus remedium. In: Dichter der G e g e n wart. Eine Blütenlese aus neuerer deutschen Lyrik hg. v. Dr. K. Mailänder. 1. Bd. C. L. G. Veldt. Amsterdam um 1905, S. 1 5 4 — 1 6 0 , als Schluß des ersten Bandes. Vermerkenswert sind die Lebensangaben: „Geb. am 15 Oktober 1844, gest. am 12 April 1897" sowie die Anmerkung: „In den deutschen Anthologien wird man Nietzsche vergebens unter den Dichtern suchen. Er gehört nicht zu denjenigen, welche sich als Dichter ,etabliert' haben, was nicht verhindert, daß er sehr schöne Verse geschrieben hat." Der Band enthält sonst Beiträge von: A. v. Droste-Hülshoff, Mörike, H. v. Gilm, Hebbel, Storm, Κ. Groth, J. Rodenberg, Keller, Fr. v. Bodenstedt, Fontane, C. F. Meyer, H. Leuthold, Heyse, H. Seidel, M. v. EbnerEschenbach, A. Fitger, Liliencron, E. v. Wildenbruch. Im zweiten Band vertreten sind: Ed. Grisebach, A. v. Puttkamer, E. v. Schönaich-Carolath, G. Falke, I. Kurz, O. Linke, F. Avenarius, Jacob Loewenberg, Sudermann, J. Hart, Reinhold Fuchs, Max Hoffmann, M. Janitschek, Frida Schanz, H. Conradi, O. Ernst, L. Fulda, Holz, Dehmel, J. H . Mackay, M. E. delle Grazie, K. Henckell, Hartleben, Ricarda Huch, Anna Ritter, Bierbaum, George, Thekla Lingen, H u g o Salus, Ludw. Jacobowski, Felix Dörmann, Franz Evers, Carl Busse. 431 Lanzky, Paul, Amor Fati. Gedichte. C. G. N a u m a n n . Lpz. (1905). 4 Bll., 135 S. Das Werk ist „den Manen Friedrich Nietzsches gewidmet", enthält ein Leitgedicht „in Ruta" auf der ersten Seite, dessen Inhalt auf Verfassers Bekanntschaft mit Nietzsche anspielt, und dem ersten der fünf Abteilungen ist ein Leitspruch aus dem dritten Teil des „Zarathustra" vorangestellt. Sonst enthält der Band ziemlich eintönige, schwermütige Gedankendichtung. 432 Arnstein, O., ( J b N D L 12. Bd., 1905, IV 5a: 2 4 — 1 1 0 ) . Aus dem „schier unübersehbar" gewordenen Schrifttum über Nietzsche im Berichtsjahr 1901 hebt Verfasser nur „das schöne Werk von A. Riehl" (s. Bd. I) hervor, „das bereits in dritter Auflage" vorliege.
1905 „er ist nur einseitiger, schroffer, ärmer g e w o r d e n "
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433 John, Alois, Nietzsche-Spuren in Böhmen. (1905). (In: A. J., Egerländer Heimatbuch. Ges. Aufsätze. Selbstvlg. Eger 1907, S. 122—127). 1 7 1 1 Stellt aus Briefen Nietzsches und der Lebensbeschreibung der Schwester so ziemlich alles zusammen, was Auskunft über Nietzsches verschiedene Aufenthalte in Böhmen zu geben vermag: „Mögen die ,Nietzsche-Spuren' in Böhmen nicht verwehen und Zeugnis ablegen, daß dieser vielfach mißverstandene Genius auch in unserem Lande gewandelt!" In einer Anmerkung liefert er einen ausführlichen Bericht über die von Nietzsche in einem Brief an die Schwester vom 19. 7. 1880 erwähnte „Trübsal" aus den betreffenden Prozeßakten. 434 Schwartzkopff, P. (Wernigerode a. H.), (ZPhK Bd. 125, H. 1, 1905, S. 87 f.). Bespricht die zweite Auflage von Vaihingers Werk (Nr. 183), das zwar klar, umfassend, durchsichtig und übersichtlich sei, aber Nietzsches „philosophische Ursprünglichkeit nur als eine sekundäre" behandele. Hiergegen erhebt Rezensent entschiedenen Einspruch: „. . . gerade in dem von Nietzsche mit schärfster Einseitigkeit vertretenen Individualismus liegt die o r i g i n e l l e p h i l o s o p h i s c h e B e d e u t u n g Nietzsches. Und die Einsicht in die Wahrheit derselben thut gerade unserer Zeit not." 435 anonym, (LCB1 Nr. 1 v. 1. 1. 1905, Sp. 9). Besprechung der zweiten Auflage des zehnten Bandes der Werkausgabe (GXa), welche „außerordentlich wertvolles Material zur Kenntnis Nietzsches" liefere. Man sehe, „daß Nietzsche sich später gar nicht so wesentlich verändert hat, er ist nur einseitiger, schroffer, ärmer geworden". In seiner „Jugendzeit", nämlich in der Abhandlung über „Die Philosophie im tragischen Zeitalter der Griechen", sei es ihm mitunter gelungen, seine „blitzartigen Einfälle . . . zu disciplinieren", und da habe „die Darstellung einen so großen Zug, daß wir es nicht genug bedauern können, daß ihm dies so selten und später nie mehr gelang". 436 Joël, Karl, Nietzsche und die Romantik. E. Diederichs. Jena u. Lpz. 1905. 3 Bll., 366 S., 2 Bll. Hiervon gibt es eine Vorzugsausgabe in 30 Abzügen auf Bütten in Ganzpergament. S. 1 — 102 bringen eine meist durch Hinzufügung einer Unmenge Zitate erreichte, den Umfang um fast das Doppelte vermehrende Erweiterung des früheren, gleichnamigen Aufsatzes (Nr. 284). Man merkt nur, daß Verfassers Ansichten über Nietzsche und die Romantiker sich etwas erhärtet haben. Hinzugekommen sind die Abschnitte „Schopenhauer und die Romantik" (Schopenhauer als „der letzte Romantiker") und „Nietzsche und die Antike" (s. Nr. 352). Zum letzeren meint Verfasser, daß wir am „Scheidewege" stehen: „klassisch oder romantisch". „Was sich an unklassischem Drang . . . in dieser Zeit zusammenfand" und sich in Nietzsche verkörpert habe, zwinge dazu, die Frage zu stellen : „Hat Nietzsche die Antike ver171 a J o h n ,
Alois (Oberlohna/Böhmen 30. 3. 1860 — Antonienhöhe/Böhmen 1. 8. 1935), H e i matschriftsteller.
194
1905 Der echteste der Romantiker
standen?" — „Es gilt unserm Lebensstil, und da hängt viel von der Frage ab: wie steht Nietzsche zur Antike?" Bei der Beantwortung der Frage stellt Verfasser immer wieder eine Ähnlichkeit zwischen Nietzsches Auffassung der Antike und der der Romantiker fest, denn im Dionysos vereinigen sich „die Geister Nietzsches und der Romantik": „Nietzsche versteht die Alten nur aus ihrem U r s p r u n g , nicht aus ihrem Ziel; er versteht die Griechen als Kinder". Geist und Wille der Romantiker in ihrem Verständnis des Klassischen seien „mächtiger wiedererstanden in Fr. Nietzsche", dem „echtesten der Romantiker". Dieser sei „zugleich Renaissance und Revolution gegen die Antike". Lesenswert ist Verfassers Darstellung von Nietzsches W a n d l u n gen als „Beispiel . . . f ü r das Entwicklungsschema des großen Logikers Hegel . . . Es sind die drei ,Perioden' Nietzsches, und die verhalten sich auch nach Hegels Schema als Thesis, Antithesis, Synthesis: die Perioden der Autorität, der Freiheit, der freien Autorität, o d e r der Fremdherrschaft, der Loslösung, der eigenen H e r r schaft." W a s dem Verfasser das Romantische ist, k o m m t mit kaum zu überbietender Klarheit und Weitsicht erst im „Schlußwort" zum Ausdruck: „. . . ein allmenschlicher Typus . . ., eine gewaltige, immer wiederkehrende Geistesmacht, der notwendige Keim alles Großen im guten wie im schlimmen Sinne, der G r u n d aller H o f f nungen und aller G e f a h r e n . " Man müsse den „glänzenden V o g e l " Nietzsche fangen, „um ihn zu durchschauen, daß er uns nicht in S ü m p f e locke. U n d es wird sich immer klarer ergeben, d a ß alles höhere Leben den Vogelflug der Romantik fordert, das höchste Leben aber U b e r w i n d u n g der Romantik, Z ä h m u n g dieses Edelfalken; es wird sich ergeben, d a ß Romantik kein bloßer Gegensatz zur Klassik ist, sondern ihre Voraussetzung, daß Romantik der Rausch der Jugend ist, über den sich die Klassik erhebt als die Reife, es wird sich ergeben, daß wir die R o m a n t i k durchleben müssen, um reif zu werden . . ." Lesenswertes bringt auch eine Stelle über den Stil: „Man kann Nietzsche den größten deutschen Stilisten nennen, größer als Goethe, wenigstens sofern er bewußter i s t . . . Nietzsche genießt nicht nur den Stil, indem er ihn bildet, nein, der Stil trägt ihn zugleich . . . D e r Stil ist nicht nur Ausdruck des Gedankens, sondern auch umgekehrt der G e d a n k e Ausdruck des Stils." U m die W i r k u n g Nietzsches auf seine Zeit zu erklären, heißt es auch im „Schlußwort": „Der Geist der Nüchternheit w a r ja allmächtiger H e r r s c h e r in den letzten Jahrzehnten und konnte zeigen, was er vermochte, und hat es gezeigt: er hat die Philosophie f ü r den Zeitgeist ruiniert, bis er den Durstenden der lockenden T r u n k e n h e i t Nietzsches blindlings in die Arme trieb . . ."
436a
Dass. 2. durchgeseh. Aufl. 3. u. 4. Tsd. Jena 1923. VII, 294 S.
D e r eigentliche Inhalt des Bandes ist, wie es im V o r w o r t heißt, „höchstens hie und da durch ein paar Zeilen . . . weiterer Belege" bereichert; die Ergänzungen machen in der T a t keine zwei Seiten aus. D a f ü r e r f u h r e n die A n m e r k u n g e n eine wesentliche Erweiterung und ergeben nun ein recht ausführliches Schrifttumsverzeichnis zur Romantik überhaupt. 47 der 153 nun fortlaufend bezifferten Anmerkungen sind entweder neu o d e r haben größere oder kleinere Zusätze erhalten. Darunter sind von Wichtigkeit längere Auseinandersetzungen mit den W e r k e n von Bernoulli (Nr. 696), Meyer (Nr. 1110), Seillière ( N r . 523), Bertram ( N r . 1413; der fast immer
1905
195
anerkennend erwähnt wird) und Mückle: Friedrich Nietzsche und der Zusammenbruch der Kultur. Mchn. u. Lpz. 1921. Aus dieser Zeit im allgemeinen und zu diesem Werk im besonderen schrieb Joël:
„Der hochgesteigerte Subjektivismus, in den ich mich hineingelebt, verlangte Klärung in objektiver Betrachtung und die von früh auf empfundene Gefühlsmacht ward selber zum geschichtlichen Problem. Mystik und Romantik, die jetzt aus den Tiefen der Zeitseele gegen den Naturalismus aufschäumten, wollten in ihrer allgemeinen Bedeutung begriffen sein. So entstanden die innerlich verwandten Schriften: ,Ursprung der Naturphilosophie aus dem Geiste der Mystik' (zuerst 1903 als U r o gramm zur Rektoratsfeier der Universität Basel' erschienen, dann 1906 bei Diederichs) und ,Nietzsche und die Romantik' (1905). Ich wollte damit weder die Naturerkenntnis durch Mystifizierung zurückschrauben noch Nietzsche durch Romantisierung begraben, wie es mancher orthodoxe Naturalist oder Nietzscheaner ängstlich pro domo mißverstand. Ich wollte auch nicht äußerlich Schubfächern in Erkenntnisrichtungen und Literaturgattungen, sondern sah in ihnen und durch sie hindurch Ubergänge und Entwicklungen und wollte sie deuten als ewige Wandlungen und allgemeine Ausgestaltungen der Menschenseele. Die Parallele des ersten Titels mit Nietzsches ,Ursprung der Tragödie aus dem Geiste der Musik' war aus inhaltlicher Verwandtschaft gesucht und begründet. Die althellenische Kunstwandlung von der Musik oder Lyrik zur Dramatik hatte ja schon Nietzsche als Wandlung vom Mythus zur Aufklärung, von Orpheus zu Sokrates empfunden . . . Wenn jenes Buch die ältesten Denker durch Verallgemeinerung ihres Seelentypus uns näher brachte, so wollte das andere umgekehrt den modernsten Denker innerlich typisieren durch Projektion in vergangene Zeiten." 172
437
anonym, (LCB1 Nr. 4 v. 21. 1. 1905, Sp. 126 f.).
Eine äußerst zustimmende Besprechung des Werkes von Joël (Nr. 436). Nietzsche sinke „in den idealen Subjektivismus einer freilich nicht gefühlsseligen, sondern willenskräftigen Romantik", „deren Wille aber egoistisch gerichtet ist", zurück. Er vergesse „die soziale N a t u r des Menschen völlig", und seiner Einseitigkeit in dieser Hinsicht stellt Besprecher Wagner, Ibsen und Schiller „in ihrem Glauben an die Menschengesellschaft der Zukunft" entgegen.
438 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Nietzsche-Legenden. (Z 13. Jg., Nr. 18 v. 28. 1. 1905, S. 1 7 0 - 1 7 9 ) . Setzt den Kampf gegen Lou Andreas-Salomé und deren Buch (s. Bd. I), durch das manche „tüchtigen Gelehrten" sich in ihren Schriften über Nietzsche haben „auf ganz falsche Bahnen lenken lassen", fort. Einen neuen Verunglimpfer ihres Bruders sieht sie nun in Möbius (Nr. 187). Um seine Behauptungen zu entkräften, bringt sie eine richtige Darstellung mancher Vorfälle aus Nietzsches Leben, welche von Möbius entstellt worden seien.
172
Die Philosophie d. G e g e n w a r t i. Selbstdarstellungen. M. e. Einf. hg. v. R. Schmidt. 2., verbess. Aufl. F. Meiner. Lpz. 1923, S. 90 ff.
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1905 Erinnerungen eines christlichen O h e i m s
439 Scharf, Ludwig, Tschandala-Lieder. A . J u n c k e r . St. 1905. 128 S. Das Werk enthält zwei Stellen aus der „Götzendämmerung" als Geleitworte sowie zwei an Nietzsche-Worte anklingende Gedichtüberschriften: „Götzendämmerung" und „Der bleiche Verbrecher". 440 Schenkel, P. em. Dr. (in Stadt Naunhof), Nietzsches Antichrist. (SKSB1 55. Jg., Nr. 20 ff. v. 18. u. 2 5 . 5 . u. 1 . 6 . 1 9 0 5 , Sp. 255 — 258, 2 6 5 - 2 7 0 , 285 ff.). Behandelt die „Schmähschrift" des „letzten und größten Ankämpfers gegen die christliche Religion", selbstverständlich mit entschiedener Ablehnung. Verfasser ist kein anderer als der Oheim Nietzsches, Moritz Schenkel, nur bringt er leider so gut wie gar nichts aus nächster Anschauung: „Ich habe Nietzsche in allen Stufen seines Lebens, auch in allen Stadien seiner Krankheit gesehen, als Primaner in Pforta, als Student, als angehenden Professor, gesehen, als seine furchtbare Geisteskrankheit ihn gemacht hatte zum schwachsinnigen Kinde, als er noch alles las, vielleicht ohne zu wissen, was er las, dann als er völlig wahnsinnig geworden war. Ich kenne sein ganzes Leben, die großen Freuden, die großen Schmerzen, die er seiner Mutter gemacht hat. Er — Nietzsche — ist mehrmals in meinem Hause gewesen und ich oft bei seiner Mutter in Naumburg, letztere und seine Schwester sehr oft und lange in meinem Hause, so daß Nietzsche in seinen Glückstagen sowohl, als in seinen Krankheitstagen gar manchmal der Gegenstand unserer Gespräche gewesen ist. Auch an Nietzsches Grabe in Röcken habe ich gestanden und das einzige Kirchliche bei seinem Begräbnis gehört, nämlich das Glöcklein läuten, das ihm vielleicht auch bei seiner Taufe geläutet hat . . . Eine fromme Mutter hat ihn erzogen, und zwar keineswegs pietistisch, so daß ihm die Frömmigkeit nie widrig entgegentrat . . . " — „Ich erinnere mich dabei nur eines Erlebnisses mit Nietzsche aus der Zeit, wo er in Leipzig studierte. Wir gingen zusammen nach dem Mittagessen in das Rosenthal. Auf diesem Wege kamen wir vom alten Theater an in ein theologisch-philosophisches Gespräch. Nietzsche legte seine Ansichten dar, noch nicht die schlimmen wie später, aber doch sehr bedenkliche. Ich verstand nicht, was er wollte und befand mich seinen Reden gegenüber in jenem Zustande, von dem man spottend gesagt hat: entweder bin ich oder er ist der Verrückte. In diesem Gefühle und zugleich im Gefühle des Älteren gegen den Jüngeren, des Onkels gegen den Neffen platzte ich heraus und sagte: ach, Fritz, laß doch das dumme Zeug." Über die Einstellung der Mutter zur Veröffentlichung des Nachlasses berichtet er: „Diese dachte nicht daran, seine noch nicht gedruckten Schriften zu veröffentlichen. Besonders gewehrt hat sie sich gegen die Veröffentlichung des Antichrist, und bitter mir gegenüber darüber geklagt, daß es geschehen sollte." Den bedenklichen Werdegang seines Neffen schreibt er vornehmlich der frühzeitigen und anhaltenden Bevorzugung zu; dabei fallen folgende Worte: „Nietzsche war ein leiblich und geistig schön beanlag ter Mensch, eine schöne Erscheinung . . . Da zog der Dünkel, das Selbstbewußtsein, der Hochmut, was alles übrigens im Umgange mit ihm sich gar nicht äußerte — er war der liebenswürdigste Mensch — in seine Seele . . ." 441 Anders, Fritz (d. i. Max Allihn), Herrenmenschen. Roman. F. W . Grunow. Lpz. 1905. 2 Bll., 560 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.).
1905 „die stahlharte Lehre von der Herrschaft des Übermenschen"
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Der neugebackene Dr. phil. Heinz Ramborn kommt im ostpreußischen Fischerdorf Tapnicken an, wo er eine Weile seinem Steckenpferde, dem Photographieren, leben möchte und daneben einer entfernten Verwandten die Hypothek kündigen will. Der „Student der Jura, Dichter, Photograph, Student der Naturwissenschaften und schließlich der Philosophie", ist selbstverständlich ein „Herrenmensch": „Denken Sie es sich möglich, daß man die stahlharte Lehre von der Herrschaft des Ubermenschen in wohlgebauten Oktaven und klingenden Reimen darstellen könnte? Dazu gehören Sätze wie Hammerschläge: Also sprach Zarathustra! Können Sie sich einen Propheten denken, der seine Weissagung in elegantem Französisch spricht oder einen Herkules im Krokusjäckchen?" (S. 20) „Das Auge ausschauend nach dem Morgenrote des neuen Tages gerichtet, der der Herrenseele scheinen wird. Sich selbst ausleben! Zu sich selbst J a sagen! Herr sein über die Kleinen und über das Kleine in uns selbst! Keine Halbheiten, kein Rückfall in das Diesseitige, keine Selbstverkleinerung!" (S. 23) In der Gestalt der Eva Groppoff, T o c h ter des dorfgewaltigen Amtmannes, begegnet er einer „jungen Walküre", die ihm aber entgegnet: „Wenn dieser große, alles beherrschende Wille der eines edlen Menschen ist, dann ist es etwas sehr Gutes, wenn es aber der Wille einer Bestie in Menschengestalt ist, dann o weh, die Kleinen! Ich fürchte, H e r r Doktor, Ihre große Zukunft, wenn sie je kommen sollte, bringt die Barbarei!" (S. 104) Durch den D o k tor lernt nun aber der Amtmann selber den „Zarathustra" und die „Umwertung aller Werte" kennen: „Sie fesselten ihn, ja sie erschienen ihm als ein Evangelium für Leute seiner Art. Freilich verstand er nicht alles . . . Aber auch so erschien die Rede nachdrücklich und bedeutsam. Und das verstand er, daß es möglich, im Namen der Wissenschaft Religion und Sittengebot über den Haufen zu werfen, und daß man zu allem, was man vielleicht mit bösem Gewissen getan hatte, was man aber doch getan hatte, weil man es wollte, oder weil es das heiße Blut gebot, sein gutes und volles Recht hatte." (S. 122) „Das Gewissen ist die Kinderrute, mit der eure Pfaffen euch kirre machen. W e r einen Herrengeist hat, der kennt nur den Willen zur Macht, der kennt kein Gewissen." (S. 248) Es ist auch nur selbstverständlich, daß dieser Groppoff im Laufe der Handlung als der entlarvt wird, der unmittelbar an aller Mißwirtschaft im „preußischen Schlößchen", dem tiefverschuldeten Gut, das von der Verwandten Ramborns mühsam verwaltet wird, sowie an allem dazu führenden Betrug schuld ist. In der sich verschärfenden Auseinandersetzung mit Groppoff merkt Ramborn endlich, daß „zwischen Theorie und Praxis etwas nicht in Ordnung" sei, und zum Schluß, mit dem „Schlößchen" wirtschaftlich gerettet und gesichert, Eva am Arm, Groppoff auf dem Sterbebett und etliche damit verbundenen Hindernisse glücklich überwunden, bittet er den Herrn Pastor, ihm noch etwas Zeit zu lassen, mit sich und Gott ins Reine zu kommen. 1 7 3 442 a n o n y m , ( L C B 1 N r . 6 v. 4. 2 . 1 9 0 5 , S p . 2 0 0 ff.). Besprechung der ersten Hälfte des dritten Briefbandes ( X ) , in der „der lautere und edle Grund" von Nietzsches Wesen sich ungetrübt darstelle. T r o t z solcher
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Anders, Fritz (eigentl.: Max Allihn, H a l l e / S a a l e 31. 8. 1841 — ebd. 14. 11. 1910), seit 1872 Pfarrer und daneben Schriftsteller.
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1905
Worte aber schimmert die Abneigung des Rezensenten an anderer Stelle noch deutlich durch. 443 Gutjahr, Dr., (Z v. 18. 2. 1905, S. 309 f.). Bezieht sich in einem Brief an den Herausgeber auf die Äußerung der Schwester (Nr. 438), daß ihr Vater, bis „er sich bei einem Fall auf dem H o f e eine Gehirnerschütterung zuzog", nie krank gewesen sei, und bekräftigt seine eigene Ansicht, daß man der Mutter bei der Erzählung von den „Zuständen" ihres Mannes vollen Glauben schenken könne. Er betont dabei, daß er vier (nicht zwei) Jahre lang das Vertrauen der Mutter „wie Niemand sonst" genossen habe. 444 Widmann, J. V., D e r Heilige und die Tiere. 1. — 4. Tsd. Huber. Frauenfeld 1905. 2 Bll., 187 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Im Vorspiel: „Der Pfarrer von Everdingen", treten zwei „junge Theologen" auf, Wernicke und Nagelschmidt. Obwohl dieser „freisinnig" zu sein vorgibt, hat er sich „neulich so 'ne Wort notiert, / Bei dem es ein' der Rücke 'runter friert", selbstverständlich ist das betreffende Wort „von Friedrich Nietzsche". Wernicke versucht, seinen Wandergenossen auf die Landschaft hin abzulenken, da erwidert Nagelschmidt: „Was .Aussicht'? Einsicht! Aussicht ischt Wahn. / Da hab' ich's endlich. Nun hör' zu, 'ischt Prosa. / Gott ist tot, aber so wie die Art der Menschen ist, vergleiche Hammelart, wird es vielleicht noch Jahrtausende lang Höhlen geben, in denen man seinen Schatten zeigt. Und wir, wir müssen auch seinen Schatten besiegen.'" (S. 7 f.; etwas frei nach der „Fröhlichen Wissenschaft", Aph. 108). Worauf Wernicke die Möglichkeit eines „Gottlosen Christentums" vorschlägt (S. 10). 445 Dernoscheck, Georg Alex., Das Problem des egoistischen Perfektionismus in der Ethik Spinozas und Nietzsches. C. O. Schreiber. Annaberg 1905. 2 Bll., 64 S. ( = Diss. d. Univ. Leipzig). Trotz der „Fülle schwerwiegender polarer Gegensätze, die Spinoza und Nietzsche trennt", meint Verfasser, in der „Tatsache", „daß beide vorwiegend ethsiche Denker sind", eine zunächst ausreichende Vergleichsfläche zu finden: „. . . auf moralphilosophischem Gebiete kommt die breiteste Wucht und die feinste Schärfe des nietzscheschen Denkens zum Ausdruck, hängt er doch mit ganzem Herzen an den sittlichen Werten, deren kritische Zerstörung er vollzieht." — „Für beide ist der Immoralismus, der radikale Negativismus nur die Basis für eine neue radikale Idealsetzung." Eine Vertiefung der „äußeren Annäherung" bis „zur inneren Verwandtschaft" sei daran zu erkennen, daß bei beiden Denkern „der sittliche Prozeß . . . nicht als Betätigung der Persönlichkeit in der Gemeinschaft zu deren sittlicher Organisation, sondern als ein rein persönlicher gefaßt" werde, „abgesondert von der wirklichen sittlichen Bewegung in der Gemeinschaft und in der Welt". Was Nietzsches persönliche Stellung zu Spinoza betreffe, müsse man „den Wandel in der eigenen Werttheorie Nietzsches" beachten, denn sein Urteil sei „anders gefärbt, je nachdem er die Lebens- und Kulturerscheinungen nach der formalen Dimension (1. Periode), nach dem Erkenntnisgehalte (2. Periode) oder nach der Lebenssteigerung (3. Periode) bewertet". — „Die ungleich günstigste Beurteilung findet Spinoza in der zweiten, der intellektualistischen Periode, die häufigste und eingehendste Be-
1905 „der freie Mensch Nietzsches" ein weltflüchtiger Asket
199
s p r e c h u n g in der letzten E n t w i c k l u n g s p h a s e N i e t z s c h e s . " M e t a p h y s i s c h betrachtet vertreten
beide
Denker
eine „ m o n i s t i s c h e
Auffassung": „Dem
unverrückbaren
G l a u b e n N i e t z s c h e s an , d a s d i o n y s i s c h e F u n d a m e n t ' aller D i n g e entspricht die spin o z i s c h e U b e r z e u g u n g von der H e i l i g k e i t alles Seins und aller S e i n s f o r m e n . " — „. . . w ä h r e n d aber die s p i n o z i s c h e , den S c h w e r p u n k t der Realität in die transcend e n t e S p h ä r e der Einheit v e r l e g e n d , nicht i m s t a n d e ist, den Individualqualitäten g e recht zu w e r d e n , sucht N i e t z s c h e die Realität in d e m Bereiche der Individuation, g e w i n n t d a d u r c h eine ungleich , e r d e n t r e u e r e ' Position g e g e n ü b e r d e r Weltwirklichkeit und erlangt die Aussicht, einem völlig indifferentistischen Q u i e t i s m u s a u s z u weichen und ein H i n a u s t r e t e n des Individuums aus d e m f e u r i g e n K r e i s l a u f
des
W e l t p r o z e s s e s zu e r m ö g l i c h e n . " D o c h seien letzten E n d e s beide „ d e r W e i s e S p i n o z a s und d e r freie M e n s c h N i e t z s c h e s . . ., w e n n a u c h in v e r s c h i e d e n e m G r a d e , weltf l ü c h t i g e A s k e t e n " und b e w e i s e n , „ d a ß die volle Menschlichkeit nur d a d u r c h erreicht w e r d e n kann, d a ß eine individualistische und eine s o z i a l e T e n d e n z in w e c h selseitig e r g ä n z e n d e r , h e b e n d e r und e i n s c h r ä n k e n d e r W e i s e z u s a m m e n w i r k e n . . ." V e r f a s s e r fühlt sich „ b e s o n d e r s " H e r r n P r o f . V o l k e l t und H e r r n G e h e i m r a t H e i n z e „ z u g r ö ß t e m D a n k e v e r p f l i c h t e t " , welch letzterem „ d i e s e schlichten B l ä t t e r " a u c h g e w i d m e t sind. 17,1
AB Deutsche Lyrik seit Liliencron. Hg. v. Hans Bethge. Hesse. Lpz. (1905), S. 218 — 225: An den Mistral, Vereinsamt, Zarathustras Lied, Venedig, Sils-Maria, Die Sonne sinkt; s. a. die Erwähnung im Vorwort, S. X I V : „Ideen Nietzsches, in dessen eigenen Versen sich die Trauer der Einsamkeit mit dem heftigen Begehren nach Schönheit, Lebensfreude und glücklichen Tänzen mischt, befruchteten die Bewegung (derer, die „eine gesunde Wiedergeburt des alten Geistes der Wirklichkeit" verlangten), ohne daß man den Einfluß dieser Ideen überschätzen darf." Sonst enthält der Band Gedichte von Mombert (19), Liliencron u. Hartleben (je 18), Schaukai (16), Dehmel (15), Dauthendey (13), Hofmannsthal (11), Morgenstern u. Bierbaum (je 10), Gustav Falke, Hesse, Ricarda Huch, v. Schönaich-Carolath u. W. v. Scholz (je 9), Flaischlen u. P. Hille (je 8), Conradi, Κ. Henckell, Holz u. G. Schüler (je 7), Franz Evers, I. Forbes-Mosse, L. Greiner, W. Holzamer u. M. Susman (je 6), E. Grisebach, H. Lachmann, E. Lasker-Schüler, Schlaf u. Wedekind (je 5), Peter Baum, E. v. Bodman, M. Bruns, C. Busse, I. Kurz, Mackay, A. Miegel, A. v. Puttkamer, P. Remer, H. Salus u. W. Weigand (je 4), W. Arent, H. Benzmann, M. Bölitz, K. Bulcke, G. Busse-Palma, E. Collin-Schönfeld, J. J. David, L. Finckh, J. Hart, E. A. Hermann, L. Jacobowski, M. Janitschek, B. Frhn. v. Münchhausen, H . Sauer, L. Scharf, T. v. Scheffer, Ο. Α. H. Schmitz, M. R. v. Stern, L. v. Strauß u. Torney, H. Voigt-Diederichs, E. R. Weiß, P. Wertheimer u. S. Zweig (je 3), H. Bethge, O. Falckenberg, F. K. Ginsky, E. Hardt, R. Herzog, C. Hoffmann, Κ. E. Knodt, F. Lienhard, T. Lingen, R. I7
Also sprach Zarathustra' had given broad hints of the same mechanism." (S. 373) Beide Stellen liegen auch in einer allerdings etwas freien deutschen Übersetzung vor: H. Huber. Bern u. St. (1962), Bd. II, S. 405 f., 439.
1908 Ecce homo
329
A n g e r e g t durch die Enthüllungen im L a u f e der P r o z e ß v e r h a n d l u n g Gast gegen Bernoulli-Diederichs veröffentlicht die Z e i t u n g Stellen aus drei Briefen, bzw. Entw ü r f e n , deren Inhalt der Schwester wenig schmeichelhaft ist: „Es mag sein, d a ß Frau Förster sich um die Pflege des k r a n k e n Bruders g r o ß e Verdienste erworben hat, den gesunden hat sie keinesfalls verstanden und sicherlich in einer Weise gequält, wie nur Blutsverwandte den einsamen Genius quälen k ö n n e n . . ."
744 Cohn, Dr. med. Paul (Charlottenburg), Frau Elisabeth FörsterNietzsche. Wedekind. Bln. 1908. 27 S. Verteidigt die Schwester „1) als P e r s o n ; 2) in der Darstellung des Verhältnisses zu ihrem Bruder; 3) als Nachlaßverwalterin", und z w a r gegen jegliche Kritik, jedoch o h n e irgendetwas anderes zu tun, als E m p ö r u n g d a r ü b e r zu äußern. V o n der schwesterlichen Lebensbeschreibung heißt es: „ D e r g r o ß e Z u g , in dem dieses g r o ß e Gesamtleben erfaßt ist; die Einfachheit in der Einteilung dieses gewaltigen Stoffes; der h o h e Wille zur Redlichkeit; die klassische Klarheit des Stiles; diese Eigenschaften allein sichern d e m W e r k e einen E h r e n p l a t z in der Literatur aller Zeiten."
745 Löb, Walther, Naturwissenschaftliche Elemente in Nietzsches Gedanken. (DRs 1908, S. 264—269). Verfasser stellt einleitend fest, d a ß es zweierlei W a h r h e i t e n gebe, die objektive des „Naturgesetzes" und die subjektive, die j e d e r Philosophie, „die Lebenswerte f ü r den Menschen aufstellt", eigne. In Nietzsches Philosophie seien g e r a d e zwei P r o bleme, „ f ü r die vornehmlich naturwissenschaftliche T a t s a c h e n den Reiz bilden" : die Idee des Ü b e r m e n s c h e n und der G e d a n k e der ewigen W i e d e r k u n f t . In beiden Fällen habe Nietzsche die naturwissenschaftlichen Gesichtspunkte sehr einseitig a u f g e f a ß t , d e n n o c h werden die „ K r a f t u n d S c h ö n h e i t dieser G e d a n k e n . . . ihren Z a u b e r nicht verlieren": „ D e m Streben nach h ö c h s t e m M e n s c h e n t u m gibt er eine T a f e l mit neuen ethischen F o r d e r u n g e n : E n t w i c k l u n g z u m Ü b e r m e n s c h e n und Liebe z u m Leben, so daß ihm ewige W i e d e r k u n f t Ziel u n d W u n s c h w e r d e . "
746 Bonus, Arthur, Frau Förster-Nietzsche und die Taschenausgabe der Werke Nietzsches. ( N R 1. Jg., 1908, H. 13, S. 931—937). D e r bis dahin w o h l bissigste Angriff auf die Schwester, hauptsächlich in ihrer Eigenschaft als H e r a u s g e b e r i n . V e r f a s s e r verfolgt ihre T ä t i g k e i t von A n f a n g an bis zu ihrer Entfaltung als „Oberpriesterin der Nietzscheschen Kultgemeinschaft". Hinsichtlich der neuen Ausgabe, zu der sie die „ V o r - u n d N a c h w ö r t e r " geliefert habe, wisse sie wahrscheinlich selber nicht, „wie sie d u r c h diesen neuesten Schritt ihrer N i e t z s c h e - Z u r e c h t d i c h t u n g das Lebensbild des M a n n e s verunstaltet hat". — „Mir ist Nietzsche viel, u n d ich habe mich über die neue G e s a m t a u s g a b e nicht w e nig gefreut. Für mich, der ich über die V o r w ö r t e r Bescheid zu wissen glaube u n d sie kritisch lese, behält die Ausgabe auch weiterhin den W e r t , ein reicher Schatz zu sein. Aber der Schaden, der an dem K u l t u r w e r t b e g a n g e n ist, den uns Nietzsches N a m e bedeutet, der ist k a u m abzusehen."
AP Ecce homo / Friedrich Nietzsche. 154 S., 2 Bll. ( = Inhaltsverz. u. Druckvermerk: Das „Ecce homo" wurde für den Insel-Verlag zu Leipzig in 1250 Exemplaren (davon 150 auf Japan) bei Friedrich Richter in Leipzig
330
1908 „einer unserer glänzendsten Schriftsteller"
gedruckt. Titel, Einband und Ornamente zeichnete Henry van de Velde.) Auf S. 131 — 154 steht das Nachwort des Herausgebers Raoul Richter. Dieser nimmt das Werk als Belegstück dafür, daß erst Nietzsche „eine Psychologie der Philosophie großen Stils" geschaffen und dadurch „der Biographie und Charakterkunde eine Rolle zugewiesen" habe, „die ihnen die Historiker der Philosophie bisher versagt hatten". Er verfolgt das Entstehen des Werkes vornehmlich anhand brieflicher Äußerungen an die Schwester, Frl. v. Salis-Marschlins, Brandes, Fuchs und vor allem an den Verleger Naumann. Auf dem Werk, „wie auf keinem anderen", laste „die geistige Gewitterspannung unheilkündend und unruhvoll": „Die Lucidität und Durchsichtigkeit ist eine vollkommene. Auch die Stilisierung des Ausdrucks steht auf gewohnter, unveränderter Höhe." Aber „die Dynamik der Äußerungen" sei das Gebiet, auf dem „die organische Erkrankung" sich ankündige.
747 Saudek, Robert, Ecce homo. Nietzsches Nachgelassenes W e r k . (Bb 3. Jg., 1908, S. 2 5 7 - 2 6 0 ) . Nietzsche ist dem Verfasser vor allem Psychologe, „denn alles, was bei ihm tief und ewig ist, gehört ohne Ausnahme in das Gebiet der Psychologie". Als Beispiel für seine „treffsichere Psychologie" dient dem Verfasser die „erste Unzeitgemäße", die „die beste polemische Arbeit der Weltliteratur" sei. D a ß er gelegentlich „übers Ziel schoß", sei angesichts seiner Vereinsamung nur allzu verständlich; lediglich seine „Überschätzung des Zarathustra" gehöre zu den „uns unverständlichen Fehlern des Psychologen Nietzsche, zu seiner krankhaften, ungenialen Epoche".
Im Jahre 1908 erschien ein Werk über David Friedrich Strauß, welches der gelegentlichen Erwähnung Nietzsches wegen hier Beachtung verdient. Der Verfasser meint, Nietzsche habe Strauß als „Bildungsphilister" und „nichtswürdigen Stilisten" verhöhnt, weil er „in seiner von Neid gegen alle Großen zerfressenen Seele es nicht vertragen konnte, daß ihm ein anderer die Palme des ersten deutschen Stilisten streitig machte, und dem in seiner damaligen dionysischen Schopenhauer- und Wagner-Begeisterung der panlogistische Optimismus von Strauß als ruchlos und sein Klassizismus in der Musik als borniert und rückständig erscheinen mußte." 268 „Seit dem Erscheinen des Buches von Bernoulli, Overbeck und Nietzsche, wissen wir aber auch, wer hinter diesem (d. i. Nietzsches) H a ß gestanden, ihn angefacht und geschürt hat: es war der Theologe Overbeck . . .so steckt theologische Antipathie, theologisches Ressentiment auch in dem Nietzscheschen Angriff auf Strauß." 269 Im „Schluß" des Werkes bespricht der Verfasser Strauß den Schriftsteller und stellt dreierlei Stile in Deutschland fest: den „Treitschke-, den Nietzsche- und den Straußstil". Dabei gibt er zu: „Nietzsche ist, darüber kann natürlich kein Streit sein, einer unserer glänzendsten Schriftsteller: 268
Ziegler, Theobald, David Friedrich Strauß. K. J. Trübner. Straßburg 1908, 1. Tl. S. XI. Ebd., 2. Tl., S. 735 f., Anm. 1.
1908 Das Bernoullische Werk im Mittelpunkt der Auseinandersetzungen
331
nirgends toter Buchstabe, überall lebendige Rede voll Wohllaut und Musik, sein Stil ist wirklich Stil, stilisierte Rede, ein geistreiches Aphorismengefunkel, das glüht und leuchtet, das unruhig flimmert und flackert; er ist auch als Stilist mit einem W o r t dionysisch." Auch ist Verfasser „heute geneigt, dieser Sorge Nietzsches (d. i. um den deutschen Sieg 1871) mehr recht zu geben als meiner damaligen Vertrauensseligkeit. . ."27° 748 d'Ardeschah, Jean Paul (Wandsbek), Eine Korrektur zur N i e t z schebiographie. (ZsWLK Nr. 15 v. 12. 4. 1908). Bespricht den ersten Band von Bernoullis Werk (Nr. 696), „das sicherlich für jeden kommenden Nietzsche-Biographen unentbehrlich sein wird, nicht nur wegen des großen Reichtums an vorzüglich zusammengestelltem und kritisch einwandfreiem Material, sondern vor allem auch darum, weil es eine sehr wertvolle Korrektur der . . . von Nietzsches Schwester . . . geschriebenen Nietzschebiographie bedeutet". 749 Gebert, Karl, Nietzsche in neuer Beleuchtung. (DZJm 8. Jg., Nr. 15 v. 12. 4. 1908, S. 169 ff.). Eine durchaus günstige Besprechung des ersten Bandes des Bernoullischen Werkes (Nr. 696), auf dessen Erscheinen „der aufrichtige Nietzschefreund — und ein solcher ist jeder Freund geistvoller, gedankentiefer Lektüre, mag diese auch wie hier zum Widerspruch herausfordern — mit gutem Grund sich freuen" werde. A Q Friedrich Nietzsche: Mein G l ü c k / V e n e d i g . In: Venezianische N ä c h t e und Träume. Dichtungen (v. Fr. Adler, Byron, A. Chenier, F. D a h n , D e h m e l , Geibel, B. Geiger, Goethe, M. Greif, R. Hamerling, Hesse, H e y s e , v o n Hofmannsthal, H . Lingg, A. Meißner, C. F. Meyer, R. M. Milnes, T h . M o o r e , A. Musset, Platen, Α. Renk, Η . Salus, Α. F. Schack, R. Schaukai, A. W . Schlegel, von Schönaich-Carolath, L. Stecchetti, Η . Stieglitz, M. Strachwitz, T h . Suse, J. Vrchlicky). H g . v. Ignaz Jezower. 2. Aufl. B. Behr's Vlg.-Fr. Feddersen. Bln., Lpz. (um 1908), S. 58, 69. 271 Die Erstauflage, die unter dem Titel „Der poetische Cicerone", Bd. 1, erschienen sein soll, war nicht zu ermitteln. 750 Peregrinus, Spitteier und Nietzsche. (FZg Nr. 108 v. 17. 4. 1908). Eine wohlwollende Besprechung des Einzeldruckes von Spitteler (Nr. 684 b), die nur an der Stelle beachtenswert wird, wo Rezensent von dem Eindruck der „ersten Unzeitgemäßen" auf sich und seinesgleichen erzählt: „. . . mit Befriedigung begrüßten wir Nietzsches Kampfruf. ,Bei diesem ist Hoffnung, daß er dereinst das Testament der modernen Ideen besser schreiben werde!' so war die Stimmung unter den Studierenden; mehr als einer erblickte in der Schrift das Zeichen einer großen
270 271
Ebd., S. 7 4 6 - 7 6 4 . Jezower, Ignaz, geb. 1878.
332
1908 Fedor Stepun
B e r u f u n g . . . denn wir hatten N i e t z s c h e s Erstlingsschrift , D i e G e b u r t der T r a g ö d i e ' . . . sorgfältig auch zwischen den Zeilen gelesen . . . "
751 Lauscher, Dr. Α., Die Wahrheit über Nietzsche. (AMBII 20. J g . , Nr. 7 v. 2 5 . 4 . 1908, S. 120 f.). Begrüßt den ersten B a n d des Bernoullischen W e r k e s ( N r . 6 9 6 ) als ein „außerordentlich bedeutsames B u c h " , ein „ f ü r die künftige wissenschaftliche Beschäftig u n g mit N i e t z s c h e und seinem L e b e n s w e r k . . . h e r v o r r a g e n d e s , j a unentbehrliches Hilfsmittel". In einem abschließenden A b s a t z lobt er auch das W e r k von H o r n e f f e r ( N r . 592), das ihm vor allem ein willkommener „ B e i t r a g z u r Charakteristik des Nietzsche-Archivs" ist, „dessen Publikationen nach alledem nicht leicht zu niedrig eingeschätzt werden d ü r f t e n " .
752 Zerbst, Max, Zum Nietzsche-Prozeß. ( D S p 1. Jg., Nr. 1/2 v. 3 0 . 4 . 1908, S. 1 6 - 1 9 ) . G r e i f t in die A u s e i n a n d e r s e t z u n g zwischen Bernoulli und der S c h w e s t e r auf Seiten der letzteren ein, da er „auf g r u n d persönlicher I n f o r m a t i o n , die bis in die A n f ä n g e der H e r a u s g a b e von Nietzsches N a c h l a ß zurückreicht, einige a u f k l ä r e n d e W o r t e " sagen zu können glaubt. Sein Urteil über die „Baseler T r a d i t i o n " läßt sich am ehesten in f o l g e n d e W o r t e z u s a m m e n f a s s e n : „ D i e N i e t z s c h e - K r i t i k e n
Over-
becks und Bernoullis zeigen d a s typische Verhältnis geistreicher Mittelmäßigkeit zum G e n i e . "
753 G., 30. 4. 1908).
Eine
neue
Nietzsche-Biographie.
(WAp
Nr.
100
v.
Bespricht den ersten B a n d von Bernoulli ( N r . 6 9 6 ) , der allein schon „einen ungeheuren Fortschritt" d e m W e r k e der Schwester g e g e n ü b e r bedeute.
Uber den „Dritten Philosophischen Kongreß" in Heidelberg im Jahre 1908 schrieb der damalige cand. phil. Fedor Stepun: „Die lieben idyllischen Akademiker sahen in Nietzsche nur den Poeten und Philologen, in Marx den Nationalökonom und Politiker und befaßten sich darum mit den beiden Denkern vor allen Dingen in der Absicht, sie auf irgendeine Art ihren eigenen wissenschaftlichen Systemen einzubauen. Simmel führte in harmlos geistreichen Darlegungen den Beweis, daß die dem Christentum und der europäischen Kultur wesensfremde antike Lehre Nietzsches von der ewigen Wiederkunft als eigenartige Auslegung des kategorischen Imperativs: ,Lebe so, daß D u im Falle einer Wiederholung Deines Lebens keinen Anlaß habest, eine Änderung des zurückgelegten Lebensweges zu wünschen', verstanden werden könne." 2 7 2 272
F. S., Vergangenes und Unvergängliches aus meinem Leben. 1.T1. 1884—1914. Kösel-Vlg. Mchn. (2. Aufl., 6 . - 1 0 . Tsd. 1949), S. 172; Stepun war 1902 18jährig nach Heidelberg gekommen und hatte schon auf Veranlassung des dortigen Altphilologen Dieterich „Nietzsches ,Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik' und das Buch seines bedeutendsten Schülers Erwin Rohde .Psyche'" gelesen (ebd., S. 128). S. a. S. 168 (Verhältnis des Verfassers zu Rosanows Philosophie, dessen „Haßliebe zu Christus und der Kirche die Nietz-
1908
333
754 Bonus, Zur Nietzsche-Tragikomödie. (Kw 21. Jg., Nr. 15, 1. Maiheft 1908, S. 163 f.). Verfasser schreibt mit kaum verhüllter Bissigkeit über die „Enthüllungen, die der Prozeß Nietzsche-Overbeck gebracht hat". Die Bedeutung des ganzen liege darin, daß in der begeisterten Aufnahme, welche zwanzig Jahre lang die ganze „Elisabethanische Literatur fast widerspruchslos fand, die deutsche ,Bildung' — Nietzschisch zu reden — sich einmal wieder ,auf der Tat' ,ertappen' ließ".
755
Erdmann, Karl Otto, Immoralitätsfexerei. (Ebd., S. 129—137).
Veranlaßt durch Antworten auf ein Rundschreiben des „Morgen" zum „jüngst verhandelten Harden-Moltke-Prozeß", in denen sich „eine Anzahl deutscher und ausländischer Schriftsteller" zu der Persönlichkeit Hardens geäußert hatte, rügt Verfasser den häufigen und leichtfertigen Gebrauch alles dessen, was mit „Immoralismus" zu tun hat. Er stellt zunächst fest, daß „Moral leugnen" einen doppelten Sinn habe: „Man kann entweder das D a s e i n oder man kann den W e r t der Moral bestreiten." Nietzsche, dessen Anschauungen zum Thema fast ausschließlich berührt werden, habe im letzteren Sinne einen Immoralisten heißen wollen, „wenn er auch Meister in der moralischen Skepsis der andern Art war und wie selten einer verstand, in den angeblich großen, edlen und heldenhaften Regungen das Menschliches Allzumenschliche heraus zu distillieren". „Wenn ein leidenschaftlicher Denker wie Nietzsche" sich einen Immoralisten nenne, sei das „verständlich". Ihm haben „gerade die moralischen Probleme den größten Teil seines Lebens im Brennpunkt
schesche Kritik an der christlichen Welt weit hinter sich läßt"), 107 f. (Nietzsche „vehement romantisch"; sein Einfluß auf „die faschistische Ideologie Roms und Berlins"), 174 (Verhältnis des „amerikanischen Pragmatismus" zu Nietzsche), 202 f. (über einen „kleinen Almanach unter dem Titel ,Vom Messias. Kultur-philosophische Essays'", der um das Jahr 1910 von einem „Heidelberger philosophischen Freundschaftsbund", d. h. von dem Verfasser, Sergej Hessen, Ν. N. v. Bubnow, Richard Kroner und Georg Mehlis, herausgegeben wurde: „In unseren Essays war nicht vom Christus-Messias die Rede, sondern von einem Propheten, den die nach Erneuerung lechzende Welt erwarte, von einer neuen schöpferischen Idee und einem auserwählten Führervolk. Ein besonders charakteristischer Zug unseres Almanachs war die Abgrenzung gegen die Philosophie Nietzsches, die zu Beginn des Jahrhunderts für viele Denker eine so große Anziehungskraft besaß. Mit Kroner, dem Verfasser der Einleitung, an der Spitze, lehnten wir es alle ab, in Nietzsche den .Gottgesandten' zu sehen. Im Gegensatz zu ihm, der nicht das .Evangelium der Liebe', sondern das .Evangelium der Kraft' predigte, erklärten wir feierlich, daß wir nicht eine ,GesetzesTafel neuer Werte' erwarteten, sondern .einen neuen priesterlichen Verkünder der alten ewigen Werte'."), 314 (Erwähnung Nietzsches im Zusammenhang mit Medtner, dem Begründer des Moskauer Verlages „Musagetes"), 329 (über Nicholas Berdjajew: „Der Kampf gegen die geistige Verbürgerlichung steht im Mittelpunkt seines Schaffens und eint ihn mit Nietzsche, zu dem er sich als dem Propheten der reifenden Krisis der bürgerlichen Kultur stets hingezogen fühlte, und dem er den Haß gegen das Christentum zeitweilig allzu leicht verzieh."), 334; 2. Tl. 1914—1917 ( 1 . - 5 . Tsd. 1948), S. 50 f.; 3. Tl. 1917—1922 ( 1 . - 5 . Tsd. 1950), S. 40; Stepun, Fedor (Moskau 19.2. 1884 - München 23.2. 1965), promovierte 1909, 1922 aus der Sowjetunion ausgewiesen, 1926 Professor der Soziologie in Dresden, 1937 Lehrverbot, 1947 Professor für russische Geistesgeschichte in München; Mehlis, Georg (Hannover 8. 3. 1878 — Freiburg i. Br. 13. 11. 1942), Philosoph, seit 1910 an der Universität Freiburg im Breisgau.
334
1908 „bei weitem der bedeutendste und ehrlichste Gegner des Christentums"
des Interesses" gestanden, doch durch „seine Nachbeter" sei das W o r t „zu einem unklaren und gedankenlosen Schlagwort geworden".
756 Pfannmüller, Gustav, Jesus im Urteil der Jahrhunderte. Die bedeutendsten Auffassungen Jesu in Theologie, Philosophie, Literatur und Kunst bis zur Gegenwart. Teubner. Lpz. u. Bln. 1908. Uber Nietzsche im „geschichtlichen Uberblick" auf S. 417. Als zuletzt behandeltem Gegner Christi gebührt ihm die Ehre, „bei weitem der bedeutendste und ehrlichste Gegner des Christentums" zu heißen. „Von einer pietistischen Jugend und dem Christentum Schopenhauers und Wagners" verleitet, sei „sein Bild von Jesus . . . ebenso unhistorisch und willkürlich" wie seine Verurteilung des Christentums. Renan treffe „viel eher das Wesen Jesu als Nietzsche in seiner gänzlich subjektiven und in keiner Weise an den Quellen orientierten Auffassung". Auf S. 438 bis 441 finden sich die Jesus betreffende Stelle aus dem Abschnitt „Vom freien Tode" des ersten Teiles des „Zarathustra" und längere Stellen aus dem „Antichrist".
757 Roloff, E. M. (Freiburg i. B.), Der wahre Nietzsche. (LH 46. Jg., Nr. 5, 1908, Sp. 1 7 7 - 1 8 2 ) . Verfasser möchte eigentlich vor dem Nietzscheschen Einfluß auf der Schule warnen: „Gehen aber, wie ich selbst von 5 Gymnasien — darunter 3 in fast reinkatholischen Gegenden — weiß, Nietzsches Bücher schon in der Obersekunda von Hand zu H a n d " , da helfe kein Leseverbot, sondern einzig und allein eine ernste Widerlegung, und die sei ja leicht. Doch liefert Verfasser darauf nicht diese, sondern eine Besprechung des ersten Bandes von Bernoullis W e r k (Nr. 696), aus dem er mehrere äußerst ungünstige Äußerungen Overbecks über Nietzsche im Auszuge zusammenstellt.
758 Förster-Nietzsche, Elisabeth (Weimar), Vier Briefe. ( 2 Bd. 64, 1908, S. 266 ff.). Wendet sich gegen Äußerungen von Diederichs und Bernoulli in Sachen verlorener Handschriften und der Gleichbedeutung des „Antichrist" mit der „Umwertung aller Werte".
759 Meyer, Richard M., Overbeck-Nietzsche. (DRs Bd. 135, 34. Jg., Nr. 8 v. Mai 1908, S. 311 ff.). Eine recht bedingte Anerkennung des ersten Bandes von Bernoulli (Nr. 696), bei der es eher um die Herausarbeitung der Gestalt Overbecks geht. Diesem „fehlte eben aus seiner . . . passiven Natur heraus das Verständnis f ü r die eigentliche Seele Nietzsches: f ü r sein Bedürfnis, in unaufhörlicher Selbstüberwindung seine Existenz erst voll zu genießen".
760 Havenstein, Martin, Spitteier und Nietzsche. (Bb 3. Jg., Nr. 19 v. 7. 5. 1908, S. 5 5 6 - 5 6 4 ) . Schreibt über das Verhältnis beider zueinander, hauptsächlich mit Bezug auf die verschiedenen schriftlichen Zeugnisse Spittelers, doch ohne etwas Neues zu bringen. Die eigene Einstellung drückt sich deutlich in der Zurechtweisung Spittelers aus, dem „ein überaus grober höhnischer Ausfall gegen Frau Förster-Nietzsche" zu Last gelegt wird und der sich nicht scheue, „Nietzsche vor aller Welt der
1908 „der größte Musiker unter den Stilisten"
335
Verachtung preiszugeben": „Der Ton, in dem er von Nietzsche spricht, ist gesucht unehrerbietig und im höchsten Grade taktlos." 761 Lauscher, Dr. A. (Oberlehrer, Vorbeck), Nietzsche als Erzieher. ( K V Z g Literar. Beil., 49. Jg., Nr. 20 v. 14. 5. 1908). Umreißt Nietzsches „pädagogische Theorien und Forderung", angeregt zu der Darstellung wohl durch die Schrift von Weber (Nr. 594), auf die auch hingewiesen wird. Verfasser stellt fest, Nietzsches „extremer Individualismus, gepaart mit aristokratischem Radikalismus", sei, „wie seiner philosophischen Spekulation überhaupt, so auch seiner Pädagogik verhängnisvoll geworden": „Nietzsches Bildungsideal und Bildungsziel, das nur die ,genialen' und ,genieverwandten' Menschen ins Auge faßt, und die anderen, d. h. die große Mehrzahl, als bildungsunfähige Masse von dem Zugange zur Bildung ausschließt, muß gerade im Namen und im Interesse der K u l t u r , welche Nietzsche auf diese Art zu fördern vermeint, unbedingt verworfen werden." 762 Eckertz, Erich (Berlin), H e i n e und Nietzsche als Gegner des deutschen Stils. (FZg N r . 136, Mai 1908). Neben Schopenhauer seien Heine und Nietzsche die größten deutschen Stilisten des neunzehnten Jahrhunderts, „Neuschöpfer des Wortes". Sie gleichen sich ferner „in der Klangschönheit, der musikalischen Wirkung ihres Stils, im Spielen mit und auf der Sprache" und haben sich beide „zeitlebens über das Dilettantendeutsch ihrer schreibenden Landsleute hergemacht". Doch es spreche eher „Anhänglichkeit, nicht Antipathie . . . aus ihrem Tadel" : „Sie liebten, kannten und förderten den deutschen Stil wie selten einer, kannten deswegen auch seine Mängel und durften sie bezeichnen." 763 Bernoulli, Carl Albr. (Arlesheim), Zuschriften. ( D L E 10. Jg., 16. Η . v. 15. 5. 1908, Sp. 1 1 7 0 — 1 1 7 7 ) . Verfasser möchte mit diesen Zeilen „das wissenschaftliche Erträgnis des Prozesses" um seinen „zweiten Overbeck-Nietzsche-Band" zusammenstellen. Mit ausführlichen Einleitungen und Erklärungen werden damit veröffentlicht Briefe oder Briefentwürfe Gasts an Overbeck (v. 2. 3. 1889, 19. 9., 13. u. 17. 11. 1893), Nietzsches an Overbeck (v. Sept. 1882, März u. Spätsommer 1883 u. Weihnachten 1888), an die Schwester (v. Sommer 1882, Frühjahr 1884 u. Weihnachten 1888) und an die Mutter (v. Febr. 1884). 764
Eckertz, Erich (Berlin), Nietzsche über Musik. ( N M Z g 19. Jg.,
Nr. 16 v. 21. 5. 1908, S. 3 3 7 - 3 4 2 ) . Verfasser findet Nietzsches „Urteil über M u s i k . . . von mehrfacher Bedeutung". Er ist ihm „der größte Musiker unter den Stilisten und der größte Stilist unter den Musikern. Zum Musiker legitimiert ihn aber nicht nur der Klang seiner Sprache, sondern auch die Aufnahmekraft für Musik und das ringende Bedürfnis nach ihr." Verfasser verfolgt die Entwicklung von Nietzsches Urteil über Musik und Musiker vom „musikalischen Schöpfer der Tragödie" und „verstandesmäßigen Beobachter der Aphorismen" bis zum „Propheten", bis zum „Zarathustra", das „Musik wie kein anderes W e r k des Vielgestaltigen" sei. „Aus dem, was er preist und will,
336
1908 Die Stiftung Nietzsche-Archiv
klagt seine ungestillte Sehnsucht, und mit seinen Angriffen schlägt er sich selber nieder. Mit der deutschen Romantik und Musik zieht er sich selbst in die T i e f e . . ."
765 L., M., Friedrich Nietzsche und Carl Spitteier. ( H N 117. Jg., N r . 356, 2. Morgenausg. v. 21. 5. 1908). Eine recht bissige Besprechung der Schrift v o n Spitteier (Nr. 6 8 4 b), dem es „in der Hauptsache . . . darauf a n z u k o m m e n " scheine, „die Ansicht zu bekräftigen, d a ß Nietzsches Zarathustra durch Spittelers Prometheus und Epimetheus beeinflußt sei".
Im Mai 1908 kam es zur Bildung eines Vorstandes im Nietzsche-Archiv, worüber folgendes berichtet wurde: „Das Nietzsche-Archiv in Weimar ist von der Gründerin und bisherigen Leiterin des Instituts, Frau Elisabeth Förster-Nietzsche, im Anschluß an die vom schwedischen Kunstfreunde Ernest Thiel in Stockholm testamentarisch verfügte Zuwendung von 300 000 Mk. in eine Stiftung umgewandelt worden, die den Namen ,Nietzsche-Archiv' führt und nach dem Wortlaute der Stiftungsurkunde ausschließlich wissenschaftlichen und gemeinnützigen Zwecken dienen soll. Mit diesem, unterm 23. Mai von der weimarischen Staatsregierung genehmigten Akt legt Frau Förster-Nietzsche die Verwaltung und Leitung des Archivs in die H ä n d e eines Vorstandes von mindestens sieben Mitgliedern, von denen vorläufig durch die Stifterin Geheimrat Professor Dr. Max Heinze-Leipzig, Geheimrat Professor Dr. Max (so) Vaihinger-Halle und Oberbürgermeister Dr. Oehler-Krefeld, ein Vetter Nietzsches, ernannt sind. Peter Gast bleibt als Herausgeber beim Nietzsche-Archiv." 273 766 Preisendanz, Karl (Berghausen-Karlsruhe), Nietzsche und Seneca. (SDMh 5, 1908, S. 694 ff.).274 Liefert „einige Parallelen . . . z w i s c h e n beiden Philosophen", w e l c h e sich n o c h „leicht häufen" ließen.
767 Oehler, Max (Weimar), Nietzsche-Lektüre. (Kar 1. Jg., Nr. 17 v. 1. 6. 1908, S. 531—534). 275 D a s Verdienst N i e t z s c h e s liege darin, „die Distanz z w i s c h e n A u s n a h m e m e n schen, Mittelmäßigen und Masse wiederhergestellt und aller Gleichmacherei den Krieg erklärt zu haben". D a aber „der Charakter der zuletzt veranstalteten Gesamtausgabe der Werke" ( G T I - X I ) einer solchen Meinung zu „widersprechen" scheine, müsse „ausdrücklich festgestellt werden: die neue Ausgabe beabsichtigt nicht,
273 274
275
DLE 10. Jg., H. 19 v. 1.7. 1908. Preisendanz, Karl (Ellmendingen b. Pforzheim 22.7. 1883 — Heidelberg 26.4. 1968), klassischer Philologe und Bibliothekar. Oehler, Max (1875 — Anfang 1946 verschollen), Major a . D . , Neffe von Frau FörsterNietzsche, Archivar des Nietzsche-Archivs und Mitglied des Vorstandes der Stiftung Nietzsche-Archiv in Weimar.
1908 Der Basel-Weimar-Streit dauert f o n
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. . . eine Massenverbreitung im Volk anzubahnen". Rezensent weist sonst auf „zwei Besonderheiten", die die Ausgabe aufweise, hin: „die chronologische Anordnung der sämtlichen Werke und die biographischen Notizen mit Aufzeichnungen des Autors". 768 S t r e c k e r , K a r l (Berlin), N i e t z s c h e u n d O v e r b e c k . ( D L E 10. Jg., H . 18 v. 1 5 . 6 . 1908, Sp. 1 2 6 2 - 1 2 7 2 ) . Verfasser möchte eine Besprechung des ersten Bandes von Bernoulli (Nr. 696) liefern, hält sich aber zunächst länger bei einer Verteidigung und Würdigung des schwesterlichen Wirkens auf. Trotz der vielen Mängel, die ihre Schriften aufzeigen, habe sie doch getan, „was sie tun konnte, und sicherlich mehr, als 90 v. H. in ihrer Lage tun würden". Gerade von dem Bernoullischen Werk habe man sich „wertvolle Untersuchungen" über den Aufstieg Nietzsches als Denker erwartet. Das Werk werde auch „kein Nietzschefreund" ohne Nutzen aus der Hand legen, doch komme „für die Nietzsche-Forschung nur ein geringer Bruchteil dieser Stoffülle in Betracht". Man beginne sehr früh in dem Buch „eine parteiische Tendenz" zu wittern und komme schließlich zu dem Ergebnis, daß hier „eine greifbare Selbstbezichtigung einseitiger Tendenz" vorliege. Was Overbeck selbst zum Werk geliefert habe, sei alles überwuchert von „Brennesseln der Vergrämtheit, um nicht zu sagen der Eifersucht" : „Daß Nietzsche — wenn wir von dem Denker und Darsteller ganz absehen — ein Satiriker und Lyriker von ungewöhnlicher Feinheit war", wolle Overbeck nicht wahr haben. „Verletztes Selbstgefühl hat hier, freilich ziemlich ohnmächtige, Waffen gegen das Nietzsche-Archiv geschmiedet." Mit einem solchen W e r k beweise Bernoulli, daß er „das Beste von Nietzsche nie genossen" habe.
769
anonym, Zuschriften. (Ebd., Sp. 1325—1330).
Wendet sich gegen die Ausführungen Bernoullis (Nr. 696) und möchte hiermit die „Beweggründe" von Overbeck, dessen Witwe, Bernoulli, Diederichs und den „beiden Horneffers" in ihrem Kampf „gegen das Nietzsche-Archiv, deren Begründerin und dessen Leiter" erneut „kurz" zusammenfassen.
770
anonym, (LCB1 Nr. 25 v. 20. 6. 1908, Sp. 804 ff.).
Eine recht kühle Besprechung des Bernoullischen Werkes ersten Bandes (Nr. 696) : „Das Ganze erinnert sehr an die Zeugenaussagen in viel besprochenen Sensationsprozessen der Neuzeit und die Plaidoyers der Advokaten."
771 Geizer, Heinrich (Straßburg i. E.), Nochmals die um Nietzsche. (FZg Nr. 174 v. 24. 6. 1908). Ein Brief an die Redaktion zur Verteidigung des verstorbenen Dr. Koegel. Es wird darin ein Brief der Schwester an Koegel veröffentlicht, aus dem hervorgeht, daß sie ihn noch „neun Monate nach seinem Ausscheiden aus dem Archiv" weiterhin als Herausgeber der Werke sehen wollte.
771 a Auch in DLE 10. Jg., H. 20 v. 15. 7. 1908, Sp. 1475 f. Mit nur geringfügigen Änderungen. 772 (Förster-Nietzsche, Elisabeth), Mitteilungen aus dem NietzscheArchiv. R. Wagner. Weimar 1908. 1 Bl., 50 S.
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1908 „Im Grunde sind nur drei eigentliche Lieder vorhanden"
Erneute und zusammenfassende Abwehr der Angriffe von Frau Ida Overbeck, Bernoulli, Diederichs und den Gebrüdern Horneffer, „lauter durch das Archiv gekränkten Eitelkeiten", sowie erneute Darstellung „der Freundschaft mir Dr. Paul Rèe und Frau Lou Andreas-Salomé", unter Abdruck mehrerer bisher ungedruckten Briefe oder Briefentwürfe an die Schwester, Lou, Frau Overbeck, Georg und Paul Rèe und Malwida. 773 Schmitt, Saladin, Uber Nietzsches „Gedichte und Sprüche". (MLG 3. Jg., Nr. 4, 5. Sitzung am 13. 6. 1908, S. 95— 111). A n g e f ü g t ist die Diskussion des Referats, in der sich neben dem Verfasser Carl Enders, G. Litzmann, S. Simchowitz und Berthold Litzmann zum T h e m a äußern. Das „umstrittene Doppelgesicht Nietzsches" gewinne in der „zwiefachen Beleuchtung des höchst Kindlichen und des höchst Mittelbaren am einheitlichsten und schärfsten Profil". — „Er, der eigentlich Weiche, der eigentlich Hingebende, eigentlich Gesellige, er ward aus Zwang zum Anachoreten." Sein Dasein sei „zu sehr ,Produkt der Gewaltsamkeit'" gewesen und habe „von vornherein den Keim des Pathologischen in sich" getragen. Seine „eigenste künstlerische Domäne" sei zweifellos die Prosa gewesen, doch eine solche „mit Rhythmus und gebundenem Silbenfall, eine vom Vers geküßte Prosa". Hiermit leitet Verfasser zu einer Untersuchung mehrerer Gedichte und Sprüche über, um zu dem Schluß zu kommen, daß Nietzsche erst in den Dionysos-Dithyramben und der „Gruppe der ihnen vorhergehenden Gedichte" seine eigenste Form entdeckt habe, die Hymne: „Die Prädestination zur Hymne lag tief in Nietzsches Wesen und tief im Wesen seiner Prosa begründet." Von den letzten Gedichten aus führen die Fäden zu Goethe, Hölderlin und Byron. In der anschließenden Auseinandersetzung läßt sich der Vortragende zu der Äußerung bewegen: „Im Grunde sind nur drei eigentliche Lieder vorhanden, die man doch unbedingt als Dichtungen bezeichnen muß." 27 ' 774 Düringer, Reichsgerichtsrat Dr. (Leipzig), D e r Nietzschekultus. (BdG 5. Folge, 1. Bd., 1908, S. 2 3 8 — 2 4 2 ) . Trotz weniger anerkennenden Worte über Nietzsche — „Zweifellos war er ein reich veranlagter, geistig und ästhetisch überaus regsamer, genialer Geist. Zweifellos spricht aus vielen seiner Schriften, insbesondere aus seinen Briefen eine liebenswürdige, vornehme Persönlichkeit." — sieht Verfasser in ihm und den Nietzscheanern nur Unheilvolles. Er ruft den christlichen Geist des deutschen Volkes und „das deutsche Pfarrhaus" dagegen auf. In einer Schlußanmerkung zeigte der Herausgeber die beiden Nietzsche-Schriften von Düringer (Nr. 537 u. 621) an und ver276
Schmitt schrieb am 17. 5. 1908 an Ernst Bertram u. a.: „Ich weiß nicht, ob es recht von mir war, mich mit Nietzsche einzulassen; ich lese überall mein Werden heraus . . . Die Angst vor dem Endlichsokommen ist oft unerträglich." (Abgedruckt in: Stefan George. 1868—1968. Der Dichter u. s. Kreis. Ausstellungskat. d. Dt. Literaturarchivs i. SchillerNationalmuseum Marbach a. N. Nr. 19. Hg. v. Bernh. Zeller. 1968, S. 229); Schmitt, Saladin (Bingen 18. 9. 1883 — Bochum 14. 3. 1951), Dramaturg und Schaupieler, seit 1918 erster Spielleiter am Stadttheater Bochum; Litzmann, Benhold (Kiel 18.4. 1857 — München 14. 10. 1926), ordentlicher Professor f ü r deutsche Literaturgeschichte in Bonn; Litzmann, Grete, Frau des Vorigen, geb. H a r z b e r g am 3. 9. 1875 zu Breslau, Schriftstellerin.
1908 Der große Blender
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merkte dazu: „Beide Schriften sind vorzüglich geeignet, sich oder andere von der Nietzsche-Krankheit zu kurieren. Hier wird ein Gericht über den großen Blender gehalten . . ." 775 Kunad, Paul, Ü b e r Nietzsche. ( X 1908, S. 28 f.). 276a Bringt zwölf Sprüche zur Gestalt Nietzsche, von denen der letzte als Beispiel gelten mag: „Nicht der stärkste Dichterphilosoph der Neuzeit ist Nietzsche: doch der feinste, zarteste, leidenvollste!" 7 7 5 a Dass, in X A f. d. Jahr 1911. 1910, S. 107 f. Unverändert; dazu aber als Einschaltbild die Zeichnung Nietzsches von H a n s Olde. 776 Havenstein, Martin, Nietzsche und seine Schwester. Die Nichtigkeit der neuesten Angriffe auf das Nietzsche-Archiv. (Bb 3. Jg., Nr. 27 v. 2. 7. 1908, S. 7 9 7 - 8 0 6 ) . Es geht hier um die von Bernoulli veröffentlichten, sogenannten „Kögeischen Exzerpte": „Diese .Geheimstellen', die Dr. Fritz Kögel, als er am Nietzsche-Archiv als Herausgeber beschäftigt war, den Schreibheften und Notizbüchern Nietzsches entnommen haben soll . . Da Peter Gast behauptet hätte, diese Stellen seien nach den Angaben Koegels nicht in den Schriftstücken zu finden, habe Bernoulli „den Verdacht ausgesprochen, daß im Nietzsche-Archiv die Originale der bösesten Kögelschen Abschriften inzwischen vernichtet worden seien". Diese Möglichkeit zu prüfen, seien dem Verfasser alle die betreffenden Unterlagen „vom Archiv bereitwilligst auf eine Woche zur Verfügung gestellt worden". Das Ergebnis sei, daß es sich so verhalte, wie Peter Gast schon erklärt habe, nur drei der Angaben seien zutreffend, und die drei betreffenden Stellen seien von Bernoulli grob entstellt und mißdeutet worden. Von einer Vernichtung oder sonstigen Vertuschung seitens des Archivs könne keine Rede sein: „Ich meine, Frau Förster-N. hat bewiesen, daß ihr jedes Blättchen mit den Schriftzügen ihres Bruders heilig ist." 776/1
B., Fr., N i e t z s c h e in der Heilanstalt. ( L N N v. 2. 7. 1908,
S. 6 f.). Verfasser, der selber „in der Nervenklinik zu Jena in Behandlung" gewesen sei, bietet hier einen seltenen Einblick in das damalige Benehmen Nietzsches von der Warte des Mitinsassen aus. 7 7 6 / 1 a Auch in der F O Z g v. 4. 7. 1908. 7 7 6 / 1 b Auch in Nr. 9 5 / 1 a, S. 649 f., nämlich nach 7 7 6 / 1 a, mit einigen sehr w e n i g e n Abweichungen in der Zeichensetzung, sonst unverändert. 777 Lichtenberger, Henri (Prof. a. d. Sorbonne, Paris), Nietzsche in der Zukunft. ( M A Z g 111. Jg., Nr. 15 v. 11. 7. 1908, S. 299 f.). Verfasser gibt hier eine knappe Geschichte der Würdigung Nietzsches, vornehmlich anhand einer Schilderung der sich verändernden Gegnerschaft. Diese habe sich zunächst, „gegen das Ende der achtziger Jahre", aus Christen zusammengesetzt, „die sich gegen die Blasphemien des .Antichrist' empörten, aus Konservati2761
Kunad, Paul (Chemnitz 28. 1. 1864 — Berlin 15. 1. 1912), Lyriker.
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1908 Briefe an Peter Gast
v e n , d i e d u r c h N i e t z s c h e s I m m o r a l i s m u s v e r l e t z t w u r d e n ; aus D e m o k r a t e n , die g e g e n die a r i s t o k r a t i s c h e L e h r e v o m U b e r m e n s c h e n p r o t e s t i e r t e n ; a u s W a g n e r i a n e r n , die d u r c h die G e w a l t s a m k e i t des ,Falles W a g n e r ' in W u t g e r a t e n w a r e n ; aus A n h ä n g e r n d e r R e l i g i o n des Mitleides o d e r d e r m e n s c h l i c h e n S o l i d a r i t ä t , w e l c h e die H ä r t e des Z a r a t h u s t r a v e r d a m m t e n ; aus G e m ä ß i g t e n e n d l i c h u n d B e s o n n e n e n , die sich von dem extremen Radikalismus der Ideen Nietzsches abgestoßen fühlten". Allmählich h a b e die G e g n e r s c h a f t sich a b e r a n d e r e A n g r i f f f l ä c h e n g e s u c h t ; m a n h a b e ihn als D e n k e r z u m „ D i l e t t a n t e n " u n d „ R o m a n t i k e r " g e s t e m p e l t . D o c h schließlich sei die A n e r k e n n u n g seines a u ß e r o r d e n t l i c h e n W e r t e s „eine v o l l e n d e t e T a t s a c h e " gew o r d e n : „ E r ist e n d g ü l t i g in das P a n t h e o n d e r g r o ß e n M ä n n e r D e u t s c h l a n d s u n d des m o d e r n e n E u r o p a e i n g e t r e t e n . "
777 a
Auch in M Z g N r . 429, 1910. U n v e r ä n d e r t .
7 7 7 b U m etwa die H ä l f t e g e k ü r z t , auch in D L E 12. J a h r , H. 24 v. 15. 9. 1910, Sp. 1761 f.). 778 Eick, D r . H u g o , D e r Fall Nietzsche. ( Z g L K W 31. Jg., N r . 15 v. 19. 7. 1908). E i n e r e c h t a b s c h ä t z i g e B e s p r e c h u n g des W e r k e s v o n Schlaf ( N r . 657), „das ein M u s t e r p a t h o l o g i s c h e r I c h b e t o n u n g d a r s t e l l t " . — „ N i e t z s c h e k a n n nicht besser verb o r g e n bleiben u n d g e s c h ü t z t w e r d e n v o r p r o f a n e r P o p u l a r i s i e r u n g , als d u r c h d e r a r t i g e , W i d e r l e g u n g e n ' . " D i e e i g e n e E i n s t e l l u n g z u N i e t z s c h e v e r r ä t sich d e u t l i c h in f o l g e n d e n S ä t z e n : „ W e r n i c h t u n m i t t e l b a r v o r e i n e r e i n z i g e n Seite N i e t z s c h e s d e n s i c h e r e n E i n d r u c k g e w i n n t , hier v o r e i n e r E r s c h e i n u n g z u s t e h e n , die mit d e r W u c h t einer N a t u r g e w a l t s p r i c h t u n d ,mit Blut s c h r e i b t ' , d e r h a t j e d e n I n s t i n k t f ü r E c h t h e i t u n d G r ö ß e v e r l o r e n . " — „ D a ß in N i e t z s c h e sich alle L e i d e n s c h a f t e n in d e n D i e n s t eines n a c h i n n e n g e w a n d t e n G e i s t e s stellten, d a ß er d e n p r o m e t h e i s c h e n V e r s u c h v e r k ö r p e r t e , die S e e l e als G e i s t w i e d e r z u g e b ä r e n , d a ß er in seinen M e t h o d e n wie R e s u l t a t e n d e r g r ö ß t e P s y c h o l o g e w u r d e , d e r je g e l e b t h a t , — dies k a n n Schlaf w e d e r als R i e s e n e r s c h e i n u n g e r k e n n e n n o c h in s e i n e r G e s a m t h e i t a n e r k e n n e n . . ."
779 B(ulle), O ( s k a r ) , N o c h einmal: O v e r b e c k und Nietzsche. ( M A Z g Beil. N r . 25, 1908). Bespricht d e n z w e i t e n B a n d v o n B e r n o u l l i ( N r . 6 9 6 ) a n h a n d d e r A u s h ä n g e b o gen. D i e T a d l e r u n d S c h m ä h e r des W e r k e s v e r s c h w e i g e n absichtlich, „ d a ß s o w o h l O v e r b e c k wie B e r n o u l l i mit d e n S c h r i f t e n N i e t z s c h e s bis in die g e h e i m s t e n G e d a n ken hinein v e r t r a u t sich z e i g e n " . T r o t z e i n i g e r M ä n g e l biete B e r n o u l l i „ein N i e t z sche-Bild v o n p e r s ö n l i c h s t e m , l e b e n d i g s t e m C h a r a k t e r " u n d b r i n g e „ f ü r d a s V e r s t ä n d n i s N i e t z s c h e s , s o w o h l seiner P e r s ö n l i c h k e i t w i e s e i n e r S c h r i f t e n , so viel N e u e s u n d b e s o n d e r s so viel W e s e n t l i c h e s bei, . . . d a ß m a n es z u m m i n d e s t e n als eine n o t w e n d i g e E r g ä n z u n g z u j e n e r W e i m a r e r B i o g r a p h i e auf allen Seiten f r e u d i g begrüßen müßte".
AR Friedrich Nietzsches / Briefe an Peter Gast / H e r a u s g e g e b e n von Peter Gast / Erschienen im Insel Verlag, Leipzig / 1908. X X V S., 1 Bl., 540 S.
1908 Der Unromantische
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Im V o r w o r t (S. X V — X X V ) e r z ä h l t G a s t r e c h t a n s c h a u l i c h u n d a u s f ü h r l i c h ü b e r die ersten J a h r e s e i n e r B e k a n n t s c h a f t z u e r s t mit d e n S c h r i f t e n N i e t z s c h e s u n d d a n n mit diesem selber. D i e e r s t e n z w e i Z e i l e n des T i t e l s r o t g e d r u c k t .
ARa Dass. (2. Aufl.). Mit D o p p e l t i t e l b l a t t u n d leicht v e r ä n d e r t e m S a t z d a z u ; sonst u n v e r ä n d e r t . ( = F r i e d r i c h N i e t z s c h e s G e s a m m e l t e Briefe. V i e r t e r B a n d ) .
A R b Dass. (3. Aufl.). 1924. 404 S., 2 Bll. U n v e r ä n d e r t . 780 Berger, Karl, N i e t z s c h e und O v e r b e c k . ( D t W N r . 33 f., 1908, S. 515 ff., 532 ff.). Eine sehr a n e r k e n n e n d e B e s p r e c h u n g des e r s t e n B a n d e s v o n Bernoullis W e r k ( N r . 696), in d e m m e h r „ z u r E r k e n n t n i s des u n e n d l i c h v e r w i c k e l t e n N i e t z s c h e - P r o b l e m s " g e s c h e h e n sei, „als v o n i r g e n d e i n e m f r ü h e r e n D a r s t e l l e r " .
781 Jentsch, Carl, O v e r b e c k und Nietzsche. ( G r . Bd. 67, N r . 36, 19C8, S. 472 — 482). D e m b e h a n d e l t e n G e g e n s t a n d d u r c h a u s nicht a b g e n e i g t , w e n n a u c h v o m ausg e s p r o c h e n c h r i s t l i c h e n S t a n d p u n k t a u s u r t e i l e n d , b e s p r i c h t V e r f a s s e r d e n ersten B a n d des B e r n o u l l i s c h e n W e r k e s ( N r . 6 9 6 ) ; es sei „ein B e i t r a g z u r K e n n t n i s d e r bed e u t e n d e n u n d in d e r G e i s t e s g e s c h i c h t e des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s E p o c h e m a c h e n d e n P e r s ö n l i c h k e i t N i e t z s c h e , d e r , z u s a m m e n mit d e n h i n t e r l a s s e n e n W e r k e n des D i c h t e r p h i l o s o p h e n , ein a b s c h l i e ß e n d e s U r t e i l e r m ö g l i c h t " .
782 E c k e r t z , D r . Erich, N i e t z s c h e und Klinger. ( K Z g Mittagausg. v. 19. 8. 1908). A n g e r e g t d u r c h die N i e t z s c h e b ü s t e K l i n g e r s stellt V e r f a s s e r eine A r t - u n d S t a m m e s v e r w a n d t s c h a f t z w i s c h e n K ü n s t l e r u n d P h i l o s o p h e n fest. Sie g l e i c h e n sich in i h r e r „ U n i v e r s a l i t ä t " , in d e r „ M u s i k i h r e r K u n s t " , in d e m
psychologisch-kriti-
s c h e n „ U n t e r s t r o m u n t e r d e m m o n u m e n t a l - s c h ö p f e r i s c h e n " u n d letztlich: „Volle n d s a b e r s t e h e n N i e t z s c h e u n d K l i n g e r f ü r sich, w o sie, m ü d e d e r p r ü f e n d e n G ä n g e in d e n N i e d e r u n g e n d e r Seele, sich e r h e b e n in die H ö h e n d e r s c h ö p f e r i s c h e n K u n s t g r o ß e n Stiles." A n S t o f f l i c h e m sei i h n e n g e m e i n s a m d a s C h r i s t l i c h e , das G e r m a n i s c h e , das S ü d l i c h e u n d d a s A n t i k e . Beide stellen „die Ü b e r w i n d u n g des C h r i s t e n t u m s , die Ü b e r w i n d u n g des M e n s c h e n , eine v o l l k o m m e n e Z u k u n f t " d a r .
783 Wild, C a r l C o n r a d , Die W i e d e r g e b u r t d e r R o m a n t i k . Eine Antw o r t auf Friedric ι N i e t z s c h e den U n r o m a n t i s c h e n , mit einem A n h a n g : Ein politisch-philosophisches Flugblatt. Selbstvlg. d. V e r f s . St. Gallen 1908. 133 S. V e r f a s s e r legt e i n e r e c h t e i g e n w i l l i g e A u f f a s s u n g d e r „ R o m a n t i k " an d e n T a g : „ D i e e c h t e R o m a n t i k ist e i n e R o m a n t i k d e r N o t w e n d i g k e i t : d u r c h das K ö r p e r l i c h e b e d i n g t , d u r c h das G e i s t i g e v e r s c h ö n t . . . R o m a n t i k ist k u r z g e s a g t : d e r g u t e Geist d e r M e n s c h h e i t . " — „ D e r T o d f e i n d d e r R o m a n t i k ist d e r P e s s i m i s m u s , aus dessen Fesseln w i r uns b e f r e i e n m ü s s e n . " N i r g e n d s w i r d auf die „alte R o m a n t i k " n ä h e r eing e g a n g e n . Als e i n z i g e r a u ß e r N i e t z s c h e w i r d S c h o p e n h a u e r e i n i g e M a l e e r w ä h n t ; u n d in dessen B a n n d r i n g e „die t r a g i s c h e P h i l o s o p h i e N i e t z s c h e s u n h e i l s t i f t e n d in
342
1908
die Völker". Nietzsches „undankbare Aufgabe" sei „eine vorbereitende, eine befruchtende" gewesen; „er selbst ist um die Ernte betrogen w o r d e n " . Vielleicht am deutlichsten verrät sich die Auffassung des Verfassers in folgenden „Beispielen sozialer Aufgaben, die der Lösung . . . h a r r e n " : „die Statistik, die Arbeitsvermittlung, die Beratung und Verbeiständigung bei Rechtsfragen von allgemeiner oder besonderer N a t u r , die allgemeine Pflege von Kunst und Wissenschaft, die Vermehrung und Vertiefung freundschaftlicher Beziehungen, die Veredlung der Geselligkeit; das Kreditwesen f ü r Privatunternehmungen, überhaupt Hilfeleistung in materiellen und geistigen N ö t e n ; Entdeckung und Förderung von Talenten aller Art, höheren und niederen Grades u.s.w., u.s.w."
784 1908).
Ubell, Dr. Hermann, Nietzsches „Ecco homo". (WAp Nr. 244,
Das besprochene W e r k (AP) biete „einen w a h r h a f t tragischen Anblick" : „Von dem Superlativismus dieser Exzesse der Selbstbewunderung macht sich niemand eine Vorstellung . . . " Es arte gar „in eine wüste Schimpferei aus": „Und dies alles nur, weil sich der laut a u f b r a u s e n d e R u h m um ein, zwei J a h r e verspätete."
785 1908).
Hock, Stefan, Nietzsche und Overbeck. (NFPr Nr. 15834,
Eine recht ablehnende Besprechung des zweiten Bandes von Bernoulli (Nr. 696). Das W e r k habe nun einen U m f a n g erreicht von „insgesamt über 1000 Seiten . . . durch die E i n f ü g u n g einer w a h r h a f t monströsen Sammlung von Zeitungsausschnitten und Zitaten, die den ohnehin unsicheren G e d a n k e n g a n g des Buches jeden Augenblick seitenlang unterbrechen". D o c h das allerschlimmste sei „der T o n " , dessen sich Bernoulli in seiner Polemik gegen die Schwester bediene. Auch müsse aufs energischste gegen den völligen Mangel an E h r f u c h t vor dem genialen Philosophen protestiert werden, der stärker als alle Mißverständnisse und Unklarheiten Bernoullis Eignung z u m Interpreten Nietzsches in Frage stellt". — „Er will sich die Nietzscheschen Lehren zu einer Art Glückseligkeitsphilosophie zurechtzimmern und weiß seinen niedrig utilitaristischen Standpunkt in W o r t e zu kleiden, die seine beschränkte Auffassung, seine Ehrfurchtslosigkeit, seinen Stil zu deutlich verraten . . ,"277
786 Förster-Nietzsche, Elisabeth (Weimar), (DLE 10. Jg., H. 23 v. 1.9. 1908, Sp. 1683). Erwidert auf die E n t g e g n u n g Geizers (Nr. 771), indem sie behauptet, der an Koegel geschriebene und von Geizer veröffentlichte Brief „vor der Entdeckung, wie fehlerhaft" Koegel gearbeitet habe, geschrieben w o r d e n sei. S. a. Geizers Erwiderung (ebd., 11. Jahr, H . 1 v. 1. 10. 1908, Sp. 82), in der er auf die von ihm dargebotenen Angaben besteht.
787 Scharlitt, Bernhard, Nietzsches Salomé-Affâre. (DMo 2. Jg., H. 36 v. 4. 9. 1908, S. 1 1 6 7 - 1 1 7 0 ) . 277
H o c k , Stefan (Wien 9. 1. 1877 — London 19. 5. 1947), Dramaturg in Wien, 1938 nach England.
1908 „Offenbarungen des Verborgenen . . . , auch für die Predigt"
343
Stellt sich entschieden a u f die S e i t e der S c h w e s t e r g e g e n die D a r s t e l l u n g Bernoullis ( N r . 696) und v e r ö f f e n t l i c h t hierzu erstmalig zwei B r i e f e n t w ü r f e , einen an L o u (v. N o v . 1882) und einen an R è e (v. A u g . 1883), s o w i e einen Brief an M a l w i d a (v. A u g . 1883).
788 Hammer, Walter, Nietzsche im Hochgebirge. (DaBl 37. J g . , Nr. 34 v. 19. 9. 1908, S. 3 ff.). 277a V e r f a s s e r stellt einige Ä u ß e r u n g e n N i e t z s c h e s über d a s H o c h g e b i r g e z u s a m m e n , um d a r z u t u n , „ d a ß im L e b e n des großen D e n k e r s d a s H o c h g e b i r g e eine bed e u t e n d e Rolle gespielt und heilsame F o l g e n " g e h a b t habe. L e s e n s w e r t ist f o l g e n d e A n m e r k u n g der S c h r i f t l e i t u n g : „ W e n n wir . . . die B e d i n g u n g e n , die N i e t z s c h e f ü r die g e i s t i g e Produktivität als a u s s c h l a g g e b e n d betrachtet, p r ü f e n , s o w e r d e n wir find e n , daß ihnen kein O r t in d e m M a ß e entspricht wie der jenige, den er nicht besucht hat: D a v o s . "
In einem "Brief an einen „Steuerrat S. in K ö l n " verteidigt Carl Jatho die Hinzunehmung eines Gedichtes aus dem „Zarathustra" in seine Predigt im September 1908 mit folgenden Worten: „ D a s herrliche Gedicht am Schluß — es steht im Zarathustra — sollte den Gedankengang der Predigt rekapitulierend zusammenfassen. Aus allen Nächten und Mitternächten, in denen die Menschen einen oft tausendjährigen Schlaf schlafen, sind ihrer etliche immer wieder erwacht. Ihre T r ä u m e waren zu lebhaft; darüber wachten sie auf. N u n sehen sie beides: ihre T r ä u m e und die Wirklichkeit. Die Tiefen der Letzteren lassen sich aber nur durch die Kraft der ersteren ergründen. ,Die Welt ist tief — viel tiefer als der T a g gedacht.' U m nicht wieder in diese Abgründe der Nacht und des Weh's zu versinken, regen sie die Flügel der H o f f n u n g , oder — wie Nietzsche sich ausdrückt — der Freude an der Z u k u n f t . . . Nietzsche ist Profet, eine von den tiefen Naturen, und darum auch dem redlichen Freund im Anfang oft halb nur klar, halb verworren — . . . Ich werde keine Nietzsche-Predigten halten, wie ich auch keine Schiller- oder Goethe-Predigten halte. Aber daß ich mich von diesen und ähnlichen Offenbarungen des Verborgenen bereichern lasse, auch für die Predigt, halte ich für meine Pflicht." 278 In einem anderen Briefe, an eine „Frau R a t " , aus dem Dezember desselben Jahres heißt es: „Die Verachtung des T o d e s , dieses Leben- und Nichtsterbenwollen, dieser Glaube an die Größe und Macht des Lebens in einer Persönlichkeit, die solcher Größe würdig und solcher Macht fähig wäre — das ist es, was mich zu Nietzsche zieht. . . Ich darf übrigens niemanden über Nietzsche 2771
278
Hammer, Walter (eigentl. W. Hösterey, Elberfeld 24. 5. 1888 — Hamburg 9. 12. 1966), Verleger. C. J., Briefe. Hg. v. C. O. Jatho. Diederichs. Jena 1914, S. 178 f.
344
1908 „einer d e r b e d e u t e n d s t e n Menschen vom Ausgang des 19. J a h r h u n d e r t s "
b e l e h r e n . . . A u ß e r d e m Z a r a t h u s t r a k e n n e ich k e i n e i n z i g e s seiner g r ü n d l i c h . . . E s ist o f t r e c h t s c h w e r e S p e i s e u n d i c h s t e h e a u c h
Werke
zuweilen
r a t l o s v o r d e m a u f g e g e b e n e n R ä t s e l . A b e r i c h g l a u b e , d a s ist e s g e r a d e , u n s r e i z t . H i e r ist m a l e i n e r , d e m m a n n i c h t g l e i c h a u f d e n G r u n d s i e h t
was —
ein Tiefer."279 789
Hock,
Stefan,
Nietzsches
„Ecce
homo".
(NFPr
Nr.
15848,
1908). V e r f a s s e r s c h l i e ß t s e i n e B e s p r e c h u n g mit d e n W o r t e n : „ D a s S t u d i u m v o n , E c c e h o m o ' ist für j e d e n u n u m g ä n g l i c h , d e r d e n g r o ß e n G e i s t s e i n e s S c h ö p f e r s bis an d i e S c h w e l l e des W a h n s i n n s b e g l e i t e n will." D a v o r s c h w a n k t er z w i s c h e n F e s t s t e l l u n g e n w i e „ k r a n k h a f t e s S e l b s t b e w u ß t s e i n " , „ k r a n k h a f t e r H o c h m u t " , „ G r ö ß e n w a h n " , „beginnender Wahnsinn" und „geistiger Z u s a m m e n b r u c h " einerseits und solchen wie „unheimlicher Scharfblick", „bedeutsamer Kern", „Größe", „tiefe und feine Bemerk u n g e n " u n d „ h i n r e i ß e n d e B e r e d t s a m k e i t " a n d e r e r s e i t s , h i n u n d her. 790 (MZg
O e s t e r r e i c h , D r . phil. K o n s t a n t i n (Berlin), N e u e s v o n Montagsblatt.
Wissenschaftl.
Wochenbeil.
Nr.
38
f.
Nietzsche. v.
21.
u.
2 8 . 9. 1 9 0 8 , S. 2 9 7 f f . , 3 0 5 f f . ) . E i n e äußerst s a c h l i c h e D a r s t e l l u n g d e s V e r h ä l t n i s s e s z w i s c h e n S p i t t e i e r — W i d m a n n und N i e t z s c h e a n h a n d d e s s c h o n G e d r u c k t e n , bei d e r V e r f a s s e r sich auf die Seite d e r S c h w e s t e r u n d d e r e n D a r l e g u n g stellt. Er m e i n t , N i e t z s c h e „ w a r w i r k l i c h e i n e r d e r b e d e u t e n d s t e n M e n s c h e n v o m A u s g a n g d e s 19. J a h r h u n d e r t s " . D i e „ G e s a m t t e n d e n z " s e i n e r W e r k e sei, „ u n d z w a r in e i n e m s e h r a u f f a l l e n d e n M a ß e , v o n d e n f r ü h e s t e n S c h r i f t e n a n bis z u d e n l e t z t e n e i n e k o n s e q u e n t - e i n h e i t l i c h e " . 2 S " 791 Erstmalig
Conrad, Michael Georg (München), Das veröffentlichte
Briefe
Nietzsches
an
Overbeck-Geheimnis.
seine
Schwester.
(MAZg
111. J g . , N r . 2 6 u. 2 8 v. 2 6 . 9 . u. 10. 10. 1 9 0 8 , S . 5 5 3 f f . , 6 0 0 f f . ) . E r g r e i f t die Partei d e r S c h w e s t e r im S t r e i t mit B e r n o u l l i r e c h t h e f t i g . Z u n ä c h s t e r g e h t er sich in E r i n n e r u n g e n a n B e s u c h e im A r c h i v in d e n J a h r e n 1 8 9 6 bis 1 8 9 8 . 279
280
Ebd., S. 201 f.; ähnliches auf S. 203 f. (Febr. 1909), 205 (Aug. u. Sept. 1909), 210 ( M ä r z 1910), 211 (Sept. 1910), 213 (Mai 1911), 214 (Nov. 1911). Man lese auch die etwas später e r f o l g t e geistesgeschichtliche E i n o r d n u n g Nietzsches: „Im Z u s a m m e n h a n g mit der Lage der Ethik m u ß ich auch eines D e n k e r s g e d e n k e n , der, obwohl in seinem Philosophieren g a n z unsystematischer N a t u r , doch auf den Ausgang des neunzehnten J a h r h u n d e r t s eine u n g e h e u r e W i r k u n g g e ü b t hat. Es ist Friedrich Nietzsche gewesen. Er steht uns noch zu n a h e , als d a ß es bereits möglich wäre, seine Stellung in der Philosophie mit Sicherheit zu bestimmen, a b e r wenigstens zwei P u n k t e treten doch bereits deutlich hervor. Es ist erstens die U b e r w i n d u n g des Pessimismus, die sich in ihm, dem schmerzvoll Leidenden, vollzieht, die R ü c k g e w i n n u n g einer optimistischen Weltansicht, und zweitens sein K a m p f gegen eine allzu d e m o k r a t i s c h e A u f f a s s u n g des Geisteslebens, die ihm als ein entschiedenes V e r d i e n s t a n g e r e c h n e t w e r d e n müssen. U n d f e r n e r tritt in ihm wieder der G e d a n k e hervor, d a ß der Philosoph G e s e t z g e b e r aller Kultur sein solle . . . Aber auch Nietzsche z a h l t e seiner Zeit den T r i b u t . Es ist sein vergeblicher V e r s u c h , seine Wertphilosophie auf biologische G r u n d l a g e n zu stützen, d u r c h die er sich von dem einseitig naturwissenschaftlichen Geist seiner T a g e a b h ä n g i g erweist." (K. O . , Die deutsche Philosophie in der zweiten H ä l f t e des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s . M o h r . T ü b . 1910, S. 26 f.).
1908
345
D a n n , „da aus d e n T i r a d e n u n d W i d e r s p r ü c h e n u n d P a m p h l e t i s t e r e i e n des O v e r b e c k - M y s t a g o g e n C . A. Bernoulli nicht k l u g z u w e r d e n " sei, h a b e er sich w i e d e r n a c h W e i m a r b e g e b e n u n d selbst „die K o s t b a r k e i t e n d e r M a n u s k r i p t e u n d Briefe u n d B r i e f e n t w ü r f e N i e t z s c h e s " e i n e r P r ü f u n g u n t e r z o g e n : „ A b e r im h e r z e n s w a r m e n G o l d g l a n z dieser schlichten Briefe w i r d m a n w o h l lieber die e i g e n e Seele s o n n e n , als an die m y s t a g o g i s c h e n N e b e l u n d s ä u e r l i c h e n S c h w e f e l e i e n d e n k e n , mit den e n d e r Basler P a m p h l e t i s t die l a u t e r e L e b e n s l u f t um N i e t z s c h e u n d die Seinen zu v e r d ü s t e r n u n d v e r g i f t e n vergeblich sich m ü h t e . " A u s d e m b e v o r s t e h e n d e n Band d e r B r i e f e an die S c h w e s t e r (AY) liefert er d a n n stellen aus m e h r e r e n im V o r a b d r u c k . D a s „ G e h e i m n i s O v e r b e c k s " sei, d a ß er, „ u m sich an d e r S c h w e s t e r z u r ä c h e n " , sog a r den „ F r e u n d g e o p f e r t " u n d d e n „ P a k t mit d e m R a c h e e n g e l Bernoulli geschloss e n " h a b e . L e s e n s w e r t ist ein Brief, den O v e r b e c k an Bernoulli a m 4. J a n u a r 1905 in S a c h e n N i e t z s c h e s , d e r S c h w e s t e r u n d des A r c h i v s g e s c h r i e b e n h a t u n d dessen vollen W o r t l a u t C o n r a d hier v e r ö f f e n t l i c h t .
792 Lohan, Dr. Max, Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. ( H N 117. Jg., Nr. 687, Abendausg. v. 29. 9. 1908). Bespricht den z w e i t e n Band von Bernoulli (Nr. 6 9 6 ) , das „ein unerquickliches Buch" sei und den V e r s u c h bringe, „ N i e t z s c h e zu popularisieren, zu demokratisieren, zu utilitarisieren . . . z u m Philister, z u m Plebejer" herabzusetzen. Das W e r k biete z w a r „einiges biographische Material", sei aber „durch und durch unkünstlerisch: w e g e n seines Mangels an K o m p o s i t i o n , an D i s p o s i t i o n , an sorgsamer D u r c h arbeitung, an K o n s e q u e n z der G e d a n k e n : mit seinen W i e d e r h o l u n g e n , Abschweif u n g e n , in seiner Breitspurigkeit und Geschwätzigkeit".
793 Schlaf, Johannes, Bernoulli und der Fall Nietzsche. Ein Beitrag zur gegenwärtigen Nietzsche Krisis. Theod. Thomas. Lpz. (1908). 40 S. In einem knapp z w e i s e i t i g e n V o r w o r t wird das W e r k Bernoullis (Nr. 696) als eines, das „sogar für die endgültige Erledigung des N i e t z s c h e - P r o b l e m s und der augenblicklichen, sehr interessanten N i e t z s c h e - K r i s i s bis z u e i n e m gewissen Grade unentbehrlich" sei, gewürdigt. D o c h das eigentliche V o r h a b e n des Verfassers liegt in anderer Richtung, in einer äußerst scharfen und bisweilig bissigen Zurückweisung von Bernoullis E r w ä h n u n g seines „Fall N i e t z s c h e " ( N r . 6 5 7 ) in dem nämlichen W e r k . Auch die erneuten Ausfälle g e g e n N i e t z s c h e lassen an Deutlichkeit w e n i g zu w ü n s c h e n übrig.
794
Kunad, Paul, Hebbel und Nietzsche. ( X 1908, S. 228).
Fünf Sprüche, deren jeder ein Vergleich der beiden Gestalten enthält, z . B . : „Hebbel:
nackte
Menschenverachtung.
N i e t z s c h e : verschleierte
Menschenliebe.
H e b b e l : der Richter. — N i e t z s c h e : der Erlöserwille."
795 Wallaschek, Richard, Nietzsches Freundeskreis. (Zeit Nr. 2163 v. 1. 10. 1908). Bespricht den z w e i t e n Band des Bernoullischen W e r k e s ( N r . 6 9 6 ) , durch das N i e t z s c h e „uns . . . weit nähergerückt" sei, „als er es früher war". D a s Buch dient ihm dann als Anlaß, das Verhältnis zu R o h d e , d e m er als Student in T ü b i n g e n ein Semester lang b e g e g n e t war, näher zu beleuchten. N i e t z s c h e sei gerade das G e g e n -
346
1908 Immer noch neue Stimmen zum Basel-Weimar-Streit
teil zu Rohde wie auch zu Overbeck gewesen : „Der platzte immer mit allem heraus, was ihn bewegte, bis auf den letzten Tropfen gab er sein Inneres . . . Und das ist das Große an ihm, das Schöne, das Mustergültige, das Packende an seinen Schriften. Die innere Aufrichtigkeit seines Wesens, die bestrickt und fesselt, auch dort, wo sie etwas objektiv Unrichtiges sagt." 2 "
796 Conrad, Michael Georg, das Bernoulli-Buch. ( M N N Nr. 460 v. 2. 10. 1908). Eine kaum noch als Besprechung anzusehende Stellungnahme zum zweiten Band des Bernoullischen Werkes (Nr. 696): „Nie wurde im deutschen Schrifttum mit großen Problemen und Aufgaben im Namen der ,Freundschaft' ein wilderer Unfug getrieben, als in diesem auf der Suche nach .effektvollem Spaße' entstandenen Bernoulli-Buch."
797 S. 2 ff.).
(Wallaschek, Richard), Ecce homo. (Zeit Nr. 2166 v. 4. 10. 1908,
Es ist dem Verfasser ein „hinreißendes Buch". Obwohl man die Nähe der Katastrophe „in der atemlosen Hast, . . . in dieser fiebernden, sich überschlagenden, tollen Flucht" fühle, sei „der nahe Zusammenbruch . . . in der Kunst seiner Darstellung noch nicht fühlbar": „Die stolze und unbeirrbare Behauptung seiner welthistorischen Bedeutung steht einem Manne wie Nietzsche völlig an."
AS Friedrich Nietzsche / Ecce homo. (TRs Nr. 236 v. 7. 10. 1908, S. 943). Abdruck zweier Stellen aus dem Werk, S. 42—45 u. 116.
798 Scharlitt, Bernhard, Bernoullis Nietzsche-Pamphlet. (DMo 2. Jg., Nr. 42 v. 16. 10. 1908, S. 1 4 0 0 - 1 4 0 3 ) . Bespricht den zweiten Band des „von der Genossenschaft mit sehr beschränkter Haftung: Overbeck & Bernoulli zusammengekleisterten und herausgegebenen Machwerkes" (Nr. 696). Es sei „den Erzeugern . . . einzig und allein um einen beispiellos niedrigen Racheakt an der Schwester Nietzsches zu tun gewesen".
799
Hartlaub, G. F., „Ecce homo". (Tag 18. 10. 1908).
Gerade dieses Werk lege den Standpunkt nahe, daß „die ganze Philosophie Nietzsches als eine persönliche hygienische Maßnahme" aufzufassen sei: „Die beiden ersten Kapitel des Buches . . . sind eine praktische Hygiene des Übermenschen, d. h. des wohlgeratenen Gentilhomme." Doch liege in seinem „Mangel an Reaktionsvermögen", der auf „langsames, geringes Reagieren aus gewolltem Stolz und aus Vorsicht" zurückzuführen sei, „das Fehlen eines normalen Ausgleichs mit Menschen und Dingen begründet; die Gefahren der Vereinsamung bei einem so tosendlebhaften Innenleben und das furchtbar Gewollte, Forcierte der ganzen künstlerischen Existenz Nietzsches". Solch eher einschränkende und witzig-treffend sein wollende Äußerungen wechseln mit restlos anerkennenden ab: Seine Prosa biete einen „so hinreißenden Genuß, daß die Grenze zur Musik fast verwischt wird"; das
281
Wallaschek, Richard, geb. 1860 zu Brünn, Professor in Wien.
1908 Niko Kazantzakis
347
S c h l u ß g e d i c h t „ R u h m und Ewigkeit" klinge in eine „ruhige, verehrende Betracht u n g des N o t w e n d i g e n aus", w e l c h e „eine der göttlichsten, endgültigsten Visionen" sei, „die die Literatur kennt".
Der neugriechische Dichter Niko Kazantzakis verbrachte die Zeit vom Herbst 1907 bis Anfang 1909 in Paris und ist dort dem Werk Nietzsches zum ersten Male begegnet. Im Jahre 1908 schrieb er schon ein Werk „Nietzsche in der Rechtsphilosophie" und übersetzte in den Jahren 1910—1913 die „Geburt" und den „Zarathustra". Der Unmittelbarkeit, Tiefe und Dauer des Erlebnisses wegen verdienen seine Eindrücke hier auszugsweise wiedergegeben zu werden. In dem autobiographischen Werk „Rechenschaft vor El Greco" schrieb er viele Jahre später noch erschüttert und breit über die Begegnung: „Dieses war einer der entscheidendsten Augenblicke meines Lebens; hier in der Bibliothek von Sainte Geneviève, durch die Vermittlung einer unbekannten Studentin, lauerte mir mein Schicksal auf; hier erwartete mich feurig, blutig, der große Kämpfe, der Antichrist! . . . Ich hatte es nicht gewußt, ich erfuhr es jetzt erst, daß auch der Antichrist kämpft und leidet wie Christus und daß ihre Gesichter manchmal, in den Augenblicken ihres Schmerzes, sich gleichen . . . Ich bewunderte unwillkürlich seine Traurigkeit, seine Tapferkeit und seine Reinheit und die Blutstropfen, die seine Stirn besprengten, als trüge auch er — der Antichrist — einen Dornenkranz."282 Darauf besuchte er Nietzsche-Stätten in Deutschland, Italien und der Schweiz : „Im Dorf, wo du geboren wurdest, lief ich eines regnerischen Morgens .. . und suchte dich. Dann fand ich in der Nähe . . . das Haus deiner Mutter . . . Und dann die göttlichen Wege am Strande Genuas . . . Mit welcher Ergriffenheit suchte ich im Engadin im Licht der Frühlingssonne, zwischen Sils-Maria und Silvaplana, nach dem pyramidenartigen Fels, auf dem die Vision der ewigen Wiederkehr dir zuerst erschienen w a r ! . . . Und als ich in Sils-Maria ankam, während ich die kleine Brücke in der Nähe des ärmlichen Friedhofes überquerte, wandte ich mich erschauernd nach rechts, . . . so sah ich auf einmal meinen Schatten doppelt vor mir, und du schrittst an meiner Seite . . . Du hast erblickt, was der Mensch nicht erblikken darf, und bist geblendet worden; du hast getanzt, mehr als der Mensch aushalten kann, am Rande des Abgrundes und bist hinabgestürzt.. . Nie282
Bd. I: Kindheit und Jugend. F. A. Herbig. Bln.-Grunewald. (2. Aufl. 1964. Dt. v. Isadore Rosenthal-Kamarinea), S. 328 — 351; Kazantzakis, Niko (Heraklion auf Kreta 18. 2. 1883 — Freiburg i. Br. 26. 10. 1957), studierte Jura in Athen und Philosophie in Paris, von Mai 1917 bis Mitte 1918 in Österreich und der Schweiz, 1923 erneut in Naumburg und Weimar.
1908 „Gedankt sei dem G ö t t e r m ö r d e r Nietzsche."
348
mais, auch nicht, als ich n o c h K i n d w a r und die H e i l i g e n l e g e n d e n las, e r lebte ich die L e g e n d e eines H e i l i g e n mit s o l c h e r I n t e n s i t ä t ; kein Schrei e n t sprang jemals so erschütternd d e r Brust eines M e n s c h e n . . . M i t K r a f t f u t t e r hatte mich N i e t z s c h e in dem kritischsten, hungrigsten A u g e n b l i c k der J u gend g e n ä h r t ; ich wurde stark, paßte nicht m e h r in den heutigen M e n s c h e n und auch nicht in die G e s t a l t Christi u n s e r e r T a g e . . . D i e W u n d e n , die mir N i e t z s c h e schlug, w a r e n tiefe und heilige, und die mystischen
Kräuter
B e r g s o n s v e r m o c h t e n sie nicht zu h e i l e n ; einen A u g e n b l i c k lang milderten sie die S c h m e r z e n , d o c h bald sprangen die W u n d e n w i e d e r auf und bluteten. D e n n das, w o n a c h ich mich in m e i n e r J u g e n d s e h n t e , w a r nicht H e i lung, sondern das V e r w u n d e t s e i n . . . N i e t z s c h e hatte mich gelehrt, j e d e r optimistischen
Theorie
gegenüber
mißtrauisch
zu sein . . . W a s
ist das
S c h w i e r i g s t e , ich meine für d e n j e n i g e n M e n s c h e n P a s s e n d e , d e r nicht wimmert, nicht bittet, nicht bettelt? D i e s e s will ich. G e d a n k t sei dem G o t t m ö r der N i e t z s c h e . E r hat mir den M u t g e g e b e n , zu s a g e n : D a s will i c h ! " 2 * ' 800
H u n e k e r , J a m e s G i b b o n s , N i e t z s c h e s Abfall. ( S M W 6 6 . J g . , N r .
4 3 v. 2 1 . 10. 1 9 0 8 , S .
1325-1330).
O b w o h l die W i d e r s p r ü c h e in N i e t z s c h e s V e r h ä l t n i s z u W a g n e r s c h o n
durch
eine g e n a u e r e P r ü f u n g d e r „ G e b u r t " sich e r k l ä r e n lassen, sei es „ P a r s i f a l " und d e s sen „ H i n n e i g u n g n a c h R o m " g e w e s e n , „ w a s d e n f r ü h e r e n J ü n g e r " a b g e s t o ß e n h a b e , und seine „ P a r s i f a l - B e u r t e i l u n g " G r u n d einer Serie g e g e n w ä r t i g e r
sei „ g e s u n d " .
Die Freundschaft
Mißverständnisse"
geschlossen:
b e i d e r sei „Als
„auf
Nietzsche
e i n g e s e h e n , d a ß M u s i k u n d P h i l o s o p h i e n i c h t s m i t e i n a n d e r g e m e i n h a b e n , und d a bei die H o f f n u n g a u f die e r f ü l l e n d e K r a f t v o n W a g n e r s M u s i k z u s c h a n d e n g e w o r d e n w a r , b e g a n n sein G l a u b e n a c h z u l a s s e n . " 2 8 4
801
S t r e c k e r , K a r l , N e u e s von und ü b e r N i e t z s c h e . ( T R s N r . 2 4 9 ,
2 7 3 , 2 9 6 f. v. 2 2 . 10., 2 0 . 11., 17. u. 18. 12. 1 9 0 8 , S . 9 9 4 f., 1 0 9 0 f., 1 1 8 2 , 1 1 8 5 f.). B e s p r i c h t d e n z w e i t e n B e r n o u l l i b a n d ( N r . 6 9 6 ; „ n e u ist allenfalls die h ö c h s t naive A r t d e s H e r r n B e r n o u l l i , seinen d ü r f t i g e n S t o f f einseitig z u d r a p i e r e n " ) , „ E c c e h o m o " ( A P ; ein „ H o c h g e s a n g des G r ö ß e n w a h n s " , a u s d e m „viel G r ö ß e und viel W a h n k l i n g t " ) u n d die B r i e f e an G a s t ( A R ; „ein S p i e g e l r e i n e r H e r z e n s g ü t e
und
t r e u e r F r e u n d s c h a f t . . . h i e r s p r i c h t e r g l e i c h s a m in H a u s s c h u h e n ,
vier
Wänden, 283 284
zwischen
unverblümt und unbeschönigt über Ziele und A r b e i t e n . " ) T r o t z
dieses
Ebd. Über einen Aufenthalt im Archiv im September 1904 schrieb der amerikanische Kritiker H u n e k e r : „I also spent a charming afternoon with Frau Elizabeth Förster-Nietzsche, the devoted sister of the great, dead philosopher . . . His sister lives in a noble villa wherein are the Nietzsche archives . . . I found to my surprise my ,Chopin' und ,Mezzotints' and ,Overtones' on the table, upon which reposes a forest o f books dealing with the Nietzschean philosophy. Nothing published escapes the eagle eye of this remarkably intellectual and attractive woman. She is a wonder." ( T h e Letters o f J . G . H . Scribner. New Y o r k 1922, S. 33).
1908 „ d e m Blitz des Zeus e n t g e g e n "
349
H e r v o r k e h r e n s des b e h a u s s c h u h t e n N i e t z s c h e , fällt es Verfasser nicht schwer, abschließend ihn mit P r o m e t h e u s zu vergleichen: „Wie ein Krieger, der lachend, mit w e h e n d e m H a a r b u s c h und blitzendem S c h w e r t in den gewissen T o d geht, so schreitet Friedrich N i e t z s c h e das letzte J a h r z e h n t seines Schaffens hindurch dem Blitz des Zeus e n t g e g e n , der ihn wie seinen mythischen Bruder aus Tantalosgescl· lecht, samt dem Felsen in den T a r t a r o s hinabschmettern sollte." 802
S c h a r l i t t , D r . B e r n h a r d , N i e t z s c h e a n P e t e r G a s t . ( Z e i t 7. J g . ,
N r . 2 1 8 4 v. 2 2 . 10. 1 9 0 8 , S. 1 f f . ) . Eine durchaus z u s t i m m e n d e Besprechung der Briefe Nietzsches an Gast (AR). 803
E i s l e r , M . J o s e f , N i e t z s c h e s „ E c c e h o m o " . ( P L 55. J g . , N r . 2 5 4 ,
M o r g e n b l . v. 2 3 . 10. 1 9 0 9 , S. 1 f.). In dem W e r k verdecke das „üppige G e r a n k von Selbstverhimmelung das solide Gerüst von folgerichtigen G e d a n k e n und objektiv wertvollen Endergebnissen Nietzschescher Psychologie". Sein „Befreiungskrieg aller menschlichen Instinkte" sei „der wesentliche Wille d e r R o m a n t i k " gewesen. „ D e r dionysische Kult hat in Nietzsche nicht einen Priester g e f u n d e n , d e r G o t t selbst erstand in ihm und v e r k ü n dete sich in seiner s t a m m e l n d e n R e d e . "
804 Großmann, Stefan, Friedrich Nietzsches „Ecce homo". „Wie man wird — was man ist." (AZg 20. Jg., Nr. 292 v. 23. 10. 1908, S. 1 f., Morgenbl.). Eine a n e r k e n n e n d e B e s p r e c h u n g , da sie in dem W e r k nicht zuletzt eine Berichtigung der schwesterlichen D a r s t e l l u n g u n d der d e r sonstigen Erzeugnisse des Archivs sieht. „Diese Selbstbiographie ist eine g r o ß e Krankheitsgeschichte, die von einigen hellen G e n e s u n g s m o r g e n u n t e r b r o c h e n ist."
805 Achelis, Prof. Th., Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. (ZgLKW 31. Jg., Nr. 22 v. 25. 10. 1908). Bespricht den zweiten Band des Bernoullischen W e r k e s ( N r . 696), das „eine eingehende, allseitige O r i e n t i e r u n g ü b e r das N i e t z s c h e - P r o b l e m " ermögliche. R e zensent w e n d e t sich aber entschieden g e g e n Bernoullis „ U b e r z e u g u n g , d a ß von hier an eine neue, h o f f n u n g s v o l l e E p o c h e in d e r geistigen E n t w i c k l u n g d e r Menschheit anhebe". „ D e r Z a u b e r " , den er ausübe, „ b e r u h t z u m Teil auf dem überaus sympathisch e m p f u n d e n e n G e g e n s a t z , den N i e t z s c h e gegen die alles nivellierende N a t u r wissenschaft und g a n z besonders g e g e n die Soziologie darstellt".
806 fve., Nietzsche und sein Gast. ( H C Nr. 548, Morgenbl. v. 27. 10. 1908). Eine m e r k w ü r d i g w a r m e , sonst aber belanglose Besprechung d e r Briefe an Gast (AR).
807
(Widmann, J. V.), (B Sonntagsbl. Nr. 44, 1908, S. 349 ff.).
Besprechung von N i e t z s c h e s Briefen an Gast (AR): man k e n n e „das w u n d e r bare P h ä n o m e n N i e t z s c h e noch nicht g a n z , w e n n man diese Briefe an Peter Gast nicht gelesen hat".
350
1908 „die ragende Markicheide in der Dichtung dieses Geschlechtes"
808 Kummer, Friedrich, Deutsche Literaturgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts dargestellt nach Generationen. 1. — 3. Tsd. C. Reißner, Dresd. 1909. X V I , 720 S. Erschien schon im Oktober 1908. 284a Als Mitglied der „fünften Generation" wird Nietzsche zunächst als Philosoph behandelt, obwohl er „gar nicht so sehr Denker wie Künstler" gewesen sei. „Nietzsches Macht über die Gemüter der Jugend beruhte in erster Linie auf dem gewaltigen Eindruck, den er auf die Fantasie machte. Eine Art neuer Religion verkündete er, eine Zukunftslehre von berauschender Schönheit und Glut; Anregungen strömte er aus; seherhaft schaute er in die Zukunft; Möglichkeiten einer ungeahnten Lebensbejahung und Menschenerhöhung eröffnete er; der Schönheit und Kraft sang er berauschende Hymnen; ohne es zu wollen, zündete er der verbreitesten Eigenschaft des Menschengeschlechtes, der Eitelkeit, wohlriechende und glänzende Opferfeuer an." Als „Kulturkritiker" habe er sich gegen den „Sozialismus" und den „Patriotismus" gestellt; als „Moralhistoriker" habe er den „Willen zur Macht" als „Urtrieb im Menschen" gelehrt und sei darüber zum „Kulturpropheten" geworden. Seine „ungeheure" Wirkung liege aber vorerst in der „Gewalt der Sprache": „ S o hatte vor ihm von den Philosophen vielleicht nur Schelling das Wort zu handhaben gewußt, doch war Nietzsches Sprache tönereicher, schärfer, durchdringender . . . Mit einer Begeisterung ohnegleichen warf sich die Jugend dieser so bezwingend vorgetragenen Philosophie in die Arme. Zola, Ibsen, Dostojewski hatten im Verhältnis zu Nietzsche nur äußerlich g e w i r k t . . . Er war die ragende Markscheide in der Dichtung dieses Geschlechtes. Von Nietzsches Durchdringen an wird die Literatur anders. Nietzsche wird in der Philosophie künftiger Zeiten wohl kaum eine große Rolle spielen; aber in der Literatur und Kunst seiner Zeit wird seines Geistes Spur niemals vergehen . . ." Als „stärksten Gegensatz zu Nietzsches sprunghafter, schlecht begründeter, aber dichterisch kühn vorausgreifender Spekulation" empfindet Verfasser Wundts „nüchterne Erfahrungsphilosophie". In der dichterischen Bewegung seiner Zeit sei Nietzsche aber unangefochten „das führende Talent", zunächst was den „psychischen Impressionismus" betreffe; von 1890 an wandele sich „der äußere Impressionismus in einen inneren": „Von seinem Durchdringen, nicht von der Bewegung der Symbolisten in Frankreich, datiert die Wendung der jungen Generation vom Sinnfälligen zum Seelischen, vom Stofflichen zum Formalen, vom Realen zum Fantastischen, vom Demokratischen zum Aristokratischen." Neben Hauptmann sei er der „wichtigste Führer der fünften Generation", und zwar in Hinsicht auf die Lyrik; hier ist er der „stärkste Gegner des Naturalismus". „Das Traumstück, das symbolische Märchendrama, die Lust an prangender Farbe, die Vorliebe für die Renaissance, all das hängt mit Nietzsche zusammen; ganz unberührt bleibt kein Dichter dieser Generation von den Ideen oder den sprachlichen Formen des Künstlers Nietzsche . . . In Hinsicht auf die Dichtersprache ist Zarathustra der Quell, der die moderne Lyrik speist." — „Keiner seiner Zeitgenossen übertrifft ihn in der Leuchtkraft des naturphilosophischen Impressionismus, in der Kühnheit der Bilder, der Beweglichkeit und Musik der Sprache, der flimmernden
2841
Kummer, Friedrich (Dresden 30. 3. 1865 — ebd. 3. 4. 1939), Literaturwissenschaftler.
1908 Max Pulver
351
Farbigkeit und N e u h e i t der W o r t e . Maler, Musiker, Plastiker w a r er in seinen D i c h tungen." D e n n o c h sei er „als K ü n s t l e r p e r s ö n l i c h k e i t . . . mehr in den Einzelheiten als in G e s a m t s c h ö p f u n g e n erfolgreich g e w e s e n " , da sein Zarathustra „dichterisch keine lebendige Menschengestalt" abgebe, es fließe in ihr „kein Blut": „An die Lebenswirklichkeit und namentlich an das H a n d e l n Zarathustras und der übrigen g e schilderten Personen glaubt man nicht. D i e erzählenden T e i l e sind o f t mühsam zusammengesucht. D i e Sprache ist nicht selten hochtrabend, altertümelnd, schauspielernd. Einfachheit steht o f t neben D e k l a m a t i o n , Stil neben Manier." Verfasser unterstreicht auch die V e r w a n d t s c h a f t mit den Romantikern.
808 a
Dass. 4. —6. Tsd.
N e u ist nur, daß die drei in der ersten A u f l a g e auf S. 7 2 0 vermerkten D r u c k fehler berichtigt w o r d e n sind.
808 b Dass. Deutsche Literaturgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Nach Generationen dargestellt. 2 Bde. 13.—16. Aufl. 1922. XII, 488/ VIII, 555 S., 2 BU. ( = Vlgs.-anz.). W a s N i e t z s c h e betrifft, w e i t g e h e n d ergänzt, teilweise g e k ü r z t und leicht u m g e schrieben. D i e bei aller A n e r k e n n u n g deutliche Zurückhaltung der früheren A u f l a gen ist hier merklich g e w i c h e n . N e u ist u. a. die E r w ä h n u n g N i e t z s c h e s im Z u s a m menhang mit Alfred Kerr und D e h m e l .
808 c Dass. 1924. 17. —20. Aufl. Unverändert. Über die erste Studentenzeit im Jahre 1908 schrieb Max Pulver: „Gott war gestorben. So zischte es hämisch aus den gelehrten Reden der Bildungsphilister und ihrer Gegner, die breit und mit eitlen Orden geschmückt auf den Lehrstühlen saßen und nichts als den Widerhall ihrer fetten Stimme hörten, wenn sie ihre belanglosen Klugheiten über den sturen Studentenhaufen ausgossen. Ein Schweinefutter der Bildung. Gott war tot. So predigte Nietzsche aus der kranken Freiheit seiner Ohnmacht heraus; wie ein Süchtiger pries er sein Gift, seine Gabe für freie Geister, die mit kleinen Renten lange Ferien herausschinden lernten. Dieser Atheismus roch nach Schlafmitteln, ungelüftet; mit einem Geschmack von Bodensatz behaftet war diese Weisheit, sie ertrug den Brand der heißen Sonne nicht. Eine Freiheit, die sich zum Flitterkleid des Geistreichen flüchtet, weil sie die nackte Kraft der Wahrheit nicht aushält. Ein Muskelschwacher, der vom Ringen prahlt, ein Preisschwimmer, der vor der lebendigen Strömung des Bergflusses zurückschreckt. So waren wir denn allein, allein wenigstens unter den Lebenden und den Großen." 285 809
(Thiele, Ε. Α.), (X 1. Jg., Nr. 11 v. Nov. 1908, S. 325—330).
Eine recht vernichtende B e s p r e c h u n g des W e r k e s v o n Schlaf ( N r . 6 5 7 ) , der „den Seher v o n Sils-Maria und sein W e r k überhaupt nicht verstanden" habe. „Wer 285
VI. P., Erinnerungen an eine europäische Zeit. Orell Füßli. Zür. (1953), S. 19 f.; Pulver, Max (Bern 6. 12. 1889 — Zürich 13. 6. 1952), Schriftsteller.
352
1908 Der religiöseste „Mensch des X I X . Jahrhunderts"
je e i n m a l v e r s u c h t h a t in die P h i l o s o p h i e d e s , P i c c o l o S a n t o ' v o n T u r i n v o r u r t e i l s frei einzudringen, m u ß den gewaltigen Geist, der zur Liebe zur Menschheit e n t b r a n n t , h i e r g e w i r k t h a t , a n e r k e n n e n . " C h r i s t u s sei „ d e r e i n z i g e M e n s c h " , mit d e m er sich v e r g l e i c h e n lasse, j e n e r sei a b e r „an d e m W a h n e s e i n e r G o t t h e i t " z e r s c h e l l t , i n d e m N i e t z s c h e „ M e n s c h in h ö c h s t e r P o t e n z " g e b l i e b e n sei: „ E r h a t u n s b e f r e i t v o n d e n s t a r r e n B a n d e n e i n e r R e l i g i o n , die sich b e w u ß t in G e g e n s a t z z u r W i s s e n s c h a f t g e s e t z t h a t , die k e i n e n A n s p r u c h m e h r h a t , M e n s c h h e i t s r e l i g i o n z u h e i ß e n , d a sie a b g e l e b t ist. Alles w ü t i g e G e b e r d e n S c h l a f s , d a s C h r i s t e n t u m als allzeitig h i n z u s t e l len, ist e r f o l g l o s . . ." D u r c h N i e t z s c h e , „ d e n r e l i g i ö s e s t e n M e n s c h des X I X . J a h r h u n d e r t s " , sei „ein n e u e s M o m e n t . . . l e b e n d g e w o r d e n : D e r M e n s c h b e s e e l t v o n p r o m e t h e i s c h e m D r a n g e , s c h a f f t sich seine W e l t ; er ist s c h ö p f e r i s c h e r K ü n s t l e r g e w o r d e n . . . D i e s e B o t s c h a f t v o n d e r S e l b s t v e r a n t w o r t l i c h k e i t des M e n s c h e n ist d e r Kern und Stachel der Nietzscheschen Lehren."
810 Meyer, Richard M., Overbeck-Nietzsche. ( D R s 137. Bd., 35. Jg., N r . 2 v. Nov. 1908, S. 311 ff.). V e r f a s s e r m e i n t , e r k ö n n e seine f r ü h e r e M e i n u n g ( N r . 7 5 9 ) ü b e r das W e r k Bernoullis ( N r . 696) „ a n g e s i c h t s des z w e i t e n B a n d e s . . . n i c h t
aufrechterhalten":
„ D a s P r o b l e m O v e r b e c k ist es allein, w a s d i e s e m H a u f e n o b e r f l ä c h l i c h e r B e m e r kungen, unrichtiger Kombinationen, überflüssiger Exkurse dauernden W e r t
ver-
leiht . . . Im g a n z e n ist es z u m W e i n e n ; a b e r n i c h t um N i e t z s c h e s W i l l e n ! "
811 Bernoulli, Karl Albr., N a c h l a ß zu „ O v e r b e c k - N i e t z s c h e " . (FZg 4. 11. 1908). B r i n g t h i e r m i t e i n e n N a c h t r a g z u s e i n e m W e r k ( N r . 6 9 6 ) in d e r F o r m v o n S t e l len z w e i e r B r i e f e R o h d e s an O v e r b e c k (v. 27. 12. 1894 u. 15. 1. 1895) ü b e r das V e r hältnis z u r S c h w e s t e r . Z u m S c h l u ß b e s c h e i n i g t e r d e n E m p f a n g d e r „ p r i v a t i m ü b e r m i t t e l t e n " B r o s c h ü r e v o n Schlaf ( N r . 7 9 3 ) , z u d e r e n „ d r i n g l i c h e n E r w i d e r u n g " a b e r „kein G r u n d " v o r l i e g e .
812 Silex (Fynn, Miss Emily), Quelques Souvenirs sur Frédéric Nietzsche. (BURS Bd. 52, Nov. u. Dez. 1908, S. 340 — 353, 545 — 558). M i t i h r e r d a m a l s l e i d e n d e n M u t t e r w a r die V e r f a s s e r i n im S o m m e r 1884 in Sils N i e t z s c h e n ä h e r g e k o m m e n . Sie s c h i l d e r t d e n e r s t e n E i n d r u c k s o w i e s p ä t e r e B e g e g n u n g e n u n d b r i n g t d a z u teils l ä n g e r e B r u c h s t ü c k e aus s i e b e n B r i e f e n N i e t z s c h e s a n ihre M u t t e r aus d e r Z e i t S e p t . 1885 — D e z . 1888, leider alle in f r a n z ö s i s c h e r Ü b e r setzung.
813 Rohde, D r . Erwin u. J o h a n n e s Schlaf, C o n t r a „ O v e r b e c k - N i e t z sche". Zwei Entgegnungen. (FZg N r . 312, Morgenbl. v. 9. 1 1. 1908). E i n e E n t g e g n u n g auf die V e r ö f f e n t l i c h u n g v o n B e r n o u l l i ( N r . 811). D e r S o h n E r w i n R o h d e s e r k l ä r t h i e r m i t , d a ß die v o n i h m an B e r n o u l l i g e r i c h t e t e F o r d e r u n g , g r o b e E n t s t e l l u n g e n in d e s s e n D a r s t e l l u n g seines V a t e r s z u b e r i c h t i g e n , „ n u r in sehr u n v o l l k o m m e n e r u n d i r r e f ü h r e n d e r W e i s e " e r f ü l l t w o r d e n sei. S c h l a f
wiederholt
h a u p t s ä c h l i c h die „ D e u t l i c h k e i t e n " seines „ B e r n o u l l i u n d d e r Fall N i e t z s c h e " ( N r . 793), welche er damals „ H e r r n Bernoulli g e g e n ü b e r g e b r a u c h e n m u ß t e und durfte".
1908 „ d e r erste Moralist D e u t s c h l a n d s "
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814 Sera, Leo G., Auf den Spuren des Lebens. Studien über N a t u r und Gesellschaft. O e s t e r h e l d . Bln. (1908. Dt. v. Prof. Dr. Reinhold Schoener, Rom). Ü b e r N i e t z s c h e auf S. 150—179. D e m W e r k steht ein Geleitwort aus Nietzsche v o r a n : „Dies ist kein Buch: was liegt an B ü c h e r n ! / A n diesen Särgen und Leichentüchern!" Im V o r w o r t des Übersetzers wird der V e r f a s s e r als „ein ü b e r z e u g t e r , d a n k b a r e r , wenn auch nicht blindgläubiger J ü n g e r Nietzsches" den Deutschen „zum ersten Male" vorgestellt. In dem Abschnitt d a n n , der N i e t z s c h e z u m Gegenstand hat, behandelt Verfasser ihn als einen, dessen Geist „ S c h r a n k e n d u r c h b r a c h und G ö t z e n b i l d e r umstürzte, die vor ihm keiner auch nur ins W a n k e n g e b r a c h t hatte". Er sowohl wie auch Stendhal, mit dem V e r f a s s e r Nietzsche auch sonst des ö f t e r e n vergleicht (S. 123, 127, 128, 132, 135, 138, 140, 141, 146, 147, 148), seien „Abtrünnige des Intellektualismus", beide verherrlichen „die T a t " . N i e t z s c h e biete „den Fall eines langsamen G e s u n d u n g s p r o z e s ses dar, d u r c h den ein möglicherweise ererbter K r a n k h e i t s z u s t a n d sich immer mehr d e r H e i l u n g n ä h e r t e " , und seine schließliche E r k r a n k u n g widerlege „keineswegs die f o r t w ä h r e n d e Besserung seiner körperlichen Gesundheit", s o n d e r n lasse lediglich schließen, „daß sein N e r v e n s y s t e m überanstrengt w o r d e n ist". Die Reihe seiner W e r k e bilde „ n a h e z u eine ansteigende Linie", deren „wesentlichsten und K n o t e n p u n k t e " d u r c h „Menschliches", die „Fröhliche Wissenschaft" und die „Genealogie" bezeichnet w e r d e n . Er habe in ihnen, „namentlich im zweiten, seine bedeutsamsten und sicherlich z u r D a u e r bestimmten G e d a n k e n niedergelegt". Seine „schwächste Seite" sei das „Stillschweigen" ü b e r das Geschlechtliche. D e n n o c h bedeute seine „Philosophie . . . die strahlende M o r g e n r ö t e eines herrlichen T a g e s f ü r die deutsche Seele und den deutschen Geist". E r sei „der erste Moralist D e u t s c h l a n d s " und habe zu dem „ g r o ß e n W e r k e d e r V e r f e i n e r u n g und V e r v o l l k o m m n u n g " den Anstoß gegeben. V e r f a s s e r verweigert ihm d e n n o c h die Bezeichnung „Philosoph" und n e n n t ihn „noch bestimmter" einen „ M o r a l - P s y c h o l o g e n " . V o r ihm habe es n u r „MoralPrediger, - K a t e c h i s m u s l e h r e r und - P r o p a g a n d i s t e n " g e g e b e n ; d u r c h ihn „erhielten wir z u m ersten Male das f o r m u l i e r t e und geschriebene Gesetz derjenigen, die kein anderes Gesetz k e n n e n als das eigene W o h l , die eigene E n t f a l t u n g im G e g e n s a t z z u r H e r d e n n ü t z l i c h k e i t , die M o r a l d e r auf a n d e r e r Kosten lebenden aristokratischen W e s e n . . . " — „ . . . e r h a t d a s W i s s e n a r i s t o k r a t i s c h g e m a c h t . " Auch über „die Genialität" gebe seine Erscheinung wertvolle A u f k l ä r u n g : die N a t u r „des Genies" e r f a h r e bei ihm „ w e g e n des besonderen Gegenstandes seiner Arbeiten und des eminent selbstbeschauenden C h a r a k t e r s derselben eine b e s o n d e r e helle Beleuchtung". S. a. die m e h r beiläufigen E r w ä h n u n g e n Nietzsches auf S. 50, 86, 186.
8 1 4 / 1 W e n d r i n e r , Karl G e o r g (Berlin), Ecce homo. (BrZg N r . 796 v. 11.1 1. 1908). Bespricht das W e r k (AP) verhältnismäßig sachlich und betont dabei das Verhältnis zu W a g n e r : „ . . . W a g n e r ist d e r g r o ß e W o h l t ä t e r seines L e b e n s . . . Die W a g n e r i a n e r haben W a g n e r v e r d o r b e n . " — „ W e n n verblendete W a g n e r i a n e r noch immer in Nietzsches Schriften gegen W a g n e r schon Spuren des W a h n s i n n s erkennen wollen, so w e r d e n sie hoffentlich durch diese Bekenntnisse geheilt werden." Erst gegen Schluß schlägt die sonst verhaltene Begeisterung d u r c h : „ N o c h einmal
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hat er, gleichsam als schriebe er seine eigene Grabrede, die Ewigkeitswerte seiner Lehren geprüft. Sie haben die P r ü f u n g bestanden." 286
815 Schwartz, Alfred (Berlin), Nietzsches „Ecce homo". (BBC Nr. 539, 2. Beil. v. 15. 11. 1908). Findet das W e r k „das unerfreulichste . . . aus der Feder des großen Geistes", hauptsächlich da Nietzsche darin „im Zynismus der Selbstvergötterung . . . jeden Rekord" schlage.
816 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Ariadne und andere Torheiten. (Zeit Nr. 2210 v. 17. 11. 1908). Möchte die Behauptung Bernoullis, Nietzsche habe Cosima als Ariadne bezeichnet und „eine Leidenschaft für sie gehabt", dahin berichtigen, daß die nämliche Bezeichnung zuerst von H a n s von Bülow geprägt und in Gegenwart von Nietzsche schon Frühjahr 1872 gebraucht worden sei. Seitdem habe man „zuweilen" im „vertrautesten Kreis" Cosima so geheißen. Darauf wiederholt sie ihre Anschuldigungen Overbecks, er habe verschuldet, daß wichtige Handschriften Nietzsches verloren gegangen seien. Hierzu veröffentlicht sie Stellen aus mehreren Briefen Overbecks an Gast aus der Zeit vom 24. 2. 1893—22. 2. 1899.
817 Hegeler, Wilhelm, Nietzsche der Freund. (NFPr Nr. 15892 v. 17. 11. 1908). Bespricht den Band der Briefe an Gast (AR), „in denen das gehaltreichste Jahrzehnt" Nietzsches sich widerspiegle und er „dasjenige menschliche Problem löste, das neben dem der Ehe f ü r einen Mann das heiligste und tiefste ist: eines anderen Mannes Freund zu sein". Uber Wirkung und eigene Einstellung zu Nietzsche heißt es: „Die Wirkung der Nietzscheschen Philosophie glich zuerst einer Explosion, die sich um die Jahrhundertwende über ganz Europa verbreitete . . . heute, wo das Blut der ehedem so anämischen Zeit wirklich ein wenig röter und heißer dahinrollt durch den Stahl dieses Mannes, w o selbst die welche ihn bekämpfen, es tun mit W a f f e n , die er geschmiedet hat, wo er eingegangen ist unter die Großen und Ewigkeitswirker des Geistes: heute richtet sich nicht so sehr auf seine Philosophie als auf die dahinterstehende Persönlichkeit unser suchender und verehrender Blick."
818 Goldscheider, Dr. Ed., Nietzsches Selbstbiographie. (WAZg Nr. 9195 v. 18. 11. 1908, S. 2 f.). Eine Besprechung des „Ecce h o m o " (AP), die von der Uberzeugung ausgeht, man könne das Werk nur „annehmen oder ablehnen; ein Drittes gibt es nicht". Das erste bedeute, man begreife, Nietzsche „habe sich f ü r berechtigt halten dürfen, ein solches Buch zu schreiben", letzteres umfasse „sowohl die prinzipielle Ablehnung als auch jene vom Standpunkte des gesunden und des kranken Menschen". Verallgemeinernd heißt es d a n n : „Das Buch ist ein organischer, fast selbstverständlicher Abschluß. Es ist durchaus keine Überraschung."
819 Berndl, Ludwig, Das neue Nietzsche-Buch von Bernoulli. (PL Nr. 280 v. 22. 11. 1908, S. 20 f.). 286
Wendriner, Karl Georg, geb. am 25. 4. 1885 zu Landeshut/Schlesien.
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Im Gegensatz zu seiner früheren Besprechung des ersten Bandes (Nr. 738) hat der Rezensent jetzt sowohl an der Form wie am Inhalt einiges auszusetzen: „. . . für ein Märchen ist es zu vernünftig, für einen Roman zu beiehrsam, für eine Biographie zu fragmentarisch, für eine Abrechnung mit Nietzsche — zu früh." Daß Overbeck und Bernoulli sich zu der „Hauptlehre Nietzsches", nämlich der „Wiederkehr des Gleichen", ablehnend verhalten, sei der „schmerzlichste Mangel des Buches". Sie „entpuppen sich hier als würdige Kirchenväter der Dionysos-Religion, die — einstweilen auf einem privaten Konzilium — die Lehre .reinigen'". Entschieden zu loben an dem Buch sei, daß „es die legendenbildende Kraft des Nietzsche-Archivs paralysiert". 820 Fuhrmann, J., N e u e Nietzscheana. (NPJ 37. Jg., Nr. 282 v. 25. 11. 1908). Bespricht den zweiten Band von Bernoulli (Nr. 696), dem eine seltene „Fülle" und „Macht des Inhalts" eigene: „Wenn je ein Biograph dem Heros, den er behandelt, gewachsen war, so ist dies hier der Fall." Der Band Nietzschescher Briefe an Gast (AR) wird auch kurz besprochen. 821 Mensch, Dr. E(lla), Hüterin des Schatzes. (FRs 9. Jg., H. 12, 1908, S. 353 ff.). Fühlt sich durch die „stark gekünstelte Psychologie des Overbeck-Bernoullischen Buches" (Nr. 696) und dessen Angriff auf die Schwester gezwungen, diese in Schutz zu nehmen : „ . . . es dürfte schwer halten, . . . der Schwester irgend eine V e r s ü n d i g u n g an dem Lebenswerk ihres Bruders nachzuweisen — im Gegenteil!" 822 Heckel, Karl (Mannheim), „II mio maestro Pietro Gasti". Zum Briefwechsel zwischen Nietzsche und Peter Gast. (NBLZg Nr. 493, 1908). Eine sehr anerkennende Besprechung der Briefe an Gast (AR) : sie wirken „vermöge des großen Kampfes mit einem tragischen Schicksal, der sich in ihnen enthüllt, erhebend und entrücken den Leser aus der kleinen Alltäglichkeit in eine Atmosphäre goldenen und purpurnen Ernstes". Sonst betont Rezensent, unter Anführung der Äußerungen von C. Fuchs, H. Wolf und A. Seidl, das Verhältnis zu Gast als Musiker, dessen Verdienst es sei, daß die durch den Bruch mit Wagner entstandene „große Lücke im Herzen Nietzsches . . . nicht ganz unausgefüllt blieb". A T Zwei Briefe Friedrich Nietzsches an / Mutter und Schwester. (LA auf das Jahr 1909, S. 119—124). Vorabdruck von Briefen an die Mutter vom 20. 3. 1888 und an die Schwester vom 31.3. 1888, die nachher im zweiten Halbband der Briefe an Mutter und Schwester (AY, Nr. 485 f.; der an die Schwester um einen Satz ergänzt) veröffentlicht wurden. 823 Rischbieter, Wilhelm, Uber einen Ausspruch Friedrich Nietzsches. (DrA Sonntagsbeil. Nr. 49, 1908, S. 199). Verwendet die „etwas kühne Behauptung" Nietzsches, „die Deutschen besäßen nicht viel Kunstsinn", um das Urteil „von vielen g e b i l d e t e n Leuten" über Dichtung und Musik zu beanstanden. Zu Unrecht finde man Goethes „Hermann und
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Dorothea" und „"Wilhelm Meisters Lehrjahre" langweilig, schätze Schillers „Glocke", die „anfechtbar" sei, achte Beethoven über den „unvergleichlichen" M o zart, Gluck über Haydn und mißachte überhaupt die „kleinen poetischen Meisterwerke" Heyses und die Musik Felix Mendelssohns, eines „Meisters allerersten Ranee
ges .
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anonym, (LCB1 Nr. 50 v. 12. 12. 1908, Sp. 1621 ff.).
Bespricht den zweiten Band des Bernoullischen „Riesenwerks" (Nr. 696), mit dem dessen Verfasser „dem Andenken Overbecks einen schlechten Dienst" erweise: „Ein öffentliches Denkmal kann zum Pranger werden . . . Man kann eine Persönlichkeit nur verstehen, wenn man etwas ihr Kongeniales in sich hat, und das war bei Overbeck und Nietzsche nicht der Fall. Für das Kleine, Menschliche in ihm hatte er einen scharfen Blick, ja er war geneigt, dies in vergrößertem Maßstabe zu schauen." Gegen Schluß lehnt Rezensent auch Bernoullis Vergleich Nietzsches mit Goethe entschieden ab. Nietzsche sei ein „großer Sprachkünstler", Goethe „ein großer Stilist" gewesen. Die großen Stilisten lassen sich nicht nachäffen, die Sprachkünstler dagegen verführen „zur Nachahmung ihrer Kunststücke". „An dem Stil, der sich vielfach in unseren Zeitungen und in nicht wenigen Büchern breit macht, mit seinen Bildern, die nie geschaut, sondern mühsam am Schreibtisch ausgeklügelt sind, mit seinen gequälten und sehr überflüssigen Neubildungen und Wortspielen, den großen, tönenden Beiwörtern, der übermenschlichen Wichtigtuerei, selbst da wo es sich um einen Q u a r k handelt, an diesem grauenhaften Jargon, der die wahre Karikatur eines gesunden Stils ist und der an gewisse .stilvolle' Zimmereinrichtungen unserer Zeit erinnert, hat die blöde Nachahmung Nietzsches einen nicht geringen Anteil."
825 Grosse, W., Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. (WeZg Nr. 22328, 1. Morgen-Ausg. v. 20. 12. 1908). Bespricht den zweiten Band des Bernoullischen Werkes (Nr. 696), der „ebenso gründlich wie liebevoll" sei und „in jeder Hinsicht eine gute Orientierung" biete. Das Werk im ganzen zwinge „uns diejenige Relativität der Betrachtung auf, die uns nötigt, Nietzsche kritisch zu betrachten und uns davor bewahrt, uns ihm . . . hinzugeben wie einem Opiumrausch": „Wir verzichten gern auf den Ubermenschen, sind aber dankbar für die lebensbejahende, schicksalliebende T e n d e n z des menschlichen Daseins, und für den Hinweis auf die vitalen Instinktgefühle. Wir werfen nicht in blindem H a ß das ganze Christentum fort, sondern sind mit Overbeck geduldig abwartend, ob die Kultur kommt, die evtl. sein wird, das Christentum entbehrlich zu machen."
826 Lublinski, Samuel (Weimar), Nietzsche und die Humanität. (Zgt Nr. 51 v. 21. 12. 1908). Bespricht den zweiten Band von Bernoulli (Nr. 696), dem der Vorwurf nicht erspart bleiben könne, er lasse sich auf „Unbeträchtlichkeiten" ein, obwohl „manche Partien seines Buches beweisen, daß er die Fähigkeit besitzt, einem Nietzsche als Kritiker gegenüber zu stehen". Besonders „das gute W o r t von der .dionysischen Humanität' Nietzsches" und dessen Bezeichnung als „dionysischen Sokrates" findet Lublinski von Wert. Hiermit kennzeichne Bernoulli eine „Doppeltendenz" seiner
1908 „die religiöse, die dionysische Humanität"
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Seele: „Was Nietzsche wollte, war eben die Synthese von Aufklärung und Mystik, die Verschmelzung . . . des Apollinischen und Dionysischen . . . " Es dränge sich deswegen die Frage auf, „warum Nietzsche nicht mit Bewußtsein an Goethe und die klassische Zeit der deutschen Literatur und Kultur angeknüpft habe"? Er sei immer beides zugleich gewesen, „moralischer Mensch und Instinktmensch, und er empfand diese Gleichzeitigkeit wohl als Einheit, aber mehr noch als Gegensatz und Dualismus, und dieser besondere Gefühlston,unterschied ihn von der klassischen Zeit und bildete seinen eigentümlichen und weitaus wertvollsten Beitrag zu der Evolution der modernen Seele". Er und Schiller seien „heroische Idealisten, feindliche Brüder, und zwischen ihnen würde demnach die Synthese liegen: die dionysische Humanität". Einen weiteren Vergleich stellt Lublinski mit Luther an und streift die Möglichkeit eines mit Calvin. Nietzsche sei doch schließlich zu den „religiösen Naturen zu zählen": „Was Goethe schon ganz naiv empfand und unbewußt lebte, und was Schiller sogar bereits in der Theorie formulierte, das hat Nietzsche mit vollem Bewußtsein als das neue Prinzip mit gewaltiger Seelenkraft zum Ausdruck gebracht: die religiöse, die dionysische Humanität."
827 Drews, Prof. Dr. Arthur, Overbeck und Nietzsche. (DSS 2. Jg., Nr. 13 v. 29. 12. 1908, S. 97 f.). Eine recht sachlich gehaltene Würdigung des Werkes von Bernoulli (Nr. 696), dessen „genauere Kenntnis" bei „allen Mängeln, die wesentlich auf formalem Gebiete liegen", „unentbehrlich" sei, „um zu einer vollen Würdigung von Nietzsches Wesen und Lehre zu gelangen".
Anführenswert erscheint hier eine Stelle aus der Lebensbeschreibung von Richard Seewald, der über die Abiturientenzeit in München schreibt: „Der .Renaissancemensch' war damals in Mode, und unter den Themen, die bei Abiturientenexamen zur Wahl gestanden hatten, hatte ich ,Ich diene' gewählt, aber nur ein .Genügend' erhalten, weil ich die militärische Dienstpflicht, und daß ,das Weib allein durch Dienen zur Herrschaft gelange', vergessen hatte, dafür aber eine Auffassung vom rechten Sich-selber-Dienen vertreten, die mich in den Verdacht brachte, Nietzsche gelesen zu haben. Sein ,Zarathustra' spukte damals in allen Köpfen. Zum Renaissancemenschen' aber wurde man, ,wenn man nur tat, was später in die Biographie paßt'!"287 Uber Begegnungen mit Frau Förster-Nietzsche in Weimar in den Jahren 1908 — 1910 schrieb Helene Nostitz: „Auch die Schwester Nietzsches kam öfter abends (ins Keßlersche Haus) aus dem Nietzsche-Archiv, das auf einem Hügel oberhalb der Cranachstraße liegt, hinunter. Ihr im Alter noch kindliches Gesicht, von kleinen Locken umrahmt, war voller Bereitschaft, mitzufühlen und mitzusch-
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R. S., Der Mann von Gegenüber. Spiegelbild eines Lebens. List. Mchn. (1963), S. 202; Seewald, Richard, geb. am 4. 5. 1889 zu Arnswalde.
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wingen, soweit ihr Gefühl die Welt ihres Bruders dabei bejaht fand, die f ü r sie die Welt war und blieb, der sich alles unterordnen mußte. In diesem Fanatismus lag Größe und Einheit, die immer befruchtend auf das Gespräch wirkte." 28 ' Wie vertraut H u g o von Hofmannsthal mit den dortigen Verhältnissen war, geht aus einem Brief vom 25. 4. 1908 an eben dieselbe Helene von Nostitz hervor; in bezug auf „Frau Förster-Nietzsche" im besonderen heißt es: „Hier ist etwas Vorsicht am Platze. Ihr Haus ist schon eine Art von ressource, weil so vielerlei Fremde durchkommen. Aber sie serviert einem eben mit der gleichen Begeisterung a l l e s , was durchkommt, ob es ein Dichter ist oder ein insipider kleiner Fürst, ein Professor oder eine Graphologin. Sie ist eine sonderbar gemischte Person, die gute. Manchmal, besonders unter 4 Augen, wirkt sie sehr schön, manchmal ist sie von einer süßlichen, pastörlichen Kleinbürgerlichkeit und T a c t l o s i g k e i t daß man die Wände hinauflaufen möchte. Auch Kessler hat sich schon oft furchtbar über sie geärgert. Ich sage das alles, weil sie Ihnen sehr nachlaufen wird und das wird auch nicht Falschheit sein, sondern ganz echt gemeint aber es ist gut wenn man sich so einrichtet daß man es niemals notwendig hat, sich
di· s _t a n c i-e r e n . «289 Arnold Zweig, der 1907—1914 in Breslau, München, Berlin, Göttingen und Rostock studiert hatte, schilderte erst geraume Zeit später den Einfluß Nietzsches auf ihn und die Jugend der Vorkriegszeit: „Der Ausbruch des ersten Weltkrieges traf mich, wie die meisten meiner Generation, als Militaristen an. Als Schüler von Nietzsche-Schülern hielten wir den Krieg für einen unvermeidlichen Bestandteil unseres Gesellschaftsbaues und unserer aus der Tierreihe stammenden menschlichen N a -
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H . N., Aus dem alten Europa. Menschen und Städte. K. Woiff. Bln. 1933, S. 90; s.a. S. 94 f. (Eindruck vom Nietzsche-Archiv), 101 ff. („Und nun kam der Krieg. Es ist Herbst, im Nietzsche-Archiv oben auf dem Hügel wird ein Vortrag über Nietzsche gehalten. Friedlich liegt die thüringische Landschaft hinter den breiten Fenstern in der dämmernden Abendstunde. Davor steht ein feldgrauer Leutnant, den Arm in der Binde, und spricht vor diesem stillen Bild von Kampf und bitterer N o t . . . " ) ; Nostitz-Wallwitz, Helene von, geb. v. Beneckendorff u. v. Hindenburg (Berlin 18. 11. 1878 — Bassenheim b. Koblenz 17. 7. 1944), Schriftstellerin. H . v. H . / H . v. N . Briefwechsel. (Hg. v. Oswalt v. Nostitz. S. Fischer. Ffm. 1965), S. 60. A. Z. 1887—1968. W e r k u. Leben i. Dokumenten u. Bildern. M. unveröffentlichten Manuskripten u. Briefen a. d. Nachlaß. H g . v. Georg Wenzel. Aufbau-Vlg. Bln. u. Weimar (1978), S. 61; Zweig, Arnold ( G l o g a u / O d e r 10. 11. 1887 — Berlin 26. 11. 1968), Schriftsteller.
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„ S c h ö n s t e G e i s t i g k e i t E u r o p a s d a m a l s in G ö t t i n g e n , a b e r p o l i t i s c h laut e r E s e l , f a s t alle d u r c h N i e t z s c h e v o n d e m w e s e n t l i c h e n P o l d e s M e n s c h e n a b g e z o g e n , dem sozialen Gewissen.a2" V o n M a x Schelers „ D e r Genius des Krieges und der D e u t s c h e Krieg" a n g e r e g t , hatte er im K r i e g e a l l e r d i n g s g e m e i n t : „ D e r d e u t s c h e G e i s t . . ., ein E l e m e n t a r g e i s t ,
ein
musikalisch-politi-
s c h e s G r u n d w e s e n . S y n t h e s e aus d e m T r i e b z u w e i t w u r z e l i g e r E r k e n n t n i s u n d d e m T r i e b z u r g e s t a l t e n d e n H a n d l u n g , g r o ß l a u t g e w o r d e n in H e r d e r , F i c h t e , G ö r r e s , L a g a r d e , N i e t z s c h e , ist a u c h d i e s e r T a g e w i e d e r , b e s c h w o ren v o n der Größe des Augenblicks . . " m In e i n e m Brief a n F r e u d v o m 2 8 . April 1 9 3 4 e r ö f f n e t e er d i e s e m s e i n e n Plan, einen „ R o m a n v o n N i e t z s c h e s U m n a c h t u n g z u schreiben", der sogar Freud g e w i d m e t w e r d e n sollte, und schrieb erläuternd d a z u : „ S i e w i s s e n , d a ß ich seit d e r N a c h k r i e g s z e i t in bitterer A b l e h n u n g v o n d i e s e m G o t t m e i n e r J u g e n d w e g g e s e h e n habe." 2 9 3 A m 6. Juni d e s s e l b e n J a h r e s g e s t a n d er d e m s e l b e n , d e r ihn v o n s e i n e m V o r h a b e n abzubringen versucht hatte: „ E i n e J u g e n d l i e b e ist mir d i e s e r F. N . g e w e s e n , b e w u n d e r t als P r o s a i s t e i n s c h l i e ß l i c h a u c h als D e n k e r , a b e r n i e w e i t e r als bis z u m Z a r a t h u s t r a . D i e s p ä t e r e n W e r k e m a c h t e n mir i m m e r m e h r W i d e r s p r u c h rege." 2 ' 4 2,1 292
2,5 2,4
Ebd., S. 20. Ebd., S. 66. Sonstige Erwähnungen auf S. 135, 198, 255 (eine bemerkenswerte Stelle: „Wenn nun ein Gebilde wie die Sowjet-Union von über 170 Millionen Menschen durchdrungen werden soll von den formenden Kräften, die Machtpolitik in Gesellschaftspolitik umzuwandeln, so muß man einem solchen Gebilde, wie es schon Nietzsche getan hat, längste Zeiträume zubilligen.'), 265 („Niemand wäre untauglicher zum Hervorbringen von epischen Kunstwerken gewesen als beispielsweise Nietzsche mit dem Wahn seines Einzigseins."), 523 u. 532 (Stellen aus einem 1909 erschienenen Aufsatz). S. F./A. Z. Briefwechsel. Hg. v. Ernst L. Freud. S. Fischer ( 4 . - 5 . Tsd. Ffm. 1968), S. 85. Ebd., S. 91. S. a. S. 29 f. (Brief v. 16. 9. 1930, Vergleich Freuds mit Nietzsche und eine recht kühle Anerkennung des Werkes von Stefan Zweig „Der Kampf mit dem Dämon"), 35 f. (v. 2. 12. 1930, ausführlich zum Thema Freud—Nietzsche), 37 (v. Freud, 7. 12. 1930: „Den [Aufsatz] über das Verhältnis von Nietzsche's Wirkung zu meiner sollten Sie doch schreiben, ich brauche ihn ja nicht zu lesen."), 44 f. (v. 8. 1. 1932, Zweig erwähnt sein Vorhaben beiläufig), 45, 63, 87 ff. (v. Freud, 11. u. 12. 5. 1934, ausführliche Stellungnahme zum Vorhaben), 90 ff. (Anerbieten Freuds v. 22. 5., sich bei Lou um ihre Mithilfe anzufragen, und v. Zweig, 6. 6. 1934, ausfuhrlich zum Vorhaben), 94 f. (v. 8. 7., noch mal Einzelheiten zum Aufbau des Romans), 96 (v. Freud, 15. 7., weitere Bedenken), 99 (v. 12. 8., weitere Einzelheiten zur Ausführung), 120 (v. Freud, 30.9., betont seinen „fortgesetzten Einspruch gegen Ihren Nietzsche-Plan"), 135 f. (v. 16. 4. 1936, über seinen Aufsatz „Apollon bewältigt Dionysos"), 148 (v. 21. 3. 1937, Vergleich Nietzsches mit Shakespeare hinsichtlich ihres „Aristokratismus"), 155 (v. 3.7. 1937, Beschreibung der völligen „Neuaufstellung meiner Bücher . . . , und jetzt stehen auf der obersten Reihe des Bücherbordes Ihre elf Bände . . . neben dreißig Goethe-Bänden und einer kleinen Nietzsche-Ausgabe auf Holzpapier."). Freud fragte bei Lou am 16. 5. 1934 an: „Ein lieber Freund, Arnold Zweig, der Verf. des Grischa, will einen Nitzsche erraten und darstellen. Er weiß, daß Sie eine unersetzliche Ratgeberin sein würden, aber werden Sie wollen. Und ich rate ihm überhaupt
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1909 „der konfuse Heilige von Sils Maria"
828 Bleibtreu, Carl, D i e Vielzuvielen. Roman. 4. Aufl. G. Müller. Mchn., Lpz. 1909. 436 S. D i e Erstauflage erschien im gleichen Jahre. Gegen den Hintergrund des Kaiserreiches nach der Jahrhundertwende in Berlin spielen sich die unterschiedlichen Schicksale zweier „Herrenmenschen" ab: das des „Finanzkünstlers Maserow", der durch Selbstmord endet, und das des Arthur Wieber, der als junger Mensch politischer Schriften wegen fliehen mußte, nach zwanzig Jahren wiederkehrt und sich als Edgar Freiherr von Lundau ausgibt, Reichtagsabgeordneter und Fraktionsführer wird, um kurz vor seiner Ernennung zum Kolonialminister entlarvt zu werden. Den Gegensatz zwischen „Herrenmenschen" und den „Vielzuvielen" spricht Wieber deutlich aus: „Der Eine begeht einen Raubmord, der andere raubt Lander. W o wären denn alle großen Tatmenschen geblieben, wenn sie ein Gewissen gehabt hätten, im Sinne der Vielzuvielen? Und mag auch Nietzsches Ubermensch ein Phantom und seine Anpreisung der blonden Bestie ein brutaler Spaß sein, echt und wahr und gerecht ist seine innerste Leidenschaft, die Spiralfeder all seines Dichtens und Trachtens: sein H a ß wider die Vielzuvielen." (S. 51) Etwas später beschreibt er letztere näher: „Der Vielzuviele ist der Banale, Triviale, Mittelmäßige, Philister, und wird er Bildungsphilister, dann ist er am fürchterlichsten." (S. 94) Diese Beschreibung paßt dann auch auf die meisten Gestalten im Roman, so vornehmlich auf den Tonsetzer Anton, Chefredakteur Meyer, Prof. Dr. Bengély, Chefredakteur Kümmelke und vor allem auf den „Ästhetikpfarrer" Quietsche. Die sonstigen Gesellschaftsschichten werden überhaupt nicht berührt. Eine leise Berichtigung der Nietzscheschen Auffassung, wie diese im Roman dargeboten wird, merkt man gegen Schluß in den Worten des alten von Lundau: „Dies Gesindel hat der konfuse Heilige von Sils Maria förmlich großgezüchtet, ihm einen Nimbus vor sich selber fabriziert, ohne daß er's wollte. Aber die wahren H e r renmenschen brauchen sich nicht durch Zarathustramoral belehren zu lassen." (S. 410) Ausdrückliche Erwähnung Nietzsches findet sich sonst auf S. 7, 14, 38, 50 f.,
davon ab." (S. F. L. A.-S. Briefwechsel. Hg. v. Ernst Pfeiffer. S.Fischer. [Ffm. 1966], S. 220); sie antwortete am 20. 5.: „Das ist für mich eine g a n z u n d g a r u n d e n k b a r e Beteiligung, und wäre es die allergeringste, loseste! Das ist für mich nicht zu berühren, voll Schrecken wehre ich es ab. Bitte sagen Sie es dem Betreffenden mit den stärksten Ausdrükken und für immer." (Ebd., S. 221). Bedeutend mitteilsamer scheint sie noch zur Zeit des Weltkriegs gewesen zu sein. Im Sommer 1916 begegnete ihr Kurt Wolff — „mit dem Namen . . . verband ich damals keine genauen Vorstellungen" — in Leipzig. Sie war auf Verlegersuche, und, obwohl ihr Treffen mit Wolff durch Rilke vermittelt worden war, hörte Wolff zunächst nur „mit berufsmäßiger Höflichkeit" zu, bis sie den Namen Nietzsche fallen ließ: „Jetzt wurde ich rasch sehr wach — . . . " — „Was folgte, war nicht eigentlich ein Gespräch. Eine ältere . . . Frau berichtete einem jüngeren Besucher . . . von geistigen und menschlichen Begegnungen. Das geschah in einer Atmosphäre vertrauensvoller Wärme, in der auch Mitteilungen persönlicher, ja fast intimer Art nie die natürliche Distanz aufhoben . . . alles wird sinnlichste, anschaulichste Gegenwart, Wirklichkeit. . . Von Freud und Rilke sprach sie kaum. Das war wohl durch die Scheu begründet, von Lebenden zu sprechen. Sie erzählte von ihrem Elternhaus. . . , von ihrem Vater, . . . von den großen Brüdern, . . . von den Wanderjahren . . . Und immer wieder von Nietzsche." (K. W., Lou Andreas-Salomé. Ein Porträt aus Erinnerungen u. Dokumenten. In: Gehön-gelesen. Die interessantesten Sendungen d. Bayr. Rundfunks. Nr. 10 v. Okt. 1963, S. 1180— 1190).
1909 „ein narzißhaftes Sich-Selbst-Bespiegeln"
361
6 4 , 89, 167, 231, 355, 423, 425; auch strotzt das Buch vom Nietzscheschen W o r t schatz. AU
F ö r s t e r - N i e t z s c h e , E l i s a b e t h , Friedrich N i e t z s c h e : U n g e d r u c k t e
B r i e f e . ( S D M h 6. Jg., N r . 1 v. Jan. 1 9 0 9 , S. 4 0 — 5 8 ) . Veröffentlicht vierzehn Briefe an die M u t t e r , sie selber und ihren G a t t e n aus d e r Zeit vom D e z e m b e r 1885 bis z u m 29. Juni 1886. D e m Brief vom 12. 3. 1886 fehlen die zwei Schlußsätze der Buchausgabe (AY), dem vom 1 1.5. 1886 fehlt der letzte Satz; der vom 2 1 . 6 . 1886 an die M u t t e r fehlt dagegen in der Buchausgabe ganz. 8 2 9 v. B., N i e t z s c h e s E p i l o g . ( N R H . 1, 1 9 0 9 , S. 4 6 ff.). Eine recht grobe Abfertigung des „Ecce h o m o " (AP) und dessen Verfasser aus vaterländisch-christlicher Sicht: „Die verrenkte Pose eines, der um jeden Preis groß sein w i l l , ein narzißhaftes Sich-Selbst-Bespiegeln, das aus jeder Nichtigkeit einen ,Beweis' seiner G r ö ß e saugt, mit snobigen Hinweisen auf sein legendäres polnisches Edelblut und des Vaters Prinzenerzieherei, ein H e r a u s s c h r e i e n von Imperativen, ein D r a u f - L o s - B e h a u p t e n , möglichst s c h r o f f , damit der Leser ja nicht auf das Gegenteil schließt, ein unablässiges feierliches Selbstzitieren, ein .Beweisen' d u r c h M e t a p h e r n , Wortspielereien und A u f - d e n - K o p f - S t e l l e n landläufiger R e d e n s a r t e n , ein V e r z e r ren der an sich logischen P r o b l e m e , u n d das alles v o r g e t r a g e n mit d e m k e u c h e n d e n s t a c c a t o eines Atemlosen, T o d m a t t e n — das ist ,Ecce h o m o ' ! " AV
Friedrich N i e t z s c h e : N a c h n e u e n M e e r e n / V e r e i n s a m t . In: D i c h -
t e r g r ü ß e . N e u e r e d e u t s c h e Lyrik a u s g e w . v. Elise P o l k o . C . F. A m e l a n d . Lpz. 1 9 0 9 ( 3 0 1 . — 3 1 2 . T s d . bearb. v. Julius R. H a a r h a u s ) , S. 2 9 , 2 0 5 f. D i e 15. A u f l a g e ( 1 8 9 6 ) e n t h i e l t n o c h n i c h t s v o n N i e t z s c h e . AVa
D a s s . 3 2 3 . - 3 2 7 . T s d . ( u m 1 9 1 8 ) , S. 3 1 , 188 f., s o n s t u n v e r ä n -
dert. 830
A n d l e r , C h . , o . P r o f . a. d. S o r b o n n e in Paris, N i e t z s c h e
und
O v e r b e c k . (Prn 6. Jg., N r . 15 f. v. 13. u. 2 0 . 1. 1 9 0 9 , S. 2 2 5 f f . , 2 4 2 ff.). Das Buch Bernoullis ( N r . 696) ist ihm „das bedeutendste Ereignis der N i e t z sche-Forschung seit vielen J a h r e n " , w e n n auch „das umstrittenste". Im g a n z e n versucht Verfasser Vermittlerdienste zwischen Basel u n d W e i m a r zu leisten, indem er das Bernoullische W e r k lobt, o h n e das V e r d i e n s t der Schwester wesentlich zu schmälern. D e r eigene S t a n d p u n k t v e r r ä t sich vielleicht am deutlichsten in folgenden Sätzen : „Das eben bedeutet Philologie, d a ß es ,königliche Bücher' gibt, an denen keine Sorgfalt der Exegetik zwecklos verschwendet wird. D a s eben bedeutet Historie und speziell Geschichte d e r Philosophie, d a ß es g r o ß e Persönlichkeiten gibt, die zu e r g r ü n d e n es sich jederzeit l o h n t . . . W i r glauben, Nietzsche g e h ö r t zu diesen Persönlichkeiten, und seine Bücher zu diesen .königlichen Büchern'." — „Das jetzige und das k o m m e n d e Zeitalter stehen u n t e r d e m Zeichen Nietzsches." Z u m besonderen Verdienste Bernoullis r e c h n e t er zweierlei: „vor allem seine N e u konstruierung des Systems Nietzsches" — „die V i e r g l i e d e r u n g der W e r k e " — und daß „der Begriff, den wir uns von Nietzsches C h a r a k t e r zu m a c h e n haben, sein Lebensbild . . . ein anderes, lebendigeres, dramatischeres g e w o r d e n " sei. „Bernoullis
362 1909 Die „Umwertung der landläufig vornehm tuenden Nietzsche Interpretation" Buch ist das erste, das uns jene heftigen inneren D r a m e n , jenen häufigen Rollenwechsel in Nietzsches Seele eingehend schildert." U m Bernoullis H e r v o r k e h r u n g der „sozialen Bedeutung des nietzscheanischen G e d a n k e n g a n g s " zu schützen, f ü h r t er an, „daß die sozialen und verfassungspolitischen Fragen der G e g e n w a r t im Sinne demokratischer und sozialer R e f o r m e n gelöst sein müssen, ehe Nietzsche an sein eigentliches W e r k gehen kann. N u r von diesem extrem-demokratisch-sozialen Ausgangspunkte aus kann man zu Nietzsche gelangen, nicht vom Ausgangspunkt des heutigen Klassengefühls der herrschenden Stände." — „Dies ist bei Bernoulli mit ansteckender Gefühlswärme klargelegt, und das Verdienst, diese U m w e r t u n g der landläufig vornehm tuenden Nietzsche-Interpretation vollzogen zu haben, darf ihm nicht geschmälert werden." 2 ' 5
831 Hammacher, Dr. phil. et jur. Emil, Marx und Nietzsche. (KZg Nr. 58, Beil. z. Sonntags-Ausg. v. 17. 1. 1909). Eine verkürzte Fassung der am 13. 1. 1909 gehaltenen „akademischen Antrittsrede". D e r Redner stellt einleitend fest, daß M a r x von Hegel und Nietzsche von Schopenhauer ausgehen und d a ß diese beiden „einen gemeinsamen G r u n d z u g " aufweisen: „Beide stehen in der metaphysischen Reaktion auf Kant, indem sie seinen Primat der praktischen V e r n u n f t zu einem neuen dogmatischen Systeme, zu einer Metaphysik des Willens fortsetzen." Folgende Vergleichsflächen stellt er dann zwischen Marx und Nietzsche fest: beide leugnen „die systematische W a h r h e i t z u g u n sten einer bloß genetischen Analyse"; jeder „sieht in seinem Optimismus durch das bloße Sein . . . das teleologisch Gültige gesichert" ; beide wollen „der Gegenwart . . . etwas wie eine neue Religion, die nicht im Jenseits, sondern im Diesseits einen Endsinn unseres Apparates von Mitteln festlegte", geben. — „Sie wurzeln beide in der R o m a n t i k . . . " Die „wesentlichen Unterschiede" stammen „aus der verschiedenen Wertbeurteilung des Demokratischen und Aristokratischen". Verfasser lehnt bei Nietzsche „das reaktionäre Ideal der persönlichen Klassenherrschaft" ab und billigt „den G e d a n k e n der R a n g o r d n u n g , der persönlichen Moral", bei Marx verwirft er „das Gleichheitspostulat" und erkennt den „Blick f ü r die Bedeutung der sozialen Frage an". So k o m m e eine „Versöhnung" beider zustande.
832 Conrad, Michael Georg (München), Nietzsches Briefe an Peter Gast. (MAZg Nr. 4 v. 23. 1. 1909). N e n n t diese die „bis jetzt aufschlußreichste Briefsammlung Nietzsches" und den E m p f ä n g e r den „ergebensten Freund und treuesten J ü n g e r " . D e r Leser empfange „ein lückenloses, unmittelbar packendes Bild aus der geistigen und gemütlichen Lebenssphäre des rastlos tätigen, wie von K r a n k h e i t e n und Leiden gefolterten heroischen Menschen".
833 Feld, Dr. Leo (Wien), Ecce homo. ( N H Z g 14. Jg., Nr. 42, Abendausg. v. 26. 1. 1909).
2,5
Andler, Charles (Straßburg 11. 3. 1866 — Malesherbes 1. 4. 1933), französischer Germanist, von ihm erschien 1920—31 ein sechsbändiges Werk über „Nietzsche, sa vie et sa pensée".
1909 „der durch und durch lyrische Mensch"
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Eine begeisterte Besprechung des Werkes (AP), das „in der impetuosen Kraft seiner Rede" hinreißend und in dessen „Kunst der Darstellung der nahe Zusammenbruch . . . noch nicht fühlbar" sei. — „Kein ehrfürchtig denkender Mensch wird Nietzsche mit den blinzelnden Augen Overbecks betrachten. Die stolze und unbeirrbare Behauptung seiner welthistorischen Bedeutung steht einem Manne wie Nietzsche völlig an." 2 ' 6 834 M., N i e t z s c h e s Welt. ( B a s N 2. Beil. z. Nr. 27 v. 28. 1. 1909). Eine verhältnismäßig eingehende Wiedergabe der „Darstellung der Gedankenwelt Nietzsches, wie sie Herr C. A. Bernoulli dem Basler Lehrerverein in dessen letzter Sitzung zu geben die Freundlichkeit hatte", (s. Nr. 884) Bei seiner Darstellung habe der „geschätzte Nietzscheforscher" den „synthetischen Denker, der seine Arbeit einem einzigen großen Problem, der Kultur des Menschen", zugewendet habe, hervortreten lassen. 835 Spiero, Dr. Heinrich, Geschichte der deutschen Lyrik seit Claudius. Teubner. Lpz. 1909. 2 ' 7 ( = Aus Natur u. Geisteswelt. Slg. wissenschaftlich-gemeinverständl. Darstellungen 254. Bdchen). Über Nietzsche auf S. 127 f. als einen, „der an Stelle Schopenhauers von Deutschland aus die Welt eroberte und sie schließlich doch auch eroberte als der durch und durch lyrische Mensch, der er war". Nach kurzer Würdigung, unter Anführung von „Venedig" ganz und einzelnen Stellen aus anderen Gedichten, geht Verfasser zu Liliencron über, der als Lyriker Nietzsche überrage. Erwähnung Nietzsches sonst auf S. 133 u. 141. 836 (Bachmann, Pastor, die Philosophie Friedrich Nietzsches), ( B W G P N Nr. 35, X V I I I , S. 1 7 - 2 2 ) . Berichtet von einem Vortrag, der am 10. Febr. 1909 (?) gehalten wurde und in dem der Redner Nietzsche zunächst als „fein beobachtenden" Seelenforscher, „vollendeten" Sprachkünstler und als „Verkündiger eines neuen Evangeliums" dargestellt habe. Doch das Hauptanliegen des Vortragenden scheint bei den Gefahren gelegen zu haben, „die seines Erachtens in der Verachtung der heutigen Moralität, der Anerkennung des Bösen als einer moralischen Macht, der bewußt einseitigen Kultur des Genius, der Verachtung der Arbeit und des Vaterlandes bestehen". 837 H a m m e r , Walter, Friedrich Nietzsche. D e r Lebensreformer und seine Zukunftskultur. 2. ergänzte u. verbess. Aufl. Karl Lentze. Lpz. 1910. VIII, 52 S. D i e Erstauflage erschien 1909, es konnte aber kein Exemplar eingesehen werden. Lebensreformer sind dem Verfasser solche, die „der westeuropäischen Maschinenkultur ablehnend" gegenüberstehen und „den Sinn des Lebens in der Stärkung 2.6 2.7
Feld, Leo (eigentl. Leo Hirschfeld, Augsburg 14.2. 1896 - Florenz 5.9. 1924), Schriftsteller, Verfasser vor allem von Lustspielen. Spiero, Heinrich (Königsberg/Pr. 24. 3. 1876 — Berlin 8. 3. 1947), Literaturwissenschaftler.
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1909 „die revolutionärste Macht vielleicht seit den Tagen der Reformation"
der Persönlichkeit, in einer Verinnerlichung des Menschenlebens" sehen. Ihre „vornehmste Devise lautet: Vereinfachung des Lebens, Befreiung aus den Ketten der heutigen vorwiegend materiellen Lebensführung". Neben Nietzsche zählt er noch Tolstoi, Maeterlinck und G. B. Shaw zu den Vorkämpfern „für eine neue Kultur". Verfasser verweilt verhältnismäßig lange bei der Darstellung der Krankheit und schließlichen Umnachtung Nietzsches und folgert dann: „Der größte Teil Schuld an seiner Erkrankung ist dem als unschädlich hingestellten Chloralgenuß zuzuschreiben . . . So mußte sich die Krankheit verschlimmern und er ihr bald zum Opfer fallen." Verfasser bespricht dann die Lehre und schöpft dazu ausgiebigst aus Nietzsche selber und der Lebensbeschreibung der Schwester sowie aus den Werken von Paul Ernst, E. Horneffer, Riehl und Lichtenberger. In den Vordergrund werden der Aristokrat, der Menschenkenner, aber auch der „Gegner der Fleischkost", des Alkohols und sogar des Rauchens gestellt. „Nietzsche war Lebensreformer. Er strebte nach größtmöglicher Bedürfnislosigkeit: in Genua brauchte er monatlich nicht mehr als sechzig Mark . . . Er hat in Genua weder Suppe noch Fleisch, aber viel Gemüse und Früchte, besonders Mandeln gegessen." 838 Itschner, Seminarlehrer Hermann, Einige Gesichtspunkte zur Erschließung des pädagogischen Gehaltes der Werke Nietzsches. (18. Bericht üb. d. Großherzogl. Lehrerseminar zu Weimar 1909, S. 3 — 36). Verfasser ist der Ansicht, daß man schließlich werde zugeben müssen, „daß Nietzsche unbestreitbar zu den seltenen Genies gehört, die die Tore der Zukunft aufschließen und ahnenden Herzen einen neuen Weg weisen zu einer Erhöhung des Menschen, der Menschheit". Es sei „nicht leicht einen Denker ausfindig zu machen", der folgerichtiger seine Zeit verfolgt habe als er. Sein Zeitalter sei das der „Gründerzeit" gewesen, „wo nationale Uberhebung, Demokratie, Individualismus, Frauenemanzipation, Epigonentum, Decadence, der .Egoismus der Erwerbenden' ein chaotisches Kulturbild schufen", und diesem habe er „ein neues Lebensideal" vorgehalten : „der Typus höchster Wohlgeratenheit, der Übermensch, der römische Caesar mit Christi Seele." — „Der Übermensch ist nicht das Geschöpf einer fernen Erdperiode. Er hofft Tag für Tag in jedem auf seine Entfaltung." In solcher Auslegung liegen dem Verfasser wesentliche Berührungspunkte mit den Anschauungen Kants; dieser habe „die Kriegserklärung" gegen die Autorität gegeben, Nietzsche „den Feldzug in Szene gesetzt": „Daß er mit dem Geiste des zürnenden Propheten auftritt, sei gemessen an der Größe seines Zweckes." Obwohl er die schwersten Anklagen gegen das Christentum vorbringe, gehöre das, was er über den Heiland gerade im „Antichrist" sage, „unstreitig zum Besten, was über Jesus gesagt worden ist". Es lassen sich überhaupt viele verblüffende Ähnlichkeiten zwischen der Lehre Jesu und der Nietzsches feststellen. Auf dem „Gebiete des geistigen Lebens" sei sein Werk „die revolutionärste Macht vielleicht seit den Tagen der Reformation. Spinoza, Kant, Goethe haben sicherlich dies eine nicht: die eminente Reizbarkeit." — „Die ganze Welt ist Nietzsches voll! Nietzsche ist das Sprachrohr des Zeitgeistes und zwar an einer Zeitenwende . . . Nietzsche ist der Philosoph des Neudeutschen Reiches, Philosoph in dem Sinne eines .Gesetzgebers der Zukunft'. Sein ganzes Werk ein einzigartiger Appell an die innere Kraft des Deutschtums." Nur gebe es in
1909 Der größte Vertreter einer „Psychologie der Werte"
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seinem Leben und in seiner Lehre noch einen „bitteren Rest", seine Leidenschaft beruhige sich nicht, „sie lenkt nicht ein, sie kennt keinen Abendfrieden". Seiner Seele fehlte „bei allem Schaffensdrang das Bewußtsein: zu ruhen in Gott. Das war Nietzsches Tragödie."
839 Ewald, O s c a r , G r ü n d e und A b g r ü n d e . Präludien zu einer Philosophie des Lebens. 2 Bde. E. H o f m a n n . Bln. 1909. 2 Bll., X V I I , 551 S . / 2 Bll., V, 331 S. Setzt sich wiederholt und mitunter recht ausführlich mit Nietzsche auseinander. was schon aus einzelnen Überschriften hervorgeht: Nietzsches Kritik des Erkenntnistriebes (Die vielleicht „größte kritische Leistung" sei die von ihm enthüllte Möglichkeit, daß die „Philosophie als Zeichensprache der Affekte, scheinbare Objektivität als Superlativ des Subjektivismus" sei) / Schopenhauer und Nietzsche (Seine „Kritik der Objektivität" sei „die radikalste, die sich denken läßt") / Nietzsches Analyse der Eitelkeit / Nietzsche und Sokrates / Nietzsche (in dem „einiges Plebeische" stecke — das Idealbild des Übermenschen „vielleicht weniger ein ungeheurer Akt der Bejahung, wie er wollte, sondern ein tief wurzelndes Mißtrauen, ein krankhaftes Von-sich-Abstoßen des Seienden, ein Hinüberwollen zu etwas, was weder konkret noch abstrakt, . . . was überhaupt nicht ist.") / Nietzsche contra Spinoza / Novalis und Nietzsche. S. sonst Bd. I, S. XIV (Das 19. Jahrhundert sei nicht nur das „der Technik und des Kapitals", sondern zugleich auch das „ d e r P s y c h o logie", und zwar „vor allem auch jener Psychologie der Werte, die ich hier im Auge habe; jener Psychologie, als deren größten Vertreter ich Nietzsche nennen kann"; erst „in einiger Distanz" könne man „auch Erscheinungen wie Emerson und Maeterlinck... Ibsen und Dostojewski" nennen.), XVI, XVII, 8 f. („Das war der Widerspruch in Nietzsche und der Grund seines Unterganges: er kam nicht mehr los von seiner Vergangenheit. — Er repräsentiert den Skeptiker, der er erst w u r d e , und der zugrunde gehen mußte, weil ihm alles verloren ging."), 20 f. (ein „Zweifler", dem „der reine Erkenntnistrieb . . . ein Ausfluß geheimer Racheinstinkte" gewesen), 59 (über seine „Art psychologischer Zergliederung"), 69, 77, 91, 114 („Wohl zum ersten Male ist von den Naturalisten der Moral, den Darwinisten, und von Friedrich Nietzsche das Dogma von der unbedingten Subjektivität des Menschen ausgesprochen und die Objektivität in Bausch und Bogen als bodenlose Fiktion, als trügerischer Schein, mit dem heimlicher Subjektivismus sich kleidet, verworfen worden."), 145 (über den „asketischen Zug in Nietzsches Lehre"), 160 (als Gegner des „Unpsychologischen der theologischen Ethik und der Schulmoral"), 183 f. (über das Mitleid), 197, 204 (das „Pathos der Distanz"), 219 (verglichen mit dem „aristokratischen Charakter der Kantischen Norm"), 308 (über die Liebe), 380 (seine Auffassung der „Nächstenliebe"), 393 (über das Weib), 438, 442, 451 f., 459, 468 (über das Mitleid), 469, 471, 472, 540 (als Gegenteil zu Denkern wie Bruno, Fichte und Fechner); Bd. II, S. 21, 132 (wie er den „Willen zur Macht" falsch verstanden habe), 214 (erst ihm danken wir eine andere Art, das Problem des Philosophen zu betrachten und zu beurteilen, da er die Philosophie „eine Zeichensprache der Instinkte" nenne), 222, 316 Anm., 317.
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1909
840 Richard Wagner an Franz Overbeck. (Aus dem Archiv des Hauses Wahnfried), (BB 1. Vierteljahresstk. Bd. 32, 1909, S. 1 f.). Briefe Wagners vom 24. 5. 1878 und 19. 10. 1879, beide mit wichtigeren Hinweisen auf sein damaliges Verhältnis zu Nietzsche. 841 Schlaf, Johannes (Weimar), Zum Fall Nietzsche: Eine Richtigstellung. Johannes Schlaf contra Ernst A. Thiele. ( X 2. Jg., 1909, S. 82 — 87). Unternimmt eine „Richtigstellung" der in der Besprechung seines Werkes (Nr. 657) von E. A. Thiele (Nr. 809) gemachten Äußerungen. Dieser habe sich „nicht einen Augenblick bemüht, eine sachliche, analytisch auf den Inhalt meines Buches eingehende Kritik zu bieten". 842 Thiele, Ernst A. (Benneckenstein/Harz), Entgegnung. (Ebd., S. 87—98). Die „Entgegnung" auf die „Richtigstellung" (Nr. 841) Schlafs, der dem Verfasser „als ,Kritiker' Nietzsches . . . entschieden minderwertig" ist, „ein Mann, der mit der Wissenschaft kokettiert, ein leichtfertiges Spiel treibt". 843 Olshausen, W., (JbNDL 17. u. 18. Bd., 1909, S. 8 1 5 - 8 3 9 ) . Bespricht das Schrifttum der Jahre 1906/07; voran die Taschenausgabe der Werke (GTI—GTX), die nicht nur unvollständig, sondern eher „verstümmelt" und deren Einleitungen und Nachberichte „unzuverlässig" seien. Größeren Raum widmet er dann den Schriften zum Streit zwischen Hölzer und E. Horneffer um die Nachlaßausgabe, zu dem zwischen Berg und Bernoulli u. A. um das Verhältnis zu Overbeck, zur Stirner-Frage, zur Auseinandersetzung der Schwester mit Widmann und Spitteier, sowie den Werken von Schlaf (Nr. 656), A. Düringer (Nr. 537, 621), Ad. Mayer (Nr. 615), Gramzow (Nr. 550, 656), R. Richter (Nr. 573, 578), E. Horneffer (Nr. 518, 592) und H. Weinel (Nr. 698). 844 Oehler, Dr. Richard, Nietzsche und Jakob Burckhardt. ( D N W Bd. 1, Nr. 2 v. 6. 2. 1909, S. 49—56). Möchte die Beschuldigung, Frau Förster-Nietzsche habe eine „literarische Fälschung" in ihrer Darstellung des Verhältnisses Nietzsche-Burckhardt begangen, zurückweisen. Als Gewährsmann für die Schwester führt Verfasser Peter Gast wörtlich an: „Ich selbst freilich, der ich von Herbst 75 bis Ostern 78 in Basel war und mit Burckhardt öfter auch beim Wein in Riehen und Grenzach, verkehrte, habe ihn nie anders als in den ehrendsten Ausdrücken über Nietzsche sprechen hören. Die miserable Wendung, die Bernoulli (I, S. 52) als angeblichen Ausspruch Burckhardt^ über Nietzsche abdruckt, habe ich freilich erzählen hören, sie aber sofort für die Erfindung eines Böswilligen gehalten . . . Wie fein Burckhardt sein konnte, beweist unter anderem auch der Umstand, daß er von Widemann und mir in den letzten Semestern keine Kollegiengelder annahm, mit der Begründung, er schätze sich's überhaupt zur Ehre, zwei Nietzschen so befreundete Herren unter seinen Hörern zu haben." Gast bezeugt auch, daß Burckhardt Overbeck nicht gemocht habe und „ihm in den ersten Jahren aus dem Wege" gegangen sei. Hierauf stützt sich Oehler mit der Behauptung, daß „Nietzsches Verkehr mit Overbeck sogar die Veranlas-
1909 Stimmen zum „Ecce homo"
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sung zur Trübung des Verhältnisses zwischen Burckhardt und Nietzsche" gewesen sei : „Sein Verhalten gegen Nietzsche wurde um so zurückhaltender, je wärmer dessen Beziehungen zu Overbeck wurden." — „Es wurde zwischen Burckhardt und Nietzsche erst wieder besser, als Nietzsche im Sommer 1875 aus dem Hause auszog, in dem auch Overbeck wohnte, und dieser für ein halbes Jahr Basel verließ." 845 Havenstein, Martin, (ZPhK Bd. 134, H. 1, 1909, S. 1 4 1 - 1 4 6 ) . Unter Anerkennung des „gefällig geschriebenen Buches von Weinel (Nr. 698), in dem „mancherlei Feines und Bemerkenswertes" stehe, weist Besprecher das Werk dennoch als ein für den Philosophen „wunderliches Schauspiel" entschieden zurück: „Die Theologie Ritschlscher Färbung, zu deren Vertretern Weinel gehört, hat zweifellos ihre großen Verdienste. Aber dem Radikalismus eines Ibsen, eines Nietzsche ist sie mit ihrer Vermittlungstendenz nicht gewachsen." Björnson wird in der Besprechung völlig übergangen. Bei dem Werk von Lessing (Nr. 517), das den doppelten Raum beansprucht, geht es dem Besprecher fast ausschließlich um das über Nietzsche Geschriebene, und darüber hat er nur Lobendes zu berichten: „Sein Buch ist, wenn auch nicht in allen (R. Richters Vorlesungen über Nietzsche haben z. B. eine bessere Systematik), so doch in vielen Beziehungen nach meinem Urteil das Beste, was über Nietzsche geschrieben worden ist. Mit soviel Verständnis und innerer Freiheit haben wenige, so großzügig, tief und selbständig hat vielleicht niemand bisher Nietzsches Probleme nach- und weitergedacht." 846 Weichardt, Dr. Carl (Frankfurt), Der tragische Philosoph. Friedrich Nietzsche: „Ecce homo" (FZg Nr. 38 v. 7. 2. 1909). Verfasser möchte eine Erklärung vor allem der Mißklänge, der „selbstverherrlichenden Superlativen" und des „antideutschen Geistes", im „Ecce homo" liefern und kommt zu dem Schluß, daß es „wirklich vielleicht sein hellstes, heiterstes und gesündetes Buch" sei und, „ein Extrakt aus seinen gesamten Schriften, dem Leser .. . eine gefestigte Liebe zur Erde und zum Leben mit all seinen Schicksalen" schenke. 846a Mit der Überschrift: Friedrich Nietzsches Ecce homo, auch in C W Bd. 23, Nr. 12, 1909, Sp. 267—273. Unverändert. 847 anonym, (LCB1 60. Jg., Nr. 7 v. 13. 2. 1909, Sp. 222 f.). Eine Besprechung der Briefe an Gast (AR), an denen gerügt wird, daß sie einem Vergleich, etwa mit dem Briefwechsel mit Rohde, nicht standhalten. Bei einer Untersuchung darüber, wie „die Nietzscheschen Paradoxien allmählich Eingang in die Seelen gefunden haben", meint der Rezensent, würde man die Entdeckung machen, „daß in unserer Zeit Musiker und Musikenthusiasten (echte und noch unechte) einen Einfluß auf das Geistesleben gewonnen haben wie nie zuvor, übrigens weder dem Leben noch der Kunst zum Heil". In der Form seien die Briefe allerdings „reizvoll", man sehe „selbst in nichtsagenden Postkarten, daß Nietzsche Meister in der Kunst des Briefschreibens war". 848 Strecker, Karl (Berlin), Ecce homo. (DLE 2. Jg., H. 10 v. 15.2. 1909, Sp. 685—692).
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1909 „mehr deutsch als französisch"
Eine auf weite Strecken hin kaum zu überbietende Würdigung des Werkes. Erst der „Zäsarenwahnsinn" erweckt dem Rezensenten recht große Bedenken. Es sei „doch ungeheuerlich Byrons .Manfred' hoch über Goethes ,Faust' zu stellen und Ibsen einfach als ,eine typische alte Jungfrau' abzutun". Nietzsches Empfehlung von „Küchenproblemen als Grundlagen einer neuen Weltanschauung" veranlaßt den Besprecher zu der Bemerkung: „Es ließe sich, das wollen wir doch nicht übersehen, die Mehrzahl der nietzscheschen Thesen auf derartige persönliche Zustände, persönliche Schicksale, Leiden und Neigungen zurückleiten." Zum Beispiel entspringe die Vorstellung des „Willens zur Macht" so einseitig „doch nur" einem brennenden Durst nach Anerkennung. Ebenso seien die „maßlosen Ausfälle gegen Deutschland zu erklären". 849 Eckertz, Erich, Nietzsches Franzosenliebe. (Zeit 8. Jg., Nr. 2309, Morgenbl. v. 26. 2. 1909, S. 1 ff.). Nietzsches „Franzosentum" reize „zur Betrachtung, weil es sich, als wichtiger Faktor einfügt in seine Erlebnisse wie seine Gedankenwelt, und weil es sich äußerlich zu erkennen gibt in seinem Stil". „Den Wandel vom Nationalismus zum Europäertum" könne man schon in den „Unzeitgemäßen" spüren und „sich mannigfach erklären": in Basel, das „schon äußerlich an der Scheide von Deutschland und U b e r deutschland" liege, in dem Verkehr mit Burckhardt und Overbeck und dem Kreise um Malwida von Meysenbug (Bekanntschaft mit Gabriel Monod), in der Bekanntschaft mit Rèe, „der es den französichen Aphoristikern abgeguckt hatte", in der brieflichen Begegnung mit Brandes, „der ihn wie kein anderer nach Frankreich weist", und zuletzt durch „die liebenswürdige Kritik des großen Hippolyte Taine". Verfasser verfolgt dann auch den mittelbaren Einfluß der Voltaire, Montaigne, Stendhal u. v. a., meint aber dennoch gegen Schluß, daß Nietzsches „Grundwesen . . . entschieden deutsch" sei: „Der Prediger des Übermenschen, der gute Europäer ist gewiß — trotz seines ursprünglichen Nationalismus — nicht,allzu deutsch', aber ebenso mehr deutsch als französisch." 850 Silber, Dr. Erwin (Soden-Salmünster), Fr. N i e t z s c h e als Diätetiker. ( A P D T h Bd. 11, 1909, S. 6 8 - 7 4 ) . Verfasser versucht das „Ecce homo" nach ärztlicher Auffassung auszuwerten und findet dabei, daß man zunächst öfters mit Nietzsche „völlig" übereinstimmen könne. Es fallen aber auch nicht selten Urteile wie „etwa laienhaft physiologisch", „recht nebensächlich". Das eigentliche Endurteil lautet: „Bei richtigerer Lebensführung, Ernährung und natürlicher Behandlung . . . wäre ein ganz anderer Nietzsche dann geworden. Ein mehr nüchterner, weniger effektvoller, weniger blendender. So ist der Geniale, wie er auf Grund seines kranken Körpers, seiner kranken Seele sein muß: stellenweise wunderbar schön, groß, klar und scharfsinnig, dann wieder wirr, boshaft, lästerlich, in handgreifliche Irrtümer verstrickt." 851 Lauscher, Dr. Albert (Oberlehrer am Kgl. Friedrich-WilhelmsGymnasium in Köln), Friedrich Nietzsche. Eine kritische Studie. Koenen. Essen Fredebeul (1909). 172 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.).
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1909 „ein Warnungssignal"
Etwas verwunderlich meint der entschieden katholische Verfasser in der Einleitung zu dieser 172seitigen Schrift, daß es „nicht sehr schwer" sei, „eine vollkommen ausreichende Erklärung" der Erscheinung Nietzsche zu finden. Den Anfang macht er dann mit dessen Sprache: „Im Banne der herrlichen Sprache gefangen, übersieht der oberflächliche oder ungenügend vorbereitete Leser so leicht, daß das schimmernde Prachtgewand gar häufig nur die ungeheuerlichen Ausgeburten einer zügellosen Phantasie verhüllt; geblendet von der kunstvollen Fassung, sieht er nicht, daß das, was sie einschließt, nicht echtes Edelgestein, sondern armseliger, wertloser Glasfluß ist. Und so erklärt sich Nietzsches so außerordentlich weitreichender und tiefgreifender Einfluß zum großen, wenn nicht größten Teile aus der Schönheit seiner Sprache." Sein Einfluß werde sich „unüberwindlich erweisen", solange „die individualistische Zeitströmung sich behauptet". „Die Abneigung gegen die beschwerliche, anstrengende A r b e i t , die von ernstem Fachstudium nun einmal nicht zu trennen ist", trage die „Schuld an der leichtherzigen Oberflächlichkeit seines Räsonnements". Seine Philosophie wolle und müsse „als Reaktion eines lebensdurstigen Willens gegen ein qualvolles Siechtum" verstanden und beurteilt werden. Dennoch, was das Lebenswerk, seine Kulturphilosophie, betreffe, sei dieses „trotz aller Schwankungen und Wandlungen von einem einheitlichen Zielgedanken beherrscht" gewesen: „Der ,künstlerische Genius* der ersten Periode, der .Freigeist' der zweiten, der ,Ubermensch' der dritten — es ist immer der ,höhere Mensch', was Nietzsche vorschwebt . . . " Sein Kampf gelte hauptsächlich „Religion und Moral", aber hier offenbare sich „seine offenkundig ungerechte und haltlose Polemik". Es sei „unmöglich, zu verkennen, daß Nietzsches ,höherer Mensch' . . . stark untermenschliche Züge aufweist und sich bedenklich der Bestie nähert". „Das ist Nietzsches Kulturbedeutung. Er zeigt, wohin die Menschheit treibt, wenn sie dem trügerischen Irrlicht eines gottentfremdeten Naturalismus folgt. Er ist, freilich wider Willen, ein Warnungssignal."
852 anonym, Nietzsche in England. (DLE 11. Jg., H. 11 v. 1. 3. 1909, Sp. 824). Es werde aus England berichtet, daß die Versuche, Nietzsche dort einzuführen, „bisher beständig gescheitert" seien und sich damals erst Verleger und Herausgeber für die Schriften in englischer Übersetzung gefunden hätten. Berichtigungen hierzu brachte H . G. Fiedler (Oxford) in seinem „englischen Brief" und lieferte zugleich einen knappen Umriß von Nietzsches Wirkung in England vom Auftreten Tilles, Anfang der 90er Jahre, an. (Ebd., H . 14 v. 15. 4. 1909, Sp. 1028 f.)
853 Förster-Nietzsche, Elisabeth (Weimar), Zu Prof. Andlers Artikel: „Nietzsche und Overbeck". (Prn Nr. 22 u. 29 v. 3. 3. u. 21. 4. 1909, S. 349 f., 4 6 2 - 4 6 5 ) . Der Aufsatz Andlers (Nr. 830), der „sich zum Bundesgenossen der Herren Diederichs und Bernoulli" gemacht habe, liefert der Schwester erneut Gelegenheit, den Streit mit den beiden Herren breitzutreten.
854 Berndl, Ludwig (Bern), Nietzsches 112. Jg., Nr. 10 ff. v. 6., 13. u. 20. 3. 1909).
„Ecce homo".
(MAZg
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1909 „nur Dekadent"
Eine trotz gelegentlicher Worte der Anerkennung entschiedene Ablehnung Nietzsches und des „Ecce homo". Er sei „ohne Zweifel ein Dekadent", und zwar „ n u r Dekadent". Seine sämtlichen Hauptideen finden sich bei Dostojewski, „und zwar nicht etwa nur andeutungsweise, sondern vollkommen genau umgrenzt". W a s seine Behandlung der Ethik und deren Entwicklung betreffe, sei er „von einer beneidenswerten Kindlichkeit in historiéis". Das Urteil zum Schlußteil des „Ecce homo" trifft dann auch die Sprache sowie das G a n z e : „Wie hier selbst Nietzsches Sprache allen Halt verliert und sich in ihre Bestandteile auflösen will, wie die irren Worte durcheinanderschwirren, wie schließlich in seinem Fühlen alle Hemmungen reißen und nur noch ein einziger jammervoller Schrei ergellt, der in der Tat an nichts Menschliches mehr erinnert — dies anzusehen, ist qualvoll. Indem man dieses Buch schließt, nimmt man Abschied davon f ü r immer."
855 Knortz, Prof. Karl (North-Tarrytown, N. Y.), Friedrich Nietzsche der Unzeitgemäße. Eine Einführung. Graser. Annaberg 1909. 2 Bll., 93 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Eine dem Gegenstand recht geneigte Darstellung der Nietzscheschen Vorstellungen und Ansichten, die weitgehend vergleichend vorgenommen wird. Gleich zu Anfang finden sich eingehendere Vergleiche mit Strauß — sie stimmten „in vielen, ja in den meisten und wichtigsten Punkten genau überein" —, mit Jordan — sie haben sich „näher" gestanden und „mehr wahlverwandte Beziehungen" gehabt, als man glauben sollte —, und mit Wagner, bei dem erst die Unterschiede betont werden. Darauf behandelt Verfasser die Auffassungen von Mitleid, Christentum, Religion, Staat, Individuum, Verbrecher, höherer Bildung, freien Geistern und Übermensch. Nietzsches „Hauptverdienst" sei, „das Interesse der Gebildeten an philosophischen Fragen erweckt zu haben".
AW Friedrich Nietzsche: Bisher unveröffentlichte Randbemerkungen zu J. M. Guyaus: Sittlichkeit ohne „Pflicht" (Esquisse d'une Morale sans Obligation ui Sanction). Dt. v. Elis. Schwarz. W. Klinkhardt. Lpz. 1909. VIIIS., 1 Taf., 303 S.; Als Anhang auf S. 279—303. ( = Philosophisch-soziologische Bücherei. Bd. XIII). Lesenswert sind auch einige Bemerkungen in der „biographisch-kritischen Einleitung" von Alfred Fouillée, dem Stiefvater Guyaus. Er erzählt u. a. von einem gleichzeitigen Aufenthalt in Nizza und Mentone seiner selbst, Guyaus und Nietzsches, ohne daß die beiden Franzosen aber von Nietzsche, noch dieser von ihnen etwas gewußt hätte. Dort habe Nietzsche „zweifellos" die Bücher Guyaus „Esquisse d'une morale" und „L'Irréligion de l'Avenir" und „vielleicht auch die ,Critique des systèmes de Morale contemporaine' in der Buchhandlung Visconti in Nizza gekauft, die damals von der literarischen Welt viel besucht wurde". Nietzsches Randbemerkungen aber zu dem vorliegenden W e r k zeigen, „wie weit die beiden Denker trotz augenscheinlicher Ubereinstimmung . . . doch voneinander abweichen". Nietzsche lehne es ab, „daß sich unter den ursprünglichen Lebenstrieben irgend ein altruistischer Trieb befände", und fasse auch den Begriff der Fortpflanzung anders auf. — „Die Idee der Macht, die Nietzsche so verführt hat, steht f ü r Guyau nicht an erster, sondern an zweiter Stelle."
1909 „die Ausgeburt eines satanischen Egoismus"
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856 Brepohl, Friedrich Wilhelm, Friedrich Nietzsche oder Jesus Christus! Eine kritische Gegenüberstellung, zugleich ein offenes Wort an die christliche Gesellschaft. Vlgs. „Das Havelland". Seegefeld 1909. 51 S. Verfasser meint, H e b b e l habe s c h o n im V o r a u s „eine vernichtende Kritik der N i e t z s c h e p h i l o s o p h i e " geliefert, und m ö c h t e daher, „trotz des leuchtenden Glanzes, der die W e r k e des D i c h t e r p h i l o s o p h e n N i e t z s c h e durchzieht, und trotz des Zaubers ihres Styles, der ja auch d e m v e r w ö h n t e s t e n O h r und dem größten Ästhetiker w u n derbare Ü b e r r a s c h u n g e n bereitet, die G e d a n k e n N i e t z s c h e s herausschälen, um sie der Lehre des Mannes aus N a z a r e t h g e g e n ü b e r zu stellen, um dadurch N i e t z s c h e s T h e o r i e und Grundidee zur Kritik b l o ß z u legen". D a z u dienen ihm fast ausschließlich „Zarathustra", „ein wahrer Koran g e g e n Gott und jede christliche Kultur", und „Ecce h o m o " , das N i e t z s c h e „mit einem erst ekelhaft verzerrten Gedicht" schließe, das „aber allmählich in eine verehrende Betrachtung des N o t w e n d i g e n ausklingt". Bei N i e t z s c h e gebe es „die Ausgeburt eines s a u n i s c h e n Egoismus und höchster Selbstüberschätzung", bei Jesus v o n N a z a r e t h „die Verkörperung göttlicher Liebe, des Altruismus und der Demut". N i e t z s c h e ist d e m Verfasser trotz allem aber als Erscheinung „ein dringender Ruf z u r U m k e h r " ; Zarathustra erscheine als „Mahnung": „Es ist, als solle der Christenheit durch ihn g e z e i g t werden, w o h i n sie treibt. D e n n trotz unseren vielen ,christlich h u m a n e n ' Bestrebungen, trotz mancher philanthropischen U n t e r n e h m u n g e n streben wir mit unserer Kultur einem Abgrund zu. — D i e s e n Abgrund verkörpert uns N i e t z s c h e in seinem Zarathustra." 298
Lesenswert ist die Behandlung Nietzsches in dem groß angelegten Werk von Eduard Spranger: Wilhelm von Humboldt und die Humanitätsidee. Anziehend zunächst sind die wiederholt festgestellten „Vorklänge" Nietzsches (s. d. Namenverzeichnis), welche sich in den Äußerungen Humboldts finden lassen, sowie überhaupt die Selbstverständlichkeit, mit der Verfasser Nietzsche zu den Humanisten zählt: Wie Kant und das Christentum sei auch „ein Nietzsche schöpferisch" im Sinne der „Humanität" „wenn er eine neue Rangordnung proklamiert" (S. 18). Von mehr Belang ist aber die Stellung, die Nietzsche in der Entwicklung der „neuhumanistischen Griechenauffassung" eines Humboldt zu „der streng historischen Auffassung" der Gegenwart hin zugewiesen wird. Der „Schopenhauerschüler" habe zwar „die Metaphysik Schopenhauers dem Griechentum aufgenötigt", aber seine Anschauungen seien dennoch „symptomatisch von hohem Interesse" und haben „auf die Kenntnis des griechischen Lebens befruchtend eingewirkt... Denn sie lenkten den Blick auf die dunklen Seiten der Religiosität, auf das Gespenstische und Düstere der griechischen Mythologie, wofür die Klassiker noch kaum ein Auge gehabt hatten . .." Hiermit habe Nietzsche „nur e i n e Seite der neuhumanistischen Naivität . . .
298
Brepohl, Friedrich Wilhelm (Caternberg 3. 4. 1879—1937), Pfarrer, vornehmlich religiöser Schriftsteller.
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1909
umgestoßen: ihre Ursprünglichkeit". „Völlig Klassizist" sei er doch geblieben, denn „jenes unvergleichliche Kunstvermögen, jenen Sinn für den M y thos, für die apollinisch-plastische Form, für die harmonische Heiterkeit als letztes Resultat hat er den Griechen nicht bestritten . . . Auch für ihn ist der griechische Geist eine Einheit, deren W e s e n in einer Gesamtintuition erfaßt werden kann." (S. 472 ff.) 2 " 857 Jaskowski, Friedrich, Was ist Moral? Ein Versuch über SklavenMoral und Herren-Moral und aller Moral tiefere Wurzel im Geiste eines künstlerischen Idealismus. A.-G. Konkordia. Bühl/Baden 1909. 35 S. Verfasser vertritt die Auffassung, daß es „zwei Arten von Tugenden" gebe und daß sie „in den verschiedenen Zeiten von verschiedenen Denkern auseinander gehalten werden", was daraufhinweise, „daß es sich bei ihnen um Tatsächliches handelt, um Urkräfte, um lebendige Zustände der wirklichen Menschennatur". Doch könne eine „jede Tugend eine Herrentugend und eine Sklaventugend sein", es komme „einzig . . . auf den Menschen an, in welchem sie sich offenbart". Das Genie handle gut „aus Liebe zur Schönheit des Guten, aus Erkenntis, aus geistigem Bedürfnis, unmittelbar, quellhaft". Gewährsmänner für seine Ansichten und Ausführungen sind vor allem Schiller, Lao-tse und Angelus Silesius. Nietzsche behandelt er mit einiger Vorsicht, wenn er auch dessen Äußerungen meistens zustimmt; „die krassen Individualisten vom Schlage eines Stirner, Wilde" sind ihm „entnervte geistreiche Egoisten". 858 Kretzer, Lic. Dr. Eugen, Imperialismus und Romantik. Kritische Studie über Ernest Seillières Philosophie des Imperialismus. Herrn. Barsdorff. Bln. 1909. 80 S. Bis S. 68 bietet Verfasser eine eingehende, fast sklavisch zu nennende Darstellung des Inhaltes der „Philosophie des Imperialismus" von Seillière, und zwar nicht nur des Nietzsche gewidmeten Bandes (Nr. 523), sondern auch der Bände I, III und IV. Erst zur Verteidigung der Romantik erhebt sich Kretzer zur Äußerung eigener Gedanken : „Der Kern dessen, was Seillière krankhaft, mystisch und romantisch findet, nennen wir Deutschen I d e a l i s m u s . " Seillières „Ablehnung" der Romantik verschließe ihm „das Verständnis für Nietzsches Ästhetik und für seine Schriften aus der Wagnerzeit". Lesenswert ist noch folgende Äußerung des Verfassers: „Stirners Werk hatte mir Nietzsche selbst schon 1873, wie ich mich immer deutlicher erinnere, neben anderen Schriften, die sich gleichfalls bald darauf unter meinen Büchern fanden, empfohlen." 859 Kowalewski, Arnold (Königsberg), ( Z P h K Bd. 134, H . 2, 1909, S. 277). Begrüßt „die neue Ausgabe der vortrefflichen Nietzsche-Monographie von Möbius" (Nr. 187a), die sich auch durch eine „anziehende dramatische Lebendigkeit der Darstellung" auszeichne.
2
" Reuther & Reichard. Bln. 1909.
1909 „das Zeitalter Nietzsches" 860
G r o t t h u ß , J e a n n o t Emil Frhr. v., Im Z e i c h e n N i e t z s c h e s .
373 (In:
A u s d e u t s c h e r D ä m m e r u n g . S c h a t t e n b i l d e r einer U b e r g a n g s k u l t u r . G r e i n e r & P f e i f f e r . St. 1909, S. 9 - 1 8 ) . Verfasser prägt hierin die W e n d u n g „das Zeitalter Nietzsches" f ü r seine eigene Zeit, die sich so rücksichtlsos „an die , U m w e r t u n g aller W e r t e ' " mache. Nie hätte Nietzsche „das ungeheure Aufsehen erregt, nie die begeisterte Gemeinde um sich geschart, wäre nicht der Boden so reif gewesen". Lesenswert ist die Kennzeichnung des „ H e r r e n m e n s c h e n " als „der in der Retorte des I n d u s t r i a l i s m e und Materialismus gezeugte H o m u n c u l u s , ein gespenstisch-unnatürliches Wesen, das über sich selbst und alle N a t u r hinausstrebt und doch aus dem engen Glase, in dem es erzeugt w o r d e n , nicht hinaus k a n n : M a t e r i a l i s m u s , d e r I d e a l i s m u s s e i n m ö c h t e " . Seine „fixe Idee", seine „Zwangsvorstellung", der „Nietzscheanismus" sei und bleibe aber „die U m w e r t u n g aller W e r t e " , womit „uns der dialektische Vogelsteller f ü r f r e m d e , feindliche W e r t e einfangen will". Schon Novalis habe „sie mit wenigen, den Nagel auf den Kopf treffenden Urteilen rettungslos" abgetan. Z u m Schluß ruft Verfasser aus: „ H e r r , wie grenzenlos ist deine Güte, und wie unendlich deine schöpferische Weisheit! Den gifthauchenden Morast wandelst du z u r Märchenflur, und aus der Faust, die sich zum Fluche wider dich ballt, betet dich die Lilie triumphierender Schönheit an!" S. a. S. 6 ff (Vergleich Nietzsches mit Tolstoi), 262 (über die Zuchtlosigkeit „im N a m e n Nietzsches womögich"). 861
W i n t e r f e l d , A c h i m v. ( S t e g l i t z b. Bln.), N i e t z s c h e als S o z i a l -
p h i l o s o p h und seine S t e l l u n g z u r G e s e l l s c h a f t . F. D i e t r i c h . G a u t z s c h b. Lpz. 1909. 15 S. ( = Kultur u. Fortschritt. N . F. d. Slg. „ S o z i a l e r Fortschritt". H e f t e f. V o l k s w i r t s c h a f t , S o z i a l p o l i t i k , F r a u e n f r a g e , R e c h t s p f l e g e u. Kulturinteressen. N r . 2 6 3 ) . G e h t von der Ansicht aus, Nietzsche sei „die Menschheit als Gesamtheit . . . nicht w e n , daß er sich mit ihr und ihrem Gedeihen beschäftige", und stellt ähnliches bei Schopenhauer, H e i n e u n d Ibsen fest. Dieser G r u n d a n s c h a u u n g im großen und ganzen zustimmend, meint Verfasser einschränkend, d a ß es ein Band geben müsse, „das von den Führenden ausgehend über eine Mittelstufe von Menschen f ü h r t : die soziale Fürsorge, die Linderung der N o t , das liebende Mitschaffen an der Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens f ü r die untere Klasse der Menschheit": „Das führt, sorgfältig gehandhabt, nirgends zu einer g e f a h r d r o h e n d e n Mischung beider Teile, das ist nichts als s e l b s t v e r s t ä n d l i c h e M e n s c h e n p f l i c h t . " 862
Fischer, P r o f . Paul, N i e t z s c h e Zarathustra u n d Jesus Christus.
H a n s Baur. Blaubeuren 1909. 2 Bll., 41 S., 1 Bl. ( = V l g s . - a n z . ) . ( = P r o g r a m m N r . 791 d. Kgl. W ü r t t e m b e r g i s c h e n E v a n g e l i s c h - t h e o l o gischen Seminars z u B l a u b e u r e n ) . Verfasser sei eher mit dem „Gefühl der Pflicht", die ihm „als einem Lehrer künftiger Philosophen, Theologen, Volksbildner" obliege, an seine Aufgabe herangetreten, und Nietzsche ist ihm, dem ziemlich tief in die f ü n f z i g e r Jahre Hineingekommenen, dennoch zum „Ereignis" geworden. D e n christlichen Standpunkt und
1909 Nietzsche Zarathustra und Jesus Christus
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dessen Unantastbarkeit immer wieder betonend entschlüpfen ihm gelegentlich W o r t e wie die folgenden: „. . . welche unendliche Fülle von schönen, lockenden Erscheinungen, von blitzenden, prickelnden Sprüchen, von meteorartig leuchtenden, weltweiten, abgrundtiefen Ahnungen! . . . Man sehe nur vier oder fünf beliebig herausgegriffene Seiten in .Zarathustra' darauf hin an! Gibt es in der Poesie aller Zeiten und Völker ein Buch, das erhaben-düstere Majestät, harte, dürftige Weichheit, qualvoll-bohrenden Schmerz, süßes, müdes, wehmütiges Glück so in sich vereinigt und so darzustellen vermag wie »Zarathustra'? Erinnert uns nicht mancher Abschnitt darin an die höchste poetische Kraft und Schönheit der alttestamentlichen Propheten? oder an die W u n d e r der Sprache im H o h e n Lied? oder an die Bilderpracht des Buches Hiob?" Man solle ihn der Jugend nicht verbieten, sondern „die D ä m m e umso fester bauen, die den einherbrausenden wilden Wassern wehren, ja die auch diese Fluten noch dienstbar machen sollen dem Geist und Willen dessen, der größer ist als Zarathustra-Nietzsche". Überhaupt das Unverständlichste an ihm sei die Verkennung Christi und des Evangeliums. Hier müsse ihm wiederholt der Vorwurf gemacht werden, er wisse zwischen „Wesen und Erscheinung nicht oder nicht deutlich zu unterscheiden". In diesem einen, in seiner „Feindschaft gegen das Christentum" sei er unwandelbar geblieben: „Es war seine Art, das Christentum zu ehren, daß er es heftiger als alles andere bekämpft hat. So ehren wir ihn wieder, indem wir seiner Feindschaft gegen das Evangelium das Zeugnis geben, daß sie standhaft und entschlossen war bis zum Äußersten."
862a
Dass. Vlg. d. Ev.-Gesellschaft. St. 1910. 80 S.
Im wesentlichen unverändert: „Weggeblieben sind einige einleitende Sätze und die Zahlen, welche die aus Nietzsches W e r k e n und Briefen wörtlich angeführten Stellen nachweisen." 862b Dass. 2. Aufl. 1914. VIII, 88 S. Mit elf Zusätzen von bis zu zwölf Zeilen, einer zweizeiligen Kürzung sowie wenigen geringfügigen sonstigen Veränderungen, die aber alle zusammen Inhalt und Einstellung unangetastet lassen. Lesenswert ist das „Vorwort zur zweiten Auflage", in dem Verfasser sich gegen manchen inzwischen gefallenen Vorwurf verteidigt. Die Sprache des „Zarathustra" möchte er „heute noch weniger unbedingt loben und bewundern, als ich es f r ü h e r getan habe. Sie ist doch vielfach recht gekünstelt, recht erzwungen, mit verunglückten, ja oft kindischen Bildern und Wortspielen allzustark durchsetzt."
863 Beyer, Richard (Oberlehrer am Kneiphöfschen Gymnasium), Nietzsches Versuch einer Umwertung aller Werte. Eine kritische Studie. Härtung. Königsberg i. Pr. 1909. 56 S. ( = Wissenschaftl. Beil. z. Programm Nr. 9 d. Kneiphöfschen Gymnasiums). Verfasser will hier eine „Aufklärungsarbeit" zugleich „auf wissenschaftlicher Grundlage" und in „gemeinverständlicher Sprache" leisten. Nietzsches Lehre fehle „nicht das System, sondern die systematische Darstellung", eine Eigenschaft, die ihn in die Gesellschaft eines Sokrates und Leibniz rücke. Lesenswert sind die eingehenden Vergleiche mit Plato, Flaubert, Stirner und Lagarde. Sonst steht Verfasser in
1909 „im Namen Nietzsches, gegen Nietzsche und gegen die Neuromantik!"
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seiner Beurteilung fest auf christlichem B o d e n : „Das Ν . T . wird, richtig verstanden, a u c h in der Z u k u n f t das weithin leuchtende Fanal der V ö l k e r sein." — „Solche Stimmen wie die Nietzsches erheben sich i m m e r in gewissen Zeitläuften. W e n n die geistige Flachheit, das D u t z e n d m e n s c h t u m in seinem aufgeblasenen, d u m m e n Stolz den Lauf der Welt bestimmt und in die R ä d e r der Entwicklung greift, nur um sie z u r ü c k z u d r e h e n , dann bemächtigt sich der v o r n e h m e n , selbständigen Geister ein Ekel . . ." N u r insofern habe Nietzsche z u m G u t e n gewirkt.
864 Lublinksi, Samuel, Der Ausgang der Moderne. Ein Buch der Opposition. C. Reißner. Dresden 1909. VII S., 2 BU., 314 S., 1 Bl. ( = Werke d. Verfs.), Darin: Friedrich Nietzsche, S. 65 — 73. Nietzsches schwerer Fehlgriff sei seine V e r k e n n u n g der „realen K r ä f t e des J a h r h u n d e r t s " ; die N a t u r w i s s e n s c h a f t habe er „maßlos" überschätzt, „weil er die andere, die demokratische Soziologie, mit gleicher Maßlosigkeit unterschätzte". Seine U b e r t r e i b u n g eines naturwissenschaftlichen „Zwischenspiels", nämlich des Darwinismus, habe den inneren Zwiespalt, die maßlose R o m a n t i k und „eine p h a n tastische Religiösität von mehr jenseitiger als diesseitger W e s e n s a r t " verschuldet. D o c h sei er „selbstverständlich auch noch d e r S t a m m v a t e r jener mythisch-symbolischen Seeienstimmung, die er mit einem R h y t h m u s erlebt u n d erlitten hat, wie bisher wirklich nur Religionsstifter u n d Heilige . . . : V o r l ä u f i g füllen seine Bastarde den V o r d e r g r u n d aus, diese N e u r o m a n t i k e r , die Schädlinge sind u n d sterben müssen, damit die g e b ü h r e n d e legitime N a c h k o m m e n s c h a f t den Platz an der S o n n e gewinnt. D a r u m , im N a m e n Nietzsches, gegen N i e t z s c h e und gegen die N e u r o m a n tik!" S. a. S. 192, w o das Spitteier-Nietzsche Verhältnis gestreift w i r d : „ D a z u k a m , daß er das G l ü c k hatte, in entscheidenden Lebensjahren einem N i e t z s c h e zu begegnen, dessen Einfluß auf ihn g r ö ß e r gewesen ist, als Spitteier jetzt z u g e b e n möchte."
864a Dass. m. e. Bibliographie v. Johannes J. Braakenburg neu hg. v. Gotthart Wunberg. Niemeyer. Tüb. (1976). XS., 1 Bl., 412 S. ( = Ausgew. Schriften II/ = Dt. Texte. Hg. v. G. Wunberg. Bd. 41). S. 313—412 = Bibliographie, N a m e n - u. Sachregister; was N i e t z s c h e betrifft, unverändert.
865 Windelband, Wilhelm Die Philosophie im deutschen Geistesleben des XIX. Jahrhundert. Fünf Vorlesungen. J. C. B. Mohr. Tüb. 1909. 4 Bll., 120 S. G a n z gegen E n d e der letzten V o r l e s u n g : Die neuen W e r t p r o b l e m e und die R ü c k k e h r z u m Idealismus, k o m m t der Verfasser auf Nietzsche, S. 116—119. In diesem „ D i c h t e r " v e r k ö r p e r e sich das „ g a n z e Ringen des Individuums gegen den D r u c k des Massenlebens". Seine Lehre von der ewigen W i e d e r k e h r sei „nur eine metaphysische Spiegelung" seiner H e r r e n m o r a l : „. . . es w a r das U r g e f ü h l : ich gehöre zu dem immer w i e d e r k e h r e n d e n W e s e n der W e l t ; so wie ich bin, bin ich dabei, was auch immer sonst geschehe." D o c h was man „heute" v o n der Philosophie erwarte, sei nicht so sehr Nietzsches U m w e r t u n g aller W e r t e , sondern „Besinnung auf die bleibenden W e r t e , und aus solchem Bedürfnisse heraus" habe m a n „in D e u t s c h land zu den g r o ß e n Systemen des Idealismus z u r ü c k g e f u n d e n " .
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1909 Die „Reaktion einer neuen Romantik auf den dezidierten Historismus"
865a Dass. 2., durchgeseh. Aufl. 1909. Unverändert. 865b Dass. 3., photomechanisch gedruckte Aufl. 1927. Unverändert. 866 Jäckh. Ernst, Friedrich Nietzsche und David Friedrich Strauß. Beiträge zur „modernen Kultur". (P Bd. 9, 1909, S. 210—247). Verfasser streift zunächst die Ähnlichkeit beider, geht dann erst auf Entstehung und Beweggründe der „ersten Unzeitgemäßen" näher ein. Bei seiner Sichtung der damaligen Stellungnahmen zu dem Werk findet er, daß diese den Zeitgeist „anschaulich charakterisieren" und Nietzsche Geisteskampf „notwendig" erscheinen lassen. „Der Stein, den die Baumeister verworfen haben, scheint zum Eckstein zu werden." Verfasser schließt seine sehr umsichtige Abhandlung mit der Feststellung von Ähnlichkeiten: „Strauß als Reaktion des kritischen Intellektualismus auf die vorhergegangene Mystik und Mythik der zauberumhauchten Romantik, und Nietzsche wiederum als Reaktion einer neuen Romantik auf den dezidierten Historismus." Nietzsches Wirkungen in der Gegenwart erkennt er in den „Weimarer Tagen für deutsche Erzeihung", in Landerziehungsheimen und Reformschulen, freien Studentenschaften, der Volkshochschulbewegung, in einem deutschen Werkbund und im Dürerbund. Und über Nietzsche und Strauß hinaus setze „die soziale Kultur ein, durch eine Sozialpolitik, die die Lebenskraft des einzelnen durch Schutzgesetze und Arbeitsverträge bewahrt und erweitert. Und so gewinnt ,die Persönlichkeit im Zeitalter der Maschine' ihren Ausdruck durch Naumann . . . Der neue Glaube von Nietzsche an die Wiedergeburt einer wahrhaftigen Geisteskultur steigt auf wie die frohe Botschaft eines Patrioten an die deutsche Nation." }cl 866a Dass, ohne den Zusatz: Beiträge zur „modernen Kultur". ( D S S 2. Jg., Nr. 32 f. v. 11. u. 18. 5. 1909, S. 249 ff., 258—261). Durch größere Einschnitte um die Hälfte gekürzt, jedoch ohne daß die Einstellung sich wesentlich geändert hätte. 867 Richard Wagner an Erwin Rohde. (BB Bd. 32, 1909, S. 81 f.). Abdruck zweier Briefe, vom 2. 7. und 29. 10. 1872, beide Rohdes „Afterphilologie" (s. Bd. I) betreffend. A X Briefe Friedrich Nietzsches aus dem Jahre 1885 an seine Angehörigen. (ÖRs XIX, 2 v. 15. 4. 1909, S. 115—128). Vorabdruck von 12 Briefen aus der Zeit vom Januar bis September 1885, die darauf in den Briefen an Mutter und Schwester (AY) veröffentlicht wurden. Die Briefe vom 20. 3. und 6. 9. sind der Buchausgabe gegenüber etwas unvollständig wiedergegeben.
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Jäckh, Ernst (Urach 22. 2. 1875 — New York/USA 17. 8. 1959), Schriftleiter der „Nekkar-Zeitung" in Heilbronn 1902—1912, gründete 1920 die Hochschule für Politik, 1933 ins Exil. S. noch den Aufsatz „Nietzsche, der Europäer", in dem Verfasser dartut, daß es zwei Nietzsche gäbe, „einen nationalistischen und einen europäischen, den ich selbst für den wirklichen Nietzsche hielt". (E. J., Der goldene Pflug. Lebensernte eines Weltbürgers. Dt. Vlgs.-Anst. St., S. 284 ff. u. 494).
1909 „eine durchgängige Parallele zwischen Marx und Nietzsche"
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868 Pelman, Dr. Carl (o. ö. Prof. d. Psychiatrie a. d. Univ. Bonn), Psychische Grenzzustände. Fr. Cohen. Bonn 1909. Über Nietzsche auf S. 222 f. Im Abschnitt über „Das Genie" wird Nietzsche neben Gerard de Nerval, Torquato Tasso, Rousseau, Comte, Thomas de Quincey, Poe und E. T. A. Hoffmann als „Beispiel" angeführt. Das ärztliche Urteil, in etwaiger Ubereinstimmung mit Ziegler und Möbius, lautet: „So wechseln seit 1881 Ebbe und Flut, aber im ganzen ist ein zunehmender Verfall der moralischen und ästhetischen Empfindungen nicht zu verkennen." Der „Zarathustra" ist dem Verfasser „die Bibel des Positivismus, geschrieben mit einer ungeheuren rhetorischen Kraft und rhapsodischen Gabe, berauschend und verwirrend". 868a Dass. 2. durchgeseh. Aufl. 1910. Über Nietzsche auf S. 223 f. Was ihn betrifft, unverändert. 868b Dass. 3., durchgeseh. Aufl. 1912. Über Nietzsche auf S. 224 f. Neu ist lediglich ein dreizeiliger Zusatz: „Nicht, daß er zusammenbrach, sondern, daß er so lange standhielt, ist zu verwundern. Er erliegt der Stoßkraft einer geradezu unheimlicher Schar von Mißgeschicken." 868c ändert.
Dass. 4. durchgeseh. Aufl. 1920. Was Nietzsche betrifft, unver-
869 Hammacher, Dr. phil. et jur. Emil (Privatdozent d. Philos, a. d. Univ. Bonn), Das philosophisch-ökonomische System des Marxismus. U n ter Berücksichtigung seiner Fortbildung und des Sozialismus überhaupt dargestellt und kritisch beleuchtet. Duncker & Humblot. Lpz. 1909. XI, 730 S. In dem der Kritik des Marxismus gewidmeten Schlußteil des großangelegten Werkes legt Verfasser „eine durchgängige Parallele zwischen Marx und Nietzsche" dar (S. 438—441, 444, 519, 531 f., 716 ff.). Sein Hauptanliegen ist eine weitgehende, erst gegen Schluß bedingtere Verteidigung des Sozialismus sowohl gegen Marx wie auch gegen Nietzsche. Jener sei nicht „nur eine demokratische Bewegung", wie so manche Marxisten meinen, und so treffe auch Nietzsches Verurteilung seiner daneben: „Denn keine andere Gesellschaftsordnung ist so auf eine Rangordnung zugeschnitten, wie sie die Vergesellschaftung der Produktionsmittel zur Folge hätte." — „Das soziale Ideal heißt Identität der möglichen und wirklichen, der natürlichen und gesellschaftlichen Rangordnung." (S. 691—695) Von Nietzsche müsse man „den Gedanken der Rangordnung", von Marx den „Blick für die Bedeutung der sozialen Frage" annehmen. Sonstige Erwähnungen Nietzsches auf S. 700, 705, 711. Ähnliche Gedanken hatte Verfasser schon in Nr. 831 vorgetragen. 870 Thrändorf, Dr. (Auerbach i. B.), Nietzsche. Eine Lehrprobe aus der Schulkirchengeschichte. ( Z E R H L 20. Jg., 1909, S. 308—316). Verfasser möchte den Weg zu einem „möglichst richtigen Verständnisse" Nietzsches anbahnen, damit dessen Gedanken „den Schülern klar gelegt" und dem
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1909 „bloß ein genialer Schulmeister"
„Standpunkt eines Durchschnittsprimaners" angepaßt werden können. Die „Lehrprobe" sucht Nietzsche „auf seiner letzten, durch Darwinische Gedanken bedingten Entwicklungsstufe zu verstehen und beurteilen". Sie endet damit, daß der „relativistischen Ethik", dem „evolutionistischen Voluntarismus" eines Holbach, Büchner und Nietzsche die „absolute Ethik: Kants kategorischer Imperativ und Herbarts Ideenlehre" entgegengestellt werden.
871 Jentsch, Carl, Nietzsche noch einmal. (Gr 68, 1909, Bd. 2, S. 7 2 - 8 2 ) . Verfasser begrüßt den zweiten Band des Bernoullischen Werkes (Nr. 696) zum Teil, da es „auch solche, die Nietzsches W e r k e nicht gelesen haben, zu einem abschließenden Urteil über ihn" befähige. Der Schlüssel zum Verständnis seiner liege in dem Verhältnis zu seinem Abgott N a p o l e o n : „. . . da er gern ein Napoleon gewesen wäre, schämte er sich, und es machte ihn wütend, daß er bloß ein genialer Schulmeister war." Er sei aber auch „dazu auserkoren, den Gemütszustand eines Atheisten zu offenbaren . . . in Nietzsche haben wir das Unglück zu ehren, das ihm sein Beruf bereiten mußte, um so mehr, als er diesem seinem Beruf mit erstaunlicher Willensenergie, mit heroischer Anstrengung nachgekommen ist." Eine „Lebensliebe" aber, wie Bernoulli behaupte, könne man bei ihm nicht finden, ebenso wenig sei er als „Volksmann und Volksführer" anzusehen. Verfassers eigene fortschrittliche Weltanschuung spricht sich am deutlichsten in folgenden W o r t e n aus: „Bei gesunden Sinnen hat er (d. i. der Mensch) nur die Wahl, ob er sich von einem blinden materiellen Universum oder von einer Weltvernunft abhängig denken will. Und die das zweite wählen, also die w a h r h a f t religiösen, verfallen niemals der Narrheit, einen toten Götzen anzubeten, etwa die Maschine, die sie selbst gebaut haben."
872 Oppeln-Bronikowski, Friedrich von, Ecce homo. (PJb 135, 1909, H. 3, 507—517). Das W e r k (AP) sei „schließlich . . . nur die höchste, in Wahnsinn umschlagende N o t e von Nietzsches Subjektivismus; er zeigt gewisse T e n d e n z e n seiner Philosophie im Hohlspiegel krankhafter V e r g r ö ß e r u n g mit erschrecklicher Deutlichkeit". Man könne seine W e r k e „als ebensoviele Stufen zu einer größeren Herausbildung dieses Ich bis zu einem pathologischen Endzustande betrachten". — „Zwei Seelen haben zeitlebens in Nietzsche g e k ä m p f t : Dionysos g e g e n den Gekreuzigten, mochte auch die O b e r f l ä c h e seiner W e r k e nur die eine s p i e g e l n ; und erst im W a h n sinn haben beide sich versöhnt. Bis dahin glühten unter der Maske des antiken Gottes zwei schmerzvoll verzückte Dulderaugen . . ." Erst der Franzose Seillière habe in seinem W e r k (Nr. 523) den W e g gewiesen, „auf dem allein die wirklichen Werte seiner Lehre von den Schlacken zu scheiden sind". Im übrigen fange die „Elite" bereits an, Nietzsche „historisch" zu nehmen.
874 Havenstein, Martin (Schmargendorf), (ZPhK Bd. 135, H. 1, 1909, S. 69—76). Besprechung der W e r k e von Fischer (Nr. 42a), dem „die Möglichkeit einen Nietzsche zu verstehen" fehle — „Die psychologische Analyse der religiösen Gefühle und Gedanken, die fast Nietzsches gesamte Literatur durchzieht, diese inner-
1909 Die Briefe an Mutter und Schwester
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lichste und darum gefährlichste Kritik der Religion, scheint ihm völlig entgangen zu sein." —; Ewald (Nr. 314), den fast ausschließlich „das Imperativische" an Nietzsche, „das Pathos des Moralpredigers", die „Imperativische Ethik" anziehe, dessen Schrift aber dennoch „zu dem Besten, was über Nietzsche geschrieben worden ist", gehöre; Bélart (Nr. 664), der nicht mal „die bescheidensten Ansprüche" befriedige, und Gramzow (Nr. 656), das im „ganzen leidlich geschmackvoll und verständig, aber weder selbständig noch besonders eindringend" sei. 875 Eick, Dr. H u g o , Ein Vorspiel Zarathustras. ( Ö R s 18, 1909, S. 2 2 5 — 232). Ein solches „Vorspiel" findet Verfasser in Hölderlins „Hyperion", der „zwischen den Niederungen der Literatur einsam hinüberragt zu dem Werk des Unzeitgemäßen", dem „Spätling der Romantik". Vergleichsflächen erkennt er in der „Intensität und Eindringlichkeit der Inspiration", in der „Sehnsucht" und in der Liebe. „Unzeitgemäß" seien beide eigentlich als „ r e l i g i ö s e Menschen" gewesen. Die Ähnlichkeit geht soweit, daß Verfasser zum Schluß fragt: „. . . ob er denn nicht offenbar dem Hölderlin viel, vielleicht zu viel, verdankt?" 876 H e s s e , H e r m a n n (Bremen), Faust und Zarathustra. Vortrag, gehalten in der Bremer Ortsgruppe d. Dt. Monisten-Bundes am 1. Mai 1909. O t t o Melchers. Bremen (1909). 32 S. Beide „Altäre", der des „Faust" wie der des „Zarathustra" sind dem Verfasser „heilig", doch ist der „Tempel" Goethes noch die Stätte „der dudistischen, sittlichen Weltordnung", wo man noch mit „Unvollkommenheit" behaftet, „mit Sünde und Schuld, erlösungsbedürftig ist". Erst Darwin sei dazu berufen gewesen, „das Problem der Entwicklung aufzurollen . . e i n zweiter Kopernikus", der „ein neues Weltbild schuf und einer neuen, einheitlichen monistischen Lebensauffassung die Wege ebnete". Sein großer „Schüler und Mitstreiter Ernst Haeckel" habe sein Werk erfolgreich und konsequent „auf naturwissenschaftlichem und naturphilosophischem Gebiete" fortgeführt. Und zu diesen beiden gehöre „vor allem . . . Friedrich Nietzsche". Er biete „ein großes, neues köstliches Evangelium; es sind Hohelieder des Edeltums, Psalmen der Liebe und Verheißungen der Seligkeit; es ist der ganze, große, gewaltige Tempelbau einer reinen, hoheitsvollen Menschenseele". „Auf dem uns gemeinsamen Boden" stehe Zarathustra, nämlich auf dem „der Einheit und der Entwicklung", und er mache frei „von dem Zwiespalt, den die Gewöhnung an das alte, dualistische, faustische Weltbild immer wieder in unserer Seele entfacht". — „Er war der Verkanntesten, Einsamsten einer, dessen H e r z überfloß von Liebe zum Menschengeschlechte . . ."302 A Y Friedrich N i e t z s c h e s / Briefe an Mutter und / Schwester / H e r ausgegeben v o n Elisabeth / Förster-Nietzsche / Erster (bzw.: Zweiter)
302
Hesse, Hermann Albert (Weener/Kr. Leer 22. 4. 1877 - Wuppertal 26. 7. 1957), evangelisch-reformterter Theologe; also nicht, wie häufig angenommen wird, der Dichter (s. hierzu: Mileck, J., Hermann Hesse. Biography and Bibliography. Vol. 1. Univ. of Calif. Press [1977], S. 166).
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Band / Erschienen im Insel Verlag, Leipzig / 1909. X , 400 S. V , S. 4 0 1 - 8 3 2 , 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Neben Briefen an die Mutter, die Schwester und gegen Schluß auch an den Schwager stehen solche, fast ausschließlich nach Entwürfen, an Malwida (Nr. 343, 351), Wagner (Nr. 174), Paul Rèe (Nr. 346, 352, 363), Lou (Nr. 349, 350, 367), Georg Rèe (Nr. 361), den Verleger (Nr. 246), den Präsidenten des Erziehungsrates (Nr. 247), Overbeck (Nr. 418, 440, 446, 460, 483) sowie der Regierungsbeschluß vom 14. 6. 1879 (Nr. 248) und die Entlassungsurkunde (Nr. 249). A Y a Dass, in einem Band. 1926. (3. Aufl.). 1 T a f . , VIII, 547 S. Bildet eine wesentlich veränderte Neuauflage: 92 Briefe, wurden fortgelassen (Nr. 1, 11, 13, 16, 25, 26, 55, 58, 60, 63, 65, 66, 67, 71, 80, 92, 95, 96, 104, 125, 126, 140, 142, 150, 165, 174, 189, 195, 196, 199, 201, 203, 2 1 3 - 2 1 8 , 229, 232, 233, 236, 242, 243, 250, 257, 260, 261, 262, 264, 270, 274, 275, 280, 283, 285, 288, 289, 292, 295, 298, 303, 307, 313, 317, 331, 333, 340, 341, 3 4 3 - 3 5 2 , 361, 363, 367, 418, 419, 436, 440, 446, 460, 483, 486, 493); bei 50 wurden meist kleinere, doch gelegentlich auch absatzlange Kürzungen vorgenommen (Nr. 8, 31, 32, 36, 38, 40, 43, 46, 51, 64, 70, 73, 78, 86, 88, 92, 93, 94, 106, 112, 114, 115, 116, 124, 127, 129, 130, 134, 136, 137, 139, 143, 154, 161, 166, 168, 169, 219, 228, 244, 255, 299, 305, 339, 362, 366, 417, 426, 475, 489); neu sind dagegen 7 Briefe (Nr. 47—50, 399, 402 und ein unnummerierter auf S. 232 „nach einem Entwurf"); sowie die mitunter lesenswerten Anmerkungen auf S. 27, 51, 67, 79, 93 f., 96, 163, 170, 196, 197, 224, 229, 262, 266, 321, 424. A2 Friedrich N i e t z s c h e : D e r H e r b s t / N a c h n e u e n M e e r e n / V e r e i n s a m t / D a s F e u e r z e i c h e n / D i e S o n n e sinkt; in: Leipziger A n t h o l o g i e . G e dichte ehemaliger Leipziger Studenten seit 1870. Festgabe z u m 500jährigen Jubiläum der Universität Leipzig hg. v. Gustav W e r n e r Peters. G. Merseburger. Lpz. 1909, S. 1—7. 877 Düringer, Reichsgerichtsrat Dr. (Leipzig), Fr. N i e t z s c h e s E c c e h o m o . (BdG H . 5 ν. Mai 1909, S. 1 7 7 — 1 8 1 ) . Eine entschieden ablehnende Besprechung des Werkes (AP), das, trotz des Preises von 20 Mark schon vergriffen, „wie alles aus der Feder Nietszches, . . . reizvoll, pikant, geistreich, formvollendet geschrieben" sei, „wie geschaffen f ü r die Blasiertheit hyperzivilisierter, vom Genußleben übersättigter Gesellschaftskreise". 878
Reiner, Paul, Friedrich N i e t z s c h e und der A l k o h o l . ( I M E A 19,
1909, S. 178 ff.). Verfasser möchte durch eine Stelle aus dem „Ecce h o m o " „den Freunden Nietzsches unter den Lesern dieser Zeitschrift" nahelegen, „wie der sensible O r g a nismus Nietzsches auf Alkohol reagierte". Die eigene Einstellung verrät sich allzu deutlich in folgender Mahnung: „Aus dieser persönlichen Äußerung Nietzsches etwa f ü r unsere Bewegung Kapital schlagen zu wollen, hieße schlimmer als geschmacklos sein. Nietzsches Verhalten zum Alkohol ist physiologisch und ästhetisch, also persönlich, will sagen nicht ethisch oder sozial bestimmt."
1909 Der „ U r m u s i k e r "
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879 Aschkenasy, Dr. H., Voluntaristische Versuche in der Religionspsychologie. (ZPhK Bd. 135, H. 2, 1909, S. 1 2 9 - 1 4 9 ) . Verfasser geht von der Voraussetzung aus, daß die Religion zugleich „eine Erkenntnis" und „eine aus dem lebendigen Willensdrange heraus geborene Schöpfung der Seele ist", worin sich ihm das Problem „des Zusammenhanges des Willens mit dem Intellekt" auftue. Er möchte nun zwei diesem Problem gewidmeten Theorien kritisch beleuchten: „Die Psychologie der Religion in der Philosophie Nietzsches und die neuerdings aufgestellte Theorie von Ebbinghaus" in dessen „Abriß der Psychologie". Schopenhauer gegenüber sei „das durchaus Neue und Originelle in Nietzsches Ästhetik" nicht die Unterscheidung des Apollinischen vom Dionysischen, sondern die Vorstellung, daß jenes sich aus diesem „notwendigerweise" entwickele. In seiner Auffassung des Willens habe „der Keim zu einer neuen Betrachtungsweise der Religion" gelegen, doch habe er in der zweiten Periode seines Schaffens die Grundanschauung vertreten, „daß der Religion keine spezifische Verhaltensweise des Willens zugrunde liegt". Er rühre zwar „an dem tiefsten Grunde des religiösen Problems", doch verursache „die aus der Metaphysik Schopenhauers stammende Unklarheit" in seinem Gebrauch vom „Begriff des Willens", „daß er sich mit der Beschreibung der subjektiven Zuständlichkeit des Ich begnügt". Seine Psychologie der Religion bedürfe „einer erkenntniskritischen Untersuchung als Ergänzung". „Was er in unübertroffener Weise beschreibt, das sind einzelne Seelenstimmungen und der Einfluß religiöser Lehren auf Gemüts- und Willenszustände der Individuen", und diese „müssen als Bausteine verwendet werden zu einer objektiven Begründung der Religion". Ebbinghausens Ausführungen, denen zufolge die Religion als „Anpassung an das Über der Voraussicht" zu verstehen sei, scheitern schon an dem Glauben eines Spinoza. In der Religion werde neben dem „Willensmoment" „der gedankliche Zusammenhang zu einem Symbol des Erlebnisses", wie etwa die Form in der Kunst, und „die Beschreibung und Erweiterung des Symbolbegriffs in dieser Richtung bilden jetzt die vornehmste Aufgabe der Religionspsychologie". 880 Schmekel, A. (Greifswald), (Ebd., S. 258 f.). Eine recht sachliche Besprechung des Werkes von Oehler (Nr. 387), das als „eine sehr erfreuliche, möglichst objektiv gehaltene Bereicherung der Nietzsche-Literatur zu bezeichnen" sei. 881 Joël, Prof. Dr. Karl (Basel), Friedrich Nietzsches Briefe an Peter Gast. (FZg Nr. 142, 144 v. 23. u. 25. 5. 1909). Bespricht die Briefe (AR), die Nietzsche „ergreifend l i e b e n s w ü r d i g " erscheinen lassen: „Das öffentliche Charakterbild Nietzsches erhält durch diese Briefe einen neuen, ungewohnten Zug, einen weichen Augenglanz, und die Versicherungen aller, die ihm nahestanden, über den unendlichen Zartsinn seiner Liebenswürdigkeit erhalten hier erst vollen Beleg." Es sei nicht Zufall, daß „der einzige Jünger, den dieser Philosoph erlebte, ein M u s i k e r war", denn niemand habe so von der Musik gesprochen außer Schopenhauer und den Romantikern, „Musik ist ihm Anfang, Mitte und Ende, Mut, Leben und Trost." Die Briefe zeigen „den U r m u s i k e r Nietzsche, dessen Seele lyrisch bewegter Affekt ist, der Denken und Leben der Welt tönen machen möchte".
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1909 Ferdinand Ebner
Eine zuerst äußerst ablehnende Einstellung zu Nietzsche, die dann allmählich verständnisvoller wurde, verrät sich in den Äußerungen Ferdinand Ebners. Die Begegnung läßt sich zunächst anhand einer von Ebner selber zusammengestellten Leseliste verfolgen: im Mai 1909 „Zarathustra 1. — 3. Buch", im August „Nietzsche, Fall Wagner, Contra Wagner, Antichrist, Götzendämmerung" und im Juli 1910 „Nietzsche, Fröhliche Wissenschaft".303 Im Juni 1911 fällt dann die erste Erwähnung im Tagebuch: „Nietzsche — der verlogenste aller Philosophen. Siehe die ,Fröhliche Wissenschaft'. Mußte er nicht dieses Buch schreiben um sich selbst dadurch Genesung vorzulügen? Aber er war eben vielleicht eines gar nicht imstande, dessen gerade der Philosoph fähig sein müßte: zum unaufhaltsamen Sterben in sich selbst ja zu sagen."304 Im Oktober desselben Jahres: „Schopenhauer und Nietzsche haben deshalb so viele Leser — und unter diesen so viele wahrhaft unphilosophische Leser — gefunden, weil bei der Lektüre ihrer Schriften gewisse affektive Bedürfnisse im Menschen auf ihre Rechnung kommen. Das ist ja such zweifelsohne der Grund, warum gerade die Jugend so leicht in den Bann dieser Philosophen gerät."305
303
304 305
F. E., Schriften. (Hg. v. Franz Seyr). II. Bd.: Notizen, Tagebücher, Lebenserinnerungen. Kösel. Mchn. (1963), S. 1122 f.; Ebner, Ferdinand (Wiener Neustadt 31. 1. 1882 — Gablitz 17. 10. 1931), 1902 Unterlehrer in Waldegg, 1912—1923 in Gablitz. Ebd., S. 311. Ebd., S. 313; im März 1913 schrieb er: „Wagner hat f ü r mehr als eine Generation den Geist des Musikmachens verdorben, Nietzsche den des Philosophierens. Man muß im Grunde genommen ein schlechter Psychologe sein, sowohl um die Musik Wagners mit innerer Befriedigung zu hören, als auch ebenso Nietzsche lesen zu können. Sind es nicht immer .Rauschbedürftige', die Wagner hören und Nietzsche lesen wollen?" (Ebd., S. 326) Im Juni desselben Jahres: „Es ist ein tiefer Irrtum Nietzsches, wenn er meint, die Lust wolle die Ewigkeit. O d e r meint er die Ewigkeit des Nichts?" (S. 214) Im Zusammenhang mit seiner Ablehnung des „Gauklers" H e r m a n n Bahr heißt es in einem Brief an Luise Karpischek vom 28. 8. 1913: „An dergleichen Phänomenen mag Nietzsche ein wenig mit Schuld haben. Der hat den Geist des philosophischen Sichauslassens über die Dinge ebenso verdorben wie Wagner den Geist des Komponieren . . (Ebd., III. Bd.: Briefe. [1965], S. 40 f.) In einem Brief an dieselbe v. 11. 10. 1914: „Wenn man einen C h a r a k t e r hat, erlebt man immer dasselbe, heißt es bei Nietzsche. Zweifelsohne muß ich C h a r a k t e r haben . . . " (Ebd., S. 81) Am 29. März 1915 berichtet er ihr, daß er „in den Nietzsche-Briefen" gelesen habe (S. 86) und vermerkt in seinem Tagebuch am 21. April 1916: „Das wahrhaftige Philosophieren ist ein leidenschaftliches Verhältnis zur Philosophie, ist eine Leidenschaft wie die verliebte Leidenschaft eines Jünglings. Bei allen großen und bei allen wirklichen Philosophen war es so. Bei Kant, der die Metaphysik seine vergebens u m w o r b e n e Geliebte nennt, nicht weniger etwa als bei Piaton und seinem philosophischen Eros. So war's bei Giordano Bruno, bei Schopenhauer, bei Nietzsche und wohl auch bei Spinoza." (Ebd., II. Bd., S. 616) Im Februar 1917 verzeichnet er: „Ein Geschlecht, das in Nietzsche den eigentlichen Ausdruck seines philosophischen Wollens sehen konnte, das seine ästhetischen Bedürfnisse am intensivsten am Schaffen Richard Wagners befriedigt fühlte — konnte das geistig anders als mit der Psychoanalyse enden? — Nietzsche und Richard W a g n e r — je-
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1909
882 Scharlitt, Bernard, Nietzsche Nr. 16088, 1909).
an seine Angehörigen.
(NFPr
Eine recht lange, h o c h l o b e n d e , aber kaum Eigenes bietende Besprechung der Briefe an Mutter und S c h w e s t e r (AY).
883 Richter, Raoul, Nietzsches Ecce homo, ein Dokument der Selbsterkenntis und Selbstverkenntis. Vortrag im Akademisch-Philosophischen Verein (1909). ( D R Bd. 34, H. 6 v.Juni 1909, S. 3 1 1 - 3 2 0 ) . der hat sich auf seine Weise an Jesus vergriffen." (Ebd., S. 347 f.) An Luise Karpischek schrieb er am 29. 3. 1917, daß Nietzsche „weder ein Philosoph noch groß" gewesen sei (Ebd., III. Bd., S. 147), und am 15. Juni: „Ich kannte bisher den ,Willen zur Macht' nicht und jetzt sehe ich, daß er mir interessanter ist als Zarathustra (den ich vielleicht überhaupt niemals mehr lesen werde). Ich staune nur über eins. Nietzsche ist doch ganz gewiß die bedeutendste geistige Potenz der Deutschen vor dem Krieg. Und wie wenig tiefere Vorahnung dessen, was sich jetzt in Europa zuträgt (und wieviel aber bei Dostojewsky, bei Tolstoi — — !!!)." (Ebd., S. 165 f.) Ganz ähnlich schrieb er dann zwei Tage später, am 17. Juni, ins Tagebuch: „Am Donnerstag hatte ich mir aus Wien auch einen Nietzscheband — Wille zur Macht — mitgenommen, in dem ich jetzt ebenfalls lese, mit mehr Interesse, als ich sonst für Nietzsche übrig habe. Manches Erstaunliche: wie oft er ganz und gar recht hat — und dann aber auch, wie in ihm, der doch ohne Zweifel die bedeutendste Potenz im geistigen Leben der Deutschen vor dem Kriege war, so wenig Vorahnung für das, was sich gegenwärtig in Europa zuträgt, zu finden ist. Ganz anders als bei Tolstoi oder gar Dostojewsky." (Ebd., II. Bd., S. 714) Am 24. Mai 1917 vermerkte er über einen Band von Carl Dallago: „Heute morgens wurde ich mit den Essays von Dallago fertig: Christus und Nietzsche — Laotse und Christus — überhaupt der Geist des Fernen Ostens tiefere Mißverständnisse eines notwendigen Eigenbrötlers??" (Ebd., S. 760 f.) und am 16. Dezember: „,Die Ohnmacht gegen den Menschen, nicht die Ohnmacht gegen die Natur, erzeugt die desperateste Verbitterung gegen das Dasein.' (Nietzsche). Die Ohnmacht gegen den Menschen, das ist es ja schließlich, was mich in meinem Erlebnis am Menschen so zermürbt hat. Aber — habe ich so etwas wie Verbitterung gegen das Dasein jemals in mir aufkommen und großwerden lassen? Bin ich überhaupt innerlich zu einer derartigen psychischen Attitude der Selbstbehauptung veranlagt?" (Ebd., S. 745) Am 25. März 1918: „Ein unreligiöser, antireligiöser Individualismus ist etwas Entsetzliches (oder eine Narrheit). Nietzsche hat einen geistigen Fehlgriff getan, an dem er auch geistig z u g r u n d e g i n g . . . Der Dichter, der das Problem seines Schaffens nicht im vornhinein als ein .ästhetisches' empfängt, sondern als ethisches, und dieses ethische Problem hinterher erst in die ästhetische Distanz rückt: muß der nicht geistig zugrundegehen? Wahnsinnig werden? (Ibsen?? Aber vielleicht auch Nietzsche: denn der war doch von Haus aus ein .Dichter' und nicht ein Philosoph, und nicht ein Dichterphilosoph, sondern ein Dichterethiker. Welcher Mensch hielte das geistig aus?)" (Ebd., S. 362 f.) und am 2. August 1918 schrieb er an Luise Karpischek wieder: „Ging nicht auch Nietzsche an der prinzipiell auf die Spitze getriebene Icheinsamkeit seines Geistes im Wahnsinn zugrunde? Lies doch seine Briefe mit Aufmerksamkeit — überall wirst Du es spüren, wie sein ,Wort' immer weniger und weniger den Weg zum Du hinfindet, wie es immer mehr und mehr am Du vorbeispricht — in die unendliche Nacht und Einsamkeit des Wahnsinns hinein. Erinnerst Du Dich, daß ich einmal zu Dir sagte — veilleicht auch, daß ich es Dir in einem Brief schrieb — wir alle hätten irgendwie etwas vom Wesen Nietzsches an uns? Weil wir eben irgendwie geistig am Menschen des 19. Jahrhunderts kranken. An jenem Menschen, der sich in seiner geistigen Verzweiflung in diesen Krieg hineinstürzte." (Ebd., III. Bd., S. 223) Worin Ebner endlich den eigenen Frieden fand, wird in einer Eintragung vom 22. 2. 1920 sehr deutlich: „Die Freiheit des Geistes ohne Christus ist geistige Verlorenheit (Nietzsche?)" (Ebd., II. Bd., S. 514).
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1909 „der Rousseau des neunzehnten Jahrhunderts"
D a Nietzsche mit Fichte auf dem Standpunkt stehe, „was f ü r eine Philosophie man wähle, hängt davon ab, was f ü r ein Mensch man sei", sei es ihm Pflicht gewesen, das „Ecce h o m o " zu schreiben. „Eine Psychologie der Philosophie g r o ß e n Stils hat erst Nietzsche geschaffen." D e n „Gipfel der Selbsterkenntis" erreiche sein Streben dort, w o er sich einer „Instinktsicherheit und Selbstzufriedenheit" r ü h m e n , die doch nur „tragisch-ironische Maske ist, in welcher die unheilvolle Z e r s e t z u n g der Persönlichkeit, die Krankheit ihren T r ä g e r narrt". Ein Vergleich des W e r k e s mit Rousseaus „Confessions" müßte „die auch sonst nahegelegte Anschauung b e w a h r heiten, daß die geschichtliche Gesamtstellung Nietzsches sich etwa so bezeichen ließe: Nietzsche ist der Rousseau des neunzehnten J a h r h u n d e r t s gewesen". 8 8 3 a A u c h in N r . 5 7 3 a , S. 2 0 5 — 2 2 3 . U n v e r ä n d e r t .
884 Bernoulli, Carl Albrecht, Nietzsches Welt. (M 3, 1909, Bd. 2, 4 5 8 - 4 6 5 ; Bd. 3, S. 3 3 - 3 6 , 1 1 3 - 1 1 7 , 1 9 3 - 1 9 9 ) . Verfasser möchte bei seinem Gegenstand „einem S y s t e m . . . nachspüren", in der Ansicht, daß „der Mangel einer durchgreifenden Gliederung" lediglich „der Form" a n h a f t e : „Wagt man den Griff und verteilt die Nietzsche eigentümlichen Ansichten gruppenweise in die Felder des philosophischen Schemas, so breitet sich ein geschlossenes und ebenmäßiges Bild seiner Welt vor uns aus." Die einzelnen Felder, die dann der Reihe nach beleuchtet werden, heißen: Ästhetik, sowohl als „formales" wie auch als „materiales Prinzip", Erkenntnistheorie, Psychologie, Ethik, Soziologie und Metaphysik. Z u m Schluß stützt sich Verfasser in seinem „letzten W o r t e über Nietzsche" auf das Urteil „seines treuen Freunde Franz O v e r b e c k " , der ihm „eine einseitig rhetorische Begabung" und einen „heroischen C h a r a k t e r " z u e r k a n n t habe: „Seine hinreißende Ü b e r r e d u n g s k r a f t , zu Stein und Stahl verhärtet in der unbeugsamen Mannhaftigkeit seines Geistes und H e r z e n s , machen aus ihm den unheimlichen, gespensterhaften, riesenmäßigem D ä m o n , der, wir mögen wollen oder nicht, nun eben unentrinnbar über uns waltet."
885 Lauscher, Religions- u. Oberlehrer Dr. A(lbert), Friedrich Nietzsche. (MCG 4, 1909, S. 3 4 3 - 3 5 0 ) . Nietzsche ist dem Verfasser vor allem Kulturphilosoph, dessen „vermeintliche E n t d e c k u n g e n " aber „nichts anders sind als ebensoviele Nachbildungen christlicher Gedanken, freilich entstellte, verzerrte Nachbildungen". Er bleibe z u n ä c h s t „eine G e f a h r , vor der nachdrücklich gewarnt werden muß", obwohl die Zeit nicht „allzuferne" sein dürfte, „wo man sich dahin einigen wird", ihn „eine Krankheit, h o f f e n t lich eine gut überstandene Krankheit zu nennen".
886 Lorenz, Felix (Berlin), Nietzsches Selbstbekenntis. Eine Studie. (Geg Bd. 76, Nr. 35, 1909, S. 654—658). N e n n t das „Ecce h o m o " eine „Selbstabrechnung über das Leben und dämonische Wollen des revolutionärsten Geistes, den das J a h r h u n d e r t gebar", „Seine drei Erzfeinde: Deutschland, Christentum und Idealismus" scheinen ihm darin „noch wutreizender geworden zu sein". D e m Besprecher ist das W e r k aber im g r o ß e n und ganzen ein Beispiel „tragischer V e r n a r r u n g " , „überall ein Schauspiel". W a s „das Wichtigste an diesem Vermächtnis bleiben" werde, sei, wie er „jedes einzelne seiner
1909 „Der Grundzug . . . seiner Weltanschauung ist . . . Plötzlichkeit."
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geschaffenen .Schicksalswerke' zerlegt". Diese „Abschiedsworte an die Welt" seien „in der alten, am höchsten Griechentum erwachsenen Kraft und in der edelsten Form gesprochen, aber in all ihrer übermäßigen Sonne schon düster umweht von acherontischem Grausen". 5 0 '
887 Ewald, Oskar, Darwin und Nietzsche. (ZPhK Bd. 136, 1. Ergänzungsbd., 2. Ergänzungsheft, 1909, S. 159—179). Obwohl Darwin „einen . . . beispiellosen Einfluß auf sein Zeitalter geübt" habe, der sich „bloß mit dem Hegels vergleichen" lasse, und man „den psychologischen Einfluß der Selektionslehre Darwins auf Nietzsche . . . schwerlich" werde leugnen können, glaubt Verfasser dennoch, die Frage, „ob Nietzsche in den entscheidenden Höhepunkten seines Schaffens wirklich Darwinist gewesen sei", verneinen zu müssen. Er sei weder „Evolutionist" im Sinne Lamarcks noch „Darwinist" gewesen. Er stelle vielmehr der Evolution „die Revolution" gegenüber: „Der Grundzug Nietzsches und seiner Weltanschuung ist S p o n t i n e i t ä t , Plötzlichkeit." Neben dem Gedanken vom Ubermenschen sei der von der „ewigen Wiederkehr" von „durchaus zentraler Bedeutung". Der Widerspruch zwischen beiden Gedanken löst sich dem Verfasser auf, indem er den letzteren als „ein Symbol" nimmt: es handele sich „hier nicht um ein logisches, intellektuelles, sondern um ein emotionelles, um ein G e f ü h l s s y m b o l " . Beide Gedanken seien „im Grund eine e i n z i g e I d e e " . Nietzsche habe mit Kant „das gesteigerte Verantwortlichkeitsgefühl, den Glauben an die höhere Form des Willens", gemeinsam; während dieser aber „ein einziges Sittengesetz . . . und demgemäß eine einzige moralische Daseinsform, eine einzige Art Persönlichkeit", gekannt habe, „glaubt Nietzsche im Grunde an ebenso viele Übermenschen als es Menschen" gebe. „Wenn die alte Philosophie das Leben Erkenntis nennt, so kehrt Nietzsche das Verhältnis um: f ü r ihn ist die Erkenntnis Leben."
888
Havenstein, Martin, (Ebd., S. 242—247).
Bespricht die beiden Bände des Bernoullischen Werkes (Nr. 696), das „kein Gewächs, sondern ein Konglomerat" darstelle. Man finde darin „freilich auch mancherlei Gutes", und die Arbeit als solche sei „in biographischer Hinsicht doch als eine nicht von der Hand zu weisende Ergänzung" der schwesterlichen Lebensbeschreibung anzusehen. An der Behandlung einzelner Fragen hebt er Bernoullis Besprechung der „nach dem Verhältnis . . . zur Religion" sowie die Feststellung eines „altruistichen Elements" hervor. Verfasser bemühe sich „redlich, Nietzsche philosophisch zu begreifen . . . , aber epochemachend sind seine Bemühungen keineswegs". Hiermit schlägt die Besprechung in eine alles andere ausschließende Verteidigung der Schwester gegen den „groben Beleidiger" um.
889 1909).
Wendriner, Karl Georg, Nietzsche der Freund. (Tag Nr. 226,
Besprechung der Briefe an Gast (AR), welche „vor allem die Liebenswürdigkeit, Herzlichkeit und Opferfreudigkeit des Menschen Friedrich Nietzsche, dessen Bild so oft von unberufenster H a n d zerstört worden ist", zeigen. Als einzigen V o r -
306
Lorenz, Felix (Berlin 23. 12. 1875 — ebd. 28. 6. 1930), Schriftsteller.
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1909
behalt äußert Rezensent Zweifel an Nietzsches „Wertschätzung des Komponisten Peter Gast". 890 Sawicki, Dr. Franz (Prof. a. Priesterseminar in Pelplin), D a s Problem der Persönlichkeit und des Ubermenschen. F. Schöningh. Paderborn 1909. VIII, 446 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). ( = Schriften z. Philosophie u. Religion. 4. H e f t ) . Untersucht zunächst die bisherige Darstellung des Begriffes der „Persönlichkeit" bei Kant, J. G. Fichte, Hegel, Schleiermacher, K. Chr. F. Krause, J. H . Fichte, Trendelenburg, Herder, Schiller, Goethe, den Romantikern, Feuerbach, Stirner und dann Nietzsche (S. 115—124), an dem anzuerkennen sei, etwa Stirner gegenüber, daß „die innere Größe des Menschen als Gegenstand des sittlichen Strebens genannt wird" sowie überhaupt „das Eintreten für das Recht der Einzelpersönlichkeit". Doch verkenne er gänzlich „den s o z i a l e n Charakter der menschlichen Persönlichkeit". Unmittelbar auf Nietzsche folgt Ellen Key, „eine begeisterte Schülerin Nietzsches", obwohl sie „manche Schroffheit Nietzsches preisgibt". Es folgen noch Umrisse der betreffenden Lehren von Ibsen, Carlyle, bei dem manches an Nietzsche erinnere, der aber „einen ganz besonderen Fortschritt" über jenen hinaus dadurch bedeute, „daß er den Wert der Religion für die menschliche Persönlickeit zu würdigen weiß", Emerson, bei dem manches an Gedanken Nietzsches anklinge, dessen Individualismus jedoch „edler" sei, Schopenhauer, Ed. v. Hartmann, R. Eucken, W. Wundt, Fr. Paulsen, Th. Lipps, M. Wentscher, L. Gurlitt, H . Dreyer, W. v. Bechterew, J. Seth, E. Pfennigsdorf, Joh. Müller, P. M. Deutinger, H . Schell und J. Mausbach, Gesondert behandelt wird „das Problem des Übermenschen" auf S. 414—425. Dieses „Ideal" ist dem Verfasser „nicht die Ausgeburt der krankhaften Phantasie und des wahnwitzigen Stolzes eines einzelnen Denkers, es ist vielmehr aus der innersten Natur des Menschen und aus den Zeitverhältnissen spontan herausgewachsen". — „Mit feinem Verständnis hat Nietzsche in der Seele des modernen Menschen gelesen." Dem allem stellt Verfasser die katholische Auffassung der „Persönlichkiet" entgegen, welche das Göttliche und das Soziale daran in den Vordergrund stelle.507 891 Schlosser, Heinrich (Schaffhausen), Franz Overbeck und Friedrich Nietzsche. (BRs III, 7, 1909, S. 186—189). Eine wohlwollende aber recht oberflächliche Besprechung des zweiten Bandes des Bernoullischen Werkes (Nr. 696), die sich darin nicht genug tun kann, an dem Werk die „willkommene Aufklärung über manche dunklen Dinge im Streite Overbeck-Archiv" zu preisen. 892 Oehler, Dr. Richard (Friedenau-Berlin), Das Nietzsche-Archiv als Stiftung. ( B D B 76. Jg., Nr. 156 v. 9. 7. 1909, S. 8140 ff.). Beschreibt die Einrichtung des Archivs seit der „Neugestaltung" als Stiftung. 307
Ähnliches, wenn auch weit weniger umfassend und ohne die geschichtlichen Bezüge, bietet Verfassers: Individualitat und Persönlichkeit. Ferd. Schöningh. Paderborn u. Würzburg (um 1911). 1. Bl., 83 S., 2 Bll. ( = Ideal u. Leben. E. Slg. ethischer Kulturfragen hg. v. Dr. J. Klug. VI. Bd.). Über Nietzsche darin auf S. 25 f., 28, 67, 78.
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1909 Der „Paralytiker"
893 Eckertz, Dr. Erich (Düsseldorf), Hamlet und Nietzsche-Zarathustra. ( M N N Nr. 327 v. 15. 7. 1909). Findet fast ausschließlich Ähnlichkeiten in diesem Vergleich Nietzsches mit H a m l e t ; lediglich „das Milieu der beiden Psychologen ist z u verschieden, als daß m a n einen Vergleich der G e w a l t e n , an denen sie ihren Geist üben, ausdehnen k ö n n t e " . „Wir haben hier zwei tragische Spieler, die ihr physisches U n v e r m ö g e n , ihre Q u a l e n , körperliche wie seelische, und nicht zuletzt die Pein ihrer G e d a n k e n v e r b o r g e n halten unter der M a s k e des H a r t w e r d e n s , der L e b e n s b e j a h u n g , der lac h e n d e n , hellen Bosheit, zwei Spieler, von denen der eine sich wahnsinnig
stellt
und unterliegt, der andere sich wahnsinnig m a c h t und unterliegt."
894 Mayer, Adolf, Übermensch und Paralytiker. ( D W b 8. Jg., Nr. 29 v. 1 6 . 7 . 1909, S. 285 ff.). Stellt N i e t z s c h e als Paralytiker hin, vornehmlich um „den Z a u b e r zu brechen, da n u r auf diese Weise die Illusion, die gerne S c h w ä c h e f ü r S t ä r k e nimmt, l a n g s a m verschwindet". E s sei überhaupt „ u n g e m e i n wichtig, den morschen Einschlag in d e m blendenden G e w e b e unter der L u p e a u f z u w e i s e n " . D i e einzelnen Anzeichen der K r a n k h e i t , die sich v o r allem im „ E c c e h o m o " zeigen, seien „ G r ö ß e n w a h n " , „ S c h w a c h s i n n in b e z u g auf die Beurteilung des Schicklichen", „ N e i g u n g z u m V e r i fizieren der gewöhnlichen R e d e " und „die g e r i n g f ü g i g e R o l l e " des A n g s t g e f ü h l e s . „ E c c e h o m o " , von dem er z u berichten weiß, daß es „unmittelbar nach seinem E r scheinen schon v e r g r i f f e n " g e w e s e n sei, z u m Anlaß n e h m e n d , entscheidet sich der V e r f a s s e r für die Bezeichnung „ P a r a l y t i k e r " , indem er seine Beurteilung auf die A u s f ü h r u n g e n g ä n g i g e r Fachbücher und -Zeitschriften stützt. G e g e n Schluß entfallen ihm aber auch f o l g e n d e W o r t e : „Vieles muß z u s a m m e n t r e f f e n , damit das seltene in E r s c h e i n u n g t r i t t . . . D a s W u n d e r s a m e und Seltene wirkt immer faszinierend auf k o n g e n i a l e Seelen, die in unserer Zeit der D e k a d e n z b e s o n d e r s zahlreich sind."
BA Friedrich Nietzsche und Karl Hillebrand. Unveröffentlichte Briefe. M. e. Begleitwort v. Otto Crusius. ( S D M h 6. J g . , H . 8 v. Aug. 1909, S. 129—142). Bringt zwei Briefe Nietzsches an Hillebrand sowie vier Briefe Hillebrands an N i e t z s c h e und einen Hillebrands an H . v. B ü l o w aus dessen „Briefen und Schriften", B d . V I I , S . 222 f. Im Begleitwort w ü r d i g t Crusius H i l l e b r a n d und streift die m ö g l i c h e V e r w a n d t s c h a f t und gegenseitige Beeinflussung von N i e t z s c h e und Hillebrand.
895 Weber, Dr. Lic., D a s „alte" und das „neue" Paulusbild. ( N K Z s 20. J g . , H . 8, 1909, S. 6 2 6 - 6 4 9 ) . V e r f a s s e r geht von der Feststellung aus, daß Paulus „ d e r eigentliche T r ä g e r des H a s s e s " sei, „durch sich wider d a s geschichtliche Christentum a n g e s a m m e l t hat". In diesem H a s s e „berühren sich Fr. N i e t z s c h e und Paul d e L a g a r d e , der Philosohp des U b e r m e n s c h e n t u m s , der .Religion' der R a s s e n e r h ö h u n g und
Kraftvergötterung,
und der H e r o l d einer lebensfrohen germanischen M y s t i k " . (S. 6 2 7 ) V e r f a s s e r stellt dann die „ G e n e s i s " des m o d e r n e n Paulusbildes dar, um z u untersuchen, o b es ein echtes sei: von den ersten „ V ä t e r n d e r O r t h o d o x i e " über Ferd. Christ. B a u r , dessen
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1909 „wie ein eleusisches Geheimnis"
Darstellung Pauli „die Karikatur der orthodoxen Behandlung" sei, und dessen „scharfsinnigen Schüler" C. Holsten bis zu den Kräften der „Umgestaltung", Albrecht Ritsehl und Harnack. Wie Lagarde „die Kritik des alten Paulusbildes geliefert" habe, so biete Nietzsche „die klassiche Kritik des Mystikers, Apokalyptikers und Kirchenmannes . . . im modernen Paulusbild", eine Kritik, „die ja zeitlich sogar der theologischen Ausbildung des modernen Paulusbildes lange voraufgeht". Man merke aber seinen Sätzen „auf jeder Zeile an, daß sie vom wütenden H a ß diktiert sind" (S. 6 4 0 - 6 4 3 ) .
896 Hofmiller, Josef, Nietzsches Briefe an Gast. (SDMh 6. Jg., H. 9 v. Sept. 1909, S. 300—310). Bespricht den vierten Briefband (AR) und zeichnet dabei „das Bild einer Erkrankung": „Im August 1881 findet er den Gedanken der ewigen Wiederkunft wie eine Natter auf dem heißen Stein . . . Daß er nicht mehr genug H e m m u n g e n in sich aufbringen konnte, sich von der vernunftwidrigen Bezauberung durch diesen Gedanken loszureißen, beweist nur, wie krank er schon war." N a c h neun Seiten solcher und ähnlicher Feststellungen fallen Schlußsätze wie der folgende etwas schwach aus: „Vielleicht kommt sogar eine Zeit, da dieser N a m e , in Vergessenheit zurückgesunken, dem Epheben wie ein eleusisches Geheimnis vom Eingeweihten leise mit allen Zeichen der Ehrfurcht mitgeteilt wird."
897 Ders., Nietzsche und seine Schwester. (Ebd., H. 10 v. Okt. 1909, S. 395—403). Bespricht die Briefe an Mutter und Schwester (AY), an deren Veröffentlichungsweise mehreres bemängelt wird. Von einiger Wichtigkeit ist die Veröffentlichung der „verschiedenen Briefentwürfe aus Notizbüchern Nietzsches", die Kögel sich ausgeschrieben habe, „um durch sie zu beweisen, daß Nietzsche selbst seine Schwester als Herausgeberin, gar als Repräsentantin seines Werkes, abgelehnt hätte". Verfasser will damit aber nur „den toten Kögel von dem V o r w u r f e dreister Erfindung" reinigen, denn er selber finde sie im größeren Zusammenhang „harmlos". Er überliefert noch folgende Erzählung Kögels: „Was die Briefe Nietzsches an Wagner anlangt, so sind sie, wie Frau Cosima W a g n e r seinerzeit Dr. Kögel gegenüber versicherte, verloren gegangen: .vielleicht (elle cherchait le mot) bei einem Umzüge.' H e r r von Wolzogen und Professor von Hausegger, die als Thronassistenten zu der Audienz zugezogen waren, hörten diese Versicherung mit vollem Ernste an, wie Dr. Kögel nicht verfehlte hinzuzufügen, so o f t er die kleine Anekdote erzählte."
898 Saenger, Samuel, Ecce homo. (NRs 20. Jg., 10. H. v. Okt. 1909, S. 1 4 9 1 - 1 4 9 5 ) . Verfasser spricht zum Erscheinen des Werkes als einer derer, die Nietzsche in dem „Frühling unseres Daseins" erlebt haben, und meint „nach zwanzigjährigem Umgang mit dem W e r k " : „ . . . vielleicht darf auch heute noch, obwohl mit Einschränkung, gesagt werden, Nietzsche sei berufen gewesen, seine Erlebnisse und Erkenntnisse f ü r uns andre zu symbolisieren." Immer wieder bezweifelt er aber, ob das Werk nicht „noch dreißig Jahre in dem Weimarer Archiv" hätte ruhen sollen;
1909 „eine Rückkehr zu längst überwundenen Zeiten"
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seine V e r ö f f e n t l i c h f u n g trete „störend . . . mitten in den P r o z e ß der Klärung über die Lebenskeime in Nietzsches Schriften". Erwähnenswert ist noch Verfassers flüchtiger Vergleich Nietzsches als „poète—prophète" mit Rousseau, Ruskin und Carlyle.
. 899 Hilbert, Gerhard, Nietzsches Herrenmoral und die Moral des Christentums. (L X X , 10, 1909, S. 755 — 806). Verfasser geht von der U b e r z e u g u n g aus, daß man den, der „in Christus noch irgendwie das sittliche Ideal sieht", „noch als einen Christen im allgemeinen Sinne des W o r t e s a n e r k e n n e n " k ö n n e , daß „nicht Häckel und die modernen Monisten, nicht die Bekämpfer der christlichen Glaubenslehren . . . die gefährlichsten Gegner des Christentums" seien, „sondern die Feinde seiner Ethik, die Apostel und Anhänger der neuen Moral des Zarathustraphilosophen". D e r Gipfel der H e r r e n m o r a l , der Ü b e r m e n s c h , sei „nichts anderes als die V e r z e r r u n g " des christlichen Ideals des „Gotteskindes". Nietzsches „ganze Philosophie der Lebensbejahung" sei „unhaltbar, solange es nicht gelingt, den T o d zu überwinden". H i e r z u habe er die „alte Lehre ,der ewigen W i e d e r k u n f t ' " w i e d e r a u f g e n o m m e n , einen G e d a n k e n , der „absolut wertlos" sei: „Es bleibt dabei: am Ende auch ,des Ü b e r m e n s c h e n ' steht nicht die Ewigkeit, sondern das Nichts, nicht das Leben, sondern der T o d . " — „Seine Moral ist nicht neu, s o n d e r n eine R ü c k k e h r zu längst überwundenen Zeiten, vor allem z u r H e r r e n m o r a l eines T h e o g n i s . . . Nietzsches Versuch, eine höhere Moral über die des Christentums hinaus zu schaffen, zerstört tatsächlich jegliche Moral."
899a Auch als Einzelschrift: A. Deichen Nf. 1910. 1 Bl., 54 S., 4 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Unverändert.
900 Roloff, Ε. M. (Freiburg i. Br.), Nochmals „der wahre Nietzsche". (LH 47. Jg., Nr. 10, 1909, Sp. 3 8 1 - 3 8 6 ) . Begrüßt den zweiten Band von Bernoulli (Nr. 696), der trotz der Bemühungen des Archivs, sein Erscheinen zu verhindern, „mit seinem ebenso reichen wie wichtigen Inhalte" nun j e d e r m a n n zugänglich sei. Erwähnenswert ist die Verteidigung von Schlafs Buch ( N r . 657), das Bernoulli „entschieden mißverstanden" habe, „denn gerade die Auseinandersetzung dieses , M o d e r n e n ' mit N.s G r u n d a n s c h a u u n g e n ist ja das Interessanteste an diesem trotz mancher dunklen Partien recht instruktiven Buche".
901 Strecker, Karl (Berlin), Nietzsche-Literatur. (DLE 12. Jg., H. 4 v. 15. 11. 1909, Sp. 243 — 250). Besprechung der Briefbände IV und V (AR, AY), die recht freundlich begrüßt werden, w e n n auch die Briefe an M u t t e r und Schwester „mit manchem entbehrlichen Ballast beschwert" seien, des zweiten Bandes von Bernoulli (Nr. 696), der „noch m e h r als der erste Band" enttäuscht habe, und der Arbeit von Jäckh (Nr. 866), die ihren Z w e c k „vollkommen" erfülle.
902 Woerner, Prof. Dr. Roman (Freiburg i. Br.), Ibsen und Nietzsche. (FZg Nr. 333, 1909).
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1909 „eine Anarchie der willkürlichen R o m a n t i k "
Verfasser findet Ibsen „überall auf den Bergpfaden Nietzsches": „ V o r ihm" in den Werken bis einschließlich „Kaiser und Galiläer", „ n e b e n i h m in den Gesellschaftsdramen" und „ n a c h i h m " in „Hedda Gabler". Die Ähnlichkeit Beider sei aber eher eine äußerliche: „Was für eine Anarchie der willkürlichen Romantik, des schwelgenden Gedankens bei Nietzsche — dieses Zurückverlangen, dieses Heraufbeschwören eines zeitlich so bedingten, so unheilbar primitiven Zustandes! Anarchie doch eben eines poetisierenden Gedankens, einer aphoristischen Romantik! — Aber Ibsen war für die Dauer kein Poet, kein Aphoristiker in solchen Fragen: er war ein Systematiker, wenigstens der — Verneinung." Was Nietzsche unmittelbar betrifft stellen diese Äußerungen einen unveränderten Vorabdruck dar aus: R. W., Henrik Ibsen. 2. Bd.: 1 8 7 3 - 1 9 0 6 . C. H . Beck. Mchn. 1910, S. 2 3 3 - 2 3 7 . S.a. Verfassers Besprechung von Bergs Werk (Nr. 577a), bei dem es ihm aber ausschließlich um die Darstellung Ibsens geht. (MAZg 111. Jg., Nr. 39 v. 19. 12. 1908, S. 827) 903 Horneffer, August, Schiller und N i e t z s c h e . (Tat 1. Jg., H. 9 v. D e z . 1909, S. 527 bis 535). Verfasser möchte feststellen, ob „Schiller ein totes Glied des deutschen Kulturkörpers" sei, ob er zum „nutzlosen Ballast" gehöre, und kommt bei seiner Untersuchung zu der Einsicht, daß dessen Streben „sich auf denselben Punkt" wie das Nietzsches gerichtet habe, „ihre Ergebnisse waren gar nicht so sehr verschieden und in der praktischen Bewährung theoretischer Grundsätze war Schiller Nietzsche sogar weit voraus". Nietzsche habe sich zunächst gegen Schiller gewendet, da er „in ihm einen etwas anders maskierten Richard Wagner" gesehen habe, doch sei der eigentliche Grund der gewesen, daß „er gewisse Eigenschaften in ihm fand, die er selber hatte und die ihm so beschwerlich waren". Hierauf reiht Verfasser eine Anzahl Ähnlichkeiten Beider an, ζ. B. die „hochfliegende Idealistenseele" und das Kranksein; nur Schiller habe die Freundschaft Goethes gehabt, und eine solche Sonne habe Nietzsche gefehlt: „Daher stammt denn auch der Gegensatz in der Weltanschauung und in den Lebensäußerungen . . . " Um „den Helden in Schiller" zu verehren, wie Goethe es getan habe, „dazu waren die Romantiker und Nietzsche nicht frei und nicht stark genug". Doch seien Beide letztenendes „echte Helden, die sich selber verzehrten um eines rein idealen Zieles willen". 904 Eulenberg, Herbert, Friedrich N i e t z s c h e . (In: H . E., Schattenbilder. Eine Fibel für Kulturbedürftige in Deutschland. B. Cassirer. Bln. 1910, S. 311—315). Das W e r k erschien schon im Herbst 1909. Als letzter von 47 Gestalten wird Nietzsche gewürdigt, „der Künstler", der „plötzlich in das Deutschland nach 1870 wie ein Wolf in eine H ü r d e hereingebrochen" sei. „Es läßt sich nicht mehr leugnen, daß er während der letzten Jahrzehnte und noch heute unser ganzes geistiges Leben bestimmt . . . Darum vornehmlich ist er der Führer und Abgott des heutigen jungen Deutschlands geworden, nicht weil er alte Tafeln zerbrach . . . , sondern weil er neue Tafeln aufrichtete und neue Worte und Werte daraufschrieb." Sein „Jenseits" werde „wie die Evangelien" leben, denn darin habe er „die Freiheit des Einzelmenschen gepredigt, Deutschlands zweiter g r ö ß e r e r Reformator als Luther". „Keiner vor ihm hat jemals so stark und unbedingt das Menschenleben gefeiert und gepriesen wie er." — „Kein Denkmal verkün-
1909 „der Führer und Abgott des heutigen jungen Deutschland"
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det noch in deutschen Landen mit steinerem Munde seinen Ruhm. Aber Könige wenden sterben und Reiche dahinsinken, doch sein Name wird noch über ferne Jahrhunderte glänzen." 904a
Dass. 3. Aufl. 1910. Unverändert.
904b
Dass. 8. Aufl. 1911. Unverändert.
904c Dass. 83. —85. Tsd. 1927, S. 3 4 1 — 3 4 5 . Zwei Fremdwörter wurden durch deutsche ersetzt und drei kleinere Zusätze hinzugefügt, sonst unverändert. 904d Dass. Unverkürzte Volksausg. 1933. (Gesamtauflage 88 000). Unverändert. 905 Bernoulli, Carl Albrecht, Nietzsches Lou-Erlebnis. (RJb 1, 1910, S. 2 2 5 - 2 6 0 ) . Vermutlich durch Veröffentlichung der Briefe Nietzsches an Mutter und Schwester (AY) veranlaßt, unternimmt der Verfasser eine erschöpfende Darstellung der Begegnung Nietzsches mit Lou Andreas-Salomé. Er erhebt hiermit „ P r o t e s t . . . in der Hauptsache . . . gegen die grundstürzenden Auslassungen und Verschweigungen" der damaligen Veröffentlichungen des Archivs sowie gegen deren Herausgeberin. Er stützt sich bei seiner Richtigstellung auf verschiedene mündliche Mitteilungen nicht unmittelbar Beteiligter, auf briefliche Äußerungen der Schwester an Frau Overbeck, die „Kögel-Exzerpte" sowie auf sonstiges „aus den unveröffentlichten Beständen . . . in der den Häusern Overbeck und Kögel-Gelzer". 906 Simon, Prof. O t t o , Nietzsches Stellung zur Pädagogik. V o r g e tragen am 6. März 1909. (Päjb 32, 1909, S. 8 6 — 1 0 0 ) . Obwohl Verfasser glaubt, einleitend vermerken zu müssen, daß sich in letzter Zeit „zu seiner blinden Bewunderung und vorbehaltlosen Verehrung" des Philosophen „der nagende Wurm der Kritik geschlichen" habe, ist sein Vortrag der kaum verhaltenen Anerkennung voll. „Wir Lehrer können ihm nicht folgen in seinem dionysischen Ansturm gegen das Mitleid, wir müssen uns verwahren gegen seine Bagatellisierung aller Volkserziehung, wir müssen lächeln über seine Geringschätzung der Erziehung für das praktische Leben, über seine Bekämpfung jeglichen Schulzwanges", loben müsse man aber den „Mut gegen die Strömungen seiner Zeit", die „Forderung nach Selbstzucht", die ihn von der Bezeichnung befreie, ein „Vertreter des schrankenlosen Individualismus'" zu sein, die Sprache, die sich mit der eines Goethe und Luther messen lasse, den „Glauben an eine bessere Zukunft des Menschengeschlechtes", die „Wertschätzung der im Dienste einer hohen Idee stehenden Persönlichkeit" und den „Protest gegen selbstgenügsamen Optimismus". Es falle dem Lehrer die „gar heikle Aufgabe zu, . . . einen Mittelweg zwischen den Polen der beiden Weltanschauungen, Sozialismus und Individualismus", zu finden, der „ein Maximum des Fortschrittes für Individuum und Gesellschaft gewährleistet". Nietzsche habe „die Probleme der Pädagogik nicht gelöst, streng genommen hat er zur Lösung nicht einmal viel beigetragen. Was er sagte, ist zum großen Teil schon vor ihm gesagt worden und selbst die neuen Anregungen, die er uns gegeben hat,
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1909 Max Ernst
sind verschwindend gegen e i n Verdienst: er hat unsere Lust erhöht, im Dienste der Erziehung zu wirken."
Max Ernst schrieb sich im Herbst als Student der Philosophie in Bonn ein, wo er bald durch J. M. Verweyen auf Nietzsches „Fröhliche Wissenschaft" geführt wurde, ein Buch, „das ihm noch heute viel bedeutet". „,Wenn überhaupt', sagte er im Gespräch, ,ein Buch in die Zukunft weist, so ist es dieses. Der ganze Surrealismus steckt darin, wenn man es zu lesen versteht.'" Es liegt auch nahe, daß noch folgende sich an diese Äußerung Emsts anschließende Ausführungen seines Biographen auf Gespräche mit dem Maler zurückgehen: „,Die fröhliche Wissenschaft' ist ein W e r k von etwa vierhundert Seiten, auf denen Nietzsche nahezu alles, von der ,Vermännlichung' Europas durch Napoleon bis zur Vorgeschichte des Gebets, behandelt. Noch heute gleicht der unvorbereitete Leser des Buches einem Manne, der mit offener Flamme durch ein Sprengstofflager geht: er weiß nie, wann und wo ihm etwas ins Gesicht fliegt. Nietzsche ging es in erster Linie um die Befreiung des außergewöhnlichen Menschen von Ideen, die nur aufkamen und geheiligt wurden, um die ursprüngliche Wildheit der menschlichen Triebe und die grundsätzliche Regellosigkeit menschlicher Erfahrung zu zähmen. Nietzsche trat für den Vorrang der menschlichen Individualität gegenüber Volk, Religion und Gesetz, gegenüber allen Ideen des Tages, gegenüber Zukunft und Vergangenheit ein. In der Kunst war er gegen die Wirklichkeit' in allen ihren Erscheinungsformen und f ü r das, was wir heute das Unbewußte nennen. Besessen von geheimen Kräften und versteckten Impulsen, ist der Mensch dazu bestimmt, ,ein großer Mann, ein Original oder ein Irrer zu werden — es sei denn, er stirbt jung'. Kompromisse, soziale Gleichheit, der goldene Mittelweg sind für den Menschen Nietzsche verhaßte Vorstellungen. Er hat die Gabe, Verbindungen zwischen Ereignissen, Gedanken und menschlichen Eigenschaften zu erkennen, die die Gesellschaft eifrig zu verbergen sucht. Darin stimmt er mit dem Surrealisten überein." 30 ' 907
anonym, (LCB1 60. Jg., N r . 49 v. 4. 12. 1909, Sp. 1590 f.).
Eine recht abschätzige Besprechung der Briefe an Mutter und Schwester (AY), deren Schluß lautet: „Dem Menschen, wie er sich in den Briefen der letzten Jahre
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Rüssel, John, Max Ernst. Leben und Werk. DuMont Schauberg. Köln (1966), S. 20. Im Vorwort heißt es: „Bei dem Versuch, den Ablauf der Entwicklung und Erfüllung Jahr für Jahr aufzuzeichnen, unterstützte mich Max Ernst in jeder Weise . .. für die biographischen Unterlagen . . . stützte ich mich in erster Linie auf das Gedächtnis des Künstlers, der vieles aus seinem Leben in häufigen, oft tagelangen Gesprächen vor mir ausbreitete" (S. 7). S. sonst das Namenverzeichnis für weitere Äußerungen zum Einfluß Nietzsches; Ernst, Max (Brühl b. Köln 2. 4. 1891 - Paris 1. 4. 1976), Maler.
1909 „Der Neue Club"
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malt, fehlt alles G r o ß z ü g i g e , selbst sein Ehrgeiz b e k o m m t trotz aller großen W o r t e etwas Kleinliches, denn im G r u n d e hungert und dürstet er doch nach äußeren Ehrungen, und seinem ewigen Lamentieren und Spintisieren über Gesundheit, Klima, N a h r u n g möchte man das W o r t eines erlauchten Dulders e n t g e g e n r u f e n : , L e r n e leiden, o h n e zu klagen'." V e r m e r k e n s w e r t ist die Ansicht, daß die Mutter „in der Familie die gesundesten Instinkte gehabt" habe, denn „sie witterte frühzeitig das Fatale in der enthusiastischen Freundschaft ihres Sohnes f ü r W a g n e r " . 908
H e l l p a c h , P r i v a t d o z e n t D r . W i l l y , N i e t z s c h e s Krankheit. ( T a g v.
22. 12. 1909). D u r c h eine Ä u ß e r u n g Hofmillers, d a ß eine der „wichtigsten Arbeiten" des Nietzsche-Archivs „die Sammlung zuverlässiger Tatsachen aus Nietzsches Krankheit sei", veranlaßt, betont Verfasser, „daß nach der Arbeit von Moebius am Wesen der K r a n k h e i t des Philosophen kein Zweifel mehr exisitert". 909
H e c k e l , Karl, H a n s v o n B i i l o w u n d Friedrich N i e t z s c h e . (Prn
7. Jg., N r . 13 v. 29. 12. 1 9 0 9 , S. 1 9 3 - 1 9 6 ) . Vergleicht von Bülow u n d Nietzsche als „zwei innerlich verwandte Geistesaristokraten", vor allem im Hinblick auf das Verhältnis zu W a g n e r sowie auf das zueinander. V e r m e r k e n s w e r t ist die Tatsache, d a ß von Bülow mit Stirner persönlich bekannt w a r , lesenswert die Schilderung seiner Freude an „geistreichen Einfallen, W o r t w i t z e n und gewagten sprachlichen U m k e h r u n g e n " , worin Verfasser die Quelle f ü r Nietzsches „ N o h l , P o h l - K o h l " erblickt. 910
Scheffer, Dr. Thassilo von, Nietzsches Verhältnis zu Mutter und
S c h w e s t e r . ( E b d . , S. 196 f f . ) . D e r Rezensent der Briefe an Mutter und Schwester (AY) steuert recht geschickt u n d umsichtig zwischen die durch die gebotene Darstellung des Denkers, besonders eben dessen Verhältnisses zur Schwester, und die des Bernoullischen Werkes ( N r . 696), „das besonders in den nicht polemischen Partien von einem bleibendem W e r t ist". — „ D a s Bild bleibt also einheitlich das eines r ü h r e n d e n , geschwisterlichen Verhältnisses, in d e m so viel Verständnis v o r h a n d e n w a r , als ein extravaganter Fall ü b e r h a u p t zuließ." 3 0 9 A u s d e m J a h r e 1 9 0 9 berichtet H e i n r i c h E d u a r d J a c o b v o n d e r A n k ü n f i g u n g d e s „ N e u e n C l u b s " a m S c h w a r z e n Brett der
Friedrich-Wilhelm-
Universität z u Berlin, auf der f o l g e n d e W o r t e N i e t z s c h e s s t a n d e n : „ D a ß wir w i r k e n d e W e s e n , K r ä f t e sind, ist u n s e r G r u n d g l a u b e " , g e f o l g t v o n Zitaten v o n S p i n o z a , O s k a r W i l d e , G o e t h e , W e d e k i n d u n d v o n H o f m a n n s thal. Er fährt f o r t : „ . . . a n M i t t w o c h a b e n d e n k a n n m a n die j ü n g e r e n E m i s säre d e s n e o - a r i s t o k r a t i s c h e n G e i s t e s f i n d e n : . . . d e n S t u d e n t e n der P h i l o sophie E r w i n L o e w e n s o n , d e n H ö r e r d e r K u n s t g e s c h i c h t e J o h n W o l f s s o h n , den Lyriker J a k o b v o n H o d d i s , die Juristen S c h u l z e u n d B a u m g a r d t , z u -
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Scheffer, Thassilo von (Preußisch Stargard 1. 7. 1873 - Berlin 27. 11. 1951), Schriftsteller und Ubersetzer.
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1910 „Das Neue Pathos"
weilen auch den Dichter Ernst Blaß und Robert Jentzsch" sowie Kurt Hiller als „gesellschaftlichen Mittelpunkt der Gruppe". Zum zweiten Vortragsabend des Vereins, der am 6. Juli 1910 stattfand, schreibt er: „Größere Keulen gegen das Publikum schwingt schon Golo Gangi (Erwin Loewenson) mit einer Vorlesung aus Nietzsche." An diesem Abend tritt auch Georg Heym zum ersten Male im Verein hervor. 310 Über den zweiten Vortragsabend schrieb auch Gunter Martens : „Die Erläuterung dieser Sätze gab Loewenson in seinem Vortrag ,Die Dekadenz der Zeit und der .Aufruf' des N e u e n Clubs', den er vor mehreren hundert Studenten, vor den eingeladenen ,Productiven, Intellectuellen und Asocialen' in Neumanns Festsälen hielt. In Formulierung und Denkansatz zeigt sich der Redner als gelehriger Schüler Friedrich Nietzsches: Zielpunkt des wortgewaltigen Angriffs ist die Dekadenz der Zeit, die niedergehende Lebenskraft' des abendländischen Menschen." 31 ' Über den eigenen Eintritt in den „Neuen Club" schreibt Friedrich Schulze-Maizier: „Schon der Umstand, daß diese Kommilitionen vom ,Neuen Pathos' sich entschieden auf Nietzsche beriefen, buchte ich als Pluspunkt, — war doch damals auch mir der Autor der ,Unzeitgemäßen Betrachtungen' und des ,Zarathustra' d e r Aufrüttler und Bestärker schlechthin . . . Ich war
3,0
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Georg Heym, Dokumente zu seinem Leben u.Werk. Hg. v. K. L. Schneider u. G. Burckhardt. H . Eilermann 1968 ( = G. H., Dichtungen u. Schriften, Bd. 6), S. 73—76; Baumgardt, David (Erfurt 20. 4. 1890 — New Y o r k / U S A 23. 7. 1963), seit 1924 Dozent, seit 1932 a. o. Prof. d. Philosophie a. d. Univ. Berlin, 1935 in die Emigration nach England und später nach den USA; Blass, Ernst (Berlin 17. 10. 1890 — ebd. 23. 1. 1939), Dichter; H o d dis, Jakob von (eigentl. Hans Davidsohn, Berlin 16.5. 1887 — am 30.4. 1942 aus der Heilanstalt Sayn b. Koblenz deportiert und vermutlich kurz darauf in Theresienstadt umgekommen), schon seit 1912 deutlich geistesgestört und zeitweise in Nervenheilanstalten. Zum Einfluß Nietzsches auf ihn s.: Reiter , Udo, J. v. H . Leben und lyrisches Werk. A. Kümmerle. Göppingen 1970 ( = Göppinger Arbeiten z. Germanistik. Nr. 16), S. 74—82: Der Einfluß Nietzsches und der Beginn der Auflehnung. Darin heißt es über die frühen Gedichte: „Die Spuren dieser Begegnung jedenfalls drücken sich in einigen Gedichten . . . unübersehbar aus." Über Nietzsche und das „Neopathetische Cabaret" sowie den Einfluß auf von Hoddis und Kurt Hiller s. a.: Schneider, Hansjörg, J. v. H . Ein Beitrag z. Erforschung d. Expressionismus. Francke. Bern 1967 ( = Basier Studien z. dt. Sprache u. Lit. H . 35), S. 39—55: Die Auseinandersetzung mit Nietzsche. Man lese darin Sätze wie folgende: „Hiller kannte Nietzsche sehr genau." — „Nietzsche beeinflußte den jungen von Hoddis nicht nur in seinem theoretischen Denken, sondern auch in seiner Lyrik."; Jacob, Heinrich Eduard (Berlin 7. 10. 1889 — Salzburg 25. 10. 1967), Journalist und Schriftsteller; Jentzsch, Robert (Königsberg/Ostpr. 4. 11. 1890 — 21.3. 1918 als Leutnant in Frankreich gefallen), Dichter; Loewenson, Erwin (Thorn/Westpr. 31. 8. 1888 — Tel Aviv 22. 1. 1963), nach dichterischen Anfängen in der zionistischen Bewegung tätig; SchulzeMaizier, Friedrich, geb. am 8. 4. 1888 zu Erfurt, lebt heute als Privatgelehrter in Marburg, Publizist; Wolfsohn, John (Berlin 7. 2. 1889 — Jerusalem 1936), Rechtsanwalt. Ebd., S. 394 f.
1910 Die „Neopathetiker"
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nämlich schon damals der noch immer festgehaltenen Meinung, daß man Nietzsche in der Tat ,νοη vorn', das heißt genetisch, von den Anfängen und Wurzeln her auffassen muß, wenn man ihn seinsgerecht erfassen will. Die Neopathetiker aber — dies berührt bereits das punctum saliens der zwischen uns klaffenden Gegensätze — wollten Nietzsche ,νοη hinten' lesen, von den ebenso großartigen wie überspitzten und verzerrenden, ja verfratzenden Superlativen seiner allerletzten, bereits unverkennbar präparalytischen Phase her. Während ich der Meinung war und bin, daß jene Partien, die den Zugang zum Phänomen Nietzsche sachgemäß eröffnen, beim j u n g e n Nietzsche zu suchen sind, vor allem in .Schopenhauer als Erzieher', wollten Neopathetiker wie Löwenson gleich mit der T ü r ins Haus fallen und im Grund nur den spätem grellen, radikal antichristlichen und antideutschen Nietzsche gelten lassen. Das war allerdings bequemer und vor allem effektvoller als jene geduldige, gewissenhaft klärende Nietzscheauslegung, die mir schon damals vorschwebte." 312 Martens berichtet weiter: „ . . . vor allem jedoch standen die Werke zweier Autoren wiederholt im Zentrum der Abende: Die Schriften Friedrich Nietzsches und Frank Wedekinds. Beide Namen kennzeichnen schlagend die H e r k u n f t und Stoßrichtung der Zeitkritik des ,Neopathetischen Cabarets'." 513 Über die Ziele des „Neuen Clubs" schrieb Kurt Hiller: „Es gab kaum Wichtigeres für uns als Philosophie und Dichtung; wobei uns keine begriffeklappernde Präphilosophie vorschwebte, sondern eine bei aller Denksauberkeit und Unromantik dem dichterischen Wesen verwandte Art, die Art Platon's, die Art Nietzsche's; . . ."3M Noch zugespitzter hatte er in einer Ansprache zur Eröffnung des „Neopathetischen Cabarets" im Juni 1910 zum „neuen Pathos" erklärt: „Unser Begriff von Pathos dürfte eher übereinstimmen mit dem Begriff, den Friedrich Nietzsche davon hat — Nietzsche, welcher im ,Ecce homo' bekennt: ,Ich schätze den Wert von Menschen, von Rassen danach ab, wie notwendig sie den Gott nicht abgetrennt vom Satyr zu verstehen wissen' . . . Pathos: nicht als gemessener Gebärdengang leidender Prophetensöhne, sondern als universale Heiterkeit, als panisches Lachen." 315 312
313 314 315
F. S.-M., FrüKexistentialist unter Frühexpressionisten. Erlebnisse im „Neuen Club". DRs Bd. 88, 1962, S. 332, 334. A. a. O., S. 397. K. H., Leben gegen die Zeit. (Logos). Rowohlt. (Hamburg 1969), S. 80. K. H., Die Weisheit der Langeweile. Eine Zeit- und Streitschrift. 2 Bde. K. Wolff. Lpz. 1913 (auch als Nachdruck: Kraus. Nendeln 1973 = Bibliothek, d. Expressionismus), I, S. 238; dem Werk stehen Geleitworte aus Nietzsche und Alfred Kerr voran, und das Namensverzeichnis verweist auf mehr Erwähnungen Nietzsches als auf die irgendeines ande-
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1910 „ein seelenvoller Kampf gegen die Erlebnislosigkeit"
Unter dem Namen „Neopathetischen Cabaret" hatten die Mitglieder des „Neuens Clubs" bereits im Frühjahr 1910 beschlossen, regelmäßig in den Semestermonaten an die Öffentlichkeit zu treten. Eine Besprechung zum zweiten Abend des „Cabarets" erschien am 7. Juli 1910 im „Berliner Tageblatt", worin es u. a. heißt: „Weiter im Programm. Herr Golo Gangi erklärt, er würde platzen, wenn er uns nicht gewisse Stellen aus Nietzsche vorlesen dürfte. Wir wollen nicht, daß er so grausam sterbe. Er liest aus Nietzsche vor. Schlecht übrigens, aber er ist wirklich begeistert. Die Lichter im Saal sind verlöscht, nur die Pultlampe zeigt das scharfe Profil eines jungen Kopfes, in dem es ehrlich wogt. Ver sacrum. So etwas ist wirklich schön"516 Über das ehemalige Café des Westens, das an der Ecke des Kurfürstendamms und der Joachimsthaler Straße lag" und in dem die Klubmitglieder des „Neuen Clubs" verkehrten, schrieb Ernst Blass aus der Zeit um 1910: „ . . . es war ein seelenvoller Kampf gegen die Erlebnislosigkeit, gegen die Stumpfheit, Trägheit, Gemeinheit der Philisterwelt. Im Café, da war noch die Seele etwas wert. . . Was lag in der Luft? In der Luft lag vor allem van Gogh, Nietzsche, auch Freud, Wedekind. Gesucht wurde ein postra-
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ren. Die wesentlicheren lauten: „der erhabne Nietzsche" (I, S. 60), „Vollgötter wie Goethe, wie Nietzsche wirft jedes Jahrhundert nur einen." (73), „Die Sophisten, Jesus, Nietzsche haben heftiger, tiefer und nachhaltiger verändert als Alexander, die Cäsaren, Napoleon." (74), „Auch Nietzsche war nur ein (überirdischer) Glossator; was ihn nicht herab-, doch die Glosse heraufsetzt." (86), „dieser Verächter aller Leibschmähenden und Erkenntniskaffern." (200), „Mag er den Weisen von Sils-Maria immerhin mißhandelt haben: wahr bleibt, daß Alfred Kerr als erster seit Nietzsche .fröhliche Wissenschaft' übt." (228), „keineswegs seine Metaphysik ist es, um deretwillen Nietzsche noch lange der zukünftigste europäische Denker sein wird. Wer ihn, zum Beispiel wegen der Ewigen Wiederkunft, als Kosmologen und Kabbalisten sieht, verkennt ihn ebenso heftig, wie jene mittleren Konservativen ihn verkennen, die ihn für den Verbündeten ihrer engstirnigen Herrschsucht und Blutrunst halten; ihn, der über die .névrose nationale' so grimmig gespottet hat, für einen riesigen Panzerplattkopf! Oder wie jene mittleren Progressisten, die ihn zu einem toleranten Bürger des .naturwissenschaftlichen Zeitalters' umfälschen, zu einer Art Kaiser Friedrich, und sich so gebärden, als sei sein Antichristentum weiter nichts als verhaltne Sympathie für den Abgeordneten Cassel." (229 f.), „ . . . und der gewaltigste Meinungsäußerer, den dieses Land im letzten Jahrhundert hervorgebracht hat, Nietzsche, wäre in erhabene Empörung, ja in einen wahren Dynamitzustand geraten, wenn wer ihm erklärt hätte, seine Bedeutung läge in seiner Methode, und seine Ansichten epatierten bloß den Bürger ( . . . obschon er ja wirklich auch der gewaltigste Methodenerneuerer war). Gewiß, seine Methode ist es, die ihm die fabelhafte Wirkung verschafft hat; gewiß, seine Methode war revolutionär; aber wer oder was i s t denn seine Methode? Doch nichts anderes als die Ausstrahlung seiner Idee; als die Haut seines Ichs; als die Form, die sein intellektueller Wille, sein Ethos, seine .Meinungen', falls sie überhaupt in die Außenwelt sich projizieren wollten, annehmen m u ß t e n . " (232 f.), „der Großkaiser der letzten Menschheit" (246). Abgedruckt in: G. H., Dokumente z. s. Leben u. Werk, a. a. O., S. 413 f.
1910 Ein „Vorbereiter, Auflockerer"
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tionaler Dionysos . . . Van Gogh: Das war (für uns) der Mut zum eigenen Ausdruck; Nietzsche: Der Mut zum eigenen Selbst und eigenen Erlebnis; Freud: Die Tiefe und Problematik des eigenen Selbst; Wedekind: Die zwichenmenschliche Problematik und Explosion (in scharfen Gesichten)."317 Aus dem Briefwechsel Friedrich Gundolfs mit Herbert Steiner und Ernst Robert Curtius sind folgende Stellen aus den Jahren 1909—1914 anführenswert: 318 „Sie erhalten, was ich selbst nicht hochschätze, ein Fragment von 3 Strophen und noch einer, dazu ein Neuestes, der Gedanke von der ewigen Wiederkunft, aber ich kenne ,Zarathustra' nicht." (Steiner an Gundolf, 14. 8. 1909) „Eben gestern oder heute habe ich Nietzsches Verse gesehen — dieses unaussagbar wundervolle Was je schwer war / Sank in blaue Vergessenheit . . . von tiefster Musik, hat mir die Seele erregt." (Steiner an Gundolf, 27. 10. 1910) „Von den großen Bewegern, von Jean Paul, Hegel, Hölderlin, Nietzsche und vielen andern ist überhaupt nicht die Rede." (Curtius an Gundolf, 25. 3. 1910) „Ich lese eben wieder Nietzsches Willen zur Macht und bin immer aufs neue überrascht, wie viel hier schon gesagt ist. Ν kann jetzt erst richtig gesehen werden, als Vorbereiter, Auflockerer." (Curtius an Gundolf, 30. 3. 1914) Über die Zeit „vor und nach 1910" in München schrieb Kasimir Edschmid: „Professor von der Leyen, schon etwas neuzeitlicher, erhielt Applaus von seinen Studenten, wenn er Nietzsche als den Vater der modernen Lite«319 ratur pries . . . Wohl in die Zeit vor dem Weltkrieg fällt die Begegnung des jungen Martin Gumpen mit den Werken Nietzsches und zwar in der Bibliothek seines Vaters, der, schon Arzt, damals noch Philosophie studierte und enge Beziehungen zu dem Friedrichshagener Kreis um „Die neue Gemeinschaft" unterhielt. Von der Bibliothek des Vaters heißt es: 317
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E. B., Das alte Café des Westens, in: DtWo 4. Jg., Nr. 35, 1928; auch in: Expressionismus. Aufzeichnungen u. Erinnerungen d. Zeitgenossen. Hg. ν. P. Raabe. Walter-Vlg. Ölten u. Freiburg i. Br. (1965), S. 38. F. G. Briefwechsel m. H. S. u. E. R. C. eingel. u. hg. v. Lothar Helbing u. Claus Victor Bock. Castrum Peregrini Pr. Amsterdam 1963, S. 98, 114, 156, 236; Curtius, Ernst Robert (Thann/Elsaß 14. 4. 1886 — Rom 19. 4. 1956), Literaturwissenschaftler. Κ. E., Lebendiger Expressionismus. Auseinandersetzungen, Gestalten, Erinnerungen. Desch. Wien, Mchn., Basel (1961), S. 56; Edschmid, Kasimir (eigentl. Eduard Hermann Wilhelm Schmid, Darmstadt 5. 10. 1890 — Vulpera/Engadin 31. 8. 1966), Schriftsteller.
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1910 Martin G u m p e n — H a n s Kohn
„Für mich waren diese Unmengen von Büchern, in denen ich ungehindert blättern durfte, Schatzkammern, die stets zu neuen Entdeckungen führten. Immer lief ich mit einem Buch umher und jeder, den ich traf, mußte mir ein paar Sätze vorlesen. Schopenhauer, Nietzsche und Kant wurden meine ersten Märchenbücher. Das völlig Unverständliche begeisterte mich, und so, wie wir uns heute abstrakte Malerei betrachten, lernte ich aus den abstrakten Wortgebilden das Geheimnis der Sprache lieben."320 Selbst im Zimmer seines Vaters fehlten die Philosophen nicht: „Ich und die Bilder und Büsten waren eine vertrauliche, verschwiegene Gemeinschaft: der alte Schopenhauer mit zerzausten Haaren und bitterbösem Mund hing neben meinem Urgroßvater, der ein Samtkäppchen trug, und Nietzsche mit hohlen Augen und buschigen Brauen und dem Schnurrbart, der seinen Mund ganz verdeckte, stand neben dem gepflegten Pasteur «321
Aus seiner Jugend- und Studentenzeit im Prag der Jahre unmittelbar vor dem Weltkrieg sowie aus späterer Sicht und gereifter Einsicht erzählte der Geschichtswissenschaftler Hans Kohn: „Als Jüngling war ich in meiner Vorstellung von den menschlichen Beweggründen mehr von Nietzsche beeinflußt als von Marx. Der Wille zur Macht schien mir stärker als wirtschaftliche Überlegungen, der egozentrische Nationalismus mit seinem Machtbedürfnis typischer für die Zeit als ein klassenbewußtes Eintreten für die Gleichheit der Arbeiter anderer Natio«322 nen. „Nietzsche betrachtete den Willen zur Macht als Grundzug allen menschlichen Lebens. Das ist er gewiß nicht. Der Machtwille ist charakteristisch für bestimmte Kulturen und geschichtliche Situationen, besonders für Nietzsches eigenes Zeitalter, das 19. Jahrhundert, Zeitalter des Nationalismus und Imperialismus. Wie Marx war Nietzsche ein Repräsentant seiner Zeit. Aber er war kein Nationalist; sein Wille zur Macht war ein individuelles Phänomen, viel charakteristischer für die vornationalistische Ära der Renaissance oder für einen Napoleon (in vieler Hinsicht die letzte Renaissancegestalt), den Nietzsche verehrte. Der Nationalismus stellt den Willen zur Macht als kollektives Phänomen dar . . . Der Wille zur Macht ist nicht
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521 J22
M. G., Hölle im Paradies. Selbstdarstellung eines Arztes. Bermann-Fischer. Stockholm 1939, S. 20; G u m p e n , Martin, geb. am 13. 11. 1897 zu Berlin, Arzt und Schriftsteller, 1936 in die USA. E b d , S. 24 f. H . K., Bürger vieler Welten. Ein Leben im Zeitalter der Weltrevolution. Huber. Frauenfeld (1965), S. 51; Kohn, Hans (Prag 15. 9. 1891 - Philadelphia/USA 16. 3. 1971), wirkte seit 1921 in London, seit 1925 in Jerusalem und seit 1933 in den USA.
1910 „Versuchung und Inspiration zugleich"
399
länger wie bei Nietzsche oder in der Renaissance ein Vorrecht des starken, außergewöhnlichen Einzelnen; er ist universell geworden und kennzeichnet ganze Völker." 3 2 3 „Mit Interesse erkannte ich in dieser neuen hebräischen Literatur den starken Einfluß Nietzsches und des modernen Heldentums und Hedonismus in der damaligen europäischen Literatur." 3 2 4 „Zu den Philosophen, deren W e r k e mich in meiner Jugend beeinflußten, obwohl ihre philosophische Einstellung und ihre menschliche Haltung sehr verschieden waren, gehörten Kant (vor allem mit seinen ethischen und politischen Schriften), Schopenhauer, Nietzsche und Bergson. Besonders Schopenhauer und Nietzsche wirkten auf mich wie wohl auf viele junge Menschen, wie ein zu K o p f steigender Wein, als Versuchung und Inspiration zugleich . . . Als ich älter wurde, gewann ich ein neues und tieferes Verständnis für beide, zuerst für Kant, später auch für Nietzsche. Kants nüchterne Begeisterung für die Freihiet des Einzelnen und für die moralische Kräfte, wie sie sich ihm in der Aufklärung darstellten, sein kategorischer Imperativ, daß utilitaristische Erwägungen ein Abweichen vom M o ralgesetz nicht zu rechtfertigen vermögen und daß ein menschliches Wesen nicht als Mittel zu eigenen Zwecken benutzt werden dürfe, sondern einen unermeßlichen Eigenwert verkörpere, all dies schien mir übereinzustimmen mit Nietzsches grundlegendem Glauben an die freie Selbstbestimmung, wenn es auch äußerlich gesehen Nietzsches Vorstellung von der moralischen Elite zu widersprechen schien . . . D o c h waren beide strenge Ethiker, denen die Unabhängigkeit und Würde des Einzelnen am H e r z e n lag. Beide waren kühne Neuerer. Nietzsche gehörte überdies zu jener kleinen Gruppe von Nonkonformisten des 19. Jahrhunderts, der auch Ralph W a l d o E m e r son und Henrik Ibsen angehörten . . . Sie waren das Gegenteil des modernen ,organisierten Menschen' . . . In den Jahren vor 1914 entdeckten die deutschen Intellektuellen die Romantik und die Mystik wieder. Schopenhauer, Nietzsche und Bergson waren ,romantische' Denker, Philosophen der Lebenskraft, der Geheimnisse des Lebensschwungs und -kampfs, der künstlerischen Schöpferkraft. Das maßvolle Gleichgewicht des Apollinischen, um es mit den W o r t e n Nietzsches zu sagen, wich der dionysischen Sehnsucht und dem Streben nach dem Unendlichen, wich dem Zorn und der Leidenschaft, wich der Frage nach dem Unbekannten, der Suche nach neuen Erfahrungen und Empfindungen." 3 2 5
323 324 325
Ebd., S. 51 f. Ebd., S. 79. Ebd., S. 87 f.
400
1910 Verlagswechsel
„Nietzsche hat in seiner prophetischen, wenn auch einseitigen Darstellung unserer Zeit und seiner eigenen Situation die Ära des ,Nihilismus' vorausgesagt. Jedoch trotz Krankheit und Einsamkeit — wirklicher Krankheit und wirklicher Einsamkeit — bejahte er das Leben und die H o f f n u n g , die Möglichkeit menschlichen Durchhaltens und menschlicher Größe. Sein ganzes Leben lang hielt er an seinem großen Vorbild Goethe fest. In seinem letzten Werk, ,die Götzendämmerung', schreibt er von Goethe als dem Ubermenschen, der er selber zu werden hofft und als den er den künftigen Menschen träumt: (es folgt die betreffende Stelle) . . . Nietzsche hatte nicht Goethes angeborenen Sinn für Maß und Gleichgewicht. Er erlag dem, was er ,die magische Macht der Extreme' nannte. Aber er wies mit Recht darauf hin, daß Goethe die (auch heute wieder gepflegte) Modeansicht der Romantiker nicht teilte, nach der ein großer Künstler durchaus unglücklich und einsam sein muß, während eine erfolgreiche Laufbahn in die bürgerliche' Sphäre gehört." 3 " Uber die damalige Sehnsucht der Jugend nach einer „Gemeinschaft", nach einer „Bewegung", nach einem „Aufbruch" schrieb er weiter: „Vieles in dieser neuen Haltung ging mittelbar und unmittelbar auf Nietzsche zurück; es führte aber auch zu einer Verherrlichung der Vergangenheit, der Wurzeln, des »Völkischen', des Unbewußten und des N a tionalgefühls, was alles Nietzsche scharf abgelehnt hatte und was er in seinen letzten Jahren so erbittert bekämpfte." 527 Zum 1. Januar 1910 gingen die Werke Nietzsches in den Verlag von Alfred Kröner in Leipzig über.3271 BB Friedrich Nietzsche: An den Mistral/Bruchstücke/Unter Feinden/ Ecce homo / Nach neuen Meeren / Die Sonne sinkt 1. u. 2. In: Das zweite Buch der Ernte aus acht Jahrhunderten deutscher Lyrik ges. v. Will Vesper. Langewiesche-Brandt. Ebenhausen b. Mchn. (1.—30. Tsd. 1910), S. 3 8 0 - 3 8 5 . ( = Die Bücher der Rose 12. Bd. Das zweite Buch der Ernte seit Goethe). BBa Dass. (1920. 5 8 . - 8 6 . Tsd.), S. 2 5 0 - 2 6 1 . Neu hinzugekommen sind: Aus hohen Bergen / Venedig / Vereinsamt/ Der Herbst / Das trunkne Lied.
BBb Dass. 87.—98. Tsd. (1923). Unverändert. 911 Mitzschke, Dr. P., August von Kotzebue und Friedrich Nietzsche. (Ro 11. Jg., Archiv Nr. 1, 1910, S. 1 f.). 324
Ebd., S. 253 f. Ebd, S. 89 f. 327 'Kröner, Alfred (1861 — 1922), Sohn des gleichnamigen Verlagsgründers.
527
1910 „der die götter als erster wiedergesehen hat"
401
Erbringt den Beweis, daß die Verwandtschaft der Familie Nietzsche mit August von Kotzebue keine „eigentliche" gewesen sei.
912 Wolfskehl, Karl, Die Blätter für die Kunst und die neueste Literatur. (JbGB 1910, S. 1 — 18). Dieser das Werden und „den Sinn der Blätter-gemeinschaft" darstellende Aufsatz wird mit den Worten eingeleitet: „Die Blätter für die Kunst wurden geboren, weil ein dichter in einem anderen dichter eine flamme entzündete, der gleich die in ihm selber brannte, weil ein werk entstand das in sich gefestigt war, weil ein ordnender geist, maass und grenzen findend, hinzutrat." Hiermit kann nur das Einwirken Nietzsches auf George gemeint sein, denn jenem als einzigem wird folgende längere Schilderung gewidmet: „Mit seinem werke rückte endlich der ganze ungeheure schätz deutscher geistigkeit ans licht der seit dem erlöschen der romantischen weit, seit zwei menschenaltern unterirdisch gewesen war . . . Aus der tiefe unserer zustände holte seine seherische seele die beiden grundantriebe hervor, den nordisch-musikhaften, der zur entkörperung, asketischen mystik und zu allem hinzieht was verschwebt und entsäuselt, und den plastisch-rhythmisch gebärdenhaften bildnerischen Grenze und Leib und Endlichkeit in sich verewigenden formdrang, dessen herren, herrscher und Statthalter die Griechen, Shakespeare und zwischen den zeiten selbst der römisch-katholische Dante gewesen sind . . . Was er fand oder zu finden vorgab, ist mehr eine hoffnung denn ein mittel, mehr eine forderung als eine führung. Aber unvergänglich bleibt der rühm dessen der die götter als erster wiedergesehen h a t . . . Schier ein jahrzehnt vor dem auftreten von Stefan George hat er die gestalt und art des D i c h t e r s in ihrer reinheit und selbstgerechtigkeit so erlebt, dass seine sätze wie umbildungen dessen klingen was in den Blättern seit dem tage ihres bestehens gefordert und in ihren vollkommensten Schöpfungen geleistet wurde." Es folgt darauf die erste H ä l f t e von „Der Dichter als Wegweiser der Zukunft" aus „Menschliches" ( G i l l , Aphorismus 99, S. 56 f.).
913 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Nietzsches Krankheit. Eine Antwort an Herrn Dr. Willy Hellpach. (Tag Nr. 11 v. 14. 1. 1910). Entgegnet den Behautpungen Hellpachs (Nr. 908) mit zwei Briefen, die sie auf das Bekanntwerden der Behauptungen von Möbius erhalten habe, einem von dem Studienfreund ihres Bruders W . Roscher und einem von dem Freund Rohdes Curt Wachsmuth, beide sind vom 5. 3. 1905.
914 Hellpach, Privatdozent Dr. Willy, Die Akten über Nietzsches Krankheit. (Ebd., Nr. 18, 1910). Erwidert auf die Veröffentlichung der Schwester (Nr. 913) und begrüßt deren Ankündigung „einer von einem ,ausgezeichenten Nervenarzt' verfaßten Gesamtdarstellung" der „Akten über Nietzsches Geisteskrankheit".
914/1 anonym, Aus der Jugendzeit Nietzsches. (WCh v. 21. 1. 1910). 9 1 4 / l a Auch in Nr. 9 5 / l a , S. 47 f. Nach dieser Vorlage gibt der anonyme Berichterstatter Äußerungen Carl von Gersdorffs über dessen erste Bekanntschaft mit Nietzsche in Schulpforta wieder. Nicht vermerkt wird, daß die mitgeteilten Angaben eine, sieht man von zwei neu-
402
1910 Der „Notschrei des modernen Menschen"
hinzugekommenen Satzfehlern ab, wörtliche Wiedergabe der Äußerungen von Gersdorffs im ersten Band der gesammelten Briefe (s. Bd. I, S. X f.) darstellen. 915 Messer, M., Friedrich Nietzsche und Richard Wagner. Eine Studie. (LTB1 104. Jg., Nr. 22 v. 23. 1. 1910, 5. Beil.). Erklärt das zwiespältige Verhältnis Nietzsches zu Wagner aus der „Zwei-Seelennatur Nietzsches" heraus: „Freilich mußte der Künstler und Romantiker in Nietzsche dem Denker und Griechen in ihm unterliegen. Und daß dies geschah, empörte Wagner, der selbst allzusehr Künstler, den neuen Zielen Nietzsches weder nachblicken noch folgen konnte." 916 anonym, Nietzsche und Bungert. (KZg Morgenausg. Nr. 81 v. 24. 1. 1910). Schildert das Verhältnis Beider anhand der Erwähnungen Büngern in Nietzsches Briefen, obwohl zugestanden wird, daß „ihre Begegnung . . . mehr episodischen Wert" gehabt habe. 917 Heußner, Dr. Alfred, D e r Naturalismus. Friedrich Nietzsche. In: Die Philosophischen Weltanschuungen und ihre Hauptvertreter. Erste Einführung in das Verständnis philosophischer Probleme. V a n d e n h o e c k & Ruprecht. Gött. 1910, S. 2 1 2 - 2 2 9 . Aus Vorträgen, die Verfasser „seit einer längeren Reihe von Semestern in Cassel gehalten hat", hervorgegangen, behandelt das Werk Nietzsche als letzten Philosophen, vor dem Schlußabschnitt: Der Dualismus. Das Christentum. Seine „große Beliebtheit" erkläre sich vor allem aus der Zeit, aus der Periode „außerordentlichen Aufschwungs", die auf die der „Heldentaten des deutschen Heeres" gefolgt sei: „.. . diese Zeit suchte sich einen neuen Liebling, und sie fand ihn in dem Verkünder des Evangeliums vom Leben, von der Kühnheit, von der Kraft und dem Willen zur Macht." Man vernehme in seinen Äußerungen den „Notschrei des modernen Menschen": „In der Tat — unsre besten innerlichen Güter sind in Gefahr. Die selbständige Persönlichkeit muß sterben, wenn die öde Gleichmacherei der Gegenwart ihr Ziel erreicht." Ein anderer Grund für die „weite Wirkung" sei „der hohe Genuß, den die Lektüre seiner Werke gewährt". Dennoch wird die ablehnende Haltung des Verfassers, der von betont christlicher Warte aus urteilt, immer wieder deutlich: Der „Mangel an gediegenen Kenntnissen macht sich bei Nietzsche auf Schritt und Tritt bemerkbar"; es habe ihm „auch vollkommen die Fähigkeit gerechter Würdigung von Personen und Sachen" gefehlt. „Seine eigentliche wahre Bedeutung liegt auf der künstlerischen Seite" und auf dem „Gebiete der Kritik"; sonst spricht Verfasser dem Kranksein größere Wichtigkeit zu. Vom „Naturalismus" ist nur an einer Stelle die Rede: „In der Kritik hat überhaupt von jeher die Stärke des Naturalismus gelegen. Neue Wege zu neuen Zielen vermochte er, so oft er auftrat, nicht zu zeigen." Auf S. 268 im Anhang: Zur Lektüre und Vertiefung, werden neben der schwesterlichen Lebensbeschreibung, den Werken selber und den Briefen die Nietzsche-Schriften von Riehl, Vaihinger, Drews und Rittelmeyer empfohlen.
1910 „das Christusbewußtsein der Selbsterkenntnis"
917a
Dass.,
2.,
durchgeseh.
Aufl.
1912.
Über
403 Nietzsche
auf
S. 2 1 8 — 2 3 5 , bis auf einen dreizeiligen Zitat v o n G o e t h e , der auf S. 2 3 3 h i n z u g e k o m m e n ist, unverändert. Z u m empfohlenen Schrifftum (S. 274) ist das Werk von Grützmacher hinzugefügt worden. 9 1 7 b Dass., 4., durchgeseh. Aufl. 1918. Verfasser zeichnet jetzt als „Direktor des Königl. Lehrerinnenseminars zu Rotenburg a. F.". Über Nietzsche auf S. 213—236, durchgehend erweitert, aber in der Einstellung unverändert; die Schlußseiten 231—236 sind ganz neu und enthalten eine Würdigung Nietzsches als „Religionsstifters" anhand einer längeren Auslegung des „Zarathustra". 9 1 7 c Dass., 5., durchgeseh. Aufl. 9 . — 1 2 . Tsd. 1919. Ü b e r N i e t z s c h e auf S. 215 — 238, mit w e n i g e n unwesentlichen Zusätzen. 917d Dass., 8. Aufl. H g . v. Gerda v o n Bredow. 1949. Ü b e r N i e t z s c h e auf S. 1 6 4 — 1 8 3 , nochmals mit w e n i g e n unwesentlichen Zusätzen. 9 1 8 Luntowski, Adalbert, Friedrich N i e t z s c h e . (In: Menschen. Carlyle, W h i t m a n , Liliencron, D e h m e l , Fidus, W a g n e r , Kleist, N i e t z s c h e , B e e t h o v e n , T h o r e a u , Emerson. X e n i e n - V l g . Lpz. 1910. S. 161 —186). Nietzsche ist dem Verfasser „mehr Künstler als Philosoph", nicht „lernen" wolle er, sondern „schaffen". „Wie ein dämonischer Musiker greift sein gewaltig voreilender Wille in die klingenden Akkordmassen der fernsten Zukunft und wirft die Sinfonie vom Übermenschen zusammen, der stärker, schöner und freier werden soll, als wir es sind, in dem das Christusbewußtsein der Selbsterkenntis wieder auftönen und Grab und Finsternis der Kirchenkulturen überwunden werden soll." Hiermit wird die „religiöse Inbrunst" in Nietzsches Wesen in den Vordergrund gerückt. Der Würdigung haftet dennoch recht Zweideutiges an. Verfasser bemerkt, daß Nietzsches Kunst „ihn ans Kreuz" geschlagen habe: „Vor lauter Gesundseinwollen wurde seine Kunst krank und immer kranker, machte ihn blind und narrte ihn, daß er romantischen Symbolismus und mystisches Maskenspiel f ü r klasssiche Vollendung und einen dekadenten Aphorismenstil f ü r die Form der Ewigkeit halten konnte." Zu einem „Führer der Menschheit" habe „ihm die Gesundheit des Leibes und der Seele" gefehlt. 9 1 8 a Dass. 2. Aufl. l . B d . E. Haberland. Lpz. 1917, S. 1 5 1 - 1 7 5 . Durchgehend gekürzt, etwas umgeschrieben, aber inhaltlich kaum wesentlich verändert. 918b
Dass., jetzt unter d e m N a m e n : Adalbert Reinwald, 3. Aufl.
1925, S. 1 7 7 - 2 0 4 . Durchgehend umgearbeitet, mit etwas deutlicher inhaltlicher Verschiebung der Gewichte. Nietzsches „Sehnsucht" wird nicht mehr durch den „heiligen", sondern durch den „heroischen Menschen" gekennzeichnet und seine Liebe zum deutschen Volk gleich einleitend betont: „Er liebte seine Deutschen mit der glühenden Sehnsucht Hyperions und mußte erleben, daß Deutschland zur bürgerlichen Gesellschaft geworden ist voll von Halbheit, Heuchelei, Ichsucht und Lüge."
404
1910 „der einzige, große Lyriker der voraufgegangenen Zeit"
919 Susman, Margarete, D a s W e s e n der modernen deutschen Lyrik. Strecker & Schröder. St. 1910. 130 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). ( = Kunst u. Kultur. Einzelarbeiten z. Einführung i. d. Verständnis unserer Zeit. H g . v. W . v. Oettingen. Bd. 9). Verfasserin stellt fest, daß Nietzsches „Dichtung ihn unter die größten deutschen Lyriker einreiht". Hinweise auf Nietzsche sonst auf S. 30 f. (seine Auffassung der „dichterischen Wahrheit"), 63 (Vergleich mit Goethe und Fichte), 74, 77 (Nietzsche als der „Einzige", der „lyrisch" an Wagner „anzuschließen vermochte"), 81, 86—89 (von Hölderlin führe „ein gerader Weg" zu Nietzsche, der „unsere Zeit in den Tiefen ihres Lebens bestimmt hat"), 91, 101 — 104 („der einzige, große Lyriker der voraufgegangene Zeit"; Verwandtschaft mit George), 124, 126, 128. 920 Strich, Dr. Fritz (Privatdozent f. Dt. Literaturgesch. a. d. Univ. Mchn.), Die Mythologie in der deutschen Literatur von Klopstock bis Wagner. 2 Bde. M. Niemeyer. Halle 1910. Der Schluß des zweiten Bandes, S. 472 — 478, bildet eine Darstellung von Nietzsches „Verklärung" der Wagnerschen Mythologie, wie sie in der „Geburt" erfolgt sei. Dieser, Goethe und Heine seien sich darin gleich gewesen, daß das Griechentum sich ihnen „allen in den schönen und heiteren Göttern der Griechen" verkörpert habe. Mit Schopenhauers Philosophie habe sich aber „die Weltanschauungen des Pessimismus" verbreitet, und erst Nietzsche habe gewußt, „Griechentum und Pessimismus zu einen, indem er zu seiner genialen Erkenntnis kam: daß die bisherige Auffassung des Griechentums als einer Welt der Schönheit und Heiterkeit falsch ist, und daß gerade das wahre Griechentum der stärkste Pessimismus ist". Verfasser verweist dabei auf Friedrich Schlegel, der „formal" schon „das Apollinische und Dionysische in der griechischen Kunst unterschieden" habe. Man lese auch im selben Band die Erwähnung einer Stelle in einem 1809 erschienenen Werke des Naturphilosophen Oken, in der „geradezu frappierend Nietzsches Philosophie" vorweggenommen werde. Im ersten Band wird Nietzsches auch gedacht; Verfasser verfolgt „das lange noch nachwirkende Muster eines mythologischen Monologes", der Ariadne zum Mittelpunkt hat, von Gerstenberg bis Nietzsche. 528 921 Hammer, Walter (Elberfeld), Nietzsche und sein Wille zur Gesundheit. (GL 1910, S. 1 2 1 - 1 2 5 ) . Verfasser meint, Nietzsches „Wille zur Gesundheit bildet die Grundlage und zugleich das Ziel seiner Philosophie", doch habe er selber „gar nicht gesund bleiben" wollen. „Er wollte aber sein Leben nur um die höchsten Werte eintauschen. So opferte er sich, der Selbsthenker, um seinen Mitmenschen, den Menschen der Zukunft, den Weg zur Gesundheit weisen zu können. Er gab uns den Willen zum Leben wieder, indem er uns ein neues Ideal aufstellte, den Übermenschen." 922 Bierbaum, O t t o Julius, Dostojewski. (R. Piper. Mchn. 1910. 26 S. = Verlagsprospekt z. Dostojewski-Ausgabe bei Piper). Die Würdigung Dostojewskis greift wiederholt auf Nietzsche zum Vergleich, 328
Strich, Fritz (Königsberg/Pr. 13. 12. 1882 — Bern 15. 8. 1963), Literaturwissenschaftler.
1910 „vielleicht . . . ein sublimes Ende"
405
dessen Spitze als einzige die Dostojewskis überrage und der neben Dostojewskis „ungeheurem Massiv aus gewachsenem Fels fast beängstigend als Kunstwerk: wie etwas Konstruiertes neben etwas Elementarem", wirke. „Vielleicht ist Nietzsche ein sublimes Ende und Dostojewski ein riesiger Anfang; jener das Ende der westlichen: europäischen, auf der Antike beruhenden Kultur, dieser der Anfang der östlichen: russischen, die von Byzanz stammt." „Unsere L i e b e " aber könne doch „unmöglich bei Dostojewski sein, dessen Ideal mit den unseren nicht zu tun haben". — „Diesem Geiste nachzugehen, hieße Goethe verleugnen und Nietzsche für eine Krankheit halten." 922a Auch in Prn 7. Jg., Nr. 21 f. v. 23. 2. u. 2. 3. 1910, S. 321 ff., 343 ff. Mit Ausnahme einer einzigen mehrzelligen Kürzung, unverändert. 922b Auch in: Dostojewski. Drei Essays v. Herrn. Bahr, Dmitri Mereschkowski u. O. J. B. 3. Aufl. Piper. Mchn. 1914, S. 7 5 — 1 0 5 . Unverändert. 923
Olshausen,
W(aldemar),
(JbNDL
19.
u.
20. Bd.
1910,
S. 867 — 872). Bespricht das Schrifttum der Berichtsjahre 1908/09; befaßt sich dabei kurz mit dem Streit um das Bernoullische Werk (Nr. 696) und hebt dann die folgenden Veröffentlichungen hervor: die von Richter (Nr. 275a; der „im Recht" bleibe, „wenn er für seine systematische Entwicklung der Gedankenwelt Nietzsches an der Evolutionsidee festhält"), Crusius (BA), die Briefe an Gast (AR) und an Mutter und Schwester (AY; „die nicht im entferntesten das gleiche Interesse wie die Briefe an Gast" beanspruchen). Besprecher verwickelt sich ziemlich tief in den Streit der Meinungen um die Zuverlässigkeit der Veröffentlichungen des Archivs und ergreift eindeutig und wiederholt die Sache der Gegner. Zum Schluß bemängelt er Richters Herausgabe des „Ecce homo" (AP; „Ohne Apparat und Lesarten ist eine Ausgabe dieses zwiespältigen Werkes in der Tat nur eine Liebhaberei. In Summa ist die Ausgabe R.s also abzulehnen, wie ihre Ausstattung im höchsten Maße unglücklich ist.") V o n einer mehr als vorübergehenden Beschäftigung mit Nietzsche zeugen einige W o r t e von Norbert von Hellingrath. In einer Anmerkung zu der Behauptung angesichts des Hölderlinschen Schaffens: „Es ist nämlich des öfteren eine bestimmte Struktur zu beobachten im Gesamtschaffen eines Dichters oder Denkers", meinte er: „Ein gutes Beispiel dafür ist N i e t z sche, bei dem zeitweise jedes Aphorismenbuch eine Schicht darstellt und der selbst in der Vorrede zur Genealogie der Moral eine Motivkette durch seine Werke zurück nachweist. Jedes Schema ist ein Behelf, der zu Z w e k ken der Beweisbarkeit die Tatsachen einfacher und daher einsichtiger erscheinen macht, als sie von Natur sind." 3281 328
"In der am 30. 6. 1910 vorgelegten Doktorarbeit: Pindarübertragungen von Hölderlin, abgedruckt in: N. v. H., Hölderlin-Vermächtnis. Forschungen u. Vorträge. Ein Gedankenbuch zum 14. Dez. 1936. Eingel. v. Ludwig von Pigenot. F. Bruckmann. Mchn. 1936, S. 43; Hellingrath, Norbert von (München 21. 3. 1888 - 14. 12. 1916 vor Verdun gefallen), Mitherausgeber der historisch-kritischen Ausgabe von Hölderlins Werken.
406
1910 Der erste Band der „Philologica" G X V I I Philologica / V o n / Friedrich N i e t z s c h e / Gedrucktes
und
U n g e d r u c k t e s / aus den Jahren 1 8 6 6 — 1 8 7 7 / H e r a u s g e g e b e n von Ernst H o l z e r / Erster B a n d / L e i p z i g / A l f r e d K r ö n e r V e r l a g / 1 9 1 0 . X V , 3 5 2 S. ( = N i e t z s c h e ' s W e r k e . Bd. X V I I . D r i t t e A b t h . Bd. I).
924
Sawicki,
Prof.
Dr.
Franz,
Nietzsches
Ubermensch
und
der
christliche E d e l m e n s c h . ( P h 1. Jg., 2. H . v. Febr. 1 9 1 0 , S. 9 7 — 1 0 9 ) . „ D a s eigentliche Geheimnis" von Nietzsches Erfolg liege darin, daß er „ f ü r viele das erlösende W o r t gesprochen" habe: „Was die Seele der Zeit durchzittert und im Innersten bewegt, was viele n u r dumpf e m p f i n d e n o d e r doch nicht laut zu äußern w a g e n , das hat Nietzsche mit feinstem Verständnis in sich a u f g e n o m m e n und leidenschaftlicher als alle andern in sich erlebt, um es mit k ü h n e r O f f e n h e i t auszusprechen und als Ideal zu v e r k ü n d e n . " D e m C h r i s t e n t u m „feind wie kaum ein anderer D e n k e r " , habe ihm aber „das Verständnis f ü r das innerste Wesen des C h r i stentums gefehlt": „Er vermochte nicht d u r c h die N e g a t i o n hindurch das h o h e positive Ideal der christlichen Ethik zu e r k e n n e n . " — „Nietzsches Ideal ist der selbstherrliche, liebeleere, gottlose u n d sich selbst v e r g ö t t e r n d e K r a f t m e n s c h ; christliches Ideal ist die d e m Sittengesetz g e h o r s a m e , liebende und opferwillige, G o t t dienende und gotterfüllte Persönlichkeit." D a s C h r i s t e n t u m wolle „nicht nur einzelne .Übermenschen', .Adelsmenschen', ,Edelmenschen' hervorbringen, es will das g a n z e Menschengeschlecht zu einer Edelmenschheit umschaffen".'
925
N ä g e l i , D r . T h . , Friedrich N i e t z s c h e u n d d a s C h r i s t e n t u m . V o r -
trag. W a l t & F o p p . S c h i e r s ( 1 9 1 0 ) . ( = 72. Jahresbericht
pro
1908/09
d.
Evangel.
Lehranstalt
Schiers,
S. 4 7 - 7 2 ) . Die Bedeutung dieses „großen G e g n e r s des C h r i s t e n t u m s " liege darin, d a ß er „der A u s d r u c k des m o d e r n e n Menschen mit seinem g a n z e n innern Zwiespalt, mit seiner Stärke u n d seiner Schwäche, mit seinem tiefen Sehnen und seiner öden H o f f nungslosigkeit" sei. S c h o n seit seiner „ersten P e r i o d e " sei er Atheist. Zwei der Haupthindernisse f ü r ihn „ z u m Verständnis des Evangeliums" seien „seine irrtümliche M e i n u n g von d e m weltverneinenden C h a r a k t e r des Christentums" und „sein aristokratisches Bewußtsein". W a s ihn z u r „ V e r d a m m u n g des Christentums" veranlaßt habe, seien „nicht in erster Linie wissenschaftliche, sondern ästhetische G r ü n d e " . D e n n o c h sei d e r „große Religionsfeind" auch „ein Religionsstifter gewesen". O b w o h l er „das C h r i s t e n t u m nie verstanden u n d nie erlebt", habe er „in seinem Innersten ein tiefes religiöses Bedürfnis gehabt". D o c h k ö n n e man seine „Religion" nur als „einen sehr nötigen G e g e n s t o ß , als ein kräftiges Gegengift gegen die lähmenden W i r k u n g e n des Pessimismus und als einen schrillen W e c k r u f der U n z u friedenheit mit den Durchschnittswerten einer Allerweltsmoral" verstehen. — „. . . so mancherlei er uns auch im einzelnen lehren k a n n , unser Führer im großen und g a n z e n kann er niemals w e r d e n , u n d der F ü h r e r unserer J u g e n d d a r f er nicht werden . . ."
1910 „übermodern, ausschweifend, antichristlich"
407
926 Peregrinus, Friedrich Nietzsches „Ecce homo". (Β Sonntagsbl. Nr. 6—10 v. 6., 13., 20. u. 27. 2. u. 6. 3. 1910, S. 45 ff., 52 ff., 60 ff., 69 f., 75 ff.). Verfasser fühlt sich veranlaßt, sich zunächst über das „Genie" und die „Einschätzung des Genialen" im allgemeinen zu äußern. Er unterscheidet dabei zwischen dem Menschen als „Vernunftsgeschöpf" und dem Tier als „Instinktgeschöpf" und kommt so auf das „Reich der Gestaltung", den eigentlichen Bereich des genialen Menschen, und sodann auf Nietzsche. Mit ihm, dieser „Doppelnatur", die zugleich „Schöpfer" und „Dekadent" gewesen sei, sei „Philosophie wieder geworden, was sie in ihren größten Zeiten war: Diskussion der Lebensfragen". Verfasser lehnt im Vorbeigehen Nietzsches Gleichsetzung von „Güte und Schwäche" ab und gelangt dann erst zur Hauptsache, zur Lehre von der ewigen Wiederkunft, die er wie folgt auslegt: „Nur dasjenige Leben, das so zum Leben stehen kann, daß es dieses Glaubens voll ist, hat überhaupt Existenzberechtigung, darf überhaupt geduldet werden." Sie sei „also der Gegenpol zur Christlichen Jenseitslehre, welche eben das diesseitige Leben als prinzipiell wertlos erklärt". In dieser Lehre erkennt Verfasser vornehmlich eine Mythologisierung: „Es ist eine hohe Empfehlung, und für die feinen Köpfe ein ,Anlaß zum Aufhorchen', wenn ein Denker, der ganz und gar ein moderner, ja ultramoderner Denker war, mit allen feinsten Methoden und Denkgewohnheiten des modernen Denkens arbeitete, im Verfolg seiner Spekulationen auf ein Philosophem a u s m ü n d e t , das zugleich eine uralte Spekulation des Menschengeistes darstellt." Ahnlich ist ihm die „Konzeption Übermensch" „am richtigsten als ein religiöses Symbol" zu bezeichnen. Beide seien dann „die .Grundlagen' von Nietzsches Lebenswerk und die Perspektive, aus der heraus dieses Werk allein verstanden werden kann". In dieser Hinsicht habe der „Ecce homo" „nichts wesentlich Neues gebracht", wenn er auch „dem Kenner Nietzsches die Zeichnung des Grundrisses" erleichtere. — „Wer tiefer zu denken und zu e m p f i n d e n fähig ist, muß diesem Werk (d. h. dem Lebenswerk), je nachdem er eine Art Mensch ist, gegenüberstehen, das H e r z voll Hoffnung geschwellt, als vor einem Zukunft-Zeichen, oder voll tiefer Apprehension, ja Furcht, als vor einem Unheimlichen, Gefährlichen, immer aber wird er fasziniert sein, gesetzt, daß er zu verstehen fähig sei, w a s da gewollt wurde, und mit welchen Mitteln da gearbeitet und gedacht wurde."
927 S. 83 f.).
Mayer, Adolf, Wilde und Nietzsche. (DWb Nr. 9 v. 25. 2. 1910,
Vergleicht Wilde mit Nietzsche, da sein Werk — eigentlich nur „Dorian Grays Bildnis" wird angeführt — „voll der tiefsten philosophischen Tendenzen" sei und die Haupttendenz „übermodern, ausschweifend, antichristlich, kurz — Nietzschianisch" sei. Auch gebe es eine „tiefbegründete Gleichartigkeit . . . in der Ursache": „Nietzsche ein Paralytiker, Wilde ein Verbrecher. Man wird gepackt von Lombrosos Behauptung: Wahnsinn und Verbrechen sind Verwandte, und tief beschämt über den Einfluß, den so zentnerschwer belastete Geister auf unsere Kultur gewonnen haben."
Als Zögling der Theresianischen Akademie begegnete Richard Coudenhove-Kalergi zum ersten Male den Schriften Nietzsches:
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1910 „ein Vorläufer der Paneuropa-Bewegung"
„Mit fünfzehn Jahren begann ich systematisch die W e r k e der großen Philosophen zu lesen, in chronologischer Reihenfolge, von Heraklit bis Nietzsche . . . Den größten Einfluß auf mich übten Plato, Schopenhauer und Nietzsche aus. Für meine Lebenshaltung jedoch war die stoische Philosophie bestimmend." 3 2 9 Aus der Zeit seines Studentenlebens an der Karlsruher Kunstakademie erzählt Rudolf Schlichter: „Jedoch das stärkste Erlebnis dieser Zeit war die Bekanntschaft mit Nietzsche und Richard Wagner. In Nietzsche glaubte ich endlich den europäischen Philosophen gefunden zu haben, den ich brauchte. Durch ihn erst bekam der schon lange in mir gärende H a ß gegen alles Deutsche die richtige Nahrung; er erst gab meiner Revolte gegen alle bisherige Autorität eine deutlich erkennbare Zielrichtung. Hier lagen blitzende Waffen in Hülle und Fülle bereit, die dicke W a n d fauler Gewohnheiten und lächerlicher Moralismen zu durchlöchern. Die letzten Bedenken fielen. Fortan wollte ich den schönen wildschweifenden Tieren gleichen, nur den grausamen menschenvernichtenden Gottheiten der Schönheit leben. Das große W o r t vom ,Tschandala-Zeichen des Unterirdischen, das zu Zeiten auf der blassen Stirne jedes höheren Menschen brannte', schien mir auf den Leib geschrieben und wenn ich solch königlich frechen Sätze wie ,der Teufel hole alle Moral' oder so dunkelgrausigen Andeutungen wie vom ,Glück des Messers' begegnete, jubelte ich laut auf. Am liebsten hätte ich seine kühnen Aphorismen und bestrickenden Paradoxe in alle Welt hinausgebrüllt. Mit fanatischer Inbrunst las ich nacheinander alles, was mir von seinen W e r k e n erreichbar war. Ich fühlte mich wie der Eroberer einer neuen W e l t , der die unübersehbare Fülle eines fremden Erdteils vor sich ausgebreitet sieht. Welch ein Reichtum an Erkenntnissen und abgründigen psychologischen Beobachtungen strömte aus diesen Büchern in mich ein. Dieser Mann wurde nicht nur auf J a h r e hinaus mein unantastbarer Ratgeber in allen lite-
329
R. C.-K., Ein Leben für Europa. Meine Lebenserinnerungen. Kiepenheuer & Witsch. Köln, Bln. (1966 = 2., veränderte u. erw. Aufl. v.: Eine Idee erobert Europa), S. 65 f. S. a. den Bericht über ein Gespräch mit Mussolini am 10. Mai 1933: „Wir sprachen französisch. Zunächst über Nietzsche, dessen Jünger Mussolini war — so wie Hitler sich als Jünger Wagners fühlte. Die Idee des Faschismus geht zurück auf Nietzsches antidemokratische Philosophie, wie Hitlers Träume nicht zuletzt auch auf die Romantik der Wagner-Opern. Ich bemerkte, daß Nietzsche ein Vorläufer der Paneuropa-Bewegung war, und gab ihm die Zeitschrift,Paneuropa' mit einer vollständigen Sammlung der Nietzsche-Worte für die Vereinigten Staaten von Europa" (Ebd., S. 2 0 3 ) ; Coudenhove-Kalergi, Richard Nikolaus Graf von (Tokio 16. 11. 1894 - Schruns/Vorarlberg 27. 7. 1972), Begründer der Paneuropa-Bewegung, verließ 1938 Österreichern über Bern in die U S A auszuwandern, seit 1946 wieder in der Schweiz.
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1910 „die frohe Botschaft des .Tanzes'"
rarischen Fragen, sondern er bestimmte auch in weitestgehendem Maße mein Urteil im Ästhetischen und Politischen." 330 In einem ein Jahr zuvor veröffentlichten Band hatte er von dieser Begegnung etwas zeitnäher geschrieben: „Ich fing jetzt überhaupt an, mich in vielen Dingen von Zack (d. i. einem anderen Studenten) zu emanzipieren und meine eigene Konsequenzen aus den Erfahrungen mit der durch ihn erschlossenen neuen Welt zu ziehen. In diesem Bestreben traf ich mich mit Willy, der auch schon längst ein H a a r in der manischen Einseitigkeit Zacks gefunden hatte. Zwar blieb für uns der psychologisierende Naturalismus der Franzosen und Russen noch lange unumstößliches Axiom. Daneben beschäftigten wir uns aber auch mit Nietzsche und Oskar Wilde, mit Baudelaire und Edgar Poe, und vor allem mit Dostojewski, der damals gerade anfing, große Mode zu werden . . . Mit leidenschaftlicher Bewunderung genoß ich die boshaften höhnischen Pamphlete Heines und Börnes, fraß ich die götterstürzenden Lehren Stirners und Nietzsches in mich hinein. Durch das Lesen dieser gefährlichen W e r k e fielen die letzten Schranken der Furcht und Ehrfurcht, alle etwa noch vorhandenen Bande frommer Scheu zerrissen; mit wütendem Ingrimm zertrümmerte ich jede religiöse Bindung bei mir und bei andern, bespie mit blasphemischem Eifer die Institution der Kirche, tobte mich aus in der Vorstellung wilder Zerstörungsakte an den Heiligtümern der christlichen Welt. »Alles ist erlaubt', war meine Devise; ich nahm die bestrickenden Formulierungen dieser blenderischen Schwarmgeister allzu wörtlich und mit einem geradezu verdächtigen religiösen Eifer huldigte ich den Lehren eines gottschänderischen Immoralismus." 331 928 Kurtz, 3. 3. 1910).
Rudolf,
Programmatisches.
(DSt
l.Jg.,
Nr. 1
v.
Zum Erscheinen der Zeitschrift meint der Verfasser, daß es nicht ihre Absicht sei, die „trägen Sinne" des Publikums „zu unterhalten. Wir wollen ihnen ihr bequemes ernst-erhabenes Weltbild tückisch demolieren. Denn wir halten ihren Ernst für Lebensträgheit, Hinterwälder-Dumpfheit, deren Psychologie Nietzsche längst geschrieben hat." Doch habe Nietzsche dem „dumpfen Ernst zwecklos die frohe Botschaft des ,Tanzes'" gepredigt. „Einmal war es in neuester Zeit denkbar, daß eine Epoche aufgewühlter Menschlichkeit als Vorfrühling späterer Blüte sich entfaltete: das war, als Nietzsche seine Bücher schrieb und es galt, sie in die dichterische Praxis aufzunehmen. Aber die Zeitgenossen wehrten den Impuls mit einer geradezu welthistorischen Banalität ab und brachten ihr Bedürfnis auf das engste, beschränkteste, widerspruchvollste Bild: den Naturalismus." In einer abschließenden Anmerkung
330
331
R. S., T ö n e r n e Füße. Rowohlt. Bln. 1933, S. 43 f.; Schlichter, Rudolf (Calw 6. 12. 1890 — München 3. 5. 1955), Maler und Schriftsteller. R. S., Das widerspenstige Fleisch. Rowolt. Bln. 1932, S. 361.
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1910 Der gewaltigste Vertreter der „Sozial-Darwinisten"
meinte Verfasser einschränkend: „Durch diesen Beitrag werden nicht Meinung und Absicht der Mitarbeiter charakterisiert. Diese Sätze treffen nur mich und die wenigen mir persönlich nahestehenden Freunde." 929 Verwey, Albert, An S. 44 f.). Ein elfstrophiges Gedicht.
Friedrich
Nietzsche.
(BK
Bd. 9,
1910,
930 Müller-Lyer, F., D e r Sinn des Lebens und die Wissenschaft. Grundlinien einer Volksphilosophie. J. F. Lehmann. Mchn. 1910. IV, 290 S., 5 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = Die Entwicklungsstufen d. Menschheit. Eine Gesellschaftslehre in Überblicken u. Einzeldarstellungen. Bd. I).332 Darin: Der Nietzscheanismus, S. 64—83. In seiner Aufhellung der „Gesellschaftslehre" kommt Verfasser nach Darstellung der „Organizisten" auf den „Nietzscheanismus". In Nietzsche erkennt er den „gewaltigsten Vertreter" der „Sozial-Darwinisten": „Er zuerst, und allein bis jetzt, hat den ,Sozial-Darwinismus' mit einer unvergleichlichen Gestaltungskraft und dem Mut philosophischer Unerschrokkenheit bis in seine äußersten Konsequenzen verfolgt und ausgebildet." Eine Auseinandersetzung mit ihm hält Verfasser „also für die Zukunft der Soziologie von geradezu g r u n d l e g e n d e r Bedeutung". Trotz der Anerkennung, die in diesen Worten zu liegen scheint, fällt es dem Verfasser gar nicht schwer, die Ansichten des „philosophierenden Dichters" zu widerlegen. Mit der Kultur habe „die Entwicklung das organische Gebiet verlassen, sie ist ins Überorganische (eben in die Kulturentwicklung) übergegangen". Was den Übermenschen betreffe, seien Nietzsche „bloß die populären Schlagworte .Kampf ums Dasein', .Auslese der Stärkern' usw., die er blindlings in die Welt der Kultur hineintrug", bekannt gewesen. „Nicht Übermensch heißt die Formel, sondern Vollkultur", und diese existiere „tatsächlich schon": „es ist der Staat". In Nietzsches Betonung der „natürlichen Zuchtwahl" finde man „wieder dieselbe kritiklose Übertragung Darwinischer Schlagworte auf das Gebiet der Kultur, dieselbe oberflächliche Verwechslung der organischen Entwicklung mit der überorganischen, mit der Kulturentwicklung". Auch den „Kampf" habe er „überschätzt und durch einseitige Sophistik in unsinniger Weise auf die Spitze getrieben". Es handele sich bei seinen Behauptungen „immer wieder" um denselben „Mißbrauch der Darwinischen Schlagworte", immer wieder um dieselbe „oberflächliche Verwechslung des Zoologischen und des Soziologischen". Da er „die künstlich Schwachen und Starken, d. h. die Armen und Reichen für die Schwachen und Starken im Sinne Darwins" gehalten habe, sei er Opfer einer „fast unglaublichen Verwechslung" und „der Prophet der Plutokratie und des sozialen Parasitismus geworden". In Sachen „Moral" habe er sich „durch das Wort Aristokratie blenden lassen": „Unsere Kulturentwicklung geht nicht zum Kastensystem hin, sondern sie geht davon weg; die fortschreitende Demokratisierung aller höher stehenden Staaten ist
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Müller-Lyer, Franz (Baden-Baden 5. 2. 1857 — München 29. 10. 1916), Gesellschaftswissenschaftler und Nervenarzt.
1910 „ein in Atavismen erstickter Verstand"
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eine offensichtliche Tatsache." In dem Kampf gegen das „Mitleid" predige er „die Rückkehr zur alten Bestialität, keinen Fortschritt". Sein „vielgerühmter Individualismus", der dem einzelnen vorhalte, er solle sich „der Gattung opfern", sei nichts anderes als „der uralte Sozialeudämonismus der Tierstaaten", „den man am besten als sozialen Masochismus bezeichnet" und der „schon von Schiller glänzend widerlegt" worden sei. Um seinen Anschauungen „einen tieferen Halt zu geben", habe er sich bei „der Metaphysik umgetan", aber gerade „die Metaphysik" gilt dem Verfasser „als ein überwundener Standpunkt". Der Schluß lautet dann insofern vernichtend: „Nicht fortschrittlich ist Nietzsche, sondern tief rückschrittlich; kein Schöpfer neuer Werte, kein freier Geist, sondern ein in Atavismen erstickter Verstand; kein zukunftsfroher Vorwärtsbeweger, sondern ein Rückwärtsdränger." N u r wenn man ihn nicht als „Philosophen" werte, denn nach solcher Wertung „wäre sein Werk (soziologisch genommen) nur eine wertlose Wiederaufwärmung der veralteten Ideen in Hobbes, de Mandeville, Marquis de Sade und Stirner gewesen", sondern als „Dichter des Heldenmuts", dann könne man in ihm einen solchen sehen, der „gar manchen Strauchelnden dem Individualismus gewonnen und zur Selbstwilligkeit und Selbsteigenheit aufgerüttelt" habe. Dazu habe er auch „mit seinem machtvollen Geist die furchtbarsten Probleme unserer Zeit tief aufgewühlt, und wenn er ein großer Irrer war, war er auch ein großer Anreger und Förderer".
930a Dass. 8 . - 1 0 . Tsd. A. Langen. Mchn. 1921. X, 351 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Uber Nietzsche auf S. 73—95 mit geringfügigen Ergänzungen, sonst unverändert.
931 Stein, Alfred (Grimma), Die Stellung des jungen Nietzsche zu den Fragen der Erziehung und Bildung. (PäAr 52, 1910, S. 73—99). Gerade „die Überzeugung von der Möglichkeit und Macht der Erziehung und Bildung" verleihe dem „ausgesprochenen Kulturpessimismus" Nietzsches „eine so unerschütterliche, siegessichere H o f f n u n g " : „Nietzsches Persönlichkeit und Werk zeigen einen erzieherischen Zug von so einzigartiger Stärke und überwältigender Macht, daß man beides ohne diesen gar nicht verstehen kann . . V e r f a s s e r beschränkt sich in seiner Darstellung auf den „jungen Nietzsche", nicht nur da „seine Jugendansichten eine ziemlich einheitliche Entwicklungsstufe bilden", sondern auch weil darin „die ganz einzigartige .unzeitgemäße' Idealgestalt des jungen Nietzsche" hervortrete. Bei der Darstellung wird vor allem das Verhältnis zu Schopenhauer beleuchtet, in dessen Philosophie Nietzsche „sich selbst" entdeckt habe. Obwohl sich verschiedenes gegen seine „Auffassung der Bildung und Erziehung" geltend machen lasse, so auf dem Gebiete des Erkennens, in der „Kritik des Christentums" und in der Würdigung der „sozialen Entwicklung", bleibe als sein „unbestrittenes Verdienst", „in unserer uniformierenden Zeit mit ihren sozialen Tendenzen wiederum den unschätzbaren Wert des Individuums zum Bewußtsein gebracht und in der Erziehung bisher vernachlässigte hochwichtige Seiten der Menschennatur auf das Eindringlichste betont zu haben". — „Heute sehen wir sein .Kinderland', und die Jugend hat ihm viel zu danken, wenn sie sich heute natürlicher und kraftvoller als vor Jahrzehnten entwickeln darf."
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1910 Zarathustra als Prophet Christi
932 Lhotzky, Heinrich, Nietzsche-Zarathustra und Jesus Christus. (Leben 6. Jg., 1910, S. 198—211). O b w o h l Verfasser vorgibt, „Nietzsche zu wenig" zu k e n n e n , bietet er hier eine scharfe Verurteilung des W e r k e s von Paul Fischer ( N r . 862): „ G e r a d e die professorenmäßig kühle, gerecht a b w ä g e n d e Art kann den Z a r a t h u s t r a gar nicht erreichen. Sie kann einfach nicht u n d wird ihn nie verstehen." Fischer und dessen christlichen Lesern wirft er ins Gesicht: „ N i e t z s c h e - Z a r a t h u s t r a stand Jesus Christus näher als ihr alle ahnt, der Feind Gottes, der dem toten lieben G o t t e einen N a c h r u f gewidmet, w a r vielleicht m e h r Gotteskind als ihr selber!" D e n „ E r z f e i n d " des Heilands e r k e n n t er dagegen in dem „Religionsunterricht". „ W e r hat also Jesus besser verstanden, Nietzsche o d e r die Christenheit? G e r a d e die tiefsten W a h r h e i t e n von Jesus spricht Nietzsche aus, w e n n auch in a n d e r e r Form." — „Wir b r a u c h t e n am Ausgange des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s g e r a d e so einen P r o p h e t e n , der einmal eine U m w e r t u n g aller W e r t e v o r n a h m , der einmal u n z e i t g e m ä ß e Betrachtungen anstellte über Menschliches, Allzumenschliches, über den U b e r m e n s c h e n und die Wiederkehr aller Dinge, und das gewaltige E c h o seines Sagens w a r das Zeugnis der Geschichte, wie not er uns tat . . . wir f r e u e n uns am Christus, aber wir sind ihm auch d a n k b a r , d a ß er uns einen Z a r a t h u s t r a als P r o p h e t e n gesandt hat."
933 Baumgartner, Oskar, Nietzsche—Hölderlin. Gebr. Leemann. Zür. 1910. 114 S. ( = Diss. d. Univ. Bern). U n t e r n i m m t einen recht eingehenden Vergleich beider d u r c h „Zusammenstellung der markantesten Stilähnlichkeiten". Verfasser möchte dabei auch auf „das von der R o m a n t i k Abweichende . . ., die Verschiedenheit der Nietzsche- und H ö l d e r lin'schen R o m a n t i k von d e r übrigen", hinweisen. H i e r z u w e r d e n recht häufig die W e r k e und Ansichten von u. a. H e i n e , Novalis, Kleist, Arnim, J e a n Paul, A. W . u. Fr. Schlegel, Fichte, Brentano, K e r n e r , T i e c k und Schelling a n g e f ü h r t . Bei Nietzsche k o m m t lediglich der „ Z a r a t h u s t r a " in Betracht, bei H ö l d e r l i n vornehmlich „ H y p e r i o n " u n d „Empedokles T o d " . V o n den „inneren Motiven" w e r d e n behandelt 1. die „ N a t u r s c h i l d e r u n g " , an der auffalle, d a ß „sie f o r t w ä h r e n d e enge Beziehung z u m Subjekt, das H i n e i n l e g e n der Stimmung, statt des H e r a u s f ü h l e n s " sei; „an Stelle des ,Sich stimmen lassens' d u r c h die L a n d s c h a f t tritt das Stimmen derselben nach dem eigenen G e f ü h l " , 2. das „Verhältnis zur Gesellschaft", das d a d u r c h bestimmt sei, d a ß beide „Liebe" n u r „ f ü r das Gleichgesinnte, H a ß f ü r das Übrige" e m p f i n d e n : „ T o l e r a n z ist ihnen beiden f r e m d ; es gibt keine T o l e r a n z des H e r z e n s , sondern nur eine T o l e r a n z des K o p f e s ; aber sie beurteilen die W e l t , wie jeder Lyriker es tut, nach d e m H e r z e n . " 3. die „psychologische Darstellung", die sich dreiteilen lasse: in eine „Psychologie des Schaffens", der „Liebe" und der „romantischen Seele, des Proteus". „ D e r G e g e n s t a n d ihrer Darstellung ist ihr eigenes Innere. Ihr Ich e n t p u p p t sich als d u r c h a u s im Banne der R o m a n t i k stehend; aber diese Art der Darstellung, die Welten ihrer Vorstellungen und Bilder sind sich verwandter als andern R o m a n t i k e r n . W o h l ist ihre Psychologie einseitig, die Darstellung des Lyrikers; aber ihre Beobachtungen sind tief, tiefer als die des Epikers." Die „Darstell u n g s f o r m e n " w e r d e n d a n n untersucht u n d verglichen: „ T r i a d i s c h e r Rhythmus", „Hymnische Darstellung", „Wechsel von Poesie und P r o s a " , „Aphorismenstil",
1910 „Dissonanz heißt sein Sprachgeheimnis."
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„Di'e große Epanodos", „Mischung von Erhabenem und Lächerlichem", „Neigung zur Antithese", und zu dieser letzten Form heißt es: „. . . das ganze Geheimnis der Macht Nietzschescher Sprache und Sprüche liegt hier in seinen Antithesen verborgen. Dissonanz heißt sein Sprachgeheimnis." Zum Schluß kommen dann die „rhetorischen Figuren", der „Satzbau", die „Stellung der Satzteile", die „Bildlichkeit" (d. in. „Personifikation", „Umkehrung der Personifikation", „Gleichnisse und Bilder1") und der „Wortschatz". Das Ergebnis lautet: „Wir haben Hölderlins Stil im Zarathustra wieder entdeckt ohne zu übersehen, daß dieser noch eine ganze Reihe von Elementen des Stils aufweist, die nicht durch Hölderlins Einfluß bedingt sind. Die beiden Stilanen decken sich nicht vollständig. Jedoch sind die hier besprochenen Einflüsse unleugbar von den größten und weitgehendsten."
934 Strecker, Karl, Das Nietzsche-Archiv in Weimar. (TRs Nr. 69 v. 23. 3. 1910, S. 274 f.). Eine hochlobende Würdigung des schwesterlichen Wirkens in und um das Archiv-, das selbst „das Muster aller derartigen Stiftungen" sei. Bemängelt wird lediglich, daß man in der schwesterlichen Lebensbeschreibung noch nicht „ d i e Nietzsche-Biographie" besitze, obwohl sie „wertvolles Material für den hoffentlich noch einmal kommenden — Nietzsche-Bielschowsky" liefere.
935 Rickert, Heinrich (Freiburg i. Br.), Lebenswerte und Kulturwerte. (Lo II, 1910, 2, S. 131 — 166). Dem Verfasser geht es vor allem um Darlegung und Beurteilung der „biologistischen Modephilosophie", und „der interessanteste und wohl noch immer einflußreichste Biologist" ist ihm dabei Nietzsche, der „nur" als Biologist Mode geworden sei. Er betont den Einfluß Schopenhauers, Wagners, Darwins und Rolphs, streift noch Bergson als einen Vertreter des „biologistisch-metaphysischen Monismus" und behandelt die Kulturphilosophie, den Pragmatismus und den Monismus als Abarten des „Biologismus". In einem letzten Abschnitt untersucht er „die Welt der logischen, der ästhetischen, der sozial-ethischen und der religiösen Werte", um „lediglich" an einigen Beispielen den „Antagonismus von Leben und Kultur" aufzuzeigen. Bei seiner Darstellung der ästhetischen W e r t e ist die V e r w e r f u n g von Nietzsches Aufstellung des Dionysischen als höchsten Prinzips und dessen Behauptung, „daß die Musik dem Leben näher wäre als andere Künste", sehr lesenswert. Zu Nietzsche auf S. 136 ff., 140, 141, 160.
935a Dass, weitgehend umgearbeitet und erweitert als Buch: Die Philosophie des Lebens. Darstellung und Kritik der philosophischen Modeströmungen unserer Zeit. Mohr. Tüb. 1920. VII, 196 S. Fundstellen zu Nietzsche, da das Namenverzeichnis unvollständig ist: S. 19 bis 22, 2 5 - 2 9 , 31 f., 51, 58 f., 65, 68, 81 f., 84 f., 86, 90, 95—98, 100, 1 3 8 - 1 4 1 , 145, 150, 152, 162, 177, 178 f., 180 f., 183, 185 f., 188, 194 f. Was Nietzsche betrifft, sind die Erörterungen zwar ausführlicher, aber nicht wesentlich verändert. Als neue Einflüsse bzw. Vorläufer werden Schelling, Kierkegaard, Fr. Schlegel, die Sturmund-Drang-Bewegung und der junge Goethe angeführt; als Mitgestalter Mach, R. Avenarius und Dilthey. Zu den damaligen „Lebensphilosophen" gehören Speng-
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1910 Nietzsche ¡m Drama
1er, Simmel, Husserl, Scheler, „Friedrich Steppuhn", Friedrich Paulsen, Vaihinger und Jaspers; neben Bergson tritt James. Jener erfährt eine weit breitere Darstellung, mitunter da er „quantitativ . . . in der wissenschaftlichen Philosophie mehr gewirkt" habe, als Nietzsche. „Zarathustra wird hauptsächlich von Deutschen gelesen und ist wohl unübersetzbar. Bergsons Einfluß verbreitet nicht nur über Europa deutsche Gedanken im glänzenden französischen Gewand, sondern seine Wirkungen sind auch in Amerika zu spüren." Im Vorwort mehr als im Buch selber ist die Hinwendung des Verfassers zu Hegel ausdrücklich: „Den jungen Hegel kann man zu den Lebensphilosophen rechnen, und seine Phänomenologie zeigt ebenfalls mit Modetendenzen Gemeinsames. Vielleicht müssen wir auch durch den Hegelianismus erst hindurch, ehe wir uns wieder zum selbständigen Philosophieren entschließen, und auf jeden Fall ist für die zeitlosen Probleme aus Hegel mehr zu lernen als aus Zarathustra." 935b Dass. Zweite unveränderte Aufl. 1922. X V , 196 S. Mit wenigen ' geringfügigen Verbesserungen, sonst unverändert. 936 Friedrich, Paul, Das dritte Reich. D i e Tragödie des Individualismus. X e n i e n - V l g . Lpz. 1910. X I , 99 S. ( D a s Stück wurde im April 1912 von der Wagner-Gesellschaft in Berlin auf die Bühne gebracht.) „Dem kommenden Geschlecht als Frührot neuer deutscher Kunst" gewidmet und mit einem Geleitwort Nietzsches versehen, bietet Verfasser hiermit eine „dichterische Gestaltung" des Nietzscheproblems, „dieser stärksten Kulturtragödie, an der wir alle indirekt Mitschuldige sind". Das Stück spielt in Tribschen (Nietzsche, Wagner und Cosima; die Begeisterung des jungen Nietzsche für den „Meister"), Bayreuth (Nietzsche und die Schwester; die Enttäuschung und darauf Begegnung mit dem eigenen Ich in der Gestalt eines „Fremden"), in den bayrischen Bergen (mit der Schwester, die in einem langen Zwiegespräch sich dem Bruder fast ebenbürtig zeigt), in Sils-Maria (enttäuschendes Zwischenspiel mit Heinrich von Stein; Auftritt des „Lebens" und Entdeckung des Ubermenschen und der ewigen Wiederkunft) und in Turin (Zusammenbruch; im letzten Auftritt empfängt Zarathustra den wankenden Philosophen: „ . . . man sieht durch die geöffnete Tür einen hellgelben Saal, auf dessen Hintergrund sich rote, hellgrüne, lilae und blaue Gestalten, unter ihnen mit Bockschwänzen gezierte Männer und Weiber in Trikot hin und herbewegen in einem fieberhaften Taumel. Nach einem Augenblick erscheint in der Tür, ganz in Silber und Gold gekleidet, mit goldenem Reif im blonden Haar, um die Schultern ein Leopardenfell über purpurnem Mantel, Zarathustra."). 937 Häußler, Dr. Gustav (Oberlehrer in Lübeck), Schopenhauers und Nietzsches Pessimismus. Darstellung und Kritik. Müller Vlg. Halle 1910. 39 S. Wie die Uberschrift schon andeutet, erkennt Verfasser in beiden Denkern nur den Pessimisten. Bei Nietzsche, der erst „an der Weltanschauung" Schopenhauers „groß" geworden sei, habe dessen „Skeptizismus" sich „zum vollständigen Nihilismus" entwickelt: „Alle unsere geschichtlichen Werte Staat, Recht, Kunst, Religion, welcher Art sie auch sein mögen, sind für Nietzsche sinnlos." Beide Denker „bieten
1910 Die „echte, reinste Menschlichkeit"
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d o c h d e n M e n s c h e n in ihren kühnen Irrfahrten nicht das rettende Eiland, das die nach ihren B e g r i f f e n stumpf g e w o r d e n e Welt ersetzen könnte, die Welt, w o als F u n d a m e n t e d e r Religion und Sittlichkeit immer noch die Ewigkeit der Seele und die m a t h e m a t i s c h e Gesetzlichkeit der Welt gelten".
938 Kerler, Dietrich Heinrich, Nietzsche und die Vergeltungsidee. Zur Strafrechtsreform. Heinr. Kerler. Ulm 1910. 1 Bl., 49 S . " 3 G e h t v o n der Einstellung aus, daß „der f l a m m e n d e P r o t e s t " Nietzsches „ g e g e n die B e g r i f f e L o h n und S t r a f e . . . die nothwendige Äußerung einer höchstpotenzierten religiösen und ethischen G r u n d s t i m m u n g " sei. „ N i e t z s c h e zuerst hat die K o n s e quenz g e z o g e n , von der ethischen Irrelevanz des eigenen W o h l s aus auch die des W o h l e s des N ä c h s t e n zu decretieren", und habe sich damit „in den schroffsten Wid e r s p r u c h " z u Stirner und T o l s t o i gesetzt. E r verwerfe sowohl den E g o i s m u s als auch die N ä c h s t e n l i e b e , und beide „ a u s M o r a l " . E s sei dann auch seine Stellungnahme d e m G r u n d p r o b l e m der Ethik g e g e n ü b e r , die sein Verhältnis zur V e r g e l tungsidee „ n o t h w e n d i g " bestimme. N a c h D a r s t e l l u n g von N i e t z s c h e s Ansichten über S t r a f e , R a c h e und dgl. schließt V e r f a s s e r mit f o l g e n d e n W o r t e n : „ M i t der ganzen Intensität einer f ü r d a s Ideal edelsten, höchsten M e n s c h e n t u m s glühenden Seele hat N i e t z s c h e die Immoralität der V e r g e l t u n g s i d e e e m p f u n d e n . Wie anders wirkt diese H o h e i t d e r G e s i n n u n g , diese echte, reinste Menschlichkeit auf uns ein, als der zelotische E i f e r derer, die, vom G e i s t der S c h w e r e niedergedrückt, dem G ö t z e n der Vergeltung huldigen."
939 Piper, Kurt, Künstlertypen und Kunstprobleme. R. Piper. Mchn. 1910. 195 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Darin: Goethe und Nietzsche, S. 7 9 - 1 0 1 . D e m V e r f a s s e r dienen G o e t h e und N i e t z s c h e als die eigentlichen „Künstlertyp e n " ; j e n e m h a b e „ d i e starke, glückliche Physis z u r S e i t e " g e s t a n d e n , „die seinem Antipoden N i e t z s c h e fehlte. W i e dieser echt märtyrerhaft ins Menschlich-Unbedingte d r ä n g t e , s o stellte sich G o e t h e auf den lebenstrotzenden und lebenbändigenden S t a n d p u n k t : W a s liegt an d e r M e n s c h h e i t ? " — „ G o e t h e w a r als G a n z e r der Prototyp des unmittelbar antispekulativen Künstlers im G e f ü h l seiner unbestrittenen Macht. N i e t z s c h e w a r dasselbe mittelbar, d. h. im K a m p f g e g e n eine feindliche spekulative U m w e l t , d e r prometheische K ü n s t l e r t y p u s . " G o e t h e h a b e sich „nur durch einen rechtzeitigen Waffenstillstand zwischen Außen- und Innenleben, durch den Scheinfrieden des M e p h i s t o p a k t s , durch einen K o m p r o m i ß , den N i e t z s c h e verschmähte", gerettet. W i e diese S ä t z e schon nahelegen, steht V e r f a s s e r N i e t z s c h e entschieden verständnisvoller g e g e n ü b e r als G o e t h e . A u c h ist ihm jener „ein religiöses G e n i e " , d e r zerschellt sei „ a n der zeitlich b e f a n g e n e n G e g e n w a r t , der sich Goethe als K o m p r o m i ß l e r im g a n z e n d u r c h a u s verbunden fühlte". Wie man es mit Jesus g e m a c h t habe, s o werde m a n auch N i e t z s c h e später nach dem „Lotterbettsgaumen v e r d o g m a t i s i e r e n , versymbolisieren", eben z u m „ G e w ä h r s m a n n " der „eigenen v e r d o r b e n e n U r s p r u n g s i n s t i n k t e " machen. S . a. die eher beiläufigen E r w ä h n u n 333
Xerler, Dietrich Heinrich (Neu-Ulm 16.6. 1882 — München 16.9. 1921), Buchhändler, 7erleger und Privatgelehrter.
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1910 Theodor Däubler — Alfred Kubin
gen auf S. 20 ( N i e t z s c h e und die Stoa), 21 (und G o e t h e ) , 39 (und Liliencron), 47, 52 (über den „Zarathustra" als „höchste Innenkultur im Gleichnis, ein Symbol und keine Utopie"), 56 (und G o e t h e ) , 112 f. (über die „Ewige W i e d e r k u n f t des Gleichen"), 142 (und Christus), 148 f. (nochmals über die „Ewige Wiederkunft"), 149 f. (als „Plastiker"), 176 f. (und G o e t h e ) , 193 (und der Nazarener).
940 Däubler, Theodor, (Hymne an Friedrich Nietzsche.), (In: Pan, orphisches Intermezzo, als Beigabe zum zweibändigen „Nordlicht", Florentiner Ausgabe. G. Müller. Mchn. u. Lpz. 1910, S. 1 0 6 - 1 13.334 940a Dass. Genfer Ausgabe. Insel-Vlg. Lpz. 1921, S. 572 — 578. Unverändert. Uber den im Gedicht auftretenden „Sänger" heißt es im Vorwort (S.40): „Als ich ihn schöpfte, dachte ich an Friedrich Nietzsche und brachte ihm, ohne seinen Namen in dieser Einhüllung nennen zu können, eine Hymne dar." 940b Dass, in ANJ, S. 2 3 - 2 9 . Unverändert. Alfred Kubin erzählt aus der Zeit um das Jahr 1910: „Ich kenne neben Kant kein anderes Werk von so ungeheuerlichem Wert und solcher Problematik als das Friedrich Nietzsches. Wie ein unterirdischer Magnet z o g es mich von jeher an, stieß mich aber, so oft ich den Versuch einer scharfen Auseinandersetzung damit machen wollte, durch seine offenbaren, ja entsetzlichen Denkirrtümer wieder ab. Der persönliche Zauber des sphinxhaften Bejahers geht einem am meisten in dem Ecce homo auf, dem Spätwerk, das mir durch einen glücklichen Zufall lange vor seiner Drucklegung bekannt wurde. Fruchtbar wurden mir aber Nietzsches Ideen erst verhältnismäßig spät. Er ist wirklich — u n s e r Christus! Ein Tag innern Aufschwungs bis zu einer schwindelnden H ö h e gab mir den Mut, mit erworbener kantischer eisiger Nüchternheit den glühenden Rausch-
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S. a. die Erwähnung Nietzsches als fast einzigen Deutschen in: T. D., Wir wollen nicht verweilen. Autobiographische Fragmente. Insel. Lpz. 1921 (2. Aufl.), S. 120 f.: „Nietzsche bewunderte Descartes, weil er den Tieren keine Seele zugestand, und er will den Schritt tun, sie auch den Menschen zu nehmen . . . Der ,Anti-Christ' Nietzsche wollte wohl dem heutigen Dualismus (denn wir stammen doch in der Scheidung zwischen Seele und Geist am deutlichsten von Descartes ab) einen bösen Streich spielen, um jedenfalls den eigenen dagegen einzusetzen. Könnte nicht immer Einer kommen und Tieren, ja Pflanzen, Seele zugestehn und den Trumpf gegen die anorganische Welt ausspielen? Nietzsche, der Kampf, Kampf wollte und vielleicht daran, daß er nur in sich selbst Widersacher fand, zugrunde ging, läßt uns Künftig wohl wittern, daß Dualismus eine unbedingte Notwendigkeit für das Emporwollen ist. . . Nietzsche sprach von sich als Flamme! Nietzsche witterte nach dünner Luft: und doch war Nietzsche: Badender in klarem Wasser. Dort, wo er Sprache, Sprachscherze auseinanderwühlen konnte, daß gewagte Sätze aufspringen muß· ten, und die Riviera-Sonne darüber funkelte und sprühte, da war er in seinem Wasser, in seinem Schwimmwasser. Und er machte Tempos: klassisch zerteilte er klare Wagnisse, wenn sie ihm entgegenschlugen; und sowie sie sich überschlugen und den Badenden mit Freude, ja mit aller ihrer funkelnden Feuchtigkeit überschütteten, da fühlte er sich am selbstsichersten"; Däubler, Theodor (Triest 17.8. 1876 — St. Blasien/Schwarzwald 13.6. 1934), Dichter.
1910 „eine notwendige Arznei"
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trank Zarathustras zu schlürfen, und von da an hatte ich was ich wollte, — nämlich eine für alle erdenkliche Fälle meines Erlebens sich bewährende Anschauung. Ein unendliches Geheimnis schien mir offenbar geworden, das alles überglänzte und die Erdenpracht auch mit in besonderen Ewigkeitsschimmer tauchte. Dabei war es das Öffentlichste was es gibt."" 5 941 Grützmacher, Richard H. (o. ö. Universitätsprof.), Nietzsche. Ein akademisches Publikum. A. D e i c h e n N f . Lpz. 1910. 4 Bll., 197 S., 5 Bll. ( — Vlgs.-anz.). Verfasser meint einleitend: „Die Zeit abzugloser Verdammung und bedingungsloser Hingabe geht dahin. Und das erst macht es möglich, von Nietzsche nun auch auf dem akademischen Katheder zu sprechen, von dem die Stimme reiner Leidenschaft nicht herabtönen darf, die nur dem Streit des Tages dienen will." Er stellt das Leben sehr breit dar und geht dann auf einzelne Fragengruppen ein: ästhetische Form, Stellung zur Kunst, Wissenschaft, Leben, Freundschaft, Ehe, soziale Welt, Nation, Staat, Moral, Religion, um zu den „Grundfragen" zu kommen: Wille zur Macht („. . . ob er nur empirisch oder auch metaphysisch, ob und wie er physisch und psychisch, naturbedingt und abhängig oder frei und schaffend zu denken ist, das bleibt im Geheimnis und Dunkelheit."); der Übermensch (dieser ist, „soweit er naturalistisch-egoistischen Charakter trägt", abzulehnen, doch vermöge man ihm, als „idealistisch-moralischem Typus, . . . wenn er sich eine soziale Ergänzung gefallen läßt, freundlich gegeniiberzutreten"); die Wiederkunft aller Dinge („Auch hier wieder lähmt die naturalistische Nebenströmung den reinen Durchbruch einer sittlichen Idee.") — „ U n d d o c h w a r N i e t z s c h e ein M e n s c h , d e n m a n in d e r Seelengeschichte unseres Geschlechtes kaum jemals vergessen w i r d . " Man begreife „seine unzeitgemäße Kritik nicht nur, sondern erkennt in ihr auch eine notwendige Arznei, die zu einer Gesundung oder wenigstens zu einer heilsamen Krisis führte". Dennoch werde die Gestalt Nietzsches „für die fortschreitende Geschichte . . . kleiner und kleiner". 941a Dass. 3. verbess. u. verkürzte Aufl. 1917. VI, 144 S., 5 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Geringfügig gekürzt, im Aufbau etwas geändert, sonst im wesentlichen dasselbe; geht kaum auf inzwischen Erschienenes ein. 941b Dass, ohne Untertitel. 5. u. 6. durchgeseh. Aufl. Lpz., Erlangen 1921. 2 Bll., 154 S., 3 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Fast unverändert, vom neueren Schrifttum erfahren nur einige Werke eine Erwähnung, so ζ. B. die von Bertram, Hesse, Th. Mann.
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Α. K., Aus meinem Leben, enthalten in: Α. K., Aus meinem Leben. Gesammelte Prosa m. 73 Abb. hg. v. Ulrich Riemerschmidt. Edition spangenberg im Ellermann-Vlg. Mchn. 1974, S. 52 f.; zuerst in: Α. K., Die andere Seite. 3 . - 5 . Tsd. G.Müller. Mchn. u. Bln. 1917, S. L V f . ; Kubin, Alfred (Leitmeritz/Böhmen 10.4. 1877 — Zwickledt b. Wernstein/Inn 20. 8. 1959), Zeichner.
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1910 „die Renaissance des Feuilletons"
941c Dass. Friedrich Nietzsche. Einheit und Widerspruch seiner Gedanken. 7. neugestaltete Aufl. Lpz. 1939. 2 Bll., 116 S. Dem W e r k fehlen nun die einleitenden werk- und lebensgeschichtlichen Abschnitte, und die übrigen Teile, obwohl denen der früheren Auflagen in groben Z ü gen inhaltlich ähnlich, sind durchweg umgearbeitet. Wie aus den folgenden Stellen hervorzugehen scheint, mag Verfassers Standpunkt sich etwas zugunsten einer Anerkennung verschoben haben. Er beginnt jetzt mit der Feststellung, daß Nietzsche „auch nach Verlauf von mehr als einem Drittel des 20. Jahrhunderts die bedeutsamste Erscheinung in der neueren deutschen Geschichte" bleibe, und endet, wenn auch etwas einschränkend: „Noch ist Nietzsches Schöpferkraft nicht erloschen. Es werden ihr noch Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte beschieden sein. O b er freilich die Ewigkeitsgeltung des von ihm selbst in seiner überragenden Größe anerkannten Goethe für unser Volk und die Menschheit erreicht, steht dahin." Zeitgeschichtlich erwähnenswert ist folgende Äußerung: „An dem deutschen Aufbruch seit dem J a h r e 1933 ist Nietzsche auf das stärkste beteiligt. Es wäre falsch, seine Gedanken und die in der Gegenwart herrschenden einfach einander gleichzusetzen, aber es wäre ein noch größerer Irrtum, wenn man nicht seine Kraft auch hinter den Gedanken, Worten und Taten unserer T a g e schaute."
942 Fischer in Graz, Wilhelm, Friedrich Nietzsches Bild. G. Müller. Mchn. u. Lpz. 1910. 2 Bll., 224 S. Von betont vaterländisch-christlicher Warte aus wird Nietzsche hier, trotz gelegentlicher Anerkennung, regelrecht abgekanzelt oder zum Überdruß bemitleidet. Seine Entwicklung wird, unter Berücksichtigung des Einflusses eines Schopenhauer („er trägt die Schopenhauerische Philosophie trotz allem latent in sich"), Stirner und Dühring, vor allem aus der Zeit erklärt: „Er glaubte auch einmal zu schieben und ward geschoben. D a er in die Bewegung eines Heldenzeitalters hineinkam, wie es die deutsche Geschichte bis dahin nie erlebt und verzeichnet hatte, so erwachte in ihm der Trieb irgendeine neue Heldentheorie aufzustellen. Freilich ein Trieb . . . weniger aus Bedürfnis als aus Ehrgeiz. Später wendete sich seine Geringschätzung gegen dasselbe .Reich' mit seinen ,décadents', dem er seine heldische Idee zu verdanken hatte. Das ist die Dankbarkeit jedes vorgeblichen Genies, das andere und sich selbst überzeugen möchte, daß es von vorne angefangen hat, und daß ein neues Werden von ihm ausgehe." Was den „Dichter Nietzsche" betreffe, so gebe es, trotz einer „Fülle von glücklichen Wendungen, zum Teil trefflichen, zum Teil überschwänglichen Bildern", bei ihm „doch niemals die Gestaltungskraft eines Dichters": „Sein Denken hüllt sich in Poesie; aber es ist kein poetisches Denken." Was er geschaffen habe, sei „die Renaissance des Feuilletons", und somit habe er die Arbeit eines Heine fortgesetzt. Lesenswert ist auch der Vergleich mit dem Marquis de Sade: „Das Übermenschentum und die Herrenmoral ein T r a n k aus Sades verpestetem Brunnen!" W a h r e Vorbilder erkennt Verfasser in Goethe und Shakespeare. Aus den „überpriesenen W e r k e n " eines Nietzsche werde man dereinst „einen Band echter Aphorismen, die keine Sophismen sind, ausziehen; und dies kann das nicht geist-
1910 „der zum Gestalten ganz Unfähige"
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vollste — aber espritvollste Buch der deutschen Literatur sein. Er kann dereinst damit als ein deutscher Chamfort fortleben . . ."336 943 Eckertz, Dr. Erich, Nietzsche als Künstler. C. H. Beck. Mchn. 191 3. 2 Bll., 236 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). In einem Abschnitt: Der heimatliche Tonfall und der ererbte Ausdruck, behandelt Verfasser zunächst Nietzsches Heimatsverbundenheit mit Obersachsen und Thüringen und bringt ihn in Zusammenhang mit Wagner und Luther (die „ihn Zeit seines Lebens nicht losgelassen" haben), Fichte („der große Philosoph der Romantiker, als Prediger des Ichs ein Vorläufer Nietzsches"), Novalis („seine symbolistische Aphorismenphilosophie bereitet vor, was in seinem Landsmann Nietzsche an Romantik zum Ausdruck kommt"), Friedrich Ritsehl, Bach, Heinrich Schütz, Händel, Schumann, Lessing, Treitschke, Pufendorf, Thomasius und Max Klinger. In „die künstlerischen Umkreise und die innere Welt" sind es vor allem „das Kirchenlied und die Bibelworte", Jean Paul, Hölderlin, Goethe, Keller, Heine, die Antike, Schopenhauer, Lichtenberg, noch mal Wagner und, neben der veränderten Landschaft des Südens, Burckhardt und „das Frankreich der klassischen Zeit", die hineindringen. Verfasser wendet sich dann der eigenartigen „Bild- und Gesichtfülle des Zarathustra" zu. Neben „modernsten Zügen", zu deren Beleuchtung die Kunst eines Klinger und Böcklin herangezogen wird, „weisen die Bilder und Gleichnisse . . . altüberkommene Art auf, die von der religiösen Kindheit und den philologischen Jünglingsjahren her längst bekannt sind". Hier verweist Verfasser auf die Bibel, Homer, Leopardi und Balthasar Gracian. Er betont auch „das seltsame Farbenspiel", die „mit neuen Werten" belebten Naturformen und „die einzigartige Kunst der Bild- und Begriffspaarung". Ein besonderer Abschnitt gilt dem „Scherz und der Bosheit", in denen Verfasser Anklänge an Heine und Aristophanes findet. Zum Schluß wird der Musik gedacht: „Die Musik ist die Triebkraft von Nietzsches Gedanken." Im ganzen eine recht anerkennende und auch anregende Arbeit, doch sollte man Bemerkungen wie die folgenden nicht überlesen: „der zum Gestalten ganz Unfähige", dessen Scherzen „sowohl der Zynismus des Herzlosen wie der des Erfahrungssicheren" fehle. In dem „heißbewegten Chaos belebter Teile" des „Zarathustra" suche man vergebens „ein lebendiges Ganzes". 943a S. 214—230 mit der Überschrift „Der Zarathustra als Musik" auch in N M Z g 31. Jg., H. 14, 1910, S. 287—290; bis auf Einleitungs- und Schlußabsätze, unverändert. 944 Arnold, Dr. Eberhard, Urchristliches und Antichristliches im Werdegang Friedrich Nietzsches. Bruno Becker. Eilenburg 1910. 4 Bll., 106 S., 1 Bl. (=Vlgs.-anz.). Geht von der Behauptung aus, daß Nietzsches „Stellung zum Christentum das wichtigste Moment für die Beurteilung seiner Lebensauffassung bildet". Sich in der
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Fischer in Graz, Wilhelm (Csakathurn/Kroatien 18. 4. 1846 - Graz 30. 5. 1932), Schriftsteller, wurde nach seiner Promovierung 1870 Beamter der Steiermärkischen Landesbibliothek.
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1910 „die Erlösung von Schopenhauer und Wagner"
Hauptsache auf „den tiefsinnigen Versuch" von Lou Andreas-Salomé und „das geistvolle Buch" Karl Joels stützend, stellt der Verfasser sich die Fragen, „warum ein so religiöser Geist für das C h r i s t e n t u m nur die schärfste und rückhaltloseste K r i t i k übrig behalten hat und worin die Wurzeln und Gründe der eigentümlichen S e l b s t b e f r i e d i g u n g seines Sehnens zu suchen sind?" Er lehnt zunächst die Ansicht ab, daß „der Knabe ein so persönliches Verhältnis zum Christentum gehabt hätte, daß es sich später um eine Losreißung von einem bewußten Christentum gehandelt haben könnte". „Die Religiosität seiner heimatlichen Umgebung bestand offenbar in einem gewissen Gottvertrauen und in derjenigen stillen Ergebenheit und Stimmungsphantastik, die er so bald als eine Verirrung der Vernunft und Phantasie ansehen mußte." Gegen Ende seiner Zeit in Pforta sei „der Bruch" schon vollzogen gewesen. Auf lange Zeit hin haben „Griechentum, Schopenhauer und Wagner . . . seinen religiösen Trieb" beruhigt. „In allen wesentlichen Punkten" sei seine Kritik des Christentums „auf den Einfluß Schopenhauers zurückzuführen". Nach einge* hender Darstellung der weiteren Entwicklung anhand der Werke schließt der Verfasser: „Durch sein ständiges Leiden, seine furchtbare Einsamkeit und durch häufigen Gemütsdruck fühlte er sich mit Macht auf Gott angewiesen und zu Christus gezogen. Aber er wollte es aushalten ohne Gott und das Christentum !" Es folgt eine Darstellung des „Antichrist" und dessen Verurteilung, da sich „sämtliche Vorwürfe Nietzsches als nichtig erwiesen" haben : „Wenn Nietzsche es demgegenüber gewagt hat, zu dem Fleischesleben mit allen Leiden, Begierden und Schändlichkeiten, zu Grausamkeit und Krieg, zu einem von Grund aus unmoralischen Machtwillen in religiöser Ekstase ,De capo' zu rufen, so bietet er das hervorragendste Beispiel und zugleich die notwendige Entlarvung der Religion ohne Jesus." Als „hoher Priester dieser allgemeinen Religion" habe Nietzsche „das gigantische Verdienst" erworben, „die christlichen Insignien angeworfen und die süßen Jesusbilder ihrer Tempel als ,die größte Verlogenheit' zerschmettert zu haben".337 945 Bélart, Hans, Friedrich Nietzsches Leben. Schweizer. Bln. u. Lpz. (1910). 190 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Als „Nietzscheverehrer" meint Verfasser: „Unsere Erlösung, die Erlösung von Schopenhauer und Wagner, die Erlösung in ein Jenseits von Gut und Böse ohne Transzendenz, alle unsere daherigen Erkenntnisse über die Welt und über uns als Schicksal, als Verhängnis, gab uns Nietzsche-Dionysos mit seiner Philosophie." Das Werk schöpft ganz aus schon Veröffentlichtem und bringt daher als einziges Neue eine Gegenüberstellung der Lehren Häckels und Nietzsches. 946 Weichelt, Hans, Friedrich Nietzsche: Also sprach Zarathustra. Erklärt und gewürdigt. Dürr. Lpz. 1910. VII, 319 S. Über die Hälfte des Buches ist der Nacherzählung des Inhalts, der wenig Kritisches beigefügt ist, gewidmet. Der übrige Teil befaßt sich mit Entstehungsgeschichte, Wirkung, Sprache, Aufbau, Quellen (Zoroaster, Griechen, Bibel, Augustin, Erasmus, Hölderlin, Jordan und Spitteier) und Wertung. Zur Sprache heißt es : 337
Arnold, Eberhard (Hufen b. Königsberg/Pr. 26.7.1883 — Darmstadt 22.11.1935), christlicher Volkserzieher.
1910 Ein „Mitvollender e n d l o s e r V o l l e n d u n g "
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„Im Zarathustra werden Töne angeschlagen, deren Zauber jede schönheitsdürstige Seele überwältigen muß." Zum Aufbau dagegen: „Zarathustra ist kein Werk aus einem Guß, sondern eine Zusammensetzung von Bruchstücken." Die Grundgedanken des Werkes liegen im „Ubermenschen" und in der „ewigen Wiederkunft". Verfasser setzt sich eingehend mit Naumann, Gramzow, Schwarz, Mauerhof, Willy und Schlaf auseinander und bietet daneben ein recht anschauliches Bild der ersten Wirkungszeit des „Zarathustra". Auch zeigt er sich überhaupt mit den meisten größeren Werken des einschlägigen Nietzsche-Schrifttums gut bekannt. Was das Werk ihm letzten Endes ist, drückt er deutlich im Schlußsatz aus: „ D a s h o h e L i e d v o n d e r s t o l z e n K r a f t d e s m e n s c h l i c h e n W i l l e n s . " Angefügt ist ein umfängliches Namen- und Sachverzeichnis. 946a
D a s s . Z a r a t h u s t r a - K o m m e n t a r . 2., neubearb. Aufl. F. Meiner.
L p z . 1922. 3 Bll., 366 S., 2 Bll. ( = V l g s . - a n z . ) . ( = Wissen
u. Forschen.
Schriften z. E i n f ü h r u n g i. d.
Philosophie.
Bd. 13). Zur zweiten Auflage meint der Verfasser: „Der erste Teil weist geringe Änderungen auf, der zweite ist völlig neubearbeitet." Dem kann man mit der Einschränkung zustimmen, daß die Auseinandersetzung mit der inzwischen erschienenen Literatur diese „völlige Neubearbeitung" des zweiten Teiles bedingte, so mit den Werken von Messer, Bertram, Griitzmacher, Levenstein, Eckertz, Römer, Schaffganz, R. M. Meyer, Jung, Lichtenberger und Ricarda Huch u. a. Der Auflage fehlt das Namen- und Sachverzeichnis, dafür sind die Belegstellen genauer angegeben. Die Stellungnahme ist, wenn das möglich ist, noch begeisterter. 947
O e h l e r , Α., N i e t z s c h e s W e r k e und d a s Nietzsche-Archiv. A.
K r ö n e r . L p z . (1910). 1 T a f . , 16 S., 4 Bll. ( = V l g s . - a n z . ) . Als Vorsitzender der Stiftung „Nietzsche-Archiv" beschreibt Verfasser Entstehung des Archivs, Veröffentlichung der Werke und Briefe sowie weitere Vorhaben der neuen Körperschaft, dessen Vorstand Max Heinze, Hans Vaihinger, Hermann Gocht, Graf Harry Keßler, Raoul Richter und Max Oehler damals angehörten. 948 K i e n z l , H e r m a n n , D e r „ k r a n k e " N i e t z s c h e . ( D A I 5. J g . , H . 3, 1910, S. 1 4 7 - 1 5 1 ) . Ein einziges Loblied auf Nietzsche den „Mitvollender e n d l o s e r Vollendung", als welcher zu wirken, er „nie wieder aufhören" werde. „Auch daß er, der Schöpfer einer neuen Höhenkultur, der Entwicklung eine neue Richtung gegeben und alle schöpferischen Geister eines noch lange nicht abgeschlossenen Zeitalters beherrscht hat — ob sie es wahr wissen wollten oder nicht — steht außer Frage." Die Sache der Geisteskrankheit wird in einem einzigen Absatz als belanglos abgetan. 948a
Auch in D N N r . 198, 1910, m. d. Z u s a t z : ( Z u m zehnjährigen
T o d e s t a g — 25. August.), sonst unverändert. 948b Mit den Buchstaben „k. h." gezeichnet, sonst wie zu 948, auch in: T P 57. J g . , N r . 195, M o r g e n b l . v. 17. 7. 1912.
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1910 „der Schöpfer der modernen Schule, die einst Tat werden muß"
949 Pi^tek, Dr. J., Nietzsches Empedokles-Fragmente. Stryj. Κ. K. Gym. 1910/1., S. I I I - X X I . Verfolgt die Entstehung und Ausarbeitung der drei Fassungen des geplanten Dramas nach deren Veröffentlichung im 9. Band der Werke (GIX), da sie, als ein Ausfluß von Nietzsches künstlerischen Ideen, diese erläutern und gleich wie an einem Beispiel klarlegen. Erst als Nietzsche sich „an die schwierige Arbeit der Ausarbeitung einzelner Szenen" gemacht habe, sei er „gleich . . . stecken geblieben", da „er kein Dramatiker war und weil seine Theorie das Aufkommen eines Dramas hinderte". „Wie sein Vorgänger Hölderlin besaß er vorzugsweise lyrische Begabung und es entsprach ihm mehr die Monolog- als Dialogform . . ." Der Grund dazu, warum er sich überhaupt mit einem solchen Werk beschäftigt habe, sei vor allem in dem unmittelbaren Einfluß Wagners zu suchen. Hinzu komme eine größere innere Verwandtschaft; bei Empedokles seien die Gedanken der ewigen Wiederkehr und des Übermenschen schon angeklungen. Die letzte Anregung zum Empedokles-Stoff habe er aber von Hölderlin empfangen: „Im Anschluß an dessen Empedokles und in bewußtem Gegensatz zu ihm ist der Entwurf entstanden." Obwohl Nietzsche dann den Stoff verworfen habe, sei Empedokles, wenn auch verwandelt, in der Gestalt des Zarathustra wiederauferstanden. 950 Seydl (Wien), (AL 19. Jg., Nr. 15, 1910, Sp. 458 ff.). Ein überaus sachlicher Sammelbericht über die Werke von Schlaf (Nr. 657 u. 793), Möbius (Nr. 187a), Richter (Nr. 275a), Lauscher (Nr. 851), Weichelt (Nr. 946), Heinrich (Nr. 735) und Grützmacher (Nr. 941). Von Richters Arbeit heißt es, daß ihre Bedeutung „heute als anerkannt gelten könne"; allein Lauschers Werk ruft ein unzweideutiges Lob hervor und verursacht folgende Äußerung über Nietzsche: „Er faßt es nicht, daß gerade die selbstlose, opferfreudige Hingabe an andere die hohe Schule der Persönlichkeit ist, daß gerade die Helden der Gottesund Nächstenliebe ,höhere Menschen' sind." 951 Trebitsch, Arthur, Nietzsche und Weininger. (In: A. T., Antaios. 2. Buch. Gespräche u. Gedankengänge. Wilh. Braumüller. W i e n u. Lpz. 1910, S. 163 ff.). Ein flüchtiger Vergleich, der in der Behauptung gipfelt, daß „beider Philosophie im Grund nichts als ein verzweifelter Protest gegen die Miseren, kläglichen Zufälligkeiten und inneren Defekte der eigenen Lebensumstände" sei: „Denn jene Philosophen, die von allem Anfang über die Welt Gedanken schmieden, was stets in Fragen der Ethik gipfeln wird, zeigen mangelhafte, ja fehlende erkenntniskritische Begabung." 952 Melde, Marie, Nietzsches Zarathustra und seine Bedeutung für die moderne Schule. Bureau Fischer. Bln. (1910). 31 S. Ein wahres Loblied auf Nietzsche den „Erzieher": „Zarathustra rief die Gewissen wach, indem er uns predigte, daß die Erziehungsaufgabe die wichtigste für das Menschengeschlecht werden muß; dadurch legte er den Grundstein zu einem neuen Unterrichtsbetriebe, er wurde der Schöpfer der modernen Schule, die einst Tat werden muß."
1910 „Er warf den Samen der Z u k u n f t unter die Menschheit"
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•953 Winterfeld, Achim von (Steglitz b. Bln.), Unser Erziehungswesen Ln der Auffassung Nietzsche's. Felix Dietrich. Gautzsch b. Lpz. 1910. 15 S . { = Kultur u. Fortschritt. N . F. d. Slg. „Sozialer Fortschritt". H e f t e f. Volkswirtschaft, Sozialpolitik, Frauenfrage, Rechtspflege u. Kulturinteressen 2 8 6 ) . D e r Ansicht, daß ein „Sinken" des deutschen Volkes dem „Kirchentum", dem „römischen Wesen" und „der falschen Erziehung" zuzuschreiben, und daß „die beiden Hauptfehler unseres Erziehungswesens" die „Überarbeitung und Rücksichtslosigkeit gegen die Entwicklung der Persönlichkeit" seien, möchte Verfasser einen „unserer Größten" sprechen lassen, nämlich Nietzsche, und dabei aufzeigen, „in wie auffallender Weise sich die Hauptgedanken unserer Schul- und Erziehungsreform mit denen Nietzsches decken". Die Arbeit besteht dann aus zahlreichen Einzelstellen zur Bildung ynd Erziehung aus Nietzsches Werken mit wenigen ausschließlich zustimmenden Zwischenbemerkungen des Verfassers. Zum Schluß wird die Mahnung laut: „Er warf den Samen der Zukunft unter die Menschheit im Hochgefühle seines inneren Reichtums: Nehmt, was ihr brauchen könnt, und bildet euch allmählich so weit empor, daß ihr alles zu euerem Eigen macht! Das ist sein Testament an die Menschheit."
9 5 4 Grützmacher, Dr. R. H . (Prof. d. T h e o l o g i e in Rostock), N i e t z sche und wir Christen. Edwin Runge. Bln. 1910. 3. Tsd. 48 S. ( = Biblische Zeit- u. Streitfragen. H g . v. Prof. Dr. Kropeitscheck VI. Serie. 6. H e f t , S. 195—242). Von der Frage ausgehend, „kann ein Christ von Nietzsche lernen?", behandelt Verfasser zunächst die Stellung zu Jesus, Paulus und Luther, da Nietzsche „die Bedeutung dieser Männer für die Entstehung wie für die weitere Gestaltung der christlichen Religion erfaßt" habe, und schließt seine einleitenden Ausführungen mit der Feststellung, daß man „mit und wider Nietzsche" erkennen könne: „Sie bilden eine Kette . . . wie Granit, spotten sie aller psychologischen und historischen Umdenkungsversuche . . . " Von Nietzsche könne man lernen, „daß auch heute noch Sittlichkeit und Religion in den Mittelpunkt des Interesses jedes tiefer grabenden Menschen rücken müssen". „Trotz aller Gegnerschaft" dürfe man ihm nicht vergessen, daß er im Christentum „die höchste Religion" gesehen habe: „Nietzsche vereinfacht mit seinem Blick für reale Machtfaktoren, die von den Stubengelehrten so weit ausgesponnene Religionsgeschichte: Religion ist Christentum und er verknöpft mit diesem Christentum unauflöslich, was ihm gehört und von ihm allein getragen wird, unsere Sittlichkeit." Zum Schluß fragt sich Verfasser, ob man auch hinsichtlich Sünde, Erlösung und Ewigkeit etwas von Nietzsche lernen könne, und führt dazu aus, daß seine „neuen Ideen und Vorstellungen . . . garnicht so funkelnagelneu sind, sondern eine weitgehende Familienähnlichkeit mit jenen alten haben, ja teilweise sogar den Charakter von Doubletten gewinnen". Im wesentlichen ablehnend, enthält die Auseinandersetzung dennoch zahlreiche Worte der Anerkennung.
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1910 „eine Fortführung des Werkes Rousseaus"
955 Sternberg, Dr. Wilhelm (Berlin), Nietzsche und die Küche. (DMP Nr. 14, 1910, S. 117). D a man „den Küchenmeistern, die man wohl auch den w a h r e n Künstlern an die Seite stellen könnte, nicht die ihnen durchaus z u k o m m e n d e Beachtung" entgegenbringe, bietet Verfasser hier eine Stelle aus einem Brief Nietzsches an Gast über die Piemonteser Küche sowie eine recht lange aus dem „Ecce h o m o " über die Frage der E r n ä h r u n g überhaupt.
956 Br(ors, Fr.), Nietzsches Antichrist, die Umwertung aller Werte. (HBKD Bd. 146, H. 4, 1910, S. 2 6 6 - 2 7 9 ) . Umreißt den Inhalt und kehrt die „hauptsächlichsten Anklagepunkte" des „Antichrist" hervor, um mit dem Urteil a u f z u w a r t e n : „Der ^Antichrist' ist der letzte Aufschrei der Verzweiflung und O h n m a c h t . "
957 Goltsch, Wilhelm, Fischer wider Nietzsche. (TP 55. Jg., Nr. 130 v. 12. 5. 1910, Morgenbl.). Eine überaus lobende Besprechung des Werkes von Fischer ( N r . 942) „dem Poeten und Philosophen" : „Es ist ein W e r k , das zu umfangreichen Zitaten geradezu herausfordert, ein W e r k , von dessen W e r t und Tiefe man sich aus diesen Zeilen, das bekenn' ich reuig, nur eine sehr mangelhafte Vorstellung wird machen können."
958 Alafberg, Friedrich, Friedrich Nietzsche und unsere Zeit. (VZg Sonntagsbeil. Nr. 22, 1910, S. 172 f.). Verfasser stellt sich die Frage, „inwieweit Nietzsches Lehre", die seit den 80er J a h r e n wie „ein erquickender und erlösender Frühregen" gewirkt habe, aber zugleich an der „gegenwärtigen Spannung" zwischen Individualismus und „dem V o r wärtsschreiten der Massen" die „Hauptschuld" trage, „ f ü r uns H e u t i g e noch Geltung haben kann?" N u r „allzubald" sei seine Lehre „von der beglückenden Schönheit des Erdenlebens" in die „Sphäre des Erotischen" hinuntergezogen, nämlich von S u d e r m a n n , und andere wie Simmel und George hätten daraus einen „Kult alles dessen, was eigenartig und nie erlebt, ungenossen und ungefühlt ist", gemacht. Bejahen müsse man die Ablehnung des „lebensmüden und entsagenden Pessimismus" Schopenhauers, die Betonung des „neuen Persönlichkeitsglaubens" und das Vorbild der „überragenden menschlichen G r ö ß e Nietzsches". N u r habe er sich zuletzt verstiegen: „Er verlor sich immer mehr in die kalte, erdenferne H ö h e seines über die Massen gesteigerten Ich-Glaubens und sah den Z u s a m m e n h a n g nicht mehr, in den das Ich notwendig mit der Mitwelt gestellt ist." Man müsse sich eher einen G o e t h e zum „Führer erwählen".
959 1910).
Benrubi, Dr. J. (Paris), Nietzsche und Rousseau. (FZg Nr. 141,
Verfasser geht von der Ü b e r z e u g u n g aus, daß Nietzsches „Zivilisationspessimismus" als ein Z u g seines D e n k e n s zu betrachten sei, dem „er stets treu geblieben ist", und schließt mit der Feststellung, „daß er etwas Edles gewollte hat, k u r z daß sein Zivilisationspessimismus eine Folge seines ethisch-ästhetischen Kulturidealismus ist". Insofern sei man berechtigt, seine „ U m w e r t u n g aller W e r t e als eine Fortf ü h r u n g des W e r k e s Rousseaus zu bezeichnen".
1910 Gertrud Bäumer
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960 Weber, Ernst (München), Nietzsche, Friedrich Wilhelm. (In: Enzyklopädisches Hb. d. Pädagogik. Bd. 9. Beyer. Langensalza 1910, S. 2 8 1 - 2 8 7 ) . Eine ihrem Gegenstand, wenn auch nicht blind ergebene, so doch verständnisvoll zugetane Schilderung des Erziehers Nietzsche: „Nietzsches Bildungsideal ist, wenn wir von seiner Einseitigkeit absehen, der wahrhaft vornehme Mensch, der im Vollgefühle eigner Kraft und Verantwortlichkeit jede Autorität ablehnt; nicht Geld noch Ruhm können ihn seinem bessern Selbst untreu machen. In einer Zeit platten Nützlichkeitsstrebens kann dies Bildungsziel gar nicht hoch genug geschätzt werden."
961 Bäumer, Gertrud, Die soziale Idee in den Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts. Die Grundzüge der modernen Sozialphilosophie. E. Salzer. Heilbronn 1910. Über Nietzsche auf S. 110—133. Das Werk weist eine dreifache Gliederung auf: Die individualistischen Theorien; Die sozialistischen Theorien (Hegel, Comte, Mill, Feuerbach, Marx und Engels); Die Synthesen (vor allem Carlyle, Ruskin, Wagner, Tolstoi und Friedrich Naumann). „Die individualistischen Theorien" werden in einen „humanen Individualismus", worunter Nietzsche nach Herder, Goethe, Schiller, Wilhelm von Humboldt, der Romantik und Schleiermacher als letzter angeführt wird, einen „ethischen" (Kant und Fichte) und einen „naturalistischen" (die Philosophen der liberalen Wirtschaftspolitik und Spencer) aufgeteilt. Bei Nietzsche betont Verfasserin den Einfluß der „Vertreter neuhumanistischer Bildung" Overbeck und Burckhardt und führt seine Philosophie auf die „Frontstellung" gegen die „Zeitgefahr" zurück, nämlich gegen „jene Wirkungen, für die es noch keinen andren zusammenfassenden Ausdruck gibt als: ,Amerikanismus' — die Einstellung des Lebens auf den Erfolg, die Veräußerlichung der Wertmaßstäbe, der Warencharakter, den alles gewinnt, die Ausmünzung gangbarer Weltanschauungen in politische Machtmittel". Wandelbar sei in Nietzsches Schriften zwar „der Inhalt des Kulturbegriffs", doch „konstant" bleibe „der Gegensatz eines feingearteten und sehr empfindlichen Geistes zu einer zugleich flach und pretentiös gewordenen Gesellschaft". Von den „vier Merkmalen", an denen sich „der humane Individualismus seinen Persönlichkeitsbegriff" vor Nietzsche orientiert habe, „an der Form, der Energie, der Universalität, dem Zusammenhang ihres Wesens", bleibe bei Nietzsche als „einziges" die Energie. Verfasserin wirft ihm mitunter „bürgerliche Befangenheit" vor, nennt seine Philosophie „Subjektivismus", meint wenigstens an einer Stelle, er sei „oberflächlich", und findet die „Morgenröte" „in gewisser Weise" das „fruchtbarste Werk", zweifellos nicht zuletzt wegen der „schönen Worte über die Sitte", die sie enthalte, und weil sich „das Beste, was Nietzsche über die Arbeiterfrage gesagt hat", darin finde. Erst im Schlußabsatz gesteht sie ihm einige Bedeutung zu, gewissermaßen als Gegengewicht: „Die Gefahr, in die der Zuschnitt des modernen Lebens alles Persönliche brachte, wäre sicherlich ohne die packende Tragik dieses Schicksals nicht in vollem
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1910 „die H e r r s c h a f t des Intellekts als U n n a t u r "
Umfang crmessen, das Wissen um sie nicht so tief in das Kulturbewußtsein der Jahrhundertwende eingebrannt worden." 338 962
Semel, H u g o ,
Nietzsche und das Problem des
Hellenismus.
(BMs 6 9 , H . 5, 1 9 1 0 , S. 3 0 5 - 3 2 8 ) . Eine recht begeisterte Darstellung von Nietzsches Ansichten über die Griechen, wie diese sich in der „Geburt" und im Nachlaß finden. Lesenswert mag die Ansicht sein, daß Nietzsche in „Der griechische Staat" „auf zwanzig Seiten . . . die Grundgedanken einer Gesellschaftstheorie ausgesprochen" habe, „wie sie heutzutage von Gumplowicz, Otto Ammon und einer Reihe anderer Forscher vertreten wird". 963
Dallago,
Carl,
Nietzsche
und
—
der Philister. ( D B r
1. Jg.,
H . 2 f. v. 15. 6. u. 1. 7. 1910, S. 2 5 - 3 1 , 4 9 - 5 3 ) . Nimmt das Werk von Fischer in Graz (Nr. 942) zum Anlaß und Anstoß, „aa der Tonart des Buches die Wesensart" des „typischen Philistertums", des „Haufens" zu beleuchten. Mit einem Satz wird Bernoullis Buch (Nr. 696) als „ein anderes pamphletartiges Werk" auch in diesen Zusammenhang gebracht. Verfasser zählt zu denen, die Nietzsches „Versinken in Umnachtung noch als Gloriole seines Standhaltens — seines Triumphes als Überwinder" nehmen. „. . . wir verabscheuen instinktiv die H e r r s c h a f t des Intellekts als U n n a t u r und finden alle natürliche Ethik in der Aufhebung dieser H e r r s c h a f t . . . als etwas, das nur diese Herrschaft ersann und aufstellte." Es sei der Glaube an die Menschennatur, „der ein Band knüpft zwischen allem, was in Wahrhaftigkeit sich auftut und aufgetan hat, ein Band, das alle wahrhaft Großen der Erde eint, — das auch Christus und den Dionysos-Jünger Nietzsche sich begegnen läßt in der Tiefe". 964
Bernoulli, Carl Albrecht (Arlesheim), Nietzsche-Literatur. ( F Z g
N r . 167, 1. Morgenbl. v. 19. 6. 1910). Bespricht die Werke von Weichelt (Nr. 946; der in seiner Arbeit trotz einiger Mängel „ein faßliches brauchbares Handbuch zu Wege gebracht" habe), Fischer (Nr. 942; dessen Verdienst ein „grundanständiger, aufrichtig gütiger T o n " sei, „der 538
Über das Werk schrieb die Verfasserin: „Einer Anregung, die Naumann auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß in Heilbronn gab, man möge im geistigen Kampf gegen die Übermacht des Marxismus die Ideen wieder beleben, die in der geistigen Entwicklung Deutschlands das Verhältnis des Einzelnen zum Volk von innen her geformt haben, insbesondere die des deutschen Idealismus, versuchte ich zu folgen durch ein Buch über ,Die soziale Idee in den Weltanschauungen des 19. Jahrhunderts' (1910). Ich wollte mir selbst klar werden über die Bausteine, aus denen einem deutschen nationalsozialen Volksstaat die geistigen Fundamente geschaffen werden konnten, und habe das Wechselspiel von Individualismus und Sozialismus seit der französischen Revolution über Kant, Fichte und Hegel bis zu Nietzsche, der Sozialphilosophie der Kirchen und Naumann dargestellt." G. B., Lebensweg durch eine Zeitwende. R. Wunderlich. Tüb. (1933), S. 226; diese Sätze enthalten die einzige Erwähnung Nietzsches im ganzen W e r k ; Bäumer, Gertrud (Hohenlimburg 12. 9. 1873 — Bethel 24. 3. 1954), promovierte 1904, war darauf führend in der Frauenbewegung tätig, gab mit Helene Lange zusammen das „Handbuch der Frauenbewegung" und die Zeitschrift „Die Frau" heraus und war Verfasserin zahlreicher, meist geschichtlicher Romane.
1910 Der „Freund und Führer unserer entscheidenden Jugendjahre"
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die sich langsam vollziehende H i n r i c h t u n g nicht peinvoll als solche empfinden läßt". V e r f a s s e r sei aber „blind gegen das Elementare in Nietzsches D e n k e r b e g a b u n g " und lasse daher „nur den Schriftsteller einigermaßen gelten".), Kerler (Nr. 938; das „ein sieghafter Nachweis f ü r Nietzsche, ein höchstehrenvoller f ü r den Verfasser" sei: „die Fülle von Nietzschestellen, die Kerler am Faden seiner Abhandlung aufreiht", möge man auf sich wirken lassen, „um die T o r h e i t der Reden von Nietzsches hirnspinnender Lebensfremdheit am Exempel zu statuieren".), Eckertz (Nr. 943; das eine recht strenge Beurteilung erfährt. D a Nietzsches „ D e n k e r k r a f t . . . weit eher eine in sich r u h e n d e Einheit als seine Künstlerschaft" sei, „wären Stufen zu unterscheiden gewesen". In seiner Kunst nämlich teilen „erhabenste Eingebung, beseeltester Ausdruck, höchstes S a g e n k ö n n e n sich mit billiger Versware oft wahllos in ein und dieselbe Seite". Bei der A b w e n d u n g von W a g n e r , die Verfasser nur nebenbei behandele, sei es „vielleicht g e r a d e der Künstler in Nietzsche, der W a g n e r den G e h o r s a m kündete".) u n d den Verwaltungsbericht des Vorsitzenden der NietzscheStiftung A. O e h l e r ( N r . 947; zu dem beanstandet wird, d a ß immer noch keine Schritte getan seien, ein „Generalregister" zu den W e r k e n zustande zu bringen).
965 anonym, W o Nietzsche Kaffee trank. (KZg 2. Morgenausg., Nr. 697 v. 25.6. 1910). Verfasser berichtet ihm von einem P f a r r e r in Silva Plana Erzähltes, das Nietzsches häufige E i n k e h r bei der vom P f a r r e r und dessen Familie gehaltenen Pension z u m Inhalt hat.
966 Lublinski, Samuel, Zehn Jahre nach Nietzsche. (Prn 7. Jg., Nr. 39 f. v. 29. 6. u. 6. 7. 1910, S. 609 ff., 625 ff.). Nietzsche, der „Freund u n d Führer unserer entscheidenden J u g e n d j a h r e " , ist dem Verfasser „der entschiedenste N u r - M o r a l i s t unter den Philosophen, der mehr noch als Sokrates alle Probleme, die nicht unmittelbar mit der Ethik zusammenhingen, ablehnte". „ Ü b e r G e b ü h r vernachlässigt und mit Geringschätzung behandelt" habe er aber den „ewigen U n t e r g r u n d " der Moral. Verfasser unterscheidet zwischen Moral und Moralsystem und setzt letzteres der Religion gleich. „ H i e r setzt N i e t z sches unermeßliche Bedeutung f ü r unsere Zeiten ein. Er hat zuerst unter den Menschen des n e u n z e h n t e n J a h r h u n d e r t s erkannt, daß eine neue Stunde geschlagen hatte, und d a ß ein neues Moralsystem, eine Kultursynthese großen und größten Stiles, zur N o t w e n d i g k e i t g e w o r d e n war." Sehr zu beklagen sei „sein gewollt feindseliges Verhältnis zu K a n t " , „so d a ß er den unredlichen Mißbrauch der Kantischen Philosophie mit dieser selbet verwechselte" und „die Kantische Erkenntniskritik" angegriffen, sie „ n u r so weit, als sie zerstörend wirkte", ü b e r n o m m e n habe. Er habe somit „einen tödlichen Streich gegen allen und jeden Glauben, nämlich gegen die synthetische Fähigkeit des schöpferischen Menschen f ü h r e n " wollen. „Um das Christentum im Mittelpunkt zu treffen, dekretierte auch Nietzsche in gut Lombrosischer Weise, daß alle synthetischen Fähigkeiten und alle synthetischen Typen der Menschennatur auf entarteter Biologie, als letzten Endes auf E r k r a n k u n g und hysterischem W a h n s i n n beruhten." G e r a d e aber dieses Mißtrauen „gegen die hohen Typen der M e n s c h e n n a t u r " habe „in erstaunlicher Weise seinen psychologischen Blick" so geschärft, d a ß er in diesem Z u s a m m e n h a n g als „großer Erzieher" wirke.
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1910 Max Steiner
Er sei aber, um der Skepsis nicht zu verfallen, „Dogmatiker" geworden, und gerade „die Lehren vom Übermenschen, von der ewigen Wiederkunft und von der Herrenund Sklavenmoral sind die drei dogmatischen Punkte seines Systems, die wir überwunden haben müssen, bevor wir ihn als unverlierbaren Bestandteil in unsere Zukunft aufnehmen". Das Schlußurteil lautet dann: „Es war nicht seines Amtes, die Erfüllung zu geben, sondern die Sehnsucht zu wecken und uns zum Bewußtsein zu bringen, daß das neue Ideal unserer Klassiker zugleich die neue Religion sein müßte, von der wir eine gleiche Höhenspannung der Seele zu verlangen hätten, wie sie die frühere Weltreligion, das Christentum, seinen Anhängern gewährt hatte und noch gewährt." Unter Klassikern versteht Verfasser Goethe und Schiller, die „die notwendige Korrektur" Kants geliefert haben.
966a Auch in DSS 3. Jg., Nr. 51 v. 20. 9. 1910, S. 401 ff., 410 ff. Unverändert. 966b Auch in: S. L., Nachgelassene Schriften. G. Müller. Mchn. 1914, S. 354 — 375. Mit wenigen, unbedeutenden Kürzungen. 1910 in Berlin, am Tage vor der mündlichen Prüfung, beging der junge Student der Chemie Max Steiner Selbstmord in einem Zimmer, dessen „einziger Schmuck" Bildnisse von Schopenhauer, Kant und Nietzsche gewesen sein soll. So berichtete Kurt Hiller, der ihn seit 1905 gekannt hatte. Sein Erstlingswerk, „Die Rückständigkeit des modernen Freidenkertums. Eine kritische Untersuchung" (E. Hofmann. Bln. 1905. 125 S.), nach Hiller „ein eisiges Pasquill gegen den philosophierenden Haeckel", enthält einiges Bemerkenswerte in bezug auf Nietzsche, so S. 8 (Nietzsche und Kallikles), 24 (und Kant), 100 („das wahre Ergebnis aus den Prämissen Spinozas und Darwins wäre die Ethik Friedrich Nietzsches, nicht die des Christentums."), 113 f. (Nietzsche-Worte „vom Verhältnis des Weibes zur Kultur" gegen „die modernen Freidenker und ,Gleichwertigkeits'-Träumer"), 120 („Nietzsche und Stirner, der aristokratische Sozialist und der individualistische Anarchist, werden fein säuberlich in eine Schablone gesteckt. Weil's so landesüblich ist. Trotzdem Nietzsches ,Übermensch' und Stirners .Einziger' miteinander nicht viel mehr gemeinsam haben als den schlechten Ruf. Haeckel, der Freund der s p a r t a n i s c h e n S e l e k t i o n , ,widerlegt' Nietzsche. Oder soll man auch hier v e r m u t e n , was bei Kant b e w i e s e n wurde?") u. 121. 1909 folgte „Die Lehre Darwins in ihren letzten Folgen. Beiträge zu einem systematischen Ausbau des Naturalismus" (E. Hofmann. Bln.), von dem Hiller wiederum meint, er peitsche „den modernen Aufkläricht von neuem". Erwähnungen Nietzsches darin auf S. 43 (eine Nietzsche-Stelle als Geleitwort zum 4. Abschnitt), 89, 122, 157 („Evangelium der Bierbank"), 169 f. („Friedrich Nietzsche hat nachdrücklicher als sonst jemand betont, daß der Atheismus auch eine Revision der Ethik nach sich ziehen werde. Leider wurde diese Wahrheit teils in Aphorismen, teils in orientalischem Pathos vorgetragen, während prosaische Dialektik und syste-
1910 „die K r i t i k des s i t t l i c h e n A t h e i s m u s "
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matischer Schliff sich schneller durchgesetzt hätte . . . Der künstlerische Schimmer des Zarathustrastiles hat einige sehr nüchterne T a t s a c h e n in den Verruf gebracht, daß sie zwar poetische Akzente, aber wenig reelle Gründe enthielten. Man hätte das selbständige Moralisieren Nietzsches ruhig ignorieren können, bis derartige Gedanken von einem Anderen in präzise Formen gegossen sein würden. Allein die K r i t i k des s i t t l i c h e n A t h e i s m u s ist bei Nietzsche so schlagend, daß man sie sich nicht hätte entschlüpfen lassen dürfen. Unter den Psychiatern, die Nietzsches Werke als ,wahnsinnige Faseleien' bezeichneten, waren die Feinde der Religion in der Majorität. D a hätte eine weise Apologetik nicht gegen die ,Umwertung aller Werte' polemisiert, sondern hätte gezeigt, daß der arme Nietzsche kein anderes Verbrechen verübt hatte, als daß er die Ideen derer, die ihn für verrückt erklärten, zu Ende gedacht hat. Auch der Harmloseste konnte es endlich merken, daß nur die Furcht, unpopulär zu werden, die Darwinisten dazu bewog, Nietzsche nach der bewährten Parole: .Haltet den Dieb!' zu verfolgen."), 228, 238, 239 f. Das letzte Werk, „Die Welt der Aufklärung. Nachgelassene Schriften", wurde dann 1912 von Kurt Hiller herausgegeben (E. Hofmann. Bln.). Erwähnungen Nietzsches auf S. 64, 84, 90, 92, 157 f. („Daß Friedrich Nietzsche demokratischen Einrichtungen nicht zugetan war, ist bekannt. Was er aber vom Liberalismus sagte, wird selten erwähnt; und ist doch nicht ohne Interesse. Ist allerdings auch eine unangenehme Wahrheit . . . (Götzendämmerung § 38). In die freisinnigen Zirkel, deren unverstandener Liebling Nietzsche ist, hat sich jenes bittere Wort nie gewagt. Die Kreise der »Aufklärung' besitzen ein merkwürdiges Geschick darin, das Wesentliche in den Anschauungen eines Meisters zu verkennen oder zu verhüllen . . . Es gibt Frauenrechtlerinnen, deren Wortaberglaube verführerisch genug ist, sie den Erzfeind Nietzsche vergöttern zu lassen."), 177, 182 („Wir (d. s. die Akademiker) wollen weder verflachen noch verpöbeln, wir wollen vielmehr trachten, durch Kenntnisse und Mut dazu zu gelangen, daß die Kluft zwischen uns und der Masse sich noch erweitere. Wir wollen nicht verlieren, was Nietzsche ,Pathos der Distanz' nennt.")." 9 967 Förster-Nietzsche, Elisabeth, Aus dem Nietzsche-Archiv. (18. Jg., Nr. 40 v. 2. 7. 1910, S. 21—26).
(Z
E i n e W ü r d i g u n g der h e r a u s g e b e r i s c h e n T ä t i g k e i t E r n s t H o l z e r s anläßlich seines H i n s c h e i d e n s im M ä r z desselben J a h r e s , b e s o n d e r s seiner V e r d i e n s t e um N i e t z sches „ P h i l o l o g i k a " . D i e S c h w e s t e r b e n u t z t die G e l e g e n h e i t , u m i m m e r w i e d e r ihre bescheidene R o l l e bei der H e r a u s g a b e der W e r k e zu b e t o n e n , und erlaubt sich verhältnismäßig w e n i g e Seitenhiebe g e g e n s o n s t i g e f r ü h e r e Mitarbeiter. 339
Steiner, Max (Prag 21. 5. 1884 — Berlin 22. 6. 1910), s. a. Hiller, Kurt, Max Steiner (NRs 23. Jg., 1912, S. 299—301) u. Lessing, Theodor, Der jüdische Selbsthaß. Jüdischer Vlg. Bln. (1930).
1910 Reinhard Sorge
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968 anonym, 2. 7. 1910, S. 4).
Persönliches
von
Nietzsche.
(DrN
Nr. 180
v.
E r z ä h l t recht anschaulich Einzelheiten aus d e m U m g a n g e N i e t z s c h e s mit „dem damaligen P f a r r e r von Silvaplana, der mit seiner Familie eine Fremdenpension hielt und seinerzeit noch ein recht rüstiger V e r t r e t e r des Hegeischen Standpunktes w a r " . S. a. N r . 9 6 5 .
969 Wendriner, Dr. Karl Georg, Nietzsches Briefe. ( N W T Nr. 202 v. 25. 7. 1910, S. 12). Besprechung der beiden letzten Bände der gesammelten Briefe ( A Y ) . K e n n zeichnend für die Urteilslosigkeit des Rezensenten mag folgender S a t z sein: „Die dauernde Liebe, die Nietzsche in seinem Leben kennen gelernt hat, verband ihn mit seiner Schwester Elisabeth."
970 Bienenstein, Karl, Gegen Nietzsche. ( O D R s 17. Jg., Nr. 168 v. . 26. 7. 1910). Eine äußerst geneigte Besprechung des W e r k e s von Fischer ( N r . 9 4 2 ) : „Gerade das Fischersche Buch, aus echt deutschem Wahrheitssuchergeist h e r v o r g e g a n g e n , ist ein Beweis dafür, daß die Zeit der blinden N i e t z s c h e v e r g ö t t e r u n g v o r ü b e r ist, daß die Stunde g e k o m m e n ist, w o man auch sein W e r k auf die W a g s c h a l e legt und prüft, was davon w e r t ist, den S c h a t z k a m m e r n deutschen Geistes einverleibt zu werden. Allzuviel wird es nicht sein . .
Im Juli 1910 stieß Reinhard Sorge auf Nietzsche und beschrieb die Begegnung im Zusammenhang mit einer Darstellung seines Verhältnisses zum neunjährigen Sohne seines Freundes Botho Graef: „Unsere Liebe erstarkt zum Leben. Höhere Bedeutung der LebensSchönheit. Mein kleiner Liebling wird kühn und lebensmütig. Ich erstarke in meiner Lebensauffassung. Einfluß Nietzsches. Alle mystischen Träume, Hoffnungen, Schwächen schüttle ich ab. Nietzsches Betonung des Intellekts und seines Wertes läßt mich von Dehmel abkommen, ich halte Auslese unter meinen Trieben." 340 Aus eigener Anschauungen erzählte Sorges Jugendfreund Arnold Bork: „Zum ersten Mal sollte Lektüre in der Entwicklung Sorges eine jähe Wendung herbeiführen. Der Neunzehnjährige las Nietzsche und geriet vollkommen in dessen Bann. Ein gründliches philosophisches Studium war nicht seine Sache. Er genoß vielmehr in ungestümem Vorwärtsdrängen die sämtlichen Schriften mehr gefühlsmäßig als denkend und machte sie für sich fruchtbar zur Erzeugung einer starken Lebenstimmung und zum Auf5,0
Sorge, Susanne M., Reinhard Johannes Sorge. Unser Weg. M. e. Nachw. v. Karl Muth. Kösel-Pustet. Mchn. (1941). 5. Aufl., S. 18 f. (Die Erstausgabe erschien im Jahre 1927); Sorge, Karl Ferdinand Reinhard (Berlin-Rixdorf 29. 1. 1892 — Ablaincourt 20. 7. 1916 gefallen), Dramatiker.
1910 Reinhard Sorge
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b a u s e i n e r P e r s ö n l i c h k e i t . S e i n S e l b s t b e w u ß t s e i n s t i e g g e w a l t i g . D u r c h ein e n m a r k i g e n Stil u n d d u r c h S c h r i f t z ü g e v o n e l e m e n t a r e r W u c h t v e r r i e t e n d i e s b a l d seine B r i e f e d e n F r e u n d e n . Ja, das S e l b s t b e w u ß t s e i n s t e i g e r t e sich bis z u r H ä r t e , d i e w o h l a u c h d e n N ä c h s t e n w e h e tun k o n n t e . N e b e n d e r H ä r t e w a r eine starke Lebensbejahung für diese Periode
kennzeichnend.
S c h o n ä u ß e r l i c h g e l a n g t e das in e i n e r b e w u ß t e n K ö r p e r p f l e g e z u m A u s d r u c k . U n d i n n e r l i c h k a m d a m a l s o f t e i n e h e l l e n i s c h e H e i t e r k e i t über R e i n hard S o r g e , d i e m i t u n t e r z u r A u s g e l a s s e n h e i t w u r d e . D a m a l s k o n n t e er r e c h t aus v o l l e m H e r z e n l a c h e n . Es w a r e t w a s I r d i s c h - S o n n i g e s in s e i n e r Art. D e r d i c h t e r i s c h e H a u p t g e w i n n d i e s e r P e r i o d e w a r ein E i n a k t e r , in d e m d i e R ü c k k e h r d e s O d y s s e u s als d i e e w i g e W i e d e r k e h r d e s Ü b e r m e n s c h e n i m S i n n e N i e t z s c h e s u m g e d e u t e t wurde." 3 4 1
341
A. B., Reinhard Sorge vor seiner religiösen Wandlung (DJD Bd. 1. 1918, S. 22 f.). Nach Beendigung des von Bork obenerwähnten „Odysseus" Ende Januar 1911 schrieb Sorge an R. Straßmann: »Der Fantasie zugrunde liegt ein großes geistiges Erlebnis: Nietzsches .Ewige Wiederkehr'! Der geniale Gedanke — jetzt ganz abgesehen von seiner Wahrheit — warf mich als solcher nieder, seine ungeheure Kühnheit, sein Mut. . . seine Einzigkeit, noch niemals gedacht, wenn man sich ihm auch schon angenähert (Babylonier, Pythagoräer, Goethe usw.). Aus diesem geistigen Erlebnis schuf ich den Odysseus. Das Drama ist ein geschlossener Ring, davon nur ein Teil sichtbar, das übrige angedeutet, aber der Kreislauf ist vorhanden, das Gefüge klar" (Sorge, S. M., a. a. O., S. 21 f.). In sein Tagebuch aus dem Sommer desselben Jahres, aus der Entstehungszeit des „Antichrist", schrieb er: „Mit Nietzsche während all dieser vergangenen Monate nie außer Berührung" (Ebd., S. 26). Dazu berichtet die Frau: »An einem der berühmten Teeabende, die Botho Graef seinen jungen Freunden und Studenten wöchentlich gab, las Reinhard den .Antichrist' vor. Da Graef verschiedenes daran auszusetzen fand, arbeitete er ihn in den nächsten Tagen noch einmal durch. Dann sandte er ihn zusammen mit .Odysseus' an Frau Förster-Nietzsche nach Weimar. Er hat aber nie erfahren, wie die Dichtungen dort aufgenommen worden sind" (Ebd., S. 26 f)· Über die letzte Woche des Februars 1912 schrieb die Frau: „Sellen nur hat er von dem Erlebnis dieser Tage gesprochen. Er war einsam am Meer und fühlte, daß Nietzsche ihn nicht mehr weiterführen und ihm nie genügen könne. So wie nach Zarathustra auch nur der wahre Schüler zu nennen ist, der den Meister überwindet, so war er über ihn hinausgewachsen, wollte ihn in sich noch steigern, vollenden" (Ebd., S. 42). Am 8. 6. 1912 konnte er dann schon selber über das erst am 31. 5. begonnene „Gericht über Zarathustra" schreiben: „Mein neues Buch ist im Manuskript gestern fertig geworden. Doch so starkes Wirken, das Buch ist wie eine Posaune, hat mein Leib recht angegriffen" (Ebd., S. 512). Wozu die Frau schreibt: „Seine Kräfte waren durch den .Zarathustra' vollständig erschöpft; so wie dieses Buch hat ihn keines der späteren angestrengt, nur die letzten Bilder vom Luther im ,Sieg des Christos' waren ähnlich aufreibend für ihn. Bis er den Sieg Christos schrieb, hat er den .Zarathustra' sein wichtigstes Buch genannt" (Ebd., S. 52); sonstige Erwähnungen Nietzsches in dem Werk auf S. 8, 12, 14, 23, 24, 27, 28, 38, 43, 119, 174, 176 f. S. a. den Brief an Arnold Bork, Jena, den 7. 1. 1913: „ . . . Meine Seele war immer christlich, aber durch Nietzsche irregeführt in Sonn' und Sterne v e r f a n g e n ; . . . Im Bettier sprach ich ganz ahnungslos den Namen Gottes aus, mehrere Mal, und glaubte doch ein rechter Bekenner N's zu sein, der Gott leugnet" (R. J. S., Werke. 2. Bd. Eingel. u. hg. v. Hans Gerd Rötzer. Glock u. Lutz. [Nürnberg 1964], S. 325). In den Werken findet man auch „Gedanken über verschiedene Dinge", denen ein „Motto" aus Nietzsche voransteht: „Jedes Wort ist ein Vorurteil" (Bd. I, S. 209—222); s. dazu die Anm., S. 404: „Die .Gedanken', die mit einem Wort Nietzsches beginnen, vereinen Reflexionen über die
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1910 Zum zehnjährigen Todestage
971 Wendriner, Karl Georg, Zu Nietzsches zehnjährigem Todestag. (Zgt Nr. 34 v. 22. 8. 1910). In einem Gefühle „des Stolzes und der Dankbarkeit" gedenkt Verfasser Nietzsches. Er sieht George, Dehmel und Herbert Eulenberg im Gefolge des „Denkers der Zukunft" stehen und gibt folgende Schilderung der eigenen Begegnung mit Nietzsche: „Ich denke zurück an die Tage meiner S c h u l z e i t . . . Im Mittelpunkt von unser aller Interesse standen die ,Gespenster*. Aber wie niederdrückend wirkte diese Lektüre!.. . Wir durchsuchten die Gräber unserer Ahnen nach Leiden, Krankheiten und Sünden. Und bald sahen wir alle das Zeichen der Vernichtung an unserer Stirn. Es blieb keine Rettung mehr von irgendwelchen Göttern, die da oben auf Wolken an goldenen Tischen sitzen. Schopenhauer hatte uns jeden Glauben an ein Ziel des Lebens genommen. D a erschien uns Friedrich Nietzsche. Kommende Geschlechter, die schon in seinen Ideen groß geworden sind, werden kaum mehr das "Wunder begreifen, das wir erlebten, als wir seine Werke zum ersten Male lasen. Hier war Ret- ' tung vor der Vererbungstheorie, die durch Ibsen ihren Einzug ins Drama gehalten hatte, vor Schopenhauers Lehre von einem sinnlosen Willen . . . S o hat er uns den Glauben an uns selbst und an unsere Lebensaufgabe, die Kraft zur Arbeit und den Mut zur Wahrheit wiedergegeben."
972 Simon, Liz. Dr., Zum zehnjährigen Todestag Friedrich Nietzsches. (TRs 30. Jg., Nr. 197 v. 24. 8. 1910, Unterhaltungsbeil., S. 785 ff.). Die „positive Bedeutung" seiner Lehre bestehe darin, „daß er unserer Zeit, wenn auch mit falscher Einseitigkeit und Fanatismus, den Wert des Individuums betont hat, in einer Zeit, in der die Persönlichkeit Gefahr lief, von der Wucht der Materie unterdrückt zu werden und in der Natur zu versinken". D i e „negative" erLehre jenes Dichter-Philosophen mit Georgescher Sprachform..."; „Der Jüngling" (S. 223—238), zu dem es in der Einführung auf S. 29 heißt: „In dem Einakter ,Der Jüngling' verband er Georges Diktion mit Gedanken Nietzshes." Das Werk erschien erst 1925 bei Kösel; Odysseus. Dramatische Phantasie. „Der ewigen Widerkehr Seher: Friedrich Nietzsche" gewidmet (S. 241—273); Zarathustra. Eine Impression (S. 313—326); Antichrist. Dramatische Dichtung. „Hat man mich verstanden?/Dionysos gegen den Gekreuzigten!/Letzter Spruch Nietzsches" (S. 327—350); Gericht über Zarathustra. Vision. (Bd. II, 1964, S. 95—128); dazu ein Brief an Frau Grönvold v. 30. 1. 1912 auf S. 368: „Walt Whitman bewunderte ich fast in allem, aber ich werde ihn nicht liebe können. Der Sinn seiner Gedichte deckt sehr häufig den Nietzsches — wenn auch dieser im Letzten viel weiter dachte und viel gewaltigeren Schluß zog — (ewige Wiederkehr!) —, nur kommt es mir gar nicht darauf so sehr an, welchen Sinn und Geist ein Dichter singt, sondern wie er ihn singt. Und wie könnte sich da Whitmans Buch mit dem Zarathustra' messen . . . Wir ,guten Europäer' und ich, der ich vor allem das große Leben nicht gut noch böse finde, nicht schön noch häßlich, sondern schwermütig, — ich werde weiter Nietzsche leiben (und wer weiß, wie ich ihn liebe). Er wird mir immer der Vater sein und der einzige, den ich Meister nennen könnte." Das Werk erschien zuerst 1921 bei Kösel. Eine ausführliche Behandlung des Nietzscheschen Einflusses findet sich in: Martin Rockenbach, Reinhard Johannes Sorge. Studien zu Sorges künstlerischem Schaffen unter besonderer Berücksichtigung der dramatischen Sendung „Der Bettler". Vier Quellen Vlg. Lpz. (1922), S. 66—69, 76—85, 249—260. S. a. zwei Briefe Sorges an Dehmel v. 27.7. 1911 u.15. 11. 1912 in: R. D. Dichtungen, Briefe Dokumente. Hg. v. P. J. Schindler. Hoffmann u. Campe. (Hamb. 1963), S. 227 f.
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scheint aber dem betont christlichen Verfasser „noch größer . . . wir sehen sie . . . in seiner Feindschaft gegen Religion und Christentum. Diese Feindschaft, die durch unsere Zeit geht, hat er auf die Spitze getrieben und ihre Konsequenzen gezeigt. Folgerungen, vor denen viele zurückschaudern, die ein Stück seines Weges mitzugehen gesonnen sind, denen aber kaum auszuweichen sein wird." 973 R., M., Zu Nietzsches Todestag am 25. August 1900. (TP 55. Jg., Nr. 232, Morgenbl. v. 24. 8. 1910). „. . . schon mehren sich die Zeichen, daß man Nietzsche wahrhaft zu werten beginnt, als der er ist: D e r g r o ß e F r a g e n d e . . . Wir werden also Nietzsche nicht nach seinen Endergebnissen werten dürfen, um deretwiilen ihm viele den Namen eines Philosophen absprechen. Von keinem dieser Gedanken, sosehr sie mit seinem Herzblut getränkt sind, wird viel bleiben, weder Übermensch, noch auch die Wiederkunft alles Gleichens, weder die Einordnung der Sittenlehre in die Biologie, noch der Wille zur Macht." 974 A(delt), L(eonard), Gymnasialprofessor Nietzsche. (FZg 55. Jg., Nr. 234, Abendbl. v. 25. 8. 1910). Als „ehemaliger Schüler des Baseler Gymnasiums" gibt Verfasser seinen Eindruck vom Lehrer Nietzsche recht anschaulich wieder und meint: „Wir teilten die schwärmerische Verehrung der Studenten für ihren Professor, . . . wir lasen alles, was von ihm erschien, und wurden mitgerissen in den Rausch seines Wagner-Enthusiasmus." 974a Dass, ohne Verfassers Buchstaben und mit der Überschrift: Friedrich Nietzsche in der Schulstube, in T R s Nr. 199 v. 26. 8. 1910, S. 796). Unverändert. 975 Janicaud, Walter (Leipzig), Eine Erinnerung an Friedrich N i e t z sche in Leipzig. Zum zehnjährigen Todestage am 25. August. ( L N N Nr. 234 v. 25. 8. 1910). Schildert recht anschaulich längere Sommeraufenthalte Nietzsches im Hause seines Vaters in Leipzig in den Jahren 1882, 1883 und 1885. 976 Oehler, Dr. Richard (Berlin-Friedenau), Zu Nietzsches T o d e s tage. (SZg 44. Jg., Nr. 395, Morgenausg. v. 25. 8. 1910). Spricht die Ansicht aus, daß man in dem schon veröffentlichten Werke, nämlich der Taschenausgabe, schon „den ganzen Nietzsche" habe: „ . . . diese Natur hat uns alles gespendet, was sie an Werten besaß, sie hat ihr Letztes, ihr Bestes gegeben." In dem seither erschienenen Schrifttum sieht er „bestenfalls . . . intellektuelle Bravourstücke", allein das Werk Richters (Nr. 275) ausgenommen. Abschließend würdigt er das Wirken der „Hüterin" des Archivs. 977 Zifferer, Paul, Friedrich Wilhelm Nietzsche. (Zu seinem zehnten Todestage.), (NFPr Nr. 16525, 1910). Eine äußerst lobende, feierliche Würdigung des „Romantikers unter den Philosophen", des Philosophen „unserer Zeit", dessen Name „den Erdball erobert" habe: „ . . . gerade Nietzsche selber hat gezeigt, wie sehr ein einziger Mensch, der unbe-
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kümmert um die anderen seinen Weg abschreitet, das ganze Weltbild zu ändern vermag. Der kranke Nietzsche hat den Weltschmerz zertrümmert, hat uns mutig und stark sein gelehrt: Umkränzt eure Stirnen! Denn eurer ist der Traum, ist der Rausch, denn eurer ist die Freude!" 978 Eckertz, Erich, Der Idealist der Vornehmheit. (Zur zehnjährigen Wiederkehr des Todestages Friedrich Nietzsches; gestorben am 25. August 1900). ( N Z g Nr. 346, 1910). Vergleicht den „vornehmen Menschen" Nietzsches mit dem „edlen" Goethes und stellt eine gegenseitige Beeinflussung beider als wünschenswert hin, auf daß „das Übermenschentum in der Humanität eine Wirklichkeit" finde. 979 Jesinghaus, Walter (Bonn), Persönliches über Nietzsche. Zu seinem zehnten Todestage. (BoZg Nr. 233, 1910). Verfasser erzählt, wie er „vom Herbst 1898 bis zum Frühjahr 1899" in Italien' geweilt und in der Zeit „die Dame — Carlotta Bianchi — " aufgesucht habe, bei der Nietzsche „1882 in Pension gewesen war". Bei ihr habe Nietzsche, „als er im Frühjahr 1883 Genua verließ, . . . eine Ledertasche — nicht einen Rock, wie in der Biographie seiner Schwester steht — zurückgelassen . . ., in der sich sein noch in meinem Besitz befindliches Professorendiplom sowie zwei kleine Heftchen befanden". Hierauf überließ Verfasser die Heftchen, die Vorarbeiten zur „Fröhlichen Wissenschaft" enthalten haben sollen, der Schwester und erhielt darauf eine Einladung ins Archiv, der er im Julie 1899 folgte. Er schließt mit der Schilderung eines Besuches auf dem Zimmer des Kranken. 980 Vögele, Dr. Albert, Der Pessimismus und das Tragische in Kunst und Leben. 2., bedeutend verm. Aufl. Herder. Freiburg i. Br. 1910. Darin: Darstellung und Kritik der Ansichten Nietzsches über die Geburt der Tragödie und das Wesen der griechischen Tragödie, S. 67—115. Im Vorwort zu dieser Auflage heißt es, daß über Nietzsche und Richard Wagner „zwei umfangreiche Kapitel neu eingefügt worden" seien. Die erste Auflage, vermutlich ohne Erwähnung Nietzsches, war 1904 erschienen. Als einzige Schrift Nietzsches wird die „Geburt" behandelt, „1. weil dieser sprachgewaltige Heros der Modernen doch lange Zeit von Schopenhauer beeinflußt war und 2. weil er trotz seiner Verirrungen in einzelnen Punkten tief in die griechische Volksseele und Tragödie hineingeschaut hat". Eine Erwähnung solcher „einzelnen Punkte" sucht man aber fast vergebens. Erst hinsichtlich Euripides meint Verfasser, enthalten „seine Ansichten viel Geistreiches und Treffendes"; auch, was er über Sokrates als „theoretischen Menschen" sage, sei „geistreich und tiefsinnig". Fast immer ist das Lob mit stärkster Verurteilung gepaart: „Seine Philosophie ist ein Gemenge von Wahrheit und Dichtung, von nüchternem Denken und ekstatischer Phantasterei, ein Gemengsei von Weltverteufelung und Menschenvergötterung, von Pessimismus und Optimismus. — Aber das muß anerkannt werden : Nietzsche hat tiefer gesehen als viele, wenn er die , g r i e c h i s c h e H e i t e r k e i t * m e h r als A u f f a s s u n g d e r o b e r f l ä c h l i c h e n G e i s t e r brandmarkt, wenn er gerade bei den tieferen und edleren Geistern Griechenlands einen starken Weltschmerz bzw. Pessimismus annimmt."
1910 Otto Braun
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Eigentlich huldige er „zwei Hauptirrtümern": er glaube mit Schopenhauer, daß „die ganze Welt, das ganze Leben . . . seinem innersten W e s e n nach schlecht, unvernünftig, häßlich" sei, und meine, „die Kunst könne von dieser elenden Welt, von diesem schmerzreichen Dasein erlösen". Auf den Seiten 106—115 beleuchtet Verfasser dann die „wirkliche (historische) Entstehung und Entwicklung der griechischen Tragödie", ohne Nietzsches noch ein einziges Mal zu gedenken.
Der frühreife, „frühvollendete" Otto Braun schrieb am 29. August 1910, dreizehnjährig, über seine Begegnung mit dem „Zarathustra" in sein Tagebuch: „Ich habe Zarathustra gelesen. Mir schwindelt, ich bin atemlos und ich taumle. Ich will nichts darüber sagen — ich kann nicht. Man muß erst ein gutes Stück systematischer Arbeit, vielleicht auch Pedanterie aufgenommen haben, damit einen solch ein Nonplusultra nicht vollkommen zerstört." In der Eintragung zum 14. September kann dann die Wiedergabe des Erlebnisses fortgesetzt und ausgemalt werden: „Das erste Kapitel des Zarathustra habe ich nun langsam und oft gelesen. Ich stehe noch so unter dem Eindruck der Sache, daß ich nichts sagen kann. Nur eins: Es ist sehr sonderbar, daß ich durch Nietzsche niemals das Prinzip des Sichauslebens hörte, immer nur das g r ö ß t e r Pflichterfüllung, allerdings anders als im bourgeoisen Sinne. Als ich mit dem Kapitel fertig war, nahm ich mein lateinisches Buch und schuftete verrückt, anstatt daß ich noch ein anderes Kapitel gelesen hätte, was ich mir eigentlich gedacht hatte. Aber: ,Was ist schwer? So fragt der tragsame Geist, so kniet er nieder, dem Kamele gleich, und will gut beladen sein.' Die Schmarotzer am Markte der Menschheit aber, die eigentlichen ,Vielzuvielen', die ihrer Faulheit und ihrer Dekadenz den Deckmantel Nietzsches geben, das sind die wahren Feinde Nietzsches, die, die ihren Geist ja nicht belasten wollen, höchstens mit Zigarettendunst, wenigen Beardsleyschen Zeichnungen und den ausgesucht lüsternen Romanen des Rokoko, die sind die schlimmsten Widersachern Nietzsches."342
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O. B., Aus nachgelassenen Schriften eines Frühvolendeten. Hg. v. J. Vogelstein. Klemm. Bln. (1921 = 79..—99. Tsd.), S. 38; weitere Erwähnungen Nietzsches auf S. 32 (Verhältnis zu Luther), 36 („Evangelien des Willens... jenseits von Gut und Böse"), 41 (Nietzsches gesammelte Briefe: „Ich kann aber jetzt nur sagen, ich bin wie nach van Gogh zerknirscht und aufgewühlt. Das sind solche zwei Pflugscharen, die einen zerschneiden nd zerwühlen."), 52, 79 (über „eines der schönsten Zarathustra-Kapitel"), 81, 122, 123, 145, 155 f., 159 f. (über „jene geschmacklosen, gänzlich entgleisten Stellen", die „Zeichen für den Mangel historischen Gefühls" seien), 197 (über die Stellen in Zarathustra, „in denen Nietzsche um die im Laufe der Jahre doch recht unansehnlich gewordenen rationalistischen, relativistischen und darwinistischen Theorien seiner Zeit pathetisch den Mantel des Propheten schlägt"), 199 (über Nietzsches Briefe); Braun, Otto (Berlin 27.6. 1897 — 29. 4. 1918 b. Marcelcave gefallen).
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1910 Gegen „Atheismus" und „Gottesleugnung"
981 Horneffer, August, Nietzsches Todestag. S. 3 5 6 - 3 6 1 ) .
(Tat Bd. 2,
1910,
Gedenkt des zehnten Todestages und erzählt dabei von seinem Eindruck des „Kranken im letzten Stadium der Paralyse". Lesenswert ist die Darstellung eines Begebnisses, als Peter Gast aus seiner Oper dem Kranken vorgespielt hat. Was Nietzsche dem Verfasser gewesen, drückt sich am deutlichsten in folgenden Worten aus: „Wir verdanken diesen Männern — ich nenne neben Nietzsche namentlich Schopenhauer, Wagner, Böcklin — Ungeheures, beinahe uns selber. Und was Nietzsche meines Erachtens den Vorrang vor den anderen sichert, das ist seine K r i t i k , das ist die Klarheit, mit der er die Lage unserer Kultur durchschaute und die Aufgaben, die sie uns stellt, bezeichnete." Eingeschränkt wird die Huldigung nur in Hinsicht auf Nietzsches von Schopenhauer entliehenen „Genieglauben": „Er suchte nach einem allumfassenden, allerlösenden Genie, er lebte in dem Glauben, irgendein Messias würde und müsse kommen . . . "
982 Zach, Franz, Der Antichrist Nietzsche. St. Joseph-VereinsBuchdruckerei. Klagenfurt (1910). 32 S. ( = Volksaufklärung. Kl. Handbibliothek z. Lehr u. Wehr f. Freunde d. Wahrheit Nr. 138. Hg. v. J. Gürtler). Obwohl Nietzsches Lehre „heute in der Fachwissenschaft als überwunden und abgetan" gelte, sei er selber im „modernen Leben . . . noch lange nicht überwunden". „Noch immer" sei er „der Modephilosoph — einer der g e l e s e n s t e n S c h r i f t s t e l l e r unserer Zeit". „Er bildet in dem gewaltigen Kampf der modernen, antichristlichen Weltanschauung gegen die christliche den G i p f e l p u n k t . " Daher sei eine „gründliche Orientierung" über ihn „für jeden, der heute im öffentlichen Leben steht, höchst wünschenswert". Den zweiten, „Welt- und Lebensanschauung" darstellenden Teil der Arbeit schließt ein Gedicht Adolf Bartels ab, das sonst nirgends zu belegen war und deshalb hier in vollem Wortlaut angeführt sei: „Ihn, dessen Geist die ganze Welt zu klein, / In einem Dorfe senkte man ihn ein. / Und der auf stolzen Alpenhöhen stand, / Weltüberwindend, ruht im flachen Land. / Der Übermensch, der nie verstand, zu ruh'n, / Inmitten deutscher Bauern schläft er nun. / Den Antichristen senkte man hinab, / Doch Glocken läuten über seinem Grab. / Christliche Glocken — könnt ihr sie versteh'n? / J a , auch der größte Geist muß stumm vergeh'n." Sonst führt Verfasser Stellen aus Grotthus, Fr. Paulsen und Ludwig Stein als Abwehr gegen die Irrlehren Nietzsches an. Von katholisch-christlicher Warte aus schreibend, geht es ihm um „den Atheismus, die Gottesleugnung", welche „die Grundlage seiner ganzen Weltanschauung" sei : „Alles, was Nietzsche gedacht und geschrieben hat, geht gegen das Christentum." Da er aber das Christentum „gar nicht gekannt und verstanden" habe, so schwinge er „seine Keule — gegen Luftgebilde". — „So wie Nietzsche das Christentum und seinen Stifter haßt, so haßt nur der abgefallene Engel des Lichtes den Urquell des Lichtes, die überlegene Macht der Gottheit."
983 anonym, Die Sprache des P. Abraham a Sancta Clara und die Sprache Nietzsches in „Also sprach Zarathustra". (SWA 2. Jg., Nr. 9, 1910, S. 1 2 9 - 1 4 4 ) .
1910 „durchaus . . . Antiindividualist"
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Meint, daß „beide Sprachkünstler sind" und als solche „ihresgleichen suchen", und bringt dazu zunächst Vergleichsstellen aus beider Werken. Er schließt dann mit über sieben Seiten „Weisheit und Witz" aus den Werken des ersteren. 984 Oehler, Richard (Berlin-Friedenau), In Sachen des NietzscheArchivs. (Eu Bd. 17, 1910, S. 7 3 1 - 7 3 8 ) . Verteidigt die Taschenausgabe der Werke und das Wirken der Schwester gegen „die tendenziöse Auffassung" von Olshausen in dessen Sammelbericht über das Schrifttum der Jahre 1908/09 (Nr. 923). 985 Einschlag, Eduard, Friedrich Nietzsches Totenmaske. (IZg Nr. 3506 v. 8 . 9 . 1910, S. 397 f.). Zu einer Abbildung der Totenmaske Nietzsches von dem Bildhauer Rudolph Saudek bringt Verfasser eine Aufzählung „der Künstler, die sich bemühten", das Bild Nietzsches zu formen, als „ein Maßstab für die Größe eines jeden Neubringers, wie Nietzsche einer war". 986 anonym, Nietzsches Todestag. (DLE 12. Jg., H. 24 v. 15.9. 1910, Sp.1761 f.). Eine Aufzählung mehrerer Würdigungen zum 10. Todestag, darunter ein längerer Auszug aus der von Lichtenberger (Nr. 777a). 987 Hammacher, Emil, Nietzsche und die soziale Frage. (ASWSP 31, 1910, S. 7 7 9 - 8 0 9 ) . Entgegen der „gemeinen Meinung über Nietzsches Verhältnis zur sozialen Bewegung", das eines der „Gegnerschaft" sein soll, möchte Verfasser beweisen, „daß alle diese Gegenüberstellungen falsch sind, daß es vielmehr eine Synthese zwischen Nietzsche und den ethisch gerechtfertigten Motiven der sozialen Frage gibt, die original ist und nicht Eklektizismus". Er beginnt mit einer „Geschichte des modernen Kollektivismus"; von einem „demokratischen Individualismus und Hedonismus" des 18. Jahrhunderts (vor allem Rousseau, Condorcet und Helvetius) bis zu dem „Sozialismus im 19. Jahrhundert", der „aristokratisch und zum Teil wiederum auch antihedonistisch und . . . auch antiindividualistisch" sei (Saint-Simon, Bazard, Comte, Fourier, Blanc, Fichte, Schelling). Es ergeben sind daher „zwei völlig verschiedene Systeme des Sozialismus": das „aristokratisch-autoritäre . . . und antiindividualistische" von Rodbertus und das vom „demokratischen, hedonistischen und individualistischen Marxismus". Nietzsche gehöre eben zu denen, die übersehen, daß die Absicht des Sozialismus und der sozialen Frage „auch aristokratisch und hier zum Teil antihedonistisch und antiindividualistisch gerichtet gewesen ist und sein kann". »Aus Unkenntnis des von ihm gehaßten und völlig abgelehnten Gedankenkreises verkannte er seine vielfache Übereinstimmung mit dem eigenen Ideale einer antiindividualistischen Rangordnung." Am Ende seiner „ersten Phase" falle Nietzsche „vom aristokratischen Grundzug ab und bekennt sich zum ersten Mal als Demokraten". In der darauffolgenden „zweiten Phase" findet Verfasser „die gesundesten" Anschauungen zur sozialen Frage. Aber selbst in der letzten Phase sei ihm das Individuum nicht „der höchste Wert, sondern stets das überpersönliche Ziel der Gesamtheit"; er sei also „wie früher auch jetzt durchaus . . . Antiindividualist". Ver-
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fasser b e d a u e r t n u n sehr, d a ß N i e t z s c h e „nie die G e m e i n s a m k e i t seines Idealismus mit d e m des aristokratischen und antiindividualistischen Sozialismus" eingesehen habe. Als er sein „neues W e r t p r o b l e m zuerst entwickelte, da p a c k t e ihn der ästhetische Z a u b e r g r e n z e n l o s e r M a c h t e n t f a l t u n g , da überwältigte ihn in der E r n e u e r u n g des Voluntarismus das Ideal seiner J u g e n d : die Starrheit des ihm von S c h o p e n h a u e r ü b e r k o m m e n e n Weltbildes". Aber es habe k u r z vor Einbruch der Krankheit „eine neue vierte Phase" b e g o n n e n , „eine hegelianisierende". D a s Schlußergebnis heißt d a n n , d a ß Nietzsches „letztes Ziel . . . die V e r w i r k l i c h u n g der natürlichen R a n g o r d n u n g als Mittel einer Steigerung der G e s a m t h e i t " sei, u n d , o b w o h l einige „Gemeinsamkeiten" zwischen ihm und Marx bleiben, verbinde ihn nichts „mit dem d e m o k r a tischen, hedonistischen und individualistischen Marxismus". „ D a s aristokratische Ideal d a g e g e n " bringe ihn in einen Z u s a m m e n h a n g mit Saint-Simon, C o m t e und R o d b e r t u s u n d mit den beiden letzteren u n d den nachkantischen Metaphysikern zu d e m S t a n d p u n k t des „Antiindividualismus". Schließlich m ü n d e „der Verkündige^ des U b e r m e n s c h e n in das Ideal der k ü n f t i g e n P ä d a g o g i k ein, das uns zuerst G o e t h e in ,Wilhelm Meisters W a n d e r j a h r e n ' e n t w o r f e n hat".
988 Münz, Bernhard, Der Urquell der Lebensanschauungen Schopenhauers und Nietzsches. (Zu Schopenhauers 50. Todestag am 11. September), (DTh 12, 1910, Bd. 2, S. 784—791). 343 Einen solchen „Urquell" findet V e r f a s s e r in d e m Gegenteil von dem, was beide erstrebt haben. S c h o p e n h a u e r habe „die Lust des Daseins" gesucht und nicht g e f u n d e n , daher habe er sich eingeredet, „daß der S c h m e r z ein wesentlicher Bestandteil des Lebens ist". „Ähnlich wie S c h o p e n h a u e r , hat auch Nietzsche in seinem Lebensw e r k e nicht sich selbst u n d seine Art, das Leben zu f ü h r e n dargestellt, sondern seine Sehnsucht nach einem seiner N a t u r w i d e r s p r e c h e n d e n , unerreichbaren Lebensideale."
988a Dass, ohne Untertitel auch in MAZg 120. Jg., Nr. 16 ff. v. 15., 22. u. 29. 4. 1917, S. 160 f., 173 f., 181 f. Unverändert. 989 Wadkowsky, Michael, Tolstoi und Nietzsche über den Wert der Kultur. Ein Beitrag zur Kulturphilosophie. Anton Kämpfe. Jena 1910. 63 S. ( = Diss. d. Univ. Jena).344 Verfasser geht von der Ansicht aus, d a ß Tolstoi und Nietzsche, „zwei der hervorragendsten Künstler u n d D e n k e r unserer Zeit", sich die „Lebensaufgabe" gestellt haben, „den Sinn des Lebens und den W e r t der K u l t u r zu untersuchen". Er vergleicht ihre Leitvorstellungen über den Menschen ( „ W e n n es sich nur um Erhaltung des Lebens handelt", habe Tolstoi Recht. Solle aber von „einer V e r v o l l k o m m n u n g des Lebens die Rede sein", d a n n müsse die Lehre Nietzsches „den V o r z u g erhalten".), über die Einstellung z u r Wissenschaft und Kunst, z u r sozialen Frage, zu Ehe und Familienleben, z u m Schulwesen, z u r Religion und Kirche und zuletzt z u m praktischen Leben des einzelnen. D e r Vergleich läuft d a n n in f o l g e n d e Feststellung 343 344
Münz, Bernhard, geb. 1856 zu Wien. Wadkowsky, Michael, geb. am 1.11.1880 zu Malyschewo/Gouvernement Tambova, Rußland.
1910 „Der Subjektivismus der vergangenen 20 Jahre fußt ganz auf Nietzsche"
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aus: „Beide Schriftsteller als V e r t r e t e r zweier bis z u m G e g e n s a t z verschiedener Richitungen haben trotz aller Mängel in der wissenschaftlichen B e g r ü n d u n g ihrer Systeme in gleichem M a ß e der Menschheit einen g r o ß e n Dienst geleistet. Sie haben den V o r h a n g , welcher die M o r g e n r ö t e n der Z u k u n f t vor unseren Blicken verbirgt, beiseite g e z o g e n und die leuchtenden Ideale, zu deren Verwirklichung alle V ö l k e r der E r d e durch gemeinsame Arbeit b e r u f e n sind, vielseitig erörtert. Sie haben beide auf ihren Kampfschildern die Devise: S c h a f f u n g eines neuen, besseren T y p u s des M e n s c h e n , als ihn die Geschichte kennt." 990
C o h n , Dr. Paul (Charlottenburg),
Nietzsche's
Leiden.
(DMP
14. J g . , N r . 19 v. 8. 10. 1 9 1 0 , S. 151 — 154). N a c h dem Erscheinen der Briefe an M u t t e r u n d Schwester (AY), der letzten Briefbände, meint Verfasser, sei es „jetzt möglich", „ein abschließendes Urteil über N i e t z s c h e ' s G e s a m t z u s t a n d " vorzulegen. N a c h einer längeren Darstellung und E r ö r t e r u n g der „Wetterempfindlichkeit des Asthenikers" lautet der B e f u n d : „1. N i e t z s c h e w a r von H a u s aus ein G e s u n d e r ; n u r sensitiv. 2. Ü b e r m ä c h t i g e Einflüsse machten den G e s u n d e n z u m ,Astheniker'. 3. Diese Asthenie verschlimmerte er d u r c h Gifte. 4. Auf dem Boden dieses vergifteten O r g a n i s m u s erwuchs die Schlußkrankheit." Ü b e r seine verlegerische „Beschäftigung mit der Antike" schrieb E u g e n D i e d e r i c h s a m 2 3 . 10. 1 9 1 0 a n O t t o I m m i s c h : „Im a l l g e m e i n e n m u ß ich s a g e n , d a ß die B e s c h ä f t i g u n g d e s P u b l i k u m s mit d e r A n t i k e d e m E i n f l u ß N i e t z s c h e s z u v e r d a n k e n ist. I c h selbst bin, in d e m B e s t r e b e n , e i n e n e u e d e u t s c h e K u l t u r m i t v o r z u b e r e i t e n , stark v o n N i e t z s c h e b e e i n f l u ß t w o r d e n u n d h a b e alle die B ü c h e r d e r Schriftsteller, für d i e er sich interessierte, g e b r a c h t . . . A b e r es g i b t n o c h e i n e z w e i t e Linie, v o n d e r aus ich z u r A n t i k e g e k o m m e n bin, n ä m l i c h d i e rein r e l i g i ö s e , die N i e t z s c h e ihren s t ä r k s t e n I m p u l s v e r d a n k t . . . D e r S u b j e k t i v i s m u s d e r v e r g a n g e n e n 2 0 J a h r e f u ß t g a n z auf N i e t z s c h e , u n d d i e s e r P e r s ö n l i c h k e i t s r e l i g i o n z u l i e b e , die e i n e g e w i s s e C h a r a k t e r b i l d u n g z u r G r u n d l a g e b r a u c h t , h a b e ich die S t o a h e r a u s g e g e b e n . . . W i r sind a u c h d u r c h N i e t z s c h e w i e d e r z u r R e n a i s s a n c e g e k o m m e n u n d j e d e r , d e r s i c h m i t ihr b e s c h ä f t i g t , k o m m t u n w i l l k ü r l i c h v o n d a aus z u r Antike." 3 4 5 991 B ( e r t r a m ) , D r . E ( r n s t ) , N i e t z s c h e s Briefe. ( W M h N o v . 1 9 1 0 , S. 3 2 8 f.). Eine äußerst lobende W ü r d i g u n g Nietzsches a n h a n d d e r seit dem Erscheinen der Briefe an M u t t e r und Schwester (AY) abgeschlossen vorliegenden G e s a m t a u s gabe der Briefe: „Diese Briefe sind m e h r als bloßes biographisches Material, sind mehr noch als psychologisch wertvolle E n t d e c k u n g e n z u r E r k e n n t n i s des P r o b l e m s vom Schaffenden — sie sind eine g a n z seltene menschliche und d a r ü b e r in eigent-
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E. D., Selbstzeugnisse und Briefe von Zeitgenossen. Diederichs. (Düsseldorf/Köln 1967), S. 189 ff.
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1910 »die erste Generation nach Nietzsche"
lichster B e d e u t u n g heroische H i n t e r l a s s e n s c h a f t . S i e sind v o m reinsten und höchsten A d e l : d e m Adel des siegreichen L e i d e n s . " 3 4 6
992 Heman, F., Weltanschauungen und Nietzsche. (DTh 13. Jg., Bd. 1, H. 2 v. Nov. 1910, S. 228 ff.). O b w o h l N i e t z s c h e d e m V e r f a s s e r endlich „ t o t " ist, „ g a n z tot, unwiderruflich tot", meint er, daß die christliche K i r c h e sich g e r a d e d u r c h eine A u s e i n a n d e r s e t z u n g mit ihm werde erneuern und stärken k ö n n e n , ζ. B. w e r d e sie „ a u f h ö r e n müssen, das Christentum nur f ü r eine geistliche Speditionsanstalt zu erklären, um Menschenseelen in einen H i m m e l zu bringen, der in Wirklichkeit g a r nicht existiert, sondern nur die E r f i n d u n g platonisierender K i r c h e n v ä t e r ist".
993 Nyman, Alf., Nietzsche als Musikphilosoph. A. d. Schwed. v. Marie Franzos. (DMe 1. Jg., Bd. 1, H. 22, 1910, S. 8 9 3 - 9 0 0 ) . V e r f o l g t so gut wie ausschließlich die E n t w i c k l u n g des Verhältnisses zu W a g ner und seiner Musik, denn „ N i e t z s c h e s g a n z e M u s i k s p e k u l a t i o n ist im G r u n d e nur die Geschichte dieser F r e u n d s c h a f t " . W a s „die unendliche M e l o d i e W a g n e r s , ihre koloristischen und h a r m o n i s c h e n N e u g e s t a l t u n g e n und noch mehr ihre ultramodernen Ableger in der M u s i k " b e t r e f f e , s o sprechen diese „ v o n einem fortschreitenden A u f l o c k e r u n g s p r o z e ß , einer A g g r e g a t i o n s v e r ä n d e r u n g , die nicht der A n f a n g vom E n d e zu sein b r a u c h t " . Andererseits habe N i e t z s c h e „mit einem S c h a r f s i n n , der an Hellseherei grenzt, . . . auf den feministischen G r u n d z u g dieser K u n s t hingewieu
sen .
993a 53 f.).
Dass, in Prn 10. Jg., Nr. 3 u. 5 v. 18. 10. u. 2. 11. 1912, S. 33 ff.,
Unverändert.
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S. a. Bertrams Referat: Thomas Mann. Zum Roman „Königliche Hoheit" (MLG 4. Jg., 8. Sitzung, 1909, S. 195 — 220). Im Zusammenhang mit dem zur Erörterung stehenden Werke sowie mit Manns gesamten damaligen Schaffen behandelt Bertram vor allem das „Problem des bewußten, allzubewußten Kiinstlertums", und es scheint ihm „alles, was bis zu Nietzsche an Bekenntnissen zu diesem Problem v o r l i e g t . . . , nur ein zaghaftes Vorbereiten seiner Zergliederungen des .Menschen der Kunst'" darzustellen. Nietzsche, „der erbarmungslose Psychologe", liefere „die letzte Formulierung und Begründung des unheimlichen, notwendig irgendwie mißdeutbaren Phänomens, welches ,der Schaffende' heißt", und in Mann erkenne man „einen der frühesten Künstler derjenigen Generation . . . , die durch das Erlebnis Nietzsche als ihr entscheidendes hindurchgegangen ist". In einem dem Vorgetragenen durchaus zustimmenden Korreferat von F. öhmann heißt es: „ . . . man kann in der Tat, das, was die vorwärtsreisenden Kräfte unserer Literatur, von Hauptmann bis Hofmannsthal, von Bierbaum bis Dehmel und St. George, innerlich verbindet, nicht besser ausdrücken, als indem man sie als die erste Generation nach Nietzsche charakterisiert: dieser Einfluß, leise und oft nur mittelbar, bestimmmt die Form unseres Lebensgefühls stärker als das Erlebnis Darwins oder Marx oder Zola." Etwas einschränkend weist der Korreferent aber auch darauf hin, daß die Signatur von Manns Künstlerschaft „gerade der tiefe und aufrichtige Respekt vor der Gewöhnlichkeit, vor der Arbeit des Alltags, dieser Respekt, der Nietzsche fehlte", sei. Der Aufsatz findet sich auch in: E. B., Dichtung als Zeugnis. Frühe Bonner Studien zur Literatur. M. e. Nachw. hg. v. Ralph-Rainer Wuthenow. Bouvier. Bonn 1967, S. 69—88; jedoch mit einigen Kürzungen und ohne das Korreferat.
1910 „alle Engel wandten sich und weinten"
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994 F e o d o r a Prinzessin zu Schleswig-Holstein, An Nietzsche. (In: G e d i c h t e . Aus dem N a c h l a ß hg. v. G. G r o t e . Bln. 1910, S. 43). Das zwanzigzeilige Gedicht beginnt und endet wie folgt: „Und alle Engel wandten sich und weinten, / denn er ging irre, — einer von den ihren, — / er fehlte seines Wegs und zog ins Dämmern." 347 995 Biese, Alfred, D e u t s c h e Literaturgeschichte. Bd. 3: V o n Hebbel bis z u r G e g e n w a r t . C. H . Beck. M c h n . 1911. 1. —3. Aufl. (1.—12. Tsd.). Ü b e r N i e t z s c h e auf S. 481 — 490. D a s W e r k erschien schon Ende 1910. Im Anschluß an Lagarde und Dühring wird Nietzsche, dessen Schriften „eine ungleich stärkere Bewegung" erregt haben, dargestellt. Betont wird der Einfluß von Schopenhauer, Darwin und Heraklit sowie die Verwandtschaft mit Hölderlin. Zum Dichter sei er „nur widerwillig" geworden, dennoch können seine wenigen Gedichte „den wertvollsten Schöpfungen der modernen Lyrik zugezählt werden". — „Nicht in der Begründung eines neuen brauchbaren Systems der Philosophie liegt Nietzsches Bedeutung, sondern in der anregenden, aufrüttelnden, wachmachenden, .suggestiven' Kraft seiner wie Blitze und Scheinwerfer wirkenden Ideen, die rasch aufleuchtend Altbekanntes, Altgewohntes in ein völlig neues Licht stellten und dadurch zur Neuprüfung Anlaß boten." S. a. S. 511 : Nietzsche habe mit „seiner von Symbolen schweren Sprache und mit seiner Lyrik . . . den Grund zu einer neuen Schule der Dichtung, der symbolistischen und neuromantischen" gelegt und somit „ein rasches Abflauen der naturalistischen Richtung" verursacht. Verwandtschaft mit Spitteier (S. 630) sowie Einfluß auf Mombert (S. 637) werden noch gestreift. 995a Dass. 25. Aufl. 107. —109. T s d . U n v e r ä n d e r t e r Abdr. d. 24. d u r c h g r e i f e n d e r n e u e r t e n Aufl. hg. v. J o h a n n e s Alt. (1930). Nietzsche gebührt jetzt ein eigener Abschnitt (S. 575—597), dessen Schluß eine erweiterte Darstellung Lagardes sowie diejenigen Dührings und Langbehns bilden. Die um mehr als das Doppelte erweiterte Würdigung Nietzsches betont die „Unbedingtheit", mit der er „jenem Drang zu einer neuen Tatsachenwahrheit, der das 19. Jahrhundert in seinen Tiefen leitete", gedient habe. Sein Schaffen gebe überhaupt „einen geistigen Welthintergrund" zur „Mischwelt" Wilhelm II., zum Erfolgsglauben des politischen, wissenschaftlichen und wirtschafdichen Lebens der Wilhelminischen Zeit. Er habe „ein neues Lebensgefühl" gebracht und damit „verjüngend seine Anhänger, wie auch seine Feinde, ja das ganze deutsche Volk" durchdrungen. Das Bedingte und Zurückhaltende in der Zustimmung der ersten Auflage ist fast gänzlich gewichen; nur noch in Hinsicht auf die Stellung zum Christen- und zum Deutschtum werden Einschränkungen geltend gemacht. 996 Schneidewin, P r o f . D r . M a x , Eine n e u e Kritik des „Nietzscheanismus". ( T a g v. 8. 12. 1910). Unter dieser Uberschrift liefert Verfasser eine Besprechung des Werkes von Müller-Lyer (Nr. 930), vornehmlich des Abschnittes über Nietzsche, die in die
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Feodora, Prinzessin zu Schleswig-Holstein, geb. am 3. 7. 1874 auf Schloß Primkenau, jüngste Schwester der Kaiserin, schrieb unter dem Namen F. Hugin.
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19U Carl Einstein
W o r t e a u f l ä u f t : „ . . . in d e m G r u n d g e d a n k e n seiner B e u r t e i l u n g N i e t z s c h e s , daß die Darwinische B i o l o g i e von N i e t z s c h e kritiklos auf die v o m bloßen N a t u r s i n n des L e bens grundverschiedene Welt der Kultur übertragen sei, hat er recht, und diese F o r mel der Stellung zu N i e t z s c h e hat vielleicht niemand v o r ihm s o sichtvoll und kräftig vertreten."
997 (Ebd.).
Wachler, Dr. Ernst, Grützmachers Vorlesungen über Nietzsche.
Eine B e s p r e c h u n g des W e r k e s von G r ü t z m a c h e r ( N r . 9 4 1 ) , der eine „verständnisvolle" W ü r d i g u n g damit geliefert habe, die „ u m s o e r f r e u l i c h e r " sei, „ d a sie von einem M a n n e herrührt, der als o r t h o d o x e r T h e o l o g e zu unbedingter G e g n e r s c h a f t verpflichtet ist".
Vermutlich auf die erst viel später erschienene Arbeit von Carl Einstein, „Antike und Moderne", bezieht sich sein „bisher" erster erhaltener Brief „aus den Jahren 1910/11", in dem es einleitend heißt: „Ich beabsichtige in einem größeren Essay unser Verhältnis zur Antike zu revidieren und am liebsten im Anschluß an Schröders Homerübertragung. In dieser Arbeit will ich versuchen darzustellen, wie unsere Beziehungen variieren im Vergleich zu denen des Klassizismus. de(r) Beginn einer neuen eigentümlichen Fassung des griechischen scheint mir zunächst beim späten Hölderlin aufzutreten — mit dem Wort des Hölderlin in seinem Nachlaß — man übersehe das Asiatische am griechischen setzt die neue Route ein, deren Höhepunkt Nietzsches Geburt der Tragödie seine nachgelassenen Schriften zu Homer und den Vorsokratikern bedeu«348
ten . . . In dem Aufsatz selber finden sich folgende Nietzsche betreffende Stellen: „Es bezeichnet, daß zwei evolutionistisch gerichtete Geister, Lassalle und, Nietzsche vor allem, der eine mit groben Griff, der andere mit jeglichen Hilfen der geistigen Bestände zurückdrangen. Lassalle erfand seinem revolutionären Gefühl das heraklitsche Fließen; der zweite verändert vollkommen das Antlitz der griechischen Vergangenheit." 349
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Penkert, Sibylle, C. E. Beiträge zu einer Monographie. Vandenhoeck & Ruprecht. Gött. 1969 ( = Palestra Untersuchungen a. dt. u. engl. Philologie u. Literaturgesch. Bd. 255), S. 60 f. Über Einstein schrieb der Herausgeber seiner „Gesammelten Werke" (Limes Vlg. Wiesbaden 1962, S. 12): „Einstein ist nicht der erste, der den in der Folge dieser Erkenntnis (d. i. „daß unsere Wahrheiten Erfindungen, Konstruktionen sind, aber nicht Entdekkungen von etwas allgemeinverbindlich auch ohne unser Zutun Vorhandenem") sich einstellenden Verlust der Werte zur Sprache bringt; er tritt das Erbe Nietzsches an." Einstein, Carl (Neuwied 26. 4. 1885 — in der Nähe von Gurs/Südfrankreich 5. 7. 1940 durch Freitod), Schriftsteller, seit Ende der 20er Jahre in Paris. Penkert, Sibylle, C. E. Existenz u. Ästhetik. Einf. m. e. Anhang unveröffentlichter Nachlaßtexte. Fr. Steiner. Wiesbaden 1970 ( = Verschollene u. Vergessene), S. 44 f.
1911 Alfred Rosenberg
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„Nietzsche konnte gradezu — wenn auch gegen sein Wollen — der kantischen Philosophie das apollonische Moment entnehmen; und Schopenhauers Pessimismus erbrachte ihm, als Gegenspiel das Dionysische, daß er, wiederum beeinflußt von jenem, tragisch umzudeuten vermochte. Er zeigte uns damit eine Menschengestalt, die spontan erschaffen war, so nahe auch Fichtesche Einflüsse liegen mögen; ein Typus, der es beansprucht seinen Willen gemäß die Kräfte der Welt in sich zu sammeln, wie Herakles. Er entrückte diesen Menschen gänzlich, dem christlichen dialektischen Zwiespalt und versuchte damit die Einheit des antiken Menschen zu gewinnen. Jedoch verfuhr er psychologisch, d. h. analytisch und kritisch, und vermochte drum nichts Anderes zu geben, als eine Allegorie; denn er verwand die zergliedernden Mittel des Wissenschaftlers zum Aufbau seiner Gestalt und so verzerrte sich sein Zarathustra, den er stets aus der Verwerfung des Bestehenden ableitet, zur Allegorie."350 „Hölderlin, der der Deutschen Prosodie einen gesetzmäßigen Rhythmus aufprägte, war es vor Allen, der die Gesetze der griechischen Tragödie erkannte. Wir verweisen auf seine Bemerkungen zu Oedipus und der Antigone, worin er in reinerer Gesinnung als Nietzsche den formalen Kontrast des Griechisch-Tragischen erleuchtete."351 Als er noch Schüler in Reval war, vermittelte die Jugendfreundin und spätere Gattin Alfred Rosenbergs diesem die Bekanntschaft mit dem „Zarathustra" : „Eines Tages brachte mir Hilda ein Buch auf die Eisbahn, das ich lesen müsse, es war Nietzsches .Zarathustra'. Ich bemühte mich sofort, das Werk in mich aufzunehmen; aber irgend etwas Wesentliches an ihm mutete mich fremd an. Es war, wie ich mir später bewußt wurde, das Überpathetische, ja Theatralische, das mir gewollt, nicht vollendet vorkam. Nietzsches menschliche Tragödie war mir vollkommen fremd. Ich las dann zwei Schriften über ihn, die sehr verschieden aussagten; die eine fand Nietzsche nur für ,Philosophie-Feinschmecker' geeignet. Das führte mich nicht weiter, und ich gab den ,Zarathustra' etwas verlegen zurück."352 350 351 352
Ebd., S. 47. Ebd., S. 50. A. R., Letzte Aufzeichnungen. Ideale und Idole der nationalsozialistischen Revolution. Plesse Vlg. Gött. (1955), S. 27; über die Zeit kurz vor seinem Eintritt in die NSDAP heißt es dann: „Eine Opposition gegen das offizielle konservativ-nationalliberale Deutschland meldete sich nur in der Sozialdemokratie. Auch einzelne nationalistische Persönlichkeiten traten als Warner auf. Wenn ich hier von Nietzsche absehe, der eine Krisis der gesamten Kulturwelt voraussah, sich aber nicht konkreter mit deutschen Fragen befaüte, so war es vor allem Paul de Lagarde, der seine warnende Stimme erhob . . . In einem gewissen Sinn war auch der Bayreuther Gedanke ein lebendiger Protest gegen ein oberflächlich werdendes Zeitalter . . . H. St. Chamberlains Werk gehört als Gesamtheit hierher und hatte we-
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1911 Das Nietzsche Denkmal
Über ein großangelegtes Vorhaben zum Andenken Nietzsches in den Jahren 1910—1914 berichtete Karl Ernst Osthaus: „Das folgende Jahr (d. i. wahrscheinlich 1910) brachte ein Projekt, das auf deutschem Boden eine internationale Dankesschuld abtragen sollte. Graf Keßler war die treibende Kraft. Er wollte mit einem Komitee, dem d'Annunzio und Gordon Craig angehörten, in Weimar, an der Stätte von Nietzsches Wirken, ein Monument errichten, das den Manen des großen Denkers gewidmet sein sollte. Gedacht war an ein Stadion, in dem olympische Spiele abgehalten werden konnten. Man kaufte ein geeignetes Grundstück und übertrug Velde die Gestaltung. Dieser entwarf einen Festplatz von größten Ausmaßen. An das Stadion, dessen griechisch-endgültige Formulierung keine Änderungen erlaubte, Schloß er ein Schwimmbecken an. Beide überragte ein Tempelplatz, und mitten auf dem Platze sollte die Sta-' tue eines Jünglings von Maillol als Sinnbild ewiger Jugend ragen. Der Tempel selbst lag rückseitig und war turmhaft, weithinragend gedacht. Von ihm aus sollten erlauchte Geister zu ihrer Gemeinde sprechen. So war das Verhältnis des Geistigen zum physischen Kampfspiel überzeugend zum Ausdruck gebracht. Die olympischen Spiele, die einst am Athletischen zugrunde gingen, waren der Herrschaft des Geistigen aufs neue unterworfen. Ein Gedanke, erhaben genug, um die Völker der Erde zu gemeinsamer Durchführung zu vereinen! Statt dessen kam aber der Krieg."353
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sentliche geistige Linien für eine ganze Generation gezeichnet" (Ebd., S. 94); Rosenberg, Alfred (Reval 12. 1. 1893 — Nürnberg 16. 10. 1946 hingerichtet), wurde durch seinen „Mythos des 20. Jahrhunderts" zu einem führenden Vertreter der nationalsozialistischen Weltanschauung. K. E. O., Van de Velde. Leben und Schaffen des Künstlers. Folkwang-Vlg. Hagen i. W. 1920, S. 104 f.; s. a. S. 39 (eine Aufnahme des Innenraumes des Nietzsche-Archivs in Weimar), 135—139 (10 Abbildungen von van de Veldes Entwürfen zum Nietzsche-Denkmal in Weimar), 148 (Abbildung seiner Entwürfe für einen „gepreßten Lederband mit Handvergoldung" zu den „Dionysos-Dithyramben"), 151 (dass, zu „Zarathustra"). Van de Velde wurde von der Schwester, die er im Jahre 1900 in Berlin bei Cornelia Richter kennengelernt und die seine Berufung nach Weimar unterstützt hatte, mit dem Auftrag eines Entwurfs zum Umbau des Archivs betraut. Über die Weimarer Jahre bis zu seinem Abschied im Sommer 1914 s. seine: Geschichte meines Lebens. Hg. u. übertr. v. Hans Curjel. Piper. Mchn. (1962), S. 187—194 (erste Begegnung mit der Schwester und erster Besuch im Nietzsche-Haus sowie an der Grabstätte in Röcken, Versöhnungsversuch Cornelia Richters zwischen der Schwester und Cosima Wagner), 244 f. (zum Umbau des Archivs), 349—354 (zum Nietzsche-Denkmal; unter den Mitarbeitern Keßlers nennt er neben den Obererwähnten auch Henri Lichtenberger, Jules Gaultier, André Gide, Anatole France, Gilbert Murray, H. G. Wells, Raleigh und Eberhard von Bodenhausen). Anführenswert ist noch folgende Stelle: „Meine Freunde Fernand Brouer, Jacques Dwelschauvers, der Übersetzer des .Zarathustra' in französische Sprache, die beiden klugen Essyisten Teodor Wyzewa und Fénéon sowie Paul Signac — alle waren vom Geist Nietzsches geprägt." S. a. folgende Notiz (DLE 16. Jg., H. 21 v. 1. 8. 1914, Sp. 1520 f.): „Anläßlich des bevorstehenden siebzigsten Geburtstages von Friedrich Nietzsche (15. Okt.) hat sich ein Komitee gebildet, dem u. a. Hugo von Hofmannsthal, Richard Strauß, Karl Lamprecht, Thomas
1911 Das Nietzsche Denkmal
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Etwas ausführlicher beschreibt Harry Graf Keßler das Vorhaben in einem Brief vom 16. April 1911 an Hugo von Hofmannsthal: „Nun möchte ich dir als Ostergruß mitteilen, wie sich unsere Pläne für das Nietzsche Denkmal entwickelt haben. Das Komitee hat sich jetzt konstituiert und einen Arbeitsausschuß gebildet . . . Sehr angenehm ist mir für unsere Werbung in der Gesellschaft, daß vor einigen Tagen Lichnovsky beigetreten ist . . . Ich hoffe jetzt auch bestimmt, daß Bülow das Ehrenpräsidium übernimmt. Um dir das weitere zu erklären, muß ich dir aber den Plan des Denkmals selbst, wie ich es mir denke, auseinandersetzen. Zunächst: wir wollen darin Kunst und Natur (Vegetation, Aussicht) vereinigen, wie es die Griechen und Japaner in ihren Heroa getan haben. Wir wollen daher an einer Berglehne die eine Aussicht über Weimar bietet, eine Art von Hain schaffen durch den eine ,Feststraße', eine feierliche Allee hinaufführt zu einer Art von Tempel. Vor diesem Tempel auf einer Terrasse, die den Blick auf Weimar und das Weimarer Tal bietet, soll Maillol in einer überlebensgroßen Jünglings-Figur das Apollinische Prinzip verkörpern. Im I n n e r n denken wir uns den Tempel nach folgendem Plan: (Skizze) Rechts und links an den Wänden je drei steinerne S i t z s t u f e n , auf die bei Feiern, Aufführungen etc. Kissen gelegt werden (wie damals in Athen im Stadion) . . . Am Stirnende eine Art von niedriger ,Bühne', wie die auf denen in Kirchen der Altar steht, und darauf eine große Nietzsche Herme. Über den Sitzstufen die Seitenwände durch Pilaster in je drei Abschnitte gegliedert, in der Mitte jedes Abschnittes ein großes Relief von Klinger, und rechts und links davon jedes Mal große Tafeln mit Inschriften (Nietzsche Sprüche). Also Alles in Allem sechs Reliefs (drei an jeder Wand) und zwölf Tafeln. Beleuchtung durch ein großes Fenster über der Eingangstür und durch niedrige Seitenfenster über den Reliefs, (kein Oberlicht) Ich denke mir in dieser Halle Platz für 200 bis 250 Menschen und daß da Gedächtnisfeiern für Nietzsche, aber im übrigen m ö g l i c h s t w e n i g Vorträge, Gesprochenes, vor sich gehen, sondern von Zeit zu Zeit Musik, Quartette, Gesang, und auch vor Allem Tänze (Ruth St. Denis und Ähnliches). Da die Reliefs im Innern auch das Dionysische in Nietzsches Weltanschauung verkörpern
Mann, Richard Dehmel angehören, und das einen Aufruf um Beiträge für einen Nietzsche-Fonds veröffentlicht. Dieser ist für ein Nietzsche-Denkmal bestimmt, das man in Weimar zu errichten gedenkt, und soll zugleich die dauernde Eraltung des Weimarer Nietzsche-Archivs sichern." S. noch Hüter, Karl-Heinz, Henry van de Velde. Sein Werk bis zum Ende seiner Tätigkeit in Deutschland. Akademie-Vlg. Bln. 1967, S. 77 (über seine Ausstattung von Werken Nietzsches m. Abb. auf S. 74 f.), 214—217 (Entwurf zum Nietzsche-Denkmal m. 3 Abb.: „Es ist im Hinblick auf das Denkmal aufschlußreich, sich die Rolle Nietzsches als des führenden Philosophen der spätbürgerlichen Reaktion in den Jahren vor dem ersten Weltkrieg zu vergegenwärtigen."), 67 ff. u. 107 (Abb. d. Innenausstattung und -einrichtung des umgestalteten Archivs).
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1911 Das Nietzsche Denkmal
sollen, so stimmen d a z u Musik und lebendiger T a n z . D a s
Apollinische
kommt wie gesagt a u ß e n zum Ausdruck . . . H i n t e r dem Tempel denke ich mir ein S t a d i u m , in d e m jährlich F u ß r e n n e n , T u r n s p i e l e , W e t t k ä m p f e j e d e r Art, k u r z d i e S c h ö n h e i t u n d K r a f t d e s K ö r p e r s , d i e N i e t z s c h e als erster m o d e r n e r P h i l o s o p h w i e d e r m i t d e n h ö c h s t e n , g e i s t i g e n D i n g e n
in
V e r b i n d u n g g e b r a c h t hat, sich o f f e n b a r e n k ö n n e n . . . E r hat d i e s e n T e i l des Lebens wieder durchgeistigt, w i e Christus das Leiden. Aber auch materiell bietet d i e s e A u s g e s t a l t u n g des P l a n e s ( d i e d e s h a l b a u c h d i e
nach-
d r ü c k l i c h s t e B i l l i g u n g v o n Financiers w i e W a l t e r R a t h e n a u u n d Julius S t e r n hat) e i n e n V o r t e i l . . . D a ß a u ß e r d e m d i e A n l a g e d a d u r c h z u e i n e r d e r s c h ö n s t e n u n d m a j e s t ä t i s c h s t e n w i r d , d i e m a n seit d e r A n t i k e v e r w i r k l i c h t hat, m u ß a u c h w e r b e n d w i r k e n . Ich d e n k e sie m i r a u f d e n H ü g e l n ö s t l i c h hinter d e m N i e t z s c h e A r c h i v , n a c h links v o r d e r G e l b e r o d e r C h a u s s e e . W i r ' b r a u c h e n d a f ü r e i n e n a n s t e i g e n d e n G e l ä n d e s t r e i f e n v o n e t w a 1 0 0 0 bis 1 2 0 0 M e t e r L ä n g e bis 3 0 0 bis 4 0 0 M. Breite. D i e K o s t e n d e s G a n z e n s c h ä t z e ich auf e t w a 8 0 0 0 0 0 M bis e i n e M i l l i o n , d a ß d a m i t a u c h e i n g e r a d e z u idealer, fast g r i e c h i s c h e r R a h m e n f ü r F e s t s p i e l e , O e d i p u s u n d Ä . g e s c h a f f e n w i r d , liegt auf d e r H a n d . . . a 3 5 4
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H.v. H . / H . G. K. Briefwechsel 1898-1929. Hg. v. Hilde Burger. Insel. (Ffm. 1968), S. 323 ff. Über das Verhältnis Keßlers sowie Hofmannsthals zum weiteren Verlauf des Vorhabens und zum Nietzsche-Archiv Uberhaupt s. a. ebd., S. 54, 55 (1903; über die zum 15. 10. 1903 in Weimar geplante Feier zur Neueröffnung des Archivs), 187 (1908; Keßler über den „Gegensatz zwischen Apollinisch und Dionysisch": „Nietzsche hat aus der tiefsten d e u t s c h e n Seele gesprochen, als er diesen Gegensatz aufgestellt hat. Ob die Griechen ihn verstanden hätten, scheint mir zweifelhaft..."), 254 f. (1909; Keßler empfiehlt die Briefe an Mutter und Schwester: „eines der ergreifendsten und elektrisierendsten Bücher, die mir begegnet sind."), 326 f. (1911; Hofmannsthal bezweifelt irgendeine österreichsiche Unterstützung des großen Vorhabens: „außer meinem bescheidenen persönlichen Beitrag sehe ich, wenigstens ich von meinem Standpunkt aus, nicht die Möglichkeit auch nur 100 Kronen für diese Sache aufzubringen, geschweige denn irgend einen Menschen für das Comité zu gewinnen."), 331, 339 (1911; Keßler weiter über das Vorhaben), 421, 422 (1915), 532, 546 (Anm.); Lichnowsky, Karl Max Fürst von (Kreuzenort b. Ratibor 8. 3. 1860 — Schloß Kuchelna 27. 2. 1928), Botschafter (s. die Schlußsätze seines: Auf dem Wege zum Abgrund. Londoner Berichte, Erinnerungen und sonstige Schriften. Reißner. Dresden 1927, Bd. 2, S. 346: „Vielleicht gehen wir der Zeit entgegen, in der es nur mehr e i n e n Hirt gibt und e i n e Herde? Wer aber wird der Hirt sein? Zur Herde eigenen sich recht, recht viele."); Rathenau, Walther (Berlin 29.9. 1867 — ebd. 24.6. 1922 ermordet), zunächst Ingenieur, seit 1900 als Finanzier und Berater im Aufsichtsrat zahlreicher Aktiengsellschaften, bedeutender Wirtschaftssachverständiger. Er vermerkt in seinem Tagebuch am 12. 3. 1911: „Sonntag. Früh in Berlin. Vormittags im Autoklub, Konstituierung des Komitees für Nietzsche-Denkmal: Kessler, Kohler, Raoul Richter." (W. R. Tagebuch 1907—1922. Hg. u. kommentiert v. Hartmut Pogge-v. Strandmann. Droste Vlg. Düsseldorf (1967), (S. 132). So völlig in Vergessenheit scheint dies Vorhaben geraten zu sein, daß der Herausgeber zu dieser Stelle gestehen mußte: „Es ist nicht klar, um welches Nietzsche-Denkmal es sich hndelt." In den veröffentlichten Briefen Rathenaus findet sich lediglich eine einzige Erwähnung Nietzsches, und zwar in seinem Schreiben v. 17. 9. 1921 an Frl. Lore K. : „Die Tage in der Schweiz waren kurz, aber voll guter Erholung. Seit 1881
1911 Oskar Maria Graf — Leopold Ziegler
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17jährig kam O s k a r Maria Graf nach München und geriet alsbald in die anarchistische „Gruppe Tat des Sozialistischen Bundes", in der Erich Mühsam und Franz Jung wirkten. In diesem Kreis lernte er den Maler Georg Schrimpf kennen: „Wir kamen auch öfter zusammen und schlossen uns bald aneinander an. Wir lasen Stirner, Nietzsche und Kropotkin, und Schorsch erklärte alles sehr einfach. In kurzer Zeit waren wir die besten Freunde." 355 Einige Zeit später f u h r er zusammen mit Schrimpf nach Locamo, wo beide auf neue anarchistische Kameraden stießen, von denen der eine Jenke, Dekorationsmaler aus Sachsen und „radikaler Vegetarier", hieß: „Wenn wir zu ihm kamen, las er uns Stellen aus Nietzsche oder aus Forel vor. Aber alles lief dabei auf den Vegetarismus hinaus. Als ich einmal sehr pathetisch das Nachtlied Zarathustras vorlas, sagte er ganz verrückt: ,Der Mann war bestimmt ein Vegetarier!'" 356 Um das Jahr 1911 wurde der Einfluß Nietzsches im Leben Leopold Zieglers, der schon um die Jahrhundertwende (1900/02) durch den Philosophieprofessor an der Technischen Hochschule zu Karlsruhe Arthur Drews auf den Philosophen aufmerksam gemacht worden war, „herrschend". Mit Bezug auf sein Werk „Florentinische Introduktion" schrieb Ziegler: „Noch ist die kathartische Nachwirkung Fiedlers fühlbar, aber doch schon aufgewogen durch den Einfluß Nietzsches, der in jenen Jahren herrschend wurde. Sicherlich kam der bestimmende Impuls, Ästhetik statt fortwährend Zuschauer, einmal auch vom Künstler aus zu betreiben, von Nietzsche. Ich wußte, die Einstellungen des Künstlers und des Kenners, des Schöpfers und des Betrachters würden sich niemals decken, sie sollten es gar nicht. Aber ebenso wenig hielt ich's für angezeigt, daß nun beide auf der schroffen T r e n n u n g und Absonderung unwiderruflich beharren muß-
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war ich nicht in jenem Graubündner Tal, und als ich in Sils Maria die Tafel an dem kleinen weißen Haus Fr. Nietzsches beatrachtete, sah ich, daß es das Jahr seiner Ankunft gewesen war." (W. R. Ein preußischer Europäer. Briefe. [Hg. v. M. v. Eynern]. Käthe Vogt Vlg. Bln. [1955], S. 400 f.). O. M. G., Wir sind Gefangene. Ein Bekenntnis aus diesem Jahrzehnt. Drei Masken Vlg. Mchn. (1927), S. 83; Graf, Oskar Maria (Berg am Starnberger See 22. 7. 1894 — New York/USA 28. 6. 1967), Schriftsteller, 1933 nach Wien, 1938 in die USA; Jung, Franz (Neiße/Schles. 26. 11. 1888 — Stuttgart 21. 1. 1963), Schriftsteller, 1936 Flucht ins Ausland; Mühsam, Erich (Berlin 6. 4. 1878 — ebd. 11.7. 1934 im Gefängnis), anarchistischer Schriftsteller; Schrimpf, Georg (München 13. 2. 1889 — Berlin 19. 4. 1938), Maler. Ebd., S. 108. In dem „Epilog" zum Werk heißt es noch: „Knapp siebzehn Jahre alt war ich. Shakespeare und Schopenhauer, Tolstoi und Stirner, Heine und Strindberg, Nietzsche und Maupassant, Balzac und Wedekind, Ibsen, Zola und Flaubert hatte ich gelesen, Schiller und Grabbe, Bakunin und Herzen . . . " (S. 519).
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1911 Leopold Ziegler
ten, für die sich vornehmlich Kant mit der ihm eigenen Denkstarrheit eingesetzt hatte."357 BC Jubiläums-Katalog der Verlagsbuchhandlung Wilhelm Engelmann in Leipzig 1811 — 1911. Breitkopf u. Härtel. Lpz. 1911, S. 8 0 - 8 9 . 357
Die Philosophie d. Gegenwart i. Selbstdarstellungen. Hg. v. Dr. Raymund Schmidt. Bd. IV. F. Meiner. Lpz. 1923, S. 195; s. a. L. Z., Briefe 1 9 0 1 - 1 9 5 8 . Kösel-Vlg. Mchn. (1963. Hg. v. Erwin Sein), S. 220 (Brief an Walther Rathenau v. 10. 11. 1917: „Nietzsche prägte für diese Zeit das furchtbare W o r t von der Exstirpation des deutschen Geistes — und ich bin überzeugt, daß Sie, lieber Herr Rathenau, der letze sein werden, der dieses Wort nicht vorbehaltlos anerkennt. Vielleicht ist es nicht allzu unbescheiden, wenn ich sage, daß in den letzten Jahren vor diesem Kriege eine kleine Minderheit, die ich ,Wir' nennen möchte, die Folgen dieser Exstirpation zu empfinden fähig wurde und daß wir unser Leben und Schaffen d a f ü r einsetzen oder einzusetzen willens waren, den seeliscen Zusamenhang mit jenem edleren Deutschland wiederherzustellen."), 86 (an Paul Ernst zu Sylvester 1918: „Der N a m e Spartakus wird zum großen Symbolum, und was Nietzsche vorahnend den Sklavenstand genannt hat, wird zum fürchterlichen Ereignis."), 148—153 (aus dem Briefwechsel mit Rudolf Pannwitz, Jan./Febr. 1919: „ . . . es schmerzte mich Sie auf dieser Seite fechten zu sehn und f ü r Paul Ernst die lanze einlegen zu sehn anstatt den einzigen retter der Deutschen und Europas der von jedem Judas verraten von jedem Petrus verleugnet und von jedem Nicodemus verheimlicht wird — Nietzsche — z u r Verwirklichung unter unserem volke und allen Völkern mit führen zu sehn."/„Auch stimme ich Ihnen aus gefestigter Überzeugung bei, daß Aufgabe, Ziel, Richtung durch Nietzsche eigentlich festgelegt seien. Wie sehr, erkenne ich jetzt von T a g zu T a g mehr, wo ich mich seit Jahren gar nicht um ihn kümmere und w o meine Arbeit ihren letzten Entwicklungen und Folgerungen e n t g e g e n r e i f t . . . Zugegeben, daß Zarathustra die Axen des Weltalters gerichtet habe, so hat er sie doch zuletzt nur für sich gerichtet: für uns aber nur insofern, als wir sie uns abermals zu richten uns getrauen. Zugegeben, tausendmal zugegeben, es habe Nietzsche die (wörtlich verstandene) T a t des Erlösers gewirkt: so hat er sie nur f ü r sich gewirkt, weil und wofern kein Wesen ein anderes erlösen kann, es sei denn, dieses erlöse gleichermaßen sich selber. . . Bei aller wesentlichen Einhelligkeit mit Nietzsches T a t besteht doch zwischen ihm und mir eine tiefe, innerste Feindschaft, die zu leugnen von mir feig oder verlogen wäre. Von ihm trennt mich ein Katastrophismus, der meiner Art z u w i d e r l ä u f t . . . ich fühle mich aufs entschiedenste abgestoßen, wenn im späteren Nietzsche etwa eine polemische Heftigkeit, ja Gehässigkeit zutage tritt, die mir nicht gemäß sein kann. Aus demselben Grund ist mir auch der absurde Kampf gegen die deutsche Verlogenheit, den Nietzsche führt, nicht nachahmungswürdig . . ."/„Nietzsches vernichtender kämpf ist erkenntnistat nicht erkenntniswerk, ist sie einmal getan so darf sie niemand wiedertun aber ebenso wenig sich weiser dünken, die Spannung des vernichters hat eben tausendmal so starken druck und die tausendfache distance und diese tatsache wirkt in spräche gedanke urteil, wer wagt da mitzureden, ich selbst bin im höchsten grade bejahend, das kostet mich soviel daß ich bis zu beträchtlicher näherung die übermenschliche bejahung bei Nietzsche begreife innerhalb deren selbst die jähest scheinenden Verneinungen nur die schatten sind die dem lichte kraft geben, man muß nur alles bei Nietzsche aus dem ganzen funktionell lesen, dann empfängt man von jähr zu jähr größere erleuchtungen und kann eben nur Nietzsches und den eigenen weg gehn wie den der sonne und den eignen: da ist gegensatz wie nachahmung ausgeschlossen, die forderung ist nirgends nachfolge (sogar periodisches vergessen ist sehr gut) aber überall tieferes erfassen und damit höheres distancieren . .."), 116 (an Emil Staiger v. 13. 6. 1936: „Ich mußte mich jetzt mit dem nachgelassenen Schriftenkranz Nietzsches befassen, den er, dicht und vielblättrig, um die .Geburt der Tragödie' flicht, und glaube zu beobachten, daß es ihm genauso ergangen ist. So mißriet die Geburt der T r a g ö die aus dem Geiste der Musik — aber ein unbekannter Nietzsche entdeckte die .Geburt aus dem Mysterium', und jetzt hebt es an zu tagen.")
1911 Siegfried Lang
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Bringt so ziemlich den ganzen noch vorhandenen Briefwechsel um und mit dem V e r l e g e r E n g e l m a n n , der durch Bemühungen Nietzsches im J a h r e 1868 um die V e r l e g u n g von Rohdes Erstling hervorgerufen wurde und bis zu den Verhandlungen um D r u c k l e g u n g der „ G e b u r t " im Juni 1871 sich erstreckte. Im Erstdruck sind ein Dankesschreiben R o h d e s an Engelmann v. 30. 12. 1868 sowie zwei Schreiben Nietzsches an denselben v. Mitte und 28. 6. 1871 und ein Antwortschreiben von E n gelmann an Nietzsche, in dem er sich zur Ü b e r n a h m e der „Geburt" völlig bereit erklärte.
998 Oehler, Dr. Richard, Ist Nietzsche wirklich tot? (DTh 13. Jg., Bd. 1, H. 4 v. Jan. 1911, S. 554 ff.). T r i t t den Behauptungen Hemans (Nr. 9 9 2 ) entgegen und bringt dazu u. a. „eine nach Möglichkeit genaue Übersicht über die in B u c h f o r m oder als Zeitschriftenartikel seit 1901 erschienenen deutschen Nietzscheveröffentlichungen",
leider
aber nur nach den Gesamtzahlen eines jeden Jahres.
999 Gött, Emil, Gesammelte Werke. Hg. v. Roman Woerner. 1. Bd.: Gedichte, Sprüche, Aphorismen. C. H. Beck. Mchn. 1911. D a r i n : Randglossen zu Nietzsche, S. 161 — 194; G e d a n k e n g ä n g e / Charakteristiken, S. 1 4 9 — 1 5 3 ; G e d i c h t : An Nietzsche, S. 21.
BD Nietzsches Briefe / Ausgewählt und herausgegeben von / Richard Oehler / 1911 / Erschienen im Insel-Verlag, Leipzig. VIII, 377 S., 3 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Damals n o c h ungedruckt waren die Briefe 7, 8, 10 (an Mutter und Schwester), 63 (an Oswald M a r b a c h ) und 120 (an D r . Paneth).
BDa BDb
Dass. 6.—10. Tsd. Unverändert. Dass. 1 1 . - 2 0 . Tsd. 1917. VIII, 393 S., 3 Bll. ( = Vlgs.-anz.).
V e r m e h r t ist die S a m m l u n g um acht Briefe an O v e r b e c k aus dem inzwischen erschienenen Briefwechsel
sowie um einen ebenfalls schon gedruckten an die
Schwester.
Von einem nicht ganz alltäglichen Einfluß Nietzsches auf junge Gemüter erzählt der schweizerische Dichter Siegfried Lang: „Es war im Jahre 1911. Aus dem damals noch gefaßt in sich ruhenden Basel geschah, trotz Jacob Burckhardts nachwirkender Autorität, der Aufbruch einiger Jünglinge n i c h t n a c h I t a l i e n , sondern nach P a r i s . Den Anstoß hatte N i e t z s c h e gegeben, doch der Ästhetiker und Liebhaber Chopins, nicht der Philosoph; jener, der uns sagte: Geist sei nur noch bei den Franzosen des 18. Jahrhunderts zu finden; künstlerische Zucht bis zur Selbstverleugnung bei ihren Dichtern und Schriftstellern des 19. Jahrhunderts."558
358
S. L., Paris 1911, in: Du. Schweizerische Monatsschrift. Vlg. Conzett & Huber. Zürich. 8. Jg., Okt. 1948, S. 47; Lang, Siegfried, geb. am 25. 3. 1887 zu Basel, Lyriker.
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1911 „der große Wissende um den Kern der Dinge"
1000 Dallago, Carl, D a s Buch der Unsicherheiten. Streifzüge eines Einsamen. X e n i e n - V l g . Lpz. 1911. Das Buch enthält häufigere Erwähnungen Nietzsches, so auf S. 43 (Ähnlichkeit zwischen „der Lehre des Gekreuzigten und dem Schaffen des Dionysosjüngers"), 51 f., 78 (über die Liebe), 127 f. (über „Ecco homo"), 141 (Vergleich mit Spitteier und Segantini), 151 f. (Nietzsche, „der große Wissende um den Kern der Dinge", über die Frau), 165 f. („Ecce homo"; Nietzsche und Jesus), 174 („Napoleon als Vorläufer Nietzsches"), 175 (Nietzsche und Jesus), 178 f. (über das „fragwürdige" Bernoulli-Buch, „eine Zusammenstellung von hoffnungsloser Kurzsichtigkeit"), 186 f. (Nietzsche über Goethes „Faust"), 202 („So schaut seine Seele in gewissem Abstände als Allergrößte: Jesus und Nietzsche. Beide vollendete PariaTypen."), 204, 211 — 219 (Auseinandersetzung mit dem „Ubermenschen" und der „ewigen Wiederkehr"), 242 f. ( „ m e i n e M e n s c h e n " : Walt Whitman, Nietzsche, Segantini und Jesus von Nazareth). 1001 Barabás, Dr. Abel v., Nietzsche und Petöfi. (FZg Nr. 14 v. 14. 1. 1911). Nietzsche habe schon in seiner Jugend Petöfis „tiefsinnigen Gedankengängen in einer Weise" gehuldigt, „wie man sie nur bei einem reifen Menschen vermuten kann. Und eben hierin bekundet sich jene unnatürliche Reife, die bereits den Keim seines tragischen Schicksals in sich verborgen trug." Verfasser meint, er habe sogar in den Jahren 1858—64 „eine ungarische Periode" durchlebt: „Ihn fesselten gerade die Schöpfungen Petöfis, die einen pessimistischen Anhauch haben. Seine Seele war also mit Petöfi gesättigt, als er an die Philosophie Schopenhauers herantrat." Der ungarische Dichter habe „unzweifelhaft zu Nietzsches ersten Lehrmeistern auf dem Gebiete der Philosophie" gehört. Von einigem Belang dürfte folgende Bemerkung sein, die sich auf die Zeit kurz vor Nietzsches Berufung nach Basel bezieht: „Es erschien um diese Zeit nämlich ein auch in Ungarn nicht viel gewürdigtes Gedicht Petöfis, ,Feuer', in deutscher Übersetzung. Wir wissen von dem schon erwähnten Professor Hugo Meltzl v. Lomnitz, was für eine mächtige Wirkung es auf Nietzsche ausübte. Er hat es für eine der schönsten Perlen der Poesie gehalten." Der benannte Professor wird sonst nur an einer einzigen Stelle im Aufsatz erwähnt, als der „seit kurzem verstorbene Professor der deutschen Literaturgeschichte und Sprachwissenschaft an der Universität Klausenburg". 1001a Mit der Überschrift: Ein Nietzsche-Problem, auch in HFB1 7. Beil. z. Nr. 270 v. 16. 11. 1912, S. 29. Um etwa die Hälfte gekürzt und teilweise umgeschrieben, sonst, was Urteil und Folgerungen betrifft, unverändert. 1002 Leyen, Friedrich von der, Nietzsche und die deutsche Sprache. ( K w 24. Jg., H . 8 = 2. Jan.-heft 1911, S. 1 2 6 - 1 3 4 ) . Umreißt zunächst den Umfang von Nietzsches Einfluß auf die deutsche Sprache: an den seiner Sprache entliehenen „Schlagworten", die „im Kampf der öffentlichen Meinung um unsre sittlichen Zustände" nie „willkommene und gern geführte Waffen" geworden wären, „hätte nicht ein Mann, der zu kämpfen verstand, sie ge-
1911 „Philologe, nicht Künstler"
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schmiedet und g e f ü h r t " ; an den zu ihm Stellung nehmenden Dichtern und Schriftstellern, welche Stellungnahme „ein B a n d " sei, „das sie alle zusammenhält, viel fester, als sie es wohl selbst wissen"; an den eigentlichen Äußerungen zur deutschen Sprache selber. Zum letzten Punkt werden vor allem die „erste Unzeitgemäße" und der „Vortrag über die Zukunft unserer Bildungsanstalten" herangezogen. In der Schrift über Strauß findet Verfasser sowohl Erfreuliches wie auch Verletzendes: „Wir spüren darin leider auch schon jene marternde Q u ä l e r e i , durch die Nietzsche sich immer peinigt, wenn er gegen Werke und Menschen kämpft, die er für gefahrvoll für sich selbst hält . . . Aber wenn jemals, so war Nietzsches Zorn hier heilig und gerecht und entsprang aus der höchsten Auffassung von der deutschen Sprache." Uber die „ V o r w ü r f e " im obenerwähnten „ V o r t r a g " , die „heute ebenso richtig wie früher" seien, meint Verfasser, daß sie doch „nur einen T e i l " der Wahrheit treffen. Den ersten ernsthaften Einwand aber bringt Verfasser gegen Nietzsches Ablehnung der geschichtlichen Erforschung der deutschen Sprache. Hier erst wird ihm „Voreingenommenheit" vorgeworfen. An Nietzsches eigener Sprache findet er zudem, daß in der Streitschrift gegen Strauß dessen „Deutsch manchmal über das von Nietzsche H e r r g e w o r d e n " sei und daß er in seinem V o r t r a g „viel schlimmeren Versehen, Bildervermengungen und geschmacklosen Vergleichen" erlegen sei. N o c h der „Zarathustra" zeige „eine Reihe seltsamer, verstiegener, gewaltsamer und abstoßender Vergleiche". Durch den Einfluß seiner „Vorbilder und Meister" hafte seiner Sprache „eine schwankende Unruhe und eine starke Unausgeglichenheit an, die sie bis in seine letzten J a h r e behielt". V o n diesen Vorbildern erwähnt Verfasser, neben Schopenhauer und Wagner, noch Schiller, Brentano, Hölderlin, „die Zahlreihen des Buddhismus", die französischen Aphoristen und „vor allem die Sprache . . . Martin Luthers". Über den „Zarathustra" lautet dann das Gesamturteil recht vernichtend: er sei, „als Kunstwerk betrachtet, ein Werk von Verzerrungen, voll tiefer Unruhe und Zerrissenheit, das W e r k eines Mannes, der die erlahmenden K r ä f t e noch einmal aufpeitscht und seine Verzweiflung überlaut in die Welt ruft, damit man ihn endlich höre". Keines der Werke, die mit „Menschliches" beginnen und mit dem „Antichrist" schließen, „ist als Gesamtheit betrachtet, ein Kunstwerk". „Philologe, nicht Künstler, ist Nietzsche im Wesen bis an sein Ende geblieben." Die vereinzelten Worte der Anerkennung wirken überhaupt recht schwach, bis auf das G e b o t zum Schluß: „In uns wirke und walte seine Arbeit an sich selbst, die unablässig immer die g a n z e K r a f t einsetzte, die nichts hören wollte von Nachgiebigkeit und Halbheit, sie wirke belebend, stärkend und veredelnd !"
1003 Seillière, Ernest, Nietzsches Waffenbruder, Erwin Rohde. Herrn. Barsdorf. Bln. 1911. 1 . - 3 . Tsd. X I , 152 S., 6 Bll. (=Vlgs.-anz.). Verfasser beschäftigt sich mit R o h d e als einem, der wie Nietzsche zu Anfang „Neuromantiker" und geistvoller „Vertreter des ästhetischen Mystizismus" gewesen, aber „von den Lehren des Lebens bekehrt und dadurch in den Stand gesetzt" worden sei, „uns noch vor seinem allzu frühen Ende den übermäßigen dionysischen Mystizismus, der Nietzsches letzter Denkperiode seinen Stempel aufdrückt, in seinem wahren Lichte zu zeigen". D i e ersten Vorbehalte seinem Freunde und dessen Ansichten gegenüber treten bei Nietzsche gleich nach Erscheinen der „ G e b u r t " auf.
1911 Die betäubende Explosion des „direkten Denkens"
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Schon in dieser ersten Periode der Freundschaft o f f e n b a r e R o h d e eine „wahrhaft moralische Überlegenheit über seinen genialeren Freund . . . U n d denen von uns, die nicht die Stirn haben, bereits bei dem ersten Betreten ihrer Laufbahn das so leicht zu Unrecht behauptete Vorrecht des Genies sich a n z u m a ß e n , bietet er ein heilsameres und weniger schwindelerregendes Beispiel als Nietzsche, trotz seiner e r z i e h e r i s c h e n ' Ansprüche." Sonst stützt Verfasser sich bei seiner kaum Neues bietenden Darstellung auf die W e r k e von Crusius ( N r . 150) und Bernoulli (Nr. 696) sowie auf den Briefwechsel (P). 1004
Strecker,
Karl
(Berlin),
Neue
Nietzsche-Literatur.
(DLE
Bd. 13, 15. Jg., H . 8 v. 15. 1. 1911, Sp. 5 5 8 — 5 6 2 ) . Besprechung der W e r k e von G r ü t z m a c h e r ( N r . 941; der „nach einer objektiven und geklärten Darstellung von Nietzsches Lebensgang" sich auch als „ruhiger Polemiker und geschmackvoller Geist" erweise), E c k e n z (Nr. 943; ein im ganzen „wertvolles Buch voll Kunstgefühl, Einsicht und Verständnis"), Arnold (Nr. 944; der „mancherlei Anregung in dem klug, aber tendenziös geschriebenen D r u c k h e f t " biete, obwohl das „Buch trotz des Aufwandes von Belesenheit . . . f ü r die ernsthafte Literatur nicht sonderlich in Betracht kommt"), Fischer (Nr. 942; „ohne Frage das Platteste unter den hier angezeigten Büchern", in dem „die unfreiwillige Komik seiner Bilder . . . das einzig Ermunternde" sei) und Seillière (Nr. 1003; der „es sich nun freilich etwas bequem" mache: „Er gibt, abgesehen von Betrachtungen einiger W e r k e Rohdes, einen Auszug aus Crusius' W e r k und aus dem Briefwechsel Nietzsches mit Rohde.") 1005 U n g e r , Erich, N i e t z s c h e . 4 . 2 . 1911, S. 3 8 0 f., 388 f.).
(DSt
Bd. 1, N r . 48 f. v. 2 8 . 1 .
u.
Ein Loblied auf Nietzsche als den Schöpfer des „ Z a r a t h u s t r a " : „Durch irgend welche Zusammenwirkungen zeigt sich an dieser Erscheinung wie an keiner anderen f ü r unsere Augen das Schauspiel des Genies und das P h ä n o m e n steigert sich fast zu einer G r ö ß e , die psychologischem Erfahrungswissen entwächst und nur durch eine philosophische Anschauung umspannt werden kann, steigert sich zu einem Problem, dessen Lösung mit den Lösungen der letzten Fragen verwoben ist." Gegen die mittelbare, kritische A n w e n d u n g der Erkenntnisfähigkeit, die mit Kant ein großes Ubergewicht gewonnen habe, bedeute Nietzsche den Gegensatz, die betäubende Explosion des „direkten Denkens". Im „Willen zur M a c h t " und in der „Umwertung" sei er „vor sich selber" geflohen und habe „Rettung vor seiner gefährlicheigenen Gewalt" gesucht. „Aber seine innerste N a t u r w a r unfähig", dem „Zarathustra" den „logisch philosophischen G r u n d " zu bauen, „und statt dessen strömten aufs neue die G e d a n k e n , nur getragen durch die M a c h t der E m p f i n d u n g " . 1006
Friedlaender, D r . S., Friedrich N i e t z s c h e . E i n e
intellektuelle
Biographie. G. J. G ö s c h e n . Lpz. 1911. 149 S., 1 Bl. D e r „Augenpunkt", von dem aus Verfasser Nietzsche, und z w a r „nur das W e r den seines philosophischen Geistes", verstanden wissen will, ist ein neues Erleben der Unendlichkeit und deren Streben nach Gleichgültigkeit, nach Indifferenz. Gemessen werden Nietzsches Äußerungen dabei vor allem an den Einsichten Kants
1911 „ein Christ a u s tiefster Christlichkeit"
453
und Goethes. Die Werke werden der Reihenfolge ihres Entstehens nach vorgenommen, mitunter da „jedes frühere W e r k . . . immer bereits allegorisch für jedes spätere1* sei, „und Mitteilung überhaupt bei Nietzsche ein Anzeichen des Schwangergehens mit etwas noch Unmitteilbarem". Zum Einfluß Schopenhauers und Wagners und dessen Niederschlag in den beiden letzten „Unzeitgemäßen" heißt es: „ S o war das Größte, was Nietzsche wirklich vor allem Wagner und Schopenhauer verdankte, Nietzsche selber." Während in diesen frühen Schriften aber doch die Vorgänger, „die Griechen, das Christentum, Kant, Goethe, Schopenhauer, Wagner", „unverhohlen" durchschimmern, spiegeln sich in „Menschliches" „mehr und mehr Nietzsches eigene Z ü g e in den ersten blassen, aber unverkennbaren Zeichen". Im Z u s a m m e n h a n g mit der „ M o r g e n r ö t e " meint Verfasser über Kants Stellung zur Ethik: „ E r sagt nämlich d a s s e l b e w i e N i e t z s c h e in einem so kleinlauten, kleinbürgerlichen T o n f a l l , zugleich so christlich glockenhaft verhallend wie ein Echo von drüben hertönend, daß Nietzsche sich sein so leicht ekel werdendes Ohr zuhielt." Weiter zur „ M o r g e n r ö t e " : „ D a ß hier ein Christ a u s tiefster Christlichkeit sein Christentum aufzuheben logisch gedrungen ist: daß die christliche Moralität aus ihren eigensten Folgerungen auf sich verzichten muß, dadurch allein wird der Immoralismus dieses Buches so viel verhängnisvoller als die g a n z e bisherige moralistische Kritik und Skepsis." In der Behandlung der „Fröhlichen Wissenschaft" werden die ersten Einschränkungen g e m a c h t : „ D e r Entschluß zur e i g e n e n Unendlichkeit k o m m t heraus wie der zu einer . . . f r e m d e n : hierin sehen wir das Grundgebrechen des Nietzscheschen G e d a n k e n g a n g s und die allein echte Ursache seines jähen Absturzes und E n d e s . " U n d weiter d a z u : „. . . es ist schade, daß Nietzsches Wissenschaft eine Bitternis auf dem G r u n d e ihrer Fröhlichkeit beibehält, weil er eher bei Robert Mayer als bei G o e t h e nach Unendlichkeit sich erkundigte." Dennoch habe Nietzsche „so jauchzend übermütig . . . niemals wieder geschrieben. D a s Werk ist von einer rauschartigen Gesundheit und dabei so einfach! Es ist das Erlebnis einer Befreiung des Lebens von allen Verschuldungen hin zu einer u n b e d i n g t e n Reinheit und Unschuld." D e r g a n z e „Zarathustra" zittere „unter den Geburtswehen des Unendlichkeitsgedankens, des Gedankens aller G e d a n k e n , von welchem die armselige V e r n u n f t des Menschen s o lange bereits schwanger geht, von dem sie aber bisher nur supralunarische Mißgeburten oder tote Kinder zu Welt gebracht hat". N u r habe Nietzsche sich selber im W e g e gestanden: „ M a n darf nicht vom Weibe Endlichkeit sich geboren wähnen, wenn man wie Nietzsche das Weib Unendlichkeit freien, befreien will." — „ J e n s e i t s von Gut und Böse' ist das undogmatischste Buch, das es gibt, es krankt nur an diesem einen Fehler, der echt Nietzscheschen Krankheit, daß es sich nicht als die S p i e g e l s c h r i f t aller dogmatischen Vertrauensseligkeit erkennt, nämlich der platonisch-christlichen vor allem." — „ D e r Dogmatismus lernt durch Nietzsche besser s t e r b e n als jemals; der Skeptizismus durch ihn besser l e b e n als jemals: w o ist denn jenes geheime Etwas, das dem J a den K l a n g des Neins, dem N e i n den T o n des J a s so lange gibt, bis wir J e n s e i t s ' von J a und Nein beider H a r m o n i e hören? Unser G e h ö r müßte sich auf ein Jenseits von ,jenseits und diesseits' einstellen, um diesen Sphärenklang zu lauschen, den das Ohr Zarathustras hörte, ohne ihn zu vernehmen, zur Vernunft zu bringen." Die eigene Einstellung des Verfassers drückt sich vielleicht am deutlichsten in folgenden
1911 .Dionysismus aus Christentum"
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Worten aus: »Der peinliche Erdenrest Nietzsches war seine Abhängung vom U n endlichen als wie von etwas n i c h t Eigenem! Aber das Leben i s t unendlich; U n endlichkeit, Ewigkeit des Lebens läßt sich durch keine noch so iterative Repetition eines , E n d l i c h e n ' herstellen: Das Unendliche ist nicht iterativisch, sondern Squilibriseli, harmonisch, symmetrisch, magnetisch, p o l a r , kraft der reinsten, persönlichsten Indifferenz seiner Differenz, seiner Polarität." In der „Genealogie" sei Nietzsche „unserer Wahrheit der persönlichen Indifferenz des Unendlichen als des Nichts, der Grenze eines Richtungsunterschiedes mystisch nahegekommen, ohne sie sich besonnen aneignen zu können". Das letzte Werk, der „Wille zur Macht", sei „leider ein Torso" geblieben: „aber gegen ein solches Bruchstück sind die geordneten Systembauten der Philosophie nur Stückwerk". 35 '
1007 Olshausen, W. (Berlin), „In Sachen des Nietzsche-Archivs." Meine Erwiderung. (Eu Bd. 18, 1911, Nr. 2 f., S. 262—269, 574 — 579). Verfasser verteidigt sich gegen die „Polemik" von Oehler (Nr. 984) und besteht auf seiner Meinung, daß die Taschenausgabe „der Forschung zu nichts taugt". Hierauf antworteten Oehler (S. 267 ff.) und die Schwester (S. 574—578), worauf dann Olshausen wieder das Wort ergriff (S. 578 f.).
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Havenstein, Martin, (ZPhK Bd. 142, H. 2, 1911, S. 1 7 2 - 1 7 8 ) .
Eine Besprechung des Werkes von Gaede (Nr. 736), dessen Titel auf den ersten Blick befremde. D e m Verfasser müsse man aber schließlich „recht geben und anerkennen, daß seine Vergleichung ebenso sehr dem Verständnis des viel verkannten Schiller wie dem des noch mehr verkannten Nietzsche dient". — „Er ist freilich
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Über den Verfasser und das Werk schrieb Rudolf Pannwitz: „ich verkehrte viel mit dem bedeutenden philosophen und dichter Salomon friedländer dem ich später hin nicht verzieh daß er eine intellektuelle biographie des weltenschöpfers nietzsche geschrieben." R. P., Grundriß einer Geschichte meiner Kultur 1881 — 1906. F.L.Habbel. Regensburg 1921. S. a. das Werk von Friedländer: Schöpferische Indifferenz. G. Müller. Mchn. 1918. XXXII, 474 S. Mit Gleitworten sowie Anfang der „Vorrede" aus Nietzsche. Ausführenswert sind folgende drei Stellen: „Friedrich Nietzsche, der mit durchdringend hellem Auge den Charakter der Souveränität des Willens erblickt hatte und deren schreckliches Los inmitten einer Welt, welche so niederträchtig widerstrebend gehorsam, eine aufsässige Sklavin, das tückischste Objekt, verirrte sich leider physiologisch, als er dem schöpferischen Prinzip (.Übermensch') herrisch zur Inthronisation gegen alle allzumenschlichen Usurpationen verhelfen wollte" (S. XXII) ; In dem zweiten, „Skizzen" überschriebenen Teil des Werkes steht als erste der „Dionysismus". Darin heißt es, daß die "Reformation" der christlichen Idee „der göttlichen Liebe" aus ihrer eigenen unsterblichen Kraft eine Klimax in den Gestalten Luther, Kant und Nietzsche erreicht: „Aber auch auf dem Gipfel dieser Klimax wird das Christentum dionysisch. Diese Bedenklichkeit einer zunehmenden Verweltlichung der geistlichen Idee begegnet Luther naiv und primitiv, Kant, man möchte sagen diplomatisch. Erst Nietzsche mit tragischer Energie und Offenherzigkeit, zu der es gehört, daß er, von sich aus, Luther und Kant in Acht und Bann Tat. Ob aber, ohne die scheinbaren Reaktionen eines Luther und Kant, der Dionysismus der Renaissance das Niveau .Zarathustra' erreicht haben würde, mag man überlegen" (S. 152); „Der Dionysismus hat im Christentum seine eigene embryonale Form wiederzuerkennen. Im echten Christen, zum Beispiel im Meister Eckart mit seinen verwunderlich dionysischen Akzenten, erschließt die Tiefe des christlichen Erlebnisses endlich von selbst das dionysische Mysterium. Das war ja auch der Fall Nietzsches: Dionysismus aus Christentum" (S. 156 f.).
1911 Otto Dix
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bei seiner V e r g l e i c h u n g der naheliegenden G e f a h r nicht g a n z e n t g a n g e n , T r e n n e n des zu übersehen o d e r doch nicht scharf genug zu sehen." W a s „die Stärke und die H a r m o n i e der K r ä f t e " b e t r e f f e , sei f ü r Schiller „die H a r m o n i e weit wichtiger, f ü r N i e t z s c h e die Stärke, ein Unterschied, der keineswegs nebensächlich ist". D u r c h den Vergleich gewinne Schiller an K r a f t , aber „noch m e h r g e w i n n t " N i e t z s c h e : „Er wird ja wegen einiger U b e r t r e i b u n g e n u n d P a r a d o x i e n , mit denen er eine schwächliche Zeit vor den Kopf stoßen wollte, noch immer von vielen f ü r einen Anwalt der A n a r c h i e und der Gewissenlosigkeit gehalten. N i e m a n d e s N a c h b a r s c h a f t kann ihn g e g e n eine solche V e r k e n n u n g w i r k s a m e r schützen als die Schillers . . . Ein so abger u n d e t e s widerspruchsloses Nietzschebild wie das Gaedesche ist bisher nicht gezeichnet w o r d e n . " A b z u l e h n e n sei jedoch die Gleichsetzung des Naiven und Sentimentalischen Schillers mit d e m Apollinischen und Dionysischen Nietzsches. 1008a A u c h in T a t 4. J g . , H . 5 v. A u g . 1 9 1 2 , S. 2 4 7 f f . Stark v e r k ü r z t , doch im Urteil unverändert. 1009 D e r s . , ( Z P h K Bd. 1 4 2 , H . 2, 1 9 1 1 , S. 1 8 2 - 1 8 5 ) . Eine äußerst a n e r k e n n e n d e Besprechung des W e r k e s von Richter ( N r . 275a), seit dessen Erscheinen in erster A u f l a g e „niemand m e h r das R e c h t " habe zu b e h a u p ten, „Nietzsche sei ein Philosoph, dessen D e n k e n die Geschlossenheit u n d der logische Fortschritt von einer S t u f e z u r a n d e r n fehle". In vorliegender zweiter Auflage habe V e r f a s s e r Nietzsche noch „ m e h r Gerechtigkeit w i d e r f a h r e n " lassen: „ N u r mit der Lieblingsidee Nietzsches, der ewigen W i e d e r k u n f t des Gleichen, hat sich Richter auch jetzt nicht b e f r e u n d e n k ö n n e n , wie ich finde, aus guten G r ü n d e n . " G e f r a g t , o b „das s o z i a l e E l e n d breiter S c h i c h t e n " in d e r Z e i t v o r d e m W e l t k r i e g ihn „nicht a u c h " w i e e t w a G e o r g G r o s z „in ein p o l i t i s c h e s E n g a g e m e n t getrieben" habe, antwortete O t t o D i x : „ N e i n , ich Schloß m i c h k e i n e m p o l i t i s c h e n P r o g r a m m a n , e r t r u g w a h r s c h e i n l i c h d i e s e P h r a s e n nicht. W e n n d i e n u r k a m e n u n d u n s e t w a s e r z ä h len w o l l t e n , w a r es s c h o n a u s bei mir. I c h w o l l t e m i c h n i c h t e i n s p a n n e n lassen. W i r w a r e n N i h i l i s t e n , w a r e n g e g e n a l l e s . S c h o n 1911 h a b e ich N i e t z s c h e g e l e s e n u n d m i c h g r ü n d l i c h mit s e i n e n A n s i c h t e n b e f a ß t . D a r u m h a t es m i c h a u c h s o e r b o s t , als d i e N a z i s ihn f ü r sich in A n s p r u c h n a h m e n — , ihn mit ihrer totalitären M a c h t t h e o r i e v ö l l i g f a l s c h v e r s t a n d e n . . . v e r s t e h e n wollten." 3 6 0 360 Setzei, Maria, Atelierbesuche. XX. Professor Otto Dix. Ein harter Mann, dieser Maler (In: Diplomatischer Kurier. Köln. 14. Jg., H. 8 v. 21.4. 1965, S. 740). Das Heft enthält auch eine gute Abbildung der von Dix 1912 geschaffenen und seit 1939 verschollenen Nietzsche-Büste (S. 734). Dietrich Schubert schrieb: „Wir wissen von seiner Frau und von Löffler, daß Dix vor allem die .Fröhliche Wissenschaft' las und als d a s Buch gepriesen hat, ferner den .Zarathustra* und .Menschliches, Allzumenschliches'." (D. S., Otto Dix in Selbstzeugnissen u. Bilddokumente dargestellt, rowohlts monographien Nr. 287 [Reinbeck b.Hamburg 1980], S. 14). Überhaupt verfolgt und betont Schubert den Nietzscheschen Einfluß in dem Werk von Dix. Georg Grosz schrieb in einem Brief vom 23. 8. 1931 u. a. über einen Besuch von Dix: „Wir sprachen sehr nett über vieles, auch Persönliches, was Arbeit und so betrifft, er schien mir fast, kann ich sagen, gewissermaßen, gebildeter' und belesener geworden zu sein . . . Er sagte mir, er lese jetzt viel Nietzsche. Auch erstaunte es
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1911 „die Zeit der stilleren, tieferen Wirkung beginnt"
1010 Soergel, Albert, Dichtung und Dichter der Zeit. Eine Schilderung der deutschen Literatur der letzten Jahrzehnte. R. Voigtländer. Lpz. 1911. XII, 892 S. m. 345 Abb. Über Nietzsche auf S. 4 1 1 - 4 4 4 und sonst an vielen verstreuten Stellen. Z u m S c h l u ß des Kapitels, in d e m H u y s m a n s , V e r l a i n e , M a u p a s s a n t , V e r h a e ren, d ' A n n u n z i o u n d M a e t e r l i n c k u n t e r d e r A u f s c h r i f t „ L o s v o m
Naturalismus"
dargestellt w e r d e n , u n d als U b e r l e i t u n g z u m N i e t z s c h e G e w i d m e t e n stehen die W o r t e : „ E i n e a l l g e m e i n e B e d e u t u n g wie Z o l a , wie Ibsen f ü r die v e r g a n g e n e Zeit h a t von d e n vielen . A n r e g e r n ' n u r einer g e h a b t : kein A u s l ä n d e r d i e s m a l , s o n d e r n ein D e u t s c h e r , d e r alles w a r , w a s die Z e i t sein wollte, S y m b o l i s t , N e u r o m a n t i k e r , N e u idealist — Friedrich N i e t z s c h e . " D i e v e r h ä l t n i s m ä ß i g s a c h l i c h e D a r s t e l l u n g e r f o l g t rein nach d e r lebens- u n d w e r k g e s c h i c h t l i c h e n Z e i t f o l g e . W i e w i c h t i g d e r G e g e n stand d e m V e r f a s s e r j e d o c h ist, b e z e u g t d e r U m f a n g d e r B e h a n d l u n g , die, k n a p p h i n t e r d e r H a u p t m a n n s , a m z w e i t u m f a n g r e i c h s t e n im g a n z e n W e r k ist. Verfassers" a u s g e w o g e n e s Urteil ü b e r d e n „ Z a r a t h u s t r a " sei hier a n g e f ü h r t , nicht n u r weil es als beispielhaft f ü r die E i n s t e l l u n g zu N i e t z s c h e ü b e r h a u p t g e l t e n k ö n n t e , s o n d e r n a u c h um einen V e r g l e i c h mit d e m d e r N e u a u f l a g e z u e r l e i c h t e r n : „In e i n e r s ü ß e n Flut s c h a u k e l n diese R h y t h m e n . Alle T e m p i w e r d e n g e m e i s t e r t . . . S o r h y t h m e n r e i c h die Zeilen, so klangvoll sind sie. E i n e z ä r t l i c h e Liebe g e h t k o s e n d mit d e m W o r t e u m : was Z a r a t h u s t r a von d e n D i n g e n sagt, t r i f f t a u c h f ü r viele W o r t e z u : A m B o r n e d e r E w i g k e i t jenseits von G u t u n d Böse sind sie g e t a u f t , — w i e d e r g e t a u f t . S c h a d e n u r , d a ß sie o f t t y r a n n i s i e r e n , ein selbständiges Leben a u ß e r h a l b des S a t z e s b e g i n n e n , d a ß N i e t z s c h e mit W o r t u n d W o r t g r u p p e n spielt, d e n T a u s c h d e r Silben u n t e r e i n a n d e r , das klangvolle W o r t s p i e l z u m Sinnspiel m a c h t , z u m F i n d e r g e s u c h t e r G e d a n k e n . " H i e r m i t leitet d a n n V e r f a s s e r z u r D a r s t e l l u n g des „ R o m a n t i k e r s " in N i e t z s c h e ü b e r u n d v e r w e n d e t z u d e s s e n K e n n z e i c h n u n g die e i g e n e n auf W a g n e r g e m ü n z t e n W o r t e . W i r k u n g s g e s c h i c h t l i c h v o n B e l a n g ist die A n s i c h t des V e r f a s s e r s ü b e r das J a h r z e h n t 1 9 0 0 — 1 9 1 0 : „ E b e n s o , wie die V o r h e r r s c h a f t e i n e r e i n z e l n e n S t a d t (d. i. Berlin), b e g i n n t a u c h die V o r h e r r s c h a f t eines e i n z e l n e n geistigen F ü h r e r s z u weic h e n , als d e r N i e t z s c h e eine Z e i t lang galt. D i e Z e i t s e i n e r b l i n d e s t e n V e r e h r u n g ist vorüber, der Übermensch d a n k einer kunstminderwertigen, grobäußerlichen Popul a r i s i e r u n g s d i c h t u n g fast in M i ß k r e d i t ; die Z e i t w i s s e n s c h a f t l i c h e r A r b e i t a m N i e t z s c h e p r o b l e m , die Z e i t d e r stilleren, t i e f e r e n W i r k u n g b e g i n n t . " (S. 683) An sonstigen Stellen (s. d. N a m e n v e r z e i c h n i s ) b r i n g t V e r f a s s e r N i e t z s c h e in Z u s a m m e n h a n g mit C o n r a d , A r e n t , C o n r a d i , d e m V e r e i n „ D u r c h " , D o s t o j e w s k i , H a r d e n , S t r i n d berg, Maurice von Stern, Wilhelm von Polenz, Marie Janitschek, Lou Andreas-Salomé, Carl H a u p t m a n n , d ' A n n u n z i o , Bahr, Bierbaum, W a l t W h i t m a n ,
Morgen-
stern, D e h m e l , S c h l a f , P r z y b y s z e w s k i , W i l h e l m W e i g a n d , S p i t t e i e r , A d o l f Bartels, Emil S t r a u ß , T h o m a s M a n n , R u d o l f H u c h u n d W e d e k i n d . 3 6 '
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mich angenehm, daß er über seine eigene Produktionskrise sehr wohl Bescheid wußte." (G. G., Briefe 1913—1959. Hg. v. Herbert Knust. Rowohlt [Reinbeck b. Hamburg 1979], S. 127). S. a. die Stelle in einem Brief v. 13. 12. 1948: „Dix beschäftigte sich ,rührend' auch mal mit Nietzsche, dem Übermenschen (wir lachten Tränen) — das war so um 1880, bevor er Professor wurde" (Ebd., S. 420). Soergel, Albert (Chemnitz 15. 6. 1880 — ebd. 27. 9. 1958), Literaturgeschichtler.
1911
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1010a Dass. 3., unveränderter Abdr. 1 5 . - 1 9 . Tsd. 1916. Was N i e t z sche betrifft, unverändert. 1010b Dass, (jetzt:) A l b e n Soergel — Curt H o h o f f , Dichtung und Dichter der Zeit. V o m Naturalismus bis zur Gegenwart. l . B d . A. Bagel. Düsseldorf ( 1 1 . - 2 0 . Tsd. d. Neubearbeitung 1964). 893 S., IBI. Über N i e t z s c h e auf S. 340 — 370. Gleich die erste Erwähnung Nietzsches verrät die neue Einschätzung, die weitaus breitere Wirkung und darausfolgende Wichtigkeit, wenn auch unter fast ausschließlicher Betonung des richtenden, verurteilenden Amtes: „Bei ihm ist das Gefühl deutlich entwickelt, daß die alten Werte unwiederbringlich verloren seien; Klassik, Philosophie, Christentum, Bildung unterzog er einer vernichtenden Kritik, und sie kam mit ihrer Tendenz, dem Fallenden einen beschleunigenden Stoß zu geben, dem allgemeinen Zug der Zeit entgegen, etwas Neues zu wollen und zu wagen . . . Man überhörte die selbstkritischen und besonnenen Untertöne; man nahm die große Pose für das Wesen, und so wurde Nietzsche für zwei und drei Generationen, bis weit in den Expressionismus der zwanziger Jahre hinauf, der Prophet des Jahrhunderts. Er ist für Deutschland und Europa eine Schlüsselfigur ersten Ranges." (S. 15) Ähnlich lautet es gegen Schluß der eigentlichen Darstellung Nietzsches: „Im allgemeinen kann man sagen, daß erst die nach 1900 geborenen Generationen sich langsam dem Sog Nietzsches entziehen konnten — mit andern Worten, kein Autor der modernen Zeit hat so auf die zeitgenössische Literatur gewirkt wie Nietzsche . . . Die Ideen des Übermenschen, des .Lebens', das angebliche Evangelium von der ,blonden Bestie', Nietzsches Bemerkungen über Rasse, Deutschtum, Europäertum, Herren- und Sklavenmoral, über den Nihilismus haben Köpfe berauscht, die kaum in der Lage waren, Nietzsches Perspektivismus zu verstehen . . . Die Wirkung Nietzsches ist also ein literarisches Ereignis! N u r weil Nietzsche der seit Heine größte Prosaschriftsteller Deutschlands war, konnte seine geistige Revolution solche Folgen haben." Es ist dann kein Wunder, daß dem Verfasser die „Unzeitgemäßen Betrachtungen" Nietzsches „Meisterstück, Anfang der europäischen Zeitkritik in jenem rasanten Stil" sind. Hier sei dann auch das Urteil über den „Zarathustra" angeführt: „. . . die dichterische Form ist. . . so peinlich und unzulänglich wie bei den meisten modernen Konkurrenten Dantes . . . Das Pathos ist leer, als habe Nietzsche . . . das Gefühl für den eigenen Stil verloren . . . In der formalen Schwäche des Werks ist freilich sein Erfolg mitbegründet, den es bei den sonst sehr philiströsen deutschen Intellektuellen hatte. Nirgends hat der große Psychologe Nietzsche so an der Realität des Menschen vorbeigesehen wie in der knabenhaften Konzeption des Übermenschen." Die zusammenhängende Darstellung steht an Umfang nur denen von Hauptmann und Hofmannsthal, die beide gewaltig angewachsen sind, nach. Die Beleuchtung der Zusammenhänge bei Strindberg, Dostojewski, Thomas Mann und Lou Andreas-Salomé hat sich merklich vertieft; in ihrem Verhältnis zu Nietzsche neudargestellt werden Holz, Paul Ernst, Richard Schaukai, Gobineau, Oscar Wilde, Klages, Schuler, Wolfskehl, Friedrich Gundolf, George, Pannwitz, Rudolf Paulsen, Alfred Mombert, Walter Calé, Gustav Frenssen, Her-
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1911 Ein „Schüler und Fortsetzer Langes"
m a n n Burte u n d H e i n r i c h M a n n . Zu den vier Abbildungen d e r Erstausgabe sind fünf weitere sowie zwei H a n d s c h r i f t p r o b e n h i n z u g e k o m m e n .
1011 Vaihinger, Hans, Die Philosophie des Als ob. System der theoretischen, praktischen und religiösen Fiktionen der Menschheit auf Grund eines idealistischen Positivismus. Mit einem Anhang über Kant und Nietzsche. Reuther & Reichard. Bln. 1911. X X X V , 804 S., 2 BU. ( = Vlgs.-anz.). Darin auf S. 771—790: Nietzsche und seine Lehre vom bewußt gewollten Schein; sonst wird Nietzsche auf S. 720, 722 erwähnt. Im V o r w o r t nennt Verfasser vier „ M o m e n t e " , die ihn z u r V e r ö f f e n t l i c h u n g der schon vor einem Menschenalter entstandenen Schrift" veranlaßt haben. Zum dritten, der „Philosophie von Friedrich Nietzsche, die in den 90er J a h r e n ihren Siegeslauf um die W e l t b e g a n n " , heißt es: „Als ich E n d e der 90er J a h r e Nietzsche las, dem. ich bis dahin, d u r c h falsche s e k u n d ä r e Darstellungen abgeschreckt, fern geblieben w a r , e r k a n n t e ich zu meinem freudigen Erstaunen eine tiefe V e r w a n d t s c h a f t der g a n z e n Lebens- und W e l t a u f f a s s u n g , die teilweise auf dieselben Quellen z u r ü c k geht: S c h o p e n h a u e r u n d F. A. Lange. D a m a l s , als ich Nietzsche, diesen großen Befreier, kennen lernte, f a ß t e ich den Entschluß mein im Pulte liegendes W e r k , dem die Rolle eines O p u s P o s t u m u m z u g e d a c h t w a r , doch noch bei Lebzeiten erscheinen zu lassen. D e n n ich d u r f t e nun h o f f e n , d a ß der P u n k t , auf den es mir a n k a m , die Lehre von den bewußtfalschen, aber d o c h n o t w e n d i g e n Vorstellungen, eher Verständnis finden w e r d e , da er auch bei Nietzsche sich findet: freilich bei ihm nur als e i n e r der vielen T ö n e seiner reichen, p o l y p h o n e n N a t u r , bei mir als ausschließliches H a u p t p r i n z i p . . . " (S. X ) Im letzten Teil des W e r k e s , „Historische Bestätig u n g e n " , wird an vier V o r g ä n g e r angeschlossen: an K a n t , Forberg, Lange und schließlich an N i e t z s c h e : „Nietzsche u n d seine Lehre vom bewußtgewollten Schein (der ,Wille z u m Schein')", S. 771—790. V e r f a s s e r geht von d e m S t a n d p u n k t aus, d a ß man Nietzsche „in der Lehre v o m Schein direkt als einen Schüler und Fortsetzer Langes" bezeichnen müsse. M a n habe den von L a n g e vermittelten „Kantischen, o d e r w e n n man lieber will, N e u k a n t i s c h e n U r s p r u n g der Nietzscheschen Lehre bisher vollständig v e r k a n n t " . U n t e r den „Jugendschriften" legt er g r o ß e n W e r t auf das „ m e r k w ü r d i g e " Bruchstück „Uber die W a h r h e i t und Lüge im außermoralischen Sinne", in d e m alle f r ü h e n Ansätze „gipfeln". In den Schriften der „mittleren o d e r Ü b e r g a n g s p e r i o d e . . . vertiefen" sich „die bisher g e w o n n e n e n Einsichten an einzelnen P u n k t e n " . V o n den Schriften der „dritten P e r i o d e " seien vor allem die N a c h laßbände von Belang. In diesen findet V e r f a s s e r Ä u ß e r u n g e n , die „ V o r b o t e n einer weiteren, letzten Entwicklungsperiode" seien: „Nietzsche w ä r e unfehlbar auf den W e g gelangt, welchen d e r von ihm so sehr mißverstandene K a n t eingeschlagen hat, und auf welchem auch F. A. Lange wandelte, von welchem Nietzsche in seiner Jugend so stark beeinflußt w a r : er hätte den ,Antichrist' nicht z u r ü c k g e n o m m e n , dessen einschneidende W a h r h e i t e n einmal gesagt w e r d e n m u ß t e n , aber er hätte ,die Kehrseite der schlimmen D i n g e ' mit derselben rücksichtslosen O f f e n h e i t ans Licht gestellt: er hätte die N ü t z l i c h k e i t u n d N o t w e n d i g k e i t der religiösen Fiktionen g e rechtfertigt'."
1911 „der Baumeister der modernen Seele" 1011a verändert.
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D a s s . 2. durchgeseh. A u f l . 1913. W a s N i e t z s c h e betrifft, un-
1011b D a s s . 7. u. 8. Aufl. F. Meiner. Lpz. 1922. W a s N i e t z s c h e betrifft, unverändert. 1012 Oehler, D r . Richard, N i e t z s c h e als Bildner der Persönlichkeit. V o r t r a g . F. Meiner. L p z . (1911). 31 S. Schaffende Denker und „Sprecher ihrer Zeit" sind dem Verfasser Plato, Leibniz, Sokrates, Aristoteles, Spinoza, Kant und Schopenhauer, deren Bedeutung „weniger in dem absoluten Wert ihrer theoretischen Erkenntnisse als in der persönlichkeitsbildenden Wirkung auf ihre Zeitgenossen" liege. Aus dem Kreis des letzteren habe „sich bald die überragende Gestalt seines größten Schülers, Friedrich Nietzsches", erhoben, „der den Meister ablöste und seiner Zeit den Stempel seiner selbständigen Persönlichkeit aufdrückte". „Die neue Lehre ist mehr als irgend eine andere geeignet, Persönlichkeiten zu bilden", denn „im Mittelpunkt steht immer der Mensch mit seinem jetzigen Sein, seinem Werden, seiner Zukunft, seinen Zielen". „Die Persönlichkeit des modernen Menschen vor dem Untergang unter dem Wust veralteter Wertschätzungen, überflüssigen Kulturmaterials und erdrückenden Wissensstoffes zu retten, das bildet einen wesentlichen Bestandteil seines lebenslänglichen Schaffens." Als „Neuschöpfer" zeige er sich „in seiner ganzen überragenden Bedeutung" auf dem Gebiete der Psychologie, unter deren Zeichen „unsere Zeit" stehe: „Nietzsche als Psychologe ist der Baumeister der modernen Seele, der modernen Persönlichkeit. Er ist der Sokrates unserer Zeit." Seine Lehre gipfele „in einer grandiosen Stimmung der Toleranz gegenüber individueller Selbständigkeit. Jeder suche sich den Weg, der ihn zum höchsten Gefühl des Daseins führt . . 1013 Friedrich, Paul, N i e t z s c h e und wir. (In: D e u t s c h e Renaissance. Ges. A u f s ä t z e . X e n i e n - V l g . L p z . 1911, S. 191 — 198). Eine zweischneidige, eher verneinende Würdigung Nietzsches, der „die lebendige Natur . . . nur als grausam und sinnlos empfand". Verfasser verweist auf die Schrift von Ewald, „Gründe und Abgründe", in der der alte Dualismus wieder zu ehren gebracht werde, der ethische „Dualismus von Freiheit und Unfreiheit, Scheinwert und Seinwert". „Auch Verfasser . . . hat versucht, eine neue Philosophieanschauung der ,Einheit alles Mannigfachen' glaubhaft zu gestalten." „Allüberall" sei „ein tief-religiöses Sehnen nach einer neuen seelischen Befriedigung. In einer solchen zum Ganzen strebenden Zeit muß ein agitatorischer Prediger wie Nietzsche sehr zurücktreten. Alle fühlen es, aber damit, daß er als ,Gefahr' überwunden ist, ist er selbst noch lange nicht abgetan." 1014 Hilbert, G e r h a r d , M o d e r n e Willensziele. D e r Wille z u m Nichts: Arthur S c h o p e n h a u e r / D e r Wille z u r M a c h t : Friedrich N i e t z s c h e / Der Wille zur F o r m : Ernst H o r n e f f e r / D e r Wille z u m G l a u b e n : H a m l e t . A. Deichert. L p z . 1911. 1 Bl., 80 S. Z u N i e t z s c h e auf S. 1 9 — 3 6 . Wes Geistes Kind Verfasser ist, drückt sich deutlich in folgenden Sätzen aus: „Gewiß liegt eine Wahrheit in Nietzsches Protest gegen die radikale Verneinung des Sinnenlebens und der Sinnenwelt; aber damit trifft er nicht das evangelische
1911 „das Faustische Ungenügen"
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C h r i s t e n t u m , s o n d e r n die k a t h o l i s c h e Sittlichkeit u n d d i e L e h r e n I n d i e n s , S c h o p e n h a u e r s , T o l s t o i s . N i c h t E r t ö t u n g , a b e r B e h e r r s c h u n g d e s sinnlichen Lebens d u r c h d e n G e i s t — so will es C h r i s t u s . " D a ß N i e t z s c h e , bei e i n i g e r hier a n g e d e u t e t e r A n e r k e n n u n g , d o c h v e r w o r f e n w i r d , d ü r f t e k a u m W u n d e r n e h m e n . E r wolle „Selbsts u c h t u n d H e r r s c h s u c h t " u n d w ü t e g e g e n „ G e i s t i g k e i t u n d Liebe". In d e m A b s c h n i t t ü b e r H o r n e f f e r f e r t i g t V e r f a s s e r d i e s e n als S c h ü l e r N i e t z s c h e s a b , d e r v e r s u c h e , „ N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e im W i d e r s p r u c h mit des M e i s t e r s W i l l e n z u p o p u l a r i s i e ren". „Inhaltlich b e t r a c h t e t a b e r ist seine P h i l o s o p h i e nichts a n d e r e s als: die P h i l o s o phie des Philisters. W i e s e h n t m a n sich hier z u r ü c k n a c h N i e t z s c h e s heiligem U n g e n ü g e n am M e n s c h e n : d e r Beste ist n o c h e t w a s , das ü b e r w u n d e n w e r d e n m u ß ! . . . D a s faustische U n g e n ü g e n N i e t z s c h e s ist z u r S e l b s t z u f r i e d e n h e i t des Philisters geworden."
1014a
Dass. 2. Aufl. 1919. 64 S., 4 Bll. ( = Vlgs.-anz.).
U b e r N i e t z s c h e , S. 22 — 40, u n v e r ä n d e r t ; d e r d r i t t e A b s c h n i t t , ü b e r H o r n e f f e r , " ist w e g g e f a l l e n .
1015 Strugurescu, George (Licenziai d. Philos, u. d. Rechte aus Bukarest), Max Stirner. Der Einzige und sein Eigentum. Mchn. 1911. 2 Bll., 61 S., 1 Bl. ( = Lebenslauf). 362 Als H a u p t g r u n d z u r W i e d e r e r s c h e i n u n g S t i r n e r s , n e b e n e i n e r „ A n n ä h e r u n g der Stirnerschen G e d a n k e n an die T e n d e n z e n und G e f ü h l e der G e g e n w a r t " , f ü h r t V e r f a s s e r a n : „Es ist u n s allen g e l ä u f i g , d a ß N i e t z s c h e in d e n a c h t z i g e r u n d n e u n z i g e r J a h r e n einen u n g e h e u r e n W i d e r h a l l in D e u t s c h l a n d g e f u n d e n h a t t e . B e s o n d e r s s c h a u t e die J u g e n d mit B e g e i s t e r u n g zu i h r e m M e i s t e r a u f . Sie b e w u n d e r t e n in ihm nicht n u r d e n tiefen D e n k e r u n d D i c h t e r , s o n d e r n a u c h d e n m u t i g e n Geist, d e r sich g e g e n alle b e s t e h e n d e n m o r a l i s c h e n S a t z u n g e n e r h o b e n h a t t e . M a n b e r a u s c h t e sich an d e n N i e t z s c h e s c h e n G e d a n k e n u n d b r a c h t e vielleicht d a d u r c h eine G e g e n s t r ö m u n g h e r v o r . V e r n ü n f t i g e M ä n n e r m a c h t e n sich d a r a n , die v e r s c h i e d e n e n G r u n d g e d a n k e n e i n e r s a c h l i c h e n K r i t i k z u u n t e r w e r f e n . Z u e r s t w u r d e die O r i g i n a l i t ä t N i e t z s c h e s g e p r ü f t . Z u d i e s e m Z w e c k e u n t e r s u c h t e m a n die d e u t s c h e P h i l o s o p h i e u n d d a stieß m a n auf S t i r n e r , d e r s e h r viel A h n l i c h e s mit N i e t z s c h e a u f w i e s . M a n stellte V e r g l e i c h e auf u n d es f a n d e n sich D e n k e r ( d a r u n t e r a u c h H a r t m a n n ) , d i e beh a u p t e t e n , S t i r n e r w ä r e ü b e r h a u p t N i e t z s c h e u m vieles ü b e r l e g e n , w a s w i e d e r u m a n d e r e mit E n e r g i e z u r ü c k w i e s e n . " V e r f a s s e r sieht in d e m W e r k S t i r n e r s „eine R e a k t i o n g e g e n H e g e l s P a n l o g i s m u s , . . . g e g e n die d a m a l i g e D e s p o t i e , w e l c h e d a s Ind i v i d u u m k n e b e l t e " , u n d d e n „ A u f s c h r e i des Fleisches, des sinnlichen M e n s c h e n g e g e n d e n Geist . . ., g e g e n sich selbst, i n d e m er d e n h y p e r s e n s i b l e n , willenlosen u n d u n p r a k t i s c h e n M e n s c h e n , d e r S t i r n e r w a r , d e n g e f ü h l l o s e n , b r u t a l e n u n d willkürlic h e n E g o i s t e n e n t g e g e n s e t z t e " . D i e A r b e i t ist d e m „ h o c h v e r e h r t e n L e h r e r . . . T h e o d o r Lipps d a n k b a r z u g e e i g n e t " .
362
Strugurescu, George, geb. am 21. 10. 1875 zu Bukarest.
1911 „ a u c h für die P ä d a g o g i k unserer Zeit ein Ereignis"
461
1016 J o n k o f f , T h o d o r , Nietzsches Idee vom Übermenschen als Erziehungsideal. Gebr. Leemann. Zür. 1911. 102 S., 2 Bll. ( = Lebensabriß u. Berichtigungen). ( = Diss. d. Univ. Zürich). Die Arbeit beschränkt sich auf die „dritte und letzte" Periode von Nietzsches S c h a f f e n , d. h. auf die J a h r e 1883 — 88, und möchte eine Verfahrensweise anwenden, die zwischen demjenigen von Riehl (5. Aufl.; s. Bd. I), bei dem „man ins Extrem verfallen und alle Gedankenreihen in unsinnige Widersprüche auflösen" könne, und dem von Richter ( N r . 275a), bei dem die Gefahr naheliege, „den Gedanken des Autors Gewalt anzutun und eigene Meinungen in die objektive Interpretation hineinzulegen", liege. Er streift auch Th. Zieglers „vernichtenderen Ang r i f f " auf Nietzsche (s. Bd. I) und wirft Weber (Nr. 594) vor, er verkenne „die p ä d a g o g i s c h e Bedeutung der dritten E p o c h e " . Zunächst stellt er in Ubereinstimmung mit Richter fest, daß Nietzsche sich „wohl gegen den historischen Sinn des Begriffes Religion, aber nicht gegen sein W e s e n " sträube. Seine „Religionsphilosophie" sei „kritisch und realistisch g e f ä r b t " , „auf radikale Weise atheistisch". N a c h eingehender Behandlung der Krankheit als möglicher Wurzel des Ubermenschen, schließt er mit der Meinung, daß Nietzsche dieses „Ideal . . . frei von jeder Absicht, irgend welches soziale Bedürfnis zu befriedigen", erlebt habe. Es folgen die verschiedenen Entwicklungsstufen des Ubermenschen, als „ U b e r - A r t " im „Zarathustra", als „höherer T y p u s M e n s c h " im „Jenseits" und als „Ausnahme-Mensch" in der „ G ö t z e n d ä m m e r u n g " , dem „Antichrist" und „ E c c e homo". Zur Erreichung des Zieles müsse man dann die Forderungen untersuchen, die Nietzsche an den „ K ö r p e r " , an den „Intellekt" und an den „Willen" stelle. Der an den K ö r p e r wäre genüge getan mit dem „Militärdienst nach preußischem Muster". D e r Intellekt müsse „bei aller seiner Entwicklung dem Willen unterworfen" bleiben, „als ein Mittel und Werkzeug — und sich nie z u m Z w e c k , z u m Selbstzweck" erheben. Was den Willen betreffe, so sei dessen Bildung letztes Ziel „Erziehung zum Gehorchen und Befehlen". Als letzte Forderungen werden solche an „ d a s G e m ü t " erörtert, wo es sich „um die religiöse und ästhetische Erziehung des Menschengeschlechts" handle. In der pädagogischen W ü r d i g u n g z u m Schluß der Arbeit stellt sich heraus, daß Nietzsches „ g a n z e P ä d a g o g i k auf der Willenserziehung beruht", zu deren Verwirklichung „vier einfache F a k t o r e n " a n g e n o m m e n werden: „Mitfreude, Ehrfurcht, Übung und Disziplin". — „ N i e t z s c h e ist auch für die P ä d a g o g i k unserer Zeit ein Ereignis. Er stellt die beginnende Reaktion vor, die sich gegen die Auffassung der Bildungsanstalten als der ausschließlichen Werkstätte der Wissenschaft wendet . . . Nach dieser Hinsicht leistet N i e t z s c h e für die Gegenwart das, was Montaigne, Locke, Rousseau etc. für ihre Zeiten geleistet haben." 3 6 3
1017 Middendorf, Julius, Die Bedeutung des Leidens bei Friedrich Nietzsche. Rost. Bonn 1911. 95 S. ( = Diss. d. Univ. Bonn).
363
J o n k o f f , T h o d o r , geb. am 10. 1 1. 1883 zu K a s a n l i k , Bulgarien.
462
1911 Hier verbindet sich „der Naturalismus mit der Romantik"
Verfasser verfolgt die Entwicklung von Nietzsches Auffassung des „Leidens" durch die bekannten drei Perioden und meint, daß „das Prophetenhaft-Vorbildliche, das Ewig-Bedeutungsvolle seines Lebenswerkes" gerade auf dem „aufs tiefste erschütternden Kampf" gegen den Pessimismus beruhe : „Er hat sich nicht kalt-verstandesgemäß ein Urteil über den Pessimismus gebildet, sondern ihn wirklich ganz durchlebt und sein ganzes Wesen damit erfüllt." „Seine eigene neue Lehre . . ., der Antipessimismus, der Wille zum Leben, die heroisch-tragische Welt- und Lebensanschauung" sei diesem Kampf entsprungen. „Als ihre Schwäche erscheint das Fehlen eines festen systematischen Aufbaues von Erkenntnissen und Einsichten, die schwache Fundierung ihrer Metaphysik, das Fehlen einer festen Verknüpfung mit den Einzelwissenschaften; eine gewisse poetische Unbestimmtheit und Verschwommenheit wird ihr nicht ganz mit Unrecht von ihren Gegnern vorgeworfen . . . " — „Im Gewichtlegen auf die Autonomie des Willens erinnert er an Kant, inbezug auf die schöpferische Tätigkeit des Ich an Fichte, inbezug auf die Innigkeit der Hingabe an den Geist des Lebens an Jesus. Seine Lehre bedeutet einen der letzten Versuche, das Leidensproblem zu lösen, das von den Tagen des Hiobdichters an bis zur Theodizee des Leibniz und bis auf unsere Zeit die Gemüter bewegt hat und bewegen wird . . . Uns jedenfalls scheint Nietzsche in seiner Leidens- und Erlösungslehre einen nicht unwichtigen Beitrag zur Behandlung dieses Problems gebracht zu haben."34 1018 Dorner, August, Pessimismus, Nietzsche und Naturalismus mit besonderer Beziehung auf die Religion. Fritz Eckardt. Lpz. 1911. VIII, 327 S., 2B11. ( = V l g s . - a n z . ) . Bei Erörterung der vorliegenden Gegenstände müsse man sein „Augenmerk ganz besonders auch auf das Verhältnis zur Religion" richten, denn bei allen drei liege der Versuch vor, „eine natürliche Religion an die Stelle der christlichen" zu setzen. Zuerst behandelt Verfasser den „Pessimismus", worunter er den Buddhismus und die Philosophien von Schopenhauer, Hartmann und Drews versteht. „Zu einem positiven wertvollen Inhalt des Geistes bringt es die pessimistische Philosophie nicht. Auch sie bildet den Ubergang von den naturalistischen Standpunkten zu einer selbständigen Geistesphilosophie durch negative Erhebung des Geistes über die Natur." Nietzsche gehe zwar von dem Pessimismus aus, sei aber dazu „aufs engste mit den wesentlichen Zeitströmungen, mit der Romantik wie mit dem Darwinismus und der physiologischen Psychologie verbunden". Historisch knüpfe er auch „an die Antike, Theognis, Heraklit, die Sophisten, sowie an die Renaissance" an. In der Auseinandersetzung mit Nietzsche (S. 102—197) wird zunächst und immer wieder auf seine Verwandtschaft mit der Romantik hingewiesen. Er vertrete eine „Romantik des Lebensdranges, des Machteffektes, die auf der Herrschaft des Naturalismus der Zeit fußt und den Machttrieb vergöttert, der die Zeit bestimmt". Er spreche zwar „mit der ganzen Rücksichtslosigkeit eines scharfen Kritikers . . ., aber auch mit der Ironie eines Romantikers". „Die Betonung des Ubermenschen, des Genies" ist dem Verfasser „die Fortsetzung der Romantik". „Kurz: In Nietzsche verbindet sich der Naturalismus mit der Romantik." Obwohl er als Kritiker vieles rücksichtslos aufge-
164
Middendorf, Julius, geb. am 2. 1. 1885 zu Bremen.
1911 Eine „durchaus undeutsche Natur"
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deckt habe, und man ihm in mancher Hinsicht recht geben müsse, so „in der Beurteilung unserer Institutionen, der Kirche, des Staates, der Ehereformvorschläge und Frauenfrage", sei seine Kritik dennoch „im G r u n d e mit U n f r u c h t b a r k e i t geschlagen . . . Er bleibt der ruhelose Romantiker ohne Ziel. Er bleibt bei dem ewigen W e r d e n , bei dem ewigen Vergehen stehen, und damit hat er trotz aller Lebensbejahung den Pessimismus nicht überwunden." D e r Schlußabschnitt befaßt sich dann mit dem „Naturalismus". 3 6 5
1019 Fritsch, Theod., Nietzsche und die Jugend. (H 10. Jg., Nr. 209 v. 1. 3. 1911, S. 1 1 3 - 1 1 6 ) . Eine äußerst rückhaltlose Ablehnung Nietzsches, vornehmlich als eines K r a n ken. Verfasser k n ü p f t an den Selbstmord eines Leipziger Oberprimaners an, um dessen Ursache in der verfrühten „Lektüre ungeeigneter Schriften, ganz besonders Nietzsche's", zu erkennen. Nietzsches D e n k e n sei „unmännlich, weibisch, kokett; und schon deshalb ist er ein schlechter Lehrmeister f ü r die Jugend". Ein weiterer G r u n d sei seine „durchaus undeutsche N a t u r " . In diesem Z u s a m m e n h a n g sind folgende W o r t e des Verfassers anführenswert : „Ich besitze Briefe von ihm, worin er mich wegen meiner nationalen Bestrebungen verhöhnt und Schimpf und Schande auf alles Deutsche häuft." Er verweist dann auf Paul de Lagarde, „wer mutvolle, w a h r h a f t befreiende G e d a n k e n und W o r t e lesen will".
1020 Brors, Fr., Friedrich Nietzsche, sein Leben und Schicksal der Prüfstein seiner Lehre. (HBKD Bd. 148, H. 3 f., 1911, S. 1 6 1 - 1 7 4 , 278-290). Eine recht sachliche, w e n n auch durchweg ablehnende Darstellung von Nietzsches Leben z u r Erklärung seiner Weltanschauung. N u r der „Zarathustra" entlockt dem Verfasser einige W o r t e des allerdings nicht uneingeschränkten Lobes: „In u n vergleichlicher Sprache, die o f t anklingt an die K r a f t der Bibelworte, fast immer dunkel ist, vom lügenhaft-bestrickenden G a u k e l w e r k der R o m a n t i k umwoben, symbolisch, und so recht geeignet, nicht zu Ende gedachte Ideen zu verhüllen, dekretiert Nietzsche-Zarathustra v o m hohen Piedestal herab . . . seine eigene N a t u r anschauung."
1021 1911).
J., R., Nietzsches Bild (DTZg Nr. 47, Unterhaltungs-Beil.,
Eine recht zweideutige Besprechung der Schrift des „überaus sympathischen und liebenswerten Dichters" Wilhelm Fischer in G r a z ( N r . 942), die „im einzelnen reich an schönen, treffenden Bemerkungen, . . . immerhin manchem manches" werde geben können. So gut sie aber auch gemeint sei, „so ist sie doch zu philiströs, ja, man m u ß fast sagen, zu banausisch, als d a ß sie sich der Nietzscheschen Philosophie als ein ernst zu nehmender G e g n e r gegenüberstellen könnte". Rezensent vermißt einen Treitschke, „der an Sprachgewalt Nietzsche völlig ebenbürtig w a r , und von dem ein eben so segensvoller Einfluß auf die deutsche J u g e n d ausgegangen ist, wie von Nietzsche ein unheilvoller". D e n n , „wie zweifelhaft auch die Bedeutung
365
Dorner, August, geb. 1846 zu Schiltach, Professor in Königsberg.
464
1911 „einer der größten deutschen Gedankenlyriker"
N i e t z s c h e s als P h i l o s o p h sein m a g : d a r a n , d a ß e r e i n e r d e r g r ö ß t e n d e u t s c h e n G e d a n k e n l y r i k e r ist, k a n n w o h l k a u m g e z w e i f e l t w e r d e n " . B e g e i s t e r t h a b e n sich f ü r ihn a b e r nicht die „ V e r t r e t e r d e r p r e u ß i s c h e n A r i s t o k r a t i e " , w o r ü b e r m a n sich „in d e n Kreisen gewisser Berliner C a f é h a u s - L i t e r a t e n " nicht w e n i g g e w u n d e r t h a b e , s o n d e r n russische A r i s t o k r a t e n u n d j ü d i s c h e K r i t i k e r .
1022 Hagen, Dr. W., Nietzsche und Wagner. Essay. (DSa Nr. 82, 1911, S. 3 — 6). V e r f a s s e r m e i n t , d a ß „in d e m f r e i m ü t i g e n K a m p f g e g e n d i e e i g e n e n Geistesk i n d e r " , so ζ. B. d a r i n , d a ß d e r U b e r m e n s c h „ d e r I d e e d e r e w i g e n W i d e r k u n f t z u m O p f e r " h a b e fallen m ü s s e n , „ d e r g a n z e heilige E r n s t , d e r N i e t z s c h e so s y m p a t h i s c h m a c h t " , liege. Aus diesem „ C h a r a k t e r z u g " h e r a u s lasse sich a u c h d a s V e r h ä l t n i s zu W a g n e r e r k l ä r e n : „ E r b e k ä m p f t in erster Linie als I m m o r a l i s t
nietzscheanischer
R i c h t u n g die alte M o r a l u n d d e n K o m p r o m i ß in W a g n e r . "
1023 Bernoulli, Carl Albrecht (Arlesheim), Nietzscheliteratur. (FZg Nr. 92, 1911). Bei dieser S a m m e l b e s p r e c h u n g g e h t V e r f a s s e r von d e m S t a n d p u n k t aus, d a ß d e r „eigentliche W e r t " v o n B ü c h e r n ü b e r N i e t z s c h e „in d e r p e r s ö n l i c h e n B e z i e h u n g des V e r f a s s e r s zu seinem O b j e k t b e s c h l o s s e n " sei. S o f i n d e t e r G e f a l l e n an d e m W e r k v o n Bélart ( N r . 945), das zu „ j e n e r M i n d e r h e i t s g r u p p e in d e r N i e t z s c h e l i t e r a t u r " g e h ö r e , „ d e r e n V e r f a s s e r nicht a k a d e m i s c h g r a d u i e r t sind u n d die d e s h a l b ein innerstes B e d ü r f n i s s c h r e i b e n hieß". S o n s t sei das W e r k t r o t z „ e i n z e l n e r k r a s s e n M i ß v e r s t ä n d n i s s e " a u c h d u r c h „ u n l e u g b a r e G e d i e g e n h e i t " u n d „solide G e l e h r s a m keit" a u s g e z e i c h n e t . Als z w e i t e S c h r i f t w i r d die v o n A r n o l d ( N r . 9 4 4 ) b e h a n d e l t , die „eine n a h e z u e r s c h ö p f e n d e U b e r s i c h t ü b e r N i e t z s c h e s a n t i r e l i g i ö s e n
Werdegang"
d a r b i e t e . E n t s c h i e d e n a b g e l e h n t w i r d eigentlich n u r d e r V e r s u c h A r n o l d s , d e n E i n f l u ß O v e r b e c k s als v e r h ä l t n i s m ä ß i g g e r i n g a n z u s e t z e n : „ E r s t als e r in e i n e m j a h r e l a n g e n V e r k e h r (d. i. mit O v e r b e c k ) erlebte, in w e l c h e m M a ß e d a s C h r i s t e n t u m G e g e n s t a n d d e r Kritik f ü r einen n a m h a f t e n F o r s c h e r w e r d e n k o n n t e , w a r im P r i n z i p j e n e r j u g e n d l i c h e n G l e i c h g ü l t i g k e i t das W a s s e r a b g e t r a g e n . N u n w a r die M ö g l i c h keit g e s c h a f f e n , d a ß das C h r i s t e n t u m mit d e r Zeit z u m t r a g i s c h e n M i t t e l p u n k t in N i e t z s c h e s P h i l o s o p h i e wirklich v o r r ü c k e n k o n n t e . " Z u r B e s p r e c h u n g e i n e r S c h r i f t v o n L o u A n d r e a s - S a l o m é , „ D i e E r o t i k " , g e h t e r d a n n mit d e r F e s t s t e l l u n g ü b e r , d a ß beide V e r f a s s e r , Bélart wie A r n o l d , L o u „ n u n in legitimer O r d n u n g u n t e r d e n G e i s t e r n " r a n g i e r e n lassen, „die N i e t z s c h e g e f ö r d e r t u n d b e f r u c h t e t h a b e n " . D a s n ä m l i che „ H e f t c h e n " v o n ihr ist d e m R e z e n s e n t e n „beste N i e t z s c h e l i t e r a t u r , o b s c h o n d e r N a m e N i e t z s c h e d a r i n nicht ein einziges Mal e r w ä h n t ist".
1024 Goldberg, Richard (Dresden), Nietzsche und Tolstoi als Schaffende am Erziehungsproblem. (LLZg 18, Nr. 43, 1911, S. 968 ff.). V e r f a s s e r m e i n t , d a ß „die m o d e r n e n p ä d a g o g i s c h e n F o r d e r u n g e n
Stoßkraft
h a b e n " , d a sie „nicht m e h r isoliert" s t e h e n , s o n d e r n „ o r g a n i s c h mit e i n e r v o n T o l stoi u n d N i e t z s c h e b e e i n f l u ß t e n L e b e n s a n s c h a u u n g v e r b u n d e n " seien. „ W e r v o n m o d e r n e r L e b e n s p h i l o s o p h i e r e d e t , d e n m u ß eine h o h e G e s t a l t mit g l ü h e n d e n , blitz e n d e n A u g e n v o r die Seele t r e t e n : Friedrich N i e t z s c h e . " L e i d e r h a b e er „ n u r die
1911 „Tausenden . . . einen neuen Glauben gegeben"
465
L i e b e des P i e t i s m u s u n d d a s Mitleid S c h o p e n h a u e r s " g e k a n n t , d e n n o c h a b e r „ T a u s e n d e n , die f ü h r e r l o s in des Lebens u n w i r t l i c h e r W ü s t e irrten, . . . einen
neuen
G l a u b e n g e g e b e n , d e n G l a u b e n an d e n G o t t , d e r in j e d e m M e n s c h e n nach E r l ö s u n g ringt"\ V e r f a s s e r b e d a u e r t a u c h , d a ß die „ w a r m e , w e i c h e Liebe zu allem, was M e n s c h e n a r t w a r " , sich bei ihm „nicht d u r c h r i n g e n k o n n t e z u r K l a r h e i t " , so müsse m a n zu T o l s t o i Z u f l u c h t n e h m e n , d e r die F r a g e , „wie wir ,den F u n k e n G ö t t l i c h keit', d e r uns v e r l i e h e n ist, f o r t u n d f o r t in uns a u f s n e u e e r z e u g e n u n d bis z u r h ö c h s t m ö g l i c h e n S t u f e f o r t e n t w i c k e l n , . . . b e f r i e d i g e n d g e l ö s t " habe. D e n S c h l u ß bildet a b e r d o c h ein S p r u c h Z a r a t h u s t r a s : „ E u e r K i n d e r L a n d sollt ihr lieben, die Liebe sei e u e r n e u e r A d e l . " 1025
M ö n n i c h s , T h . , S.J., D i e W e l t a n s c h a u u n g d e s K a t h o l i k e n . Für
w e i t e r e K r e i s e ä l t e r e n u n d n e u e r n I r r t ü m e r n g e g e n ü b e r g e s t e l l t . J. P. B a chem. Köln (=
1911.
R ü s t z e u g d. G e g e n w a r t . B d . 5).
In d e m A b s c h n i t t „ I r r l i c h t e r " w i r d N i e t z s c h e s z w e i m a l g e d a c h t . Auf „die vielg e p r i e s e n e N i e t z s c h e s c h e P r o d u k t i o n des Ü b e r m e n s c h e n " w i r d g e a n t w o r t e t : „Ich k a n n m i r s c h l e c h t v o r s t e l l e n , w e l c h ein e r h e b e n d e s G e f ü h l in d e n n a c h B e g l ü c k u n g l e c h z e n d e n M a s s e n d e r G e d a n k e auslösen soll: du bist a u c h eine Kleinigkeit von d e r z u r Z ü c h t u n g d e s U b e r m e n s c h e n e r f o r d e r l i c h e n S t o f f m e n g e . " (S. 67) A u f die U b e r l e g u n g hin, m a n k ö n n e d o c h „ d a s W o h l d e r M e n s c h h e i t " o d e r die „ M e n s c h e n w ü r d e f ü r die G r u n d l a g e des sittlichen H a n d e l n s e r k l ä r e n " , w i r d die „ v e r p f l i c h t e n d e K r a f t s o l c h e r B i n d u n g " b e z w e i f e l t : „ N e i n , sich a u s l e b e n , sich k e i n e n G e n u ß v e r s a g e n , die Sittlichkeit des Ü b e r m e n s c h e n à la N i e t z s c h e , das ist die w i r k l i c h k o n s e q u e n t e u n a b h ä n g i g e M o r a l . " (S. 122 f.) 1025a
D a s s . 5. u . 6. A u f l . ( 9 . — 1 1 . T s d . ) . B o n i f a c i u s - D r u c k e r e i .
Pa-
d e r b o r n 1 9 2 0 , S . 6 5 u. 1 5 5 . D i e z w e i t e S t e l l e ist e t w a s e r w e i t e r t u n d d i e F r e m d w ö r t e r sind d u r c h g e h e n d ersetzt w o r d e n , sonst unverändert. 1026
Levenstein, Adolf
(Berlin), N i e t z s c h e u n d die
Arbeiterklasse.
( D d F B d . 4 , H . 4 v. A p r i l 1 9 1 1 , S . 2 3 8 f f . ) . B r i n g t A u s z ü g e a u s e i n e r „ u m f a s s e n d e n K o r r e s p o n d e n z " , die V e r f a s s e r mit „ A r b e i t e r n ü b e r N i e t z s c h e " g e p f l o g e n h a b e . D i e „ B r u c h s t ü c k e " r e i c h e n v o n begeisterter B e j a h u n g bis z u r völligen A b l e h n u n g u n d veranlassen V e r f a s s e r z u f o l g e n d e m S c h l u ß : „. . . z u m e i s t sind es s e l b s t b e w u ß t e a u t o n o m e G e n o s s e n , die sich mit N i e t z s c h e b e s c h ä f t i g t h a b e n , a b e r t r o t z d e m : Bei allen bricht d a s M a s s e n g e f ü h l elem e n t a r d u r c h . D i e P h a n t a s i e g e b i l d e , die d e r Sozialismus in i h n e n e r z e u g t h a t , sind n o c h z u s t a r k , u m m e r k l i c h d u r c h d a s Mittel des Intellekts a b g e d ä m p f t z u w e r d e n . " 1027 sium,
die
G o t t l i e b , A l b e r t ( D r . phil. i. P r a g - K a r o l i n e n t h a l ) , D a s G y m n a Realschule
S. 1 9 3 - 2 0 5 ,
und
Friedrich
Nietzsche.
(ZRSW
36. Jg.,
H . 4 f.,
257-265).
Es g e b e „vielleicht w e n i g e D e n k e r " , bei d e n e n die P r o b l e m e d e r E r z i e h u n g „so b e h e r r s c h e n d im V o r d e r g r u n d e s t e h e n " wie bei N i e t z s c h e . Als
Kulturphilosoph
h a b e er seine A u f g a b e „als die eines G e s e t z g e b e r s u n d A r z t e s d e r M e n s c h h e i t " a u f g e f a ß t . V e r f a s s e r b e g r ü n d e t e i n e B e s c h r ä n k u n g auf die „erste P e r i o d e " in seiner
466
1911 Ein „entschiedender Neuhumanist"
Untersuchung damit, d a ß diese „mehr unmittelbaren Stoff zur P ä d a g o g i k " darbiete, zugleich aber auch weil er „auf der H ö h e seines Lebens zu einem so extremen Standpunkte" gelangt sei, „daß jede praktische V e r w e r t u n g seiner Ansichten o h n e vollständige Annahme seiner u n a n n e h m b a r e n Ethik ausgeschlossen ist". Auf den jungen Nietzsche gehe „ein großer Teil, vielleicht der größte und beste Teil unter den Forderungen der immer stärker d r ä n g e n d e n p ä d a g o g i s c h e n R e f o r m b e w e g u n g unserer T a g e , . . . bewußt oder unbewußt", z u r ü c k oder habe „wenigstens von ihm die scharfe und zeitgemäße Formulierung erhalten". Er sei in erzieherischer Hinsicht „entschiedener N e u h u m a n i s t " gewesen. Man k ö n n e wohl sagen, „daß Nietzsche das neuhumanistische Idealbild vom Griechentum zu seinem höchsten Glänze gesteigert hat, indem er ihm noch den magischen Schimmer des M e t a p h y s i s c h e n verlieh". D o c h sei dieser Neuhumanismus in Nietzsche zugleich „in sein Gegenteil" umgeschlagen: „Er gewinnt die klare und ausdrückliche Erkenntnis, daß das Altertum nicht der einzige und f ü r junge Leute gar kein W e g zur Bildung sei." Im ganzen liefert Verfasser eine eingehende Untersuchung des bildungsmäßig Verwertbaren bei Nietzsche, unter ständiger Bezugnahme auf damalige Erneuerungsbestrebungen, und betont gegen Schluß: „Das Fruchtbarste und Lebendigste aber in seiner Lehre scheint uns die Ü b e r z e u g u n g zu sein . . .: Bildung heißt Entwicklung der sittlichen K r ä f t e , Erziehung zur Bildung kann nur sittliche Erziehung sein." D a ß Verfasser besondere Freude daran hat, daß Nietzsche „die G l e i c h w e r t i g k e i t d e r R e a l s c h u l e mit dem Gymnasium mit unzweideutigen W o r t e n ausgesprochen hat", d ü r f t e nicht verwundern.
1028 Preuß, Lic. Dr. (Leipzig), Moderne Kämpfe um das Christentum im Lichte seiner Geschichte. XVIII: Nietzsche und die Übermenschen der Renaissance. (AELKZg 44. Jg., 1911, Sp. 4 8 5 - 4 8 9 , 5 1 1 - 5 1 4 , 5 3 4 - 5 3 7 , 558 f.)." 4 Verfasser möchte „aus der Fülle christenfeindlicher Gesichtspunkte" Nietzsches den „wichtigsten", den „Willen zur Macht" herausheben und ihn „auf seine historischen V o r g ä n g e r " hin beleuchten. Solche „Vorläufer" findet er in den Sophisten, in „gewissen T y p e n " der Renaissance und in Darwin. In die Ahnenreihe dürfe man dann „wohl auch" Fr. Schlegel, Hölderlin und Carlyle a u f n e h m e n . D e m Verfasser geht es aber vor allem um den Vergleich mit der Renaissance, denen beiden er schließlich die Reformation gegenüberstellt. Gegen Schluß findet er f ü r beide Erscheinungen dennoch einige W o r t e der A n e r k e n n u n g : „Nietzsches Kampf gegen das Philistertum jeder Art, gegen Kleinkrämerei einer Wissenschaft des Nichtswissenswerten, gegen öden Sozialismus, gegen einen müden Pessimismus . . . soll ihm unvergessen bleiben; und die Renaissance hat ja sogar W e r t e von ewigem Gehalte geschaffen. Aber alles das kann das Urteil nicht aufheben, daß von beiden aus, hier praktisch, d o r t theoretisch, das H e i d e n t u m des natürlichen Menschen als gefährlicher Rückfall in niedere Kulturstufen drohte und droht."
1029 Richter, Univ.-Prof. Dr. Raoul, Nietzsches Stellung zu Weib, Kind und Ehe. ( D N G Bd. 7, 1911, S. 171 — 180, 229—240). 364
Preuß, Hans (Leipzig 3. 9. 1876 — Erlangen 12. 5. 1951), evangelischer Theologe.
1911 Gegen „alle demokratisch-christlichen Ideale"
467
Verfasser machte seine „Ausführungen" am 4. Januar 1911 vor einer „dem Mutterschutz geweihten Versammlung", sich dessen wohl bewußt, daß sie vor einer solchen Gesellschaft als „schwer zu rechtfertigende Willkürlichkeit" aufgenommen werden könnten. Er betont daher schon einleitend, daß in Nietzsches Lehre „die Bedeutung des Kindes für den Welt- und Wertzusammenhang eine Tragweite erhält, die wohl wenige Denker oder Propheten in solchem Umfange und mit solcher Eindringlichkeit verkündet haben". Es werden dann Nietzsches Erlebnisse mit Frauen seiner unmittelbaren Umgebung und darauf recht flüchtig einige seiner Gedanken „über Weib, Kind und Ehe" umrissen. Da „das Wertproblem . . . das H e r z dieser Philosophie" und „der höchste Wert für Nietzsche . . . das Leben" sei, „so ist das K i n d , seine Erzeugung und Erziehung, so ist die neue Generation das Wahrzeichen, unter dem wir zu kämpfen haben". Von hier aus ist es dem Verfasser nur noch ein Schritt zur Mutter und Ehe. „Fruchtbar" an den „oft verschrobenen und verbitterten, ja gehässigen Auswüchsen" sei „die hohe sittlich-religiöse Perspektive, welche die Stellung der Frau an den obersten Idealen, an der Hebung des allgemeinen Menschentums mißt", sowie „die Betonung, alle Emanzipation an der natürlichen Ungleichheit der Geschlechter ihre Grenzen finden zu lassen"; „brüchig und zu überwinden" sei nur „die engherzige Aufstellung dieser Grenzen". Nietzsche habe eine echte große Liebe gefehlt, die allein einem „den Tiefblick in die weibliche Psyche" gestatte. Ferner habe er „die wachsende Mannigfaltigkeit bei wachsender Einheit aller Kulturzustande, aller sie tragenden Persönlichkeiten" übersehen, „die es auch dem Weib im Laufe der Entwicklung ermöglicht, Verstand und Intellekt immer mehr auszubilden". Als Losung bietet Verfasser seinen Zuhörerinnen das W o n von der „Fernstenliebe". Diese sei das „Panier auf der im Sturme der Zukunft flatternden Fahne, unter der die vorwärtsschreitende Menschheit Mutter und Kind zu schützen, zu erhalten und das Leben der Gesamtheit dadurch zu steigern hat". 1029a A u c h in N r . 5 7 3 a , S. 1 7 9 — 2 0 3 . U n v e r ä n d e r t .
1030
Gangi, Golo, (DSt Bd. 1, Nr. 68 v. Juli 1911, S. 544).
Eine Anzeige des Werkes von Friedländer (Nr. 1006), der sich darin mit Nietzsche über seine Philosophie „unterhalten" habe, „reciprok . . . selbstverständlich und andeutungsweise". Friedländer habe ihm, „Buch für Buch, dargelegt, daß er um Ihr Mysterium weiß. Nein, daß er ohne es zu wissen nur immer um Ihr Mysterium gerungen hat."
1031
Eisele (Schnaitheim), (ZPhK Bd. 143, H. 1, 1911, S. 77).
Eine recht knappe Anzeige des Werkes von Kerler (Nr. 938), das „eine interessante Auseinandersetzung mit Nietzsches Gedanken über Sünde, Gewissen, Strafe, Vergeltung usw." biete.
1032
Simmel, Georg, Nietzsches Moral. (Tag Nr. 104 v. 4. 5. 1911).
Hinsichtlich der Moral bestehe Nietzsches „Leistung" darin, daß er suche, „dem Leben selbst sein Sollen, sein Ideal abzugewinnen, ohne es doch mit dessen einfach gegebener Tatsächlichkeit zusammenfallen zu lassen". Er stelle seinen „Immoralismus" gegen „alle demokratisch-christlichen Ideale", „nicht als Leugnung eines Ideals über der bloßen Tatsächlichkeit des Lebens, sondern nur einer solchen, mit der die niederziehenden, das Leben herabsetzenden, weil seiner aristokratischen
468
1911
Struktur widersprechenden Wertungen inthronisiert sind". Er sei „nichts weniger als ein ,Sozialaristokrat'", denn ihm gehe es um die „ G a t t u n g " , um den „ T y p u s Mensch", unter „völliger Ablehnung eines sozialen E f f e k t e s der Aristokratie".
1033 Fischer, Ottokar (Prag), Eine psychologische Grundlage des Wiederkunftsgedankens. Bemerkungen über den literarischen W e n der „fausse reconnaissance". (ZAP Bd. 5, 1911, S. 487 — 515). Die Arbeit befaßt sich zunächst mit den „sogenannten Erinnerungstäuschung e n " im allgemeinen. Von einer Untersuchung solcher Fälle, sowohl im wissenschaftlichen Schrifttum wie auch in dichterischen Werken (Dickens, Spielhagen, Zschokke, Gontscharow und Schnitzler), kommt V e r f a s s e r auf „eines der schwierigsten und lockendsten Probleme der modernen Metaphysik", nämlich auf „eine literarpsychologische Analyse der Lehre Friedrich Nietzsches von der Ewigen Wiederkunft des Gleichen". Er möchte dabei die F r a g e erörtern, „ob sich aus den angeführten Zitaten und anderweitigen Erwägungen nicht in einigen Fällen eine Beziehung herstellen läßt zwischen der fausse reconnaissance und dem Glauben an eine ,vie antérieure'". G e r a d e die Wiederkunftslehre sei „eine crux interpretum" für Nietzscheverehrer. Es gebe welche, die hier „vom geliebten H o d e g e t e n " Abschied nehmen, und solche, die „den mystischen G e d a n k e n als bloße Spielerei" hinnehmen. Der Denker selber aber habe „für den unglaubwürdigsten Artikel seiner Philosophie einen ganz bedingungslosen Glauben in Anspruch g e n o m m e n " . Verfasser nimmt als Unterlage den Abschnitt „ V o m Gesicht und Rätsel" des dritten Teiles des „Zarathustra", in dem „die Wiederkunftslehre wohl zum erstenmal vor der Öffentlichkeit in zusammenhängender Form aufgerollt" sei. Er findet hierin „eine Reihe typischer Züge festgehalten, denen wir bei der Besprechung literarisch verwerteter Erinnerungstäuschungen bereits begegnet sind". Der Schluß lautet dann, „daß sein unerweislicher Glaube an die Ewige Wiederkunft des Gleichen durch jene Zustände mit bedingt und zugleich gefärbt war, die ihm die G e g e n w a r t als Wiederholung eines bereits erlebten Augenblicks vorspiegelten". 3 ' 7 1034 Oehler, Richard, Nietzsche als Student in Bonn. ( B o Z g 20. J g . , N r . 138 v. 21. 5. 1911). Der Meinung, daß Nietzsches Briefe „bisher viel zu wenig gelesen w o r d e n " seien, verweist Verfasser in einer Art Selbstanzeige auf die von ihm selber herausgegebene Auswahl ( B D ) . Er bescheidet sich hier „mit einem etwas populären, lokalen Interessengebiet", nämlich Nietzsches Verhältnis zu Bonn, und kommt zu dem Schluß, daß „Nietzsche aus Bonn schon im tiefsten G r u n d e als der große Einsame, der er sein ganzes Leben hindurch geblieben ist", geschieden sei.
1035 Wallaschek, Univ.-Prof. Dr. Richard, Nietzsche über Erziehung. Vortrag, gehalten in der Leo-Gesellschaft zu Wien am 5. Dez. 1910. ( M C S R Juni 1911, S. 3 0 2 - 3 1 3 ) .
" 7 Fischer, O t t o k a r (Kolin 2 0 . 5 . 1 8 8 3 — P r a g 1 2 . 3 . 1 9 3 8 ) , Literaturwissenschaftler, zunächst Bibliotheksassistent, dann Extraordinarius für deutsche Philologie an der tschechischen Karls-Universität, übertrug den „ Z a r a t h u s t r a " ins Tschechische.
1911 „ein e u r o p ä i s c h e s
Ereignis"
469
Eine dem Gegenstand recht gewogene Darstellung, vor allem der pädagogischen Gedanken in den Vorträgen „über die Zukunft unserer Bildungsanstalten". Nietzsche habe darin „über Bildung und Erziehung schon zu einer Zeit gesprochen, in der gewisse Probleme, die heute alle Welt beschäftigen, noch kaum gestellt, geschweige denn gelöst waren". „Das Hauptprinzip" erkennt Verfasser darin, „daß man auch in der geistigen Erziehung große Führer braucht und daß alle Bildung mit dem Gehorsam beginnt. N u r dadurch wird das Individuum einmal in späterer Zeit vielleicht zur Unabhängigkeit fähig . . ." BE
Friedrich N i e t z s c h e : Unter Feinden. ( D A 1. Jg., 1911, Sp. 303).
1036 L., M., N i e t z s c h e s Briefe. ( H C Nr. 296 v. 13. 6. 1911). Besprechung der Briefausgabe von Oehler (BD); als Briefschreiber besitze Nietzsche „klassische Bedeutung. Seine Briefe offenbaren die Reize seines künstlerischen Stils, sein Genie als Impressionist und Psychologe, den Reichtum seiner Gedanken und den Adel seines ganzen Wesens." 1036a
Dass, in N W J 19. Jg., Nr. 6338 v. 16. 6. 1911, S. 1 f. Unverän-
dert. 1037
Fischer, Ottokar, Nietzsche und Kleist, ( N J K A P Bd. 27, 1911,
S. 5 0 6 — 5 1 9 ) . Merkmale einer Wesensverwandtschaft erkennt Verfasser in dem steten „Unrast", dem „Bis-ans-Ende-Gehen" und dem „Durchkosten einer Gemütsstimmung, bis daß sich der Rausch in Ekel wandelt". Bei Erörterung eines „möglichen und tatsächlichen" Verhältnisses „des Jüngeren zum Älteren" erwähnt Verfasser Nietzsches Lehrer in Pforta, August Koberstein, als Mittler. Zunächst aber behandelt er Nietzsches Verhältnis zu „Sturm und Drang", „Romantik" und „Jungem Deutschland" im allgemeinen, an den Ansichten von Herder, Goethe, Ludolf Wienbarg und Heine anknüpfend. Gerade die „Abneigung gegen die Historie" sei aus einem „Groll gegen das Ubergewicht der Theorie überhaupt abzuleiten", und „dieser Obersatz von Nietzsches Jugendphilosophie" erscheine „stark Kleistisch gefärbt". Nach weitläufigen Belegen meint Verfasser, daß Kleist „nicht bloß ein schöner Zufall in Nietzsches Leben — wie Stendhal, wie Dostojevskij —, sondern eine Grundlage seiner Bildung" gewesen sei. Gegen Ende deutet Verfasser dann auch die „durchgreifende Verschiedenheit der beiden Denker" an und schließt mit folgender Gegenüberstellung: „Kleist, der stärkere Künstler, mutet wie ein unvergleichliches Drama des deutschen Geisteslebens an. Nietzsche jedoch, den Verächter der nationalen Schranken, wollen wir nicht verschweizert, nicht naumburgisch und nicht thüringisch werden lassen, ihn reklamieren wir als e u r o p ä i s c h e s Ereignis." 1038 Mensch, Dr. Ella (Berlin), D i e Schwester des Philosophen ( W M h Bd. 110, II; H . 658, 1911, S. 5 2 1 - 5 2 5 ) . Ein einziges Loblied auf die Schwester, die „eine eigentümliche Mittelstellung" einnehme „zwischen den Frauen, die haushälterisch, ökonomisch und gewissenhaft anvertrautes Gut verwalten, und solchen, die sich durch eigene Gedanken und selbständige Gründungen ihren Platz an der Öffentlichkeit erkämpfen".
470
1911 „der Sinn eines deutschen Humors"
1039 b., Friedrich 11. 7. 1911).
Nietzsches
Briefe. ( B a s N
Nr. 187,
1. Beil. v.
B e s p r e c h u n g des B r i e f a u s w a h l b a n d e s v o n O e h l e r ( B D ) , in d e r N i e t z s c h e als Briefschreiber in „ d i e erste R e i h e unter den D e u t s c h e n d e r G e g e n w a r t " gestellt w i r d ; auf diesem B o d e n b r a u c h e er „ a u c h die N a c h b a r s c h a f t eines B i s m a r c k nicht zu s c h e u e n " .
1040 Mensi, Alfred, Frhr. v., Paul Deussen, Nietzsche und Schopenhauer. ( M A Z g v. 15. 7. 1911, S. 472 ff.). D e r A u f s a t z befaßt sich lediglich a n f a n g s mit N i e t z s c h e , und z w a r mit seinem Verhältnis zu D e u s s e n , g e h t d a n n in eine W ü r d i g u n g des letzteren als I n d o l o g e n , Philosophiehistorikers
und
Schopenhauerherausgebers
über.
Am
deutlichsten
k o m m t V e r f a s s e r s Ansicht über N i e t z s c h e in d e m f o l g e n d e n S a t z z u m A u s d r u c k : „Liest m a n heute N i e t z s c h e s Briefe, so w u n d e r t man sich nicht weiter darüber (d. i. über die E n t f r e m d u n g seiner F r e u n d e ) und schreibt den m a n c h m a l die bizarrsten F o r m e n a n n e h m e n d e n G r ö ß e n w a h n , v o n d e m sich S p u r e n bis zu den ältesten Briefen N i e t z s c h e s z u r ü c k v o r f i n d e n , eben jener G e i s t e s k r a n k h e i t z u , deren zeitlichen Beginn bei ihm auch heute noch keine W i s s e n s c h a f t festzustellen v e r m a g . "
1042 Trübe, Dr. O . (Dessau), Hebbel ein Vorläufer ( K M P L K Bd. 68, H . 6, 1911, S. 6 0 4 - 6 0 9 ) .
Nietzsches?
A n g e r e g t durch H o r n e f f e r s S c h r i f t über H e b b e l ( N r . 6 1 3 ) , lehnt V e r f a s s e r dessen B e z e i c h n u n g H e b b e l s als „ V o r l ä u f e r N i e t z s c h e s " entschieden ab. E r stützt sich dabei vor allem auf H e b b e l s „ r e l i g i ö s e G e s i n n u n g " und meint, seine Gottesidee z e i g e „eine der christlichen V o r s t e l l u n g s w e l t v e r w a n d t e S e i t e " ; m a n k ö n n e ihn einen „ C h r i s t e n im sittlichen S i n n e n e n n e n " . J e d e n f a l l s unterscheide sich seine „ L e b e n s a u f f a s s u n g und im b e s o n d e r e n seine religiöse S t e l l u n g himmelweit von der atheistischen H e r r e n m o r a l N i e t z s c h e s " .
1043 Meißner, Nr. 321, 1911).
Wilhelm,
Friedrich
Nietzsche
redivivus.
(DTZg
V e r f a s s e r vermißt an allen bisherigen V e r s u c h e n über N i e t z s c h e , daß sie „diesen L e b e n s d e u t e r " nicht „als eine Einheit, als ein M a ß d e r D i n g e und Menschen, die sich um uns d r ä n g e n und mit g r o ß e n W o r t e n kleine M e i n u n g e n v e r f e c h t e n " , bring e n . An einer Stelle heißt es, daß „ u n s e r e K u n s t . . . f ö r m l i c h nach den Renaissanceideen N i e t z s c h e s " schreie, und an a n d e r e r verspricht sich V e r f a s s e r von dem richtig g e w ü r d i g t e n N i e t z s c h e eine zweite R o m a n t i k . D a z w i s c h e n bespricht er das W e r k v o n E c k e r t z ( N r . 9 4 3 ) , an d e m einiges T r e f f l i c h e h e r v o r g e h o b e n wird. N u r scheue sich E c k e r t z , „ d i e K o n s e q u e n z e n aus seiner D a r s t e l l u n g zu ziehen, denn man sollte nicht über den H u m o r in N i e t z s c h e s S c h r i f t e n schreiben, o h n e zu s a g e n , daß uns aus ihm d e r Sinn eines deutschen H u m o r s , d a s L a c h e n und W e i n e n aus heiliger Fröhlichkeit, erst eigentlich e r w a c h s e n muß. D a ß er hier an L u t h e r anknüpft, H a r t mann von A u e , an Fischart, an W o l f r a m v o n E s c h e n b a c h , an alles w a s uns seitdem in einer K o r r e k t h e i t d e r Internationalität verloren g i n g o d e r v e r k ü m m e r t e . "
1044 Eckertz, Dr. Erich (Düsseldorf), Nietzsche der Mensch und Dichter. (Ma 6. J g . , H . 32 f., 1911, S. 502—505, 519—523).
1911 H a n s Fallada — H e r m a n n Eris Busse
471
Verfasser beginnt mit der Behauptung, daß sowohl Nietzsches Gegner wie auchi seine Anhimmler ihn mißverstehen, da man „von jeher seine Worte von seiner Persönlichkeit zu sehr gelöst" habe. Der „Grundton" seiner Werke sei „eine neue und ganz starke Liebe zum Leben". Sein Schicksal sei es gewesen, „aus einem gesunden und kraftvollen Menschen ein Verfallener und Hinsiechender" zu werden, „ohne daß dabei jedoch das sichere Gefühl der Kraft und der Größe geschwunden wäre". Mehr Dichter als Denker habe er „durch sein heroisches Vorbild die äußersten Denk- und Lebensmöglichkeiten angegeben. Er hat das alte Leben aufs neue entd eckt, und mit dem dichterischen Ausdruck seines Werkes hat er zu diesem Leben überredet und verführt." 1045 rt., N i e t z s c h e in Graubünden. Eine Saison-Erinnerung. (FrR v. 13. 8. 1911). Würdigt Nietzsche als einen Bewunderer der Welt Graubündens, hauptsächlich nach dessen brieflichen Äußerungen. Von einigem Belang ist eigentlich nur die Schilderung des Aufenthalts in Chur 1887, von dem es heißt: „Sein Quartier hat Nietzsche auf dem Rosenhügel aufgeschlagen, bei einem Lehrer. Es war der verstorbene Stadtschullehrer Christ, dessen Frau Jahre lang das Gasthaus zum Rosenhügel führte. In der Familie Christ lebt heute noch die Erinnerung an den Fremdling, der nicht eben große, aber umso seltsamere Ansprüche machte, unter anderem verlangte, daß man sämtliche Wandbilder, Spiegel und dergl. in seinem Zimmer entfernte. Der schwer augenleidende Mann wurde durch die kleinste helle Fläche belästigt- Auch seine stundenlangen einsamen Gänge sind unvergessen." 1046 M y n o n a , Freier der Wahrheit. (Zum T o d e s t a g e Nietzsches). ( D A N r . 28, 1911, Sp. 878 f.). Kant habe einen Meuchelmord an der Dame Wahrheit verübt, doch als Schopenhauer sie in „dero Grabkämmerchen" habe aufsuchen wollen, da sei sie „derart lebendig, hitzig, furios" erschienen, „daß der eingefleischte Junggesell Hals über Kopf davonstürzte". Erst von „Friedrich, dem Großen", sei sie bezwungen und nun „wieder einmal Witwe" geworden. Als Unterprimaner in Rudolstadt hat H a n s Fallada im S o m m e r oder Herbst 1911 die Bekanntschaft mit N i e t z s c h e s W e r k e n gemacht, und er bez o g sich darauf damals in einem Brief an seine Schwester: „Für mich k o m m t überhaupt erst in zweiter Linie der Philosoph N i e t z sche, viel wichtiger ist mir der W o r t - und Stilkünstler. Für eine schöne Sprache bin ich überhaupt sehr eingenommen." 3 6 8 V o n einer B e g e g n u n g mit N i e t z s c h e in dessen Schriften w e i ß H e r mann Eris Busse zu berichten, daß er sich mit ihm in seiner Uberlinger Zeit um das Jahr 1911 „herumgebissen" habe. 369 368
369
N a c h Jürgen Manthey, H a n s Fallada in Selbstzeugnissen u. Bilddokumenten. R o w o h l t . (Reinbek b. H a m b . 1973), S. 40. ( = rowohlts monographien 78); Fallada, H a n s (eigentl. Rudolf Ditzen, Greifswald 21. 7. 1893 — Berlin 5. 2. 1947), Schriftsteller. H . E. B., Mein Leben. Junker u. Dünnhaupt, Bln. 1935, S. 30; Busse, H e r m a n n Eris (Freiburg i. Br. 9. 3. 1891 - ebd. 15. 8. 1947), Schriftsteller.
472
1911 Johannes Maria Verweyen
1047 Bertram, Dr. Ernst, Nietzsche und die Berge. (DAZg 1. Sept.Heft 1911, S. 2 7 9 - 2 8 2 ) . Verfasser würdigt den „Propheten aus den Bergen", i n d e m er Äußerungen Nietzsches zur Gebirgslandschaft, bes. zum O b e r e n g a d i n , aus W e r k e n und Briefen zusammenstellt: „Hier ist ein Geist, wie vorherbestimmt für das H o c h g e b i r g e und für alles, was in physischer wie in übertragenster seelischer B e d e u t u n g gebirgshaft ist."
1048 Verweyen, Johannes Maria (Bonn), Jesus und Nietzsche über das Unbedingte. (Tat 2, 1911, S. 608-625). 3 7 0 „Die Idee des Unbedingten" ist dem Verfasser „die G r u n d l a g e der ganzen M o ral", und er meint, der Ethiker werde „mit besonderem Interesse . . . die Richtung auf das Unbedingte in den Reformatoren verfolgen". In diesem Z u s a m m e n h a n g
370
S. sein Erinnerungswerk: Heimkehr, eine religiöse Entwicklung. Frankes Vlg. Breslau 1941, S. 65 f. (über Ernst Horneffer, den Verfasser als Vortragenden im Winter 1905/06 erlebte und der „im Geiste Nietzsches eine radikale christus- und kirchenfeindliche Richtung vertrat"), 83 (über Raoul Richter und Heinrich Hasse und deren Nietzsche-Werke), 111 (über den von einem Kolleg Albert Langs, „Nietzsche und das Christentum", empfangenen Eindruck), 114 (von einer Begegnung mit M. Faulhaber in Straßburg, in dem er „in meinem Ringen um Nietzsche einen verständnisvollen Berater zu haben" geglaubt habe, jedoch in dieser Hinsicht enttäuscht worden sei), 125, 128—132 (die hauptsächliche Auseinandersetzung und schließlich entschiedene Ablehnung im Anschluß an folgende Schilderung seiner Lehrtätigkeit in Bonn im Wintersemester 1910/11: „In dem gleichen Hörsaale trug ich . . . über .Nietzsche und die Gegenwart' vor. Ich . . . verbrachte also die Wintermonate ausschließlich mit dem Studium der Werke dieses umstrittenen Lebensdeuters, den ich als erster an der rheinischen Hochschule in einem Speziatkolleg behandelte und in die Kulturströmungen unserer Zeit hineinstellte . . . W a r ich doch selbst einst zu sehr geblendet durch viele unleugbare Teilwahrheiten in Nietzsches Lebenslehre. Fühlte ich mich doch in meinem eigenen Lebensgefühle kraftvoll angesprochen durch Zarathustraworte . . . Hatte es mir doch auch seine tapfere, geradezu .draufgängerische', Art sehr angetan, allem ,Morschen' in unserer sog. Kultur und .guten Gesellschaft' eine entschlossene Fehde anzusagen. Über dieser Begeisterung vergaß ich zunächst, wie so viele in unseren Tagen, die Schärfung des Blicks für die Fragwürdigkeit, ja, wie ich längst erkannt habe, völlige Unzulänglichkeit der weltanschaulich-metaphysischen Grundlagen der im Zeichen eines unbedingten Jasagens stehenden Lebensanschauung Nietzsches . . . Kann man es einem genauen Kenner Nietzsches, der sich jahrzehntelang eingehend mit seinen Werken befaßte, verargen, wenn er die a b s c h l i e ß e n d e T h e s e aufstellt: Nietzsches Lehre von der Welt als einem ,Chaos' wie seine Verkündigung des .Antichrist' führt direkt zum gottlosen, nihilistischen, russischen Osten; aber sie bildet in Ewigkeit keine Brücke zum deutschen Idealismus . . . Lange, allzulange blieb ich zu sehr im Banne Nietzsches, wenn nicht seiner Lehren im einzelnen, so doch der von ihm ausgelösten .Lebensstimmung'. Das Zarathustrawort : .Steigen will das Leben und steigend sich überwinden' rückte die Idee des .steigenden Lebens' in den Blickpunkt meines philosophischen Bewußtseins, ohne daß ich schon sofort die Frage eines Wertmaßstabes für Steigen und Sinken gebührend würdigte. In solchem Zeichen stand vor dem Weltkriege auch mein mehrmaliges Kolleg über .Problem der modernen Ethik'"), 135, 136, 142 f., 239, 242 (über den Unterschied zwischen Leibnitz und Nietzsche); Verweyen, Johannes Maria (Till b. Kleve 11.5. 1883 — Bergen-Belsen 21. 3. 1945), Philosoph, habilitierte sich 1908 in Bonn, 1918 zum a. o. Professor ernannt, 1934 seines Amtes enthoben und am 23. 5. 1942 ins KZ Sachsenhausen eingeliefert.
1911 Julius Bab
473
geht es um den Radikalismus Christi, um seinen „eisernen und unbeugsamen Willen zum Unbedingten". Die „,männlichen' Züge im Bilde des Christentums" habe Nietzsche „unter dem Einfluß der m e h r am B u d d h i s m u s als am C h r i s t e n t u m o r i e n t i e r t e n Mitleids-Moral Schopenhauers übersehen". „Bei aller unüberbrückbaren sonstigen Verschiedenheit des ganzen Weltbildes und der moralischen Verkündigung im einzelnen" walte aber „Geist vom Geiste" Christi bei Nietzsche, sei er „offensichtlich im tiefsten Wesen verwandt mit jenem". Verfasser erörtert dann mehr im allgemeinen den Wert des Zweifels der Religion als dem Glauben an das Unbedingte gegenüber. 1049 Brecht, Walther, Heinse und der ästhetische Immoralismus. Zur Geschichte der italienischen Renaissance in Deutschland. Weidmann. Bln. 1911. X V I , 195 S. In einem Abschnitt: Nachwirkung des „Ardinghello" (S. 62—67), deckt Verfasser Vergleichsflächen zwischen Heinse und Nietzsche, „der den modernsten ästhetisch gefärbten Immoralismus wieder an die Renaissance angeknüpft hat", auf. Ihre „geistige Verwandtschaft" ist dem Verfasser „zweifellos" und ihre Übereinstimmung „eine principielle". Heinses Immoralismus scheine „sogar echter, weil ursprünglicher und unbekümmerter, reiner ästhetisch, als Nietzsches ,AntimoraIismus', der noch so voller Moral ist". — „Nietzsche ist nur der Erstling der großen gegenwärtigen Bewegung, die, von dem bloßen wissenschaftlichen Rationalismus der Väter nicht befriedigt, bei der Romantik wieder anknüpft, um wieder zu einer v o l l e n Kultur zu gelangen; aber sicher hat Nietzsches Lehre uns den Blick für Heinse unbewußt geschärft." Erwähnungen Nietzsches sonst auf S. XVI, 2, 51, 55, 189.371 1050 Bab, Julius, V o n der Feindschaft g e g e n Wagner. ( D S b 7. Jg., Nr. 36 v. 7. 9. 1911, S. 1 7 1 - 1 8 0 ) . Geht von der Einstellung aus, daß „nicht Musikkritik, sondern Kulturkritik" über den „Fall Wagner" zu entscheiden habe, denn der Kampf gegen ihn sei „in Wahrheit ein Kulturkampf". Mit Wagner habe die Romantik „zum ersten Mal die Bühne erstürmt, die Macht an sich gerissen". „Gleich brutalisierte Romantik" habe die Zeit „in Hamerlings Versen und Makarts Bildern" hervorgebracht, und, „wer aus diesem peinlichen und unehrlichen Zeitalter heraus zu einer neuen Sachlichkeit . . . gelangen möchte, der weiß, daß der Weg dazu auf der ganzen Linie eine Abkehr von Wagner ist". An der Wende leuchte und verzehre sich „eine riesenhafte dunkle Fackel: das ist das Schicksal Friedrich Nietzsches". 372 371
372
Brecht, Walther (Berlin 31.8. 1876 — München 1.7. 1950), Literaturhistoriker, habilitierte sich 1906 in Göttingen f ü r deutsche Sprache und Literatur, 1910 Professor bei Poseo, 1914 in Wien, später in Breslau und München, 1937 vorzeitig in den R u h e s u n d . Bab, Julius (Berlin 11. 12. 1880 — Rosylin H e i g h u / U S A 12. 2. 1955), Kritiker, Schriftsteller, ging 1933 nach den USA. Eine ähnliche Stellung zu Nietzsche Wagner gegenüber verrät sich in: J. B., Fortinbras oder Der Kampf des 19. Jahrhunderts mit dem Geiste der Romantik. Sechs Reden. G. Bondi. Bln. 1914, S. 46 f.; s. a. S. 74 (Nietzsche über Goethe), 79—84 (die Hauptstelle über Nietzsche als Vertreter der dritten „Generation der romantischen Apostaten": „Nietzsche bedeutet in der Philosophie seiner späteren Zeit die weitaus
474
1911
1051 Baumgartner, O. G. (Zürich), Hölderlin und Nietzsches Zarathustra. (WL 4. Jg., H . 14 v. 15.9. 1911, S. 853—863). Verfasser möchte dartun, daß Hölderlins „ E m p e d o k l e s " der „Vater des Z a r a thustra" sei: „ D i e künstlerische Hauptidee der aus christlichem und heidnischem seltsam gemischten Erlöserfigur samt einer Reihe anderer Z ü g e haben ihren energetischen Ursprung in Hölderlins Empedokles." Die Belege des Verfassers reichen von schriftichen Erwähnungen Hölderlins bei Nietzsche bis zu einer eingehenden Zerlegung beider in Frage stehenden Werke vom Inhaltlichen wie vom Stilistischen her. Abschließend meint er, daß seine Ausführungen d a z u berechtigen, „in Hölderlins Werken und speziell in seinem Empedokles den U r s p r u n g des Zarathustra zu vermuten".
1052 Ruest, Anselm, Stirner und Nietzsche. Ein Vorwort. (DA 1. J g . , Nr. 29 v. 4. 9. 1911, Sp. 916 f.). 5721 Meint, daß bisher festgestellte Ähnlichkeiten bei beiden Denkern, etwa die „Ichbetonung", der „Individualismus" und das „Machtprinzip", nur „untergeordnete, sehr fern abgeleitete darum unvergleichliche Faktoren" betreffen. Erst durch Stirner habe Nietzsche erfahren, daß man auch „mit der Wahrheit tanzen, schweben lernen müsse", und gerade dieser „wäre vielleicht der innigste Berührungspunkt" zwischen beiden.
1052a
Dass, in D E 1. Jg., Nr. 1 v. 19. 1. 1919, S. 6).
1053 Eggenschwyier, W. (Turin), Nietzsche ein V o r g ä n g e r von William James? (FZg Nr. 270, 1911). Angeregt durch die Schrift von Berthelot, „ U n r o m a n t i s m e utilitaire. Le pragmatisme de F. Nietzsche et de H . Poincaré", lehnt V e r f a s s e r die darin enthaltene Bezeichnung Nietzsches als eines V o r g ä n g e r s von J a m e s ab. M a n könne sich „keinen schrofferen G e g e n s a t z denken . . ., als zwischen Zarathustras Erkenntnislehre und dem p o s i t i v e n Teil des Pragmatismus". Während J a m e s „die reine Vernunfttätigkeit, die objektive Erkenntnis nur verdächtigt, um uns an ihrer Stelle eine — noch viel verdächtigere s u b j e k t i v e Erkenntnis . . . anzupreisen, bleibt Nietzsche dem Ideal einer objektiven Wahrheit durchaus treu . . . Wenn sich Nietzsche radikalste Reaktion, die der romantische Geist im g a n z e n J a h r h u n d e n seit K a n t und G o e the hervorgerufen hat." Er k o m m e „zu dem Wahnsinn s o notwendig, wie Novalis zu seiner Auflösung, Immermann zu seinem jähen, frühen T o d e , und Kleist zu seinem Selbstmord".), 88, 117, 123, 140 (im Vergleich zu Ibsen), 145 (zu Strindberg). S. a. noch in dem viel später erschienenen A u f s a t z : Walt Whitman als V o r l ä u f e r N i e t z s c h e s : „,Ich bin der Lehrmeister von Athleten./Wer eine breitere Brust vor mir dehnt als die meine,/beweist nur die Breite der m e i n e n . / D e r ehrt meine Kunst am besten, der durch sie lernt, den Lehrer zu überwinden.' H a t nicht fast wörtlich so Friedrich N i e t z s c h e gesprochen, der ein Lehrer der aristokratischen Gesinnung zu sein glaubte? O rundbegrenzte Kugelgestalt des W o r t s ! Dies sind W o r t e Walt Withmans (so!), 30 J a h r e vor dem Z a r a t h u s t r a ' geschrieb e n ! " (J. B., Befreiungsschlacht. Kulturpolitische Betrachtungen aus literarischen Anlässen. J . Engelhorns N f . St. 1928, S. 153). 3 7 2 1 Ruest, Anselm (eigentl. Ernst Samuel, K l u m 24. 1. 1878 — C a r p e n t r a s , V a u C l u s e / F r a n k reich 18. 11. 1943), Literaturwissenschaftler, H e r a u s g e b e r der Zeitschrift „ D e r E i n z i g e " seit 1919.
1911 Neuausgabe des „Willen zur Macht"
475
stellenweise auch g e g e n die ,reine Objektivität' der wissenschaftlichen Asketen' w e n d e t , so geschieht es ausschließlich vom Lebensideal des Übermenschen aus, das mit N i e t z s c h e s Erkenntnistheorie durchaus nichts zu tun hat."
G X V a / G X V I Nachgelassene Werke. / V o n / Friedrich Nietzsche. / Ecce homo. / Der Wille zur Macht. / Erstes und Zweites (bzw.: Drittes und Viertes) Buch. / Zweite, völlig neugestaltete und vermehrte Ausgabe / des Willens zur Macht. / 11. und 12. Tausend. / 2. und 3. Tausend des Ecce homo. / Alfred Kröner Verlag Leipzig / 1911. X L I I S . ( = Vorreden v. Dr. O t t o Weiß), 3 BU., 502 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). / X S „ 1 Bl., 560 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). ( = Nietzsche's Werke. Zweite Abt. Bd. X V u. X V I = 7. u. 8. Bd. d. 2. Abt.). Im September 1911 fand der erste Kongreß der Internationalen Psychoanalytischen Gesellschaft, die erst im Vorjahr gegründet worden war, in Weimar statt. Ernest J o n e s erzählte von einem Abstecher, den einige der Teilnehmer unternommen haben: „A few of us t o o k the opportunity of paying our respects to Nietzsche's sister and biographer, who lived there, and she professed interest in various connections we had found between her famous brother's psychological insight and what psychoanalysts were now revealing in their daily work." 3 7 3 1054 Saenger, Samuel, Nietzsche-Briefe. ( N R s Bd. 22, Nr. 10, 1911, S. 1479—1483). Eine recht lobende W ü r d i g u n g der gesammelten Briefe, der sich nur ein Mißklang beimischt: M a n vermisse „mitten in diesem Reichtum . . . ein bißchen R u h e vor der t a u m e l n d e n E r k e n n t n i s b e g i e r d e " , man sehne sich „nach epischen Inseln". — „ E s ist hier in den B r i e f e n wie in den W e r k e n . J e näher das E n d e , desto schrillere T ö n e mischen sich ein, d e s t o ruheloser, lauter, unterstrichener wird der A u s d r u c k , desto u n d u l d s a m e r wird die B e h a n d l u n g aller überlieferten W e r t u n g e n und O r d nungen."
1055 Havenstein, Martin, Franz Overbeck. Ein tragisches Theologenschicksal. (Tat 3. J g . , H . 7 f. v. Okt. u. Nov. 1911, S. 3 2 5 - 3 3 8 , 389-403). Eine ihrem G e g e n s t a n d z u n ä c h s t sehr geneigte W ü r d i g u n g O v e r b e c k s und besonders dessen Schrift „ U b e r die Christlichkeit unserer heutigen T h e o l o g i e " . Darin zeige sich O v e r b e c k „als der K i e r k e g a a r d der T h e o l o g i e " . E r sehe „ d e n K e r n des Christentums . . . in der düsteren Lebensansicht und der d a r a u s sich ergebenden weltflüchtigen L e b e n s p r a x i s " , einen K e r n , den alle drei theologischen Richtungen,
373
E. J., Free Associations. Mémoires of a Psycho-analyst. Basic Books. New York (1959), S. 216.
476
1911 „Im Ganzen wird Nietzsches Psychologie nie eine Bedeutung gewinnen."
„die apologetische, . . . die liberale, . . . und die kritische", preisgegeben haben. Das Tragische an seinem Geschick sei, daß er sich dieser ersten Tat nicht gewachsen zeigte, eine „für ihn so verhängnisvolle Tat", die er „unter dem Einfluß Friedrich Nietzsches" getan habe. „Mögen die Gedanken, die Overbeck ausspricht, ihm selbst ursprünglich angehören, — d a ß e r sie a u s s p r a c h , war Nietzsches Werk."
1056 Ilgenstein, Heinrich, Schülerlektüre. ( D A Nr. 37 v. 30. 10. 1911, Sp. 1 1 5 7 - 1 1 6 1 ) . Knüpft an einen Schülerdoppelselbstmord an, bei dem Nietzsche, Schopenhauer und Oscar Wilde als „Jugendverderber" angeprangert wurden, um die Gründe solchen Vorkommens aufzuspüren. Die Schuld schreibt er dem übertrieben Historischen und ewig Rückschauenden an der damaligen Schullektüre zu. Die „beiden armen Jungen in Rudolstadt" seien eher an „Klopstock und Co. als an Za-, rathustra gestorben". 1057 Riedmann, Max, Friedrich Nietzsche als Psychologe. Fr. Kortkamp. Lpz. 1911. 135 S. In seiner ersten Periode sei Nietzsche „zu subjektivistisch", „das ganze psychologische Bauwerk" stehe „doch auf zu wenig sichern Füßen, als daß man dem Baumeister Nietzsche den Titel Psychologe verleihen könnte". Dennoch könne er hier schon „ein Hinweis sein, sich mehr wie üblich die Psychologie zur Lösung kultureller Fragen dienstbar zu machen". Er habe „manch unsterblichen Gedanken über die Griechen und die Deutschen, Schopenhauer und Wagner, sowie über die Wirkungen der Geschichtswissenschaft der Menschheit hinterlassen". In der mittleren Periode verfolgt Verfasser die Bloßlegung „der Gruppe der Künstler, Heiligen und Priester, des religiösen und moralischen Menschen", zu der sich „auch noch das Weib" geselle. Zum Schluß der Würdigung der dritten Periode lautet aber das endgültige Urteil: „Im Ganzen wird Nietzsches Psychologie nie eine Bedeutung gewinnen. Ist es schon ungangbar, eine allgemein genommene Einsicht (den Willen zur Macht) auf die Psychologie anzuwenden; also schon mit gewissen Vorurteilen an diese heranzutreten, so sind auch gelegentliche Beobachtungen und seien sie noch so scharf, nicht genügend, sich den Namen als Psychologen zu sichern." Ein letzter Abschnitt ist dem Leben Nietzsches gewidmet, das anhand der Lebensbeschreibung der Schwester beleuchtet wird. Schließlich werde Nietzsches Psychologie „mehr den Künstler als den Gelehrten anziehen . . . Doch können Nietzsches Werke auch zur Fundgrube für die Wissenschaft werden. Geläutert und verarbeitet, wird sich aus dem Erz helles, glänzendes Metall ergeben." BF Ein unbekannter Brief Nietzsches. ( R h W Z g Nr. 280, Abendausg. v. 17. 11. 1911). Unvollständiger Abdruck des Briefes vom 11. 12. 1888 an Dr. Carl Fuchs, der aber damals, wenn auch mit mindestens einer Lücke, bekannt war. Die vorliegende Veröffentlichung bringt lediglich einen zusätzlichen Satz, der in die Lücke fällt. BFa Auch in FZg Nr. 320, 1911. Unverändert.
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1912 „an sittlicher Strenge Kant ebenbürtig"
1058 Pfänder, Prof. Dr. Α., N i e t z s c h e , (In: G r o ß e D e n k e r . H g . v. E. v. Aster. 2. Bd. Quelle & Meyer. Lpz. 1911, S. 331— 360). 574 Am Ende der Reihe Spinoza, Leibniz, L o c k e / H u m e , Kant, Fichte, Hegel, Schelling, Schopenhauer und Herbart und vor dem Schlußbeitrag, „Die philosophischen Richtungen der Gegenwart", steht der über Nietzsche. Verfasser möchte den „wesentlichen Gehalt dieser Philosophie", die sich um „die Grundprobleme des Menschenlebens" bemühe, herausheben. Er findet ihre „Grundlage" in der „ausdrücklichen Bejahung des Lebens trotz aller Leiden" und bietet dazu eine recht sachliche Darstellung, vor allem des Nietzsche der dritten, „wichtigsten" Periode. Recht bedenklich zur Gestalt Nietzsche äußerte sich dagegen Windelband in dem Schlußbeitrag: „Er lebte das Leid und die Krankheit der Zeit, den impotenten Tatendurst, und er vermochte dies innerste Leben nur in glänzende Bilder, nicht in klare Begriffe zu formen. Aber die ausgebreitete Wirkung, die er weit über die deutsche Literatur hinaus geübt hat, ist doch nur der Beweis dafür, daß dieser neue Sinn für die Philosophie, wie er aus Weltanschauungsbedürfnissen erwachsen ist, schwer der Gefahr entgeht, sich poetisch und — belletristisch zu befriedigen. Unter solcher unheimlichen Popularität leidet die heutige Philosophie . . . " 1059 Messer, Prof. Dr. A. (Gießen), Kant und N i e t z s c h e . (FZg Nr. 342 v. 10. 12. 1911). Verfasser meint, daß es zwischen Kant und Nietzsche „verborgene Beziehungen" gebe, die sogar „recht bedeutsam" seien. „Im Hinblick auf gewisse Grundanschauungen" lassen sie sich „als Glieder e i n e r Entwicklungsreihe auffassen". Nietzsche sei eben auf der Bahn, die Kant „nach langem Ringen mit dem Alten und zögernd eingeschlagen, kühn und kraftvoll weitergeschritten". Verfasser bekräftigt seine Behauptungen durch Darlegung der Ansichten beider über „Gott, Freiheit und Unsterblichkeit" und schließt mit der Feststellung, daß Nietzsche „an sittlicher Strenge Kant ebenbürtig ist". BG Einsiedlers Sehnsucht / V o n Friedrich N i e t z s c h e . (LA a. d. Jahr 1912, S. 83 — 86). Aus den G e s a m m e l t e n Briefen, GBIII, S. 243 ff. BH N i e t z s c h e an Malwida v o n M e y s e n b u g / N i e t z s c h e an Erwin Rohde. (Ebd., S. 1 2 9 - 1 3 3 ) . D e r Brief an Malwida verkürzt aus den G e s a m m e l t e n Briefen, GBIII, S. 466 ff.; der an R o h d e aus GBII, S. 5 7 3 ff. BI (Friedrich N i e t z s c h e : ) V o n den Hinterweltlern ächtern des Leibes / V o n Kind und E h e / D i e S o n n e sinkt (In: D i e heilige Erde. Ein H a u s b u c h für freie Menschen. O t t o Ernst. H g . v. Louis S a t o w . E. Reinhardt. Mchn. 167 ff., 211 ff., 320, 3 2 6 ff.). 1060
Strecker,
Karl
(Berlin),
Neue
/ V o n den V e r / D a s Nachtlied. M. e. Geleitw. v. 1912, S. 3 3 — 3 7 ,
Nietzsche-Literatur.
14. Jg., H . 7 v. 1. 1. 1912, Sp. 4 7 3 - 4 7 6 ) .
374
Pränder, Alexander (Iserlohn 7. 2. 1870 -
München 20. 3. 1941), Philosoph.
(DLE
478
1912
Bespricht den 14. Band der W e r k e (GXIV) und befaßt sich dabei hauptsächlich mit dem „Willen zur Macht", da das „Ecce h o m o " , „dies seltsamste aller Selbstbekenntnisse", schon f r ü h e r „hinreichend beleuchtet" worden sei. Auch im „Willen zur Macht" erlebe man „ein titanisches Ringen dieses mutvollen Selbstbezwingers wie auf allen seinen Wegen". Mitbesprochen werden die Briefausgabe von Oehler (BD), die „eine sehr verständige Auswahl" biete, und die Werke von Friedländer (Nr. 1006), bei dem man mitunter meine, „Nietzsche selber zu hören, ohne daß man doch seine Worte hörte, so bildkräftig ist der Ausdruck, so kühn und doch nicht tollkühn der Gedankenflug"; von Havenstein (Nr. 554), der mit einer „herzvollen Frische und Schlagkräftigkeit" gegen die „stupide Philisterabstempelung" Nietzsches als eines „Jugendverderbers" vorgehe; und von Oehler (Nr. 1012), der gerade darauf hinweise, daß Nietzsche „als Bildner der Persönlichkeit einen hohen erzieherischen Wert hat". Zum Schluß meint Besprecher, daß Nietzsche darum „der modernste Philosoph" sei, „weil er der erste ist, der es aufgibt, die Welt als Ganzes, erklären zu wollen".
1061 Baumgartner, O. G. (Zürich), Nietzsche und die Bibel. (WG 5, H. 8 v. 15. 1. 1912, S. 526—531). Ein auf wenigen Seiten eingehender Vergleich des „Zarathustra" mit dem Neuen Testament, der in die Feststellung ausläuft: „Als eine der großen durch die Jahrtausende geprägten N a t u r f o r m e n tritt uns die Bibel aus der Geschichte des Menschengeistes entgegen. Weniger hart als dies Urgestein, in sich zerklüftet und tausendfach gespalten, aber doch gleich jenem aus e i n e m großen Gusse steht Nietzsches Zarathustra daneben."
1062 Urbach, Prof. Otto (Dresden), Nietzsches Briefe. (NMZg 33. Jg., H. 4, 1912, S. 8 3 - 8 6 ) . Eine äußerst begeisterte Empfehlung der Briefauswahl von Oehler (BD), die „auf alle Fälle . . . als eine wundervolle Bereicherung der deutschen Literatur und als eines der wichtigsten Denkmäler aus herrlicher Zeit den weitesten Kreisen zur Freude und Belehrung dienen" werde.
1063 Speck, Hermann B. G., Wagner und Nietzsche. (RWJb 4. Bd., 1912, S. 6 1 - 7 3 ) . Da Verfasser der Meinung ist, daß hinsichtlich des Nietzsche-Wagner-Verhältnisses, „von kleinen Einzelheiten abgesehen, durch eine Reihe von Untersuchungen der wahre Sachverhalt jetzt ziemlich richtig erkannt ist und wesentlich neue Einsichten nicht mehr gewonnen werden können", so möchte er „nur eine Darstellung dessen geben, was sich aus den neueren und neuesten Veröffentlichungen über die jetzt herrschende Auffassung der Beziehungen" ergebe. Er schließt mit der versöhnlichen Behauptung, daß es sehr wohl möglich sei, „das Werk b e i d e r Männer in die eigne geistige Entwicklung zu verarbeiten ohne die Notwendigkeit, den einen von beiden zu anathematisieren".
1064
Ders., (Ebd., S. 252—255).
Bespricht die Werke von der Schwester („Der junge Nietzsche"), das „im großen und ganzen . . . die V o r z ü g e " der früheren Ausgabe „in der anziehenden Dar-
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1912 Hermann Burte S t e l l u n g " h a b e , a b e r a u c h d e r e n „ N a c h t e i l e in d e r f e m i n i n - m y o p i s c h e n t u n g s w e i s e des g r o ß e n
Denkers
— u n d seines Z e i t g e n o s s e n W a g n e r " ;
BetrachEckertz
( N r . 9 4 3 ) , in d e m m a n „ e i n e n z u v e r l ä s s i g e n und w o h l u n t e r r i c h t e t e n F ü h r e r " zur „ e m m e n t e n S p r a c h g e w a l t " N i e t z s c h e s f i n d e n k ö n n e ; H e i n r i c h ( N r . 7 3 5 ) , ein anreg e n d e s und interessantes B ü c h l e i n ; und v o n Friedrich ( N r . 9 3 6 ) , das t r o t z m a n c h e r M ä n g e l „ a l s .ehrliche A r b e i t ' und als i n t e r e s s a n t e r V e r s u c h , m o d e r n s t e s Leben und G e i s t e s s c h i c k s a l g r ö ß t e n Stils dichterisch zu g e s t a l t e n , w o h l a n z u e r k e n n e n " sei.
Eine recht eigenartige Wirkung Nietzsches läßt sich in dem im Januar 1912 erschienenen Roman von Hermann Burte: Wiltfeber, der ewige Deutsche. Die Geschichte eines Heimatsuchers. (Hier nach der 26. — 35. Aufl. G. K. Sarasin. Lpz. 1921) feststellen. Nach neun Jahren „in der Fremde" kehrt der 27jährige Martin Wiltfeber, „ein Geistiger . . ., ein Mann des Reinen Denkens", ins heimatliche Dorf Greifenweiler „im Rheinwinkel" zurück, „um Gerichtstag zu halten am Johannistage". Am Ende dieses einzigen Tages stellt er das Ergebnis seiner Bemühungen dar: „Ich suchte Schönheit und fand den Wust; ich suchte ein Dorf, da lag es im Sterben; ich suchte den Gott der Leute in der Heimat, da war es der Stammesgott, das vergottete Rassenselbst einer Wüstensippe; ich suchte die Macht, da war sie geteilt unter alle, so daß keiner sie hatte und nichts getan werden konnte; ich suchte den Geist, da faulte er in Amt und Gehalt; ich suchte das Reich, da war es eine Herde Enten, welche den Aar lahmschwatzten; ich suchte meine Rassebrüder: da waren es Mischlinge siebenten Grades, bei denen jedes Blut das andere entartete; ich sah nach ihrer Lebensfürsorge, da war es ein gegenseitiges Verhindern; und als ich endlich nach den G e i s t i g e n sah, nach denen, deren Arbeit allein mit Sinn begabt das Werklein der Menschen, da waren sie in das Blondenviertel gebannt und totgeschwiegen . . . Nur eines blieb mir lieb, das waren die heimlichen Helden, die geduldigen Mühseligen, die leidenden Sucher, da litt ich mit, da fühlte ich Stücke meiner Art; freilich, verehren kann ich sie nicht." (S. 334) So recht zarathustrisch klingt die Sprache des Ganzen, so zu Anfang der Suche, zwischen Grabsteinen auf dem heimatlichen Friedhof: „Also redete Wiltfeber mit sich selber auf dem Gottesacker und sagte: Wenn so die Totenfelder mich lehren, was suche ich auf den Äckern der Lebendigen." (S. 13) Seine Einstellung macht sich deutlich in den folgenden Worten: „Der Selbstbeflecker von Genf hat aus seinem unreinen Munde den Pesthauch in die Welt geschnauft . . ., als er schrie: Zurück zur Natur! Da brach der Haufe los und erschlug die Edeln ! Und mit den Edeln wurde die Kunst erschlagen! Denn die Edeln hielten die Kunst aus, diese göttliche Dirne!" (S. 12) Dem alten Wilhelm Wittich, dem Bauern und Jäger, macht er die Offenbarung: „In der Stadt, in der steinernen Wüste, wo die Blonden verwesen und die Langbeinigen siechen, wo alles asphalten und backsteinen
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1912 „Wiltfeber"
und eisern ist, wo man keinen unverschalten Boden mehr tritt, da lohnt es sich nicht, zu leben; und was man zugunsten der Städte sagt, ist alles Trost von Sklaven für Kranke." (S. 65) Dem alten Wittich gegenüber fällt auch die erste Anspielung auf Nietzsche: „Und was die Menschen im Allgemeinen und im Ganzen wollen, das erkannte ich im Augenscheine des Geistes: G e l t e n wollen alle, g e l t e n in der Welt. Weder Wille noch Vorstellung ist ihnen die Welt und sie haben auch nicht den Willen zur Macht: sie wollen weder e r k e n n e n noch h e r r s c h e n , sondern g e l t e n . . . Und die Sittenlehrer kenne ich auch: Der g r o ß e S p r ü c h e m a c h e r schrie und schrieb gegen den Pöbel und seine Herrschaft; Der k l e i n e W ü n s c h e m a c h e r schreit und schreibt gegen die Wenigen und ihre Herrschaft; der vornehme Mensch, der ehrsame Müßiggänger empfand und erfand als sein Ziel den Ü b e r m e n s c h e n . Der gemeine Mensch aber, der Arbeitgänger, der möchte alle andern zu Leidensgenossen haben und lehrt als Ziel den Ü b e r s t a a t . Aber beiden entsteigt ihr Wunschbild demselben Krankheitsfelde: sie leiden beide an der W u n s c h s u c h t d e s E n t s c h o l l t e n . " Wiltfeber „sucht aber nicht den Ü b e r m e n s c h e n , und ein Greuel ist ihm der Ü b e r s t a a t " . Seine Lehre heißt: „Der Übergott, welcher verschlingt alle Götter . . . Er ist wahrhaftiger Mensch und wahrhaftiger Gott, es ist: D E R R E I N E KRIST, ja der reine Krist." (S. 69 f.) Nach der Unterredung mit dem alten Meister spricht Wiltfeber leise „zu sich das berühmte Wort des Sprüchemachers: .Trachte ich denn nach dem Glück? Ich trachte nach meinem Werke!'" (S. 84) Die Zielscheibe seines Zornes wird etwas später beim Turnfest noch deutlicher: „Der Bürger hat weder das Ehrgefühl des Edelmanns, noch das Klassenbewußtsein des Arbeiters: er haßt nach oben und tritt nach unten; aber da ihm der Herrschverstand der Obern und der männliche Machtwille der Untern fehlt, und außer dem Ruhebedürfnis kein Gemeinsames zwischen den Bürgern ist, so ist er gezwungen, bald mit den Edlen, bald mit den Gemeinen zu pakten." (S. 106) In der Kirche entwikkelt er vor sich hin seine Vorstellung vom Reinen Krist, der mit Jehovah, dem „Stammesgötzen einer Wüstensippe", wenig gemeinsam hat. Nach dem Kirchgang besucht er die armen Stündler, die „Stillen im Lande", und kommt gerade zu einem Vortrage über Kaiser Julian den Abtrünnigen, an dessen Darstellung sich Folgendes anschließt: „Und mit einem andern Feinde des Mannes von Nazareth verglich der Redner den römischen Kaiser: mit dem deutschen Dichter und Denker Zarathustra, welchen Wiltfeber den Sprüchemacher nannte. Kraftvoll beschwingt und gefiedert sind die Reden Zarathustras, schön geformt und gegliedert; nur wenige haben die deutsche Sprache so klingen und jubeln, so sich biegen und tanzend wiegen lassen, wie er, der Sprüchemacher. Und er spie und schrie seinen Fluch gegen die Lehre und Sendung des Krist, ein Neuer Heide, ein anderer Ab-
1912 „Ein Block ist der Widerkrist auf dem Wege zum Krist."
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t r ü n n i g e r , ein rechter Widerkrist." (S. 146 f.) N a c h einem k u r z e n W o r t wechsel zwischen zwei Z u h ö r e r n über den „ Z a r t u n d a s t m a " ergeht die Bitte an W i l t f e b e r , auch einige W o r t e zu sagen, denn der V o r s t e h e r meint: „Und w e n n ich nicht irre, so kann er uns über den neuen Abtrünnigen mitteilen, was nötig ist, um ihn zu verstehen." (S. 149) Hiermit setzt die Hauptstelle (S. 148—159) ein. Im Sinne hat Wiltfeber, „das Leben des Widerkrists so zu e r z ä h l e n , daß ein jeder an den Krist erinnert w ü r d e und erkennen möge, wie ähnlich die Lebensläufe von Feinden sind". Seine Rede endet mit den W o r t e n : „Ein Block ist der Widerkrist auf dem W e g e z u m Krist. W e r hin will zum Heiland am K r e u z e , der m u ß diesen Block d u r c h b o h r e n oder überspringen: W o h l dem, der gute Z ä h n e hat oder f e d e r n d e Sprunggelenke! A u ß e r , es sei, man umschleiche den Block: aber das ist kein W e g f ü r die W a h r h a f t i g e n , sondern f ü r Feiglinge, H a s e n h e r z e n und Fürchtebutze." Die Anwesenden nehmen an den W o r t e n Anstoß, Wiltfeber spricht aber noch deutlicher: „ D e r Krist ist einer Sichel vergleichbar; einer Sichel vergleiche ich den Widerkrist; vereinigt die Sicheln, und ihr habt den Ring der V o l l e n d u n g . Dieser Ring aber, welcher k o m m e n wird, so sicher wie der V o l l m o n d nach dem Viertel, das ist der Reine Krist." Später, ehe er am E n d e desselben einen Tages vom Blitz erschlagen wird, k o m m t er vor den „Lauten im L a n d e " wieder k u r z auf Z a r a t h u s t r a zu sprechen und meint, „es ist Z a r a t h u s t r a s Verhängnis, d a ß er den Glauben mit Glauben bekämpft. D e r gläubige Jasager und der gläubige Neinsager, die Bekenner der G o t tessohnschaft und ihre Leugner sind Gleiche . . . " (S. 198)375 1065 Strecker, Karl (Berlin), D e r junge Nietzsche. (FZg N r . 51 v. 2 1 . 2 . 1912). Eine sehr wohlwollende Besprechung der Neuauflage der Lebensbeschreibung von der Hand der Schwester (s. Bd. I), die, „wenn auch keineswegs ,die' NietzscheBiographie, auf die unsere Literatur früher oder später einmal Anspruch hat", dennoch „alle Bausteine zu einem so wichtigen Werk" geliefert habe. .1066 Ders., Nietzsches D e u t s c h t u m . ( T R s 32. Jg., N r . 44 v. 21. 2. 1912, Unterhaltungsbeil.). Zu den stärksten Fesseln, die Nietzsche sein Leben lang abzustreifen bemühte, gehörte neben der des Christentums und „stärker" noch als die Schopenhauers, Wagners und der Philologie, diejenige, die ihn am Deutschtum festgehalten habe. Sich vor allem auf Äußerungen Nietzsches bis auf die Zeit des Deutsch-französischen Krieges stützend meint Verfasser, „die bisherige Nietzsche-Literatur" habe „meist hartnäckig übersehen, wie tief ursprünglich die Wurzeln der vaterländischen Begeisterung bei dem Menschen Nietzsche greifen". „Gerade die Helligkeit und 375
Burte, H e r m a n n (eigentl. H . Strübe, Maulburg/Baden 15. 2. 1879 — Lörrach 21. 3. 1960), Dichter, Bühnenschriftsteller und Maler, f ü r den „Wiltfeber" erhielt er 1913 den Kleistpreis.
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1912 Ein „Durchbruch der impressionistischen Kultur der Reizsamkeit"
freudige Lebensbejahung der Nietzscheschen Philosophie" entwickele „ihre feinsten Wurzelfäserchen schon in jenen frühen Zeiten . . ., da der Siegeslauf unserer Heere und die Meisterschaft einer groß angelegten deutschen Politik die Größe und Einheit unseres Volkes begründeten". 1 0 6 6 / 1 M e y e r h o f - H i l d e c k , Leonie, V o m Schilde des Achill. RivieraPlauderei. (FZg 56. Jg., Nr. 57, 2. Morgenausg. v. 26. 2. 1911). Verfasserin schreibt eigentlich einen Reisebericht über einen Besuch an der ligurischen Küste und besingt dabei das Mittelmeer als das „Schild des Achill". Gegen Schluß kommt sie auf Ruta zu sprechen, wo sie das Hotel, in dem Nietzsche wohnte, zu sehen bekommen habe und sich über eine dort angebrachte Tafel mit falschen Angaben entrüstete: „Hier wohnte und schrieb Prof. Dr. F. Nietzsche von November 1888 bis März 1889 und im Februar und März 1890." Darauf suchte sie den ehemaligen Wirt des Hauses auf und ließ sich einiges Wenige von ihm über Nietzsche erzählen. 1 0 6 6 / l a Auch in Nr. 9 5 / l a , S. 608 f., mit irrigen Angaben über die Veröffentlichung (12. 2. 1915) und die Zeit des Gespräches ( 1 8 8 2 / 8 3 ) . 1067 Hegemeister, Walter, Friedrich N i e t z s c h e s Geschichtsauffassung, ihre Entstehung und ihr Wandel in kulturgeschichtlicher Beleuchtung. R. Voigtländer. Lpz. 1912. 3 Bll., 48 S. ( = Beiträge z. Kultur- u. Universaigesch. hg. v. Karl Lamprecht. 19. H.). Verfasser, der sich durchweg den Anschauungen Karl Lamprechts verpflichtet zeigt, stellt Nietzsche kulturgeschichtlich in „die zweite Periode des Subjektivismus", die seit „Ende der sechziger und Anfang der siebziger Jahre schließlich der ganzen psychischen Welt unserer Nation ein neues Antlitz" gegeben habe, hinein. Zur „Reizsamkeit" dieser Periode sei aber bei Nietzsche, durch den Einfluß Schopenhauers und bestärkt durch den Umgang mit Burckhardt, eine „Strömung früheren Geisteslebens", eine „individualistische Geschichtsauffassung", hinzugekommen. Erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre ergebe sich „eine Cäsur", „die nach rückwärts eine Periode individualistischer und antievolutionistischer Geschichtsauffassung abschließt und andererseits Jahre kollektivistischen und evolutionistischen Denkens einleitet". Bei der Darstellung des ersten Nietzsche betont Verfasser dessen „Zusammenhang mit der Kulturgeschichte und damit der Völkerpsychologie", vor allem in der Gestalt Buckles. Er lasse sich insofern „in die Entwicklung der Kulturgeschichtsschreibung" einreihen, „wie sie durch Herder und die Frühromantik aufgekommen ist, um in den folgenden Jahrzehnten bis zirka 1860 nur eine Unterströmung im Geistesleben unserer Nation zu bilden". Seine Auslegung des Griechentums sei aus der „Romantik und Ihrem Pessimismus" herzuleiten und „stark von Schopenhauers ästhetischer Willensmetaphysik beeinflußt". Erst in der zweiten Hälfte der 70er Jahre habe Nietzsche sich „von Schopenhauers antihistorischem Weltbild abgewandt" und sei „der Wagnerischen Mission immer mehr und mehr feindlich" entgegengetreten. Jetzt erst erfolge ein „Durchbruch der impressionistischen Kultur der Reizsamkeit", er stehe nun „dem Einfluß evolutionistischer Be-
1912 Ein Vertreter „der modernen Kulturgeschichtsschreibung"
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trachtung des zweiten Subjektivismus offen". Wie er sich in „seiner dritten Schaffensperiode" auch immer zur „evolutionistischen Dezendenztheorie und zum Selektionismus Darwins" gestellt haben möge, „zweifellos ist . .., daß die Strahlen, mit denen er von nun an . . . die Geschichte beleuchtet, zum großen Teil in der Linse darwinistischer Weltanschuung sich brechen". An der Entwicklung einer „kollektivistischen Geschichtsauffassung" habe er auch „besonders unter dem Einfluß Gobineauscher, höchstwahrscheinlich auch Wagnerscher Theorien" gestanden. Nietzsche habe letztlich, unter dem Einfluß von Burckhardt und Darwin, zu einem Standpunkt hingefunden, wie er „von der modernen Kulturgeschichtsschreibung vertreten und von Lamprecht" verfochten werde. Seine „Geschichtsauffassung" zeige in ihrem „letzten Feuerschein Wege, die hinüberführen zu den fundamentalen Anschauungen unserer heutigen Kulturgeschichtsschreibung, zum Verständnis gesamtpsychischer Erscheinungen und seelischer Abwandlungen durch Konventionalismus, Individualismus und Subjektivismus". 1068 Rott, Prof. J. (Saaz in Böhmen), Nietzsche und die klassische Bildung. ( B D E 14. Jg., 1912, S. 4 - 8 ) . Verfasser wundert sich darüber, daß „die Freunde des humanistischen Gymnasiums" glauben, in Nietzsche „für ihre Anschauungen einen neuen Schwurzeugen gefunden" zu haben, denn gerade die „klassischen" seien es gewesen, die „diesen originellsten Kopf und tiefsten Denker der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts bei seinen Lebzeiten mit wenigen Ausnahmen völlig unbeachtet gelassen" habe. Um den eigenen Standpunkt zu untermauern, daß „Wertschätzung der Antike nicht sofort Anerkennung der philologischen Ansichten und Ansprüche" bedeute, stellt Verfasser eine den Gegenstand betreffende Blütenlese aus Nietzsches Äußerungen zusammen. Er schließt dann mit der Versicherung: „Mit Fug und Recht dagegen können sich die Reformer unter die Fahne des großen Denkers stellen. Die Bildungsanstalt der Zukunft wird der Antike im Geiste Nietzsches eine lebendige Wirksamkeit verschaffen." 1069 Havenstein, Martin ( Z P h K Bd. 145, H . 1, 1912, S. 116—122). Bespricht die Werke von Möbius (Nr. 187a), der vorgehe, „als wollte man Nervenfasern mit einem Fleischermesser präparieren" und dessen Behauptungen über Nietzsches Krankheiten „eher unwahrscheinlich" seien; von Knortz (Nr. 855), das „ohne Wert" sei; und von Arnold (Nr. 944), dessen Beurteilung Nietzsches „auf Falschmünzerei' der Begriffe beruht". 1069a Dass, (was Möbius betrifft, mit der Überschrift:) Friedrich Nietzsches Geisteskrankheit in fragwürdiger psychiatrischer Beleuchtung. (VZg Sonntagsbeil. N r . 37 v. 14. 9. 1913, S. 192 ff.). Etwas umgeschrieben und dabei um vier größere Einschübe erweitert. Die wesentlichste Erweiterung betrifft Ansicht des Rezensenten über den „Zarathustra" und dessen Bedeutung f ü r Nietzsche. In dem Werk habe er eine Tat vollbracht, die er nicht mehr ausgehalten habe: „ . . . sie war größer als er selbst und reizte daher unaufhörlich sein Selbstgefühl. Sobald er sie zu Gesichte bekam, reckte er sich innerlich auf, um ihr nicht ganz zu erliegen. Diese Seelenvorgänge, die menschlich
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1912 Conrad Alberti
durchaus verständlich sind, b e r g e n nach meinem E m p f i n d e n die tiefste W u r z e l der T r a g i k , die N i e t z s c h e s g a n z e s Leben durchzieht."
1070 Alberti, Conrad, Der Weg der Menschheit. Vierter ( = Schluß-) Band: Von Napoleon bis Nietzsche. Vita Dt. Vlgs.haus. (Bln. 1912). Im vierten B u c h : D i e P f l e g e des Ich, folgt N i e t z s c h e abschließend auf H ö l d e r lin und G o e t h e auf S. 4 7 4 — 4 8 2 . V e r f a s s e r betont, d a ß N i e t z s c h e kein Philosoph „im gewohnten Schulsinne" gewesen sei, „ s o n d e r n vielmehr ein in P r o s a schreibender Dichter, ein lyrischer P a n e g y r i k e r , der sich v o r g e n o m m e n hatte, die geistig Freien und Hochentwickelten zu begeistern". E r meint, sein N a m e sei schon „in der ersten H ä l f t e der 80er J a h r e . . . vielfach g e n a n n t " w o r d e n , und die „leidenschaftliche Begeisterung eines Teiles der m o d e r n e n deutschen J u g e n d f ü r die A u s d e h n u n g eines germanischen Imperiums gründet sich wenigstens z u m T e i l auf die L e k t ü r e seiner Schriften". E r sei z u m Leibphilosophen „jener politischen S c h u l e g e w o r d e n , die es liebt sich die »Alldeutschen' zu nennen", und auch „ d e r N ä h r v a t e r der heut weit verbreiteten R i c h t u n g " des „ E d e l a n a r c h i s t e n t u m s " . A u f den S . 4 7 9 — 4 8 2 bringt V e r f a s s e r einen Teil aus dem „ Z a r a t h u s t r a " und d a z u eine A b b i l d u n g nach der Zeichnung von Olde. 3 7 6
1071 Frehn, Julius, Nietzsche und das Problem der Moral. N e u babelsberg-Bln. Akademische Vlgs.-ges. (1912). 3 Bll., 80 S. V e r f a s s e r behandelt zunächst zwei E i n w ä n d e , die g e g e n N i e t z s c h e geltend gemacht werden, seine Systemlosigkeit und seine K r a n k h e i t . Z u m ersten meint er, daß wir erst seit N i e t z s c h e wissen, „ d a ß der f o r m a l e A u f b a u . . . einer Philosophie an B e d e u t u n g und W e r t g a n z zurücktritt hinter den V o r a u s s e t z u n g e n , mit denen m a n an das philosophische S c h a f f e n selbst h e r a n g e h t " . Z u r K r a n k h e i t setzt er sich mit Möbius ( N r . 187) auseinander. W a s dieser „als Psychiater über die wichtigsten Beziehungen zwischen N i e t z s c h e s philosophischer Produktivität und seiner K r a n k heit" z u sagen habe, k o m m e „keine geringe B e d e u t u n g " z u , d o c h h a b e er g e r a d e bei der Beurteilung des Z a r a t h u s t r a g e z e i g t , „ d a ß n i c h t j e d e r N i e t z s c h e verstehen kann, d a ß v o r allem der Wissenschaftler als solcher i n k o m p e t e n t ist, mit d e m S e ziermesser der Kritik in N i e t z s c h e s schöpferischen G e i s t e i n z u d r i n g e n " . D a N i e t z sche „ d e r theoretische Moralist ,par excellence'" sei, s o sei die entscheidende F r a g e , „ o b seine moralischen Ideen . . . v o m S t a n d p u n k t des kritischen D e n k e r s und v o r u r teilslosen Moralisten z u rechtfertigen sind o d e r n i c h t " ? V e r f a s s e r betont schon einleitend, „ d a ß N i e t z s c h e s e i n e A u f g a b e voll und g a n z erfüllt hat, d a ß er den B o d e n vorbereitet hat f ü r jene gewaltige U m w ä l z u n g auf religiös-sittlichem G e b i e t e , die uns die Z u k u n f t bringen soll und muß". A m E n d e eines f l ü c h t i g e n Uberblicks über
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Alberti, Conrad (eigentl. Conrad Sittenfeld, Breslau 9 . 7 . 1 9 6 2 — Berlin 24.6.1918), Schriftsteller, verfaßte vornehmlich Romane und Schauspiele. „Ein offener Brief an die .Kölnische Zeitung'", den er seiner Sammlung „Plebs. Novellen aus dem Volke" (Wilh. Friedrich. Lpz. 1887, S. VI u. IX) als Vorwort und zugleich als Verteidigung des Wollens des „neudeutschen Realismus" voranstellte, enthält zweimal die Prägung „Bildungsphilisterthum" als Brandmarkung des „dichtenden Professorenthums", namentlich des „Ebers und Ecksteins".
1912 „ein deutscher Prophet" gegen den orientalischen Geist
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die bisherige M o r a l p h i l o s o p h i e behandelt V e r f a s s e r S c h o p e n h a u e r etwas ausführlicher, d a N i e t z s c h e „ n u r als Schüler seines großen L e h r e r s " zu verstehen sei, dessen Mitleidsmoral „den eigentlichen Schlüssel z u m richtigen Verständnis der Moralphilosophie N i e t z s c h e s " biete. G e r a d e aber etwa K a n t und S c h o p e n h a u e r g e g e n ü b e r unternehme N i e t z s c h e „als erster Philosoph seit J a h r t a u s e n d e n eine Kritik der bestehenden M o r a l " . V o n einer Infragestellung des Mitleids sei N i e t z s c h e erst auf eine Beleuchtung der christlichen Moral g e k o m m e n , da das christliche Mitleid „wohl g r a d u e l l , nicht aber essentiell von dem von S c h o p e n h a u e r gepredigten verschieden" sei. V o n hier aus w a g e es N i e t z s c h e , „die M o r a l selbst als Problem aufzustellen, w o z u noch kein M o r a l p h i l o s o p h zuvor den Mut gehabt hat". E r entwickele eine „entwicklungsgeschichtlich-psychologische Ableitung der M o r a l " . In ihm sei „ein deutscher P r o p h e t " g e g e n den orientalischen „ G e i s t , der mit dem Christentum z u r Macht und H e r r s c h a f t g e l a n g t w a r " , aufgetreten. E s sei weniger der „ E n t w i c k l u n g s g e d a n k e n " der G r u n d seiner Lehre v o m U b e r m e n s c h e n , als vielmehr „die M o ralità! in seinem eigenen Innern. D i e furchtbaren moralischen G e g e n s ä t z e waren es letzten E n d e s , aus denen h e r a u s der Ü b e r m e n s c h h e r v o r g i n g . " D u r c h d a s Einwirken N i e t z s c h e s , vor allem im „ Z a r a t h u s t r a " , bereite sich eine U m w ä l z u n g auf religiös-sittlichem G e b i e t e v o r , „ s o gewaltig und f o l g e n s c h w e r , wie sie seit dem R e v o lutionär v o n N a z a r e t h nicht erlebt w u r d e " : „In zwei feindlichen Reichen — durch eine tiefe Schlucht getrennt — spielte sich bisher d a s menschliche Leben ab. N i e t z sche hat die B r ü c k e g e s c h l a g e n , die beiden Reiche verbinden soll. D i e schwierigste A u f g a b e aber steht noch b e v o r : d a s ,Reich des G e i s t e s ' mit d e m .Reich des Fleisches' zu v e r s ö h n e n , d a m i t d a s . d r i t t e R e i c h ' heraufziehe, d a s der Prophet schon geahnt, d e r Dichter b e s u n g e n hat." Dieses „dritte Reich z u g r ü n d e n " , bleibe „ d e m Moralisten d e r T a t " vorbehalten.
1072 Salzer, Prof. Dr. Anselm, Illustrierte Geschichte der Deutschen Literatur von den ältesten Zeiten bis zur Gegenwart. Bd. III Neunte und zehnte Periode: Von der Romantik bis zur Gegenwart. Allg.-Vlgs.-Ges. Mchn. (1912). Die Hauptstelle über Nietzsche auf S. 2179 f. W i d m e t seinem G e g e n s t a n d nur w e n i g e S ä t z e und führt ihn als stärksten Anreger des S y m b o l i s m u s ein. V o n seinem D u r c h d r i n g e n nach 1900 datiere „in der Literatur die W e n d u n g der j u n g e n G e n e r a t i o n v o m Sinnfälligen z u m Seelischen, v o m Stofflichen z u m F o r m a l e n , v o m R e a l e n z u m Phantastischen, v o m D e m o k r a t i s c h e n z u m Aristokratischen". E r w ä h n t wird N i e t z s c h e sonst im Z u s a m m e n h a n g mit Stirner, Stifter, H e y s e , S p i e l h a g e n , Wilbrandt, E b n e r - E s c h e n b a c h , Martin G r e i f , Spitteier, O . v. Leixner, M a l w i d a von M e y s e n b u g , der „ M o d e r n e " , M . G . C o n r a d , C o n radi, H . B a h r , M . R . ν. S t e r n , D e h m e l , der „symbolistischen L y r i k " , M o r g e n s t e r n , Maria J a n i t s c h e k , E . v. W o l z o g e n , dem E n t w i c k l u n g s r o m a n , K u r t M a r t e n s , S o p h i e Hoechstetter, L o u A n d r e a s - S a l o m é , T h . M a n n , D a l l a g o , L e o G r e i n e r und S . Z w e i g (s. d. N a m e n v e r z e i c h n i s ) .
1072a Dass. 2., neu bearb. Aufl. 4. Bd.: Vom Neuen „Sturm und Drang" bis zur Gegenwart. 1.T1. Jos. Habbel. Regensburg 1931. Über Nietzsche auf S. 1584 ff.
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1912 „ein moralisch-fatales Verhängnis"
In einem neuen gedrungenen Absatz bietet Verfasser jetzt einen Umriß von Nietzsches Werken und Entwicklung, bleibt aber sonst bei der vorherigen Einstellung. 1072b Dass, jetzt: Geschichte der deutschen Literatur in drei Bänden. V o n Anselm Salzer u. Eduard von T u n k . Bd. II: V o n der Klassik bis z u m Naturalismus. Stauffacher Vlg. Zür. (1972). D i e Hauptstelle auf S. 533 — 536. Gänzlich umgeschrieben aber in der Einstellung kaum geändert. Neu ist die hohe Anerkennung des Dichters, dessen sämtliche Lieder „wahrscheinlich weiterleben" werden und denen zuzugeben sei, „daß sie mithalfen, den stillosen Naturalismus und die impressionistische Dekadenz zu überwinden, an die Stelle des Pessimismus den Kult des starken Lebens zu setzen. So gewann Nietze (so!) für die Entwicklung der deutschen Literatur seine Bedeutung, mehr als je ein deutscher Philosoph, vielleicht auch mehr als Kant für die Weimarer Klassik." 1073 Caffi, Ernesto, Nietzsches Stellung zu Machiavellis Lehre. Ein literarisch-philosophischer Essai. Vlg. d. Verfs. W i e n 1912. 46 S. Verfasser möchte untersuchen, „ob die ,Virtuosi* . . ., d. h. die großen Renaissance-Menschen die Vorläufer der modernen .Ubermenschen' sind und ob die Auffassung der moralischen Werte Nietzsches gewissermaßen eine Umbildung der ethsichen Auffassung des italienischen .Virtuosismo' oder der .verità effettuale' Macchiavellis ist". An solchen Begriffen tut er dar, daß Nietzsche „die Machiavellische Machtauffassung aufgenommen", die Bedeutung des Wortes „erweitert" und sie „auf andere Begriffe übertragen" habe. „Die geistige Affinität" zeige sich aber „am besten in der Auffassung der doppelten Moral". Nietzsche verteidige die Machiavellische Unterscheidung einer staatsmännischen und einer privaten Moral, „indem er eine Herren- und eine Sklavenmoral verficht". Auch darin, daß das Böse „ein schöpferisches Moment" bilde, stimmen beide überein. In der „Grundnatur des Ubermenschen" findet Verfasser „Eigenschaften, die dem ,virtuosos' des rinascimento' eigen sind. Nietzsche führt den Menschen zur Natur hinaus, . . . Machiavelli führt den .virtuoso' zur ,verità effettuale' zurück." W o sie sich trennen, sei „in der Auffassung des Staates". „Dem Machiavellischen Staate stellt er den Rassenbegriff im Gobineauschen Sinne entgegen." „Der eigentliche große Unterschied" in beider Auffassungen liege darin, daß, „was Machiavelli . . . als eine Notwendigkeit der Zeiten, eine Notwendigkeit der persönlichen Verteidigung in einem Jahrhundert hinstellte, wo ein jeder mit den Wölfen heulte", „uns heute die Nietzscheaner als eine Art idealer und an sich guter Notwendigkeit" auseinandersetzen. Für sich betrachtet stellen sich beide, „der Machiavellismus . . . sowohl wie der Nietzscheanismus . . ., ein moralisch-fatales Verhängnis dar", doch müsse man sie eben „an Hand der Verkettung der geschichtlichen Phänomene" zu verstehen suchen: „Der eine stellt die Reaktion auf die mystische, entnervende Lebensauffassung des Mittelalters dar; der andere ist seinerseits die Reaktion gegen den altruistischen Buddhismus in der Philosophie, im Leben und in der Kunst, den einreißenden Demokratismus, wie er von Marx und Lassalle gepredigt wurde, den literarischen Byzantinismus und den Naturalismus in der Kunst." Ob der „Neuhumanismus" ein Gut sei, wie es die Renais-
1912 Else Lasker-Schüler
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sance gewesen, könne man noch nicht entscheiden, doch stelle gerade die Nietzschesche Lehre „nicht nur einen dichterischen Wert dar, sondern auch einen sozialmoralischen Wert. Die Lehren Machiavellis und Nietzsches verfolgen ein und dasselbe Ziel: Die Bejahung des Lebens und der Natur." 1074 B a b , J u l i u s , L y r i s c h e Porträts. S. Fischer. Bln. 1912, S. 63. Ein dreiteiliges Gedicht auf „Friedrich Nietzsche". Eine Ä u ß e r u n g der E l s e L a s k e r - S c h ü l e r verdient es, hier a n g e f ü h r t zu w e r d e n , der G e s e l l s c h a f t w e g e n , in welche sie N i e t z s c h e hineinstellt: „Ich d e n k e an den N a z a r e n e r , er sprach erfüllt vom H i m m e l und p r a n g t e schwelgend blau, daß sein K o m m e n schon ein W u n d e r war, er wandelte immerblau über die P l ä t z e der L a n d e . U n d B u d d h a , der indische K ö n i g s s o h n , trug die B l u m e H i m m e l in sich in blauerlei Mannigfaltigkeit E r f ü l l u n g e n . U n d G o e t h e und N i e t z s c h e ( K u n s t ist R e d e n mit G o t t ) und alle A u f b l i c k e n d e sind H i m m e l b e g n a d e t e und g e r a d e H e i n e ü b e r z e u g t mich . . . H a u p t m a n n s A n g e s i c h t und auch Ihres, D a l a i - L a m a (d. i. Karl K r a u s ) , wirken blau." 3 7 7 1075 V o w i n c k e l , E r n s t , E i n s a m k e i t , enthalten als 3. von 4 A u f s ä t z e n in: Leben und Erkenntnis. B e t r a c h t u n g e n zwischen den Zeilen. L. S i m i o n N f . Bln. 1912, S. 9 6 — 1 4 0 . Nimmt Nietzsche, den „Einsamsten der Einsamen", als „Gewährsmann" für die Darstellung einer „Art von Typus des genialen Einsamen". Er ist ihm neben Spinoza, Schopenhauer, Kant, Fichte, Schelling, Leibniz, Hegel und Schleiermacher das eigentliche Beispiel des „genialen Philosophen". Verfasser liefert dazu eine recht lesenswerte Würdigung bes. der „Ewigen Wiederkehr" und der Wortkunst Nietzsches. 1076 S e h e r , D r . m e d . C a r l , Friedrich N i e t z s c h e als M e n s c h , D e n k e r , Antichrist. E i n e p o p u l ä r e D a r s t e l l u n g . G o t t l o b K o e z l e . C h e m n i t z 1912. 29 S., 1 Bl. ( = V l g s . - a n z . ) . Nach einer Darstellung, die die Krankheit ausführlicher erörtert, aber nichts Neues bringt, schließt Verfasser mit der Behauptung, daß man „vom ärztlichen Standpunkte aus" sagen könne, „Friedrich Nietzsche war ein Genie, aber ein Genie des Wahnsinns", dessen erste Anzeichen schon in dem Jahre 1881 „deutlich" geworden seien. Er gehöre „in seinem Suchen nach den religiösen Werten zu den Grenzchristen" und habe als junger Mensch „nahe an der innersten und tiefsten religiösen Entscheidung" gestanden. „Nicht in Nietzsche, sondern in Jesus finden wir die Bejahung des Lebens . . . Nicht der Nietzschesche Herrenmensch wird das Erdreich besitzen, Jesus hat das Reich Gottes vom Himmel auf die Erde hernieder gebracht."
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E. L.-S., Mein Herz. Ein Liebesroman mit Bildern und wirklich lebenden Menschen. Bachmair. Mchn. u. Bln. 1912, S. 57 f; Lasker-Schüler, Else (Elberfeld/Wuppertal 11. 2. 1869 — Jerusalem 22. 1. 1945), Dichterin.
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1912 Ein „arischer Geist"
1077 Hartmann, Alma von, Nietzsche. (In: Zwischen Dichtung und Philosophie. III. Bd.: Carlyle, Nietzsche, Goethe, Eduard von Hartmann. Vlgs. Dt. Bücherei. Bln. (1912), S. 38—68). ( = Dt. Bücherei. Hg. v. A. Reimann. Bln. 130/131). Verfasserin rechnet Nietzsche eher zu den „Moralisten" wie Emerson, Tolstoi, Carlyle, Ruskin und Maeterlinck „als zu den wirklichen Philosophen". „Sein Bestes" habe er in der Negation geleistet. Beim Positiven verliere er sich „so in Widersprüchen und vermag seinen G e d a n k e n trotz der Fülle von Bildern und Gleichnissen so wenig einen überzeugenden Ausdruck zu geben, daß man sich immer wieder erstaunt fragen muß: W o h e r dieser Erfolg?" Insofern sei er mit Emerson und Ruskin zu vergleichen. In der letzten Periode sei er „nur noch als Dichter zu erfassen und am weitesten von seinem philosophischen Ausgangspunkt entfernt"; aber auch schon in der zweiten Periode gebe die dichterische Anlage „seiner Feder immer wieder eine Richtung, die weit weg weist von allem, was Wissenschaft heißt". Was ihm „seine Stellung in der Geschichte der geistigen Entwicklung sichert, ist sein stark ausgesprochener Aristokratismus . . .; was das Interesse aller Seelenforscher immer wieder auf's N e u e auf ihn lenken wird, ist sein kompliziertes Gefühlsleben". Von Lou Andreas-Salomé übernimmt sie die Bezeichnung „religiöses Genie", denn er habe „ganz klar" erfaßt, „daß der Kern aller Religionen ein .sublimer Egoismus' sei, der entweder Beseeligung o d e r Erlösung heische". Er sei „im G r u n d immer Pessimist" gewesen und habe geglaubt den Pessimismus überwunden zu haben, nur weil er sich davon ein „Zerrbild" gemacht habe, „das wenig zu der wissenschaftlichen Form desselben stimmt". Sein Entwicklungsgang weise „so manche pathologischen Spuren auf, daß der Psychiater Möbius leichtes Spiel hatte, den G a n g einer allmählig zunehmenden geistigen U m n a c h t u n g aufzuzeigen". „Wissenschaftlich" sei sein „Urteil über das Christentum" zwar „bedeutungslos", aber er berühre damit etwas, „was schon von anderer Seite hervorgehoben w o r d e n ist: die Unangemessenheit des jüdischen Nationalgottes f ü r die germansichen Völker". Nietzsches „arischer Geist" habe sich dagegen empört, nur habe sich der Widerwille bei ihm in einem „Rückfall in ganz vulgären Atheismus, der jeglicher Vertiefung entbehrte", geäußert. Schließlich habe er sich auf „keinem Gebiet als starker Fortbildner erwiesen". „ D e n n o c h wollen wir diesem D e n k e r seinen Einfluß nicht rauben, w e n n wir auch vor einer zu unbedingten Hingabe warnen. Ist er revolutionär gegenüber manchem Guten und Großen, . . . so ist er doch auch ein Revolutionär gegenüber dem Kleinlichen und Niedrigen und ö f f n e t die Augen f ü r das falsche zärtliche Mitleid mit dem Überwindungsbedürftigen, indem er die matte Menschheit zur H ä r t e , aber auch zum Kampf gegen alles Halbe und Triviale aufruft." 3 7 8
1078 Fischer, E. L., (In: Kirchliches Handlexikon. Ein Nachschlagebuch über das Gesamtgebiet der Theologie und ihrer Hilfswissenschaften. Hg. v. Michael Buchberger. 2. Bd. Herder. Freiburg i. Br. 1912, Sp. 1132).
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Hartmann, Alma von (geb. Lorenz, Bremen 23. 7. 1854 — Glogau/Schles. 17. 10. 1931), mit dem Philosophen Eduard von Hartmann verheiratet.
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Im g a n z e n eine verhältnismäßig sachlich gehaltene Kennzeichnung bei H e r v o r h e b u n g der „ V e r w e r f u n g der christl. Religion". „In sn letzten, schon v. s. Geisteskrankheit sehr beeinflußten Schriften" habe er „gewaltig gg. das Christentum" gewütet. D e n n o c h : „Ein reich veranlagter, mit glänzender Phantasie ausgestatteter Geist, hochstrebender, stolzer Charakter, aber sehr zum Exzessiven geneigt."
1078a Dass, jetzt v. Th. Steinbüchel,379 (Das Werk heißt: Lexikon für Theologie und Kirche. 2., neubearb. Aufl. d. Kirchl. Handlexikons. 7. Bd. 1935, Sp. 5 6 1 - 5 6 4 ) . D e r „Philosoph" der ersten Auflage wird jetzt auch als „Kulturkritiker" gekennzeichnet, dessen dritte „,Unzeitgemäße' nicht nur N.s Bildungsideal am deutlichsten zeigt, sondern auch in ihrem Kampf gegen den Historismus die philosophisch ertragreichste ist". Die „Erarbeitung des .dionysischen' auf dem U n t e r g r u n d des .apollinischen' Griechentums, d. h. des heroisch-kämpferischen (,agonalen*) U r grundes alles Lebens . . . diese heute als unantik erkannte Anschauung bleibt der U n t e r g r u n d der Philosophie N.s". Sein „Heroismus" sei aber „bei allem Glauben an Aufstieg doch pessimistisch". Lesenswert ist die Einsicht, daß seine „beißende, oft maßlose Kritik am pietistischen u. am verweltlichten Zeitchristentum . . . auch einer vertieften theol. Besinnung A n r e g u n g " gegeben habe. Eine sonstige Einwirkung auf „die G e g e n w a r t " sieht Verfasser bei Nicolai H a r t m a n n , Max Scheler, Klages, P r i n z h o r n , d e m George-Kreis, Simmel, Bäumler, Alfred Rosenberg und Spengler: „An N . scheiden sich in Für u. W i d e r die geistigen Entscheidungen unserer Zeit."
1078b Dass, jetzt v. E. Biser. 2., völlig neubearb. Aufl. hg. v. J. Höfer u. K. Rahner. 1962, Sp. 960 f. Die Darstellung ist stark verkürzt, obwohl Nietzsche „nach seinem T o d schließlich sogar zur Schlüsselgestalt des gegenwärtigen Geisteslebens" aufgerückt sei. Sein „ W o r t vom T o d Gottes" sei das „Leitwort eines auf die Destruktion der seit Piaton u. Augustinus herrschenden Denkweise abzielenden philos. Programms". — „Bei allen Vorbehalten gegenüber der vielfach von Widersprüchen verdunkelten u. unter ihr eigenes Niveau absinkenden Philosophie N.s ergeben sich von hier aus doch eine Reihe von A n k n ü p f u n g s p u n k t e n f ü r ein Gespräch, insbes. mit dem über seinen abendländ. H o r i z o n t hinausdrängenden Christentum, das sich wie nie zuvor zur Kritik seines denkerischen Instrumentariums veranlaßt sieht."
BJ
Friedrich Nietzsche: Tauwind. (DA 2. Jg., 1912, Sp. 230).
Bringt unter dieser Bezeichnung ein Stück aus dem dritten Teile des „Zarathustra" („Von alten und neuen T a f e l n " , 8).
1079 Bleibtreu, Carl, Geschichte der Deutschen National-Literatur von Goethes Tod bis zur Gegenwart. Hg. v. Georg Geliert. 2 Tie. i. e. Bd. H. Herlet. Bln. 1912. Über Nietzsche zusammenhängend in Bd. I, S. 187 bis 192. Als kennzeichnend f ü r T o n u n d Einstellung des Verfassers Nietzsche gegenüber sei folgender Satz a n g e f ü h r t : „Auf d ü r r e r Rosinante einer Abstraktion ritt ein 379
Steinbüchel, Theodor (Köln 15.6. 1888 — Tübingen 11.2. 1949), katholischer Theologe.
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1912 Der „Deutschpole aus der französischen Polakei"
R i t t e r von der traurigen G e s t a l t seine K o n v u l s i o n e n v o r , die lauter K o n f u s i o n e n sind; schlug sein luftiges N o m a d e n z e l t rein ins B l a u e a u f u n d siechte an galoppiernder S c h w i n d s u c h t einer moralischen A u s z e h r u n g d a h i n . " A u c h wird das N i c h t d e u t sche seines W e s e n s w i e d e r h o l t g e b r a n d m a r k t : „ D i e s e r D e u t s c h p o l e aus der f r a n z ö sischen P o l a k e i " ; und der E i n f l u ß a n d e r e r b e t o n t , so d e r v o n R e n a n , H u g o , S t e n dhal und D ü h r i n g . N u r selten w e t t e r l e u c h t e „ G e n i a l i t ä t s b l i t z , was bei begabten Irren leicht v o r k o m m t " . — „nur als L y r i k e r in V e r s und P r o s a bleibt er, f o r m a l . " S. sonst Bd. I , S. 7 7 (die „ N i e t z s c h e m o d e " sei „nur dem Z e i t g e i s t des S t r e b e r - und G r ü n d e r t u m s nach 1 8 7 0 " e n t s p r u n g e n ) , 133 ( a b s c h ä t z i g ü b e r H e y s e s „ U b e r allen G i p f e l n " als A n g r i f f auf N i e t z s c h e ) , Bd. 2 , S . 14 ( N i e t s z c h e
über V . H u g o ,
76
( N i e t z s c h e und W e d e k i n d ) , 81 (über C o n r a d s V e r d i e n s t um N i e t z s c h e s „als ein V e r d i e n s t wenigstens angesichts d a m a l i g e r T o t s c h w e i g u n g N i e t z s c h e s " ) , 116 (über K a r l K r a u s , bei dem „ N i e t z s c h e s E i n f l u ß störend b e m e r k b a r " w e r d e ) , 126 f. ( C o n radi und N i e t z s c h e ) , 156 ( ü b e r M . v. M e y s e n b u g u. „ L o u - S a l o m e " , welch letztere„als hebräische Z w i s c h e n b ü n d l e r i n " von N i e t z s c h e g e z e h r t h a b e ) , 158 ( „ J e d e r will heut mit Z a r a t h u s t r a z u n g e n r e d e n , in die S p r a c h e h i n e i n g e h e i m n i s s e n . W o N i e t z sche , V e r e i n s a m t ' , ,Aus h o h e n B e r g e n ' s a n g , da hat seine L y r i k den T o n f a l l einer h o h e n P e r s ö n l i c h k e i t . W i e leicht aber sein T o n n a c h z u a h m e n , w i e gekünstelt und geklügelt seine W o r t b e r a u s c h u n g , ermesse man d a r a n , d a ß s o g a r die M e i s e l - H e ß in ihrer rhapsodischen S e l b s t b e f l e c k u n g , D i e S t i m m e ' G e d i c h t e N i e t z s c h e s c h e r M a nier ausspritzt. U n s e r e W o r t k l a u b e r und symbolistischen O r a k l e r verwechseln ihre wohltemperierten Klaviere mit dem L a w i n e n e c h o von Sils M a r i a und glauben auf dem Pythiadreifuß zu h o c k e n , indes sie nur als g a c k e r n d e H e n n e n ein bemaltes O s t e r e i b e b r ü t e n . " ) , 168 (im Z u s a m m e n h a n g mit Lily B r a u n s M e m o i r e n , verhältnismäßig belanglos).
1080 Witkowski, Georg, Die Entwicklung der deutschen Literatur sei 1830. R. Voigtländer. Lpz. 1912. Über Nietzsche auf S. 1 3 9 — 1 4 3 . ( = Ordenti. Veröffentlichung d. „Pädagogischen Literatur-Ges. Neue Bahnen"). N i e t z s c h e ist dem V e r f a s s e r „der neue P r o p h e t des s c h r a n k e n l o s e n Subjektivism u s " , „ein n a c h g e b o r e n e r G e i s t e s b r u d e r der H ö l d e r l i n , F r i e d r i c h S c h l e g e l , N o v a lis". V o r A u g e n steht ihm v o r allem der V e r f a s s e r des „ Z a r a t h u s t r a " , „ein Stilkünstler ersten R a n g e s " . S e i n e F o r d e r u n g , „eine völlig neue A d e l s m e n s c h h e i t soll entsteh e n " , werde „die P a r o l e der K u n s t , die seit 1 8 9 0 überall, n i c h t nur in D e u t s c h l a n d , e m p o r w ä c h s t " und z w a r „von N i e t z s c h e s G e d a n k e n , v o n N i e t z s c h e s S p r a c h e und ihrem R h y t h m u s am stärksten g e n ä h r t " werde. W e i t e r e E r w ä h n u n g e n bzw. Anspielungen auf S. 98 (Spitteier als „Zeit- und G e s i n n u n g s g e n o s s e Z a r a t h u s t r a s " ) ,
104
(und B l e i b t r e u ) , 145 (und W i l h e l m W e i g a n d ) , 1 4 9 (und D e h m e l ) , 151 (und M o r g e n s t e r n ) , 152 (und „die neue R o m a n t i k " ) .
1081 Eisler, Dr. Rudolf, Philosophen-Lexikon. Leben, Werke und Lehren der Denker. Mittler. Bln. 1912. Über Nietzsche auf S. 498 — 506, 883 f. E r ist dem V e r f a s s e r „nicht b l o ß D e n k e r , s o n d e r n a u c h K ü n s t l e r , D i c h t e r , und dazu n o c h ein eifervoller P r o p h e t und R e f o r m a t o r , der den M e n s c h e n neue Ziele
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setzt, neue Werte weist". Stets bleibe er „ein Lebens- und Kulturphilosoph, dem es um die Gewinnung einer freien, starken Menschlichkeit zu tun ist, wobei er immer mehr den Wert der Persönlichkeit betont". Schließlich sei er „über den Phänomenalismus hinaus zu einer dynamisch-voluntaristischen Metaphysik" gekommen. Unter den von ihm Beeinflußten werden R. Steiner, E. Horneffer, Mauthner, G. Landauer, G. Naumann, Zerbst, Gallwitz, P. Mongré, Seillière und Gaultier aufgeführt. Nur Wundt (16 S.), Kant (33), Leibniz, Hegel, Spinoza (je 10), Schopenhauer, Aristoteles, Schelling und Piaton (je 9) wird mehr Raum gewidmet. S. a. die Eintragungen unter E. Förster, P. Gast, A. u. E. Horneffer, P. Mongré, P. Rèe, E. Rohde, Mathieu Schwann, E. Seillière, M. Zerbst, Lou Andreas und Hans Bélart. 1082 Häußer, Karl (Bühl in Baden), D i e Lüge in der neueren Ethik. Erlangen 1912. ( = Diss. d. Univ. Erlangen). Über Nietzsche auf S. 42 f. Behandelt recht flüchtig sein Verhältnis zur Lüge und bringt ihn dabei in die nächste Nähe von Spinoza, da jener wie dieser „besonderen Wert auf die Charaktereigenschaften" lege. Wie Spinoza gelte Nietzsche die Redlichkeit „als eine Tugend des freien Menschen". Allerdings bestehe auch hier „der wesentliche Unterschied, daß der Begriff der Freiheit in seinem positiven Sinne bei Spinoza eine intellektualistische, bei Nietzsche eine voluntaristische Färbung hat". Schließlich unterscheiden sich Nietzsches Anschuungen von der Lüge „nicht zu sehr von denen vieler anderer, wie er ja selbst auf Piaton hinweisen konnte". 1083 Ragaz, J(acob), Spittelers „Prometheus und Epimetheus" und Nietzsches „Zarathustra". Beil. z. Programm d. Bündnerischen Kantonschule pro 1 9 1 1 / 1 2 . Chur, S. 81 — 111. Vergleicht beide Werke und stellt, „was den Inhalt anbetrifft", „in erster Linie" eine „Ähnlichkeit ihrer Stellung zur Moral" fest. Bei den Hauptgestalten ergebe sich, daß „beiden derselbe auf die Spitze getriebene Individualismus, dieselbe unerschütterliche Treue gegenüber einem Ideal, der Verzicht auf alles gewöhnliche Erdenglück um dieses Ideales Willen, der Bruch mit allen früheren Idealen: alter Liebe, alter Sehnsucht usw.", zueigen seien. Was die Form betreffe, so verwenden beide Dichter „den biblischen Stil" sowie ähnliche „Personifikationen seelischer Eigenschaften und Vorgänge". — „Die Ähnlichkeit beider Werke bezieht sich also nicht nur auf den Inhalt, sondern auch, und fast noch mehr, auf die Form." Zu einer tatsächlich erfolgten Beeinflussung Nietzsches durch das Werk Spittelers meint Verfasser nach Aufführung aller damals vorliegenden Äußerungen: „Die äußeren Umstände machen es also sehr wahrscheinlich, daß Nietzsche den Prometheus gekannt und sich von ihm hat beeinflussen lassen." Noch dazu legen solchen Schluß „die inneren Gründe" nahe, „vor allem die impressionistische Veranlagung Nietzsches". Angesichts von Nietzsches diesbezüglicher Verschwiegenheit, bleibe „nur die Annahme übrig", daß ihn „die Autoreneitelkeit . . . zum Schweigen und sogar zur Unwahrhaftigkeit verleitet" habe. Schließlich sei aber die Einstellung beider Werke „in doppelter Hinsicht der Ausdruck ihrer Zeit: sie sind erstens Verkörperung ihrer moralfeindlichen Stimmung . . . und zweitens Reaktionserscheinung gegen den falschen Idealismus, gegen Unnatur, Heuchelei, Pharisäertum". — „Ihr größtes Unrecht besteht darin, daß sie ein Zerrbild der christlichen Moral und des
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1912 Weitere „Philologica" und die Randglossen zu „Carmen"
Christentums für die christliche Moral und das Christentum selber genommen und auf dieses Zerrbild ihre Folgerungen aufgebaut haben." G X V I I I Philologica / V o n / Friedrich Nietzsche / Zweiter Band / Unveröffentlichtes / zur Litteraturgeschichte, Rhetorik und / Rhythmik / Herausgegeben von O t t o Crusius / Leipzig / Alfred Kröner Verlag / 1912. 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.), X I V ( = V o r w . v. H g . ) , 340 S. S. 3 2 1 - 3 4 0 = Anhang ν- H g . ( = Nietzsche's Werke. Bd. XVIII. Dritte Abth. Bd. II). BK Friedrich Nietzsches / Randglossen / z u / Bizets Carmen / von / H u g o Daffner. / Gustav Bosse, Verlag. Regensburg (1912). 68 S., 2 Bll. ( = Dt. Musikbücherei. Bd. 1). Mit fortlaufenden, verbindenden Erläuterungen versehen werden hiermit. Nietzsches Randglossen zu „einem Klavierauszug des Werkes mit italienischem Text", durch den Nietzsche Gast mit dem Werk bekannt machen wollte, herausgegeben. Zu den Randbemerkungen meint der Herausgeber, daß sie eine „künstlerische Instinktsicherheit", einen musikalischen „Feinsinn, verbunden mit hoher Geschmackskultur, dazu die wunderbare, geradezu verblüffende Blickkraft für den Ausdruck" aufweisen, sodaß sie „dem Leser schlechthin Bewunderung abnötigen" werden: „. . . nicht eine der Glossen hat sich als unhaltbar erwiesen, nicht eine einzige Niete hat Nietzsche herausgezogen; im Gegenteil, der vorurteilslose Musiker und Musikkenner wird das Feingefühl, mit dem der Philosoph, vielleicht zutreffender als irgend ein Fachmann, meistens den Nagel auf den Kopf getroffen hat, nur rückhaltlsos bewundern können." 380 1084 H . H . , (Tat 4. Jg., H . 1 v. April 1912, S. 46 f.). Eine Besprechung der Schrift von Oehler (Nr. 1012), in der „zart und ohne Aufdringlichkeit . . . die persönlichkeitsbildenden Mächte berührt" werden, „die an den verschiedenen Punkten und in verschiedenem Sinne den Werken Nietzsches entströmen und dem Tiefer-Gearteten Lebensinhalte vermitteln, Lebensmöglichkeiten eröffnen und Lebensziele weisen, hinter denen selbst die glänzendsten sittlichen Ideale der religiösen Vergangenheit verblassen müssen". 1085 E(ggenschwyler), W., Nietzsche und der Pragmatismus. ( A G P h 25, 1912, S. 4 4 7 - 4 5 5 ) . Eine erweiterte Fassung der Nr. 1053; die Ablehnung der Ansichten Berthelots ist noch entschiedener. 1086 anonym, (LCB1 63. Jg., Nr. 1 5 / 1 6 v. 1 3 . 4 . 1 9 1 2 , Sp. 485 ff.). Eine entscheiden zweischneidige Besprechung des 11. Bandes der Großoktavausgabe; dem „Ecce homo" gegenüber seien „die Stille und Diskretion einer Krankenstube angemessen". Das Werk weise u. a. „Mängel an Augenmaß für das Große und Kleine", öden „Schematismus in pcychologicis", „Verständnislosigkeit für die 380
Daffner, H u g o (München 2 . 6 . 1882 — ebd. 1941), damals Musik- und Feuilletonredakteur der „Dresdner-Nachrichten".
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1912 Der große Behexer „der Geister des Ende des 19. Jahrhunderts"
Realitäten des Lebens" auf. Die Überschriften der ersten drei Abschnitte seien „kindisch". „Es ist etwas Tieftrauriges, eine von H a u s e aus so vornehm angelgete, so reich ausgestattete N a t u r so völlig entgleist, so gänzlich zerrüttet zu sehen." In dem ersten Buch des „Willen zur Macht" dagegen rede „ein ganz anderer zu uns . . ., ein M a n n , der die N o t der Zeit tief e m p f u n d e n hat, tiefer und f r ü h e r als viele andere", der „mit Besonnenheit die Kräfte, die in diesem Chaos an der Arbeit sind", wäge. „Nirgends in seinen Schriften" erscheine er „so sehr als klarer, scharf blickender Philosoph wie gerade hier". „Die G e d a n k e n sind noch nicht durch die Folterkammer des esprit gegangen, w o sie gestreckt, verrenkt, mit allerlei blendendem Zierat a u f g e p u t z t werden . . ." Die drei weiteren Teile des Werkes fallen gegen diese ersten wieder merklich ab, sie bieten „viel weniger", bzw. wenig Neues.
1087 N(ecke)r, M(oritz), Der junge Nietzsche. ( N W T Nr. 116 v. 29. 4. 1912, S. 23). Eine wohlwollende Besprechung des schwesterlichen W e r k e s : „Wir wollen dieser Skizze nur noch hinzufügen, d a ß Frau Förster die Jugendgeschichte ihres Bruders mit anmutig f r a u e n h a f t e r Freude am Anekdotischen, aber auch mit Kritik erzählt."
1088 Schneidewin, S. 512—516).
Max
(Hameln),
(PJb
Bd. 149,
H. 3,
1912,
Eine Besprechung des W e r k e s von D o r n e r (Nr. 1018), an dem gerade der Teil über Nietzsche „durch eine seltene Originalität" überrasche. D o r n e r habe sich die Aufgabe gestellt, Nietzsche aus einer allen seinen Perioden „zugrunde liegenden Einheit zu schildern und hat . . . den E r k e n n e r in dem mächtigen, aber krampfhaften W o l l e r sehr glücklich . . . in helles Licht gesetzt und die Fäden, die ihn doch mit dem, was sonst immer Philosophie gewesen ist, verbinden, in überzeugender Weise bloßgelegt". Eine eigene Einstellung des Rezensenten zu Nietzsche verrät sich in der Entrüstung über das „ewige Machen des großen Behexers der Geister des Ende des 19. J a h r h u n d e r t s " , das „doch gar zu wenig Ähnlichkeit mit der alten, stillen, ernsten Kontemplation der Philosophie" habe.
1089 Kleinpeter, Prof. Dr. Hans (Gmunden), Nietzsche als Schulreformer. (BDE 14. Jg., 1912, S. 99 ff.). Unter ausdrücklichem Hinweis auf den Aufsatz von Rott ( N r . 1068) möchte Verfasser dessen Behauptungen und A u s f ü h r u n g e n noch bekräftigen und f ü h r t dazu weitere Belegstellen aus Nietzsches Schriften an. Darüberhinaus möchte Verfasser d a r t u n , wie „Nietzsches Bildungsideal aus seiner Philosophie" und deren Berührung mit Ansätzen von Kant, Protagoras, Darwin, Mach und Goethe hervorgewachsen sei. Seine eigentliche Geistesrichtung sei die „des Voluntarismus, wie sie immer mehr in den Bestrebungen der Gegenwart hervortritt, so bei W u n d t , bei J a mes, bei den Pragmatisten".
1090
Wundt, M. (Straßburg/Els.), (KSt 16. Jg., 1912, S. 458 f.).
Bemängelt am ersten Band der „Philologica" ( G X V I I ) , d a ß die meisten der darin enthaltenen Arbeiten „wesentlich nur noch ein historisches Interesse besitzen" und dazu „fast sämtlich in einer d e r bekanntesten philologischen Zeitschriften . . .
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1912
leicht zur Verfügung" stehen. Die veröffentlichten Vorlesungshefte, die „vieles für Nietzsches Entwicklung Interessantes enthalten", dagegen gehörten „unbedingt . . . in den ersten Band der Nachgelassenen Werke". 1091 Brausewetter, Artur, V o m Büchertisch. Friedrich Nietzsche. (TRs 32. Jg., 170, Unterhaltungsbeil.). 3 8 1 Bespricht Möller v. d. Brucks Darstellung Nietzsches (Nr. 536); Verfasser habe ihn „am wahrsten in der Tiefe seines Seins erfaßt . . ., indem er sein ganzes Wesen und Wirken aus dem Leiden erklärt". Sein innerliches Ringen, „von Gott loszukommen", was ihm nicht gelungen sei, mache „den innerlichen Kern, den schweren Kampf und die düstere Tragik seines Lebens aus". Weder „Antichrist" noch „Atheist" sei er „im Untergrunde seines Seins, im Marke seiner psychischen Persönlichkeit" jemals gewesen. Als Gegenstück zu der Behandlung Möller v. d. Brucks wird am Schluß Bélarts Werk (Nr. 945) angeführt, das aber auch „viel Gutes, ja manches Neue" bringe. 1092 Moser, Dr. H a n s Joachim, N i e t z s c h e und die Geschichte der Oper. ( A M Z g 39, N r . 23, 1912, S. 629 ff.). 382 Verfasser möchte als „Bewunderer Nietzsches . . . bescheiden auf einige Stellen in seinen Gedankenreihen" hinweisen, „die nicht den Anspruch erheben dürfen, als wissenschaftliche Wahrheiten zu gelten". Er beschränkt sich dabei auf die „Geburt", in der Nietzsche „den folgenschweren Widerspruch" begehe, den „Ausdruck ,Geist der Musik' im ersten Teil . . . g l e i c h n i s h a f t , im zweiten dagegen w ö r t l i c h " zu gebrauchen. Um für das Musikdrama Platz zu schaffen, suche er „die Oper aus dem Wege zu räumen und gelangt da zu bösen historischen Verkennungen". Eine spätere Geschichtsbetrachtung werde „kaum mehr erklären können, warum Nietzsche so scharf gegen die O p e r als Gattung zu Felde gezogen ist". 1093 Orelli, D r . K. v o n (Pfarrer in Sissach), D i e philosophischen A u f f a s s u n g e n des Mitleids. Eine historisch-kritische Studie. A. Marcus & Z. Webers V l g . Bonn 1912. IV, 219 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Nietzsche wird als „voluntaristischer Ethiker" auf S. 157—168 und somit im Anschluß an Schopenhauer, Feuerbach und E. v. Hartmann und vor Paulsen verhältnismäßig eingehend behandelt. Nach reichlicher Anführung von Belegstellen aus Nietzsches Werken meint Verfasser, daß „die Verwerfung des Mitleids" sein „letztes W o r t " bleibe. Zu sonstigen Erwähnungen Nietzsches s. das Namenverzichnis. 1094 Eggenschwyler, W . (Turin), W a r N i e t z c h e Pragmatist? ( A G P h 26, 1912, S. 35 — 47). Eine um Weniges nochmal erweiterte und etwas umgeschriebene Fassung von Nr. 1053 (s. a. Nr. 1085). Neu ist lediglich das Zugeständnis, daß Nietzsche selber „nicht wenig dazu beigetragen haben" möge, „Berthelot in seiner pragmatistischen
381
182
Brausewetter, Artur (Stettin 27. 3. 1864 — Heidelberg 26. 12. 1946), seit 1911 Archdiakon in Danzig, daneben Romanschriftsteller. Moser, H a n s Joachim (Berlin 25. 5. 1889 - ebd. 14. 8. 1967), Musikforscher.
1912 Wilhelm Nestle
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Auslegung zu bestärken", insofern nämlich „daß seine Erkenntnistheorie durch die häufige Anspielung auf den L e b e n s w e r t der Wahrheit ernstlich Gefahr läuft, selbst als oppurtunistische, p r a g m a t i s t s i c h e Wahrheitsidee ausgedeutet zu werden". Aber das „Charakteristische" an seiner Philosophie liege eben darin, „daß für ihn Lebensweisheit und Erkenntnistheorie n i c h t zusammenfallen". 1095 Nestle, W i l h e l m , Friedrich N i e t z s c h e u n d die g r i e c h i s c h e Philosophie. ( N J K A P Bd. 29, 1912, S. 554 —584). 3 8 3 Von der Uberzeugung ausgehend, daß „das Griechentum die einzige geistige Größe" gewesen sei, „die für Nietzsche in allen Stadien seiner philosophischen Entwicklung, nicht nur in der ästhetisch-pessimistischen, sondern auch in der intellektualistischen und voluntaristischen Periode, ihren unverminderten Wert behalten hat", umreißt Verfasser Nietzsches Stellung zu den einzelnen Gestalten der griechischen Geistesgeschichte, und zwar von hinten nach vorn, von den Stoikern und Epikureern bis auf die Vorsokratiker hinauf. Hier erst stellt sich ihm die Frage, „ob und inwieweit eine Verwandtschaft zwischen den Lehren Nietzsches und denen der griechischen Denker bestehe", nämlich hinsichtlich seiner Erkenntnistheorie, der Lehre vom Werden und der ewigen Wiederkunft und seines „sogenannten Immoralismus" mit der Lehre vom Ubermenschen? W a s die Erkenntnistheorie betreffe, so folge er „der antiken sophistischen", seine „praktische Auffassung der Philosophie" liege „ganz in der Richtung der antimetaphysischen und subjektivistischen Sophistik". Seine Auffassung des Werdens und der ewigen Wiederkunft sowie sein „Amor fati" seien „antik", „griechisch", der „Immoralismus . . . die logische Konsequenz" der Ablehnung „aller metaphysischen Realitäten". Es sei überhaupt „eine müßige Frage, ob Nietzsche mit . . . seinem Immoralismus an die Renaissance oder an das Griechentum anknüpfe: denn es ist beides richtig, wie ja auch beide Kulturperioden innerlich zusammenhängen". Doch es kommen „vor allem die Sophisten in Betracht", namentlich Kallikles, Thrasymachos und Thukydides. Die Frage, „ob oder inwieweit Nietzsches Auffassung von der Entwickung der griechischen Philosophie", d. h. die von ihm vollzogene „scharfe Abgrenzung" zwischen den vorplatonischen Denkern und Piaton, zutreffe, zu beantworten, fällt dem Verfasser gar nicht leicht. Das Zustimmende hält dem Ablehnenden so ziemlich die W a a g e . Es scheint ihm letztlich vielmehr darum zu gehen, in Nietzsche überhaupt einen Streiter um die Wichtigkeit der antiken und vor allem der hellenischen Kultur- und Geisteswelt zu erkennen, denn seine Erörterungen führen auf folgenden Schlußsatz hin: „ . . . wenn, so lange es humanistische Schulen gibt, der Zweck ihrer Erziehung nur der sein kann, ihre Schüler durch die Beschäftigung mit der Gedankenwelt und den Kunstformen des Altertums über die nationale Bedingtheit empor zu echter Menschlichkeit zu führen, so dürfen wir auch dabei eines Satzes gedenken, der noch aus dem Mund des jugendlichen Professors der Philologie stammt, in dem aber schon die Philosophie des Zarathustradichters wetterleuchtet: ,Humanität heißt nicht Durchschnittsmenschheit, sondern höchste Menschheit.'"
383
Nestle, Wilhelm (Stuttgart 16. 4. 1865 — ebd. 18. 4. 1959), klassischer Philologe und Philosoph, seit 1932 Professor in Tübingen.
496
1912 Max Reuschle
1095a Dass, in: W . N . , Griechische Weltanschauung in ihrer Bedeutung für die Gegenwart. Vorträge u. Abhandlungen. H . F. C. Hannsmann. St. 1946, S. 2 5 5 — 2 9 5 . Die Anmerkungen sind wesentlich verkürzt, die griechischen Stellen im Text fehlen, sonst aber unverändert. 1096 Bélart, H a n s , Friedrich Nietzsches Freundschafts-Tragödie mit Richard Wagner und Cosima Wagner-Liszt. C. Reißner. Dresden 1912. 4 Bll., 182 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Liefert eine fortlaufende Darstellung des Verhältnisses unter reichlicher Verwendung des damals schon Veröffentlichten und häufiger, meist zustimmender Anführung der Ansichten von der Schwester, Lichtenberger, Bernoulli, Richter, Glasenapp und Chamberlain. Er mißt dem Auftreten Rées „einen viel bedeutenderen Einfluß auf Nietzsche" bei, „als die Biographien von Frau Förster, Raoul Richter ; Lichtenberger u. a. ahnen lassen". Dieser sei „das böse Prinzip, das zwischen Nietzsche und Wagner trat". „Das Hauptmotiv der Trennung" aber bezeichnet er als „eine Cosimaschuld". Nietzsche selber mache die Frau für die „gesamte christliche Phase" Wagners verantwortlich; sie allein trage „für die Tat des Kunstwerkes Parsifal die tiefe Verschuldung". Anfänglich sei sie aber auch „das, was ihn zum ersten Male schon in Triebschen entzückte" und wiederum „im Mittage seines Lebens . . . die wunderbarste Frau seines Daseins", seine „Ariadne", gewesen. Ein Gesamturteil über den Denker drückt sich in folgenden Worten aus: „Nietzsches philosophische Bedeutung wird stets in der Wertlehre, namentlich in der aristokratischen Rangordnung und im Wandel aller Werte überhaupt liegen, seine kulturelle Bedeutung auf den Gebieten von Religion, Moral und Kunst Früchte tragen." Lesenswert ist in dem einleitenden „Rückblick auf meine Wagnerperiode" Verfassers Schilderung des eigenen von der Mitte der 80er bis Ende der 90er Jahre währenden „eingefleischten" Wagnertums. Er habe damals lediglich die „Geburt" und die vierte „Unzeitgemäße" gekannt, „da die späteren Nietzschewerke zu den Wagnerketzereien zählten". 3 " D i e Frau des Dichters Max Reuschle, mit ihm seit 1918 bekannt, schrieb über den im Jahre 1912 in Berlin Studierenden: „Nur ein kleiner Kreis von Freunden, die g a n z in Nietzsche lebten, war sein Umgang." 3 8 4 '
384
In den Verlagsanzeigen, die Verfassers: Richard Wagners Beziehungen zu Francois und Eliza Wille . . . C. Reißner. Dresd. 1914, beigebunden sind, wird zum Frühjahr 1914: Das Genie und seine Entartung bei Friedrich Nietzsche und Richard Wagner (erörtert an den Theorien von Cesare Lombroso, Max Nordau, P. J. Möbius und der Neufranzösischen Schule), angezeigt, doch ist das Werk anscheinend nie erschienen. 3841 Reuschle, Frieda Margarete, Wir leben lichte Tore zu bereiten. Max Reuschle, Weg eines Dichters. Ph. Otto Röhm Vlg. St. (1950), S. 14; Reuschle, Max (1890 — 31. 10. 1947), promovierte erst 1922 mit einer Arbeit über Mörike und wurde darauf am Wüntembergischen Staatsarchiv angestellt, seit 1938 frühzeitig im Ruhestand.
1912 Er hat „stets erzieherisch wirken wollen"
497
Im M a i 1 9 1 6 w u r d e er an der W e s t f r o n t schwer verwundet, und über d i e s e Z e i t s c h r i e b sie: „ D i e D i c h t u n g h a t t e im K r i e g e f a s t v ö l l i g g e s c h w i e g e n . E i n
Dramen-
e n t w u r f , C e s a r e B o r g i a ' w a r im W e s t e n e n t s t a n d e n . D a s T h e m a z e i g t , w i e s t a r k e r n o c h in N i e t z s c h e l e b t e , d e s s e n , W i l l e z u r M a c h t ' ihn im T o r n i s t e r begleitete."38,b 1097
Petsch, Prof. Dr. Robert (Liverpool),
N i e t z s c h e als
Künstler.
( Z f d U 2 6 . J g . , H . 1 0 , 1 9 1 2 , S. 6 7 3 — 6 8 3 ) . B e s p r i c h t das W e r k von E c k e r t z ( N r . 9 4 3 ) , dem V e r f a s s e r in allem und jedem z u s t i m m e n d : „ E r hat sein P r o b l e m sogleich von der richtigen Seite a u f g e f a ß t ; nicht die lyrischen G e d i c h t e , nicht seine dilettantischen K o m p o s i t i o n s ü b u n g e n sind es, die N i e t z s c h e s K ü n s t l e r s c h a f t b e g r ü n d e n ; alle seine K r a f t der ästhetischen Auffassung und N e u s c h ö p f u n g , alles, was von Musik in ihm lebt, s t r ö m t letzten E n d e s in seine S p r a c h e aus und der letzte Z w e c k von E c k e r t z ' Büchlein ist e b e n der, unser O h r für die M u s i k in N i e t z s c h e s S p r a c h e e m p f ä n g l i c h zu m a c h e n . " 3 8 5 1098
S t r e c k e r , K a r l (Berlin), N i e t z s c h e und seine Schwester.
1 4 . J g . , H . 1 8 v. 1 5 . 6 . 1 9 1 2 , S p .
(DLE
1266—1271).
E i n e n o c h m a l i g e (s. N r . 1 0 6 5 ) , äußerst a n e r k e n n e n d e und wesentlich l ä n g e r e B e s p r e c h u n g der N e u a u f l a g e der schwesterlichen L e b e n s b e s c h r e i b u n g . 1099
Wessely,
Vorkämpfer
für
Rudolf
(Charlottenburg),
Erziehungs-
und
Friedrich
Schulreform.
Nietzsche
(PäAr
54,
als
1912,
S. 6 0 1 - 6 3 1 ) . V o n der Ü b e r z e u g u n g a u s g e h e n d , N i e t z s c h e h a b e „stets erzieherisch w i r k e n w o l l e n " und „sich als K ä m p f e r f ü r eine neue, h ö h e r e K u l t u r g e f ü h l t " , bietet V e r f a s ser e i n e ä u ß e r s t sachliche Z u s a m m e n s t e l l u n g von dessen Ä u ß e r u n g e n z u r E r z i e h u n g . E r s t a m S c h l u ß meint er, d a ß N i e t z s c h e s „ U r t e i l e und A n s i c h t e n über Bild u n g , E r z i e h u n g und U n t e r r i c h t t r o t z m a n c h e r W i d e r s p r ü c h e und V e r s c h w o m m e n h e i t e n , t r o t z vieler S c h r o f f h e i t e n und M a ß l o s i g k e i t e n in den wichtigsten P u n k ten e i n h e i t l i c h " seien. „ V o r allem, dem s c h ö n e n J u g e n d t r a u m v o n der Auslese der M e n s c h h e i t und d e r E r z e u g u n g des G e n i u s ist e r bis z u l e t z t treu geblieben. Freilich w a r es e b e n nur ein T r a u m . . . " 1100
Kleinpeter, D r . H a n s ( G m u n d e n ) , D e r P r a g m a t i s m u s im Lichte
d e r M a c h s c h e n E r k e n n t n i s l e h r e . ( W i R s H . 2 0 v. 1 5 . 7 . 1 9 1 2 , S . 4 0 5 f f . ) . O b w o h l es d e m V e r f a s s e r u m eine H e r v o r k e h r u n g des F o r t s c h r i t t e s , den der P r a g m a t i s m u s und besonders E r n s t M a c h mit der N e u p r ä g u n g des W a h r h e i t s b e g r i f -
384b
385
Ebd., S. 18 f. S. a. S. 78 über die Einstellung zum Nationalsozialismus, angesichts dessen er „sich zeitweilig von der Gewalt der Bewegung hatte mitreißen lassen. Die Seite seines Wesens, die einst, unter dem Einfluß Nietzsches, für Prometheus, Caesar, Napoleon, ja sogar für einen Cesare Borgia geglüht hatte, war damals noch nicht ganz erloschen gewesen und jäh hatte sie sich wieder entzündet beim Erleben der sich entfaltenden Macht und Größe". Petsch, Robert (Berlin 4. 6. 1875 — Hamburg 10. 9. 1945), Literaturwissenschaftler, 1907 Professor in Heidelberg, später in Liverpool, Posen und seit 1919 in Hamburg.
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1912 „als Stilist neben Luther und Goethe"
fes gebracht haben, geht, wird Nietzsche nicht nur wiederholt als Verfechter der neuen Auffassung erwähnt, sondern gleich zu Anfang als deren „erster Prophet" gefeiert: „Für die Menge hat sein Titanengeist nicht geschrieben; auch war die Botschaft, die er brachte, noch zu ungewohnt. Heute klären sich die Verhältnisse: was bei Nietzsche Intuition eines Genies war, beginnt sich als Ereignis der exakten Forschung herauszustellen." Zu den sonstigen Förderern der neuen Lehre zählt Verfasser J. C. Maxwell, Kirchhoff, Hertz, Poincaré, Locke und besonders James, Dewey und F. J. C. Schiller. 1101 anonym, Friedrich N i e t z s c h e und der letzte Kaiser von Brasilien. Eine Begegnung in den Tiroler Alpen. ( N W J v. 17. 7. 1912). 3851 1101a Auch in Nr. 9 5 / l a , S. 416 f., irrtiimmlicherweise unter „ U n d a tierte Begegnungen aus Sils-Maria (1881 —1888)" a u f g e n o m m e n . D i e Begegnung fand laut der Schwester ( D e r einsame N i e t z s c h e , S. 32) schon im Sommer 1877 statt; s. dazu auch die Briefe an Mutter und Schwester aus dem August 1877. D i e Fassung von 1912, die „der Franzose Prozor aus Frau Förster-Nietzsches Munde in der ,Revue'" widergegeben habe, weicht nicht unwesentlich von dem dürftigeren Bericht der Schwester ab und läßt dazu diese Begegnung Nietzsches mit dem Kaiser von Brasilien anstatt in Rosenlauibad in den Tiroler Alpen stattfinden. 1102 Peters (Königsberg), ( Z P h K Bd. 147, 1912, S. 231 f.). Bespricht den Vortrag von Oehler (Nr. 1012), der „weder für die Wissenschaft, noch für den Kenner Nietzschescher Lehren" Neues bringe. „Von der etwas reichlich starken, aber doch nicht unlieb berührenden Überschätzung Nietzsches werden" etwaige neuen Leser beim Lesen der Werke selber „bald abkommen". 1103 Havenstein, Martin, (Ebd., S. 232 ff.). Begrüßt das Werk von Eckertz (Nr. 943), dem es „vortrefflich gelungen" sei, Nietzsche „als Schriftsteller zu beurteilen und zu werten". Verfasser überschätze aber den „Zarathustra" sowie den homerischen Einfluß darauf und unterschätze dagegen den der Bibel. Der Rezensent meint, Nietzsche habe „sich nicht mit Unrecht als Stilist neben Luther und Goethe zu stellen" gewagt. Man werde „die .Unzeitgemäßen Betrachtungen' und Abschnitte aus Nietzsches späteren Schriften dereinst wie Lessings Abhandlungen als Muster- und Meisterstücke deutscher Prosa in den höheren Schulen lesen". 1104 Olshausen, W., ( J b N D L Bd. 21, 1912, S. 350 ff.). Hebt als „bedeutsamste Erscheinung des Jahres" 1911 den 17. Band der Werke (GXVII) hervor, obwohl er zugleich fragt, warum man „die philologischen Jugendarbeiten Nietzsches, die jedem Gelehrten leicht zugänglich seien, erneut zum Abdruck" bringe. Begrüßt werden auch die Neuauflage des Werkes der Lou AndreasSalomé (s. Bd. I), das „seinen Platz in der Nietzscheliteratur . . . dauernd behaup385a
Diese Angabe scheint irrig zu sein, denn die Österreichische Nationalbibliothek konnte den Bericht in der betreffenden Zeitschrift weder unter dem Datum vom 17. 7. 1912 noch 1913 ausfindig machen.
1912 D e r Wegweiser einer „dritten Romantik"
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ten" werde, und das Werk von Weichelt (Nr. 946). Anderes Schrifttum wird bloß gestreift. Eigenes drückt sich in der Meinung aus, daß ohne die Annahme des Pathologischen an Nietzsche keine „rechte Würdigung seines Schaffens . . . möglich" sei. N i e t z s c h e als W e g w e i s e r einer „dritten Romantik" würdigt Hermann Friedemann in einem Aufsatz im Jahre 1912: „Was in der D i c h t u n g um 1900 ,romantisch' hieß, hat ziemlich abgewirtschaftet. D i e neue Generation will mit dieser abgewandten, schmucksüchtigen, verspielten Art nichts mehr zu tun haben, sie wendet sich einem neuen Naturalismus zu. D i e wirkliche Romantik der Zeit hat sich in unliterarische Bezirke gerettet. D e n n o c h k o m m t sie von ebendort, w o die festlichen Poeten herkamen. W i e ein Steppenfeuer brach Friedrich Nietzsche vor ihr her. Er, der ihr Feind sein muß, der anarchische Zerstörer, der W i derchrist, Vaterlandsverächter und N e u s c h ö p f e r des ,Einzigen' — er ist d e n n o c h den Vaterländsichen, Religiösen, Stammesgebundenen z u m Ahnherrn g e w o r d e n . Weil nur seine Flamme heißt genug war, die gemeinsamen G e g e n e r : Sozialismus, D e m o k r a t i e und Bestimmungslosigkeit zu sengen. Er hat w i e Schlegel einst, alle Selbstherrlichkeit des Geistes losgebunden, damit die N a c h f o l g e n d e n wieder gebunden sein konnten . . ."386 1105 Borak, J., D e r Übermensch bei Byron, Slowacki, Ibsen und Nietzsche. ( X 5, S e p t . - N o v . 1912, S. 5 2 6 — 5 3 1 , 5 8 3 — 5 9 0 , 6 6 1 — 6 6 7 ) . Was die Betreffenden verbinde, sei, daß sie alle „als Revolutionäre in der Poesie, als Verdränger alles dessen, was der Entwicklung der Individualität im Wege steht, als Vernichter der herrschenden Vorurteile und Werte" gelten. Ihre Werke, nämlich „Manfred", „Krol-Duch", „Brand" und „Zarathustra", seien „die fleischgewordenen Ideen ihrer Schöpfer". Anhand dieser Werke erkennt Verfasser „einen individuellen, nur sich selbst hingegebenen Übermenschen bei Byron . . . , einen national-kosmischen bei Slowacki, einen religiösen bei Ibsen und endlich einen biologisch-moralischen bei Nietzsche". Abschließend meint Verfasser, daß eine Verwirklichung gerade des Nietzscheschen Ideals eine „große Wahrscheinlichkeit" habe: „In unseren Zeiten offenbart sich der Wille zum Glück als Wille zur Macht, und das ist das Ideal des Übermenschentums. Dieses Ideal soll aber Ideal aller sein; an jeden wendet es sich, der Willen hat, und jeder der Willen hat, ist imstande, es zu verwirklichen." 1106 Maurenbrecher, Max, D a s Leid. der Religion. 1 . - 4 . Tsd. E. Diederichs. Jena Vlgs.-anz.). Das Werk ist „Dem Ineinanderströmen von sche gewidmet". Die Hinweise auf Nietzsche im dafür aber durchaus nicht belanglos. Dieser habe 386
Die dritte Romantik, in: M Nr. 34, 1912, S. 317 f.
Eine Auseinandersetzung mit 1912. 2 Bll., 184 S., 2 Bll. ( = Karl Marx und Friedrich NietzWerk selber sind recht spärlich, als „Erster den Schluß gezogen,
500
1912 Letzte „Philologica" und Abschluß der Großoktav-Ausgabe
daß die Griechen, die Schöpfer der tragischen Dichtung, im Grunde ihres Gemütes pessimistisch gestimmt waren". (S. 32 f.) „Die Überlieferung, der das Jenseits eine selbstverständliche und feststehende Tatsache war, ist für uns seit mehr als einem Jahrhundert zerschnitten. Unsere Uberlieferung ist Spinoz, ist Goethe, ist Marx oder Nietzsche, ist Naturwissenschaft und experimentelle Psychologie, kurz, ist die bewußte Ablehnung jeder Jenseits-Hoffnung des Individuums. Unser Wirklichkeitssinn steht dem Neuen Testament verständnisloser gegenüber, wie etwa dem herben Realismus der Griechen oder des Hiob. Wir können aus dem neutestamentlichen Kelch noch weniger trinken, wie aus den Bechern der anderen Religionen." (S. 133) Erst Nietzsche, der „zeitlebens philosophisch in Schopenhauerschen Gedankengängen geblieben" sei, habe diesen dennoch überwunden: „. . . er hat das Werturteil verschoben, das Schopenhauer über alles Dasein gebreitet hatte." Er habe den Satz geformt, „daß eben das Streben nach Neuem und Größerem, eben der Wille zur Macht der Wert und die Freude des Lebens bedeute. Darum ist für uns Heutige gerade Nietzsche der starke Prophet des Lebens geworden, der den tragischen Grundton des Lebens nicht verschweigt, aber ihn durchbildet und durchtreibt bis zu neuer Freude und Kraft und Glück." (S. 167 f.) Den „letzten, größten, wahrsten Triumph der heroischen Religion hat auch Zarathustra", nicht der Nietzschesche, sondern der geschichtliche, dessen Wirken zum Schluß, nach dem der Griechen, der Juden, des Sozialismus, der Inder und Schopenhauers, dargestellt wird, „noch nicht gefunden. Hier können dem Arbeiter, der sich vom Christentum und von den Illusionen der ersten Generation (der Sozialisten) freigemacht hat, nur noch die griechischen Tragiker Wegweiser sein . . . Die tragische Religion des Aischylos und Euripides, erweitert durch alles, was aus jüdischer, indischer oder persischer Tradition ihr wesensverwandt ist, wird die Religion der Kulturmenschheit in der nachchristlichen Periode der Menschheit sein." (S. 182) Erwähnungen Nietzsches sonst auf S. 6 f., 129, 142.387 G X I X Philologica / V o n / Friedrich Nietzsche / Dritter Band / U n veröffentlichtes / zur antiken Religion und Philosophie. / Herausgegeben von / O t t o Crusius und Wilhelm Nestle / Leipzig / Alfred Kröner Verlag / 1913. 4 Bll., 462 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). S. 3 8 3 - 4 6 2 = Anhang, N a c h w o r t , Verzeichnis der handschriftlichen Philologica N i e t z s c h e s u. N a m e n - u. Sachregister zu Bd. I—III. Erschien schon im O k t o b e r 1912. ( = N i e t z sche's Werke Bd. X I X Dritte Abth. Bd. III). 1107 Kleinpeter, Prof. Dr. H. (Gmunden), D i e Erkenntnislehre Friedrich Nietzsches. (WiRs 3. Jg., 1912, S. 5—9). Stellt Nietzsche als Gesinnungsgenossen von Protagoras, Locke, Goethe, Darwin, Vaihinger, James, Rickert und vor allem Ernst Mach dar. Am „ausgeprägtesten" finde man die Lösung, zu der Nietzsche sich durchgerungen habe, zu „einem gewissen Voluntarismus", „beim Pragmatismus". Die abschließende Zusammenfas-
387
Maurenbrecher, Max (Königsberg 17.7.1874 — Mengersgereuth/Thür. 30.4.1930), evangelischer Theologe.
1912 „weit mehr als Kant hat er Anspruch auf den Namen des Allzermalmers"
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sung lautet: „Die Haltlosigkeit Jahrtausende alter allgemeiner Voraussetzungen sämtlicher philosophischer Schulen hat er durchschaut; die Notwendigkeit eines völligen N e u b a u e s w u r d e ihm klar; weit mehr als Kant hat er Anspruch auf den N a men des Alleszermalmers . . . Für die Bedeutung der Gegenwart und das Verständnis ihrer philosophischen K ä m p f e ist kaum eine Gestalt aus der Geschichte der Philosophie so bedeutungsvoll und gleichzeitig so aktuell im eminentesten Sinne des Wortes als gerade die Gestalt des großen Umwerters aller Werte, auch der erkenntnistheoretischen — F r i e d r i c h N i e t z s c h e . "
1108 Meyer, Prof. Dr. Richard M., Nietzsche und seine Freunde. (VZg Sonntagsbl. Nr. 42 z. Nr. 536 v. 20. 10. 1912, S. 329 ff.). Ein V o r a b d r u c k aus dem „demnächst" erscheinenden Buch von Meyer (Nr. 1110), S. 643 — 653; um zwei Absätze gekürzt, sonst in unveränderter Fassung. Behandelt Nietzsche als Briefschreiber in seinem Verhältnis zu den Freunden: „ N u r zuletzt wieder, und g a n z am Anfang, haben auch seine Briefe jenen lyrischen T o n bewegter Stimmungen, der sie dann aber hin und wieder auch zu literarisch färbt und Abschnitte aus Briefen an R o h d e oder die Schwester wie Abschnitte aus seinen Werbeschriften klingen läßt."
1109 S. 183).
V(ischer), E(berhard), (KB1RS 27. Jg., Nr. 46 v. 16. 11. 1912,
Eine Anzeige der W e r k e von Fischer (Nr. 862a), das zum „Besten und Anregendsten" g e h ö r e , „was über Nietzsche geschrieben ist", und von Brepohl (Nr. 856, 2. Aufl.), das einer „wohlgemeinten Bußpredigt" gleichkomme.
1110 Meyer, Richard M., Nietzsche. Sein Leben und seine Werke. C. H. Beck. Mchn. 1913. 2 Taf., X, 702 S., 4 BU. ( = Vlgs.-anz.). Erschien schon Ende November 1912. Das W e r k ist dem „Kulturphilosophen" Karl Joël und dem „Religionsphilosophen" E d u a r d L e h m a n n zugeeignet. Als „begeisterter V e r e h r e r " , doch nicht als „Anhänger", möchte Verfasser, der „Jenseits" schon Ende 1886 kennengelernt und 1902 über Nietzsche gelesen habe, diesen nicht „bloß als Künstler unserer T a g e und künftiger T a g e " darstellen. In d e m Kampf des 19. J a h r h u n d e r t s „zwischen Rationalismus und R o m a n t i k " sei auch seine „innere Gegensätzlichkeit" zuletzt begründet. Er dürfe nicht nur ein „Erbe der Aufklärung . . . in jedem Sinn heißen", sondern trage auch fast alles der R o m a n t i k Wesentliche in sich. In zwei P u n k t e n k o m m e „die Antithese A u f k l ä r u n g und Romantik praktisch z u r Geltung", „im Kampf des neuen Individualist.ius gegen d e n alten Kollektivismus" und im „Kampf der ästhetischen gegen die ethische Lebensanschauung". U n t e r den „verwandten N a t u r e n " werden G o e t h e , Heinse, H ö l d e r l i n , Carlyle, Emerson, Ruskin, G e o r g e Sand, Stirner, Jordan, Flaubert, R e n a n , Lagarde, Ibsen, Karl Hillebrand, D ü h r i n g und Lipiner einzeln a u f g e f ü h r t . Z u den „Sternen", die seiner Geburt geleuchtet haben, zählt Verfasser W a g n e r , H e b b e l u n d Bismarck. N a c h solchen weitläufigen einleitenden Erörterungen und Abschnitten über Leben, Studium und Persönlichkeit geht Verfasser auf die einzelnen W e r k e ausführlich ein, nach einer etwas andersartigen Aufteilung: I. V o r a r b e i t e n ; II. Erste Periode (von der „Geburt" bis einschließlich
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1912 „Märtyrer . . . in allen Augenblicken seines Lebens"
„Menschliches"); III. Zweite Periode (von der „Morgenröte" bis einschließlich der „Genealogie"); IV. Dritte Periode (vom „Fall Wagner" an); V. (Parerga, Paralipomena, Sprüche, Gedichte u. Fragmente). Wer nur „das Schönste" haben wolle, dem rät Verfasser die „Morgenröte", die „Fröhliche Wissenschaft" und den „Zarathustra". In einem „Rückblick" stellt Verfasser folgende Eigenschaften als die heraus, „die sein Wesen und sein Leben beherrschen": den Ernst, die Vornehmheit und die unermüdliche Schaffenslust: „Alle andern Eigenschaften des Menschen gehen in ihnen auf: die persönlichste Güte, Liebenswürdigkeit, Anspruchslosigkeit in der Vornehmheit; die Tapferkeit, Unbestechlichkeit, Ausdauer in der Schaffenslust; die Härte, Einsamkeit, Rücksichtslosigkeit im Ernst." Verfasser teilt die Philosophen in „Weltphilosophen", etwa Demokrit, Piaton und Spinoza, die „ein Bedürfnis nach Orientierung in der Ideenwelt" zum Philosophieren bringe, und in „Menschenphilosophen" wie Heraklit ein, und zu letzteren zähle Nietzsche. Bei ihm werde man immer wieder darauf geführt, „das Positive, das Praktische" voranzustellen. Auf die Frage, „welche Maßnahmen können einer freien, bewußten, unbedingten Betätigung des Machtwillens am besten dienen", sei zu antworten: „die Heranbildung vollkommener Einzelner, die als geistige Aristokratie weiterhin die Erziehung der Erzieher, den Befehl über die Befehlshaber übernehmen." Zum Schluß berührt er die Wirkung und führt als „nachgemachte Nietzsches" zunächst Langbehn, Otto Weininger und Max Steiner auf, als Nachahmer und Jünger Walter Calé und Emil Gött. Was ihm „seine ,Gemeinde' geschafft" habe, sei weder die Lehre, noch der Stil, sondern „das Heroische". Mit rechter Begeisterung schließt er: „. . . sein Leben ist Forderung und H o f f n u n g zugleich, . . . das Leben eines Mannes, der Märtyrer war nicht bloß einmal am Schluß, sondern in allen Augenblicken seines Lebens; und der Sieger war nicht nur in allen Triumphen seines Denkens und Schaffens, sondern auch im Zusammenbruch . . . Diesen Mann haben wir erlebt; das kann uns niemand nehmen . . . Wir haben die Erneuerung des Reichs erlebt, und wunderbare Großtaten des erfindenden Menschengeistes, und Friedrich Nietzsche; möchten wir der Forderungen und Hoffnungen nicht allzu unwert sein, die solche Erlebnisse in sich schließen!" Auffallend ist die schonende und gar anerkennende Behandlung der Schwester und deren Wirken, „trotz bitterer persönlicher Erfahrungen" des Verfassers. Mündliches zum Overbeck-Nietzsche-Verhältnis überliefert er in folgendem Satz: „. . . von Overbeck hat mir ein Freund und Amtsgenosse der Baseler Zeit gesagt: ,Es ist ganz sicher, daß er keinen Menschen geliebt hat wie Nietzsche."' 388 1111 Sternfeld, R., Nietzsche und „Parsifal". (Tag 26. 11. 1912). Setzt auseinander, daß der „Parsifal" schon „1865 in einem ausführlichen Entwürfe" vorgelegen habe, um Nietzsches Meinung, es handele sich um ein „Alterswerk", zu entkräften. Da Nietzsche aber von diesem Entwurf nichts gewußt zu haben scheint, legt Verfasser nahe, daß er selbst in der „Zeit innigster Bekanntschaft . . . das volle Vertrauen, die rückhaltlose Freundschaft des Meisters" nicht besessen habe.
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Nach Arnold Pfeiffer (Franz Overbecks Kritik des Christentums. Vandenhoeck & Ruprecht. Gött. 1975, S. 13) sei mit dem Amtsgenossen „offenbar Karl Joël" gemeint.
1912 Carl Zuckmayer
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Schon als Gymnasiast in Mainz begegnete Carl Z u c k m a y e r den Schriften Nietzsches: „. . . mit f ü n f z e h n entdeckte ich die ,Fröhliche Wissenschaft' (im verschlossenen Bücherschrank meiner Eltern, dessen Schlüsselversteck ich aber längst kannte) und verfiel dem Z a r a t h u s t r a ' , verfiel dem verführerischsten und genialsten .Antichristen' unserer Zeitläufte mit Leib und Seele, so wie einer im Volksbuch dem T e u f e l verfällt — mir schien er der g r o ß e Luzifer. U n d ich wollte mit meinem Nietzsche nicht allein lesen — ich gab ihn, wie die Anarchisten ihr Dynamit, an aufgeschlossene Schulf r e u n d e weiter, schrieb vor einer Religionsstunde an die T a f e l sein ,Gott ist tot!' und verdankte es nur der G ü t e des Geistlichen, daß es nicht z u r Katastrophe kam. Er gab mir, statt einer Strafe, die ,Bekenntnisse' des Augustinus, die sonst in der Schule nicht gelesen w u r d e n , und machte mir klar, daß mich an Nietzsche das Poetische stärker berauscht hatte als die philosophische Konsequenz. 1 , 5 8 9 V o m Gymnasium kam er gleich in den Weltkrieg, über den er u. a. schrieb: „Wir zitierten in den Kriegsjahren o f t ein W o r t von Nietzsche, ein gefährliches W o r t , das sich aber f ü r m a n c h e n von uns bewährte. Es hat später meinem Freund C a r l o Mierendorff geholfen, fünf qualvolle K Z - J a h r e zu überstehen, und weiterzuleben: ,Was mich nicht umbringt, macht mich stark.'" 390 1112 Kiefl, D o m k a p i t u l a r D r . F. X., Friedrich Nietzsche und die christliche Pädagogik. ( = V o r t r a g auf der 9. H a u p t v e r s a m m l u n g des Kath. Lehrerinnenvereins in Bayern). (Aar 2. Jg., 2. Bd., 1912, S. 817—826). 391 Verfasser will Nietzsches Erziehungsideal der Kritik unterziehen, hebt aber zunächst den Stil hervor, einen Stil, dessen „größte geistige Schätze aus den Psalmen und dem Hohen Liede des Alten Testaments geschöpft" seien. „Den obersten Grundsatz seines Erziehungsideals" drücke sich in dem wahnsinnigen Worte aus:
389
390
3,1
C. Z., Als wär's ein Stück von mir. H ö r e n der Freundschaft. S. Fischer. (163. bis 183. Tsd. 1967), S. 154; Zuckmayer, Carl (Nackenheim 27. 12. 1896 — Saas-Fee/Schweiz 18. 1. 1976), Schriftsteller. Ebd., S. 214. D a ß der Einfluß Nietzsches ein andauernder war, deuten andere Erwähnungen seiner an. So heißt es im „Pro D o m o " (Bergmann-Fischer. Stockholm 1938, S. 62 f.): „Wenn ich hier und im Ganzen öfters den Begriff des .Lebens' aufwerfe, so sei damit keinem flachen Positivismus das W o r t g e r e d e t , . . . sondern das Leben sei in seinem vollen unteilbaren Umfang, in seiner unfaßlichen Ganzheit, in seiner zeugenden und mörderischen Gewalt, beschworen und geliebt, mit jener vollkommenen Hingabe an sein inneres Gesetz, die Nietzsche als ,amor fati' bezeichnet." In dem Erinnerungswerk „Second Wind" (Doubleday, Doran. N e w York 1940) steht der längste, das Erleben des Weltkrieges darstellende Abschnitt unter der Nietzsche ausdrücklich entlehnten Überschrift: W h o m it does not kill. . . " Kiefl, Franz Xaver (Höhenrain/Niederbayern 1869 — Regensburg 1928), Priesterweihe 1894, 1905 Professor der Dogmatik in Würzburg, 1911 Domkapitular in Regensburg.
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1912 „Lasset Hand und H e r z von den giftigen Schriften!"
„Leib bin ich ganz und gar und nichts außerdem", und hiermit setze schon sein „Kampf gegen das Christentum" ein. Besonders hervorgehoben werden dann die „seltsame Vorliebe für die großen Verbrecher", die „Leugnung der Sittlichkeit als solcher", „die blonde Prachtbestie", der „Ruf nach Sklaverei des Weibes" und die Ubertreibung der „Leibeskultur". Schließlich sei Nietzsche selber „ein Völkerzeuge für Christus, indem er an seinem Beispiel zeigte, daß die antichristlichen, modernen Ideen nicht zum Glück der Menschheit führen". Auf die „praktische Frage: Soll man Nietzsche lesen aus ästhetischen Gründen, wie man unsere Klassiker liest", antwortet Verfasser mit einem entschiedenem Nein. Man müsse „den gebildeten jungen Leuten . . . den ernstesten Rat geben: Lasset H a n d und Herz von den giftigen Schriften!" 1113 Susman, Margarete (Rüschlikon), Z u m Verständnis Nietzsches. (FZg Nr. 339 v. 7. 12. 1912). Der Verfasserin ist es der „Heroismus", der in und um Nietzsche „alle Werte umwertete, umkehrte". „Nie hat ein Deutscher gewaltiger darum gerungen, auch den letzten Schatten von Zweckmäßigkeit noch in ihrer vergeistigsten Form in Hinsicht auf sein Erkennen sich zu verbieten und rein allen Furchtbarkeiten, Rätseln und Vernichtungen des Daseins ins Auge zu sehen." „Energisch wie kein anderer Geist" habe er „an der Reinigung unserer sittlichen Atmosphäre, an der Erhebung des Sittlichen in eine kältere und klarere Schicht gearbeitet". Von Kant über Schopenhauer führe der Weg zu Nietzsches „Vision", „die so unermeßlich vollkommener, weiter und ganzer war, als er sie ausgesprochen hat". Von ihr zeuge „nicht sein eigentliches philosophisches Werk — nur die große trunkene Dichtung seiner höchsten Augenblicke". Hiermit leitet Verfasserin zu einer überaus begeisterten Besprechung des Werkes von Friedländer (Nr. 1006) über, der den Versuch unternehme, „die vollkommene Logisierung des Nietzscheschen Unendlichkeitserlebnisses zu vollziehen". „Er hat allen lodernden Heroismus Nietzsches, alle Lauterkeit und Unbestechlichkeit dieses Geistes, all seine abgründige Ekstatik und Unendlichkeitskraft erlebt; er hat ihn mit all diesen einander bekämpfenden und um Wiedervereinigung ringenden Kräften im Mittelpunkt aller Unendlichkeit als Unendlichkeit geschaut und von dort den Lichtkreis um ihn gezogen, den er selbst — ein freischwebender Stern — um sich her verbreitet." 1114 Förster-Nietzsche, Elisabeth, D i e Freundschaft zwischen W a g ner und Nietzsche. (Tag 14. 12. 1912). Angeregt durch den Aufsatz von Sternfeld (Nr. 1111) beteuert die Schwester Nietzsches Liebe zu Wagner trotz der Enttäuschung durch den „Parsifal" sowie umgekehrt Wagners Hingebung an Nietzsche. Zur letzteren führt sie eine Äußerung Heinrich von Steins über „einen Ausspruch Wagners" an, „der dessen wirkliche Empfindung schildere: ,Er habe immer einen Ersatz für Nietzsche gesucht, aber nichts gefunden.'" Dazu bringt sie Abschiedsworte Wagners an sie aus dem August 1882: „,Bitte sagen Sie ihrem Bruder, seit er von mir gegangen ist, bin ich allein.'" In einem früheren Aufsatz „Zur Parsifalsfrage" (Tag 1.9. 1912) hatte sie geschrieben, daß sie, auf den „dringenden Wunsch" ihres Bruders hin, im Sommer 1882 der Parsifalaufführung beigewohnt und in einer „Privataudienz" Wagner gegenüber
1913 Eine „große heidnische Blutleuchte"
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ausgedrückt habe, „wie innig ich es bedaure, daß mein Bruder nicht diesen höchsten G e n u ß haben könnte. ,Ach nein,' sagte W a g n e r , ,nach Bayreuth k o m m t er nicht, aber vielleicht z i e h e ich einmal mit meinen Künstlern umher, so daß er den P a r s i fal' a n d e r s w o hören könnte.'"
1115 Roth, Dr. L., Eine neue Nietzsche-Biographie. (PL Nr. 302 v. 22. 12. 1912, S. 20 f.). Eine lobende Besprechung des Werkes von Meyer (Nr. 1110): „Das Werk Meyers bedeutet in der reichhaltigen Nietzsche-Literatur einen großartigen, umfassenden Abschluß, insofern hier alles bisher A u f g e w o r f e n e und Problematische zur inneren Abrundung gedeiht." D i e eigene Einstellung zu N i e t z s c h e verrät der Rez e n s e n t erst am Schluß, in einer Zusammenstellung von Marx und N i e t z s c h e : „. . . beide beherrschten unsere Zeit durch den Ernst ihrer Gesinnung und durch die Triebkraft ihrer Ideen, die trotz aller K r ü m m u n g e n und Abbiegungen die Prophetie eines lichten M e n s c h e n m o r g e n s der kämpfenden, arbeitenden Menschheit voraussagen."
1116 Wolff, Dr. Karl, Friedrich Nietzsche, Vortrag, gehalten in der Matinée des H o f - u. Nationaltheaters am 24.11.1912. (JbMK 1913, S. 160—163). Verfasser feiert N i e t z s c h e den „Propheten": „. . . l e b e n und w i r k e n
wird
der mächtige Antrieb, d e n seine G e d a n k e n d e m Geist der Zeit verliehen haben . . ."
Aus dem eigenen Erleben im ersten Jahrfünft des neuen Jahrhunderts in Schwabing schöpfte die Gräfin zu Reventlow in einer 1913 erschienenen romanhaften Darstellung, in der Nietzsche nur noch gestreift wird: Der „Philosoph" erklärt dem Herrn Dame: „Wahnmoching lehnt den Individualismus ab und lehrt, daß der einzelne wenig in Betracht kommt. Von großer Wichtigkeit sind dagegen die Ursubstanzen, aus denen die Einzelseele zusammengesetzt ist, so, wie ich Ihnen schon einmal sagte, die Rassensubstanzen : — die romanische — germanische — semitische und so weiter. Diese befinden sich im Blut, — unterstreichen sie B l u t , es ist von größter Bedeutung. W o nun eine von ihnen das Übergewicht bekommt, so daß sie allein das Erleben (Schauen, Dichten, Handeln und vor allem auch das Träumen) beherrscht — da haben sie die Vorbedingungen für das Zustandekommen der Blutleuchte. Hier ist nur eine mystische Komplikation zu merken: irgendeine heidnische Substanz hat periodisch größere Stärke, daher ,heidnische Blutleuchte' in vielen Individuen gleichzeitig. So war in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts große heidnische Blutleuchte. Delius fand seine Weltanschauung — Nietzsche schrieb den Zarathustra — in der damaligen Jugend gärte es — König Ludwig II. versuchte seine phantastische Ideen auszuleben V2 3,2
F. Gräfin zu Reventlow, Herrn Dames Aufzeichnungen oder Begebenheiten aus einem merkwürdigen Stadtteil. Langen. Mchn. (1913), S. 69 f. S. zu dem Werk die Äußerung von
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1913 Einer der „bedeutendsten Vertreter" des „Phänomenalismus"
Etwas später macht Sendt die Zwischenbemerkung: „ . . . A p o l l o ist bekanntlich der Gott des Lichtes, der Vernunft — D i o n y s o s der des Rausches und des Blutes — Auch in W a h n m o c h i n g hat man nicht umsonst seinen Nietzsche gelesen, aber es genügt hier zu wissen, daß es ehrenhafter ist, mit dem D i o n y s o s auf vertrautem Fuß zu stehen." 3 ' 3 Auf dem zweiten Vorsatzblatt des ersten Bandes seiner 1913 erschienenen „Werke", nämlich des ersten Bandes der „Dionysischen Tragödien", ließ Rudolf Pannwitz folgende W i d m u n g drucken: „Friedrich Nietzsche dem Schöpfer unseres neuen Lebens die Ausgabe dieser Werke als einer ganzen Jugend verspätete Antwort und Dankbarkeit für die Tat." 3 ' 4 1117 Kleinpeter, Dr. Hans, D e r Phänomenalismus. Eine naturwissenschaftliche Weltanschauung. J. A. Barth. Lpz. 1913. VII, 287 S. Verfasser verfolgt zunächst die Entwicklung der neuen Weltanschauung von Locke über Berkeley, Hume und Kant und meint, erst Nietzsche habe die Lehre des letzteren richtig gedeutet: „Mit seinem tiefdurchdringenden wahrhaft kritischen Geiste erkennt er die Undurchführbarkeit des bisherigen Wissenschaftsideals . . . Nietzsche zerstört Kant a priori und verwandelt seine Lehre in einen Relativismus." Er sei „kein Vorläufer des Phänomenalismus mehr, er ist selbst schon einer seiner bedeutendsten Vertreter". Ein weiteres großes unsterbliches Verdienst Nietzsches sei „seine grandiose Schöpfung einer auf ganz neuen Grundlagen beruhenden und neue Ziele anstrebenden Ethik", in der „er in positiver und augenfälliger Weise den Beweis von der Berechtigung verschiedener sittlicher Ideale, verschiedener ethischer Systeme" geführt habe. Er treffe sich fast überall mit Anregungen Goethes und Darwins oder führe deren Ansätze weiter. Mit oder neben ihn lassen sich dann auch, aber noch lange nicht mit so lobenden Worten, stellen: Rickert, James, Protagoras, W. C. Clifford, Anton Menger, R. Avenarius, W. Schuppe, F. J. C. Schiller, Hans Cornelius, J. B. Stallo, Vaihinger, Maxwell, Minkowski, Einstein, Wundt und Dewey. Der Mißachtung der Erfahrung oder deren Geringschätzung geziehen werden dagegen vor allem H . Cohen, P. Natorp, Husserl, Α. Riehl, C. Stumpf und O.
3.3
3.4
Ο. Α. H . Schmitz: „Mein späterer Roman .Bürgerliches Bohème' und Franziska v. Reventlows .Aufzeichnungen des H e r r n Dame' (Verlag A. Langen) sind die einzigen Darstellungen jener Bewegung aus der Feder Zugehöriger." (Dämon Welt. Jahre der Entwicklung. Müller. Mchn. 1926, S. 219). Ebd., S. 75 f. Sicherlich auf diese Stelle bezieht sich die Verfasserin in einem Brief vom Sommer 1912 an Paul Stern: „Alles Angegebene werde ich noch ändern. Das über Nietzsche ist leicht noch einzuflechten — es war übrigens nur ein Satz — ich fürchtete es etwas, weil so oft in der modernen Literatur Nietzsche alle die Verirrungen junger Leute in die Schuhe geschoben werden. — Übrigens spielte er gerade bei Hallwig k e i n e große Rolle. Man erkannte nur an, daß er auch einiges wisse." (Briefe der Gräfin Franziska zu Reventlow. H g . v. Else Reventlow. Langen. Mchn. 1929, S. 221 f.) Nach Dominik Jost (Ludwig Derleth. Gestalt u. Leistung. W . Kohlhammer St. [1965], S. 54) hat die Verfasserin „Sendt mit Zügen von Ludwig Derleth ausgestaltet". Vgl. H a n s Carl. Nürnberg.
1913
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Kiilpe. Von einem persönlichen Verhältnis Nietzsches zu Mach und seinem Werk weiß der Verfasser, „nach einer persönlichen Mitteilung von Frau Elis. FörsterNietzsche", zu berichten: „Nietzsche lernte . . . Mach als Schriftsteller in einer Zeitschrift 1885 kennen und erkannte sofort in ihm den Gesinnungsgenossen, Mach blieb jedoch bis jetzt mit seinen Werken unbekannt." Da das Namenverzeichnis etwas lückenhaft ist, seien die Fundstellen zu Nietzsche hier angeführt: S. 2, 3, 14, 27, 29, 34, 45, 49, 51, 54 f., 57, 65, 69, 76, 83, 95 f., 98, 99 f., 109, 116, 117, 118, 123, 125, 132 f., 134 f., 137, 138, 143, 145, 147, 159, 170 f., 173 f., 181, 189 f., 199, 2 0 2 - 2 0 9 , 224, 226, 230, 237, 238, 240, 242, 251, 252, 253, 256, 265, 271, 281. 1118 S p i n d l e r , D r . j u r . J o s e f , N i e t z s c h e s P e r s ö n l i c h k e i t u n d L e h r e im Lichte seines „ E c c e h o m o " . J. G . C o t t a N f . St. u. Bln. 1913. 101 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Obwohl das „Ecce homo" deutlich den Einfluß der Geisteskrankheit verrate, „zunächst in der Form der Darstellung, die an einzelnen Stellen gegen den guten Geschmack und dort, wo gegen die Deutschen und das Christentum Ausfälle der heftigsten Art unternommen werden, in starkem Maße gegen den Takt verstößt", und weiter in dem „Machrwahn", einer „Form des Größenwahns", findet Verfasser, daß das ^ e r k „zu dem Interessantesten und Spannendsten, was Nietzsche geschrieben hat", gehöre und „in formal logischer Beziehung unanfechtbar, tadellos gegliedert" und „streng einheitlich" sei. Um sich das Werk erklären zu können, unternimmt Verfasser zunächst die Aufweisung von „einem offenliegenden Widerspruch zwischen Nietzsches Theorie und Praxis, zwischen seiner Lehre und seiner Persönlichkeit", und kommt zu dem Schluß, daß „von den beiden, einander oft entgegengesetzten Richtungen, nach welchen die Komponenten P e r s ö n l i c h k e i t und D e n k e n das Schaffen Nietzsches zu lenken strebten, . . . die von der P e r s ö n l i c h k e i t gewiesene der trotz allen sonstigen Wechsels b l e i b e n d e , der nie fehlende, sogar stark mitwirkende, wenn auch nicht immer leicht erkennbare Faktor" sei. Dazu sei „seine innerste Natur, seine P e r s ö n l i c h k e i t . . . im Boden unserer alten M o r i i . . . tiefst verankert" gewesen. Dieser „alten Moral" entgegen stehen an neuen Werten nur „der Übermensch und die ewige Wiederkunft aller Dinge", denn „der dritte Grundgedanke der Lehre Nietzsches", „die Liebe des Notwendigen", vertrage sich „sehr wohl" mit unserer Moral. Die beiden zuerst erwähnten Grundgedanken, beide doch „nur h y p o t h e t i s c h e M ö g l i c h k e i t e n " , lehnt Verfasser „als geeignete M o t i v e d e r L e b e n s f ü h r u n g für den Einzelnen und als taugliche Grundlage für die Ordnung m e n s c h l i c h e n Z u s a m m e n l e b e n s sowie für die Erhaltung und H ö h e r f ü h r u n g der geistigen, technischen und wirtschaftlichen K u l t u r " ab. Nietzsches Versuch, „die herrschende Moral aus den Angeln zu heben", sei als „gescheitert anzusehen". Dennoch habe er „herrliche Gaben und Eigenschaften . . . in se:nem Kampfe gegen die Moral ins Feld" geführt: die „herrliche Sprache", einen ganz außergewöhnlichen „Scharfsinn", „Redlichkeit und Wahrhaftigkeit", den großen „Ernst und Eifer". Schließlich habe er „durch einen großartigen, mit feingeschrr.iedeten W a f f e n geführten Angriff" bewirkt, „daß die Unbesiegbarkeit, die festgegrindete und unverwüstliche Lebenskraft der Moral um so voller und reiner ans helle Tageslicht kam". Er selber sei in dem „Kampfe des Einsamen mit seinem in-
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1913 „alte Gemeinplätze in neuen Übertreibungen"
nersten Gefühle . . . zum Schlüsse gänzlich unterlegen". Lesenswert ist noch Verfassers Auslegung der „ewigen Wiederkehr" sowie die der Ariadne und des Hammers als Sinnbilder dafür. 1119 Ludwig, Emil, Richard Dehmel. S. Fischer. Bln. 1913. Darin ein Abschnitt: N i e t z s c h e , S. 1 1 8 — 1 2 1 ; Erwähnungen Nietzsches sonst auf S. 42, 65, 85. Nietzsche gilt dem Verfasser als „der einzige Zeitgenosse, mit dem Dehmel in Vergleich zu setzen fruchtbar werden könnte". Die flüchtige Nebeneinanderstellung fällt dann etwas zu Gunsten Dehmels aus. Anführenswert sind folgende (mündliche?) Äußerungen Dehmels über sein Verhältnis zu Nietzsche: „,Nietzsche hat mich einmal — erzählte der Dichter — acht Tage lang völlig berauscht, die Kampflust der Zarathustra-Rhythmen riß mich hin. Dann trat eine ebenso völlige Ernüchterung ein. Vergebens suchte ich nach den neuen Tafeln, ich fand nur alte Gemeinplätze in neuen Ubertreibungen, fast unwert eines so heftigen Kampfes. In dieser Ernüchterung, die einer Erschütterung glich, schrieb ich den Nachruf.'" — „,Die Züchtung des Ubermenschen — sagte er einmal — ist metaphysisch ein Aberwitz. Sie geht längst vor sich in jedem Genie von Gottes unerziehlichen Gnaden.' Und als man dennoch auf jene Treffpunkte deutete und Zarathustras Wort zitierte: ,Liebe den, der über sich hinaus schaffen will und so zugrunde geht', rief Dehmel hitzig: ,Ich liebe solche Pfuscher gar nicht! Jede Maschine schafft über sich hinaus und geht daran langsam zugrunde!'" Man lese auch das von Ludwig im selben Jahre erschienene: Wagner oder die Entzauberten, S. 40, 62, 69, 95, 97, 134, 171, 183, 205, 242 f., 270, 281, 287, 292, 296, 305 (Fundstellen nach der 4. Aufl.: Neue veränderte Ausgabe. F. Lehmann. Charlottenburg 1919), bes. die letzte Stelle: „Die .tragische' Weltansicht, die Wagner auf der ganzen Linie seiner Werke vorspielt und deren Mangel an Notwendigkeit dargelegt wurde; deren Erhaltung der junge Nietzsche die letzte H o f f n u n g und Gewähr für die Zukunft nannte: sie ist den Jüngeren, ist den Entzauberten so fremd geworden, wie sie dem reiferen Nietzsche wurde. Nicht weil Nietzsche Wagner verdrängte, sondern weil er so tief war, diese Gegenwart und manche Zukünfte vorweg zu nehmen." 1120 Kleinpeter, Dr. Hans, Ernst Mach und Friedrich Nietzsche. ( N F P r N r . 17423, 1913). Verfasser ist der Meinung, daß „man angesichts der sonstigen ungeheuren Mannigfaltigkeit des philosophischen Denkens über den hohen Grad der Ubereinstimmung" der Anschauungen Machs und Nietzsches „nur staunen" könne. Er findet „die bezeichnendsten Aussprüche" Nietzsches im Nachlaß. Man habe bei ihm „ganz klar den Machschen Ausgangspunkt von der Empfindung als Grundelement" und „die Machsche Auffassung des Ich und die nominalistische des Begriffes". Ein Unterschied sei, „daß Mach nach Möglichkeit die Vermeidung metaphysischer Begriffe anstrebt, Nietzsche die Notwendigkeit des Scheins' erkannt hat". Seine „Betonung der Relativität aller Erkenntnis" gehe „noch über Mach hinaus". Sein neuer „Wahrheitsbegriff" erinnere an Goethe und lasse sich auch mit dem Pragmatismus verbinden. „Und heute stehen sich, so wie auf so vielen anderen Gebieten, auch auf dem der Philosophie zwei feindliche Lager mit fundamental verschiedenen Grund-
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anschauungen gegenüber, neben denen alle sonstige philosophische Meinungsverschiedenheit verschwindet: auf der einen Seite die Schulen des idealistischen und realistischen Dogmatismus und Kritizismus, auf der anderen die Anhänger der phänomenalistischen Auffassungsweise und des pragmatischen Wahrheitsbegriffs. Ihren tiefen Gegensatz aber hat schon Nietzsche erkannt . .
1121 Hauff, Dr. W., Nietzsches Kampf gegen den Pessimismus. (Ähre 1913, I, S. 7 f.). Schreibt gegen die Einreihung Nietzsches unter die Pessimisten, wie dies in „viel gelesenen Zeitungen und Büchern" geschehen sei: „Mit demselben Recht könnte man den Walfisch bei den Insekten aufführen." Dennoch meint Verfasser, lasse sich Nietzsche „in seinem Kampf gegen den Pessimismus", der ab „Morgenröte" „immer leidenschaftlicher" werde, auf „Irrwege" treiben: er versteige sich „zu solchen Kuriositäten wie der ewigen Wiederkunft, ein Gedanke, den man sonst höchstens in Witzblättern findet". Daher könne man ihn wohl unmöglich „den Uberwinder des Pessimismus nennen", „aber wir werden ihm dankbar sein f ü r die heldenhafte Tapferkeit im Kampf gegen einen der schlimmsten Feinde des Menschengeschlechtes . . ." Dem Aufsatz glaubte die Redaktion die Anmerkung anfügen zu müssen: „Wir gehen mit den Ausführungen des Verfassers nicht in allen Teilen einig. Ganz besonders ließe sich gegen seine Auffassung von Nietzsches Wiederkunftslehre vieles sagen; hier müßte unbedingt tiefer geschürft werden. Den Schlüssel zu Nietzsches Wiederkunftsgedanken finden wir in erhabener Weise in der buddhistischen Lehre vom Karma, und hier müßte eine vertiefende Interpretation einsetzen. Ebenso ist Nietzsches Ideal vom Übermenschen allzu oberflächlich aufgefaßt."
1122 Scharrenbroich, Heinrich, Nietzsches Stellung zum Eudämonismus. Carl Georgi. Bonn 1913. 64 S., 1 Bl. ( = Lebenslauf). ( = Diss. d. Univ. Bonn). Verfasser erläutert den Begriff des „Eudämonismus" vor allem an den Anschauungen von Bentham, Mill und Spencer, denn er meint, Nietzsche habe, „unter dem Einflüsse von Paul Rèe", in seiner „zweiten Periode" die Ansicht des „englischen Utilitarismus" geteilt. Doch haben diese Anschauungen „einen fremden Einschlag in sein ethisches System" gebildet und seien eben „auf eine unselbständige und unkritische Rezeption des englisch-Réeschen Utilitarismus z u r ü c k z u f ü h r e n . Auch hierin wäre demnach seine ,Aufklärungszeit' seine .Dunkelzeit' gewesen." In der darauffolgenden Kritik in „der letzten schriftstellerischen Periode Nietzsches" lassen sich drei Gesichtspunkte unterscheiden: „Erstens zeigt er einige praktische Schwierigkeiten auf, die sich aus den Konsequenzen der Glückseligkeitsmoral ergeben, zweitens sucht er nachzuweisen, daß einige anerkannte ethische Forderungen sich nicht als Sekundärwerte dem Oberwert subsumieren lassen, und drittens, vor allem, kritisiert er den Eudämonismus von seinen ethischen und kulturellen Idealen aus . . . " Verfasser will schließlich gezeigt haben, „daß Nietzsche ein prinzipieller Gegner der Moral ist, die im Glück den letzten Wertmaßstab f ü r die gesamte Lebensordnung der Menschen sieht". Dem Glück komme nur ein sekundärer Wert zu, und die Freude Zarathustras habe „nichts mit Sucht nach G e n u ß oder Trachten
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1913 Ein „Heiliger der Reklame, ein Asket der tönenden Phrase"
nach W o h l e r g e h e n gemeinsam. Es ist die Freude des S c h a f f e n d e n , nicht des Genießenden . . ." Verhältnismäßig leise Kritik übt V e r f a s s e r fast ausschließlich an N i e t z sches Auffassung des Christentums u n d an der V e r u r t e i l u n g des Sokrates. Z u m Schluß bricht eine rechte Begeisterung hervor: N i e t z s c h e habe „einerseits durch seinen voluntaristischen Optimismus, der sich allerdings teilweise auf eine ziemlich problematische Psychologie des menschlichen H a n d e l n s stützt, und durch die hohe S c h ä t z u n g der Leistung den Glückswert zu überwinden versucht, andererseits hat er durch die V e r k ü n d i g u n g seiner aristokratischen W e r t r a n g o r d n u n g den Lustwert den Personalwerten u n t e r g e o r d n e t . Mit der ganzen W u c h t seines Geistes und seiner gewaltigen Sprache hat er die Menschen aus der . Z u f r i e d e n h e i t ' und dem ,satten Behagen' aufgerüttelt u n d ihnen d u r c h seinen , U b e r m e n s c h e n ' ein Bild vollkommenen Menschentums vor Augen gestellt und sie a u f g e f o r d e r t , danach zu streben, was sie im höchsten Sinne zu Menschen macht." Verfasser g e d e n k t „insbesondere" der Professoren O . Külpe und J o h a n n e s V e r w e y e n , letzteren, da dieser ihn „zu dem" vorliegenden T h e m a angeregt hat". 395
1123 Richter, Raoul, Essays. (Hg. v. Lina Richter). F. Meiner. Lpz. 1913. XIII S., 1 Bl., 416 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.). Enthält: Friedrich Nietzsche t , S. 93—108 (s. Bd. I); Friedrich Nietzsche und die K u l t u r unserer Zeit, S. 109—135 ( N r . 578a); Nietzsches Stellung zu Entwicklungslehre und Rassetheorie, S. 137—177 ( N r . 573a); Nietzsches Stellung zu Weib, Kind und Ehe, S. 179—203 ( N r . 1029a); Nietzsches Ecce h o m o , ein D o k u m e n t der Selbsterkenntnis und S e l b s t e r k e n n t n i s , S. 2 0 5 — 2 2 3 ( N r . 883a).
1123a Dass., d. s. die Aufsätze über Nietzsche, auch in: R. R., Nietzsche-Aufsätze. Feldpostausgabe. F. Meiner. Lpz. 1917. 1 Bl., S. 93 — 223, sogar ohne Änderung der Seitenzählung. 1124 Ehrenfels, Christian v. (ord. Prof. d. Philos, a. d. Univ. Prag), Richard Wagner und seine Apostaten. Ein Beitrag zur Jahrhundertfeier. Hugo Heller. Wien, Lpz. 1913. 59 S. Über Nietzsche als „den größten, den Typ des Wagner-Apostaten", auf S. 24—31, 36, 46—51. T r o t z gelegentlicher anfänglicher A n e r k e n n u n g einzelner Züge an Nietzsche läßt die Abfertigung wenig zu wünschen übrig. N i e t z s c h e sei ein „Heiliger der Reklame, ein Asket der t ö n e n d e n Phrase", er wandele „auf schweigenden Gletscherhalden, antizipiert — inspiriert vielleicht sogar in seinem Prosastil die Plakatmalerei des beginnenden 20. J a h r h u n d e r t s und halluziniert in d e m keuschen Firnenschnee seiner Einsamkeit Knallwirkungen b u n t e r J a h r m a r k t s b u d e n r o m a n t i k " . Uber das Verhältnis zu W a g n e r heißt es, d a ß f ü r W a g n e r „Episode geblieben" sei, „was f ü r Nietzsche Schicksal w a r " . Nietzsches Leben zerfalle in „drei scharf geschiedene Perioden", „je nach seiner wechselnden Stellungnahme zu W a g n e r und den von ihm e m p f a n g e n e n W i r k u n g e n " . „Seine mangelnde musikalische Befähigung gibt die allein z u t r e f f e n d e und vollkommen zureichende E r k l ä r u n g f ü r seinen künstlerischen Abfall von W a g n e r . " „Eines der traurigsten Kapitel in der Kulturgeschichte der ver3,5
Scharrenbroich, Heinrich, geb. am 23. 3. 1887 zu Bonn.
1913 Der Briefwechsel mit Strindberg
511
gangenen Jahrhundertwende" sei, daß die „deutsche Literatur sich während anderthalb Jahrzehnten durch die intellektuellen Orgien eines angehenden Paralytikers begeistern ließ". Gegen Schluß wird das Werk von Emil Ludwig (s. Nr. 1119), der „ein Konterfei Nietzsches, — aber ein sehr verkleinertes", sei, berührt. „Ist Nietzsche musikalischer Dilettant, — Ludwig manifestiert sich mit Applomb als musikalischer Ignorant." 396 1125 S p e c k , H. ( R W J b 5. Bd., 1913, S. 347 ff.). Besprechung der Nietzsche-Bücher von Friedländer (Nr. 1006; der „mit großem Scharfsinn und umfassendem philosophischen Wissen . . . eine sehr geistreiche Analyse der einzelnen Werke N.'s" durchführe, wenn auch seine Verwertung mathematischer Begriffe für die philosophische Terminologie „es dem durchschnittlichen Leser z. T. sehr erschwert über seine Gedanken immer zu der wünschenswerten Klarheit zu gelangen"), Meyer (Nr. 1110; dessen außerordentliches Verdienst es sei, nicht nur Nietzsches Gedanken glänzend wiedergegeben, sondern auch seine „ganze Persönlichkeit" in eine „völlig neue Perspektive" gerückt zu haben) und Spindler (Nr. 1118; der „mit großem Geschick die überaus bedeutsamen Bekenntnisse und Aufschlüsse" des „Ecce homo" benutzt habe, „um ein klares Bild von dem Kern der Lehre und der Persönlichkeit des Philosophen zu gewinnen"). BL Strecker, Karl (Berlin), Der Briefwechsel zwischen Nietzsche und Strindberg. Zum ersten Mal veröffentlicht. (FZg Nr. 40 u. 42 v. 9. u. 11. 2. 1913). Veröffentlicht aus der Zeit vom Ende November 1888 bis Anfang Januar 1889 die sechs Briefe Nietzsches nach „einer — beglaubigten — Abschrift" und die vier Strindbergs in deutscher Übersetzung nach den französischen Originalen. Anführenswert ist eine Äußerung Strindbergs aus dem Jahre 1893, die dieser dem Herausgeber gegenüber in Berlin gemacht habe: „Nietzsche hat allein für d a s Worte gefunden, was ich im letzten Jahrzehnt gefühlt und gedacht habe." BLa Dass, auch in DLE 15. Jg., H. 12 v. 15. 3. 1913, Sp. 873—876; d. h. nur die ersten vier Briefe Nietzsches und der erste Strindbergs, die in der Nr. 40 erschienen waren, ohne die Erläuterungen Streckers. 1 1 2 6 Knortz, Prof. Karl (North Tarrytown, N. Y.), Nietzsche und kein Ende. Torgauer Druck- u. Vlgs.-haus. Torgau 1 9 1 3 . 2 Bll., 68 S. Das Hauptanliegen des Verfassers ist, „die professionellen Vertreter des christlichen Kirchentums" anzugreifen, und er erblickt in Nietzsche deren gewaltigsten und furchtlosesten Gegner. Da Verfasser aber der Demokratie und dem Fortschritt verpflichtet ist, muß er sich fortwährend dagegen wehren, daß Nietzsche „im Egoismus oder im Streben nach Macht eine grundlegende Tugend" gesehen habe, „die nur durch Unterdrückung und Unwissenheit der großen Masse zum Ausdruck gebracht werden kann". Auch daß Nietzsche „in der Religion das wirksamste Mittel zur Züchtung des Untermenschen" erkannt habe, verursacht ihm Unbehagen. Dem
3,6
Ehrenfels, Christian von (Rodaun/Niederösterr. 20. 6. 1859 — Schloß Lichtenau b. Krems 6. 9. 1932), habilitierte sich 1888 in Wien, 1896 Professor der Philosophie in Prag.
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1913 Der Demokrat gegen den Übermenschen
Übermenschen stellt er den wahren Demokraten gegenüber, der „ein unermüdlich tätiger Fortschrittsmann" sei; „er vertraut seiner Kraft, stellt sich auf eigene Füße und weiß, daß ein Quentchen Mutterwitz mehr wert ist als ein Zentner Buchgelehrsamkeit. Für praktische Fragen hat er meist ein sichereres Verständnis als ein spekulativer Philosoph oder ein Geheimrat im Ordensfrack." In der Frauenfrage sei Nietzsche „so rückständig wie der frömmste Katechismuschrist oder der beschränkteste soziale Rückwärtser". Verfasser, der „im amerikanischen Schuldienst alt und grau geworden" ist, stellt solchen Ansichten die Amerikanerin entgegen, „eine enthusiastische, energische und unermüdlich tätige Befürworterin der allgemeinen Bildung und Gleichberechtigung der beiden Geschlechter, sowie eine schlagfertige Bekämpferin aller aus der europäischen Rumpelkammer stammenden, mittelalterlichen Ansichten und Vorurteile, die in einem freien Gemeinwesen keine Existenzberechtigung haben". Auch die „Verdammung des Mitleides" sei im höchsten Grade „einseitig". Die Aufgabe der modernen, humanen Philosophie sollte vielmehr darin bestehen, „das Dasein erträglicher für Uber- und Untermenschen zu gestalten". „Der Demokrat verlangt das größte Glück für die größte Masse und niemand befürchtet, daß sich durch die Verwirklichung dieses Grundsatzes Zustände entwikkeln, wie sie vom Schlaraffenland berichtet werden . . . Nietzsche behauptet, daß eine höhere Kultur nur auf Grund der Sklaverei möglich sei; die Vereinigten Staaten haben überzeugend das Gegenteil bewiesen . . . Hier in Amerika findet man das Gewimmel eines freien Volkes auf freiem Grunde, nach dem sich Faust am Ende seines Lebens sehnte." Zwischen Emerson und Nietzsche gebe es „nur wenige Berührungspunkte", und Whitman sei sogar sein „Gegenfüßler" gewesen. Sonst begrüßt Verfasser, daß Nietzsches Einfluß „im In- und Auslande im beständigen Wachstum" sei, da man dem entnehmen könne, „daß sich die Zahl derjenigen, die ihre Hochachtung für freie, sich keiner Zeitströmung hingebenden Denker noch nicht eingebüßt haben, nicht vermindert hat". Er schließt mit dem Wunsche, daß Nietzsches Werke „in weitere Kreise dringen als bisher. Sie gleichen dem Gewitter, das die Luft reinigt und morsche Bäume zerbricht. Sie bilden eine gesunde Kost, aber nur für einen gesunden Magen. Möge besonders die Jugend daraus lernen, nicht Götzen zu opfern und Anschauungen zu huldigen, die keine Existenzberechtigung haben."
1127 Haiser, Dr. Franz, D e r aristokratische Imperativ. Beiträge zu den neudeutschen Kulturbestrebungen. Politisch-anthropolog. Vlg. Bln.Steglitz 1913. 107 S. Das Werk enthält einen kurzen Abschnitt: Nietzsche — freier Wille — strafender Gott (S. 44 ff.), und sonst, neben einem Geleitwort aus „Jenseits", einige Hinweise auf Nietzsche, so auf S. 25 f., 31, 43, 73, 104—107 (wo Verfasser dem „Zarathustra noch ein Postskriptum" beifügt, in dem Zarathustras „vielgeliebtes Kind" auftritt, „ein blondlockiger Knabe . . . mit sehnigen Armen und breiter Brust"). Nietzsche ist dem Verfasser ein Kampfgenosse gegen „Christentum, PöbelWissenschaft, Kapital, Renaissance, Reformation, die Philosophie des Sklavenauf-
1913 Der Einfluß Teichmüllers
513
standes à la 1789", eben gegen alle Kräfte, die „mit Hochdruck an dem kosmopolitischen Prozesse in Europa mitgearbeitet und die Entrassung verursacht" haben. 397 1128 Havenstein, Martin (Berlin-Schmargendorf), ( Z P h K Bd. 150, 1913, S. 1 8 4 — 1 9 0 ) . Liefert eine recht schmerzliche Besprechung des „Ecce homo" nach dessen Veröffentlichung im 15. Band der Gesamtausgabe (GXV). Neben „tiefen Einsichten stehen, zahlreicher als sie, Irrtümer, die zeigen, wie sehr Rausch und Krankheit das Auge getrübt haben". Das Werk sei überhaupt das Erzeugnis von seiner „Erkrankung". Vieles erkläre sich zwar aus der „Nichtbeachtung" und dem „Zweifel an seiner Bedeutung", aber es bleibe „ein Rest, dessen finsterer Erklärer nur der Wahnsinn ist". 1128a Dass. m. d. Überschrift: Friedrich N i e t z s c h e s „Ecce homo", in: V Z g Sonntags-Beil. 12, 1914, S. 90 ff. Etwas umgeschrieben, aber im wesentlichen unverändert. 1129 Meyer, Richard M., N i e t z s c h e s Wortbildungen. (ZfdS Bd. 15, 1913, S. 9 8 — 1 4 6 ) . Verfasser verzeichnet „neben zahlreichen Neubildungen im weiteren Sinne über vierhundert eigentliche Neologismen" und möchte damit zeigen, wie sich in diesen Neubildungen die „menschliche und künstlerische Eigenart" Nietzsches abspiegele. Aus den eingehenden Untersuchungen ergebe sich, daß man „seine praktischen, positiven, schöpferischen Tendenzen . . . schon aus der Häufigkeit und Art seiner Faktivbildungen" ablesen könne. „Den originellen Geist bezeugt die neue Verwendung herkömmlicher Worte; den strengen Kunstverstand die Behandlung der Farbmetaphern; den rastlos vorwärts dringenden Genius die Tendenz, überall die Worte über ihre bisherigen Kräfte zu steigern . . . Den abstrakten Denker verrät die Vorliebe für Verbalnomina, die aber doch zugleich mit lebendigem starken Inhalt gefüllt sein müssen . . . N u r in gewissen Wortspielereien tritt die Verwandtschaft mit der Romantik störend hervor . . . Anderseits ist in der Art seines Fremdwortgebrauchs der Zusammenhang mit dem gelehrten Rationalismus zu spüren. Endlich aber: die starke Persönlichkeit offenbart sich in dem Festhalten der Zentralideen und der einheitlichen Art, wie sie die Umbildung des Sprachstoffs bewirken." 1130 N o h l , H e r m a n n (Jena), Eine historische Q u e l l e zu N i e t z s c h e s Perspektivismus: G. Teichmüller, die wirkliche und die scheinbare Welt. (ZPhK Bd. 149, 1913, S. 1 0 6 - 1 1 5 ) . Verfolgt den Einfluß von Teichmüllers 1882 erschienenem Buch, „Die wirkliche und scheinbare Welt", auf „Jenseits" und den „Willen zur Macht", da Verfasser der Ansicht ist, daß das Werk bei Nietzsche „als Anreger . . . in ganz überraschendem Maße" eine Rolle gespielt habe. Die Arbeit, „in der ihm sein neuer Pragmatismus aufgegangen ist, sein Perspektivismus, die Lehre von der scheinbaren Welt, hinter der keine wirkliche steht", vollziehe sich „einzig und allein" in der Auseinan397
Hiiser, Franz (Wien 5. 1. 1871 — Scheibbs/Niederösterr. 25. 5. 1945), Schriftsteller.
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1913 Die ersten Briefe an Overbeck
dersetzung mit dem Werke Teichmüllers. Die Untersuchung ergibt, „daß der neue Mut dieser Philosophie, auf den er so stolz war, nichts anderes ist, als der gute alte Mut aller Idealisten seit den Eleaten, und daß seine Kritik ihre philosophische Kraft nimmt aus der idealistischen Kritik unserer Erkenntnisformen seit Kant. Was wirklich Nietzsche ganz allein bleibt, ist seine tiefwühlende Übertragung dieser Kritik und dieses Mutes auf das Gebiet des Sittlichen, der Werte und vor allem jeder Abhängigkeit von der religiösen Metaphysik und allen ihren Rückläufigen Schleichwe„gen „ < .«398 1131 Biese, Prof. Dr. Alfred, Friedrich Nietzsche. (Kms 70. Jg., H . 6 v. März 1913, S. 546 bis 549). Eine sachlich anerkennende Besprechung des Werkes von Meyer (Nr. 1110). 1132 Essigmann, Alois, D e r Lehrer Schmidt contra Nietzsche. ( D R e Bd. 1, 1913, Nr. 3). Berichtet recht verhöhnend über die „bürgerlich-sonnige Frohnatur" O t t o Ernst, der „über .Nietzsche, den Zweifler und seine zweifelhafte Werttheorie' im Choralionssaal zu Berlin den Stab gebrochen" habe. 399 BM Friedrich Nietzsche, Briefe an Franz Overbeck. ( N R s 24. Jg., H . 3 v. März 1913, S. 3 3 9 — 3 5 3 ) . Vor den hier zum Abdruck gelangten 17 Briefen aus der Zeit vom Frühjahr 1871 bis zum 5. August 1886 steht folgende Erklärung: „Nachdem der viel erörterte Briefwechsel zwischen Friedrich Nietzsche und Franz Overbeck, seinem Baseler Freunde, lange Zeit in geheimen Archiven geruht hat, beginnt, durch den Vertragsvergleich der streitenden Parteien ermöglicht, ,oc das Herausgeber-Kollegium hiermit die Veröffentlichung einer Auswahl." Es handelt sich um die Briefe Nr. 1, 7, 23 (bei dem vier Sätze fehlen), 44, 120, 132, 165, 181 (3 Absätze fehlen und eine von der Buchausgabe abweichende Satzfolge findet sich in den Randsätzen), 183, 184, 194, 196, 210, 231 (vier Sätze fehlen), 246, 256. 1133 anonym, Ein neues W e r k über Nietzsche. ( H C Nr. 137 v. 16. 3. 1913). Eine sehr sachliche Besprechung des Werkes von Meyer (Nr. 1110), an dem vor allem die Vorgangsweise bemängelt wird. Das Buch biete „eine lehrreiche Probe für die Schwierigkeiten, mit denen die Handhabung der anschauenden Methode zu kämpfen hat". „Mehr und klarer reflektierte Erkenntnis dessen, was bei Nietzsche
3.8
3.9 400
Nohl, Hermann (Berlin 7. 10. 1879 — Göttingen 27. 9. I960), Philosoph und Erziehungswissenschaftler. Essigmann, Alois (Wien 4. 5. 1878 — ebd. 3. 3. 1937), Schriftsteller. Im DLE berichtete man schon ein Jahr zuvor: „Der seit 1906 schwebende Prozeß der Frau Dr. Förster-Nietzsche in Weimar gegen den Verlagsbuchhändler Eugen Diederichs in Jena und den Schriftsteller Albrecht Bernoulli, bei dem es sich um die Briefe Nietzsches an Franz Overbeck handelte, ist durch einen Vergleich endgültig erledigt worden." Es sei „endlich gelungen, den Streit dadurch beizulegen, daß sich die Parteien zusammenschließen, um gemeinsam eine Publikation des Briefwechsels . . . in die Wege zu leiten". (14. Jg., H. 11 v. 1.3. 1912, Sp. 807).
1913 „Er stelli die geistige Kultur seines Zeitalters dar"
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sich mit einer S p o n t a n e i t ä t äußert, die der immanenten L o g i k nicht entbehrt", finde man eher in dem W e r k v o n Riehl (s. Bd. I). Auch übertreibe der V e r f a s s e r die Einmaligkeit N i e t z s c h e s ; der R e z e n s e n t g e h ö r e zu denen, die ihn „mit B e w u n d e r u n g lesen, w o er der B e w u n d e r u n g w ü r d i g ist, im übrigen aber auf ihre eigene Fasson, d. h. außerhalb des N i e t z s c h e - E v a n g e l i u m s frei wurden o d e r frei zu werden trach-
tt
ten .
1134 1913).
Wirth, Dr. Α., Neue Schriften von Nietzsche. (Tag Nr. 73,
Bespricht den dritten Band der Philologika ( G X I X ) , zu deren Erscheinen er das N i e t z s c h e - A r c h i v beglückwünscht, da diese Schriften „nicht nur als D o c u m e n t humaines, s o n d e r n auch als Bereicherung und V e r t i e f u n g der Fachliteratur einen bleibenden W e r t h a b e n " .
1135 Eberhardt, Paul, Das Rufen des Zarathushtra. (Die Gathas des Awesta). Ein Versuch ihren Sinn zu geben. E. Diederichs. Jena 1913. 3 Bll., 81 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Im N a c h w o r t meint V e r f a s s e r , daß man „nicht mehr in V e r w u n d e r u n g " darüber geraten k ö n n e , „wie tiefste Erlebnisse Zarathushtras plötzlich ohne sichtbare und k a u m d e n k b a r e Ursächlichkeit in den W e r k e n " von Fechner und N i e t z s c h e „nicht nur v a g e und allgemein, sondern lebendig konkret z u t a g e treten". Mit sicherem G r i f f habe N i e t z s c h e „sein Zeichen gewählt. D i e Einsamkeit Zarathushtras ist erschütternd g e n a u die gleiche bei ihm. U n d der Z o r n der niedergerungenen T r ä n e ist hier so heilig wie dort. S a h G o t t beiden z u ? N u r , wer Atheismus mit U n g l a u b e n verwechselt, k a n n dies verneinen." 4 0 1
1135a
Dass. 1920. 3. u. 4. Tsd.
D i e A n m e r k u n g auf S . 70 ist neu, die erste auf S . 74 fehlt, sonst unverändert.
1136 Windrath, Dr. E., Friedrich Nietzsche's geistige Entwicklung bis zur Entstehung der „Geburt der T r a g ö d i e " . Lütcke & Wulff. Hamb. 1913. 1 Bl., 104 S. ( = Programm Nr. 1039 d. Heinrich Hertz-Realgymnasium zu H a m burg). Seinem G e g e n s t a n d sehr z u g e t a n schildert V e r f a s s e r N i e t z s c h e s Entwicklung bis einschließlich d e r V e r ö f f e n t l i c h u n g der „ G e b u r t " und deren öffentlichen N a c h wehen, j e d o c h o h n e etwas N e u e s o d e r besonders Einsichtsreiches z u
bringen.
N i e t z s c h e ist ihm einer, „der . . . wie kein anderer D e n k e r der g e g e n w ä r t i g e n Kulturperiode alle Strahlen des geistigen Lebens in sich sammelte und in weithin sichtbarem Lichte leuchten ließ. E r stellt die geistige K u l t u r seines Zeitalters d a r — soweit eine solche Universalität überhaupt noch möglich ist — und z w i n g t uns, die einen mehr, die a n d e r e n w e n i g e r , durch sein T e m p e r a m e n t zu sehen." A u f den S. 9 0 — 1 0 4 steht ein recht u m f a s s e n d e r „ B e i t r a g z u r N i e t z s c h e - B i b l i o g r a p h i e " mit 244 deutschsprachigen H i n w e i s e n . 401
Eberhardt, Paul Friedrich (Strausberg/Mark 11.12.1879 22. 8. 1923), religionsphilosophischer Schriftsteller.
-
Pfarrkeßlar b. Kahla
516
1913 „Weltanschauungs-Vegetarier"
1137 H a m m e r , Walter (Elberfeld), N i e t z s c h e und der Vegetarismus. ( V W 46. Jg., H. 7, 1 0 — 1 9 v. 29. 3., 10. u. 24. 5., 7. u. 21. 6., 5. u. 19. 7., 2., 16. u. 3 0 . 8 . u. 1 3 . 9 . 1 9 1 3 , S. 63 ff., 94 ff., 104 ff., 113 ff., 125 ff., 136 f., 1 4 5 - 1 4 8 , 156 f., 164 ff., 174 f., 183 ff.). Verfasser möchte „nicht nur Nietzsches Beziehungen zum Vegetarismus" darlegen, sondern auch „die Grundlagen für eine großzügige v e g e t a r i s c h e K u l t u r p o l i t i k im S i n n e N i e t z s c h e s " aufzeigen. Zur Krankheitsgeschichte meint Verfasser, daß es sich dabei „jedenfalls . . . um e i n d u r c h v e r n ü n f t i g e L e b e n s w e i s e g e m i l d e r t e s M e d i z i n s i e c h t u m " gehandelt habe. Nietzsches Gesundheitslehre laufe „auf direkte E m p f e h l u n g d e s V e g e t a r i s m u s " hinaus, er selber sei „ i m m e r m e h r W e l t a n s c h a u u n g s - V e g e t a r i e r " geworden, und der Vegetarier sei „ g a n z im S i n n e N i e t z s c h e s " bemüht, „die landläufigen Irrtümer über die Ernährungsfrage zu überwinden und wirkliches Wissen um diese wichtige Angelegenheit sich einzuverleiben und instinktiv zu machen". Gegen Schluß kommt Verfasser auf einen Vergleich mit Rousseau (sie begegnen sich „als K u l t u r r e f o r m a t o r e n im Kampfe gegen die Zivilisation"), auf frühe vegetarische Einflüsse (Nietzsche habe Gleizès „Thalysia oder das Heil der Menschheit", Shelleys „Königin Mab" und Byrons Tagebücher gekannt), auf den Einfluß in ähnlicher Richtung von Gersdorff und von Bernhard und Paul Förster, von Dühring (der ihn „überhaupt tiefgreifend beeinflußt hat") sowie auf das Verhältnis zu Tolstoi und den Einfluß Nietzsches auf Carmen Sylva, Emil Gött, Fidus, Diefenbach, Gusto und Johannes Schlaf. 1138 Groß, Otto, Zur Überwindung der kulturellen Krise. ( D A April 1913, Sp. 384 bis 387). Vermerkenswert an diesem Aufruf zum Kampf „gegen Vergewaltigung in ursprünglichster Form, gegen den Vater und gegen das Vaterrecht", dem eine „Revolution fürs Mutterrecht" entgegengesetzt wird, ist die Anrufung zweier Gewährsmänner, nämlich Freud und Nietzsche, von denen es heißt: „Die unvergleichliche Umwertung aller Werte, von der die kommende Zeit erfüllt sein wird, beginnt in dieser Gegenwart mit dem Gedanken Nietzsches über die Hintergründe der Seele und mit der Entdeckung der sogenannten psychoanalytischen Technik durch S. Freud." 402 Am 3. April 1913 feierte man den fünfzigsten Geburtstag des Künstlers H e n r y van de Velde im Nietzsche-Archiv. Karl Scheffler hielt eine längere Ansprache, in der mehrere Berühungspunkte van de Veldes mit N i e t z s c h e erwähnt werden, so die „Mischung von Kraft und Geist, von Wille und Erkenntnis" und die „Entdeckerleidenschaft". — „Uber diese Ähnlichkeiten hinaus aber hätte Nietzsche in Ihnen einen der vornehmsten Vertreter jener
402
Groß, Otto (Graz 1877 — Berlin 1919), Arzt und Psychoanalytiker, Privatdozent in Graz, später in München, Ascona und Berlin. Über ihn s. den Aufsatz von Arthur Mitzman „Anarchism, Expressionism and Psychoanalysis" ( N e w German Critique. Bd. 10, Winter 1977, S. 7 7 - 1 0 4 ) .
1913 „Nicht zufällig sind wir hier in Nietzsches H a u s versammelt"
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Zeitgenossen gesehen, die er ,gute Europäer' nannte . . . Nicht zufällig sind wir hier in Nietzsches Haus versammelt, nicht zufällig begehen Sie Ihren fünfzigsten Geburtstag in Deutschland, und nicht zufällig leben Sie seit manchem Jahr in Weimar. Das von je weltbürgerlich gesonnene Deutschland ist Ihnen eine zweite Heimat geworden, in der Stadt des Goetheschen Weltbürgertums wohnen Sie, und in dem Hause des heroisch freien Weltbürgers Nietzsche versammeln sich um Sie die Freunde Ihrer Arbeit. Vielleicht wird man heute am erfolgreichsten ein guter Europäer, wenn man Deutschland als festen Ausgangspunkt nimmt . . . In jedem anderen Lande wären Sie wahrscheinlich in Ihrer Entwicklung zum Ubernationalen durch unzeitigen Chauvinismus gestört worden; bei uns haben Sie für Ihre Mission sehr bald das Verständnis einer Elite gefunden." 403 Einen kleinen Einblick in das Treiben im Archiv um diese Zeit gewährte derselbe Verfasser geraume Zeit später in seinen Erinnerungen an dieselbe Feier: „Im Frühling 1913 beging er in Weimar die Feier seines fünfzigsten Geburtstages. Sie wurde ihm von Elisabeth Förster-Nietzsche im Nietzsche-Archiv gerüstet . . . Die rührige kleine Dame hatte es verstanden, dieses auf einem Hügel über der Stadt gelegene Archiv zu einem Mittelpunkt geistiger und gesellschaftlicher Interessen zu machen, der vielfach von durchreisenden Fremden aufgesucht wurde, und wo alte Anhänger Nietzsches aus und ein gingen. Sie residierte dort in tränenseliger Würde, im Glänze des immer noch zunehmenden Ruhmes ihres großen Bruders. Als Wirtin war sie von liebenswürdigster Aufmerksamkeit. Doch hat auch sie den Gedanken in mir befestigt, um wie viel besser es wäre, wenn Schwestern, Mütter oder Witwen berühmter Männer ihre Finger von deren geistigem Erbe lassen möchten . . . Für van de Velde hatte Frau Förster-Nietzsche eine Vorliebe, sie erblickte in ihm die Verkörperung des ,guten Europäers'. Da sie wußte, daß ich mich für ihn stets eingesetzt hatte, schlug sie mir vor, am Geburtstag im Nietzsche-Archiv die Festrede zu halten . . . Zuerst gab es ein festliches Essen in illustrer Gesellschaft. Frau FörsterNietzsche schwang sich zu einer gereimten Ansprache auf, die anspruchsloser war, als der O r t es erlaubte, und die sie mit Unbefangenheit glücklicher Kritiklosigkeit deklamierte. Das Gedicht Schloß mit der Aussicht auf eine Apotheose: van de Velde Arm in Arm mit Friedrich Nietzsche in die Unsterblichkeit eingehend." 404 403
404
K. S., Henry van de Velde. Vier Essays. Insel. Lpz. 1913, S. 80 ff.; was die Verwandtschaft mit Nietzsche betrifft, schrieb Scheffler Ähnliches in einem Aufsatz aus dem Jahre 1906, der im selben Band enthalten ist, S. 3 5 — 4 3 ; Scheffler, Karl (Hamburg 2 7 . 2 . 1869 — Überlingen 25. 10. 1951), Kunsthistoriker. Ders., D i e fetten und die mageren Jahre. Ein Arbeits- und Lebensbericht. P. List. Mchn. u. Lpz. (1948), S. 32 f.
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1913 A. P. Gütersloh
D e r Gedanke an den ersten, 1913 veröffentlichten R o m a n von Α. P. Gütersloh, „die tanzende Törin", veranlaßte Franz Blei zu folgenden Feststellungen: „Er wird zu den wenigen Inkunabeln des expressionistischen Stiles zählen, einer gesamteuropäischen B e w e g u n g von der fratzenhaft g e w o r d e nen Wirklichkeit (ein kapitalistischer Begriff, wie Benn sagt) w e g zur Wirklichkeit des Geistes, also zur innern Wirklichkeit. Es v o l l z o g sich das etwas rauschhaft-ekstatisch, aber doch nicht anders als bei Eckart und Jakob Böhme. U n d es v o l l z o g sich diese A b w e n d u n g v o m Amüsierbetrieb der Künste in der Malerei, der Plastik, der Musik, der Dichtung — sie alle stellten, radikal und tief, antiliberal und unopportunistisch, inmitten eines allgemeinen Wertzerfalls und einer grauenhaften Wirklichkeitsverkehrung, die Frage: wie ist künstlerische Gestaltung möglich, und bekannten sich zu dem Satz Nietzsches, daß die Kunst die einzige metaphysische Tätigkeit sei, zu der das Leben uns noch verpflichtet. D a s war w e d e r formalistisch noch artistisch." 405 1139 Friedrich, Paul, N i e t z s c h e s Freundschaftstragödie mit Richard Wagner. (Jam 2. Jg., Nr. 14, 1913, S. 8 6 — 9 1 ) . „Das erbarmunglose Leben" habe Nietzsche, „dem Feinen, Zartbesaiteten, zugemutet, den Zusammensturz seines l e b e n d e n Ideals zu erleben, zu überleben", und daran sei er „zugrunde" gegangen. Wagner, „der dämonische Menschenkenner", habe mit seinem Urteil über den „kranken Schwärmer", „der nur so lange etwas zu sein schien, als er sich noch an ihm aufrichtete und aufrankte", nicht ganz unrecht gehabt. Nur in der zweiten „Unzeitgemäßen" habe Nietzsche bis 1878 ja „eigentlich Neues und Originales positiv geboten". „Und ist das Große, was er später gab, nicht doch in der Hauptsache Sprachgenialität, fast möchte ich sagen: Virtuosität der Gedankenequilibristik?" — „Nietzsche und Wagner — hier ein feiner, sensibler, kränklicher und vor allem femininer Geist, und dort ein starker, männlich-robuster Sichselbstdurchsetzer um jeden Preis." 1139a Dass, auch in: P. F., D e u t s c h e Renaissance. Ges. Aufsätze. 2. Bd. X e n i e n - V l g . Lpz. 1913, S. 11—22. Nur wenig und ganz unwesentlich geändert. S. aber auch: Der Wille zur Freiheit. Rudolf Eucken gewidmet, S. 201—216. Hierin stellt Verfasser zunächst und vornehmlich die Enwicklung von Nietzsches „Willen zur Macht" aus „dem reinen materialistisch gefärbten Voluntarismus des .Willens zum Leben'" Schopenhauers dar. Nietzsches Auffassung fehle aber die „Allgemeingültigkeit". „In seiner Voreingenommenheit ganz" übersehen habe er, daß das Christentum den Herrentrieb „von innen heraus zu vergeistigen und dadurch zu — individualisieren versucht". So 405
F. B., Zeitgenössische Bildnisse. A. de Lange. Amsterd. 1940, S. 231 (unverändert auch in: F. B., Schriften in Auswahl. M. e. Nachw. ν. Α. P. Gütersloh. Biederstein Vlg. Mchn. (1960), S. 290; Gütersloh, Albert Paris (eigentl. Albert Conrad Keihtreiber, Wien 5. 2. 1887 - ebd. 16. 5. 1973), Maler, Erzähler und Essayist.
1913 „der große Anreger und Aufstachler"
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erscheine „Nietzsches Philosophie als ein Rückfall in das Barbaren- und Urmenschentum gegenüber einer organischen Vergeistigung, anstatt daß, wie er meinte, die Lehre des Nazareners eine Reaktion der Pöbelinstinkte war". V o n hier aus kommt Verfasser auf O t t o Weiningers „Willen zum Wert", den er als „Willen zur Freiheit" und „dritte Wurzel des Willens" auslegt. Aber erst Verfassers eigener „Wille zum Kosmischen" erschließe den „Zugang zu jenem Reich des Überbedingten, des Absoluten . . ., ohne den es nicht größeren Essentialwert hätte als eine Seifenblase, eine Illussion". In dieser Auffassung treffe er sich mit den Anschauungen seines „hochverehrten Führers Rudolf Eucken".
Uber seine Bekanntschaft mit den Werken Nietzsches im Frühjahr 1913 schrieb Richard Benz: „Das Frühjahr 1913 stand für mich noch unter einem andern Zeichen: unter der endlichen Begegnung mit Nietzsche. Es war wohl ein guter Instinkt gewesen, der mich ihm bisher hatte ausweichen lassen; wahrscheinlich hätte eine zu frühe Kenntnis mir meinen Weg erschwert. Ich möchte ihn nicht als Erwecker zum Geist erlebt haben; nun aber traf mich seine Wirkung in einer Zeit, wo ich fest genug stand, um das wahrhaft Fruchtbare zu erfahren: an seinem Gegensatz zu größerer Klarheit über sich selbst zu erwachsen." Als erstes Werk stieß er ganz durch Zufall auf „Ecce homo": „Das Buch nun überwältigte mich, wie selten ein Sprachkunstwerk; ich gab mich dem hochgespannten Rhythmus hin, dem Rhythmus des großen Lebens, das hier Wort geworden war, und ließ mich wie von einer tragischen Symphonie überfluten. Die rasenden Urteile, die sonst zum Widerspruch herausfordern, waren hier zu einer dichterischen Unbedingtheit gesteigert, die sie als unabwendbare Erlebnisse begreifen ließ, und zur Ehrfurcht vor einem ungeheuren Schauspiel zwangen . . . Neben den spätesten zogen mich gerade die frühesten Schriften an, vor allem was hierzu aus den Nachlaßbänden gehörte. Da fand ich denn wirklich Verwandte wieder: das Leiden an der modernen Kultur, das Grunderlebnis der Musik . . . im Ganzen überwog zunächst doch das Befreiende, das Beispiel des Muts zu intellektueller Sauberkeit', der Anblick der Größe, der Großartigkeit, mit der einer sich einen Weg im modernen Chaos bahnte, den Fluch der Unzeitgemäßheit auf sich nahm, ja die Tragödie des Scheiterns bejahte . . . er erschien mir als der große Anreger und Aufstachler, er wurde mir auf Jahre hinaus der Lehrer des geistigen Strebens, des Wettkampfs . . . Ich spürte noch nicht den Mangel an Liebe, an Menschen-verbindendem Eros, hier noch mit den Zügen des Edlen verknüpft, aber doch erschreckend an einem großen Europäer, und die Zerstörung ankündigend, die ohne Größe und Edelkeit die Abwesenheit der Liebe in einer künftigen Welt bewirken müsse. Damals überwog die Dankbarkeit für die Ausweitung der Hori-
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1913 „trotz Snobmoden eine der unbekanntesten, dunkelsten Größen"
z o n t e , a u c h f ü r m a n c h e B e s t ä t i g u n g v o n d e m , w a s ich mir s e l b e r n o c h k a u m e i n g e s t a n d , f ü r a n d r e s , w a s ich s o g e m ä ß n o c h bei K e i n e m g e f u n d e n h a t t e ; u n d sie w i r k t n o c h h e u t e n a c h , w e n n ich z u e i n e m s e i n e r B ü c h e r g r e i f e u n d u n w i l l k ü r l i c h erschüttert bin, o h n e d o c h S e i t e f ü r Seite n o c h lesen z u k ö n n e n . a 4 0 6 1140
S c h i e n t h e r , P a u l , Ein Z u g a n g z u N i e t z s c h e . ( B T N r . 185 v.
13.4. 1913, l.Beibl.). Eine h o c h l o b e n d e Besprechung des W e r k e s von Meyer ( N r . 1110), d e r d a m i t ein „ H ö h e n b u c h " vorgelegt habe. „Bisher blieb Nietzsche trotz überschwellender Literatur und t r o t z S n o b m o d e n eine d e r u n b e k a n n t e s t e n , dunkelsten G r ö ß e n . " W a s ihm im H e r z e n bewegt habe, sei „eine tiefinnerliche Liebe zu der Menschheit". „Eine neue, bessere Zeit will er ihr bringen, die frei sein soll von d e r erblichen Belastung d e r J a h r t a u s e n d e ; die t r ü b e n d e n V o r u r t e i l e sollen schwinden, klar und f r e i soll d e r Wille d e r M e n s c h e n , sich voll zu entwickeln, ans Licht treten. W i e so viele Menschenverächter hat er sich M e n s c h e n h a ß aus der Fülle der Liebe getrunken." 4 0 7 1141
Thomas,
Dr.
Wolfgang,
Nietzsche
contra
Wagner.
(DMS
5. Jg., 1 9 1 3 , N r . 1 6 / 1 8 , S. 178 ff.). Bespricht die „Randglossen" Nietzsches zu Bizets „ C a r m e n " (BK), deren H e r ausgeber „die H a u p t t e n d e n z . . ., nämlich ihre Richtung w i d e r W a g n e r , nicht g e b ü h r e n d h e r v o r g e h o b e n " habe. R e z e n s e n t ist der festen Ansicht, daß Bizet „Nietzsches kritisches A u g e über W a g n e r weiter g e ö f f n e t , . . . seine Kritik in Sachen des ,Musikdramas' geschärft, . . . N i e t z s c h e gegen den ,Schauspieler' W a g n e r vollends wild g e m a c h t " habe. M a n müsse „jetzt auf einmal" gestehen, „daß seine Glossen zu C a r m e n in d e r T a t einen g u t e n und sicheren G e s c h m a c k in musikalischen D i n g e n verraten", u n d , „wenn man dem Nietzsche, d e r C a r m e n glossiert, ein tiefgehendes Musikverständnis z u t r a u t , darf man es ihm im Falle W a g n e r nicht absprechen". 1142
Z s c h o r l i c h , P a u l , N i e t z s c h e u n d das — W e t t e r . E i n e p s y c h o k l i -
m a t i s c h e S t u d i e . ( P r n 11. Jg., N r . 18, 1 9 1 3 , S. 178 f.). Stellt den Einfluß des W e t t e r s auf Nietzsches S c h a f f e n , vor allem a n h a n d von brieflichen Ä u ß e r u n g e n an Gast, d a r : „Mit seinem leidenden G e s u n d h e i t s z u s t a n d ist er von d e r ihn u m g e b e n d e n L a n d s c h a f t und von der W i t t e r u n g in einer Weise abhängig, wie es sich ein Durchschnittsmensch ü b e r h a u p t nicht vorstellen kann. Vielleicht hat es ü b e r h a u p t nie einen Künstler gegeben, dessen S c h a f f e n in so engem Z u s a m m e n h a n g mit Klima u n d L a n d s c h a f t gestanden hat, wie Nietzsche."
406
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R. B., Lebens-Mächte und Bildungs-Welten meiner Jugend. Dresdener und Heidelberger Erinnerungen. Chr. Wegner. Hamb. 1950, S. 248 — 252; andere Erwähnungen Nietzsches finden sich auf S. 9, 24, 46, 63, 64, 76, 78, 107, 110, 131, 234, 235, 256; Benz, Richard (Reichenbach/Vogtland 1 2 . 6 . 1884 — Heidelberg 9. 11. 1966), Literaturwissenschaftler, beschäftigte sich vornehmlich mit Klassik und Romantik. Schienther, Paul (Insterburg 2 0 . 8 . 1854 - Berlin 3 0 . 4 . 1916), 1 8 9 8 - 1 9 1 0 Leiter des Wiener Burgtheaters, wirkte sonst an der V Z g und dem BT.
1913
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1143 Jesinghaus, Walter, Nietzsche und Christus. W . Sommer. Bln. 1913. 88 S. ( = Wissenschaftl. Beil. ζ. Jahresbericht d. Helmholtz-Realgymnasiums in Berlin-Schöneberg. Programm Nr. 130). Laut Vorwort ist vorliegende Arbeit aus Vorträgen, die Verfasser „seit dem Jahre 1903 in Solingen, Cöln und Bonn" gehalten hatte, hervorgegangen, und sie beabsichtigt, „zum Verständnis des immer noch verkannten Nietzsche das Ihrige beizutragen". Verfasser stellt zunächst, unter Betonung des Schopenhauerschen Einflusses, Nietzsches Angriffe auf das Christentum und die Religion überhaupt in aller Breite dar. Verfassers Bedenken sind zwar unzweideutig aber sehr verhalten und gipfeln etwa in der Äußerung, Nietzsche habe „die Religion nicht als das, was sie eigentlich ist, als Gemeinschaftsleben der Menschen mit der Gottheit, sondern bloß als eine Macht, die, ähnlich wie die Kunst, nur dazu da sei, uns über das Todbringende der logisierenden Wissenschaft und des lähmenden Historismus hinwegzuführen", verstanden. Darauf erst folgt die Darstellung der „positiven Gedanken im Vergleich mit der Lehre Christi". Es stellt sich gleich von vornherein heraus, „daß sich Christus in einem wichtigen Punkte von Nietzsche völlig unterscheidet: Nietzsche ist Materialist und Christus Idealist". Trotz eines solch grundlegenden Unterschiedes unterstreicht Verfasser zahlreiche Ähnlichkeiten und kommt dann zu dem Schluß, daß „die Werte, die Nietzsche der Menschheit als durchaus neue zu bieten vorgibt, im ganzen auf Ursprünglichkeit keinen Anspruch erheben" können, „weil sie, recht verstanden, den bestehenden Idealwerten des Christentums entweder entsprechen oder zum wenigsten keinen Gegensatz zu ihnen bilden". Sein „Ideal vom Erdenreich oder Kinderland" decke „sich mit Christi Ideal vom Gottesreich völlig". Obwohl er „in manchen Erscheinungsformen auch der christlichen Moral Unhaltbares und Verwerfliches aufgedeckt" habe, — „das Ideal der christlichen Sittlichkeit hat er nicht treffen können". Man müsse „doch seine grenzenlose Anmaßung zurückweisen, die christlich-religiösen Werte zerbrochen oder ihnen doch wenigstens eine nur äußerst bescheidene Rangstufe angewiesen zu haben". 1144 Α., Nietzsche und das Heute. ( K w 27. Jg., 1913, S. 525 f.). Anläßlich „von Otto Emsts Vorträgen gegen Nietzsche" stellt Verfasser einen „Umschwung . . . im Sinne für Nietzsche" fest. Man habe nämlich „jetzt bis weit in die konservative Presse hinein das Ernstsche Auftreten wenn nicht dem Worte, so doch der Stimmung nach in einer Weise besprochen, die durch das Stichwort ,Appelschnut contra Zarathustra' angedeutet wird". 1145 Müller-Freienfels, Richard (Berlin-Halensee), Nietzsche und der Pragmatismus. (AGPh 26. Bd., H . 3, 1913, S. 3 3 9 - 3 5 8 ) . Dem Verfasser geht es vor allem um „die pragmatische Wahrheitstheorie (im engeren Sinne)", nach der die Wahrheit „ein biologischer Wert" sei, „der der Erhaltung und inneren Harmonie des Subjektes dient". Der „Grundzug des ganzen Menschen Nietzsche", die „dionysische Gesamtstimmung seines Wesens . . . , die ihn von früh an auf rauschartige Lebenssteigerung, Zurückdrängung des logischen Denkens auf Kosten einer Erhöhung des gesamten Lebensgefühls gerichtet sein ließ und der
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1913 „ein Pragmatismus von höchster Konsequenz"
ihn von j e h e r das rein Intellektuelle d e m b i o l o g i s c h W e r t v o l l e n u n t e r o r d n e n l i e ß " , dieser G r u n d z u g trete „schon in s e i n e n f r ü h e s t e n S c h r i f t e n g a n z deutlich h e r v o r ; er wird dann etwas z u r ü c k g e d r ä n g t . .
endlich in d e r dritten und entscheidenden P e -
riode ringt sich das e c h t e p r a g m a t i s c h - v o l u n t a r i s t i s c h g e r i c h t e t e T e m p e r a m e n t in aller K l a r h e i t wieder d u r c h , und es wird ein P r a g m a t i s m u s von h ö c h s t e r K o n s e q u e n z und detaillierter D u r c h b i l d u n g v e r k ü n d e t bereits zu e i n e r Z e i t , als in A m e r i k a erst die ersten leisen V o r b o t e n sich h e r v o r w a g t e n . " Bei ihm finden sich j e n e G e d a n k e n in aller D e u t l i c h k e i t a u s g e s p r o c h e n , „die sich in A m e r i k a als P r a g m a t i s m u s , in E n g land als H u m a n i s m u s z u m S y s t e m a u s g e w a c h s e n h a b e n , und die a u c h in D e u t s c h land v o r allem in der b i o l o g i s c h e n E r k e n n t n i s t h e o r i e v o n M a c h , Avenarius, J e r u s a lem, S i m m e l , V a i h i n g e r und a n d e r n viel V e r w a n d t e h a b e n " . Es lasse sich überhaupt „gerade an N i e t z s c h e s Stellung z u m W a h r h e i t s p r o b l e m a m deutlichsten dartun, wie m e r k w ü r d i g k o n s t a n t dieser fälschlich für s p r u n g h a f t g e h a l t e n e P h i l o s o p h in seinem D e n k e n w a r " . 4 0 8
1146 Grießer, Dr. Luitpold, Nietzsches Zarathustra und die griechische Philosophie. ( M B W C 34. Jg., Nr. 5 / 6 u. 9 / 1 0 v. ? u. 2 5 . 7 . 1 9 1 3 , S. 2 8 - 3 7 , 7 3 - 8 5 ) . Ein einziges Loblied a u f N i e t z s c h e als einen „ M e n s c h h e i t s e r z i e h e r " ,
einen
„von j e n e n G e i s t e s h e r o e n , die d u r c h ihr L e b e n . . . b e w i e s e n h a b e n , zu w e l c h e r H ö h e des M e n s c h e n t u m s sich der E i n z e l n e e m p o r z u a r b e i t e n v e r m a g " . V e r f a s s e r m ö c h t e d e n n o c h e r n s t h a f t „den Z a r a t h u s t r a a n a l y s i e r e n , um eventuelle Z u s a m m e n h ä n g e mit L e h r e n g r i e c h i s c h e r
Denker
nachzuweisen".
Z u n ä c h s t lehnt e r
eine
Gleichstellung mit S o p h i s t e n v o m S c h l a g e eines K a l l i k l e s o d e r T h r a s y m a c h o s e n t schieden a b : N i e t z s c h e s U b e r m e n s c h e n t u m sei „mit d e m I d e a l d e r S o p h i s c h e n unv e r e i n b a r " . E h e r lasse e r sich mit T h e o g n i s , P r o t a g o r a s , H e r a k l i t , E m p e d o k l e s , X e n o p h a n e s , E p i k u r und den P y t h a g o r e e r n , v o r allem a b e r mit P i a t o n , vergleichen. T r o t z der w i e d e r h o l t b e t e u e r t e n H o c h s c h ä t z u n g N i e t z s c h e s v e r r a t e n f o l g e n d e Ä u ß e r u n g e n wahrscheinlich e h e r die e i g e n t l i c h e A n r e g u n g zu diesen U n t e r s u c h u n g e n . V e r f a s s e r meint, es sei „ g e r a d e z u g e s c h m a c k l o s , w e n n m a n in unseren T a g e n und Z e i t e n , die den K a m p f g e g e n d e n H u m a n i s m u s a u f ihre F a h n e g e s c h r i e b e n h a b e n , z. B . nach A r t des P r o f e s s o r K l e i n p e t e r s , N i e t z s c h e so g e r n e als typischen V e r f e c h ter des A n t i h u m a n i s m u s , s o z u s a g e n als ein s c h w e r e s G e s c h ü t z g e g e n unsere B e s t r e b u n g e n ins Feld führt. D a ß nämlich e b e n der Z a r a t h u s t r a als N i e t z s c h e s p e r s ö n l i c h -
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Etwas später schrieb er über sein Verhältnis zu Nietzsche: „Von den Formen des Pragmatismus, wie er zu gleicher Zeit bei James, Schiller, Dewey, Jerusalem und anderen entwikkelt ist, steht meinen Anschauungen diejenige am nächsten, die Goethe vertrat, und die z. B. Simmel am besten in seinem Goethebuch entwickelt hat. Außer Goethe ist für mich besonders Nietzsche anregend gewesen, vor allem durch seine Nachlaßwerke." (R. M.— F., Irrationalismus. Umrisse einer Erkenntnislehre. F. Meiner. Lpz. 1922, S. 44). S. a. die eher beiläufigen Erwähnungen auf S. 71, 185, 200, 213, 277; Müller-Freienfels, Richard (Bad Ems 7. 8. 1882 — Weilburg 12. 12. 1949), promovierte 1904 in Tübingen zum Doktor der Philosophie, zunächst Lehrer am Joachimstaischen Gymnasium zu Berlin, nach dem Kriege an der Cäcilienschule und am Grunewald-Gymnasium, seit 1921 Dozent für Philosophie, Psychologie und Pädagogik in Berlin, Professor in Stettin 1930—33, 1 9 3 3 - 3 8 in Berlin.
1913 Ein „religiöses Genie des Diesseits"
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stes W e r k so viel griechisches Denken in sich birgt, ist ja ein deutlicher Beweis für Nietzsches Liebe zum klassischen Altertum."
1147 Wirth, Dr. Α., Nietzsche und sein Verhältnis zu Rasse und Politik. (Tag Nr. 145, 1913). Verfasser wundert sich, daß Nietzsche „von pangermanistischen Rasseschwärmern als Eideshelfer angerufen wurde", und führt dazu zahlreiche seiner Äußerungen an, die „seine schroff und häufig ausgesprochene Abneigung gegen den Nationalismus im allgemeinen und gegen sein eigenes Volk im besonderen" dartun. Schließlich meint er, daß „Nietzsches Aufmerksamkeit gegenüber der Rassenpsychologie und der Politik" zeige, „daß er nicht nur theoretisch, sondern auch praktisch der Erde und irdischen Fragen zugewandt war, daß mithin sein Jenseits von Gut und Böse' ganz gewiß nicht, wie Richard M. Meyer und Julius Hart meinen, ,nirwanistisch' ist, sondern irdisches Machtbewußtsein, unendliches Lebensgefühl".
1148 Gramzow, Dr. Otto, Wagner und Nietzsche. (DGL Nr. 20, 1913, S. 428 ff.). Umreißt das Verhältnis der beiden, „eine Freundschaft, wie wir sie verhängnisvoller in der Geistesgeschichte nicht kennen", anhand des Biographischen und meint schließlich zur T r e n n u n g : „Nietzsches eigene Entwicklung mußte ihn von Wagner trennen."
1149 Wiesner, F. (Revelstoke, Canada), Nietzsche und das Christentum. Handels-Druckerei. Bamberg 1913. 47 S. ( = Volksschriften z. Umwälzung d. Geister H. 102). Eine recht geneigte Darstellung des religiösen Wollens Nietzsches. Seine Größe bestehe darin, daß „er als religiöses Genie das Diesseits, das pulsierende Leben wieder in sein volles Recht einsetzt und dem Edelmenschen, dem Herrenmenschen, dem Aristokraten des Geistes und Körpers jenen Platz in der N a t u r einräumt, welchen ihm das Christentum mit seiner Nivellierungslehre f ü r immer zu verschließen schien". Er zeige uns „die Möglichkeit einer Religion ohne Kultus, ohne Kirche, ohne Christentum, ohne Jenseits, ohne Gott; er hat uns eine das diesseitge Leben bejahende Religion vorgetragen und vorgelebt".
1150 Rittelmeyer, Nietzsche, Friedrich. (In : Die Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch in gemeinverständl. Darstellung. 4. Bd. J. C. B. Mohr. Tüb. 1913, Sp. 794—800). Es ist Nietzsches „religiöser Werdegang", um den es Verfasser vor allem geht und bei dem man annehmen müsse, daß er „nie" zu einem „selbständigen, persönlich erlebten Christentum gekommen ist". An Gründen zum ablehnenden Verhalten dem Christentum gegenüber f ü h r t Verfasser ästhetische, geschichtliche und praktische an. Im Gegensatz zu früheren Bekämpfern des Christentums führe er seinen Kampf auch gegen dessen „ethisches Ideal". Die eigentliche Lehre faßt Verfasser im Ubermenschen, der ewigen Wiederkehr und der Lebensbejahung zusammen, und gerade diese letztere bilde „objektiv auch eine notwendige und höchst wertvolle Reaktion gegen falsche Lebensverneinung, wie sie im Christentum o f t gepflegt worden ist". Als Philosoph werde er „durch seine mächtige Herausarbeitung des Wertpro-
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1913
blems eine Rolle spielen", und als Psychologe dürfte er „seinesgleichen suchen". Doch auch auf religiösem Gebiet könne „seine Wirksamkeit. . . von großem Segen werden . . . Seine Lehre vom Übermenschen, der geschaffen werden soll, bedeutet einen kraftvollen Protest gegen die scheinbare Sinnlosigkeit des Weltgeschehens; seine Lehre von der ewigen Wiederkehr bringt das Leiden unter der Vergänglichkeit mächtig zum Ausdruck und seine Verkündigung von dem großen, reichen, starken Leben läßt die Unvollkommenheit des Daseins lebhaft empfinden. Es ist möglich, daß er in all diesen Beziehungen Bedürfnisse erweckt, die dann nicht durch ihn selbst, sondern nur durch ein geläutertes Christentum befriedigt werden können." Er werde „in unserem Kulturleben . . . stets ein heilsames Gegengewicht bilden gegen allen falsch nivellierenden Sozialismus, allen lähmenden Pessimismus und allen einseitigen Intellektualismus". 1151 Schaffganz, H a n s , Nietzsches Gefühlslehre. F. Meiner. Lpz. 1913. VIII, 133 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Von der Feststellung ausgehend, daß sowohl für Nietzsches Lehre wie auch für seine Persönlichkeit das Gefühl „eine bedingende Stellung" einnehme, möchte Verfasser „die Grundlinien seiner Psychologie als einer intuitiven Analyse der Funktionen seines Gefühls" darstellen. Schon in der „Geburt" zeige sich der angeborene Hang „zur psychologischen Analyse, der sich, gleichviel mit welchen Mitteln und nach welcher Methode, wesentlich intuitiv betätigt", und in dieser ersten Periode „kündet sich . . . schon die grundsätzliche Opposition des Nietzscheschen Wesens Schopenhauer gegenüber an", wenn auch „die Resultate seiner psychologischen Forschung durch metaphysische Hypothesen derartig verwischt" seien, „daß sie wissenschaftlich ohne Bedeutung blieben". Mit dem Wegfall der Metaphysik in der zweiten Periode gelinge es ihm, „die kühle Abstraktion der Wissenschaft mit der Wärme seines Gefühls zu beleben". Er bediene sich einer kühnen Methode und eines angeborenen psychologischen Spürsinnes. Verfasser bezweifelt, daß er dabei von der „neuen Wissenschaft", nämlich der Psychologie, außer „aus flüchtigen Orientierungen und vom Hörensagen", beeinflußt worden sei, erörtert aber dennoch „das verwandtschaftliche Verhältnis zur zeitgenössischen wissenschaftlichen Literatur", vornehmlich anhand der Werke von Wundt und Adolf Horwicz, „einesteils, um Nietzsche in seiner historischen Bedeutung zu würdigen, andernteils, um seiner Lehre durch eine Gegenüberstellung mit wissenschaftlichen Theorien ein ausgeprägteres Profil zu verleihen". Seine Lehre entwickele sich auch in der zweiten Periode „aus seinem ursprünglichsten psychischen Vermögen". In der dritten Periode erkenne man dann „ein langsames Ausreifen" der Gedankenwelt der zweiten, deren „Wurzeln wir bis in die Anfänge seines Schaffens zurückverfolgen konnten", und so liefere „uns auch die Untersuchung über die wissenschaftlichen Grundlagen seiner Lehre den Beweis einer einheitlichen Entwicklung". Nun erst entwickelte sich „sein angeborener psychologischer Drang . . . zu selbständigen Betrachtungen; sie treten nun nicht mehr einzig und allein in der Gefolgschaft der höheren Disziplinen auf, sondern suchen sich in gleichem Verhältnis zu dem tieferen und bewußten Verständnis zu emanzipieren". In der Physiologie, der Biologie und Morphologie finde er von nun an „die hauptsächlichste Unterstützung in seinen Untersuchungen" und
1913 „Zarathustra ist ganz Musik, ein rein lyrisch-musikalisches Werk"
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betone „mit vollem Bewußtsein die Bedeutung des Gefühls". Die „primitivste Affektform" entdecke er als „den Willen zur Macht" und identifiziere hiermit „das Absolute als das Ungewordene". „Indem er nun dem Willen zur Macht eine metaphysische Bedeutung zuschreibt, schließt sich der Kreis des Nietzscheschen Denkens, der von Metaphysik zur Metaphysik führt, nur daß es sich in der ersten Periode um eine psychologische Metaphysik, in der letzten Periode um eine metaphysische Psychologie handelt, wenn man die verschiedene Wege berücksichtigt, auf denen er zu der Erkenntnis des Gefühls als dem Absoluten gelangt." Unter den „fundamentalen psychologischen Funktionen des Gefühls" werden Empfindung, Instinkt, Trieb, Leidenschaft, Begierde und Affekt erörtert, unter den „Begleiterscheinungen" Lust und Unlust. Einzeldarstellungen widmet Verfasser dann auch noch dem Mitleid, Charakter, der Vernunft, dem Verstand, Bewußtsein, Subjekt, der Wahrnehmung, Vorstellung, Erkenntnis, Erfahrung, Gewöhnung, dem Gedächtnis, der Sprache, dem Gedanken, Begriff, Urteil, der Logik, Teleologie und Kausalität, Raum und Zeit, dem Willen, der Moral und Ästhetik. Nietzsches Lehre stelle letztenendes „eine Entwicklung dar, die in ihrer Kühnheit und Konsequenz über jeden anderen derartigen psychologischen Versuch emporragt". Ganz zum Schluß erst wird eine Abhängigkeit von E. v. Hartmann in der „Richtung auf das Unbewußte" als „ziemlich sicher" hingestellt. 1152 Goldstein, Moritz (Berlin-Friedenau), Nietzsche und sein Biograph. (Gr Bd. 72, Nr. 19, 1913, S. 2 7 0 - 2 7 3 ) . Bespricht das Werk von Meyer (Nr. 1110), der trotz „vielerlei Einzelbelehrung im Tatsächlichen" den „Kern dieser Persönlichkeit nicht aufgedeckt" habe. „Der seelische Urgrund, aus dem ganz allein Nietzsches Leben und Schaffen begriffen werden kann und muß, ist . . . die Tatsache, daß er ein ausschließlich ethisch orientierter Mensch ist, in demselben Sinne wie z. B. Christus." Meyer dagegen sehe in ihm „vor allem einen theoretischen Philosophen". Nur im beschränkten Maße könne man in ihm einen Philosophen oder einen Poet sehen. Das „eigentliche Nietzsche-Problem" liege darin, warum er der „neue Messias, der er sein wollte . . . und der er nach Anlage, Streben und Ernst auch sein könnte, . . . am Ende doch nicht gewesen ist?" Er habe „die Rolle des Religionsstifters konzipiert und seine Vision in geistreichen und großartigen Büchern mit unerhörter Sprachgewalt niedergelegt. Aber gelebt hat er diese Rolle nicht" 409 1153 Witkop, Philipp (Professor a. d. Univ. Freiburg i. Br.), D i e neuere deutsche Lyrik. 2. Bd.: Novalis bis Liliencron. Teubner. Lpz., Bln. 1913. VII, 380 S., 4 BU. ( = Vlgs.-anz.). Als letzte, recht feierlich-begeisterte Würdigung steht die Nietzsches auf S. 355 bis 377, bei der die Behandlung des „Zarathustra" den Gipfel bildet: „Neben der hymnischen und dithyrambischen Lyrik Zarathustras treten die eigentlichen Gedichte Nietzsches zurück . . . Zarathustra ist ganz Musik, ein rein lyrisch-musikalisches Werk, er ist musikalischer in seinen Rhythmen als der .Hyperion', stürmender 409
Goldstein, Moritz (Berlin 27. 3. 1880 - New Y o r k / U S A Anfang Sept. 1977), promovierte 1906, Mitarbeiter der VZg bis zur Auswanderung 1933.
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1913 Ein Humorloser
und weitgespannter in seinen Rhythmen als die .Nachtgesänge' . . ." Erst Nietzsche sei „die Uberwindung der romantischen, tragischen, dionysisch-mystischen Weltanschauung aus ihrem eigensten Wesen heraus, die Uberwindung der Tragik durch den Tragiker, die Bejahung des Lebens aus tragischer Erkenntnis, trotz tragischer Erkenntnis, eben um der tragischen Erkenntnis willen", gelungen. Er habe die Goethe ebenbürtige Musik gefunden, „soweit dies aller Sprache möglich ist. Neben die schlichte, schöne Bejahung des apollinischen Künstlers stellte er die des dionysischen, erfüllte er sich und der Welt die liebestiefste Verheißung . . . " Im 1910 erschienenen ersten Band: Von Friedrich Spee bis Hölderlin, hatte Verfasser bei der Würdigung Albrecht von Hallers und angelegentlich „einer tieferen, grundsätzlichen Auseinandersetzung" über „die Tragik des Gelehrten" den Anfang der Vorrede zur „Genealogie" in vollem Wortlaut angeführt, da Nietzsche, „in dem wie in keinem Menschen der Gelehrte und Künstler sich bedrängten", hierin „uns diese ideale Tragik des Gelehrten tief und wundervoll offenbart" habe (S. 117 f.). Aucb auf S. 355 ist eine kurze Erwähnung Nietzsches im Zusammenhang mit der Darstellung Hölderlins. 1153a Dass. 2. veränderte Aufl.: Die deutschen Lyriker von Luther bis Nietzsche. 2 Bde. 1921. Beide Bände tragen jetzt den Leitspruch aus Nietzsche: „Die Wissenschaft unter der Optik des Künstlers zu sehen, die Kunst aber unter der des Lebens." Die Erwähnung bei Hölderlin fehlt, die bei Haller ist etwas abgemildert (S. 69) und die eigentliche Darstellung auf S. 282—302 um zwei Seiten vermehrt, sonst im wesentlichen unverändert. Die Erstauflage war Wilhelm Dilthey gewidmet, bei der zweiten ist der erste Band: Von Luther bis Hölderlin, Thomas Mann und Ernst Bertram, der zweite: Von Novalis bis Nietzsche, Walther Harich und Conrad Wandrey zugeeignet. Es fehlen die Namenverzeichnisse der ersten Auflage. B N Nietzsche contra Cassel. ( D A 3. Jg., 1913, Sp. 295). Bringt eine Stelle aus dem „Ecce homo" (GXV, S. I l l ) : „Die Deutschen haben . . . der k l e i n e n Politik." 1154 Ziegler, Theobald, Nietzsche g e g e n Sokrates. ( S D M h H . 9 v. Juni 1913, S. 2 7 7 - 2 8 9 ) . Eine Verteidigung des Sokrates gegen das Urteil von Nietzsche, das „von gewissen richtigen Voraussetzungen und feinen Beobachtungen aus immer mehr zu einem schiefen und ungerechten geworden" sei. Dieser habe ihn „gründlich verzeichnet, er hat eine Karikatur und ein Zerrbild aus ihm gemacht". Verfasser schließt dann recht gefühlvoll: „Weil wir aber nicht wollen, daß über dem Respekt vor der vornehmen Gebärde die Ehrfurcht vor wahrer Größe schwinde, . . . deshalb protestieren wir gegen jenes Zerrbild und lassen uns die Verunglimpfung des Sokrates durch Nietzsche nicht gefallen." Lesenswert ist noch Verfassers Meinung, daß Nietzsche H u m o r „weder selber gehabt noch bei andern verstanden" habe, Sokrates dagegen sei „als Humorist ein Fremdling in seiner Welt, ein moderner Mensch inmitten seiner Zeit" gewesen, denn „der Humor ist etwas Modernes und etwas Nordisches", eine „Gabe, durch das Endliche das Göttliche durchscheinen zu lassen".
1913 „einer der größten Meister des paradoxen Stiles"
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1154a Dass. m. d. Überschrift: Nietzsche und Sokrates, in: T. Z., Menschen und Probleme (s. Bd. I), S. 400 — 414. Unverändert. 1155 Groos, Karl, Der paradoxe Stil in Nietzsches Zarathustra. (ZAP Bd. 7, H. 6, 1913, S. 4 6 7 - 5 2 9 ) . Eine sehr eingehende und breit angelegte Untersuchung des Gegenstandes anhand des W e r k e s „eines Mannes, der gleichzeitig einer der gewaltigsten paradoxen D e n k e r und einer der g r ö ß t e n Meister des paradoxen Stiles gewesen ist". 4,c
1156 Sodeur (Würzburg), Kierkegaard und Nietzsche. (CuG 4. Jg., Nr. 6 - 9 v. Juni —Sept. 1913, S. 77—80, 87 ff., 1 0 1 - 1 0 4 , 115—118). Dem Verfasser sind beide Gestalten „ebenbürtig an innerem Reichtum und an G r ö ß e des C h a r a k t e r s " , D e n k e r , „die sich zu gleicher Zeit nah berühren und heftig abstoßen". Eine Ähnlichkeit liege in der „außerordentlichen Sprachgewalt", in der „Gabe tiefdringender Selbstbeobachtung", in der „Regsamkeit ihrer schöpferischen K r ä f t e " und in der äußeren Lebenshaltung, besonders in der ungewollten Vereinsamung. H i n z u k o m m e n die „ W a h r h a f t i g k e i t " und die Beschäftigung „nicht mit philosophischen Fragen im allgemeinen", sondern mit „Lebensfragen". Verfasser stellt darauf den „Einzelnen" Kierkegaards und den „Übermenschen" Nietzsches dar, um weitere „ B e r ü h r u n g s p u n k t e " aufzuweisen, so „einen pessimistischen U n t e r b a u , der sich durch alle ihre W e r k e " hindurchziehe, und „ihre W e r t s c h ä t z u n g des Willens", woraus sich „der persönlichkeitsfrohe, gesellschaftsfeindliche G r u n d z u g " ergebe. Als tiefgehenden Unterschied hebt Verfasser hervor, „daß Kierkegaards Anschauungen im Glauben an G o t t und an die Selbständigkeit geistigen Lebens wurzeln, w ä h r e n d Nietzsche das Dasein eines Gottes und einer andern als der körperlichen Welt leugnet . . . Aus diesem Gegensatz in der G r u n d a n s c h a u u n g erklärt sich die verschiedene Stellung, die beide D e n k e r dem Christentum gegenüber einnehmen." Es verwundert nicht, d a ß Verfasser sich f ü r die „Wahrheit" und den „Einzelnen" Kierkegaards entscheidet. Im besten Falle sei der Übermensch „das, was Kant mit Beziehung auf die U t o p i e des Gesellschaftsvertrags eine r e g u l a t i v e Idee' genannt hat . . . Gewisse neuere Bestrebungen wie die Bewegung gegen den Mißbrauch geistiger G e t r ä n k e . . . , die F ö r d e r u n g der Körperpflege durch Sport und Spiel . . . , die Bemühungen um eine d u r c h g r e i f e n d e Verbesserung der E r z i e h u n g und des U n t e r richts . . . k ö n n t e man vielleicht als ins Leben eingreifende Folgerungen aus diesem G e d a n k e n bezeichnen."
1156a Dass. m. d. Zuschrift: Versuch einer vergleichenden Würdigung. J. C. B. Mohr. Tüb. 1914. 48 S. ( = Religionsgeschichtl. Volksbücher begr. v. Fr. Michael Schiele. V. Reihe, 14. Heft). Verfasser erweiterte seine A u s f ü h r u n g e n um einen einleitenden Aufsatz über Kierkegaard (schon in C u G 4. Jg., N r . 1 f. v. Jan. u. Febr. 1913, S. 1 — 5, 15 ff.) und einen sonst unveröffentlichten, recht sachlich darstellenden über „ D e r Übermensch" (S. 19—26), sonst unverändert. 4,0
Groos, Karl (Heidelberg 10. 12. 1861 - Tübingen 27. 3. 1946), Philosoph und Psychologe, 1892 Professor in Gießen, später in Basel und Tübingen.
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1913 Paul Boich
1157 Freschi, Robert (Wien), D a s „Lustprinzip" bei Nietzsche. ( Z P A 3. Jg., 1913, H . 1 0 / 1 1 , S. 516 ff.). Durch Anführung von mehreren Äußerungen Nietzsches zum „Gefühl der Lust und Unlust" möchte Verfasser nur zeigen, welche Stellung er, „dieser bedeutendste Psychologe", ihm „als treibendem Moment der Psyche zuerkennt". Er betont darauf den „Gegensatz zu den gerade auf das Lustprinzip gestellten Befunden Freud's" und die „Übereinstimmung" mit den Forschungen Adlers. Dieser habe „die für die Zwecke seiner wissenschaftlichen Forschung notwendige schärfere Formulierung des Nietzsche'schen W i l l e n s z u r M a c h t gefunden". Es sei „aus dem in der Betrachtungsweise des Philosophen Nietzsche begründeten, ins Metaphysische spielenden W i l l e n z u r M a c h t die E r h ö h u n g d e s P e r s ö n l i c h k e i t s g e f ü h l s , das S t r e b e n n a c h E r r e i c h u n g d e s P e r s ö n l i c h k e i t s i d e a l s des Psychologen Adler geworden". 1158 d'Ardeschah, Jean Paul, Eine slavische Eroberung Nietzsches. (Tat 5. Jg., H. 5 v. August 1913, S. 4 6 7 — 4 7 2 ) . In dem großen Zusammenstoß slavischen und germanischen Wesens leisten die Preußen „den unschätzbaren Dienst", „slavische Schwungkraft für deutsche Kulturarbeit verwendbar zu machen", und „diese Arbeit der Assimilierung" habe Nietzsche „als erster" definiert. Gerade der polnische Adel biete „einen recht breiten Spielraum für westeuropäische Einflüsse", und hier habe sich auch „die große Eroberung Nietzsches vollzogen": „Man macht sich nur schwer eine Vorstellung von der gewaltigen Wirkung, die gerade Nietzsche in seiner ganzen Art auf die polnische Jugend, die jetzt allmählich ans Ruder kommt, ausgeübt hat." Erwähnt werden Franziskus Siedlecki, dessen „vorzügliches interessantes Nietzsche-Idealbild" die „schöne polnische Nietzsche-Ausgabe ziert", der Dichter Thaddäus Micinski und die vier Ubersetzer der „pietätvoll-andächtigen polnischen Gesamtausgabe der Werke Nietzsches . .., die wohl alle nichtdeutschen Ausgaben an Macht und Schönheit des Ausdrucks übertrifft": Waclaw Berent, Leopold Staff, St. Wyrzykowski und K. Drzewiecki. 1159 Hülsen, H a n s von, Richard M. Meyers Nietzschebuch. (Ebd., S. 520 ff.). Spendet dem erwähnten Werk (Nr. 1110) ein geradezu überschwengliches Lob, es sei überhaupt eine „Tat" : „Selten ward in der Geschichte der Biographie die vielfältige Persönlichkeit eines Genialen mit so aufgeschlossenem Sinne angeschaut, mit so vorzüglichen Werkzeugen durchdrungen, mit soviel fleißiger Sorgfalt zur Darstellung gebracht." 4 " Im September 1913 erschien ein Sonett von Paul Boldt mit der Uberschrift „Lyrik"; es Schloß mit den Zeilen: „Arbeite und forciere deinen Still/Bete zu N i e t z s c h e ! Spanne dich mit V e r v e n / D e s Croisset-Christus. Jesus unsrer Nerven." 412 4,1 412
Hülsen, H a n s von (Warlubien/Westpr. 5. 4. 1890 — Rom 14. 4. 1968), Schriftsteller. In DA Bd. 3, Nr. 36 v. 6. 9. 1913, Sp. 862 f.; Boldt, Paul (Peterswalde/Westpr. 31. 9. 1885 — Freiburg i. Br. 16. 3. 1921), Dichter, Studium in München, Marburg und Berlin.
1913 D e r „Einfluß auf die jüngstdeutsche Literatur war groß und schlimm"
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1160 Strecker, Karl, Der Ringkampf zwischen Zarathustra und Appelschnut. (TRs Beil.-Nr. 256, 1913, S. 1022). Mit „Appelschnut" ist Otto Ernst, Verfasser einer gleichnamigen Kindergeschichte, gemeint, der kurz vorher „an drei Vortragsabenden Friedrich Nietzsche vernichtet" habe. Hierzu meint Strecker: „Es ist der Gipfel grotesker Lächerlichkeit, wenn sich Herr Otto Ernst auf dem Katheder Friedrich Nietzsche vornimmt, mit roter Tinte seine Hefte korrigiert, seine .Aufgaben' in allen ,Fächern' als u n g e nügend' bezeichnet und ihm höchstens im ,deutschen Aufsatz' das Prädikat ,im ganzen gut' zuerkennt."
1161 Zach, Franz, Nietzsche und die deutsche Literatur. (DSG Bd. 27, H. 10, 1913, S. 3 2 5 - 3 2 9 ) . Stellt Nietzsches Wirkung auf die deutsche Literatur, vor allem auf den „Neuidealismus", seit dem Ende der 80er Jahre recht umrißhaft dar: „Nietzsches Einfluß auf die jüngstdeutsche Literatur war groß und schlimm. Dieser schrankenlose Subjektivismus, dieses krampfhafte Ubermenschentum, das Nietzsches Lehre hervorrief, bildet eine böse, heute zum Glück so ziemlich überwundene Episode in der Enwicklung unserer Lyrik." Doch auf den Stil habe er „einen g u t e n Einfluß" ausgeübt: „Die Lyrik wurde unter seiner Einwirkung in einem nie gekannten Maße zur farbenreichen Stimmungspoesie."
1162
Lilienfein, Heinrich, (DGr 1. Jg., 1. Bd., Okt. 1913, S. 83 ff.).
Bespricht das Werk von Spindler (Nr. 1118), das „zur Klärung des Nietzscheprolems mehr beiträgt als mancher dickleibige, akademische Erguß". Nietzsche überhaupt sehr gesonnen, meint Rezensent nur, daß er von einer „Gier zur Antithese . . . durch und durch besessen" gewesen sei, und daß „die einfache, absolute Antithese" nicht „das schöpferische Neue, wahrhaft Geniale" ausmache.
1163 Seidl, Prof. Dr. Arthur (Dessau), Richard Wagner und Friedrich Nietzsche — eine „Synthese". (AMZg 11. Jg., Nr. 42—45 v. 17., 24. u. 31. 10. u. 7. 11. 1913, S. 1 3 1 9 - 1 3 2 2 , 1 3 4 7 - 1 3 5 0 , 1379 ff., 1411 ff.). Beiden Gestalten verhältnismäßig gleich gewogen meint Verfasser, daß sie „uns . . . Beide . . . doch viel zu gut und schon viel zu wert sein sollten", um „den Einen etwa gegen den Andern noch ,ausspielen' zu wollen", und „eben dieses .verbündet' sie zu guter Letzt, wieder für unser lebendig einfühlend Empfinden — in höherer Synthese". S o entschieden er die Angriffe der Wagnerianer auf Nietzsche abwehrt, ebenso entschieden hebt er den Wagnerschen Einfluß auf Nietzsche hervor: „Schon das Wort vom .Bildungs-Philister' und von der öffentlichen Meinung' für alle p r i vaten Denkfaulheiten' . . . könnte wie ein von Wagner selbst geprägtes Apercu . . . berühren." Hierher gehören dann auch der „Herdengeist", die „Sklaven-Moral", „.Der W a n d e r e r und sein Schatten', der ,Wille zur Macht', das .Nachtlied' Zarathustra und sein Sang von der .tiefen Mitternacht', wiederum der ,Ring der Wiederkunft', das ,Philosophieren mit dem Hammer', die ,Götzendämmerung', Zarathustra Anrufung des abgründlichsten Gedankens aus der Tiefe, das W o r t vom .Willen' als der ,Wende aller Not', und selbst der ,Ubermensch' eines .heroischen Lebenswandels'". Anführenswert ist noch Verfassers Behauptung hinsichtlich des
1913
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„ Z a r a t h u s t r a " : „dieses ernste Weisheitsbuch der S p r u c h p o e s i e " , „ein h o c h r a g e n d e s deutsches S p r a c h d e n k m a i allerersten R a n g e s " , zeichne sich „ d u r c h völlige A b w e senheit von F r e m d w ö r t e r n — trotz B e h a n d l u n g und A u f r o l l u n g d e r verwickeltesten F r a g e n wie tiefsten Rätsel der N i e t z s c h e s c h e n Philosophie darinnen — vor vielen ähnlichen Büchern deutscher Literatur noch g a n z b e s o n d e r s v o r t e i l h a f t " aus.
1163a Auch in: A. S., N e u e Wagneriana. Ges. Aufsätze u. Studien. 3. Bd.: Studien zur Wagner-Geschichte. G. Bosse. Regensburg (1914), S. 3 1 7 - 3 7 1 . ( = Dt. Musikbücherei. Bd. 13). D u r c h w e g überarbeitet und g e r i n g f ü g i g e r g ä n z t , d o c h im wesentlichen unverändert.
B O anonym, Wagner und Nietzsches letzte Begegnung. 14. Jg., Nr. 43 v. 25. 10. 1913, S. 589 f.).
(RhMTZg
Bringt eine verkürzte F a s s u n g der S . 1 — 18 aus der N e u a u f l a g e d e r schwesterlichen Lebensbeschreibung (s. Bd. I).
1164 S. 135 f.).
Petersen, Dr. Peter (Hamburg), ( Z P h K Bd. 152, H . 1, 1913,
Besprechung der S c h r i f t von Windrath ( N r . 1136), die „ z u n ä c h s t eine gründliche Beherrschung der ersten und zweiten Q u e l l e n sowie d e r fast u n ü b e r s e h b a r e n N i e t z s c h e - L i t e r a t u r " zeige und deren besonderer W e r t „in der p s y c h o l o g i s c h e n A n a l y s e " liege: „ D a s G e s a m t b i l d der geistigen E n t w i c k l u n g N i e t z s c h e s bis z u seinem 28. Lebensjahre ist nach Windraths Ergebnissen d a s einer g e s c h l o s s e n und folgerichtig ablaufenden E n t f a l t u n g der genialischen A n l a g e n in ihrer R e a k t i o n auf Menschen und W i s s e n s c h a f t , Kultureinrichtungen und -ziele seiner Zeit." 4 1 3
1165
Peters (Königsberg i. Pr.), (Ebd., S. 136).
Bespricht das W e r k „ N i e t z s c h e " d a s A m e r i k a n e r s Paul E l m e r M o r e , der „ m a n che B e m e r k u n g über N i e t z s c h e s Verhältnis zu anderen D e n k e r n , z. B. M a t t h e w Arnold, H o b b e s , R o u s s e a u , W a l t W h i t m a n " biete.
1166
Peters, F. (Marburg i. H.), (Ebd., S. 136—139).
Bespricht die W e r k e von M e y e r ( N r . 1110; in dem „uns N i e t z s c h e . . . g a n z besonders deutlich als D i e n e r der Kultur . . . in seiner großen und tiefen Liebe und G ü t e zu den M e n s c h e n , um derentwillen er geistig gelitten hat wie w e n i g e " , entgegentrete), Frehn ( N r . 1 0 7 1 ; der als „ S c h ü l e r . . . den Meister a u s s c h r e i b t " und „ d a s Ausgeschriebene mit unklaren R e d e n . . . verbindet") und C a f f i ( N r . 1 0 7 3 ; der „eine z w a r nicht e r s c h ö p f e n d e , aber in allem G e s a g t e n richtige U n t e r s u c h u n g d e r F r a g e , ,ob die ,Virtuosi' . . . die V o r l ä u f e r der m o d e r n e n . U b e r m e n s c h e n ' sind und o b die A u f f a s s u n g der moralischen W e r t e N i e t z s c h e s gewissermaßen eine U m b i l d u n g der ethischen A u f f a s s u n g des italienischen .Virtuosismo' o d e r der ,vertià e f f e t t u a l e ' M a chiavellis i s t ' " , liefere).
4,3
Petersen, Peter (Großenwiehe b. Flensburg 26. 6. 1884 — Jena 21.3. 1952), Erziehungswissenschaftler, seit 1923 Professor in Jena.
1913
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1167 F ö r s t e r - N i e t z s c h e , Elisabeth, D e r Ü b e r m e n s c h . ( F Z g N r . 297, 1913). Vorabdruck fast des ganzen sechzehnten Kapitels aus der Neuauflage der schwesterlichen Lebensbeschreibung (s. Bd. I). 1168 sche über Bringt schreibung 1168a 1169
F., K . , Ein unbekanntes G e s p r ä c h zwischen W a g n e r und N i e t z den „ P a r s i f a l " . ( N Z M 80. J g . , H . 45 v. 6. 11. 1913, S. 625). die nämliche Stelle aus der Neufassung der schwesterlichen Lebensbe(Bd. II, S. 15 ff.). A u c h in: F Z g N r . 284, 1913. U n v e r ä n d e r t . a n o n y m , N o c h m a l s W a g n e r und N i e t z s c h e s letzte B e g e g n u n g .
( R h M T Z g 14. J g . , N r . 45 v. 8. 11. 1913, S. 617 f.). Im Anschluß an die in der Nr. 43 gebrachte Schilderung der Schwester (BO) weist die Zeitschrift hier auf die Erklärung „aus dem Lager der Wagnerianer" zum Bruch zwischen Nietzsche und Wagner hin, nämlich auf die Erzählungen von E. Kloß 4 1 3 ' und Wilhelm Kienzl. 1170
B e y e r d o r f , Walter H . , A l s o ! ! ! sprach O t t o Ernst. ( D A Bd. 3,
N r . 48 v. 9. 11. 1913, S p . 1111 f.). Berichtet von einem Vortrag von Otto Ernst, d e m „Typ des deutschen Oberlehrers", über „moderne Literatur", in dem dieser „lange auseinandergesetzt" habe, „daß er von Natur aus ein kluger Mensch sei, der alles Mögliche verstanden hätte — aber Nietzsche wäre ihm zu dunkel, und den könnte er nicht verstehen". 1171
Ruckser,
Dr. Udo,
Zum
Fall N i e t z s c h e — W a g n e r .
(AMZg
11. J g . , N r . 47, S. 1481 f.). Entgegen der Behauptung von Seidl, „Nietzsches Widerspruch gegen Wagner habe erst mit ,Menschliches, Allzumenschliches' begonnen" (Nr. 1163), weist Verfasser auf Stellen in der „Geburt" hin, die „antiwagnerisch" seien. Unter Beachtung solcher „schon bei Beginn der Freundschaft Wagner—Nietzsche vorhandenen Gegensätze stellt sich die Entzweiung als logisch notwendig dar". 1172 a n o n y m , D e r Streit u m N i e t z s c h e s K r a n k h e i t . ( S P 9, 1913, S. 789 ff.). Nimmt Havensteins Angriff auf Möbius (Nr. 1069) als ein Beispiel „für die Hartnäckigkeit, mit der sich unsinnige Moralbegriffe und -Wertungen in bezug auf das sexuelle Lebensgebiet erhalten und die wissenschaftliche Forschung und Erkenntnis beeinträchtigen". „Es ist unbezweifelbar, daß das eigentliche Ziel dieser Autoren nicht die Erforschung der Wahrheit, sondern die Beschützung Nietzsches gegen .Verunglimpfungen', seine ,Rettung' ist." 1173 P r ü f e r , P r o f . D r . A r t u r , Ein unbekanntes G e s p r ä c h zwischen W a g n e r und N i e t z s c h e . ( N Z M 80. J g . , H . 46 v. 13. 11. 1913, S. 647). 4 , 3 b
4131 4l3b
Kloß, Erich (Görlitz 19. 2. 1863 - ebd. 1. 11. 1910), Journalist. Prüfer, Arthur (Leipzig 7. 7. 1860 — nach 1935), Musikwissenschaftler.
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1913 „Wir bestehlen ihn alle."
Durch die Veröffentlichung des „Gesprächs" in derselben Zeitschrift (Nr. 1168) veranlaßt bedauert Verfasser, daß es von der Schwester überhaupt veröffentlicht worden sei, da „ i h r doch" der historische Zusammenhang bekannt sein müsse, nämlich daß die Anfänge des „Parsifal" ins Jahr 1857 zurückreichen. 1174 Saenger, S., D e r einsame N i e t z s c h e . ( B T 42. Jg., Nr. 592, Abendausg. v. 21. 11. 1913). Eine äußerst lobende Besprechung der Neuausgabe der schwesterlichen Lebensbeschreibung (s. Bd. I): „Von den Einzelheiten fesseln, neben der sehr sorgfältigen Darstellung der Phasen in Nietzsches Krankheit und der Berichtigung so mancher pamphletistischen Verzerrung des biographischen (zum Beispiel durch C. A. Bernoulli), bisher unveröffentlichte Briefe über Paul Rèe und Lou Salomé." 1175
Oehler, Dr. Richard (Bonn), D e r Jubiläums-Zarathustra. (FZg
N r . 335, 1913). Begrüßt das Erscheinen des hundertsten Tausends von „Zarathustra" und umreißt das langsame Anwachsen seines Einflusses. Anführenswert ist eine Äußerung, die Maximilian Harden „einmal im Gespräch" gemacht habe: „Wir bestehlen ihn alle." 1176 Seidl, Prof. Dr. Arthur ( D e s s a u ) , N o c h m a l s „ W a g n e r — N i e t z sche". ( A M Z g 11-Jg., S. 1548). Als Erwiderung auf die Äußerungen von Ruckser (Nr. 1171) meint Seidl, er habe „ m i t dem Herrn Verfasser gerade" behauptet, „daß die beiderlei Ansichten allzu grundsätzlich verschieden von Natur aus waren, um sich auf die Dauer vertragen zu können". 1177 Oehler, Dr. Richard, N o c h m a l s das „unbekannte Gespräch" z w i s c h e n W a g n e r und N i e t z s c h e . ( N Z M 80. Jg., H . 50 v. 11. 12. 1913, S. 6 9 6 f.). Weist die Beanstandungen von Prüfer (Nr. 1173) zur Veröffentlichung des Gesprächs entschieden zurück. 1178 Prüfer, Prof. Dr. Artur, (Ebd., S. 697). Verteidigt sich gegen die Zurechtweisung Oehlers (Nr. 1177). 1179
E., F. v., D e r einsame N i e t z s c h e . ( H C M o r g e n a u s g . , Nr. 638 v.
16. 12. 1913). Bespricht das nämliche W e r k der Schwester, die „uns mit sicherer, kundiger H a n d " zu dem emporführe, „den Niemand so wie sie gekannt hat". Er selber fessele „uns an sich mit dem stärksten Band, das es zwischen dem Genie und seinen Anhängern gibt, mit der Reinheit des Wesens". 1180 D e m u t h , P. Mauritius ( O . F. M. in D r e s d e n ) , Friedrich N i e t z sches Erkenntnistheorie. (PhJbG Bd. 26, 1913, S. 4 5 1 — 4 8 5 ) . Verfasser betont die Einheitlichkeit und Folgerichtigkeit in der Entwicklung des Philosophen, der aber „mehr Künstler" sei, wie folgt: „ . . . von Schopenhauer
1913 Ein „englischer Sensualist"
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und d e r R o m a n t i k ausgehend, hat Nietzsche sich allmählich sein System gebildet, dessen Entwicklung für kurze Zeit vom Positivismus unterbrochen und später in etwa beeinflußt wurde." Wie Schopenhauer sei er zunächst „Phänomenalist" und schneide „jede Aussicht auf wahre Erkenntnis ab". Die „entgegengesetzte Entwicklung" — „aus einem stark voluntaristischen Philosophen wird ein positivistischer Intellektualist" — findet Verfasser „bei einem temperamentvollen Manne wie Nietzsche" g a r nicht verwunderlich, möchte aber dabei den Einfluß von Rèe weder unternoch überschätzt sehen. Bezüglich des Problems der Wahrheit bestehe „der einzige Unterschied gegen früher . . . im Betonen des Verstandes gegenüber dem Willen". „Als treuer Positivist oder besser noch englischer Sensualist ist Nietzsche in dieser Zeit A n h ä n g e r der Entwicklungslehre." G e r a d e in dieser Periode sei er „den Zeitströmungen g e f o l g t " , so daß „wir wohl von einem Eklektizismus sprechen dürfen". N u r in seinem H a ß gegen die positive Moral, „in seinem H a ß gegen das Christentum", sei er „sich treu" geblieben. Die Periode der „Selbständigkeit" läßt Verfasser dann mit der „ M o r g e n r ö t e " beginnen und betont darin wiederholt die Übereinstimmung mit den Ansichten der englischen Philosophie. Schließlich werde man „auch den Willen zur Macht als materielle K r a f t fassen müssen", und so bleibe „der V o r wurf des Materialismus voll und g a n z bestehen". — „ V o m philosophischen Standpunkte aus dürfen wir wohl sagen, daß er den Strömungen seiner Zeit folgte, ohne dabei positiv philosophisches Talent besonders zu verraten. Die Form der Darstellung ist es gewesen, die ihm so viele Freunde gemacht. Seine Erkenntnislehre ist Skeptizismus, besser noch philosophischer Nihilismus . . . Seine Fundamente, die V o r a u s s e t z u n g e n seiner Lehre sind falsch. Deshalb konnte er nicht zu einem befriedigenden Resultate kommen."
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anonym, Der einsame Nietzsche. ( D N r . 355 v. 28. 12. 1913).
Bespricht das nämliche Werk der Schwester (s. Bd. I), „die das Wissen der Zeit beherrscht und intimste Seelenkenntnisse besitzt". D e r T a g sei nicht mehr fern, wo auch Nietzsches „ S i e g über Richard Wagner Tatsache geworden ist, so wird auch dem sogenannten .Antichristen' sein Recht widerfahren und die Erkenntnis Platz greifen, daß Nietzsche kein Feind des Christentums als solcher, freilich des echten und unverfälschten Jesuswortes, gewesen ist". Anführenswert ist noch des Rezensenten Meinung, daß „sich jede philosophische Fakultät Deutschlands eine E h r e " antäte, „wenn sie der Begründerin des Nietzsche-Archivs, sowie dieser zweibändigen Lebensbeschreibung und Würdigung gedenkt und ihr auch persönlich den Titel einer — Doctrix p^ilosophiae verliehe".
Das Eindeutigste im Werke Gustav Sacks über sein Verhältnis zu Nietzsche findet sich in einer Stelle des Ende 1913 geschriebenen Aufsatzes: Aus Schwabing, der in den ersten beiden Nummern der Zeitschrift „Revolution" erschien: „. . . ein anderer wieder zitiert Nietzsche, und man fragt sich wirklich, wie man Nietzsche gegen derartige Blasphemien schützen kann: ,In München wohnen meine Antipoden, hat Nietzsche einmal gesagt. Recht hat er
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1913 Gustav Sack
gehabt: sie wohnen heute noch dort, schwarze Tausendfüßler' — unsere Antipoden, nicht wahr, Vetter Nietzsche?" 4 1 4 Als Studentin auf der Prager Universität in den Jahren unmittelbar vor dem Weltkrieg begegnete Grete Fischer dem Werke Nietzsches: „Erst nach Ehrenfels Kolleg verfiel ich auf Nietzsche, legte den Z a r a thustra' sofort und für immer weg, las ,Die fröhliche Wissenschaft' zeilenweise immer wieder, ,Menschliches, Allzumenschliches', und vor allem den Briefwechsel, besonders mit Erwin Rohde. Ich bilde mir ein, daß ich dabei denken gelernt habe: nämlich unerschrocken einem Gedanken zu folgen, auf die Gefahr hin, daß ich mir demnächst widersprechen müßte. Nietzsche bedeutete für mich Wahrheitssuche, Wahrheit in ihren verschiedenen Facetten, so wie sie dem Suchenden zugänglich ist. Nietzsche — für mich — verlangte nie, daß man ihm glaubte, so wie es die autoritären Philosophen zu tun scheinen; er verlangte, daß man mit ihm denken, zweifeln, vorstoßen und richtigstellen müsse — kämpfen: gegen, für, um die Erkenntnis. Und ich war jung genug." 4 1 5 Auf das anfängliche Verhältnis zu Wagner in der Zeit vor dem Weltkrieg kommt Vicki Baum über ihren Großvater zu sprechen : „Seine heftigen Gefühlsausbrüche sparte er sich jedoch für unablässige Haßtiraden gegen Richard Wagner auf, gegen den Menschen wie gegen seine Musik. Es war, als ob er mich vor dem Satan und den sinnlichen Versuchungen seiner musikalischen Hölle der Verdammten hätte bewahren wollen. Während dieser flammenden Predigten blieb mir nichts anderes übrig, als den Mund zu halten und den Geist Spazierengehen zu lassen — in die brennende Süße von Tristan beispielsweise. Wie meine gesamte Generation wuchs ich geradezu berauscht von Wagner und Nietzsche auf." 416 414
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G. S., Prosa, Briefe, Verse. (M. Vorw. v. Dieter Hoffmann). Langen-Müller. Mchn., Wien (1962), S. 382; in einem Aufsatz über den „Zynismus unserer Jüngsten" heißt es ähnlich: „Nietzsche haben sie zumeist gelesen; er gibt ihnen aber wenig Positives, und sie sind über ihn hinaus . . ." (ebd., S. 377); s. a. die Erwähnungen Nietzsches in den beiden Romanen des Dichters, ebd., S. 60 f., 224, 283 f., sowie die Tagebuch- und Briefstellen auf S. 422, 426 f. (Gedanken zu einem Werk über einen Dichter-Philosophen „à la Nietzsche"), 49, 543, 553, 603, 610, 622 aus der Zeit vom 13. 12. 1912 bis zum 23. 1. 1916; der Nietzsche„Roman-Fragment" „Paralyse" ist zum erstenmal 1920 in den von Paula Sack herausgegebenen gesammelten Werken veröffentlicht worden (S.Fischer. Bln. Bd. I, S. 409—481). S. a. in dieser Ausgabe die erklärenden Worte H. W. Fischers in seiner als Vorwort dienenden Biographie des Dichters, S. 35 ff.; Sack, Gustav (Schermbeck b. Wesel 28. 10. 1885 — Finta Mara b. Bukarest 5. 12. 1916 gefallen), Schriftsteller. G. F., Dienstboten, Brecht und Andere. Zeitgenossen in Prag, Berlin, London. Walter-Vlg. Ölten u. Freiburg i. Br. (1966), S. 93 f.; Fischer, Grete, geb. am 6. 2. 1893 zu Prag, seit 1917 Mitarbeiterin an der V Z g in Berlin, 1934 nach England. V. B., Es war alles ganz anders. Erinnerungen. Ullstein. Bln. 1962, S. 60; Baum, Vicki (Wien 24. 1. 1888 — Hollywood/USA 28. 8. 1960), zunächst Harfenistin, trat erst 1929 als Schriftstellerin hervor.
1913 H e r m a n n Broch
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Über das Europa der Vorkriegszeit und dessen Verhältnis zu Nietzsche schrieb Hermann Broch: „Zu den vielen Unduldsamkeiten und Beschränktheiten, deren die Vorkriegszeit einer Fülle besaß und deren wir uns heute mit Recht schämen, gehört wohl auch das gänzliche Unverständnis gegenüber allen Phänomenen, die auch nur ein wenig außerhalb einer sich völlig rational dünkenden Welt lagen. Und weil man damals gewöhnt war, bloß die abendländische Kultur und ihr Denken als verpflichtend anzusehen, alles übrige als minderwertig abzutun, so war man leichthin geneigt, alle Phänomene, die der rationalen Eindeutigkeit nicht entsprachen, der Kategorie des UnterEuropäischen und Minderwertigen zuzurechnen. Und trat nun gar ein solches Phänomen, wie etwa die Heilsarmee, im kleinen Gewände des Friedens und der flehentlichen Bitte auf, da war des Spottes kein Ende. Man wollte Eindeutiges und Heroisches, mit andern Worten Ästhetisches sehen, man glaubte, daß dies die Haltung des europäischen Menschen sein müsse, man war in einem mißverstandenen Nietzscheanismus befangen, mochten auch die meisten den Namen Nietzsche niemals vernommen haben, und der Spuk fand erst ein Ende, als die Welt so viel Heroismus zu sehen bekam, daß sie ihn vor lauter Heroismus nicht mehr zu sehen vermochte." 417 Aus der Zeit kurz vor dem Weltkrieg erzählt Rudolf Schlichter von einem Kaffeehausgespräch in Karlsruhe mit einem jungen Emigranten, der sich „schon seit Jahren in Westeuropa, hauptsächlich in Deutschland herumtrieb", dem Sohn eines russischen Generals, der aber auch „echter Marxist plechanowscher Richtung war": „Gegen seine verblasenen Freiheitstiraden setzte ich das Nietzschesche: .Freiheit wozu?' Als er mit den üblichen Redensarten der empfindsamen Kaffehausethiker kommen wollte, antwortete ich ihm mit dem boshaften Satze des Hammerphilosophen: ,Wie mir die Sozialisten lächerlich sind mit ihrem albernen Optimismus vom guten Menschen, der hinter dem Busch wartet!' Diese Bemerkung veranlaßte Zachara, der bis jetzt stumm grinsend und kauend dabei gesessen hatte, sich einzumischen. Er war gerade beim zweiten Wecken angelangt. ,Was redden Sie vonn Sozialismuß und Nietzsche. Wissen Sie nicht, daß dieser Philosoff der Ideologe derr deitschen Rüstungsindustrie ist?!' Erstaunt und verwirrt schaute ich auf. Diese Deutung Nietzsches war mir völlig neu. ,Ist doch derr Sprecher von der deitsche Bourgeoisie, hadd keine Ahnung von derr Sozialdemokratie 4,7
H. B., H u g e n a u oder Die Sachlichkeit. 1918. Roman. Rhein-Vlg. Mchn., Zür. 1932, S. 52 f. ( = Die Schlafwandler. 3. Bd.); Broch, H e r m a n n (Wien 1. 11. 1886 - N e w H a ven/USA 30. 5. 1951), Schriftsteller, Studium der Philosophie erst 1929—1932, wanderte 1939 ins Ausland aus.
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1914 „Wo steht was in seine Bücher vonn Nationalökonomie?"
und noch wenigerr vonn Marxismus. W o steht was in seine Bücher vonn Nationallökonomie? Keine blasse Dunst! W a r doch Zeitgenosse vonn Marx und hadd nicht einmal den Nammen gekannt! Nietzsche ist echterr deitscherr Militarist, ausgehalten vonn Junnkerrn und Bourrgeoisie. Lessen sie dieße Bücherr nicht, hadd garr keinen Zweck, können darraus nichts, abberr auch garr nichts lernen.' ,Wie können Sie so etwas behaupten,' rief ich aufgebracht, ,Nietzsche war sein Leben lang arm!' Er schlug eine höhnische Lache auf. ,Sie sind naiff H e r r r Schlichterr, derr Mann kann doch nurr aus seiner Klasse herraus denken. Gehörrt sich zumm ideologischen Uberrbau. Deshalb muß err daß Expansionsdrang derr deitschen Kapitalistenklasse idealistisch interrpretieren. Ist aberr schonn Deklassé seiner Klasse, darrum macht er Revolte.' ,Aber Sie können doch nicht bestreiten, daß er außerdem ein Genie und großer Sprachkünstler ist', unterbrach ich ihn! ,1m sozialistischen Staatt brrauchen wirr keine Genies. Das Genie ist sich eine bürgerlich-individualistische Errfindung . . .' Er war bereits mit dem dritten Wecken zu Ende . . . J e d e r r Mensch kann Verße schrreiben und mallen, wenn man frrühzeitig seinne nadürrlichen Fähigkeiten entwikkelt. Ist sich einne Milieufrage. Solange Bildung Monopol derr herschenden Klasse ist, wirrd man auff Kosten von Arrbeiterrklasse Ausnahmen züchtenn. Wenn wirr abberr Sozialismus habben, können wirr statt einem Puschkin tausend, und statt einem Schillerr zehntausend Schillerr produzzierren . . .'" Ein zweiter Russe, Nikenin, der „im Grunde nur das Ideal eines durch jahrelanges Nomadentum in europäischen Großstädten entwurzelten russischen Landedelmans vertrat", meinte abschließend: „Nietzsche hat sehrr schöne Sprrache in Zarathustra, habe ihn französisch gelesen. Ist aberr wie alle Deutschen zu hochmüttig. Sozialdemokratien verstehen nichts von Nietzsche, — sind zu spießig!"418 Uber das Berlin der Vorkriegszeit schrieb Carl Sternheim: „An sich hätte man sich denken können, die auf der Linie von Hegel zu Haeckel gewachsene radikale Unverantwortlichkeit des Menschen vor Naturnotwendigkeiten sei bei dem Berliner und seinem ursprünglich unbekümmerten und selbstbewußten Charakter in rechte H ä n d e gekommen, er hätte, da er nichts mehr besorgen mußte, sich auf Grund der neuen Lehre wirklich grenzenloser Ausgelassenheit, jauchzender Lebenslust, etwa so prachtvoll und unvergleichlich hingegeben, wie ein einziger freier Deutscher, Nietzsche, es in diesem Augenblick zu fordern begann. Es wäre denkbar gewesen, die in Deutschland am meisten verhätschelte Rasse der Berliner hätte sich solchen durch Philosophen rückversicherten Mut genommen, daß sie jenseits von Gut und Böse auf Grund großer Bankgutha418
R. S., Tönerne Füße. Rowohlt. Bln. 1933, S. 2 7 0 - 2 7 3 .
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ben dionysische Laune, ein reines Lachen ausgetollt, ihre Landsleute, g a n z Deutschland und schließlich die abendländische Welt mit Lust angesteckt hätte. Alle Umstände waren vollendet da. Nietzsche gab geistiges Geländer"4'9 Aus der Zeit unmittelbar vor dem Weltkriege schrieb auch E. W. Mayer: „. . . die Gebildeten . . . wandten sich, namentlich sofern die Jugend in Betracht kam, dem Nietzscheanismus zu. Als ich kurz vor Kriegsausbruch noch einmal ein paar T a g e in London gewesen war, hatte mich ein junger Engländer, ein lieber früherer Schüler, in einen Klub eingeführt, wo angeblich ein interessanter V o r t r a g über die Verhältnisse in Deutschland gehalten werden sollte. D e r Redner führte aus, daß jetzt in ganz Deutschland jung und alt im Banne der neuen Nietzscheschen Moral stehe. Ich widersprach wohl in der Diskussion, konnte mir aber nicht verhehlen, daß an der mit großer Sicherheit vorgetragenen These doch etwas Zutreffendes sei . . .
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Einige Einsichten in das Verhältnis Max Webers zu der Erscheinung Nietzsche lassen sich der Lebensbeschreibung aus der Feder seiner Frau entnehmen. V o r allem über die Zeit vor dem Weltkrieg heißt es an einer Stelle: „Mit der Ansicht, daß absichtsvolle Prägung junger Menschen durch politische, ethische oder sonstige praktische' Kulturideale nicht Aufgabe der Universitäten sei, trat Max Weber einer verbreiteten Zeitströmung entgegen, die aus einer inneren , N o t ' der heranreifenden Generation entsprang. V o n der einen Seite hatte der Sozialismus durch politische Propaganda, vor allem durch Karl Marx' imposante, die K ö p f e revolutionierende Geschichtsdeutung das behagliche Gehäuse des bürgerlichen Daseins ins Schwanken gebracht. Er fordert eine neue Gesellschaftsordnung und unterwühlt die bestehende, indem er die Massen geistig von der Herrschaft der christlichen Kirche emanzipiert. V o m Gegenpol her wirkt Friedrich Nietzsche in auflösender Richtung, indem er im N a m e n antik-aristokratischer Lebensideale die noch von christlichen Vorstellungskreisen unterbauten Gesetzstafeln der bürgerlichen Gesellschaft zerbricht. Alle überlieferten Wertungen, Ideale, Begriffe, Denkformen, in deren scheinbar unantastbaren Besitz man sich seit Jahrhunderten so sicher orientiert fühlte, werden in Frage gestellt als unverbindliche Vorurteile von Herdenmenschen, die 419
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C. S., Berlin oder Juste Milieu. K. Wolff. Mchn. 1920, S. 30 f.; s. a. S. 23 f., 29 ff., 36—40, 4 2 - 6 2 , 6 5 - 8 1 , 85, 97, 102, 109, 112, 141, 160. Die Religionswissenschaft d. Gegenwart i. Selbstdarstellungen. H g . v. E. Stange. Bd. 5. F. Meiner. Lpz. 1929, S. 147.
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letztlich ihre eigene Durchschnittlichkeit bejahen. Und während Marx die Revolutionierung im Namen demokratischer Ideale erstrebt, so fordert umgekehrt Nietzsche die Herrschaft der Wenigen und die Züchtung eines kraftvoll adligen Menschentypus, der zufolge seiner Selbstbejahung volle Genüge am Diesseitsleben finden würde . . . Auch die, in manchem auf Nietzsches Gedankenkreis zurückweisende, neue Verkündung des großen Dichters Stefan George verneint alle Herrschaftsmächte des Maschinenzeitalters, Rationalismus, Kapitalismus, Demokratie, Sozialismus. Sie richtet sich an die Wenigen von seelischem Adel und geht auf die F o r m des Seins, auf die edle Gesamthaltung zum Leben, ohne doch dem Handeln Normen und neue greifbare inhaltliche Ziele zu setzen." 4 2 ' Im Sommer 1910 lernte Weber George persönlich kennen, und die Frau berichtet in einer Tagebucheintragung über eine zwei Jahre später erfolgte Zusammenkunft der beiden im Juni 1912: „Er ging mehr als sonst aus sich heraus, sagte Schönes und Tiefes. Einiges davon war von Nietzsche übernommen, ζ. B. über das Böse als Weltprinzip, das man mit schwachen Händen und geistigen Waffen doch nicht bezwingen könne. Uber den Segen des Krieges für ein heroisches Menschentum und die Gemeinheit des Kampfes im Frieden, über unsere Entnervung durch die zunehmende Befriedung der Welt, die uns sogar das Schlachten eines Huhnes unmöglich mache . . . Es kam Warmes, Menschliches, Kraftvolles aus ihm heraus, das wir lieben mußten — er ist umfassender als seine Zarathustra-Ansichten." 4 2 2 Man lese auch die Ansichten über die „allgemeine Gesittung", besonders was die Ehe betrifft: „Diese Ideale — für Weber schon in der Straßburger Zeit bewußt erwähltes Erbgut — werden seit der Jahrhundertwende auch in der Öffentlichkeit heftig umstritten. Auf der einen Seite neu vertieft und verfestigt, auf der andern verneint. Sozialistische Ehe-Theorien, Nietzsche, Ellen Key, der Psychiater S. Freud und andre liefern der auflösenden Richtung die geistigen Waffen. Gegen bestimmte grobe Übel kämpfen beide." 423 Man vergleiche dann auch folgende unmittelbare Erwähnungen Nietzsches bei W e b e r : „Ganz wesentliche Teile der verstehend psychologischen Arbeit bestehen ja zurzeit gerade in der Aufdeckung ungenügend oder garnicht be421
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Weber, Marianne, Max Weber. Ein Lebensbild. Mohr. Tüb. 1926, S. 332 f.; Weber, Max (Erfurt 21. 4. 1864 — München 14. 6. 1920), Geschichts- und Gesellschaftswissenschaftler, seit 1893 Professor in Berlin, später in Freiburg i. Br., Heidelberg und München. Ebd., S. 471 f. Ebd., S. 375.
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merkter und also in diesem Sinne nicht subjektiv rational orientierter Zusammenhänge, die aber dennoch tatsächlich in der Richtung eines weitgehend objektiv ,rational' verständlichen Zusammenhang verlaufen. Sehen wir von gewissen Teilen der Arbeit der sog. Psychoanalyse hier ganz ab, welche diesen Charakter haben, so enthält ζ. B. auch eine Konstruktion wie Nietzsches Theorie des Ressentiment eine Deutung, welche aus dem Pragma einer Interessenlage eine — ungenügend oder garnicht bemerkte, weil aus verständlichen Gründen ,uneingestandene' — objektive Rationalität des äußeren oder inneren Sichverhaltens ableitet." 424 „eine ganz allgemeine, gewissermaßen abstrakte, Klassengebundenheit der religiösen Ethik könnte aus der seit Fr. Nietzsches glänzendem Essay bekannten, seitdem auch von Psychologen mit Geist behandelten Theorie vom ,Ressentiment' abgeleitet werden. Wenn die ethische Verklärung des Erbarmens und der Brüderlichkeit ein ethischer ,Sklavenaufstand' der, sei es in ihren natürlichen Anlagen, sei es in ihren schicksalsbedingten Lebenschancen, Benachteiligten war, und die Ethik der .Pflicht' ein Produkt .verdrängter', weil ohnmächtiger, Rache-Empfindungen des zu Arbeit und Gelderwerb verdammten Banausen gegen die Lebensführung des pflichtfrei lebenden Herrenstandes, — dann ergibt dies offensichtlich für die wichtigsten Probleme in der Typologie der religiösen Ethik eine sehr einfache Lösung. Allein so glücklich und fruchtbar die Aufdeckung der psychologischen Bedeutung des Ressentiment an sich war, so große Vorsicht ist bei der Abschätzung seiner sozialethischen Tragweite geboten. Uber die Motive, welche die ethische .Rationalisierung' der Lebensführung überhaupt bestimmten, wird später zu sprechen sein. Sie hat mit Ressentiment (meist durchaus) nichts zu tun. Was aber die Wertung des Leidens in der religiösen Ethik betrifft, so ist diese unzweifelhaft einem typischen Wandel unterworfen gewesen (der, richtig verstanden, ein gewisses Recht jener von Nietzsche zuerst durchgeführten Theorie bedeutet)." 425 „ . . . auf dem Boden der jüdischen ethischen Erlösungsreligiösität" gewinne „ein Element große Bedeutung, welches, von Nietzsche zuerst beachtet, aller magischen und animistischen Kastenreligiösität völlig fehlt: das Ressentiment. Es ist in Nietzsches Sinn Begleiterscheinung der religiösen Ethik der negativ Priviligierten, die sich, in direkter Umkehrung des alten Glaubens, dessen getrösten, daß die ungleiche Verteilung der irdischen
424 425
Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie, in: L Bd. 4, 1913, S. 259 f. Die Wirtschaftsethik der Weltreligionen. Religionssoziologische Skizzen, in: ASWSP 41. Bd., H. 1, 1915, S. 5. In Klammern stehen diejenigen wesentlichen Änderungen Webers (s. M. W., Ges. Aufsätze z. Religionssoziologie. Mohr. Tüb. 1922, Bd. 1, S. 241), welche u. a. eine eingehendere und andauernde Auseinandersetzung mit Nietzsche belegen.
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Lose auf Sünde und Unrecht der positiv Priviligierten beruhe, also früher oder später gegen jene die Rache Gottes herbeiführen müsse . . . Sehr falsch wäre es aber, sich das Erlösungsbedürfnis, die Theodizee oder die Gemeindereligiosität überhaupt als nur auf dem Boden der negativ priviligierten Schichten oder gar nur aus Ressentiment erwachsen vorzustellen, also lediglich als Produkt eines ,Sklavenaufstandes in der Moral' . . . Die Schranke der Bedeutung des ,Ressentiments' und die Bedenklichkeit der allzu universellen Anwendung des ,Verdrängungs'-Schemas zeigt sich aber nirgends so deutlich wie in dem Fehler Nietzsches, der sein Schema auch auf das ganz unzutreffende Beispiel des Buddhismus anwendet." 426 In dem im Winter 1918 vor dem freistudentischen Bund an der Münchener Universität gehaltenen Vortrag „Wissenschaft als Beruf" heißt es: „Daß man schießlich in naivem Optimismus die Wissenschaft, das heißt: die auf sie gegründete Technik der Beherrschung des Lebens, als Weg zum G l ü c k gefeiert hat — dies darf ich wohl, nach Nietzsches vernichtender Kritik an jenen ,letzten Menschen', die ,das Glück erfunden haben', ganz beiseite lassen. Wer glaubt daran? — außer einigen großen Kindern auf dem Katheder oder in Redaktionsstuben?" 427 Etwas weiter meint der Vortragende noch : „. . . und daß etwas schön sein kann nicht nur: obwohl, sondern: in dem, worin es nicht gut ist, das wissen wir seit Nietzsche wieder . . ,"428 Eine entschiedene und mitunter heftige Ablehnung Nietzsches findet sich in den vor dem Weltkrieg einsetzenden und sich über mindestens
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Wirtschaft und Gesellschaft. III. Abt. d. „Grundriß d. Sozialökonomik". Mohr. Tüb. 1922, S. 283—286; s. a. eine ähnliche Einschränkung auf S. 637. Nach dem Herausgeber der 1956 erschienenen 4. Auflage, Johannes Winckelmann, ist der zweite, die Erwähnungen Nietzsches enthaltende Teil des Werks „im wesentlichen, bis auf einige spätere Einfügungen, in den Jahren 1911 — 1913 abgefaßt". Nach: Ges. Aufsätze z. Wissenschaftslehre. 2. durchgeseh. u. ergänzte Aufl. besorgt v. J. Winckelmann. Mohr. Tüb. 1951, S. 582. Ebd., S. 588. In Simmeis „Schopenhauer und Nietzsche" machte sich Weber recht eindeutig ablehnende Randbemerkungen zum Gegenstand Nietzsche, die jetzt veröffentlicht vorliegen: M. W. Werk u. Person. Dokumente ausgewählt u. kommentiert v. Eduard Baumgarten. Mohr. Tüb. 1964, S. 614 f. Leider sind die Stellen bei Simmel ungenau wiedergegeben, so daß man nur hoffen kann, die Weberschen seien wortgetreu. S. sonst in dem nämlichen Werk, S. 578 — 581, die Meinung des Herausgebers zu Webers „Ideen und Interessen (Verhältnis zu Marx und Nietzsche)", bes.: „Sieht man irgendwann Nietzsche neben Weber stehen, so ist es meistens ein .marxistisch' ausgewählter und reduzierter Nietzsche . . . Freilich, wo er . . . gegen Marx und gegen Nietzsche den verwickelten Zusammenhängen, unbefangener als sie, nachforscht, bewegt er sich doch immer auf ihrem Boden."
1914 „eine reiche Quelle der gedanklichen und sittlichen Anarchie"
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zwanzig Jahre hin erstreckenden Aufzeichnungen des damals in Darmstadt wirkenden Arnold Mendelssohn. 429 1182 Przibilla, Max, S. J., Die Jubiläumsausgabe des Zarathustra. (SML 86, 4, 1913/14, S. 479 ff.). V e r f a s s e r findet, daß „ d a s hundertste T a u s e n d des Z a r a t h u s t r a " , des persönlichsten W e r k e s des „Dichters und K ü n s t l e r s " , „die weite Verbreitung, welche die Ideen Nietzsches g e f u n d e n h a b e n " , beweise, d o c h habe es „nichts f ü r deren inneren Gehalt noch f ü r die Entwicklung im Sinne N i e t z s c h e s " zu besagen. Seine Schriften weisen sich immer „klarer . . . als eine reiche Q u e l l e der gedanklichen und sittlichen Anarchie" aus, „an deren B e h e b u n g so viele heute vergebens arbeiten". „ D i e geistige Oberschicht auch der M o d e r n e n " sehe sich allerdings schon „ n a c h anderen Propheten" um und überlasse „ N i e t z s c h e mehr und mehr den ,Fliegen des M a r k t e s ' " : 429
A. M., Gott, Welt und Kunst. Aufzeichnungen. (Hg. v. Wilh. Ewald). Insel 1949, S. 89 f. („Das Ziel des als wirklich in der Zeit sich vollziehend gedachten Fortschritts ist nicht Nietzsches Übermensch, sondern sein ,letzter Mensch', eben der Philister in Reinkultur."), 359 f. (über die „Begründung seiner greulichen Lehre von der Wiederkehr des Gleichen"), 103 f. (über Nietzsches Empörung „über Christ und Deutschland, weil sie dem imperium romanum und der Renaissance den Garaus gemacht haben", und gegen ihn als freien Geist, der „vergebens" vom kategorischen Imperativ abzukommen suche) ; aus den Kriegsjahren auf S. 34 (Nietzsche als „Zettelkasten-Schriftsteller"), 119 (zu seinem Haß auf Sokrates, Plato und Kant, „diese Sophistentöter. Wie kann man so stumpfsinnig sein, nicht zu riechen, daß dieser Nietzsche den ausgeprägten Stempel des Sophisten an sich trägt? Blender, Wortjongleur. Mit solchen Geisteskinkerlitzchen behängt sich kein ehrlich Fragender, sondern einer, der verblüffen will. Dann dies Jammergeschrei über mangelnden Erfolg! Und über seine schwere Aufgabe! Und über zurückhaltende Freunde!"), 190 („Die Sentimentalität der Nächstenliebe ist nicht so gefährlich, wie Nietzsche meint . . ."), 332 (Nietzsches Verständnislosigkeit für den „echten Sozialismus", nämlich den christlichen) ; aus der Nachkriegszeit auf S. 136 („Nietzsche hatte, um sich zur Persönlichkeit auszubilden, sehr konträre Triebe zu vereinigen. Das Unmögliche ist ihm nicht völlig gelungen; aber seine Anstrengung war so groß, daß sein Werk so oft den Eindruck des Gespannten, ja Überspannten, Gewaltsamen, Krampfhaften macht. . . andrerseits aber sind ihm infolge der abgenötigten Überanstrengung Probleme aufgegangen, und es haben sich ihm Fragen gestellt, die eine harmonischere Natur nicht so leicht gewahr wird, noch weniger sie erlebt. Daher ist er wohl die bedeutendste Geisteserscheinung seit Schopenhauer, aber kein Führer noch Vater, wie etwa Goethe . . . " ) , 151 („In Nietzsche hat die Idealität vor der Realität kapituliert."), 179 f. („Mit dem amor fati bekennt sich der ,Antichrist'Nietzsche zum Christentum."), 239 (Ähnlichkeit der „Bürgerchristen-Moral" mit der Nietzsches, da beide „falsch und irreleitend"), 242 („Nietzsches Grundfehler, der all seinen moralischen Paradoxen zu Grunde liegt, besteht darin, daß er nur die Art Moral kennen will, die ich die unechte nenne, nämlich die Sitte, also ein Ding, das in der Zeit unter den und jenen Umständen und bei den und jenen Menschen geworden ist."), 369 („Diese Erasmusnaturen vom grünen Geistestisch, Schopenhauer, Nietzsche, George und Genossen sind notwendig Zölibatäre, und besonders Luther ist ihnen ein Greuel. Denn der ist das Gegenteil eines Doktrinärs."), 383 („Um Anhänger Nietzsches zu sein, dazu bin ich zu egoistisch. Macht über andere zu üben, wünsche ich nicht nur nicht, sondern scheue es sogar, da sie mich ja doch mit der Verantwortung für diese andern belastet . . ."); Mendelssohn, Arnold (Ratibor 26. 12. 1855 — Darmstadt 19.2. 1933), ein Urenkel von Moses Mendelssohn, zunächst Universitätsmusiklehrer und Organist in Bonn, darauf Dirigent in Bielefeld, Lehrer am Konservatorium in Köln und von 1890 an Kirchenmusikmeister und Gymnasialmusiklehrer in Darmstadt.
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1914 Ein unmittelbarer „Vorläufer der Psychoanalyse"
„Trotz der steten Neuauflagen" habe der Nietzsche-Kult „seinen Höhepunkt überschritten". „Die Menschheit kann nicht von Träumen und Tänzen leben." D i e 1914 erschienene, „vierte, vermehrte Auflage" von Freuds „Die Traumdeutung" enthielt erstmalig zwei von O t t o Rank verfaßten Anhänge und darin erstmalig Erwähnungen Nietzsches. Rank meint, daß „wir" ihn „als direkten Vorläufer der Psychoanalyse auch auf diesem Gebiet (d. i. dem der Traumdeutung und -bedeutung) anerkennen müssen" (S. 366 f.). Er habe „deutlich erkannt", „,Im Schlafe und im Traume machen wir das ganze Pensum früheren Menschentums durch'" (S. 371). Etwas weiter heißt es: „Die weitestgehende intuitive V o r w e g n a h m e der psychoanalytischen Traumlehre aber müssen wir einem ,Erleben und Erdichten' überschriebenen Abschnitt aus Nietzsches ,Morgenröte' zugestehen . . . " Es folgt dann die betreffende Stelle (S. 374 f.). Auf S. 383 führt Rank eine längere Stellezum Traum aus der „Geburt" an, und der zweite Anhang beginnt mit einem Geleitwort aus der auf S. 371 angeführten Stelle. 430 1183 Strecker, Karl (Berlin), N e u e Nietzscheliteratur. ( D L E 16. Jg., H . 8 v. 15. 1. 1914, Sp. 5 3 8 - 5 4 4 ) . Bespricht recht ausführlich Band 2 und 3 der „Philologica" (GXVIII, G X I X ) , die „eine Erquickung" seien und deren Herausgabe „eine kulturgeschichtliche Notwendigkeit" gewesen. Sie bieten einen sehr ernsten Hinweis „auf die durchaus soliden Grundmauern dieses Lebenswerks, auf die wissenschaftliche Zucht, das exakte Denken, die innere Geschlossenheit dieses wirklich .ordentlichen' Professors"; bedeutend knapper den 11. Band der Taschenausgabe (GTXI), an dem die ausgezeichnete Vorrede Oehlers hervorgehoben wird; streift nur das Werk von Spindler (Nr. 1118), das „verständig, aber überflüssig" sei; und geht zum Schluß etwas tiefer und geneigter auf das Werk von Frehn (Nr. 1071) ein, der „die Frage der ,Systemlosigkeit' Nietzsches mit gutem Verständnis" untersuche. 1184 Liebrich, Dr. Carl, Einige Hauptquellen Nietzsches. ( K Z g Nr. 18 u. 25, 1914). Als „Hauptquellen" verzeichnet Verfasser Piaton, bes. den Kallikles im Dialog „Gorgias" sowie „einmal" den Sokrates in der „Republik", Spinoza, diesen als „älte-
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Franz Deuticke. Lpz. u. Wien 1914. Erst 1919, in der fünften, vermehrten Auflage des Werkes, nahm Freud selber darauf Bezug: „Wir ahnen, wie treffend die Worte Fr. Nietzsches sind, daß sich im Traume ,ein uraltes Stück Menschentum fortübt, zu dem man auf direktem Wege kaum mehr gelangen kann', und werden zur Erwartung veranlaßt, durch die Analyse der Träume zur Kenntnis der archaischen Erbschaft des Menschen zu kommen, das seelisch Angeborene in ihm zu erkennen." (S. 409) In der dritten, vermehrten Auflage seines „Zur Psychopathologie des Alltaglebens. (Uber Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum)", S. Karger. Bln. 1910, S. 77 f., hatte er auf Nietzsche in einer Anmerkung hingewiesen: „Keiner von uns allen hat aber das Phänomen (d. i. „den Einfluß affektiver Faktoren auf das Gedächtnis") und seine psychologische Begründung so erschöpfend und zugleich so eindrucksvoll darstellen können wie Nietzsche . . . " Es folgt die betreffende Stelle aus „Jenseits", II. Hauptstück 68.
1914 Egon Friedell
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ste Quelle" der Morallehre, Herder, Kant, Goethe und Schiller, Max Stirner („Nietzsche h a t Stirner gekannt, und mehr als das, er hat sich aufs stärkste von ihm beeinflussen lassen; aber zu seiner .satanischen' Folgerichtigkeit kann er es nicht bringen. Natürlicherweise; denn er ist ja ein anderer: ihm fehlt Stirners eherne Stirn.") und schließlich Heine. Er bringt jeweils einen ziemlich vollständigen Auszug der betreffenden Stelle, der er Nietzsches Äußerungen entnommen glaubt. 1185 Friedell, Egon, Der j u n g e Nietzsche. ( D S b 10. Jg., Nr. 4 v. 22. 1. 1914, S. 89—94). Eine sehr anerkennende Besprechung des gleichnamigen Werkes der Schwester (s. Bd. I). „Die geistige Signatur" des dargestellten Lebensabschnittes sei „eine ausgesprochen romantische", wenn auch „eine kältere, strengere, wirklichkeitstreuere" als die frühere. Verfasser widerspricht der Schwester fast allein darin, daß er zwischen Leben und Lehre keinen Widerspruch empfindet: „Denn selbstverständlich kann nur ein Mensch der höchsten und tiefsten, der stärksten und zartesten Sittlichkeit die Moral überwinden, überwinden in der einzig angemessenen Bedeutung, daß er sie nämlich aufhebt, aufhebt im Hegeischen Sinne, das heißt; auf eine höhere Stufe, in der sie enthalten ist."431 1 1 8 6 Barabás, Abel v., Nietzsche ein Goetheaner? (PL 61. Jg., Nr. 20 v. 23. 1. 1914). Verfasser möchte „beweisen, daß es ein großer Irrtum ist", Nietzsche und Goethe „als völlig entgegengesetzte Geister aufzufassen". In der „Götzendämmerung" lasse jener erkennen, daß es neben ihm „nur noch wenige sind, die Goethes Wesenheit so verstanden haben wie er". Er irre aber, wenn er meint, Goethe sei „ein schönes Umsonst" gewesen, denn dieser habe doch die Menschheit „von dem Wirrgange krankhafter phantastischer Träumereien zur praktischen Tätigkeit" zurückgeführt. Auch stimmten beide weder „in der Auffassung des ,Kreuzes' noch in der Einstellung zu Luther" überein. Dennoch schließt Verfasser: „Wenn es unter den deutschen Denkern . . . jemand gibt, der Nietzsche stetig und ständig beeinflußte, so ist es ohne Zweifel Goethe." 1 1 8 7 Hocks, Erich, Das Rationale und das Emotionale bei Nietzsche. J. A. Barth. Lpz. 1914. VII, 71 S. ( = Diss. d. Univ. Basel). Verfasser erkennt in Nietzsche den ersten, „der das Erkenntnisproblem beiseiteschiebt und die schöpferischen Auswirkungen des Lebens in die Mitte alles menschlichen Denkens setzt", und darin liege „die große Befreiung von der Scholastik". „Während von fast allen Philosophen die irrationale Gegebenheit als das Unfaßbare, als das Blinde, als die reine Materie angesehen wird, mit der die ratio, die Idee und das formale Prinzip einen unendlichen Kampf führt, hat sie bei Nietzsche eine positive Bestimmung." Seine ganze Philosophie durchziehe der „Gegensatz rational-emotional". Verfasser verfährt dann in seiner Darstellung von Nietzsches
431
Friedell, Egon (eigentl. Egon Friedmann, Wien 21. 2. 1978 — ebd. 16. 3. 1938 durch Freitod), Schriftsteller und Theaterkritiker.
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1914 Ein mächtiger Wecker und Förderer „sittlichen Lebens"
Versuch einer „großen Synthese des Rationalen und Emotionalen" chronologisch und betont in der ersten Periode den Einfluß von Schopenhauer, Lange, Heraklit und Empedokles. Der Anlaß zum Übergang in den „Intellektualismus", „das erlebte Einzelne", sei „die Erkenntnis der fundamentalen Differenzen zwischen Wagners künstlerischen Tendenzen und der eigenen Überzeugung". In dieser zweiten Periode, in der „Wirklichkeit und Wissenschaft . . . die beiden großen Mächte" seien, liege neben „der Lektüre Rées, Spencers und anderer Positivisten und vor allem der Biologen und Naturforscher" der Einfluß von Spir, Dühring und Burckhardt, obwohl Nietzsche „auch hier" das Wesentliche aus sich selbst habe. In der „Fröhlichen Wissenschaft", in der er „die Verkoppelung zweier heterogener Begriffe wagt und diese Vereinigung des Szientifischen mit dem Schöpferischen sogar zum Leitmotiv" mache, „offenbart sich jäh die Tiefe des Spaltes zwischen seiner subjektiven Innerlichkeit und dem objektiven Charakter des Theoretischen". In diesem Werk kündige sich „der neue Geist" deutlich an, und es beginne „die Zeit der großen Synthese", die „die Erfüllung beider vorangegangenen Epochen" bringe: „Das Schöpferische reißt wieder, wie beim jungen Nietzsche, die Herrschaft an sich . . . Erkenntnispessimismus und Lebensbejahung als die beiden großen Korrelate bedingen die Entwertung des Szientifischen." Gerade in dieser letzten Periode sei der Einfluß Teichmüllers neben dem Spirs entscheidend: „. . . in der Hauptfrage aller rationalistischen Philosophie, derjenigen nach dem Werte des begrifflichen Denkens und der Logik, sind es Spir und Teichmüller, an denen Nietzsche sich orientiert", wenn er auch in der von ihnen aufgestellten „Souveränität des Diskursiven den denkbar schärfsten Gegensatz zu der eigenen Überzeugung von der Macht des Irrationalen" habe empfinden müssen. Er kehre schließlich „zu dem metaphysischen Voluntarismus zurück . . . Weder die Kunst noch die Erkenntnis braucht er mehr als Zwischenglieder: unmittelbar tritt an die Unendlichkeit des schöpferischen Ichs die Unendlichkeit der schöpferischen Welt. Einzig in seiner Emotionalität liegt der Wertungsmaßstab des Lebens." In einem „Anhang" kommt Verfasser noch ein letztes Mal ausdrücklich auf den Einfluß von Teichmüller und Spir zu sprechen und bietet darin eine Berichtigung der Darstellung von Nohl (Nr. 1130). Verfasser drückt seinen ganz besonderen Dank Professor K. Joël, „unter dessen Leitung" die Arbeit entstanden sei, aus. 1187a Dass. m. d. Überschrift: Das Verhältnis der Erkenntnis zur Unendlichkeit der W e l t bei Nietzsche. Eine Darstellung seiner Erkenntnislehre. J. A. Barth. Lpz. 1914. Unverändert. 1188 Etterich, Walther, D i e Ethik Friedrich N i e t z s c h e s im Grundriß, im Verhältnis zur Kantischen Ethik betrachtet. Karl Strauch. D o r t m u n d 1914. 117 S., 1 Bl. ( = Lebenslauf). ( = Diss. d. Univ. Bonn). Eine Vergleichsfläche beider Denker findet Verfasser gerade darin, daß sie „beide ethische Naturen von Grund aus" gewesen seien, „zu mächtigen Weckern und Förderern sittlichen Lebens berufen". Bei Erörterung der zunächstliegenden Frage nach der ersten Bekanntschaft Nietzsches mit den Schriften Kants berichtet
1914
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Verfasser, daß er zu ihrer Beantwortung „Auskunft bei einigen Personen eingeholt" habe, „die mit dem jungen Nietzsche in Verkehr gestanden haben. H e r r Oberi. B(reit)h(aupt), ein ehemaliger Mitschüler Nietzsches in Pforta, weiß mitzuteilen, daß er als sogenannter .Oberer', in einem Aufsehersamte an Nietzsches Tische, welches er von Mich. 1860 bis Mich. 1861 verwaltet habe, den jungen Nietzsche einmal in einem Buche des Titels ,Kants kleine Schriften' lesend angetroffen habe. Indes kann sich Herr Prof. D(eussen) . . . nicht erinnern, daß . . . zwischen ihm und seinem Freunde über Kant in bemerkenswerter Weise die Rede gewesen sei, und vermutet, daß Nietzsches Kantstudien einer späteren Zeit angehörten. Dagegen hält es wiederum Herr Dr. Kl(einpaul), ein Studiengenosse Nietzsches in Leipzig, für sicher, daß Nietzsche die Hauptwerke Kants schon vor dieser Zeit kennen gelernt habe, ohne indes bestimmte Belege aus seiner Erinnerung dafür angeben zu können." Verfasser setzt die Bekanntschaft ins Jahr 1866 und verfährt dann streng chronologisch nach den drei bekannten Perioden in Nietzsches Entwicklung. Bezüglich der ersten liefern beide Ethiker „übereinstimmend eine metaphysisch-religiöse Begründung der ethischen Werte, des sittlichen Strebens und Handelns: Nietzsche giebt dem wahren Kulturstreben die Bedeutung der Bejahung und Vollendung eines all-einen Naturwillens, Kant erklärt das moralische Verhalten als Gehorsam gegen göttliche Gebote". Es trete aber auch schon „der Gegensatz des aristokratischen Ideals Nietzsches gegen den idealen Demokratismus der Kantischen Ethik hervor". Doch erst in der zweiten Periode, in der Nietzsche sich „von einer allgemeinen Kulturlehre und Kulturtheorie einer spezielleren Behandlung der ethischen Probleme zuwendet", erfahre „auch die Kantische Ethik eine etwas aufmerksamere Berücksichtigung": „Die Polemik gegen kategorischen Imperativ und die Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes treibt ihn, die freie schöpferische individuell-eigentümliche Idealbildung um so entschiedener zu betonen." Die dritte Periode beginne mit dem „Zarathustra", in dem „allein . . . Nietzsches Ethik einigermaßen vollständig" enthalten sei, „während die nachfolgenden Prosaschriften . . . nur einzelne Probleme vorwiegend kritisch behandeln". Die Ablehnung der Kantischen Ethik werde in dieser Periode „durch den übertriebenen Radikalismus der letzten Schriften noch bedeutend verschärft", von den „Hauptbegriffen" fasse er „nach wie vor nur den ,kategorischen Imperativ* und die Allgemeingültigkeit des Sittengesetzes ins Auge, während die Ableitung des Sittengesetzes aus der Autonomie der reinen Vernunft unberücksichtigt bleibt oder als Irrtum und Anmaßung schlechterdings beiseite geschoben wird". Trotzdem sich Nietzsche „in keiner wesentlichen Bestimmung" mit Kant einig wisse, unternimmt es Verfasser dennoch, „das Verwandte" zwischen beiden aufzudecken. „Nicht sehr unähnlich" seien ihre Begriffe des Philosophen als eines Gesetzgebers, beide „finden in der Übereinstimmung mit den größten Ethikern aller Zeiten den Ursprung der Moral in der Autonomie des Individuums", und auch „die letzte tiefste Begründung erhält der moralische Wert in gleicher Weise bei Nietzsche wie bei Kant in einem m e t a p h y s i s c h - r e l i g i ö s e n Werte". D e m Verfasser ist „ihre gemeinsame Bestimmung des moralischen Grundwertes als objektiven Wertes der Persönlichkeit der adäquate wissenschaftliche Ausdruck eines wahrhaften und starken moralischen Erlebens". „Die Kantische Beschränkung dieses Wertes auf die formalen Eigenschaften des sittlichen Verhal-
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1914 „eine gesunde Reaktion gegen übertriebenen Sozialismus"
tens wird gewiß . . . den psychologischen T a t s a c h e n nicht gerecht. D a g e g e n hat N i e t z s c h e d a s Verdienst, den Persönlichkeitswert in seiner G a n z h e i t . . . mit aller Entschiedenheit und mit der M a c h t persönlicher U b e r z e u g u n g ans Licht gestellt zu h a b e n . " Allein seine „ r a d i k a l e S c h e i d u n g zwischen einer H e r r e n - und S k l a v e n m o r a l widerspricht schlechterdings den T a t s a c h e n des sittlichen Bewußtseins". Seine „religiöse A n s c h a u u n g " zeige aber schließlich, „ d a ß auch im Anblick des geheimnisvollen Lebens a m lichten T a g , auch o h n e A n n a h m e einer realen göttlichen Einheit, . . . aufrichtige religiöse V e r e h r u n g möglich ist". Als S t a t i o n e n auf d e m W e g e der „ E n t wicklung der Ethik von K a n t zu N i e t z s c h e " k ö n n e m a n J . G . Fichte, Schleiermacher und S c h o p e n h a u e r ansehen. 4 3 2
1189 Schwarz, Hermann, August Dorner und der ( Z P h K Bd. 153, H . 1, 1914, S. 1 - 8 ) .
Naturalismus.
Eine durchaus anerkennende B e s p r e c h u n g des W e r k e s v o n D o r n e r ( N r . 1018), der einer der „besten kritischen K e n n e r " der P h i l o s o p h i e n von
Schopenhauer",
H a r t m a n n und N i e t z s c h e sei. Mit S c h a r f s i n n , Eindringlichkeit und Überlegenheit habe er den „ G e i s t des N a t u r a l i s m u s erkannt und in allen seinen verschiedenen Ausgestaltungen enthüllt und d u r c h g e p r ü f t " und w e r d e „ e b e n d a d u r c h z u m Befreier aus den Labyrinthen des N a t u r a l i s m u s " .
1190 Lemke, Ernst, Die Hauptrichtungen im deutschen Geistesleben der letzten Jahrzehnte und ihr Spiegelbild in der Dichtung. Quelle & Meyer. Lpz. 1914. VIII, 125 S. Über Nietzsche auf S. 2 0 - 2 5 . 4 3 2 i N i e t z s c h e ist d e m V e r f a s s e r „ d e r H a u p t v e r t r e t e r des m o d e r n e n Subjektivism u s " , der z u so m a n c h e m anderen auch „die g a n z e F r a u e n f r a g e " in seinen Bann ziehe. B e s o n d e r s „die m o d e r n e F r a u e n w e l t " , die „mit F r e u d e zu N i e t z s c h e s G e d a n k e n g ä n g e n " g e k o m m e n sei, entspreche in m a n c h e n Z ü g e n „ e i n e m brutalen Willen z u r M a c h t N i e t z s c h e s " . Erst wenn m a n von d e n „ A u s w ü c h s e n eines s c h r o f f e n Subjektivismus, wie er die erste P e r i o d e d e r V e r b r e i t u n g N i e t z s c h e s c h e r G e d a n k e n kennzeichnet, zu einem berechtigten Individualismus z u r ü c k g e k e h r t ist, wird d a v o n zu reden sein, daß N i e t z s c h e eine g e s u n d e R e a k t i o n g e g e n übertriebenen Sozialismus bedeutet". S . a. die E r w ä h n u n g e n N i e t z s c h e s auf S . 9 0 f. (im Z u s a m m e n h a n g mit d e m Kreis um die „Blätter f ü r die K u n s t " ) , 107 ( E i n f l u ß auf die „idealistische L y r i k " ) , 111 ( „ Z a r a t h u s t r a " als E p o s auf „idealistischem B o d e n " ) , 113 (die „ N e u r o m a n t i k e r " als „ g e t r e u e J ü n g e r des größten Subjektivisten d e r neuen Zeit: N i e t z sches").
1191 Hammer, Walter, Nietzsche als Erzieher. H u g o Vollrath. Lpz. 1914. 166 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). In der F o r m von z w a n z i g Briefen an ein Mitglied d e r W a n d e r v o g e l - B e w e g u n g wendet sich V e r f a s s e r v o r allem an die J u g e n d , „ a n s o l c h e j u n g e M e n s c h e n . . ., die schon gereift und gefestigt dastehen, also etwa d u r c h die S c h u l e des W a n d e r v o g e l s Etterich, Walther, geb. am 11.6. 1887 zu Rohlingshausen/Westfalen; Kleinpaul, Rudolf (Großgrabe/Sachsen 9. 3. 1845 — Leipzig 18. 7. 1918), Reiseschriftsteller. ° 2 a L e m k e , Ernst, geb. am 4. 1. 1883 zu Stargard/Pommern, Lehrer und Literaturwissenschaftler. 432
1914 „der e i n z i g e feste Pol, um den sich die Kultur unserer Zeit gruppiert"
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gegangen sind", aber auch „an jene Erwachsenen, die kampfesmutig und siegesgewiß im V o r t r u p p marschieren". Aliein solchen müsse „Nietzsches Kulturprophetie eine heilsame Botschaft sein". Er sei „nicht nur ein Künstler, ein Philosoph, ein Ref o r m a t o r , sondern ein K u l t u r f a k t o r , . . . der e i n z i g e feste Pol, um den sich die Kultur unserer Zeit gruppiert". Verfasser ergeht sich in fast jeder Hinsicht in w a h r h a f t e r Begeisterung; nur in Bezug auf die soziale Frage tauchen ernsthafte Bedenken auf und werden Einschränkungen gemacht: „ N i e t z s c h e s U r t e i l ü b e r d i e S o z i a l d e m o k r a t i e k o m m t n i c h t m e h r in B e t r a c h t ! Weil er das Volk und die N o t der Industriearbeiter nicht kannte, war er g a r n i c h t b e r u f e n , über die sie bewegenden Fragen zu urteilen . . . H i e r kommt Nietzsche n i c h t mehr in Betracht, hier ist er b e r e i t s ü b e r l e b t worden." D e n n o c h d ü r f e man ihn nicht als einen „Rechtfertiger kapitalistischer Ausbeutung" auffassen, denn er sei „Feind unserer ganzen industriellen K u l t u r gewesen", „von der die soziale Frage ja nur eine notwendige Frucht" darstelle. Z u m Schluß heißt es: „Unsere Zeit ist schon ganz von der T e n d e n z Nietzsche d u r c h d r u n g e n . Nietzsche der Erzieher hat sich schon durchgesetzt, schon ist er uns überflüssig geworden. Es bleibt nur noch eins zu tun nötig: ihn b e w u ß t zu überwinden." In den Verlagsanzeigen wird auf drei „weitere kulturphilosophischen V e r ö f f e n t l i c h u n g e n " H a m m e r s a u f m e r k s a m gemacht, in denen „alkoholgegnerische, revolutionäre Kulturpolitik im Sinne Nietzsches, Kulturschöpferische G e d a n k e n , mit denen sich jeder im V o r t r u p p marschierende Kulturbesonnene vertraut sein m u ß " , enthalten seien.
1192 Stieglitz, Dr. Olga, Wagners „Parsifal" im Lichte Fr. Nietzsches. (VZg 1914, Beil. Nr. 5, S. 35 ff.). Verfasserin unterstreicht, daß Nietzsches „Verurteilung des Parsifal" sich „nur auf den religiös-philosophischen Gehalt der Dichtung bezieht", der Musik des W e r kes habe er „etwas anders" gegenübergestanden. Er habe sich eben, „aller prinzipiellen G e g n e r s c h a f t z u m T r o t z , dem Z a u b e r W a g n e r s c h e n Kunst niemals ganz zu entziehen" vermocht.
1193 Ter-Georgian, Wahan, Friedrich Nietzsches Stellung zur Religion. John. Halle 1914. 92 S.433 ( = Diss. d. Univ. Leipzig). Nietzsche ist dem Verfasser „eine sittliche Persönlichkeit, ein seltener Geist von idealer und edler G e s i n n u n g , mit felsenfesten moralischen Grundsätzen", „eine durch und d u r c h religiöse N a t u r " , „ein Dichter, D e n k e r und Seher zugleich", dessen Lehre nur aus einer Persönlichkeit zu verstehen sei. Seit 1865 sei er „Atheist und Antichrist" gewesen, der T o d e Gottes ihm „eine theoretisch unwiderlegbare, m o r a lisch berechtigte und in kulturphilosophischer Hinsicht notwendige ,Tatsache', ein nicht mehr zu verhehlendes .Ereignis* von ungeheuerer weltgeschichtlicher Bedeutung". V o r allem unter d e m Einflüsse des Griechentums, des Atheismus Schopenhauers und der Religionskritik Feuerbachs habe sich „der tiefer und tiefer e m p f u n dene Gegensatz zwischen Glauben und Wissen verschärft". In den „erkenntnistheoretischen G r u n d g e d a n k e n " sei er „Antimetaphysiker", und diese Richtung seines 433
Ter-Georgian, Wahan, geb. am 9. 6. 1884 zu Pirnaut/Russisch-Armenien.
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1914 „eine der hervorragend religiösen Naturen"
Denkens werde durch drei „Haupttendenzen" ergänzt, „nämlich durch eine antiidealistische, antiteleologische und antitheistische". Von der „Weltanschauung der ersten ästhetischen, wie auch der zweiten intellektualistischen Phase seines Denkens und Schaffens" führe ihn „sein romantisch-religiöser Geist . . . zu einem romantischen Kulturidealismus, von der Freigeisterei zur Philosophie der letzten und höchsten Dinge, zur Prophetie der Zarathustradichtung — zur R e l i g i o n d e r K u l t u r des Ubermenschen". Gerade „die Lehre von der ewigen Wiederkunft ist die Grundlage und zugleich die Krone der Nietzscheschen Lebensphilosophie", aber sie bleibe ein „durch und durch unwissenschaftlicher Gedanke, eine altbekannt dichterische Spekulation. Die Grundbegriffe aller Metaphysik — das Werden und das Sein sind zu unbestimmt bei Nietzsche, als daß er auf Grund seiner eklektischen Willensphilosophie eine befriedigende Lösung der metaphysischen Beschaffenheit der Welt geben könnte." Schließlich wolle er „nicht die Religion überhaupt abschaffen, sondern ihr eine p o s i t i v i s t i s c h e Richtung geben". Er sei überhaupt „eine der hervorra-· gend religiösen Naturen", und, was er vertrete, die „religiöse Anomie", welche „der Hauptsache und der inneren Tendenz nach . . . der Weg zur Religion der Zukunft, zu einer persönlichen, verinnerlichten Religion", sei. Wiederholt hebt Verfasser J. M. Guyau als Geistesverwandten hervor und betont sonst den Einfluß von Kant, F. A. Lange, E. Dühring, E. v. Hartmann sowie Ubereinstimmungen der Anschauungen Nietzsches mit denen des Pragmatismus, bes. F. J. C. Schillers, und der biologistischen Urteilstheorie. BP V o r Sonnenaufgang / Aus: / „Also sprach Zarathustra" / V o n / Friedrich Nietzsche. (Gedruckt in der Maximilianschrift von Gebr. Klingspor Offenbach a. M. 1914). 8 Bll. Bringt den nämlichen Abschnitt aus dem dritten Teil des Werkes. 1195 Lienhard, Friedrich, Parsifal und Zarathustra. Vortrag. Greiner & Pfeiffer. St. 1914. 46 S., 1 Bl. ( = Vlgs.-anz.). Verfasser behandelt die Gestalten des Siegfried und des Parsifal vornehmlich als Geschöpfe der mythenbildenden Kraft, die aber „nicht an eine bestimmte Zeit gebunden" sei, „sondern zeitlos an das Genie . . . nicht der primitive Mensch hat den Mythos intuitiv geformt, sondern der g e n i a l e Mensch". Die Darstellung unternimmt einen Vergleich mit den Sinnbildern des Christentums und erkennt in dem Aufblick Parsifals „zu den ausgestreckten Armen des Kreuzes, als dem Symbol der weltumarmenden Liebe, kein Zusammenbrechen- Und der Blick zur Höhe ist keine Flucht ins Jenseits. D i e s e helfende Liebe ist vielmehr M a c h t : S c h ö p f e r k r a f t . . . Und so darf denn auch nicht das altgermanische Lebensideal ausgespielt werden gegen die Seelenkräfte des Christentums. Zusammenwirkend bilden sie ein e u r o p ä i s c h e s G a n z e s . " Gerade als Wagner „auf den Willen zur Macht oder zum Wahn (was in diesem Sinne dasselbe ist) verzichtet, um sich im ,Parsifal' deutlich für den ,Willen zur Liebe' zu entschließen", trete dem Parsifal der Zarathustra gegenüber. In letzterem findet Verfasser trotz manch lobenden Wortes zum einzelnen doch nur „subjektive Thesen und Monologen eines einsamen Kopfes, der Anschluß sucht an lebendige Herzen — und diesen Anschluß nicht findet . . . Polemik überwuchert die Gestaltung. Der Intellekt ist schärfer und stärker als das liebend unbe-
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1914
fangene, schaffende Herz . . . " — „Nietzsche hätte vielleicht, lebendig und liebevoll im Bayreuther Bezirk beharrend, einseitige Dogmenbildung verhindern können. Aber er sprang zur Seite und schrieb den ,Fall Wagner'." „Im Nietzscheanismus und Intellektualismus der Gegenwart" fehle die „Herzensgenialität . . . Auch die allen Indogermanen tief eingeborene Ahnung von der spirituellen Welt der .Götter und Geister', der waltenden Mächte und Meister, wird von diesem kalten Verstandestum abgelehnt, aber damit freilich nicht aus unseren Seelentiefen hinwegbewiesen." 1195a
D a s s . 3. Aufl. 1 9 1 4 . U n v e r ä n d e r t .
1195b
A u c h in D M M 2. J g . , H . 1 ( H e r b s t 1 9 1 9 ) , S. 3 5 - 4 6 ; 2 ( W e i h -
nacht
1919),
S. 9 3 - 1 0 6 ;
3 (Frühling
1 9 2 0 ) , S. 1 6 8 - 1 8 2 ;
4
(Sommer
1 9 2 0 ) , S. 2 4 3 - 2 5 0 . Im Ausdruck leicht geändert und Nietzsche gegenüber etwas gemildert, um zwei Anmerkungen ergänzt, sonst aber unverändert. 1196
U n g e r , R u d o l f , N i e t z s c h e . ( D R s 4 0 . J g . , N r . 5 v. Febr.
1914,
S. 3 1 3 ff.). Bespricht sehr lobend das Werk von Meyer (Nr. 1110) und verrät dabei die eigene Einstellung zur Erscheinung Nietzsche fast nur in folgenden Sätzen: „Gewiß, nicht jeder Leser wird in Meyers freudiges Bekenntnis, nicht zu den einzelnen Lehren, wohl aber zum Geist und zur kulturreformatorischen Bedeutung von Nietzsches Schaffen als Ganzem einzustimmen sich gedrungen fühlen; und wir Alteren haben uns ja ohnehin längst in der einen oder anderen Weise mit dem Philosophen des Machtwillens innerlich auseinandergesetzt. Doch selbst wer sich in so tiefem Gegensatz zu dessen Grundpositionen fühlt und ihn so wenig als Denker ersten Ranges anzuerkennen vermag, wie der Verfasser dieser Zeilen, wird sich mit der Darstellung Meyers . . . gern bekannt machen . . ." 434 1197
S c h i e n t h e r , P a u l , B r u d e r N i e t z s c h e . ( B T 4. Beil. z. N r . 6 2 v.
4. 2. 1 9 1 4 ) . Bespricht die Neuausgabe des zweiten Bandes der schwesterlichen Lebensbeschreibung (s. Bd. I), deretwegen Verfasser „der eifrigen alten Dame im Weimarer Nietzsche-Archiv trotz ihren weiblichen Polemiken und trotz ihrer unbefugten Philosophasterei den Dank nicht schuldig bleiben" möchte. 1198
Lachmann, Benedict, Protagoras, Nietzsche, Stirner. Ein Bei-
trag zur Philosophie des Individualismus und E g o i s m u s . L. S i m i o n N f . Bln. 1 9 1 4 . 71 S. ( = Bibl. f. Philos. H g . v. L u d w . Stein. 9. Bd. =
Beil. z. H . 2 d. A G P h
Bd. X X V I I ) . Verfasser erkennt in dem Auftreten des Protagoras „eine gewaltige und für die ganze weitere Entwicklung der Philosophie entscheidende T a t " : „Mit bewundernswerter, genialer Kühnheit hebt er den Menschen in den Mittelpunkt der Weltbe-
434
Unger, Rudolf (Hildburghausen 8 . 5 . 1 8 7 6 schaftler, damals Professor in München.
— Göttingen 2 . 2 . 1 9 4 2 ) ,
Literaturwissen-
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1914 „der Zurückgebliebene"
trachtung . . ." Von ihm aus gebe es zwei Wege: „der eine geht zum Staate, als der notwendigen Voraussetzung der Existenz der Einzelnen", und diesen Weg seien Protagoras und Nietzsche gegangen; der zweite Weg führe „über die Auflösung des .Staates' . . . zur Möglichkeit, dem Einzelnen die Entscheidung über die Werte in die Hand zu geben", und diesen Weg sei Stirner gegangen. Vom Standpunkte der Entwicklung der Lehre aus sei Nietzsche „der Zurückgebliebene". „Protagoras und Nietzsche scheitern an der Idee, daß das Wohl der Gesamtheit wichtiger ist, als das des einzelnen Individuums, und daß dieses Wohl nur zu erreichen ist durch die Festlegung irgendwelcher, wenn auch relativer, moralischer Begriffe." Nietzsches „aristokratischer Individualismus hat Ideale, und der verlangt die Festlegung von Werturteilen, wenn er sie auch für relativ erklärt; überhaupt entbehren kann er, bzw. seine Lehre, sie aber n i c h t " . Den Beweis aber dafür, „daß das ,Wohl der Menschheit' . . . von dem Erscheinen des .höheren Menschen', des ,Ubermenschen' abhängt", sei er uns schuldig geblieben. Zum Schluß verweist Verfasser „den ,Übermenschen' in die gleiche Rumpelkammer, in die wir die anderen .Begriffe' und ,Ideale' warfen". 1198a Dass. m. neuem Untertitel: Platz dem Egoismus. 2. Aufl. Benedict Lachmann Vlg. 1923. 71 S. Unverändert. 1199 Engelhard, Karl, Parsifal und Zarathustra — und der Krist. ( D V E 18. Jg., Nr. 5, 1914, S. 33 ff.). 435 Lehnt sich entschieden gegen Lienhards Auslegung eines „christlichen Parsifal" (Nr. 1194) auf. Im Grunde sei Wagner „auch in seinem .Parsifal' noch nicht von Schopenhauer losgekommen. Das rein Dekorative, mit der er die Parsifal-Idee umhängt hat (die durchaus schopenhauerisch-brahmanisch-buddhistisch ist), würde zur Hauptsache erhoben werden, wenn wir den .Parsifal' als einen Ausdruck der c h r i s t l i c h e n Religion ansehen wollten — und das hieße: das Werk von einem Standpunkt aus betrachten, der ihm gar nicht entspricht." Auf den „Zarathustra" und Lienhards Äußerungen dazu geht Verfasser überhaupt nicht ein. 1200 Rauh, Sigismund, Nietzsche und die T h e o l o g e n . (Tag Nr. 49 v. 27. 2. 1914). Bedauert, daß die Theologie sich solange hat von Kant und Hegel beeinflussen lassen anstatt von Schopenhauer oder Nietzsche und führt dann aus, welcher Segen gerade von letzterem herkomme. Von ihm könne die Theologie eine „Erkenntnistheorie", eine „Denkmethode" und „ein ethisches Prinzip" lernen: „Also hinein in die Schule Nietzsches!" 1201 Förster-Nietzsche, Elisabeth (Breitbrunn am Ammersee), D e r einsame Nietzsche. (Z 28. 2. 1914, S. 298 ff.). Erörtert die Schwierigkeiten des Biographen unter unmittelbarem Hinweis auf die Neubearbeitung der Lebensbeschreibung (s. Bd. I), die „mit vielen ergänzenden Einzelheiten" ausgestattet sei. Sie verweist auch auf die „würdige" Kritik des Werkes von Saenger (Nr. 1174) und die „verständnislose" von Schienther (Nr. 1197). 435
Engelhard, Karl (Brotterode b. Schmalkalden 23. 7. 1914), Lehrer.
16.8.1879 — Philippsruhe/Hanau
1914 Der Hochstapler im Philosophenrock und Prophet des Henkerstaates
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1202 Krüger, Herrn. Anders, D e u t s c h e s Literatur-Lexikon. Biographisches und bibliographisches H a n d b u c h mit Motivübersichten und Q u e l lennachweisen. C. H . Beck. Mchn. 1914, S. 319: „N. wurde als philos. Umwerter ethischer wie ästhetischer Begriffe zum stärksten Anreger des deutschen Geistes- u. Künstlerlebens am Ausgang des 19. Jahrhunderts. Für d. d. Lit. gesch. ward er insonderheit bedeutsam als glänzender Stilist u. genialer Wortkünstler, bahnbrechend als dithyrambischer Lyriker." 436 B Q Friedrich N i e t z s c h e / D e m unbekannten Gott. In: D e r deutsche Psalter. Ein Jahrtausend geistlicher D i c h t u n g gesammelt v. Will Vesper. Langewiesche-Brandt. Ebenhausen b. Mchn. (1. — 30. Tsd. 1914), S. 428. Das Gedicht stellt den letzten Beitrag der Sammlung dar. 1203 Ernst, O t t o , N o c h m a l s : N i e t z s c h e und das H e u t e . ( K w Bd. 27, 1914, S. 392 f.). In einem offenen Brief an die Schriftleitung der Zeitschrift äußert sich Ernst gegen die abfällige Kritik seiner Vorträge im allgemeinen und gegen die in derselben Zeitschrift erschienenen (Nr. 1144) im besonderen. Zur Aufnahme der Vorträge berichtet er, daß ihn „nur die W u t einiger ,Nietzscheaner'. . . durch pöbelhaftes Benehmen zu stören" versucht hätte; „das P u b l i k u m wies diese Versuche mit heller Entrüstung zurück, folgte meinen Ausführungen mit ernstester Aufmerksamkeit und spendete von Abend zu Abend wachsenden, zum Schlüsse demonstrativen Beifall". 1204 Tr(autmann), E., N i e t z s c h e und das H a m l e t - P r o b l e m . (FZg N r . 6 6 , 1914). Weist den Verfasser von „Das Hamlet-Problem und die Psychoanalyse" 437 auf die Stelle in der „Geburt" hin, in der Nietzsches Meinung über das Hamlet-Problem „deutlich und direkt ausgesprochen" sei. Er meint dazu, „aus der Kombination der Aussprüche Nietzsches und Goethes erleuchtet sich Hamlets Verhalten in a l l e n seinen Situationen". 1205 Buser, H a n s u. W i l h e l m , Friedrich N i e t z s c h e der H o c h s t a p l e r im P h i l o s o p h e n r o c k und P r o p h e t des Henkerstaates im Lichte seines be436
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Krüger, Hermann Anders (Dorpat 11. 8. 1871 — Neudietendorf/Thüringen 10. 12. 1945), Schriftsteller und Sprachwissenschaftler, 1909 Professor der deutschen Sprache und Literatur an der Technischen Hochschule Hannover. Oczeret, Herbert (Zürich), Das Hamlet-Problem und die Psychoanalyse. (FZg 58. Jg., Nr. 65, l.Morgenbl. v. 6. 3. 1914). Verfasser wendet sich gegen die Versuche, Hamlet „vom Standpunkte des Staatsanwaltes und der kriminellen Sexualpsychologie zu erklären", welche „ebenso wenig befriedigend wie die Versuche aus der Freudschen Schule in Wien" seien. Um den eigenen Standpunkt — „Hamlet spiegelt das Eintreten des Individualitäts-Problems in die mitteleuropäische Kultur" — zu erhärten, führt er die Stelle von der „großen Loslösung" aus der Vorrede zu „Menschliches" (GII, S. 6 ff.) an, da ihm diese Sätze „fast buchstäblich auf Hamlets Seelenverfassung anwendbar" zu sein scheinen; Oczeret, Herbert, geb. 1884 in Polen, ab 1907 Medizinstudent an der Universität Zürich, Mitglied der Züricher Ortsgruppe und der Gesellschaft für Psychoanalytische Bestrebungen.
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1914 „der große Denker, Ethiker, Prophet und Menschheitserzieher"
rühmt gemachten Werkes „Also sprach Zarathustra" oder: Herunter mit der Maske! Vlg. v. H. u. W. Buser. Augsburg 1914. 64 S. Eine w a h r h a f t entrüstete Auflehnung gegen N i e t z s c h e und die „Nietzsche-Bewegung", die „nichts anderes als eine verkappte Christen- und Sozialistenverfolgung" sei: „ D e r Querulantenwahnsinn, verbunden mit d e m Irrenhausschwindel, sowie die Spieltheorie vom P r o z e ß - G e w i n n e n und - V e r l i e r e n sind Auswüchse des Ubermenschensystems. D a ß schon viele von den U b e r m e n s c h e n , Lügenmenschen, schwarzen Magiern o d e r Erpressern ausgeraubt, um die Existenz gebracht, zur Verzweiflung und zum Selbstmord getrieben w u r d e n , ist eine Tatsache. Auch hat schon mancher im K a m p f e ums Recht mit den Ü b e r m e n s c h e n sein Beginnen mit dem Zuchthaus oder Gefängnis büßen müssen, denn diese R ä u b e r - und M ö r d e r bande ist zu jeder Schandtat fähig." Die Verfasser setzen sich nur mit dem Nietzsche des „Zarathustra" auseinander, denn „der g a n z e , Z a r a t h u s t r a ' " , d. h. „die Übermenschenlehre", sei „ u n t e r d i e P o l i t i k zu rechnen". Nietzsche habe sich „auf Seite des Kapitalismus" gestellt und „mit allen nur erdenklichen Mitteln den unersättlichen Moloch" verteidigt. Er selbst aber wolle „unter der Maske des Philosophen versteckt bleiben, ebenso wie seine Brüder, die H o c h s t a p l e r " .
1206 Lienhard, Prof. Friedrich, Parsifal und Zarathustra — ein Nachwort. (DVE 18. Jg., Nr. 9, 1914, S. 69 ff.). Weist die Beanstandungen Engelhards (Nr. 1199) z u r ü c k , o h n e Nietzsche o d e r den „Zarathustra" überhaupt einmal zu erwähnen.
1207
Engelhard (Ebd., S. 71).
Eine recht versöhnliche E r w i d e r u n g auf Lienhards „ N a c h w o r t " ( N r . 1206), in der es ausschließlich um die Ausdeutung der Gestalt Christi geht, vornehmlich nach den Auffassungen von Drews und E. v. H a r t m a n n , die auch in den f r ü h e r e n V e r ö f fentlichungen erwähnt w o r d e n waren.
1208 Gurlitt, Prof. Ludwig (München), Friedrich Nietzsche als Erzieher. (DFW 13. Jg., 1914, S. 1 3 0 - 1 3 6 ) . Eine Geißelung der „Berufserzieher in Schule und K i r c h e " in der Gestalt eines Friedrich Paulsen, Fr. W . Förster und Max Wiesenthal, die alle das Verdienst Nietzsches zu schmälern suchen. Dieser ist dem Verfasser „der große D e n k e r , Ethiker, Prophet und Menschheitserzieher", dessen „ K r a f t " und „ W a h r h a f t i g k e i t " sich dennoch durchsetzen: „An seinem Feuergeist haben sich neue Geister entzündet, und es geht nicht mehr an, d a ß man seine herrliche Gestalt der deutschen Jugend länger noch vorenthalte." — „Der Wandervogel, die g a n z e neue freideutsche J u gendbewegung, das Erwachen der Besten in unserem j u n g e n V o l k e zu einem neuen Lebenswillen, das alles ist Nietzsches Geist." Zeichen einer sich anbahnenden W a n d l u n g erkennt er in dem Wirken von Martin Havenstein (Nr. 554), von den Predigern „freiheitlicher Geistesrichtung" Kalthoff, Steudel, Felden, von J. M. Verweyen und den Volkserziehern Maurenbrecher und den Brüdern H o r n e f f e r . Z u m Schluß empfiehlt er das W e r k von H a m m e r (Nr. 1191).
1209 Ernst, Otto, Nietzsche der falsche Prophet. L. Staackmann. Lpz. 1914. 1 . - 5 . Tsd. IV, 135 S., 2 Bll. ( = Vlgs.-anz.).
1914 D e r „verschleierte Prophet von R ö c k e n "
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Als „in der modernen Literatur vielleicht . . . sicherste Inkarnation dessen, was unsere Nietzscheaner am tiefsten hassen", sowie als „deutscher Dichter und Schriftsteller" glaubt Verfasser, das Recht zu haben, „eine Lehre kritisch zu beleuchten und abzulehnen, die dem deutschen Schrifttum mit unerhörter Tyrannei als allein berechtigte aufgezwungen werden soll". „Noch weit mehr" habe er „die Pflicht, eine Lehre zu bekämpfen, die nach meiner festen Uberzeugung die Seele unseres Volkes vor allem seiner Jugend, in steigendem Maße zu vergiften droht". Nietzsche selbst ist ihm der Philosoph des „Subjektivismus", „des extremen Individualismus und Ichvergötterung", ein „Skeptiker", ewiger Konvertit und Renegat, „Berserker" und „der klassische Philosoph der Profitanarchisten"; sein Optimismus nur „ein schlecht maskierter Pessimismus". Wiederholt fallen Bezeichnungen der einzelnen Lehren und Meinungen Nietzsches wie „banale Wahrheit", „psychologischer Unsinn", „Geschichtsdichtung", „Verworrenheit", „Absurdität", „Seifenblasen", „nicht mehr zu übertreffende Konfusion oder unerhörter feuilletonistischer Humbug". Der „verschleierte Prophet von Röcken" habe Darwin verstanden „wie ein kleiner Dorfpfarrer im dunkelsten Tirol". Als „Nietzscheverteidiger" müssen Richter und Simmel herhalten. Verfasser verfährt mit ersterem recht streng, indem er sich Simmel gegenüber weit milder erweist. Riehl wird mehrmals, fast immer mit Zustimmung angeführt, Tönnies und Weygandt an einigen Stellen, mit voller Zustimmung. Zum Schluß beleuchtet er die „Folgeerscheinungen des Nietzscheanismus in Kunst und Leben" und findet „bei ganzen, großen Gruppen unserer Autoren . . . vernietzschtes Denken und Fühlen"; treten solche als „Gedankenträger" auf, so tauft er sie „Nietzschosophen". „Die allgemeinsten unter den Folge- und Begleiterscheinungen" seien „Verworrenheit und Unklarheit", wozu Verfasser ein „modernes und dunkles Gedicht von Else Lasker-Schüler" anführt. „Eine weitere Erbschaft aus Nietzscheschem Geiste" finde man in den „Perversen", in deren vordersten Reihen Shaw und Wilde stehen. Sonst werden der höchst unbegründete „Größenwahn des Individuums" und die „ungeheure, nicht wieder gutzumachende Verwirrung und Verheerung lauterer Instinkte" erwähnt. Anführenswert sind folgende Worte über die frühere Auseinandersetzung mit Nietzsche (s. Bd. I), z. Tl. deswegen, weil sie einige der wenigen anerkennenden Worte, die in dem Buche vorkommen, enthalten: „Als ich in meiner Komödie J u g e n d von heute' die herrschenden Modephilosophien, darunter auch den Nietzscheanismus verspottete und damit die unsterbliche Wut der Getroffenen entfesselte, da glaubten ein paar wohlmeinende Freunde mir beispringen zu müssen, indem sie erklärten: ich wolle ja garnicht Nietzsche verhöhnen, sondern nur seine verständnislosen, ihn kompromittierenden Nachtreter. Das stimmte nicht ganz. Gewiß hatte ich vor der genialen Begabung Nietzsches und vor manchem, das er hervorgebracht, eine viel zu aufrichtige Hochachtung, als daß ich seine gesamte Persönlichkeit hätte verspotten mögen; sie wird ja auch nirgends in die Kömodie hineingezogen; aber nicht die geringste Achtung empfand ich vor den Ergebnissen und Konsequenzen seiner Philosophie, noch vor der Methode seines Denkens, und mit vollem Bewußtsein machte ich sie und ihre Vertreter zum Gegenstand meiner Satire." Vermerkenswert ist noch Verfassers Anführung der Herren, denen er „für die liebenswürdige Durchsicht der Korrekturbogen dieses Büchleins" dankt, nämlich Eucken, Tönnies, Weygandt und Th. Ziegler.
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1914
1210 Pfänder, Prof. Dr. Α., Nietzsches Ideal des Übermenschen. (NTB1 Nr. 73, 1914). Nachdruck von Stellen aus dem Werk „Großer Denker" (Nr. 1058, S. 348 f., 351 f.). Unverändert. 1211 Hensel, Eva, D e r Positivismus Nietzsches, sein Ursprung und seine Überwindung. Härtung. Königsberg i. Pr. 1914. 106 S., 1 Bl. ( = Lebenslauf). ( = Diss. d. Univ. Königsberg). Verfasserin will anhand von Werk- und Briefstellen den Beweis erbringen, daß noch „bevor auch nur eine Zeile seiner positivistischen Literatur veröffentlicht war" Nietzsches ganze „in jener Richtung sich bewegenden Anschauungen im Gerippe vollständig vorliegen. Was noch fehlt und in den folgenden Büchern kommt, ist lediglich die nähere Ausgestaltung." Als „Anregungen von außen her" zählt sie die. Schriften der englischen Positivisten, die Werke der französischen Moralisten und Rèe auf. Nietzsche selber habe aber „stets sein ganzes skeptisches und positivistisches Philosophieren als Ubergang betrachtet, als eine kritische Tätigkeit, die notwendig ist, will sich jemand seine Weltanschauung auf möglichst sicherer und intellektuell rechtschaffener Grundlage erbauen". Gewiß trage der Positivismus „den Forderungen des Verstandes strenge Rechnung, aber Nietzsche war eben nicht nur Verstandesmensch, in ihm verlangte auch die schöpferische, phantasiereiche Kraft eines Künstlers ihren Tribut, und ein tief innerliches, stark religiöses Empfinden heischte Befriedigung". Schließlich stelle seine Philosophie „ein ganz konsequentes, stetiges Fortschreiten von Stufe zu Stufe dar. Ihre Entwicklung ist bestimmt und geleitet durch sein inneres Erleben." Aus diesem Grund lehnt Verfasserin die „Dreiteilung bei der Betrachtung der persönlich-menschlichen Entwicklung Nietzsches" ab. Eine solche ziehe „scharfe Grenzen da, wo solche von Natur nicht vorhanden sind, und wird noch unmöglicher, sobald man, wie selbstverständlich, die Nachlaßbände mit in Betracht zieht". Verfasserin dankt Herrn Professor Dr. Goedeckemeyer für „die Anregung zu der vorliegenden Arbeit".