Aufklärung und Esoterik 9783787330409, 9783787313785

Gibt es eine "vernünftige" Hermetik? In welchen Formen tradierte sich das esoterische Konzept der Renaissance

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German Pages 477 [490] Year 1994

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Aufklärung und Esoterik
 9783787330409, 9783787313785

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AUFKLÄRUNG UND ESOTERIK Herausgegeben von Monika Neugebauer-Wölk unter Mitarbeit von Holger Zaunstöck

STUDIEN ZUM ACHTZEHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 24

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG ·

AUFKLÄRUNG UND ESOTERIK Herausgegeben von Monika Neugebauer- Wölk unter Mitarbeit von Holger Zaunstöck

FELIX MEINER VERLAG HAMBURG ·

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-1378-5 ISBN E-Book: 978-3-7873-3040-9 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1999. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

INHALT

VORWORT. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

IX

Monika Neugebauer- Wölk (Halle) Esoterik im 1 8. Jahrhundert - Aufklärung und Esoterik. Eine Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Jan Assmann (Heide/berg) >Hen kai pan< . Ralph Cudworth und die Rehabilitierung der hermetischen Tradition. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

38

Rudolf Schlägt (Konstanz) Von der Weisheit zur Esoterik. Themen und Paradoxien im frühen Rosenkreuzerdiskurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

53

Carlos Gilly (Amsterdam) Comenius und die Rosenkreuzer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

87

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.

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Herber! Breger (Hannover) Sozialutopische Tendenzen und (Al)chemie des 1 7 . Jahrhunderts: Johann Joachim Becher und Johann Rudolph Glauber

.

1 08

Michael Stausberg (Uppsala) Zoroaster im 1 8. Jahrhundert: zwischen Aufklärung und Esoterik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1 7 Hans-Georg Kernper (Tübingen) Aufgeklärter Hermetismus. Brackes' Irdisches Vergnügen in Gott im Spiegel seiner Bibliothek . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 40 Monika Neugebauer- Wölk (Halle) >Höhere Vernunft< und >höheres Wissen< als Leitbegriffe in der esoterischen Gesellschaftsbewegung. Vom Nachleben eines Renaissancekonzepts im Jahrhundert der Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 70

VI

Inhalt

Martin Mulsow (München) Vernünftige Metempsychosis. Über Monadenlehre, Esoterik und geheime Aufklärungsgesellschaften im 1 8. Jahrhundert

000000 0000000000 0000000000 000000000000 0 000000000000 0 .

Florian Maurice (München) Die Mysterien der Aufklärung. Esoterische Traditionen in der Freimaurerei?

211

0000

274

Markus Meumann (Halle) Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten: Ignaz von Born, Kar! Leonhard Reinhold und die Wiener Freimaurerloge >Zur wahren Eintracht
Nachtseite< der Spätaufklärung . . . . . .

3 64

Anne Conrad (Hamburg) >Umschwebende Geister< und aufgeklärter Alltag. Esoterik als Religiosität der Spätaufklärung

397

Manfred Engel (Hagen) I Gernot Helmreich (Erlangen) Die Aufklärung und ihr Anderes im Archiv der Schwärmerey und Aufklärung. Diskursanalytische Überlegungen zu einer Zeitschrift der Spätaufklärung

416

Cerstin Bauer-Funke (Münster) Esoterisches Gedankengut in Sades Erzählung Aventure incomprehensible et attestee par taute une province

433

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Inhalt

Anneliese Ego (Berlin) Die Revolutionierung eines Heilkonzepts: politische Implikationen des Mesmerismus

OOOOOOOO o OOO o o OOOOO o O O o o o o O O o o o o o o O o o o o o o o o o o o o o o o o OOOo o o o

VII

442

Jochen Schiabach (Saarbrücken) Theosophie und Revolution bei Saint-Martin

455

Personenregister

469

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VORWORT

Das im folgenden dokumentierte Symposium fand vom 2. bis 4. Oktober 1 997 aus Anlaß der 22. Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des 1 8. Jahrhunderts in Wolfenbüttel statt. In den Räumen der Herzog August Bibliothek trafen sich zahlreiche Interessenten und zwanzig Referenten aus acht Disziplinen (Geschichte, Wissenschaftsgeschichte, Religionswissenschaft, Judaistik, Ägyptolo­ gie, Philosophie, Germanistik und Romanistik), um über das schwierige und bis heute weitgehend unbestimmte Verhältnis von >Aufklärung und Esoterik< zu debat­ tieren. Die Herausgeberin hofft, daß es damit gelungen ist, die Akzeptanzbarriere zu durchbrechen, die bisher einer ernsthaften wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit den esoterischen Einflüssen in der aufgeklärten Bewegung des 1 8 . Jahrhunderts entgegenstand. Finanziert wurde die Begegnung schwerpunktmäßig von der Fritz Thyssen Stiftung, ergänzend von der Deutschen Forschungsgemeinschaft Beiden Einrichtungen sei auch an dieser Stelle noch einmal für dieses Engagement gedankt. Von den neunzehn während der Tagung gehaltenen Vorträgen finden sich acht­ zehn im vorliegenden Band dokumentiert, ein weiterer Beitrag - von Cerstin Bauer­ Funke/Münster - ist hinzugekommen. Den Referenten bzw. Verfassern der folgenden Studien ist zu danken für das große Engagement, mit dem sie ihre Vortragstexte für den Druck überarbeitet und mit Anmerkungen versehen haben. Redaktion und Herstellung der Druckvorlage lag nächst der Herausgeberin in den Händen von Dr. Holger Zaunstöck, Wissenschaftlichem Mitarbeiter am Institut für Geschichte der Universität Halle-Wittenberg. Ihm oblag auch die Anfertigung des Registers. Unterstützt wurde er bei allen Arbeitsvorgängen von Marius Gerhardt und Dirich Herrmann. Daß der Band so vergleichsweise rasch erscheinen konnte, lag an diesem gut funktionierenden Team - vor allem aber auch am Engagement des Verla­ ges. Die Herausgeberin kann nur hoffen, daß das Interesse des Publikums und der wissenschaftliche Ertrag des Bandes diesen Einsatz aller Beteiligten rechtfertigen werden. Halle im April 1 999

Monika Neugebauer-Wölk

Monika Neugebauer- Wölk (Halle) Esoterik im 18. Jahrhundert- Aufklärung und Esoterik. Eine Einleitung

Am Rande des letzten Internationalen Kongresses der Aufklärungsforscher 1 995 in Münster hat Harro Zimmermann mit Robert Darnton, Jean Mondot und Werner Schneiders ein Gespräch geführt zum Thema >Aufklärung und Aufklärungsfor­ schung < . 1 Zimmermann hat dabei eine bemerkenswerte Feststellung formuliert, der er eine Frage anschloß. Beides lautete: »Wenn wir uns anschauen, was die Aufklärungs­ forschung nach dem Zweiten Weltkrieg geleistet hat, so ist das erstaunlich. Wir wis­ sen heute sehr viel über die Geschichte der Menschen- und Freiheitsrechte, wir wis­ sen viel über die Ideale der Vergesellschaftung, über Toleranz, wir kennen die Strukturen der modernen Öffentlichkeit, der staatlichen Entwicklung, die frühe Na­ tionalstaatsentwicklung usw. Die Frage ist, ob sich mittlerweile nicht so etwas wie eine bloß zirkuläre und teilweise additive Forschung daraus ergibt. Die wichtigsten Paradigmen liegen fest, alles andere bewegt sich immer wieder in diesem Umkreis.«2 Darnton hat dem engagiert und deutlich widersprochen: Aufklärungsforschung erwei­ tere sich ständig, finde immer neue Themen. 3 Dem ist sicher zuzustimmen, aber vielleicht sollte man sich doch die Frage stellen, wieso der Eindruck von Stagnation bei einem aufmerksamen Beobachter der einschlägigen Forschungslandschaft über­ haupt entstehen kann? Eine Antwort darauf wäre vielleicht dort zu suchen, wo es nicht um einzelne Themen geht, sondern um das Grundkonzept dessen, was Aufklä­ rungsforschung leitet, was mithin auch ihre Themensuche bestimmt, um die Grund­ struktur also unseres Begriffes von Aufklärung. Vielleicht ist es nicht so falsch zu behaupten, daß sich dieses Grundkonzept - vor allem in der deutschen Forschung kaum verändert hat und daher in der Tat einen relativ gleichbleibenden Rahmen dar­ stellt, innerhalb dessen sich die Erschließung neuer Themen bewegt. Dieses Ver­ ständnis orientiert sich weitgehend an der berühmten Definition Immanuel Kants von 1784: »Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbst verschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Lei­ tung eines anderen zu bedienen«;4 es ist die paradigmatisch gültige Formulierung I

Harro Zimmermann: Robert Darnton, Jean Mondot und Werner Schneiders im Gespräch über Aufklärung und Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft fiir die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 20 ( 1 996), S. 1 3 7- 1 49. 2 A.a.O., S . 141 f. 3 A.a.O., S. 1 42 . 4 Immanue1 Kant: Beantwortung der Frage: Was i s t Aufklärung?, i n : Kant, Erhard, Hamann, Her­ der, Lessing, Mendelssohn, Riem, Schiller, Wieland: Was ist Aufklärung? Thesen und Definitionen, hg. v. Ehrhard Bahr, Stuttgart 1 978, S. 9.

2

Monika Neugebauer-Wölk

schlechthin, die die Aufklärungsforschung geradezu leitmotivisch durchzieht. Das Problem dabei ist, daß der Kantsche Entwurf eigenständigen und unabhängigen Den­ kens am Ende der Aufklärung als historischer Epoche steht, mithin das Ergebnis ihrer Entwicklung ist, nicht diese Entwicklung selbst. Das Verständnis aufgeklärten Den­ kens in der Auffassung Kants ist grundlegend fur das Denken der Modeme, nicht fur das des 1 8. Jahrhunderts. Als die Herausgeberirr zu der im folgenden dokumentierten Tagung einlud,5 war es ihre Intention, die Frage zur Debatte zu stellen, ob es spezifische Denkweisen im Prozeß der Aufklärung gibt, die sich insofern nicht restlos in das Bild vom Selbst­ denken einpassen lassen, als sie nach wie vor voraussetzen, daß sich die Wahrheit über Wesen und Schicksal von Mensch und Kosmos aus möglichst alten Quellen schöpfen läßt, aus den Autoritäten der Weisheitstradition? Das heißt: Könnte es sich um eine sinnvolle Erweiterung der Perspektive von Aufklärungsforschung handeln, wenn man nach der Beziehung zwischen Aufklärung und Esoterik fragt? Denn Eso­ terik ist der Inbegriff des Wissensgewinns aus Tradition, steht in deutlichem Gegen­ satz zum Konzept des Selbstdenkens. Aber keineswegs nur dazu, denn das > Selbstdenken< wird ja nicht neutral und unbestimmt gedacht. Damit es als solches anerkannt wird, hat es bestimmten Denkregeln zu folgen, die mit dem zweiten Grundbegriff von >Aufklärung< zusammenhängen, dem der Vernunft. Was >Ver­ nunft< ist, weiß j eder, und auch das diesem Begriff zugrundeliegende Verständnis geht im wesentlichen auf die Philosophie Kants zurück, auf seine Erkenntniskritik. Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man sie in der Grundaussage zusammenfaßt, daß der Mensch sein Erkenntnisvermögen übersteigt, wenn er versucht, sich Fragen nach dem Transzendenten denkend zu nähern, Antworten mit absolutem Wahrheits­ gehalt zu geben. Genau dies aber tut Esoterik. Der Esoteriker zieht nicht die Grenzen des modernen Wissenschaftlers zwischen dem Rationalen und dem Irrationalen. Für ihn wird Erkenntnis erst da überhaupt wertvoll und eigentlich, wo sie das Transzen­ dente, die Sphäre Gottes und der Engel, einbezieht. Die Frage stellt sich also in bezug auf das 1 8 . Jahrhundert folgendermaßen: Gibt es im Zeitalter der Aufklärung bereits dieselbe klare Trennung zwischen Rationalität und Irrationalität, zwischen Vernunft und Esoterik, wie dies seit dem 1 9. Jahrhundert der Fall ist? Laufen die esoterischen Bewegungen des 1 8 . Jahrhunderts so deutlich getrennt neben dem legitimen Denkstil einher wie in der Modeme? Oder gibt es in diesem letzten Säkulum der Frühen Neu­ zeit Verbindungen zwischen Aufklärung und Esoterik? Gibt es im 1 8. Jahrhundert noch eine besondere Struktur des Rationalen? Die folgenden neunzehn Beiträge zum Thema stellen sich diesen Fragen aus unterschiedlicher Perspektive und mit unter-

s Vgl. die Ankündigung: Monika Neugebauer-Wölk: Aufklärung und Esoterik. Internationale Fachkonferenz in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel vom 2. bis 4. Oktober 1 997, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehn­ ten Jahrhunderts 2 1 ( 1 997), S. 9- 1 1 .

Einleitung

3

schiedlichen Ergebnissen. Der Leser wird keine abschließenden Antworten finden, aber die Debatte wird hier eröffnet.

Esoterik im Bezugsfeld der Frühen Neuzeit Die vergleichende Untersuchung von Aufklärung und Esoterik richtet sich auf ver­ gleichbar große empirische Forschungsfelder, bewegt sich aber nicht im Rahmen gleicher wissenschaftshistorischer Voraussetzungen. Einer hochdifferenzierten in­ terdisziplinären Aufklärungsforschung steht eine wissenschaftliche Esoterikfor­ schung gegenüber, die sich gerade erst auf breiterer Basis zu formieren beginnt. Schwerpunktmäßig geschieht dies im Rahmen von Religionswissenschaft und Reli­ gionsgeschichte, und an erster Stelle ist die >Ecole pratique des hautes etudes< in Pa­ ris mit ihrer Sektion Religionswissenschaften zu nennen, die bereits 1 965 den wohl weltweit ersten und bis heute einzigen Lehrstuhl für die Geschichte der Esoterik ein­ gerichtet hat. Zunächst noch auf die >christliche Esoterik< bezogen, wurde der Begriff aus der Einbindung in die offizielle europäische Religion emanzipiert, als Antoine Faivre 1 979 diese Position übernahm; die Denomination lautete seitdem »Histoire des courants esoteriques et mystiques dans l'Europe moderne et contemporaine«.6 Eine vergleichbare akademische Institutionalisierung gibt es in anderen Ländern nicht, wohl aber ist hinzuweisen auf die Gründung der >Group Esotericism and Pe­ rennialism< innerhalb der >American Academy of Religion< im Jahre 1 9867 und auf das Engagement Wouter J. Hanegraaffs, eines Religionshistorikers an der Theologi­ schen Fakultät der Universität Utrecht.8 Hanegraaff und Faivre sind gegenwärtig dar­ um bemüht, auch für das Thema >Esoterik< eine Art interdisziplinäres Netzwerk in­ teressierter Wissenschaftler aufzubauen.9 So könnten vielleicht in nicht allzu ferner Zeit ähnliche Strukturen der Esoterikforschung und eine ähnliche Dichte an ein­ schlägiger Literatur entstehen, wie sie mit der >Internationalen Gesellschaft für die Erforschung des 1 8. Jahrhunderts< und den nationalen Verbindungen und auch dank deren Arbeit für die Aufklärungsforschung bereits existieren. Für den Moment müs­ sen wir uns allerdings noch mit einem deutlich unterschiedlichen Forschungsertrag begnügen. 6 Vgl. zum Voraufgehenden das Vorwort zu Antoine Faivre: Acces de l 'esoterisme occidental, Bd. I, Paris 1 986, Neuauflage Paris 1 996, S. 10 f. Faivre gibt seit 1 985 zusammen mit Pierre Deg­ haye und Roland Edighoffer die Zeitschrift A. R. I. E. S. heraus (Association pour Ia recherche et l ' information sur l'esoterisme. Revue semestrielle). 7 Dazu Antoine Faivre/Karen Claire Voss: Western Esotericism and the Science of Religions, in: Numen. International Review of the History of Religions 42 ( 1 995), S . 48-77, hier S . 59 u. 75 f. s Vgl. das Standardwerk von Wouter J. Hanegraaff: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought (Studies in the History of Religions 72), Leiden!New York/Köln 1 996. 9 Rundschreiben Faivre/Hanegraaff vom 1 5 . Apri1 1 998.

4

Monika Neugebauer-Wölk

Die nach dem gegenwärtigen Stand zu beobachtende besondere Verortung der wissenschaftlichen Erfassung esoterischer Strömungen in der Religionswissenschaft legt die Annahme nahe, Esoterik sei eine Religion. Dies ist j edoch keineswegs so eindeutig, wie man vielleicht glauben möchte. Zumindest ist Esoterik keine Religion im klassischen Sinne der Hochreligionen, identifizierbar an Dogmen- und Kirchen­ bildung. Es fehlt auch ein verbindlicher heiliger Text, wie ihn Altes und Neues Te­ stament oder der Koran für Judentum, Christentum und Islam darstellen. Andererseits handelt es sich aber auch nicht um eine der zahlreichen Varianten >primitiver< bzw. archaischer Glaubensformen, wie sie eine religions-anthropologisch ausgerichtete Forschung in naher Verbindung mit der Völkerkunde untersucht. Esoterik liegt ir­ gendwo dazwischen, als ein Denkstil, ein Weltbild, eine informelle religiöse Kon­ zeption. Ihrer Erfassung kommt die Tatsache zugute, daß der Religionswissenschaft ihr Gegenstand selbst zunehmend problematisch wird, bzw. daß er eine starke Aus­ weitung erfährt, ein Prozeß, der auch als Schwierigkeit wahrgenommen werden kann, Religion überhaupt zu definieren: »The problems of defining >esotericism< are simili­ ar to the well-known problems of defining >religion«Religion< zunehmend die klaren Konturen eines institutionalisierten und deutlich nach außen abgegrenzten theologi­ schen Systems (oder ethnologisch zuzuordnenden kulturellen Rasters) und löst sich in den weiten Bereich von Sinngebung auf - >Sinn< allerdings, der Bezüge zum Transzendenten behalten muß. Der Beitrag von Anne Conrad in diesem Band über die Religiosität der Spätaufklärung baut bereits systematisch auf einem solchen ge­ wandelten Begriff von >Religion< auf. 1 1 Folgt man dem, so ergibt sich diesbezüglich für das Verständnis der europäischen Geschichte ein Paradigmenwechsel, den man als >Entdeckung der Vielfalt< bezeichnen könnte. Wegbereitend für diese Öffnung der Perspektive war der Tübinger Religionswissenschaftler Burkhard Gladigow, der 1 993 auf einer Tagung der >Deutschen Vereinigung für Religionsgeschichte< erstmals sein alternatives Modell einer >Europäischen Religionsgeschichte< vorstellte: 12 »Gegenüber den [ . . . ] älteren Ansätzen - Europäische Religionsgeschichte als Ge­ schichte der positiven Religionen oder als christliche Kirchengeschichte - soll in der hier vertretenen Konzeption einer Europäischen Religionsgeschichte das Ge­ samtspektrum an religiösen Orientierungen den Darstellungsrahmen abgeben. Das bedeutet, daß nicht nur die >positiven ReligionenEsoterik< - so Hubert Cancik im Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe »verschiedenartiges Sonderwissen für wenige Insider« versteht, »dessen Erwerb oder Gebrauch beschränkt ist«,3 dann ist die von Ficino und seinen Nachfolgern entworfene Philosophie wohl als >esoterisch< zu klassifizieren. Tat­ sächlich stellt die von Florenz ausgehende Philosophie einen Stimulus dar, der wir­ kungs- bzw. rezeptionsgeschichtlich bis in die neuere Esoterik hineinreicht. -

1.

Voraufklärerische Traditionen im

1 8.

Jahrhundert

a) Die geheimnisvolle Aura, die den Namen >Zoroaster< auch heute noch umgibt (und die zumindest teilweise das Ergebnis mangelnder religionshistorischer Aufklärung auch des gebildeten Publikums darstellt), hat sich allerdings nicht erst mit den Schriften Ficinos in Europa durchgesetzt. Ganz im Gegenteil: Ficino selbst knüpft gelegentlich an ältere Traditionen an. So verwendet er etwa eine bis ins 3 . Jahrhun­ dert u.Z. zurückreichende Datierung Zoroasters, die während des gesamten MittelalI Voltaire: Dictionnaire philosophique IV (= ffiuvres compli:tes de Voltaire 20), hg. von Louis Emile Dieudonne Moland, Paris 1 879, Nachdruck Nendeln/Liechtenstein 1 967, S. 620. Für einige kritische Anmerkungen möchte ich an dieser Stelle meinem Freund Michael Dobstadt (Bonn) dan­ ken. 2 Für Zoroaster vgl. Michael Stausberg: Faszination Zarathushtra. Zoroaster und die Europäische Religionsgeschichte der Frühen Neuzeit (= Religionsgeschichtliche Versuche und Vorarbeiten 42), Berlin/New York 1 998, S. 1 93-393. 3 Hubert Cancik: [Artikel:] >EsoterikMassen< draußen [ . . . ] bzw. drunten zu schwierig oder fur die droben gefährlich wäre.«

1 18

Michael Stausberg

ters wiederholt und variiert wird. Diese Datierung ist insofern rezeptionsgeschichtlich bedeutsam, als sie Zoroaster in ein mythisch-archaisches Zeitalter rückt: Zoroaster wird hier mit Kusch, Mizraj im, Kanaan, Nimrod oder Harn identifiziert. Zoroaster gehört damit in die erste oder zweite Generation nach Noah. Die Vermutung er­ scheint mir nicht abwegig, daß diese Datierung Zoroasters in die Zeit vor der Sintflut - zum Vergleich: Hermes Trismegistos gilt seit Augustinus als ein jüngerer Zeitge­ nosse Moses' und gehört somit in nachsintflutliehe Zeiten - das Interesse europäi­ scher Gelehrter an Zoroaster stimuliert hat. Die genealogische Assimilierung Zoroa­ sters an die christliche Geschichtsmythologie macht ihn zugleich zu einem festen Bestandteil der europäischen historischen Überlieferung des Mittelalters. Erst im 1 6 . und vor allem i m 1 7 . Jahrhundert wurden kritische Stimmen laut, die die historische Zuverlässigkeit dieser Datierung in Frage stellten. Sie wird allerdings gelegentlich auch noch im 1 8. Jahrhundert vertreten, und zwar gerade bei Autoren, die der Auf­ klärung eher fern stehen. So findet sie sich etwa in einer 1 783 erschienenen Schrift von Etteilla, einem der größten Magier des 1 8 . Jahrhunderts, der das Tarot als Di­ vinationstechnik etabliert hat.4 Auf eine andere Variante komme ich unten [4.e.] noch zurück. b) Schon die älteste und gängigste griechische Namensform des iranischen Perso­ nennamens ,zara8ustraZöroastresSternlebender Stern< (vivum sidus), eine gewisse Verbreitung. Anklang fand im 1 8. Jahrhundert eine weitere Astro-Etymologie, nämlich Samuel Bocharts Deutung des Namens als >Betrachter der Sterne< (astrorum contemplator).6

4 Vgl. Etteilla: Maniere de se recreer avec Je jeu des cartes nommees tarots: »Mercure, redacteur de cet ouvrage, est Je quatrieme descendant de Zoroastre (I ' E criture Je nomme Cham)«, zit. nach E lolse Mozzani: Magie et superstitions de Ia fin de I' Ancien Regime a Ia Restauration, Paris 1 988, S. 70. Etteillas Quelle ist hier vermutlich Athanasius Kircher. Zur Zoroaster-Rezeption Etteillas vgl. auch >Le zodiaque mysterieux ou Les oracles d' EtteillaDualismus< : Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 2, Basel/Stuttgart ( 1 972), Sp . 297-299. 20 Hyde: Historia religionis veterum Persarum (Anm. 1 3), S. 25-26; vgl. S. 1 6 1 f. Zu den Duali­ stae: S. 20.

1 23

Zoroaster im 1 8. Jahrhundert

den Namen und das Zeitalter Zoroasters sowie die ihm zugeschriebenen Chaldä­ ischen Orakel vorgelegt.21 Tatsächlich war Hydes Monographie der Auftakt zu einer gelehrten Debatte über die religionsgeschichtliche Einordnung des Zoroastrismus, die sich durch das ganze 1 8. Jahrhundert zog. Affirmative und kritische Haltungen wechselten einander ab. Die Grundposition Hydes blieb also keineswegs unangefochten. Auf der Materialgrundlage der Historia wurde die dezidierteste Gegenposition zu Hyde von dem orientalistisch geschulten Geistlichen Humphrey Prideaux vertreten, der in Zoroaster zwar einen bedeutenden Mathematiker und Philosophen, aber zu­ gleich auch den größten Betrüger der Menschheitsgeschichte sah. Prideauxs Kritik ist aber nur an der Oberfläche gegen Zoroaster gerichtet: Ihr pragmatischer Appell wen­ det sich gegen den Deismus.22 d) Hyde hatte dem europäischen Publikum zwar erstmals einen zoroastrischen Originaltext zur Verfugung gestellt, dabei aber zugleich unterstrichen, daß sich die wahren Originalschriften Zara8ustras noch im Orient befanden und gewissermaßen nur darauf warteten, nach Europa gebracht und übersetzt zu werden. Hyde bekundete, diese Aufgabe gerne zu übernehmen, falls sich ein Gönner bereit fande, die dabei entstehenden Kosten (nicht zuletzt der Manuskriptbeschaffung) zu tragen.23 Hydes Historia ist gewissermaßen eine Werbeschrift fiir dieses Proj ekt, dessen Verwirk­ lichung nicht zuletzt nähere Aufschlüsse über Zoroasters Messiasprophezeiung in Aussicht stellte. Hydes Hoffnungen sollten sich j edoch nicht erfüllen. Es gelangten zwar einige weitere zoroastrische Manuskripte nach Europa, deren philologische Erschließung aber keine Fortschritte machte. Das sollte sich allerdings ändern, als man dem 22jährigen Theologiestudenten Abraham-Hyacinthe Anquetil Duperron in der Kö­ niglichen Bibliothek zu Paris im Jahre 1 754 die Abschrift eines Manuskripts in unbe­ kannter Schrift und Sprache zeigte, das sich seit 1 723 in der Oxforder Bodleian be­ fand und angeblich einen Text Zoroasters enthielt. Nach eigenen Angaben beschloß Anquetil umgehend, die Schriften Zoroasters zu erforschen. Anquetil erkannte, daß dieses Unternehmen nur dann zu verwirklichen wäre, wenn er selbst in den Orient reiste, um dort nicht nur die entsprechenden Texte zu erwerben, sondern auch die Kompetenz, sie zu dechiffrieren. Noch im gleichen Jahre verließ Anquetil Frankreich in Richtung Indien, wo er sich insgesamt fast sieben Jahre lang aufhielt. Knapp

21 Dissertatio historico-philologica prima [ . . . ] de nomine et vita Zoroastris. Praeside M. Henrico Gottlieb Schneidero, Halberstad. Saxon. Publicae disquisitiomi exponit Joannes David Mulertus Burgkemnizensis Saxo, SS Theolog. Stud. H. L. Q. C. Ad D. XVI. April 1 707; [ . . ] De JEtate et Magia Zoroastris [ . . . ] Michael Wippertus, Camminensis Pommeranus, S. S. Theolog. Stud. H. L. Q. C. Ad D. XXIX. Sept. 1 707: [ . . . ] De Oraculis Zoroastris [ . . . ] Georgius Rudolphus Habbe, Bremen­ sis, S. S. Theol. Stud. H. L. Q. C. Ad D. XXV. Januar 1 708, Wittenberg. 22 Zu Prideaux vgl. Stausberg: Faszination Zarathushtra (Anm. 2), Bd. 2, S. 740-756. 23 Vgl. Hyde: Historia religionis veterum Persarum (Anm. 1 3), S. 25. .

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Michael Stausberg

zwei Jahre verbrachte er in der westindischen Handelsmetropole Surat, einem der damaligen Siedlungszentren der indischen Zoroastrier, wo er in den Besitz zahlrei­ cher zoroastrischer Manuskripte gelangte und von einem zoroastrischen Priester so­ gar Unterricht in den alten Sprachen und der religiösen Literatur der Zoroastrier er­ hielt. Das Verhältnis des Franzosen zu seinen Informanten war allerdings alles andere als problemlos. Anquetil war offenbar davon überzeugt, daß es seine legitime Aufga­ be sei, die >Geheimnisse< des Zoroastrismus zu ergründen. Das ging soweit, daß er unaufgefordert religiöse Anlagen besichtigte, die Nicht-Zoroastriern ansonsten unzu­ gänglich waren.24 Nach seiner Rückkehr aus Indien bereitete Anquetil die Publikation der französi­ schen Übersetzung der zoroastrischen Texte vor, die schließlich unter dem Titel Zend-Avesta. Ouvrage de Zoroastre im Jahre 1 7 7 1 in Paris erschienen sind. Mit Anquetils Zend-Avesta lagen dem europäischen Publikum die wichtigsten zoro­ astrischen Originalschriften in einer französischen Übersetzung vor, die zwar fehler haft und unbefriedigend war, den Lesern aber doch eine gewisse Einsicht in die reli­ giöse Welt des Zoroastrismus ermöglichte. Diese Welt hatte allerdings nicht allzu viel mit dem zu tun, was man sich in Europa unter den Schriften Zoroasters vorge­ stellt hatte. Es sollte allerdings einige Zeit dauern, bis die Authentizität der von Anquetil im­ portierten Texte bzw. ihre Übersetzung allgemein anerkannt wurde. Ein Pamphlet des aufstrebenden Orientalisten William Jones unterminierte in England nachhaltig die Reputation Anquetils und die Relevanz der von ihm übersetzten Texte. In Deutsch­ land waren die Reaktionen geteilt: Während sich Christoph Meiners ( 1 74 7-1 8 1 0) in seiner zwischen 1 777 und 1 779 publizierten Abhandlung De Zoroastris vita, institu­ tionis, doctrina et libris gegen die Authentizität der von Anquetil übersetzten Texte aussprach, wurde Anquetils Zend-Avesta von Johann Friedrich Kleuker schon in den Jahren 1 776/77 ins Deutsche übersetzt. Kleuker verteidigte sowohl die Person An­ quetil als auch die Echtheit der von ihm übersetzten Texte. Einer der größten Bewunderer Anquetils war Johann Gottfried Herder ( 1 7441 803). Schon in Herders unveröffentlichter Schrift Johannes aus den Jahren 1 773/74 findet sich eine enthusiastische Darstellung von Anquetils Indienexpedition. 25 Die i/teste Urkunde des Menschengeschlechts aus dem Jahre 1 774 räumt der Religion Zoroasters als der vermutlich ältesten und sicherlich reinsten Religion eine große Bedeutung ein,26 und im Jahre 1 775 hat Herder Erläuterungen zum Neuen Testament 24 Zum Ganzen vgl. Michael Stausberg: »mais je passai outre« oder: Zur Frühgeschichte des >Orientalismus< . Abraham-Hyacinthe Anquetil Duperron und die Zoroastrier in Sürat ( 1 758-1 760), in: Ternenos (voraussichtlich 1 999). 2s Vgl. Herders Sämtliche Werke, hg. von Bemhard Suphan, Bd. 7, Berlin 1 8 84, S . 3 1 3-334, hier S. 3 1 6 f. 26 Vgl. dazu auch Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkulari­ sierungsprozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung (= Studien zur deutschen Literatur 64), Bd. 1 , Tübingen 1 98 1 , z.B. S. 1 08-1 1 1 .

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aus einer neueröffneten Morgenländischen Quelle, nämlich dem Zend-A vesta, vor­ gelegt.2 7 e) Die drei zuletztgenannten Personen - Meiners, Kleuker und Herder - wurden später Mitglieder des 1 776 von Adam Weishaupt gegründeten Illuminatenordens. Dieser Zusammenhang ist insofern von einer gewissen Bedeutung, als sich die Illu­ minaten bestimmter iranischer bzw. zoroastrischer Elemente bedienten: Wie in Iran feierten sie am 2 1 . März, zur Frühjahrstagundnachtgleiche, Neujahr, sie verwendeten persische Monatsnamen und maßen dem Feuer offenbar nach zoroastrischem Vorbild eine besondere Bedeutung bei.28 ,zoroaster< fand überdies als Ordensname Verwen­ dung. Das ist jedoch eher als Episode anzusehen, denn der Namensträger, ein Klo­ sterrichter Bajerhammer aus Diessen, hieß später •ConfuciusJournal flir FreymaurerBrama< liebe.39 In seiner ganzen Ambivalenz und Kreativität artiku­ liert sich Voltaires Umgang mit Zeroaster und dem Zoroastrismus in Memnon. Hi­ stoire orientale aus dem Jahre 1 747, deren zweite, um drei Kapitel erweiterte Ausga­ be aus dem Jahre 1 748 den uns heute geläufigen Titel Zadig ou Ia Destinee. Histoire orientale trägt. Neben dem Gebrauch des Namens >Zoroaster< enthält der Zadig meh­ rere Referenzen auf den Zoroastrismus: Einige Male ist vom Buch Zend die Rede; der Name >Ürosmade< (mittelpersisch >Ührmazdmages< genannt; man veranstaltet ein Fest zu Ehren des heiligen Feuers; einmal wird die eschatologische Brücke des >Cinwad< erwähnt; hinter dem Namen >Arimaze>tous ces grands prophetes«) wie Zoroaster, Hermes Trismegistos, Abaris, Numa etc. kämen auf die Erde zurück und man veranstaltete einen öffentlichen Disput die­ ser Propheten mit Locke, Newton, Bacon, Shaftesbury, Pascal, Amauld und Bayle oder sogar mit weniger gelehrten Philosophen der Gegenwart, was wäre das Ergeb­ nis? Für Voltaire herrscht kein Zweifel: ))J' en demande pardon a l ' antiquite, mais j e crois qu' ils feraient une triste figure. «52 D i e großen Propheten des Altertums erschei­ nen bei Voltaire plötzlich als ))pauvres charlatans«,53 denen es vermutlich nicht ein­ mal gelänge, am Pont-Neuf »ihre Drogen« zu verkaufen ! Diese und einige andere Stellen sind deshalb rezeptionsgeschichtlich von Bedeutung, weil sie die Idee des wissenschaftlichen und zivilisatorischen Fortschritts gegen die Annahme einer ural­ ten, > fremden< , orientalischen Weisheit ausspielen, die dem Interesse an Zoroaster, Hermes Trismegistos, Orpheus, Platon und anderen Weisheitslehrern seit der Renais­ sance so starken Auftrieb gegeben hatte54 - eine Tradition übrigens, die im 1 8. Jahr­ hundert durchaus noch Anhänger fand und bekanntlich auch heutzutage noch Kredit findet. d) Voltaire war natürlich nicht der einzige (französische) Aufklärer, der in seinen Schriften auf Zoroaster rekurriert. Man könnte auch Autoren vom Kaliber eines Montesquieu, Rousseau oder Diderot anfügen. 55 Interessant sind auch weniger bedeu­ tende Figuren wie ein gewisser Guillaume Alexandre de Mehegan ( 1 725- 1 7 6 6 ) , des­ sen im Jahre 1 75 1 anonym publiziertes Büchlein Zoroastre, histoire traduite du chaldeen ftir viel Aufsehen sorgte. Die Zoroastrier werden hier als eine Religionsge­ meinschaft porträtiert, die das Ideal der >natürlichen Religion< inkamiere. Zoroaster wird bei Mehegan zum Inbegriff des vollkommenen Königs und Philosophen stili­ siert, der die Ideale der Aufklärung verkörpert. Der Zoroaster-Mythos wird hier ein Teil der Mythologie der Aufklärung. Der aufklärerische Abbe mußte für seine Ideen allerdings büßen. Nicht allzu lange nach der Publikation der Schrift, als deren Autor er bald entlarvt wurde, landete Mehegan in der Bastille, wo er unter zum Teil elenden Bedingungen circa anderthalb Jahre vegetieren mußte. Die Haft sollte ihre Wirkung nicht verfehlen: Nach seiner Entlassung hatte Abbe Mehegan offenbar keine >philosophischen< Ambitionen mehr. 56 52 A.a.O., S. 6 1 9. 53 Ebd. 54 Vgl. Amaldo Momigliano: Alien Wisdom. The Limits of Hellenization, Cambridge 1 975; Don Cameron Allen: Mysteriously Meant. The Rediscovery ofPagan Symbolism and Allegorical Interpre­ tation in the Renaissance, Baltimore/London 1 970; Daniel P. Walker: The Ancient Theology. Studies in Christian Platonism from the Fifteenth to the Eighteenth Century, London 1 972; Stausberg: Faszi­ nation Zarathushtra (Anm. 2), Bd. I , Abschnitt B . ss Z u Montesquieu vgl. Stausberg: Faszination Zarathushtra (Anm. 2 ) , B d . 2, S. 8 2 1 f. , 887, 929 f. Zu Rousseau vgl. S. 822 und zu Diderot S . 82 1 -83 1 . In der deutschen Aufklärung scheint Zeroaster hingegen kaum Interesse erregt zu haben. 5 6 Zur Episode und zum Text vgl. Stausberg: Faszination Zarathushtra (Anm. 2), Bd. 2, S. 884894.

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e) Ein anderes interessantes Medium der Rezeption und Inszenierung von Prota­ gonisten außerchristlicher Religionen war nicht nur im 1 8. Jahrhundert die Oper. Auch hier stößt man gelegentlich auf Zoroaster, so im Titel Zoroastre bereits bei Jean-Louis de Cahusac ( 1 706- 1 759) und Jean-Philippe Rameau ( 1 683-1 764). Cahu­ sac und Rameau operieren mit einer dualistischen Struktur - der Dualismus ist hier aber nicht zoroastrisch konzipiert, sondern um den Gegensatz von Liebe und Haß aufgebaut -, in der Zoroaster der irdische Repräsentant der Mächte des Guten ist. Er verkörpert das Prinzip der Liebe, sein Kult ist ein Kult der Liebe und sein Gott ein Gott der Liebe. Er singt eine Hymne an die Sonne und das Licht, erfreut sich des Beistands der Friedensgeister und der Geister der verschiedenen Elemente. Furchtlos trotzt Zoroaster dem dunklen Tyrannen ebenso wie dem drohenden Tode. Zoroaster steht in der Oper, deren Libretto übrigens fur eine Dresdener Auffuh­ rung im Jahre 1 752 von Giovanni Giacomo Casanova ins Italienische übersetzt wur­ de, fur den Kampf gegen eine tyrannische Herrschaft, die das Volk unterdrückt, und propagiert das Ideal einer Königsherrschaft der Liebe. Als Mythos veranschaulicht der Zoroastre die Ohnmacht der schwarzen Magie gegenüber einem >Kult der Liebe< . Die Abenteuer des verliebten Zoroaster fuhren dem Publikum fast i m Sinne einer mythischen Gegenwelt eine erstaunlich moralische und erhabene Religion vor Au­ gen, die zahlreiche theologische Affinitäten zum Christentum aufweist und gleicher­ maßen dem stark ethisch konnotierten Ideal einer natürlichen Religion genügt. Als Kampf des Lichts gegen die Mächte der Finsternis thematisiert der Zoroastre bzw. Zoroaster gewissermaßen das politisch-religiöse Programm der Aufklärung und auch des Freimaurertums. 57 -

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4. Apologetik, Politik, Alchemie und Pseudo-Aujklärung Die zuletzt genannten Werke könnten den Eindruck erwecken, als sei der Zoroaster­ Diskurs des 1 8 . Jahrhunderts eine exklusive Angelegenheit der Deisten oder Aufklä­ rer gewesen. Dieser Eindruck aber ist trügerisch. Der Rückgriff auf Zoroaster stand prinzipiell allen Parteien offen. a) Die traditionelle Form der apologetischen Auseinandersetzung mit Zoroaster bestünde wohl darin, sich der klassischen Ausgrenzungsstrategien zu bedienen und Zoroaster exemplarisch dem Bereich des religiösen Anderen zuzuordnen, ihn als Pseudo- oder falschen Propheten und seine Religion z.B. der Magie, der Idolatrie, der Feuerverehrung oder des Polytheismus zu verdächtigen. Es gab aber natürlich auch raffiniertere Varianten des apologetischen Diskurses, in denen Zoroaster eine Rolle spielt. Hier wären etwa die erstmals 1 727 publizierten Voyages de Cyrus zu nennen, ein erfolgreicher Bildungsroman des durch den Einfluß

57 Näheres a.a.O., S. 873-884.

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von Madame Guyon ( 1 648- 1 7 1 7) und Fenelon ( 1 6 5 1 - 1 7 1 5) zum Katholizismus be­ kehrten Schotten Andrew Michael Ramsay ( 1 686-1 743). In den Voyages werden dem Leben und der Lehre Zoroasters zwar eine exemplarische und auch positive Be­ deutung zugemessen; die durch die Figur des Zoroaster repräsentierte Art der Religiosität wird aber zugleich nur als ein Übergangsstadium konstruiert. Die von Ramsay mit zahlreichen Elementen der seinerzeit jüngsten naturwissenschaftlichen Theoreme eines Boerhaave, Rayle oder Newton verzierte deistische Lehre, die er Zoroaster in den Mund legt, soll in der Idealbiographie des Kyros die Funktion erfül­ len, den Atheisten von der Existenz einer höchsten Gottheit zu überzeugen. Ramsays Kyros muß auf Grund von Zoroasters Lehren erkennen, daß die Geringschätzung der Religion nur ein Resultat der Unwissenheit sein könne. Der Höhepunkt des Romans aber ist ein Besuch, den der Perserkönig Kyros dem Propheten Daniel in Babylon abstattet. Ramsay berichtet, Cyrus habe durch diesen Besuch gelernt, daß die »lumieres« eines Zoroasters, Hermes Trismegistos, Orpheus oder Pythagoras nur unvollkommene Spuren und Strahlen einer Wahrheit seien, die aus der Tradition der Juden hervorgegangen seien. 58 b) Mit den Hinweisen auf Astrologie und Magie habe ich eingangs bereits zu zei­ gen versucht, daß sich die Zoroaster-Rezeption des 1 8. Jahrhunderts nicht nur im Kontext des Diskurses über Religion oder Philosophie abspielte. Über die genannten hinaus sei hier noch auf zwei weitere Bereiche hingewiesen: Alchemie und Politik. Beide Wege fuhren nach Deutschland. c) Wer im Katalog der Herzog August-Bibliothek unter dem Personennamen >Zoroaster< nachschlägt, wird u.a. auf folgenden ohne Nennung des Ortes im Jahre 1 74 1 erschienenen Titel stoßen, der hier ohne weitere Kommentare angeführt sei: Der Preußische Wahrsager, das ist: Bruder Hermann 's von Lehnin wundersahme Prophezeyungen von den Regenten des Kurforstlichen Hauses Brandenburg und Königreichs Preussen und deren Besteigung des Kayserlichen Thrones; nebst ver­ schiedenen die Europäischen Staaten, sonderlich aber Pohlen, Oesterreich, Schwe­ den und Preussen betreffenden, theils rahren, theils merclcwürdigen Prognosticis. Aus geheimen Nachrichten und Urkunden sorgfliltig zusammen getragen, und der curieusen Welt zu fernerer Beurtheilung getreulich mitgelheilt von Zoroaster. Das Pseudonym >Zoroaster< wurde auch in einer erweiterten Fassung beibehalten, die im Jahre 1 742 unter dem Obertitel Der neu vermehrte Preußische Wahrsager erschienen ist. Die Gründe, die Georg Daniel Seyler, den Rektor des Gymnasiums von Elbing, dazu veranlaßten, seine Texte unter dem Pseudonym >Zoroaster< zu publizieren, sind mir leider unbekannt. 59 58 Andrew Michael Ramsay: Les Voyages de Cyrus, Amsterdam 1 732, Bd. 2, S. 1 1 4. Eingehende Analyse bei Stausberg: Faszination Zarathushtra (Anm. 2), Bd. 2, S. 838-869. 59 Zur Geschichte dieser Vatizinien: Will-Erich Peuckert: Lehninsehe Weissagung, in: Handwör­ terbuch des deutschen Aberglaubens, hg. v. Hanns Bächtold-Stäubli, Bd. 5, Berlin/Leipzig 1 93 2-33 , S . 1 0 1 9- 1 023 und die dort angefuhrte Literatur, d i e der Frage nach der Wahl des Pseudonyms nicht nachgeht; Barbara Bauer: Die Rezeption mitelalterlicher Prophezeiungen im 1 7 . und 1 8 . Jahrhundert,

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Der zweite Beleg fiir einen politischen Kontext der Zoroaster-Rezeption des 1 8 . Jahrhunderts stammt aus dem Jahre 1 776, und zwar aus England. Auch hier haben wir es mit einer anonymen Schrift zu tun, deren Autor allerdings meines Wissens bisher noch nicht identifiziert werden konnte. Der Titel lautet: The Revolutions of an Island, An Griental Fragment, Translated from the Original Manuscript of Zoroa­ ster, in Zend, by an Englishman, Who was resident many Years at Kerman in Persia. Im Unterschied zum Preußischen Wahrsager bezeugen die zur Zeit der amerikani­ schen Unabhängigkeitserklärung erschienenen Revolutions allerdings eine gewisse Kenntnis der Forschungslage zum Zoroastrismus, ja, der Autor imitiert in gewisser Weise sogar Anquetils Importstrategie der zoroastrisehen Texte, wenn er behauptet, durch einen mehrjährigen Orientaufenthalt mit der Sprache der zoroastrischen Ori­ ginaltexte vertraut zu sein. Das angeblich von einem zoroastrischen Manuskript über­ setzte >Orientalische Fragment< erweist sich allerdings als eine maskierte Abrech­ nung mit der jüngeren englischen Geschichte. In der Rahmenerzählung spielt der Autor mit der Autorität des >Gesetzgebers< Zo­ roaster: Der >GesetzgeberThe Revolutions of an Is1and ( 1 776)die Bibel< der Fratemitas Rosae Crucis Aureae63 gilt: der 1 779 in Berlin und Leipzig erschienene Compaß der Weisen von Ketmia Vere.64 Die Gold- und Rosenkreuzer weisen bekanntlich keine organisatorische Kontinui­ tät zu den älteren Rosenkreuzern auf. Nichtsdestoweniger knüpfen sie - wenn auch oberflächlich - an eine bis in die Renaissance zurückreichende Tradition neuplatoni­ scher, kabbalistischer, theo- und pansophischer, magischer und alchemistischer Ideen an. Die Gold- und Rosenkreuzer versetzten den Ursprung ihres Ordens in archaische Zeiten. Dieser Mythos wird in der Vorrede zum Compaß der Weisen ausgebreitet, in welcher - so das Titelblatt - die Geschichte dieses erlauchten Ordens, vom Anfang seiner Stiftung an deutlich und treulich vorgetragen, und die Irrthümer einiger an­ dersgearteterfranzösischer Freymaurer-Logen entdeckt werden. Diese umfangreiche Ordensgeschichte, die bei Adam selbst beginnt, ist eine Tra­ ditionsgeschichte der nachsintflutliehen Restbestände jenes ursprünglich Adam von Gott vermittelten Wissens (als dessen Erbe sich der Orden darstellte). Als wichtige Weisheitsvermittler werden Noah, Hermes Trismegistos und Abraham angesehen. Zur Zeit des Abraham »lebte Zoroaster, ein Mann, vor dem ich ausnehmende Hoch­ schätzung hege«,65 erklärt Ketmia Vere. Nicht nur bei dieser forschungsgeschichtlich inzwischen längst überholten Datierung beruft sich der Verfasser auf Ficino und Pa­ trizi, die wichtigsten Exponenten der Zoroaster-Rezeption der Renaissance.

61 Bayerische Staatsbibliothek München, Alch. 322. Ausführlicher zu diesem Text und zur Ver­ bindung Zoroasters zur Alchemie Stausberg: Faszination Zarathushtra (Anm. 2), Bd. 2, S. 947-952. 62 Zum Interesse der Rosenkreuzer für die Alchemie (ohne Hinweis auf den hier angeführten Text): Will-Erich Peuckert: Das Rosenkreutz ( Pansophie 3), mit einer Einleitung hg. von Rolf Christian Zimmermann, 2. Auflage Berlin 1 973, S. 1 48- 1 5 5 . 63 Z u den Gold- und Rosenkreuzern vgl. jetzt auch den Beitrag von Claus Priesner i n diesem Band; grundlegend Christopher Mclntosh: The Rose Cross and the Age of Reason. Eighteenth­ Century Rosicrucianism in Central Europe and ist Relationship to the Enlightenment (= Brill ' s Stu­ dies in Intellectual History 29), Leiden!New York/Köln 1 992. 64 Zu dieser Schrift: Amold Marx: Die Gold- und Rosenkreuzer. Ein Mysterienbund des ausge­ henden 1 8 . Jahrhunderts in Deutschland, in: Das Freimaurer-Museum 5 ( 1 930), S. 1 - 1 68, hier S. 1 1 2 f. und 1 5 7 f.; Kar! Richard Hermann Frick: Die Erleuchteten. Gnostisch-theosophische und alchemistisch-rosenkreuzerische Geheimgesellschaften bis zum Ende des 1 8 . Jahrhunderts. Ein Bei­ trag zur Geistesgeschichte der Neuzeit, Graz 1 973, Bd. I, S. 4 1 9-424. Es wurden unterschiedliche Auflösungen des Pseudonyms >Ketmia Vere< vorgeschlagen, z.B. Adam Michael Birkholz oder der Alchemist Jollifief, vgl. Mclntosh: The Rose Cross (Anm. 63), S. 1 24, Anm. 23. 65 Der Compaß der Weisen, von einem Mitverwandten der innem Verfassung der ächten und rechten Freymäurerey beschrieben; herausgegeben, mit Anmerkungen, einer Zueignungsschrift und Vorrede [ . . . ] von Ketmia Vere, Berlin/Leipzig 1 779, Neudruck Berlin 1 920, (Vorrede), S. 3 5 . =

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Der Compaß der Weisen hebt »des Zoroasters reine Grundsätze« hervor, die erst später von den Magern und den Platonikern ( ! ) korrumpiert worden seien, und hält es für »nicht unglaublich«, daß Zoroaster »solche aus dem Munde Abrahams empfan­ gen, und auf die erste[n] Magier gebracht«66 also an die Mager weitergegeben habe. Ketmia Vere verteidigt Zoroasters Lehre sodann gegen die Vorwürfe der Idolatrie und der Verletzung des Inzestgebots und bringt sie mit den Heiligen Drei Königen in Verbindung. Die »Verbrüderung der Magier« - ein Prototyp der Gold- und Rosen­ kreuzer mit ihren 77 Magi und dem Magi Magorum - existiere möglicherweise heut­ zutage noch in Persien.67 Zoroaster gehört als Zeitgenosse Abrahams somit noch zum ideologischen Überbau einer Geheimgesellschaft des späten 1 8 . Jahrhunderts. 58 f) Schon in einem älteren freimaurerischen Dokument findet sich ein Rekurs auf Zoroaster, und zwar in den Constitutiones von James Anderson. Während Zoroaster in der ersten Auflage aus dem Jahre 1 723 noch fehlt, gibt es seit der zweiten Auflage von 1 73 8 einen kurzen Abschnitt zu Zoroaster. 69 Im Unterschied zum späteren Com­ paß der Weisen hatte sich Anderson allerdings nicht der >archaischen< Zoroaster­ Datierung (in die Zeit Abrahams) angeschlossen, die Zoroaster für Ketmia Vere of­ fenbar so interessant erscheinen ließ; in Übereinstimmung mit der damaligen For­ schungslage datiert Anderson Zoroaster in die Herrschaft des Dareios Hystaspes. Auch die übrigen Informationen, die Anderson über Zoroaster mitteilt, klingen im Vergleich zu Ketmia Vere wesentlich nüchterner und distanzierter. In Andersons Ordensgeschichte spielt Zoroaster nur eine bescheidene Nebenrolle. Anderson ver­ merkt allerdings, die immer noch in >Ostasien< lebenden Schüler Zoroasters hätten bis auf den heutigen Tag einige ältere Sitten der Freimaurer bewahrt. 7 0 g) Am Schluß des hier gezeichneten Panoramas, das den Zoroaster-Diskurs bzw. die Zoroaster-Diskurse des 1 8. Jahrhunderts eher skizzieren als vollständig erfassen konnte, darf der Hinweis auf eine am 30. September 1 79 1 uraufgeführte Oper nicht

66 A.a.O. (Vorrede), S. 36. 67 A.a.O. (Vorrede), S. 3 6-3 8 . 6 8 Siehe Näheres z u diesem Text auch b e i Stausberg: Faszination Zarathushtra (Anm. 2 ) , B d . I, S. 497-500. 69 Vgl. James Anderson: The Constitutions of the Ancient and Honourable Fraternity of Free and Accepted Masons Containing Their History, Charges, Regulations &c. Collected and Digested by Order of the Grand Lodge from their old records, faithful Translations and Lodge Books, For the Use of the Lodges, Carefully Revised, Continued and Enlarged, with many Additions, by John Entick, London 1 756, S. 34 f. Das Original der zweiten Auflage stand mir leider nicht zur Verfügung. Mein holländischer Kollege Dr. Jan Snoek, dem ich den Hinweis auf die >Constitutions< und einige andere Texte verdanke, hat mir freundlicherweise den Textauszug der Ausgabe von 1 73 8 (dort S. 23) ex­ zerpiert; Ein Vergleich zeigt, daß Entick hier keine inhaltlichen, sondern nur orthographische und syntaktische Änderungen vorgenommen hat. Über die genauen Motive, die Anderson dazu bewogen haben, Zoroaster in der zweiten Auflage der >Constitutions< zu berücksichtigen, läßt sich bislang nur spekulieren. 7 0 Diese Andeutung wird offenbar im >Journal fur Freymaurer< von 1 784 aufgegriffen und näher ausgefuhrt (Anm. 28).

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fehlen: Die Zauberjlöte. Einschränkend muß allerdings bemerkt werden, daß Ema­ nuel bzw. Johann Joseph Schikaneder ( 1 75 1 - 1 8 12) sein Libretto vor allem mit Phantasie- oder Funktionsnamen (>Tamino< ; >Erster Priester< usw.) bestückt hat. >Sarastro< bildet hier keine Ausnahme. Es ist nicht mit Sicherheit auszumachen, ob >Sarastro< wirklich etwas mit >Zoroaster< zu tun hat. 7 1 Die italienische Namensform >Zoroastro< legt aber zumindest eine Assoziation nahe. 72 Möglicherweise hat Schi­ kaneder sogar gezielt einen Verfremdungseffekt - etwa auch gegenüber de Cahusac und Rameau - inszeniert, der sich nicht zuletzt in der Gestaltung der Figur des S ara­ stro niederschlägt. Es ist allein deshalb verlockend, die Zauberflöte an das Ende dieser Übersicht zu stellen, weil über die Ambivalenzen der Figur des Sarastro zugleich eine Art >Dialektik der Aufklärung< in den Blick kommt. Denn die in der Zauberflöte insze­ nierte dualistische Konfiguration, als deren Exponenten Sarastro und die Königin der Nacht in Erscheinung treten, ist zwar vordergründig ein klassischer Licht-Finsternis­ Dualismus, dessen lichthafte Seite von Sarastro und dessen finstere Seite eben von der Königin der Nacht verkörpert wird; diese Konstellation ist aber auf eine so ge­ schickte Weise perspektivisch konstruiert, daß die durch den Dualismus evozierten Wertungen auf einer anderen Ebene wieder rückgängig gemacht werden. Der Zuhörer bzw. Zuschauer lernt Sarastro im funften Auftritt des ersten Aktes zuerst als einen »üppigen Bösewicht« kennen, als einen »mächtigen bösen Dämon«, der in einer »prachtvollen und sorgsam bewachten Burg« in »einem angenehmen und reizenden Tal« lebt und über Zauberkräfte verfugt, deren er sich bedient, um ein rei­ zendes Mädchen, nämlich Pamina, die Tochter der Königin, aus einem »alles bele­ benden Zypressenwäldchen« zu entfuhren [I/5]. Das ist die Perspektive des Reiches der Königin der Nacht. 7 1 Vgl. z.B. die bei Manfred Mayrhofer: Zum Namengut des Avesta ( Sitzungsberichte der Ö sterreichischen Akademie der Wissenschaften. Phil.-hist. Klasse 3 08/5.), Wien 1 977, S. 47, Fußno­ te 227 aufgelistete Literatur. Es ist fraglich, ob man einfach davon ausgehen kann, daß der Name >Sarastro< »ihn dem Zarathustra gleichsetzt«, so Paul Stefan: Die Zauberflöte. Herkunft, Bedeutung, Geheimnis, Wien/Leipzig/Zürich 1 937, S. 3 5 . Unter Hinweis auf diese ohne Begründung vorgetrage­ ne These Stefans schreibt Siegfried Morenz: Die Zauberflöte. Eine Studie zum Lebenszusammen­ hang Ä gypten-Antike-Abendland ( Münsterische Forschung 5), Münster/Köln 1 952, S. 47: »Für den Namen Sarastros endlich müssen wir uns mit dem Hinweis begnügen, daß er gewiß auf Zarathu­ stra zurückgeht.« n Ob Schikaneder >Sarastro< mit S statt Z schreibt, weil die Oper hauptsächlich in Es-Dur kom­ poniert ist? So jedenfalls Gernot L. Windfuhr: Mozart's Die Zauberflöte and Zoroaster, in: K. R. Cama Oriental Institute. Second International Congress Proceedings (5th to 8th January 1 995), Bom­ bay 1 996, S . 283-300, hier S. 296 mit Fußnote 1 0. Windfuhr erörtert auch die Frage nach einem möglichen iranisch-zoroastrischen Hintergrund der Oper. Ilya Gershevitch: Approaches to Zoroa­ ster's Gathas, in: Iran 33 ( 1 995), S. 1-29, hier S. 24 schlägt vor, »that the name >Sarastro< came about as a deliberate hybrid, half >Sara(pis)< and half >(Zoroa)stroZoroastro< vorgeschlagen und Giesecke >SarapisSarastro< als Kompromiß erfunden. =

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Die Zuhörer bzw. Zuschauer werden in der negativen Sichtweise des Sarastro­ Reiches in den ersten Szenen, die im Palaste dieses Oberpriesters spielen, bestärkt. Da treten Sklaven auf und es ist von »Peinigern« die Rede, von Menschen, die »gehangen oder gespießt« werden sollen, von Flucht, Verfolgung und »Todesangst« [l/9], von »Marter« und »Pein« [I/ 1 1 ] , von Fesseln und einem >>Unbarmherzigen Teu­ fel«, der ein Mädchen brutal »bei ihren zarten Händchen faßt«. Der erste Einblick in das Imperium des Sarastro ist, mit den Worten der Sklaven, ein »schrecklicher An­ blick«, kurz: »So was sehen zu müssen ist Höllenmarter« [I/1 0] . Auch Sarastros erster Auftritt ist alles andere als vertrauenerweckend. In imperia­ lem Gehabe, von Pauken und Trompetenklängen eingerahmt, »fahrt Sarastro auf ei­ nem Triumphwagen heraus, der von sechs Löwen gezogen wird«, wie es in der Re­ gieanweisung heißt [l/ 1 8]. Ein erstaunlicher Aufzug fiir einen Helden des Lichts. Den Chor der Priester scheint das j edoch nicht zu irritieren, er jubelt sein Vivat und be­ kennt: »Er ist es, dem wir uns mit Freude ergeben! « Der Chor skandiert sogar: »Er ist unser Abgott, dem alle sich weihn« [l/ 1 8]. Das unvoreingenommene Publikum mußte eigentlich gleich erkennen, daß es hier nicht um aufgeklärte, vernünftige Religion geht, sondern um grandios inszenierte Abgötterei ! Daß der Sklavenhalter Sarastro wohl kaum zu einem Menschheitshelden taugt, wird bald noch deutlicher: Pamina will er in seiner überschäumenden Menschenliebe nicht zur Liebe zwingen, schenkt ihr aber andererseits auch nicht die Freiheit [l/ 1 8] . Seinem schwarzen Sklaven Mo­ nostatos - erst nachdem er von Sarastro genügend gedemütigt wurde, läuft er in das Lager der Königin der Nacht über! -, läßt Sarastro zur Demonstration seiner Macht 77 Sohlenhiebe verabreichen [l/ 1 9] _ 7 3 »All dies, und wohl auch die Tatsache, daß es 77 Hiebe sind und nicht 76 oder 78, was gewiß mit Zahlenmystik zu tun hat [ . . . ], versetzt den Chor i n ekstatischen Begeisterungstaumel«: 74 »Es lebe Sarastro, der göttliche Weise ! Er lohnet und strafet in ähnlichem Kreise« [l/ 1 9] ! Der Schlußchor des Ersten Aktes kann da eigentlich nur noch zynisch verstanden werden [I/ 1 9 ] : »Wenn Tugend und Gerechtigkeit Den großen Pfad mit Ruhm bestreut, Dann ist die Erd' ein Himmelreich Und Sterbliche den Göttern gleich. « Mit der Initiation des eigentlich von der Königin der Nacht als Retter, Befreier und Liebhaber ihrer gefangenen Tochter Pamina ausgesandten Tamino in Sarastros >Männerbund< - »Bewahret euch vor Weibertücken: Dies ist des Bundes erste

73 Es ist mir völlig unverständlich, wie Otto Rommel: Die Entstehung der >Zauberflöte< und die Giesecke-Legende ( 1 952), in: Attila Csampai/Dietmar Holland (Hgg:): Die Zauberflöte. Texte, Ma­ terialien, Kommentare, Reinbek bei Harnburg 1 982, S. 1 65-1 8 1 , hier S. 1 74, in Anbetracht einer solchen Szene schreiben kann: »Solche entsagende, fiir das Glück der Menschheit wirkende Weise waren Schikaneder und Mozart wert als Verkörperungen ihres starken Glaubens an die Möglichkeit der Erziehung der Menschen zu höherer Sittlichkeit.« Hans Mayers Ausdruck von der »Erziehungs­ diktatur des Sarastro« entspricht da schon eher den Tatsachen, vgl. Hans Mayer: Sarastro und Papa­ geno ( 1 98 1 ), in: Csampai/Holland (Hgg.): Die Zauberflöte, S. 2 6 1 -266, hier S. 264. 74 Wolf Rosenberg: Mozarts Rache an Schikaneder ( 1 978), in: Csampai/Holland (Hgg.): Die Zau­ berflöte (Anm. 72), S. 252-260, hier S. 253.

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Pflicht! « [II/4] - vollzieht sich ein dramaturgischer Perspektivenwechsel: »Mag im­ mer das Vorurteil seinen Tadel über uns Eingeweihte auslassen! - Weisheit und Ver­ nunft zerstückt es gleich dem Spinngewebe [ . . . ] Jedoch das böse Vorurteil soll schwinden [ . . . ], sobald Tamino selbst die Größe unserer schweren Kunst besitzen wird« [II/ 1 ] . Die aus der Sicht der Königin der Nacht höchst ungerechte Entführung der Pamina erweist sich plötzlich als ein Werk der Vorsehung: »Pamina, das sanfte tugendhafte Mädchen, haben die Götter dem holden Jüngling bestimmt; dies ist der Grund, warum ich sie der stolzen Mutter entriß« [II/ 1 ] . Der vom Priesterchor als Ab­ gott gepriesene Sarastro bezichtigt seinerseits die Königin der Nacht: »Das Weib dünkt sich groß zu sein, hofft durch Blendwerk und Aberglauben das Volk zu berük­ ken und unseren festen Tempelbau zu zerstören« [II/ 1 ] , ein erstaunlicher Vorwurf, da der Zuschauer über derartige Ansichten und Absichten der Königin der Nacht noch gar nichts weiß. Damit ist auch der religiöse Aspekt des dualistischen Gefüges per­ spektivisch aufgebaut: Während die drei Damen Sarastro als einen bösen Dämonen darstellen, beschuldigt Sarastro die Königin der Nacht des Aberglaubens; die drei Damen behaupten, wer im Bunde der Priester, die im übrigen >falschen Sinnes< be­ zichtigt werden [II/5] , schwöre, der »fährt zur Höll' mit Haut und Haar« [II/5] - dann aber werden sie selbst in die Hölle gejagt [II/5] ; die Königin der Nacht, die drei Da­ men und Monostatos dringen in den Tempel ein, um die »Frömmler [zu] tilgen von der Erd« [II/30], wohingegen die drei Knaben prophezeien: »Bald soll der Aberglau­ be schwinden, Bald siegt der Weise Mann« [II/96], nämlich Sarastro. Tatsächlich siegt Sarastro, aber nicht auf Grund seiner überlegenen Weisheit oder Güte, sondern durch seine Macht. So gesteht der Priesterchor am Ende der Oper: »Es siegte die Stärke Und krönet zum Lohn Die Schönheit und Weisheit Mit ewiger Kron« [II/30] . Sarastros Sieg ist ein Triumph der Macht; seine Religion ist zwar eso­ terisch - Verschwiegenheit ist eine Haupttugend -, aber bestenfalls pseudo­ autklärerisch: Der Sprecher rühmt zwar Sarastros »weisheitsvolle Reden« [II/ 1 ] , die allerdings bei näherem Hinhören reichlich hohl klingen; Sarastros Tempelbezirk zeichnet sich nicht gerade durch Freude an der Kommunikation aus: Es wird befoh­ len, erduldet - »Ertrag es mit Geduld und denke, es ist der Götter Wille« [II/4] - und vor allem geheimnisvoll geschwiegen.

Hans-Georg Kernper (Tübingen) Aufgeklärter Hermetismus. Brackes'

Irdisches Vergnügen in Gott im

Spiegel seiner B ibliothek

I

Von Goethe wissen wir, daß er sich in seiner Frankfurter Krankheitsphase 1 768/69 - in pietistisch-herrnhuterischen Zirkeln verkehrend - durch den dort hoch angesehe­ nen Arzt Dr. Friedrich Johann Metz zusammen mit seiner Freundin Susanne von Klettenberg zu alchemistischen Experimenten inspirieren ließ, wozu ihnen der Arzt »gewisse mystische chemisch-alchemische Bücher« empfahl, 1 und sie benutzten vor allem Georg von Wellings zuerst 1 73 5 erschienenes Opus Mago- Cabbalisticum et Theosophicum .2 »Ich schaffte das Werk an«, berichtet Goethe, »das, wie alle Schrif­ ten dieser Art, seinen Stammbaum in gerader Linie bis zur neuplatonischen Schule verfolgen konnte. «3 Diesen Satz hätte auch der Hamburger Ratsherr Barthold Heinrich Brackes ( 1 6801 747) schreiben können, der mit seiner neunbändigen (5700 Seiten umfassenden) Sammlung Irdisches Vergnügen in Gott ( 1 72 1- 1 748) das umfangreichste Werk deutschsprachiger Lyrik im 1 8 . Jahrhundert vorgelegt hat,4 mit dessen zahlreichen Auflagen er den größten publizistischen Erfolg vor Geliert erzielte5 und an dessen I Johann Wolfgang Goethe: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Erster Teil. Textkrit. durchges. v. Lieselotte Blumenthal. Mit Anm. vers. v. Erich Trunz (= Hamburger Ausgabe 9), 5 . Auflage Harnburg 1 964, S. 34 1 . 2 Georg von Welling: Opus Mago-Cabbalisticum et Theosophicum. Darinnen der Ursprung, Na­ tur, Eigenschaften und Gebrauch des Salzes, Schwefels und Mercurii, in dreyen Theilen beschrieben, Hornburg v. d. H. 1 73 5 . 3 Goethe: Aus meinem Leben (Anm. 1 ), S. 342. Vgl. dazu auch Karl Otto Conrady: Goethe. Le­ ben und Werk, I . Bd. : Hälfte des Lebens, Königstein/Ts. 1 982, S. 88 f. - Nicholas Boyle: Goethe. Der Dichter in seiner Zeit, Bd. I : 1 749- 1 790. Aus d. Engl. übs. v. Holger Fliessbach, München 1 995, S. 94 f., 98 ff. 4 Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott, Bestehend in Physikalischen und Mo­ ralischen Gedichten, 5 Bde, Tübingen 1 939; Bd. 6 1 740, Bd. 7 1 746 (= Tübinger Ausgabe), Bd. 8, Harnburg 1 746, Bd. 9, Harnburg 1 748 (= Hamburger Ausgabe). Nach diesen Ausgaben wird im fol­ genden im fortlaufenden Text mit Band und Seitenzahl zitiert. Mit der Sigle A wird der rezeptionsge­ schichtlich wichtige Auswahlband zitiert: Auszug der vornehmsten Gedichte aus dem Irdischen Ver­ gnügen in Gott. Faks.-Druck nach d. Ausg. v. 1 73 8 . Mit einem Nachwort v. Dietrich Bode, Stuttgart 1 965. s Zu den zahlreichen Auflagen und zur Rezeptionsgeschichte vgl. Georg Guntermann: Barthold Heinrich Brockes' >Irdisches Vergnügen in Gott< und die Geschichte seiner Rezeption in der deut­ schen Germanistik. Zum Verhältnis von Methode und Gegenstand literaturwissenschaftlicher For­ schung, Bonn 1 980. - Zur Wirkung unter den Zeitgenossen vgl. Uwe-K. Ketelsen: Die Naturpoesie

Brackes' Irdisches Vergnügen in Gott

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250. Todestag i m Tagungsjahr 1 997 zu erinnern ist. Auch Brackes also besaß dieses Werk neben mehr als vierzig weiteren Schriften, die der hermetischen Tradition ver­ pflichtet sind und sein Interesse an ihr bezeugen. Doch während die Bedeutung der Hermetik für Goethes Weltanschauung heute unbestritten ist,6 ist die Forschung bei der Bewertung eines solchen Einflusses auf Brackes deutlich zurückhaltender geblie­ ben. Man dürfe, so heißt es im neuesten >Lehrbuch< über die >Aufklärung< , »die hete­ rodoxen Unterströmungen« im Werk des Hanseaten »nicht überschätzen«: »Brackes' intellektueller Habitus bleibt, so scheint es, beherrscht durch das Vertrauen in ortho­ doxe Lehrmeinungen, die der Autor im Rahmen physikotheologischer Deutungsmu­ ster so abwandelt, daß sie sich für die Verarbeitung neuer naturwissenschaftlicher Erkenntnisse zu öffnen vermögen. « 7 Indessen fordert doch gerade der neue Fund der Brackessehen Bibliothek und ihres hermetischen Buchbestandes dazu auf, Gewicht und Stellenwert hermetischer Anschauungen für Brackes' Weltbild und für seine Naturdichtung erneut zu überprüfen. - Dazu gehe ich in drei Schritten vor: Zunächst skizziere ich seine Bibliothek und ihren hermetischen Anteil und stelle beides in den Kontext frühaufklärerischer (hermetischer) Buchproduktion (II). Sodann beziehe ich die >Hermetica< der Bibliothek auf die Konzeption des >Irdischen Vergnügens< und auf die in seiner Lehrdichtung vertretene Weltanschauung (III), und schließlich skiz­ ziere ich den Einfluß dieses Denkens auf Poetik und ästhetische Struktur seiner >physikotheologischen< Naturgedichte (IV). Il.

Vor zehn Jahren gelang Carsten Zelle mit Hilfe des Hamburger Staatsarchivs die Entdeckung der Brockes-Bibliothek.8 Ein anonymer Versteigerungskatalog aus Brokl.

der norddeutschen Frühaufklärung. Poesie als Sprache der Versöhnung. Alter Universalismus und neues Weltbild, Stuttgart 1 974, S. 25 ff. - Vgl. dazu ferner Hans-Dieter Loose (Hg.): Barthold Hein­ rich Brockes. Dichter und Ratsherr in Hamburg. Neue Forschungen zu Persönlichkeit und Wirkung, Harnburg 1 980. 6 Vor allem durch die monumentalen Studien von Ralf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe, Bd. I, München 1 969; Bd. 2, München 1 979. - Vgl. dazu auch zusammenfassend Conrady: Goethe (Anm. 3), S. 86. 7 Peter-Andre Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 1 996, S. 1 63 . - Ruth Groh!Dieter Groh bezeichnen Brackes' Werk unter dem Stichwort »Kleinmünze fur den frommen Hausgebrauch« als »die poetische Enzyklopädie« der physikotheologischen »Bewegung«. Ruth Groh!Dieter Groh: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur, Frankfurt!M. 1 99 1 , S. 54. 8 Vgl. dazu Carsten Zelle: Zum Fund von Brackes' Bücher- und Bilderkatalogen, in: Hans-Georg Kemper!Uwe-K. Ketelsen!Carsten Zelle (Hgg.): Barthold Heinrich Brockes ( 1 680-1 747) im Spiegel seiner Bibliothek und Bildergalerie, Wiesbaden 1 998, S. 23-28. Dieser Band enthält den Versteige­ rungskatalog in faksimilierter Form und in alphabetischer Folge mit vollständigen Titeln. Einige Sachgruppen, darunter auch die hermetische Literatur, sind in gesonderten Bestandsverzeichnissen zusammengestellt.

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Hans-Georg Kernper

kes' Todesjahr 1 74 7 konnte einwandfrei auf dessen Hamburger Wohnsitz bezogen werden. Mit 990 Losen nimmt sich der Buchbestand - gemessen an anderen Ham­ burger Privatbibliotheken aus dieser Zeit - bescheiden aus, und es ist nicht auszu­ schließen, daß es sich hier nur um ein Teilverzeichnis handelt.9 Denn die Lücken sind bemerkenswert. Zwar sind alle Wissensgebiete vertreten, dennoch erleben gerade diej enigen eine Enttäuschung, die den Autor in der >Physikotheologie< verorten wol­ len. Von deren Massenschrifttum findet sich kaum ein Dutzend Werke, und von die­ sen dürfte ein großer Teil auch noch aus Dedikationsexemplaren bestanden haben. Die Bibliothek weist einen deutlichen Übergangscharakter zwischen der >Gelehrten­ bibliothek< alten Stils und der vorrangig am Privatinteresse orientierten modernen >Patrizierbibliothek< 1 0 auf. Brackes hat sich bis zum Lebensende auch für die aktuel­ len Entwicklungen - in der Theologie etwa für die Neologie oder in der Poesie für die >Bremer Beiträger< - interessiert. Insgesamt freilich bevorzugte er galantes Schrifttum1 1 und solche Positionen, die das Konfessionelle und Dogmatische zu­ rückstellten (klassische Werke der christlichen Dogmatik, Apologetik und Historie fehlen), Werke, die Gegensätze zu überbrücken und die - psychologisch und anthro­ pologisch orientiert - praktische Lebenshilfe zu vermitteln suchten, wie er sie selbst auch in seinem Irdischen Vergnügen anbot. 12 Insofern spiegelt diese Bibliothek durchaus die Interessen ihres Besitzers und kann deshalb dem Verständnis seines literarischen Werkes dienlich sein. 2. Das hermetische Schrifttum der Bibliothek besteht im Kern aus vierzehn zum Teil voluminösen alchemistischen Werken und weiteren dreißig theologischen, philo­ sophischen und naturwissenschaftlichen Schriften, die hermetisches Gedankengut mehr oder weniger ausführlich, überwiegend zustimmend, in einigen Fällen auch kritisch behandelnY Im alchemistischen Bereich besaß Brockes immerhin vier Wer­ ke Johann Joachim Bechers ( 1 635-1 682), 14 den Chymischen Rosengarten, das Chy9 Vgl. hierzu und zum Folgenden das Vorwort der Herausgeber a.a.O., S . 9-1 9. l O V gl. dazu Jörg-Ulrich Fechner: Patrizierbibliotheken. Überlegungen zu einem kulturgeschicht­ lichen Typus der Privatbibliotheken von »Patriziern«, »Honoratioren« oder Angehörigen des »Kaufmanns-Adels« im Hinblick auf einige Beispiele in Frankfurt am Main um die Mitte des 1 8. Jahrhunderts, in: Wolfenbütteler Notizen zur Buchgeschichte 1 1 ( 1 986), S. 33-45 . - Ders . : Bücher unterm Hammer. Eine auktionsgeschichtliche Einftihrung in den Verkaufskatalog der Brockes­ Bibliothek, in: Kemper/Ketelsen/Zelle (Hgg.): Barthold Heinrich Brockes (Anm. 8), S. 63-8 1 . I I Vgl. dazu Uwe-K. Ketelsen: Ein Körper der deutschen Poesie des frühen 1 8. Jahrhunderts? Der Bestand an deutschsprachiger Belletristik im Versteigerungskatalog der Bibliothek des Hamburger Ratsherrn Barthold Heinrich Brockes, in: Kemper!Ketelsen/Zelle (Hgg.): Barthold Heinrich Brockes (Anm. 8), S. 1 6 1- 1 88. 1 2 Vgl. dazu das Vorwort der Herausgeber in: Kemper/Ketelsen/Zelle (Hgg.): Barthold Heinrich Brockes (Anm. 8), S. 1 7. 1 3 Vgl. dazu den > Bibliotheksbestand hermetischer Literatur< a.a.O., S. 266 f. 1 4 Vgl. zu diesem Autor: Gotthardt Frühsorge/Gerhard F. Strasser (Hgg.): Johann Joachim Becher ( 1 635-1 682) ( WolfenbÜtteler Arbeiten zur Barockforschung 22), Wiesbaden 1 993. Vgl. ferner den Beitrag von Herbert Breger im vorliegenden Band. In der Geschichte der Chemie gilt Becher heute als wichtiger Wegbereiter der das 1 8 . Jahrhundert (bis zur Entdeckung des Sauerstoffs) beherrschen=

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mische Laboratorium, eine Teilausgabe davon unter dem Titel Experimentum Chy­ micum Novum sowie die Opuscula chymica rariora, 1 5 ferner noch Bechers Politi­ schen Diseurs von den eigentlichen Ursachen des Auf- und Abnehmens der Staedte und Laender. 1 6 Brockes' Interesse gerade fur diesen Autor, der in seinen zahlreichen Schriften1 7 sozialutopische Neigungen mit alchemistischer Empirie zu verbinden wußte, verweist auch an dieser Stelle auf die lebenspraktisch focussierte Perspektive des Hanseaten. Aber auch die anderen alchemistischen Werke aus seinem Besitz mit Ausnahme vor allem von Wellings Opus Mago-Cabbalisticum, über dessen zum Teil esoterische Hieroglyphik sich noch Goethe beschwerte1 8 - erweisen sich zum großen Teil als alchemistische Reformschriften, die sich anheischig machen, ihr Handwerk verständlich zu erklären. Johann Kunckel ( 1 630- 1 703), kein Akademiker, aber ein Praktiker in Fürstendiensten (Erfinder des Kristallglases) als weiterer Autor aus Brockes' Buchbesitz, wirbt z.B. mit der Verständlichkeit im Titel seines Labora­ torium Chymicum, In welchem Deutlich und gruendlich Von den wahren Principiis in der Natur [ . . . ] gehandelt wird. 19 Zur Zeit der Frühaufklärung geriet die Alchemie den >PhlogistonPhlogistonPhysik< erschienen, die Brackes neben acht weiteren Werken des Thomasius ebenfalls besaß: Versuch Von Wesen des Geistes Oder Grund=Lehren I So wohl zur natu•rlichen Wissenschaft als der Sitten=Lehre. In welchen gezeiget wird I daß Licht und Lufft ein geistiges Wesen sey I und alle Co•rper aus Materie und Geist bestehen I auch in der ganzen Natur eine anziehende Krafft I in dem Menschen aber ein zweyfacher guter und bo•ser Geist sey, Halle 1 699. - Zur Bedeutung von Thomasius (speziell auch dieser Schrift) für Brockes vgl. Hans-Georg Kemper: Gottebenbildlichkeit und Naturnachahmung im Säkularisierungs­ prozeß. Problemgeschichtliche Studien zur deutschen Lyrik in Barock und Aufklärung, 2 Bde Tübin­ gen 1 98 1 , hier Bd. I , S. 244 ff. , 248 ff. ; Bd. 2, S. 356 f. u.ö. - Zur Allianz von Herrnetik und Pietis­ mus vgl. das Kapitel >Animismus contra Mechanismus< (mit Einbeziehung von Stahl, Thomasius und Lange) in: ders . : Deutsche Lyrik der frühen Neuzeit, Bd. 511: Aufklärung und Pietismus, Tübingen 1 99 1 , S. 92 ff. - Hinweise auf Brackes' Beziehung zur Herrnetik im Zusammenhang mit Dippel, Fabricius und Scheuchzer, S. I 07 ff. , 1 1 4 ff. 22 >>Die >Phlogistontheorie«< - so Schwedt: Chemie (Anm. 1 4), S. 93 - »stellt den ersten Versuch dar, eine Systematisierung der Stoffe aufgrund ihres Verhaltens zum Feuer und zur Brennbarkeit durchzuführen und die Ursache der Verbrennliehkeil einem Prinzip unterzuordnen. In gedanklicher Weiterentwicklung des Prinzips >Sulphur< von Paracelsus hatte J. J. Becher ( 1 669) eine >terra igne­ scens in composito seu inflammabilis< als einen Bestandteil der metallischen Körper vorgeschlagen. [ . . . ] Stahl verwandelte diese abstrakte >terra< in ein >brennliches Wesen< oder >Phlogiston< um ( 1 697 folg.) und lehrte, daß alle brennbaren oder der Verkalkung (Oxydation) unterliegenden mineralisch­ anorganischen wie organischen Stoffe den gemeinsamen Bestandteil >Phlogiston< enthalten, und daß der Verbrennungsvorgang von einem Entweichen des Phlogistons begleitet ist - dies kann jedoch dem verbrannten Stoff, z.B. den Metallkalken, wiedergegeben werden durch Zuftigen phlogistonrei­ cher Stoffe (z.B. Kohle, Ö l usw.).« - Zum Übergangscharakter der Alchemie um 1 700 vgl. Johanna

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Die Gewinnung von Gold war denn auch nicht mehr das vorrangige Ziel der vom Hamburger Ratsherrn gesammelten alchemistischen Autoren, vielmehr kritisierten sie Goldsucher als Scharlatane, die nur ihre >Kunst< in Mißkredit brächten. »Wer«, so erklärt z.B. Becher drastisch, »die Kunst der Alchymie allein um Gold und Reicht­ hum sucht I und nicht I daß er dadurch die Natur und seinen Schoepffer besser erken­ nen lerne I der gehoeret nicht unter die Philosophen I sondern unter die Idioten.«23 Damit gerät auch das ganze System magischer Korrespondenzen auf den Prüfstand, wie es Agrippa von Nettesheim in seiner Magie-Theorie im einzelnen dargestellt hatte. 2 4 Deshalb haben die Alchemisten in Brockes' Bibliothek und er selbst auch Geyer-Kordesch: Chemie und Alchemie. J. J. Becher, G. E. Stahl, J. S. Carl und J. C. Dippel, in: FrühsorgeiStrasser (Hgg.): Becher (Anm. 1 4), S. 1 27-142. 23 Johann Joachim Becher: Psychosophia oder Seelen=Weißheit I Wie nemlich ein j eder Mensch aus Betrachtung seiner Seelen selbst allein alle Wissenschafft und Weißheil gru•ndlich und besta•n­ dig erlangen ko•nne. Zweyte Edition Harnburg 1 705 ( I . Auflage offenbar 1 682, 4. Auflage 1 725), S . 1 70. Vg l . ebenso S. 1 3 0 ff., 1 46: Körper verwandeln sich a m ehesten ineinander, wenn s i e »einander zum na•chsten verwandt seyn. [ . . . ] Schließe demhalben gantz natu•rlich I daß wann etwas durch die Kunst der Alchymy [ ! ] I in Gold verwandelt werden ko•nne I solches die Metallen seyn.« (Bechers >Psychosophia< erwähnt noch Novalis in seinen >Chymischen Heften< von 1 798: Novalis: Schriften, 3. Bd. : Das philosophische Werk I!, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit Hans-Joachim Mäh! u. Gerhard Schulz, Darmstadt 1 968, S. 35). - in der >Propositio< seines >Experimentum Chy­ micum Novum< klagt Becher darüber, daß der Ansehensverlust der Alchemie so groß sei, »ut hoc Iernpore Alchymistae & Nebulones quasi Synonymi sint« (Becher: Experimentum [Anm. 1 5], S. I I ). Dagegen möchte Becher die Wahrheit der Alchemie erweisen (S. I I ff. ). Tatsächlich zeichnen sich seine alchemistischen Schriften - auch der >Chymische Rosen-Garten< (Anm. 1 5), S. 57 ff. - durch recht präzise Beschreibung der Experimente mit Anweisungen zur Durchführung alchemistischer >Prozesse< aus. Deshalb konnte Stahl sie ja auch >nachexperimentierenBetrachtungen über die drey Reiche der NaturHermetica< an der Herzog August Bibliothek im 1 8. Jahrhundert untersucht hat: »In der ersten Jahrhun­ derthälfte war die Magia naturalis noch in den technischen und philosophischen Wis­ sensbestand der gesamten literarisierten Eliten integriert. Ärzte und Apotheker zeig­ ten am häufigsten Interesse für diesen Lesestoff in der Bibliothek. Es folgen die in der Weltweisheit gebildeten Gelehrten, dann aber schon Fabrikanten und Ingenieure, die sich von diesem Wissen praktischen Nutzen versprachen. «44 Diesem Interes­ sentenkreis wird man auch Brackes zuordnen können, dessen poetisches Werk im übrigen zu den meistausgeliehenen der ersten Jahrhunderthälfte in Welfenbüttel zählt.45 4. Noch mehr relativiert sich das scheinbar Exorbitante seines Interesses für die Hermetik bei einem Blick auf den zeitgenössischen Buchmarkt. Nie - weder vorher noch nachher - hat es ein solches Ausmaß an Publikationen von hermetischem Schrifttum gegeben wie mit dem Beginn der Frühaufklärung (seit etwa 1 680) und damit zu Lebzeiten von Brockes.46 Schon 1 722 klagte der Gießeuer Arzt und Al­ chemist Johann Thomas Hensing, man könne »ueber 8. bis 10 000 Buecher davon lesen«.47 Die Hälfte dieser Zahl dürfte nicht unrealistisch sein. So veröffentlichte z.B. der Verleger Friedrich Roth-Scholtz ( 1 687-1736) zwischen 1 727 und 1 733 den Be­ stand alchemistischer Literatur aus seiner Bibliothek, und obschon das alphabetische Verzeichnis in dem mir zur Verfügung stehenden Tübinger Exemplar beim Buchsta­ ben H bereits abbricht und damit nur ein Drittel seiner Bibliothek erfaßt, führt es 43 Johann Heinrich Winkler: Gedanken von den Eigenschaften, Wirkungen und Ursachen der Electricitaet, nebst einer Beschreibung zwo neuer Electrischen Maschinen, Leipzig 1 744. - Noch der j unge Goethe nahm an Winklers Experimenten zur Elektrizität und Optik teil. Vgl. Goethes Leben von Tag zu Tag. Eine dokumentarische Chronik von Robert Steiger, Bd. I : 1 749- 1 775, Zü­ rich/München 1 982, hier S. 265. 44 Rudolf Schlögl: Ansätze zu einer Sozialgeschichte des Paracelsismus im 17. und 18. Jahrhun­ dert, in: Peter Dilg/Hartmut Rudolph (Hgg.): Resultate und Desiderate der Paracelsus-Forschung, Stuttgart 1 993, S. 1 45-1 62, hier S. 1 60 f. - Während in der ersten Hälfte des Jahrhunderts immerhin 4,9 Prozent und damit 1 00 von 2000 Benutzern mindestens einen Titel aus dem Gebiet der Geheim­ wissenschaften entliehen haben, sind es nur noch I ,9 Prozent in der zweiten Jahrhunderthälfte. Al­ lerdings dürfte gerade die - namentlich registrierte - Ausleihe von >Hermetica< in Bibliotheken das tatsächliche Interesse an den Geheimwissenschaften kaum adäquat spiegeln. 45 V gl. dazu Mechthild Raabe: Leser und Lektüre im 1 8 . Jahrhundert. Die Ausleihbücher der Her­ zog August Bibliothek Wolfenbüttel 1 7 1 4- 1 799, 4 Bde, Bd. 3: Alphabetisches Verzeichnis der ent­ liehenen Bücher, München u.a. 1 989, S. 63 f. 46 Vgl. zum Anwachsen der Buchproduktion in diesem Zeitraum insgesamt Paul Raabe: Gelehr­ tenbibliotheken im Zeitalter der Aufklärung, Paderbom 1 987, S. 1 6 : »Nie wieder in der Geschichte der Bibliotheken hat es in einem kurzen Zeitraum so große und bedeutende Privatbibliotheken gege­ ben wie in der Frühaufklärung.« Und: »Hamburg war wohl die interessanteste Bücherstadt in der Frühaufklärung in Deutschland.« (S. 1 5). 47 Thomas Johann Hensing: Discours von dem Stein der Weisen, welchen D. Hensing, zu Giessen, seinen Demonstrationibus chemicis publicis praemittiret hat, Mense Nov. 1 722, in: Welling: Opus Mago-Cabbalisticum (Anm. 2), S. 5 1 7-53 1 , hier S. 5 1 8 .

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rund 1 000 Werke auf, von denen etwa die Hälfte nach 1 680 erschienen ist.48 Zwar legt er den Begriff »Chymie« großzügig aus und versteht alles darunter, »was zu de­ nen drey Reichen der Natur gehoeret«, doch erfaßt er mit dem Bestand seiner Biblio­ thek nur einen Teil des gesamten Schrifttums und läßt große Gegenstandsbereiche der Hermetik wie die Theosophie, Astrologie oder Spielarten der Mystik (wie der Kabbala) und der (weißen) Magie unberücksichtigt. Bei den Verlagsorten zeigt sich, daß vor allem in Leipzig, Harnburg und Nümberg zwischen 1 680 und 1 73 0 mehr als doppelt soviel >chymische< Schriften erschienen sind als im gesamten Zeitraum zu­ vor.49 In Harnburg waren es aus der Zeit vor 1 670 nur fiin f Titel in der Roth­ Scholtzschen Bibliothek, dann gleich achtzehn im Jahrzehnt bis 1 680 und weitere vierzig bis 1 72 1 . Bis zum Erscheinen des ersten Bandes des Irdischen Vergnügens in Gott zog Harnburg in der Produktion von hermetischem Schrifttum praktisch mit den Messestädten Frankfurt und Leipzig gleich, und allein in der Hansestadt publizierten in dieser Zeit mindestens zehn Verleger >HermeticaPhysica Subterranea< von 1 703 »beydrucken lassen«. Roth-Scholz' Schriftenverzeichnis Bechers (Anm. 1 5), S. 36. Welche Ausgabe Brockes besaß, ist unbekannt, vermutlich aber den Separatdruck der Erstausgabe. - Das zweite Werk ist von Johann Freitag: Novae sectae Sennerto-Paracelsicae recens in philosophiam & medicinam introductae, qua antiquae veritatis oracula, et Aristotelicae ac Galenicae doctrinae fundamenta convellere & stirpitus erudare moliuntur novatores, detectio & solida refutatio, Amstelodami 1 63 7. 54 Barthold J. Zinck (Hg.): Vorbericht, in: Barthold Heinrich Brockes: Physikalische und morali­ sche Gedanken u•ber die drey Reiche der Natur. Nebst seinen u•brigen nachgelassenen Gedichten, als des Irdischen Vergnu•gens in GOTT Neunter und letzter Theil, o.O. 1 748, S. +2 r - +7 v, hier S . + 3 V.

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sehen Vergnügens aufgenommen.5 5 Diese Angaben werden im wesentlichen durch die Vorrede zum ersten und zum sechsten Band bestätigt. 56 Von daher gelangte Ha­ rold P. Fry zu der überzeugenden These, Brockes' Arbeit an den Drei Reichen habe sich auf zwei Schaffensphasen konzentriert, nämlich auf den Zeitraum von 1 7 1 3 bis 1 72 1 und auf die Jahre seit Beginn von Brockes' Amtszeit in Ritzebüttel ( 1 73 51 74 1 ).57 Dies stimmt nun auffallig mit den Erscheinungsdaten der von Brockes ge­ sammelten hermetischen Literatur überein: Zwischen 1 7 1 0 und 1 720 erwarb er zehn hermetische Werke, weitere sechs - nach einer Pause von 1 5 Jahren - mit dem Be­ ginn seiner Ritzebütteler Zeit. 58 2 . Dies ist, wie mir scheint, ein nicht unbeachtliches Indiz für meine These, die Drei Reiche der Natur seien als Brockes' heimliches Hauptwerk zugleich seine >poetische Alchemie< . Unter diesem Aspekt habe ich den Torso des neunten Bandes in meiner Lyrik-Geschichte interpretiert. 59 Schon der Begriff ist in der Alchemie weit verbreitet und dient geradezu zu ihrer Definition. Sie bestehe, erklärt der Herausge­ ber der 1 706 in Harnburg erschienenen deutschen Übersetzung des Corpus herme­ ticum, >meberhaupt in genauester Scheidung und Untersuchung der in den dreyen Reichen dem Vegetabili, Animali und Minerali befindlichen Sachen«,60 und Brockes beschreibt - von Gott ausgehend und zu ihm zurückkehrend - in aufsteigender Linie vom Reich der Steine über der »Pflanzen Heer« bis zum »Thierreich« die »Kette der Wesen«, wobei er mit den Tieren auch den Menschen als nächsthöhere Ordnung des »Wechselzirkels« der Welt miteinbezieht (vgl. IX, 226 f.). Er will die Fülle des Ge­ schaffenen und das Ineinandergreifen der »Kette« erweisen und deshalb zeigen, »Wie von Pflanzen zu den Thieren I Kein so großer Abstand sey« (IX, 1 03). Aber auch die Metalle sind keine tote Materie, sie werden vom »Naturgeist« im Erdinnem gezeugt, und stets sind in unterschiedlichen Anteilen die drei paracelsischen Prinzipien Schwefel, Mercur und Salz als Grundsubstanzen beteiligt, wie Brockes dies schon ausführlich in seinen großen Lehrgedichten über das Feuer, die Luft, das Wasser und

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Ebd., S. +4 V. Vgl. dazu auch die Untersuchungen von Fry (Anm. 35). Fry: Gleich einem versificierten Buffon (Anm. 35), S. 26 1 . Zum Einzelnachweis vgl. Kemper: Brockes und das hermetische Schrifttum (Anm. 23), s. 227 ff. 59 Vgl. Kemper: Deutsche Lyrik (Anm. 30), S. 1 1 4 ff. 60 Hermelis Trismegisti Erka•ntnu•ß Der Natur Und Des darin sich offenbahrenden Grossen Got­ tes I Begriffen in 1 7. unterschiedlichen Bu•chem I nach Grichischen und Lateinischen Exemplaren in die Hochteutsche Sprache u•bersetzet I Nebenst vorgesetzter sattsahmer Nachricht und Beweiß von der Person und Genealogie Hermetis, dessen Medicin, Chemie, Natur und Gottes=Gru•nde I mit unterlauffenden vielen der Egyptier Weißheil I un� unterschiedlichen anderen Curiosa beru•hrende Passagen. Verfertiget Von Aletophilo, Harnburg 1 706, S. c 4_ r. Neben zahlreichen weiteren Teilaus­ gaben des >Corpus Hermeticum< verzeichnet Roth-Scholtz auch noch eine weitere Hamburger Aus­ gabe (vom selben Verleger der Ausgabe von 1 706, Gottfried Liebezeit) aus dem Jahr 1 697. Roth­ Scholtz (Anm. 1 7), S. 28 1 . Im Brockes-Kalalog findet sich keine Ausgabe des >Corpus HermeticumAuszug< von 1 73 8 aufnehmen ließ: >Das Feuer< ( 1 3 8 Strophen, S. 484-530), >Die Luft< (79 Strophen, S. 30--5 6), >Das Wasser< (78 Strophen, S. 3 86--4 1 2), >Die Erde< (74 Strophen, S. 565-599). Auch die anderen, ursprünglich den >Drei Reichen< zugehörigen Gedichte finden sich im >AuszugDie fünf Sinne< ( 1 58 Strophen, S. 606-65 8), >Die Sonne< (72 Strophen, S. 1 80--204), >Die Berge< (2 1 Strophen, S. 1 24- 1 3 1 ), >Der Regen< ( 1 4 Strophen, S. 436--44 0). Insgesamt beanspruchen allein diese Gedichte mit 2 1 7 Seiten nahezu ein Drittel des >Auszugessentialischen< (nicht den »groben«) Merkur für den »Stein der Weisen« hielten. Dies verband sich mit Spekulationen über Genesis 1 ,2, wonach der >Geist< Gottes anfangs »über den Wassern« geschwebt hatte. So auch bei von Welling: Opus Mago-Cabbalisticum (Anm. 2), S. 348 f. Ygl. dazu Kemper: Brackes und das hermetische Schrifttum (Anm. 23), S. 247 ff.

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sehen Positionen - etwa derjenigen Kunckels, der dem Mercurius neben Sulphur und Salz auch Erde als Bestandteil zusprach64 - kritisch auseinander: »Daß aus Schwefel, Salz und Erde I Der Merkur gebildet werde I Und gefuegt sey, kommet mir I Nicht der Wahrheit aehnlich fuer« (IX, 1 8). Auch das Reich der Steine (IX, 4 1 ff.) fuhrt Brockes auf eine animistische Genese zurück: »Wie dieselben in der Erden I Der Naturgeist zeugt und macht, I Kann gar wohl erwiesen werden; I Wenn man es gerrau betracht, I Wird es uns von selbst erklaeret, I Da uns die Erfahrung lehret, I Daß der Stoff von einem Stein I Anfangs muesse flueßig seyn.« (IX, 4 1 ) Durchweg hebt Brockes auch die Heilkräfte hervor, die durch die Destillierkunst den Metallen und Steinen abgewonnen werden kann. So etwa auch dem für die Alchemie wichtigen Vitriol: »Aus dem vitriolseben Wesen I Wird das Pulver zugericht, I Wovon wir so vieles lesen I Und man so viel Gutes spricht, I So man sympathetisch nennet, I Dessen Kraft man nicht recht kennet; Dennoch soll meist allgemein I Seine fremde Wirkung seyn.« (IX, 89)

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Diesen Belegen ließe sich eine Vielzahl weiterer für die These hinzufügen, daß Brok­ kes seine Drei Reiche der Natur auf dem Kenntnisstand und im Interessenhorizont der Alchemie verfaßt hat. 3 . Konsequenterweise aber hat er über die Vermittlung alchemistischen Fachwis­ sens hinaus auch die animistischen Grundannahmen der Alchemie und damit des hermetischen Weltbildes geteilt. Dies sei an den drei Eingangsstrophen der Drei Rei­ che der Natur illustriert. Sie erweisen sich bei näherem Betracht als Konzentrat der Brackessehen Weltanschauung, als > Stein< dieses Weisen, als Schlüssel auch zu sei­ nem poetischen Werk. Zugleich wird an diesen wie stets flüssigen, etwas redundan­ ten und leichtgebauten Versen deutlich, wie schnell man Brockes unterschätzen kann. Er hat versucht, das >Arkane< öffentlich zu machen - dies entspricht aufklärerischer Intention -, aber diese redundante literarische Öffentlichkeit der Brackessehen Verse droht das >Arkane< zugleich zum Verschwinden zu bringen. Andererseits insistiert er mit seiner permanenten Kritik an der Selbstüberschätzung der »ratio« darauf, daß die Welt als »Spur« Gottes dessen Geheimnis auch wahrt (vgl. Str. 3) - dies entspricht ganz Cudworth' Interpretation des ägyptischen >Ren kai panc65 Hört man im folgen­ den nur auf das alttestamentliche Signalwort »Herr Zebaoth« (was Gott als den All­ mächtigen apostrophiert), dann könnte man dieses poetische Gotteslob als christli­ chen Gottesdienst und Preis des christlich verstandenen Schöpfers begreifen und

64 Vgl. Kunckel: Collegium (Anm. 1 9), S. 249: »Mercurius hat Sulphur und Sal, Sulphur und Sal haben eine Erde, und seine beyde Composita, ergo, hat Mercurius Erde. Denn wenn er die nicht noch in dicker Form haMusicalia< in seiner Bibliothek vgl. Lorenz Lütteken: Überlegungen zur Musikalien­ sammlung von Barthold Heinrich Brockes, in: KemperiKetelsen/Zelle (Hgg.): Barthold Heinrich Brockes (Anm. 8), S. 273-295. 67 Vgl. dazu etwa das Lehrgedicht > Wohleinzurichtender Gebrauch der Sinne< (VI, S. 243-247): »So scheints, daß man nicht unrecht schliesset, I Daß der Verlust des Ebenbildes der GOttheit hierin sonderlich, I Und fast am meisten, mit besteht, daß wir, fuer seine Huld und Gaben, I Ein solches unaufmercksames, solch danck= und fuehllos Hertze haben, I Daß man nicht Himmel, Meer, noch Erde, nicht Thier und Pflantzen, ja nicht sich, I Als goettJiche Geschoepf erkennet, nichts unserer Betrachtung werth, I Noch danck= noch ruehmens=wuerdig schaetzt, und folglich nicht den Schoepfer ehrt; I Ja eben durch ein solch Betragen, von Unerkenntlichkeit, auf Erden, I Wir uns selbst ungJueck­ selig machen, und wirklich ungJueckselig werden.« (S. 246). Folgerichtig ergeht die Aufforderung an die Leser: »So laßt uns doch nach allen Kraeften, uns aus der Tiefe zu erheben, I Uns unsers Schoe­ pfers Huld zu freuen, wie Adam vor dem Fall zu leben, I Und unserm GOtt die Ehr allein in aller Creatur zu geben, I Jm rechten Brauch von unsern Sinnen, mit froher Andacht, uns bestreben« (S. 247).

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in diesem Zusammenhang auch von Anfang an eine eigene Natur- und Weltanschau­ ung entwickelte, die auf zentrale christliche Dogmen eine alternative Antwort gab. Auch hier folgte er einer in der Physikotheologie selbst angelegten Tendenz: Ein aus apologetischen Giiinden und zur Überzeugung der Materialisten und Atheisten ge­ führter Beweis Gottes aus der Natur ruckte den trinitarischen Gott bereits aus dem Blickpunkt und relativierte den Sündenfall sowie die Bedeutung des Heilsopfers Christi. Ohnehin ließen sich das vorkopernikanische biblische Weltbild und der Buchstabensinn der Schrift immer weniger mit den Erkenntnissen der New science in Einklang bringen, und das galt natürlich zuerst und vor allem für den personalen Gottesbegriff der Bibel.68 Brackes unternahm solche Harmonisierungen im Sinne einer >Physica sacra< erst gar nicht mehr. »Wenn wir an vielen Orten lesen«, erklärt er, »GOtt hab ein Auge, Fuß und Hand, I So wird ja die Figuerlichkeit von solchen Stellen leicht erkannt« (VI, 288). »Gebrauchten wir nur die Vernunft«, fahrt er fort, »So wuerd uns Sonnen-klar entdecket, I Daß alle leibliche Gedancken, und was nur nach der Menschheit schmecket, I Der GOttheit unanstaendig sey« (ebd.). Als Schöp­ fer einer Unendlichkeit von Welten konnte Gott überhaupt nicht mehr personal ge­ dacht werden. Es gab für den Ratsherrn - wie die zitierte Eingangs-Strophe zu den Drei Reichen zeigt - auch weder eine >creatio ex nihilo< noch ein >Jüngstes Gerichte das »All« hat >>Unumschraenkte Grenzen, I Denen End und Ursprung fehlt«.69 Brok­ kes kritisierte schon im ersten Band des Irdischen Vergnügens die »Dreylings= foermigen I Gedancken und Ideen I Von GOttes Majestaet« »durch uns 'rer Schulen Lehrer« (1, 344). Christus spielt im riesigen Irdischen Vergnügen faktisch keine Rolle mehr, seine Botschaft ersetzt das Naturgesetz. 70 Von daher steht Brockes deistischen

68 Vgl. (mit weiterer Lit.) Kernper: Deutsche Lyrik (Anrn. 30), S. 47 ff. 69 V gl. dazu das ausführliche Lehrgedicht >Versuch der Kraft unsers Geistes, in der Betrachtung vorn Nichts< (VI, 6 1 1 -654): »Ein wahrhaftig wirklich Nichts I was wir auch von seibern lesen, I Scheint, nach ernster Ueberlegung, daß es nimmermehr gewesen. I Denn da Gott von Ewigkeit al­ lenthalben, nirgends nicht, I Und unendlich immer war; ist, nach unsers Geistes Licht, I Nie ein wah­ res Nichts gewesen.« (S. 6 1 6); vgl. S. 6 1 7 : »Daher stimmen die Gedancken hoffentlich hierin zu­ sammen, I Daß wie alle Ding urspruenglich eintzig aus der GOttheit stammen, I Sie sich auch, ohn Zwischenstand, in ihm finden und beschliessen, I Jn Ihm, so wie ihren Anfang, auch die Graenzen haben rnuessen. Ja mich deucht, daß dieser Graentzen eigene Beschaffenheilen I Uns zum Ursprung und zum End aller Ding arn klaersten leiten, I Und das Nichts ins All versencken.« Brockes argumentiert hier übrigens ganz im Sinne von Wellings, der die orthodoxe christliche Lehre von der >creatio ex nihilo< ebenfalls als für die Vernunft ganz unbegreiflich ablehnt. Welling: Opus Mago-Cabbalisticurn (Anrn. 2), S. 343, 494. Vgl. dazu ausfuhrlieh Kernper: Brockes und das hermetische Schriftturn (Anrn. 23), S. 257 f. 70 Vgl. Kernper: Deutsche Lyrik (Anrn. 3 0), S. 72 f. Auch Christi Gebot der Nächstenliebe dedu­ ziert Brockes - ganz in Übereinstimmung mit deistischen Positionen - aus dem Natur- Gesetz: »Dieß wird von der Natur gelehrt: I Der Mensch muß im Geschoepf den Schoepfer, und Gott in seinen Wercken ehren, I Und so, von der Vernunft erklaert: I Daß, unter goett!ichen Geschoepfen, auch alle Menschen mit gehoeren. I Wir sehn aus dieser kurzen Lehre des großen Schoepfers gnaedigs Wollen, I Daß wir, in Werken, ihn bewundern, und unsern Naechsten lieben sollen.« IX, 407; vgl . auch I!, 206, V, 254.

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Positionen nicht fern, und es verwundert nicht, daß Hermann Samuel Reimarus dem mit ihm befreundeten Ratsherrn seine - selbst vor der Familie geheimgehaltene Apologie oder Schutzschrift for die vernünftigen Verehrer Gottes zur vertraulichen Lektüre überließ. 7 1 Dennoch zog Brockes drittens im Kern andere Lehren aus dem >Buch der Natur< als sein deistischer Freund. Sie gruppieren sich um die Vorstellung der Emanation im Zusammenhang mit der Rückkehr der >Kette der Wesen< in den göttlichen Ursprung. Diese Lehre hat eine entscheidende Denkvoraussetzung, mit der sie steht und fKörperliches> aus >Geistigem< >quellen< und wieder in >Geistiges< zurückkehren kann, und damit das Problem, wie überhaupt Körperliches und Geisti­ ges zusammen- oder gar ineinander wirken können. Meine These ist, daß wir mit dieser Frage das entscheidende Erkenntnisinteresse von Brockes berühren. Wie mit einer Wünschelrute erschließt sich von daher seine eklektische Haltung gegenüber den verschiedenen naturphilosophischen Positionen sowie sein Interesse flir die Al­ chemie und das hermetische Denken. Er stellte alle Positionen in Frage, die wie Descartes oder Leibniz (mit seiner Lehre von der >prästabilierten Harmoniegeistige< Aggregatzustände beherrscht auch Kratzen­ steins Abhandlung von dem Aufsteigen der Duenste und Daempfe , 77 oder Johann Philip Seipps Analyse der Pyrmontischen Mineral= Wasser und Stahl=Brunnen. In den Bläschen des Mineralwassers vermutet Seipp »Spiritus«, 78 und solche durch­ »geistem« auch das Brockessche Werk. Er nennt sie »die zu GOttes Ehr ge­ schaefft'ge Geistigkeiten, I Die der Gewaechse Pracht, den Schmuck der Buesch' und Baeume I Vermuthlich zu bereiten« (I, 57). Gott, so heißt es entsprechend auch in der zitierten zweiten Eingangs-Strophe, hat »Geistern Geist und Leben« »gegeben«. Schon im Neujahrsgedicht auf 1 72 1 erklärte Brockes, daß sich gewisse Körperteil­ chen »auch gemach des Coerpers Schrancken I Sich zu entziehn, sich zu entcoerpem Cabbalisticum (Anm. 2), S. 354 ff. (>Von dem Nutzen und Gebrauch des himmlischen Mercuriiplastic nature< der >Cambridge Platonists< zurück80 und adaptierte zugleich die Gei­ sterlehre des Thomasius.8 1 Und gerade die Alchemie und die Natur selbst zeige, wie »durch Vermischungen« »Auch geistge Kraeft entstehen koennen« (VI, 542 f.). Aus der in der Alchemie beliebten Demonstration der qualitativen Verbesserung der Ma­ terie in der großen Alchemistenküche der Natur folgerte Brackes, es habe Gott gefal­ len, »Die Coerper immer zu verbessern«, »Daß sie, auf unbekante Weise, verklaeret, geistig werden koennen« (VI, 544). 82 Infolgedessen existierte für ihn weder ein Nichts noch ein leerer Raum - dies alles übrigens auch in völliger Übereinstimmung mit von Welling,83 aber ohne j ede Übernahme von dessen trinitarischen Spekulatio­ nen mit den drei paracelsischen Prinzipien! Mit von Welling indessen, aber auch den

79 Diese Möglichkeit erörtert Brockes auch in der wichtigen >Betrachtung vom Nichts< (Anm. 69),

S. 620: »Wenn man aber etwan wueste, I Daß der Coerper feinste Theile sich, auf uns verborgne Wei­ se, I Auch in geistige verkehren, und sich so verbessern koenten, I Daß sie, da sie allgemach, von dem vorgen Stand sich trennten: I Haetten wir vom Nichts zum Etwas I die bisher gesuchten Gra•nzen, I Und man saeh ein neues Licht einer neuen Wahrheit glaentzen. I Nichts scheint so des Schoepfers Allmacht, Lieb und Weisheit zu vergroessern, I Als sein einst gemacht Gescho•pf unaufhogeistdurchsetztEinleitung< zum achten Band Shaftesburys >Hymnus an die Natur< aus den >Moralists< übersetzt (ohne, wohl aus Vorsicht, Shaftesbury zu nen­ nen), und er überträgt das >all-divine< der >glorious nature< als: »Ja, die selbst go•ttlich, da, in ihr, der Gottheit Wesen selbst zu sehn.« VIII, 4. Vgl. dazu auch Peters: Die Kunst der Natur (Anm. 3 7), S. 89 f. - Brockes besaß auch die vom Neologen Johann Joachim Spalding übersetzte Ausgabe von Shaf­ tesburys > The Moralists< : Die Sitten= Lehre oder Erzehlung philosophischer Gespraeche, welche die Natur und die Tugend betreffen. [ ... ), Berlin 1 745. 8 1 Vgl. Anm. 2 1 . 8 2 Vgl. dazu auch Anm. 79. 83 Vgl. Anm. 69. Mehrfach bekennt sich von Welling ausdrücklich zum kopernikanischen System als dem »wahrhafftigsten und vernuenfftigsten«. Welling: Opus Mago-Cabbalisticum (Anm. 2), S. 282. Vgl. S. 3 69, 423, 426 (hier wird es beschrieben). Wie Brockes nimmt von Welling darüber hin­ aus aber auch an, daß es >>Unzählbare Weltsystemata mehr als unseres« geben müsse (S. 435), deren Planeten »eines reinen und subtilem Wesens seyn« müßten als die Erde und die auch gänzlich mit Geschöpfen belebt seien (S. 435 ff.). Das war ein verbreiteter Topos aufklärerischen Denkens, den auch Brockes propagierte. Vgl. dazu Frank Baudach: Planeten der Unschuld - Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 1 7. und 1 8 . Jahrhunderts (= Herrnaea N. F. 66), Tübingen 1 993, S. 25 1 ff. (zu Brockes). Brockes hält die Planeten ebenfalls fur »belebte ThiereDas liebreiche Gesetz< (VI,S. 545-548). Vgl. ferner u. a. IX, S. 488 f. ; VII, S. 542.

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So ist kein Coerperchen so klein, und kein Geschoepffe so geringe, Das Sie nicht durch und durch erfuellt; in welchem Sie nicht wuerckt und ruht. Erkenne denn, geliebter Leser! wie nahe GOTT dir sey nicht nur; Erkenne, daß allgegenwaertig Er in der kleinsten Creatur, Ohn allen Wiederspruch, vorhanden. Daß folglich unser GOtt in allen, Was wir auf dieser Welt bemercken, Betrachtungs= und Verehrungs=wehrt, Ja eintzig anzubeten sey.« Damit gelangt zugleich viertens die Ästhetizität der Schöpfung in den B lick, die als Motiv der poetischen Betrachtung und Verehrung auch das Fazit der dritten Einlei­ tungsstrophe zu den Drei Reichen der Natur bildet. Gott, so heißt es da, »verhehlt sich« paradoxerweise im »all belebend GJaenzen« seiner Schöpfung. Darin steckt die Brackessehe Licht-Metaphysik, die er unter anderem ausführlich in den Lehrgedich­ ten über Die Sonne und Das Feuer expliziert hat, die ebenfalls zu den Drei Reichen der Natur gehörten: 86 »Licht ist unsers Lebens Oele, I Und sein Freuden=voller Schein I Scheint vielmehr der Erden Seele, I Ais was Coerperlichs, zu seyn«, heißt es im Feuer-Gedicht gleich anfangs (A, 486), und gegen Ende begründet Brackes seine Ansicht: »Ja wenn ich vom Feur und Lichte Meine Meynung recht berichte; Deucht mich, daß aus Licht allein Alle Ding' entstanden seyn.« Gott sei ewiges Licht gewesen, daher habe es keine ewige Finsternis geben können: »Sondern, wie GOtt schaffen wollen, Muss durch Seiner Liebe Schein Finsterniß aus Licht gequollen, Leib aus Geist geworden seyn, Draus das lichteste, vereinet, Jn viel tausend Sonnen scheinet, Deren Licht, wie hell es leucht't, Nicht ans Unerschaffne reicht. [ . .] Dennoch spuehr't man, daß das Leben, Ja ein allgemeiner Geist, Drin wir alle sind und schweben, Aus der Sonnen Coerper fleußt: .

86 Vgl. Anm. 6 1 .

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Daß ein maennlichs Feuer quillet, Welches alle Ding' erfuellet, Alles schmueckt, erwaermt, emaehrt, Wodurch alles wird und waehrt.« [.] Wann die Erde sich beweget, Der Natur=Geist stets sich reget, Jmmer zeugt und nimmer ruht; Stammt es bloß aus Licht und Gluht.« (A, 5 1 9-52 1 )8 7 Das entspricht hermetischer und alchemistischer Lehre.88 »Ich meines Theils halte das Licht vor das erste und vornehmste Principium oder wuerckende Wesen, das in der Welt zu finden ist«, erklärt z.B. Kunckel. Es ist »ein pures geistliches Wesen, und .

.

8 7 »Allen Coerpem, die wir kennen, I Floess't dein Licht das Leben ein«, heißt es auch in dem Gedicht >Die Sonne< (A, 1 9 1 ). Und Brockes preist den Zentralplaneten als »Goettlichs Schat­ ten=Bild« (A, 1 80) und Urheberin allen Lebens auf der Erde:

» 1 2. Ursprung der Belebungs=Kraefte ! Ausfluß aller Geistigkeit! Brunnquell aller Zeugungs=Saefte ! Feind von aller Dunckelheit! Deine Macht weis uns zu geben Wesen, Waerme, Licht und Leben. Kraft, die, was sie zeugt, erhaelt! Himmels=Auge, Hertz der Welt! 13. Wenn d u uns den Tag verlaengerst: Spuer't man, wie du Berg und Thai, Durch dein maennlichs Feuer, schwaengerst; Ja man sieht, durch deinen Strahl, Den gewoelbten Bauch der Erden, Voll Verwund'rung traechtig werden, Der, wenn sich das Jahr verjuengt, Lauter Wunder=Kinder bringt.« (A, 1 84)

Die Wendung vom »männlichen Feuer« ist keine Metaphorik: Vor allem Thomasius hatte sich aus­ führlich um entsprechende Begründungen bemüht. Für ihn ist das Licht »männlich«, weil »thuend«, aktiv, »Luft« dagegen passiv, »weiblich«, »leidend«. Vgl. >Versuch von Wesen des Geistes< (Anm. 2 1 ), S. 75. Mit dem Bild von der die Luft mit ihrem Feuer »schwängernden« Sonne beginnt von Welling sein Buch: Welling: Opus Mago-Cabbalisticum (Anm. 2), S. 4. Deshalb ist die Luft mit dem himmlischen, salzigen Balsam angefüllt (S. 5). 88 V gl. zur Interpretation dieses Gedichts im Kontext der hermetischen Tradition Kemper: Gott­ ebenbildlichkeit (Anm. 2 1 ) Bd. I , S. 3 1 0 ff. ,

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behaelt unter allen geschaffenen Dingen, ausser dem Menschen, den Vorzug« . 89 Das Licht enthielt also die entscheidende, alles zum Leben erweckende und am Leben erhaltende Kraft, war aber an sich unsichtbar und wurde nur in gemischter, gefilterter Form an den Erscheinungen in unterschiedlichen Brechungen und Spektralfarben sichtbar (hier verarbeitete Brockes - auch im Feuer-Gedicht - Erkenntnisse der Newtonsehen Optik).90 Mit der Betonung der Unsichtbarkeit des gleichwohl im Me­ dium der Sonnenstrahlen als Lebenskraft wirkenden Gottes entsprach der Ratsherr zugleich der Überzeugung »radikal-protestantischer, separatistischer und mystischer Kreise«, die - so Geyer-Kordesch - »ihre Verankerung in theosophischen, mysti­ schen und neuplatonischen Denkweisen« »beibehielten«, »weil sie keineswegs bereit waren, den Gedanken an das Unsichtbare als das wahre Wesen von Gott, Mensch und Natur aufzugeben«.91 Dieses Licht gleichwohl wahrnehmbar zu machen, war das Ziel von Brockes' poetischem Gottesdienst.

IV. Das Licht enthielt, so sahen wir, die entscheidende, alles zum Leben erweckende und am Leben erhaltende Kraft. Es war deshalb nicht - wie man erst jüngst wieder be­ hauptet hat - nur der »ästhetische Schein, der aus der Sonne fließt« und »als ästheti­ scher Schein in das betrachtende Gemüt zurückstrahlt«,92 sondern es war zuvörderst die aus der Sonne strahlende göttliche Lebens- und Liebeskraft Die Sonne war des­ halb für Brockes als Licht-Spenderin »Goettlichs Schatten=Bild« und »Mittel=Punct der Himmels=Kreise ! I Nahrung, Leben, Kraft und Speise I Aller Koerper, die die Welt I Jn dem weiten Schooß erhaelt! « (A, 1 80). Das Betrachten des Sonnen-Lichts hatte deshalb eine >physikoästhetische< Wirkung, die einen »Kalokagathie«-Effekt zeitigen sollte, wie er der Eros-Metaphysik des Marsilio Ficino entsprach.93 Nur von daher läßt sich auch zureichend verstehen, warum Brockes sich eine moralische Wir­ kung seiner Naturgedichte, eine >Wandlung< und >Verbesserung< der Menschen er-

89 Kunckel: Collegium (Anm. 1 9), S. II f. 90 Vgl. dazu David G. John: Newton' s >Üpticks< and Brockes' early poetry, in: Orbis litteramm 3 8 ( 1 983), S . 205-2 1 4 . 9 1 Geyer-Kordesch: Chemie und Alchemie (Anm. 22), S. 1 3 6. 92 Peters: Die Kunst der Natur (Anm. 3 7), S. 5 1 , 82. 93 Vgl. Marsilio Ficino: Über die Liebe oder Platons Gastmahl, übs. v. Kar! Paul Hasse, hg. u. eingel. v. Paul Richard Blum. Lat.-Dt. (= Philosophische Bibliothek 368), Harnburg 1 984. - Vgl. dazu mit Bezug auf Brockes Hans-Georg Kemper: Zwischen schwarzer Magie und Vergötterung. Zur Liebe in der frühen Neuzeit, in: Walter Haug/Burghart Wachinger (Hgg.): Literatur, Artes und Philo­ sophie, Tübingen 1 992, S . 1 4 1 - 1 62, hier S. 1 49 ff. und !54 f.

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hoffte.94 So heißt es beispielsweise in dem Gedicht Schoenheit der zur Abend=Zeit hinter einem Gebuesche hervorstrahlenden Sonne: »Hat wohl ein menschlich Aug' ein holders Licht erblickt, Was schoeners je gesehn? Es dringt mir in die Seele Dieß helle Freuden=Feu'r: sie wird fast als entzueckt, Und fuehlet, wie mit ihr ein Etwas sich vermaehle, Das ueberirdisch ist. Sie senckt in diesen Schein, Dem Urquell dieses Lichts, dem grossen All zu Ehren, Sich, als ein Opfer, selbst hinein. Ach, moechte diese reine Gluht Das, was an ihr nicht gut, V erbrennen und verzehren, Damit, wenn das, so boes' an ihr, vergienge, Sie dir, o Schoepfer aller Dinge, Moecht ein gefaelligs Opfer seyn! « (A, 29 1 )

»Weil sinnliche Schönheit«, erklärt Peters, fur den Brockes »keineswegs den ma­ gisch-alchimistischen Weg geht«,95 »aus der geistigen Durchleuchtung der Materie entsteht, ist das lichtempfindliche Auge der vorzüglichste aller Sinne; der betrachten­ de B lick auf die Welt vergeistigt die sinnliche Erscheinung und vollendet damit - im Subjekt - die Reflexionsbewegung, die die Sonne in den Objekten der Natur begon­ nen hatte«.96 Damit kommt Peters ' ästhetikgeschichtliche Deutung der hermetischen sehr nahe. Diese betont im Gegensatz zum großen Teil der Forschung, welche in den naturbetrachtenden Gedichten von Brockes einen > Sprung< zwischen den naturbe­ schreibenden und den reflektierenden Teilen - meist bedauernd - wahrnimmt und für die eigene Interpretation nur einen der Teile zu privilegieren vermag,97 die Einheit

94 Dieser Aspekt wird in der Forschung leider kaum beachtet, obgleich er Brockes besonders wichtig war. Der stereotype Untertitel seines >Irdischen Vergnügens in Gott< lautet denn auch: »Physikalisch und moralische Gedichte«. Vgl. dazu ausfuhrlieh Kemper: Gottebenbildlichkeit (Anm. 2 1 ), Bd. I, S. 329 ff. 95 Peters: Die Kunst der Natur (Anm. 3 7), S. 8 3 . 96 A.a.O., S. 1 3 6. 97 So ist für Ketelsen: Naturpoesie (Anm. 5) und neuerdings auch ftir Peter-Andre Alt der sinn­ lich-beschreibende Ausgangspunkt der Brockesschen Naturpoesie nur Illustration für die eigentlichen Reflexionen und Lehren des Autors. Deshalb kann Alt behaupten: »eine grundsätzliche Distanzie­ rung von allegorischen Formmitteln hat Brockes nie vollzogen.« Peter-Andre Alt: Begriffsbilder. Studien zur literarischen Allegorie zwischen Opitz und Schiller, Tübingen 1 994, S. 4 70. - Umgekehrt favorisiert eine ästhetikgeschichtliche Leseweise wie die von Peters oder Preisendanz die sensuelle Intensität der Naturdarstellung und empfindet den Ü bergang der Gedichte in die Reflexion als »SprungBuchs der Natur< mehr >Adepten< in der Forschung fände . 1 02

9 8 >Balsam-Kraft< - heute nur noch eine Metapher - ist fiir die Alchemisten die entscheidende Wirksubstanz fii r die Wachstums- und Heilprozesse in der Natur, die sich - von der Sonne ausgehend - allen Lebewesen vor allem im Medium der Luft mitteilt. Auch fiir von Welling z.B. ist die ganze Luft mit zartem himmlisch-salzigem Balsam ausgefii l lt: Welling: Opus Mago-Cabbalisticum (Anm. 2), S. 5. Und so wie er »den himmlischen Schwefel« als »den wahren Lebens=Balsam aller Creatu­ ren« bezeichnet (S. 1 80), konnotiert auch Brockes den Balsam mit dem Schwefel: »Schwefel ist ein feurigs Wesen, I Voller Luft und Fettigkeit, I Deren Tugend auserlesen, I Herrlich von Beschaffen­ heit. I Dieser wirket unaufhoerJich, I Weil sein Balsam unzerstoerJich.« (A, 594). In Brockes' Gedich­ ten spielt >Balsam< daher vor allem auch als Heilkraft der Natur eine wichtige Rolle. Vgl. dazu Wolf­ ram Mauser: Die »Balsam-Kraft« von innen. Dichtung und Diätetik am Beispiel des B. H. Brockes, in: Udo BenzenhöferiWilhelm Kühlmann (Hgg.): Heilkunde und Krankheitserfahrung in der frühen Neuzeit. Studien am Grenzrain von Literaturgeschichte (= Frühe Neuzeit 1 0), Tübingen 1 992, S. 299-329. 99 Vgl. dazu Peters: Die Kunst der Natur (Anm. 3 7), S. 93. Vgl. dazu auch VI, 478-483, bes. S. 479; VI, 53 8-545, bes. S. 540 f. 1oo Vgl. V, S. 278 über den Menschen (und Dichter!): »Er verbindet alle Wesen; die man al­ lenthalben spueret, I Alle zielen auf ihn ab. Seine Gegenwart allein I Ist die Stelle, wo ein Gantzes aus viel Theilen sich formiret, I Er ist gleichsam ihre Seele. Ja es ist der Mensch nicht nur I Der Geschoe­ pfe Mittel=Punct, die ihn ueberall umringen; I Er ist ueberdem ihr Priester.« Das nachfolgende Zitat im Text steht im unmittelbaren Anschluß an diese Stelle. 1 0 1 Vgl. dazu Kemper: Gottebenbildlichkeit (Anm. 2 1 ), Bd. I, S. 1 22 ff. 1 02 Vgl. dazu - neben der Einleitung im vorliegenden Band - auch Monika Neugebauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer fiir die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Auf­ klärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert 2 1 ( 1 997), S. 1 5-32.

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Als Eckermann dem späten Goethe die >Gretchenfrage< stellte, antwortete dieser am 1 1 . März 1 832 - elf Tage vor seinem Tod und damit sein Glaubensvermächtnis bekundend -: »Fragt man mich: ob es in meiner Natur sei, ihm [= Christus] anbeten­ de Ehrfurcht zu erweisen? so sage ich: durchaus ! - Ich beuge mich vor ihm, als der göttlichen Offenbarung des höchsten Prinzips der Sittlichkeit. - Fragt man mich, ob es in meiner Natur sei, die Sonne zu verehren, so sage ich abermals: durchaus ! Denn sie ist gleichfalls eine Offenbarung des Höchsten, und zwar die mächtigste, die uns Erdenkindem wahrzunehmen vergönnt ist. Ich anbete in ihr das Licht und die zeu­ gende Kraft Gottes, wodurch allein wir leben, weben und sind und alle Pflanzen und Tiere mit uns.«103 Diesen S atz hat auch der Hamburger Ratsherr Brockes geschrieben: mit seinem Irdischen Vergnügen in Gott!

I03 Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. I I . März 1 832, in: Johann Wolfgang Goethe: Gedenkausgabe der Werke, Briefe und Gespräche, hg. v . Ernst Beutler, Bd. 24, 3. Auflage Zürich/München 1 976, S. 770 f. - Zit. in Peters: Die Kunst der Natur (Anm. 3 7), S. 1 72.

Monika Neugebauer- Wölk (Halle) >Höhere Vernunft< und > höheres Wissen< als Leitbegriffe in der esoterischen Gesellschaftsbewegung. Vom Nachleben eines Renaissancekonzepts im Jahrhundert der Aufklärung

Der Begriff der Vernunft - und mit ihm alle Begriffsformen von Wissen und Er­ kenntnis im Sinne eines vorurteilsfreien Verständnisses von der Welt und vom Men­ schen - steht traditionell im Zentrum der Forschung zum 1 8 . Jahrhundert. Niemand würde bestreiten, daß es sich um einen Leitbegriff der Aufklärung handelt, und diese Feststellung wird durch die Quellen gestützt. Kaum ein nennenswerter Autor der Zeit, der sich nicht eingehend für das Erkenntnisvermögen des Menschen interessiert hätte: Von Thomasius ' Einleitung zu der Vernunftlehre ( 1 69 1 ) 1 über Wolffs Reihe von Publikationen Vernürifiige[r] Gedanken2 bis zu Kants Kritik der reinen Vernurifi von 1 78 1 , die die Bedingungen menschlicher Vernunft umgrenzt und bestimmt, um sie so fester und sicherer zu begründen. Im Artikel Vernurifi/Verstand seines Lexikons der Aufklärung hat Werner Schnei­ ders dieser Tatsache folgendermaßen Ausdruck gegeben: »Vernunft (ratio) und Ver­ stand (intellectus) gehören seit altersher zu den Leitbegriffen der Selbstreflexion des menschlichen Denkens. Im Zeitalter der Aufklärung erhalten sie einen neuen, alles dominierenden Stellenwert, sie dienen sogar zur Charakterisierung und Selbstcharak­ terisierung der Epoche.«3 Und Peter-Andre Alt formulierte in seinem einschlägigen Lehrbuch Germanistik: Aufklärung ist »in sämtlichen ihrer Phasen eine Bewegung, die die Vernunft des Menschen in den Mittelpunkt ihres analytischen bzw. prakti­ schen Interesses rückt«.4 Im folgenden Beitrag soll dieser forschungsgeschichtlichen Selbstverständlichkeit nicht widersprochen werden. Es soll vielmehr die Frage nach dem Charakter der Er­ kenntnis- und Wissensbegriffe des 1 8. Jahrhunderts gestellt werden. Ist dieser Cha­ rakter, ist das Begriffsverständnis dasselbe wie in unserer Gegenwart? Wenn wir im hohen 20. Jahrhundert von Vernunft sprechen, von Wissen und Wahrheit, vom t Christian Thomasius: Einleitung zu der Vemunfft-Lehre/Worinnen durch eine leichte/und allen vemünfftigen Menschenlwaserley Standes oder Geschlechts sie seynlverständliche Manier der Weg gezeiget wirdlohne die Syllogistica das wahre/wahrscheinliche und falsche von einander zu entschei­ den/und neue Warheilen zu erfinden [ . . . ], Halle 1 69 1 . 2 >Vemünfftige Gedancken von den Kräften des menschlichen Verstandes< ( 1 7 1 2), >Vemünfftige Gedancken von der Menschen Tun und LassenVemünfftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen< (beides 1 720), >Vemünfftige Gedancken von dem Gesellschaftlichen Leben der Menschen< ( 1 7 2 1 ), >Vemünfftige Gedancken von den Absichten der natürlichen Dinge< ( 1 724). 3 Wemer Schneiders (Hg.): Lexikon der Aufklärung. Deutschland und Europa, München 1 995, S. 429. 4 Peter-Andre Alt: Aufklärung. Lehrbuch Germanistik, Stuttgart/Weimar 1 996, S. I I .

Leitbegriffe in der esoterischen Gesellschaftsbewegung

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menschlichen Erkenntnisvermögen überhaupt, meinen wir dann immer und grund­ sätzlich dasselbe, was ein aufgeklärter Zeitgenosse des 1 8 . Jahrhunderts mit diesen Begriffen verbinden würde? Diese Frage bezieht ihre Relevanz aus der Tatsache, daß man in den Quellen, die die arkanen Sozietäten des 1 8 . Jahrhunderts uns hinterlassen haben, immer wieder mit der Beobachtung konfrontiert wird, daß es im Zeitalter der Aufklärung offenbar Sinn machte, alle Worte des Begriffsfeldes menschlicher Er­ kenntnis zu steigern. Es gab Wahrheit und höhere Wahrheit, Wissen und höheres Wissen, Kenntnisse und höhere Kenntnisse. Georg Schade, Begründer einer >Allgemeinen Gesellschaft der Wissenschaften und der Tugend< , betitelte sein erst­ mals 1 752 erschienenes Hauptwerk Einleitung in die höhere Weltweisheit.5 Es gab eine Bibliothekfür die höhere Naturwissenschaft, herausgegeben von dem Marburger Professor, Freimaurer und Alchemisten Friedrich Joseph Wilhelm Schröder,6 und ein Magazin für die höhere Naturwissenschaft und Chemie.7 Als man 1 787 die geheimen Papiere des Illuminatenordens publizierte, jenes Ordens, der als der Prototyp einer radikalen Aufklärergesellschaft gilt, da fand sich in den Handschriften seines Grün­ ders, Adam Weishaupt, ein Vorschlag, wie denn die Mitgliederwerbung zu gestalten sei. Der Text beginnt mit den Worten: » 1 . muß derj enige, der hiezu soll angeworben werden, eine Disposition zeigen, daß er ein Vergnügen an Erkenntniß höherer [ . . . ] Wahrheiten habe.«8 Bei den Vertretern verschiedenster weltanschauli­ cher Richtungen des 1 8. Jahrhunderts findet sich also die Redeweise von der Steige­ rung von Erkenntnisbegriffen. Werner Schneiders hat diese Beobachtung an der Iite­ ratur- und philosophiegeschichtlichen Entwicklung gemacht und zwar für eine Zeit, die die Aufklärung schon überwinden will: »Selbst Hege!, der zunächst in Auseinan­ dersetzung mit der Weltweisheit der Aufklärung nach einer >höheren Weisheit< suchte, verstand seine Philosophie (auch) als Erfüllung einer immer noch > unbefriedigten< Aufklärung.«9 Und an anderer Stelle: »der deutsche Idealismus ist auch, wie Regel und Hölderlin das in ihrer Jugend formulierten, Streben nach einer s Mactin Mulsow hat Schades einschlägiges Wirken jetzt monographisch aufgearbeitet: Monaden­ lehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1 747- 1 760 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 22), Harnburg 1 998; vgl. die Bibliographie der Werke Scha­ des im Anhang und den Beitrag Mulsows im vorliegenden Band. 6 Friedrich Joseph Wilhelm Sehröder (Hg.): Neue Sammlung der Bibliothek für die höhere Na­ turwissenschaft, Marburg 1 775/76. Vgl. auch den Beitrag von Claus Priesner im vorliegenden Band. 7 >Magazin für die höhere Naturwissenschaft und ChemieCorpus hermeticumBild< und der philosophische Gedanke. « 1 8 Edgar Wind: Heidnische Mysterien i n der Renaissance, FrankfurVMain 1 987, S. 1 3 : »statt jede Verwandtschaft seiner Philosophie mit solchen Riten von sich zu weisen, erklärte Platon im Gegen­ teil, Philosophie selbst sei eine mystische Initiation anderer Art, die durch bewußtes Forschen fiir wenige Auserwählte das erreiche, was die Mysterien dem gemeinen Volk durch das Schüren von Emotionen vermittelten.« Zum Verhältnis von Glauben und Wissen in der Renaissance auch August . Buck: Humanismus. Seine europäische Entwicklung in Dokumenten und Darstellungen, Frei­ burg/München 1 987, S. 233 f.: >»Philosophie und Religion sind Geschwister»Esoterik< läßt im altgemeinen die Vorstellung von >geheim< mit­ schwingen, ist so etwas wie eine >Wissenschaft des ArkanumEsoterik< , seine Verbindung mit Geheimlehren also, keineswegs als il­ legitim abgetan werden; nur erscheint uns eine solche Definition zu begrenzt, um von großem Nutzen zu sein.«48 Faivre verweist zur Begründung auf die lange und inten­ sive Publikationstradition esoterischen Schrifttums.49 Jedenfalls war die Florentiner Akademie kein Geheimbund, und die Werke Ficinos wurden veröffentlicht. Der von Pico geplante Gelehrtenkonvent zeigt, daß man nicht an die Gründung von Gehei­ morden dachte, sondern die Gelehrtenwelt ganz öffentlich und offiziell für das neue Denken gewinnen wollte. Diesem Vorhaben wäre vermutlich kein Erfolg beschieden gewesen. Aber schon der Versuch scheiterte am Eingreifen der Kirche. Die esoterische Bewegung als Gesellschaftsbewegung beginnt also ursprünglich nicht im Arkanraum, sondern mit der Geschichte der neuzeitlichen Akademien. Gleichzeitig aber gibt es eine Tendenz zur Geheimorganisation, die sich aus inneren Quellen speist und von außen gefordert wird - aber noch lange besteht beides im Wechsel nebeneinander. Das 1 7 . Jahrhundert vor altem ist gekennzeichnet durch die­ se Ambivalenz. An seinem Beginn stehen die Manifeste der Rosenkreuzer, entstan.

46 Vgl. diesbezüglich zur aristotelischen Akademie Canfora: Akademie (Anm. 32), S. 47 f 47 Garin: Humanismus (Anm. 42), S. 1 09. 48 Faivre: L ' esoterisme (Anm. 2 1 ), S. 5 f. Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung: Antoine Faivre: Esoterik, Braunschweig 1 996, S. 12 f Vgl. ganz ähnlich Wouter J. Hanegraaff: New Age Religion and Western Culture. Esotericism in the Mirror of Secular Thought, Leiden/New York/ Köln 1 996, S. 3 8 5 . 4 9 Diesem Argument kann allerdings entgegengehalten werden, daß d i e Sprache vieler esoterisch­ hermetischer Publikationen bewußt dunkel und verschlüsselt angelegt ist. Vgl etwa Gerhard Wehr: Esoterisches Christentum. Von der Antike bis zur Gegenwart, Stuttgart 1 975, überarb. Auflage Stutt­ gart 1 995, S. 206: »Das alte Mysterienprinzip strikter Geheimhaltung, die Arkandisziplin, durchzieht das gesamte hermetische Schrifttum.« Das Verhältnis des Arkanen zur Definition von Esoterik muß derzeit wohl als noch offenes Problem angesehen werden.

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den i n einem Freundeskreis an der Tübinger Universität. Die zuerst nur als wenige Manuskriptfassungen existierenden Manifeste zirkulierten seit 1 6 1 0. 50 Im Mittel­ punkt dieser Texte steht die fiktive Figur eines Christian Rosenkreuz, dessen Ge­ burtsdatum im zweiten der Manifeste angegeben ist, das 1 6 1 5 im Druck erschien.51 Danach war Rosenkreuz im Jahre 1 37 8 geboren worden, und da er 1 06 Jahre lebte, starb er also 1484_ 52 Es ist evident, daß diese Daten nicht zufallig gewählt sind, son­ dern Symbolcharakter haben. Christian Rosenkreuz' angebliche Lebensspanne um­ faßt annäherungsweise die Zeit der Renaissance in Italien. 1 4 84 war das Jahr, in dem Giovanni Mercurio da Correggio in den Straßen Roms eine >hermetische renovatio< gepredigt hatte.53 Wissen konnte man zu Beginn des 1 7 . Jahrhundert davon, denn Ludovico Lazzarelli hat diesen Vorgang schriftlich überliefert und als das »Werk eines wunderbaren neuen Propheten« gepriesen.54 Aufjeden Fall ist offenkundig, daß die Rosenkreuzermanifeste an die Renaissancetradition der Esoterik anknüpfen55 und sie nun in ihrer eigenen Weise fortentwickeln. Der uns hier interessierende Sinn der Manifeste ist die Nachricht von einer Gesell­ schaft, die von Rosenkreuzern gegründet worden war: Nach allem, was wir heute wissen, gab es diese Gesellschaft zumindest so, wie sie in den Texten beschrieben wurde, nicht wirklich - die Manifeste imaginierten sie; gleich das erste Manifest: Fama Fraternitatis/Oder Brüderschafft/des Hochlöblichen Ordens des R. C. 56 künde50 Zur bibliographischen Grundlage, Autorenfrage und Werkgeschichte vgl. Cimelia Rhodostau­ rotica. Die Rosenkreuzer im Spiegel der zwischen 1 6 1 0 und 1 660 entstandenen Handschriften und Drucke. Katalog der Ausstellung der Bibliotheca Philosophica Hermetica Amsterdam und der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel, Amsterdam 1 995, bes. ab S. 25. 5 1 Confessio Fratemitatis Oder Bekanntnuß der löblichen Bruderschafft deß hochgeehrten Rosen Creutzes an die Gelehrten Europae geschrieben, im folgenden zitiert nach dem Druck: Joh. Valentin Andreae: Fama Fratemitatis ( 1 6 1 4), Confessio Fratemitatis ( 1 6 1 5), Chymische Hochzeit: Christiani Rosenkreutz. Anno 1 459 ( 1 6 1 6), eingeleitet und hg. v. Richard van Dülmen ( Quellen und For­ schungen zur württembergischen Kirchengeschichte 6), Stuttgart 1 973. 5 2 A.a.O., S . 37. 53 Vgl. Garin: Humanismus (Anm. 42), S. 1 32. 54 Ebd. Zu Lazzarelli vgl. Paul Oskar Kristeller: Marsilio Ficino e Lodovico Lazzarelli. Contribu­ to alla diffusione delle idee ermetice nel rinascimento, in: Annali della R. Scuola Normale Superiore di Pisa, Lettere Storia e Filosofia, Reihe !I, 7 ( 1 93 8), S. 23 7-262. Zur Kenntnis von Lazzarelli zur Zeit der Abfassung der Manifeste siehe Cimelia Rhodostaurotica (Anm. 50), S. 65. Auch Richard van Dülmen hat sich nach dem Sinn dieses Datums bei der Kommentierung seiner Edition der Rosen­ kreuzermanifeste gefragt, und er weist auf die Nähe des Todesjahres 1 484 zum Geburtsjahr Luthers ( 1 483) hin (Andreae: Fama [Anm. 5 1 ], S. 3 7). Beide Daten decken sich aber eben gerade nicht, die Rosenkreuzermanifeste stehen weniger in der lutherisch-reformatorischen Tradition als in der Linie der hermetischen Renovatio, sind Teil frühneuzeitlicher Esoterik. 55 Vgl. schon den deutlichen Bezug zur Renaissance bei Michael W. Fischer: Die Aufkärung und ihr Gegenteil. Die Rolle der Geheimbünde in Wissenschaft und Politik ( Schriften zur Rechtstheorie 97), Berlin 1 982, z.B. S. 35 oder 1 70. 5 6 Vgl. den Druck im 1 6 1 4 erschienenen Buch »Allgemeine und General Reformation, der gant­ zen weiten Welteines umgekehrten Turmes von Babel verwandele, der nicht zum Himmel emporstrebe, sondern sich in die Erde grabe< . «79 In der Via Lucis stand, am Ende müsse »die größte aller Weisheiten, das Licht der Erleuchtung« unser eigen sein.80 >Höhere Vernunft sapientia< , ein »metaphysisches Heils- und Herrschaftswis­ sen« und die Organisation seiner Gewinnung, war auch das Ziel der Akademiepläne des jungen Leibniz, das hat Werner Schneiders an den einschlägigen Texten heraus­ gearbeitet.8 1 Leibniz' Entwurf Societas Philadelphica, wohl aus dem Jahre 1 669, verbindet den Wissenserwerb mit der politischen Sphäre und entwirft Umrisse einer >Gesellschafts>Und vieler Ursachen wegen von rechts­ wegen noch seyn solten«.85 Die gnostische Identifizierung von Wissen und Glauben findet sich im utopischen Strang der Esoterik erweitert in der Dreiheit von Glauben, Wissen und Politik. Es liegt im Charakter des absoluten Anspruchs höherer Vernunft, daß sie Anspruch erheben muß auf die Gestaltung des Menschheitsschicksals. Gleichzeitig liegt auch hierin ein Hinweis darauf, daß sich die esoterische Bewegung in letzter Konsequenz nicht auf den Geheimraum beschränken wollte. Gerade die frühen politischen Akademiepläne von Leibniz zeigen den Willen zu öffentlicher Manifestation und Organisation. Und die Verpflichtung der Gelehrten, die sich auf dieses Projekt einlassen, soll unauflöslich sein: »Das Band aber, durch das sie zu­ sammengehalten werden, soll sein, daß jeder, der einmal eine gewisse Summe Geldes von der Sozietät annimmt, ihr daraufhin mit dem heiligsten Eid verbunden werde und damit sich bedingungslos dazu bekenne, daß er in Zukunft als Verbrecher, Heuchler und Meineidiger gelte, wenn er in irgendeiner Sache, die keine Sünde ist und nicht zum unaufhaltsamen Niedergang fiir ihn und die Seinen würde, der Sozietät nicht gehorche. «86 Das 1 7. Jahrhundert ist eine entscheidende Inkubationszeit esoterischer Gesell- . schaftsbewegung. An seinem Anfang stehen die rosenkreuzerischen Manifeste und die rosenkreuzerischen Hoffnungen. An seinem Ende wird zunehmend deutlich, daß der Versuch, den platonisch-hermetischen Akademiegedanken der Renaissance zu einer konkret organisierten, weltumspannenden esoterischen Akademiebewegung mit politischem Anspruch auszubauen, scheitern wird. Die Akademien werden nicht als Ordensgemeinschaften organisiert, esoterische Vernunft und politische Macht gehen nicht zusammen. Eine Republik der Priester-Philosophen aufzubauen gelingt weder Comenius und seinem Freundeskreis englischer Rosenkreuzer noch Leibniz, dessen rosenkreuzerische Interessen in der Literatur zunehmend herausgearbeitet werdenY Die tatsächlich entstehenden europäischen Akademien stehen unter der Regie ihrer fiirstlichen Gründer und Protektoren.88 Im ausgehenden 1 7. Jahrhundert wurde end­ gültig deutlich, daß die Nähe zwischen Esoterik und Akademien, die Potentialität ihrer Verbindung, letztlich nicht zur Realisierung dieser Verbindung gefiihrt hatte. Auch im Ergebnis dieser Erfahrung entwickelt sich die esoterische Gesellschafts­ bewegung der Aufklärung als eine arkane. Die systematische Trennung zwischen 84 Druck in: Gottfried Wilhelm Leibniz: Politische Schriften, hg. v. d. Preußischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I ( 1 667-1 676), Dannstadt 1 93 1 , S. 5 3 3 . 85 A a . O . , vgl. auch Schneiders: Gottesreich (Anm. 8 1 ), S. 5 3 . 8 6 Leibniz: Societas phi1ade1phica, zitiert Anm. 83, S. 22 f. 8 7 Entsprechende Angaben bei Hanegraaff: New Age (Anm. 48), S . 425 und 5 5 3 . 88 Auch Leibniz hat dies bei seinen späteren Projekten entsprechend konzipiert - vgl. insgesamt Kanthak: Akademiegedanke (Anm. 70), S. 80 f.

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Akademien und Gelehrten Gesellschaften einerseits, Freimaurem und Geheimorden andererseits, wie sie sich in der Systematisierung der Aufklärungsgesellschaften ein­ gebürgert hat,89 ist also nicht von grundsätzlicher Natur, sondern Resultat eines Pro­ zesses. Daß dies durchaus im Bewußtsein der Zeitgenossen präsent war, zeigt die Tatsache, daß Ende des 1 8 . Jahrhunderts aus der arkanen Bewegung heraus der Ver­ such unternommen werden sollte, diese Entwicklung rückgängig zu machen und den Anspruch der esoterischen, höheren Vernunft auf Dominanz in der Gelehrtenwelt wie auf Herrschaft der Priester-Philosophen doch noch durchzusetzen. Dies wird am Schluß dieses Beitrages zu zeigen sein. Zunächst j edoch soll der einschlägige Weg des Aufklärungszeitalters von seinem Beginn her betrachtet werden.

III Parallel zur Aktualisierung der Renaissancetraditionen in den von Deutschland aus­ gehenden rosenkreuzerischen Strömungen hatte sich in Schottland eine bereits kon­ krete gesellschaftsbildende Bewegung entwickelt, die das Sozietätenspektrum der Aufklärung maßgeblich bestimmen sollte - die >spekulative< Freimaurerei. Unser Wissen davon, daß diese Entwicklung nicht zuerst im England der zweiten Hälfte des 1 7. Jahrhunderts einsetzt, sondern daß in Schottland bereits entscheidend früher das Phänomen beobachtet werden kann, daß Nicht-Handwerker (gentleman-masons) den zünftigen Bauhütten beitraten und hier einen neuen spiritualistischen Stil der >Maurerei< entwickelten, der Züge neuzeitlicher Esoterik trug, ist relativ neu und geht auf die Grundlagenarbeiten von David Stevensan zurück. Vor allem seine Studie The Origins of Freemasonry. Scotland 's Century, 1 590-1 71 0 macht die Nähe der maso­ nischen Bewegung zu den Tendenzen der Renaissance nun nicht nur ideengeschicht­ lich, sondern auch im zeitlichen Bezug evident: »Aspects of Renaissance thought were then spliced onto the Medieval legends, along with an institutional structure based on lodges and the rituals and the secret procedures for recognition known as the Mason Word.

89 Vgl. die typologischen Modelle bei Ulrich Im Hof: Das gesellige Jahrhundert. Gesellschaft und Gesellschaften im Zeitalter der Aufklärung, München 1 982, S. 1 05-1 78 und Dülmen: Gesellschaft (Anm. 26), passim. Noch Wolfgang Hardtwig ordnete in seiner 1 997 erschienenen Studie zu »Genossenschaft, Sekte, Verein in Deutschland« (Anm. 78), Akademien und Geheimgesellschaften zwei verschiedenen »Diskursen« der Sozietätsgeschichte zu (vgl. S. 1 5), wobei sich im »Diskurs über die sogenannten >Geheimgesellschaften< die Politisierung der deutschen Spätaufklärung in einer singulären Vermischung mit religiös-intellektuellen Motiven und Interessen« vollzieht, wogegen die Akademiegeschichte zum >>wissenschaftlich-aufklärerisch-zivilisatorischen Diskurs« gehört.

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lt is in this late Renaissance Scottish phase [ . . . ] , that modern freemasonry was crea­ ted.«90 Seit der Mitte des 1 7. Jahrhunderts kam dann die freimaurerische Entwicklung in England hinzu, die schließlich zur ersten Großlogengründung im Jahre 1 7 1 7 in London fiihrte.9 1 Parellel also zum Scheitern des Versuchs, die esoterische Bewegung im öffentlichen Bereich zu organisieren, hatte sich bereits eine verwandte diskrete Gesellschaftsbildung entwickelt, die schließlich als arkanes Auffangbecken fiir die entsprechenden Tendenzen dienen konnte.92 In den zwanziger, dreißiger Jahren sprang die freimaurerische Bewegung auf den Kontinent über und entwickelte sich zur Erfolgsgeschichte aufklärerischer Organisation des 1 8 . Jahrhunderts. Eine be­ achtliche Affmität. Was ist das Geheimnis dieser Affinität? Was verbindet diese esoterische Gesellschaft so grundsätzlich mit der aufklärerischen Mentalität, daß sie das Zeitalter prägen und alle seine Phasen mitgestalten konnte? Der Versuch einer Antwort auf diese Frage fiihrt uns in das Paradigma dessen, was wir Aufklärung nennen. Spätestens seit der grundlegenden Arbeit von Panajotis Kon­ dylis wissen wir, daß die Aufklärung trotz ihrer substantiellen Bezogenheit auf die Vernunft nicht mit dem Rationalismus identisch ist. Die Aufklärung baut vielmehr auf dem Rationalismus des 1 7 . Jahrhunderts auf, variiert ihn und ist nicht verstehbar ohne die engagierte Rehabilitation der Sinnlichkeit - so bezeichnet Kondylis mit ei­ nem Sammelbegriff den Bezug des Zeitalters auf Natur, Gefiih l und Erfahrungs­ welt.93 Die Erkenntnis dieser wichtigen Akzentverschiebung zwischen Rationalismus und Aufklärung geht zunehmend in die Forschung aller Disziplinen ein. 1 990 schrieb Roy Porter, Historiker seien sich heute darüber einig, »daß schon die Bezeichnung >Zeitalter der Vernunft< fiir das achtzehnte Jahrhundert überaus irrefUhrend ist. Viele fiihrende Intellektuelle j enes Jahrhunderts lehnten die rationalistischen Systeme der Philosophen des siebzehnten Jahrhunderts ab«.94 Schon 1 98 3 hatten Hartmut und 90 David Stevenson: The Origins of Freemasonry. Scotland's Century, 1 590-1 7 1 0, Cambridge 1 98 8 , Neuauflage 1 996, S. 6. Vgl. auch von demselben Autor: The First Freemasons. The Early Scottish Lodges and Their Members, Aberdeen 1 988. 9 1 Vgl. die Anknüpfungen an die rosenkreuzerische Bewegung bei Yates: Aufklärung (Anm. 59), S . 2 1 6 ff. 92 Die bis heute immer noch hier und da umstrittene Grundsatzfrage, ob die Freimaurerei auch in ihrer (schottisch-)englischen Ursprungsform bereits ein esoterischer Bund ist oder nur in ihren Hoch­ gradsystemen, soll im folgenden nicht explizit behandelt werden. Vgl. dazu statt dessen die Abhand­ lung von Urban: Elitism (Anm. 3 0), der S. 4, S. I I und S. 1 7 drei Grundkriterien fiir die Struktur esoterischer Gesellschaften nennt und passim die Einbeziehung der Freimaurerei in die Kategorie esoterischer Gesellschaften begründet. Vgl. auch Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und bürgerliche Gesellschaft. Beziehungen und Widersprüche im Jahrhundert der Aufklärung, in: Rupert Moser (Hg.): Bewältigung und Verdrängung spiritueller Krisen. Esoterik als Religionsersatz oder als Kompensation von Defiziten der Wissenschaft und der Kirchen, Frankfurt/Main u.a. 1 999, S. 75-92. 93 Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, Stuttgart 1 98 1 , im folgenden zitiert nach der Ausgabe München 1 986, vgl. z.B. S. 50 f. oder S. 3 3 0 ff. ; der Gedanke durchzieht die gesamte Arbeit. 94 Roy Porter: The Enlightenment, London 1 990, hier zitiert nach der deutschen Übersetzung:

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Gernot Böhme formuliert: »Das Andere der Vernunft: von der Vernunft her gesehen ist es das Irrationale, ontologisch das Irreale, moralisch das Unschickliche, logisch das Alogische. «95 Was an dieser Auffassung irritiert, ist die negative Akzentuierung des Nicht-Rationalistischen der Aufklärung als irrational, als dunkel, eben als »das Andere der Vernunft«.96 Diese Konnotation war dem Sinnlichkeitskonzept von Kon­ dylis noch ganz fremd - und, wie ich denke, zu Recht. Kondylis baute zwar durchaus auf der älteren Studie von Alfred Baeumler zum Irrationalitätsproblem in der Ästhe­ tik und Logik des 1 8. Jahrhunderts auf,97 ersetzte aber den Begriff des Irrationalen durch den weitaus wertneutraleren der Sinnlichkeit.98 Der Rationalismus des 1 7 . Jahrhunderts ist eine bestimmte Variante des Vernunftdenkens, nicht das Vernunft­ denken selbst. Es kann ein Vernunftkonzept geben, das den rationalistischen Entwurf transzendiert, und genau dies geschieht in der Aufklärung. Sie nimmt Aspekte des­ sen, was uns heute als dunkel oder irrational erscheint, in ihren Vernunftbegriff hin­ ein. 1 699 hat Christian Thomasius geschrieben, daß »auch in dem menschlichen Verstande die Sinnligkeiten von der Vernunft nicht wahrhafftig abgesondert werden« können.99 Auf die Gesellschaftsgeschichte der Aufklärung wurden diese Erkenntnisse von der nicht-rationalistischen Spezifik des Vernunftbegriffs dieser Zeit bisher nicht übertragen. Dieses Defizit scheint mir eine der Verständnisbarrieren zu sein, die einer tiefergehenden Analyse der esoterischen Gesellschaftsbewegung bis heute entgegen­ stehen. Immer noch begegnet in der historischen Literatur die Einteilung der mauren­ sehen Systeme in rationalistische und mystisch-irrationale. 100 Esoterische Bünde sind Kleine Geschichte der Aufklärung, Berlin 1 99 1 , 2. Auflage 1 995, S. 1 0 . Vgl. auch die Formulierung von Jörn Garber: >»Die< Aufklärung gibt es nicht mehr, seit Kondylis den Nachweis geführt hat, daß ab 1 75 0 die Aufklärung selbst den Intellektualismus bekämpft habe. Nur noch Schablonenproduzen­ ten transportieren den Mythos von der aufklärerischen Systemrationalität, um ihn anschließend be­ kämpfen zu können«. (Jörn Garber: Utopiekritik und Utopieadaption im Einflußfeld der »anthropologischen Wende« der europäischen Spätaufklärung, in: Neugebauer-Wölk/Saage: Politi­ sierung [Anm. 63], S. 87-1 1 6, Zitat S. 97). 95Hartmut Böhme/Gernot Böhme: Das Andere der Vernunft, Frankfurt am Main 1 983, 3. Auflage 1 996, s. 1 3 . 96 Vgl. etwa auch bei Gerhard Sauder: >Dunkle< Aufklärung, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 2 1 ( 1 997), S . 6 1 -6 8 . 9 7Alfred Baeumler: D a s Irrationalitätsproblem in der Ä sthetik und Logik d e s 1 8. Jahrhunderts bis zur Kritik der Urteilskraft [ 1 923], Nachdruck Darmstadt 1 967. Baeumler meint mit dem Irrationali­ tätsbegriff ebenfalls den Bereich sinnlichen Erlebens, vgl. z.B. S. 3 f. 98 Vgl. etwa Kondylis: Aufklärung (Anm. 93), S. 3 3 8 : »wird auch die herkömmliche Gegenüber­ stellung von Rationalismus und Irrationalismus weitgehend irrelevant, wie wir eingangs dieser Arbeit ausführten«. 99Christian Thomasius: Versuch Von Wesen des Geistes Oder Grund-Lehren So wohl zur natür­ lichen Wissenschafft als der Sitten-Lehre [ . . . ], Halle 1 699, S. 7. wo Die einschlägigen Literaturstellen, an denen dieser Gegensatz formuliert wird, sind unüberseh­ bar - es handelt sich um einen Topos der Erforschung arkaner Aufklärungssozietäten. Das entspre-

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aber grundsätzlich nicht >rationalistisch< - zumindest nicht im Sinne des datierten philosophiehistorischen Begriffs. Der Rationalismus eines Descartes hat keine Affini­ tät zur Esoterik - erst die Aufklärung mit ihrer Verbindung von Ratio und Sinnlich­ keit schafft eine geistige Grundposition, die eine solche Beziehung möglich macht. Die esoterischen Bünde amalgamieren Ratio und Sinnlichkeit, indem sie einen Raum organisieren, in dem über das gemeinschaftliche Erlebnis, im Medium sinnlicher Er­ fahrung, der Aufstieg zum höheren Wissen möglich werden soll. Sie inszenieren das Eindringen in die höheren Sphären der Erkenntnis durch ein Ritual, 1 0 1 das erlebt wird und in seinen Steigerungsformen dem Gedanken entspricht, der Begriff der Vernunft sei einer Steigerung fähig. Und dies geschah eben nicht im Gegensatz zu wesentli­ chen Grundüberzeugungen der Aufklärung, sondern in Entsprechung zu einer ihrer wichtigsten Tendenzen, zu ihrem Konzept der Ratio. Descartes hatte gelehrt, daß nur das Denken im Sinne des intellektuellen Vermögens die Wahrheit finden könne. Die Aufklärung erweitert diese Konzeption des Wissensgewinns, indem sie sie um den Bereich der gesamten Wahrnehmungsfähigkeit des Menschen erweitert. Die Frei­ maurerei entspricht dieser Sicht: Das rationalistische Grundmodell der Geometrie ist Ausgangsform masonischer Arbeit, aber es wird überhöht durch einen symbolisierten und erfahrbaren Erlebnisbereich. In den Logen wird der Versuch unternommen, die Fähigkeit des Menschen zur Wahrheitserkenntnis durch seine Erlebnisfähigkeit und Gefühlspotentiale zu steigern. Kondylis hat formuliert: »Nach Abwertung des Intel­ lekts kommt Erkenntnis und Wahrheit nur unter maßgeblicher Mitwirkung [ . . . ] des Gemüts zustande. « 1 02 Er selbst hat j edoch die seinem Grundverständnis von Aufklä­ rung inhärenten Beziehungen zur Entwicklung masonischer Gesellschaften nicht explizit zum Ausdruck gebracht. Das ist nicht verwunderlich, denn in den siebziger Jahren, in denen seine 1 9 8 1 erstmals publizierte Studie entstand, gab es nur Ansätze zu einer Esoterikforschung der Aufklärung. 1 03 Verwirrung der Begriffe war allenthal­ ben das Resultat und ist auch hier anzutreffen. Einerseits wird alle Theosophie von chende Paradigma entstand zusammen mit der modernen wissenschaftlichen Erforschung der Frei­ maurerei; siehe z.B. Rudolf Vierhaus: Aufklärung und Freimaurerei in Deutschland, in: Rudolf von Thadden/Gert von Pistohlkors/Hellmut Weiss (Hgg.): Das V ergangene und die Geschichte, Göttingen 1 973, S. 23-4 1 , hier S. 30. IOI Die Literatur zur freimaurerischen Ritualsphäre ist ausgesprochen vielfaltig und speist sich vor allem aus masonischer Selbsterforschung. Interessant sind in diesem Kontext besonders Ausstel­ lungskataloge, da die zahlreichen Illustrationen die Bildhaftigkeit des Themas unterstreichen und belegen. Vgl. etwa: Freimaurer. Solange die Welt besteht. Katalog zur 1 65. Sonderausstellung des Historischen Museums der Stadt Wien, Wien 1 992, bes. S. 1 1 7 ff. : Ritual. 102 Kondylis: Aufklärung (Anm. 93), S. 330. 10 3 Kondylis kannte bereits eine von Faivres frühen Arbeiten (Antoine Faivre: L'esoterisme au XVIIIe siecle en France et en Allemagne, Paris 1 973). Gerade Faivre steht jedoch einer systemati­ schen Beziehung zwischen Aufklärung und Esoterik äußerst zurückhaltend, wenn nicht skeptisch gegenüber. Vor allem in seinem Leitfaden zur Esoterik von 1 992 sieht Faivre die esoterischen Strö­ mungen des 1 8. Jahrhunderts eher neben der Aufklärung bzw. folgt der Rede von ihren >dunklen SeitenMeistergrad< i n Eugen Lennhoff/Oskar Posner: Internationales Freimaurer­ lexikon, Zürich/Leipzig/Wien 1 932, Sp. 1 0 1 8 f. 128 Rituel der Meister zum Gebrauch der Loge W. u. E. zu 3 gekrönten Säulen im Orient von Prag 5 79 1 . Als Manuscript fur Brüder. 1 2 9 A.a.O., S. 14. no A.a.O., S. 14 f. t 3 1 A.a.O., S. 1 7 f. 1 3 2 A.a.O., S. 1 8 f. m A.a.O., S. 32 f.

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sie liegend hörten?« - »Auf den Kampf mit Vorortheilen und Leidenschaften, der jeder Emporschwingung des Geistes vorhergeht. « - »Wie wurden sie wieder aufge­ richtet?« - »Durch das neue Meisterwort.« - »Auf was beziehet sich das?« - »Auf die Wahrheit: daß die Verwesung des Körpers dem besseren Theile des Menschen ein neues Leben giebt.« Die Grundform der Meisterinitiation wird in den zahlreichen masonischen Systemen vielfach variiert, sie kann zu einer umfänglichen symboli­ schen Spielhandlung werden, wie im Ritual der Großloge von Schottland. 1 34 Hier müssen Gruppen von Brüdern den »Erschlagenen« suchen und finden. Sein Tod wird festgestellt. Daraufhin läßt der Meister vom Stuhl »eine lebende Kette [ . . . ] bilden, um die höchsten Kräfte, welche die Königliche Kunst zu entbinden vermag, einzusetzen. In tiefem Schweigen ergreift er die rechte Hand des Toten, welchen die Aufseher an den Schultern fassen und aufrichten.« Der Meister vom Stuhl flüstert ihm das Mei­ sterwort zu. »Plötzlich strömt Helligkeit in den Tempel. Hiram ist wiedererstanden. Er lebt neu in dem Eingeweihten. « Alec Mellor, masonischer Historiograph des Ri­ tualwesens, hat hierzu kommentierend festgestellt, der Mensch finde keinen Zugang zu einer »höheren Ebene«, wenn er nicht auf einer niedrigen Ebene »stirbt«. 1 35 Der Initiationsprozeß von rituellem Tod und Auferstehung ist der esoterische Prozeß der Überwindung der profanen Existenz zur Neugewinnung einer höheren Identität. 1 36 In den arkanen Bünden wird dies in einer sinnlich wahrnehmbaren und erlebbaren Wei­ se zu realisieren versucht, ihre Funktion besteht ja im Praktischwerden und in der Versinnlichung von Ideengehalten. 1 37 Im Jahrhundert der Aufklärung steht der Wie­ dergeburtsgrad der Freimaurer in enger Berührung mit dem philosophischen Konzept der Palingenese und dem Weltbild der Gebildeten. Ein derartiger Kontext kann die Partizipation von Aufklärern an allen Varianten der masonischen Geheimbünde erklären - bis hin zum Orden der Gold- und Rosen­ kreuzer, der gemeinhin als antiaufklärerisch gilt. 1 38 Diese Gesellschaft, die sich vor allem der praktischen Hermetik, also der Alchemie, widmete, 1 39 hatte Niederlassun-

1 34 Im folgenden zitiert nach Alec Mellor: Logen, Rituale, Hochgrade. Handbuch der Freimaurerei, Sonderausgabe (Graz) 1 985, S. 3 60 f. 1 35 A.a.O., S . 3 67. 1 3 6 Vgl. Urban: Elitism (Anm. 3 0), S. 17 f., 24 f. 1 37 V gl. den systematischen Standort der initiatorischen Gesellschaften im Tableau der Esoterik bei Antoine Faivre: Acces de l'esoterisme occidental, 2. bearb. Auflage, Bd. I , Paris 1 996, S. 49, in der Rubrik »Pratiques«. 1 3 8 Vgl. die Diskussion dieser Frage bei Holger Zaunstöck: Sozietätslandschaft und Mitglieder­ strukturen. Die mitteldeutschen Aufklärungsgesellschaften im 1 8. Jahrhundert. Phi!. Diss. Halle­ Wittenberg 1 997, S. 298-322 (MS); erscheint Tübingen 1 999 als Band 9 der Reihe >Hallesche Bei­ träge zur Europäischen AufklärungZur wahren Eintrachtprofanen< und die >maurerischen< Wissenschaften. Man rang um 1 80 Vgl. zu ihm als Ordensmitglied Hermann Schüttler: Die Mitglieder des Illuminatenordens 1 776- 1 787/93 (= Deutsche Hochschuledition 1 8), München 1 99 1 , S. 1 3 3 . 1 8 1 Dazu die Schreiben a n die Münchner Areopagiten vom Dezember 1 778, Druck i n : Einige Originalschriften des Illuminatenordens, welche bey dem gewesenen Regierungsrath Zwack [ . . ] vorgefunden worden. Auf höchsten Befehl Seiner Churfiirstlichen Durchleuchi zum Druck befördert, München ( 1 787), S. 292-297. 1 82 Vgl. Hammermayer: Geschichte (Anm. 1 79), S. 349. 1 8 3 [Artikel:] >Ferdinand Maria Baader< in Schüttler: Mitglieder (Anm. 1 80), S. 1 7. 1 84 Nach der Liste bei Hammermayer: Geschichte (Anm. 1 79), S. 352 f. 1 8 5 A.a.O., S. 354. 1 86 Vgl. dazu a.a.O., S. 3 3 9-34 1 und Horst Möller: Vernunft und Kritik. Deutsche Aufklärung im 1 7. und 1 8. Jahrhundert, Frankfurt/Main 1 986, S. 252. 187 Vgl. die Liste der Wiener Illuminaten bei Schüttler: Mitglieder (Anm. 1 80), S. 227 f. und die Personalartikel >Born< und >Sonnenfels< S. 28 und 1 45 f., sowie Edith Rosenstrauch-Königsberg: Illuminaten in der Habsburger Monarchie, in: Dies.: Zirkel und Zentren. Aufsätze zur Aufklärung in Ö sterreich am Ende des 1 8 . Jahrhunderts, Wien ( 1 99 1 ), S. 1 3 9-1 62 ; zur >Wahren Eintracht< S. 1 40 f. 1 88 Genaue Darstellung bei Edith Rosenstrauch-Königsberg: Eine freimaurerische Akademie der Wissenschaften in Wien, in: Julius H. Schoeps/Imanuel Geiss (Hgg.): Revolution und Demokratie in Geschichte und Literatur. Festschrift Walter Grab, Duisburg 1 979, S. 1 5 1- 1 70, bes. S. 1 60. .

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das Verständnis des eigenen, besonderen Wissensbegriffs und setzte sich in zahlrei­ chen Abhandlungen mit seinen Quellen auseinander. 1 89 Die Protokolle der Loge sind überliefert und geben einen authentischen Einblick in diesen Prozeß der Selbstver­ ständigung mit den Elementen der esoterischen Tradition, so etwa aus dem Februar 1 783 über die Magie der alten Perser, »in welcher die Griechen unmittelbar nach Zoroasters Zeiten [ . . . ] unterrichtet wurden«. 1 90 Dies sei in einer Stelle des Porphyrs 1 9 1 enthalten [ . . . ] , wo er berichtet, daß Pythagoras von den Unreinigkeiten seines Lebens befreyet, vom Laster gesichert wurde, und den Zusammenhang der Natur und die Grundkräfte des Weltalls kennen lernte. Diese[r] Spekulativische Theil der Magie Zoroasters habe sich auf die Lehre von zweyen von Gott [ . . . ] geschaffenen Grundwe­ sen gegründet, von welchen die ganze sichtbare und unsichtbare Welt ihr Daseyn erhalten, in welcher alle Wesen, wie eine Kette, zusammenhingen.« Die innere Be­ ziehung aller alten Weisheitsschulen, die Tradition der Weisen und die Kette der We­ sen, das esoterische Grundkonzept, wird erläutert und debattiert. Und in diesem Pro� zeß beginnt bereits die Auseinandersetzung mit der Möglichkeit des höheren Wissens, wird seine Existenz selbst zum Problem. Die Frage wurde gestellt, ob die Auffassung vieler Brüder richtig sei, die »glauben, daß die Freymaurer[ischen] Hie­ roglyphen und Allegorien auf gewiße höhere Kenntniße Bezug haben«? 1 92 Der Bru­ der, der die Abhandlung dazu vorlegte, untersuchte zunächst, »was überhaupt von höhern geheimen Wissenschaften zu halten sey«. Er zeigte, »daß sich keine innere Unmöglichkeit in ihrer Erlernung finde, daß allerdings ein Mann, von ausgezeichne­ teren Seelen Kräften, durch eine glückliche Anwendung derselben in günstigen Zeit­ punkten die Summe unserer Kenntniße durch neue Entdeckungen vergrößern, daß einer vor den anderen höhere Kenntniße voraus haben könne«. Die Möglichkeit des höheren Wissens stellte der Redner also nicht in Frage, aber er forderte, dafiir im einzelnen Beweise zu verlangen, 1 93 und diese Beweisfiihrung sollte sich offenbar nicht mehr im Bereich metaphysischer Spekulation bewegen. In den siebziger und achtziger Jahren des 1 8 . Jahrhunderts begannen die aufkläre­ risch orientierten Esoteriker, fiir die Sinnhaftigkeit und Relevanz ihres Denksystems Beweise zu suchen, die ihrerseits nicht mehr den Grundsätzen esoterischer Argumen­ tation folgten, sondern den Kriterien, die den öffentlichen Wissenschaftsbegriff konstituierten. Diese Haltung entstammte nicht einem plötzlichen Einstellungswandel oder gar einer bewußten und geplanten Entscheidung maurerischer Systeme. Viel1 8 9 Vgl. dazu den Beitrag von Markus Meumann in diesem Band. 1 90 Hans-Josef Irmen (Hg.): Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge >Zur wahren Eintracht< ( 1 78 1 - 1 785) ( Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle >Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1 770- 1 850< 1 5), Frankfurt!Main u.a. 1 994, S. 1 1 7 f. , hier auch das Folgende. 1 9 1 Neuplatonischer Philosoph, Schüler Plotins und Herausgeber seiner Werke. Vgl. Gombocz: Philosophie (Anm. 1 06), S. 1 90- 1 94. 1 9 2 Irmen: Protokolle (Anm. 1 90), S. 1 1 8; hier auch das Folgende. 1 93 Ebd. =

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mehr erscheint sie als Konsequenz aus der >Realisierungsphase< esoterischen Den­ kens. Dabei ging es zunächst keineswegs um Widerlegung des Esoterischen, sondern um seine endgültige und in jeder Beziehung stichhaltige Absicherung. Es begann die Zeit der maurerischen Forschungsinstitutionen. Eine der bekanntesten ist die »Akademie zur Erforschung des Okkulten (Academie occultiste)« der Philalethen, eines Pariser masonisch-hermetischen Systems . 1 94 Die Philaiethen (»Chercheurs de Ia verite«) hatten 1 775 eine Archivkommission ihres Ordens ins Leben gerufen, die den Auftrag hatte, alle erreichbaren Dokumente und Belege zu sammeln, die zur »Kenntnis der absoluten Wahrheit« führen können. 1 95 Auf der Basis dieser Samm­ lungen, aber auch im Bewußtsein, daß man noch nicht ans Ziel gelangt war, entstand zuerst 1 783 der Plan, einen internationalen Freimaurerkonvent einzuberufen, um durch den Austausch des j eweiligen Wissens und gemeinsame Beratung zu erreichen, was man selbst noch nicht vermocht hatte . 1 96 Die Vorarbeiten waren im August 1 784 abgeschlossen, am 14. September gingen die Einladungen heraus, 1 97 zusammen mit einem Zirkular, das Sinn und Zweck der Versammlung erläuterte und mit folgenden Worten begann: »Dieses Jahrhundert, das einige als aufgeklärt [philosophe] bezeich­ net haben, scheint von der göttlichen Weisheit bestimmt zu sein, eine Epoche großer Revolutionen auf allen Gebieten menschlichen Wissens zu werden. Die exakten Wis­ senschaften schreiten schnell und sicher voran. Vermutungen versuchte man auf Er­ fahrung zu stützen, um ihnen einen stärker methodisch abgesicherten Charakter zu geben [ . . . ] . Die Freimaurerei stand dagegen nicht unter dem Schutz dieser allgemei­ nen Bestrebungen, und in der Gährung, die sich aller Köpfe bemächtigt hatte, haben ihre Hieroglyphen die besten Ansatzpunkte für alle Neuerer und Enthusiasten gebo­ ten. Sie haben sie verändert, vermehrt, vermindert, ausgedeutet - ganz ihrer j eweili­ gen Sichtweise folgend; mit dem Ergebnis, daß es heute fast unmöglich ist, in diesem Labyrinth den richtigen Weg zu finden, der zur Wahrheit führt. - Aber sie existiert, diese so sehr ersehnte Wahrheit [ . . . ], und das beste Mittel, um sie zu erkennen, ist ohne Zweifel eine Versammlung oder ein Konvent engagierter und aufgeklärter Freimaurer.« 1 98 Die prinzipielle Erkennbarkeit eines höheren Wissens wurde also nicht zur Disposition gestellt, diese Grundüberzeugung wurde vielmehr zur Voraus1 94 Vgl. im Üb erblick den Artikel >Philalethes. Amis ou Chercheurs de Ia VeriteZur wahren Eintracht< liegt das Zirkular »an die BB. MM. [Brüder Maurer] aller Länder und vereinigten Verfassungen, zu einer brüderlichen Zusammenkunft nach Paris«.202 Am 1 5 . Februar 1 785 begannen die Verhandlungen, sie endeten am 26. Mai desselben Jahres. Die Schlußresolution betonte, daß »die freimaurerische Wissenschaft zu allen okkulten Wissensformen bemerkenswerte Be­ ziehungen hatte, besonders zur hermetischen Philosophie und zur Kabbala. Sie selbst sei eine geheime Wissenschaft und besitze den höchsten Wahrheitsgrad von allen«.203 Damit hatte man sich also die eigene Vorgabe bestätigt, Zufriedenheit wollte sich aber offenbar trotzdem nicht einstellen. So gab es den Beschluß zur Einberufung ei­ nes zweiten Konvents, der am 8. März 1 78 7 ebenfalls in Paris zusammentrat. 204 Dem Einladungszirkular hatte man Fragen beigefügt, die sich aus den Verhandlungen der ersten Versammlung ergeben hatten, und die offen geblieben waren. Ein Punkt er­ schien ganz besonders klärungsbedürftig, denn zahlreiche Denkschriften, die man erhalten habe, hätten die Behauptung aufgestellt, »Ia veritable science«, das letztgül­ tige Wissen der Maurerei seien die Mittel, »den Menschen mit Geistwesen in Bezie­ hung zu bringen, die zwischen ihm und Gott stünden«.205 »Es wäre unendlich nütz­ lich«, setzten die Philaiethen hinzu, »daß diejenigen, die zu diesem wichtigen Thema Angaben machen können, zunächst etwas zur Existenz dieser Wesen selbst sagen würden und zur Möglichkeit der Kommunikation mit ihnen, dann dazu, was diese Kontaktaufnahme mit der Freimaurerei zu tun habe«. 1 99 A.a. 0., S. 263 ; Übersetzung M. N.-W. Vgl. auch Nettelbladt: Geschichte (Anm. 1 55), S. 1 57. 200 Porset: Philalethes (Anm. 1 98), S. 263 . 20 1 Frick: Die Erleuchteten (Anm. 1 94), S. 580. Aus dem Orden der Philaiethen selbst wurden zu­ sätzlich 28 Mitglieder zur Teilnahme aufgefordert. 202 Innen: Protokolle (Anm. 1 90), S. 23. 203 Zitiert nach dem Druck der »Resolutions prises par Je Convent de Paris 1 785 sur !es dix ar­ ticles des premiers proponenda« in Porset: Philalethes (Anm. 1 98), S. 453 f. Die deutsche Fassung der »Proponenda«, der Fragen, die an die Teilnehmer gestellt worden waren, bei Nettelbladt: Ge­ schichte (Anm. 1 55), S. 1 56. 204 Vgl. Frick: Die Erleuchteten (Anm. 1 94), S. 5 8 3 . 205 Zitiert nach Porset: Philalethes (Anm. 1 98), S. 4 7 6 . Hier auch das Folgende; Übersetzung M. N.-W. Vgl. die deutsche Fassung der Proponenda bei Nettelbladt: Geschichte (Anm. 1 55), S. 1 62 f.

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Dieser zweite Konvent ging im Mai 1 787 ohne Ergebnis auseinander, j edenfalls nicht mit dem Ergebnis, das intendiert gewesen war, nämlich die Möglichkeit der höheren Vernunft zu erweisen. Charles Porset, Herausgeber der Akten beider Kon­ vente, hat resümierend geschrieben, man habe nun einer verrückt gewordenen Ver­ nunft den Rücken gekehrt.206 Johann Joachim Bode, der Weishaupt in der Leitung des Illuminatenordens gefolgt war und erst kurz nach dem Ende des zweiten Kon­ vents in Paris eingetroffen war, hat in seinem Tagebuch über das Zusammentreffen mit den Initiatoren notiert: »Vom Aberglauben an Science occulte und sublime sind diese drey Brüder glatterdings zurückgekommen, und ganz vorbereitet, Ideen der reinen gesunden Vernunft aufzunehmen.«207 Mit der Spätaufklärung ging die lange Zeit der Renaissance und ihrer Nachwir­ kungen endgültig zuende. Keineswegs bedeutete dies das Ende esoterischer Strö­ mungen - gerade die Romantik sollte hier eine neue Hochblüte bringen. Wohl aber bedeutete das Ende der Aufklärung das Ende der offenen und in der Frühen Neuzeit noch unausgetragenen Konkurrenz zwischen zwei Wissens- und Erkenntnisbegriffen: dem modem-rationalen, der sich in Akademien und Gelehrten Gesellschaften nun endgültig durchsetzte und dem des höheren Wissens und der höheren Vernunft. Ge­ rade die entschiedenen Anstrengungen der siebziger und achtziger Jahre des 1 8 . Jahrhunderts, hier noch einmal eine Umkehr zu erzwingen, eigene Akademien zu errichten und bestehende zu erobern, hatten die definitive Ablösung des modernen Vernunft- und Wissenschaftsbegriffs herbeigeführt. Georg Forster schrieb 1 784, nachdem er den Orden der Gold- und Rosenkreuzer verlassen hatte: »nur nichts an­ nehmen und glauben, was nicht aus gewissen unumstößlichen Axiomen fließt, nichts wovon ich keine Erfahrung haben kann. Lange genug habe ich diesen Glauben ge­ habt, der unerwiesene Dinge annimmt, nun nicht mehr.«208 In einer anderen Briefstel­ le aus derselben Zeit wird noch einmal die Faszination deutlich, die diese Verbindung von Glauben und Wissen hervorgerufen hatte: »Nichts ist berauschender [ . . . ] als das Glück, den großen Zusammenhang des Schöpfungsplanes zu übersehen, Gott nahe, in ihm gleichsam anschauend Alles zu lesen und concentrirt zu übersehen, was in an­ scheinender [ . . . ] Unordnung da vor uns liegt, ein Vertrauter der Geisterwelt und selbst ein kleiner Herrgott [zu sein], ganz Herr der Schöpfung.«209 Jetzt hatte Forster das Gefuhl, er sei »aus schweren Träumen erwacht«.

206 »Toumant le dos a une raison devenue folle« (Porset: Philalethes [Anm. 1 98], S. 24 1 ). 20 7 Eintragung vom 3. Juli 1 787, Druck bei Bode: Journal (Anm. 1 24), S. 273 . Ygl. dazu Hermann Schüttler: Die Intervention des deutschen Illuminatenordens auf dem Konvent der Philaiethen in Paris 1 787, in: Helmut Reinalter (Hg.): Aufklärung und Geheimgesellschaften. Freimaurer, Illumina­ ten und Rosenkreuzer. Ideologie - Struktur und Wirkungen, Bayreuth 1 992, S. 7 1 -84, bes. S. 77. 208 Schreiben an Samuel Thomas Soemmerring vom 1 4. August 1 784, in: Georg Forsters Werke (Anm. 1 45), S. 1 65. 209 Schreiben an Therese Heyne (Anm. 1 45), S. 1 46; hier auch das Folgende.

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Die aus der Renaissance heraufgekommene Esoterik hatte die neuzeitliche Grund­ legung der menschlichen Autonomie ermöglicht, das Verhältnis zum Absoluten un­ abhängig gemacht von kirchlicher Vermittlung. Aber der grenzenlose Versuch, die metaphysischen Konzepte in eigens dazu gegründeten Sozietäten erlebbar und reali­ sierbar machen zu wollen, hatte viele aus der Gesellschaft der Aufklärer zu All­ machtsphantasien verführt, die schließlich unhaltbar wurden. Die Steigerung der dem Menschen zugänglichen Vernunft ins Absolute scheiterte, Immanuel Kant spekulierte nun nicht mehr über Geister, sondern formulierte die Grenzen der Vernunft und die Bedingungen menschlichen Erkennens.2 1 0 Er kritisierte zwar Hume und die reinen Empiristen, indem er den Bezug aller Erfahrung auf Kategorien des Erkennens zeig­ te, die vor aller Erfahrung liegen. Er zeigte aber auch, daß diese Erkenntnisformen nur durch Erfahrung gegebene Erscheinungen erfassen können, daß ihre Anwendung auf alles, was über Erfahrung hinausgeht, auf Transzendentes, zu leeren und unbe­ weisbaren Spekulationen führt.2 1 1 Das 1 9 . Jahrhundert setzte die neue Selbstbe­ schränkung menschlicher Vernunft in der Welt der Wissenschaft schließlich durch. Das Zeitalter der Aufklärung aber stand noch in einer alles erprobenden Phase des Aufbruchs zu neuen Horizonten, deren mögliche Ausdehnung damals eben noch nicht vermessen war.

2 1 o 1 7 8 1 erschien die »Kritik der reinen Vernunft«. 2 1 1 Vgl. lmmanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft (= Ders.: Werke in zehn Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Bd. 3, Darmstadt 1 968), Transzendentale Elementarlehre, 2. Teil/ 1 . Abt. § 22: »Die Kategorie hat keinen anderen Gebrauch zum Erkenntnisse der Dinge, als ihre Anwendung auf Gegenstände der Erfahrung«. Zum Weg Kants von esoterischen Interessen und Spekulationen zur Vernunftkritik vgl. insgesamt die Arbeit von Böhme/Böhme (Anm. 95), die den Untertitel trägt: »Zur Entwicklung von Rationalitätsstrukturen am Beispiel Kants«.

Martin Mulsow (München) Vernünftige Metempsychosis. Über Monadenlehre, Esoterik und geheime Aufklärungsgesellschaften im 18. Jahrhundert

»Man hat die Gegenstände des Glaubens«, so beklagt sich 1 785 Johann Christoph Adelung, »aus der Religion weg vernünftelt; daher der menschliche Geist, dem der Glaube allemal ein Bedürfnis ist, sich neue sucht, sollte er sie auch in Geisterseherey, im Goldmachen, in philosophischer Schwärmerey, in der Seelenwanderung, Theo­ sophie, Pantheismus, und was weiß ich, wo sonst noch finden.« Urid Adelung fügt hinzu: »Wie viel sonst sehr aufgeklärte Männer, welche schon lange nichts mehr von positiver Religion glaubten, glauben nicht mit völliger Überzeugung an die Geheim­ nisse der Freymäurerey?«1 Was für Adelung eine >schwärmerische< Abirrung des religiösen Bedürfnisses ins Philosophische war, ist der heutigen Aufklärungsforschung zum offenen Problem geworden:2 Warum sind die »sonst sehr aufgeklärten Männer« den Geheimnissen des Ersatzglaubens gefolgt? War es wirklich nur, wie Adelungs Beschreibung nahelegt, die Kompensation der fehlenden positiven Religion? Oder muß man die Frage nicht genau andersherum stellen: Warum sind Lehren wie die von der Seelenwanderung als Aufklärung verstanden worden? Warum und inwiefern sind sie von Aufklärern ver­ treten worden? Anders als die kurzschlüssige psychologische Hypothese gibt diese Frageweise die Möglichkeit, esoterische Vorstellungen nicht vorschnell auszugren­ zen, sondern ihre Funktionen innerhalb des Aufklärungsdenkens zu erkunden. Der Weg, den ich auf dieser Erkundung gehen möchte, führt in den Zusammen­ hang von philosophischer Moraltheologie einerseits, vor allem der Suche nach alter­ nativen Strafinstanzen zur moralischen Disziplinierung, und Monadenlehre anderer­ seits. Das ist zu erläutern: Ein Grundproblem des Aufklärungsdenkens ist die Kom­ pensation für die Auflösung traditionell christlicher Strafinstanzen wie die der Höllenvorstellung gewesen.3 Konnte eine säkularisierte Gesellschaft ohne solche Instanzen auskommen, oder mußte nicht gerade an diesem Punkt der moderne religi­ onskritische Materialismus und Deismus eingestehen, nichts zur Garantie moralischer Motivation der Menschen beitragen zu können? Wie sollte man den Nihilismus ver1 Johann Christoph Adelung: Geschichte der menschlichen Narrheit, Leipzig 1 785, S. 50. 2 Vgl. die kompetente und überzeugende Formulierung des Problemstandes bei Monika Neuge­ bauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer für die Akzeptanz des Esoterischen in der histo­ rischen Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesell­ schaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 2 1 ( 1 997), S. 1 5-32. 3 Vgl. Heinz Dieter Kittsteiner: Die Entstehung des modernen Gewissens, Frankfurt 1 99 1 ; Daniel P. Walker: The Decline of Hell. Seventeenth Century Discussions of Etemal Torrnent, Chicago u.a. 1 964.

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Martin Mulsow

meiden? Ich werde verfolgen, wie gerade dieses Problemfeld ein Grund für das Auf­ tauchen esoterischer Elemente mitten in der konsequentesten Aufklärung gewesen ist und welche Rolle dabei die Leibnizsche Monadenlehre gespielt hat. Die Durchgän­ gigkeit des Problemfeldes scheint auch der Grund dafür zu sein, daß dabei Kontinui­ täten des Esoterischen von der Frühaufklärung bis zum späten 1 8. Jahrhundert aus­ zumachen sind, von der Epoche der Eklektik über die W olffsche Philosophie bis hin zum frühen Kantianismus, in dem erst die Auflösung des Feldes erfolgt. Diese Auflö­ sung gestaltet sich komplex, denn schon seit den 1 770er Jahren verlagert sich der eine Pol des Feldes vom Problem der individuellen Moralität zur Moralität und Hö­ herentwicklung der Menschheit als ganzer; damit zusammenhängend beginnt eine schleichende Umwandlung von Moraltheorie in Geschichtsphilosophie. Ein weiterer Grund, der das Problemfeld komplex werden läßt, ist der Umstand, daß es in ihm im­ mer auch um clandestine Literatur und zunehmend um Geheimgesellschaften geht; das liegt offenbar in der Natur der Sache: Alternativen zum Christentum waren schwerlich in der Öffentlichkeit zu erörtern. Das Zentrum dieser Studie wird deshalb die geheime Philosophie des Illuminatenbundes ausmachen, die hier erstmals nach ihren Quellen aufgeschlüsselt wird.

I. Metempsychose als Religion der Klugen Im Frühjahr 1 68 8 verbringt Leibniz einen ganzen Monat in Sulzbach bei seinem Freund Franz Mercurius van Helmont. Der Monadenbegriff von Leibniz ist in Teilen ein Produkt dieser Freundschaft gewesen,4 und das läßt nicht nur ein Licht darauf fallen, was in ihn eingegangen ist, sondern auch darauf, wie unterschiedlich in der Folgezeit die Wirkungsgeschichte verlaufen konnte. Leibniz und van Helmont haben nämlich j eweils unterschiedlich akzentuierte Monadentheorien entwickelt. Bei Leib­ niz ist in den Monadenbegriff neben den im Discours de Metaphysique entwickelten Überlegungen zu Substantialität und Relationalität auch ein Moment an neuplatoni­ schem oder gar lurianisch-kabbalistischem Denken eingegangen. 5 Nur ist dieses Moment von Leibniz zu seinen Lebzeiten mittels anderer Motive sozusagen unter orthodoxer Kontrolle gehalten worden. Bei van Helmont selbst dagegen, der die Iun­ anische Kabbala wiederbelebt hatte, die ihrerseits stark von origenistischen Themen wie der Apokatastasis geprägt ist (in der Kabbala >tikkunArchäen< in einem steten Prozeß von Höherentwicklung begriffen. Dazu gehört auch die Lehre von der Metempsychose oder Seelen- (besser: Archäen)wanderung

4 Vgl. Anne Becco: Leibniz et Fran.yois Mercure van He1mont. Bagatelle pour des Monades, in: Magia natura1is und die Entstehung der modernen Naturwissenschaften (= Studia 1eibnitiana, Son­ derheft 7), Wiesbaden 1 978, S. 1 1 9- 1 4 1 . s Vgl. Allison Coudert: Leibniz and the Kabba1ah, Dordrecht 1 995.

Vernünftige Metempsychosis

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(>gilgulkabbalistischer Alptraum< gewesen sein mag,8 hat auf radikalpietistische Kreise, die sich von traditionellen Sünden- und Höllenvorstellungen freimachen und auf innere Selbsterlösung setzen wollten, eine starke Anziehung gehabt. Auch ohne daß die Wirkung von van Hel­ mont bisher erforscht worden wäre, kann man sagen, daß im Denken von chiliasti­ schen Protestanten wie etwa dem Ehepaar Petersen den van Helmontschen Thesen eine entscheidende Rolle zugekommen ist.9 Das Interessante ist nun, daß die >kab­ balistischen< Elemente von van Helmonts Monadentheorie im Laufe des 1 8. Jahr­ hunderts immer wieder mit denen der Leibnizschen interferieren konnten, und des­ halb immer die Möglichkeit einer hermetisch-kabbalistischen Deutung der Leibniz­ schen Philosophie möglich war. Das ist zunächst nicht zum Tragen gekommen, sondern erst, als die Begriffe der Theodizee und der Vervollko mmnung eine breite Resonanz gefunden hatten. In den ersten Jahrzehnten des 1 8 . Jahrhunderts dagegen trifft man auf >esoterische< Lehren wie die von der Seelenwanderung eher noch in anderen Zusammenhängen. Etwa in dem der radikalen Eklektik, eines flühaufklärerischen Denkens nämlich, das den an­ tiautoritären Habitus der Eklektik als Legitimation nahm, um in eine >heidnische< Rolle zu schlüpfen. Das hat der Freidenker Theodor Ludwig Lau 1 7 1 7 getan, in sei­ nen Meditationes de Deo, Mundo, Homine. In einem an Toland und Bruno orientier­ ten pantheistischen Kontext heißt es dort: »Es gibt keinen Untergang, kein Zu­ Nichts-Werden. [ . . . ] Das Leben der Dinge ist ein ewiges. Die Wanderung der Seelen hört nie auf. Die Umwandlung der Körper vollzieht sich ununterbrochen. [ . . . ] Ich werde ein Stern, ein Engel, ein Dämon, während ich früher ein Mensch war. Ich wer­ de ein Einwohner der Sonne, des Mondes, eines anderen Planeten, während ich zuvor Bürger dieser Erde war. « 1 0 6 Vgl. Gershorn Scholem: Gilgul. Seelenwanderung und Sympathie der Seelen, in: ders . : Von der mystischen Gestalt der Gottheit, 3. Auflage Frankfurt 1 99 1 , S. 1 93-247. 7 Franz Mercurius van Helmont: Quaestiones 200 de renovatione animorum, Amsterdam 1 690. s Vgl. Allison Coudert: A Cambridge Platonist's Cabbalist Nightmare, in: Journal of the History of ldeas 35 ( 1 975), S. 63 3-652. 9 Vgl. etwa Johann Wilhelm Petersen/Eleonora Petersen: Mysterion Apokatastaseos Panton, das ist: Das Geheimnis der Wiederbringung aller Dinge, •Pamphilia< 1 70 1 , weitere Bände 1 703 und 1 7 1 0; Johann Wilhelm Petersen: Das Geheimnis des Erst-Gebohreneo aller Creaturen. Von Christo Jesu dem Gott-Menschen, Frankfurt 1 7 1 1 , mit Bezügen (S. 23 u. ö.) auf [F. van Helmont:] Seder Olam, Amsterdam 1 694, sowie auf [Anne Conway:) Principia philosophiae antiquissimae et recentissimae, Amsterdam 1 690 (vgl. auch Anm. 24). t o Theodor Ludwig Lau: Meditationes de Deo, Mundo, Homine, •Freystadii< [Frankfurt a. M.] 1 7 1 7, Neudruck hg. von Martin Pott in der Reihe ·Philosophische Clandestina der deutschen Aufldä­ rungHölleeklektischer< Meinungsbildung auch auf Fragen der Religion anzuwenden. Dafür bildete sich schnell das Schlagwort von der >religio prudentum< , der >Religion der Klugen< heraus. Es war ursprünglich ein Schimpfwort der lutherischen Orthodoxie gegen den >Indifferentismus< von Grotius-Anhängem mit ihren Sympathien für ein minimalisiertes Fundamentalchristentum. Dann aber ist es zur offensiven Parole für ein eigenes Umgehen mit religiösen Dogmen umfunktioniert worden. 1 2 So war es möglich, daß zur Mitte des 1 8 . Jahrhunderts die Schlagworte >Religion der KlugenEklektik< und >Hofphilosophie< zu einer einzigen Sammelbedeutung verschmolzen waren, mit der man eine deistische natürliche Religion und die ihr zugeordnete re-

Cinere. Vivere non desinam: licet Vita desinet. Nec desinet Vita, sed renovabitur aut immutabitur: in Deo, cum Deo & per Deum. Ex Deliquio meo, quod Moriens pati videor, eo mox reviviscam Momen­ to. In Universo: licet forsitan non amplius in hoc Mundo. Stella, Angelus, Daemon: cum antea Homo. Incola Solis, Lunae, alteriusve Planetae: Terrae cum hic fuerim Civis.• Ich übernehme die deutsche Übersetzung aus Gerhard Stiehler (Hg.): Materialisten der Leibniz-Zeit, Berlin 1 966, S. 1 00 f. Zu Lau vgl. auch April G. Shelford: Worse than the three impostors? Towards an interpretation of Theodor Ludwig Lau's Meditationes philosophicae de Deo, mundo, homine, in: Silvia Berti/Franr;:oise Char­ les-Daubert/Richard H. Popkin (Hgg.): Heterodoxy, Spinozism, and Free Thought in Early­ Eighteenth-Century Europe. Studies on the >Traite des trois imposteursreligio prudentum< von Grotius bis Lessing (in Vorbereitung als Kapitel in meiner Habilitationsschrift).

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formerische Weltanschauung bezeichnen konnte. 1 3 Deismus, inklusive esoterischer Momente wie der Seelenwanderungslehre, war nun >Religion der Klugen Societe des Aletophiles< gleichsam als Iobbyistische Organisation für den Wolffianismus entstand, zwar anfangs mehr als unterhaltsamer Gelehrtenzirkel, doch mit den Jahren an Kontur und Ausstrahlung gewinnend. 1 5 »Ohne Christian Wolff sind die deutschen Geheimen Gesellschaften nicht zu verstehen«, hat Norbert Hinske einmal gesagt, und diese Aussage kann ich mit den folgenden Beobachtungen nur unterstreichen. 1 6 Die Krisen des Wolffianis­ mus scheinen geradezu die Impulsgeber für Assoziierungen gewesen zu sein. 1 747 war wieder eine solche Krise: Bei der >Monadenpreisfrage< der Berliner Akademie war die Fraktion der Wolffianer abgelehnt worden, und ein Protege der Monaden­ gegner Euler und Maupertuis hatte den Preis gewonnen. 1 7 Das empfanden viele

1 3 So hat Georg Schade, von dem ich weiter unten handle, seine Religionsschrift auch >Die wahre und demonstrative Religio prudentum< genannt, und eines seiner Buchprojekte sollte den Titel > lnstitutiones philosophiae aulicae sive prudentum< tragen. Vgl. Martin Mulsow: Monadenlehre, Hermetik und Deismus. Georg Schades geheime Aufklärungsgesellschaft 1 747- 1 760 (= Studien zum achtzehnten Jahrhundert 22), Harnburg 1 998. 1 4 Ernst August Anton von Göchhausen: Enthüllung des Systems einer Weltbürgerrepublik In Briefen aus der Verlassenschaft eines Freymaurers, •Rom< 1 786, S. 257 f. Zit. nach Reinhard Lauth: Rei nholds Weg durch die Aufklärung, in: ders.: Transzendentale Entwicklungslinien, Harnburg 1 989, S. 73-1 1 0, hier S. 99. 1 5 Zur •Societas Alethophilorum< vgl. Franeo Venturi: Utopia e riforma nell ' illuminismo, Torino 1 970, S. 1 6 ff.; Zedlers Universai-Lexicon, Bd. 52, Leipzig 1 747, siehe Artikel: •Wahrheitliebende GesellschaftAlethophile fran9ais< am Hofe Friedrichs des Großen, in: Wemer Schneiders (Hg.): Christian Wolff, Harnburg 1 983, S . 254-265, bes. S . 258. 1 7 Zur Preisfrage von 1 747 vgl. Roberto Palaia: Berlino 1 747. Il dibatito in occasione del concorso dell'accademia delle scienze, in: Nouvelles de Ia Republique des Lettres I ( 1 993), S. 9 1 -1 1 9; Come-

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Wolffianer als Skandal, und die Publizität der Preisaktion führte zu einer Polarisie­ rung und einem wissenschaftspolitischen Engagement in weiten Kreisen. So reagiert Manteuffel etwa auf die Veröffentlichung der Monadenschrift des Hallenser Profes­ sors Stiebritz, indem er im August 1 747 an Wolff schreibt, es wäre doch ungerecht, wenn man j emanden, der sich so verdient um die Wahrheit gemacht habe, nicht in die Gesellschaft der Aletophilen aufnehmen würde. 1 8 Aber Stiebritz war ja beileibe nicht der einzige Beiträger im Monadenstreit gewesen. Auch wenn es heute schwerfällt zu rekonstruieren, welche Einsendungen es damals gegeben hat, denn der Archivbestand der Akademie ist für die Aufgabe von 1 747 nicht mehr erhalten, lassen sich doch immerhin indirekt eine ganze Reihe von Autoren ermitteln, die offenbar teilgenom­ men und für die Monadenlehre optiert haben. Für diese Autoren wurde nach 1 747 fieberhaft versucht, eine Art Sammelbecken zu organisieren. Die Aletophilen hatten bereits einige Ableger in Weißenfels oder Stettin bekommen, aber j etzt galt es, spe­ ziell die Monadenlehre als Grundlage für gesellschaftliche Reformen zu etablieren. Der Hintergrund ist das, was Wilhelm Schmidt-Biggemann >Projektaufklärung< ge­ nannt hat, mit den Stichworten Theodizee, Vervollko mmnung, moralische Verbesse­ rung. 1 9 Diese Stichworte ließen sich am Monadenbegriff philosophisch festmachen, und zwar eher noch an einem >vollen< Monadenbegriff a Ia Leibniz, als an dem re­ duzierten von Wolff.20 Deshalb werden wir in dem S ammelbecken manche >idealistische< bis >hermetische< Wolffianer finden, die an den Begriff der Monade

lia Buschmann: Die philosophischen Preisfragen und Preisschriften der Berliner Akademie der Wis­ senschaften im 1 8. Jahrhundert, in: Wolfgang Förster (Hg.): Aufklärung in Berlin, Berlin 1 989, S. 1 65-228. Vgl. weiter lrving Polonoff: Force, Cosmos, Monads, Bonn 1 97 3 ; Ronald S. Ca1inger: The Newtonian-Wolffian Controversy ( 1 740- 1 759), in: Journal of the History of ldeas 30 ( 1 969), S. 3 1 9330. Laurence Bongie: Introduction, in: Etienne Bonnot de Condillac: Les Monades, hg. v. Laurence Bongie ( Studies on Voltaire and the 1 8th Century 1 87), Oxford 1 980. ts Manteuffel an Christian Wolff, 20. 8. 1 747: •Il seroit injust, qu'un homme qui plaide si bien Ia cause de Ia verite, ne fut pas agrege a Ia Societe des Alethophiles.• (>Memoires Prives< von Jean De­ schamps, zit. nach Uta Janssens-Knosch: Jean Deschamps (Anm. 1 6], S. 263). Vgl. aber auch allg. Heinrich Ostertag: Der philosophische Gehalt des Wolff-Manteuffelschen Briefwechsels, Leipzig 1 9 1 0. Stiebritz' Schriften: Johann Friedrich Stiebritz: Widerlegung der Gedancken von den Elemen­ ten der Körper [von Leonard Euter], Frankfurt/Leipzig 1 746. Ders.: Prüfung einer in den Ergetzungen der vernünftigen Seele ohnlängst an das Licht gestellten Schrift wider die einfachen Dinge, Leipzig 1 747. Vgl. weiter Anonymus [Christian Albrecht Körber oder Johann Friedrich Stiebritz] : Vertheidi­ gung der Leibnitzschen Monaden und einfachen Dinge wider den Angriff des Herrn Justi, Halle 1 747. Für weitere Streitschriften gegen die Monadengegner vgl. Hamburgisches Magazin 6 ( 1 747), S. 1 72 ff. ; Neuer Büchersaal S ( 1 747), S. 87 ff., 3 8 1 ff. ; J. J. H.: Neuer Versuch einer Prüfung der Justischen Schrifft wider die Lehre von den Monaden, Leipzig 1 748. 1 9 Wilhe1m Schmidt-Biggemann: Theodizee und Tatsachen. Das philosophische Profil der deut­ schen Aufklärung, Frankfurt 1988. 20 Zu den Unterschieden vgl. Hans Poser: Zum Begriff der Monade bei Leibniz und Wolff, in: Metaphysik, Ethik, Ä sthetik, Monadenlehre. Akten des 2. Internationalen Leibniz-Kongresses Han­ nover 1 972, Wiesbaden 1 975, Bd. 3, S. 3 83-395. =

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als >vorstellendes< Wesen anküpfen - pointiert vor allem Jens Kraft aus Som21 - oder sogar an den von van Helmont, den wir schon kennengelernt haben. Ein solcher Wolffianer ist Andreas Clavius aus Celle gewesen, einer der ersten von denen, die versucht haben, Kapital aus der zusammenschweißenden Empörung der Wolffianer zu schlagen. Er inserierte 1 748 in den Zeitungen, daß er seine Schriften über die Mo­ naden zur Pränumeration anbiete. Das Projekt ist gescheitert, doch wir haben den einen S atz, daß darin unter anderem »von der Unsterblichkeit und der Erlangung ei­ nes edlem Körpers«22 gehandelt werden sollte. Was ist die >Erlangung eines edlem Körpers< im Kontext der Monadenlehre? Es kann sich bei dieser Formulierung nur um die Theorie der Metempsychose handeln, der Verbindung des hermetischen Ver­ edelungsgedankens aus dem alchemisch-radikalprotestantischen Milieu mit der Leibnizschen These der unzerstörbaren Substantialität der Monade. Diese Verbin­ dung war offenbar in den 1 740er Jahren im Kontext der sogenannten >physischen< Monadologie entstanden, dem Versuch, Newtons Kosmologie mit Leibniz' Lehre zu synthetisieren. Bei Newton gibt es Anziehung und Abstoßung als Grundkräfte, und nicht nur Emanuel Swedenborg - wahrscheinlich Jakobit und Freimaurer - ist darauf verfallen, diese Grundkräfte mit den polaren Prinzipien des Hermetismus zu identi­ fizieren.23 Was fiir die Kosmologie, die Theorie des Sonnensystems, galt - Ent-

21 Vgl. [Jens Kraft: ] Systema mundi [ . . . ] deductum ex principiis monadicis, in: Dissertation qui a remporte Je prix par I' Academie Royale des Seiences et belles-lettres sur Je systeme des monades, Berlin 1 748. Gelegentlich wird die Schrift auch Samuel König zugeschrieben, doch ich halte Kraft als Autor für wahrscheinlicher. Kraft hatte im übrigen schon früh Kontakt zu Formey; vgl. insbeson­ dere die Briefe Krafts vom 1 .7. 1 747 und vom 28.9. 1 747 in der Staatsbibliothek zu Berlin, Slg. Darmst. H 1 74 1 ( I ) Jens Kraft, BI. 1-4. 22 Neue Zeitungen von Gelehrten Sachen, Leipzig, Februar 1 748, St. I 0, S . 88-92. In dieser Zei­ tung war im Jahr zuvor der Monadenstreit ebenfalls ausgefochten worden: vgl. etwa Jg. 1 747, S. 707-7 1 2 . Zu Clavius vgl . : Deutsches biographisches Archiv. Eine Kumulation aus 254 der wich­ tigsten biographischen Nachschlagewerke für den deutschen Bereich bis zum Ausgang des 1 9 . Jahr­ hunderts, hg. v. Bernhard Fabian, bearb. unter der Leitung v. Willi Gorzny. München!New York/London/Paris 1 982, 1 93 , S. 287 f.; Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3), S. 1 8-25. 1 748 veröf­ fentlichte Clavius dann die Broschüre: >Bericht von dem gefährlichen Vorurtheile, warinnen die Lehre von den Elementen der Körper zu dieser Zeit gerathen istPrincipia rerum

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stehung von immer edleren Körpern aus der Anziehung des Ähnlichen heraus -, das sollte bei den universal denkenden Wolffianern bald auch für die Seelen der Men­ schen nach dem Tode gelten. Im Falle von Clavius läßt sich sogar genauer ermitteln, welches die Inspirationen gewesen sind, die ihn zu seiner >esoterischen< Interpretati­ on der Monadenlehre bewogen haben: 1 7 4 1 hat er eine kleine Schrift Logices anti­ quissimae et recentissimae specimen veröffentlicht. Das ist ganz offensichtlich eine Parallelbildung im Titel zu dem älteren Buch Principia philosophiae antiquissimae et recentissimae, einem Werk, das 1 690 veröffentlicht worden ist und von Anne Con­ way stammt. Und die schrieb es unter dem Einfluß ihres engen Freundes Franz Mercurius van Helmont.24 Clavius hat 1 7 4 7 gleich zwei Schriften an die Berliner Akademie gesandt. Aus den Andeutungen in seinen Zeitungsannoncen kann man rekonstruieren, um welche der Einsendungen es sich dabei gehandelt hat.25 Es sind die Nummern I und 24 derj eni-

naturalium, sive novorum tentaminum phaenomena mundi elementaris philosophice explicandi Aufbau der animalischen Welt< von 1 74 1 . Vgl. als zeitgenössische Warnung vor einem Rückfall in Hermetismus durch die Newtonsehe Physik Ge­ org M. Bose: Sympathiam attractioni et gravitati substituit [ . . . ), Wittenberg 1 757. 24 [Anne Conway: ] Principia philosophiae antiquissimae et recentissimae, Amsterdam 1 690. Das Buch, postum durch Franz Mercurius van Helmont veröffentlicht, ist zum Teil zusammen mit van Helmonts >Quaestiones 200 de renovatione animorum< (Anm. 7) gedruckt und verkauft worden. V gl. die neuere Edition von Peter Loptson (Hg.): The Principles of the Most Ancient and Modem Philoso­ phy by Anne Conway, Den Haag 1 982, sowie die englische Übersetzung >The Principles of the Most Ancient and Modem PhilosophyPrincipia< Kap. IX, § 5 (hg. v. Coudert/Corse, S. 65): •When wood is bumed, many say that the wood is composed of two substances, matter and form, and that matter remains the same but the form of wood is destroyed or annihilated, and the new form of fire is produ­ ced in this material. Thus, according to them, there is a continual annihilation of real substances and a production of new ones in this world. This, however, is so foolish [ . . . ). For there are Iransmutations of all creatures from one species to another, as from stone to earth, from earth to grass, from grass to sheep, from sheep to human flesh, from human flesh to the lowest spirits of man and from these to the noblest spirits.• 25 Vgl. die Annonce in >Neue Zeitungen von Gelehrten Sachenpolitische Sprache< verstehen, als Auf­ klärungssprache, um solche Phänomene zu begreifen. Dann kann man sagen, daß in dieser > Sprache< um 1 750 Reformulierungen, sei es der christlichen Orthodoxie, sei es eines Origenismus oder (wie im Fall Clavius) sogar hermetisch-kabbalistischer

celle de Berlin. I1 fait un si grand cas de cette repn!sentation emblematique, qu 'il proteste, qu'il ne l'aurait pas publiee, meme a un pris de 1 0000 ecus. Il promet de s'attacher a 3 points; le I) si les arguments contre !es monades valent quelque chose ou non; le 2) qui est en etat de demontrer !es monades; et 3) d'en expliquer les phenomenes de Ia nature. Iei il continue ses comparisons fabuleuses tirees du retour d'Ulisses, et je n'y trouve que des reveries phantastiques. Dans Je 2° Chapitre il rap­ porte un phenomene extraordinaire, qu'il a vu, quand il commen�a d' ecrire son memoire, savoir: Ia lune a ete couverte d'epaisses teni:bres, qui signifient que Ia memoire de ceux, qui sont contre les monades, deviendrait fort obscure a Ia posterite; or cette piece me parait partout si tenebreuse, qu'il est presque impossible de deviner ce que l'auteur veut dire.• Man sieht, daß Clavius offensichtlich stark aus der •esoterischen< Tradition von spekulativer Geometrie, Astrologie, Allegorese und Nu­ merologie schöpft. Das Wiedererwecken antiker Monadentradition durch Leibniz ist dabei allerdings ein Deutungsmuster, das - in mehr christlicher Variante - auch bei anderen Einsendungen an die Akademie (etwa 4, I 8 und I 9) sichtbar wird. Dort wird die bei Ralph Cudworth: The true intellectual system of the universe, London I 678, Nachdruck Hildesheirn/New York I 977 behauptete Identität von Moses mit Moschus dem Phönizier und seiner •atomistischen< (monadologischen) Lehre für die Rückführung von Leibnizens Lehre auf Ursprünge in einer (sakralen) prisca theologia verwendet. 26 Porphyrius: De antro nympharum, mit Bezug auf Odyssee XIII, I 02-I I 2 : cdnap i: 11l Kpato� Alf.I.EVO� tavuuA.A.o� i:AatT) usw. Vgl. Robert Lamberton: Homer the Theologian. Neoplatonist Allegorical Reading and the Growth of the Epic Tradition, Berkeley/Los Angeles 1 986. Vgl. für die entsprechenden römischen Mithras-Mysterien Reinhard Merkelbach: Mithras. Ein persisch-römischer Mysterienkult, 2. Auflage Königstein I 994, S. 238 ff. Vgl. auch als klassischen Locus für die See­ lenwanderungslehre Macrobius: In Somnium Scipionis I 1 2.

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Lehren, stattfinden konnten, je nach ideologischer Herkunft, immer aber mit einem >VerwissenschaftlichungsRationalisierungsvernünftigen HermetikMonaden­ freunde< zu organisieren.2 7 Über den Sekretär der Berliner Akademie, Formey, ver­ suchte er, an die Namenslisten der Einsender zur Preisfrage zu kommen. Das scheint ihm zum Teil geglückt zu sein, denn in der geheimen Gesellschaft, die er Anfang der 1 75 0er Jahre gründet und die er >Allgemeine Gesellschaft der Wissenschaft und der Tugend< nennt, findet man als Mitglieder andere Einsender von 1 747 wieder: neben Clavius etwa Johann Daniel Müller, einen Rechtswolffianer aus dem Hessischen.28 Von Clavius scheint Schade schon 1 748 in dessen hermetisch-kabbalistisches Den­ ken initiiert worden zu sein.29 Wenn die Gesellschaft Schades nur eine weitere Kopie der >Aletophilen< gewesen wäre, müßte man nicht viel Aufhebens von ihr machen. Doch sie war mehr. Sie war in gewisser Weise ein früher Vorläufer von radikalen Geheimorganisationen der Spätaufklärung wie den Illuminaten oder der >Deutschen Union< Carl Friedrich Bahrdts.30 Denn Schades Organisation hatte ein doppeltes Ge­ sicht. An der Oberfläche war sie eine Mischung aus gelehrter Aufklärungsgesell27 Zu Schade ( 1 7 1 2- 1 795) vgl. Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3). 2 8 Johann Daniel Müller: Compositio corporum ex entibus simplicibus, methodo mathematicorum demonstrata, Frankfurt 1 748. Zu Müller (ca. 1 724-1 794) vgl. Meusel: Lexikon der vom Jahr 1 750 bis 1 800 verstorbenen teutschen Schriftsteller, Bd. 9, Leipzig 1 809, 407-4 1 2 ; Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3), S. 64 f. und S. 1 9 1- 1 93 . 2 9 Vgl. Georg Schade: Historische Nachricht von dem Anfange, Wachsthum, Hindernissen und nunmehrigen Fortgange und Nutzen der zur Ausbesserung der höheren Natur- und Geisterlehre vor einiger Zeit errichteten Gesellschaft der Wissenschaften bis auf das Jahr 1 757, o.O. o.J. [ 1 757], S. 32: Anfang 1 748 habe er an •Freunde< seine Korrespondenzen wegen der Monadenpreisfrage gesandt und habe erst Ostern und dann Anfang 1 749 Antwort erhalten, mit Vertröstungen. Erst im November 1 750 sei die wirkliche Antwort mit •Beilagen< eingetroffen und dem Vorschlag, auf dieser Grundlage eine Geheimgesellschaft zu gründen. Diese Daten stimmen gut mit dem Termin von Clavius' Zei­ tungsannonce überein. Schade kann nach der Anzeige im Februar an Clavius geschrieben und später dann von ihm die Instruktionen erhalten haben. Ich halte es darüber hinaus fiir durchaus möglich, wenn nicht gar wahrscheinlich, daß Clavius Freimaurer gewesen ist und auch so eine Affinität fiir Geheimgesellschaften vermitteln konnte. 30 Zu Bahrdts >Deutscher Union< vgl. Agatha Kobuch: Die deutsche Union. Radikale Spätaufklä­ rung, Freimaurerei und Illuminatismus am Vorabend der Französischen Revolution, in: Reiner Groß/Manfred Kobuch (Hgg.): Beiträge zur Archivwissenschaft, Weimar 1 977, S. 277-29 1 ; Günter Mühlpfordt: Buroparepublik im Duodezformat. Die internationale Geheimgesellschaft >UnionVorstehern< ausführe und die Anweisungen an die >Provinzialsekretäre< weiter­ gebe. Doch in Wirklichkeit gab es nur ihn, und das verzweigte Gerüst der Gesell­ schaft war mehr Plan als Wirklichkeit. Schade tat alles, um diesem Plan Substanz zu geben. Er gründete nach seiner Übersiedlung nach Altona eine Zeitung - ein lukrati­ ves Geschäft in den Zeiten des Siebenjährigen Krieges - und versuchte, über die Distributionsnetze dieser Zeitung auch die Schriften seiner Gesellschaft zu verbrei­ ten. Darüber hinaus entwickelte er ein den Freimaurem ähnliches Gradsystem, in dem ein Mitglied aufsteigen konnte, wenn es schriftliche >Einwendungen< zu den Publikationen der Gesellschaft machte. Vor allem aber hatte Schade vor, seine Mit­ glieder sozusagen pädagogisch-subversiv zu einem hermetisch-deistischen Stand­ punkt zu führen. Deistisch heißt in diesem Falle: kritisch gegenüber j eder Offenba­ rungsreligion und auf der Suffizienz der >natürlichen< Religion beharrend. Diese Ansicht hat Schade 1 760 in einer Schrift Die unwandelbare und ewige Religion der ältesten Naturforscher und Adepten dargelegt, einer der wenigen offen deistischen Schriften der deutschen Aufklärung. 3 1 Doch die Publikation, die i n drastischer Weise die Rhetorik von der Religion als Priesterbetrug benutzt, war eine vorzeitige Notge­ burt kurz vor Schades finanziellem Ruin und brachte ihm nur Probleme ein: Verhaf­ tung, Verbrennung bzw. Vernichtung des größten Teils der Auflage, schließlich Ver­ bannung auf eine dänische Gefängnisinsel für den Rest seines Lebens.32 Ich sagte, Schades Organisation sei ein früher Fall eines Musters, das in den 1 780er Jahren viel deutlicher in Erscheinung trat: einer geheim arbeitenden Gesell­ schaft mit esoterischen Gehalten, religionskritischen Intentionen, kommerziell­ publizistischen Netzwerken und politischen Reformabsichten. Ich kann an dieser Stelle allein das esoterische Element etwas näher beschreiben, und dafür kehre ich zurück zur hermetischen >Monadologia physicaErlangung eines edlem Körpers< entwickelt, zu­ nächst als Naturphilosophie, dann aber als Seelenlehre in moralischer Absicht. Er macht aus seinem Hermetismus und Origenismus ein moralisches Argument. Zum Verständnis dieses Argumentes ist zunächst der kosmologische Hintergrund zu erläu-

3 1 Georg Schade: Die unwandelbare und ewige Religion der ältesten Naturforscher und so ge­ nannten Adepten, Berlin/Leipzig [=Altona] 1 760. 1 999 wird in der Reihe •Freidenker der europäi­ schen Aufklärung< des Verlages Frommann-Holzboog ein von mir herausgegebener und eingeleiteter Reprint des Buches mitsamt einiger Materialien erscheinen. 3 2 Vgl. Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3 ), S. 204--245. Erst nach zwölf Jahren Verbannung ist Schade begnadigt worden.

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tern. Nach dem Tod, so Schade, schaffen sich die Partikel, die die Seele darstellen, einen neuen Leib, der aus feineren, subtileren Partikeln besteht.33 Denn das ganze Universum folgt dem einen Prozeß der Archäenwanderung: Je edler etwas ist, desto mehr Schwere hat es und wird um so stärker zum Zentrum des j eweiligen Zentral­ körpers gezogen - bei einfachen Leibern zunächst zur Erde, im Fall der Seelen zum »Centro des Universi«.34 Man darf im Hintergrund dieser Theorie der >Gravitation< der Seelen zum kosmi­ schen Zentrum durchaus die im 1 8 . Jahrhundert verbreitete Vorstellung der Planeten­ reise der Seelen vermuten.35 War die antike Theorie der Metempsychose von einem Weg der ätherischen Seele durch die Planetensphären auf ihrer Rückkehr zum Fix­ sternhimmel ausgegangen, so hatte sich in der nachkopernikanischen und nachnew­ tonscheu Epoche der Gedanke mit der von Fantenelle popularisierten Eschatologie bewohnter fremder Planetenwelten verbunden. Eine Melange aus Utopie sündelosen Naturstands, kosmologisch gedeuteter Auferstehungslehre und pseudonaturalistischer Gravitatonstheorie war entstanden, die ihre Spuren je auf ihre Weise in der Wolfflanischen Theorie der »Civitas Dei«36, beim frühen Kant3 7 , aber auch bei Brockes, Klopstock und Wieland hinterlassen hat.38 Der Gedanke der Stufenleiter der 33 V gl. Schade: Die unwandelbare und ewige Religion (Anm. 3 1 ), S. 64. 34 Vgl. [Georg Schade :] Die vernünftige Metempsychosis oder Archäen- und Seelenwanderung als das wahre innere und allgemeine Gesetz der Natur, bestehend in einer Auflösung der Aufgabe §. 2 1 0. Stück 2. der höhem Weltweisheit, mit dem Worte Licht, Leben oder Vorstellungskraft [Altona 1 760], S. 7 f.: •[Die vernünftigen Seelen] gehören aber, wenn sie das Centrum der Erde er­ reichet, eigentlich nicht mehr zu der Erdkugel, ob sie sich schon innerhalb dessen Athmosphäre be­ finden, sondern sehnen oder bemühen sich alsdenn vielmehr nach dem Centro des Universi oder nach einer höhem Sphäre, ob sie schon auf diesem Wege nach der vollkommenem Sammlung mit vielen geringem einfachen Substanzen, die nach dem Centro der Erden sich bemühen, als Leiber umgeben, und auf eine gewisse Zeit mit ihnen in einem Leibe vereiniget seyn können.• Im Hintergrund der Begrifflichkeil von Schwerkraft und Zentrum steht hier zum einen - neben van Helmont und Conway - die Philosophie des mit ihnen eng verbundenen Henry More, der das theologische Motiv der Ubi­ quität oder Omnipräsenz Gottes dahingehend ausgestaltet hatte, daß er das Universum als Kraft- und Wirkungssphäre Gottes begriff, zum anderen die theologisch-mystische Vorstellung vom Sündenfall, durch den der Mensch aus dem Zentrum (Gott) entfremdet und •verrückt< sei, zu dem er aber in einer Art >Schwerkraft< wieder zurückstrebe. 35 Vgl. Frank Baudach: Planeten der Unschuld - Kinder der Natur. Die Naturstandsutopie in der deutschen und westeuropäischen Literatur des 1 7 . und 1 8 . Jahrhunderts, Tübingen I 993. 3 6 Vgl. etwa Georg Joachim Darjes: Eiementa metaphysices commoda auditoribus methodo ador­ nata, editio nova prius auctior et correctior, Jena 1 753, Teil 8: »Meditatio [ . . . ] de civitate Dei [ ... ] seu elementa cosmologiae.• 37 Immanuel Kant: Allgemeine Naturgeschichte und Theorie des Himmels, in: ders.: Werke, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt 1 968, Bd. I, S. 367: »Vielleicht bilden sich darum noch einige Kugeln des Planetensystems aus, um nach vollendetem Ablaufe der Zeit, die unserem Aufenthalte allhier vorgeschrieben ist, uns in andem Himmeln neue Wohnplätze zu bereiten. Wer weiss, laufen nicht jene Trabanten um den Jupiter, um uns dereinst zu leuchten?« 3 8 Barthold Heinrich Brockes: Irdisches Vergnügen in Gott V, 7-20: •Das Sonnen-ReichVergnügen< , eine grö­ ßere Lustempfindung an der Ähnlichkeit mit Gott, dem vollkommensten Wesen. Darin liegt die empfindbare Belohnung für gute Taten. Für eine Seele mit moralisch schlechter Lebensbilanz hingegen bedeutet die größere Repräsentationsdeutlichkeit nach dem Tod ein stärker empfundenes Leiden an der eigenen Unähnlichkeit zu Gott.39 Für solche >schlechten< Seelen ist aber in der neuen Verkörperung die Mög­ lichkeit gegeben, nunmehr sich zum Besseren zu wenden. Die >philosophische BußelinksAdepten< präsentiert. Schauen wir etwas genauer auf die Rolle, die in diesem Argument die pythagoreisch-esoterische Theorie der Metempsychose als >Religion der Klugen< spielt. Mit Anregungen aus Baumgar­ ten, Darjes und Meier hat Schade seinen Gedankengang entwickelt.41 Ein konkreter Anlaß war ihm allerdings, daß er im Winter 1 75 8/59, als er in Altona Schreiber und Redakteure für seine Zeitung suchte, mit einem Anhänger Johann Christian Edel­ manns in Kontakt kam. Edelmann lebte in Berlin, mit Publikationsverbot, und der Altonaer Schreiber, den Schade offenbar eingestellt hat, war nicht irgendein Anhän­ ger Edelmanns, sondern dessen wichtigster Kopist, der die Manuskripte des Freigei­ stes ins Reine schrieb. So ist Schade in Kenntnis von Edelmanns Drittem Sendschrei­ ben an seine Freunde gekommen, das nicht veröffentlicht war und in dem es um das Leben der Seele nach dem Tode geht. Zumindest >etwas< , meinte Edelmann, müsse überleben.42 Hier konnte Schade ansetzen und seinen Hermetismus auftrumpfen las­ sen. Für die Mitglieder seiner Gesellschaft schrieb er eine Vernünftige Metempsy­ chosis.43 Dieser kleine Text, wie alle Werke Schades nur noch in wenigen Exempla­ ren vorhanden und anonymisiert über die Bibliotheken verstreut, erläutert die Identität der Begriffe >LichtLeben< und >VorstellungskraftDie vernünftige Metempsychosis< (Anm. 34), S. 1 4 . Zu Nolle vgl. Bruce T. Moran: The Alchemical World of the German Court. Occult Philosophy and Chemical Medicine in the Circle of Moritz of Hessen ( 1 5 72- 1 632), Stuttgart 1 99 1 , S. 1 22-1 29. Vgl. aber auch das Buch von Anne Conway (Anm. 24) zum Thema Licht und Leben. Ich zitiere den § I aus der eng!. Übers.: •God is spirit, light, and life.•

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ist diese kleine unausgesprochene Auseinandersetzung mit Edelmann vor allem des­ halb, weil Schade zu dieser Zeit Kontakt mit Hermann Samuel Reimarus aufnimmt und ihm sein deistisches Werk zur geheimen Begutachtung gibt. So waren im Harn­ burg und Altona des Jahres 1 759 die Deisten Schade und Reimarus sowie der Haupt­ kopist Edelmanns zusammen, der just in den Monaten, wo er offenbar als Schreiber Schades tätig war, die ungedruckten >Anblicke< von Edelmanns Moses sowie dessen Autobiographie ins Reine schrieb.45 Was das für mögliche wechselseitige Informati­ onsübermittlungen zwischen den wichtigsten deutschen Religionskritikern der Zeit bedeutet, muß ich nicht eigens betonen. Schade hat mit einiger Wahrscheinlichkeit Reimarus über die bibelkritischen Linien von Edelmanns Moses berichten können, Reimarus wiederum wurde als Ehrenmitglied in die >Allgemeine Gesellschaft< einge­ laden, und Edelmanns Kopist - dessen Identität wir noch nicht kennen - schrieb möglicherweise Kolumnen für die Schadesche Zeitung. Und das alles unter dem Dach einer sich esoterisch gebenden geheimen Gesellschaft!

III. Sensualismus und esoterischer Leibnizianismus im Docetengrad der Illuminaten: Weishaupt und Bannet Einer der Schreiber, die Schade damals offenbar angestellt und aus dem liberalen und kritischen Intellektuellenmilieu Hamburgs rekrutiert hat, ist Johann Joachim Chri­ stoph Bode gewesen.46 An seinem Lebensweg lassen sich blitzlichtartig die Kontinui­ täten von den hermetisch-linkswolffianischen Gruppierungen der Jahrhundertmitte über Lessing - dessen Freund und Mitarbeiter Bode 1 768 wurde und dessen eigene Metempsychoselehre ich hier zunächst nur erwähnen kann47 - bis zu den Illuminaten ablesen. Bode war neben Weishaupt, Knigge und Ditfurth bekanntlich einer der füh­ renden Köpfe, die in den 1 780er Jahren den Illuminatenorden gelenkt haben. Nur war Bode selbst ein Gegner j eglicher mystischer Tendenzen.48 Richtet man aber den Blick 45 Vgl. Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3), S. 1 80 ff. 46 Zu Bode ( 1 728- 1 793) fehlt noch die umfassende Biographie, derer sein Leben und Werk be­ darf. V gl. aber die ausführliche Einleitung von Hermann Schüttler in der von ihm herausgegebenen Ausgabe von Johann Joachim Christoph Bode: Journal von meiner Reise von Weimar nach Frank­ reich im Jahr 1 787, München 1 994. 47 Vgl. aber Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3 ), S. 1 98 ff. , Alexander Altmann: Lessings Glaube an die Seelenwanderung, in: ders.: Die trostvolle Aufklärung. Studien zur Metaphysik und politi­ schen Theorie Moses Mendelssohns, Stuttgart 1 982, S. 1 09- 1 34, sowie den Text weiter unten. 48 Es gibt in der berühmt-berüchtigten •SchwedenkisteDocethöheren Mysterien< und damit höchsten Grad der Illuminaten überhaupt: »Der Tod ist der Übergang von einer Art, die Gegenstände zu sehen zu einer anderen« - bei den Monadentheoreti­ kern hatte das >die Veränderung des Perzeptionsschemas< geheißen - und er spricht vom Eingehen in eine Vielzahl von Welten, »deren j ede beinahe unendlich ist, neue vollkommenste größte Ordnung und Harmonie«.49 Kann man hier eine Kontinuität zur >vernünftigen Hermetik< und dem Origenismus der Monadentheoretiker zur Zeit Schades sehen? Die Antwort auf diese Frage ist von einiger Relevanz, denn da es um das Ver­ ständnis des höchsten aller Illuminatengrade geht, hängt vor ihr die Interpretation des Charakters des Illuminatenordens überhaupt ab. In der Vergangenheit galt Weishaupt meist als am französischen Materialismus, Sensualismus und Rationalismus geschul­ ter Denker, der allenfalls bestimmte chiliastische oder pädagogisch-geschichts­ philosophische Überzeugungen zu diesen Grundlagen hinzugefügt hat. 50 Doch kürzneter die Rosenloge zu regieren. Nicht nur wir, sondern alle guten Brüder freuen uns herzlich Sie aus dem Schiffbruch gerettet zu wißen und empfinden wie edel es von ihnen gehandelt war, dem Beispiel der Großen zu widerstehen, und Ihren Verpflichtungen treu zu bleiben. Ein solcher Bruder muß unse­ rer Loge Ehre machen, die bis itzt unter manchen Versuchungen von außen und innen feste steht und in Einigkeit und Liebe den weisen Gesetzen folgt, von denen sich leider manche entfernen.• Ich dan­ ke der Großen National Mutterloge ,zu den drei Weltkugeln< flir die Erlaubnis, diese Briefe einzuse­ hen. Der Arzt Jacob Mumssen gehörte seit 1 783 einer flir die aufklärerische Meinungsbildung in Harnburg bedeutenden monatlichen Tischgesellschaft an, zu der auch J. G. Büsch, J. A. H. Reimarus, F. G. Klopstock, C. Voght, G. H. Sieveking, J. Schuback, J. A. Günther, J. M. Hudtwalker, F. J. L. Meyer, J. Gabe und J. D. Lawätz gehörten. Vgl. Franklin Kopitzsch: Grundzüge einer Sozialge­ schichte der Aufklärung in Harnburg und Altona, 2. Auflage Harnburg 1 990, S. 540. Weder über den Inhalt der Briefe noch über biographische Recherchen läßt sich aber ermitteln, ob es sich bei dem Briefschreiber um einen Sohn Schades oder gar Schade selbst handelt. Johann Georg Schade ist nicht als illuminatisches Mitglied verzeichnet in Hermann Schüttler: Die Mitglieder des Illuminatenordens 1 776- 1 7 87/93, München 1 99 1 . Allerdings wird Schüttlers Liste künftig zu ergänzen sein durch die Mitgliederliste aus dem in Moskau aufgefundenen zehnten Band der Schwedenkiste, die vor allem Mitgliederreverse aus dem norddeutschen Raum enthält. Zu Bodes Tätigkeit für Georg Schade vgl. Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3), S. 1 94 f. 49 [Adam Weishaupt: ) Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten. Aus dem Ms. Logen 5. 2 . G 39, Nr. 1 07, Stück 24-27, des Geheimen Staatsarchivs Preußischer Kulturbesitz zu Berlin ediert von Hermann Schüttler, in: Johann Joachim Christoph Bode: Journal von meiner Reise von Weimar nach Frankreich im Jahr 1 787, München 1 994, S. 40 I und S. 399, siehe auch Anm. 5 5 . so Vgl. Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1 987; zur neueren Forschung über die Illuminaten vgl. auch Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation, Stuttgart 1 975; Ludwig Hammermayer: Zur Geschichte der europäischen Freimaurerei und der Geheim­ gesellschaften im 1 8. Jahrhundert. Genese-Historiographie-Forschungsprobleme, in: Eva H. Baläzs u.a. (Hgg.): BefördereT der Aufklärung in Mittel- und Osteuropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs, Berlin 1 979, S. 9-68; W. Daniel Wilson: Geheimräte gegen Geheimbünde. Ein unbekanntes Kapitel der klassisch-romantischen Geschichte Weimars, Stuttgart 1 99 1 ; vgl. aber auch die Standardwerke

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lieh hat Monika Neugebauer-Wölk mit Blick auf die erst vor einigen Jahren aufge­ fundenen Anreden der höheren Mysteriengrade diese Interpretation in Frage gestellt. In ihrer Sicht verrät besonders der Doceten-Grad mit seiner Rede von einer >pythagoreischen ReiseFortdauer des Ichs< und einer >höheren< Wahrheit, daß Weishaupts Denken letztlich in der esoterischen Strömung innerhalb der Aufklärung zu verorten ist, mit allen Folgen fur die Entstehungshypothesen der bürgerlichen Ge­ sellschaft. 51 Denn wenn in Organisationen wie dem Illuminatenbund eine Keimzelle der bürgerlichen Gesellschaft gesehen werden kann, dann bedeutet die Neuinterpre­ tation der Illuminaten als esoterischem Bund auch im Sinne einer hermetischen Ideologie eine Relevanz eben dieser Hermetik fur die moderne Gesellschaftsge­ schichte - zusätzlich zur politischen Funktion des Geheimnisses. 52 Es ist deshalb sehr gerrau zu analysieren, welche Vorstellungen und welche Quel­ len in die Anrede des Docetengrades eingegangen sind, die Weishaupt 1 78 3 oder 1 784 nach seiner Entfremdung von Knigge formuliert hat.53 Die Interpretation des Textes als >esoterisch< oder >hermetisch< erscheint nicht von vornherein plausibel und offensichtlich, da sein Grundtenor durch eine erkenntniskritische und sensualistisch­ skeptische Gedankenfuhrung geprägt ist. 54 Ein Sensualismus in der Folge Lockes und Condillacs aber widerspricht den metaphysischen Traditionen des klassischen Her­ metismus, wie er in Renaissance und Barock verbreitet gewesen ist. Erst wenn sich in der Analyse der Quellen von Weishaupts Anrede eine mit der sensualistischen Grundierung konsistente >esoterische< Lehre feststellen lassen sollte, kann dieser Wi­ derspruch aufgelöst werden. Sehen wir auf den Text. Weishaupt beginnt mit einer Kautele, einer erst vorsichtig die Problematik andeutenden sprachphilosophischen Überlegung. Es sei schwierig, der älteren Forschung, Leopold Engel : Geschichte des Illuminaten-Ordens. Ein Beitrag zur Geschich­ te Bayerns, Berlin 1 906, und Rene Le Forestier: Les Illumines de Bavii:re et Ia Franc-Mayonnerie allemande, Paris 1 9 1 4 . Eine Biographie Weishaupts fehlt. Vgl. solange >Allgemeine Deutsche Bio­ graphie< (im folgenden : ADB), Bd. 4 1 , Leipzig 1 896, S. 539-55 1 (D. Jacoby). 5 1 Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungsli­ nien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 1 8 . Jahrhunderts, Göttingen 1 995. 5 2 Vgl. auch Neugebauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer (Anm. 2). Freilich ist die Frage un­ geklärt, inwieweit man die Ideologie des Ordens, zumal in den nur einem sehr kleinen Mitglieder­ kreis bekannten höheren Mysterien, als relevant für die Aktivitäten des Illuminatenordens und somit als relevant für die Entwicklung zur bürgerlichen Gesellschaft hin ansehen kann. 53 Völlig unzureichend und in eine falsche Richtung führend sind die Bemerkungen zum Doce­ tengrad in Hermann Schüttler: Zur Geschichtsphilosophie des Illuminatenordens, in: Annalen der internationalen Gesellschaft für dialektische Philosophie - Societas Hegeliana 6 ( 1 989), S. 258-266. W. Daniel Wilson: Der politische Jacobinismus, wie er leibt und lebt? Der Illuminatenorden und revolutionäre Ideologie. Erstveröffentlichung aus den Höheren Mysterien, in: Lessing Yearbook 25 ( 1 993), S. 1 43, weist darauf hin, daß der Docetengrad - zumindest in seiner Abschrift für Herzog Ernst - erst im Herbst 1 784, also ein Jahr später als der Philosophengrad, von Weishaupt nach Thü­ ringen gesandt wurde. 54 Ernst-Otto Fehn hat in diesem Sinne während der hier dokumentierten Tagung der >eso­ terischen< Einschätzung widersprochen.

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von Gegenständen zu sprechen, »für welche unsere Sprachen noch keine Worte ha­ ben«.55 Bereits hier verweist der Ausdruck mnsere< auf den später immer wieder­ kehrenden Gedanken der Relativität von Sprache und Erkenntnis bezüglich des eige­ nen Standpunktes, der eigenen körperlichen >Organisationnoch< auf das Programm der Temporalisierung, mit der eben diese Standpunktgebundenheit überwunden werden soll. Zweifellos ist Weishaupts Ausgangspunkt sensualistisch: »Kein Mensch hat angeborene Begriffe.«56 Doch der Sensualismus ist auch spracht­ heoretisch gewendet, wie dies vor allem Condillac in einflußreicher Weise vollzogen hatte: abstrakte Begriffe, Verstand und Logik basieren auf den Sinnen, unsere Aus­ drucksfahigkeit ist daher durch deren Konstitution begrenzt. 57 Eben deshalb kann ja das Problem formuliert werden, mit dem Weishaupt anhebt, das Problem nämlich, Wahrheiten zu benennen, die j enseits der durch die eigene Organisation gegebenen Grenzen gültig sein sollen. Trotz dieser Kautele bekundet Weishaupt die Absicht, »mit Menschenzungen Din­ ge vorzutragen, die wir durch unsre höchste Vernunft uns in der Feme kaum ver­ muthen, aber in dieser Gestallt niemalen vollständig und deutlich entwickeln wer­ den«. 58 Offenbar ist angestrebt, eine hypothetische Skizze zu geben, die trotz der anerkannten Erkenntnisbeschränkung zumindest andeutungsweise einen Raum j en­ seits der Beschränkung eröffnen will. Dabei fallt schnell ein Schlüsselterminus, der die Art dieser Eröffnung benennt: >Herausarbeiten< . Es geht darum, sich aus der »allgemeinen Täuschung heraus zu arbeiten«, also die körperlich gegebenen Grenzen zu transzendieren, und später, wenn Weishaupt seine Ideen zum Subj ekt vorträgt, wird es wieder heißen, daß sich dieses »in höhem Sphären hinaufarbeite[t]«59, und ebenfalls: daß es sich zu einer solchen »Geisteshöhe hinaufarbeitet«.60 Es ist also Aktivität und bewußte Anstrengung konnotiert, die eine perfektible Natur wie der Mensch - und konkret der Adept der Illuminaten - auf sich zu nehmen hat, um die Fesseln seiner gewöhnlichen Existenz zu sprengen. Wie aber kann so etwas auf der Basis des Sensualismus gedacht werden - wohl­ gemerkt eines Sensualismus, der nicht jener neuplatonische einer Sinnlichkeit ist, in 55 [Weishaupt: ] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 395-4 1 4; S. 395. Zum Aus­ druck Doceten (auch: Satumianer), der fiir eine gnostische Strömung steht, vgl. Siegmund Jacob Baumgarten: Geschichte der Religionspartheyen, Halle 1 766, S. 434 ff. 5 6 [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 395. 57 Etienne Bonnot de Condillac: Essai sur l'origine des connaissances humaines, Paris 1 746. Zur Rezeption der Sprachphilosophie vgl. etwa die Schriften von Tetens u. a. Allg. dazu: Ernst Cassirer: Das Erkenntnisproblem in der Philosophie und Wissenschaft der neueren Zeit, Berlin 1 922, Bd. 2, S. 4 1 5-420. Panajotis Kondylis: Die Aufklärung im Rahmen des neuzeitlichen Rationalismus, München 1 986; Peter Gay: The Enlightenment. An Interpretation, Bd. 2, New York 1 967, S. 1 74 ff. Condillacs Schrift war von M . Hißmann ins Deutsche übersetzt worden: Versuch über den Ursprung der menschlichen Erkenntnis, Leipzig 1 780. 5 8 [Weishaupt: ] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 395. 59 A.a.O., S. 402. 60 A.a.O., S. 403 .

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der immer schon die Vernünftigkeit enthalten gedacht wird, sondern der strikte und tendenziell materialistische Sensualismus des 1 8. Jahrhunderts? Diderots Lettre sur !es aveugles, auf deren Resultate Weishaupt mehrfach unausgesprochen zurückgreift, hatte diesen Sensualismus unmißverständlich formuliert,61 und in deren Folge hatte man auch in Deutschland sensualistische Philosophien erarbeitet.62 Die Konsequenz j edenfalls schien eindeutig zu sein, »daß diese Erde so wohl, als alle übrigen Theile der Welt, das nicht an und vor sich seyen, was sie uns erscheinen«.63 Denn wenn die Sinne uns Erscheinungen der Welt geben, so eben nicht die Welt selbst. Weishaupts Formulierung ist hier der Reflex einer breiten spätaufklärerischen Diskussion über obj ektive Erkenntnis angesichts sinnlicher Vermittlung des Wissens; vielleicht ist sie sogar schon Reflex von Kants 1 7 8 1 erschienener Kritik der reinen Vernunft. 64 Das Problem war ganz offensichtlich das Realitäts- und Obj ektivitätsproblem, das eine Pluralität von Philosophien je nach Körperorganisation möglich scheinen ließ,

6 1 Denis Diderot: Lettre sur !es aveugles, Paris 1 749. Vgl. (Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 395 : •oder hätte wohl ein, von Geburt aus blinder und tauber Mensch Verstand, Vernunft?•; zu Diderots Werk vgl. Franeo Venturi: La giovinezza di Diderot, Palermo 1 988 (urspr. frz. Paris 1 93 9), S. 1 28-1 4 8 ; Elisabeth de Fontenay: Diderot ou le materialisme enchante, Paris 1 98 1 . 62 Für die deutsche Diskussion vgl. etwa Johann Georg Sulzer: Zergliederung des Begriffs der Vernunft ( 1 758), in: ders. : Vermischte philosophische Schriften, Bd. I , Leipzig 1 773; Johann Ch. Lossius: Physische Ursachen des Wahren, Gotha 1 775; Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die menschliche Natur, Leipzig 1 777. Zum Kontext vgl. Wolfgang Proß: ·Meine einzige Ab­ sicht ist, etwas mehr Licht über die Physik der Seele zu verbreiten.• Johann Georg Sulzer ( 1 7201 779), in: Hellmut Thomke/Martin Sireher/Wolfgang Proß (Hgg.): Helvetien und Deutschland. Kul­ turelle Beziehungen zwischen der Schweiz und Deutschland in der Zeit von 1 770- 1 830, Amsterdam 1 994, S . l 33-1 48. Weiter: Joyce Schober: Die deutsche Spätaufklärung ( 1 770-1 790), Bem 1 975; Werner Schneiders: Die wahre Aufklärung, Freiburg 1 974; Doris Bachmann-Medick: Die ästhetische Ordnung des Handelns. Moralphilosophie und Ä sthetik in der Popularphilosophie des 1 8 . Jahrhun­ derts, Stuttgart 1 989; Johan van der Zande: In the Image of Cicero. German Philosophy between Wolff and Kant, in: Journal of the History of ldeas 56 ( 1 995), S. 4 1 9-442. 63 [Weishaupt: ) Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 396. 64 Die eigentlichen Auseinandersetzungen mit Kants Philosophie hat Weishaupt erst später ge­ fuhrt, in den drei Schriften von 1 788: >Zweifel über die Kantischen Begriffe von Zeit und Raum< , Nümberg 1 788, > Ueber d i e Gründe und Gewissheit der menschlichen ErkenntnißKantische Anschauungen und Erscheinungenorganisiert< sei, also welche organische Konstitution es habe.66 Dann kann man auch sagen, »daß mit j eder noch so unbemerkten Abändrung dieser Orga­ nisation auch nothwendig eine wahre, ihrer Ursach proportionerte Verändrung in der Vorstellung des vorstellenden und empfindenden Wesens vorgehen müsse«.67 Ent­ scheidend ist hier die Etablierung einer direkten Verhältnismäßigkeit zwischen äuße­ ren Kräften und inneren Repräsentationen, die es möglich macht, bei gleichbleiben­ den Wirkungen und gleichbleibeuer körperlicher Konstitution auf gleichbleibende Vorstellungen zu schließen. Die Folge ist zunächst die Aussage, daß jedes Wesen mit seinen Ansichten »alle Zeit Recht habe«, daß nämlich die Vorstellungen immer >wahr< sein müssen in einem ähnlichen Sinne, in dem auch monadische Perzeptionen immer >wahr< sind: sie sind kausal bewirkte Repräsentationen der Welt.68 Die Nähe zur Monadologie umfaßt die ganze Breite von deren Vorstellungs­ theorie. Auch für Weishaupt sind Körper, Ausdehnung und Materie nur Phänomene und besitzen keine Realität; selbst der eigene Körper ist Erscheinung. Wir haben gleichsam eine monadische Gesamtrepräsentation der Welt, in der die verworrenen Einzelrepräsentationen (bei Leibniz die >petites perceptionsmonadische< Welt. Freilich ist dabei von einer prästabilierten Harmonie keine Rede, sondern - gegen Leibniz - ist um uns die unerkennbare Welt der Dinge (besser:

65 Vgl. Klaus Hammacher: Die Vernunft hat also nicht nur Vorstellungen, sondern wirkliche Din­ ge zu Gegenständen. Zur nachkantischen Leibnizrezeption, vornehmlich bei F. H. Jacobi, in: Leibniz, Werk und Wirkung. IV. internationaler Leibniz-Kongreß, Hannover 1 983, S. 243 ff. ; Guido Zingari: Leibniz, Hege! e l 'idealismo tedesco, Milano 1 99 1 , S. 1 8 ff. 66 [Weishaupt: ] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S . 397. 67 Ebd. 68 Zum Repräsentationsbegriff bei Leibniz vgl. George H. R. Parkinson: Logic and Reality in Leibniz' Metaphysics, Oxford 1 965; Aaron Gurwitsch: Leibniz. Philosophie des Panlogismus, Ber­ lin!New York 1 974. 69 [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 398.

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Kräfte) an sich mit ihren Wirkungen auf uns. Zum Zwecke der Betonung des Relati­ vismus und der Standpunktgebundenheit wird die Analogie zur Monadenlehre aber weiter ausgesponnen; selbst die Metapher vom >lebendigen Spiegel der Weltontologischen< Wahrheit durchzudringen, insofern nämlich, als die ontologische Wahrheit j ene ist, die durch »mehr uns bekannte Organisation[en] bestätigt wird«. Ähnlich wie etwas später in der nachkantischen Leibnizrezeption, etwa bei Salomon Maimon, versucht worden ist, den Hiat zwischen Ding an sich und Erscheinung zu überbrücken, indem man die Realität als das Gesamt der >Differentiale< der Erschei­ nungen verstand,72 so versucht auch Weishaupt, die Pluralität der Erscheinungen positiv als Beitrag zu einem unverzerrten Bild der Realität zu nutzen. Doch ist das Charakteristische an seinem Vorgehen, daß er die Pluralität nicht von subj ektiven menschlichen Standpunkten, sondern von physiologischen Wahrnehmungsorganisa­ tionen überhaupt einbezieht.

70 Vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz: Monadologie, in: ders.: Die philosophischen Schriften, hg. v. Carl J. Gerhardt, Bd. 6, Berlin 1 885, S. 6 1 6, § 56. 7 1 [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 3 9 8 : • 1 1 . Daß der nämliche Gegenstand, wenn er auf tausend verschiedene Gegenstände wirkt, wenn er gleich nur allein unter dieser Gestalt erscheint, doch fiir die übrigen in tausendfacher Gestalt erscheinen müsse; fiir Wesen ganz verschiedener Art und Sinnen auch als Etwas erscheinen müsse, wovon wir dermalen noch gar keinen Begriff haben; daß der Baum nicht fiir alle Wesen ein Baum seye; daß also jeder Gegenstand die Anlage habe, auch [es muß wohl heißen: auf] tausenderley Art zu erscheinen, so wie unser An­ gesicht in einem Convexen-, Plan- oder Hohlspiegel bald ordentlich, bald lang, bald breit, bald groß, bald klein erscheint. Diese verschiedene Organisationen sind im figürlichen Ausdruck diese Plan-, Hohl- oder Convexspiegel.• n Ebd. Maimon spricht von der Welt als Darstellungsart eines und desselben Wesens. Vgl. etwa >Sämtliche WerkeDekan< der Illuminaten in Weimar war. 75 [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 399. 7 6 Zu Bonnet ( 1 720- 1 793) vgl. Victor Antoine Charles Riquet de Caraman: Charles Bonnet. Phi­ losophe et naturaliste. Sa vie et ses oeuvres, Paris 1 859; Max Offner: Die Psychologie Charles Bon­ net's. Eine Studie zur Geschichte der Psychologie, in: Schriften der Gesellschaft für psychologische Forschung, I . Sammlung, Heft 5, Leipzig 1 893, S. 553-722; Raymond Savioz: La philosophie de Charles Bonnet de Geneve, Paris 1 948; Giovanni Rocci: Charles Bonnet. Filosofia e scienza, Florenz 1 97 5 ; Lorin Anderson: Charles Bonnet and the Order of the Known, Dordrecht u.a. 1 982.

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tion hat er dann eine Hypothese auszuführen gewagt, die ihm in seinem Selbstver­ ständnis als christlicher Wissenschaftler nahegelegen hatte.77 1 769 nämlich schrieb er eine Palingenesie philosophique, in der er durch die Untersuchung über die Fortdauer von Tierseelen zu einer Erörterung der Auferstehung des Menschen nach dem Tode gelangte - einer Erörterung von einem streng naturphilosophischen und hypotheti­ schen Standpunkt aus. Und im 22. Kapitel dieses Buches redet er genau von j enem > Star-stechen< des Todes, von dem auch Weishaupt spricht. Gemeint ist die Extrapo­ lation des Vorganges, in dem ein Blindgeborener durch Operation (> Stechen< des grauen oder grünen Stars78) sehend wird und so einen neuen Sinn - den Gesichtssinn - zu seinen übrigen Sinnen erhält, auf die mögliche Situation in der >Palingenesie< der Auferstehung: Auch dort könnten uns neue Sinne aufgehen. Die entscheidende Idee Bonnets ist diese: Da unsere organischen Fähigkeiten (die Sinne und der auf ihnen basierende Verstand) perfektibel, vervollkomrnbar sind,79 Gott aber in seiner Güte dafür sorgen wird, daß der vollkommenere Zustand auch erreicht wird, kann man annehmen, daß jeder Mensch in seinem zukünftigen Zustand mehr als die fünf vorhandenen Sinne besitzen wird. 80 Wenn Weishaupt daher davon spricht, daß der »todte blasse Körper« vielleicht >>Unbemerkbares höheres Leben« enthält, so liegt darin der Bezug auf Bonnets Theo­ rie des Übergangs in den künftigen >höheren< Zustand. Nach Bonnet, der einer der

77 Für Bonnets christliches Selbstverständnis vgl. vor allem den Teil der >PalingenesieTraite des sensations< (Paris 1 754) ist. Das Gedankenexperiment mit der Statue, die nach und nach mit Sinnen und Fähigkeiten erfullt wird, greift Bonne! auf und entwickelt es weiter. Zur Begründung der Sinneserweiterung vgl. >Philosophische Palingenesie< (Anm. 79), S. 375-377: ·Die Stufe der Vollkommenheit, die der Mensch auf Erden erreichen kann, ist in einem geraden Verhältnis mit den Mitteln, die ihm zum Erkennen und Handeln gegeben sind: Und alle diese Mittel selbst stehen in einem geraden Verhältnis mit der Welt, die er jetzt wirklich bewohnet. Ein höherer Zustand der menschlichen Fähigkeiten würde also nicht im Verhältnis mit derjenigen Welt stehen, auf welcher der Mensch die ersten Augenblicke seines Daseins verweilen sollte. Allein, diese Fähigkeiten sind unbestimmlich vervollkommlich, und wir begreifen sehr wohl, daß einige von denen natürlichen Mitteln, welche dieselben einst vervollkommnen werden, schon jetzt in dem Menschen vorhanden seyn können. [ . . . ] Zwey Mittel können vornehmlich in der zukünftigen Welt alle Fähigkeiten der Menschen vervollkommnen: Feinere Sinne, und neue Sinne.• Bonne!: geistlichen Leibes< in sich, und das feuerartige Moment im Moment des Sterbens oder in der Verwesung veranlaßt diesen Keim dazu, sich zu entwickeln.82 Man sieht, wie sehr Bormet bemüht ist, in seiner Theorie von - wie er annahm - gesicherten Erkenntnissen der Fortpflanzungs­ physiologie auszugehen. Das Postulat eines subtilen lichtartigen Körpers ist die Kon­ sequenz aus Bormets naturwissenschaftlicher Überzeugung, daß ein Mensch als Pro­ dukt aus Körper und Seele nur dann nach dem Tod derselbe Mensch bleibt, wenn seine Organisation auch nach dem Tod aus Körper und Seele besteht.83 Aus Identi­ tätserwägungen heraus wird der Vorstellung einer Fortdauer nur der unkörperlichen Seele eine Absage erteilt. Gerrau damit war der Anschluß an die neuplatonisch-hermetische Tradition mit ih­ rem ätherischen Astralleib, wie wir sie in wolffianischer Form bei Clavius und Scha­ de angetroffen haben, hergestellt; und es ist aus diesem Grund nicht verwunderlich, Bormet in den esoterischen Kreisen des späten 1 8. und frühen 1 9 . Jahrhunderts in­ tensiv rezipiert zu sehen.84 Schon über das für Bormet - und für Jean Baptist Robinet, der neben dem Genfer Wissenschaftler ebenfalls genannt werden muß - zentrale Motiv der Kette der Wesen85 und der Harmonie der Natur hatte die Nähe der Kon­ zeption zu hermetischen Traditionen nahegelegen.86 Das imaginative Potential, das 8 1 V gl. allg. Jacques Roger: Les sciences de Ia vie dans Ia pensee francaise du xvme siecle, Paris 1 963.

82 Vgl. Bonnet: Analytischer Versuch (Anm. 78), Bd. 2, S. 1 22 : ·Eben dieselbe Materie [eine dem Feuer oder Licht ähnliche Materie, die dem göttlichen Keim förderlich ist] konnte auch die Zerstö­ rung des thierischen Körpers, und folglich die Verwandlung des Lebendigen, welche die Offenbarung ausdrücklich verkündiget, verursachen.• 83 Philosophische Palingenesie (Anm. 79), Bd. 2, S. 3 60; Bonnet: CEuvres (Anm. 79), Bd. 1 6, S. 482. 84 Vgl. Jacques Marx: Charles Bonnet contre !es Lumieres 1 738-1 850, 2 Bde ( Studies on Vol­ taire and the Eighteenth Century 1 56/ 1 57), Oxford 1 976. 85 Vgl. das klassische Werk von Arthur 0. Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, Frankfurt 1 98 5 ; dort zu Bonnet bes. S. 34 1 -345. 86 Neben und hinter Bonnet ist Jean Baptiste Robinet mit seinem Werk >De Ia naturealternative< Tradi­ tion der mehrfachen Metempsychose. Wieder bestätigt sich unser Eindruck, daß der im Wolfflanismus (selbst wenn er so sensualistisch gewendet ist wie bei Weishaupt) transportierte Origenismus leicht eine >esoterische< Metempsychoselehre nahelegen konnte. Weishaupt nennt die Menschen denn auch »transitorische Wesen« 101 und spielt auf die Metempsychose mit dem Wort von der »grosse[n] Pythagorische[n] Reise« an. 1 02 Doch Weishaupt enthält sich der moralmotivatorischen Konnotationen der Doktrin und verwendet die Vorstellung von der wiederholten Metempsychose gleich wieder für ein erkenntnistheoretisches Argument. »Es wäre hier möglich, so­ gar nothwendig, daß, wenn nach dem Ablauf j edes neuen Weltlebens, die Resultate unserer Erfahrungen und Beobachtungen durch den stärkeren Eindruck des neuen Lebens verdunkelt würden, solche nur schlummern, aber, nachdem diese Reise durch eine bestimmte Weltenzahl beschlossen worden, daß sodann alle Ressorts und Be­ hältnisse der gesammleten Welterfahrungen auf einmal losspringen, und sich vor unserm denkenden Ich darstellen.« 1 03 Es ist eine Art Theorie intellektueller Anschau­ ung, was Weishaupt hier mit Hilfe der Hypothese der Metempsychose beschreibt: eine simultane Präsenz aller Kenntnisse, eine Gleichzeitigkeit also, die Leibniz allein für Gott reserviert hatte.104 Bei Weishaupt erhält sie den Status einer Antizipation objektiver Erfahrung im oben erläuterten Sinne. Für Planetenreisen oder Verkörpe­ rungsmythologien ist bei diesem Interesse kein Platz mehr: »Diese Reise wäre dann nicht von einem Gestirn zum andern, von einer bekannten Gestalt und Organisation in eine andre uns ebenso bekannte, von Thieren in Menschen, von Menschen in Thie­ re. Sie wäre noch allgemeiner und erstaunlicher; sie ginge von einem Universum und Weltall zu einem andern von den vorhergehenden gänzlich verschiedenen; von einer bekannten zu einer ganz verschiedenen Organisation, für welche unser Verstand dermalen keinen Begriff hat, und unsre Sprache keine Ausdrücke. « 1 05 Weishaupt hat damit den höchsten Punkt seiner Spekulation erreicht, die Relation der subjektiven Erkenntnis unter >natürlichen< Bedingungen zu der >ganz anderenrelativen< Wahrheit besser und bedachtsamer umgehen. So ist man zum einen dagegen gefeit, eigene Maßstäbe vorschnell auf andere Wesen zu übertragen; zum anderen, so Weis­ haupt, lassen sich abweichende Wahrnehmungsformen, etwa Gelbsehen wegen gelb­ süchtiger Augen, als Vollkommenheiten eigener Art begreifen, nicht nur als Mangel­ formen. »Wenn diese Anomalie, diese irregulairen Arten zu empfinden nicht wären, so wäre es auch Menschen nicht möglich die höhere, ontologische [ . . . ) Wahrheit zu finden. « 1 07 Vor allem aber - neben diesen Bescheidenheitswirkungen auf die menschliche Standpunktverhaftetheit - macht es die Relation der zweifachen Wahrheit möglich, Vergleiche anzustellen: »die Möglichkeit, eine gemachte Erfahrung, eine Art zu se­ hen mit einer andem, in einer andem Organisation gemachten erfahrung zu ver­ gleiche[n] , zu bestätigen«. 1 08 Weishaupts Terminologie ist hier etwas verwirrend, denn er nennt diese >höchste ErkenntnisWahrheitabsoluten< Wahrheit einerseits, dem daraus gefolgerten konstitutiven Voraussetzungsverhältnis zwischen dieser ab­ soluten und der natürlichen Wahrheit andererseits, und der höchsten natürlichen und in sich komplexen Wahrheit drittens. Diese letzte Form, die >ontologische< Wahrheit, ist die fiir uns, in unserem j etzigen Zustand höchstmögliche Form der Erkenntnis. Ihre Gewißheit kennt den Komparativ (höherer Grad der Gewißheit), aber nicht den Superlativ. 1 09 Der Vergleich zwischen den Erfahrungen unterschiedlicher Organisa106 [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 406. 107 A.a.O., S . 409. Hier spielt der Theodizeegedanke hinein, der auch Weishaupts >Apologie des Mißvergnügens und des Übels< bestimmt (Adam Weishaupt Apologie des Mißvergnügens und des Übels, Frankfurt/Leipzig 1 787). t os [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 409 f. 109 Vgl. a.a.O., S. 4 1 0: •Ist nur so lange wahr, und höhere Wahrheit, als die Sachen und Erfahrun­ gen in dem Stande bleiben, wie sie dermalen sind. Sie ist selbst noch menschliches Wissen, obgleich höheres Wissen des Menschen; der Tod allein kann und muß zeigen, wie viel davon die Probe halten wird; wie sich das Alte gegen die neue, werdende Organisation verhalten wird; welche neue Eigen­ schaften der Dinge wir dadurch entdecken werden; und auch dieses wird sodann noch lange nicht das Letzte seyn. Um viele, noch verborgene Eigenschaften der Wesen, um neue Manifestationen dieser unsichtbaren Kräfte zu erfahren, wird es nötig seyn, oft zu sterben. Jedes Sterben ist Hervorspringen in neues Licht zum neuen Leben.•

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tionen (etwa unserer Sinneswahrnehmung und der künstlichen Wahrnehmung durch ein Mikroskop), auf dem sie beruht, ist nur möglich durch die gleichsam >transzendentale< Annahme einer Doppelung zwischen relativer und absoluter Er­ kenntnis überhaupt. 1 1 0 So lassen sich denn vorläufig einige ontologische Wahrheiten feststellen, doch grundsätzlich gilt: »Mit j edem neuen Sinne, mit Erfahrung einer neuen Organisation erweitert sich das Reich der Wahrheiten, so, wie die Sphäre der Erkenntnis bey einem Menschen von fünf Sinnen ungleich größer seyn muß, als wenn er einen Einzigen hätte.« 1 1 1

IV Weishaupt, Tetens, Lessing und die deutsche Bannet-Rezeption Soweit Weishaupts Anrede, die ich hier in aller Ausführlichkeit rekonstruiert habe, weil eine Analyse dieses zentralen Textes der Illuminatenideologie bisher niemals vorgenommen worden ist. Da der Text >clandestin< und nur wenigen Eingeweihten bekannt war, hat man Weishaupts Stimme innerhalb des Diskurses um Metempsy-

1 1 0 Weishaupt gibt am Ende (a.a.O., S. 4 1 1 f.) noch eine Liste von ontologischen Wahrheiten, doch versteht er diese Liste wohl nicht als vollständig oder gar deduktiv gewonnen in einem strengen Sinne, denn er fii gt ein »beyspielsweise• ein: •( l ) daß Etwas sey. Nur in der Art zu seyn, weichen sie voneinander ab. (2) daß Ich sey, wirke. (3) daß ich nicht allezeit derselbe bin; daß ich verändert wer­ de. (4) daß auch Dinge ausser mir wirklich sind. (5) daß diese Dinge nicht einerley, sondern ver­ schieden und mancherley sind. (6) daß diese Dinge ausser mir auf mich wirken. (7) daß diese Dinge die nämlichen sind, daß Ich der nämliche bin, wenn sie einerley Veränderungen in mir hervorbringen. (8) daß sie verschieden sind, daß Ich verschieden bin, wenn sie eine andre Wirkung in mir hervor­ bringen. (9) daß diese Dinge, diese nämlichen Dinge mir anders erscheinen, wenn ich selbst, wenn meine Organe verändert sind. ( 1 0) daß hiermit diese Dinge, weil sie mir nach veränderten Organen anders erscheinen, nicht in sich selbst sind, was sie mir erscheinen. ( 1 1 ) daß also dieses nämliche Ding, nach veränderten Organen, mir anders erscheinen müsse. ( 1 2) daß sie aber darinn doch Etwas sind, keineswegs aber eine blosse Idee. ( 1 3 ) daß es Dinge gebe, die an und für sich nicht bestehen können, die in und durch andre wirklich, ohne solche nicht wirklich sind. ( 1 4) daß es also Dinge geben müsse, die, obwohl wir sie durch keinen Sinn empfinden, darum doch nicht weniger wirklich sind. ( 1 5) daß Ausdehnung, Zusammensetzung, Materie, Körper, Figur unter diese letzte Classe der Dinge nicht können gerechnet werden. ( 1 6) daß unter dieser Materie, Zusammensetzung andre, selbstständige Dinge müssen verborgen seyn. ( 1 7) daß diese der Grund aller Wirksamkeit des Phe­ nomenon Materie und Zusammensetzung seyen. ( 1 8) daß diese die verborgenen Kräfte seyen, welche diese Erscheinungen in uns wirken. ( 1 9) daß also alle Zusammensetzung Erscheinung sey. (20) daß, wenn die Form, Figur, Zusammensetzung eines Dinges verändert ist, auch diese innerliche Kräfte verändert seyn. (2 1 ) daß wir auch diese innerliche Verändrung der Kräfte hervorzubringen im Stande sind, wenn wir die nämlichen Ursachen setzen, unter welchen die innerliche Verändrung der Gestalt und Figur schon vorgegangen. (22) daß also ähnliche Ursachen ähnliche Wirkungen, und ähnliche Wirkungen ähnliche Ursachen hervorbringen. (23) daß in mir etwas Bleibendes sey, welches bestän­ dig modificiert wird. (24) daß mein Körper, als Etwas zusammengesetztes, dieses Bleibende nicht sey. (25) daß also mein Ich von dem Körper unterschieden sey.• 1 1 1 A.a.O., S . 4 1 2 .

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psychose und Objektivität bisher nicht wahrgenommen. 1 12 Es bleibt, die Zusammen­ hänge insbesondre von Weishaupts Bormet-Rezeption in ihrem historischen Kontext zu betrachten. 1 13 Die Anrede zum Docetengrad scheint von Weishaupt frühestens im Sommer 1 78 3 geschrieben worden zu sein, wahrscheinlich erst im Laufe des Jahres 1 7 84. Im Frühjahr 1 783 hört man noch Knigge von den ausstehenden höchsten My­ steriengraden reden, 1 14 im September hat Weishaupt Abschriften des Anredetextes des Philosophengrades bereits Bode übergeben; für den 2 1 . September 1 784 ist ver­ bürgt, daß Bode auch den Anredetext des Docetengrades besaß, denn er hatte eine Kopie an Herzog Ernst weitergegeben. In Bodes Nachlaß sind diese Texte auf uns gekommen. 1 15 Nun war just in dem Jahr 1 783 sowohl die französische als auch eine kleinere deutsche Gesamtausgabe der Werke Bormets auf den Markt gebracht wor­ den. 1 16 Zwar waren die Werke des Genfer Wissenschaftlers auch vorher schon ohne Schwierigkeiten greifbar gewesen; doch hat die Werkedition zweifellos einen aktuel­ len Anlaß zur Lektüre Bormets dargestellt. Das läßt sich auch flir Weishaupts unmit­ telbaren Umkreis feststellen. So fragt der hochrangige Illuminat Kar! von Eckarts­ hausen am 1 6. Dezember dieses Jahres in der Akademie der Wissenschaften in München an, ob sie die Sämtlichen Werke Bormets erhalten habe. 1 1 7 Nun ist Eckarts­ hausen gewiß ein Vertreter des christlich-spiritualistischen Flügels der Illuminaten, doch heißt dies nicht, daß nicht gerade dieser Flügel Weishaupt zur Rezeption Bon­ nets geraten haben kann. Daß Bormet in Deutschland auf so große Resonanz stoßen konnte, lag vor allem an dem seinem Werk inhärenten Leibnizianismus. Er gehört zwar nicht in den Bereich der kosmologischen Leibnizrezeption mit ihrer Monadendebatte von 1 747, aber er gehört in den parallellaufenden Kontext der Rezeption von Leibnizens Physiologie,

1 12 Wie wir weiter unten sehen werden, ist 1 786 allerdings eine überarbeitete Version des Textes veröffentlicht worden. Für diese Version wäre es interessant, die Stimmen der Zeitgenossen in den Rezensionen zu untersuchen. 1 1 3 Zur europäischen Bonnet-Rezeption vgl. Jacques Marx: Charles Bonnet contre !es Lumieres (Anm. 84). Zur Bonnet-Rezeption Herders vgl. Ralph Häfner: L ' äme est une neurologie en miniature. Herder und die Neurophysiologie Charles Bonnets, in: Hans Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 1 8 . Jahrhundert, Stuttgart 1 994, S. 390--409. 1 1 4 Vgl. etwa die Briefe von Knigge an Zwack aus dem Frühjahr 1 783, die Richard van Dülmen (Anm. 50) abdruckt. 1 1 s Vgl. Weishaupt an Bode, 1 2.9. 1 783, nach Hermann Schüttler: Zur Geschichtsphilosophie (Anm. 53), S. 265. Vgl. auch Wilson: Der politische Jakobinismus (Anm. 53). 1 1 6 Collection complete des Teutschem Merkur< kritisch darauf reagiert hatte; vgl. Johann Gottfried Herder: Ueber die Seelenwanderung. Drey Gespräche, in: Zerstreute Blätter von J. G. Herder. Eine Sammlung, Gotha 1 785; zuerst erschienen im Teutschen Merkur 1,3 ( 1 782).

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vor allem seiner Theorie der Tierseele. 1 1 8 Mit der Präformationstheorie und mit der Synthese aus mechanistischem und organologischem Denken war Leibniz in diesem Feld zum Vorbild einer ganzen Reihe von Denkern geworden. In Tübingen etwa hat Gottfried Ploucquet, einer der Beiträger der Berliner Preisfrage von 1 747, 1 19 aus sei­ ner Leibniz-Interpretation heraus bereits selbständig und vor Bonnet die These, daß es mehr als fiinf Sinne geben müsse, entwickelt: »Ergo innumeri possibiles sunt sen­ sus.« 120 Bonnet mag von Ploucquet beeinflußt worden sein. Im Deutschland der 1 770er Jahre - jener Jahre, in denen Bonnets Schriften Ver­ breitung erlangten - hatte sich eine keineswegs unfruchtbare Pluralität von philoso­ phischen Strömungen etabliert: sensualistische, auf Locke und Condillac aufbauende Theorien standen neben Leibniz-Wolffschen in allen Schattierungen; dazu kamen Fernwirkungen der eklektischen Philosophie der deutschen Frühaufklärung, theolo­ gisch oder theosophisch-hermetisch inspirierte Richtungen, Skeptizismus in der Art Humes und neue Impulse aus empirisch-medizinischen Anthropologien. Es ist j enes Konglomerat, aus dem sich nicht zuletzt die Philosophien von Kant und Herder ge­ bildet haben. Was sich in dieser Zeit >Popularphilosophie< nannte, übte zumeist die Kunst aus, sich auf undogmatische Weise aus allen diesen Richtungen zu bedienen. 1 2 1 Dabei kam auch den Thesen Bonnets eine gewisse Rolle zu. Vor allem Johann Nico­ laus Tetens, Professor in Kiel, ist es gewesen, der das Programm einer Nutzung Bon­ nets fiir eine spekulative >akroamatische< Philosophie angedeutet hat. Tetens verfaßte 1 775 eine kurze Schrift mit dem Titel Über die allgemeine speculativische Philoso­ phie. 122 Dort benutzt er die Lockesche Metapher, die Kant später in seine Kritik der

1 1 8 Zur nachcartesischen Debatte um die Tierseele vgl. Leonora Cohen Rosenfield: From Beast­ Machine to Man-Machine. The Theme of Anima! Soul in French Letters from Descartes to La Mettrie, New York 1 940. Eine entsprechende Darstellung des deutschen Teils der Debatte fehlt. 1 1 9 Gottfried Ploucquet: Primaria monadologiae capita, in: Dissertation qui a remporte (Anm. 21 ) Die Schrift ist die Nr. I I in der Skizze von Euler (Anm. 25). Zu Ploucquet vgl. Max Wundt: Die deutsche Schulphilosophie im Zeitalter der Aufklärung, Tübingen 1 945, Neudruck Hildesheim 1 992, S. 332-3 36; Kar! Aner: Gottfried Ploucquets Leben und Lehren, Bonn 1 909; vgl. allg. Rolf Christian Zimmermann: Das Weltbild des jungen Goethe, Bd. I , München 1 979, bes. das eine Pioniertat be­ deutende Kapitel: Die vernünftige Hermetik in der deutschen Popularphilosophie des 1 8. Jahrhun­ derts. 1 2o Gottfried Ploucquet: Principia de substantiis et phaenomenis, Frankfurt/Leipzig 1 75 3 , S. 1 29 ; vgl. Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre, Harnburg 1 995, S. 1 29. Vgl. aber auch Ploucquets im gleichen Jahr erschienene Abhandlung Dissertatio philosophica de origine atque generatione animarum humanarum ex principiis monadologicis stabilita (Resp . : E. S. Esen­ wein), Tübingen 1 75 3 , bes. § 39. Dort meint Ploucquet, die zukünftige höhere Rationalität müsse in der Monade schon angelegt sein. Das war der Punkt, an dem Bonnet mit seiner >Keimphysischen Meta­ physik< eine solche allgemeine Grundwissenschaft zu entwerfen. Mit deutlicher An­ spielung auf Bonnets Hypothese der Sinneserweiterung fragt Tetens skeptisch: »Sollte wohl j emals eine Zeit zu erwarten seyn, da man es sehen und fiihlen wird, daß die Sonne so groß sey, und von der Erde so weit abstehe, als es itzt die Astrono­ men durch die Hülfe ihrer trigonometrischen Theorien bestimmen? Und so lange wenigstens, bis zu dieser glücklichen Epoche der Mennschenkenntniß, wird die Ver­ nunft immer einer allgemeinen Grundwissenschaft zu ihren angelegentlichsten Kenntnissen benöthiget seyn.«126 Bei diesen Sätzen von Tetens und gegen deren Skepsis konnte Weishaupt anheben. Vielleicht hat ihm die Aussicht, daß sein Entwurf nur >clandestin< fiir wenige Einge­ weihte gedacht war, den Mut gegeben, überhaupt in eine so gewagte Spekulation

1 8 ( 1 905), S. 2 1 6-249; Helmut Schweig: Die Psychologie des Erkennens bei Bonne! und Tetens, Tri er 1 92 1 ; Raffaele Ciafardone: Introduzione, in: J. N. Tetens. Saggi filosofici e scritti minori, Iapa­ dre 1 98 3 ; Eva Koblank: Der Entwicklungsgedanke bei Johann Nicolas Tetens, Jena 1 946; Wilhelm Uebele: Johann Nicolaus Tetens nach seiner Gesamtentwicklung betrachtet mit besonderer Berück­ sichtigung seines Verhältnisses zu Kant, Berlin 1 9 1 1 ; Max Schinz: Die Moralphilosophie von Tetens, Leipzig 1 906. 1 23 Vgl. John Locke: Über den menschlichen Verstand, Berlin 1 962, Bd. I, S. 27. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Riga 1 78 1 ( A), S. 235 f., Riga 1 787 ( B), S. 294 f.: Das Land des rei­ nen Verstandes »aber ist eine Insel [ . . . ] , umgeben von einem weiten und stürmischen Ozeane, dem eigentlichen Sitz des Scheins, wo manche Nebelbank, und manches bald wegschmelzende Eis neue Länder lügt.« 1 24 Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie (Anm. 1 22), S . 21 f. 12 5 Johann Nicolaus Tetens: Philosophische Versuche über die Menschliche Natur und ihre Ent­ wicklung, Leipzig 1 777, Vorrede, S. XIX ff., bes. S. XXV f. 126 Tetens: Über die allgemeine speculativische Philosophie (Anm. 1 22), S. 22. =

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einzutreten, wie Tetens sie angedeutet, aber dann verworfen hatte. Man mußte damit rechnen, bei einer >exoterischen< Behauptung der Spekulation im schulwissenschaft­ lichen Diskurs schnell lächerlich gemacht zu werden. Doch als >esoterischen< Ent­ wurf hat Weishaupt den Schritt gewagt: Er hat das zusammengezogen, was fur Te­ tens noch getrennt schien, und paradoxerweise die sensualistische Spekulation im Anschluß an Bonnet als allgemeine Grundwissenschaft der Vernunft gefaßt; und das, wie sich zeigen ließe, mit vielfachen Anregungen aus Tetens. 1 27 Doch wann hat Weishaupt den Schritt zur Spekulation getan? War es schon 1 77 5 , nach der Veröffentlichung von Tetens' Schrift? War e s 1 78 3/84, als der Anlaß einer breiten Präsenz von Bonnet auf dem Buchmarkt vorlag? Nein, es hatte im Jahr 1 780 begonnen, daß Weishaupt die Gedanken entwickelte, die er 1 78 3 oder 1 784 als An­ rede zum Grad des Doceten niederschrieb. Dieser Umstand läßt sich aus einer Tatsa­ che schließen, die ebenso einfach wie verblüffend ist: Die Anrede zum Docetengrad blieb nicht geheim, sie wurde nur drei Jahre nach ihrer Niederschrift gedruckt. Das ist ein Faktum, das der Illuminatenforschung offenbar nie bewußt gewesen ist, sonst hätte sich manche Diskussion erübrigt. Dabei hat Weishaupt selbst die Hinweise ge­ geben. Nachdem seit 1 78 5 der Illuminatenorden in Bayern verfolgt worden und Weishaupt nach Nürnberg und später nach Gotha an den Hof Herzog Ernsts geflüch­ tet war,128 hat Weishaupt bekanntlich etliche Verteidigungsschriften aufgesetzt. In seiner Einleitung zu meiner Apologie schreibt er im Jahr 1 78 7 gegen die Vorwürfe, er habe mit seiner Geheimgesellschaft die Moral unterminieren wollen: »Wie kann ich die Moral, die besten Schriftsteller gebrauchen, um durch sie alle Sittenlehre zu ver­ nichten? Wäre dies, wie man vorgibt, bey uns der Fall gewesen, so müßten die Leh­ ren und die Anstalten der untern Classen, doch in etwas vorbereiten, das Gift selbst müßte im Hinaufsteigen immer sichtbarer werden, bis es endlich in der letzten und obersten Stuffe den Mitgliedern in seiner ganzen Abscheulichkeit dargereicht würde. Dies würde also in den eigentlichen Mysterien geschehen seyn. Nun waren aber nur zwei Classen derselben. Meine im Druck vorliegende >Apologie des Uebels und des Mißvergnügens< war größtentheils, besonders der noch folgende funfte Theil, ob­ gleich in einer ganz anderen Form, der Gegenstand von den Lehren der ersten Classe. Mein >System über den Materialismus und Idealismus Schwedenkiste< mag man diese Aussa­ gen fur bloße Schutzbehauptungen gehalten haben, jedenfalls haben sie nicht daran

1 27 Das Problem, das Tetens umtrieb, betraf die >Realisierung< der Grundsätze und Begriffe; vgl. Üb > er die aUgemeine speculativische Philosophie< (Anm. 1 22), S. 3 5 ff. 128 Vgl. zu den Verfolgungen Ludwig Hammermayer: Illuminaten in Bayern. Zu Geschichte,

Fortwirken und Legende des Geheimbundes, in: Krone und Verfassung. König Max I. Joseph und der neue Staat, München/Zürich 1 980, S. 1 4 6- 1 7 3 ; sowie die Bücher von Leopold Engel und Rene Le Forestier (Anm. 50). 129 Adam Weishaupt Einleitung zu meiner Apologie, Frankfurt/Leipzig 1 787, S . 13 f.

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gehindert, daß die Existenz der Anreden zu den höheren Mysteriengraden zuweilen bezweifelt wurde. 1 30 Doch als 1 994 Hermann Schütt1er die beiden Anreden aus dem achten Band der Schwedenkiste transkribierte und edierte, hätte die Identität der Transkripte mit den Drucktexten auffallen müssen. Das ist nicht geschehen. 1 3 1 Sieht man Weishaupts 1 786 erschienene Schrift Ueber Materialismus u n d Idea­ lismus. Ein philosophisches Fragment gerrauer an, entdeckt man nach einem schul­ philosophischen Beginn, in dem ein affirmativer Bezug zu Christian Garve herge­ stellt132 und die Problematik des philosophischen Materialismus ausgebreitet wird, schon bald (ab S. 1 8) Übereinstimmungen mit der Anrede zum Docetengrad. Diese Übereinstimmungen verdichten sich dann und werden ab Seite 29 eindeutig zu einem Text, der eine - oft nur geringfügig - überarbeitete Version der Anrede darstellt. Das geht bis Seite 1 04, dann fügt Weishaupt an den Text der Anrede noch Reflexionen über die Existenz Gottes und die Relevanz der Moral, die das Buch beschließen. Die Einbettung des Anredetextes in einen vorangehenden und einen nachfolgenden Teil hatte ganz offensichtlich den Zweck, den im inhaltlichen wie im institutionellen Sinne >esoterischen< Charakter des Textes - der freilich auch als Anrede schon recht akademisch gewesen war - abzuschwächen und ihn für einen breiteren Diskurs zu­ gänglicher zu machen. 1 786, nachdem Weishaupt den Illuminatenorden als geschei­ tert und aufgelöst ansah, hatte er keinen Grund mehr, seine Anredetexte für Ar­ kanzwecke zurückzuhalten. Zugleich aber hatte er Grund, den christlich-moralisch >orthodoxen< Standpunkt in den von ihm verfaßten Schriften herauszustellen. Dazu dienen offenbar vor allem die hinzugefügten Schlußpassagen. In den Erörterungen zum Gottesbegriff findet man dort eine deutliche Distanzierung von Pantheismus und Emanatismus 1 33 - die nach Weishaupts Prämissen plausibel ist -, in den Erörterungen zur Moral den Versuch eines Beweises, daß die Relativierung des >natürlichen< Standpunktes durch künftige Zustände keine Bedrohung für die Geltung von Moral überhaupt sei. 134 Doch kann ein Vergleich zwischen der Buchversion Ueber Mate1 3 0 Vgl. etwa van Dülmen (Anm. 50), wo die Existenz höherer Mysterien kein Thema ist, oder Agethen (Anm. 5 0), wo deren Existenz bezweifelt wird. 1 3 1 Besonders der verdienstvolle Editor der Anrede-Texte, Hermann Schüttler, hätte sich manche Mühe und manchen Fehler ersparen können, wenn er die Identität mit dem Drucktext entdeckt hätte. Aber auch die Diskussion um die >unbekannten< Elemente im Denken Weishaupts hätte anders aus­ fallen können. 1 3 2 Adam Weishaupt Ueber Materialismus und Idealismus. Ein philosophisches Fragment, Nüm­ berg 1 786, S. 9. Weishaupt zitiert aus Garves Einleitung zu seiner Übersetzung von Adam Ferguson: Grundsätze der Moralphilosophie, Leipzig 1 772. 1 33 Weishaupt Ueber Materialismus und Idealismus (Anm. 1 32), S. 1 04- 1 1 0. Diese Argumen­ tation ist zu vergleichen mit der verwandten, aber ausfiihrlicheren Argumentation in Weishaupts Schrift gegen theosophische Schwärmereien, die er in Absetzung von Knigges Linie verfaßt hatte, und die abgedruckt ist in: >Das verbesserte System der Illuminaten mit allen seinen Einrichtungen und Graden Über die Schrecken des TodesDas verbesserte System der Illuminaten mit allen seinen Einrichtungen und Graden< (Anm. 1 3 3), die höheren Myste­ rien nicht berücksichtigt. 1 3 6 Weishaupt Einleitung zu meiner Apologie (Anm. 1 29), S. 1 4 . Johann Georg Su1zers Theorien können Weishaupt dabei 1 78 1 in seiner Distanzierung von einem reinen Materialismus bestärkt ha-

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sich auf das > System des Idealismusesoterischen< Sinne der Metempsychoselehre

ben. Sulzer hatte versucht zu zeigen, daß selbst von einem materialistischen Ausgangspunkt eine Unsterblichkeit der Seele anzunehmen sei: »daß, wenn die Seele so gar materiell wäre, es nicht allein möglich ist, daß sie, nachdem sie dieses Leben verlassen hat, zu einem neuen Leben auferstehe, son­ dern daß dieses wahrscheinlich [ . . . ] sey«. >Ueber die Unsterblichkeit der Seele, als ein Gegenstand der Physik betrachtetBeweis für die Offenbarung< ansehen sollte, wie Weishaupt behauptet, ist nicht von vomherein ausgemacht. Immerhin hat er selbst den Offenbarungsbegriff naturalisiert, wenn in seinem Denken physikotheologische Elemente zweifellos eine Rolle spielen. Am ehesten läßt sich die Anspielung auf den >Gottesbeweis< in >Materialismus und Idealismusneuen Beweis fiir die OffenbarungErnst und Falk< vgl. Weishaupt Nachtrag zur Rechtfertigung meiner Absichten, Frank­ furt/Leipzig 1 787, S. 84 f.

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gelesen zu haben. Das hieß aber, die Seelenwanderungshypothese der Erziehung des Menschengeschlechts wesentlich zu modifizieren und nun von einer qualitativen Seelenwanderung hin zu höher entwickelter Sinnlichkeit auszugehen. 1 39 Im berühm­ ten Gespräch über das " Ev Kat näv als Devise des Spinozismus 1 40 hat Lessing sich mit Jacobi auch über Bormet unterhalten - im Hintergrund sicherlich dessen Palinge­ nesie. Jacobi berichtet: »Eine mit Persönlichkeit verknüpfte Fortdauer des Menschen nach dem Tode, hielt er nicht fiir unwahrscheinlich. Er sagte mir, er hätte im Bonnet, den er j etzt eben nachläse, Ideen angetroffen, die mit den seinigen über diesen Ge­ genstand, und überhaupt mit seinem System sehr zusammenträfen. « 1 4 1 Daß Lessing und Jacobi sich über Bormet unterhielten, ist nicht verwunderlich. Nicht nur der Illuminat Eckartshausen, sondern auch der Münsteraner Kreis um die Illuminaten Jacobi und Kleucker war christlich-theosophisch interessiert und unter­ hielt zudem Beziehungen zu Bormet und seinem Übersetzer Lavater. 1 42 Jacobi hatte sogar als junger Mann bei Bormet in Genf gelernt. Nur hat Lessing seine >eso­ terische< Seelenwanderungshypothese, >sein SystemFragment über die Sinne< in die Zeit nach Lessings Formulierung der Erziehungs-Schrift ( 1 777 entstanden), nämlich auf 1 780. 1 40 Vgl. dazu auch den Beitrag von Jan Assmann in diesem Band. 1 4 1 Friedrich Heinrich Jacobi: Über die Lehre des Spinoza in Briefen an den Herrn Moses Men­ delssohn, neue vermehrte Ausgabe, Breslau 1 789, S. 52. Weiter: »Der Lauf des Gesprächs, und mei­ ne genaue Bekanntschaft mit Bonnet (dessen sämmtliche Schriften ich ehedem beynah auswendig wusste) war Schuld, dass ich hierüber weiter nachzufragen unterliess: und da mir Lessings System weder dunkel noch zweifelhaft war, so habe ich auch seitdem den Bonne! nie in dieser Absicht nach­ geschlagen, bis mich endlich die gegenwärtige Veranlassung heute dazu brachte. Die Schrift des Bonnet, welche Lessing damals nachlas, ist wohl keine andere, als die Ihnen wohlbekannte Palinge­ nesie gewesen.« 1 42 Zum Münsteraner Kreis vgl. Siegfried Sudhof: Von der Aufklärung zur Romantik. Die Ge­ schichte des >Kreises von Münsterneue< Welt: »Es wird auf einmal für uns eine ganz neue Welt voll der herrlichsten Phänomene entstehen, von denen wir uns j etzt ebensowenig einen Be­ griff machen können, als er [Saunderson aus Diderots Brief über die Blinden] sich von Licht und Farben machen konnte«. 1 45 Bei Weishaupt heißt es ganz in diesem Sinne: »Wenn der Bau unsers Auges Microscopisch wäre: so würden wir eine neue, ganz andre Welt sehen.« 146 Da Lessing wie Weishaupt Bormet in nichtchristlicher, zumindest nicht orthodoxer Weise gelesen haben, kann man ihre Vorstellung eines All-Einen, eines " Ev Kat n&v, in dem ein beständiger Übergang von perfektiblen Wesen zu höherer Gestalt vor sich geht, durchaus als Weise einer >Religion der Klugen< ansehen, so sehr diese

jeden dieser fiin f Sinne einzeln, hierauf alle zehn Amben, alle zehn Ternen und alle fiin f Quaternen derselben gehabt haben, ehe ihr alle fiinfe zusammen zu teil geworden.« (§ 6). Bei Weishaupt steht ähnlich die Überlegung, wie ein Mensch im Besitz eines einzigen Sinnes, oder der j eweiligen Kom­ binationen von zwei, drei und vier Sinnen erkennen würde. Er leitet daraus die Erwägung ab, daß man den Einfluß der Sinneskombinationen auf die Begriffsbildung erforschen müßte: »Und es ist der Mühe werth, die Philosophie, die Sphäre von Begriffen bey jedem dieser Menschen zu erforschen, zu bestimmen, wenn anders Menschen genug im Stande sind, ihre Begriffe zu resolvieren; zu wissen, was und wieviel jeder Sinn zu j eder Idee beytrage, und auf diese Art das Zusammengesetzte unsrer Ideen in seine Bestandteile aufzulösen. Dann erst Iiesse sich mit Zuverlässigkeit bestimmen, welcher Erziehung, Religion, Moral, Legislation und Perfektibilität j ede dieser Organisationen fahig wäre. dann würde das Relative und das Entstehen unsrer Begriffe in voller Gewißheit und Stärke erschei­ nen.« Als Hintergrund fiir Weishaupts Wunsch, die Gesetze und Moral von Menschen oder Völkern nach sinnesphysiologischen Grundsätzen zu bestimmen, vgl. Bonnets Kritik an Montesquieus zu >abstraktem< Naturrecht im >Essai analytique sur les facultes de l'äme< (Anm. 78). 1 45 Lessing: Daß mehr als fiinf Sinne (Anm. 1 3 7), § 1 7. 1 46 [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 395. Vgl. Bonne!: Philoso­ phische Palingenesie (Anm. 79), Bd. 2, S. 378 f. (Religion< vor allem bei Weishaupt erkenntnistheoretisch gefärbt ist. Sie hält die Mitte zwischen Schwärmern auf der einen und materialistischen - und damit, wie man annahm, amoralischen - Freigeistern auf der anderen Seite. 1 47 Das ist der Ort ihrer >Esoterik Spinozistisch< ist diese >Religion< lediglich insofern, als ein persönlicher Gott abgelehnt wird. Weishaupt j edenfalls beendet seine Anrede mit einer deutlichen Ablehnung jeder anthropo­ morphen Gottesvorstellung - eine Ablehnung, für die der Appendix zum ersten Buch von Spinozas Ethica der locus classicus war. So heißt es bei Weishaupt »An sich und für Gott giebt es keinen Raum, Zeit, Bewegung, Körper, Ausdehnung, Erde und Menschen: so, wie es offenbar für ihn keine Hitze und Kälte, Finsterniß, Licht und Farben, keine Schönheit und Häßlichkeit giebt. Darum sind auch Verstand, Wille, Freyheit, Güte, Gerechtigkeit Gottes bloßer Anthropomorphismus. Wir machen damit aus Gott einen Menschen, und schaffen die Unendlichkeit zur Endlichkeit um.« l49

V. Moral und Zukunft in einer monadisch präformierten Gesellschaft: die Geschichtsphilosophie der Illuminaten im Philosophengrad Wie fügt sich nun die Anrede Weishaupts, bei der wir ja deutliche Anklänge an den Leibnizianismus festgestellt hatten, in das von uns skizzierte Problemfeld von Mona­ denlehre und Moralmotivation? Zieht Weishaupt aus seiner sensualistischen Monado­ logie moralische Schlußfolgerungen? Das scheint nicht der Fall zu sein. Anders als

147 In dieser Ausrichtung ist diese >spinozistische< Alleinheitsreligion zur Zeit Weishaupts und Lessings zugleich als Essenz der ägyptischen Mysterien wahrgenommen worden. Vgl. Jan Assmann: Ä gypten. Eine Sinngeschichte, München 1 996, S. 484 f. : >>Zwischen den beiden Anfechtungen dieser Zeit, dem rationalistischen Atheismus und dem irrationalistischen Pietismus, bildete dieses Bild Ä gyptens (sive Spinozas) den Leiistern einer Religion, die Natur und Offenbarung versöhnte. « Über Christoph Meiners' Schrift > Über die· Mysterien der Alten, besonders über die Eleusinischen Ge­ heimnisse>Und um auf beyde Classen von Menschen zu würken, und sie zu vereinigen, müsse man eine Erklärung der christlichen Religion erfinden, die den Schwärmer zur Vernunft brächte, und den Freygeist bewöge, nicht das Kind mit dem Bade auszuschütten, dieß zum Geheimnis der Freymaurerey machen, und auf unsere Zwecke anwenden. « 1 4 9 [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 4 1 4; vgl. Spinoza: Ethica, I . Buch, Appendix (Die Ethik, hg. und übers. von Jakob Stern, Stuttgart 1 977, S. 90- 1 09). Vgl. auch Silvia Berti: La Vie et I 'Esprit de Spinosa ( 1 7 1 9) et Ia prima traduzione francese dell ' Ethica, in: Rivista storica italiana 98 ( 1 986), S. 5-46.

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Schade trennt Weishaupt die •monadologische< Metempsychoselehre von einer unmit­ telbaren Relevanz für das Handeln ab. Während Schade sich noch wenig Gedanken über das Problem gemacht hatte, daß eine so komplexe philosophische Lehre wie die von der •wissenschaftlich< begründeten Metempsychose kaum geeignet sein konnte, exoterisch als wirklicher Ersatz für die kirchliche Lehre von der Hölle zu fungieren, hat Weishaupt keine Illusionen mehr darüber, daß sein Text »viele Anhänger und Bekenner finden könne: es würde auch lächerlich seyn, wenn Menschen darnach re­ den und handeln wollten; indem solches auch die eifrigsten Bekenner nicht nothwendig finden, und solche Lehren bloß für diej enigen sind, welche sich den höchsten Betrachtungen der Natur und ihres Wesens widmen, welche bis an die Gränzen der menschlichen Vernunft vorzurücken gedenken«. 1 50 Bei Schade bestand noch Unsicherheit, ob die >Vernünftige Metempsychosis< esoterische Lehre für den inneren Kreis seiner Gesellschaft oder - wie die geplante Veröffentlichung von mehr als 1 200 Exemplaren seiner Unwandelbaren Religion zeigt15 1 - deistische Propagan­ da sein sollte; die Ridikülisierung der leibnizschen Monadenlehre durch Voltaire und nicht minder die Schades durch den Helmstedter Professor Johann Gottlob Krüger haben denn auch diese Unsicherheit weidlich ausgenützt. 152 Weishaupt dagegen de­ potenziert konsequent den Anspruch seiner Metempsychoselehre auf eine rein speku­ lative Grenzerfahrung. 153 »Es soll bloß allein dienen, den Stolz und Vorwitz des Men­ schen zu demüthigen, sie auf das, was ihnen nahe liegt, zu ihrer Glückseligkeit we­ sentlich ist, zurückführen, den Spekulationsgeist vertreiben und zum Handeln auffor­ dern, zeigen, was sie nicht wissen, auch niemalen erfahren werden, das Ungereimte der bisherigen Systeme aufdecken, Menschen vor Irrwegen bewahren, den Materia­ lismus und seine vermeintliche Stärke entlarven [ . . . ] ; zu beweisen, daß der, auf seine Vernunft so stolze, aufgeblasene Mensch manches Unbegreifliche ohne Ursache verlache, daß vielleicht Unmöglichkeilen sind.«154 Es ist offensichtlich, daß Weishaupt den Effekt seiner Betrachtungen in die Nähe der Lebenslehre der pyrrhonischen Skepsis gerückt wissen will. Wo die Skeptiker durch die Isosthenie der philosophischen Argumente die Besinnung des Menschen auf sich selbst einleiten, tut dies die Anrede für den Docetengrad durch einen Aus­ blick auf mögliche künftige Fähigkeiten. Diese skeptische Komponente ist unbedingt jeder Erwägung des •esoterischen< Charakters der Lehre Weishaupts und seines Bun-

J s o [W eishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 396 f. 15 1 V gl. Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3), S. 233. 1 52 Vgl. Johann Gottlob Krüger: Träume, Halle 1 754, Traum 69. Vgl. Mulsow: Monadenlehre (Anm. 1 3), S, 80 ff. 1 53 Einen zusätzlichen Grund fur den esoterischen Charakter der Palingenesielehre, die nur fur »geprüfte, geübte moralische Menschen« in den Mysterien verträglich sei, nennt Weishaupt in: Höhe­ re Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 402: Die Aussicht auf den höheren künftigen Zu­ stand nach dem Tode könnte zum Selbstmord als einer Abkürzung des Weges zum Tode verfuhren. !54 [Weishaupt:] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 396 f.

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des beizurechnen. 155 Dennoch wäre es wohl verfehlt, diese Komponente für das letzte Wort in dieser Angelegenheit zu halten. Immerhin hat Weishaupt in seiner Aufzäh­ lung der Gründe, weshalb er dem Adepten die Palingenesielehre präsentiere, auch gesagt, der Text solle dazu dienen, ,.für die so stark angefochtene, und sonst beynahe nicht zu erweisende Fortdauer unsers Ichs neue Gründe [zu] erfinden, und eine so consolate, beynahe gänzlich verlachte Lehre in einem neuen Gesichtspunkte darzu­ stellen«. 1 56 In diesen Worten schwingt sowohl die Absicht bewußter Konstruktion von Ideologien mit (>erfinden•), die auch Knigge immer wieder betont hatte, um ganz politisch gedacht - möglichst alle Flügel von Freimaurern, auch die christlich­ theosophischen, zur Teilnahme am Geheimbund bewegen zu können, 1 5 7 wie auch ein Moment von trotzigem, fast verschämtem und sich von sich selbst distanzierendem Interesse an der Palingenesielehre, die nun eben auch für einen materialistisch­ sensualistisch geprägten Denker wie Weishaupt - >in einem neuen Gesichtspunkte< ­ annehmbar wurde. Dieses Interesse kommt nicht von ungefähr. Weishaupt ist ein Denker der Perfek­ tibilität. 1 58 Keineswegs zufällig hat er seinen Orden zunächst den der >Perfektibilisten< genannt. 1 59 In den politisch-geschichtsphilosophischen Anreden, der Anrede an die neu auftunehmenden Illuminatos dirigentes und auch der zum ersten Grad der höhe­ ren Mysterien, dem >Philosophus•, hat Weishaupt das Thema der Perfektibilität, das erkenntnistheoretisch in der Annäherung an die obj ektive Wahrheit bestand, bezüg-

1 55 Insofern hat Weishaupt Teil an der Präsenz des pyrrhonischen Skeptizismus in Deutschland gegen Ende des 1 8 . Jahrhunderts. Vgl. dazu Johan van der Zande/Richard H. Popkin (Hgg.): The skeptical tradition around 1 800. Skepticism in philosophy, science and society (= Archives interna­ tionales d'histoire des idees 1 55), Dordrecht u.a. 1 998. Eine skeptische Komponente hat auch das (bei Bonnet so prominente) Motiv der Kette bzw. Stufenleiter der Wesen fiir Weishaupt »Ist denn das eine allgemein ausgemachte und erwiesene Wahrheit, daß Menschen die Ersten aller Wesen sind?«, ruft Weishaupt dem in den >PhilosophenGrössere Mysterien. Erste Klasse. Philosophi. WeltweiseNouveaux Pyrrhoniens< Montaigne und Charron. In ihrem Kontext empfiehlt Weishaupt, die modernen Göttin­ ger Autoren Feder und Meiners zu lesen ! 1 5 6 [Weishaupt: ] Höhere Mysterien: 2te Klasse. Doceten (Anm. 49), S. 396 f. ! 57 V gl. etwa Knigge an Zwack, 20. 1 . 1 783 (Anm. 1 48). t ss Vgl. Gottfried Hornig: >PerfektibilitätgUt< und >böse< immer nach gegebenen Zwecken werteten, in ihren jeweiligen Abhängigkeiten überschaut werden könnten. 1 62 »Steige also, wenn Du kannst, höher und höher zu Uns herauf. Dieses Heraufsteigen, dieses Verall­ gemeinem deines Gesichtspunktes, ist der Berg, oder die grosse Leiter zum Vergnü­ gen, auf welcher der Auserwählte sich schon hienieden zur Gottheit, zur Glück­ seligkeit aufschwingt.«163 In dieser unverkennbar gnostischen Gedankenfigur, die sich nahtlos an den Perfektibilismus des 1 8 . Jahrhunderts anschließen ließ, liegt die Legitimation der Illuminaten als j enes Geheimbundes, dem die Aufgabe der Heraus­ fiihrung aus der partikularen Perspektive der Zwecke zukomme. Das Mittel dafiir ist Geschichtsphilosophie. Das methodische Zentrum dieses >auserwählten< Überblickswissens verbirgt sich denn auch in Weishaupts mythisch-dunkel formuliertem Schlüsselsatz: »Untersuche das V ergangene, vergleiche damit das Gegenwärtige, und du wirst die Zukunft fin­ den.«164 Gemeint ist das Programm und die These von der Prognostizierbarkeit des

1 60 Vgl. Schüttler: Die Geschichtsphilosophie des Illuminatenordens (Anm. 53); Reinhart Kosel­ leck: Adam Weishaupt und die Anfange der bürgerlichen Geschichtsphilosophie in Deutschland, in: Tijdschrift voor de Studie van de Verlichting 4 ( 1 976), S. 3 1 7-327; ders . : Kritik und Krise. Ein Bei­ trag zur Pathogenese der bürgerlichen Welt, 3 . Auflage Frankfurt 1 973, S . 76ff, S. I I 0 f.; Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie (Anm. 50), S. 1 06- 1 26; Lothar Sonntag: Der Einfluß des jungen Rousseau auf Adam Weishaupt und die Politik des Illuminatenordens. Ein Beitrag zur Rezeption der Rousseauschen Geschichtsphilosophie in der deutschen Aufklärung, in: Wissenschaftliche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellsch.-Sprachwiss. Reihe 28 ( 1 979), S. 795-800. Vgl. allg. auch Herbert Jaumann (Hg.): Rousseau in Deutschland. Neue Beiträge zur Erforschung seiner Re­ zeption, Berlin/New York 1 995. 1 6 1 [Weishaupt: ] Grössere Mysterien [ . . . ] Philosephi (Anm. 1 55), S. 3 64. Zum Verhältnis von Standpunktverhaftetheil und Geschichtsdenken, vor allem im Anschluß an Chladenius, vgl. Reinhart Koselleck: Standortbindung und Zeitlichkeit. Ein Beitrag zur historiegraphischen Erschließung der geschichtlichen Welt, in: ders.: Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt 1 989, S. 1 76-207. 1 62 Vgl. [Weishaupt: ] Grössere Mysterien [ . . . ] Philosephi (Anm. 1 55), S. 393; auch schon S. 362. 1 63 A.a.O., S. 363. 1 64 A.a.O., S . 365. Vgl. die >Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos dirigentesAnrede< wurde dann zum >Unterricht< fiir den Priestergrad. Vgl. >Die neuesten Arbeiten des Spar-

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Geschichtsverlaufs . 1 65 Geschichte läßt sich durch Analyse des Vergangeneu auf ihr präformatives Muster zurückführen und dann in die Zukunft extrapolieren. Man kann darüber hinaus aber auch unschwer die Parallele zu Bonnets Methode und zur Argu­ mentation in der Anrede des Docetengrades erkennen: Auch dort ging es ja darum, •die Zukunft zu finden>Erstens entwirft Weishaupt seine Geschichte grundsätzlich unter der Prämisse ihrer PrognostizierbarkeiL Die gesamte Vergangenheit wird als eine Geschichte von Möglichkeiten gesehen, die von der Gegenwart her nach rückwärts proj iziert werden. Auf diese Wei­ se gewinnt er einen Standpunkt, der die Vergangenheit gleichsam ex post prognostisch aus ihren Bedingungen heraus entwickelt; daß dabei Solleusvorstellungen als Maßstäbe in die vergangene Wirklichkeit einfließen, ist zugleich der moralische Impuls, der in die eigene Zukunft extrapoliert wird. Der wahre Leitfaden seiner Geschichtsphilosophie ist, die Vorhersehbarkeit zu erlernen. Damit steht Weishaupt an jener Wende, die von der Exemplarität vergangeuer Einzelgeschichten hinfUhrt zur Einmaligkeit der gesamten Geschichte, die zu erkennen ein Vorhersehungsvermögen herausfor­ derte. Die höchste Vollkommenheit, die er im irdischen Leben findet, ist die Fähigkeit zu Fempro­ gnosen, die als Handlungsmaximen dienen sollen.« Vgl. auch Reinhart Koselleck: Historia magistra vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte, in: ders.: V ergan­ gene Zukunft (Anm. 1 6 1 ), S. 3 8-66. 1 66 Beide Zitate: [Weishaupt:] Grössere Mysterien [ . . . ] Philosophi (Anm. 1 5 5), S. 366. 1 67 Pierre-Simon Ballanche: Essais de Palingenesie sociale, in: Oeuvres completes, 6 Bde. Paris 1 83 3 ; Neudruck Genf 1 967, hier Bd. 4. Vgl. Arthur McCalla: Palingenesie philosophique to Pa­ lingenesie sociale: From a Scientific Ideology to a Historical Ideology, in: Journal of the History of ldeas 55 ( 1 994), S. 42 1 -439. 1 68 Vgl. Guillaume-Thomas Raynal: Histoire philosophique et politique des Etablissemens et du Commerce des Europeens dans !es deux Indes (urspr. 1 770), 4 Bde. Paris 1 780. Zu Raynal vgl. Ko-

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daß unsre Bedürfnisse das grosse Triebrad sind, wodurch Gott und die Natur, uns und alle Wesen in Bewegung setzet und erhält«. 1 69 In Reminiszenz an Albrecht von Hal­ lers Irritationslehre und der von ihr geprägten deutschen Aufklärungsanthropologie170 kann er das Bedürfnis als einen spezifischen ·Reiz< zum Vorgriff auf Zukunft be­ schreiben. Denn das •Triebrad< funktioniert so, »daß, da j eder Schmerz und j edes Mißvergnügen selbst Bedürfnisse sind, solche Wohlthat Gottes und der Natur seyen: daß wir ohne solche elend, und auch zum Vergnügen gänzlich · unfähig wären: daß wir eben deßwegen glücklicher und vollkommener als Thiere sind, weil wir häufige­ re, nicht so leicht unmittelbar, sondern künstlichere, durch entferntere Anstallten zu befriedigende Bedürfnisse haben: daß wir dadurch allein gereitzt werden, auch auf die Zukunft zu denken«. 1 7 1 Hier haben wir nun das Analogon zu Schades Lehre der moralischen Motivation. War Schades Anthropologie von Vergnügen und Mißvergnügen noch rein wolffia­ nisch, so ist Weishaupts Anthropologie eine in der Nachfolge Hallers - vermittelt wohl durch Tetens. Hatte Schade noch im Rahmen von Motiven ftir moralisches Handeln argumentiert - Vermeidung großer Unlustempfindungen in einem künftigen subtileren Zustand -, so redet Weishaupt statt dessen im Rahmen von Antrieben und Reizen ftir •Vergnügen< schaffendes Handeln . 1 72 Moral und Politik sind Teil eines

selleck: Kritik und Krise (Anm. 1 60), S. 1 47 ff. Weishaupt war sowohl von Raynals praktischer Phi­ losophie als auch von dessen Umsetzung von Geschichtsphilosophie in ein politisches Programm der Beseitigung von >Despotie< stark geprägt: Vgl. ADB (Anm. 50), wo seine Aussage zitiert wird, er habe ganz und gar >Raynal im Kopf< gehabt. Vgl. aber auch Christian Garves Übersetzung von Adam Fergusons >Essay on the History of Civil Society< von 1 767: >Versuch über die Geschichte der bür­ gerlichen Gesellschaftpositive< Handeln in: a.a.O., S. 394: »Alles, im Gegentheile, was Menschen einander näher bringt, sie klüger, feiner, geselliger, muthiger, zufriedener, arbeitsamer und unabhängiger macht« - all dies sei »allein wahre, dauerhafte, von Gott geheiligte Politik; ertheilt auch zugleich dauerhafte Macht, weil es die Natur zum Freunde und Bundesgenossen hat, gegen welche alle Hindernisse der Welt nichts vermögen«. In diesem Kontext kennt Weishaupt auch eine Art von >List der Vernunftprivate vices, public benefits< vorbereitet ist: »Darum sind auch alle Hindernisse und Absichten boshafter und eigennütziger Menschen nicht minder nothwendig und wesentlich, weil sie im Grunde nicht hindern, sondern wirklich befördern.« (S. 394). Vgl. allg. zu diesem Thema Albert 0. Hirschman: Leidenschaften und Interessen. Politische Begründungen des Kapitalismus vor seinem Sieg, Frankfurt 1 987.

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ohnehin präformierten Reiz-Reaktions-Ablaufes geworden. 1 73 Eine moralische Moti­ vation ist dort nicht mehr nötig, wo der Weltlauf ganz automatisch zum Besseren tendiert. 1 74 Schon Johann Nikolaus Tetens, der, wie wir gesehen haben, Weishaupt in man­ chem vorangegangen ist, hatte 1 777 die Bedürfnisse als Ursache der Seelentätigkeit in seine Philosophie eingebaut. Und Isaak Iselin war es gewesen, der die Termi­ nologie von den >Triebrädern< für die Menschheitsentwicklung etabliert hatte. 1 7 5 Das Nachdenken über das >System der Bedürfnisse< sollte in Deutschland denn auch noch eine große Zukunft vor sich haben, bis hin zu Hege! und Marx. Ich will nur fest­ halten, daß Weishaupt diese Bedürfnislehre in strikter Analogie zu seiner Erkenntnis­ theorie entwickelt. Auch hier, in der Geschichtsphilosophie, wird auf die Prinzipien

1 73 Die daraus folgende Konsequenz fur politisches Handeln hat Reinhart KoseHeck klar be­ schrieben. Koselleck: Adam Weishaupt (Anm. 1 60), S. 3 2 1 f. : »So stehen die Illuminaten im Bunde mit einer selbstgeschaffenen Zukunft, die sich mit der gleichen moralischen Gewißheit erfullen wird, mit der sie handeln. Die indirekte Steuerung der politischen Ereignisse aus dem geheimen Innenraum heraus ist zugleich der zwangsläufige Ablauf der Geschichte. Damit gewannen die Illuminaten eine enorme Schubkraft: Im voluntativen Akt ihrer Planung lag bereits die Garantie, daß das Vorhaben auch zum Erfolg fuhrt. Es handelt sich mit anderen Worten um eine geschichtsphilosophische Selbst­ garantie der Unschuld. « Weishaupts Tendenz zu einem Determinismus - im engen Verbund mit einem Optimismus - wird auch deutlich in seiner späteren Schrift >Ueber die Lehre von den Gründen und Ursachen aller Dingetotalitäre< und j ede individuelle Moral gefahrdende Zug in Weishaupts Denken liegt. Die Radikalität seines politischen Denkens hat sich viel zu unvermittelt über jede realistische Problematik von moralischer Aufklärung hinweggesetzt. Diese problematischen Seiten des oft weltfremden Utopismus Weishaupts, die aus dem schroffen Gegensatz des radikalen und autoritären Gelehrten zum noch weitgehend unaufgeklär­ ten gesellschaftlichen Zustand in Bayern resultieren, werden gut dargestellt in Norbert Schind! er: Der Geheimbund der Illuminaten. Aufklärung, Geheimnis und Politik, in: Helmut Reinalter (Hg.): Frei­ maurer und Geheimbünde im 1 8 . Jahrhundert in Mitteleuropa, Frankfurt 1 983, S. 284-3 1 8. 1 75 Tetens: Philosophischer Versuch über die menschliche Natur (Anm. 1 25), Bd. 2, S. 703 ff. : »Unangenehme Gefuhle reizen die Thätigkeitskraft. Aber diese wird am meisten unterhalten durch Bedürfnisse, denen durch die thätigen Bewegungen der Seele abgeholfen werden kann, und durch Vorstellungen von vorhergegangenen angenehmen Empfindungen. « Vgl. weiter Isaak 1selin: Philo­ sophische Muthmaßungen über die Geschichte der Menschheit, 2 Bde, Zürich 1 770, bes. Bd. I , S. 5 3 . Für Iselin sind d i e Triebräder allerdings Sinnlichkeit, Einbildungskraft und Vernunft. Z u Iselin vgl. Ulrich Im Hof: Isaak Iselin. Sein Leben und die Entwicklung seines Denkens bis zur Abfassung der >Geschichte der Menschheit< von 1 764, 2 Teile, Diss. Basel 1 947; ders.: Issak Iselin und die Spätaufklärung, Sem/München 1 967. Es war im übrigen Iselin gewesen, der Rousseaus pessimisti­ sche Geschichtsphilosophie in eine optimistische transformiert hatte - so wie Weishaupt sie rezipiert hat.

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der Einheit in der Verschiedenheit, der Kette der Wesen und der Stetigkeit der Natur rekurriert, 1 76 um dann genau wie die Abfolge der menschlichen Sinne eine Abfolge der Bedürfnisse zu behaupten: »daß also die Geschichte des menschlichen Ge­ schlechts, die Geschichte der stuffenweise auseinander entsprungenen Bedürfnisse, der dadurch veranlassten Erfindungen, und der damit wesentlich verbundenen unauf­ hörlich wachsenden Vollkommenheit des ganzen menschlichen Geschlechts sey«. 1 77 So wie aus den Sinnen der Verstand entspringt, so aus den Bedürfnissen die Erfin­ dungen. In dieser Abfolge, die identisch mit der Abfolge der Kulturen ist, hat - ganz wie die immer vollkommeneren >Organisationen< des wahrnehmenden Subj ektes »jeder Grad der Cultur, und j ede mehr oder minder herrschende Volksmeinung ihre, nur ihr allein entsprechende und folglich mit ihr sich ändernde Sitten, Religion und Regierung«. 1 78 Es ist nach diesen Gedankenschritten unschwer abzusehen, daß Weishaupts Ge­ sellschaftstheorie ebenso wie seine Erkenntnistheorie ihre Pointe in der Zukunfts­ gerichtetheit hat. >Perfektibilität und Wahrheit< bedeutet j etzt: selbst ein »noch so gro­ sse[r] Irrthum« in politisch-gesellschaftlicher Hinsicht kann nichts anderes als »Näherrücken zur Wahrheit« sein. 1 79 In diesem Näherrücken hat es im Laufe der Ge­ schichte in der Tat einige Faktoren gegeben, die die natürlich gegebene Proportion von Bevölkerungsvermehrung und Kulturanstieg 1 80 behindert haben. Mit der Be­ schreibung dieses Hindernisses modifiziert Weishaupt das etwas simple Dreisru­ fenmodell der Kulturentwicklung aus der Anrede an die Illu minatos dirigentes, das (mit Rousseau) von einem ursprünglichen Stand der Unschuld ausging, der dann in Herrschaftsverhältnissen - vor allem priesterlichen Herrschaftsverhältnissen 1 8 1 - kor176 Vgl. [Weishaupt: ] Grössere Mysterien [ . . . ] Philosophi (Anm. 1 55), S. 3 66. m

A.a.O., S. 367.

178 A.a.O., S. 368. Während Weishaupt diese Stufen der Kulturen rein präformationstheoretisch entwickelt, hat etwas später Herder in seinen >Ideen< die Vervollkommnung epigenetisch angelegt. Damit hatte er den Vorteil, die Entwicklungsschritte nicht schon in einen metaphysischen Anfangs­ zustand verlegen zu müssen. Im übrigen umfassen Herders >Ideen< gleichsam beide Teile der Philo­ sophie, die bei Weishaupt in die Anreden zum Doceten und zum Philosophen aufgeteilt sind: organo­ logische Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie. Auch für Herder ist der Mensch ein >Mittelwesen< und insofern perfektibel. Es gibt auch Andeutungen über eine Höherentwicklung (Ideen V, Kap. III - Herders Werke in fünf Bänden, Berlin!Weimar 1 978, Bd. 4, S. 94: »Schauen wir nun zurück und sehen, wie hinter uns alles aufs Menschengebilde zu reifen scheint und sich im Men­ schen wiederum von dem, was er sein soll und worauf er absichtlich gebildet worden, nur die erste Knospe und Anlage findet, so müßte aller Zusammenhang, alle Absicht der Natur ein Traum sein, oder auch er rückt (auf weichen Wegen und Gängen es nun auch sein möge), auch er rückt weiter.« Zur direkten (kritischen) Bezugnahme Herders auf Bonnets Palingenesielehre vgl. Ideen IV, Kap. VII (Herders Werke in fünf Bänden, Bd. 4, S. 83 f.). 179 [Weishaupt: ] Grössere Mysterien [ . . . ] Philosophi (Anm. 1 55), S . 367. 1 so Vgl. a.a.O. , S. 373 ff. 1 8 1 Vgl . : Anrede an die [ . . . ] Illuminatos dirigentes (Anm. 1 64), S. 1 72: »Nun waren also die Men­ schen aus ihrer ruhigen Lage in den Stand der Unterwürfigkeit versetzt. Eden, der Garten des Para­ dieses, war für sie verlohren, denn sie waren gefallen, der Sünde und der Knechtschaft unterworfen,

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rumpiert wurde und erst in der Gegenwart mit Hilfe des Geheimbundes überwunden werde. Es mag deshalb lohnen, diese Modifizierung etwas gerrauer zu betrachten. Das Hindernis, auf das Weishaupt anspielt, ist die Religion. Weishaupt spricht hier etwas verschlüsselt und vorsichtig, er redet nur von einer »leicht zu bewegende[n] , furchtsame[n], leichtgläubige[n] , abergläubische[n] GedenkungsartVom tausendjährigen ReicheDeutscher UnionUnion< eher Programm denn realisierte Organisation, doch es läßt sich gleichwohl die Frage stellen: Wie paßte ein Text wie der von Lau in das Programm von Männem, die die Aktionen der >Deutschen Union< mit den Problemstellungen des Kantianismus verbanden? Nun, in Laus Schrift, werden einige Antworten auf Fragen gegeben, die auch 1 790 noch akut waren. Zum einen gab es seit dem Spinozismus-Streit von Jacobi, Mendelssohn und Herder ein großes Interesse an pantheistischen Vorstellungen.226 Gerade weil Laus Pantheismus nicht originärer Spinozismus, sondern durch die hermetisch-vitalistische Brille Tolands und Brunos vermittelt ist227, konnte er bei seiner späten Neuedition

224 Vgl. Novalis: Schriften, hg. von Paul Kluckhohn und Richard Samuel, Stuttgart 1 960 ff. , Bd. 4, S. 570 f. : Hardenberg habe den Traktat >De tribus impostoribus< in der Familienbibliothek gefunden und als Geschenk an Schmid geschickt. Vgl. zum Verhältnis von Schmid und Novalis auch Frank: Unendliche Annäherung (Anm. 2 1 4), S. 532-568. Zu Novalis' Vorstellung von >Seelenwanderung< im Zusammenhang mit seinen Fichte-Studien vgl. im übrigen Florian Roder: Novalis. Die Verwandlung des Menschen. Leben und Werk Friedrich von Hardenbergs, Stuttgart 1 992, S. 22 1 , mit dem Zitat: »Die unendliche Idee unserer Freyheit involvirt auch eine unendliche Reihe unserer Erscheinungen in einer Sinnenwelt - Wir werden nicht an die einzige Erscheinung in unserem irdischen Cörper auf diesem P1atenten gebunden seyn.« 22 5 Vgl. die Rekonstruktion des Falles aus den »Acten kurfiirstlicher Universität Marburg betref­ fend: die, vom Buchbinder Krieger gedruckten supernaturalistischen [sie ! ] Manuscripte von 1 793« durch Christine Haug: Ein Zensurverfahren in Giessen zur Zeit der französischen Revolution, in: Quatuor Coronati 3 2 ( 1 995), S. 1 49-1 82. 226 Ygl. allg. Heinrich Scholz: Die Hauptschriften zum Pantheismusstreit zwischen Jacobi und Mendelssohn, Berlin 1 9 1 6: Kurt Christ: Jacobi und Mendelssohn. Eine Analyse des Spinozastreits, Würzburg 1 988. Alexander Altmann: Lessing und Jacobi. Das Gespräch über den Spinozismus, in: ders . : Trostvolle Aufklärung (Anm. 47), S. 50-8 3 . 22 7 Vgl. etwa Lau: Meditationes (Anm. 1 0), I, I V : »Mihi: Deus Natura Naturans: ego Natura natu­ rata. Ratio ratiocinans: ego ratio ratiocinata. Forma formans: ego Forma formata. Materia simplex: ego materia modificata. Oceanus: ego Fluvius. Aqua: ego gutta. Ignis: ego Scintilla. Terra: ego gleba. Aer: ego effluvium. Sol: ego radius. Corpus: ego membrum. Mens: ego Mentis operatio. Aetemus.

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aktuell sein. Herder hatte 1 78 7 in Gott. Einige Gespräche Jacobis Diagnose von der notwendig spinozistischen Natur j eder Philosophie so gekontert, daß er einen mit Leibniz, Shaftesbury und origenistisch-hermetischen Vorstellungen angereicherten Spinozismus präsentiert hatte. In dieser Linie konnte man Lau lesen, stärker hätte man sogar noch Schades Schrift über die Metempsychosis in ihr lesen können. Denn Herders Axiome - alle Vollkommenheit sei Wirklichkeit, Gott sei Kraft, Kraft in der Natur sei vor allem Schwerkraft, die Wesen würden sich einander verähnlichen und eine fortwährende Reihe bilden, alle Geschöpfe würden Gott ähnlich - wirken fast wie eine Neuformulierung von Schades zitiertem Text über die Aufgabe, die Identität von Licht, Leben und Vorstellungskraft zu erweisen.228 Daß der Bezug auf morali­ sche Relevanz bei Herder ausgeklammert ist, heißt nicht, daß er nicht latent immer noch vorhanden wäre. So gibt es bekanntlich auch eine Theorie der ewigen Palinge­ nesie der Dinge bei Herder, die gegenüber Schades Thesen allerdings durch den Be­ zug auf das " Ev Kat näv und die Selbsterhaltung des Ganzen modifiziert ist.229

Omnipotens. Omnipraesens. Omniscius. « In der Edition von Schmid und Krieger (Zwei seltene ( . . . ] Manuskripte (Anm. 2 1 9]) ist die Passage auf S. 42. 22s V gl. Johann Gottfried Herder: Gott. Einige Gespräche, 1 787. Auch in: Sämmtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin 1 877- 1 9 1 3 , Bd. 1 6, S. 40 1 -580, bes. das 5. Gespräch, S. 532-5 80. S. 540 heißt es implizit gegen Bonnet (und Weishaupt?): »Ich rede also auch selbst noch nicht von der Unsterblichkeit einer Menschenseele und bin gar nicht willens, Ihnen Phantome der Einbildungskraft vorzuzeichnen, wie sie im Raum und in der Zeit d. i. in der großen Weltordnung andre Organe an­ nehmen und ihre Seelenkräfte neu üben werden. Wovon wir reden ist ein einfacher Begriff, das Da­ seyn, an welchem das niedrigste mit dem obersten Wesen Theil hat. Nichts kann untergehen, nichts vernichtet werden oder Gott müßte sich selbst vernichten; aber alles Zusammengesetzte wird aufge­ löset, alles was Ort und Zeit ausmißt, wandert.« Herder ist dennoch noch näher an Schade als Schel­ ling, weil seine Rezeption von Leibniz und Spinoza noch nicht durch Kantisch-Fichtesche und Jaco­ bische Vorgaben gebrochen ist. Insbesondere zu Jacobis Transformation des Spinozismus vgl. die grundlegende Rekonstruktion von Henrich: Der Grund im Bewußtsein (Anm. 9 1 ). 229 Vgl. Herder: Gott (Anm. 228), S. 567: »in dem nichts unverändert bleiben kann und doch alles sein Dasein erhalten will und muß: so ist alles in dieser rastlosen Bewegung, in dieser ewigen Palin­ genesie, damit es immer daure und ewig jung erscheine«. Diese Begründung über Selbsterhaltung bzw. Erhaltung des Ganzen ist wieder näher an Bruno, Toland und Lau als am moralisch­ redemptiven Gilgul von van Helmont bis Schade. Vgl. weiter Herders Kritik an Johann Georg Schlosser: Ueber die Seelenwanderung. Drey Gespräche, in: Zerstreute Blätter von J. G. Herder. Eine Sammlung, Gotha 1 785; zuerst erschienen im Teutschen Merkur I,3 ( 1 782); weiter Herders kritischen Kommentar zu Lessings Ä ußerungen über die Metempsychose: Palingenesie. Vom Wiederkommen menschlicher Seelen, in: Herder: Sämtliche Werke (Anm. 228), Bd. 1 6, S. 3 4 1 -359. Herder lehnt eine Palingenesie im Sinne einer moralischen Bußlehre als Opium ftir das Volk (S. 348) ab. Zur Pa­ lingenesie bei Herder vgl. Rudolf Unger: Herder und der Palingenesie-Gedanke, in: ders . : Herder, Novalis und Kleis!. Studien über die Entwicklung des Todesproblems vom Sturm und Drang zur Romantik, Frankfurt/Main 1 922, S. 1-23. Zur Metempsychose im deutschen 1 8 . Jh. allg. vgl. Ernst Benz: Die Reinkarnationslehre in Dichtung und Philosophie der deutschen Klassik und Romantik, in: Zeitschrift ftir Religions- und Geistesgeschichte 9 ( 1 957), S. 1 50- 1 7 5 ; Emil Bock: Wiederholte Er­ denleben. Die Wiederverkörperungsidee in der deutschen Geistesgeschichte, 6. Auflage Stuttgart 1 975.

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Ein Kantianer wie Schmid, der nicht der pantheistischen Lektüre Laus würde fol­ gen wollen, hatte im übrigen noch genügend Grund, an dessen Text Interesse zu fin­ den. Nicht nur bietet Lau eine eigene, temperamententheoretisch ausgeführte Version der >Betrugsgeschichte< von der reinen natürlichen Religion zur Priesterherrschaft eine vor-Rousseausche Korruptionsgeschichte der Gesellschaft, die Weishaupt zwei­ fellos interessiert hätte -, sondern er entwickelt auch radikale Ansichten zu den The­ men der Erbsünde, der Versöhnung und von Christus als Messias.230 All dies hat Lau abgelehnt, und im Erwägen der supernaturalistischen Gehalte, die über diejenigen durch die Kantische Moralphilosophie gedeckten hinausgingen, konnten sie ihre wenn auch nicht immer originelle - Stimme beitragen; zumindest solange, wie sich Kant nicht selbst dazu geäußert hatte, wie er zu den Dogmen der geoffenbarten Reli­ gion stehe. Kants vorsichtige Stellungnahme, die Religion innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft, erschien dann im selben Jahr 1 792, in dem Schmids Lau-Edition veröffentlicht worden war. Aber noch einen weiteren Anknüpfungspunkt konnten die frühen Kantianer entdecken, wenn sie denn eines der aus Gießen verschickten und nicht von der behördlichen Rückbeorderung betroffenen Exemplare in ihren Händen hielten: Laus Ethik der Freiheit (»Libere agens & libere cogitans. Sine Rege: Lege: Grege: Praemia non sperat: Poenas non timet. Vitia ignorat: Peccata nescit; Omnibus in Actionibus Dictamina praelucentis Rationis & ducentis Voluntatis, pro Vitae Cynosuris habens. «).23 1 Wenn man Kantische Freiheit so radikal und unmittelbar po­ litisch verstand, dann konnte man durchaus Laus Wort vom Leitstern der Vernunft und Freiheit im Sinne des moralischen Gesetzes lesen. Doch mit diesen Bemerkungen über die Möglichkeiten einer Lektüre Laus im Kontext von Kantianismus und >Deutscher Union< will ich hier schließen. Statt all die gegebenen Befunde zusammenzufassen, sei am Ende nur noch einmal der zu­ rückgelegte Weg benannt: In der Rekonstruktion der Problemgeschichte des Feldes zwischen Monadenlehre und Moralmotivation haben wir die Elemente von Esoterik aufgefunden, die innerhalb und nicht außerhalb der Aufklärung ihre Rolle gespielt haben. Esoterisch waren diese Elemente zum einen wegen ihrer hermetisch­ kabbalistisch-origenistisch-pythagoreischen Herkunft, zum anderen wegen ihrer Funktionalisierung im Sinne einer >Religion der KlugenGlaubensbedürfnis< gewesen, das Aufklärer zu

230 Vgl. etwa Lau: Meditationes (Anm. 1 0), Bd. I , S. XV: »Deus nullo modo potest Iaedi. Finito in infinitum potentia nulla, vis nulla, actio nulla; quid enim ea, quam Iaesiones et transgressiones? Si non peccata, nec poena, nec diabolus, nec infemus, ubi nulla mala actionis nec mala passionis fin­ genda. Si non peccata et peccatores, nec salvatore, nec redemptore, nec sanctificatore opus.« Bei Schmid und Krieger (Zwei seltene [ . . . ] Manuskripte [Anm. 2 1 9]), S. 48. 23 1 Lau: Meditationes (Anm. 1 0), Bd. 4, S. XXVII. In der Edition von Schmid und Krieger (Anm. 2 1 9) S. 93f.

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Anhängern von esoterischen •Schwärmereien< wie der Metempsychoselehre gemacht hat, sondern zuweilen ganz im Gegenteil die Suche nach einem philosophischen Er­ satz für die Moralinstanzen der Gläubigen. War eine solche Ansicht zu Beginn des 1 8 . Jahrhunderts noch im Kontext einer radikalen clandestinen Eklektik im Sinne eines Neuheidentums aufgetaucht, gespeist aus hermetischen und politisch radikalen Vorstellungen eines Toland, und in radikalpietistischen Kreisen, inspiriert von van Helmont, so hat sie sich zur Jahrhundertmitte mit der Projektaufklärung des Wolfti­ anismus verbunden. Vor allem die Notwendigkeit, gegenüber materialistisch-nihi­ listischem •Spinozismus< die Moraltauglichkeit der natürlichen Religion zu erweisen, spornte Vertreter einer ohnehin schon hermetisch infiltrierten physischen Monado­ logie an, in der Konsequenz des Wolfflanischen Systemdenkens eine Kosmologie der vernünftigen Metempsychose zu entwerfen. Daß sich solche Überlegungen in der Mitte des Jahrhunderts mit Freimaurer-ähnlichen Sozietätenbildungen verbunden haben, ist nicht verwunderlich, war doch deren subpolitischer Bereich eine Bühne für diverse alternative Denkrichtungen. Innerhalb dieser Sozietäten hat sich das Para­ digma der Perfektibilität, sei es der Moral, sei es der Erkenntnisfähigkeit, dann wei­ terentwickelt. Bei Weishaupt sehen wir eine neue Stufe der •Rationalisierung< esote­ risch-pythagoreischer Vorstellungen: Wie vormals die Leibniz-Wolffsche Monaden­ lehre, so wirkt hier die Bormetsehe Synthese aus Sensualismus und monadenähnli­ cher Präformationstheorie als Wissenschaftssprache, in der eine Neuformulierung der Metempsychoselehre als Religion der Klugen und Eingeweihten vorgenommen wer­ den konnte. Weishaupt steht mit seinen Überlegungen zeitlich unmittelbar an der Schwelle zum Kantianismus, in dem sowohl Wolffsche Denkmuster als auch solche des französischen Sensualismus, die die Organisationen der Illuminaten geprägt hat­ ten, obsolet wurden. Doch auch die Verdrängung dieser Denkmuster im Kantianis­ mus hat nicht das Desiderat eines philosepischen Ersatzes für die positive Moraltheo­ logie beseitigt. Zwar war hier die Ethik des reinen Wiiiens zugleich Garant für moralische Motivation, doch in der Absetzung von der Möglichkeit offenbarter Reli­ gion blieb ein Bedarf nach clandestiner Tradition kritisch-unorthodoxen Denkens.232 Und auch im Entwurf ·höherer< idealistischer Naturphilosophie blieb eine Rezeption esoterischer Vorstellungen präsent; sie hat freilich eine gewaltige Transformation durchgemacht, von der hermetisch-Stahlschen Chemie als Paradigma für umfassende Prozeßerkenntnis über die an Bonnet angelehnte Metempsychoselehre, die bei Weis­ haupt kurzzeitig zur erkenntnistheoretischen Voraussetzung ·höherer< Wahrheit ge­ worden war, bis, nach den Philosophien von Reinhold und Fichte, zu den regressiven

23 2 In gewisser Weise kann man auch die Anreden zu den Illuminatengraden als >clandestine< Texte verstehen, dann nämlich, wenn man die nur geheime Zirkulation solcher Texte zum entschei­ denden Kriterium der Gattung macht. Insofern wären sie der von Peter Burke entworfenen Klassifi­ kation hinzuzurechnen. Vgl. Peter Burke: A Map of the Underground. Clandestine Communication in Early Modern Europe, in: Günter Gawlick/Friedrich Niewöhner (Hgg.): Jean Bodins Colloquium Heptaplomeres, Wiesbaden 1 996, S. 59-72.

Vernünftige Metempsychosis

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Herleitungen natUrphilosophischer Grundmuster als vorauszusetzenden >Epochen< des Faktums des Selbstbewußtseins. Nur ist schon bei Weishaupt zu beobachten, und mehr noch im Frühidealismus: Die ganz enge Verbindung von Monadenlehre, Moral und Hermetik hatte sich dissoziiert.

Florian Maurice (München) Die Mysterien der Aufklärung. Esoterische Traditionen in der Freimaurerei?

Es ist unbestritten, daß wir in vielen Logen des 1 8. Jahrhunderts den Glauben an die Existenz esoterischer Traditionen finden, und man wird auch sagen können, daß sich im Inneren einiger Logensysteme Übereinstimmungen mit älterem hermetischen Ge­ dankengut feststellen lassen.' Das gilt besonders fiir die Hochgradsysteme, die be­ kanntlich in den beiden Jahrzehnten nach dem Siebenjährigen Krieg eine Blütezeit erlebten. Ich bin j edoch skeptisch, ob uns der Hinweis auf die Esoterik zu einem tie­ feren Verständnis der Freimaurerei j enes Jahrhunderts verhilft. Zunächst will ich diese Skepsis etwas erläutern, im zweiten Teil dieses Aufsatzes werde ich dann ein Hochgradsystem analysieren, das sich einer esoterischen Tradition rühmt. Meine These ist, daß man im allgemeinen an einer falschen Stelle sucht, wenn man bei Vereinigungen die in ihnen vertretenen Lehren oder Ideen fiir das Wesentliche hält, sondern daß es darauf ankommt, welche Funktionen diese Vereinigungen im Leben ihrer Mitglieder erfii l len konnten. Attraktiv und bedeutsam war die Freimau­ rerei im 1 8. Jahrhundert nicht wegen der in ihr vertretenen Lehren, sondern weil sie ­ um es kurz und neumodisch zu sagen - so etwas wie einen Raum fiir Selbstverwirkli­ chung bot. Zunächst einmal: Es gab nicht >die< Freimaurerei des 1 8 . Jahrhunderts, es gab Lo­ gen und Freimaurer. Als Freimaurer mußte man die Initiationen durchlaufen haben, und man sollte die Loge mehr oder minder regelmäßig besuchen, aber damit wußte man noch nicht, was Freimaurerei eigentlich ist. Das Geheimnis blieb auch vielen Freimaurem ein Geheimnis. Freilich hatte ein j eder Bruder gewisse Vorstellungen, und zunächst hofften die meisten, das Geheimnis schließlich ergründen zu können, unter all den verschiedenen Paßwörtern, Erkennungszeichen, Zeremonien, Symbol­ deutungen das >wahre Geheimnis< der Freimaurerei zu finden. Dieser Begriff des >wahren Geheimnisses< kam mit den Hochgraden zugleich auf, er wurde zu einem Mythos, der Erwartungen auslöste, die er nicht befriedigen konnte, die aber durch j ede Enttäuschung nur heftiger wurden. Die Nachfrage schuf ein Angebot, die Suche nach dem wahren Geheimnis fiihrte zum Entstehen immer neuer Systeme und immer höherer Grade, in denen man es zu finden hoffte. Dann, in den achtziger Jahren des 1 8 . Jahrhunderts, nachdem man in der Vielzahl von Freimaurereien mit sehr unter-

I Dieser Aufsatz beruht weitgehend auf Ergebnissen meiner Dissertation: Florian Maurice: Frei­ maurerei um 1 800. lgnaz Aurelius Feßler und die Reform der Großloge Royal York in Berlin (= Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 5), Tübingen 1 997. Ich beschränke daher die Fußnoten auf das Unumgängliche und verweise auf diese Arbeit.

Esoterische Traditionen in der Freimaurerei

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schiedlichen Zwecken >die< Freimaurerei nicht mehr finden konnte, versuchte man den >Ursprung der Freimaurerei< , auch ein Begriff jener Zeit, zu ergründen, um Auf­ schlüsse über den eigentlichen Zweck der Freimaurerei zu erhalten und ihre Zersplit­ terung zu überwinden. Letztlich ist dieser Weg ebenso gescheitert wie der vorige. Es gibt kein >wahres Geheimnis< der Freimaurerei, es gibt die Geheimhaltung, die spezifische Funktionen in der Freimaurerei erfiil lt, nämlich die Welt der Loge von der Außenwelt zu trennen, damit im Innern der Loge eine andere Ordnung bestehen kann, als sie in der Außen­ welt Gültigkeit hat, und die zwischen den fremden, in der Außenwelt getrennten Menschen eine Gemeinsamkeit schaffen soll. Es existieren aber keinesfalls festgeleg­ te, bestimmte, allen Systemen gleiche, nur der Freimaurerei eigene Inhalte, auf die sich diese Geheimhaltung bezieht. Zwar gibt es die Rituale, und in den ersten drei Graden stimmen sie in den verschiedenen Systemen auch im wesentlichen überein, aber sie finden ganz unterschiedliche Ausdeutungen. Es ist wichtig, daß die Rituale als Initiationen funktionieren, wichtig zu wissen, wie sie funktionieren, und dazu sollte man sie genau kennen. Aber ob die Säulen auf dem Teppich >Jachin< und >Boaz< oder >Boaz< und >Jachin< heißen, ob der zweite Aufseher im >Westen< oder im > Süden< steht, das sind Streitigkeiten, die Systeme getrennt haben, die zu tiefschür­ fenden Erörterungen Anlaß gegeben haben, an denen sich die Forschung aber nicht beteiligen muß. In der Freimaurerei konnte man Verhaltensformen lernen, Werte einüben, man konnte Erfahrungen sammeln, die man in der Welt nicht machen konnte, Erlebnisse haben, die einem sonst kaum möglich waren, aber sie enthielt nichts, was der Welt unbekannt gewesen wäre. Ich glaube, daß - freimaurerisch gesagt - das Licht, das den Tempel erleuchtet, von außen hereinscheint. Die Freimaurerei hat auch keinen eigentlichen Ursprung, bei dem all das, was später als wesentlich galt, schon enthalten gewesen wäre, sie hat sich in Abhängigkeit von ihrer Umgebung in recht vielfältiger Weise entwickelt. Jeder große Fluß ent­ springt einer kleinen Quelle; manch unbedeutendes Rinnsal wird in seinem weiteren Lauf durch Zuflüsse so gespeist, daß es schließlich zum breiten Strom anschwillt. Ähnlich verhält es sich mit Ursprung und Entwicklung der Freimaurerei. Hat nun das Fehlen spezifischer Inhalte, diese Mehrdeutigkeit, Vagheit der zentra­ len Konzeptionen in irgendeiner Weise der Freimaurerei geschadet, hat es ihren Er­ folg beeinträchtigt? Die Leere im Zentrum war kein Manko der Freimaurerei, son­ dern Teil ihres Erfolgs, weil die Freimaurerei sich so unmerklich nach Maßgabe der Zeit und des Ortes verändern, den wechselnden Bedürfnissen anpassen konnte. Die Ideen der j eweiligen Zeit konnten in die Freimaurerei einfließen, und zwar unbe­ merkt: Jeder glaubte, dort vorzufinden, was er zuvor hineingetragen hatte. In der Zeit der Hochgrade geschah das als Ausdeutung der überlieferten Symbole, als Dechif­ frierung der >Hieroglyphen< , als die die Symbole seinerzeit aufgefaßt wurden, danach unter Berufung auf den >Ursprung< . Und auch fiir den einzelnen Freimaurer erfii l lte die Unschärfe eine wesentliche Funktion. Ich habe schon gesagt, daß die Geheimhal-

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tung eine Art Scheidewand zwischen der Loge und der Welt bildete, die Abtrennung Bedingung fiir die Aufrechterhaltung der anderen, idealen Ordnung war. Manfred Agethen hat den treffenden Vergleich zur Utopie gezogen, die auch immer abge­ trennt von der Welt auf einer Insel oder einem sonstwie entrückten Ort angesiedelt ist.2 Aber de facto liegt die Loge mitten in der Welt, ist ein eng begrenzter Raum. Wieso ist sie nun aber keine Kammer, in der ein paar Leute sich verkleidet haben und eine Art Laientheater auffuhren? Damit das Geschehen in der Loge nicht Spiel und Verkleidung ist, muß die freimaurerische Identität mindestens die gleiche Stärke wie die der Außenwelt haben, und dazu muß der abgegrenzte Raum der Loge als eine eigenständige Welt verstanden werden, die so groß und so alt ist wie die reale Welt. Die einzelne Loge ist ja immer Glied einer Gemeinschaft, die sich rühmt, die Welt zu umspannen und seit Anbeginn der Welt zu existieren. Daher setzte die Freimaurerei ihre eigene Zeitrechnung bei der Erschaffung der Welt an, also (frei nach dem iri­ schen Erzbischof James Ussher) im Jahr 4000 v. Chr. Das Geschehen in der Loge findet deshalb nie im Hier und Jetzt statt, j ede Handlung, j edes Zeichen steht nicht fiir sich, sondern verweist über den engen Logenraum hinaus - worauf, vermag man nicht genau zu sagen, die Spuren verlieren sich in einem ahnungsvollen, numinosen Dunkel, und damit wird der enge Raum der Loge unermeßlich, unergründlich groß. Es ist also nicht notwendig, besonders viel über Freimaurerei zu wissen, um Freimau­ rer zu sein, in gewisser Weise wäre es sogar hinderlich. Die mehr oder minder ausgeprägte Vorstellung von einem bedeutsamen, tradier­ ten, ihr eigentümlichen esoterischen Wissen gehört notwendig zur Freimaurerei, aber mit dieser Vorstellung korrespondieren nicht notwendig auch bedeutsame esoterische Traditionen. Aus der Bedeutung, die gewisse Lehren innerhalb von Gruppen haben, kann man nicht unbedingt auch eine geistesgeschichtliche Bedeutung, Originalität, Authentizität, Schlüssigkeit usw. folgern. Das gilt fiir Vereinigungen ganz allgemein, es leuchtet vielleicht am Beispiel der Sekten und esoterischen Gruppierungen unserer Tage ein, ebenso aber trifft es auch fiir die Hochgrade des 1 8. Jahrhunderts zu, zum Beispiel fiir das sogenannte >Testament Molays< im höchsten Grad des Schwedischen Systems.3 Die Bedeutung der Lehren ergibt sich aus der Art der Vermittlung, durch die Rolle innerhalb des Systems, nicht durch die Inhalte, die man in aller Regel in gedruckten Büchern finden kann, wo sie zumeist auch herstammen. Natürlich läßt sich bei allen esoterischen Lehren geistesgeschichtlich die Herkunft analysieren, es lassen sich Quellen ermitteln, Einflüsse bestimmen - ein wenig scheint mir das aber dem Versuch zu gleichen, die Reliquienverehrung eines Ortes zu erklären, indem man untersucht, woher die Reliquien kommen, ob sie echt oder ge-

2 Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Jlluminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklä­ rung (= Ancien Regime, Aufklärung und Revolution 1 1 ), München 1 984, S. 1 4 1 f. 3 Vgl. Gustav A. Schiffmann: Die Entstehung der Rittergrade in der Freimaurerei um die Mitte des 1 8 . Jahrhunderts, in: Heinrich Lachmann/Gustav A. Schiffmann: Hochgrade der Freimaurerei, Graz 1 974 [Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1 8 82], S. 3 6 1-557, hier S. 442 ff.

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fälscht sind. Nun hat man aber auf seiten der von Freimaurem betriebenen Forschung nicht selten einen Echtheitsbeweis der freimaurerischen Lehren angetreten, hat mit einer Art Hyperdiffusionismus die Verwandtschaft mit den Lehren der Gnostiker nachgewiesen, die Beziehung zur Hermetik der Renaissance hergestellt usw.4 Leider ist es so, daß, wenn man an der falschen Stelle mit den falschen Mitteln sucht, man durchaus fündig wird. Ich glaube, daß diese freimaurerische Forschung eigentlich nur eine Fortsetzung der Freimaurerei mit anderen Mitteln ist - und daß bei dieser Art Exegese drei Grundregeln verletzt werden, die für eine Analyse der geistes- oder ideengeschichtlichen Herkunft gelten sollten: 1 . Übereinstimmungen sind keine Zusammenhänge. Die Geschichtswissenschaft hat sich aber primär um Zusammenhänge zu kümmern: Wer hat was von wem. Bei der Freimaurerei und bei Geheimbünden wird zudem das Fehlen eines Beweises für den Zusammenhang schnell zum Beweis für den geheimen Charakter des Zusam­ menhangs. 2. Mehr als die Übereinstimmungen haben uns die Unterschiede zu interessieren: Das würde uns z. B. daran hindern, vorschnell Systeme als >gnostisch< zu bezeich­ nen, nur weil man einige Vorstellungen darin findet, die scheinbar mit gnostischen übereinstimmen. 3 . Eine einfache Erklärung schlägt eine ungewöhnliche, komplizierte. Wenn Zu­ sammenhänge nicht positiv nachweisbar sind, dann muß man sie zunächst in der Nä­ he suchen. Ich muß keine mündliche Überlieferung bemühen, wenn j emand etwas auch aus einem Buch abgeschrieben haben kann. Derartige methodische Kniffe dienen auch dazu, sogenanntes >freimaurerisches Gedankengut< bei allen Geistesgrößen (Goethe, Fichte, Kant usw.) nachzuweisen, ob sie nun dem Bund angehörten oder nicht, ebenfalls ein Lieblingsthema eines Teils der freimaurerischen Forschung. Leider gründet auf diesen Arbeiten, allein schon wegen des Quellenmaterials, das sie zugänglich machen, auch ein Teil der modernen profa­ nen Forschung. Wir werden durch die herkömmliche Art der freimaurerischen Geschichtsschrei­ bung vor allem aber dann in die Irre geführt, wenn sie uns Rituale und esoterische Lehren als das Wesentliche der Freimaurerei darstellt. Diese Verzerrung beginnt al­ lerdings schon mit der Quellenlage. Im Gegensatz zu heute vielleicht verbreiteten Vorstellungen war der Grad der Schriftlichkeit in der Freimaurerei sehr hoch - gera­ de in bezug auf die Rituale. Sie sind wie Theaterstücke aufgeschrieben, es gibt für alle Mitwirkenden Rollenauszüge. Die Logenarchive sind, was Hochgradakten an-

4 Allerdings gab es und gibt es auf freimaurerischer Seite auch herausragende Arbeiten. Einen umfassenden Überblick über die Forschung bietet Ludwig Hammermayer: Zur Geschichte der euro­ päischen Freimaurerei und der Geheimgesellschaften im 1 8 . Jahrhundert. Genese - Historiographie ­ Forschungsprobleme, in: Eva H. Baläzs u.a. (Hgg.): Befurderer der Aufklärung in Mittel- und Osteu­ ropa. Freimaurer, Gesellschaften, Clubs ( Studien zur Geschichte der Kulturbeziehungen in Mittel­ und Osteuropa 5), Berlin 1 979, S. 9-68. =

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geht, gut geführt, denn man maß diesen Akten Bedeutung bei, suchte Rituale anderer Logen zu bekommen, aus maurerischem Interesse oder um die konkurrierenden Sy­ steme durch Enthüllung ihrer Geheimnisse vernichten zu können. So kommt es, daß gerade das, was damals nur wenigen bekannt war, der Inhalt der Hochgrade, heute leicht zugänglich ist, während das, was seinerzeit jedem Bruder geläufig, was selbst­ verständlich war, fast nicht mehr zu ermitteln ist. Ich kann heute für jede Loge die Paßwörter der Hochgrade nachschlagen - aber welche Bilder hingen im Logenhaus, was speisten die Brüder, wie häufig besuchten sie die Loge, welche Cliquen gab es dort, wie verliefen Logenkarrieren, also: Wie gestaltete sich das Alltagsleben? Das sind heutzutage die wahren Geheimnisse der Freimaurerei. Wenn es aber nicht die Lehren sind, worin liegt dann die Bedeutung der Freimau­ rerei, das heißt: Welche Funktion hat sie im Leben ihrer Mitglieder erfüllt? Natürlich gab es vielgestaltige Funktionen, ich glaube aber, daß man eine wesentliche nennen kann: Die Freimaurerei bot einen Raum für Selbstverwirklichung. Heute klingt >Selbstverwirklichung< denkbar banal, aber es ist ein Phänomen, das wesentlich mit den großen Entwicklungen der Modeme verbunden ist, mit Säkulari­ sierung und Individualisierung. Säkularisierung bedeutet hier, daß man sein Lebens­ ziel schon im Diesseits erfüllen muß, nicht erst j enseits des Grabes, Individualisie­ rung, daß man sich mit der von außen, durch Konfession, Herkunft, Geschlecht determinierten Rolle und ihren vorgezeichneten Lebensentwürfen nicht mehr zufrie­ den gibt, daß man individuelle Bedürfnisse, Fähigkeiten spürt, die man verwirklichen möchte, daß man sich selbst eine eigene, neue Identität schafft, indem man Räume aufsucht, wo man diese Identität leben kann und sie von anderen anerkannt wird. Damit löst sich die eine, in Diesseits und Jenseits geteilte Welt auf, in der alle ihren festen Platz haben, und es entstehen verschiedene Räume, kleine Welten nebeneinan­ der, in denen man neue Identitäten annehmen kann, so daß manche schließlich zwi­ schen mehreren Identitäten wechseln können. Die Loge war so eine kleine Welt in der Welt. Sie war getrennt von der Außenwelt und anders geordnet als diese, aber ihr doch ähnlich und konnte daher das bieten, was man in der Welt - vergeblich - zu erhalten suchte, und das aufnehmen, was in der Welt keinen Platz fand. Sie schloß in ihrem Selbstverständnis die Außenwelt aus, aber nicht um sie zu bestreiten, sondern um sie zu ergänzen. Ich glaube, das nicht konträre, sondern komplementäre und kompensative Ver­ hältnis der Loge zur Außenwelt zeigt sich vor allem in zwei Bereichen: Zum einen zeigt es sich bei der Logenverwaltung - das scheint zunächst nur ein Nebenaspekt der Freimaurerei zu sein, aber gerade hier lag ein Gutteil ihrer Attrak­ tivität begründet, denn die Loge konnte das Streben nach Tätigkeit, nach Einfluß und Verantwortung, das in Staat und Wirtschaft keine Erfüllung fand, aufnehmen. Sie bot für die Stimuli der Welt ebenso umfassend Surrogate: Es gab Ämter und Titel, Ab­ zeichen und Patente, Verantwortung und Ansehen, Streitigkeiten und Kabalen. Es ist erstaunlich, welchen Raum die Verwaltung, die Logenpolitik, im Leben einer Loge einnahm: Die Brüder entwarfen die Gesetze, die für sie gelten sollten und stimmten

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darüber ab, berieten über ihre Auslegung und Anwendung, wählten Vorsteher und Amtsträger, entschieden über neuaufzunehmende Mitglieder, besprachen die öko­ nomischen Angelegenheiten ihrer Loge, das Verhältnis zu anderen Logen, machten Pläne und Projekte für eine Erweiterung der Loge, einen Umbau des Logenhauses, Neuordnung der Bibliothek, des Archivs, Veränderungen des Rituals, Gestaltung der Feste, Herausgabe von Schriften, rügten säumige Beitragszahler, unterstützten notlei­ dende Mitglieder und halfen verschämten Hausarmen, protokollierten ihre Sitzungen, hielten Ansprachen, gaben Voten ab, verfaßten offizielle Schreiben an andere Logen, entsandten Delegationen, installierten die Würdenträger ihrer Loge und anderes mehr. All das, was wir heute vielleicht abschätzig >Vereinsmeierei< nennen, findet sich zumal in den Hochgraden: Da diese Grade stets nur wenige Mitglieder umfaßten, waren Aufnahmen mit den Ritualen (auf die wir heute immer schauen) eher selten, weil aber Hochgradlogen meist hierarchisch organisiert waren, lag bei diesen Gremi­ en oft die Leitung der Loge, und entsprechend häufig kamen die Mitglieder deshalb zusammen. Der andere Bereich ist der Konsum. In der Loge konnte das Mitglied temporär ei­ nen anderen, höheren Lebensstil annehmen - und diesen nach außen präsentieren, in seinem sozialen Umfeld demonstrieren.5 Die Logen führten in der Regel eben kein klandestines Dasein, sondern hatten einen Platz in der Welt und zeigten sich in deren Formen, konnten sich die »Repräsentationsformen der höfischen Eliten« zu eigen machen, zunächst durch ihre prunkvollen Feste mit Umzügen, Feuerwerk, Musik und Tanz, später dann durch die prächtigen, oft vormals adeligen Häuser, die sie erwar­ ben, und in die die Logenmitglieder auch ihre profanen Freunde einladen konnten.6 Die Loge war ein Beispiel, wie man durch vereinte Kräfte den eigenen Platz in der Welt stärken, verbessern konnte, sie war - wie es heute im Werbespruch einer Versi­ cherung heißt - eine >starke GemeinschaftKonsum< in der Frühen Neuzeit vgl. Hannes Siegrist/Hartmut Kaelble/Jürgen Kocka (Hgg.): Europäische Konsumgeschichte. Zur Gesellschafts- und Kulturgeschichte des Konsums ( 1 8 . bis 20. Jahrhundert), Frankfurt!Main 1 997; Paul Glennie: Consumption within Historical Studies, in: Daniel Miller (Hg.): Acknowledging con­ sumption. A Review of New Studies, London u.a. 1 995; John Brewer (Hg.): Consumption and the World of Goods, London u.a. 1 993; Ann Bermingham (Hg.): The Consumption of Culture: 1 6001 800. Image, Object, Text, London 1 995. 6 Vgl. Norbert Schindler: Freimaurerkultur im 1 8. Jahrhundert. Zur sozialen Funktion des Ge­ heimnisses in der entstehenden bürgerlichen Gesellschaft, in: Klassen und Kultur. Sozialanthropolo­ gische Perspektiven in der Geschichtsschreibung, Frankfurt!Main 1 982, S. 205-263, hier S. 2 1 2.

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tät annehmen konnte. In Berlin um 1 800 fiihrten Lehrlinge und Manufakturarbeiter in Theatervereinen die aktuellen Stücke auf, Dienstmädchen flanierten feiertags wie ihre Herrinnen gekleidet, gingen auf Picknicks und Bälle, zahlreiche >Ressourcenconspicuous consumption< und die Vereinsmeierei der Logen auch kleinbürgerlichen Schichten, und eine wachsende Zahl von kommerziellen Freizeitvergenügen gestattete allen Einkommensschichten die Partizipation an den neuesten Moden. Nun, wie kann man mit dieser Version der Modernisierungstheorie die esoteri­ schen Lehren in den Logen erklären? Ich meine, daß gerade die esoterischen, teilwei­ se nicht ganz orthodoxen Lehren in den Logen als ein Zeichen der Säkularisierung und Individualisierung aufgefaßt werden können: Weil das herkömmliche Sinnstif­ tungsangebot der Kirchen an Verbindlichkeit, an Überzeugungskraft verloren hatte oft nicht in Opposition zur Kirche, sondern als Reaktion auf deren Erschütterungen konnte man sich nach seinem Gusto seine Privatreligion zusammenstellen. Es war aber nicht ein einsam ergrübeltes heterodoxes System, sondern man fand Gleichge­ sinnte, um diese Überzeugungen gemeinsam zu praktizieren. Nicht die Lehren an sich sind das Wesentliche, wir werden an Dogmen nichts finden, was nicht in Bü­ chern enthalten wäre, aber in den Logen bot sich eine Gemeinde, eine Priesterschaft und eine Liturgie, aus Theologie konnte Religion werden. Und diese Kulte waren zum Teil - um es mit einem Oxymoron zu sagen - eine weltliche, säkulare Religion, sie hatten alle Transzendenz verloren, auch wenn sie auf bizarre, scheinbar mystische und gnostische Vorstellungen zurückgriffen. Ich möchte an einem - etwas späten Beispiel kurz erläutern, daß man auch die Idee der >unio mystica< und die Vorstel­ lung einer >geheimen Tradition< ganz aus der Philosophie, Theologie und Kirchenge­ schichte der Zeit erklären kann. Im Jahr 1 79 6 kam ein vierzigjähriger ehemaliger Mönch nach Berlin. Der ungari­ sche Akzent verriet noch seine Herkunft, er war bekannt als Verfasser eines histori­ schen Romans, sonst zeichnete er sich durch seine Geistesgaben aus, durch eine ver­ schlossene, mysteriöse Art und durch seine ungewöhnlich umfangreichen Erfahr­ ungen im Geheimbundwesen. Damit war Ignaz Aurelius Feßler der richtige Mann, die Loge Royal York zu reformieren, die immer im Schatten der beiden anderen Ber­ liner Großlogen gestanden hatte. Sechs Jahre, bis 1 802, wirkte Feßler an der Spitze der Royal York - seine Reform war zu j ener Zeit das bekannteste Ereignis in der Freimaurerei. Allerdings erregte diese Reform auch Widerstand und Verwirrung, besonders seine eigenwillige Bearbeitung der Hochgradrituale, zumal Feßler einige der Vorstellungen daraus auch in einem handschriftlich verbreiteten Werk zur Ge­ schichte der Freimaurerei veröffentlichte. Nicolai, Herder und Friedrich Ludwig Sehröder traten dagegen auf; abwechselnd wurde Feßler des Deismus oder des ver­ steckten Katholizismus bezichtigt. Bei heutigen freimaurerischen Forschern, die al­ lerdings nur Bruchstücke seines Systems kennen, geht es noch schlimmer durchein-

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ander: B e i Gerhard Krüger zum Beispiel wird 1 97 8 dieses System i n einem Atemzug >romantischmystisch-gnostisch< und >orthodox< genannt.7 Feßlers System hat acht Grade, ein prunkvolles, düsteres Kolorit, aufwendige Ko­ stüme und Kulissen, und wie die meisten Hochgradsysteme verwendet es Sakramente und Sakramentalien der Kirche. Im höchsten Grad findet ein Weihe- und Salbungsri­ tual statt, dann kosten die Auserwählten im Neuen Jerusalem die Früchte vom Baum des Lebens. Die Heilsgeschichte wird hier also abgeschlossen, abgeschlossen mit einer Beschwörung der >Unio mystica< . Gottes Stimme spricht im Menschen: »Meine Kraft, so ertönt sie in unserm Innersten, meine Kraft wirkt in dir; durch sie erkennst du das Wahre und das Gute; durch sie verabscheust du das Böse. [ . . . ] Höre das Ge­ setz und du hörst mich. Lebe mit deinem Gewissen in Eintracht und du näherst dich der Vereinigung mit mir. Suche und finde deine Würde im Bewusstsein deiner Tu­ gend und Wahrhaftigkeit und du hast mich gefunden und deine Ewigkeit angefan­ gen.«8 Alle Brüder stimmen schließlich in den frohen Ausruf ein: »Heil uns ! Des Lebens düstre Fabel ist gelöst [ . . . ], der hohe Spruch ist: Gott ist in uns ! «9 Die Heilsgeschichte hatte mit den Früchten des anderen Baumes begonnen, von dem ja bekanntlich versprochen wurde: »Ihr werdet sein wie Gott und wissen, was gut und böse ist.« (Genesis 3,5). Von welchem Baum nun haben die Auserwählten gegessen? Bei Feßler kann der Mensch die Erlösung aus eigener Kraft vollziehen durch die Verwirklichung der Sittlichkeit. Das Dogma von der Erbsünde und der Erlösungsbedürftigkeit des Menschen hat hier keinen Platz; ja es wird in seltsamer Weise umgedeutet: Die Fähigkeit des Menschen, Gut und Böse zu erkennen, macht es ihm möglich, aus eigener Kraft zur Erlösung zu gelangen; Sündenfall und Erlö­ sung kommen in eins. Im Anstieg der Grade löst sich bei Feßler die Dualität Gott - Mensch auf. Der Mensch partizipiert an der Gottesnatur, sie kommt im Menschen zum Ausdruck, und eigentlich nur in ihm. Gott ist erst - in den unteren Graden - der Gesetzgeber, im nächsten Schritt ist er das Sittengesetz selbst, und damit bloß noch eine Stimme, die freilich nicht im Dornbusch, sondern nur im Inneren des Menschen spricht, die Stimme des Gewissens. Eingekleidet ist das in Feßlers VIII. Grad, den mißtrauische Berliner Mitbrüder als kryptokatholisch empfanden, in eher >gnostische< Formen; das Weihe- und Sal­ bungsritual, die Bezeichnung des ganzen Aktes als >ApolytrosisNymphon< (Feßler spielt auch mit der Brautmystik) entstammen der kleineren gnostischen Sekte der Karpokratianer, einem Ableger der Valentinianer, 7 Gerhard Krüger: » . . .gründeten auch unsere Freiheit«. Spätaufklärung, Freimaurerei, preußisch deutsche Reform. Der Kampf Theodor v. Schöns gegen die Reaktion, Harnburg 1 978, S. 1 26; vgl. auch S. 1 3 7. s Ritual des VIII. Grades. Rekonstruktion um 1 8 1 0, Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kultur­ besitz Berlin!Dahlem (= GStA PK), Hauptabteilung Logen, 5 . 1 . 5 . Nr. 1 485, BI. 27. 9 Rituale der Initiationen. 1 80 1 - 1 802, GStA PK, Hauptabteilung Logen, 5 . 1 .5 . Nr. 1 1 1 9, BI. 78-78v.

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oder vielmehr einem Buch von 1 790, nämlich Friedrich Münters Versuch über die kirchlichen Altertümer der Gnostiker. >Gnostisch< im Sinne der antiken religiösen Bewegung ist derartiges nicht, es hängt mit dem Bild des 1 8 . Jahrhunderts von den Gnostikern zusammen, das nämlich all das weginterpretierte, was wir heute als gno­ stisch empfinden würden. Die Rehabilitation der Gnostiker begann mit Arnolds Un­ partheyischer Kirchen- und Ketzer-Historie, die einzelne gegen den Vorwurf eines unsittlichen Lebenswandels verteidigte. Seit Bayles Dictionnaire historique et criti­ que (Art. »Manicheens«) nahm man sich auch der Lehren der Gnostiker an. Gerade wesentliche Züge wie den Dualismus und die Emanationslehre mit ihrer Hierarchie von Äonen, auf Grund derer die Kirchenväter die Gnostiker des Polytheismus be­ zichtigt hatten, tilgte man im 1 8. Jahrhundert und bemühte sich, in die gnostischen Lehren vernünftigen Sinn zu bringen - allein schon aus Abneigung gegen die Kir­ chenväter. Gegen Ende des Jahrhunderts schließlich wurden die Gnostiker allgemein als Aufklärer ihrer Zeit, oft sogar als ein aufgeklärter Geheimbund mit Einweihungen und verschiedenen Graden aufgefaßt. Die Gnostiker spielen bei Feßler auch eine wichtige Rolle in der Tradentenkette. Denn die Lehre von der Selbsterlösung galt Feßler als die wahre, die esoterische Leh­ re Jesu. In den höchsten Graden das Systems der Royal York erfuhren die Aufge­ nommenen die Geschichte dieser Lehre. Sie stammte, so Feßler, aus dem Essäerbund, dem Jesus angehört hatte. Nicht einmal alle Apostel kannten diese esoterische Lehre, sie wurde auch nicht in der Kirche fortgepflanzt, sondern gelangte durch eine Reihe verschiedener heterodoxer Sekten in die Freimaurerei. Bei dieser Erzählung könnte man sich insofern an die Ordenslegenden der my­ stisch-theosophischen Systeme erinnert fühlen, als diese sich auch auf eine geheime überlieferte Lehre beriefen, die oft mit Christus in Verbindung gebracht oder jeden­ falls als christlich begriffen wurde. Selbst die Essäer spielten in diesen Systemen eine Rolle als Tradenten geheimen Wissens und als Glieder in der Ahnenkette der Frei­ maurerei. Die Idee von der esoterischen Lehre Jesu war aber vor allem mit dem auf­ geklärten Geheimbundwesen des ausgehenden 1 8. Jahrhunderts verbunden. Sie fand sich unter anderem bei Knigge und Weishaupt - bekannt ist ja die Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos dirigentes von 1 782. 1 0 Auch in Carl Friedrich Bahrdts >Deutscher Union< taucht die Vorstellung auf, vor allem machte Bahrdt sie durch zwei populär gehaltene Romane publik, den Briefen über die Bibel im Volkston ( 1 782- 1 783) und der Fortsetzung dazu, der Ausführung des Plans und Zweks Jesu ( 1 7 84-1 7 86). Ihnen lag die Idee zugrunde, daß »Christus den Plan gehabt haben müsse, durch Stiftung einer geheimen Gesellschaft, die von Priestern und Tempel­ pfaffen verdrängte Wahrheit unter den Menschen zu erhalten und fortzupflanzen«. 1 1

1 0 Abgedruckt bei Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung, Analyse, Dokumentation (= Neuzeit im Aufbau 1 ) , 2. Auflage Stuttgart/Bad Cannstatt 1 977, S. 1 66- 1 94. II Carl F. Bahrdt: Geschichte seines Lebens, seiner Meinungen und Schicksale, 4 Bde, Berlin 1 790- 1 79 1 , hier: Bd. 4, Berlin 1 79 1 , S. 1 26.

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Die Vorstellung von einer esoterischen Lehre Jesu und die Idee, Jesus sei Mitglied oder Stifter einer geheimen Verbindung gewesen, waren also verbreitet im Zusam­ menhang mit dem aufgeklärten Geheimbundwesen des ausgehenden 1 8 . Jahrhun­ derts. Der Ursprung dieser Vorstellungen allerdings lag an ganz anderer Stelle. Die Essäer wurden bereits vor 1 700 in der Auseinandersetzung um das Mönchs­ wesen von den Karmelitern als erste christliche Klostergemeinschaft reklamiert und auch eine Mitgliedschaft Jesu bei den Essäern behauptetY Ironischerweise munitio­ nierte man damit die Gegner: Die Essäer-These bot die verlockende Möglichkeit, die Entstehung der Lehre Jesu inmitten der von der Aufklärung so gering geschätzten jüdischen Religion auf natürliche Weise, ohne transzendentes Eingreifen, zu erklären. In diesem Sinne vertrat zuerst Johann Georg Wachter 1 7 1 3 diese These, ebenso die englischen Deisten und Voltaire, von dem Friedrich II. diese Anschauung übernahm. Durch die Deisten gelangten die Essäer wohl auch in die Ahnenreihe der mystisch­ theosophischen Systeme. Die These von Jesus als Stifter einer geheimen Gesellschaft oder von der Fort­ pflanzung der reinen Lehre Jesu durch geheime Gesellschaften findet sich ebenso in der rationalistischen Theologie. Obwohl sie zum Teil, wie eben bei Feßler, mit der Essäer-These verbunden war, hatte sie eine andere Zielrichtung und einen anderen Ursprung. Es war der Versuch der Anhänger des Vernunftg1aubens, die postulierten, dieser sei die reine Lehre Jesu gewesen, sich durch eine Überlieferungskette zu legi­ timieren. Analog zur Kirche mit ihrer Überlieferung des Kirchenglaubens, aber im Gegensatz zu dieser, entstand so eine Sukzession des Vernunftglaubens. Entstanden ist die These aus der Rezeption der antiken Mysterien. Zahlreiche Werke zeugen von dem Interesse des 1 8 . Jahrhunderts an diesem Thema, vor allem aber hat der Ang1ikaner William Warburton mit seinem Werk von 1 73 8-1 74 1 The Divine Legation of Moses Demonstrated ein solches Verständnis geprägt. 13 Warbar­ tons Schrift wollte die göttliche Sendung Mose gegen die Zweifel der Deisten bewei­ sen. Allerdings war die Argumentation seines umfangreichen Werkes - die uns hier nicht weiter beschäftigen soll - so verworren, daß es nicht Wunder nimmt, daß sein Buch mißverstanden wurde und mißbraucht werden konnte. In einem Kapitel behan­ delt Warburton die antiken Mysterien, besonders die Eleusinischen, deren Rolle für den Staat er zeigt und die er auch als Einrichtungen der antiken Gesetzgeber auffaßt. Inhalt der kleinen Mysterien war nach Warburton der Glaube an Vorsehung und Jen­ seits; daraus sollte der Ansporn zu einem tugendhaften Leben resultieren. Die großen 1 2 Siegfried Wagner: Die Essener in der wissenschaftlichen Diskussion vom Ausgang des 1 8. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts (= Beihefte zur Zeitschrift fiir die alttestamentliche Wissenschaft 79), Berlin 1 960; vgl. auch Johann G. Wachter: De Primordiis Christianae Religionis. Dokumente (= Freidenker der europäischen Aufklärung I , 2), mit einer Einleitung hg. und komm. von Winfried Schröder, Stuttgart/Bad Cannstatt 1 995. I J Siehe dazu den Beitrag von Jan Assmann in diesem Band, sowie ders . : Ä gypten als Argument. Rekonstruktion der Vergangenheit und Religionskritik im 1 7 . und 1 8. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift 264 ( 1 997), S. 56 1-585.

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Mysterien dagegen - bekanntlich hatten die Eleusinischen Mysterien zwei Abteilun­ gen - die großen Mysterien besaßen »hidden Doctrines«, geheime Lehren; in ihnen wurde die Täuschung der Volksreligion aufgehoben. 14 Die Entstehung des Polythe­ ismus wurde hier als Verehrung verstorbener Helden erklärt, und die Initiierten er­ fuhren die Lehre von der Einheit Gottes. Der Polytheismus sei aber im Volk fest verwurzelt gewesen, auch habe er den Gesetzgebern dazu gedient, die Achtung fiir ihre Gesetze zu befestigen, so daß die Lehre von dem einen Gott nicht öffentlich ver­ breitet werden konnte, ohne die Gesellschaft ins Chaos zu stürzen. Warburton gelang es, das Phänomen der Mysterien völlig in die rationalen Vorstel­ lungen seiner Zeit zu integrieren. Ohne daß er die Freimaurerei im Blick gehabt hät­ te, lieferte er eine Beschreibung, die vorzüglich geeignet war, ihre Funktion zu erklä­ ren. Allerdings erlangte Warburtons Deutung der Mysterien Verbreitung, indem seine Absicht gerade verkehrt wurde. Man benutzte sein Werk, um die Stiftung der mosai­ schen Religion auf natürliche Weise zu erklären. In einer Rede Kar! Leonhard Rein­ holds und in einem Aufsatz Schillers, den er 1 790 in seiner Zeitschrift Thalia veröf­ fentlichte, wurde Moses als Eingeweihter der ägyptischen Mysterien aufgefaßt, der deren esoterischen Kultus, die Lehre von der Einheit Gottes, seinem Volk öffentlich verkündete. 1 5 Reinhold und Schiller brachten auch die Freimaurerei als Nachfahre dieser Tradition ins Spiel. Vor allem aber ist Warburtons Mysteriendeutung in Deutschland durch Starck populär gemacht worden. Der Orientalist Johann August von Starck, bekannt durch sein zeitweise mit der Strikten Observanz fusioniertes Klerikat, war eigentlich ein aufgeklärter Theologe, und sein Hephästion von 1 775, in dem er die Ideen Warburtons aufgriff, trug ihm eine Anzeige der lutherischen Ortho­ doxie beim Königsherger Oberkonsistorium ein. Erst durch Starcks Vermittlung lernte Bahrdt, der 1 779 mit Starck einen freundschaftlichen Briefwechsel unterhielt, diese Vorstellungen kennen - und übertrug sie auf Jesus. Das war um so leichter möglich, als in der zeitgenössischen Theologie die Ak­ kommodationstheorie verbreitet war. Diese postulierte, die Lehre Jesu sei dort, wo sie nicht mit der Vernunft übereinstimme, als ein Zugeständnis an die zeitgenössi­ schen Vorstellungen zu verstehen: Um die Annahme der vernünftigen Lehre zu er­ leichtem, mußten Jesus und die Apostel sie äußerlich den Begriffen und Ansichten ihrer Zeitgenossen anpassen. Damit konnte eine Trennung zwischen einer wahren, nicht-akkommodierten, esoterischen Lehre Jesu und einer fiir das Volk bestimmten, exoterischen Lehre entstehen, und nach dem Muster von Warburtons Mysterienbe­ griff konnte eine Fortpflanzung der esoterischen Lehre durch geheime Gesellschaften gedacht werden. 1 4 William Warburton: The Divine Legation of Moses Demonstrated, in: ders.: The Works, Bd. I (= Anglistica & Americana 1 82), Hildesheim/New York 1 980 [Nachdruck der Ausgabe London 1 788], S. 1 79. 1 5 [Kar! L. Reinhold:] Die Hebräischen Mysterien oder die älteste religiöse Freymaurerey, Leipzig 1 788; Friedrich von Schiller: Die Sendung Moses, in: ders.: Werke. Nationalausgabe, begr. v. Julius Petersen, 42 Bde, Weimar 1 943- 1 997, hier: Bd. 1 7, Weimar 1 970, S. 377-397.

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Die Auffassung von einer esoterischen Lehre Jesu, von Jesus als Geheimbündler, war - und das muß man sich klar machen -, zu Feßlers Zeit keineswegs die radikal­ ste. Jesus als Geheimbündler war kein gescheiterter jüdischer Revoluzzer gegen die Römerherrschaft wie bei Reimarus in den Wolfenbütteler Fragmenten. Er blieb eine geschichtliche Gestalt, während Ende des Jahrhunderts zwei - auch in Deutschland rezipierte - französische Werke die Auffassung verbreiteten, Christus sei bloß eine mythologische Gestalt, eine Personifikation der Sonne . 1 6 Jesus als Geheimbündler war das, was den Aufklärern am ehrwürdigsten war, ein Aufklärer, ein Bild nach ihrem Bilde. Man berief sich auf seine Lehre (auch wenn man ihm die eigene unter­ schob); die Vernunftreligion stand im Gegensatz zum Kirchentum, nicht zum Chri­ stentum, sie war, so glaubte man, das Christentum. Das Dogma von der stellvertre­ tenden Genugtuung war weggefallen, aber Jesus blieb Heilsmittler, nicht durch seinen Tod, sondern durch seine Lehre. Feßlers System war also weniger eine Kampfansage an die Kirche, als vielmehr eine Reaktion auf ihre Krise, das Produkt einer Zeit der Verunsicherung. Es war eine Krise der Theologie, die keine Gewißheiten mehr bieten konnte. Durch die philologi­ sche und dogmengeschichtliche Forschung erhielt die überlieferte Lehre immer mehr den Charakter des historisch Bedingten, ja korrumpierten, und schien an Verbind­ lichkeit zu verlieren, während andererseits die Vernunft mit dem Anspruch auftrat, Wahrheiten zu bieten, die nicht zeit- und ortsgebunden waren, von j edem erkennbar und für j eden verbindlich. Es gab viele Versuche, diesen Konflikt zwischen Offenba­ rung und Vernunft zu lösen, auf Kosten der einen oder anderen Seite, subtile und weniger subtile. Die These von der esoterischen Lehre Jesu gehörte sicher nicht zu den subtileren. Inhalt und Form standen bei Feßler in einem bezeichnenden Wider­ spruch: Obwohl der Inhalt der Lehre rein vernünftig war und damit von der Vernunft selbst gefunden werden konnte, wollte diese doch nicht auf sich selbst gestellt sein, sondern sehnte sich nach einer authentischen Tradition. Indem postuliert wurde, daß eine esoterische Lehre Jesu existierte und durch geheime Gesellschaften fortgepflanzt noch existiere, wurde an die Stelle des erschütterten Kanons ein neuer gestellt, der statisch war wie derj enige der orthodoxen Offenbarungslehre. Die natürliche Religi­ on wollte zugleich eine positive Religion sein. Es war auch eine Krise der Kirche. Zahlreiche Beobachter der Zeit stellten fest, daß in Berlin die Kirchen leer blieben, daß >>Unser Kirchenwesen in einem tiefen Ver­ fall« seiP Feßler selbst schreibt 1 802, »daß hier in Berlin, und größtentheils auch in den Städten wo wir Logen haben die Menschen schon so wenig für das kirchliche Christentum eingenommen sind, und so wenig gründliches davon kennen daß man 1 6 Vgl. Albert Schweitzer: Geschichte der Leben-Jesu-Forschung, 6. Auflage Tübingen 1 95 1 [ I . Auflage Tübingen 1 906], S . 444 f. 1 7 So Schleiermacher in einer Denkschrift von 1 808, zit. nach Ernst R. Buber/Wolfgang Huber: Staat und Kirche im 1 9. und 20. Jahrhundert. Dokumente zur Geschichte des deutschen Staatskir­ chenrechts, 5 Bde, Berlin 1 973- 1 995, hier: Bd. 1 : Staat und Kirche vom Ausgang des alten Reichs bis zum Vorabend der bürgerlichen Revolution, Ber1in 1 973, S. 565.

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mehr zu arbeiten hat sie von einer oberflächlichen, leichtsinnigen Freydenkerey zur Vernunft Religion anzuleiten, als zu fürchten, daß sie [die, F. M.] Gottheit Jesu in Schutz nehmen dürften.« 1 8 O b e s tatsächlich s o war, wie man e s i n der Zeit wahrnahm, ändert nichts a n der Beurteilung von Feßlers Intention: Zu dem Zeitpunkt, als sein System entstand, konnte er es als nicht gegen die Kirche gerichtet begreifen, sondern als Antwort auf den Verfall des religiösen Lebens. Es war der Versuch einer Erneuerung, die aber nicht durch einen öffentlichen Kultus für das Volk bewirkt werden sollte, sondern durch eine esoterische Religion der Gebildeten, einen rationalistischen christlichen Mysterienkultus. Feßlers Ansichten waren also in ihrer Zeit keineswegs extravagant. Sie erscheinen im Nachhinein fremdartig, weil die Tradition, in der sie standen, abbrach und die Überwindung der Krise von anderer Seite kam. Nicht Vernunft und Moral, Mysterien und Ketzer wiesen den Weg, sondern mit Idealismus und Romantik löste das religiö­ se Erleben und Empfinden des Individuums und ein tieferes Verständnis der Kirche die Krise der Aufklärung oder - ließ ihre Probleme in Vergessenheit geraten. Feßlers System erscheint so eher als Teil der Krise, in der es entstand, denn als Lösung, und Feßler selbst hat bald nach 1 800 seine Ansichten schon wieder gründlich revidiert. Nun, das ist alles sehr verkürzt, und mit diesem kleinen Exkurs will ich Feßler si­ cher nicht in das Pantheon der deutschen Geistesgeschichte einreihen. Eigentlich meine ich, daß es gar nicht so entscheidend ist, woher Feßler seine Ansichten hat ­ man sollte eher die Frage verfolgen, mit welcher Haltung er sein System zusammen­ stellte, was er dabei empfand, als er seine Schöpfung inszenierte, mit Leben erfüllte; die Rituale wurden ja mit ihrem opernartigen Aufwand an Kulissen und Kostümen tatsächlich praktiziert, die Lehren den Eingeweihten feierlich mitgeteilt. Ganz ein­ fach: Glaubte Feßler selbst daran? Konnte er daran glauben? Feßler war kein Betrüger, der das mit einem Augurenlächeln gemacht hätte, und wir haben keinen Grund, an der Aufrichtigkeit seiner Überzeugungen zu zweifeln. Andererseits war sein System eine ganz künstliche Schöpfung, es stand nicht in der behaupteten authentischen Tradition, sondern war aus theologischen Büchern der Zeit und Fragmenten anderer Rituale zusammengesetzt. Wie soll man bezeichnen, wie Feßler zu seinem System stand, wie kann man es sich vorstellen? Ich glaube, daß dafür ein - vielleicht etwas seltsam anmutender Vergleich treffend ist: Er hat es anprobiert, wie man neue Kleidung anprobiert, ob es paßt, wie es ihm steht, wie man sich darin fühlt, sich darin bewegt, und dann, nach einer Weile, wieder etwas Neues anprobiert. 1 9 Es ist bezeichnend, daß Feßler wenig später schon wieder ganz andere Ansichten vertrat, wie ja im ausgehenden 1 8 . Jahr-

t s GStA PK, Hauptabteilung Logen, 5 . 1 . 1 0 . Nr. 2226 (Feßler an Friedrich L. Schröder, 1 4.4. 1 802). 1 9 Vgl. den von Stephen Greenblatt eingeführten Begriff des Self-Fashioning: Stephen J. Green­ blatt: Renaissance Self-Fashioning. From More to Shakespeare, Chicago 1 980.

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hundert erstaunliche Karrieren durch die verschiedenen heute scheinbar säuberlich getrennten Lager, vom >Rosenkreuzer< zum >RevolutionärAufklärer< zum >Obskuranten< durchaus verbreitet waren. Sicher gab es, wie wir gesehen haben, Berührungspunkte, seltsame Melangen zwischen aufgeklärter und sogenannter >mystischer< Theologie - man könnte dies ebenso am Beispiel Starcks belegen, der hier nur kurz gestreift wurde. Charakteristisch ist auch die geschilderte Unsicherheit erfahrener und gebildeter Freimaurer der Zeit bei der Beurteilung von Feßlers Sy­ stem. Die Grenzen waren nicht immer so klar, daher fiel es den Zeitgenossen leicht, sie zu überschreiten und schwer, Phänomene einzuordnen. Aber ich glaube, daß der Schlüssel zu j enen befremdlichen Grenzüberschreitungen nicht eigentlich im Inhalt der Vorstellungen zu suchen ist, sondern in der Haltung, mit der man sie vertrat. Am Schluß sind wir wieder beim Thema Konsum und Identität. Konsumieren kann man nicht nur dingliche Güter, eigentlich geht es weniger um die Dinge, als um die damit verbundenen Befindlichkeiten, Lebensgefuhle, Identitäten. Konsumieren kann man also auch Geisteshaltungen, Überzeugungen, Glaubenssätze, ja sogar Re­ ligion. Wenn das, was zuvor die Identität determinierte, zum Ausdruck der eigenen Individualität wird, wenn Religion zum Ensemble an Überzeugungen wird, das man sich eklektisch nach eigenem Geschmack zusammenstellt, das den eigenen Verstand und das Gefuhl ansprechen muß, dann handelt es sich um ein sehr modernes Phäno­ men. Und daher meine ich, daß die Esoterik des späten 1 8 . Jahrhunderts nicht Aus­ läufer alter hermetischer Traditionen markiert, sondern die Entstehung der Konsum­ gesellschaft bezeichnet.

Markus Meumann (Halle) Zur Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illuminaten : Ignaz von Born, Karl Leonhard Reinhold und die Wiener Freimaurer­ loge > Zur wahren Eintracht
Aufklärung< wahrzunehrnen3 und der der Illuminatenorden ausschließ­ lich als »politischer Kampfbund der radikalen Aufklärer«4 gilt. Vorrangiges Anliegen dieses Aufsatzes ist daher zunächst einmal der Nachweis einer illuminatischen My­ sterienrezeption. Dafür bedarf es der Ermittlung und Zuschreibung eines entspre­ chenden Textkorpus ' , das im folgenden in einiger Ausführlichkeit und in der Ausein­ andersetzung mit der über den Illuminatenorden vorliegenden Forschungsliteratur vorgestellt wird. Erst im Anschluß daran kann überhaupt der Versuch unternommen werden, nach Sinn und Funktion der Mysterienrezeption im illuminatischen Denken

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Die >Wiederentdeckung< (Ernst-Otto Fehn) des Illuminatenordens setzte ein mit der Studie von Richard van Dülmen: Der Geheimbund der Illuminaten. Darstellung - Analyse - Dokumentation, Stuttgart 1 975. Zum jüngsten Forschungsstand vgl. jetzt Hermann Schüttler: Bibliographie zum Il­ luminatenorden, in: Helmut Reinalter (Hg.): Der Illuminatenorden ( 1 776-1 785/87) ( Schriftenreihe der internationalen Forschungsstelle >Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1 770- 1 850< 24), Frankfurt/M. 1 997, S. 397-4 1 5 . 2 Dies zeigt auch die Aufzählung der Schwerpunkte in der neueren Illuminatenforschung durch Helmut Reinalter: Vorwort, in: ders. (Hg.): Illuminatenorden (Anm. 1 ), S. 7 f., hier S. 8. Eine beding­ te Ausnahme stellt lediglich die Dissertation von Wilgert te Lindert: Aufklärung und Heilserwartung. Philosophische und religiöse Ideen Wiener Freimaurer ( 1 780- 1 795) ( Schriftenreihe der internatio­ nalen Forschungsstelle >Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1 770- 1 850< 26), Frankfurt/M. 1 998, dar, die allerdings erst nach der Ausarbeitung des diesem Aufsatz zugrundeliegenden Vortrages erschienen ist. Zudem hat auch te Lindert, wiewohl er das Thema Mysterien wiederholt behandelt, keine systematische Einordnung der im Umkreis der Loge >Zur wahren Eintracht< zu diesem Thema entstandenen Texte vorgenommen. 3 Zur Kritik daran siehe neuerdings Monika Neugebauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer fur die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Das acht­ zehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft flir die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 2 1 ( 1 997), S. 1 5-32. 4 A.a.O., S. 1 7. Vgl. beispielsweise jüngst erst Reinalter: Vorwort (Anm. 2), S. 7 . =

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zu fragen, wozu hier nur einige erste Schritte gemacht werden können, die sich vor allem mit dem publizistischen Kontext der vorgestellten Schriften befassen.

I. Mysterienrezeption, Freimaurerei und die Entstehung des Illuminatenordens Wenn im folgenden von der Rezeption antiker Mysterien im Geheimbund der Illumi­ naten die Rede ist, ist damit konkret eine Anzahl von Texten gemeint, deren Gegen­ stand die oftmals - aus Sicht der heutigen Forschung freilich zu Unrecht - auch als Religionen bezeichneten Mysterien des Altertums sind,5 also die nur Eingeweihten zugänglichen antiken Geheimkulte griechisch-ägyptisch-persischer Herkunft, die seit dem siebten vorchristlichen Jahrhundert entstanden und in den ersten vier Jahrhun­ derten unserer Zeitrechnung ihre größte Verbreitung fanden.6 Gemeinsame Merkmale aller Mysterienkulte, zu deren bekanntesten das Demeter-Mysterium von Eleusis, die Verehrung des ägyptischen Götterpaares Isis und Osiris, die Kulte um die kleinasiati­ sche Muttergöttin Kybele und den persischen Lichtgott Mithras sowie das Dionysos­ Mysterium zählten, waren die Initiation der Eingeweihten und die Geheimhaltung der innersten Glaubensgrundsätze gegenüber Außenstehenden.7 Im Zuge der >Wiederentdeckung< des Corpus Hermeticum durch die lateinische Übersetzung Marsilio Ficinos ( 1 47 1 ) und der Rezeption weiterer >Weisheitsschulen< wie der erstmals 1 505 in lateinischer Sprache im Druck erschienenen Hieroglyphika des Horapolion Niliacus, einer ägyptischen Textsammlung, oder der Lehren des Zo­ roaster gelangten die Mysterien des Altertums allmählich in das Bewußtsein Europas8 - eine Entwicklung, auf die angesichts ihrer Komplexität und der Fülle der diesbe­ züglichen Schriften hier nur pauschal verwiesen werden kann.9

s Zur Definition der Mysterien siehe Walter Burkert: Antike Mysterien. Funktionen und Gehalt, München 1 990 (Orig. u.d.T. Ancient Mystery Cults, Cambridge, Ma./London 1 987), S. 9 ff. , sowie Marion Giebel: Das Geheimnis der Mysterien. Antike Kulte in Griechenland, Rom und Ägypten, Zürich/München 1 990, S. 9- 1 6. 6 Giebel: Geheimnis der Mysterien (Anm. 5), S. 9. 7 A.a.O., S . 9, 1 2- 1 5 . 8 Siehe u.a. Antoine Faivre: Esoterik, Braunschweig 1 996 (Orig. u.d.T. : L'esoterisme, Paris 1 993), S. 56 ff.; Edgar Wind: Pagan Mysteries in the Renaissance, London 1 95 8 ; Karl-Wolfgang Tröger: Mysterienglaube und Gnosis in Corpus herrneticum XIII ( Texte und Untersuchungen zur Geschichte der altchristlichen Literatur I I 0), Berlin 1 97 1 ; Jan Assmann: Ä gypten. Eine Sinnge­ schichte, München u.a. 1 996, S. 478-480 und 540, sowie den Beitrag von Assmann in diesem Band. 9 Edgar Wind bemerkte in seinem Vorwort dazu: »To be properly treated the revival of pagan mysteries in the Renaissance would require an author trained in several disciplines, each of which would demand of him the exertions of a lifetime.« Wind: Mysteries (Anm. 8), S. 7. Vgl. Stefan Weyer: Die Cambridge Platonists. Religion und Freiheit in England im 1 7 . Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a. 1 993 . =

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Ausgehend vor allem von Ralph Cudworth, einem führenden Mitglied der soge­ nannten >Cambridge Platonists< 1 0, und seiner 1 678 erschienenen Schrift The True Intellectual System of the Universe, trat seit der zweiten Hälfte des 1 7 . Jahrhunderts neben die hermetisch-neuplatonische Tradition eine religionsgeschichtliche Ausein­ andersetzung mit den antiken Geheirnkulten, die eine Herleitung der mosaischen Ge­ setze aus der ägyptischen >Mysterienreligion< verfolgte, 1 1 auf die in dieser Sicht letztlich auch alle übrigen antiken Mysterien zurückgeführt werden konnten. 1 2 Dies verstärkte sich im 1 8 . Jahrhundert durch die deutsche Übertragung Cudworths durch den späteren Göttinger Theologieprofessor Johann Lorenz von Mosheim ( 1 737) so­ wie durch William Warburtons 1 73 7- 1 7 41 erschienene Schrift The Divine Legation ofMoses Demonstrated. Während die Nähe dieser Mysterienrezeption und der damit verbundenen Ägyp­ tenfaszination zur freimaurerischen Esoterik unmittelbar naheliegt, 13 scheint eine Verbindung zwischen den antiken Mysterienkulten und dem 1 776 von dem Ingol­ städter Professor für Kirchenrecht Adam Weishaupt begründeten, gemeinhin als ra­ dikal-aufklärerisch und rationalistisch gekennzeichneten Illuminatenorden zunächst nicht unmittelbar einzuleuchten, distanzierte sich doch Weishaupt selbst im Ersten Band seiner nach dem Verbot des Illuminatenordens in Bayern und seiner Amtsent­ hebung durch den Kurfürsten im Exil verfaßten und 1 790 herausgebrachten Recht­ fertigungsschrift Pythagoras oder Betrachtungen über die geheime Welt- und Regie­ rungskunst pauschal von allen Geheimlehren und damit auch von den antiken Geheirnkulten. Unter der Überschrift »Von den Zwecken geheimer Verbindungen insbesondere, I. Mysterien« 14 stellte er gleich eingangs kategorisch fest: »Die Myste­ rien der heutigen Geheimen Verbindungen müssen von j enen der alten Zeiten sorg­ fältig unterschieden werden. Bei den alten waren die Mysterien ein Teil der Religi-

I O Stefan Weyer: Die Cambridge Platonists. Religion und Freiheit in England im 1 7. Jahrhundert, Frankfurt/M. u.a. 1 993. I I Vgl. dazu jetzt Jan Assmann: Moses der Ä gypter. Entzifferung einer Gedächtnisspur, München 1 998, speziell zu Cudworth auch der Beitrag im vorliegenden Band. Für die vorzeitige Überlassung der Manuskripte beider Texte bin ich Herrn Assmann sehr zu Dank verpflichtet. Zu Warburton siehe außerdem Florian Maurice: Freimaurerei um 1 800. Jgnaz Aurelius Feßler und die Reform der Groß­ loge Royal York ( Hallesche Beiträge zur europäischen Aufklärung 5), Tübingen 1 997, S. 373 ff. 1 2 Assmann: Ä gypten (Anm. 8), S. 480-482. I J Vgl. dazu den Beitrag von Florian Maurice in diesem Band sowie ders . : Freimaurerei um 1 800 (Anm. I I ), S. 3 8 1 f. Zur freimaurerischen Mysterienrezeption siehe August Wolfstieg: Bibliographie der freimaurerischen Literatur, 3 Bde u. 1 Ergänzungsbd. von Bernhard Beyer, Hitdesheim 1 964. Zur Ä gyptophilie des 1 8 . Jahrhunderts und insbesondere der Freimaurerei siehe Faivre: Esoterik (Anm. 8), S. 3 5 , Assmann: Ägypten (Anm. 8). Besonders einflußreich war hier auch der Sethos-Roman des Abbe Terrasson (Jean Terrasson: Sethos. Histoire, ou Vie tiree des monuments anecdotes de l'ancienne egypte, traduite d'un manuscrit grec, 3 Bde, Paris 1 73 1 ). 1 4 Adam Weishaupt Pythagoras oder Betrachtungen über die geheime Welt- und Regierungs­ kunst, in: Jan Rachold (Hg.): Die Illuminaten. Quellen und Texte zur Aufklärungsideologie des Il­ luminatenordens ( 1 776- 1 785), Berlin 1 984, S. 275-365, hier bes. S. 285-300. =

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on.« 1 5 Sie seien an einen festen Ort gebunden und der »Zusammenhang unter den Eingeweihten« sei »äußerst schwach« gewesen. Vor allem aber hätten sich die Ein­ geweihten der Antike zu keiner Zeit in einem »eng geschlossenen hierarchischen Körper vereinigt«, was sie von den späteren zeitgenössischen Geheimgesellschaften unterscheide. 1 6 Durch deren inflationäre Verheißung geheimer Kenntnisse sei es »soweit gekommen, daß selbst vernünftigere geheime Verbindungen, um Menschen für das Wahre und Gute empfanglieh zu machen, sich eines ähnlichen Kunstgriffs bedienen und ähnliche Erwartungen erregen mußten, um Fuß zu fasssen, Zeit zu ge­ winnen und das Törichte dieser Erwartungen nach und nach begreiflich und einleuch­ tend zu machen. « Durch die Aufdeckung immer neuer Betrügereien und falscher Versprechungen habe sich »diese Mysteriomanie und samt ihr der Hang nach gehei­ men Verbindungen so sehr gemindert, daß es schwer halten soll, diesen Hang und die ehemalige Folgsamkeit noch fernerhin für vernünftigere, zweckmäßigere geheime Verbindungen zu unterhalten.« 1 7 Wie ist die hier so klar erscheinende Trennlinie zwischen antiken und neuzeitli­ chen Mysterien und die Verdammung letzterer als, so noch einmal Weishaupt, »Geweb von Albernheiten und Aberglauben, die sonderbarste Mischung von Irrtum und Wahrheit« 1 8 einzuschätzen? War die Auseinandersetzung mit den antiken My­ sterien tatsächlich allein Schwärmern, Okkultisten und der Hochgradmaurerei vorbe­ halten, 1 9 während Weishaupt selbst und die Illuminaten sich damit überhaupt nicht befaßten bzw. allenfalls als >Kunstgriff< zur Erreichung des >Wahren und GutenwirklichenZu den drei gekrönten SäulenZur wahren Eintracht< bei und wurde im März 1 783 deren Mei­ ster vom StuhP2 sowie bald darauf ( 1 784/85) auch Sekretär der Provinzialloge von Österreich. Unter seiner Leitung wurde die >Wahre Eintracht< nicht nur zum Hort des Illuminatenordens in Österreich - etwa ein Viertel der Mitglieder dürfte zugleich -

25 Franz Cumont ( 1 868-1 94 7), belgiseher Archäologe und Religionshistoriker. Zu seinen Hauptwerken zählen die >Textes et monuments figures aux mysti:res de MithraLes mysti:res de MithraLes religions orientales dans le paganisme romainDie hellenistischen Mysterienreligio­ nen, nach ihren Grundgedanken und WirkungenDemokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1 770- 1 850< 1 6), Frankfurt/M. u.a. 1 99 1 , S. 3 3-67, hier S . 3 3 . 3 2 A.a.O., S . 42 f.

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dem Geheimbund angehört haben -,33 sondern auch zu einem Mittelpunkt des gesell­ schaftlichen und intellektuellen Lebens in Wien, indem die Loge eine große Anzahl von Mitgliedern und >Besuchenden Brüdern< gewinnen konnte. Verantwortlich dafür waren vor allem die sogenannten >ÜbungslogenWahren Eintracht< gehörte übri­ gens, ebenso wie sein Vater, Wolfgang Amadeus Mozart, der hier wahrscheinlich die Anregung für seine Zauberflöte erhielt; nach Auffassung einiger Musikwissenschaft­ ler lieferte ihm Born sogar das direkte Vorbild für den Sarastro.34 Ein weiterer besuchender Bruder der Loge, der seit 1 784 als freier Schriftsteller in Wien lebende Johann Pezzl, beschrieb die Übungslogen wie folgt: »In den Winter­ monaten waren an gewissen Tagen die sogenannten Uibungslogen, welche in öffent­ lichen Vorträgen bestanden. Drey oder vier Mitglieder lasen j e einen selbstgewählten Aufsatz in Prosa oder in Versen, über Gegenstände aus der Geschichte, der Moral, der Prophetie, gewöhnlich auch etwas über die Geschichte der älteren und neueren Mysterien und geheimen Gesellschaften.«35 Was sich hier in Pezzls Aussage andeutet, wird bestätigt durch die von Franz-Josef Irmen 1 994 edierten Protokolle der Loge >Zur wahren Eintracht< und vor allem durch die genauere Durchsicht des Journals für Freymaurer, in dem hauptsächlich die in den Übungslogen vorgetragenen Beiträge abgedruckt wurden:36 Borns Vortrag und spätere Schrift blieb keineswegs die einzige Abhandlung, die sich mit dem Thema antiker Mysterien und deren Verbindung zur Freimaurerei beschäftigte. Noch im selben Jahrgang 1 784 erschien aus Borns Feder ein weiterer Aufsatz Ueber die My­ sterien der Indier, den er den Logenbrüdern bereits am 1 5 . Dezember 1 783 vorgetra­ gen hatteY In diesem Text handelt es sich allerdings nicht um Mysterien im engeren, eingangs definierten Sinne - Born legt vielmehr eine Darstellung des Hinduismus vor -, doch ebenfalls im ersten Jahrgang findet sich noch eine Abhandlung Ueber die Magie der alten Perser und die Mithrischen Geheimnisse. 38

33 Hans-Josef Irmen (Hg.): Die Protokolle der Wiener Freimaurerloge >Zur wahren Eintracht< ( 1 78 1 - 1 785) ( Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle >Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1 770- 1 850< 1 5), Frankfurt/M. u.a. 1 994, S. 1 5 . 3 4 Vgl. dazu Hans-Josef Irmen: Mozart. Mitglied geheimer Gesellschaften, 2 . Auflage Zülpich 1 9 9 1 , bes. S. 38ff; weiterhin Edith Rosenstrauch-Königsberg: Ausstrahlungen des >Journals für Frei­ maurerL v. B. M. v. St. < bzw. >Br. B*n M. v. St. < im Kopf seiner Abhandlungen recht offen und fraglos eindeutig zu seiner Verfasser­ schaft bekannte, trat der Autor der Mithrischen Geheimnisse nur im Inhaltsverzeich­ nis zutage, als »Br[uder] . B * * *j . « . Dabei kann es sich nur um den vermutlich aus Mailand stammenden >Adjunkten< für orientalische Sprachen an der k.k. Hofbiblio­ thek Joseph Anton von Bianchi handeln, der nicht nur zu den Gründungsmitgliedern der >Wahren Eintracht< gehörte, sondern auch als Sekretär der Loge fungierte und unter dem Ordensnamen >Barnabo Visconti< zugleich dem Illuminatenbund angehör­ te.39 Wie die Überprüfung der Logenprotokolle zeigt,40 hatte auch Bianchi seine Aus­ führungen bereits in den Übungslogen zwischen Januar und März 1 783 in drei Teilen vorgetragen, beginnend mit der dritten Übungsloge am 6. Januar, und zwar im direk­ ten Anschluß an Born, der den letzten Teil seiner Mysterien der Aegyptier vortrug. Auch in den beiden weiteren Jahrgängen des Journals für Freymaurer lassen sich Hinweise auf eine Fortsetzung der Beschäftigung mit unserem Thema finden. 1 785 erschien eine Abhandlung Ueber die kabirischen Mysterien,41 die laut den Protokol­ len auf eine Vorlesung des Meisters vom Stuhl vom 1 1 . April 1 785 zurückging,42 im Journal allerdings als Arbeit des »Br[uders] . R* *« firmiert, in dem die Innensehe Edition bzw. deren Mitbearbeiter Heinz Schuler niemand anderen als den schon ge­ nannten Kar! Leonhard Reinhold erkennen will, der bekanntlich bis zu seiner Flucht aus dem Wiener Barnabitenkloster im November 1 7 83 ebenfalls Mitglied der Loge >Zur wahren Eintracht< gewesen war. Die Frage, inwieweit dieser Text inhaltliche Verwandtschaft mit den eingangs genannten Hebräischen Mysterien aufweist, mag vorerst zurückstehen; bedeutsam und deshalb ausdrücklich festzuhalten ist aber in jedem Fall, daß bereits hier, also noch vor der Aufhebung des Illuminatenbundes, der Ausgangspunkt für Reinholds Beschäftigung mit den antiken Geheimkulten auszu­ machen ist. 43 Bestätigt wird Reinholds Autorschaft durch einen Brief Borns an Reinhold in Leipzig vom 1 9 . April 1 7 84, in dem er ihn auffordert, nach Weimar zu gehen und dort >mnter Wielands Schuze u[nd] in seiner Gesellschaft [zu] leben«.44 Zugleich 39 Zu Bianchi siehe Innen (Hg.): Protokolle (Anm. 33), S. 3 2 1 ; zur Mitgliedschaft im Illumina­ tenorden auch Schüttler: Mitglieder (Anm. 22), S. 23. Zur Identifizierung Bianchis als Autor der >Mithrischen Geheimnisse< siehe Innen (Hg.): Protokolle (Anm. 33), S. 24. 40 Innen (Hg.): Protokolle (Anm. 33), S. 1 1 2 ( 1 32), S. 1 1 7 f. ( 1 42) und S. 1 24 ( 1 52). 4 1 Journal fiir Freymaurer 2 ( 1 785), 3 . Vj., S. 5-48. Zum >Kabirion< in Theben, in dem auch My­ sterien gefeiert wurden, vgl. Giebel: Geheimnis der Mysterien (Anm. 5), S. 94 f. 42 Innen (Hg.): Protokolle (Anm. 33), S. 279 (372). 43 S iehe dazu j etzt auch ausruhrlieh te Lindert: Aufklärung (Anm. 2), insbes. S. I, 1 95 f., 205 ff., der im Gegensatz zu manch anderem Reinhold- bzw. Illuminatenforscher diese naheliegende Über­ einstimmung vermerkt. 44 Kar! Leonhard Reinhold: Korrespondenzausgabe der Ö sterreichischen Akademie der Wissen­ schaften, hg. von Reinhard Lauth, Kurt Hiller und Wolfgang Schrader, Bd. I : Korrespondenz 1 7731 788, hg. von Reinhard Lauth, Eberhard Heller und Kurt Hiller, Stuttgart-Bad Cannstatt/Wien 1 983, S. 1 6.

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kündigt er ihm an, daß er ihm durch den Baron Mandelsloh,45 der als Geheimer Regierungsrat nach Weimar gehe, ein Manuskript schicken werde, nämlich »Micha­ elers46 Abhandl[ung] über die phönizischen Mysterien. 47 Schittlersberg48 hat solche so abgeändert, daß sie in unseren U[ e]bungen vorgelesen werde könnten. Mich däucht aber daß er zu viel von dem, was eigentlich zur Historie gehört, weggelassen hat. Sie erhalten das ungeänderte u[nd] das abgeänderte Manuscript, u[nd] wir ver­ trauen auf Ihre Geschiklichkeit, daß sie dem ganzen Dinge die rechte Forme geben werden. «49 Am 9. Juni kam Born noch einmal auf die Angelegenheit zurück: »Arbeiten sie immer fiir unser Journal; 8 f1 [Gulden] fiir den Bogen ist mehr als sie von einem Buchhändler erhalten können; Mandelsloh bringt Ihnen die phoenicischen Misterien zur Umarbeitung«. 50 Die Reinholdsehe Überarbeitung erschien wie gesagt 1 785, ohne Hinweis auf Mi­ chaeler, der sich darüber später bitter beklagen sollte. 51 Am 8. März 1 784 hatte Schittlersberg eine Fortsetzung über die Phönizischen Mysterien vorgetragen; am 1 1 . April 1 785 hielt Born anhand von Reinholcis Ausarbeitung einen Vortrag Ueber die kabirischen Mysterien. 52 An die kabirischen Mysterien schlossen sich grundsätzliche Erörterungen Ueber die wissenschaftliche Maurerey an, 53 in deren Mittelpunkt eben­ falls der Zusammenhang zwischen den Mysterien des Altertums und der Freimau­ rerei steht und deren Verfasser nunmehr gänzlich ungenannt blieb. Da dies allerdings eine Rede anläßlich einer Meisterinitiation war, dürfte die Vermutung erlaubt sein, daß es sich dabei um den Meister vom Stuhl selbst, also Born, handelte. Im letzten Jahrgang des Journals, das Ende 1 786 sein Erscheinen einstellte, wur­ den schließlich mit gewissem zeitlichen Abstand zwei aufeinanderfolgende anonyme Abhandlungen Ueber die Mysterien der alten Hebräer und Ueber die größern My­ sterien der Hebräer publiziert54, ihrerseits begleitet von Betrachtungen unter dem 45 Christian Friedrich Kar! (Wilhelm) von Mandelsloh (Mandelslohe) ( 1 762- 1 8 1 8), sachsen­ weimarischer Hofjunker und Regierungsassessor, später Regierungsrat in Weimar und Präsident des Appellationsgerichts in Eisenach. Beitritt zur Loge >Zur wahren Eintracht< am 2.4. 1 784. V gl. Rein­ hold: Korrespondenzausgabe (Anm. 44), S. 1 6 Anm. 1 2 . 46 Kar! Joseph Michaeler ( 1 735-1 804), Jesuit, 1 765 zum Priester geweiht, 1 770 Lehrer fiir Welt­ geschichte an der Universität Innsbruck, 1 782 Rektor. Nach Aufhebung der Gesellschaft Jesu Welt­ priester. 1 782 Kustos der Universitätsbibliothek in Wien. Zugleich Freimaurer, zuerst in Innsbruck, 1 783 dann >Anwesender Ritter< der > Wahren Eintracht< . 4 7 Kar! Michaeler: Historisch-kritische Abhandlung über d i e phönicischen Mysterien, Wien 1 796. 48 Zu Augustin Veit von Schittlersberg siehe unten. 49 Reinhold: Korrespondenzausgabe (Anm. 44), S. 1 6 f. (Brief Nr. 2). 5 0 A.a.O., S. 25 (Brief Nr. 3). 5 1 Im Vorwort seines Werkes schreibt Michaeler 1 796, daß er diese Arbeit schon vor zehn Jahren begonnen habe, sie ihm »aber nachmahls unter allerhand Aufschubes- und Vorwandesarten nicht mehr zurückgegeben« worden sei. Zitiert nach Reinhold: Korrespondenzausgabe (Anm. 44), S. 1 7, Anm. l 5 . 5 2 A.a.O., S . 1 7, Anm. 1 5 . 5 3 Journal fiir Freymaurer 2 ( 1 785), 3 . Vj ., S. 49-78. 54 Journal fiir Freymaurer 3 ( 1 786), I Vj ., S. 5-79; 3 . Vj ., S. 5-98.

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Titel Ueber den Einfluß der Mysterien der Alten auf den Flor der Nationen, als deren Verfasser »Br. S * * *g.« firmierte,55 bei dem es sich - wie in diesem Fall wiederum der Blick auf die Protokolle der Loge vom 7. November 1 785 eindeutig belegt56 - um den bereits genannten Augustin Veith von Schittlersberg ( 1 7 5 1 -1 8 1 1 ) handelte, ei­ nen böhmischen Adligen und ehemaligen Jesuiten, der in Wien im Staatsdienst stand und der >Wahren Eintracht< seit 1 783 angehörte, 5 7 dessen Zugehörigkeit zum Illumi­ natenorden allerdings zweifelhaft ist. Wenn dieses Textkorpus hier in einiger Ausführlichkeit ausgebreitet wurde, so um den Nachweis zu führen, daß es j enseits der Weishauptsehen Faszination für Mei­ ners ' Eleusinische Mysterien in der illuminatisch geprägten Freimaurerei eine inten­ sive Auseinandersetzung mit den antiken Mysterien gab - und dies keineswegs nur in Form einer erst nach dem Ende des Ordens entstandenen > Spätschrift< Reinholds. Nur vor dem Hintergrund des Wissens um die Existenz dieser insgesamt immerhin neun Texte wird in vollem Umfang deutlich, wie konsequent die illuminatische Mysterien­ rezeption bisher von der vornehmlich historisch-biographisch geprägten Forschung zum Illuminatenorden und zu einzelnen seiner Mitglieder ignoriert worden ist - die bereits erwähnte, soeben erst dem Publikum zugänglich gewordene Dissertation Wil­ gert te Linderts ausdrücklich ausgenommen, die j edoch einen weiterführenden, von diesen Ausführungen abweichenden Ansatz verfolgt. 58

III. Feh/zuschreibungen und Richtigstellungen Um weitere Mißverständnisse zu vermeiden bzw. der Fortschreibung der bisherigen entgegenzutreten, erscheint es daher sinnvoll, noch einen Moment bei den zu den genannten Autoren vorliegenden Forschungen bzw. bei den Verfasserzuschreibungen der anonymen Schriften zu verweilen. Edith Rosenstrauch-Königsberg bemerkte in ihrem erstmals 1 979 publizierten Aufsatz über die Ausstrahlungen des Journals for Freimaurer zwar, daß »Untersuchungen über die Mysterien aller Völker« zum Pro­ gramm des Journals gehörten,59 kurzer Erwähnung wert war ihr allerdings nur Borns erster Aufsatz Ueber die Mysterien der Aegyptier.60 Im Zusammenhang mit ihren Ausführungen über die illuminatische Ausrichtung der Loge spielten die hier vorge­ stellten Texte erwartungsgemäß keine Rolle, statt dessen ging es dort ausschließlich um Borns Schriften über die Illuminatenverfolgungen in Bayern.61

55 A.a.O., S . 80-1 34. 5 6 Innen (Hg.): Protokolle (Anm. 33), S. 3 3 (3 I 0). 5 7 A.a.O., S. 336; Reinhold: Korrespondenzausgabe (Anm. 44), S . 1 7, Anm. 1 6. 58 Te Lindert: Aufklärung und Heilserwartung (Anm. 2). 59 Rosenstrauch-Königsberg: Ausstrahlungen (Anm. 34), S. 1 03 . 6 0 A.a.O., S . 1 07. 61 A.a.O., S . 1 09 f.

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Die neuere biographische Forschung zu Ignaz von Born, so zum Beispiel der von Helmut Reinalter 1 99 1 herausgegebene S ammelband über /gnaz von Born und seine Zeit,62 geht sogar hinter den von Rosenstrauch-Königsberg erarbeiteten Stand zurück; Borns Mysterien-Schriften spielen dort praktisch keine Rolle. Von Reinalter selbst in seinem eigenen Beitrag mit dem Titel Ignaz von Born als Freimaurer und /lluminat63 erst gar nicht erwähnt, tauchen in Jaroslav Vävras Versuch einer vollständigen Bi­ bliographie zwar die beiden Aufsätze über die ägyptischen und indischen Mysterien auf, in den vorausgehenden Ausfiihrungen über Born als Schriftsteller der A ufklä­ rung werden diese sogenannten >Schriften mit freimaurerischer Thematik< allerdings als einziger Bereich von Borns Werk vollkommen ignoriert! 64 Dies ist um so er­ staunlicher und im hiesigen Kontext von besonderem Interesse, als Vävra Born nicht nur diese beiden Abhandlungen zuschreibt, sondern auch die oben erwähnten, an­ onym im letzten Jahrgang erschienenen beiden Aufsätze über die Mysterien der He­ bräer, offenbar wegen der thematischen Nähe zu den erstgenannten Schriften.65 Der Versuch, diese Vermutung anhand der Publikation der Logenprotokolle zu verifizie­ ren, verlief in zweierlei Hinsicht überraschend: Zum einen gingen diese Texte - im Gegensatz zu allen anderen - offenbar nicht auf Vorträge in den Übungslogen zu­ rück, zum anderen schreibt sie der schon genannte Bearbeiter Heinz Schuler seiner­ seits dem in Linz wirkenden Professor und Illuminaten (Ordensname >Appius Clau­ diusDecius< verfaßte und in meh62 Helmut Reinalter (Hg.): Die Aufklärung in Ö sterreich. Ignaz von Born und seine Zeit ( Schriftenreihe der Internationalen Forschungsstelle >Demokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1 770- 1 850< 1 6), Frankfurt/M. u.a. 1 99 1 . 63 Helmut Reinalter: Ignaz von Born als Freimaurer und Illuminat, in: ders. (Hg.): Aufklärung in Ö sterreich (Anm. 62), S. 3 3--67. 64 Jaroslav Vävra: Ignaz von Born als Schriftsteller der Aufklärung, in: Reinalter (Hg.): Aufklä­ rung in Ö sterreich (Anm. 62), S. 69-92, die Bibliographie auf S. 80-92. 65 A.a.O. S . 89. 66 [Heinz Schuler:] Das geistige Programm der Loge >Zur wahren EintrachtDemokratische Bewegungen in Mitteleuropa 1 770- 1 850< 1 6), =

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reren Bibliotheken auch unter seinem vollständigen Namen bequem zugängliche Schrift bis heute nicht zur Kenntnis genommen hat, obwohl diese doch für den Zu­ sammenhang seines Engangements als Freimaurer und Illuminat mit seinem Leben und Wirken, so der Untertitel von Fuchs' Studie, ohne Zweifel von unmittelbarer Bedeutung ist. Die Zuschreibung der beiden anonymen Aufsätze an Reinhold, die durch den eingehenderen Textvergleich unzweifelhaft bewiesen wird, könnte zudem den Untertitel der späteren Einzelpublikation: In zwey Vorlesungen gehalten in der Loge zu * * * * erklären, auch wenn sie wohl nicht mehr in der >Wahren Eintracht< , sondern erst nach deren Auflösung i n der Nachfolgeloge >Zur Wahrheit< zum Vortrag kamen.69 Wahrscheinlich hatte Reinhold die Texte Born zugesandt, der sie sogleich in das Journal aufnahm und zum Vortrag weiterleitete. Jedenfalls hatte Born Rein­ hold nachdrücklich aufgefordert: »Wenn Sie Muße haben, so schiken Sie uns Ab­ handlungen, Reden, Gespräche oder was Sie immer wollen, für unser Journal; wo die Zensur nicht so strenge ist.«70 Eine Aufforderung, der Reinhold wohl schon deshalb nachkommen mußte, weil er nicht nur von Born und anderen nach Weimar zu Wie­ land empfohlen worden war, sondern auch finanzielle Unterstützung aus Wien erhielt und die Beiträge zum Journal ebenfalls bezahlt wurden. 71 Wie aber kam nun zwei Jahre später die Einzelpublikation bei Göschen zustande? Zunächst hatte Reinhold am 23 . März 1 787 das Manuskript Friedrich Nicolai in Ber­ lin zum Druck angeboten, möglicherweise nicht zuletzt ebenfalls in der Aussicht auf das Honorar: »Ich will also nur noch von einem Gegenstande sprechen, der in die Klasse der Geschäfte gehört. Ich habe eine Abhandlung über die Mysterien der He­ bräer auf Ersuchen Borns für das Wiener Freymaurerjournal geschrieben, in wel­ chem sie auch, und zwar die eine Hälfte Über die kleinem Mysterien der Hebräer im 1 . B[and] . des Jahrgangs 1 7 86, und die zweyte Über die grössern Mysterien im 3 Bande abgedruckt ist. Wahrscheinlich haben sie diese Abhandlung nicht gelesen denn wahrlich die Abhandlungen in diesem Journale haben für Männer, die an solide­ re Nahrung gewohnt sind, wenig einladendes. Allein der Gesichtspunkt, der Zweck, der Geist, die Sprache - kurz das Ganze meiner Abhandlung ist ungefähr so beschaf-

Frankfurt!M. u.a. 1 994. Vgl. dazu jetzt auch die Kritik bei te Lindert: Aufklärung (Anm. 2), S. 1 96 f. , insbes. Anm. 3 . 69 Nach Reinhold: Korrespondenzausgabe (Anm. 44), S. 3 9 7 (Verzeichnis von Reinholds Veröf­ fentlichungen und nachgelassenen Schriften [ 1 777-1 788]), werden die beiden Schriften eindeutig Reinhold zugeordnet und auch ihr Vortrag als verbürgt dargestellt: »Reinholds Abhandlung wurde am 6.3 . 1 786 in der Loge >Zur Wahrheit< von Prandstetter vorgetragen [ . . . ]; Fortsezung des Vortrages am 3 .4. 1 786 durch Prandstetter«. Auf Seite 398 werden die >Hebräischen Mysterien< von 1 788 ein­ deutig als »Üb erarbeitete Fassung der Aufsätze, die zuvor im >Journal fur Freymaurer< erschienen waren« bezeichnet. 70 A.a.O., S. 1 8, Brief Nr. 2. Rosenstrauch-Königsberg: Ausstrahlungen (Anm. 34), S. 1 06, zitiert davon abweichend: »Wann immer sie Musse haben, so schicken sie uns Abhandlungen, Reden, Ge­ spräche oder was immer sie wollen, fur unser Journal.« 7 1 A.a.O., S. 2 1-25 (Brief Nr. 3). Siehe dazu auch das Zitat oben vor Anm. 49.

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fen, wie sie in meiner Herzenserleichterung72 sind. Bode bezeugte mir seine Zufrie­ denheit; und Wieland seine Freude darüber. - und alle meine Freunde glauben, die Abhandlung kämme itzt zur rechten Zeit, wenn sie dem großen Publikum übergeben würde, da sie itzt nur als Manuskript unter sehr wenigen, wovon noch wenigere sie lesen werden, herumläuft. Ich bitte sie nur wenigstens den zweyten Theil davon zu lesen, und mir dann bey Gelegenheit zu berichten, ob sie dieselbe in Ihren Verlag zu nehmen nicht abgeneigt wären. Ich will das letzte Kapitel welches die Nutzanwen­ dung auf Frymaurerey enthält, beträchtlich vermehren - im Laufe der Abhandlung selbst von den Geheimnissen der Hebräischen Theokratie mehr Anwendungen auf die katholische, und vornehmlich die projektirte Jesuitische einflechten, und das gan­ ze mit der Feile so viel mir möglich durcharbeiten.« 73 Nicolai nahm das Angebot am 1 7 . April 1 787 an, allerdings nur unter der Bedin­ gung, daß Reinhold die Schrift unter seinem eigenen Namen veröffentlichen werde. 74 Diese Bedingung aber war für Reinhold, der soeben Mitte April 1 787 von Herzog Karl August zum Professor in Jena berufen worden war, unannehmbar. Am 8. Mai 1 787 wandte sich Reinhold aus Weimar nochmals an Nicolai, diesmal aber in der Absicht, sein Manuskript zurückzuziehen: »Meine noch ganz neuen und unbefestig­ ten Verhältnisse in Jena, wohin ich nach Johannis als Professor extraord[inarius] . der Philosophie von meinem Herzoge versetzt werde, erlauben mir wohl nicht zur Zeit meinen Namen vor den Mysterien der Hebreer oder der ältesten religiösen Frey­ mau[re]rey zu nennen. Ich muß also wohl das Werkchen in Leipzig drucken las­ sen.«7 5 Offensichtlich hatte er das Manuskript in der Zwischenzeit Göschen angebo­ ten, der einen anonymen Druck zu akzeptieren bereit war. Am 2 3 . August 1 787 j e­ denfalls schickte Reinhold Göschen die Korrekturbögen zu/6 so daß das Buch trotz der Angabe » 1 788« im Titel noch im selben Jahr, also 1 787, erscheinen konnte. 77 Wenngleich die Zurückführung der späteren Reinholdsehen Schrift auf die beiden früheren Aufsätze das obige Textkorpus nachträglich um eine oder zwei Schriften, je nach Betrachtungsweise, geschmälert hat, so ergeben sich daraus auf der anderen Seite doch einige Aspekte, die die gemeinsame Behandlung der verbliebenen Texte unter dem Aspekt der illuminatischen Mysterienrezeption um so gebotener erschei­ nen lassen: zum einen die Konzentration der >Mysterienforschung< auf das direkte Umfeld der Wiener Loge >Zur wahren Eintrachtgroßen Geheimnisse< a.a.O., ab S. 29 1 ; die einzelnen Zitate S . 258, 292, 300.

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ner Ausführungen antike Autoren heranzuziehen bzw. seiner eigenen Interpretation und Ausgestaltung der Mysterien freien Lauf zu lassen. Demgegenüber vertritt Born in seinen Mysterien der Aegyptier die Auffassung, die ägyptische Religion sei wie die Geschichte insgesamt »geflissentlich in Finsternisse eingehüllet oder nach dem Eigendünkel und der Partheylichkeit der Schriftsteller unter einem falschen Gesichtspunkte vorgestellet worden«. 8 0 Schuld daran seien vor allem die Geschichtsschreiber selbst; diese »stunden im Solde der Regenten oder des Staats, sie strebten nach Gunst, Ehrenstellen und Geschenken, waren Schmeichler und kurzsichtige Nachbeter der Höflinge«. 8 1 Dagegen stellt er sein Programm einer Befreiung der historischen Tatsachen von diesen Verzerrungen. Als einzig probates Mittel erscheint ihm die Rekonstruktion verschollener Quellen, der »heiligen Jahrbü­ cher Aegyptens, [die] unter der unbestechlichen Aufsicht der Oberpriester von dem heiligen Schreiber des ehrwürdigsten Priesterthums, das je zum Dienste der Gottheit bestimmt war, aufgezeichnet, und in dem Tempel der Wahrheit niedergelegt« 8 2 wor­ den seien. Für seinen der illuminatischen Geschichtsphilosophie 8 3 verpflichteten An­ satz fand Born ein eindrückliches Bild: 84 Die Geschichtsschreibung erzähle nur »die Kriege der Spinnen gegeneinander, ihre Behutsamkeit, um nicht überfallen zu wer­ den, die List, mit der sie einander zu übervortheilen suchen, und schweigt vom künstlichen Gewebe, das sie im Stillen bauen.« 8 5 Diesem Programm entsprechend entwickelt Born seine Darstellung des Kultes um Isis und Osiris vornehmlich anhand antiker Autoren. An erster Stelle ist hier Diodor von Sizilien zu nennen, ein Schriftsteller des 1 . Jahrhunderts vor Christus, gefolgt von Herodot, Plutarch, Porphyrios und dem Neuplatoniker Jamblichos (De mysteriis aegyptiorum).86 Zeitgenössische Autoren werden dagegen in Gestalt von Warburton nur einmal zitiert. Nach einem geschichtlichen Abriß von den Regentschaften der einzelnen Herrscher und der Deutung der Pyramiden als Schrifttafeln, ja »gleichsam als Bibel der Ägypter«, 8 7 kommt Born auf die ägyptische Priesterkaste zu sprechen, die er als seinerseits wiederum in zwei Klassen unterteilten Geheimbund oder Orden darstellt. Zu den verborgenen Kenntnissen, die die Priester bewahrt hätten, zählt Born das Wissen um die verschiedenen Gottheiten, die Lehre von der Seelenwanderung, die Kenntnis der als Arkanwissen verstandenen Hieroglyphen und vor allem das Eingeweihtsein in die Mysterien, die ihrerseits aus philosophisch-naturwissen-

80 Born: Aegyptier (Anm. 30), S. 1 7. 8t A.a.O., S. 1 9 f.

82 A.a.O., S. 20. 83 Vgl. dazu Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklärung, München 1 987, S. 1 06- 1 1 1 . 84 Zur Nähe dieses Ansatzes zu Weishaupts Geschichtsbild vgl. auch Assmann: Ä gypten (Anm. 8), S. 482. 85 Born: Aegyptier (Anm. 30), S. 1 9. 86 Zu diesen Quellen siehe genauer auch den Beitrag von Jan Assmann im vorliegenden Band. 87 Born: Aegyptier (Anm. 30), S. 44.

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schaftliehen Kenntnissen einschließlich des Wissens um Magie und Alchemie be­ standen hätten. Bemerkenswert im Zusammenhang des illuminatischen Kontextes dürfte die Stellung der Priesterschaft zur Despotie sein: In natürlicher Distanz zu un­ gerechter Herrschaft stehend, habe sie dennoch deren gewaltsamen Umsturz abge­ lehnt. In der abschließenden »Vergleichung der Zeremonien und Gebräuche der ägyptischen Mysterien mit jenen der Maurerei«88 zieht Born zahlreiche identische Parallelen bis hin zur Funktion der freimaurerischen Utensilien und dem Ausschluß von Frauen, um dann in einen allgemeinen Appell an die Freimaurer zu münden, nicht durch schwärmerische und okkultistische Neigungen das Los der Depravation mit den Ägyptischen Mysterien zu erleiden und somit eine ähnlich negative Behand­ lung durch die Nachwelt heraufzubeschwören: »Möchte man nie, statt Wahrheit, Weisheit, und Mittel das Menschengeschlecht zu bessern aufzusuchen, Irrwege ein­ schlagen, Aberwitz und verjährte, der Aufklärung unsers Zeitalters unwürdige Vor­ urtheile für Weisheit und Zweck der Maurerey, Unsinn fiir Wahrheit ansehen, oder wohl gar den Bruder verketzern und verfolgen [ . . ] Möchten sich nie Maurer von dem allgemeinen Bunde losreissen, sich besondere Hüttchen bauen und gute Brüder unter dem stolzen Vorwande einer besandem Erleuchtung, die nur ihnen zugekommen seyn soll, in die Falle und auf lrrwege leiten! «89 Die Mysterien der Indier sind insgesamt aus derselben Sicht wie die der Aegyptier verfaßt Born bezieht sich auf seine schon bekannten Hauptquellen und fuhrt konse­ quent die indische Glaubenslehre auf die ägyptischen Mysterien zurück, indem er Brama mit Osiris und Wischnu mit Isis gleichsetzt.90 Am Ende steht wiederum der Vergleich mit der Maurerei, der in einer Analogie zwischen Freimaurern und den »Braminen« gipfelt, die als Eingeweihte über den niedrigeren Sektierern stehen, ebenso wie die Freimaurerei »die Brüder alle, die sich von der großen Maurerkette abrissen, um in abgesonderten Kreisen Licht zu finden, [ . . . ) wieder in einen gemein­ schaftlichen Bund zusammenbringen wird, um nicht nur an ihrer eigenen Aufklärung, sondern auch an dem Glücke der Menschheit überhaupt [ . . . ) zu arbeiten«.9 1 Born schließt mit dem emphatischen Ausruf: »Eine Lehre, und ein Zweck, der unsrer My­ sterien würdig ist! der vielleicht die Lehre, und der Zweck der Mysterien aller Völker - gewiß aber die Lehre, und der Zweck der Weisen Aegyptens, und Indiens war.«92 Eine Steigerung erfährt Borns Funktionalisierung der Mysterien gegen die okkul­ tistischen Strömungen der Freimaurerei im letzten Abschnitt von Reinholds Abhand­ lung unter dem Titel »Winke zu einer nähern Vergleichung der maurerischen Myste­ rien mit den Hebräischen«,93 der ganz von der Auseinandersetzung mit den Hochgradsystemen dominiert ist. Reinhold bezieht hier teils offen, teils durch die .

88 89 90 91

A.a.O., S. 85- 1 3 2 . A.a.O., S. 1 3 1 . Born: Indier (Anm. 40). A.a.O., S. 53 f. n A.a.O., S. 54. 93 Die Hebräischen Mysterien (Anm. 28), hier S. 1 8 1 - 1 92.

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Verwendung von Ordensnamen und Autorpseudonymen vor allem Stellung gegen die Strikte Oberservanz des Reichsfreiherrn von Hund und Johann August von Starcks Klerikat, streift dessen ebenfalls gegen die Strikte Observanz gerichtete Schmäh­ schrift Saint Nicaise94 ebenso wie die darauf in der Berlinischen Monatsschrift er­ schienenen Gegemeden, um über die Konvente der 1 780er Jahre schließlich auch die Gold- und Rosenkreuzer in seinen Rundumschlag miteinzubeziehen.95 Die maurerische Polemik erklärt auch Reinholds Themenwahl: Die hebräischen Mysterien haben über den salomonischen Tempel die engste Verbindung zur Frei­ mauerei, gehen aber natürlich auch auf ägyptische Ursprünge zurück.96 Dennoch er­ scheinen die Mysterien in Reinholds Darstellung nicht etwa, wie man vielleicht hätte erwarten können, als bloße Fassade wie in Weishaupts eingangs zitierter Pythagoras­ Schrift. Vielmehr verfolgt er eine an Meiners angelehnte zweistufige Vorstellung von den Mysterien, in denen die der Freimaurerei vergleichbaren kleineren Mysterien der Vorauswahl dienen, während sich in den größeren Mysterien die Vernunftreligion offenbart. Damit aber schlägt Reinhold den Bogen zur illuminatischen Lehre, die auf diese Weise die Mysterien für sich vereinnahmt und fruchtbar macht.97

94 [Johann August von Starck:] Saint Nicaise oder Eine Sammlung merkwürdiger maurerischer Briefe, ftir Freymäurer und die es nicht sind. Aus dem Franz. übers. [Frankfurt/M.] 1 78 5 . 9 5 A.a.O., S. 1 85 ff. Es würde z u weit fuhren, Reinholds faszinierende, m i t Geheim- und Ordens­ namen sowie subtilen Anspielungen gespickte Polemik hier im einzelnen nachvollziehen zu wollen, die zugleich eine ausfuhrliehe Darstellung der freimaurerischen Richtungen und Abspaltungen ver­ langen würde. Stattdessen kann hier nur auf die entsprechenden Werke zur Ermittlung der einzelnen Adressaten und der jeweiligen Hintergründe verwiesen werden: Eugen Lennhoff/Oskar Posner (Hgg.): Internationales Freimaurerlexikon, Zürich u.a. 1 932; Rene Le Forestier: Die templerische und okkultistische Freimaurerei im 1 8 . und 1 9. Jahrhundert, Erstes Buch: Die Strikte Observanz, Leimen 1 987; Hermann Schüttler: Geschichte, Organisation und Ideologie der Strikten Observanz, in: Quatu­ or Coronati Jahrbuch 25 ( 1 988), S. 1 59-1 75 ; ders. (Hg.): Johann Joachim Christoph Bode: Journal von einer Reise von Weimar nach Frankreich im Jahr 1 787, München 1 994; Ludwig Hammermeyer: Der Wilhelmsbader Freimaurerkonvent von 1 782. Ein Höhe- und Wendepunkt in der Geschichte der deutschen und europäischen Geheimgesellschaften (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung V, 2), Heidelberg 1 980; Charles Porset: Les Philalethes et les convents de Paris. Une politique de Ia folie, Paris 1 996; Karlheinz Gerlach: Die Gold- und Rosenkreuzer in Berlin und Potsdam. Zur Sozialge­ schichte des Gold- und Rosenkreuzerordens in Brandenburg-Preußen, in: Quatuor Coronati Jahrbuch 32 ( 1 995), S. 87- 1 47. Vgl. schließlich auch te Lindert: Aufklärung (Anm. 2), S. 209. 96 V gl. dazu jetzt ausfuhrlieh Assmann: Moses (Anm. I I ), S. 1 73- 1 8 6, sowie zur Rezeption Reinholds auch S. 1 86-2 1 0. 97 Interessant wäre hier sicherlich ein Vergleich zur Sicht der Mysterien durch Vertreter der Hoch­ gradmaurerei wie Starck (Anm. 1 9), der meines Wissens allerdings noch aussteht.

Claus Priesner (München) Alchemie und Vernunft. Die rosenkreuzerische und hermetische Bewegung in der Zeit der Spätaufklärung

Alchemie und Vernunft standen schon vor den Gold- und Rosenkreuzern in einem gegenseitigen Spannungsverhältnis, das sich auch nach dem Verschwinden dieser Geheimgesellschaft nicht löste. Einige Aspekte dieses Spannungsverhältnisses sollen im folgenden aus der Sicht des Alchemiehistorikers diskutiert werden, soweit es die Gold- und Rosenkreuzer, deren Vorgeschichte und deren unmittelbare Nachfolge be­ rührt. Ich werde auf eine Betrachtung der Gold- und Rosenkreuzer als historisches Gesamtphänomen verzichten, da hier auch politisch-historische Fragen berührt wür­ den, die mit der Alchemie nur wenig oder gar nichts zu tun haben. Nach einem kur­ zen Blick auf das Ältere Rosenkreuzerturn soll anhand einiger Persönlichkeiten das innere Wesen des Ordens der Gold- und Rosenkreuzer, die Motive seiner Gründung und die unerfüllten bzw. unerfüllbaren Erwartungen und Hoffnungen, die mit der Bruderschaft verbunden waren, erörtert und auch ein Blick auf die Weitertradierung der Alchemie nach dem Verschwinden der Gold- und Rosenkreuzer geworfen wer­ den.

Die ilteren Rosenkreuzer Das sogenannte Ältere Rosenkreuzerturn hat seinen Ursprung in einem um 1 6 1 0 in Tübingen gebildeten Freundes- und Bekanntenkreis um den Paracelsisten Tobias Heß ( 1 5 68-1 6 1 4), einem studierten Juristen, sowie Johann Valentin Andreae ( 1 5861 654), einem lutherischen Theologen, der zu dieser Zeit noch studierte. 1 Die GeistesJ Die Ausfii hrungen dieses Kapitels stützen sich auf: Ulrich Neumann: Artikel >Andreae< und >RosenkreuzertumNirgendwo< . Zum Begriff der Utopie und deren Beziehung z u den Geheimgesellschaften d e s 1 8 . Jahrhunderts siehe Manfred Agethen: Geheimbund und Utopie. Illuminaten, Freimaurer und deutsche Spätaufklä­ rung, München ! 987. J Christopher Mclntosh: The Rose Cross and the Age of Reason, Leiden/New York!Köln 1 992, S. 23 f. 4 Darin offenbart sich ein literarischer Rückgriff auf Ä gypten und Babylonien, das Ursprungsland der Alchemie bzw. der Magie und die >prisca sapientiaRosenkreuzes< erfolgte auch später und läßt sich bis in unser Jahrhun­ dert beobachten.8

Die Vorgeschichte der Gold- und Rosenkreuzer - Samuel Richter Die Bruderschaft RC war insofern fiktiv, als es sich dabei um eine literarische Schöp­ fung von Andreae und seinem Kreis handelte, deren tatsächliches Bestehen zwar von vielen angenommen, aber niemals belegt wurde.9 Der Orden der Gold- und Rosen­ kreuzer bestand hingegen in der Tat und war für einige Jahre sogar von beträchtli­ chem kulturgeschichtlichen und politischen Einfluß. Die Vorgeschichte dieser Grup>Kurzgefaßte Geschichte der Freimaurerei< verweist, die nach Kopp mit dem 5. Stück der >Chemisch­ Physikalischen Nebenstunden oder Betrachtung über einige nicht gemeine Materien< (Hof 1 780) des Innocentius Liborius ab Indagine (d.i. Jäger zu Nümberg) übereinkommt. 7 Zitiert nach Mclntosh: Rose Cross (Anm. 3) S. 25. s Neben der >Theosophical Society< der Helena Blavatsky (gegr. 1 875) und den Anthroposophen Rudolf Steiners lassen sich z.B. die >>Societas Rosicruciana in Anglia« (S.R.l.A.) und die 1 909 von dem vormaligen Steiner-Anhänger Max Heindei (alias Carl L. F. Grashoff, 1 865- 1 9 1 9) gegründete >Rosicrucian Fellowship< nennen, sowie die derzeit wohl größte Rosenkreuzerorganisation der Welt, der >Antiquus Mysticusque Ordo Rosae Crucis< (AMORC), eine um 1 909/ 1 6 entstandene Gründung von Harvey Spencer Lewis ( 1 883-1 939). 9 Zwar gab es Gruppen, die sich als Rosenkreuzer bezeichneten, doch erfolgte dies in keinem Fall auf Zulassung eines Bundes geheimer >Oberer christlichen Hermetik< Jakob Böhmes und strebte eine Verbindung von »Theosophie, Mystik, Medizin und Alchemie auf der neuen böhmistischen Grundla­ ge« an. 1 1 Seine unter dem Pseudonym >Sincerus Renatus< verfaßte Theo-Philosophia Theoretica-Practica ist »das klassische Werk der Hermetik des deutschen I 8. Jahr­ hunderts«. 1 2 1 7 1 0 veröffentlichte Richter seine Erstlingsschrift Die wahrhaffte und vollkommene Bereitung des Philosophischen Steins. Er sagt dazu im Vorwort, diese Schrift sei ihm von einem ungenannten »Professore der Kunst« (d.h. einem Einge­ weihten, einem Adepten) zur Abschrift überlassen worden. Damit setzt Richter eine Tradition fort, die altes und bewährtes Wissen weitertradiert oder dies zu tun vorgibt. Die Alchemie ist aus seiner Sicht eher eine Sache des Glaubens als der eigenen Ein­ sicht, Erkenntnis eher eine Gnade, als das Resultat eigenen Nachdenkens und Expe­ rimentierens. Konsequenterweise polemisiert Richter gegen die >natürliche Ver­ nunftTheo-Philosophia< die drei überkommenen >Prinzipien< Sal, Sulphur und Mercurius ab und setzt an deren Stelle zwei andere: Licht und Feuer. Denn es »können solche 3 Principia schwer in der Chymischen Resolution gezeiget werden, sondern ist unmöglich in den Vegetabilibus; da hingegen unsere 2 Principia sich leicht finden in allen Cörpern, wenn sie resolvieren.«13 Damit wird nicht die Vernunft schlechthin verworfen, sondern deren Autonomie, 14 d.h. das voraussetzungslose Schließen der Aufklärung. Denken und Folgern haben sich im Rahmen der religiösen Glaubenslehre zu bewegen. Diese Verbindung von Naturforschung und Christentum ist die Grundlage der Physikotheologie: »Hierinnen tun die meisten unserer heutigen Christlichen Theologen und Philosophen übel, daß sie GOtt nicht durch die Natur, und die Erkänntniß der Natur durch GOtt suchen wollen; selbst die Schrifft offenbah­ ret uns ja den ewigen GOtt nicht anders als durch die Natur.« 1 5 Richters Theo­ Philosophia ist sehr stark theologisch geprägt und enthält auch eine quasi alchemi­ sche Interpretation der Schöpfungsgeschichte. Zwar habe Adam beim Sündenfall »die Tinctur der Göttlichen Liebe« eingebüßt, aber Gott habe in seiner Liebe »den geheiligten Namen JESUS in den Samen des Weibes« >gesprochen< (die Schöpfung

IO Richters Biographie ist nur bruchstückhaft bekannt. Er wurde gegen Ende des 1 7. Jahrhunderts geboren und verstarb nach 1 722. Zu seinen Werken siehe: Zimmermann: Weltbild (Anm. 1 ), S. 1 051 24, 1 5 8 ff.; Joachim Teile: Zum Opus mago-cabbalisticum et theosophicum von Georg v. Welling, in: Euphorion 77 ( 1 983), S. 367 f.; Petra Jungmayr: Georg von Welling ( 1 655-1 727). Studien zu Leben und Werk, Stuttgart 1 990, S. 34 f. ; Mclntosh: The Rose Cross (Anm. 3), S. 3 0-3 3 . I I Zum Begriff der christlichen Hermetik siehe Zimmermann: Weltbild (Anm. I ), S. 98 ff. 1 2 Breslau 1 7 1 1 ; Zitat: Zimmermann: Weltbild (Anm. 1 ), S. 1 04. 1 3 A.a.O., S . 1 06. 1 4 Ebd. 1 5 A.a.O., S. 1 07.

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ist das >Wort< Gottes) und daher Jesus zum Wesensbestandteil des Menschen ge­ macht. Er ist »der rechte Lapis Philosophorum, so unsern innern Menschen tingiret«, d.h. zur Voiikommenheit emporhebt. 16 Die Christus - Lapis Paraiiele wird von Richter auch ganz direkt formuliert, wenn er sagt: »Wir bekräftigen und bezeugen, daß GOtt auch der verderbten äussern Natur einen irdischen Beyland gegeben, eine Tinctur aus dem Blute der Natur [ . . . ] Also hat sich GOtt wohl recht liebreich gegen uns erwiesen und uns nach unserm zweyfachen Verderben, dem innern seelischen und dem irrdischen leiblichen, auch einen doppelten Heyland, eine zweyfache Tinctur, eine himmlische und irrdisehe gegeben.«17 Die »verderbte Natur« ist für Richter eine Folge des Sündenfalls, der nicht nur den Menschen, sondern - da der Mensch der Mikrokosmos im Makrokosmos ist - auch die übrige Natur aus dem Pa­ radies faiien Iieß . 1 8 Das Erstlingswerk Richters enthält neben der erstmaligen Erwähnung des Namens »Gölden- und Rosenkreuz« auch ausführliche Statuten der Bruderschaft. Darin heißt es, die letzten Mitglieder des alten Ordens der Rosenkreuzer seien nach Indien abge­ segelt, keiner sei in Europa verblieben, und es habe nun eine Neugründung gegeben, eben den Orden der Gold- und Rosenkreuzer. Dieser werde von einem »Imperator« geführt und gliedere sich in zwei Zweige, das »Goldene Kreuz« und das »Rosen­ kreuz« mit jeweils 3 1 Mitgliedern, insgesamt also 63 Mitgliedern (incl. Imperator). Hier wird eine einfache Zahlensymbolik sichtbar, die I , 2, 3, 4 (Quersumme aus 3 1 ) und 9 (Quersumme aus 63) enthält. (Eins: Eiilheit/Stein der Weisen; zwei : das Ge­ gensatzpaar Licht und Feuer; drei : die göttliche Trinität bzw. die Kombination der kleinsten geraden mit der kleinsten ungeraden Zahl; vier: die Elemente, das Kreuz und die Himmelsrichtungen; neun: eine vollkommene Zahl, das dreifache der Drei­ heit. ) Zugelassen sind ausdrücklich auch Katholiken, aber keine Sektenanhänger. Richter fühlte sich also wohl nicht, wie Andreae und Heß, als Vertreter einer refor­ morientierten Minderheit innerhalb des Protestantismus, sondern als Traditionswah­ rer. Es gibt keinen konkreten Hinweis darauf, daß sich bereits zu dieser Zeit irgend­ wo eine derart organisierte Gruppe gebildet hätte. Das heißt nicht, daß es keine Einzelpersonen und Gruppen gegeben hat, die sich selbst als Gold- und Rosenkreuzer bezeichneten. Es bestand aber kein organisatorischer Überbau, der diese selbster­ nannten Gold- und Rosenkreuzer koordiniert hätte.

1 6 A.a.O., S. 1 1 3 .

1 7 A.a.O., S. 1 1 4. 1 8 Siehe dazu auch Kar! Hoheisel: Christus und der philosophische Stein. Alchemie als über- und nichtchristlicher Heilsweg, in: Meine! (Hg.): Alchemie (Anm. 5), S. 6 1 -84.

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Zur Geschichte der Freimaurerei Die Gold- und Rosenkreuzer können nicht losgelöst von der Freimaurerei betrachtet werden, weshalb hier einige knappe Bemerkungen zur Freimaurergeschichte nötig sind. 1 9 1 7 1 7 entstand aus dem Zusammenschluß von vier Logen die erste Großloge in London, die nur die drei >Handwerksgrade< Lehrling, Maurer und Meister kannte. In Frankreich erscheint um 1 725-1 730 eine Modifikation des aus England übernomme­ nen Systems, nämlich die Hochgradsysteme bzw. die >ritterliche< oder >schottische< Freimaurerei. (Nach dem schottischen Emigranten Andrew Michael Ramsay so be­ nannt.) Dieser Richtung entstammen alle mystisch orientierten Hochgradsysteme. Ramsay behauptete, die Maurerei sei von den Rittern des Templerordens entwickelt worden (daher »ritterliche« Maurer). In Frankreich bildeten sich verschiedene Grup­ pen dieser Orientierung, die von Jakob Böhme ( 1 575-1 624), Emanuel Swedenborg ( 1 688-1 772) und dem ehemaligen Benediktinermönch Antoine Joseph Pernety ( 1 7 1 6-1 796) geistig beeinflußt waren. Letzterer gründete einen eigenen Orden, die >Illumines d' Avignon< . Diese Richtung könnte man mit Christopher Mclntosh als »theosophische Maurerei« bezeichnen, die sowohl mit der Orthodoxie wie mit der Aufklärung kollidierte.20 Aus meiner Sicht handelt es sich dabei um eine Anknüpfung an die hermetisch-neoplatonische Tradition der Renaissance, allerdings vielfach um­ und überformt Neben der eben beschriebenen Richtung gab es in der Freimaurerei natürlich noch die auf Gleichheit und religiöse Toleranz gegründete, eng mit der Aufklärung verbundene Strömung. Mit dieser Tendenz hat das Gold- und Rosenkreuz nichts gemein, auch wenn einzelne Personen (etwa Adolph v. Knigge) zeitweilig beiden Richtungen angehörten. Zu Beginn der Verbindung von Freimaurerei und Gold- und Rosenkreuz erscheint der biographisch nicht faßbare Hermann Fictuld. >Fictuld< ist ein Pseudonym, das bislang nicht sicher aufgelöst ist.21 Unter diesem Namen erschienen einige alchemi­ sche Schriften22 darunter auch das Aureum Vellus (Leipzig 1 749), wo zweimal auf die Gold- und Rosenkreuzer als die angeblichen Erben des Goldenen Vließes Bezug genommen wird.23 Wie bei der schottischen Freimaurerei oder den älteren Rosen-

1 9 Siehe dazu ausfuhrlicher bei Mclntosh: Rose Cross (Anm. 3) S. 39 ff. 20 A.a.O, S. 42. 2 1 A.a.O., S. 46 f. und Amold Marx: Die Gold- und Rosenkreuzer, Leipzig 1 93 0 scheinen Fictuld fur den tatsächlichen Verfassernamen zu halten. 22 Siehe dazu z. B. Fritz Ferch!: Chemisch-Pharmazeutisches Bio-Bibliographikon, Mittenwald 1 93 8 (Nachdruck Vaduz 1 984), S. 1 54; Kopp : Alchemie (Anm. 6), Teil 2, S. 367, vermutet einen gewissen Johann Heinrich Schmidt von Sonnenberg hinter dem Pseudonym; Kar! Christoph Schmie­ der: Geschichte der Alchemie, Kassel 1 83 2 (Nachdruck Ulm 1 959), S. 544 spricht, ebenso wie Ferch!, nur von einem unbekannten Pseudonymus. 2 3 Das Goldene Vließ wurde recht häufig, auch schon weit früher, zum Thema alchemischer Lite­ ratur. Fictuld steht hier in einer in der Renaissance einsetzenden Tradition. Siehe dazu Antoine Fai­ vre: An Approach to the Theme of the Golden Fleece in Alchemy, in: Z. R. W. M. von Martels (Hg.):

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kreuzem wird auch hier der Versuch gemacht, einer neugegründeten bzw. noch gar nicht existierenden Organisation eine möglichst weit zurückreichende und ehrwürdi­ ge Ahnenfolge zu geben. Ein auf das Jahr 1 7 6 1 datiertes Manuskript, ebenfalls Au­ reum Vellus betitelt, 2 4 ist praktisch eine Abschrift von Fictulds Text, soweit die an­ gebliche Gründungsgeschichte des Ordens in der Antike betroffen ist, während die darin aufgeführten Statuten (mit sieben Graden der Initiation) einer französischen Quelle entsprechen, die allerdings erst später publiziert wurde, so daß eine gemein­ same Quelle vermutet werden kann.25 Ferner enthält das Manuskript auch die Mit­ gliederliste eines in Prag ansässigen angeblichen Zirkels der Gold- und Rosenkreu­ zer, benannt >Zur schwarzen Rose< . Während Mcintosh annimmt, dies sei ein klarer Hinweis darauf, daß der Orden 1 7 6 1 schon bestanden haben muß, war Zimmermann dieser Vermutung mit guten Gründen entgegengetreten. 2 6

Die Frühgeschichte des Gold- und Rosenkreuzes Friedrich Joseph Wilhelm Sehröder

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Man wird nicht fehlgehen, wenn man die Entwicklung des Gold- und Rosenkreuzes in Verbindung mit den französischen Hochgradsystemen bringt.27 In Paris etablierte sich 1 762 ein >Conseil des Chevaliers d' OrientChevalier Rose-Croix< . Die besagte Lehrakte wur­ de 1 765 fertiggestellt, und 1 766 publizierte Tschoudy ein Buch mit dem Titel L 'etoile jlamboyante, worin unter anderem die »Statuten und Verordnungen der cab­ balistischen Gesellschaft der unbekannten Philosophen« dargelegt waren. Daraus läßt sich ersehen, daß sich der neue Freimaurerzweig hermetisch-kabbalistisch orientierte. Nach den Untersuchungen von Zimmermann hat diese französische Loge die Grün­ dung der deutschen Gold- und Rosenkreuzer maßgeblich beeinflußt, wobei dann da-

Alchemy Revisited. Proceedings of the International Conference on the History of Alchemy Gronin­ gen 1 989, Leiden 1 990, S. 250-258. 24 Der vollständige Titel lautet: Aureum Yellus seu Iunioratus Fratrum Rosae Crucis. 25 Mclntosh: Rose Cross (Anm. 3), S. 47, unter Hinweis auf Lajos Abafi-Aigner: Die Entstehung der neuen Rosenkreuzer, in: Die Bauhütte 36 ( 1 893), S. 8 1 -8 5 . 26 Mclntosh: Rose Cross (Anm. 3), S. 47; Zimmermann: Weltbild (Anm. 1 ), S. 1 6 1 verweist dar­ auf, daß >Phöbron< d.i. Bernhard Joseph Schieiß von Löwenfeld die Prager Gruppe als »Rotte von Afterrosenkreuzern« schmähte. Siehe: Der im Licht der Wahrheit strahlende Rosenkreuzer, Leipzig 1 782, S. 1 76. 2 7 Zimmermann: Weltbild (Anm. 1), S. 1 62 f. 2 8 Diese Lehrakte dürfte dem Prager Manuskript zugrundegelegen haben. Der Prager Zirkel hätte sich demnach nicht auf einen deutschen Orden der Gold- und Rosenkreuzer gestützt, sondern auf das französische Vorbild.

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von auszugehen ist, daß diese sich nicht vor 1 762, wahrscheinlich erst 1 765 formier­ ten. Einer der maßgeblichen Initiatoren der Gold- und Rosenkreuzer war Bernhard Joseph Schieiß von Löwenfeld ( 1 73 1- 1 800), der als kurpfalzischer Hofrat in Mann­ heim tätig war. Tschoudy wiederum war im relativ nahe gelegenen Metz ansässig. Nun ist es an der Zeit, eine Schlüsselfigur der frühen Gold- und Rosenkreuzer ein­ zufUhren, nämlich Friedrich Joseph Wilhelm Sehröder ( 1 733-1 778).29 Dieser war Badearzt bei den Mineralquellen von Hofgeismar, 1 762 wurde er von der Universität London in absentia zum Dr. med. promoviert, 1 764 übernahm er die ordentliche Pro­ fessur fiir Medizin an der Universität Marburg. Er verfaßte die Neue Alchymistische Bibliothek für den Naturkundigen unsers Jahrhunderts ausgesucht30 und (neben an­ derem) drei weitere aleheroische Werke, die Neue Sammlung der Bibliothek für die höhere Naturwissenschaft und Chemie,3 1 die als Fortsetzung der A lchymistischen Bibliothek betrachtet werden kann; ferner Die völlig geöffnete Alchymie oder höhere Naturwissenschaft32 und die Geschichte der ältesten Philosophie und Chemie oder sogen. hermetischen Philosophie der Egyptier.33 Sehröder verstand sich als Verteidi­ ger und Bewahrer der >mntergehende(n) Wissenschaft der Alchymie«.34 Über die näheren Umstände seiner Aufnahme ist bislang wenig bekannt. Eventuell war es Schleiß, der Sehröder um 1 766 in Marburg aufsuchte und ihn zum Eintritt in die Bruderschaft einlud.35 Sehröder fiihrte eine ausgedehnte Korrespondenz mit Gelehr­ ten unter anderem auch in Frankreich; seine Verbindungen mögen fiir die Gründer des Gold- und Rosenkreuzes in Deutschland interessant gewesen sein, daher ihre Einladung. Man darf bei diesen Überlegungen nicht außer acht lassen, daß die Or­ densgründer selbst nicht im Besitz des Wissens waren, das sie zu haben vorgaben. Sie sahen das Gold- und Rosenkreuz wohl auch als Instrument, um mit echten Adepten in Verbindung zu treten. Sehröder mag in ihren Augen ein solcher gewesen sein, zumindest bestand aber die Möglichkeit, über ihn an tieferreichendes Wissen in der Alchemie heranzukommen. Außerdem war der Marburger Professor eine Gestalt, die dem jungen Gold- und Rosenkreuz Ansehen und Reputation verschaffen konnte. Zwischen 1 766 und 1 774 dürfte Sehröder fiir die Gold- und Rosenkreuzer als ))Propagandist und Zirkeldirektor« gewirkt haben.36 Danach war er als Informations­ quelle wohl nicht mehr nützlich und fiir die Ordensoberen Wöllner und Bisehoffwer­ der auch zu schlecht lenkbar, weshalb der Orden sich zurückzog und den bekümmer-

29 Zu Sehröder siehe Claus Priesner: Defensor Alchymiae. Zur Beweis- und Rechtfertigungsstra­ tegie bei Gabriel Clauder und Friedrich Wilhelm Schröder, in: Archives Internationales d'Histoire des Seiences 1 2 6 ( 1 99 1 ), S. 1 3-5 6 und die dort genannte Literatur. 30 5 Teile, Frankfurt/Leipzig 1 77 1 -1 774. 3 1 2 Bde, Leipzig 1 775-1 780. 32 Kassel 1 774. 33 Marburg 1 775. 34 Alchymistische Bibliothek, Vorrede zu Band I. 35 Zimmermann: Weltbild (Anm. 1 ), S. 1 65. 36 Ebd.

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ten Sehröder in dem Gefühl zurückließ, das Zutrauen der von ihm nach wie vor ver­ ehrten Oberen verscherzt zu haben. Die A lchymistische Bibliothek stellt eine ausführlich kommentierte Sammlung äl­ terer alchemischer Texte dar. Auswahl und Kommentar stammen von Schröder, der gleichwohl den Eindruck zu erwecken sucht, als wäre eine Gruppe von Kommentato­ ren am Werk.37 Sehröder begriff sich als >Defensor AlchymiaeBibliothek< zwischen beiden vermitteln zu können. Ferner achtete Sehröder darauf, sich von an­ deren, als minderwertig betrachteten, alchemischen Autoren abzugrenzen. Dieses Bestreben teilte er mit praktisch allen diesen Autoren, von denen j eder über die ni­ veaulosen Machwerke der anderen herzog und nur sich selbst bzw. die alten Autoritä­ ten gelten ließ. Dies ist beachtenswert, besagt es doch, daß die schärfste Kritik an den Alchemisten und ihren Schriften nicht selten von diesen selbst kam. Niemand wollte offenbar die Alchemie als solche verteidigen, sondern j eder nur die j eweils eigene Vorstellung davon. Die Lektüre der Bibliothek macht deutlich, daß Sehröder seinen Vorsatz, die gelehrten Naturforscher seiner Zeit wieder an die Alchemie zu binden, weit verfehlte. Seine Kommentare sind nicht weniger dunkel und mit scheinbarer Bedeutungsschwere durchsetzt, als die der von ihm ausgewählten Autoren. Seine Ankündigung, wonach »einige dieser Schriften deutlich und auf eine offenbare und sichere Art lehren werden, Gold zu machen«, war - wie sollte es anders sein - Schall und Rauch. Sehröder unterlag (wie alle anderen Alchemisten) dem aus der inneren Struktur der Alchemie, ihrem Menschen- und Weltbild, folgenden Zwang zu einem bestimmten SprachstiL Der Widerspruch zwischen dem Anspruch, dem Leser eines alchemischen Buches etwas tatsächlich Nützliches (im Sinne des >Opus magnumDoctor< oder >doctisRosae< und >Crucis< ganz zwanglos interpretieren. Die Identität des Herausgebers der >>Alchymistischen Bibliothek« war vermutlich schon den Zeitgenossen bekannt, Schmieder: Alchemie (Anm. 22), S. 567 f. kennt sie 1 83 1 . Mcln­ tosh: Rose Cross (Anm. 3), S. 5 1 bezeichnet die >Alchymistische Bibliothek< als eines der meistgele­ senen alchemischen Werke des ausgehenden 1 8. Jahrhunderts. 3 8 Alchymistische Bibliothek, Vorrede zum ersten Band.

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überzeugend gelöst.39 Anders als bei den öffentlich verbreiteten Druckschriften, hatte die elitäre Geheimgesellschaft der Gold- und Rosenkreuzer dieses Dilemma nicht. Ihr Problem war vielmehr der konkrete Mangel an entsprechenden Informationen. Dieser Mangel wurde vor dem Hintergrund einer aufgeklärten Gesellschaft natürlich stärker fuhlbar als vor dem der insgesamt dem metaphorischen Denken weit stärker ver­ pflichteten Kultur des 1 6 . und 1 7 . Jahrhunderts. Die Sprache der Alchemie entspricht deren nicht-rationalem Gefuge in derselben Weise, wie die Sprache der modernen Chemie deren Denkstruktur wiedergibt. So gesehen, waren es nicht allein ethische Gründe oder Mangel an konkretem Wissen, das die Mitteilung alchemischer Ge­ heimnisse verhinderte, sondern der innerste Wesenskern, das >Mysterium Coni­ unctionis< der Alchemie selbst, dessen Verstehen ein Akt der Erleuchtung war - völ­ lig individuell und mit Worten nur begrenzt vermittelbar. Einer von Schröders Hauptzeugen fur die Sinnhaftigkeit der Alchemie, der ein Jahrhundert vor ihm geborene Gabriet Clauder ( 1 633-1 69 1 ), konnte noch stolz und zuversichtlich verkünden: »So lange die Übereinstimmung der himmlischen und irdi­ schen Dinge bestehen wird [ . . . ] so lange die oberen Dinge seyn werden wie die unte­ ren, und die unteren wie die oberen; so lange die Harmonie der grossen Welt mit der kleinen unerschüttert fortdauern wird: so lange wird auch trotz dem Neide unser Stein mit seinen nützlichen Strahlen der Wahrheit schimmern und die Nebel seiner Gegner und Zweifler aufklären.«40 Zu Schröders Zeiten war die Harmonie von großer und kleiner Welt zerbrochen, und der Glanz der philosophischen Sonne des Lapis konnte die Nebel der Aufklärung nicht mehr zerstreuen.

Der Orden des Gold- und Rosenkreuzes - Ordensstrukturen und Selbstverständnis Das Gold- und Rosenkreuz war streng hierarchisch organisiertY Jedes neu eintreten­ de Mitglied wurde vereidigt und im Rahmen einer streng festgelegten Zeremonie in die unterste S tufe der Ordenshierarchie aufgenommen. Zunächst gab es sieben, später neun Stufen. Mit j eder Stufe waren bestimmte Initiationsrituale verbunden, insbeson­ dere aber die Einweihung in immer tiefere Geheimnisse der Natur und Gottes. Dabei wurden weitreichende Versprechungen gemacht, die nicht >nur< den Besitz des >Lapis philosophorum< einschlossen, sondern in der höchsten Stufe eine Stellung über­ menschlicher Allmacht verhießen.

39 Priesner: Defensor Alchymiae (Anm. 29), S. 56. 40 Gabriel Clauder: Abhandlung von dem Universalsteine etc., Oettingen 1 682, Zweitdruck u.d.T. : Eine Abhandlung von dem Universalsteine etc., in: Alchymistische Bibliothek 2 . Bd., Frank­ furt/Leipzig 1 773, S. 1 -280, hier S. 77. 4 1 Zur Struktur der Gold- und Rosenkreuzer siehe insbesondere Horst Möller: Die Gold- und Ro­ senkreuzer. Struktur, Zielsetzung und Wirkung einer anti-aufklärerischen Geheimgesellschaft, in: Peter Christian Ludz (Hg.): Geheime Gesellschaften, Heidelberg 1 979, S. 1 53-202.

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In einer 1 790 in Leipzig veröffentlichten Schrift Die wahrhaffte u. vollkommene Bereitung des Philosophischen Steins der Brüderschaft aus dem Orden des Gülden­ und Rosen-Creutzes wird behauptet, j eder in den Orden neu aufgenommene Bruder sei nach Ablegung seines Eides »mit dem Lapide abgefertigt worden (dann man ihn allezeit soviel giebt, daß er 60 Jahr reichlich davon leben kann)«.42 Kopp betrachtet dies als Bestätigung, daß den Ordensanwärtern unhaltbare Vorspiegelungen gemacht wurden und belegt dies auch mit einer anderen Schrift aus dem Jahr 1 767, die unter anderem in Nettelbladts Geschichte freimaurerischer Systeme auszugsweise wieder­ gegeben ist. Hier werden die den einzelnen Graden gemachten Eröffnungen be­ schrieben:43 Erster Grad/Junior: Zweiter Grad!Theoreticus: Dritter Grad!Practicus: Vierter Grad!Philosophus: Fünfter Grad/Minorus: Sechster Grad!Majorus: Siebter Grad!Adeptus exemptus: Achter Grad/Magister: Neunter Grad!Magus:

Erklärung des Freimaurertapis auf alchemische Weise Theorie und Zeichen Erste Praxis, Kennenlernen des »Chaos« weiße Tinktur kennen die »phil. Sonne«, verrichten Wunderkuren rote Tinktur Kabbala, Magia naturalis Beherrschung aller drei Hauptwissenschaften Meister über alles, wie Moses oder Hermes

Man wird erkennen, daß die mit den einzelnen Stufen verbundenen Eröffnungen recht vage und phantastisch klingen, mit Ausnahme der Grade vier und sechs, mit denen die Kenntnis der weißen und roten »Tinktur«, d.h. der Transmutation unedler Metalle in Silber bzw. Gold, verknüpft wurde. Die Aushändigung einer Portion des Lapis an j eden neu Eintretenden, die ausreicht um sechzig Jahre sorgenfrei zu leben, war selbstverständlich pure Fiktion. Die Eidesformel umfaßte sieben Punkte. Neben der Verpflichtung zu einem mora­ lisch einwandfreien, christlichen Leben wurde besonderer Wert auf die Verschwie­ genheit der Mitglieder, ihre Treue und ihren absoluten Gehorsam gelegt. Überdies mußte man schwören, den Ordensoberen das eigene Wissen rückhaltlos und voll­ ständig zu offenbaren. In seiner Bewertung des Eides kommt Horst Möller zu dem Schluß, »daß der einzelne Ordensbruder in ein perfektes Herrschaftssystem einge­ bunden wurde. Die Spitze dieses Systems stellten die Oberen dar, die unbekannt und unfehlbar waren, denen absoluter Gehorsam entgegengebracht werden mußte und

42 Kopp: Alchemie (Anm. 6), Teil 2, S. 3 3 . 4 3 Christian Carl Friedrich Wilhelm von Nettelbladt: Geschichte Freimaurerischer Systeme in England, Frankreich und Deutschland, Berlin 1 879; vgl. das Folgende S. 524-529.

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deren Stellung nicht angezweifelt werden konnte noch durfte.« 44 Die Basis der Or­ ganisation bildeten die Zirkel, die maximal neun Mitglieder haben durften und von einem Direktor geleitet wurden. Die Direktoren unterstanden einer Hauptdirektion, diese einer Oberdirektion und darüber standen die >OberenTod< der Materie, ihre Rück­ führung in das Chaos der Materia prima und deren nachfolgende Neuformung zur Materia ultima des Lapis waren hier präsent: »Gleichwie unser hohes Geheimnis, das Mond- und Sonnen-Geschöpf gereinigt wird, auch sterben, faulen, verwesen und wider aufstehen muß und hernach mit dem kräftigen himmlischen Wasser, als dem Balsam des Lebens, begossen und dadurch zu einem herrlichen Mond- und Sonnen­ Leib verklärt wird, ebenso [sollen die Brüder] sich täglich reinigen, auch täglich ster­ ben, faulen, verwesen und im Licht und in einem neuen Leben auferstehen.«45 Der Urgrund dieser Vorstellungen eines Kreislaufs von Tod und Wiedergeburt, der für die Alchemie von fundamentaler Bedeutung ist, liegt im ägyptischen Isis-Osiris­ Mythos. Die Mitglieder des Gold- und Rosenkreuzes entstammten durchweg höheren sozia­ len Schichten, waren Naturforscher, Ärzte, Offiziere und insbesondere Theologen, die teils dem Adel angehörten. Daneben gab es auch hohe Adelige. Die Mitglied­ schaft war sehr kostspielig und bewirkte eine Abschottung gegenüber den unteren Gesellschaftsschichten. Eine organisatorische Kontinuität von den älteren Rosen­ kreuzern zum Gold- und Rosenkreuz ist nicht nachweisbar und unwahrscheinlich. Gemeinsam ist beiden neuplatonisches Gedankengut. Zur komplexen Hierarchie des Gold- und Rosenkreuzes kam eine ebenso komplexe, für den einzelnen kaum über­ schau- oder nachvollziehbare Lehre. Das pansophische Grundkonzept, wonach die 44 Möller: Gold- und Rosenkreuzer (Anm. 4 1 ) , S. 1 62. 45 Zitiert nach Ferdinand Runkel: Geschichte der Freimaurerei in Deutschland, Bd. 2, Berlin 1 932,

S. 9.

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Natur »ein Ausfluß der Schöpferkraft Gottes und somit selbst ein Stück Gottheit« ist und das schon bei Samuel Richter erscheint, wurde beibehalten.46 Die Fortschritte in den modernen Naturwissenschaften wurden als irrelevant angesehen bzw. als gefähr­ licher Irrweg betrachtet, der von der >eigentlichen< Erkenntnis der Schöpfung weg­ führe. Statt dessen hielt man an der spiritualistischen Naturbetrachtung des 1 6. und 1 7 . Jahrhunderts fest. Insgesamt zeigt sich das Gold- und Rosenkreuz sowohl struktu­ rell, wie intentional und methodisch als konservativ-fortschrittsfeindlich. Kritisches, selbständiges Denken war nicht erwünscht, statt dessen forderte man geistige Unter­ werfung. Von einem Junior ( 1 . Grad) erwartete man »nicht Zweifel und Raissone­ ments, sondern Verleugnung weltlicher Wissenschaften und Verehrung der Urteil­ sprüche der weisen Meister«.47 Der Orden verweigerte sich nicht nur der modernen Naturwissenschaft, er hatte auch keinerlei alchemische Kenntnisse, die über das hinausreichten, was in wohlbe­ kannten und im Druck erschienenen Werken zu finden war.48 Bedingt durch die Struktur des Gold- und Rosenkreuzes dauerte es allerdings mehr oder minder lange, bis ein Mitglied dieses merken konnte, da man wenigstens bis zum vierten Grad auf­ gestiegen sein mußte, um die Hohlheit der Versprechungen der Oberen auch konkret zu erfahren. Das Interesse des späten 1 8 . Jahrhunderts an pietistisch-böhmistisch umgeformter Hermetik führte zu einem kurzen, aber intensiven Aufblühen alchemischer Publika­ tionen, nicht zuletzt ausgelöst durch die Gold- und Rosenkreuzer. Der Pseudonymus »Wilhelm ab Indagine« kommentierte dieses Phänomen mit den Worten: »Heut zu Tage schleicht die Pest [der Alchemie] im Finstern und wüthet vielleicht mehr als je: denn sie hat selbst das Mark der Völker, den Handwerker und Landmann, befal­ len.«49 Dieses Zitat ist zugleich ein Hinweis auf das Eindringen alchemischen Ge­ dankenguts auch in untere soziale Schichten. Viele dieser Publikationen bezogen sich direkt oder indirekt auf die Freimaurerei bzw. die Gold- und Rosenkreuzer. Der 1 779 veröffentlichte Compaß der Weisen50 erfreute sich bei den Gold- und Rosenkreuzern

46 Möller: Gold und Rosenkreuzer (Anm. 41 ), S. 1 67. 47 Ebd. 4 8 Neben den schon genannten Werken von Richter und Sehröder sind zu nennen das >Opus mago-cabbalisticum et theosophicum< (Homburg 1 73 5 , 1 760 u. 1 784) des Georg v. Welling, dessen ersten Teil Richter, anscheinend ohne Wissen und Zutun Wellings, unter dem Titel >Opus mago­ cabbalisticum et theologicum< schon 1 7 1 9 in Frankfurt publiziert hatte; ferner die >Aurea catena Homeri< des Joseph Anton Kirchweger ( 1 723, erneut 1 7 8 1 u. d. T. Annulus Platonis; s. dazu Kopp: Alchemie [Anm. 6], Teil 2, S. 208-2 1 0), oder Christoph Glasers >Novum Laboratorium Medico­ Chymicum< (Nürnberg 1 677). Siehe dazu ausftihrlicher bei Kopp: Alchemie (Anm. 6), Teil 2, S. 249-257. 49 Zitiert nach Joachim Teile: Zum Opus mago-cabbalisticum et theosophicum von Georg v. Wel­ ling, in: Euphorion 77 ( 1 983), S. 359-3 79, hier S. 359. so Ketmia Vere (Pseud.): Der Compaß der Weisen, von einem Mitverwandten der innern Verfas­ sung der ächten und rechten Freymäurerei beschrieben etc., Berlin/Leipzig 1 779; eine zweite »mit

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ganz besonderer Wertschätzung, wohl auch deshalb, weil er eine fiktive Ordensge­ schichte enthielt, die den uralten Ursprung der Bruderschaft erneut zu belegen schien. Ferner wird darin bestritten, daß alle Gold- und Rosenkreuzer auch Adepten seien, wenngleich andererseits alle Adepten dem Gold- und Rosenkreuz angehören würden. Einem Gold- und Rosenkreuzer sei es »weit leichter, als einem, auch dem unver­ gleichlichsten profanen Gelehrten, durch Gottes Gnade und unsere brüderliche Be­ lehrung, auch in der Verwandlungskunst der Metallen unterweilen die herrlichsten Wahrheiten zu entdecken; indessen werden diese Entdeckungen bey uns für nichts anderes als Nebensachen und unverdiente Gnadengeschenke [ . . . ] angesehen.«5 1 Die­ ser Anspruch wurde bereits in der Fama um 1 6 1 0 erhoben, wo es heißt: »Was son­ derlich zu unserer Zeit das gottlose und verfluchte Goldmachen belangt [ . . . ] so be­ zeugen wir hiermit öffentlich, daß [ . . . ] es mit den wahren Philosophis also beschaffen, daß ihnen Gold zu machen ein Geringes und nur ein Parergon ist, de­ rengleichen sie noch wohl andere etliche tausend bessere Stücklein haben.«52 Das Opus magnum wird hier also als etwas Simpel-profanes hingestellt. Wie spä­ ter bei Welling (worauf noch einzugehen sein wird) scheint die abschätzige Bewer­ tung des Opus magnum zwei Gründe zu haben, einmal die von beiden Verfassern tatsächlich gehegte Überzeugung, daß die Alchemie ein Schlüssel zu einer umfassen­ den und über die Metalltransmutation weit hinausreichenden Naturerkenntnis sei, zum andern aber auch die Reaktion auf die sich bereits andeutende Vertrauenskrise bezüglich der Realisierbarkeit der tradierten Ziele der Alchemie. Galt das Opus der mittelalterlichen Alchemie noch als Vollendung und Beweis der höchsten Erkenntnis, wird es von Paracelsus dem Zweck der Gewinnung heilkräftiger Arzneien unterge­ ordnet bzw. selbst als Panacea gesehen. Mit den im ausgehenden 1 6 . Jahrhundert wachsenden Zweifeln an der praktischen Realisierbarkeit der theoretisch nach wie vor durchaus denkbaren Transmutation ging eine Abwertung derselben durch die Alchemisten einher. Dies ist jedoch keine Kritik an der Alchemie als philosophischer Erkenntnismethode, sondern eine Uminterpretation der Bedeutung des Lapis. Dieser steht hier für das Verständnis der materiellen Welt, das gegenüber dem Verständnis der spirituellen Welt minder wichtig erscheint.

Blüte und Niedergang des Gold- und Rosenkreuzes Georg Forster und Samuel Thomas Sömmering Die Zeit der Blüte des Gold- und Rosenkreuzes schließt sich fast unmittelbar an sein öffentliches Erscheinen um 1 765 an und währt bis in die frühen 1 780er Jahre. 1 787 verschwindet der Orden aus der Öffentlichkeit, nachdem durch einen > Silanum< geZusätzen und Anmerkungen vermehrte Ausgabe von AdaMah Booz« erschien in Berlin 1 782. Siehe dazu bei Kopp: Alchemie (Anm. 6), S. 222 f. 51 Zitiert nach Kopp: Alchemie (Anm. 6), S. 29 f. 52 A.a.O., S. 4.

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nannten Erlaß der Oberen die Bruderschaft bis auf weiteres ihre Tätigkeit einstellt. 1 792 wird durch einen neuen Erlaß der Oberen der Orden offiziell aufgehoben. 53 Die während dieser Jahre insbesondere in Preußen beträchtliche politische Machtstellung des Gold- und Rosenkreuzes soll hier nicht näher behandelt werden. Sie ist mit den Namen Johann Rudolf von Bisehoffwerder ( 1 74 1-1 803) und Johann Christoph Wöllner ( 1 732-1 800) sowie mit dem prominentesten Gold- und Rosenkreuzer über­ haupt, König Friedrich Wilhelm II. von Preußen aufs engste verbunden. Bisehaff­ werder war der eifrigste Schüler des Geisterbeschwörers Johann Georg Schrepfer aus Nürnberg, der 1 768 in Leipzig ein Kaffeehaus eröffnete und sich als Gold- und Ro­ senkreuzer ausgab. Schrepfer beging 1774 Selbstmord und vermachte seine zum Zwecke der Geisterbeschwörung entwickelten Apparate Bischoffwerder, der die Seancen fortsetzte. An diesen war auch Friedrich Wilhelm beteiligt; unter anderem ließ man im Charlottenburger Schloß den Geist des Großen Kurfürsten erscheinen und setzte diese Praxis auch noch fort, »nachdem [man] das Goldmachen längst als nutzlos aufgegeben« hatte. 54 Es wäre indes falsch, das Gold- und Rosenkreuz nur mit Geistersehern und -beschwörern, religiösen Fanatikern und Wirrköpfen zu identifizieren, denn es ist eine Tatsache, daß der Bruderschaft auch geistig herausragende Persönlichkeiten angehörten. Ein solches Mitglied des Berliner Zirkels war Martin Heinrich Klaproth ( 1 743-1 8 1 7), einer der hervorragendsten Chemiker seiner Zeit. Klaproth war Frei­ maurer und gehörte der Loge »Zu den drei Weltkugeln« an, die sich »um die Mitte der 1 780er Jahre den Rosenkreuzern völlig überliefert hatte« und zu deren besonders eifrigen Brüdern »ein Klaproth« gehörte.55 Er scheint eine recht hohe Position einge­ nommen zu haben, denn er war bei einem Experiment zugegen, das dem 9. Grad von den Oberen aufgegeben worden war. Der Versuch fand um 1 787 statt und führte zur Einstellung weiterer Arbeiten. Das Allgemeine Handbuch der Freimaurerei berichtet dazu: »In Berlin erfolgte der Schluß der Arbeiten, als dem neunten Grade von den weisen Vätern ein chemischer Proceß vorgeschrieben war, und glücklicherweise der Chemiker Klaproth zugegen war, welcher bewies, daß das ganze Gebäude, in dem sich das Laboratorium befand, in die Luft gesprengt werden müsse, wenn man den Proceß unternähme. Prinz Friedrich von Braunschweig, in dessen Palaste das Labora­ torium war, wurde nun überzeugt, daß er es mit Leuten zu tun habe, welche sich Kenntnisse auf Anderer Kosten und Gefahr verschaffen wollten; er ließ das Labora­ torium niederreißen und der Zirkel wurde aufgelöst.«56 Klaproth wurde später zu einem energischen Gegner der Gold- und Rosenkreuzer, die er mit dem Ziel be­ kämpfte, die von ihm geschätzte Freimaurerbewegung von dieser Geistesrichtung zu reinigen.

53 54 55 56

Maclntosh: Rose Cross (Anm. 3), S. 1 43 f. Kopp: Alchemie (Anm. 6), S . 27 (Fußnote). A.a.O., S. 45. Ebd.

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Nicht immer gingen die aleheroischen Experimente s o glimpflich ab. Die Gering­ schätzung der >profanen< Chemie rächte sich zuweilen bitter. Der Ex-Rosenkreuzer E. Chr. F. Mayer teilte etwa in einer an die (unten näher erläuterte) >Hermetische Gesellschaft< gerichteten Zuschrift von 1 806 mit, im Berliner Zirkel habe man nach einem von Mayer angegebenenVerfahren eine »Antimonial-Tinctur« erhalten, »die herrliche Wirkung that, bei deren Bereitung aber zwei Menschen das Leben verlo­ ren«. 57 Im Kasseler Zirkel waren zwei Männer tätig, die ebenfalls anerkannte Wissen­ schaftler waren, und denen ich mich nunmehr zuwenden möchte, nämlich Georg Forster und Samuel Thomas Sömmering. Forster wurde als Sohn des Predigers Jo­ hann Reinhold Forster 1 754 in der Nähe von Danzig geboren. Sein Vater, »ein Mann von vielseitigem Wissen, reizbarem und störrigem Charakter«58 begab sich 1 770 nach London, wo ihm eine Stelle bei der East India Company in Aussicht gestellt worden war, die er indes nicht erhielt, so daß er von da an seinen Lebensunterhalt und den seiner Familie mit schlecht bezahlten literarischen Arbeiten verdienen muß­ te. 1 772- 1 775 begleitete er James Cook auf dessen zweiter Weltumsegelung, zu der er auch seinen Sohn Georg mitnahm. Schon 1 765 hatte Georg den Vater auf einer Reise nach Südrußland begleitet. Nach der Rückkehr von der Weltumsegelung kam es zwischen dem älteren Forster und der Londoner Admiralität zu Differenzen wegen der Herausgabe des Reiseberichtes, die den Vater ins Schuldgefängnis brachten. Ge­ org trat nun als Verfasser des seinem Vater untersagten Reiseberichtes auf, der 1 777 in englischer, 1 779 und 1 780 in ergänzter deutscher Fassung erschien und ihm zu internationaler Anerkennung, ja Berühmtheit, verhalf.59 Um den Vater aus der Schuldhaft zu befreien und der Familie finanziell unter die Arme zu greifen, begab sich Georg 1 778 nach Deutschland und erhielt im folgenden Jahr eine Professur für Naturgeschichte am Collegium Carolinum in Kassel. 1 784 übernahm er eine gleich­ lautende Professur in Wilna, 1 7 88 wurde er Oberbibliothekar an der Mainzer kur­ fürstlichen Bibliothek. Forster selbst war weniger Naturwissenschaftler als vielmehr Literat. Das Buch, das ihn berühmt machte, enthält keine von ihm gefundenen Resul­ tate, seine später gerühmten Werke befassen sich nicht mit Naturwissenschaften. Er lehnte den Absolutismus entschieden ab, trat begeistert für die französische Revoluti­ on ein und strebte einen Anschluß der mainzischen Republik an Frankreich an. Seit 1 793 war er »Agent du conseil executif« in Paris, wo er 1 794 starb. Seine radikale politische Haltung führte wohl unter anderem zur Trennung von seiner Gattin There­ se, die sich in die Schweiz begab und einen Freund der Familie, Ludwig Ferdinand Huber, ehelichte und zur Entfremdung von Sömmering.60 57 Ebd. (Fußnote). 5 8 A.a.O., S. 46 f. 59 Georg Forster: A voyage round the world, London 1 777 (dt. 1 778/80). 60 Zur Biographie Forsters siehe Alfred Dove in: Allgemeine Deutsche Biographie, Bd. 7, Leipzig 1 878, S. 1 72-8 1 ; Kopp: Alchemie (Anm. 6), Teil 2, S. 46-48; Gerhard Steiner in: Neue Deutsche Biographie, Bd. 5, Berlin 1 96 1 , S. 3 0 1 f. ; M. E. Hoawe, in: Dictionary of Scientific Biography, Bd. 5,

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Samuel Thomas Sömmering ( 1 755-1 830) war Arzt und Anatom. Wie Forster war auch er 1 779-1 784 Professor am Kasseler Collegium Carolinum und dann an der Universität Mainz. 1 792 reiste er nach Wien und kehrte nicht mehr in das von fran­ zösischen Truppen bald besetzte Mainz zurück. Er ließ sich in Frankfurt als prakti­ scher Arzt nieder, hielt aber bis 1 797 in Mainz gelegentlich Vorlesungen. 1 805 wur­ de er Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften und siedelte nach München über, wo er bis 1 820 blieb. Seine letzten Lebensjahre verbrachte er wieder­ um in Frankfurt.61 Forster war 1 778 in London zu den Freimaurern gestoßen. Sömmering hatte For­ ster schon in diesem Jahr in London besucht und war von ihm bei den Freimaurern eingeführt worden. Die Maurerlogen in Deutschland unternahmen unter Federfüh­ rung des Herzogs Ferdinand von Braunschweig mehrfach Sammlungen zugunsten von Forsters Vater. In Kassel traten Forster und Sömmering der Loge >Zum gekrön­ ten Löwen< bei, die der Strikten Observanz folgte. Die Loge befaßte sich aber nicht mit Alchemie, die Gold- und Rosenkreuzer waren davon getrennt. Zu diesen scheinen Forster und Sömmering durch den späteren Direktor der Kasseler Loge, Wilhelm v. Canitz, gekommen zu sein und zwar vermutlich schon bald nach 1 779. Der Landes­ fürst, Landgraf Friedrich II. ( 1 720-1 785, reg. seit 1 760) war den Geheimwissen­ schaften und der Alchemie keineswegs zugetan. Er sicherte seine Einnahmen durch eine staatliche Lotteriegesellschaft und den Verkauf seiner Untertanen an die Eng­ länder im amerikanischen Unabhängigkeitskrieg. Von einer Tätigkeit Forsters und Sömmerings im Gold- und Rosenkreuz war lange Zeit nichts bekannt. Erst Forsters Exgattin, Therese Huber, erwähnt diese Tatsache in dem von ihr 1 829 veröffentlichten Briefwechsel Forsters, in dem sie auch biographi­ sche Nachrichten bringt.62 Kar! Christoph Schmieder, der 1 8 1 2 Direktor der Kasseler Bürgerschule und Schulinspektor geworden war, erwähnt in seiner Geschichte der A lchemie63 keinerlei Aktivitäten in Kassel. Therese Huber erklärt das Interesse ihres Gatten an den Gold- und Rosenkreuzern mit seinem Bedürfnis, seine in England notleidende Familie finanziell unterstützen zu können. Der Kasseler Zirkel operierte also streng geheim, aber mit erheblichem Fanatismus. Das ergibt sich aus Briefen Forsters an Sömmering.64 Im Orden hatte Forster den Namen >Amadeus< . Das Ziel der Arbeiten war der Lapis, dessen Gewinnung man sich nur mittels göttlicher Gnade erhoffte, weshalb intensive Gebetsübungen, die sich teilweise bis zur Verzückung

New York 1 972, S. 75 f.; zu Forsters Beziehungen zu den Gold- und Rosenkreuzern siehe Gerhard Steiner: Freimaurer und Rosenkreuzer. Georg Forsters Weg durch die Geheimbünde, Berlin 1 985. 61 Zur Biographie Sömmerings siehe W. Stricker in: Biographisches Lexikon der hervorragenden Ärzte, Bd. 5, Berlin 1 962, S. 329 f.; Kopp: Alchemie (Anm. 6), Teil 2, S. 46; E. Hintzsche, in: Dictionary of Scientific Biography, Bd. 1 2, New York 1 975, S. 509 f. 62 Therese Huber (Hg.): Johann Georg Forsters Briefwechsel; nebst einigen Nachrichten von sei­ nem Leben, Leipzig 1 829. 63 Kassel 1 832. 64 Vgl. die einschlägigen Briefe bei Kopp: Alchemie (Anm. 6), S. 86 ff.

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steigerten, abgehalten wurden. Hier wird wieder die mystisch-pietistische Kompo­ nente der Gold- und Rosenkreuzer sehr deutlich. An Texten benutzte man den In­ troitus apertus ad occlusum regis palatium65 des Eirenäus Philalethes ( d.i. George Starkey), Wellings Opus mago-cabbalisticum und die Aurea catena Homeri.66 Die Materia prima, d.h. den Rohstoff des Steins der Weisen, suchte man in der sogenann­ ten Sternschnuppenmaterie. Dazu verweist Kopp auf ein bemerkenswertes Zitat aus dem Opus von Welling: »Wenn der nitro-sulphurische Zunder, woraus Blitz und Donner entstehen, in unserem Luftkreis keine Dämpfe oder Wolken antrifft, die den­ selben zusammentreiben und einschließen können, so bleibt derselbe auf die subtilste Art gleichsam in einer geistlichen Gestalt in unserer Luft-Region hin und wieder zertheilet, dessen grobe Theile aber werden durch ein schleimiges mercurialisches Wasser globulieret und des Tages über durch der Sonnen Strahlen entzündet, daß dieselbe des Nachts bei hell gestirntem Himmel den Fix-Sternen gleich scheinen, bis ihr Schwefel verzehret, da sie dann wieder auf die Erde fallen; und ein solches Me­ teorum heißet der Pöbel dann Sternen-Schnuppen.«67 Es ist unverkennbar, daß hier der von Paracelsus zuerst entwickelte und von Sen­ divogius weiter ausgeformte Gedanke des Luftsalpeters Pate stand. Der Ausdruck Sternschnuppe verweist zudem auf die volkstümliche Vorstellung, daß diese entstün­ den, wenn die Sterne sich schneuzten. Dies könnte insofern auf die Alchemie einge­ wirkt haben, als man die Sternschnuppen mit einer astralen Materie in Verbindung bringen konnte. Als Sternschnuppenmaterie suchten Forster und seine Freunde nach einem auf morgendlichen Wiesen in feuchten Gründen vorhandenen Gallertstoff, der wohl mit Krötenlaich identifiziert werden muß. Ein mit »A« (für Amadeus) unter­ zeichnetes Billett Forsters an einen unbekannten Ordensbruder, das wohl vom Herbst 1 780 stammt, schildert eine erfolglose Suchaktion nach dieser Materie.68 In einem Brief an Sömmering vom 14. Mai 1 7 84 schrieb Forster über seine und Sömmerings Beweggründe, den Gold- und Rosenkreuzern beizutreten, Folgendes: »Danke Dir herzlich für Deine trefflichen Bemerkungen über das Spüken, den Aber­ glauben und die Kunst zu täuschen. Ich glaube, bei uns conspirirte alles, uns hinein­ zuziehen, Mangel an Erfahrung, Geist der Wiß- und Neugierde, blindes Zutrauen zu gut und ehrlich scheinenden Characteren und Unbestimmtheit unserer eigenen Ge­ danken vom Wahrscheinlichen und Unwahrscheinlichen, vom Möglichen und Un­ möglichen. «69 Und am 5. Juni 1 7 84 an denselben: »Wahrheitsliebe, brennender Durst nach Gewißheit und Überzeugung von gewissen Wahrheiten, mit etwas schwärmeri­ schem Hange, sie gern für möglich und wahr zu halten - das war's ja einzig, was 65 Amsterdam 1 667. 66 Siehe Anm. 48. 67 Zitiert nach Kopp: Alchemie (Anm. 6), S. 276. 68 A.a.O., S. 275. 69 Georg Forsters Werke. Sämtliche Schriften, Tagebücher, Briefe, hg. v. d. Akademie der Wis­ senschaften der DDR, Bd. 1 4 : Briefe 1 784-Juni 1 787, bearb. v . Brigitte Leuschner, Berlin 1 978, S. 59.

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mich bewegen konnte, 4 Jahre lang in C. [Kassel] zu Iaboriren [ . . . ] mich zu kasteien, allen unschuldigen Freuden des Lebens zu entsagen [ . . . ] Geld und Ruhm in die Schanze zu schlagen, kurz alle Kräfte aufzubieten, um das Ziel zu erringen, welches man mir als erreichbar gezeigt hatte. «70 Es unterliegt demnach keinem Zweifel, daß Forster und wohl auch Sömmering an die Metalltransmutation glauben wollten und für den pietistisch-theosophischen Rahmen, in dem sich die Alchemie der Gold- und Rosenkreuzer darbot, ebenfalls empfänglich waren. Leitend dabei war neben der Hoffnung, geheimes und tiefes Wissen über die Natur zu erlangen (>höhere Chemieanderen< durch eigene Einsichten längst überwunden und hinter sich gelassen zu haben. Forster spricht bezeichnenderweise von den »Irrthümern, die den Sinnen und der Vernunft schmeicheln« -, wobei die rationalen Argumente Au­ ßenstehender gemeint sind. Im Laufe des Jahres 1 783 trat bei Forster eine gewisse Ernüchterung ein; er be­ gann, an den Gold- und Rosenkreuzern und an der Erreichbarkeit ihrer Ziele zu zwei­ feln (ob auch an den Methoden und Strukturen des Gold- und Rosenkreuzes ist nicht belegbar). An Johannes Müller, vermutlich ein Ex-Mitglied des Kasseler Zirkels, schreibt Forster am 20. Dezember 1 783: »Ich lasse die Frage unentschieden, ob es wahre geheime Wissenschaften gebe oder nicht; aber das ist doch ausgemacht, daß das meiste, was von dieser Art in der Welt herumgetragen wird, falsche Vorspiege­ lung, Lug und Trug, oder, wenn wir das gelindeste glauben, fromme Selbstverblen-

1o A.a.O., S. 88 f. 7 1 Seine Witwe äußerte sich dazu mit den Worten: »Bald geriet er auf den traurigen lrrthum, sei­ nen Wohlstand auf die Größe seiner Einnahme, nicht auf die Beschränkung seiner Ausgabe gründen zu wollen«. Zitiert nach Kopp: Alchemie (Anm. 6), S. I 04. n Mclntosh: Rose Cross (Anm. 3), S. 8 5 .

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dung ist.«73 Kurze Zeit später erfolgte die Trennung von den Gold- und Rosenkreu­ zern. Bei Forster und auch bei Sömmering trat nicht nur Ernüchterung in bezug auf den Glauben an die >höhere< Wissenschaft ein, sondern mit der Abkehr von den Gold- und Rosenkreuzern auch die Abkehr von der Religion. Forster wandelte sich hier radikaler als Sömmering, der am 2 1 . März 1 788 an Forster schrieb: »Aber lieb­ ster Bruder, wie kömmt' s? Sonst [d.h. früher] waren Dir die Ungläubigen zuwider (wie haßtest Du Lichtenberg), j etzt die Gläubigen. Mir sind beide gleich recht, ich gönne j edem sein Vergnügen, weil die Ordnung der Natur es für Verschiedene ver­ schieden bestimmte. «74 Interessanterweise verlor Forster nach seiner Abwendung von den Gold- und Ro­ senkreuzern nicht den Glauben an die Metallumwandlung. Aus Wien berichtete er in einem Brief vom 14. August 1 784 an Sömmering über einen Vorgang, den er dort in Erfahrung gebracht hatte und der völlig mit der >klassischen< Adeptenlegende über­ einstimmt: Der oberste Bergrat Graf Stampfer (»weder F. M. noch R. C.« - weder Freimaurer noch Rosenkreuzer) habe einen namentlich nicht genannten Kopisten eingestellt. Als dieser bemerkte, daß sich Stampfer mit der Alchemie befaßte, habe er ihm ein Fläschchen mit Tinktur gezeigt und mit ihm zusammen einen »großen Zayn [d.h. einen Metallbarren] ächtes Gold« fabriziert. Dann habe der Mann sich mit un­ bekanntem Ziel entfernt, Stampfer aber etwas von seiner Tinktur überlassen, womit dieser einen weiteren Zayn transmutiert habe. Es wird nicht gesagt, was das Aus­ gangsmetall war. Der Mann sei einfach gekleidet und von bescheidenem Auftreten gewesen, habe aber über beträchtliche Geldmittel verfügt.75 Dies entspricht bis in die Einzelheiten dem Erscheinungsbild und der Verhaltensweise anderer vorgeblicher Adepten.76 Es ist erstaunlich, daß Forster diese Tatsache nicht aufgefallen ist. Nach­ dem der Kopist beim Bergwerkscollegium angestellt war, hätte sich zumindest sein echter oder angenommener Name ermitteln lassen müssen. Forster wollte auch nicht ausschließen, daß die >Oberen< des Gold- und Rosenkreuzes tatsächlich im Besitz eines Transmutationsverfahrens seien, zweifelte aber offenkundig daran, daß diese es wirklich offenbaren würden. »Denn meines Erachtens kann man wohl Gold machen und doch ein Schurke sein.«77 Hier ist keine Rede mehr von der ethischen Hochwer­ tigkeit des Adepten, die ansonsten stets betont wird. Weiter bemerkt Forster in dem genannten Brief: »Ehedem glaubte ich, man könne die Transmutation nicht anneh­ men, ohne zugleich an die Existenz der Geisterwelt und die Möglichkeit der Kom­ munikation mit ihr zu glauben; jetzt ist mir die Natur alles.« 7 8 Hier wird die spiritisti­ sche Komponente des Gold- und Rosenkreuzes deutlich, die in Kassel eine wichtige 73 Georg Forsters Werke (Anm. 69), Bd. 1 3 : Briefe bis 1 783, bearb. 1 978, S. 5 1 7 f. 74 Zitiert nach Kopp: Alchemie (Anm. 6), S. 1 1 5 . 75 Georg Forsters Werke (Anm. 69), S. 1 64. 76 Vgl. dazu Priesner: Defensor Alchymiae (Anm. 29), passim. 77 Georg Forsters Werke (Anm. 69), S. 1 64. 7 8 A.a.O., S. 1 65.

v.

Siegfried Scheibe, Berlin

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Rolle gespielt haben muß und ihre Wurzeln in den neoplatonischen Lehren (Theurgie) insbesondere Plotins hatte. Forster wandte sich davon ab und wollte nur noch natürliche Ursachen und Folgen gelten lassen, die aber die Möglichkeit einer Transmutation nicht von vomherein ausschlossen: » [Die] Möglichkeit der Proj ection [d.h. der Transmutation] kann ich nicht geradezu bezweifeln. Man verwandelt doch nicht sehr heterogene Körper in Gold, sondern Kupfer, Blei, Quecksilber, Silber u. dgl. [Forster verwendet grundsätzlich alchemische Symbole, hier der besseren Ver­ ständlichkeit halber in Worten wiedergegeben. ] Die Zunahme spezifischer Schwere kann ja vielleicht auf solche Art bewirkt werden, daß das sich verwandelnde Metall, sobald die Tinktur es im Feuer auflöst, eine erstaunliche Menge Theile aus der Luft und aus dem Feuer selbst, worin die Operation geschieht, anzieht und mit sich figirt [mit sich fest verbindet] . Wie die Natur Metalle hervorbringt, ist unbegreiflich. Aber gewiß [ist], daß, wo sich ein Gang mit Arsenik und einer mit Eisenerz kreuzen, da ist im Kreuz Silbererz, so ist ' s ausgemacht in Ungam.«79 Dies ist ein grundsätzlich rationaler Standpunkt, der versucht, naturwissenschaftli­ che Erklärungen für die bei einer Transmutation ablaufenden Vorgänge zu finden und diese nicht einer übernatürlichen, durch unmittelbares Eingreifen göttlicher Kräfte bewirkten und von diesen abhängigen Fügung anheimgibt. Hier nähert sich Forster einerseits der modernen rationalistischen Naturwissenschaft, andererseits aber auch der klassischen Alchemie, die das Opus magnum zwar an tiefgehende Einsich­ ten in die Naturzusamrnenhänge, nicht aber an einen göttlichen Gnadenakt knüpfte. Forsters Beobachtung vom Auftreten silberhaltiger Erze unter den beschriebenen Umständen beruht auf praktisch-bergmännischer Erfahrung, nämlich der Vergesell­ schaftung bestimmter Erze, die wohl nicht von ihm selbst gemacht wurde, aber zu­ trifft. Ähnliche, grundsätzlich mit dem rationalen Denken vereinbare Erklärungen für die Möglichkeit einer Transmutation lassen sich bis ins 20. Jahrhundert verfolgen.80 Nach ihrem Ausscheiden plagte Forster und Sömmering eine beträchtliche Angst vor den mächtigen, unbekannten Ordensoberen, die ihnen wohl gedroht hatten (Forster an Sömrnering am 14. Mai 1 784: »Die unausbleiblichen Brandbriefe habe ich wohl vermuthet.«81). Man erkennt, wie wirksam die oben diskutierte interne Pro­ paganda funktionierte. Um die Mitte des Jahres 1 7 84 erhielten beide ein »Ex­ emptionspatent«, d.h. eine offizielle Entbindung von ihren Ordensgelübden. Bei der Darstellung der Kasseler Gold- und Rosenkreuzer muß auch des Freiherren Adolph v. Knigge ( 1 752-1 796)82 zumindest mit einigen Worten gedacht werden. 79 A.a.O., S. 1 64. 80 Ich verweise auf die Experimente von Adolph Miethe und H. Stammreich zur Umwandlung von Quecksilber in Gold mittels elektrischer Entladungen in den Jahren 1 924-27. Siehe dazu R. Schwankner: Otto Hönigschmid, in: Chemie in unserer Zeit 15 ( 1 9 8 1 ) S. 1 63-1 74; ferner Michael Engel: [Artikel : ] >MiethePhiloHöhere Chemie< Nach dem Verschwinden der Gold- und Rosenkreuzer brachten unter anderem zwei Affären die ohnehin schon weit im Abseits der kulturgeschichtlichen Entwicklung stehende Alchemie weiter in Mißkredit.86 James Price, ein junger Arzt in Guildford, hatte vor Zeugen unterschiedliche Transmutationen ausgefiihrt, worüber 1 782 in Oxford eine kleine Schrift mit dem Titel An account of some experiments an mercury, si/ver and gold erschien. Diese erregte beträchtliches Aufsehen und wurde auch ins Deutsche übersetzt. Price legte Proben des dabei gewonnenen Goldes und Silbers der Royal Society vor. Er weigerte sich aber, der Aufforderung der Society, seine Versuche vor fachkundigen Chemi­ kern zu wiederholen, Folge zu leisten, weil er kein Transmutations-Pulver mehr hat­ te; er wollte auch kein neues Pulver herstellen und keine Angaben über dessen Fabri­ kation machen. Endlich ließ er sich davon überzeugen, daß seine Ehre auf dem Spiel stand (sowie die seiner Zeugen) und begann mit der Arbeit an einer neuen Portion seines Pulvers. Anfang August 1 783 beging er mit 3 1 Jahren in seinem Labor mit Gift Selbstmord, offenkundig ein Opfer seines Geltungsdranges. Der andere Vorgang betraf den bekannten Hallenser Theologen Johann Semler ( 1 725- 1 7 9 1 ). Dieser hatte von einem sogenannten Luftsalz Kunde erhalten. Dieses ist nicht mit dem obenerwähnten Luftsalpeter identisch, diesem aber immerhin inso­ fern verwandt, als es sich aus der Luft abscheiden lassen sollte. Goethe glaubte, es 83 84 85 86

Kopp: Alchemie (Anm. 6), S. 94. A.a.O., S . 97. A.a.O., S. 98 f. A.a.O., S. 1 47- 1 52.

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mit Hilfe von hygroskopischen Alkalien isolieren zu können und berichtete darüber in Dichtung und Wahrheit.87 Ein gewisser Baron Hirsch aus Dresden verkaufte Lö­ sungen dieses als Heilmittel angepriesenen Salzes für teures Geld. W. J. G. Karsten, J. K. F. Meyer und H. Klaproth erkannten es als Mischung von Bittersalz (Mg�sulfat) und Glaubersalz (Na-sulfat), zusammen mit einer nicht näher identifizierten organi­ schen Verbindung. Noch 1 889 war ein als »Luftsalz oder philosophisches Goldsalz des Baron Hirsch« bezeichnetes Präparat auf dem Markt, bei dem es sich um Kali­ umbisulfat (K-hydrogensulfat) handelte.88 Semler, obwohl fachlich dazu nicht prä­ destiniert, fühlte sich zur energischen Verteidigung der besonderen Qualitäten dieses Luftsalzes berufen. Er ging soweit zu behaupten, daß sich in einem Substrat aus die­ sem Luftsalz Goldflitter bildeten, ohne indes nähere Angaben zu dem dazu nötigen Verfahren zu machen. Er stellte sein Luftsalz, das mit dem »Samen des Goldes« ge­ schwängert sein sollte, Klaproth zu einer Untersuchung zur Verfügung. Dieser fand darin auch Goldflitter, nahm aber an, diese seien von Haus aus vorhanden gewesen. Semler blieb bei seiner Behauptung, gab indes zu, daß der Prozeß mehr koste, als er an Gold erbringe. Nachdem Klaproth eine weitere Probe des aus dem Salz gewachse­ nen »Luftgoldes« als Tombak (eine Kupfer-Zink-Legierung aus 97% Kupfer und 3% Zink) identifizierte, erwies sich, daß Semler Opfer eines Betruges bzw. Selbstbetru­ ges geworden war. Ungeachtet dieser Skandale bildete sich die sogenannte >Hermetische Gesell­ schaft< .89 Sie wurde der neue Träger des Glaubens an die Alchemie, allerdings ohne das mystisch-religiöse Beiwerk der Gold- und Rosenkreuzer. Die Existenz der Her­ metischen Gesellschaft wurde der Öffentlichkeit durch den in Gotha erscheinenden Reichs-Anzeiger bekanntgegeben. Im Oktober 1 796 erschien dort unter der Rubrik »Nützliche Anstalten und Vorschläge« ein mit »Höhere Chemie« überschriebener Text, als dessen Autor die Hermetische Gesellschaft zeichnete.90 Darin heißt es, die Alchemie sei bisher im Reichsanzeiger unberührt geblieben, obwohl sich doch of­ fensichtlich viele damit befaßten. Die Chemie sei inzwischen weit genug, um beurtei­ len zu können, was die Alchemie behaupte und wolle. Eine Gruppe von Fachleuten habe sich zum Ziel gesetzt, die Frage der Metalltransmutation ernstlich zu prüfen; sollte der den Mitgliedern der Hermetischen Gesellschaft bekannte Weg nicht zum Ziel führen, so sei dieses generell unerreichbar. Die Hermetische Gesellschaft stellte von vornherein klar, daß die Namen ihrer Mitglieder nicht öffentlich bekanntgemacht würden, sie fühlte sich aber nicht mehr an das alte Geheimhaltungsgebot der Alche­ misten gebunden. Sollte die Transmutation möglich sein, könne auch öffentlich be­ kannt werden, wie sie zu bewerkstelligen sei. Jeder sei eingeladen, zu den neun von der Hermetischen Gesellschaft vorgestellten »Hauptsätzen« Stellung zu nehmen. Es 8 7 A.a.O., S. 1 50; Zimmermann: Weltbild (Anm. 1 ), S. 1 1 9. 88 Real-Encyclopädie der gesammten Pharmacie, Bd. 6, Wien/Leipzig 1 8 89, S . 4 1 0. 89 Siehe dazu bei Kopp: Alchemie (Anm. 6), S. 1 52- 1 63 ; ferner weniger genau bei Mclntosh: Ro­ se Cross (Anm. 3), S. 88 f. 90 Kaiserlich privilegierter Reichs-Anzeiger, 8. October 1 796, Nr. 234, Sp. 6093-6096.

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folgte eine bis 1 802 dauernde öffentliche Diskussion im Reichs-Anzeiger, wobei die Hermetische Gesellschaft auf Briefe und Aufsätze von Unterstützern und Gegnern reagierte.91 Ähnlich den Gold- und Rosenkreuzern erweckte auch die Hermetische Gesell­ schaft den Eindruck, als stünde dahinter eine größere Anzahl namhafter Fachleute, die ihre Identität nicht preisgeben wollten. Ähnlich den Gold- und Rosenkreuzern deutete auch die Hermetische Gesellschaft an, einen Weg zum Lapis zu kennen, ohne j edoch dies direkt zu behaupten. Anders als bei den Gold- und Rosenkreuzern gab es aber keine Ordensstruktur, keine Rituale, keine auf die Vorzeit zurückführende Gründungslegende und keine Gehorsams- bzw. Geheirnhaltungsgelübde. Die Her­ metische Gesellschaft wollte wohl auch nicht an die Gold- und Rosenkreuzer an­ knüpfen, sondern sie wollte die Alchemie, die >Höhere Chemieniederen< Chemie im besonderen und vor dem zunehmenden Skeptizismus im all­ gemeinen. Interessant ist dabei jedoch die Rolle der rationalen Chemie als Prüfin­ stanz der Alchemie, wie sie in dem oben genannten Aufsatz im Reichsanzeiger zum Ausdruck kommt. Die Hermetische Gesellschaft bestand wahrscheinlich nur aus zwei Personen, dem Arzt Kar! Arnold Korturn ( 1 745-1 824) und dem Pastor Johann Chri­ stian Friedrich Bährens ( 1 765- 1 833),92 beide aus Westphalen. Beide publizierten zahlreiche Schriften zu unterschiedlichen Themen, ohne daß eine dieser Publikatio­ nen naturwissenschaftlich von Bedeutung wäre. Korturn hatte sich 1 789 und 1 7 9 1 öffentlich gegen den Alchemiekritiker Johann Christian Wiegleb ( 1 732-1 800) ge­ wandt. Er war von der Möglichkeit der Transmutation überzeugt und glaubte, in der Steinkohle die wahre Materia prima gefunden zu haben. Bährens erkannte in Korturn immer den überlegenen Partner und wurde von diesem ermuntert und beraten. Bäh­ rens ist auch insofern von Interesse, als er mit Kar! v. Eckhaftshausen ( 1 752-1 803)93 korrespondierte. Dieser war seit 1 776 Hofrat in München, seit 1 777 Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Autor einer Anzahl aleheroisch­ mystisch-theosophischer Schriften und ein Wegbereiter der romantischen Naturphilo­ sophie. Franz v. Baader ( 1 765- 1 84 1 )94 war sein Schüler, und er beeinflußte (über Baader) wohl auch Schelling. Korturn war auf der Suche nach einem echten Adepten, von dessen Existenz er ausging. Die Hermetische Gesellschaft diente also eher dazu, das Wissen anderer zu nützen, als eigenes Wissen weiterzugeben - auch hier eine Parallele zum Gold- und Rosenkreuz.

91 Vgl. z.B. >Antwort auf die Aufforderung der hermetischen GesellschaftHöhere Chemie< aufgetaucht, und bei der Hermetischen Gesellschaft spielte er ebenfalls eine Rolle. Es handelt sich dabei um eine Chiffre für die Alchemie, die zweierlei intendiert: Erstens eine sprachliche Ab­ grenzung gegen den abgegriffenen und immer mehr in Verruf geratenden Ausdruck >Alchemie< (keineswegs aber eine Kritik an deren Sinngehalt). Zweitens eine Ab­ grenzung gegenüber der naturwissenschaftlichen Chemie, die dadurch als >niedere Chemie< gekennzeichnet wird, als Chemie also, die sich nur der platten, rationalisti­ schen Oberfläche der Realität widmet, ohne deren tiefere, verborgene Schichten aus­ zuleuchten. Die >Höhere Chemie< stellte demgegenüber nicht nur die Frage nach dem >wiewarumHöhere Chemie< bzw. Alchemie verstanden wird. Angedeutet 95 Über Stemhayn ist kaum etwas bekannt; spärliche Daten bei Kopp: Alchemie (Anm. 6) s. 1 6 1 . 96 Einer von zahlreichen Verweisen Oetingers auf die Bedeutung der Chemie fii r die Theologie, hier durchaus im Sinne der >höheren Chemie< zu verstehen. Die Stelle findet sich im Briefwechsel Oetingers mit Graf Castell; zitiert nach dem Artikel von A. Ritschl in: Allgemeine Deutsche Biogra­ phie, Bd. 24, Leipzig 1 8 87, S. 53 8-54 1 , hier S. 539.

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ist dieser Begriff schon bei Georg v. Welling, der bemerkt, es gehe ihm nicht darum, lediglich das Goldmachen zu lehren (das er als etwas Simpel-profanes charakterisiert; auf die Gründe dafiir wurde schon weiter oben eingegangen). Wellings Ziel war ein »weit höheres, nernlich, wie die Natur aus GOtt, und wie GOtt in derselben möge gesehen und erkannt werden«.97 Der Begriff >Höhere Chemie< erscheint auch im Titel anderer zur Zeit des Gold- und Rosenkreuzes erschienenen Publikationen und belegt die Verbreitung der skizzierten Geisteshaltung bei den späten Alchemisten.98 Auch auf diese Weise läßt sich die These untermauern, daß die alchemisch-physiko­ theologische Konzeption der Gold- und Rosenkreuzer keineswegs den Grundsätzen der Aufklärung zugehörte, sondern den schon weit eher entwickelten Vorstellungen der mystisch-theosophischen, auch noch neoplatonischen Alchemie verpflichtet war.

Die Alchemie im Werk Schellings Im Zusammenhang mit der Hermetischen Gesellschaft wurde angedeutet, daß die Alchemie in der von den Gold- und Rosenkreuzern vertretenen Form auch nach de­ ren Niedergang weitertradiert wurde. Eine mögliche gedankliche Verbindung der Hermetischen Gesellschaft zu dem Protagonisten der romantischen Naturphilosophie, Friedrich Joseph Wilhelm Schelling ( 1 775-1 854) wurde schon skizziert. Einige An­ merkungen Schellings zur Alchemie seien deshalb hier angefiihrt: »Der Glaube an die allgemeine Fähigkeit der Materie, wieder in geistige Eigenschaften erhöht zu werden, hat sich durch alle Zeitalter mit einer Beständigkeit erhalten, die allein schon auf seinen tiefen Grund schließen ließe, und hängt so mit der liebsten und letzten Hoffnung des Menschen zusammen, daß er wohl nie wird vertilgt werden können. Den gewöhnlichen Begriff der Alchemie muß man dem Pöbel überlassen [ . . . ] . Alles, was um uns vorgeht, ist, wenn man will, eine beständige Alchemie; selbst j eder inne­ re Proceß, wenn Schönheit, Wahrheit oder Güte, von dem anhangenden Dunkeln und Unreinen befreit, in ihrer Lauterkeit erscheinen. (Der Alchemist fängt allerdings wie­ der von unten an - a prima materie, die er ad ultimam [materiam] fii hren möchte. ) Die[jenigen Alchemisten, die] verstanden, was sie suchten, suchten nicht das Gold, sondern gleichsam das Gold des Goldes, oder was Gold zu Golde macht, d.h. etwas weit Allgemeineres. [ . . . ] Ist nun alle Materie dem inneren Wesen nach nur Eine, und beruht die Verschiedenheit zwischen körperlichen Dingen derselben Stufe vielleicht nur auf dem Mehr oder Minder der Verborgenheit j enes ursprünglichen Wesens [d.i. 97 Zitiert nach Teile: Opus (Anm. 1 0), S. 378. 98 [Anonym] : Theoretischer und praktischer Wegweiser zur höheren Chemie. Ausgefertigt von ei­ nem Liebhaber der geheimen Physik [eine andere Metapher fiir die Alchemie] und chemisch­ physikalischer Wahrheiten, Breslau 1 773; Kar! Friedrich Wenzel: Einleitung zur höheren Chemie. Leipzig o.J. (weitere Publikationen Wenzels erschienen 1 777, 1 782, 1 783 u. 1 800); L. Carbonarius: Beytrag zur Geschichte der höheren Chemie oder Goldmacherkunde in ihrem ganzen Umfange, Leipzig 1 78 5 .

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der Quintessenz] so wäre es ja wohl möglich, durch allmähliche Überwindung der verdunkelnden Potenz das minder Edle ins Edlere zu verwandeln, obwohl dieß nur die sehr untergeordnete Anwendung eines weit allgemeineren Vermögens sein wür­ de, und auf j eden Fall die Behauptung dieses Gedankens keine Billigung des wirkli­ chen Versuches ist. «99 SeheHing bringt hier sein tiefes Verständnis des Wesens der Zielsetzung der Al­ chemie und der Natur des Lapis deutlich zum Ausdruck. Das Opus magnum ist eine Reinigung der Materie, die zu ihrer Umwandlung führt, der Lapis ist die konzentrier­ te Quintessenz, oder, anders ausgedrückt, der >göttliche Funke< des gnostischen Den­ kens : »Wie es nämlich beim Goldmachen nicht sowohl darauf ankommt, das Gold selber, als vielmehr das Gold des Goldes, oder das zu finden, was das Gold zu Gold macht, so würde es, um die Sprache zu finden, die in der ganzen Welt so verständlich wäre, als das Gold ist, eigentlich darauf ankommen, die Sprache der Sprache zu fin­ den.«100 Was SeheHing hier ausführt, erläutert die Schwierigkeit, aleheroische Erkenntnisse durch die Sprache wirklich vollständig mitteilbar zu machen. Was nötig wäre, wäre eine »Sprache der Sprache«, d.h. eine Metasprache. Daher auch die Neigung, in al­ chemischen Texten Worte und allegorische oder emblematische Bilder zu kombinie­ ren. »Wenn indes in der Natur selbst ein Sehnen nach dem vollkommeneren Zustand ist, ein ängstliches Harren, wie der Apostel sagt, nach der Befreiung von dem Dienst des vergänglichen Wesens, und da sie [die Natur] gleichsam ein beständiger Vorwurf für den Menschen ist, da in diesem selbst das nie ganz ausgelöschte Gefühl ist, daß er seiner Bestimmung nach der Naturheiland sein sollte, und da er selbst zur Wiederge­ burt aufgefordert ist, so ist es begreiflich, daß er auch eine partielle Wiedergeburt der Natur für möglich hält, ein Glaube, der der Alchemie zu Grunde liegt«.101 Hier verweist SeheHing (unter deutlicher Bezugnahme auf Samuel Richter) auf die individual- und sozialpsychologischen Gegebenheiten, die den Glauben an die Al­ chemie und das Selbstverständnis des Alchemisten als eines Erlösers der Materie aus Unvollkommenheit und Unreinheit ausmachen.

Schlußbemerkungen Es wurde versucht, den Orden der Gold- und Rosenkreuzer in einen historischen Zu­ sammenhang mit den vor und nach ihm liegenden Zeitabschnitten zu stellen. Die wichtige Rolle der Alchemie sowohl für die Struktur als auch für die physikotheolo­ gische Intention des Gold- und Rosenkreuzes sollte dabei deutlich geworden sein. 99 Aus dem Manuskript der >Weltalter< (entstanden um 1 8 1 0), in: Friedrich Joseph Wilhelm Schelling: Sämtliche Werke, Bd. 8, Stuttgart/Augsburg 1 86 1 , S. 284 f. 100 Friedrich Joseph Wilhelm Schelling: Über den pasigraphischen Versuch, a.a.O., S. 448 f. 101 Ders . : Philosophie der Offenbarung, in: ders.: Sämtliche Werke (Anm. 99), Bd. 3, S. 363.

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Das Ende der Gold- und Rosenkreuzer bedeutete mitnichten das Ende der Alchemie, sondern lediglich einen Wandel ihrer Erscheinungs- und Tradierungsform. Schon lange vor Aufkommen des Gold- und Rosenkreuzes hatte sich die Alchemie in zwei Richtungen gespalten: Einmal die von Johann Joachim Becher ( 1 635-1 682) und Ge­ org Ernst Stahl ( 1 660-1 734) eingeschlagene und schon bei Andreas Libavius ( 1 5551 6 1 6) erkennbare, praktisch-experimentelle Richtung, die in die naturwissenschaftli­ che Chemie mündete und andererseits die mystisch-theosophische, die stark durch Böhme beeinflußt wurde, aber in der auch Paracelsus wirkmächtig blieb. Das Gold­ und Rosenkreuz ist ein Zweig der mystisch-theosophischen Alchemie, der aus sich selbst heraus zu keiner Fortentwicklung mehr in der Lage war. Irgendwelche neuen Impulse für die Alchemie als solche gingen von den Gold- und Rosenkreuzern und ihren geistigen Epigonen nicht aus. Vielmehr waren die Gold- und Rosenkreuzer selbst nur Epigonen. Während die erfahrungsorientierte Alchemie sich in der Chemie letztlich aufgab (dabei aber auch deren Entstehungsvoraussetzung war), versuchte der eher kontemplativ orientierte Zweig in der Form einer stärker auf das psychische als physische Erkennen ausgerichteten >Theo-Alchemie< 1 02 weiterzubestehen. Dies er­ weist sich bis heute als möglich, jedoch ohne daß eine geistige Weiterentwicklung stattfindet, diese eo ipso sogar ausgeschlossen ist. Andererseits war diese Art von Alchemie die einzige Möglichkeit für deren Weiterexistenz, die Gold- und Rosen­ kreuzer also das historisch adäquate Vehikel für das Fortbestehen der Alchemie. Aus alchemiehistorischer Sicht stellt sich das Gold- und Rosenkreuz demnach als ein Tradierungsinstrument dar, dessen Struktur dem Zeitgeist augepaßt war. Der Zeitgeschmack favorisierte im Gegensatz zum aufklärerischen Offenheitsan­ spruch der Medien Geheimnistuerei und Okkultes als das Attraktivere. Hier zeichnet sich die romantische Abwendung vom Rationalen ab. Diese Zeittendenz kam dem auch aus anderen Gründen gewahrten Geheimhaltungsanspruch der Gold- und Ro­ senkreuzer entgegen. 103 Aus psychologischer Sicht schafft die Geheimgesellschaft mit ihren unterschiedlichen Initiationsstufen einen Spannungsbogen »zwischen Nichtwissen und Wissen, zwischen neugieriger Erwartung und spannungslösender Enthüllung bei gleichzeitiger Schaffung eines neuen Geheimnisses« . 1 04 Dies funk­ tioniert solange, wie j emand an die wahre Relevanz und Geheimnishaftigkeit des stufenweise enthüllten Wissens glaubt. Die maurensehen Hochgradsysteme tendier­ ten dazu, diesen Bogen zu überspannen und gerieten daher in Mißkredit. Das Grad­ system entspricht meines Erachtens einem Grundzug des Utopischen, den ich als >lnsularität< charakterisieren möchte; damit ist gemeint, daß sich der utopische »Wunschraum«105 sowohl räumlich wie zeitlich außerhalb der Realität des Ordens­ mitglieds befindet. Der Zugang zu diesem Wunschraum ist durch die einzelnen In1 02 Der Ausdruck stammt von Joachim Teile; s. Teile: Opus (Anm. I 0), S. 3 7 5 . 1 03 Schillers Romanfragment > D i e Geisterseher< greift diese Thematik auf; s. Agethen: Geheim­ bund (Anm. 2), S. 1 32 . 1 04 Agethen: Geheimbund (Anm. 2 ) , S. 1 3 3 . 1 0 5 Nach Alfred Doren: Wunschräume und Wunschzeiten, Berlin 1 927.

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itiationsstufen blockiert. Nach Überwindung einer Blockade wird eine weitere errich­ tet, so daß sich der Initiierte diesem Wunschraum zwar scheinbar annähert, ihn aber doch nicht erreicht, ehe er in der höchsten Initiationsstufe endet. Diese wird aber niemals erlangt. Gleichzeitig setzt sich der Initiierte aber mit j eder Gradstufe weiter von der allgemein zugänglichen Wirklichkeit ab und gelangt in einen zunehmend intrinsisch geprägten W ahrnehmungszustand. Zur Zeit der Gold- und Rosenkreuzer und seither immer befand sich die Alchemie in einer geistig-kulturellen Randposition, von wo aus ihre Vertreter den Abwehr­ kampf gegen j ene >Nebel der Gegner und Zweifler< führten, die schon Clauder und Sehröder beklagt hatten. Durch die Gold- und Rosenkreuzer strahlte der Glanz des Steins der Weisen für kurze Zeit noch einmal hell auf, doch war dieses Leuchten nur mehr der Abglanz der alten Ars Magna.

Christoph Schulte (Potsdam) Haskala und Kabbala. Haltungen und Strategien der j üdischen Aufklärer beim Umgang mit der Kabbala

Alles Lüge ! Wenn wir dem Bild trauen dürften, daß Heinrich Graetz und in seinen Fußstapfen noch Generationen jüdischer Gelehrter von der Kabbala gemalt haben, kann nur dies die tiefste Überzeugung der jüdischen Aufklärer von der Kabbala, der jüdischen Mystik, gewesen sein: Alles Lüge. Der Sohar, das Hauptwerk der mittelal­ terlichen Kabbala war, so wörtlich, eine »Fälschung«, sein Autor Moses de Leon ein »Fälscher« und »Betrüger«. 1 Und was dem folgte, war auch nicht besser. Gehen wir vom Wissenschaftsklischee aus, an dessen Bildung Protagonisten der Wissenschaft des Judentums wie Graetz nach Kräften mitgewirkt haben, so läßt sich ein größerer Gegensatz als der zwischen jüdischer Mystik, der Kabbala, und dem Rationalismus der Haskala, der jüdischen Aufklärung, gar nicht konstruieren. Da steht Haskala ge­ gen Kabbala, Aufklärung gegen »Fälschungen«, gegen »Aberglauben«/ faulen Zau­ ber, esoterische Dunkelheit und Unverständlichkeit. Und da wir Wissenschaftler, allemal Aufklärungsforscher, zur Parteinahme für Rationalität und Aufklärung nei­ gen, leuchtet diese historiographische Grenzziehung zwischen Kabbala und Haskala und die mit ihr verbundene Taxinomie als scheinbar evident zunächst ein und kommt j edenfalls unseren Erwartungen entgegen. Auch die Aufklärungsforschung in Deutschland wurde schließlich lange von der Abwertung der Esoterik zugunsten ei­ ner Erfolgsgeschichte des Rationalismus als implizitem oder explizitem For­ schungs-Axiom beherrscht.3 Demzufolge müssen wir erwarten, daß das Urteil schon der jüdischen Aufklärer selber über Kabbala nur vernichtend gewesen sein kann. Bei David Friedländer, einem der Protagonisten der jüdischen Aufklärung in Berlin, hört sich 1 799 das Urteil über die Wirkungen der Kabbala so an: »In seiner ursprünglichen Verfassung hatte das Judentum weder Gebetsformeln noch Andachtsübungen. Thier- und andre Opfer vertraten die Stelle derselben. Bei der Zerstörung des Staats, und als die Juden unter andre Völker zerstreut wurden, mußte diese Lücke ergänzt, und ein anderer Gottesdienst angeordnet werden. Die Gebetsformeln, die nun verfaßt wurden - theils aus einzelnen Versen der heil. Schrift

I Heinrich Graetz: Geschichte der Juden, Bd. 7, Leipzig 1 863, S. 23 1 , 234 f. 2 Vgl. a.a.O, S. 248 ff. 3 Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: Die Geheimnisse der Maurer. Plädoyer fur die Akzeptanz des Esoterischen in der historischen Aufklärungsforschung, in: Das achtzehnte Jahrhundert. Mitteilungen der Deutschen Gesellschaft fur die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts 2 1 ( 1 997), Heft I , S. 1 5-32 .

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bestehend, theils von eigner Erfindung, deren Stil aber die Schwäche einer altemden Sprache verräth - ertönten von ewig wiederkehrenden Klagen über das die Nation bedrückende Elend, von Seufzern nach der Rückkehr ins verlome Land, von Sehn­ sucht nach Wiederherstellung des Tempeldienstes. In allen diesen Gebeten ohne Ausnahme, ja sogar in dem Dankgebet für genossene Speisen, in den Segenssprüchen unter dem Trauhimmel, erschallte das Klaggeschrei von Sklaven, die nach Erlösung schmachten, das Gebet um einen Messias, der die zerstreuten Reste Israels nach Pa­ lästina zurückführe. Diese Gebete wurden von Jahrhundert zu Jahrhundert immer zahlreicher und immer schlechter, die Begriffe immer mystischer und mit Grundsät­ zen der Cabbala verunreinigt, die dem echten Geist des Judentums geradezu wider­ sprachen. Endlich die Sprache, worin sie ausgedruckt [ ! ] sind, beleidigt nicht allein das Ohr, sondern spottet auch aller Logik und Grammatik. Der bei weitem größte Theil der Nation versteht von diesen Gebeten nichts; und dieses ist kein kleines Glück, da sie auf diese Weise gar keine Wirkung, weder eine gute noch eine böse, auf das Gemüth der Betenden hervorbringen. - Dieses ist, in einem kurzen Umriß, die Geschichte der äußern Religion unsrer Genossen in den vergangeneu Jahrhun­ derten. «4 Die Kabbala und ihre Grundsätze haben nach Ansicht des Aufklärers Friedländer die Begriffe und die Gebete der Juden verunreinigt und zu deren jahrhundertelangem, auch religiösen Niedergang beigetragen, den nun die jüdische Aufklärung und Emanzipation beheben soll. Die Kabbala j edenfalls widerspricht geradezu dem »echten Geist des Judentums«. Doch so einfach wie bei Friedländer liegen die Dinge beim Thema >Haskala und Kabbala< nicht. Die Haltungen und Strategien, ich betone diesen Plural, der jüdischen Aufklärer sind weit vielfältiger und differenzierter als die Urteile von Graetz und Friedländer vermuten lassen. Und sie sind keineswegs nur schroff ablehnend oder destruktiv. Diese These möchte ich hier an mehreren prominenten Beispielfällen vorfuhren: an Jakob Emden, Moses Mendelssohn, Isaac Satanow, Salomon Maimon und Ephraim Joseph Hirschfeld. Obwohl die Kritik an der Kabbala bei den Maskilim, den jüdischen Aufklärern, überwiegt, bewegt sie sich nicht auf der Ebene der platten Verbalinjurie wie bei einigen Vertretern der Wissenschaft des Judentums im 1 9. Jahrhundert. Daneben gibt es jedoch unter den jüdischen Aufklärern eben auch An­ hänger der Kabbala. Und selbst in der Wissenschaft des Judentums im 1 9. Jahrhun­ dert ist insgesamt die Ablehnung der Kabbala nicht so eindeutig und krass, wie Gershorn Scholem uns glauben machen möchte,5 der die Kabbala in unserem Jahr-

4 [David Friedländer:] Sendschreiben an Seine Hochwürden, Herrn Oberconsistorialrath und Probst Teller zu Berlin, von einigen Hausvätern jüdischer Religion, Berlin 1 799 (Neudruck mit he­ bräischer Einleitung von Richard Cohen, Jerusalem 1 975), S. 34-3 6. s Gershorn Scho1em: Die jüdische Mystik in ihren Hauptströmungen, Frankfurt/M. 1 980, S. 1 -3 .

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hundert rehabilitiert und mit ihrer Erforschung die wohl größte Pionierleistung der Wissenschaft des Judentums im 20. Jahrhundert vollbracht hat. Erinnert sei nur an die Bücher von Adolphe Franck, Adolf Jellinek oder David Joel, welche die Kabbala keineswegs abwerten oder gar verdammen. 6 Die schwankende Haltung der Wissenschaft des Judentums zur Kabbala ist selbst von der Haskala induziert und vom Erbe der Haskala in der Wissenschaft des Juden­ tums beeinflußt. Das ist ein Stück Wissenschaftsgeschichte, welches ich hier nur streife und auch nur deshalb erwähne, weil die Kenntnis der Wissenschaftsgeschichte die Genese von Wissenschaftsklischees einsichtig macht und sie zu durchschauen hilft. Meine erste These ist, daß das Verhältnis der Haskala zur Kabbala aufs Ganze gesehen besser war als Graetz und Gleichgesinnte zugestehen möchten. Eine zweite These, welche unser Tagungsthema >Aufklärung und Esoterik< direkt berührt, kann ich gleich anschließen: Die Kabbala war für die jüdischen Aufklärer, anders als für die Aufklärer christlicher Herkunft, keine Geheimlehre. Kabbalistische Rituale und Praxis kannte jeder Jude, die wichtigsten Texte, Ideen und Lehren der Kabbala waren der gesamten männlichen jüdischen Bevölkerung zumindest vom Hörensagen bekannt. Wie David Friedländer in der oben zitierten Passage ganz rich­ tig beschreibt, ist die Kabbala, die aus okkulten jüdischen Traditionen der Spätantike hervorgeht, seit etwa 1 200 den Namen >Kabbala< (wörtlich: Überlieferung) als Selbstbezeichnung führt und als mystisch-esoterische Frömmigkeitsbewegung von Rabbinen für Rabbinen begann/ im 1 8 . Jahrhundert in Europa längst so exoterisch geworden, daß kabbalistische Elemente in die alltäglichen Gebete, in Lieder, Gebet­ bücher und Folklore übernommen waren.8 Der osteuropäische Chassidismus, nach Idee und Praxis eine stark von der Kabbala inspirierte Frömmigkeitsbewegung, ent­ wickelt sich in der ersten Hälfte des 1 8. Jahrhunderts in Litauen, Polen und der Ukraine zu einer wahren Massenbewegung. Sehr anschaulich hat dies der jüdische Aufklärer und Kantianer Salomon Maimon in seiner Lebensgeschichte geschildert, die ungeachtet ihrer hohen literarischen und satirischen Qualitäten gleichermaßen das erste ethnographische und religionssoziologische Dokument deutscher Sprache über den Chassidismus ist und die deutsche wie die jüdische Aufklärung über diese popu-

6 Adolphe Franck: La Kabbale ou Ia philosophie religieuse des Hebreux, Paris 1 843 (deutsch: Die Kabbala, Leipzig 1 844, Neudruck Amsterdam 1 990); Adolf Jellinek: Kleine Schriften zur Geschichte der Kabbala, Leipzig 1 85 1 -54 (Neudruck Hildesheim 1 988); David Joel : Midrasch HaSohar. Die Religionsphilosophie des Sohar im Verhältnis zur allgemeinen jüdischen Theologie, Leipzig 1 849 (Neudruck Hildesheim 1 977). 7 Zum allgemeinen Überblick vgl. Gershorn Schalem: [Artikel : ) •Kabbala•, in: Encyclopaedia Ju­ daica, Bd. 9, Berlin 1 932, Sp. 630-732; ders.: Kabbalah, Jerusalem 1 988. s Zu nennen wäre hier besonders der Einfluß der sogenannten Lurianischen Kabbala des 1 6. Jahr­ hunderts auf den Chassidismus. V gl. Yoram Jacobson: MiKabbalat Ha' Ari Ad LaChassidut (Von der Kabbala des Luria zum Chassidismus, Hebräisch), Tel Aviv 1 98 8 .

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läre, aber aus der Perspektive des Westens exotische Bewegung der Juden im Wilden Osten Europas unterrichtete.9 Kurz: Kabbala hat für die jüdischen Aufklärer mit Esoterik nichts zu tun. Im Ge­ genteil, es ist ein Problem für die jüdische Aufklärung, daß die Kabbala in Ost-, aber auch in Mitteleuropa so exoterisch und populär ist. Beispielhaft dafür sind die Aus­ einandersetzungen und gegenseitigen Bannflüche in der Kontoverse zwischen Jakob Emden und Jonathan Eybeschütz in der Hamburger Dreiergemeinde1 0 von 1 750 bis 1 764 und die Verbannung des Kabbalisten Nathan Adler und seiner Schüler aus der Frankfurter Gemeinde in den Jahren 1 779 und 1 789. 1 1 Haltungen und Strategien der jüdischen Aufklärer im Umgang mit der Kabbala sind gar nicht zu verstehen, wenn wir uns nicht deutlich machen, daß sowohl im Chassidismus als auch im Sabbatia­ nismus, einer durch den Mystiker Sabbatai Zwi ausgelösten messianischen Bewe­ gung,1 2 die jüdischen Aufklärer mit äußerst erfolgreichen Spielarten der Kabbala konfrontiert waren. Während Kabbala bei christlichen Aufklärern, bei Illuminaten wie Pietisten als uralte Geheimlehre und als esoterische jüdische Philosophie galt: >Philosophia Ju­ daeorum esoterica< , wie Johann Jacob Brucker 1 742 sehr typisch formuliert, 1 3 wäh­ rend sie dort als Bestandteil der >philosophia perennis< firmierte und als solche bis in die Aufklärung tradiert wurde, begegnet die Kabbala den jüdischen Aufklärern in verschiedenen, sowohl höchst aktuellen als auch sehr populären Erscheinungsformen. Hierin liegt ein gar nicht zu überschätzender Unterschied zwischen christlichen und jüdischen Aufklärern, einmal ganz abgesehen von ihrem höchst unterschiedlichen Wissensstand: Während die christlichen Zeitgenossen des 1 8 . Jahrhunderts ihr Wis­ sen über Kabbala zumeist aus zweiter Hand, nämlich aus lateinischen Kompendien christlicher Kabbala-Gelehrter wie Johannes Reuchlin, Guillaume Postel und vor allem Christian Knorr von Rosenroth bezogen, 1 4 waren die jüdischen Aufklärer des

9 Vgl. Christoph Schulte: Kabbala in Salomon Maimons Lebensgeschichte, in: Eveline Good­ man-Thau/Gert Mattenklott/Christoph Schulte (Hgg.): Kabbala und die Literatur der Romantik. Zwi­ schen Magie und Trope, Tübingen 1 999. I O Maurice R. Hayoun: Rabbi Ja'akov Emdens Autobiographie oder der Kämpfer wider die sab­ batianische Häresie, in: Kar! E. Grözinger (Hg.): Judentum im deutschen Sprachraum, Frankfurt/M. 1 99 1 , s. 222-236. " Rache! Elior: Rabbi Nathan Adler of Frankfurt and the Controversy Surrounding Hirn, in: Kar! E. Grözinger/Joseph Dan (Hgg.): Mysticism, Magie and Kabbalah in Ashkenazi Judaism, Berlin/New York 1 995, S. 223-242. 12 Vgl. Gershorn Scholem: Sabbatai Zwi. Der mystische Messias, Frankfurt/M. 1 992; ders.: Erlö­ sung durch Sünde (= Judaica 5), Frankfurt/M. 1 992. 1 3 Johann Jacob Brucker: Historia critica philosophiae, Bd. 2, Leipzig 1 742 (Neudruck Hildes­ heim 1 975), S. 9 1 6- 1 069. 1 4 Johannes Reuchlin: De arte cabalistica, Hagenau 1 5 1 7; Guillaume Poste! : Sefer Jezirah, Paris 1 552; Christian Knorr von Rosenroth: Kabbala Denudata, Sulzbach 1 677/78 und Frankfurt/M. 1 684. Eine Ausnahme ist der Pietist Friedrich Christoph Oetinger ( 1 702-1 782), der mit Rabbinen Kabbala

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18. Jahrhunderts noch ohne Ausnahme des Hebräischen und Aramäischen mächtig und konnten bei Bedarf die Quellentexte konsultieren. Wenn wir nun, eingedenk dieser Unterschiede schon zwischen jüdischen und christlichen Aufklärern, wissen wollen, was die Maskilim von der Kabbala dachten, können wir uns nicht an heutige Darstellungen der Kabbala auf dem letzten Stand der Forschung wie die von Scholem oder Moshe IdeJI 5 halten. Um ein Bild der Kabbala aus der Perspektive der jüdischen Aufklärung zu vermitteln, greife ich darum auf die nachgerade klassische Beschreibung der Kabbala in Salomon Maimons Lebensge­ schichte zurück, die trotz aller ironischen Distanz in sachlich korrekter und durch unseren heutigen Wissensstand bestätigter Weise eine allgemeine Bestimmung des­ sen gibt, was Kabbala überhaupt ist und will. Salomon Maimon, der selbst in Litauen Rabbiner und Kabbalist war, bevor er in die Berliner Aufklärung emigrierte, schreibt über die Kabbala: »Kabbala - um von dieser göttlichen Wissenschaft ausführlicher zu reden - im weitem Sinn heißt >Überlieferung< und begreift nicht nur die geheimen Wissenschaf­ ten, die nicht öffentlich gelehrt werden dürfen, sondern auch die Methode, aus den in der Heiligen Schrift vorkommenden Gesetzen neue Gesetze herzuleiten, wie auch einige Fundamentalgesetze, die dem Moses auf dem Berg Sinai mündlich überliefert worden sein sollen. Im engem Sinn aber heißt Kabbala bloß die Überlieferung ge­ heimer Wissenschaften. Diese wird in >theoretische< und >praktische< Kabbala einge­ teilt. Jene [die theoretische Kabbala] begreift in sich die Lehre von Gott, seinen Ei­ genschaften, die durch seine mannigfaltigen Namen ausgedrückt werden, die Entsteh­ ung der Welt durch eine stufenweise Einschränkung seiner unendlichen Vollkom­ menheit und das Verhältnis aller Dinge zu seinem höchsten Wesen. Diese [die prakti­ sche Kabbala] ist die Lehre, durch die mannigfaltigen Namen Gottes, die besondere Wirkungsarten und Beziehungen auf die Gegenstände der Natur vorstellen, nach Be­ lieben auf sie [die Natur] zu wirken. Diese heiligen Namen werden nicht als bloß willkürliche Zeichen betrachtet, so daß alles, was mit diesen Zeichen vorgenommen wird, auf die Gegenstände selbst, die sie vorstellen, Einfluß haben muß.«1 6 Gemäß seinem Eintrag ist für Maimon die Kabbala, ebenso wie die Metaphysik für Maimonides, eine »göttliche Wissenschaft«, 1 7 denn sie befaßt sich mit Gottesattribu­ ten und mit der Weltschöpfung. Aber im Gegensatz zur Metaphysik ist sie Wissen­ schaft mit vorkritischen, falschen oder unsinnigen Prämissen. Sie ist, wie Maimon weiter schreibt, »eine Kunst, mit Vernunft zu rasen« oder »eine auf Grillen beruhende

gelernt hatte, die wichtigsten kabbalistischen Werke im Original kannte und aus dessen Büchern wiederum SeheHing und Hege! Kenntnisse der Kabbala schöpften. 1 5 Moshe Idel: Kabbalah. New Perspectives, New Haven!London 1 988. 1 6 Salomon Maimons Lebensgeschichte, in: Salomon Maimon: Gesammelte Werke, hg. v. Valerio Verra, 7 Bde, Bildesheim 1 965- 1 97 1 , Bd. I , Bildesheim 1 965, S. 1 2 6 f. 1 7 Ebd.

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systematische Wissenschaft«, 18 d.h. sie ist nicht von vornherein irrationaler Unsinn oder Lüge oder Scharlatanerie, sondern Vernunftgebrauch mit falschen, wissen­ schaftlich nicht haltbaren Voraussetzungen. Ganz im Sinne des nachkantischen Wissenschaftsanspruches der Zeit gesteht Maimon der Kabbala sogar zu, >systematische Wissenschaft< zu sein. Aber er hält die Kabbala nicht für Philosophie. Ihre Namens-, Zahlen- und Buchstaben-Spekulationen entfalten nur »auf schwärmerische, durch Wissenschaften und vorzüglich durch eine gründliche Philosophie unerleuchtete Gemüter eine außerordentliche Wirkung«. 1 9 Der jüdische Philosoph Salomon Maimon kennt und analysiert Kabbala, aber als Philo­ soph spricht er ihr jeden Wert ab, sowohl der praktischen Kabbala und ihren magi­ schen, auf Naturbeherrschung zielenden Ritualen, als auch der auf falschen Prämis­ sen beruhenden theoretischen Kabbala und ihren Systemen. Nach dieser Kabbala-Definition eines jüdischen Aufklärers möchte ich nun erläu­ tern, was die Haskala, die jüdische Aufklärung nach dem Verständnis ihrer Protago­ nisten ist und will. Dabei möchte ich hier zuerst nur in Art einer Problemanzeige die Skizze eines ebenso weiten wie wenig bearbeiteten Forschungsfeldes geben und dann in Hinsicht auf die Kabbala anhand von prominenten Einzelfällen einige Markierun­ gen vornehmen. Haskala, die jüdische Aufklärung, ist ein Stiefkind der Aufklärungsforschung. Das läßt sich z.B. daran ablesen, daß es in den meisten Wörter- und Handbüchern zur Aufklärung keine Eintragungen zu >Haskala< oder >jüdische Aufklärung< gibt,20 ob­ wohl etwa zwischen französischer, schottischer und deutscher Aufklärung schon lan­ ge unterschieden wird. Daß Haskala dagegen ein Stiefkind blieb, hat mit der Anfor­ derung zu tun, daß ihre Erforscher gute Kenntnisse des Hebräischen und der rabbinischen Tradition mit denen der europäischen und besonders der deutschen Geistesgeschichte verbinden müssen. Aber die deutsch-jüdischen Gelehrten, die auf­ grund ihrer Vorkenntnisse prädestiniert für diese Forschungen gewesen wären, sind nach 1 93 3 ins Exil oder in den Tod getrieben worden. Das ist die Situation, der sich heute die Aufklärungsforschung, die Philosophie- und Literaturgeschichte und die Jüdischen Studien gleichermaßen stellen müssen.21 18 A.a.O., S. 1 2 8 . 1 9 Ebd. 2o Vgl . Peter Pütz: Die deutsche Aufklärung, 4. Auflage, Dannstadt 1 99 1 . Ein Eintrag fehlt z.B. im Historischen Wörterbuch der Philosophie. 2 1 Die wenigen neueren Forschungen zur Haskala seien hier nur rasch aufgelistet: Michael Al­ brecht/Eva J. Engei/Norbert Hinske (Hgg.): Moses Mendelssohn und die Kreise seiner Wirksamkeit ( Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 8), Tübingen 1 994; Dominique Bourel: Le demier Morse, These d ' Etat (Microfiche), Paris 1 995; Shmuel Feiner: Haskala VeHistoria (Hebr., Haskala und Ge­ schichte), Jerusalem 1 995; Karlfried Gründer/Nathan Rotenstreich (Hgg.): Aufklärung und Haskala in jüdischer und nichtjüdischer Sicht ( Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 1 4), Heidelberg 1 990; Steven M. Lowenstein: The Berlin Jewish Community. Enlightenment, Familiy and Crisis, Oxford 1 994; David Sorkin: The Transfonnation of Gennan Jewry 1 780- 1 840, Oxford 1 987; David =

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Die Schwierigkeiten beginnen schon mit dem Begriff der Haskala. Keineswegs bedeutet dieser hebräische Begriff für Aufklärung, daß es sich bei Haskala um Auf­ klärung in Hebräisch handelt. Ein Teil der Texte der Haskala wurde in Hebräisch geschrieben, in biblischem Hebräisch, das die jüdischen Aufklärer bewußt dem Jiddi­ schen als der •ungebildetenHebrew Enlightenment< in einem verdienstvollen Buch untersucht - jene Texte der Haskala in Deutschland, die Hebräisch geschrieben wurden und in der Tat die Basis für eine moderne jüdische Literatur in Hebräisch bilden. 23 Aber mit The Age ofHaskalah, wie der Titel des Buches von Pelli lautet, ist weder das Zeitalter noch der Begriff der Haskala hinreichend bestimmt. Das gleiche gilt für die alte, deutsche Enyclopaedia Judaica, wo es unter >Haskala< gar keinen Eintrag gibt und nur auf das Stichwort >Aufklärung< verwiesen wird. Dort wird die jüdische Aufklärung als Folge und als Teil der westeuropäischen Aufklärungsbewegung ge­ schildert. Das ist in seiner Allgemeinheit richtig, aber unbestimmt, denn entscheiden­ de Differenzen z.B. zur deutschen Aufklärung werden verwischt. Hauptmerkmal der Haskala war es nämlich, daß sie Juden durch Bildung und Wissenschaft auf den Stand der europäischen Aufklärung bringen wollte. Dabei sollten die Juden j edoch Juden bleiben und damit eine aufgeklärte, emanzipierte Minderheit in christlichen Mehrheitsgesellschaften. Assimilation und Akkulturation, aber nicht Taufe, waren die Ziele der Maskilim, der Vertreter und Anhänger der jüdischen Aufklärung. Hier fanden die Universalisierungs- und vor allem Homogenisierungstendenzen der euro­ päischen Aufklärung ihre Grenze. Dieses Judebleiben widerstand j ener universali­ stisch-aufgeklärten, friedlichen Selbstauflösung des Judentums in eine universelle, rein moralische Religion, die Karrt in das berüchtigte Wort von der »Euthanasie des Judentums« faßte.24 Die Maskilim wollten an der europäischen Aufklärung teilhaben und in ihr eine gleichberechtigte, führende Rolle spielen, aber nicht in ihr sich aufgeben, sondern

Sorkin: From Context to Comparison. Tbe German Haskalah and Reform Catholicism, in: Tel A viver Jahrbuch ftir deutsche Geschichte 20 ( 1 99 1 ), S. 23-58; die beste neuere Gesamtdarstellung gibt Mi­ chael Graetz in: Mordechai Breuer/Michael Graetz: Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. I : 1 600- 1 780, München 1 996. 22 Andrea Schatz: Zur Reflexion über die hebräische Sprache in der Berliner Haskalah, unveröf­ fentlichte Magisterarbeit an der FU Berlin, Institut ftir Judaistik, o.J.; Nils Römer: Tradition und Akkulturation. Zum Sprachwandel der Juden in Deutschland zur Zeit der Haskalah, München/New York 1 995. 2 3 Moshe Pelli: The Age of Haskalah. Studies in Hebrew Literature of the Enlightenment in Ger­ many, Leiden 1 979. 24 Immanuel Kant: Der Streit der Facultäten, Königsberg 1 798, S. 8 1 .

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dem Judentum in der Aufklärung Anerkennung und Geltung verschaffen. Dadurch bekommt der Maskil eine doppelte Funktion und Aufgabe: Er vertritt die Aufklärung gegenüber den noch nicht aufgeklärten Juden und das Judentum gegenüber den auf­ geklärten Nicht-Juden. Paradigmatisch können wir diese Doppelrolle an Moses Men­ delssohn beobachten, dem >Vater der Haskala