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German Pages 333 [334] Year 2014
Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung Schriftenreihe des Interdisziplinären Zentrums für die Erforschung der Europäischen Aufklärung Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
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Annette Graczyk
Die Hieroglyphe im 18. Jahrhundert Theorien zwischen Aufklärung und Esoterik
De Gruyter
Herausgeber: Daniel Fulda, Ulrich Barth, Harald Bluhm, Robert Fajen, Wolfgang Hirschmann, Andreas Pecˇar, Jürgen Stolzenberg, Heinz Thoma, Sabine Volk-Birke Wissenschaftlicher Beirat: Wolfgang Adam, Roger Bartlett, Gunnar Berg, Reinhard Brandt, Lorraine Daston, Laurenz Lütteken, Jean Mondot, Alberto Postigliola, Peter Hanns Reill
ISBN 978-3-11-040251-3 e-ISBN (PDF) 978-3-11-040663-4 e-ISBN (EPUB) 978-3-11-040678-8 ISSN 0948-6070 Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar. 쑔 2015 Walter de Gruyter GmbH, Berlin/München/Boston Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck ⬁ Gedruckt auf säurefreiem Papier Printed in Germany www.degruyter.com
Danksagung
Diese Studie ist aus einer interdisziplinären Forschergruppe hervorgegangen, die von 2004 bis 2010 am Zentrum für die Erforschung der Europäischen Aufklärung (kurz: IZEA, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg) die „Aufklärung im Bezugsfeld neuzeitlicher Esoterik“ untersucht hat. Das von Werner Nell und mir konzipierte Teilprojekt zu den Diskursen des 18. Jahrhunderts über Hieroglyphik und Natursprache kam 2007 zu dem Gesamtprojekt hinzu. Ohne die dankenswerte Förderung der Deutschen Forschungsgemeinschaft hätte das Vorhaben nicht verwirklicht werden können. Werner Nell, dem Leiter des Teilprojekts, danke ich für seine kritische und engagierte Begleitung während der gesamten Laufzeit des Vorhabens. Den Mitgliedern der Forschergruppe, namentlich Manfred Beetz und Hanns-Peter Neumann, verdanke ich ein förderndes Umfeld und anregende Diskussionen. Der Sprecherin der Forschergruppe, Monika Neugebauer-Wölk, danke ich für ihr unterstützendes Interesse am Fortgang meiner Arbeiten und die ebenso strenge wie konstruktive Lektüre des Endmanuskripts. Heike Stadler hat als wissenschaftliche Hilfskraft umsichtig und zuverlässig mitgearbeitet. Den Mitarbeitern in Bibliothek und Sekretariat des IZEA danke ich für ihre freundlichen Hilfestellungen. Mein besonderer Dank gilt Hanno Möbius; er hat meine Arbeit über die lange Zeit von der Antragstellung bis zum Endmanuskript mit Anregungen und Kritik fördernd begleitet. Berlin und Halle, im Juli 2014
Annette Graczyk
Inhalt
Danksagung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1 1. Stationen der Hieroglyphik seit der Antike . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 2. Die Hieroglyphik im 18. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8 3. Zum Begriff der Esoterik in dieser Arbeit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10 A Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen. . . . . . . . . . . . . 13 1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Giambattista Vicos Theorie der Kulturentstehung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 13 1.1 Vicos Wirkung und seine Sonderstellung im Hieroglyphendiskurs . . . 14 1.2 Vicos Geschichtsphilosophie: „mondo civile“ und hieroglyphische Archaik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18 1.3 Die hieroglyphische Geistesverfassung der Archaik als „Kindheit der Menschheit“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 1.4 Das programmatische Frontispiz. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1.5 Die drei Zeitalter und ihre Sprachen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 1.6 Natur- und Körperbezug der hieroglyphischen Sprache; ihre Bestimmung als „natürliche Sprache“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 1.7 „Poetische Logik“ in „poetischen Charakteren“ und „fantastischen Universalien“. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 1.8 Geschichtsabläufe und das Prinzip des verum-factum. . . . . . . . . . . . . . 42 2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel: William Warburtons Hieroglyphentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.1 Warburtons Hieroglyphentheorie als verselbständigter Teil seines Buches The Divine Legation of Moses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2 Zum Ägyptenbezug der Divine Legation of Moses. . . . . . . . . . . . . . . . 51 2.3 Warburtons Sprachtheorie im Vergleich zu Vico. . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 2.4 Rhetorische Figuren bei Warburton. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 2.5 Die Hieroglyphen in ihrer Entwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 2.6 Die Archäologie der Bibel: Sprachstufen der Menschheit. . . . . . . . . . . 61 2.7 Warburtons Systematik der ägyptischen Schriftarten . . . . . . . . . . . . . . 62 2.8 Die „dunkle Rede“ der Propheten – Warburtons Anwendung der Hieroglyphik auf das Alte Testament. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
VIII
Inhalt
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Johann Gottfried Herders Schöpfungshieroglyphe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71 3.1 Allgemeine Charakterisierung von Herders Hieroglyphenbegriff . . . . 71 3.2 Die Schöpfungshieroglyphe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 3.3 Die Genesis im orientalischen Zusammenhang. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 3.4 Biblische Schöpfungshieroglyphe und ägyptische Hermesfiguren . . . 84 3.5 Prototypus und Homologie in der Schöpfungshieroglyphe . . . . . . . . . 95 3.6 Der variable Bauplan: die Schöpfungshieroglyphe in anderen Religionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 3.7 Die Esoterik in Herders Hieroglyphentheorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.8 Herder als Geistlicher und als Wissenschaftler . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 3.9 Morgenröte und menschliches Ebenbild Gottes als natursprachliche Entsprechungen der Schöpfungshieroglyphe. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot. . . . . . . . . . . . . . . 115 1. Zur inneren Verwandtschaft von Essay und Hieroglyphe. . . . . . . . . . . . . . . 116 2. Hieroglyphe und Körpersprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118 3. Poetische, malerische und musikalische Hieroglyphen . . . . . . . . . . . . . . . . 123 4. Die Einzigartigkeit der künstlerischen Hieroglyphen . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 5. Hieroglyphe, Emblem und Allegorie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 6. Hieroglyphen als „expressions heureuses“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 7. Die suggestive Kraft der künstlerischen Hieroglyphe. . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 8. Die Nachwirkung der Hieroglyphik: Ausblick auf Diderots Entwicklung. . 135 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 1. Lavaters Physiognomik zwischen Hieroglyphik und Natursprache. . . . . . . 141 2. Lavaters Abgrenzung von der älteren Physiognomik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3. Die Physiognomischen Fragmente als kommentiertes Bildarchiv. . . . . . . . 154 4. Die Mitarbeit von Zeitgenossen an den Physiognomischen Fragmenten. . . 160 5. Die Physiognomik als das Äußere eines Inneren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 6. Die Physiognomischen Fragmente und die Bildkünste . . . . . . . . . . . . . . . . 174 7. Wissenschaftliche Neutralität versus allegorische Wertung. . . . . . . . . . . . . 177 8. Gottesebenbildlichkeit und Zergliederungskunst. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 180 9. Die Physiognomien als göttliche Natursprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 10. Vom Frosch zu den Engeln: Lavaters Stufenleiter der Wesen. . . . . . . . . . . . 185 11. Eschatologische Physiognomik: Lavaters Aussichten in die Ewigkeit . . . . 196
Inhalt
IX
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Louis-Claude de Saint-Martin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1.1 Saint-Martin und der Martinismus. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 1.2 Saint-Martins Spiritualisierung von Anthropologie und Geschichte als Voraussetzung seiner Konzepte von Natursprache und Hieroglyphik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 1.3 Theosophie und Aufklärung bei Saint-Martin. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214 1.4 Natur und göttliche Naturhieroglyphe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218 1.5 Göttliche und menschliche Hieroglyphen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 224 1.6 Die Künste als Medien der Spiritualisierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230 1.7 Die Hieroglyphik des geheimen Buches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 233 2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen . . . . . . . 234 2.1 Bedeutung und Einfluss von Eckartshausen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 234 2.2 Eckartshausen und die Aufklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 241 2.3 Natursprachliche Zahlensymbolik und religiöse Hieroglyphen. . . . . . 244 2.4 Allgemeine Bestimmung der Hieroglyphe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 249 2.5 Die Hieroglyphe in der „äußeren Kirche“ seit Moses . . . . . . . . . . . . . 251 2.6 Die Hieroglyphe in der „inneren Kirche“ und ihre Transzendierung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 2.7 Die mystische Innenschau. Eckartshausens Missionierung in der inneren Kirche. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 265 2.8 Hieroglyphik und Vergeistigung in Eckartshausens Initiationsroman Kostis Reise von Morgen gegen Mittag (1795). . . . . . . . . . . . . . . . . . 270 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 1. Quellen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 2. Forschungsliteratur. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 299 Verzeichnis der Abbildungen und ihrer Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Namenregister. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319
Einführung
Man muss eine Tür aufzustoßen versucht haben, ehe man erkennen kann, dass sie uns verschlossen ist. (Michel de Montaigne: Essais) Wer das lesen könnt! (Georg Büchner: Woyzeck)
Die Hieroglyphen waren als rätselhafte Reste einer vorzeitigen, unbekannt gewordenen Kommunikation eine Herausforderung für die Aufklärung und zugleich ein willkommener Gegenstand für die Esoterik. Ihre Erforschung konnte lange Zeit nur auf wenigen gesicherten Fakten aufbauen und war daher von alters her mit weitreichenden Spekulationen verbunden. Auch wenn aufklärerische Gelehrte auf dieses ungesicherte Gelände gelockt wurden, waren am Ende des 18. Jahrhunderts die Hieroglyphen immer noch voller Geheimnis. Um die Jahrhundertwende schließlich avancierte die Hieroglyphe zu einem wichtigen Begriff der Romantik.1
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Vgl. zur Geschichte des Hieroglyphendiskurses die grundlegenden Arbeiten von: Erik Iversen: The myth of Egypt and its hieroglyphs in European tradition. Kopenhagen 1961. Madeleine V. David: Le débat sur les écritures et l’hieroglyphe aux XVIIe et XVIIIe siècles et l’application de la notion de déchiffrement aux écritures mortes. Paris 1965. Sowie: Liselotte Dieckmann: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol. St. Louis 1970. Vgl. darüber hinaus den Sammelband: Hieroglyphen: Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie. Hg. v. Aleida u. Jan Assmann. München 2003 (Archäologie der literarischen Kommunikation 8). Sowie den Überblicksartikel von Ulrich Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen. Hermeneutiken der Entschlüsselungsversuche von der Renaissance bis Rosette. In: Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute. Hg. v. Wilfried Seipel. Wien, Mailand 2000, S. 175–191. Speziell zur Renaissance vgl. Karl Giehlow: Die Hieroglyphenkunde der Renaissance. Jahrbuch der kunsthistorischen Sammlung des allerhöchsten Kaiserhauses XXXII, H. 1, Wien 1915. Sowie: Ludwig Volkmann: Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen. Leipzig 1923. Zum 17. Jahrhundert: Marc Fumaroli: Hiéroglyphes et lettres: la sagesse mystérieuse des Anciens au XVIIe siècle. In: XVIIe Siècle. Bd. XL/158,1 (1988), S. 7–20. Zum 18. Jahrhundert: Barbara Hunfeld: Zur Hieroglyphe der Kunst um 1800. Überlegungen zu einer Metapher bei Diderot, Goethe, Schubert und Schlegel. In: Aleida u. Jan Assmann (Hg.): Hieroglyphen: Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie, wie oben angegeben, S. 281–296. Zur Romantik: Astrid Keiner: Hieroglyphenromantik. Zur Genese und Destruktion eines Bilderschriftmodells und zu seiner Überforderung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie. Würzburg 2003. Linda Simonis: Hieroglyphische Zeichen. Zur Bedeutung geheimer Äußerungsformen und ihrer Entzifferung in der frühromantischen Diskussion. In: Codes, Geheimtext, Verschlüsselung. Kryptographie und Gegenwart einer Kulturpraxis. Hg. v. Gertrud Maria Rösch. Tübingen 2004, S. 83–97.
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Einführung
Die altägyptischen Schriftzeichen wurden bekanntlich erst 1822 von Jean-François Champollion auf der Grundlage des Steins von Rosette entziffert, dessen Inschrift in drei Schriftformen abgefasst ist. Champollion wies nach, dass es sich bei den Hieroglyphen um eine kombinierte Schrift aus Laut-, Bild- und Begriffszeichen handelt.2 Damit verloren die Hieroglyphen zwar jene Faszination, die sich jahrhundertelang mit Mutmaßungen über altägyptisches Geheimwissen und altägyptische Mysterienkultur verbunden hatte. Doch war der Begriff (bzw. die Faszination) schon lange nicht mehr auf die ägyptische Schrift allein beschränkt, sodass er bis heute ein Synonym für das Rätselhafte, Unentzifferbare oder schwer Verständliche geblieben ist.
1. Stationen der Hieroglyphik seit der Antike Seit der Antike und besonders seit der Spätantike gab es eine gelehrte Tradition, die sich mit den vereinzelt bis ins vierte nachchristliche Jahrhundert gebräuchlichen ägyptischen Hieroglyphen auseinandersetzte,3 während das Wissen um sie immer bruchstückhafter und anekdotischer und daher vielfach spekulativ geworden war. Diese Tradition, die mit Herodot um 450 v. Chr. einsetzt, ist durch einzelne herausragende Denker überliefert. Besonders wichtig ist der griechische Theologe und Kirchenvater Clemens von Alexandrien im 3. Jh. n. Chr. Auf ihn geht die Unterscheidung zurück, nach der man die eigentliche Hieroglyphenschrift von zwei gleichfalls gebräuchlichen Kursivformen absetzt. Ihm zufolge erlernten die ägyptischen Schüler zuerst die sogenannte Briefschrift bzw. die epistolische Schrift; sie wird heute als demotische Schrift bezeichnet und war für den alltäglichen Verkehr bestimmt. Danach, so Clemens, unterwies man die Schüler in der hieratischen (bzw. priesterlichen) Schrift, die von heiligen Schreibern, den Hierogrammaten verwendet wurde. Zuletzt brachte man ihnen als vollendetste Stufe die Hieroglyphenschrift bei.4 Die Systematisierungsversuche der Hieroglyphik im 18. Jahrhundert von Vico,
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Eingehend zur ägyptischen Hieroglyphik aus zeichentheoretischer Sicht: Orly Goldwasser: From Icon to Metaphor. Studies in the Semiotics of the Hieroglyphs. Fribourg, Göttingen 1995. 3 Die ägyptischen Hieroglyphen entstanden, wie man heute weiß, gegen Ende des vierten Jahrtausends v. Chr. In der griechisch-ptolemäischen und in der römischen Epoche, also in der Zeit von ca. 330 v. Chr. bis 395 n. Chr., wurden sie immer seltener benutzt. Die letzte datierte Inschrift stammt von 394 n. Chr. Danach geriet das Wissen um die Hieroglyphen in Vergessenheit. 4 Heute weiß man, dass sich die hieratische Schrift schon in sehr früher Zeit als Kursivschrift aus den Hieroglyphen entwickelt hat; sie ist fast so alt wie die Hieroglyphen selbst. Erst sehr viel später, um 650 v. Chr., entwickelte sich als zweite, stark abkürzende Kursivschrift die demotische Schrift (bzw. die von Clemens so genannte Briefschrift). Ursprünglich war auch die hieratische Schrift eine alltägliche Schrift der Verwaltung und der Kaufleute. Sie wurde erst in griechisch-römischer Zeit zu einer für religiöse Texte benutzte Priesterschrift. Auch die de-
1. Stationen der Hieroglyphik seit der Antike
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Warburton, Condillac, Diderots Encyclopédie bis Wachter und Hamann schließen an diese Grundunterscheidung an bzw. variieren sie. Auch die weiteren, wichtigen Differenzierungen von Clemens werden tradiert: Er bezeichnete die Hieroglyphenschrift „vermittels der elementaren Buchstaben“ zum Teil als kyriologisch, das heißt nicht-metaphorisch, zu einem anderen Teil bezeichnete er sie als symbolisch. Die symbolische Schrift unterteilte er wiederum dreifach: – abermals in eine kyriologische, die die Form einer Sache im Bilde wiedergibt (etwa ein Kreis für die Sonne), – eine tropologische, bei der ein Zeichen auf ein anderes Gebiet übertragen, vertauscht oder mannigfach abgewandelt wird, – eine allegorische, die gewissermaßen Rätsel aufgebe. Als ein Beispiel dient der Mistkäfer [Skarabäus], der aus Mist eine Kugel formt und vor sich herrollt. Der Skarabäus steht für die Sonne, wobei die Übertragung über ein entsprechendes „naturkundliches“ bzw. mythisches Wissen funktioniert: Dieses Tier lebe nämlich sechs Monate unter und sechs Monate über der Erde usw.5 Wie zuvor schon Diodor (im 1. Jh. v. Chr.) und Plutarch (im 2. Jh. n. Chr.) geht auch Clemens davon aus, dass die Hieroglyphen in verschlüsselter Form ein priesterlich überliefertes Geheimwissen bewahren.6 Ammianus Marcellinus meint am Ende des vierten Jahrhunderts sogar, es handle sich bei den Hieroglyphen um das über die Sintflut hinweggerettete „geheimnisvolle Wissen der Urzeit“7, eine Festlegung, die später mit der neuen Wertschätzung für die Antike wichtig werden wird. In der Renaissance erhält der Hieroglyphendiskurs neuen Aufschwung, weil sich weitere, neu aufgenommene antike Traditionen anlagern. Ein erster Strang entwickelte sich aus den beiden wiederentdeckten Hieroglyphenbüchern des Horapollon, einem Manuskript mit Erklärungen von Hieroglyphen, verfasst von einem Autor, der sich als Ägypter (Nilote) bezeichnet, und ins Griechische übersetzt von einem gewissen Philippos. Es wurde 1419 von dem Mönch und Geographen Christoforo Buondelmonti auf der Insel Andros erworben und nach Florenz gebracht, wo es sofort das Interesse der humanistischen Gelehrten erregte. Heute gilt es als spät-
motische Schrift, von „demotikos“ („allgemein üblich“) abgeleitet und auch als Volksschrift bezeichnet, war eine Schrift der schreibkundigen Elite – und nicht etwa, wie ihre Bezeichnung suggerieren könnte, allgemein des Volkes. Unter der griechischen Vorherrschaft war sie die übliche Urkundenschrift. Aus der ptolemäischen Zeit stammt auch der (heute im British Museum aufbewahrte) Stein von Rosette, den man auf 196 v. Chr. datiert: Seine Inschrift ist dreifach, und zwar in Hieroglyphen, in demotischer Schrift sowie griechisch abgefasst. 5 Vgl. im Einzelnen die Zusammenstellung von Jan Assmann: Antike Äußerungen zur ägyptischen Schrift. In: Ders. u. Aleida Assmann (Hg.): Hieroglyphen: Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie (wie Anm. 1), S. 27–35, hier S. 34. 6 Ebd., S. 28–33. 7 Ebd., S. 31.
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Einführung
hellenistische Kompilation, vermutlich aus dem 5. Jahrhundert,8 also einer Zeit, da das Wissen von den Hieroglyphen schon weitgehend verloren war. Die Handschrift selbst hatte keine Abbildungen; diese kamen erst in späteren Ausgaben hinzu. So erschien – nach einer ersten Ausgabe 1505 in Venedig – 1512 eine lateinische Übersetzung von Willibald Pirkheimer mit Illustrationen Albrecht Dürers. In den folgenden hundert Jahren wurden rund 30 Editionen, Übersetzungen und Nachdrucke publiziert.9 Diese Bücher und ihre Illustrationen legen eine ideographische Auffassung der ägyptischen Zeichen nahe, die bis zu Champollion prägend für das Verständnis der Hieroglyphenschrift war. Sie standen zudem Pate bei der Entwicklung der europäischen Emblematik und Rebusschreibung. Beide waren, wie Ludwig Volkmann herausgearbeitet hat, ursprünglich von der Hieroglyphik angeregt.10 Entscheidend für die (schriftlich gegebenen) Hieroglyphenbeispiele des Horapollon ist, dass es zwischen dem Bezeichneten und dem für dieses einstehenden, bildhaft vergegenwärtigten Symbol jeweils eine „natürliche Verbindung“ gibt.11 So zeichnen die Ägypter, wenn sie „die Ewigkeit“ darstellen wollen, Sonne und Mond, weil beide „ewige Elemente“ sind. Horapollons Hieroglyphen stehen in dieser Weise jeweils in einem „symbolischen Bezug zu einem Begriff [‚die Ewigkeit’] und in einem ikonischen Bezug zu einem Gegenstand [bzw. zu mehreren Gegenständen: hier Sonne und Mond]“. In anderen Beispielen ist freilich die Verbindung zwischen Begriff und Zeichen nicht so leicht einsehbar, sondern wird z.T. über ein komplexes mythologisches bzw. damit verbundenes naturgeschichtliches Wissen gestiftet. Folgenreich für das Hieroglyphenverständnis der Renaissance war – zweitens – die Wiederentdeckung des Corpus Hermeticum, einer Sammlung antiker Schriften, die dem Hermes Trismegistos zugeschrieben wurde. Im hermetischen Denken wurden in dieser mythischen Figur Züge des griechischen Hermes und des Thot, des altägyptischen Gottes der Weisheit und der Schrift, verschmolzen. Daneben bestand schon seit langem auch eine Gleichsetzung des griechischen Hermes mit Thot. Da auch Hermes Trismegistos häufig nur „Hermes“ genannt wurde, ist nicht immer einfach zu erkennen, ob die Gelehrten mit dem Namen „Hermes“ den griechischen Gott oder Hermes Trismegistos meinen. Die hermetischen Traktate, die spätestens im Byzanz des 11. Jahrhunderts zum Corpus Hermeticum zusammengefasst worden sind, wurden im Auftrag von Cosimo
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Vgl. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Aus d. Italien. v. Burkhart Kroeber. München 1997, S. 154f. Dieckmann: Hieroglyphics (wie Anm. 1), S. 26–30. 9 Neu-Ausgaben: Horapollo: Hieroglyphica. Zwei Bücher über die Hieroglyphen. In der lat. Übers. v. Jean Mercier nach der Ausg. Paris 1548. Bearb., mit einer dt. Übers. vers. u. komm. v. Helge Weingärtner. Erlangen 1997. Sowie: Des Niloten Horapollon Hieroglyphenbuch. Bd. I: Text und Übersetzung. Hg. u. übers. v. Josef Thissen. München 2001. 10 Vgl. Volkmann: Bilderschriften der Renaissance (wie Anm. 1). 11 Vgl. hier und im Folgenden Jan Assmann: Etymographie: Zeichen im Jenseits der Sprache. In: Ders. u. Aleida Assmann (Hg.): Hieroglyphen: Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie (wie Anm. 1), S. 37–63, hier S. 37f. Vgl. im Weiteren auch S. 42–45.
1. Stationen der Hieroglyphik seit der Antike
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de Medici („Cosimo dem Alten“) 1463 in Florenz von Marsilio Ficino ins Lateinische übersetzt. Bis zur quellengeschichtlichen Kritik von Isaac Casaubon, 1614, galten sie als Vermächtnis ältester, altägyptischer Weisheiten bzw. Geheimlehren.12 Dieser Tradition zufolge waren die Hieroglyphen Zeichen, mit denen das göttliche Wissen für die Menschen überliefert wurde, die künftig seiner würdig wären. Es war zunächst auf Stelen eingraviert; später wurden die Zeichen in Bücher transkribiert. Als Vermittler dieser Zeichen wurden die Götter Isis und Osiris sowie der als göttlich charakterisierte Hermes Trismegistos verehrt. Nach Johannes Stobaeus, einem griechischen Sammler antiker philosophischer Aufzeichnungen und Lehrmeinungen aus dem 5. Jh. n. Chr., dem wir breite Exzerpte des hermetischen Schrifttums verdanken, entsprachen diese Zeichen den Bausteinen des Kosmos.13 In den Elementen der Hieroglyphenschrift (stoicheia) besaß der Mensch demnach die genuinen Elemente der Natur. Entsprechend verband sich der Hieroglyphenbegriff mit dem vermeintlichen Wissen um die Erschaffung der Welt. Die Renaissancephilosophen sahen in dieser Herleitung eine Bestätigung ihrer eigenen kosmologischen Ideen: Für sie stand auf den Hieroglyphenstelen die Schöpfungsgeschichte geschrieben, das heißt das Wissen über die Natur und deren Ursprung.14 Seither war die Suche nach dem Urwissen der Menschheit mit den Hieroglyphen verbunden. Eine Abwandlung der Mythe vom Göttergeschenk der Hieroglyphenstelen findet sich in einer dem ägyptischen Priester und Geschichtsschreiber Manetho zugeschriebenen Stelle, die der Kirchenvater Eusebius und der byzantinische Geschichtsschreiber Georgios Synkellos überliefern. Weil diese Stelle die Mythe mit der Sintflut und einem Sprachenwechsel zusammenbringt, wird sie später für Spekulationen christlicher Autoren interessant. Folgt man Eusebius, so geht Manetho von einer Zweiteilung der Figur des Hermes aus, die auch in der Überlieferung des hermetischen Schrifttums angelegt war. Ein erster Hermes – genauer: eine Überlagerung von Hermes mit dem Gott Thot – habe seine Weisheit vor der Sintflut in
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Zur Wiederentdeckung des Corpus Hermeticum: vgl. Marsilio Ficino e il ritorno di Ermete Trismegisto / Marsilio Ficino and the Return of Hermes Trismegistus. Hg. v. Sebastiano Gentile u. Carlos Gilly. Florenz 1999. Zum Umgang mit der Kritik Casaubons: Jan Assmann: „Hen kai pan“. Ralph Cudworth und die Rehabilitierung der hermetischen Tradition. In: Aufklärung und Esoterik. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk, unter Mitarb. v. Holger Zaunstöck. Hamburg 1999 (Studien zum achtzehnten Jahrhundert 24), S. 38–52. Zur Rezeption im 17. und 18. Jahrhundert: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anne-Charlott Trepp u. Hartmut Lehmann. Göttingen 2001 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte 171). 13 Johannes Stobaios (latinisiert: Stobaeus) überliefert die Mythe von den heiligen Zeichen in seinem Fragment XXIII im Zusammenhang mit der „hochheiligen Rede“ der Isis an Horus aus dem „heiligen Buch“ des Hermes Trismegistos: Korē Kosmou („Pupille“ oder „Kosmische Jungfrau“). Vgl. Das Corpus Hermeticum einschließlich der Fragmente des Stobaeus. Aus dem Griechischen neu übertragen von Karl-Gottfried Eckart. Hg. u. mit einer Einl. vers. v. Folker Siegert. Münster 1999. 14 Vgl. Dieckmann: Hieroglyphics (wie Anm. 1), S. 21.
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Einführung
Hieroglyphen auf Stelen niedergeschrieben. Nach der Flut habe ein zweiter Hermes diese in griechisch geschriebenen Büchern in den Tempeln deponiert.15 Ein dritter Strang der renaissancistischen Hieroglyphenauffassung geht abermals von Ficino aus. Er war maßgeblich auch an der Wiederbelebung des antiken Platonismus beteiligt, wobei er in seinen Interpretationen vom spätantiken Neuplatonismus beeinflusst war.16 In diesem Rahmen beerbte er auch Plotins neuplatonistisches Hieroglyphenverständnis, das er in einer Abhandlung kommentierte. Plotin zufolge verwendeten die ägyptischen Weisen […] zur Darlegung ihrer Weisheit nicht die Buchstabenschrift, welche die Wörter und Prämissen nacheinander durchläuft und auch nicht die Laute und das Aussprechen der Sätze nachahmt, vielmehr bedienten sie sich der Bilderschrift, sie gruben in ihren Tempeln Bilder ein, deren jedes für ein bestimmtes Ding das Zeichen ist: und damit, meine ich, haben sie sichtbar gemacht, daß es dort oben kein diskursives Erfassen gibt, daß vielmehr jedes Bild dort oben Weisheit und Wissenschaft ist und zugleich deren Voraussetzung, daß es in einem einzigen Akt verstanden wird und nicht diskursives Denken und Planen ist.17
Ähnlich sieht noch Ralph Cudworth im 17. Jahrhundert die Hieroglyphen als „Figuren, die nicht Lauten oder Wörtern entsprechen, sondern unmittelbar Gegenstände und Begriffe des Bewußtseins darstellen.“18 Ein vierter Strang entwickelt sich aus der Überlagerung von Hieroglyphik und Naturschrift im christlichen Platonismus der Renaissance: Bei „Marsilio Ficino, Pico della Mirandola, Paracelsus und vielen anderen trafen die […] Überlieferungsstränge einer ‚natürlichen Semiotik’ auf der Basis der Hieroglyphenlehre und einer ‚natürlichen Theologie’ auf der Basis der Lehre vom Buch der Natur zusammen.“19 Die große Leitvorstellung vom „Buch der Natur“ als der zweiten Offenbarung Gottes konturierte sich bereits im Mittelalter.20 Aus ihr ging auch das Theorem einer
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Vgl. Jan Assmann „Vorwort“. In: Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. München 2005, S. 7–15, hier S. 10. Jan Assmann spricht in diesem Zusammenhang von Pseudo-Manetho, weil er annimmt, dass diese Passage nicht von Manetho, sondern aus späterer Zeit stammt. Zur abweichenden Überlieferung bei Georgios Synkellos vgl. Jan Assmann: Das gerettete Wissen. Flutkatastrophen und geheime Archive. In: Sintflut und Gedächtnis: Erinnern und Vergessen des Ursprungs. Hg. v. Martin Mulsow u. Jan Assmann. München 2006, S. 291–301, hier S. 293. 16 Vgl. im Einzelnen: Marsilio Ficino e il ritorno di Platone. Studi e documenti. Hg. v. Gian Carlo Garfagnini. 2 Bde., Florenz 1986. 17 Plotin: Enneaden. In: Plotins Schriften. 6 Bde. Hg. v. Richard Harder und Rudolf Beutler. Übers. v. Richard Harder. Hamburg 1956–1971. Bd. 3a: Hamburg 1964, S. 49. Zit. nach Andreas Bässler: Sprichwortbild und Sprichwortschwank. Zum illustrativen und narrativen Potential von Metaphern in der deutschsprachigen Literatur um 1500. Berlin [u.a.] 2002 (= Diss. Heidelberg 2001), S. 197. Ficinos Plotin-Übersetzung erschien 1484–1486; seine Kommentare 1486–1490. 18 Vgl. Jan Assmann: „Hen kai pan“. Ralph Cudworth und die Rehabilitierung der hermetischen Tradition (wie Anm. 12), S. 43. 19 Aleida und Jan Assmann: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Hieroglyphen (wie Anm. 1), S. 9–25, hier S. 14. 20 Zum „Buch der Natur“, vgl. vor allem Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 2., durchges.
1. Stationen der Hieroglyphik seit der Antike
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göttlichen Chiffrensprache der Natur hervor. Seit der Renaissance wurde die Idee der Naturchiffrensprache, in der Berufung auf hermetische Traditionen, vornehmlich nördlich der Alpen und v.a. in der medizinisch-alchemistischen Esoterik weiter profiliert.21 Da sich die Auffassung vom „Buch der Natur“ zur Zeit der Aufklärung vielfach säkularisierte, kam es zu einem Nebeneinander und Gegeneinander verwandter Vorstellungen. Im 17. Jahrhundert war der jesuitische Universalgelehrte Athanasius Kircher die Schlüsselfigur der Hieroglyphenforschung. Er gilt als Begründer der Ägyptologie, wenngleich auf der Grundlage falscher Prämissen. Kircher war überzeugt, dass die ägyptischen Hieroglyphen dieselben theologischen und kosmologischen Ideen enthielten wie das Corpus Hermeticum und deutete sie in diesem Sinne als okkulte symbolische Zeichen.22 In seiner Sicht waren die Hieroglyphen die erste Schrift der Menschheit. Hermes Trismegistos, der von Kircher angenommene erste Herrscher Ägyptens nach der Sintflut, habe sie geschaffen, um jenes adamitische Wissen zu bewahren, das die Sintflut überdauert hätte. Obgleich Kircher in Rom nahen Zugang zu den aus Ägypten überführten Obelisken mit ihren Hieroglyphen hatte, stützte er seine Theorien auf wenige illustrierte Bücher, die die ägyptischen Schriftzeichen mit Verzerrungen wiedergaben. Man wusste noch nicht genau, worauf es bei der Wiedergabe der Zeichen ankam. Ausgehend von seinen irrigen Grundannahmen gelangte Kircher zu weit ausgreifenden Spekulationen, die aus späterer Sicht unhaltbar sind. Höhepunkt seiner diesbezüglichen Arbeiten war sein dreibändiges Werk Œdipus Ægyptiacus (1652–1654), das alles Wissenswerte über Altägypten enthalten sollte, einschließlich aller Übersetzungen der auf den Obelisken befindlichen Inschriften.23 Kircher wandelte die von Clemens von Alexandrien stammende Theorie der drei ägyptischen Schriftformen ab. Er meinte, die Bilderschrift wäre die älteste Stufe der Überlieferung. Es schlösse sich die davon nicht sehr verschiedene Symbolschrift an; sie galt ihm nur als eine vereinfachte Schreibweise für diejenigen, die nicht zeichnen konnten. Schließlich folgten die koptischen Buchstaben als weiteres Stadium der Vereinfachung.24 Um seine Theorien zu unterstützen, erfand Kircher auch eine eigene Hieroglyphe.
Aufl., Frankfurt a.M. 1983. Ferner: H. M. Nobis: Buch der Natur. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt 1971–2004. Bd. 1 (1971), Sp. 957–959. 21 Vgl. Florian Ebeling: Das Geheimnis des Hermes Trismegistos. Geschichte des Hermetismus. München 2005. Ebeling unterscheidet diese nordalpine Tradition von der Florentinischen Tradition der mit dem Neuplatonismus verbundenen Hermetik. 22 Vgl. hier wie im Folgenden Joscelyn Godwin: Athanasius Kircher’s Construction of the Hieroglyphic Tradition. In: Constructing Tradition. Means and Myths of Transmission in Western Esotericism. Hg. v. Andreas B. Kilcher. Leiden, Boston 2010, S. 427–447. 23 Athanasius Kircher: Œdipus Ægyptiacus. Hoc Est Universalis Hieroglyphicae Veterum Doctrinae temporum iniuria abolitae Instauratio. 3 Bde. Rom 1652–1654. 24 Kircher vermutete richtig, dass das Koptische den letzten Sprachstand des Altägyptischen bildet. Die koptische Schrift hat sich allerdings, wie man heute weiß, aus dem griechischen Alphabet
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Einführung
In dieser Zeit wurden die Hieroglyphen nicht mehr nur als die Schriftzeichen der alten Ägypter verstanden; der Begriff wurde ausgeweitet und allgemein. Als hieroglyphisch wurde alles Bilderschriftliche gefasst, wobei auch die Emblematik einbegriffen und z.T. neuplatonistisch ausgelegt wurde. Marc Fumaroli hat festgehalten, dass im 17. Jahrhundert auch die narrativ entfalteten äsopischen Fabeln, die ovidischen Mythen und die biblischen Gleichnisse zu den hieroglyphischen Verfahren gezählt wurden.25 Auch die Zahlensymbolik wurde dem Hieroglyphischen zugeschlagen. Folgenreich wurde überdies, dass Francis Bacon sogar die Gestensprache als eine „transitorische Hieroglyphik“ betrachtete.
2. Die Hieroglyphik im 18. Jahrhundert Im 18. Jahrhundert wird die Hieroglyphe zusätzlich auf alle ältesten bildhaften religiösen und profanen Überlieferungen sowie auf die Künste ausgeweitet. Der Begriff wird in folgenreicher Weise auch auf die Performanz einer angenommenen archaischen Körper- und Handlungssprache ausgedehnt und damit auch auf die Praxis religiöser Rituale und Zeremonien erweitert. Die Hieroglyphik erweist sich als Brücke, mit deren Hilfe scheinbar disjunktive Phänomene wie Bild, Gestik und Schrift, Mythologie und Logos sowie Metapher, Gleichnis, Metonymie und Allegorie als miteinander zusammenhängend oder zumindest kombinierbar angesprochen werden können. Hinzu tritt die Begriffsverwendung einiger Esoteriker, insbesondere Theosophen, die mit partiellen Übernahmen zeitgenössischer Ansätze ihre Theorien anschlussfähig zu halten suchten. In der Begriffserweiterung bekam die Hieroglyphe eine Schlüsselstellung nicht nur in der Sprach- und Schrifttheorie sowie der Kulturanthropologie, sondern auch in der Theologie und Theosophie, ferner in der Physiognomik und – besonders zukunftsträchtig – in der Kunsttheorie. Es mag erstaunen, dass sich der Begriff der Hieroglyphe und sein Umfeld im Zeitalter der Aufklärung nicht nur behaupten kann, sondern noch an Bedeutung gewinnt. Denn der oftmals dunkel bleibende Begriff scheint kaum in eine Zeit zu passen, die im Zeichen der Vernunft stand. Mit der bisherigen Skizzierung ist aber bereits deutlich geworden, dass man den Terminus Hieroglyphik nur für einzelne Fachgebiete als wissenschaftlichen Begriff bezeichnen kann; das gilt vor allem für die Archäologie und Sprachtheorie. Darüber hinaus diente er vor allem in der Theologie und der Esoterik vielfach als Grenzbegriff zum Übersinnlichen.
entwickelt. Hinzu kamen acht Zeichen demotischen Ursprungs; diese benötigte man, um Laute zu schreiben, die mit den griechischen Buchstaben nicht darstellbar waren. 25 Vgl. Marc Fumaroli: Hiéroglyphes et lettres: la sagesse mystérieuse des Anciens au XVIIe siècle (wie Anm. 1).
2. Die Hieroglyphik im 18. Jahrhundert
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Zwar lassen sich in der Begriffsverwendung sowohl spekulative als auch sachbezogene, auf die Schriftzeichen fokussierte Untersuchungen unterscheiden, doch sind diese nicht deckungsgleich mit dem schematisierten Gegensatzpaar esoterisch vs. aufklärerisch. Auch die sachorientierten Studien wichen aufgrund eines mangelnden Wissensstandes vielfach auf Spekulationen aus. Es lassen sich eher aufklärerische und eher esoterische Bemühungen ausmachen, doch ist zumeist mehr ein Ineinander als eine Trennschärfe festzustellen. Auch die Bemühungen um Historisierung gehen oftmals von einem christlich-religiösen Rahmen aus. Die Religionsvergleiche stützten sich nicht immer auf das Faktische, sondern führten auch zu einer esoterischen Suche nach überkonfessionellen, synkretistisch zusammengesetzten ‚Grundwahrheiten’ des Religiösen. In der Gegenbewegung verstehen sich die Esoteriker als Erweiterer der Aufklärung, die gerade das zu ihrem Gegenstand machen wollen, was die Grenzen der Vernunft übersteigt. Auf den neu entstehenden Themenfeldern, etwa der Anthropologie, der noch nicht disziplinären Psychologie sowie der aufgewerteten Ästhetik versuchen sich wissenschaftliche wie auch religiöse bzw. esoterische Strömungen. Diese Untersuchung möchte dem Gegeneinander und Ineinander von Aufklärung und Esoterik im 18. Jahrhundert im Einzelnen nachgehen. Das Ziel dieser Studie ist es, dem 18. Jahrhundert seinen genuinen Anteil an der Geschichte der Hieroglyphe und der eng mit ihr verbundenen „Natursprache“ zurückzugeben. Bisher wurden die Hieroglyphendiskurse des 18. Jahrhunderts vornehmlich in der Perspektivierung auf die Romantik untersucht und in deren Vorgeschichte verortet. Diese Ausrichtung ist schon deshalb zu eng, weil eine Vorgeschichte immer zielgerichtet angelegt ist, während der reale historische Kontext offener ist. Auch die Fragestellungen sind im 18. Jahrhundert andere als in der Umbruchszeit der Romantik. Im Zeitalter der Aufklärung wird die ererbte Verbindung der Hieroglyphen mit hermetischen Denktraditionen aus Renaissance und Früher Neuzeit problematisch. Andererseits bleiben alle Theorien, ob aufklärungsnah oder esoterikaffin, dem Grundverständnis der Hieroglyphe als einer rätselhaften Chiffre verpflichtet. Die verschiedenen Theorien arbeiten daran, die Dunkelheit der Hieroglyphe umzubesetzen und neuerlich herauszustellen. Insgesamt ist das Bedeutungsfeld der Hieroglyphe zwischen Aufklärung und Esoterik sehr weit gefasst, so dass diese Studie in ihrer Darstellung darauf reagieren muss. Sie will keine Kontinuitätsgeschichte eines eindeutig bestimmbaren Hieroglyphenbegriffs vorlegen; sie kann auch nur ansatzweise Einflüsse einzelner Autoren auf andere feststellen. Es soll vielmehr gezeigt werden, wie der Hieroglyphenbegriff in den verschiedenen Diskursen der Sprach- und Kulturentstehungstheorien (bei Vico, Warburton und Herder; Teil A), in der Kunsttheorie (bei Diderot; Teil B), der Physiognomik (bei Lavater; Teil C) und der Theosophie (bei Saint-Martin und Eckartshausen; Teil D) aufgenommen und zu einem Schlüsselargument in diesen Theorien ausgeformt wird. Der Kontext ist entscheidend. Die Untersuchung geht im Rahmen der voneinander gesonderten Diskurse im Wesentlichen historisch-chronologisch vor; insgesamt wird ein Zeitraum von etwa
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1740 bis um 1800 vorgestellt. Zugunsten der Systematik musste im Falle von Herder von der Chronologie abgewichen werden: Er wird vor Diderot behandelt, obgleich er seine aus der biblischen Schöpfungsgeschichte gewonnene Hieroglyphenauffassung zwanzig Jahre später als Diderot ausgearbeitet hat. Herders Interesse an frühgeschichtlichen Offenbarungstexten und Göttersymbolen rückt ihn näher an Vico und Warburton heran, mit denen er daher im selben Teil behandelt wird.
3. Zum Begriff der Esoterik in dieser Arbeit Im Hinblick auf die Renaissance, die Frühe Neuzeit und teilweise sogar das 18. Jahrhundert arbeitet die Forschung seit längerem mit dem Begriff der Hermetik. Er bezeichnet Lehren, die man seit dem 15. Jahrhundert aus den Schriften des mythischen Hermes Trismegistos, dem Corpus Hermeticum, hervorgehen sah. Man hat mit dieser Perspektive im Weiteren Verbindungen zum Platonismus der Renaissance untersucht, eine christliche Hermetik ausgemacht und – bezogen auf das Zeitalter der Aufklärung – sogar von einer „vernünftigen Hermetik“ gesprochen. Doch waren die Einflussquellen dieser Hermetik vielfältiger. Eine Leitvorstellung des frühen hermetischen Denkens war die sogenannte Philosophia perennis bzw. die Pia philosophia. Sie geht auf Ficino zurück, der im Vorwort seiner Übersetzung des Corpus Hermeticum eine „Kette der Weisen“ entwarf, über deren einzelne Glieder das älteste Wissen der Welt überliefert worden sei. An den Anfang stellte er Hermes [Trismegistos], es folgten Orpheus, dessen Schüler Aglaophemus, Pythagoras und dessen Schüler Philolaus, schließlich Plato; über letzteren führte dieses Wissen schließlich zum Neuplatonisten Ficino selbst.26 Im Zeitalter der Aufklärung identifizierte man die „Hermetik“ weitgehend mit der Alchemie, die man gleichfalls auf Hermes Trismegistos zurückführte. In diesem Sinne wird die „hermetische Philosophie“ 1765 im achten Band der Encyclopédie als der „ehrenwerteste Name der Alchemie“ erläutert und mit der Suche nach dem Stein der Weisen zusammengebracht, der hier als „Pierre philosophique“ bezeichnet wird. Kennzeichnend für die „hermetischen Philosophen“ sei ihre Obskurität und
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Vgl. Sebastiano Gentile: Ficino and Hermes. In: Marsilio Ficino e il ritorno di Ermete Trismegisto (wie Anm. 12), S. 27–34, hier S. 28. In einer späteren Variante dieser „Kette der Weisen“ stellt Ficino dann den für sich neu entdeckten Zarathustra an den Anfang der Reihe. (Vgl. Gentile, ebd., S. 30. Sowie Monika Neugebauer-Wölk: Aufklärung und Esoterik. Anmerkungen zu einem komplexen Verhältnis. In: Stefanie Stockhorst [Hg.]: Epoche und Projekt: Perspektiven der Aufklärungsforschung. Göttingen 2013 [Das achtzehnte Jahrhundert: Supplementa 17], S. 47–73, hier S. 52.) Vgl. ferner das Standardwerk zum Thema von Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998.
3. Zum Begriff der Esoterik in dieser Arbeit
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Unverständlichkeit. Sie hätten ihre Geheimnisse in „Hieroglyphen“ bzw. in „wenig einleuchtende Embleme“ eingehüllt.27 Neben der Alchemie wird auch die Physiognomik diffus mit Hermes Trismegistos in Verbindung gebracht, doch ist man sich ihres genauen Ursprungs nicht sicher. Wie Ulrich Reißer 1997 in seiner Studie zur Physiognomik der Renaissance gezeigt hat, spielen die hermetischen Schriften im antiken und neuzeitlichen Diskurs der Physiognomik nur eine eingeschränkte Rolle. Als Haupteinflussquellen nennt Reißer die pseudo-aristotelische Physiognomika, die auch pythagoreische Traditionen aufnahm, ferner die griechische Humorallehre und drittens die astrologische Charakterologie.28 In letzterer sind mit der Wahrsagetechnik der Dekanprophetie u.a. auch altägyptische Quellen mit überliefert worden.29 Der Begriff der Esoterik (als Substantiv) bildet sich vereinzelt seit dem Ende des 18. Jahrhunderts heraus und konstituiert sich dann vor allem im 19. Jahrhundert.30 Bis dahin war vor allem das aus der Antike entlehnte gegensätzlichen Adjektivpaar „esoterisch“ und „exoterisch“ geläufig. Im Gegensatz zum exoterischen, das heißt allgemein zugänglichen Wissen werden die esoterischen Lehren als Geheimwissen verstanden, in das auserwählte Adepten – z.T. nach rituellen Reinigungsprozessen und „Proben“ – im Rahmen von Mysterienkulten bzw. Initiationen eingeweiht werden. Diese sind zur Geheimhaltung verpflichtet. Man diskutiert als esoterisch vornehmlich die ägyptische Mysterienkultur und die pythagoreische Philosophie und spricht von einer Doppeldoktrin mit einer exoterischen und esoterischen Seite.31 27
Vgl. den Artikel „Hermétique“. In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Hg. v. Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert, Paris, Neuchâtel, 1751–1780. Bd. 8: 1765, S. 169–171, Zitate S. 169 u. 171. 28 Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. München 1997, Kap. II.: Abschnitte 1.1, 1.3 u. 1.4. 29 Ebd., S. 37f. 30 Bisher nahm man als frühestes Datum für das Substantiv „Esoterik“ (in der französischen Form „ésoterisme“) das Jahr 1828 an. Monika Neugebauer-Wölk hat inzwischen frühere Belege in der deutschen Begriffsgeschichte ermittelt; die wichtigsten sind: 1772 für den „Esoteriker“ (in Christoph Meiners Revision der Philosophie), 1779 für den „Esoterismus“ (in Johann Georg Hamanns Konxompax) und 1792 für die „Esoterik“ (in einer Fußnote Johann Philipp Gablers zu Johann Gottfried Eichhorns Urgeschichte). Vgl. dies.: Historische Esoterikforschung, oder: Der lange Weg der Esoterik zur Moderne. In: Dies., Renko Geffahrt u. Markus Meumann (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Wege in die Moderne. Berlin, Boston 2013 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 50), S. 37–72. Zur Konstitution des Begriffs „Esoterik“ als Fremd- und Selbstbezeichnung im 19. Jahrhundert sowie als Arbeitsbegriff der neueren Esoterikforschung vgl. den Überblicksartikel von Wouter J. Hanegraaff: Esotericism. In: Ders. (Hg.): Dictionary of Gnosis and Western Esotericism. 2 Bde. Leiden, Boston 2005. Bd. 1, S. 336–340. 31 „Les anciens philosophes avoient une double doctrine; l’une externe, publique ou exoterique, l’autre interne, secrette ou ésotérique“, heißt es beispielsweise 1792 im Artikel „Exotérique & Esotérique“ von Formey in der Encyclopédie méthodique von Naigeon. Die Methode komme ursprünglich aus Ägypten; die Griechen hätten sie von dort entlehnt. Beide hätten sich ihrer nur zugunsten des Allgemeinwohls bedient. Der Artikel dehnt die Praxis der „double doctrine“ dann im Weiteren auf die persischen Magier, die gallischen Druiden und die indischen Brahmanen
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Diese Arbeit schließt sich der neueren Forschung an und verwendet statt des Begriffes „Hermetik“ den breiter gefassten Terminus „Esoterik“. „Esoterik“ dient dabei als wissenschaftlicher Begriff, mit dessen Hilfe ein Konglomerat aus ideengeschichtlichen Strömungen und alten Wissensformen gekennzeichnet wird. Antoine Faivre und Monika Neugebauer-Wölk sprechen auch vom Esoterischen Corpus.32 Es umfasst sowohl den Hermetismus (im oben ausgeführten engen Sinne) als auch den Pythagoreismus, den Neuplatonismus und die Kabbala sowie die alten Wissenszweige Alchemie, Magie und Astrologie. Darüber hinaus werden in den einschlägigen Nachschlagewerken auch neu entstehende Richtungen wie die Signaturenlehre, die Monadologie, die Geisterlehre Swedenborgs oder der Mesmerismus zur Esoterik gerechnet. Es ergeben sich Konfigurationen des ungesicherten, hypostasierten Wissens, die im Unterschied zur radikalen Aufklärung am Übersinnlichen festhalten, dieses aber nicht aus der christlichen Lehre allein, sondern vorwiegend aus esoterischen Lehren der Vergangenheit und Gegenwart begründen. Antoine Faivre hat in den 1990er Jahren eine weitere Definition angeboten, die eine Typologie von vier Grundformen des esoterischen Denkens aufstellt: erstens das Denken in nichtkausalen Korrespondenzen zwischen den sichtbaren und unsichtbaren Teilen des Kosmos; zweitens die Vorstellung einer von Gott oder einzelnen Lebenskräften bewegten und lebendig gehaltenen Natur; drittens die religiöse Einbildungskraft als Mittel, mit dem man Zugang zu den Welten zwischen der der sinnlichen Welt und dem Göttlichen erlangt; viertens der Glaube an einen spirituellen Läuterungs- und Umwandlungsprozess, mit dessen Hilfe der innere Mensch wieder hergestellt bzw. wieder mit dem Göttlichen verbunden wird.33 Diese allgemeinen Merkmale des esoterischen Denkens gehen auch in den esoterischen Hieroglyphendiskurs ein.
aus. (L’Encyclopédie méthodique, ou par ordre de matières. Par une société de gens de lettres, de savans et d’artistes. Hg. v. Jacques André Naigeon. Bd. II. Paris 1792, S. 395–396.) 32 Vgl. Antoine Faivre: Esoterik im Überblick: Geheime Geschichte des abendländischen Denkens. Aus dem Franz. v. Peter Schmidt. Überarb. u. erw. Neuausg. Freiburg [u.a.] 2001, S. 15–23. (Frz. Original u. dem Titel: L’ésotérisme. Paris 1992.) Monika Neugebauer-Wölk: [Art.] Esoterisches Corpus. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. v. Friedrich Jaeger. 15 Bde. Bd. 3: Dynastie – Freundschaftslinien. Stuttgart, Weimar 2006, Sp. 552–554. 33 Vgl. Faivre: Esoterik im Überblick, ebd., S. 24–34. Vgl. auch die forschungsgeschichtlichen Einordnungen von Faivres Ansatz bei Hanegraaff ([Art.] „Esotericism“, wie Anm. 30, S. 340) sowie Neugebauer-Wölk (Historische Esoterikforschung, oder: Der lange Weg der Esoterik zur Moderne, wie Anm. 30, Abschnitt II; hier auch zu alternativen Ansätzen in der Esoterikforschung).
A Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Giambattista Vicos Theorie der Kulturentstehung 1725 veröffentlicht der neapolitanische Rhetorikprofessor und Rechtsgelehrte Giambattista Vico die erste Fassung seiner Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (ital.: Principi di Scienza Nuova d’intorno alla comune natura delle nazioni). Die Abhandlung ist heute unter der Kurzform Scienza Nuova geläufig und gilt als eine bahnbrechende Leistung, deren Bedeutung wesentlich erst im 19. und 20. Jahrhundert erfasst worden ist. Vico hat sein Werk immer wieder überarbeitet und erweitert: 1730 erscheint die zweite und 1744 die dritte Fassung, die heute als die maßgebliche gilt. Beide Ausgaben erhielten zudem ein programmatisches Titelkupfer und eine darauf bezogene, ausführliche Erläuterung der „Idee des Werkes“.1 (Dazu noch später.) Die letzte Edition hat der Autor nicht
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Standardausgabe der Werke Vicos sind die: Opere. Hg. v. Fausto Nicolini. 8 Bde. Bari 1911–41. Die Bde IV.1 und IV.2 (Bari 1911–1916; 4. Aufl.: 1953) enthalten die Scienza Nuova in der Ausgabe von 1744, mit den Varianten der Fassung von 1730. – Im Deutschen liegen insgesamt vier Übersetzungen von Vicos Text vor, der selbst als schwierig, in Partien sogar als dunkel und in syntaktischer Hinsicht oft als schwer enträtselbar gilt: – Grundzüge einer neuen Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Aus dem Ital. v. Wilhelm Ernst Weber. Leipzig 1822. – Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausg. v. 1744 übers. und eingel. v. Erich Auerbach. München 1924. 2. Aufl. Berlin 2000 (mit einem Nachw. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann). – Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Nationen. Ausw., Übers. u. Einl. v. Ferdinand Fellmann. Frankfurt a.M. 1981. – Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übers. v. Vittorio Hösle u. Christoph Jermann. 2 Bde. Hamburg 1990. Die frühe Übersetzung von Wilhelm Ernst Weber basiert auf der Ausgabe von 1744. Sie gilt als schwer lesbar, weil sie auch die schwierige Syntax von Vico einhalte. Weber lässt das Titelkupfer weg und verkürzt entsprechend die darauf bezogene Einleitung. Mit dem historischen Kommentar der kritischen Ausgabe des italienischen Textes von Nicolini ist die Forschung über Webers Kenntnisstand von Vico und dessen Quellen hinausgewachsen. Die Übersetzung von Erich Auerbach, die die Übertragung von Weber benutzt, ist eine Auswahlausgabe: Sie beschränkt sich auf die entscheidenden Hauptstücke der vielfach redundanten, ihre Kernthemen oft wiederholenden Scienza Nuova; die ausgelassenen Passagen werden z.T. in eckigen Klammern gerafft zusammengefasst. Hösle und Jermann werfen Auerbach im Vorwort zu ihrer eigenen Übertragung vor, dass er nur die Hälfte von Vicos Text übersetze, nicht alle Kürzungen anzeige und ohne entsprechende Angaben Abschnitte aus Vicos zweiter Ausgabe der Scienza Nuova von
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
mehr erlebt; er starb schon im Januar 1744, geistig ausgezehrt und resigniert, da die Resonanz ausgeblieben war, die er sich auf seine bahnbrechenden Entdeckungen, Sichtweisen und Interpretationen erhofft hatte.2 1.1 Vicos Wirkung und seine Sonderstellung im Hieroglyphendiskurs Vico erzeugt in seiner Autobiographie den Eindruck einer vollständigen Isolation in Neapel; doch war er nicht so unbekannt wie er vorgab. Er genoss in einigen Kreisen hohe Anerkennung: Sein Schüler Antonio Genovesi, der erste Inhaber des ersten Lehrstuhls für Ökonomie in Europa, rühmt ihn als seinen Lehrer.3 Zu seinen Lesern zählen der Jurist Gaetano Filangieri und der Volkswirtschaftler Fernando Galiani, den Vico als Kind unterrichtet hat. Vermutlich hat Galiani, als er um 1760 als Bot-
1730 einfüge. (Vorwort der Herausgeber, in: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker [wie oben angegeben], S. XXI.) Jürgen Trabant kritisiert, dass Auerbach einen „fiktiven“ Vico kreiere: Er habe Vicos Text durch die Kürzungen seinem genuinen kulturellen Kontext „völlig entfremdet“. Zudem sei seine Terminologie nicht konstant bzw. unzuverlässig. Im Einzelnen weist er Auerbach „Verdrehungen, Auslassungen und Fehldeutungen“ nach. (Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen. Vicos Sematologie, Frankfurt a.M. 1994, S. 211–210, Zitate: S. 211, 208, 216.) Wilhelm Schmidt-Biggemann moniert, dass Auerbach Vico als Begründer einer modernen säkular-historischen Geschichtsphilosophie pointiere, indem er den barock-universalwissenschaftlichen Anteil der Scienza Nuova ausblende. (Vgl. SchmidtBiggemann: Nachwort zur 2. Aufl. der Übers. v. Auerbach [s.o.], S. 455f.) Fellmanns Übersetzung wird geschätzt; er bietet allerdings nur eine sehr kleine Auswahl einzelner Abschnitte, die speziell zu unserem Thema, dem Diskurs über die Hieroglyphe, nicht erschöpfend sind. Hösle und Jermann legen mit ihrer Übersetzung den gesamten Text der Scienza Nuova vor, ebenfalls in der maßgeblichen Ausgabe von 1744. Sie übernehmen die nützlichen Lektürehilfen von Nicolini aus der kritischen italienischen Ausgabe: so z.B. die Zählung nach „Absätzen“, nach denen die Vico-Forschung heute allgemein zitiert, oder die in eckige Klammern eingefügten Kapitelüberschriften. Ihre Übersetzung wird zudem von einer fast 250-seitigen Einführung von Hösle und Anmerkungen von Jermann begleitet. Von der Forschung wird zwar kritisch angemerkt, dass die Einleitung Vico aus dem Blickwinkel der Hegelschen Geschichtsphilosophie deute. Lobend hervorgehoben wird aber, dass die Übersetzung selbst insofern den Weg zum Verständnis von Vico öffne, als der Text hier (im Unterschied zur Übersetzung von Auerbach) nicht in eine programmatische Vorgängerschaft gezwungen wird. (Vgl. Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen, wie oben angegeben, S. 210f. Einzelne kritische Korrekturen von Trabant, S. 218–221). Im Folgenden zitieren wir nach der Übersetzung von Hösle u. Jermann; in einzelnen Fällen ziehen wir die Auswahl-Übertragungen von Fellmann und Auerbach hinzu. (Den italienischen Text belegen wir nach der üblichen Nicolinischen Zählung in Absätzen.) 2 Vgl. die „Vorrede“ von Erich Auerbach sowie das „Nachwort“ von Wilhelm Schmidt-Biggemann in: Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinschaftliche Natur der Völker. Nach der Ausg. v. 1744 übers. u. eingel. v. Erich Auerbach. 2. Aufl. mit einem Nachw. v. Wilhelm Schmidt-Biggemann (wie Anm. 1), S. 9–39 resp. S. 445–477; zur mangelnden Resonanz S. 15 sowie S. 455. Allgemeinere Einführungen zu Vico bieten Peter Burke: Vico: Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft. Aus dem Englischen von Wolfgang Heuss. Berlin 2001. Sowie Peter König: Giambattista Vico. München 2005. 3 Vgl. Peter König: Giambattista Vico (wie Anm. 2), S. 134.
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schafter nach Paris kam und eng mit Diderot verkehrte, Vicos Namen in Frankreich bekannt gemacht. Insgesamt lässt sich aber tatsächlich nur eine punktuelle Ausstrahlung Vicos auf die Gelehrtenwelt Europas im 18. Jahrhundert feststellen. Zwar werden von der Forschung immer wieder Parallelen Vicos etwa zu Warburton in England, zu Montesquieu, Rousseau, Condillac, Diderot, Nicolas-Antoine Boulanger in Frankreich sowie zu Hamann und Herder in Deutschland konstatiert. Bisher konnten aber kaum konkrete, materielle Vermittlungswege ausfindig gemacht werden.4 Giuseppe Cacciatore spricht von Vicos Präsenz in der romantischen und historistischen Kultur von Hamann bis Herder, von Goethe bis Niebuhr und Humboldt; doch sei dies nur „eine flüchtige Spur ohne greifbare […] historisch-textliche Bezugnahmen“5. Marcus Edler stellt fest, dass Vico Condillac gänzlich unbekannt geblieben ist, obgleich beide an einer hermeneutischen Archäologie der Sprache arbeiteten.6 Nach Vittorio Hösle hatte sich Montesquieu schon 1728 in Venedig ins Reisetagebuch notiert, dass er die Scienza Nuova kaufen wolle, auf deren erste Ausgabe von 1725 man ihn hier aufmerksam gemacht hatte. Im weiteren Tagebuch der Italienreise finde man dann aber nichts mehr zu Vico oder seinem Werk, obgleich Montesquieu 1729 in Neapel in Vicos Nähe gewohnt hat. Dass Montesquieu Vicos Werk besessen habe, lässt sich nicht dingfest machen; anders als es eine Legende will, der auch der berühmte Vico-Forscher Benedetto Croce noch anhing, sei in der Bibliothek von Montesquieus Wohnsitz in Breda Vicos Werk nicht nachweisbar.7 Dagegen ist eine kritische Lektüre belegt: Vicos Theorie der tierhaften Urmenschen, die er sich als verwilderte und versprengte Giganten nach der Sintflut vorstellte, wurde 1768 in Italien als konträr zum kirchlichen Dogma und somit als ketzernah bekämpft.8 An dieser Theorie der ursprünglichen Wildheit der Menschen aber hängt Vicos Auffassung der Entstehung von Kultur und Sprache überhaupt sowie – damit verbunden – seine Hieroglyphentheorie, die uns hier im Besonderen interessiert.
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Zur Rezeptionsgeschichte s. Vittorio Hösle: Einleitung: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft. Genese, Themen und Wirkungsgeschichte der „Scienza nuova“. In: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übers. v. Vittorio Hösle u. Christoph Jermann (wie Anm. 1), S. [XXXI]–CCXLIII, hier S. CCLXIV–CCLXXVII. Zur Rezeption in Deutschland: Jürgen Trabant: Vico in Germanien 1750–1850. In: Frank-Rutger Hausmann (Hg.): „Italien in Germanien“. Deutsche Italien-Rezeption von 1750–1850. Tübingen 1996, S. 231–251. Giuseppe Cacciatore: Metaphysik, Poesie und Geschichte. Über die Philosophie von Giambattista Vico. Mit einem Vorw. des Herausgebers Matthias Kaufmann. Aus dem Ital. v. Marianne Hanson. Berlin 2002, S. 22. Markus Edler: Sprachursprung: zur hermeneutischen Archäologie der Sprache bei Vico, Con dillac und Rousseau. München 2001, S. 185. Vgl. Hösle: Einleitung (wie Anm. 4), S. CCLXVII f. Der Dominikaner G. F. Finetti warf ihm 1768 in seiner Apologia del genere umano accusato di essere stato una volta bestia vor, er habe den Menschen der Urzeit zum Tier gemacht und damit der Bibel widersprochen; Finetti stellt Vico dabei in Ketzernähe. Vgl. Hösle: Einleitung (wie Anm. 4), S. CCLXV.
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Während in Deutschland Hamann erstmals 1777 in einem Brief an Herder Vico nennt, erfährt Goethe erst zehn Jahre später von Vico, und zwar während seiner Italienreise in Neapel durch Gaetano Filangieri, der ihm durch sein Werk über die Gesetzgebung bekannt war: Gar bald machte er mich mit einem alten Schriftsteller bekannt, an dessen unergründlicher Tiefe sich diese neuern italienischen Gesetzfreunde höchlich erquicken und erbauen, er heißt Johann Baptista Vico, sie ziehen ihn dem Montesquieu vor. Bei einem flüchtigen Überblick des Buches, das sie mir als ein Heiligtum mitteilten, wollte mir scheinen, hier seien sibyllinische Vorahnungen des Guten und Rechten, das einst kommen soll oder sollte, gegründet auf ernste Betrachtungen des Überlieferten und des Lebens.
Goethe vergleicht in diesem Kontext Vico ausdrücklich mit Hamann: „Es ist gar schön, wenn ein Volk solch einen Ältervater besitzt; den Deutschen wird einst Hamann ein ähnlicher Kodex werden.“9 Er gibt dann die Scienza Nuova Jacobi zu lesen, der sich dazu am 24. Januar 1793 brieflich äußert. Herder würdigt Vicos Scienza Nuova 1797 in der „Zehnten Sammlung“ seiner Humanitätsbriefe. Die Rezeption von Vico setzt, wie bei Goethe und Jacobi, erst mit erheblichem zeitlichen Abstand ein. Andere Autoren, so vor allem Hamann und Herder, haben Vicos Buch nur überflogen oder gleich wieder zugeklappt;10 vor allem verstehen sie nicht, dass sie bei Vico fruchtbare Anstöße und Bestätigungen ihrer eigenen Kulturund Sprachtheorien finden könnten.11 Peter Burke meint, dass die französischen und deutschen Autoren des 18. Jahrhunderts Vicos Werk zu einer Zeit, in der es für ihre eigene Entwicklung hätte produktiv werden können, geradewegs verpasst haben.12 Heute versucht man, die trotzdem vorliegenden Gemeinsamkeiten von Vico mit anderen, späteren europäischen Denkern nicht aus verschwiegenen Einflüssen heraus zu erklären, sondern nimmt vielmehr einen gemeinsamen Problem- und Bildungshorizont an, der bestimmte Lösungen unabhängig voneinander nahegelegt haben könnte.13 Das gilt weitgehend auch für die hier zu behandelnden Theorien zu Hieroglyphik und Naturschrift. Immerhin gibt es auch einige explizite Referenzen an Vico. Court de Gébelin zitiert Vicos Scienza Nuova im ersten Band seines monumentalen Werkes Monde primitif, analysé et comparé avec le monde moderne (9 Bde., 1773–1782).14 Der deutsche Altphilologe Friedrich August Wolf sieht sich in seinen Homer-Studien, 9
Johann Wolfgang von Goethe: Italienische Reise (Neapel, 5. März 1787). In: Ders.: Werke, Kommentare und Register. Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hg. v. Erich Trunz. Bd. 11: Autobiographische Schriften III. München, 13., durchges. Aufl., 1994, Zitat: S. 192. 10 Trabant: Vico in Germanien (wie Anm. 4), S. 237. 11 Hamann schreibt Herder, dass er bei Vico nicht gefunden habe, was er suchte. Vgl. Trabant: Vico in Germanien, ebd. 12 Burke: Vico (wie Anm. 2), S. 107. 13 So König: Giambattista Vico (wie Anm. 2), S. 134. 14 Freilich bleibt es bei dem bloßen Hinweis auf Vico, im Unterschied zu vielen anderen, weit ausführlicher behandelten Autoren, die wie er etwas zur Geschichte und Theorie der Allegorie
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die er ab 1795 vorlegt, durch Vicos Auffassungen bestätigt, dass Homer nur der vereinheitlichende Autor-Name für in Wirklichkeit historisch divergente mythische Traditionszusammenhänge sei. Sein Aufsatz „Vico über den Homer“ von 1807, in dem er Vicos Ansatz aus der Scienza Nuova zusammenfassend referiert und erörtert, gilt als eines der ersten Dokumente der Vico-Rezeption im deutschsprachigen Raum, auch wenn Wolf sich von Vico abgrenzt und für sich andere Beweisverfahren in Anspruch nimmt.15 Die eigentliche, volle Vico-Rezeption beginnt nach Ansicht der Forschung erst im zweiten Viertel des 19. Jahrhunderts: in England mit Coleridge im literarischen Umfeld, in Frankreich mit Michelets französischer Übersetzung der Scienza Nuova von 1827 im historischen Kontext. Peter König zufolge ist Michelet von Victor Cousin zur Übersetzung angeregt worden; Cousin habe vermutlich die deutsche, erste fremdsprachliche Übersetzung der Scienza Nuova von Ernst Weber gekannt.16 Michelet habe Vico allerdings durch die Brille der geschichtlichen Probleme seiner eigenen Zeit gelesen.17 Seitdem wurden Vicos Ideen zunehmend in sowohl linken wie rechten geschichts- und sozialwissenschaftlichen Theorien erörtert; von Seiten der Linken wurde er als Vorläufer von Hegel, Feuerbach und Marx diskutiert, auch wenn der bekennende Katholik Vico gläubig geblieben war. Von Isaiah Berlin ist Vico geistesgeschichtlich, zusammen mit Hamann und Herder, im theoretischen Horizont der Gegenaufklärung verortet worden.18 Genauer lässt sich sagen, dass Vico die Aufklärung mit einer Theorie der kulturellen Anfänge konfrontiert, welche die vom Rationalismus verkannten Leistungen einer noch prälogischen Phantasie und Sinnlichkeit bei der Begründung und dem Ausbau der ersten Kulturen begreifbar machen will. Darüber hinaus hält Vico dem Fortschrittsoptimismus seiner Spätzeit kritisch vor Augen, dass die rationale Kultur keinesfalls vor der Gefahr gesichert sei, in das abzugleiten, was er – etwas dunkel – als „Barbarei der Reflexion“ bezeichnet. Die Ausweitung des Blickes auf das von einer einseitigen Aufklärung Verdrängte sowie der Blick auf die Gefährdung einer in sich selbst befangenen Vernunft machte die Scienza Nuova auch für Horkheimers und Adornos Theorie von der Dialektik der Aufklärung interessant.19
beigetragen hätten. Vgl. Antoine Court de Gébelin: Monde primitif. Bd. 1: Génie allégorique. Paris 1777, 3. Lieferung, S. 64. 15 Vgl. Stefanie Woidich: Vico und die Hermeneutik. Eine rezeptionsgeschichtliche Annäherung. Würzburg 2007. Zu Wolfs Vico-Aufsatz, S. 148–162. 16 Zu Webers Übersetzung, vgl. Anm. 1. 17 König: Giambattista Vico (wie Anm. 2), S. 135. 18 Vgl. Isaiah Berlin: Vico and Herder: Two Studies in the History of Ideas, London 1976. Sowie (posthum, als Sammlung zuvor verstreut erschienener Essays) Three Critics of the Enlightenment: Vico, Hamann, Herder. Princeton, N.J. [u.a.] 2000. 19 Schon vor dem Nationalsozialismus veröffentlicht Max Horkheimer in seinen Anfängen der bürgerlichen Geschichtsphilosophie ein Kapitel über „Vico und die Mythologie“, in dem er Vico „als den erste[n] wirkliche[n] Geschichtsphilosoph[en] der Neuzeit“ würdigt. (Stuttgart 1930,
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Literarisch hat Vicos Theorie einen bedeutenden Einfluss auf Finnegans Wake von James Joyce gehabt.20 1.2 Vicos Geschichtsphilosophie: „mondo civile“ und hieroglyphische Archaik Der Titel von Vicos Werk deutet bereits an, dass er es als Grundlegung einer „neuen Wissenschaft“ verstand. Diese sollte eine neue Erkenntnis der komplexen Menschheitsgeschichte bieten. Nach Vico entstehen Gesellschaft, Kultur und Geschichte erst im Rahmen des „mondo civile“, indem die Menschen sich eine bestimmte soziale, das Allgemeine regelnde Sprache und Ordnung geben.21 In diesem kulturphilosophischen Zusammenhang begründet Vico auch eine neue Theorie des Hieroglyphischen.22 Sie ist ein integraler Bestandteil seiner Kulturphilosophie und muss
Kap. IV, S. 95–117, Zitat S. 95). Horkheimer bezieht Vicos These von der Barbarei der Reflexion aktualisierend auf die eigene Gegenwart, wenn er schreibt, „daß die Möglichkeit eines Rückfalls in die Barbarei niemals völlig ausgeschlossen ist“: „[…] unter der trügerischen Oberfläche der Gegenwart enthüllen sich innerhalb der Kulturstaaten Spannungen, die sehr wohl furchtbare Rückschläge zu bedingen vermöchten.“ (Hier sowie die folgenden Zitate: S. 114). Freilich gilt es für Horkheimer, das „Fatum“-Denken der Geschichtsphilosophie zu überwinden. Dem Glauben an „einen dunklen, aber […] eigenmächtig wirkenden Sinn der Geschichte“ gelte es entgegenzuhalten, dass es gerade soviel Sinn und Vernunft auf der Welt gibt, als die Menschen in ihr verwirklichen. Horkheimer schließt dann aber mit einer überraschenden gedanklichen Wendung: „Wenn es darauf ankommt, Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte aufzufinden, deren Kenntnis solcher Verwirklichung als Mittel dienen kann, dann ist Vico, dieser frühe ‚sinndeutende’ Geschichtsphilosoph, ein bahnbrechender Geist gewesen.“ 20 Vgl. Donald Phillip Verene: Knowledge of things human and divine: Vico’s new science and Finnegans wake. New Haven, Conn. [u.a.] 2003. 21 Vgl. zur Scienza Nuova: Ferdinand Fellmann: Einleitung des Herausgebers: Vico und die Macht der Anfänge. In: Die neue Wissenschaft von der gemeinschaftlichen Natur der Nationen. Ausw., Übers. u. Einl. v. Ferdinand Fellmann (wie Anm. 1), S. 1–25. Vittorio Hösle: Einleitung: Vico und die Idee der Kulturwissenschaft (wie Anm. 4). Nicola Erny: Theorie und System der „Neuen Wissenschaft“ von Giambattista Vico: Eine Untersuchung zu Konzeption und Begründung. Würzburg 1994. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Nachwort. In: Giambattista Vico: Die neue Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker (wie Anm. 1), S. 445–477. Giuseppe Cacciatore: Metaphysik, Poesie und Geschichte (wie Anm. 5). Leonardo Amoroso: Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft. Übers. v. Franz Reinders. Würzburg 2006. 22 Vgl. Liselotte Dieckmann: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol. St. Louis 1970, S. 119–124. Mario Papini: Il geroglifico della storia: significato e funzione della dipintura nella „Scienza nuova“ di G. B. Vico. Bologna 1984. Jürgen Trabant: GEROGLIFICI: Vicos wilde Wörter des Anfangs. In: Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie. Hg. v. Aleida u. Jan Assmann. München 2003, S. 245–59. – Reinhart Krüger und Thomas Gilbhard regen an, Vicos Hieroglyphenbegriff auf das humanistische Verständnis der Emblematik rückzubeziehen, das seinerseits (wie Giehlow und Volkmann herausgearbeitet haben) von dem in der Renaissance wiederentdeckten Hieroglyphenbuch des Horapollon angeregt worden ist. Gilbhard erwägt darüber hinaus auch einen Zusammenhang mit Plotins platonistischem Hieroglyphenverständnis. (Vgl. Reinhart Krüger: Geroglifici und scrittura – Priesterbetrug und Freiheit. Die Mediengeschichte als Menschheitsgeschichte oder Giambattista Vicos Beitrag zu einer politischen Archäologie der Kommunikation. In: Beiträge zur Begriffsgeschichte der italie-
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daher in ihrem Zusammenhang vorgestellt werden. Dieser umfasst zugleich kulturanthropologische, kulturhermeneutische, sprachtheoretische, theologische, rechtsphilosophische und geschichtsphilosophische Dimensionen. Vico versucht zunächst, den Gegensatz des „mondo civile“ zum vorzivilisatorischen Leben vergleichsweise wilder Einzelner zu bestimmen. Aus den „Dingen“, in welchen „die Menschen zu allen Zeiten übereingestimmt haben und immer noch übereinstimmen“, will er für seine „Neue Wissenschaft“ die „ewigen Prinzipien“ kulturanthropologischer Konstanten gewinnen, „aus denen alle Nationen entstanden sind und durch die sie sich weiter erhalten.“ Es sind nach seiner Erkenntnis drei fundamentale Institutionen: Wir können beobachten, daß alle Nationen, die barbarischen wie die zivilisierten, die durch gewaltige örtliche und zeitliche Entfernung voneinander getrennten sowie die auf verschiedene Art gegründeten, die folgenden drei menschlichen Sitten beachten: sie alle haben eine Religion, sie alle schließen die Ehen in feierlicher Form, und sie alle begraben ihre Toten.23
Für Vico bilden daher diese drei institutionalisierten Sitten: Religion, Ehe und Begräbnis die Grenze zwischen der gesitteten Form des Menschen und der ursprünglichen Wildheit, Sittenlosigkeit und Rechtlosigkeit von Einzelnen. Diese Vorphase der Menschheitsgeschichte sieht er durch Frauenraub, ungezügelte Sexualität, Bindungslosigkeit zwischen Eltern und Kindern sowie geistige Blödigkeit und Sprachlosigkeit charakterisiert. Religion, Ehe und Begräbnis bilden für ihn die „Grenzen der menschlichen Vernunft“; wer diese Grenzen überschreite, laufe Gefahr, sich „außerhalb der gesamten Menschheit“ zu stellen.24 Zugleich bezeichnet er die drei zivilisationsbegründenden Einrichtungen „als die drei ersten Prinzipien unserer Wissenschaft“.25 Die Grundinstitutionen dienten dazu, das menschliche Geschlecht zu erhalten. Die menschliche Gerechtigkeit hingegen entwickelte sich erst sehr viel später. Die Wissenschaften hätten dort einzusetzen, wo ihr Gegenstand historisch beginne, also zu dem Zeitpunkt, „als die ersten Menschen“ ihren Verfallszustand roher, tierischer Blödigkeit überschritten und „anfingen, menschlich zu denken“. Bisher habe man in den Wissenschaften viel zu spät, nämlich zu einer Zeit eingesetzt, „als nischen Aufklärung im europäischen Kontext. Hg. v. Helmut C. Jacobs u. Gisela Schlüter. Frankfurt a.M. [u.a.] 2000, S. 351–371. Thomas Gilbhard: Vicos Denkbild. Studien zur ‚Dipintura’ der Scienza Nuova und der Lehre vom Ingenium. Berlin 2012 (Actus et Imago 3); zur Hieroglyphe Kap. II.1: „Die vichianische Theorie einer ‚Logica poetica’ und ihre Corollarien“, S. 83–101, hier bes. S 99f.) Vicos Hieroglyphenverständnis ist allerdings, wie noch zu zeigen ist, mit großen kulturtheoretischen Weiterungen verbunden, bei denen das Emblematische und die Allegorie nur Teilaspekte der hieroglyphischen poesis des frühen Menschen darstellen. Das Emblematische wird in der Scienza Nuova (zusammen mit den Devisen) dem zweiten, sogenannten heroischen Zeitalter zugeordnet. 23 Die neue Wissenschaft, übers. v. Fellmann (wie Anm. 1), S. 30f. 24 Ebd., S. 46. 25 Ebd., S. 31.
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die Philosophen begannen, über die menschlichen Ideen zu reflektieren […].“26 Daher habe sich die analytisch-rationale Kultur der menschlichen Spätzeit in ihren Konstruktionen der menschlichen Vorzeit immer nur selbst gesehen und gespiegelt. Die ersten Menschen waren aber nicht nach dem Zuschnitt antiker Philosophen beschaffen, sondern Wilde von übergroßer Kraft und Sinnlichkeit, die aus der Stummheit heraus erst zu einer Sprache, einer Weltsicht, einem Gemeinschaft stiftenden Gemeinsinn sowie einer gemeinschaftlichen Ordnung finden mussten. Vico bezeichnet sie nach den mythischen Urgeschichten als „Giganten“: Von solchen ersten Menschen – also von blöden, stumpfsinnigen und schrecklichen Bestien – hätten alle Philosophen und Philologen ausgehen müssen, um die Weisheit der alten Heiden zu untersuchen, das heißt von den Giganten […] in ihrer eigentlichen Bedeutung genommen […].27
Nicht der vernünftige Mensch habe die menschliche Kultur begründet, sondern der wilde, noch unvernünftige Mensch habe alles aus seinen noch überstarken sinnlichen Empfindungen, seiner ungedämpften Leidenschaft und mächtigen Phantasie aus sich heraus setzen und erfinden müssen, einschließlich des Denkens und der Sprache. Vico erklärt: „homo non intelligendo fit omnia“, das heißt der Mensch ist durch sein Nicht-Begreifen alles geworden.28 Die von Vico diskutierte Urzeit ist historisch jene Dunkelzeit, zu der sich im Wesentlichen nur noch ein Zugang über die überlieferten Mythen finden ließe. Weil im Mythos nicht nur äußerliche Spuren der archaischen Völker aufbewahrt sind, sondern auch deren Geistesverfassung und Ausdrucksformen, hofft Vico, mithilfe der Philologie dieser Mythen zu den ersten, noch archaischen Gründern der menschlichen Gemeinwesen zurückgelangen zu können. Er ist sich aber im Klaren, dass „mehr als tausend Jahre vergehen mußten, bis die Schriftsteller hervorgehen konnten“, welche die Mythen aufzeichneten, mit denen „sich die philologische Kritik bisher beschäftigt hat.“29 Die Philosophen traten ihrerseits „erst zweitausend Jahre, nachdem die Nationen gegründet wurden“, auf. Sie brachten dann als Leitbegriff der Humanität die „innere Gerechtigkeit“ hervor, eine Vorstellung, die die ersten Menschen, Vico zufolge, so noch nicht kannten.30 Vicos eigene kritische Wissenschaft will die historischen Beweise der Philologie und die rationalen Beweise der Philosophie zusammenbringen und hofft, feststellen zu können, „wann und wo jene [ersten] menschlichen Gedanken entstanden“, um sie dann mit ihrer eigenen sozusagen noch ‚wilden’ metaphysischen Chronologie und Geographie zu bestätigen.31 Vico versucht also eine Geschichtsschreibung nach
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Ebd., S. 41. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 170. Ebd., S. 192. Die neue Wissenschaft, übers. v. Fellmann (wie Anm. 1), S. 41. Ebd., S. 43. Ebd., S. 41.
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Zeiten und Räumen, in welche auch die mythisch bezeugten [Fabel-]Wesen (wie die Giganten), die Entstehung der mythischen Götter und Heroen sowie die sagenhaften Gesetzgeber und Gründerväter der Kulturen (wie Zarathustra und Hermes Trismegistos)32 kulturanthropologische bzw. (damit verbunden) mentalitätsgeschichtliche Bedeutung haben. Konkret sollen so die „Kulturgeschichten der ersten Völker“ rekonstruiert werden. Diese Kulturgeschichten dürfen nicht in rationalen Begriffen beschrieben, sondern müssen in den fantastischen Bildern, Vorstellungen und Ausdrucksweisen der ersten Menschen aufgezeichnet werden, die aufgrund ihrer die Natur beseelenden Phantasie „überall von Natur aus Dichter waren.“33 Lange also bevor die ersten Dichter auftraten, die die Mythen verschriftlichten, hätte es demnach eine kollektive Phantasie gegeben, mit deren Hilfe sich die ersten Menschen ihre Kultur, das heißt ihre Metaphysik, ihr Recht, ihre Geographie, Naturlehre und Geschichte schufen, sie im Gedächtnis bewahrten und weitergaben. Vico spricht von einer „fantastischen Topik“, die in „fantastischen Universalien“ bzw. in „poetischen Charakteren“ bestand. (Dazu noch später.) Vico untersucht in diesem Zusammenhang detaillierter die Entstehung von Sprache und Denken. Es deutet sich aber schon an, dass er beide nicht abgelöst von den ersten Institutionen der Menschen betrachtet, sondern sie in enger Verzahnung mit der Entwicklung besonders der Religion und des Rechts beschreiben will. Vico zufolge waren die frühen Kulturformen noch von der ursprünglichen Wildheit, Gewalt und Roheit sowie von eruptiver Leidenschaft und Imagination bei mangelnder Ausdrucksfähigkeit und Stumpfheit des Geistes geprägt. Ihn interessiert im Besonderen das Ingenium, das heißt Scharfsinn und Findigkeit der ersten Menschen, ihre Sprachnot und ihr unzureichendes Denken etwa durch stumme Hinweise auf Gegenstände der Natur, durch Gestik und pantomimische Handlungssprache, durch Dingworte, Wahrzeichen und Bilder sowie im weiteren Prozess der Spracherweiterung: durch Personifizierung, Metaphorisierung und gleichnishafte Rede zu kompensieren. Entscheidend ist, dass Vico Sprache, Denken und Handeln aus einer prälogischen Formation des Geistes hervorgehen sieht, die er als poetisch-hieroglyphisch charakterisiert (dazu noch später). Sie ist per definitionem grundlegend von der Reflexionskultur der historischen Spätzeit zu unterscheiden, deren rational-abstraktes Denken auch Vicos eigene Kulturepoche bestimmt. Im Rahmen der prälogischen Vorstel-
32 Zarathustra
und das Königreich der Chaldäer bilden den ersten Eintrag menschlicher Kultur in Vicos Chronologie; er datiert sie 100 Jahre später als die Sintflut, die er ihrerseits (als allererstes Ereignis) auf das Weltjahr 1656 datiert. Er unterscheidet im Weiteren einen älteren „Mercurius Trismegistus“, den er zeitgleich mit Abraham datiert und dem „Zeitalter der Götter“ in Ägypten zuordnet, und einen jüngeren „Mercurius Trismegistus“, den er ca. 60 Jahre nach Moses datiert und dem „Zeitalter der Heroen“ in Ägypten zuordnet. 33 Die neue Wissenschaft, übers. v. Fellmann (wie Anm. 1), S. 44.
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lungs- und Handlungswelten der Archaik entstehen Weisheiten, Götterbilder, Sitten- und Rechtsauffassungen, die auf einer anderen Art von ‚Wahrheit’ beruhen, als sie die philosophisch-rationale Kultur kennt. Es sind ‚Wahrheiten’ eigenen Rechts. Wenn Vico diese Formation des Geistes als poetisch-hieroglyphisch bezeichnet, so umfasst sie in seiner Theorie sehr viel mehr als eine bestimmte Form der Bilderschrift vor der Entwicklung der phonetischen Schrift und ihrer Buchstaben. Er kennzeichnet mit diesem Begriff die gesamte vorreflexive Art und Weise, in der sich die frühen Menschen ihre Vorstellungen von einer sie beherrschenden Götterwelt bzw. theokratischen Gesellschaftsordnung schaffen. Dazu gehören auch Bilder, Symbole, Dingworte. (Dazu noch später.) Vico verbindet diese poetisch-hieroglyphische Mentalität mit der Dichtkunst. Auch die Dichtung schafft noch in der Spätzeit mittels der Einbildungskraft ‚Wahrheiten’ eigenen Rechts, die neben den Ansprüchen der Vernunft bestehen, auch wenn sie Aspekte des Unwahrscheinlichen oder gar Unmöglichen haben. Mit einer ähnlichen Haltung wie der Dichtung gegenüber müsse man auch die „Wahrheiten“ der frühen Kulturen als Kulturleistungen betrachten, die auf der Grundlage mangelnden analytischen Denkens sowie aus Sprachnot heraus mit Hilfe einer dieser Geistesverfassung entsprechenden poesis entstanden. Mithilfe ihrer fantastischen poesis schufen die archaischen Menschen sich eine Welt, deren mythische Beschaffenheit Vico offenlegen will. Wenn diese von Göttern und Heroen bevölkerten Welten der ersten Menschen im Mythos noch bezeugt sind, so nicht nur deshalb, weil der Mythos eine späte Nachdichtung ist. Das schöpferische Potential der ersten Menschen, die sich über eine gleichsam poetische Phantasie Sprache und Welt erschufen, ist entsprechend auch in den Mythos eingegangen, so dass die Mythen als Reservate und Verlängerungen der hieroglyphischen Potentiale der Vorzeit anzusehen sind. 1.3 Die hieroglyphische Geistesverfassung der Archaik als „Kindheit der Menschheit“ Vico gewinnt seine Theorie in einer intensiven, profund ausgeweiteten Auseinandersetzung mit den antiken Philosophen und Historikern sowie mit zeitgenössischen Wissenschaftlern und Philologen. Obgleich die Archäologie zu seiner Zeit noch in den Anfängen steckte, verspricht er sich von ihr große Erkenntnisse: So bieten ihm „die großen Trümmer des Altertums, die bisher für die Wissenschaft nutzlos waren, da sie wüst, verstümmelt und verstreut umherlagen, nunmehr große Erhellung, da sie gereinigt, zusammengefügt und an ihren Platz gestellt werden“.34 Vor allem aber hofft er, mit Hilfe von Etymologie und philologischer Kritik die in den Wörtern aufgehobenen kulturhistorischen Erfahrungen der frühen Menschen aufzuspüren
34
Ebd., S. 44f.
1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Vicos Theorie der Kulturentstehung
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und hermeneutisch aufzuschließen.35 Daneben interessiert er sich für die Berichte von neu entdeckten Völkern: So nimmt er die anthropologischen, ethnologischen und sprachgeschichtlichen Beobachtungen der zeitgenössischen Reiseliteratur über außereuropäische Zivilisationen und über die noch bestehenden Naturvölker zur Kenntnis. Er vermutet, dass in der Sprache und Denkart der Naturvölker noch Spuren der archaischen Mentalität enthalten sind. Auch nimmt Vico an, dass sich in der eigenen Zeit noch etwas von der ursprünglichen (im Sinne Vicos) hieroglyphischen Kultur in den Sprechweisen des einfachen Volkes erhalten hat. Zwar hat die ganze Gesellschaft eine Entwicklung zur analytisch-rationalen Kultur durchlaufen, die nicht rückgängig gemacht werden kann. Doch sind nicht alle gegenwärtigen Menschen gleicherweise auf der Höhe der rationalistischen Kultur angelangt. Vico charakterisiert diese weitgehend als Kultur einer männlichen, akademisch gebildeten Elite. Dagegen hätten sich besonders bei den Kindern, den Frauen, dem breiten Volk sowie den Behinderten wie den Blinden, Stotterern oder Schwachsinnigen Tendenzen einer noch vorreflexiven, „fantastischen“ Logik und einer umständlichen, körperlich-sinnlichen Sprache bewahrt. Diese Merkmale vermutet Vico – in weit gewaltigerem Ausmaß – bei den ersten Menschen. Damit bringt er faktisch Phylogenese und Ontogenese zur Deckung, ohne deren Verhältnis genauer zu bezeichnen: Die frühgeschichtlichen hieroglyphischen Kulturen erscheinen ihm in diachroner Perspektive als die „Kindheit“ der Menschheit. Vico ist davon überzeugt, dass seine auf die klassischen Mythen bezogenen „philologischen Beweise“ sowohl zu den „Etymologien der Sprachen der Eingeborenen“ sowie den Sprichwörtern und Maximen volkstümlicher Weisheiten passen, wie sie „uns die Volkstraditionen durch die lange Reihe der Jahrhunderte bewahrt haben“. 36 Es überrascht auch nicht, dass Vico als weiteren Erben und Statthalter des hieroglyphischen Denkens in der Moderne die Dichtung ins Spiel bringt. Die Poesie hat für Vico noch in der Gegenwart diese Potenz, weil sie eine besondere Form von Wahrheit besitze. Weil sie es vermag, mittels der bildlichen Einbildungskraft eine besondere Wahrheit zu stiften, habe sie bereits in den ersten Kulturen eine fundamentale Rolle gespielt. In diesem Sinne zeugen die Mythen als Dichtungen davon, wie sich die ersten Kulturen mittels „fantastischer Universalien“ oder auch „poetischer Charaktere“ zuerst ein theokratisches, dann ein aristokratisches Herrschaftsgebäude schufen. Für Vico ist eine komparatistische Perspektive grundlegend, die aus dem Vergleich der Völker kulturanthropologische Grundlagen und historische Gesetzmäßigkeiten der menschlichen Zivilisation als ganzer ermitteln will. Er nimmt an, dass 35
Vgl. Werner Nell: Reflexionen und Konstruktionen des Fremden in der europäischen Literatur. Literarische und sozialwissenschaftliche Studien zur interkulturellen Hermeneutik, St. Augustin 2001, S. 48. 36 Die neue Wissenschaft, übers. v. Fellmann (wie Anm. 1), S. 45.
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es „in der Natur der menschlichen Dinge eine allen Nationen gemeinsame geistige Sprache gibt, die in gleicher Weise die Substanz der Dinge begreift, die die Menschen im gesellschaftlichen Leben bewegen“. Nur drücken die verschiedenen Nationen „diese Dinge gemäß ihren verschiedenen Aspekten in soviel verschiedenen Modifikationen“ aus. 37 Diesen „geistigen Sprachschatz“ gilt es zu inventarisieren.38 Vico unterscheidet zwischen dem Allgemein-Universellen und den jeweils historisch-lokalen Besonderheiten. Im Einzelnen gelte es, die regionalen Modifikationen, wie sie etwa in den Göttervorstellungen, heroischen Mythen, Orakeln, dunklen Sprechformen der Weissagung und Prophetie oder blumigen Sprichwörtern der Völker zur Geltung kommen, vergleichend so einander zuzuordnen, dass ein „geistiges Wörterbuch“ der menschlichen Kultur entsteht.39 Eine Probe dieses „geistigen Wörterbuchs“ hat Vico nach eigenen Worten bereits in der ersten Auflage seiner „Neuen Wissenschaft“ gegeben. Auf die Befunde dieses „Wörterbuches“ stützt er sich auch in der dritten Auflage.40 Im Weiteren begründet Vico seine Ansicht, dass die Sprache und Ordnung der frühen Menschen aus den „natürlichen“, das heißt physisch-konkreten Lebenszusammenhängen einer weitgehend agrarischen Kultur erwächst. Die frühen Menschen prägen ihre Sprache erst aus den „natürlichen“ Natur- und Körperbezügen und sie entwickeln ihren Sprachschatz durch allmähliche Metaphorisierung der Naturzeichen. Diese körperbezogenen metaphorischen Anfänge des menschlichen Sprachschaffens seien immer noch tief in den Sprachen verankert. So sage man „Haupt für Gipfel oder Anfang“, „Mund für jede Öffnung“, „Zahn vom Pflug, Rechen, der Säge, dem Kamm“, „Arm vom Fluß“; „Busen vom Meer“, „Ader vom Wasser, Fels, Bergwerk“. Und in den Redensarten „pfeift der Wind“, „murmelt die Welle“, „weinen die Eschen“.41 Die ersten Menschen stützen ihre soziale Ordnung auf die Autorität eines von ihnen selbst durch Personifizierung der Natur erzeugten Göttlichen, dessen Willen sie ebenfalls aus natursprachlichen Zeichen wie Blitz und Donner, dem Vogelflug oder der Eingeweideschau lesen und deuten zu können glauben. Sie entwerfen die Götter und deren Sprache aber auch nach ihrem eigenen, halb verwilderten Bild, wenn sie meinen, dass etwa Jupiter ihnen vermittels krachender Donner und tödlicher Blitze etwas zu sagen habe. Jupiters Sprache spiegelt in diesem Sinne ihre eigene kraftvoll-ungestüme, agonale Art, miteinander umzugehen.42
37
Ebd., S. 45, Anm. 26. Ebd., S. 44f. 39 Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 98. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 191f. 42 Vgl. Die neue Wissenschaft, übers. v. Fellmann (wie Anm. 1), S. 50. 38
1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Vicos Theorie der Kulturentstehung
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1.4 Das programmatische Frontispiz Vico hat seinem Werk, wie schon erwähnt, ab der zweiten Ausgabe ein Frontispiz mit ausführlicher Erläuterung vorangestellt. Vico hatte es selbst entworfen, dann vom Maler Domenico Antonio Vaccaro zeichnen und vom Stecher Antonio Baldi als Kupferstich ausführen lassen.43 Mit Hilfe des programmatischen Bildes will er seine „neue Wissenschaft“ in nuce für den Leser sinnlich anschaulich machen. Er bezeichnet die einzelnen Symbole und Embleme seines wesentlich allegorischen Titelkupfers als „Hieroglyphen“ und stellt sie damit in einen weiteren Zusammenhang. Die Hieroglyphe wird hier in zweifacher Bedeutung aufgerufen: als überlieferte oder rekonstruierbare Abbildung von Sachzeugen sowie als deren Zusammenhang, um mit ihm einen Schlüssel zur Mentalität und zum mondo civile der frühen Völker zu gewinnen. Während die zweite Bedeutung seiner bisherigen Auffassung von Hieroglyphik entspricht, gewinnt er mit den Symbolen und Emblemen eine bildhafte Darstellungsform für die Entwicklungsgeschichte der menschlichen Kultur von der frühen Errichtung der Altäre bis zur Anerkennung des allgemeinen Völkerrechts. Vico verbindet beide theoretischen Ansätze, indem er seine Theorie der Kulturentstehung auf rekonstruierte bzw. in die Vergangenheit projizierte Belege zu stützen versucht. Sachliche „Hieroglyphen“ sind für Vico beispielsweise die Urne, der Pflug, das Alphabet oder die Fasces; sie gehören der materiellen Kultur an oder sind der religiösen, juristischen oder politisch-sozialen Symbolbildung entnommen. Sie zeigen auf sinnfällige Weise, dass Dinge, Symbole und Embleme eine wesentliche Rolle in den vergangenen politisch-sozialen Ordnungen der Völker gespielt haben. Die „Hieroglyphen“ dienen Vico in kulturanthropologischer Verallgemeinerung nun als elementare Zeichen, die den von ihm erarbeiteten gesellschaftlichen Nexus von Religion, Gesellschaft, Kultur, Recht und Politik erkennbar machen sollen. Im Frontispiz treten sie als Bildmotive auf, doch kann ihre Entdeckung und Indienstnahme nur die Aufgabe der Scienza Nuova selbst sein, weil erst dort der Ort und die Gelegenheit einer analytischen, vor allem etymologisch-philologischen Herleitung gegeben ist. Im Frontispiz (vgl. Abb. 1) wird die vorgeschichtliche Zeit durch eine dichte, dunkle Wolkenwand im Bildhintergrund vergegenwärtigt: aus ihr sind keinerlei Sachzeugen, Symbole oder gar Nachrichten auf die Nachwelt überkommen. Erst vor der Wolkenwand staffelt sich vom Bildmittelgrund bis zum Vordergrund hin die historische Zeit. Sie wird in Sachzeugnissen, Symbolen und Emblemen verdichtet, die
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Ausführlich zum Frontispiz, das Vico selbst als „Dipintura“ bezeichnet: Thomas Gilbhard: Vicos Denkbild. Studien zur ‚Dipintura’ der Scienza Nuova und der Lehre von Ingenium (wie Anm. 22); zu Maler und Stecher, S. 11. Amoroso gibt, mit Bezug auf Papini, den Hinweis, dass Vico das Bild selbst entworfen hat (vgl. ders.: Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft, wie Anm. 21, S. 22).
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Abb. 1: Giambattista Vico: Scienza Nuova, Frontispiz der Ausgaben von 1730 und 1744.
1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Vicos Theorie der Kulturentstehung
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Vico übergreifend als „Hieroglyphen“ bezeichnet. Die Symbole werden von einem alles überstrahlenden göttlichen Lichtblitz erhellt. Eine Allegorie der Metaphysik vermittelt zwischen dem Göttlichen (symbolisiert in einem geometrischen Dreieck mit dem göttlichen Auge, aus dem der Lichtstrahl kommt) und dem Menschlichen, in das das Licht hineinstrahlt. Die als Frauengestalt verkörperte Metaphysik fängt den göttlichen Lichtstrahl auf und leitet ihn – in einer Zickzackbewegung – auf die Statue des Homer im Vordergrund. Mit Homer würdigt das Frontispiz den ersten und wichtigsten Autor der heidnischen Überlieferung, der die archaische Welt dichterisch bezeugt und an die historische Welt vermittelt. Als erstes erscheint im Zentrum des Bildes ein Altar, das grundlegende Zeugnis einer sich auf der Gottesfurcht gründenden menschlichen Kultur. Auf dem Altar lehnt ein Krummstab, mit dem die Auguren die (göttlichen) Vorzeichen zu empfangen und die Auspizien zu beobachten pflegten. Vico will damit nach eigenen Worten die Institution der „Weissagung andeuten, mit der bei allen Heiden die ersten göttlichen Dinge ihren Anfang nahmen.“44 Die ersten Kulturen, so Vico, kennen bereits die Institutionen der Ehe und der Bestattung; sie werden im Frontispiz durch entsprechende Symbole wie die Fackel auf dem Altar (als Zeichen der feierlich geschlossenen Ehe) und der Urne neben ihm für die Bestattung angezeigt. Der Lichtblitz erhellt auch den näheren Bildvordergrund: es erscheint u.a. der Pflug als wichtigstes Zeugnis einer lange Zeit weitgehend bäuerlichen Kultur. Unweit vom Pflug kommt mit der steinernen Tafel des Alphabets das Fundament der Schriftkultur in den Blick. Die Nähe der beiden soll Vico zufolge anzeigen, dass Sprache und Buchstaben sich zuerst auf heimischem Boden herausbildeten. Doch um anzudeuten, dass Sprache und Schrift erst „lange Zeit“ nach der Gründung der ersten Kulturen entstanden, liegt die Tafel mit dem Alphabet „auf dem Bruchstück einer Säule korinthischen Stils, der unter den Stilen der Architektur recht modern ist.“45 Vico erläutert weiter, dass die Tafel mit dem Alphabet „in der Mitte zwischen den göttlichen und den menschlichen Hieroglyphen“ liege. Mit den Buchstaben beginne das Zeitalter der Philosophen, und es verschwänden die Religionen bzw. die auf sie gestützten, mythisch geprägten Kulturformen.46 Noch näher zum Vordergrund und damit zur Gegenwart her erscheinen am unteren Bildrand die Embleme der politisch-rechtlichen Kultur. Sie liegen auf dem „hellsten Teil“ des Gemäldes, weil die Erkenntnis über sie stärker gesichert sei.47 Vico liest und erläutert die Reihe von rechts nach links. Zunächst bespricht er das Rutenbündel (rechts außen), dann das Schwert und den Beutel, die an das Rutenbündel gelehnt sind, die Waage und schließlich „den Heroldsstab Merkurs“. Dieser 44
Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 9f. Ebd., S. 20. 46 Ausgenommen sei die christliche Religion, die von den erhabensten Philosophien, insbesondere von der platonischen, bestätigt würde. Ebd., S. 38. 47 Ebd., S. 21. 45
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
leitet das Völkerrecht ein, insofern die Kriege jetzt eigens durch Herolde erklärt und durch Friedensschlüsse beendet werden müssen. Als letztes Symbol beschließt die Reihe links außen noch ein geflügelter Helm. Er bleibt zwar unkommentiert, doch ist er wie der Heroldsstab ein Attribut von Merkur. Der geflügelte Helm des Merkurs befindet sich links unten, unter der Statue von Homer und in der Diagonale zur Metaphysik, deren geflügelte Schläfen er symbolisch zu spiegeln scheint. Am Ende seiner Einleitung nimmt Vico die Erleuchtung und Autorität des göttlichen Lichtblitzes konkret für sich in Anspruch: Der Lichtstrahl verkörpert „die Grundsätze, Definitionen und Postulate“ seiner Wissenschaft.48 1.5 Die drei Zeitalter und ihre Sprachen Vico geht es – wie auch den meisten anderen, hier noch vorzustellenden Denkern – keineswegs darum, die rätselhaften Schriftzeichen der altägyptischen Bilderschrift zu entziffern. Sein Interesse erscheint fast gegenläufig, wenn er den vor allem durch das hermetische Schrifttum veranlassten „Glauben an die ungeheure Tiefe der alten ägyptischen Weisheit“, die in den Hieroglyphen dieses Volkes aufbewahrt sei, dezidiert zurückweist.49 Insbesondere richtet er sich gegen die Aufwertung des Buches Poimander als uralte ägyptische Weisheitslehre, die vom (mythischen) Hermes Trismegistos verfasst worden sein soll. Er schließt sich der quellenkritischen Datierung von Casaubon an und wertet den Poimander als Betrug: Es sei eine schlechte „Kompilation“, die keine Lehre enthalte, die älter als die der Platoniker sei.50 Damit richtet er sich gegen die Grundlage der Renaissance-Esoterik. Vico baut seine zentrale These weiter aus, indem er die seiner Auffassung nach falsche Meinung der Ägypter „bezüglich ihres so hohen Alters“ als nationale Überschätzung bewertet,51 die letztlich alle Völker charakterisiere. Ihm zufolge beginnen nicht nur die Ägypter, sondern vielmehr alle Völker ihre Geschichte mit einem bilderschriftlichen Stadium und einem diesem entsprechenden Denken. Namentlich nennt Vico – neben den Ägyptern – die Chaldäer, Griechen, Römer, Germanen, Skythen, Mexikaner und Chinesen. Seit den ersten Vergesellschaftungsformen in der Frühgeschichte lassen sich, Vico zufolge, abgrenzbare historische Stufen unterscheiden, die von allen Völkern durchlaufen werden, dies aber nicht gleichzeitig, sondern zeitlich versetzt. Angesichts von Vicos scharfer Ablehnung des hermetischen Schrifttums scheint die These Paul Collilis fragwürdig, Vicos Abstieg in die dunkle Geistesverfassung der ersten Menschen sei ein Abstieg in die fremde Logik des hermetischen Denkens.52 Vico stellt vielmehr mit dem Konstrukt der „fantastischen Universalien“ ein
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Ebd., S. 38. Vgl. ebd., S. 44f., Zitat S. 45. 50 Ebd., S. 45. 51 Ebd. 52 Vgl. Paul Colilli: Vico and the Archives of Hermetic Reason. Welland (Ont.) 2004, bes. Kap. 3. 49
1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Vicos Theorie der Kulturentstehung
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Hebewerkzeug bereit, mit dessen Hilfe er nicht nur die Mentalität der Archaik, sondern auch das in seiner Zeit noch verbreitete naturmagische und esoterische Denken als Kontinuität des prälogischen Denkens erfasst. Das Hieroglyphische wird bei Vico zum Baustein einer neuartigen Kulturentstehungstheorie, in der der „mondo civile“ keinesfalls mit einer Kultur der reflexiven Allgemeinbegriffe begann, sondern der Gemeinsinn in der Frühzeit zunächst durch die Macht einer wesentlich vorrational bestimmten Bildlichkeit hervorgebracht wurde. Die Aufklärung wird so bei Vico auf die grundlegende Kulturleistung aus ganz entgegengesetzten Quellen verwiesen, ohne die sich die Sprache und die Leistungen der menschlichen Vernunft nicht hätten entwickeln können. Die Folgen dieses Ansatzes gestaltet Vicos Geschichtsphilosophie weiter aus. Mit dem bibelkonformen Theorem der adamitischen Wesenssprache hält Vico zwar implizit an der adamitischen Urweisheit fest;53 doch ist diese nicht sein Thema, da ihn im Weiteren nur die Sprachentwicklung der heidnischen Völker interessiert, die ihre Sprache selbst erschaffen mussten. Als in der Renaissance die Zarathustra zugeschriebenen Chaldäischen Orakel und das dem Hermes Trismegistos zugeschriebene Corpus Hermeticum wiederentdeckt wurden, betrachtete man beide als Zeugnisse jener uralten Weltweisheit, nach der die Anhänger der Philosophia perennis suchten.54 Vico hingegen verwirft die Meinung, dass es seit den Chaldäern und Ägyptern eine geheime, aber ununterbrochene Überlieferung einer Urweisheit gegeben habe. Er wendet sich besonders gegen die Ansicht, die Ägypter hätten diese Urweisheit in ihren Hieroglyphen eingehüllt und verrätselt, um sie vor der Profanisierung zu schützen.55 Vielmehr beginnen nach Vico alle heidnischen Völker im Übergang von der Wildheit zur Zivilisation mit einer hieroglyphischen Sprache, mit deren Hilfe Weisheit und Wissen erst noch zu schaffen sind. Für Vico gibt es mit der Sintflut eine Zäsur in der Menschheitsgeschichte. Trotz ihrer Einordnung im Alten Testament geht der Katholik Vico davon aus, dass es
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Zur adamitischen Wesenssprache, vgl. weiter unten, Anm. 70. Vgl. zur Tradition der Philosophia perennis Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998. 55 Wilhelm Schmidt-Biggemann kommt zu dem Schluss, dass Vico zwar im Rahmen der durch die Renaissance festgelegten Philosophia perennis und mit den Termini der Renaissance-Topik argumentiere. Insbesondere halte er am heilsgeschichtlichen Rahmen der christlichen Philosophia perennis fest. Im Bereich der paganen Tradition aber disponiere Vico um: „Die Mythen gelten nicht mehr als Allegorien geheimen Wissens der Natur. Damit ist die ganze alchemistische, moralische und hieroglyphische Interpretationstradition der Mythen obsolet geworden. Mythen werden semantische Bereiche sui generis; ihre historische Erklärung geschieht mit dem Instrumentarium von Rechtsgeschichte und Etymologie.“ (Schmidt-Biggemann: Vico als Renaissancephilosoph. In: Vico und die Zeichen. Akten des von der Freien Universität Berlin, der Volkswagenstiftung und dem Istituto per gli Studi Filosofici (Neapel) veranstalteten internationalen Kolloquiums (Berlin, September 1993). Hg. v. Jürgen Trabant. Tübingen 1995, S. 223– 235, hier S. 234. 54
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nach der Sintflut eine Phase der Verwilderung gab, in der zumindest die heidnischen Menschen ihre Sprache und alles Wissen verloren. In einer noch chaotischen, von Umweltkatastrophen heimgesuchten Zeit kommt es später zu einem Neubeginn der Kultur. Die Menschen selbst erschaffen sich aus ihrer noch wilden, körperbezogenen Sinnlichkeit und Phantasie eine Sprache und das Wissen. Auch entwickeln sie in ihrem noch vorbegrifflichen Denken eine archaische Vorstellung von Göttern. Deren Sprache und deren Willen waren diesen Menschen noch ganz natürlich; erst späteren Zivilisationen mussten sie andersartig und fremd erscheinen. Vico kritisiert daher nicht nur die den Ägyptern zugeschriebene „Anmaßung“, dass sie den übrigen Völkern die Kultur gebracht hätten. Er brandmarkt vielmehr auch das Vorgehen der Gelehrten, die unreflektiert die Form ihrer eigenen Vernunft auf die älteren Völker übertragen, obgleich sich diese Vernunft doch erst mit den Akademien herausgebildet habe. Mit dieser doppelten Abweisung macht Vico den Weg frei, die geschichtliche Veränderbarkeit von Mentalitäten zu denken, die jeweils eine eigene historische Formation mit den zugehörigen Formen der Sprache, des Rechts und der Institutionen bilden. Es ist besonders hervorzuheben, dass diese Historisierung des Denkens auch vor dem zeitgenössischen Stand des Denkens nicht halt macht, sondern es relativiert. Trotz der Kritik an den herrschenden Auffassungen über Ägypten gründet er seine zentrale Einteilung der Weltgeschichte auf zwei ägyptische „Bruchstücke“ („rottami“[eigentl.: „Schrott“]): diese seien „nicht weniger wunderbar […] als die Pyramiden“.56 Die Weltgeschichte unterteilt sich diesen zufolge in drei Zeitalter: „das Zeitalter der Götter“ („età degli dei“), „das Zeitalter der Heroen“ („età degli eroi“) sowie „das Zeitalter der Menschen“ („età degli uomini“). Auf die dunkle Bezeichnung „Zeitalter der Menschen“ ist noch einzugehen, denn sie ist befremdlich, weil alle drei Zeitalter die Menschheitsgeschichte charakterisieren sollen. Für uns ist wichtig, dass Vico aus einem zweiten, ebenso hochgeschätzten ägyptischen Bruchstück eine entsprechende Zuordnung der Sprachen übernimmt, die der
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Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 48; vgl. auch im Folgenden den zentralen Absatz 52, S. 48f. Vico nennt seine ägyptischen Quellen nicht, gibt aber Herodot als Gewährsmann an, der im zweiten Buch seiner Historien über die ägyptische Geschichtswissenschaft berichtet. Jan Assmann weist auf das Turiner Königspapyrus aus der Zeit von Ramses II hin, das bereits die Dreiteilung in die Epochen göttlicher, halbgöttlicher und menschlicher Herrschaft kenne. Diese vermutlich verbreitetere Periodisierung werde dann später von Herodot, Diodor, Manetho und anderen erwähnt. (Jan Assmann: Erinnerung und Identität – der ägyptische Weg. In: Geschichts-Erzählung und Geschichts-Kultur. München 2001, S. 137–158, hier S. 148.) Wilhelm Schmidt-Biggemann hat als weitere Quelle Jamblichs De mysteriis Aegyptiorum in der Ausgabe von Ficino ausgemacht. (Vgl. Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Göttingen 2007, S. 345. Vgl. auch Schmidt-Biggemann: Nachwort zu Auerbachs Übersetzung der Neuen Wissenschaft, wie Anm. 1, S. 461.) Vico nennt Jamblichs Werk wiederholt, allerdings in anderen Zusammenhängen.
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Reihe nach in jenen Zeitaltern gesprochen worden seien.57 Zunächst sei die hieroglyphische Sprache oder auch die Sprache „in heiligen Zeichen“ („caratteri sagri“) verwendet worden. Dann folgte die Sprache in symbolischen bzw. in heroischen Zeichen („simbolica o per caratteri eroici“). Zuletzt kam die epistoläre Sprache auf, das heißt die Briefsprache58 oder auch die gewöhnliche Sprache. Sie ist aus Zeichen zusammengesetzt, auf die sich die Völker durch Konvention geeinigt hatten („pistolare o per caratteri convenuti da‘ popoli“).59 Sie wurde erfunden, damit sich von einander entfernte Menschen gegenseitig ihre Bedürfnisse mitteilen konnten.60 Vico bringt die genannten drei Zeitalter samt ihren Sprachständen mit einer Einteilung der Zeitenfolge zur Deckung, die der römische Polyhistor Varro im ersten Jahrhundert v. Chr. in seinem verloren gegangenen Werk Antiquitates rerum humanarum et divinarum (Altertümer menschlicher und göttlicher Einrichtungen) vorgenommen hatte: 1) das „dunkle Zeitalter“, das Vico als das Zeitalter der Götter identifiziert, 2) das „mythische Zeitalter“, das mit dem Zeitalter der Heroen zusammenfalle, 3) das „historische Zeitalter“, das dem Zeitalter der Menschen entspräche.61 Diese Begriffe scheinen einsichtiger als die zuerst von Vico genannten. Sie implizieren, dass wir über die erste Zeit nichts Verlässliches wissen können, dass die zweite Zeit vorrangig in den Mythen überliefert ist und dass erst in der dritten Zeitstufe die Vergangenheit über geschichtliche Quellen erschlossen werden kann. Trotz der Anlehnung an Varro spricht Vico aber in der dunkleren Version der ägyptischen Überlieferung. Die Geschichte der Völker verläuft nach Vico nicht synchron, sondern zeitlich versetzt. Getreu dem Alten Testament nimmt er die Hebräer davon aus: Sie hätten die Gesetze direkt von Gott erhalten und wiesen eine gesonderte Entwicklung auf. Folgerichtig muss er die Meinung zurückweisen, dass die Hebräer ihre Weisheit von den Ägyptern erhalten hätten. Ihrer Sonderrolle zu Gott entsprechend, setzt er die Hebräer chronologisch an die erste Stelle der Menschheitsentwicklung, geht dann auf diese Sonderentwicklung aber nicht mehr ein; mit ihr entfällt auch die christliche Geschichtsschreibung.
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In diesem Fall nennt Vico als seine Quelle: [Johannes] Scheffers Schrift De philosophica italica, die erstmals 1648 erschienen ist. – Vico spricht von „Sprache“ („lingua“), doch ist sein Begriff, wie in der Zeit üblich, nicht auf die verbale Kommunikation beschränkt. Wie wir noch sehen werden, umfasst Vicos Begriff der „lingua“, wie es Reinhard Krüger formuliert, gleichermaßen „die gestische, die graphische und die lautliche Kommunikation“. (Krüger: Geroglifici und scrittura, wie Anm. 22, S. 362.) Von griech. epistolē: „Nachricht“, „Brief“. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 48. Ebd., S. 216. Ebd., Absatz 53, S. 49.
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Mit diesem Abblenden vermeidet es Vico, dass seine demonstrativ vorgetragene christliche Überzeugung in Erklärungsnöte gerät. Die weit gewichtigere Folge besteht indes darin, dass er im Weiteren die anthropologischen Thesen zur Erklärung, wie Götter, Mythen und Religionen in enger Verzahnung mit hieroglyphischen Sprachen entstehen, auf die heidnischen Kulturen mit ihren Religionen beschränkt. Vico beansprucht zwar ein universales Geschichtsmodell, doch schränkt er es faktisch auf die heidnischen Völker ein und verengt es im Weiteren auf die griechische und römische Geschichte bzw. auf die durch Homer überlieferten griechischen Mythen. Die klassische humanistische Überlieferung ist sein bevorzugtes Feld, das er mit dem historischen, etymologischen und textkritischen Sachwissen der klassischen Philologie bearbeitet. Es entsteht so ein entwickeltes Geschichtskonstrukt, das etwas ausführlicher skizziert werden muss, um darin den Stellenwert der Hieroglyphen beschreiben zu können. Das erste Zeitalter, also das der Götter, entsteht nicht kraft göttlicher Allmacht; vielmehr schaffen sich die Menschen durch Beseelungen der Natur und durch anthropomorphe Personifizierungen die Götter. Die Menschen glaubten, dass sie unter göttlicher Regierung lebten, wobei sie die Anordnungen der Götter über Auspizien und Orakel erfahren könnten.62 Diese kulturanthropologische Begründung nimmt Feuerbachs Religionskritik partiell vorweg und ist ein besonders wichtiges Merkmal von Vicos theologischen und religiösen Vorstellungen. Doch sind diese im Einzelnen verwickelt und brüchig. Den Übergang von der Wildheit zur Zivilisation kann Vico weder philosophisch-anthropologisch erklären und verständlicherweise auch nicht durch gesicherte historische Quellen belegen. Er begnügt sich aber nicht mit unvermeidlichen Wissenslücken, sondern strebt eine vollständige Begründung und Erzählung an, wodurch er in mythische Bereiche gerät und in der Spekulation endet. Er erzählt, wie sich die ersten noch tierhaft wilden Menschen nach der Sintflut, in einer Zeit lebensbedrohender Gewitter, in ihrer Not spontan einer höheren göttlichen Macht unterwerfen. Sie begreifen den zuckenden Blitz als Strafe, zugleich aber auch als Zeichen einer höheren Macht, von der sie alle Rettung erwarten – womit Vico den Bogen zu Zeus schlägt. Bei den Menschen sei gleichzeitig eine Gottesfurcht, eine magische Beziehung zum Göttlichen, zum Gottesnamen sowie das Bewusstsein der eigenen Ohnmacht und Scham entstanden. Es entstehe als erste Herrschaftsform der Menschen die Theokratie. Aus der ursprünglichen Ohnmacht, Scham und Unterwerfung unter den göttlichen Willen entwickelt Vico die weiteren Merkmale seiner Anthropologie: Die Menschen begründen die Ehe, schließen sich unter der Herrschaft mächtiger patres familias zu größeren Familiensippen zusammen und regeln schließlich auch die Bestattung. Die Herrscher der Familienbünde waren unumschränkte Herrscher über ihre Sippen, und sie waren zugleich Auguren, die als Interpreten des göttlichen Willens galten.
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Vgl. hier wie im Folgenden: ebd., Absatz 31, S. 29f.
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Die ersten Menschen erschaffen sich ihre Götterwelten, wie Vico wiederholt betont, mit leidenschaftlicher Sinnlichkeit und prälogischer Phantasie. In Vicos „hieroglyphischem Zeitalter“ herrscht so eine vorrationale Sprachgewalt, der Vico eine essentielle Rolle bei der Entstehung von Gesellschaft, Kultur und Geschichte zuschreibt. Die Zuordnung der Hieroglyphen zur Göttersprache bedeutet nicht etwa, dass die Götter zu den Menschen sprächen oder ihnen in einer bildhaften Sprache ihren Willen oder andere Botschaften übermitteln. Gemeint ist vielmehr, dass die Menschen sich in ihrer hieroglyphischen Phantasie mit der Götterwelt auch die „Sprache“ bzw. die Bilder, Zeichen, Symbole sowie später auch Ritualhandlungen schaffen, mit deren Hilfe sie die Götter verehren bzw. deren Willen erfahren zu können glauben. Aus den ersten Beseelungen und Personifizierungen der Natur, mit denen sie ihre ersten Götter bilden, entstehen auf diese Weise auch die ersten Semiosen und Hermeneutiken. In dieser Zeit verständigt man sich nach Vico noch nicht mittels einer Lautsprache, sondern durch stumme Handlungen, Gebärden, Hinweise und Dinge bzw. durch „Dingworte“. Vico verweist auf die „atti muti“, wie sie in religiösen Zeremonien am Platze sind, weiter auf die „cenni“ sowie die „corpi“ und „parole reali“.63 (Dazu noch später.) Er spricht davon, dass die ersten Völker mit ihren stummen Handlungen, Gesten und Dingworten zuerst „schreibend sprachen“.64 Damit gesteht er implizit ein, dass ihm für diese erste stumme ‚Sprache’ ein eigener Terminus fehlt. Die stumme Sprache mit Hilfe des eigenen Körpers und der Dinge diente, so Vico, kultischen Zwecken; ihre Zeichen waren heilig und geheim. Doch regelte sie auch den Alltag. Sie geht der artikulierten Sprache voraus, ist aber auch der Bilderschrift (im eigentlichen Sinne) vorgelagert. Im zweiten Zeitalter, dem der Heroen, haben sich aristokratische Republiken etabliert. Die Familienväter der früheren Phase haben sich zur Oberschicht dieser Republiken entwickelt; die entfernter an die Familien angeschlossenen Angehörigen sind dagegen zur Masse der Plebejer geworden. Die Aristokraten schaffen sich in den heroischen Mythen eine standesbewusste Moral, mit der sie die Plebejer niederhalten. Das Wissen und die Gesetze werden wie eine heilige Sache gehütet und in einer Geheimsprache bewahrt. Es herrscht eine heroische Jurisprudenz, die zugunsten der Oberschicht auf die Staatsraison ausgerichtet war. Die Plebejer wehren sich allerdings, indem sie die heroischen Mythen in ihrem Sinne umdeuten. In beiden Fällen ist das Heroische kämpferisch und gewaltsam. Auch in der heroischen Gesellschaft ist die Sprache zunächst stumm. Man ‚spricht’ durch heroische Sinnbilder bzw. Devisen: das heißt durch Gleichnisse, Vergleiche, Bilder, Metaphern sowie vor allem mittels „natürlicher Beschreibungen“. („La seconda si parlò per imprese eroiche, o sia per somiglianze, comparazioni, im-
63 64
Scienza Nuova, Absatz 32, Absatz 435 u. passim. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 206.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
magini, metafore e naturali descrizioni, che fanno il maggio corpo della lingua eroica.“65) Diese Figuren gehen später, wenn sich die artikulierte Sprache entwickelt, als versprachlichte Formen „in den ganzen Vorrat der poetischen Sprache“ ein.66 Die Hieroglyphik dieses Zeitalters geht noch über die körpersprachlichen Ausdrucksformen und hieroglyphischen Dingwörter des ersten Zeitalters hinaus und umfasst auch Herrschaftssymbole wie die Geschlechterwappen, Waffenembleme, Grenz- und Eigentumsmarken sowie Münzen. Vico denkt bei den „stummen“ Sinnbildern und Gleichnissen der heroischen Sprache sowie den auf Schilden und Münzen angebrachten heroischen Herrschaftszeichen an die Homerischen semata: „heroische Zeichen“, mit denen bei Homer die Heroen (ihre Botschaften) schrieben.67 Die derart ausgeweitete Hieroglyphik des ersten und zweiten Zeitalters dient Vico als ein heuristisches Modell, aus dem er erklärt, wie die archaischen Völker durch ein kommunikatives Handeln den „mondo civile“ zunächst als theologisch, dann als mythologisch fundierte Gesellschaftsordnung hervorbringen. Im dritten Zeitalter, das Vico pathetisch als die Ära der Menschen kennzeichnet, erkennen alle Menschen, dass sie ihrer Natur nach gleich sind. Nach dem impliziten Maßstab Roms entstehen zunächst die demokratischen Republiken und dann, nach deren Verfall, die Monarchien. Vico fasst diese Regierungsformen als spezifisch menschliche auf, weil erst jetzt der allgemeine Mensch und nicht Götter und Heroen bzw. der Adel den Maßstab des Regierens und der Rechtsprechung abgeben. Man spricht eine „menschliche Sprache“ aus Wörtern, die auf konventioneller Vereinbarung beruhen („la lingua umana per voci convenute da’ popoli“).68 Diese Sprache wird nicht für Kulte und Kämpfe, sondern für die gewöhnlichen Bedürfnisse des Lebens gebraucht. Über sie herrscht nicht allein die Elite, sondern sie gehört dem ganzen Volk. Während die Adligen, seien sie Herrscher, seien sie Priester, zuvor die Gesetze wie eine heilige Sache in einer Geheimsprache bewahrten, gleitet diese ihnen aus den Händen, sobald die Gesetze in gewöhnlicher Sprache verfasst sind. Die Völker bestimmen den Sinn der Gesetze, denen sowohl die Plebejer wie auch die Adligen gehorchen müssen. Nach dieser schematischen Abfolge der drei Zeitalter lässt sich die Hieroglyphik der ersten beiden Zeitalter systematisch untersuchen.
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Scienza Nuova, Absatz 32. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 215. 67 Vgl. Scienza Nuova, Absatz 438. Dazu: Trabant: Neue Wissenschaft von alten Zeichen (wie Anm. 1), S. 79. 68 Scienza Nuova, Absatz 32. 66
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1.6 Natur- und Körperbezug der hieroglyphischen Sprache; ihre Bestimmung als „natürliche Sprache“ Für Vico ist nicht nur die Götterwelt und die mit ihr entstehende Sprache ein Werk der Menschen, das sie sich aus ihren gesellschaftlichen Bedürfnissen im ersten Zeitalter erschaffen. Auch Vico schafft sich als Mensch des dritten Zeitalters ein aus seinen Bedürfnissen entstehendes Konstrukt der Archaik, das von den Sprachnöten einzelner Gruppen seiner Zeit ausgeht und die überkommenen Zeugnissen der Vergangenheit befragt, um auf frühere Zeitalter rückzuschließen. In dieser empirischen Orientierung kann er bei seinen Mitbürgern mit entwickeltem Sprachvermögen keinen Aufschluss erwarten, wohl aber bei zurückgebliebenen Bevölkerungsteilen wie den Kindern oder dem ungebildeten Volk sowie randständigen Gruppen, die den erreichten analytischen Sprachgebrauch nur mit Einschränkungen beherrschen. Vico nutzt damit einen bis heute angewandten Zugriff, über die empirische Beobachtung von Sonderfällen einen Aufschluss über den Normalfall zu erlangen. So erwartet er sich von der Verständigung der Stummen in seiner eigenen Zeit einen Rückschluss auf die Kommunikation der archaischen Menschen. Für beide Gruppen sei es grundlegend, dass die „Gebärden oder Körper“, mit denen sie ‚sprechen’, „eine natürliche Beziehung zu den Ideen haben, die sie ausdrücken wollen“. Genau dies aber sei „das Prinzip der Hieroglyphen, mit deren Hilfe offenbar alle Völker in der Zeit ihrer ersten Barbarei gesprochen haben“.69 Vico identifiziert diese Sprache weiter mit jener „natürlichen Sprache“, von der Platon im Kratylos und nach ihm Jamblich in seinem Buch über die Mysterien der Ägypter (De mysteriis aegyptiorum) vermuteten, „sie sei einmal in der Welt gesprochen worden“.70 Bestätigungen dafür findet Vico darüber hinaus, nach eigenen Worten, bei den Stoikern und Origenes. Schon vor dem 18. Jahrhundert wurde der Hieroglyphik-Begriff über die Bilderschrift im engen Sinn hinaus auch auf die Kommunikation durch Handlungen und Gesten ausgeweitet. So hat Francis Bacon 1605 in The Proficience and Advancement of Learning behauptet, „die Gesten [seien] nichts anderes als transitorische Hieroglyphen“ („temporary Hieroglyphicks“).71 Zwischen Gestik und Hieroglyphik bestehe das gleiche Verhältnis wie zwischen Wort und Schrift. Vor Bacon hatte be69
Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 113f. Ebd. An anderer Stelle identifiziert Vico diese „natürliche Sprache“ mit der „uralte[n] atlantische[n] Sprache, von der die Gelehrten behaupten, sie habe die Ideen durch die Natur der Dinge, das heißt ihre natürlichen Eigenschaften ausgedrückt“. (Ebd., S. 208.) Vico unterscheidet die „natürliche Sprache“ allerdings von der adamitischen Wesensprache, die er „eine Sprache nach der Natur der Dinge“ nennt; Gott habe Adam die „göttliche onomathesia“ gewährt, so dass er mit dem Klang des Namens zugleich auch die Natur eines jeden Dinges traf. (Ebd., S. 189). Es entsteht so ein Widerspruch zwischen Vicos Auffassung der Sprache als Menschenwerk und dem göttlichen Wort, wie es Judentum und Christentum überliefern. 71 Zit. nach Michael Friedrich: Chiffren oder Hieroglyphen? Die chinesische Schrift im Abendland. In: Aleida u. Jan Assmann (Hg.): Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie. München 2003, S. 89–116, hier S. 104. – Erstaunlich ist, dass Vico an dieser 70
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
reits Giambattista della Porta 1563, in einem Traktat über die natürliche Magie, die Hieroglyphen mit muta signa (also Gesten) verglichen,72 so dass man annehmen kann, dass diese Meinung schon älter und verbreiteter war. Reinhard Krüger weist darauf hin, dass in der Mitte des 17. Jahrhundert bereits „eine ausgebildete Theorie des gestischen Ursprungs der Hieroglyphe“ vorliege: In Emmanuele Tesauros Idea della perfetta impresa habe die Hieroglyphe „als graphisches Zeichen die Aufgabe, die flüchtige Geste und damit ihre Bedeutung im Bild zu verewigen, zu speichern und unabhängig vom Ort der Artikulation der Geste verfügbar zu machen.“73 Wie Vico sieht auch Bacon die Gesten – wie die ägyptischen Hieroglyphen – als Begriffszeichen an, die im Unterschied zu den konventionellen, das heißt willkürlich gesetzten Zeichen eine Ähnlichkeits- oder Kongruenzbeziehung zum bezeichneten Begriff aufweisen. Bacon steht damit bereits in einer jahrhundertelangen Tradition, der zufolge die Bilder (im Gegensatz zu den Worten) als „natürliche Zeichen“ (signa naturalia im Unterschied zu den signa ad placitum) aufgefasst werden.74 Es liegt mithin in der Logik dieses Ansatzes, wenn in den Sprachtheorien des 17. Jahrhunderts die Gestik als eine aus sich heraus verständliche „Natursprache“ diskutiert wird, die auch von Taubstummen und Gehörlosen verstanden bzw. angewandt werden kann.75 Vico macht an einem plastischen Beispiel deutlich, warum er die gestisch-performative Ursprache der ersten Menschen als eine „natürliche Sprache“ im obigen Sinne ansieht. Da es noch nicht die Hilfe abstrakter Begriffe gab, mussten die Vorstellungen aus dem Konkreten und Naheliegenden entwickelt werden. Vico zufolge deuteten daher die frühen Menschen mit der stummen Gebärde des Mähens (bzw. Sichelns) und dem Vorzeigen von drei Ähren die kalendarische Zeitangabe ‚drei Jahre‘ an,76 für die ihnen noch kein Begriff zur Verfügung stand. Die gestische Andeutung des „Mähens“ und das Vorweisen der „drei Ähren“ verweisen (beide als pars pro toto) auf drei Ernten. Damit entwickeln sie in natürlicher (und nicht willkürlicher) Verbindung über die Vorstellung dreier Ernten die Idee „drei Jahre“. Am Anfang der Zeiten, vor jeglicher begrifflicher Abstraktion, sind die Metapher – bzw. die verwandten tropischen Verfahren wie Metonymie und Synekdoche – die entscheidenden Vehikel, um die Sprache über ihre anfängliche Konkretheit hinaus in einen allgemeineren Sinn zu treiben. „Ähre“ und „Mähen“, als einzelnes Objekt bzw. Tätigkeit der Ernte, können so durch eine weitere Übertragung zum Ausdruck
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Stelle seiner Argumentation Francis Bacon, der immerhin einer seiner Leitautoren ist, nicht mit dessen Definition der Gestensprache als transitorischer Hieroglyphik nennt. Vgl. Friedrich: Chiffren oder Hieroglyphen, S. 98. Vgl. Krüger: Geroglifici und scrittura (wie Anm. 22), S. 363f. Vgl. Friedrich: Chiffren oder Hieroglyphen (wie Anm. 71), S. 104. Vgl. Richard Nate: Natursprachenmodelle des 17. Jahrhunderts. Münster 1993, Kap. 6, S. 183– 205. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 208. Vgl. auch Absatz 732, S. 417f.
1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Vicos Theorie der Kulturentstehung
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einer abstrakten Zeitangabe werden: das heißt im obigen Fall der Zeitangabe ‚drei Jahre’. Das Beispiel dient Vico zugleich dafür, wie die ersten Menschen sich in und mit ihren Hieroglyphen (in diesem Fall das gestische Mähen und die drei Ähren) auf den agrarischen Alltag beziehen. Bacon hatte die Gesten zwar als transitorische Hieroglyphen bezeichnet, im Weiteren aber erklärt, die Hieroglyphen seien nichts anderes als „fortgesetzte Impresen und Embleme“ („continued impresses and emblems“).77 Diese spezielle Charakteristik, die angesichts des allegorischen Charakters der damaligen Emblematik über das Konzept der „natürlichen Sprache“ hinauszugehen scheint, lässt Vico für die „heroische Sprache“ des zweiten Zeitalters gelten, die er auch im (europäischen) Mittelalter wiederkehren sieht. Die heroische Sprache in (emblematischen) Sinnbildern, Devisen bzw. „stummen Gleichnissen“ beruht nicht mehr auf „natürlichen“ Beziehungen zwischen signifiant und signifié; zwischen den Zeichen und dem von ihnen Bezeichneten besteht vielmehr bereits das abstraktere Prinzip der „Ähnlichkeit“.78 Ein weiteres Beispiel von Vico erscheint rätselhafter. Er findet es u.a. in Herodots Historien79 sowie in den Stromata von Clemens von Alexandrien80 diskutiert, und William Warburton wird es in seiner Hieroglyphentheorie ebenfalls aufgreifen (vgl. w.u. S. 49). Vico will mit dem prominenten Exemplum zeigen, wie die Menschen der Frühzeit bildersprachlich kommunizierten. Der Skythenkönig Idanthyrsus habe Darius dem Älteren, der ihm den Krieg erklärt hatte, geantwortet, indem er ihm fünf „dinghafte Worte“ überbringen ließ: einen Frosch, eine Maus, einen Vogel, das Sech eines Pfluges [d.h. das in die Erde dringende Vorschneide-Messer eines Pfluges] und einen Bogen zum Schießen.81 Vico bezeichnet diese fünf Dingworte als „parole reali“ (was Auerbach mit „Realworte“82 übersetzt). Er nennt sie darüber hinaus auch die „skythischen Hieroglyphen“83 und erklärt die Botschaft so: „Der Frosch bedeutete, er [Idanthyrsus] sei von der skythischen Erde geboren, so wie die Frösche, wenn es im Sommer regnet, von der Erde geboren werden, und er sei somit ein Sohn jener Erde. Die Maus bedeutete, er habe, wie eine Maus, dort, wo er geboren sei, sich sein Haus gebaut, das heißt, seinen Stamm gegründet. Der Vogel bedeutete, ihm stünden dort die Auspizien zu, das heißt […], er sei niemand anderem unterworfen als Gott. Der
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Zit. nach Friedrich: Chiffren oder Hieroglyphen (wie Anm. 71), S. 104. Leonardo Amoroso: Erläuternde Einführung (wie Anm. 21), S. 112. Vgl. Trabant: GEROGLIFICI: Vicos wilde Wörter des Anfangs (wie Anm. 22), S. 253f. Vgl. Hösle: Einleitung (wie Anm. 4), S. CLXXXV. Vgl. Die neue Wissenschaft, übers. v. Auerbach (wie Anm. 1), S. 187, Anm. 1. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 212 (= Absatz 435). Vgl. Die neue Wissenschaft, übers. v. Auerbach (wie Anm. 1), S. 186. In der Forschung sind als deutschsprachige Bezeichnungen sowohl „Dingworte“ bzw. „dinghafte Worte“ als auch „Realworte“ geläufig. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 212.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Pflug bedeutete, er habe jene Länder dem Ackerbau zugeführt und sie so mit Gewalt bezwungen und sich angeeignet. Der Bogen zum Schießen bedeutete schließlich, er habe in Skythien die höchste Waffengewalt, so dass er sein Land verteidigen müsse und könne.“84 Vico ist sich seiner Interpretation dieser skythischen Hieroglyphen sicher; andere Erklärungen stuft er dagegen als lächerlich ein. Es wäre müßig, die Widersprüche, Brüche und historischen Annahmen in diesen spekulativen Konstruktionen herauszuarbeiten.85 Entscheidend ist, dass in ihnen trotz aller Spekulationen ein Gewinn enthalten ist, den es festzuhalten gilt. Mit Vanessa Albus lässt sich sagen, dass Vico mit seiner Sprachtheorie das Verhältnis von begriffslogischer und metaphorischer Rede, das in den rationalistischen Ansätzen (etwa bei Leibniz und Wolff) vorgeherrscht hat, radikal umwertet. Für Vico und später für Herder gibt es keine reine begriffliche Wahrheit mehr, die von der Metapher unabhängig wäre. Beide führen aus, dass das metaphorische Denken und Sprechen vielmehr unmittelbaren Anteil an der Erkenntnis haben.86 In diesem Sinne führt Vico eine systematische Entwicklung der verschiedenen tropischen Verfahren vor, angefangen mit der Beseelung von Körpern und belebten Personifikationen über Metapher und Metonymie bis zur Synekdoche, mit denen zunehmend abstraktere Bedeutungsgehalte möglich wurden. Die Ironie ist die letzte Stufe, die erst mit der reflexiven Sprache entsteht – womit er sogar in der Neuzeit anlangt. Vico zufolge entwickelt sich die gesprochene Sprache in den beiden ersten Zeitaltern nebenher und bleibt zunächst untergeordnet. Denn auch die heroische Sprache des zweiten Zeitalters ist für Vico anfangs noch weitgehend stumm, doch ist sie im Vergleich zur Sprache des ersten Zeitalters bedeutend abstrakter. Die lautliche Sprache bildet sich zunächst mittels der Onomatopöie und den kurzen Interjektionen, wie sie den Ausbruch heftigster Leidenschaften begleiten.87 Erst nach und nach entstehen Pronomina, Partikel, Nomina und schließlich die Verben. Aus der Beobachtung, dass Kinder sich bevorzugt in Nomina und Partikel äußern und die Verben weglassen, glaubt Vico folgern zu können, dass die Verben – mit ihren Bezeichnungen von Bewegung und dem philosophischen Gedanken eines „Vorher und Nachher“ – erst eine späte Hervorbringung der menschlichen Sprachentwicklung sind. Wie die Sondergruppe der Stotterer bringen die archaischen Völker ihre Worte zuerst nur schwerfällig und unartikuliert hervor.88 Und wie die Stotterer sich am bes-
84 Ebd.
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System erscheint beispielsweise noch nicht einmal widerspruchsfrei, wenn er eine Entwicklung zur Abstraktion beschreibt, die er eigentlich nicht dem ersten, sondern dem dritten Stadium zurechnen will. 86 Vgl. Vanessa Albus: Weltbild und Metapher. Untersuchungen zur Philosophie im 18. Jahrhundert. Würzburg 2001. 87 Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 224. 88 Vico führt mit den Stummen, die gestikulierend, und den Stotterern, die singend zur Sprache kommen, Sondergruppen an, die ähnlich auch von späteren Denkern aufgegriffen werden. Diderot wird an den Blinden (im Blindenbrief) und an den Taubstummen (im Taubstummenbrief) aus
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ten singend zur Stimme bringen können, sollen sich die ersten Völker, Vico zufolge, zuerst singend verständigt haben.89 Es entwickelte sich die Sprache in Versen, die ihre eigenen poetischen Glanzpunkte im Rhythmus und in der Bildlichkeit hervortreibt. Die Prosa bildete sich erst zuletzt heraus; sie ist die Sprache, die der höchst entwickelten Ära, dem Zeitalter der Menschen, eignet. Die stumme Sprache, in der man sich mithilfe von Gebärden, Dingen, Wahrzeichen und Bildern verständigte, wird in der Entwicklung zur Verssprache und Prosa nicht jäh und nicht vollständig verdrängt. Mit den Worten Jürgen Trabants handelt es sich in diesem Konstrukt von Vico vielmehr „um eine quantitative Veränderung, gleichsam um ein welthistorisches Zunehmen des Lautlichen gegenüber dem Visuellen.“90 Für Vico ist besonders das Zeitalter der Heroen eine Übergangsära, in der sich stumme und (zunächst rhythmisierte) lautliche Sprache mischen; heroische Bildzeichen und gewöhnliche Redensarten existieren nebeneinander.91 1.7 „Poetische Logik“ in „poetischen Charakteren“ und „fantastischen Universalien“ Vico entwickelt einen umfassenden und weit reichenden Erklärungsansatz, der die Diskrepanz zwischen Metapher und begrifflicher Abstraktion zu überbrücken versucht: Ähnlich wie später Hamann und Herder setzt er die menschliche poesis als Erkenntnisvermögen ein. Wie erwähnt, stellt sich Vico die Sprache in den ersten Phasen teils stumm, teils gesangsähnlich vor. Doch mit Hilfe einer poetischen Topik sei es den ersten Menschen gleichsam als Poeten gelungen, sich ihre Welt zu erschließen, wobei ihre Welterkenntnis in die Götter- und Heldenmythen einging. Vico spricht in diesem Sinne von einer Topik, die das ganze Wissen der archaischen Menschen, einschließlich der Geschichte, in „poetischen Charakteren“ oder auch „fantastischen Universalien“ figurativ ausgestaltet. Er stuft diese Erkenntnis einer archaischen „fantastischen Logik“ als seinen wichtigsten Beitrag zu Sprache, Mentalität und Weltbild der archaischen Völker ein. Sie habe ihn fast sein ganzes Forscherleben gekostet, und er habe sie selbst nur mit größter Mühe begreifen können.92 Der „poetischen Logik“ kommt bei Vico eine entscheidende Funktion für den Zusammenhalt früher Völker zu. Sie verband die scheinbar disjunktiven Phänomene wie Mythologie, Wissen, Recht und Ökonomie, aber auch Bild und Schrift, sowie im Einzelnen Metaphern, Gleichnisse, Metonymien und Allegorien zu einer umfassenden Mentalität.
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den Beeinträchtigungen Einsichten gewinnen, wie die Behinderung über die Aktivierung anderer Sinne und Energien kompensiert werden kann. Vgl. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 231. Jürgen Trabant: GEROGLIFICI: Vicos wilde Wörter des Anfangs (wie Anm. 22), S. 255. Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 223. Ebd., S. 32.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Entscheidend ist, dass das „universale fantastico“ ein ganzheitlich-intuitiv Erfasstes darstellt und noch nicht das Ergebnis einer diairesis, also der Einteilung in Ober- und Unterbegriffe ist. Es steht, schreibt Eugenio Coseriu, „nicht am Ende einer Klasse von Gegenständen oder von Eigenschaften, sondern im Gegenteil am Anfang einer jeden Klasse, bzw. als solches vor der Analyse des Universale.“93 Vico gibt mehrere Beispiele, wie die frühen Menschen mittels „fantastischer Universalien“ „verschiedene Arten von Menschen, Taten, Dingen oder auch Eigenschaften zusammenfassen.“94 So sei zum Beispiel in Achilles eine Idee der Tapferkeit erfasst, die allen Tapferen gemein ist.95 „Poetische Charaktere“ sind vor allem die mythischen Götter, Heroen und Stifter der Kulturen. Vico sieht sie – wie schon angedeutet – als anthropomorphe, überhöhte Projektionen der Menschen, denen Gründungsakte, Eigenschaften, Taten, Erfindungen usw. zugeordnet werden. Jede Nation schaffe sich – unter verschiedenen Namen und unterschiedlichen Gestalten – ihre für Verschiedenes zuständigen Götter, Heroen, mythischen Gründungsväter oder Weisheitslehrer. Statt des Begriffs „starker Mann“ bilden die archaischen Völker z.B. ihren jeweiligen Herkules aus, mitsamt den heroischen und abenteuerlichen Geschichten, die ihn als Verkörperung von Mut und Stärke charakterisieren. In entsprechender Weise setzen sie als „höchsten Gott“ ihren je eigenen Jupiter als Sammelstelle und Merkort für höchste göttliche Gewalt, für göttliche Taten und göttliche Charakterzüge ein. Je nach den Zeitaltern, das heißt nach dem Zeitalter der Götter oder dem Zeitalter der Heroen, spricht Vico auch von „göttlichen“ oder „heroischen Charakteren“ im Sinne der poetischen Charaktere, also der fantastischen Universalien. Auch Kunstfiguren wie Hermes Trismegistos oder auch Homer sieht Vico als poetische Charaktere an. In sie sind viele verschiedene Hermesfiguren, Weise, Schrifterfinder, Gesetzgeber bzw. im Falle Homers: Rhapsoden und Mythenerzähler eingegangen. Wie die Götter dienen auch sie als Gestalten, in denen Diverses komprimiert wird, das lose zusammengehört. Nestor beispielsweise, von dem in Homers Ilias gesagt wird, er habe drei Lebensalter verschieden sprechender Menschen durchlebt, ist für Vico „ein heroischer Charakter der Chronologie“. Er verkörpere als poetischer Charakter die drei Zeitalter im Rahmen einer Chronologie, die in fantastischen Universalien und mythischen Personifizierungen angelegt ist; „die Jahre Nestors leben“ bedeute soviel wie „die Jahre der Welt leben“.96
93
Eugenio Coseriu: Von den universali fantastici. In: Vico und die Zeichen. Akten des von der Freien Universität Berlin, der Volkswagenstiftung und dem Istituto per gli Studi Filosofici (Neapel) veranstalteten internationalen Kolloquiums (Berlin, September 1993). Hg. v. Jürgen Trabant. Tübingen 1995, S. 73–80, hier S. 79. 94 Prinzipien einer neuen Wissenschaft, übers. v. Hösle u. Jermann (wie Anm. 1), S. 110. 95 Ebd. S. 190. 96 Ebd., S. 208f.
1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Vicos Theorie der Kulturentstehung
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Götter, Heroen und ihre Mythen stellt Vico explizit in eine Parallele mit den ägyptischen Hieroglyphen, wenn er schreibt: Man habe nicht erkannt, „daß die ersten Völker in poetischen Charakteren dachten, in Mythen sprachen und in Hieroglyphen schrieben“.97 An anderer Stelle wird noch deutlicher, dass er die Mythen selbst als Hieroglyphen im Sinne der poetischen Charaktere und der fantastischen Universalien auffasst: „Daher müssen die Göttermythen der Lateiner und der Griechen dasselbe wie die ersten wahren Hieroglyphen, das heißt heiligen oder göttlichen Charaktere, der Ägypter gewesen sein.“98 Die poetischen Charaktere und die fantastischen Universalien sind samt den dazu gehörigen Geschichten, das heißt den Mythen oder Sagen, das gleichsam figurative Alphabet einer archaischen, hieroglyphischen Sprache. Mit ihnen entstehen z.B. eine „poetische Astronomie“, eine „poetische Physik“, eine „poetische Geographie“ oder eine „poetische Moral“. Mit ihren fantastischen Logiken erschließen die ersten Völker sich zum einen die Welt, zum anderen bilden sie soziale und politische Semantiken aus. Vico fühlt sich als Philosoph und Historiker des mondo civile herausgefordert, die Mythen als hieroglyphisch verschlüsselte Allegorien zu lesen, die in enger Beziehung zu den historisch wechselnden politischen, institutionellen und im engeren Sinne rechtlichen Lebensformen stehen. Die poetische Logik bzw. Topik lebt auch in den artikulierten Sprachen weiter. So führt Vico etwa die „poetische Redeweise“ „mir kocht das Blut im Herzen“ als Äquivalent für das Gefühl des Zornes an.99 Die poetischen Charaktere und Universalien bilden gleichsam das hieroglyphisch-poetische Fundament auch der sich entwickelnden, artikulierten Sprachen: Auf diese Weise bildete sich die poetische Sprache bei den Völkern, zusammengesetzt aus göttlichen und heroischen Charakteren, die später mit gewöhnlichen Redeweisen ausgedrückt und schließlich in gewöhnlichen Schriftzeichen geschrieben wurden. Und zwar erwuchs sie ganz aus Spracharmut und dem Bedürfnis, sich auszudrücken; das wird bewiesen durch die ersten Glanzpunkte der poetischen Ausdrucksweise, die da sind die Hypotyposis, die Bilder, die Gleichnisse, die Vergleiche, die Metaphern, die Umschreibungen, die Redensarten, die die Dinge nach ihren natürlichen Eigenschaften ausdrücken, die Beschreibungen, die aus der Aneinanderreihung der detailliertesten oder auffallendsten Wirkungen bestehen, und schließlich die Beschreibungen durch die emphatischen und sogar überflüssigen Zusätze.100
Vico setzt eine große Metapher ein, um zu zeigen, wie die Sprachen der drei Zeitalter, die er zunächst strikt von einander abgegrenzt hatte, dennoch ineinander spielen: Die poetische Sprache hielt sich „noch sehr lange während der historischen Zeit, so wie die großen, reißenden Ströme sich weit ins Meer verbreiten und die
97
Ebd., S. 206. Ebd., S. 215. 99 Vgl. ebd., S. 231. 100 Ebd., S. 229f. 98
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Süße des Wassers bewahren, das sie ihm durch die Kraft ihrer Strömung zugeführt haben […]“.101 Vicos Theorie des prälogischen Beginns von Kultur und der stummen, ungebärdigen körpersprachlichen Anfänge der Sprache richtet sich, wie Jürgen Trabant betont, „gegen den traditionellen Phono- und Logozentrismus“, der bei den Gelehrten herrsche. Die Gelehrten bezogen sich vornehmlich auf die aristotelische Sprachauffassung. Ihr zufolge bestehe die Sprache „im wesentlichen [aus] stimmlich erzeugte[n] Laute[n] […], die nur arbiträre […] Zeichen für die sprachunabhängig erzeugten universellen conceptus seien“. Die einzelnen Sprachen unterschieden sich demnach „nur in diesen Lauten […], welche ihrerseits wiederum durch ebenso arbiträre Schriftzeichen wiedergegeben werden können.“102 In Vicos Ansatz sieht Trabant eine „alternative(n) semiogenetische(n) Geschichte“: „Das heilige Bild ist der Anfang, und der Anfang ist wild, phantastisch und visuell. Und dieses Wilde, Visuelle und Phantastische liegt allem Denken zugrunde […]“. Trabant sieht diesen wilden Anfang noch in den „letzten, scheinbar rationalen phonischen Zeichen […] dialektisch aufgehoben.“ Denn die Wörter seien „nur scheinbar arbiträr. Sie sind es nicht wirklich, weil wir hinter diesen scheinbar arbiträren Lauten abbildliche Laute festmachen können.“ 1.8 Geschichtsabläufe und das Prinzip des verum-factum Vico verbindet seine teils geschichtsphilosophische, teils geschichtliche Hermeneutik, die er in der Verbindung von Philosophie und Philologie betreibt, mit einer Metaphysik der göttlichen Vorsehung. Er strebt in seiner Scienza Nuova nichts Geringeres als eine rationale Theorie der göttlichen Vorsehung in der Geschichte an. Die drei Zeitalter bilden ein Schema, das sich nach dem Muster von Aufstieg, Blüte und Verfall wiederholen kann. Zwar gestaltet sich die Verlaufsform im Wesentlichen progressiv, insofern die Völker – wenn auch in diskontinuierlichen Formen – von der bildermächtigen Barbarei zur reflexiven Hochkultur aufsteigen. Sie kann andererseits aber auch rekursiv und zyklisch verlaufen, da die entwickelten zivilisierten Völker immer wieder in ihre historischen Vorformen zurücksinken können und dann den Kursus der historischen Idealformen von Neuem beginnen müssen. Zyklische Geschichtsauffassungen sind von wichtigen außereuropäischen Kulturen und seit der Antike auch in Europa bekannt, so dass Vicos Hinweis auf das Römische Reich, das entstanden und wieder untergegangen ist, im geistesgeschichtlichen Kontext bleibt. Vico sieht das heroische Zeitalter mit seinen Emblemen und Devisen beispielsweise im europäischen Mittelalter wiederkehren. Im sogenannten
101 Ebd.,
S. 196. GEROGLIFICI: Vicos wilde Wörter des Anfangs (wie Anm. 22), hier und im Folgenden S. 258.
102 Trabant:
1. Hieroglyphen und poetische Charaktere in Vicos Theorie der Kulturentstehung
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menschlichen Zeitalter ist zwar die barbarische Wildheit der Anfänge überwunden, doch besteht nun die Gefahr einer „Barbarei der Reflexion“, in der sich die freigesetzten Einzelinteressen vom Gemeinwohl absetzen. Vico setzt darauf, dass eine solche Auflösung der Gesellschaft immer wieder abgewendet wird, so dass sich immer wieder eine politische Rationalität herstellen kann. Für Vico ist die Geschichte nicht kontingent. Als Katholik nimmt er an, dass eine göttliche Fügung hinter allen geschichtlichen Formen und Verlaufsformen der Menschen steht. Hinter dem Ablauf der drei Zeitalter wirke letztlich die höhere Vernunft der göttlichen Vorsehung. Nur sie kenne den großen Plan der Weltgeschichte, da nicht die beschränkten Menschen, sondern der unendliche Geist Gottes das Universum als ganzes geschaffen habe. Der Plan der Vorsehung setzt sich gewissermaßen auch hinterrücks gegen die Einzelinteressen und egoistischen Verirrungen der Menschen auch der späteren Zeiten durch. Die göttliche Vorsehung ist für Vico zugleich der Quell eines Lichtes, das Erkenntnis ermöglicht. Dennoch lautet eine der wichtigsten Thesen von Vico, dass die Menschen ihre Geschichte selbst erschaffen hätten.103 Nur deshalb könne die Geschichte von den Menschen auch erkannt werden. Vico folgt hier seinem schon in früheren Schriften aufgestellten Prinzip, dass nur das als wahr erkennbar ist, was selbst gemacht worden ist; die Forschung spricht vom Prinzip des verum-factum. In der Scienza Nuova führt Vico es folgendermaßen aus: Doch in dieser Nacht voller Schatten, die für unsere Augen das entfernteste Altertum umgibt, erscheint das ewige, niemals erlöschende Licht jener Wahrheit, die man in keiner Weise in Zweifel ziehen kann: daß die gesellschaftliche Welt ganz gewiß von Menschen gemacht worden ist und daß deshalb ihre Prinzipien in den Modifikationen unseres eigenen menschlichen Geistes auffindbar sein müssen.104
An späterer Stelle heißt es: Daher kommt diese Wissenschaft zugleich dazu, eine ewige ideale Geschichte zu beschreiben, nach der in der Zeit die Geschichten aller Nationen mit ihrem Aufstieg, Fortschritt, ihrer Blüte, ihrem Verfall und Ende ablaufen. Wir getrauen uns sogar zu behaupten, daß derjenige, der diese Wissenschaft überdenkt, diese ewige ideale Geschichte, insofern er sie sich selbst erzählt, auch sich selbst macht mit Hilfe jenes Beweises, ‚es mußte, es muß, es wird müssen’. Denn diese Welt der Nationen ist sicherlich von den Menschen gemacht worden […] und daher muß die Art und Weise ihres Machens innerhalb der Modifikationen unseres menschlichen Geistes aufzufinden sein. Es kann nämlich keine sicherere Geschichte geben als dort, wo derjenige, der die Dinge macht, sie auch selbst erzählt. So verfährt unsere Wissenschaft geradeso wie die Geometrie, die sich die Welt der Größen selbst macht, indem sie sie von ihren Elementen ausgehend aufbaut und betrachtet. Aber unsere Wissenschaft tut das mit umso mehr Realität, als die Ordnungen, welche die menschlichen Angelegenheiten regeln, mehr Realität besitzen als Punkte, Linien, Flächen und Figuren. Das spricht dafür, daß solche Beweise von göttlicher Art sind, und Dir, oh
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104 Die
ist in der Forschung als „Vico-Axiom“ geläufig. neue Wissenschaft, übers. v. Fellmann (wie Anm. 1), S. 30.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen Leser, ein göttliches Vergnügen bereiten müssen, da in Gott das Erkennen und das Machen ein und dasselbe sind.105
Die archaischen Völker bringen Vico zufolge ihren „mondo civile“ mithilfe ihrer jeweils verschiedenartigen, lokalen „fantastischen Universalien“ und „poetischen Charaktere“ hervor, doch beziehen sie sich damit, Vico zufolge, auf Grundinstitutionen und Entwicklungsabläufe des menschlichen Zusammenlebens, die in der von Gott gewollten menschlichen Natur liegen. Daher können die fantastischen Topiken auch von den Menschen der reflexiven Spätzeit, zu denen Vico gehört, trotz ihrer befremdlichen „Logik“ in ihrer kultur- und mentalitätsgeschichtlichen Bedeutung erschlüsselt werden. Die archaischen Formen des Denkens und Hervorbringens sind also nicht per se unverständlich, sondern liegen als „Modifikationen“ in den Möglichkeiten des menschlichen Geistes. Es kommt nur darauf an, durch die hieroglyphische Sprache hindurch zu greifen und den Stellenwert zu verstehen, den ein poetischer Charakter, eine fantastische Universalie oder eine heroische Redensart im System ihrer mythischen Theologie, poetischen Moral oder fantastischen Geographie besitzt. Einerseits kritisiert Vico den Ständedünkel der Gelehrten, die sich keine andere als die von ihnen geprägte, analytisch-reflexive Kultur vorstellen können. Andererseits betont er selbst, schon aus heuristischen Gründen, die Fremdheit der archaischen Mentalität, in deren gewaltige, von starker Sinnlichkeit, Körperlichkeit und Leidenschaft geprägte Bildersprache und fantastische Topik die Menschen der späteren, reflexiven Kultur nicht wirklich eindringen können. Dennoch behauptet Vico, er könne sich als Historiker, der mit Hilfe der Metaphysik über die Geschichte und ihre Idealgesetze nachdenkt, zumindest in die Prinzipien der Geistesart und in die schöpferische Ingeniosität der ersten Menschen hineindenken, da auch ihre uns fremd gewordene Form der Gedanken „menschlich“ ist, was bedeutet, dass sie die Grundeinrichtungen des gesellschaftlichen Lebens hervorgebracht und damit Kultur und Geschichte begründet haben. Vico beansprucht, mit seiner Neuen Wissenschaft die Hebel bereitzustellen, die seinen Lesern, also den reflexiven, gelehrten Menschen seiner Zeit, einen Zugang zur archaischen Mentalität ermöglichen, indem sie ihnen zunächst deren Andersartigkeit und Fremdheit begreiflich machen. Er benennt diese Fremdheit als Hieroglyphe. Es geht ihm weniger um deren Entzifferung, als um ihre Akzeptanz als Fundament einer menschlichen Kultur, die letztlich zu seiner eigenen Zeit geführt hat, die man seit der Mitte des 18. Jahrhunderts als ‚Aufklärung’ bezeichnete. Er zeigt implizit, wie die hieroglyphische Stufe bei den Kindern und den breiten Volksschichten, aber auch in der Dichtung, in seine Zeit hineinragt. Ohne das hieroglyphische Denken und seine Ausdrucksformen, die über Bilder, Gestensprache, Handlungen, Symbole und Dingworte einen „Gemeinsinn“ geschaffen haben, hätte die reflexive Kultur 105 Ebd.,
S. 42.
2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel
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nicht entstehen können. Vico würdigt zwar die Energie, Ausdruckvielfalt und sogar Ingeniosität der hieroglyphischen Kultur, doch seien ihr die Gewaltverhältnisse des patriarchalischen bzw. aristokratischen Zeitalters inhärent gewesen. Er sieht daher die Entwicklung zur Reflexion als notwendig an: Erst die Allgemeinbegriffe der reflexiven Kultur verbinden sich mit der auch von Vico gewünschten Rechtsauffassung einer allgemeinen Gerechtigkeit.
2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel: William Warburtons Hieroglyphentheorie 2.1 Warburtons Hieroglyphentheorie als verselbständigter Teil seines Buches The Divine Legation of Moses Zwischen 1738 und 1741 veröffentlichte der anglikanische Geistliche William Warburton – zu dieser Zeit noch Hofprediger des Prinzen von Wales, später Bischof von Glocester – eine einflussreiche, zunächst zweibändige theologische Abhandlung mit dem Titel The Divine Legation of Moses.106 Sie wurde über England hinaus bekannt. In Frankreich nutzte Voltaire Warburtons neue religions- und mythengeschichtliche Perspektiven – trotz entschiedener weltanschaulicher Differenzen – für seine eigene Philosophie de l’histoire. Auch viele Mit-Autoren der Diderotschen Encyclopédie schöpften – und dies mitunter nahe am Plagiat – aus Warburtons reichhaltigen Materialien.107 In Deutschland wurde Warburtons Schrift u.a. von Lessing108 und Schelling kritisch rezipiert; Hamann und Mendelssohn haben sich z.T. produktiv mit ihr auseinandergesetzt. Anlass für Warburtons Schrift war ein gelehrter Streit, an dem sich mehrere Autoren beteiligten und der mit vielen Entgegnungen ausgetragen wurde. Dieser wurde durch ein deistisches Werk ausgelöst, das den Offenbarungscharakter des Alten Testaments bestritt: Thomas Morgans Moral Philosopher, eine Schrift, die von 1737 bis 1740 anonym in drei Bänden erschienen war.109 In diesem Streit galt Warburtons 106 William
Warburton: The Divine Legation of Moses Demonstrated, on the Principles of a Religious Deist, from the Omission of the Doctrine of a Future State of Reward and Punishment in the Jewish Dispensation. 2 Bde. London 1738–1742. Ein dritter Band blieb unvollendet. Die Herzog August Bibliothek in Wolfenbüttel besitzt ein Exemplar der zweiten Ausgabe von 1742. Ebenfalls 1742 erschien bereits eine erweiterte und korrigierte „dritte“ Ausgabe; ein Exemplar befindet sich in der Berliner Staatsbibliothek. Von der Ausgabengeschichte zeugt der Nachdruck: The Divine Legation of Moses Demonstrated […]. 4 Bde. [Nachdr. der Aug. 1738 – 1765]. London, New York 1978. 107 Vgl. Robert M. Ryley: William Warburton. Boston 1984, S. 31. 108 Daniel Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs. Eine Untersuchung zu Kontext und Wirkung von G.E. Lessings Texten zur Seelenwanderung. Göttingen 2005. 109 Vgl. eingehender zu dieser sogenannten Morgan-Debatte Gotthard Victor Lechler: Geschichte des englischen Deismus, Stuttgart u. Tübingen 1841 (ND 1965).
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Werk, das bereits auf den ersten Band reagierte, als die geistreichste und scharfsinnigste Kritik an Morgans Thesen, blieb aber selbst nicht unwidersprochen.110 Warburton bekämpfte die deistischen Positionen, indem er deren kritische Argumentationsmethoden übernahm.111 In unserem Kontext interessiert speziell, dass Warburtons Divine Legation im vierten Buch, als vierte Sektion, eine etwa hundertseitige kritisch-gelehrte Abhandlung über die ägyptischen Hieroglyphen enthält.112 Sie wurde aufgrund ihrer relativen Geschlossenheit als eine selbständige Hieroglyphentheorie aufgefasst. Vor allem durch die französische Übersetzung von Marc-Antoine Léonard des Malpeines (1744) wurde dieses hieroglyphentheoretische Seitenstück der Divine Legation aus dem breiteren theologischen Argumentationszusammenhang herausgenommen und unter dem Titel Essai sur les hiéroglyphes des égyptiens zunächst in Frankreich und dann darüber hinaus bekannt.113 Der Bruder des französischen Übersetzers, Martin-Augustin Léonard des Malpeines, fügte Anmerkungen, Ergänzungen und zusätzlich einen eigenen Essay zur chinesischen Schrift hinzu, so dass zumindest für Frankreich ein starkes Interesse für Warburtons Ausführungen zur Hieroglyphik und den damit eng verbundenen grundsätzlichen schrifthistorischen und schrifttheoretischen Erwägungen erkennbar wird. Weitere Zeitgenossen arbeiteten an angrenzenden Fragestellungen; sie fühlten sich durch Warburton z.T. in ihren eigenen Arbeiten gefördert. Der bedeutendste dieser Autoren war der Abbé de Condillac, der um diese Zeit an einer sensualistischen Erkenntnis- und Sprachtheorie arbeitete. Nach eigenem Bekenntnis war er froh, Warburtons Hieroglyphentheorie noch rechtzeitig vor der Veröffentlichung seines Essai sur l’origine des connoissances humaines kennengelernt zu haben. Als dieser 1746 erscheint, referiert er Warburton breit. Über die Vermittlung von Condillac, freilich zugleich über seine spezifisch sensualisti-
110 Vgl.
Lechler: Geschichte des englischen Deismus, S. 391–394, sowie Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs (wie Anm. 108), S. 281. Eine kritischere Einschätzung gibt Robert M. Ryley, der von Warburtons eher gewundenem Argumentationsgang spricht (William Warburton, wie Anm. 107, S. 22–31; zu den Schwächen des Werkes: S. 26–30). Eine sorgfältig gewichtende Situierung der Divine Legation in den ideen- und debattengeschichtlichen Kontext gibt Davis Sorkin: William Warburton: The Middle Way of „Heroic Moderation“. In: Nederlands archief voor kerkgeschiedenis, Bd. 82 (2002), H. 2, S. 262–300, hier bes. 274–290. 111 Vgl. Astrid Keiner: Hieroglyphenromantik: zur Genese und Destruktion eines Bilderschriftmodells und zu seiner Überforderung in Friedrich Schlegels Spätphilosophie. Würzburg 2003. Kap. II.4: Warburtons theoretische Ägyptologie, S. 92–100, hier S. 93. 112 Ich zitiere den englischen Text nach der Ausgabe: William Warburton: The Works. A New Edition, in Twelve Volumes. London 1811. Das Hieroglyphenkapitel (im 4. Buch, Teil 4) der Divine Legation of Moses befindet sich in Bd. IV. 113 1977 hat Patrick Tort eine Neuausgabe dieser französischen Übersetzung von Warburtons Hieroglyphenkapitel besorgt: William Warburton: Essai sur les hiéroglyphes des égyptiens. Übers. v. Léonard des Malpeines. Hg. v. Patrick Tort. Paris 1977.
2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel
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sche Aneignung, förderten Warburtons Grundannahmen die historisch-genetische Sprach- und Schriftauffassung. Sie wurde – nach Vicos eigenständigem virtuosen Auftakt in Neapel – besonders in Frankreich entwickelt. Als ab 1751 die von Diderot und D’Alembert herausgegebene vielbändige Encyclopédie zu erscheinen begann, wurde Warburton in den entsprechenden Sachartikeln des Chevalier de Jaucourt zur ägyptischen Schrift, zur Hieroglyphik und zur chinesischen Schrift als die maßgebliche Referenz angeführt und z.T. auch breiter referiert.114 Die Verbreitung der Encyclopédie sorgte dafür, dass Warburtons Hieroglyphen- und Schriftverständnis über Frankreich hinaus ein breiteres Bildungspublikum erreichte. In Deutschland hatte man zu dieser Zeit darüber hinaus die Möglichkeit, das Hieroglyphenkapitel in einer Übertragung der gesamten Divine Legation kennenzulernen. Johann Christian Schmidt hatte das Werk inzwischen übersetzt; 1751 bis 1753 erschien es in drei Bänden unter dem Titel William Warburtons Göttliche Sendung Mosis.115 Nicht zuletzt strahlten auch die erwähnten historisch-genetischen Ansätze der französischen Sprach- und Schrifttheorie von Frankreich nach Deutschland aus, sodass insgesamt eine reichhaltige Diskussionsgrundlage mit vielen Anschlussstellen bestand. Es verwundert daher nicht, dass man bisher keine – und vor allem keine einlinigen – Einflusswege belegen konnte. Herder kannte diese Diskussion, als er seine Theorie der biblischen Schöpfungshieroglyphe ausarbeitete. In der Aeltesten Urkunde des Menschengeschlechts (1774) polemisiert er wiederholt und ausdrücklich gegen Warburtons Hieroglyphentheorie und profilierte damit seinen eigenen Ansatz. Warburton hatte in seiner kritischen Erörterung eine Diskussionsgrundlage geschaffen, die weit in die Geschichte zurückgriff und einen Bogen von den ägyptischen Überlieferungen über die Gelehrten der klassischen Antike und der Frühen 114 Vgl.
Louis de Jaucourts Artikel „Hiéroglyphe“ sowie „Ecriture“ (mit den Unterpunkten „Ecriture des Egyptiens“ u. „Ecriture Chinois“). In: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Hg. v. Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert. Paris, Neuchâtel 1751–1780. [Art.] Hieroglyphe: Bd. 8, 1765, S. 205–206; [Art.] Ecriture: Bd. 5, 1755, S. 358– 361. 115 William Warburtons Göttliche Sendung Mosis, Aus den Grundsätzen der Deisten bewiesen […]. In die Sprache der Deutschen übersetzt, und mit verschiedenen Anmerkungen versehen, von Johann Christian Schmidt. In 3 Bden. Frankfurt u. Leipzig, bey Johann Gottlieb Vierling, 1751– 1753. Auch Schmidt hat das Werk also mit eigenen Anmerkungen ergänzt bzw. kommentiert, wenn auch nicht im gleichen Umfang wie die Brüder Léonard des Malpeines im Rahmen der französischen Übersetzung. – 1980 hat Peter Krumme das Hieroglyphenkapitel aus Schmidts Übersetzung herausgelöst und als eigenständiges Buch veröffentlicht. Im Titel hat er sich an die französische Übersetzung von Léonard des Malpeines angelehnt, die kurz zuvor in Frankreich in einer Neuausgabe von Patrick Tort erschienen war (vgl. Anm. 113): William Warburton: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter. Frankfurt a.M., Berlin 1980. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert, dies nicht zuletzt, um auch im Deutschen die historische Begriffsbildung aus der Mitte des 18. Jahrhunderts zu wahren. Wo es nötig ist bzw. wo Schmidt Warburtons englische Termini verstellt (wie bei der Übersetzung von „civil“ durch „bürgerlich“), werden die Termini oder Passagen des englischen Textes zitiert.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Neuzeit bis zu neueren Entdeckungsreisenden und Missionaren und vereinzelten Gelehrten der Gegenwart schlug. U.a. nahm er einen seinerzeit viel diskutierten Topos über die hermetische Weisheit auf, die dem ägyptischen Priester und Geschichtsschreiber Manetho aus dem 3. Jh. v. Chr. zugeschrieben wurde. Warburton zitiert den Topos nach der griechischen Überlieferung des Kirchenvaters Eusebius und gibt folgende Lesart: Manetho versichere, dass seine Kenntnisse auf jenes Wissen zurückgehe, das „Thoyth, der erste Hermes“ vor der Sintflut mit hieroglyphischen Buchstaben in einem heiligen Dialekt auf Pfeilern niedergeschrieben habe. Nach der Sintflut habe der zweyte Hermes das Wissen aus diesem Dialekt „in die Griechische Sprache mit hieroglyphischen Buchstaben übersetzet“ und in Bände gebracht.116 Warburton ist es im Unterschied zu anderen Interpreten wichtig, dass das Wissen weiterhin in Hieroglyphen tradiert wurde. Er ist nicht an dem geheimen Wissen der Tempelbücher interessiert, die schon in der Antike als verschollen galten. Ihn beschäftigt in kritischer Absicht nur das, was die Quellen über die Beschaffenheit von Sprache und Schrift aussagen und wie diese Informationen mit dem gesicherten geschichtlichen Wissen in Einklang zu bringen seien. Warburtons Wissens- und Diskussionsstand wurde in der französischen und der deutschen Übersetzung z.T. mit griechischen, lateinischen, hebräischen, spanischen oder französischen Belegstellen weitergereicht, so dass sich auch von Warburtons Text vielfältige Anschlussstellen eröffneten. In seinem Kanon des gelehrten Wissens über die Hieroglyphik fehlt einzig der Hinweis auf seinen älteren neapolitanischen Zeitgenossen Giambattista Vico. Die erste und zweite Ausgabe von dessen Scienza Nuova waren schon erschienen, als Warburton noch an seinem Werk arbeitete. Von ihnen scheint Warburton, der seine sonstige Belesenheit demonstrativ in vielen Zitaten, kritischen Exkursen und Anmerkungen ausstellt, nichts zu wissen. Besonders von Vico-Kennern ist aber immer wieder betont worden, dass sich Warburtons Hieroglyphenkapitel als ein Parallelstück zu Vicos Ansatz liest. Die Forschung geht allgemein davon aus, dass Warburton Vico nicht gelesen hat.117 Trotz der Gemeinsamkeiten darf man nicht übersehen, dass sich aus Warburtons Gesamtansatz wichtige Schwerpunktverlagerungen ergeben: Ägypten wird als die maßgebliche antike Kultur herausgestellt, die sich schließlich ins Judentum hinein
116 Warburton:
Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter (wie Anm. 115), S. 109f. u. 112; vgl. auch die anschließende Diskussion S. 110–112. Jan Assmann, der hier den Topos nach der Überlieferung durch Georgios Synkellos (8. Jh. n. Chr.) zitiert, nimmt an, dass er dem Manetho nur zugeschrieben wurde und aus späterer Zeit stammt. (Vgl. ders.: Das gerettete Wissen. Flutkatastrophen und geheime Archive. In: Sintflut und Gedächtnis: Erinnern und Vergessen des Ursprungs. Hg. v. Martin Mulsow u. Jan Assmann. München 2006, S. 291–301, hier S. 293.) Vgl. auch w.o., Einführung, S. 5f. 117 Vgl. Antonio Verri: Introduzione. In: Ders. (Hg.): William Warburton. Scrittura e civiltà: saggio sui geroglifici egiziani. Ravenna 1986, S. 20. Vgl. vom selben Autor: Vico e Warburton. In: Bolletino del Centro di Studi Vichiani, X (1980), S. 179–190.
2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel
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verlängert habe. Vico hingegen hatte die Hieroglyphik als Nexus von Sprache, Mythos und Recht nur in den vorchristlichen paganen Kulturen untersucht. Die Hebräer nahm er als Sonderentwicklung eines spezifischen, von Gott geleiteten Volkes aus. Vicos über das Hieroglyphenkonzept vermittelte Thesen, dass Sprache und Kultur geschichtlich den Weg über das mythologische Denken gehen mussten, entging so dem Verdacht einer theologischen Stellungnahme oder gar Abweichung. Warburton hat sein Hieroglyphenkapitel auch mit einer kleinen Anzahl von Abbildungen ausgestattet, die in der französischen und in der deutschen Übersetzung ebenfalls mit abgedruckt wurden. Die Bildbelege sollten seine Thesen plausibel machen. Das war angesichts der relativen Fremdheit der Hieroglyphen für Europa auch notwendig. Doch entnimmt Warburton die Abbildungen bereits anderen gelehrten Werken, unter anderem den Werken von Purchas über die mexikanischen Bilderschriften und von Kircher über die ägyptischen Hieroglyphen und die chinesische Zeichenschrift. Um die altägyptische Hieroglyphik stärker zu profilieren, verglich Warburton sie mit Schriftsystemen anderer frühgeschichtlicher Hochkulturen. Die „mexikanische“ Bilderschrift, die nach den Zeugnissen der Missionare und Gelehrten bei den Einwohnern der Gegenwart noch lebendig war, galt ihm als rohe Urform einer „Malereischrift“, die als eine noch umständliche Frühform der Hieroglyphik anzusehen sei. Die abstraktere chinesische Schrift hingegen galt ihm als Ausdruck einer höheren Funktionalität, die auf einem höheren Zivilisationszustand basiert. Die altägyptische Hieroglyphik schließt nach Warburton in der zeitlichen Tiefe an jene erste, als Urform hypostasierte primitive „Malereischrift“ an. Sie entwickelt sich über einen langen Zeitraum bis zur Stufe der chinesischen Zeichenschrift – und noch darüber hinaus. Warburton kennt das bereits berühmte Beispiel der dinghaften Hieroglyphik des Skythenkönigs Idanthyrsus (bzw. Idanthura, wie Warburton ihn nennt), das auch Vico in seiner Scienza Nuova diskutiert. (Vgl. S. 37f.) Idanthura/Idanthyrsus lässt seine Kriegserklärung an Darius den Älteren in Form von fünf teils lebenden, teils dinghaften Symbolen überbringen. Warburton nennt sie mit Bezug auf Clemens von Alexandrien: „eine Maus, einen Frosch, einen Vogel, einen Pfeil und einen Pflug“.118 Ähnlich wie für Vico, der die dinghaften Symbole als „Realworte“ bezeichnet, sind sie auch für Warburton ein Schlüsselstück in der Hieroglyphen-Theorie. Es beweist ihm, dass vor bzw. neben der Entwicklung von „speech and writing“ eine Kommunikation stattgefunden haben musste, die sich aus Sprachnot mit dinghaften Symbolen bzw. mit einer „composition of action and picture“ behalf.119 Die historische Tiefe ist für Warburton wichtig, weil er mittels der Hieroglyphik an einer Archäologie der Kommunikation arbeiten konnte, die noch hinter die Kul-
118 Warburton:
Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter (wie Anm. 115), S. 34f., Zitat S. 35. Im Unterschied zu Vico verzichtet Warburton auf eine Deutung dieser Dingworte. 119 Warburton: Divine Legation of Moses. In: Ders.: The Works (wie Anm. 112), Bd. IV, S. 137.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
turen der Bilderschrift zurückreicht und sich mit einer entsprechenden Sprachentstehungstheorie verbinden lässt. Für sie interessierte sich in neuerer Zeit besonders Jacques Derrida,120 doch räumten ihr auch Madeleine V. David und Liselotte Dieckmann in ihren komparatistischen Rekonstruktionen des europäischen Hieroglyphendiskurses sowie Jan Assmann in seiner ägyptologischen Schrift- und Gedächtnistheorie einen wichtigen Stellenwert ein.121 Warburtons wollte in seiner Divine Legation beweisen, dass die Kultur Altägyptens mit ihrer besonderen Weisheit ein viel höheres Alter als Moses und das Alte Testament hat. Er vertrat damit eine chronologische Auffassung, die bisher nur wenige Autoren zu behaupten wagten, weil sie dem biblisch gebundenen Geschichtsbewusstsein widersprach. Hier sind für das 16. Jahrhundert etwa Francesco Patrizi und Sebastian Franck122 sowie für das 17. Jahrhundert vor allem John Spencer123 zu nennen. Warburton brauchte das Theorem des hohen Alters für seine neuartige Theorie über die ägyptischen Mysterien, in der er diese Mysterienreligion als ein unverzichtbares Instrument der ersten, weisen Staatengründer Altägyptens bezeichnete. Deren politische Klugheit sollte in Warburtons Gegenwart politisch wieder von Belang werden. Auf diesen ägyptenspezifischen Kontext soll im Folgenden kurz eingegangen werden, bevor dann Warburtons Hieroglyphenansatz näher dargestellt und im Vergleich mit Vico untersucht wird.
120 So
hat Derrida ein Vorwort zu der 1977 von Patrick Tort besorgten Neuausgabe der französischen Übersetzung von Warburtons Hieroglyphenkapitel beigesteuert: Derrida: Scribble (pouvoir/écrire). In: William Warburton: Essai sur les hiéroglyphes des égyptiens (wie Anm. 113), S. 7–43. Vgl. auch die deutsche Übersetzung von Derridas Beitrag in der von Krumme besorgten Ausgabe der deutschen Übersetzung von Warburtons Hieroglyphenkapitel (wie Anm. 115). Schon 1967 hatte Derrida Warburton (und auch Vico) in seiner Grammatologie, dort aber nur am Rande seiner Beschäftigung mit Condillac und Rousseau vergleichend herangezogen. Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie. Übersetzt v. Hans-Jörg Rheinberger und Hanns Zischler, Frankfurt a.M. 1983, S. 465–467. 121 Madeleine V. David: Le débat sur les écritures et l’hieroglyphe aux XVIIe et XVIIIe siècles et l’application de la notion de déchiffrement aux écritures mortes. Paris 1965, S. 95–103. Liselotte Dieckmann: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol. St. Louis 1970, S. 124–128. Jan Assmann: Hieroglyphen als mnemotechnisches System. William Warburton und die Grammatologie des 18. Jahrhunderts. In: Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne. Hg. v. Jörg Jochen Berns u. Wolfgang Neuber. Wien [u.a.] 2000, S. 711–724. 122 Vgl. Monika Neugebauer-Wölk: „Denn dis ist müglich, lieber Sohn!“ Zur esoterischen Übersetzungstradition des Corpus Hermeticum in der Frühen Neuzeit. In: Esotérisme, Gnoses & imaginaire symbolique. Mélanges offerts à Antoine Faivre. Hg. v. Richard Caron [u.a.]. Leuven [u.a.] 2001, S. 131–144, hier S. 137–140. 123 Vgl. Jan Assmann: Ägypten als Argument. Rekonstruktion der Vergangenheit und Religionskritik im 17. und 18. Jahrhundert. In: Historische Zeitschrift 264 (1997), S. 549–585, hier S. 566f. sowie S. 570–572.
2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel
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2.2 Zum Ägyptenbezug der Divine Legation of Moses In der Devine Legation of Moses ist das Kapitel zur Hieroglyphik nur ein Teilstück von Warburtons weitergefasster apologetischer Argumentation: Er ging der Streitfrage nach, ob das mosaische Gesetz im Alten Testament als göttliche Offenbarung zu betrachten sei, obgleich in der mosaischen Theokratie das Schlüsselstück des christlichen Glaubens, die Lehre von einer zukünftigen Vergeltung im Jenseits, fehlt. Der Autor reagierte damit auf Fragen, die durch den kritischen Schub des aufgeklärten Vernunftdenkens und damit einer kritisch hinterfragenden Bibellektüre entstanden waren. Thomas Morgan hatte behauptet, dass das Alte Testament nur ein national beschränktes Religionssystem und das Mosaische Gesetz eine bloß nationale Normierung gewesen seien. Erst das Christentum bringe im Sinne von Paulus die Reinheit der Vernunft und Sittlichkeit hervor. Warburton ging es in seiner Antwort zum einen um die Rettung des Jenseitsglaubens und zum anderen um die Rettung des Offenbarungscharakters der mosaischen Gesetze, obgleich sie, wie erwähnt, an keinen Jenseitsglauben gebunden waren. In der Divine Legation setzt er das Alte Testament in einen übergreifenden orientalischen Kontext, den er aus Altägypten hervorgehen lässt, und vertritt die These, dass Moses in der von ihm begründeten jüdischen Theokratie das Erbe Ägyptens aufbewahrt und es im Sinne eines dort schon verdeckt angelegten Monotheismus vervollkommnet habe.124 Die so erfolgte religionsgeschichtliche Aufwertung Alt-Ägyptens fordert von Warburton eine kulturgeschichtliche Würdigung der ägyptischen Entwicklung, weil sie, ihm zufolge, in das Christentum münde. Aus diesem Ansatz folgt für Warburton die Notwendigkeit, ein Kapitel zur Hieroglyphik auszuführen. Warburton will in diesem Kapitel beweisen, dass Wissen, Vernunft und Geist eine unhintergehbare, menschheitsgeschichtliche Vorgeschichte haben und dass ihre Tradierung nicht von den besonderen, z.T. dunklen oder auch nur fremd gewordenen Formen abzulösen ist, in denen sie überdauern, weitergegeben, aber auch weiterentwickelt wurden. Mit anderen Worten: Warburton lenkt die Aufmerksamkeit darauf, dass der Geist nicht in Reinform gegeben ist, sondern sich materialisiert und zunächst mithilfe von figurativen Buchstaben und Zeichen entwickelt. Diese haben selber eine progredierende Geschichte, die von einer ursprünglich sinnlich-konkreten Umständlichkeit über die Funktionalität schließlich zur Abstraktion führt. Auf diesem Weg sind das dunkle Zeichen und die dunkle Rede partiell notwendig, teils aber auch ein Umweg, den vor allem das metaphysische Denken und der Tiefsinn für ihre eigene Entwicklung brauchen, aber auch missbrauchen. Es gibt nach Warburton eine kritische Grenze, wo die falsch verstandene Hieroglyphik sich in ihren enigmatischen Zeichen wörtlich nimmt und in Aberglauben verkehrt. (Dazu im Einzelnen noch weiter unten.) 124 Zu
Warburtons Stellung im damaligen religionsgeschichtlichen Diskurs über Moses‘ ägyptisches Erbe, vgl. Assmann: Ägypten als Argument, ebd.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Moses war Warburton zufolge in das ägyptische Geheimwissen eingeweiht und nutzte die politische Klugheit der Ägypter bei seiner eigenen theokratischen Staatsgründung. Auch reinigte er die religiöse, aus Ägypten stammende Mitgift der Juden um einige, von Warburton als späte Entgleisungen betrachtete Erscheinungen. Nicht zuletzt habe Moses die ägyptischen Schriftzeichen übernommen, modifiziert und in die hebräische Schrift umgewandelt. Parallel dazu versucht Warburton zu zeigen, dass es zwischen den Entwicklungsstufen der ägyptischen Hieroglyphik einerseits und der sprachlichen Verfasstheit des Alten Testaments andererseits eine Vielzahl von Entsprechungen gibt. Das Alte Testament zeuge von verschiedenen historischen Sprachstufen, die die Entwicklung der menschlichen Kommunikation aus einer anfänglichen bildlichen Grundbeschaffenheit erweisen; ihre geschichtliche Tiefendimension gilt es in einer Art Archäologie aufzudecken. Warburton gibt sich hier nicht nur als Aufklärer; in seiner Historisierung der Bibel und der historisch-kritischen Sicht ihrer schriftlichen Verfassung treibt er eine Bibelkritik voran, die – zu Ende gedacht – den Offenbarungscharakter untergraben würde. Andererseits will er mit den Relativierungen zu einer neuen Glaubensgewissheit für seine Leser gelangen, indem er die menschheitsgeschichtliche Verankerung der christlichen Religion und Kirche in der Vorantike und damit ihre überzeitliche Dignität anstrebt. Zwar sei das Alte Testament in einer hebräischen Buchstabenschrift niedergeschrieben, doch habe sich diese, wie die weiterentwickelte alphabetische Buchstabenschrift der Ägypter selbst, aus den Hieroglyphen entwickelt. Zugleich behauptet Warburton eine politisch-religiöse Sonderstellung der antiken jüdischen Theokratie unter Moses, weil dieser sich unter die Herrschaft des einen Gottes gestellt habe. Warburton zufolge sind die Zehn Gebote nicht etwa mit dem Finger Gottes geschrieben worden, wie einige behauptet hätten, sondern in der Sprache von Moses und mit Hilfe der Weisheit, die dieser bei den Ägyptern erworben und im Sinne seiner „göttlichen Sendung“ abgeändert habe. Moses wird so zur zentralen Mittlerfigur. Darüber hinaus wird das Alte Testament in seiner schriftlichen Form das Werk von Menschen. Die polytheistischen Religionsgründungen und ihre religiöse Legitimierung fasst Warburton als Mythen und wertet damit die Behauptung, dass die ägyptische Schrift göttlicher Herkunft sei, als eine menschliche Auffassung. Mit dieser Gleichbehandlung von polytheistischer und jüdisch-christlicher Religion wird es undeutlich, ob und wo Warburton eine Zäsur zwischen Heidentum und Judentum ansetzt. Im Rahmen des Hieroglyphik-Kapitels jedenfalls gehört die hebräische Sprache, und damit auch das Alte Testament, in einen orientalischen Gesamtzusammenhang, der mit seiner bilderreichen, pleonastischen und metaphorischen Kultur in der Tradition des altägyptischen hieroglyphischen Schrift- und Sprachursprungs steht. Die Linearität dieses Geschichtsablaufs stellte Warburton vor das Problem, dass er einerseits in Ägypten einen Jenseitsglauben vertreten sah, der aber anschließend in der jüdischen Theokratie fehlte und andererseits für das Christentum wieder verbindlich wurde. Warburton löst die Frage nicht dogmatisch, sondern pragmatisch,
2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel
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indem er aus seiner Sicht von den politischen Erfordernissen der Gegenwart ausgeht. Als anglikanischer Geistlicher war er besorgt, dass der Jenseitsglauben durch die deistische Vernunftreligion ausgehebelt werden könnte. Warburton betrachtete die Lehre von der Vergeltung im Jenseits als ein unverzichtbares gesellschaftspolitisches Instrument auch seiner eigenen Gesellschaft. Die bürgerlichen Gesetze reichen demnach allein nicht aus, um den Ungehorsam zu unterbinden. Insgesamt zeigt Warburton deutlich, dass er für eine politisch und theologisch gebildete Oberschicht schreibt, die unter dem Eindruck von Locke für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Moral zu sorgen hat. Der Jenseitsglauben wird so zum Instrument einer herrschenden und verwaltenden Elite, um Moral und Sitte des breiten Volkes zu erzwingen. Weil der Jenseitsglauben in die Kritik geraten war, will ihm der anglikanische Geistliche menschheitsgeschichtlich eine größere Überzeugungskraft zurückgeben. In diesem Zusammenhang wird sich seine Auffassung der Hieroglyphe differenzieren. Warburton entwickelte die These, dass die altägyptische Mysterienkultur den Jenseitsglauben zum Wohle ihres Staates als exoterische Religion eingerichtet habe. Mit Berufung auf Clemens von Alexandrien unterscheidet er zwischen den kleinen und den großen Mysterien. Die kleinen Mysterien waren für das Volk offen und lehrten – im Rahmen des staatstragenden Polytheismus – die Unsterblichkeit sowie die jenseitige Vergeltung. Die großen Mysterien hingegen waren nur wenigen Auserwählten vorbehalten. Ihnen wird der fiktive Charakter der vielen Gottheiten beigebracht: Sie seien für das Volk nötig, doch gebe es in Wirklichkeit nur eine einzige „All-Gottheit“, die aus sich selbst heraus besteht und der alle Dinge ihr Dasein schulden.125 Warburton konnte in dieser These an Ralph Cudworth anschließen. Dieser hatte 1678 in The True Intellectual System oft the Universe breit ausgeführt, dass die Ägypter in einer Geheimtheologie („Arcane Theology“) die Lehre von dem Einen Gott gepflegt hätten.126 Dennoch fasst Warburton den Polytheismus nicht als Priesterbetrug auf, wie ein Jahrzehnt später die Autoren der Diderotschen Encyclopédie. Ohne die Annahme von Gottheiten, die über die Einhaltung von Gesetzen wachen, könne nach Warburton keine zivile Gesellschaft aufrechterhalten werden.127
125 Vgl.
Jan Assmann: Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes. In: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1999 [2000], S. 25–40, hier S. 36. Vgl. auch Jan Assmann: Ägypten als Argument (wie Anm. 123), S. 575f. 126 Jan Assmann: Ägypten als Argument, ebd., S. 573f. 127 Vgl. Jan Assmann: Ägypten in der Gedächtnisgeschichte des Abendlandes (wie Anm. 125), S. 36. Warburtons „verblüffende These von der Geburt der Mysterien aus dem Geist der politischen Theologie des Heidentums“ (Jan Assmann) wurde in Deutschland besonders von Christoph Meiners aufgegriffen. Dessen Schrift über die Eleusinischen Mysterien inspirierte wiederum Adam Weishaupt bei der Gründung des Illuminatenordens, der in der Form des Geheimbundes die Tugenden politischer Kultur ausbilden wollte. In der Folge zeigte sich ein erstarktes Interesse an den Mysterien in mehreren Schriften der 1780er Jahre. Auf diesen basiert auch Schillers Die Sendung Moses von 1790. (Vgl. Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium. München,
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Bei den Juden hingegen hätten die mosaischen Gesetze ausgereicht, weil Moses – in Abwandlung der politisch-theokratischen Geheimlehren der Ägypter – eine Theokratie begründet habe, die unter einer außergewöhnlichen göttlichen Vorsehung stand. Dabei habe er besonders den Polytheismus und die Tierreligion abgedrängt, die sein Volk beim Auszug aus Ägypten mitgenommen hatte. Warburton zufolge waren beide ein exoterischer, volksreligiöser Zauberglaube, der bei den Ägyptern bereits auf einem späten Missverständnis ihrer eigenen, mit dem politisch-religiösen Wissen eng verbundenen Hieroglyphen beruhte. Mit den Mysterien wie auch mit den Hieroglyphen griff Warburton Themen auf, die seit der Renaissance stark mit dem hermetischen bzw. neuplatonischen Denken verbunden waren. Warburton zeigt an mehreren Stellen, dass er dieses Denken kennt. Einiges referiert er sogar, wie die hermetisch-neuplatonische Auffassung, dass die Hieroglyphen heilige Zeichen seien, weil sie mit den elementaren Bausteinen der Schöpfung zusammenfielen.128 Insgesamt aber versteht er sich als Aufklärer, der das mystifizierende und mythisierende Denken überwinden will und sich an Quellen hält, die er als „philosophisch“ qualifiziert. Zudem hält er die hermetischen Schriften – in der Folge der textkritischen Arbeit von Isaac Casaubon – (und ähnlich wie Vico) für eine Fälschung.129 Ihm geht es weniger darum, in Geheimnisse einzudringen; er will sie vielmehr in ihren Funktionen für den Staat bzw. die Gesellschaft verstehen. Ähnlich wie Vico hat auch Warburton als Jurist angefangen, sodass seine Linie zum Staatsutilitarismus, das heißt zur politischen Instrumentalisierung des Religiösen, konsequent erscheint. Gleichzeitig dienen seine Konstrukte den Interessen, die er mit seiner eigenen gesellschaftlichen Stellung in der Gegenwart besaß. Warburtons Hieroglyphentheorie entsteht im Rahmen dieser weitgespannten, über mehrere Bände geführten Argumentation, die er mit außerordentlicher Gelehrsamkeit, mit Scharfsinn und genauer Kenntnis der klassisch-antiken Quellen führt. Man muss aber beachten, dass er nicht alle seine Beobachtungen zu einer restlos schlüssigen Theorie zusammenführen konnte. Er arbeitete sich vor allem an Athanasius Kircher ab, der in drei monumentalen Werken zum Thema die Theorie vertreten hat, die Hieroglyphen seien eine Geheimschrift, die eng mit den ägyptischen Mysterien verbunden seien.130 Warburton hingegen unterschied historische Phasen
Wien 2005, 158f.) Zur Weiterentwicklung und Vermittlung von Warburtons Thesen in deutsche Freimaurerkreise durch den Illuminaten Karl Leonhard Reinhold, vgl. Assmann: Ägypten als Argument (wie Anm. 123), S. 578–582. 128 Warburton: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter (wie Anm. 115), S. 151. 129 Vgl. auch Cyranka: Lessing im Reinkarnationsdiskurs (wie Anm. 108), S. 348f. 130 Vgl. J. Assmann: Hieroglyphen als mnemotechnisches System (wie Anm. 121), S. 713. Warburton wirft Kircher eine „wahnwitzige Bemühung“ vor: Er versuche mit Hilfe der „jüngeren Griechischen Platonisten und mit den erdichteten Büchern des Hermes […] alte Denkmale, die nichts
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und Funktionszusammenhänge, in denen es einerseits Hieroglyphen für eine offene Kommunikation und andererseits Hieroglyphen für eine geheime Verständigung gab. 2.3 Warburtons Sprachtheorie im Vergleich zu Vico Ähnlich wie Vico begründet auch Warburton die Hieroglyphik auf einer historischgenetischen Sprach- und Schrifttheorie. Sein Hieroglyphenkapitel wird von der Forschung als ein unabhängig entstandenes Parallelstück zu den entsprechenden Überlegungen und Spekulationen in Vicos Scienza nuova gesehen. Es gibt viele vergleichbare Theoreme, die man später partiell auch bei Condillac sowie in Deutschland bei Herder wiederfindet. Vico und Warburton nehmen an, dass die menschliche Kommunikation nicht mit einer artikulierten Lautsprache, sondern mit stummen Handlungen, mit bedeutsamen Gebärden und z.T. mit symbolischen Gegenständen begann. Diese stumme Sprache von Handlungen wird als Teilbereich der Hieroglyphik erfasst und beschrieben. Beide Autoren konnten sich auf Francis Bacon beziehen, der bereits 1605 in The Proficience and Advancement of Learning, die Auffassung vertrat, „die Gesten [seien] nichts an deres als transitorische Hieroglyphen“ („temporary Hieroglyphicks“). (Vgl. S. 35.) Sowohl Vico als auch Warburton gehen im Weiteren davon aus, dass die Schrift bei allen Völkern mit rohen, unbeholfenen Bilderschriften begann, in denen nicht Worte, sondern die Körper und Sachen mittels figurativer Zeichen vorgestellt wurden. Diese seien den vorgestellten Körpern und Dingen ähnlich gewesen, so dass sie den beiden Gelehrten, im Gegensatz zur konventionellen Sprache, als Zeichen einer „natürlichen Sprache“ gelten. In ihren Anfängen sei die Hieroglyphik eine offene, kommunikative Sprache gewesen, die jeder verstehen konnte. Später kamen, so Warburton, auch Zeichen („marks“) für unkörperliche Ideen und Modi hinzu; noch später wurde bei den Priestern auch das Unkörperliche durch körperliche Bildfiguren, wie z.B. Tiere, vorgestellt (z.B. das Wissen durch einen Affen). Die anfängliche Hieroglyphik ist also zunächst nicht enigmatisch, sondern wird es erst für die späteren Generationen. Ihr Sinn verdunkelte sich allmählich aufgrund von Missverständnissen und Vergessen und (so Warburton) aus Gründen nachträglicher Mystifizierung. Für beide Autoren waren Mythos, Religion, Wissen und Logos in den figürlichen Zeichen und der sich daraus entwickelnden figürlichen Rede noch nicht voneinander abgetrennt. Vico reflektiert, dass auch die Gesellschaftsformen mit ihren Eigentumsund Machtverhältnissen nicht von Mythos und Logos zu trennen sind, sondern im Gegenteil von ihnen miterzeugt und bestätigt wurden. Gemeinsames Wissen und ge-
philosophisches in sich haben, zu erklären […].“ Warburton: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter (wie Anm. 115), S. 69f.
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meinsamer Sinn wurden über einen sehr langen Zeitraum nur in religiöser Symbolsprache bzw. mythologischer Bildsprache mittels der Hieroglyphen kommuniziert bzw. schriftlich aufbewahrt. Vico und Warburton gehen davon aus, dass der vom Konkreten und Einzelnen wegführende Abstraktionsprozess zu einem Denken in quasi gattungsnahen Verallgemeinerungen gelangte, die in diesem Stadium aber noch in bildlichen Formen gebunden waren. Weil die Kulturen in ihrem Anfang wesentlich theokratisch organisiert waren, führte der Abstraktionsprozess im Rahmen von Religion und Mythos auch zu kosmologischen und mystischen Überhöhungen. Vor allem Warburton sieht (neben der Entwicklung der Hieroglyphik zu einer pragmatischen Buchstabenschrift) eine religiöse Geheimsprache und Geheimschrift entstehen, die von Priestern gehütet werden. Ihm zufolge entstehen durch sie die Formen der dunklen Rede, die das spekulative Denken antreiben. Bei Vico verweisen kosmologische Figuren auf Heroen, bei Warburton verweisen sie als Hoheitszeichen oder als Schmuckzeichen auf Gottheiten, Dynastien oder hochgestellte Einzelne. Gemeinsam ist Vico und Warburton die Vorstellung, dass die frühesten Kulturstufen gleichsam die Kindheit der Menschheit bildeten, es also eine notwendige Entwicklung zum Erwachsenenalter, wenn nicht sogar (wie bei Vico) zum altersbedingten Verfall gibt. Zugleich werden die frühere Kultur und das unverbildete Volk in der Gegenwart gleichgesetzt. Als Ersatz für die Zeugnisse der alten Kultur greifen beide Autoren auf Ausdrucks- bzw. Redeformen des Volkes ihrer eigenen Gegenwart zurück und ziehen Analogieschlüsse aus deren gegenwärtiger Verfassung für die (Re-)Konstruktionen der Vergangenheit. Vico bezieht darüber hinaus auch Taubstumme, im Einzelfall sogar „Frauen“ ein. Sie alle werden von der Warte einer zu sich selbst gekommenen, „erwachsenen“, das heißt reflexiven Kultur gesehen. Wie den Erwachsenen die Spontaneität der Kindheit verloren gegangen sei, so sei den späteren Generationen bzw. den Gebildeten die Sinnlichkeit und Energie der frühen Völker bzw. der Unterschichten abhanden gekommen. Besonders Vico schätzt die Kreativität der frühen Kulturen. Beide vertreten die Auffassung, dass sich das rationale Sprechen und Denken aus einer langen Tradition der bilderreichen Sprache entwickelt habe, die ihre Anfänge in der gesprochenen und später in Lautschrift aufgezeichneten Hieroglyphik besitze. Beide meinen, dass man an den ältesten, in alphabetischer Lautschrift überlieferten Zeugnissen, wie der Bibel oder etwa auch den Orakeln die Bildersprache nachweisen kann. Sie zeigen, dass bereits Gott und auch die Propheten zunächst in bedeutungsvollen stummen Gebärden und Handlungen zu den Menschen gesprochen hätten. Die späteren Entwicklungsstationen der bildlichen Rede sind Gleichnis und Metapher. Vico räumte zusätzlich auch der Metonymie einen großen Stellenwert ein. Für ihn, ähnlich wie für Warburton, besaß aber die Metapher die Schlüsselrolle für den Übergang zum abstrakteren Denken. Die historischen Stufen der Sprachentwicklung lassen sich etwa in den Mythen (so Vico) oder in der Bibel (so Warbur-
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ton) finden. Wie Vico behauptet daher auch Warburton für die frühen Völker (wenn auch nicht mit den gleichen Begriffen und der gleichen Ausführlichkeit), dass sie aus Sprachnot zu „Poeten“ (so Vico) bzw. zu Redekünstlern im Sinne der späteren Rhetorik werden mussten. Mangels Begriffen schufen sie sich aus Gesten, Bildern und Metaphern erst die Körpersprache, dann die Schrift und schließlich die (gesprochene) Sprache. Es lässt sich bereits erkennen, dass die Hieroglyphe bei Vico und Warburton – und in der Folge auch in anderen sprach- und schriftgeschichtlichen Diskursen – trotz der Schwerpunktverschiebungen im Einzelnen als eine begriffliche Klammer fungiert, die die Gestensprache, die Bilderschrift im engeren Sinne sowie die bilderreiche Sprache der Metaphern zusammenführt. Der gemeinsame Begriff lenkt die Aufmerksamkeit auf die Sinne in der Sprach- und Schriftentstehung. Nach dem Vergleich von Warburton und Vico gilt es nun, Warburtons eigenständige Sicht auf die Hieroglyphik stärker zu profilieren. 2.4 Rhetorische Figuren bei Warburton Seit der Antike wurde die Hieroglyphe, v.a. von Clemens von Alexandrien, als komplexe Zeichenfigur gefasst, die durch eine rhetorische Figur mit der gemeinten Sache vermittelt war. Clemens und andere unterschieden in einer folgenreichen Einteilung einerseits den unübertragenen Sachbezug, der durch den sogenannten kyriologischen Modus gegebenen war, vom tropologischen Modus, bei dem man etwa mit metaphorischen Übertragungen eine Ähnlichkeit zur gemeinten Sache herstellt. Durch Verrätselung entsteht zudem eine enigmatische Figur. Wichtig war nun, dass diese sehr verschiedenen rhetorischen Möglichkeiten sowohl auf Bildzeichen als auch auf Sprachfiguren angewendet werden konnten. So wurden schon in der Antike etwa pythagoreische Weisheitssprüche als Ausdruck hieroglyphischen Sprechens aufgefasst. Das bedeutete letztlich, dass die Vergleichbarkeit der Hieroglyphe mit bildhaften Sprachfiguren über die Rhetorik vermittelt war, obwohl in der Medienpraxis die gemalten Bilder für einen Rhetor keine Funktion haben konnten. Von der Übertragung der sprachlich verfassten Rhetorik auf eine bildhafte, figürliche und nicht-alphabetische Schrift kann daher keine begriffliche Klarheit erwartet werden. Wenn man sie auch noch auf das Pantomimisch-Gebärdensprachliche ausgedehnt hat, mag das an den vorausgegangenen kirchlichen und herrschaftlichen Festen und Ritualen gelegen haben. Auch die ethnologischen Berichte über die naturreligiösen Rituale ferner Völker kamen hinzu und forderten ein Verständnis der körpersprachlichen Semantik, um sie wie die Hieroglyphik im Horizont „natürlicher“ oder „konventioneller“ Zeichen diskutieren zu können. Zumindest einfache, kyriologische Hieroglyphen, also Sach- oder Umrissabbildungen, hatten mit manchen gebärdensprachlichen Zeichen gemein, dass sie von vielen Menschen – unabhängig vom jeweiligen Sprachhorizont – verstanden werden konnten. Damit entstand die Frage nach einem originären körperlichen Ausdruckswissen. Vico fragte
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auch nach dem energetischen Überschuss der archaischen Körpersprache und diskutierte, ob und wie dieser sich in der sprachlichen Intonation oder in bestimmten rhetorischen Figuren wie dem Pleonasmus und der Iteration fortgesetzt hat. Warburton griff, wie erwähnt, die aus der Antike überlieferten rhetorischen Modi auf: Für ihn gab es sowohl Hieroglyphen für eine offene Kommunikation, insofern die Zeichen deutlich auf die gemeinten Sachen verwiesen, als auch enigmatische Hieroglyphen, die einer esoterisch-religiösen Kommunikation vorbehalten waren. Dazwischen lagen die Hieroglyphen, die durch einen tropologischen Modus entstanden und einen Status zwischen offener Kommunikation und Geheimhaltung besaßen. Warburton löste ihren problematischen Status durch Verzeitlichung, indem er verschiedene historische Schrift- und Sprachzustände unterschied. Er nahm an, dass die offene Kommunikation mit einfachen Hieroglyphen einen frühen Zustand kennzeichnet, während die geheime Kommunikation mit schwierigen Hieroglyphen für das tiefsinnigere theologische Denken der Priester erst später entstand. Warburton setzte das Modell einer dynamisch-graduellen Stufenleiter an, in der es keine Brüche oder Sprünge gab, sondern nur Angrenzungen und kontinuierliche Veränderungen. Das Neue galt als qualifikativ veränderte Stufe eines älteren Zustands. Warburton wurde durch seine Ergebnisse noch zu einer weiteren Auffassung gedrängt, die der Einlinigkeit gradueller Höherentwicklung partiell entgegenstand: zur Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen. Er glaubte zu erkennen, dass das Alte nicht einfach durch das Neue abgelöst wurde, sondern Altes und Neues lange Zeit nebeneinander bestanden haben. Für ihn existierten nicht nur ältere und spätere Hieroglyphenschriften lange Zeit nebeneinander, sondern auch Hieroglyphenschrift und alphabetische Buchstabenschriften. 2.5 Die Hieroglyphen in ihrer Entwicklung Anders als bei Vico, der sich vor allem für die Sprache der klassischen antiken Mythen interessierte, standen bei Warburton die ägyptischen Hieroglyphen im Mittelpunkt seiner Überlegungen, wenngleich auch er sie mit menschheitsgeschichtlichen Erwägungen verband. Im Unterschied zu Vico, der bei allen Nationen jeweils drei voneinander getrennte Zeitalter annahm, die mit ihren politisch-juristischen Gesellschaftssystemen auch jeweils eigene Sprach- und Schriftformen ausprägten, nahm Warburton eine weitgehend sukzessive und kumulative Kontinuität der Sprach- und Schriftentwicklung an. Er ordnete die altägyptische Entwicklung in eine übergreifende menschheitsgeschichtliche Entwicklungslinie ein, die u.a. durch Moses, mit Modifikationen bei den Hebräern, fortgesetzt wurde. Wie bereits kurz angedeutet, führte diese Linie ihm zufolge von den mexikanischen Bilderschriften über verschiedene Stufen zunehmender Abstraktion und Funktionalität zur alphabetischen Lautschrift. Die ägyptischen Hieroglyphen interessieren ihn besonders, weil er an ihnen den vollständigen Entwicklungsprozess belegen zu können meinte. Die Ägypter began-
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nen ihm zufolge (ähnlich wie die „Mexikaner“) mit einer rohen Bilderschrift, in der man alles, was eine körperliche Gestalt hat, nach seiner eigenen Figur abgemalt hat, während man für unkörperliche Dinge „bedeutende Charaktere“ eingesetzt hat. Anders als die Mexikaner erreichen die Ägypter aber eine Stufe der Abstraktion, die den chinesischen Schriftzeichen entspricht. Warburton konnte mit diesen Thesen an eine lange bestehende Diskussion anschließen, die sich für den Zusammenhang und die Unterschiede zwischen den frühesten Bilderschriften, etwa der Maya, und der chinesischen Zeichenschrift interessierte. So beruft er sich u.a. auf Acosta und Purchas. Kirchers umfangreiche Schriften über die ägyptischen Hieroglyphen und die chinesischen Schriftzeichen kritisiert er vehement; den jesuitischen Autor qualifiziert er als „Träumer“. Doch kam es ihm gelegen, Kirchers Bildmaterial samt den Beschreibungen zu gebrauchen. Kircher hatte in Rom zwar Zugang zu den restaurierten und wieder aufgestellten Obelisken131, stützte sich aber weitgehend auf Bücher mit verzerrenden Wiedergaben der Hieroglyphen. (Vgl. Einführung, S.7.) Speziell bei den chinesischen Zeichen mochte Warburton sich darüber hinaus auch an Bacon erinnert haben, der diese als „Real-Charaktere“ („Characters Real“), das heißt als „Sachzeichen“ aufgefasst hatte. Bacon zufolge bezeichnen sie „neither letters nor words […] but Things or Notions“.132 Der Ausdruck „Character“ wurde vereinzelt schon in der früheren Gelehrtendiskussion verwendet und konnte sowohl „Figur“ als auch „Zeichen“ oder eine Kombination von beiden bedeuten. Für Warburton stellten die chinesischen Schriftzeichen im Sinne der „Characters“ einen Übergang von der Figurenschrift zu einer reinen Zeichenschrift dar, in der die Bilder allmählich zurückgedrängt werden. Ihm zufolge sind […] die Chinesischen Zeichen […] von den eigentlichen Buchstaben nicht mehr weit entfernet; indem ein Alphabet nichts anderes ist, als eine zusammengezogene Abkürzung jener beschwerlichen Vielfältigkeit [des Hieroglyphischen bzw. Figürlichen].133
Die fehlende Weiterentwicklung der chinesischen Schrift erklärt Warburton mit der Abschirmung gegenüber den anderen Kulturen. Den Übergang zur Buchstabenschrift sieht er dagegen in der äthiopischen Schrift realisiert. Sie habe die „nämlichen Charakteristischen Zeichen angenommen“, um ihre „Buchstaben daraus zu
131 Insgesamt
lagen mehr als ein Dutzend Obelisken an verschiedenen Stellen in Rom; einige hatte man seit Papst Sixtus V. zu restaurieren begonnen. Kirchers Werk Obeliscus Pamphilius bezog sich auf den Obelisken, mit dem man Mitte des 17. Jahrhunderts den Brunnen der vier Flüsse auf der Piazza Navona bekrönt hatte. Kircher war eigens zur Restaurierung des Obelisken eingeladen. Vgl. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Aus d. Italien. v. Burkhart Kroeber. München 1997, S. 164. 132 Zit. nach Michael Friedrich: Chiffren oder Hieroglyphen? Die chinesische Schrift im Abendland. In: Aleida u. Jan Assmann (Hg.): Hieroglyphen. Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie. München 2003, S. 89–116, hier S. 104. Vgl. zu Bacons „Real-Charakteren“ auch Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache (wie Anm. 131), S. 220f. 133 Warburton: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter (wie Anm. 115), S. 20.
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machen“.134 Warburton will vor allem zeigen, dass diese Entwicklung von Natur aus notwendig war und keinesfalls auf einer freien Wahl oder einer Kunst basierte.135 Auch in Ägypten sei es zu dieser, in der Natur liegenden Weiterentwicklung gekommen. Es gab als Übergangsstufe eine „Currentschrift“ („running hand“), die Warburton „hierographisch“ nennt. Erst habe man, aus Gründen der Vereinfachung, nur noch die Umrisse der Figurenzeichen geschrieben, dann aber – mit zunehmender Abstraktion – daraus Buchstaben geformt. Die Zeichen wurden nicht mehr für Sachen gesetzt, sondern für Wörter und stellten zusammen ein Alphabet dar. (Dazu noch weiter unten.) In übergreifender komparatistischer Perspektive ergibt sich folgende Entwicklungslinie. Sie ist bei Vico und Warburton vorgezeichnet, wird bei Condillac ausgebaut und dann von vielen Autoren übernommen und ausgestaltet: Am Anfang steht eine aktionistische Sprache der Gesten, Handlungen und dinghaften Symbole, aus denen sich nach und nach einerseits rudimentäre Sprachwörter und andererseits malerische bzw. figurative Schriftzeichen entwickelt hätten. Die Gesten gelten großteils als „natürliche Zeichen“, weil sie noch einen Ähnlichkeitsbezug zur gemeinten Sache haben. Bei den Sprachwörtern kann die Ähnlichkeit auch durch Lautmalerei vermittelt sein. Die Sprachwörter ihrerseits entwickeln sich zur voll artikulierten Sprache mit Prosodie und Satzbau weiter. Die Hieroglyphen entwickeln sich zu konventionellen Zeichenfiguren, aus denen zuletzt die Alphabete hervorgehen. Michael Friedrich zufolge wirkte diese gestensprachliche Ursprungskonstruktion über Wundt noch bis hin zu Cassirer und Warburg. 136 Für Warburton ermöglichte es das hohe Alter und die Langlebigkeit der ägyptischen Kultur, dass sich alle diese Stufen entwickeln konnten, während man bei anderen Völkern, wie den erwähnten Mexikanern (genauer den Mayas) und den Skythen, nur frühe Teilstufen beobachten könne. Das hatte Vico ähnlich gesehen, wenn er – unter dem Einfluss von Herodot und Manetho – von den drei Zeitaltern der Ägypter sprach, in denen sich alle drei von ihm beschriebenen Sprachen (die von ihm sogenannte „Sprache der Götter“, die „der Heroen“ und die „der Menschen“) entwickelt hätten. Warburton nimmt – wie schon angedeutet – an, dass die verschiedenen Hieroglyphen- und Alphabet-Schriften in Ägypten lange Zeit nebeneinander bestanden haben. Anders als Vico kennt er nicht die Unterscheidung von hieroglyphischer, einer eher emblematischen sowie der analytisch-begrifflichen Schrift, sondern er entwickelte eine andere Systematik und klassifizierte vier Schrifttypen. Bei Warburton endet die Sprachentwicklung in einem Nebeneinander von öffentlichpragmatischer Sprache und der Sprache mystischen Tiefsinns. Mit anderen Worten:
134 Ebd.
135 Ebd., 136 Vgl.
S. 24. Michael Friedrich: Chiffren oder Hieroglyphen (wie Anm. 132), S. 113.
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Staat und Religion, Öffentlichkeit und Geheimnis, offener Sinn und verborgener Hintersinn existieren nebeneinander. (Dazu noch weiter unten.) 2.6 Die Archäologie der Bibel: Sprachstufen der Menschheit Ähnlich wie Vico nimmt auch Warburton an, dass sich die menschliche Sprache in einer kommunikativen Situation mittels bedeutsamer stummer Handlungen und Gebärden entwickelte. Vico spricht von „atti“ und „cenni“, aber auch von Gegenständen und Symbolen, die mit diesen Handlungen verbunden waren. Warburton prägt den Ausdruck „language of action“ für einen ähnlichen Zusammenhang von Handlungen mit bedeutungsvollen Gesten und/oder Symbolen. Condillac setzt Warburtons Sprachgebrauch im Französischen mit „langage d’action“ fort. Allmählich kommt eine anfänglich noch rudimentäre Sprache hinzu, aus der sich später die artikulierte Sprache entwickelt. Mit Blick auf diese Übergangszeit spricht Warburton von einem „mixed discourse of words and actions.“137 Zeugnisse von dieser „language of action“ bzw. dem „mixed discourse of words and actions“ glaubt Warburton noch im Alten Testament vorzufinden, wobei die Bibel natürlich nur einen bereits artikulierten Sprachstand bezeugen kann, der zudem in hebräischer Schrift überliefert ist. Dennoch meint Warburton, dass die Propheten und sogar Gott sich den Menschen noch weitgehend in einer Sprache der bedeutungsvollen, symbolischen Handlungen verständlich gemacht haben, weil das Volk noch keine andere Sprache verstehen konnte. Darüber hinaus enthalte die Bibel weitere Sprachstufen, die für die Entwicklung zur hieroglyphischen Schrift mit ihren tropologischen Bezugssystemen charakteristisch sind. Warburton untersucht in der Bibel vor allem die Formen der Fabel, des Gleichnisses und der Metapher und interpretiert sie als Verfahren zunehmender Verkürzung und Abstraktion. Die Metapher wird sowohl von Vico als auch von Warburton hoch geschätzt; beide nehmen an, dass das metaphorische Sprechen dem begrifflichen Sprechen vorausgegangen ist. Besonders prägnante Handlungen und Gleichnisse haben sich Warburton zufolge zu Sprichwörtern und Redewendungen verfestigt. Warburton findet in der Bibel darüber hinaus auch Beispiele des Übergangs: Wenn eine Textstelle etwa als Gleichnis beginnt, dann aber als Metapher endet. Wie in der hieroglyphischen Bilderschrift findet Warburton daher auch in der Bibel ein Nebeneinander, genauer: eine zeitliche Schichtung verschiedener Sprachstände des gestischen und bilderreichen Sprechens. Er ordnet sie historisch in der Art, dass die letzte Stufe in ihrer weiteren Verfeinerung immer schon einen Übergang zu der nächsten Stufe bildet. Neben der ägyptischen Hieroglyphik ist für Warburton das Alte Testament das zweite menschheitsgeschichtliche Zeugnis, das die Anfänge der Sprache bewahrt. Im Alten Testament konstatiert er Sprachschichten mit Redewendungen, Gleichnis-
137 Warburton:
Divine Legation of Moses. In: Ders.: The Works (wie Anm. 112), Bd. IV, S. 133.
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se und Metaphern, die aus einem vorgelagerten gestensprachlichen und hieroglyphischen Kommunikationsfeld stammen. Sie sind für die neuzeitlichen Leser fremd geworden und müssen neu erschlossen werden. Mit dieser anthropologischen Sicht auf die Bibel berührt sich Warburtons Ansatz wiederum mit dem von Vico, auch wenn sich dieser nicht der Bibel, sondern vorrangig den archaischen Mythen der Griechen zugewandt hat. Beide untersuchen die Fremdheit archaischer Begebenheiten, die dennoch, trotz der gefilterten Überlieferung, durchscheint. Vico belegt die durchscheinenden Muster mit dem Begriff der fantastischen Topik und setzt sie von der begrifflich-abstrakten Sprache seiner Gegenwart ab. Warburton jedoch kann diese Bewertung nicht teilen, weil er als Geistlicher am Offenbarungscharakter der Bibel für die Gegenwart festhalten muss und will. Für ihn ist die Offenbarung dennoch weitgehend in bilderreichen, hieroglyphischen Sprachfiguren aufbewahrt, so dass die biblische Wahrheit nicht von dem besonderen Charakter ihrer Ausdrucksweise zu trennen ist. Unter der Leitvorstellung der Hieroglyphe spricht Warburton noch eine andere Form der alttestamentarischen Ausdrucksweise an: die dunkle Rede. Um sie angemessen vorzustellen zu können, muss zunächst Warburtons Kategorie der Priestersprache im Rahmen seiner Systematik der ägyptischen Schriftarten entwickelt werden. 2.7 Warburtons Systematik der ägyptischen Schriftarten Im Einzelnen systematisiert und periodisiert Warburton vier Formen von ägyptischen Schreibweisen.138 Die Klassifikation kompiliert er aus Porphyrius und Clemens von Alexandrien, die beide jeweils nur drei Schriftarten unterschieden hatten. Insgesamt unterscheidet Warburton: 1) die eigentliche hieroglyphische Schreibungsart, 2) die symbolisch-hieroglyphische Schreibungsart, die bis zum Enigmatischen gehen kann, 3) die epistoläre (auch: epistolische) Schreibungsart oder Briefschrift,139 4) die hierogrammatische Schreibungsart. Nach Warburton sind nur die beiden ersten Gruppen hieroglyphische Bilderschriften im engeren Sinne. Sie bestehen ihm zufolge „nicht aus Buchstaben eines Alphabets, sondern aus ‚Zeichen‘ und ‚Charakteren‘, welche man statt der Sachen und nicht
138 Vgl.
auch die Darstellung und Schematisierung der Schrifttypen und ihrer Funktionen bei Jan Assmann: Hieroglyphen als mnemotechnisches System (wie Anm. 121), S. 713f. 139 Warburton schreibt „epistolic“; Schmidt übersetzt den Terminus Mitte des 18. Jahrhundert mit „epistolisch“; er wird hier wie im Folgenden durch die heute gebräuchliche Form „epistolär“ ersetzt. Es handelt sich um jene „Briefschrift“ (von griech. epistolē: „Nachricht“, „Brief“), von der auch Vico in seiner Scienza Nuova spricht.
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statt der Worte setzte.“140 Die dritte und vierte Schreibungsart, also die epistoläre (epistolische) und die hierogrammatische, versteht er hingegen als alphabetische Buchstabenschriften. Sie setzten nicht Zeichen für Sachen, sondern Zeichen für Wörter ein. Zwischen den beiden Gruppen vermittelt, wie Warburton an anderer Stelle ausführt, die schon erwähnte „hierographische“ Kurrentschrift, denn in ihr werden die Figurenzeichen für Sachen in abstraktere Umrisszeichen überführt, die schließlich – statt der Sachen – die Wörter für die Dinge bezeichnen. Zuletzt gehen aus diesen Wortschriftzeichen die alphabetischen Lautzeichen hervor, aus denen die Worte zusammengesetzt werden. Damit endet – nach den hieroglyphischen Symbolen – auch die Zwischenstufe der „real characters“, wie Warburton sie nun in impliziter Anlehnung an Bacon nennt, und es beginnen die „literary characters“.141 Warburton berichtet, dass man sie für eine Erfindung der Götter hielt. Das ursprüngliche Bild verliert die Gestalt und wird zu einem Zeichen zusammengezogen, das Warburton „mark“ bzw. mit Blick auf das Phonetische „note“ nennt. Er erklärt sich den Vorgang so, dass der Anblick dieser abstrakten „note“ allmählich den Klang („sound“) hervorrief, der die Idee oder das Ding ausdrückte. Warburton formuliert es nicht explizit: Doch das Entscheidende besteht für ihn darin, dass sich nun das Wort mit seinem phonetischen Ausdruckswert zwischen das Zeichen und die Sache stellt. Folgt daraus aber nun, dass das kulturelle Gedächtnis im Übergang zum lautschriftlichen Zeichensystem allmählich den hieroglyphischen Ursprung vergisst? Warburton stellt die Frage anders. Wie bereits angedeutet, wird das Bildersprachliche nach den Möglichkeiten der Rhetorik partiell in die Sprache übertragen. Umgekehrt formuliert: Die ersten, in lautlichen Alphabeten verschriftlichten Sprachen sind selbst bildersprachlich organisiert, weil sie über die mitgeteilte Handlungs- und Körpersprache sowie über Gleichnisse und Metapher einen Weg der figurativen Symbolisierung und Abstraktion gehen, der ähnlich wie bei der Hieroglyphe verläuft. Dabei bildet besonders die Priestersprache einen Stil der „dunklen Rede“ aus, deren Existenz Warburton bis ins Alte Testament hinein verfolgen zu können glaubt. Diese auf das Heilige bezogene Sprache und Schrift, die einen dunklen, gleichsam esoterischen Sinn pflegt, grenzt Warburton von einer exoterischen Kommunikation ab, die sich, wie die Briefschrift bezeugt, auf die staatlichen und zivilen Belange bezieht. Zwar war auch die Briefschrift in ihren Anfängen, als sie noch eine reine Befehls- und Übermittlungsschrift der Könige war, eine Geheimschrift. Sie verlor aber in dem Maße, in dem sie zum Übermittlungssystem für allgemeine Angelegenheiten wurde, ihren geheimen Charakter und wurde öffentlich. Insgesamt ergibt sich eine erweiterte, fünfgliedrige Systematik: Zur Gruppe der genuin hieroglyphischen Figurenschriften gehören:
140 Warburton: 141 Warburton:
Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter (wie Anm. 115), S. 49. Divine Legation of Moses. In: Ders.: The Works (wie Anm. 112), S. 155.
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1) die eigentliche hieroglyphische Schreibungsart und 2) die symbolisch-hieroglyphische Schreibungsart, die enigmatisch werden kann. Eine Übergangsform von der Bilderschrift zur alphabetischen Buchstabenschrift ist: 3) die hierographische Schreibungsart. Daraus entwickeln sich als eigentliche Buchstabenschriften: 4) die epistoläre (bzw. epistolische) (für allgemeine zivile Belange) sowie 5) die hierogrammatische Schreibungsart (für religiöse bzw. kultische Belange). Die beiden zuletzt erwähnten Schriftformen werden nicht wie die beiden ersten historisch, als Stufen der Symbolisierung unterteilt, sondern funktional unterschieden: als öffentliche Kommunikationsform für die zivilen und als esoterische für die religiösen Angelegenheiten. Mit dieser Ausdifferenzierung entwickeln sie auch spezifische Bezugssysteme: Im staatlich-zivilen Zusammenhang sind beispielsweise ähnliche kosmologische Bildfiguren anders zu lesen als im religiösen Bildsystem. Für Warburton hat diese Unterscheidung eine zentrale Bedeutung, weil er so den religiösen Wert des Alten Testaments bewahren kann. Den Zweiflern am Offenbarungscharakter der Bibel kann er so entgegenhalten, dass sich die christologische bzw. heilsgeschichtliche Bedeutung nicht auf der Ebene eines profanen, sondern nur auf dem Niveau des tiefsinnigeren religiösen Sinns erschließt. Weitere Differenzierungen ergeben sich bei den beiden hieroglyphischen Schreibarten und in der funktionalen Differenzierung der beiden alphabetischen Schriftformen. a. Hieroglyphische und symbolische Schrift Warburton unterteilt die hieroglyphische und die symbolische Schrift nach ihrer rhetorischen Symbolisierung und nimmt an, dass die zweite Form durch zunehmende Verrätselung aus der älteren, ersten Form hervorgegangen ist. Er beschreibt sie zwar als historische Folge, doch macht er auch deutlich, dass sie eine Zeitlang nebeneinander bestanden haben. In der ersten Stufe war die ägyptische Hieroglyphe Warburton zufolge noch eine rohe Malereischrift, die der ebenfalls rohen mexikanischen Bilderschrift vergleichbar sei. Sie geht einerseits kyriologisch und andererseits tropisch vor. Die kyriologische, das heißt nicht-metaphorische Bilderschrift zeigt die Sache vergleichsweise einfach, etwa indem sie einen jeweils charakteristischen Teil für die ganze Sache gelten lässt. Warburton spricht vom „principal part for the whole“.142 In seinen Beispielen führt er andererseits verschiedene metonymische Beziehungen an und zusätzlich auch die Möglichkeit graphischer Abstraktionen. Die Spannbreite der kyriologischen Möglichkeiten bespricht er ausführlicher an Beispielen aus Horapollons Hieroglyphenbuch. So können etwa Stellvertreterfiguren, Instrumente, aber
142 Ebd.,
S. 145.
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auch Wirkungen (Rauch für Feuer) oder die Umrisszeichnung einer Sache (wie der halbe Zirkelkreis für den Mond) als Zeichen für die gemeinte Sache eintreten. Die tropische Schreibart benutzt hingegen bereits Übertragungen, indem sie eine Sache durch eine andere Sache vorstellt, die nur noch eine Ähnlichkeit zum Gemeinten hat. Dieses Verfahren führt zur zweiten, symbolischen Schreibart. Diese zweite Entwicklungsstufe bezeichnet Warburton als hieroglyphisch-symbolisch oder auch kurz als „symbolische“ Schreibungsart. Sie verrätselt die Kommunikation bereits: zunächst aus Spiel und Freude an Rätseln, dann aber zugunsten theologischer und philosophischer Spekulationen und wird dadurch zur enigmatischen Schreibweise. Bei ihr handelt es sich um schwerer verständliche Übertragungen mittels einer Metapher oder einer enigmatischen Allegorie, die sich durch weniger bekannte Eigenschaften auf die gemeinte Sache beziehen. So musste man u.a. die natürliche und – wie sich ergänzen lässt – auch die mythologische Geschichte eines Tieres kennen, um die Übertragung zur gemeinten Sache herstellen zu können. Nicht nur bei den Ägyptern bzw. den frühen Völkern, sondern partiell bis in die zoologischen Inventare der Frühen Neuzeit hinein waren Naturgeschichte und Mythologie noch nicht von einander getrennt.143 Warburton nennt als Beispiel die Schlange, die aufgrund ihrer Munterkeit, ihres Geistes, ihres hohen Alters und aufgrund ihrer Erneuerung die „göttliche Natur“ darstellt.144 Er zeigt, wie sehr besonders die hieroglyphisch-symbolische Schreibungsart auf das reichhaltige naturgeschichtliche und mythologische Wissen angewiesen war, um mit Verstand geschrieben und gelesen werden zu können. Die Hieroglyphen hielten dieses kulturelle Gedächtnis lebendig. Die enigmatischen Symbole, die aus unterschiedlichen Dingen und/oder Teilen von Tieren zusammengesetzt waren, steigern die Rätselhaftigkeit. Warburton gibt ein Beispiel für die Verschiebung von der symbolisch-tropologischen zur symbolisch-enigmatischen Hieroglyphe: Um die Sonne zu bezeichnen, malten die Ägypter manchmal einen Habicht, was Warburton als tropologisch auffasst. Manchmal malten sie aber einen Käfer (Skarabäus), der einen runden Ball rollt, was Warburton in der Nachfolge von Clemens von Alexandrien als enigmatischen Modus auffasst. Er gibt ein weiteres Beispiel: Gemeinhin wurde die allgemeine Natur durch eine Diana multimammia, also eine vielbrüstige Göttin, vorgestellt, was Warburton als kyriologisch bezeichnet. In anderen Fällen finde man aber die Natur als eine Schlange dargestellt, die aus einer geflügelten Kugel hervorgeht.145 Im ersten Fall werde die allgemeine Natur „physikalisch“ („physically“), im zweiten Fall hingegen „meta-
143 Vgl.
Maria Cristina Tagliaferri, Stefano Tommasini, Sandra Tugnoli Pattaro: Ulisse Aldrovandi als Sammler: Das Sammeln als Gelehrsamkeit oder als Methode wissenschaftlichen Forschens? In: Andreas Grote (Hg.): Macrocosmos in Microcosmo. Die Welt in der Stube. Zur Geschichte des Sammelns 1450–1800. Opladen 1994, S. 265–281, hier S. 278. 144 Warburton: Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter (wie Anm. 115), S. 72. 145 Ebd., S. 73f.
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physisch“ („metaphysically“) betrachtet.146 Warburton nimmt an, dass besonders das metaphysische und theologische Denken zur Verschlüsselung neigt und dass in diesem Zusammenhang insbesondere die zoographischen Hieroglyphen entstanden. Besonders die zoographischen Zeichen seien dafür verantwortlich, dass die Ägypter in der Zeit der Propheten vom Bildkult der Tiere zur Tierreligion übergingen. Warburton zufolge trat diese Entwicklung aber nur ein, weil den Ägyptern das Wissen um die tropologischen bzw. enigmatischen Bezugsebenen verloren gegangen war. Tatsächlich sei in diesen Hieroglyphen die Geschichte „ihrer […] Schutzgötter, ihrer Könige und Gesetzgeber aufgezeichnet, und nur durch Thiere und andere Kreaturen vorgestellet“ worden.147 Nach Warburton war das Bild eines jeden Gottes anfänglich „wohl bekannt, weil es an die Tempel und andere heilige Denkmale auf gemeine und bekannte Art gemahlet oder eingegraben war“: Das Bild stellte den Begriff des Gottes vor und der Begriff des Gottes erregte die Andacht. Dieser Bezug verdunkelte sich aber, als die Ägypter anfingen, nachsinnend und geheimnisvoll zu werden. Nicht zuletzt deshalb, weil die Ägypter einen göttlichen Ursprung ihrer hieroglyphischen Figurenzeichen „erdichteten“, um sie noch ehrwürdiger zu machen, wurde diesen „symbolischen Figuren“ eine unverhältnismäßige Andacht zuteil. Die Andächtigen blieben bei der Verehrung der Symbole stehen, besonders, wenn sie auf ein lebendiges Tier gerichtet war, anstatt dass sie ihre Gedanken auf etwas Höheres richteten.148 In ähnlicher Weise kritisiert Warburton auch die Traumdeuterei, die auf der Hieroglyphik aufbaut, sowie die Verwendung der Hieroglyphen als magische Zeichen (sogenannte Abraxas) und Amulette. In allen Fällen seien die Bezugsebenen verloren gegangen. Die Zeichen seien wörtlich genommen bzw. in ihrer unverständlichen Rätselhaftigkeit zu magischen Schutzzeichen geworden. Das Heilige habe sich von den Göttern auf die Zeichen selbst verschoben. Damit ergibt sich eine Entwicklungslinie der ägyptischen Hieroglyphen-Praxis, die von der anfänglichen Klarheit über die Verrätselung durch die symbolisch-enigmatische Schreibweise bis zum Amulett-Kult führt. Warburton geht diesem Gedanken später weiter nach, indem er Wissen und Aberglauben unterscheidet. Der Aberglaube wird von ihm als verstelltes Wissen, als verstellte Metaphysik angesehen. Er braucht diese Argumentation für sein wichtiges Anliegen: Moses als Vermittler zwischen der ägyptischen und der hebräischen Kultur herauszustellen. Moses erscheint als derjenige, welcher der Religion den unseligen Tierkult austreibt, die Hieroglyphen vom magischen Zauberkult reinigt und sie für die hebräische Sprache fruchtbar macht. Dafür muss er die Hieroglyphen allerdings modifizieren. Insgesamt kommt Warburton zu dem Schluss, dass die alte Hieroglyphik in der hebräischen Schrift aufgehoben wird.
146 Ebd.,
S. 75. Warburton: Divine Legation of Moses. In: Ders.: The Works (wie Anm. 112), S. 150. Versuch über die Hieroglyphen der Ägypter (wie Anm. 115), S. 163. 148 Ebd., S. 164. 147 Warburton:
2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel
67
b. Epistoläre und hierogrammatische Schrift Die epistoläre Schrift war nach Warburton zuerst eine geheime Staatsschrift. Sie bildete ein „politisches Alphabet“ aus, das ursprünglich nur für die Botschaften des Königs gedacht und daher zunächst geheim war. Dann verlor sie diese Exklusivität und wurde offen für alle zivilen Belange. Von dieser Briefschrift, die auf Papier geschrieben wurde, ist auch bei Vico die Rede. Auch für ihn stellte sie eine nachhieroglyphische Stufe da. Sie gehört zu seinem dritten Zeitalter, in dem sich die Menschen mit ihrer Hilfe über größere Entfernungen hinweg schriftlich verständigen konnten. Warburton nimmt – im Unterschied zu Vico – noch eine gesonderte hierogrammatische Schreibungsart, eine Priestersprache an, die sich erst sehr spät herausgebildet habe. Sie wurde nur für religiöse bzw. kultische Angelegenheiten verwendet. Auch sie drückte „Worte aus und war in Buchstaben eines Alphabets gebildet.“149 Aber sie basierte auf einem religiösen Geheimalphabet und zeichnete eine verklausulierte Geheimsprache der Priester auf. Warburton schließt hier eng an Clemens von Alexandrien und Porphyrius an, denn für die Priestersprache gab es so gut wie kein überkommenes Belegmaterial. Zumindest die Bücher der Priester, von denen schon die alten hermetischen und mythischen Überlieferungen sprechen, galten (wie erwähnt) bereits den maßgeblichen klassisch-antiken Quellen als verschollen; Warburton schließt sich dieser Einschätzung an.150 Er gibt die antike Überlieferung weiter, dass von den 24 Büchern des hermetischen Schrifttums zehn in der hierogrammatischen, also der heiligen Sprache der Priester verfasst waren. Die hierographische Schrift ist für Warburton (wie erwähnt) eine Vermittlerin von der hieroglyphischen Figurenschrift zur alphabetischen Lautschrift; sie ist der chinesischen Zeichenschrift verwandt. In dem Maße aber, in dem die hieroglyphischen Figuren reinen abstrakten Lautzeichen Platz machten, verliert sich notwendigerweise die tropologische und enigmatische Bedeutung. Zwischen Zeichen und Sache vermittelt nun allein das Wort. Bei der Priesterschrift bestand nach Warburton noch ein „heiliger Dialekt“, der auf den hieroglyphischen Ausdrucksweisen basierte. Damit blieb auch das naturgeschichtliche, mythologische oder religiös-spekulative Wissen erhalten, das in die blumigen, oft sehr dunklen, rätselhaft erscheinenden Redeweisen einging. Letztere wurden allmählich nicht mehr in Hieroglyphen, sondern in der hierogrammatischen und geheimen alphabetischen Buchstabenschrift der Priester aufzeichnet. Es entstanden so in verschriftlichter Form hieroglyphische Rede- bzw. Ausdrucksweisen. Insgesamt verfügten die Priester über einen dreifachen Weg der Geheimhaltung: die hieroglyphisch-symbolische Schreibart mit ihren enigmatischen Rätselbildern, den heiligen Dialekt, der diese in Sprache übersetzte und fortführte, sowie das heilige
149 Ebd., 150 Ebd.,
S. 49. S. 69.
68
A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Alphabet, also die hierogrammatische Buchstabenschrift, in der auch der heilige Dialekt aufgezeichnet werden konnte. 2.8 Die „dunkle Rede“ der Propheten – Warburtons Anwendung der Hieroglyphik auf das Alte Testament In einem längeren Abschnitt widmet sich Warburton den „dunklen“ oder auch „finsteren“ Redeweisen des Alten Testaments und parallelisiert sie mit der Entwicklung der Hieroglyphik. Er sieht die Sprachfiguren und Erzählformen der Bibel als eine Fortführung der verschiedenartigen, verschriftlichten hieroglyphisch-symbolischen Redeweisen an. Seine Argumentation ist etwas ausgreifender und bezieht prophetische wie überhaupt altorientalische Weisheitssprüche und Ausdrucksweisen ein. Für Warburton entspricht die Erzählform der Fabel den kyriologischen und tro pologischen Hieroglyphen. Die Parabel stehe hingegen den symbolischen und enigmatischen Hieroglyphen nahe. In ihrem Umfeld sei eine eigene Kultur der rätselhaften Sprüche und ihrer Deutung entstanden. Die Weisen der damaligen Zeit hätten sich, wie Warburton dem römisch-jüdischen Schriftsteller Josephus entnimmt, Rätsel zugeschickt, um gegenseitig ihren Scharfsinn zu prüfen: Die „klugen dunklen Sprüche“ wurden bei den Hebräern geradezu sprichwörtlich, standen allerdings auch in der Nähe zu Betrug und Hintergehung.151 Man habe diese „Gattung der Weisheit“ mit Tropen und Figuren ausgeschmückt, um ihr ein Ansehen und eine Aura zu verschaffen, bis die Nachkommen zu zweifeln begannen, „welches denn der wahre Ursprung aller verblümten Ausdrückungen sei“. Warburton unterscheidet im Weiteren zwei Stilfiguren: den Pleonasmus und die Metapher. Beide seien nicht etwa aus einer überhitzten Phantasie entstanden, sondern aus der Notwendigkeit, den Mangel einer noch unzulänglichen Sprache zu kompensieren. Erst auf dieser Grundlage eines prinzipiellen Mangels wurden beide verfeinert und zum stilistischen Zierstück ausgebildet. Warburton nimmt an, dass der Pleonasmus einer sehr frühen Sprachstufe entstammt, in der den Menschen nicht genügend Worte zur Verfügung standen und in der sie das, was sie sagen wollten, nur über Wiederholung und Variation zum Ausdruck bringen konnten. Auch die Metapher entstand aus der Notwendigkeit einer noch unzulänglichen Begrifflichkeit; sie schmückte sich Warburton zufolge jedoch bald mit „allen Blumen des Witzes“ aus. 152 Denn der Witz bestehet darinnen, daß man kräftige metaphorische Bilder mit ungemeinen und doch übereinstimmenden Allusionen oder Anspielungen braucht; just wie die alte Egyptische Weisheit es mit ihren hieroglyphischen und durch die Einbildung analogisirten Bildern gemacht.153
151 Ebd.,
S. 124. S. 129. 153 Ebd., S. 129. 152 Ebd.,
2. Von den Schriftstufen der Ägypter zu den Sprachstufen der Bibel
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Bereits in seinem ersten Vergleich von Hieroglyphik und Altem Testament hatte Warburton den Übergang der Hieroglyphik zu einer alphabetischen Buchstabenschrift parallel gesetzt. Er knüpft daran an, um die Funktion der Metaphern einerseits in der offenen Kommunikation der Briefschrift und andererseits in der dunklen Kommunikation der Priesterschrift zu unterscheiden. In den Prophetischen Schriften findet Warburton jene blumigen und dunklen Redeweisen, die seiner Meinung nach bei den ägyptischen Priestern in der hierogrammatischen Buchstabenschrift aufgezeichnet wurden. Warburton konkretisiert seine Auffassung nur an wenigen Beispielen des Alten Testaments. So nennt er die prophetische Weissagung: „Es wird ein Stern aus Jacob ausgehen und ein Scepter aus Israel aufkommen.“154 Das Szepter sieht er als eine offene, allgemein verständliche Metapher an, mit der auch in der offenen politischen Sprache ein Regent angedeutet wird. Auch der Stern habe in der offenen Kommunikation die gemeine Bedeutung, einen irdischen Prinzen oder Regenten zu bezeichnen. Man habe die Weissagung daher auf den kommenden König David bezogen. Der Stern hat jedoch noch eine verdeckte Bedeutung, denn in der ägyptischen Hieroglyphik bedeutet er, Warburton zufolge, „Gott“. Auch in anderen Sprüchen der Bibel sei der Stern eine verblümte, aber edle Redensart, um zu sagen: „Das Bild eures Gottes“. Warburton schließt daraus, dass sich die Weissagung daher nicht auf David, sondern auf „Christus, den ewigen Sohn Gottes“ beziehe. Der Umweg über die ägyptische Hieroglyphik wird also von Warburton benutzt, um in das alte Hoheitszeichen Gottes nunmehr Jesus als den kommenden neuen Gott des Christentums einzuzeichnen. Damit füllt das Christentum die für die Bibel hypostasierte altägyptische Hieroglyphik mit einer neuen Bedeutung; es organisiert die alte Hieroglyphik im Sinne des Neuen Bundes mit Gott um. Vico hatte in seiner Scienza nuova den Vorschlag zu einem „geistigen Wörterbuch“ gemacht, in der die ganzen mythischen Welten der Völker mit ihren Götterhimmeln, fantastischen Universalien und poetischen Charakteren vergleichend zu einander in Beziehung gesetzt werden könnten. In einem vergleichbaren Sinne deutet auch Warburton an, dass – über die hebräische Sprache hinaus – in vielen Sprachen ähnliche kosmologische Figuren oder Natursymbole für existentielle, religiöse sowie geschichtliche Ereignisse beobachtet werden können. Denn gleichwie in der Hieroglyphischen Schreibart die Sonne, der Mond, und die Sterne gebrauchet wurden, Staaten, Kayserthümer, Könige, Königinnen und den Adel vorzustellen; die Verfinsterung und Verschwindung derselben, widrige Schicksale oder gänzlichen Untergang; Feuer und Überschwemmungen, Verwüstungen durch Krieg und Hunger; Pflanzen oder Thiere, die Eigenschaften einzelner Personen etc. Also nennen die heiligen Propheten Könige und Reiche bey den Namen der himmlischen Lichter; ihr Unglück und Untergang werden durch Finsternisse und Verlöschungen abgebildet; Vom Himmel fallende Sterne werden gebrauchet, die Ausrottung der Edlen anzudeuten; Donner und Sturmwinde zeigen feindliche Einfälle an;
154 Ebd.,
S. 130. Warburton bezieht sich auf 4Mose 24,17.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen Löwen, Bären, Leopardten, Böcke, hohe Bäume, bedeuten Heerführer, Eroberer und Stifter der Königreiche […].155
Warburton wendet sich noch weiteren Bildbereichen vor allem der politischen Allegorie und Moral zu, um im Ergebnis zu folgern: „die Prophetische Schreibart scheint nichts als Redende Hieroglyphick zu seyn.“156 Die Hieroglyphik, und nicht etwa die logisch-abstrakte Sprache der reflexiven Vernunft, ist daher der entscheidende Schlüssel, mit dessen Hilfe sowohl das Alte als auch das Neue Testament gelesen werden müssten. Warburton wehrt mit dieser Behauptung die „Lästerungen unserer heutigen Freygeister“ ab, die die alten prophetischen Schriften als „Werk einer erhitzten Einbildungskraft“ abtun wollten. Die hieroglyphische Sprache sei vielmehr die Sprache nicht nur der Propheten, sondern auch die Sprache Gottes und seines Sohnes gewesen. Warburton verleiht den beiden Testamenten damit nicht nur Legitimität, sondern gibt ihnen etwas von der Aura des Geheimnisvollen zurück: Ihre hieroglyphische Verfasstheit sei das „Mittel“, „wodurch die geheimnisvollen Wege der Fürsehung dem menschlichen Geschlechte geoffenbart werden konnten.“157 Warburtons Hieroglyphentheorie hat ein deutlich apologetisches Ziel: Sie will den durch die Aufklärung infrage gestellten Offenbarungscharakter der Bibel durch das Konstrukt retten, dass sie hieroglyphisch verfasst sei. Mit dieser These steht Warburton in England bereits in einer Tradition. Schon im 17. Jahrhundert bildete die Hieroglyphik bei Thomas Browne eine Brücke, um die Bibel (vornehmlich die Genesis) gegen das naturwissenschaftliche Wissen zu retten.158 Die Bibel wird demnach durch das neue naturwissenschaftliche Wissen nicht obsolet, wenn man sie als eine andere Form des Bewusstseins, nämlich als poetisch-mythologisches, als hieroglyphisches Bewusstsein begreift. Im Unterschied zur Wissenschaft, die die Fragen der Religion als nicht entscheidbar ansieht, verweist Warburton im Sinn der (anglikanischen) Kirche auf ein geheimes Wissen, das für die Theologie mit Hilfe der Hieroglyphik zugänglich ist. In seiner kirchlich begründeten Bibelkritik gerät Warburton in einige Argumentationsnöte. Er muss die Hieroglyphik mit den nach christlicher Auffassung überlieferten Reden Gottes bzw. seiner Propheten in der Bibel vereinbaren. Gott und die Propheten sprechen in der Sprache der altorientalischen Völker, ihre hieroglyphischen Reden müssten aber die Doppelbödigkeit von offener Kommunikation und Geheimnis besitzen. Die offene Kommunikation lässt sich, wie das Beispiel von Szepter und Stern lehrt, auf die geschichtlich greifbaren Geschlechter und Dynastien beziehen. Gleichzeitig muss aber ein Geheimnis mitgesprochen werden, das freilich in der politischen Symbolik nicht aufgeht.
155 Ebd., 156 Ebd.
157 Ebd., 158 Vgl.
S. 135.
S. 136. Dieckmann: Hieroglyphics (wie Anm. 121), S. 110.
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
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Die hypostasierte altägyptische Hieroglyphik wertet zwar das Alte Testament zum menschheitsgeschichtlichen Zeugnis auf, doch wird sie nunmehr christlich interpretiert. In Warburtons theologischer Sicht wird die biblische Hieroglyphik zu einem auratischen Schutz- und Wertraum für das göttliche Geheimnis.
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Johann Gottfried Herders Schöpfungshieroglyphe159 3.1 Allgemeine Charakterisierung von Herders Hieroglyphenbegriff In seiner Schrift Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, die 1774 und 1776 in zwei Bänden erschien, führt Johann Gottfried Herder die Hieroglyphe als Leitbegriff ein, um mit ihr die ‚ältesten Zeugnisse’ einer Erinnerung an die Weltentstehung zu untersuchen und zu vergleichen. Weil es aus der Zeit vor der Erfindung der alphabetischen Schrift nur wenige Dokumente und zudem eine nur undeutliche, weil vorbegriffliche Überlieferung geben kann, ist die Hieroglyphe für Herder ein Schlüsselbegriff. Zwar kann aus der Zeit vor der alphabetischen Schrift nur wenig Verlässliches bekannt sein, doch gibt es immerhin Nachrichten über sie, die allerdings interpretationsbedürftig sind. Wesentliche Nachrichten aus der Frühgeschichte reichen mit Hilfe späterer schriftlicher Aufzeichnungen in die Überlieferungsgeschichte hinein oder werden zumindest partiell in Quellen antiker Autoren bezeugt. Herder spricht in diesem Sinne auch von „Urkunden“, „Resten“ oder „Trümmern“ und versteht seine Arbeit als eine „Archäologie“ der ältesten menschlichen Erinnerungskulturen. Auch er zielt so über die ägyptische Symbolschrift hinaus und gibt der Hieroglyphe einen entsprechend allgemeinen, kulturanthropologischen Stellenwert. Ähnlich, wenn auch mit wesentlich anderen Akzenten als vor ihm Vico und Warburton, steht die Hieroglyphe auch für Herder im Kontext einer theoretischen Neugierde, die sich für die Frühgeschichte und die Fragestellung interessiert, wie über eine dingliche, gestisch-zeremonielle und bildlich-figurative Symbolik Sprache, Schrift, Kultur, Wissen und Gesellschaft auf der Grundlage der Religionen und ihrer Kosmologien entstanden sein könnten. Zur Diskussion stand für ihn also, wie diese ersten Gesellschaften sich mittels symbolischer Figuren und entsprechender Praxis ein Gedächtnis und eine Tradition gebildet haben, die schließlich in die Zeit schriftlicher Überlieferung hineingeführt hat.
159 Teilergebnisse
dieses Kapitels sind veröffentlicht unter dem Titel: Hieroglyphe und Prototypus. Herders vergleichende Mythologie in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts. In: Herder und seine Wirkung / Herder and His Impact. Hg. v. Michael Maurer. Heidelberg 2014, S. 251–263.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Auch Herder ruft daher mit dem Begriff der Hieroglyphe einen ganzen Komplex von Sprach-, Schrift- und Kulturentstehungstheorien auf. Im Einzelnen verarbeitet er – teils zustimmend, mehrheitlich aber polemisch – überaus reichhaltige Lektüreergebnisse aus der Bibelforschung und der mit ihr verbundenen Orientalistik, speziell zur Exegese, dann aber auch aus der Altertumsforschung, der Philologie mit ihren vielfach noch spekulativen Etymologien altägyptischer Namen, der Geschichtswissenschaft und der Geschichtsphilosophie im weiteren Sinne. Herder schließt mit diesen Besonderheiten nicht einfach an die europäische Diskussion um die hieroglyphische Phase der menschlichen Kultur an, sondern bringt einen eigenen, originellen Ansatz zur Geltung. Herder interessiert sich für die Hieroglyphe vom Standpunkt einer Gegenwartskritik, die ein Ungenügen nicht nur an den Formen eines überzogenen Rationalismus empfindet, sondern grundsätzlicher auch die Ausdifferenzierung von Wissenschaft, Poesie und Religion beklagt. Zwar gehört die Hieroglyphe zu einer menschheitsgeschichtlichen Mentalität, die auch Herder – ähnlich wie Vico und Warburton – in Analogie zu den Lebensalterstufen als Kindheit bezeichnet. Durch die Entsprechung von Phylogenese und Ontogenese wird es aber auch zwingend, dass die Menschheit diese wichtige Entwicklungsstufe erkennen und in ihre Vorstellung von Humanität integrieren muss. Über die zeitgenössischen Überlegungen zur Frühgeschichte, wie sie Goguet und Gatterer vorgelegt haben, weiß Herder, dass die Hieroglyphe nicht das erste und einzige Medium in der Tradierung des Wissens war. Nicht zuletzt aufgrund des ethnologischen Wissens, das in Reiseberichte eingegangen war, diskutierte die Fachwelt ein erheblich erweitertes Spektrum von Zeichen und Symbolen aus der materiellen und performativen Kultur. Der französische Historiker Yves Goguet rechnete in seinem großen, einflussreichen Werk De l’origine des loix, des arts, et des sciences von 1758 auch Holzsäulen, Steinhaufen, Altäre, Feste, Tänze, Gebräuche und Gesänge mit zu den Frühformen der menschheitsgeschichtlichen Erinnerungskultur. Sie traten ihm zufolge – zum Teil im Verbund – vor und neben den Hieroglyphen auf.160 Goguet wollte vor allem zeigen, dass zu Beginn „die Tradition“ die noch nicht existierende Schrift (den „Mangel der Schrift“) ersetzte.161 Herder kannte Goguets Werk schon seit längerem. Im Journal meiner Reise im Jahr 1769 hebt er es (neben Werken von Montesquieu, Hume, Voltaire und Winckelmann) als großes Vorbild einer „bildende[n], Materielle[n] Geschichte des Mensch-
160 Vgl.
Antoine Yves Goguet: De l’origine des loix, des arts, et des sciences; et de leurs Progrès chez les anciens Peuples. 3 Bde. La Haye 1758. Bd. 1, Buch 2, S. 160–178. Goguet schloss in seinen weiteren schrifttheoretischen Überlegungen im Übrigen an Warburtons Hieroglyphentheorie an, die er in der französischen Übersetzung anführt. 161 Hier zitiert nach der deutschen Übersetzung von Christoph Hamberger, die auch Herder benutzte: Untersuchungen Von dem Ursprung der Gesezze [sic.], Künste und Wissenschaften, Wie auch ihrem Wachstum bei den alten Völkern. 3 Bde. Lemgo 1760–1762. Bd. 1 (1760), S. 174.
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
73
lichen Geschlechts […] voll Phänomena und Data“ hervor.162 Entsprechend zitiert er Goguet in mehreren seiner Werke. Dabei stellt er ihm zum Teil auch Gatterer zur Seite, dessen Abriß der Universalhistorie (11765) 1773 in einer zweiten Ausgabe erschienen war. Auch Gatterer spricht von „Mündliche[n] Überliefferungen, historischen Lieder[n], schriftleere[n] Denkmäler[n], Festtage[n] und Gebräuche[n]“, nennt aber zusätzlich noch „Namen von Tagen, von Oertern, Gebäuden und Personen“ als historische „Nothmittel“, deren sich die Menschen vor und neben den „Bilderschriften“ und „Hieroglyphen“ bedient haben. Erst später seien Denkmäler und Gedächtnissäulen mit Inschriften hinzugekommen.163 Auf diese europäische Diskussion bezieht sich Herder an verschiedenen Stellen seiner Ältesten Urkunde. Sein eigenes Sammeln von Liedern und Sagen ist vor diesem Hintergrund zu verstehen. Herders „Archäologie“ der Menschheitsgeschichte, deren Anfänge er im Orient verortet, ist aber nicht nur eine philologische Spurensuche in hermeneutischer Absicht, sondern wird auch von der Faszination des Forschers an seinen Gegenständen und seiner Entdeckungslust angetrieben. In seine hartnäckige Spurensuche geht auch eine Freude an gedanklichen Verbindungen und Assoziationen ein, die von ausgiebiger und ausladender Lektüre genährt wird. Es versteht sich, dass damit keine „Studie“ im akademisch trockenen Sinne entsteht. 3.2 Die Schöpfungshieroglyphe Herder hatte sich in Vorarbeiten seit längerem mit dem alttestamentarischen Genesis-Bericht befasst, doch schrieb er unter dem Eindruck einer für ihn „äußerst wichtig[en]“ Entdeckung164 sein bereits fertig gestelltes, erstes Manuskript um 1770 vollständig um. Er glaubte, eine bereits im ersten Manuskript erkannte symbolische Grundfigur nun beziehungsreich auf viele Altreligionen und Mythen ausdehnen zu können. Zwar hatte Herder schon in seinem ersten Manuskript geschrieben, dass jedes Tagewerk des göttlichen Siebentagewerkes „ein Einziges sinnliches Bild, eine Einige Heilige Hieroglyphe“ sei.165 Doch weitet er den Begriff der Hieroglyphe nunmehr
162 Herder: Werke
in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold [u.a.]. Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag. 1985–2000. Bd. 9/2: Journal meiner Reise im Jahr 1769. Pädagogische Schriften. Hg. v. Rainer Wisbert. 1997, S. 45. 163 Johann Christoph Gatterer: Abriß der Universalhistorie in ihrem ganzen Umfange, Göttingen 21773, S. 8 und 5; hier zit. nach Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Hamburg 1995. S. 227 u. 228. 164 Herder berichtet darüber ausführlich im Brief an Johann Heinrich Merck vom 15. 10. 1770 aus Straßburg. Vgl. Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. 12 Bde. Hg. v. d. Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen. Weimar 1977–2005. Bd. 1 (1977), S. 261f., Zitat S. 262. 165 Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. In: Herder: Werke in zehn Bänden (wie Anm. 162). Bd. V: Herders Schriften zum Alten Testament, Hg. v. Rudolf Smend. 1993. S. 9–178, Zitat S. 35.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
auf die Gesamtfigur des Siebentagewerkes aus. Als Gesamtfigur wird die Hieroglyphe im Sinne einer kulturenübergreifenden, kosmologisch-religiösen Ursymbolik aufgewertet und als Schöpfungshieroglyphe bezeichnet. Herder zufolge gibt Gott seinem Volk mit dem Siebentagewerk der Schöpfung nicht nur die Schöpfung selbst, sondern auch eine sinnliche und beziehungsreiche Figur, mit der es sich ein erstes symbolsprachliches Gedächtnisbild schaffen konnte. Der biblische Schöpfungsbericht ist für Herder schon insofern exponiert, als er in klaren, einprägsamen und großartigen Bildern die Weltentstehung durch Gott verkündet. Herder stellt die einzelnen Bilder des siebentägigen Schöpfungswerkes in ihrer Aussagekraft vor, doch geht es ihm, wie schon erwähnt, nicht nur um die Einzelhieroglyphen, sondern vor allem um die Gesamtfigur, die seiner Meinung nach in der Genesis sukzessiv aufgebaut wird. Um die innere Bezogenheit und Folgerichtigkeit der Einzelbilder zu zeigen, extrapoliert Herder das von ihm herausgearbeitete Muster als „Hieroglyphe“ aus dem Text und separiert es in einer schematischen Zeichnung. Es entsteht eine Figur mit sieben Positionen, die durch innere Symmetrie und Wiederholung aufeinander bezogen sind. Diese Figur ist die aus sieben essentiellen Einzelbildern zusammengesetzte „Schöpfungshieroglyphe“.
Abb. 2: Herders „Schöpfungshieroglyphe“. Aus: Johann Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts.
Die Bilder sind nicht verrätselt, sondern bezeichnen konkret erscheinende Vorgänge und Sachen, so dass Herder auch von einer kyriologischen Hieroglyphe oder einem kyriologischen Urtext sprechen kann. Nur die erste Position, das Urlicht, erscheint als ein symbolisches Licht vor der Erzeugung von Himmel und Erde und den erst danach entstehenden Gestirnen. Es gehört zur religiösen Lichtsymbolik und hat metaphysische Qualitäten, die mit in die Schöpfung eingehen. Herder hatte die Figur schon während seiner Vorstudien entdeckt. In seinem ersten Manuskript, das er gegen Ende der 1760er Jahre abschloss, hatte er vorgesehen, dieses Muster in einer mehr numerisch akzentuierten Form abdrucken zu lassen.
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
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Abb. 3: Vorfassung der „Schöpfungshieroglyphe“. Aus: Herder: Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts.
Zu dieser Zeit nennt Herder sein Schema noch sachlicher eine „Bauordnung“ und wagt noch nicht, wie er ausdrücklich schreibt, diese Figur gleich eine „Hieroglyphe“ zu nennen.166 Die Vorstellung eines Bauplans wird auch in der späteren Schrift nicht ganz aufgegeben (siehe unten). In der „Ältesten Urkunde“ bezeichnet Herder dann sowohl das eingewebte Muster als auch die extrahierte Schemazeichnung als „Schöpfungshieroglyphe“, also als die fundamentale Hieroglyphe der Welt. Die die Botschaft Gottes bewahrende Hieroglyphe ist für Herder ein organisches Gebilde; er bezeichnet die Schöpfungshieroglyphe als „ein ganzes Samenkorn der Menschenweisheit“.167 Damit behauptet er eine Parallelität zwischen der sukzessiven, aber einheitlichen Erschaffung der Welt und der symbolischen Form, in der die Schöpfungshieroglyphe von dieser Welterschaffung berichtet. Im Umfeld der biblischen Genesis kann Herder beide tatsächlich über die Vorstellung verbinden, dass Gott sich dem Menschen doppelt offenbart habe: über das Buch der Natur und über das biblische Zeugnis. Die Natur denkt sich Herder allerdings, nach Maßgabe der zeitgenössischen Wissenschaften, als „organisch“ und durch dynamische Kräfte und Reizbarkeiten bestimmt. (Dazu noch später.) Die Offenbarung Gottes über die Schöpfungshieroglyphe ist für Herder ein „Schriftversuch“ Gottes mit den Menschen, den er auch den ersten „Unterricht“ Gottes für die Menschen nennt. So gesehen, ist die Schöpfungshieroglyphe nach Maßgabe der Pädagogik zugleich auch ein mnemotechnisches „Denkbild“.168 Herder zufolge ist in diesem Schriftversuch eine Reihe von allerersten, entwicklungsfähigen Weisheitsformen enthalten, die sich später zu Wissensformen und Wissenszweigen ausdifferenzieren konnten. Die Schöpfungshieroglyphe stiftet den Zusammenhang der entstehenden Welt sowohl geometrisch und zahlensymbolisch als auch kyriologisch, das heißt mittels eigentlicher Namen bzw. Bilder. Herder nennt sie eine
166 Über
die ersten Urkunden, ebd., S. 44. Urkunde des Menschengeschlechts. In: Herder: Werke in zehn Bänden (wie Anm. 162). Bd. V: Herders Schriften zum Alten Testament. Hg. v. Rudolf Smend. 1993, S. 179–660, Zitat S. 277. Kommentar S. 1357–1423. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. 168 Ebd., S. 267. 167 Älteste
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
„heilige Natursprache“ oder auch „Ursprache“ und hält sie für „Poetisch und Genetisch“ verfasst.169 Er traut ihr sogar noch mehr zu: „das Denkbild war gleichsam die ganze Charakteristische, historische, Philosophische und Poetische Sprache der Schöpfung! Unterpfand des unvergeßlichen Worts Gottes!“170 Mit dieser Charakteristik lehnt Herder sich partiell an Johann Georg Wachters Entwicklungsstadien der Schrift an. Wachter hatte in seinem Werk Naturae et Scripturae Concordia (1752), das Herder wiederholt zitiert, eine [poetisch-]kyriologische, eine [hieroglyphisch-] symbolische und eine charakteristische, das heißt in Buchstaben verfasste Phase der Schrift unterschieden. Herder untersucht im Einzelnen beispielsweise, wie und in welcher Folge im Schöpfungsbericht Räume, Aufteilungen, Klassen bzw. Gattungen und Typen als Vorstellungen entstehen und alles durch Parallelität und Symmetrie aufeinander bezogen wird. Mit dem Siebentagewerk Gottes wird zudem eine kalendarische Zeitfolge entworfen und mit der Ruhepause des siebten Tages ein ganzheitlicher Rhythmus und eine soziale Institution: der Sabbat geschaffen. Herder legt seine Interpretation der Schöpfungsgeschichte so an, dass sie mit anderen Schöpfungsmythen vergleichbar wird. Insbesondere zeigt er, dass die biblische Grundunterteilung in Himmel und Erde bzw. Wasser und Luft mit verschiedenen Mythen kompatibel ist, die um das sogenannte „Weltei“ kreisen. In der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts spielt das Alte Testament mit den ersten Kapiteln aus dem 1. Buch Moses weiterhin eine privilegierte Rolle, doch weitet Herder seinen Gesichtskreis nun partiell zu einer vergleichenden Mythologie aus, indem er die Kosmologien und Religionen Altägyptens, der griechischen Orphiker und Pythagoreer sowie des „Niedern Asiens“ mit den Religionen der Phönizier, der Chaldäer und Perser einbezieht. Eine für Herder wichtige Gemeinsamkeit dieser Religionen besteht darin, dass sie mehr oder weniger Lichtreligionen waren und darin mit dem alttestamentarischen Genesisbericht vergleichbar sind. Ihm kommt es erkennbar weniger auf eine Entschlüsselung konkreter Hieroglyphen an, als vielmehr darauf, mit Hilfe der Leitvorstellung „Hieroglyphe“ Zugang zu den Dispositionen des mythischen bzw. symbolischen Wissens der ältesten Völker zu erhalten. Indem so die „Schöpfungshieroglyphe“ zu einem Schlüssel für die Götter- und Symbolwelten der alten Völker wird, funktionalisiert Herder die Hieroglyphe. Sie wird zu einem wichtigen Hilfsmittel der vergleichenden Mythologie und rückt aus der Ebene einer untersuchten Sache zu einem heuristischen Untersuchungs-Instrument auf. Die vergleichende Mythologie hatte sich seit dem 16. und 17. Jahrhundert über die vergleichende Sprachforschung vorbereitet. Im 18. Jahrhundert wird dieser Zusammenhang zudem über die Etymologien verstärkt. Die Etymologie spielte auch
169 Ebd., 170 Ebd.
S. 281.
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
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für Vico eine große Rolle, wobei er sie zu nutzen versuchte, um die fantastische Topik des hieroglyphischen Bewusstseins in den konkreten sozialen Lebensverhältnissen der theokratisch-agrarischen Welt zu verankern. Vico und Herder werteten beide die Mythologie als legitime Erkenntnisquelle der menschheitsgeschichtlichen Vorzeit auf, die sonst – vor der geschichtlichen Überlieferung – notwendigerweise im Dunklen bleiben musste. Bei beiden spielt dabei die Hieroglyphik eine prominente Rolle. Beide wollen sie nicht primär entschlüsseln, sondern als Erkenntnisin strument nutzen, um die Eigenart und die Funktionsweise von vorreflexiven Symbolisierungen zu verstehen. Die so verstandenen Hieroglyphen machten es möglich, in einem Strukturvergleich avant la lettre die frühen theokratischen Gesellschaften auf ihre gemeinsame Gedächtnis- bzw. Wissenskultur zu befragen. War das Interesse an der Mythologie lange Zeit auf die klassischen Vorbilder der griechisch-römischen Antike beschränkt, so weitete sich das forschende und poetische Interesse Mitte des 18. Jahrhunderts erheblich aus. Wie stark das Bedürfnis war, in die Frühzeit vorzustoßen, zeigt die Ossiandichtung von Macpherson, die bekannterweise erst später als Fälschung erkannt wurde. Man glaubte, mit ihr einen authentischen Zugang zur nordischen Sagenwelt gefunden zu haben. Auch Herder kam der Ossian wie gerufen; er bezieht sich an vielen Stellen seiner Ältesten Urkunde voller Bewunderung auf diesen Text. Nicht nur das amorphe Bedürfnis nach antiquarischer Erkenntnis, sondern auch das genauere Wissen über die Frühgeschichte weitete sich aus. Wichtige Abbildungswerke erweiterten die Kenntnis und Aufmerksamkeit für die vielgestaltigen, in ihren Grundelementen aber auch vergleichbaren Grundformen der Altertümer. So veröffentlichte der Comte de Caylus 1752 bis 1767 in Paris seinen siebenbändigen Recueil D’Antiquités Egyptiennes, etrusques, grecques, romaines et gauloises, der erstmals die Bedeutung der ägyptischen Kultur für die weitere Kunstentwicklung der Völker zu belegen versuchte und dabei auch eine Vielzahl von Hieroglyphen abbildete. Herder schätzte an diesem Ansatz den kulturübergreifenden Vergleich, der ihm in der Kunstgeschichte von Johann Joachim Winckelmann aus den 1760er Jahren fehlte. Er hatte an dieser kritisiert, dass sie in eine Vielzahl national-autochthoner Kunsterfindungen zerfalle und genetische Zusammenhänge durch ein starres Merkmalsystem à la Linné zerteile.171 Doch so wie er an Winckelmann in der Ältesten Urkunde kritisierte, dass er die ägyptische Kunst durch die Brille der Griechen gesehen habe, hat er später auch an Caylus bemängelt, dass dieser die künstlerischen Überreste etwa von Persepolis nicht als eigenständige Kultur, sondern zu sehr durch die Brille der Ägypter wahrgenommen habe. Ausgeweitet hatte sich auch das logische und visuelle Bewusstsein für die Variationsbreite antiker Schriften vor und neben dem Alphabet. An der noch unentzifferten Keilschrift ließ sich immerhin das Prinzip erkennen, dass sich ein ganzes For-
171 Vgl.
Häfner: Herders Kulturentstehungslehre (wie Anm. 163), S. 243.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
mensystem aus der Anordnung und Zusammenstellung eines einzelnen Elementes aufbauen konnte. 1750 veröffentlichte der schwedische Antiquar Johan Göransson sein Werk Bautil. Darin katalogisiert er im Auftrag der Regierung erstmals 1173 Runensteine, die sich in den antiquarischen Archiven des Königreiches angesammelt hatten. Der Esoteriker Göransson vertrat indes eine spirituelle Runeninterpretation und nahm an, dass die Runensteine gleich nach dem Sündenfall errichtet worden seien und die Edda eine hyperboreische, das heißt im hohen Norden gelegene Theologie behandelt, in der Odins Sohn Balder dem biblischen Christus entspreche. Überdies identifizierte er den nordischen Gott Thor mit dem ägyptischen Thot und dem persischen Zarathustra.172 Vor diesem Hintergrund erklärt sich, dass Herder, der sich schon vor 1773 mit nordischer Poesie beschäftigt hatte,173 seinen Hieroglyphenbegriff auch auf die Rune ausdehnt174 bzw. schon um 1772 seinem Göttinger Freund Heyne gegenüber „auf einem Quartblatt“ von der von ihm entdeckten „Rune“ schwärmt.175 Doch geht Herders mehrteiliges Hieroglyphenkonzept nicht in einem einzelnen Runenzeichen auf. Es scheint folgenreicher gewesen zu sein, dass Herder die sechsteiligen Zeichensymbole des chinesischen I-Ging kannte. In der Herderforschung hat bereits Hugh Barr Nisbet 1989 auf die mögliche Bedeutung des I-Ging hingewiesen. Herder fand hier ein durch Kombination entstehendes Symbolsystem vor, das sich aus wenigen beweglichen und dialektisch aufeinander bezogenen Grundelementen zusammensetzt: der durchgezogenen und der unterbrochenen Linie sowie der Einteilung der sechs vorgegebenen, waagerechten Positionen in eine obere und untere Dreiergruppe.176 Auch im I-Ging wird eine ganze Gesellschaftsform mitsamt ihrer Philosophie umschlossen, die in den sechsteiligen Hexagrammen stets mit abgerufen wird. Nisbet hatte an den französischen Jesuiten Joachim Bouvet aus dem 17. Jahrhundert erinnert, einen Missionar in China, der im I-Ging ein universelles Symbol enthalten sah: die „véritable idée“ der alten Hieroglyphen, erfunden von einem Genie wie
172 Vgl.
die Magisterarbeit des Religionswissenschaftlers Thomas Karlsson: Adulruna und die gotische Kabbala. Rudolstadt 2007, S. 40f. Die Dokumentation von Göransson bildet eine Grundlage noch für die heutige Runenforschung. 173 Herder führt Göransson in den Ideen als wichtigen Edda-Herausgeber an. Wann er dessen Schriften gelesen hat, bleibt unklar. Wolfgang Pross nimmt an, dass Herder die neuen Publikationen der skandinavischen Gelehrten zur nordischen Geschichte erst nach und nach kennengelernt habe, zwischen 1773 (oder etwas früher) und 1784, als der erste Band der Ideen erschien. Vgl. Herder: Werke. Hg. v. Wolfgang Pross. 3 Bde., München [u.a.] 1984–2002. Bd. 3: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit (Teilbde. 1–2). Bd. 3/2: Kommentar, 2002, S. 795. 174 Vgl. Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 276. 175 Zit. nach dem Kommentar v. Smend in Herder: Werke, Bd. V (wie Anm. 167), S. 1359. 176 Vgl. v.a. H[ugh] B[arr] Nisbet: Die naturphilosophische Bedeutung von Herders „Aeltester Urkunde des Menschengeschlechts“. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Hg. v. Brigitte Poschmann. Rinteln 1989, S. 210–226, hier S. 222.
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Hermes Trismegistos.177 Unmittelbar zugänglich für Herder dürfte eine mit Abbildungen und Anmerkungen versehene französische Übersetzung des chinesischen I-Ging gewesen sein, die 1770 in Paris erschien. Sie stammte von Antoine Gaubil, ebenfalls einem Missionar in China. Der französische Orientalist und Sinologe Joseph de Guignes, den Herder 1769 in Paris persönlich getroffen hat, war für die kritische Durchsicht dieser Übersetzung verantwortlich.178 De Guignes hatte 1770 in einer Akademieschrift die exzentrische These vertreten, dass die ägyptische Hieroglyphik sich aus den chinesischen Schriftzeichen herleiten ließe, und sich dabei zu der Behauptung verstiegen, dass Ägypten nur eine chinesische Kolonie gewesen sei. Herder lehnt in der Ältesten Urkunde zwar diese These von De Guignes ab. Er richtet aber doch, wenn auch mit einer gewissen Distanz, seinen Fokus auf das I-Ging als einer Urform der ägyptischen Schrift. In diesem Sinne stellt er die „Sinesische Symbolik“ als die „beste Hilfsidee“ zum Verständnis des Hieroglyphischen heraus. Bewundernd stellt er fest: „Wie da aus Einem Hauptstrich und Urbilde viel neue Begriffe bloß durch Zusätze, Anwendungen, Nebenzüge entstehen: die ganze Sprache, ist wie ein dicker, verwachsener Wald aus wenigen Stämmen voll Sprößlinge und Zweige.“179 Während Vico in der hieroglyphischen Topik der Griechen vor allem deren soziale und juristische Bedeutung untersuchte, richtet sich Herders komparatistisches Interesse auf die mögliche (Re-)Konstruktion einer altorientalischen Ursymbolik. Er teilt damit die zeitgenössischen Bemühungen um eine Ursprache, der man mittels weniger sprachübergreifender Wurzelnomen auf die Spur zu kommen suchte. So ist etwa für den durch Vicos Scienza Nuova angeregten Court de Gébelin jedes sprachliche Zeichen eine „Hieroglyphe“. In diesem Sinne fasst er die Sprache als Ideomimographie auf. Das „O“, das Court de Gébelin in seinem hieroglyphischen Uralphabet beispielsweise der Bilderschrifthieroglyphe „Auge“ gleichstellt, ist sowohl das Licht etwa im Wesen der Sonne als auch der Schrei der Bewunderung auf das mit den Augen gesehene Licht der Gestirne.180
177 Ebd.,
S. 222f. Chou-King, un des livres sacrés des chinois. Qui renferme les fondements de leur ancienne histoire, les principes de leur gouvernement & de leur morale; ouvrage recueilli par Confucius. Traduit & enrichi de notes, par Feu le P. Gaubil, missionaire à la Chine. Revu & corrigé sur le texte chinois, accompagné de nouvelles notes, de planches gravées en taille-douce & additions tirées des historiens originaux […]. Paris: N.M. Tilliard, 1770. 179 Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 335. 180 Antoine Court de Gébelin: Monde primitif, analysé et comparé avec le monde moderne. Bd. III: Origine du langage et de l’écriture. Paris 1775. Vgl. dazu Gérard Genette: Mimologiken. Reise nach Kratylien. München 1996. Kapitel „Die verallgemeinerte Hieroglyphe“, bes. S. 141, 169 und Abbildung S. 165. 178 Le
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Herder hält zwar nichts von Court de Gébelins hieroglyphischem Uralphabet, kreist aber doch um vergleichbare Vermutungen, dass es ein ursprachliches Stammwort für Licht gegeben haben könnte, so wie es im Hebräischen noch erkennbar sei. Vor allem aber sucht er nach Entsprechungen in den verschiedenen Religionen, um zu einer Ursymbolik vorzudringen. Sein bevorzugtes Beispiel ist das allererste Urlicht, das er sich noch früher als die Sterne denkt. Mit den Sprachursprungs-Konstruktionen entscheidet sich Herder nach einigem Zögern für eine monogenetische Herleitung der Schöpfungssymbolik. Auf das damit verbundene Problem „Moses“ als Übermittler wird noch später eingegangen. Die menschliche Überlieferung aus der ungesicherten Frühgeschichte äußert sich als poetisch überkommener Mythos; auch die ursprünglichen Symbole gelten als eine Form der Poesie. Diese Mythopoesie baut auf dem göttlichen Ursprung der Hieroglyphe auf und schafft sich so ein symbolisches Bewusstsein von den höchsten Dingen und zugleich von den Prozessen der Welt. Herders Mythopoesie geht insofern hinter Vicos poesis zurück, als sie ihre Bilder, Maße und Regeln aus der von Gott gegebenen kosmischen Harmonie selbst zu nehmen glaubt, sodass die menschliche Kultur in der Verlängerung des Kosmos als ein wohlgeordnetes Schönes gelten kann. 3.3 Die Genesis im orientalischen Zusammenhang Für den biblisch-orientalischen Teil seiner Arbeit konnte sich Herder schon in seinen Vorstudien auf herausragende Orientalisten stützen. So versteht er die Genesis im Anschluss an die Oxforder Vorlesungen des englischen Bischofs Robert Lowth De sacra poesi Hebraeorum als orientalische Poesie, die wesentlich durch Figuren des Parallelismus und der Symmetrie organisiert sei. In Deutschland war der Theologe Johann David Michaelis ein Gewährsmann für Herder. Über die außerbiblischen, altorientalischen Religionen bezog Herder seine Kenntnisse indes „zumeist nur aus zweiter Hand, wenn nicht sogar eher aus dritter oder vierter.“181 Es kommt hinzu, dass damals auch den Spezialisten nur ein unzureichendes, äußerst lückenhaftes, weitgehend unerschlossenes bzw. (von heute aus beurteilt) ein falsch erschlossenes Quellenmaterial zur Verfügung stand. Die phönizische Keilschrift war damals noch nicht entziffert.182 Und auch die ägyptischen Hieroglyphen waren vor Champollion 181 So
die Einschätzung von Rudolf Smend, Werke, Bd. V (wie Anm. 167), Kommentar, S. 1367. Versuche, die Keilschrift zu entziffern, setzten aber bald darauf ein, wobei der Durchbruch erst nach 1800 gelang. Dabei konnte man sich auf die exakten Beschreibungen stützen, die Car sten Niebuhr auf seiner Forschungsreise (1761–1767) in der persischen Ruinenstadt Persepolis angestellt hatte. Niebuhr hatte seine Reisebeschreibungen zunächst 1772 unter dem Titel Beschreibung von Arabien und dann 1774–1778 als Reisebeschreibung nach Arabien und anderen umliegenden Ländern (in 2 Bden.) veröffentlicht. Herder nimmt 1787 an der von Niebuhr ausgelösten Forschung mit einem eigenen Aufsatz über die Ruinenstadt teil („Persepolis“), wobei er sich auf der Grundlage von Niebuhrs Berichten zu deutenden „Mutmaßungen“ vorwagt.
182 Die
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von allen Forschern im Anschluss an das in der Renaissance wiederentdeckte Hieroglyphenbuch des Horapollon falsch, weil ideographisch und sinnbildlich gedeutet worden. Hinzu kommt, dass Herder sich, wie die meisten Zeitgenossen, in einem biblisch vorgegebenen Zeitrahmen von 6000 Jahren für die ganze Erdentstehung bewegt.183 Wie alle Orient-Forscher musste er sich mit dem Wissen begnügen, das seit der Antike vor allem in zwei prominenten Bruchstücken überliefert worden war: – mit dem aus vortrojanischer Zeit stammenden Fragment, das Sanchuniathon (9. Jh. v. Chr. oder älter) zugeschrieben wird; es berichtet über die phönizische Geschichte und enthält u.a. eine phönizische Schöpfungsmetaphysik. Der griechische Historiker Phylo Byblius soll es im 2. Jh. n. Chr. gefunden und aufgezeichnet haben, wobei dessen Werk wiederum von Eusebius aufgenommen und vermittelt wurde. Auf dieses Fragment beziehen sich die europäischen Gelehrten von Hugo Grotius über Cudworth und Goguet bis zu Herder. – mit der Geschichte Ägyptens, die der ägyptische Priester und Historiker Manetho (auch: Manethon) im 3. Jh. v. Chr. in griechischer Sprache verfasst hat. Es ist das wichtigste Referenzstück zur ägyptischen Chronologie und den ägyptischen Dynastien, ist aber ebenfalls nur fragmentarisch überliefert, u.a. in den Werken von Eusebius. Herders ehrgeiziger Kulturvergleich verfügte daher nur z.T. über die nötigen Voraussetzungen. Wie in den damaligen Sprachursprungs- und Kulturentstehungstheorien üblich, ersetzte Herder das mangelnde Wissen durch Spekulation. Er hoffte aber, mit seiner Hieroglyphentheorie eine so gute Ordnung und Problemlösung geben zu können, dass auch scheinbare Ungereimtheiten von Sanchuniathon und Manetho ins Lot kämen. Herder zufolge muss man die biblische Schöpfungshieroglyphe aus der Poesie altorientalischer Sprachen verstehen, in denen figurenreich gesprochen worden ist. Die Annahme seines Vorgängers Warburton, dass die ägyptischen Hieroglyphen durch die Vermittlung von Moses modifiziert und von der Tierreligion gereinigt wurden und so in die religiöse Symbolik des Alten Testaments eingegangen seien, lässt Herder mit seiner Konzeption der Ur-Hieroglyphe hinter sich. Auch Vicos Interesse am griechischen Olymp und den griechischen Mythen als präreflexiver, fantastischer Topik greift Herder nicht auf. Ihm zufolge haben die Hieroglyphen nur partiell etwas damit gemein. Er geht vielmehr davon aus, dass die ältesten Teile des Alten Testaments, insbesondere die Genesis-Erzählung, von einer altorientalischen Ur-Überlieferung zeugen, die der mosaischen Zeit entstehungsgeschichtlich erheblich vorgelagert ist. Das Alte Testament musste demnach nicht, wie Warburton es vorschlug, über die ägyptische Hieroglyphik verstanden werden, sondern musste
183 Vgl.
Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 275.
82
A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
als Zeugnis einer wesentlich älteren, dem Ägyptischen noch vorgelagerten Symboltradition gelesen werden. Herders Hoffnung war es, dass man aus der poetisch-symbolischen Beschaffenheit der verschiedenen religiösen „Urkunden“ und „Trümmer“ Hinweise auf ihre Entstehungsgeschichte sowie ihr historisches geographisch-kulturelles Umfeld finden könnte. Als älteste bekannte altorientalische Religion diskutiert Herder den Sabäismus, in dem die Sterne angebetet wurden. Was vom Sabäismus übrig sei, habe – so Herder – „allein ihr Feind und Zertrümmerer aufbehalten, die Bibel!“184 Der Sabäismus sei von „Chaldäa bis tief in Arabien und Aegypten“ verbreitet gewesen und habe bis in die altpersische Religion hineingereicht. Zu Abrahams Zeiten schon sei der Sabäismus in Verfall geraten und in Abgötterei abgeglitten. Daher habe ihn Zarathustra in seine eigene Religion „reformiert“, wobei er das sabäische Urlicht als Urgott beibehielt und in eine persische Feuerreligion transformierte.185 Nach Herder hat der Sabäismus sowohl auf das Christentum als auf den Islam gewirkt. Herder versteht den sabäistischen „Dienst der großen Göttin“ als Dienst an der Natur in „Asiatischer Pracht und Feier“, aber auch als deren Missbrauch.186 Er übergeht die „elendsten Bocksfeste(n), Phallusbräuche(n) […] und Greuel(n)“, um sich an die wichtigsten, positiven Hauptstücke zu halten: „Nacht und Licht! Himmel und Erde! Sonn’ und Mond! die große Mutter! überall die allverbreitete Fruchtbarkeit der Natur – das waren die Hauptgegenstände in Namen, Bildern, Cerimonien, Geheimnissen und Priestern.“187 Das Pantheon dieser Gegenden sei aber noch ungeschrieben. Herder vermutet, dass der Sabäismus von einer Kosmogonie aus vormosaischer Zeit abstammt, die auch Moses später beerbt habe. Die Schöpfungsurkunde stammt damit von einem „Moses vor Moses“, und das meint: dass sie tief in die fernste „Urwelt“ reicht.188 Die Historisierung sowie das gewachsene Methodenbewusstsein der Hermeneutik bringen Herder somit dazu, auch die Überlieferung der christlichen Religion einer rationalen Analyse zu unterziehen. Um in seinem Bild zu bleiben: Er lichtet den „Wald“ der Überlieferung von Wildwuchs, also von Mystifikationen, und sieht schließlich im ältesten Teil des Alten Testaments nur noch eine Erzählung, die aus nicht mehr zugänglichen Urkunden zusammengesetzt ist. Diese Einzelurkunden sind nicht in allen Stücken lückenlos und widerspruchsfrei und weisen auf frühe orientalische Traditionen vor der Erfindung der Schrift hin. Eine noch weitere Rückverfolgung der geschichtlichen Tradition ist, zumindest mit geisteswissenschaftlichen Methoden, nicht vorstellbar.
184 Ebd.,
S. 423. S. 427. 186 Ebd., S. 424. 187 Ebd. 188 Ebd., S. 426. 185 Ebd.,
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Als Theologe scheint Herder allerdings in eine Aporie hineinzugeraten: Schon durch die pure Erwägung einer vormosaischen Urform der Schöpfungshieroglyphe relativiert er den religiösen Status des Genesis-Berichts und damit des Alten Testaments. Der Widerspruch löst sich auf, weil Herder mit Hilfe der historischen Kritik die Grenze des Erschließbaren ausweitet, aber das Religiöse jenseits dieser Grenze bestehen lässt und beschwört. Die nur kompilierte Genesis behält ihre Dignität, weil ihre davorliegenden Zeugnisse sich nicht weiter rekonstruieren lassen, sondern in die Urzeit zurückverweisen, wo sie sich zur Botschaft Gottes verdichten. In diesem eigenständigen Konstrukt Herders steht die Hieroglyphe an der Schwelle von Erkennen und Wissen einerseits und Nicht-Wissen, aber Glauben andererseits. Der schriftkundige Moses ist für Herder in diesem Sinne nicht der Autor, sondern nur der Aufzeichner eines zunächst anders (vermutlich mündlich) weitergereichten Urwissens. Indem Herder einen „Moses vor [dem] Moses“ erwägt189 wird der biblische „Moses“ zu einem Kulturvermittler. Auch Herder konfrontiert den Leser auf subtile Weise damit, dass viele der aus Mythologie und Geschichte vertrauten Namen nicht immer feste Größen sind. Oftmals sind unter einem Namen eine Vielzahl von Vorläufern bzw. disparaten Personen zusammengezogen. Man kann sie gewissermaßen als Hieroglyphennamen ansehen. Ähnliche Stifterfiguren – seien es die Gründerväter der Religionen, seien es die mythischen Erfinder der Schrift – kommen mit ähnlichen Anlagen in vielen Kulturen, doch fast immer mit unterschiedlichen Namen vor. Die verschiedenen Völker kleiden die mythisch-religiösen Urformen in jeweils andere Bilder, geben ihnen andere Namen und entwickeln eine eigene Tradition. Wer sich auf die Mythologien der Völker einlässt, bewegt sich oftmals in einem Labyrinth ungesicherter Namen, Herkünfte und Zeugnisse. Es ist schwierig, von unverfälschten Linien oder gar Filiationen zu sprechen. Die Religionen nehmen sich gegenseitig auf und verfälschen bzw. „reformieren“ sich dabei. Herder wechselt an dieser Stelle selbst in eine hieroglyphische Diktion, die auch im Weiteren charakteristisch für seine Studie ist. Sein Stil ist daher nicht beiläufig oder gar dekorativ, sondern hat Methode und stützt die Aussage. Die Hieroglyphe steht bei Herder auf der Schwelle zwischen hermeneutischer Textkritik und religiöser Botschaft. Von der rationalen Kritik kann sie nur so weit erschlossen werden, wie es die jeweils aktuellen Methoden ermöglichen. Beim Schwellencharakter der Hieroglyphe muss es einen Rest an nicht Erschließbarem geben, den Herder sprachlich in einer entsprechenden Weise aufgreift und beschwört. Die Konstruktion der Schöpfungshieroglyphe aus Zahlen scheint dem nur auf den ersten Blick zu widersprechen, denn auch die Zahlen sind nicht per se „rational“, sondern unterliegen einer kulturellen Kodierung; sie sind im Fall der „Schöpfungshieroglyphe“ vorrational und kulturgeschichtlich geprägt. (Dazu noch weiter unten.)
189 Ebd.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
Moses, der späte Aufzeichner der „ältesten Urkunde“, ist nach Herder zugleich derjenige, der den Sabäismus als Verfallsform der Urreligion bekämpft. Damit entsteht zwar indirekt auch die Frage, ob Moses nicht die „älteste Urkunde“, die die Sabier nur degeneriert bewahrt hatten, verfälscht haben könnte – doch Herder stellt die Frage nicht. Bei Warburton (der sich hier an Spencer anlehnt) war Moses ein Bereiniger der ägyptischer Abgötterei und Tierreligion. Herder überspringt gleichsam die ägyptische Problematik an dieser Stelle und integriert sie in den ausgreifenderen Sabäismus, der Ägypten mit umfasst habe. Ähnlich wie Warburton geht auch Herder davon aus, dass Gott Moses erwählt hat, damit er die Schöpfungshieroglyphe und die Urreligion wieder in ihrer ursprünglichen Reinheit herstellt. Herder gesteht aber zu, dass Moses ihr auch etwas hinzugefügt haben könnte. 3.4 Biblische Schöpfungshieroglyphe und ägyptische Hermesfiguren Für Herder nimmt die religiöse Symbolik der Ägypter im Orient einen Sonderstatus ein. Die ägyptischen Gottheiten sind ihm zufolge als Verkörperungen der dynamischen Kräfte des Weltalls zu verstehen. Sie verschmelzen partiell miteinander oder gehen Verbindungen ein, um gemeinschaftlich die Beteiligung verschiedener Kräfte an der Schöpfung und am Erhalt des Weltalls zu symbolisieren. Unter diesem Gesichtspunkt gibt Herder seinen im Folgenden noch vorzustellenden Hermessymbolen, die er als Weltgeist-, Schöpfungskraft- und Fortpflanzungszeichen versteht, eine zusätzliche Dimension: Sie werden zum Bild der „doppelgeschlechtlichen Allbefruchtung“.190 Einige ägyptische Gottheiten bringen sogar eine Doppelgeschlechtlichkeit in die Weltenschöpfung und den Erhalt der Welt ein. Dadurch entsteht eine komplexe Parallelität und Polarität. Die Ägypter haben Herder zufolge kraftvolle Hieroglyphen, die das Schöpferische und die Fruchtbarkeit des Kosmos symbolisieren. „Zeugungskraft war die Ader ihrer Götterlehre alles durchströmend.“191 Diese Aspekte kann Herder in der alttestamentarischen Schöpfungshieroglyphe so nicht finden. Er komplementiert die biblische Schöpfungshieroglyphe daher durch ein kompensatorisches Argument naturaler Allbelebung. (Dazu noch später.) Den innigen Bezug von Kosmologie, harmonischer Weltenmusik, Sprache, Mathematik meint Herder, vor allem in der ägyptischen Symbolik, mehr noch als in der Genesis, nachweisen zu können. Dabei integriert er auch esoterische Traditionen, wenn sie seiner Absicht entgegenkommen. Er sucht nach fundamentalen menschheitsgeschichtlichen Hieroglyphen, die zeigen, dass sich das Urwissen der einzelnen Völker auf einfache Ursymbole und einfache Zahlenkombinationen stützt.
190 Ebd., 191 Ebd.,
S. 331. S. 341.
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
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a. Hermesbuchstaben Bei den Ägyptern meint Herder Symbole zu finden, die kosmische Kraftzeichen und zugleich menschheitsgeschichtliche Hieroglyphen sind; sie werden architektonisch durch Obelisken und Pyramiden verkörpert. Herder fasst sie als Hermeszeichen auf. Er vermutet mit dem Altägypten-Forscher Paul Ernst Jablonski – einem Theologen und Orientalisten, der bei La Croze das Koptische gelernt hatte –, dass Hermes, Theut oder Thot nur verschiedene Namen oder „Namenshieroglyphen“192 für die Begriffe „Monument, Säule, Denkmal“193 sowie „Schrift, Hieroglyphe“194 darstellen. Schon seit der Antike galt Thot/Hermes, als eine Personifizierung der Weisheit und des Wissens, da er die göttliche Gabe der Schrift gestiftet habe. Herder geht weiter von der hermetischen Überlieferung aus, dass die ersten Schriftzeichen („stocheia“) zugleich Elemente des Kosmos waren.195 Der altägyptische Gott, dem die Erschaffung der Hieroglyphen zugeschrieben wird, bekommt bei ihm dadurch eine zentrale Stellung. Thot/Hermes vermittelt die kosmischen Kräfte mit der hieroglyphischen Symbolik und den architektonischen Erinnerungsmalen, auf denen die heiligen Hieroglyphen eingemeißelt sind. Herder stellt die Hermeszeichen in drei Varianten vor und nennt diese das „Buchstabenblatt des Gottes“. Er spricht auch von den „Urbuchstaben des Hermes“.
Abb. 4: Die Hermesbuchstaben. Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts.
Diese Varianten versteht Herder als Grundbuchstaben, aus denen alle übrigen Buchstaben gebildet worden sind. Ähnliche Versuche, das Alphabet aus Hieroglyphen oder aus Grundbuchstaben abzuleiten, gab es bereits. Eine derartige BuchstabenAtomistik versuchte etwa der von Herder mehrfach zitierte Johann Georg Wachter.196 Die Hermesbuchstaben führt Herder wiederum auf eine allererste Hermes-Hieroglyphe zurück: auf die Ibisfigur, die dem Gott Theut als Erkennungszeichen zugeordnet ist. Seit Plutarch gilt die Ibisfigur, Herder zufolge, als der „Erste der Buch-
192 Ein Ausdruck
den Herder später mit Bezug auf die Schöpfungsurkunde in den Ideen verwendet. Urkunde (wie Anm. 167), S. 318. 194 Ebd., S. 319. 195 Auch Warburton hatte in seinem Hieroglyphenkapitel an die hermetisch-neuplatonistische Überlieferung erinnert, dass die allerersten heiligen Zeichen bzw. hieroglyphischen Schriftsymbole noch mit den Elementen des Kosmos deckungsgleich gewesen seien. Nach Herder habe sich Warburton aber gescheut, daraus Konsequenzen für seine Hieroglyphentheorie zu ziehen. 196 Wachter leitet alle Vokalzeichen aus der Kreisfigur sowie dem viergeteilten Kreis ab. Vgl. ders.: Naturae et Scripturae Concordia. Leipzig 1752, S. 54–65. 193 Älteste
86
A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
staben“ der ägyptischen Schrift.197 Plutarch versucht eine plausible Erklärung, die helfen kann, Herders erratisch anmutende Überlegungen partiell zu erhellen: Weil [Theut]/Hermes die Buchstaben erfunden habe und ihm die Ibisfigur symbolisch zugeordnet worden sei, hätten die Ägypter in ihrer Schrift den ersten Buchstaben mit dem Ibis bezeichnet und ihm so, als Ehrehrbietung für Hermes, einen Vorrang gegeben.198 Auch ein Blick in die Schrift von Jablonski, Herders wichtigstem Gewährsmann für altägyptische Symbole, Gottheiten und Etymologien, macht die rätselhaft bleibenden Anspielungen von Herder nachvollziehbarer. Jablonski gibt eine Mythe wieder, in der der Ibis seinen Schnabel im Brustgefieder verbirgt und dabei eine Figur bildet, die symbolisch zu verstehen ist. Es entsteht eine Form, die als Herz, als Dreieck oder – in Hinblick auf das hier zu diskutierende Schriftbild – als Buchstabe ausgelegt wird, der dem [altgriechischen] Theta ähnelt. Das Theta ist wiederum die Initiale von Theut. Insofern kann das Theta sowohl die Stelle von Theut als auch die Stelle des ersten Buchstabens vertreten. In diesem Sinne nennt es Herder das „Hermesurbild“.199 Jablonski hatte das Zeichen für ein Urelement des ältesten ägyptischen Alphabets gehalten, aus der sich dann der griechische Buchstabe Theta gebildet habe.200 Er steht damit nicht allein da; ähnliche Herleitungen des Theta aus altägyptischen Vorläuferformen lassen sich auch beispielsweise bei Kircher finden, der das Zeichen als Kreis mit eingeschlossener waagerechter Schlange abbildet.201 Bei den von Herder abgebildeten Buchstaben handelt es sich zwar um altgriechische Varianten des Buchstabens Theta, der selbst aus dem phönizischen Alphabet stammt. Doch passen sich diese Belege in Herders Älteste Urkunde ein, weil er davon ausgeht, dass die Ägypter aus einer vorausgegangenen Ursprache geschöpft haben, deren Reste sich in der phönizischen Sprache erhalten haben. Tatsächlich lassen sich mit dem Buchstaben Theta vergleichbare Figuren in den ägyptischen Hieroglyphen nachweisen. Besonders die von der Kreisfigur umschlossene Überkreuzfigur lässt sich auf zahlreichen ägyptischen Denkmälern finden. Insofern kann Herder mit einem gewissen Recht behaupten, dass man den Hermesbuchstaben auf allen ägyptischen Denkmälern verbreitet finde. In der Folge von Champollions Entdeckung ist dieses Zeichen allerdings mit einer anderen Bedeutung identifiziert worden: Es tritt in den Städtenamen zumeist als Determinativ für Stadt/Ortschaft/Siedlung hinzu.
197 Älteste
Urkunde (wie Anm. 167), S. 318. Strobach: Plutarch und die Sprachen. Stuttgart 1997, S. 131f u. 134. 199 Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 330. 200 Vgl. Paul Ernst Jablonski: Pantheon Aegyptiorum sive de diis eorum commentarius: cum prolegomenis de religione et theologia Aegyptiorum. 3 Bde. Frankfurt a.d.O. 1750–1752. Bd. III, Buch V, S. 163f. 201 Vgl. die abgebildete Tabelle in Ulrich Gaier: Vielversprechende Hieroglyphen. Hermeneutiken der Entschlüsselungsversuche von der Renaissance bis Rosette. In: Ägyptomanie. Europäische Ägyptenimagination von der Antike bis heute. Hg. v. Wilfried Seipel. Wien, Mailand 2000. S. 175–191, hier S. 185. 198 Vgl. Anika
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
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Abb. 5: Ideogramm für niwt: „Stadt“; Determinativ für Namen bewohnter Orte. Aus: Maria Carmela Betrò: Heilige Zeichen.
Als Zeichen für Stadt bzw. Siedlung gehört das Symbol, wie man heute weiß, tatsächlich zu den ältesten Elementen der ägyptischen Hieroglyphik.202 Man fasst das Zeichen als viergeteilten Kreis auf, der auf den Plan der idealen Stadt verweise; es wird auch als Wegkreuzung oder als Gitter (Senett) verstanden, doch sollte man sich hüten, Vorstellungen der modernen Planstadt rückzuprojizieren. Herder konnte noch nichts von der Bedeutung dieses Zeichens als Stadt wissen. Er deutet den von ihm gefundenen Buchstaben und seine Varianten als „Zeichen des Weltalls, Weltgeistes, der Schöpferkraft, der Fortpflanzung alles Lebendigen“; sie standen ihm zufolge für alle die „ursprünglichen Götter“ der alten Ägypter. (Dazu noch weiter unten.) Jablonski hatte auf die Darstellung des Theut mit Ibiskopf hingewiesen, die sich auf der berühmten, für die frühe Ägyptenkunde so einflussreichen Bembinischen Tafel (auch „Isistafel“ bzw. „Mensa Isiaca“) befand.203 Abbildungen daraus waren seit dem 16. Jahrhundert in Kupferstichen verbreitet. Eine großformatige Abbildung befand sich in Athanasius Kirchers Œdipus Ægyptiacus (1652–54), aus dem auch Warburton seine Ausschnitte bezogen hatte. Auf Kirchers Tafel hat Herder das von ihm als kosmisches Kraftzeichen gedeutete Stadtzeichen finden können, und das gleich mehrfach: jeweils in den Hieroglyphen, die den verschiedenen Götterfiguren beigeordnet waren.204 Herders Gedankengänge erscheinen an dieser Stelle recht unverbunden, weil er nicht im Einzelnen ausführt, auf welche Erkenntnisse von welchen Autoren er sich stützt und wo er von ihnen abweicht. Er steht aber, wie die Hinweise auf Wachter, Jablonski, Kircher und Plutarch belegen, durchaus in einer langen gelehrten Diskussion. Dabei nimmt er, vor allem vermittelt durch seine Gewährsmänner Jablonski
202 Vgl.
dazu auch Leonardo Benevolo: Die Geschichte der Stadt. Aus dem Italienischen von Jürgen Humburg. Lizenzausg. Frankfurt a.M., Wien 1983, S. 41. 203 Vgl. Jablonski: Pantheon Aegyptiorum (wie Anm. 200), S. 163. 204 Die Ägyptologie kennt auch Belege dieses Zeichens in Verbindung mit menschengestaltigen Götterstatuen, die zudem bereits aus der ersten Dynastie überliefert sind. Es wird vermutet, durch das Inschriftszeichen sei diese Gottheit als „der Städtische (Gott)“ zu verstehen. Vgl. Richard Merz: Die numinose Mischgestalt. Berlin, New York 1978, S. 46.
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sowie den Sprach- und Kabbala-Forscher Johann Georg Wachter, aber auch durch die 14-bändige Bibliotheca Graeca von Johann Albert Fabricius, auch hermetisches Gedankengut auf. Die neuere Forschung nimmt an, dass besonders Jablonski Herders Hermetik-Rezeption beeinflusst habe. Klaus Vondung hat darauf hingewiesen, dass Jablonski die altägyptische Religion in seinem Pantheon Aegyptiorum z.T. auf der Grundlage des hermetischen Schrifttums entworfen hat.205 Die erst in der Renaissance wiederentdeckten hermetischen Schriften hatten ihr Ansehen in der gelehrten Welt erheblich eingebüßt, nachdem Isaac Casaubon 1614 mit textkritischen Mitteln nachweisen konnte, dass diese Texte nicht etwa ein Wissen aus altägyptischer Zeit repräsentieren, sondern vielmehr ein Erzeugnis des alexandrinischen Hellenismus waren. Tino Markworth zufolge wies Jablonski den hermetischen Schriften jedoch Mitte des 18. Jahrhunderts in seinem Pantheon Aegyptiorum erneut einen wichtigen Rang als 205 Vgl.
Klaus Vondung: Herder und die hermetische Tradition. In: Jan Data u. Marian Szczodrowski (Hg.): J. G. Herders humanistisches Denken und universale Wirkung. Danzig 1997, S. 31– 48, hier S. 35. – Die Forschung hat sich in den letzten 20 Jahren verstärkt mit Herders Rezeption von hermetischen Schriften und deren Bedeutung für sein Denken auseinandergesetzt. Einen besonderen Fokus bildete dabei die Älteste Urkunde sowie die darin entwickelte Hieroglyphenkonzeption. Vgl. – über die genannte Studie von Vondung hinaus – v.a.: Nisbet: Die naturphilosophische Bedeutung von Herders „Aeltester Urkunde“ (wie Anm. 176). (Kontrovers dazu im selben Band: Gerhard vom Hofe: Herders „Hieroglyphen“-Poetik. Zur schöpfungstheologischen Grundlegung einer höheren Dichtungslehre in der „Aeltesten Urkunde“. In: Bückeburger Gespräche über Johann Gottfried Herder 1988. Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. Hg. v. Brigitte Poschmann. Rinteln 1989, S. 90–209.) Hans Georg Kemper: Gott als Mensch – Mensch als Gott. Hamann und Herder. In: Oswald Bayer (Hg.): Johann Georg Hamann. Der hellste Kopf seiner Zeit. Tübingen 1998, S. 157–89. Monika Neugebauer-Wölk: Nicolai – Tiedemann – Herder: Texte und Kontroversen zum hermetischen Denken in der Spätaufklärung. In: Antike Weisheit und kulturelle Praxis. Hermetismus in der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anne-Charlott Trepp. Göttingen 2001, S. 397–448; zu Herder bes. S.428–437. Linda Simonis: Esoterische Mythologie und literarische Hermetik in Herders Schriften zum Alten Testament. In: Dies.: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2002, Kap. 5.3, S. 371–395. Linda Simonis: Das Geheimnis als Grenzphänomen des Wissens und der Wissenschaften. Am Beispiel von Marsilio Ficino und Johann Gottfried Herder. In: Grenzgebiete der Wissenschaften 52 (2003), S. 31–56. Die Diskussion haben zuletzt aufgenommen, teils mit Zusammenfassungen des Forschungsstandes: Tino Markworth: Unsterblichkeit und Identität beim frühen Herder. Paderborn [u.a.] 2005, bes. S. 53–67. Sowie: Christina Juliane Fleck: Genie und Wahrheit. Der Geniegedanke im Sturm und Drang. Marburg 2006, Kap. III.2: Herder und die Hermetik, S. 84–109. Fleck arbeitet als hermetische Gedankenfiguren bei Herder heraus: die Analogie, den Menschen als ‚Hieroglyphe der Schöpfung’, ‚Eins in All’ und ‚All in Eins’, die Kraft und die Urweisheit als ‚Theuterfindung’. Markworth bemüht sich um eine differenzierte Darstellung der Entwicklung in Herders Werken der 1760er Jahre. – Vgl. darüber hinaus auch den gedächtnistheoretischen Ansatz von Ralf Simon: Theologische memoria: Schöpfungshieroglyphe. In: Ders.: Das Gedächtnis der Interpretation: Gedächtnistheorie als Fundament für Hermeneutik, Ästhetik und Interpretation bei Johann Gottfried Herder. Hamburg 1998, S. 72–110. – Nicht eingesehen werden konnte die schwedische Studie von Staffan Bengtsson: Herders hieroglyf: Om den okända metoden i hans författarskap [Herder’s Hieroglyph: On the Unknown Method in his Work], Uppsala 2004.
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ernstzunehmende Quellen für die altägyptische Religion zu. Herder sei zwar zuvor Casaubons Kritik gefolgt, doch habe Jablonski ihn, so Markworth, zu einer positiveren Neubewertung der hermetischen Schriften sowie der Figur des Hermes Trismegistos angeregt.206 Demgegenüber dürfen aber nicht die verschiedenen Passagen in der Ältesten Urkunde unterschlagen werden, in denen sich Herder eher distanziert gegenüber wuchernden esoterischen Spekulationen äußert, die seiner Meinung nach wenig dabei helfen, die wichtigsten Übereinstimmungen in den Symbolbildungsprozessen der alten Völker zu erhellen. Auf dieses Problem wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen. b. Hermesleier Noch wichtiger als die Hermesbuchstaben als energetische Weltkraft- und Schöpfungszeichen ist für Herder die auf sieben Vokale begründete Hermesleier. In ihr werden die elementaren Töne der Sprache als heilige Zeichen zu einem Symbol der kosmischen Weltenharmonie zusammengestellt. In ihrer kreisförmigen Anordnung um einen gemeinsamen Mittelpunkt erkennt Herder die siebenteilige Konfiguration der biblischen Schöpfungshieroglyphe wieder.
Abb. 6: Die Hermesleier. Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts.
Der Mythe zufolge, wie sie bei Demetrius von Phaleron (344–280 v. Chr.) überliefert wird, hat Hermes die sieben heiligen Vokale, die die ägyptischen Priester statt eines Lobliedes den Göttern gesungen haben, aus dem Unendlichen bezogen und seiner erfinderischen Leier einverleibt. Für Herder ist es „die große unzerstörbare Leier des Weltalls, die die Sangweisen des Himmels stimmte“.207 Herder geht somit
206 Vgl.
Tino Markworth (wie Anm. 205), bes. S. 61f. zitiert an dieser Stelle Carsten Niebuhrs Reisebeschreibung von Arabien, wobei er sich speziell auf die von Niebuhr mitgeteilten Beobachtungen seines (auf der Fahrt verstorbenen) Reisegefährten Peter Forskål über das Koptische interessiert. Herder fühlte sich in seiner Einschätzung der mythischen Hermesleier als einer auf sieben Urvokalen gegründeten Urhieroglyphe durch Forskåls Bemerkung unterstützt, die pharaonische Sprache habe sich aus sieben Grundbuchstaben entwickelt, die jeweils auf dreifache Weise geschrieben und ausgesprochen worden seien. Seine weiteren Schlussfolgerungen legt Herder nicht offen.
207 Herder
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davon aus, dass die frühe ägyptische Sprache in ihren elementaren Klängen noch an der Harmonie der kosmischen Sphärenmusik teilhatte. Er zeichnet die Figur nochmals in einer durch Punkte gekennzeichneten, geometrisch-rhombischen Form.
Abb. 7: Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts.
Nach Herder ist auch die Hermesleier eine Grundform, die von Theut gestiftet worden ist. Wie schon bei den Hermesbuchstaben bewegt sich Herder in hermetischen Spekulationen, wenn er „Hermes“ (bzw. Hermes Trismegistos) als Erscheinung des altägyptischen Gottes Thot versteht. Von der Hermesleier konnten, Herder zufolge, alle Wissenschaften ihren Ausgang nehmen: von den Buchstaben über die Zahl- und Messkunst bis zur Astronomie und Musik sowie im Weiteren bis zur Natur- und Götterlehre. Herder kommentiert: „Eine Kunst zum Ausdruck unsichtbarer Weltkräfte und Formen, gebauet wie die Zahlkunst. Aus Eins, dem Punkte, dem unteilbaren Grundquell, wie da die Zwei der Identität, Symmetrie, Freundschaft, lieblichen Zusammenstimmung, Parallele entsprang: ein harmonisches Dreieck wurde, wo sich Gipfel und zwei Seiten verbanden. Man fuhr fort, und es ward ‚eine Triangularform von sieben Grenzen und sechs Intervallen, doppelter und dreifacher Quantität, auf der oben die große Monas, der Regierer des Weltalls blickt und thronet’. Kurz, wer kennt nicht, die in allen Geheimnissen, Amuletten, Symbolen so berühmte Figur […] unter so mancherlei Drehungen und Verbindungen erscheinend, unsere Symbole.“208 Fast 50 Jahre zuvor hatte Vico vermutet, dass das frühe archaische Wissen in einer fantastischen Topik verfasst wurde, in der nicht nur Religion und Mythos, sondern auch astronomische bzw. kalendarische Zeitmessung, geographische Weltkunde, sowie das herrschafts- und eigentumsbezogene soziale Wissen eng miteinander verzahnt waren. Während Vico unter diesem Gesichtspunkt vor allem die archaische Mythologie der Griechen untersucht hatte, legte Herder ein halbes Jahrhundert später, doch noch ohne Kenntnis von Vicos Scienza Nuova,209 einen ähnlich
208 Älteste 209 Vgl.
Urkunde (wie Anm. 167), S. 320. dazu w.o. S. 15f.
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großartigen Entwurf für den altorientalischen Raum vor. Während Vico die Topik zum Ausgangspunkt genommen hatte, versuchte Herder nunmehr den Nachweis zu erbringen, dass der enge Nexus von Religion, Mythos, Gedächtnis und Wissen durch die von ihm hypostasierte hieroglyphische Grundfigur gestiftet worden sei. In ihr verband sich, Herder zufolge, ein perfekter paralleler Aufbau mit einer zahlensymbolischen Topik, die gleichermaßen schöpfungstheologisch, kosmologisch, kalendarisch, musikalisch, astronomisch oder geometrisch-mathematisch ausgedeutet werden konnte. Markus Buntfuß schätzt ihren Stellenwert für Herder zutreffend ein, wenn er sie „als Elementarzeichen für die symbolbildende Natur des Menschen und als Superzeichen für sämtliche Formen von Religion, Kultur und Wissenschaft“ bewertet.210 Vor allem ist Ulrich Gaier zuzustimmen, wenn er sie als „ein progressives, operationales Zeichen“ einstuft, mit dessen Hilfe sich „Erkenntnisse synthetisch generieren lassen“.211 Doch sind diese Einschätzungen dadurch zu relativieren, dass Herder die Hieroglyphe nicht als eigenmächtiges Zeichen der Menschheit ansieht. Für den Theologen und Geistlichen ist die Hieroglyphe ein geoffenbartes, von Gott gestiftetes Urzeichen, das den symbolischen Geist der Menschheit – als erste Hilfestellung Gottes – trägt, befördert und mit entwickelt. Herder will im Weiteren zeigen, dass die Hermesfiguren mit der Siebenerfigur des Alten Testamentes vereinbar, also partiell deckungsgleich sind.212 Klaus Vondung hat den Vorschlag gemacht, sowohl Herders Schemazeichnung der biblischen Schöpfungshieroglyphe als auch die sieben Vokale der Hermesleier und das von Herder als Hermesbuchstaben verstandene Zeichen für den griechischen Buchstaben Theta (als Initiale für Theut) ineinanderzublenden.213 Auf diese Weise entstehe die von Herder gewünschte „Mittelfigur“, in der „Alle wahr haben und sich vereinigen“.214 Die Integration der drei Figuren in einen gemeinsamen Bauplan bringt Herders Ziel, die Grundlagen der frühen Religionen aufeinander zu beziehen, in eine zugleich anschauliche wie formelhafte Synthese.
210 Markus
Buntfuß: Das ästhetische Religionsverständnis J.G. Herders. In: Ders.: Die Erscheinungsform des Christentums. Zur ästhetischen Neugestaltung der Religionstheologie bei Herder, Wackenroder und De Wette. Berlin 2004, Teil I, S. 21–86, Zitat S. 60. 211 Ulrich Gaier: Herders Sprachphilosophie und Erkenntniskritik. Stuttgart, Bad Cannstatt 1988, S. 160. 212 Die Zahlensymbolik schreibt seit der Antike der Zahl Sieben eine herausragende Bedeutung zu. Als göttliche Zahl in Verbindung mit der Genesis ist sie schon bei Philo nachweisbar. Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998, S. 337f. 213 Klaus Vondung: Herder und die hermetische Tradition (wie Anm. 205), S. 41. 214 Herder: Älteste Urkunde; hier zit. nach Vondung, ebd.
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Abb. 8: Vondungs Integrationsmodell. Aus: Klaus Vondung: „Herder und die hermetische Tradition“.
Vondungs Integrationsmodell hat zwar das Verdienst, Herders komparativen Ansatz zu verdeutlichen, doch riskiert es, als unkritische Fortsetzung von Herders Spekulationen angesehen zu werden. Wie sehr für Herder die Hieroglyphe als Schlüssel für derartig weitgesteckte Erkenntnisse diente, lässt sich aus einem Brief an Merck von 1770 schließen, den Herder während der Umarbeitung seines ursprünglichen Manuskriptes („Über die ersten Urkunden“) in die Fassung der Ältesten Urkunde abschickte. Herder schrieb Merck, dass er jene Hieroglyphe, der er schon seit langem nachjage, endlich gefunden habe.215 Und er präsentiert Merck die folgenden drei Zeichnungen.
215 Brief
an Johann Heinrich Merck, Straßburg, 15. Okt. 1770. In: Briefe, Bd. 1 (wie Anm. 164), S. 261f. Die nachfolgenden Abbildungen: S. 261.
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Abb. 9: Herders Zeichnungen seiner Hieroglyphe. Aus: Herders Brief an Johann Heinrich Merck, Straßburg, 15. Okt. 1770.
Von diesen drei Figuren nimmt er das Bild vom Doppelkreuz und die kristalline Sechseckfigur in seine „Älteste Urkunde“ nicht mehr auf, sondern behält im Weiteren nur die Hermesleier bei. Es bleibt aber bei dem ehrgeizigen Versuch, durch eine ineinander überführbare Schema-Zeichnung auf der Grundlage des Siebenerschemas eine Figuration zu gewinnen, die auf Symbolsprachen auch anderer Völker übertragbar ist. Herder vermutet, dass die vor-mosaischen Bestandteile der Genesis weit in die vor-abrahamitische Zeit reichen und als Vermächtnis, als Denkmal ältesten Wissens, mit den legendären Säulen bzw. Büchern von Seth zu tun haben könnten. Er rekurriert auf die vergleichbaren Ursprungsmythen von einer allerersten Weisheit, die von Stifterfiguren wie Theut, Hermes oder Seth vor dem Vergessen gerettet worden seien, indem diese sie mittels steinerner Inschriften auf Säulen eingeschrieben hätten. Den Säulen bzw. Büchern von Seth stellt Herder als mythologische Entsprechungen die Säulen des Theut und des Hermes gegenüber und kommt zu dem Schluss, dass man mit Seth noch näher am Ursprung sei und im Namen des Seth das zusammengezogen habe, was sonst auf Theut und Hermes verteilt worden war. Seth ist in diesem Sinn keine Person, sondern ein poetischer Charakter (im Sinne Vicos), in dem die Überlieferungen gebündelt wurden. Eine zweite Überlagerung unterschiedlicher Überlieferungen übernimmt Herder aus der Diskussion seiner Zeit. Herder macht sich die bereits erwähnten Forschungen von Goguet zur archaischen Kultur nicht-ikonischer Säulen und Steindenkmäler zunutze, so dass sie in der Ältesten Urkunde eine erhebliche, bislang unterschätzte Bedeutung bekommen. Herders Ausgangspunkt ist die Überblendung des mythologischen Hermes mit der denkmalsspezifischen „Herme“ als Kunstform216, die sich bis ins 20. Jahrhundert halten sollte.
216 Goguet
hatte sich diesbezüglich auf ein Fragment des vermutlich aus der vor-trojanischen Zeit stammenden phönizischen Geschichtsschreibers Sanchuniathon (frz.: Sanchoniaton) bezogen. Es war vermittels einer griechischen Übersetzung aus dem 2. Jahrhundert überkommen und auch Herder benutzt es in der Ältesten Urkunde häufiger als Quelle über die Geschichte und Mytho-
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Im Ergebnis führt Herder die archaischen Hermen mit der ägyptischen Obelisken-, Stelen- und Pyramidenkultur zusammen.217 Mit Blick auf den ägyptischen Gott Theut, der als Erfinder der Schrift gilt, sowie mit Blick auf die hermetische Tradition, die Theut mit Hermes Trismegistos identifiziert, fasst er die Namen dieser Gottheiten als „allererste“ Memorialzeichen für die überkommene und zu überliefernde Urweisheit auf, die in der Schöpfungshieroglyphe enthalten sei. Für Herder bestanden die ältesten Symbole aus einer kosmologisch fundierten, religiösen Hieroglyphe, in der bereits alle Wissensformen und sogar alle notwendigen Primärzeichen keimhaft enthalten waren. Die „stoicheia“, die die „ägyptisierenden Griechen“, also die Ptolemäer, als Erfindung des Gottes Hermes ansahen, waren ihm zufolge „Weltelemente“ und „heilige Buchstaben“ nicht nur in dem Sinne, dass „Eins Vehikulum und Hülle des Andern“ war. In ihnen waren für ihn zugleich auch die ganzen „Gedanken“ „des frühen Menschlichen Verstandes enthalten gewesen“, und dies in dem Sinne, dass sich darin eine „Philosophie und Astronomie, Naturund Götterlehre, Arithmetik und Geometrie, kurz alle Priesterwissenschaften gefunden“ haben.218
logie der Phönizier. Sanchuniathon zufolge waren, so berichtet Goguet, „unbehauene Steine und Pfähle die ersten Erinnerungsschriften der Völker in Phönicien gewesen“ (Untersuchungen Von dem Ursprung der Gesezze [sic.], Künste und Wissenschaften, wie Anm. 161, S. 172). Winckelmann hatte mit Blick auf die griechische Antike eine vergleichbare Pfahl- und Steintradition an den Anfang seiner Geschichte der Kunst des Altertums gestellt und sie unter dem Begriff der „Hermä“ zusammengefasst. (Vgl. Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Darmstadt 1972, S. 26–28; zum Begriff „Hermä“, S. 27.) Die Identifizierung des Hermes mit der Herme leitet man aus der Form jener griechischen Kultpfeiler ab, die den Gott noch nicht in Menschengestalt vorgestellt hatten. Dabei diskutiert man Hermes als Personifikation eines aus mehreren Steinen bestehenden Hügelmals, führt ihn auf den Typus des Pfahlgötzen zurück oder interpretiert ihn als verlebendigten Phallos im Bereich des anikonischen Stein- oder Klotzkultes. (Vgl. [Art.] Hermes. In: Der Kleine Pauly. Lexikon der Antike. Hg. v. Konrat Ziegler und Walther Sontheimer. Bd. 2, München 1979, Sp. 1069–1076, hier Sp. 1070.) Aus den an-ikonischen steinernen und hölzernen Kultmalen entstand schon in der archaischen Zeit der Kultpfeiler mit dem bärtigen Kopf des Gottes Hermes; oftmals wurde auch die Schulterpartie (allerdings ohne Arme) wiedergegeben. Seit dem 5. Jh. v. Chr. waren diese Büstenpfeiler nicht mehr auf Hermes-Darstellungen beschränkt, wurden aber von der Kunstgeschichte weiterhin als Herme bezeichnet. Als Zeugnisse des Fruchtbarkeitskultes haben manche Pfeiler im Mittelteil eine vollplastische ithyphallische, das heißt aufrecht stehende Ausformung. Diese Gestaltung symbolisiert Zeugungskraft und wird Dionysos und vor allem Priapus zugeordnet; es soll sie aber auch von Hermes gegeben haben. (Reinhard Lullies: Die Typen der griechischen Herme. Königsberg 1931 [Königsberger kunstgeschichtliche Forschungen 3].) 217 Vgl. Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 394f. 218 Ebd., S. 365f.
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3.5 Prototypus und Homologie in der Schöpfungshieroglyphe a. Der Prototypus als dynamischer Urtypus Herder nimmt im Weiteren auch Begriffe der zeitgenössischen Biologie in Anspruch. So spricht er vom „Prototyp und Urbild des Weltanfangs“ und gibt diesem eine Entwicklungsrichtung auf den Menschen hin vor.219 An anderen Stellen spricht er auch vom „Archetypus“ 220 oder „Typus der Schöpfung“. 221 All diese Begriffe entstammen einer naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Grundsatzdiskussion, die in Europa seit der Mitte des 18. Jahrhunderts geführt wurde. Der grundlegende Begriff dieser Diskussion ist der „Prototypus“, den man u.a. bei Buffon und Diderot findet. Besonders wichtig sind die Schriften des französischen Naturforschers und Philosophen Jean Baptiste Robinet, der einen dynamischen Formbegriff des organischen Lebens in die Naturwissenschaft eingeführt hat.222 Nach Robinet, den Herder neben Diderot, Helvétius und wenigen anderen in der Ältesten Urkunde als die „großen Lichter“ „der Weisheit unseres Jahrhunderts“ empfiehlt, enthält jedes Ding und Lebewesen nur Varianten aller Elemente der anderen; jedes muss nach einem allgemeingültigen Prototyp gebildet sein. Die Lebewesen entfalten sich in vielfachen, sich optimierenden Versuchen der Schöpfung aus allgemeingültigen Prototypen im Rahmen einer unmerklichen, dynamisch-graduellen Scala naturae, die zum Menschen führt. Für Herder ist entscheidend, dass bereits Robinet Naturgeschichte und Kulturgeschichte parallelisiert. Robinet erweiterte seine Vorstellung des dynamischen Prototypus, wie Ralph Häfner gezeigt hat, auch auf die Kunstgeschichte, wobei er sich z.T. an Winckelmann anlehnte: Auch in den Künsten, an deren Anfängen zunächst nur unförmige Steine oder Säulen ohne Kopf, Arme und Beine stehen, entwickle sich die menschliche Gestalt erst allmählich und graduell, nach Maßgabe der sich erst herausbildenden handwerklichen und stilistischen Fertigkeiten. Dennoch sei dieser lange kulturelle Weg vom ersten, aus der Erde gerissenen Marmorblock bis zur schönsten Statue kurz im Vergleich zur naturgeschichtlichen Zeit, die der
219 Ebd.,
S. 299. Vgl. dazu auch Häfner: Herders Kulturentstehungslehre (wie Anm. 163), S. 242. Urkunde (wie Anm. 167), S. 371. Vgl. dazu auch Häfner, ebd., S. 238. 221 Hervorh. v. Herder. Vgl. Älteste Urkunde, S. 460 (an dieser Stelle bezogen auf das Schema der kabbalistischen Schöpfungsvorstellung, das Herder als wichtige Variante der Schöpfungsurkunde auffasst; dazu noch später). Vgl. auch Nisbet: Die naturphilosophische Bedeutung von Herders „Aeltester Urkunde“ (wie Anm. 176), S. 224. 222 Jean-Baptiste René Robinet: De la Nature (Amsterdam 1761); Herder führt das Werk in der Ältesten Urkunde explizit an (vgl. S. 563). Vgl. auch Jean-Baptiste René Robinet: Considérations philosophiques de la gradation naturelle des formes de l’être, ou les Essais de la nature à faire l’homme (Paris 1768), sowie ders.: Vue philosophique de la gradation naturelle des formes de l’être (Amsterdam 1768). 220 Älteste
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Prototyp braucht, um in seinen immer wieder neuen Versuchen und Entwürfen den Menschen hervorzubringen.223 In der Ältesten Urkunde, in der es um kulturgeschichtliche Entwicklungen geht, wird Herders Anschluss an Robinet nur z.T. greifbar; in den später verfassten Ideen, in denen Herder auch die Naturgeschichte behandelt, zeigt sich sein umfassender Bezug auf Robinet. In beiden Arbeiten geht Herder von dem Doppelcharakter des Prototypus aus: Er besteht in einer gleichbleibenden Potenz und zugleich in einer dauernden Wandelbarkeit bzw. Veränderung. Im Frühstadium seiner Überlegungen, in der Ältesten Urkunde, belegt Herder den gleichbleibenden Kern des dynamischen Prototyps mit dem Begriff der Monas. Die „Monas“ ist für Herder das göttlich-kosmologische Einheitsprinzip, das sich in jedem Lebewesen wiederholt und ihm in der ungeheuren, unendlichen Vielfalt der Schöpfung dennoch Einheit und Identität verbürgt: „solch ein Mannigfaltiges Eins, und Eins in tausendfacher Anwendung ist jedes lebendige Werk Gottes!“224 In den Ideen geht Herder explizit von einem transformativen proteischen „Hauptplasma“ aus, das sich durch die gesamte Scala naturae hindurchzieht und sich durch Weiterorganisation biologisch im Sinne einer durchlässigen Scala naturae weiterentwickelt und optimiert. In diesem Rahmen gelangt er zu präevolutionistischen Vorstellungen.225 In unserem Zusammenhang ist die Weiterung entscheidend, dass Herder in der Ältesten Urkunde das Konstrukt eines Prototyps auf die Kultursymbolik überträgt und sich mit seiner biologistischen Begriffswahl zu einer dynamischen Vorstellung von Ursymbolik vorarbeitet. Herders Urhieroglyphe ist eine in sich gegliederte Einheit, die alle wesentlichen kulturgeschichtlichen Potenzen in sich enthält. Die Schöpfungshieroglyphe ist für Herder der Bauplan der Schöpfung in seiner symbolisch-lehrreichen Darstellung für den Menschen, aber nicht der Bauplan selbst. Logischerweise ist der Prototypus aller symbolischen Schöpfungsdarstellung nur nach Maßgabe der historisch überlieferten „Urkunden“ und „Trümmer“ fassbar. Er ist ein idealgenetisches Konstrukt und ermöglicht es Herder, die verschiedenen mythologischen Urkunden entstehungsgeschichtlich als unterschiedliche Stufen bzw.
223 Vgl.
Ralph Häfner: Herders Kulturentstehungslehre (wie Anm. 163), S. 244f. Häfner weist in diesem Zusammenhang auch darauf hin, dass Robinet an der französischen Übersetzung von Winckelmanns Kunstgeschichte mitgewirkt hat, die 1766 in Amsterdam bzw. Paris erschien (S. 244, Anm. 412). 224 Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 296. 225 Zu Herders Denken im Rahmen der beweglichen Scala naturae vgl. die Pionierarbeit von Arthur Oncken Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. v. Dieter Turck, Frankfurt a.M. 1985 (zuerst 1936 unter dem Titel: The Great Chain of Being. A Study of an Idea). S. ferner: Margrit Wyder: Goethes Naturmodell. Die Scala naturae und ihre Transformationen, Köln [u.a.] 1998. Zur Situierung Herders im naturwissenschaftlichen Diskurs der Aufklärung, vgl. Peter Hanns Reill: Vitalizing Nature in the Enlightenment, Berkeley [u.a.] 2005, bes. S. 182–191.
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Weiterentwicklungen, Variationen, aber auch Abirrungen der ersten Ursprungssymbolik zu begreifen. Indem Herder nach vergleichbaren Grundformen der mythologisch-religiösen Erinnerung sucht, wendet er die vergleichende Perspektive der Biologie auf die Mythologie an. Diese tritt damit als geisteswissenschaftliches Pendant neben die Biologie. Der Ausgangspunkt dieser vergleichenden Mythologie sind nicht die dynamischen, das heißt entwicklungsfähigen Prototypen der Natur, sondern die entwicklungsfähigen symbolischen Prototypen der Kultur. b. Homologie Herder beansprucht mit seiner Schöpfungshieroglyphe mehr, als nur eine analoge und nur partielle Korrespondenz zwischen den Religionen festzustellen. Am besten kann man die Tragweite seines Modells erfassen, wenn man einen Begriff aus der vergleichenden Anatomie und Paläontologie bzw. der auf sie bezogenen vergleichenden Morphologie heranzieht: den Begriff der Homologie. Dieser Begriff wurde zwar erst Mitte des 19. Jahrhunderts von Robert Owen eingeführt und wird heute in der Biologie auf der Grundlage der erst von Darwin entwickelten Deszendenztheorie benutzt. Der von ihm bezeichnete Tatbestand war aber bereits seit der Antike bekannt und wurde von Aristoteles bis zu Goethe mit dem Begriff der Analogie benannt.226 Aristoteles benutzt ihn im Sinne der Homologie, wenn er in seiner Zoologie über Gattungsgrenzen hinweg funktionale oder strukturelle Gemeinsamkeiten nach dem Muster feststellt: Was dem Vogel der Flügel, ist dem Fisch die Flosse. Die Leistung der Analogie ist es in diesem Fall, eine Einheit herzustellen, für die es noch keinen gemeinsamen Namen gibt, da sie in kategorial verschiedenartigen Bereichen auftritt. Nach Aristoteles kann nur die Analogie das vorliegende Gemeinsame begrifflich fassen.227 Dass Herder diese Tradition homologischer Analogie kennt, zeigt besonders die Stelle in der Ältesten Urkunde, an der er die Vögel als Luftwesen mit den Fischen als Wasserwesen strukturell vergleicht: „Parallele beider Oceane, Luft und Wassers! Da fliegen gleichsam auf Floßfedern die Fische, und die Vögel schwimmen auf Flügeln.“228 Für die Homologie ist die Analogie von Organen entschei-
226
Vgl. A. Remane: [Art.] Homologie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 3. Basel, Darmstadt 1974, Sp. 1180. 227 Vgl. W. Kluxen: [Art.] Analogie (I). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 1, Basel, Darmstadt 1971. Sp. 214–227, hier Sp. 216f. 228 Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 227. Vgl. zu dieser Stelle auch Nisbet: Die naturphilosophische Bedeutung von Herders „Aeltester Urkunde“ (wie Anm. 176), S. 225. Zu Herders AnalogieDenken liegt inzwischen die Studie von André Rudolph vor: Figuren der Ähnlichkeit. Johann Georg Hamanns Analogiedenken im Kontext des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2006. Sie behandelt in zwei Abschnitten die Mensch-Tier-Problematik in Herders Sprachursprungsschrift (vgl. die Kap. 4.2 und 4.2.3) sowie Kants Kritik an Herders „Organisationsmodell einer Analogie der Natur“ in den Ideen, was spezifischer in die von uns aufgezeigte Problematik führt (Kap. 5.1).
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dend, die in einem vergleichbaren Bauplan die gleiche Lage bzw. Funktion haben. So werden schon bei Aristoteles Knochen und Gräten, Nagel und Huf, Arme und Vorderbeine, Haare und Stacheln trotz ihrer morphologischen Verschiedenheiten in Beziehung gesetzt, da sie im Rahmen des Gesamtorganismus in Lage und Funktion Gemeinsamkeiten haben.229 Seit dem 16. Jahrhundert untermauert die vergleichende Anatomie diese Erkenntnisse durch immer weiter ausgreifende Einzelbefunde, insbesondere zu den Homologien unter den Wirbeltieren, wobei zunehmend auch die Grenze zwischen Tier und Mensch problematisch wird.230 Die Diskussion um Archetypen, Urtypen, dynamische Baupläne, entwicklungsfähige Prototypen oder Plasmen war schon in der Mitte des 18. Jahrhunderts in Europa in vollem Gange. Noch stand die Begrifflichkeit nicht fest, noch suchte man nach Hilfskonzepten, um das vorherrschende Modell der biblisch festgeschriebenen Artenkonstanz angesichts der seit dem 16. Jahrhundert wachsenden anatomischen Einzelerkenntnisse aufzulösen. In den Diskussionen erschien die These erfolgversprechend, dass die transformative Entwicklung nach idealgenetischem Muster verlaufen sei. Interessanterweise wurden in diesem Zusammenhang sowohl mechanizistische als auch organizistische Begriffs- und Bildbereiche benutzt. Auf welche Weise der Prototyp als dynamischer Bauplan im Rahmen einer durchlässigen Stufenleiter der Natur diskutiert wurde, brachte Denis Diderot 1754 mit einer berühmten Formulierung auf den Punkt. „Es scheint“, schreibt er, „daß sich die Natur darin gefallen hat, den gleichen Mechanismus immer wieder auf unendlich verschiedene Weisen durchzuspielen und dabei zu variieren.“ Wenn man sich etwa das Reich der Vierfüßler ansehe, so gäbe es keine Funktionen und Teile, die nicht gänzlich gleichartig mit denen eines anderen Vierfüßlers sind. Wer sollte da nicht glauben, „daß es nicht immer nur ein erstes grundlegendes Tier gegeben habe, einen „prototype de tous les animaux, dont la nature n’a fait qu’allonger, raccourcir, transformer, multiplier, oblitérer certains organes?“231 Diderot fordert den Leser spielerisch auf, sich vorzustellen, wie aus der menschlichen Hand durch Strecken und Schwellen ein Pferdefuß hervorgehen könnte. Er lenkt den Leser dahin, sich an der Grenze zweier Naturreiche Zwischenwesen vorzustellen, so dass ein Prototyp denkbar wäre, aus dem durch Variation und Veränderung über die Grenzen der Naturreiche hinweg alle Lebewesen entstanden sind. Für
229 Vgl.
Ilse Jahn: Grundzüge der Biologiegeschichte. Jena 1990, S. 69. 1848 führt Robert Owen eine definitorische Klärung herbei, indem er die Homologie in Beziehung zu einem hypostasierten Archetypus setzt. Die allgemeine Homologie behandelt ihm zufolge – im Unterschied zum Archetypus – die Ähnlichkeit der Formen. Die spezielle Homologie untersucht demnach die Ähnlichkeit spezifisch umgebildeter homologer Organe von verschiedenartigen Wirbeltieren. (Vgl. Ilse Jahn: Grundzüge der Biologiegeschichte, ebd., S. 410.) Eine dritte Form von Homologie, die Owen weiter anführt, wird heute als Metamerie klassifiziert. 231 Denis Diderot: Œuvres philosophiques. Hg. v. Paul Vernière. Paris 1964, S. 186f. Ähnlich charakterisiert auch Herder später in den Ideen die variierende Arbeit der Natur am Prototypus. Vgl. Reill: Vitalizing Nature in the Enlightenment (wie Anm. 225), S. 189. 230 Erst
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Diderot ist der Prototypus eine Denknotwendigkeit, die die vergleichende Anatomie zumindest als Arbeitshypothese braucht. Angesichts der europaweiten Diskussion wird nun erst die Tragweite von Herders Begriffswahl deutlicher: Die Begriffe „Bauordnung“, „Prototypus“, „Urbild“, aber auch „Archetyp“ werden zu der Zeit in der vergleichenden Anatomie und Morphologie diskutiert und verwendet. Herders aus der Genesis abstrahierte und schematisierte „Schöpfungshieroglyphe“ wird durch sein Begriffsfeld zu einem idealgenetischen Modell, dessen Einzelpositionen, Bilder oder Zeitmaße variabel sind und so die Übertragbarkeit des Modells auf die verschiedenen Religionen gewährleisten. Es ist nur folgerichtig, dass Herder in der Ältesten Urkunde nach Mittelfiguren sucht, um die Metamorphose, die Veränderung eines Symbols oder einer Symbolkonstellation in eine andere erklären zu können. So profiliert er die siebenteilige „Schöpfungshieroglyphe“ als Prototyp, um bis zu zehnteilige Schemata als Varianten herzuleiten. (Dazu noch weiter unten.) Herder geht mit dieser Anlehnung an die Naturwissenschaften seiner Zeit der historischen Sprachwissenschaft voraus, die 30 Jahre später in der Romantik vergleichbare Anleihen bei der zeitgenössischen vergleichenden Anatomie und Morphologie macht, um sprachgeschichtliche Transformationen erklären zu können. Ulrich Pfaff hat gezeigt, dass Herder die dynamische Morphologie seines hieroglyphischen Siebenerschemas in seinem geschichtsphilosophischen Werk Auch eine Philosophie der Geschichte zur Bildung der Menschheit wieder aufgenommen hat, um daraus ein Urmodell der menschlichen Gesellschaft und Geschichte zu entwickeln. Pfaff schematisiert Herders diesbezügliche Schlüsselbegriffe nach dem Modell der siebenteiligen Schöpfungshieroglyphe und spricht von der „Geschichtshieroglyphe“ bzw. von der sich nach deren Konfiguration vollziehenden „Hieroglyphische[n] Historie“.232 Es entsteht die Frage, ob Herder in seinen Vorarbeiten zur Ältesten Urkunde auch an eine hieroglyphische Naturgeschichte gedacht hat. Wenn die mittlere Figur in dem erwähnten Brief an Merck vom Oktober 1770 als geometrisierte Kristallfigur aufgefasst werden kann (vgl. weiter oben, S. 93, Abb. 9), dann hätte er nichts weniger gewollt, als ein natur- und kulturübergreifendes Grundmodell zu finden. In diesem Sinne hätte er implizit auch auf die Frage nach dem Prototyp im Rahmen der dynamischen Stufenleiter geantwortet: Er hätte das organische Leben aus dem Kristallinen (als einer organisierten Materie im Bereich der Steine bzw. Mineralien) hervorgehen lassen. Diese Weiterung hat Herder allerdings nicht in die Älteste Urkunde aufgenommen. Während der Arbeit an den späteren Ideen geht Herder derartig weitreichenden Spekulationen explizit nach. In einer frühen Fassung schreibt Herder etwa: „Eine
232 Vgl.
Ulrich Pfaff: Hieroglyphische Historie. In: Euphorion 77 (1983), S. 407–418; vgl. die Schemata, S. 415f., den Begriff „Geschichtshieroglyphe“, S. 416.
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und dieselbe Form verändert sich in allen irdischen Wesen. Wo Bildung anfängt, von der Schneeflocke und dem Krystall […] durch alle Gebilde der Pflanzen und Tiere hinauf, scheint nur ein und derselbe Prototyp vorzuliegen“.233 In der Adrastea heißt es in einem gleichgerichteten Sinne: „Bildungsgesetze der schaffenden Natur sind allenthalben dieselben; die Blume des Winters, die Schneeflocke, enthüllet dir das Geheimnis werdender Welten“.234 3.6 Der variable Bauplan: die Schöpfungshieroglyphe in anderen Religionen Auf der Grundlage des abstrahierten Siebenerschemas parallelisiert Herder die ersten vier Einzelpositionen seiner biblischen Schöpfungshieroglyphe mit kosmologischen Vorstellungen der alten Ägypter. Wenn man ihm folgt, haben die Ägypter die Weltentstehung nicht, wie im biblischen Schöpfungsmythos, poetisch als Verhältnis von (Ur-)Licht, Himmel und Erde sowie Himmelslichtern (bzw. der Sonne als wichtigstem Himmelslicht) ausgedrückt. Sie hätten sich die Vorgänge symbolisch durch Gottesfiguren bzw. Götternamen vorgestellt, die jeweils für Teilbereiche der Welt und für das Leben erschaffende und erhaltende dynamische Kräfte standen. Herders Schöpfungshieroglyphe leistet dennoch die Übertragbarkeit, weil sie hinter dem Bildlichen, Figürlichen oder Symbolischen ein transformatives Muster: den dynamischen Bauplan bzw. den Prototypus annimmt.
233 Herders
Sämmtliche Werke. Hg. v. Bernhard Suphan. Berlin 1877–1913. Bd. XIV, S. 590. Hier zit. nach Nisbet: Die naturphilosophische Bedeutung von Herders „Aeltester Urkunde“ (wie Anm. 176), S. 225. Schon Nisbet hat die Frage aufgeworfen, ob sich nicht eine Beziehung zwischen Herders Hieroglyphenkonzept der Ältesten Urkunde zur späteren in den Ideen entwickelten Vorstellung des „animalischen Typus“ bzw. des Prototypus herstellen ließe. In diesem Sinne hat Nisbet (S. 224–226) aufschlussreiche Belege zusammengestellt, auf die im Weiteren noch eingegangen wird. Nisbet erwägt allerdings nicht die von uns gezogene Folgerung, dass Herder den mit dem Prototypus verbundenen dynamischen Bauplan von der Naturkunde produktiv auf die Mythologie überträgt, um damit eine vergleichende Perspektive zu eröffnen. Er meint, dass nicht der Begriff des Prototypus die Hieroglyphe, sondern eher umgekehrt die Hieroglyphe den Prototypus in den Ideen beeinflusst habe. Häfner hat Nisbets Fragestellung 1995 wiederaufgenommen und ihr einen eigenen Abschnitt mit dem Titel „Typus und ‚Hieroglyphe’“ gewidmet. (Vgl. Häfner: Herders Kulturentstehungslehre, wie Anm. 163, S. 236–252.) Häfner verfolgt im Weiteren allerdings vor allem den Einfluss der Kunst und ihrer idealmaßlichen Menschenkomposition auf Herders Hieroglyphe. Zu Herders Übertragung der Siebenerfigur auf den Menschen, vgl. weiter unten S. 112 sowie dort Abb. 15. 234 Vgl. Werke in zehn Bänden (wie Anm. 162). Bd. 10: Adrastea (Auswahl). Hg. v. Günter Arnold, 2000, S. 515. Vgl. auch Nisbet: Die naturphilosophische Bedeutung von Herders „Aeltester Urkunde“ (wie Anm. 176), S. 225.
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Abb. 10: Herders Parallelisierung von ägyptischen Göttern und biblischer Schöpfungshieroglyphe. Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts.
Auf ähnliche Weise erklärt Herder auch die zehn Sephiroth der jüdischen Kabbala und ihre übliche Anordnung im sogenannten Sephirothbaum als Abwandlung und Nachbild der Schöpfungshieroglyphe.
Abb. 11: Herders Schematisierung des Sephirothbaums. Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts.
Herder gibt dem Leser den Wink, die von ihm eingekreisten drei ersten Positionen als Multiplikation der ersten Urlicht-Position in der biblischen Schöpfungshieroglyphe zu sehen bzw. sie mit dem monadischen Einen in der ägyptischen Siebenerkonfiguration zu betrachten: „rücke die drei Ersten zusammen: sie gehören als Urkräfte in einander und sind die Unsichtbaren Abgründe der Schöpfung.“235 Diese dreifache Urkraft der Kabbala leitet Herder mythengeschichtlich aus der chaldäischen Metaphysik ab, nach der es eine unsichtbare Vorschöpfung vor der Schöpfung gegeben habe. Insofern bleibt der Zusammenhang mit der vormosaischen Ur-Hieroglyphe gewahrt, auf der sich Herder zufolge schon der Sabäismus der Chaldäer aufgebaut hat. Er interpretiert auch die folgenden Positionen des kabbalistischen Schemas so, dass sich Parallelen zur biblischen Hieroglyphe ergeben. „Das andere sollen sichtbare Ausflüsse der Welt sein, hinten kommt Ruhe, Thron Gottes!“ Es lässt sich nun
235 Älteste
Urkunde (wie Anm. 167), S. 460.
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nachvollziehen, warum Herder auch die Positionen von 9 und 10, die schon in den Abbildungen seiner kabbalistischen Vorgänger untereinander stehen, so zusammenfasst, dass sie als Multiplikation der Position „7“, das heißt als Sabbat-Ruhe in der biblischen Schöpfungshieroglyphe erscheinen. Insgesamt ergibt sich eine Abwandlung des biblischen Siebenerschemas in der Weise, dass sowohl die erste als auch die letzte Position vervielfältigt werden. Das Zehnerschema lässt sich so als Erweiterung des ursprünglichen siebengliedrigen Bauplans lesen. Zwar erscheine diese Zehnerfigur in allen nur erdenklichen „Gestalten, Bedeutungen und Formen: „Bald als Kreise über- bald als Linien, Kanäle, Buchstaben, Zahlen im Stammbaum neben und unter einander: mit Bedeutungen der Eigenschaften Gottes, der Offenbarungen seiner Herrlichkeiten, der Engel, Weltkräfte, Elemente, Formen, Maßen, Räume, der Buchstaben, Zahlen, Metaphysischen Prädikamente“. Indessen bleibe das „Grundschema“ „offenbar, es möge in Kleidern erscheinen, wie es wolle ‚Grundriß der Welten nach Mosaisch-Chaldäischer Art: die Welt der Ausflüsse, der Schöpfung, der Bildung, und oben der Unendliche, verborgne Eine!“236 Herder ist überzeugt, dass er – im Gegensatz zu vielen anderen Kabbala-Interpreten – eine vernünftige statt einer kabbalistischen Auslegung gefunden hat. „Ich kann auf diesem Wege nichts weniger, als Lobredner oder Geheimnissucher der Kabbala werden; nur ihr flachster Menschlich-philosophischer und historischer Erklärer“.237 Weil das genetische Urmodell vor der biblischen Schöpfungshieroglyphe nicht mehr verfügbar ist, sondern nur aus den „Trümmern“ und Varianten der verschiedenen, nur in Restbeständen, Fragmenten oder rätselhaften Bildern überlieferten Zeugnisse rekonstruiert werden kann, ist Herder in seiner Schrift gleichsam selbst ein moderner Moses. Er stellt sich die Aufgabe des biblischen Moses, wie er (und auch Warburton) sie gesehen haben, auf eine neue, dem Erkenntnisstand des 18. Jahrhundert verpflichtete Weise: die Urreligion so weit als möglich in ihrer ursprünglichen Reinheit wieder herzustellen. Seine Schöpfungshieroglyphe versteht er als weitest mögliche Rekonstruktion des Bauplans, die dem Prototypus ziemlich nahe kommt. Herder schließt so zwar an die Methoden und Erkenntnisse der zeitgenössischen Wissenschaft an, bleibt aber als Theologe seinem biblischen Vorgänger Moses nahe, weil für ihn die Rückverfolgung der Überlieferung zugleich eine Annäherung an Gott ist. 3.7 Die Esoterik in Herders Hieroglyphentheorie Herders Zugang zur mythisch-symbolischen Überlieferung ist nicht auf die dogmatische Theologie beschränkt. Seine Frage nach dem einen Ursprung ist entscheidend dafür, dass er auch esoterische und universalsprachliche Ansätze berücksichtigen
236 Alle
Hervorhebungen im Sinne der Emphase von Herder. Vgl. ebd., S. 461. S. 462f.
237 Ebd.,
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muss. Wie schon mehrfach angedeutet und z.T. ausgeführt, integriert Herder hermetische, im Weiteren auch phythagoreische, orphische und kabbalistische ‚Urweisheiten’. Seine vorsorgliche Erklärung, dass er die kabbalistische Tradition nicht als Kabbalist, sondern als Philosoph erkläre, darf man auch auf die esoterischen sowie heterodoxen Traditionen beziehen, die er gleichfalls im Sinne seiner komparatistischen Archäologie als Ableitungen, Variationen, Weiterentwicklungen bzw. Verselbständigungen einer Ursymbolik liest. Herder zufolge handelt es sich bei den Übereinstimmungen um eng umgrenzte, kleinste, elementare Symbole, die durch den dichtverzweigten „Wald“ labyrinthischer Überlieferung sowie durch eine lange Tradition überzogener allegorischer Deutungen schwer zugänglich geworden sind. Er will diesen Wald lichten, um mit einer hermeneutischen Lektüre der Genesis zur Einfachheit der frühen Symbole und Weisheitsformen zurückzukehren. Sein Grundmodell der Schöpfungshieroglyphe ermöglicht es ihm, die alexandrinisch-hermetischen, gnostischen, magischen oder phythagoreischen Traditionen nicht als Aber- oder Irrglauben auszuschließen, sondern sie in seinen hypothetischen Stammbaum des mythischen Bewusstseins zu integrieren. Indem Herder die nur textbezogene Bibelexegese zugunsten einer vergleichenden Religionsanalyse und Kulturanthropologie überwindet, bedient er sich zwar einer Schöpfungshieroglyphe, die nur als spekulative Konstruktion zu werten ist. Sie ermöglicht es Herder aber, alle frühen Religionen und darüber hinaus auch die esoterischen Ansätze auf eine gemeinsame Ebene zu stellen. Die anderen Religionen bzw. religiösen Strömungen werden als mehr oder minder nahe Erben eines gemeinsamen Erbes diskutiert, auch wenn Herder letztlich das Primat des Christentums zu behaupten sucht. Trotz seines Verdienstes um eine vergleichende Mythologie, Religionskunde und Kulturgeschichte muss aber geprüft werden, ob und inwieweit Herders siebenteiliges Grundmodell nicht das Ergebnis einer Kompilation aus esoterischer Literatur und ihrer Symbole ist. Hat die Esoterik seine vergleichende Anthropologie gefördert? Klaus Vondung hat belegt, dass Jablonskis Werk Pantheon Aegyptiorum, das teilweise auf der Grundlage des hermetischen Schrifttums entworfen worden ist,238 für Herders Bild des alten Ägypten ein wichtiges Bezugswerk war. Noch gewichtiger ist, dass der Kernbereich von Herders visuellen Konstrukten esoterischen Formeln ähnlich ist. Auffallend ist die Nähe der Schöpfungshieroglyphe zur alchemistischen Darstellung der kosmischen Natur in Anton Joseph Kirchwegers Aurea Catena Homeri (1723; 1757 erneut aufgelegt), ein Werk, in dem auch Goethe las. (Vgl. Abb. 12.) Ralph Häfner hat eine vergleichbare Siebenerfigur in der esoterischen
238 Vgl.
Klaus Vondung: Herder und die hermetische Tradition (wie Anm. 205), S. 35.
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Abb. 12: Hermetisch-alchemistische Naturdarstellung bei Kirchweger. Aus: [Anton Joseph Kirchweger]: Aurea Catena Homeri.
Anthropometrie der Frühen Neuzeit gefunden: in Johann Sigismund Elsholtz’ Anthropometria (zweite Aufl. 1663)239. (Vgl. Abb. 13.)
239 Häfner:
Herders Kulturentstehungslehre (wie Anm. 163), S. 277; Erläuterungen dazu S. 249.
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Abb. 13: Siebenerfigur in der esoterischen Anthropometrie von Elsholtz. Aus: Johann Sigismund Elsholtz’ Anthropometria.
Es bleibt aber schwierig, direkte Einflüsse festzustellen. Erste Entwürfe von Herder führen, wie Daniel Weidner gezeigt hat, in einen Kontext hebräischer Grammatik und Lexikographik: In einem Notizbuch hat Herder die Hieroglyphe zum ersten Mal mit hebräischen Buchstaben entworfen.240 (Vgl. Abb. 14.) Weidner weist daneben auch auf zeitgleich entstandene Diagramme mit arabischen Buchstaben und mit astrologischen Symbolen hin, die von der Forschung auf 1766/67 datiert werden.241 Herders ehrgeiziger Versuch, ein hieroglyphisches Universalsymbol zu finden, könnte nicht zuletzt auch durch John Dees Monas Hieroglyphica von 1564 beeinflusst worden sein.242 Dee postulierte, dass seine neue mathematisch-hieroglyphi-
240 Daniel Weidner:
Hieroglyphen und heilige Buchstaben: Herders orientalische Semiotik. In: Herder Jahrbuch / Herder Yearbook VII/2004. S. 45–68; Abbildung und Erklärung S. 59. 241 Ebd. 242 John Dee: Monas Hieroglyphica. Antwerpen 1564 (Mikrofiche-Ausgabe bei Saur München 1990 [Bibliotheca Palatina E 1475]). Auf Dees möglichen Einfluss auf Herder hatte schon Häfner hingewiesen: Herders Kulturentstehungslehre (wie Anm. 163), S. 247. Vgl. zur „magischen Sprache“ von Dees Monas Hieroglyphica Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Aus d. Italien. v. Burkhart Kroeber. München 1997, S. 194–200; Abb. von Dees Grundsymbol: S. 196, Figur 4. Eine alchemistische Deutung von Dees Grundsymbol unternimmt Frederico Cavallaro: The Alchemistical significance of John Dee’s Monas Hieroglyphica. In: John Dee: Interdisciplinary Studies in English Renaissance Thought. Hg. v. Stephen Clucas. Dordrecht 2006, S. 159–174.
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Abb. 14: Herders Schöpfungshieroglyphe mit hebräischen Buchstaben. Aus: Herder: Sammlungen zur Naturgeschichte und Denkart der Morgenländer.
sche Universalsprache aus Zeichen zusammengesetzt ist, die Gott sowohl in die Heilige Schrift als auch in sein „Buch der Natur“ hineingestellt habe.243 Mit Dee könnte Herder auch eine zahlensymbolische Deutung des Kreuzes als pythagoreische Tetrakys verbinden. Vor allem aber scheint Dees Verbindung von Hieroglyphe und Monas bei Herder nachzuklingen. In Herders Ältester Urkunde ist die Monas die zentrale höchste Stelle, die Eins, aus der die Welt sich dann durch Zweiteilung auszudifferenzieren beginnt. In diesem Sinne führen für Herder alle Schöpfungshieroglyphen auf ein höchstes Einheitssymbol zurück. Mathematisch-zahlensymbolische und symbolisch-hieroglyphische Fassung kommen in dieser höchsten Einheitsauffassung zur Deckung. Christentum und Hermetik sind in dieser Kontraktion kaum zu unterscheiden, obgleich die jeweiligen Strömungen, auf sich allein gestellt, historisch ein abgrenzendes System ausgebaut und sich in divergente Richtungen entwickelt haben. Die Frage nach dem Ursprung und die mit ihr entstehende Notwendigkeit, die divergierenden Glaubensrichtungen zusammenführen, müssen zu einer reduktiven Formel, einem gemeinsamen Nenner im Sinn eines Prototypus führen. In der Mehrteiligkeit und Kombinierbarkeit treffen sich Dees Monas Hieroglyphica, das erwähnte hexagrammatische I-Ging und Herders siebenteilige Schöpfungshieroglyphe, die man als um einen Mittelpunkt erweitertes Hexagramm auf243 Vgl.
Liselotte Dieckmann: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol. St. Louis 1970, S. 65. Für Dieckmann ist Dees Werk ein Beleg dafür, dass sich der Hieroglyphenbegriff schon im 16. Jahrhundert auf den Symbolbegriff erweitert hat (S. 63).
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fassen kann. Sowohl über die implizite Zahlensymbolik als auch über die Kreis- und Sechseckform ergeben sich von Herders Hieroglyphe her unzählige Anschlussmöglichkeiten, die bis zur Sternform einer Schneeflocke reichen. Insofern ist Ralph Häfner zuzustimmen, wenn er Herders Schöpfungshieroglyphe als „synkretistische Form“ begreift, „die sich auf eine nahezu unendliche Interpretierbarkeit zu öffnen“ scheint.244 Diese Dimension muss allerdings als Begleiterscheinung einer komparatistischen Fragestellung gesehen werden, die die Anschlussfähigkeit an eine Vielzahl von Symboltraditionen bewusst sucht. Gewiss bezieht sich Herder im oben zitierten Brief an Merck in seiner klassischgelehrten Hieroglyphensuche auf Autoren, die der „prisca theologia oder prisca sapientia“ anhängen, also der Lehre, dass es eine geheime Urweisheit gebe, die im Verborgenen weitergereicht werde.245 Man muss aber feststellen, dass sich Herder in der Ältesten Urkunde auch auf die neuesten naturwissenschaftlichen und naturphilosophischen Lehren beruft: „Eingeweihter in die Geheimnisse der Weisheit unseres Jahrhunderts, du Schüler Rousseau’s, Moscatis, Robinets, Helvetius, Diderots und aller großen Lichter, lies nun die Fabel Moses und du wirst entzückt sein.“246 Zwar geht es an dieser Stelle darum, die scheinbar kindlichen Fabeln des Alten Testaments aufzuwerten und zu behaupten, dass sie in ihrer Feinheit und Weisheit auch moderne Menschen anregen können. Aber der Kontext macht klar, dass Herder zumindest die späteren Kapitel des Alten Testaments, an denen er Gleichheit und Abgrenzung von Mensch und Tier erörtert, durchaus auch im Lichte moderner Anatomie, Physiologie, Entwicklungslehre und Kulturtheorie zu lesen versteht. Mit seiner Frage nach dem Ursprung und der menschheitsgeschichtlichen Entwicklung integriert Herder neben der hermetischen Naturphilosophie und Kosmologie auch moderne naturphilosophische und naturwissenschaftliche Vorstellungen wie die (Lebens-)Kraft und die Dynamik. Schon in der Ältesten Urkunde zeichnet sich ab, dass Herder hermetische Traditionen im Lichte der neueren Wissenschaften aktualisiert. In ähnlicher Weise und in aller Deutlichkeit wird er am Ende seines Lebenswerks in seiner ab 1801 erscheinenden Zeitschrift Adrastea im Rückgriff auf die hermetische Tradition ein Zwiegespräch von Hermes und Poemander inszenieren.247 Herders vergleichende Mythologie und Kulturgeschichte wertet nicht nur esoterische Ansätze auf, sie relativiert auch die christliche Dogmatik. Seine Spekulationen über die ägyptische Symbolik im Allgemeinen und speziell über die Hermeszeichen, 244 Häfner:
Herders Kulturentstehungslehre (wie Anm. 163), S. 247. Markworth: Unsterblichkeit und Identität beim frühen Herder (wie Anm. 205), S. 58. 246 Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 564. 247 Adrastea (6 Bde, 1801–1803), Bd. III, Sechstes Stück. Vgl. Werke in zehn Bänden, Bd. 10: Adrastea (wie Anm. 234), S. 497ff. Zur Umbildung des hermetischen Lehrgespräches durch die Perspektiven der neueren Naturwissenschaft in der Adrastea vgl. Jürgen Brummack: Eine „Zeit-Schrift“ als Vermächtnis: Herders „Adrastea“. In: Johann Gottfried Herder. Aspekte seines Lebenswerkes. Hg. v. Martin Keßler und Volker Leppin. Berlin, New York 2005, S. 179–202, bes. 183–192. 245 Vgl.
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in denen er seine kosmologisch-naturphilosophische Deutungen unterbringt, können mit dem mosaischen Genesisbericht und dem jüdisch-christlichen Schöpfergott nicht mehr umstandslos verbunden werden. Auch schreibt Herder nicht nur dem Schöpfungsakt bei der Weltentstehung, sondern auch der Doppelgeschlechtlichkeit und Sexualität eine kreative Aufgabe bei der Welterhaltung zu. 3.8 Herder als Geistlicher und als Wissenschaftler Als christlicher Theologe und Geistlicher ist Herder von der Überlegenheit des biblischen Genesis-Berichts über die Denkmäler anderer Religionen überzeugt. Wie bereits erwähnt, entsteht damit eine Spannung zwischen Herders komparatistischem Ansatz, der in der Konsequenz zu einer gleichrangigen Parallelität der Religionen führen könnte, und seiner christlichen Überzeugung, dass das Alte Testaments als Urkunde dem göttlichen Ursprung besonders nahe kommt. Vor dem Maßstab des biblischen Schöpfungsberichts müssen die anderen kosmologischen Modelle als übertriebene Ausschmückungen bzw. hyperbolische Übersteigerungen erscheinen. Die privilegierte Stellung der alttestamentarischen Genesis gegenüber den heidnischen Mythologien besteht vor allem im göttlichen Offenbarungscharakter. Herder vermeidet es daher in der Regel, im Falle der Genesis von einer „Mythe“ zu sprechen, rückt aber als Kulturanthropologe und Komparatist das Alte Testament als orientalische Ausformung des religiösen Symbolgedächtnisses doch in eine vergleichbare Reihe mit den anderen Religionen. Diese Spannung zwischen einer christlichen Grundüberzeugung und seinem relativierenden, kulturanthropologischen Interesse bleibt in Herders Schrift weitgehend unaufgelöst. Die Schöpfungshieroglyphe ist, wie erwähnt, bei Herder wie bei Warburton keine göttliche Sprache, sondern von Gott in einer menschlichen, das heißt den Menschen verständlichen Sprache verfasst. Über Gottes Sprache und Gottes Denken sowie über deren Verhältnis zur schriftlichen Fixierung in der Genesis zu urteilen, maßt sich Herder nicht an. Insofern es sich aber um eine von Menschen tradierte Mythe, also um ein „älteste[s] Symbolgebäude“248 handelt, entsteht schließlich doch die Frage, inwieweit die hypostasierte göttliche Urheberschaft nicht selbst ein Element der menschlichen Symbolstifung ist. Eine ähnliche Ambivalenz entstand auch bei Vico, der die Symbolbildung des heidnischen Menschen aus der Selbstunterwerfung unter ein übermächtiges Göttliches erklärte, das er als Gesetzesinstanz angesichts einer bedrohlichen, chaotischen Umwelt anerkannte. Beide Autoren verstanden sich aber nicht dazu, die denkbare Konsequenz zu ziehen: nicht die menschliche Kultur im Göttlichen, sondern das „Göttliche“ im Menschlichen zu verankern.
248 So
Herder in einem Brief an seinen Göttinger Freund Heyne: Briefe (wie Anm. 164), Bd. 9, S. 134. Hier zit. nach Häfner: Herders Kulturentstehungslehre (wie Anm. 163), S. 223.
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
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Herder findet als Kompromiss die Wendung, dass der Genesis-Bericht ein „göttlicher Unterricht“ an die Menschen in Form einer komplexen Hieroglyphe sei, die für das sinnlich-symbolische Fassungsvermögen der ersten Menschen begreiflich werden konnte. Die hieroglyphisch-symbolische Frühkultur ist für Herder als Konstrukt keine defizitäre Notlösung. Während Warburton das präreflexive bildliche und figurative Sprechen als Form der Sprachnot beurteilte, Vico hingegen den Reichtum und die Energie der fantastischen, archaischen Topik im Vergleich zu den reflexiven Allgemeinbegriffen immerhin schätzte, sucht Herder nach dem ganzheitlichen Bezug einer Sprache, die sich vom Göttlichen bzw. dem göttlichen Plan der Welterschaffung noch nicht entkoppelt hat. Mit seinem Freund und Mentor Johann Georg Hamann, der damals eine ähnliche Studie zur Genesis plante,249 aber nicht verwirklichte, nahm Herder – ähnlich wie Vico in Italien – an, dass die Poesie die Muttersprache der Menschheit war. Anders als Vico konnte Herder davon profitieren, dass inzwischen durch Baumgartens Ästhetik der gesamte Bereich der sinnlichen Erkenntnisse aufgewertet worden war und damit auch Erkenntnisweisen aus dem „dunklen“ Seelengrunde ihre legitime Bedeutung gefunden hatten. Herder war es darüber hinaus wichtig, dass diese Poesie im Einklang mit der kosmischen Weltenharmonie stand. Er erörtert diesen Gesichtspunkt besonders an der Figur der Hermesleier, die er für die altägyptische Weltsicht als fundamental ansah. Die Hermesleier und das von ihm aus der Denkmaltradition abgeleitete Hermeszeichen, das heißt die Überkreuzfigur im geschlossenen Kreis, gehören für ihn als Hieroglyphen zusammen bzw. lassen sich ineinander einblenden. Herders Vorschläge haben schon seine Zeitgenossen nicht überzeugen können. Obgleich er sich ausdrücklich auf „Daten“ und „Fakta“ beruft, bleiben seine Konstruktionen weitgehend spekulativ. Er erkennt selbst, dass ihm die Zeugnisse der ältesten Religionen vielfach nur aus der Perspektive ihrer Eroberer bzw. sogar Zerstörer vorlagen. Umso mehr tritt in Herders Abhandlung die Poesie als Vermittlerin von hermeneutischer, rationaler Textkritik und dem Numinosen der Religion auf. Herders mitreißend begeisternder Stil, der teils emphatisch, teils mäandernd-assoziativ, teils polemisch und mit einer eher ostentativen als belehrenden Belesenheit vorgeht, war zwar wenig für eine exakte historisch-philologische Demonstration geeignet, konnte aber umso mehr die Unsicherheiten im Faktischen und in der Bewertung überspielen. Herder schreibt eine anspielungsreiche Sprache, die ihre „Begriffe“ gern nur mittelbar, im Material von Metaphern, Bildern formt und mit dem Schillernden spielt. Oft nähert er seine Sprache der mythologischen Sprechweise an, so dass sie stellenweise selbst poetisch im Sinne einer anspielungsreichen modernen Hieroglyphe wird. Die Gefahr einer nur dunklen Prägnanz seiner Aussagen geht er gerne und
249 Vgl.
Angelo Pupi: Johann Georg Hamann. Bd. IV: Origines, 1774–1779. Milano 2002. Sowie Ulrich Moustakas: Urkunde und Experiment: neuzeitliche Naturwissenschaft im Horizont einer hermeneutischen Theologie der Schöpfung bei Johann Georg Hamann. Berlin [u.a.] 2003.
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mit überschüssiger Laune ein. Insgesamt kam es Herder weniger darauf an, analytisch zu trennen und zu unterscheiden. Er wollte vielmehr – über das offensichtlich Trennende der Kulturen und Religionen hinweg – auf Verbindungen, Angrenzungen, Analogien, Verwandtschaften oder Korrespondenzen hinweisen. Sein extrahiertes Muster, die Schöpfungshieroglyphe, ist in diesem Sinne eine kulturverbindende Hohlform, in die sich vieles hineinspiegeln lässt. Einer von Herders Lieblingsausdrücken ist, dass er nur „Winke geben“ bzw. „winken“ wolle – der Leser sollte zum Teil selbst erschließen, wie alles zusammenrückt und dadurch vergleichbar würde. Herders strebte insgesamt nicht wie Vico und partiell Warburton ein geistiges Wörterbuch der Symbole in dem Sinne an, dass man die Hieroglyphen, Allegorien, Gottheiten, Bilder, Redefiguren eins zu eins aufeinander beziehen oder gar ineinander übersetzen kann. Herder suchte vielmehr nach einer komplexeren „Mittelfigur“, die die Brücke zwischen den Religionen bzw. Mythen herstellt. Diese Mittelfigur basiert auf einem zahlentheologischen Arrangement: die Figur eines Sechsecks mit einem Mittelpunkt, die insgesamt sieben schöpfungsrelevante Positionen schematisiert. Auf ihrer Basis sollten die hieroglyphischen Einzelausformungen der Völker als kulturelle Modifikationen, Varianten, Steigerungen oder auch Abweichungen einer quasi transformativen Tiefensymbolik lesbar werden. Es ist daher keine Überraschung, dass Herder für die Schöpfungshieroglyphe den Status einer „würklich echte[n], alte[n] Hieroglyphe“ beansprucht, die er aber auch als „die Symbole“250 bezeichnet. Er greift den Begriff des Bauplans aus seinen Vorarbeiten wieder auf und preist die Schöpfungshieroglyphe emphatisch als das „Urbild des Weltanfangs“, den „Prototyp“ oder „Typus der Schöpfung“ oder auch als den „Archetyp“. Gleichzeitig auratisiert er sie zum „Orakel Gottes“251 und gibt ihr als „ersten Schriftversuch“ Gottes mit dem Menschen eine sowohl religiöse als auch kulturanthropologische Weihe. Herder ist von der Konstruktion bzw. der vermeintlichen Entdeckung der Schöpfungshieroglyphe so überzeugt, dass er sie an einer schon fortgeschrittenen Stelle seines Buches als Überbietung aller bisherigen Theorien anpreist. Rhetorisch fragt er seine Leser, ob sie nach all den „zerstückte[n] Nachrichten, Fragen und Mutmaßungen über die Hieroglyphen, älteste Bilderschrift“, denen er wenig philosophischen und noch minder historischen Geist bescheinigt, „nicht große Lust“ hätten, endlich einmal „eine würkliche echte, alte Hieroglyphe zu sehen“ und „erklären zu hören“.252 Polemisch wendet er sich an dieser Stelle namentlich gegen die Hieroglyphentheorien von Kircher und Warburton, die er – im Einzelnen reichlich ungerecht – als „Hypothesen“ und „Träume“ abqualifiziert.253 250 Älteste
Urkunde (wie Anm. 167), S. 275 u. öfter. S. 273. 252 Ebd., S. 269. 253 Heinz Gockel hat kritisch angemerkt, dass Herder zwar gegen Warburton polemisiert, ihm aber Anregungen verdanke. (Gockel: Mythos und Poesie. Zum Mythosbegriff in der Aufklärung und 251 Ebd.,
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
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3.9 Morgenröte und menschliches Ebenbild Gottes als natursprachliche Entsprechungen der Schöpfungshieroglyphe Der Bildnis- und Gleichnischarakter reicht Herder nicht aus, um die Schöpfungshieroglyphe als alleinigen göttlichen Unterricht zu werten. Wie Hamann, geht auch Herder davon aus, dass Gott zum Menschen nicht nur in hieroglyphischer Offenbarung, sondern auch durch sein Werk, durch das ‚Buch der Natur’254 bzw. das sinnlich fühl- und wahrnehmbare kreatürliche Leben spricht. Aus diesem Grunde koppelt Herder die Schöpfungshieroglyphe der Genesis mit dem landschaftlich-tageszeitlichen Phänomen der täglich wiederkehrenden Morgenröte. Der Aufgang der Sonne in der Morgenröte ist eine harmonikale Natursprache, die in der ganzen Welt verstanden wird: Nimm ein Kind in den Hymnus der Morgenröte […]. Es ist als ob der Allanblick, und die ganze Stimme der Sphären, nach dem Sinne des Menschen gemildert, ihm Seele öffnete, und Herz und Gebein erquickte!255
In der Morgenröte mit ihrer allbelebenden Wirkung auf das organische und menschliche Leben könne der Mensch die biblische Schöpfungshieroglyphe der ersten Lichtwerdung plastisch begreifen. Aber auch umgekehrt muss die Morgenröte im Lichte der Genesis als eine fortgesetzte, sich fortzeugende Wirkung der göttlichen Weltenschöpfung begriffen werden: „in der Morgenluft webt der Göttliche Kommentar über das Erste Kapitel des Ersten Buchs Moses!“256 Durch das Naturargument wird die tote Hieroglyphe durch die Evidenz einer täglich wiederkehrenden Erneuerung komplettiert. Herders Gleichnis- bzw. Bildbegriff wird durch diese Beziehung noch komplexer. Denn die biblische Schöpfungshieroglyphe kann nun mit der natursprachlichen Morgenröte zusammenwirken, um den Menschen die Schöpfung als Wunder des lebendig gewordenen Wortes ‚Es werde Licht’ nahezubringen. Das Licht wird zum lebenserweckenden Reiz, den eine dafür empfängliche, ‚reizbare’ Menschheit positiv aufnimmt und als Anregung aller Kräfte, vom Sinnlichen bis zum Geistigen, verarbeitet. „Heil ihnen, den Kindern Gottes, den einfältigern Schülern der großen allweiten Natur
Frühromantik. Frankfurt a.M. 1981. Vgl. bes. Kap. III./1: „Hieroglyphe und Chiffrenschrift“, S. 121–151, hier S. 134.) Christoph Bultmann hingegen geht davon aus, dass Warburtons Theorie zwischenzeitlich durch Lowths Vorlesungen über die Poesie der Hebräer verdrängt worden sei, deren Thesen Herder produktiv aufnahm; Lowth habe Warburton kritisiert. (Bultmann: Die biblische Urgeschichte in der Aufklärung: Johann Gottfried Herders Interpretation der Genesis als Antwort auf die Religionskritik David Humes. Tübingen 1999, S. 76 u. 113.) 254 Vgl. Älteste Urkunde (wie Anm. 167), S. 564 zu den „beiden Büchern Gottes“, das heißt der Offenbarung und dem Buch der Natur. 255 Ebd., S. 254. 256 Ebd., S. 256.
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A. Die Hieroglyphik als Merkmal frühgeschichtlicher Kulturen
[…] der sanfteste Druck aller Wesen auf Herz und Seele! Elemente der göttlichen Lehre!“257 Herder bezieht im Rahmen seiner Exegesen die Hieroglyphe auch auf den Menschen, der als Ebenbild Gottes geschaffen sei und darin seine Bestimmung finden soll: „Mensch, Bild Gottes! und selbst das sichtbare Nachbild und Hieroglyphe der Schöpfung.“258 Wie ernst Herder die Vorstellung der menschlichen Hieroglyphe nahm, zeigt sein Brief an Lavater vom 25. Mai 1774, also kurz vor dem Erscheinen der Ältesten Urkunde. Er interessiert sich zu dieser Zeit für Lavaters Physiognomik, deren zeitweiliger Mitarbeiter er später wurde (vgl. w.u. S. 160–165). Im Brief an den befreundeten Lavater arrangiert Herder versuchsweise die Teile des menschlichen Körpers und besonders die des menschlichen Gesichts nach dem Muster seiner siebenteiligen Schöpfungshieroglyphe.259
Abb. 15: Herders menschliche Hieroglyphe. Aus: Herder: Brief an Lavater, 25. Mai 1774.
Weil für Herder die Schöpfung im Menschen als Mikrokosmos gipfelt, ist ihr auch insgesamt ein Humanitätsideal eingeschrieben. Mit der Schöpfungshieroglyphe, dem Gleichnis der Morgenröte und dem Ebenbild-Ideal verbindet Herder in der Ältesten Urkunde drei Bildbegriffe aus unterschiedlichen Bereichen. Die Schöpfungshieroglyphe wurzelt in der religiösen Sicht auf die Weltentstehung, die in der Schöpfungshieroglyphe auch für das religiöse Bewusstsein nur in symbolischer Form fassbar wird. Die Morgenröte und der Mensch aber gehören ganz zur empi-
257 Ebd.,
S. 255.
258 Emphatische
Hervorh. v. Herder. Vgl. ebd., S. 292. Zur Bedeutung der Gottesebenbildlichkeit in Herders Ältester Urkunde, s. die ausführlichen Erörterungen besonders von Klaas Huizing: Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie. Gütersloh 1992. Sowie Hans Georg Kemper: Gott als Mensch – Mensch als Gott (wie Anm. 205). 259 Herder: Briefe, Gesamtausgabe (wie Anm. 164), Bd. 3, S. 91–93, hier S. 92.
3. Göttliche Weisheit und Beginn der Kultur: Herders Schöpfungshieroglyphe
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rischen Wirklichkeit. Als Vermittlung dieser Ebenen preist Herder die Morgenröte als gleichnishaftes Abbild der ersten Lichtwerdung, während er den Menschen als Ebenbild Gottes gleichnishaft auf ein Göttliches rückbezieht. Herder hat die Älteste Urkunde so angelegt, dass er die symbolische Siebenzahl seiner Schöpfungshieroglyphe auch als Bauform für seine einzelnen Bücher übernommen hat. So unterteilt er jedes Buch in sieben Kapitel und wollte dieses Schema auch im ursprünglich weiter gefassten Plan des Buches durchhalten, so dass sich insgesamt 7 Bücher in sieben Kapiteln ergeben hätten. Er konnte seinen Gesamtplan zwar nicht mehr realisieren, doch zeigt auch die reduzierte Fassung Herder als einen modernen Moses. Sein Buch ist ein hieroglyphisch inspirierter und strukturierter Schlüssel zur Hieroglyphe, die selbst der Schlüssel für ein religiöses Weltverständnis ist.
B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot1
Der französische Schriftsteller und Philosoph Denis Diderot führt 1751 in seiner Lettre sur les sourds et muets die Hieroglyphe als Schlüsselbegriff für ein neues kunsttheoretisches Nachdenken und Klassifizieren ein.2 Mit dieser Entscheidung schreibt er der künstlerischen Gestaltung ein besonderes Geheimnis zu: Diderot zufolge zeichnen sich die künstlerischen ‚Sprachen’ aufgrund ihrer besonderen, hieroglyphischen Verfassung vor den übrigen, gewöhnlichen Gebrauchssprachen aus; letztere erscheinen dadurch als vergleichsweise profane Sprachen. Er stellt die Künste durch die Aura des Hieroglyphischen nicht nur über die Sprachen des gewöhnlichen Verkehrs, sondern sogar noch über die Sprachen der Philosophie und der Wissenschaften. Diderots Übertragung des Begriffs aus der Sprachursprungs- und Kulturentstehungstheorie auf die Kunsttheorie zeigt die disziplinäre Reichweite des Hieroglyphenbegriffs im 18. Jahrhundert. Es ist jedoch erstaunlich, dass der Aufklärer und Enzyklopädist Diderot die hieroglyphisch-auratische Verfassung der Künste, die der analytischen Vernunft und dem profanen Nutzen geradewegs entgegensteht, als Begründung anführt, um die Künste besonders zu würdigen. Worin besteht für Diderot die Attraktivität des Hieroglyphischen? Wie lässt es sich nachvollziehen, dass er die dunkle Mitgift der Hieroglyphe in Kauf nimmt, um mit ihrer Hilfe ein neues Verständnis der Künste einzuleiten? Von der Hieroglyphik-Forschung wird Diderots Beitrag als Seitenbewegung ohne verortbare Anschlüsse zu anderen Hieroglyphik-Theoretikern angesehen.3 In
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Teilergebnisse dieses Kapitels sind veröffentlicht unter dem Titel: Von der Hieroglyphe zum Tableau: Diderot als Kunstkritiker und Kunsttheoretiker. In: Transgressions – Überschreitungen. Mélanges en l’honneur de Hermann Hofer. Hg. v. Thilo Karger, Wanda Klee u. Christa Riehn. Marburg 2011, S. 349–376. (Frz. unter dem Titel: Du hiéroglyphe au tableau: Diderot théoricien et critique d’art. In: Diderot – Salons. Hg. v. Franziska Sick u. Stéphane Lojkine. Québec, Kanada: Presses universitaires de Laval, im Druck [= Akten der gleichnamigen internationalen Tagung, 24. –26. Jan. 2008, Universität Toulouse-Le Mirail]. 2 Denis Diderot: Lettre sur les sourds et muets à l’usage de ceux qui entendent et qui parlent [1751]. In: Ders.: Œuvres complètes, éd. critique et annotée. Hg. v. Herbert Dieckmann [u.a.]. 25 Bde. Bd. IV: Présenté par Yvon Belaval. Paris 1978, S. 129–228. Nach dieser Ausgabe wird im Folgenden zitiert. 3 Zu Diderots Stellung im europäischen Diskurs über die Hieroglyphe seit der Antike vgl. Liselotte Dieckmann: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol. St. Louis 1970. Vgl. ferner Barbara Hunfeld: Zur Hieroglyphe der Kunst um 1800. Überlegungen zu einer Metapher bei Diderot, Goethe, Schubert und Schlegel. In: Aleida u. Jan Assmann (Hg.): Hieroglyphen: Stationen einer anderen abendländischen Grammatologie. München 2003 (Archäologie der literarischen Kommunikation VIII), S. 281–296.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
der diesbezüglichen Diderot-Forschung dominieren zwei fachspezifische Interessen. Die Musikwissenschaft verfolgt, wie Diderot seine noch an die Nachahmung angeschlossene musikalische Hieroglyphe zugunsten einer Ästhetik des Ungegenständlichen und Unbestimmten fortentwickelt.4 Die Kunst- und im Weiteren die Kulturwissenschaft diskutieren die künstlerische Hieroglyphe im Kontext der später von Diderot verworfenen Allegorie sowie im Zusammenhang seiner späteren Tableau-Konzeptionen.5 Das Spektrum von Diderots Interesse ist indes weitergefasst, insofern er neben den musikalischen und malerischen Hieroglyphen auch die poetischen behandelt. Da sie mit der Klanglichkeit und Bildlichkeit auch Elemente ihrer Nachbarkünste vereinen, nehmen sie sogar einen besonders wichtigen Stellenwert in Diderots Überlegungen ein. Nicht nur die dunkle Mitgift der Hieroglyphe, auch ihre begriffliche Unschärfe kamen Diderot gelegen. Weil sich sein Brief gegen das Systemdenken der rationalistischen Kunsttheorie richtet, ist der unscharf bleibende Begriff der künstlerischen Hieroglyphe von Vorteil: Er lässt sich leichter gegen rationalistische Konstrukte aufbieten. Allerdings muss Diderot dafür auf die gedankliche Strenge verzichten: Der Begriff der künstlerischen Hieroglyphe fungiert vielmehr als beweglicher Arbeitsbegriff mit unscharfen und gleitenden Bedeutungskernen. Mit seiner Hilfe versucht Diderot zudem, das Analoge zwischen den einzelnen Künsten, jenseits ihrer offensichtlichen Trennlinien, sowie ihre gegenseitigen Anschlussstellen im Blick zu halten.
1. Zur inneren Verwandtschaft von Essay und Hieroglyphe Diderots beweglicher Hieroglyphenbegriff passt sich hervorragend in den insgesamt essayistischen Gedankengang seines Taubstummenbriefes ein. Dieser greift gedanklich weiter aus, indem er die künstlerische Hieroglyphe aus einer losen Konstellation vorangehender erkenntnis- und sprachtheoretischer bzw. stilkundlicher Überlegungen hervorgehen lässt. Sie tragen wesentlich mit dazu bei, dass der Begriff der künstlerischen Hieroglyphe an Profil gewinnt. Der Autor erklärt programmatisch, dass er sich seinen Gegenständen und Erkenntniszielen vornehmlich labyrinthisch – über gedankliche Perspektivenwechsel,
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Béatrice Durand-Sendrail: La musique de Diderot: essai sur le hiéroglyphe musical. Paris 1994. Sowie: Alessandro Arbo: Diderot et l’hiéroglyphe musical. In: Recherches sur Diderot et sur l’Encyclopédie, 30 avril 2001, S. 65–80. 5 Zur Hieroglyphe in Diderots kunsttheoretischem Denken: Vgl. Hans Körner: Die Sprachen der Künste. Die Hieroglyphe als Denkmodell in den kunsttheoretischen Schriften Diderots. In: Wolfgang Harms (Hg.): Text und Bild, Bild und Text. Stuttgart 1990, S. 385–398. Sowie: Philippe Déan: Diderot’s hieroglyph. Myth of language and birth of art criticism. In: Word & Image 15,4 (1999), S. 323–336.
1. Zur inneren Verwandtschaft von Essay und Hieroglyphe
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über Abschweifungen und scheinbare Irrwege – annähert. Er nimmt damit für sich das Recht in Anspruch, mit dem freien Gedankengang und seinen gleitenden Anschlussstellen bereits in der Textstrategie in einen Gegensatz zum rationalistischen Systemdenken zu treten. Anstelle von systematisch gewonnenen „Mittelbegriffen“ will er lieber nach gemeinsamen Klängen, Akkorden und Resonanzen suchen, denn auch im menschlichen Innern folge nicht alles einem geregelten Nacheinander, sondern vieles spiele sich gleichzeitig ab. Diderot möchte vieles anregen und aufregen, anstatt zu gängeln und verbindliche Wahrheiten aufzustellen. Er erklärt, dass er lieber Urteile außer Kraft setzt, als sie zu fällen. So stellt er insgesamt auch mehr Fragen, als dass er sichere Antworten gibt. Nach diesen Äußerungen ist nicht zu erwarten, dass Diderots ohnehin spärliche, oft nur andeutende Ausführungen zur Hieroglyphe zu einem schlüssigen System verdichtet werden können. Der Brief („lettre“) als Ganzer ist ein Essay, der dezentral argumentiert und nicht deduktiv-hierarchisch vorgeht; die disparaten Ansätze werden nicht zu einer widerspruchsfreien Aussage zusammengeführt. Die Hieroglyphe wird bei Diderot daher zu einer Brücke, mit der er die essayistisch vorgetragenen Gedanken verbindet. Diderots Begriff der künstlerischen Hieroglyphe erweist sich in dieser Hinsicht als Begriff, der das Erbe des essayistischen Denkens seit Montaigne fortführt und zugleich akzentuiert. Der Essay als Form von Diderots Gedanken, der Begriff der Hieroglyphe sowie die im Folgenden zu erörternde Wolkenmetapher sprechen auf verschiedene Weise aus, dass Diderot seinen Taubstummenbrief als eine Selbstkritik der Aufklärung verstanden wissen will, die das Zuviel von ausleuchtender Vernunft und systematischem Geist zurücknimmt. Mit der beiläufigen Bemerkung, er beschäftige sich lieber damit, „Wolken zu bilden, als sie zu verscheuchen“6, durchbricht er die aus dem Religiösen entlehnte Aufklärungsmetaphorik, der zufolge die Sonne der Vernunft die dunklen Wolken und damit Trug und Aberglauben auflöse. Auch die Wolken, die Diderot bilden will, stehen ikonographisch für den Grenzbereich zum Numinosen. Als unscharfe und undeutliche Gebilde, die gleich wieder verschwinden, sind sie als Metapher für diese Semantik evident. Lange Zeit bildeten sie ein komplexes Problem für die meteorologische Morphologie, da ihre Formen aufgrund der sich permanent entstaltenden Umgestaltung kaum in eine sichere Systematik ausdifferenziert werden konnten. Dagegen sind sie in der Alltagswahrnehmung aufgrund ihrer beweglichen, amorphen Formen ein beliebtes Phänomen: Die Einbildungskraft ergänzt die mitunter bizarren Übergangsgestalten zu kenntlichen Figuren, Fabelgestalten und Monstren. Auch die Kunstgeschichte kennt das Problem seit langem. Leonardo da Vinci entwickelte aus den Wolken eine eigene Technik der Inspiration, die er weiterempfahl. Er blickte zur Anregung in die Wolken, aber ebenso gut auch auf Mauerflecken, um mit zusätzlicher Hilfe der Einbildungskraft
6 Diderot:
Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 162.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
detaillierte Gesichter oder ganze Schlachtenszenen entstehen zu lassen. In Diderots eigener Zeit entwickelte der englische Maler Alexander Cozens gegen Ende der 1750er Jahre seine blot-Methode, um im Malvorgang selbst aus Flecken ganze Landschaften entstehen zu lassen.7 Diderot lässt es in der Schwebe, was er meint, wenn er lieber Wolken bilden möchte als sie zu verscheuchen. Selbst darin lässt sich noch die Konsequenz der essayistischen Gedankenanregung erkennen: Indem die Leser im Unklaren bleiben, werden sie angeregt, die Metapher auf die Hieroglyphe zu beziehen. Deren Kunst wäre es mithin, dem Rezipienten soviel unbestimmte Anreize zu geben, dass er ihre luftige Bildersprache in eigener, projektiver Mitarbeit der Phantasie zu einer lebendigen Beziehung ergänzen kann. Es reicht freilich nicht aus, Diderots labyrinthische Argumentation und die gewollte Unschärfe seiner Begriffe in einer bloßen Paraphrase zu wiederholen. Es muss vielmehr das Ziel einer komparatistischen Untersuchung sein, Diderots kunsttheoretischen Hieroglyphenansatz in eine Beziehung zu den überkommenen Bedeutungsaspekten des Begriffs zu stellen. Diderot steht teilweise in der schon vorgestellten Diskussion um die Hieroglyphe in den Kulturentstehungs- und Sprachursprungstheorien. Indem er aber die Hieroglyphe in die Kunsttheorie überträgt, muss er sich von dem auf die Frühgeschichte bezogenen Teil der Tradition absetzen, um die Hieroglyphe nicht als Sprachform eines frühen menschlichen Bewusstseins, sondern als Ergebnis einer künstlerischen Gipfelleistung profilieren zu können. Daher ist zu fragen, welche Ausschließungen, Verschiebungen und (Neu-)Einschließungen dazu führen, dass Diderot in der Geschichte der Hieroglyphe eine eigenständige Variante des Begriffs begründen kann.
2. Hieroglyphe und Körpersprache Mit Diderots Übertragung der Hieroglyphe in die Theorie der Schönen Künste gerät der Begriff in einen Diskurs, der vergleichsweise stärker empirisch fundiert, philosophisch diskutiert und kulturpolitisch instrumentalisiert war. Diderot stellt den Hieroglyphenbegriff in das Zentrum der künstlerischen Arbeit, so dass er ansatzweise eine Erklärung für künstlerische Glanzleistungen von der griechisch-römischen Antike bis hin zur eigenen zeitgenössischen französischen Gegenwart des 18. Jahrhunderts bietet. Es versteht sich für ihn, dass er auf den Ergebnissen der Querelle
7
Vgl. Jörg Bittner: Wolken, Mauern und Schwämme. Leonardo und die natürlichen Hilfsmittel visueller Kreativität. In: Hans-Georg von Arburg, Michael Gamper u. Ulrich Stadler (Hg.): „Wunderliche Figuren“. Über die Lesbarkeit von Chiffrenschriften. München 2001, S. [17]–41. Werner Busch: Alexander Cozens’ ‚blot‘-Methode: Landschaftserfindung als Naturwissenschaft. In: Heike Wunderlich (Hg.): „Landschaft“ und Landschaften im achtzehnten Jahrhundert. Heidelberg 1995, S. 209–228.
2. Hieroglyphe und Körpersprache
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des anciens et des modernes aufbaut, die zwar das Vorbildhafte der Antike bestätigt hatten, aber doch den Künstlern der Neuzeit ihren eigenen Ausdruck zubilligten. Das ägyptische Altertum hatte nicht zum Kanon des klassischen Kunstverständnisses gehört, sondern darin nur eine Randstellung eingeräumt bekommen. Diderot interessiert sich daher als Bewunderer der griechisch-römischen Antike nicht weiter für den rätselhaften Reiz der ägyptischen Bilderschriften. Auch wenn er die Obelisken an einer Stelle beiläufig im Vergleich erwähnt: Die hieroglyphischen und skulpturalen Zeugnisse der frühen ägyptischen Hochkultur bleiben nicht nur menschheitsgeschichtlich ausgeblendet, sondern werden auch aus dem künstlerischen Bezugsrahmen des Taubstummenbriefes ausgeschlossen. Auch Zeugnisse aus anderen vergangenen und zeitgenössischen archaischen Kulturen werden von Diderot nicht behandelt. Er löst sich von der traditionellen anthropologischen bzw. historischen Hieroglyphenauffassung und deren Bezug auf archaische magisch-rituale, sakrale oder pragmatische Zusammenhänge. Diese Abkehr ermöglicht ihm die Umwidmung der Hieroglyphe auf den Bereich der Kunst seit der klassischen Antike. Diderot wählt zwar den Terminus „Hieroglyphe“, greift aber paradoxerweise die ägyptische Kunst in seiner Kunstbetrachtung nicht auf. Andererseits nimmt Diderot die auratische Mitgift des bisherigen Verständnisses von Hieroglyphe in Anspruch. Nur so ist es verständlich, dass er überhaupt den Begriff der Hieroglyphe verwendet und seine Überlegungen in ihn einfließen lässt. Die auratische Mitgift dient Diderot dazu, eine historische Sonderentwicklung der Künste im Rahmen einer sich zunehmend analytisch-rational ausrichtenden Kultur zu behaupten. Er sieht besonders in den vollkommenen künstlerischen Hieroglyphen der klassischen Antike ein schöpferisches Geheimnis bewahrt, das im zunehmend abstrakter werdenden Formalismus der Wissenschaftssprachen und der pragmatischen Sprachen verloren zu gehen droht. Die klassischen Künste sind für ihn ein alternatives Erbe, das schon deshalb tradiert, gepflegt und weiterentwickelt werden muss, damit den Menschen ein Experimentierfeld der kreativen Selbstbegegnung erhalten bleibt. Indem Diderot die auratische Mitgift der ägyptischen Hieroglyphen auf die Künste der klassischen Antike überträgt, verändert sich dieses Auratische selbst: Es muss sich dem klassischen Kunstverständnis anbequemen und zugleich die Veränderungen in der Zeitspanne seit der Antike aushalten. Diderot zufolge zeugt die Dichtkunst Homers davon, dass bereits zu dessen Zeit eine vollkommene künstlerische Sprache ausgebildet war, die mit wenigen Worten und Klängen überzeitliche Zeugnisse einer unnachahmlichen Evokationskraft und lebendig-situativen Dichte geschaffen habe. In den neueren Sprachen sei das nicht mehr ohne weiteres zu erreichen, weil diese Sprachen analytischer geworden sind und ihre syntaktischen Strukturen sich stärker ausdifferenziert hätten. Die neueren Sprachen, die sich wie das Französische mehr für die philosophische Darlegung als die wortkünstlerische Verdichtung eigneten, müssten ihre interne Differenzierung in findungsreichen „glücklichen Wendungen“ („expressions heureuses“) überwinden, um zu einen ähnlichen Ergebnis zu kommen.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
Zwar wurde bereits vor Diderot die Hieroglyphe in Randbereichen der Kunsttheorie gebräuchlich (siehe unten), doch ist seine Übernahme der Hieroglyphe in die allgemeine Kunsttheorie singulär und gibt Diderot eine besondere Stellung in der Geschichte des Begriffs. Die internationale Hieroglyphik-Diskussion seiner Zeit war ihm mindestens durch deren sensualistische Aktualisierung bei Condillac bekannt, der fünf Jahre zuvor in seinem Essai sur l’origine des connoissances humaines breit aus dem Hieroglyphenkapitel aus William Warburtons religionsgeschichtlichem Werk Devine Legation of Moses referiert hatte.8 Warburtons Hieroglyphenkapitel war in Frankreich seit 1744 aber auch in der Übersetzung von Marc-Antoine Léonard des Malpeines zugänglich.9 Diderot wird spätestens auch als Herausgeber der Encyclopédie von Warburtons Theorie erfahren haben, weil in den einschlägigen Sach-Artikeln Louis de Jaucourts zur Schrift („Ecriture“) sowie zur ägyptischen Hieroglyphe Warburtons Ansatz als maßgeblich referiert wird.10 Im Allgemeinen nimmt man nicht an, dass Diderot Vicos Scienza Nuova11 gelesen haben könnte.12 Es gibt zwar Parallelen, doch sind sie Marie-Luise Roy zufolge partiell über einen gemeinsamen Bezug auf Bacon zu erklären.13 Roys Hinweis
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Etienne Bonnot de Condillac: Essai sur l’origine des connoissances humaines (1746). In: Œuvres complètes. Tome 1. Réimpression de l’éd.: Paris 1821–1822, Genève: Slatkine, 1970. Condillac bezieht sich auf Warburton vor allem in Teil 2, Sektion 1, Kap. I u. XIII. Vgl. zu Warburton w.o., Teil A, Kap. II. William Warburton: Essai sur les Hiéroglyphes des Égyptiens, où l’on voit l’origine & le progrès du Langage & de l’Écriture, l’antiquité des sciences en Égypte, & l’origine du culte des animaux. Traduit de l’anglois [p. Marc-Antoine Léonard des Malpeines]. Avec des observations sur l’antiquité des hiéroglyphes scientifiques & des remarques sur la chronologie & sur la première écriture des Chinois [p. Martin-Augustin Léonard des Malpeines]. 2 vol., Paris: Guerin, 1744. Marc-Antoine und Martin-Augustin Léonard waren Brüder, die das Werk mit dieser Arbeitsteilung in Frankreich bekannt gemacht und ihm damit eine sehr einflussreiche Wirkungsgeschichte eröffnet haben. Einer Bemerkung Siegfried Jüttners zufolge hat Diderot Jaucourts Artikel „Hiéroglyphe“ sogar überarbeitet. Vgl. Siegfried Jüttner: Schreiben als Aufklären, Literatur als Wahrheitssuche. Die Option der Enzyklopädisten in Frankreich (1750–1780). In: Nach der Aufklärung? Beiträge zum Diskurs der Kulturwissenschaften. Hg. v. Wolfgang Klein u. Waltraud Naumann-Beyer. Berlin 1995, S. 13–36, hier S. 28, Anm. 53. Giambattista Vico: Principi di una Scienza nuova d’intorno alla communa natura delle nazioni. Zuerst: Neapel 1725. Umgestaltete zweite Fassung: Neapel 1730. Dritte Fassung: Neapel 1744. Vgl. dazu w.o. S. 15–17. In der Forschung setzt man voraus, dass Vico auch Condillac unbekannt geblieben ist, so dass es auch keinen indirekten, über Condillac vermittelten Einfluss auf Diderot gegeben haben kann. Zu Vico und Condillac vgl. Markus Edler: Sprachursprung: zur hermeneutischen Archäologie der Sprache bei Vico, Condillac und Rousseau. München 2001, S. 185. Edler verfolgt allerdings fast ausschließlich die enger erkenntnistheoretischen Teile in Condillacs Schrift. Condillacs Übernahmen aus Warburtons Hieroglyphenkapitel werden nur beiläufig erwähnt; Condillacs eigene, zum Teil bei Dubos entlehnte Spekulationen zur Übernahme und Verfeinerung der körpersprachlichen Archaik in Rhetorik, Tanz, Gesang und Poesie der Antike bleiben unthematisiert, so dass im Ergebnis weniger die Parallelen als die Differenzen zu Vico pointiert werden. (Vgl. Edler, S. 207f.) Marie-Luise Roy: Die Poetik Diderots. München 1966, S. 75f.
2. Hieroglyphe und Körpersprache
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auf Bacon zielt in das Zentrum des damaligen europäischen Hieroglyphendiskurses, denn schon Bacon hatte in De Dignitate et augmentis scientiarum (Buch V, Kap. V) jene Verbindung von Hieroglyphe, Gestus und Emblem hergestellt, die später sowohl für Vico als auch für Diderot wichtig wird. Roy argumentiert, dass schon für Bacon die Hieroglyphen die vergänglichen Gebärden fixieren und bewahren, so wie die Buchstabenschrift das gesprochene Wort vor dem Verwehen rette. Der Hinweis auf die Memorialfunktion reicht jedoch nicht aus, um Diderots kunsttheoretische Aneignung des Hieroglyphenbegriffes verständlich zu machen. Die Theorien von Vico sowie von Warburton und Condillac, die in diese Zeit hineinwirken, bedeuteten einen neuen Akzent im Diskurs über die Hieroglyphe. Sie gingen davon aus, dass sich das Sprechen und Schreiben in Bildern von einer ursprünglichen, archaisch-unbändigen Gebärdensprache ableitet, die von unartikulierten Rufen begleitetet wurde. Diderot hingegen nimmt eine Sonderstellung ein; er setzt seine künstlerische Hieroglyphe betont von einer derartigen primitiven Ursprungssprache ab, die er als eine „tierische Sprache“ („langage animal“) abqualifiziert.14 Die künstlerischen Hieroglyphen setzten ihm zufolge bereits eine in Syntax und Prosodie vollkommen ausgeformte phonetische Sprache voraus. Dennoch ist der Bruch Diderots mit dem Archaischen nicht so radikal, wie es auf den ersten Blick erscheint. Auch Diderot scheint davon auszugehen, dass in den künstlerischen Sprachen implizit noch ein körpersprachliches Wissen gegenwärtig ist. Er scheint darin Condillacs sensualistischen Thesen zu folgen. Diesen zufolge ist die ursprünglich konvulsivische Gebärdensprache sowie die sie begleitende expressive Dynamik der Stimme in den Künsten und in der Rhetorik des klassischen Altertums veredelt worden, indem sie aufgenommen, gebändigt und zu einer umfassenden Grammatik entwickelt und harmonisiert worden ist.15 Besonders die mit Sprache und Tanz verbundene Musik und die Redekunst hätten diese Leistung vollbracht. Wie hoch auch Diderot die Bedeutung der Körpersprache ansetzt, zeigt schon sein Interesse an der Gebärdensprache der Taubstummen. Er befasst sich mit ihr nicht nur aus einem Interesse an den besonderen Kommunikationsformen dieser Gruppe. Aufschlussreich ist, dass Diderot zur Verdeutlichung einen Taubstummen der eigenen Gegenwart wählt, der sich mit seinen Gesten findungsreich gegenüber einer sprachlich hochentwickelten und geistreichen Gesellschaft verständlich machen muss.16 Damit trifft eine primitiv anmutende auf eine analytische Sprache der
14 Diderot:
Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 166. Essai sur l’origine des connoissances humaines (wie Anm. 8), Seconde Partie, section première, chap. III–X. 16 Auch schon im Blindenbrief hatte Diderot einen blinden Mathematiker und Philosophen zum kongenialen Experten gewählt, um mit seiner Hilfe die erkenntniskritische Frage zu stellen, inwiefern der Verlust eines Sinnesorgans (hier des Sehsinns) durch ein anderes Sinnesorgan (hier den Tastsinn) kompensiert werden kann und zu welchen Weltanschauungen die darauf basieren15 Condillac:
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
Gegenwart. Diderots Beispiel setzt zudem implizit voraus, dass auch die Sprechenden und Hörenden, zu denen der Taubstumme mit seinen Gebärden „redet“, ebenfalls ein gewisses gestensprachliches Vorwissen besitzen, damit sie die stummen gestensprachlichen Figuren enträtseln können. Er traut der Gestensprache seines Taubstummen komplizierte metaphorische Redewendungen zu und verdeutlicht damit implizit, dass ihm an der Wiederentdeckung einer primitiven Ursprungssprache nicht gelegen ist. Im analytischen Zeitalter erwartet Diderot, dass auch die Gestensprache elaboriert sein kann. Diderot interessiert vor allem, ob ein Taubstummer gestische Äquivalente für eine sprachlich verfasste Rede finden kann. Zur Überprüfung setzt er eine Versuchsperson ein, die den Taubstummen nur mimt: den sogenannten „muet de convention“.17 Es drückt sich also ein Hörender und Sprechender, der den Stummen nur probeweise spielt, gegenüber einem anderen Hörenden und Sprechenden mit spontan kreierten Gebärden aus. Der Versuch testet somit die gebärdensprachliche Kompetenz der Hörenden und Sprechenden. Die Probleme eines Taubstummen inspirieren Diderot zu dem Experiment, sich ein Theaterstück sowie eine Gemäldeausstellung mit den Augen eines Taubstummen anzusehen. Es entsteht eine ähnliche Situation: Faktisch unterhalten sich Hörende und Sprechende künstlich, genauer: künstlerisch über die Gebärdensprache. Diderot zufolge könne man so am besten überprüfen, ob Theaterspiel und Malerei in ihren Gebärdensprachen stimmig und verständlich sind. Auch diese Experimente setzen voraus, dass es ein gewisses gebärdensprachliches Vorwissen beim Publikum bzw. bei den Ausstellungsbesuchern gibt. Das Theater hat mit der Gestik eine zweite performative Ebene zur deklamierten Rede. Diese ist, Diderot zufolge, im zeitgenössischen Sprechtheater noch zu wenig entwickelt; entsprechend wertet er sie in seinen eigenen Stücken auf. Er schließt aber begrifflich weder an die Terminologie von Bacon, noch an die von Vico, Warburton oder Condillac an. So bezeichnet er die theatralische Körpersprache weder als transitorische Hieroglyphen (wie es seit Bacon nahe gelegen hätte) noch als „langage d’action“ im Sinne von Vico, Warburton und Condillac, sondern verwendet vielmehr den theatersprachlichen Begriff des „Spiels“ („jeu“).18 In der Malerei hat das Körpersprachliche zwar eine Schlüsselfunktion, weil Sprache – und fast immer auch Schrift – ausfallen. Diderots Begriff des „jeu“ führt aber dazu, dass er auch die Gemälde als stillgestellte Szenen einer gebärdensprachlichen Kommunikation auffasst. Aus diesem stillgestellten, stummen Spiel entwickelt Diderot später seine Konzeption des dramatischen Tableaus. (Dazu noch weiter unten, S. 138f.)
den Aufzeichnungssysteme und Vorstellungswelten führen. (Diderot: Lettre sur les aveugles à l’usage de ceux qui voient [1749]. In: Ders.: Œuvres complètes. Ed. critique et annotée, 25 Bde. Hg. v. Herbert Dieckmann (u.a.). Bd. IV: Présenté par Yvon Belaval. Paris 1978, S. 15–72.) 17 Diderot: Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 138. 18 Ebd., S. 148.
3. Poetische, malerische und musikalische Hieroglyphen
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3. Poetische, malerische und musikalische Hieroglyphen Mit der Aura des Hieroglyphenbegriffs bleibt bei Diderot der bisherige Kern im Verständnis der Hieroglyphe erhalten: die Bildsprache. Sie wird am Bildlichen19 evident, wie sie die Malerei für das Auge unmittelbar bietet, aber auch in der Dichtkunst, die sie mittelbar erzeugt. Beide Künste verwenden bildliche Figuren und Emblemata, so dass Diderot im Taubstummenbrief auch den Begriff des Emblems einführt und ihn teilweise synonym mit der Hieroglyphe verwendet.20 Historisch war es die in der Renaissance wiederentdeckte ägyptische Hieroglyphik, die wesentlich zur Herausbildung und zum Aufschwung der frühneuzeitlichen Emblemkunst beigetragen hat. Die Emblemkunst wurde seit langem schon als eine Verlängerung der Hieroglyphik angesehen, so dass Diderot über das Bildverständnis seines Hieroglyphenbegriffs an dieser Tradition teilhat.21 Er bezieht die Hieroglyphe aber nicht nur auf die Dichtkunst und die Malerei, sondern auch auf die Musik als eine Art Bildersprache für das Ohr. Diderot versteht darunter z.B. die Klangbilder, die in der musikalischen Begleitung zum vorgetragenen Lied entstehen. Eine ähnliche Auffassung wird mehr als dreißig Jahre später Lacépède vertreten, der in seiner Poétique de la musique von der „l’hiéroglyphe des sons“ spricht. 22 Diderot zufolge treffen sich Dichtung, Malerei und Musik in der hieroglyphischen Grundverfasstheit, über bestimmte Figuren einen Ausdruck und eine Bedeutung zu erzeugen. Doch weichen sie aufgrund ihrer Mittel, ihrer Kompositionsgesetze und ihres besonderen Materials auch beträchtlich voneinander ab. Diderot spricht davon, dass jede Kunst ihre eigenen Hieroglyphen habe. Genauer noch könnte man von einer spezifischen Hieroglyphik sprechen. So hat etwa die Dichtkunst Teil am Bildlichen und Klanglichen, doch gewinnt sie niemals die gleiche Genauigkeit und Kontur der Gegenstände wie die Malerei. Und andererseits erreicht sie nicht das seelische Erregungspotential der Musik, die mit noch weit größeren Unbestimmtheiten arbeitet als das Wortkunstwerk.
19
Um Missverständnissen vorzubeugen: die Gelehrten des 18. Jahrhunderts machten im Allgemeinen keinen fundamentalen Unterschied zwischen den Begriffen Sprache und Schrift. Weil Diderot die Künste als Sprachen auffasst, ist es für ihn nachgeordnet, ob sie eher bildersprachlich (wie die Dichtkunst) oder eher bildlich (wie die Malerei) organisiert sind. Insofern er aber auch die Sujets der Malerei partiell als stumme Kommunikation und stillgestellte Gebärdensprache ansieht, führt er eine Dimension ein, die ohnehin quer zu Sprache und Schrift steht. 20 Diderot: Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 169 u. 171. 21 Der für sich anregende Ansatz von Kate E. Tunstall, Diderots Hieroglyphenbegriff aus der Devise herzuleiten, ist demgegenüber eine Verengung: Hieroglyph and device in Diderot’s Lettre sur les sourds et muets. In: Diderot studies 28 (2000), S. 161–172. 22 Bernard Germain Etienne de la Ville, comte de Lacépède: La poétique de la musique. 2 Bde., Paris 1785. Reprint: Genf: Slatkine, 1970, t. 1, S. 78f.; zit. nach Béatrice Durand-Sendrail: La Musique de Diderot. Essai sur le hiéroglyphe musical (wie Anm. 4), S. 175.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
Diderot betont an der Dichtung die lautmalerischen Effekte und verfolgt sie bis hin zur Stellung und zum Klang von Wörtern und Silben, zu der von ihnen getragenen Metrik sowie zum Rhythmus. Die „harmonie syllabique“ und die „harmonie périodique“ erzeugen demnach eine Besonderheit der Hieroglyphe, die ganz der Dichtung eigen ist.23 Für sie brauche man ein eigenes, starkes Gespür. In diesem Kontext spricht er auch von der „hiéroglyphe syllabique“. Der Rezipient muss alle diese Details beachten und in ihrer kompositorischen Rolle würdigen, um das Kunstwerk ganz verstehen und genießen zu können. Die poetischen und musikalischen Klangbilder sieht Diderot einerseits als Verlängerung der Onomatopöie, andererseits betrachtet er sie als Teil des spezifischen künstlerischen Ausdrucks. Speziell in der Musik überwiegt für ihn die Expressivität, so dass er sie als Kunstsprache an der Grenze zum Ungegenständlichen versteht, die die Hörer unmittelbar im Innersten berührt. Dennoch können die Bilder für das Auge und die Bilder für das Ohr – für sich genommen – noch nicht überzeugen, um Diderots Übernahme des Hieroglyphenbegriffs verständlich zu machen. Es ist vor allem die Komplexität des Wortkunstwerkes, die Diderot zur Verwendung des Hieroglyphenbegriffs anregt. In diesem Sinne spricht er von einem „tissu d’hiéroglyphes entassés les uns sur les autres“, die unablässig den auszudrückenden Gedanken „malten“.24 Die Wortkunst „webt“ also mit Hilfe ihrer poetischen Bilder und mit der mimetisch-expressiven Klanglichkeit ihrer Verse unablässig Bedeutungsinhalte, wobei die Bilder sich überlagern und die Klänge (so Diderot an anderer Stelle in einem verwandten Bild) nachhallen. Diese komplexe Gleichzeitigkeit ist nicht voll in rationale Sprache übertragbar und verdient, Diderot zufolge, den Begriff der Hieroglyphe. Für die Malerei behauptet Diderot sogar, dass sie „die Sache selbst“ zeige, während der Tonkünstler und der Dichter sie nur mittelbar in hieroglyphischen Ausdrücken vortragen: „C’est la chose même que le peintre montre; les expressions du musicien et du poète n’en sont que des hiéroglyphes.“ 25 Hätte die Malerei wirklich dieses Vermögen, müsste Diderot eigentlich auf den Hierogyphenbegriff für sie verzichten. Doch so absolut kann er hier die Möglichkeit der Malerei nicht gemeint haben, denn an anderer Stelle spricht er von der Hieroglyphe in der Malerei. Der Begriff hat in ihr seinen Platz, denn auch die Malerei schichtet ja Bedeutungen übereinander, die nicht vollständig in pragmatische Alltagssprache überführt werden können. (Auf die „Sache selbst“ ist noch gesondert einzugehen.) Insgesamt sieht Diderot die expressiven Kerne der Dichtkunst, der Musik und der Malerei als Hieroglyphen im Zeitalter der reflektierenden Moderne an.
23 Diderot:
Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 189f. Ebd., S. 169. 25 Ebd., S. 185. 24
4. Die Einzigartigkeit der künstlerischen Hieroglyphen
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4. Die Einzigartigkeit der künstlerischen Hieroglyphen Diderot richtet seinen Taubstummenbrief an den Abbé Batteux, der fünf Jahre zuvor seine kunsttheoretische Abhandlung Les Beaux-Arts réduits à un même principe (1746; 21747) veröffentlicht hatte. Im vorangestellten Brief an den Verleger beklagt sich Diderot, dass Batteux seine Schrift zwar nach den Ratschlägen aus Diderots philosophischem Freundeskreis verbessert und erweitert, den Titel jedoch unverändert gelassen habe. Batteux hatte in seiner Schrift den Versuch unternommen, die Schönen Künste auf ein gemeinsames „Prinzip“ zurückzuführen. Es bestehe in der Nachahmung („imitation“) der Schönen Natur („Belle Nature“). Im Vorwort vergleicht Batteux das gemeinsame Prinzip mit einem genealogischen Baum, aus dem das bestehende, vielfach verzweigte Regelwerk der Künste übersichtlich abgeleitet werden könne. Indem der schöpferische Mensch (das „génie“) die schönsten Teile der Natur auswähle, um daraus ein vortreffliches Ganzes zu bilden, schaffe er etwas, das zwar vollendeter ist als die Natur, dennoch weiterhin Natur bleibe. Qualitativ nimmt das einigende Prinzip also eine Mittelstellung zwischen Mimesis und Poesis ein. Als konstruktiver Baustein der Theorie nimmt das Kunstwerk einen Platz zwischen der rationalistischen Reduktion auf einen gemeinsamen „Grundsatz“ und der im Baumbild suggerierten Rückführung auf einen genetischen Ursprung ein. Diderot setzt nicht wie Batteux die Naturnachahmung in das Zentrum seiner Überlegungen, sondern das Kunstzeichen selbst. Während Batteux ein „System“ entfaltet und mit rationalistischen Reduktionen arbeitet, führt Diderot den dunklen und unscharfen Begriff der Hieroglyphe ein, um mit ihm die komprimierenden Konstellationen in den Künsten zu bezeichnen. Während Batteux den kleinsten gemeinsamen Nenner aller Künste sucht, nutzt Diderot den Hieroglyphenbegriff, um zu zeigen, dass die Künste nicht aufeinander abgebildet bzw. ineinander überführt werden können. Mit der Hieroglyphe formuliert er eine Poetik des Nicht-Kommensurablen. Doch ist Diderot, wie die Forschung betont, in wichtigen Merkmalen gar nicht so weit von den Ansichten Batteux’ entfernt. Auch wenn er einen anderen Akzent setzt, bleibt er insgesamt der Nachahmungsästhetik verpflichtet: Alle drei Künste seien Nachahmungskünste („art d’imitation“). Auch Diderot möchte die künstlerische Hieroglyphe der Naturwahrheit unterstellen; sogar die musikalische Hieroglyphe wird diesem Programm verpflichtet. Es stellt sich daher die Frage, wie sich das hieroglyphische Kunstzeichen und die Nachahmungsästhetik bei Diderot zueinander verhalten. Er behauptet zwar, dass jede dieser „Nachahmungskünste“ ihre eigentümlichen Hieroglyphen habe.26 Doch weist bereits Diderots Beispiel der sterbenden Dido, bei dem er den Naturalismus des Sterbens einfordert, auf den partiellen Über-
26
Ebd., S. 182.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
gang zu einer neueren, naturwahreren Auslegung des Mythos27 und damit auf ein übergeordnetes Kriterium für die Bewertung der Hieroglyphen hin. Andererseits ist für Diderot die Hieroglyphe eine mehrdeutige und damit geheimnisvolle Verdichtung im gegebenen Kunstwerk, die das Ziel der künstlerischen Potenz sein muss. Aus der Sicht des Künstlers ist sie eine Möglichkeitsform mit vielen Anschlussstellen. Mit ihrer Offenheit ist sie aber eine Absage an das Postulat der Naturnachahmung und zudem eine deutliche Absetzung von Batteux’ Reduktion der Künste auf ein Prinzip. Um das hieroglyphische Kunstzeichen sowohl von der gewöhnlichen, konventionellen Sprache als auch von den Sprachen der Didaktik und der Wissenschaften abzusetzen, unterscheidet Diderot hilfsweise die Ausdrucksqualität („expression“) vom gedanklichen Gehalt einer Rede („la pensée“). Ziel der künstlerischen Hieroglyphe ist nicht die Information, bei der es auf Klarheit und Unterscheidung ankommt, sondern eine künstlerisch-synästhetische Komprimierung, die für den Kunstliebhaber zu einer besonderen Quelle eines gleichermaßen emotionalen und geistigen wie künstlerischen Genusses werden kann. Diese Besonderheit der Hieroglyphe fordert vom Kenner, dass er sie in ihrer jeweiligen Kunstfertigkeit erfasst, so dass er sie in ihrer ästhetischen Gelungenheit genießen und würdigen kann. Das Hieroglyphische verwirklicht sich in Malerei, Musik und Dichtung, doch kommt es dabei, wie erwähnt, zu erheblichen Verschiebungen, da die jeweiligen Künste unterschiedliche mediale Ausgangsbedingungen sowie verschiedenartige ästhetisch-kompositionelle Vorgaben haben und ihre Hieroglyphen in unterschiedlichem Material gewinnen. Besonders produktiv sind für Diderot die Überlagerungen der Künste. Immer wieder beschreibt er faktisch die Hieroglyphe als Überschneidung der Künste, ohne dies indes explizit zu sagen. Die Überlagerungen und das Ineinander von Musik und Wort im Rahmen der Musik, das Ineinander von Bild und stillgestellter Körpersprache in der Malerei sowie die Überlagerung und das Ineinander von Wort, Bild und Klang in der Dichtkunst sind für Diderot in ihrer Komplexität voller Reiz. Sie zeigen in der Überlagerung auch, dass ihre Bestandteile nicht übersetzbar sind, sondern nur in der Kombination zu einem Ausdruck finden können. Für die Dichtkunst ergibt sich zudem ein weiteres Problem, wenn eine früher entstandene Dichtung in eine Gegenwartssprache des Vernunftzeitalters oder auch, wenn eine Dichtung in eine andere Sprache der gleichen Zeit übersetzt werden soll. Diderot zufolge lassen sich die herausragenden Hieroglyphen besonders der antiken Dichtkunst nicht angemessen in die modernen Sprachen übertragen, weil der unterschiedliche Charakter der Sprachen das nicht zulässt. Ihm zufolge hatten das Griechische und das Lateinische noch die Möglichkeit, die Gleichzeitigkeit von Sehen, Annehmlichkeitsempfinden und Begehren durch ein einziges Wort wiederzugeben.
27
Vgl. auch Anm. 33.
5. Hieroglyphe, Emblem und Allegorie
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Doch in der vergleichsweise abstrakter gewordenen französischen Sprache sei das nicht mehr so einfach möglich. Diderot schließt daraus: „Ah! […] combien notre entendement est modifié par les signes; et que la diction la plus vive est encore une froide copie de ce qui s’y passe.“28 Die wortkünstlerischen Hieroglyphen sind Diderot zufolge darüber hinaus originelle, in sich geschlossene Gebilde, die grundsätzlich nicht übersetzbar sind. Das bewirke schon die Art und Weise, wie die bildlichen und klanglichen „Embleme“ nicht so sehr als zusammenhängende Figuren in den poetischen Text eingelassen, als vielmehr über ihn verteilt, ja sogar in ihn aufgelöst seien: L’emblème délié, l’hiéroglyphe subtil qui règne dans une description entière, et qui dépend de la distribution des longues et des brèves dans les langues à quantité marquée, et de distribution des voyelles entre les consonnes dans les mots de toute langue; tout cela disparaît nécessairement dans la meilleure traduction.29
Es wird noch darzustellen sein, wie Diderot die Inkommensurabilität der künstlerischen Hieroglyphen kunsttheoretisch untermauert.
5. Hieroglyphe, Emblem und Allegorie In der Theorie der Künste war auch vor Diderot der Hieroglyphen-Begriff nicht unbekannt. Die Ausdehnung auf die Emblematik seit der Renaissance30 brachte es mit sich, dass man auch das „Schreiben“ in Bildern und Gleichnissen unter den Begriff gefasst hat. Im 17. Jahrhundert war es bereits gängig, auch Mythos und Fabeln als hieroglyphische Kunstformen aufzufassen.31 Um 1740 führte dann Johann Jakob Breitinger den Begriff der ‚hieroglyphischen Schreibart’ für das poetische Bild in seine kritische Dichtungstheorie ein. Breitinger zufolge sind Bilder und Gleichnisse das wichtigste Schmuck- und Stilmittel der Dichtung; ihre Funktion ist der der Farbe in der Malerei vergleichbar.32 Breitinger gebraucht jedoch nicht wie Diderot den Terminus Hieroglyphe, um den vergleichbaren Kern der verschiedenen Künste
28 Diderot:
Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 111. Ebd., S. 171. 30 Die Emblematik war in der Renaissance von der ägyptischen Hieroglyphik angeregt worden; man glaubte, sie in den Hieroglyphenbüchern des Horapollon wiedergefunden zu haben. Vgl. Ludwig Volkmann: Bilderschriften der Renaissance. Hieroglyphik und Emblematik in ihren Beziehungen und Fortwirkungen. Leipzig 1923. 31 Vgl. Marc Fumaroli: Hiéroglyphes et lettres: la sagesse mystérieuse des Anciens au XVIIe siècle. In: XVIIe Siècle. Bd. XL/158,1 (1988), S. 7–20. 32 Johann Jakob Breitinger: Critische Abhandlung von der Natur, den Absichten und dem Gebrauch der Gleichnisse. Mit Beispielen aus den Schriften der berühmtesten alten und neuen Scribenten erläutert. 1740 in Zürich als Ergänzung der im selben Jahr publizierten Critischen Dichtkunst erschienen. (Faks.-Dr., mit einem Nachw. v. Manfred Windfuhr, Stuttgart [1967].) 29
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
zu benennen, sondern bedient sich im Wesentlichen der gängigen metaphorischen Übertragung der Künste aufeinander, wenn er in seiner Critischen Dichtkunst etwa von der „Poetischen Mahlerei“ spricht. Überdies ist ihm die hieroglyphische Schreibart verdächtig, wenn sie in Schwulst bzw. eine „Rätselmässige Dunckelheit“ ausartet und zum „Kerker“ des Gedankens wird. Wenn Diderot in seinem Taubstummenbrief die hieroglyphische Schreibart der Dichtung mitunter auch als emblematisches Schreiben fasst, so schließt er an die Tradition an, das Bilderschriftliche ins Narrative und Dichterische auszuweiten. Emblematische Bildlichkeit und gleichnishaftes Dichten bzw. Erzählen unterstanden im Barock der noch vorherrschenden Allegorese, so dass die Vergleichbarkeit auf dieser Tiefenebene vorgegeben war. Im 18. Jahrhundert löste man sich hingegen mehr und mehr von der Allegorese und ging zum Prinzip einer „freitragenden Anschaulichkeit“ über. Auch Diderot macht im Laufe seiner kunsttheoretischen Überlegungen einen Sinneswandel durch. In seinen späteren kunstkritischen Gemäldebeschreibungen in den Salons spricht er sich dezidiert gegen den Einsatz unverständlicher Allegorien aus, die sich einer hieroglyphischen Unzugänglichkeit annähern. (Dazu noch weiter unten S. 136, Anm. 44.) Im Taubstummenbrief hingegen wird das Allegorische noch vorherrschend positiv gesehen. Dafür zeugen schon die von Diderot besprochenen Beispiele aus der antiken und zeitgenössischen Dichtung. Doch orientiert er sich gegen Ende seines Briefes bereits an Kunstbeispielen, die er eher im Sinne einer freitragenden Anschaulichkeit sowie der Naturwahrheit allgemeingültiger menschlicher Situationen auslegt und würdigt.33 Die ägyptische Hieroglyphe ist zwar für Diderot nicht von Interesse, doch kommt ihm deren traditionelle Einschätzung entgegen, dass sie einen Zwitterstatus zwischen Bild und Schrift besitze. Darüber hinaus wird sie seit der Antike durch ein ganzes Spektrum von Symbolverfahren beschrieben, die von der kyriologischen, das heißt der nicht übertragenen Sachabbildung über die uneigentliche Metapher bis zum allegorischen Rätselbild reichen. Insofern Diderot im Taubstummenbrief die Hieroglyphe als Modell einer komparatistischen Komprimierung der Medien und Künste dient, erweitert er nur die traditionelle Auffassung in die Dimension der Künste. Diderot nutzt die Hieroglyphik im Taubstummenbrief als eine Überbrückungsfigur, in der er sonst auseinanderfallende Tendenzen zusammenhalten kann. Insgesamt reichen Emblematik und Allegorik aber nicht hin, um den Sinn und Zweck des Hieroglyphenbegriffs im Taubstummenbrief zu erfassen. Es geht Diderot vor allem darum, mit dem Hieroglyphenbegriff das verschiedenartige Material der Künste zu kennzeichnen. Er arbeitet sich zu der Erkenntnis vor, dass mit jedem
33
So bewertet er etwa die Darstellung der sterbenden Dido in Dichtkunst, Musik und Malerei nach der Naturwahrheit des menschlichen Sterbens. Dabei geht er sogar so weit, Bezüge zur Physiologie herzustellen.
6. Hieroglyphen als „expressions heureuses“
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einzigartigen Material auch ein je eigenes Verfahren der Symbolisierung, des Ausdrucks und der Wirkung vorgegeben ist. Der Begriff der Hieroglyphe fasst weniger eine Erkenntnis zusammen, als dass er hilft, eine neue Erkenntnis zu bahnen. Mit dieser Aufgabe fügt sich der Hieroglyphenbegriff in die essayistische Gesamtanlage des Briefes ein.
6. Hieroglyphen als „expressions heureuses“ Über eine Reihe weiterer Überlegungen treibt Diderot seinen Begriff der künstlerischen Hieroglyphe essayistisch voran. Wiederum geht er nicht einlinig und systematisch, sondern labyrinthisch verschlungen vor, indem er Gedankenschleifen entwickelt, die sich nur partiell berühren und nicht immer widerspruchsfrei ineinander aufgehen. In einer besonders wichtigen, modern anmutenden Gedankenfolge wird in verschiedenen Modellen und Beispielen die erkenntniskritische und sprachkritische Einsicht diskutiert, dass zwischen dem inneren Erleben und seiner sprachlichen Wiedergabe eine erhebliche Diskrepanz besteht. Diderot nimmt an, dass es im menschlichen Wahrnehmungs- und Denkvermögen keinerlei systematische Folgerichtigkeit gibt, sondern dass dort eine Simultaneität von Eindrücken unterschiedlichster Provenienz vorherrscht. Sie hallen zum Teil nach, überlagern sich mit neuen Eindrücken und verbinden sich miteinander, wenn sie eine gemeinsame Anschlussstelle finden. Während das Erleben also in dieser Weise durch eher fließende Komplexe gleichzeitig vorhandener Wahrnehmungen, Empfindungen, Ideen, Erinnerungen und Assoziationen bestimmt wird, spaltet die sprachliche Wiedergabe diese Komplexität notwendigerweise auf und formt sie in syntaktisch wie zeitlich geordneten, analytischen Reihen. Diderot beklagt, dass damit die Intensität des Erlebens geschwächt und zerdehnt werde. Autre chose est l’état de notre âme; autre chose le compte que nous en rendons […]: autre chose la sensation totale et instantanée de cet état; autre chose l’attention successive et détailée que nous sommes forcés d’y donner pour l’analyser, la manifester et nous faire entendre.34
Diese analytische De-komposition, wie sie Condillac erkenntniskritisch für notwendig hält, möchte Diderot unterlaufen, indem er nach synthetischeren Formen der Wiedergabe sucht. Er glaubt, eine solche Überlistung der sprachlichen Vereinseitigung und Logifizierung bei gewissen glücklichen Wendungen der Sprache, den „expressions heureuses“, ausfindig gemacht zu haben. An die Stelle analytischer Darstellung tritt eine Figur mit assoziationsreicher Verdichtung. Wenn die „glücklichen Wendungen“ wirken, würde die reflektierte sprachliche Kommunikation von
34 Diderot:
Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 161.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
einer unmittelbaren abgelöst. Es wird nochmals deutlich, dass sich Diderots Modell nicht auf die Alltagskommunikation, sondern auf die Rezeption von Kunst bezieht. Diderot geht von der Beobachtung aus, dass nicht nur die Akkorde schneller wahrgenommen werden als der Versuch, sie sprachlich-analytisch zu beschreiben; auch das Sehen ist schneller und umfassender als die ebenfalls nur in der Zeit zu leistende Anstrengung des Malers, Motive mit dem Pinsel wiederzugeben. Die menschliche Seele verarbeite die unablässigen Eindrücke und Ideen ganzheitlich und simultan. Sie gleiche darin einem ständig bewegten Bild: Notre âme est un tableau mouvant d’après lequel nous peignons sans cesse: nous employons bien du temps à le rendre avec fidélité; mais il existe en entier et tout à la fois: l’esprit ne va pas à pas comptés comme l’expression. Le pinceau n’exécute qu’à la longue ce que l’œil du peintre embrasse tout d’un coup. 35
In einer weiteren Gedankenschleife beschwört Diderot einen Zustand, in dem Sehen und Begehren noch als ein ungeschiedener Akt erlebbar sind: „[…] voir un objet, le juger beau, éprouver une sensation agréable, désirer la possession.“ Durch den Bezug auf das Begehren verleiht Diderot seiner essayistisch vorgetragenen Kunsttheorie eine sensualistische und vitalistische Basis, die im Weiteren auf sein Hieroglyphen-Konzept ausstrahlt. Er versteht die glücklichen Ausdrucksgestalten der Künste, also die Hieroglyphen, als Annäherung an eine erlebte intensive Nähe zum Objekt, die durch das Begehren gestiftet wird. Diese glückhafte Annäherung vollzieht sich in den Künsten, je nach ihrem Vermögen, freilich nur in symbolischen Formen, dafür aber in freier Gestaltung, die entsprechend auch zu einem freieren Genuss führen kann. Besonders die Hieroglyphen der Dichtkunst können nach Diderot den glückhaften Moment ganzheitlicher Intensität auf höherer Kulturstufe wieder herstellen. Die dichterischen Hieroglyphen ermöglichen durch ihre übereinander geschichteten Bilder und Klänge einen gesteigerten Kunstgenuss, in dem der Sinn nicht mehr von den Sinnen zu trennen ist: Auge und Ohr sind genauso beteiligt wie Verstand und Seele. In diesem Moment sind alle Analytik und aller zeitliche Aufschub aufgehoben, die das analytische Denken, aber auch die gewöhnliche Sprache mit ihrer Syntax erzeugen. Doch trotz der künstlerischen Verdichtung ist, gegen Diderot, die grundlegende Verschiebung festzuhalten, mit der der Rezipient in der Kunst immer nur seinem eigenen Bezug zu den Dingen begegnet, nicht aber dem „Ding selbst“.
35
Ebd., S. 161f.
7. Die suggestive Kraft der künstlerischen Hieroglyphe
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7. Die suggestive Kraft der künstlerischen Hieroglyphe Diderot kommt die partielle Dunkelheit des Begriffs gelegen, um die Entstehung, die Verfasstheit und die Wirkung der Künste an ein auratisches Geheimnis zu binden. Seine Wahl der Hieroglyphe kündigt bereits terminologisch an, dass er den Künsten eine Potenz zuspricht, die sich nicht rationalistisch auflösen bzw. mit den Ansprüchen profaner Nützlichkeit verrechnen lässt. Mit dem Hieroglyphenbegriff spricht er den Künsten einen erratischen Rest zu, der sie entscheidend vor anderen Kommunikationsformen auszeichnet. Diesen erratischen Rest bringt Diderot gleich zu Beginn einer Passage zur Geltung, in der er die künstlerische Hieroglyphe speziell auf die Dichtung bezieht. Diese Ausführungen zum antiken Epos und zur antiken Ode sind seine ausführlichsten Äußerungen zur Hieroglyphe: Il passe […] dans le discours du poète un esprit qui en meut et vivifie toutes les syllabes. Qu’estce que cet esprit? j’en ai quelquefois senti la présence; mais tout ce que j’en sais, c’est que c’est lui qui fait que les choses sont dites et représentées tout à la fois; que dans le même temps que l’entendement les saisit, l’âme en est émue, l’imagination les voit, et l’oreille les entend; et que le discours n’est plus seulement un enchaînement de termes énergiques qui exposent la pensée avec force et noblesse, mais que c’est encore un tissu d’hiéroglyphes entassés les uns sur les autres qui la peignent. Je pourrais dire en ce sens que toute la poésie est emblématique. Mais l’intelligence de l’emblème poétique n’est pas donnée à tout le monde; il faut être presque en état de le créer pour le sentir fortement.36
Diderot analysiert die Rezeption nicht eingehend, so dass der Anteil des Rezipienten an der Kommunikation mit dem Kunstwerk weitgehend dunkel bleibt. Er schreibt es vielmehr einem weitgehend geheimnisvoll bleibenden Vermögen des Rezipienten zu, die Dichtung (bzw. die Künste) als Resonanz der künstlerischen Suggestion intensiv zu erleben. Diderot ist damit auf dem gedanklichen Weg zum Begriff der Magie, den er aber erst – ebenso wie den des Geheimnisses – in seinen späteren Ausstellungsbesprechungen explizit aufgreift. (Dazu noch weiter unten.) Die entscheidende, gleichsam kurz geschlossene Vermittlung gelingt, Diderot zufolge, den Hieroglyphen. Für ihn gehört es zum Geheimnis der künstlerischen Hieroglyphen, dass die Dinge im selben Moment, in dem sie ausgesprochen werden, auch in der Vorstellung des Rezipienten gegenwärtig sind: sie sind „dites et représentées tout à la fois“. Diderot thematisiert hier den Zauber der poetischen Evokation: Diese bewirkt eine (illusionierende) Identität von Sprache und Sache, die man – im Rahmen religiöser Wesensdiskurse – der adamitischen Sprache zugeschrieben hatte. In der adamitischen Sprache – so der Topos – fallen Namen und Wesen der Dinge bzw. Lebewesen noch zusammen. In der Frühen Neuzeit glaubte man, Reste dieser adamitischen Ursprungssprache, die durch den Sündenfall und die nachbabyloni-
36
Ebd., S. 169.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
sche Sprachverwirrung verloren gegangen sei, u.a. in der Hebräischen Sprache,37 darüber hinaus aber auch in der natürlichen Lautmalerei der Onomatopöie38 finden zu können. Diderot kennt diese Traditionen; er erwähnt sie an anderer Stelle nur beiläufig und eher skeptisch. Aber mit der Rede von den durch einen besonderen Geist bewegten und belebten Silben exponiert er doch die mimetisch-expressive Kraft der Lautlichkeit und Prosodie, die entscheidend zu dieser Identifikation von künstlerischer Sprachfigur und repräsentierter Sache beitragen soll. Auch in dieser Zuschreibung wird die Rolle des Rezipienten fast gar nicht reflektiert. Es ist diese Ankunft in der ursprünglichen Einheit von Wesen und Begriff, die Diderot mit seinem Hieroglyphenbegriff behauptet. Bei ihm wird sie nicht mehr durch den christlichen oder neuplatonistischen Wesensdiskurs gewährleistet und auch nicht – wie bei van Helmont – durch ein physiologisch zu verortendes Naturalphabet, sondern auf einem entwickelten Niveau der phonetischen Sprachen.39 Diderot sagt aber nicht, dass die Identität von evozierender Sprache und evozierter Sache aus dem hieroglyphischen Zeichen allein hervorginge. Sie sei vielmehr Ergebnis jenes geheimnisvollen „Geistes“ („esprit“), der die Rede des Dichters gewissermaßen durchweht und – wie schon erwähnt – alle Silben bewegt und belebt. Diese Ausweitung ist geistesgeschichtlich aufschlussreich, weil Diderot damit implizit die traditionelle Pneumatologie – und in ihrer Folge die Wiederkehr des ursprünglichen Schöpfungsaktes – mit zur Geltung bringt. Es erscheint zunächst unverfänglich, im schwer zu fassenden künstlerischen „Geist“, der alle Silben bewegt und belebt, den notwendigen Hauch zu verstehen, der die phonetischen Sprachen artikuliert und insbesondere die künstlerisch hochentwickelte Verskunst als Lautgestalt realisiert. Doch ist unverkennbar, dass Diderot
37
Zu den Konstruktionen der Ursprache, vgl. Allison P. Coudert (Hg.): The Language of Adam / Die Sprache Adams. Wiesbaden 1999. 38 Zur Onomatopöie als Erbe der adamitischen Sprache bei den Sprachphilosophen des 16. und 17. Jahrhunderts, vgl. Ernst Cassirer: Philosophie der symbolischen Formen. Darmstadt 1994 (ND der 2. Aufl., Darmstadt 1953). Erster Teil: Die Sprache, S. 140f. 39 Der Theosoph, Kabbalist und Arzt Franciscus Mercurius van Helmont glaubte, aus den Buchstaben der als heilig betrachteten hebräischen Sprache das eigentliche Natur-Alphabet extrahieren zu können; dieses könne von den menschlichen Stimmbildungsorganen am leichtesten hervorgebracht werden. In seiner Abhandlung Alphabeti veri naturalis Hebraici brevissima delineatio von 1667 entwickelt er eine entsprechende Methode, mit deren Hilfe auch den Taubstummen wieder das Sprechen beigebracht werden könnte. (Vgl. Umberto Eco: Die Suche nach der vollkommenen Sprache. Aus d. Italien. v. Burkhart Kroeber. München 1997, S. 93f.) Diderot scheint van Helmonts Ansatz zu kennen, wenn er im Zusammenhang mit der „hiéroglyphe syllabique“ nach den historischen Zeitstufen fragt, auf denen sich die physiologischen Voraussetzungen der Vokale gebildet hätten und in diesem Rahmen den Beitrag des Hebräischen anspricht, das er ebenfalls – allerdings nur unter bestimmten Denkvoraussetzungen – als „Sprache der ersten Erdbewohner“ in Erwägung zieht. Doch bringt Diderot demgegenüber auch die ebenfalls geübte Aussprache der Griechen zur Geltung, die die Quantität der Wörter, die Harmonie und die Nachahmung von Bewegungen und physischen Geräuschen auf der Ebene der Silben eingeführt hätten. Vgl. Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 176f.
7. Die suggestive Kraft der künstlerischen Hieroglyphe
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diesen Geist auch darüber hinaus im Sinne einer verlebendigenden Kraft, gleichsam als ein geheimnisvolles Lebensprinzip versteht. Der antike Begriff des pneuma bietet in der Tat ein Bedeutungsumfeld, in dem alle diese Aspekte zusammenkommen: Ausgehend vom Begriffsfeld „Hauch“/„Atem“, „ätherisches Feuer“, „Lebensgeist“ wurden einerseits Gott-Natur und menschliche Seele in eine partizipierende Beziehung gesetzt, andererseits spiritualisierte sich pneuma im Neuen Testament zum göttlichen „Geist“.40 Ausgehend von dem Theologen und Philosophen Johann Heinrich Alsted wurde seit dem frühen 17. Jahrhundert unter Pneumatologie jener Teil der Metaphysik gefasst, der von Gott, den Engeln und den Seelen als den drei stofflosen, vernunftbegabten „Geistern“ im Unterschied zur Körper-Substanz handelt.41 Diderot trägt als Herausgeber der Encyclopédie (zusammen mit D’Alembert) in dieser Hinsicht zu einer großen Verschiebung während der Aufklärung bei: Durch den Verzicht auf die Metaphysik wird aus der Pneumatologie die Seelenkunde im Sinne der neu begründeten Psychologie. Im berühmten Système figuré des connoissances humaines, das Diderot und D’Alembert ihrer Encyclopédie vorangestellt haben, ist die Pneumatologie der Wissenschaft vom Menschen zugeordnet; sie versteht sich als „Wissenschaft der Seele“, wobei eine „vernunftbegabte“ von einer „empfindsam-sensitive[n] Seele“ unterschieden wird. Die menschliche Seele wird derart zum Residuum einer ursprünglich weiter gefassten Kosmos- und Geisttheologie. Während sich ihre Wissenschaftszweige in der Encyclopédie in handfeste Rüstzeuge der Logik, Moral, Mathematik und Naturlehre materialisieren, bewahrt Diderot der menschlichen Seele im Taubstummenbrief mit der Hieroglyphe geistesgeschichtlich etwas von einer ursprünglichen, kosmologischen Kraft und Weisheit. In der zitierten Passage klingt noch der göttliche Schöpfungsakt nach, bei dem Gott Adam zum Leben erweckte, indem er ihm Odem einblies. In der Kunstauffassung und speziell in der Kunsthieroglyphe von Diderot wird das pneuma den an sich toten Buchstaben eingeblasen. Diderot fordert nicht umsonst, dass der Leser die künstlerischen Hieroglyphen selbst fast nachschaffen muss, um ihre Wirkung richtig zu spüren. Der künstlerische Schöpfungsakt setzt sich insofern im Leser bzw. Hörer fort. Diderot entwickelt so ansatzweise auch eine Rezeptionsästhetik. Die schwer zu fassende Beseelung erfasst nicht nur die Zeichen, sondern löst auch eine bestimmte, energetisch geladene Rezeption aus, die alle beteiligten und mitschwingenden Ebenen des hieroglyphischen Gewebes und seiner sich überlagernden Ausdrucksfiguren simultan erfasst: Es entsteht eine Synästhesie der Sinne, die auch die höheren Seelenkräfte erreicht. Basis dieses Vorgangs 40
Vgl. den Artikel „Pneuma“ in: Rudolf Eisler (Bearb.): Wörterbuch der philosophischen Begriffe. 3 Bde. 4., völlig neubearb. Aufl. Bd. 2: Berlin 1929, S. 470f. 41 Vgl. Th. Mahlmann: [Art.] Pneumatologie, Pneumatik. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 7, Darmstadt 1989, Sp. 996–999.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
ist die Gleichzeitigkeit von Zeichen und Vorstellungsinhalt. Die Rezipienten folgen dem Sinn der Worte im Vollzug der kunstvoll ineinandergewebten Wort-, Bild- und Klangfiguren. Diderot rückt den Prozess der dichterischen poesis durch die Rede vom belebenden Geist in die Nähe eines göttlichen Schöpfertums und er lässt auch den Kunstkenner konzeptionell an dieser schöpferischen Potenz teilhaben. In seinen späteren Ausstellungsbesprechungen wird Diderot den künstlerischen Schaffensprozess ausdrücklich in eine Parallele mit dem göttlichen Akt der Welterschaffung setzen. (Dazu noch weiter unten). Weil Diderot die schöpferische Potenz in den Bereich der Künste verschiebt, rücken diese nun ihrerseits in die Nähe des Religiösen. In dieser Zuschreibung sakralisieren sich die Künste und nehmen der Religion ein wichtiges Unterscheidungsmerkmal zur Aufklärung ab. Es gehört dabei zum Gestus des Geheimnisses, dass Diderot selbst nur im Gestus der dunklen Rede bzw. des vorsichtigen Herantastens und der offenen Fragen von der Hieroglyphe und ihrem Zauber spricht. Er führt damit – auf der performativen Ebene seiner essayistischen Gedankenführung – vor, wie die Hierogyphen selbst noch nach langem Nachdenken ihr Geheimnis bewahren. Überraschenderweise führt das Dunkle des Hieroglyphen-Begriffes im Taub stummenbrief keineswegs zu einer besonderen Betonung künstlerischer Bedeutungsoffenheit jenseits der Verpflichtung zur Naturnachahmung. Diderot führt dort zwar das Farbenklavier von Louis-Bertrand Castel und – an anderer Stelle – das Naturphänomen des Regenbogens an, aber als Zeitgenosse des 18. Jahrhunderts zieht er noch nicht die implizite Konsequenz zu einer bedeutungsoffenen, abstrakten Kunst. Während die Hieroglyphen im esoterischen Verständnis weitgehend kryptisch bleiben, lässt sich die künstlerische Hieroglyphe immerhin vom Kenner weitgehend erschließen; sie bewahrt aber einen geheimnisvollen Rest. Dabei werden die Kunstliebhaber, die sich die künstlerisch performative und mimetisch-expressive Intelligenz der Dichtung vergegenwärtigen, bei Diderot fast zu nachschaffenden Künstlern, gleichsam zu „Eingeweihten“. Sie bringen das Wissen, aber auch die Sensibilität mit, um die hieroglyphischen Kunstzeichen so weit als möglich zu durchdringen. Sie brauchen dazu eine außergewöhnliche „Phantasie“ und einen außergewöhnlichen „Scharfsinn“ („une imagination ou une sagacité peu communes“).42 Es sind genau jene Kräfte, denen auch Vico eine bedeutende Rolle für das Entstehen jener ingeniösen, fantastisch-sinnlichen Topik zuwies, die sich – ihm zufolge – in den Hieroglyphen der frühen Völker aussprach. Während sie nach Vico von der damaligen Elite gepflegt wurden, ist es bei Diderot eine zeitgenössische kunstsinnige Elite, die den Sinn für die (Kunst-)Hieroglyphen besitzt. Er behauptet: „qu’il y a mille fois plus de gens en état d’entendre un géomètre qu’un poète, parce qu’il y a mille gens
42 Diderot:
Lettre sur les sourds et muets (wie Anm. 2), S. 181.
8. Die Nachwirkung der Hieroglyphik: Ausblick auf Diderots Entwicklung
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de bon sens contre un homme de goût, et mille personnes de goût, contre une d’un goût exquis.“ 43 Es mag irritieren, dass der Aufklärer, Enzyklopädist und Naturphilosoph nicht die Mathematik und den „gesunden Menschenverstand“, sondern die Künste auf den Podest der Kultur stellt. Zudem scheint er mit der Betonung des Exquisiten der aristokratischen Geschmackskultur nahe zu kommen. Doch spricht Diderot von den Kunstkennern im Sinne der humanistisch gebildeten gens de lettres, die sich selbst als Geistesadel außerhalb der sonstigen Standeseinteilungen verstehen. Im Gegensatz zum Geburtsadel kann sich jedermann mit den Künsten befassen und sie zu verstehen trachten. Weil die Hieroglyphe später keine positive Rolle mehr in Diderots kunsttheoretischen und kunstkritischen Überlegungen spielt, wird sie in der Forschung als Durchgangsstadium in Diderots Kunsttheorie angesehen. Es stellt sich jedoch die Frage, ob Diderot Elemente, die er ursprünglich mit der Hieroglyphe verbindet, später anders fasst und belegt.
8. Die Nachwirkung der Hieroglyphik: Ausblick auf Diderots Entwicklung Diderots Suggestion einer Einheit von vergegenwärtigter Sache und vergegenwärtigendem Kunstzeichen in der Hieroglyphe erscheint labil, weil die beiden in dieser Einheit komprimierten bzw. zusammengezwungenen Wahrnehmungsweisen der Rezipienten wieder auseinanderzutreten drohen. Deren identifikatorische, ja magische Belebung der „glücklichen Wendungen“ und die Virulenz ihrer intellektuellen Betrachtung arbeiten gegeneinander. Indem dem Rezipienten wieder der Kunstcharakter der Zeichen bewusst wird, schiebt sich das Mediale vor jene hypostasierte Einheit, die so nicht entstehen kann. Diderot erkennt das selbst bereits im Taub stummenbrief, indem er ironisch mit der Möglichkeit spielt, dass man an der künstlerischen Hieroglyphe sowohl die Transparenz auf die evozierte Sache als auch das Kunstzeichens selbst hervorheben kann. Diese Ambivalenz verstärkt sich bis zur Widersprüchlichkeit in seinen späteren, von 1759 bis 1781 verfassten Salons, kunstkritischen Besprechungen von Gemäldeausstellungen im Salon carré des Louvre. Dort betont er das eine Mal, wie sehr die Kunst die Natur überbietet. Ein anderes Mal aber verdeutlicht er (etwa in seinem fiktiven Spaziergang im Salon von 1767), dass die ausgreifende Dimension der Natur sich kaum in den Rahmen einer malerischen Komposition bequemen kann. Dennoch entwickelt er, stärker noch als im Taubstummenbrief, die Leitvorstellung einer auf Beobachtung gegründeten Naturwahrheit.
43
Ebd., S. 178.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
Er demonstriert seine Theorie vor allem an den Malern Jean Siméon Chardin, der für seine Stillleben berühmt war, und Joseph Vernet, der für seine Landschaften und Seestücke geschätzt wurde. Für Diderot scheinen beide ihre Gemälde gleichsam mit den Elementen der Natur zu komponieren, wenn auch vermittelt durch Farbe und Linie. Diderot gibt in seinen Ausstellungsbesprechungen die Hieroglyphe zwar als positiven Begriff auf,44 doch bleibt ihre Nachwirkung beträchtlich. Ohne den Begriff zu verwenden versucht er, mehrere Merkmale seiner künstlerischen Hieroglyphe an einzelnen Kunstwerken nachzuweisen. Vor allem billigt er den Künstlern und ihren Kunstwerken weiterhin ihr schöpferisches Geheimnis und ihre magische Wirkung zu.45 Diderot bescheinigt beiden Künstlern, dass sie jeweils eine neue, originäre Bildsprache sowie eine sehr persönliche, eigenständige Handschrift ausbilden. Von Chardin behauptet Diderot sogar voller Bewunderung, er brauche kaum mehr als eine Birne oder eine Traube zu malen, um darin seine unverkennbare künstlerische Signatur zu hinterlassen.46 Doch während ein Künstler seine Bildsprache und Handschrift jeweils finden muss, bleiben die Formen der Natur relativ konstant, so dass Diderot eine Diskrepanz einzelner Künstler zur dargestellten Natur feststellen müss-
44
Bekanntlich hat Diderot die Hieroglyphe vor allem im Salon von 1767, und zwar im Zusammenhang mit der Allegorie, schroff abgelehnt. Es ist allerdings die unzulässige Vermischung von Allegorie und Historienbild, die er am Zeichner Cochin kritisiert. Dabei fällt er das scharfe Urteil: „Jamais je ne cesserai de regarder l’allégorie comme la ressource d’une tête stérile, faible, incapable de tirer parti de la réalité et appelant l’hiéroglyphe à son secours.“ (Diderot: Salons III: Ruines et paysages. Salon de 1767. Textes établis et présentés par Else Marie Bukdahl, Michel Delon et Annette Lorenceau. Paris 1995, S. 500f., Zitat S. 501.) Offensichtlich stehen Allegorie und Hieroglyphe hier in einer Opposition zum neuen Ideal einer freitragenden Anschauung. (Zur freitragenden Anschaulichkeit vgl. Gottfried Willems: Anschaulichkeit. Zu Theorie und Geschichte der Wort-Bild-Beziehungen und des literarischen Darstellungsstils. Tübingen 1989.) In einem derartigen Gemälde können sie wie ein illusionsdurchbrechender, die unmittelbare Verständlichkeit störender Fremdkörper wirken. Umso mehr muss Diderot die auratischen Werte, die er im Taubstummenbrief mit der Hieroglyphe verbunden hatte, im neuen Programm eines auf freitragender Anschaulichkeit beruhenden Tableaus unterbringen. Das gelingt ihm am ehesten in der Naturdarstellung des Stillebens und des Landschaftsbildes. In anderen Fällen, etwa in den moralisierenden Genrebildern von Greuze, würdigt Diderot das anspielungsreiche, mehrdeutige emblematische Zeichen durchaus, wenn es wie ein natürlicher Bestandteil in die Szenerie eingelassen ist und tabuisierte Bereiche wie die menschliche Triebnatur mit zur Sprache bringt. Im Bereich der Skulptur bemüht Diderot sich um eine moderne, den Zeitgenossen verständliche Form der Allegorie. Schließlich beweist ein Blick auf das Schema der Wissenszweige in Diderots Encyclopédie, dass er den „parabolischen Künsten“ – also Künsten, die wie die Allegorie, das Gleichnis oder die Fabel nicht über die direkte, sondern über die verschlüsselte Anschaulichkeit gehen – einen festen Platz im Bereich der künstlerischen Einbildungskraft einräumt. 45 Ausführlicher zu Diderots Ausstellungsbesprechungen, vgl. meine Studie: Von der Hieroglyphe zum Tableau: Diderot als Kunstkritiker und Kunsttheoretiker (wie Anm. 1). 46 „Il ne faut à Chardin qu’une poire, une grappe de raison pour signer son nom […].“ Salon von 1769. In: Diderot: Œuvres esthétiques, hg. v. Paul Vernière, Paris 1968, S. 497.
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te. Doch preist er Chardin als einen großen „Magiker“ des Stilllebens,47 der mit seinen Farben und Malweisen gleichermaßen harmonikale wie illusionistische Effekte hervorbringe. Es sei Chardin, […] qui entend l’harmonie des couleurs et des reflets. O Chardin! ce n’est pas du blanc, du rouge, du noir que tu broies sur ta palette: c’est la substance même des objets, c’est l’air et la lumière que tu prends à la pointe de ton pinceau et que tu attaches sur la toile.48
Die Ausführungen zu Chardin bestätigen so Diderots befremdlichen Satz aus dem Taubstummenbrief, dass die Malerei „die Sache selbst“ zeige, und versuchen ihn zu erläutern. Chardins Bilder stünden zwischen Natur und Kunst, schreibt Diderot im Salon von 1769. Mit ihrer Harmonie, welche die ganze Komposition durchdringe, verhalte es sich wie mit dem Geist, von dem die Theologen sprechen: spürbar im Ganzen, aber in jedem Punkt ein Geheimnis.49 Der das Wortkunstwerk durchwebende Geist, den Diderot im Blindenbrief beschwört, wird hier noch einmal mit seinen religiösen Konnotationen aufgerufen; der Künstler wird mit dem Schöpfergott verglichen. Chardins Magie beruhe nicht zuletzt auf einer neuartigen Technik des Farbauftrags und der Farbschichtung: On n’entend rien à cette magie. Ce sont des couches épaisses de couleur appliquées les uns sur les autres et dont l’effet transpire de dessous en dessus. […] Approchez-vous, tout se brouille, s’aplatit et diparaît; éloignez-vous, tout se recrée et se reproduit.50
Die Dinge scheinen wie aus einem Chaos der Farben und Flecken zu entstehen, und der Betrachter nimmt an diesem Wunder teil. Vernet lobt Diderot als den großen Magiker der Farbe und des Lichts im Landschaftsbild. Seine See- und Hafenbilder erzeugten einen atmosphärischen Zauber, wie ihn die Natur selbst kaum wirkungsvoller entfalten könnte. Diderot hebt besonders die neue semitransparente Behandlung des Atmosphärisch-Diffusen hervor, die den alten, schwerfälligen Kontrast des clair-obscur ersetzt: „L’effet de ces deux lumières, ces lieux, ces nuées, ces ténèbres qui couvrent tout, et laissent discerner tout […], tout cela se sent fortement, et ne se décrit point.“51 Vernet male die grandiosen Lichteffekte der maritimen Natur mit einer unglaublichen Schnelligkeit. Dabei verhalte er sich wie ein Schöpfergott. Auf seiner Leinwand schafft er gleich-
47 „Chardin
48 49 50 51
est un vieux magicien à qui l’âge n’a pas encore ôté sa baguette“, heißt es im Salon von 1769. Œuvres esthétiques, ebd., S. 495. Ausführliche Belege zu Diderots Verständnis von Chardin als „großen Magiker“ durch alle Ausstellungsbesprechungen hindurch gibt Else Marie Bukdahl: Diderot critique d’art, 2 Bde., Kopenhagen 1980–82. Bd. I: Théorie et pratique dans les Salons de Diderot, S. 190–194. Salon von 1763, in: Œuvres esthétiques (wie Anm. 46), S. 484. Salon von 1769, ebd., S. 495. Salon von 1763, ebd., S. 484. Salon von 1767, ebd., S. 576.
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B. Die Hieroglyphe in der Kunsttheorie von Denis Diderot
sam den Schöpfungsakt nach: „[…] c’est qu’il dit: Que la lumière se fasse, et la lumière est faite; que la nuit succède au jour, et le jour aux ténèbres, et il fait nuit, et il fait jour.“52 Vernet „a volé à la nature son secret: tout ce qu’elle produit, il peut le répéter.“53 Diderot steigert sich in eine Apotheose der künstlerischen Schöpferkraft hinein, die den malerischen Genius auszeichne. Der organisierende Wille des genialen Malers ist demnach freier als die auf der Grundlage von Notwendigkeit handelnde Natur. Die Freiheit des künstlerischen Prozesses findet aber ihr Ziel in einer naturgetreuen Wiedergabe. Die Neuschöpfung ist eine Nachschöpfung, die den Betrachtern die Möglichkeit einer magischen „Unmittelbarkeit“ schafft. In Diderots bisheriger Terminologie, die er aber in den Salons nicht mehr beibehält, ist ein entsprechendes Gemälde hieroglyphisch. Man kann Diderot zwar vorhalten, dass die malerischen Entsprechungen zu den vermeintlichen „expressions heureuses“ der Dichtung keine Unmittelbarkeit von Zeichen und Bezeichnetem bieten können, weil Gemälde weiterhin Abbildungen bleiben. Doch zeugt ein derartiges Kunstwerk in Diderots Betrachtungsweise hieroglyphisch von der ursprünglichen schöpferischen Potenz allen Lebens, auch wenn sie der Natur verpflichtet ist. Weiterhin beerbt Diderot auch das hieroglyphische Potential der Gestensprache, das nicht auf die Sprache der Taubstummen beschränkt ist, sondern künstlerisch in den bedeutungsvollen Tableaus der Historien- und Genremalerei genutzt wird und auch im Theater, wenngleich abgeschwächt, verwendet wird. Diderot hatte alle drei Bereiche im Taubstummenbrief kurz diskutiert. Insbesondere sprach er, wie erwähnt, von seinem Experiment, mit den Augen eines Taubstummen eine Gemäldeausstellung oder aber auch ein Theaterspiel anzusehen. Gegen Ende der 1750er Jahre macht er die Gestensprache in seiner Theorie und Praxis des Dramas nutzbar, indem er sie entsprechend modifiziert. Wie in einem Gemälde sollen auf der Bühne dramatische Tableaus als bedeutungsvolle Arrangements mit normativer Kraft entstehen.54 Die Schauspieler treten in bestimmten aussagekräftigen Situationen zu einem stummen Tableau zusammen, das aus dem Fortgang der Handlung herausgelöst wird. Die Handlung wird in diesem Augenblick stillgestellt, die Rede verstummt, die Schauspieler verharren in bedeutungsvollen Positionen. An ihrer Stellung im Raum, an den Haltungen der einzelnen Schauspieler sowie an deren Gestik und Mimik sollen die Zuschauer das jeweilige Sozialgefüge der dramatis personae sowie deren momentane Befindlichkeit ablesen.
52
Ebd., S. 577. Salon von 1763, ebd., S. 563. 54 Zu Diderots Theorie und Praxis des Tableaus vgl. im Einzelnen meine Studie: „Stillgestellte Szenen: Diderots Transfer des Tableaus von der Malerei ins Theater“. In: Annette Graczyk: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft, München 2004, S. 77–116. 53
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Trotz ihrer Künstlichkeit möchte Diderot, dass diese Arrangements zwanglos und natürlich wirken. Für die Zuschauer soll mit den dramatischen Tableaus ein Durchblick auf die dauerhafte Gültigkeit vermeintlich natürlicher Verhältnisse (wie der Familie) entstehen, sie sollen sich in die gleichwohl inszenierte Naturwahrheit der sozialen und emotionalen Arrangements mitfühlend und erkennend einstimmen. Neben dem stillgestellten Tableau empfiehlt Diderot auch die (stumme) Pantomime sowie die unartikulierte Rede als Theatermittel; ihre Wirkungen seien eindringlicher als die umständlich artikulierte dramatische Rede. Diese von Diderot aufgegriffenen Teilaspekte des Hieroglyphendiskurses gehen letztlich auf Vico zurück, für den sie zentrale Charakteristika der archaischen Kommunikation waren. Hatte die Sprache für Vico, Warburton und (mit Modifikationen) für Condillac mit einer Mischung aus Gebärdensprache und unartikulierten Rufen begonnen, so hebt Diderot nun ähnlich komponierte Kunstelemente in die Theaterkunst des 18. Jahrhunderts. Die fortdauernde Wirkung einzelner Aspekte des Hieroglyphendiskurses wird von einer Kunstauffassung aufgefangen, die über Diderot hinaus bis heute nachwirkt. Auch wenn die Hieroglyphe nicht in Anspruch genommen wird, so hält sich doch die Vorstellung von den Künsten als Refugium von Geheimnissen. Es stellt sich die Frage, ob sich nicht die allgemein übliche Rede vom „Geheimnis des Kunstwerks“ in mehrfacher Weise dem Hieroglyphendiskurs verdankt.
C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater1
1. Lavaters Physiognomik zwischen Hieroglyphik und Natursprache Von 1775 bis 1778 veröffentlichte der Züricher Theologe Johann Caspar Lavater in vier Folianten seine Physiognomischen Fragmente.2 Er war Pfarrer an der dortigen Waisenhauskirche und hatte sich bereits einen Namen als theologischer Schriftsteller mit z.T. esoterischen Neigungen gemacht.3 Seine vorausgegangenen intensiven Studien hatten schon 1772 zu dem einschlägigen programmatischen Aufsatz Von der Physiognomik geführt.4 Die Physiognomischen Fragmente wurden u.a. ins Holländische, Französische und Englische übersetzt und erlangten nahezu in ganz Europa eine nachhaltige Wirkung.
1
Teilergebnisse dieses Kapitels habe ich vorgestellt unter dem Titel: Lavaters Neubegründung der Physiognomik zwischen Aufklärung, christlicher Religion und Esoterik. In: Aufklärung und Esoterik – Wege in die Moderne. Hg. v. Monika Neugebauer-Wölk, Renko Geffarth und Markus Meumann. Berlin, Boston 2013 (Hallesche Beiträge zur Europäischen Aufklärung 50), S. 322– 339. 2 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe, 4 Bde., Leipzig u. Winterthur 1775–1778. Zitiert wird nach dem Faksimiledruck Zürich: Orell Füssli, 1968–69. (Nachw. v. Walter Brednow, Bd. IV, S. [3]–47.) – Die Physiognomischen Fragmente waren eine der teuersten Buchproduktionen der Zeit. Jeder Band kostete 24 Reichstaler. Vgl. Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele: Physiognomische Studienblätter aus der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Hg. v. den Städtischen Museen Jena u. der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau in Kooperation mit der Österreichischen Nationalbibliothek Wien. Redaktion: Ingrid Goritschnig u. Erik Stephan. Jena 2001 [Kat. zur Ausst.: Galerie im Stadtmuseum Jena, 23. Juni–25. Aug. 2001; Anhaltische Gemäldegalerie Dessau, 8. Sept.–28. Okt. 2001], S. 8. 3 So veröffentlichte er 1768 bis 1778 seine vierbändigen Aussichten in die Ewigkeit mit esoterischen Spekulationen über die postmortale Existenz des Menschen. (Vgl. w.u. S. 196ff.) 4 Lavater: Von der Physiognomik. Leipzig 1772. Nachdruck in: Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln. Hg. v. Karl Riha u. Carsten Zelle. Frankfurt a.M., Leipzig 1991, S. 9–62. Dieser Band enthält auch physiognomische Regeln, die Lavater 1789 als „Geheimregeln“ für einen engen Freundeskreis verfasst hatte und die ursprünglich nur handschriftlich zirkulierten (S. 63–145). Hier hatte Lavater die Grundlinien seiner Physiognomik auf hundert vereinfachende Sentenzen verknappt. Die Folge war allerdings, dass ihm seine physiognomischen Vorstellungen dadurch zu steckbriefartigen Karikaturen verkamen. Nach einer unautorisierten Veröffentlichung 1793 erschienen sie in Lavaters Nachgelassenen Schriften mit einer Vielzahl von Kupferstichen.
142 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater In seinem als wissenschaftlich verstandenen Ansatz versuchte Lavater, für die menschlichen Charaktere jeweilige körperlich-morphologische Ausdrucksäquivalente zu fixieren. Mit diesem Plan war er dazu gezwungen, seinen Untersuchungsgegenstand einzuengen und bei der Charakterfixierung die allgemeinen gesellschaftlich-kulturellen Beziehungen des Betreffenden gering zu halten. So schätzte er notwendigerweise vor allem die konstanten, festen Züge des Körpers, insbesondere des Gesichts und Schädels, für physiognomisch relevant ein und bestimmte daher das Knochensystem (als Basis etwa der Gesichtsbildung) zum Fundament seiner Physiognomik. Weil er Charakterzüge fixieren wollte, musste er überdies den menschlichen Einzelcharakter weitgehend undynamisch, mit anderen Worten: als relativ feste Gegebenheit auffassen. Lavater gelangte dadurch in einen Gegensatz zum gesellschaftlichen Optimismus der Aufklärung, der auf die Lernfähigkeit und Lernbereitschaft des Individuums setzte. Das grundsätzliche Unbehagen an der Festschreibung äußerer Merkmale als Schlüssel für den menschlichen Charakter, das bereits viele Zeitgenossen von Lavater äußerten, hat sich im 20. Jahrhundert noch verstärkt. Angesichts der deterministischen Vermessungsmethoden von Gall seit dem Ende des 18. Jahrhunderts und im 19. Jahrhundert von Lombroso5 sowie in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts seitens der Rassentheorie gab es in der Forschung eine Diskussion darüber, inwieweit Lavater mit seinen Typisierungen als Vorläufer dieser unheilvollen Entwicklung betrachtet werden muss.6 In diesem Kontext wurde auch das Spannungsver5
Franz Joseph Gall wird ab 1795 versuchen, in seiner Schädellehre Lavaters osteologische Ansätze ernsthaft anatomisch aufzugreifen. Sein vierbändiges Hauptwerk entsteht zwischen 1810 und 1819: Anatomie et Physiologie du système nerveux. Seine später als „Phrenologie“ bezeichnete Lehre, die auf der Grundannahme einer individuellen sicht- und tastbaren Ausprägung einzelner Hirnorgane in der Schädeldecke beruht, wird dann durch Cesare Lombrosos hereditäres Konzept eines „uomo delinquente“ negativ besetzt. Zu Gall vgl. Wolfgang Krauss: Franz Galls Schädellehre, in: Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele. Katalog zur Ausstellung der Wiener Festwochen, 27.4.–6.8. 1989. Wien 1989, S. 199–204. Zu Lombroso im selben Band Mario Portigliatti Barbos: Cesare Lombrosos delinquenter Mensch, S. 587–590, sowie Peter Strassec: Die Bestie als Mensch, S. 593–600. 6 Vgl. u.a. Hans Blumenberg: Die Lesbarkeit der Welt. 2., durchges. Aufl., Frankfurt a.M. 1983. Martine Dumont: Le succès mondain d’une fausse science: La physiognomie de Johann Kasper Lavater. In: Actes de la recherche en sciences sociales, Bd. 54. Paris 1984, S. 3–30. Umberto Eco: Sugli specchi e altri saggi. Milano 1985. Judith Wechsler: Lavater, Stereotype, and Prejudice. In: Ellis Shookman (Hg.): The faces of physiognomy: interdisciplinary approaches to Johann Caspar Lavater. Columbia, SC, 1993, S. 104–125. Rüdiger Campe: Bezeichnen, Lokalisieren, Berechnen. In: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert. Stuttgart 1994, S. 162–186. Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe: eine Einführung in die Physiognomik. 2. durchges. Aufl., Berlin 1997. (Zuerst 1995.) Stefan Rieger: Literatur – Kryptographie – Physiognomik. Die Lektüren des Körpers und die Decodierung der Seele bei Johann Kaspar Lavater. In: Rüdiger Campe u. Manfred Schneider (Hg.): Geschichten der Physiognomik: Text – Bild – Wissen. Freiburg i.Br. 1996, S. 387–409. Werner E. Gerabek: Physiognomik und Phrenologie. Formen der populären medizinischen Anthropologie im 18. Jahrhundert. In: Medizin in Geschichte, Philologie und Ethnologie. Festschrift für Gundolf
1. Lavaters Physiognomik zwischen Hieroglyphik und Natursprache
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hältnis zwischen Lavaters ganzheitlicher Leib-Seele-Auffassung einerseits und den reduktionistischen Mess- und Bildverfahren andererseits diskutiert.7 Darüber hinaus setzte man Lavaters statische Physiognomik – mit Hilfe und im Nachvollzug der zeitgenössischen Kritik von Georg Christoph Lichtenberg – gegen das beweglichere System der Pathognomik ab, die das Ausdrucksspiel der Gefühle und Leidenschaften in Mimik und Gestik untersucht.8 In jüngerer Zeit ist die Perspektive der Diskussion noch einmal geöffnet worden. Es wird versucht, Lavater nicht mehr nur einlinig in einer historischen Entwicklung zu sehen, sondern ihn komplexer und offener zu verorten. Grundsätzlich ist festzustellen, dass Lavater in seiner Physiognomik durch unterschiedliche Impulse geleitet wird, die z.T. widersprüchlich nebeneinanderzustehen scheinen.9 So werden die wissenschaftlich-rationalen Ansprüche nicht überzeugend mit den theologischreligiösen abgeglichen.10 Bestrebungen zur Systematisierung kommen ebenso zur
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Keil. Hg. v. Dominik Groß u. Monika Reininger. Würzburg 2003, S. 35–49. Zuletzt hat Richard T. Gray diese Perspektive noch einmal extrem zugespitzt: About Face: German Physiognomic Thought from Lavater to Auschwitz. Detroit, Mich., 2004. Vgl. Rotraut Fischer u. Gabriele Stumpp: Die Allegorisierung des Individuums in der Physiognomik Johann Caspar Lavaters und Carl Gustav Carus. In: Dies. u. Gerd Schrader: Natur nach Mass. Physiognomik zwischen Wissenschaft und Ästhetik. Marburg 1989, S. 11–58. Richard T. Gray: Aufklärung und Anti-Aufklärung: Wissenschaftlichkeit und Zeichenbegriff in Lavaters Physiognomik. In: Karl Pestalozzi u. Horst Weigelt (Hg.): Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen: Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Göttingen 1994, S. 166–178. Vgl. etwa Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert. Tübingen 1990. Vgl. etwa Hans-Georg von Arburg: Johann Caspar Lavaters Physiognomik. Geschichte – Methodik – Wirkung. In: Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater. Hg. v. Gerda Mraz u. Uwe Schögl. Wien [u.a.] 1999, S. 40–59. Die Forschung hat in dieser Hinsicht besonders die christologische Dimension von Lavaters Physiognomik diskutiert. Dabei konnte sie vor allem an Lavaters Christusdarstellungen anschließen, die mit einem gewissen Befremden, vor allem angesichts ihrer paradoxen Aspekte, behandelt worden sind. (Vgl. Gerhard Wolf: „… sed ne taceatur“. Lavaters Grille mit den Christusköpfen und die Tradition der authentischen Bilder. In: Claudia Schmölders [Hg.]: Der exzentrische Blick. Gespräch über Physiognomik. Berlin 1996, S. 43–76. Sowie Gerhard Wolf u. Georg Traska: Povero pastore. Die Unerreichbarkeit der Physiognomie Christi. In: Gerda Mraz u. Uwe Schögl [Hg.]: Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater. Wien [u.a.] 1999, S. 120–137.) Eingehender mit Lavaters Christologie auseinandergesetzt hat sich vor allem Klaas Huizing. Er kennzeichnet Lavaters Unternehmen als „theologische Physiognomik“; in einem weiteren Aufsatz spricht er sogar vom „physiognomischen Gottesbeweis“. (Vgl. ders.: Das erlesene Gesicht. Vorschule einer physiognomischen Theologie. Gütersloh 1992. Sowie ders.: Verschattete Epiphanie. Lavaters physiognomischer Gottesbeweis. In: Karl Pestalozzi u. Horst Weigelt [Hg.]: Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen: Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Göttingen 1994, S. 61–78.) Huizing arbeitet Lavaters Denken aus einem christologischen Prototypus bzw. als Christomorphose heraus. Dadurch ergeben sich Anschlussstellen zu Herder und Goethe, aber auch zum breiteren europäischen Denken, wenn man an die Versuche Bonnets und Robinets denkt, die statische Naturbeschreibung durch ein Denken in graduellen Stufenfolgen bzw. in dynamisch veränderlichen Prototypen zu überschreiten. Dass es Anschlüsse zu Goethes Metamorphosenlehre gibt, hat Karl Maurer am Begriff der „Entstaltung“ gezeigt, den Goethe
144 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Geltung wie die unsystematische Kompilation. Und der wissenschaftliche Anatom kommt nicht immer mit dem leidenschaftlichen Sammler physiognomischer Ausdruckskunst zur Deckung.11 Nicht zuletzt ist Lavaters Physiognomik auch der Versuch einer erbaulichen „Herzenssprache“, die mittels ihrer ‚Erklärungen’ versucht, der Unmittelbarkeit des mündlichen Ausdrucks nahe zu kommen, dafür aber vielfach eine Logik des Beweises vermissen lässt.12 Es entsteht die Frage, ob und wie Lavater die verschiedenen Widersprüche vermittelt bzw. zumindest überbrückt. Zu deren Beantwortung soll seine Auffassung der Physiognomik als „Natursprache“ als integrierendes Zentrum diskutiert werden. Lavater geht von einer „unwillkührlichen Natursprache im Antlitze, und dem ganzen Aeußerlichen des Menschen“ aus. Sie sei in ihren „Schönheiten und Vollkommenheiten“ zugleich ein „göttliches Alphabeth“. Zur Entzifferung dieser göttlichen Natursprache sei im Grunde ein „tausendbuchstäbiges Alphabeth“ nötig, zu dem er mit seiner Physiognomik wenigstens „einige Buchstaben“ „vorzeichnen“ möchte.13 Das umfassende göttliche Alphabet könne aber vom Menschen niemals ganz ausgeschöpft und erfasst werden.14 Für Lavater konnte die Vorstellung einer göttlichen Natursprache auch eine Ermächtigung für seine wissenschaftlichen Anstrengungen sein, weil er als Theologe in diesem Unterfangen an die Grenze zum Schöpfungsgeheimnis gerät. Insgesamt nähert sich Lavater mit dem Spektrum seiner Auffassungen dem zeitgenössischen Diskurs über die Hieroglyphik an, auch wenn er diesen Begriff, der in der Physiognomik-Diskussion durchaus üblich war, nicht explizit für seine Theorie in Anspruch nimmt, sondern ihn nur marginal und überdies aus zweiter Hand verwendet. Da aber in Lavaters Physiognomik das körperliche Merkmal – im Gegensatz zum willkürlichen Zeichen – zugleich natursprachlich wie schöpfungstheologisch begründet wird, hat die Forschung eine Nähe zum hieroglyphischen Zeichen gesehen.15
aus Lavaters Physiognomie sowie aus Diderots Ästhetik übernimmt. (Karl Maurer: Entstaltung. Ein beinahe untergegangener Goethescher Begriff. In: Rudolf Behrens u. Roland Galle [Hg.]: Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Würzburg 1993, S. 151–162.) 11 Vgl. Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater. Hg. v. Gerda Mraz u. Uwe Schögl. Wien [u.a.] 1999. 12 Vgl. von Arburg: Johann Caspar Lavaters Physiognomik (wie Anm. 9), S. 47. 13 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, Vorrede: Schlussparagraph; unpaginiert: [S. 6]. 14 Zu den natursprachlichen Traditionen bei Lavater, vgl. Karl Pestalozzi: Physiognomische Methodik. In: Adrien Finck u. Gertrud Gréciano (Hg.): Germanistik aus interkultureller Perspektive. Straßburg 1988, S. 137–153. Sowie Christoph Siegrist: Letters of the Devine Alphabet in Lavater’s Concept of Physiognomy. In: Christoph Ellis Shookman (Hg.): The faces of physiognomy: interdisciplinary approaches to Johann Caspar Lavater. Columbia, SC, 1993, S. 25–39. 15 Vgl. Von Arburg: Johann Caspar Lavaters Physiognomik (wie Anm. 9), S. 49.
1. Lavaters Physiognomik zwischen Hieroglyphik und Natursprache
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Lavater versteht die Natursprache des Leibes aber nicht als (hieroglyphisches) Geheimnis, sondern als eine offenkundige Sprache, die potentiell jedermann verstehen könnte. Er preist die Physiognomik als Entzifferungskunst, mit deren Hilfe der menschliche Charakterausdruck lesbar werden soll. Doch es gibt andere Berührungspunkte von Lavaters Konzept der Natursprache mit dem Diskurs der Hieroglyphik. Es ist bereits gezeigt worden, dass die Hieroglyphe kein fester Begriff ist, sondern in den verschiedenen Diskursen sowohl als göttliches Zeichen, als menschlich verfertigtes kyriologisches Zeichen, als Metapher sowie als enigmatisches bzw. prophetisch-verdunkeltes Zeichen diskutiert wird. Sofern in den Physiognomischen Fragmenten der Hieroglyphenbegriff auftaucht, wird er vorwiegend im letztgenannten, dunklen Sinn verwandt und steht damit im Gegensatz zu der beanspruchten Transparenz des physiognomischen Zeichens. Es ist aufschlussreich, dass sich Lavater an den beiden Stellen, an denen er den Begriff „Hieroglyphe“ aus Fremdtexten aufgreift, auf Herder bezieht. (Dazu noch weiter unten.) Im eigenen Gedankengang hält sich Lavater an Varianten der Begriffe „Natursprache“ und „Naturalphabet“. Dennoch ist eine Untersuchung sinnvoll, wie Lavater seine Auffassung von den benachbarten schöpfungshieroglyphischen, naturhieroglyphischen und kunsthieroglyphischen Ansätzen absetzt. Wenngleich Lavater sein Unternehmen durch den neuen sensualistischen und rationalen Anspruch explizit von der älteren Physiognomik abgrenzt, diskutiert die Forschung besonders seit dem Ende der 1980er Jahre, inwieweit nicht doch hermetische Grundannahmen mit in sein erneuertes physiognomisches Projekt eingegangen sind. Inzwischen räumt man zwar solche Einflüsse ein, doch ist umstritten, welches Gewicht dem Hermetischen bei Lavater trotz seiner Strategie rationaler Verwissenschaftlichung zukommt.16
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Andreas Käuser stellt fest, dass Lavater die ältere Tradition physiognomischer Theorien zwar ausgiebig befragt, dieser jedoch die „normative Verbindlichkeit“ abspricht, die sie zu einer modernen Theorie des Körperausdrucks befähigen würde (ders.: Die anthropologische Theorie des Körperausdrucks im 18. Jahrhundert. Zum wissenschaftshistorischen Status der Physiognomik. In: Rudolf Behrens u. Roland Galle (Hg.): Leib-Zeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert. Würzburg 1993, S. 41–69, hier S. 43). Auch Erik Stephan konstatiert Lavaters „Abgrenzung von der hermetischen Tradition“ zugunsten der beobachtenden und experimentellen Naturwissenschaften. Gleichwohl betont er den Einfluss des Physiognomikers Della Porta, „der in seinen Werken neben Pflanzen, Tieren und Menschen auch Mineralien und Himmelskörper vergleicht“, und weist darauf hin, dass besonders die „theosophische“ Physiognomik von Antoine-Joseph Pernety „nachhaltiger“ auf Lavater gewirkt habe. (Erik Stephan: Johann Caspar Lavater. Prediger, Physiognom und Menschensucher. In: Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele, wie Anm. 2, S. 9–14, Zitate S. 10). Um eine differenziertere Gewichtung bemüht sich Burkhard Dohm; ihm zufolge schließt Lavater zwar an die von der Hieroglyphik beeinflusste Physiognomik von Della Porta an, verwissenschaftlicht sein Projekt aber – nach Maßgabe der neuen aufklärerischen Leitwerte – durch die Messmethoden. (Ders.: „Aussichten in die Ewigkeit“. Johann Kaspar Lavater und die Hermetik im Kontext von Pietismus und Aufklärung.
146 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Als Argument aus der historischen Rezeptionsforschung führte Martin Blankenburg 1994 an, dass Lavaters Physiognomik von damaligen deutschen und russischen Freimaurer-Kreisen rezipiert wurde, die sich naturgemäß besonders für deren esoterische Impulse interessierten. Er erwägt auch Gemeinsamkeiten zwischen Lavaters Physiognomik und der späteren „esoterischen Signaturenlehre“ von Karl von Eckartshausen.17 Blankenburg plädiert dafür, Lavaters Physiognomik als Unternehmen anzusehen, in dem Aufklärung, Theologie und Hermetik zusammenkommen. In Abwandlung des Konzepts einer „vernünftigen Hermetik“, wie sie Rolf Christian Zimmermann auf Goethe angewandt hat, wertet er Lavater als einen „Hermetiker des Offensichtlichen“, dessen Projekt in eine „‚Herme/neu/tik der natürlichen Offenbarung‘ Gottes im menschlichen Gesicht […] mündet“.18 Lavaters Physiognomik ist nicht nur im Bezug zu älteren Traditionen der frühneuzeitlichen Hermetik, sondern auch in seinem Verhältnis zur neueren Esoterik des 18. Jahrhunderts diskutiert worden. Schon 1938 hatte Ernst Benz auf Beziehungen von Lavaters Physiognomik zu Swedenborg hingewiesen. Im Anschluss an ihn haben 1988 Horst Bergmann und Hartmut Böhme diese Perspektive wieder aufgenommen.19 Die esoterischen Bezüge erlaubten es Lavater, seine christlich-religiöse Weltsicht abzustützen, die durch eine forcierte Aufklärung bedroht worden wäre. Anstatt von Lavaters hermetischer Physiognomik wird daher im Folgenden – im Sinne der in der Einführung dieser Arbeit skizzierten neueren Esoterikforschung – von esoterischen Bestandteilen seiner Physiognomik gesprochen.
In: Nicola Kaminski, u. Mitarb. v. Andreas Beck [Hg.]: Hermetik: literarische Figurationen zwischen Babylon und Cyberspace. Tübingen 2002, S. 101–128.) Maximilian Bergengruen hat zu gewichten versucht, inwiefern einerseits (von Paracelsus hergeleitete) „hermetische“ und andererseits sensualistische Elemente in Lavaters „Physiognomie des inneren Körpers“ zur Geltung kommen. (Ders.: The Physiognomy of Inner Bodies: Hermetic and Sensualist Patterns of Argument in the Work of Johann Caspar Lavater. In: Physiognomy in profile: Lavater’s impact on European culture. Hg. v. Melissa Percival and Graeme Tytler. Newark [U.S.] 2005, S. 39–51.) Zuletzt hat Alfonso Paolella hermetische Einflüsse bei Lavater geltend gemacht, doch bleibt er dabei relativ unspezifisch. (Ders.: Die Physiognomie von Della Porta und Lavater und die Phrenologie von Gall. In: Morgen-Glantz, Zs. d. Christian Knorr von Rosenroth-Gesellschaft, 18 [2008], S. 137–151, bes. 147.) 17 Martin Blankenburg: Wandlung und Wirkung der Physiognomik: Versuch einer Spurensicherung. In: Karl Pestalozzi und Horst Weigelt (Hg.): Das Antlitz Gottes im Antlitz des Menschen. Zugänge zu Johann Kaspar Lavater. Göttingen 1994, S. 179–213, hier Anm. 25, S. 204f. 18 Ebd., S. 184. 19 Ernst Benz: Swedenborg und Lavater. Über die religiösen Grundlagen der Physiognomik. In: Zeitschrift für Kirchengeschichte, Jg. 57 (1938), S. 153–216. Horst Bergmann: Swedenborg und Lavaters „Physiognomische Fragmente“. In: Emanuel Swedenborg: 1688–1772. Naturforscher und Kundiger der Überwelt. Hg. v. Eberhard Zwink. Stuttgart, 1988, S. 121–127. Hartmut Böhme: [Kap.] „Der sprechende Leib. Die Semiotiken des Körpers am Ende des l8. Jahrhunderts und ihre hermetische Tradition“. In: Ders.: Natur und Subjekt, Frankfurt a.M. 1988, S. 179–211. – Eingehender zum Verhältnis von Lavater und Swedenborg, vgl. w.u. S. 196ff.
2. Lavaters Abgrenzung von der älteren Physiognomik
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2. Lavaters Abgrenzung von der älteren Physiognomik Mit seinem physiognomischen Atlas konnte Lavater in Anspruch nehmen, zum enzyklopädischen Projekt des 18. Jahrhunderts beizutragen. Dem großen Vorhaben, auf den verschiedensten Gebieten der Natur und des menschlichen Lebens ein möglichst umfassendes Wissen zusammenzutragen und es dem Publikum in musealen Schausammlungen, Enzyklopädien und Atlanten verfügbar zu machen, schien mit der Physiognomik ein weiteres Gebiet erschlossen worden zu sein. Seit der Frühen Neuzeit waren die Projekte der Enzyklopädie, der wissenschaftlichen Sammlungen und Archive eng aufeinander bezogen. Besonders die naturkundlichen Enzyklopädien hatten in den Naturalienkabinetten oftmals eine gegenständlich-museale Referenz. Auch die Lebendsammlungen der Botanischen Gärten sowie der entstehenden Zoologischen Gärten gehörten dazu. Lavater sah sein physiognomisches Projekt in enger Nachbarschaft zu den wissenschaftlichen Sammlungen. Grundlage seiner Physiognomik war ein großes Bildarchiv, auf das weiter unten noch ausführlich eingegangen wird. Darüber hinaus regte er an, Gipsabdrücke direkt von Köpfen sowie von einzelnen Körperteilen, wie z.B. Mündern, herzustellen und in einem eigenen Kabinett zusammenzustellen.20 Der physiognomische Formenschatz, wie er bislang vor allem in den Kunstmuseen durch Bildnisse und Plastiken überliefert war, sollte nun durch naturgetreue Gipsabdrücke von Zeitgenossen erweitert und verwissenschaftlicht werden. Mehr noch als an die Totenmasken und Reproduktionen antiker Plastiken mochte Lavater an die medizinischen Moulagen von Körperteilen gedacht haben, die im 18. Jahrhundert als wissenschaftliche Schauobjekte entstanden. Darüber hinaus war er offen, auch Medaillen und Münzen einzubeziehen; in diesem Sinne empfahl er dem Physiognomen, auch „Gipsabdrücke von Medaillen alter und neuer Köpfe“ in die Sammlung aufzunehmen.21 Es bestanden bereits mehrere Formen derartiger enzyklopädischer Schau-Sammlungen in Buchform. Sie reichten von den Kräuterbüchern über die anatomischen Atlanten bis zu den Bestandsaufnahmen und analytischen Funktionsdarstellungen von Maschinen und Werkzeugen. Seit der Mitte des 18. Jahrhundert kommen vor allem zwei Großunternehmen hinzu: Zum einen erscheint die vielbändige Naturgeschichte Buffons. Die Beschreibung der Vierfüßler etwa wird durch Bilder begleitet, welche die exemplarische Tiergestalt sowohl von außen als auch in einer anatomischen Innenansicht als Skelett präsentieren. Teilweise werden auch die tragenden inneren Organe gezeigt, so dass das Tier auf dreifache Weise bildlich vergegenwärtigt wird. Lavater stimmt mit Buffon darin überein, dass das Knochengerüst die bestimmende morphologische Grundlage des Äußeren bildet. Zum anderen erscheint seit Mitte des Jahrhunderts sukzessive als Kollektivwerk vieler Fachgelehrter die
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Vgl. Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. III, S. 122. Ebd., Bd. IV, S. 156.
148 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater große Encyclopédie von Diderot und D’Alembert. Sie umfasst neben den siebzehn Textbänden (denen später noch Supplementbände folgten) bis 1772 elf Folio-Bände mit spezialisierten Schaubildern zu den verschiedensten Zweigen des Handwerks, der Technik, der Künste und der Wissenschaft. Lavater konnte am Tafelwerk der Encyclopédie lernen, dass große Bestände des Sachwissens nur in einer Kombination von Bild und Text darstellbar waren. Wie die Encyclopédie legte auch Lavater seinen physiognomischen Atlas didaktisch in tableauhaften Vergleichsreihen sowie in konstruktiv zerlegenden Reihen an.22 Lavater tritt notwendigerweise als ein Kundiger auf, nicht aber wie ein Eingeweihter in esoterischen Zirkeln. Er ist in diesem Sinn kein Geheimnisträger, der seine Botschaft nur dosiert an verschworene Gleichgesinnte weitergibt, sondern ein religiös gebundener Wissenschaftler mit didaktischen Ambitionen. Im Unterschied zu einem wissenschaftlichen Werk für die spezialisierte Fachöffentlichkeit legte Lavater sein physiognomisches Unternehmen von vornherein als eine offene, auch auf Didaktik, Unterhaltung und Erbauung angelegte Sammlung an. Obgleich sie den Anspruch der Wissenschaftlichkeit erhob, präsentierte sie ihn nicht in systematischer Geschlossenheit und Lückenlosigkeit. Lavater bezeichnet jeden seiner vier Bände als „Versuch“ und die einzelnen Kapitel als „Fragmente“. Die Anlage ermöglichte ihm, seine sukzessiv erscheinenden Bände durch Nachträge zu ergänzen, Einzelheiten zu berichtigen und auf zwischenzeitlich erschienene Kritiken einzugehen. Sie erlaubte ihm auch eine bunte Mischung von Themen, Materialien, Leseransprachen und Fremdtexten. Lavater bietet dem Leser beispielsweise Lektionen mit physiognomischen Rateaufgaben an. Er tritt aber auch als religiöser Autor auf, der sich als fühlender, zu Liebe und Emphase fähiger Mitmensch zeigt, in philanthropischen und religiösen Erbauungen ergeht und oft mit langen Gedichten schließt. Insgesamt bietet Lavater dennoch eine umfassende Darstellung seines Gegenstandsfeldes in Bild und Text. Im Unterschied zu den streng wissenschaftlichen Systemen und Enzyklopädien wagte er sich freilich mit seiner Physiognomik auf ein Gebiet vor, das in der Aufklärung keine wissenschaftliche Reputation besaß. Sein Ehrgeiz bestand darin, dieses seit der Antike tradierte Gebiet auf der Grundlage ausgeweiteter Materialien zu verwissenschaftlichen. Mit der bescheidenen Herabstufung seines Werkes zu bloßen „Versuchen“ und „Fragmenten“ wollte er die zu erwartende Kritik entschärfen, strebte aber gleichwohl, trotz der Diskussionen und Relativierungen im Einzelnen, eine neu begründete Deutungshoheit an. Wenn er sich auch in Einzelheiten irrte oder angreifbar machte, so sollte die Physiognomik
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Zu den Bildverfahren der Encyclopédie, vgl. meine Habilitationsschrift: Das literarische Tableau zwischen Kunst und Wissenschaft. München 2004, Kap. I.2: „Sammeln, ordnen, zeigen und erklären: Funktionen des Tableaus am Beispiel der Encyclopédie und ihres Tafelwerkes“, S. 39–75.
2. Lavaters Abgrenzung von der älteren Physiognomik
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sich doch im Prinzip als eine künftighin verifizierbare und erlernbare Wissenschaft behaupten. Der Physiognomik stand besonders im Wege, dass sie lange Zeit mit den Wahrsagekünsten verbunden gewesen war. Die Suche der älteren Physiognomik nach naturmagischen Korrespondenzen und analogischen Beziehungen zwischen Makro- und Mikrokosmos entsprach nicht mehr dem neueren Wissenschaftsverständnis. Man sah die ältere Physiognomik durch ihre Nähe zur Astrologie (etwa in der Deutung der Stirnlinien) sowie genereller durch ihre Nachbarschaft zur Spekulation (etwa in der Voraussagung von Glück und Unheil) kompromittiert. Die Kunst, aus den Gesichtszügen eines Menschen seinen Charakter erkennen zu wollen, wurde 1765 im zwölften Band der Encyclopédie, im Artikel „Physionomie“ von Louis de Jaucourt, grundsätzlich als unzulässige Pseudo-Wissenschaft, als „Scienc[e] imagin[aire]“ eingestuft. Die Form der Nase, des Mundes oder anderer Gesichtszüge trage ebensowenig zum „Naturell“ einer Person bei, wie die Größe oder Dicke ihrer Glieder Einfluss auf ihr Denken habe. Zwar seien die Ambitionen der Physiognomik lächerlich, doch habe es zu allen Zeiten Versuche gegeben, diese „Art von Vorurteil“ zu einer „divinatorischen Wissenschaft“ zu erheben.23 Während die Encyclopédie in diesem Sinne auf der grundsätzlichen Ablehnung jeglicher Physiognomik beharrte, fühlte sich Lavater motiviert, die Aufklärung auf das umstrittene Gebiet auszudehnen und die jahrhundertealten Überlegungen zur Physiognomik nach den Standards der zeitgenössischen Wissensansprüche auf neue rationale Grundlagen zu stellen. Die ausgrenzende Position der französischen Enzyklopädisten war zudem keineswegs eine allgemein geteilte Meinung. Das alte, mit der Magie verbundene physiognomische Denken war im 18. Jahrhundert immer noch präsent. Zedlers Universallexicon führt 1741 noch drei traditionelle Unterabteilungen der Physiognomik an: die „Metoposcopie, welche mit der Stirne zu thun hat, die Chiromantie, so auf die Linien in den Händen gerichtet“ und „die Podoscopie, welche die Füsse betrachtet“.24 Die ersten beiden gehen als zentrale Bestandteile noch in die Physiognomik von Christian Adam Peuschel ein, die 1769, einige Jahre vor Lavaters Werk, erschien. Peuschel verspricht in seiner Abhandlung von der Physiognomie, Metoposcopie und Chiromantie, „die Gewißheit der Weissagungen aus dem Gesichte, der Stirn und den Händen gründlich“ darzutun.25 In seinem an Signaturenlehre und Astrologie orientierten Lehrbuch, das weitgehend eine Kompilation der physiogno23
[Louis de Jaucourt]: [Art.] Physionomie. In: Denis Diderot u. Jean le Rond d’Alembert (Hg.): Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Paris, Neuchâtel 1751–1780. Bd. 12: 1765, S. 538. Dt. Übers. in: Die Welt der Encyclopédie. Hg. v. Anette Seig u. Rainer Wieland. Aus dem Franz. v. Holger Fock [u.a.]. Frankfurt a.M. 2001, S. 324. 24 [Art.] Physiognomica. In: Zedlers Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste. Leipzig [u.a.] 1732–1754. Bd. 27: 1741, Sp. 2239f. 25 Christian Adam Peuschel: Abhandlung von der Physiognomie, Metoposcopie und Chiromantie: mit einer Vorrede, darinnen die Gewißheit der Weißagungen aus dem Gesichte, der Stirn und den Händen gründlich dargethan wird, welcher am Ende noch einige Betrachtungen und Anweisun-
150 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater mischen Anschauungen des vorausgegangenen Jahrhunderts war, führt er insbesondere die Stirnlesekunst auf das Wissen der „alten Griechen“ zurück, die man „ohne Zweifel dem Hermes oder Merkur [Trismegistos] zu danken“ habe, auch wenn man den ersten Erfinder nicht genau bestimmen könne.26 Er selbst unterscheidet auf der menschlichen Stirn sieben Hauptlinien, die als Einflusslinien der sechs Planeten sowie der Sonne bestimmt werden und die er daher mit den entsprechenden Planetenzeichen versieht. In diese Linien seien nun weiter entweder glückliche Zeichen wie Zirkel, Sterne, Dreiecke oder Kuben eingezeichnet, die alle „reguläre Proportionen“ haben.27 Oder sie bilden durch krummlinige Überschneidungen unglückliche unreguläre Kreuzfiguren. Diese sollen u.a. bedeuten, „daß der Mensch bei seinem bösen Leben den Galgen oder die Enthauptung zu besorgen habe“.28 Bei der Hand unterscheidet Peuschel eine „Lebenslinie“ und vier weitere Linien, die u.a. die inneren Organe spiegeln wie z.B. die „Tisch- oder Gedärmlinie“ oder die „Leber-, Lungenund Magenlinie“.29 Im Weiteren kennt er noch Rillen wie die „Ehestands“- oder „Entscheidungslinien“. Zwar wendet sich auch Lavater beim Gesicht vor allem der Stirn zu, die er als „Tempel des Geistes“ für besonders aussagekräftig hält. Und neben dem Gesicht weist auch er den Händen eminente physiognomische Aussagekraft zu. Doch interessiert er sich nicht für die sogenannten Planeten- und Lebenslinien, also die Rillen und Vertiefungen, bei denen Peuschel unpersönliche Schicksalsmächte wie die Gestirne am Werk gesehen hatte. Im Unterschied zu Peuschel beachtet Lavater Stirn und Hand vielmehr, weil er sie als organische Ausdrucksformen einer individuellen Konstitution, Persönlichkeit und Geistesstärke auffasst. So bewegt ihn bei der Stirn die Frage, inwieweit sich in ihren Konturen persönliche Intelligenz oder Dummheit ablesen lässt. Am Umriss und dem Aussehen der Hand diagnostiziert er nicht die Aktivität vitaler Einzelorgane wie Gedärm und Magen, sondern konstatiert konstitutive Eigenschaften schlechthin wie „Plumpheit“ oder „Nervenlosigkeit“.30 Lavater ist in diesem Sinne deutlich bemüht, seine Physiognomik zu individualisieren. Und er grenzt sie entschieden von den esoterischen und prognostischen Tendenzen der älteren und neueren Vorläufer ab: „Ich lehre nicht eine schwarze
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gen zu weißagen beygefügt worden, die zur blossen Belustigung dienen, ausgefertigt von C.A. Peuschel. Leipzig 1769. Zu Peuschels Lesern zählte der junge Goethe. Ebd., S. 243. Ebd., S. 256f. Peuschel stützt sich an dieser Stelle auf Berichte des Arztes, Naturforschers und Mathematikers Girolamo Cardanus, der im 16. Jahrhundert in Pavia und Bologna als Professor Medizin lehrte. Dieser interessierte sich – neben zahlreichen anderen Wissensgebieten – auch für die Physiognomik, die er als Kunst verstand, in den Rillen des Gesichts zu lesen. Vgl. zu Cardanus: Anthony Grafton: Cardanos Kosmos. Die Welten und Werke eines Renaissance-Astrologen. Aus dem Amerikan. v. Peter Knecht. Berlin 1999. Ebd., S. 253. Ebd., S. 301. Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln (wie Anm. 4), S. 37.
2. Lavaters Abgrenzung von der älteren Physiognomik
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Kunst, ein Arkanum, das ich hätte für mich behalten mögen, [...]. Ich lehre nur […] in einer […] Wissenschaft, die die allgemeinste, die alleroffenste, die das Loos und Theil jedes Menschen ist.“31 Die physiognomischen Schicksalsvorausdeutungen à la Peuschel hatte er schon 1772 im Aufsatz „Von der Physiognomik“ als „Charlatanerie und leere Träumerei“ abqualifiziert; diese wollte er aus dem „Reiche der wahren Wissenschaften“ verbannt wissen.32 Wenngleich sich Lavater auch gelegentlich an die vier Temperamente der humoralen Säftelehre anschließt, so zielt er mit seiner Physiognomik, die er als „Kraftdeutung“ oder auch „Wissenschaft der [leiblichen] Zeichen der Kräfte“ versteht,33 insgesamt doch über die engen Schematisierungen seiner Vorgänger hinaus. Die Typen- und Signaturenkunden der Tradition lässt er aber als wichtige Vorläufer gelten. Ihnen komme es zu, die Möglichkeit einer charakteristischen Merkmalssprache als solche begründet zu haben. In diesem Sinne hebt er am Ende des vierten Bandes besonders den Beitrag Jakob Böhmes hervor. Lavater arbeitet aber selbst an einer weit flexibleren Merkmalssprache. Sie ermöglicht es ihm im Ergebnis, ein weit größeres Variantenspektrum von Charakteren und darüber hinaus auch weit komplexere Charaktere zu erfassen und zu analysieren. Das Neue an seinem Ansatz war, dass die Vielfalt menschlicher Physiognomien nicht mehr in starre Einzeltypen nach Art der antiken Charaktertypen komprimiert, sondern in ein differenziertes Kurven- und Liniensystem überführt wurde. Er verstand die Physiognomien als Ergebnis unterschiedlicher, vielfach nur kleinster Abweichungen in der Morphologie des Körpers. In den Zügen und Umrissen, aber auch in den einzelnen Partien wie Stirn, Nase oder Mund lokalisiert Lavater im Ergebnis weniger einen geschlossenen Charakter, als vielmehr innere Anlagen und moralische Kräfte, die gemeinsam den Gesamtcharakter ergeben. Lavater fühlt sich zu seinem Vorhaben, wie er eingangs schreibt, von Alexander Popes Maxime im Essay on Man (1733–1734) ermutigt, dass das eigentliche Interesse menschlichen Forschens der Mensch selber sei. Karl Philipp Moritz hat Lavaters Unternehmen in diesem Sinne später bescheinigt, „ein vortrefflicher Beitrag zu
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Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, S. 165. Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln (wie Anm. 4), S. 20. Explizit gegen Peuschel spricht Lavater sich in diesem Sinne S. 32f. aus. Es ist daher aufschlussreich, wie Lavater Peuschels erwähntes Unglückszeichen eines unregelmäßigen Kreuzes, das darauf vorausdeutet, dass diesem Menschen der Tod am Galgen beschieden sei, in den Physiognomischen Fragmenten aufgreift und verändert. Für Lavater ist das Zeichen nicht mehr in die Stirn eingeschrieben, sondern nur noch eine Hilfsvorstellung des Physiognomen, der sich damit symbolisch Rechenschaft über seinen „Totaleindruck“ gibt. Der Physiognom sieht nur „Leidenschaften, Plane, Trugsinn in diesem Gesichte, die zu Thaten führen können – welche des Todes werth sind.“ Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. IV, S. 132. 33 Physiognomische Fragmente, ebd., Bd. IV, S. 39. 32
152 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater einer Erfahrungsseelenkunde“ zu sein, der nur darauf warte, „in ein größeres Ganzes eingeschrieben zu werden“.34 Lavater geht von einem physiognomischen „Totaleindruck“ aus, den er bis ins Kleinste zerlegt und vermisst, um zu erkunden, wie sich der Gesamteindruck zusammensetzt. Damit stellte er sein Programm in den weiteren Rahmen einer betont empirischen, anthropologischen Erfahrungskunde, die auf Messbarkeit und empirische Überprüfbarkeit aus ist. Es ist allerdings festzuhalten, dass Lavater den systematischen Ort seiner als „Versuche“ vorgetragenen Wissenschaft vom Anfang bis zum Ende seiner Physiognomischen Fragmente allmählich verschiebt. Im ersten Band bestimmt er sie noch in Anlehnung an Baumgarten als eine „unmathematische“ Wissenschaft, wobei er in einer Anmerkung darauf hinweist, dass Baumgarten „die Semiotik unter die Wissenschaften“ gesetzt habe. Die Physiognomik kann eine Wissenschaft werden, so gut als alle unmathematische[n] Wissenschaften! So gut als die Physik [im Sinne von Naturlehre, A.G.]; – denn sie ist Physik! So gut, als die Arzneykunst, denn sie ist ein Theil der Arzneykunst! So gut als Theologie, denn sie ist Theologie! So gut als die schönen Wissenschaften, denn sie gehört zu den schönen Wissenschaften. So wie diese kann sie bis auf einen gewissen Grad unter bestimmte Regeln gebracht werden; hat sie ihre bestimmbaren Charactere – die sich lehren und lernen, mittheilen, empfangen und fortpflanzen lassen. […]35
Bis zum vierten Band nehmen die Vermessungen aber derart zu, dass Lavater gegen Ende seines Unternehmens postulieren zu können glaubt: „Die Physiognomik wird bestimmt noch eine mathematisch bestimmbare Wissenschaft werden“. Dadurch würden „Riesenschritte […] in der Menschenkenntniß“ ermöglicht.36 Die auf die Gesamtgestalt und ihre analytische Zerlegung begründete Ausdrucks-Semiotik soll also letztendlich durch geometrische Größen und deren Zahlenverhältnisse kompatibel gemacht werden. Dennoch bringt Lavater bis zum Ende seines Unternehmens immer wieder auch andere Ziele als die mathematische Komprimierung ins Spiel. Dabei dürfte ihn die zu seiner Zeit erfolgende Verwissenschaftlichung eines benachbarten Bereiches ermutigt haben. Beim ästhetischen Urteil, das bislang einem willkürlichen Geschmack ausgesetzt zu sein schien, hatte man bisher unter der Formel des „je ne sais quoi“ eingestanden, dass man ästhetische Urteile im Einzelnen nicht auf den Punkt bringen bzw. sie nicht genau begründen kann. Seit 1750 war das ästhetische Urteil aber durch Baumgartens Ästhetik philosophisch aufgewertet worden. Nach Baumgarten setzt es sich aus einer Empfindung zusammen, die sich zwar nur den Sinneswahrnehmungen verdankt, die im Unterschied zur rationalen Erkenntnis als undeutlich und 34
Karl Philipp Moritz: Vorschlag zu einem Magazin der Erfahrungsseelenkunde. In: Deutsches Museum, 1.5 (1782), S. 490. Hier zit. nach Jörg Paulus: Der Enthusiast und sein Schatten: literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800. Berlin 1998, S. 57. 35 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, S. 52. 36 Ebd., Bd. IV, S. 155. Vgl. auch Paulus: Der Enthusiast und sein Schatten (wie Anm. 34), S. 64.
2. Lavaters Abgrenzung von der älteren Physiognomik
153
verworren angesehen wurden. Doch kann das ästhetische Urteil durch die verstandesgeleitete Urteilsfähigkeit kritisch expliziert werden. Als „unterer Richter“ bildet der Geschmack zusammen mit der Urteilskraft, aber auch mit „Einbildungskraft, Hellsichtigkeit, Gedächtnis“ und weiteren Herzensqualitäten „ein Element des Empfindens und Fühlens, in dem sich der ‚angeborene schöne Geist’ des felix aestheticus als Subjekt der schönen Kunst und des schönen Denkens äußert“.37 Durch diese Begründung aus einer Mischung von dunklen Gefühlsgründen und Verstandesklarheit wuchs auch dem physiognomischen Urteil eine neue Legitimationsbasis zu. Nach Lavater ist jedermann unwillkürlich Physiognom, es komme nur darauf an, die „dunkeln Empfindung[en]“38 explizit zu machen. Im engeren Sinne vertraute Lavater bei seinen physiognomischen Urteilen aber vor allem auf „den Blitzblick des Genies“39 und „schnelles Menschengefühl“40. Gerade aufgrund des Dilemmas, dass man mitunter „empfinden, aber nicht ausdrücken“ kann,41 wertete er das „Genie“ – im Sinne der enthusiastischen Genieästhetik – zum „Dolmetscher der Natur“ auf: „Aussprecher unaussprechlicher Dinge! Propheten! Priester! Könige der Welt! ... […] Offenbarer der Majestät aller Dinge, und ihres Verhältnisses zum ewigen Quell und Ziel aller Dinge: Genieen – von euch reden wir!“42
Lavater zufolge sind die Genies durch „die Gottheit [so] organisiert und gebildet“, dass das Göttliche sich durch sie in seiner „Schöpfungskraft und Weisheit und Huld“ offenbare. Zwar wollte Lavater die Physiognomik durch seine anatomischen und vergleichenden Reihen in den Rang einer erlernbaren Diagnostik nach dem Muster der Bestimmungsbücher erheben. Dennoch betont er selbst, dass die Regeln immer nur „Brillen“ bleiben müssen, aber nicht „zu Augen“ werden können. Der größte Teil dieser Kunst müsse dem „Genie ganz allein überlassen bleiben“. Er vergleicht das physiognomische Genie in seiner spezifischen Wahrnehmungsfähigkeit und Sensibilität mit dem „Mahler und [dem] Tonkünstler“, die ihrerseits „Schönheiten“ sehen und als solche empfinden können, die man anderen weder durch Anleitung noch
37 38
39 40 41 42
Vgl. F. Schümmer: [Art.] Geschmack (III). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter. Darmstadt. Bd. 3, 1974, Sp. 451–456, hier Sp. 451f. Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. II, S. 9. – Blankenburg bezieht Lavaters „dunkle Empfindungen“ auch auf den „fundus animae“ der Baumgartenschen Metaphysik, einen Begriff, unter den Baumgarten die dunklen Vorstellungen fasste. (Blankenburg: Wandlung und Wirkung der Physiognomik, wie Anm. 17, S. 182.) Physiognomische Fragmente, Bd. I, S.144. Ebd., Bd. I, S. 55. Ebd., Bd. I, S. 144. Ebd., Bd. IV, S. 83. Vgl. auch Paulus (wie Anm. 34), S. 64.
154 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater durch Erlernen spürbar machen kann.43 In diesem Sinne unterscheidet Lavater den „blos wissenschaftliche[n] Physiognomist[en]“ vom „physiognomische[n] Genie“. Den ersten parallelisiert er mit einem Künstler wie Albrecht Dürer, der seiner Ansicht nach den Menschen nur „maß“. Das physiognomische Genie hingegen ist einem Maler wie Raphael vergleichbar, der den Menschen zugleich „mißt und fühlt“.44 Nicht zuletzt versteht sich Lavater selbst in der Rolle des physiognomischen Genies. Sie wird bei ihm religiös verstanden und liegt in der Logik seines Vorhabens, das Göttliche der Schöpfung in menschliche Sprache zu übersetzen.
3. Die Physiognomischen Fragmente als kommentiertes Bildarchiv Es kam Lavaters Unternehmen zugute, dass zu seiner Zeit bereits ein gesteigertes und ausgeweitetes Interesse an physiognomischen Charakterporträts aller Art bestand. Im Zeitalter des ausgeweiteten Verkehrs, neuer überseeischer Entdeckungen sowie der ausgeweiteten Kommunikation in Bild und Schrift bestand ein viel größeres Bewusstsein als früher davon, dass es für die Vielfalt menschlicher Physiognomien keine typologischen Normen gab. Infrage stand, ob und wie man die neue Mannigfaltigkeit überhaupt auf einen gemeinsamen Nenner bringen könnte. Die Individualität von Einzelnen hatte sich seit der Renaissance in der Porträtmalerei, also vor allem im Bildnis des Gesichts, erwiesen. Hinzu trat nun für die Zeitgenossen die Erkenntnis, dass jedes Land und sogar jede Region, spezifische Physiognomien hervorbringt. Physiognomisches wurde in der Moralistik, den Reisebeschreibungen oder den Stadttableaus erörtert und zirkulierte in Romanen, Schauspielen und Gemälden. Besonders aus der Distanz zum höfischen Leben, das aus der Warte seiner Kritiker durch Verstellung geprägt war, interessierte man sich dafür, den ‚wahren‘ Menschen hinter seiner sozialen Anpassung oder Maskerade zu entdecken. Materielle Grundlage von Lavaters Unternehmen war, wie schon angedeutet, ein großes physiognomisches Bildarchiv, das er in seiner Züricher Wohnung angelegt hatte. Es bestand aus Druckgraphiken, Zeichnungen und Gemälden. Im Vollzug seines Werkes wurde es durch die Mitarbeit zahlreicher Maler und Stecher vervollständigt, musste aber auch, soweit es sich um gemalte Bildnisse handelte, für die Buchausgabe umgezeichnet und gestochen werden. Beteiligt waren vor allem Daniel Chodowiecki, der junge Schweizer Künstler Johann Heinrich Lips, der bei Lavater seine Laufbahn begann, und Johann Rudolf von Schellenberg aus Winterthur.
43
Vgl. Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln (wie Anm. 4), S. 31f. Hervorhebungen von Lavater. 44 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, S. 55.
3. Die Physiognomischen Fragmente als kommentiertes Bildarchiv
155
Die Sammlung bestand zu einem nicht unbeträchtlichen Teil aus historischen Porträts von Malern verschiedener Epochen, die historische, aber auch mythische bzw. biblisch-religiöse Personen darstellten. Im Unterschied zu Freud, der ein Jahrhundert später ebenfalls auf Kunstwerke zurückgreifen sollte, nutzte Lavater als Bildinterpret die sonstigen schriftlichen Quellen des Porträtierten und die malerische bzw. literarische Tradition, in die sie eingebunden waren, nur sehr eingeschränkt als Quelle der Bildinterpretation. Lavaters Projekt leidet aber nur wenig an diesem Defizit, weil die Bildnisse lebender Zeitgenossen im Zentrum seines Interesses standen. Im ersten Band seiner Fragmente bekundet er, dass er über sein eigenes Interesse am zeichnerischen Porträtieren von Menschen zur Physiognomik vorgestoßen sei. Lavater gab Porträts von lebenden Zeitgenossen bereits mit dem Ziel physiognomischer Aussagedeutlichkeit in Auftrag. Ihm kam hierbei die bereits erworbene Kenntnis seiner porträtierten Zeitgenossen zugute. Er weist diese Kenntnis zwar aus, doch hatte er sich bei einem nicht unbeträchtlichen Teil der Personen bereits ein Vorwissen und eine Einschätzung im Rahmen seiner Typologie verschafft, so dass die in Auftrag gegebenen Bildnisse weniger einem Beweisgang dienten, sondern eher eine Illustration darstellten. Im Zuge seiner Arbeit wurden Lavater zusätzlich Bildnisse weiterer Zeitgenossen zugeschickt, so dass seine Physiognomischen Fragmente ein Werk im Progress war, an dem die Zeitgenossen nicht nur lebhaft Anteil nahmen, sondern es auch unterstützten und ergänzten. Lavater kommentierte dieses reichhaltige Bildmaterial, traf verallgemeinernde Zuordnungen, legte das Material in didaktischen Reihen an und sorgte für deren Vollständigkeit. Zur Deutung der Bildnisse fühlte sich Lavater nicht zuletzt dadurch berechtigt, dass er als Pfarrer und Theologe mit Menschen aus den unterschiedlichsten Ständen und Alterstufen in Berührung kam. In den Physiognomischen Fragmenten schlägt sich das nieder, wenn er etwa von sterbenden Menschen und von Toten berichtet. Besonders während seiner zeitweiligen Anstellung als Pfarrer der Zürcher Waisenhauskirche, als ihm neben der Betreuung der Waisenhauskinder auch die Seelsorge für die Zuchthausinsassen oblag, wurde ihm beruflich ein schnelles Urteilsvermögen abverlangt;45 die Physiognomischen Fragmente waren ihm so in ihrer Systematisierung ein (allerdings großformatig ausgefallenes) Vademekum für die täglichen Konsultationen. Auch ist darüber hinaus die Einschätzung des fremden Menschen bekanntlich ein Gebot der Lebenstüchtigkeit; Lavaters Welt war schon damals nicht mehr nur statisch, sondern z.T. schon beweglich geworden; die Begegnung mit fremden und sogar fremdartigen Menschen nahm zu. Sein Unternehmen kam damit einem allgemeinen Bedürfnis entgegen und konnte auf breite Aufmerksamkeit und teilweise auf Sympathie hoffen.
45
Vgl. Hartmut Lohmann: [Art.] Lavater, Johann Kaspar. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon. Begr. u. hg. v. Friedrich Wilhelm Bautz. 23 Bde. Band IV: Hamm (Westf.) 1992, Sp. 1259–1267. (Hier nach der aktualisierten Internetfassung vom Mai 2008.)
156 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Besonders wichtig sind in Lavaters Bildatlas die Porträts sowie die Umrisszeichnungen und Schattenrisse. Lavater sammelte seine physiognomischen Belege zu einem beträchtlichen Teil auf bereits medialisierter Basis und gab sie als mediales Wissen an den Leser weiter.46 Damit zeigt sich auch an Lavaters Projekt, welche entscheidende mediale Rolle das Bild in der Vermittlung des Wissens über den Menschen und an den Menschen spielt. Lavater interpretiert seine Bildbeispiele oftmals unbefangen; vielfach bringt er ein Vorwissen ein, das auf persönlichen Begegnungen mit den Charakterisierten beruht. Insofern drängen sich die Fragen auf, ob Lavater sein bereits vorhandenes Wissen aus den Porträts herausgelesen bzw. genauer: nur aktualisiert hat und generell: ob ein Bild oder ein Umriss den Porträtierten überhaupt hinreichend charakterisieren kann. In pragmatischer Hinsicht ist allerdings zuzugestehen, dass die visuelle Präsentation eines Menschen in einem Bildatlas nur eine bildliche Abbreviatur sein kann. Lavaters geht es um die Systematisierung solcher Abbreviaturen. Lavater stützte sich zudem auch auf analytische Graphiken. Die Gesichter wurden hier in ihre markanten Partien aufgeteilt: in Stirn, Nase, Mund und Kinn. Weil Lavater sie als Sitz unterschiedlicher Kräfte und Anlagen verstand, kam er so zu einer physiognomischen Topographie als Ausdruck des inneren Menschen. Mittels der zeichnerischen Formen wird der menschliche Ausdruck in eine bildhafte Semiotik transformiert, die gelesen bzw. entschlüsselt werden kann. Das komprimierte Bild aus formalisierten Umrisslinien und Zügen wird zum Signalement. Im Weiteren konzentriert sich Lavater auf jene Linien, die hauptsächlich den Ausdruck tragen. Er zergliedert sie in (vermeintlich) aussagekräftige Kleinstabschnitte und weist auch ihnen entsprechende seelische bzw. moralische Qualitäten zu. Im Sinn der angestrebten Verwissenschaftlichung profitiert er dabei von der Messbarkeit der Abstände und Winkel, die zwischen den Einzelorganen entstehen, so vor allem bei den Augen oder im Profil zwischen Stirn, Nase, Mund und Kinn. Auch die Winkel werden mit Bedeutung aufgeladen. Mit seiner Reduktion des Gesichts in vermessbare Audruckslinien und -kurven fühlt er sich, wie er erklärt, in guter Nachbarschaft zu den elliptischen Bahnen von Newtons Himmelsphysik. Insgesamt gelten ihm die Linien und einzelne Partien des Gesichts in ihrem Verhältnis zueinander als Ausdruck von Charaktereigenschaften, die sich sonst nur in ausgiebigen Handlungen zeigen könnten. Lavater kann die (vermeintliche) Komprimierung des Charakters im Gesicht als einen unvergleichlichen, pragmatischen Zu-
46 Lavater
ließ seine Sammlung später in ein regelrechtes Kabinett umwandeln. Am Ende musste er es aber verkaufen, weil seine Kunstankäufe und Auftragsarbeiten enorme Summen verschlangen. Aus finanziellen Gründen sah sich später auch sein Sohn, Heinrich Lavater, genötigt, den graphischen Nachlass seines Vaters 1802 an den befreundeten Wiener Bankier Fries zu verkaufen. Von diesem erwarb sie Kaiser Franz I. 1828 für seine Privatbibliothek. Heute befindet sich die graphische Sammlung, die allein schon über 22.000 Blätter enthält, als Sondersammlung in der Österreichischen Nationalbibliothek. Der schriftliche Nachlass wird von der Züricher Zentralbibliothek verwaltet.
3. Die Physiognomischen Fragmente als kommentiertes Bildarchiv
157
gewinn anbieten, denn sie macht die Mühe entbehrlich, im Austausch mit einer lebenden Person etwas über deren Persönlichkeit zu erfahren. Sowohl der Beobachter als auch der Porträtierte spart die Zeit einer gesellschaftlichen Begegnung. Lavater preist daher seine Physiognomik als vielseitig anwendbares Wissen in den verschiedensten Bereichen des Lebens an. Sie reichen von der Partnerwahl und dem menschlichen Zusammenspiel bis zum Herrschaftswissen und zur polizeilichen Kontrolle. Ein Richter könne etwa, so Lavater, einen Straftäter aufgrund der Physiognomik schnell und zuverlässig einstufen. Damit könne auf die Folter als Instrument der Wahrheitsfindung verzichtet werden. Dieser bizarre Aufklärungsoptimismus sticht radikal von anderen Formen der zeitgenössischen Wahrheitsfindung ab. Während sich beispielsweise in Romanen die Handlungsführung darum bemüht, den Charakter eines Helden auszuloten, begnügt sich Lavater mit der Abbreviatur einer teilweise typisierten Abbildung bzw. eines Schemas. Die von Lavater in Auftrag gegebenen Porträts seiner Sammlung werden nicht etwa vom fruchtbaren Augenblick einer malerischen Komposition bestimmt, in dem das Individuum sich in der Schlüsselsituation eines bedeutenden Ereignisses zeigt. Sie werden auch nicht durch einen zufälligen oder willkürlichen Augenblick im Leben des Porträtierten geprägt. Vielmehr sind sie typisierte Physiognomien, bei denen sich alle wesentlichen Charaktereigenschaften auf einen Blick erkennen lassen sollen. Auch die von anderen übernommenen Porträts interpretiert er nach seinem Ansatz. Die Erkennbarkeit eines Charakters mittels feststehender Kriterien setzt im Ergebnis einen konstanten Charakter, ja sogar eine Ontologisierung des Charakters beim einzelnen Menschen voraus. Lavater legt im Sinne einer morphologisch vergleichenden Anatomie Tableaus und Bestimmungstafeln an, mit denen ein kontrollierter Vergleich möglich werden soll. Im Einzelnen findet man Zusammenstellungen von menschlichen Charakterköpfen, Umrissfiguren und Profilansichten im Schattenriss, aber auch vergleichende Inventare einzelner Gesichtspartien: etwa von Stirnen, Nasen, Augen oder Mündern. Auch die (geschwungenen) Einzellinien (etwa von Stirnen und Mündern), Abstandsverhältnisse (etwa zwischen den Augen) oder Gesichtswinkel werden zu Varianten in der Erkenntnis von Charakteren zusammengestellt. (Vgl. Abb. 16.) Lavater schärft die physiognomische Bestimmung, indem er Ausdruckszeichen von extremen Veranlagungen hart gegeneinander stellt: etwa die Gegenüberstellung von Idiot und Genie. Um sicherzustellen, dass er tatsächlich Schwachsinnige zeigt, wählt er, wie er im Aufsatz „Von der Physiognomik“ beschreibt, bevorzugt Insassen eines „Thorenhauses“ zu seinen Studienobjekten aus. Als Genie fungieren berühmte Wissenschaftler, Philosophen, Schriftsteller oder Reformatoren, deren Intelligenz, Kreativität und Lauterkeit teils durch ihre Werke, teils durch ihre allgemeine Reputation gefestigt waren. Im Einzelnen nennt er Persönlichkeiten wie Newton, Haller und Boerhaave, Platon und Pope, Homer, Klopstock und Swift sowie Zwingli und Calvin. Lavater entwirft aber auch abstufende Vergleichsreihen, die feinere Ausdrucksnuancen erfassen sollen.
158 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater
Abb. 16: Profillinien der Stirnen von „sehr verständigen Köpfen“ in ihrem Verhältnis zu den unteren Teilen. Aus: Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, Bd. IV.
Lavaters Porträtreihen und Bestimmungen waren zwar für die Zuordnung von körperlichen Merkmalen und Charaktereigenschaften analytisch nicht haltbar, konnten aber mittels ihrer Darstellungsform als empirisch abgesichert erscheinen. Umso nachhaltiger erschütterten offensichtliche Fehlurteile das Vertrauen in die Physiognomischen Fragmente. Das krasseste Fehlurteil unterlief Lavater bei einem Schattenriss, von dem er nicht wusste, dass er einen verurteilten Frauenmörder zeigte. Aus der Profilsilhouette las Lavater zunächst „das größte, schöpferische Urgenie; dabey drollig und boshaft witzreich“ heraus. Der Arzt Johann Georg Zimmermann, der ihm die Silhouette zugeschickt hatte, musste ihn aber korrigieren: Es handle sich vielmehr um „die Physiognomie eines Unmenschen; eines eingefleischten Teufels“. Nach der aufgedeckten Fehldeutung geht Lavater im zweiten Band der Physiognomischen Fragmente auf den Fall ein: „Diesen äussersten Grad der Teufeley hatt’ ich anfangs […] an dem bloßen Schattenprofile nicht bemerkt“. In der Profilzeichnung scheint ihm aber nun alles offenkundig: „Alles dieses ist auf dem Bilde zum Theil, war im lebenden Gesichte ganz zu lesen“ [Hervorh. v. A.G.].47 Sein fortschreitendes
47
Es handelte sich um den Mörder Rütgerodt, der 1776 verurteilt worden war. Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. II, S. 194–196, Zitate S. 194 u. 195. Vgl. auch Paulus (wie Anm. 34), S. 69, sowie: Johann Caspar Lavater. Die Signatur der Seele (wie Anm. 2), S. 39.
3. Die Physiognomischen Fragmente als kommentiertes Bildarchiv
159
Werk erlaubte es noch öfter, sich auf die Vorläufigkeit der bisherigen Ergebnisse zu berufen und eine abgesicherte Physiognomik erst für die Zukunft in Aussicht zu stellen, wenn alle Erfahrungen eingegangen und verwertet sein würden. Im Sinne der vorgegebenen Interpretation von Porträts und verschiedenartigen Ordnungsschemata schafft Lavater eine entsprechende Begrifflichkeit. So treten etwa zu den abgebildeten Vergleichsreihen Alltagsbezeichnungen wie „verständig und feingut“, „verständig und roh“ oder „schwachgut“, die Lavater zu eigenen Termini werden lässt. Auf der Suche nach einer geeigneten Nomenklatur ging er die verschiedenen Wörterbücher, Sittenbücher, Schriften der Moralisten und Philosophen durch.48 „Ich habe schon über 400 Namen von Gesichtern aller Art zusammengeschrieben, mit welchen ich noch lange, lange nicht auskommen kann“, resümiert er schließlich im vierten Band der Physiognomischen Fragmente. Dem Anfänger in der Physiognomik rät er, sich zu jedem Gesicht einen „allgemeinen charakteristischen Namen“ zu suchen und ihn auf seine Genauigkeit hin zu überprüfen. „So viele Nüancen von Benennungen dir immer beyfallen, so viele trage in dein Buch ein. Aber ehe du die Grundform des Gesichts dazu zeichnest, und nebst der Zeichnung charakteristisch und treffend beschreibst – prüfe siebenmal, daß du nicht eine mit der andern vermischest“.49 Die Verfeinerung der Nomenklatur mündete nicht in eine wissenschaftliche Abstraktion, sondern blieb in der Alltagssprache angelegt, damit sie der täglichen Pragmatik dienen konnte. Lavater legte ein Register mit Hauptklassen und Unterrubriken an, das die überkommene visuelle Ausdruckstypologie von Le Brun in analytischer Differenzierung weit übertraf. Le Brun hatte 24 Grundzüge der menschlichen Leidenschaften in einen Spannungsbogen angelegt, der von der Freude über die Trauer bis zum Zorn reichte.50 Zu Lavaters Hauptklassen gehören „Leibeszustände; Gemüthszustände; sittliche Charaktere; Unsittliche“, hinzukommen dann „Empfindung; Kraft; Witz; Verstand; Geschmack; Religion; Unvollkommenheit“ und als soziale Einteilungen „Lokalgesichter; Standesgesichter; Amtsgesichter; Handwerksgesichter“.51 Rubriken wie „Geist“ oder „Herz“ ordnet er dann in einem polaren Spannungsbogen ein großes Spektrum fein abstufender Einzelbezeichnungen zu. Sie gehen etwa von den Maximalwerten „tiefer Scharfsinn“ und „Genie“ über die Zwischenglieder „mittelmäßige Einsicht“ und „vermischte Fähigkeit“ bis zu den extremen Gegenpolen „Narrheit, Sinnlosigkeit, Tollheit“.52
48
Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln (wie Anm. 4), S. 55. Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. IV, S. 157. 50 Vgl. Johann Caspar Lavater – Die Signatur der Seele (wie Anm. 2), S. 41. 51 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. IV, S. 157. 52 Vgl. Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln (wie Anm. 4), S. 54. 49
160 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater
4. Die Mitarbeit von Zeitgenossen an den Physiognomischen Fragmenten Lavater konnte besonders am Anfang viele interessierte Kollegen zur Mitarbeit an seinem Projekt gewinnen, wenngleich sich nicht alle namentlich dazu bekennen mochten. Die Mitarbeit von Zeitgenossen ging nicht zuletzt darauf zurück, dass sie in ihrem Alltagsleben eine Kompetenz in der Beurteilung Fremder gewonnen zu haben glaubten. Sie steuerten Stiche, Schattenrisse, Charakteristiken, theoretische Texte oder auch Gedichte bei. Von Anfang an und kontinuierlich engagiert hat sich insbesondere der bereits erwähnte Johann Georg Zimmermann, Lavaters Jugendfreund, der seit 1768 königlich englischer Leibarzt in Hannover war.53 Die prominentesten Zulieferer waren Johann Gottfried Herder und Johann Wolfgang von Goethe. Auch wenn sie sich später von Lavaters Methode der Verobjektivierung und Interpretation distanzierten, so zeugt deren zeitweilige Mitwirkung doch von einer starken Sympathie, die somit nicht auf Lavater Umkreis beschränkt war. Seine Physiognomik ist zwar das Werk eines einzelnen, weist aber – im bescheidenen Abstand zur großen Encyclopédie – eine nicht unbedeutende kollegiale Zusammenarbeit und darüber hinaus auch Zuarbeit von vielen Nicht-Fachleuten auf. Die Mitarbeit von Goethe und Herder ist geeignet, die Spannweite und die Hintergründe der gedanklichen Konstruktionen aufzuzeigen, in denen Lavaters Physiognomik (ent-)stand. Während uns der Theologe Herder eher die metaphysisch-heilsgeschichtlichen Voraussetzungen bzw. Probleme erschließt, führt uns Goethe in die eher organologischen Hintergründe ein. Lavater eröffnet seine Physiognomischen Fragmente im ersten Band mit einer längeren emphatischen Passage zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen aus Herders Ältester Urkunde des Menschengeschlechts. Damit stellt er sein Unternehmen von Anfang an in eine prominente Nachbarschaft zu Herders theologisch-hermeneutischer Auffassung, dass sich der göttliche Ursprung der Schöpfung symbolsprach-
53 Zimmermann war der erste, der die Bedeutung von Lavaters Physiognomik erkannte. 1772 veröf-
fentlichte er unter dem Titel „Von der Physiognomik“ im Hannoverischen Magazin ohne Wissen von Lavater das Manuskript eines Vortrags, den dieser ein Jahr zuvor vor der Naturforschenden Gesellschaft in Zürich gehalten hatte. Wenige Monate später kündigte Lavater dann unter dem gleichen Titel, ebenfalls im Hannoverischen Magazin, sein künftiges großes Arbeitsvorhaben an. (Beide Zeitschriftenartikel veröffentlichte er dann im selben Jahr als eigenständiges Werk.) Zimmermann hat Lavater eine große Anzahl von Bildnissen beschafft und diese auch charakterisiert. Zu ihnen gehörten auch Schattenrisse seiner Kurpatienten in Pyrmont, die verschiedene Stadien ihrer Krankheit und Genesung zeigten. Später hat sich Zimmermann um Subskribenten für die Physiognomischen Fragmente gekümmert; der erfolgreiche Absatz des Werkes war nicht zuletzt auch sein Verdienst. Lavater nennt ihn im letzten Band „Anfänger und Urheber dieser Fragmente“. Vgl. Horst Weigelt: Johann Kaspar Lavater. Leben Werk und Wirkung, Göttingen 1991, S. 24 u. 28.
4. Die Mitarbeit von Zeitgenossen an den Physiognomischen Fragmenten
161
lich in einer Urhieroglyphe bewahrt und überliefert hat. Herder zufolge hat sich das göttliche Erbe auf der Grundlage der Gottesebenbildlichkeit auch naturaliter im Menschen selbst und seiner Generationenfolge überliefert und fortgezeugt. Lavater übernimmt nicht nur wichtige Aussagen von Herder; er überhöht ihn sogar emblematisch. Das Frontispiz seines dritten Bandes nimmt das Motiv einer Pyramide auf, die im Frontispiz des ersten Bandes als Ruine mit fehlender Spitze im Hintergrund zu sehen ist, während im Vordergrund eine allegorische Szene der Einweisung in die Physiognomik gezeigt wird. Im Frontispiz des dritten Bandes wird die Pyramide aus dem Bildzusammenhang des ersten Frontispizes herausgelöst und zum Hauptthema. Ihre Spitze ist wiederhergestellt und ragt nun durch einen Kranz dunkler Wolken hindurch ins Licht, während unter den Wolken Insekten umherschwirren. Eine Inschrift am Sockel weist die Figur als Emblem der „Wahrheit“ aus. Lavaters Referenz vor Herder im zweiten Band, angesichts von dessen Schattenriss, nimmt sich wie eine Bildbeschreibung des Frontispizes im dritten Band aus: Herders Silhouette sei die eines „unerreichbaren, immer fortdringenden […] Genies voll Schöpfungs- und Zerstörungskraft. Wie seine Werke, Eine Pyramide, an welcher Mäuse nagen und Insekten den Kopf zerstoßen.“54 Mit Herders Hilfe, so kann man die Abfolge vom ersten zum letzten Frontispiz lesen, werden die Pyramiden wieder voll zugänglich, „die Wahrheit“ erkennbar. Lavater sieht in Herders Gesichtszügen diese Bedeutung eingeschrieben; sie werden emblematisch. Er meint, sie mit dem Schlüssel der Physiognomik erkennen zu können; für den unbefangenen Laien wird diese diaphane Deutung zur Hieroglyphe. Herder ist nicht nur durch diesen emblematischen und theologischen Bezug in Lavaters Physiognomischen Fragmenten präsent. Er hat Lavater auch einschlägige physiognomische Charakteristiken geliefert. Lavater erwähnt ihn denn auch in den Schlussbemerkungen im vierten Band, allerdings nur im Allgemeinen und neben anderen Mitarbeitern (wie Geßner, Sturz, Merck, Lenz, Füßli oder Sulzer).55 Was Herder beigetragen hat, weiß man nur aus dessen Korrespondenz. Rudolf Haym hat sie Ende des 19. Jahrhunderts in seiner großen Herder-Biographie bereits umfänglich ausgewertet, so dass die entsprechenden Briefstellen bekannt sind.56 Sie verdienen es, näher beachtet zu werden, weil sie zugleich auch Denkhintergründe von Lavaters Physiognomik zu erhellen helfen. Herder schreibt an Lavater schon im Mai 1774, also noch vor der Veröffentlichung des ersten Bandes, dass er dessen physiognomisches Unternehmen als ver-
54
Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. II, S. 102. Ebd., Bd. IV, S. 486. 56 Rudolf Haym: Herder. 2 Bde. Berlin 1880–1885. ND Berlin: Aufbau–Verlag, 1958; zu Herders Mitarbeit an der Physiognomik Bd. I, S. 718–722. Vgl. zur Beziehung von Herder und Lavater auch Heinrich Clairmont : … un tableau vivant. Herders physiologisch fundierte Psychologie, Lavaters Physiognomik und ein Disput in der Berliner Akademie der Wissenschaften. In: Herder Jahrbuch, 1996, S. 57–79; zu Herder, Abschnitt III, S. 70ff. 55
162 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater wandte Bestrebung zu seinen eigenen, weitreichenden Plänen ansieht, die er gerade in seinem Werk über die Plastik bearbeite. Herder setzte die Physiognomik in einen kosmischen Bezug, indem er mittels einer schematischen Parallelisierung die menschliche Gestalt auf die biblische Darstellung der Weltenschöpfung bezog, wie er sie soeben in seiner Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts entwickelt hatte.57 Herder stellte die Beziehung zur Ältesten Urkunde im Brief an Lavater auch optisch her, indem er die Teile des menschlichen Körpers und besonders des menschlichen Gesichts nach dem Modell seiner siebenteiligen Schöpfungshieroglyphe arrangierte (vgl. w.o. S. 112, Abb. 15). Implizit schloss Herder damit an sein hieroglyphisches Verständnis des Menschen als Mikrokosmos der Schöpfung an, wie er es ebenfalls in seiner Exegese der Genesis in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts im Rahmen des Theorems von der Gottesebenbildlichkeit vertreten hatte. Ein weiteres übereinstimmendes Thema, an dem auch Lavater arbeitete, war die christologische Vorstellung, dass dem Menschen mit der Physiognomie von Jesus – allerdings nur „in Schatten“ – ein Vorbild dafür gegeben worden sei, wie „in seine Bildung verwandelt zu werden der Weg sei“.58 Herder führt aus: Der Mensch ist ein Inbegriff der ganzen Welt, der sichtbaren und unsichtbaren, selbst Gottes. Er könnte von keiner Eigenschaft, Geistes u. Körpers im Universum einen Begrif [sic.], noch weniger ein Gefühl haben, wenn er nicht ein Analogon davon in sich besäße. Unser Körper ist nur ein Bild unserer Seele anthr[opos] psych[ikos] u. diese nur der Keim zum Geist pn[euma], der aus ihm erwachsen u. sein Wesentlichstes überkleiden soll. Geist also ist unser Ziel, Ruhepunkt, Läuterungskern, der wahre Mensch, das Bild Gottes in Jesu. Er soll den ganzen lebendigen Menschen in sich läutern, und was nicht dahin kann, abstoßen. Anschauung seiner wäre also die tiefste Physiognomik und eigentliche Menschenkenntnis.59
Für Herder hat Lavater in seiner Physiognomik „rechte Seherblicke“ entwickelt, die den Menschen nicht nur vordergründig zeigen, sondern ihn auf sein Telos zentrieren, ein „Gewächs(es) der Ewigkeit“ zu sein.60 Auf Lavaters Bitten schickt Herder allerlei „Flickwerk“ und „Rhapsodien“ an Lavater, die dieser nach Belieben „Ansehn und Wegwerfen“ könne.61 Darunter war vor allem eine Charakteristik Hamanns, die Lavater im zweiten Band sowie im drit-
57
58 59 60 61
Vgl. den Brief v. 25. Mai 1774. Herder: Briefe, Gesamtausgabe 1763–1803. 12 Bde. Hg. v. d. Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen. Weimar 1977–2005. Bd. 3, Weimar 1978, S. 91–93, hier S. 92. In die spätere französische Ausgabe seiner Physiognomik nahm Lavater dann auch Auszüge aus Herders Plastik auf, die 1778 erschienen war. Vgl. Walter Brednow: Nachwort, in: Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. IV, S. 13. Zu Herders Schöpfungshieroglyphe vgl. weiter oben, Teil A, Kap. 3. Brief vom 20. Febr. 1775. In Briefe, Bd. 3 (wie Anm. 57), S. 158–161. Die griechischen Zitate sind hier in Umschrift wiedergegeben. Ebd., S. 159f.; Hervorh. v. Herder. Brief vom Ende September 1775 (Briefe, Bd. 3, S. 213). So Herder an Lavater in einem Brief Ende September 1775 sowie in einem Brief am 30. Dezember 1775 (Briefe, Bd. 3, S. 213 sowie 241).
4. Die Mitarbeit von Zeitgenossen an den Physiognomischen Fragmenten
163
ten Band62 der Physiognomischen Fragmente (nach Herders Aussage) allerdings nur in verwässerter Form aufnahm.63 Vermutlich geht Lavaters Charakterisierung von Hamann als „Hieroglyphensäule“ auf Herder zurück. Dieser hatte in einem Brief an Hamann bereits den vergleichbaren Ausdruck „Hermessäule“ auf sich selbst gemünzt.64 In seiner Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts bezieht er überdies das Phänomen der Hermessäule auf die Hieroglyphensäule und interpretiert beide Säulen gleichermaßen als früheste Kulturzeichen bzw. Medien der Überlieferung. In anderem Zusammenhang spricht er von einem Dichter, der wie eine „Hermessäule“ rede und daher nicht in der Sprache seiner Zeit und seines Landes. Mit der vermutlich auf Herder zurückgehenden Charakterisierung von Hamann als „Hieroglyphensäule“ war nicht nur dessen dunkel-prophetische Redeform mittels einer selbst hieroglyphischen Redeweise in ein metaphorisches Bild gebracht. Die „Hieroglyphensäule“ spielt darüber hinaus auch auf Hamanns religiöse Sprachkonzeption an, wie er sie 1762 in seiner Aesthetica in nuce pointiert vertreten hatte: Reden ist übersetzen – aus einer Engelsprache in eine Menschensprache, das heist [sic.], Gedanken in Worte, – Sachen in Namen, – Bilder in Zeichen; die poetisch oder kyriologisch [unübertragen], historisch, oder symbolisch oder hieroglyphisch – – und philosophisch oder charakteristisch seyn können.65
Hamanns Auffassung war für Herder eine Initialzündung, auf deren Grundlage er dann seine eigenen Vorstellungen von der biblischen Schöpfungshieroglyphe und dem Menschen als hieroglyphischem Nachbild Gottes entwickelte. Für Hamann waren die „verhüllte Figur des Leibes, das Antlitz des Hauptes, und das Äußerste der Arme“ nur das „sichtbare Schema, in dem wir einhergehen; doch eigentlich nichts als ein Zeigefinger des verborgenen Menschen in uns“.66 In diesem Sinne lässt sich Herders Charakterisierung von Hamann als Absetzung von Lavaters Natursprachenkonzept lesen, das auf Transparenz und nicht auf Anerkennung des unsichtbar und unverständlich Bleibenden aus war. Lavater ist nicht bewusst geworden, dass seine Erwähnung von Hamann als „Hieroglyphensäule“ in einem Widerspruch zu seiner eigenen Auffassung steht. 62
Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. II., S. 285f.; Bd. III, S. 28f. Vgl. Haym: Herder (wie Anm. 56), S. 720, Anm. 30. 64 Vgl. Herders Brief an Hamann vom April 1768. In: Johann Georg Hamann: Briefwechsel. Bd. II: 1760–1769. Hg. v. Walther Ziesemer u. Arthur Henkel. Wiesbaden [u.a.] 1956, S. 408–415, Zitat S. 413. Herder spricht hier von sich wegen seines Müßigganges als einer Hermessäule, vermutlich weil dieses Standbild in der Form einer Herme wegen der fehlenden Arme und Beine Passivität repräsentiert. In diesem Sinne hatte schon Juvenal einen vornehmen Taugenichts mit einer Hermessäule verglichen. 65 Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce. Eine Rhapsodie in kabbalistischer Prose. In: Sämtliche Werke. [ND der] Hist.-krit. Ausg. v. Josef Nadler. Wien 1949–1957. Bd. 2: Schriften über Philosophie, Philologie, Kritik: 1758–1763. [ND der Ausg. v. 1950], Wuppertal 1999, Zitat: S. 199. 66 Ebd., S. 198. 63
164 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater In einem ähnlich erratischen Sinne wie Hamann charakterisiert Herder auch Sokrates als „wahre Arzneikammer und Hieroglyphe“. Lavater zitiert diese Charakterisierung im Rahmen eines längeren Auszugs aus einer Rezension des zweiten Bandes seiner Physiognomischen Fragmente. Der ungenannte, aber Lavater bekannte Autor dieser Besprechung ist Herder; er hatte die beiden ersten Bände der Physiognomik 1776 nacheinander unter dem kryptischen Zeichen der Zahl „666“ im 9. und 10. Band der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek rezensiert.67 Lavater hatte den Auszug als nachträgliche Diskussion seiner eigenen Deutung des physiognomischen Rätsels „Sokrates“ in seinen dritten Band gestellt.68 Sokrates war wegen seiner sprichwörtlichen Hässlichkeit bei seiner ebenso legendären Tugend und Weisheit das vieldiskutierte Paradebeispiel dafür, dass sich Kurzschlüsse von der Physiognomie auf den Charakter verbieten. (Zu Lavaters Lösung noch weiter unten.) Herder spitzt das Problem noch zu, indem er von der „durchs ganze Alterthum bekannt[en]“„Silenbildung“ des Sokrates spricht.69 Damit ergab sich die Paradoxie einer Physiognomie, die auf halb tierische Leidenschaftlichkeit hinweist, tatsächlich aber zu einem hochgeistigen und gebildeten Philosophen gehörte. Seit Platons Symposion galt Sokrates als ein leidenschaftlicher Vertreter des Eros (von der sinnlichen bis zur schöngeistigen Liebe, einschließlich der Knabenliebe), wobei er sich aber selbst als unanfechtbar durch körperliche Reize zeigt. Herder überhöht diese Spannung ins Religiöse: Mit Anklängen an seine eigene schöpfungstheologisch fundierte, eschatologische Hieroglyphik der Morgenröte in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts deutete er Sokrates’ Gesicht als das eines „Sünder[s] und Barbar[en]“, in dem zugleich die „Morgenröthe“ einer „zweiten höhern Bildung“ sichtbar war, die „über Trümmern der Verwesung (,) desto mehr hervorglänzte“. Im Sinne dieser heilsgeschichtlichen Deutung wird Sokrates zum Beispiel eines sich überwindenden Sünders, den Herder für Christen als „wahre Arzneikammer und Hieroglyphe“70 vorstellen kann. Herder hebt Lavaters Physiognomik damit – nach einer für ihn notwendigen antiphysiognomischen Gegenposition – in einer „höheren Physiognomik“ auf.71 Als Zulieferer für Lavaters Physiognomische Fragmente wollte Herder vor allem den geistig-religiösen Anteil stärken. In diesem Sinne versprach er Lavater, ihm Auszüge aus Mystikern, Philosophen und Dichtern zu schicken und etwas über Luther und Melanchton liefern zu wollen. Darüber hinaus setzte Herder sich 1776 in der erwähnten Besprechung der ersten beiden Bände der Physiognomik in der Lemgoer Auserlesenen Bibliothek – trotz kleinerer Kritikpunkte – äußerst positiv für die
67
Auserlesene Bibliothek der neuesten deutschen Litteratur. Hg. v. Christian Friedrich Helwing u. K. Renatus Hansen, Lemgo 1776: Bd. 9, S. 191–208. Bd. 10, S. 335–365; das Sokrates-Zitat: S. 351. 68 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. III, S. 25f. 69 Ebd., S. 25. 70 Ebd., S. 26. 71 Ebd.
4. Die Mitarbeit von Zeitgenossen an den Physiognomischen Fragmenten
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Physiognomik ein und lobte Lavater als „hellen, festen, ruhigen Seher(s)“.72 Gegenüber seiner eigenen Charakterisierung im zweiten Band zeigt sich Herder später befremdet; bei Zimmermann beklagt er sich, dass sie „kein wahres Wort“ enthalte.73 Insgesamt versuchte Herder, Lavaters Unternehmen vom planen Sensualismus weg in die schon oben herausgearbeitete hieroglyphisch-geistliche Richtung zu lenken. In seinen Briefen übt er daher auch grundsätzlichere, sozialkritische wie methodische Kritik an Lavater. So sollte dieser dem vorbeugen, dass die Physiognomik an den Fürstenhöfen Europas missbraucht werden könnte, wo man schon jetzt einen „begaffenden Adlersblick“ affektiere und sich anmaße, mit diesem über „Glück und Unglück“ von „armseligen Menschenkindern“ zu entscheiden. Herder geht aber noch weiter und bezweifelt grundsätzlich, dass man den Menschen an seinem Gesicht und seiner äußeren Gestalt in seiner komplexen Ganzheit erfassen könne. Der Mensch ist kein Plasma einer Leimmaske, sondern eine Welt voll Systeme, Bewegung, lebender Kräfte, webender Geister: unser Gesicht u. [sic.] äußere Gestalt sind nur das Zifferblatt zum grossen Triebwerk der Uhr. Man kann an ihm sehen, was die Zeit ist? nicht aber, wie u. mit welchen Gewichten die Uhr treibe.74
Herder bestärkt Lavater hingegen in der Absicht, die Physiognomik mit Hilfe der Christologie auf jenen „anthropos psychikos“ auszurichten, „in dem wir alle vor Gott u. den englischen Wesen erscheinen“. Für Herder ist der „äußere Körper […] blos Vorstellung desselben in Wolke, Schale, Figur“.75 Ihm zufolge hat jeder Mensch „die Unendlichkeit in sich“, allerdings nur „unter Hüllen, im dunkeln, schweren, vielleicht ängstlichen und mühsamen Schlafe.“ Für ihn kommt es darauf an, dass die Physiognomik „dies Bild Gottes im Menschen“, das „figurative, idealiter und realiter“ schon da sei, „in Stufen und Gränzen und Graden der Vollkommenheit mit Anschauung“ zeige. Dabei kommt Herder zu einer kunst- bzw. kulturgeschichtlichen Historisierung, die Schillers Theorie vom Naiven und Erhabenen vorwegzunehmen scheint: Den „irdischen Menschen“ hätten bereits die antiken Griechen in der Spannweite seines Daseins ausgemessen und dargestellt. Vom geistigen Menschen aber hätten sie „nichts gewußt“. Die Physiognomie dieses geistigen Menschen ist für Herder offensichtlich noch ein Desiderat, nachdem sich im Mittelalter alles in „Chiromantie und Metascopie“ verschlungen hätte. Rhetorisch fragt Herder danach, welcher „Christ, Engel“ es vermag, diesen bei aller Irrung nach „Herrlichkeit und Offenbarung“ strebenden Geist „mit Sonnenlicht“ zu zeichnen.76
72
Auserlesene Bibliothek (wie Anm. 67), Bd. 9, S. 207. Vgl. auch Haym: Herder (wie Anm. 56), S. 720f. 73 Vgl. Haym, ebd., S. 719. 74 Herder im Brief an Lavater v. 20. Febr. 1775 (Briefe, Bd. 3, wie Anm. 57, S. 158). 75 Ebd., S. 158f. 76 Ebd., S. 160.
166 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Goethe, der andere herausragende Zulieferer, sandte an Lavater Stiche, Silhouetten und Texte nach Zürich, darunter drei „Zugaben“ theoretischer Art, aber auch physiognomische Analysen einzelner Gesichter, u.a. von Klopstock, Homer und Rameau. Lavater integrierte sie in sein Manuskript und schickte dieses Goethe wieder zur Durchsicht zurück.77 Doch anders als Lavater will Goethe die Physiognomik nicht auf die im Wesentlichen unveränderlichen Teile des Gesichts beschränken. In seinen Beiträgen bezieht er auch die Ausdrucksformen mit ein, die in der individuellen Biographie sowie in der Generationenfolge erworben werden. Er wünscht überdies, die Physiognomik auch auf „Stand, Gewohnheit, Besitzthümer, Kleider“ auszudehnen. Vor allem aber bindet er die physiognomische Erkenntnis an die jeweilige Individualität des Erkennenden zurück. Während seiner späteren Naturforschungen, insbesondere zur Osteologie, nähert sich Goethe Lavaters Positionen wieder an, allerdings nun im Rahmen einer Naturauffassung, die den Knochenbau selbst als „bedeutendes Resultat“ eines dynamischen „innern […] Lebens“ betrachtet.
5. Die Physiognomik als das Äußere eines Inneren Lavater teilt in seinen Physiognomischen Fragmenten eine Prämisse mit den vorausgehenden Physiognomiken der Renaissance, der Frühen Neuzeit und sogar der Antike: die esoterische Auffassung, dass sich aus der körperlichen Gestalt und den Einzelmerkmalen die Gemüts- und Charakterbeschaffenheit der unsichtbaren Seele ablesen lasse. Das Innere kann sich in der äußeren Form des Menschen abbilden, weil Seele und Leib, so bereits die grundlegende Setzung der antiken pseudo-aristotelischen Physiognomika, in Korrespondenz zueinander stehen.78 In diesem Sinne leitet auch der Arzt Giambattista della Porta am Ende des 16. Jahrhunderts seine Physiognomik mit einem Kapitel zum „Verbündtnis […] des Leibs mit dem Gemüt oder Seelen“ ein.79 Ein folgenreiches philosophisches Hintergrundstheorem erhielt 77 Lavater
konnte Goethes Mitarbeit 1774 gewinnen. Von da an korrespondierten beide ständig über die Physiognomischen Fragmente. Goethe hatte es in die Wege geleitet, dass Lavaters Werk bei Philipp Erasmus Reich, dem einflussreichen Buchhändler und Teilhaber der Weidmannschen Verlagsbuchhandlung, in Leipzig erscheinen konnte. Goethe korrigierte auch noch Beiträge für den dritten und vierten Band, obgleich er seine Mitwirkung inzwischen zu einer bloßen „Theilnahme“ reduziert hatte. Auf seinen Wunsch tilgte Lavater die Hinweise auf Goethes Autorschaft. Vgl. Karl Pestalozzi: Art. Physiognomische Fragmente. In: Goethe Handbuch. Hg. v. Bernd Witte (u.a.). 4 Bde. u. 1 Registerband. Stuttgart 1996–1999. Bd. 3: Prosaschriften. Hg. v. Bernd Witte. 1997, S. 655–658. Vgl. im Einzelnen auch Eduard von der Hellen: Goethes Anteil an Lavaters physiognomischen Fragmenten. Frankfurt a.M. 1888. 78 Vgl. Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance. München 1997, S. 30f. 79 Hier zitiert nach der deutschen Ausgabe: Giambattista della Porta: Menschliche Physiognomy dass ist: ein gewisse weiss und regel, wie man auss der eusserlichen gestalt, statur und form dess menschlichen Leibs … schliessen könne, wie derselbige auch innerlich … geartet sey. In 4 unter-
5. Die Physiognomik als das Äußere eines Inneren
167
die Physiognomik zudem durch Leibniz’ Monadologie, in der der Körper als „Widerspiegelung einer das ganze Universum im Mikrokosmos darstellenden Seele“ bestimmt wird.80 Im 18. Jahrhundert wird das Leib-Seele-Problem vor allem als Verhältnis des physischen zum moralischen Menschen aktualisiert. In diesem Kontext interessieren sich auch bedeutende Philosophen und Gelehrte für die Physiognomik, so Christian Thomasius, Christian Wolff (den Lavater in seiner Physiognomik explizit als theoretischen Gewährsmann zitiert81), Johann Jakob Bodmer sowie – im Umkreis von Lavater – der bereits erwähnte Arzt Johann Georg Zimmermann, ein Schüler Albrecht von Hallers. Von Interesse ist in diesem Zusammenhang auch das Plädoyer für die Physiognomik, das der französische Abt Antoine Joseph Pernety als Ergebnis eines diesbezüglichen Akademiestreites 1768/69 mit Heinrich Catt zuerst 1769 als „Discours“ in französischer Sprache veröffentlichte.82 Pernety war zu dieser Zeit Königlicher Bibliothekar in Berlin. Er verfasste später noch weitere Akademiebeiträge zum Thema, die er 1776/77 als französischsprachiges Buch zusammenfasste, das 1784–85 ins Deutsche übersetzt wurde. Pernety spitzt das physiognomische Grundanliegen in der Terminologie des 18. Jahrhunderts zu, wenn er es bereits im Titel seines Buches von 1776/77 als „La connoissance de l’homme moral par celle de l’homme physique“ definierte.83 Schon in seinem Discours von 1769 unterscheidet Pernety eine allgemeine Physiognomik, die generell mit der ganzen Naturlehre zusammenfalle, von der Physiognomik im eingeschränkten Sinne als menschliche Charakterkunde. Im weiten Sinne sei sie eine allgemeine Merkmalskunde, die auf beobachtbaren „Unterschieden“ oder „Beziehungen“ zwischen den Dingen gründe. Im aufgeklärten Sinne postuliert er, dass sich alles auf „Natur“ und „Beobachtung“ gründen müsse. Bei Pernety bekommen Natursprache und Physiognomie eine umfassende Bedeutung. Mineralogie, Pflanzenkunde, Zoologie und selbst die Astronomie gehen ihm zufolge von beobachtbaren physischen Erscheinungen aus: von morphologisch bestimmbaren Formen und internen Verwandtschaftsverhältnissen („rapports“), wenn
80 81 82
83
schiedene Bücher abgetheilet …. Erstlich in Lateinischer Sprach beschrieben, nun aber durch ein Liebhaber in unsere hochteutsche Sprach verbracht. Franckfurt a.M.: Beatus, 1601. Vgl. Richard T. Gray. Aufklärung und Anti-Aufklärung: Wissenschaftlichkeit und Zeichenbegriff in Lavaters „Physiognomik“ (wie Anm. 7), S. 168. Zu Wolff und Lavater, vgl. Gray, ebd., S. 168f. Antoine Joseph Pernety: Discours sur la Physionomie, et les Avantages des Connoissances physionomiques. Berlin: George Jacques Decker, Impr. du Roi, 1769. Lavater zitiert Pernety im zweiten Band der Physiognomischen Fragmente als Sachverständigen für das verstellte Gesicht (wie Anm. 2, S. 57f.) Ähnlich in der deutschen Übersetzung: Des Abbts Anton Joseph Pernetys […] Versuch einer Physiognomik, oder Erklärung des moralischen Menschen durch die Kenntnis des physischen. 3 Bde., Dresden: Waltherische Hofbuchhandlung, 1784–1785.
168 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater sie ihre Gegenstände taxonomisch in Gattungen und Arten einteilen oder (bzw. und) ihnen verborgene Kräfte („vertus“) oder Eigenschaften zuweisen. Das Äußere werde aber auch zur Merkform des Inneren, wenn etwa auf Grund von Erfahrungen Gesteinsbrockenarten unterschieden werden, die im Inneren jeweils unterschiedliche kostbare Edelsteine enthielten. Aufgrund der Erscheinungsformen der Luft und des Himmels werden auch Prognosen über das Wetter gewagt. Pernety trennt die naturgeschichtliche Semiotik nicht streng von der Chiffren- oder Signaturenlehre, denn: „Tout porte à l’extérieur un signe distinctif, un signe hiéroglyphique, au moyen duquel un observateur en sçait très bien connoitre [sic.] les vertus secretes & les propriétés.“84 Im Unterschied zur allgemeinen Physiognomik konzentriert Pernety die menschliche Physiognomik auf den moralischen Menschen. Das liegt zunächst in einer aufgeklärten Wesensbestimmung begründet, die den Menschen – im Unterschied etwa zu Pflanze und Tier – durch diese Eigenschaft gegenüber der übrigen Natur ausgezeichnet sieht. „Moral“ ist dabei – wie im 18. Jahrhundert üblich – auch bei Pernety wesentlich durch die Gesellschaftsfähigkeit des Menschen definiert. Der Mensch passt sich in die Gesellschaft ein bzw. verkehrt in ihr durch seine höheren Fähigkeiten der Sprache und Gesittung. Doch geht die herausragende Bedeutung der menschlichen Physiognomik für Pernety nicht darin auf. Für ihn ist der Mensch gleichzeitig „pour ainsi dire, l’abrégé du grand monde“. Ihn zu studieren, bedeute daher „acquérir des connoissances relatives à tout l’univers“.85 Pernety stellt daher die Physiognomik in mehrfacher Hinsicht als „Fundament“ aller übrigen Wissenschaften vor: „elle est la science universelle, si on la considère dans tout le rigueur du terme.“86 Er geht noch weiter und bezeichnet in diesem weitgefassten Sinne die Gesetze samt ihrer Handhabung als die „Physiognomik eines Staates“ sowie die Geschichte als „Physiognomie der Vergangenheit“.87 Während Pernety die Physiognomik in seinem Discours von 1769 als „Kunst“ anpreist, mit deren Hilfe man die verborgenen Neigungen und Gefühle der Bösartigen und Listigen aufdecken könne, geht es ihm in der später ausgearbeiteten Buchveröffentlichung um die Integration von Traditionen, vor allem aus der künstlerischen Ausdruckstheorie und der medizinischen Physiognomik.88 Dabei interessierte sich der Autor, der bereits 1758 mit einem mytho-hermetischen, al-
84 Pernety:
Discours sur la Physionomie (wie Anm. 82), S. 13. Ebd., S. 14. 86 Ebd., S. 5. Vgl. auch Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe (wie Anm. 6), S. 60. Während Blankenburg (Wandlung und Wirkung der Physiognomik, wie Anm. 17, S. 202f., Anm. 18) die Formel als demokratisch-universalistisch auffasst, deutet sie Heinrich Clairmont in einem pythagoreischen und palingenetischen Sinne (… un tableau vivant. Herders physiologisch fundierte Psychologie, Lavaters Physiognomik und ein Disput in der Berliner Akademie der Wissenschaften, wie Anm. 56; zum Streit von Pernety und Catt, S. 63–69, hier S. 67). 87 Pernety: Discours sur la physionomie (wie Anm. 82), S. 12f. 88 Heinrich Clairmont: … un tableau vivant (wie Anm. 56), S. 68. 85
5. Die Physiognomik als das Äußere eines Inneren
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chemistisch ausgerichteten Lexikon hervorgetreten war,89 auch für esoterische Denkzusammenhänge im weitesten Sinne. So greift er Ficino und Fludd auf und beruft sich auch auf neuere Esoteriker wie Swedenborg und Oettinger. Im zentralen Punkt des Leib-Seele-Verhältnisses bezieht er sich nicht, wie man erwarten könnte, auf Leibniz’ Monadologie, sondern verweist in einer Anmerkung vielmehr auf Swedenborg, wenn er schreibt: Die Vernunft lehrt uns, daß, wenn zwischen der Seele, oder dem Innerlichen des Menschen, und zwischen dem Körper, als seinem Aeusserlichen, eine vollkommene Harmonie statt findet, so muß die unendliche Verschiedenheit der Denkungsart der Menschen […] auch eine unendliche Verschiedenheit in ihrem Aeusserlichen hervorbringen; woraus man also schliessen muß, daß das Aeusserliche des Körpers je nach dem Karakter verschieden ist.90
Swedenborg ist zugleich auch ein physiologischer Gewährsmann, wenn es um die Frage geht, ob und wo die Seele im Körper zu verorten sei. Pernety vertritt die These, dass die „Seele, oder der Verstand“ nicht etwa im Gehirn zentriert sei, sondern „zugleich überall in allen empfindlichen Theilen verbreitet“ sei.91 Lavater, der Pernety in seinen Physiognomischen Fragmenten erwähnt, konnte sich durch dessen weitreichendes Verständnis der Physiognomik in seinem Vorhaben bestätigt sehen. Daher betont er wiederholt seine Anschlüsse an die zeitgenössische Naturforschung, indem er sich etwa auf Newton, Buffon, Anatomen wie Morgagni und Meckel oder Physiologen wie Haller beruft. Der Ausgangspunkt von Lavaters Physiognomik ist die These, dass Körper und Seele in einem „genauen, unmittelbaren Zusammenhange“, ja sogar in einer Kausalität zueinander stehen. Das „Äußerliche“, also die wahrnehmbare physische Erscheinung, ist für ihn die „Oberfläche“ eines unsichtbaren „Inneren“, dies aber in dem Sinne, dass das Äußerliche „nichts als die Endung, die Gränzen des Innern“ ist, so wie umgekehrt auch das Innere nur „eine unmittelbare Fortsetzung des Aeußern“ ist.92 Damit scheint Lavater über eine bloße Korrespondenz von Seele und Leib hinauszugehen, wie man sie philosophisch auf Grund der wesensmäßigen Trennung etwa in prästabilistischen oder okkasionalistischen Deutungen verstand. Das Verhältnis von Leib und Seele, das bei Lavater aber nicht immer widerspruchsfrei bleibt, bestimmt er grundsätzlich durch ein Kontinuum. Lavater holt sich Hilfe von außen. Im dritten Band etwa springt ihm ein ungenannt bleibender „Oldenburgischer Gelehrter“ mit einer Erklärung bei. Sie setzt beim überkommenen platonistischen Bild von der Kette der Wesen an, um von da aus über die Klimatheorie fast modern zu einem geradewegs ökologischen Einfluss
89 Pernety:
Dictionnaire mytho-hermétique, Paris 1758. Versuch einer Physiognomik (wie Anm. 83), Bd. I, S. 175f. 91 Ebd., Bd. I, S. 11. 92 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, S. 33. 90 Pernety:
170 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater der unmittelbaren Lebenswelt mit ihrem Klima sowie dem Boden und der Nahrung überzuleiten: Überall ist Kette, Harmonie, Würkung und Ursache in der Natur; auch zwischen dem äußern und innern Menschen; wir arten nach unsern Ältern, nach der Erde, die uns trägt, nach der Sonne, die uns wärmt, nach der Nahrung, die sich mit unserer Substanz assimiliert, nach den Schicksalen unseres Lebens. Alles das modifizirt, reparirt und ciselirt am Geist und Körper; und die Spur des Meißels wird sichtbar; jeder Schwung, jede Bucht des äußeren Contours schmiegt sich an die Individualität des innern Menschen, wie ein feuchtes Gewand im Bad.93
Nach Lavater hat jeder Mensch nur „einen gewissen Spielraum, in dem sich alle seine Kräfte und Empfindungen regen“. Zwar ändere sich jedes Gesicht alle Augenblicke, aber eben nur in der jedem „eigenthümliche[n] Art von Veränderlichkeit“.94 In einem ähnlichen Sinne wird später Goethe vom inneren „Etat“ sprechen, einem inneren Haushalt, der jedem Lebewesen die Grenzen seiner, hier allerdings artspezifischen Metamorphose vorgibt. Für Lavater können die körperlichen Zeichen nur deshalb als Ausdruck geistiger und moralischer Qualitäten gelesen werden, weil er den menschlichen Leib als Manifestation der Seele betrachtet. Die Seele steht für ihn zwar in einem holistischen Verhältnis zum Körper, ist aber nicht identisch mit ihm und bleibt selbst unsichtbar und transzendent. Mit der Seele partizipiert der Mensch gewissermaßen am göttlichen Funken und ordnet sich in den Heilsplan ein. Leib und Seele können für den Theologen Lavater nicht zusammenfallen, weil der sterbliche Leib und die unsterbliche Seele nicht in Eins gesetzt werden können. Das Leib-Seele-Problem ergibt sich für das Christentum nicht zuletzt dadurch, dass die menschliche Individualität gleichzeitig in Sterblichkeit und Unsterblichkeit und damit in Geschichte und Heilsgeschichte bzw. in Zeitlichkeit und Ewigkeit angesiedelt wird. Für viele seiner Zeitgenossen und auch für Lavater stellt das idealgenetische Modell einer hierarchisch-graduellen Stufenleiter der Natur, das der Schweizer Biologe und Naturphilosoph Charles Bonnet vertrat, eine Lösung des Leib-Seele-Problems dar. Die ‚Stufenleiter der Wesen’ war eine Vorstellung, die bis in die Antike zurückreichte und in der sich schon seit langem esoterische und christliche Traditionen überlagerten.95 Bonnets Scala naturae, die die mannigfaltigen Formen der Naturreiche als eine kontinuierlich fortschreitende Leiter anordnete, konnte schöpfungsanalogisch – über den Menschen hinaus – in kontinuierliche Stufengrade höherer, himmlischer Wesenheiten fortgedacht werden. In diesem Sinne war die Scala naturae anschlussfähig auch an Bonnets Vorstellung einer kontinuierlichen Höherentwicklung der Menschen, die sowohl im Diesseits als auch im Jenseits nach Vervoll-
93
Ebd., Bd. III, S. 89. Ebd., Bd. IV, S. 41. 95 Vgl. Arthur Oncken Lovejoy: Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens, übers. v. Dieter Turck. Frankfurt a.M. 1985. 94
5. Die Physiognomik als das Äußere eines Inneren
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kommnung bis zur Erlösung bzw. zur Unsterblichkeit streben. Bonnet hatte diesen Ansatz 1769 in seinen Idées sur l’état futur des êtres vivants, ou Palingénésie philosophique vertreten, ein Werk, das Lavater in Teilen ins Deutsche übersetzt und 1771 in Zürich veröffentlicht hatte. In seinen Physiognomischen Fragmenten räumt Lavater dem apologetischen Schweizer Naturforscher wohl auch deshalb den allerersten Rang ein. Bonnets graduelles Modell, nach dem sich die Natur in immer vollkommeneren Werken organisiert und damit optimiert, erlaubt es Lavater auch, im Vorgriff auf die zukünftige seelische Vollkommenheit schon im Diesseits bei den Menschen verschiedene Stufen der Vollkommenheit anzunehmen. Dabei verbindet Lavater die größere Vollkommenheit mit einer Zunahme des geistigen, sublimen Leibs. Er baute die Erkenntnisse des Naturforschers Bonnet in seine christliche Überzeugung ein, weil dieser in seiner Lehre noch Platz für die unsterbliche Seele ließ. Gleichzeitig integrierte er grundlegende esoterische Vorstellungen wie die der aufsteigenden Wesen und des sublimen Leibes. Je mehr Lavater vom Modell der graduellen Vervollkommnung ausging, umso stärker geriet er aber in einen Widerspruch zu seiner anfänglichen Sicht der Physiognomik. Die vom Heilsplan geforderte Entelechie kann nicht mit Lavaters morphologisch ausgerichteter Festlegung auf statische Ausdrucksmerkmale zur Deckung gebracht werden, weil diese einen weitgehend statischen Charakter voraussetzen. Dieser Widerspruch zieht sich kontinuierlich durch Lavaters physiognomisches Werk. Dem Theologen Lavater war es ein Anliegen, auch dem künftigen Erlösungswerk Christi seinen Platz zu erhalten. Er stellt daher das Geistige in einen Gegensatz zum Fleischlichen, das mit Laster und Geschlechtlichkeit verbunden wird. Ferner setzt er Schönheit und harmonische Proportionen gegen Hässlichkeit, Unförmigkeit und Disproportion. Die Zuordnungen von Tugend und Laster zu Schönheit und Hässlichkeit, Feinstofflichkeit und Grobstofflichkeit sind somit nicht nur soziale bzw. ästhetische, sondern auch heilsgeschichtliche Unterscheidungen. Ferner erhofft Lavater, dass sich die Lichtgestalten gegenseitig durch Sympathie auf beiden Ebenen der Geschichte und Heilsgeschichte fördern. Lavaters religiöse Vorstellungen, die hier in das Ästhetische übergehen, verbinden seinen Ansatz mit der älteren Physiognomik, von der sich Lavater aber mit seiner empirischen Merkmalskunde absetzen wollte. Sie steht in den bislang vorgestellten Aspekten seines Ansatzes auch im Gegensatz zur dynamischeren Fassung des Charakters, wie sie im 18. Jahrhundert als spannungsreiche Mischung von Anlagen und Kräften diskutiert wurde. Mit einzelnen Modifikationen findet Lavater jedoch Anschluss an die dynamischere Sicht des Charakters. Im Anschluss an Bonnet gründet Lavater seine Physiognomik auf den zentralen Gedanken, dass das Lebendige durch eine einheitliche Organisation und diese wiederum durch die sie bedingende Lebenskraft bestimmt ist.
172 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Die Natur wirkt in allen ihren Organisationen immer von innen heraus; aus einem Mittelpunkt auf den ganzen Umkreiß. Dieselbe Lebenskraft, die das Herz schlagen macht, bewegt den Finger. Dieselbe Kraft wölbt den Schädel – und den Nagel an der kleinsten Zähe.96
Indem die unsichtbare Lebenskraft die körperliche Gesamtorganisation hervorbringt, schafft sie sich nach Lavater mit dem Körper ganzheitlich auch einen Körperausdruck. „Jeder Theil eines organischen Ganzen ist Bild des Ganzen“, schreibt Lavater im vierten Band der Physiognomischen Fragmente. Weil jeder Theil in einem genauen „Verhältnis“ zu dem Körper stehe, „von dem er einen Theil ausmacht“, könne „aus der Länge des kleinsten Gliedes, des kleinsten Gelenkes an einem Finger, die Proportion des Ganzen, [d.h.] die Länge und Breite des Körpers gefunden […] werden“.97 Auch in dieser Hinsicht kann sich Lavater auf die zeitgenössische Anatomie berufen. So wie die gegenwärtigen Meisteranatomen jetzt schon imstande seien, aus einzelnen Knochen (etwa aus einem Haufen verworrener Skelette) das Skelett eines individuellen Körpers zu rekonstruieren, könne ein überlegener, physiologisch ausgebildeter Physiognom, aus einem einzigen „Gelenke oder Muskel die ganze äußerliche Bildung“ und „den ganzen Charakter“ eines Menschen „calculiren“.98 Mit (dieser bei Lavater noch in den Bereich der Engel ausgelagerten) Aufgabenbestimmung einer zukünftigen Physiognomik war Lavater in gewisser Weise der Naturwissenschaft seiner Zeit um einige Jahrzehnte voraus. Um 1800 traut sich Cuvier im Bereich der paläontologischen Morphologie zu, aus organischen Einzelfundstücken wie den Zähnen die Gesamtgestalt ganzer ausgestorbener Tierarten (re-)konstruieren zu können.99 Lavater aber geht es im Rahmen seines physiognomischen Ansatzes um mehr als den morphologischen Bauplan und das Erscheinungsbild eines Lebewesens. Nicht die Leiblichkeit des Menschen, sondern der sie mit bedingende und sich in ihr aussprechende Charakter soll aus dem physiognomischen Mikroteil holistisch erschlossen werden. Als weitere Konsequenz seines holistischen Grundansatzes betont Lavater eine extreme Homogenität und Geschlossenheit der Form: „Alles ist länglicht, wenn es der Kopf ist. Alles rund, wenn der [sic.] rund ist.“ Alles ist gewissermaßen aus einem Guss. Das geht von der Statur über „Farbe, Haar, Haut, Adern, Nerven, Knochen“ über „Stimme, Gang und Handlungsweise“ bis in den „Styl“ und die „Leidenschaft“ hinein.100 Es deutet sich damit eine Ausweitung der Physiognomik über das Gesicht hinaus an. Auch denkt Lavater über eine Physiognomie der Stimme nach. Er interessiert sich, wie schon erwähnt, für die Hände als zweitwichtigstes Ausdrucksorgan und bezieht – in Vorwegnahme moderner Graphologie – auch die Handschrift mit 96
Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. IV, S. 40.
97 Ebd. 98
Vgl. Von der Physiognomik. In: Lavater: Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln (wie Anm. 4), S. 26. Vgl. Dohm: „Aussichten in die Ewigkeit“ (wie Anm. 16), S. 127. 99 Vgl. Blankenburg: Wandlung und Wirkung der Physiognomik (wie Anm. 17), S. 186f. 100 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. IV, S. 40.
5. Die Physiognomik als das Äußere eines Inneren
173
ein, die er als ein ins Graphische verlängertes persönliches Ausdruckszeichen versteht. Trotz seines Anschlusses an die biologischen, medizinisch-physiologischen und anatomischen Diskurse über Körper und Organisation steht für Lavater weiterhin die menschliche Seele als Instanz über bzw. hinter der organischen Lebenskraft. Er begreift die Seele nicht mehr als eine einheitliche „einfache Substanz“, sondern denkt sie sich aus unterschiedlichen Kräften zusammengesetzt, die gemeinsam den „unsichtbaren, herrschenden, belebenden Theil meiner Natur“ bilden.101 Während die Denkkraft in der Stirne und die Willenskraft im Herzen zu lokalisieren seien, wirke die vitale Kraft im ganzen Körper. Sie konzentriert sich Lavater zufolge besonders in Hand und Mund. Wenn Lavater seine Physiognomik als „Kraftdeutung“ versteht, so bezieht er damit – neben den göttlichen – sowohl die höheren moralischen als auch die vitalen Kräfte mit ein. Damit ist potentiell ein Übergang zur Vorstellung eines dynamischen Kräftespieles denkbar, etwa in dem Sinne, dass ein Gesicht auch als ein spannungsgeladener Ausdruck widersprüchlicher Kräfte lesbar würde. Im konkreten Fall kommt Lavater auch nicht umhin, auf widersprüchliche Tendenzen eines Ausdrucks einzugehen. Je mehr er sich im Verlaufe seiner Studien aber genötigt sieht, den Charakter als ein komplexes Kräftespiel unterschiedlicher Anlagen zu begreifen, umso mehr untergräbt er seine eigene Vorstellung eines holistisch geschlossenen Charakters. Zumindest am Beginn seines Unternehmens hat Lavater das Verhältnis von moralischen und vitalen Kräften in einem übergeordneten Modell monadischer Perspektivität verankert. Mit diesem übernimmt er auch esoterische Positionen der Frühen Neuzeit, die sich in der Monadologie niedergeschlagen haben.102 So schreibt er 1772 im programmatischen Aufsatz „Von der Physiognomik“: Jede Modification meines Körpers hat eine gewisse Beziehung auf die Seele. Eine andere Hand als ich habe, würde schon eine ganz andere Proportion aller Theile meines Körpers fordern, folglich einen ganz anders modificirten Körper; das heißt, meine Seele würde die Welt durch ein ganz anderes Perspectiv, folglich unter einem andern Winkel ansehen müssen; und dann wäre ich ein ganz anderer Mensch.103
Nicht nur Einzelorgan und Gesamtkörper, auch Einzelorgan und Seele stehen für Lavater in einem holistischen Gesamtzusammenhang. „Daß ich also eine solche Hand habe, und keine andere, giebt zugleich zu erkennen, daß ich eine so und so bestimmte Seele habe; und dies geht bis auf jeden Muskel, ja jede Faser fort.“104
101 Ebd.,
Bd. I, S. 34. Monadologie, vgl. Hanns-Peter Neumann (Hg.): Der Monadenbegriff zwischen Spätrenaissance und Aufklärung. Berlin [u.a.] 2009. Sowie ders.: Monaden im Diskurs. Monas, Monaden, Monadologien (1600 bis 1770). Stuttgart 2013 (= Studia Leibnitiana, Supplementa 37). 103 Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln (wie Anm. 4), S. 25. 104 Ebd. 102 Zur
174 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Damit wird nicht allein impliziert, dass am menschlichen Körper alles bis ins Kleinste bedeutsam sei. Es wird auch impliziert, dass man über diese kleinsten Bedeutungsträger Aussagen über die metaphysische Seele in ihrer monadisch-perspektivischen Stellung treffen könne. Nach Lavater muss der Physiognom selbst über einen perfekt organisierten Leib sowie über Herzensgröße, perfekte Beobachtung und Sehergabe verfügen. Lavater beansprucht beides: Nur so kann er empfänglich sein für die Empirie, aber auch für alles Vollkommene im Irdischen wie auch für die Vorzeichen einer noch kommenden, subtileren heilsgeschichtlichen Vollkommenheit.
6. Die Physiognomischen Fragmente und die Bildkünste In der älteren Mediengeschichte kam vor allem der Malerei und Graphik die Aufgabe zu, dem menschlichen Gesicht einen angemessenen visuellen Ausdruck zu geben. Seit der Renaissance war mit der Porträtkunst eine eigene Gattung entstanden, die zur Betrachtung eines subtil gemalten physiognomischen Ausdrucks einlud, repräsentative Persönlichkeiten und interessante Individuen zu erforschen. In den Bildkünsten entstanden Porträts, bei denen durch Perspektivierung, Akzentuierung, Konzentration, Weichzeichnung, Modellierung und/oder Abbreviatur eine interpretierende Sicht auf den Porträtierten erzeugt wurde. Die Porträts wurden von den Auftraggebern danach beurteilt, ob sie ihrem Selbstbild entsprachen, wobei jedoch der Maßstab nicht außer Acht gelassen wurde, ob eine Übersetzung aus der sozialen Realität in das isolierte Bild gelungen war. In jedem Fall konnten die möglichen Beteuerungen einer Naturtreue nicht darüber hinweg täuschen, dass die Porträts ihre Wirkung nur dank ihrer ästhetischen Besonderheiten erzielen. Diese reichten (neben den bereits erwähnten) etwa von der idealen Anthropometrie antiker oder neuzeitlich-renaissancistischer Vorbilder über die Geschmacks- und Schicklichkeitsvorstellungen der Epoche bis zu der jeweiligen besonderen Gattungskonvention. Es machte einen großen Unterschied aus, ob das Bildnis einer Person etwa in ein Historienbild oder in ein Genrebild eingepasst war. Dennoch lässt sich grundsätzlich sagen: Ohne die Grundannahme eines „inneren Menschen“, der sich in seinen Gesichtszügen ausspricht bzw. sie beseelt und belebt, würden die Linien und farbigen Flecken der bildenden Künste nicht als Ausdruck einer Persönlichkeit gelesen werden. Lavater nennt die „Mahlerkunst“ „Mutter und Tochter der Physiognomik.“105 Sie ist einerseits Urheberin des Porträts und der Physiognomik, nimmt andererseits aber auch physiognomisches Wissen bzw. theoretische Fundierungen seitens der Wissenschaften auf. In diesem Sinne kam es Ende des 17. Jahrhunderts zu einer einflussreichen Systematisierung des Gesichtsausdrucks im hochgeschätzten Genre der
105 Physiognomische
Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, S. 54.
6. Die Physiognomischen Fragmente und die Bildkünste
175
Historienmalerei. Der französische Hofmaler Charles Le Brun legte sie, wie Jennifer Montagu herausgearbeitet hat, auf der Grundlage von Descartes‘ Die Leidenschaften der Seele (1649) vor.106 In seiner Akademie-Rede von 1688, der „Conférence sur l’expression générale et particu1ière des passions“, behandelte er die Frage, wie die Leidenschaften und Gefühle, so wie sie sich auf dem menschlichen Antlitz ‚malen‘, eindeutig und wiedererkennbar im Bild dargestellt werden könnten. Ein Liniensystem für Augenbrauen, Augen, Nase und Mund war das zeichnerische Hilfsgerüst, mit dem die menschlichen Züge beschrieben und fixiert werden sollten. Le Bruns rationalistische Konstruktion, die weniger auf Beobachtung als auf Prinzipien gestützt war, blieb während des gesamten 18. Jahrhunderts einflussreich. Seine Ausdrucksmodelle wurden zum Teil in den Bildtafeln von Diderots Enzyklopädie abgedruckt.107 Noch der Genremaler Greuze wird sich in der akzentuierten Mimik seiner Figuren in Teilen an die rationalistischen Modelle Le Bruns halten und nicht nach der empirischen Beobachtung vorgehen.108 Auch Lavater kannte Le Bruns physiognomische Ausdruckstypologie und erwähnt sie eigens in seinem Werk.109 Während die Historienmalerei und die Porträtmalerei vor allem dem heroischsublimen Ausdruck verpflichtet waren und die Wiedererkennbarkeit der historischen Personen zu beachten hatten, waren für Lavater die niederen Genrekünste ergiebiger, weil sie das Alltagsleben zum Thema hatten. Sie boten eine Darstellung von Menschen, die dem Betrachter wie Personen erschienen, aber zugleich typisiert waren. Besonders die Personenstaffage in Stadt- und Landschaftsveduten boten nicht nur eine berufsständische Zuordnung, sondern auch Charaktertypen. Eine wichtige Innovation ging von dem seit den 1730er Jahren begründeten neuen Genre der moralsatirischen Bilderserie des Malers und Stechers William Hogarth aus. Er begriff seine Bilderfolgen als gemaltes Theater, das statt der dramatischen Rede eine subtile Körpersprache der Mimik und Gebärden einsetzte. Sie wirkte auch in den gestochenen Reproduktionen weiter. Hogarth brillierte, indem er Situationen, Zustände und Handlungen durch eine leicht überspitzende Physiognomik und Pathognomik zum humoristischen Ausdruck brachte. Hogarths Bilderfolgen inspirierten bekanntlich Lichtenberg, der dem deutschen Publikum in einem eher tastenden und abwägenden Gedankengang deren Komplexität nahe zu bringen hoffte.110 Bei den Kupferstechern beeinflusste Hogarth in
106 Vgl.
Jennifer Montagu: „The Expression of the Passions“. The Origin and Influence of Charles Le Brun’s Conférence sur l’expression générale et particulière. New Haven, London 1994. 107 Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers (wie Anm. 23); Tables, Bd. II, Teil II („Dessein“; „Expression des passions“, Tafeln XXIV–XXVI). 108 Zum Einfluss Le Bruns auf Greuze vgl. Montagu (wie Anm. 106), S. 85. 109 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. IV, S. 161. 110 Vgl. meine Studie: Moral zwischen Anthropologie und Witz. Hogarths moralische Bilderserien und ihre Lektüre durch Lichtenberg. In: Physis und Norm. Neue Perspektiven der Anthropologie im 18. Jahrhundert. Hg. v. Manfred Beetz, Jörn Garber, Heinz Thoma. Göttingen 2007, S. 460–481.
176 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Deutschland besonders Chodowiecki, der den moralsatirischen Impuls ins eher Sentimentalische wendete. Chodowiecki war einer der wichtigsten Künstler, die Lavater für sein Unternehmen engagierte. Aber Lavater profitierte auch unmittelbar von Hogarths gemalten Charaktertypen. (Dazu noch später.) Gegenüber der Literatur hat das gemalte Porträt den Vorteil, unter Verzicht auf Handlung ein vieldeutiges Bild für den simultanen Eindruck zu erzeugen. Weil Lavater nicht den Porträtierten, sondern ein mediales Porträt vor sich hatte und damit auch keine Schicklichkeitsgrenzen zu beachten hatte, konnte er diese simultane Vieldeutigkeit nun analytisch bearbeiten. Doch fehlt es Lavater an Verständnis, dass ein künstlerisches Porträt grundsätzlich etwas anderes ist als seine zeichnerischen Abstraktionen, in denen mittels graphischer Linien die wesentlichen Züge einer Person herausgearbeitet werden sollten. Weil Lavater das Bildhafte in seinen verschiedenen Ausprägungen zum Referenzmedium seiner Physiognomik gemacht hatte, stieß er auf die Vielschichtigkeit und Komplexität des künstlerischen Ausdrucks, wie sie von Diderot als künstlerischen Hieroglyphik diskutiert worden waren. (Vgl. Teil B.) Lavater missachtet jedoch den Unterschied, dass zwar in der Porträtkunst, im Schauspiel oder in der Karikatur künstlerische „Hieroglyphen“ eine Wirkung erzielen, dass er aber nicht von diesen Wirkungen ausgehen und sie für das Alltagsleben verallgemeinern kann. Es ist vielleicht erlaubt, mit einem Verweis auf die treffende Beschriftung „Ceci n’est pas une pipe“ im Bild einer Pfeife von René Magrittes La trahison des images die sonst nötigen Ausführungen abzukürzen. Lavater naturalisierte und ontologisierte die in Bildern jeglicher Art komprimierte Physiognomie zu einem vermeintlich unwillkürlichen und damit unverstellten natursprachlichen Wesensausdruck. Indem Lavater die Organik und den Holismus des Lebendigen gegen das ‚Stückwerkhafte’ der Bildkünste ausspielt, betont er zwar oft, dass das lebende Individuum in einem Bild nur unangemessen wiedergegeben werden kann.111 Während der Künstler im Bild abstrakt konstruiert und kombiniert, in seinen Worten: aus „Stückwerken“ ‚zusammenflickt’, müsse sich die Physiognomik, die im Individuum nach den Ausdruckszeichen der unsichtbaren, inneren Eigenschaften sucht, an das gegebene, gewachsene Äußere des Individuums halten. Dennoch geht er faktisch unbefangen von den Bildern eines Individuums und nicht von diesen selbst aus. Er reflektiert auch nicht, dass die veräußerlichte und signalhafte Zuschreibung von Charaktereigenschaften seiner Absicht widerspricht, das Individuum holistisch in einer religiös gemeinten Leib-Seele-Beziehung zu verstehen.
111 Vgl.
Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, S. 40f.
7. Wissenschaftliche Neutralität versus allegorische Wertung
177
7. Wissenschaftliche Neutralität versus allegorische Wertung Stärker als es die szientifisch verstandenen Klassifikationen und analytisch zergliedernden Operationen vermuten lassen, bauen die Physiognomischen Fragmente auf einem allegorischen Grundverständnis auf. Die ältere Signaturenkunde war von einer Naturhermeneutik geprägt, die ihre Bestimmungen weitgehend auf geheimen analogischen Zeichen aufbaute. Dinge und Lebewesen sollten sich in ihrem Charakter durch verborgene, ihnen jeweils eingeschriebene Figuren offenbaren. Sie galt es aufzuspüren und in ihrer Bedeutung für den Menschen zu entziffern. In diesem Sinne kam besonders der italienische Arzt Giambattista della Porta zu einer ersten, weiter ausgreifenden Physiognomik. Sie erschien 1586 in Neapel unter dem Titel De humana physiognomia Libri quattuor und fand bis ins 17. Jahrhundert hinein eine außerordentliche Verbreitung. In Verlängerung einer antiken Tradition, die schon in der pseudo-aristotelischen Physiogno mika vorgegeben war, räumte Della Porta besonders dem Vergleich der Gestalt von Mensch und Tier einen großen Stellenwert ein. Er geht davon aus, dass jede Tierart eine Gestalt besitze, die genau ihren Eigenschaften und Angewohnheiten entspreche. Treten ähnliche Formen auch bei den Menschen auf, so kann man annehmen, dass sie dieselben Charaktereigenschaften und Anlagen wie das Tier haben.112 Lavater bezieht sich vor allem in den ausgreifenden tierphysiognomischen Teilen seiner Physiognomischen Fragmente auf die entsprechenden Bildmaterialien von Della Porta, unterzieht sie dabei aber einer eingehenden Kritik. Einerseits konstatiert er im Unterschied zu Della Porta die „Unähnlichkeit“ von Mensch und Tier.113 Andererseits wirft er Della Porta vor, dass er nicht jene Tiere ausgewählt habe, an denen – wie an „Affen, Pferde[n] und Elefanten“ – „am meisten Aehnlichkeit mit der Menschheit gefunden wird.“114 Statt aber eine wertfreie Physiognomik der Tiere zu entwickeln, wie sie schon Buffon in seiner vielbändigen Naturgeschichte zu Lavaters Lebzeit vorgelegt hatte, moralisiert Lavater die Menschen und Tiere nach Maßgabe einer konventionellen Topik biblischer und sprichwörtlicher Provenienz und bleibt damit hinter den Erkenntnismöglichkeiten seiner Zeit zurück. So galt ihm etwa der Esel als stur, das Raubtier als gierig und die Schlange als hinterlistig. Der menschliche Körper galt ihm als Tempel der Seele, das Gesicht als der sichtbarste Spiegel menschlicher Gottesebenbildlichkeit und im Gesicht die Stirn als Tempel des Geistes. Die Charakterbestimmung der Tiere war für ihn im Übrigen ein Beweis, dass die Physiognomik grundsätzlich möglich war und in differenzierterer Weise auch auf den Menschen übertragen werden könnte. 112 Vgl.
Ulrich Reißer: Physiognomik und Ausdruckstheorie der Renaissance (wie Anm. 78), S. 89. schon im Aufsatz „Von der Physiognomik“ (wie Anm. 4), S. 43. 114 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. IV, S. 57. In Bezug auf den Affen irrt sich Lavater: der Vergleich mit dem Affen kommt bei Della Porta zwar durchaus vor, dies aber in einem moralisch-charakterlichen und nicht etwa in einem genetischen Sinne. 113 So
178 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Noch wichtiger erscheint, dass Lavater aus diesen allegorischen Charakterzuschreibungen Rückschlüsse versucht, um die morphologischen Eigenschaften der Tierkörper zu bewerten. Im Detail galten ihm z.B. bestimmte Schädelformen, Schnauzentypen bzw. die sie tragenden Knochenpartien per se mit charakterlichen Dispositionen verbunden. Lavater ging von dem zentralen Glaubenssatz der göttlichen Ebenbildlichkeit aus, in dem die menschliche Physiognomie grundsätzlich vom Tier unterschieden wird. Für ihn bestand das Vollkommenheitsideal der menschlichen Gattung in einem wohlgeordneten, schönen, harmonischen Körper, der zugleich Ausdruck der moralischen Schönheit und Vollkommenheit war. Karl Riha und Carsten Zelle ordnen Lavater daher in den engeren Einflussbereich von Shaftesbury und Hutcheson ein.115 Insbesondere Shaftesbury hatte den alten „Kalokagathia“-Gedanken, das heißt die Vorstellung einer in der antiken Adelsethik ursprünglich politisch gedachten Tugendhaftigkeit, im weiteren Anschluss an Plotin und die Cambridge Platonists wieder aufgenommen und ästhetisch gewendet, so dass Vorstellungen wie die der ‚sittlichen Schönheit’ oder auch der ‚schönen Seele’ damit verbunden werden konnten.116 Lavater, der schon aufgrund seines Bildarchivs von der ebenfalls neuplatonistisch beeinflussten künstlerischen Tradition her dachte, galt besonders das menschliche Antlitz als „Spiegel der Gottheit“. Umso schlimmer, ja gerade teuflisch erschien es ihm, wenn einige Menschen mit monströs erscheinenden Physiognomien eine (vermeintliche) Nähe zum Tierischen aufwiesen. Um typologisch den tiefsten Grad des menschlichen Lasters darzustellen, übernahm Lavater besonders scheußliche Charakterköpfe aus Hogarths satirischen Bilderserien, obgleich sie deutlich als Karikaturen zu erkennen waren. Lavaters manichäische Sicht auf das Spektrum der Physiognomien und seine fehlende Reflexion künstlerischer Porträts im Verhältnis zur Empirie verband sich mit einer Isolierung der Hogarthschen Charakterköpfe aus ihrem Zusammenhang. Er veranlasste, dass sie aus den szenisch-situativen Kontexten der Bilderzählungen isoliert und als Gruppe in einem eigenen Tableau zusammengestellt wurden. Mit religiöser Emphase explizierte er an ihnen ein abgestuftes System gradueller menschlicher Verworfenheit, das von der Trunksucht bis zum Verbrechen führt. Bei der Übernahme der Charaktere verließen sich Lavater und sein Stecher indes nicht auf die Physiognomien allein, sondern fügten als Signal der Verworfenheit allegorisch noch ein Schwein hinzu.117 Dabei war es selbst Lavater deutlich, dass Hogarth hier keine realistische Darstellung des Londoner Pöbels gegeben hatte. Er beruhigte sich mit dem Hinweis, dass Hogarth die Verworfenheit wohl ebenso kunstvoll aus Einzelzügen des Hässlichen
115 Karl
Riha u. Carsten Zelle: Nachwort. In: Lavater: Von der Physiognomik und Hundert physiognomische Regeln (wie Anm. 4), S. 128. 116 Vgl. W. Grosse:[Art.] Kalokagathia. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. IV, Darmstadt 1976, Sp. 681–684, hier Sp. 681f. 117 Vgl. Graczyk: Moral zwischen Anthropologie und Witz (wie Anm. 110), S. 463–465.
7. Wissenschaftliche Neutralität versus allegorische Wertung
179
zusammengesetzt habe wie auf der anderen Seite auch die Idealschönheit aus einer Kombination erlesener Einzelzüge zusammengesetzt werde. Lavater war bewusst, dass er eine Ästhetik übernahm, die den grotesken Körper als satanisch-triebhafte Gegenspannung zur platonischen Idealschönheit verstand. Seinem Unternehmen kam gelegen, dass abweichende Gesichtszüge moralisch bewertet wurden. Lavater konnte so die Erwartung haben, dass sich moralisch-geistige Defizite in entsprechenden Verbrecher-, Debilen- oder Schurkenphysiognomien erkennen ließen. Das hatte Folgen auch für die Bewertung von ethnisch fremden Physiognomien, die nicht den mitteleuropäischen Geschmacksnormen entsprachen. Lavater war sich sicher, dass ein Genie wie Leibniz weder im Kopfe eines Toren noch „im Schädel eines Lappen die Theodicee erdacht“ hätte.118 Und Newton hätte niemals „im Kopfe eines Labradoriers, der weiter nicht, als auf sechse zählen kann, und was drüber geht, unzählbar nennt, die Planeten gewogen und den Lichtstral gespalten“. Der Schweizer Theologe steht mit dieser ins Zivilisationsgeschichtliche gewendeten Meinung nicht allein da, denn die zitierten Beispiele finden sich auch in der Physiognomik Pernetys.119 Trotz dieser Grundeinstellung interpretierte Lavater im Einzelnen differenzierter. Er stellt ein breites Spektrum von normwidrigen Physiognomien vor, die er als Ausdruck widersprüchlicher Kräfte interpretiert. Entsprechend betont er, dass die Menschen Kräfte und Anlagen in sich tragen, die potentiell zum Guten wie zum Schlechten gewendet werden können. In diesem Sinne löst er auch die an mehreren Stellen seines Werkes ausgetragene Diskussion um die Physiognomie des Sokrates auf, dessen Hässlichkeit ebenso sprichwörtlich sei wie seine Tugendhaftigkeit und Weisheit.120 Prinzipiell gibt es also auch für Lavater eine Verbesserungsfähigkeit trotz der Ausgangsphysiognomie. Daher kann er seine Physiognomischen Fragmente als Beitrag „zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe“ verstehen, wie es im Untertitel seines Werkes heißt. Noch in einer weiteren Hinsicht weicht Lavater von seiner Grundhaltung ab. Die knorrigen Gesichtszüge der zeitgenössischen Berliner Dichterin Anna Louisa Karsch, damals allgemein als „Karschin“ bekannt, widersprachen krass den physiognomischen Ideal-Vorstellungen von weiblicher Anmut. Lavater inszeniert rhetorisch, wie er – als Mann und als Physiognom – über seinen eigenen Schatten springen muss, um schließlich doch der Dichterin mit ihrer „hohen männlichen Stirn“ den geschuldeten Respekt zollen zu können: „’Lieber keine Verse machen, als so aus-
118 Physiognomische
Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, S. 46. M. Blankenburg: Wandlung und Wirkung der Physiognomik (wie Anm. 17), S. 203, Anm. 18. 120 Diese Diskussion ist oben im Zusammenhang mit Herders Rezension des zweiten Bandes von Lavaters Physiognomik behandelt worden, die Lavater seinerseits auszugsweise im dritten Band abdruckt. Herder sprach sogar von einer „Silenbildung“ des Sokrates. (Vgl. w.o. S. 164.) 119 Vgl.
180 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater sehen!’ – Ich bin mit meinem bißchen Physiognomik toleranter und gelinder geworden! Nein! ‚lieber so aussehen, und Verse machen’ […]“ schreibt er im dritten Band. Das Gesicht ist doch […] äußerst geistreich, und zwar nicht nur das ganz außerordentlich helle, funkelnde, theilnehmende Seherauge – auch die, wie man sagt, häßliche Nase! […] Besonders in der Gegend zwischen Nase und Unterlippe schwebt unbeschreiblich viel Geist.121
Das Gesicht der Dichterin interpretiert Lavater so, dass eine ‚höhere’, von ihm z.T. als „männlich“ und ‚philosophisch’ charakterisierte Geistesstärke aktiver war als die Ausgleichskräfte spezifisch weiblicher Huld, aber auch lyrischer Empfänglichkeit. Freilich bestimmt er Anna Louisa Karsch nicht allein aus ihrem Gesicht. Wie in anderen Fällen auch nutzt er sein Vorwissen, um ihre Physiognomie als Ausdruck einer weiblichen Dichterpersönlichkeit zu bestätigen. Hinzu kommt die situative Galanterie, die die paternalistische Grundannahme willkürlich außer Kraft setzt: diese Dichterin dürfe nicht nach dem Maßstab ihres Geschlechts beurteilt werden. Lavater widerspricht mit solchen Relativierungen seinem eigenen Projekt, die Charaktere eindeutig aus den Zügen und Umrissen bestimmen zu wollen. Auch als Theologe und Pfarrer ist er genötigt, seine mitunter schroffen Urteile religiös zu entschärfen: So räumt er ein, dass auch die elendsten Menschen ihre Göttlichkeit niemals vollständig verlieren könnten.
8. Gottesebenbildlichkeit und Zergliederungskunst Als Theologe und Pfarrer konnte sich Lavater mit einem reinen Anwendungswissen nicht begnügen. Schon auf dem Titelblatt wird der Mensch angesichts seiner Gottesebenbildlichkeit als erhabener Gegenstand der Untersuchung begründet. Darüber hinaus sollen sich die Menschen seiner Zeit in dem physiognomischen Atlas den Reichtum ihres eigenen Menschseins vor Augen stellen und sich andächtig daran erbauen. Doch war nicht nur die große Mannigfaltigkeit göttlicher Ebenbilder vertreten, auch der gleichsam luziferische Teil der Menschheit war präsent. Lavater unterschied zudem die Menschen nach Befehlenden und Gehorchenden, doch sollten die Menschen bei aller Verschiedenheit der klassifizierten Gruppen von Laster und Tugend, Klugheit und Tumbheit, Harmonie und Monstrosität an ihren gemeinschaftlichen Ursprung erinnert werden. Einerseits wurde das Ebenbild Gottes in schwärmerischer Prosa und Gedichteinlagen als ganzer Mensch, Bruder, Mitgeschöpf und Mitgenoss der künftigen Unsterblichkeit gefeiert. Doch andererseits unterschied Lavater nach anatomischen Modellen kleinste Ausdruckspartikel von Charakteren, die den einzelnen Menschen nahezu deterministisch festlegten. Insgesamt entstand eine Durchsemiotisierung der
121 Physiognomische
Fragmente (wie Anm. 2), Bd. III, S. 315.
8. Gottesebenbildlichkeit und Zergliederungskunst
181
physiognomisch relevanten Merkmale, deren Erklärungen mit philanthropisch-religiösen Erbauungen umrankt und gemildert wurden. Diese Widersprüchlichkeit fällt nicht nur bei Lavater auf; sie ist strukturell bedingt. Die anatomische Zergliederung irritierte das ganzheitlich-religiöse Selbstverständnis des Menschen seit den Anfängen der Anatomie und der anatomischen Atlanten und wurde z.T. mit Ästhetisierung und morbider Ironie verarbeitet. So hatte im 16. Jahrhundert etwa Andreas Vesalius in seinem einflussreichen anatomischen Atlas De Humani corporis fabrica die menschlichen Skelette vor landschaftlichem Hintergrund in kontemplativen, barocken Posen präsentiert. Im Rahmen seiner Analyse sucht Lavater nach immer neuen Kriterien für zweckmäßige Zusammenstellungen, um die Hieroglyphik der menschlichen Physiognomie durch Verwissenschaftlichung zu erschließen und ihre Rätselhaftigkeit zu überwinden. Die wichtigsten Ordnungskriterien sind neben dem Lebensalter das Geschlecht sowie der Beruf. Doch weil Lavater seine Physiognomik auch als religiöse Erbauung und Förderung der Menschenliebe versteht, gehen seine Zuordnungen über eine bloße Klassifizierung hinaus. Bei einem Teil der Abbildungen präsentiert er normativ verstandene Beispiele, bei denen einzelne Individuen durch besondere Tugend, Frömmigkeit oder Begabungen über die Klassifikation hinausragen. Noch darüber hinaus geht er, wenn er Bildenden Künstlern und Schriftstellern einen besonderen Status einräumt. Bei ihnen sucht Lavater nach Ausdrucksäquivalenten für ihr besonderes Genie und kommt damit faktisch, ohne es sich einzugestehen, auf einen quasi hieroglyphischen Rest zurück. Berühmt etwa ist die Darstellung von Goethe, die Lavater zu einem Beispiel lebendigen Künstlerkults und persönlicher Huldigung geriet.122 Herder wird, nach der erwähnten emblematischen Überhöhung als „Pyramide“ im zweiten Band, im dritten Band als „wetterleuchtendes religiöses Genie“ porträtiert.123 Er zählt für Lavater zu einer weiteren wichtigen Rubrik: zur Gruppe frommer und religiöser Menschen. Lavater versichert im dritten Band, dass „jede Hauptklasse von religiösen Gefühlen […] gewisse Hauptformen“ habe.124 Er spricht u.a. von „Pietisten-Mienen“ und stellt neben vielen anderen religiösen Physiognomien (darunter die von Zwingli, aber auch von Madame Guyon) Zinzendorf als „größten Mystiker und Antimystiker“ vor. Im 36. Fragment des zweiten Bandes stellt er „Religiöse, Schwärmer,
122 Ebd.,
Bd. III, S. 218–224. Lavater präsentiert insgesamt fünf Goethe-Porträts, denen er mehrheitlich bescheinigt, dass sie das Original verfehlen. Nur den Stich von Johann Heinrich Lips (nach dem Vorbild einer Büste) lässt er gelten: „Steinern nach Stein gearbeitet; aber äußerst charakteristisch für den Physiognomiker. Immer Larve eines großen Mannes, der das Creditif seiner Vollmacht auf die Menschheit zu wirken auf seinem Gesichte hat […].“ 123 Herder wird – nach dem „nicht vollkommenen“ Schattenriss im II. Band der Physiognomischen Fragmente (S. 102) – im neunten Fragment des III. Bandes durch einen Kupferstich von Johann Heinrich Lips präsentiert und unter dem Titel „Ein männliches Profil H.“ charakterisiert (vgl. S. 262–264, Zitat S. 262). 124 Ebd., Bd. III, S. 244.
182 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Theosophen, Seher“ zusammen.125 Sie gehören für Lavater „fast“ der „Idealwelt“ an.126 Er handelt sich mit dieser Gruppe das Problem ein, alternativ etwa zum Genie der Künstler, Formen der inneren Läuterung physiognomisch belegen zu müssen. An einem Bildnis von Platon meint er – trotz der Vergröberungen – viele „unzerstörbare Rudera eines platonischen Geistes“ bemerken zu können.127 An der Abbildung eines „theosophischen Mystikers“ aus Zürich kritisiert er, dass der Maler das Wesentliche nicht eingefangen habe: die Freude im Angesicht einer Gott voll umfassenden Seele.128 Im Hinblick auf das Äußerliche glaubt er am Beispiel des Jakob BöhmeVerehrers Henricus Madathanus Theosophus zeigen zu können, „daß viele mystische, theosophische Köpfe länglicht [sic.], und daß sie flach und lang behaart sind.“129 Er beschließt die Reihe, in die er auch die „Hieroglyphensäule“ Hamann stellt,130 mit einer Charakteristik des Evangelisten Johannes, den er nach van Dyck abbildet. Im vierten Band stellt er noch einmal gesondert „Apostel- und Christusgesichter“ zusammen.131 Besonders in diesem letzten Band interessiert er sich darüber hinaus auch für die heroische Physiognomik der dynastischen Herrscherpersönlichkeiten. Im Rahmen seiner wissenschaftlich inspirierten Zergliederungskunst geriet Lavater in das Dilemma, einerseits gruppenspezifisch physiognomische Hauptformen festlegen zu müssen. Andererseits ging er davon aus, dass jeder Mensch eine einmalige, individuelle Physiognomie aufweist. Er war davon überzeugt, dass sich die Individualität eines Menschen erst nach dem Tode unverfälscht in seiner Physiognomie zeigt, weil dann alle Willkür, soziale Akkulturation und vorübergehende Emotionen abfallen.132 In dieser Hinsicht wäre eigentlich die Totenmaske das geeignete Medium für seine Nachforschungen gewesen. Wesentlich prinzipieller, ja unvereinbar erschien dagegen der Widerspruch einer wissenschaftlich inspirierten Analyse zur Gottesebenbildlichkeit des Menschen. Von der Mannigfaltigkeit der menschlichen Existenzen konnte Lavater, angesichts der postulierten Gottesebenbildlichkeit, schlecht auf einen prinzipiell unendlich varia blen Gott rückschließen, weil das der biblischen Tradition zuwider gelaufen wäre. Lavater löst das gedankliche Dilemma auf eine Weise, die an zeitgenössische Diskussionen anschließt. Er führt die Gestalt des Menschen auf einen Prototypus, auf eine gattungsspezifische, physiognomische Urform zurück, die die göttliche Ebenbildlichkeit gleichsam in reiner Form enthält. Auch diese hypostasierte mensch-
125 Ebd., 126 Ebd.
127 Ebd.,
Bd. II, S. 281.
S. 284. S. 282. 129 Ebd., S. 283. 130 Lavater charakterisiert Hamann, wie erwähnt, auf der Grundlage einer Vorlage von Herder, wobei er sich eines Stiches von Johann Heinrich Lips sowie einer als ungenügend eingestuften Umrisszeichnung bedient. Vgl. Physiognomische Fragmente, Bd. II, S. 285f. 131 Ebd., Bd. IV, S. 429–456. 132 Ebd., Bd. II, S. 34. 128 Ebd.,
9. Die Physiognomien als göttliche Natursprache
183
liche Urform sah Lavater durch spezifische geometrische Eckpunkte und Winkel charakterisiert. Die zu seiner Zeit feststellbaren physiognomischen Gruppen- und Einzelphysiognomien konnten so als Modifikationen des Prototypus abgeleitet und beschrieben werden. Lavater stellt auch die Frage, ob sich vielleicht nicht doch einmal „eine allgemeine Königslinie finden“ lasse, „eine Chifer ins große Alphabet der Physiognomik“. Was er darunter versteht, wird im vierten Band der Fragmente am vorgestellten Beispiel einer Bienenkönigin deutlich, die sich gegenüber den gemeinen Bienen immer durch ihre „Obermacht“, durch ihr „Mehr an Kraft“ ausweisen müsse. Weil die Bienenkönigin keine gemachte, sondern eine geborene Königin ist, versteht Lavater ihr Beispiel als besonderen „Wink“ an den Leser. Er legt nahe, dass sich vielleicht gerade aus dieser „Königslinie“ des herausragenden, hoheitlichen Individuums „eine Grundlinie zur allgemeinen Physiognomik abstrahiren ließe“, und zwar als Linie, die „immer Obermacht über seines gleichen“ anzeige.133 Die Suche nach der „Königslinie“ lässt erkennen, dass Lavater eine physiognomische Grundlinie etablieren will, die zwar von unten her, von den Gemeinsamkeiten aller Menschen ausgeht, aber zugleich ein dynastisches Prinzip etablieren will, so dass sich für ihn ein pyramidaler Aufbau der Gesellschaft ergibt.
9. Die Physiognomien als göttliche Natursprache Grundlage für die Physiognomik als einer Semiotik organischer Ausdrucksformen ist das Verständnis der Natur als einer zweiten Offenbarung Gottes. Für Lavater ist die Physikotheologie der philosophische Hintergrund, vor dem er seine physiognomische Zergliederungs- und Vermessungskunst als Lobpreis Gottes und zugleich als enthusiastische Natur-Hermeneutik im Rahmen einer auf Verständlichkeit und Kontinuität angelegten Naturoffenbarung begreift. Die Physikotheologie verband die genaue Beobachtung, Vermessung und szientifische Analyse der Natur mit einer Gottesverehrung, die Gottes Weisheit im Wunderbau seiner Werke sowohl anbeten als auch ergründen wollte. Die mathematische Formalisierung der Natur verband sich so noch mit der religiösen Kontemplation, legte aber gleichzeitig den Schöpfer auf vernünftige Gesetzmäßigkeit, zweckmäßige Teleologie und auf eine Natur ohne Sprünge fest. Gleich in der Vorrede des ersten Bandes der Physiognomischen Fragmente erklärt Lavater im Gestus einer sowohl theologischen wie wissenschaftlichen Bescheidenheit: Ich verspreche nicht (denn solches zu versprechen wäre Thorheit und Unsinn) das tausendbuchstäbige Alphabeth zur Entzieferung der unwillkührlichen Natursprache im Antlitze, und dem
133 Ebd.,
Bd. IV, S. 56f.
184 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater ganzen Aeußerlichen des Menschen, oder auch nur der Schönheiten und Vollkommenheiten des menschlichen Gesichtes zu liefern; aber doch einige Buchstaben dieses göttlichen Alphabeths so leserlich vorzuzeichnen, daß jedes gesunde Auge dieselbe wird finden und erkennen können, wo sie ihm wieder vorkommen.134
Lavater will den Menschen nicht in einer planen Diesseitigkeit als körpersprachliche Maschine begreifen, sondern ihm als Theologe die Würde einer komplexen Leib-Seele- Einheit erhalten. Eine schöpfungstheologische Naturhermeneutik steht im Mittelpunkt, in der der Mensch wesensmäßig durch seine Gottesebenbildlichkeit bestimmt bleibt. Dieser wird damit als ausgezeichnetes Wesen im Rahmen der Schöpfung geadelt, aber auch normativ verpflichtet: Der Mensch muss sich moralisch in seiner ontologischen Rangstufe als Mensch bewahren. Mit diesem Verständnis kann Lavater seine Physiognomik nicht als reine Sachwissenschaft betreiben. Er geht vielmehr von seinem Glauben und von moralischen wie ästhetischen Implikationen aus. Lavater fasst die physiognomischen Besonderheiten des Menschen als natursprachliches Zeichensystem auf, das Gott den Menschen mitgegeben habe. Seine Arbeit an der Physiognomik ist für ihn daher eine Form des Gottesdienstes. Der physiognomische Ausdruck ist für Lavater auf eine kommunikative Transparenz hin angelegt, die es zu entschlüsseln gilt. Mit dieser Suche stellt sich Lavater in einen Gegensatz zu den kryptisch verschlüsselten Botschaften der früheren Signaturenlehre. Die angestrebte Erkenntnis der vorausgesetzten Transparenz begünstigt einen Bildtypus als Beleg von Transparenz: nämlich die Umrisszeichnung und die Profilzeichnung im Schattenriss. Beide sind arm an Kontexten, die zu einer Relativierung führen würden. Beide halten sich zudem an die Konturen, die durch das Knochensystem vorgegeben sind, so dass die Gesichts- und Schädelbildung in ihren markanten Hauptlinien in den Blick kommen. Weil die einzelnen Teile der menschlichen Umrisslinien messbar und daher in mathematischen Größen bestimmbar sind, bekommt Lavaters Bestimmungssystem einen exakten, wissenschaftlichen Anschein. Lavater lag sehr an Messbarkeit und der mit ihr indizierten Verwissenschaftlichung der Physiognomik, so dass er sogar eigene Messgeräte entwickelte, insbesondere das Stirnmessband. Lavater versucht in der empirischen Zuwendung, die Physiognomie konkreter Individuen zu erschließen. Doch musste er ein überindividuelles System der wissenschaftlichen Deutung entwickeln, um das einzelne Individuum einordnen zu können. Indem er sich aber von konkreten Individuen abwendet und Merkmaltypen bildet, werden die gezeichneten Gesichter notwendigerweise symbolisch aufgeladen.
134 Ebd.,
Bd. I, Vorrede: Schlussparagraph; unpaginiert: [S. 6].
10. Vom Frosch zu den Engeln: Lavaters Stufenleiter der Wesen
185
10. Vom Frosch zu den Engeln: Lavaters Stufenleiter der Wesen Lavater leitet seine Physiognomischen Fragmente im ersten Band (wie schon im Zusammenhang mit Herder angedeutet, vgl. S. 160f.) mit einem ungewöhnlich langen Zitat aus Herders Ältester Urkunde des Menschengeschlechts ein. Mit der ausgewählten Textstelle bezieht er sich als Theologe auf die Exegese des Schöpfungsberichts im ersten Buch Moses durch seinen theologischen Kollegen Herder. Lavater druckt jene Passage ab, in der Herder in refrainartiger Emphase die Erschaffung des Menschen feiert. Sie gilt ihm als Höhepunkt und erhabenes Vermächtnis an die Menschheit, weil berichtet wird, dass Gott sich den Menschen zum eigenen Ebenbilde schuf. Herder hatte, wie gezeigt, den Schöpfungsbericht als siebenteilige Hieroglyphe vorgestellt. Er hatte im Rahmen dieser symbolischen Figur an einer anderen Stelle auch den Menschen als Hieroglyphe aufgefasst: „Mensch, Bild Gottes! und selbst das sichtbare Nachbild und Hieroglyphe der Schöpfung“ [emphat. Hervorh. v. Herder].135 Lavater knüpft mit seinem langen Zitat aus Herders Ältester Urkunde zwar an dessen Verständnis des Menschen als Hieroglyphe und an die damit gegebenen weitreichenden Implikationen an. Den Begriff selbst greift er allerdings nicht auf, sondern bewahrt in diesem Zusammenhang nur den Topos der Gottesebenbildlichkeit als Grundlage seiner Physiognomik. Die Gottesebenbildlichkeit verbürgt ihm die besondere Würde des Menschen im Rahmen der Schöpfung, und sie überliefert für ihn das verpflichtende Erbe, dem göttlichen Bilde zu genügen. Andererseits spricht Lavater aber auch davon, dass sich das Göttliche im Menschen nur verschattet zeigt. Mit Anspielung auf das platonische Höhlengleichnis deutet Lavater hier bereits auf eine zentrale ontologische Differenz hin, die er an späterer Stelle wieder aufnimmt. Wenngleich der Mensch als Gottesebenbild das vollkommenste und herrlichste Wesen im Rahmen der Schöpfung ist, stellt sich Lavater noch höhere Wesenheiten vor, für die auch der Mensch nur eine „Karikatur“ darstellt. Als Hintergrundmodell wird eine aufsteigende Scala Naturae sichtbar, die über den Menschen hinausreicht; der Mensch ist darin zwar ein höheres Wesen, aber nicht das höchste. Er wird vielmehr durch noch vollkommenere Wesen relativiert. Zur Frage einer möglichen aufsteigenden Kette der Wesen äußert sich Lavater verschiedentlich. In den Physiognomischen Fragmenten grenzt er sich zunächst von Della Porta ab und plädiert für eine strikte Grenze zwischen Tier und Mensch. Insbesondere wehrt er eine mögliche Verwandtschaft zwischen Menschen und Affen ab: „O Mensch, du bist kein Affe – und der Affe ist kein Mensch.“136 Die physiognomische Vielfalt der Menschen sieht er, wie erwähnt, aus der Modifikation 135 Johann
Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold [u.a.]. Frankfurt a.M. 1985–2000. Bd. V: Herders Schriften zum Alten Testament. Hg. v. Rudolf Smend. 1993, S. 179–660, Zitat S. 292. Die von Lavater zitierte Kernpassage befindet sich S. 230f. 136 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. II, S. 180.
186 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater
Abb. 17/1: Vom Frosch zum Apoll. Aus: Johann Kaspar Lavaters nachgelassenen Schriften, Bd. V.
10. Vom Frosch zu den Engeln: Lavaters Stufenleiter der Wesen
Abb. 17/2: Vom Frosch zum Apoll. Aus: Johann Kaspar Lavaters nachgelassenen Schriften, Bd. V.
187
188 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater einer einzigen, dem Menschen vorbehaltenen Grundform hervorgehen, die bei aller Verschiebung immer gewisse Proportionsverhältnisse wahrt. „Die Natur bildet alle Menschen nach Einer Grundform, welche nur auf unendlich mannichfaltige Weise verschoben wird, immer aber im Parallelismus und derselben Proportion bleibt, wie der Pantagraph oder das Parallellineal.“137 Lavaters Auffassung nähert sich später der Scala naturae als einer sich graduell perfektionierenden Entwicklungslinie an, die auch seine Vorstellung vom Verhältnis des Menschen zu den Tieren verändert. Ähnlich wie Robinet, Diderot und Herder von einem dynamischen Prototyp ausgehen, der durch Variation und Selbstoptimierung die Formenvielfalt hervorbringt, geht Lavater später davon aus, dass sich eine tierische Physiognomie durch allmähliche Modifikationen der anfänglichen Grundform vermenschlichen kann. Im fünften Band der Nachgelassenen Schriften (1802) sowie im vierten Band der ersten französischen Ausgabe seiner Physiognomik, der 1803 posthum von seinem Sohn Heinrich herausgegeben wurde, erschienen zwei großformatige Schautafeln, die in 24 Profil-Bildern die stufenweise Verwandlung eines Froschkopfes in das Idealgesicht von Apoll zeigen (vgl. Abb. 17/1 u. 17/2). Lavater kommentiert sie in den dazu gehörigen Erklärungen, wobei er sich des Begriffes der „Animalitäts-Linien“ bedient.138 Die metamorphotischen Schautafeln entstanden nach einem aquarellierten Zyklus, dessen Entstehung man auf 1795 datiert.139 Ein weiteres Blatt (ebenfalls sowohl in Lavaters Nachgelassenen Schriften als auch im vierten Band der französischen Ausgabe), zeigt in 12 Frontal-Ansichten eine vergleichbare stufenweise Verwandlung eines Froschkopfes in ein Frauengesicht (vgl. Abb. 18). In den Tafeln wird gezeigt, wie die Vermenschlichung aus Grundformen des Gesichts hervorgehen soll, die sich dynamisch verschieben und dabei allmählich harmonisieren. Lavater versucht, sie im Sinne geometrischer Bestimmbarkeit als „Profilwinkel“ und frontal als „Gesichtswinkel“ zu erfassen. Die Tafeln werden in der Lavater-Forschung als Beleg dafür diskutiert, dass Lavater zumindest hypothetisch an die Möglichkeit einer transformativen Entwicklung gedacht hat. Er selbst spricht in diesem Zusammenhang von „Proben meiner Evolutions-Theorie“.140
137 Ebd.,
Bd. IV, S. 459. Animalitäts-Linien. In: Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Schriften. Fünfter Band: Hundert physiognomische Regeln, mit vielerlei Kupfern. Hg. v. Georg Geßner. Zürich: Orell, Füßli u. Compagnie, 1802, S. 101–110. (Die Schaubilder befinden sich als Falttafeln am Ende des Bandes.) – Jean Gaspard Lavater: Sur les lignes d’animalité. In: Essai sur la physiognomonie [sic.] destiné à faire connoître l’homme [et] à le faire aimer, 4 Bde., La Haye 1781–1803. Bd. 4, S. [315]–324; Schautafeln: S. 322 sowie nach S. 324. 139 Vgl. Uwe Schögl: Vom Frosch zum Dichter-Apoll. Morphologische Entwicklungsreihen bei Lavater. In: Das Kunstkabinett des Johann Caspar Lavater. (wie Anm. 11), S. 164–171, hier S. 165. 140 Über Animalitäts-Linien, in: Nachgelassene Schriften, Bd. 5 (wie Anm. 138), S. 107. Von Arburg (Johann Caspar Lavaters Physiognomik, wie Anm. 9, S. 52) weist darauf hin, dass der evolutionsgeschichtliche Kontext in der späteren zehnbändigen französischen Ausgabe der Physiognomik noch verstärkt wurde, die der Mediziner Jacques-Louis Moreau de la Sarthe 1806– 138 Über
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Abb. 18: Vom Frosch zum Mädchengesicht. Aus: Johann Kaspar Lavaters nachgelassenen Schriften, Bd. V.
189
190 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater In der französischen Übersetzung stellt Lavater einen emphatisch formulierten Passus voran. Darin geht der Verfasser davon aus, dass die Diversität des Lebens durch die Transformation einer einheitlichen Grundform entsteht. Zugleich will Lavater aber die Rangfolge einer hierarchischen Stufenordnung bewahren, in der jede Spezies ihre bestimmte Gestalt bzw. ihr Gepräge von Gott erhalten hat. „La Nature forma tout d’après une seule loi, dont l’harmonie constante & variée embrase les rapports les plus divers, & les dirige tous avec sagesse vers le meme [sic.] but.“ Lavater erklärt weiter: „Il n’est rien dans l’immense étandue de la creation qui n’en porte la céleste empreinte. Tout, tout s’élève par dégrés de l’existence simple à la vie, de la vie à la puissance de vouloir.“ Auf dieser Leiter sei nichts unbestimmt, sondern alles habe seine spezifische Gestalt und die charakteristischen Züge („lignes caractéristiques“) seiner Art. Auf dieser Scala werden demnach den Lebewesen idealgenetische Rangstufen zugewiesen. Dem Menschen allein sei das Himmelsgeschenk seines besonderen, durch Anmut geprägten Antlitzes gegeben; er verfüge über die „vollkommensten Verhältnisse“, die „glücklichsten Proportionen“. Neben dem Willen kommt damit ein ästhetisches Moment als Distinktionsmerkmal zum Tragen. Darüber hinaus führt Lavater aber auch ein religiöses Unterscheidungsmerkmal an: Nur der Mensch verfüge über den „elan de la pensée vers le principe de tant de merveilles“.141 Lavater verstand seine „Animalitätslinien“ in ausgreifendem Sinn, der auch die „Menschenracen“ mit in das hierarchische Stufensystem der Scala naturae einbezog. Er konstruiert eine physiognomisch-ästhetisch begründete Rangfolge innerhalb der menschlichen Gattung, die er als „Evolutions“-Ordnung interpretierte. Während in dieser europazentristischen Stufenordnung besonders die dunklen „Rassen“ in die problematische Grenzzone einer gerade überwundenen Tierheit gestellt wurden, rückt der Europäer physiognomisch in die Nähe einer griechisch-antiken Klassizität, so wie sie sich vor allem in der künstlerischen Gestalt des antiken Gottes Apoll ausdrückte. Paradoxerweise wird Lavater durch die Moralität des Seelsorgers zur moralischen Bewertung empirischer Daten geführt, die sich in seiner hierarchisch strukturierten Physiognomik schließlich als diskriminierende Völker- und Rassenhierarchie sowie als entsprechende Geschlechterhierarchie niederschlägt. Lavater konnte sich in dieser Argumentation auf Arbeiten des niederländischen Mediziners, Anatomen und Zeichenlehrers Peter Camper stützen, der bereits horizontale und vertikale „Gesichtslinien“ als messbare Größen eingeführt hatte. Camper hatte anatomische Vergleichsreihen vorgestellt, die vom Affen über den Neger und Kalmücken zum Europäer einen ansteigenden „Gesichtslinienwinkel“ in den Profilen zeigen. Camper konnte seine Kenntnisse als Mediziner mit seinem Interesse für Kunst bzw. seiner Profession als Zeichenlehrer zur Deckung bringen. Auch für
1809 herausgegeben hat. Moreau de la Sarthe stellte eine Beziehung von Lavaters und Campers physiognomischen Entwicklungsreihen zur Evolutionstheorie von Lamarque her. 141 Essai sur la physiognomonie (wie Anm. 138), S. [316f.].
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191
ihn war der Mensch der griechisch-antiken Plastik das Ideal des schönen bzw. erhabenen Menschen. Camper arbeitete – zeitgleich mit Lavater und noch ohne dessen Wissen – seit dem Beginn der 1770er Jahre an einer eigenen Konzeption der Physiognomik, die anatomisches Wissen mit anthropologischen Perspektiven verband. Er besaß eine Skelettsammlung und war bemüht, die Diskussion um den proteischen Prototypus durch den Nachweis analogischer Strukturen in den Skeletten von Tieren und Menschen voranzubringen. Die Vorlesungen, die er 1778 an der Amsterdamer ZeichenAkademie hielt, wurden posthum von seinem Sohn Adriaan Gilles 1793 in Berlin mit elf Kupfertafeln herausgegeben. Camper will bei den Künstlern durch die vergleichende Anatomie von Menschen, Vierfüßlern, Vögeln und Fischen ein tieferes Verständnis für deren Verwandtschaft und für die morphologisch-funktionalen Besonderheiten wecken; die Künstler sollen erkennen, dass die Formen der Tiere mit deren Lebensgewohnheiten und Lebensumfeld zusammenhängen. Wenn Camper durch Umzeichnungen etwa einen Hund in ein Pferd und ein Pferd in einen Menschen übergehen ließ, wollte er den Malern zeigen, wie sie die körperlichen Schwerpunkte bei der Aufrechtstellung verlagern müssen und wie sie mit den Rumpfformen auch die Gliedmaßen verändern müssen. Die Maler sollten beim Zeichnen etwa mitbedenken, dass ein grasfressendes Pferd mit seinem Hals auch tatsächlich den Boden erreichen kann. Bei der Metamorphose zum Menschen müssen die Maler beachten, dass durch die Aufrechtstellung des Skeletts der Rücken platt wird, die Vorderfüße zu Armen werden und ein stärkeres Schlüsselbein entstehen muss, weil der Kopf nicht mehr auf einem langen Hals ruhen kann. Auch der Frosch ist abgebildet, wird aber nicht, wie später von Lavater, in eine Metamorphose zum Menschen gebracht.142 Für Lavater war Campers Abhandlung Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegenden und verschiedenen Alters eine wichtige Bestätigung. Auch sie wurde erst 1792 – posthum – in einer Übersetzung Sömmerings von seinem Sohn Adriaan Gilles herausgegeben. Lavater hebt Campers Schrift in seiner Erklärung als „scharfsinnige Abhandlung hervor, wenn auch die angegebenen Gesichtsverhältnisse nicht „bestimmt genug“ seien, um „den Physiognomen“ ganz zu befriedigen. Dennoch empfiehlt er sie besonders den Zeichnern.143 Er stellt Camper dabei in eine Linie von künstlerischen und kunsthistorischen Vor142 Vgl.
Peter Campers Vorlesungen, gehalten in der Amsterdamer Zeichen-Akademie: Über den Ausdruck der verschiedenen Leidenschaften durch die Gesichtszüge; über die bewunderungswürdige Ähnlichkeit im Bau des Menschen, der vierfüssigen Thiere, der Vögel und Fische; und über die Schönheit der Formen. Mit elf Kupfertafeln und einer kurzen Nachricht von dem Leben und den Schriften des Verfassers. Hg. v. seinem Sohne A. G. Camper. Aus dem Holländischen übers. v. G. Schatz. Berlin: Vossische Buchhandlung, 1793. Die Abbildungen, z.T. auf Falttafeln, befinden sich im Anhang. 143 Über Animalitäts-Linien, in: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 138), Bd. 5, S. 104. Vgl. auch Schögl: Vom Frosch zum Dichter-Apoll (wie Anm. 139), S. 166.
192 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater läufern und naturforschenden Zeitgenossen. Sie beginnt beim messenden Künstler Dürer, führt über Winckelmann als Kunsthistoriker der griechischen Plastik zu den Naturforschern Buffon, Sömmering, Blumenbach und Gall. Mehr als Lavater einräumt, schloss er an Campers Biometrie der tierischen und menschlichen Schädel an. Dieser hatte seine Stufenfolge nach dem Kriterium aufgebaut, wie stark der Kiefer hervortritt. Wie selbstverständlich entstand eine europazentristische Perspektive, indem in einer Entwicklungslinie vom Afrikaner zum Asiaten und Europäer die beim Affen stark ausgebildeten Ober- und Unterkiefer kontinuierlich zurücktreten. Beim Orang-Utan misst Camper einen Gesichtswinkel von 58 Grad. Das Spektrum des Menschen grenzt er deutlich vom Tier ab. Die untere Grenze (das „Minimum“) liegt bei 70 Grad, die er bei einem jungen Farbigen gemessen hatte. Das höchste Gesichtslinienwinkelmaß erreicht nach Camper der Europäer mit 80 Grad. Den Europäer übertreffe aber noch die altgriechische Plastik, die ein Idealmaß von 100 Grad erreicht. Campers Endpunkt bei der griechischen Plastik macht klar, dass es sich bei seiner aufsteigenden Gesichtswinkellinie implizit um eine Schönheitslinie handelt. Die 100 Grad sind als oberes Maximum zugleich das Äußerste dieser Schönheitslinie; was darüber geht, kippt ihm zufolge wieder ins Ungestalte um. Die 70 Grad sind dagegen implizit die untere Schönheitsgrenze. Was darunter liegt, neigt nach Camper dem Affenähnlichen zu. Camper vermutet, dass die Grenze bei manchen dunkelhäutigen Menschen 65 Grad beträgt, schränkt aber ein, dass er dafür nicht genügend Vergleichsmaterialien habe.144
144 Camper
hat damit das Material zu einem rassistischen Denken bereitgestellt, an das man besonders im 19. Jahrhundert anschloss. Miriam Meijer versucht indes in einer Camper gewidmeten Studie zu zeigen, dass Camper noch nicht in einem geschlossenen rassistischen System argumentiert, sondern im Rahmen der damaligen anthropologischen Diskussionen offener zu verorten ist. So war Camper dem Gedanken gegenüber neutral, dass Adam und Eva schwarzer Hautfarbe gewesen sein könnten. Meijer meint sogar, dass es ein Missverständnis sei, die hier besprochenen anatomischen Reihen aufsteigender Gesichtslinienwinkel linear und hierarchisch zu interpretieren. Es sei Camper vielmehr um „variations of equal value“ gegangen. (Miriam Claude Meijer: Race and Aesthetics in the Anthropology of Petrus Camper [1722–1789], Amsterdam, Atlanta 1999, Zitat S. 85.) In der Tat findet man in den oben erwähnten Vorlesungen Campers an der Amsterdamer Zeichenschule reflektierte Urteile über die Relativität und Konventionalität von Schönheitsvorstellungen, die die Thesen von Meijer stützen könnten. So schreibt Camper etwa, dass es keine Schönheitsform für alle gebe; unter den Menschen verschiedener Nationen und Erdstriche finde „kein gleichförmiges Verhältnis“ statt. (Peter Campers Vorlesungen, wie Anm. 142, S. 65). Dennoch hat Camper in seinen anatomischen Reihen die Dunkelhäutigen an die Tiergrenze und die Europäer an die Grenze zum klassisch-antiken Götterhimmel gerückt. Selbst wenn er eingeräumt hätte, dass jede „Rasse“ an diesen Polen eigene Schönheitsvorstellungen ausbildet habe, muss man doch festhalten, dass Camper in der Schrift von 1792 den griechisch-klassischen Kunstgeschmack (in klassizistischer Weise) zu einem allgemeinmenschlichen Geschmacksideal erhebt. Dazu noch weiter unten.
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193
Schon bei Camper ist die altgriechische Plastik (wie später bei Lavater) mit dem (als Umriss wiedergegebenen) Kopf des sogenannten Apollo Pythius vertreten.145 Unter diesem Namen war den damaligen Zeitgenossen eine seit der Renaissance berühmte Marmorstatue vertraut, die um 1500 in Rom gefunden und im Belvedere des Vatikanischen Palasts aufgestellt worden war.146 Winckelmann hatte sie 1764 in seiner Geschichte der Kunst des Altertums als „das höchste Ideal der Kunst unter allen Werken des Altertums“ gepriesen.147 Camper stellt allerdings mehrfach klar, das das Idealmaß von 100 Grad ein reines Kunstprodukt, eine ästhetische Idealisierungsleistung der griechischen Künstler war. „Das antik Schöne ist folglich nicht in der Natur, sondern nur idealisch, nach Winkelmann [sic.].“148 Die Künstler stellten den Kopf steiler als natürlich, damit die Augen „gerade, in der Mitte des Kopfes“ zu liegen kamen. Sie hätten damit ein Ideal geschaffen, das durch alle Zeiten allgemein als „schön“ empfunden wird. „Es möchte wohl niemand gefunden werden, welcher nicht den Kopf des Apollo, der Venus, des Laokoon schön nennt, und weit über die Köpfe unserer schönsten Männer und Weiber erhebt.“ 149 Lavater hält sich eng an Campers Zahlenvorgaben, wenn er in seinen Erklärungen „für jede Thierart und jede Menschenrace“ einen jeweils genau messbaren Gesichtswinkel ansetzt. Die Profilwinkel der Animalität steigen von „Hund, Frosch, Vogel“ bis zum „geschwänzten Affen“ und den „Orang-Utangs“ auf, die als oberste tierische Spezies, wie bei Camper, einen Gesichtswinkel von 58 Grad erreichen. Ab 60 Grad beginnen für Lavater die untersten Spuren der Menschheit, die mit dem „angolischen Neger“ und dem „Kalmücken“ 70 Grad erreichen. Während sich das allgemeine Spektrum der Menschheit mit „all ihren Anomalien“ in diesem Spektrum von 60 bis 70 Grad halte, erreiche der schönste Europäer einen Gesichtswinkel von 80 Grad. Zwar räumt auch Lavater ein, dass nur das antike Kunstbildnis der Heroen (nicht aber das der antiken Menschen selbst) einen Profilwinkel von 100 Grad besitzt.150 Dennoch erreichen für ihn ausgewählte große Denker wie Aristoteles und Montesquieu, aber auch Politiker und Regenten wie Pitt und Friedrich II. von Preußen in der Frontalansicht das ideale Gesichtsmaß des Apollo Pythius.151
145 Camper: Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen verschiedener Gegen-
den und verschiedenen Alters. Berlin: Voss, 1792, hier S. 29 sowie die zugehörige Tafel III u. Fig. III–V. 146 Tatsächlich handelt es sich um die römische Kopie eines im Original in Bronze ausgeführten Werkes, das zwischen 350 und 325 v. Chr. geschaffen wurde und dem Bildhauer Leochares zugeschrieben wird. Die Marmorkopie wird auf das 2. Jahrhundert datiert. 147 Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Darmstadt 1972, S. 364. 148 Über den natürlichen Unterschied der Gesichtszüge in Menschen (wie Anm. 145), S. 63. 149 Ebd., S. 51. 150 Essai sur la physiognomonie (wie Anm. 138), S. 321. 151 Ebd., S. 324.
194 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Diesen Gesichtswinkeln ordnet Lavater moralisch-geistige Werte zu. Dadurch wird seine Evolutionslinie zu einer moralischen Linie, die den Ausdruck von Animalität schlechthin negativ, den menschlichen Ausdruck von Vernunft dagegen generell positiv besetzt. Je „spitziger“ etwa ein Profilwinkel sei, umso „unstrebsamer und unproduktiver“ sei „das Geschöpf“. Beim frontalen Gesichtswinkel ist ihm die TrapezForm eine „Chiffre der Klugheit und Größe“.152 Dahinter steht eine religiös fundierte, allegorische Auffassung von Tier und Mensch, deren emblematischer Charakter nun durch mathematische Formen und Zahlen verobjektiviert werden soll. Seit Linné hatten sich die großen Naturforscher dem Gedanken genähert, dass die Affen den Menschen auf der biologischen Stufenleiter am nächsten stehen. Wie sich zeigt, geht auch der spätere Lavater in seinen Erklärungen davon aus, dass Affe und Mensch auf der idealgenetisch verstandenen graduellen Scala naturae aneinandergrenzen.153 Umso erstaunlicher ist es, dass er in den Schaubildern den Frosch zur Ausgangsform seiner Metamorphosen in den Menschen wählt. Lavater charakterisiert den Frosch in diesem Zusammenhang (im Wissen darum, dass dieser seit Plinius und Ovid ebenso wie nach der Bibel als unrein galt) im Sinne seiner allegorisch-moralischen Tierphysiognomik: Er gilt ihm als „image bouffie de la nature la plus ignoble & la plus bestiale.“154 Statt Nähe baut er also eine extreme, allegorische Spannung zwischen dem Frosch als unterem Pol und dem erhabenen Gegenpol des Apolls auf und versucht so, mittels der Allegorie die Naturgeschichte mit der Theologie zu vereinbaren. Er kann es umso mehr, als der Frosch nach seinen Vermessungen einen besonders niedrigen Gesichtswinkel hat, etwa halb so groß wie der Affe. Es kommt Lavater im Einzelnen gar nicht so sehr auf den Frosch oder Affen an. Es geht ihm vielmehr darum, den „Uebergang von brutaler Häßlichkeit zum idealisch Schönen; von der Satanität zum göttlich Erhabenen, von der Animalität […] zur anfangenden Vermenschlichung des Samojeden, von diesem hinauf bis zu einem Neuton [Newton] und Kant in eine inductionsmäßige Norm zu bringen […]“.155 Lavaters Tableaus der Metamorphosen erinnern an die Mensch-Tier-Analogien Della Portas, die Lavater, wie erwähnt, schon in der deutschen Ausgabe seiner Physiognomik weitläufig einschaltet und bespricht. Überdies besitzen die grotesk anmutenden Verwandlungen des Frosches in einen Apoll zusätzlich humoristischkarikaturale Züge, insofern hier eine extreme Spannung durch zeichnerische Verschiebungen überwunden wird. Infrage steht also, ob Lavater uns hier „ernste Scherze“ im Sinne von Goethes Faust II zeigt, die sich nicht zuletzt auf die Schluss-
152 Über Animalitäts-Linien.
In: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 138), Bd. 5, S. 105 u. 110. den Physiognomischen Fragmenten war er sich noch nicht so sicher und nannte (wie erwähnt), in Absetzung von Della Porta, Affen, Pferde und Elefanten als Tiere, von denen man annehme, dass sie dem Menschen am ähnlichsten seien. 154 Jean Gaspard Lavater: Essai sur la physiognomonie (wie Anm. 138), Bd. 4, S. 322. Vgl. auch Schögl: Vom Frosch zum Dichter-Apoll (wie Anm. 139), S. 164. 155 Über Animalitäts-Linien. In: Nachgelassene Schriften (wie Anm. 138), Bd. 5, S. 104. 153 In
10. Vom Frosch zu den Engeln: Lavaters Stufenleiter der Wesen
195
metamorphose von Faust in eine höhere Wesenheit beziehen.156 Wenn Lavater erwägt, auch dieser Apoll könnte in den Augen höherer, etwa englischer Wesen nur als „Karikatur“ dastehen, so kann ihm der Gedanke nicht fern sein, auch den Frosch aus menschlicher Sicht als „Karikatur“ zu begreifen, weil der Mensch ihn auf der Scala naturae an Vollkommenheit weit übersteigt. Im tierischen Gesicht muss das menschliche Gesicht verzerrt schon verborgen sein, so wie das hoch entwickelte menschliche Gesicht in der Skala verzerrt schon auf das Göttliche voraus- und historisch auf das Göttliche zurückweist. Lavater zeigt mit den Verwandlungen vom Frosch zum Menschen, dass er nach dem Prinzip einer schöpfungsanalogen Metamorphose denkt. In dieser teleologischen Evolutionsgeschichte sind letztlich auch die Palingenesie-Konzepte unterzubringen. In seiner noch vorzustellenden Schrift Aussichten in die Ewigkeit führt er die graduelle Metamorphose bis zu den verklärten Leibern der Engel weiter. Auch Lavaters Suche nach der physiognomisch vollkommenen Christusdarstellung bezieht sich auf das Konstrukt einer sich graduell entwickelnden Metamorphose. Wenn die menschliche Physiognomie nur als Etappe des Schöpfungsplanes gesehen wird, muss der Gottessohn Christus als eine Lichtgestalt symbolisiert werden, die die künftige Verklärung schon in sich trägt. Lavaters Rede vom Menschen als verschatteter Gottesgestalt wird erst vor dem Hintergrund einer impliziten Lichttheologie deutlich. Lavater konnte sie auch in Herders Deutung der biblischen Schöpfungsurkunde vorfinden, aus der er, wie erwähnt, zu Beginn seiner Physiognomischen Fragmente ausführlich zitiert. Der Apoll vom Belvedere mochte die aus der griechischen Antike überlieferte Überhöhung des Menschen sein. Für den Theologen Lavater gipfelt die höchste Vollkommenheit in Gott, der am Anfang und am eschatologischen Ende der Gesamt-Entwicklung steht. In dieser Weise fasst er seine Physiognomischen Fragmente auch als grundsätzlich defizitäres Stückwerk angesichts einer denkmöglichen höheren Erkenntnis auf, in der auch die Verschattung der Göttlichkeit im Menschen aufgehoben sein wird. Gegen Ende des achten Fragments exklamiert Lavater mit Bezug auf den ersten Brief des Paulus an die Korinther: Jetzt erkennen wir noch Stückweise – und unser Auslegen und Commentiren ist Stückwerk! weg mit diesen Fragmenten, wenn die Vollkommenheit kömmt! Noch ist’s Stammlen eines Kindes, was ich schreibe! Kindische Einfälle und Bemühungen werden sie mir einst scheinen, wenn ich Mann seyn werde! Denn jetzt sehn wir die Herrlichkeit des Menschen nur durch ein düster Glas – – bald von Angesicht zu Angesicht – Itzt fragmentsweise; dann werd ich’s durch und durch erkennen – wie ich – von dem erkennt [sic.] bin, aus dem und durch den und in dem alle Dinge sind!157
156 Es
ist kein Zufall, dass im 19. Jahrhundert Grandville Lavaters und Campers Animalitätslinien karikaturistisch aufgreift und sie in satirischer Absicht in absteigende Linien vom Menschen zurück zum Tier führt. 157 Physiognomische Fragmente (wie Anm. 2), Bd. I, S. 56.
196 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater
11. Eschatologische Physiognomik: Lavaters Aussichten in die Ewigkeit In Lavaters Aussichten in die Ewigkeit, einem vierteiligen Werk, das ab 1768 erschien, schildert er in phantastischen Bildern die postmortale Existenz des Menschen und seine künftige Entwicklung im Rahmen der Heilsgeschichte. Das Thema, das damals vielfach verhandelt wurde, war besonders durch Emanuel Swedenborgs seherische Nachrichten aus dem Geisterreich angeregt worden. Lavater kannte Swedenborgs „himmlische Philosophie“ zumindest über die Vermittlung von Friedrich Christoph Oetinger, der seine Swedenborg-Rezeption 1765 in der Schrift Swedenborgs und anderer himmlische und irdische Philosophie veröffentlicht hatte.158 Lavater hat seine Aussichten in die Ewigkeit in Briefen angelegt, die er an seinen (bereits mehrfach erwähnten) Freund, den Arzt Johann Georg Zimmermann, richtete. Zimmermann teilte nicht nur Lavaters physiognomische Interessen, sondern auch den Sinn, sich für Nachrichten aus dem jenseitigen Zustand abgeschiedener Seelen zu öffnen. Zimmermann hatte schon 1766 in der Wochenschrift Der Erinnerer darüber berichtet, wie ihm seine verstorbene Ehefrau aus dem Jenseits in einem neuen, feinstofflichen Leib erschienen sei. Lavater geht im 7. Brief seiner Aussichten in die Ewigkeit auf Zimmermanns Traumbericht ein und führt aus, dass bei dieser Toten alle affektiven und kognitiven Kräfte so erhöht und erweitert waren, dass sie alles wisse, was in den Herzen der Menschen vorgehe, die sie gekannt habe, und sogar das wisse, was bei den Menschen in den „Vorhöfen der Ewigkeit“ vorgehe. Lavater fühlt sich durch Zimmermanns Bericht in seiner weitergehenden Annahme versichert, dass die Seele „mit dem Tod […] durch ihre eigene substantielle Kraft in einem feinen organisierten Cörper, der in den gröberen […] eingehüllet ist, […] vo[m] irdischen […] Cörper sich losreisse“. Während die früheren Empfindungen fortbestehen, ermögliche der neue, feinstoffliche Körper „neue Vorstellungen“ von unbekannten Dingen und Einflüssen, die nur die neuen, „aetherischen Sinne“ emp-
158 Zu
Swedenborg, vgl. die Habilitationsschrift von Friedemann Stengel: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011. Zum Verhältnis von Swedenborg und Lavater, vgl. Ernst Benz: Swedenborg und Lavater. Über die religiösen Grundlagen der Physiognomik, sowie Horst Bergmann: Swedenborg und Lavaters „Physiognomische Fragmente“, beide wie Anm. 19. – Lavater glaubte zu dieser Zeit an Swedenborgs seherische Fähigkeiten. So wandte er sich zweimal (wenn auch vergebens) brieflich an ihn, um etwas über das postmortale Schicksal seines geliebten Freundes Felix Heß zu erfahren, der 1768 gestorben war. Seit seiner theologischen Umorientierung im selben Jahr suchte Lavater auch weitere Kontakte zu Menschen, die im Ruf standen, durch ihre medialen Vermögen Zugang zu Verstorbenen zu haben, in die Zukunft sehen oder Kranke heilen zu können. Zu seinen berühmt-berüchtigsten Kontakten gehörten später der Exorzist und Wunderkurer Johann Joseph Gaßner sowie der Abenteurer und Scharlatan Cagliostro. Darüber hinaus hat sich Lavater auch dem animalischen Magnetismus zugewandt. Vgl. Horst Weigelt: Johann Kaspar Lavater (wie Anm. 53), S. 16, 18, 32–37 u. 41–47.
11. Eschatologische Physiognomik: Lavaters Aussichten in die Ewigkeit
197
finden könnten. Die Seligen können Lavater zufolge nicht nur telepathisch wahrnehmen;159 sie können sich auch telepathisch mitteilen. In unserem Zusammenhang interessiert besonders Lavaters 16. Brief. Er erschien 1772, also zeitgleich mit seinem programmatischen Aufsatz „Von der Physiognomik“. In diesem Brief denkt Lavater darüber nach, wie die vollkommenen Sprachen beschaffen sein müssten, die im Himmel gesprochen werden. Lavater war sich sicher, dass sie nicht mehr den Umweg über die willkürlichen Zeichen der herkömmlichen Sprache und vor allem nicht über deren einsinnige, analytisch-diskursive Zerlegung der Gedanken gehen müssten. Er handelt zwar nicht von hieroglyphischen Sprachen, doch spricht viel dafür, dass er sich in seinen Entwürfen an Auffassungen des hieroglyphischen Sprechens anschließt, wie sie in der Sprachursprungsdiskussion, in der Esoterik und schließlich in der Kunsttheorie verhandelt wurden. Er schließt zunächst an die damaligen Diskussionen über die hieroglyphischen Ursprünge der Sprache an. Auch er denkt sich den Ursprung der Sprache teils aus der Imitation der natürlichen Tierlaute, teils aus der nonverbalen Gebärdensprache. Beide seien Sprachen des „ganzen Menschen“ gewesen, die in der Folge aber, so Lavaters kulturkritische Deutung, durch die alphabetische Lautsprache und die Buchstabenschrift verdrängt worden seien. Nach und nach wurde das Natürliche von dem Nachgeahmten, dieses von dem Willkürlichen verdunkelt und verdrängt. Die Tonsprache verdrängte die Natursprache des ganzen Menschen – die physiognomische, die Gebärdensprache: so wie die Buchstaben die Bilder verdrängt haben mochte.160
Lavater verdeutlicht seine Sicht mit einem aufschlussreichen Vergleich zum Geld. Dieses sei nur Zeichen des Reichtums, nicht aber der Reichtum selbst. Das Zeichen verlöre „allen Werth, wenn die bezeichnete Sache überflüßig genug vorhanden ist.“161 Für Lavater ist die Vermittlung durch das willkürliche sprachliche oder geldliche Zeichen nur der schlechte, notdürftige Ersatz für eine sich unmittelbar kommunizierende natürliche, menschliche und göttliche Daseinsfülle. Für die himmlische Zukunft imaginiert Lavater daher eine Sprache, die, „wenn wir je noch Worte brauchen sollten, [...] getreue unwillkürliche Bilder, [...] Wahrheit und Natur seyn“ müssten. Seine Vorstellung gipfelt darin, dass überhaupt alle „Wörter, Zeichen der Gedanken“ wegfallen würden, und wir „vermögend“ wären, „unmittelbar einander unsere Gedanken mitzutheilen“.162 Lavater kommt es darauf an, die himmlische Sprache als Gegenteil der analytischen Sprachen seiner Gegenwart zu denken. Obgleich er selbst mit seiner Zerglie-
159 Vgl.
Burkhard Dohm: „Aussichten in die Ewigkeit“ (wie Anm. 16), S. 106f. Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe. Bd. II: Aussichten in die Ewigkeit: 1768–1773/78. Hg. v. Ursula Caflisch-Schnetzler. Zürich 2001, S. 450. 161 Ebd. 162 Ebd. 160 Lavater:
198 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater derungskunst den Bereich der Begriffe um das Physiognomische erweitert, wird der Theologe in Lavater auch bei diesem Thema entscheidend. Die religiös gestimmte Unmittelbarkeit ist ihm wichtiger als die Begrifflichkeit; sie wird dominant und lässt die Zergliederungskunst hinter sich. Für Lavater sind auch Abstufungen einer unmittelbaren Sprache möglich, wodurch die erwähnte Sprachentwicklung zur Abstraktion deutlicher wird. Diese Sprachen haben zwar Zeichen, sind aber ebenfalls nicht durch Reduktion, sondern durch Fülle und Reichtum ausgewiesen. Lavaters weitere Erörterungen legen nahe, dass er Diderots Taubstummenbrief kannte und bei seinem Konstrukt der himmlischen Sprachen an das dort entwickelte Konzept der synästhetisch verdichteten Sprachen der Künste dachte. Diderots Essay musste ihn schon wegen seiner Passagen zur Gebärdensprache interessieren (dazu noch weiter unten). Diderot zufolge arbeiten die Künste nicht in einer planen Sprache. Sie bilden vielmehr mehrdimensionale hieroglyphische Verdichtungen, die im Menschen mehrere Resonanzzentren zugleich ansprechen. (Vgl. weiter oben, Teil B.) Möglicherweise hat Diderots Bestimmung der kunstsprachlichen Hieroglyphe Lavater geholfen, die Unmittelbarkeit als Merkmal der himmlischen Sprache zu denken. Ähnlich wie die Kunsthieroglyphe bei Diderot muss die himmlische Sprache bei Lavater einen ganzen gleichzeitigen Haufen von Bildern, Gedanken, Empfindungen, wie ein Gemälde zugleich und auf einmal, und dennoch die succeßiven mit der größten und wahrhaftesten Schnelligkeit darstellen. Sie muß Gemälde und Sprache zugleich seyn.163
Lavater überbietet Diderots auf die Künste bezogene Bestimmung sogar. Denn während Diderot das Phänomen der Überlagerung von bildlich-simultanen und klanglich-sukzessiven Verdichtungen v.a. im hieroglyphischen Gewebe der Dichtung thematisiert, stellt sich Lavater die Himmelsprache als Vervollkommnung des künstlerischen Ausdrucks vor. Hierdurch wird die Sprachvision einer Himmelsprache, in der die Überschreitung des irdischen Sprachverständnisses unumgänglich ist, perspektivisch gemildert. Lavater imaginiert eine Himmelssprache, die Raum und Zeit überhaupt aufhebt: Diese Sprache des Himmels muss „succeßiv und momentan zugleich seyn“.164 Damit übertrifft sie alle irdischen Ausdrucksformen und ist Verkehrsform höherer Wesen. Lavater denkt an ein „concert-mäßiges“ Sprechen, in dem die einzelnen Töne, getreue „Bilder oder Nachahmungen der Sachen seyn“ müssten.165 Alle Willkür müsste aus diesem Sprechen ausgeschieden sein. Mit dieser Utopie überschreitet Lavater nicht nur Diderot, sondern auch Lessings „bequemes Verhältnis“ der Künste. Lessing zufolge erreicht die Dichtkunst ihre beste illusionistische Verdichtung, indem sie sich als sukzessive Zeitkunst auf die Darstellung 163 Ebd., 164 Ebd. 165 Ebd.
S. 451.
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von Handlungen konzentriert. Den Bildenden Künsten sollte sie es überlassen, das Simultane darzustellen, da diese sich dazu weit besser eigneten. Unter den mehrdimensionalen Sprachen des Himmels, die die Überfülle der Schöpfung als Reichtum zeigen, räumt Lavater schließlich dem physiognomischen und pantomimischen Ausdruck den allerersten Rang ein. Die Einbeziehung der Pantomime, auf die Lavater an anderer Stelle noch genauer eingeht, scheint quer zu seiner Ausschaltung alles Pathognomischen und Gestensprachlichen in seiner Physiognomik zu stehen. Wenn auch der zeitliche Ablauf einer Pantomime Lavaters Fixierung von Charakteren in Bildern nicht dienen konnte, schätzte er die Pantomime doch als Natursprache hoch ein. Sie spielte auch in der Diskussion um die Entstehung der Sprachen eine große Rolle. Vor allem bei Vico und Warburton ging die menschliche Sprache aus einer zunächst stummen körperlichen Handlungssprache hervor. Diese ist der hieroglyphischen Sprache im engeren Sinne vorgelagert, wird aber von verschiedenen Autoren – in Anlehnung an Bacon – als eine transitorische Hieroglyphik aufgefasst. Diderot hatte die Gestensprache nicht nur 1751 im Taubstummenbrief breit erörtert, sondern Gestensprache und Pantomime um 1760 auch in seiner Dramentheorie als eine allgemeinverständliche theatralische Darstellungsform geadelt. Lavater versteht Physiognomie und Pantomime menschheitsgeschichtlich als Natursprachen, die aufgrund ihrer Nonverbalität von der babylonischen Sprachverwirrung verschont geblieben sind; sie seien daher überall verständliche, unmittelbare Sprachen. Diese unmittelbare Sprache ist physiognomisch, pantomimisch – musikalisch. Wie Christus das redendste, lebendigste, vollkommenste Ebenbild des unsichtbaren GOttes ist, ein Ebenbild, wo alles Ausdruck, alles von unerschöpflicher und unendlicher Bedeutung ist; ein so wahrhafter, unerschöpflicher Ausdruck, daß eine succeßive, durch alle Ewigkeiten fortgehende Wortbeschreibung des höchsten Erzengels den Reichtum und die Erhabenheit dieses Ausdruckes nicht erreichen, das ist, die Eindrücke nicht verursachen könnte, die das Urbild auf den, der dazu organisirt ist, es zu verstehen, in wenigen Augenblicken, machen muß – so ist jeder Mensch – (ein Ebenbild GOttes und Christi) so ganz Ausdruck, gleichzeitiger, wahrhafter, vielfassender unerschöpflicher, mit keinen Worten erreichbarer, unnachahmbarer Ausdruck: Er ist ganz Natursprache. Dieß ist izt schon in einem so ungläublichen Grade wahr, daß ich von nichts so sehr überzeugt bin, als daß einer, der diese Natursprache itzo schon mit dem gehörigen Fleisse studiren würde, alles, was immer die Menschen in bekannten Sprachen reden könnten, nicht so gut verstehen, nicht so vielbedeutend, so wahrhaft, so untrieglich finden würde, wie das, was ihm die Gesichts- und Gliederbildung eines Menschen sagen könnten. [...] Alles, nicht nur die beredsamen Augen, nicht nur die geist- und herzvollen Lippen – jede Hand, jeder Finger, jeder Muskel ist izo schon eine allbedeutsame Sprache für die Augen, die das Vorurteil oder die Dummheit nicht umwölkt hat, die Natur zu sehen, die nichts als Ausdruck, nichts als Physiognomie, als sichtbare Darstellung des Unsichtbaren, nichts als Offenbarung und Wahrheitssprache ist.166
166 Ebd.,
S. 452.
200 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater Im Himmel wird, so Lavater, nicht nur „jeder Punkt“ unseres natürlichen, sondern auch jeder Punkt unseres „verklärten Cörpers lauter allbedeutsamer und allverständlicher Ausdruck und Wahrheitssprache seyn“. Lavater erklärt weiter, dass „wir hiemit auf alle Seiten zugleich, auch ohne ein Wort zu sprechen, auf die richtigste und bestimmteste Weise uns werden ausdrücken können – vornehmlich das ausdrücken, was in uns vorgeht.“167 In dieser Vision wird die Pantomime als himmlische Sprache so vervollkommnet, dass sie mit der „itzigen Gebärdensprache beynahe in keine Vergleichung mehr kommen kann.“ Lavater stellt sich im Weiteren vor, dass die pantomimische himmlische Sprache nicht auf den Menschen beschränkt ist, sondern auch den Austausch mit höheren Wesen herstellen kann. Er fragt sich, ob „eine unmittelbare Offenbarung unserer selbst gegen andere sympathetische Seelen“ möglich sei. Die Übersteigerung von Physiognomie und Pantomime kulminiert in einem „unmittelbare[n](s) Anschauen und Geniessen der Geister“.168 In der Scala naturae, die sich Lavater über den Menschen hinaus verlängert denkt, wird im Himmel der Mensch nicht mehr als Karikatur wahrgenommen169 (wie im Blick des irdischen Menschen auf den Frosch), sondern es herrscht eine transhumane Harmonie. Lavaters Vorstellung einer sympathetischen, direkten Kommunikation gipfelt schließlich in einer quasi mystischen Vereinigung der verklärten, vergeistigten Leiber: „Vielleicht können wir uns andern auf eine ähnliche Weise durch eine reale Vereinigung mitteilen, wie sich die Gottheit den Seelen mittheilet?“170 Die Forschung hat auf parallele Vorstellungen hingewiesen, die der schwedische Geisterseher Swedenborg in seiner seit 1758 in De Coelo entwickelten Korrespondenzenlehre formuliert hatte. Ernst Benz und in seiner Folge verknappt auch Horst Bergmann haben herausgearbeitet, dass Swedenborg seine Korrespondenzenlehre auch durch physiognomische Beispiele erläutert. Benz zufolge ist die physiognomische Sprache für Swedenborg die Ursprache des noch nicht – im Sinne der Heilsgeschichte – korrumpierten Menschen. Dieser Mensch, so wird Swedenborg von Benz rekapituliert, „sprach, indem er dachte und empfand“, währenddessen sich „sein Gedanke und sein Gefühl auf seinem Angesicht abzeichnete und vor seinem Nächsten Zeugnis über seine lauteren Absichten ablegte“.171 Zwischen Innen und Außen wird eine vollkommene Entsprechung angenommen. Swedenborg selbst spricht von einer Sprache „durch das Angesicht“, die die (spätere) Sprache der Wörter weit übertraf. Der Mensch hatte in den allerersten Zeiten „nicht anders gedacht […] oder […] denken wollen, als was er haben wollte, daß man es aus seinem Angesicht sehe; also konnten auch die Neigungen des Gemüths, und daher die Ge-
167 Ebd.,
S. 454; Hervorh v. Lavater. S. 456. 169 Lavaters Erwägung, dass Apoll von himmlischen Wesen als Karikatur aufgefasst werden könnte, verdankt sich demnach nur einem irdisch-menschlichen Maßstab. 170 Lavater: Ausgewählte Werke in historisch-kritischer Ausgabe (wie Anm. 160), S. 456. 171 Vgl. Ernst Benz: Swedenborg und Lavater (wie Anm. 19), S. 169. 168 Ebd.,
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danken lebhaft und vollkommen vorgestellt werden […].“172 Auch die Geistwesen, die Swedenborg auf anderen Sternen des Weltalls vermutet und bei denen er eine dem Menschen vergleichbare Heilsentwicklung annimmt, können direkt durch ihr „Angesicht“ miteinander kommunizieren.173 Als Engel hätten die schon vollendeten Menschen darüber hinaus noch „die Gabe des Durchblicks gegenüber den noch nicht gereinigten Geistern“.174 Als zentrale Brücke zu Lavater stellt Benz Swedenborgs Vorstellung heraus, dass die Menschen im Zustand der Engel die „imago dei“ verwirklichten; dies sei ein „Zustand der vollendeten Selbstdarstellung“, der „geistleiblichen Persönlichkeit“ des Menschen unter Einschluss aller Züge seines individuellen Seins. Der Bezug zu Swedenborg liegt nahe, wenn man an den Gesamtzusammenhang der Aussichten in die Ewigkeit denkt. Allerdings berücksichtigen Benz und Bergmann nicht die aufgezeigten Vernetzungen zu den Sprachursprungsdebatten, zum Hieroglyphendiskurs, zu Herder und zu Diderot, indem sie Lavaters Himmelssprachen auf den alleinigen Einfluss von Swedenborg zurückführen. Swedenborgs Korrespondenzenlehre ist überdies reichhaltiger und, wie Inge Johnsson es im Einzelnen dargelegt hat, anders zugeschnitten als Lavaters vergleichbar einfache telepathische Himmelssprache. Die verlorene, ursprüngliche Sprache in unmittelbaren Korrespondenzen ist bei Swedenborg nur eine Abart von vielen Korrespondenzen-Sprachen, die bis in die biblische Allegorik reichen.175 Diskussionswürdig ist aber die von Benz und Bergmann aufgeworfene Frage, ob Lavater mit Swedenborg das Konzept eines heilsgeschichtlichen „Verwirklichungsleibs“ teilt. Das hätte insofern Auswirkungen auf Lavaters Physiognomik, als diese quasi in einer Doppelkodierung zugleich geschichtlich wie heilsgeschichtlich zu lesen wäre. In diesem Fall wäre zu bedenken, dass Lavater seine Physiognomik in den Fragmenten auf weitgehend statischen Merkmalen begründet, so dass eine Entelechie gerade ausgeschlossen erscheint. (Vgl. auch w.o. S. 171.) Weil Lavater eine vom Körper zum Geist aufsteigende Einheit annahm, wurde für ihn die leibliche Physiognomie des Menschen in einer eschatologischen Physiognomik aufgefangen. Dem idealen, mit Sehergabe
172 Vgl.
Emanuel Swedenborg: Von den Erdcörpern der Planeten und des gestirnten Himmels Einwohnern, allwo von derselben Art zu denken, zu reden und zu handeln, von ihrer RegierungsForm, Policey, Gottesdienst, Ehestand und überhaupt von ihrer Wohnung und Sitten; aus Erzählung derselben Geister selbst. Aus dem Latein übers. v. [Friedrich Christoph Oetinger]. Anspach 1771, S. 45. (Original, unter dem Titel De telluribus in mundo nostro solari, quae vocantur planetae, 1758.) 173 Vgl. Benz: Swedenborg und Lavater (wie Anm. 19), S. 171. Vgl. auch Swedenborg: Von den Erdcörpern der Paneten (wie Anm. 172), S. 44. 174 Benz, ebd., S. 184. 175 Vgl. Inge Johnsson: Emanuel Swedenborgs Naturphilosophie und ihr Fortwirken in seiner Theosophie. In: Antoine Faivre u. Rolf Christian Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt. Berlin 1979, S. 227–255.
202 C. Der Körper als göttliche Natursprache in der Physiognomik von Johann Caspar Lavater ausgestatteten Physiognomen erscheint der Mensch mit einer Formulierung Hartmut Böhmes in der „’Unverborgenheit’, in der Wahrheit der zukünftigen Welt.“176 Wie Swedenborg mildert auch Lavater die räumliche und metaphysische Kluft zwischen Erde und Himmel durch die Vorstellung eines zwischengeschalteten Geisterreichs. Die Menschen können sich, wie bei Bonnet, zu Engeln hinaufentwickeln; Menschenwelt und Geisterreich können miteinander kommunizieren. Dennoch baut Lavaters Physiognomik, bei aller Abweichung von orthodoxen Vorstellungen, auf einer spezifisch christlichen Esoterik auf, die ihr Zentrum in der Christologie hat. Der Gottessohn Christus ist als auferstandener Mensch die Lichtgestalt, die über den Hiatus des Todes führt und ein Weiterleben der Menschen im Jenseits möglich macht, wo sie in einen verklärten Leib aufsteigen, der Lavater zufolge dem irdischen moralisch und epistemisch überlegen ist. Lavater zeigt sich unbekümmert um die Widersprüche, die sich z.T. notwendigerweise aus der Harmonisierung von Heilsgeschichte und Geschichte ergeben, die aber auch aus den verschiedenen Anregungen des 18. Jahrhunderts resultieren, die er in synkretistischer Weise zusammenführt. Sein Konzept einer gottgegebenen, transparenten Natursprache des Leibes sowie seine weitgehende Gleichsetzung von körperlicher und seelischer Vollkommenheit führten notgedrungen zu einer Simplifizierung seiner Analyse, weil sie die Vieldeutigkeit der menschlichen Erscheinung und die physiognomische Kontextgebundenheit ignoriert. Im Extremfall wird seine physiognomische Entzifferung zu einer „Ausspähungskunst“, wie Lichtenberg und Kant kritisierten.177 Auch das Konstrukt einer sympathetischen Kommunikation im Himmel erscheint als imaginierte Überwachung. Die Seelen haben kein Refugium mehr, sondern sind vollständig offengelegt. In Lavaters Himmel begegnen sich ‚gläserne Existenzen’. Zwar schließt die folgende Generation der jungen Romantiker an Lavaters „eschatologischer Physiognomik“ an178, doch versucht sie, das entstandene Dilemma zwischen dem angenommenen Geheimnis eines jeden Menschen und der Ausspähekunst zu überwinden, indem sie auf die Hieroglyphe zurückgreift. Die von Lavater vorangetriebene, über die Hieroglyphik hinausgetriebene Verwissenschaftlichung hatte die zugrunde liegenden Aporien nur verdeutlicht, so dass sie zugunsten des schillernden Hieroglyphen-Begriffs zurückgenommen wurde. Der Hieroglyphe wird nun die Funktion zukommen, die schnelle Festlegung des physiognomischen (Vor)-Urteils (Lavaters „schnelles Menschengefühl“) abzuwehren. Novalis, einer
176 Hartmut
Böhme: Der sprechende Leib (wie Anm. 19), S. 201. Kant: Schriften zur Anthropologie, Geschichtsphilosophie, Politik, Pädagogik. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Darmstadt 1964, S. 640. 178 Vgl. Claudia Schmölders: [Sammelrez.] Im Aufwind. Zur neueren Erforschung der Geschichte der Physiognomik. In: Literaturkritik.de, Nr. 8, August 2008. [http://www.literaturkritik.de/public/rezension.php?rez_id=12173], S. 4. 177 Immanuel
11. Eschatologische Physiognomik: Lavaters Aussichten in die Ewigkeit
203
der prominentesten Erben der Lavaterschen Physiognomik, notierte sich in diesem Sinne um 1799 folgende Stichworte: Religiositaet der Physiognomik. Heilige, unerschöpfliche Hyeroglyphe jeder Menschengestalt. Schwierigkeit[,] Menschen wahrhaft zu sehn. Relativitaet und Falschheit der Begriffe von schönen und häßlichen Menschen. Recht häßliche Menschen können unendlich schön seyn. Öftere Beobachtung der Minen. Einzelne Offenbarungsmomente dieser Hieroglyfe.179
179 Novalis
Schriften. Die Werke Friedrich von Hardenbergs. Hg. v. Paul Kluckhorn u. Richard Samuel. Zweite, n. d. Handschriften erw. u. verb. Aufl. in 4 Bden. u. ei. Begleitband, Bd. III: Das philosophische Werk II. Hg. v. Richard Samuel. Stuttgart 1968, Abt. XII: Fragmente und Studien 1799–1800, S. 566.
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Louis-Claude de Saint-Martin 1.1 Saint-Martin und der Martinismus Der französische Theosoph Louis-Claude de Saint-Martin gilt als einer der wichtigsten Vertreter esoterischer Theoreme im ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Er steht mit dieser Bedeutung neben dem schwedischen Naturforscher Emanuel Swedenborg, der sich nach einer persönlichen Krise zum Geisterseher gewandelt hatte, und neben dem deutschen pietistischen Theologen und Pfarrer Friedrich Christoph Oetinger, der Swedenborgs visionäre Lehren in Deutschland bekannt gemacht hat. Anders als Oetinger meinte Saint-Martin später, Swedenborg sei auf halbem Wege stehen geblieben.1 Saint-Martin erfuhr seine esoterische Schulung im französischen Freimaurer-Orden der Elus Coëns, dem er 1768 – mit 25 Jahren – beitrat.2 Diesen Orden hatte dessen Großmeister Martines de Pasqually3 seit Anfang der 1760er Jahre in Bordeaux und Paris aufgebaut. Weitere Logen entstanden in Städten wie Lyon und Toulouse.4 Die Mitglieder verstanden sich als „Chevaliers-Maçons Elus Coëns de l’Univers“, das heißt als freimaurerische Ritter, die zu Priestern des Universums auserwählt waren. Mit dem Namen „Coëns“ oder auch „Cohen“ zeigten sie den Anspruch an, in der Nachfolge eines althebräischen Priestertums zu stehen, das teils auf Aaron,
1
In seinem Werk L’Homme de désir urteilt Saint-Martin über Swedenborg: „Mille preuves dans ses ouvrages, qu’il a été souvent et grandement favorisé! mille preuves qu’il a été souvent et grandement trompé! mille preuves qu’il n’a vu que le milieu de l’œuvre, et qu’il n’en a connu ni le commencement ni la fin!“ (L’Homme de désir. Reproduction photoméchanique de la nouvelle édition revue et corrigée par l’auteur (1802). Avec des introductions et des tables par Robert Amadou. Hildesheim, New York 1980 (= Œuvres majeures, hg. v. Robert Amadou, Bd. 3), S. 85. 2 Vgl. Arthur McCalla: [Art.] Saint-Martin, Louis-Claude de. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Hg. v. Wouter J. Hanegraaff. 2 Bde. Leiden, Boston 2005. Bd. II, S. 1024–1031, hier S. 1025. 3 Zu Pasqually, vgl. Jean-François Var [Art.] Pasqually, Martines de. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Hg. v. Wouter J. Hanegraaff. Leiden, Boston 2005. Bd. II, S. 931–936. 4 Vgl. Michelle Nahon: [Art.] Elus Coëns. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Hg. v. Wouter J. Hanegraaff. Leiden, Boston 2006, S. 332–334.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
den Bruder von Moses,5 teils auf Salomon6 zurückgeführt wird. Mit dem Anspruch, in der Tradition dieses Priestertums zu stehen, betrachteten sie sich als Verwalter geheimer Offenbarungen bzw. Initiationen. Martines de Pasqually begründete die maßgebliche Lehre und die Riten des Ordens. Durch die Einbeziehung ägyptischer, griechischer und orientalischer Geheimlehren wollte er u.a. die alttestamentarische Geschichte des Sündenfalls sowie die neutestamentarisch-christliche Erlösungslehre in einer übergreifenden, gnostischhermetisch inspirierten Theosophie auffangen. Er und nach ihm auch Saint-Martin kamen mit diesem Ansatz dem beginnenden zeitgenössischen Interesse an ethnologischen und religionsvergleichenden Studien entgegen und machten sich für die entsprechenden Diskussionen anschlussfähig. Die synkretistisch zusammengesetzte Lehre, die sich als uralte geheime Offenbarung ausgab, beanspruchte nichts weniger, als einen Universalschlüssel zu den Mythen und Religionen der Welt zu liefern. In sie waren neben einem fundamentalen Neuplatonismus weiterhin Elemente der christlichen Kabbala und des Neupythagoreismus eingewoben, so wie sie seit der Renaissance ausgeformt worden waren. Entscheidend und für Saint-Martin maßgeblich ist Martines de Pasquallys aus der spätantiken Gnosis übernommener Mythos, dass der Mensch in einem depravierenden Fall aus der sprirituellen Welt in die Materie abgestürzt sei.7
5
Vgl. Gerhard Wehr: Saint-Martin. Das Abenteuer des „Unbekannten Philosophen“ auf der Suche nach dem Geist. Freiburg i.Br. 1980, S. 17. 6 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung. Saint-Martin, De Maistre, Kleuker, Baader. Berlin 2004, S. 24. 7 Vgl. zur antiken Gnosis: Kurt Rudolph: Die Gnosis. Wesen und Geschichte einer spätantiken Religion. Vierte, durchges. Aufl., Göttingen 2005. Ferner Christoph Markschies: Die Gnosis. München 2001. – Von der Esoterikforschung wird Pasquallys Lehre als jüdisch-christliche Gnosis eingestuft. (Vgl. Jean-François Var: [Art.] Pasqually, Martines de, wie Anm. 3, S. 934.) Pasqually war spanisch-jüdischer Abkunft, bekannte sich aber zum römischen Katholizismus und forderte auch von neuen Mitgliedern seines Ordens diese Konfession ein. Für Var steht Pasquallys Christentum allerdings in der Tradition des archaischen Juden-Christentums, das nur scheinbar seit über tausend Jahren erloschen sei (Var, S. 932). Giovanna Summerfield bewertet Pasquallys Lehre gar als einen „Gnostizismus katharischen Ursprungs“, den er mit christlicher Hermetik und kabbalistischer Mystik verschmolzen habe. (Vgl. dies.: Louis-Claude de SaintMartin: Illustrating Man’s Regeneration. In: Credere aude. Mystifying Enlightenment. Tübingen 2008, Kap. IV, S. 99–128, hier S. 102.) Schmidt-Biggemann stellt Pasquallys Lehre nicht in den Zusammenhang der Gnosis, sondern in den – verspäteten – Zusammenhang des Origenismus des 17. und frühen 18. Jahrhunderts. (Vgl. Politische Theologie der Gegenaufklärung, wie Anm. 6, S. 25.) Origenes hat zwar die gnostische Häresie bekämpft, doch sind auch bei ihm Elemente zu finden, die ihn mit der gnostischen Lehre verbinden, u.a. das Konstrukt vom Fall der präexistenten Menschenseele in die Materie und ihre Rückkehr zu Gott. (Vgl. K. Rudolph: Die Gnosis, wie oben angegeben, S. 21f.) Die Forschung diskutiert v.a. Origenes’ Rezeption der Valentinianischen Gnosis; umstritten ist, inwieweit er diese in eine spezifisch christliche Gnosis transformierte. (Vgl. Hans-Friedrich Weiss: Frühes Christentum und Gnosis. Tübingen 2008, S. 234.)
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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Auch das komplementäre Konstrukt der Gnosis, die „Reintegration“ des Menschen in das Geistige, übernimmt Saint-Martin von Martines de Pasqually.8 Für diese Errettung ist die in Teilen gewaltsame Reinigung von der depravierenden Materie die vordringlichste Voraussetzung. Saint-Martin spricht von einem reinigenden „Feuer“, wie es die spätantike Gnosis in ihren eschatologischen Aussagen verkündet, verlegt es aber in das irdische Leben.9 Die „Reintegration“ soll den Menschen in seinen ehemaligen Stand einer von der Materie noch ungetrübten, reinen Geistherrlichkeit zurückversetzen, aus der sie durch den Fall in das Körperliche gerissen worden war. Saint-Martin sieht es als seine Mission an, den Menschen zu zeigen, dass die übersinnlich-spirituelle Welt ihre eigentliche Heimstatt sei. Die Rückführung des Menschen in sie versteht er aus der dualistischen Sicht der Gnosis heraus als Wiederherstellung seiner eigentlichen „Einheit“ und „Ganzheit“.10 Als Sekretär von Martines de Pasqually gelangte Saint-Martin in eine einflussreiche Stellung des Ordens, bevor er – auf der Basis seines hier erworbenen theosophischen und rituellen Wissens – unter dem Pseudonym des „Philosophe inconnu“11 mit den Büchern Des erreurs et de la vérité (1775) und Le Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme et l’univers (1782) als Autor an die Öf-
8
Martines de Pasqually gestaltete diese Lehre in seinem „Traité de Réintégration“ aus. Dieser wurde erst 1899, dann 1974 nach späteren Abschriften und schließlich 1995 nach einer Fassung, die Saint-Martin besessen hatte, gedruckt. Vgl. Pasqually: Traité de la réintégration des êtres dans leurs premières propriétés, vertus & puissances spirituelles & divines. Paris 1899. Ders.: Traité de la réintégration des êtres dans leur primitives propriétés, vertus et puissances spirituelles divines. Version originale éditée pour la première fois, en regard de la version publiée en 1899, accompagnée du tableau universel, précédée d’une introduction et de documents inédits par Robert Amadou. Paris 1974. Ders.: Traité sur la réintégration des êtres dans leur première propriété, vertu et puissance spirituelle divine. Première édition authentique d’après le manuscrit de Louis-Claude de Saint-Martin, établie et présentée par Robert Amadou. Le Tremblay 1995. 9 Während für das Christentum die Erlösung des Menschen durch den Kreuzestod Christi geschieht, propagiert die Gnosis eine Art Selbsterlösung. Es kam aber auch zu Ausformungen einer christlichen Gnosis, in der Christus zu einer zentralen Erlösergestalt wurde. (Vgl. K. Rudolph, wie Anm. 7, S. 80f. u. 165f.) 10 Die derart wiederherzustellende „Ganzheit“ symbolisiert Saint-Martin – in der Nachfolge von Pasqually – im Bild der Androgynität, einem Symbol, das die spätantike Gnosis ebenfalls bereits in dieser Funktion kennt. Zur Androgynität bei Saint-Martin, vgl. Wehr: Saint-Martin (wie Anm. 5), S. 19; zu den biblischen, platonischen und esoterischen Quellen des Motivs, S. 65–67. Ausführlicher zum Kontext der „Reintegration“: Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung (wie Anm. 6), S. 24–35. Sowie zuletzt: Florian Mehltretter: Der Text unserer Natur. Studien zu Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009, S. 260–262 u. passim. 11 Das Pseudonym „Philosophe inconnu“, könnte sich, wie Mehltretter herausgefunden hat, auf einen gleichlautenden Adeptengrad beziehen (vgl. Mehltretter: Der Text unserer Natur, S. 59). Saint-Martin hätte dann mit seinem Pseudonym eine Doppelbödigkeit eingeführt, die freilich nur einem eingeweihten, esoterischen Publikum verständlich war.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
fentlichkeit trat.12 Damit aber durchbrach er einen grundlegenden Charakter seines Ordens: die Geheimhaltung. Martines de Pasquallys Lehre war bis dahin den höheren Graden des Ordens vorbehalten und war zu dieser Zeit nur handschriftlich fixiert. Saint-Martin, der den schon 1774 verstorbenen Martines de Pasqually als seinen ersten Meister ansah, übernahm Kernstücke, gestaltete sie weiter aus und gab sie in dieser Form – wenngleich oftmals nur angedeutet – an einen exoterischen Leserkreis weiter. Es entstand die Schule des sogenannten Martinismus, die als besondere Spielart des französischen Illuminismus betrachtet wird.13 Der Begriff „Martinismus“ geht ursprünglich auf die Lehren und den Namen des Großmeisters Martines de Pasqually zurück14, doch wird in der Folge darunter auch die Ausgestaltung von dessen Lehre durch den namensverwandten Saint-Martin verstanden. Es ergibt sich eine Bedeutungsverschiebung, weil sich Saint-Martin von den Elementen der Theurgie in Martines de Pasquallys Lehre absetzt.15 Saint-Martin wollte die menschliche Reintegration in das Geistige nicht durch äußere Praktiken und Beschwörungsrituale, sondern durch einen im Inneren vollzogenen Weg erreichen.16 Bei seinem Aufenthalt in Straßburg zwischen 1788 und 1791 lernte Saint-Martin über die Vermittlung eines Logenbruders, des Advokaten und Theosophen Rudolf Salzmann, die Schriften von Jakob Böhme kennen und schätzen. Saint-Martin lernte eigens Deutsch, um Böhme lesen zu können. Er wird zu dessen erstem Übersetzer in Frankreich und trägt damit auch über Frankreich hinaus zur Wiederentdeckung von Böhmes Theosophie im Zeitalter der Romantik bei. Böhme wird – nach Martines de Pasqually – zu Saint-Martins zweitem Meisterdenker. Es entstehen die von Böhme beeinflussten Schriften De l’Esprit des choses (1800) und Le Ministère de l’Homme-Esprit (1802), die in der (oftmals selbst esoterik-affinen) Esoterikforschung als Meisterwerke der Theosophie betrachtet werden.17 Es dürfte kaum überraschen, dass Saint-Martins Bücher mit ihrer esoterischen bzw. mystischen Ausrichtung bei den französischen Aufklärern auf Ablehnung stießen. Voltaire, der Saint-Martins erstes, in Frankreich schnell bekannt gewordenes
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Beide Schriften sind von August Wolfstieg in die Bibliographie der freimaurerischen Literatur aufgenommen worden (Reprograf. ND der Ausg. Burg 1911–1926, 4 Bde., Hildesheim 1964. Bd. 2, S. 991 [Nr. 43100] sowie S. 109 [Nr. 22053]). Vgl. zum Illuminismus: Christine Bergé: [Art.] Illuminism. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Hg. v. Wouter J. Hanegraaff. Leiden, Boston 2006, S. 600–606. Vgl. Jean-François Var: [Art.] Martinism: First Period. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Hg. v. Wouter J. Hanegraaff. 2 Bde. Leiden, Boston 2005. Bd. II, S. 770–779. Gelegentlich findet man zur Abgrenzung der Lehre Martines de Pasquallys auch die Bezeichnung „Martinesimus“. Vgl. Mehltretter: Der Text unserer Natur (wie Anm. 10), S. 50, Anm. 71. Vgl. Summerfield: Louis-Claude de Saint-Martin (wie Anm. 7), S. 103. Vgl. Antoine Faivre: Esoterik im Überblick. Geheime Geschichte des abendländischen Denkens. Freiburg i.Br. 2001, S. 85.
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
209
Buch Des erreurs et de la vérité gelesen hatte, urteilte vernichtend: Er habe noch nie etwas so Absurdes, Obskures, Verrücktes und Dümmliches gelesen.18 Vor der Französischen Revolution bejahte Saint-Martin den absolutistischen Staat, den er als „deokratisch“ bezeichnet. Für Saint-Martin war die Theokratie kein vergangener Frühzustand der Menschheit wie bei Vico und Warburton, sondern sie war im Absolutismus eine Gegenwart von Gottes Gnaden. Der absolutistische Fürst wird eigens aufgefordert, in seine „lumière primitive“ einzutreten, also in sein uranfängliches Licht. Nach dem Sturz des Ancien régime, während der Umbruchphase von der konstitutionellen Monarchie zur Republik, hat Saint-Martin 1792 vorübergehend versucht, seine Lehre zu transformieren und sie der Revolutionsregierung anzudienen. Zeitweilig konnte er sich eine Verbindung von Theokratie und Demokratie vorstellen.19 Aufgrund seiner theosophischen Deutung der Französischen Revolution, die er u.a. 1799 in seinem Langpoem Le Crocodile20 in allegorischer Verschlüsselung darstellte, wurde Saint-Martin später für konservative Geschichtsphilosophen wie Joseph de Maistre, aber auch für die französischen Frühsozialisten interessant. Saint-Martin entschlüsselt die Revolution nachträglich als eine geschichtliche Hieroglyphe von einzigartiger spiritueller Bedeutung: Sie sei irreversibel und markiere einen spirituellen Fortschritt, obgleich ihre Gewalt eine göttliche Strafe für die Gottvergessenheit des vorangegangenen Jahrhunderts sei.21 In Deutschland hat Matthias Claudius 1782, ohne Auftrag eines Verlegers,22 Saint-Martins noch anonymes Erstlingswerk von 1775, Des erreurs et de la vérité, übersetzt und mit einem längeren Vorwort versehen.23 Auf diese Weise erreichte es
18
Vgl. Mehltretter: Der Text unserer Natur (wie Anm. 10), S. 53. Vgl. Jochen Schlobach: Theosophie und Revolution bei Saint-Martin. In: Monika NeugebauerWölk (Hg.): Aufklärung und Esoterik. Hamburg 1999, S. 455–467, hier S. 463f. Sowie zuletzt Mehltretter: Der Text unserer Natur (wie Anm. 10, S. 297f.), der sich hier der Deutung von Nicole Jacques-Chaquin anschließt (N. Jacques-Chaquin: Le citoyen Louis-Claude de SaintMartin, théosophe révolutionnaire, in: Dix-huitième siècle, 6, 1974, S. 209–244). Für Kiwahito Konno ist „Saint-Martin […] ni réactionnaire, ni révolutionnaire; il est à la fois l’un et l’autre“. Auch Konno führt aus, dass Saint-Martin unter dem Einfluss der Revolution sogar von einer „république divine“ spricht. (K. Konno: Louis Claude de Saint-Martin et la vision illuministe de la Révolution française, Etudes de Langue et littérature françaises 46, Tokyo 1985, S. 19–35, Zitate: S. 26 u. 24.) 20 Le Crocodile, ou la guerre du bien et du mal arrivée sous le règne de Louis XV: Poème épicomagique en 102 chants. Paris: Librairie du Cercle Social, an VII [1799]. Vgl. auch Saint-Martin: Lettre à un ami, ou Considérations politiques, philosophiques et religieuses sur la Révolution française. Paris, an III [1795]. 21 Vgl. im Einzelnen Arthur McCalla: Illuminism and French Romantic Philosophies of History. In: Antoine Faivre u. Wouter J. Hanegraaff (Hg.): Western Esotericism and the Science of Religion. Louvain 1998, S. 253–268. 22 Wehr: Saint-Martin (wie Anm. 5), S. 10. 23 Saint-Martin: Irrthümer und Wahrheit oder Rückweiß für die Menschen auf das allgemeine Prinzipium aller Erkenntnis. Aus d. Franz. übers. v. Matthias Claudius. ND der Ausg. Breslau: Löwe, 19
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
u.a. Lavater, Herder, Hamann und Goethe. Während besonders Lavater dem Werk eine unvergleichlich originelle Metaphysik bescheinigte und sich in Hinblick auf die sibyllinisch verschlüsselte Darstellungsweise an Hamann erinnert fühlte, gingen Hamann und Goethe auf Distanz.24 Als 1782 Saint-Martins zweites Buch, Le Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme et l’univers erschien, wurde es schon bald ins Deutsche übersetzt; die entsprechenden Bände erschienen 1783 bis 1785.25 Schon während die Übersetzungen erschienen, hat 1784 Johann Friedrich Kleuker Saint-Martins Lehre – auf Grundlage der ersten beiden Bücher – in seinem Magikon zusammengefasst und esoterikgeschichtlich eingeordnet.26 Kleuker hatte sein Werk für den Herzog Ferdinand von Braunschweig verfasst, der als Leiter des großen Freimaurerkongresses von 1782 in Wilhelmsbad bestrebt war, Aufschluss und Orientierung über den Martinismus zu gewinnen.27 Der Philosoph Franz von Baader hat Saint-Martins Schriften enthusiastisch begrüßt und sich stark für ihre Verbreitung eingesetzt. Schon seine ausführlichen Randglossen zu fast allen Schriften Saint-Martins, die er sowohl in französischen Originalen als auch – soweit vorhanden – in deutschen Übersetzungen gelesen hatte, zeugen davon, wie intensiv er sich mit dem französischen Theosophen auseinandergesetzt hat. Die Kommentare sind so umfangreich, dass Friedrich von Osten-Sacken sie 1860 zusammen mit weiteren Aufzeichnungen und Materialien zu Saint-Martin als eigenen Band innerhalb der Sämmtlichen Werke von Baader aus dem Nachlass herausgegeben hat.28 Baader kannte auch Kleukers Darstellung; auch sie hat er aus-
1782. Hildesheim [u.a] 2004 (= Œuvres complémentaires et études Saint-Martiniennes, hg. v. Robert Amadou, Série III: Domaine allemand, Bd. 1/1). 24 Vgl. Wehr: Saint-Martin (wie Anm. 5), S. 9f. Vgl. ausführlicher, besonders mit Blick auf Herder, Ralph Häfner: Macht der Willkür und Poesie des Lebens. Herders Swedenborg-Lektüre zwischen Saint-Martin und Friedrich Schiller. In: Der frühe und der späte Herder: Kontinuität und / oder Korrektur. Early and Late Herder: Continuity and / or Correction. Beiträge zur Konferenz der Internationalen Herder-Gesellschaft, Saarbrücken 2004. Hg. v. Sabine Groß u. Gerhard Sauder. Heidelberg 2007, S. 399–413, hier S. 403f. 25 Saint-Martin: Ueber das natürliche Verhältnis zwischen Gott, den Menschen und der Welt. Von dem Verfasser der Schrift der Irrthümer. Aus dem Franz. übers. 2 Bde., Reval, Leipzig: Albrecht, 1783–1785. 26 [Johann Friedrich Kleuker]: Magikon oder das geheime System einer Gesellschaft unbekannter Philosophen unter einzelne Artikel geordnet [,] durch Anm. u. Zusätze erl. u. beurtheilt, u. dessen Verwandtschaft mit ältern u. neuern Mysteriologien gezeigt. In 2 Theilen, von einem Unbekannten des Quadratscheins, der weder Zeichendeuter noch Epopt ist. Frankfurt, Leipzig 1784. 27 Vgl. Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung (wie Anm. 6), S. 82. Zum Freimaurerkongress in Wilhelmsbad, vgl. Ludwig Hammermayer: Der Wilhelmsbader Freimaurer-Konvent von 1782. Heidelberg 1980. 28 Franz von Baader: Erläuterungen zu sämmtlichen Schriften von Louis Claude de Saint-Martin. In: Ders.: Sämmtliche Werke. Systematisch geordnete, durch reiche Erläuterungen von der Hand des Verfassers bedeutend vermehrte, vollständige Ausgabe der gedruckten Schriften samt Nach-
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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führlich kommentiert.29 Erst durch Kleukers Magikon – so Wilhelm Schmidt-Biggemann – wurde für Baader das Saint-Martinsche Denksystem fasslich.30 Baader las Saint-Martins Werk allerdings bereits weitgehend durch die Brille seiner eigenen Rezeption von Jakob Böhme, die er z.T. parallel zu der Lektüre von Saint-Martin betrieb.31 Über diese enge Rezeption hinaus übte Saint-Martin als Bewunderer von Böhmes Schriften beträchtlichen Einfluss auf weitere Geistesverwandte wie Johann Heinrich Jung-Stilling aus. Er wirkte so auf die rosenkreuzerischen Verbindungen des 19. Jahrhunderts, wobei sich seine Spur bis in russische Freimaurerkreise hinein verfolgen lässt. Ernst Robert Curtius zufolge ist Saint-Martins Theosophie eine Hauptquelle jener übersinnlich-spekulativen „Gedankenmassen“, die zwischen 1780 und 1820 eine so weite Verbreitung gefunden und „in der Person Alexanders I. auch die hohe Politik beeinflußt“ hätten.32 Die Forschung hat sich vorwiegend mit Saint-Martins Stellung im politisch-konservativen Denken Frankreichs befasst, doch wird seit längerem auch seine theosophische Sprachtheorie beachtet, die er als Gegenentwurf zur Sprachauffassung von Dominique-Joseph Garat, einem Repräsentanten der sogenannten französischen „Ideologues“, verfasste und 1799 auch in sein erwähntes Langpoem Le Crocodile aufnahm. Nur wenige Arbeiten setzten sich bisher allerdings mit Saint-Martins Konzeptionen von Natursprache und Hieroglyphik auseinander, obgleich sie schon vor der Begegnung mit Böhme ein Teil seiner Theosophie waren und besonders in den beiden ersten Büchern – Des erreurs et de la Vérité von 1775 und Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme et l’univers von 1782 – ausgestaltet wurden. Auch über Kleukers Magikon wurde Saint-Martins Hieroglyphentheorie nicht aufgegriffen. Allerdings hat Saint-Martin keine geschlossene, gleichwohl aber eine vielfach vernetzte Hieroglyphentheorie ausgearbeitet; das Thema wird von ihm an verstreuten Stellen und oftmals sogar in von Kleuker bemerkten „hieroglyphischen Sinnbilder(n)“ (siehe unten) angesprochen. Im Rahmen ihrer Forschung zur europäischen Hieroglyphik-Theorie hat Liselotte Dieckmann 1970 auf das eigentümliche Hieroglyphik-Verständnis von SaintMartin aufmerksam gemacht.33 Dieckmanns knapp referierende Passage ist in der Saint-Martin-Forschung jedoch nicht explizit aufgenommen worden. 2004 wird das Thema in einen neuen Rahmen gestellt, als Wilhelm Schmidt-Biggemann in seiner laß, Biographie und Briefwechsel. Hg. v. Franz Hoffmann (u.a.). Bd. 12: Hg. u. m. einer Einl. v. Friedrich von der Osten-Sacken. Aalen 1963 [ND der Ausg. Leipzig 1860]. 29 S. ebf. Bd. 12 von Baaders Sämmtlichen Werken. 30 Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung (wie Anm. 6), S. 109. 31 Ebd., S. 129. 32 Ernst Robert Curtius: Büchertagebuch. Berlin 1960, S. 51. Hier zitiert nach Wehr: Saint-Martin (wie Anm. 5), S. 76. 33 Liselotte Dieckmann: Hieroglyphics. The History of a Literary Symbol. St. Louis 1970, S. 161– 165.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Arbeit über die politische Theologie der Gegenaufklärung auf Passagen einging, in denen Kleuker Saint-Martins Verständnis von hieroglyphischer Schrift und Naturhieroglyphik zusammenfasst.34 In jüngster Zeit hat Florian Mehltretter in seiner Habiltationsschrift über das Verhältnis von Illuminismus und Aufklärung in Frankreich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Saint-Martin breit untersucht. Unter dem Titel Der Text unserer Natur vertritt er die These, dass Esoterik und Aufklärung im Topos der Lesbarkeit von Natur ein gemeinsames, übergreifendes Thema haben, das sich aus der großen europäischen Leitmetapher vom „Buch der Natur“ ableitet.35 Mehltretter zeigt, dass sie von Aufklärern und Esoterikern zwar anders besetzt wird, dies jedoch in gegenseitigem Bezug sowie in Konkurrenz zueinander. Er untersucht in diesem Zusammenhang auch die spezifische Ausprägung bei Saint-Martin, wobei er z.T. an Vorarbeiten von Nicole Jacques-Chaquin (nunmehr Jacques-Lefèvre) zur Naturphilosophie von Saint-Martin anschließen kann.36 In der neueren Forschung entstand in der Diskussion um Schmidt-Biggemanns Buch über die politische Theologie der Gegenaufklärung die Frage, inwieweit nicht auch das mystische Freimaurertum in eine komplexere Sicht der Aufklärung eingeordnet werden müsse.37 Mehltretter nimmt an dieser Diskussion teil, indem er an Michel Foucaults Verständnis der jeweiligen epochenübergreifenden Episteme anschließt. In der Erweiterung von Foucault fragt er, in welchen Teilbereichen Esoterik und (purifiziert verstandene) Aufklärung übereinstimmen und sie sich darüber hinaus – wenn auch nur implizit – in gegenseitiger Kenntnisnahme profilieren. Vom Standpunkt der konsolidierten Gegnerschaft, die vom Kampfbegriff der Aufklärung auf die Semantik von Esoterik ausstrahlt, scheinen beide Begriffe unvereinbar zu sein. Es entsteht zwar so eine begriffliche Klarheit, die aber die Suchbewegungen der zeitgenössischen Theorien zu eindeutig voneinander sondert. 1.2 Saint-Martins Spiritualisierung von Anthropologie und Geschichte als Voraussetzung seiner Konzepte von Natursprache und Hieroglyphik Für Saint-Martin ist entscheidend, dass er seine Lehre aus einer theosophischen Anthropologie entfaltet, die die Spiritualität des Menschen in den Mittelpunkt stellt.
34
Vgl. Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung (wie Anm. 6), S. 97f. Der Text unserer Natur (wie Anm. 10). 36 Nicole Jacques-Chaquin [nunmehr Jacques-Lefèvre]: La philosophie de la Nature chez LouisClaude de Saint-Martin. In: Antoine Faivre u. Rolf Christian Zimmermann (Hg.): Epochen der Naturmystik. Hermetische Tradition im wissenschaftlichen Fortschritt. Berlin 1979, S. 314–332. Vgl. auch dies.: Louis-Claude de Saint-Martin, le philosophe inconnu (1743–1803). Un illuministe au siècle des Lumières. Paris 2003. 37 So Nathalie Scholz in ihrer Besprechung von Wilhelm Schmidt-Biggemanns Buch Politische Theologie der Gegenaufklärung: De Maistre, Saint-Martin, Kleuker, Baader. In: H-Soz-u-Kult. 23.02.2005 [http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/rezensionen/2005-1-135]. 35 Mehltretter:
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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Der Mensch soll Saint-Martin zufolge aus seiner grundlegend spirituellen „Natur“ heraus einerseits auf das Göttliche „über sich“ und andererseits auf das bloß Physische an sich selbst und „unter sich“ schließen. Ausgangspunkt seiner Argumentation ist die Überzeugung, dass die „Ideen“ allen menschlichen Handlungen vorausgehen. In der Verlängerung des renaissancistischen Neuplatonismus setzt er beim selbstmächtigen Individuum, vor allem dem Fürsten, aber auch dem Künstler bzw. dem Architekten an, um deduktiv zu folgern, dass alle Werke und Handlungen immer vom Geist, das heißt von Ideen, Plänen, Grundsätzen und Entscheidungen ausgehen. Analog wird das Verhältnis von kosmischer Natur und Gott konstruiert: Die göttlichen Ideen bzw. Prinzipien müssen der Weltenschöpfung vorgelagert sein. Saint-Martin verbindet nun diese kausale Priorität mit einer fundamentalen Wertung: Alles Spirituelle weist auf das Geistige im Menschen sowie auf das übergeordnete geistige Wesen Gottes in der Natur bzw. im Kosmos hin und ist höherwertig als das Physische, Sinnlich-Konkrete oder Materielle. Trotz der noch zu zeigenden partiellen Gemeinsamkeiten von Martinismus und rational orientierter Aufklärung muss daher ein grundsätzlicher Gegensatz festgehalten werden. Da Saint-Martin von einem spirituellen Wesen des Menschen ausgeht, können ihm zufolge Materialisten und Atheisten definitionsgemäß nur ein minderwertiges, reduktives Welt- und Menschenbild vertreten. Zwar waren die wenigsten Aufklärer seiner Zeit tatsächlich Materialisten oder gar Atheisten. Doch Saint-Martin profiliert sich für aufklärungskritische Kreise, indem er – von einer platonistischen Warte – alle nicht-spiritualistischen Ansätze unter den Materialismus- bzw. Atheismus-Verdacht stellt und verwirft. Seine Bewertung der genuin kritischen Aufklärung ist daher vom Grundansatz her unangemessen ausgrenzend, seine Auseinandersetzung mit ihr einseitig. Mit seiner grundsätzlichen Spiritualisierung trägt Saint-Martin dazu bei, seine Esoterik kämpferisch von der Aufklärung abzugrenzen, auch wenn er die Gegenrichtung nach seinem Maßstab zurechtbiegt. Aus der Spiritualisierung erklärt sich Saint-Martins weitgehendes Desinteresse am frühgeschichtlichen Ursprung des menschlichen Sprechens und Schreibens, das den früheren Diskurs über die Hieroglyphik dominiert hatte. Diese galt den Autoren von Vico bis Herder als früheste Form der Kommunikation, aber auch als Archiv einer theokratischen Gesellschaft, die ihr Ursprungsgedächtnis und Wissen in Bilderschriften überlieferungsfähig gemacht hatte. Lavater allerdings weitet den bisher frühgeschichtlichen Fokus bereits aus, indem er seine Physiognomik als Natursprache der Seele monadologisch verortete. Er rückt sie damit in eine spirituelle Dimension, obwohl er sie zugleich in szientifischer Weise naturalistisch auszuformen sucht. Auch indem Lavater die Physiognomik versuchsweise und hypothetisch als eine übersinnliche Himmelssprache vorstellt, in der die verklärten Leiber unmittelbar über ihre Astralleiber kommunizieren, argumentiert er bereits in eine Richtung, die nach ihm Saint-Martin vertreten wird. Saint-Martin greift mit seinem spiritualisierenden Ansatz gleichsam über die Geschichte hinweg auf einen vorweltlichen, rein spirituellen Ursprung der Welt zurück.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Er braucht sich nicht um eine Beweisführung zu bemühen, weil dieser vorgeschichtliche, gleichsam paradiesische Zustand naturgemäß nicht mit geschichtlichen Quellen belegt werden kann. Jegliche geschichtliche Methodik wäre dem ahistorischen martinistischen Mythos unangemessen. Da Saint-Martin seine erkenntnistheoretische Aporie nicht reflektiert, als geschichtlicher Mensch Aussagen über eine Welt jenseits der Geschichte machen zu wollen, wird konsequenterweise die mystische Innenschau zum einzigen Weg in die hypostasierte geistige Sphäre. Im synkretistischen Mythos des Martinismus wacht ein überzeitlicher Wächter, ein Adam Kadmon, über die Grenze zwischen der göttlich-spirituellen Welt und den in die Materie abgesunkenen, gefallenen Geistern. Der Verzicht, ja die Abweisung geschichtlicher Quellen enthebt Saint-Martin nicht nur jeder Nachprüfbarkeit, sie macht ihn zu einem Weisen, der seine Visionen aus Erleuchtung und Inspiration zu beziehen scheint. Auch Vico, Warburton und Herder hatten Mythen und alttestamentarische Offenbarungstexte einbezogen, hatten damit aber die frühesten, noch im Religiösen verankerten Kulturakte der Menschen erschließen wollen. Saint-Martin interessiert diese Fragestellung nicht; ihm geht es um die Spiritualität. Mit seiner platonistischen Grundlegung geht notwendigerweise eine spiritualisierende Verwendung von Begriffen einher, die in historischen und anthropologischen Diskursen der Zeit wichtig sind, bei ihm aber den Anstrengungen der empirisch orientierten Aufklärung widerstreben. Diese spezielle Verschiebung macht sich auch bei den Begriffen bemerkbar, die in dieser Untersuchung verhandelt werden, besonders bei Natursprache, Ursprache und Hieroglyphe. Saint-Martin enthistorisiert sie, entsinnlicht sie und platonisiert sie in einer esoterischen Weise. Ihm zufolge war der Mensch im vorweltlichen spirituellen Zustand noch nicht durch Sinnlichkeit und körperliche Materie eingeschränkt; er war auf keinerlei sinnliche Zeichen der Vermittlung angewiesen und hatte noch unmittelbar am sprirituellen Emanationsgeschehen teil. Seine Sprache war ein vollkommenes, zeichenloses Einstimmen in den himmlischen Lobgesang. Erst der irdische Mensch sei auf sinnliche Zeichen angewiesen. Trotz dieser weltflüchtigen Zielsetzung bietet Saint-Martin einen erweiterten kulturgeschichtlichen Horizont auf, um seine esoterischen Theoreme in das Allgemeinwissen der Zeit einzubetten. Er bezieht die zeitgenössischen Erkenntnisse aus Reiseberichten, aus der Ethnologie, der orientalistischen Altertumskunde oder religionswissenschaftlichen Mythenkunde ein, sofern sie sich für die Bekräftigung seiner Botschaft eignen; nicht zuletzt vermag er es mit dieser ausgeweiteten Argumentation, seine Leser als Zeitgenossen anzusprechen. 1.3 Theosophie und Aufklärung bei Saint-Martin Die von Saint-Martin behauptete Höherwertigkeit des Geistes gegenüber dem Körper fundiert zwar seine Theosophie, doch reicht sie allein nicht aus, um seine Kon-
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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zeption in den Diskursen der Zeit zu charakterisieren. Saint-Martin setzt sich mit den Gegenpositionen auseinander und entlehnt sogar rationale Verfahren, sofern sie sich in sein Weltbild integrieren lassen (siehe unten). Für Theosophen wie Saint-Martin, aber auch für Theologen wie Herder oder Lavater war es wichtig, gegenüber den säkularisierenden Tendenzen der Aufklärung die unsterbliche Seele als Wesensbestimmung des Menschen zu retten. Saint-Martin konnte mit dieser defensiven Haltung erwarten, dass er auch bei gemäßigten Aufklärern eine Resonanz fand. Doch wehrt er nicht nur den Atheismus einiger radikaler Aufklärer vehement ab; er verwirft ebenso energisch jeglichen Naturalismus, sei er materialistisch oder sensualistisch ausgeformt. Er beklagt implizit, dass der christlich geprägte Neoplatonismus der Renaissance aufgegeben worden ist. Die Entwicklung der sich szientifizierenden Wissenschaft kritisiert er generell als einen Irrweg, weil sie den Kontakt zum geistigen Ursprung des Daseins verloren habe. Er betrachtet bereits die Fixierung auf Gegenstände des körperlichen bzw. physisch-sinnlichen Lebens als Teil einer allgemeinen Depravierung. Aus dieser falschen Fixierung müsse sich der Mensch wieder zur Erkenntnis seiner einstigen wahren, geistigen Bestimmung und Größe erheben. Saint-Martin versteht seine Theosophie insofern als eine Gegenwissenschaft, als „science“ und „vérité“, die den Aberglauben der Aufklärung bekämpfen will. Er hält am Platonismus fest, den er in mystifizierender Weise ausgestaltet und als Bollwerk gegen eine säkularisierende Welt- und Menschenkunde in Stellung bringen will. Mit dieser kämpferischen Frontstellung gleicht er sich paradoxerweise rhetorisch dem Kulturkampf der radikalen Aufklärung an. Er greift auf ähnliche Schlüsselbegriffe und Leitmetaphern zurück und versucht, im kämpferischen Duktus, im Gestus der Empörung und mit Hilfe der Vision seine Zeitgenossen zu überzeugen. Ihm kommt dabei zugute, dass sich die Aufklärung selbst Vorstellungen ursprünglich religiöser Herkunft zu eigen gemacht hat, nicht zuletzt die in ihrem Begriff zum Ausdruck kommende, reich ausgestaltete Lichtmetaphorik. Darüber hinaus gebraucht Saint-Martin Verfahren der schematisierenden und begrifflichen Reduktion von Mannigfaltigkeit. Auch er greift zur Erfassung und Einteilung von Vielfalt auf klassifizierende und typisierende Verfahren zurück, die allerdings den statuarischen Charakter von Hierarchien nicht etwa durch Kategorien der Verzeitlichung infrage stellen. Freilich weitet er sie auf die von ihm als „höher“ bewerteten Ebenen des geistigen Lebens aus. Saint-Martin meldet seinen Anspruch, über die zeitgenössische Entwicklung urteilen zu können, schon im Titel seines ersten Buches über „Irrtümer und Wahrheit“ an. Im zweiten Buch greift er mit dem Titelbegriff „Tableau“ auf den Anspruch der Aufklärung zurück, die Bereiche der Wirklichkeit mittels rationaler Methoden von Einteilung und Komprimierung in ein gültiges Weltbild zu komprimieren. Weil Saint-Martin für sich in Anspruch nimmt, die Prinzipien seiner Theosophie vor allem durch Logik und Vernunftschlüsse zu erweisen, versteht er sich selbst sogar als aufgeklärten Theosophen. Tatsächlich aber gehen seine logischen Beweisketten unversehens in rational nicht nachvollziehbare, erratische Setzungen über.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Rätselhaft bleiben vor allem seine esoterischen Konzeptionen von Materie und deren symbolische Repräsentationen, etwa in geometrischen Elementarzeichen. Willkürlich bleiben auch viele seiner sprachtheosophischen Spekulationen, in denen genaue Einzelangaben etwa über die Buchstabenmenge der verlorenen Ursprache und die UrHieroglyphik gegeben werden, um sie mythisch zu überformen. Die in seinem System nicht notwendige Belegbarkeit lässt die Genauigkeit so als Mimikry einer kritischen Beweisführung erscheinen, um suggestiv Evidenz zu erzeugen. Zwar wirft er Swedenborg später vor, dieser führe als Zeugnisse seiner Lehre nur seine eigenen Visionen und die Heilige Schrift an, doch fällt dieser Vorwurf auf ihn zurück. Trotz der ähnlichen Rhetorik und Metaphorik lassen sich weitere Differenzen Saint-Martins zur (idealtypisch verstandenen) Aufklärung ausmachen. Er will seine Leser nicht zur Mündigkeit im Sinne der Aufklärung leiten, sondern partiell in deduktiven Schlüssen aus der Weltsicht des Idealismus auf die Pfade von Initiation und Erleuchtung führen. Statt durch Beobachtung soll der von Saint-Martin angeleitete Leser auf dem Weg über das Innere zur theosophischen Selbsterkenntnis und Wesensschau gelangen. Statt analytischer Mathematik bietet Saint-Martin eine qualitative Zahlenmystik in der Nachfolge des Pythagoreismus und der Kabbala an. Anstelle einer äußerlichen Merkmalskunde geht es ihm um die Erfassung okkulter Kräfte. Während die zeitgenössischen Naturwissenschaften dazu übergehen, dynamisch-interdependente Verhältnisse zu erkunden, bleibt Saint-Martin bei der Vorstellung einer graduellen Scala naturae, in deren hierarchischer Stufenleiter jedes Lebewesen in den Schranken seiner Klasse und Art abgestuft an einem energetischaktiven Emanationsgeschehen teilhat. Mit Hilfe eines analogischen Denkens und einer allegorisch-typologischen Hermeneutik, die Saint-Martin teils aus esoterischen, teils aus christlich-theologischen Traditionen übernimmt, versucht er, seine Leser von einer sich gerade erst etablierenden Aufmerksamkeit für die empirische Weltbetrachtung abzuziehen. Saint-Martin vermag es, mittels des Platonismus, der pythagoreischen Zahlenmystik und mittels der Anleihen bei der Kabbala seine Auffassungen in einer philosophisch-abstrakten Sprache vorzustellen. Die aus ihr resultierende Dignität stellt das Göttliche als höchstes „Prinzip“ vor oder präsentiert es in aktivistischer Terminologie als höchsten „Agenten“, von dem der spirituelle Energiefluss über eine Vielzahl wesensbestimmender Prinzipien bzw. Agenten weitergeleitet werde. Saint-Martin musste von einem ewig währenden statischen Seinsgebäude der Ideen und damit von einer konstanten Welt ausgehen, wie sie sowohl die Religion als auch der antike Platonismus nahelegen, wenn er nicht seine Grundlagen infrage stellen wollte. Er stabilisiert diese Auffassung sogar mittels seiner Gebäudemetaphern wie „édifice“ oder „colonnes du Temple“.38 Doch betont er zugleich eine aktivistisch-emanistische
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Vgl. Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme et l’univers. (Edimbourg [= Lyon] 1782.) In: Louis-Claude de Saint-Martin: Œuvres majeures. Hg. v. Robert Amadou.
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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Auffassung, die der damals beginnenden Wahrnehmung von Zeitlichkeit entgegenkommt. Die emanistische Dimension wirkt sich auch auf die Naturhieroglyphik aus: Dinge und Lebewesen tragen demnach zwar das göttliche Erkennungs-Siegel ihrer Wesenheit, müssen dies aber aktivistisch-prozessual zur Entfaltung bringen bzw. „manifestieren“. (Dazu noch später.) Für Saint-Martin bleibt es entscheidend, dass das emanistische Geschehen hierarchisch gegliedert ist und von spirituellen Kräften (den „agents“) ermöglicht wird. Damit wird es auch mit dem Gradsystem der Freimaurer kompatibel. Entsprechend werden die Freimaurergrade durch das spirituelle Heilssystem begründet und gefestigt. Saint-Martin hatte mit der Veröffentlichung seiner Schriften – wie zu dieser Zeit schon viele Freimaurer – das Tabu seines Ordens gebrochen, das esoterische Wissen gegenüber der Außenwelt abzuschirmen. Doch erreichte er auf dem Buchmarkt paradoxerweise zunächst einen vorwiegend esoterisch orientierten Leserkreis, bevor er allgemeinere Beachtung fand. Dieser Leserkreis erwartete von einem Autor zwar Belehrung und Aufschluss, zugleich aber auch die Wahrung eines Geheimnisses, dem gegenüber man sich selbst als würdig erweisen musste. Doch auch der wissende Autor Saint-Martin musste darauf bedacht sein, seine Kompetenz als Geheimnisträger nicht einfach preiszugeben. Während sich die Aufklärer darum bemühen, die Geheimnisse der Natur, der Geschichte und des Menschen zu ergründen und den Bereich des Wissens gegenüber dem Nichtwissen zu erweitern, inszeniert sich SaintMartin seit seinem Erstlingswerk Des erreurs et de la vérité nicht nur als Verkünder von Irrtümern und Wahrheit, sondern auch als demonstrativer Hüter von Geheimnissen, die er – bei aller theosophischen ‚Aufklärung’ und Erleuchtung – dem Leser des Buchmarktes nicht preisgibt. Dadurch entsteht der Charakter einer vom Autor gesteuerten Initiation des Lesers – einer Medialisierung von Initiation: Der Weg zur inneren Erleuchtung wird nicht mehr unmittelbar, sondern über die Lektüre angeleitet. Wie bei einer freimaurerischen Initiation bleibt dem Eingeweihten ein Teil des graduell abgestuften Wissens verborgen. Saint-Martin erhält sich so ein Mehrwissen, das ihn als potentiellen Initianten für gesellschaftliche (Geheim-)Zirkel interessant hält und ihn dem Publikum auch als Autor weiterer theosophischer Bücher empfiehlt. In der Vorrede zu seiner Übersetzung von Saint-Martins Erstlingswerk Des Erreurs et de la Vérité warnt Matthias Claudius die deutschen Leser 1782, dass die Gelehrten nicht wissen, was sie von diesem weitgehend unverständlichen Buche halten sollen. Claudius gesteht freimütig ein, dass auch er dieses Buch nicht verstehe. Der Autor gehe wie ein Geist, mit verschloßenem Munde und aufgehobenem Zeigefinger, auf etwas hinweisend da [sic.] wir nicht von wissen; und seine Winke und Aeußerungen sind allerdings groß und erfreulich wie die Gipfel der väterlichen Berge, aber zu gleicher Zeit so ex-centrisch und wunder-
Bd. II. Hildesheim, New York 1980. Teil II, S. 180.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
bar, daß unsere Vernunft ihre Cirkel nirgnd [sic.] anlegen, und sie nicht zusammenhängen und reimen kann.39
Das Geheimnis als solches ist für die esoterisch interessierten Zirkel des späten 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts zentral, und das Umspielen des Geheimnisses gehört zum Erfolgsrezept von Saint-Martins Werken. Herausragende Leser wie Claudius oder auch Baader fühlten sich von der dunklen Redeweise, den zahlenmystischen Spekulationen und weiteren hieroglyphisch verrätselten Bildern und Mythen des Martinismus eher zu einem weiteren Eindringen in die Mysterien und „höheren Wahrheiten“ angestachelt, als dass sie abgeschreckt wurden. Baader etwa fühlte sich von Kleukers Bemerkung, dass die „hieroglyphischen Sinnbilder(n) und Embleme(n) des Saint-Martin’schen Systems […] zur alten Tempelweisheit gehört hätten“, dazu angeregt, die Freimaurer-Symbolik generell auf diese älteste Tempelweisheit rückzubeziehen.40 1.4 Natur und göttliche Naturhieroglyphe Eine Folge des martinistischen Konstrukts vom Fall des Menschen aus der Geistherrlichkeit ist die Ansicht, dass der Mensch die ganze Natur mit in seinen Fall hineingerissen habe.41 Nunmehr enthält die Natur Saint-Martin zufolge nur noch rudimentär Spuren von dem verlorenen, glanzvoll-geistigen Ursprung der Schöpfung. Für Saint-Martin befindet sich zwischen dem Geistigen und der Materie eine Grenze, an der das Göttliche aufhört bzw. sich verkehrt. Auf der anderen Seite fängt mit dem Physisch-Organischen das Reich der gestürzten, satanischen Geister an. Insgesamt entsteht ein Bild vom verlorenen, glanzvollen Urbild, zu dem sich Natur und Mensch nur noch wie verdüsterte oder abgeschattete Nachbilder verhalten. Florian Mehltretter geht soweit, diese abgeschattete Existenz im Verständnis des Martinismus nicht einmal mehr als Nachbild gelten zu lassen, sondern es nur noch als eine „Ruine“ zu fassen.42 Festzuhalten ist: Während Saint-Martin die gefallene Natur in klaustrophobischen Kerker- und Grabesmetaphern beschreibt, die ihre Vorläufer nicht nur im Christentum, sondern auch in der Gnosis haben, wird der verlorene und wiederherzustellende spirituelle Zustand durch Bilder der Freiheit, des Glanzes und der Weite gekennzeichnet. Der Zustand der Freiheit wird erreicht,
39
Matthias Claudius: Vorrede des Übersetzers. In: Saint-Martin: Irrthümer und Wahrheit (wie Anm. 23), S. [III]–VIII, hier S. III. 40 Vgl. Baaders Kommentare zu Kleukers Magikon. In: Ders.: Erläuterungen zu sämmtlichen Schriften von Louis Claude de Saint-Martin. In: Sämmtliche Werke, Bd. 12 (wie Anm. 28), S. 550. 41 Saint-Martin kann hier an Römer 8, 18–22 anschließen, wo es heißt, dass Adam mit seinem Fall die Schöpfung mit in die Tiefe gerissen habe. Vgl. Mehltretter: Der Text unserer Natur (wie Anm. 10), S. 257. 42 Mehltretter, ebd., S. 375.
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
219
wenn sich die Seele ungehindert geistig entfalten kann und nicht mehr auf sinnliche Vermittlung angewiesen ist. Angesichts dieser negativen Bestimmungen von Physis und gefallener Natur ist nicht zu erwarten, dass Saint-Martin zu einer positiven Naturhermeneutik im Sinne einer lesbaren Naturhieroglyphik oder zu einer körpersprachlichen Physiognomik wie bei Lavater kommt. Dennoch entwirft Saint-Martin ein vergleichbares System, das in einer besonderen Weise spiritualisiert wird. Bei Saint-Martin ist der Mensch aufgrund seines Vermögens, die bloße Physis zu übersteigen, der Schlüssel sowohl zum geistigen Sein als auch zur wahrhaften Naturerfahrung. „Expliquer les choses par l’homme, et non l’homme par les choses“, setzt er als Motto auf das Titelblatt seines Tableau naturel des Rapports qui existent entre Dieu, l’homme et l’univers. Er selbst gibt den Hinweis, dass es sich bereits um ein Zitat aus dem ersten Buch Des erreurs et de la vérité handelt. In der typologisierenden Hierarchie Saint-Martins verkörpert der Mensch entsprechend den höchsten „Typus“ der Schöpfung. Diese Heraushebung erinnert zum einen an die antike sowie jüdisch-christliche Auffassung des Menschen als Krone der Schöpfung, zum anderen an die graduell fortschreitende Scala naturae, in der der Mensch als Krönung der Schöpfung verstanden wird. Spezieller aber noch ist Saint-Martins Ansatz, dass der Mensch als Doppelwesen das ihn bestimmende „Prinzip“ sowohl im physischen als auch im geistigen Universum repräsentiere. Denn nach Saint-Martin ist der Mensch „le chiffre universel, le signe vivant et le tableau réel d’un Etre infini. Il est né […] pour prouver à tous les Etres qu’il y a un Dieu nécessaire“.43 Der Mensch ist mithin geboren, die Existenz Gottes zu erweisen. Saint-Martin präzisiert, dass der Mensch gleich auf dreifache Weise Gott zeichenhaft repräsentiere – als lebendes (Eben-)Bild, über ein eingeprägtes charakteristisches Siegelzeichen und über ein ihn auszeichnendes eingeborenes Zahlenzeichen. In allen drei Fällen fungiert die Hieroglyphe in ihren Abstufungen als emphatischer Terminus: Sie ist das früher göttliche, nunmehr ausgezeichnete Zeichen, das selbst noch in der depravierten Gegenwart in einer mittelbaren Beziehung zum sprirituellen Ursprung aller Dinge und Lebewesen steht. Wie Florian Mehltretter feststellt, begreift Saint-Martin die Natur zwar als Gebilde von Zeichen, die z.T. pansemiotisch aufeinander verweisen, nicht aber als ein „hingestelltes Buch der Natur, dessen Buchstaben unabhängig von einem Deuter vorhanden sind und gelesen werden können oder auch nicht“. Nach Mehltretter ist die Natur bei Saint-Martin im Hinblick auf einen menschlichen Adressaten verfasst: „die Entschlüsselung jedes einzelnen Zeichens […] ist eine Heilsaufgabe des Menschen.“44 Demzufolge ist die Lesbarkeit der Natur nur dem Menschen gegeben, der
43
Tableau naturel (wie Anm. 38), Teil I, S. 73. Der Text unserer Natur (wie Anm. 10), S. 105f.
44 Mehltretter:
220
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
sich spirituell fortentwickelt. Ihm offenbart sich, so Mehltretter an anderer Stelle, die feinstoffliche Schöpfung in vollkommen transparenten Naturzeichen.45 Da für Saint Martin das Erkennen weitgehend ein Wiedererinnern des schon Gewussten ist, spielt es sich vorwiegend im Inneren statt im Bezug zum Äußeren ab.46 Auch deshalb kann die äußere Natur für Saint-Martin, im Unterschied zu den rational orientierten Aufklärern, kein zentrales Objekt der Erkenntnis sein. Der Mensch muss nicht im Äußeren, sondern er muss in sich selbst die Wahrheit suchen und finden. In eingeschränktem Maß kann er sie auch außerhalb finden, weil es in der depravierten Natur noch lebendige Spuren des Göttlichen gibt, die mithilfe des Menschen und für den Menschen aufschließbar sind. Denn Gott habe sich nicht allein im Menschen abgebildet, sondern sein Bild – mit Abstufungen – auch in allen anderen Geschöpfen vervielfältigt.47 Il est certain que Dieu s’étant peint lui-même dans toutes les œuvres de la Nature, et plus particulièrement dans l’homme, il n’existe rien dans nos ténebres [sic.] qui ne porte son signe, et l’immensité des Etres n’est autre chose que l’immensité des images de Dieu.48
Gott habe nicht aufgehört, unablässig aus seiner eigenen Potenz und unter Nutzung seines eigenen Vermögens die Fülle der Wesen zu erzeugen.49 Saint-Martin entwirft im Ansatz eine theosophische Naturgeschichte, die man implizit als Abwehr einer dynamischen Naturauffassung werten kann, wie sie seit der Mitte des 18. Jahrhunderts von Naturphilosophen und Naturforschern wie Diderot und Robinet diskutiert wird. Während die Naturforschung aufgrund der anatomischen Erkenntnisse das Reich der Natur gleichsam von unten, aus der dynamischen Abwandlung eines einzigen Prototypus, hervorgehen lassen wollte, geht Saint-Martin von oben, vom höchsten Wesen aus, das durch seine archetypischen Instanzen – in seinen Worten: durch „Prinzipien“ oder „Agenten“ – die Konstanz bzw. Identität der Arten begründet. Es erschafft die Fülle der Wesen über eine Vielzahl zwischengeschalteter geistiger „Prinzipien“, die Dinge und Lebewesen so an der Seinsfülle teilnehmen lassen, dass zugleich die Grenzen ihrer Klasse und Art bewahrt werden. Mit Gott als dem höchsten schöpferischen Prinzip korrespondiert der Mensch als höchstes Geschöpf, das selbst über eine schöpferische Potenz verfügt. Denn der Mensch verfügt über die Ideen sowie über die Sprache, die Saint-Martin als eine aktive Kraft versteht. Nicht zuletzt darin ist der Mensch der mustergültige, weil vollständige und vollkommene „Typus“. Er ist das höchste lebendige Zeichen und Bild des Göttlichen auf Erden.
45
Ebd., S. 515. Tableau naturel (wie Anm. 38), Teil I, S. 104. 47 Ebd., Teil I, S. 85. 48 Ebd., Teil I, S. 154. 49 Ebd., Teil I, S. 134. 46
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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Saint-Martin zufolge ist jedes geschaffene Wesen, jedes Individuum – nach Maßgabe seiner Klasse und Art – der „sichtbare Ausdruck“, „das repräsentative Bild“ („tableau représentatif“) der allgemeinen und besonderen Form- und Prägekraft in ihm, die selbst zur höheren, geistig-immateriellen Welt gehört. Alle Lebewesen tragen ein charakteristisches Kennzeichen, eine „marque“, die ihr konstitutives Prinzip klar und aktiv zum Ausdruck bringt. Es ist geradezu ihre Aufgabe, das sie organisierende geistige Prinzip durch ihr tätiges Dasein vollständig zu manifestieren. Ils doivent tous porter sur eux les marques évidentes de ce principe qui les constitue. Ils doivent en annoncer clairement le genre et les vertus, par les actions et les faits qu’ils operent [sic.]. En un mot, ils doivent en être le signe caractéristique, et, pour ainsi dire, l’image sensible et vivante.50
Saint-Martin gibt eine Reihe von Beispielen: So zeige die Weintraube den Weinstock, die Dattel die Palme und die Seide den Seidenwurm an; ebenso weise die Sonne als Zeichen, als „charactere“ [sic.] auf das Prinzipium „Feuer“ oder der Mond auf das Prinzipium „Wasser“ hin. Wichtig an diesen Beispielen ist insgesamt, dass die meisten Zeichen oder auch „Indikatoren“ ihr höheres Prinzip nicht ebenbildlichstatisch spiegeln, sondern – wie die Dattel die Palme – erst prozessual, in der Zeit verwirklichen und damit erst vollständig manifestieren. Saint-Martin benutzt im Weiteren eine Vielzahl von Begriffen und Metaphern aus dem Bereich der Bilder, der Prägezeichen und Chiffren, der Buchstaben und Ziffern, um das charakteristische Zeichen zu benennen, das die Identität schafft. Dabei bleibt er oftmals nicht widerspruchsfrei. Das die Dinge und Lebewesen charakterisierende Zeichen kann ein göttliches Siegel, eine Eingravierung, ein Aufdruck, eine Spur, ein Buchstabe, ein Emblem, eine Ziffer der qualitativen Zahlenmystik, aber auch ein eingeborener Keim, ein Same sein. Wie ist dieser Wechsel der Begriffe und Bilder zu verstehen? Wilhelm Schmidt-Biggemann klärt die Frage, indem er darauf hinweist, dass Johann Friedrich Kleuker in seinem Magikon die charakteristischen Zeichen bei Saint-Martin als göttliche Naturhieroglyphik versteht. Das höchste Wesen bediene sich unwandelbarer Zeichen, um seine Gedanken mitzuteilen; jeder Gedanke Gottes habe ein analoges Zeichen. Die Dinge und Lebewesen tragen diese Zeichen, die die göttlichen Gedanken vertreten, in sich als eine Hieroglyphe. Kleuker fasse diese Hieroglyphen im Weiteren – so Schmidt-Biggemann – als „die als Zeichen entfaltete Form der Seminalgründe“ auf.51 Kleuker bringe die Naturhieroglyphik mit der adamitischen Ursprache zusammen, in der Wesen und Namen identisch sind. Eher aber noch ist an den schöpferischen Logos zu denken, in dem Name, Wesen und Erschaffung zusammengehören. In diesem Sinne ist für Saint-Martin, wie er 1790 in L’homme de désir schreibt, eigentlich nicht das Bild, sondern das „Wort, das al50 51
Ebd., Teil I, S. 42. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Politische Theologie der Gegenaufklärung (wie Anm. 6), S. 98.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
les erschuf“ („la parole qui a tout créé“) entscheidend.52 Danach sind Mensch und Natur auch lebendig gewordene Gedanken Gottes. Das Wort, das Adam im Akt der Namensgebung gewissermaßen nur bestätigt, muss aber von grundlegend anderer Qualität sein als die konventionelle Lautsprache der Menschen, auch wenn es SaintMartin zufolge in der gewöhnlichen Sprache in Rudimenten noch fortlebt und damit den Menschen zum Statthalter des schöpferischen Wortes erhebt. Der sich hier anbahnende Zwiespalt in Saint-Martins Lehre von der Erschaffung der Dinge aus dem pneumatisch verstandenen Schöpfungs-Wort und der von ihm ebenso zentral vertretenen Entstehung der Dinge aus der gestaltbezogenen Selbstabbildung Gottes wird von Saint-Martin nicht überbrückt. Er schichtet vielmehr die Bereiche des schöpferischen Worts, der Selbstabbildung Gottes, des Siegelabdrucks oder der Zahl im Sinne der qualitativen Zahlenmystik übereinander, ohne sie zu einem schlüssigen Gesamtansatz zu vereinen. Es gehört zu den Besonderheiten seines theosophischen Diskurses, dass die Bildbereiche ständig wechseln und nicht kohärent sind. Der theosophische Diskurs vertraut darauf, dass die Verschiedenheiten nur Oppositionen des menschlichen Denkvermögens sind. Im Reich des Geistigen herrscht demgegenüber statt der Analyse die Synthese, so dass alle menschlichen Trennungen ohnehin in einer höheren, versöhnenden Einheit aufgehoben sind.53 Der Begriff der Naturhieroglyphik wird von Saint-Martin selbst nicht aufgegriffen, sondern nur in der Saint-Martin-Forschung verwendet. Selbst Kleuker spricht nicht explizit von „Naturhieroglyphik“, sondern übergreifend von einer „göttlichen Hieroglyphik“, die er als Teil der Pneumatik auffasst:54 „Alle Gegenstände“ sind „Hieroglyphen“ im Sinne „lebendige[r] Signaturen“ Gottes.55 Wenn man den Begriff der „Naturhieroglyphik“ in diesem Sinne fasst, lässt sich Saint-Martins Ansatz – vor dem Hintergrund der esoterischen Diskurse über Natursprache und Hieroglyphik – folgendermaßen charakterisieren: Anders als in der überkommenen Signaturenschrift verweist das eingravierte Zeichen nicht auf die okkulten Kräfte eines Dinges oder Lebewesens. Es meint vielmehr einen in die Dinge gelegten göttlichen Entfaltungsgrund, der in sich zwar beweglich ist, aber durch ein inneres Maß gebunden wird. Während die szientifische Naturwissenschaft sich mit Begriffen wie Prototypus, Typus oder Urform zu einer vergleichenden Anatomie vorarbeitet, die die Möglichkeit einer idealgenetischen Selbstentfaltung aller Reiche der Natur durch die Variation und Multiplikation dynamischer Baupläne erwägt, sieht Saint-Martin die Kette der Dinge und Lebewesen als Ausdruck eines ebenso archetypischen wie pneumatisch-beseelenden Vermögens, das letztlich von Gott als dem höchsten Prinzip ausgeht und sich – im permanenten Fluss seiner Emanation – in Identität erhaltender Weise reproduziert. 52
„La parole est éternelle, parce qu’elle est la vie […].“ (L’Homme de désir, wie Anm. 1, S. 59). Ebd., S. 97. 54 [Kleuker]: Magikon (wie Anm. 26), S. 114, Anm. 39. 55 Ebd., S. 201, Anm. 65. 53
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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Für Saint-Martin ist der Mensch mit dem göttlich-spirituellen System verbunden wie die Eichel mit der Eiche als deren Wesensprinzip. Wie die Eichel den Eichenbaum erst im zeitlichen Verlauf als Gestalt hervorbringen kann, indem sie die verschiedenen Stadien ihres organischen Lebens durchläuft, so muss auch der Mensch sein spirituelles Wesen erst selbsttätig in seinem Leben hervorbringen. So wie es das Gesetz der unteren Wesen ist, jeweils im Rahmen ihrer feststehenden Klasse alle die Fähigkeiten ungestört zu manifestieren, die zu ihrem Prinzip gehören, müsse auch der Mensch das ihn auszeichnende Wesen während seiner zeitlichen Existenz zur vollen Blüte bringen.56 Es gehöre zur Bestimmung des Menschen, seinen von Gott als spezielles Kennzeichen erhaltenen Charakter über den Tod hinweg wieder in die göttliche Hand zurückzugeben.57 Saint-Martin versteht diesen Akt als Spiritualisierung, die eine Reinigung von Materie und Sinnlichkeit voraussetzt. Im Gegensatz zur übrigen Natur ist der Mensch ein Wesen, das seine Unsterblichkeit herstellen muss. Auch wenn Saint-Martin es nicht explizit formuliert: Die Unsterblichkeit ist das unauslöschliche Siegel, die natürliche Hieroglyphe, die dem Menschen als Wesensmerkmal eingeprägt ist und die er – wie die Pflanze ihren Samen oder Keim – in seinem Leben prozessual ausprägen und zur Reife bringen muss. Die Natur mit ihren organischen Lebensprozessen kann ihm dabei als Fingerzeig Gottes dienen. Deshalb schöpft Saint-Martin seine Bilder, Symbole, Gleichnisse oder Analogien auch aus dem Naturbereich, wobei er die Zeichen sinnbildlich auf den zu leistenden, umfassenden Reintegrationsprozess des Menschen in das Geistige bezieht. An dieser Stelle löst sich auch das Paradox auf, dass Saint-Martin „das Geistige“ mit einer Reihe organischer Bilder wie Baum und Wurzel bezeichnet, er also das Geistig-Übersinnliche mit Metaphern aus dem organisch-materiellen Naturbereich belegt, obwohl er die Natur sonst – als das Zeitliche und Vergängliche – durch Bilder des Kerkers und des Grabes kennzeichnet. Mit Hilfe seiner Anleitung sollen die Menschen nicht nur ihre eigene verlorene Geistherrlichkeit wieder gewinnen, sondern damit zum Vorbild für eine allgemeine Respiritualisierung der Natur werden.58 An anderer Stelle räumt Saint-Martin sogar ein, dass der Mensch die Fähigkeit habe, die Natur umzugestalten. Mit diesem überraschenden Zugeständnis an Ziele der Aufklärung gerät Saint-Martin aber in einen Widerspruch zu seinem System. Zwar behauptet er weiterhin, dass jedes Wesen einen artmäßig festgelegten „Cha-
56
Ebd., Teil I, S. 105.
58
An dieser Stelle scheint es so, dass „die Natur“ in ihrer gegenwärtigen Verfassung für Saint-Martin nicht nur vom Menschen als vorwiegend materiell gesehen wird, sondern dass „die Natur“ selbst ein eigenes Bewusstsein davon besitzt, sonst könnte sie sich nicht nach dem Maßstab des Menschen respiritualisieren. Dagegen heißt es beim Autor andererseits, dass der Mensch in seinem Fall aus der Spiritualität „die Natur“ mitgerissen habe – der Mensch ist hier der Akteur und „die Natur“ ohne Widerstand.
57 Ebd.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
rakter“ habe. Gleichzeitig legt er dar, dass zumindest der Mensch die Möglichkeit habe, durch Auflösung und Re-Kombination von Materie bzw. Erde Transmutationen in der Natur herbeizuführen.59 Die Isolation einer transmutationsfähigen Erde zeigt Saint-Martin zufolge nur, „que le Principe universel de vie est répandu dans tous les corps“.60 Wichtiger aber als eine physische Alchemie, mit deren Hilfe Erde in Mineralien und Pflanzen in Insekten umgewandelt werden könnten, ist ihm eine spirituelle Alchemie, mit deren Hilfe der Mensch direkt auf die Prinzipien selbst einwirken könne. Nach dem Vorbild Gottes habe der Mensch die folgende Macht: […] de décomposer les enveloppes, de mettre à découvert les principes qui y sont contenus et concentrés, de leur fournir par-là les moyens de produire les fruits de tous les regnes qui leur sont propres, de recomposer ceux qui sont simples, de tenir dans l’inaction ceux qui sont mal sains, c’est-à-dire, de faire succéder par-tout l’abondance à la stérilité, la lumiere [sic.] aux ténebres [sic.], la vie à la mort, et de transfigurer tellement tout ce qui l’environne […].61
War der Mensch vor seinem Fall von Gott als zeitloser, gerüsteter und bewaffneter (!) Wächter eingesetzt, um die spirituelle Welt vor den gefallenen Geistern abzuschirmen, so ist er für Saint-Martin nach dem Fall wiederum das ausgezeichnete Werkzeug, um den Abfall in die Materialität rückgängig zu machen. In diese reintegrative Hebung der Schöpfung soll in letzter Instanz sogar das satanische Prinzip einbezogen werden. Saint-Martin bietet damit eine Variante der Apokatastasis panton an, einer „Wiederbringung Aller“ in den göttlichen Urgrund, aus dem sie entstanden sind. Die Vorstellung der Apokatastasis entstammt hellenistischen und jüdisch-christlichen Endzeitlehren und war auch in der spätantiken Gnosis verbreitet. In letzterer ist sie auf die rein geistige Welt bezogen, denn nur die geist- bzw. lichtfähigen Teile gehen in das Unvergängliche ein und stellen so das Pleroma, das heißt die „Fülle“ der göttlichen Lichtwelt wieder her.62 1.5 Göttliche und menschliche Hieroglyphen Für Saint-Martin sind die ursprünglichen, göttlichen Naturhieroglyphen Zeichen mit lebendiger, eigener Kraft („vertu“), die die Natur in ihrem wahren Wesen vor dem Fall in die Materialität abbilden. Dagegen können die menschlichen Hieroglyphen nur depraviert sein und sich verzerrend auf die göttlichen Naturhieroglyphen beziehen. Doch auch hier gibt es ein graduell abgestuftes Wissen. Für all diese Abstufungen gilt, dass die Hieroglyphe zeichentheoretisch aus der Selbstabbildung des Göttlichen begründet wird.
59
Tableau naturel (wie Anm. 38), Teil I, S. 158f.
61
Ebd., Teil I, S. 159f. Vgl. K. Rudolph: Die Gnosis (wie Anm. 7), S. 215.
60 Ebd. 62
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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In den göttlichen Naturhieroglyphen sind nach Saint-Martin alle Dinge, Elemente und Lebewesen der Natur wesenhaft spirituell. Sie werden von einem „analogen Zeichen“ begleitet, das ihr innerstes Wesensprinzip bzw. ihre verborgenen Eigenschaften anzeigt („indiquer“). Die weisen Männer der alten Völker hätten sich durch dieses Prinzip leiten lassen, den verschiedenen Substanzen wie den Metallen, dem Feuer, dem Wasser und weiteren Elementen, auch den Planeten, distinktive Zeichen und „Charaktere“ zuzuweisen. Ihre Nachfolger hätten dieses Verfahren auf die weiteren Erzeugnisse der Natur ausgedehnt und ihnen Zeichen und „Charaktere“ zugewiesen, wie man sie aus der Alchemie kennt. Sie hätten einen falschen Weg eingeschlagen, als sie den Metallen gewöhnliche Namen und den Planeten zusammengesetzte Zeichen anstatt spiritueller Bezeichnungen gegeben hätten. Saint-Martin kritisiert, dass man in den Wissenschaften nur entstellte Formen von hieroglyphischen Figuren und Buchstaben überliefert habe. In der natürlichen und vollkommenen Ordnung, die der Mensch verloren hat, gingen die hieroglyphischen Zeichen der menschlichen Sprache voraus. Den Beweis sieht Saint-Martin darin, dass auch in unserem Geist den Wörtern das sinnliche Bild („tableau“) dessen, was wir zum Ausdruck bringen wollen, vorangeht.63 Er kann hier an Diderots Taubstummenbrief anschließen; freilich verkürzt er diesen Bezug um die für Diderot zentrale Problematik, wie ein simultaner Vorstellungskomplex in die Sukzessivität der gesprochenen Sprache übersetzt werden kann.64 Aus der Tatsache, dass sich die Stummen mit den Zeichen der Taubstummensprache verständigen, folgert Saint-Martin, dass es ein hieroglyphisches Urvermögen zur Kommunikation gibt, das vor der phonetischen Lautsprache existiert. An dieser Stelle wird deutlich, dass Saint-Martin die zeitgenössischen Diskussionen um Hieroglyphik und Gestensprache der Taubstummen kennt, wie sie etwa Diderot in seinen Taubstummenbrief führt. Zugleich lässt sich hier ein weitergehendes Interesse an Frühformen der menschlichen Entwicklung feststellen, das über die rein nach innen gerichtete Erkenntnis des Spirituellen hinausweist. Einen weiteren Beweis für das hieroglyphische Urvermögen des Menschen sieht Saint-Martin darin, dass es Gelehrte gibt, die Bücher in ausgestorbenen Sprachen lesen, die sie selbst nicht sprechen können.
63 64
Tableau naturel (wie Anm. 38), Teil I, S. 223. „Autre chose est l’état de notre âme; autre chose le compte que nous en rendons“, schreibt Diderot in seinem Taubstummenbrief, „[...] autre chose la sensation totale et instantanée de cet état; autre chose, l’attention successive et détaillée que nous sommes forcés d’y donner pour l’analyser, la manifester et nous faire entendre. Notre âme est un tableau mouvant d’après lequel nous peignons sans cesse: nous employons bien du temps à le rendre avec fidélité; mais il existe en entier et tout à la fois: l’esprit ne va pas à pas comptés comme l’expression. Le pinceau n’exécute qu’à la longue ce que l’œil du peintre embrasse tout d’un coup.“ (Denis Diderot: Lettre sur les sourds et muets à l’usage de ceux qui entendent et qui parlent, 1751. In: Œuvres complètes, éd. critique et annotée, hg. v. H. Dieckmann, R. Mauzi, R. Mortier, J. Proust, J. Varloot. Bd. IV: Paris 1978, S. 129–228, Zitat: S.161f.)
226
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Saint-Martin unterscheidet die ursprünglichen, „primären“ Hieroglyphen von sekundären hieroglyphischen Zeichen, die von den Menschen verformt worden sind. Letztere treten uns etwa in der Schrift alter Völkern, wie auch in deren Mythen entgegen. Für Saint-Martin haben die Schriften nur dann ein wirkliches Wissen bewahrt, wenn sie die Verbindung zur natürlichen Hieroglyphenschrift bewahren konnten. Die Völker, die ihre Monumente nur mit abstrakten Figuren eines konventionellen Sinns bedeckt hätten, wurden dazu – so der Rückschluss – nicht von wirklich weisen Männern angehalten. Saint-Martin bezieht sich im Weiteren konkret auf die ägyptischen Hieroglyphen. Weil in ihnen eine Vielzahl von Reptilien, Vögeln, Wassertieren vorherrschen, spricht ihnen Saint-Martin die Eigenschaft ab, ein Archiv des wahren Wissens zu sein, denn die Ägypter hätten sich mit diesen Zeichen nur an Gegenständen geübt, die typologisch tief stehen. Das Wasser als Lebenselement dieser Tiere gehöre zum Typus eines unklaren und ungeordneten Ursprungs.65 Dieses Element, dem SaintMartin – im Sinne des Pythagoreismus – eine tiefstehende qualitative Wesenszahl zuordnet, steht bei ihm implizit in einem Gegensatz zum Feuer, das für ihn, wie weiter unten noch im Zusammenhang mit der Dichtung zu zeigen ist, eine fundamental spirituelle Bedeutung trägt. Während er das Wasser in die Nähe des Chaos und der unreinen Materie rückt, ist ihm das Feuer Zeichen der Reinigung und der Annäherung an das Spirituelle. Die typologisch tiefstehenden Hieroglyphen der Ägypter, so Saint-Martin, verhalten sich zu den ursprünglichen Hieroglyphen so, wie die Götzenanbetung zum wahren Kultus. In diesem Zusammenhang ist Saint-Martins an anderer Stelle gegebene Erklärung weiterführend, dass – nach der Überlieferung des Sanchuniathon – der Gott Thot, als er die vier ersten heiligen Schriftzeichen (die „caractères des lettres“) schuf, dafür die Götter selbst als Vorbild nahm.66 Schon Warburton hatte im Hieroglyphenkapitel seiner Devine Legation of Moses die aus Tier und Mensch zusammengesetzten Götterbilder der Ägypter als Grund dafür angenommen, dass man später, als man die Zeichen selbst statt die mit ihrer Hilfe repräsentierte Idee anbetete, in die Götzenanbetung verfiel. Saint-Martin (der Warburton in der einflussreichen französischen Übersetzung seiner Hieroglyphentheorie gelesen haben konnte) zeigt an anderer Stelle eine entsprechende Auffassung der Idole: Man habe die emblematischen Zeichen mit dem „Typus“, den sie repräsentierten, verwechselt und sodann die Allegorie für die Sache selbst genommen.67 Zentral ist auch hier für Saint-Martin die „typologische“ Setzung, dass der Mensch, als höchster irdischer Repräsentant und nahestes Ebenbild der Gottheit, im Irdischen auch höchster Typus der Zeichenhierarchie ist. Der menschliche Körper
65
Tableau naturel (wie Anm. 38), Teil I, S. 256. Ebd., Teil I, S. 227. 67 Ebd., Teil I, S. 233. 66
1. Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik in der Theosophie von Saint-Martin
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sei der „schönste Buchstabe aller bestehenden Alphabete auf Erden“.68 Über dem Menschen stehen allenfalls noch die Sterne, die für Saint-Martin, wie die Menschen auch, „lebende Buchstaben“ des „großen Alphabets“ der göttlichen Schöpfung sind.69 Zur Hieroglyphik im Sinne einer nur menschlichen, also damit verformten Bilderschrift äußert sich Saint-Martin vor allem 1782 im Tableau naturel des rapports qui existent entre Dieu, l’homme et l’univers eingehender. Die entscheidende Passage ist in eine längere Ausführung zur antiken Mythologie eingelassen, die ihrerseits in Überlegungen zur chinesischen und hebräischen Schrift sowie zum Liniensystem des I-Ging mündet.70 Diese Kontextualisierung war in der europäischen Hieroglyphik-Diskussion bereits vorgegeben. Denn zum einen verstand man alte Mythen – unter der Leitvorstellung einer allegorischen Emblematik – als eine in die Sprache verlängerte Hieroglyphik, die später nur verschriftlicht worden ist. Und zum anderen fragte man danach, ob und wie aus ursprünglich bilderschriftlichen Zeichen – über die ökonomische Verkürzung zu Kurrentschriften – alte Schriftsysteme wie das Hebräische oder das Chinesische hervorgegangen sein könnten. Diese Schriften rückten damit potentiell zu Erben der hieroglyphischen Ursprungsschrift auf, während die verschriftlichten, konventionellen Lautsprachen diese Verbindung verloren hätten. Saint-Martin gerät damit in den Kontext der europäischen Hieroglyphikdiskussion, mit der er sich aber nicht explizit auseinandersetzt; keiner der in dieser Arbeit vorgestellten Autoren wird von ihm erwähnt, obgleich Bezüge zu Warburton und Diderot vorhanden sind. Da sich die esoterische Lehre ihm zufolge nicht aus der Bibliothek herleiten soll, sondern im Inneren des Menschen als Rückwendung zur Spiritualität entstehen soll, werden kaum Quellen des Wissens bzw. Anreger und Gegner genannt. Dass er sich dennoch mit Hieroglyphentheoretikern auseinandergesetzt hat, zeigt seine vehemente Ablehnung von Kircher. 1802 in L’Homme de désir weist er dessen Deutung der ägyptischen Hieroglyphen und der Isis-Tafel als bloße Ablenkung von der Suche nach der wesentlichen Wahrheit ab. Man könne nicht aus den antiken Denkmälern die darin aufgehobene Weisheit entziffern, ohne zuvor zu wissen, was die (spirituelle) Weisheit sei. Saint-Martin spitzt seine Position in krasser Verallgemeinerung zu: Für denjenigen, der mit echtem Verlangen die Weisheit sucht, seien „Wissenschaften“ und „Bibliotheken“ grundsätzlich ebenso schlimm wie die Arzneimittel für den Körper: Größenteils verschlimmerten sie das Übel bis hin zum Tod. Alle Menschen mögen zwar schreiben, weil das helfe, ihren Geist zu bilden. Doch solle man sich hüten zu lesen („Mais que personne ne lise“), so schreibt pikan-
68
Ebd., Teil I, S. 227.
70
Ebd., Teil I, S. 267.
69 Ebd.
228
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
terweise der Autor Saint-Martin. In einer scheinbar radikal-subjektivistischen Wendung stellt er mit der Vorstellung einer theosophischen (Selbst-)Entwicklung zur Mündigkeit die zukunftsgewisse Aufklärungsdidaktik polemisch auf den Kopf: „Die Schriftsteller wollen nur über uns herrschen, uns in der Kindheit erhalten und verhindern, daß sich unsere [spirituellen] Kräfte entwickeln.“71 Es ist nicht ohne Reiz, dass Saint-Martin hier einen eigenständigen, theosophischen Begriff von Subjektivität und Freiheit verficht, der in Konkurrenz zur aufgeklärten Bildung und Mündigkeit des Lesers tritt. Dementsprechend verortet sich Saint-Martin nicht in einer Tradition des gelehrten europäischen Wissens, obgleich er die Topoi der gelehrten Diskussion benutzt, um seine eigenen theosophischen Überlegungen zu markieren und im Einzelnen auszugestalten. Bei den Mythen alter Völker stellt sich für Saint-Martin noch umfassender die Frage, wie sich das Verhältnis von göttlichen und menschlichen Hieroglyphen konkret manifestiert. Die Embleme, Allegorien und Hieroglyphen der Mythen sind wesentlich menschlicher Herkunft und daher „symbolische“ Zeichen; sie haben, wie alles in der Gegenwart, nur einen schwachen Zusammenhang mit den geistigen Ursprüngen. Sie bringen Sachverhalte des geistigen und emotionalen Lebens zur Sprache („Geist“ und „Herz“). Bei den Emblemen und Allegorien ist dieser Zusammenhang schwächer als bei den Hieroglyphen, die sich als Grenzphänomene zur Spiritualität erweisen. In den göttlichen Hieroglyphen gab es eine ursprüngliche Weisheit (die Saint-Martin spirituelle „Mythologie“ nennt), die die wichtigsten Wahrheiten für den Menschen enthielt.72 In diesen Hieroglyphen ist also eine heilsgeschichtliche Botschaft enthalten, die den Menschen die Erkenntnis ihrer Herkunft und damit die Rückkehr in die Spiritualität ermöglicht. Aus der Setzung, dass der Mensch im Irdischen der höchste Typus aller Sinnbezüge sei, folgt für Saint-Martin, dass sich innerhalb seiner strengen Hierarchie auch die Embleme, Allegorien und (menschlichen) Hieroglyphen der Mythen „typologisch“ auf den Menschen beziehen.73 Sie berichten in allegorischen Bildern vom vormaligen glanzvollen Zustand des Menschen in der Geistherrlichkeit, von seinem Fall in die Niederungen der Materie, und sie geben Hinweise auf die notwendigen Lehren und Handlungen, mit denen die Menschen wieder in ihren ursprünglichen Stand gehoben werden können.74 Saint-Martin beurteilt die Mythen nach dem Maßstab, inwieweit sie der Geistnatur des Menschen und dem Heilsgeschehen dienen. Seine, auf eine theosophische Anthropologie ausgerichtete Mythendeutung grenzt er dabei deutlich von anderen Mythendeutungen ab. Explizit lehnt er alchemistische Auslegungen, die er selbst „hermetisch“ nennt, als Fehldeutung ab. Solche alchemistische Mytheninterpretationen, die man schon aus dem 16. und 17. 71
L’Homme de désir (wie Anm. 1), Teil II, S.36; Übers. v. mir (A.G.). Tableau naturel (wie Anm. 38), Teil I, S. 266. 73 Vgl. ebd., Teil I, S. 220. 74 Vgl. ebd., Teil I, S. 192f. 72
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Jahrhunderten kennt, hatten 1758 mit Joseph Antoine Pernetys Dictionnaire mythohermétique sowie mit seinen Fables égyptiennes et grecques dévoilées besondere Publizität erreicht.75 An ihnen kritisiert Saint-Martin, dass sie die Mythen nicht auf den Menschen als Statthalter des Geistigen auf Erden, sondern nur auf die physische Natur bezögen. Die Alchemisten interpretierten die mythischen Gottheiten nur als Embleme roher Substanzen, doch könnten die Götter typologisch allein für geistige Zusammenhänge stehen. Überhaupt sei es eine grundsätzliche Schwäche der Alchemie, dass sie sich nicht über die Materie erhebe, mit der sie sich befasse.76 Im Gegensatz zu der auf die physische Natur bezogenen alchemistischen Auslegung vertritt Saint-Martin eine theosophische Weltanschauung, die nur die hypostasierte Heilsgeschichte des Menschen kennt. Seine Ausführungen zur Hieroglyphik kulminieren schließlich darin, dass er aus dem vermeintlich von alters her überlieferten hieroglyphischen Zeichenvorrat zwei kombinierte geometrische Grundzeichen extrahieren zu können meint, die als Embleme des Falls bzw. der Reintegration den Ansprüchen seiner „typologischen“ Deutung genügen. Saint-Martin geht mit den Figuren des Dreiecks und des Kreuzes von zwei „natürlichen“ Zeichen aus, die seiner Meinung nach mit den Eigenschaften der Wesen in enger Verbindung stehen und die Anforderungen seiner theosophischen Typologie erfüllen. Sie seien, mit einem bemerkenswerten Seitenblick auf die empirische Ethnologie, Grundzeichen, die man auf allen Monumenten der Völker fände. Deren überlieferte religiöse Deutungen werden aber zurückgewiesen. SaintMartin verwirft das Dreieck als Zeichen der Trinität, aber auch die alchemistischen Interpretationen des Dreiecks als Zeichen des Feuers oder des Phlogistons. Für ihn ist das Dreieck vielmehr das vollkommene „Emblem“ für die zusammengesetzte universelle Natur sowie des zu dieser gehörenden menschlichen Körpers. Auch das Kreuz interpretiert er nicht als christlich, sondern versteht es als Zeichen der Einheit und des Zentrums sowie als das „wahre Emblem“ eines heiligen, spirituellen Feuers. Saint-Martin bezieht es auf das geistige Wesen der Menschen, da es sich direkt auf das Zentrum des höchsten, universellen Prinzips, das heißt auf Gott selbst bezieht. Die Chemiker hätten es falsch verwendet, wenn sie damit die universelle Säure („acide“) angezeigt hätten. Die „Alten“ hätten hingegen den rechten Sinn noch gekannt, und die ägyptischen Sonnenpriester hätten es als Symbol auf ihren Gewändern getragen.77 Saint-Martin kombiniert Dreieck und Kreuz zu einem Doppelzeichen und gibt der Figur eine allegorische, heilsgeschichtliche Deutung. Befindet sich das Kreuz unter dem Dreieck, so weist das Zeichen auf die Depravation des Menschen hin,
75
Vgl. Mehltretter: Der Text unserer Natur (wie Anm. 10), S. 58 u. 62. Tableau naturel (wie Anm. 38), Teil I, S. 209f.; vgl. auch S. 218. 77 Vgl. ebd., Teil I, S. 260. 76
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denn der Körper steht in dieser Anordnung über dem Geist. Befindet sich das Kreuz dagegen über dem Dreieck, so wird das geistige Wesen in seinem ursprünglichen, überlegenen Rang über der Materie symbolisiert.78 Um seine Analogie abzusichern und zu bekräftigen, stützt Saint-Martin sich auf die zeitgenössischen Phlogiston-Theorie: Vor der Entdeckung des Sauerstoffs, Ende der 1770er Jahre durch Lavoisier, nahm man in der Chemie allgemein an, dass dem Körper bei der Verbrennung ein Stoff entweiche, den man Phlogiston nannte. Derselbe Stoff dringe bei der Erwärmung in den Körper ein und bewirke seine Ausdehnung. Saint-Martin schließt an diese ältere Position der Phlogistontheorie an und identifiziert sein spirituelles Feuer, das kein elementares Feuer, sondern ein „prinzipielles Feuer“ sei (ein „feu principe“), mit dem Phlogiston. So wie dieses nach dem Tod bei der Zersetzung des menschlichen Körpers entweiche, trete auch das innerste, spirituelle Lebensprinzip des Menschen aus, das mit dem höchsten und universellen Prinzip, mit Gott, verbunden ist.79 Auch diese Analogie zwischen dem Phlogiston und dem unsterblichen Prinzip des inneren Lebensfeuers legt er gleichnishaft aus: Darin zeige sich nicht nur der gravierende Unterschied zwischen der Materie einerseits und dem ihr innewohnendem Prinzip andererseits. Es zeige sich auch, um wieviel das geistige Prinzip des Menschen seiner eigenen [materiellen] Hülle („enveloppe“) grundsätzlich fremd bzw. unverträglich ist.80 Saint-Martin bleibt damit seiner Devise treu, dass sowohl die Allegorien und Embleme der Mythologie als auch die Charaktere der Hieroglyphik heilsgeschichtlich bzw. moralisch auf den Menschen bezogen werden müssen. Allerdings wird ihn seine inkonsequente Anleihe bei der zeitgenössischen Chemie bald gereut haben, denn die Phlogiston-Theorie war bereits überholt, als Saint-Martins Buch 1782 erschien. 1.6 Die Künste als Medien der Spiritualisierung Poesie, Malerei und Musik sind weitere, abgestufte Agenten, die den Menschen in die Respiritualisierung leiten können, wie Saint-Martin bereits in seinem ersten Buch Des erreurs et de la vérité darlegt. Besonders der Poesie bringt Saint-Martin höchste Wertschätzung entgegen. Damit schließt er sich einer Hochschätzung an, wie man sie im 18. Jahrhundert auch bei Vico, Diderot, Hamann und Herder findet. Hamann und Herder fassten, ähnlich wie vor ihnen schon Vico, die Poesie als „Muttersprache“ der Menschheit auf. Für sie war die Poesie das Medium einer archaischen, bilderschaffenden Phantasie, wie sie sich in den ersten religiösen und heroischen Mythen aussprach. Vico prägte den Begriff der „phantastischen Logik“,
78
Vgl. ebd., Teil I, S. 262.
79 Ebd. 80 Ebd.
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innerhalb derer sich die archaischen Menschen den Zugang zu Sprache und Denken bahnen mussten. Saint-Martins Begründungszusammenhang ist zwar ein anderer, dennoch ergeben sich Gemeinsamkeiten. Er bewertet die Künste und vor allem die Poesie danach, inwiefern sie den Menschen als inneres, als spirituelles Wesen ansprechen und auf den Weg einer grundlegenden Respiritualisierung bringen kann. Insofern liegt auch seiner Ästhetik die theosophische Anthropologie vom gefallenen und wiederaufzurichtenden Menschen zugrunde. Mit dem Fall in die Materie haben die Menschen nach Saint-Martin zwar die erste Sprachmacht verloren, in der das Wesen der Dinge unmittelbar präsent war. Doch ist ihnen, neben der verschütteten Erinnerung, das Potential der Künste, vor allem der Poesie, geblieben. Er versteht die Poesie wesentlich als eine Wortkunst, als ein Nachbild der ursprünglichen, wahren Sprache. Wenn die Poesie auch nur deren „schwache Nachahmung“ sein kann, so kann sie als Kunstform des „inneren Wortes“ ein begeisterndes inneres „Feuer“ entfachen. Im Falle der Poesie spricht er vom „verzehrenden Feuer“. Gemeint ist ein Feuer, das das Sinnliche auslöscht und die spirituelle Essenz des Inneren freilegt. Für SaintMartin steht die Poesie an der Spitze der Künste, weil sie mit dem inneren Wort und dem verzehrenden Feuer dem unzerstörbaren geistigen Wesen des Menschen am nächsten kommt. Sie könne prinzipiell alle Menschen ansprechen, da die Reste der Ursprache verschüttet noch in jedem einzelnen ruhten. In ihrer höchsten Form sei sie in der Lage, im Menschen das geistige „Heimweh“ nach der verlorenen spirituellen Urheimat hervorzurufen.81 In ihrer Reinform könne sie zu einer „heiligen Sprache“ finden, deren Ausdruck und Stimme nur begnadeten Menschen gegeben ist. Die Poesie büßt nach Saint-Martin aber ihren Glanz und ihre Wahrheit ein, wenn sie sich anderen Gegenständen als dem sprirituellen Heimweh zuwendet. Für Saint-Martin ist der erste Mensch notwendigerweise „der erste Poet“ gewesen.82 Dieser ist für ihn jedoch nicht (wie bei Vico) der archaische Urmensch nach der Sintflut, der sich durch seine Unterwerfung unter die Gottheit eine erste, rohe Sprache schafft, um ihren Willen verstehen und aussprechen zu können. Für SaintMartin ist der „erste Mensch“, der vorweltliche, spirituelle Adam, der die adamitische Ursprache beherrschte. Sprache, Schrift und poetische Sprache werden zwar in das theosophische System von Saint-Martin eingepasst, doch zeigt sich mit der Ablehnung der rationalistischen Zeitströmung, trotz fundamentaler Unterschiede, eine deutliche, z.T auch nur latente Gemeinsamkeit mit den vorgestellten Autoren der europäischen Hieroglyphendiskussion. Sie fußt auf zwei aufeinander bezogenen Theoremen: auf dem Vermögen der Künste (Poesie, Malerei, Musik) zu auratischer Ausdruckskraft und auf dem rudimentär hieroglyphischen Vermögen heutiger Menschen, das sich ges-
81 82
Ebd., S. 557. Ebd., S. 555.
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tisch in der Taubstummensprache und sich sprachlich, bildlich und klanglich in der Rezeption der Künste verwirklicht. Im Vergleich zur Poesie spielen Malerei und Musik für Saint-Martin eine nachgeordnete Rolle. Auch die Malerei hat bei Saint-Martin ihren Ausgangspunkt in der adamitischen Ursprache. Während die Poesie die wortsprachliche Seite der Ursprache beerbt, beerbt die Malerei ihr urschriftlich-bildliches Potential. Weil die naturhieroglyphischen Buchstaben Saint-Martin zufolge die ersten Urbilder waren, versteht er die Malerei als Erbe der bildlichen Seite der „wahren Sprache“, das heißt der Schrift. Die Urbuchstaben hätte man nicht verloren, wenn die Menschen die Malerei nur dazu gebraucht hätten, diese ersten Urbilder oder Natur-Buchstaben immer wieder neu zu kopieren. In ihrer positiven Ausprägung bewahrt die Malerei etwas vom Urbild Gottes. Doch weil die Malerei, anders als die Wortkunst, weitgehend äußere, sinnliche Gegenstände darstellt und zur absichtlichen Augentäuschung neigt, steht sie in Saint-Martins Augen bereits vom Prinzip her weit unter der Poesie. Saint-Martin zufolge hat der Mensch seine Urbilder nicht mehr unter den Gegenständen gesucht, die „nützlich und heilthätig“ für ihn sind. Er hat sich vielmehr auf „trügerische Formen“ und „wankende Farben“ eingelassen. Weil Saint-Martin den Menschen als höchsten Typus der Schöpfung ansieht, steht es für ihn unter der Würde des Menschen, wenn dieser sich dazu herablässt, nicht etwa den Menschen als das höchste göttliche Ebenbild, sondern „vierfüßige, kriechende und andere Thiere nachzuahmen“. Damit gewöhne der Mensch sich an das, was ihm fremd ist und verlöre aus den Augen, „was ihm eigen“ ist.83 Auf der anderen Seite wirft Saint-Martin der Malerei allerdings genauso streng vor, dass sie versucht habe, auch „höhere Wesen“ zu malen. Denn da die Malerei die höheren Wesen „nur durch sinnliche und körperliche Züge […] zu erkennen geben“ kann, hat sie sie „in den Augen des Menschen“, der sie nur über den inneren „Sinn seines Geistes erkennen mag“, herabgesetzt. Schließlich weist Saint-Martin auch der Musik als „Figur der wahren Harmonie“ eine herausragende Bedeutung zu. Zwar sei die Musik wie die Malerei eine Ordnung des Sinnlichen, doch könne auch diese Kunst ein Agent sein, der sich allegorisch auf eine andere, nämlich die geistig-religiöse Ordnung beziehen lässt. Im „vollkommenen Accord“ böte die Musik „ein Bild von jener ersten Einheit, die alles in sich hat und aus der alles hervor kommt“.84 Der vollkommene Akkord ist als der „wohlklingendste von allen“ auch der einzige, „der das Ohr des Menschen befriedigt und ihm nichts zu wünschen läßt.“85 In ebensolcher religiösen Deutung geht Saint-Martin alle Akkorde, von der Quart bis zur Septime durch.
83
Ebd., S. 562. Ebd., S. 571. 85 Ebd. 84
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1.7 Die Hieroglyphik des geheimen Buches Saint-Martins Mission kulminiert in der Berufung auf ein mysteriöses zehnseitiges Buch, das in der Ursprache geschrieben worden sei und zur Urausstattung des Menschen gehörte. Die Ursprache war demnach in der Frühzeit verschriftlicht worden. Andererseits neigt Saint-Martin dazu, vom Primat der Hieroglyphen vor der (lautlichen) Sprache auszugehen.86 Seine Aussagen dazu bleiben widersprüchlich, denn er begründet die menschliche Sprache an anderer Stelle aus dem schöpferischen Wort, dass die Welt erschuf.87 Festzuhalten bleibt, dass Saint-Martin die nahe liegende Auffassung bestreitet, dass das hieroglyphische Zeichen und die Sprache eng zusammenhängen. Für ihn sind sie so verschieden wie der Saft und die Schale einer Frucht.88 Das geheimnisvolle, zehnseitige Buch tritt in Saint-Martins System an die Stelle der mosaischen Schöpfungsgeschichte bzw. der Bibel; es ist gleichsam die Bibel des martinistischen Systems. Saint-Martin erfindet mit ihm eine eigene esoterische Offenbarung, die gleichsam über den Urschriften der verschiedenen Religionen steht. Im Unterschied zu ihnen ist das geheimnisvolle Buch, das die göttliche Hieroglyphik in sich fasst oder ihr zumindest nahe steht, nicht öffentlich zugänglich. Es ist geheim und wird damit vor der Entstellung bewahrt, mit der die Menschen die göttlichen Hieroglyphen bzw. Naturhieroglyphen in die Materie ziehen und sie zu menschlichen Hieroglyphen umwandeln. Nur Geläuterte wie Saint-Martin wissen um jenes Buch, von dem aber nun auch seine Leser erfahren. Bemerkenswert erscheint, dass die Hieroglyphe als Grenzphänomen zum Geheimnis hier jenseits der Grenze platziert wird. Saint-Martin zufolge fasst dieses Urbuch in sich „alle Einsichten und Erkenntnisse von dem was gewesen ist, von dem was ist, und von dem was seyn wird […].“89 Damit wandelt er die schon im ersten Jahrhundert n. Chr. von Plutarch in seinem Buch De Iside et Osiride überlieferte Inschrift der Göttin Isis im Tempel zu Sais ab, die im 18. Jahrhundert mehrfach aufgegriffen wird. In ihr wird von der Isis – als der allumfassenden Verkörperung der Natur – verkündet, sie sei alles, was da ist, das da war und was da sein wird. Doch verhülle sie ein Schleier, den kein Sterblicher je gelüftet habe. (Dazu ausführlicher Kap. D/2, S. 255f. u. 275ff.) Saint-Martin hat den Schleier gelüftet; er gehört zu den Eingeweihten, die das mysteriöse zehnseitige Urbuch kennen und lesen können. Dass sie es lesen können, ist für das martinistische System konsequent, weil der Mensch die Ursprache in sich wiederfinden muss und nicht in einer wie auch immer gearteten Kommunika-
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So schreibt er etwa 1782 im Tableau naturel: „[…] il falloit que l’hiéroglyphe s’éffaçât pour que la langue parût, car […] l’hiéroglyphe a été antérieur aux langues“ (wie Anm. 38, Teil II, S. 174). 87 Vgl. L’Homme de désir (wie Anm. 1), Teil I, S. 59. 88 Tableau naturel (wie Anm. 38), Teil I, S. 253f. 89 Saint-Martin: Irrthümer und Wahrheit (wie Anm. 23), S. 287.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
tion. Die höhere Weisheit von Saint-Martin, gemessen auch im graduellen System seines Ordens, soll sich gerade nach dem Maß seiner Abkehr von der materiellen Wirklichkeit bzw. nach dem Grad seiner (Re-)Spiritualisierung ausweisen. Wie erwähnt, ist die Ursprache bei Saint-Martin kein Mittel der Kommunikation mit anderen, sondern ein Idiom, das jeder Mensch in sich trägt. Mit ihrer Hilfe könne der Mensch seine spirituelle Reintegration erreichen. Ihm können höher entwickelte Agenten helfen, sie in sich wiederzuentdecken; zu ihnen gehört nicht zuletzt SaintMartin selbst. Der Inhalt des mysteriösen zehnseitigen Buches sei ursprünglich (bildlich-)simultan und sukzessiv lesbar gewesen. Eine vergleichbare Position hatte schon Lavater vertreten; er stellte sich eine hieroglyphische Himmelssprache vor, die Simultaneität und Sukzessivität vereint. Lavaters Himmelssprache fand sich aber nicht, wie bei Saint-Martin, in einem Buch kodifiziert. Saint-Martin gibt den Inhalt des zehnseitigen Buches an seine Leser in einer zahlen-hieroglyphischen Verschlüsselung weiter. Innerhalb der den Zahlen immanten Hierarchie werden alle Ebenen des Seins durch eine sie qualitativ charakterisierende Ziffer ausgedrückt, wobei dem höchsten Wesen mit der „Eins“ die vollkommenste Zahl zusteht. Dem Menschen ist die Zahl „vier“ zugeordnet. Saint-Martin fasst auch die Entfernung des Menschen sowie die möglichen Näherungen an die Reintegration in mystische Zahlen und Zahlenfolgen. An anderer Stelle gibt er, wie gezeigt, aus Dreieck und Kreuz zusammengesetzte geometrische Symbole, die anzeigen, ob sich der Mensch im Fall oder auf dem Weg der Reintegration befindet.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen 2.1 Bedeutung und Einfluss von Eckartshausen Im Unterschied zu Saint-Martin, der seine Theosophie zunächst im kulturellen Milieu des Ancien Régime ausgebildet und später zeitweilig an die neuen republikanischen Verhältnisse im revolutionären Frankreich anzupassen versucht hatte, war die Ausgangslage für Karl von Eckartshausen wesentlich stabiler. Er wurde im Kurfürstentum Bayern durch die vorrevolutionären und revolutionären Ereignisse in Frankreich zu einer theosophischen Gegenwehr herausgefordert und entwickelte seine esoterischen Lehren von 1788 an. Eckartshausen war der uneheliche Sohn eines Grafen, studierte in Ingolstadt Philosophie und Zivilrecht, wurde 1776 mit 24 Jahren geadelt und zum Hofrat ernannt. Er trat zunächst als Richter in München mit kriminalistischen Reformideen hervor. Ab 1780 saß er im Bücherzensurkollegium, 1784 wurde er zum Geheimen Hausarchivar ernannt und reformierte in dieser Funktion die Archivordnung. Gleichzeitig trat er ab 1783 literarisch als Autor moralischer Theaterstücke, Singspiele und Er-
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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zählungen hervor. Besonders seine erbaulichen „Sittenblätter“ fanden beim Publikum in Bayern Anklang.90 Seit 1777 gehörte Eckartshausen der Münchener Freimaurer-Loge „Zur Behutsamkeit“ an,91 deren Mitglieder besonders in den Anfangsjahren überwiegend aus hochrangigen Adligen und wenigen aufstrebenden Beamten bürgerlicher Herkunft bestanden.92 Diese Loge stellte 1783 ihre Arbeit ein und ging später in der Strikten Observanz auf. Folgenreicher aber war, dass Eckartshausen auch in den GeheimOrden der Illuminaten eintrat, den Adam Weishaupt 1776 in Ingolstadt begründet hatte.93 Dieser Bund rekrutierte seine Mitglieder bevorzugt aus der höheren Beamtenschaft und den weiteren Eliten, um eine gezielte Aufklärung „von oben“ voranzutreiben. Weishaupt bekämpfte insbesondere die Tendenzen gegen die Aufklärung am kurfüstlichen Hof. Goethe und sein Herzog, Klopstock, Herder, Pestalozzi, Kleuker und Knigge gehörten dem Orden zumindest zeitweilig an. Während die unteren Grade der Illuminaten den Freimaurerorden schottischer Provenienz glichen, wurden die Mitglieder der oberen Grade in die politische Geheimstrategie einer die feudale Gesellschaft umgestaltenden „Generalreformation“ eingeführt: Die Institutionen des Staates und der Religion sollten von den antimonarchistischen und antiklerikalen Illuminaten unterwandert werden.94 Es ist zweifelhaft, ob auch Eckartshausen in die geheimgehaltenen Ziele der Illuminaten eingeweiht war.95 Antoine Faivre vermutet, dass er sich dem Orden aus mystischen und esoterischen Interessen angeschlossen hat.96 Die Illuminaten gerieten seit 1783/1784
90
Vgl. Antoine Faivre: Einführung. In: Ders. (Hg.): Eckartshausen: Über die Zauberkräfte der Natur. Freiburg i.Br. 1978, S. V–XXVIII. Darüber hinaus: Jacques Fabry: [Art.] Eckartshausen, Karl von. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Hg. v. Wouter J. Hanegraaff. 2 Bde. Leiden, Boston 2005. Bd. 1, S. 326–328. Sowie: Hans Graßl u. Friedrich Merzbacher: [Art.] Eckartshausen, Franz Karl v. In: Neue Deutsche Biographie (NDB). Bd. 4, Berlin 1959, S. 284–285. 91 Vgl. Antoine Faivre: [Art.] Eckartshausen, Karl von. In: Le Monde maçonnique des Lumières (Europe-Amérique & colonies). Dictionnaire prosopographique, publié sous la direction de Charles Porset et Cécile Révauger, 3 Bde., Paris 2013. 92 Zur Loge „Zur Behutsamkeit“, vgl. Michael Schaich: Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung. München 2001, S. 50–53, hier S. 50. 93 Vgl. Hermann Schüttler: Die Mitglieder des Illuminatenordens 1776–1787/93. München 1991. Vgl. auch Die Korrespondenz des Illuminatenordens. Bd. I: 1776–1781. Hg. v. Reinhard Markner, Monika Neugebauer-Wölk u. Hermann Schüttler. Tübingen 2005. 94 Eingehend zum Illuminatenorden: Monika Neugebauer-Wölk: Esoterische Bünde und Bürgerliche Gesellschaft. Entwicklungslinien zur modernen Welt im Geheimbundwesen des 18. Jahrhunderts. Göttingen 1995. Sowie dies.: [Art.] Illuminaten. In: Dictionary of Gnosis & Western Esotericism. Hg. v. Wouter J. Hanegraaff. Leiden, Boston 2006, S. 590–592. 95 Zur Gruppendynamik des Ordens, in dem auch Konflikte zwischen radikalaufklärerischen und mystischen Positionen ausgetragen wurden: Monika Neugebauer-Wölk: Debatten im Geheimraum der Aufklärung. Konstellationen des Wissensgewinns im Orden der Illuminaten. In: Die Aufklärung und ihre Weltwirkung. Hg. von Wolfgang Hardtwig. Göttingen 2010, S. 17–46. 96 Faivre: Einführung. In: Eckartshausen: Über die Zauberkräfte der Natur (wie Anm. 90), S. XV.
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ins Visier der bayrischen Regierung und wurden in den Folgejahren verboten und verfolgt. Während dieses Prozesses beschlagnahmte man Unterlagen von Mitgliedern, die deren Gefährlichkeit für den Staat, den christlichen Glauben und die Moralität der Untertanen bekunden sollten.97 Eckartshausen stellte sich während dieser Zeit auf die Seite der Verfolger und gab sich als erbitterter Gegner des Ordens. Er hatte den Auftrag, einen Bericht über die konfiszierten Illuminatenpapiere zu verfassen98, war daran beteiligt, das Anklagematerial gegen den Orden zusammenzustellen und die Anklageschrift gegen ihn vorzubereiten.99 Brisant wurde es für ihn, als 1791 eine ältere Mitgliedsliste der Illuminaten aufgefunden wurde, auf der sein Name stand. Angesichts der für die europäischen Fürstentümer bedrohlichen Französischen Revolution war diese Aufdeckung für Eckartshausen gefährlicher als in den Anfangsjahren der Verfolgung des Ordens.100 Umso eifriger bemühte er sich, seine Loyalität zum bayerischen Kurfürstentum mit einer eindeutigen Stellungnahme gegen das Revolutionsgeschehen unter Beweis zu stellen. 1791 publiziert er eine 86-seitige Schrift mit dem Titel: Was trägt am meisten zu den Revolutionen itziger Zeiten bey? Und welches wäre das sicherste Mittel, ihnen künftig vorzubeugen? Eine Schrift zur Beherzigung für Fürsten und Völker.101 Als sicherstes Mittel, um Revolutionsbestrebungen zu verhindern, empfahl der werdende Theosoph das Christentum. Es müsse zur tragenden Grundfeste des Staatsgebäudes werden. Im gleichen Jahr veröffentlichte er Ueber die Gefahr, die den Thronen, den Staaten und dem Christenthume den gaenzlichen Verfall drohet, durch das falsche Sistem [sic.] der heutigen Aufklaerung, und die kecken Anmassungen sogenannter Philosophen, geheimer Gesellschaften und Sekten. Auch diese, über hundert Seiten umfassende Schrift adressiert er „an die Grossen der Welt“, wobei er sich als Verfasser einen „Freund(e) der Fuersten und der wahren Aufklaerung“ nennt. Eines seiner zentralen Anliegen ist es nunmehr, die Gefährlichkeit von Geheimgesellschaften nachzuweisen. Für die letzten 15 Jahre seines Lebens verlegt sich Eckartshausen als Autor darauf, eine theosophische Lehre auszubauen, die vom Christentum ausgeht, es aber entschieden theosophisch und esoterisch erweitert. Als Einstieg in seine theosophisch-esoterische Phase gelten die Aufschlüsse zur Magie, deren erster Band dem
Eingehender zu Eckartshausens Rolle im Illuminaten-Orden: Ders.: Eckartshausen et la théosophie chrétienne. Paris 1969, S. 72–84. 97 Eingehend zur Illuminatenverfolgung: Schaich: Staat und Öffentlichkeit im Kurfürstentum Bayern der Spätaufklärung (wie Anm. 92), S. 197–279. 98 Vgl. Schaich, ebd., S. 259f. Vgl. auch S. 173–178 und S. 321–326 zu Eckartshausens paralleler Wende vom Aufklärer zu einem „Vordenker der Gegenaufklärung“ (Schaich, S. 82). 99 Vgl. Hans Graßl: [Kap.] „Karl von Eckartshausen“. In: Ders.: Aufbruch zur Romantik. Bayerns Beitrag zur deutschen Geistesgeschichte 1765–1785. München 1968, S. 319–335, hier S. 320. 100 Eckartshausen wurde zwar (wie viele andere auch) geschont, soll aber polizeilich beobachtet worden sein und um die Beschlagnahmung seiner Bücher gebangt haben. Vgl. Graßl, ebd. 101 Erschienen in München, bei Lentner, 1791.
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bayerischen Kurfürsten gewidmet ist und 1788 erscheint; die drei zugehörigen Bände folgen in den nachfolgenden Jahren. Der titelgebende Begriff der Magie wird von Eckartshausen höchst positiv bewertet. In einer nachgelassenen Schrift bezieht er sich auf Porphyrius, der „Magia“ aus einem persischen Wort ableite und es als „pia sapientia“, also als „fromme Wissenschaft“ übersetzt.102 In den Aufschlüssen zur Magie definiert Eckartshausen die Magie als „die höchste Vollkommenheit der natürlichen und geschöpflichen Weisheit, und die höchste Wissenschaft der Verhältnisse natürlicher Dinge.“ Ein „wahrer Magus“ ist, wer diese geschöpfmäßige Weisheit „dem Beßten der Menschheit weihet“.103 1790 veröffentlicht Eckartshausen sein Gebetbuch Gott ist die reinste Liebe, das in elf Sprachen übersetzt wurde. In der Folge entsteht eine Vielzahl von z.T. mehrbändigen Werken, nicht nur zur Magie, sondern auch zur spekulativen Mystik, zu den Mysterien, zur Lehre symbolischer Zahlen, sowie von Sammlungen „merkwürdiger Visionen“. Antoine Faivre hat breit dargestellt, dass Eckartshausen ältere Traditionen wie die christliche Kabbala der Renaissance aufnimmt, aber auch regen Anteil an der neueren esoterischen Literatur nimmt.104 Die Einschätzung von Hans Graßl und Friedrich Merzbacher, dass Eckartshausen „das magizistisch-theosophische pietistische Schrifttum der Rokokozeit in den frühromantischen Sprachgebrauch“ überführe, greift daher zu kurz.105 Eckartshausen nahm z.T. auch Erweiterungen des religionsgeschichtlichen Horizontes auf, die durch das archäologische, philologische, ethnologische und mythenkundliche Wissen über die Religionen des antiken Orients und Asiens entstanden waren.
102 Vgl.
Über die Zauberkräfte der Natur. Eine freie Uebersetzung eines Egyptischen Manuskripts in coptischer Sprache. Mit einem Anhange eines aus magischen Charakteren entzifferten Manuskripts. Ein nachgelassenes Werk von dem Hofrath von Eckartshausen. München 1819, S. 17. (Vgl. auch die Neuausg., 1978, hg. v. Antoine Faivre, wie Anm. 90.) Tatsächlich kennt die Begriffsgeschichte von „Magie“ das iranisch-altpersische Wort „magu(s)“. In der Antike werden unter den „magoi“ persische Priester verstanden, die Träume und Vorzeichen deuten, bei Opfern mitwirken oder einen besonderen Mysterienkult pflegen. Philosophen wie Pythagoras sollen bei ihnen in die Lehre gegangen seien. Aristoteles zählt sie zu denjenigen, „die halb als Dichter, halb als Philosophen, alles Seiende aus einem obersten Prinzip ableiten“ – eine Anschauung, die in Eckartshausens auf die Magie erweiterter Theosophie stark zum Tragen kommt. Folgenreich bis zu Eckartshausen ist auch die Verallgemeinerung von Diogenes Laertius: Er lässt die Magier „mit Zoroaster beginnen und stellt sie in eine Reihe mit den babylonischen Chaldäern, den indischen Gymnosophisten und keltischen Druiden.“ Vgl. K. Goldammer: [Art.] Magie. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 5: Darmstadt 1980, Sp. 631–635, Zitate (von Goldammer) Sp. 631f. 103 Karl von Eckartshausen: Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen über verborgene philosophische Wissenschaften und verdeckte Geheimnisse der Natur. [Verkürzter] Nachdr. d. Ausg. v. 1788/1790. München 1923. Erstes Buch, S. 140. 104 Faivre: Eckartshausen et la théosophie chrétienne (wie Anm. 96). 105 Vgl. Graßl u. Merzbacher: [Art.] Eckartshausen, Franz Karl v. (wie Anm. 90), S. 285.
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Er interessierte sich zudem für neuere Naturwissenschaften, die – wie im Falle des Magnetismus und der Elektrizität – auch esoterische Erklärungsansätze auf den Plan riefen. 1795 machte er der Akademie den Vorschlag, eine Maschine zu bauen, die die Kräfte der Elektrizität analysieren sollte. Die Maschine wurde gebaut, funktionierte aber nicht.106 Faivre zufolge war Eckartshausen überdies ein praktizierender Alchemist. Im Rahmen dieser Studie interessieren vor allem die Werke, in denen Eckartshausen seinen Lesern die „Entschlüsselung“ der natursprachlichen und religiösen „Hieroglyphen“ verspricht. Dazu gehört, neben den schon genannten Aufschlüssen zur Magie, auch seine Zahlenlehre der Natur von 1794; ihr vollständiger Titel lautet: Die Natur zählt und spricht. Was sind ihre Zahlen? Was sind ihre Worte? Ein Schlüssel zu den Hieroglyphen der Natur. 1796 veröffentlicht er Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz, die statt des aufgeklärten Verstandesmenschen den inneren Herzensmenschen mit theosophisch erklärten Hieroglyphen stärken wollten.107 Ein Jahr vor Eckartshausens Tod erscheint schließlich 1802 seine Schrift Die Wolke über dem Heiligtum, in der er seine – bereits in den vorangegangenen Schriften entwickelte – Theosophie der „inneren Kirche“ breiter ausformuliert. Die im Titel angesprochene „Wolke“ ist selbst eine „Hieroglyphe“, die das Hieroglyphische als solches bezeichnen soll. Von weiterem Interesse für diese Untersuchung ist auch Eckartshausens 1795 erschienener Initiationsroman Kostis Reise von Morgen gegen Mittag, der sich im Untertitel als eine in das antike Ägypten führende Reisebeschreibung aus den Zeiten der Mysterien ausgibt.108 Eckartshausen hat Saint-Martin nach eigenem Bekenntnis (wie sein späterer Brieffreund Franz von Baader überliefert hat) „wohl fünfzigmal gelesen“.109 Diese enge Beziehung zu Saint-Martins Arbeiten schlägt sich in ähnlichen oder sogar identischen Vorstellungen über eine ehemals vollkommene Natursprache und Naturschrift nieder, die nach dem Sündenfall nur noch in Restbeständen vorhanden sei. Die Parallelen zu Saint-Martin hat bereits Antoine Faivre in seiner grundlegenden Dissertation zu Eckartshausen (1969) konzentriert herausgearbeitet.110 Hier sollen 106 Vgl.
Faivre: Einführung (wie Anm. 90), S. XVI. Kollegen Andre Rudolph danke ich für den Hinweis auf Eckartshausens Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz. 108 August Wolfstieg hat sowohl Eckartshausens Die Wolke über dem Heiligtum als auch den Roman Kostis Reise von Morgen gegen Mittag in seine Bibliographie der freimaurerischen Literatur aufgenommen (Reprograf. Nachdr. der Ausg. Burg 1911–1926, 4 Bde., Hildesheim 1964; Bd. II, S. 385 [Nr. 29609) sowie S. 880 [Nr. 41559]). Daneben verzeichnet er das Anfangskapitel der Wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschenherz von 1796, in dem Eckartshausen auf die Gesellschaft der Freimaurer eingeht (Bd. I, S. 200 [Nr. 3903]). Als letztes führt er die Mistischen Nächte oder Der Schlüssel zu den Geheimnissen des Wunderbaren von 1791 an, die Eckartshausen im Untertitel als Nachtrag zu den Aufschlüssen der Magie anzeigt (Bd. II, S. 878 [Nr. 41528]). 109 Vgl. Graßl: Karl von Eckartshausen (wie Anm. 99), S. 319. 110 Faivre: Eckartshausen et la théosophie chrétienne (wie Anm. 96), S. 309–316. 107 Meinem
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im Weiteren weniger die Übereinstimmungen von Eckartshausen und Saint-Martin interessieren als die Gedanken, mit denen Eckartshausen die Diskurse über Natursprache, Naturschrift und Hieroglyphik erweitert. Im Unterschied zu Eckartshau sens Verständnis der Natursprache ist seine Auffassung der religiösen Hieroglyphik von der Forschung bislang noch kaum als eigenständiges Thema beachtet worden. Graßl sowie Faivre belegen, dass Eckartshausens Lehren stark auf das entstehende Ideengut der Romantik und der Restauration eingewirkt haben.111 In Deutschland wirkte Eckartshausen u.a. auf Herder, der zeitweilig mit ihm korrespondierte und in späteren Jahren, ähnlich wie Baader, im Rahmen seines Interesses an der heiligen Vierzahl (der sogenannten „Tetrakys“) Anschluss an Eckartshausens zahlenkabbalistische Lehre fand.112 Eckartshausen seinerseits bezieht sich bereits in den Aufschlüssen zur Magie auf Herder, indem er auf dessen Ausführungen zur Sprache in den Ideen eingeht und daraus zitiert.113 Darüber hinaus greift er implizit auch den dort formulierten Gedanken auf, dass es dem Menschen vielleicht möglich sei, sich durch eine höhere „Organisation“ künftig in eine höhere Stufe oberhalb des Menschlichen auf der Scala naturae zu erheben. Durch die Korrespondenz mit dem theosophisch breit vernetzten Schweizer Niklaus Anton Kirchberger, einem Mitglied des Großen Rats in Bern und Freund und Verehrer von Saint-Martin, wirkte Eckartshausen auch auf den Göttinger Arzt Johann Georg Zimmermann,114 der mit Lavater in Verbindung stand. Novalis besaß, wie aus seiner Bücherliste von 1801 hervorgeht, zwei naturphilosophische Bücher von Eckartshausen: Die Ideen über das affirmative Princip des Lebens, und das negative Princip des Todes, zur Bestätigung des Brownischen Systems (1798) sowie Die neuesten Entdeckungen über Licht, Wärme und Feuer, für Liebhaber der Physik und Chemie (1798–1801).115 Zwar wird Eckartshausen von Novalis nicht zitiert, doch hat die Forschung viele Parallelstellen zu Formulierungen und Gedankengängen in den Schriften von Eckartshausen aufgefunden.116 Allerdings ist man sich nicht sicher, ob Novalis seine Gedanken direkt von Eckarts-
111 Graßl:
Karl von Eckartshausen (wie Anm. 99), zusammenfassend: S. 325. Sowie Faivre: Einführung, in: Eckartshausen: Über die Zauberkräfte der Natur (wie Anm. 90), S. XXIV–XXVII. 112 Vgl. Graßl: Karl von Eckartshausen (wie Anm. 99), S. 331. 113 Vgl. Karl von Eckartshausen: Aufschlüsse zur Magie aus geprüften Erfahrungen über verborgene philosophische Wissenschaften und verdeckte Geheimnisse der Natur. [Teil I.,] 2. Aufl., München 1791. Kap.: „Sprache, die keine Worte hat“, S. 29. 114 Vgl. Graßl: Karl von Eckartshausen (wie Anm. 99), S. 324. Eingehender zu Kirchberger: Antoine Faivre: Kirchberger et l’illuminisme du dixhuitième siècle. La Haye 1966. 115 Ayako Nakai: Die zwei Grundkräfte der Natur bei Eckartshausen und Novalis im Vergleich mit der chinesischen Naturphilosophie. In: Geschichte und Aktualität: Studien zur deutschen Literatur seit der Romantik (Festschrift für Hans-Joachim Mähl), Tübingen 1988, S. 159–181, hier S. 159. 116 Ludwig Kleeberg hat bereits 1923 Novalis’ Bezüge zu Eckartshausens Aufschlüssen zur Magie herausgearbeitet. Vgl. ders.: Studien zu Novalis: Novalis und Eckartshausen. In: Euphorion 23 (1921), S. 603–639.
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hausen entlehnt oder ob beide Autoren auf ein verwandtes Quellenmaterial bzw. auf umlaufende Topoi des esoterischen Denkens zurückgegriffen haben.117 Jean Paul hat 1799 breiter aus Eckartshausens Aufschlüssen zur Magie exzerpiert.118 Eckartshau sens Aufschlüsse zur Magie sind auch für Jung-Stilling anregend gewesen, der seit 1796 als Briefpartner mit Eckartshausen befreundet war. 1808 zitiert er aus ihnen in seiner Theorie der Geisterkunde.119 Darüber hinaus lassen sich Parallelen zwischen Jung-Stillings Roman Das Heimweh (1794–96) und Eckartshausens Roman Kostis Reise von Morgen gegen Mittag (1795) ausmachen.120 Mitte der 1790er Jahre machte Eckhartshausens Berner Korrespondent Kirchberger auch Saint-Martin brieflich mit den Schriften von Eckartshausen bekannt.121 Wie Baader überliefert, soll Eckartshausen seinerseits „ein Jahr vor seinem Tode durch einen Vertrauten S[ain]t Martin’s Weisung“ erhalten haben.122 Später wird Eckartshausen in Frankreich besonders von Joseph de Maistre, der ursprünglich Martinist war, und auch von Étienne Pivert de Senancour breit zitiert. Besonders einflussreich waren Eckartshausens Ideen in Russland, wo seine Schriften von martinistischen und rosenkreuzerischen Kreisen um den freimaurerisch-aufgeklärten Reformer und Verleger Nikolai I. Novikov aufgenommen und verbreitet wurden. Dabei spielten Ivan Lopuchin als Herausgeber mystischer Werke und der Übersetzer Labzin eine wichtige Rolle. Lopuchin, Senator unter Paul I. und Alexander I., entwickelte 1798 im Rahmen seiner freimaurerischen Mystik ebenfalls ein Konzept der „inneren Kirche“, das Eckartshausens seit der Mitte der 1790er Jahre vorgetragenen Anschauungen vergleichbar ist.123 Zar Alexander I., der für mystische Gedanken empfänglich war, zählte zu Eckartshausens Lesern; er stellte
117 Vgl.
Dieter Struss: Karl von Eckartshausen, ein Trivialmystizist zwischen Aufklärung und Magie. Diss., Albert-Ludwig Univ., Freiburg i.Br. 1955, S. 114–136 (= Kap. 4: „Eckartshausen und Novalis?“). Faivre: Eckartshausen et la théosophie chrétienne (wie Anm. 96), S. 577. Sowie zuletzt: Nakai. Die zwei Grundkräfte der Natur (wie Anm. 115), S. 161. 118 Jean Paul: Fasz. 2c Exzerpte, 31. Band, 1799. Vgl. Jörg Paulus: Der Enthusiast und sein Schatten. Literarische Schwärmer- und Philisterkritik um 1800. Berlin, New York 1998, S. 140. 119 Vgl. Graßl: Karl von Eckartshausen (wie Anm. 99), S. 331. Darüber hinaus Faivre: Einführung (wie Anm. 90), S. XVIII. 120 Sie betreffen vor allem das Motiv einer Einweihung im Innern der Pyramide von Memphis. 121 Er weist ihn insbesondere auf Eckartshausens Lehre der symbolischen Zahlen hin, weil sich Saint-Martin in der Nachfolge Pasquallys für diesen Bereich interessierte. 122 Franz von Baader: Sämmtliche Werke. Systematisch geordnete, durch reiche Erläuterungen von der Hand des Verfassers bedeutend vermehrte, vollständige Ausgabe der gedruckten Schriften samt Nachlaß, Biografie und Briefwechsel. 16 Bde. Hg. von Franz Hoffmann (u.a.). Leipzig 1851–1860. Bd. 15: Biographie und Briefwechsel, 1857, S. 239. (Vgl. auch Graßl: Karl von Eckartshausen, wie Anm. 99, S. 319.) Baader merkt bei dieser Gelegenheit kritisch an, Eckartshausen sei gegenüber den „Ideen“, die sich ihm zeigten, „nicht stark genug“ gewesen. 123 Eckartshausen gestaltet das Konzept der „inneren Kirche“ dann 1802 in seiner Schrift Die Wolke über dem Heiligtum breiter aus. Zur Frage des Einflusses, vgl. Andrej V. Danilov: Iwan Lopuchin. Erneuerer der russischen Freimaurerei. Seine Lehre von der inneren Kirche als eigenständiger Beitrag zum Lehrgebäude der freimaurerischen Mystik. Dettelbach 2000.
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ihn in eine Reihe neben Autoren wie Augustinus, Jakob Böhme, Swedenborg, SaintMartin und Jung-Stilling.124 Die erwähnte, auch von Eckartshausen breiter entfaltete Vorstellung einer „inneren Kirche“ soll (nicht zuletzt über die Vermittlung der mit Alexander I. vertrauten Visionärin Baronesse Julie von Krüdener) 1815 eine Rolle bei der Urfassung des Manifestes gespielt haben, mit dem sich die Heilige Allianz das Ziel setzte, die „innere Kirche“ in Europa zu verwirklichen.125 In England erscheinen erst Ende des 19. Jahrhunderts Übersetzungen von Eckartshausen. 2.2 Eckartshausen und die Aufklärung Eckartshausen versteht seine Theosophie, wie Saint-Martin, als eine im Glauben begründete Wissenschaft vom Menschen und der Natur, die gegen die Vorurteile der Aufklärung ankämpft. In diesem Sinne publizierte er schon 1786, also zur Zeit der Verfolgung des Illuminatenordens, seine Schrift Ueber Religion, Freydenkerey und Aufklärung. „Fanatiker“ hätten „der Menschheit die brennende Fackel der Aufklärung ins Gesicht gestoßen“ sowie „Mißtrauen“ und Zwietracht unter den Bürgern gesät.126 Mit seiner Schrift will Eckartshausen „dem Fürsten treue Unterthanen, der Religion wahre Verehrer wiedergeben.“127 Eckartshausen beklagt, dass die Aufklärung den Gottesbezug sowie die heilsgeschichtliche Bestimmung des Menschen abgedrängt habe und zum Atheismus und Materialismus sowie zu einer Idolatrie der menschlichen Vernunft führe. Entsprechend will Eckartshausen wie Saint-Martin Mensch und Natur wieder auf Gott beziehen; er versteht seine Theosophie als eine restaurative Kraft angesichts verhängnisvoller Tendenzen der Aufklärung. Umso mehr erstaunt es, dass er sich beim avanciertesten Philosophen der Aufklärung philosophische Schützenhilfe holt. Eckartshausen bezieht sich auf Kants kritische Bestimmung der Möglichkeiten für eine menschliche Vernunft. Kant hat unwidersprechlich erhärtet, daß die Vernunft in ihrem natürlichen Zustande vom Übersinnlichen, Geistigen und Transzendentalen gar nichts wisse, und daß sie nichts weder analytisch noch synthetisch zu erkennen vermöge, und folglich weder von Geistern, Seelen, noch Gott, weder Möglichkeit, noch Wirklichkeit erweisen könne.128
Tatsächlich hielt es Kant in der Kritik der reinen Vernunft nicht für möglich, allein aus der Vernunft heraus eine Antwort auf die Frage nach Gott zu finden. Gott, die
124 Eckartshausens
Die Wolke über dem Heiligtum soll dem Zaren zu Füßen gelegt worden sein. Vgl. Graßl: Karl von Eckartshausen (wie Anm. 99), S. 325. 125 Faivre: Einführung (wie Anm. 90), S. XXVIf. 126 Karl von Eckartshausen: Ueber Religion, Freydenkerey und Aufklärung. Eine Schrift zu den Schriften unserer Zeiten, der Jugend geweiht. München 1786, S. 6. 127 Ebd., S. 10. 128 Karl von Eckartshausen: Die Wolke über dem Heiligtum, oder Etwas, wovon sich die stolze Philosophie unsers Jahrhunderts nichts träumen läßt, [o.O.] 1802, S. 16.
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Unsterblichkeit der Seele und die Freiheit der Vernunft sind ihm zufolge aus der Vernunft heraus ebensowenig zu beweisen wie das Nichtexistieren dieser Ideen […].129 Für ihn ist allerdings entscheidend, dass sich der Offenbarungsglaube, der für ihn mit der positiven Religion und dem zufällig gegebenen „statuarischen“ Kirchenglauben zusammenfällt, vor der reinen moralischen Vernunftsreligion rechtfertigen und sie befördern muss.130 In seiner Schrift Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft von 1793, die partiell auf den Widerstand der preußischen Zensurbehörde stieß, hat Kant der Offenbarung eine nur transitorische Bedeutung zuerkannt. Er sah für seine Zeit den Übergang von dem sich auf Offenbarung gründenden Kirchenglauben zum reinen Vernunftsglauben gekommen.131 Eckartshausen weicht einer substanziellen Auseinandersetzung mit Kants Religionskritik aus. Für ihn zeigt Kant nur die Grenzen der Vernunft auf – und damit mittelbar auch die Grenzen bzw. die Beschränkung der Aufklärung, die in der Absolutsetzung des sinnlich Gewissen und des intellektuell Einsehbaren zur beklagenswerten Selbstüberschätzung geführt habe. Jenseits der Vernunft existieren für Eckartshausen aber die religiösen Offenbarungen, die ein „Geister-Reich“ und metaphysisch-transzendentale Gegenstände höherer Ordnung dokumentieren.132 Kant habe „nun auch den Philosophen bewiesen […], daß ohne Offenbahrung keine Gotteserkenntnis, noch keine Seelen-Lehre möglich war.“133
129 Vgl.
im Einzelnen: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 1: Werke. Bd. 3: Kritik der reinen Vernunft (2. Aufl., Berlin 1787), „Vorrede“, Berlin 1911. Nachdruck: Berlin, 1973, S. 19. Vgl. auch E. Heintel: [Art.] Glauben und Wissen. In: Philosophisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 3: Darmstadt 1974, Sp. 646–648. 130 Vgl. G. Scholtz: [Art.] Offenbarung/IV: „Von Kant bis zur Gegenwart“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Bd. 6: Darmstadt 1984, Sp. 1121–1130; Sp. 1122. 131 „Die wahre, alleinige Religion“, schreibt Kant, „enthält nichts als Gesetze, d.i. solche praktische [sic.] Principien, deren unbedingter Nothwendigkeit wir uns bewußt werden können, die wir also als durch reine Vernunft (nicht empirisch) offenbart anerkennen. Nur zum Behuf einer Kirche, deren es verschiedene gleich gute Formen geben kann, kann es Statuten, d.i. für göttlich gehaltene Verordnungen, geben, die für unsere reine moralische Beurtheilung willkürlich und zufällig sind. Diesen statuarischen Glauben nun (der allenfalls auf ein Volk eingeschränkt ist und nicht die allgemeine Weltreligion enthalten kann) für wesentlich zum Dienste Gottes überhaupt zu halten und ihn zur obersten Bedingung des göttlichen Wohlgefallens am Menschen zu machen, ist ein Religionswahn, dessen Befolgung ein Afterdienst, d.i. eine solche vermeintliche Verehrung Gottes ist, wodurch dem wahren, von ihm selbst geforderten Dienste gerade entgegen gehandelt wird.“ (Immanuel Kant: Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft. Viertes Stück. Zweiter Theil: „Vom Afterdienst Gottes in einer statutarischen Religion“. In: Kant’s gesammelte Schriften. Hg. v. d. Königlich Preußischen Akademie der Wissenschaften. Abt. 1: Werke. Bd. 6, Berlin 1907. Zweiter photomech. Nachdruck: Berlin 1969, S. 167f.) 132 Eckartshausen: Die Wolke über dem Heiligtum (wie Anm. 128), S. 14. 133 Ebd.
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Eckartshausen zieht aus Kants Bestimmungen zwei Konsequenzen. Erstens sei „der Empfindung, dem Fanatismus und der Vernunfts-Schwärmerey [eine] unübersteigliche Gränze“ gesetzt. Die zweite ist noch folgenreicher: Kants Erkenntnis setze […] die Nothwendigkeit und Göttlichkeit der Offenbarung in das glänzendste Licht, massen [sic.] erwiesen ist, daß unsere Menschen-Vernunft bey ihrer Verschlossenheit für übersinnliche [Wahrheit] ohne Offenbahrung [sic.] gar keine objective Quelle hat, um sich von Gott, der Geisterwelt, Seele und Seelen-Unsterblichkeit daraus zu belehren, und es folglich absolut ohnmögich wäre von diesen Dingen etwas zu wissen, noch zu vermuthen.134
In den Aufschlüssen zur Magie definiert Eckartshausen „Offenbarung“ entsprechend als „eine Erkenntniß gewisser, erst unter einer andern Organisation denkbarer Wahrheiten“.135 Erst mit „veränderten“ bzw. ‚höher’ entwickelten Organen könnten die Menschen diese Wahrheiten denken oder ihrer ansichtig werden. Auch wenn sich Eckartshausen nicht der Herausforderung stellt, dass auch die „Weisen“ den Grenzen menschlicher Erkenntnis unterliegen, ist seine Auseinandersetzung mit Kant und der Aufklärung nicht durchweg defizitär. Wie Kant geht auch Eckartshausen davon aus, dass die jeweils historisch entstandenen Formen kirchlicher Religiösität nicht verabsolutiert werden dürfen. Eckartshausen verortet diese Anschauung in der Entgegensetzung von einer bloß „äußeren“ zu einer „inneren Kirche“. (Dazu noch weiter unten.) Die trotz der partiellen Übereinstimmung dennoch vorhandene grundsätzliche Differenz mit Kant besteht darin, dass Eckartshausen den Kirchenglauben nicht in eine abstrakte Vernunftsreligion, sondern in eine höhere Spiritualität aufheben will. Im Unterschied zum Christentum, das die Beschränkung des Judentums auf das Volk Israel zugunsten einer universellen Gültigkeit überwunden hat, sich aber zugleich in der Abgrenzung von anderen Religionen versteht, propagiert Eckartshausen eine universalistische Theosophie, die alle herkömmlichen Religionen und Weisheitslehren umfasst. Entsprechend ist Eckartshausen gegenüber dem in seiner Zeit ausgeweiteten anthropologischen, ethnologischen und religionsgeschichtlichen Wissen aufgeschlossen, weil es mehr Aufschluss über die Hieroglyphen in den Mysterien und Religionen der Völker erlaubt. Eckartshausen hebelt Kants kritische Bestimmung der Erkenntnisvermögen auch deshalb aus, um (vermeintlich mit Kant) all jene Bereiche zu rehabilitieren, in denen sich (wenngleich arkan, verrätselt, ungewiss, undeutlich oder sogar verfälscht) Nachrichten und Spuren vom Göttlichen bewahrt haben sollen. Dazu gehören für ihn nicht nur die religiöse Offenbarung, sondern auch die Mysterien, die Mythen, die Prophetie, die Mystik sowie die positiv als „geschöpfmäßige Weisheit“ verstandene Magie (siehe oben). Er verbindet damit eine analogische, allegorische und (wie er sagt:) „typologisch“ auf Gott als die zentrale Einheit der Schöpfung bezogene Her134 Ebd.,
S. 17.
135 Eckartshausen: Aufschlüsse
zur Magie, Nachdr. v. 1923 (wie Anm. 103), Zweites Buch, S. 38.
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meneutik. Die Hieroglyphik nimmt in dieser Ausweitung, die Kants aufklärerischen Bemühungen diametral entgegengesetzt ist, eine diese Bereiche überbrückende Schlüsselstellung ein. Für Eckartshausen ist das Göttliche der Schöpfung als Offenbarung in den Hieroglyphen verfasst und überkommen. Das gilt auch für Ereignisse in der Heilsgeschichte der Menschen seit dem Sündenfall, womit er im Unterschied zu Saint Martin ansatzweise eine Geschichtlichkeit vertritt. Gott habe den Menschen also das Wissen, das für ihr Verständnis der wichtigsten kosmischen und heilsbezüglichen Bezüge notwendig ist, zum einen naturhieroglyphisch, zum anderen auf dem Weg der religiösen Hieroglyphen mitgegeben. Eine Einweihung in die tieferen Geheimnisse des Kosmos und der Religionen muss sich folglich auf beide Formen der Hieroglyphik beziehen. 2.3 Natursprachliche Zahlensymbolik und religiöse Hieroglyphen Eckartshausen nimmt an, dass „allen Religionen in der Welt eine [einzige] Universal-Offenbarung zur Grund-Basis dienen muß.“136 Während für Adam vor dem Sündenfall das Göttliche unverschlüsselt verständlich war, ist den Menschen nach dem Fall nur die Hieroglyphik der göttlichen Symbole in den Mysterienkulten und heiligen Schriften geblieben. Die Hieroglyphe ist für Eckartshausen ein Medium, in dem das Absolute sinnlich überdauert hat und somit für den Menschen nach dem Sündenfall anschaulich und fasslich bleibt. Ursprünglich stellten die Hieroglyphen, nach Eckartshausen, „analoge Zeichen“ für die (alles Sinnliche überschreitenden) Gedanken Gottes dar. Gott selbst gab sie einst – unter „täglich neuen Bildern“ – jenen auserwählten Menschen, denen er nach dem Sündenfall wieder „das Licht ertheilen wollte“. Diese Offenbarung ist die notwendige Voraussetzung für das theosophische Denken über das Übersinnliche und Transzendente. Denn der Weiseste unter den Menschen nach dem Sündenfall überlieferte „die Wahrheit des Lichts“, die seine Zeitgenossen nicht ertragen konnten, der Nachwelt „in Sinnbildern“. Daraus entstanden die berühmten Mysterien der alten Welt sowie die Mythologie, deren Hieroglyphen, Symbole und Gleichnisse Eckartshausen – ähnlich wie Saint-Martin – in theosophischer Verallgemeinerung auf den verlorenen, glanzvollen Rang des Menschen, auf seinen Sturz in die Tiefe sowie die Mittel seiner Wiederaufrichtung bezieht. Der (hypostasierte) Anschluss des theosophischen Denkens an die tradierte Offenbarung ist zugleich eine Negierung des empirisch-rationalen Denkens. Die Priester der Natur und der Gottheit wiesen den offenbarten Wahrheiten „ein heiliges Asyl“ an, wo „Dunkel und Stillschweigen“ sie vor den Augen der Profanen schützte. Von hier aus gingen sie auch in die heiligen Schriften der Völker ein. „Die
136 Eckartshausen:
Die Wolke über dem Heiligtum (wie Anm. 128), S. 17.
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vollständigste und zuverläßigste Geschichte der göttlichen und menschlichen Offenbarung“ aber finde sich „in den schriftlichen Denkmälern der Hebräer“.137 Mit dieser theosophischen Sicht auf die Hieroglyphen der Natur und die Hieroglyphen der Religionen wird deutlich, dass sie nach Eckartshausen nicht aus sich heraus verständlich sind. Sie bedürfen vielmehr eines Mystagogen, der den tieferen Sinn aufschließen kann. Eckartshausen stellt damit dem aufklärerischen Verständnis von Lesbarkeit der Welt im Sinn ihrer Geschichtlichkeit ein eigenes Verständnis von Erkennbarkeit entgegen, das im Folgenden noch deutlicher wird. Entscheidend ist, dass die vom Mystagogen zu erkennende Wahrheit im Sinn von Eckartshausen übergeschichtlich ist, womit sich jede empirische Forschung erübrigt. Die Hieroglyphen der Natur und die Hieroglyphen der Religionen haben zwar Überschneidungsbereiche in ihrem gemeinsamen Bezug auf Gott, den Kosmos und das menschliche Heil. Beide werden auch von alters her in den Mysterienkulten gelehrt. Doch gibt Eckartshausen für die Hieroglyphen der Natur noch eine eigene Erklärung: In der Natur sei die „ausgesprochene Weisheit Gottes“ als „Typus“ oder als „Nachbild“ erhalten. Eckartshausen steht hier in der Tradition der Lehre von den göttlichen Archetypen, wie sie besonders von Philo von Alexandria im ersten Jahrhundert n. Chr. entwickelt wurde und über die Kirchenväter auch die christliche Theologie beeinflusst hat. Philo bestimmte die Archetypen als Vorstellung göttlicher Gedanken vor der Schöpfung.138 In diesem Sinne enthält der „Typus“, Eckartshausen zufolge, als „Nachbild“ oder auch „Abbild“ dieser primordialen Archetypen gewisse „Merkmale“, worin man das „Urbild“ bzw. „die ewigen Verhältnisse der Ordnung“ noch „ansehen“ kann.139 Für Eckartshausen spricht die Natur somit in Hieroglyphen, die letztlich auf idealen Ordnungsbeziehungen basieren. Sie können, ihm zufolge, von den Menschen vermittels eines dazwischen geschalteten Instruments entschlüsselt werden: mittels der aus pythagoreischen und kabbalistischen Traditionen stammenden Zahlenlehre. Im Gegensatz zum quantitativen Zahlenverständnis der szientifischen Mathematik fassen die Pythagoreer und Kabbalisten die Zahlen als qualitative Größen auf, die die göttliche Ordnung des Kosmos symbolisch zum Ausdruck bringen. Eckartshausen geht von einem symbolischen Verständnis einzelner Zahlen und Zahlenkonstellationen sowie geometrischer Figuren aus und entwickelt auf dieser Grundlage eine eigene Zahlenlehre. Nachdem er sie schon in seinen Aufschlüssen zur Magie als 137 Vgl.
Karl von Eckartshausen: Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz. 2 Bde., Leipzig 1796. Bd. 2, S. 154–157. 138 Vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis. Historische Umrisse abendländischer Spiritualität in Antike, Mittelalter und Früher Neuzeit. Frankfurt a.M. 1998, S. 330–337, hier S. 330. 139 Karl von Eckartshausen: Blicke in die Zukunft oder Prognostikon des neunzehnten Jahrhunderts, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit berechnet, vermöge welcher man künftige Ereignisse vorhersagen kann. Leipzig 1799, S. 4. (Vgl. auch die Neuausg., mit einem Vorw. v. Antoine Faivre, Müllheim [Baden] 1997.)
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
einen der „wichtigsten Gegenstände der Magie“ eingeführt und mit explizitem Bezug auf die Kabbalisten kurz erläutert hatte,140 veröffentlicht er 1794 unter dem Titel Zahlenlehre der Natur sein erstes Buch dazu. Es beansprucht nichts weniger, als den Menschen die fortschreitende Entwicklung der kosmischen Ordnung aus ihren Anfängen im göttlichen Urprinzip bis zur Gegenwart vergegenwärtigen zu können. Im 16. und 17. Jahrhundert war es geläufig, das Verständnis der Hieroglyphik – über die Renaissance-Emblematik hinaus – nicht nur auf biblische Gleichnisse sowie die Metaphern und Allegorien „der Alten“, sondern auch auf die pythagoreische Symbolik und die kabbalistische Zahlenmystik auszudehnen.141 In diesem Sinne spricht später noch Franz von Baader von der „Zahlenhieroglyphe“. Tatsächlich sind abstrakte Zahlen als Symbole – noch weniger als Hieroglyphik oder Emblematik – nicht aus sich heraus verständlich. Vielmehr sind sie auf einen Interpreten angewiesen, der ihre Symbolik in einem kosmisch-religiösen Sinne auslegt. Eckartshausen überzieht die natürliche Progression der Zahlen und deren dadurch entstehende interne Ordnungsbeziehungen mit einer symbolischen Bedeutungsebene. Ausgangspunkt ist die Entstehung und Stabilisierung der Vielheit aus der (absoluten) Einheit, der „Eins“, die nunmehr als Quellpunkt des Lebens begriffen wird.142 Für Eckartshausen ist die ganze Schöpfung „Ausdruck der Gedanken eines ersten denkenden Urwesens“. Alles, was existiert, ist „Schrift der Gottheit“. Derjenige liest „im Universo“, der „die Zahlen der Natur zu Buchstaben umschaft [sic.], und in Worte zu bilden weiß“. Darin bestehe die „höchste Buchstabenwissenschaft – eine Algebra […].“143 Im Weiteren verknüpft er seine Zahlenlehre mit einer Liebes-
140 Vgl.
Eckartshausen: Aufschlüsse zur Magie, [Teil I.,] 2. Aufl., München 1791 (wie Anm. 113), S. 311ff., Zitat S. 311. 141 Vgl. Albrecht Schöne: Emblematik und Drama im Zeitalter des Barock. 3. Aufl. m. Anm., München 1993, S. 36. (Schöne weist im Weiteren allerdings auf Diskussionen der Barockzeit hin, in denen der Emblematik, aufgrund ihrer Kombination mit Text, eine Sonderstellung zugesprochen wird.) 142 Zu weiteren Aspekten von Eckartshausens Zahlenlehre vgl. Faivre: Eckartshausen et la théosophie chrétienne (wie Anm. 96), Kap. „L’arithmosophie“, S. 436–480. 143 Karl von Eckartshausen: Zahlenlehre der Natur, Leipzig 1794, S. 25f. Für Eckartshausen ist die Natur von Gott sowohl in Zahlen als auch in Buchstaben geschrieben worden, wobei er sich nicht definitiv zwischen mehreren Varianten dieser These entscheidet. In den Aufschlüssen zur Magie bezieht er sich auf ein geheimnisvolles Alphabet, das aus nur vier Buchstaben bestehe. (Aufschlüsse zur Magie. Nachdr. v. 1923, wie Anm. 103, Erstes Buch, S. 110.) Offenbar lehnt er sich hier an das überkommene Tetragramms des hebräischen Gottesnamens („JHWH“) an. Hier interessiert vor allem das Alphabet von 22 Buchstaben, das Eckartshausen an gleicher Stelle nennt. Auch dies ist ein Topos des esoterischen Denkens, der sich auf die 22 Buchstaben der hebräischen Schrift bezieht. Sie wurde als göttliche Hieroglyphik aufgefasst, die noch etwas von der göttlichen Schöpfungssprache enthalte. Wilhelm Schmidt-Biggemann hat als Quelle dieser Denktraditionen das Buch Jezirah ausgemacht, einen spätantiken hebräischen Traktat, der zu einer der bedeutendsten Quellen der jüdischen Mystik und Philosophie wurde und durch
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Theosophie. Die Eins – als „Qualität aller Zahlen“ – symbolisiert nicht nur die „erste Kleidung Gottes“, sondern zugleich auch seine „Liebe“: „denn wie in allen Zahlen bis ins Unendliche die Spuren der Einheit sind, und die Einheit alle Zahlen enthält, so sind in allen Werken Gottes die Spuren der Liebe, und [sie] werden durch die Liebe erhalten.“144 Eckartshausen wendet den Begriff der Hieroglyphe nicht explizit auf seine Zahlenlehre an, sondern weist dieser eine abstraktere, im Sinn von Eckartshausen „geistigere“ Stufe jenseits der Hieroglyphen zu. Für ihn überbrücken die symbolischen Zahlen die Kluft zur verlorenen Sprache der Natur, die sich noch wesenhaft auf die den Menschen nunmehr unfasslichen göttlichen Ideen bezog. Er versteht die symbolischen Zahlen als „Medien“ oder „Schlüssel“, mit deren Hilfe die Menschen die göttlichen Ideen bzw. Archetypen und Kräfte, die in die Natur eingesenkt sind, als ideen-nahe Ordnungsbeziehungen erfassen können. Demnach können wir vermöge des Mediums „Zahl“ etwas vom Übersinnlichen der Natur erkennen, weil „dieses Medium reale Eigenschaften mit dem Uebersinnlichen gemein hat“.145 In den Aufschlüssen zur Natur bestimmt er die „Zahlen der Natur“ auch als „unsichtbare Hüllen der Wesen, wie die Körper die sichtbaren Hüllen der Zahlen der Natur sind.“ Sie seien u.a. die „Gränzen, worinn [sic.] die göttlichen Ausflüsse sich aufhalten, und gegen ihren Anfang wieder zurückströmen“.146 In seiner Zahlenlehre der Natur stehen vor allem die Zahlen 1–10 im Mittelpunkt; aus ihnen entspringen alle übrigen Zahlen wie die „Millionen von Wörtern“ aus den 24 Buchstaben.147 Im Weiteren analogisiert er die Zahlen eins bis zehn mit den „10 Namen Gottes der Hebräer“. Diese fasst er, da Gott selbst unaussprechlich bleibe, als „die 10 Betrachtungen der Kräfte der Gottheit außer der Natur“ auf.148 Auch den zehngliedrigen Sephiroth-Baum der Kabbala fasst Eckartshausen als Konfiguration einer zahlensymbolischen Progression auf, die er wieder in die zehn „Eigenschaften Gottes“ rückübersetzt. Auf diese zehngliedrige Grundkonfiguration sollen sich Eckartshausen zufolge alle Zeremonien und Heiligtümer der Hebräer bezogen
den Buchdruck 1552 auch in einen breiteren, christlich-lateinischen Kontext einmündete. Nach jüdischer Überlieferung habe Gott die ganze Schöpfung mit den 22 Buchstaben des hebräischen Alphabets geschrieben und gezählt, denn die Buchstaben sind zugleich Ziffern. Sie sind Symbole des wirkenden Worts und zugleich Abschattungen von Gottes Prädikaten. Sie enthalten das Geheimnis der göttlichen Eigenschaften, deren Schöpferkraft sie repräsentieren. (Vgl. SchmidtBiggemann: Philosophia perennis, wie Anm. 138, S. 348.) 144 Eckartshausen: Zahlenlehre der Natur, S. 83. 145 Ebd., S. 10. Eckartshausen zitiert hier zustimmend die Meinung eines ungenannt bleibenden Engländers. 146 Eckartshausen: Aufschlüsse zur Magie, Nachdr. v. 1923 (wie Anm. 103), Zweites Buch, S. 146. 147 Eckartshausen: Zahlenlehre der Natur (wie Anm. 143), S. 30. Die 10 Zahlen lassen sich, Eckartshausen zufolge, noch weiter auf 4 Grundzahlen reduzieren: auf die sogenannte, in der Esoterik bekannte Tetrakys. Zählt man die Zahlen 1–4 zusammen so entsteht die Summe: 10. 148 Ebd., S. 82.
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haben; selbst der Tempel Salomons sei nach ihrem Muster gebaut.149 Damit erhält die von Eckartshausen in Anspruch genommene kabbalistische Grundfigur einen ähnlich weitreichenden Status wie Herders – aus der mosaischen Genesis abstrahierte – „Schöpfungshieroglyphe“, die ihrerseits den Sephiroth-Baum als angereicherte Variation des siebengliedrigen Ursprungsschemas interpretiert. Eckartshausen weist daneben auch der Dreizahl als Ausdruck der christlichen Trinität von Vater, Sohn und heiligem Geist eine zentrale Bedeutung zu: „Von dieser dreyeinigen Wesenheit eines Gottes ist alles, was auf Erden ist, Typus, Abdruck, nur unterschieden durch die Gradation der Versinnlichung.“150 Nicht zuletzt preist Eckartshausen die Zahlenlehre als den grundlegenden „Schlüssel zur Mythologie, Parabolik, Mystik und Hieroglyphik“ an.151 In diesem Sinne versucht er im Weiteren eine zahlensymbolische Auslegung einer Reihe von mythologischen Symbolen und Gleichnissen aus der Antike. Für ihn beruhen überhaupt alle Geheimnisse des Altertums auf der Zahlenlehre; mit ihrer Hilfe können unter den „hieroglyphischen und parabolischen Außenhüllen“ der antiken Mysterien die wichtigsten wissenschaftlichen Geheimnisse entdeckt werden. So erklärt er etwa die Architektur der ägyptischen Pyramiden als zahlensymbolische Verschlüsselung.152 Darüber hinaus versucht er, auch die in den Pyramiden angebrachten Hieroglyphen zahlensymbolisch zu erschließen.153 Die Zahlenlehre ist für Eckartshausen eine Universalwissenschaft, „weil sie allein die Wissenschaft ist, die zu allen möglichen Kenntnissen führt.“154 In seinem „praktischen Teil der Zahlenlehre der Natur“, die 1795 unter dem Titel Probaseologie erscheint, baut er in diesem Sinne eine zahlensymbolische „Monadologie“ (als „Lehre des Gesetzes der Einheit“), eine „Archontologie“ (als „Lehre des Prinzips der Dinge“), eine „Dynameologie“ (als „Lehre der Kräfte“), eine „Organologie“ (als „Lehre der Formenstätte der Natur“) sowie die titelgebende „Probaseologie“ (als „Progressionslehre der Dinge“) aus. Er ist von der Zahlensymbolik so überzeugt, dass er sie 1799 – auf der Grundlage einer minutiös berechneten mystischen Weltzeit – zu einer eigenständigen Prognostik ausbaut.155 Mit ihr überschreitet er die Grenze der Symbolik zur Prophetie. Berechnet werden nicht nur zukünftige Ereignisse, sondern auch Charaktere von Personen. Wie kryptisch Eckartshausen im Einzelnen mit der Symbolik umgeht, zeigt nicht zuletzt die Selbst-Zuweisung der „Menschenzahl
149 Ebd.,
S. 84. S. 86. 151 Ebd., S. 45. 152 Ebd., S. 88f. 153 Ebd., S. 388–391. 154 Ebd., S. 45. 155 Vgl. Eckartshausen: Blicke in die Zukunft oder Prognostikon des neunzehnten Jahrhunderts, nach den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit berechnet, vermöge welcher man künftige Ereignisse vorhersagen kann (wie Anm. 139). 150 Ebd.,
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249
15“, die er als Pseudonym auf einigen Titelblättern seiner Bücher benutzt. Sie soll auf den Grad seiner spirituellen Entwicklung hinweisen.156 Neben der Zahlensymbolik befasst sich Eckartshausen seit der Mitte der 1790er Jahre auch verstärkt mit den religiösen Hieroglyphen. Wie die meisten der in dieser Arbeit untersuchten Autoren geht auch Eckartshausen über die Beschränkung der Hieroglyphik auf die ägyptische Bilderschrift hinaus und dehnt den Bedeutungsbereich erheblich aus. Zu den religiösen Hieroglyphen zählt er die symbolisch verschlüsselten mysterienkultlichen Geheimnisse seit den altägyptischen Zeiten, dann aber auch und vor allem die Rituale und Symbole der jüdisch-christlichen Tradition, wie sie in den heiligen Schriften, in der kirchlichen Praxis, aber auch in den Niederschriften mystischer Visionen überliefert sind. Wie die natürlichen Hieroglyphen und die Zahlensymbole bedürfen auch die religiösen Hieroglyphen einer kompetenten typologischen bzw. allegorischen Deutung. In allen Fällen tritt Eckartshausen mit dem Anspruch auf, über das nötige Geheimwissen bzw. die symbolischen Grund-Schlüssel zu verfügen, um die Leser in die wichtigsten Mysterien der kosmischen Ordnung und des Heilsplans einzuweihen. Insofern Eckartshausen, ähnlich wie Saint-Martin, sein Geheimwissen über das gedruckte Buch verbreitet, öffnet er allerdings das esoterische Wissen exoterisch für einen breiteren Leserkreis. 2.4 Allgemeine Bestimmung der Hieroglyphe Die „Hieroglyphe“ übernimmt im theosophischen System von Eckartshausen eine entscheidende Funktion: Sie vermittelt die Übergänge vom Überirdischen zum Irdischen, vom Übersinnlichen zum Sinnlichen, vom Glauben zum Wissen. Ausgangspunkt und Unterpfand für diese bedeutende Funktion als Scharnier ist die Quelle jeglicher theosophischen Rechtfertigung: die Offenbarung. Wie schon angedeutet, tradiert sie sich in den Religionen in Form von „Hieroglyphen“: in Ritualen bzw. Zeremonien (inkl. Opferhandlungen), in Sinnbildern und Emblemen. Eckartshausen versteht diese Rituale und Symbole im weiten Sinne als wesentliche Elemente der religiösen Überlieferung von alters her, die auch im noch gebräuchlichen religiösen Kultus fortdauern. Er fasst darunter nicht nur das Alte und Neue Testament, sondern einen ganzen Komplex: die antiken Mysterienkulturen und Weisheitsschulen sowie die religiöse Symbolik schlechthin, inklusive des analogischen und allegorischen Denkens. Hieroglyphisch sind für ihn die bildlich-symbolische Ausdruckssprache der religiösen Gleichnisse, die Allegorien und Embleme sowie
156 Vgl.
Eckartshausen: Katechismus der Höheren Chemie zum Beweis der Analogie der Wahrheiten der Natur mit den Wahrheiten des Glaubens. Von einem Verehrer der Religion und der Natur, dessen Menschenzahl 15 ist. Für die Lichtfähigen. Eine Übersetzung aus magischen Charakteren. (Die Schrift erschien – posthum – 1819, zusammen mit Über die Zauberkräfte der Natur [vgl. Anm. 102].)
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die symbolische Handlungssprache der Initiationsrituale und der religiösen Zeremonien. Leiten sich die Hieroglyphen somit aus der blass gewordenen Überlieferung Gottes her, entsprechen sie andererseits dem Bedürfnis der Menschen, das Wissen über unzugängliche „höhere“ Sphären in fasslichen Symbolen gegenwärtig zu halten bzw. über sie mit dem Höheren in Verbindung zu treten. Insofern bewahren die Menschen aus eigenem Bedürfnis mit den verschiedenartigen Hieroglyphen auch ihr Wissen von Gott. Allerdings sind für Eckartshausen die Säkularisierungstendenzen der Aufklärung eine Gefahr, mit der die fortdauernde, aber schwierige Überlieferung von der Erschaffung der Welt abgebrochen werden könnte. Damit die Menschen den vermeintlichen Versuchungen der Aufklärung nicht verfallen, kam es Eckartshausen nicht nur darauf an, das hieroglyphische Offenbarungswissen zu bewahren, sondern es auch in einen zeitgemäßen Glauben zu überführen. Eckartshausen verstand sich daher auch als aufgeklärter Theosoph, der die Schranken der Konfessionen durch eine über ihnen stehende Theosophie überwinden wollte, die Herz und Verstand vereint und befriedigt. Er entwickelt mit dem Konzept der „inneren Kirche“ eine kirchenfreie Religiösität, die prinzipiell und universell alle Religionen unter sich fassen will, auch wenn sie bei ihm eingeengt nur auf einem verinnerlichten Christentum basiert. Eckartshausen bezieht seine Hieroglyphik somit auch auf die Zukunft einer umfassenden Religiosität, die nicht auf eine Kirchenmitgliedschaft eingeengt ist und so auf eine Wiedervereinigung aller Menschen mit Gott – so Eckartshausens Begriff von Religion – ausgerichtet ist. Diese Einbindung der Hieroglyphen in eine heilsgeschichtliche Teleologie gibt ihnen als natürliches oder göttliches Zeichen sowie schließlich als religiöses Zeichen der Menschen eine Gerichtetheit in der Heilsgeschichte. Zentral ist, dass sich alle Zeichen symbolisch auf übersinnliche bzw. heilsgeschichtliche Sachverhalte beziehen, die für den Menschen sinnlich inszeniert bzw. anschaulich gemacht werden müssen. Die Symbole der Offenbarungen und Religionen stehen nicht für sich wie in der Ästhetik einer freitragenden Anschaulichkeit, mit deren Hilfe sich die Künste besonders in der Aufklärung aus ihrer Abhängigkeit von religiöser und feudaler Repräsentanz emanzipieren. Die Hieroglyphe ist bei Eckartshausen das bedeutungsstiftende Hilfsmittel einer religiösen Allegorese, die stets den geistigen Gehalt über das Sinnliche stellt. Dieser Zeichenbezug steht bei ihm in einer weiter gefassten platonistischen Geist-Theosophie, für die alles Sinnliche und Physische immer nur Hülle, Einkleidung, Schleier für das Übersinnliche, das Geistige und Göttliche sein kann. Die Hieroglyphik der alten und neuen Mysterien ist für Eckartshausen nicht nur eine aufbewahrungswürdige symbolische Bilderschrift und religiöse Handlungssprache; sie gehört als einkleidende Hülle zum Mysterium, dass alles Anschauliche nicht für sich selbst bestehen kann, sondern – wie der Körper in die unsterbliche Seele – in eine höhere Geistigkeit aufgelöst werden muss, die mit menschlichen Mitteln allerdings nur unzulänglich beschrieben werden kann.
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Religion, so erklärt Eckartshausen, ist die Rückbindung an das Geistige und Göttliche. Damit steht er selbstverständlich nicht nur in einer anderen Zielsetzung als die kritisch-analytische Wissenschaft, sondern auch in einer anderen Episteme. Sie verdankt sich, wie bei Saint-Martin, einer platonistischen Gottesauffassung bzw. der Vorstellung, dass nur das Geistige und Ideelle wesentlich und beständig sei, während das Körperliche und Physische dem zeitlichen Verfall preisgegeben ist.157 Die Hieroglyphe steht bei Eckartshausen in weiteren, allerdings nicht immer widerspruchsfreien Argumentationszusammenhängen und diskursiven Strategien. Insgesamt lassen sich drei Komplexe benennen, in denen sie eine konstitutive Rolle spielt: – in seiner Bewertung der mosaischen Religion und des Katholizismus als „äußere Kirchen“, die die Hieroglyphen bewahren und verwalten, – in seinem Konstrukt einer seit alters bestehenden „inneren Kirche“, die universalistisch ausgerichtet ist und jenseits der offiziellen Kirchen und Konfessionen über die wahre Auslegung der in den Hieroglyphen verschlüsselten Mysterien wacht, – schließlich in der Überwindung der hieroglyphischen Symbolik durch eine höhere Geistigkeit. 2.5 Die Hieroglyphe in der „äußeren Kirche“ seit Moses In seinem Buch Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz von 1796 geht Eckartshausen von einer Dreigliederung der heilsgeschichtlichen Entwicklung aus. Ihr korrespondieren drei verschiedene Sprachformen, in denen das Göttliche sich den Menschen mitteilt. In einer ersten Phase, die dem paradiesischen Menschen vor dem Sündenfall entspricht, herrschte, wie schon angedeutet, eine Sprache der Unmittelbarkeit, die von Eckartshausen auch als die ursprüngliche Natursprache aufgefasst wird. Diese Sprache ist auf keine äußeren Bilder oder Zeichen angewiesen. Das „Licht“ der göttlichen Vernunft, das sich in der unverdorbenen Natur ungetrübt ausbreitet, erhellte den Menschen unmittelbar. Bemerkenswert ist, dass Eckartshausen hier den Vernunftsbegriff positiv besetzt und damit mögliche Irritationen seiner Leserschaft abmildert, die in der Polemik gegen die Vernunft der Aufklärung entstanden sein könnten. Er vermag es scheinbar, seine Kritik an der Absolutsetzung aufklärerischer Vernunft durch die hier eingeführte Instanz der göttlichen Vernunft zu legitimieren,
157 In
diesem Sinne versucht Eckartshausen etwa auch das Mysterium antiker Tieropfer zu deuten: Durch das Tieropfer versuche der Mensch, sich symbolisch von seiner eigenen Tiernatur zu trennen, m.a.W. symbolisch-rituell seine triebgebundene Sinnlichkeit zu überwinden. Vgl. Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschenherz (wie Anm. 137), [Bd. 1], S. 170f.
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kann aber nach Kants Kritik nicht beanspruchen, etwas über eine göttliche Vernunft aussagen zu können. Nach dem Verlust der unmittelbaren Vernunft- oder auch „Lichtsprache“ durch den Sündenfall werden dem Menschen als Kompensation, wie schon skizziert, die Hieroglyphen mitgeteilt. Eckartshausen wandelt hier eine mythisch-religiöse Vorstellung ab, die in esoterischen Denkkontexten der Frühen Neuzeit weiter verbreitet war: die Vorstellung, dass die Hieroglyphen der Ersatz für jene verlorene, anfänglich vollkommene adamitische Ursprache sind, in der Name und Wesen der Sache in Einklang waren. Damit bleibt die esoterische Rede von der Hieroglyphe – ähnlich wie bei Saint-Martin – in eine fundamentale, durch den Sündenfall motivierte Verfallsgeschichte eingebunden. In der Frühen Neuzeit galten die Hieroglyphen, wie Wilhelm Schmidt-Biggemann ausführlicher an Johann Arndts Ikonographia von 1597 herausgearbeitet hat, als die ausgezeichneten, heiligen Bildzeichen, die den Menschen die göttlichen Urbilder überlieferten. Sie übermittelten sie allerdings, so der platonistische Ansatz, aufgrund des Falls in die Materie nur im verschatteten Abglanz. Die Hieroglyphen sind die einzigen Zeichen, die mittelbar und verschlüsselt die göttlichen „Seminalgründe“ (oder auch logoi spermatikoi), das heißt die im göttlichen Geist angelegten Konzepte, Archetypen bzw. Urkräfte der Schöpfung sowie den eschatologischen Sinn der menschlichen Geschichte nach dem Sündenfall aufbewahren.158 Das esoterische Hieroglyphenverständnis unterscheidet sich damit – wenn auch nicht immer trennscharf – von jenen kulturgeschichtlich-anthropologischen Konstrukten, die – wie bei Vico, Warburton, Herder und in schon sensualistischer Ausrichtung bei Condillac – in der Hieroglyphik den zusammenhängenden Entstehungskomplex von stummer Handlungssprache, bildlich-symbolischem Denken und bildlicher Urschrift in einer noch theokratisch geprägten Gesellschaft ablesen wollten. Gleichwohl stellt auch Eckartshausen die Hieroglyphen in den geschichtlichen Entstehungszusammenhang der theokratischen Gesellschaft (genauer: der jüdischen) und nähert sich damit partiell dem anthropologischen Hieroglyphenverständnis an. Eckartshausen zufolge begründet Moses mit Hilfe der Hieroglyphen die jüdische Religion. In der Schrift Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz umgeht er die Frage, ob Moses die Hieroglyphen von Gott empfangen oder ob er sie aus Ägypten mitgebracht hat – letzteres eine These, die Eckartshausens Zeitgenossen schon länger bewegte und die, wie bereits dargestellt, auch vom Hieroglyphentheoretiker Warburton vertreten wurde. In Eckartshausens Initiationsroman Kostis Reise von Morgen gegen Mittag von 1795 wird das Problem deutlicher formuliert und entschieden: Der Königssohn Kosti wird in Ägypten von den dortigen Priestern
158 Vgl.
Wilhelm Schmidt-Biggemann: Apokalypse und Philologie. Wissensgeschichten und Weltentwürfe der Frühen Neuzeit. Hg. v. Anja Hallacker u. Boris Bayer. Göttingen 2007, S. 283–286.
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253
in unterirdischen Tempeln und Grabmälern mittels der Hieroglyphen in die Mysterien eingeweiht. (Dazu noch später.) In den Aufschlüssen zur Magie geht Eckartshausen, wie erwähnt, mit seiner Auffassung noch hinter die Ägypter zurück, indem er deren Weisheit auf die Chaldäer und Perser zurückführt, bei denen die magischen Wissenschaften schon viel früher entwickelt worden seien. Er nähert sich damit Vorstellungen an, die auch Herder in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts im Rahmen des in diesen Gebieten verbreiteten Sabäismus diskutiert. Eckartshausen gibt die (pseudo)mythologische Herleitung: Noahs Sohn Ham (Eckartshausen schreibt „Cham“), der mit Zoroaster identisch sei, habe die Urweisheit über die Sintflut hinweg gerettet. Nach der Sintflut sei Zoroasters Weisheit in hebräischer und chaldäischer Sprache aufgeschrieben und in Bücher gebracht worden. Pico della Mirandola habe diese Bücher gelesen.159 In der nachgelassenen Schrift Über die Zauberkräfte der Natur greift Eckartshausen die Überlieferungsfrage noch einmal anders auf: Die von Noah über die Sintflut gerettete Urweisheit sei über Abraham und Jakob bis auf den legendären Priesterkönig Melchisedek überkommen. Schließlich habe Zoroaster sie nach Chaldäa und von dort nach Persien gebracht; zur gleichen Zeit sei sie in Ägypten aufgeblüht und habe dort in die berühmte Sammlung des Hermes Trismegistos Eingang gefunden. Moses sei in Ägypten in diesen geheimen Wissenschaften erzogen worden. Sie wären eigentlich dem König als „Königswissen“ vorbehalten gewesen, weil der König jeweils ein echter „Magus“ im Sinne dieses letztlich auf Adam zurückgehenden „frommen Wissens“ war. Moses habe damit für das Volk Israel ererbt, was in Ägypten zu dieser Zeit bereits verloren gegangen war; er habe das durch das Königswissen erlangte „Heiligtum“ ins gelobte Land versetzt. Eckartshausen glaubt diesen Transfer in Einklang mit dem göttlichen Willen.160 In den Wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz verzichtet Eckartshausen auf solche weitergehenden Herleitungen der Hieroglyphen bzw. des in ihnen verschlüsselten Geheimwissens der Alten.161 Dieser Schrift zufolge stiftete Moses mittels der Hieroglyphen nicht allein die jüdische Religion, sondern mit ihr zugleich auch die „erste äußere Kirche“.162 Deren Zeremonien waren noch „Hieroglyph der innern Wahrheiten Gottes und der Natur.“163 Dennoch setzt Eckartshausen von dieser ersten „äußeren Kirche“ bereits eine nicht institutionalisierte „innere Kirche“ ab. Deren Profil deutet er zuerst 1796 in den Wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen159 Eckartshausen: Aufschlüsse
zur Magie, Nachdr. v. 1923 (wie Anm. 103), Erstes Buch, S. 140f. Eckartshausen: Über die Zauberkräfte der Natur (wie Anm. 102), S. 17–19. 161 Vgl. Eckartshausen: Aufschlüsse zur Magie, Nachdr., 1923 (wie Anm. 103), Zweites Buch, Kap. „Wunderwerke der Natur in Hieroglyphen“, S. 117–119. Das hier thematisierte Verständnis der Hieroglyphen als verschlüsseltes Geheimwissen der Alten ist ein Topos, den Eckartshausen aus der esoterischen Tradition übernimmt. 162 Vgl. Eckartshausen: Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz (wie Anm. 137), Bd. 2, S. 185. 163 Ebd., [Bd. 1], S. 24. 160 Vgl.
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Herz an.164 Später wird er es 1802 in Die Wolke über dem Heiligtum, möglicherweise in der Auseinandersetzung mit Lopuchins parallelem Konzept von 1798, breiter ausführen. Die Hieroglyphik steht für Eckartshausen schon in der Frühgeschichte für religiöse Sinnbilder und Symbole sowie für die Handlungssprache der Rituale, einschließlich der Opferhandlungen. In den Hieroglyphen seien in z.T. dunkler, rätselhafter Form die Mysterien der Ur-Religion eingeschlossen, die sich Eckartshausen vor allem in den Schriften des Alten Testaments erschließt. Damit ist für ihn in den Hieroglyphen ein ganzes Depositum des menschheitsgeschichtlichen Urwissens verschlüsselt, das letztlich von Gott kommt. Von den Menschen aus gesehen, gehörten die Hieroglyphen nach Eckartshausen zum altjüdischen, von Priestern verwalteten Tempelwissen. Über die Kompetenz zur Deutung der Hieroglyphen aber verfügten Eckartshausen zufolge nicht die Priester, sondern die Propheten. Diese verstanden es, den tieferen Sinn und die lebendige Kraft der Hieroglyphen in ihren frommen Visionen und Prophezeiungen auszuschöpfen. In der dritten Phase herrscht durch das Ereignis Christi das „lebendig“ bzw. „Fleisch“ gewordene Wort, wie Eckartshausen im impliziten Bezug auf den Anfang des Johannes-Evangeliums formuliert. Es löst die hieroglyphische Phase der mosaischen Theokratie ab. Für Eckartshausen wie für das Christentum ist entscheidend, dass das „lebendig“ gewordene Wort bzw. der durch Christus gestiftete Neue Bund seinen Geltungsbereich über das Jüdische hinaus ausweitet. Die christliche Religion ist vom Anspruch her universalistisch und öffnet sich für alle Menschen. Gleichzeitig verschiebt sich in dieser neuen religiösen Phase der Gottesdienst von der Erfüllung äußerer Rituale ins Innere. Für Eckartshausen steht im Zentrum des Christentums die individuelle Nachfolge Christi im Inneren. Dennoch wird auch die Religion des „lebendig“ gewordenen Worts von einer „äußeren Kirche“ verwaltet, die gleichzeitig auch die mosaische Priesterweisheit beerbt. Es beginnt die „zweite äußere Kirche“, als deren legitimen Erben und Alleinvertreter Eckartshausen die katholische Kirche ansieht und ausdrücklich als „unfehlbar“ anerkennt.165 Sie verwaltet Eckartshausen zufolge sowohl das überkommene hieroglyphische Wissen als auch die christliche Tradition des lebendig gewordenen Worts. 2.6 Die Hieroglyphe in der „inneren Kirche“ und ihre Transzendierung Wenngleich Eckartshausen die katholische Kirche ausdrücklich als rechtmäßige Erbin der jüdisch-christlichen Tradition ansieht, so relativiert er sie doch durch seine Auffassung einer „inneren Kirche“. Nach Eckartshausen gibt es die „innere Kirche“
164 Ebd., 165 Ebd.,
Bd. 2, Kap. „Über das Innere der Religion“, S. 171–220, bes. S. 173–176, 179 und passim. Bd. 2, S. 181.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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seit alters her neben den „äußeren Kirchen“ der Juden und Christen. Gott habe schon immer auch unter den Heiden „Erwählte“ gehabt, die seine Hieroglyphen verstanden hätten und sein Licht verteilten. Das Konstrukt dieser Tradition ermöglicht es Eckartshausen, die Hieroglyphe nicht auf die jüdisch-christliche Tradition zu beschränken, sondern sie im Weiteren zum Oberbegriff einer Vielzahl von Symbolverfahren aller Religionen zu universalisieren. Zwar sei die Bibel das „Urbuch, in dem alle Urgeheimnisse, alle Urwissenschaften, alle Urkunden“166 und damit auch alle „Urbilder“167 enthalten seien. In impliziter Anlehnung an Herder nennt Eckartshausen sie „die älteste Urkunde des Menschen-Geschlechts“.168 „Bruchstücke des Urwissens“, aus dem alle „Hieroglyphik, Symbolik und Parabolik“ stammte, seien aber ebenso in den Mysterien und heiligen Büchern aller ältesten Völker enthalten. Insbesondere nennt Eckartshausen die Mysterien von Isis und Osiris, die eleusinischen Geheimnisse, die Geheimnisse der Orphiker und Pythagoreer, die Mithra-Geheimnisse der Perser sowie das „Zend-a Vesta“ der Parsen, die „Edda“ der Isländer und das „Chuking“ der Chinesen.169 Alles weise auf eine ursprüngliche Wissenschaft von der großen Ureinheit hin. Eckartshausen will diese allerdings weniger aus den genannten überkommenen Bruchstücken historisch herleiten. Er nimmt sie aus seinen theosophischen Grundannahmen heraus als systematisch zwingend an. Das Urwissen gründet sich ihm zufolge nicht nur auf Vorstellungen von einem „Urlicht“, einem „Urfeuer“ und einer „Urzahl“; es kristallisiert sich auch in einem „Uralphabet“ sowie einem (vermutlich damit geschriebenen) „Urbuch“, in dem alles aufgezeichnet sei, „was ist, was war, und was seyn wird.“170 Mit dieser Charakterisierung scheint Eckartshausen sich Saint-Martins Vorstellung von einem geheimnisvollem (Ur-)Buch von 10 Seiten anzunähern, von dem auch Saint-Martin meint, dass es in einer Ursprache geschrieben worden sei. Saint-Martins hypostasiertes Urbuch umfasst aber nicht, wie bei Eckartshausen, das Seiende selbst, sondern nur die „Einsichten und Erkenntnisse“ aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft.171 Eckartshausen schließt demgegenüber mit seiner Formulierung unmittelbarer als Saint-Martin an die berühmte Tempel-Inschrift zu Sais an, mit der sich, Plutarch zufolge, die Göttin Isis als die allumfassende Verkörperung der Natur ausweist. (Dazu ausführlicher noch weiter unten.) Möglicherweise deutet
166 Ebd.,
Bd. 2, S. 178. Bd. 2, S. 180. 168 Ebd., [Bd. 1], S. 24. 169 Ebd., [Bd. 1], S. 19 u. 23. 170 Ebd., [Bd. 1], S. 10. 171 Vgl. Louis-Claude de Saint-Martin: Irrthümer und Wahrheit oder Rückweiß für die Menschen auf das allgemeine Prinzipium aller Erkenntnis. Aus d. Franz. übers. v. Matthias Claudius. ND der Ausg. Breslau: Löwe, 1782. Hildesheim [u.a] 2004 (= Œuvres complémentaires et études Saint-Martiniennes, hg. v. Robert Amadou, Série III: Domaine allemand, Bd. 1/1), S. 287. Vgl. auch w.o. S. 233f. 167 Ebd.,
256
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
sich hier an, dass das Urbuch in Eckartshausens Vorstellung kein Buch in neuzeitlichem Sinne darstellte, sondern in Naturhieroglyphen verfasst war. Eckartshausen könnte an dieser Stelle von Herder beeinflusst worden sein, der in der Ältesten Urkunde des Menschengeschlechts mutmaßt, dass die ältesten Zeugnisse eingravierte Zeichen auf Säulen bzw. Stelen waren. Deutliche Festlegungen fehlen aber. Eckartshausen zufolge sammelt und zentriert sich schließlich all das, „was in der Vorzeit zerstreut unter den Mysterien der Völker lag“ im Christentum. Dieses spricht „im Worte“ aus, was vorher hieroglyphisch, in „Buchstaben“ oder „Sinnbildern“ verschlüsselt lag.172 Alle Hieroglyphen der Vorzeit beziehen sich in diesem Sinne typologisch auf Christus bzw. das Christentum. Eckartshausen bleibt auch im Weiteren im Denkzusammenhang der jüdischchristlichen Religion, indem er Gott als universalen Schöpfer versteht. Er überschreitet aber die Grenzen der „äußeren Kirchen“ des Judentums und des Katholizismus, indem er in den Hieroglyphen den Schlüssel zur göttlichen Botschaft zu besitzen glaubt. Denn das göttlich verbürgte Depositum des hieroglyphischen Urwissens war ihm zufolge ursprünglich allen Religionen gemein, hat sich aber durch klimatische und kulturelle Unterschiede „modifiziert“ bzw. auseinander entwickelt. Es ist für ihn daher evident, dass nicht nur die jüdisch-christlichen Hieroglyphen, sondern die Hieroglyphen aller Religionen, Mysterienkulte und Weisheitsschulen gesammelt werden müssen. Einige Symbole und Kulte hätten sich im Laufe der Zeit zwar verfälscht und in die Abgötterei hinein geführt. Aufgrund der genetischen Herleitung aus dem einen hieroglyphischen Depositum kann Eckartshausen aber selbst noch im Aberglauben einen ursprünglich wahren religiösen Kern annehmen. Die Sammlung und Tradierung der hieroglyphischen Weisheit über Gott, so führt Eckartshausen 1802 in Die Wolke über dem Heiligtum aus, habe eine dauerhaft aktive, in Eckartshausens Schrift aber unbestimmt bleibende Gemeinschaft erfüllt. Dieser weist Eckartshausen zugleich das richtige mystagogische Wissen und damit die Kompetenz zu, die hieroglyphischen Mysterien der Weisheitsschulen und Religionen der Welt authentisch zu deuten. Diese geheime Sozietät darf als Teil jener „inneren Kirche“ verstanden werden, die insbesondere in der Schrift Die Wolke über dem Heiligtum eine eminente Rolle in Eckartshausens Lehre spielt. In jedem Fall stellt Eckartshausen die Deutungshoheit dieser geheimen Gemeinschaft über die der etablierten Kirchen. Es liegt nahe, Eckartshausens „innere Kirche“ auf das Konstrukt der „unsichtbaren Kirche“ zu beziehen, mit dem sich schon in der Frühen Neuzeit eine vielfach esoterisch begründete oder esoterisch angereicherte „freie Religiösität“ gegen alle Dogmatik abgrenzen wollte. Auch hier wurde die äußere Kirchenorganisation als Verwalterin toter Buchstaben angesehen, der eine innerliche, lebendige Religiösität
172 Die
wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz (wie Anm. 137), [Bd. 1], S. 21f. sowie Bd. 2, S. 7.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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entgegengehalten wurde. Diese innerliche freie Religiösität wurde z.T. als „wahres Christentum“ verstanden.173 Tatsächlich ist Eckartshausens Konzept der „inneren Kirche“ mit verschiedenen, teils esoterischen, teils christlichen Konzepten verknüpft. Deutlich ist, dass Eckartshausen mit „innerer Kirche“ nicht etwa eine autonome individuelle Innerlichkeit meint, die für die Gesamtheit aller Gläubigen als „innere Kirche“ bezeichnet werden könnte. Unter der „inneren Kirche“ versteht Eckartshausen vielmehr die Tradition eines geheimen religiösen Wissens, das sich in verschiedenartigen Gruppierungen konzentriert und perpetuiert. Hans Graßl legt es nahe, die „innere Kirche“ mit der „’Lichtgemeinde’ der Maurer“ zu identifizieren, an die sich Eckartshausen in der Wolke über dem Heiligtum wende.174 Doch scheut Eckartshausen jegliche Eindeutigkeit. In Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz gibt Eckartshausen einen kursorischen Überblick der verschiedenen äußeren Gruppen, die die „innere Wahrheit“ in der Geschichte zeitweilig weitergetragen hätten, dann aber selbst zerfallen oder in Schwärmerei abgeglitten seien. Dabei nennt er – nach den vorausgegangenen Ritterschaften und Ordensgründungen – explizit auch „die Gesellschaft der Freymaurer“: Sie waren „die letzte äußere Gesellschaft, worinn sich die alten unverfälschten Urhieroglyphen fortpflanzten“. Denn die Freimaurer schlossen an die „Mystik“ und die „Tempelwissenschaft der Hebräer“ an. Und „ihre Zeremonien und Gebräuche waren ein architektonischer Grundriß der innern, und äußern erhabensten Naturwahrheiten“.175 Weil aber der „ächte und wahre Sinn“ verkam, zogen sich die wenigen Wissenden in das Innere zurück und die äußere Form dieser Gesellschaft wurde „ein Körper ohne Seele“.176 „Die geheimen Gesellschaften und Maurereyen vervielfältigten sich ins Unendliche“. Sie entlehnten von einander die Hieroglyphen, legten sie aber jeweils anders aus und wurden der Menschheit dadurch schließlich schädlich“.177 Besonders scharf kritisiert Eckartshausen, ebenfalls 1796 in Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz, den von Weishaupt gegründeten Geheimbund der Illuminaten, den er hier unter der Bezeichnung „Illuminatismus“ anführt. Er charakterisiert diesen zehn Jahre zuvor verbotenen Orden, dem er selbst, wie schon erwähnt, zeitweilig angehörte, als „eine Kompilation aus dem Materialismus und Sozinianismus“.178 Eckartshausen wirft dem Illuminatenbund vor, dass er „alle Hie-
173 Vgl.
Monika Neugebauer-Wölk: Esoterik und Christentum vor 1800: Prolegomena zu einer Bestimmung ihrer Differenz. In: Aries. New Series. Vol. 3, no. 2 (2003), S. 127–165, hier S. 142. 174 Graßl: Karl von Eckartshausen (wie Anm. 99), S. 325. 175 Eckartshausen: Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz (wie Anm. 137), [Bd. 1], S. 31. Hervorh. v. A.G. 176 Ebd. 177 Ebd., [Bd. 1], S. 32. 178 Ebd., [Bd. 1], S. 33. – Der Sozinianismus war eine antitrinitarische Bewegung, die im 16. Jahrhundert in Italien entstand und sich bis ins 17. Jahrhundert hinein in ganz Europa verbreitete. Ihr Name leitet sich von ihrem maßgeblichen Vertreter Fausto Sozzini her. Die Sozianer lehnten
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roglyphen aus den geheimen Gesellschaften plünderte“ und „alle bessere Gesellschaften untergrub, um ein eigenes System zu schmieden“, welches die Menschen in die „größten Irrtümer des Verstandes und [des] Herzens stürzen würde.“179 Im Gegenzuge stellt Eckartshausen die Verdienste der Jesuiten um die Wiederherstellung der „Religion in ihrer ganzen Reinheit“ heraus; sie hätten in ihrer Institution nicht nur die frömmsten, sondern auch die gelehrtesten Männer vereint und in allen wissenschaftlichen Fächern etwas für die Welt geleistet.180 Für Eckartshausen ist die „innere Kirche“ eine Gesellschaft, „von der die Mitglieder in der ganzen Welt zerstreuet sind, die aber im Innern nur ein Geist der Liebe und Wahrheit verbindet“. Sie bestehe „in der Gemeinschaft der Lichtfähigen oder Erwählten“, die ihrerseits nur „durch den Geist und die Wahrheit verbunden“ sind.181 Entsprechend werden die Religionen von der „inneren Kirche“ universalistisch gedeutet, so dass die „innere Kirche“ ein quasi überkonfessionelles Christentum anstrebt bzw. verkörpern soll. Entscheidend ist, dass sie keinem kirchlichen Oberhaupt, sondern unmittelbar dem „Licht der Welt“, nämlich „Christus“, untersteht: dem „Lichtgesalbte[n]“, dem „einzige[n] Mittler des Menschengeschlechts“, dem „Urlicht“, wodurch „die Menschen wieder zu Gott gelangen können.“182 In Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschenherz ging Eckartshausen 1796 noch weiter und wies der inneren Kirche eine zentrale Rolle im Rahmen seiner Auffassung der Scala naturae zu. Für Eckartshausen war das antike Modell attraktiv, weil es für eine Vergeistigung geeignet war. Da er mit Gott und den Zwischenstufen zu ihm hin eine höhere Intelligenz als die des Menschen annahm, verlängerte er die in dem Modell ursprünglich verankerte naturale, irdische Hierarchie in geistige Hierarchien hinauf. Die innere Kirche setzt gleichsam auf dem Modell der Scala naturae auf und macht deren Erweiterung (in Eckartshausens Sinn) vorstellbar: „Die innere Kirche reicht bis über die Körperwelt hinauf, und schließt sich an die heilig Abgeschiedenen, an die Engel Gottes, und an J.[Jesus] Ch. [Christus] und durch ihn die hergestellte Menschheit an Gott an.“183 In dieser „inneren Gemeinde“ ruht nach Eckartshausen „das Urdepositum der ältesten Urkunden des Menschengeschlechts, nebst den Urgeheimnissen aller Wissen-
die dogmatische Auffassung der Erbsünde ab und setzten sich u.a. für eine rationalistische Bibelauslegung ein. Für die katholische und protestantische Orthodoxie handelte es sich um eine antichristliche Bewegung, so dass Eckartshausen ihren Namen, wie den Materialismus auch, als negatives Stigma verwenden konnte. (Zum Sozinianismus im Einzelnen, vgl. Z. Ogonowski: [Art.:] Sozinianismus. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 9: Darmstadt 1995, Sp. 1257–1263.) 179 Eckartshausen: Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz (wie Anm. 137), [Bd. 1], S. 33. 180 Ebd., [Bd. 1], S. 34–36. 181 Eckartshausen: Die Wolke über dem Heiligthum (wie Anm. 128), S. 23f. 182 Ebd., S. 24. 183 Eckartshausen: Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz (wie Anm. 137), Bd. 2, S. 179.
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schaften.“ Eckartshausen schließt mit dieser Anspielung zwar an Herders Buchtitel Älteste Urkunde des Menschengeschlechts (1774–1776) an, folgt ihm hier aber nicht inhaltlich. Die „innere Gemeinde“ ist „im Besitz des Schlüssels aller Geheimnisse“ und kennt „das Innere der Natur und der Schöpfung.“184 An späterer Stelle spricht Eckartshausen als Teil dieser „inneren Gemeinde“: […] wir haben den Sinn und Geist zu allen Hyrogliphen [sic.] und Ceremonien, die von dem Schöpfungstage ab bis auf diese Zeiten existirt haben, und die innersten Wahrheiten aller heiligen Bücher, nebst Ritualgesetzen der ältesten Völker. […] Wir besitzen einen Schlüssel, um die Quellen der Geheimnisse aufzuschließen, und einen Schlüssel, [um] die Werkstätten der Natur zu verschließen.185
Die „innere Kirche“ hat für Eckartshausen magische Fähigkeiten, die Natur zu lesen und auf die Natur zu wirken: Wir besitzen ein Licht, das uns salbet, und wodurch wir das Geheimste und Innerste der Natur verstehen. Wir besitzen ein Feuer, das uns nährt und Kraft giebt, um auf alles, was in der Natur ist, zu wirken.186
Eckartshausen lehnt sich im Weiteren an die esoterischen Konzepte der Prisca theologia und Philosophia perennis an, wenn er die theosophische Weisheit der „inneren Kirche“ als eine uralte Religion und als Weisheitslehre versteht, die die Zeiten überdauert hat.187 Sie überdauert ihm zufolge, weil sie von einem Netz von Weisen und Eingeweihten weitergetragen wird, das seit den frühesten Zeiten synchron und diachron – als unsichtbare Gemeinschaft vor und neben den sichtbaren kirchlichen Gemeinschaften – besteht. In diesem Sinne bilden „die Weisen“ aller Völker eine „unsichtbare Kette“, die vom Anfang der Welt bis zu deren Ende fortgehe.188 Die Philosophia perennis wird philosophiegeschichtlich bereits als Programm des Neuplatonismus im 3. bis 6. Jahrhundert beschrieben. Besonders seit Iamblichos, der sich auch für die ägyptischen Mysterien interessierte und auch die (erst später als alexandrinisch eingestufte) Hermetik kannte, strebte der Neuplatonismus eine Synthese von Philosophie und Mystik an und integrierte dabei auch Elemente der sogenannten Theurgie, die durch Kontakt mit göttlichen Wesen überirdische Hilfe bewirken sollte. Entscheidend ist, dass neben den Abhandlungen des Aristoteles und den Dialogen Platons auch nichtphilosophische Quellen wie die orphischen Gedichte, die Chaldäischen Orakel und die tradierte Mythologie in die Systematisie-
184 Die
Wolke über dem Heiligthum (wie Anm. 128), S. 44. S. 59. 186 Ebd. 187 Zum Konstrukt der Philosophia perennis, vgl. Wilhelm Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis (wie Anm. 138). 188 Vgl. Eckartshausen: Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz (wie Anm. 137), [Bd. 1], S. 19. 185 Ebd.,
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rung einbezogen wurden. Dadurch gelangte man zu der Idee einer ununterbrochenen Überlieferung, die ursprünglich von den Göttern offenbart, dann in der Mythologie verborgen und durch Philosophen wie Pythagoras und Platon wieder entschlüsselt wurde, um endlich im Neuplatonismus zur vollen Entfaltung zu kommen. In einer breit angelegten theologischen Konstruktion wurden alle heidnischen Götter, alle Wesenheiten der orphischen Gedichte und der Chaldäischen Orakel sowie alle Ideen der platonischen Dialoge in eine vielfach abgestufte Hierarchie eingeordnet. Diese ging von dem zentralen Prinzip eines den Geist übersteigenden „Einen“ aus, aus dem dann in sukzessiver Linie die intelligiblen Götter, die intelligiblen und intellektuellen Götter sowie schließlich die nur intellektuellen Götter abgeleitet wurden.189 Die Vorstellungen einer „uralten Theologie“ und einer „ewigen Weisheitslehre“ entstanden als Topoi des esoterischen Denkens erst in der Renaissance. Diese entdeckte nicht nur den antiken Neuplatonismus wieder, den sie nunmehr mit dem Christentum verband. Sie entdeckte auch drei Quellen wieder, die für das esoterische Denken entscheidend werden sollten: erstens die pseudobabylonischen Chaldäischen Orakel, die 1438/39 vom Byzantiner Georgios Gemistos (gen. „Plethon“) mit der von ihm propagierten Religion des Zarathustra verknüpft wurden, zweitens das vermeintlich altägyptische Corpus Hermeticum, das Ficino 1463 übersetzte, sowie drittens die jüdische Kabbala, die Pico della Mirandola in den 1480er Jahren intensiv studierte.190 Entscheidend war die vermeintliche Gewissheit, mit diesen neuerschlossenen Quellen auf ein vormosaisches bzw. ein späteres, von Moses unabhängiges Wissen gestoßen zu sein, das den durch das Alte und Neue Testament geprägten Wissenshorizont der christlichen Kultur erheblich erweiterte. Es bildete sich die Meinung heraus, dass man der Philosophia perennis am nächsten kam, je mehr man in die Frühgeschichte zu den (oftmals nur fragmentarisch oder sogar nur mittelbar überlieferten) Ursprungstexten der Menschheit kam. Da die Wahrheit als ganze nicht verfügbar war, bewährte sich – wie Monika Neugebauer-Wölk zusammenfassend pointiert – die (kumulative) „Überlieferung aller Elemente des Wissens aus den verschiedenen Quellen vom Ursprung des Menschen über die Zeiten hinweg“.191 Dabei eignete man sich im Weiteren auch die in den neuerschlossenen Texten mit überlieferten Verfahrensweisen der ‚alten Wissenschaften’ Alchemie, Astrologie und Magie an.192 Nicht zuletzt wurde mit der Philosophia perennis auch die Idee verbunden, dass die ewigen Grundwahrheiten aller Völker und aller Zeiten konvergieren – eine Vorstellung, die 189 Vgl.
P. Hadot: [Art.] Philosophie/Punkt E: „Hellenismus“ (3. „Die mystische Phase“). In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 7: Darmstadt 1989, Sp. 597f., hier Sp. 597. 190 Zur Prisca theologia und Philosophia perennis als Elemente des esoterischen Denkens der Renaissance und Frühen Neuzeit, vgl. Monika Neugebauer-Wölk: [Art.] Esoterik. In: Enzyklopädie der Neuzeit. Hg. v. Friedrich Jaeger. 15 Bde. Bd. 3: Dynastie – Freundschaftslinien. Stuttgart (u.a.) 2006, Sp. 544–552, hier Sp. 545f. 191 Vgl. Neugebauer-Wölk, ebd., Sp. 545. 192 Ebd.
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etwa der vatikanische Bibliothekar Augustinus Steuchus im 16. Jahrhundert vertrat. Er ist es auch, der mit seinem Buch De perenni philosophia (1540) dieser neuzeitlichen Suche nach einer die Zeiten überdauernden Weisheit seinen Namen gab.193 Eckartshausen scheint allen Bedeutungskomplexen zugleich zuzuneigen, ohne deren interne Widersprüche im Einzelnen zu glätten. Wenn er damit die Grenzen des Christentums überschritt, so versuchte er doch auch, wie im Einzelnen noch zu entwickeln ist, die theosophischen und philosophischen Weisheitslehren auf das Christentum zulaufen zu lassen. Insofern Eckartshausens Konstrukt der „inneren Kirche“ das weitgehend hieroglyphisch vermittelte Depositum menschheitlichen Wissens tradieren soll, lässt sich (in Anlehnung an das Konstrukt der Philosophia perennis) pointierter vom seiner theosophia perennis sprechen. Die alte theosophische Weisheit umfasst für Eckartshausen neben den hieroglyphisch tradierten Mysterien der Weisheitsschulen und Religionen auch die (bereits erörterte) kosmologisch-religiös verstandene Zahlensymbolik der Pythagoreer und Kabbalisten. Zu ihr gehört die Wissenschaft von den Gottesprädikaten, die ebenfalls ein Kernstück von Eckartshausens theosophischer Lehre ist. Er ordnet die Gottesprädikate gern in Anlehnung an die christliche Trinitäts-Vorstellung triadisch an. Daneben greift er aber auch auf die zehngliedrigen Konfiguration des kabbalistischen Sephiroth-Baumes zurück. In diesen Anordnungen überschneiden sich Gottesprädikate und Zahlensymbolik zu einem hieroglyphischen Schema. Schließlich gehört für Eckartshausen zur theosophischen Weisheit noch der Zugang zu mystischen Wahrheiten, die noch jenseits des hieroglyphischen Wissens, der Zahlensymbolik sowie der Sprache überhaupt liegen. Auch dieser Zugang zur mystischen Wahrheit wird Eckartshausen zufolge von der „inneren Kirche“ bewahrt. (Dazu noch später.) Weil die „innere Kirche“ älter ist als die jüdisch-christliche Tradition, operiert sie nach Eckartshausen außerhalb der Tempel und Kirchen und hängt daher weder von den jüdischen Zeremonialgesetzen noch von den christlichen Sakramenten ab. Die „innere Kirche“ geht über alle Grenzen hinweg, denn ihre Mitglieder stammen nicht nur (wie beim Christentum) aus allen Völkern, sondern auch aus allen Religionen. Auch die Heiden haben Weise und Erleuchtete, die die „innere Kirche“ mitprägen, so dass die „innere Kirche“ universalistisch ausgerichtet ist. Für Eckartshausen war die „innere Kirche“ schon von alters her ein Korrektiv zu den „äußeren Kirchen“ des Judentums und des Christentums. Schon immer war es ihre Aufgabe, darüber zu wachen, dass der geistige Sinn der Hieroglyphen nicht falsch ausgelegt werde. Die „innere Kirche“ bewahrte deren geistige Wahrheit insbesondere, wenn die äußeren
193 Augustinus
Steuchus: De perenni philosophia. Lyon 1540. ND m. einem Vorw. v. Charles B. Schmitt. New York, London 1972. Zu Steuchus, vgl. Schmidt-Biggemann: Philosophia perennis (wie Anm. 138), S. 677–689.
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Kirchen in Streitigkeiten zerfielen oder vom allgemeinen Sinn ihrer Symbole, Zeremonien und Sakramente abkamen. Während das Christentum das Judentum universalistisch erweitert hatte, sich aber als separate Kirche etablierte, soll nun die „innere Kirche“ die Schranken der verschiedenen Religionen zugunsten ihrer essentiellen Wahrheiten transzendieren. Mit diesem universalistischen Anspruch wird nicht nur daran erinnert, dass der universalistische Impuls älter ist als die zeitgenössische Aufklärung, er wird von Eckartshausen auch als ein wesentliches Desiderat seiner eigenen Zeit aufgegriffen und propagiert. Der rationalen Aufklärung wird so im Glauben parallel ein alternatives Modell gegenüber gestellt, das die vermeintlichen Defizite der Aufklärung – den säkularen Rationalismus – überwindet. Für Eckartshausen arbeitet die „innere Kirche“ in seiner eigenen Zeit, der Wende von 18. zum 19. Jahrhundert, in der ihm zufolge die Menschen in eine neue heilsgeschichtliche Phase der Verinnerlichung eintreten, am „inneren Tempelbau“ der Menschheit.194 Diese Rede vom „inneren Tempelbau“ ist selbst metaphorischgleichnishaft und zeigt an, wie sehr das Hieroglyphische im Denken von Eckartshausen und damit auch formal in seiner theosophischen Rhetorik eine Rolle spielt. Als Mitglied der „inneren Kirche“, so lässt Eckartshausen durchblicken, kennt er Zugänge zur inneren Wahrheit, die das hieroglyphische Bewusstsein übersteigen und unmittelbar am Absoluten teilhaben. Dadurch wird die „innere Kirche“ das Durchgangsstadium einer erweiterten Scala naturae, das die sinnliche Ebene des Menschen in eine höhere Geistigkeit auflösen soll. Denn innerhalb der inneren Kirche als höherem Teil der Scala naturae gibt es nach Eckartshausen drei Stufen, die in seinem System zugleich Erleuchtungsstufen sind. Auf den ersten beiden sind die Hieroglyphen noch nötig. Im letzten, dem dritten Grad, soll hingegen das Sinnliche überwunden werden zur höchsten Geistigkeit in der Gottesanschauung. Ab dieser Grenze, so darf man Eckartshausen weiter interpretieren, werden auch die sym-
194 Mit
seinem Begriff der „inneren Kirche“ schließt Eckartshausen – über den engeren esoterischen Kontext hinaus – auch an schon bestehende Vorstellungen in innerkirchlichen Diskussionen an. Im Selbstverständnis der römisch-katholischen Kirche bildet der mystische Leib Christi die unsichtbare Kirche; die sichtbare Kirche mit dem Papst als Stellvertreter Gottes auf Erden versteht sich als Mittlerin von dessen Heilsfülle, die sie mit dem „Ursakrament“ austeilt. Demgegenüber vertrat Luther das Konzept einer „inneren“ oder „unsichtbaren Kirche“, die allein von den Glaubenden gestiftet werde. Dennoch behält auch der Protestantismus der „sichtbaren Kirche“ vor, das Evangelium zu lehren und Sakramente wie die Taufe und das Abendmahl auszuteilen. Die Reformatoren hatten ihrerseits mit ihrem Begriff der „unsichtbaren Kirche“ eine bestehende ältere Tradition der „Ecclesia spiritualis“ abgelöst, die bei Joachim von Fiore ihre eigenwilligste, eschatologisch-kritische Ausprägung erhielt. Die in der Papstkirche noch verborgene „Ecclesia spiritualis“ wird Fiore zufolge mit dem Anbrechen der dritten und letzten, alles vollendenden Epoche der Heilsgeschichte, dem Reich des (Heiligen) Geistes, sich zur vollkommenen menschlichen Gesellschaftsordnung entwickeln (Vgl. M. Sommer: [Art.] Ecclesia spiritualis. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter u. Karlfried Gründer. Bd. 2: Darmstadt 1972, Sp. 306–310.)
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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bolischen Differenzen in den verschiedenen religiösen Kulten der Religionen und Völker hinfällig. Während die Hieroglyphik auf dem tradierten Stand der einzelnen Religionen und Kulte bleibt, so lässt sich weiter folgern, führt der mystische Weg zur überreligiösen und überkonfessionellen Erleuchtung. Nach Eckartshausen kommen die mystischen Erleuchtungswege in ihrer höchsten Form ohne alle Zeichen und Symbole aus. Sie nähern sich so dem Ideal der Vergeistigung, wenn nicht sogar der göttlichen Ursprache an. Eine nähere Begründung für seine Erkenntnisse und Behauptungen bleibt Eckartshausen in diesem Denkzusammenhang schuldig. Rudimentär hatte er sie aber bereits in den Aufschlüssen zur Magie gegeben. Hier kündigte er eine „Sprache“ an, „die keine Worte habe“ und dennoch in ihrer Vortrefflichkeit alle anderen Sprachen weit übertreffe.195 Diese Sprache nennt er – in Absetzung von der „Sprache des Verstandes“, die auf konventionellen Lauten bzw. Namen und deren schriftlichen Aufzeichnung beruhe – eine „Sprache des Herzens“: Sie schöpfe ihre Bilder direkt aus Empfindungen und sage damit mehr als mit Worten. Sie entspreche der Sprache der Natur, die auf „Anschaulichkeit“ gründe und zugleich eine „Seelensprache“ sei. Während die konventionellen Wortsprachen mit ihrer Sprachenvielfalt die Völker voneinander trenne, verbinde die „Sprache des Auges“ die Menschen, weil sie von allen verstanden werde. In diesem Sinne schätzt Eckartshausen auch die „Hieroglyphen der Alten“ als eine „Sprache des Auges“, als „eine anschauliche Sprache“. Noch höherwertig sei die Sprache, in der die Geister miteinander kommunizierten, denn bei ihnen sei schon „ihr Gedanke“ Sprache.196 Indem Eckartshausen als Weiser die Überwindung der Hieroglyphen anstrebt, relativiert er auch die sonst so beschworenen, von alters her überlieferten „heiligen Zeichen“ und Symbole. Um die Überwindung plausibel vorzutragen, bedient er sich in rhetorischer Absicht sogar selbst einiger Hieroglyphen, die jedoch ins Unbestimmte weisen.
195 Eckartshausen: Aufschlüsse
zur Magie, [Teil I.,] 2. Aufl., München 1791 (wie Anm. 113), Kap.: „Sprache, die keine Worte hat“, S. 25–29. 196 Ebd., S. 29. Eckartshausen meint an dieser Stelle noch nicht die Sprache der Geister, sondern eine Sprache, die die „Natur der Dinge“ erfasst und damit allgemein wird. Für die Menschen komme es darauf an, die Sprache der willkürlichen Zeichen zu überwinden, denn, wie er mit einem expliziten Zitat aus Herders Ideen formuliert: „In Buchstaben gefesselt schleicht der Verstand mühsam einher. Unsere besten Gedanken verstummen in todten schriftlichen Zügen.“ (Ebd.) Für die Zukunft erwartet Eckartshausen, ebenfalls mit einem Zitat aus Herders Ideen: „Wenn wir einmal alle insgesamt Sachen denken und keine abgezogenen Merkmale mehr; wenn wir einst die Natur der Dinge aussprechen, und keine willkührlichen Zeichen mehr, dann sind Irrthum und Meynung verschwunden, dann sind wir im Reiche der Wahrheit.“ (Ebd.) – Vgl. auch Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, 4 Theile. Riga und Leipzig, 1784–1791. Zweiter Teil, Neuntes Buch, Kap. II: „Das sonderbare Mittel zur Bildung der Menschen ist Sprache“. Die von Eckartshausen als zusammenhängendes Zitat präsentierten Stellen sind bei Herder über den Text verstreut und z.T. etwas anders formuliert.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Mit Hilfe der seit Ficino geläufigen Metapher eines antiken Tempels will Eckartshausen plausibel machen, dass die Hieroglyphen nur der „Vorhalle“ des Heiligen entsprechen. Sie sind nur deshalb weiterhin notwendig, weil die gewöhnlichen Glaubenden, die noch im Sinnlichen verhaftet sind, auf die sinnliche Einhüllung der Mysterien in die Form der Hieroglyphen angewiesen sind. Für das normale menschliche Bewusstsein habe Gott „die inneren ewigen Wahrheiten und Geheimnisse auf die Außenseite der Dinge“ geschrieben, „damit der Mensch den Buchstaben wieder erhalten und sich durch selbem zu dem Geist aufschwingen könnte.“ Diese Buchstaben sind „die Ceremonien oder das Äußere der Religion“; sie führen erst noch zum „innern, thätigen, lebensvollen Geist der Wiederverbindung mit Gott“.197 Wie man sieht, hält sich Eckartshausen nicht immer an eine durchgehende Begrifflichkeit, sondern wechselt mitunter zwischen der Hieroglyphik, der emblematischen Naturschrift und der Schriftmetaphorik des toten „Buchstabens“. Als unaufgeschlossene Hieroglyphen sind die Sinnbilder und Zeremonien der Religionen „tote Buchstaben“. Im Bewusstsein der höheren, durch mystische Erleuchtung zu erlangenden Wahrheit sind die Hieroglyphen für Eckartshausen nur „Hülle“ bzw. „Schleier“. Eckartshausen steigert hier den alten metaphorischen Topos vom „Schleier der Wahrheit“ noch, indem er in dramatisierender Weise von einem „Vorhang“ spricht. Während der Schleier noch auf das Heilige durchscheint, ist der Vorhang opak und verbirgt die Wahrheit vollends. In diesem Sinne schreibt er: „So waren alle geheime äussere Weisheits-Schulen blos in Hyrogliphen [sic.] gesteckte Vorhänge, die Wahrheit selbst blieb immer im Heiligthum, damit sie nie entweiht werden konnte.“198 Für Eckartshausen schützt der Vorhang die Wahrheit vor den Augen der Profanen – ein Motiv, das im esoterischen Diskurs über die Hieroglyphik geläufig ist. Eine weitere Metapher für die Einhüllung des Heiligen durch die Hieroglyphen ist die „Wolke“, der Eckartshausen schon im Titel seiner Schrift Die Wolke über dem Heiligtum eine herausragende Stellung gibt. Im Rahmen der religiösen Ikonographie bezeichnet die Wolke eine Grenze, die die übersinnliche Oberwelt des Göttlichen von der sinnlichen Welt des Irdischen trennt. In den populären Darstellungen der Scala naturae findet man sie als verfließende Grenzmarke, die die Welt des Numinosen, über die man mit menschlichen Mitteln nichts Sicheres wissen kann, von der Stufe des menschlichen Lebens trennt.
197 Eckartshausen: 198 Ebd.,
S. 40.
Die Wolke über dem Heiligthum (wie Anm. 128), S. 46.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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2.7 Die mystische Innenschau. Eckartshausens Missionierung in der inneren Kirche Die „innere Kirche“ wirkt nur als „Agent“ oder Vermittler: Der Tempelbau selbst muss sich nach Eckartshausen in jedem einzelnen Menschen vollziehen. Den Eingang in die „innere Kirche“ finden Eckartshausen zufolge nur „reife“ Menschen: Für die, die nicht reif sind, ist alles „hieroglyphisch“; sie können im Innern nichts sehen und nichts lesen.199 Eckartshausen verwendet den Begriff „hieroglyphisch“ hier ausnahmsweise im allgemeinen Wortsinn von ‚geheim’, ‚unentzifferbar’, ‚rätselhaft’. Organ dieses sich im Inneren vollziehenden religiösen Vorgangs ist Eckartshausen zufolge das menschliche „Herz“. Eckartshausen schließt damit an den Topos einer „Kirche des Herzens“ an, wie er – nunmehr im oben angedeuteten christlichesoterischen Kontext – etwa bei Paracelsus, bei Valentin Weigel und – im Anschluss wiederum an diesen – bei Johann Arndt ausformuliert worden war.200 Speziell für Johann Arndt bilden diejenigen die „vnsichtbare Kirche“ die „jren Gottesdienst im Hertzen und Geist“ haben. Arndt nennt sie „die wahren lebendigen Glieder der Kirche“. Schon er konnte an eine reiche Herzenssemantik anschließen, die letztlich über die Mystik und Augustinus auf das Neue Testament zurückgeht. In letzterem wurde nicht nur das alttestamentarische Gebot, Gott mit dem Herzen zu lieben, auf die Nächstenliebe ausgedehnt. Das Herz nahm hier auch die folgenreiche Bedeutung eines inwendigen Zentrums an, in dem das Wesen der Person beschlossen liegt und in das nur Gott Einblick hat.201 Arndts unsichtbare Kirche kennt allein Gott, den „Hertzenkündiger [sic.]“. Sie ist keiner Zeit, keinem Ort und keinem sichtbaren Haupt unterworfen, denn sie hat ihren „Sabbat“ unmittelbar „in Gott und Christo“.202 Für Arndt zeichnet sich dieses „wahre Christentum“ weniger durch das verkündete „Wort“ und das gespendete „Sakrament“ aus (den „Kennzeichen der [sichtbaren] Kirchen“), als durch die Innerlichkeit des Glaubens. Es gilt, Christus nicht auswendig, sondern inwendig zu suchen. Im Zentrum seines Ansatzes steht, wie Hanns-Peter Neumann ausführt, die Imitatio Christi: Weil Christus „innerlich, in uns ist, so geht die Imitatio Christi, die im Wesentlichen die Verwandlung des alten in den neuen Menschen meint, vor allem nach innen und innerlich vor sich.“203
199 Ebd.,
S. 43. Hanns-Peter Neumann: Natura sagax – Die geistige Natur. Zum Zusammenhang von Naturphilosophie und Mystik in der frühen Neuzeit am Beispiel Johann Arndts. Tübingen 2004, S. 219–226. 201 Vgl. W. Biesterfeld: [Art.] Herz. Historisches Wörterbuch der Philosophie. Hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer. Darmstadt 1971–2007. Bd. 3: 1974, Sp. 1100–1112, hier Sp. 1104. 202 Zit. nach Hermann Geyer: Verborgene Weisheit: Johann Arndts „Vier Bücher vom Wahren Christentum“ als Programm einer hermetisch-spiritualistischen Theologie. Band 3: Lumen gratiae et naturae conjungere: spiritualistisch-hermetische Theologie; das theosophische Programm der „Vier Bücher“. Berlin 2001, S. 125. 203 Neumann: Natura sagax (wie Anm. 200), S. 219. 200 Vgl.
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D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Über Gottfried Arnold wirkte diese Tradition der Herzenskirche bis in den Pietismus hinein. Eckartshausen spielt schon 1796 implizit auf die Herzenskirche an, als er einer seiner Schriften den Titel Hieroglyphen fürs Menschen-Herz gab. Das Herz avanciert hier zum Organ, in dem das göttliche Licht bei empfänglichen Menschen seinen „Sitz“ nahm, um sich von hier aus auf andere Wesen zu verbreiten.204 Schließlich hebt Eckartshausen das Herz 1802 in Die Wolke über dem Heiligtum (also der Schrift, die die Lehre von der „inneren Kirche“ am breitesten entfaltet), als das zentrale Organ einer Vereinigung mit dem Göttlichen heraus, die im Einzelnen durch die Imitatio Christi zu erlangen sei. Eckartshausen schließt mit seiner Auffassung der „inneren Kirche“ sowie mit der Vorstellung des Herzens als Organ der Imitatio Christi an die einschlägige Diskussion an, gibt ihr aber eine esoterische Zielsetzung. Für ihn ist die „innere Kirche“ eine unsichtbare Gemeinschaft der theosophisch Erleuchteten, die am „inneren Tempelbau“ der Menschheit arbeiten. Dieser „innere Tempelbau“ setzt auf die Entwicklung der „inneren Religiösität“ im einzelnen Menschen und kommt damit der protestantischen Sicht entgegen. Indem Eckartshausen die Religion verinnerlicht und individualisiert, reformiert er gewissermaßen die protestantischen Reformatoren. Kant trifft 1793 in Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft eine ethikgeschichtliche Unterscheidung zwischen sichtbarer und unsichtbarer Kirche, die partiell zu einer Säkularisierung führt. Während die sichtbare Kirche sich auf der Grundlage von Verordnungen und Zeremonien erhält,205 entsteht die unsichtbare Kirche durch das innere Band reiner Moralität: Die einzelnen erkennen ihre unzulänglichen Kräfte und verbinden sich, um im Sinne des moralisch Guten zu wirken. Eckartshausen strebt dagegen eine Spiritualisierung an: Für ihn haben die „Lichtfähigen“ das Vermögen entwickelt, Christus in sich aufzunehmen. Die Metapher vom „inneren Tempelbau“ ist für Eckartshausen eine der zentralen Hieroglyphen für das zeitgenössische „Menschen-Herz“. Das durch die philosophischen Zweifel und politischen Unruhen der Zeit beunruhigte „Menschenherz“ soll in der Theosophie der „Inneren Kirche“ wieder eine gläubige Zentrierung und Ruhigstellung erfahren. In diesem Sinne ist auch das „Menschen-Herz“ selbst eine Hieroglyphe für den Menschen, der Gott im Inneren sucht. Das hieroglyphische Gottes- und Religionsverständnis bleibt für Eckartshausen auch für den Gott suchenden Menschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts unhintergehbar, denn er braucht die Hieroglyphen als Anschauungs- bzw. Versinnlichungsmittel des sonst Unabbildbaren und Unaussprechlichen.
204 Vgl.
Eckartshausen: Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz (wie Anm. 137), Bd. 2, S. 149. 205 Vgl. weiter oben, Anm. 131.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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Eckartshausens Theosophie erweist dem Christentum ihre Referenz, indem sie mit Christus die grundlegende Zäsur der hieroglyphischen Überlieferung ansetzt. Das „Wort“ Gottes wird auch in Eckartshausens Sicht „lebendig“ und bekommt universelle Gültigkeit. Damit wird auch für die Bedeutung der Hieroglyphe eine Zäsur gesetzt. Die Hieroglyphen bleiben zwar für die gewöhnlichen Gläubigen wichtig, doch gibt es mit Christus nunmehr eine neue Dimension der seit alters her bestehenden „inneren Kirche“. Sie ist geeignet, den Menschen des ausgehenden 18. Jahrhunderts über eine mystische Versenkung in sein Inneres zur Vertiefung seines Glaubens zu führen. Diese Absicht entspricht zwar der säkularen aufklärerischen Individualisierung, doch bleibt Eckartshausen in seinen erkenntnistheoretischen Aporien befangen. Für ihn muss man zur „höheren Weisheit“ geradewegs „organisirt“ sein.206 Er scheint sich damit einem Gedanken anzunähern, wie man ihn im weiteren Rahmen von Bonnets Scala naturae etwa auch bei Lavater und Herder findet. Gemeint ist, dass die Menschen ein eigenes „Sensorium“ für das Göttliche bzw. das Übersinnliche oder Heilige ausbilden könnten. Nach Eckartshausen haben die Menschen einen verborgenen, intuitiven „inneren Sinn“, der bislang nur bei wenigen Auserwählten, den „Lichtfähigen“, entwickelt ist. Bei den übrigen ist er noch unter einer „Kruste“ verschlossen. Die meisten Menschen wüssten nicht, dass man durch diesen „inneren Sinn“ zum Übersinnlichen bis zum „Anschauen“ des Göttlichen erhoben werden kann. Zu dieser „gänzliche[n] Anschauung im Geister-Reich“, das heißt der „Objectivität der metaphysischen transzendentalen Gegenstände“, führt Eckartshausen zufolge erst der „dritte und höchste Grad“ einer insgesamt dreistufigen „Aufschließung unseres geistigen Sinnes oder Sensoriums“.207 Implizit – aber mit umgekehrtem Vorzeichen – schließt Eckartshausen an Diderots Briefe über die Blinden und Taubstummen an, wenn er schreibt: Es ist ganz richtig, daß wir mit neuen Sinnen neue Objectivitäten erhalten; diese Objectivitäten können vielleicht schon da seyn, aber von uns nicht bemerkt werden, weil uns der [sic.] Organ der Receptivität fehlt; so ist die Farbe da, obwohl sie der Blinde nicht sieht; so existirt der Ton, obwohl ihn der Taube nicht hört; der Mangel liegt nicht im aufzunehmenden Object, er ist im Mangel des recipirenden Organs aufzusuchen.208
Bei Eckartshausen ist das höhere „innere Sensorium“ für das übersinnliche „GeisterReich“ zugleich die Gewähr, auch an Vorausdeutungen und andere magische Überschreitungen der Vernunft glauben zu können. Es ist entscheidend, dass er das neue Sensorium für das Metaphysische wesentlich unter dem Zeichen des „Lichts“ fasst. Das Licht ist dabei für Eckartshausen mehr als eine wörtlich genommene Metapher – auch wenn es zur hieroglyphischen Rhetorik des religiösen Sprechens und Um-
206 Eckartshausen: 207 Ebd.,
S. 14. 208 Ebd., S. 18.
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schreibens gerechnet werden muss, aus dem nicht zuletzt auch die Lichtmetaphorik der Aufklärung hervorgegangen ist. Für Eckartshausen wohnt Gott in einem Licht, das der Vernunft und ihren Spekulationen nicht zugänglich ist.209 Den „inneren Sinn“ begreift Eckartshausen daher wesentlich als eine Art von Organ für das Licht. Die Menschen müssen für dieses transzendentale Licht stufenweise „aufgeschlossen“ werden. Erst wenn sie darauf vorbereitet worden sind, können die „in Hyrogliphen [sic.] gesteckte Vorhänge“210 der verschiedenen Religionen weggezogen, kann „die Wolke über dem Heiligthum“ durchdrungen werden. Implizit nähert sich Eckartshausen hier Vorstellungen einer wiederzuerlangenden Engelssprache oder auch Himmelssprache an, wie sie, in Anlehnung an Swedenborg, versuchsweise Lavater in seinen Aussichten in die Ewigkeit entwickelt hatte. Es liegt nahe, dass Eckartshausen die hypostasierte unmittelbare mystische Teilhabe am Übersinnlichen mit der Wiedererlangung der von ihm angenommenen adamitischen „Natursprache“ gleichsetzt, die er als eine Sprache des „Lichts“ vor dem Sündenfall bestimmt. Mit seiner Vorstellung eines sich im Subjekt vollziehenden „inneren Tempelbaus“, den Eckartshausen, wie schon erwähnt, als Imitatio Christi auffasst, individualisiert er die christliche Religion. So sehr er auch die Aufklärung kritisiert: mit dieser Individualisierung des Religiösen schließt er an deren Stärkung des Individualismus an. Der Individualismus der Aufklärung wird von Eckartshausen nicht abgelehnt, sondern mit einem esoterischen, christentumsnahen Glauben verbunden. Im Zentrum der vom Einzelnen zu leistenden Imitatio Christi steht, wie schon erwähnt, das menschliche Herz. Eckartshausen fasst es in Anlehnung an ältere Auffassungen, wie sie auch Adelung noch referiert,211 als Sitz sowohl des Gefühls wie des Willens auf. Die Suchenden müssen sich Christus vor allem mit dem Herzen öffnen, ihn zum Gegenstand ihres Wollens und Fühlens machen, um die Vereinigung mit dem Göttlichen zu erreichen. Die „innere Kirche“ oder auch „innere Gemeinde“ bildet nach Eckartshausen eine „theokratische Republik“, die einst die Mutter-Regentin der ganzen Welt seyn wird.212 Eckartshausen stellt klar, dass diese „theokratische Republik“ keinesfalls mit einer Republik im politischen Sinne zu verwechseln ist. Denn immer dann, wenn „der Tempel der Weisheit“ zu einem politischen Gebäude umgestaltet werden sollte, zog sich die „innere Kirche zurück: Übrig blieb nur der „geistlose Buchstabe“.213
209 Ebd.,
S. 17. S. 40. 211 Vgl. Johann Christoph Adelung: Grammatisch-Kritisches Wörterbuch der Hochdeutschen Mundart. Theil 2: F – L. Wien 1811. Bd. 2, Sp. 1145f. 212 Eckartshausen: Die Wolke über dem Heiligthum (wie Anm. 128), S. 44. 213 Ebd., S. 39. Eckartshausen dürfte an dieser Stelle nicht allein seine Erfahrungen mit Weishaupts Illuminatenorden verarbeiten, sondern auch auf das hartnäckig im Umlauf gehaltene Gerücht reagieren, die Französische Revolution sei durch Freimaurer ausgelöst worden. 210 Ebd.,
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
269
Es war Eckartshausen daran gelegen, seine „innere Kirche“ mit einem Lieblingsbegriff seiner Zeit: „Republik“ zu schmücken. Sie lässt sich hier schwerlich als Volksherrschaft übersetzen, doch ist die weite Bedeutung von Republik nicht auf Eckartshausen beschränkt. Es muss daran erinnert werden, dass die europäische Geistesgeschichte bis in die Aufklärung hinein mit der „république des lettres“ eine Verbindung von Republik und Elite kennt. Eckartshausen setzt der „république des lettres“, die eine säkulare Elite bezeichnet, mit der inneren Kirche eine esoterische Elite entgegen. Vergleichbar mit der „république des lettres“ wird auch in der inneren Kirche allen Suchenden das Anrecht einer spirituellen Weiterentwicklung eingeräumt, die unabhängig vom sozialen Stand sowie den Zeichen und Riten der institutionalisierten Kirchen ist. Doch für die „innere Kirche“ besteht Eckartshausen – wie der Martinismus – auf abgestuften Graden der Erleuchtung und insofern auf einer Rangfolge der Spiritualität, die letztlich zu einer pyramidalen Herrschaftsform führt, die selbst vom Geheimnis umhüllt ist und ganz nur von der Spitze her zu überschauen ist. Die unteren Adepten werden daher geleitet und eingewiesen. Die „innere Kirche“ ist mit ihrem theosophischen Wissen zur Stelle, wenn der einzelne ihrer bedarf. Damit tritt sie als Korrektiv zur Individualisierung in der spirituellen Entwicklung des einzelnen Menschen auf. Beide Konstrukte bleiben in Eckartshausens Theosophie aufeinander bezogen. In seiner Schrift Die Wolke über dem Heiligtum von 1802 sieht Eckartshausen ein neues Zeitalter anbrechen. „Wir nähern uns […] nun der Zeit, wo der Geist den Buchstaben lebendig machen muß; wo die Wolke verschwinden wird, die das Heiligthum deckt; wo die Hyrogliphen in Anschauung und die Wörter in Verstand übergehen werden.“214 Bald werde daher „die dunkle Nacht der Bildersprache verschwinden […] und das heilige Dunkel der Geheimnisse wird im Glanz der höchsten Wahrheit stehen.“ Es werde zu einer großen Harmonisierung der Quellen des Wissens kommen, denn „das Licht der Natur, das Licht der Vernunft und das Licht der Offenbarung werden sich einen.“215 Wiederum setzt Eckartshausen der rationalen Aufklärung ein eigenes Konzept entgegen: Dem Optimismus der Perfektibilität begegnet er mit dem optimistisch beschriebenen Weg in die innere Kirche, dem säkularen Optimismus setzt er den spirituellen Optimismus entgegen. Überhaupt, schreibt Eckartshausen, werde sich nun alles miteinander verbinden: „das Alte mit dem Neuen, das Äußere mit dem Innern, das Obere mit dem Untern, das Herz mit der Vernunft, der Mensch mit Gott“. Der Anbruch dieser Epoche sei „dem jetzigen Jahrhundert vorbehalten.“216 Eckartshausen spricht an anderer Stelle
214 Ebd.,
S. 50. S. 51. 216 Ebd., S. 54. 215 Ebd.,
270
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
auch von einem „4ten [Zeit-]Alter“.217 Es schließt sich an die weiter oben beschriebenen drei Zeitalter der paradiesischen „Lichtsprache“, der mosaischen Hieroglyphik sowie des mit Christus „lebendig“ gewordenen Wortes an. In diesem zukünftigen vierten Zeitalter werde der Geist Gottes der Menschheit all das „im hellsten Lichte der Vernunft zeigen, was in den verflossenen Altern […] gleichsam in der Dämmerung gelegen ist.“218 Auch wenn Eckartshausen es nicht offen ausspricht: Mit dieser Vision eines vierten Zeitalters versucht er, das Vernunftzeitalter der Aufklärung zu überbieten, denn über die menschliche Vernunft stellt er den gleichsam supra-rationalen Geist Gottes. In Eckartshausens Augen stellt das Aufzeigen von dessen Überlegenheit die eigentliche ‚Aufklärung’ dar. Im erweiterten Wissen über die Hieroglyphen und Rituale der alten Mysterienkulte, Weisheitsschulen und Religionen werden sich schließlich die Vereinheitlichung aller Religionen sowie die Verinnerlichung des religiösen Heilgeschehens vollziehen. Wir nähern uns dem Reich des Lichts, dem Reiche der Weisheit und der Liebe, dem Reiche Gottes, der die Quelle des Lichts ist. Brüder des Lichts! es giebt nur eine Religion, derer [sic.] einfältige Wahrheit sich in alle Religionen gleichsam wie in Zweige getheilt hat, um von der Mannigfaltigkeit in eine Religion wieder zurückzukehren. [Hervorh. v. A.G.]219
Die unsichtbare Gemeinschaft der „inneren Kirche“, die er im obigen Zitat auch als „Brüder des Lichts“ anspricht, ist dabei für Eckartshausen der wichtigste Agent dieser Transformation, da sie sowohl über das Archiv des hieroglyphischen Wissens und dessen rechte Auslegung wacht als auch die Erleuchtungspfade eines neuen, stärker vergeistigten Begreifens kennt. 2.8 Hieroglyphik und Vergeistigung in Eckartshausens Initiationsroman Kostis Reise von Morgen gegen Mittag (1795) In Eckartshausens Theosophie gehören die Hieroglyphen letztlich zu einer historisch überholten, weil sinnlichen Stufe der Gottessuche, die vom Initianden in der Gegenwart zwar auf den ersten Stufen der Einweihung nachgeholt, dann aber auf der höheren, geistigen Stufe als vorläufig erfahren werden soll. Ziel ist ein Begreifen der Gottheit als zentraler „Urkraft“ des Lebens. Diesen Initiationsweg hat Eckartshausen in seinem Roman Kostis Reise von Morgen gegen Mittag von 1795 beispielhaft vorgestellt und opulent ausgestaltet. Im Untertitel wird der Roman als „Reisebeschreibung aus den Zeiten der Mysterien“ ausgegeben. Sie werde „mit wichtigen
217 Eckartshausen:
Die wichtigsten Hieroglyphen fürs Menschen-Herz (wie Anm. 137), [Bd. 1], S. 21. 218 Ebd. 219 Eckartshausen: Die Wolke über dem Heiligthum (wie Anm. 128), S. 52.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
271
Bruchstücken der Wahrheit belegt“, die ihrerseits – wie es deutlich heißt – „anwendbar für die Gegenwart und die Zukunft“ seien.220 Einer Besprechung in der Allgemeinen Literatur-Zeitung von 1796 zufolge hat Eckartshausen einen „ebenso langweiligen als abentheuerlichen politischen Roman“ vorgelegt, in welchem er seine „bekannte Weisheit dadurch wichtig zu machen sucht, daß er sie bärtigen Einsiedlern und Priestern in den Mund legt […].“221 Im Kontext dieser Studie ist es indes willkommen, dass Eckartshausens sonst eher unbestimmt bleibende Theorien hier näher konkretisiert werden. Es ist daher sinnvoll, abschließend und ausblickshaft die literarische Konkretisierung seiner Ideen im Medium des Romans zu untersuchen, um eine größere Klarheit zu erzielen. Der Roman ist für die Hieroglyphik mehrfach von Bedeutung. Zum einen findet die entscheidende Einweihung in der altägyptischen Hauptstadt Memphis statt. Sie wird mit den dortigen unterirdischen Anlagen „der großen Pyramide“, die im Roman als eines der „sieben Wunder der Welt“ vorgestellt wird, für den Helden Kosti zum Kultort. Seit Jean Terrassons Roman Sethos (1731) waren die ägyptischen Mysterien zur beliebten Quelle nicht nur der literarischen Ägyptenfaszination, sondern auch der ägyptisierenden freimaurerischen Symbolik geworden. Schon Terrasson gab vor, sein Wissen über die Mysterien aus alten gelehrten Quellen zu beziehen.222 Eckartshausen folgt in der Grundanlage Terrasson, bei dem sich bereits der entscheidende Erleuchtungsweg in den unterirdischen Anlagen der Pyramiden abspielt. Sowohl bei Terrasson als auch bei Eckartshausen dient die (in der Nähe von Memphis gelegene) Cheops-Pyramide mit ihrem komplizierten System von Gängen, Schächten, Kammern und Gewölben als Vorbild. In beiden Romanen steigen die Helden (in Anlehnung an die realen Gegebenheiten der Cheops-Pyramide) auf der 16. Stufe durch eine viereckige Öffnung von drei Fuß an der Nordseite in das zunächst nur kriechend zu durchquerende innere Gangsystem der Pyramide ein. Von hier aus gelangen sie in beiden Romanen durch den Schacht einer bei Eckartshausen „fürchterlichen Cisterne“ in die gähnende Tiefe. Wie Jan Assmann erläutert, hat man das innere Gang- und Kammer-System der Cheopspyramide deshalb zur „Kultbühne für geheime, unterirdisch […] abgehaltene Riten“ erklären können, weil man die Beschreibungen der Pyramiden irrtümlich mit den Nachrichten über die unterirdischen Königsgräber im Tal der Könige bei Theben zusammenbrachte.223
220 Kostis
Reise von Morgen gegen Mittag. Eine Reisebeschreibung aus den Zeiten der Mysterien; mit wichtigen Bruchstücken der Wahrheit belegt, und anwendbar für die Gegenwart und die Zukunft, geschrieben von Carl von Eckartshausen. Donauwörth, bey Joh. Georg Brunner, 1795. Im Folgenden wird nach dieser Ausgabe zitiert. 221 [Anon.]: [Rez. zu] Eckartshausen: Kostis Reise von Morgen gegen Mittag. In: Allgemeine Literatur-Zeitung (ALZ), 1796, Bd. 2, Nr. 161, S. 454f., Zitat S. 454. 222 Jean Terrasson: Sethos. Histoire ou Vie tirée des monumens anecdotes de l’ancienne Egypte. Traduit d’un manuscrit Grec. Paris 1731. 223 Jan Assmann: Die Zauberflöte. Oper und Mysterium. München, Wien 2005, S. 98.
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Wie später bei Eckartshausen auch, ging es schon bei Terrasson um eine Fürstenerziehung, also um die zeitgenössische Vorstellung, mittels der Herrschererziehung eine Gesellschaftsänderung bewirken zu können. So gibt Eckartshausen im Vorwort an, dass sein Thema der Fürstenerziehung in der Nachfolge von Fénelons Télémaque (1699) und Ramsays Les voyages de Cyrus (1727) steht.224 Eckartshausen konnte Terrassons berühmten Roman, in dem die Titelfigur ein ägyptischer Prinz ist, im Original, in der deutschen Übersetzung von Christoph Gottlieb Wend aus den Jahren 1732–37 oder in der von Matthias Claudius aus den Jahren 1777–78 gelesen haben.225 Indem er an Terrasson anschließt, wird auch der Kontext einer im 18. Jahrhundert bereits breit diskutierten freimaurerischen Tradition aufgegriffen, die Eckartshausen aber zugunsten seiner Theosophie der Verinnerlichung transformiert. Von weiterem Interesse ist, dass in Eckartshausens Roman der indische Königssohn Kosti und sein Gefährte Gamma auf ihrem Lehrpfad in die unterirdischen Anlagen zu einer religiösen Erkenntnis gelangen, die sie vom gegenständlich-sinnlichen Polytheismus zum philosophisch-abstrakteren Monotheismus führt. Die Hieroglyphen sind eng mit diesem Lehrprogramm der Fürstenerziehung verwoben. Den Initianden werden die Hieroglyphen am Ende eines immer weiter in die „innersten Geheimnisse“ führenden „mystischen Weges“ gezeigt, werden dann aber plötzlich vernichtet: sie „verbrennen“. Einerseits steht diese Verbrennung für ein Stadium der geistigen Erkenntnis, das auf sinnliche Zeichen verzichten kann, wobei paradoxerweise das Feuer selbst als sinnliches Zeichen gilt. Wenn Eckartshausen die sinnbildliche Belehrung im Weiteren keinesfalls aufgibt, so erscheint das zwar gegenüber der Entwicklung seiner Romanpersonen inkonsequent, ist aber im Verhältnis zu seinen Leser zwingend. Im Spannungsverhältnis von Esoterik und Exoterik musste Eckartshausen davon ausgehen, dass seine Leser noch nicht soweit geläutert sind wie Kosti und Gamma. Zudem ist sein Vermittlungsmedium „Roman“ auf Konkretion angewiesen, wenn die Handlung nicht in abstrakte Beschwörungen münden soll. Die Einweihungsszenen werden mit großartigem Personal und Pomp zelebriert und erinnern mit ihren magisch-spukhaft erscheinenden, dann plötzlich wieder ab-
224 Vgl.
zu diesem Roman im Einzelnen Linda Simonis: Arkanmodell und aufklärerisches Erziehungskonzept. Jean Terrassons Sethos. In: Dies.: Die Kunst des Geheimen. Esoterische Kommunikation und ästhetische Darstellung im 18. Jahrhundert. Heidelberg 2002, S. 187–215 (= Kap. 3.1.). Zur Bedeutung des Romans im Diskurs der ägyptisierenden Freimaurer, vgl. Florian Ebeling: Die Zauberflöte als Mysterienoper und die „Ägyptische“ Freimaurerei. In: Quatuor Coronati 43 (2006), S. 67–84. 225 [Jean Terrasson:] Abriss der wahren Helden-Tugend, oder Lebens-Geschichte des Sethos, Königes in Egypten. Aus geheimen Urkunden des alten Egypten-Landes gezogen und nach der frantzösischen Übersetzung eines griechischen Originals verteutschet von C.G.W. [d.i. Christoph Gottlieb Wend]. Hamburg: Thomas von Wierings Erben, Leipzig: Philip Hertel, 1732–37 (ND 1969). Geschichte des ägyptischen Königs Sethos. Aus dem Französischen übersetzt von Matthias Claudius. Breslau: Löwe, 1777–78.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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brechenden oder umschlagenden Szenen an die Zauberflöte von Mozart und Schikaneder, die ebenfalls von Terrassons Roman Sethos beeinflusst ist.226 Auch die Zauberflöte setzt eine freimaurerisch inspirierte Hieroglyphik und Allegorik ein; auch sie spielt teilweise in unterirdischen Gewölben. Jan Assmann hat die kryptische Tiefe dieser „hieroglyphischen Oper“ in ihrer kulturgeschichtlichen Symbolik interpretiert. Das Unterirdische sowie das Hieroglyphische seien die Formen, in denen „das alte Ägypten im kulturellen Gedächtnis des Abendlandes präsent und virulent“ war: „im Zustand halber Vergessenheit […], als eine sich in undurchdringlichem Dunkel verlierende Tiefendimension der eigenen Vergangenheit […].“227 Diese symbolische Präsenz einer menschheitsgeschichtlichen Vergangenheit überlagert sich allerdings mit fantastischen, aus der eigenen Gegenwart stammenden Umbesetzungen: Die inszenierte ägyptische Antike wird in den kryptischen unterirdischen Anlagen der Pyramiden mit den Ängsten und Symbolen der Gegenwart verschränkt. Stärker noch als bei Mozart/Schikaneder steht die Unruhe des revolutionären Europa im Hintergrund, wogegen im Roman die Initiation als Einsatz gegen das Böse und den Unglauben aufgeboten wird. Es zeigt sich, dass der Weg der religiös gestimmten Erkenntnis von Indien über Ägypten in das von Revolution und Atheismus beunruhigte Europa führt, auch wenn Schauplatz und Zeit im antiken Indien und Ägypten verbleiben. Eckartshausen setzt dabei das Hieroglyphische explizit und implizit ein. Den Initianden Kosti und Gamma wird (nach überstandener Todesangst, vielen weiteren Schreckensszenarien und Prüfungen) an einem schon fortgeschrittenen Punkt ihres mystischen Wegs in die räumliche und zeitliche Tiefe228 eine allegorisch zu verstehende Ritterrüstung angepasst: der Helm als „Verstand“, der Panzer als „reiner Willen“, das „flammende Schwerdt“ als Zeichen einer „rastlosen Thätigkeit“, der sie sich von nun an widmen sollen. Ihr seid Ritter des Innern; – euer Helm ist euer Verstand, der flammende Busch […] ist euere Klugheit – Der Panzer ist euer Herz – die Undurchdringlichkeit, die euch schützt, euer Wille – das flammende Schwerdt ist euere Thätigkeit, und seine Schärfe euere Mäßigung.229
Schon in der emblematischen Allegorik wird deutlich, dass der Initiationsweg die ägyptisierende Hieroglyphik um die Gotik des Rittertums erweitert. Dieses spielt möglicherweise auch auf die martinistische Vorstellung eines primordialen Adam an, der gepanzert und bewehrt gegen das Böse ankämpfen soll. In Eckartshausens
226 Zu
Terrassons Sethos als Vorlage zu Mozarts und Schikaneders Zauberflöte, vgl. die detailreichen Hinweise in Assmann: Die Zauberflöte (wie Anm. 223), passim. 227 Ebd., S. 95. Vgl. auch S. 107. 228 Kosti gelangt nach Memphis erst, nachdem er zuvor schon Prüfungen bei einem Einsiedler abgelegt hat und von diesem mit einer Medaille ausgezeichnet wurde, die ihn als wahren „Lichtsucher“ ausweist. 229 Eckartshausen: Kostis Reise von Morgen gegen Mittag (wie Anm. 220), S. 86f.
274
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Roman wird die Rüstung später wieder abgelegt, weil die Helden, wie es in der begleitenden Allegorese heißt, „das Aeußere nicht [mehr] nöthig“ haben. Der Weg führt über sinnlich erfahrbare und emblematisch gekennzeichnete Zwischenetappen in die Abstraktion, wobei die Zwischenstufen überwunden werden müssen. Seht, alle äußere Ceremonien sind Hieroglyphen innerer Wahrheiten, wie die Körper die Hüllen innerer wirkender Kräfte sind. Der, dessen Aug sich bloß an der Außenhülle aufhält, und den Dingen die Larve ihrer Extension nicht abzuziehen weis, wird auch nie ins Innere der Natur dringen.230
Die beiden Initianden werden zu Glaubensrittern, die sich hier, wie sich im Roman erst später herausstellt, einerseits gegen den atheistischen Unglauben und andererseits gegen den Aberglauben wappnen, der die wahre Religion des Inneren verkenne. (Dazu noch später.) Die Priester, die Kosti und Gamma weihen, kündigen an, dass die hier erfahrenen großen „Wahrheiten unserer Weisheitsschulen“ leider in der Zukunft verloren gehen werden. Denn es „werden Zeiten kommen, wo alle unsere Hieroglyphen nicht mehr werden verstanden, oder sinnlich ausgelegt werden.“ Selbst die dann lebenden Priester würden ihre große Würde vergessen und „den innern Wahrheiten treulos werden“. Die „Mittel“ der Weisheitsschulen würden, anstatt die Menschen zur Wahrheit zu führen „zum Betrug“ und zur bloßen „Bethörung“ gebraucht werden. Eckartshausen fasst in seinem Roman unter den Mitteln sowohl die in Hieroglyphen gefassten altägyptischen Mysterien als auch die ebenfalls als „Hieroglyphen“ gefassten allegorisch-emblematischen Handlungen und Zeremonien. Die Sinnlichkeit dieser Zeichen wird in einer aufschlussreichen Weise mit dem vergänglichen Körper analog gesetzt: „Verschwinden werden dann alle diese äußeren Gebäude, so wie die Schönheit eines Lebenden verschwindet, wenn die Seele die Hülle verläßt, die sie beleben sollte.“231 Gültig und überdauernd ist für Eckartshausen immer nur die in den Zeichen, Bildern, Emblemen, Statuen, Zeremonien oder Inszenierungen verkörperte geistige Wahrheit. Die platonistisch aufgefasste Wahrheit bleibt auch bestehen, wenn ihr sinnliches Äußere verfällt, so wie die Seele den Körper nach dem Tod übersteht. Die „innere Wahrheit“ der Religion sei bei den Priestern dieser Initiation noch ganz und zusammenhängend. In Zukunft würde sie aber zerschlagen und aufgeteilt werden: Jeder werde nur noch ein „Bruchstück“ besitzen und jeweils diejenigen verfolgen, die ein anderes besitzen. „[…] man wird einen Sinn für die übergebliebenen Hieroglyphen suchen, die die Fleischmenschen unfähig sind zu begreifen.“232 Eckartshausen lässt sodann durch priesterlichen Mund mit prophetischem Tonfall seine Theologie des „inneren Tempelbaus“ verkünden. Mit ihr kann der drohenden 230 Ebd.,
S. 87.
232 Ebd.,
S. 88.
231 Ebd.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
275
Depravierung entgangen werden. „Unzerstörbar ist das innere Heiligthum der Wahrheit, und es wird eine Zeit kommen, worin sie ihren Tempel in dem Herzen reinerer Menschen aufbauen wird, und unzugänglich wird ihr Heiligthum jedem Profanen seyn.“233 In den Kulten, die auf äußeren Zeichen basieren, kann sich auch das Profane untermischen. In der inwendigen Herzensreligion aber gibt es keine Verstellung mehr. Bevor die Initianden Kosti und Gamma anschließend in den „großen Tempel der innern Geheimnisse“ geführt werden, singen fünfzig Jünglinge mit weißen Kleidern und Palmzweigen den Hymnus von der „Eine[n] Urkraft“. Unergründbar für den Verstand, wird ihre Wesenheit nur da, „wo wir ihre Lieb’ empfinden“, erkennbar, und dies erst allmählich „in der Zeit“.234 Die allegorischen, körperzentrierten Rituale gehen dann, wie erwähnt, trotz dieser schon vollzogenen Verinnerlichung weiter. Nicht die Protagonisten, aber die Leser sind weiterhin auf die sinnlichen Zeichen der Wahrheit angewiesen. Die Initianden Kosti und Gamma müssen daher noch den „Trank der Vergessenheit“ trinken, um die „falschen Grundsätze“, „Vorurteile und „Irrthümer der „sinnlichen Menschen“ zu verlieren.235 Danach werden sie auf weitere, längere Lehrwege geschickt, die teilweise über Reinigung, Kasteiung und Askese führen. Auch hier steht ein allegorischer Sinn im Zentrum: Der Wille zur Erkenntnis hat sich der geheimen, allem zugrunde liegenden Ordnung des Geistigen zu unterwerfen. Paradoxerweise wird dabei gerade durch den körperlichen Akt die Körperlichkeit überwunden. In diesem Kontext lernen die Initianden auch, die Naturschrift zu lesen und zu verehren. Sie erhalten folgende Anweisung: „Das Buch seiner Pflichten sey die Natur; darin lerne er lesen, denn alles in der Natur ist Buchstabe und Wort einer göttlichen Vernunft. – Er verehre, was er nicht begreifen kann, und entweihe das nie, was er begriff.“236 Der Weg geht immer noch weiter ins Innere, bis schließlich die beiden Initianden in den schon erwähnten „Tempel der Geheimnisse“ geführt werden. Er ist die letzte Station im Unterirdischen und enthält u.a. die Hieroglyphen und die Statue der Isis, der zentralen Naturgottheit. Der Isis-Tempel war schon mit Terrassons Roman vorgegeben.237 Im 18. Jahrhundert führte man die Mysterienkulte auf Ägypten zurück und fasste sie als Mysterien der Isis auf. Die Göttin und ihre Rituale waren den Zeitgenossen durch den
233 Ebd. 234 Ebd.
235 Auch
hier scheint Eckartshausen ein Thema von Terrasson zu variieren, denn in dessen Roman Sethos wird dem Titelhelden ein Trank des Vergessens, dann aber auch (im Unterschied zu Eckartshausens Roman) ein Trank der Erinnerung gereicht. Vgl. Simonis: Arkanmodell und aufklärerisches Erziehungskonzept (wie Anm. 224), S. 200. 236 Kostis Reise von Morgen gegen Mittag (wie Anm. 220), S. 93. 237 Vgl. Simonis: Arkanmodell und aufklärerisches Erziehungskonzept (wie Anm. 224), S. 198.
276
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
wiederentdeckten Isis-Tempel in Pompeji sowie die Abbildung einer Isis-Prozession in Herculaneum wieder nahegerückt. Die überlieferte Vorstellung der Isis war allerdings weitgehend hellenistisch geprägt. Eine wichtige Quelle war Apuleius’ Roman Der Goldene Esel aus dem zweiten Jahrhundert n. Chr., der im elften Buch die Einweihung seines Helden Lucius in den Isis-Kult in deren Heiligtum im Hafen von Kenchreä, südlich von Korinth, beschreibt. Die Göttin, die dem Helden zunächst am Strand erscheint, stellt sich ihm als „Mutter der Natur“, als „Herrin aller Elemente“, als „Keimzelle der Geschlechter“ vor. Sie sei „Inbegriff aller Götter und Göttinnen“; der ganze Erdkreis kenne sie unter verschiedenen Namen und wechselnden Bräuchen. Im 18. Jahrhundert war es üblich, ein naturwissenschaftliches Werk mit einer Entschleierungsszene der Isis als Frontispiz zu eröffnen, wobei die Göttin als Verkörperung der „Mutter Natur“ gesehen wurde.238 Am Beispiel des entsprechenden Titelblatts von Johann Andreas Segners Einleitung in die Naturlehre (2. Auflage, Göttingen 1754) symbolisiert die Isis dabei, nach einem Wort von Kant, „alles, was da ist, das da war und was da sein wird“.239 Kant stützte sich dabei auf Plutarch, der diese Inschrift auf dem Bildnis der Göttin zu Sais im ersten Jahrhundert n. Chr. in seinem Buch De Iside et Osiride überliefert hat. Nach Plutarch nimmt Isis unter dem Einfluss des Logos alle möglichen Gestalten und Formen an. Für das 18. Jahrhundert wurde vor allem der zweite Teil der Inschrift zu Sais bedeutsam, den Kant ebenfalls zitiert: „Und kein Sterblicher hat meinen Schleier aufgedeckt“. Segners Titelblatt stellt sich in diese Tradition: Isis bleibt in ihren Schleier gehüllt; auf diese Weise wurde die Undurchdringlichkeit der Naturgeheimnisse betont. Damit stellt Segners Frontispiz einen Gegenentwurf zu den vorangegangenen optimistischen Selbstentwürfen der Wissenschaft im 17. Jahrhundert dar, denn diese deckten den Schleier auf. Sie setzten damit auf die Kraft des menschlichen Geistes, teilweise mithilfe von Skalpell, Lupe und Mikroskop in die Geheimnisse der Natur einzudringen.240 Nicht zuletzt unter dem Einfluss der Freimaurer dringt das Motiv der verschleierten Isis in die Literatur ein, in der es während der Klassik und Romantik weit verbreitet
238 Vgl.
Christa Lichtenstern: Metamorphose in der Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts. 2 Bde., Weinheim 1990–1992. Bd. 1: Die Wirkungsgeschichte der Metamorphosenlehre Goethes. Von Philipp Otto Runge bis Joseph Beuys, S. 29. 239 Vgl. Kant: Kritik der Urteilskraft. Erster Teil, Erster Abschnitt, Zweites Buch, „Deduktion der reinen ästhetischen Urteile“, § 49: „Von den Vermögen des Gemüts, welche das Genie ausmachen“. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Wilhelm Weischedel. Bd. 8. (4. erneut überprüfter reprogr. Nachdr. d. Ausg. Darmstadt 1957). Darmstadt 1975, Zitat S. 417: Fn. Vgl. dazu Pierre Hadot: Zur Idee der Naturgeheimnisse. Beim Betrachten des Widmungsblattes in den Humboldtschen „Ideen zu einer Geographie der Pflanzen“. Wiesbaden 1982, S. 11. 240 Vgl. etwa die Titelblätter von Blasius Anatome animalium (1681) und Anton von Leeuwenhoeks Arcana Naturae Detecta (1695). Vgl. dazu Pierre Hadot: Zur Idee der Naturgeheimnisse (wie Anm. 239, S. 9), dessen Interpretation ich hier folge.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
277
war.241 Mit dem Schleier der Isis wird dabei nun weniger das besondere Problem der Naturerkenntnis als das allgemeinere der Wahrheitserkenntnis angesprochen. Die bekanntesten Darstellungen sind wohl Schillers Gedicht „Das verschleierte Bild zu Sais“, das 1795 zeitgleich mit Eckartshausens Initiationsroman erschien, sowie Novalis’ späteres Fragment Die Lehrlinge zu Sais von 1802. Eckartshausen inszeniert und erörtert in seinem Roman am Beispiel der Isis sowie ihrer Mysterien ein mit dieser Wahrheitserkenntnis verbundenes neuplatonistisches Grundproblem, wie es von Plutarch über Philo von Alexandria bis zu Jamblich immer wieder behandelt wurde: das Prinzip, dass die (platonistisch gefasste) Wahrheit an sich ein Geheimnis darstellt, welches in der Welt der sinnlichen Erkenntnis immer nur in Bildern, Mythen, Allegorien, Rätseln zu fassen ist.242 Damit ist angesprochen, was Eckartshausen im Anschluss an die bereits sehr ausgedehnte Semantik der Neuzeit „Hieroglyphe“ nennt. Kostis Initiation dient dieser Erkenntnis. Zwar bleibt die Isis bei Eckartshausen ungenannt, sie wird aber auf dem Titelblatt in einer Vignette abgebildet (vgl. Abb. 19). Im Allgemeinen wird Isis in der Bildkunst des 18. Jahrhunderts – neben der genannten Tradition der entschleierten/ verschleierten Göttin aus Sais – nach dem Vorbild der Tempelstatue der Artemis von Ephesus präsentiert. Man schloss damit an eine längst eingebürgerte Verschmelzung der ägyptischen Isis mit der Artemis (bzw. Diana) von Ephesus an, die bis in die ersten Jahrhunderte nach Christus zurückreicht. Die Artemis aus Ephesus war als vielbrüstige Gottheit ausgestattet, die besonders in der unteren Körperhälfte ringartig von verschiedenen Tiergestalten umgürtet ist. In dieser Form wird die Göttin etwa in einem Frontispiz zu Linnés Systema Naturae zum allegorischen Sammelpunkt der morphologischen Vielgestaltigkeit einer um sie herum in paradiesischer Eintracht versammelten Tierwelt.243 Eckartshausen bildet die Isis in Abwandlung der Tempelstatue von Ephesus vierbrüstig, aber ohne die Tiergestalten und mit zurückgezogenem Schleier ab. Die Göttin, eine sich nach unten verjüngende Statue in Form einer Herme mit lebendig erscheinendem Oberkörper, hält einen waagerechten Mess-Stab in den Händen. Er symbolisiert das „Maas der Natur“, das Eckartshausen in der zugehörigen Bildunterschrift auch als innere Bezogenheit von „Gesetz – Mittel – Zweck“ zusammenfasst. Damit soll die Göttin Isis die Theosophie der harmonischen kosmischen Ordnung repräsentieren.
241 Zur Verbreitung
des Motivs in bildender Kunst und Literatur: Alexander Gode-van-Aesch: Natural Science in German Romanticism, New York 1941, S. 97ff. 242 Vgl. Assmann: Die Zauberflöte (wie Anm. 223), S. 118. 243 Carl von Linné: Systema Naturae. Bd. 2. Halle 1760.
278
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Abb. 19: Titelblatt mit der Darstellung der Isis. Aus: Karl von Eckartshausen: Kostis Reise von Morgen gegen Mittag.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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In der Romanszene, die im „Tempel der Geheimnisse“ spielt, in dessen Mitte die Statue der Isis steht, wird die Harmonie durch Licht und Räucherwerk sowie durch die beteiligten Künste von Musik und Gesang erzeugt. Alle Sinne werden angesprochen, dies jedoch in einer Steigerung bis zur Betörung. Tausend Lampen von Crystall erleuchteten ihn, und in den Gläsern von verschiedenen Farben widerstralte der Glanz von neuen Lichtern, und der Schimmer war über alle Beschreibung. Mitten im Tempel glänzte in einem prächtigen Edelstein das Sinnbild der Gottheit und der Natur. Wohlriechende Rauchwerke stiegen auf und bildeten ringsumher eine Art von Wolkensäule. Die schönste Harmonie musikalischer Instrumente entzückte das Ohr, und bezaubernde Stimmen sangen in einiger Entfernung Lieder voll göttlicher Melodien.244
Nachdem die beiden Initianden sich noch einmal unter Ablegung der Kleider rituell gewaschen und neue, abermals allegorisch zu verstehende Kleider angelegt haben, welche die „Aufrichtigkeit des Herzens und die Standhaftigkeit“ anzeigen, führt man sie in die „Mitte des Tempels“, um ihnen dort die „herrlichsten Statüen [sic.] der Götter – die Sinnbilder der Natur und die Hieroglyphen der Mysterien“ zu zeigen. Als sie aber anfangen, die Pracht zu bewundern, erschallt eine Stimme: Sterbliche! erinnert euch, daß alles Aeußere Sinnbild des Innern ist – alles Aeußere ist vergänglich, und den Gesetzen der Zeit unterworfen. – Das innere Heiligthum der Weisheit ist das Herz des Menschen – von der Gottheit beseelt – und dieses ist der Tempel, worin die Einheit thront.245
Bei diesen Worten bricht der ganze „Tempel der Geheimnisse“ zur allegorischen Bekräftigung des verkündeten Lehrinhalts zusammen – eine Zurücknahme der Sinnlichkeit, wenn auch der Zusammensturz selber ein sinnliches Spektakel ist. Und es wird in Erinnerung gebracht, dass das Ziel die Abstraktion sei. Es […] erloschen die Lampen, der Glanz des Tempels verschwand allmählig, die Statüen [sic.] stürzten zu Boden, die Hieroglyphen wurden vom Feuer verzehrt, die Erde bebte, die Hallen des Tempels stürzten ein, und schienen unter ihren Trümmern die Priester und Eingeweihte [sic.] zu begraben.“
Unvermutet ändert sich die Szenerie nochmals grundlegend. Die Initianden werden in den unterirdischen Kammern nicht lebendig begraben, sondern stehen plötzlich in einem „anmuthsvollen Garten, der einem Elisium glich.“ Schon in der griechischen Mythologie war das Elysium die „Insel der Seligen“, auf die jene Helden entrückt wurden, die die Unsterblichkeit oder die Liebe von den Göttern geschenkt bekommen hatten. Auch in Terrassons Roman Sethos sah der Held in der letzten Stufe ein „Elysium“, das allerdings im Unterirdischen angelegt war. Ihm korrespondierte zudem ein Strafgericht, das bei Eckartshausen fehlt.246 Bei Eckartshausen scheinen die Helden hingegen im Freien zu stehen. Sie sind am Zielpunkt ihrer mystischen Reise 244 Eckartshausen:
Kostis Reise von Morgen gegen Mittag (wie Anm. 220), S. 93f. S. 94f. 246 Vgl. Ebeling: Die Zauberflöte als Mysterienoper (wie Anm. 224), S. 75. 245 Ebd.,
280
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
von „Morgen gen Mittag“: „Die Sonne stund senkrecht am Mittag“. Die Sonne wirft keinen Schatten und „alle Priester waren gleich gekleidet, wie die beiden [nunmehr] Aufgenommenen.“ Ab jetzt, erklärt der Priester, ist die „Zeit der Illusionen […] verschwunden; hier kann kein Betrug herrschen, sondern nur Wahrheit.“ Die Initianden sind im „Innern des Heiligthums“. Hier sind – wie es schon die Kleidung verrät und nun explizit verkündet wird: „alle Menschen gleich“. Wiederum inszeniert Eckartshausen eine Symbolik der Gleichheit, die als theosophische aber im Gegensatz zur Gleichheitsvorstellung der rationalen Aufklärung steht. Gott, die Natur und der Mensch werden zusammengeführt. Entsprechend wird in einem Lied verkündet: Gott, das Gesetz, das uns regiert, die Natur, das Mittel, der Mensch, der Zweck.247
In einer längeren Predigt wird erklärt, dass Kosti und Gamma danach trachten sollen, „ein lebendiges Organ der Gottheit zu werden“. Die Grundsätze der „gleichen Menschenachtung“ sollen beachtet werden und der Mensch solle nicht störend in die von Gott gesetzten und nur ihm einsehbaren Zwecke der Natur eingreifen. Das Fest der Neugeburt schließt sich an, denn Kosti und Gamma sind nun eingeweiht. Doch die eigentlichen, höheren Lehrjahre stehen den beiden noch bevor; das Ziel der Abstraktion ist noch fern. Die eingeweihten Helden bleiben noch fünf Jahre zum Studium bei den Priestern in Memphis, die sie die „höchsten Geheimnisse von Gott, dem Geist des Menschen und der Natur“ lehren.248 Je länger und konsequenter das Studium betrieben wird, umso mehr entfernen sich die Initianden vom einfachen Menschen und wachsen in eine Priesterrolle hinein. Alle in der Initiation gesehenen „Götter und Halbgötter“ seien „mit der Zeit von dem unwissenden Pöbel vergöttert worden“, obgleich sie nur „Bilder höherer Kräfte oder tugendhafter Männer waren, deren Andenken man noch feyerte, um ihre Handlungen nachzuahmen.“ Die Menschen hätten jedoch „die reine Idee der Gottheit“ verloren […], das Einfache vervielfältigt und alles „im Materiellen“ gesucht.249 Weil „ein großer Teil der Menschheit unfähig“ sei, „das Einfache der Gottheit zu begreifen“, sei es „nothwendig, daß man ihnen, damit die Idee einer höhern Kraft nicht ganz erlösche, sinnliche Bilder darstelle, die ihrer Gebrechlichkeit und schwachen Vernunft angemessen sind.“ Während „der Weise“ nur „sein Herz“ zum „Richter“ nötig habe, müsse man „den rohen Haufen“ durch „die Idee einer rächenden Gottheit“ „im Zaum“ halten.250
247 Eckartshausen: 248 Ebd.,
S. 98.
250 Ebd.,
S. 98f.
249 Ebd.
Kostis Reise von Morgen gegen Mittag (wie Anm. 220), S. 95.
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
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Im Roman ist der Königssohn Kosti dazu bestimmt, „Völker zu regieren“. Er wird in den staatspolitischen Nutzen der Religion eingeweiht, der schon von Warburton herausgestellt wurde und von Eckartshausen auch in seinen erwähnten politischen Schriften von 1791 vertreten wurde. In seinem Roman berührt Eckartshausen an dieser Stelle auch die von Warburton mit Bezug auf Clemens von Alexandrien eingeführte Unterscheidung von kleinen und großen Mysterien. Während die kleinen Mysterien dem Volk offenstanden und – im Rahmen des staatstragenden Polytheismus – die Unsterblichkeit sowie die jenseitige Vergeltung lehrten, waren die großen Mysterien nur wenigen Auserwählten vorbehalten. Dieser Elite wird der fiktive Charakter der vielen Gottheiten beigebracht: Sie seien für das Volk nötig, doch gebe es in Wirklichkeit nur eine einzige „All-Gottheit“, die aus sich selbst heraus besteht und der alle Dinge ihr Dasein schulden. Im Unterschied zum berechnenden Herrschaftswissen bei Warburton werden in Eckartshausens Roman die großen Mysterien zu einer philosophischen Herzensreligion verinnerlicht. Kosti lernt, dass die Religion „die Seele der Staatsverfassungen ausmachen muß, denn diese müssen verhältnismäßig für die zeitliche Glückseligkeit der Menschen sorgen, wie die Religion für ewiges Wohl sorgt, damit alles harmonisch nach dem Zwecke der ewigen Gottheit arbeite.“251 Wie schon zuvor lassen die Priester Kosti in einem „Buch der Vernunft“ lesen, das ihm einen Blick in die Zukunft eröffnet: in ihr ist die zeitgenössische Aufklärung bereits Geschichte. In Eckartshausens Sicht war die Aufklärung „übelverstanden“, weil sie „in ungebildeten Herzen“ einen „Hang nach Freyheit“ und „nach Glückseligkeit […] aufkeimen“ ließ, der auf „Irrwege“ führte.252 Die Leidenschaften haben geherrscht, es kam zu Parteiungen: zu „geheimen Sekten und Faktionen[,] aus den[en] verdorbene(n) Regierungsverfassungen […] erzeugt“ wurden.253 An dieser Stelle zeigt sich, dass Eckartshausen seinen antikisierenden Initiationsroman aus der Warte der Revolutionskritik schreibt: „Für wahre Aufklärung und wahre Religion empfänglich“ bleibe nur der kleinste Teil der Menschheit; „der große Haufe“ teile sich dagegen in „zwo fürchterliche Kräfte […] – in die des Unglaubens und in die des Aberglaubens“. Der Unglaube würde „alles über einander werfen, Thronen zusammenstürzen und Altäre vertilgen“. Der Aberglauben wäre zwar ein Gegenmittel gegen die wachsende Macht des Unglaubens, würde aber seinerseits „die Völker in Dummheit“ halten und „durch einen unbeschreiblichen Druck das Feuer des Unglaubens nähren“.254 Angesichts der doppelten Gefahr von umstürzlerischem Atheismus und fanatischem Aberglauben legitimiert sich der Mittelweg einer ins Innere zurückgenommenen Herzensreligion. Sie soll vermeiden, dass das Wesen des Göttlichen mit den 251 Ebd.,
S. 101. S. 104. 253 Ebd., S. 105. 254 Ebd., S. 105f. 252 Ebd.,
282
D. Die Hieroglyphe als Abglanz des Göttlichen in theosophischen Konstruktionen
Zeichen seiner Verehrung verwechselt wird, konkret also den Götterbildern, Hieroglyphen, Zeremonien einschließlich der auf Sinnenrausch und Betörung ausgerichteten Prachtentfaltung. Die Hieroglyphen sind – wie der Initiationsweg im Ganzen zeigt – zwar wichtige, aber nur transitorische Mittel auf einem Erleuchtungspfad, der in die Verinnerlichung führt. Die Allegorik des Romans gipfelt in der Pyramide, die gleich in mehrfacher Hinsicht für Anschlüsse an einschlägige Denktraditionen sorgt. In der Emblematik war die Pyramide längst zum geläufigen Sinnbild einer ewigwährenden Wahrheit geworden, die als monumentale Ruine aus den ältesten Zeiten Ägyptens in die Gegenwart hineinragt. Es liegt daher nahe, die Pyramide in Eckartshausens Roman als selbstbezügliche Verkörperung der Prisca theologia bzw. der Philosophia perennis zu lesen. In einer in Bewegung geratenen Welt verändert Eckartshausen aber zugleich das Motiv. Er nimmt nicht die gebaute Pyramide zum Sinnbild, in deren Tiefe die beiden Initianden noch eingeweiht wurden. Zum großen allegorischen Schlussbild wählt er vielmehr eine Pyramide, die erst noch gebaut werden soll. Nur der Grundriss ist sichtbar und wird nun mit einer Vielzahl von Werkzeugen zum Sinnbild eines künftigen Gesellschaftsaufbaus. Alles sei „Hieroglyph einer einzigen Wahrheit.“255 Das „Winkelmaaß“ etwa dafür, dass alle unsere Handlungen nach „Liebe, Wahrheit und Weisheit gerichtet werden sollen“, die „Wasserwaage“ dafür, „daß wir in den Augen Gottes alle gleich sind“, dass „der Unterschied der Stände diese innere Gleichheit nie trennen soll“.256 Es kommt zu einer geschichtsphilosophisch anmutenden Allegorisierung der Steine: Aus den rohen Steinen, die Sinnbilder der Verstandesirrthümer und der unedlen Leidenschaften seien, müssten die regelmäßigen „Quadrate zum Bau der Pyramide der Einheit gehauen werden.“257 Die Anschlüsse an das Freimaurertum sind hier überdeutlich. Kosti selbst, so die implizite Botschaft, wird als späterer Herrscher aus den überkommenen rohen Steinen das neue Königreich aufbauen. Aus diesem Grunde wird ihm nun eine „güldene Kiste“ mit dem Grundplan der wahren „Menschenregierung“ gegeben. Auf Tafeln von Perlmutt kann Kosti diesen Plan in „güldenen Buchstaben“ lesen. Damit ist der Wendepunkt erreicht, an dem die immer noch hieroglyphische Prinzen-Erziehung in die Form von begrifflich gehaltenen Anweisungen, Erklärungen und in die Lehre der Gottesprädikate übergeht. Diese Erklärungen nehmen zum Teil eine langatmig zu lesende, tabellarische Lehrform an, wie man sie als pseudo-rationale Exaktheiten auch aus den theosophischen Werken von Eckartshausen kennt. Am Ende wird Kosti beschieden, er sei nun in die „großen Geheimnisse der Natur“ eingeweiht, in die „Geheimnisse der Priesterwissenschaften und in die könig-
255 Ebd.,
S. 142. S. 142f. 257 Ebd., S. 144. 256 Ebd.,
2. Die Hieroglyphen in der Theosophie von Karl von Eckartshausen
283
liche Kunst [,] die Menschen zu unterrichten“. Kosti wird mit gotisch anmutender Ritterallegorik angewiesen: „Zieh hin, gerüstet mit den Waffen der Unsterblichkeit, und besieg die Feinde, die das Land in Besitz nahmen […] – bau das Heiligthum wieder auf, das sie entweihten“.258 In seiner Heimat Indien lenkt Kosti dann als König die äußeren Staatsgeschäfte, während sein Gefährte Gamma sich als Priester für das seelische Wohl der Menschen einsetzt. Kosti und Gamma gehen nach Indien, vom symbolischen Mittag zum „Morgen“ zurück. Die deutschen Leser aber, die ihre Initiation begleitet haben, dürfen die Botschaft auf die Situation ihrer Zeit nach der französischen Revolution beziehen.
258 Ebd.,
S. 159.
Zusammenfassung
Diese Studie geht davon aus, dass der begriffliche Gegensatz von Aufklärung und Esoterik eine Projektion aus späterer Zeit auf eine komplexere Geschichte ist. Zwar lässt sich idealtypisch feststellen, dass Aufklärer und Esoteriker in gegensätzlichen Epistemen denken: Während die Aufklärung kausal argumentiert und als Kriterium die empirische Nachprüfbarkeit ihrer Aussagen einführt, verbinden die Esoteriker das Irdische und das Spirituelle nicht mittels einer nachprüfbaren Kausalität. Ihre Konstrukte basieren vielmehr auf Analogie und Korrespondenz. Faktisch findet sich aber auch bei den Aufklärern vielfach analogisches Denken. Am Beispiel des Hieroglyphendiskurses zeigt sich, wie offen die Suchbewegungen zur Erhellung des bislang Unbekannten angelegt waren, wie sehr aber auch die rätselhaft erscheinenden Hieroglyphen Widerstand gegen ihre Enträtselung leisteten. Dieser Widerstand war in den unterschiedlichen Fachrichtungen verschieden groß. Während der historischen Sprachforschung (erst im anschließenden 19. Jahrhundert) der Durchbruch zur Entschlüsselung der ägyptischen Hieroglyphen gelingen sollte, standen die geschichtsphilosophischen und theologischen Autoren des 18. Jahrhunderts mit ihrem wissenschaftlichen oder fachlichen Bezugsfeld in andersartigen Traditionen, die ihre Sicht auf die Hieroglyphen mitbestimmten. Die Autoren kommen teilweise zu parallelen oder vergleichbaren Antworten, kommunizieren aber nur partiell miteinander, so dass keine Kontinuität der Auseinandersetzung entstand, die zu einer Verbindlichkeit des Hieroglyphenbegriffes hätte führen können. Ebenso verhält es sich mit den verwandten, oftmals in Zusammenhang mit der Hieroglyphe diskutierten Konzepten wie Natursprache, Naturschrift, Naturhieroglyphe oder Ursprache. Selbst der „Urmensch“ ist eine Annahme, die in anthropologischen oder theosophischen Konzepten erheblich divergiert. Im 18. Jahrhundert blieben besonders bei religiös beeinflussten Forschern wie Vico oder Herder Glaubenssätze unhinterfragt, die auch von Esoterikern anerkannt wurden. Doch nicht nur diese führten auf unsicheres Gelände. Angesichts der im 18. Jahrhundert nicht zu klärenden Rätsel um die ägyptischen Hieroglyphen versuchten die Autoren, zumindest den Typus der hieroglyphischen Sprach- und Denkform zu erschließen, wobei auch die betont aufklärerischen Autoren nicht ohne Spekulationen auskamen. Ein Anschluss an explizit esoterische Positionen unterbleibt aber in der Regel; nur bei Lavater gibt es partiell ein Übergreifen auf esoterisches Terrain. Die im weitesten Sinn geschichtsphilosophisch orientierten Autoren des 18. Jahrhunderts standen vor der Entscheidung, ob sie sich mit dem ungelösten Problem Hieroglyphe befassen sollten bzw. aus welcher Perspektive neue Erkenntnisse möglich wären. Für die esoterischen Richtungen galt, dass sie durch die Aberglaubens-
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Zusammenfassung
kritik der Aufklärung schon sehr früh in die Defensive geraten waren. Das magische Denken war dadurch grundsätzlich unter den Verdacht der Scharlatanerie und des Betruges gestellt worden. Saint-Martin und Eckartshausen fühlten sich genötigt, ihr Denken auf die Aufklärung zu beziehen, um in der Auseinandersetzung mit der dominanten Episteme das eigene System zu profilieren. Beide Esoteriker bemühen sich, die Existenz höherer Sinnesorgane zu beweisen, mit denen eine Kommunikation mit Geistern höherer Sphären möglich sei. In den esoterischen Diskursen, an denen partiell auch Lavater teilnimmt, stehen die Hieroglyphen daher im Grenzbereich zu diesen höheren Sphären. Auch wenn sich eine gemeinsame Definition für alle Positionen verbietet, so können doch wesentliche Gemeinsamkeiten zwischen ihnen festgestellt werden. Sie kamen für so unterschiedliche Fachrichtungen, Autoren und Glaubensrichtungen deshalb zustande, weil Hieroglyphen und Bilderschriften – über Ägypten hinaus – eine empirische Tatsache und nicht ein nur theologisches oder esoterisches Konstrukt waren. Alle Autoren, von der Aufklärung bis zur Esoterik, gehen – mit der Ausnahme von Diderot – davon aus, dass die Hieroglyphen von den dunklen Anfängen menschlicher Kultur zeugen, die mythologisch bzw. in den ältesten religiösen Überlieferungen als eine Ära beschrieben wird, in der die Menschen noch mit den Göttern verkehrten. Teils wird dieser Umgang der Menschen mit den Göttern von den Autoren kulturanthropologisch interpretiert: Die Hieroglyphen sind in diesem Sinne heilige Zeichen einer theokratischen Kultur, die sich durch Religion und Göttervorstellungen ihr Weltbild schafft. Teils werden die Hieroglyphen – in Aufnahme der hermetischen und neuplatonistischen Traditionen – zu Botschaften des Göttlichen sakralisiert. In diesem Sinne sind die Hieroglyphen ein Uralphabet des Kosmos oder/und Reste einer glanzvollen göttlichen Sprache, die die Menschen nur mit erheblichen Einbußen geerbt haben. Es gibt darüber hinaus auch die Vorstellung, dass Gott sich den frühen Menschen in jener archaischen Hieroglyphensprache offenbart habe, in der sie damals selbst miteinander kommunizierten. Die ältesten Zeugnisse transportieren demnach das Göttliche in einer historischen Frühform der Sprache und Schrift; sie sind gleichermaßen göttlich wie menschlich. Diderot nimmt zwar mit seinem Desinteresse an der historischen Verankerung der Hieroglyphe eine Sonderstellung ein, doch hat auch er mit der Kunsthieroglyphe Anteil an der hieroglyphischen Tradition des Numinosen und Religiösen. Verbindend ist weiter die fallweise Verknüpfung der Hieroglyphik mit den Diskursen über Natursprache und Naturschrift. Insofern sich vorstellungsweise Gott in der Natur – und hier v.a. im Menschen – offenbart, wenn nicht sogar selbst abbildet, kann das Naturhieroglyphische in einem Prozess naturwissenschaftlicher Forschung ergründet werden. Dieser Ansatz, bei Herder in der Gottesebenbildlichkeit des Menschen mit thematisiert, strahlt v.a. in die Physiognomik von Lavater aus, die damit zum Musterbeispiel wird, wie sich Bestrebungen der Aufklärung und Szientifizierung mit Impulsen christlicher Religion und Esoterik verbinden.
Zusammenfassung
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In den verschiedenartigen Ansätzen zur Hieroglyphik durchdringen sich aufklärerische und esoterische Anteile auch deshalb, weil sie durch gemeinsame Interessen gestützt wurden. Beide Denkrichtungen berühren sich vor allem in den Konstrukten von Natursprache, vom Buch der Natur, der Lesbarkeit von Natur und nicht zuletzt in der Beziehung auf die Hieroglyphik selbst. Diese Themenfelder werden von Saint-Martin und Eckartshausen und Teilen der Aufklärung deshalb gemeinsam besetzt, weil alle hier behandelten Autoren eine je unterschiedliche Kritik der analytischen Verstandeskultur vortragen. Vico verbindet die Hieroglyphe mit dem prälogischen Denken, das sich, lange bevor die Lautsprache entsteht, in einer stummen archaischen Bildersprache ausdrückt, die von einer Mischung aus Gebärdensprache, pantomimischer Handlung und dinglichen Hieroglyphen gebildet wird. Das prälogische Potential versteht Vico nicht als defizitär zur rationalen Kultur, sondern sieht es als schöpferisch und notwendig für die Bahnung von Sprache und Wissen an. In Hieroglyphen denken und sprechen für Vico nicht nur die archaischen Menschen, sondern in der Gegenwart auch das einfache Volk und die Kinder der Kulturnationen. Das Hieroglyphische wird als Vorform oder Alternative zur begrifflich-rationalen (Laut-)Sprache diskutiert. Es wird zum Synonym einer durch Offenheit, Latenz und partielle Dunkelheit geprägten Kommunikation erweitert, die den Distinktions- und Klarheitsidealen aufgeklärter Rede geradezu entgegenläuft. Insbesondere Vico und Diderot provozieren eine kritische Erweiterung der Aufklärung: Sie wird in dieser Art Selbstkritik angehalten, die rationalistische Verengung ihres eigenen Kulturund Wissensbegriffs zu bedenken, welche andersartige Kommunikationsformen der Vorzeit und der außereuropäischen Zivilisationen sowie die Spruchweisheiten des breiten Volkes ausschließt und darüber hinaus auch die besondere Verfasstheit und Wirkungsweise der Künste verfehlt. Die Verlagerung des Hieroglyphischen in die Kunsttheorie steht auch bei Diderot in Opposition zum Analytisch-Rationalen der Aufklärungszeit. Er greift in seinem, bis in unsere Gegenwart folgenreichen Ansatz auf den Begriff der Hieroglyphe zurück, um den unaufschließbaren, nonverbalen Rest der Künste zu benennen, der sich nicht einfach in das Analytisch-Rationale übersetzen lässt. Er lässt das antiquarische Interesse an der Hieroglyphe hinter sich, um das hieroglyphische Geheimnis in die überzeitliche Aura von Kunstwerken zu verpflanzen. Saint-Martin und Eckartshausen, die beiden esoterischen Autoren, wollen dagegen nicht nur die Defizite der Rationalität ausgleichen, sondern mit Hilfe der Hieroglyphe die Grundlagen der aufklärerischen Episteme aufkündigen. Eine grundlegende Gemeinsamkeit aller Aneignungsformen des Hieroglyphischen besteht darin, dass sie mit dem Begriff eine Grenze zum Unzugänglichen markieren wollen. Die Hieroglyphe wird als Markierung zwischen dem Bekannten und dem Unbekannten gebraucht. Dabei erscheint sie je nach Disziplin und entsprechend dem historischen Kenntnisstand beweglich: Ihre Grenze wird mit dem Zugewinn des Wissens jeweils in das bisher Unbekannte hinausgeschoben. Das er-
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Zusammenfassung
klärt einerseits Unterschiede zwischen den Disziplinen – zugleich stellt sich aber die Frage nach der Bestimmung der Grenze als solcher. Ihre Beantwortung gehört zu den grundlegenden Erkenntnissen der Aufklärung, wird aber nicht explizit auf die Hieroglyphe bezogen. Kant hatte in der Kritik der reinen Vernunft begründet, dass die menschliche Erkenntnis von den apriorischen Bedingungen ihres Gegenstandes in Raum und Zeit sowie von sinnlicher Gewissheit abhängig ist. Während sich die Grenze des Wissens durch Erkenntniszuwachs verschiebt, kann die Schranke des Erkenntnisvermögens nicht überschritten werden, sodass sich, beispielsweise keine der Kritik standhaltende Gewissheit über immaterielle Wesen erzielen lässt. Weil die ägyptischen Hieroglyphen im 18. Jahrhundert noch nicht entziffert worden waren, blieb für die kulturell geformten Überlieferungen eines Göttlichen sowie die Spekulationen über die schöpferischen Potenzen der Natur und des Menschen ein dunkel bleibender Projektionsraum. Nachdem die historische Grenze des Wissens mit Hilfe des Rosette-Steins, aber auch der historischen Anthropologie sowie der Sprach- und Schrifttheorie im 19. Jahrhundert aufgebrochen wurde, blieben viele Fragen an die in der Vorzeit liegende Geschichte offen; die Grenze des Wissens war nicht aufgehoben, sondern verschoben worden. Angesichts der vorgeschobenen Grenzen des Wissens bleibt das Phänomen der Grenze als solcher bestehen. In der Folge der Kantschen Begriffsbestimmung blieben die im aufklärerischen Verständnis nicht entscheidbaren, etwa die eschatologischen Fragen, im alleinigen Zugriff der theologisch-religiösen und theosophisch-esoterischen Richtungen. Für die Esoteriker drohte diese Ausgrenzung zu einer Abdrängung zu werden. SaintMartin und Eckartshausen verstiegen sich in ihrer Gegenwehr und ihrer Suche nach Anerkennung zu dem Anspruch, die Aufklärung zu überbieten. Sie gaben vor, die epistemologischen Grenzen zugunsten des Unbegreiflichen überschreiten zu können, gleichsam die „Aufklärung“ bis ins Himmlische1 voranzutreiben. Als Esoteriker konnten sie keine unüberschreitbare Schranke des Erkenntnisvermögens akzeptieren. Für sie reicht das Jenseitige mittels des Offenbarungs-Theorems in das Diesseitige herein. Besondere Menschen, die Kundigen und die Erwählten, hätten demnach auch ein Wissen vom Überirdischen. Eckartshausen versucht darüber hinaus, Kant gegen die Aufklärung zu mobilisieren, auch wenn er sich dabei epistemologisch selbst besiegt. In ähnlichem Bezug auf die Offenbarung fühlten sich auch die religiösen Interpreten für sakralisierte Hieroglyphen zuständig. Letztere fungieren als Scharnier für den Eintritt des Heiligen in das Diesseits. Aufs Ganze gesehen, werden im 18. Jahrhundert die grundlegenden Theoreme des Hieroglyphischen abgewandelt, erweitert und neu ausgearbeitet sowie der Geltungsbereich der Hieroglyphe ausgeweitet. In starker Komprimierung lassen sich – bei
1
Ich wandle hier eine auf Swedenborg gemünzte Formulierung Friedemann Stengels ab. Vgl. ders: Aufklärung bis zum Himmel. Emanuel Swedenborg im Kontext der Theologie und Philosophie des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2011.
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aller Verschiedenheit der einzelnen Theorien – vier Hauptkomplexe unterscheiden. Unter der Leitvorstellung einer göttlichen poesis werden Traditionen der göttlichen Natur(chiffren)schrift und der göttlichen Offenbarung unter dem Namen der Hieroglyphe tradiert und abgewandelt. Unter dem Blickwinkel einer menschlichen poesis erscheint das Hieroglyphische als schöpferische Urpotenz der archaischen Völker und damit als poetische Grundlage der Urgeschichte und aller Mythen. In der Kunsttheorie und der Physiognomik überlagern sich die Vorstellungen von göttlicher und menschlicher poesis. In den Künsten grenzt die menschliche Schöpferkraft an das Geheimnis göttlicher poesis. In der Physiognomik rückt der Mensch als hieroglyphisches Ebenbild Gottes ins Zentrum eines neuen szientifisch ausgestalteten Interesses. Diese Breite des Hieroglyphenbegriffs entwickelt sich im 18. Jahrhundert und steht um 1800 für den Zugriff der Romantik bereit.
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Abb. 1: Giambattista Vico: Scienza Nuova, Frontispiz der Ausgaben von 1730 und 1744. Aus: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Übers. von Vittorio Hösle u. Christoph Jermann. 2 Bde. Hamburg: Meiner, 1990. Bd. 1, S. 2. Abb. 2: Herders „Schöpfungshieroglyphe“. Aus: Johann Gottfried Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hg. v. Günter Arnold [u.a.]. Frankfurt: Deutscher Klassiker Verlag. 1985–2000. Bd. V: Herders Schriften zum Alten Testament. Hg. v. Rudolf Smend. 1993, S. 179–660; S. 271. Abb. 3: Vorfassung der „Schöpfungshieroglyphe“. Aus: Herder: Über die ersten Urkunden des Menschlichen Geschlechts. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. V: Herders Schriften zum Alten Testament. Hg. v. Rudolf Smend. 1993, S. 9–178; S. 44. Abb. 4: Die Hermesbuchstaben. Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. V: Herders Schriften zum Alten Testament. Hg. v. Rudolf Smend. 1993, S. 179–660; S. 331. Abb. 5: Ideogramm für niwt: „Stadt“; Determinativ für Namen bewohnter Orte. Aus: Maria Carmela Betrò: Heilige Zeichen. 580 Ägyptische Hieroglyphen. Aus d. Ital. v. Christiane von Bechtolsheim. Wiesbaden 2004, S. 190. Abb. 6: Die Hermesleier. Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Bd. V: Herders Schriften zum Alten Testament. Hg. v. Rudolf Smend. 1993, S. 179–660; S. 318. Abb. 7: Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, ebd., S. 320. Abb. 8: Vondungs Integrationsmodell. Aus: Klaus Vondung: Herder und die hermetische Tradition. In: Jan Data u. Marian Szczodrowski (Hg.): J. G. Herders humanistisches Denken und universale Wirkung. Danzig 1997, S. 31–48; S. 41. Abb. 9: Herders Zeichnungen seiner Hieroglyphe. Aus: Herders Brief an Johann Heinrich Merck, Straßburg, 15. Okt. 1770. In: Herder: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. 12 Bde. Hg. v. d. Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1977–2005. Bd. 1 (1977), S. 261f.; S. 261. Abb. 10: Herders Parallelisierung von ägyptischen Göttern und biblischer Schöpfungshieroglyphe. Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts. In: Ders: Werke in zehn Bänden. Bd. V: Herders Schriften zum Alten Testament. Hg. v. Rudolf Smend. 1993, S. 179–660; S. 340.
318
Verzeichnis der Abbildungen und ihrer Nachweise
Abb. 11: Herders Schematisierung des Sephirothbaums. Aus: Herder: Älteste Urkunde des Menschengeschlechts, ebd., S. 460. Abb. 12: Hermetisch-alchemistische Naturdarstellung bei Kirchweger. Aus: [Anton Joseph Kirchweger]: Aurea Catena Homeri. Neue Auflage. Jena: bey Christian Heinrich Cuno, 1757; Faltblatt vor dem Titelblatt. Expl. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke, Sign.: Diez 6701. Abb. 13: Siebenerfigur in der esoterischen Anthropometrie von Elsholtz. Aus: Johann Sigismund Elsholtz’ Anthropometria, ²1663. Hier nach Ralph Häfner: Johann Gottfried Herders Kulturentstehungslehre. Hamburg: Meiner, 1995, S. 277. Abb. 14: Herders Schöpfungshieroglyphe mit hebräischen Buchstaben. Aus: Herder: Sammlungen zur Naturgeschichte und Denkart der Morgenländer, Nachlass, Staatsbibliothek zu Berlin-Preußischer Kulturbesitz. Hier nach Daniel Weidner: Hieroglyphen und heilige Buchstaben: Herders orientalische Semiotik. In: Herder Jahrbuch / Herder Yearbook, VII/2004. S. 45–68; S. 59. Abb. 15: Herders menschliche Hieroglyphe. Aus: Herder: Brief an Lavater, 25. Mai 1774. In: Ders.: Briefe. Gesamtausgabe 1763–1803. 12 Bde. Hg. v. d. Stiftung Weimarer Klassik und Kunstsammlungen. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1977–2005. Bd. 3, S. 91–93; S. 92. Abb. 16: Profillinien der Stirnen von „sehr verständigen Köpfen“ in ihrem Verhältnis zu den unteren Teilen. Aus: Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente, zur Beförderung der Menschenkenntniß und Menschenliebe. 4 Bde., Zürich, Winterthur: Bey Weidmanns Erben und Reich und Heinrich Steiner und Compagnie, 1775–1778. Bd. IV, S. 44. Expl. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke, Sign.: Nn 11692-4. Abb. 17: Vom Frosch zum Apoll. Aus: Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Schriften. Bd. V: Hundert physiognomische Regeln, mit vielerlei Kupfern. Hg. v. Georg Geßner. Zürich: Orell, Füßli u. Compagnie, 1802; Falttafeln am Ende des Bandes. Expl. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke, Sign.: Ak 1380. Abb. 18: Vom Frosch zum Mädchengesicht. Aus: Johann Kaspar Lavaters nachgelassene Schriften. Bd. V, ebd.; Falttafel am Ende des Bandes. Expl. der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke, Sign.: Ak 1380. Abb. 19: Titelblatt mit der Darstellung der Isis. Aus: Karl von Eckartshausen: Kostis Reise von Morgen gegen Mittag. Eine Reisebeschreibung aus den Zeiten der Mysterien; mit wichtigen Bruchstücken der Wahrheit belegt, und anwendbar für die Gegenwart und die Zukunft. Leipzig: bey Paul Gotthelf Kummer, 1795. Expl. der Universitätsbibliothek der Freien Universität Berlin, Sign.: 38/74/7681(4).
Namenregister
Aufgenommen sind Primärautoren, Sekundärautoren sowie historische, biblische und mythische Figuren. Abraham 21, 253 Achilles 40 Acosta, José de 59 Adam 35, 133, 192, 218, 222, 231, 244, 253 Adelung, Johann Christoph 268 Adorno, Theodor W. 17 Aglaophemus 10 Albus, Vanessa 38 Alembert siehe D’Alembert Alexander I., Zar von Russland 211, 240 Alsted, Johann Heinrich 133 Amoroso, Leonardo 18, 25, 37 Apoll 188, 190, 193, 195 Apuleius 276 Arbo, Alessandro 116 Arburg, Hans-Georg von 143f., 188 Aristoteles 97, 193, 237, 259 Arndt, Johann 252, 265 Arnold, Gottfried 266 Assmann, Aleida 1, 6 Assmann, Jan 1, 3–6, 30, 48, 50, 53f., 62, 271, 273, 277 Auerbach, Erich 13f., 37 Augustinus 241 Baader, Franz von 210f., 218, 238–240, 246 Bacon, Francis 8, 35–37, 55, 59, 63, 120, 122, 199 Baldi, Antonio 25 Batteux, Charles 125f. Baumgarten, Alexander Gottlieb 109, 152f. Benevolo, Leonardo 87 Bengtsson, Staffan 88 Benz, Ernst 146, 196, 200f. Bergé, Christine 208 Bergengruen, Maximilian 146 Bergmann, Horst 146, 196, 200f. Berlin, Isaiah 17 Biesterfeld, W. 265 Bittner, Jörg 118
Blankenburg, Martin 146, 153, 168, 172, 179 Blumenbach, Johann Friedrich 192 Blumenberg, Hans 6, 142 Bodmer, Johann Jakob 167 Boerhaave, Herman 157 Böhme, Hartmut 146, 202 Böhme, Jakob 151, 182, 208, 211, 241 Bonnet, Charles 143, 170f., 202, 267 Boulanger, Nicolas-Antoine 15 Bouvet, Joachim 78 Brednow, Walter 141, 162 Breitinger, Johann Jakob 127 Browne, Thomas 70 Brummack, Jürgen 107 Buffon, Georges-Louis Leclerc, Comte de 95, 147, 169, 177, 192 Bukdahl, Else Marie 137 Bultmann, Christoph 111 Buntfuß, Markus 91 Buondelmonti, Christoforo 3 Burke, Peter 14, 16 Busch, Werner 118 Cacciatore, Giuseppe 15, 18 Calvin, Johannes 157 Camper, Peter (auch Petrus) 190–193, 195 Campe, Rüdiger 142f. Cardanus (auch Cardano), Girolamo 150 Casaubon, Isaac 5, 28, 54, 88 Cassirer, Ernst 60, 132 Castel, Louis-Bertrand 134 Catt, Heinrich 167 Cavallaro, Frederico 105 Caylus, Anne Claude Philippe de Turbières, Comte de 77 Champollion, Jean-François 2, 4, 80, 86 Chardin, Jean Siméon 136f. Chodowiecki, Daniel 154, 176 Christus siehe Jesus-Christus Clairmont, Heinrich 161, 168
320 Claudius, Matthias 209, 217f., 272 Clemens von Alexandrien 2f., 7, 37, 49, 53, 57, 62, 65, 67, 281 Coleridge, Samuel Taylor 17 Colilli, Paul 28 Condillac, Etienne Bonnot de 3, 15, 46, 50, 55, 60f., 120–122, 129, 139, 252 Coseriu, Eugenio 40 Coudert, Allison P. 132 Court de Gébelin, Antoine 16f., 79f. Cousin, Victor 17 Cozens, Alexander 118 Croce, Benedetto 15 Cudworth, Ralph 6, 53, 81 Curtius, Ernst Robert 211 Cuvier, Georges 172 Cyranka, Daniel 45f., 54 D’Alembert, Jean le Rond 133, 148 Danilo, Andrej V. 240 Darius der Ältere 37, 49 David, Madeleine V. 1, 50 Déan, Philippe 116 De Guignes siehe Guignes Dee, John 105f. Della Porta, Giambattista 36, 145, 166, 177, 185, 194 Demetrius von Phaleron 89 Derrida, Jacques 50 Diderot, Denis 3, 9f., 15, 38, 47, 95, 98, 107, 115–139, 144, 148, 175f., 188, 198f., 201, 220, 225, 227, 230, 267, 287 Dieckmann, Liselotte 1, 4f., 18, 50, 70, 106, 115, 211 Diodor(os) 3, 30 Diogenes Laertius 237 Dohm, Burkhard 145, 172, 197 Dumont, Martine 142 Durand-Sendrail, Béatrice 116, 123 Dürer, Albrecht 4, 154, 192 Ebeling, Florian 6f., 272, 279 Eckartshausen, Karl von 9, 146, 234–283, 286–288 Eco, Umberto 4, 59, 105, 132, 142 Edler, Markus 15, 120 Elsholtz, Johann Sigismund 104 Erny, Nicola 18 Eusebius 5, 48, 81 Fabricius, Johann Albert 88 Fabry, Jacques 235
Namenregister Faivre, Antoine 12, 208, 235, 237–241, 245f. Fellmann, Ferdinand 13f., 18 Fénelon, François de Salignac de La Mothe 272 Ferdinand, Herzog von Braunschweig 210 Feuerbach, Ludwig 17, 32 Ficino, Marsilio 5f., 10, 30, 169, 260, 264 Filangieri, Gaetano 14, 16 Finetti, G. F. 15 Fischer, Rotraut 143 Fleck, Christina Juliane 88 Fludd, Robert 169 Formey 11 Forskål, Peter 89 Foucault, Michel 212 Franck, Sebastian 50 Friedrich II., König von Preußen 193 Friedrich, Michael 35–37, 59f. Fumaroli, Marc 1, 8, 127 Füssli, Johann Heinrich 161 Gabler, Johann Philipp 11 Gaier, Ulrich 1, 86, 91 Galiani, Fernando 14 Gall , Franz Joseph 142, 192 Garat, Dominique-Joseph 211 Garfagnini, Gian Carlo 6 Gatterer, Johann Christoph 72f. Gaubil, Antoine 79 Gemistos, Georgios 260 Genette, Gérard 79 Genovesi, Antonio 14 Gentile, Sebastiano 5, 10 Georgios Synkellos 5f. Gerabek, Werner E. 142 Gessner, Salomon 161 Geyer, Hermann 265 Giehlow, Karl 1, 18 Gilbhard, Thomas 18f., 25 Gilly, Carlos 5 Gockel, Heinz 110 Gode-van-Aesch, Alexander 277 Godwin, Joscelyn 7 Goethe, Johann Wolfgang von 15f., 97, 103, 143, 146, 150, 160, 166, 170, 181, 210, 235 Goguet, Antoine Yves 72, 81, 93 Goldammer, K. 237 Goldwasser, Orly 2 Göransson, Johan 78 Goritschnig, Ingrid 141 Graczyk, Annette 136, 138, 148, 175, 178
321
Namenregister Grafton, Anthony 150 Graßl, Hans 235–241, 257 Gray, Richard T. 143, 167 Greuze, Jean-Baptiste 136, 175 Grosse, W. 178 Grotius, Hugo 81 Guignes, Joseph de 79 Guyon, Jeanne Marie (gen. Madame Guyon) 181 Hadot, Pierre 260, 276 Häfner, Ralph 73, 77, 95f., 100, 103–105, 107f., 210 Haller, Albrecht von 157, 167, 169 Ham 253 Hamann, Johann Georg 3, 11, 15–17, 39, 45, 109, 111, 162–164, 182, 210, 230 Hammermayer, Ludwig 210 Hanegraaff, Wouter 11f. Hardenberg siehe Novalis Haym, Rudolf 161, 163, 165 Hegel, Georg Wilhelm Friedrich 17 Heintel, E. 242 Hellen, Eduard von der 166 Helmont, Franciscus Mercurius van 132 Helvétius, Claude Adrien 95, 107 Herder, Johann Gottfried 9f., 15–17, 38f., 47, 55, 71–113, 143, 145, 160–165, 179, 181f., 185, 188, 195, 201, 210, 213–215, 230, 235, 239, 248, 252f., 255f., 259, 263, 267, 285f. Herkules 40 Hermes Trismegistos 4f., 7, 10f., 21, 28f., 40, 54, 79, 89f., 107, 150, 253 Hermes Trismegistos/Thot 4, 94 Herodot 2, 30, 37, 60 Hofe, Gerhard vom 88 Hogarth, William 175, 178 Homer 16, 27f., 32, 34, 40, 119, 157, 166 Horapollon 3f., 18, 64, 81, 127 Horkheimer, Max 17 Hösle, Vittorio 13–15, 18, 37 Huizing, Klaas 112, 143 Humboldt, Wilhelm von 15 Hume, David 72 Hunfeld, Barbara 1, 115 Hutcheson, Francis 178 Iamblichos siehe Jamblich Idanthyrsus 37, 49 Isis 5, 227, 233, 255, 275–277, 279 Iversen, Erik 1
Jablonski, Paul Ernst 85–88, 103 Jacobi, Friedrich Heinrich 16 Jacques-Chaquin, Nicole 209, 212 Jacques-Lefèvre siehe Jacques-Chaquin Jahn, Ilse 98 Jakob 253 Jamblich (Iamblichos von Chalkis) 30, 35, 259, 277 Jaucourt, Louis de 47, 120, 149 Jean Paul (d.i. Johann Paul Friedrich Richter) 240 Jermann, Christoph 13f. Jesus-Christus 69, 78, 143, 162, 171, 182, 195, 199, 202, 207, 254, 256, 258, 262, 265–268, 270 Johannes (Evangelist) 182 Johnsson, Inge 201 Josephus, Flavius 68 Joyce, James 18 Jung-Stilling, Johann Heinrich 211, 240f. Jupiter 24, 40 Jüttner, Siegfried 120 Kant, Immanuel 97, 194, 202, 241–243, 252, 266, 276, 288 Karlsson, Thomas 78 Karsch, Anna Louisa 179, 180 Käuser, Andreas 145 Keiner, Astrid 1, 46 Kemper, Hans Georg 88, 112 Kirchberger, Niklaus Anton 239 Kircher, Athanasius 7, 49, 54, 59, 86f., 110, 227 Kirchweger, Anton Joseph 103 Kleeberg, Ludwig 239 Kleuker, Johann Friedrich 210–212, 218, 221f., 235 Klopstock, Friedrich Gottlieb 157, 166, 235 Kluxen, W. 97 Knigge, Adolph von 235 König, Peter 14, 16f. Konno, Kiwahito 209 Körner, Hans 116 Krauss,Wolfgang 142 Krüdener, Juliane (Julie) von 241 Krüger, Reinhart 18, 36 Krumme, Peter 47 Lacépède, Bernard Germain Etienne de la Ville, Comte de 123 Lavater, Heinrich 156, 188
322 Lavater, Johann Caspar 9, 112, 141–203, 210, 213, 215, 219, 234, 239, 267f., 285f. Le Brun, Charles 159, 175 Lechler, Gotthard Victor 45f. Lehmann, Hartmut 5 Leibniz, Gottfried Wilhelm 38, 167, 169, 179 Lenz, Jakob Michael Reinhold 161 Leochares 193 Léonard des Malpeines, Marc-Antoine 46f., 120 Léonard des Malpeines, Martin-Augustin 46f., 120 Leonardo da Vinci 117 Lessing, Gotthold Ephraim 45, 198 Lichtenberg, Georg Christoph 143, 175, 202 Lichtenstern, Christa 276 Linné, Carl von 194, 277 Lips, Johann Heinrich 154, 181f. Lohmann, Hartmut 155 Lombroso, Cesare 142 Lopuchin, Ivan 240, 254 Lovejoy, Arthur Oncken 96, 170 Lowth, Robert 80, 111 Lullies, Reinhard 94 Macpherson, James 77 Madathanus, Henricus (Pseud. v. Adrian von Mynsicht) 182 Mahlmann, Th. 133 Maistre, Joseph de 209, 240 Manetho(n) 5f., 30, 48, 60, 81 Marcellinus, Ammianus 3 Markner, Reinhard 235 Markschies, Christoph 206 Markworth, Tino 88f., 107 Marx, Karl 17 Maurer, Karl 143 McCalla, Arthur 205, 209 Meckel, Johann Friedrich (der Ältere) 169 Mehltretter, Florian 207–209, 212, 218f., 229 Meijer, Miriam Claude 192 Meiners, Christoph 11, 53 Melchisedek 253 Mendelssohn, Moses 45 Merck, Johann Heinrich 73, 92, 99, 107, 161 Mercurius Trismegistus siehe Hermes Trismegistos Merzbacher, Friedrich 235, 237 Merz, Richard 87 Michaelis, Johann David 80 Michelet, Jules 17 Montagu, Jennifer 175
Namenregister Montesquieu, Charles-Louis de Secondat, Baron de La Brède et de 15f., 72, 193 Moreau de la Sarthe, Jacques-Louis 188 Morgagni, Giovanni Battista 169 Morgan, Thomas 45, 51 Moritz, Karl Philipp 151f. Moscati, Pietro 107 Moses 50–52, 54, 58, 66, 82–84, 252f. Moustakas, Ulrich 109 Mozart, Wolfgang Amadeus 273 Mraz, Gerda 144 Nahon, Michelle 205 Nakai, Ayako 239f. Nate, Richard 36 Nell, Werner 23 Nestor 40 Neugebauer-Wölk, Monika 10–12, 50, 88, 235, 257, 260 Neumann, Hanns-Peter 173, 265 Newton, Isaac 156f., 169, 179, 194 Nicolini, Fausto 13f. Niebuhr, Carsten 15, 80, 89 Nisbet, Hugh Barr 78, 88, 95, 97, 100 Noah 253 Nobis, H. M. 7 Novalis (d.i. Friedrich von Hardenberg) 202f., 239, 277 Novikov, Nikolai Iwanowitsch 240 Oetinger, Friedrich Christoph 196, 201, 205 Ogonowski, Z. 258 Origenes 35, 206 Orpheus 10 Osiris 5, 255 Osten-Sacken, Friedrich von 210 Owen, Robert 97f. Paolella, Alfonso 146 Papini, Mario 18, 25 Paracelsus (d.i. Theophrast Bombast von Hohenheim) 6, 146, 265 Pasqually, Martines (auch Martinez) de 205–208, 240 Patrizi, Francesco 50 Paulus 51, 195 Paulus, Jörg 152f., 158, 240 Pernety, Antoine Joseph 145, 167–169, 179, 229 Pestalozzi, Johann Heinrich 235 Pestalozzi, Karl 144, 166 Peuschel, Christian Adam 149–151
323
Namenregister Pfaff, Ulrich 99 Philippos 3 Philolaus (Philolaos) 10 Philo(n) von Alexandria 91, 245, 277 Pico della Mirandola, Giovanni 6, 253, 260 Pirkheimer, Willibald 4 Pitt, William (der Ältere) 193 Platon 10, 35, 157, 164, 182, 259 Plotin 6, 18, 178 Plutarch 3, 85, 87, 233, 255, 276f. Pope, Alexander 151, 157 Porphyrius (Porphyrios) 62, 67, 237 Porta siehe Della Porta Portigliatti Barbos, Mario 142 Pross, Wolfgang 78 Pupi, Angelo 109 Purchas, Samuel 49, 59 Pythagoras 10, 237, 260 Rameau, Jean-Philippe 166 Ramsay, Andrew Michael 272 Raphael (auch Raffael, i.e. Raffaello Santi, gen.) 154 Reill, Peter Hanns 96, 98 Reinhold, Karl Leonhard 54 Reißer, Ulrich 11, 166, 177 Remane, A. 97 Richter siehe Jean Paul Rieger, Stefan 142 Riha, Karl 178 Robinet, Jean Baptiste 95f., 107, 143, 188, 220 Rousseau, Jean-Jacques 15, 50, 107 Roy, Marie-Luise 120 Rudolph, André 97 Rudolph, Kurt 206f., 224 Ryley, Robert M. 45f. Saint-Martin, Louis-Claude de 9, 205–234, 238–241, 244, 249, 251f., 255, 286–288 Salzmann, Rudolf 208 Sanchuniathon 81, 93, 226 Schaich, Michael 235f. Schellenberg, Johann Rudolf von 154 Schelling, Friedrich Wilhelm Joseph 45 Schikaneder, Emanuel (d.i. Johann Joseph Schickeneder) 273 Schiller, Friedrich von 53, 165, 277 Schlobach, Jochen 209 Schmidt-Biggemann, Wilhelm 10, 13f., 18, 29f., 91, 206f., 210–212, 221, 245f., 252, 259, 261
Schmidt, Johann Christian 47, 62 Schmölders, Claudia 142f., 168, 202 Schögl, Uwe 144, 188, 191, 194 Scholtz, G. 242 Scholz, Nathalie 212 Schöne, Albrecht 246 Schümmer, F. 153 Schüttler, Hermann 235 Segner, Johann Andreas 276 Senancour, Étienne Pivert de 240 Seth 93 Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper of 178 Siegrist, Christoph 144 Simonis, Linda 1, 88, 272, 275 Simon, Ralf 88 Smend, Rudolf 78, 80 Soemmerring (u.a. auch Sömmering), Samuel Thomas 191 Sokrates 164, 179 Sommer, M. 262 Sorkin, Davis 46 Spencer, John 50 Stengel, Friedemann 196 Stephan, Erik 141, 145 Steuchus, Augustinus 261 Stobaeus (Stobaios), Johannes 5 Strassec, Peter 142 Strobach, Anika 86 Struss, Dieter 240 Stumpp, Gabriele 143 Sturz, Helfrich Peter 161 Sulzer, Johann Georg 161 Summerfield, Giovanna 206, 208 Swedenborg, Emanuel 12, 146, 169, 196, 200–202, 205, 216, 241, 268, 288 Swift, Jonathan 157 Synkellos siehe Georgios Synkellos Terrasson, Jean 271–273, 275, 279 Tesauro, Emmanuele 36 Thomasius, Christian 167 Thor 78 Thot (Theut, Thoyth) 78, 85–88, 93f., 226 Tort, Patrick 46 Trabant, Jürgen 14–16, 18, 34, 37, 39, 42 Traska, Georg 143 Trepp, Anne-Charlott 5 Tunstall, Kate E. 123 Vaccaro, Domenico Antonio 25 Var, Jean-François 205f., 208 Varro, Marcus Terentius 31
324 Verene, Donald Phillip 18 Vernet, Joseph 136f. Verri, Antonio 48 Vesal(ius), Andreas 181 Vico, Giambattista 2, 9f., 13–45, 47–50, 54–58, 60–62, 67, 69, 71f., 77, 79–81, 90, 93, 108–110, 120–122, 134, 139, 199, 209, 213f., 230f., 252, 285, 287 Volkmann, Ludwig 1, 4, 18, 127 Voltaire (d.i. François-Marie Arouet) 45, 72, 208 Vondung, Klaus 88, 91f., 103 Wachter, Johann Georg 3, 76, 85, 87 Warburg, Aby 60 Warburton, William 3, 9, 10, 15, 37, 45–72, 81, 84f., 87, 102, 108–110, 120–122, 139, 199, 209, 214, 226f., 252, 281 Weber, Wilhelm Ernst 13 Wechsler, Judith 142 Wehr, Gerhard 206f., 209–211 Weidner, Daniel 105 Weigelt, Horst 160, 196
Namenregister Weigel, Valentin 265 Weishaupt, Adam 53, 235, 257, 268 Weiss, Hans-Friedrich 206 Wend, Christoph Gottlieb 272 Willems, Gottfried 136 Winckelmann, Johann Joachim 72, 77, 94–96, 192f. Woidich, Stefanie 17 Wolff, Christian 38, 167 Wolf, Friedrich August 16 Wolf, Gerhard 143 Wolfstieg, August 208, 238 Wundt, Wilhelm 60 Wyder, Margrit 96 Zarathustra (Zoroaster) 10, 21, 29, 78, 82, 237, 253, 260 Zelle, Carsten 178 Zimmermann, Johann Georg 158, 160, 167, 196, 239 Zimmermann, Rolf Christian 146, 212 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig von 181 Zwingli, Huldrych 157, 181