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German Pages [233] Year 2017
Beiträge zu Evangelisation und Gemeindeentwicklung Herausgegeben von Michael Herbst / Jörg Ohlemacher / Johannes Zimmermann
Band 24 Michael Herbst Aufbruch im Umbruch
Michael Herbst
Aufbruch im Umbruch
Beiträge zu aktuellen Fragen der Kirchentheorie
Vandenhoeck & Ruprecht
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-7887-3214-1 Weitere Angaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de 2018, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstr. 13, D-37073 Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlaggestaltung: Andreas Sonnhüter, Niederkrüchten Satz: Felix Eiffler Hubert & Co. GmbH & Co. KG, Robert-Bosch-Breite 6, D-37079 Göttingen
Vorwort Im dankbaren Gedenken an Manfred Seitz (1928-2017)
Ihr viel beachtetes und inspirierendes Buch zur Weiterentwicklung des kirchlichen Lebens überschrieb Isolde Karle mit dem Titel „Kirche im Reformstress“.1 Die Bochumer Praktische Theologin stellte 2010 wesentliche Aspekte einer evangelischen Kirchentheorie zusammen und setzte sich kritisch mit dem Reformprozess auseinander, der unter der Ägide von Wolfgang Huber in der EKD in Gang gebracht worden war. Um diesen Reformprozess ist es inzwischen deutlich stiller geworden. Aber reformiert wird in der Evangelischen Kirche weiterhin unverdrossen. Wie aber soll die Reform der Kirche vonstatten gehen? Isolde Karle kritisierte vor allem die „Selbstentwertung“2, die mit den Reformbestrebungen einhergehe. Man sei einfach unzufrieden mit der Kirche und nicht zuletzt mit den Pfarrerinnen und Pfarrern. Das Gelingende werde nicht genügend gewürdigt. Und im Übrigen sei die protestantische Haltung gegenüber der Kirche wieder einmal nicht gerade von Gelassenheit und Vertrauen auf Gott geprägt. Umso mehr traue man den Reformen zu, als sei die Kirche durch Reformen tatsächlich so leicht zu steuern. Dabei binden Reformen viele Kräfte und überschätzen „Planbarkeit und Steuerbarkeit“3 der Kirche. Zwar will auch die Praktische Theologin aus dem Ruhrgebiet nicht völlig auf Reformen verzichten, aber man spürt den Vorbehalt gegenüber der Kirchenreform deutlich. Dieser Vorbehalt fand sich aufs Neue in einem Artikel des FAZ-Redakteurs Reinhard Bingener im Juli 2017.4 Der Tenor dieses Artikels war eindeutig: ein Plädoyer für die traditionelle, parochial organisierte Kirchengemeinde und für den traditionellen Dienst der Pfarrerinnen und Pfarrer. Dabei wird auch Isolde Karle zitiert: In den örtlichen Gemeinden laufe doch vieles gut. Die aber sieht der Journalist bedroht, vielleicht nicht in Württemberg, aber sicher doch im Osten der Republik, wo schon so viele Pfarrstellen gestrichen worden seien. Am Ende werden alle möglichen Veränderungen extrem kritisch beäugt: die Anregung, Pfarrerinnen und Pfarrer in Teams zusammenzufassen (das 1
Vgl. Isolde Karle 2011. Vgl. zu den folgenden Hinweisen (einschließlich des zitierten Begriffs) Ibid., 74. 3 Vgl. Ibid., 120. 4 Vgl. Reinhard Bingener 2017, 8. 2
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klappt nicht wegen der hochgradigen Individualisierung der Theologen), die Entlastung der Pfarrerinnen und Pfarrer von allzu viel Verwaltung (davon sei abzuraten, denn damit gebe man viel aus der Hand, und wer halte es schon aus, den ganzen Tag „Religion [zu] machen“), die Bildung von Profilen und Schwerpunkten verbunden mit dem Verzicht auf ein geistliches Komplettangebot in jeder Gemeinde (ein Irrweg, denn wer soll das steuern?). Der Artikel ist „Tageszeitung“, also eine Momentaufnahme, aber er dürfte vielen in der Kirche aus dem Herzen gesprochen haben und ist nicht untypisch für eine eher strukturkonservative Richtung in der evangelischen Kirche. Der Artikel lässt den Leser zugleich etwas ratlos zurück. Was denn nun? Wenn das alles nicht geht, was dann? Einfach „weiter so“? Einfach „weiter so“ kann aber kaum funktionieren. Denn unsere Evangelische Kirche steht seit geraumer Zeit erheblich unter Stress. Den Stress bereiten auch nicht vorwiegend die Reformen, die hier und dort in Gang gebracht wurden, so berechtigt die Kritik an ihnen im Einzelnen auch sein mag. Stress entsteht für die Kirche, weil sie sich in einem ganz erheblichen Transformationsprozess befindet. Und es wäre naiv, die damit verbundenen Abbrüche nicht zur Kenntnis zu nehmen: Abbrüche im Mitgliederbestand: Seit 1968 haben die großen Kirchen einen erheblichen Anteil ihrer Mitglieder verloren. Zwar gibt es immer noch in beachtlicher Zahl Menschen, denen die Zugehörigkeit zur Kirche und der christliche Glaube viel bedeuten, ebenso wächst aber auch die Zahl derer, die mit dem Glauben und der Kirche wenig bis nichts anzufangen wissen. Gerade da, wo nur eine schwache Bindung zur Kirche existiert, wirkt sich diese in der Generationenfolge fatal aus. Häufig wird die Bindung einfach von Generation zu Generation immer schwächer, da distanzierte Eltern gerade ihre Distanz erfolgreich an die Kinder weiter vererben. Die Kinder rücken dann noch etwas weiter an den Rand der kirchlichen Gemeinschaft, als es schon ihre Eltern waren. Die jüngste Generation der Kirchenmitglieder ist auch die distanzierteste. Abbrüche in der kulturellen Geltung: Man kann sich dabei beruhigen, dass nach wie vor christliche Feiertage den Jahreslauf prägen und bei schwerwiegenden Ereignissen öffentliche Gottesdienste gefeiert werden, dass Christen in Ethikkommissionen sitzen und Bischöfe im Fernsehen interviewt werden. Man kann sich mit gutem Grund freuen, dass an den Schulen Religion ein ordentliches Unterrichtsfach ist, dass Soldatinnen und Soldaten von Seelsorgern betreut werden und die wissenschaftliche Theologie einen guten Platz an den Universitäten einnimmt. Man kann aber auch die nachlassende Selbstverständlichkeit dieser Rolle der christlichen Kirchen wahrnehmen. Man kann die Stimmen hören, die vernehmbar nach einem Ende der kirchlichen Privilegien rufen. Sicher wird sich die Rolle der Kirche nicht von heute auf morgen radikal ändern, aber es gibt eine schleichende Erosion des öffentlichen Christentums.
Vorwort
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Nur ein Beispiel: In Karlsruhe entstand eine öffentliche Debatte, die mit einiger Heftigkeit ausgetragen wurde, als der bekannte Düsseldorfer Künstler Markus Lüpertz der Stadt, in der seine Kinder aufgewachsen waren, ein Kunstwerk widmen wollte: Er wollte U-Bahn-Stationen in Karlsruhe mit großformatigen Keramikfliesen schmücken, die die sieben Schöpfungstage darstellen.5 Nun gab es im Blick auf dieses Projekt mehr als eine kritische Anfrage, die politische Entscheidungswege betraf. Es gab aber auch eine Tonlage, die angesichts des hier verhandelten Themas aufhorchen lässt. Der Leiter des städtischen Zentrums für Kunst und Medien (ZKM), Peter Weibel, kritisierte scharf die religiöse Thematik der geplanten Bilder im öffentlichen Raum. Das sei ein rückwärts gewandtes Kunstprojekt. Die biblischen Themen seien letztlich falsche Fabeln und konfessionelle Kunst gehöre in Kirchen und nicht in den öffentlichen Raum. Ja, das ganze Projekt erinnere an den türkischen Präsidenten Erdogan, der auch aus Museen am liebsten Moscheen machen würde. Abgesehen von der Frage, ob der Karlsruher Kunstexperte nun alle von christlicher Thematik geprägten Kunstwerke aus den Museen, von den Plätzen und aus den öffentlichen Gebäuden entfernen möchte, zeigt sich hier ein Plausibilitätsverlust für das Christliche in der Kultur. Laizistische Tendenzen gewinnen hingegen an Boden.
Abbrüche in der kirchlichen Struktur: Hier nun berühren meine Beobachtungen die Sicht von Isolde Karle und Reinhard Bingener. Denn sie haben natürlich recht, wenn sie mit Sorge beobachten, dass die kirchliche Reaktion auf die Transformationskrise nicht selten vor allem aus strukturellen Rationalisierungsmaßnahmen besteht. Es wird fusioniert und zentralisiert, gestrichen und gespart. Und diese Maßnahmen werden häufig mit Blick auf Prognosen für weit vor uns liegende Zeiträume begründet und für alternativlos erklärt. Die Nebenwirkungen sind allerdings beträchtlich. Oder sollten wir gleich von Kollateralschäden sprechen? Ein solcher Kollateralschaden besteht in einer zunehmenden Belastung der Haupt- und Ehrenamtlichen in der Kirche, auf deren Schultern die Rationalisierungsmaßnahmen vor allem ausgetragen werden. Unsere Greifswalder Studie „Greifswalder Inventar Peripheres Pfarramt“ (2017) belegt dies für den Beruf der Pfarrerinnen und Pfarrer, die in großer Zahl über ein zu hohes Maß an Belastung im Beruf klagen.6 Freilich weisen Träger anderer kirchlicher Berufe und Ehrenamtliche darauf hin, dass der übergroße Stress auch an ihnen nicht vorbeigeht. Wenn man wie ich seit 1996 Studentinnen und Studenten ausbildet und dann in den Pfarrberuf gehen sieht, dann kann man nicht daran vorbeischauen, wie stark diese bereits nach wenigen Jahren belastet sind, weil z.B. die Zahl der ihnen zugewiesenen Dörfer und Predigtstätten von Jahr zu Jahr steigt. Da dies alles mit einer zunehmenden Ausdünnung der kirchlichen Präsenz vor Ort einhergeht, ist der langfristigen Wirkung tatsächlich mit Sorge entgegen zu sehen. 5 Darüber berichtete Deutschlandfunk Kultur in der Sendung „Kompressor“ am 25. Juli 2017 (14:10 Uhr). 6 Die Studie wird 2018 veröffentlicht werden. Informationen zum Studiendesign und erste Ergebnisse finden sich in: Anja Granitza, Michael Herbst, Jürgen Schilling und Benjamin Stahl 2017, 17-28.
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Rückt kirchliches Leben aus der Nähe immer mehr in die Ferne, wird es den Menschen vor Ort immer weniger plausibel sein, warum sie irgendetwas von ihrer Zugehörigkeit zur Kirche erwarten sollten. Abbrüche in der geistlichen Substanz: Dieser letzte Aspekt dürfte am meisten umstritten bzw. am wenigsten mehrheitsfähig sein. Er betrifft Aspekte, die man kaum messen kann. Er betrifft auch eine Kritik, die einzelnen Menschen in der Kirche bitter Unrecht tun könnte, die sich mit hohem Einsatz und großer Ernsthaftigkeit bemühen, das Evangelium unter den Bedingungen ihrer Lebenswelt glaubwürdig zu kommunizieren. Solches Bemühen verdient Respekt und Unterstützung. Auch das kontroverse Ringen um Inhalt und Gestalt dessen, was wir als Evangelium kommunizieren sollen, ist notwendig und nicht an und für sich kritikwürdig. Gleichwohl tut sich die Kirche zuweilen schwer, ihre Botschaft mit gelassener Selbstverständlichkeit zu bezeugen. Isolde Karle beklagt z.B. die „inhaltliche Verunsicherung in der kirchlichen Verkündigung“ und „die Moralisierung und Trivialisierung der kirchlichen Botschaft.“7 Belege dafür böten viele Kanzelreden (aber nicht alle) und kirchliche Verlautbarungen wie auch der Markt der christlichen Druckerzeugnisse. Die Debatte um das missionarische Zeugnis gegenüber Muslimen, die in der Evangelischen Kirche im Rheinland geführt wird, mag als Beispiel für die innere Verunsicherung im Zentralen gelten, die uns in der Kirche selbst erfasst hat. Das rheinische Arbeitspapier „Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen“8 hatte ja ein ehrenwertes Ziel: nämlich das friedliche Zusammenleben von Christen und Muslimen in unserem Land zu fördern. Warum man aber das Kind mit dem Bade ausschütten musste und gleich jedes missionierende, also um Glauben an Jesus Christus freundlich werbende Tun der Kirche gegenüber Muslimen in Frage stellte, vermag dann jedenfalls nicht zu überzeugen, wenn wir selbst die heilsame und Not wendende Bedeutung und Kraft der Botschaft vom für uns gekreuzigten und auferstandenen Christus ernst nehmen. Der missionarische Auftrag wird jedenfalls im rheinischen Papier auf eine innerkirchliche Angelegenheit verzwergt.9 Kurzum, die Kirche ist unter Stress. Sie verändert sich, schrumpft, schwindet, verliert an Zustimmung und Resonanz, ist verunsichert. Die Reichweite ihres Zeugnisses ist begrenzter, als uns lieb sein kann. Natürlich: Es gibt tröstliche Seelsorge und ansprechende Gottesdienste, es gibt vitale Gemeinschaften und lebenswichtige diakonische Dienste. Es gibt lebendige Hauskreise und starke Chöre. Keine Frage, aber in der 7
Isolde Karle 2011, 122. Vgl. Evangelische Kirche im Rheinland 2015. 9 Vgl. die deutliche Kritik von Henning Wrogemann, der den vollständigen Ausfall zentraler christlicher Glaubensartikel im rheinischen Arbeitspapier beklagt. Vgl. Henning Wrogemann 2016, 305-323. 8
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Summe bleibt doch die Einsicht: Wir stehen unter Stress. Es ist alles nicht mehr selbstverständlich. Niemand sollte so vermessen sein zu behaupten, nun den Generalschlüssel zur Lösung der Probleme in dieser Transformationskrise zu besitzen. Es bedarf einer intensiven Debatte über den Weg der Kirche in ihre Zukunft. Dabei sind eine Reihe von Spannungen auszuhalten (und nicht einfach zu umgehen): Dass Isolde Karle auf das Vertrauen zu Gott verweist, der seine Kirche baut und erhält, ist wesentlich und unverzichtbar. Gleichwohl gilt die Zusage (etwa in CA VII), dass es immer eine Kirche Jesu Christi geben werde, nicht bedingungslos jeder Kirchengestalt. Darum stellt sich auch die Frage, wo unsere Umkehr und Neuausrichtung gefordert sind, wenn wir ein Interesse daran haben, dass zu Gottes kirchlichen Unternehmungen auf Erden auch zukünftig die Evangelischen Landeskirchen gehören. Dass manche Strukturen zurückgebaut werden müssen, kann man ebenfalls nicht bestreiten, wenn man nicht den Kopf in den Sand stecken will. Dass wir allerdings neben dem Rückbau einen neuen Aufbruch brauchen, sollte ebenfalls nicht verneint werden. Denn noch verfügen wir über ausreichende Mittel, Neues zu wagen und wieder aufzubrechen in Lebenswelten, zu denen wir den Kontakt verloren haben. Die noch für eine kurze Weile sprudelnden Kirchensteuer-Mehreinnahmen geben uns dafür die Mittel an die Hand. Sie aus Sorge nur (in Rücklagen und Pensionsfonds) zu vergraben wie der untaugliche Knecht im Gleichnis wäre die falsche Antwort. Die Devise muss lauten: Transformation als Umbau und Aufbruch. Dass die örtliche Gemeinde ein hervorragender Ort kirchlichen Lebens ist und wir die Nähe zum Wohnort der Menschen nicht geringschätzen dürfen, sollte sich ebenfalls von selbst verstehen. Das Evangelium im Nahbereich präsent und erreichbar zu machen, ist ein wichtiger Teil des kirchlichen Dienstes. Zugleich aber bleiben uns im parochialen Lebensbereich viele Lebenswelten, Milieus, Netzwerke verschlossen. Neue Ausdrucksformen kirchlichen Lebens müssen das parochiale Basisangebot ergänzen und die Reichweite unseres Zeugnisses vergrößern. Wir brauchen eine deutsche Version der anglikanischen „mixed economy church“. Gleiches gilt für das Verhältnis von Lokalität und Regionalität. Lokalität wird dann vom Segen zum Fluch, wenn wir nur noch den eigenen Kirchturm im Blick haben, von uns selbst verlangen, an jedem Ort alles anzubieten, jeder Profilierung abhold sind und die Kooperation mit anderen nur als Last und nicht als Entlastung verstehen. Lokalität und Regionalität müssen vielmehr als regiolokale Kirchenentwicklung zueinander finden.
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Weiterhin gilt es auch die Spannung aufrecht zu erhalten, einerseits jeden Getauften als Träger der Verheißung Gottes zu achten und verschiedene Grade der Nähe und Distanz zum kirchlichen Gemeinschaftsleben zu respektieren, andererseits aber jedem Getauften zu wünschen, dass er sich das, was ihm in der Taufe zugeeignet wurde, auch persönlich aneignet und in irgendeiner Form verbindlich Teil der geistlichen Gemeinschaft der Getauften wird. Distanz zum Gottesdienst, zu Wort und Sakrament, bedeutet auf Dauer eben doch auch Distanz zum christlichen Glauben selbst. Das Modell, in kasualorientierter freundlicher Distanz zur Kirche eine tragfähige Variante protestantischen Christseins zu sehen, ist gründlich gescheitert. Der Glaube lebt von dem Wort, das er sich nicht selbst sagen kann, und das er immer wieder auch hören muss. Und er wächst da, wo der Einzelne seinen Platz als Begabter unter Begabten auch einnimmt und sich am Dienst untereinander und an anderen in irgendeiner Weise beteiligt. Menschen in unserer Kirche in jeder Hinsicht zu unterstützen, dass sie ein lebendiges und mündiges Christsein kennen und schätzen lernen, ist eine der zentralen Reformaufgaben in der Kirche. Außerdem ist die Spannung zwischen der Hochschätzung des pastoralen Dienstes der ordnungsgemäß Berufenen und der ebenso großen Hochschätzung der Charismen aller anderen Allgemeinen Priesterinnen und Priester auszuhalten. Natürlich ist der Pfarrberuf auch zukünftig ein Schlüsselberuf in der Evangelischen Kirche. Aber die Fixierung auf den Pfarrberuf ist Teil des Problems und nicht die Lösung für die gestresste Kirche. Wenn das Vorhandensein von Pfarrerinnen und Pfarrern zur Bedingung der Möglichkeit geistlicher Gemeinschaft vor Ort wird, dann führt das auf Dauer zu schlimmen Aporien: Entweder fordern wir dann die ruinöse Selbstausbeutung der kleiner werdenden Berufsgruppe der Pfarrerinnen und Pfarrer. Oder wir melden das Ende lokaler geistlicher Gemeinschaft an vielen Orten an. Die Förderung lebendigen mündigen Christseins möglichst vieler Getaufter zeigt eine Alternative auf: Sie können selbstständig geistliche Gemeinschaft vor Ort pflegen und verantworten. Pfarrerinnen und Pfarrer sind im Wesentlichen für Wort und Sakrament und für die Zurüstung der Getauften da. Schließlich gilt der Aufbruch in der Evangelischen Kirche nicht vorrangig der Selbsterhaltung. So sehr uns die Kirche am Herzen liegt, so wenig gibt es sie in unserem Land um ihrer selbst willen. Sie ist Zeugin des Evangeliums. Alles Volk soll das Evangelium hören und zum Glauben eingeladen werden (Barmer Theologische Erklärung, These 4). Alles Volk: Getaufte und Ungetaufte, Distanzierte, Ausgetretene und immer schon Konfessionslose, spirituelle Wanderer und Muslime, Menschen aus allen Mi-
Vorwort
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lieus, Suchende und Gleichgültige, Religiöse und Agnostiker, Menschen jeden Alters und jeder sozialen oder kulturellen Herkunft. Der vorliegende Band ist kein Generalschlüssel zur Lösung aller Probleme der gestressten Kirche. Manchmal haben „die Missionarischen“ den Eindruck erweckt, sie wüssten alles besser und hätten die Lösung für alle Probleme. Die Transformationskrise der Kirche ist lang anhaltend, tiefgehend und komplex. Zu ihrer Lösung braucht es die Gebete und Gedanken aller, die diese schwierige, oftmals müde, dann wieder quicklebendige und liebenswerte Kirche tatsächlich lieben. Die Beiträge in diesem Buch sind eben das: Beiträge eines missionarisch gesonnenen Theologen, der sich dieser Kirche verpflichtet sieht und für ihre Erneuerung betet und arbeitet. Im ersten Teil finden sich primär (und im Wesentlichen unveröffentlichte) akademische Vorträge, zum Teil Gastvorlesungen, zum Teil Ausschnitte aus den akademischen Lehrveranstaltungen, etwa zur Kirchentheorie und zur Deutung der Kirchenmitgliedschaftsstudien. Außerdem werden die Ansätze einer missionarisch ausgerichteten Kirchentheorie, die schon in dieser Einleitung kurz erwähnt wurden, ausführlich entfaltet. Wer diese Beiträge liest, stößt darum immer wieder auf… die evangelistische Sendung der Kirche, die Förderung des lebendigen, mündigen Christseins, die Bedeutung von Gemeinschaft für einen vitalen Glauben, die Förderung des Allgemeinen Priestertums als Heilmittel gegen die Pfarrzentrierung, das Zusammenspiel von traditionellen und innovativen Formen kirchlichen Lebens, die Chancen von Innovation gerade unter dem Stress der kirchlichen Krise, sogar in peripheren ländlichen Regionen die regiolokale Kirchenentwicklung als Ausweg aus dem Streit zwischen Ortsgemeinde und regionalisierter Kirche. Im zweiten Teil dieses Bandes finden sich einige weitere (bislang unveröffentlichte) Aufsätze und Vorträge, die sich an ein breiteres kirchliches Publikum wenden und damit für sich den Anspruch vertreten, dass wir nur im Zusammenspiel z.B. von theologisch ausgebildeten und ehrenamtlich aktiven Christenmenschen zu einer erneuerten Vision für die Zukunft der Kirche kommen können. Die Themen in diesem zweiten Teil sind ähnlich wie im ersten, aber die Beiträge suchen den Dialog auch mit denen, die aus anderen Bildungskontexten heraus ihre Verantwortung in der Kirche wahrnehmen. Während dieser Band zusammengestellt wurde, starb mein Lehrer Manfred Seitz (1928-2017), der langjährige Erlanger Ordinarius für Praktische Theologie. Er hat mich einst als jungen Theologen auf diese Fährte gesetzt und mein Nachdenken über die christliche Gemeinde in
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der Welt nachhaltig geprägt. Dieser Band ist seinem dankbaren Gedenken gewidmet. Dankbar bin ich auch für die intensive Arbeitsgemeinschaft mit meinen Kolleginnen und Kollegen am Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung der Universität Greifswald. Es ist ein Privileg mit diesem Team zu arbeiten und zu beten, zu forschen und zu lehren. Mein Dank gilt auch meinem Team am Lehrstuhl für Praktische Theologie, insbesondere den wissenschaftlich Mitarbeitenden, die dieses Buch mit konzipiert und betreut haben: Felix Eiffler und Annette Lehmann. Ebenso danke ich den studentischen Hilfskräften, die das Manuskript für den Druck sorgfältig vorbereitet haben: Matthias Trumpp, Mathea Dieker und Johann von Lehsten. Ich danke Ekkehard Starke von der Neukirchener Verlagsgesellschaft, der auch diesen Band unserer BEG-Reihe fachkundig und engagiert betreut hat, besonders aber die Brücke zum neuen Verlagshaus Vandenhoeck und Ruprecht gebaut hat. Schließlich hoffe ich, dass der eine oder andere Gedanke denen, die sich durch die folgenden Kapitel lesend durcharbeiten, einleuchtet und hilfreich erscheint. Michael Herbst Greifswald und Weitenhagen am 1. August 2017 Literatur: Bingener, Reinhard: Bleibt die Kirche im Dorf? FAZ Nr. 168 (2017), 8 Evangelische Kirche im Rheinland (Hg.): Weggemeinschaft und Zeugnis im Dialog mit Muslimen. Düsseldorf 2015 Granitza, Anja, Herbst, Michael, Schilling, Jürgen und Stahl, Benjamin: Greifswalder Studie zur psychischen und physischen Gesundheit von Pfarrerinnen und Pfarrern – Erste vorläufige Ergebnisse. In: Gesegnet und gesendet. Lebensweltliche und empirische Einsichten zur Zukunft des Pfarrberufs. Dokumentation der 3. Fachtagung der Land-Kirchen-Konferenz der EKD am 13. September 2016 in Kassel. Epd-Dokumentation 15-16 (2017), 17-28 Karle, Isolde: Kirche im Reformstress. Gütersloh 2. Aufl. 2011 Wrogemann, Henning: Wie kann ein christliches Glaubenszeugnis gegenüber Muslimen begründet werden? Missio Amoris Dei und die Frage der Anerkennung. ThBeitr 47 (2016), 305-323
Inhalt
Vorwort ................................................................................................... 5
Teil 1 Kirchentheoretische Grundlagen ....................................... 17 I.
Was sind Kirche und Gemeinde? Kirchentheoretische Definitionen ................................................. 19 1. 2. 3. 4. 5. 6.
II.
Einführung: Worum geht es? .................................................... 19 Was ist „Gemeinde“? Erste Annäherung: Verschiedene Größenordnungen ..................................................................... 24 Was ist „Gemeinde“? Zweite Annäherung: Zugehörigkeiten ........................................................................ 26 Was ist „Gemeinde“? Dritte Annäherung: Das HybridModell in der Kirchentheorie.................................................... 30 Was ist „Gemeinde“? Vierte Annäherung: Kirchenkulturen ........................................................................ 36 Zusammenfassung .................................................................... 36 Reformation re-visited. Impulse zur Erneuerung der Kirche ....... 40
1. 2. 3.
Jona – aber nur mit den Leuten aus Ninive .............................. 40 Martin Luther – aber nur im Käfig? ......................................... 46 Die Kunst der Kirchenentwicklung – aber bitte nur ordentlich? ................................................................................ 51
III. Wie die Kirche wachsen kann – und was sie daran hindert ......... 60 Zur Einstimmung: „Ein Mensch hatte zwei Söhne…“ ..................... 60 1. Dass Kirche wächst, ist ihr von Gott zugesagt ......................... 61 2. Die Erfahrung lehrt: „Hilf, Herr! Die Heiligen haben abgenommen und gläubig sind wenige unter den Menschenkindern“ (Ps 12,2) .................................................... 65 3. Geistliche Zugänge: Nüchterne Wahrnehmung und hoffnungsvolle Aufbrüche ............................................................... 67
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Inhalt
4.
Innovation in peripheren ländlichen Räumen – Wachstum, wo man es nicht erwartet hätte .............................. 72
IV. Kommunikation des Evangeliums ................................................ 79 1. 2. 3. V.
Die Kirche als Hybrid ............................................................... 79 Mission – Gemeinde ................................................................. 80 Pfingstliche Erwartung ............................................................. 86 Wie geht es der Kirche? Wichtige Ergebnisse der fünften EKD-Mitgliedschaftsuntersuchung (KMU V) ............................. 89
1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Die Verbundenheit mit der evangelischen Kirche.................... 89 Die Bedeutung der Gemeinde vor Ort ...................................... 91 Der Gottesdienstbesuch – real und symbolisch ........................ 92 Die Generationen im Vergleich ................................................ 95 Die Bestimmung des Christseins .............................................. 98 Weitere Aspekte der KMU V ................................................. 101 Die Kontroverse ...................................................................... 102
VI. Mittlere Ebene – bloß Verwaltung oder Kirche?........................ 114 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7.
Eine spartanische Ekklesiologie ............................................. 114 Kirche an vielen Orten ............................................................ 114 Ein Gespenst geht um: Regionalisierung................................ 116 Genetische Begrenzungen der Ortskirchengemeinde ............. 117 Ansätze für eine regiolokale Kirchenentwicklung ................. 118 Weitere Kriterien der Kirchenreform ..................................... 122 Worauf es ankommt: Gemeinden als Knotenpunkte in einem Netz von Gemeinden.................................................... 123
VII. Neue Gottesdienste braucht das Land. Programm und Zwischenbilanz ........................................................................... 126 Zur Einstimmung ............................................................................ 126 1. Das Programm ........................................................................ 128 2. Die Zwischenbilanz ................................................................ 134 VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen gemeindlichen Lebens ......................................................................................... 151 1. 2. 3.
Leidenschaft für das Evangelium ........................................... 152 Wachstumsfaktoren vitaler Gemeinden.................................. 154 Die Mixed Economy als Geheimnis ....................................... 158
Inhalt
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Teil 2 Anwendungen in kirchlichen Praxisfeldern .................. 169 IX. Church Planting – Was lernen wir von neuen Gemeindegründungen? ............................................................... 171 1. 2. 3. 4. X.
Was bewegt die Kirche in England?....................................... 172 Der Motor: Theologie der Mission ......................................... 172 Vier wesentliche Qualitätsmerkmale ...................................... 175 Und in Deutschland?............................................................... 176 Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?............................... 179
1.
Was haben „Attraktivität“ und „Gemeinde“ miteinander zu tun? ..................................................................................... 180 2. Gemeinde und Attraktivität – ein paar „zweite“ Gedanken ... 182 3. Wahrhaft anziehend: Jesus und die, die so gar nicht attraktiv sind ........................................................................... 185 4. Übungen in Attraktion: Was können wir denn tun? ............... 188 Schluss ............................................................................................ 192
XI. Reformen für die gestresste Kirche ............................................ 194 1. 2. 3. 4.
Kopfschmerzen mit einer Frage.............................................. 195 Das Warum: Lebendiges, mündiges Christsein...................... 198 „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“ .......... 200 Drei Aspekte, wie die gestresste Kirche ihren Kompass wieder entdeckt ....................................................................... 204
XII. „Wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein“ (J.W. von Goethe). Veränderung als christliche Tugend ............................ 212 Zur Einstimmung ............................................................................ 212 1. Was/wer sich nicht verändert! ................................................ 213 2. Ich muss nicht so bleiben, wie ich bin .................................... 215 3. Der Reiter, der Elefant und der Weg ...................................... 218 4. Wie Gemeinden sich ändern ................................................... 222
Teil 1 Kirchentheoretische Grundlagen
I. Was sind Kirche und Gemeinde? Kirchentheoretische Definitionen1
1. Einführung: Worum geht es? 1. Einführung In welchem Sinn sprechen wir von „der Gemeinde“ oder „der Kirche“? Wenn man denkt, man wüsste, was genau eine Gemeinde ist, könnte sich das als Irrtum erweisen. 1.1 Ekklesiologische Minimalauskunft Dabei gehen wir hier von einer praktisch-theologischen Perspektive aus, die sich von einer systematisch-theologischen, also vorwiegend ekklesiologischen Perspektive unterscheidet. Worum geht es in der Ekklesiologie? Da geht z. B. um das Bekenntnis (wie hier im Apostolicum): „Credo in spiritum sanctum, sanctam ecclesiam catholicam, sanctorum communio.“ Die Kirche ist ein Glaubensartikel. Und dabei ist der Glaube an die Kirche eine Konkretisierung des Glaubens an den Heiligen Geist: „Zur Präsenz des Heiligen Geistes in der Welt gehört zentral die Kirche.“2 Und von da aus ergeben sich für systematisch-theologisches Nachdenken spezifisch ekklesiologische Fragestellungen:3 Woran erkennt man denn diese Kirche? Da wird nach den „notae ecclesiae“ gefragt, den Kennzeichen der wahren Kirche. Und dann sagt man z. B. mit dem Nicänum, sie sei einig, heilig, katholisch, also weltweit und apostolisch. Wie wichtig ist die Kirche? Cyprian von Karthago sagt 215: „Extra ecclesiam nulla salus est.“ Es gibt kein Heil außerhalb der Kirche. Damit wurde die Möglichkeit, das Heil zu erlangen, streng an die Kirche gebunden. Das ist eine bis heute spannende, ja Spannungen generierende Frage: Wer ist innerhalb, was außerhalb der Kirche? Warum geht es in der Kirche manchmal so menschlich, ja manchmal so schlimm zu? Augustin hat uns beigebracht: weil wir die Kirche jetzt als unvollkommene von der vollkommenen 1 Dieser Beitrag ist ein unveröffentlichtes Kapitel aus der Vorlesung über „Missionarische Kirchen- und Gemeindeentwicklung“ in Greifswald im Sommersemester 2016. 2 Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 26. 3 Dabei folge ich, auch in allen Zitaten, der Darstellung bei: Ibid., 25-30.
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
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im Himmel unterscheiden müssen. Jetzt leben wir in einem „corpus permixtum“, da gibt es eben Sünder und Heilige. Aber was bringt denn die Kirche zum Leben? Martin Luther sagt: Sie ist ein Geschöpf des Wortes, eine „creatura verbi“. Wo das Wort der Bibel gepredigt und gehört wird, da entsteht Kirche, da dürfen wir sie erwarten und erkennen. Und darum hat auch das Augsburgische Bekenntnis von 1530 in seinem siebten Artikel gesagt: Kirche ist „die Versammlung aller Gläubigen [..], bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente gemäß dem Evangelium gereicht werden“.4 Daraus folgt eine ganze Menge: Wo das geschieht, können wir die wahre Kirche erkennen. Wo das nicht geschieht, wird Kirche unwahr. Wenn das geschieht, ist alles Nötige über die Kirche gesagt, d.h. hier stoßen wir auf eine knappe, geradezu schlanke Ekklesiologie: Mehr ist nicht nötig, alles Weitere ist nicht beliebig, aber es ist verhandelbar, wandelbar, menschlich gestaltbar. Alles andere: Strukturen, Versammlungsformen, Finanzierungen, Gebäude und Ordnungen. All das ist verhandelbar, wandelbar und menschlich gestaltbar. An dieser Stelle hört der Praktische Theologe, der es mit all diesen wandelbaren Größen zu tun hat, besonders aufmerksam zu. Neben der Unterscheidung von „wahr“ und „falsch“ gibt es noch die von „sichtbar“ und „unsichtbar“ oder besser von „sichtbar“ und „verborgen“. Und diese Unterscheidung von „sichtbar“ und „verborgen“ ist vorsichtig auszubalancieren. Sie soll zum einen sagen: Was wir als Kirche sehen, ist nicht einfach identisch mit dem Leib Christi, der verborgenen, ungetrübt herrlichen, ja makellosen Gemeinde. Aber ebenso sagt diese Unterscheidung, dass hier keine Trennung vorliegt. Die sichtbare Kirche ist zugleich der Ort, an dem die „verborgene“ Kirche verborgen ist. Die sichtbare Kirche verweist also auf die verborgene Kirche. Die Unterscheidung sichert also das Kirchenbild doppelt ab: gegen eine hochmütige Identifikation unserer Kirche mit dem Leib Christi und gegen eine spiritualistische Trennung von Kirche und Leib Christi. Ein Letztes: Die lutherische Stärke eines sehr schlanken und darum auch flexiblen Kirchenbildes kann umschlagen. So konnte man im Dritten Reich eben sagen: Alles andere als Wort und Sakrament ist nicht nur Adiaphoron, sondern wird überhaupt nicht vom Evangelium her beeinflusst, sondern der weltlichen Eigengesetzlichkeit überlassen. Dagegen protestierte die Barmer Theologische Erklärung 1934. Sie betont nicht nur stärker als das Augsburgische Bekenntnis den Gemeinschaftscharakter der
Amt der VELKD 2013, 50.
1. Einführung
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Kirche; sie sagt auch, dass die Kirche mit ihrer Botschaft wie mit ihrer Ordnung zu bekennen hat, dass Christus der Herr sei.5 „Bei strukturellen Regelungen in der Kirche ist immer zu prüfen, in welchem Maße sie dem geistlichen Auftrag der Kirche zur Bezeugung der Botschaft in einer bestimmten Situation eher förderlich oder eher hinderlich sind.“6 1.2 Intermezzo Eines ist hier wesentlich: Diese ekklesiologischen Auskünfte sichern uns einen Minimalkonsens, ab wann von einer christlichen Gemeinde oder Kirche überhaupt zu reden ist, was also Gemeinde und NichtGemeinde unterscheidet. Es gibt bestimmte Merkmale, die eine Gemeinde von einer NichtGemeinde unterscheiden! Eine Gemeinde wird nicht dadurch eine Gemeinde, dass sie ein Schild an ihr Gebäude hängt: „Dies ist eine christliche Gemeinde.“ Was aber wären dann Merkmale der Gemeinde? Machen wir zum Beispiel die Merkmale an bestimmten organisatorischen Mindeststandards fest? Dann müssten wir entscheiden, ob eine Gemeinde mindestens „gegeben“ oder auch gesund entwickelt ist, wenn sie z. B. ein Gebäude hat und dadurch zugänglich ist. Oder wenn sie einen Pfarrer hat. Oder wenn ihr Angebot dauerhaft abrufbar und verlässlich zugänglich ist. Oder wenn sie zu einer bestimmten kirchlichen Organisation gehört (und zwar möglichst zur richtigen, also zu meiner). Diese Merkmale sind an verlässlicher Zugänglichkeit interessiert. Oder machen wir die Merkmale an bestimmten geistlichen Kommunikationsmitteln fest? Das ist ein ganz typisch evangelischer Zugang. Gemeinde ist, wo das Wort nach der Schrift gepredigt wird und die Sakramente ihrer Einsetzung gemäß gereicht werden. Dann ist Gemeinde z. B. überall, wo „Kommunikation des Evangeliums“ stattfindet, im Modus des Lehrens und Lernens, des gemeinschaftlichen Feierns und des Helfens zum Leben (Christian Grethlein). 7 Diese Merkmale fragen nach den Bedingungen der Möglichkeit von Glauben und Gemeinschaft, sind aber sehr vorsichtig, Glauben und Gemeinschaft selbst zu Merkmalen der Gemeinde zu machen, weil diese ja unserem Zugriff entzogen sind. Darum fragt man nur: Wo kann ich denn hoffen und erwarten, dass Glauben und Gemeinschaft entstehen? Das Augsburgische Bekenntnis hat ja im bereits zitierten siebten Artikel sozusagen diese evangelische Wesensbestimmung der Kirche besonders klar festgehalten. „Es wird auch gelehrt, dass allezeit eine hei5
So formuliert es die dritte These der Barmer Theologischen Erklärung von 1934. Vgl. Alfred Burgsmüller und Rudolf Weth 1984. 6 Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 30. 7 Vgl. Christian Grethlein 2012a, 147.
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
lige, christliche Kirche sein und bleiben muss, die die Versammlung aller Gläubigen ist, bei denen das Evangelium rein gepredigt und die heiligen Sakramente laut dem Evangelium gereicht werden. Denn das genügt zur wahren Einheit der christlichen Kirche, dass das Evangelium einträchtig im reinen Verständnis gepredigt und die Sakramente dem göttlichen Wort gemäß gereicht werden. […] Und es ist nicht notwendig für die wahre Einheit der christlichen Kirche nötig, dass die von Menschen eingesetzten Ordnungen [wörtl.: Zeremonien] überall gleichförmig eingehalten werden, wie Paulus sagt im 4. Kapitel des Epheserbriefs [V. 5-6]: ‚Ein Leib, ein Geist, wie ihr berufen seid zu einer Hoffnung eurer Berufung, ein Herr, ein Glaube, eine Taufe‘.“8 Das ist die schlanke Ekklesiologie. Ganz wesentlich ist die Aussage darüber, was alles nicht zur Einheit der Kirche notwendig ist: nämlich fast alles andere, was hier unter den „Zeremonien“ gefasst wird, d.h. alle Gottesdienstordnungen, alle Sitten und Gebräuche, alle kirchlichen Strukturen, alle Stellenpläne und Organisationsformen, alle so sehr geliebten Traditionen. Das alles ist gut und wohl auch wichtig, aber nicht nötig. Es ist darum dem Wandel der Zeiten unterworfen. Es ist so zu gestalten, dass es dem Werden und Gedeihen der Gemeinde nicht im Wege steht. Hier geht es um die „Eröffnung einer außerordentlichen Freiheit zur kirchlichen Selbstgestaltung“.9 Nur die „inhaltliche Klarheit und kommunikative Zugänglichkeit“ 10 von Wort und Sakrament sind wirklich unverzichtbar und stehen nicht zur Diskussion, wenn denn das, was da entsteht und sich entwickelt, tatsächlich „Kirche“ sein soll. Ich glaube allerdings, dass man bei dieser schlanken Ekklesiologie nicht nur den Baum, sondern auch die verheißenen Früchte im Blick haben muss: Kirche ist da, wo Menschen hören, glauben, gehorchen, zueinander halten und miteinander anderen dienen. Darum frage ich nicht nur nach der Bedingung der Möglichkeit, sondern nach den Ergebnissen, der sichtbar werdenden Frucht von Wort und Sakrament. Kirche lebt von Wort und Sakrament – und zeigt deren ersichtliche Wirkungen, denn Wort und Sakrament sind ja wirksam! Reformierte Kirchentheorien im Gefolge von Johannes Calvin würden darauf einen stärkeren Akzent legen als lutherische Kirchentheorien, die eher die Heilsmittel betonen als die Wirkung dieser Heilsmittel. Lutherisch will man verhindern, dass der Blick wieder beim Menschen und seinen Werken hängen bleibt. Reformiert will man verhindern, dass die Heilsmittel nicht auch in ihren verheißenen Wirkungen ernst genommen werden und diese Wirkungen irgendwie als gleichgültig erachtet
8
Amt der VELKD 2013, 50. Jan Hermelink 2011, 37. 10 Ibid., 38. 9
1. Einführung
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werden könnten. Darin sehe ich eher nötige Grenzmarken zur einen wie zur anderen Seite denn wirkliche Gegensätze. So hält die Leuenberger Konkordie (1973) auch das Wort und den Glauben beieinander: „Gott ruft durch sein Wort im Heiligen Geist alle Menschen zu Umkehr und Glauben und spricht dem Sünder, der glaubt, seine Gerechtigkeit in Jesus Christus zu. Wer dem Evangelium vertraut, ist um Christi willen gerechtfertigt vor Gott und von der Anklage des Gesetzes befreit. Er lebt in täglicher Umkehr und Erneuerung zusammen mit der Gemeinde im Lobpreis Gottes und im Dienst am anderen in der Gewissheit, dass Gott seine Herrschaft vollenden wird. So schafft Gott neues Leben und setzt inmitten der Welt den Anfang einer neuen Menschheit.“11 1.3 Der Beitrag praktisch-theologischer Kirchentheorie Unsere kirchentheoretische Arbeit nimmt die Unterscheidung von „sichtbarer“ und „verborgener“ Kirche auf, setzt sie voraus und sagt: Wir beschäftigen uns vor allem mit der faktischen Kirche. Was ist hier und heute Kirche? In welchen Gestalten zeigt sie sich? Wie baut sie sich auf? Wer wirkt da? Wer leitet sie? Wer gehört dazu und wer nicht? Und wie verhält sich die Kirche, nicht nur im Binnenverhältnis ihrer Mitglieder zueinander, sondern auch im Außenverhältnis zu denen, die nicht dazu gehören? Wie können wir sie zukünftig gestalten, damit das Grundgeschehen, die Kommunikation des Evangeliums, in ihr und durch sie stattfinden kann? Das ist seit F. Schleiermacher das Themenfeld der Praktischen Theologen: Man kann etwa mit Gerhard von Zezschwitz (1876) sagen: „Praktische Theologie ist die Theorie von der fortgeschrittenen Selbstverwirklichung der Kirche in der Welt.“12 Oder man kann den Anschluss an die missionswissenschaftlich dominante Konzeption der „missio Dei“ mit Rudolf Bohren zusammen sagen: Praktische Theologie ist „Wissenschaft von der aktuellen Sammlung und Sendung der Kirche.“13 Neuere Theorien gehen allerdings darüber hinaus und sprechen dann lieber vom Christentum als von der Kirche, sodass das kirchliche Leben eine Weise des Christentums unter anderen ist, neben dem privaten und dem öffentlichen Christentum.14 Oder sie sehen Praktische Theologie als „Theorie der Kommunikation des Evangeliums in der Gegenwart“15, die es zwar nicht nur, aber doch in einem wesentlichen Teil mit der Kommunikation zu tun hat, die sich in der Sozialform „Kirche“ ereignet. Andere führen die Praktische Theologie wieder en11
Amt der VELKD 2013, 926. Gerhard von Zezschwitz 1876, 5. 13 Rudolf Bohren 1964, 9. 14 Vgl. Dietrich Rössler 1986, 58-61, vor allem aber 79-83. 15 Christian Grethlein 2012b, 5. 12
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
ger mit der Kirche und ihrer Mission zusammen: „Praktische Theologie dient der Kirche und ihrer Mission in der Welt, indem sie die gegenwärtige Situation von Kirche und Gesellschaft im Licht der Heiligen Schrift kritisch reflektiert und zu einer besseren und theologisch verantworteten kirchlichen Praxis anleitet.“16 Die Praktische Theologie betreibt jedenfalls nicht zuletzt Kirchentheorie. Ihr Interesse gilt der wahrnehmbaren Kirche in der Vielfalt ihrer Gestalten im jeweiligen gesellschaftlichen und kulturellen Kontext. Sie nimmt diese Kirche wahr, deutet kritisch, was sie sieht, hofft auf das Wirken des Geistes in dieser Kirche und gestaltet deren Leben mit dem Ziel der Entwicklung, also der besseren, gesünderen und angemesseneren Gestaltung ihres Daseins auf Erden. Und mindestens dadurch wird deutlich: Sie ist nicht undogmatisch, im Gegenteil, es ist gerade die Verknüpfung des Vorbildlichen mit dem Geglaubten, das für sie von besonderem Interesse ist. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong sagen es so: Kirchentheorie ist „jede Theologie der Kirche, die systematische und empirische Sachverhalte bewusst verknüpft.“17 2. Was ist „Gemeinde“? Erste Annäherung: Verschiedene Größenordnungen 2. Was ist „Gemeinde“? Größenordnungen Woran ist aber nun zu denken, wenn wir das Wort „Gemeinde“ hören? Was ist eine Gemeinde im Unterschied zu einer Kirche? Eine erste Annäherung hat etwas mit Größenordnungen zu tun: Wir denken bei Gemeinde an eine „Zwischengröße“ zwischen der „großen“ Kirche und den kleineren Geselligkeitsformen. In der Regel denken die meisten bei „Gemeinde“ an eine Ortsgemeinde, in den meisten Fällen haben wir die Kirchengemeinde vor Augen, die sogenannte Parochie, also das jahrhundertealte Ordnungssystem, das jedem Christen die Zugehörigkeit zu einer Kirchengemeinde (früher auch: einem Pastor) zuschreibt, wenn nicht vorschreibt, und das in Deutschland lückenlos jeden Quadratzentimeter des Landes abdeckt.18 Vielleicht hat Gemeinde darüber hinaus die Assoziation von „Gemeinschaft“: Man denkt an Menschen, die sich tatsächlich, z. B. als Gottesdienstgemeinde versammeln. Wir unterscheiden da nicht wie im Englischen zwischen „church“ und „congregation“. Der Begriff Gemeinde hat immer etwas „Lokales“, der indogermanische Wortstamm verweist
16
Helge Stadelmann und Stefan Schweyer 2017, 2. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 49. 18 Vgl. Jan Hermelink 2011, 126-134. 17
2. Was ist „Gemeinde“? Größenordnungen
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auf den „Gemeindegrund“, man denkt an das durch gemeinsame Mauern gesicherte Gebiet.19 Eine erste Abgrenzung kann „nach unten“ erfolgen: Man wird in aller Regel (noch!) beim Stichwort „Gemeinde“ nicht an kleinere Einheiten denken: ein Hauskreis ist christliche Gemeinschaft, aber nicht Gemeinde. Ein Jugendkreis ist christliche Gemeinschaft, eine Aktionsgruppe ebenso, aber beide sind nicht Gemeinde. Sie sind Teil von Gemeinde. Die Festigkeit, mit der man das sagt, schrumpft allerdings. Aber für den Moment halten wir es fest: „Nach unten“ ist der Begriff „Gemeinde“ abgegrenzt von den christlichen Geselligkeiten, die in ihr oder auch neben ihr stattfinden. Zugleich zeigt sich die Lebendigkeit einer Gemeinde in ihren verschiedenen Geselligkeiten. Eine zweite Abgrenzung kann „nach oben“ erfolgen: In der Regel denken wir bei Gemeinde an die kleinere, bei Kirche an die größere Einheit. Es sei denn, wir haben bei Kirche sofort das Gebäude im Sinn. Abgesehen vom Gebäude ist Kirche wohl für die meisten die Landeskirche, z. B. die Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland. Oder man denkt gleich an die Evangelische Kirche in Deutschland. Oder man versteht unter der Kirche den Sammelbegriff für die weltweite Christenheit. Oder man assoziiert Kirche als Konfession: Die Lutherische im Unterschied zur Römisch-katholischen Kirche. Aber immer gilt: Kirche ist die größere Einheit, Gemeinde die kleinere, meist wohnortnahe Gemeinde, oft fokussiert auf eine zentrale gottesdienstliche Versammlung oder den umgrenzten Raum einer Ortskirchengemeinde. Aber diese Gemeinde ist zugleich immer auf das Größere, auf Kirche bezogen. Man kann es mit klassischen Begriffen so sagen: Jede Gemeinde ist ganz Kirche, aber sie ist nicht die ganze Kirche.20 Die kleinere Einheit braucht die größere: Sie ist zum Dienst in der größeren gerufen und darf die Unterstützung der größeren Gemeinschaft in Anspruch nehmen. In den letzten Jahren ist besonders die Region als Bezugsgröße neu in den Blick getreten.21 Die meisten kirchlichen Reformprozesse ordnen nun die einzelne Gemeinde der kirchlichen Region zu, fusionieren hier, fassen dort zu Verbänden zusammen, streichen Stellen hier und schaffen dort zentrale kirchliche Orte. Ist das auch Gemeinde oder Kirche? Das wird uns beim Thema der regiolokalen Kirchenentwicklung beschäftigen. Übrigens, das nur als Fußnote: Im neutestamentlichen Gebrauch tut uns das Wörtchen „ekklesia“ keineswegs den Gefallen, für Klarheit zu sorgen, und das ist wohl kein Zufall. Anders als in unserem mitteleuropäisch-kirchlich sozialisierten Sprachempfinden steht „ekklesia“ für so 19
Vgl. Michael Herbst 2010, 56. Vgl. Michael Herbst 2006, 98. 21 Vgl. Christhard Ebert und Hans-Hermann Pompe 2014. 20
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
ziemlich alles, was wir jetzt aufgezählt haben: die kleine Hausgemeinde (Röm 16,5; 1 Kor 16,19), die Ortsgemeinde (1 Kor 1,2), die Gemeinden in einer Provinz als Ganzheit (Apg 15,41), die weltweite Kirche und insbesondere auch für den Leib Christi, also die den Augen verborgene Gesamtheit der Glaubenden in ihrer Gemeinschaft mit Christus und in ihrem „Zusammenhang“ untereinander (1 Kor 4,17). Alle Größenordnungen von Kirche können sich so mit demselben Namen der „ekklesia“ schmücken. „Dabei gibt es keine Prioritäten oder Nachordnungen.“22 Wir haben also eine bestimmte Größenordnung vor Augen. Wir ordnen diese Größenordnung aber sofort auch den anderen Größenordnungen zu. Und es besteht immer wieder Klärungsbedarf, welche Größenordnung unter Umständen für sich in Anspruch nehmen kann, im theologischen und dann auch im kirchenrechtlich-organisatorischen Sinn als vollgültige Gemeinde zu gelten. Muss das die Kirchengemeinde sein mit Gebäude, Amt und agendarischem Gottesdienst? Könnte das auch eine Hausgemeinde sein? Oder eine „fresh expression of church“23 ohne einen festen lokalen Zusammenhang? Oder ein regionaler Verbund von kleinen Ortsgemeinden, egal in welcher Rechtsform? Damit wird sich sofort die Frage verbinden: Wie wichtig sind dann sakrales Gebäude, ordiniertes Amt und dergleichen mehr? Vielleicht sagen wir aber auch: Das sind verschiedene Sozialformen, die vielleicht nicht alle die gleiche Dignität haben, aber doch für „Kirche“ und „Glauben“ von Bedeutung sind. So würde man es im Anschluss an den Soziologen Joseph Myers sehen, der unterschiedliche „Spaces of belonging“ 24 unterscheidet: den intimen Raum der zwei oder drei, mit denen ich beten kann, den privaten Raum (also vielleicht so etwas wie das „Haus“ oder die familiäre Glaubensgemeinschaft), den sozialen Raum der größeren Glaubensgemeinschaft etwa im Gottesdienst und den öffentlichen Raum, z. B. der Ortskirchengemeinde oder Landeskirche. Entwickelt oder erbaut wäre dann eine Gemeinde, wenn sie diese sozialen Räume je in adäquater Form anbieten könnte. 3. Was ist „Gemeinde“? Zweite Annäherung: Zugehörigkeiten 3. Was ist „Gemeinde“? Zugehörigkeiten Nun könnten wir aber auch nach „Zugehörigkeiten“ fragen: Wer gehört zu einer Gemeinde? Da wird das Problem schnell klar, wenn wir an die Ortskirchengemeinde denken, zu der in unseren östlichen Breiten vielleicht 1.000 Menschen gehören (im Westen einige mehr!). Das ist die Gesamtzahl der Mitglieder, die getauft wurden, vielleicht Kirchensteu22
Christian Grethlein 2012a, 147. Vgl. Hans-Hermann Pompe, Patrick Todjeras und Carla J. Witt 2016. 24 Vgl. Joseph R. Myers 2003. 23
3. Was ist „Gemeinde“? Zugehörigkeiten
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er zahlen und nicht ausgetreten sind. Am anderen Ende des Spektrums haben wir die vielleicht 50 bis 100 Menschen, die in einer wahrnehmbaren Regelmäßigkeit auch kommen, teilnehmen, sich versammeln, sich vielleicht sogar aktiv einbringen und mitarbeiten. Wer ist die Gemeinde? Welche Gemeinde wird erbaut? Nehmen wir eine nordostdeutsche, überwiegend einmal protestantisch geprägte Gegend mit relativ hohem Anteil an Evangelischen. Wer ist die Gemeinde? Sind das alle Getauften? Auch wenn drei Fünftel sich nur gelegentlich im Jahreslauf in der Kirche zeigen, z. B. an Weihnachten oder beim Erntedankfest, oder auch nur im Lebenslauf aus Anlass von großen Lebenswenden zwischen Taufe und Beerdigung? Sind das alle Getauften, auch wenn ein Fünftel sich nie zeigt und durchaus mit dem Austritt liebäugelt? Was ist mit denen, die zwar getauft, aber aus der Kirche ausgetreten sind? Sie haben die „Kirche“ verlassen, sozusagen ein negatives Bekenntnis abgegeben: „Ich will da nicht mehr dazu gehören!“ Aber kann man aus seiner Taufe „austreten“? Wie ernst können wir diesen Austritt nehmen? Aber wie ernst müssen wir das negative Bekennen nehmen? Oder doch alle Menschen, die in unserem Gemeindegebiet leben? Und was ist dann mit denen, die hier wohnen, noch nie dazu gehörten, weil sie konfessionslos sind, weil sie nichts oder etwas völlig anderes glauben? Welches Verhältnis haben wir zu ihnen, wenn doch angeblich Gott die Welt geliebt (Joh 3,16) und mit sich versöhnt (2 Kor 5,18) hat – und nicht nur die Kirche? In welcher Weise und mit welcher Absicht sind wir an sie gewiesen? Wer gehört zu der Gemeinde, von der wir hier sprechen und die erbaut und entwickelt werden soll? Wie ist das Verhältnis dieser Gruppen zueinander? Soll sich da etwas bewegen? Ist das akzeptable Vielfalt? Ist das ein notvoller Zustand? Ist das einfach, wie es ist, und dann auch O. K.? Dahinter stecken ein paar „Fallen“: Denken wir hier zu klein, dann reduzieren wir Kirche auf eine kleine Schar der Bekennenden. Wir könnten dann entweder die Tatsache unterbewerten, dass viel mehr Menschen getauft sind als diese kleine Schar. Oder wir könnten die Tatsache unterbewerten, dass die Mission der Kirche allen Menschen gilt. Schauen wir nur auf die, die sich zeigen, und kümmern uns nur um die, die uns gerne beschäftigen? Denken wir hier zu groß, dann vereinnahmen wir jeden einfach für uns, egal was er selbst mit seinen Überzeugungen und faktischen Entscheidungen äußert. Wir würden dann nicht ernst nehmen, dass der Glaube eine ernsthafte Lebensentscheidung darstellt. Ist es genug, wenn viele dazugehören, auch wenn es keine
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
erkennbare Beteiligung an dem gibt, was die Gemeinde ausmacht? Sehr wirkungsvoll waren an dieser Stelle für unsere Wahrnehmung die „Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen“ von Ernst Troeltsch aus dem Jahr 1912.25 Troeltsch stellt fest, wie unterschiedlich Kirche in der Moderne wahrgenommen wird, welche unterschiedlichen Religionstypen sich da entwickeln. Sein Blick ist empirischer Art: Er zeigt uns zunächst nur, was ist, und nicht, was sein sollte. Ihm geht es um die konkreten Verhältnisse. Und da erkennt er drei „Haupttypen der soziologischen Selbstgestaltung der christlichen Idee“: Kirche, Sekte und Mystik! 26 Die Begriffe klingen teilweise wertend, sind es aber nicht. Troeltsch würde jeden dieser Typen für legitim halten und auch die Tatsache, dass es alle drei miteinander gibt. Es sind Idealtypen, die es so in Reinform nicht gibt, aber sie helfen uns zu verstehen, wie Kirche und Religion sich in der Gegenwart darstellen: Sekten sind demnach alle geistlichen Personengemeinschaften, also Menschen mit einer erkennbaren, engagierten Aneignung des christlichen Glaubens, die sich zu intensiven Gemeinschaften zusammentun, sei es als Hauskreis, Team, Gebetsgruppe, regelmäßige gottesdienstliche Versammlung oder missionarische Lebensgemeinschaft. Es sind die hochreligiösen und intensiv gemeindlich engagierten Menschen. Mystiker sind die, die eine sehr individuelle Form der Religion leben: „innerlich, persönlich, individuell und abrupt“.27 Hier ist Religion tendenziell geradezu anti-kirchlich. Es ist Glaube als religiöser Individualismus, der sich den Vergemeinschaftungen in der Regel entzieht. Kirche meint die Anstalt des Heils, das objektive Vorgegebensein von Wahrheit und Heil. Hier werden die Massen durch die Heilsmittel erzogen und der Einwirkung des Religiösen zugeführt, ohne dass es zu intensiver religiöser Beteiligung käme. Das ist die „Volkskirche“, die dem Einzelnen fraglos vorgegeben war, in der er sich vorfand, als Kind getauft, fraglos Mitglied, nicht sonderlich engagiert, aber an den wesentlichen Stationen des Lebenslaufs doch von der Kirche begleitet. Wer gehört nun wirklich zur Gemeinde? Alle oder nur manche? Oder nur solche, die sich in „Sekten“ versammeln? Oder genügt uns auch die Versorgung durch „Kirche“ und respektieren wir die subjektive Religion der „Mystiker“? Fördern wir einfach jeden Typus, wie er es haben möchte, oder möchten wir einen bestimmten Typus voranbringen?
25
Vgl. Ernst Troeltsch 1912. Vgl. Jan Hermelink 2011, 53. 27 Zitiert bei Ibid., 54. 26
3. Was ist „Gemeinde“? Zugehörigkeiten
29
Bei diesen Zugehörigkeiten wird sich auch entscheiden, wie wichtig uns Grenzziehungen sind, also z. B. auch ein klares Verhältnis von innen und außen. Der gehört dazu – jener nicht. Und das Kriterium dafür ist wahlweise die Taufe, die Kirchensteuer, die Beteiligung am kirchlichen Leben, die Bekehrung oder das explizite Bekenntnis zum Glauben an Christus. Drinnen oder draußen? Wir treffen auf Konzepte, denen das wichtiger ist, und die kann man dann mit Paul Hiebert 28 als „bounded sets“ bezeichnen, also Gemeindebilder, die wesentlich durch ihre Außengrenzen bestimmt sind. Dem gegenüber stehen so genannte „centered sets“, Gemeindebilder, die vielleicht auch Grenzen kennen, aber denen es wichtiger ist, dass sie sich von einer geistlichen Mitte her verstehen, und alle die verschiedenen Zugehörigkeiten ordnen sich dann mehr oder weniger dieser Mitte zu, in Bewegungen auf die Mitte zu oder von der Mitte weg. Dann käme es darauf an, möglichst vielen Menschen möglichst weit auf ihrem Weg zur Mitte zu helfen. Es gibt aber auch fuzzy sets, da ist jede Abgrenzung aufgehoben und gleichgültig. Das Spannende bei Hiebert ist, dass er nicht behauptet, es gäbe in „centered sets“ keine wesentlichen Unterschiede (weil ja Grenzen nicht mehr entscheidend sind). Es gibt aber Unterschiede. Diese Unterschiede fangen damit an, dass Menschen die Richtung ihres Lebens ändern und sich auf das Zentrum zubewegen. Das unterscheidet. Aber es ist eine Reise, auf der alle sind, die ihre Richtung geändert haben. Man könnte sagen, ein „bounded set“ ist bekehrungs-, tauf- oder mitgliedschaftsorientiert, während ein „centered set“ wachstums- oder jüngerschaftsorientiert ist. Übrigens bedeutet das auch, dass sich hier dynamisch viel bewegen kann. Man kann schneller oder langsamer auf das Zentrum zugehen, steckenbleiben oder sich dekonversiv vom Zentrum entfernen. Für unsere Frage hinge dann alles davon ab: Geraten Menschen in diese Bewegung hin zum Zentrum? Michael Frost und Alan Hirsch vergleichen dieses unterschiedliche Denken aus australischer Sicht mit einer großen Schafweide. Man kann die Schafweide durch einen Zaun oder ein Wasserloch „definieren“, der Zaun grenzt drinnen und draußen ab, das Wasserloch zieht die durstigen Tiere zur Mitte.29 Von dieser Frage hängt ja nun einiges ab: Wann ist eine Gemeinde erbaut oder entwickelt? Wenn alle Steuern zahlen? Wenn alle getauft sind? Wenn alle kommen? Wenn alle sich bekennen und mitarbeiten?
28 29
Vgl. Paul G. Hiebert 1994. Vgl. Michael Frost und Alan Hirsch 2008, 89-94.
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
4. Was ist „Gemeinde“? Dritte Annäherung: Das Hybrid-Modell in der Kirchentheorie 4. Was ist „Gemeinde“? Das Hybrid-Modell Das hier zu präsentierende Modell nimmt viele der Fragen auf, die wir bisher eher als Aporien festgehalten haben. Es ist ein Modell, das zunächst Ralph Kunz 30 entwickelt hat, das aber in einer gewissen Abwandlung als „dynamische Mehrschichtigkeit“ auch bei Jan Hermelink 31 zu finden ist, und das jetzt am ausführlichsten bei Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong rezipiert wurde.32 Sie möchten demnach „Kirche als Hybrid aus Institution, Organisation und Bewegung verstehen.“33 Was bedeutet es aber, die empirische Kirche als ein Hybrid zu verstehen? Wir kennen so etwas ja vor allem vom Hybridmotor in einem Auto, das mit zwei unterschiedlichen Energien gespeist werden kann – via Elektromotor und Verbrennungsmotor. Hier ist es tatsächlich so etwas wie eine „dynamische Mehrschichtigkeit“ der Kirche, die als ein Hybrid aus drei gleichzeitig existierenden Idealbildern oder „Modellen“ mit je eigenen Logiken zu verstehen ist. 4.1 Kirche als Hybrid: Gruppe und Bewegung Zu diesem Hybrid gehört die Kirche als aktive Gruppe oder Bewegung.34 Man könnte sagen: Das ist die anfängliche und älteste Weise des Kircheseins. Lesen Sie das Neue Testament: Kirche begann als Kreis von Gewonnenen und Überzeugten. In der Gruppe wird besonders der Gemeinschaftsaspekt des Christseins, seine soziale Dimension gelebt. Zugleich war diese Gemeinschaft auch Bewegung. Sie breitete sich aus, wirkte nach außen, wuchs, relativ schwach organisiert, aber mit hoher Dynamik. Das ist typisch für und oft nur für Anfangszeiten oder für Zeiten großer Umbrüche, Neuanfänge und tiefer Reformen – also etwas, das sich immer wieder einmal einstellt. Man könnte allerdings auch etwas nüchterner sagen, dass der Charakter als Bewegung ein „Durchgangsphänomen“ ist.35 Freilich gilt das nicht für den Gruppen- und Gemeinschaftsaspekt. Er ist ein Kontinuum, freilich in sehr verschiedener Gestalt, in bunten Formen der Geselligkeit. Dabei geht es oft um intensiv gelebten Glauben, gemeinsames Handeln und gesellige Gemeinschaft. Das entspricht dem Ideal der intensiv verbundenen Christenmenschen (mit sehr unter30
Vgl. Ralph Kunz-Herzog 1997. Vgl. Jan Hermelink 2011, 122f. 32 Vgl. zum Folgenden durchgängig Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 137-219. 33 Ibid., 218. 34 Vgl. Ibid., 138-157. 35 Ibid., 144. 31
4. Was ist „Gemeinde“? Das Hybrid-Modell
31
schiedlichen Frömmigkeitsformen). Intensive Gemeinschaft (Nähe) und engagierter Dienst auf Grund starker Glaubensüberzeugungen und -praktiken markieren die Eigenarten dieses Idealbildes. Wer gehört dazu? Das sind die Engagierten, Beteiligten, Anwesenden, mindestens Suchenden. Es wird heute wieder anerkannt, dass Gruppen wichtig sind für Einzelne wie für die Kirche: „Die Sozialform der (kleinen) Gruppe hat für die Kirche eine große Bedeutung, die eher zu-, jedenfalls alles andere als abnimmt.“36 Dies gilt etwa mit Blick auf die Auflösung traditioneller Familienzusammenhänge. Die kirchentheoretische Frage lautet aber: Sollten alle zur Gruppe gehören und sollte Kirche wieder mehr den Charakter einer jungen, offenen Bewegung annehmen? Oder ist die Gruppe nur von relativer Bedeutung: nach innen zur Stabilisierung derer, die so etwas brauchen, nach außen als Kernmannschaft zur Aufrechterhaltung des Betriebs oder zur Entlastung der Pfarrer? Aber auch: Wie steht es um das Potential der Gruppe? Hat sie nur starke Kräfte zur Bindung nach innen („bonding capital“) oder auch starke Kräfte zur Wirkung nach außen und Integration von Fremden („bridging capital“)?37 4.2 Kirche als Hybrid: Institution Zum Hybrid „Kirche“ gehört zweitens die Kirche als Institution. 38 „Wenn Gruppen und Bewegungen erfolgreich sind und Bestand haben, verändern sie sich: Ein Prozess der Institutionalisierung […] setzt ein und unterstützt den Erfolg der Bewegung.“39 Die Konstantinische Wende steht für einen solchen Übergang. Abläufe werden routinisiert. Strukturen bilden sich aus. Regelwerke werden verfasst. Statt wenigen Engagierten gehören nun sehr viele, sehr unterschiedlich Gebundene zur Kirche. Ämter werden geschaffen, Liturgien werden verbindlich. Institutionen sind Gruppen, die durch ein Regelsystem stabilisiert wurden. Und Institutionen haben bestimmte Funktionen. Für die Gesellschaft als ganze kann man z. B. sagen, dass die kirchliche Institution dafür sorgt, die Menschen mit Religion zu versorgen, an den Lebensübergängen oder im Bildungsprozess, wenn es um grundlegende Werte geht. Für den Einzelnen hat die Institution eine ähnliche Funktion: Sie ist da, auch wenn ich sie lange nicht in Anspruch nehme. Brauche ich sie aber, dann steht sie zur Verfügung, feiert mit mir Lebensübergänge, ist in Krisen eine verlässliche diakonische Anlaufstelle und sorgt für eine gediegene Erziehung der Kinder oder für hochwertige kulturelle Er36
Ibid., 150. Vgl. zu dieser Unterscheidung grundlegend: Robert Putnam 2000. 38 Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 157-181. 39 Ibid., 157. 37
32
I. Was sind Kirche und Gemeinde?
bauung (durch Musik, erhabene Gebäude etc.). Die Kirche nimmt mir ab, mich da selbst immer neu zu entscheiden. Tiefer greift die Institution nicht ein; sie gewährt Freiheit auch zur Distanz und ist da, wenn sie gerufen wird. Und wenn sie da ist, zählt der Pfarrer, vielleicht noch das Gebäude, aber Gemeinschaft sucht man nicht, sondern eine religiöse Dienstleistung. Institutionen haben eine starke Entlastungsfunktion für den Einzelnen – solange sie diese allgemeine Anerkennung haben: „Für Religion ist hier die Evangelische Kirche zuständig!“ Der Staat unterstützt das und fördert kirchliche Arbeit, etwa durch den Einzug der Kirchensteuer, den Religionsunterricht, theologische Fakultäten oder Militärseelsorge. Das alles entspricht – um nun den entscheidenden Begriff einzuführen – dem Idealbild der Volkskirche. Volkskirche meint Verschiedenes, aber hier vor allem eine Kirche als Institution, zu der die meisten Menschen gehören und die für die religiöse Betreuung der Menschen von den meisten für zuständig gehalten wird, ohne dass sich sehr viele Menschen intensiv in ihr engagieren müssten. Man kommt hinzu durch Kindertaufe, man bleibt dabei durch Kirchensteuer, man kommuniziert gelegentlich. Volkskirche in diesem Sinn ist „Kirche bei Gelegenheit“.40 Distanz ist durchaus ein akzeptabler Normalzustand in dieser „Institution der Freiheit“, der hin und wieder durch lebensweltbezogene Anlässe durchbrochen wird.41 Wer gehört dazu? Alle, die der Institution via Taufe hinzugetan wurden. Wo spielt sich das ab? Weitestgehend in der Ortsgemeinde. Was für ein Kirchenbild tritt hier hervor? Nicht die Beteiligungskirche, sondern die Dienstleistungs- und Betreuungskirche. Man könnte sagen, das ist die volkskirchliche Seite des Kircheseins, das was das Konstantinische Zeitalter ausmachte: Viele gehören dazu, viele allerdings auch mit einer nur sehr lockeren Bindung. Allerdings muss man heute sagen: „Die Selbstverständlichkeit dieser Institution bröckelt.“ 42 Die Volkskirche durchläuft seit langem eine Transformationskrise. 43 Die demographische Entwicklung im Verein mit den massenhaften Kirchenaustritten seit 1968 und der geschwächten Rolle christlicher Religion in Gesellschaft und Kultur lassen bröckeln, was Jahrhunderte unverrückbar schien als christliches Abendland. Das alles führt dazu, dass sich die Kirche von einer alle umfassenden Volkskirche zu einer intermediären Großkirche (Wolfgang Huber) verwandelt.44 Großkirche meint: Das sind immer noch viele, aber eben nicht mehr fast alle oder eine Mehrheit. Intermediär meint: Diese 40
Vgl. Michael Nüchtern 1991. Vgl. Gerald Kretzschmar 2007. 42 Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 163. 43 Vgl. Wolfgang Huber 1998, 267-283. 44 Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 172-174. 41
4. Was ist „Gemeinde“? Das Hybrid-Modell
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Kirche hat eine Zwischenstellung zwischen den vielen Einzelnen und der Gesellschaft. Sie bringt z. B. in der Öffentlichkeit Überzeugungen zu Gehör, die Christinnen und Christen teilen und für das Ganze der Gesellschaft wichtig finden. Sie ist Stimme des Christlichen in einer pluralen Gesellschaft. Damit wird ernst genommen, dass der klassische Aspekt der Institution „Kirche“ zwar schrumpft, aber hier dennoch etwas Wesentliches für Einzelne, Kirche und Gesellschaft aufbewahrt bleibt. Allerdings hat Wolfgang Huber auch noch eine andere Konsequenz aus den veränderten Verhältnissen gezogen. Er spricht auch von einer Bewegung von der Volkskirche weg hin zur Missionskirche.45 Das bedeutet aber, dass wir die Menschen nicht mehr länger als selbstverständlich Zugehörige verstehen, deren Mitgliedschaft und Zuneigung wir gleichsam sicher „haben“, sondern dass wir die Menschen erstmals oder aufs Neue „gewinnen“ müssen. 4.3. Kirche als Hybrid: Organisation Zu diesem Hybrid gehört drittens als jüngstes Modell die Kirche als Organisation oder auch Unternehmen.46 Diese Variante der Kirche setzt ein Verständnis der Gesellschaft als „Organisationsgesellschaft“ voraus, in der verschiedene freie Assoziationen um Gehör und Akzeptanz werben. Insgesamt verlieren Institutionen an Bedeutung und Organisationen nehmen zu. Das trifft nicht allein die Kirche. Bei uns werben Parteien um Zustimmung – wir haben keinen König, auch wenn sich manche Bayern das wünschen. Wir leben in einer „Organisationsgesellschaft“.47 Die Abgrenzung von der Institution ist ein wesentliches Merkmal der Kirche als Organisation. In der Institution ist es völlig klar: Für Religion ist die Kirche zuständig. In der Organisation muss man den potenziellen „Kunden“ erst gewinnen, der potenzielle Kunde hat durchaus Alternativen. Die Institution wird alimentiert, vom Staat und ihren vielen Mitgliedern. Die Organisation muss Geld einwerben und zu diesem Zweck z. B. Fundraising betreiben. Die Institution ist überall vertreten mit Kirchen, Pfarrhäusern und Pfarrstellen. Die Organisation muss mit Knappheit klarkommen. In der Institution haben Pfarrer ein Amt, in der Organisation einen Beruf. In der Institution wird man visitiert, in der Organisation bietet sich Supervision an. Die Institution lebt von der Tradition, das kirchliche Leben wiederholt sich mit großer Stabilität. In der Organisation muss man sich immer wieder neu „aufstellen“, Ziele und Strategien entwickeln und neue Sozialformen anbieten. In der Institution ist der Besuch des Pfarrers und (früher auch) der Gemeinde45
Vgl. Wolfgang Huber 2003, 249-254. Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 181-215. 47 Vgl. Ibid., 182. 46
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
schwester gesetzt, in der Organisation wirbt die Kirche neben anderen um Gehör und Zustimmung. In der Institution gilt ein Angebot für alle, in der Organisation muss man sich um Zielgruppen adäquat mühen und kümmern. Das Reformpapier „Kirche der Freiheit“ ist im Jahre 2006 ein Mustertext dafür, dass sich die Kirche auch selbst als Organisation versteht.48 Sie hat damit einen erheblichen, aber auch umstrittenen Modernisierungsschub durchlaufen. Das Umstrittene sieht man an der Debatte, ob Kirche ein Unternehmen sei oder eben ganz sicher nicht sei.49 Die einen sehen in einer solchen Vorstellung den Sündenfall schlechthin, die anderen reden völlig entspannt von Marketing oder propagieren ein Spirituelles Gemeindemanagement.50 Die einen lernen begierig von der Betriebswirtschaft, die anderen sehen die Kirche den Mechanismen des Marktes unterworfen, das Gemeindeglied zum Kunden mutiert, das Kreuz aus Vermarktungsgründen verraten, das Gemeindeleben dem Götzen des Erfolgs geopfert. Andere sagen: Endlich lernen wir, wie man vieles handwerklich tut, was wir doch eh tun müssen (z. B. Personal führen), und wie man nicht vor sich hin „wurschtelt“, sondern Ziele setzt und konsequent verfolgt. Es hilft vielleicht, wenn man sich erinnert, dass das „Unternehmerische“ eine Logik im Hybrid ist und nicht das Ganze. Dann kann man entspannt sagen: Kirche hat eine unternehmerische Seite, aber ist nicht als ganze ein Unternehmen. Sie ähnelt in vielem heutigen Non-ProfitUnternehmen 51 – und kann von diesen Unternehmungen lernen. Sie kann sich der Wirklichkeit stellen, dass sie nicht mehr selbstverständlich gewählt wird, sondern sich auf dem Markt um Menschen mühen muss. Das missionarische Paradigma fremdelt da weit weniger mit diesem Aspekt des Hybrids, als es andere Kirchenkonzepte tun. Aber die Kirche geht darin auch nicht auf, sie ist mehr und anderes als ein Unternehmen, und auch das Unternehmerische nach der Logik der Organisationen muss sich am Evangelium messen, begrenzen und erziehen lassen. 4.4 Kirche als Hybrid: Drei notwendige Handlungslogiken? Hauschildt und Pohl-Patalong sehen in allen drei Logiken Notwendiges für die Kirche aufbewahrt. „Die Kommunikation des Evangeliums gestaltet sich unterschiedlich, je nachdem, welchem der drei Idealbilder von Kirche […] man folgt und welche dazugehörige Sozialform dominiert.“52 Keine der drei Logiken kann allein das komplexe Dasein der 48
Vgl. Kirchenamt der EKD 2006. Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 185-187. 50 Vgl. Michael Herbst 2003, 178-198. 51 Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 187-189. 52 Ibid., 216. 49
4. Was ist „Gemeinde“? Das Hybrid-Modell
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Kirche erklären. Keine allein reicht, um die Kirche der Zukunft zu gestalten. Alle drei Logiken kommen faktisch vor, auch wenn die kirchentheoretischen Konzeptionen immer wieder deutliche Präferenzen für eine der drei Logiken zeigen und suggerieren, man könne sich auf eine beschränken. Hauschildt und Pohl-Patalong wollen das keineswegs: Sie sehen wie beim Hybridmotor besondere Antriebskräfte für die Kirche gerade in der Verknüpfung der drei Logiken im „Hybrid“. Tatsächlich gehen die unterschiedlichen theologischen Konzeptionen der Kirchen- und Gemeindeentwicklung mit diesem Hybrid sehr unterschiedlich um. Dabei geht es eher um die Bewertung als um die Wahrnehmung. „In den kirchentheoretischen Entwürfen [..] scheint dann doch jeweils eine der Logiken die Oberhand zu gewinnen.“53 Die Deutung differiert und dann differieren natürlich auch die Handlungsvorschläge. Man kann in eher liberaler Tradition tatsächlich sagen: Kirche ist das alles drei, alles drei brauchen wir, nichts hat einen Vorrang. Hauschildt und Pohl-Patalong prophezeien obendrein: Keines wird über die anderen siegen.54 Man kann aber auch eher auf „Institution“ setzen (das wäre ein relativ konservativer Ansatz) oder auf Organisation (das wäre dann ein reformorientierter Ansatz) oder auf Gruppe/Bewegung (dahin tendieren die missionarischen Kräfte). Dabei kann das durchaus die Wertschätzung der je anderen Hybrid-Anteile einschließen. Ich zeige das am Beispiel eines eher missionstheologischen Ansatzes: Die Konzepte der missionarischen Kirchen- und Gemeindeentwicklung zeigen eine Tendenz, sich diesem komplexen Bild von Kirche sowohl anzunähern als es auch in einer profilierten Weise zu akzentuieren. Ein Ja zur Volkskirche als (im Westen noch gegebene) Mehrheitskirche mit unterschiedlichen Bindungsformen verbindet sich mit einem Ja zu organisationsförmigen Reformprozessen und einer Förderung von missionarischen Arbeitsformen, die unter Getauften wie Konfessionslosen um Zustimmung und Teilhabe werben. Die profilierte Akzentuierung zeigt sich darin, dass das Hybrid-Modell in seiner analytischen Leistungsfähigkeit bejaht wird, die meisten Protagonisten einer missionarischen Gemeindeentwicklung aber sowohl der Institution als auch der Organisation einen dienenden, das Entstehen und Wachsen von Kirche als Gruppe und Bewegung fördernden Charakter zuweisen würden. Kirchliche Institution und Organisation sind dann intensiv gepflegte, positiv bewertete und hoffnungsvoll belebte Ermöglichungsräume für die „communio sanctorum“, ihr gemeinsames Leben, ihren umfassenden Dienst und ihre Anbetung Gottes.
53 54
Ibid., 217. Ibid.
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
5. Was ist „Gemeinde“? Vierte Annäherung: Kirchenkulturen 5. Was ist „Gemeinde“? Kirchenkulturen Natürlich könnten wir den Blick etwas weiter schweifen lassen und uns sehr verschiedene Kontexte anschauen: Denn unterschiedliche Kontexte bringen große Unterschiede mit sich: Habe ich es mit einer mittelfränkischen Dorfgemeinde zu tun, in der noch etwa 90 % der Menschen zur Kirche gehören und es immer noch für überdurchschnittlich viele selbstverständlich ist, sonntags zum Gottesdienst zu gehen? Habe ich es mit einer Kirchengemeinde im Osten Berlins zu tun, den großen Plattenbaugebieten, in denen nur noch 5 % zur Kirche gehören, aber die meisten in dritter Generation konfessionslos bzw. religionsfrei sind? Oder habe ich es mit einer Diaspora-Gemeinde in Münster/Westfalen zu tun, z. B. am Rand der Innenstadt, wo auf eine evangelische zwei bis drei katholische Kirchengemeinden kommen? Oder bin ich mit meiner Gemeinde in Hamburg, irgendwo zwischen zahllosen religiösen Angeboten und einem schier unreligiösen Dasein, umgeben von den Intellektuellen des neuen Atheismus wie von allen Spielarten der Esoterik, mit Christengemeinden aus Ghana und russisch-orthodoxen Christen in nächster Nachbarschaft, mit kleinen Freikirchen und traditionellen Kirchengemeinden? Oder bin ich in Duisburg, in einer Gegend, in der weit mehr Menschen mit Migrationshintergrund leben als Menschen mit rheinischen Wurzeln, und wo sich die christliche Gemeinde in der Nachbarschaft von Moschee und Minarett findet? Oder ist es noch ein anderer Kontext? Finde ich mich im Osten oder Westen, im Norden oder Süden vor? Ist die Gegend aufstrebend oder im Niedergang? Jung oder überaltert? Ländlich oder urban? Zieht man weg von hier oder will man hier unbedingt hin? Tatsache ist, dass der Kontext Wesentliches für das Selbstverständnis der Gemeinde aussagt – und auch für die Frage: Was baut diese Gemeinde auf? Wann ist sie entwickelt? Und wann ist sie noch unterentwickelt? 6. Zusammenfassung 6. Zusammenfassung Wir haben in diesem Beitrag verschiedene Perspektiven eingenommen. Zuerst haben wir den Gegenstand geklärt: Es geht hier um die real existierende Kirche und Gemeinde, aber stets mit Bezug auf deren geistliches Wesen.
Literatur
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Ich habe Ihnen vorgeschlagen, sich der schlanken lutherischen Ekklesiologie mit Sympathie zu nähern: Sie erlaubt flexible Gestaltung und sich wandelnde Strukturen. Sie konzentriert alles auf das Grundgeschehen: die Kommunikation des Evangeliums, wobei die missionarische Generalperspektive immer danach fragen lässt, wie die Reaktion des Menschen aussieht. Wir denken darüber hinaus vielleicht zu schnell, dass Gemeinde immer diese mittlere Größe ist, die wir als Ortsgemeinde kennen. Sie scheint eine besonders lange Tradition und eine erstaunliche Verbreitung für sich zu haben, aber wir müssen klären, wie sie sich zu größeren und kleineren Einheiten verhält, also zum Hauskreis, zur Region und zur ganzen Kirche. Das ist eine Klärung, die sonst unter der Hand permanent im gemeindlichen und pastoralen Alltag abläuft. Dann haben wir gesehen: Wir müssen klären, wer überhaupt Gemeinde ist, wer dazu gehört, wer nicht, wer noch nicht, wer nicht mehr, und welche Ziele wir angesichts dieser Diversität haben sollten. Natürlich bietet die Missionsperspektive hier eine bestimmte Richtung an. Das könnte aber in einem „centered set“ geschehen, der vor allem die Lebensrichtung im Blick hat, die Menschen hoffentlich einschlagen: auf Christus und sein Evangelium zu. Wir haben dann gesehen, dass sich Kirche als Hybrid darstellt: als Institution, als Gemeinschaft der Glaubenden und als moderne Organisation auf dem Markt der Organisationen. Was folgt aber aus dieser Beobachtung? Wie kann man diese Komplexität innerlich bejahen und dabei doch ein Ziel verfolgen, nämlich die Stärkung des Ursprungsimpulses: Kirche als Gemeinschaft derer, die gemeinsam Christus nachfolgen und Teil seiner Mission werden? Literatur: Literatur Amt der VELKD (Hg.): Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde. Gütersloh 6., völlig neu bearbeitete Aufl. 2013 Bohren, Rudolf: Einführung in das Studium der evangelischen Theologie. München 1964 Burgsmüller, Alfred und Weth, Rudolf (Hg.): Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation. Neukirchen-Vluyn 1984 Ebert, Christhard und Pompe, Hans-Hermann (Hg.): Handbuch Kirche und Regionalentwicklung. Region – Kooperation – Mission. Leipzig 2014 (Kirche im Aufbruch Bd. 11) Frost, Michael und Hirsch, Alan: Zukunft gestalten. Innovation und Evangelisation in der Kirche des 21. Jahrhunderts. Asslar 2008
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I. Was sind Kirche und Gemeinde?
Grethlein, Christian: Kirche – als praktisch-theologischer Begriff. Überlegungen zu einer Neuformatierung der Kirchentheorie. PTh 101 (2012a), 136-151 –: Praktische Theologie. Berlin und Boston 2012b Hauschildt, Eberhard und Pohl-Patalong, Uta: Kirche. Gütersloh 2013 (Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 4) Herbst, Michael: Spiritualität, Gemeindeaufbau, Marketing. In: Michael Herbst (Hg.): Spirituelle Aufbrüche. Perspektiven evangelischer Glaubenspraxis. Göttingen 2003, 178-198 –: „Lasst uns nach unseren Brüdern sehen“ – Visitation aus praktischtheologischer Sicht. In: Klaus Grünwaldt und Udo Hahn (Hg.): Visitation – urchristliche Praxis und neue Herausforderungen der Gegenwart. Hannover 2006, 93-119 –: Missionarischer Gemeindeaufbau in der Volkskirche. NeukirchenVluyn 5. deutlich erweiterte Aufl. 2010 (BEG Bd. 8) Hermelink, Jan: Kirchliche Organisation und das Jenseits des Glaubens. Eine praktisch-theologische Theorie der evangelischen Kirche. Gütersloh 2011 Hiebert, Paul G. (Hg.): Anthropological Reflections on Missiological Issues. Grand Rapids 1994 Huber, Wolfgang: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche. Gütersloh 1998 –: Art. „Volkskirche, I. systematisch-theologisch“. TRE, Bd. 35, Berlin und New York 2003, 249-254 Kirchenamt der EKD (Hg.): Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD. Hannover 2006 Kretzschmar, Gerald: Kirchenbindung. Praktische Theologie der mediatisierten Kommunikation. Göttingen 2007 Kunz-Herzog, Ralph: Theorie des Gemeindeaufbaus. Ekklesiologische, soziologische und frömmigkeitstheoretische Aspekte. Zürich 1997 Myers, Joseph R.: The Search To Belong. Grand Rapids 2003 Nüchtern, Michael: Kirche bei Gelegenheit. Kasualien – Akademiearbeit – Erwachsenenbildung. Stuttgart u.a. 1991 Pompe, Hans-Hermann, Todjeras, Patrick und Witt, Carla J. (Hg.): Fresh X. Frisch. Neu. Innovativ: Und es ist Kirche. NeukirchenVluyn 2016 (BEG Praxis)
Literatur
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Putnam, Robert: Bowling Alone. The Collapse and Revival of American Community. New York 2000 Rössler, Dietrich: Grundriss der Praktischen Theologie. Berlin und New York 1986 Stadelmann, Helge und Schweyer, Stefan: Praktische Theologie. Ein Grundriss für Studium und Gemeinde. Gießen 2017 Troeltsch, Ernst: Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen. Tübingen 1912 (GS Bd. 1) Zezschwitz, Gerhard von: System der Praktischen Theologie. Paragraphen für akademische Vorlesungen. Bd.1, Leipzig 18
II. Reformation re-visited. Impulse zur Erneuerung der Kirche1
Unser Institut, das zur ehrwürdigen Ernst-Moritz-Arndt-Universität in Greifswald von 1454 gehört, trägt seit seiner Gründung 2004 einen komplizierten und vor allem viel zu langen Namen. Es ist also das Institut zur Erforschung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung. Wir sind ob der Länge und Komplexität des Namens manche Abkürzungen gewohnt – und auch unfreiwillig komische Abänderungen. Kürzlich erreichte uns Post, und bei der Adressierung hat entweder die Rechtschreibkontrolle oder das Unterbewusstsein des Absenders mitgewirkt. Dort stand nun zu lesen: Institut zur Erforderung von Evangelisation und Gemeindeentwicklung. Wer fordert da was, und wenn ja, zu Recht? Wären Evangelisation und intentionale Gemeindeentwicklung die nötigen Impulse zur Erneuerung der Kirche? 1. Jona – aber nur mit den Leuten aus Ninive 1. Jona Wer der Reformation wieder einmal einen Besuch abstatten möchte, wer nach Impulsen zur Erneuerung ruft, wer gar Evangelisation für erforderlich hält, der geht in der Regel davon aus, dass so manches in der Kirche Jesu nicht so ist, wie es sein sollte oder könnte. Und in der Tat können Sie kaum ein Buch zum Thema „Kirche“ aufschlagen, ohne dass Ihnen die tiefe Übergangskrise der Kirchen im westlichen Europa entgegenspringt. Je nach Perspektive werden die Merkmale dieser Krise nur unterschiedlich bestimmt. Krise scheint so etwas zu sein wie die „zentrale … Signatur protestantischer Selbstreflexion“ – so Volker Drehsen.2 Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong sehen die Krise als Begleitmelodie der letzten 200 Jahre Kirchengeschichte:3 1
Eröffnungsvortrag bei den Studientagen „Re-Imagining the Church in the 21st Century“ 15.-18. Juni 2016 an der Theologischen Fakultät Fribourg – Studienzentrum für Glaube und Gesellschaft (16. Juni 2016). Erstveröffentlichung: Michael Herbst 2016, 17-38. 2 Volker Drehsen 2002, 218. 3 Vgl. zur vollständigen Liste Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 94-108.
1. Jona
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Spätestens im 19. Jahrhundert beginnt die Modernitätskrise: Mit der Modernisierung geht eine Distanzierung der Menschen von der Kirche einher, sowohl der Gebildeten (etwas eher) als auch der Arbeiterschaft (etwas später). Die Innere Mission versucht darauf zu reagieren, indem sie sich der geistlichen wie der sozialen Not entgegenstemmte. Hauschildt und Pohl-Patalong registrieren weiterhin eine theologische Krise in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, als die wohl geordnete Welt mit dem Ende des ersten großen Krieges zerbricht und die dominanten kulturtheologischen Ansätze sich als Gut-Wetter-Theologie entpuppen. Nur ein radikaler Neuansatz bei Gott, dem ganz Anderen, scheint sinnvoll. Nach dem Zweiten Weltkrieg wartet die nächste Krise, denn die Menschen bleiben zwar verlässliche Mitglieder, aber sie lassen sich kaum in den Gottesdiensten sehen. Erste Programme zur Aktivierung, z. B. durch Besuchsdienste, werden entwickelt. Radikaler setzen ökumenische Missionstheologen an: Sie kritisieren in den 1960er und 1970er Jahren die mit sich selbst beschäftigte Kirche, deren Sozialformen, vor allem die örtlichen Kirchengemeinden, mit Gottes Einsatz für die Welt kaum zu tun haben. An der Tagesordnung und am Schalom der Welt soll sich der kirchliche Dienst orientieren. Neue Formen kirchlicher Arbeit, Dienste und Werke kommen auf. In dieser Zeit ist sowohl die Kirche im Haus als auch die Kirche in der Region eine verheißungsvolle Alternative zur als kleinbürgerlich-gesellig gebrandmarkten Kirchengemeinde. Und dann – ziemlich präzise ab 1968 – brechen die Mitgliedschaftszahlen ein. Die evangelischen Landeskirchen verlieren jedes Jahr Mitglieder in der Größenordnung einer Großstadt wie Münster, Karlsruhe oder Genf. Der Gottesdienstbesuch schrumpft auf knappe 4 % der Mitglieder. Die Demographie meint es auch nicht gut mit der Kirche: Kirche altert. Konzepte des missionarischen Gemeindeaufbaus konkurrieren nun mit Konzepten der Stabilisierung der KuK-Kirche, der Kirche, die sich auf Kasualien und Kirchenjahr verlässt. Parallel werden in der DDR die volkskirchlichen Verhältnisse binnen einer Generation zerstört. Aus einer starken Volkskirche wird eine marginalisierte Minderheitskirche. Konfessionslosigkeit wird zum Normalfall, der das gesamte kulturelle Leben prägt. Der normale DDR-Bürger entwickelt sich zum religiös indifferenten Wesen. Auch nach 1989 kommt es nicht zur erhofften Belebung: In dieser Hinsicht scheint die DDR den Kampf um Köpfe und Herzen weitgehend gewonnen zu haben.
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II. Reformation re-visited
Nach 1999 entdeckt auch die Evangelische Kirche in Deutschland erst die Mission4 und dann die Reform.5 Man muss reagieren, rückbauen und anpassen, denn es ist klar: Auf Dauer fehlen Menschen und Mittel, um die aufgeblähte Kirchengestalt am Leben zu halten. Die Kirche wird kleiner, älter, ärmer. Die neueste (5.) Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung der EKD6 von 2012 zeigt, dass sich die Verhältnisse krisenhaft polarisieren. Zwar werden die hochverbundenen und engagierten Protestanten stärker, aber auch die kaum noch verbundenen Mitglieder im Austritts-Standby nehmen zu. Es schrumpft die kirchliche Mitte. Die treuen Kirchenfernen sterben aus, im wahrsten Sinn des Wortes. Wer nur selten mit Kirche zu tun hat, der neigt nicht dazu, seinen Kindern eine belastbare religiöse Erziehung angedeihen zu lassen. Das Modell funktioniert nicht: Ohne eine gewisse soziale Einbindung ist persönlicher Glaube offenbar auf Dauer nicht zu haben. Wir könnten die Liste noch um einiges verlängern. Emil Brunner sprach schon 1960 von einem „Prozess der fortschreitenden Entkirchlichung“7 und vom „Ende der konstantinischen Aera“8. Wie können wir das alles deuten? Nach der jüngsten Revision der Perikopen und Predigttexte gibt es nun in der Zeit nach Pfingsten eine Lectio continua des kleinen Prophetenbuches „Jona“. An drei Sonntagen nacheinander lesen die Gemeinden also diese Geschichte. Bei der Lektüre des Jona-Buches fällt auf: Das ist noch einmal ein ganzer anderer Blick auf unsere Gemeinden und die Kirche als ganze. Könnte es sein, dass wir hier nicht für alles, aber für einiges eine neue Sicht bekommen können? Darum folgt jetzt – in etwas unterhaltsamer Manier – ein Blick auf Jonas Geschichte: Jona ist also ein Prophet.9 Und der Prophet hört einen Auftrag: „Geh nach Ninive.“ Ninive liegt im Osten, Hauptstadt des assyrischen Reiches. Jonas Kollege Nahum sagt über Ninive: „Ganz übel!“. Also auf Biblisch: „eine mörderische Stadt“10, „die schöne Hure, die mit Zauberei umgeht“.11 Und er, Kollege Nahum, sagt, was Ninive erwartet: nämlich der Untergang. Wer, so fragt er, wird dann Mitleid mit Ninive 4
Vgl. Kirchenamt der EKD 2001. Vgl. Kirchenamt der EKD 2006. 6 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015. 7 Emil Brunner 1960, 115. 8 Ibid., 117. 9 Die folgenden Überlegungen sind inspiriert von drei Predigten, die John Ortberg im November 2008 in der Menlo Church im Silicon Valley hielt; diese Predigten sind leider nicht mehr im Netz verfügbar. 10 Nahum 3,1. 11 Nahum 3,4. 5
1. Jona
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haben? 12 Die korrekte Antwort lautet: „Niemand.“ Das sind die Schlimmsten der Schlimmen, und was immer gerade aus den Nachrichtensendungen als heutige Parallele einfällt: Es passt! Darum ist dieses kleine Jona-Buch so ein sensationelles Buch: Gott schickt Jona nach Ninive. Jona ist Prophet, wer wäre da so dumm, nicht zu tun, was Gott will? Antwort: Jona. Der sture Hund. Wir wissen, was passierte. Jona soll nach Osten, aber flieht per Schiff nach Westen. Da schickt Gott einen großen Sturm. Die Seeleute fürchten sich und ganz „multikulti“ betet jeder zu seinem Gott, nur Jona nicht, der ist inzwischen ganz tief gesunken, schlaftrunken unten im Schiff. Also da stutzt man schon: Der Prophet tut, was man von Heiden erwartet, die heidnischen Seeleute tun, was man vom Propheten erwartet. Am Ende geht Jona über Bord. Das heidnische Schiff aber wird zum Ort der Anbetung des einen Herrn. Aber weiter: Gott ruft einen großen Fisch, „the Lord appointed a big fish“, heißt es in der ESV-Übersetzung. Wahrscheinlich hat er zum Fisch gesagt: „Nur schlucken, nicht kauen!“ Jona überlebt das. Und jetzt betet er, seine Flucht hat ein Ende. Ausgekotzt, mit Thunfisch à la Tartar bedeckt liegt er da. Aber: Er hört auf wegzulaufen. Er geht nach Ninive, predigt die schlechteste Predigt seit Menschengedenken, ein lustloses Abliefern der Nachricht: „In 40 Tagen ist alles vorbei.“ Und er kann es nicht fassen: Auf die schlechteste Predigt kommt die tiefste denkbare Reaktion: Die Menschen kehren um. Sie suchen Gott. Jona allerdings sucht nur noch Abstand. Bloß weg. Das große Lobgebet auf Gottes Erbarmen aus 2. Mose 34 kehrt er in einen bitterbösen Vorwurf um: Wusste ich es doch, Du mit Deinem unermüdlichen Erbarmen! Da überlegt sich Gott eine kleine prophetische Zeichenhandlung mit einem Rhizinus-Strauch. Über den kann der miesepetrige Prophet sich freuen, aber als Gott den Strauch vernichtet, will er nur noch sterben. Da sagt Gott: „Du hast Mitgefühl für einen Strauch, der heute blüht und morgen kaputt geht. Und ich sollte nicht Mitgefühl haben mit so vielen Menschen und Tieren, denen ich das Leben geschenkt habe? Das sollte mir nicht nahe gehen, Jona?“ So endet das Buch, so offen, mit einer Frage, an Jona, an mich, an meine Kirche, an uns. Es ist wohl angebracht, sich zu hüten, das alles nun 1:1 auf uns und die Kirche zu übertragen, womöglich als geistlich arrogante Kirchenschelte. Aber es gibt hier Grundzüge einer anderen Perspektive, die mit Jona als unserem idealtypischen Bruder und mit Ninive als glaubensferner Kultur zu tun hat. Wir können sehen, wie schwer es Gott hier mit seinen eigenen Leuten hat. Wie viele Orte, zu denen er uns schickt, und wir gehen nicht! Wie 12
Vgl. Nahum 3,7.
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II. Reformation re-visited
viel Missionsrhetorik ohne Folgen! Wie viel Gleichgültigkeit gegenüber „denen“ da draußen! Es ist ein mühsames Unterfangen für Gott, weil er neben seinem Projekt „Ninive“ die ganze Zeit mit einem widerspenstigen Mitarbeiter zu tun hat. Wie viel Arroganz und Überheblichkeit, abwechselnd mit Kleinmut und Fluchtgedanken! Die ganze Zeit ist Gott damit beschäftigt, den Jona auf Kurs zu bringen und am Leben zu erhalten. Wir können sehen, wie erstaunlich sich dagegen die Menschen von ganz weit her benehmen. Erstaunliche Matrosen, die anfangen zu beten, die Mitgefühl zeigen und – so lange es Hoffnung gibt – den Jona nicht einfach ins Meer werfen. Und als der Jona als gescheiterter, überschuldeter, unbrauchbarer Mensch vor ihnen steht, da hören sie ihm zu. Und dann die Menschen von Ninive: Sie hören eine grauenvolle Predigt, nach Form, Inhalt und persönlicher Glaubwürdigkeit. Im Seminar ein glattes „Mangelhaft“. Und sie reagieren: Selbst Kuh und Katz laufen in Sack und Asche herum. Sie ändern ihr Leben, nehmen Gott unendlich ernst und retten ihre Stadt. Und dann sehen wir, wie uns Gott hier vorgestellt wird. Wie viel Mühe gibt er sich mit Jona. Er setzt Fische und Wüstenwinde in Bewegung. Er sorgt nicht einfach für pflegeleichten Ersatz. Er geht dem Schlingel nach, wieder und wieder. Er verzeiht, gibt eine zweite Chance. Er erträgt die miserable Performance dieses Predigers. Nichts davon wird gutgeheißen, aber am übelsten Beispiel wird demonstriert: So ist Er. So geht Er mit uns um. Seinen einzigen hellen Moment hat Jona im Bauch des Fisches. Da war der ganze Fisch voll Gesang. Als er auf den Boden aufschlägt, fängt er an zu beten. Und wundersamerweise hört ihn Gott. Geholfen hat es nicht viel: Sehr bald schlägt wieder seine dunkle Seite durch, er nimmt für sich Gottes Geduld in Anspruch, aber anderen mag er sie nicht gönnen. Was um Himmels willen ist mit einer solchen Kirche anzufangen? Aber Gott geht Jona nach, kümmert sich, erzieht, bildet, vergibt, erträgt, sendet aufs Neue, redet, hofft auf Resonanz – für meinen Bruder Jona. Und wie erstaunlich ist, was über Gottes Verhältnis zu den Heiden von Ninive zu sagen ist! Gott empfindet Reue. Das ist eine sehr mutige theologische Auskunft. Gott dreht es das Herz um, er kann nicht richten, er muss sich erbarmen. Das kleinste Zeichen von Umkehr bricht ihm das Herz. Mich sollte nicht jammern diese Stadt mit so vielen Menschen? Mission ist nicht die Überwindung von geistlichen Feinden. Mission ist nichts anderes als Ausdruck der herzzerreißenden Suche, Liebe, Barmherzigkeit und Gnade Gottes. „Wer wird Mitgefühl mit Ninive haben?“, fragte Nahum selbstsicher und stolz! „Wer wird sich melden?“ Es meldet sich der, von dem sie es am wenigsten erwarteten: Gott selbst. Er scheint sie alle zu lieben.
1. Jona
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„People matter to God“, heißt es immer in Willow Creek.13 „Everybody is welcome, nobody is perfect, anything is possible“ ist das Motto der Menlo Church in San Francisco.14 Jeder ist willkommen: die gut klarkommen und die gar nicht klarkommen, Geschiedene, Deprimierte, Gebildete, Schlichte, Konservative, Linke, Moslems, Esoteriker, brav Verheiratete, Homosexuelle, Weiße, people of color, Alte, Kinder – „People matter to God!“ Was soll das aber mit unserem Thema zu tun haben? Nun, es ist das narrative Echo der reformatorischen Botschaft. Jonas offenkundige Untauglichkeit macht ihn nicht untauglich. Ninives offenkundige Bosheit ist nicht das Ende. Gott ist unermüdlich beschäftigt, zu suchen und zu finden. Wieder und wieder bricht ihm seine Welt das Herz. Für den „Jona in uns“ geht es nur darum, die Frage am Ende des Buches zu beantworten: Jona, verstehst Du mein Erbarmen nicht? Willst Du es haben? Willst Du es haben und anderen verweigern? Oder willst Du es mit anderen genießen? Das ist eine Frage, so ernst, dass alles daran hängt, auch das Kirchesein der Kirche. Und es ist eine Frage, die das Tor weit aufstößt zu Gewissheit und Freude. Aber das eine bekommen wir nicht ohne das andere. Das ist das Evangelium: nicht guter Rat zum besseren Leben, sondern gute Nachricht von allem, was Gott tat und tut, um uns zu retten.15 Timothy Keller sagt es genau so: „Gospel is good news, not good advice.“16 Und hier beginnt die Erneuerung der Kirche, bei uns und dem Evangelium. Mit der Umkehr zur Freude, mit der Freude der Umkehr. Die Leuenberger Kirchengemeinschaft sagt es in der Studie „Ecclesia semper reformanda“ von 2012 genau so: „All reform and renewal needs to be understood as the way the church continually returns to God: it is an act of repentance and is always seeking renewal through the work of the Holy Spirit.“17 Und Christina aus der Au hat darüber nachgedacht, ob wir Reformation eher wie Ovid verstehen als Rückkehr zum Alten oder eher wie Plinius als stetige Verbesserung. Als Lutheraner bin ich davon überzeugt, dass vor dem Verbessern das Rückkehren angesagt ist und vor der Arbeit die Gnade.18 Wir müssen uns der Krise stellen und uns als Kirche „besser aufstellen“, keine Frage, da ist nüchterne 13 http://www.willowcreek.org/aboutwillow/what-willow-believes – aufgesucht am 11. Juni 2016. 14 http://menlo.church/who-we-are/ – aufgesucht am 11. Juni 2016. 15 Vgl. die tiefgründige Darstellung bei Timothy Keller 2012, 29-84. 16 Ibid., 29. 17 http://www.leuenberg.net/sites/default/files/basicpage/11_ecclesia_semper_refor manda_d.pdf – aufgesucht am 11. Juni 2016. 18 http://www.ref-500.ch/sites/default/files/media/PDF/wort_bild/wer_reformiert_ hier_wen.pdf – aufgesucht am 12. Juni 2016.
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II. Reformation re-visited
Arbeit zu leisten. Aber hier, hier!, beginnt es: mit dieser Frage Gottes an Jona. Papst Franziskus hat das, was uns hier erwartet, an den Anfang seines Schreibens „Evangelii Gaudium“ gestellt: „Die Freude des Evangeliums füllt das Herz und das gesamte Leben derer, die Jesus begegnen. Diejenigen, die sich von ihm retten lassen, sind befreit von der Sünde, von der Traurigkeit, von der inneren Leere und von der Vereinsamung. Mit Jesus Christus kommt immer – und immer wieder – die Freude.“19 Freude erneuert unsere Kirche. Freude wartet auf Jona, wenn er begreift, zulässt, ergreift, was Gott ihm die ganze Zeit zeigen und schenken wollte. Freude wartet auf die ärmere, ältere, kleinere, weniger privilegierte, weniger dominante Kirche, wenn sie begreift, zulässt, ergreift, was Gott ihr in ihrer Krise aufs Neue zeigen und schenken wollte. Freude ist der Anfang der Zuwendung zur Welt. Mission ist Selbsthingabe an die Welt aus der Freude heraus und mit der Hoffnung, dass Ninive umkehrt und auch zur Freude findet. 2. Martin Luther – aber nur im Käfig? 2. Martin Luther – aber nur im Käfig? Das Thema dieses Beitrags lautet ja „Reformation re-visited“. Wie könnten wir denn der Reformation tatsächlich einen Besuch abstatten? Wir sind ja gerade auf die Schlusskurve der Vorbereitungen zum großen Jubiläum 2017 eingebogen. Der Papst trifft in Lund die Erzbischöfin von Schweden.20 Derweil erreicht der Reformator als PlaymobilMännchen die Kinderzimmer und Pastorenschreibtische. 21 Die neue Lutherbibel kommt demnächst auf den Markt.22 Berlin und Wittenberg rüsten sich für den großen Kirchentag.23 Die Schweizer Reformierten schreiben 40 neue Thesen24 und feiern ein Jugendfestival in Genf.25 Bei diesem Hype bin ich mir nicht sicher, ob wir uns im Blick auf die Erneuerung der Kirche tatsächlich trauen, bei den Reformatoren nach19
Papst Franziskus 2013, Nr. 1. https://www.luther2017.de/de/neuigkeiten/papst-reist-zu-reformationsgedenkennach-schweden/ – aufgesucht am 11. Juni 2016. 21 https://www.ekd.de/aktuell_presse/news_2015_02_20_2_luther.html – aufgesucht am 12. Juni 2016. 22 https://www.bibelonline.de/de/alle-produkte/themenwelten/lutherbibel-2017/?pk _campaign=Adwords_Campaign_Lutherbibel_2017&pk_kwd=%2Bneue%20%2B lutherbibel&gclid=CN3V0_nkoc0CFekp0wod1eAGKA – aufgesucht am 12. Juni 2016. 23 https://www.kirchentag.de/ueber_uns/reformationsjubilaeum_2017/die _idee.html – aufgesucht am 12. Juni 2016. 24 http://www.ref-500.ch/de/aktuell/thesen-fuer-das-evangelium-ein-grossteil-derschweizer-reformierten-macht-schon-mit – aufgesucht am 25. Juli 2017. 25 http://www.ref-500.ch/de/aktuell/ein-jugendfestival-genf-zur-feier-von-500jahren-reformation – aufgesucht am 11. Juni 2016. 20
2. Martin Luther – aber nur im Käfig?
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zulesen und ihnen Gehör zu schenken. In der sächsischen Stadt Zwickau fand ich dazu ein unfreiwilliges Symbol – am Zwickauer Dom. Da steht wie an vielen Kirchen der Luther als Statue an der Ecke. Das sieht zunächst auch ganz manierlich aus. Schaut man aber näher hin, so sieht man: Den Reformator hat man vorsichtshalber in einen Käfig gesteckt. Wohl gegen die Tauben! Aber irgendwie dachte ich: Das hat was. Wir ehren den großen Reformator, aber in mancher Hinsicht sehen wir ihn lieber im Käfig. Ich will den Vergleich nicht überstrapazieren, aber irgendwie kommt es mir so vor, dass wir die Impulse der Reformatoren nicht immer ernst nehmen. Betrachten wir nur einen sehr kurzen Text, den Luther 1526 seinem großen liturgischen Entwurf, der „Deutschen Messe“, vorangestellt hat.26 Die Vorrede umfasst gerade einmal sechs Seiten. Aber die haben es in sich. Drei Stichworte zeigen, wie brisant das ist, was Luther hier vorschlägt: 1. Von der Freiheit. Luther hat sich lange gesträubt, überhaupt eine Ordnung für den evangelischen Gottesdienst zu schreiben. Und man spürt sein Zögern noch hier, wo er doch endlich seinen Entwurf der Deutschen Messe anbietet. Es beginnt nämlich mit dem bemerkenswerten Satz: „Vor allen Dingen will ich gar freundlich gebeten haben, auch um Gottes Willen, alle diejenigen, so diese unsere Ordnung im Gottesdienst sehen oder befolgen wollen, dass sie ja kein nötig Gesetz draus machen, noch jemandes Gewissen damit verstricken oder fangen; sondern der christlichen Freiheit nach, ihres Gefallens brauchen, wie, wo, wann und wie lange es die Sachen schicken oder fordern.“27 Das ist der erste Satz. Das Neue Testament hat eben kein Buch Leviticus. Dieser Gedanke atmet denselben Geist wie vier Jahre später das Augsburgische Bekenntnis (1530), wenn es im siebten Artikel darüber reflektiert, was nötig ist zur Einheit der Kirche.28 „Satis est“, wenn Wort und Sakrament auf rechte Weise da sind, aber in den Zeremonien herrsche Freiheit. Daraus folgt die extrem schlanke, ja magere protestantische Ekklesiologie, mit großer Freiheit, die Dinge, also die Strukturen, Agenden, Ämter, Ordnungen zu fassen und zu ändern und neu zu fassen, wie „es die Sachen schicken oder fordern“. Theoretisch. Strukturen der Kirche sind zeitlich und nicht ewig.29 Theoretisch. Die (in dieser Hinsicht eher reformierte) Barmer Theologische Erklärung (1934) erinnert daran, dass Ordnungen zwar wandelbar, aber 26
Vgl. Martin Luther 1962, 128-133. Ibid., 128. 28 Vgl. Amt der VELKD 2013, 50. 29 So mindestens auch der Tenor des EKD-Impulspapiers „Kirche der Freiheit“ von 2006. Vgl. Kirchenamt der EKD 2006. 27
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II. Reformation re-visited
auch wiederum nicht beliebig sind, auch sie sollen verweisen, also auf Christus hinweisen.30 Dennoch: Der Verweis auf die Freiheit im Umgang mit den Strukturen ist ein wichtiger Impuls der Reformation zur Erneuerung der Kirche. Natürlich gibt es auch so etwas wie eine gesunde, nachdenkliche Vorsicht gegenüber dem Eifer, alles einfach mal eben umzustürzen. Aber das ist weniger unsere protestantische Gefahr. Bei uns regiert doch eher ein konservativer Geist, der hält, was er hat: die parochialen Grenzen, also das weitgehende Monopol der flächenbezogenen Selbstorganisation der Kirche, die Eckdaten theologischer Ausbildung, den Pfarrberuf als überanstrengten Schlüsselberuf, die Zuweisung der kirchlichen Finanzen nach der Zahl der Köpfe usw. In Zeiten der Krise reagieren wir wie jedes anständige System: Ehe wir uns auf mühsame und riskante Weise reformieren, streben wir zurück zum alten Gleichgewicht. Wir verändern uns nur durch minimalinvasive Eingriffe, die aber möglichst wenig an der alten Ordnung ändern sollen.31 Wer Neues ausprobieren will, braucht einen langen Atem, bis er eine Lizenz zum Experiment bekommt. Luther hinter Gittern? 2. Vom häuslichen Priestertum. Auch hier, in einer liturgischen Schrift, zeigt sich das, was Thomas Kaufmann die eigentliche „Kopernikanische Wende“ der Reformation nannte 32 : das Allgemeine Priestertum, also jene Unmittelbarkeit des Einzelnen zu Gott, die durch keinen geweihten Beamten des Herrn erst hergestellt werden müsste. Priesterwürde und Priesterdienst kommt so jedem zu, der getauft ist und sich auf Christus verlässt.33 In der Deutschen Messe schlägt sich das in den berühmten Sätzen über die „Dritte Weise“ nieder, die nicht so öffentlich sein müsste: „diejenigen, die mit Ernst Christen wollen sein und das Evangelion mit Hand und Munde bekennen, müssten mit Namen sich einzeichnen und etwa in einem Hause alleine sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das Sakrament zu empfangen und andere christliche Werk zu üben.“34 Er beschreibt dann noch Fragen des Almosens, der Disziplin usw. Etwas resigniert stellt er ein paar Zeilen später fest: „Aber ich habe noch nicht Leute und Personen dazu.“35 30
Vgl. Alfred Burgsmüller und Rudolf Weth 1984, 3. These. Vgl. Steffen Fleßa 2006, 154-183. 32 Vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/die-gegenwart/reformationstag-lutherskopernikanische-wende-12636264-p5.html – aufgesucht am 12. Juni 2016. 33 Vgl. Silke Obenauer 2008. 34 Martin Luther 1962, 130 = WA 19,75. 35 Ibid., 131 = WA 19,75. 31
2. Martin Luther – aber nur im Käfig?
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Dabei blieb es. Das „Allgemeine Priestertum“ im Allgemeinen und die „Dritte Weise“ im Besonderen gehören zu den liegen gebliebenen Aufgaben der Reformation. Gut gedacht, nicht konsequent durchgeführt. Bis heute neigen wir zur Pastorenkirche. Inzwischen merken wir aber, welchen Preis wir dafür bezahlen: überforderte Pfarrpersonen und unmündige Gemeinden! Rudolf Bohren fragte schon 1960 in einem Vortrag: Sind unsere Gemeinden Gemeinden Jesu Christi, sind sie „nach Gottes Wort reformierte Gemeinden“?36 Er hatte da seine Zweifel. Die Gaben des Geistes, so monierte er, hätten wir „eingesargt“ im Pfarramt: „Weithin ist der Pfarrer allein König, Priester, Prophet und Lehrer. Alle dienen dann dem Einen, und Einer dient allen. Damit aber bleibt die Gemeinde unmündig und der Pfarrer überlastet.“37 Fast 60 Jahre später wissen wir: Er hatte Recht. Es ist aber völlig unzureichend, nun ausschließlich auf die demokratischen Mitwirkungsrechte in den Gemeinden hinzuweisen oder das Allgemeine Priestertum mit markigen Worten einzufordern. Es müssten vielmehr die, die „mit Ernst Christen sein wollen“, sich einzeichnen. Anders gesagt: gefördert werden und gefordert, ermutigt, informiert, gesendet – gebildet zu mündigem Glauben. Was im Englischen „discipleship“ heißt, ist doch nichts anderes als das lebendige und mündige Christsein, das der Apostel in Epheser 4 als Wachstumsziel angibt.38 Und er weist dieses Wachstumsziel als Zurüstung der Heiligen den Hirten, Lehrern und Evangelisten zu. Wir brauchen gezielte Bemühungen, den Getauften zu lebendigem, mündigem Christsein zu verhelfen39 und sie „von der Kette zu lassen“, also ihren Priesterdienst ernst zu nehmen. Luther wollte sogar das Risiko eingehen, ihnen die Sakramente zu überlassen. Bohren wollte ihnen immerhin die Kasualien überlassen. 40 Über so etwas lächeln Kirchenführer heute nur noch milde. „Welch abstruse Idee!“ Aber wäre das nicht reizvoll: eine förderliche Leitung mit viel Vertrauen und wenig Kontrolle, weil die allgemeinen Priester hoch loyal, verlässlich und eigenständig agieren? Bei uns ist das Verhältnis von Kontrolle durch Leitung und persönlicher Verantwortlichkeit in Freiheit tendenziell zur Kontrolle hin verschoben. Trauen wir einander nicht? Oder hatte John Henry Newman recht, als er klagte: „Every human organization seems to start with a prophet and end up with a policeman.“41 36
Rudolf Bohren 2013, 87-103. Ibid., 93. 38 Vgl. Eph 4,7.11-16. 39 Vgl. Gordon MacDonald 2011. 40 Vgl. Rudolf Bohren 1979. 41 Zitiert bei George Carey 1999, 9. 37
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Der katholische Bischof Albert Rouet in Poitiers hielt es dagegen für nicht mehr hinnehmbar, Menschen zu taufen und zu Söhnen und Töchtern Gottes zu erklären, sie dann aber wieder wie Unmündige zu behandeln. Er fragt, ob „les dons du baptême“ eigentlich Konsequenzen haben für „les structures de l’église“.42 So installierte er in 300 kleinen Orten seiner ländlichen Diözese selbstständige Basisteams, die vor Ort die gemeindliche Arbeit tragen und verantworten. Kleine Gemeinden, aber viele, mündig und auf ihren lokalen Kontext bezogen. Nur eine abstruse Idee?43 Die anglikanischen Theologen Bob Hopkins und Mike Breen denken an eine pyramidale Form kirchlichen Lebens, von häuslichen Zellgruppen („Cells“) angefangen über mittelgroße missionale Gemeinschaften, sogenannte „Clusters“, bis hin zu den großen, vielleicht regionalen, ab und an stattfindenden „Celebrations“, den großen Festen des Gottesvolks in einer Region.44 Nur eine abstruse Idee? Lieber Luther hinter Gittern? 3. Von der öffentlichen Glaubensreizung. Auch wenn Wort und Sache der Mission im 16. Jh. noch nicht die deutsche kirchliche Bühne erobern, wusste Luther nur zu gut um die Not einer Kirche, deren Glieder zwar dem Namen nach Christen sind, aber auch nach eigenem Bezeugen kaum erfasst haben, unter welcher Verheißung sie seit ihrer Taufe leben. Und da kommt nun das Öffentliche ins Spiel und die Deutsche, also in der Volkssprache verständliche Messe: Denn, so schreibt er, „wir stellen solche Ordnung gar nicht um deren willen, die bereits Christen sind. Denn die bedürfen der Dinge nicht…“45 So sieht er im Volk viele, „die noch nicht glauben oder Christen sind, sondern das mehrer Teil dasteht und gaffet, dass sie auch etwas Neues sehen… Denn hier ist noch keine geordnete und gewisse Versammlung, darinnen man könnte nach dem Evangelio die Christen regieren, sondern ist eine öffentliche Reizung zum Glauben und zum Christentum.“ 46 Ich ergänze: Darum ist die Verkündigung der Rechtfertigung das Wichtigste und Nötigste. Hierin liegt die größte Herausforderung für uns heute. Sie gilt nach außen: im Blick auf die wachsende Zahl von Menschen, die das Evangelium als gute Nachricht noch nie vernommen haben. Sie gilt aber auch nach innen: im Blick auf Menschen, die zwar kirchentreu, aber glaubensfern zu uns gehören, ohne dass sich ihnen das Gute der guten Nachricht als Mitte ihres Lebens schon 42
Vgl. insgesamt Albert Rouet 2014, 208-228. Vgl. Martin Lätzel 2009, 207-240; Albert Rouet 2011, 17-42; Hadwig Müller 2007, 162-167. 44 Vgl. Bob Hopkins und Mike Breen 2007. 45 Martin Luther 1962, 129 = WA 19,73. 46 Ibid., 130 = WA 19,74f. 43
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erschlossen hätte. Justin Welby, der amtierende Erzbischof von Canterbury, sagte es in seiner Lambeth Lecture 2015 so: „First, the church exists to worship God in Jesus Christ. Second, the Church exists to make new disciples of Jesus Christ. Everything else is decoration. Some of it may be very necessary, useful, or wonderful decoration – but it’s decoration. […] The best decision anyone can ever make, at any point in life, in any circumstances, whoever they are, wherever they are, whatever they are, is to become a disciple of Jesus Christ. There is no better decision for a human being in this life, any human being.“47 Es kann uns nicht genügen, mit Konfessionslosen Dialoge zu führen, so sinnvoll und notwendig es ist. Es kann uns nicht genügen, freundlich distanzierte Kirchenmitglieder in ihrer distanzierten Mitgliedschaft zu stabilisieren, so sinnvoll und hilfreich das ist. Letztlich geht es um Mission: nach innen und außen, bei uns selbst beginnend und dann bis zu denen, die noch nie davon hörten, dass „Jesus Christus auch der Herr der Religionslosen“ (Dietrich Bonhoeffer)48 sein möchte, von Jona bis Ninive. Und natürlich geht es um Mission nach der Art Jesu Christi: in tiefem weihnachtlichen Sich-Einlassen auf die Welt der Menschen, in verwechselbarer, dienstbereiter, demütiger Gestalt (Phil 2,5-11), ausschließlich mit der Kraft der Bitte, nie der Überredung, mit dem Entschluss, lieber unter dem Nein zu leiden, als ein Ja zu erzwingen, aber mit der Sehnsucht, Menschen möchten heimkehren zu ihrer wahren Heimat beim Vater. Es geht um Mission, und ich glaube, die wird heute am besten gelingen durch lebendige, mündige Christen in ihrem Alltag.49 Man könnte gewiss sagen: Schon Luther selbst äußerte solche Gedanken selten und zögernd, und im Fortgang der Reformation siegte häufiger der Ordnungsgedanke als solch freiheitliches Wagen. Aber wenn wir der Reformation einen Besuch abstatten, sind es vielleicht gerade solche Gedanken, die uns auf die rechte Spur setzen. 3. Die Kunst der Kirchenentwicklung – aber bitte nur ordentlich? 3. Die Kunst der Kirchenentwicklung Dazu bräuchten wir freilich etwas, das vielen eher schwer fällt: den Mut zur Unordnung. Die Zukunft der Kirche, wenn sie denn eine Zukunft haben möchte, wird bunter und unordentlicher sein, als es Preu47
http://www.archbishopofcanterbury.org/articles.php/5515/lambeth-lecturesarchbishop-justin-on-evangelism-video – aufgesucht am 13. Juni 2016. 48 Dietrich Bonhoeffer 1998, 652f. 49 Vgl. Christiane Tietz 2015, 62.
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ßen und Schweizer gerne haben. Es wird vielleicht etwas von dem zeigen, was der Papst als seine „verbeulte Kirche“ favorisiert.50 Die Gestalt der Kirche hat sich in den letzten Jahrzehnten massiv verändert. Manches ist gesund und stark, anderes schwächelt, einiges scheint zu sterben. Ich sehe in diesen Veränderungen das, was dieses Wort sagt: Veränderungen. Nicht einfach (nur) Niedergang. Das wäre undankbar gegenüber allem Gelingenden und glaubenslos gegenüber Gottes Zukunft. Wir gehen durch eine Zeit der größeren Transformation hindurch. Ich glaube nicht daran, dass jeder Kirchengestalt die Zusage gilt, dass die Pforten der Hölle sie nicht überwinden51, wohl aber der „ekklesia“ Jesu, die immer neu Gestalt gewinnen wird. Ich selbst sehe einige Veränderungen, die auf uns zukommen, und ich sehe sie eher mit freudiger Erwartung als mit Sorge und Angst. Letztere zählte schon der Bergprediger nicht zu den größten christlichen Tugenden. Es sind fünf transformative Prozesse, die ich zum Schluss nennen möchte: 1. Wir entwickeln Gemeinden und Kirchen in zunehmend unübersichtlichem Gelände. Es gab eine Zeit, da waren wir zuversichtlicher, dass das, was sich hier bewährte, auch dort funktionieren wird. Die Verhältnisse hier und dort waren ja zum einen vertraut und zum anderen ähnlich. Heute sind sie vielfach fremd und keineswegs mehr ähnlich. Mein Lernprozess zwischen dem evangelischen Ostwestfalen und dem doch auch einmal evangelischen Pommern war schmerzhaft. Was in Westfalen ging, geht in Pommern nicht unbedingt, manches funktioniert vielleicht, anderes bewährt sich gar nicht. Was aber im Pommern geht, können wir meist nicht mehr an bewährten Modellen, an „best“ oder „good practices“ ablesen. Es ist eher ein Ausprobieren, Wagen, Analysieren, Verwerfen, Scheitern, Ahnen, ansatzweise Frucht Sehen. Wir haben also weniger in der Hand als früher: Unser Weg nach Ninive ist unsicher. Wir haben vielleicht eine Art missionarische Grammatik, sie umfasst das, was ich als weihnachtliche Gestalt von Mission bezeichnete, aber wir wissen noch nicht, wie die Texte aussehen werden, die wir mit Hilfe dieser Grammatik schreiben. Das ist die Einsicht, die Dave Snowdon im „Cynefin-Framework“ zum Ausdruck brachte. 52 „Cynefin“ gehört einer Sprache an, die noch komplexer als das Schweizerische ist: Walisisch! Es bedeutet: Habitat, Heimat, Lebensraum. Und dieser Lebensraum, in dem wir auf die neuen Gestalten von Kirche und Gemeinde zugehen, ist nicht mehr 50
Vgl. Papst Franziskus 2013, Nr. 49, S. 90. Vgl. Mt 16,18. 52 Zur ersten Orientierung vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Cynefin-Framework – aufgesucht am 13. Juni 2016. Vgl. im Blick auf die Kirchentheorie: Isabel Hartmann und Reiner Knieling 2014, 13-19. 51
3. Die Kunst der Kirchenentwicklung
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simpel, er ist häufig kompliziert, gelegentlich – wie etwa im nachprotestantischen Pommern – komplex oder gar chaotisch. Wir wissen immer weniger und sind immer mehr auf Experiment, auf „trial and error“ angewiesen. Denen, die leiten, ist zu raten: Gebt denen, die etwas wagen, einen Vorschuss an Vertrauen, lasst ihnen Zeit, feuert sie an und begleitet sie mit wohlwollender Kritik. 2. Wir entwickeln uns von einer Volkskirche im klassischen Sinn hin zu einer öffentlich wirksamen Minderheiten- und Missionskirche. Der Begriff „Volkskirche“ hat zahlreiche Bedeutungen, aber eine wesentliche ist die deskriptive Sicht: Eine Kirche hat den Status einer privilegierten, flächendeckenden religiösen Institution für die Mehrheit der Menschen in einem Land mit starker kultureller Dominanz. Das sind wir nicht mehr. Aber natürlich sind katholische und evangelische Kirche immer noch recht groß. Wir spielen nicht in der Liga der „Kirche des fliegenden Spaghettimonsters“. 53 Wolfgang Huber spricht von einer Großkirche, die intermediär wirkt, also zwischen den Mitgliedern, den Christen und der Gesellschaft, also etwa dadurch, dass sie christliche Ideen in öffentliche Diskurse einspeist.54 Das säkulare Driften 55 der westeuropäischen Gesellschaften lässt aber vermuten, dass wir uns auf Dauer darauf einzustellen haben, eine Minderheiten- und Missionskirche zu sein. Ich hoffe, rate und glaube, dass diese Minderheiten- und Missionskirche nicht freiwillig in den Winkel der Frömmigkeit emigriert, sondern dem Evangelium gemäß öffentlich sein will und sich öffentlich als Gesprächspartner zu Gehör bringt. Aber es wird eine Minderheiten- und Missionskirche sein. Zwei Konsequenzen möchte ich daraus ziehen: Die erste ist sehr pragmatisch. Solange wir Menschen und Mittel haben, sollten wir die Zeit gut nutzen und den Umbau selbst in die Hand nehmen, indem wir zukunftsfähige neue Formen von Gemeinde und Kirche fördern. Es wäre fatal, geradezu ein Vergraben des uns anvertrauten Pfundes, wollten wir nun ausschließlich sparen und Pensionsfonds speisen.56 Noch ist uns viel anvertraut, das wir in wachstumsfähige vitale Formen von Kirche investieren können, z. B. durch eine massive Investition in die Mündigkeit lebendiger Christenmenschen.
53
Vgl. http://www.pastafari.eu – aufgesucht am 19. Juli 2017. Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 172-174. 55 Vgl. dazu insgesamt Jörg Stolz, Judith Könemann, Malory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger und Michael Krüggeler 2014. 56 Vgl. Mt 25,18+24-29. 54
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II. Reformation re-visited
Die zweite Folge ist vielleicht auf schmerzhafte Weise tröstlich. Nach einem für mich wichtig gewordenen Gedanken von Paul Zulehner möchte ich aufhören zu subtrahieren und zu sagen: Es werden ja immer weniger. Wer das sagt, denkt ja: Sie gehörten einmal zu uns und jetzt sind sie gegangen. 57 Ich glaube eher: Jetzt wird sichtbar, dass wir ihnen nie wirklich zeigen konnten, was das Evangelium für sie hätte sein können. Jetzt wird sichtbar, wie viele innerlich nie gewonnen und überzeugt waren. Darum möchte ich nicht mehr subtrahieren, sondern zuversichtlich addieren und jeden einzelnen Menschen, der neu gewonnen wird, als Wachstum der Kirche dankbar empfangen. 3. Wir sollten innerlich und praktisch den Wechsel von der autonomen, voll versorgenden Parochie zur regiolokalen Kirche und zur Kooperation der Verschiedenen („mixed economy“) akzeptieren. Im Osten Deutschlands kann man das schon deutlich sehen: Durch zahlreiche Spar- und Fusionswellen hindurch sind die Parochien heute so groß wie kleine oder mittlere Dekanate oder Kirchenkreise. De facto ist die Pfarrperson nicht mehr der Hirte am Ort, sondern der apostolische Besucher in der Region. Das alles ruft viel Widerstand hervor. Die Nähe zu den Menschen gehe verloren, die regionale Kirche sei weit weg. Die vertraute Kirche am Ort sei gestorben. Und so könne man zwar Geld sparen, aber fördere im Grunde nur, was im Schwange ist: den weiteren Niedergang kirchlichen Lebens. In der Schweiz werden im Umfeld des Zürcher Prozesses „KirchGemeindePlus“ ähnliche Debatten geführt. 58 Wir haben da ein Dilemma: Die Schuhe, in denen wir als Kirche herumlaufen, sind viel zu groß. Aber das Neue scheint eher zu zerstören als zukunftsfähig zu machen. Was aber, wenn wir in einer Region noch einmal neu ansetzten, das Kriegsbeil begraben, Pluralität nicht länger bejammern oder einebnen, sondern sagen: Wir sind hier gemeinsam eine Verantwortungsgemeinschaft für den christlichen Glauben. So habe ich es vom EKD-Zentrum „Mission in der Region“ gelernt: Wir verabschieden das Modell, in dem alle dasselbe und alle alles tun. Wir arbeiten an einem gemeinsamen Plan, Kirche für diese Region zu sein. Wir fördern das geistliche Leben an jedem Ort, der es begehrt, nach Kräften, allerdings nicht mehr von überlasteten Hauptamtlichen, sondern von geförderten Ehrenamtlichen getragen, von lebendigen, mündigen Christen. Und wir arbeiten in versöhnter Verschiedenheit, als „mixed economy“ in der Regi57 58
Vgl. Paul Zulehner 2015, 10-19. Vgl. http://www.kirchgemeindeplus.ch – aufgesucht am 13. Juni 2016.
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on:59 Da dürfen Gemeinden Profil haben und dies auch zeigen. Da dürfen sie sich konzentrieren auf das, was sie gut können. Anderes überlassen sie anderen. Sie akzeptieren aber auch, dass die Menschen sich in der Region orientieren und nicht mehr einfach qua Wohnsitz „uns“ gehören. Manches tun sie auch zusammen, weil es besser geht oder weil zum Beispiel Konfirmandenunterricht mit „meinen“ zwei Konfirmanden durchaus nicht vergnügungssteuerpflichtig ist – für keinen. Und wir unterstützen uns gegenseitig. Aus Konkurrenz wird sportlicher Wettkampf, aber im Ernstfall stützen wir den, der Hilfe braucht. Region ist dann ein gemeinsamer Gestaltungsraum, nicht nur ein Verwaltungs-Monstrum. 4. Zur „mixed economy“ gehören dann auch gleichberechtigt und gleichbedeutend traditionelle und neue Formen von Kirche. Vielleicht haben Sie auf diesen Gedanken schon länger gewartet. Wo bleiben die „fresh expressions of church“? 60 Für mich ergeben sie Sinn, wenn ich sie im größeren Umfeld der „mixed economy“ verorten kann. In meiner regiolokalen Sicht von Kirche61 spielen nicht nur Region und Ort zusammen, sondern auch viele Formen von kirchlicher Gemeinschaft: traditionelle Ortskirchengemeinden und neue Ausdrucksformen von Kirche, landeskirchliche Gemeinschaften und die funktionalen Dienste der Kirche in Spitälern, Schulen und anderen Orten, und natürlich auch evangelisch-reformierte, evangelisch-freikirchliche, römisch-katholische und andere christliche Gemeinden. Die Gemeinde- und Kirchenentwicklung wird ökumenisch sein, wenn sie zukunftsfähig sein will. Aber dazu gehört die Bereitschaft, die Kunst der Gemeinde- und Kirchenentwicklung nicht starr an der Vergangenheit auszurichten, mit der Sehnsucht, es möge doch wieder so werden wie früher, oder mit der Hoffnung, wenigstens zu retten, was vom Früheren zu retten ist. Denn die kirchliche Landschaft wird sich verändern. Und das Richtige tut aus meiner Sicht, wer unsere heutigen Möglichkeiten für eine vitale Kirche von morgen nutzt. Und das schließt sicher ein, „fresh expressions of church“ nicht nur zu dulden, sondern zu wollen, zu provozieren und zu fördern. Das tut z. B. die Evangelische Kirche in Mitteldeutschland, dem Kernland der Reformation. Mit dem Programm „Erprobungsräume“62 hat sie die Initiative ergriffen, die parochiale Grundform von Kirche durch neue Ausdrucksformen 59
Vgl. z. B. Hans-Hermann Pompe 2016, 71-78. Vgl. Michael Moynagh 2016, 87-91. 61 Vgl. Michael Herbst 2016, 8-22; Michael Herbst und Hans-Hermann Pompe 2017. 62 Vgl. Andreas Möller und Thomas Schlegel 2016, 106-108. Und: http://www.ekmd.de/aktuell/projekteaktionen/erprobungsraum/ – aufgesucht am 13. Juni 2016. 60
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zu ergänzen. Sie kann das nicht anordnen, aber anregen und fördern. In einer Art Wettbewerb können sich Initiativen um Unterstützung bewerben. Sie sollen dabei Kriterien erfüllen, die sehr den Wesensmerkmalen der anglikanischen „fresh expressions“ entsprechen: Missional, kontextuell, lebensverändernd und gemeindebildend sollen sie sein. In Mitteldeutschland sagt man es so: Hier entsteht Gemeinde Jesu Christi neu. Die Unerreichten werden mit dem Evangelium erreicht und zur Nachfolge eingeladen. Alles passiert so, dass die Akteure sich auf den jeweiligen Kontext einlassen und ihm dienen. Ehrenamtliche spielen die Hauptrolle. Alternative Finanzquellen werden erschlossen. Das alles funktioniert nicht nach volkskirchlichen Logiken, ist also nicht an parochialen Grenzen, an Kirchengebäuden, kirchlichen Agenden oder pastoralem Hauptamt orientiert. Und: Gelebte Spiritualität nimmt einen zentralen Raum ein. Hier wird auf Gott gehört und gebetet, gewartet und gehofft. 5. So sehr wir immer unser „Dabeisein beim Wirken Gottes an der Welt“ (Ernst Wolf)63 betont haben, müssen wir jetzt doch bekennen: Wir vermögen es am Ende nicht, die Kirche zu erneuern. Wir sind auf die Anfänge zurückgeworfen und das heißt: auf das Gebet und darauf, auf Gott „zu harren“.64 In seinen besten Momenten betet Jona. Und in der glücklichen Umkehr beten die Seeleute und die Heiden von Ninive. Das Beten aber, das von uns gefordert ist, ist ein Harren: ein Harren darauf, dass Gott selbst seinem Evangelium Gehör verschafft, in Menschen und durch Menschen Veränderung schafft und uns seine Kirche in all ihrer Schönheit aufs Neue zeigt. Rudolf Bohren begann seine Biographie über Eduard Thurneysen mit einer Metapher, die Thurneysen selbst 1927 verwandte: „Wir stehen wohl in einer Sommernacht am Fenster und beobachten ein heraufziehendes Gewitter. Eben hat es geblitzt an einer bestimmten Stelle des Himmels. Dorthin zeigen wir nun.“65 Bohren fährt fort: Er zeigt und wartet auf mehr. Wo es geblitzt hat, kann es wieder blitzen. Gott kann es wieder tun, wie schon so oft, bei Jona und Ninive, bei Luther und Wittenberg – und warum nicht bei uns in der Schweiz und in Deutschland?
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Zitiert bei Rudolf Bohren 2013, 90. Vgl. Ps 27,14. 65 Rudolf Bohren 1982, 13. 64
Literatur
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Papst Franziskus: Die Freude des Evangeliums. Das Apostolische Schreiben „Evangelii gaudium“ über die Verkündigung des Evangeliums in der Welt von heute. Freiburg, Basel und Wien 2013 Pompe, Hans-Hermann: Kirche in vielfacher Gestalt. Von der Notwendigkeit einer mixed economy in der evangelischen Kirche. In: Hans-Hermann Pompe, Patrick Todjeras und Carla J. Witt (Hg.): Fresh X – Frisch. Neu. Innovativ. Und es ist Kirche. Neukirchen-Vluyn 2016 (BEG Praxis), 71-78 Rouet, Albert: Auf dem Weg zu einer erneuerten Kirche. In: Reinhard Feiter und Hadwig Müller (Hg.): Was wird jetzt aus uns, Herr Bischof? Ermutigende Erfahrungen der Gemeindebildung aus Poitiers. Ostfildern 4. Aufl. 2011, 17-42 –: „Les dons du baptême et les structures de l’église“. Die Gaben der Taufe und die Strukturen der Kirche. In: Martin Alex und Thomas Schlegel (Hg.): Mittendrin. Kirche in peripheren ländlichen Regionen. Neukirchen-Vluyn 2014 (BEG Bd. 21), 208-228 Stolz, Jörg, Könemann, Judith, Purdie, Malory Schneuwly, Englberger, Thomas und Krüggeler, Michael: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-) Glaubens. Zürich 2014 (Beiträge zur Pastoralsoziologie Bd. 16) Tietz, Christiane: Kirche für alle und durch alle. Volkskirche in der Postmoderne aus systematisch-theologischer Perspektive. In: Claudia Kohli Reichenbach und Matthias Krieg (Hg.): Volkskirche und Kirchenvolk. Ein Zwischenhalt. Zürich 2015 (denkMal – Standpunkte aus Theologie und Kirche Bd. 8), 57-67 Zulehner, Paul: Wir sind Teil eines Anfangs. Von der Expertenkirche zu einer Kirche der Laien. In: Christiane Moldenhauer (Hg.): Stationen einer Reise. Beiträge zum zehnjährigen Bestehen des IEEG. Greifswald 2015, 10-19
III. Wie die Kirche wachsen kann – und was sie daran hindert1
Zur Einstimmung: „Ein Mensch hatte zwei Söhne …“ Zur Einstimmung Eine Geschichte beim Evangelisten Lukas ist in vielfacher Hinsicht eine Sehhilfe, um Themen und Probleme im Blick auf „Wachstum“ der Kirche schärfer zu erfassen:2 „Ein Mensch hatte zwei Söhne …“, heißt es da. Jesus erzählt zunächst von dem Jüngeren, der dem Vater verloren ging, weil er tief fiel. Aber er kam ganz unten zur Besinnung und fand heim. Dort erlebt er eine große Überraschung: Vater rennt ihm entgegen, verlässt sein Haus, fällt ihm um den Hals und gibt ihm Gnade und nicht nur ein Gnadenbrot. Aber ein Mensch hatte ja zwei Söhne. So erzählt Jesus auch von dem Älteren, der dem Vater verloren ging, weil er hoch aufstieg. Ob er zur Besinnung findet, bleibt offen. Vater geht auch ihm entgegen, verlässt auch für ihn den Festsaal und wirbt auch um ihn. Zwei Söhne, der eine in grob fleischlicher, der andere in fein spiritueller Verirrung. Der eine erst weg, dann wieder daheim, zur Freude des Vaters. Der andere erst da, aber eigentlich immer schon weg, zum Kummer des Vaters. Der eine gefährdet durch sein unmoralisches, religiös fragwürdiges Leben. Der andere gefährdet durch sein hochmoralisches, religiös rechtschaffenes Leben. Der eine weiß, dass er Gnade braucht, der andere will nichts davon wissen, dass er aus Gnade beim Vater sein und alles haben darf. Dass der Fromme hochgefährdet ist und tiefunglücklich, wenn er die Gnade nicht ergreift, das ist eine Botschaft. Die andere: Die Beziehung zum Vater gibt es nicht ohne des Vaters kompromisslose Bereitschaft, vor die Tür zu gehen, zu werben, zu ringen, nur damit Kinder nach Hause finden. Der Vater will kein Schrumpfen, er will Wachstum. Wachstum ist so gesehen immer Heimkehr und Rückkehr, Vaters Familienzusammenführung, Versöhnung, ein Fest, bei dem alle aufatmen, weil die Dinge wieder ins Lot kommen. Der ältere Sohn will dieses Wachstum durch Heimkehr und Einkehr hindern und droht, so sich selbst aus der Gemeinschaft des Vaters heraus zu schrumpfen. Wachstum ist so gesehen 1
Unveröffentlichte und für die Drucklegung leicht überarbeitete Gastvorlesung zur akademischen Semestereröffnung an der Theologischen Hochschule Reutlingen am 6. Oktober 2014. Den Titel für diesen Vortrag und seit langem schon viele Anregungen zur Sache verdanke ich Peter Böhlemann 2009. 2 Besonders inspirierend war dabei eine Auslegung von Timothy Keller 2012b.
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kein Zahlenspiel, kein Kalkül, keine Frage von Erfolg oder äußerer Größe. Wenn es nach ihm geht, sind alle Kinder daheim, keins draußen, weder innerlich noch äußerlich. Es geht ja um Heimkehr, ein Kind nach dem anderen. Hier im Herzen Gottes wurzelt alles, was wir über Wachstum wissen müssen. Hier bekommt unser Denken seine Richtung. So scheint Wachstum auf den ersten Blick auch ein theologisch unproblematisches Thema zu sein.3 Aber wir wären ja seltsame Theologen, wenn es dabei bliebe. Einen Moment aber bleiben wir bei dem, was unproblematisch erscheint: 1. Dass Kirche wächst, ist ihr von Gott zugesagt 1. Dass Kirche wächst, ist ihr von Gott zugesagt Wachstum ist das Kennzeichen gesunden Lebens. Was lebendig ist, wächst und will sich verändern. Das gilt nun auch für die Gemeinden und Kirchen. Sind sie lebendig, so wachsen sie. Wollen sie nicht mehr wachsen, ist etwas mit ihrer Gesundheit nicht in Ordnung. 1.1 Wachstumsperspektiven im Neuen Testament So sehen es auch etliche Zeugen im Neuen Testament. Für sie ist Wachstum das Normale. Nicht Rückschritt oder Stagnation erwarten diese Zeugen, sondern Wachstum. Sie haben dabei eine sehr komplexe Vorstellung von Wachstum. Wachstum kann den einzelnen wie die ganze Gemeinde betreffen. Dabei wechseln qualitative mit quantitativen Aussagen: Paulus schreibt, dass der Glaube und die Früchte der Gerechtigkeit wachsen sollen (2 Kor 10,15; 9,10). Die Gemeinde soll in der Erkenntnis wachsen (Kol 1,10). Zum Wachstum gehört aber auch, dass immer mehr dazukommen. „Seid fruchtbar und mehret euch“ (Gen 1,28) – das gilt im übertragenen Sinn auch für die Kirche! Die Gemeinde wächst, indem immer wieder Menschen „hinzugetan“ werden. Es wächst also auch die Zahl derer, die glauben (Apg 5,14; 12,24). Hinter dem Wachstum der Gemeinde in Glaube, Liebe und Hoffnung steht Gott, das ist die feste Überzeugung der ersten Christen: Durch Gottes Wirken wächst der Leib (Kol 2,19). Dieses und jenes Wachstum kann nun zugleich Ziel unseres Tuns werden. Wachstum darf man wollen: „Lasst uns aber wahrhaftig sein in der Liebe und wachsen in allen Stücken zu dem hin, der das Haupt ist, 3
Zum Thema äußern sich u.a. Thies Gundlach 2008, 14-29: John Finney 2007; Michael Herbst 2008; Wolfgang Hemminger und Hansjörg Hemminger 2006; Wilfried Härle, Jörg Augenstein, Sibylle Rolf und Anja Siebert 2008; Axel Noack 2007, 427-439.
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III. Wie die Kirche wachsen kann
Christus, von dem aus … der Leib wächst und sich selbst aufbaut in der Liebe“ (Eph 4,15+16). Martin Luther erklärt das so: „Sprichst du: Warum tut es Gott nicht allein und selber, so er doch wohl kann und weiß einem jeden zu helfen? Ja, er kann's wohl; er will es aber nicht allein tun, er will, dass wir mit ihm wirken, und tut uns die Ehre, dass er mit uns und durch uns sein Werk will wirken.“4 Auch Timothy Keller beschreibt den Zusammenhang von menschlicher Aktivität, die notwendig, aber nicht hinreichend ist, und vom göttlichen Geben und Gewähren, das allein hinreichend ist. Das Bild des Bauern und Gärtners zeigt, wie beides seinen Platz findet: Der Mensch muss sein Handwerk verstehen, den Garten bebauen, das Feld bestellen. Sonst wird nichts wachsen. Aber am Anfang stehen Bodenbedingungen und am Ende Wetterbedingungen, die über die Fruchtbarkeit entscheiden. Der Mensch tut, was nötig ist, aber Gott gibt Gedeihen und Wachstum. „Gott hat andere Hände als die unseren.“5 Gott sei Dank!6 1.2 Das Wachstum der Gemeinde in der „Kirchlichen Dogmatik“ Karl Barths Einer der wenigen Systematischen Theologen, die sich mit dem Wachstum der Gemeinde befasst haben, ist Karl Barth. Im vierten Band seiner „Kirchlichen Dogmatik“ geht es um die Lehre von der Versöhnung, und im § 67 geht es auf über 20 Seiten um das Wachstum der Gemeinde.7 Karl Barth versteht die christliche Gemeinde als „communio sanctorum“. 8 Und er „spielt“ mit dem Genitiv „sanctorum“: Das ist zum einen ein Genitivus subjectivus: die Gemeinschaft der Heiligen, der „sancti“. Und die „sancti“ sind die durch den Heiligen Geist geheiligten Menschen, die Christen also an allen Orten und zu allen Zeiten. Zugleich aber ist dieser Genitiv ein Genitivus objectivus: die Gemeinschaft oder Teilhabe an den heiligen Dingen, den „sancta“. Und das deutet Barth relativ breit. Lutheraner dächten hier zuerst an Wort und Sakrament. Barth denkt die heiligen Beziehungen, Begabungen und Aufgaben, an das Leben der Gemeinde vor Gott und in der Welt. Kurzum: „Communio sanctorum ist von daher gesehen: das Geschehen, in welchem die sancti an diesen sancta beteiligt sind.“9 Diese Gemeinschaft wird wachsen. 10 Da sie vom Heiligen Geist ins Leben gerufen ist, hat sie einen inneren Antrieb, eine innewohnende 4
Aus Luthers Sermon von den guten Werken, Abschnitt 30 = WA 6,227. Wolfgang Hemminger und Hansjörg Hemminger 2006, 328. 6 Vgl. Timothy Keller 2012a, 13f. 7 Diesen Hinweis verdanke ich Thomas Schlegel 2012, 126-130. 8 Vgl. zum Folgenden Karl Barth 1955, 725-747. 9 Ibid., 727. 10 Ibid., 736: „Es geschieht da ein Wachsen.“ 5
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Lebenskraft11 zum Wachsen. Ihr Wachsen geschieht wie beim Samen auf dem Acker „automatisch“ (Mk 4,28). Was ist aber diese Lebenskraft? Barth formuliert prägnant: „Als Gemeinschaft der Heiligen lebt die Gemeinde, weil und indem Jesus lebt. Jesus ist die ihr innewohnende, immanente Lebenskraft, die Kraft, in der sie wächst, in der also auch sie lebt.“12 Wachstum geschieht dann in zweifacher Weise: numerisch, in dem die Zahl der sancti wächst, und qualitativ, indem das Verhältnis der sancti zu den sancta zunimmt. Karl Barth beschreibt dies so, dass die Gemeinde ihren personellen Bestand erweitert und die Existenz neuer Heiliger hervorbringt. Barth macht hier eine theologische Anmerkung, die wir später noch mit dem empirisch Vorfindlichen konfrontieren, jetzt aber erst einmal wahrnehmen sollen: Er meint nämlich, dass die Gemeinde „die höchste Kraft auch […] extensiven Wachstums hat und also von keinem Abnehmen ernstlich bedroht, dass sie als ein per definitionem wachsendes Subjekt auch numerisch immer wieder erstaunlich zunehmen werde.“ 13 Das muss für Barth schon deshalb so sein, weil die Gemeinde zur Erfüllung ihrer Aufgaben in der Welt immer weiterer Heiliger bedürfe.14 Das aber kann nur dann mit rechten Dingen zugehen, wenn es nicht um bloße Propaganda geht, um ein Wachsen, das die Gemeinde mächtig und angesehen erscheinen lässt. Es geht dann mit rechten Dingen zu, wenn die Gemeinde zugleich ein tieferes Verhältnis der sancti zu den sancta im Auge hat. Das bedeutet zum anderen, dass sie sich energisch dem intensiven Wachsen widmet, dem Wachstum in die Tiefe. Im Originalton: „Es geht um die Kraft, in der die Heiligen zunehmen im Empfang und in der Betätigung des ihnen anvertrauten und anbefohlenen Heiligen: als sancti zunehmen in ihrem Verhältnis zu den sancta.“15 Das bedeutet Wachstum in Einsicht, Liebe, Hoffnung, Bereitschaft zum Dienst und Einsatz der Gaben. Dass das immer noch beschattet ist und bis zum jüngsten Tag beschattet bleibt von menschlicher Schuld und Schwäche, ist Barth klar und sei hier darum auch nur kurz vermerkt.16 Aber es gibt dieses Wachsen, extensiv und intensiv, weil Jesus „zunimmt“ (Joh 3,30). Die Gemeinde wird wachsen, extensiv und intensiv,
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Vgl. Ibid., 736. Ibid., 737. 13 Ibid., 729f. 14 Vgl. Ibid., 731. 15 Ibid., 733f. 16 Vgl. Ibid., 734f. 12
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III. Wie die Kirche wachsen kann
weil und insofern sie Jesus und seinem Zunehmen Raum gibt, so also „abnimmt“.17 Was ist der Ertrag dieser Überlegungen? Zum einen findet sich hier bei Karl Barth eine präzise theologisch verantwortete Verortung des Wachstumsthemas, in dem extensives und intensives Wachsen beschrieben und aufeinander bezogen werden. Zugleich wird die innere Dynamik beschrieben, mit der die Gemeinde wächst, weil sie die Gemeinde des lebendigen Christus ist. Vielleicht hilft uns das, manchen Vorbehalt gegen Wachstum als Ziel unserer Arbeit und Inhalt unseres Gebets abzulegen. So verstanden kann Wachstum gesund sein: Es geht nicht um Macht und Größe der Gemeinde. Menschen werden nicht zu Ziffern in der kirchlichen Erfolgsstatistik. Es geht auch nicht um Wachstum um jeden Preis – auch um den Preis, das Evangelium billig anzupreisen. Es geht um Gottes Reich, nicht das der Kirche.18 Achim Härtner bringt diese Perspektive deutlich zum Ausdruck: „Entscheidend scheint mir zu sein, dass wir uns in unseren Bemühungen um die Ausbreitung des Evangeliums von der theologischen Perspektive des Reiches Gottes leiten lassen und nicht vorrangig vom durchaus wünschenswerten Wachstum der eigenen Denomination.“ Es geht um Gottes Werben um jeden Menschen, es geht um ein Wachsen, das dem Dienst der Gemeinde in der Welt dient, und es geht um ein Wachsen, das intensiv ist und dann auch extensiv sein kann, das aber auch extensiv sein muss, um wiederum intensiv werden zu können. Es geht um Jesus, der zunimmt, während wir abnehmen. Zum anderen finden wir hier wesentliche Hinweise, wie und mit welchen Absichten die Kirche arbeiten muss, wenn sie ihren Teil der Arbeit am Wachstum tun will. Sie müsste die Gemeinden genau in diesen Hinsichten stärken: dass die sancti im Verhältnis zu den sancta zunehmen. Das geschieht ja nicht von selbst. Das intensive Wachstum bedarf gezielter Pflege. In den meisten Gemeinden geschieht aber in dieser Hinsicht zu wenig. Wir brauchen nicht nur evangelistische Kurse zum Glauben, wir brauchen ebenso vertiefende Kurse, in denen Christen Wesentliches lernen, das ich hier und heute nur aufzählen kann: Sie lernen, dem Glauben nach-zudenken, werden bewandert in der Bibel und geschickt zur discretio spirituum, zur geistlichen Urteilsfähigkeit. Sie lernen, wie sie eine geistliche Lebensform im Alltag und in der Gemeinde entwickeln können, wie also das Leben mit Gott nicht auf den Sonntag beschränkt bleibt. Sie lernen, ihre Kultur und die Kulturen ihrer Mitwelt zu lesen, besser zu verstehen und vom Evangelium her zu deuten. 17 18
Vgl. Ibid., 743. Achim Härtner 2011, 101.
2. Die Erfahrung
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Sie lernen, die Schönheit der Kulturen zu schätzen und deren Schatten zu durchschauen.19 Sie lernen, versöhnlich und förderlich, verbindlich und festlich miteinander zu leben. Sie lernen, wie ihr Lebensweg sie zu dem machte, was sie jetzt sind, und wie Jesus in ihnen nun Heilung und Wachstum anregt, aber auch hilft, mit dem Unveränderlichen versöhnt zu leben. Sie lernen ihre Gaben (und Grenzen) kennen und im Beruf, in der Familie, in gesellschaftlicher Verantwortung und in der Gemeinde einzusetzen. Sie werden fähig, anderen Menschen ihre Geschichte mit Jesus Christus auf eine Weise zu erzählen, die verständlich ist und neugierig macht. Zum dritten wird der Blick auf das intensive Wachstum der Gemeinde gelenkt. Das ist für methodistische Ohren nichts Aufregendes, für lutherische schon! Das Luthertum hat sein Charisma im Spiel der Theologie darin, dass es immer die Situation des Angefochtenen vor Augen hat, der allein durch den Zuspruch der Gnade getröstet und vergewissert werden kann. Es verliert aber die Konsequenzen dieses Trostes und dieser Vergewisserung leicht aus den Augen: das Wachstum im Glauben, in der Hoffnung und in der Liebe. Es fürchtet stets, der Angefochtene könne doch wieder auf sich selbst und sein Vorankommen trauen oder wegen seines Zurückbleibens verzweifeln, also zum älteren oder jüngeren Sohn vor der Tür zurückfallen. Die Reformierten, Methodisten und der linke Flügel der Reformation haben ihrerseits auch die Kraft vor Augen, mit der Menschen in der Beziehung zu Gott erneuert werden, darum betonen sie das Gebot und die Heiligung und eben auch das intensive Wachstum der communio sanctorum. Und als Lutheraner weiß ich (nicht nur im methodistischen Gästehaus), dass ich dieses reformierte Charisma im Spiel der Theologie brauche. 2. Die Erfahrung lehrt: „Hilf, Herr! Die Heiligen haben abgenommen und gläubig sind wenige unter den Menschenkindern“ (Ps 12,2) 2. Die Erfahrung Vielleicht wurden Sie innerlich schon ein wenig unruhig, weil Sie sich fragen: Wo, bitteschön, ist denn dieses großartige Wachstum? Was wir wahrnehmen können, ist doch allenthalben dieser tiefe Seufzer des Beters aus Psalm 12: Hilf, Herr! Abgenommen haben die Heiligen (also:
19 Vgl. Kevin J. Vanhoozer 2007, der auf die notwendige „Exegese“ zeitgenössischer kultureller Texte hinweist und dafür auch methodische Anleitungen anbietet.
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III. Wie die Kirche wachsen kann
Schrumpfung!). Und: Wenige sind gläubig (also: Kleinheit). So seufzen doch Landeskirchler und Freikirchler einmütig. Und in der Tat können wir Schrumpfungsfaktoren schneller benennen, als dass wir glaubwürdige Wachstumsgeschichten erzählen könnten. 2.1 Die Kirchenmitgliedschaft in der EKD Die erste Beobachtung berührt die Kirchen-Statistik: Zwischen 2000 und 2010 haben die deutschen evangelischen Landeskirchen gut 10 % ihrer Mitglieder verloren; sie sind von 26,6 Millionen auf 23,9 Millionen Mitglieder geschrumpft.20 Der Gottesdienstbesuch liegt an einem beliebigen Sonntag bei gut 3,5 % der Kirchenmitglieder. In absoluten Zahlen klingt das immer noch beeindruckend: in 18.000 evangelischen Gottesdiensten versammeln sich etwa 850.000 Menschen.21 Aber es sind eben 850.000 von gut 23 Millionen. 2.2 Und der Osten bleibt indifferent In Ostdeutschland ist unter dem Druck der Verhältnisse der Anteil der Mitglieder in einer der christlichen Kirchen von über 90 % nach dem 2. Weltkrieg auf 20 bis 25 % zurückgegangen. Konfessionslosigkeit ist hier der Normalfall, Zugehörigkeit zu irgendeiner Kirche die Ausnahme. Jugendweihe ist das Reguläre, Konfirmation fällt auf. Da wir es inzwischen mit der dritten Generation konfessionsloser Menschen zu tun haben, ist nahezu jede Kenntnis des christlichen Glaubens verschwunden. Es gibt bei vielen Menschen im Osten der Republik keine Sprache mehr für die Welt des Glaubens. Wer in dritter Generation konfessionslos ist, hat keine Vorstellung und keine Bilder und Worte mehr für Transzendenz: Der Konfessionslose müsste erst die Frage verstehen, bevor er mit unserer Antwort etwas anfangen könnte. Und es gibt dabei nicht ein Empfinden von Verlust oder Mangel. 22 Vielmehr herrscht die Überzeugung, auch religionsfrei mit dem Leben gut klar kommen zu können. Zusätzlich treten immer noch Mitglieder der Kirchen aus und begründen dies mit der Bedeutungslosigkeit des Glaubens für ihr Leben. Man kann dabei durchaus die Kirche schätzen. Während es im Westen Menschen gibt, die den christlichen Glauben achten, aber Probleme mit der Kirche haben, gibt es im Osten nicht wenige, die nichts vom christlichen Glauben halten, aber Sympathie für die Kirche empfinden.
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Vgl. dazu Thomas Schlegel 2012, 126-130. Vgl. http://www.ekd.de/statistik/gottesdienst.html – aufgesucht am 30. September 2014. 22 Vgl. Michael Domsgen und Dirk Evers 2014; Petra-Angela Ahrens und HansGeorg Furian 2016, 1-16. 21
3. Geistliche Zugänge
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Das Denken und Empfinden der Mehrheit in den östlichen Ländern ist aber geprägt vom späten Sieg der DDR-Pädagogik: „Wir brauchen Gott nicht!“ „Religion ist mit rationalem Denken nicht zu vereinbaren.“ 75 % der ostdeutschen Konfessionslosen bekennen sich zum Atheismus. Treffender wäre es wohl, vom Post-Atheismus zu sprechen – parallel zum Post-Feminismus. Post-Atheismus hat nicht den Atheismus hinter sich, im Gegenteil, aber Post-Atheismus hat die Debatte über den Atheismus hinter sich – Atheismus ist so selbstverständlich, dass man nicht mehr darüber reden muss.23 Dazu kommt die Gesamtlage der Gemeinden in strukturschwachen Gegenden, die für Pfarrerinnen und Pfarrer immer mehr Anforderungen bei immer weniger Unterstützung bedeutet: Die Gemeinden sind klein, in der Regel überaltert oder – wie man auch sagt – „unterjüngt“. Sie verfügen über wenige Mittel und schrumpfen weiter, weil mehr Menschen weggehen als hinzukommen, weil auch mehr Menschen sterben als getauft werden. In den peripheren ländlichen Gebieten kommen Schrumpfung und Dehnung zusammen: Die Gebiete, für die z. B. ein Pfarrer zuständig ist, wachsen immer mehr, weil die Gemeindegliederzahlen und Ressourcen schrumpfen. Dass eine Pastorin für 15 Dörfer zuständig ist, ist keine Ausnahme. In den Gottesdiensten treffen sich dann vielleicht drei, vielleicht fünf Menschen.24 3. Geistliche Zugänge: Nüchterne Wahrnehmung und hoffnungsvolle Aufbrüche 3. Geistliche Zugänge Wenn wir von der Hoffnung auf Wachstum ausgehen, aber Schrumpfung wahrnehmen: Wie können wir damit umgehen? Der Psychologe Leon Festinger hat 1957 das Konzept der „kognitiven Dissonanz“ vorgestellt. 25 Kognitive Dissonanz tritt ein, wenn unsere Wahrnehmung und unsere starken Überzeugungen nicht übereinstimmen. Wir sind von etwas überzeugt, aber die Wirklichkeit, wie wir sie sehen, passt nicht so recht dazu. Dissonanz entsteht. Das ertragen wir nicht gut, darum wollen wir beides wieder in Einklang bringen. Wenn das geschieht, können wir entweder unsere Wahrnehmung oder unsere Überzeugung korrigieren. Korrigieren wir die Wahrnehmung, dann sagen wir: „Man darf das alles nicht so dunkel und dramatisch sehen.“ Korrigieren wir die Überzeugung, dann sagen wir: „Es ist nun einmal so, dass die Gemeinde immer nur die kleine Herde ist. Es kennt der Herr die Seinen, wir dürfen nicht erwarten, dass die Gemeinde bemerkenswert wächst.“ 23
Vgl. Matthias Clausen 2013, 69-85. Vgl. Thomas Schlegel und Martin Alex 2012. 25 Vgl. Leon Festinger 2012. 24
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III. Wie die Kirche wachsen kann
Wir können aber auch sagen: Wir halten diese Spannung im Glauben aus. Wir wollen die Realität so nüchtern deuten, wie es nur möglich ist. Wir wollen wahrnehmen, was auch immer wahrzunehmen ist. Es nützt niemandem, wenn wir uns selbst belügen. Und zugleich wollen wir nicht aufhören zu glauben, dass der auferstandene Herr Wachstum will und Wachstum wirkt. Und hier muss nun nach der These und der Antithese tatsächlich die Synthese folgen. Der Gemeinde wohnt ein immanentes, österliches Wachstumsgen inne. Und doch erleben wir viel Schrumpfung und wenig Wachstum. Wie können wir am österlichen Glauben festhalten, ohne uns die Lage schön zu reden oder unsere Ziele zwergenhaft zu verkleinern?26 Vielleicht geht es so, dass wir uns klarmachen, dass uns im Prinzip hier nichts Ungewöhnliches zustößt: Die Wachstumsgleichnisse im Neuen Testament schärfen unseren Blick dafür in einer eigenen Weise. Nehmen wir als Beispiel das Gleichnis vom Sämann und dem vierfachen Ackerfeld (Lk 8,4-8). Großzügig streut der Sämann den Samen auf den Acker der Welt. Und dann wird alles gut, der Bauer fährt sofort eine gewaltige Ernte ein und alle staunen über seinen Erfolg. Nein, so ist es nicht. Wer auf Wachstum hofft, sozusagen eine Vision vom verheißenen Wachstum teilt, muss von der Vision aus durch die Frustration. Anders geht es weder in der natürlichen Welt noch im Reich Gottes zu. Keine Vision ohne Frustration, auch die vom verheißenen Wachstum der Gemeinde nicht. Wer wüsste nicht von Frustration zu erzählen – je zuversichtlicher die Vision, desto größer das Frustrationspotenzial. Zuweilen scheint es keinen Millimeter voran zu gehen. So vieles hemmt das Wachstum! Peter Böhlemann hat das Gleichnis in diesem Sinne einmal ausgelegt:27 Da ist der harte Boden verkrusteter Strukturen, da sind die steingewordenen Traditionen – in der lateinischen Bibel (Vulgata) heißt es von dem Felsen, auf den einige Saat fiel: Quia non habebat humorem, ihm fehlte der Humor, also fruchtbarer Humus, auf dem das Pflänzlein Gottes gedeihen könnte. Da ist das behördliche Dickicht, die zunehmende Unfreiheit gegenüber Entscheidungen, die irgendwo oben getroffen werden, uns unten aber den Weg diktieren. Da ist dicke Luft voller Rivalität und da sind schräge Vögel in der Gemeinde mit wenig Sinn für Teamarbeit, die einem das Leben schwer machen. Der Trost des Gleichnisses besteht wohl darin: Das ist ganz normal. Lass Dich nicht irre machen. Das gehört dazu. Du bist trotzdem auf dem richtigen Weg! Denn dahin führt uns das Gleichnis ja: Trotz mancher Rückschläge und schwieriger Böden fährt der Bauer am Ende eine reiche Ernte ein. 26 27
Ähnlich mit Bezug auf Festinger auch: Thomas Schlegel 2012, 126-130. Vgl. Peter Böhlemann 2009, 11.
3. Geistliche Zugänge
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Um diese Spannung aber auszuhalten, sind aus meiner Sicht einige Haltungen hilfreich, die die kognitive Dissonanz mildern. Einige davon möchte ich in diesem Abschnitt vorstellen: 3.1 Wir sehen auch gesundes Leben und vitale Gemeinden Es hilft auch nichts, wenn wir das, was es an gesunden Gemeinden gibt, nicht wahrnehmen. Es gibt auch eine gewisse Lust am Niedergang, die nichts Gutes mehr wahrnehmen kann, vielleicht auch manchmal nicht wahrnehmen will. Es gibt wachsende Gemeinden28, und das sind häufig Gemeinden, die sehr absichtsvoll einer Vision folgen, sich Ziele setzen, Neues wagen, sich nach außen öffnen und vielen Menschen Beteiligung ermöglichen. 29 Vitale Gemeinden leben aus einem Glauben, der inspiriert und Kraft gibt. Gott ist hier keine Theorie, Menschen spüren, dass er ihnen begegnet.30 3.2 Wir leisten den nötigen Rückbau und wagen den neuen Aufbau Von Axel Noack stammt das Diktum, wir müssten fröhlich kleiner werden und doch wachsen wollen.31 Für die Landeskirchen ist das eine überlebenswichtige Einsicht. Die Schuhe, in denen wir gehen, sind viel zu groß. Wir leisten uns Strukturen, die wir nicht mehr beleben und auch nicht mehr lange finanzieren können. Manches Haus wird geschlossen, manche Stelle gestrichen, manche Kirche umgewidmet werden. Aber es wäre fatal, ausschließlich eine Ekklesiologie des geordneten Rückbaus zu betreiben und nicht gezielt neu zu investieren, neue Projekte zu wagen, auf Hoffnung hin wieder aufzubrechen. Noch hat die Kirche so viele Ressourcen, dass sie dazu auch Kraft und Mittel hätte. Ich frage mich, ob sie den Willen dazu aufbringen kann, z. B. neue Gemeindeformen anzuregen, zu unterstützen und zu begleiten. Im Augenblick sehe ich mehr Rhetorik als Entschlossenheit. Das System Kirche reagiert typisch für große, alte Systeme: ein bisschen risikoscheu. Man will lieber mit minimalen Kurskorrekturen – so lange es geht – das Alte erhalten. Ein Oberkirchenrat seufzte kürzlich am Telefon: „Unsere Kirche ist so wenig bereit zu Veränderung.“ 3.3 Wir verstehen, dass auch das Wachstum der Gemeinde dem Rhythmus der Jahreszeiten folgt Von Timothy Keller können wir lernen, das Bild vom Sämann und vom Samen auch in diese Richtung hin auszulegen: Der Acker bringt nicht zwölf Monate lang Frucht hervor. Es gibt Zeiten, in denen wir aussäen und dann warten, bis die Frucht heranwächst. Es gibt Zeiten, in 28
Vgl. Wilfried Härle, Jörg Augenstein, Sibylle Rolf und Anja Siebert 2008. Vgl. auch mit ähnlichen Beobachtungen Gerhard Wegner 2014, 30-33. 30 Vgl. auch Robert Warren 2008. 31 Vgl. Axel Noack 2007, 427-439. 29
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III. Wie die Kirche wachsen kann
denen die Ernte nah ist, eine große Ernte, die nach vielen Arbeitern rufen lässt. Es gibt Zeiten, in denen die Ernte eingefahren wird. Da öffnen sich Türen und alles scheint zu gelingen. Und dann gibt es Zeiten, in denen der Acker kahl und still daliegt. Das sind Zeiten, in denen er sich vorbereitet, um im Frühjahr wieder Samen aufzunehmen und aufs Neue Frucht zu bringen. Wenn unser Acker gerade keine Frucht bringt, liegt das vielleicht daran, dass wir die Jahreszeiten falsch deuten?32 3.4 Wir lernen, dass „unser Acker außerdem unsere Berufung ist“: mit seinen Möglichkeiten und Grenzen Nicht jeder Acker hat dasselbe Potenzial. Wo ich hingestellt bin, da soll ich für Wachstum beten und arbeiten. Ich nehme mein Maß an Jesus: Er konnte sich um Einzelne mühen, eine Frau am Brunnen, ein Zöllner in seinem Haus, ein Blinder am Wegrand. Er konnte auch in überfüllten Häusern zu einer wachsenden Gemeinde sprechen, bis jemand das Dach demolierte. Er hielt auch Großveranstaltungen mit 5000 Menschen für eine gute Gelegenheit. Ob mein Acker mir eher das eine oder andere zumutet, ist offen. Mein Acker wird immer auch Dornen und Disteln haben. Und mein Acker wird gutes Land sein und seine eigene Frucht hervorbringen. In einem pommerschen Dorf kann Wachstum bedeuten, den zweiten, dritten und vierten zu suchen und zu finden, der mit mir betet und den Menschen dient. In einem suburbanen Umfeld kann Wachstum bedeuten, mit vielen jungen Familien eine Gemeinde zu bauen. In einer Metropole kann es eine vibrierende große Versammlung sein, die die spätmodernen Performer anzieht und mit Jesus bekannt macht. 3.5 Wir lernen, von unten nach oben zu addieren und nicht von oben nach unten zu subtrahieren Diesen Gedanken habe ich von Paul Zulehner gelernt, der ihn beim Festakt zum 10. Geburtstag unseres Instituts vortrug. Wir sagen: „Es werden ja immer weniger.“ Wir denken, dass alle eigentlich zu uns gehören – wenn nicht gar: uns gehören – , denn sie sind ja getauft und waren zumindest Mitglieder der Kirche. Und jetzt gehen sie auf Abstand oder verlassen uns. Wahr ist, dass die christentümlichen Verhältnisse zu Ende gehen.33 Es ist nicht mehr der kulturell abgestützte Normalfall, zur Kirche zu gehören. „Lesen wir kirchliche Statistiken und beobachten diese über Jahre hinweg, so verwenden wir nach wie vor das an die Konstantinische Ära gebundene Wort ‚nur noch’. Wir denken, dass es eigentlich 100 % sein müssten. Würden wir respektieren, dass die Menschen wählen können und müssen, wäre es angebracht, von 0 % hinaufzuzählen. Dann könn32 33
Vgl. Timothy Keller 2012a, 237f. Vgl. Paul M. Zulehner 2008, 17-30.
3. Geistliche Zugänge
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ten wir jeden, der das Evangelium als innerste Richtschnur seines Lebens und des Zusammenlebens in der zusammenwachsenden Welt wählt, als ‚Wunder’ betrachten. Es wäre auch die Zeit der jammervollen Kirchendepression vorbei. Wir könnten uns über jeden Dazugewonnenen freuen. Dieser Perspektivenwechsel würde freilich voraussetzen, dass wir nicht den schrumpfenden Bestand intelligent verwalten, sondern uns auf eine missionarische Gründerphase einstellen. Die Chancen dafür stehen nicht schlecht.“34 Ich spitze diesen Gedanken zu: Ist das, was wir erleben, die Verkleinerung der Gemeinde Jesu auf Erden? Oder wird in all den Abbrüchen nur etwas sichtbar, was eigentlich immer schon war und immer schon unsere Not war? Wird jetzt nur sichtbar, dass viele zwar der Kirche angehörten, von Gott in der Taufe mit reichsten Versprechen beschenkt, aber innerlich nie gewonnen, nie berührt, nie überzeugt wurden? Wird jetzt sichtbar, dass sie uns damit nur sagen: Wir haben hier nichts gefunden, was uns binden könnte? Wenn das nur sichtbar wird, bleibt es traurig. Aber dann müssen wir uns nicht länger dem Schein hingeben, es wären einmal so viele gewesen und würden jetzt immer weniger (Subtraktion). Wir könnten jeden, der gewonnen wird, drinnen oder draußen, begrüßen und feiern – jeder wäre doch dann ein Hinzugewonnener sanctus, der nun endlich oder erstmals an den sancta Anteil hat (Addition). Wir würden nicht lauter Abtrünnige sehen, sondern – wie es einmal ein sächsischer Oberlandeskirchenrat sagte – „ein unerhörtes Potenzial künftiger Christen“.35 3.6 Wir werden bereit, durch das Sterben hindurch zum neuen Leben zu finden Es stirbt also nicht die Gemeinde Jesu, es stirbt aber eine Gestalt der Gemeinde, an die wir uns über Jahrhunderte gewöhnt hatten. Sie stirbt langsam, aber sie stirbt. Es stellt sich uns die Frage, ob wir bereit sind, in ein Sterben einzuwilligen, das neuem Leben vorausgeht. Das Weizenkorn, das nicht in die Erde fällt und stirbt, bleibt allein, sagt Jesus, aber das Weizenkorn, das stirbt, das man begräbt und beerdigt, das bringt viel Frucht (nach Joh 12,24). Haben wir als Gemeinde unser Leben so lieb, dass wir es nicht lassen können: unsere Privilegien und unsere Stellung, unsere Liturgien und unsere Vergemeinschaftungen, unsere Vorstellungen davon, wie Kirche sein muss und wer dazu gehört – und wer nicht? Für die Anglikaner und Methodisten in England ist dieses Bibelwort besonders wichtig: Sie deuten es nicht nur auf Jesus, der sein Leben 34
Paul Zulehner 2015, 14. Horst Slesazeck in einem Vortrag 2005: Impulse zur Auseinandersetzung mit dem Weg unserer Kirche. Masch. Man. Dresden 2005. Diesen Hinweis verdanke ich meinem Kollegen Benjamin Stahl. 35
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III. Wie die Kirche wachsen kann
opferte, sie deuten es auch auf die Kirche in der Mission Gottes. Kirche nach diesem Vorbild lässt sich in einen unbekannten kulturellen Kontext aussäen und stirbt. Sie stirbt dem eigenen Bestreben ab, vor allem an der Selbsterhaltung interessiert zu sein. Stattdessen fragt sie, wie sie mit anderen und für andere im Namen Jesu diesem Ort dienen und zum Segen werden kann. Sie stirbt den eigenen Vorlieben, Gewohnheiten, Liturgien ab, bis eine neue Gemeinde aus diesem Boden hervorwächst, eine Gemeinde, in der vielleicht vieles anders ist, die aber doch erkennbar eine Gemeinschaft von Menschen ist, die Jesus lieben und nachfolgen.36 Das Lebensprinzip, von dem Karl Barth sprach, folgt diesem Geheimnis von Sterben und Auferstehen. 3.7 Wir unterscheiden, welche Probleme hausgemacht sind und nach Kurskorrektur rufen und welche wir nicht verantworten müssen Das zu unterscheiden ist wichtig, damit wir uns nicht an der falschen Stelle eine blutige Nase holen. Wenn ich in einer ostdeutschen Kleinstadt-Gemeinde lebe, dann wäre es töricht, mich auch noch für die geschichtlich gewachsene religiöse Indifferenz oder für die Abwanderung der jungen Leute verantwortlich zu machen. Aber vielleicht gilt es an anderer Stelle umzukehren: Weil wir Christen so zerstritten waren, dass es zum Hindernis des Wachstums wurde. Weil wir so mit uns selbst beschäftigt waren, dass wir kein Auge mehr für die Menschen in unserem Kiez hatten, für ihre sozialen und geistlichen Notstände, für ihr Leiden und ihre Freude, ihre Stärken und ihre Schwächen. Weil wir zwar eine missionarische Ideologie vertraten, aber die Kultur unserer Gemeinde jeden, der hinzukam, vor eine hohe Barriere stellte. Weil wir mehr am Bestand und Wachstum der Gemeinde interessiert waren als am Segen für unsere kleine Welt. Weil wir Jesus nicht gefolgt sind, als er mit uns wieder aufbrechen wollte. 4. Innovation in peripheren ländlichen Räumen – Wachstum, wo man es nicht erwartet hätte 4. Innovation in peripheren ländlichen Räumen Zum Schluss sollen überraschende Ergebnisse einer Studie vorgestellt werden, die von Wachstum berichtet, wo es vielleicht nicht erwartet worden wäre. Die Studie (unter Leitung von Thomas Schlegel erstellt) heißt „Landaufwärts“ und befasst sich mit innovativen Gemeindeprojekten in peripheren ländlichen Räumen.37 Wir forschen am IEEG seit längerem zum Thema „Ländliche Räume“, und uns interessieren am meisten (sehr) periphere ländliche Räume – 36
Vgl. Michael Herbst 2006, 77f. Vgl. Thomas Schlegel, Jörg Zehelein, Claudia Heidig, Andreas Turetschek, Stefanie Schwenkenbecher und Heike Breitenstein 2016, 171-344.
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4. Innovation in peripheren ländlichen Räumen
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von denen es in Ostdeutschland ja genügend gibt.38 In diesem Zusammenhang interessierte uns auch, ob es Innovation an der Peripherie gibt, ja vielleicht sogar Wachstum im hier beschriebenen Sinne. Wir wollten wissen, wie Wachstum beginnt. Uns interessierten nicht die Hochglanzbroschüren, wir waren nicht auf der Suche nach dem brandenburgischen „Willow Creek“ auf dem Dorf. Wie also beginnt Wachstum in Regionen, die nach gängigen Raumordnungskategorien nicht nur ländlich sind, sondern obendrein sehr peripher? Gibt es Wachstum am vielleicht unwahrscheinlichsten Ort, den man sich hätte aussuchen können? Mit (sehr) peripheren ländlichen Räumen meinen wir Regionen, die eine größere Entfernung zum nächsten Oberzentrum haben und eine geringere Einwohnerdichte als 150 Einwohner pro Quadratkilometer. Damit Sie einen Vergleich haben: Reutlingen hat eine Einwohnerdichte von 1271 Einwohnern pro Quadratkilometer und ist selbst ein Oberzentrum, also städtisch-zentral und damit so ziemlich das Gegenteil von ländlich-peripher. In ländlichen Räumen stellen sich spezifische Herausforderungen. Wir haben sechs Herausforderungen identifiziert. Der Tenor dabei ist, dass an der Peripherie alles immer dünner wird: Dort leben wenige Menschen, obendrein mit einem höheren Altersdurchschnitt. Die Entfernungen dagegen dehnen sich: Der Weg zum Arzt, zur Schule, zum Einkaufen wird immer größer. Die Orte verlieren: den Kindergarten, die eigene Grundschule, den Dorfladen, die Arztpraxis, die Kneipe. Und wehe, man braucht mal einen Notarzt oder die Hebamme. Im Osten kommt hinzu, dass von den wenigen nur wenige zur Kirche gehören. Auch das Dorf ist säkularisiert, denn „ohne Gott und Sonnenschein bringen wir die Ernte ein“. Die kirchlichen Strukturen müssen der Schrumpfung (an Menschen und Mitteln) und der Dehnung (an Entfernung) angepasst werden. Aber das ist ein Dilemma: Zieht sich auch die Kirche aus dem Dorf zurück, dann wird das Sterben des Ortes befördert. Und wenn Nähe entscheidend ist für die Kommunikation des Evangeliums, dann verstärkt jeder Akt der Konzentration und Zentralisierung zugleich die Entkirchlichung. Die Herausforderungen in der ländlichen Peripherie sind gewaltig. Nun fragen wir ja nach Wachstum. Also brauchen wir eine missionstheologische Perspektive. Wir haben einen integrativen, weiten Missionsbegriff veranschlagt, den wir wie vieles der Anglikanischen Kirche verdanken. Es handelt sich hier um die fünf Merkmale christlicher Mission, wie sie von der Lambeth-Konferenz 1988 markiert wurden: (1) Das Evangelium von Reich Gottes ist zu predigen. (2) Menschen wer38 Vgl. zu den entsprechenden Arbeiten am IEEG: Frieder Dünkel, Michael Herbst und Thomas Schlegel 2014; Michael Herbst, Frieder Dünkel und Benjamin Stahl 2016; Martin Alex und Thomas Schlegel 2014 u.a.m.
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III. Wie die Kirche wachsen kann
den unterwiesen, getauft und im Glauben gebildet. (3) Liebevoller Dienst widmet sich Menschen in allen möglichen Notlagen. (4) Ungerechte soziale Strukturen werden verändert. (5) Und die Schöpfung wird gepflegt und behütet. Wo das zusammen kommt (und nicht: wo die einen nur dieses und die anderen nur jenes tun), da geschieht Mission im Sinne der umfassenden Sendung Gottes, der missio Dei. 39 Und schließlich haben wir für die peripheren ländlichen Räume und ihre Herausforderungen in der Mission nach sozialen Innovationen gesucht. Das sind intentionale, also absichtsvolle Neugestaltungen sozialer Praxis, mit dem Ziel, Probleme besser zu lösen, als dies mit den herkömmlichen Mitteln möglich wäre. Nimmt man das alles zusammen – die peripheren ländlichen Räume mit ihren besonderen Herausforderungen, die missio Dei mit ihrem integrativen Missionsansatz, die Kriterien für soziale Innovation –, dann stellte sich uns die Frage, ob wir überhaupt „Kandidaten“ für unsere Studie finden würden. Wir haben insgesamt 79 Beispiele gefunden, die unseren Kriterien entsprachen, und sie in 12 Gruppen geclustert. Von den 79 Projekten stammten übrigens 67 aus Ostdeutschland. Die Projekte waren ungeheuer vielfältig. Da haben Christen in Mitteldeutschland ein Mehrgenerationenhaus eröffnet mit zahlreichen sozialen und kulturellen Angeboten, aber auch der Einladung, sich die ProChrist-Übertragung anzuschauen. Eine Gemeinde in Sachsen hat ihre Kirche zu einer Radwegkirche umfunktioniert. In Thüringen hat eine Dorfgemeinde gelernt, Andachten in 9 Dörfern auch ohne Pfarrer zu feiern. In Brandenburg tourt ein Bus durch das Oderbruch und bietet eine mobile missionarische Jugendarbeit an mit Schularbeitenhilfe, Gruppenarbeit, Cafébetrieb, Sport, Spiel und Andacht. Ebenfalls in Brandenburg betreibt eine Gemeinde eine Heimatstube mit Ausstellungen zur Ortsgeschichte, wo aber auch Glaubenskurse stattfinden. In Pommern hat eine Dorfgemeinde einen Glaubenskurs gemeinsam mit Konfessionslosen entwickelt. In Brandenburg wagte es eine Gemeinde, Jugendliche am Rand der Neonaziszene in ein Bandprojekt einzubinden. An allen diesen Orten an der Peripherie begannen daraufhin eine Belebung von Gemeinde und Dorf und ein behutsames Wachstum. Wir haben dafür ein kleines Werkzeug entwickelt, das uns hilft, gemeindliche Situationen zu analysieren und zu evaluieren: Wir nennen es den missionarischen Fingerabdruck. Wir betrachten darum jeden Ort und jede Gemeinde, indem wir fragen: Werden alle fünf Merkmale integrativer Mission beachtet? Dann betrachten wir die Merkmale peripherer Ländlichkeit und bewerten sie auf einer Skala von eins bis fünf. Und dann fragen wir: Reagiert diese Gemeinde mit 39
Vgl. zu den „five marks“: Michael Moynagh 2012, 129; Cathy Ross 2012, 146157.
4. Innovation in peripheren ländlichen Räumen
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ihrem Projekt auf die sechs von uns identifizierten Herausforderungen ländlicher Regionen? Aus diesen drei Betrachtungsweisen resultiert dann so etwas wie der lokale missionarische Fingerabdruck. Wir können damit genauer betrachten, was vor Ort geschieht, wo Schwerpunkte sind und wo es Defizite gibt. Wir können auch Orte miteinander vergleichen und wir sehen in der Summe vieler Fingerabdrücke, ob es insgesamt Schwerpunktbildungen und Defizite gibt. Um das wichtigste Ergebnis kurz anzudeuten: Fast alle Projekte nehmen ihren Anfang bei einer diakonischen Initiative, integrieren aber fast immer Verkündigung und Einübung in die Nachfolge Christi in ihr Tun. Am schwächsten ausgeprägt (ausgerechnet auf dem Land!) waren durchweg ökologische Aspekte. Es ist eine bestimmte Mischung von Faktoren, die das erneute Wachstum an Orten entstehen ließ, wo man eigentlich nur mit Niedergang hätte rechnen dürfen. Es ist eine Mischung, und offenbar gerät etwas in Bewegung, wo genau diese Faktoren nicht einzeln, sondern gemeinsam erscheinen: Fast überall gab es eine Schlüsselperson, oft eine Pfarrperson, die die Innovation initiierte. In der Theorie sozialer Innovation nennt man solche Schlüsselpersonen „Heroes“ (Helden). Es sind Menschen, die motivieren können, oft auch ausgesprochene Netzwerker sind. Sie bildeten stets ein Team von Überzeugten, mit dem sie die Innovation in Gang setzten. Die Mitglieder der Teams berichten durchweg, wie viel Spaß sie miteinander hatten und wie selbstständig sie mitwirken konnten. Wo es noch eine Hand voll Menschen gibt, die sich gewinnen lassen, besteht also Hoffnung. Die Teams wollen innovativ sein, etwas tun, was es hier jedenfalls noch nicht gab. Neu muss das Neue also nicht im absoluten Sinn sein, aber neu an diesem Ort. Dafür riskieren die Protagonisten etwas. Und sie tun das beharrlich, mit einem starken Wir-Gefühl. Und sie gehen Koalitionen ein, überspringen übliche Grenzen und kooperieren mit dem Bürgermeister, dem Jugendamt, dem Denkmalschutz oder der Feuerwehr. Sie tun das alles, weil die Situation sie herausfordert. Die Lage wird als unbefriedigend empfunden. Der Druck kann hoch sein: Wenn nichts geschieht, kann man bald das Licht ausmachen. Aber das darf doch nicht sein! Dabei geht es ebenso um das Gemeinwohl wie das Gemeindewohl, das Dorf und seine Verhältnisse rufen ebenso nach Hilfe wie die Kirche, deren Überleben zur Disposition steht. Andererseits entsteht gerade in der Dürftigkeit der Verhältnisse ein Freiraum: Hier ist ja fast nichts mehr, also auch nichts, was hindert.
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III. Wie die Kirche wachsen kann
Es gibt fast immer ein kontingentes Moment: Es eröffnet sich eine Chance, ein Angebot, eine Gelegenheit, eine Förderung, eine unerwartete Einladung – und die Menschen greifen zu. Und sie erfahren dann auch Unterstützung von oben; es werden wenigstens einige wenige Ressourcen bereit gestellt. Es gibt auch Widerstand, aber das Team hält durch und lässt sich nicht abschrecken. Sind das nicht „fresh expressions of church“? Man könnte das sagen: Es sind neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens, und zwar da, wo es richtig schwierig ist. Es ist für uns eine geistliche Erfahrung geworden: Gott schenkt Wachstum, wo nur Niedergang zu sehen war. Nicht überall, aber an diesem und jenem Ort. Er tut es, wie er es gerne tut: Er sammelt sich ein paar sancti, lässt sie wachsen in ihrem Verhältnis zu den sancta. Und dann brechen sie auf, und Gott vermehrt die sancti, und auf dürrem Boden wächst Gemeinde und tut dem Gemeinwohl gut. Die Kirche Jesu Christi wächst. Literatur: Literatur Ahrens, Petra-Angela und Furian, Hans-Georg: Religionslos glücklich. Brennpunkt Gemeinde – Studienbrief G4/69 (2016), 1-16 Alex, Martin und Schlegel, Thomas (Hg.): Mittendrin. Kirche in peripheren ländlichen Regionen. Neukirchen-Vluyn 2014 (BEG Bd. 21) Barth, Karl: Das Wachstum der Gemeinde. In: Karl Barth: Die kirchliche Dogmatik. Zürich 1955, Bd. IV/2, 725-747 Böhlemann, Peter: Wie die Kirche wachsen kann und was sie davon abhält. Göttingen 2. Aufl. 2009 Clausen, Matthias: Evangelistisch predigen vor Post-Atheisten. In: Matthias Clausen, Michael Herbst und Thomas Schlegel (Hg.): Alles auf Anfang. Missionarische Impulse für Kirche in nachkirchlicher Zeit. Neukirchen-Vluyn 2013 (BEG Bd. 19), 69-85 Domsgen, Michael und Evers, Dirk (Hg.): Herausforderung Konfessionslosigkeit. Theologie im säkularen Kontext. Leipzig 2014 Dünkel, Frieder, Herbst, Michael und Schlegel, Thomas (Hg.): Think Rural! Dynamiken des Wandels in peripheren ländlichen Räumen und ihre Implikationen für die Daseinsvorsorge. Wiesbaden 2014 Festinger, Leon: Theorie der Kognitiven Dissonanz. Unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1978. Bern 2012
Literatur
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Finney, John: Wie Gemeinde über sich hinauswächst. Zukunftsfähig evangelisieren im 21. Jahrhundert. Neukirchen-Vluyn 2007 (BEG Praxis) Gundlach, Thies: Zum Mentalitätswandel in der Kirche. Wie wächst kirchliche Qualität? PTh 97 (2008), 14-29 Härle, Wilfried, Augenstein, Jörg, Rolf, Sibylle und Siebert, Anja: Wachsen gegen den Trend. Analysen von Gemeinden, mit denen es aufwärts geht. Leipzig 2008 Härtner, Achim: Missionarisch Gemeinde sein. An Gottes Mission teilhaben mit unterschiedlichen Gemeindeformen. In: Wilfrid Haubeck und Wolfgang Heinrichs (Hg.): Gemeinde der Zukunft – Zukunft der Gemeinde. Aktuelle Herausforderungen der Ekklesiologie. Witten 2011 (Theologische Impulse Bd. 22), 81-104 Hemminger, Wolfgang und Hemminger, Hansjörg: Wachsen mit weniger. Konzepte für die evangelische Kirche von morgen. Gießen und Basel 2006 Herbst, Michael: Wachsende Kirche. Wie Gemeinde den Weg zu postmodernen Menschen finden kann. Gießen und Basel 2008 –: (Hg.): Mission bringt Gemeinde in Form. Gemeindepflanzungen und neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens in einem sich wandelnden Kontext. Deutsche Übersetzung von: „Missionshaped Church. Church Planting and Fresh Expressions of Church in a Changing Context“ (2004). Neukirchen-Vluyn 2006 (BEG Praxis) Herbst, Michael, Dünkel, Frieder und Stahl, Benjamin (Hg.): Daseinsvorsorge und Gemeinwesen im ländlichen Raum. Wiesbaden 2016 Keller, Timothy: Center Church. Doing Balanced Gospel-Centered Ministry in Your City. Grand Rapids 2012a –: Der verschwenderische Gott. Von zwei verlorenen Söhnen und einem liebenden Vater. Basel 3. Aufl. 2012b Moynagh, Michael: Church for every context. An introduction to theology and practice. London 2012 Noack, Axel: Fröhlich kleiner werden und dabei wachsen wollen. In: Wolfgang Nethöfel und Klaus-Dieter Grunwald (Hg.): Kirchenreform strategisch. Glashütten 2007, 427-439 Ross, Cathy: An Exposition and Critique of the Five Marks of Mission. In: Christoph Ernst (Hg.): Ekklesiologie in missionarischer Perspektive. Beiträge zur siebenten Theologischen Konferenz im Rahmen des Meissen-Prozesses der Kirche von England und der Evangelischen Kirche in Deutschland, in Salisbury/England
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III. Wie die Kirche wachsen kann
(2011) = Ecclesiology in mission perspective. Leipzig 2012, 146-157 Schlegel, Thomas: Kleine Kirche groß: Vom Wachsenwollen und Kleinerwerden. Brennpunkt Gemeinde 65 (2012), 126-130 Schlegel, Thomas und Alex, Martin (Hg.): Leuchtfeuer oder Lichternetz – Missionarische Impulse für ländliche Räume. NeukirchenVluyn 2012 (BEG Praxis) Schlegel, Thomas, Zehelein, Jörg, Heidig, Claudia, Turetschek, Andreas, Schwenkenbecher, Stefanie und Breitenstein, Heike: Landaufwärts – Innovative Beispiele missionarischer Praxis in peripheren, ländlichen Räumen – Die Greifswalder Studie. In: Kirchenamt der EKD (Hg.): Freiraum und Innovationsdruck. Der Beitrag ländlicher Kirchenentwicklung in „peripheren Räumen“ zur Zukunft der evangelischen Kirche. Leipzig 2016 (Kirche im Aufbruch Bd. 12), 171-344 Vanhoozer, Kevin J.: What is everyday theology? How and why Christians should read culture. In: Kevin J. Vanhoozer, Charles A. Anderson und Michael J. Sleasman (Hg.): Everyday theology: how to read cultural texts and interpret trends. Grand Rapids MI 2007, 15-60 Warren, Robert: Vitale Gemeinde. Ein Handbuch für die Gemeindeentwicklung. Neukirchen-Vluyn 2008 (BEG Praxis) Wegner, Gerhard: Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas? Leipzig 2014 Zulehner, Paul: Wir sind Teil eines Anfangs. Von der Expertenkirche zu einer Kirche der Laien. In: Christiane Moldenhauer (Hg.): Stationen einer Reise. Beiträge zum zehnjährigen Bestehen des IEEG. Greifswald 2015, 10-19 –: Aufbrechen oder Untergehen. Wie können unsere Gemeinden zukunftsfähig werden? In: Michael Herbst, Jörg Ohlemacher und Johannes Zimmermann (Hg.): Missionarische Perspektiven für die Kirche der Zukunft. Neukirchen-Vluyn 3. Aufl. 2008 (BEG Bd. 1), 17-30
IV. Kommunikation des Evangeliums1
1. Die Kirche als Hybrid 1. Die Kirche als Hybrid Wohin geht die Reise der Kirche? Welche Gestalt soll sie annehmen, um der Kommunikation des Evangeliums am besten zu dienen? Das ist die Frage, die uns am Greifswalder Institut beschäftigt. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong haben vorgeschlagen, die empirische Kirche als ein Hybrid aus drei gleichzeitig existierenden Idealbildern oder „Modellen“ mit je eigenen Handlungslogiken zu verstehen.2 Zu diesem Hybrid gehört erstens die Kirche als Institution. Sie entspricht dem Idealbild der Volkskirche, zu der die meisten Menschen gehören, und die für die religiöse Betreuung der Menschen von den meisten für zuständig gehalten wird, ohne dass sich sehr viele Menschen intensiv in ihr engagieren müssten. Zu diesem Hybrid gehört zweitens die Kirche als Gruppe oder Bewegung. Intensive Gemeinschaft (Nähe) und engagierter Dienst markieren die Eigenarten dieses Idealbildes. Zu diesem Hybrid gehört drittens als jüngstes Modell die Kirche als Organisation. Hier greifen organisationsförmige Logiken wie etwa kirchliche Reformprozesse oder der Einsatz von MarketingMaßnahmen, um die (nicht mehr selbstverständliche) Akzeptanz der eigenen Dienstleistungen zu fördern. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong sehen in allen drei Logiken Notwendiges für die Kirche aufbewahrt. Keine der Logiken kann allein das komplexe Dasein der Kirche erklären. Keine allein reicht, um die Kirche der Zukunft zu gestalten. Alle drei Logiken kommen faktisch vor, auch wenn manche Konzeptionen suggerieren, man könne sich auf eine beschränken. Die Kollegen aus Bonn und Kiel wollen das keineswegs: Sie sehen im „Hybrid“ wie beim Hybridmotor besondere Antriebskräfte für die Kirche gerade in der Verknüpfung der drei Logiken. 1 Leicht überarbeitetes und erweitertes Impulsreferat zur Akademischen Disputation zum 10. Geburtstag des IEEG in Greifswald am 14. Juni 2014, veröffentlicht als IEEG Broschüre: Michael Herbst 2015, 25-29. 2 Vgl. Eberhard Hauschildt 2007, 56-66; Eberhard Hauschildt und Uta PohlPatalong 2013, 138-219.
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IV. Kommunikation des Evangeliums
Die Konzepte der missionarischen Gemeindeentwicklung zeigen eine Tendenz, sich diesem komplexen Bild von Kirche sowohl anzunähern als es auch in einer profilierten Weise zu akzentuieren. Vorstellungen von einer „missionarischen Volkskirche“ 3 zeigen, wie sich hybride Kirchenmodelle unter Einschluss der missionarischen Konzeptionen darstellen: Ein Ja zur Volkskirche als (im Westen noch gegebene) Mehrheitskirche mit unterschiedlichen Bindungsformen verbindet sich mit einem Ja zu organisationsförmigen Reformprozessen und einer Förderung von missionarischen Arbeitsformen, die unter Getauften wie Konfessionslosen um Zustimmung und Teilhabe werben. In allen drei Weisen, in denen sich die sichtbare Kirche zeigt, besteht die Möglichkeit, dass sich Kommunikation des Evangeliums ereignet. Die profilierte Akzentuierung zeigt sich darin, dass das Hybridmodell in seiner analytischen Leistungsfähigkeit bejaht wird. Aber die meisten Protagonisten einer missionarischen Gemeindeentwicklung weisen dann der Institution und der Organisation einen dienenden Charakter zu; sie sollen das Entstehen und Wachsen von Kirche als Gruppe und Bewegung fördern. Institution und Organisation sind dann intensiv gepflegte, positiv bewertete und hoffnungsvoll belebte Ermöglichungsräume für die „communio sanctorum“, ihr gemeinsames Leben, ihren Dienst und ihre Anbetung Gottes.4 Manche sagen: Damit dieses Hybridmodell bestehen kann, braucht es auch Orte der besonders intensivierten Kommunikation des Evangeliums wie Gruppe und Bewegung. Andere sagen: Diese besonders intensivierte Kommunikation ist eigentlich der erstrebenswerte Normalfall, auf den Institution und Organisation vorbereiten und hinwirken sollen. Warum? 2. Mission – Gemeinde 2. Mission – Gemeinde Eine Analyse dieser beiden Worte vermag etwas präziser diesen in Greifswald vertretenen kirchentheoretischen Schwerpunkt zu beschreiben: 2.1 Missio Dei Mit der Ausrichtung der Gemeindeentwicklung an der Mission Gottes verbinden sich gleich mehrere Assoziationen: Zum einen wird die Situation der Christenheit in Deutschland (West und Ost) als missionskirchlich verstanden: 3
Evangelische Kirche im Rheinland 2006. Vgl. z. B. Klaus Douglass 2001, 284-286. Radikaler wird diese Dienstfunktion bei Fritz Schwarz verstanden, der nicht nur Institution und Ereignis unterscheidet, sondern kategorial trennt: Vgl. Fritz Schwarz 1980.
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2. Mission – Gemeinde
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Wolfgang Huber hat die Lage der Volkskirche in Deutschland analysiert und folgert aus seinen Befunden, dass wir uns in einer „missionskirchlichen Situation“5 befinden. Dann aber fordert er: Will man (mit guten Gründen) am Selbstverständnis der Kirche als Volkskirche festhalten, dann sollte diese Selbstzuschreibung jedenfalls eine missionarische Dimension einschließen: „Damit lässt sich ein Begriff der Volkskirche verbinden, der die Volkskirche als ‚Kirche für das Volk‘ und zugleich als ‚Kirche durch das Volk‘ versteht. Ihm gemäß ist in der Verkündigung des Evangeliums an ‚alles Volk‘ und im Einsatz für die Gesellschaft und ihre Glieder das besondere Proprium der Kirche zu sehen […]. In diesem Sinn erneuert sich die Kirche als Volkskirche dann, wenn Menschen von der Wahrheit des Evangeliums ergriffen und zur Gemeinschaft der Glaubenden verbunden werden.“6 Wenig später heißt es dann deskriptiv („Situation“) und normativ („Auftrag“) formuliert: „Wenn man am Begriff der Volkskirche zur Explikation eines Kirchenverständnisses festhalten will, das der Situation und dem Auftrag christlicher Kirchen im Mitteleuropa des 21. Jahrhunderts gemäß ist, dann muss er so geartet sein, dass er zur Wahrnehmung der in dieser Region vermutlich auf lange Zeit bestehenden missionskirchlichen Situation nicht im Widerspruch steht.“7 Paul Zulehner spricht immer wieder vom Ende der christentümlichen Verhältnisse.8 Das kulturgestützte, selbstverständliche Christsein der meisten Bürger (Kirche als Institution) schwindet immer mehr. Unser Ziel muss ein persongestütztes Christsein sein, das diasporafähig ist.9 Die 5. Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung zeigte bereits 2012, dass die „kirchliche Mitte“ zwischen den intensiv verbundenen und hochreligiösen Menschen einerseits und den nahezu austrittswilligen, schwach verbundenen Menschen andererseits immer mehr schrumpft: „Blickt man auf die Entwicklungen der vergangenen 20 Jahre zurück, fällt bei den Angaben der Evangelischen zur Verbundenheit mit ihrer Kirche besonders die Tendenz zur Polarisierung auf: Der Anteil Evangelischer, die sich ihrer Kirche ‚sehr‘ oder ‚ziemlich‘ verbunden fühlen, ist ebenso gestiegen wie der Anteil derer, die sich ihrer Kirche ‚kaum‘ oder 5
Vgl. grundlegend zum Paradigmenwechsel von der Volks- zur Missionskirche Wolfgang Huber 2003, 249-254, Zitat 253. 6 Ibid., 253. 7 Ibid. 8 Vgl. z. B. in seinem Vortrag zur Eröffnung des IEEG in Greifswald: Paul M. Zulehner 2008, 17-30. 9 Vgl. zum Begriff des diasporafähigen Glaubens Johannes Zimmermann 2010, 3962.
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IV. Kommunikation des Evangeliums
‚überhaupt nicht‘ verbunden fühlen. Die Mittelposition ‚etwas verbunden‘ ist mit 25 % auf dem niedrigsten Stand seit 1992.10 Die Vertreter einer „stabilen Volkskirche“ setzten aber genau auf dieses Segment und legten immer größten Wert darauf, dass es eine stabile Kirchlichkeit auch bei distanziertem Teilnahmeverhalten gibt. Den Vertretern der missionarischen Gemeindeentwicklung hat das noch nie eingeleuchtet. Abgesehen von der Frage, ob „stabile Kirchlichkeit“ ein ausreichend ehrgeiziges Ziel kirchlicher Arbeit sein kann, erweist sich nun, dass Teilnahme am Gottesdienst, enge Verbundenheit mit der Kirche, Bereitschaft zur Mitarbeit und zur religiösen Kindererziehung viel enger miteinander korreliert sind, als mancher bisher wahrhaben wollte.11 Andere Untersuchungen bestätigen diesen Eindruck, z. B. die Sinus-Studie „Evangelisch in Baden und Württemberg“ (SSBW, 2012), die acht Typen der Verbundenheit der Kirche differenziert und eine ähnliche Polarisierung bei den Kirchenmitgliedern wie die Kirchenmitgliedschafts-Untersuchung der EKD (KMU V, 2012) aufweist: „Wir erkennen grundsätzlich zwei Blöcke von Einstellungen: einerseits Haltungen von Menschen, die – wenn auch in unterschiedlicher Weise – Interesse an Kirche oder Glaube haben, und von solchen, die – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen – eine innere oder äußere Distanz zu Kirche oder zum Glauben haben.“12 Zum ersten Block gehören traditionelle Kirchgänger (9 %), Christen im Alltag (13 %), Weltoffene Stützen (15 %) und sozial Engagierte (7 %). Zum zweiten Block gehören spirituell Suchende (6 %), moderne Unbeteiligte (10 %), enttäuschte Kritiker (18 %) und säkular Distanzierte (22 %).13 Man kann nun einerseits sagen: Das ist der „fromme“ Südwesten, wo noch 44 % der Menschen eine große Nähe zum christlichen Glauben und zur Evangelischen Kirche zeigen. Man kann andererseits sagen: Auch im „frommen“ Südwesten sind die Krisenanzeichen unübersehbar, wenn die größte Teilgruppe aus säkular Distanzierten besteht und fast ein Fünftel der Befragten ausmacht, und wenn 56 % der Menschen kaum Interesse am kirchlichen Leben zeigen. Auf jeden Fall sieht man aber, dass die Gruppe der treuen Kirchenfernen, also das mittlere Niveau zwischen Nähe und Distanz auf ein Allzeit-Tief gesunken ist: Zählt man nur die „modernen Unbeteiligten“ dazu, sind es gera10
Evangelische Kirche in Deutschland 2014, 12. Ibid., 43-49. 12 Heinzpeter Hempelmann, Ulrich Heckel, Karen Hinrichs und Dan Peter 2015, 207. 13 Vgl. Ibid., 208. 11
2. Mission – Gemeinde
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de einmal 10 %, rechnet man spirituell Suchende dazu, sind es 16 %. Der badische Oberkirchenrat Matthias Kreplin geht von diesen 16 % aus und zieht daraus seine Schlüsse, wenn er feststellt, „dass im Spektrum zwischen hoher Kirchenverbundenheit auf der einen Seite und großer Distanz auf der anderen Seite die jeweiligen Ränder stärker werden.“14 Das aber muss Auswirkungen auf die Selbstwahrnehmung der Kirche und ihre künftigen Strategien haben: „Von großer Bedeutung ist die Einsicht, dass das Mittelfeld, bestehend aus ‚Spirituell Suchenden‘ und ‚Modernen Unbeteiligten‘, die in kirchlichen Untersuchungen der Vergangenheit häufig als die ‚treuen Kirchenfernen‘ bezeichnet werden, relativ zu diesen beiden Blöcken am Rand des Spektrums mit 15 % in Baden und 17 % in Württemberg deutlich weniger stark ist, als es der gängigen kirchlichen Selbstwahrnehmung entspricht.“15 Kurzum: Wir „haben“ die Menschen nicht mehr, wir sind gerufen, ihnen das Evangelium vorzustellen und zu hoffen, dass sie es entdecken und annehmen. Zum anderen steckt damit die Kirche insgesamt mitten in einer tiefen Transformationskrise. Sie muss in der Tat in allen drei Hybrid-Anteilen umsteuern: hinsichtlich der verbliebenen institutionellen Anteile, hinsichtlich der Weiterentwicklung der Organisation (z. B. durch Versuche der Regionalentwicklung) und hinsichtlich der Förderung missionarischer Formate für die Kirche als Gruppe/Bewegung. Der missionarische Impuls mahnt und ermutigt an dieser Stelle, nicht nur einen geordneten Rückbau16 zu organisieren und sich ausschließlich auf das Schrumpfen einzustellen (wiewohl dies auch notwendig ist, wenn z. B. demografische Faktoren zeigen, dass definitiv auch bei bestem Verlauf kein Wachstum zu erwarten ist), sondern ebenso mit den noch (relativ reichlich) vorhandenen Ressourcen neue Initiativen zu fördern, die den Aufbruch in eine neue, wieder wachstumsfähige Kirchlichkeit wagen wollen – auch wenn deren Erfolg unsicher ist. Christian Hennecke hat das schöne Bild geprägt, dass die Kirche nun „über den Jordan“ müsse. 17 Entgegen der sprichwörtlichen Deutung, dass damit das Ende eingeläutet wird, weiß die biblische Metaphorik, dass der Übergang über den Jordan zwar riskant ist und ins Ungewisse führt, es sich aber für die von Gott gesandte Kirche empfiehlt, den Kundschaftern einer verheißenen Zukunft mehr zu trauen als den Bedenkenträgern, die lieber rückwärtsgewandt leben und möglichst lange im Alten ausharren möchten. Der katholische Theologe Hennecke da14
Matthias Kreplin 2015, 252f. Ibid., 253. 16 Vgl. auch Paul M. Zulehner 2008, 18. 17 Christian Hennecke 2006, 9-19. 15
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IV. Kommunikation des Evangeliums
gegen formuliert eine vom Glauben inspirierte Sicht: „dass Gott dabei ist, seine Kirche durch die Wüste hindurch spirituell zu erneuern und so in das verheißene Land zu führen.“18 Schließlich hat sich gegenüber früheren Texten etwa aus den 1970er Jahren das Verständnis von Mission deutlich geweitet. Wer von missionarischer Gemeindeentwicklung spricht, meint zum einen ein integratives Verständnis von Mission und denkt zum anderen an Mission als entschiedene Verwurzelung in diversen sozialen und kulturellen Kontexten. 19 Dazu müssen die missionarischen Protagonisten aber bereit sein, die eigenen sicheren vier Wände zu verlassen und nicht nur (mit einer verräterischen Metapher) Menschen „abzuholen“, sondern mit ihnen (und nicht nur für sie) an der Kommunikation des Evangeliums und der Bildung einer neuen „communitas“ des Glaubens teilzuhaben.20 Diese Verwurzelung schließt die Bereitschaft ein, sich neu zu lokalisieren, Vertrautes hinter sich zu lassen und kulturelle Texte lesen zu lernen, um das Evangelium in einem neuen Kontext neu kommunizieren zu können. In der Church of England wird hier immer wieder auf Joh 12,24 verwiesen: Das Weizenkorn muss sterben, um neue Frucht bringen zu können. Missionarisch ist Gemeindeentwicklung, wenn mit dem Aussäen in einen neuen Boden diese Bereitschaft verbunden ist, dem vertrauten Eigenen zu sterben und etwas Neues entstehen zu sehen. Ein solcher neuer Boden kann ein bestimmtes Milieu sein, eine periphere ländliche Region oder eine nahezu vollständig entkirchlichte Plattenbausiedlung,21 eine Berufsgruppe oder ein künstlerisches Netzwerk u.v.m. 2.2 Gemeinde Im Blick auf das Verständnis von Gemeinde als dem Biotop, in dem christlicher Glaube entstehen, wachsen, Krisen durchleben und erhalten werden kann, finden wir uns mitten in einem heftigen Streit vor: zwischen den Freunden intensiver und dauerhafter Gemeinschaft als Ausdruck evangelischer Verbindlichkeit und den Freunden respektvoller Anerkennung distanzierter Kirchlichkeit als Variante evangelischer Freiheit. Auf der einen Seite plädiert etwa Isolde Karle für die Kirche vor Ort, im Wesentlichen als Parochie mit starkem Pfarramt, in der sich die unverzichtbare Gemeinschaft unter leiblich Anwesenden ereignet. „Die Weckung und Stärkung des Glaubens setzt die Beziehung der Gläubigen, die congregatio sanctorum, notwendig voraus. Wortverkündigung
18
Ibid., 15. Vgl. Johannes Zimmermann 2009, 498. 20 Vgl. Timothy Keller 2012, 89-107. 21 Vgl. G. Burkhard Wagner 2012, 118-133. 19
2. Mission – Gemeinde
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und Versammlung der Gläubigen sind unmittelbar miteinander gekoppelt.“22 Oder auch: „Ohne Beziehung verfällt der Glaube.“23 Auf der anderen Seite plädiert etwa Gerald Kretzschmar für den nötigen Respekt vor Distanz als typischem Merkmal moderner Gesellschaften, die nur durch gelegentliche Teilnahme „bei Gelegenheit“ unterbrochen werde.24 Strategien der missionarischen Gemeindeentwicklung gehen stets davon aus, dass dauerhafte, intensive Partizipation an Versammlungen unter Wort und Sakrament konstitutiv für den christlichen Glauben sind. Theologisch gesprochen lebt der Glaube von einem Wort, das sich keiner selbst sagen kann. Soziologisch ist er auf die Plausibilitätsstruktur regelmäßigen Austauschs verwiesen, ohne den der Glaube in der gesellschaftlichen Minorität (als „kognitive Minderheit“) nicht überleben kann (P. Berger).25 Zugespitzt formuliert (angesichts des Schwindens einer freundlichen Mittelgruppe der Distanzierten, die bei Gelegenheit aktiviert werden): Wen soll das Angebot einer „Kirche bei Gelegenheit“26 zukünftig noch verlocken, Glied der Evangelischen Kirche zu sein? Wo das weiterhin propagiert wird, klingt es nach einer Kirche, die im Niedergang ist, sich auf Bescheidenheit einrichtet und für ihre Zukunft nicht mehr erhofft als einen Platz am Rand der Existenz heutiger Zeitgenossen. Das Plädoyer für mehr Gemeinschaft ist mehr und anderes als ein Plädoyer für ein parochiales Monopol und geht darum über Isolde Karle hinaus, weil auch andere Gestalten der „communitas“ denkbar und wünschenswert sind. Ebenso ist das dezidierte Ja zu verbindlicher Gemeinschaft als Normalfall christlicher Existenz mehr und anderes als eine Verpflichtung aller auf bestimmte Geselligkeitsformen im Sinne einer „Vereinskirche“. Hier ist die kirchentheoretische Debatte oftmals sprachlich unpräzise, indem sie mit dem berechtigten Hinweis darauf, dass bürgerliche Geselligkeit nicht jedermanns Ding sei, auch die Bedeutung von regelmäßiger geistlicher Gemeinschaft schlechthin für obsolet erklärt und sich auf ein Distanzmodell zurückzieht. Dieses Distanzmodell verliert aber mit jeder Kirchenmitgliedschaftsstudie mehr an Plausibilität. Eine kontextuell sensible missionarische Gemeindeentwicklung steht aber ihrerseits vor der Herausforderung, für unterschiedliche Milieus und Lebensverhältnisse adäquate Vergemeinschaftungs-Muster zu entwickeln – und zwar mit den Menschen, die jeweils als Zielgruppe identifiziert wurden. 22
Isolde Karle 2011, 81. Ibid., 145. 24 Vgl. Gerald Kretzschmar 2012, 152-168. 25 Vgl. Johannes Zimmermann 2009, 323-364. 26 Vgl. Michael Nüchtern 1991. Kritisch dazu bereits 1996: Eberhard Winkler 1996, 157-168. 23
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IV. Kommunikation des Evangeliums
3. Pfingstliche Erwartung 3. Pfingstliche Erwartung Was tut eigentlich der Heilige Geist? So fragt Luther im Großen Katechismus. Seine Antwort: Er macht heilig! Gut, aber wie macht er das? Darauf antwortet Luther: Dazu hat Gott „eine besondere Gemeinschaft in der Welt, die die Mutter ist, die einen jeglichen Christen zeugt und austrägt durch das Wort Gottes, das der heilige Geist offenbart und in Gebrauch hält, und er erleuchtet die Herzen und feuert sie an, dass sie es begreifen, aufnehmen, daran hängen und dabei bleiben.“27 Literatur: Literatur Amt der VELKD (Hg.): Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde. Gütersloh 6., völlig neu bearbeitete Aufl. 2013 Douglass, Klaus: Die neue Reformation. 96 Thesen zur Zukunft der Kirche. Stuttgart 2001 Evangelische Kirche im Rheinland (Hg.): Vom offenen Himmel erzählen. Auf dem Weg zu einer missionarischen Volkskirche. Düsseldorf 2006 Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hannover 2014 Hauschildt, Eberhard: Hybrid evangelische Großkirche vor einem Schub an Organisationswerdung. Anmerkungen zum Impulspapier „Kirche der Freiheit“ des Rates der EKD und zur Zukunft der evangelischen Kirche zwischen Kongregationalisierung, Filialisierung und Regionalisierung. PTh 96 (2007), 56-66 Hauschildt, Eberhard und Pohl-Patalong, Uta: Kirche. Gütersloh 2013 (Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 4) Hempelmann, Heinzpeter, Heckel, Ulrich, Hinrichs, Karen und Peter, Dan (Hg.): Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche. Die SINUS-Studie „Evangelisch in Baden und Württemberg“ und ihre Konsequenzen für kirchliche Handlungsfelder. NeukirchenVluyn 2015 Hennecke, Christian: Kirche, die über den Jordan geht. Expeditionen in das Land der Verheißung. Münster 2006
27
Vgl. Amt der VELKD 2013, 584.
Literatur
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Herbst, Michael: Kommunikation des Evangeliums zwischen Evangelisation und kirchlicher Mission. In: Christiane Moldenhauer (Hg.): Stationen einer Reise. Beiträge zum zehnjährigen Bestehen des IEEG. Greifswald 2015, 25-29 Huber, Wolfgang: Art. „Volkskirche, I. systematisch-theologisch“. TRE 35, Berlin und New York 2003, 249-254 Karle, Isolde: Kirche im Reformstress. Gütersloh 2. Aufl. 2011 Keller, Timothy: Center Church. Doing Balanced Gospel-Centered Ministry in Your City. Grand Rapids 2012 Kreplin, Matthias: Erkenntnisse aus der Sinus-Studie BadenWürttemberg für das Bemühen der Evangelischen Landeskirchen um Mitgliederbindung. In: Heinzpeter Hempelmann, Ulrich Heckel, Karen Hinrichs und Dan Peter (Hg.): Auf dem Weg zu einer milieusensiblen Kirche. Die SINUS-Studie „Evangelisch in Baden und Württemberg“ und ihre Konsequenzen für kirchliche Handlungsfelder. Neukirchen-Vluyn 2015, 241-254 Kretzschmar, Gerald: Mitgliederorientierung und Kirchenreform. Die Empirie der Kirchenbindung als Orientierungsgröße für kirchliche Strukturreform. PTh 101 (2012), 152-168 Nüchtern, Michael: Kirche bei Gelegenheit. Kasualien – Akademiearbeit – Erwachsenenbildung. Stuttgart u.a. 1991 Schwarz, Fritz: Überschaubare Gemeinde. Grundlegendes – ein persönliches Wort an Leute in der Kirche. Gladbeck 2. Aufl. 1980 Wagner, G. Burkhard: Missionarisch leben in der „Platte“ – „nebenan“ in Bergen auf Rügen. In: Christiane Moldenhauer und Georg Warnecke (Hg.): Gemeinde im Kontext. Neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens. Neukirchen-Vluyn 2012 (BEG Praxis), 124-133 Winkler, Eberhard: „Kirche bei Gelegenheit“ oder Gemeindeaufbau? PTh 85 (1996), 157-168 Zimmermann, Johannes: Gemeinde zwischen Individualität und Sozialität. Herausforderungen für den Gemeindeaufbau im gesellschaftlichen Wandel. Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 2009 (BEG Bd. 3) –: Diasporafähiger Glaube: Eine Herausforderung für christliche Gemeinden in einer pluralen Gesellschaft. In: Martin Reppenhagen (Hg.): Kirche zwischen postmoderner Kultur und Evangelium. Neukirchen-Vluyn 2010 (BEG Bd. 15), 39-62 Zulehner, Paul M.: Aufbrechen oder Untergehen. Wie können unsere Gemeinden zukunftsfähig werden? In: Michael Herbst, Jörg Ohlemacher und Johannes Zimmermann (Hg.): Missionarische
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IV. Kommunikation des Evangeliums
Perspektiven für die Kirche der Zukunft. Neukirchen-Vluyn 3. Aufl. 2008 (BEG Bd. 1), 17-30
V. Wie geht es der Kirche? Wichtige Ergebnisse der fünften EKDMitgliedschaftsuntersuchung (KMU V)1
In diesem Beitrag sollen einige wesentliche Aspekte der KMU V zusammengefasst und evaluiert werden. Zuerst geht es um Verbundenheit mit der Kirche. 1. Die Verbundenheit mit der evangelischen Kirche 1. Die Verbundenheit mit der evangelischen Kirche Die Frage danach, wie verbunden sich die Evangelischen mit ihrer Kirche fühlen, wird seit der ersten KMU 1972 immer wieder gestellt. Im Jahr 2012 haben erneut die gut 2.000 Befragten diese Frage beantwortet.2 Im Ergebnis kann man eine breite Streuung der Verbundenheit erkennen: 15,7 % der Evangelischen sind hoch verbunden, weitere 28,3 % sind ziemlich verbunden. Zusammengenommen sind 44 % der Protestanten eher stark verbunden. Dann gibt es eine mittlere Kohorte, 24,9 %, das sind Menschen, die sich immerhin als „etwas verbunden“ einschätzen. Hier treffen wir wohl auf die „treuen Kirchenfernen“, die im Wesentlichen Kasualien, Kirchenjahr und Kindergarten nutzen und kaum an Austritt denken. Auf der anderen Seite haben wir 18,1 % kaum verbundene und 13 % gar nicht verbundene Mitglieder, zusammengenommen also 31,3 %, fast ein Drittel, mit einer nur noch oder immer schon schwachen Beziehung zur Kirche. Sie kommen fast nie, und sie bilden im Wesentlichen den Pool der potenziellen Austreter. Das ist alles noch sehr grob. Im Zeitverlauf ist dieses Gefühl der Verbundenheit eher stabil. Zwei Drittel der Befragten sagen von sich selbst, dass sich an ihrer Verbundenheit wenig ändert, aber etwa jeder fünfte empfand seine Zugehörigkeit zur Kirche früher als wichtiger. Nur jeder Zehnte sagt: Mein Gefühl, mit der Kirche verbunden zu sein, ist gewachsen.
1
Dieser Beitrag ist ein unveröffentlichtes Kapitel aus der Vorlesung über „Missionarische Kirchen- und Gemeindeentwicklung“ in Greifswald im Sommersemester 2016. 2 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015, 468.
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V. Wie geht es der Kirche?
In einem Zwanzig-Jahre-Vergleich kann man allerdings durchaus gewichtige Tendenzen sehen. Vergleicht man also Verbundenheit 1992 kurz nach der Wende und 2012 bei der letzten Befragung, dann sieht man eine Zunahme bei den am stärksten Verbundenen und bei den am wenigsten Verbundenen, einen Gleichstand bei den etwas schwächeren Ausprägungen und ein deutliches Schrumpfen in der kirchlichen Mitte. Das aber bedeutet: Die Mitte schrumpft, die Ränder wachsen. Erfreulich ist natürlich das Wachstum bei den stark Verbundenen. Ihre Zahl ist prozentual und in absoluten Zahlen gewachsen. Ebenso ist die Zahl derer gewachsen, die kaum eine innere Verbindung oder einen äußeren Kontakt mit der Kirche haben. Geschrumpft ist dagegen die Kohorte derer, auf die viele Konzepte der Kirchenentwicklung immer wieder gesetzt und gehofft haben: die stabile, nicht sonderlich aktive, aber kirchentreue Mitte. Die Kasualien! Das Kirchenjahr! Die Kindergärten! Für deren Schrumpfen gibt es Gründe – unter anderem diesen: Hier wird kaum etwas an die nächste Generation weitergegeben. Darum ist im Zeitverlauf diese Kohorte zum Schrumpfen verdammt. Es sortiert sich alles an den Rändern. Aber was bedeutet das? Stabilisieren wir uns also als relativ mitgliederstarke Großkirche? Müssen wir mit weiteren massiven Abbrüchen rechnen? Was müssen wir tun, wenn das Evangelium zu allen Menschen kommen soll? Das alles betrifft ja erst einmal nur die etwa 23 Millionen Protestanten, von denen etwa 10 Millionen in irgendeiner Weise engagiert sind, aber auch 7 Millionen ohne jede Verbindung. Und knapp 6 Millionen sehen wir bei Kasualien, an Weihnachten und im Kindergarten.
2. Die Bedeutung der Gemeinde vor Ort
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2. Die Bedeutung der Gemeinde vor Ort 2. Die Bedeutung der Gemeinde vor Ort Man kann unter dem Aspekt der Verbundenheit noch einmal etwas anders, etwas präziser fragen. Man kann danach fragen, mit welchen Aspekten von Kirche sich Menschen eigentlich verbunden fühlen. Im Ergebnis liegen die Werte für die Verbundenheit mit der Landeskirche unter der allgemeinen Verbundenheit. Auch die Werte für Schulen, Kindertagesstätten, Krankenhäuser und Altenheime sind beachtlich, aber niedriger als die allgemein abgefragte Verbundenheit. Was aber heraussticht, ist der weite Abstand, mit dem die Verbundenheit zur Ortsgemeinde an der Spitze steht: 45 % sagen, dass sie sich der Ortsgemeinde sehr oder ziemlich verbunden fühlen.3 Dem ist man in der Studie weiter nachgegangen. Was können wir eigentlich noch über die Menschen wissen, die ein intensives Gefühl der Verbundenheit zur Ortsgemeinde haben? Das haben Tabea Spieß und Gerhard Wegner genauer in Augenschein genommen. 4 Im Ergebnis raten die beiden Forscher dazu, das zuweilen kritische Urteil über die (wahlweise: vereinskirchliche, überalterte, milieubegrenzte, kleinbürgerliche) Ortsgemeinde zu revidieren. Immerhin gehen zwischen 70 und 80 % der kirchlichen Ressourcen in die Arbeit der Ortsgemeinde. Frage: Lohnt sich das eigentlich, wenn man über so etwas wie Mitgliederbindung nachdenkt? Grob gesagt meinen Spieß und Wegner: Es lohnt sich: Die höchste Verbundenheit zeigen hier die Alten; bei den über 70jährigen fühlen sich zwei Drittel der Gemeinde sehr oder ziemlich verbunden. Das schrumpft dann auf ein knappes Drittel in der Gruppe der unter 29jährigen. Noch spannender sind „enge statistische Zusammenhänge […] zwischen der Religiosität der Kirchenmitglieder, ihrer Beteiligung am kirchlichen Leben und ihrer Verbundenheit mit ihrer Ortsgemeinde sowie der evangelischen Kirche generell.“ 5 Wer sich intensiv am Leben der Ortsgemeinde beteiligt, stimmt in der Regel eher als andere den zentralen Aussagen des christlichen Glaubens zu. 91,1 % der Engagierten sagen: Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat. Das ist bei den Nicht-Engagierten deutlich schwächer ausgeprägt. Entsprechend hoch fallen auch die Werte aus, wenn man fragt, ob man sich für einen religiösen Menschen hält: 86 % der Hochreligiösen sind zugleich Engagierte.
3
Vgl. Ibid. Vgl. Tabea Spieß und Gerhard Wegner 2015, 50-58. 5 Ibid., 52. 4
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V. Wie geht es der Kirche?
Für die, die sich so stark engagieren, spielt Gemeinschaft eine relativ große Rolle. Die der Gemeinde sehr Verbundenen sagen zu gut 90 %, dass ihnen Gemeinschaft wichtig ist, bei den ziemlich Verbundenen sind es noch 72 %, bei den überhaupt nicht Verbundenen (wen wundert’s?) nur 3,9 %. Und die intensiv mit der Gemeinde Verbundenen sind es auch, die sich kirchlich im Ehrenamt engagieren und das mit einem erheblichen Maß an Zufriedenheit. Knapp 20 % der jüngeren und knapp 30 % der älteren Kohorte der Evangelischen sind zu solchem Engagement bereit. Und von denen, die aktiv sind, sagen über 90 %, dass sie sich gut einbringen können, sich gebraucht fühlen und eine gute Gemeinschaftserfahrung dabei machen. Das kirchliche Engagement ist auch nach dem neuesten Survey der Bundesregierung zum Freiwilligen Engagement in Deutschland (2014) einer der stärksten Ehrenamtsbereiche6 und es speist sich auch aus dem Leben der Ortsgemeinden.7 Zusammengefasst kann man sagen: „Die der Kirchengemeinde besonders verbundenen und in ihr aktiven Kirchenmitglieder sind stärker religiös, kommunizieren stärker religiös, beteiligen sich auf allen Ebenen an den Aktivitäten und sind auch eher älter als der Durchschnitt der evangelischen Kirchenmitglieder (der ohnehin älter ist als die Gesamtbevölkerung).“8 Das sieht unter dem Strich nach einer stabilen Insel der Volkskirchlichkeit aus. 3. Der Gottesdienstbesuch – real und symbolisch 3. Der Gottesdienstbesuch Im Schnitt kommen noch etwa 3,6 %9 der Kirchenmitglieder an einem durchschnittlichen Sonntag zum Gottesdienst. Das sind immerhin etwa 820.000 Menschen in etwa 18.000 Gottesdiensten. Hinzu kommen noch die 600.000, die einen Gottesdienst im Radio oder am Bildschirm verfolgen. Nehmen wir die Zählsonntage als „normale“ Sonntage, dann sind am Sonntag Invokavit 3,3 % oder am Ersten Advent 4,8 % der Evangelischen im Gottesdienst. Besser ist es an manchen Festtagen (vor allem Erntedank mit 7,4 %) und am besten ist es an Weihnachten, wenn etwa ein Drittel der Evangelischen (und übrigens etliche Konfessionslose) unsere Kirchen füllen. Das sollte man besser nutzen: So viele Menschen, die sich immerhin aufmachen, um mit uns zu feiern! Gleichwohl wissen wir, dass damit immer noch die Mehrzahl der Evangelischen Gottesdienste gar nicht oder höchst selten (z. B. bei 6
Vgl. Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend 2016. Vgl. Maria Sinnemann 2017. 8 Tabea Spieß und Gerhard Wegner 2015, 57. 9 Vgl. Jan Hermelink, Julia Koll und Anne Elise Hallwaß ibid., 97. 7
3. Der Gottesdienstbesuch
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Amtshandlungen) besuchen. Und die Werte fallen seit den 1960er Jahren und haben sich seither mehr als halbiert: von 7,3 % auf 3,6 %. Und dazu kommt ja erschwerend, dass die Basis für diese Prozentzahlen durch die Schrumpfung der Mitgliederzahlen immer schmaler geworden ist. Schaut man nun auf die gottesdienstliche Deutschlandkarte, dann sieht man etwas vielleicht Überraschendes: Hier liegt der Osten im vorderen Feld. Das ist bei fast allen Fragen so: Die zahlenmäßige Basis, also die absoluten Zahlen sind immer bedeutend kleiner, aber die Beteiligung derer, die dazugehören, also die relativen Zahlen, ist immer ein Stück höher als im Westen, so auch hier beim Gottesdienstbesuch. Nur am Rande vermerke ich, dass das alles auch für die Amtshandlungen gilt. Mancher meint ja, die Amtshandlungen seien so etwas wie die sichere Schutz- und Trutzburg der evangelischen Kirche. Die Beteiligung an ihnen wird im EKD-Impulspapier „Kirche der Freiheit“ (2006) als Lackmustest für die Stabilität der Kirche bezeichnet. Zugleich muss man in der EKD schon da einräumen: „Seit den 90er Jahren hat sich bei den Amtshandlungen ein massiver Einbruch vollzogen. Dazu einige nüchterne Zahlen und Fakten: Die Taufen sind im Zeitraum von 19912003 um über 25 Prozent zurückgegangen. Die Trauungszahlen haben sich im gleichen Zeitraum beinahe halbiert (45 Prozent). Bei den Bestattungen betrug der Rückgang 17 Prozent.“10 Richtig spannend ist nun aber die Selbsteinschätzung der Evangelischen hinsichtlich des Gottesdienstbesuchs: Diese fällt immer etwas „euphorischer“ aus als die harten Zahlen.11 „Die Angaben zur individuellen Teilnahmefrequenz sind nahezu durchgängig sehr viel höher, als sich anhand der kirchenamtlichen Zählungen nachvollziehen lässt.“12 So sagen 35 % der Protestanten, dass sie mehrfach monatlich zum Gottesdienst gehen. Und diese Zahl ist sogar in den letzten drei Jahrzehnten kräftig gestiegen (wie auch die Zahl derer, die auch nach eigener Angabe nie gehen!). Auch hier erkennt man die Polarisierung an den Rändern! Dazwischen steht die schrumpfende Kohorte der gelegentlichen Kirchgänger, die sich seit 2002 nahezu halbiert hat. Man möchte hinsichtlich der 35 % aber vor allem fragen: Wo um Himmels willen sind da alle am Sonntagmorgen? Da wird sicher vieles mit erfasst: der Sonntagsgottesdienst, die Beerdigung im Dorf, die Hochzeit der Nichte, der Radiogottesdienst, bei dem man auf der Reise hängen blieb, die Wochenschlussandacht im Kindergarten. Das alles ließe höhere Zahlen als die 3,6 % plausibel erscheinen. Es gibt da auch verschiedene Logiken und Rhythmen des
10
Kirchenamt der EKD 2006, 23. Vgl. Jan Hermelink, Julia Koll und Anne Elise Hallwaß 2015, 90-111. 12 Ibid., 91. 11
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V. Wie geht es der Kirche?
persönlichen Kirchgangs.13 Dennoch kommt man beim besten Willen nicht auf ca. 35 % der Protestanten, die mehrfach im Monat Gottesdienste erleben. Jan Hermelink, Julia Koll und Anne Elise Hallwaß kommentieren diese merkwürdige Lage so: „Die ‚reale‘, faktische Teilnahme am Gottesdienst muss daher von der ‚gefühlten‘ Teilhabe an diesem Geschehen unterschieden werden.“ De facto gibt es so etwas wie einen „symbolischen Gottesdienstbesuch“. Man gibt „Teilnahme“ an, nicht um bei der Befragung zu schummeln, sondern weil man sagen möchte: Der Gottesdienst ist wichtig, ich bejahe ihn, auch wenn ich tatsächlich viel seltener gehe. Es ist keine praktische, sondern eine symbolische Realität.14 Timo Heimerdinger nennt das auch das Phänomen des „gelebten Konjunktivs“.15 Dieser „gelebte Konjunktiv“ steht für die hohe Bedeutung, allerdings eher „gefühlte“ Bedeutung des Gottesdienstes in den Augen der Kirchenmitglieder. 16 Diese gefühlte Bejahung wird aber kontrastiert durch eine faktische Verneinung bei einer anderen Kohorte: Zu den Einsichten der KMU V „gehört eben auch die wachsende Distanz vieler Mitglieder.“17 Noch zwei wesentliche Beobachtungen: Zum einen zeigen sich auch hier wieder die Altersabbrüche. Je jünger die Kirchenmitglieder sind, desto häufiger geht man auch „gefühlt“ selten oder nie, desto geringer ist die Quote der häufigen Kirchgänger und umgekehrt.18 „Von den unter 45-Jährigen besucht die Hälfte aller Befragten höchstens einmal im Jahr einen Gottesdienst; bei den unter 30-Jährigen gibt sogar ein Drittel an, nie in die Kirche zu gehen.“19 Und zum anderen hatte man früher einen „Diaspora-Effekt“ beobachtet: Wo eine Konfession in der Minderheit ist, hält sie besonders eng zusammen, also Evangelische im Münsterland oder Katholiken in Vorpommern. Das schwindet bzw. ist kaum noch wahrzunehmen: Vielmehr formt das gefühlte Umfeld auch den eigenen Gottesdienstbesuch.20 Wo „gefühlt“ das Umfeld homogen ist, also z. B. evangelisch, da ist auch der Gottesdienstbesuch höher. Wir sind sozial eingebunden, auch in der Art und Weise, wie wir religiös leben oder auch nicht leben. Darum ist die soziale Einbindung in konkrete, leibhafte Glaubensgemeinschaften auch so unverzichtbar! Darum sollte man nicht zu optimistisch sein, wenn ein Drittel der Protestanten den Gottesdienst nur 13
Vgl. Ibid., 99. Vgl. Ibid., 92. 15 Zitiert bei Kristian Fechtner ibid., 116. 16 Vgl. Jan Hermelink, Julia Koll und Anne Elise Hallwaß ibid., 99. 17 Ibid., 110. 18 Vgl. Ibid., 94. 19 Ibid., 110. 20 Vgl. Ibid., 95f. 14
4. Die Generationen im Vergleich
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„symbolisch“ bejaht. Kristian Fechtner spricht hier von der „Gestalt eines diskreten Christentums“21 – da habe ich große Zweifel. 4. Die Generationen im Vergleich 4. Die Generationen im Vergleich Wenn wir die verschiedenen Generationen in der Kirche in Augenschein nehmen, geschieht dies hier unter zwei m. E. grundlegenden Perspektiven: Die eine betrifft die „Jungen“, die andere betrifft die „Alten“. Grundlegend ist dabei die Erkenntnis, welch prägende Bedeutung die Sozialisation hat. Wir unterscheiden primäre Sozialisationsinstanzen (Familie), sekundäre (Kindergarten, Schule) und tertiäre (Medien, Freizeiteinrichtungen, Gleichaltrige).22 Der Einfluss der Familie ist bedeutsam, die anderen Instanzen sind aber zunehmend wichtig geworden. Ein erstes Ergebnis der KMU ist die spürbar abnehmende religiöse Sozialisation in der Familie. Immer weniger Menschen sagen, sie seien religiös erzogen worden. Vor allem bei den Jüngeren ist das so. Weniger als die Hälfte der westdeutschen Kirchenmitglieder unter 21 sagt, sie sei religiös erzogen worden. „Der in dieser Aussage zum Ausdruck kommende Abbruch der religiösen Sozialisation ist in seiner Dramatik gar nicht zu unterschätzen.“23 Umgekehrt sagen auch immer mehr Evangelische, ihnen sei die religiöse Erziehung der Kinder nicht wichtig. Zur Zeit sind das 34 %.24 Dabei sind beide Abbruchprozesse im Westen stärker als im Osten. Will sagen: Ostdeutsche junge Kirchenmitglieder sind im Schnitt häufiger christlich erzogen worden als ihre westdeutschen Altersgenossen. Anders sieht es bei den Konfessionslosen aus: Da ist im Osten „tabula rasa“, im Westen sind die Konfessionslosen (als meist ehemalige Kirchenmitglieder) häufiger noch kirchlich aufgewachsen.25 Das bedeutet: „Beide Ergebnisse deuten auf einen zunehmenden Sozialisationsabbruch hin und bringen auf Dauer gerade bei jungen Menschen eine geringere Anschlussfähigkeit an religiöse Vorstellungen und Riten mit sich.“26 Spielt Religion im Leben der Eltern nur eine marginale Rolle (sind sie also freundlich kirchendistanziert), dann tendieren die Kinder dazu, genau diese Haltung selbst zu übernehmen!27 Egal welche Aspekte wir nun in Augenschein nehmen: Stets ist die Zustimmung bei den jüngsten Kohorten der Befragten am geringsten. Wer 21
Kristian Fechtner ibid., 112. Vgl. Detlef Pollack, Gert Pickel und Tabea Spieß ibid., 131. 23 Ibid., 140. 24 Vgl. Ibid., 132f. 25 Vgl. Ibid., 134. 26 Ibid. 27 Vgl. Ibid., 136. 22
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V. Wie geht es der Kirche?
nicht religiös erzogen wurde, wird z. B. in der Regel den Gottesdienstbesuch eher ablehnen. „Religiöse Sozialisation trägt Religiosität, fehlende religiöse Sozialisation untergräbt sie oder verhindert ihre Entstehung.“28 Und dann kommt es zu treppenförmigen Abbrüchen. Das bedeutet: Jede nachfolgende Alterskohorte ist signifikant glaubens- und kirchenferner. „Wer nur eine schwache oder gar keine religiös (sic!) Sozialisation erfahren hat, weist auch keine oder eine nur geringe Neigung auf, Religiosität an die nächste Generation weiterzugeben.“29 Jedenfalls können wir sehen: „Die Kirchenverbundenheit beider Gruppen, der Jugendlichen wie der jungen Erwachsenen, liegt erheblich unter dem Durchschnitt der Kirchenmitglieder.“ 30 Die Zahl der NichtVerbundenen ist im Osten und im Westen zwischen 14 und 29 überdurchschnittlich hoch.31
Auch die Bereitschaft zum Kirchenaustritt ist im Westen wie im Osten zwischen dem 14. und 29. Lebensjahr überdurchschnittlich hoch.32 Die Weitergabe mindestens einer formalen, distanzierten, aber Kirche und Religion bejahenden Haltung und Mitgliedschaft wird zunehmend brüchig. Erhebliche weitere Abbrüche sind schlicht generational bedingt vorhersehbar.33 Gert Pickel fasst den Tatbestand zusammen: „Je jünger, 28
Ibid., 135. Ibid. 30 Gert Pickel ibid., 147. 31 Vgl. Ibid., 148. 32 Vgl. Ibid., 149. 33 Vgl. Ibid., 150. 29
4. Die Generationen im Vergleich
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desto weniger Religiosität findet man im Leben des evangelischen Kirchenmitglieds.“34 Was folgt daraus? Wenn die Familie so wichtig ist, dann ist es entscheidend, Familien (wie auch immer sie aussehen) noch mehr in den Blick zu rücken und sich um sie zu kümmern. Im Bereich der „fresh expressions of church“ tun das mit beachtlicher Wirkung sogenannte „messy churches“.35 Dabei geht es um ein gemeinsames Erleben von Familien in der Gemeinde, ein gemeinsames Essen, Singen, Beten und Kennenlernen biblischer Geschichten. Ebenso spannend ist alles, was unter dem Stichwort „Orange“ läuft. 36 Orange ist gelb plus rot: Gelb für die Gemeinde als Licht der Welt, rot für die Familie als Ort der Liebe. Orange ist eine Gemeindearbeit, die einen starken Fokus auf Kinder setzt, dabei aber vor allem den Schulterschluss mit der ganzen Familie sucht, so dass der erlebte Kinder- oder Familiengottesdienst sich im Alltag der Familien unter der Woche fortsetzt – durch kleine Rituale, durch Texte, Lieder und Gebete oder auch durch gemeinsam zu lösende Aufgaben. Auf der anderen Seite muss man ein wenig das Schicksalhafte der religiösen Sozialisation relativieren. Bei unserer Konversionsstudie 2009 haben viele der ca. 500 Befragten gesagt: Wir können uns nicht erinnern, mit unseren Eltern gebetet zu haben oder zum Gottesdienst gegangen zu sein. Und doch sind sie später zum Glauben gekommen. Sie hatten dann als Erwachsene andere Wegbegleiter, die ihnen den Weg zum Glauben öffneten.37 Darum hat Michael Domsgen vollkommen Recht, wenn er angesichts der abnehmenden Kraft kirchlicher Sozialisation feststellt: „Die große Herausforderung besteht hier darin, nicht innerhalb, sondern in vielen Fällen sogar entgegen der familiären Sozialisationslogik agieren zu müssen. […] Dem Sozialisationsparadigma wird über kurz oder lang eine Art Konversionsparadigma zur Seite gestellt werden müssen. Wie dies im Einzelnen zu profilieren ist, zeichnet sich momentan – wenn überhaupt – nur schemenhaft ab.“38 Wenn es bei den Jüngeren so kritisch aussieht: Was ist dann mit den Älteren in der Kirche? Sind sie eine mindestens zwischenzeitlich verlässliche Basis des kirchlichen Lebens? Gilt das noch: „Mit dem Alter kommt der Psalter“? Dann würde mancher die schlechten Werte bei
34
Ibid., 157. Vgl. Lucy Moore 2006. 36 Vgl. Karsten Böhm und Jonathan Rauer 2013; Reggie Joiner 2012. 37 Vgl. Johannes Zimmermann und Anna-Konstanze Schröder 2010, 83-91. 38 Michael Domsgen 2015, 174. 35
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V. Wie geht es der Kirche?
den Jungen geduldiger, sozusagen im Modus zuversichtlicher Erwartung betrachten. Aber ganz so viel Anlass zur Zuversicht gibt es dann doch nicht! Im Generationenvergleich schneiden die ältesten Kohorten immer am „besten“ ab: Sie weisen die höchste Verbundenheit mit der Kirche, die niedrigste Austrittsneigung, den höchsten Gottesdienstbesuch, die deutlichste Zustimmung zu Kernaussagen des Glaubens vor. Die jungen Senioren sind zudem zurzeit die größte Flotte der Ehrenamtlichen in der Kirche. Das alles entspricht ja den Erwartungen – „mit dem Alter …“ Aber wir wissen schon vom Religionsmonitor, dass diese Effekte bei den nachwachsenden Älteren nachlassen. Die heute 60-70jährigen sind schon deutlich weniger religiös und kirchlich als die über 70jährigen. Außerdem sind auch in diesen Kohorten die Hochreligiösen und stark Verbundenen eine Minderheit.39 Tabea Spieß und Gerhard Wegner sagen darum zu Recht: „Die Älteren sind keine vollkommen stabile Basis der Kirche mehr.“ 5. Die Bestimmung des Christseins 5. Die Bestimmung des Christseins Jetzt kommen wir zum schwierigsten Aspekt, den die Kirchenmitgliedschaftsstudien der EKD seit 1972 herausarbeiten. Es geht um die Frage, was sich die Befragten unter einem evangelischen Christen vorstellen. Es sind zwei Items, die hier besonders bedeutsam sind. Im ersten wird danach gefragt, welche Merkmale die Befragten für das Evangelischsein besonders bedeutsam finden, im zweiten Item geht es um das Gottesbild. Was gehört also aus der Sicht der Befragten dazu, evangelisch zu sein?40 Wenn man die einzelnen Antworten auf diese Frage gruppiert, dann kann man sehen, dass Aussagen über eine persönliche Frömmigkeit am unteren Ende der Skala landen. Das gilt z. B. für den Gottesdienstbesuch: Nur knapp die Hälfte findet ihn eher wichtig.41 Teilnahme am Abendmahl und Lektüre der Bibel stehen am Ende der wichtigen Merkmale des Evangelischseins. 70 % lesen dann auch tatsächlich nur selten oder nie in der Bibel. 42 Das persönliche Glaubenszeugnis vor anderen Menschen kommt kaum besser weg. Nur jeder Dritte betet mindestens einmal in der Woche.43 39
Vgl. Michael Ebertz 2007, 54-63. Ganz entsprechend formulieren es Tabea Spieß und Gerhard Wegner 2015, 161-175 auf Grund der KMU V. 40 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015, 466. 41 Vgl. Ibid., 481. 42 Vgl. Ibid., 497. 43 Vgl. Ibid., 496.
5. Die Bestimmung des Christseins
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Deutlich mehr Zustimmung finden die institutionellen Verankerungen des Evangelischseins: Man sollte getauft sein und Mitglied bleiben. Nimmt man die Frage nach der Bedeutung der Taufe hinzu, wird deutlich, dass auch die Taufe nicht unter soteriologischen Vorzeichen gesehen wird, sondern als Akt der Aufnahme in die Kirche. 83 % sagen, dass die Taufe im Wesentlichen den Eintritt in die Kirche markiert.44 Und dann rangieren (stabil seit 1972) moralische Kategorien im vorderen Feld der Merkmale eines evangelischen Christen aus Sicht der Befragten. Evangelisch ist man demnach vorwiegend durch gute Werke: indem man sich bemüht, ein anständiger Mensch zu sein, für andere Menschen da ist und nach den Zehn Geboten zu leben trachtet. Es ist auch bemerkenswert, dass der Forschungsgruppe kein „reformatorisches“ Item eingefallen ist. Die Befragten haben in diesem Inventar gar nicht die Möglichkeit, eine Antwort wie etwa die folgende anzukreuzen: „Wissen, dass mein Leben von Gottes Gnade getragen wird“ oder „Nicht auf eigene Leistung, sondern auf Gottes Zusagen vertrauen“ oder „Sich geborgen wissen in der Treue Gottes“. Glaube als „fiducia“ spielt schon in der Anlage der KMU V keine Rolle und zwei von drei, bei manchen Items gar vier von fünf Befragten greifen zu, wo sie nach ethischen Kriterien befragt werden. Das ist doch bemerkenswert. Es scheint irgendwie nicht bei den Befragenden angekommen zu sein, dass Christsein nicht der Versuch ist, ein anständiger Mensch zu sein. Mindestens auf der Ebene der Überzeugungen bedeutet Christsein hier: tun, was Gott gefällt. Aber das Evangelium lädt ein, sich gefallen zu lassen, was Gott tut. Das, was wir hier erleben, bezeichnet die traurige Tatsache, dass – so wenig wir in das Herz einzelner Menschen schauen können oder dürfen – das äußere Bekenntnis der Protestanten im Wesentlichen nach moralistisch-therapeutischem Deismus klingt: Gott ist weit weg, man kann sich in Not aber an ihn wenden, er freut sich, wenn wir uns anständig benehmen, und am Ende kommen alle netten Menschen in den Himmel.45 Man muss allerdings zugeben, dass das moralische Missverständnis in vielen Predigten genau so vermittelt wird. Ein milder Moralismus predigt sich eben auch leichter als Gottes Gesetz und Evangelium. Die Übersetzung der „Bibel in gerechter Sprache“ von Röm 3,28 zeigt das ganz deutlich: Da wird aus der Rechtfertigung aus Gnade ohne des Gesetzes Werke der Satz, wir würden vor Gott gerecht, ohne dass schon alles geschafft wurde, was die Tora fordert. 46 Das ist weit weg von Paulus und Luther.
44
Vgl. Ibid., 467. Vgl. Christian Smith und Melina Lundquist Denton 2005. 46 Übersetzung von Claudia Janssen. 45
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V. Wie geht es der Kirche?
Das zweite Item, das wir hier in Augenschein nehmen, richtet sich auf die Gottesbilder und die Überzeugungen, die damit verbunden sind.47 Wenn man die Antworten betrachtet, entdeckt man ein paar kirchliche Agnostiker (5,4 %) und ein paar konfessionslose Christusgläubige (5,7 % der Konfessionslosen). Ein starkes Drittel (38,9 %) der Evangelischen kann der relativ weit gefassten orthodoxen Überzeugung („Ich glaube, dass es einen Gott gibt, der sich in Jesus Christus zu erkennen gegeben hat“) nicht folgen, sondern erklärt sich entweder als unsicher oder aber favorisiert religiös offenere, nicht christusbezogene und weniger personal formulierte Aussagen: „Ich glaube, dass es irgendein höheres Wesen oder eine geistige Macht gibt“ (23,3 %) oder „Ich weiß nicht genau, was ich glauben soll“ (10,2 %). Eine Allensbach-Umfrage wird noch deutlicher: „Der Rückgang der Religiosität ist noch gravierender, als es der Blick auf die Zahl der Kirchenbesucher vermuten lässt. Denn auch unter den bekennenden Christen schwindet der Glaube an wesentliche Elemente der Lehre. Im Jahr 1986 sagten noch 56 Prozent der befragten Westdeutschen, sie glaubten, dass Jesus Christus der Sohn Gottes ist; heute sind es noch 46 Prozent. Der Glaube daran, dass Gott die Welt geschaffen hat, ist in der gleichen Zeit von 47 auf 35 Prozent zurückgegangen, der an die Auferstehung der Toten von 38 auf 30 Prozent. An die Dreifaltigkeit glaubten vor einem Vierteljahrhundert 39 Prozent, heute sind es noch 32 Prozent. Selbst unter den Katholiken bekennt sich nur noch eine Minderheit von 47 Prozent zu diesem Glaubenssatz. Zugenommen hat dagegen der Glaube daran, dass es ‚irgendeine überirdische Macht gibt‘ (53 gegenüber 49 Prozent). An Schutzengel glaubten im Jahr 1986 46 Prozent der Deutschen, heute sind es 54 Prozent. Der Glaube an Wunder hat von 33 auf 51 Prozent, der an die Seelenwanderung von 7 auf 20 Prozent zugenommen. Das Christentum wird gleichsam von innen ausgehöhlt. Die Kernbotschaft findet immer weniger Glauben. Erhalten bleiben dagegen Randaspekte, kulturell geprägte Äußerlichkeiten und eine vage Mystik. Etwas zugespitzt könnte man von einer schleichenden Rückkehr der Naturreligionen sprechen. Schon heute meinen 10 Prozent der Deutschen, es gebe verschiedene Götter, die alle ihre eigenen Bereiche hätten. Im Jahr 1986 gaben nur 4 Prozent diese Antwort.“48
47
Vgl. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015, 500. FAZ vom 26.9.2012 = http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/allensbach-analyse-christliche-werte-haben-bestand-11903761.html – aufgesucht am 31. Oktober 2012.
48
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6. Weitere Aspekte der KMU V 6. Weitere Aspekte der KMU V Hier sei auf Phänomene verwiesen, die für missionarisch ausgerichtete Gemeinden durchaus interessant sind. Es geht um religiöse Suche und um religiöse Indifferenz. Leider sind diese Aspekte in der wissenschaftlichen Auswertung der KMU kaum beachtet worden. Religiöse Suche: Wir haben gerade schon die religiöse Ungewissheit bei etlichen Protestanten kennen gelernt: Sie wissen nicht so recht, ob es Gott gibt oder wer bzw. was er darstellt. Aber so fürchterlich zentral sind religiöse Themen sowieso für die meisten nicht. 80 % tauschen sich z. B. nur selten oder nie über den Sinn des Lebens aus, und wenn, dann eher in der Familie. Und wenn sie das tun, verstehen nur 50 % das als ein religiöses Thema. 49 Befragt hinsichtlich religiöser Erfahrung sagen nur 14,7 % der Evangelischen, dass sie auf der Suche sind, und nur 3,8 % der Konfessionslosen äußern sich in diesem Sinn.50 Aber gut 28 % sagen: Sie glauben, fühlen sich aber oft unsicher. Wer sind sie? Was tun wir für sie? Weitaus mehr können wir über das Gegenstück sagen: Religiöse Indifferenz. Das ist ausgeprägte Gleichgültigkeit gegenüber dem Glauben. Hier findet sich kein dezidierter, wohlmöglich kämpferischer Atheismus, kein philosophisch grundierter Agnostizismus. Der Indifferente steht dem Gläubigen wie dem Ungläubigen verständnislos gegenüber, denn für ihn ist Glaube schlicht und ergreifend kein Thema. Sein Leben ist diesseitig, und er würde sagen: Das ist auch gut so. Man ist – um es mit dem Buch von Hans-Martin Barth zu sagen – „konfessionslos glücklich“.51 Der Indifferente ist religiös nicht aktiv, er hat auch keine kirchenfreien religiösen Überzeugungen oder Praktiken. In vielen Fällen weiß er auch wenig über den christlichen Glauben. Im Unterschied zum überzeugten Atheisten hat er auch nichts gegen den Glauben einzuwenden. Nur er selbst braucht das alles eben nicht und sieht keinen Anlass, sich damit zu beschäftigen. Die wesentlichen Aspekte, die wir angeschaut haben, korrelieren stark miteinander. Wer eng mit der Kirche verbunden ist, der findet auch den Gottesdienst wichtig, der ist auch eher bereit mitzuarbeiten, der stimmt auch eher orthodoxen Glaubensaussagen zu und kann sich einen Kirchenaustritt nicht vorstellen. Wer das alles nicht teilt, ist auch am Ende eher schwach verbunden, kaum im Gottesdienst, religiös unsicher, nicht an Mitwirkung interessiert. Meiner Überzeugung nach zeigt sich auch darin der starke kommunikative, soziale, gemeinschaftsbezogene Charakter des christlichen Glaubens. Im Einzelfall mag es den einsam Glaubenden geben, aufs Ganze geschehen wird er eher unwahrschein49
Vgl. Ibid., 493-495. Vgl. Ibid., 501. 51 Vgl. Hans-Martin Barth 2013. 50
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lich. Die starken Korrelationen darf man bei der Beurteilung der Lage nicht unterschätzen. „Ohne Einbindung in eine soziale Praxis kann es auf Dauer keine innere Frömmigkeit geben“,52 schreibt Martin Laube völlig zu Recht. Aber damit sind wir schon beim spannenden Streit über die Deutung der KMU V. 7. Die Kontroverse 7. Die Kontroverse Titel können eine Menge verraten: 2014 erschien „Engagement und Indifferenz“, eine erste Analyse der KMU V. 53 Ende 2015 erschien dann der dicke, wissenschaftliche Kommentarband: „Vernetzte Vielfalt“.54 Der hat natürlich auch keine anderen Zahlen als die Vorabveröffentlichung erster Ergebnisse im Vorjahr. Aber es herrscht ein anderer Ton. Kristian Fechtner schaut auf „Engagement und Indifferenz“ zurück und findet, der Titel sei „unglücklich gewählt“55 gewesen. Warum? Weil man mit diesem Titel in der Gefahr stünde, Christsein mit kirchengemeindlichem Engagement „kurzzuschließen“.56 Der Ton hat sich zwischen 2014 und 2015 geändert. Man könnte meinen, „Engagement und Indifferenz“ sei ein partieller Irrtum gewesen, den es zu korrigieren gilt. Was ist denn dieser andere Ton, der „Vernetzte Vielfalt“ von „Engagement und Indifferenz“ unterscheidet? Es sind vier Aspekte zu benennen, die dann mit einem zentralen Zitat des wissenschaftlichen Fachbeirats zusammengeführt werden sollen. 1. Wenn man die überwiegend ernüchternden Statistiken (und deren überwiegend nüchterne Bewertung in der wissenschaftlichen Analyse) liest, wundert vor allem die in mehreren Fachkommentaren zu lesende Semantik des „Weiter so!“ Kristian Fechtner etwa meint, die Ergebnisse der KMU ließen sich „nicht zu einem neuerlichen Reformprogramm der Kirche ummünzen.“57 Sicher nicht? Warum eigentlich nicht? Isolde Karle sekundiert wenige Seiten später, die KMU V bestätige die Kirche in dem, „was sie ohnehin schon tut. Eine Kirchenreform im umfassenden Sinn ist nicht indiziert.“58 Bloß kein neuer Reformstress!59 Und auch Gerald Kretzschmar, in vielem durchaus anderer Meinung als Isolde Karle, stellt fest, alle Reforminitiativen müssten darauf gerichtet sein, das gesellschaftliche Erscheinungsbild der Kirche – 52
Martin Laube 2015, 48. Vgl. Evangelische Kirche in Deutschland 2014. 54 Vgl. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015. 55 Kristian Fechtner 2015, 113. 56 Ibid. 57 Ibid., 117. 58 Isolde Karle ibid., 127. 59 Vgl. Isolde Karle 2011. 53
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bei allen notwendigen strukturellen Korrekturen – „in seinen Grundzügen [zu] erhalten“.60 Der von Wolfgang Huber initiierte Reformprozess soll offenbar zu Grabe getragen werden. Kurzum: Keine Experimente, lieber „weiter so!“ 2. Wenn man positiv fragt, worauf die Kirche denn setzen soll, bestätigt sich dieser Eindruck. Durchaus repräsentativ ist hier die Sicht von Isolde Karle. Sie will keine grundsätzlichen Innovationen oder größere Strukturanpassungen. Sinnvoll erscheint ihr, was gelingende Kirchlichkeit seit jeher auszeichnet: einladende Gottesdienste mit guten Predigten, eine bessere Unterstützung der Pfarrerinnen und Pfarrer als Schlüsselpersonen der Kirche, Räume für interaktive Begegnungen, zugleich aber auch Toleranz gegenüber dem „distanzierten Christentum“. 61 Andere ergänzen die Pflege der Kasualien, die Attraktivität der Kirchengebäude, die diakonischen Hilfsangebote und weitere vertraute Aktivitäten der Volkskirche. Das „Weiter so!“ konkretisiert sich also durch das vertraute Bild der Kirche, wie wir sie immer schon kannten. 3. Was beim konzentrierten Lesen auffällt, ist der nahezu vollständige Ausfall einer missionarischen Perspektive. Die schlichte wortstatistische Überprüfung zeigt: Der Wortstamm „Mission“ kommt insgesamt 10x vor, meist in historischem Sinn oder mit kritisch-abgrenzender Tendenz. Auch verwandte Begriffe wie Zeugnis, Sendung, Auftrag finden sich fast gar nicht. Ulrich Körtner62 und Michael Domsgen63 bilden mit kurzen Statements kaum ein Gegengewicht. Dass Worte (und Sachen) wie Evangelisation, Gemeindeaufbau, Kurse zum Glauben, Hauskreis, Christ werden oder gar „fresh expressions“ gar nicht vorkommen, wundert einen dann schon nicht mehr. Hier müsste man allerdings das Buch umbenennen in „Mäßig vernetzt, kaum plural“. Geht die missionsfreundliche Phase in der EKD, die 1999 mit der Leipziger Synode anhob64 und immerhin 2011 noch einmal in der Magdeburger Synode bestätigt wurde (mindestens hinsichtlich der akademischen Theologie), jetzt zu Ende? In Magdeburg lautete die Frage noch: „Was hindert’s, dass ich Christ werde?“65 60
Gerald Kretzschmar 2015, 218. Vgl. Isolde Karle ibid., 127. 62 Ulrich H.J. Körtner ibid., 336, lässt immerhin den Gedanken an das Zeugnis laut werden: Er spricht von der Ermutigung, „sich in diese Welt einzumischen und das Evangelium von der Liebe Gottes […] in Wort und Tat zu bezeugen.“ 63 Michael Domsgen ibid., 171-175 mit dem Hinweis auf ein notwendiges „Konversionsparadigma“ (174). 64 Vgl. Kirchenamt der EKD 2001. 65 Vgl. http://www.ekd.de/synode2011 – aufgesucht am 15. Februar 2016. 61
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4. Diese Frage wird nun in der Auswertung der KMU nicht mehr gestellt, auch nicht im Blick auf Konfessionslose. Binnenkirchlich wird die Freiheit eines Christenmenschen weiter als Freiheit von den Grundvollzügen des Glaubens ausgelegt. Dies geschieht unterschiedlich intensiv, aber in der Tendenz eindeutig. Thies Gundlach hatte ja schon 2010 nach der Rehabilitation des Köhler-Glaubens gefragt. Sein historisches Referat zielt auf eine mögliche Wiederbelebung einer eigentümlichen Idee von Stellvertretung: „Es reicht, wenn der Köhler glaubt, was die Kirche glaubt! Um in den Himmel zu kommen, muss der Köhler nicht den Glauben verstehen oder gar die Bibel kennen, sondern es reicht, wenn er der Kirche glaubt, dass sie auch für ihn in rechter Weise an Gott glaubt. Die Gemeinschaft der Glaubenden glaubt stellvertretend für den Köhler, und wenn der Köhler dies glaubt, kommt er in den Himmel.“66 Am Rande einer Tagung sagte ein hoher EKD-Funktionär auf meine kritische Rückfrage zu dieser – in der Reformation hinsichtlich der Unvertretbarkeit des persönlichen Glaubens der allgemeinen Priesterinnen und Priester mit guten Gründen kritisierten – theologischen Figur hin: Wir sollten doch lieber damit zufrieden sein, wenn Menschen in der Kirche bleiben und sagen, dass es vermutlich einen Gott gibt, und dass dieser Gott sich freut, wenn wir alle uns bemühen anständig zu sein. Die KMU-Experten gehen ähnlich vor. Kristian Fechtner sieht ja ein „diskretes Christentum“ bei den distanzierten Mitgliedern. 67 Und er fragt auch, ob es nicht tatsächlich einer „Theologie der Stellvertretung“ bedürfe, also etwa der Idee, dass die versammelte Gemeinde stellvertretend auch für ihre nicht versammelten Mitchristen bete, höre und glaube.68 Gerald Kretzschmar wiederum zeigt, wie sich das Christsein vieler Kirchenmitglieder selbst versteht: Was gehört denn zum EvangelischSein? Antwort: „Ganz oben rangieren mit Taufe und Kirchenmitgliedschaft zwei rechtlich-formale Kriterien, sowie mit dem Bemühen, ein anständiger Mensch zu sein, ein ethisch orientiertes Kriterium. Eine eher geringe Bedeutung messen die Befragten dagegen konkreten religiösen oder kirchlichen Praktiken bei, wenn es um die Frage nach dem Evangelischsein geht: Die Teilnahme am Abendmahl und die Bibellektüre stehen […] am unteren Ende der Liste.“69 Das ist ja fraglos so. Aber was bedeutet das? Ist das so in Ordnung oder stellt es ein Problem dar? Kretzschmar votiert dafür, Kirchenbindung nicht mit sozialer Nähe oder konkreter Partizipation gleichzusetzen, sondern Distanz zu respektieren, die sich ab und an in Nähe verwandeln kann. Er bewertet die 66
Thies Gundlach 2010, 109. Vgl. Kristian Fechtner 2015, 112. 68 Vgl. Ibid., 116. 69 Gerald Kretzschmar ibid., 210-212. 67
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beschriebene Auskunft über das Evangelischsein nicht, lässt aber auch mit keinem Wort erkennen, dass die Kirche sich bemühen sollte, an dieser Haltung etwas zu ändern. Und hier wird es nun wirklich kritisch: Natürlich gibt es eine Vielfalt von Weisen, von Intensitäten, von Rhythmen der Teilnahme – das ist auch in Ordnung. Hier gibt es keine gesetzlichen Vorgaben. Aus manchen theologischen Bewertungen spricht aber eine Preisgabe dessen, was für die reformatorischen Kirchen das Wesen des Christseins ausmachte. Kann das Christsein auch vorwiegend mit dem Bemühen identifiziert werden, ein anständiger Mensch zu sein, dann haben wir die Rechtfertigungsbotschaft verabschiedet und einem moralistischen Verständnis des Glaubens die Tore geöffnet. Wir sprechen dabei natürlich nicht über die „Bewertung“ des Glaubens einzelner Menschen, wohl über die Frage, welches Leitbild vom Christsein kirchliches Handeln orientieren und inspirieren soll. Stellvertretend können ja die anderen zum Mahl gehen, die Bibel lesen und von der Gnade Gottes in Jesus Christus hören. Da wird dann auch gleich das Kernstück des Allgemeinen Priestertums verabschiedet, das nicht in einer abstrakten Freiheit vom Hören des Wortes besteht, sondern in der höchst konkreten Freiheit, vor Gott und im Hören des Evangeliums unvertretbar zu sein. Der anständige Mensch als gutes Kirchenmitglied, in allen geistlichen Vollzügen von den Frommen vertreten, das ist vorreformatorisch, deutlicher gesagt: das ist vorkonziliare römische Theologie. Unter dem Strich liest man sich bei der Deutung der KMU V in eine deprimierte Stimmung hinein. Den Höhepunkt bietet dann eine zusammenfassende Bewertung der kirchlichen Missionsbemühungen durch den wissenschaftlichen Beirat der KMU: Nach Überzeugung des Beirats „legt sich eine Refokussierung der missionarischen Aufgaben einer künftigen Volkskirche nahe. Ein bilanzierender Blick auf die missionarische Arbeit der vergangenen Jahre und Jahrzehnte sieht: Die Strategie, mittlere Verbundenheit durch missionarische Aktivität in Hochverbundenheit zu transformieren, gelingt nur in Einzelfällen. Gegenwärtig ist die missionarische Arbeit – häufig gegen ihre eigene Intention – zu sehr auf die Hochverbundenen ausgerichtet, nicht aber auf die Distanzierten und Fernstehenden. Gemessen an dem volkskirchlichen Anspruch müssen die missionarischen Anstrengungen jedoch deutlicher als bislang darauf zielen, auch und gerade die Mitglieder in Halbdistanz, Unbestimmtheit und Institutionsskepsis anzusprechen und in ihrer individuellen Form der Verbundenheit zu stabilisieren. Es gilt, Wege zu finden, die Fernstehenden in ihrer Form der Verbundenheit zu würdigen und sie zu ermutigen, in dieser Haltung treu zum Glauben und zur Kirche zu stehen.“70 70
Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015, 455.
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Dass man mit der Bilanz der missionarischen Bemühungen unzufrieden sein kann, soll hier gar nicht bestritten werden. Diese Bilanz hat nebenbei bemerkt aber auch damit zu tun, dass sich nicht wenige in der Kirche diesen missionarischen Bemühungen noch gar nicht angeschlossen haben. Sie hat auch damit zu tun, dass wir in vielem kurzatmig sind – die Glaubenskurs-Kampagne etwa hätte eine deutlich längere Projektphase gebraucht. Aber natürlich ist auch zuzugeben, dass wir in der Tat bei allen missionarischen Anstrengungen das Ohr oder gar das Interesse vieler Menschen nicht gewonnen haben. Wir stehen in vielen Bemühungen bestenfalls am Anfang. Und vieles hat vielleicht den einen oder die andere – Gott sei Dank! – erreicht, aber je weiter wir von den kirchlich Verbundenen zu den ganz und gar religiös Entwöhnten hinausschauen, desto nüchterner muss unsere Bilanz ausfallen. Auch wenn man die Bilanz nicht schlechteren sollte, sind wir weit von einem „turn-around“ im Blick auf die gesamtkirchlichen Abbrüche entfernt. Dennoch: Es wurden Menschen erreicht, es kamen Menschen zum Glauben und es haben sich Menschen auch wieder für die evangelische Kirche entschieden. Wo stünden wir heute, hätte es das alles nicht gegeben? Also: Ja, lieber Beirat, Dein Kommentar tut weh, berührt einen wunden Punkt, ist aber in Teilen unfair. Das Kernproblem dieses Statements ist ein fundamentales Missverständnis missionarischer Gemeindeentwicklung: Das Ziel der missionarischen Bemühungen ist es nicht, Menschen in mittlerer Verbundenheit zu Hochverbundenen zu transformieren. Das Ziel missionarischer Bemühungen kann es auch nicht sein, Menschen in der Halbdistanz zu ermutigen, in der Halbdistanz zu verharren, wenn dies bedeutet, dass sich ihnen gerade dort die befreiende und froh machende Botschaft von Christus nicht erschließt. Wir können nicht davon absehen, dass das nicht einmal mit Blick auf die Stabilisierung der Mitgliedschaft funktioniert, weil die Bindungen dieser kirchlichen Mittelschicht immer schwächer werden. Aber selbst wenn wir davon absehen könnten: Das Ziel der missionarischen Bemühungen muss es sein, dass Menschen hören, was Gott für sie tat, als Jesus zur Welt kam und seinen Weg an das Kreuz von Golgatha antrat. Das Ziel der missionarischen Bemühungen muss es sein, dass Menschen erfassen, dass sie von Gott geliebt, aus Gnade gerettet und zum Leben in der Nachfolge Jesu berufen sind. Billiger ist die Gnade nicht zu haben, weil alles, was billiger wäre, nicht mehr Gnade ist (nach Dietrich Bonhoeffer). Es geht darum, das Leben zu verlieren, um es zu gewinnen, also darum, sich vollständig Christus anzuvertrauen. Es geht darum, sich das in der Taufe zugeeignete Heil persönlich anzueignen. Es geht im Zentrum missionarischer Gemeindeentwicklung um lebendiges, mündiges Christsein. Das kann dann sehr verschiedene Formen einer christlichen Existenz im Alltag nach sich ziehen. Nur droht hier gleich die nächste semantische Verirrung. Es wird immer wieder auf die Tatsache verwiesen, dass das gesellige Zusammensein der vereinskirchlich strukturierten Kir-
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chengemeinde nicht jedermanns Ding sei. Das kann man so sehen. Das wird aber dann in eins gesetzt mit dem weitgehenden Verzicht auf den Beziehungs- und Gemeinschaftsaspekt christlicher Existenz insgesamt. Der christliche Glaube braucht aber von seinem Wesen her diesen sozialen Zugang: Ich kann mich nicht selbst taufen oder das Mahl reichen, ich brauche den anderen, der mich tröstet und ermahnt und mir immer wieder, und das in einer gewissen Regelmäßigkeit, zuspricht, was mir von Gott her gilt. Soziologisch umformuliert bedeutet das: Religiöse Haltungen in Minderheitensituationen überleben nur, wenn es ausreichend starke Gesprächsfäden gibt, wenn relevante Andere da sind, die meinen Glauben stärken und stützen. Ohne soziale Praxis verkümmert der Glaube.71 Die sogenannte Vereinskirche ist eine Form, in der dieser Beziehungsaspekt des Glaubens gelebt werden kann, er ist gewiss nicht der einzige. Er sollte aber auch nicht länger diskreditiert werden. Vor allem kann die soziale Dimension der Verbundenheit mit Christus nicht zum religiösen Luxus der Frommen und damit zum entbehrlichen Gut erklärt werden. Ich bin, was ich im Glauben bin, nur als Glied am Leib, als Rebe am Weinstock und als Stein im Haus der lebendigen Steine. Etwas ratlos bleibt man, wenn man sich fragt, welches „Zielfoto“ denn die vom Beirat angestrebte Stabilisierung vor sich sieht: Die kirchliche Mitte soll ja nicht bleiben, wie sie ist (denn dann wird sie immer mehr ausgedünnt), sie soll aber auch nicht „hochverbunden“ werden. Welche Konkretionen des Christseins jenseits der versammelten Gemeinde hat man da denn vor Augen? Nach meinem Eindruck bleibt das blass. Freilich bleibt der Stachel, der Punkt also, an dem die Analyse der KMU den Finger in die Wunde legt. Es ist schon so: Wir haben im Wesentlichen die gestärkt, die in den Gemeinden ansprechbar waren. Das ist nicht wenig. Wir haben die erreicht, die am Rand der Gemeinden standen und zu einer dichteren Beziehung bereit waren. Wir haben nur in weit geringerem Maße die erreicht, die im strengen Sinn konfessionslos, kirchendistanziert, religiös kreativ und spirituell suchend sind.72 Und es bleibt die Frage, wie wir positiv die Zugehörigkeit der vielen locker Verbundenen schätzen und bewerten können. Wie sehen wir also die treuen Kirchenfernen? Ist es nicht besser, wenn sie bleiben, als wenn sie gingen – selbst wenn wir sie nur selten sehen? Selbstverständlich ist das besser, denn wenn der Kontakt erst einmal gekappt wurde, ist es viel schwerer, neu anzuknüpfen. Hier streitet nicht eine positive Sicht der Distanzierten mit einer negativen; hier streiten zwei Sichten, die beide die Distanzierten wertschätzen. Daraus folgen zwei Aufgaben für die Gemeindeentwicklung: 71
Vgl. die entsprechenden Hinweise auf Peter L. Berger und die Figur der „Plausibilitätsstruktur“ bei Johannes Zimmermann 2009, 321-364. 72 Vgl. etwa die Erfahrungen mit „Kursen zum Glauben“ bei Jens Monsees, Carla J. Witt und Martin Reppenhagen 2015.
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V. Wie geht es der Kirche?
Die erste möchte ich als Zielpyramide beschreiben. Geistliche Leitung wird sich ja Ziele setzen, etwa für eine Region oder eine Ortsgemeinde. Und diese Ziele sind in einer Zielhierarchie zu sehen. Ein großes Gesamtziel muss so in viele kleinere Ziele aufgeteilt werden, die ihrerseits die Meilensteine auf dem Weg zum Gesamtziel darstellen. Und hier sehe ich eine Chance zur Verständigung. Ich kann hier ja zwei Fehler machen: Meine Ziele können angesichts der Mission unserer Kirche zu klein sein. Dann sehe ich nur die Stabilisierung der mittleren Verbundenheit als Ziel. Oder mein Ziel kann zu groß sein. Dann will ich nur lebendiges, mündiges Christsein in einer vitalen geistlichen Gemeinschaft für alle, und das sofort. Beides klappt nicht. In einer Zielhierarchie kann ich aber beidem seinen Ort zuweisen und beides fruchtbar aufeinander beziehen. Die Bemühungen der kirchlichen Organisation, Mitglieder zu binden, guten Service zu bieten, sie auch als passive und distanzierte Mitglieder zu würdigen, markieren so ein wichtiges Ziel, aber nicht das Endziel. Und umgekehrt hängen viele evangelistische Maßnahmen, viele Versuche, Menschen in ein lebendiges und mündiges Christsein zu rufen, in der Luft, wenn ich verkenne, wie wertvoll es ist, dass Menschen blieben und nicht gingen, etwas, wenn auch wenig und selten, von Kirche erwarten und ihr nicht völlig den Rücken zukehren. So könnten wir verschiedene kirchliche Handlungsmuster positiv aufeinander beziehen und uns gegenseitig würdigen, solange wir nur wissen, dass beides zusammengehört. Das ist eine Aufgabe geistlicher Leitung. Die zweite Aufgabe sehe ich darin, tatsächlich noch ernsthafter darüber nachzudenken, wie wir die Binnengrenzen des gemeindlichen Lebens
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überschreiten können. Mögliche Strategien können hier nur angedeutet werden: 1. Wir wissen seit langem, dass die entscheidenden Akteure die Christen im Alltag sind. Die Einübung in eine missionarische Existenz im Alltag muss zum Regelprogramm in jeder missionarischen Gemeinde werden. Hier geht es um mehr als um Sprachfähigkeit. Es müssen Scheu und innere Blockaden angesprochen werden. Es muss deutlich werden, dass es um einen Lebensstil geht und nicht um die Ablieferung eines verbalen Pakets von Glaubensbotschaften an mehr oder wenige unwillige Empfänger. Es muss deutlich werden, wie auch hier Wort und Tat zusammen gehören. 2. Wir brauchen eine deutlich bessere Unterstützung der Familien in der Weitergabe des Glaubens. 3. Wir ahnen seit einiger Zeit, dass die Komm-Strukturen klassischer Evangelisation nur bedingt fruchtbar sind. Eine wesentliche Pointe der „fresh expressions“ ist ihre grundlegende Strategie, nicht nur Einzelne, sondern missionale Gemeinschaften „draußen“ zu platzieren, und zwar so, dass sie gehen, um zu bleiben, um missionale, kontextuelle, lebensverändernde neue Gemeinden zu begründen.73 4. Weniger populär und nach meiner Überzeugung sträflich vernachlässigt sind die klassischen Kontaktflächen der Volkskirche. Ich biete immer wieder Seminare über die Kasualien an. Die Stimmung im Seminar ist häufig mindestens anfangs eindeutig: „Das sind lästige Pflichtübungen, die ein Pfarrer halt zu tun hat, die ihn aber letztlich auslaugen und vom Eigentlichen abhalten.“ Nun weiß ich auch, wie schwierig Kasualien sein können, aber ich bin trotzdem der Überzeugung, dass „die Missionarischen“ ein verändertes Verhältnis zur Kasualpraxis brauchen, zum einen hinsichtlich der Zielpyramide (weil sie Mitgliedschaft stabilisiert), zum anderen aber auch, weil wir Kasualien, aber auch Weihnachtsgottesdienste, Kindergartenfeste, Schulgottesdienste, kirchenmusikalische Aktivitäten etc. notorisch unterschätzen. Taufen mit Taufkursen, mit Tauferinnerung, mit Abenden über Erziehung zu verknüpfen, Trauungen mit Ehevorbereitungskursen zu verbinden, Trauernden nach der Beerdigung ein Trauercafé in der Gemeinde anzubieten, das sind „gestreckte Kasualien“ und somit vertiefte Chancen, Menschen in die Hörweite des Evangeliums zu bringen und ihnen zu zeigen, wie die Gemeinde Jesu sich ihrer in Wort und Tat angesichts der anstrengenden Wendepunkte ihres Lebens annimmt. 73
Vgl. Hans-Hermann Pompe, Patrick Todjeras und Carla J. Witt 2016.
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V. Wie geht es der Kirche?
Diese Liste ist unvollständig – in jeder Hinsicht. Aber es geht zuerst darum, in unserer Kirche die Zurückhaltung aufzugeben, wenn es darum geht, unsere getauften Mitglieder zu gewinnen, damit sie sich das, was ihnen in der Taufe zugeeignet wurde, auch persönlich aneignen können. Sie sollen ja nicht hinsichtlich ihres Glaubens verurteilt werden oder für bessere kirchliche Statistiken nutzbar gemacht werden. Wir erfüllen nur das Versprechen, das Gemeinden bei jeder Taufe abgeben: für die Getauften zu beten, ihnen nachzugehen und den Glauben ans Herz zu legen. Darüber hinaus geht es darum, die, die bisher vom Glauben völlig unberührt blieben, mit der lebensförderlichen Kraft und Schönheit des Evangeliums so vertraut zu machen, dass in ihnen der Wunsch wächst, es möge wahr sein, die Sehnsucht daran, Anschluss zu bekommen, und darum auch die Bereitschaft, sich taufen zu lassen. Beide Anliegen, gegenüber den Getauften wie den Ungetauften, wären unserer besten Anstrengungen wert. Literatur: Literatur Barth, Hans-Martin: Konfessionslos glücklich. Auf dem Weg zu einem religionstranszendenten Christsein. Gütersloh 2013 Bedford-Strohm, Heinrich und Jung, Volker (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015 Böhm, Karsten und Rauer, Jonathan: Denkt orange! Gemeinde und Familie – gemeinsam stark. Asslar 2013 Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend: Freiwilliges Engament in Deutschland. Zentrale Ergebnisse des deutschen Freiwilligensurveys 2014. Berlin 2016 Domsgen, Michael: Kommentar: Die kirchliche Form der Kommunikation des Evangeliums. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 171-175 Ebertz, Michael: Je älter, desto frömmer? Befunde zur Religiosität der älteren Generation. In: Bertelsmann-Stiftung (Hg.): Religionsmonitor 2008. Gütersloh 2007, 54-63 Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hannover 2014
Literatur
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Fechtner, Kristian: Teilhabe ermöglichen – In Reichweite bleiben. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 112-118 Gundlach, Thies: Situative Gemeinden als eine Grundform zukünftiger Verkündigung. PTh 99 (2010), 102-115 Hermelink, Jan, Koll, Julia und Hallwaß, Anne Elise: Liturgische Praxis zwischen Teilhabe und Teilnahme. In: Heinrich BedfordStrohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 90111 Joiner, Reggie: Lebe orange. Gemeinde und Familie – gemeinsam stark. Asslar 2012 Karle, Isolde: Kirche im Reformstress. Gütersloh 2. Aufl. 2011 –: Auf was es ankommt – Kirche in der Wahrnehmung ihrer Mitglieder. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 119-127 Kirchenamt der EKD (Hg.): Reden von Gott in der Welt. Der missionarische Auftrag der Kirche an der Schwelle zum 3. Jahrtausend. Frankfurt/M. 2. Aufl. 2001 – (Hg.): Kirche der Freiheit. Perspektiven für die Evangelische Kirche im 21. Jahrhundert. Ein Impulspapier des Rates der EKD. Hannover 2006 Körtner, Ulrich H.J.: Protestantische Potentiale und die zivilgesellschaftliche Relevanz der evangelischen Kirche. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 328-336 Kretzschmar, Gerald: Kirchenbindung – Konturen aus der Sicht der Mitglieder. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 208-218 Laube, Martin: Religion als Praxis. Zur Fortschreibung des christentumssoziologischen Rahmens der EKD-Mitgliedschaftsstudien. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und
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V. Wie geht es der Kirche?
Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 35-49 Monsees, Jens, Witt, Carla J. und Reppenhagen, Martin: Kurs halten. Erfahrungen von Gemeinden und Einzelnen mit Kursen zum Glauben. Neukirchen-Vluyn 2015 (BEG Praxis) Moore, Lucy: Messy Church. Fresh Ideas for Building a Christ-centred Community. Abingdon 2006 Pickel, Gert: Jugendliche und Religion im Spannungsfeld zwischen religiöser und säkularer Option. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 142-160 Pollack, Detlef, Pickel, Gert und Spieß, Tabea: Religiöse Sozialisation und soziale Prägungen und Einflüsse. In: Heinrich BedfordStrohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 131-141 Pompe, Hans-Hermann, Todjeras, Patrick und Witt, Carla J. (Hg.): Fresh X. Frisch. Neu. Innovativ: Und es ist Kirche. NeukirchenVluyn 2016 (BEG Praxis) Sinnemann, Maria: Engagement mit Potenzial. Sonderauswertung des vierten Freiwilligensurveys für die evangelische Kirche. Hannover 2017 (SI aktuell) Smith, Christian und Denton, Melina Lundquist: Soul Searching: The Religious and Spiritual Lives of American Teenagers. Oxford 2005 Spieß, Tabea und Wegner, Gerhard: Die Älteren: Kerngruppe der Kirche? In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 161-170 –: Kirchengemeinde als Ort von Religion, Diakonie und Gemeinschaft. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 50-58 Zimmermann, Johannes: Gemeinde zwischen Individualität und Sozialität. Herausforderungen für den Gemeindeaufbau im gesellschaftlichen Wandel. Neukirchen-Vluyn 2. Aufl. 2009 (BEG Bd. 3)
Literatur
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Zimmermann, Johannes und Schröder, Anna-Konstanze: Wie finden Erwachsene zum Glauben? Neukirchen-Vluyn 2010 (BEG Praxis)
VI. Mittlere Ebene – bloß Verwaltung oder Kirche?1 „Wir haben es weitgehend verlernt, Kirche anders denn als Ortskirchengemeinde und parochial organisiert zu denken.“2
1. Eine spartanische Ekklesiologie 1. Eine spartanische Ekklesiologie Von einer „spartanischen“ lutherischen Ekklesiologie sprach Notger Slenczka in einem Vortrag im Theologischen Ausschuss der VELKD (2014). Kirche ist die um Wort und Sakrament versammelte Gemeinde der Glaubenden. Es reiche, so Slenczka, demnach aus, sich vor Augen zu halten, „dass Wort und Sakrament nach reformatorischem Verständnis der Ursprung des Glaubens sind: Der Heilige Geist gibt durch sie ‚als durch Mittel’ (CA 5) den Glauben (selbstverständlich vorbehaltlich des ‚ubi et quando visum est Deo’). Wo Wort und Sakrament sind, wird Glaube gewirkt und ist die Gemeinschaft der Glaubenden. Dass genau diese Elemente als Identifikationsmittel für die Kirche angegeben werden, ist selbst Ausdruck des Glaubens, des Vertrauens nämlich auf die Verheißung, dass Gott durch Wort und Sakrament Glauben wirkt.“ Da Wort und Sakrament Gemeinschaft (in leiblicher Gegenwart) nicht nur begründen, sondern immer schon voraussetzen, ist mit ihnen eine Form der Örtlichkeit verbunden. An einem konkreten Ort trifft sich die „congregatio fidelium localis“.3 Welche Orte aber kommen dafür in Frage, um tatsächlich mit guten Gründen von Kirche sprechen zu können? Diese Frage lässt sich an kleineren (Haus, Familie, Gruppe, Schule, Kloster) und größeren „Einheiten“ (Dekanat, Kirchenkreis, Kirchenbezirk, Landeskirche) durchbuchstabieren. Hier soll das Thema exemplarisch am Beispiel der sogenannten „mittleren Ebene“ vorgestellt werden. 2. Kirche an vielen Orten 2. Kirche an vielen Orten Für die weitere Orientierung erscheint es wesentlich, dass sich das Kirche gründende Geschehen der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Sakrament an zahlreichen Orten und nicht nur in der Kirchenge1
Dieser Beitrag wurde im Theologischen Ausschuss der VELKD im April 2015 als Vortrag eingebracht. 2 Christhard Ebert und Hans-Hermann Pompe 2014, 145. 3 Lumen Gentium 26 (SD 4151).
2. Kirche an vielen Orten
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meinde (als Parochie) ereignet. Aus der „spartanischen Ekklesiologie“ folgt ja, dass alle Einrichtungen außerhalb von Wort und Sakrament streng genommen Adiaphora sind. Damit sind sie zwar nicht beliebig, aber gestaltbar, veränderbar, vielfältig und keineswegs auf einen „Normalfall“ zu reduzieren. Das Kirche gründende Geschehen ereignet sich in Ortskirchengemeinden, aber eben auch in Häusern und in Dekanaten/Kirchenkreisen. Diese sind damit auch als Gestalten von Kirche zu würdigen. Daraus erwächst eine „morphologische Freiheit“.4 So entspricht es auch neutestamentlichem Sprachgebrauch, wenn etwa der Begriff „ekklesia“ sowohl für kleine Hauskirchen, deren lokalen Verbund, die Kirche einer Provinz oder die weltweite Gemeinschaft des Leibes Christi verwandt werden kann.5 Wichtig ist allein, dass jede kirchliche „Rechts- und Sozialgestalt … dem Zeugnis von der Gegenwart Christi Raum gibt.“6 Diese Orte sind dabei stets aufeinander verwiesen. Was schon für den Einzelnen gilt, der einen anderen braucht, um das Wort zu hören, sich taufen zu lassen und das Mahl zu empfangen, gilt auch für Gemeinden untereinander und für das Verhältnis von Einzelgemeinden und kirchlicher Gemeinschaft von Gemeinden. Alle Orte kirchlichen Lebens sind so miteinander verbunden und aufeinander verwiesen, und zwar wechselseitig aufeinander verwiesen – und eben nicht im Sinne einer Einbahnstraßen-Kommunikation. Deutlicher Ausdruck dafür ist die kirchliche Visitation mit ihren seelsorglich-aufsuchenden und zugleich aufsichtlichen Aspekten. Indem hier die einzelne Gemeinde von der Gemeinschaft der Gemeinden besucht wird, wird deutlich, dass jede Gemeinde zwar ganz Kirche ist, aber keine Gemeinde die ganze Kirche.7 Darum ist auch der hier als Beispiel gewählte Spezialfall der mittleren kirchlichen Ebene entsprechend zu würdigen. Es reicht nicht aus, diese mittlere Ebene als reine Verwaltungsebene zu betrachten. Auch die Kirche in einer Region ist demnach Kirche, insofern sich in ihr das die Kirche gründende Geschehen ereignet. Dem entspricht auch die in den Grundordnungen der evangelischen Landeskirchen verankerte presbyterial-synodale Verfassung der Kirche. Zwar sind die „checks and balances“ konfessionell unterschiedlich geregelt, gleichwohl gehen alle Landeskirchen davon aus, dass kirchliche Verantwortung zum einen lokal in der von Ältesten und Pfarrern geleiteten Ortskirchengemeinde wahrgenommen wird, zum anderen aber ebenso in der synodal geleiteten größeren kirchlichen Gemein-
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Vgl. Christhard Ebert und Hans-Hermann Pompe Ibid., 113-115. Vgl. Ibid., 34+119; Hans-Joachim Eckstein 2011, 40. 6 Wolfgang Huber 1988, 114f. 7 Vgl. Mareile Lasogga und Udo Hahn 2010; Michael Herbst 2006, 93-119. 5
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VI. Mittlere Ebene Ebene – bloß Verwaltung oder Kirche?
schaft.8 In der Kirchenverfassung der Nordkirche etwa wird die Kirchengemeinde als „Zeugnis- und Dienstgemeinschaft“ verstanden (Artikel 3), aber auch der Kirchenkreis als „eigenständige Einheit kirchlichen Lebens“, zur Förderung des geistlichen Wachstums der Gemeinden, zur Erfüllung gemeinsamer Aufgaben und zum Ausgleich der Kräfte und Lasten (Artikel 41).9 Das landeskirchliche Modell ist also weder kongregationalistisch noch episkopal organisiert. Wir halten fest: Kirche in der Region als Gemeinschaft kirchlicher Gemeinschaften ist selbst auch Kirche. „Jede Gestaltungsebene der Kirche bezeugt das Evangelium und ist in spezifischer Weise Kirche.“10 3. Ein Gespenst geht um: Regionalisierung 3. Regionalisierung Diese theologisch korrekte Auskunft stößt sich aber hart mit der Stimmungslage in deutschen Kirchenlandschaften. „Ein Gespenst geht um in der Kirche – das Gespenst der ‚Regionalisierung‘. Manche können es schon nicht mehr hören, erscheint es doch als leicht geschönter Sammelbegriff für ‚Zusammenlegung‘, ‚Stellenkürzung‘ und ‚Sparmaßnahme‘ zu sein. … Wenn dann noch das Stichwort ‚Region‘ mit dem zweiten … zum Unwort gewordenen Begriff der ‚Reform‘ verbunden wird, scheint das Maß voll zu sein.“11 In den Texten zur Kirchenreform in den 1970er Jahren findet man noch eine ganz andere Stimmung: Hier gilt die zonale Kirche (also Kirche in der Region) als eine Hoffnungsträgerin gegenüber der als bürgerlich, unbeweglich und oft selbstbezüglich wahrgenommenen lokalen Kirchengemeinde. Neben den funktionalen Pfarrämtern ist es die Strategie der Regionalisierung, auf die man (auch im Anschluss an Überlegungen in der Missionstheologie des Ökumenischen Rates der Kirchen) setzt.12 In der jüngeren Vergangenheit wird von Regionalisierung zwar ab und an im Sinne einer reformerischen Strategie gesprochen, weil die Zukunft weiterhin „jenseits der Parochie“13 gesucht werden soll. Zunehmend geraten Begriff und Sache aber in Misskredit, weil offensichtlich Regionalisierung vorwiegend zum Instrument des kirchlichen Krisen8
Vgl. den Überblick bei Markus Dröge 2013, 42-62. Vgl. http://www.kirchenrecht-nordkirche.de/showdocument/id/24017 – aufgesucht am 22. April 2015. 10 Vgl. Markus Dröge Ibid., 54: „Regionale Modelle entsprechen deshalb dem Wesen unserer Evangelischen Landeskirchen, weil sie presbyterial-synodal geprägte Kirchen sind, in der jede kirchliche Strukturebene ‚Kirche’ im geistlichen Sinn ist.“ 11 Axel Noack 2012, 5. 12 Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 297. 13 Stefan Bölts 2008, 15-30. 9
4. Begrenzungen der Ortskirchengemeinde
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managements wurde.14 Angesichts der kleiner, älter und ärmer werdenden Landeskirchen werden kirchliche Einheiten fusioniert, kirchliche Dienste reduziert und konzentriert und zugleich die Zuständigkeitsbereiche der Mitarbeitenden, nicht zuletzt der Pfarrerinnen und Pfarrer, ausgedehnt. Schrumpfung und Dehnung sind hier zwei Seiten derselben kirchlichen Reformmedaille. Gleichzeitig bilden sich auf diese Weise kirchenrechtliche Zwischengrößen wie (je nach landeskirchlicher Diktion) pfarramtlich verbundene Gemeinden, Kirchengemeindeverbände, Schwesterkirchverhältnisse oder Kirchenregionen.15 Diese Prozesse werden in der Regel als von außen auferlegt erlebt und als schwerer Verlust empfunden. Gemeinden wollen „ihren“ Pfarrer nicht verlieren. Gottesdienste finden unregelmäßiger statt. Insgesamt geht ein gutes Stück kirchlicher Nähe zum lokalen Leben verloren, was nicht wenige – mit guten Gründen – für fatal halten.16 Die Konzentration auf zentrale Orte führt dann in der Regel zur weiteren Schädigung der peripheren Orte. Oft wird mangelndes Verständnis für örtliche Belange und eine unzureichende Begleitung und Unterstützung in den sogenannten Reformprozessen beklagt. Die mittlere kirchliche Ebene wird als Instanz erlebt, die durch die Lenkung von Personal- und Finanzmitteln die Eigenständigkeit der lokalen Kirchengemeinden unterläuft. Nicht die Gemeinschaft der Gemeinden wird erlebt, sondern ein im Extremfall sogar feindliches „Kirchenregiment“. Das alles wird als belastend erlebt und entsprechend betrauert. Zuweilen wird im Gegenzug die Autonomie der Ortskirchengemeinde kritisch gegen jede kirchliche Gemeinschaft auf mittlerer Ebene in Anschlag gebracht (wie etwa im „Wormser Wort“ 17 ). Ein Gespenst geht um… Darum muss man wohl 2015 sagen: „Region ist eher eine ungeliebte Verwaltungseinheit als eine Verheißungsträgerin für einen neuen Aufbruch.“18 4. Genetische Begrenzungen der Ortskirchengemeinde 4. Begrenzungen der Ortskirchengemeinde Tatsächlich hat die Kirche vor Ort unbestreitbare Vorzüge: Sie ist im Leben der Menschen verankert. Sie ist vertraut, erreichbar und verlässlich. Sie erlaubt Nähe. Sie kommt denen entgegen, die nicht oder eingeschränkt mobil sind. Sie macht die Verkündigung des Evangeliums leicht zugänglich. 14
Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 298. Vgl. Christhard Ebert und Hans-Hermann Pompe 2014, 137. 16 Vgl. Ibid., 150. 17 Vgl. https://weact.campact.de/petitions/wormser-wort-nein-zu-den-abbau-undumbauprozessen-der-ekd/?utm_id=wa-recpif – aufgesucht am 22. April 2015. 18 Ibid., 15. 15
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VI. Mittlere Ebene Ebene – bloß Verwaltung oder Kirche?
Auf der anderen Seite wird man anerkennen müssen, dass die lokale Kirchengemeinde ohne die größere Gemeinschaft der Kirche im Dekanat/Kirchenkreis eine Reihe von „genetischen“ Defiziten hat. Einige Aspekte seien hier summarisch aufgelistet: Es geht um die Begrenzung „durch Territorium, Autarkie und Vollangebot“.19 Territorium: Wenn auch die Gemeinde im Nahbereich besonders für die wenig mobilen Menschen eine enorme Hilfe darstellt, so ist umgekehrt für viele mobile Menschen nicht die selbstverständliche Adresse, wenn es um den Kontakt zu Angeboten geistlicher Begleitung und Gemeinschaft geht. Denn diese eher mobilen Menschen leben generell eher in Netzwerken, organisieren ihr Dasein regional. Sie orientieren sich an Vorlieben, Beziehungen, attraktiven, oft zentralen Angeboten. Besteht man auf dem Modell „one fits all“, dann hat diese kirchliche Vergemeinschaftung angesichts des faktisch marktförmigen Verhaltens unserer Zeitgenossen exkludierende statt inkludierende Wirkung. Autarkie: Die lokale Kirchengemeinde neigt dazu, alles selbst und möglichst allein tun zu wollen. Zusammenarbeit ist vielerorts die Ausnahme und wird schon als Verlust erlebt. Das Dekanat oder die kreiskirchlichen Einrichtungen sind fremd und fern, eigentlich nur „unser Büro“, also Verwaltung, aber nicht Ort geistlicher Gemeinschaft. „Lokales Kirchturmdenken signalisiert der Region: ‚Lasst uns möglichst in Ruhe – außer wenn wir Hilfe benötigen.’“ 20 Dann aber gilt nur das eigene, möglichst unbeschadete Überleben als vorrangiges Ziel. Vollprogramm: Jede Parochie ist darauf angelegt, eigentlich „alles für alle“ zu bieten: Gottesdienste, Amtshandlungen, Unterricht, aber auch Chor, Kinder- und Jugendarbeit, Bibelkreise, Erwachsenenbildung und Seniorenarbeit. Auch wenn es z. B. nur sehr wenige Konfirmanden gibt, hält man am eigenen Unterricht fest, will man doch „unsere Jugendlichen“ nicht preisgeben. Und ein schlechter, aber eigener Chor ist besser als ein besserer gemeinsamer Chor oder ein regionales Chorprojekt, das ab und an angeboten wird. 5. Ansätze für eine regiolokale Kirchenentwicklung21 5. Regiolokale Kirchenentwicklung Im anglikanischen Kontext findet man das Motiv einer „mixedeconomy-church“.22 Dabei ist dort vor allem an das gedeihliche, sich 19
Ibid., 129. Ibid. 21 Vgl. Michael Herbst und Hans-Hermann Pompe 2017. 20
5. Regiolokale Kirchenentwicklung
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gegenseitig fördernde Miteinander von parochialen Gemeinden und trans-parochialen „fresh expressions“ gedacht. Auch das ist ein zukunftsträchtiger Aspekt unseres Themas, der hier jedoch nicht weiter verfolgt werden kann.23 Gleichwohl ist die theologische Figur für unsere Thematik und deren praktische Bedeutung für das kirchliche Leben hilfreich. Dabei ist wiederum nicht nur an das Verhältnis von parochialen und regionalen kirchlichen Gemeinschaften zu denken, sondern ebenso an das Verhältnis zur Kirche im Haus, im Kloster, in der Schule usw. Drei Aspekte sollen hier Erwähnung finden: 1. Die Notwendigkeit einer theologischen und geistlichen Neubewertung. Hier geht es darum, anzuerkennen und nachzuvollziehen, dass das Dekanat oder der Kirchenkreis Kirche ist und nicht ein „unter“ oder „neben“ der eigentlichen Kirche am Ort platziertes Hilfsinstrument. Der Berliner Bischof Markus Dröge formuliert es so: „Eine Region wird geistlich nur leben, wenn sie ihr Beziehungsnetzwerk nicht rein verwaltungstechnisch versteht, sondern geistlich.“24 2. Die Wahrnehmung des eigenständigen kirchlichen Beitrags von Dekanat bzw. Kirchenkreis. Damit sind die unmittelbaren Dienstleistungen von Dekanat und Kirchenkreis angesprochen. Hier ist nicht nur festzuhalten, dass auch auf der „mittleren Ebene“ Gottesdienst gefeiert, gebetet, das Abendmahl gereicht und Gemeinschaft gepflegt wird. Hier ist zu zeigen, dass die mittlere Ebene über Verwaltungsleistungen hinaus spezifische Stärken in das kirchliche Leben einbringt. a. Dazu gehört die Wahrnehmung eines stärker profilierten Öffentlichkeitsauftrags. Wahrnehmbarer als lokale Gemeinschaften kann die regionale Kirche in der größeren Öffentlichkeit das Evangelium bezeugen und aus christlicher Sicht Stellung zu aktuellen Fragen beziehen. b. Dazu gehören auch die gebündelten Ressourcen, mit denen die regionale Kirche hochqualifizierte Dienste für alle anbieten kann, sei es in der Beratung, in spezialisierten Formen der Seelsorge oder auch in der Bildungsarbeit z. B. für ehrenamtlich Mitarbeitende. c. Dazu gehört auch die (freilich nicht so häufig genutzte) Chance, missionarische Initiativen mit größerer öffentli-
22
Vgl. Steven Croft 2008, 1-15. Vgl. Michael Herbst 2013, 239-256. 24 Markus Dröge 2013, 49. 23
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VI. Mittlere Ebene Ebene – bloß Verwaltung oder Kirche?
cher Sichtbarkeit durchzuführen. z. B. milieusensible „Kurse zum Glauben“ für eine ganze Region.25 d. Dazu gehören die großen, festlichen, kirchenmusikalisch reichen Gottesdienste, sozusagen der „Tempel“, zu dem man aus der ganzen Umgebung von Zeit zu Zeit „wallfahrtet“. e. Dazu gehört schließlich die kreiskirchliche Visitation, mit der die kirchliche Gemeinschaft die einzelne Gemeinde besucht, in den Blick nimmt, prüft, ermutigt und stärkt. 3. Die Organisation eines starken Miteinanders profilierter Gemeinden in der Region. Damit sind die mittelbaren Dienstleistungen auf der Ebene von Dekanat und Kirchenkreis angesprochen.26 Das Zusammenspiel der Gemeinden, gut moderiert von den Verantwortlichen eines Dekanats oder Kirchenkreises, erlaubt nämlich … a. … die Ausbildung eines klaren lokalen Profils, also Unterschiedlichkeit statt Uniformität (1 Kor 12,20). Lokale Identitäten werden eben nicht aufgelöst. Davon entlastet, alles tun zu müssen, kann die lokale Gemeinde im regiolokalen Verbund das einbringen, was sie besonders gut kann oder was ihr besonders wichtig erscheint. b. … Vernetzung der Gemeinden untereinander. Es entsteht ein Kooperationsraum, in dem Gemeinden miteinander im Gespräch sind, kooperieren, sich gegenseitig unterstützen und entlasten. Diversität führt so nicht zu (Selbst-) Isolation (1 Kor 12,21). Für manches ist manche Ortsgemeinde allein zu schwach, aber im Verbund geht es besser: Kurse zum Glauben, Chorprojekte, Freizeiten, Schulungen für Ehrenamtliche, auch Konfirmandenarbeit (z. B. in „KonfiCamps“). c. … Kooperation und Konkurrenz. Durch die verschiedenen Gaben der einzelnen Gemeinden entsteht ein Mehrwert (Röm 12,4-6). Manches geht dann miteinander leichter, in manchem tritt auch das Unterschiedliche deutlicher hervor. Es entsteht ein sportlicher Wettbewerb um Aufmerksamkeit und Interesse. d. … flexible Strukturen. Es kann sein, dass nicht alles „über einen Kamm geschoren“ werden sollte. Manche steigen früher in kooperative Prozesse ein, andere brauchen mehr 25
Vgl. Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste und EKD-Zentrum Mission in der Region 2012; Christhard Ebert und Hans-Hermann Pompe 2014, 131. 26 Diese werden vorzüglich an verschiedenen Stellen im Handbuch des Zentrums „Mission in der Region“ der EKD über „Kirche und Regionalentwicklung“ zusammengefasst, an die sich die Darstellung hier anlehnt. Vgl. Ibid.
5. Regiolokale Kirchenentwicklung
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Zeit. Hochprofilierte Gemeinden brauchen Sonderregelungen, wenn Zusammenschlüsse nur konfliktträchtig wären. Neue nicht-parochiale Gemeindeformen, die sich an Zielgruppen, bestimmte kulturelle oder soziale Segmente wenden, brauchen sowohl die Freiheit zum selbstständigen Agieren wie auch die Einbindung in Verantwortung. Flexible Strukturen gewähren solche Freiräume und verfahren nicht nach „Schema F“ oder nach dem Motto: „Das haben wir immer so gemacht.“ e. … „In-Wert-Setzung“ und Solidarität 27 (1 Kor 12,26). Vielleicht ist dies die entscheidende verknüpfende Leistung gegenüber der neidbesetzten Konkurrenz, kirchengemeindlichem Egoismus bzw. Kirchturmdenken. Der profilierte Beitrag wird ebenso geschätzt wie die hilfreiche Unterstützung schwächerer Partner. Subsidiär passiert alles, was Einzelne leisten können, auf lokaler Ebene, solidarisch versteht sich jeder Einzelne als Teil eines größeren Ganzen.28 Unter dem Strich zeigt sich im regiolokalen Miteinander die lokale Kirche als besonders stark in ihrer inkarnatorischen Weise der „missio Dei“: Sie ist den Menschen nah und leicht zugänglich und (hoffentlich) tief in Geschichte, Kultur und Lebensgemeinschaft der Menschen am Ort verwurzelt. Die regionale Kirche im regiolokalen Verbund zeigt sich dagegen als besonders stark in ihrer attraktionalen Weise der „missio Dei“: Sie steht für eine öffentliche Kirche mit qualitativ hochwertigen, auch für den Distanzierten sichtbaren und (z. B. wegen größerer Anonymität) zugänglichen Angeboten.29 Die Alternative von Kirche vor Ort und Kirche in der Region ist falsch. Kirche als Volkskirche für alle braucht das gut sichtbare zentrale „Leuchtfeuer“ ebenso wie das sich über das Land erstreckende „Lichternetz“ der vielen örtlichen Gemeinden. Sie sollte lernen, sich regiolokal zu verstehen und zu organisieren.30 Freilich bedarf es erhöhter strategischer und kommunikativer Anstrengungen, um im Sinne einer regiolokalen Kirchenentwicklung, die mehr und anderes einschließt als eine strukturelle Regionalisierung, zu den beschriebenen Effekten zu kommen. Solche Bemühungen müssten einschließen: ein Ja zur spannungsvollen Einheit von Zentralität (Leuchtfeuer) und Dezentralität (Lichternetz),
27
Zur Begrifflichkeit vgl. Ibid., 158. Vgl. Ibid., 37+131. 29 Vgl. Thomas Schlegel 2012, 19-39. 30 Vgl. Thomas Schlegel und Martin Alex 2012. 28
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VI. Mittlere Ebene Ebene – bloß Verwaltung oder Kirche?
Transparenz hinsichtlich der wirtschaftlichen (Un-) Möglichkeiten, Offenheit für flexible Regelungen, Nutzen rechtlicher Spielräume Mut zu einzelnen lokalen oder regionalen Experimenten, Freiwilligkeit (so weit wie irgendwie möglich), Anregungen, gute Erfahrungen mit dem Nutzen von freiwilliger Kooperation zu machen, Bereitschaft, in der Region mehr zu sehen als einen Raum für organisatorische Absprachen: nämlich einen gemeinsamen Verantwortungsraum für die Bezeugung des Evangeliums, Kommunikative Führung, die die Beteiligten zusammenführt. 6. Weitere Kriterien der Kirchenreform 6. Weitere Kriterien der Kirchenreform Die Kirche mit der „spartanischen“ Ekklesiologie bedarf der stetigen Reflexion, ob sie mit allen ihren Lebensäußerungen noch dem Geschehen dient, das ihrem Wesen, ihrer Sammlung und Sendung Grund gibt: der Kommunikation des Evangeliums. Nicht allein wirtschaftliche Aspekte oder Opportunitätsgründe dürfen Anlass zu kirchenreformerischen Bemühungen sein, vielmehr geht es um die stetige Selbstkontrolle der Kirche, ob sie in all ihrem Tun und Lassen ein lebendiges und glaubwürdiges Zeugnis für das Evangelium ist. Darum muss auch gefragt werden: „Welche Formen sind geeignet, die Kommunikation des Evangeliums als zentrale Aufgabe der Kirche bestmöglich zu fördern und seine Relevanz für die Individuen und die Gesellschaft zu befördern?“31 Das aber bedeutet, dass möglichst viele Menschen, auch in sehr peripheren Räumen, möglichst gute, d.h. auf ihre Lebenslage und ihre Ansprechbarkeit zugeschnittene Möglichkeiten bekommen sollen, in die Kommunikation des Evangeliums einzutreten und an ihr teilzuhaben. Dabei folgt aus der Tatsache, dass das Evangelium niemanden ausschließt, sondern jeden einzuschließen sucht, die Forderung, sich besonders um die zu mühen, die bislang faktisch von der Kommunikation ausgeschlossen sind. Weiterhin folgt (nicht aus den finanziellen Engpässen, sondern) aus der Einsicht in das Allgemeine Priestertum der Getauften, dass nicht die Zahl der Pfarrstellen den „Flaschenhals“ bilden darf hinsichtlich der Lebensfähigkeit örtlicher Gemeinden. Die Förderung mündiger und für die regiolokale Kommunikation des Evangeliums zugerüsteter und ermächtigter Christenmenschen ist eine theologische Forderung – mit der erfreulichen Nebenwirkung der Entlastung für überdehnte pastorale 31
Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 305.
7. Gemeinden als Knotenpunkte
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Zuständigkeiten. Dazu gehört aber auch die Entwicklung von liturgischen Formularen, die es Gemeinden erlauben, selbstständig (auch ohne pastorale Leitung) Gottesdienst zu feiern.32 Schließlich gilt es, die morphologische Freiheit, die sich direkt aus der „spartanischen“ Ekklesiologie ergibt, ernst zu nehmen und ihren Spielraum zu nutzen: Die parochiale Grundversorgung ist gewiss nicht zu verachten, kann aber unter veränderten Rahmenbedingungen nicht das Korsett bilden, das Neuaufbrüche behindert. Es gibt auch eine „babylonische Gefangenschaft“ im parochialen Modell.33 Parochiale Strukturen sind zweckmäßig, aber gehören zu den Adiaphora. Neben den Parochien wird eine zukunftsfähige Kirche sowohl größere regiolokale Gestalten von Kirche als auch trans-parochiale neue Ausdrucksformen und kleinere lokale, z. B. hauskirchliche Lebensformen entwickeln. Die rechtliche Ausgestaltung kann dabei in sehr verschiedenen Varianten geschehen: Auch rechtliche Zusammenschlüsse müssen lokale Freiheit nicht behindern; rechtliche Unabhängigkeit ist ein hoher Wert, aber nicht unter allen Umständen und um jeden Preis aufrecht zu erhalten. Wenn die reformerischen Bemühungen die Grundspannung von Regionalität und Lokalität schätzen und schützen, kann man auch Prozesse der Regionalisierung entspannter in Angriff nehmen. 7. Worauf es ankommt: Gemeinden als Knotenpunkte in einem Netz von Gemeinden 7. Gemeinden als Knotenpunkte Abschließend ist Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong zuzustimmen, wenn sie fordern: „Bisherige Ortsgemeinden setzen […] stärker als bisher Schwerpunkte und entwickeln Profile, mit denen sie Aufgaben für einen größeren regionalen Rahmen übernehmen. Diese werden in einer sinnvollen regionalen Größe […] koordiniert, so dass alle als zentral für die Kommunikation des Evangeliums erachteten kirchlichen Arbeitsfelder in einem für Kirchenmitglieder34 erreichbaren Rahmen vorhanden sind. Die Gemeinden verstehen sich damit weniger als autonome Größe für einen abgegrenzten Bezirk denn als Knotenpunkte in einem Netz von Gemeinden mit einem jeweils spezifischen Beitrag für die gemeinsame Aufgabe. Gleichzeitig geben sie ihre Stärke lokaler Orientierung und Kompetenz nicht auf, sondern betonen diese. Sie eröffnen Räume für religiös grundierte Formen von Gemeinschaft und Geselligkeit […].“35 32
Vgl. Anne Bremer und Michael Wegner 2012, 64-69. Vgl. Christhard Ebert und Hans-Hermann Pompe 2014, 128f. 34 Ich ergänze: und solche, die es werden könnten oder sich für Fragen des Glaubens interessieren… 35 Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 307. 33
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VI. Mittlere Ebene Ebene – bloß Verwaltung oder Kirche?
Literatur: Literatur Arbeitsgemeinschaft Missionarische Dienste und EKD-Zentrum Mission in der Region (Hg.): Aufbruch in die Lebenswelten. Milieusensibles Marketing für Kurse zum Glauben in der Modellregion Heidelberg/Ladenburg-Weinheim. Projektabschlussbericht. Berlin und Dortmund 2012 Bölts, Stefan: Über den eigenen Kirchturm hinaus. Die Zukunft liegt jenseits der Parochie. In: Stefan Bölts und Wolfgang Nethöfel (Hg.): Aufbruch in die Region. Kirchenreform zwischen Zwangsfusion und profilierter Nachbarschaft. Hamburg 2008 (Netzwerk Kirche Bd. 3), 15-30 Bremer, Anne und Wegner, Michael: Gottesdienste feiern mit der "Gemeindeagende" – Kirchenkreis Egeln. In: Christiane Moldenhauer und Georg Warnecke (Hg.): Gemeinde im Kontext. Neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens. Neukirchen-Vluyn 2012 (BEG Praxis), 64-69 Croft, Steven: Fresh expressions in a mixed economy Church: a perspective. In: Steven Croft (Hg.): Mission-shaped Questions. Defining issues for today's Church. London 2008, 1-15 Dröge, Markus: Stadt, Land, alles im Fluss. Volkskirche in der Region. In: Heinzpeter Hempelmann und Hans-Hermann Pompe (Hg.): Freiraum. Kirche in der Region missionarisch entwickeln. Leipzig 2013 (Kirche im Aufbruch Bd. 8), 43-62 Ebert, Christhard und Pompe, Hans-Hermann (Hg.): Handbuch Kirche und Regionalentwicklung. Region – Kooperation – Mission. Leipzig 2014 (Kirche im Aufbruch Bd. 11) Eckstein, Hans-Joachim: Gottesdienst im Neuen Testament. In: HansJoachim Eckstein, Ulrich Heckel und Birgit Weyel (Hg.): Kompendium Gottesdienst. Tübingen 2011, 22-41 Hauschildt, Eberhard und Pohl-Patalong, Uta: Kirche. Gütersloh 2013 (Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 4) Herbst, Michael: „Lasst uns nach unseren Brüdern sehen“ – Visitation aus praktisch-theologischer Sicht. In: Klaus Grünwaldt und Udo Hahn (Hg.): Visitation – urchristliche Praxis und neue Herausforderungen der Gegenwart. Hannover 2006, 93-119 –: Wir2 – „Wohl denen, die da wandeln“. In: Philipp Elhaus, Christian Hennecke, Dirk Stelter und Dagmar Stoltmann-Lukas (Hg.): Kirche2 – Eine ökumenische Vision. Würzburg 2013, 239-256
Literatur
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Herbst, Michael und Pompe, Hans-Hermann: Regiolokale Kirchenentwicklung. Wie Gemeinden vom Nebeneinander zum Miteinander kommen können. Dortmund 2017 (ZMiR:klartext) Huber, Wolfgang: Kirche. München 2. Aufl. 1988 Lasogga, Mareile und Hahn, Udo (Hg.): Die Visitation. Eine Studie des Theologischen Ausschusses der VELKD. Hannover 2010 Noack, Axel: Geleitwort. In: Daniel Hörsch und Hans-Hermann Pompe (Hg.): Region – Gestaltungsraum der Kirche. Begriffserklärungen, ekklesiologische Horizonte, Praxiserfahrungen. Leipzig 2012 (Kirche im Aufbruch – Reformprozess der EKD Bd. 4), 5-7 Schlegel, Thomas: Regionale Ausstrahlung oder Dienst vor Ort? Wie wir Menschen auf dem Land besser erreichen. In: Thomas Schlegel und Martin Alex (Hg.): Leuchtfeuer oder Lichternetz. Missionarische Impulse für ländliche Räume. Neukirchen-Vluyn 2012 (BEG Praxis), 19-39 Schlegel, Thomas und Alex, Martin (Hg.): Leuchtfeuer oder Lichternetz – Missionarische Impulse für ländliche Räume. NeukirchenVluyn 2012 (BEG Praxis)
VII. Neue Gottesdienste braucht das Land Programm und Zwischenbilanz1
Zur Einstimmung Zur Einstimmung Es ist Gottesdienst, irgendwo im weiten Land. Abendmahl wird gefeiert. Und es wird zum Friedensgruß aufgerufen. Ein Gemeindeglied grüßt einen ihm unbekannten Mann, so wie es das gelernt hat: „Friede sei mit dir!“ Der Unbekannte antwortet freundlich: „Schön’n Tach noch.“2 Berichtet wird diese Begebenheit von Martin Nicol in seinem Buch „Weg im Geheimnis“. Für mich bringt sie eine der Kernfragen, mit denen wir uns in Kirche und Theologie zu befassen haben, anekdotisch auf den Punkt: Wie weit klaffen die Welten auseinander, wenn wir Gottesdienst feiern! Da sind die Geübten und die Ungeübten. Da ist das Ritual, den einen vertraut, den anderen offenkundig fremd. Und sie möchten einander doch freundlich begegnen. Aber wie findet da eins zum anderen? Wer überwindet die Kluft? Erörtert wird diese Frage im Kontext des Gottesdienstes. Bei meinem Lehrer Manfred Seitz habe ich gelernt: Gottesdienst ist Zusammenkunft. Und Manfred Seitz erklärt auch, worum es da geht: „Die von Christus Ergriffenen und solche, die dazukommen wollen, scharen sich um Jesus Christus als unsichtbare Mitte – im Glauben und in der Gewissheit, dass er, wenn sein Name genannt wird, mitten unter ihnen ist (Matth 18,20).“ Und weiter: „In der Liturgie findet eine Vergleichzeitigung statt: Der heilige Gott will mit uns unheiligen Menschen Gemeinschaft haben – in Christus und dem Heiligen Geist.“3 Meine Frage, seit ich hier in Erlangen das praktisch-theologische Handwerk erlernt habe, lautet: Wie kann das gelingen? Wie kann es gerade dazu kommen, dass die von Christus Ergriffenen und die, die dazukommen wollen, tatsächlich Zusammenkunft erleben und nicht an der kulturellen „Auseinander-Kluft“ scheitern? Und wie können wir dem Grundgeschehen, dass Gott Gemeinschaft mit uns allen haben möchte, den Geübten wie den Ungeübten, dienen? 1
Unveröffentlichter und leicht überarbeitete Gastvorlesung am Fachbereich Theologie der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg am 5. Dezember 2016. 2 So berichtet von Martin Nicol 2011, 45. 3 Manfred Seitz 2015b, 42.
Zur Einstimmung
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Erörtert wird diese Frage im Kontext des Gottesdienstes. Egal wohin man schaut, man begegnet zunächst einer generellen Hochschätzung des Gottesdienstes. Er wird theologisch verstanden als „Weg im Geheimnis“ (Martin Nicol)4, als „Darstellung und Mitteilung des Evangeliums in ritueller Gestalt“ (Michael Meyer-Blanck)5 oder „Kommunikation des Evangeliums im Modus gemeinschaftlichen Feierns“ (Christian Grethlein).6 Für das Zweite Vatikanum ist die Liturgie „der Höhepunkt, dem das Tun der Kirche zustrebt, und zugleich die Quelle, aus der all ihre Kraft strömt“7, für die Church of England ist der Gottesdienst so wichtig, dass sie regelmäßig einen „Back to Church“-Sunday begeht, um auch distanziertere Anglikaner für die Feier des Gottesdienstes neu zu gewinnen.8 Demnach ist dem Gottesdienst nichts vorzuziehen, wie es schon die Regel des Hl. Benedikt den Mönchen ins Stammbuch schrieb.9 Und so verwundert es nicht, dass die rechte Pflege des Gottesdienstes auch akademische Aufmerksamkeit auf sich zieht. Praktische Theologie und Liturgiewissenschaft sind jedenfalls in dieser Generation ihrer Protagonisten „ziemlich beste Freunde“. Das bedeutet aber nicht, dass die Protagonisten untereinander automatisch ziemlich beste Freunde sind. Da wird um das rechte Verständnis und die angemessene Gestaltung gerungen. An einer Stelle, nämlich in der Beurteilung alternativer Gottesdienste mit missionarischer Absicht, möchte ich versuchen, dieses Ringen etwas nachzuzeichnen und zugleich zu überprüfen, ob hier nicht doch noch der „Beginn einer wunderbaren Freundschaft“ in Aussicht stehen könnte.
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Martin Nicol 2011, 19 und öfter. Michael Meyer-Blanck 2011, 40. 6 Christian Grethlein 2012, 300. 7 Sacrosanctum Concilium, Abschnitt 10. Vgl. http://www.vatican.va/archive/hist _councils/ii_vatican_council/documents/vat-ii_const_19631204_sacrosanctumconcilium_ge.html – aufgesucht am 27. November 2016. 8 Vgl. z. B. http://seasonofinvitation.co.uk – aufgesucht am 27. November 2016. In Deutschland führt gerade das EKD-Zentrum „Mission in der Region“ die Idee ein: http://www.zmir.de/back-to-church-sunday-wenn-neugierige-sich-in-gottesdiensteeinladen-lassen/ – aufgesucht am 27. November 2016. Vgl. auch Michael Harvey 2015. 9 Vgl. Salzburger Äbtekonferenz 1990, 97 = Kap. 43,3 RB. 5
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VII. Neue Gottesdienste braucht das Land
1. Das Programm 1. Das Programm 1.1 Das Programm: Neue Gottesdienste braucht das Land – Die Alternativen Gottesdienste mit missionarischer Intention Einer der Anlässe für die Debatte über alternative Gottesdienste mit missionarischer Absicht war ein Aufsatz, den ich im Jahr 2000 in der Berliner Theologischen Zeitschrift veröffentlicht habe. Dieser Aufsatz war nicht nur Darstellung einer liturgischen Pluralisierung, er war zugleich Plädoyer für eine solche Vervielfältigung der liturgischen Formate, in der Hoffnung, damit mehr Menschen als bisher eine Kopplungsmöglichkeit an den christlichen Glauben zu bieten. Die Deutung der gottesdienstlichen Lage sah damals ungefähr so aus: Der traditionelle Gottesdienst ist für kirchendistanzierte und konfessionslose Menschen so fern und fremd, dass sie ihn weder verstehen können noch hinsichtlich ihrer Sonntagsgestaltung für eine ernsthafte Option halten. Der Gottesdienstbesuch wird immer unwahrscheinlicher, denn unsere Gottesdienste sind überaltert, ihre Formensprache ist für jüngere, nicht kirchlich sozialisierte Menschen kaum nachvollziehbar, Ort und Zeit kollidieren mit den Wochenendprioritäten der meisten Menschen, die Kirchenmusik spricht nur ein hochkulturelles Minderheitenmilieu an, thematisch bieten die Gottesdienste dem halbwegs neugierigen Zeitgenossen keine relevanten Fragestellungen usw. Und die zentrale These folgerte aus dieser Deutung: Wir brauchen neben den agendarischen Gottesdiensten mehrere eigenständige, neue, sucherfreundliche Formate, die durch Ort, Zeit, Thema, Musik und Gestaltung attraktiv sind.10 Diese neuen Gottesdienste sollen nicht permanent eine Kenntnis und Übung voraussetzen, die die erhofften Gäste nicht mitbringen. Gemeinden sollen vielmehr den Gottesdienst von diesen erhofften Gästen her gestalten, also einen neuen Anlauf zur Inkulturation des Evangeliums machen. Sie sollen alles auf den Prüfstand stellen, ob es für die Gäste relevant, interessant und nachvollziehbar ist. Sie sollen „allen alles werden“ (1 Kor 9,22), aber sie sollen dabei keineswegs „ein anderes Evangelium“ bezeugen, nur eben das eine Christus-Evangelium anders (Gal 1,6-9). Sie sollen Gästen erlauben, sich ein Bild zu machen, ohne zu schnell zu aktiver Beteiligung genötigt zu werden. Sie sollen andererseits vielen Aktiven in den Gemeinden die Chance geben, ihre Begabungen einzubringen. Sie sollen Eröffnung eines Gesprächs sein, in der Hoffnung, dass gerade über das Format „Gottesdienst“ auch solche Menschen angezogen werden, die sich bisher selten bis nie der kirchlichen Gemeinschaft nähern. In den Jahren zwischen 1990 und 2010 kam es zu einer ganzen Welle solcher alternativer Gottesdienste. Sie waren nicht immer missionarisch ausgerichtet, aber viele waren es, häufig inspiriert von Modellen wie 10
Vgl. auch die Greifswalder Dissertation von Christian Schwark 2006.
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Willow Creek.11 Sie sind zeittypisch, zum einen weil sie der Individualisierung und Pluralisierung der Lebenswelten folgen und nun auch das liturgische Angebot pluralisieren. Sie sind zeittypisch zum anderen, weil sie weniger der Institutionen- als der Organisationslogik folgen: Die Kirche mutiert demnach von der selbstverständlichen Institution für alle zur Organisation für viele, die mögliche Interessenten, also die „vielen“ auf dem Markt erst ansprechen, überzeugen und gewinnen muss.12 In diese zeittypischen Kontexte hinein wurden die neuen Gottesdienste implantiert. Manche neue Formate reduzierten die liturgischen Elemente nahezu auf null und beschränkten sich auf Moderation plus Musik plus Anspiel plus Predigt plus Gesprächsangebote. Das gilt etwa für den Gottesdienst GoSpecial aus Niederhöchstadt, der für viele andere zum Modell wurde.13 Andere taten das Gegenteil, wie etwa die aus Finnland importierte Thomas-Messe, die ein Hybrid aus traditionellen und modernen Elementen ist mit moderner Musik, aber auch starken rituellen Elemente wie Salbung und Segnung.14 Was mir damals schon auffiel, ist die liturgiereformerische Verinselung: Diese Welle neuer Gottesdienste war, wie man sehen kann, nicht die erste nach dem Zweiten Weltkrieg.15 Und sie verläuft parallel zur Einführung des Evangelischen Gottesdienstbuches im Jahr 1999. Aber eben tatsächlich parallel: Es gibt, bis auf den gemeinsamen Bezug zur Thomasmesse, nahezu keine Berührung zwischen Gottesdienstbuch und Alternativen Gottesdiensten. Programmatisch aber sind einige Merkmale:16 Die neuen Gottesdienste finden oft am Sonntagabend statt, sozusagen als Brücke zwischen Wochenende und neuer Arbeitswoche. Sie suchen sich nicht selten weltliche Orte, z. B. eine Stadthalle oder auch eine Kneipe oder Mensa. Sie sind nicht selten so angelegt, dass sie über das „Event“ hinaus die Gemeinde veränderten: Es gab Wirkungen auch für die Gestaltung der traditionellen Gottesdienste, es gab vor allem aber Folgeveranstaltungen wie etwa Kurse zum Glauben 17 oder besonders gastfreundliche Hauskreise. Vor allem ragt ein Merkmal heraus: Es sind Gottesdienste, für die nicht nur ein erheblicher Aufwand getrieben wird, sondern die eine besonders intensive Mitwirkung von Ehrenamtlichen ermöglichen. 11
Vgl. Rainer Schacke 2009. Vgl. z. B. Helmut Strack 2008, 372-382; Frank Weyen 2013, 427-441; Eberhard Hauschildt 2007, 56-66. 13 Vgl. Fabian Vogt 2007, 82-96. 14 Vgl. Tilmann Haberer 2000. 15 Vgl. Peter Zimmerling 2007, 15-35; Günter Ruddat 2003, 45-66. 16 Vgl. zur Gestaltung dieser Gottesdienste im Überblick: Christian Schwarz und Michael Herbst 2010. 17 Vgl. Jens Martin Sautter 2005; Jens Monsees, Carla J. Witt und Martin Reppenhagen 2015. 12
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Diese Ehrenamtlichen machen dann auch schnell deutlich: Hier wird nicht nur etwas „für andere“ aufgeführt. Vielmehr ist das, was wir hier feiern, auch für uns selbst Gottesdienst, wie wir ihn uns wünschen. Reinhard Fiola von der Thomasmesse Hannover bringt es auf den Nenner: „Wie soll der Gottesdienst aussehen, den ich selber gerne feiere und zu dem ich meine unkirchlichen Freunde gerne einladen möchte?“18 Ein wesentliches Kriterium für diese Gottesdienste bleibt aber das, was Albrecht Grözinger das Achten auf den „fremden Gast“ und die „gastliche Predigt“19 nennt: Alles wird von den erhofften Gästen als impliziten Mitfeiernden her geplant und gestaltet, und zur Gastfreundschaft gehört in der Regel auch, dass es teils aufwändige Büffets gibt und dass das Gespräch bei Essen und Trinken gesucht werden soll. Mein Aufsatz vor 16 Jahren war also eine Bestandsaufnahme und ein Plädoyer: für mehr Vielfalt der Liturgien und für die Bejahung eines missionarischen Gottesdienstformats. 1.2 Ein anderes Plädoyer aus Erlangen: Ein neues Staunen über den evangelischen Gottesdienst der Tradition braucht das Land20 In seinem Aufsatz in „Liturgie und Kultur“21 hat sich auch Martin Nicol mit diesem Phänomen auseinandergesetzt. Zunächst geht Martin Nicol in seinem Aufsatz der Geschichte nach und ruft die Euphorie in Erinnerung, die sich mit den neuen Gottesdiensten verband. Nicht als Ergänzung, sondern als Ersatz für das Alte kamen sie zuweilen daher. Das Alte habe nun ausgedient. In einem zitierten Beitrag versteigt sich ein Autor zu einem weihnachtlichen Vergleich, den Martin Nicol trefflich karikiert:22 Es sei mit den neuen Gottesdiensten wie mit den drei Weisen aus dem Morgenland, die auf einem anderen Weg heimkehrten.23 Die Weisen wären also die Vertreter neuer Gottesdienste, mit der Hymne der DDR-Kirche auf den Lippen: „Vertraut den neuen Wegen“ (EG 395). Neue Gottesdienste sind dieser andere Heimweg, damit niemand dem schrecklichen Herodes in die Hände fällt, weil in dessen agendarischer Trutzburg reihenweise Kirchenchristen ums Leben kommen. So wird man kaum zu ziemlich besten Freunden. Vor allem aber bringt der Erlanger Praktische Theologe ein anderes Plädoyer zu Gehör: ein Plädoyer für den Gottesdienst der Tradition. Er nimmt dabei direkt auf den Greifswalder Aufsatz Bezug und schreibt: Der traditionelle Gottesdienst braucht Fürsprache. Warum? Antwort: 18
So R. Fiola bei Lutz Friedrichs 2007, 67. Vgl. Grözingers Überlegungen zum fremden Gast in der Predigt: Albrecht Grözinger 2004, 20-24. 20 Das ist die These, die Martin Nicol programmatisch an den Anfang seines Buches „Weg im Geheimnis“ stellt: Martin Nicol 2011, 5. 21 Vgl. Martin Nicol 2016, 95-105. 22 Vgl. Ibid., 97. 23 Vgl. Joachim Arnold 2012, 137. 19
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„Damit die Frömmigkeit der Einzelnen verlässlich an den gottesdienstlichen Vollzügen der Gemeinde Gestalt gewinnen kann. Damit wir Evangelischen die eigentümliche Sprache der Liturgie nicht verlernen. Damit die evangelische Kirche bei all den neuen Gottesdiensten, die das Land möglicherweise braucht, den unverwechselbar evangelischen Gottesdienst, den sie selbst auf jeden Fall braucht, nicht aus dem Auge verliert.“24 Das ist und bleibt nicht ein grundsätzliches Nein zu liturgischen Neuerungen – wie es gelegentlich auch zu hören war. Es ist eher ein herzhaftes Ja zur liturgischen Tradition. Martin Nicol nennt sie das Standbein, alles Neue und Andere das Spielbein.25 Die Stärken des Standbeins möchte er energisch in Erinnerung rufen, ja, den traditionellen Gottesdienst „wieder aus seiner Ecke holen“26, denn „hinreißend schöne und verstörend fremde Gottessignaturen sind dem Gottesdienst der Tradition eingeschrieben.“27 Er ist wie ein Pilgerweg, auf dem schon Abertausende gingen, der sich aber als sicherer Weg im Gottesgeheimnis bewährt hat.28 Denn das ist ja der Gottesdienst entgegen aller protestantischen Verirrungen: „Der Gottesdienst erscheint nicht als Veranstaltung zur Belehrung oder Unterrichtung über die christliche Wahrheit, sondern als eine Wegstrecke in der Gotteswirklichkeit.“29 Und im Anschluss an Friedrich Schleiermacher und viele andere seither ist das das einzige, was passieren soll: Keine Verzweckung dieser Feier darf darüber hinwegtäuschen, dass alles Nötige schon passiert, wenn sich Menschen auf dieser Wegstrecke in der Gotteswirklichkeit befinden. Auch die Absicht der Bekehrung, wie sie im Pietismus und vielleicht doch wohl auch in den neuen Gottesdiensten mit missionarischer Intention zu finden ist, ist darum auszuschließen. Kein Zweck, keine Instrumentalisierung, nur „Poesie ohne Zwecke“30, Weg im Geheimnis um seiner selbst willen. Und diesen Weg hat die liturgische Tradition der Kirche allmählich ausgebildet. Wir Heutigen tun gut daran, das anzuerkennen. „Liturgie der Kirche beruht wesentlich auf Tradition.“31 Hier verdichtet sich die Erfahrung der Christen über die Jahrhunderte, wie es möglich ist, sich Gott zu nahen. Liturgie ist auch ein zurechtgebeteter Raum (Wilhelm Löhe32). Anders gesagt: „In Orientierung an der gottesdienstlichen Tra24
Martin Nicol 2011, 11. Vgl. Martin Nicol 2016, besonders 96 und 101. 26 Martin Nicol 2011, 12. 27 Ibid. 28 Vgl. Ibid., 9. 29 Ibid., 27. 30 Vgl. Fulbert Steffensky 1988, 91-101. 31 Martin Nicol 2011, 32. 32 Vgl. dazu auch Manfred Seitz 2015b, 45. 25
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dition wüsste sich der Mensch einigermaßen richtig in der Gottesnähe zu bewegen.“33 Dies wiederum geschieht durch Symbol und Ritual, d.h. durch „vorgegebene, eingespielte Vollzüge und Zeichen, die über sich selbst hinausweisen und für Leib und Seele, für Herz und Verstand die Gotteswirklichkeit repräsentieren. Mit Symbol und Ritual wird das Geheimnis begehbar.“34 Ein schönes Beispiel ist das Votum zum Beginn des Gottesdienstes, für dessen strenge Form Martin Nicol öfters plädiert: „Im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“. Das ist nicht eine Begrüßungsfloskel wie etwa „Ich begrüße Sie hier auch im Namen des Rektors, der leider nicht kommen kann.“ Das Votum ist Epiklese: Es benennt den, in dessen Namen gefeiert wird, und ruft ihn herbei.35 Nicht dass alles gut wäre im Land der traditionellen Gottesdienste; der Erlanger „Liturgomane“ (wie er sich selbst nennt)36 zählt auch da Baustelle um Baustelle auf, wo sich die Dinge zum Besseren wenden müssen. Aber hier, genau an dieser Stelle, können sie sich auch zum Besseren wenden: „Ich plädiere dafür, nicht nur jenseits der Agende mit neuen Formen zu experimentieren, sondern es schlicht noch einmal mit dem evangelischen Gottesdienst der Tradition zu versuchen.“37 1.3 Unterschiedliche Bewertungen Das klingt noch nicht nach einer wunderbaren Freundschaft. Die Protagonisten neuer Gottesdienste dieser Generation finden sich nicht in den liturgischen Ausschüssen. Die Protagonisten des traditionellen Gottesdienstes verstehen „zweites Programm“ nicht im Sinne von „ZDF“ (als gleichberechtigte Variante), sondern im Sinne von „an zweiter Stelle“ (als nachgeordnete Möglichkeit). Allzu viel kam man sich auch nicht in die Quere. Vor Ort war und ist das anders: Sie finden in Kirchengemeinden das ganze Spektrum von Begeisterung über eine gelassene „Kultur des gönnenden Vertrauens“38 bis hin zu erbitterten Auseinandersetzungen, die wir gerne als „worship wars“ bezeichneten. Eine ganze Weile wuchs die Zahl der neuen Gottesdienste, Mitte der „nuller“ Jahre scheint eine Art Gipfelpunkt erreicht zu sein. Wir haben 2005 eine kleine Studie für die Badische Landeskirche in Angriff genommen und fanden allein in Baden etwa 250 alternative Gottesdienstprojekte.39 33
Martin Nicol 2016, 101. Martin Nicol 2011, 43. 35 Vgl. Ibid., 37f. 36 Martin Nicol 2016, 95. 37 Martin Nicol 2011, 12. 38 Vgl. Henk de Roest und Sake Stoppels 2012, 260-279. 39 Vgl. Michael Giebel und Martin Reppenhagen 2006. 34
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Mit Hilfe dieser kleinen Studie können wir eine erste Bilanzierung vornehmen und fragen: Wenn man solche Gottesdienste euphorisch oder als zweites Programm überhaupt begrüßt, erreichen diese denn auch ihr Ziel? Oder täuscht man sich hinsichtlich der guten Besucherzahlen darüber hinweg, dass diese Besucher keineswegs kirchenfern sind, mithin also gerade nicht aus der Zielgruppe stammen? Ich fasse das Ergebnis knapp zusammen: Tatsächlich werden mehr kirchliche „Insider“ erreicht, also kirchlich hoch verbundene Menschen, die auch sonst regelmäßig traditionelle Gottesdienste besuch(t)en. 40 Andererseits sind durchschnittlich 15–25 % der Besucher tatsächlich kirchendistanziert oder gar konfessionslos. Was wir darüber hinaus zeigen konnten: Sie sind weitaus jünger, viele Frauen und Männer sind zwischen 30 und 50 Jahre alt. Diese Zahlen werden höchst unterschiedlich bewertet. Was bedeutet es, dass 15-25 % der Besucher aus der ursprünglich in den Blick genommenen Zielgruppe der Fernstehenden stammt? Für die einen ist das der Beleg, dass auch die „anderen“ Gottesdienste die Kirchendistanzierten nicht erreichen. Michael Nüchtern etwa zeigte sich im Blick auf seine Badische Kirche skeptisch gegenüber der missionarischen Reichweite der alternativen Gottesdienste. Er sieht einen Gewinn eher in der „Emanzipationsbewegung Engagierter“, die in der Kirche ihnen gemäße, alternative liturgische Formen suchen und gestalten.41 Ähnlich sehen es Birgit Weyel und Friedrich Schweitzer, die sich dabei auf unsere Studie berufen. Birgit Weyel schließt aus unseren Zahlen, dort sammelten sich nur Hochengagierte, und sagt: „Von einer missionarischen Veranstaltung kann keine Rede sein.“ 42 Die guten Zahlen kämen nur daher, dass aus der ganzen Region fromme Menschen zusammenkämen. Es gibt aber auch eine andere Deutung: Man kann in 15-25 % Kirchendistanzierten auch eine Quote erkennen, die das Mögliche sinnvoll abbildet und durchaus einen Erfolg markiert, jedenfalls hinsichtlich der Reichweite.43 Ohne diese neuen Gottesdienste sähe es jedenfalls eher schlechter aus! Es darf auch nicht überraschen, dass die Mehrheit aus Hochverbundenen besteht. Es braucht immer Menschen, die einen Gottesdienst feiern und dann andere mit hinein nehmen, um den Gottesdienst mit ihnen zusammen zu feiern. Und viele Hochverbundene fühlen sich in den alternativen Gottesdiensten auch selbst heimisch. Es 40
Vgl. auch Lutz Friedrichs 2007, 22f. Vgl. Michael Nüchtern 2008, 152-156, besonders 155. Ähnlich argumentiert Lutz Friedrichs 2007, 88. Ganz anders bewertet diese Zahlen dagegen Fabian Vogt bei Ibid., 91. 42 Birgit Weyel 2011, 171. Ähnlich Friedrich Schweitzer ibid., 293. Ebenso Michael Nüchtern 2007, 87-89. 43 Vgl. Thies Gundlach 2008, 14-29, der das quantitative Bewerten der Reichweite für eine legitime Weise des Messens von Erfolg auch in der Kirche hält. 41
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wäre ja auch mühsam, etwas nur zu feiern, weil es anderen gut tut. Was ich allerdings sehen kann, ist eine gewisse Schranke: Wir erreichen wahrscheinlich Menschen, die eher zu den treuen Kirchenfernen gehören als zu den völlig Unkirchlichen. Was ich damit sagen will: Wir erreichen eher die, die auch sonst kirchlich ansprechbar sind, auch wenn sie nicht hochverbunden sind. Der Weg zu den völlig unkirchlichen Menschen scheint komplizierter zu sein. Ich versprach eine Zwischenbilanz. Sie fiel vor 10 Jahren in Baden recht positiv, aber nicht euphorisch aus. Inzwischen sehen wir, dass die Welle abebbt. Manche Gottesdienste wie der GoSpecial oder GreifBar haben sich weiterentwickelt und fest etabliert, andere wurden auch wieder eingestellt, sehr viele neue werden nach meinem Eindruck nicht begonnen. Was bedeutet das nun? Wo stehen die Protagonisten von 1991 heute, 25 Jahre später? Und wo gibt es Bezüge zu dem, was Martin Nicol vorschlägt? Das möchte ich nun im zweiten Teil meines Beitrags an drei Themen durchspielen: 1) an der Frage der Legitimität einer missionarischen Intention im Gottesdienst, 2) an der Frage der Beurteilung des Liedguts der alternativen Gottesdienstszene und 3) an der Frage der Unterscheidung von Missa Fidelium und Missa Catechumenorum, also der Unterscheidung von Gottesdiensten für Suchende und Gottesdiensten für die Gemeinde und damit der Verteilung von Mission und Erbauung auf zwei Veranstaltungen. 2. Die Zwischenbilanz 2. Die Zwischenbilanz 2.1 Mission und Gottesdienst Diese Frage muss sich der Kritik stellen: Wer den Gottesdienst zu einer intentional missionarischen Veranstaltung erklärt, der verzweckt, was nicht verzweckt werden darf. Der gemeindliche Gottesdienst gehört eben für Friedrich Schleiermacher zum darstellenden und nicht zum wirksamen Handeln. Alles Wesentliche ist erreicht, wenn sich die Frömmigkeit darstellt, wenn sie zirkuliert und dadurch gestärkt wird. Alle außerhalb dieses Vollzuges liegenden Zwecke gehören hier nicht hin. Dennoch haben Mission und Gottesdienst mehr miteinander zu tun, als man vielleicht denkt. Mission ist eine nach außen gewendete Weise, Gott zu loben. Durch Mission wird das Gotteslob weitergetragen und öffentlich gemacht. Das innerste Ziel von Mission ist wiederum das Gotteslob. Menschen schließen sich dem Gotteslob an; sie werden sozusagen gottesdienstlich oder betreten den „Weg im Geheimnis“44 44
Vgl. Christopher J.H. Wright 2010, 244-262.
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Henning Wrogemann erkennt im missionarischen Zeugnis durch Wort und Tat eine eigene Form der Doxologie. Indem die Kirche an der Missio Dei teilhat, indem sie Gottes Liebe bezeugt, preist sie Gott. Man kann so gesehen „Mission als das Geschehen der Verherrlichung Gottes durch das Lebenszeugnis der von Gott versöhnten, erlösten und befreiten Kreaturen verstehen, das als Vermehrung des Gotteslobes in die Welt hinein ausstrahlt.“45 So gibt es einen Zusammenhang von Doxologie und Mission. Aber „funktioniert“ das auch umgekehrt, darf ein Gottesdienst intentional missionarisch sein? Man kann zumindest darauf hinweisen, dass der Apostel Paulus mit einer missionarischen Dimension rechnete, als er in 1 Kor 14 darauf hinwies, dass das Zungengebet im Gottesdienst den unkundigen Gast allenfalls verwirren werde, die prophetische Rede den Gast zur Anbetung Gottes kehren könne. Nun darf man nicht übereifrig von einem missionarischen Gottesdienst sprechen, aber wir sehen in 1 Kor 14 zweierlei: Zum einen rechnet Paulus mit unkundigen Gästen, die noch nicht glauben. Der Gottesdienst ist keine geschlossene Veranstaltung. Zum anderen macht er die Zugänglichkeit des Gottesdienstes für diese anwesenden Gäste zum Kriterium seiner Überlegungen: Die Rede in Zungen erbaut demnach nur uns selbst, und das ist im Blick auf die Gäste unzureichend. Hier hält jenseits einer Verzweckung des gottesdienstlichen Geschehens die Sensibilität für den fremden Gast Einzug in die liturgische Gestaltung. Das wäre schon eine Menge, wenn wir in unseren Gottesdiensten mit denen rechnen und für die mitdenken, die nicht alles schon kennen, glauben und teilen. Ich möchte aber noch einen Schritt weitergehen. Schleiermacher will im Gottesdienst nur darstellen, was im religiösen Bewusstsein schon da ist.46 Schon im 19. Jahrhundert hat der Bonner Praktische Theologie Theodor Christlieb darauf hingewiesen, dass diese Haltung gegenüber dem Gottesdienst davon ausgehen muss, dass die Versammelten glauben, allesamt, zu jeder Zeit.47 Schleiermacher wusste durchaus um das Problem, wehrte sich aber so sehr gegen die Vorstellung, den Gottesdienst missionarisch zu verstehen48, dass er sich mit einem Kniff rettete: Vielleicht, so schrieb er 1801, kommt die Sache dadurch zustande, dass man sie einfach voraussetzt.49 Damit gab sich Christlieb nicht zufrieden. Er schätzte die Lage der Gemeinden und Predigthörer weitaus skeptischer ein.50 M. E. wäre er heute nicht zuversichtlicher, sähe er, wie weit auch Kirchenmitglieder 45
Henning Wrogemann 2013, 422. Vgl. Friedrich Daniel Ernst Schleiermacher 1982, §284. 47 Vgl. Friedrich Wintzer 1969, 18. 48 Vgl. Christian Albrecht 2002, 106. 49 Vgl. Friedrich Schleiermacher 1816, VI und VII. 50 Vgl. Theodor Christlieb 1893, 4. 46
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von Botschaft und Praxis des Glaubens entwöhnt sind. Darum machte er Ende des 19. Jahrhunderts einen anderen Vorschlag. Er meinte, der Gottesdienst solle gleichermaßen darstellen wie darreichen oder mit anderen Worten: erbauen und erwecken. Das Evangelium solle also den Menschen dargereicht werden, so dass sie es erstmals oder erneut ergreifen. Er erfand eine eigene grammatische Kategorie für das Gemeinte: den Donativ. Im Grunde solle damit der Gottesdienst als ganzer etwas von den Spendeworten beim Abendmahl haben: Nimm hin und glaube, hier ist Christus, für dich gegeben! Martin Luther hatte Ähnliches einmal zur Predigt formuliert: Predigen sei nichts anderes als die Schüssel vor die Gäste zu setzen.51 Johannes Zimmermann hat diese Überlegungen sehr präzise zusammengefasst: „Wenn das Wesen des Gottesdienstes darin besteht, dass Gottes Zusage in uns Glauben wecken will, dann ist jeder Gottesdienst durch und durch missionarisch: Wo noch kein Glaube ist, soll Glaube geweckt werden, wo bereits Glaube ist, soll dieser gestärkt werden. Die missionarische Dimension ist also keine dem Gottesdienst fremde Sache, sondern identisch mit dem, was den inneren Kern eines als Begegnungsgeschehen verstandenen Gottesdienstes ausmacht.“52 Ich möchte diesen Abschnitt mit zwei Bemerkungen schließen. Die erste: Die Frage, über die wir uns vielleicht nicht vollständig einigen können, aber die wir präzise fassen müssen, lautet also: Ist der Gottesdienst in jedem Fall ein Weg im Geheimnis, oder ist er für uns erstmalig oder auch wiederholt ein Weg ins Geheimnis? Und die zweite: Vielleicht sind es auch bestimmte Vorstellungen, wie das denn aussähe, wenn der Gottesdienst missionarisch wäre, die manchen abschrecken. Man hat ja so seine inneren Bilder von „Missionsveranstaltungen“.53 Aber das sind häufig Bilder von vergangenen Missionsformaten. Die gegenwärtige Missionstheologie hat ihre Lektion hinsichtlich der Ethik und Ästhetik einer respektvollen und freundlichen Einladung zum Glauben gelernt. Das zeigen auch mehrheitlich die hier verhandelten neuen Gottesdienste, die in der Regel nicht drängende Aufrufe zu schnellen Entscheidungen sind, sondern Einladungen zur Eröffnung eines Gesprächs oder zu ersten Gehversuchen auf das Land des Glaubens zu. In dieser Hinsicht bin ich nach wie vor bei dem, was ich im Jahr 2000 geschrieben habe. Ob das bei der zweiten Frage ähnlich ist, ist dagegen offen:
51
Vgl. dazu den schönen Beitrag von Sibylle Rolf 2008, 32-49. Johannes Zimmermann 2008, 14. 53 So verstehe ich auch Martin Nicols abschließende Kritik, wenn er Mission mit dem Verb „pervertieren“ verknüpft: „Dann werden Gottesdienste nicht mehr pervertiert zu Lockangeboten, Modernitätsbeweisen oder missionarischen Bemühungen einer unsicher gewordenen Kirche.“ Siehe Martin Nicol 2016, 104. 52
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2.2 Gottesdienst und Mainstream-Pop? Meine nächste Frage betrifft einen der umstrittensten Aspekte der Debatte um alte oder neue Liturgien: Es ist die Frage nach der Berechtigung der Praise-Music oder, wie es die Protagonisten selbst eher nennen würden, der Worship-Musik.54 Diejenigen Varianten neuer Gottesdienste, über die wir meistens sprechen, sind ja unlösbar mit dieser Gattung geistlicher Musik verknüpft. Sie entspricht musikalisch dem Mainstream-Pop und wird meistens von Bands aufgeführt, was nicht jeden Organisten gleichermaßen entzückt. Sie ist vor allem doxologisch fokussiert, also das, was sie dem Namen nach zu sein beansprucht: Worship, Anbetung, Lobpreis. Sie schlägt sich nieder in einer Fülle neuer Liederbücher, unter denen die „FeiertJesus“-Reihe den prominentesten Platz einnimmt. Sie schlägt sich aber auch nieder in einer eifrigen Produktion von Tonträgern; Sie können das leicht überprüfen, wenn Sie etwa bei Spotify nach „Worship“ suchen lassen. Vor allem ist die Praise-Music umstritten. Peter Bubmann hat sich mehrfach mit dieser Art Anbetungsmusik beschäftigt.55 Er erkennt das Anliegen an, der Doxologie auch mit modernen musikalischen Mittel mehr Raum zu geben. Aber zugleich stellt er mehrere kritische Anfragen. Er markiert kritisch die Reduktion der Sing-Gattungen auf Anbetung und erinnert, dass der Glaube nicht durchgängig auf Lobpreis gestimmt ist. Peter Bubmann fremdelt sichtlich mit der Emotionalität der Lieder, nach seiner Einschätzung versprechen sie „Kuschelwärme im Kollektiv der Gleichgesinnten“. 56 Er moniert die theologischen Sprachfiguren, insbesondere den Royalismus, also die Dominanz von Königsbildern in der Metaphorik der Lieder, aber auch die „Kapitulationstheologie“, die vom frommen Sänger stets die demütige Unterwerfung einfordere. Seine musikerprobten Ohren leiden zudem unter der Qualität. Er nutzt einen maritimen Vergleich, der sich mir als Menschen von der Küste sofort erschließt: Praise-Music segele nahe an der Volksmusik, und das obendrein meist auf niedrigem Niveau. Nun würde ich dieser Kritik nicht ungeteilt zustimmen, da sie ein zu einheitliches Urteil spricht und die Spannbreite der Praise-Music reduziert. Da gibt es textlich wie musikalisch mehr und Besseres. Außerdem möchte man gelegentlich fragen, ob hier nicht doch Ressentiments der gebildeten Hochkultur gegen die volkstümliche Musik dominieren, die sich nicht vorstellen kann, den Herrn auch anders als mit Bach oder allenfalls noch Mendelssohn zu preisen. Darf der Herr auch mit Hip54
Vgl. Guido Baltes 2014, 247-259. Zu allen Hinweisen in diesem Abschnitt vgl. vor allem Peter Bubmann 2016, 239-246. 56 Peter Bubmann 2015, 10. 55
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hop, Heavy Metal oder – horribile dictu – dem Schlager57 gelobt werden? Wer wie ich eher mit den Mumford and Sons, Eric Clapton, Sting, Nils Landgren oder Coldplay lebt, fühlt sich hier auch nicht ganz so fremd wie der, der als Kind im Kreuzchor sang oder zu Hause durch klassische Musik musikalisch sozialisiert wurde. Allerdings will ich nicht verhehlen, dass mir vor allem textlich zuweilen schwindlig wird. Mein Blick darauf hat sicher theologisch eine etwas andere Heimat, kommt aber zu ähnlichen Anschauungen. Ich nenne nur drei Beobachtungen: Nach manchen Gottesdiensten habe ich die Musiker angesprochen und bedauert, dass die Lieder fast ausschließlich von der 1. Person Singular handelten, ein frommes Ich vor dem Thron des Königs. Zuweilen stieß ich auf Überraschung, weil das bei der Vorbereitung gar nicht aufgefallen war. Das Wir der Gemeinde oder gar das Wir der Zeitgenossen schlechthin wird allzu oft schlicht vergessen. Ebenso stoße ich mich zuweilen an der hyperoptimistischen Sprache der Lieder, die davon singen, dass „ich dir alles zutraue“ und dass die Heilungsströme alles heil und gut machen. Mir armem Lutheraner mit angefochtenem Herzen wird da manchmal merkwürdig zumute. Und die Flut der Zusagen scheint mir auch biblisch nicht immer gedeckt zu sein. Zwischen dem Ersten und dem Zweiten Advent Christi ist uns seine Nähe in allem zugesagt, aber nicht ein rundum heiles Leben in dieser Welt. Und schließlich muss ich angesichts der Behauptung, die alten Lieder verstünde niemand, die neuen dagegen seien sehr seeker-friendly, doch öfters schmunzeln. Die fromme Metaphorik des Worship steht wohl den alten Gesängen in ihrem Voraussetzungsreichtum um nichts nach. Einfacher sagte es Christina Brudereck mit ihrer im Ruhrgebiet geschulten Nüchternheit: Das Lamm auf dem Thron sei für den durchschnittlichen Menschen aus Essen eben doch nur ein Schaf auf dem Stuhl. Dennoch ist Worship mehr als das, mehr als „Hillsong“. Es sind auch Bands wie Rend Collective, David Crowder oder die Casting Crowns, die inhaltlich wie musikalisch mehr zu bieten haben. Es sind auch Sängerinnen wie Sarah Kaiser, die alte Lieder mit den Mitteln des Jazz neu arrangieren und hörbar machen. Es sind Liedermacher wie Johannes Falk, die in ihren Liedern Geschichten erzählen, die mehr vom Leben als nur den frommen Lobpreis vor Gott ausdrücken. Und es sind liturgisch bewanderte Komponisten wie der Katholik Albert Frey, die auch die traditionellen liturgischen Stücke vom Confiteor über das Credo bis hin zum Agnus Dei neu zur Aufführung bringen. Und damit bin ich bei meinem eigentlichen Ceterum Censeo zum Thema „Worship“. 57
Vgl. Missionarische Dienste im Evangelischen Bildungszentrum Haus Birkach 2015.
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Seit vielen Jahren erlebe ich sehr regelmäßig Gemeinde-, aber auch Seminargottesdienste mit Worship: mal sehr gut, mal nicht so gut geplant und aufgeführt. Aber es gibt eine durchgängige Beobachtung, die mir Not macht. Ich möchte das, was ich häufig erlebe (mit vielen erfreulichen Ausnahmen!) den „liturgischen Brei“ nennen. Damit meine ich nicht, dass es allzu leichte Kost sei, die mir da verabreicht wird. Ich meine aber, dass es eine häufig unreflektierte Folge des immer Gleichen ist, die mir zugemutet wird. Ich erkenne in der Abfolge der Lieder meist keinen Sinn. Sie folgen „irgendwie“ aufeinander. Sie sind zu ähnlich in Inhalt und Stimmung, sie führen mich nicht auf einem Weg von erster Annäherung zu vertiefter Anbetung, sondern zwingen mich häufig vom ersten Ton an zu volltönendem Lobpreis, und sie erlauben mir oft auch nur eine Stimmung, nämlich laute Begeisterung. Musikalisch formuliert ziehen sie wirklich von Beginn an alle Register. Wenn gebetet wird, dann spontan und frei – was dem Mitbeten-Können der Gemeinde nicht immer dient. Ich vermisse vor allem so etwas wie eine liturgische Sequenz. Michael Meyer-Blanck hat schon früher darauf hingewiesen, dass unsere liturgische Tradition die Gemeinde auf einen Weg der allmählichen Annäherung führt: aus der Distanz zur Nähe.58 Wir ziehen ein, wir bekennen unseren Abstand von Gott, wir tragen im „Kyrie“ unsere Not vor Gott und wir bekennen ihn zugleich als den einen Kyrios, und so vorbereitet preisen wir ihn und drücken im „Gloria in excelsis“ unsere Liebe zu ihm aus, bis wir im Tagesgebet all das noch einmal bündeln und zusammenfassen. So ist der Gottesdienst ein geführter, begleiteter Weg in das Gebet hinein.59 Ähnlich beschreibt Martin Nicol die Liturgie als ganze; dabei formuliert er aber auch eine geistliche Pointe: „Der geprägte Weg der Liturgie ist eine in geschichtlichen Abläufen und menschlichen Entscheidungen von Gott her der Kirche zuwachsende und dem Menschen eingeräumte Möglichkeit, ihm zu nahen.“ 60 Damit sind die liturgischen Sequenzen auch nicht beliebig61, sondern bergen in sich die Erfahrung der Christenheit mit dem „Weg im Geheimnis“.62 Daraus nun zu schlussfolgern, wir müssten einfach wieder zu den traditionellen Aufführungen dieser Sequenzen zurückkehren, wollte mir dennoch nicht einleuchten. Vielmehr müssten die, die Worship-geprägte Liturgien entwerfen, zum einen auf Qualität achten und Texte genau lesen, zum anderen aber eben besonders kundig sein in der geistlichen Logik und in der ge58
Vgl. Michael Meyer-Blanck 1997, 54-73. Ähnlich auch bei Michael Meyer-Blanck 2011, z. B. 409. 60 Martin Nicol 2011, 36. 61 So in Anlehnung an Manfred Josuttis auch Martin Nicol 2016, 98. 62 So der Titel von Martin Nicol 2011. 59
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schichtlichen Erfahrung der gottesdienstlichen Tradition, um dann tatsächlich handwerklich geschickt ihre Liturgien als Variationen eines Themas aufzuführen, wie es wiederum Martin Nicol jüngst ähnlich anregte.63 Hier befinde ich mich häufig zwischen Baum und Borke. Einerseits begegnet mir ein liturgischer Traditionalismus, für den nicht nur die protestantische Bekenntnisbildung 1580 abgeschlossen wurde, sondern offenbar auch die Bildung legitimer liturgischer Ausdrucksformen zum Ende gekommen ist, und der sich nicht darum zu scheren scheint, dass Menschen zu ihrer Tradition tatsächlich keinen Zugang finden. Auf der anderen Seite intensiviert sich der jährliche Ringkampf mit Studentinnen und Studenten, die in der frohen Erwartung nach Greifswald wechseln, dass ihnen hier der Umweg über die liturgische Tradition erspart bliebe – und dann basserstaunt oder auch mild verärgert sind, wenn ich ihnen sage: Keineswegs! Ihr werdet jetzt das Handwerk lernen, und nur so werdet ihr euch sicher zwischen unterschiedlichen Variationen des Themas „Liturgie“ bewegen können.64 Anders gesagt: Wer die Tradition verstanden hat, wird umso schönere Innovationen gestalten können. Er wird z. B. verstehen, wie Albert Frey mit zeitgenössischer PopMusik den liturgischen Bogen von „Eröffnung und Anrufung“ ausgestaltet. Und er wird so die versammelte Gemeinde unterstützen, die Geübten wie die Ungeübten, den Weg ins Gebet zu betreten. Freilich erscheint mir meine liturgiedidaktische Erfolgsquote zuweilen so überschaubar wie der Punktestand des 1.FC Nürnberg. Der konservative Student zelebriert auch in Zukunft nur in etwa das, was Agende I vorgab. Da kommt nicht einmal an, was das Evangelische Gottesdienstbuch über die stabile Grundform in variabler Ausformung sagt.65 Und die charismatische Studentin schüttelt sich und schreibt im Abschluss-Essay zum Seminar (ich verfremde einen real existierenden Text ein wenig): „Ich glaube, ich bin gegenüber traditioneller Liturgie und alter Musik eher intoleranter geworden. Und auch sonst: Die Abläufe, die in der Kirche traditionell so wichtig zu sein scheinen, versteht außer uns doch niemand. Warum sollten Gottesdienste einander ähneln? Die liturgischen Stücke, auch Lesungen und Predigt will ich nur behalten, wenn ich sie aktuell auch authentisch vertreten kann. Ich habe mich im Laufe des Seminars wohl eher noch radikalisiert.“ Was mir zu denken gibt an einem solchen offenherzigen Statement ist zweierlei: Zum einen haben wir kaum noch einen Sinn für das Zusammengehörige der Gemeinden, für das, was als Familienähnlichkeit Gottesdienste hier und dort verknüpft. Und zum anderen findet hier eine
63
Vgl. Martin Nicol 2016, 104f. Vgl. unser Lehrbuch: Michael Herbst und Matthias Schneider 2012. 65 Vgl. Kirchenleitung der VELKD und Kirchenkanzlei der EKU 1999, 15. 64
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Milieugefangenschaft66 der neuen Art statt: Weil im Umfeld der Studentinnen und Studenten eine bestimmte kulturelle Ausprägung dominiert, „gibt“ es andere gar nicht mehr. Man kann sich überhaupt nicht vorstellen, dass es Menschen gibt, etwa in den Gemeinden, in denen zukünftig pastoraler Dienst zu leisten wäre, die anderen musikalischen oder bildungsmäßigen Milieus angehören. Glücklicherweise gibt es zwischen dem konservativen Studenten und der radikalisierten Studentin andere, die den Zugewinn verstehen: dass sie nämlich in ihren künftigen Gemeinden und im regionalen Zusammenspiel der Gemeinden plurale liturgische Formen gestalten sollen, die sich aber als „Variationen eines Themas“ erkennen lassen. So können sie unterschiedlichen Menschen den Zugang zum Evangelium eröffnen und ihnen helfen, den Weg ins Gebet zu finden. Meine dritte Frage betrifft einen ebenso zentralen Aspekt: Die „zweite“ Welle der neuen Gottesdienste ab 1990 war wesentlich vom missionarischen Gemeindeaufbau inspiriert. Die Idee lautete: Wenn kirchenfernen Menschen der traditionelle Gottesdienst so unzugänglich ist, dann müssen wir eigenständige, zusätzliche Gottesdienste entwerfen, die mindestens sucherfreundlich sind, besser noch insgesamt sucherorientiert. Das bedeutete: Jede liturgische Sequenz, jede Formulierung, jedes Predigtthema wird darauf abgeklopft, ob es dem suchenden Gast hilft, sich im Gottesdienst angesprochen zu wissen, ob es also ebenso relevant wie verständlich für ihn ist. 2.3 Getrennte Gottesdienste für Glaubende und für Suchende? Kritiker fanden die neuen Gottesdienste in Hülle und Fülle. Nicht selten wurde der gottesdienstliche Charakter der liturgischen Formate generell in Frage gestellt – das ging weit über das gerade diskutierte Thema hinaus. Spannend ist nun im Blick auf meine Bilanz, dass die Kritik in den letzten Jahren nicht von „außen“, sondern von „innen“ kommt. Eine kritische Bilanzierung nach etwa 20 Jahren Erfahrung fällt durchaus ambivalent aus. Ich könnte hier wiederum eine Fülle von Themen ansprechen. Manche kritisierten z. B., dass diese Veranstaltungen sehr konsumorientiert seien, mehr oder weniger gut gemachte Bühnenshows, bei denen die Gäste eher zu Zuschauern als zu Beteiligten werden. Ein Evangelium als Unterhaltungsware unterschreitet aber den Anspruch der kostspieligen Gnade auf unser Leben, die in die Nachfolge ruft. Andere kritisierten die dramaturgische Vorhersehbarkeit der Veranstaltungen, die einmal angetreten waren, Gottesdienst so ganz anders zu feiern, auf Dauer aber in relativ vorhersehbaren 66
Vgl. Wolfgang Huber 2010, 68-78.
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Bahnen verliefen. Wo man – wie etwa bei GreifBar in Greifswald67 – darauf zu reagieren versuchte, hat man die dramaturgischen Verknüpfungen von Kunst, Musik und Verkündigung intensiviert und die schlicht linearen Abläufe aufgelöst.68 Das freilich bedeutet auf Dauer, dass man sich noch weiter von liturgischen Sequenzen verabschiedet und die Protagonisten irgendwann auch aufhören, diese evangelistischen Events69 als Gottesdienste zu bezeichnen. Aber diese Kritik war durchaus auch auf die Inhalte gerichtet. Alexander Deeg spricht von der „JesusKurve“: 70 Manche dieser neuen Formate mühten sich um Lebensnähe und aktuelle Probleme, die dann meist gegen Ende einer relativ ähnlichen Lösungsstrategie zugeführt wurden. Diese Fragen sind nun schon ernst genug. Aber schon in den NullerJahren stellte sich eine andere grundsätzliche Frage. Ist es überhaupt sinnvoll, zwei verschiedene Gottesdienstformen vorzuhalten und zu sagen: Typ 1 ist für die glaubende Gemeinde, Typ 2 ist für interessierte Suchende, die aber dem Glauben noch neutral bis kritisch gegenüberstehen? Man merkte auf, als Willow Creek bereits in jenen Jahren diese Doppelung aufgab.71 Auch in Deutschland war es ein Credo vieler sich missionarisch verstehender Gemeinden: Gottesdienst für Suchende und Gottesdienst für Glaubende „geht“ nicht zusammen. Der reguläre Gemeindegottesdienst tauge nicht für den Erstkontakt mit Kirchendistanzierten: Zu „kirchisch" sei die Sprache, zu fremd die liturgischen Kernstücke, zu „unerhört“ die klassische und auch die neuere Kirchen-Musik, zu binnenorientiert die Themen, zu ungünstig der Zeitpunkt, zu unzugänglich das Kirchengebäude, zu verschlossen die Gemeinschaft derer, die da feiern, zu stark auf wenige Milieus beschränkt der Fokus der Gemeinde.
67
Vgl. Christiane Herbst 2007, 190-197. Vgl. Michael Herbst und Matthias Clausen 2010. Vgl. auch www.greifbar.net – aufgesucht am 1.12.2016. 68 Vgl. dazu schon Dan Kimball 2003, 122f. 69 Vgl. Michael Herbst 2013, 202-217. 70 Vgl. Kathrin Halfwassen 2009, Seite 56. 71 In den ersten Jahrzehnten nach 1975 hatte es noch geheißen: „Evangelism and edification can not effectively be done in the same service since the needs of the churched and nonchurched individual differ greatly.“ Dieses Zitat findet sich bei Rainer Schacke 2009, 61. Später und bis heute gibt es in der Willow Creek Community Church nur Gottesdienste, wegen der großen Zahlen mehrere, aber nicht mehr mehrere für unterschiedliche Zielgruppen. Allerdings wurde Ende 2016 ein neues Format eingeführt: „First first Sundays“. Die Gottesdienste am ersten Sonntag im Montag sollten besonders auf Erstbesucher ausgerichtet werden und ihnen eine Brücke in die Gemeinde bauen. Dies ist aber keine Rückkehr zur ursprünglichen liturgischen Doppelstruktur von „seekers’ service“ und Gemeindegottesdienst.
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Kurzum: Das geht gar nicht, das ist geradezu seeker-hostile!72 Anders müsste der Gottesdienst sein. Andere Gottesdienste müssten sein. Und nun, neben einer gewissen, nachvollziehbaren Erschöpfung in der Szene (weil die Forderung nach dauernder Kreativität auch ermüdend ist) stellte sich die Frage, ob dieser Ansatz als solcher vielleicht gar nicht stimmt. Und dann habe ich vor drei Jahren bei einer Fachtagung die Frage gestellt: Könnte es sein, dass die Zeit der sucherorientierten Gottesdienste vorüber ist? Das hat mich kurzfristig durch IDEA und den Kirchenblätterwald getrieben. Einige meinten, dass ich eine Kehrtwende vollzogen hätte. Andere waren weniger freundlich und sprachen von später Einsicht in das Scheitern eines falschen Konzeptes. Dabei würde ich nicht vom Scheitern sprechen und fasse einige „Erfolge“ knapp zusammen: Wenn tatsächlich bis zu einem Viertel der Besucher kirchendistanzierte Menschen sind, ist das aus meiner Sicht alle Mühen wert. Wenn einige dieser Gäste in der Gemeinde beheimatet werden können, ist das in jedem einzelnen Fall ein Grund zum Danken. Wenn tatsächlich dieses Format Christenmenschen Mut macht, ihre Gaben in ein Projekt einzubringen und Freude am Ehrenamt zu bekommen, ist das mehr als eine „Nebenwirkung“. Wenn die Freude an liturgischer Gestaltung, auch am liturgischen Experiment gefördert wird, tut das oft auch dem sogenannten Hauptgottesdienst gut, in den manche Elemente aus den neuen Gottesdiensten hinüber wandern. Ich sage also nicht, dass Gottesdienste zukünftig besser wieder ausschließlich zur traditionellen Form reumütig zurückkehren sollten. Wenn es in manchen Regionen damit überhaupt einmal eine Veranstaltung gibt, die sich explizit an Fernstehende wendet, ist das auch heute noch ein Gewinn. Notabene: Wenn ich vom Ende einer „Welle“ spreche, sage ich nicht, dass wir nicht besondere Veranstaltungen dieser Art brauchen, die eigens den Kontakt zu Kirchendistanzierten in missionarischer Absicht suchen, wie z. B. Kurse zum Glauben.73 Was denn dann? Was ist am Ende meine These? Ich formuliere sie und erläutere sie zum Schluss noch knapp: 72
Vgl. Ibid., 69. Allerdings haben wir zu wenige unterschiedliche Formate und zu viele, die wiederum nur wenigen Milieus zu Gute kommen; mehr Fantasie und Vielfalt für mehr Veranstaltungen wären nötig. Und wir sind nicht mehr ganz so optimistisch, was überhaupt „Veranstaltungen“ angeht. Wir haben wieder mehr Zutrauen zu beziehungsorientierten und dienstorientierten Zugängen, in denen das einladende Zeugnis von Jesus Christus laut werden kann („fresh expressions of church“). Vgl. Hans-Hermann Pompe, Patrick Todjeras und Carla J. Witt 2016. 73
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„Wir brauchen gleichberechtigte plurale Liturgien angesichts der Pluralisierung und Individualisierung unserer Kultur. Sie lassen einerseits ihre Verwandtschaft mit den gewachsenen liturgischen Wegen erkennen: ,feste Grundstruktur‘. Sie nutzen andererseits den durch das Gottesdienstbuch eröffneten Spielraum: ,flexible Ausgestaltung‘, zeitgenössische Elemente. Sie sollten angesichts der zunehmenden Entkirchlichung allesamt auf die Anwesenheit von ,ungeübten Gästen‘ eingerichtet sein. Aber wir brauchen hinsichtlich der gottesdienstlichen Formate keine Aufteilung in Gottesdienste für Suchende und solche für die ,Erbauung‘ der Gemeinde.“ Mein Anlass, an dieser Stelle tatsächlich etwas umzudenken, waren Begegnungen bei Taufgesprächen mit konfessionslosen Erwachsenen. Ich dachte sehr optimistisch, sie seien besonders durch unsere sucherorientierten Events erreicht worden. Sie erzählten aber viel mehr von Freundschaften zu Christen und – zu meiner Überraschung – vom gemeindlichen Gottesdienst. Vor einiger Zeit sagte ein junger ostdeutscher Akademiker, konfessionslos aufgewachsen und bei uns getauft, er habe mit dem Event nicht viel anfangen können. Er hatte den Eindruck, dass wir vor lauter Sucherorientierung viel zu defensiv aufgetreten seien, um jeden Anstoß durch den christlichen Glauben zu vermeiden. Unser – freilich auch eher lockerer, musikalisch zeitgenössischer – Gemeindegottesdienst sei viel spannender gewesen, tiefer, ehrlicher. Die lockere Form, die Musik, die ernsthafte Predigt kamen ihm entgegen. Dort habe er zum Glauben gefunden. Er wollte „the real thing“ und nicht immer nur die niedrigschwelligen einfachen Botschaften. Er wollte nicht gut unterhalten werden, sondern Gott begegnen. Er wollte kein „sit and watch“, sondern teilhaben, mitmachen, fragen, reden. Mit dieser Meinung stand er nicht allein, und wir mussten erstaunt zur Kenntnis nehmen, dass wir auch unter missionarischer Perspektive für manchen in unserem Gemeindegottesdienst mehr tun konnten als bei unseren sucherorientierten Events. Die inhaltlichen Impulse in sucherorientierten Gottesdiensten drohen nämlich nicht genug Tiefe zu besitzen, um nachdenklichen Zeitgenossen den Zugang zum Glauben zu eröffnen. Die Kontaktfunktion unserer Veranstaltungen ist dann stark, aber ihr Informationsgehalt zu schwach. So ist das meine Frage, ob es nicht klüger wäre, gottesdienstlich nicht mehr zu trennen zwischen missionarischen und erbauenden Gottesdiensten, sondern verschiedene Formen von Gottesdiensten ohne Unterscheidung der Zielgruppen nach „Glauben“ und „Noch-NichtGlauben“ vorzunehmen, so wie schon Theodor Christlieb Ende des 19. Jahrhunderts es meinte: Die Gemeindepredigt (und nicht nur die Evangelisation) muss sowohl erbauen als auch erwecken. „Der göttliche Zweck der Predigt ist hienach kein anderer als ein Heilszweck, der Welt den Weg zur Seligkeit kundzutun, in das in Christo nahegekommene Reich Gottes einzuladen oder in ihm zu erhalten, zu befestigen;
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bei den einen Erweckung zur Sinnesänderung und Bekehrung, bei den anderen Erbauung im Glauben, geistliche Förderung.“74 Ich fand dazu konstruktive Überlegungen vor allem bei Timothy Keller. Keller vertritt sehr entschieden die Auffassung, dass mindestens hinsichtlich der Predigt immer beides da sein sollte: Evangelisation und Erbauung. Seine homiletische Grundlinie lautet: „Preach to both Christians and non-Christians at once. […] Don’t just preach to your congregation for spiritual growth, assuming that everyone in attendance is a Christian; and don’t just preach the gospel evangelistically, thinking that Christians cannot grow from it. Evangelize as you edify, and edify as you evangelize.“75 Und weiter: „The weekly worship service can be very effective in evangelism of non-Christians and in edification of Christians if it does not aim at either alone but is gospel centered and in the vernacular.“76 Das würde bedeuten: Wir feiern nicht Gottesdienste für bestimmte Zielgruppen, sondern wir feiern Gottesdienste, um Gott zu loben und das Evangelium zu feiern. Und wir sind zugleich sensibel für den ungeübten Gast. Wir rechnen mit ihm, ja hoffen auf ihn. Wir tun, was das Innerste der christlichen Gemeinde ist, und wir lassen auch den ungeübten Gast erleben, was wir tun, wenn wir Gott anbeten und Wort und Sakrament empfangen. Wir tun das in unseren Gemeinden so, dass man die Familienähnlichkeit mit anderen Gottesdiensten in anderen Gemeinden erkennt, im Sinne des Evangelischen Gottesdienstbuches also in einer festen Grundstruktur, wir folgen den liturgischen Sequenzen, wie Martin Nicol es nennt, den Wegen, die die Christen über Jahrhunderte wie verlässliche und begehbare Pilgerwege in die Zeit gelegt haben. Wir tun es aber gleichzeitig so, dass wir unsere kulturelle Differenz sichtbar machen, dass wir den Spielraum der variablen Ausgestaltung weit ausnutzen, musikalisch, in der Wahl der Mittel zur Darstellung unseres Glaubens. Tim Keller nennt das: We preach and worship „in the vernacular“,77 zu Deutsch: im „Volksmund“, in unserem Dialekt, unserer musikalischen Farbe, unserem kulturellen Ausdruck. Ich glaube daher weniger an eine Hierarchie von „traditionell“ vor „modern“ oder an „Standbein“ und „Spielbein“. Ich glaube eher an ein gottesdienstliches Grundmuster, von dem alle christlichen Gottesdienste herkommen und das wir bei allen Differenzen den unterschiedlichsten Formaten abspüren (wenn es gut geht). Aber dieses Grundmuster wird sich heute stärker ausdifferenzieren als zu Zeiten von Agende I (1954/1959). Manches wird traditioneller daherkommen, anderes expe74
Theodor Christlieb 1879, 277. Timothy Keller 2012, 79. 76 Ibid., 302. 77 Ibid. 75
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rimenteller, manches reich entfaltet, anderes eher zurückgenommen, fast karg, manches mit der großen kirchenmusikalischen Tradition verbunden, anderes in den vielen musikalischen Dialekten unserer Zeit zum Ausdruck kommen. Stabile Grundstruktur wird der Kundige erkennen, aber er wird sich auch an der reichen variablen Ausgestaltung freuen. Wie auch immer wir es tun: Wir tun es mit einem hohen = angemessenen Aufwand. Man soll merken: Diese Feier ist uns wichtig, sie verdient unseren Einsatz, sie ist das Herzstück unseres Gemeindelebens. Und zugleich haben wir stets vor Augen: Da versammeln sich Geübte und Ungeübte, und da wir Letztere so gerne überzeugen und gewinnen möchten, ja ihnen die Schönheit des Evangeliums erschließen möchten, haben wir ein besonderes Augenmerk darauf, dass wir sie inkludieren und nicht den Eindruck erwecken, sie seien hier einfach falsch. Aber wir teilen sie nicht mehr auf: hier die Geübten, dort die Ungeübten. Und wenn dann ein Christ darüber nachdenkt, ob er es riskieren sollte, einen Freund, Kollegen oder Nachbarn zum Gottesdienst in seiner Gemeinde einzuladen, dann sollte er das ohne „Fremdschämen“ tun können. Er weiß, dass in der Predigt immer wieder einmal die Grundzüge des Evangeliums nacherzählt werden, dass es aber auch Vertiefungen und Konkretionen gibt, und dass der Prediger aktiv und respektvoll auf Zweifel, auf kritische Anfragen an den Glauben und unsere säkulare Kultur eingehen wird. Und er weiß, dass solch Grundlegendes nicht nur für „die da draußen“, sondern auch für „uns hier drinnen“ immer wieder nötig und wohltuend ist, als Verständigung über das, was unserem Glauben den Grund gibt. Und Erstbesucher werden so erleben, wie Christen Gott anbeten, sie werden das hoffentlich faszinierend, durchaus auch verstörend und herausfordernd finden und – wenn es gut geht – sich öffnen, diesen Glauben tiefer zu erkunden, vielleicht sogar schon wünschen, das alles möge wahr sein. Am Ende soll der, dem im Gottesdienst so vieles vertraut und lieb ist, sagen: „Friede sei mit dir.“ Und der Ungeübte muss sich nicht schämen, wenn ihm nichts anderes einfällt als: „Schönen Tach auch noch.“ Oder wie ich es gelegentlich höre, einfach: „Danke.“ Aber ihm wird sich das Geheimnis allmählich erschließen, er wird wiederkommen, es wird ihn hineinziehen auf diesen Weg in die Begegnung mit Gott. Und ihm werden auch andere Antworten einfallen, wenn er den Friedensgruß hört. Vielleicht wird er irgendwann sagen: „Danke, das wünsche ich dir auch.“ Das ist immer noch nicht liturgisch vollständig korrekt, aber hört sich für mich ganz richtig an. Denn am Ende geht es darum, dass das adventliche Ereignis wieder aufs Neue geschieht: „Siehe, dein König kommt zu dir, ein Helfer und ein Gerechter.“78 Im Sanctus neh78
Sach 9,9. Wochenspruch zum Ersten Advent.
Literatur:
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men wir diese adventliche Spur auf: Der Heilige kommt nun zu uns. Er kommt auf armen, irdischen Wegen, auf „Eseln“ unterschiedlichster liturgischer Art. Und er möchte ankommen, beim treuen Gemeindeglied und beim ungeübten Gast. Wenn das geschieht, ist alles gut. Literatur: Literatur: Äbtekonferenz, Salzburger (Hg.): Die Regel des Heiligen Benedikt. Beuron 4. Aufl. 1990 Albrecht, Christian: Schleiermachers Predigtlehre. Eine Skizze vor dem Hintergrund seines philosophisch-theologischen Gesamtsystems. In: Christian Albrecht und Martin Weeber (Hg.): Klassiker der protestantischen Predigtlehre. Tübingen 2002, 93-119 Arnold, Joachim (Hg.): Andere Gottesdienste. Erkundungen und Reflexionen zu alternativen Liturgien. Gütersloh 2012 Baltes, Guido: Worshipmusik im europäischen Kontext. In: Jochen Arnold (Hg.): Gottesklänge. Musik als Quelle und Ausdruck des christlichen Glaubens. Leipzig 2. Aufl. 2014, 247-259 Bubmann, Peter: Lobpreis-Songs – eine theologische Kritik. Kimuna. Kirchenmusikalische Nachrichten 66 (2015), 6-15 –: Flucht ins Formelhafte. Kirche & Musik 86 (2016), 239-246 Christlieb, Theodor: Homiletik. Vorlesungen. Basel 1893 Friedrichs, Lutz (Hg.): Alternative Gottesdienste. Praktischtheologische Einleitung. Hannover 2007 (gemeinsam gottesdienst gestalten Bd. 7) Giebel, Michael und Reppenhagen, Martin: Studie über „Zweitgottesdienste“ in der Evangelischen Landeskirche in Baden. Greifswald 2006 Grethlein, Christian: Praktische Theologie. Berlin und Boston 2012 Grözinger, Albrecht: Toleranz und Leidenschaft. Über das Predigen in einer pluralistischen Gesellschaft. Gütersloh 2004 Gundlach, Thies: Zum Mentalitätswandel in der Kirche. Wie wächst kirchliche Qualität? PTh 97 (2008), 14-29 Haberer, Tilmann: Die Thomasmesse. Ein Gottesdienst für Ungläubige, Zweifler und andere gute Christen. München 2000 Halfwassen, Kathrin: Raus aus der Jesuskurve. Die Evangelische Kirche Deutschland will die evangelische Predigt fördern. Es gibt viel zu tun, meint Alexander Deeg. DIE ZEIT Nr. 49 (2009).
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Literatur:
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VII. Neue Gottesdienste braucht das Land
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen gemeindlichen Lebens1
Fußballersprüche haben es in sich.2 Andreas Möller glänzte da nicht nur mit dem berühmten Satz: „Egal, ob Mailand oder Madrid, Hauptsache Italien.“ Er philosophierte auch über sich selbst, als er sagte: „Ich bin immer sehr selbstkritisch, auch mir selbst gegenüber.“ Mehmet Scholl wiederum verdanken wir die folgende Weisheit: „Die schönsten Tore sind die, bei denen der Ball schön flach oben rein geht.“ Und auf ihn geht auch dieser Satz zurück, als er Vater wurde: „Es ist mir völlig egal, was es wird, Hauptsache, er ist gesund.“ Und Otto Rehhagel sah das Bremer Chaos voraus, als er sagte: „Mal verliert man, und mal gewinnen die anderen.“ Nun fügte dem allen jüngst Philipp Lahm eine bemerkenswerte Weisheit hinzu. Er sagte dem staunenden Reporter nach dem Champions-League-Viertelfinale 2016 in Lissabon: „Man muss nicht immer das Salz in der Suppe suchen.“3 Das ist bemerkenswert, wirklich hintersinnig, fast philosophisch, jedenfalls dialektisch: „Man muss nicht immer das Salz in der Suppe suchen.“ Oder mit der Kirche ins Dorf fallen. Oder so. Was ist denn das Salz in der Suppe bei unserem Thema? Ich versuche es so pointiert wie möglich zu machen und mich auf drei Thesen zu konzentrieren, die den Weg zu neuen Gestaltungs- und Organisationsformen gemeindlichen Lebens gleichsam von innen nach außen gehen. Ich versuche damit die Rahmenbedingungen für unser Thema zu benennen, zugleich auch einige Problemzonen, die ich beim Transfer und bei der Transformation der „fresh expressions“ nach Deutschland sehe.
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Vortrag auf der Delegiertenversammlung bzw. Jahrestagung der AMD in Neudietendorf (9.-11. Mai 2016). Erstveröffentlichung: Michael Herbst 2016, 8286. 2 Zum Folgenden vgl. die sehr vergnügliche Website: https://www.taschenhirn.de/alles-uber-fussball/beste-fussballersprueche – aufgesucht am 7. Mai 2016. 3 http://www.zeit.de/sport/2016-04/bayern – aufgesucht am 7. Mai 2016.
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
1. Leidenschaft für das Evangelium 1. Leidenschaft für das Evangelium Es wird keine Erneuerung unserer kirchlichen Verhältnisse geben ohne eine neue Begeisterung und Leidenschaft für das Evangelium von Jesus Christus. Diese These ist im Grunde zweipolig. Es ist die Rede vom Evangelium und von der Leidenschaft. Ich beginne mit der Leidenschaft. Leidenschaft ist das Geheimnis von allem, was Menschen anrührt und gewinnt. Zu den erfolgreichsten TED-TALKS aller Zeiten gehörte der Auftritt von Aimee Mullins im Jahr 2009 (1,8 Millionen Aufrufe!). Aimee Mullins hat 12 Paar Beine. Wie die meisten von uns Sterblichen wurde sie mit zwei Beinen geboren, aber diese Beine mussten ihr im ersten Lebensjahr unterhalb der Knie amputiert werden. Mullins bekam Prothesen und wurde eine erfolgreiche Sportlerin bei den paralympischen Spielen. Sie wurde Model und wurde vom Magazin „People“ zu den 50 schönsten Menschen auf der Welt erkoren. Ihr TED-TALK über ihr Leben und über „The opportunity of adversity“ 4 begeisterte Millionen Menschen. Das Thema war aber nicht ihre Behinderung. Mullins scherzte, die meisten Hollywoodstars hätten mehr künstliches Zeug im Busen als sie an den Beinen, aber niemand nenne sie deshalb behindert. Ihr Thema sind auch nicht die Prothesen. Ihr Thema ist ihre Leidenschaft für das Laufen und den Sport. In einer rhetorischen Analyse der TED-TALKS schreibt Carmine Gallo: Es ist die Leidenschaft für etwas, das Menschen ansteckt. Darum sollte unsere Leidenschaft das sein, was wir nach außen kommunizieren. Wenn uns nichts begeistert, werden wir auch niemand anderen überzeugen. Im Original: „People cannot inspire others unless and until they are inspired themselves.“5 Aimee Mullins ist inspiriert, begeistert und leidenschaftlich, und darum inspiriert sie andere, steckt an, weckt Neugier und Aufmerksamkeit. Wenn ich kirchliche Verlautbarungen lese – und ich lese viele kirchliche Verlautbarungen – und wenn ich Predigten von kirchlichen Kanzeln höre – und ich höre viele Predigten – dann vermisse ich das nicht selten: Leidenschaft, Begeisterung, Menschen, die erkennbar selbst infiziert sind, die auf eine sympathische Weise brennen. Und natürlich schaue ich auf so manches, was ich selbst so sage und predige – und werde traurig, wenn es nur irgendwie „richtig“ ist und keinerlei erkennbare Resonanz fand. Unser Thema kann nicht zuerst die Kirche sein, deren Erhalt, Untergang, Überleben oder Wachstum. Sie ist nur die Prothese, nicht das Laufen. Unser Thema ist das Evangelium von Jesus, dem Christus, die Hoffnung auf das Reich Gottes, eine neue, 4
Vgl. https://www.ted.com/talks/aimee_mullins_the_opportunity_of_adversity – aufgesucht am 7. Mai 2016. 5 Carmine Gallo 2014, 21.
1. Leidenschaft für das Evangelium
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versöhnte Welt, unsere Freude über die unverdiente und unfassbare Gnade, die uns trägt und hält, weil einer kam, sah und litt, und zwar für uns und an unserer Stelle, weil einer litt, starb und auferstand, der Erste unter allen, die dem Tod von der Schippe springen. Wie langweilig sind „Gestaltungs- und Organisationsformen gemeindlichen Lebens“ ohne diese Botschaft, die allen gilt und niemanden ausschließt und die darum jedermann erreichen muss. In der Aufforderung zum Gebet in 1 Tim 26 heißt es: „Gott, unser Retter, will ja, dass alle Menschen gerettet werden und zur Erkenntnis der Wahrheit gelangen. Denn nur einer ist Gott, und nur einer der Vermittler zwischen Gott und den Menschen: der Mensch Christus Jesus. Der hat sich selbst hingegeben als Lösegeld für alle Menschen. Das gilt es zu bezeugen zu den festgesetzten Zeiten. Dazu hat Gott mich eingesetzt als mit der Verkündigung Beauftragter und als Apostel […], als Lehrer für die Heiden im Glauben und in der Wahrheit.“7 Wenn sich solch wahrhaft inspirierte Leidenschaft einstellt, werden wir Gehör finden, und wenn wir Gehör finden, finden sich auch die Formen und Gestalten; die Organisation gemeindlichen Lebens wird uns ganz leicht von der Hand gehen. Ich finde beides in der Church of England: Zum einen wird viel gebetet. Demütig wird dort um innere Erneuerung gebetet und um einen Hunger im Land nach dem Wort Gottes. Zum anderen wird in all den unterschiedlichen „Gestaltungs- und Organisationsformen gemeindlichen Lebens“ eines nach vorne gestellt: Wir werben nicht für die Kirche. Die Kirche ist nicht unser Thema. Justin Welby sagte es so: „First, the church exists to worship God in Jesus Christ. Second, the Church exists to make new disciples of Jesus Christ. Everything else is decoration. Some of it may be very necessary, useful, or wonderful decoration – but it’s decoration. […] The best decision anyone can ever make, at any point in life, in any circumstances, whoever they are, wherever they are, whatever they are, is to become a disciple of Jesus Christ. There is no better decision for a human being in this life, any human being.“8 Durch Worte und mit Taten soll jeder Christ anderen sagen, dass Jesus in diese dunkle Welt gekommen ist und Rettung und Heilung bringt. So redet in England ein Erzbischof. Ohne diesen glaubenweckenden Aspekt sollte man nicht meinen, es ginge um „fresh expressions“. Das ist das Salz in der Suppe.
6 Vgl. die Predigt des Verfassers unter: https://itunes.apple.com/de/podcast/greifbar-predigten/id1108397221?mt=2 – aufgesucht am 7. Mai 2016. 7 Nach der Übersetzung der Basis-Bibel. 8 http://www.archbishopofcanterbury.org/articles.php/5515/lambeth-lecturesarchbishop-justin-on-evangelism-video – aufgesucht am 7. Mai 2016.
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
Ganz ähnlich sieht die „Capital Vision 2020“ für London aus.9 Richard Chartres, Bischof von London, hat den Weg zu dieser Hauptstadtvision stark mitgeprägt. „We share a vision of a Church for London that is Christ-centred and outward looking. We seek to be more confident in speaking and living the Gospel of Jesus Christ, more compassionate in serving communities with the love of God the Father and more creative in reaching new people and places in the power of the Spirit.“ Unter anderem sollen 100.000 „Ambassadors“ zugerüstet werden, Botschafter also, Zeugen für das Evangelium in der Kapitale, und 100 neue gottesdienstliche Versammlungen sind geplant. Wer plant so etwas für Berlin, Hamburg, München, Köln, Leipzig oder Frankfurt? So redet in London ein Bischof. Ohne diesen glaubenweckenden Aspekt sollte man nicht meinen, es ginge um „fresh expressions“. Das ist nämlich das Salz in der Suppe. Leidenschaft ist ein Gut, das wir nicht einfach kaufen können, weder in Hannover noch in Rom, weder in Canterbury noch in Sheffield und auch nicht in Greifswald. Aber zugleich ist ohne Leidenschaft für das Evangelium für die Kirche kein Blumentopf zu gewinnen. So werden wir unserer Hilflosigkeit ansichtig. Wir können nur einkehren in das Wort, beten und umkehren und demütig bitten, dass uns Gottes Geist Pfingsten feiern lässt. In der zu Unrecht nicht sehr beachteten Studie der Gemeinschaft Evangelischer Kirchen in Europa „Ecclesia semper reformanda“ gibt es sieben Empfehlungen für die Reform und Erneuerung der Kirche. Die erste Empfehlung lautet: „All reform and renewal needs to be understood as the way the church continually returns to God: it is an act of repentance and is always seeking renewal through the work of the Holy Spirit.“ 10 Erneuerung suchen, kontinuierlich zu Gott zurückkehren. Damit beginnt alles Wesentliche, was zu unserem Thema zu sagen wäre. 2. Wachstumsfaktoren vitaler Gemeinden 2. Wachstumsfaktoren Wir können von Erfahrungen in England lernen, z. B. von der Einsicht, dass es bei aller Pluralität bestimmte Wachstumsfaktoren gesunder Gemeinden gibt. Diese werden die entscheidende Rolle spielen, wenn die Transformation zur öffentlichen Minderheits- und Missionskirche abgeschlossen ist.
9
Vgl. http://www.london.anglican.org/mission/capital-vision-2020 – aufgesucht am 7. Mai 2016. 10 http://www.leuenberg.net/sites/default/files/basicpage/11_ecclesia_semper_reformanda_d.pdf, 44. Aufgesucht am 7. Mai 2016.
2. Wachstumsfaktoren
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Ich möchte zuerst vom Gemeinsamen und Allgemeinen reden, bevor ich zum Spezifischen und Pluralen komme. Die Entwicklung vitaler Gemeinden ist keine Geheimwissenschaft. Die englischen Kirchen haben das sehr gut erforscht, mehrfach und in unterschiedlichen Regionen. Und sie haben bei vitalen und wachsenden Gemeinden immer wieder bestimmte Merkmale gefunden. In der Studie „From anecdote to evidence“ sind acht gemeinsame Merkmale von vitalen und wachsenden Gemeinden festgehalten worden. Während andere Studien in Deutschland relativ häufig zitiert werden, kann man das für diese Studie so noch nicht sagen. Es handelt sich um die Auswertung des National Growth Report aus dem Jahr 2014. Dabei ist es ist schon erstaunlich, dass eine Kirche solch eine Studie veröffentlichen kann, der Callum Brown vor 15 Jahren den Untergang des christlichen Britannien prophezeit hatte.11 Heute sieht es nach meinem Eindruck in England so aus, dass gleichzeitig die Prozesse der Säkularisierung und der kirchlichen Verkleinerung fortschreiten und die Prozesse der Gesundung und des punktuellen Wachstums parallel dazu verlaufen. Ich sehe nicht einen „turn around“, ich sehe nicht, dass die Wachstumsprozesse landesweit die säkularisierenden Tendenzen kompensieren. Aber ich sehe, dass so etwas wie eine kleinere, aber gesündere Kirche am Ende stehen könnte. Wir durchlaufen in unserem Land ebenfalls als Kirche eine tiefgreifende und langwierige Transformationskrise. Wir erleben Abbrüche und Minderung, wir durchlaufen Prozesse des Alterns und Ärmerwerdens. Ich halte diese Krise nicht einfach für vorübergehend und die damit verbundenen Probleme nicht für mit etwas gutem Willen und mehr Mitteln behebbar. Man könnte Zahl um Zahl aufrufen12 und sehen, dass sich hier nach menschlichen Ermessen ein langsames Sterben einer sehr alten Kirchenkultur ereignet – und ich sage deutlich: Das sehe ich nicht mit klammheimlichem Vergnügen. Wir sehen einerseits die Minderung der Mitgliederzahlen und damit des Anteils der Christen an der Wohnbevölkerung. Das Ganze nimmt einen deutlichen Verlauf in der Abfolge der Generationen: Je jünger die Menschen sind, desto weniger kirchlich und religiös sind sie. Und wir sehen dort eine Polarisierung: Einerseits steigt hohe Verbundenheit mit der Kirche an, aber auch die Zahl der kaum noch Verbundenen steigt, während die Mitte schrumpft. Gegen alle Hoffnungen auf eine spirituelle Belebung sagt Isolde Karle zu Recht: „Wir erleben gegenwärtig nicht eine Wiederbelebung der christlichen Tradition außerhalb der verfassten Kirche, sondern vielmehr einen Traditionsabbruch, der sich vor allem bei Nicht11 12
Vgl. Callum Brown 2001. Vgl. vor allem Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015, 187-207.
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
Kirchenmitgliedern der zweiten und dritten Generation rasant beschleunigt. Selbst vielen Kirchenmitgliedern sind viele christliche Vorstellungen fremd geworden.“13 Wir durchlaufen also eine Transformation: Wir haben uns schon von einer flächendeckenden Volkskirche zu einer intermediären Großkirche gewandelt.14 Und ich denke, wir werden uns weiter wandeln zu einer zahlenmäßig recht starken, öffentlich wahrgenommenen und öffentlich wirkenden und somit auf das ganze Volk bezogenen Minderheiten- und Missionskirche.15 Transformation ist weder vorübergehende Krise noch Untergang. Ich glaube an die österlichen Möglichkeiten des Herrn, der eine vitale, öffentliche und wachsende Kirche im Sinn hat, die auch die Pforten der Hölle nicht überwinden, aber ich glaube nicht an die langfristige Überlebensfähigkeit des Konstantinischen Systems. Die starke Minderheiten- und Missionskirche wird sich allmählich in der jetzigen Kirchengestalt zeigen, besser: aus ihr herausschälen. Sie wird das Überlebensfähige und Wachstümliche darstellen, das vitale Alte und das neugeborene Neue der Kirche. Mit Paul Zulehner rechne ich aber auch anders:16 Ich rechne nicht abwärts und zähle die Verluste, so als ob uns eigentlich alle Menschen gehören und wir sie nur leider zwischenzeitlich verloren hätten. Ich glaube nicht, dass man das von der Mehrheit der Getauften so sagen könnte. Wenn jetzt die volkskirchlichen Bestände wegbrechen, dann wird im Wesentlichen nur sichtbar, was schon länger wahr ist: dass trotz der höchsten göttlichen Zusagen in der Taufe viele Mitglieder der Kirche innerlich nie gewonnen waren. Das schmerzt, und ich sähe lieber, sie blieben und entdeckten, was ihnen eigentlich doch gehört. Aber ich zähle von unten nach oben und erachte jeden Menschen, der für den Glauben gewonnen wird oder in ihm quicklebendig und munter wird, als Geschenk und Grund zu großer Dankbarkeit. Welcher Typus von Gemeinde zeigt aber diese nicht nur überlebensfähigen, sondern wachstumsbereiten Merkmale? Was kennzeichnet künftig und jetzt schon vitale Gemeinden? Da, wie bereits angedeutet, lohnt ein Blick zur Church of England und zum National Growth Report von 201417: From anecdote to evidence. Die acht Merkmale kann man nun deskriptiv lesen als Beschreibung der Gemeinden, die in der britischen Studie als vital und wachstümlich erschienen. Man kann sie aber dann auch präskriptiv lesen, als Hinweis, in welche Richtung sich Gemeinden entwickeln sollten. Schauen wir also hin: 13
Isolde Karle 2011, 56f. Vgl. Eberhard Hauschildt und Uta Pohl-Patalong 2013, 172-174. Vgl. auch schon Wolfgang Huber 1998. 15 Vgl. zum Begriff der Missionskirche auch Wolfgang Huber 2003, 249-254. 16 Vgl. Paul Zulehner 2015, 10-19. 17 Vgl. http://www.churchgrowthresearch.org.uk – aufgesucht am 7. März 2016. 14
2. Wachstumsfaktoren
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Diese Gemeinden… … haben klare Ziele und verfolgen eine Mission. … sind sich einig über das Ziel zu wachsen. … sind bereit, sich zu ändern. … haben starke Teams aus Haupt- und Ehrenamtlichen, aus Ordinierten und Nicht-Ordinierten. … haben eine starke Kinder- und Jugendarbeit. … pflegen eine Willkommenskultur und wachsende Beziehungen zu anderen/zu neu Hinzukommenden. … investieren in Bildung mit dem Ziel mündigen, lebendigen Christseins … haben Pfarrpersonen und Leitungen, die innovativ sind, Visionen haben und Menschen zu motivieren wissen. Vielleicht fällt Ihnen auf: Da geht es nicht um bestimmte Veranstaltungsformate. Wir wissen nicht, ob diese Gemeinden Hauskreise haben oder ob sie moderne oder traditionelle Gottesdienste feiern. Wir können auch nicht sehen, ob es sich um parochiale Gemeinden, Hauskirchen oder „fresh expressions“ handelt. Wir sehen bestimmte Formen von Leitung: Da gibt es Visionen, Ziele, Veränderungsbereitschaft, Motivation. Wir sehen bestimmte Formen von Förderung: Es gibt Teams, es gibt Kurse zum Wachsen im Glauben. Da gibt es eine Orientierung an Wachstum: Man will wachsen, man investiert in Kinder und Jugendliche und pflegt eine Willkommenskultur. Da gibt es Beziehungen: nach innen und nach außen, eine Teamkultur nach innen, eine Willkommenskultur nach außen. Diese Gemeinden sind sehr „intentional“. Sie wollen etwas. Sie haben Leitungen mit Vision. Sie beabsichtigen zu wachsen. Das ist übrigens sehr ähnlich in unserem Kontext vom Sozialwissenschaftlichen Institut in Hannover erforscht worden. Gerhard Wegner nennt Erfolgsfaktoren erfolgreicher Gemeindearbeit. Und er sagt: „Entscheidend ist die Erfahrung, dass die Gemeinden etwas wollen, und so ein Profil ausbilden – jedenfalls nicht nur die volkskirchliche Grundversorgung sicherstellen.“18 Und etwas später: „Erfolg setzt Profil voraus.“19 Auch sieht er eine Außenorientierung als erfolgsversprechendes Merkmal: Gesunde Kirchengemeinden „sind in den Sozialräumen […] bekannt und gut ‚ver-ort-et‘“20 und „für das Gemeinwesen nützlich“.21 Und sie versuchen, indifferente Menschen mitzureißen und für den Glauben zu begeistern.22 Sie versuchen, nach außen offen, freundlich und zugänglich zu sein.23 Sie erzielen damit auch Resonanz. Und 18
Gerhard Wegner 2014, 30. Ibid., 33. 20 Ibid., 31. Dort finden sich auch die weiterhin erwähnten Merkmale. 21 Ibid., 157. 22 Ibid., 41. 23 Vgl. Ibid., 155-157. 19
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
sie haben einen Bezug zur nachwachsenden Generation: Kinder- und Jugendarbeit spielen eine große Rolle. Wer mitarbeitet, erlebt in der Gemeinde eine tragende Gemeinschaft und einen „Geist, der begeistert“,24 was wiederum zu einem starken „Commitment“ führt.25 Im innersten Kern solch gesunder Kirchengemeinden, so Wegner, geht es aber um die Erfahrung, von der Liebe Gottes ergriffen zu sein. Ich nenne es: Leidenschaft für das Evangelium von Jesus zu haben. Wegner: „Es ist letztendlich die Kraft jenes Mannes aus Nazareth, der vor 2000 Jahren in Palästina lebte, dessen Wirkungen sich bis heute in Freundlichkeit und Offenheit seiner Anhänger umsetzen, die die Bindung an Kirche in der einen oder anderen Weise erzeugt.“26 Solche Merkmale zu fördern wäre sinnvoll hinsichtlich der Vitalität von Gemeinden in der künftigen Gestalt von Kirche. Ich glaube, dass wir die Bildung zum lebendigen, mündigen Christsein, also zu dem, was im Englischen „discipleship“ heißt, dringend verstärken müssen. Diese neugeborene Kirche wird sehr viel mehr als alles, was wir gewohnt sind, auf den Schultern von normalen Christenmenschen ruhen. Wir brauchen vertiefende Kurse, regelmäßig und systematisch. Das ist mehr und anderes als Glaubensinformation, mehr und anderes als ein Bibelkurs. Es geht um Bildung und Prägung zu einer geistlich geformten Lebensgestalt, es geht um Entdeckung der eigenen Berufung, um ein Ja zu meinen Gaben und Grenzen, um Sprachfähigkeit, aber auch um die Entdeckung von Leitungs- und Führungscharismen. Und ebenso dringend ist es geboten, in theologische Ausbildung zu investieren. Nicht nur für „fresh expressions“. Die Pfarrpersonen, die wir beispielsweise brauchen, werden nicht mehr vorwiegend lokale Hirten sein. Sie werden mehr und mehr gebraucht als Berater für kirchliche start-up-Unternehmen, als regionale Besucher, als theologische Wegbegleiter, Seelsorger und Gebetspartner, als Mentoren für lokale Führungskräfte. 3. Die Mixed Economy als Geheimnis 3. Mixed Economy In der Tat halte ich die Idee der „mixed economy“ für ein Geheimnis. Hierin liegt mehr Sprengstoff als in der Idee, hier oder dort eine „fresh expression“ zu beginnen. Ein Geheimnis ist die „mixed economy“, weil nicht klar ist, ob uns bewusst ist, wie weit uns diese Idee aus unserer Komfortzone treibt.
24
Ibid., 161. Vgl. Ibid., 163-166. 26 Ibid., 169. 25
3. Mixed Economy
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„The phrase ‚mixed economy‘, originally used by Archbishop Rowan Williams, refers to fresh expressions and ‚inherited‘ churches existing alongside each other, within the same denomination, in relationships of mutual respect and support.“ 27 Gegenseitiger Respekt ist gefordert. Und es soll in einer Region, innerhalb einer Kirchengemeinschaft, sowohl traditionelle Gemeinden geben als auch – gleichberechtigt! – neue Formen von Gemeinde, also „fresh expressions“. Weil der Begriff schwer zu übersetzen ist, hat man mehrere Metaphern gewählt, um diesen Sachverhalt zu erklären. Sabrina Müller etwa spricht davon, dass an die Stelle einer kirchlichen Monokultur (alle tun dasselbe in ähnlichen Sozialformen) eine kirchliche Biodiversität treten soll.28 Andere versuchen es eher mit der Metapher von See und Fluss.29 Demnach liegt der See verlässlich da, versorgt die umliegenden Ufer mit dem nötigen Wasser, während der Fluss weit hinaus ins Land mäandert und auch dorthin kommt, wohin der See das Wasser niemals transportieren könnte. Im Grunde aber ist „mixed economy“ eine Variante des anglikanischen Kirchenbildes, das ja ein beziehungsweises Modell ist: 30 Die Kirche dreht sich um Jesus und sein Evangelium und lebt in einer vierfachen Relation: zu Gott („up“) im Hören und Beten und in der Anbetung und im Gehorsam, nach innen („in“) in verlässlicher Gemeinschaft der Christenmenschen, nach außen („out“) im Dienst in Wort und Tat an den Mitmenschen, aber eben auch („of“) zur größeren Kirche, zu denen, die vor uns Kirche waren, und zu denen, die neben oder mit uns Kirche sind. Da kommt das Bild der Toblerone-Kirche immer recht: Wir hängen aneinander und sind nur Kirche, wenn wir uns aus dieser Zugehörigkeit nicht heraus bewegen. Und dieses „of“ ist die Pointe der „mixed economy“: Meine Gemeinde, sei sie Parochie, Hauskirche, Funktionspfarramt, Kathedrale, „fresh expression“, Landeskirchliche Gemeinschaft oder CVJM, darf sich Gemeinde nennen, aber nie ohne die anderen. Wir sind immer ganz Kirche, aber nie die ganze Kirche. Und damit ist klar: „mixed economy“ will deutlich mehr als ein schiedlich-friedliches Nebeneinander. Man sollte nicht zu früh begeistert sein: Ich bin mir jedenfalls nicht so sicher, ob allen wirklich klar ist, wovon man da so begeistert ist. Es könnte nämlich sein, dass jeder nur hört, dass er ein „Ticket“ bekommt, „sein Ding“ munter weiter zu machen. Mir begegnet genau das: Eine Studentin sagte am Rande eines Blockseminars über das Evangelische Gottesdienstbuch: „Herr Herbst, wenn es demnächst so viele Fresh X gibt, wozu müssen wir dann noch die agendarische Liturgie 27
Michael Moynagh 2008, 177. Vgl. Sabrina Müller 2016. 29 Vgl. auch Michael Herbst 2013, 14f. 30 Vgl. Michael Moynagh 2012, 106-114 28
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
lernen, die ist dann doch bald überflüssig…“ Ich übersetze: „mixed economy“ bedeutet, dass wir am Ende lauter worshippende Jugendkirchen haben, die so etwas wie Liturgie nicht mehr brauchen. Auf der anderen Seite begegne ich freundlichen Kirchenvertretern, die durchaus anerkennen, dass Neues Raum bekommen muss. Aber dann sagen sie: Es muss nur im Rahmen der Struktur bleiben. Struktur heißt wohl: im Rahmen eines relativ deutlichen Vorrangs der Parochie als normalem, strukturbildendem Kirchenmodell, zu dem alles andere dauerhaft nur Ergänzung oder Brücke sein soll. Das eine würde ich Parochialismus nennen, das andere allerdings ebenso kritisch Freshexpressianismus. Kurzum, ich glaube, dass „mixed economy“ etwas sehr Tapferes und Radikales ist. Und ich möchte ein paar Aspekte nennen: Das Einfachste ist noch dies: Es ist eine Erlaubnis zum Experiment. In dem unübersichtlichen Gelände, in dem wir uns bewegen, ist noch völlig unklar, was am Ende funktioniert und vom Prototyp in die Modellreife übergeht. Darum ist es gut, wenn in unseren Regionen Menschen eine Lizenz zum Ausprobieren bekommen. Und wenn sie scheitern, helfen wir ihnen auf die Beine und sagen nicht: „Das haben wir doch gleich gewusst.“ Wir bedanken uns, dass sie es gewagt haben, und lernen aus dem Scheitern – für den nächsten Versuch. Auch das Nächste kann man sich vielleicht noch denken: In einer „mixed economy“ vermehren sich die Chancen für unsere Zeitgenossen, irgendwo in Kontakt mit dem Evangelium und mit Christen zu kommen, jenseits unserer Grenzen, etwa der Grenzen der bürgerlichen Woche, die immer noch den kirchlich-parochialen Rhythmus vorgibt, etwa der Grenze milieubedingter Exklusivität, etwa der Grenze kirchenferner Scheu vor allzu sicher auf dem liturgischen Eis herumlaufenden Glaubensschlittschuhläufern. „Keine einzelne Gemeinde kann als einziges Angebot die Weite der Bevölkerung erreichen. Aber die Kirche in der Region kann mit einem Angebot-Mix ein Grundangebot mit Ergänzungen, Profilen und Kooperationen zusammenbinden.“31 Und dann ist „mixed economy“ weiterhin ein Akt der Bewahrung von innerkirchlichem Frieden. Wer „mixed economy“ sagt, organisiert den Zusammenhalt des Auseinanderstrebenden, bietet eine Idee, wie ich „ich“ sagen kann, ohne dem „du“ arrogant, verzagt, wütend, enttäuscht oder hoffnungslos den Rücken zuzukehren. Wir bleiben ein „wir“. Nur müsste dieses „wir“ auch sichtbar werden; dazu gleich etwas mehr. Aber dann ist „mixed economy“ die Herausforderung zum glaubensstarken Opfer. Irgendwer opfert immer. Da ist also die Kirchengemeinde, die ganz gut, aber nicht sehr gut klarkommt. Sie ist es gewohnt, dass Jugendliche irgendwann gehen, weil sie an die Universität zum Studieren wechseln oder aus anderen Gründen. Aber jetzt sagt ein 31
Hans-Hermann Pompe 2014, 42.
3. Mixed Economy
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kompletter Hauskreis: Wir haben erkannt, dass wir unter den Gewerbetreibenden in der Innenstadt etwas Neues beginnen sollen. Wir bitten Euch: Lasst uns ziehen. Also: Das ist schon eine menschlich reife Variante: Sie reden miteinander, vorher! Der Pastorin und dem Vorsitzenden des Presbyteriums wird heiß und kalt: ein Presbyter, die Leiterin des Kindergottesdienstes, der BWLer, der immer die Bücher in Ordnung gehalten hat, ein junges Paar, auf das alle so viel Hoffnung setzten. Wenn sie gehen, ist es nicht nur ein herber Verlust, es ist ein Schlag, von dem sich die Gemeinde so schnell nicht erholen wird. Und jetzt denken Sie selbst weiter, setzen sich mal auf diese, mal auf jene Seite. Irgendwoher müssen sie ja kommen, die Pioniere, die das Neue starten. Irgendjemand wird ein Opfer bringen, wird ein Stück „sterben“, damit etwas Neues entstehen kann. Und wenn irgendwann nicht nur hier und da ein paar Leute, so pro Stadt an einem Ort, so etwas beginnen, sondern wenn sich plötzlich die ganze kirchliche Landkarte ändert, dann haben wir Abschied genommen von einem sehr ordentlichen monostrukturellen Modell und haben plötzlich ein Kirchenpatchwork. Ich nenne es: ein regiolokales Kirchenbild. Und das alles entwickelt sich nur langsam. Es ist keine radikale Umstrukturierung, es ist eine allmähliche Transformation, die mit den Freiwilligen beginnt. Sie hat eine enorme Stärke und stellt vor eine schwere Aufgabe: Ihre Stärke ist der Versuch, nicht nur Downsizing zu betreiben, sondern da, wo es aufbruchsbereite Menschen gibt, auch wieder Neues in Angriff zu nehmen und auf Wachstum zu hoffen. Dieser Prozess geht parallel zu den unvermeidlichen Minderungs-, Alterungs- und Sterbeprozessen, durch die wir als alternde Volkskirche auf dem Weg zur öffentlichen Minderheits- und Missionskirche hindurch müssen. Und es ist eine sehr komplexe Leitungsaufgabe für die, die auf der mittleren Ebene der Kirche Verantwortung tragen. Was ich mir also als deutsche „mixed economy“ vorstelle, ist das Bild einer Kirche, die eher regional plant, aber zugleich lokal geistliches Leben in variablen Gemeindeformen lebt. Und ich möchte sofort sagen, dass solche Bilder einer regiolokalen Kirchenlandkarte unter verschiedenen rechtlichen Konstruktionen möglich sind, wenn es zu einer Kultur der gemeinsamen Verantwortung für die Weitergabe des Glaubens kommt. Anders gesagt: Die Entscheidungen fallen hier eher in der Kultur des Miteinanders als in der strukturellen Verfasstheit. Das Neue ist, dass diese Regiolokalität nicht mehr nur das Verhältnis von Parochien steuert, sondern das Verhältnis unterschiedlichster Gemeindeformen. Ausgangsbasis wäre aber eine gemeinsame Einsicht von Gemeinden in einer Region: dass sie nämlich alle von mehr Zusammenarbeit profitieren. Ich glaube, dass unser Kirchenbild in Zukunft beides umfassen muss: die Kirche am Ort, nah bei den Menschen, verlässlich und besonders für die erreichbar, deren Lebensradius auf den Wohnbereich
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
konzentriert ist. Und: die Kirche in der Region, die durch Zusammenarbeit all das bieten kann, wozu einzelne Gemeinden zu schwach wären. Wie wäre es, wenn Gemeinden ohne Zwang miteinander überlegen würden, wie sie gemeinsam ihre geistliche Verantwortung für eine bestimmte Region wahrnehmen können?32 Es könnte dann so etwas wie regiolokale Kirchenentwicklung-Workshops geben. Was können die einen stellvertretend für alle tun, was die anderen? Wo legen wir die Kräfte zusammen und tun etwas gemeinsam, einen Kurs zum Glauben, eine Mitarbeiterschulung, ein Musikprojekt oder die Konfirmandenarbeit? Wo lassen wir etwas, weil es andere in der Nähe auch tun? Worin aber sind wir vor Ort unvertretbar? Ich glaube, dass die strukturellen Fragen leichter zu lösen sind, wenn Gemeinden sich vorher zusammen auf den Weg gemacht haben, und wenn sie gute Erfahrungen im fairen Miteinander gesammelt haben, ja, wenn überall bejaht wird, dass wir beides brauchen: Kirche vor Ort und in der Region. Freilich ist es dann wichtiger, dass Menschen in der Region in einer Gestalt von Gemeinde heimisch werden, als dass sie unbedingt in meiner, ihrer, der einen Ortsgemeinde heimisch werden. Und für manchen, der räumliche Nähe sucht, aber nicht die Enge des eigenen Dorfs, ist vielleicht das Angebot an einem Zentralort das Beste. Das wäre nicht Regionalisierung, aber so etwas wie eine kirchliche Regionalentwicklung. Freiwillig, in Respekt voreinander, zur gegenseitigen Unterstützung und Entlastung, und weil miteinander vieles besser ginge. Wie wäre es, wenn wir zum Telefon griffen, ein paar Verantwortliche aus Gemeinden zusammenriefen, die in unserer Region sind und einigermaßen zueinander passen, um auszuloten, was denn gemeinsam möglich wäre? Was uns dabei helfen würde, wäre eine Haltung, die auf Kooperation und weniger auf Konkurrenz basiert. Wenn wir konkurrieren, sind wir wie Angler am See, die am Abend ihre gefangenen Fische zählen, und der Größte ist der, der am Abend mehr Fische hat als die anderen. Wenn wir kooperieren, dann zählt am Abend, was wir gemeinsam gefangen haben. Der Fisch, den ein anderer fing, ist dann nicht länger mein Verlust, sondern der gemeinsame Gewinn. Wir sehen hier, wie eine solche Haltung in der kirchlichen Region aussehen könnte: Die freiwillige Kooperation habe ich schon beschrieben. Daneben steht die Profilierung des Eigenen. Es ist ein fataler Leitungsfehler, Profilierungen möglichst einzuebnen. Man hat früher eher versucht, kirchliche Profile durch Kombination von Unverträglichem einzuebnen. Zum liberalen Pfarrer kommt dann die pietistische Kollegin. Ich halte das nicht für eine gute Idee. Sie fördert in der Regel auch nicht die kollegiale Haltung, die sie angeblich hervorbringt. 32
Vgl. Ibid., 95-102.
3. Mixed Economy
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Profilierung ist zugleich der Abschied vom parochialen Vollprogramm. Daran werden wir sonst ersticken. Mindestens unter städtischen Bedingungen ist Vollprogramm übrigens ein Konkurrenzkonzept. Alle tun alles, zuweilen mit kleinsten Zahlen, aber dafür haben wir „unseren Chor“ und ich „meinen Konfirmanden“. In kleinsten Verhältnissen sieht das zuweilen skurril aus, wenn eine Gemeinde auch noch mit ein, zwei Konfirmanden den eigenen Unterricht vorzieht, anstatt sich mit anderen zusammenzutun. Profilierung lässt mich tun, wozu ich begabt bin, und nimmt in Anspruch, dass andere anderes können, sodass ich nicht mehr alles tun muss. Zugleich wird aber die Profilierung gebändigt und gezähmt durch Ergänzung und Solidarität. Verlässliche Absprachen in der Region und die Bereitschaft, Schwächere zu stützen, gehören hierher. Das meint nicht nur materielle Ressourcen, sondern z. B. auch stellvertretendes Tragen von Lasten, das Angebot von Mitarbeiterschulungen für die ganze Region, die Entsendung von Mitarbeitern zur Unterstützung an anderer Stelle, wo gerade Not herrscht. Zugleich schließt diese Haltung ein, dem anderen nicht länger die kirchliche Form von Anerkennung zuzumuten: den Neid. Ich ertrage es, wenn „mein“ Konfirmand sich in der Jugendarbeit einer anderen Gemeinde wohl fühlt, wenn jemand nach einem Glaubenskurs doch nicht bei uns in der Bank sitzt oder wenn wir eben nicht einen florierenden Gospelchor haben. Ich plage mich aber auch nicht mit einem schlechten Gewissen, wenn unsere „fresh expression“ attraktiv ist für Ehrenamtliche aus der Region. Zentral ist das Vertrauen, die Absprache, die gemeinsame Planung der Leitungen in einer Region. Und dann können in einem solchen regiolokalen Miteinander eben neben den Parochien und den funktionalen Diensten auch andere mitspielen. So etwas versucht jetzt die mitteldeutsche Kirche mit ihren „Erprobungsräumen“. Ilse Junkermann hatte nüchtern festgestellt: „Wir sind am Ende unserer bisherigen Möglichkeiten.“33 Und dann forderte sie einen Umbau, einen Paradigmenwechsel. Sie will helfen, dass die Christen in Mitteldeutschland „Gemeinde neu finden“. 34 Darum nimmt die mitteldeutsche Kirche Geld in die Hand, das sie noch hat, und sagt: Wir wagen es mit „Erprobungsräumen“. 35 Wir helfen den Verantwortlichen in Projekten, die etwas Neues wagen: Kirche abseits der parochialen Strukturen, nicht nach volkskirchlicher Logik, nicht auf Hauptamtliche und kirchliche Gebäude und Kirchensteuer ausgerichtet. Gemeinschaften, 33
Ilse Junkermann 2014, 2. Ibid., 3. 35 Vgl. http://www.ekmd.de/kirche/landessynode/tagungen/24011.html – aufgesucht am 25.5.2015. Vgl. auch http://www.mitteldeutsche-kirchenzeitungen.de/2014/04/22/mutig-neues-ausprobieren – aufgesucht am 25.5.2015. 34
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
die wachsen wollen, im Glauben und an Zahl, Gemeinschaften, die sich als Teil der Mission Gottes verstehen, zum Segen der Kommune und als Hilfe für Menschen, die Hilfe brauchen, Gemeinschaften mit einem starken Ehrenamt, Gemeinschaften, die nicht mit festen Konzepten kommen, sondern ihr Kirchesein erst „neu finden“, in dem Kontext, in den sie sich gestellt sehen. Das sind klare Kriterien. Man kann sich als Projekt bewerben und muss dann mit einem Konzept überzeugen, das diesen Kriterien entspricht. Und natürlich stand bei diesen Erprobungsräumen die Idee der „fresh expressions of church“ Pate: Christen gehen in Gemeinschaft los und verwurzeln sich in einem sozialen oder kulturellen Kontext. Sie werden Nachbarn, dauerhaft. Sie richten sich ein und leben mit. Sie hören intensiv auf Gott und das, was Gott in diesem Kontext das Herz bricht und was er dort vorhat. Sie lassen sich auf Gemeinschaft und Freundschaft ein. Sie fragen, was sie mit anderen tun können zum Wohl ihres Kontextes. Und sie laden ein, hier an diesem Ort Jesus nachzufolgen. So entsteht allmählich eine neue Gestalt gemeindlichen Lebens. Und die ist keine Brückenlösung, sie zielt auf eine neue Gemeinde, nicht auf die Rückkehr in das Alte.36 Solche Leitungs-Entscheidungen machen Mut. Aber das Spannende ist nun, solche neuen kirchlichen Gemeinschaften in der Region auch zu begrüßen, zu beheimaten, einzubinden, zu koordinieren. Begrüßen – nicht argwöhnen. Beheimaten – oft geht es um schlichte Dinge wie Einladungen zu kirchlichen Treffen. Einbinden – ohne zu überfordern, denn die jungen Gemeinschaften haben meist keine Extra-Kräfte frei, aber wo es geht, können sie dabei sein, wenn die Kirche in der Region etwas gemeinsam unternimmt. Koordinieren – damit es nicht doch zu den üblichen Vorwürfen kommt. Der eine ist dann ein Schafdieb in den Augen des anderen, der andere ein kleinlicher Revierförster in den Augen des einen. Das ist der Alltag der „mixed economy“, wenn alle schönen Reden gehalten sind. Was man dabei sehen kann, ist eine Veränderung der Landkarte. Sie wird sicher unübersichtlicher. Wenn man sich einen traditionellen, mittelgroßen regionalen Raum heute vorstellt, dann gibt es dort vor allem Parochien. Diese sind nicht alle gleich, ihre Lage und Größe ist verschieden. Es gibt eine herausgehobene Kathedralkirche. Es gibt kleine ländliche Gemeinden. Es gibt seit den 1970er Jahren die vermehrten funktionalen Dienste, z. B. in Krankenhäusern, Schulen, Gefängnissen oder in der Jugendarbeit. Das regiolokale Bild der „mixed economy“ wird komplizierter, unübersichtlicher und ein bisschen chaotischer. Das parochiale Prinzip wird nicht aufgegeben, aber kirchliches Leben sortiert sich nicht mehr nur nach einem geographischen Muster, bei dem sich lauter Vollpro36
Vgl. Michael Moynagh 2012. Vgl. auch Hans-Hermann Pompe, Patrick Todjeras und Carla J. Witt 2016.
3. Mixed Economy
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gramm-Anbieter das Gelände teilen. Unser Alterungsprozess zwingt auch dazu, dort, wo sich kein Leben mehr regt, zu beenden und zu trauern. Auch das wird es weiterhin geben. Manche werden sich zusammenschließen und als fusionierte Gemeinden hoffentlich entspannter ihren Dienst tun. Am Ende steht dann hoffentlich ein Nebeneinander und Übereinander verschiedener Mitspieler in der regiolokalen Kirche: Da wird es natürlich die verlässliche Kirche im Nahbereich geben, mindestens an vielen Orten. Die Parochie als Modell hat keineswegs ausgedient. Es wird auch weiterhin einige Leuchtturm-Gemeinden geben, Gemeinden, die mit besonderem Profil viele anziehen. Die Durchlässigkeit der parochialen Grenzen ist längst Tatsache und wird eher zunehmen. Wenn es aber gut geht, werden diese Leuchtturm-Gemeinden der Region auch etwas zurückgeben und Verantwortung übernehmen, Ressourcen bereitstellen und nicht einfach nur ihr Wachstum zu Lasten der anderen genießen. Es wird „fresh expressions“ geben. Ich hoffe es jedenfalls. Manche werden unter dem Dach einer Parochie ein eigenständiges Gemeindeleben entwickeln. Andere werden quer zu den geographischen Mustern Gemeinde für bestimmte Milieus oder Zielgruppen sein. Ich sorge mich ein wenig, dass wir dabei in der Regel doch kleine fromme Freikirchen vor Augen haben, die mein Bedürfnis nach anbetender und harmonischer Gemeinschaft bedienen. Da ist der missionale Sterbeprozess noch nicht verstanden worden. „Fresh expressions“ mit Flüchtlingen werden anders aussehen als solche mit Universitätsprofessoren, die wiederum anders aussehen als die Jugendkirche, die sich wiederum unterscheidet von der Messy Church im Plattenbauviertel oder der Schulgemeinde oder der Gemeinde, die aus Menschen besteht, die im Klinikum Dienst tun. Es wird die funktionalen Dienste geben, die in solchen Debatten merkwürdig selten vorkommen. Vielleicht wird man sie wieder stärker an Ortsgemeinden koppeln, wie das die Idee der „kirchlichen Orte“ bei Uta Pohl-Patalong vorsieht. 37 Vielleicht entwickelt sich aber mancher funktionale Dienst, z. B. an einer Schule, auch zu einer „fresh expression“. Es wird die großen Kirchengebäude geben, zentrale Orte vor allem in den Städten, die mit ihrem attraktiven Angebot in die Gesellschaft hinein wirken. Es wird ländliche Gemeindekerne geben, Orte ohne einen Pfarrer, wo aber Ehrenamtliche geistliches Leben am Ort tragen. Sie 37
Vgl. Uta Pohl-Patalong 2004.
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
sind dazu ermutigt, entsandt und geschult worden. Die Pfarrpersonen in der Region fühlen sich für sie zuständig. Es wird Kasualgebiete geben, Gegenden, in denen wir zugeben, dass wir es zurzeit nicht schaffen, mehr als eine Grundversorgung zu leisten. Aber wir beten und bitten, dass sich auch dort z. B. ein Team findet, um neu anzufangen. Es wird hoffentlich Orte der Seelsorge und des Gebets geben, Gebetshäuser z. B. Vielleicht sammeln sich auch (kommunitäre?) geistliche Lebensgemeinschaften aufs Neue, neue Typen von Familie, z. B. auch in den verlassenen Pfarrhäusern, die auf diese Weise aufs Neue geistliche Kraftzentren in den Gemeinden werden, auch relativ unabhängige Hauskirchen, z. B. in einem Mehrgenerationenhaus. Das alles wird ein regiolokales, missionales Gebilde sein. Und sie werden miteinander zu tun haben: zusammen feiern, Mitarbeiter schulen, sich in Krisen unterstützen, sich gemeinsam öffentlich zu den Fragen der Region äußern. Es wird eine kleinere, unübersichtlichere Kirche sein, öffentliche Minderheits- und Missionskirche, eine regiolokale „mixed economy“. Dabei wird einiges sterben: manche kirchliche Gemeinschaft, mancher parochiale Ort, mancher in Zeiten des Reichtums begründete Dienst, manche „fresh expression“, die die ersten Wirren nicht übersteht. Es wird noch mehr sterben: vieles, was uns so vertraut ist, manches an kirchlicher Größe und an selbstverständlicher Geltung in dieser Gesellschaft, die schöne Übersichtlichkeit der kirchlichen Verhältnisse, das Monopol in Sachen Religion (ach, das ist ja schon tot!). Aber dann wird etwas Neues geboren, denn das Reich Gottes ist nahe, Jesus ist auferstanden, der Geist wohnt in unserer Mitte! Zum Schluss noch einmal von „evidence to anecdote“: Der reformfreudige Bischof von London war nicht immer ein Fan der neuen, oft charismatischen Aufbrüche. Sandy Millar, einem der Pastoren von HTB, hielt er vor: Was Ihr macht, ist letztlich doch wieder nur für die hippen, fitten, gut verdienenden jungen Leute der City. Was soll das aber bringen für unsere schwierigen Wohnviertel und die abgehängten Menschen? Da geht doch keiner hin. Miller fragte: Herr Bischof, wo hätten Sie uns denn gerne? Eher beiläufig nannte der Bischof ein Problemviertel mit einer am Boden liegenden Kirchengemeinde. Und Sandy Millar sagte: Dann gehe ich dahin. Seine Frau und er packten ihre Sachen und zogen in das besagte Viertel und bauten dort Gemeinde. Das hat den Bischof überzeugt. Das ist das Salz in der Suppe. Auch wenn andere vielleicht das eine oder andere Haar in der Suppe finden.
Literatur
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Literatur: Literatur Bedford-Strohm, Heinrich und Jung, Volker (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015 Brown, Callum: The Death of Christian Britain. Understanding Secularization 1800-2000. London 2001 Gallo, Carmine: Talk like TED: The 9 public speaking secrets to the world's top minds. London, Basingstoke and Oxford 2014. Hauschildt, Eberhard und Pohl-Patalong, Uta: Kirche. Gütersloh 2013 (Lehrbuch Praktische Theologie Bd. 4) Herbst, Michael: See und Fluss. LS 64 (2013), 14-15 –: Neue Gestaltungs- und Organisationsformen gemeindlichen Lebens. Brennpunkt Gemeinde 69 (2016), 82-86 Huber, Wolfgang: Kirche in der Zeitenwende. Gesellschaftlicher Wandel und Erneuerung der Kirche. Gütersloh 1998 –: Art. "Volkskirche, I. systematisch-theologisch". In: (Hg.): TRE. Berlin und New York 2003, 249-254 Junkermann, Ilse: Gemeinde neu finden – Vom Rückbau zum Umbau. VELKD-Informationen Nr. 145 (2014), 2-6 Karle, Isolde: Kirche im Reformstress. Gütersloh 2. Aufl. 2011 Moynagh, Michael: Do we need a mixed economy? In: Louise Nelstrop und Martyn Percy (Hg.): Evaluating fresh expressions. Explorations in emerging church. Norwich 2008, 177-186 –: Church for every context. An introduction to theology and practice. London 2012 Müller, Sabrina: Fresh Expressions of Church: Ekklesiologische Beobachtungen und Interpretationen einer neuen kirchlichen Bewegung. Zürich 2016 Pohl-Patalong, Uta: Von der Ortskirche zu kirchlichen Orten. Ein Zukunftsmodell. Göttingen 2004 Pompe, Hans-Hermann: Mitten im Leben. Die Volkskirche, die Postmoderne und die Kunst der kreativen Mission. NeukirchenVluyn 2014 (BEG Praxis) Pompe, Hans-Hermann, Todjeras, Patrick und Witt, Carla J. (Hg.): Fresh X. Frisch. Neu. Innovativ: Und es ist Kirche. NeukirchenVluyn 2016 (BEG Praxis)
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VIII. Neue Gestaltungs- und Organisationsformen
Wegner, Gerhard: Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas? Leipzig 2014 Zulehner, Paul: Wir sind Teil eines Anfangs. Von der Expertenkirche zu einer Kirche der Laien. In: Christiane Moldenhauer (Hg.): Stationen einer Reise. Beiträge zum zehnjährigen Bestehen des IEEG. Greifswald 2015, 10-19
Teil 2 Anwendungen in kirchlichen Praxisfeldern
IX. Church Planting – Was lernen wir von neuen Gemeindegründungen?1
Wer in den 1950er und 1960er Jahren in Westdeutschland aufwuchs, kannte in der Regel erst ein Fernsehprogramm, dann zwei. Er fuhr Volkswagen, Opel oder allenfalls Mercedes. Er wählte zwischen Äpfeln, Birnen und Bananen. Er las die örtliche Tageszeitung. Er hatte ein Telefon von der Post, und das hing fest an einer Schnur. Er schrieb mit dem Füller oder auf der Schreibmaschine. Er kannte ein italienisches Eiscafé und hatte schon mal von Pizza gehört. Zum Urlaub ging es an die Nordsee, ins Allgäu oder vielleicht an die Adria. Er gehörte zu seiner Kirchengemeinde und hatte demnach auch seinen Pastor/Priester. Wenn die Enkelkinder im Jahr 2012 das hören, können sie sich das kaum vorstellen. Sie wählen zwischen Hunderten Fernsehprogrammen, wenn sie nicht sowieso lieber bei YouTube surfen. Sie kaufen sich Litschis und Mangos. Sie lesen eine Zeitung ihrer Wahl auf dem iPad. Sie haben ein Smartphone, mit dem sie auch twittern, mailen, simsen, Fotos und Musik verwalten und sich den Weg zum nächsten Coffee To Go zeigen lassen. Wenn sie sich für den Glauben interessieren, schauen sie sich auf einem größeren Markt religiöser Möglichkeiten um. Die Tage zwischen Freitagabend und Sonntagabend heißen Wochenende, ein Gottesdienstbesuch gehört in der Regel nicht zu den Optionen, aus denen sie ihr Wochenendprogramm zusammenstellen. Mit der Nachbarschaft haben sie wenig „am Hut“; ihr Freundeskreis bildet sich in der ganzen Region aus Gleichgesinnten und Ähnlichgestimmten. Aus einer Welt der klaren, überschaubaren Vorgaben wurde eine Welt, in der Menschen aus einem bunten, zuweilen verwirrenden Angebot wählen können. Sie suchen, was zu ihnen passt. Sie nehmen Vorgegebenes nicht mehr einfach hin. Wie reagiert die Kirche auf diese Kultur, in der Vielfalt die Norm ist? Schafft sie auch ein breiteres Angebot gemeindlicher Lebensformen, sodass mehr Menschen das Evangelium kennen lernen und erleben können?
1
Leicht überarbeiteter Wiederabdruck aus „Lebendige Seelsorge“ = Michael Herbst 2013, 2-7.
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XI. Church Planting
1. Was bewegt die Kirche in England? 1. Was bewegt die Kirche in England? Die Kirchen in England würden an dieser Stelle einhaken und sagen: Genau das ist unsere Absicht. Wir wollen, dass möglichst viele Menschen das Evangelium hören und erleben können, wir möchten, dass möglichst niemandem durch unser Versagen der Zugang zum christlichen Glauben versperrt bleibt. Wenn in der Church of England ein Priester ordiniert wird, dann wird sein Auftrag so beschrieben: „The Church of England … professes the faith uniquely revealed in the holy scriptures and set forth in the catholic creeds, which faith the Church is called upon to proclaim afresh in each generation.“2 Dieser Auftrag wird heute neu gehört angesichts der beschriebenen kulturellen Umbrüche und auch angesichts der massiven kirchlichen Abbrüche, die in England nicht anders als in Deutschland zu einer zunehmenden Randstellung kirchlichen Lebens führen: der zurückgehende Gottesdienstbesuch, die geringere Zahl der (in Wählerlisten eingetragenen) Mitglieder, der Kontaktverlust zur nachwachsenden Generation. Callum Brown sprach sogar schon vom nahen Tod des christlichen Britannien.3 Auffällig ist aber, dass seit etwa 30 Jahren in der Church of England nicht (nur) struktureller Rückbau die Antwort auf diese Um- und Abbrüche darstellt, sondern auch ein gezielter, findiger und mutiger missionarischer Neuaufbruch. 2. Der Motor: Theologie der Mission 2. Der Motor: Theologie der Mission Ein zentraler Text der Church of England zur missionarischen Herausforderung erschien 2004: „Mission-shaped Church“. 4 Dieser Text ist sozusagen der „Harry Potter“ unter den theologischen Traktaten zur Entwicklung neuer und lebendiger Gemeinden. Er wurde einige zehntausend Male verkauft und wird bis heute intensiv diskutiert. Vier grundlegende Aspekte machen die Eigenart dieses Grunddokumentes anglikanischer Ekklesiogenese aus: 1. Zum einen ist der missionstheologische Ansatz bemerkenswert: Es geht um eine „mission-shaped church“ und nicht um eine „church-shaped mission“. Die Mission steht an erster Stelle – und der Mission soll die Kirche mit ihren Gemeinden dienen. Und diese Mission wird im Anschluss an die weltweite missionstheologische Neuorientierung in den 1950er Jahren als „missio dei“ verstanden. Nicht die Kirche betreibt zu ihrer eigenen Ver2
Zitiert bei Michael Moynagh 2012, vii. Vgl. Callum Brown 2001. 4 Vgl. die deutsche Übersetzung: Michael Herbst 2006. 3
2. Der Motor: Theologie der Mission
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größerung oder Erhaltung unter anderem Mission, sondern Gott selbst ist ein missionarischer Gott. Verankert ist diese Sicht in der Trinitätslehre: Gottes Sendungen gehören zu seinem Wesen. Er zeugt den Sohn und atmet den Geist. Diesen „immanenten“ Aussagen korrespondieren „ökonomische“: Der Vater sendet den Sohn in die Welt, Vater und Sohn senden den Geist. Und endlich kann es heißen: „Wie mich der Vater gesandt hat, so sende ich euch“ (Joh 20,21b). Nun wird die Jüngerschar einbezogen in die Sendung. Ihre Sendung nimmt Maß an der Sendung Jesu: Sie sei darum demütig und dienstbereit, sie helfe dem Menschen an Leib und Seele, ziele auf den Einzelnen und die Gemeinschaft, bleibe in ihren Mitteln gewaltfrei und geradezu wehrlos, nehme auch das Leiden in Kauf und erlebe dann auch österlich neues Leben. Sie münde am Ende darin, dass Gottes Volk Gott die Ehre gibt und ihn anbetet. Dazu ist die Kirche da – und alle ihre Strukturen, Ämter, Arbeitsformen und Vergemeinschaftungen dienen dieser Sendung in die Welt. Dann aber ist es nicht hinzunehmen, dass 7 von 10 Engländern sozusagen ohne jeden Kontakt zu Gemeinde und Glauben leben, teils „de-churched“ (kirchlich sozialisiert, aber dann entkirchlicht), teils „non-churched“ (völlig unkirchlich sozialisiert). Wie kann es aber gelingen, dass wir das Evangelium für jede Generation, jedes Milieu, jedes Lebensalter, jede religiöse oder nicht-religiöse Biographie, für Bildungsnahe und Bildungsferne verständlich machen und relevant erscheinen lassen? Wem bleiben wir das Evangelium schuldig, wenn wir nur das tun, was wir immer schon tun? 2. Zum anderen ist der Mut zum Experiment beachtlich: Aus missionarischen Gründen ist man in der Church of England heute (mit erstaunlich großer Zustimmung) bereit, Neues zu wagen. Ohne diese geistliche Motivation wäre der Aufbruch nicht zu verstehen – oder bliebe eine rein strukturelle Umbaumaßnahme, die kaum in der Lage wäre, den leichten Aufwärtstrend zu bewirken, den wir heute wahrnehmen können. Aber mit dieser missionarischen Motivation im Rücken war und ist man in England bereit, alle vorhandenen Strukturen in Frage zu stellen und grundlegend Neues zu wagen. Dabei spielt eine Feststellung eine besondere Rolle: Die Ortskirchengemeinde (Parochie) ist allein nicht mehr in der Lage, in alle Milieus und Segmente der Gesellschaft hineinzureichen und Menschen so zu dienen, dass sie einen relevanten und wirksamen Kontakt mit dem Evangelium bekommen. Es bedarf darum neuer Vergemeinschaftungen des Glaubens, die sich nicht am ortsgemeindlichen Prinzip orientieren. Aus missionarischen Gründen wird das Prinzip der flächendeckenden Versorgung durch Ortskirchengemeinden nicht ersetzt, aber ergänzt: durch „fresh expressions“. So entstanden allein in der Church of England in den letzten 15 Jahren einige Tausend solcher neuen
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XI. Church Planting
Formen gemeindlichen Lebens. Sie treffen sich oft in säkularen Gebäuden, haben ein intensives Gemeinschaftsleben und immer auch einen spezifischen missionarischen Fokus, bezogen auf eine Zielgruppe (Banker, alleinerziehende Mütter, Familien mit Migrationshintergrund, Menschen in einem sozialen Brennpunkt, Jugendliche in der Region, Akademiker usw.). Das Ganze ist sehr kreativ, durchaus in jeder Hinsicht plural, zunächst nicht immer stabil (nicht jede „fresh expression“ überlebt!), im Ergebnis aber lässt es die Gemeindelandschaft heute erheblich bunter und für mehr Menschen als früher anschlussfähig erscheinen. Es gibt nun selbstverständlich eine Basisversorgung mit örtlichen Kirchengemeinden, mal traditioneller, mal innovativer, mal konservativer, mal liberaler, gern auch mal anglokatholisch, in dieser oder jener Weise missionarisch. Daneben aber bilden sich vollwertige, auf Dauer angelegte, erklärtermaßen missionarische Gemeinden, die nicht einem geographischen Muster folgen und nicht immer durch eine Pfarrstelle versorgt werden: Gemeinden für Künstler, Gemeinden an Schulen, Gemeinden in sozialen Brennpunkten oder Cafés, eigenständige Zweite Programme unter dem Dach einer Parochie, regionale Netzwerke, ländliche Hauskirchen, Gemeinden in Polizeirevieren, an Surferstränden und in Backstuben, Jugendkirchen und Gemeinden für Banker in der City oder missionarisch geprägte Orden. 3. Drittens ist die episkopale geistliche Leitung auffällig: Ein Geheimnis des angelsächsischen Kirchenaufbruchs ist sicher die Unterstützung lokaler Initiativen durch die Bischöfe. Mehr noch, an vielen Orten gaben Bischöfe wesentliche Impulse und ermutigten zum Experiment mit alternativen Gemeindeformen. Wenn sich diese „fresh expressions“ als stabil erweisen und ihre anglikanische Kirchlichkeit nicht verleugnen, werden sie auch „lizensiert“ und somit zu gleichwertigen und gleichberechtigten Gestalten kirchlichen Lebens. Die Orientierung an der Diözese (und nicht vorwiegend an der Ortskirchengemeinde wie im deutschen evangelischen Kontext) ermöglicht vieles: Das episkopale Dach hält beieinander und erlaubt zugleich bunte Vielfalt, die sich jetzt in diesem größeren Raum entfalten kann. So kommen „bottom up“ (also lokale, regionale und netzwerkartige Initiativen) und „top down“ (also Leitung als Ermöglichung, Förderung, kritische geistliche Begleitung und Begrenzung) zusammen. Rowan Williams prägte den Begriff der „mixed economy“. Es ist ein sehr weises und seelsorgliches Motto, das der Erzbischof seiner Kirche verschrieb: Es steht für eine respektvolle Partnerschaft traditioneller und innovativer, parochialer und nicht-parochialer Gemeindeformen innerhalb der einen Kirche. Die englische Kirche lebt also von einem missionarischen „Zweitakt“: Jede Gemeindeform hat etwas dazu beizutragen, keine kann auf die andere
3. Vier Qualitätsmerkmale
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verzichten oder gar auf sie herabblicken. Im Idealfall tanzt die Kirche im Wechselschritt des Vertrauten und des Neuen. So soll schädliche Konkurrenz im Ansatz vermieden werden. 4. Viertens ist die Logik des Weizenkorns maßgeblich und nicht die Logik des Klonens. Man könnte ja leicht erfolgreiche „best practice“- Modelle importieren und auf diese Weise versuchen, die gemeindlichen Kontakte in die Lebenswelten zu verbreiten. In der „mission-shaped church“ wird Gemeindeentwicklung dagegen als ein Prozess verstanden, der vor Ort gestaltet wird. Es gibt so etwas wie eine „lokale Theologie“, die erst vor Ort mit den Menschen zusammen entdeckt und in Form von neuen gemeindlichen Ansätzen gelebt wird. Bewährte Modelle können adaptiert werden, aber sie stehen eher als Baukästen zur Verfügung. Die neu gepflanzte Gemeinde ist so kein „Klon“ irgendeines Vorbildes. Die Teams, die zu einer Gemeindepflanzung in einem Netzwerk oder in einer Nachbarschaft ausgesandt werden, werden ermahnt, nicht schon früh wissen zu wollen, wie diese neue Gemeinde aussehen wird. Das Team muss sogar bereit sein, im Blick auf die eigenen gemeindlichen Vorerfahrungen und Vorlieben am neuen Ort „zu sterben“. Denn nur das Weizenkorn, das stirbt, bleibt nicht allein, sondern bringt viel Frucht (Joh 12,24). So sollen die Teams auf Gott und die Menschen hören, ihnen dienen, Gemeinschaft pflegen – und dann erst erkunden, wie eine gottesdienstliche Versammlung und eine dauerhafte Gemeinde aussehen müssten. Sie ist weder mit dem identisch, was das Team schon mitbringt, noch mit der Kultur identisch, in die die Gemeinde hineingepflanzt wird. In der Begegnung des missionarischen Teams mit einem bestimmten kulturellen Segment wird sich durch das Evangelium etwas ganz Neues ergeben. 3. Vier wesentliche Qualitätsmerkmale 3. Vier Qualitätsmerkmale Die wesentlichen Merkmale einer „fresh expression“ können nach Michael Moynagh so zusammengefasst werden: Jede „fresh expression“ soll „missional“, „contextual“, „formational“ und „ecclesial“ sein.5 Die „missionale“ Qualität entspricht dem zur missio dei Gesagten. Kontextuelle Qualität hat eine „fresh expression“, wenn sie kultursensibel ist und in den jeweiligen Kontext eintaucht, in dem die Menschen leben, denen sie dienen soll. Zugleich soll deutlich werden, wie ein von Gottes Geist geformtes Leben in diesem Kontext aussehen kann. Aber dafür gibt es keine Schnittmuster: 5
Vgl. Michael Moynagh 2012, xiv-xviii.
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XI. Church Planting
Wir müssen auf den Kontext hören und auf Gott hören, den Menschen dienen – und dann mit ihnen zusammen fragen, wie Kirche an diesem Ort aussehen könnte. Eine „fresh expression“ ist „formational“, d.h. auf Bildung ausgerichtet: Diese Bildung zielt darauf, Menschen in der Nachfolge Jesu zu fördern. Das schließt zunehmende Kenntnisse ebenso ein wie die Einübung in ein geistliches Leben, aber auch die wachsende Durchdringung des Lebensstils mit dem Geist des Evangeliums. Dahinter steht auch die Einsicht, dass die Kirche keine Pfarrerskirche sein darf; dann aber muss sie investieren, um das Leben in der Nachfolge zu fördern. Es geht um einen Glauben, der im Leben Wurzeln schlägt. Wie Menschen im Glauben wachsen, ja erwachsen werden, findet mindestens so viel Aufmerksamkeit wie die Frage, wie sie zum Glauben finden können. Vertiefte Kenntnisse, aber auch Fragen eines christlichen Lebensstils gehören hierher. Und eine „fresh expression“ soll ekklesiogene Qualität haben. Sie zielt schließlich auf das Werden höchst verschiedener neuer Gemeinden in der Kirche. Die neuen Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens in der „mixed economy“ sind also auf Dauer ausgerichtet, sie sind keine Übergangslösungen, sie haben keine Brückenfunktion, bis die Menschen endlich im Eigentlichen, also in der parochialen Heimatgemeinde ankommen. 4. Und in Deutschland? 4. Und in Deutschland? Diese Überlegungen sind für uns Deutsche nicht mehr ganz neu. Man kann seit etwa 15 Jahren von den Veränderungen aus England hören und vieles nachlesen. Deutsche kirchliche Reisegruppen sind zu Studienreisen nach England gereist. Wenn sie zurückkamen, hatten sie auch gesehen, dass in England nicht das ekklesiale Schlaraffenland ausgebrochen ist, aber sie waren inspiriert. Hinzu kommt, dass wir in Deutschland eigentlich gute Voraussetzungen haben. Und doch ist es unter dem Strich auch bei einem sehr weiten Verständnis von „fresh expressions“ kaum möglich, eine größere Zahl deutscher Beispiele aufzuzählen. Christian Hennecke und Philipp Elhaus schreiben: „Doch so begeistert die Englandtouristen auch zurückkehrten, auf deutschem Boden wollten die Samen der neuen Gemeindeideen keine tiefen Wurzeln schlagen. […] Es fehlt der Humus einer missionarischen Kultur, die von geteiltem Leben und Christuszeugnis auf Augenhöhe geprägt ist. Unter dem Bodendecker der flächendeckenden Versorgung und der pfarramtlichen Zuständigkeiten können sich neue Gemeindeformen mit ihrem unklaren kirchenrechtlichen und finanziellen Status nur schwer entfalten. Hauptamtliche zeichnen sich eher
Literatur
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durch eine Siedler-, denn durch eine Pioniermentalität aus, die mutig und risikobereit Grenzen überschreitet und auch im Neuland aussät.“6 Ich schließe mit sieben Herausforderungen, die aus meiner Sicht beschreiben, was in unseren Kirchen nötig wäre, um von der anglikanischen Inspiration wirklich etwas zu gewinnen: 1. Wir brauchen den Mut zum Experiment und die Freiheit, Fehler zu machen. „It’s fine to fail“: Man kann scheitern, aber man sollte es versucht haben. 2. Wir brauchen eine vertrauensvolle Kooperation von Führung und Basis. Führung in der Kirche kann keine „fresh expressions“ anordnen, aber sie kann sie anregen, sie kann Bewegungen an der Basis fördern, unterstützen, Freiräume eröffnen, kritisch begleiten, auch einmal korrigieren und aus den Erfahrungen lernen. „Bottom up“ und „Top down“ können zusammenspielen. 3. Wir brauchen Pilotprojekte im Sinne der „mixed economy“: von der Kirche gewollte und unterstützte lokale und regionale Initiativen und Experimente, denen auf Zeit Freiraum, eine Lizenz zur Ekklesiogenesis gegeben wird. 4. Wir brauchen mehr Fantasie, wie wir z. B. milieubedingte Grenzen überschreiten können. 5. Wir brauchen einen Mentalitätswandel vom Streben nach Selbsterhaltung der Kirche weg und zu einem missionarischen Geist hin, der uns aufbrechen und um der Menschen willen Neues wagen lässt. 6. Wir müssen unsere Hauptamtlichen besser vorbereiten auf die Aufgabe, Kirche im 21. Jahrhundert mitzugestalten. Wir brauchen Aus-, Fort- und Weiterbildung nicht nur für „Siedler“, sondern auch für „Pioniere“. 7. All das lebt davon, dass wir selbst uns aufs Neue vom Evangelium begeistern und berühren lassen: Gott hat die Welt so geliebt, dass er alles aufopferte, sogar sich selbst in seinem Sohn Jesus, nur damit Menschen nicht verloren gehen, sondern das ewige Leben finden.7 Die Freude über diese Botschaft ist unsere Stärke. Literatur: Literatur Brown, Callum: The Death of Christian Britain. Understanding Secularization 1800-2000. London 2001 Elhaus, Philipp und Hennecke, Christian: Gottes Sehnsucht in der Stadt. Auf der ökumenischen Suche nach Gemeinden für mor6 7
Philipp Elhaus und Christian Hennecke 2011, 29. Nach Joh 3,16.
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XI. Church Planting
gen. In: Philipp Elhaus und Christian Hennecke (Hg.): Gottes Sehnsucht in der Stadt. Würzburg 2011, 17-37 Herbst, Michael: Church Planting – Was lernen wir von neuen Gemeindegründungen? LS 64 (2013), 2-7 – (Hg.): Mission bringt Gemeinde in Form. Gemeindepflanzungen und neue Ausdrucksformen gemeindlichen Lebens in einem sich wandelnden Kontext. Deutsche Übersetzung von: „Missionshaped Church. Church Planting and Fresh Expressions of Church in a Changing Contex“ (2004). Neukirchen-Vluyn 2006 (BEG Praxis) Moynagh, Michael: Church for every context. An introduction to theology and practice. London 2012
X. Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?1
Was ist das eigentlich für ein Amt, das Menschen anstreben, wenn Sie sich als Presbyterin oder Presbyter aufstellen lassen? Es ist vordergründig betrachtet ein Amt, das zur Leitung in der Kirche beauftragt. Wir haben an unserem Institut im Wintersemester 2016/17 ein Seminar angeboten zum Thema „Führen und Leiten in der Kirche“. Und seit einiger Zeit werden unsere Lehrveranstaltungen von den Studentinnen und Studenten evaluiert. Die Integrierte Qualitätssicherung unserer Universität schickte mir die Ergebnisse mit einem freundlichen Anschreiben. Und wenn Tippfehler zeigen, was uns gerade wirklich durch den Kopf geht, dann ist es vielsagend, dass das Seminar im Anschreiben „Führen und Leiden in der Kirche“ versprach. Aus Leiten wird Leiden. Ist das die Moral von der Geschicht’: „Wer leitet, leidet?“ Manchmal, werden vielleicht einige sagen. Manchmal auch nicht. Schon, wenn es mit den Beziehungen im Presbyterium hakt. Wenn zwei nicht miteinander können. Wenn das Geld knapp wird. Wenn der Kirchturm wankt. Wenn wir immer weniger Jugendliche haben. Dann kann aus Leiten schon einmal Leiden werden. Und wenn uns wieder einmal deutlich wird: Wir leben nicht gerade in Zeiten kirchlicher Hochkonjunktur. Uns fliegen nicht unbedingt die Herzen zu. Wir tun uns schwer, Menschen anzuziehen und zu beheimaten. Nur wenige finden den Weg in den Gottesdienst. Und im Bekanntenkreis oder in der Firma muss man schon etwas Aufwand treiben um zu begründen, warum man ausgerechnet bei der Kirche mitmacht. In Artikel 35 der Westfälischen Kirchenordnung 2 (EKvW) heißt es: „Presbyterinnen und Presbyter sind berufen, die Kirchengemeinde in gemeinsamer Verantwortung mit den Pfarrerinnen und Pfarrern zu leiten. […] Ihren Gaben und Kräften gemäß sollen sie in den mannigfachen Diensten der Gemeinde mitarbeiten.“ Und bei Ihrer Einführung in diesen Leitungsdienst haben Sie ein Versprechen abgegeben (Artikel 36 [2]): „Ich gelobe vor Gott und dieser Gemeinde, das mir übertragene 1 Unveröffentlichter, für die Drucklegung überarbeiteter Vortrag beim Tag der Presbyterinnen und Presbyter der Evangelischen Kirche von Westfalen in Dortmund am 11. Februar 2017. 2 Vgl. https://www.kirchenrecht-westfalen.de/document/5732 – aufgesucht am 21. Juli 2017.
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X. Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?
Amt im Gehorsam gegen Gottes Wort gemäß dem Bekenntnisstand dieser Gemeinde und nach den Ordnungen der Kirche sorgfältig und treu auszuüben. Ich gelobe, über Lehre und Ordnung in dieser Gemeinde zu wachen, die mir anvertrauten Aufgaben und Dienste zu übernehmen und dazu beizutragen, dass in der Gemeinde Glaube und Liebe wachse.“ Die Frage, wie sich die Gemeinde entwickelt, ist eine der Kernaufgaben unseres Leitungsdienstes. Leiten bedeutet nicht (nur), dass der Keller im Gemeindehaus trocken ist und der Haushalt stimmt. Leitung der Gemeinde schaut immer auch über den Tellerrand: Was ist unsere Rolle in unserem Lebensraum, in diesem sozialen Umfeld unseres Dorfes oder unserer Stadt? Wen erreichen wir und wen nicht? Und wer würde uns vermissen, wenn es uns nicht mehr gäbe? Kurzum: Wie gut tun wir, wozu uns Gott an genau diesen Ort gesandt hat? An dieser Stelle werden diese Themen in einer Frage gebündelt: Ist unsere Gemeinde attraktiv? 1. Was haben „Attraktivität“ und „Gemeinde“ miteinander zu tun? 1. Attraktivität und Gemeinde Es geht also um die Gemeinde, und diese Gemeinde ist attraktiv oder soll attraktiv werden oder soll geradezu eine Attraktion darstellen. Wie soll das zusammengehen? Was ist eine Attraktion? Nun, wenn es nicht um Erdanziehung geht, dann geht es um besondere Sehenswürdigkeiten, die viele Menschen anziehen, wie der Eiffelturm in Paris oder das Ozeaneum in Stralsund. Das sind Publikumsmagneten – aber unsere Kirchengemeinde? Mancher Spötter würde hier eher von Merkwürdigkeiten als von Sehenswürdigkeiten sprechen. Und wen oder was nennen wir attraktiv? Auch da ist die Antwort einfach. Bestimmte Menschen erscheinen uns unmittelbar als attraktiv. In der Regenbogenpresse geht es andauernd um die gerade besonders attraktiven, schönen, beneidenswerten und begehrenswerten Menschen. Und wer das liest, stimmt ein und sagt: „Also, der George Clooney, das ist ein attraktiver Mann“. Attraktiv finden wir auch die kleinen elektronischen Spielzeuge, die seit 10 Jahren unseren Alltag revolutionieren. Wenn Sie wissen wollen, wie attraktiv das iPhone 7 ist, müssen Sie mal mit einer 16jährigen darüber diskutieren, warum sie ohne dieses Smartphone eigentlich keinen Grund zum Weiterleben sieht. Alles das nennen wir „attraktiv“. Es attrahiert, es zieht uns an, mächtig, verlockend. Wir müssen gar nicht mehr groß überredet werden. Für das neue iPhone kampieren Menschen nächtelang in der Kälte vor einem AppleStore, um zu den Ersten zu gehören, die das kostbare Stück in Händen halten können. Wann haben das letzte Mal Menschen vor Ihrer Kirche nachts kampiert, weil sie unbedingt am Morgen die Ersten im Gottes-
1. Attraktivität und Gemeinde
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dienst sein wollten oder fürchteten, sonst keinen Platz mehr zu bekommen? Nun könnte man sofort widersprechen, weil dieser Vergleich allzu unangemessen erscheint. In der Kirche würden manche äußersten Wert darauf legen, dass wir uns nicht mit einem Apple-Store vergleichen. Dann wollen wir gar keinen „Hype“ auslösen. Vielleicht ist es uns eher suspekt, wenn Kirche sich so um jeden Preis attraktiv machen will. Vielleicht sagen wir: Hier geht es doch nicht um Showbusiness, hier geht es um das Wort vom Kreuz. Vielleicht muss uns dann aber doch eine Passage aus dem Lukasevangelium irritieren. In Lukas 8,4 heißt es nach der Übersetzung der Basisbibel: „Eine große Volksmenge versammelte sich um Jesus und aus allen Orten strömten die Leute zu ihm.“ Das klingt schon ein bisschen nach Apple-Store. Danach fährt Jesus über‘n See und zurück, und bei seiner Rückkehr heißt es (Lk 8,40+42): „Jesus kehrte auf die andere Seite des Sees zurück. Dort empfing ihn die Volksmenge. Alle hatten auf ihn gewartet.“ Und: „Unterwegs wurde Jesus von der Volksmenge fast erdrückt.“ Ähnliches kennen wir aus der Geschichte von der Heilung des Gelähmten in Kapernaum: Das Haus ist so voll, dass die Freunde den Gelähmten nur mittels Sachbeschädigung bzw. Dachbeschädigung zu Jesus schaffen können (Mk 2,1-12). Kurzum: Jesus zog Menschen an. Zugegeben, manche wandten sich auch schnell wieder ab. Manche stieß ab, was er zu sagen hatte. Aber viele zog er in den Bann. Sie klebten an seinen Lippen. Sie suchten seine Nähe. Sie mussten ihn sehen. Auch wenn sie später kopfschüttelnd weggingen: Er hatte etwas zu sagen, das äußerst wichtig war, er konnte ihr Herz auf merkwürdige Weise berühren und ihren Verstand erreichen. Dem wollte sich kaum jemand entziehen. Und stets erzeugte er eine kräftige Resonanz oder Repulsion3: eine völlige Neuausrichtung des Lebens oder aber ein klares Nein, mal wütend, mal traurig. Attraktiv zu sein, bedeutete für Jesus also nicht: immer zum Ziel zu kommen. Aber fraglos: Er zog die Menschen an. Und von den ersten Gemeinden hören wir Ähnliches: Sie zogen Menschen an. Sie waren attraktiv, obwohl sie nicht aus Menschen bestanden, die vordergründig besonders anziehend waren. Aber was sie sagten, und wie sie von Jesus erzählten, wie sie lebten, was sie sagten, und wie sie sagten, wovon sie leben – das zog Menschen an. Darum stellt sich schon die Frage: Gibt es in unseren Gemeinden, die sich ja mit der Zusage Jesu trösten, er sei alle Tage bei uns bis an der Welt Ende (Mt 28,20), einen Abglanz dieses Lichtes, ein Weiterwirken dieser Anziehungskraft, ein vernehmbares Weiterklingen der lebenswichtigen Dinge, die Jesus zu sagen hatte, sodass bis heute und in alle Zukunft hinein Jesus der Grund ist, der unsere Gemeinden attraktiv 3
Vgl. Hartmut Rosa 2016.
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X. Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?
macht, und Jesus das Motiv ist, warum uns die Anziehungskraft unserer Gemeinden nicht gleichgültig sein kann? Unser Thema provoziert: Wie attraktiv in diesem guten Sinn sind unsere Gemeinden? 2. Gemeinde und Attraktivität – ein paar „zweite“ Gedanken 2. Zweite Gedanken Nun kann man diesen Begriff der Attraktivität noch ein bisschen weiter ausleuchten, und dann kommen ein paar Fragen auf, die für den weiteren Weg unserer Gemeinden wichtig sein könnten. 2.1 Wer anziehend sein will, will nicht „unter sich“ bleiben. Wenn wir ganz zufrieden sind mit denen, die schon – oder noch? – da sind, dann spielt es kaum eine Rolle, ob wir anziehend sind. Wer kommen will, weiß doch, wo er uns finden kann. So kann man es gelegentlich in kirchlichen Diskussionen hören. Aber wir können nicht unter uns bleiben wollen. Es widerspräche unserem Auftrag. Die Bekenntnissynode von Barmen hat 1934 erklärt, die Gemeinde Jesu müsse „allem Volk“ die Botschaft von der Gnade Gottes bringen (6. These der Barmer Theologischen Erklärung).4 Es widerspräche aber nicht nur unserem Auftrag, es schädigte auch uns selbst: Wir würden uns ja auf Dauer selbst abschaffen. Wir würden im Herzen getroffen: So unwichtig ist das alles hier, dass wir ruhig immer weniger und immer älter werden dürfen. So können wir nicht denken, wenn wir unsere Leitungsaufgabe ernst nehmen. Unsere Erfahrung in der Erforschung der Lebenstüchtigkeit von Gemeinden, also ihrer Vitalität, führte uns immer wieder zu einer zentralen Einsicht: Gemeinden, die aufhören, um sich selbst zu kreisen, gesunden, werden vitaler, blühen oft geradezu auf.5 Sie tun den entscheidenden Schritt „from maintenance to mission“, wie es der amerikanische Theologe Patrick Keifert ausdrückt.6 Wer anziehend sein will, kann nicht „unter sich“ bleiben wollen. John Ortberg bringt das ebenfalls auf den Punkt: „This is the amazing thing about the church […]: The church does not exist for the sake of the people who are inside; it exists for the sake of the people who are not inside yet.“7
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Vgl. Alfred Burgsmüller und Rudolf Weth 1984. Vgl. z. B. Robert Warren 2008. 6 Vgl. Patrick Keifert 2006. 7 Predigt zum Thema „Flourish – Everybody’s welcome“ vom 29.1.2017. Die Predigt findet man auf der Homepage der Menlo Church = http://mppc.org – aufgesucht am 2. Februar 2017. 5
2. Zweite Gedanken
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2.2 Wer anziehend sein will, merkt, dass uns die Menschen nicht mehr „frei Haus“ geliefert werden. Wenn alle wie von selbst in die Kirche strömen, dann muss man sich keine besonderen Gedanken über die Attraktivität machen. Manchmal träumen Kirchenleute von den „guten alten Zeiten“, in denen die Kirchen voll und die Pastoren angesehene Leute waren. Nun würde ein schärferer Blick zeigen, dass diese Zeiten vielleicht nicht ganz so gut waren, wie unser verklärter Rückblick meint. Tatsache aber ist: Es ist schwieriger geworden. Es sind noch gut 27 % der Menschen im Land evangelisch und knapp 29 % katholisch. Die größte Konfession im Land sind aber die Konfessionslosen. Und die noch dazu zählen, strömen auch nicht übereifrig in unsere Kirchen und Gemeindehäuser. Und ein genauerer Blick zeigt auch: Das geht einher mit einem sehr lockeren inneren Verhältnis zum christlichen Glauben. Und schlimmer noch: Je jünger die Menschen sind, desto ausgeprägter ist ihre Distanz zu Glauben und Gemeinde. Für die Church of England war es ein wesentliches Eingeständnis, als man noch einmal neu die Aufgabe der Kirche in den Blick nahm: „They are no longer ‚our people‘.“8 Die Menschen „gehören“ uns nicht mehr. Wir müssen sie gewinnen. Einen nach dem anderen. Und wir müssen sehr ernst fragen, welche Hindernisse wir den Menschen in den Weg legen, die ihnen den Zugang zum Evangelium versperren. Gemeinden sind oft nicht gerade barrierefrei. Oder anders gefragt: Wer wird nie vom Evangelium erfahren, wenn wir nur machen, was wir immer schon machen? Nur am Rande bemerkt: Eines unserer größten Probleme ist, dass wir mit dem, was für uns zentral ist, immer unsichtbarer werden. Wir geraten gar nicht mehr auf den Radar der Menschen. Will sagen: Wenn heute eine durchschnittliche evangelische Familie ihr Wochenende plant, dann ist der sonntägliche Gottesdienst nicht einmal eine Option. Er taucht auf der Liste der Möglichkeiten nicht einmal auf – so weit ist „Kirche“ für den längsten Teil des Jahres und des Lebens an den Rand gerückt. Relevant ist, was Aufmerksamkeit bekommt. Dann kann es Zustimmung oder Widerstand geben. Schlimmer als Widerstand ist Gleichgültigkeit. 9 Kirche, Glaube und Gottesdienst sind dann nicht einmal mehr ein Thema, über das man sich aufregen könnte. Und wenn wir uns dann zusätzlich selbst zurückziehen und unsere Präsenz etwa in peripheren ländlichen Regionen ausdünnen, dann verschärfen wir selbst diesen Trend erheblich.10 Es gibt Institutionen, die sich nicht darum kümmern müssen, ob sie attraktiv sind. Ihnen entgeht man einfach nicht. Ich glaube nicht, dass es 8
Church House Publishing 2004, 39. Vgl. Katja Kleinsorge 2008, 141-153. 10 Vgl. Thomas Schlegel und Martin Alex 2012. 9
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X. Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?
eine Vortragsreihe „Attraktives Finanzamt“ gibt. Andere Institutionen besaßen einmal diese fraglose Anerkennung und mussten sich dann auf veränderte Verhältnisse einstellen. Seitdem der Minister von Guttenberg die Wehrpflicht abschaffte, muss sich z. B. die Bundeswehr um Rekruten bemühen. Sie steht vor der ambitionierten Aufgabe, einen lebensgefährlichen Beruf attraktiv zu machen. Damit hat, soziologisch gesprochen, die Bundeswehr teilweise den Schritt von einer Institution zu einer Organisation getan. Ihr gehören die 18jährigen männlichen Bewohner Deutschlands nicht mehr automatisch, sie muss um sie werben. Für andere war es nie anders: Wer einen Sportverein betreibt, weiß: Ich muss junge Menschen begeistern, damit sie unter zig Optionen gerade meinen Sport wählen – wenn sie nicht generell sagen: „Sport ist nicht so mein Ding.“ Für die Kirchen gilt Ähnliches. Es gehörten einmal nahezu 100 % zu einer der Kirchen, auch wenn das noch wenig über eine innere Herzenshaltung und eine praktische Lebensführung sagte. Kirchen waren Institutionen. Und in gewisser Weise sind sie es noch. Das sieht man z. B. an bestimmten Privilegien wie dem Religionsunterricht. Aber sie wurden auch wie die Bundeswehr zu Organisationen: Sie müssen die Menschen erst gewinnen, also überzeugen, erreichen und beheimaten – das heißt aber auch: anziehen. Sie sind nicht mehr so weit vom Sportverein entfernt: Ob jemand „Kirche“ wählt oder lieber sagt: „Ach, ich bin religiös eher unsportlich“, das steht nicht mehr einfach fest. 2.3 Wer anziehend sein will, wählt eine bestimmte Strategie: „Komm zu uns!“ Wer anzieht, ruft zu sich. Er sagt: Unsere Türen stehen für Dich offen. Wir hätten Dich gerne bei uns. Hier gibt es zwei Fragen zu bedenken: Zum einen: Wie intensiv richten wir uns darauf ein, dass Menschen zu uns kommen, die bisher nicht kommen? Das berührt unsere Gemeindekultur. Hier geht es um mehr als um werbende Veranstaltungen. Die brauchen wir auch. Aber sie werden scheitern, wenn sich unsere Gemeindekultur nicht mit den Veranstaltungen wandelt. Wir müssten also unsere Gemeinde mit den Augen der möglichen Gäste betrachten, die wir gewinnen wollen. Denn „Attraktivität“ ruht ausschließlich im Auge des Betrachters. Der andere, der erhoffte Gast, entscheidet am Ende, ob ihn etwas anzieht, abstößt oder schlicht und ergreifend kalt lässt. Wie also erlebt ein Gast unsere Gemeinde? Wer probehalber an einem Abend mit einem besonderen Event für Gäste durch sein Gemeindehaus, seine Kirche geht, kann sich ja durchaus fragen: Wie wirkt das alles, wie zugänglich ist es? Das Gebäude und die Atmosphäre, die Sprache und die Lieder, die Themen und der Respekt vor dem, der noch nicht glaubt, die Qualität von Kaffee und Keksen, die Dekoration und die Moderation, die überfallartigen Näherungen oder kühl-distanzierte Nicht-Beachtung. Wie ergeht es einem Menschen, der zu uns kommt? Attraktive Gemeinden
3. Jesus und die, die so gar nicht attraktiv sind
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sind sensibel und fragen die Gäste selbst, wie sie das alles erleben. Sie kreieren nicht ein paar schöne Events, erwarten dann aber, dass die Menschen begeistert, was uns immer schon begeisterte. Sie durchforsten ihre Gemeindekultur und sagen: Wir wollen uns dauerhaft zugänglich machen, möglichst barrierefrei, möglichst gastfreundlich, aufmerksam, gute Dolmetscher des Glaubens für die, die diese Sprache noch nicht sprechen. Und dann sagen sie guten Gewissens: Kommt doch zu uns! Zum anderen: Es gibt auch eine grundlegend andere Idee, wie das Evangelium unter die Leute kommt. Die „fresh expressions of church“ in England (und zunehmend bei uns) wollen sich von der „Komm-zuuns“-Strategie verabschieden. 11 „Gehen, um zu bleiben“ ist jetzt das neue, andere Motto. Christen gehen hinaus, verwurzeln sich als Christen in einem bestimmten Lebensumfeld, wo vor allem NichtKirchgänger zu Hause sind, leben dort, tun möglichst etwas Gutes für die und mit den Menschen und laden zum lebendigen mündigen Christsein ein. Dann erst bilden sie mit diesen neu gewonnenen Menschen eine neue, frische Ausdrucksform von Gemeinde – eine „fresh expression.“ Es geht also nicht darum, Menschen irgendwie und sei es auf Umwegen in der traditionellen Gemeinde zu beheimaten. Es geht darum, dauerhaft neue Gemeinden zu gründen – in einem sozialen Brennpunkt, in einer bestimmten kulturellen Szene, unter einer bestimmten „community" usw. Im Überschwang der Begeisterung meinen manche: Die „Komm-Strategie“ war gestern, die „Geh-Strategie“ ist heute. Oder sogar: Die örtliche Kirchengemeinde ist von gestern, der „fresh expression“ allein gehört die Zukunft! Aber das wäre töricht. Die klugen Bischöfe in England sagen: Wir brauchen beides, eine „mixed economy“, Kommen und Gehen, örtliche Kirchengemeinde und „fresh expression“. Darum ist es völlig in Ordnung, wenn wir heute über die Attraktivität von Gemeinden nachdenken. Sie sind nicht von gestern. Sie sind „heute“, und sie können ein gutes „Morgen" haben! 3. Wahrhaft anziehend: Jesus und die, die so gar nicht attraktiv sind 3. Jesus und die, die so gar nicht attraktiv sind Attraktivität entsteht also im „Auge des Betrachters“. Wir können uns nicht selbst für attraktiv erklären (auch wenn sich das mancher einbildet). Aber wir können natürlich entscheiden, wie und womit wir auf eine solche Resonanz hoffen. Wir können sozusagen wie der verliebte junge Mann, der die Schöne gewinnen möchte, vor dem Spiegel stehen und uns überlegen, was wir anziehen, wie wir vorgehen, wie wir uns benehmen wollen, in der Hoffnung, damit anziehend zu wirken. 11
Vgl. Michael Moynagh und mit Philip Harrold 2016.
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X. Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?
Für die Kirche und für unsere Gemeinden gibt es gute und weniger gute, angemessene und unangemessene Bemühungen um Attraktivität für andere, die noch nicht dazugehören. Wir können überzeugt sein, dass wir die beste Botschaft auf Erden haben, und doch enttäuscht wahrnehmen, dass wir niemanden erreichen, weil unsere Botschaft in einer Verpackung daherkommt, die eher abstößt oder kalt lässt als anzieht: Das Gemeindehaus ist ungemütlich und wirkt wie frisch aus den 1960er Jahren, der Tee ist dünn, die Begrüßung kühl, der Gast bleibt unbeachtet, die Sprache ist voraussetzungsvoll kirchlich, die Stories und Witze sind nur für Insider verständlich, die Dekoration von vorgestern oder/und lieblos, die Redner nicht so ganz von dieser Welt, die Musik hart an den Hörgewohnheiten der Gäste vorbei usw. Andererseits kann das alles natürlich hochmodern und professionell daherkommen, aber in der feinen Verpackung steckt kein Inhalt, der den Gästen irgendetwas zu sagen hätte, der für sie neu, relevant, verständlich und berührend wäre. Ältere werden sich an den Streit über die sogenannte Offene Jugendarbeit erinnern. Man wollte den Jugendlichen ein Umfeld bieten, in dem sie sich wohlfühlen, offene Räume, die sie auch selbst gestalten sollten. Und man wurde zugleich immer schweigsamer, fast schon verschämt, mit ihnen die Bibel aufzuschlagen, ihnen von Jesus Christus zu erzählen oder sie gar zum christlichen Glauben einzuladen. Es ist aber so (und auf dem Marktplatz und im Handel würde das niemanden überraschen): Wir können nur mit dem attraktiv sein, was der innerste Kern unserer Gemeinschaft ist, was uns zusammenbrachte und auf den Weg sandte. Wir können nur attraktiv sein, wenn wir den erhofften Gästen das geben, was uns anvertraut ist. Einer der ältesten Texte im Neuen Testament beschreibt diesen Vorgang sehr präzise. Da ist eine Kette von Empfangen und Weitergeben, die mit Jesus selbst begann und über Paulus bis zu uns reicht. Paulus schreibt (1 Kor 15,3-5 [Luther 2017]): „Ich habe euch weitergegeben, was ich auch empfangen habe.“ Und was ist das? „Dass Christus gestorben ist für unsere Sünden nach der Schrift; und dass er begraben worden ist, und dass er auferweckt worden ist am dritten Tag nach der Schrift, und dass er gesehen worden ist von Kephas, danach von den Zwölfen.“ Das ist uns anvertraut. In diese Kette der Zeugen sind wir hineingestellt. Das ist der innerste Grund für das Amt als Presbyterinnen und Presbyter: nicht zu verschweigen, dass es Gnade gibt, weil Christus an unserer Stelle und zu unseren Gunsten sein Leben geopfert hat. Keinem wollen wir das verschweigen, denn das hieße: Es gibt Menschen, die Gnade nicht brauchen oder der Gnade nicht wert wären. Keinem wollen wir das verschweigen: der trauernden Witwe nicht und der jungen Tauffamilie nicht, dem muslimischen Flüchtling aus Syrien oder dem Iran nicht, dem konfessionslosen Lehrer nicht und der Praktikantin im Kindergarten nicht, den vielen nicht, die bloß dem Namen nach zur Kirche gehören. Keinem wollen wir verschweigen, dass Gna-
3. Jesus und die, die so gar nicht attraktiv sind
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de, ein Leben mit Gott, Anerkennung trotz aller Schuld, Gewissheit ewiger Geborgenheit für ihn oder sie bereitliegt, greifbar nah. Dieser innerste Grund unserer Bemühungen um Attraktivität verdichtet sich in einer Begebenheit, die Matthäus erzählt (9,9-13): Jesus nähert sich einer Zollstation, und er sieht dort den Matthäus, den berüchtigten, korrupten Zollstellen-Verwalter sitzen. Und für jeden anständigen Menschen war klar: Der gehört nicht zu uns. Wie in jeder Gesellschaft gab es auch in Israel zur Zeit Jesu die klare Scheidung: Wir hier – die dort. Und für einen frommen Juden war klar: Wir hier und Gott bei uns – und „die“, Leute wie Matthäus, ohne Gott da draußen. Aber einer der aufregenden Aspekte des Evangeliums zeigt sich genau hier: Jesus irritiert wieder und wieder diese Idee des „wir“ gegen „die da“. Und die Trennungen gehen entlang der großen Linien von Bildung, Reichtum, Rasse, Geschlecht, Herkunft, Religion. Der Evangelist nennt die Unberührbaren seiner Zeit „Zöllner und Sünder“. Will sagen: Die Zöllner waren so tief unten, dass nicht einmal die offenkundigen Sünder mit ihnen zur selben Gruppe gehören wollten. Und alle erwarten nun, dass Jesus, wenn er sich schon dem Haus des Zöllners nähert, sagen wird: „Seht Euch das an! So tief kann ein Mensch sinken. Haltet Euch bloß fern von solchen Leuten! Steckt Euch bloß nicht an!“ Aber das tut Jesus gerade nicht. Er sagt nur: „Komm und folge mir.“ Das bedeutet: „Mir liegt an Dir, Matthäus. Folge mir.“ Die Leute sind wie vor den Kopf gestoßen. Wenn wir das nur als Kindergottesdienst-Geschichte hören, dann verpassen wir das Skandalöse, das wahrhaft Anstößige. Jesus, der heiligste Mensch, der je über die Erde ging, zieht gerade die an, die am weitesten von Gott entfernt sind. Aber die, die sich Gott so nah fühlen, sind von ihm enttäuscht, und die stößt er ab. Matthäus steht tatsächlich auf. Das ist bemerkenswert. Hätten wir es riskiert, ihn zum Gottesdienst einzuladen? Oder hätten wir gedacht: „Die Abfuhr ersparen wir uns!“? Dabei zeigt sich: Er war nur eine Bitte vom Reich Gottes entfernt. Das hat damit zu tun, dass Jesus mit Autorität ruft, mit Vollmacht, so dass sein Ruf das Herz aufschließt und den Willen weckt. Aber es zeigt auch: Seid nicht so sicher, wer von Gott so vorbereitet ist, dass nur ein Ruf nötig wäre, eine einzige Bitte. Und dann beginnt diese Kette: Empfangen und Weitergeben. Der Matthäus hat Freunde, die auch nicht besser sind als er. Und die lädt er ein. Etwas unsicher, fast verschämt fragt er Jesus: „Würdest Du auch kommen?“ Was wird Jesus sagen? „Du, lass gut sein, wir hatten schon genug Ärger mit Dir!“ Er sagt: „Gerne, ich hatte so etwas schon gehofft!“ Gnade, wo sie zu spüren ist, Gnade, die durch Worte und Gastfreundschaft, durch Sprache, Musik, die Qualität von Kaffee und Tee, die Dekoration und die Verständlichkeit hindurchstrahlt und darin Jesus bezeugt, ist attraktiv im Auge des Betrachters. Die Sünder und Zöllner zieht sie magnetisch an. Hier zeigt sich übrigens, wie persönliche Beziehungen und gute Veranstaltungen Hand in Hand gehen, eins das andere braucht, wenn Men-
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X. Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?
schen gewonnen werden sollen: die Freundschaft des Matthäus mit seinen Freunden und dann das Fest, bei dem Jesus auftaucht und spricht. Und mit dem ersten, der gewonnen wird, wird die Grenze überschritten in ein Milieu, das dem Glauben zuvor so fern erschien. Die Attraktivität von Gemeinden lebt von dieser Frage: Welcher Mensch ist vielleicht nur eine Bitte vom Reich Gottes entfernt? Für wen beten wir, um wen ringen wir? Welches Fest sollen wir feiern? Alles andere ist nur Dekoration.12 Dies in der Gemeinde zu verankern, ist die zentrale Aufgabe von Presbyterinnen und Presbytern. Hier Grenzen zu überschreiten, ist jedes Risiko wert. 4. Übungen in Attraktion: Was können wir denn tun? 4. Übungen in Attraktion Die folgenden Beispiele sind nicht erschöpfend. Was passt, ist vor Ort in einem geistlichen und praktischen Bindungsprozess zu erörtern: beten und nachdenken und recherchieren, also betend durch die Gemeinde gehen, Ideen zusammen entwickeln und dann etwas tun, nicht zu viel auf einmal, aber etwas in diese Richtung. Was können wir tun, damit mehr Menschen mehr Gelegenheiten bekommen, dem Evangelium zu begegnen? Warum ist das so? Es ist so, weil die Zeiten so schwierig sind. Was sich sonst bewährt hat, mag sich für einige immer noch bewähren, aber nicht mehr für alle. Unser Abstand zu vielen Menschen ist so groß, dass wir ehrlich sagen müssen: Wir wissen nicht, wie wir überhaupt wieder bei ihnen sichtbar werden und interessant erscheinen können. Kurse zum Glauben zum Beispiel sind großartig und haben schon vielen geholfen, wieder oder erstmals den Glauben zu entdecken. Aber sie sind nicht gut für jedermann. Die Gemeinden brauchen Phantasie und den Mut zum Experiment. Dabei sollten sie auch diejenigen ermutigen und ihnen einen Vorschuss an Vertrauen geben, die ungewöhnliche Wege gehen. Wir dürfen uns nicht im Bewährten selbst einsperren. Wir brauchen auch Vielfalt: Es ist keine gute Idee, wenn alle Gemeinden dasselbe machen. Wir sollten uns abstimmen und sagen: Wenn nur durch viele Gemeinden vielen Menschen eine passende Gelegenheit geschenkt wird, dann ist es nicht wichtig, ob sie zu uns, zum evangelischen Nachbarn, zur Landeskirchlichen Gemeinschaft oder zu den katholischen oder freikirchlichen Gemeinden gehen. Was könnte denn gelingen? Es sind nur zwei kleine Skizzen, aber vielleicht regen sie an:
12 Nach einer Formulierung des Erzbischofs von Canterbury, Justin Welby: http://player.premier.org.uk/media/t/1_62bd4w83/13105931 – aufgesucht am 9. Februar 2017.
4. Übungen in Attraktion
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4.1 Gottesdienst erleben Das ist ja jetzt wahrhaft „originell“: Gottesdienst, und zwar ganz normale Gottesdienste.13 Ich glaube, dass sich die Mühe um anziehende, schöne Gottesdienste lohnt. Gottesdienste, in denen nichts Aufregendes passiert. Gottesdienste, die wir aber selbst mit Freude feiern. Von denen wir mal montags im Büro erzählen. Zu denen wir mal einen Nachbarn oder Freund einladen. Es würde bei uns selbst die Vorfreude auf den Gottesdienst steigern, wenn wir nur ein paar Dinge beachteten: Können wir etwas an der Zugänglichkeit und Gastlichkeit unserer Gottesdienste ändern? Wollen wir uns vornehmen, einmal alles, was geschieht, zu überprüfen, ob es unnötige Barrieren errichtet? Und wollen wir immer, wirklich immer mit der Möglichkeit rechnen, dass ungeübte, dem Glauben noch ferne Menschen kommen und mit uns feiern?14 Hier ist auf zwei Initiativen zu verweisen, die genau so vorgehen. In der Willow Creek Community Church gibt es „first first Sundays“. First Sundays: der erste Sonntag im Monat. Und first first Sundays: Sonntage, die für manchen zum ersten Mal den Gottesdienst einschließen. Die Gemeindeglieder sollen verlässlich wissen, dass die für den Gottesdienst Verantwortlichen an jedem ersten Sonntag im Monat besonders darauf achten, dass Gäste einen Zugang zum Geschehen bekommen können. Es gibt vielleicht ein kleines Willkommenspaket mit Informationen über die Gemeinde. Es gibt guten Kaffee und frisches Gebäck. Die Musikauswahl wird eigens bedacht. Man wählt Themen für Lesungen und Predigt, die für unkirchliche Gäste interessant sein könnten. In der Church of England heißt dasselbe „Back to Church Sunday“:15 zurück zur Kirche, zurück zum Gottesdienst. In Manchester begann es vor mehr als 10 Jahren und dehnte sich immer mehr aus. Und es kamen tatsächlich Menschen, die man zuvor nie im Gottesdienst sah. Bischof Paul Bayes (Hertford) sagt es so: „Back to Church Sunday is simple. It‘s about inviting someone you know to something you love. […] It‘s a fantastic initiative that really does work.“16 Inzwischen gibt es das auch in Deutschland. Das EKD-Zentrum „Mission in der Region“ bietet regionale Begleitung für dieses Thema unter dem Label „Gottesdienst erleben“ an.17
13
Vgl. auch das Plädoyer für den normalen Gottesdienst bei Martin Nicol 2011. Das ist durchgängig ein Thema bei Timothy Keller 2012. 15 Vgl. Michael Harvey 2015. 16 www.churchofengland.org/media-centre/news/2013/04/registration-opens-forback-to-church-sunday-2013.aspx – aufgesucht am 9. Februar 2017. 17 Vgl. Hans-Hermann Pompe und Michael Wolf 2017. 14
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X. Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?
4.2 Familie fördern Im Frühjahr 2017 wurde eine neue Studie zur Glaubenserziehung in christlichen Familien vorgestellt. 18 Die beiden Forscher, Tobias Künkler und Tobias Faix, erinnern an eine einfache, aber folgenschwere Wahrheit: Wenn es um die Prägung eines jungen Menschen in Sachen Glauben geht, dann ist nichts auch nur annähernd so stark wie das, was Kinder in ihren Familien erleben oder eben nicht erleben. Nichts reicht an das heran, was in der Familie (in allen möglichen Ausprägungen dieses Begriffs) geschieht oder nicht geschieht, auch unsere Kinder- und Jugendarbeit nicht und unsere späteren missionarischen Bemühungen auch nicht. Kinder- und Jugendarbeit kann eine starke Hilfe sein, wenn sie im Einklang mit dem steht, was in der Familie geschieht, also von der Familie bejaht und begrüßt wird. Aber die primäre religiöse Erziehung in der Familie ist ein mächtiger Faktor und sagt viel über den weiteren Lebensweg im Glauben oder ohne Glauben oder in freundlicher Distanz, so dass der Glaube nur am Rande des Lebens vorkommt. Die 5. Kirchenmitgliedschaftsuntersuchung hat diesen Zusammenhang noch einmal deutlich gezeigt: Wer als Erwachsener recht regelmäßig zum Gottesdienst geht, kann meist auf eine prägende religiöse Erziehung zurückschauen.19 Umgekehrt muss man feststellen, dass Familien die Unterstützung der Gemeinde brauchen. Wenn andere es auch wichtig finden, dass ein Kind etwas von Gottes Liebe erfährt, beten lernt, die Gebote kennt und Vertrauen zu Jesus Christus fasst, dann wird es leichter, in der eigenen Familie den Glauben zu praktizieren. Und ebenso deutlich muss man sagen: Viele Familien fühlen sich mit der Aufgabe einer Erziehung im und zum christlichen Glauben völlig überfordert. Die Traditionen sind auch an dieser Stelle abgebrochen und müssen völlig neu aufgebaut werden. Dabei finden 66 % der Evangelischen im Westen und 71 % im Osten eine religiöse Erziehung der Kinder wichtig.20 Aber man kann ein deutliches Nachlassen nachweisen: Die religiöse Erziehung in den Familien flaut ab und wird brüchig.21 Michael Domsgen weist mit Recht darauf hin, dass damit die Weitergabe des Glaubens an die kommenden Generationen prekär wird.22 Besonders in eher kirchenfernen Familien wird kaum noch etwas an die Kinder hinsichtlich des christlichen Glaubens weitergegeben. Es ist schon merkwürdig, dass sich Überlegungen zur Gemeindeentwicklung nicht viel intensiver mit dieser Frage beschäftigen: Wie hel18
Vgl. Tobias Künkler und Tobias Faix 2017. Vgl. Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung 2015, 134. 20 Vgl. Ibid., 136. 21 Vgl. Ibid., 165. 22 Vgl. Michael Domsgen 2015, 171. 19
4. Übungen in Attraktion
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fen wir den Familien, zu Hause den christlichen Glauben einzuüben, zu feiern, zu bezeugen, zu erzählen, vorzuleben und den Kindern ans Herz zu legen? Ich will es einmal so in unseren kirchlichen Kontext einordnen: Bei jeder Taufe eines Säuglings nehmen wir Eltern und Paten das Versprechen ab, das getaufte Kind für einen eigenen Glaubensweg vorzubereiten. Und in vielen Gemeinden wird auch der Gemeinde das Versprechen abgenommen, Eltern und Paten dabei zu unterstützen. Und dann? Natürlich tun wir als Kirche unendlich viel: Wir haben den Kindergottesdienst, den Religionsunterricht, die evangelischen Kindergärten, die Konfirmandenarbeit und die christliche Jugendarbeit. Aber für die entscheidende Baustelle, nämlich das geistliche Leben in den Familien selbst, tun wir zu wenig. Und das ist auch in einer globalen Betrachtung unserer kirchlichen Lage bedrohlich: Keine Generation ist zurzeit dem Glauben ferner und der Kirche gegenüber distanzierter als die jüngsten Mitglieder der evangelischen Kirche. Das zeigt sich z. B. in der Neigung, aus der Kirche auszutreten. Je jünger unsere Kirchenmitglieder sind, desto entschiedener sind sie schon jetzt, der Kirche den Rücken zuzukehren.23 Was macht eine Gemeinde attraktiv? Wenn etwas Gutes für Kinder geschieht, dann öffnet das auch bei den Eltern eine Tür. Ich glaube aber, hier ist der nächste Schritt zu tun: etwas Gutes zu tun, das Eltern und Kinder in der Gemeinde den Glauben erlebbar macht, und etwas Förderliches zu tun, das Eltern und Kindern eine Vorstellung davon mitgibt, wie sie in der Familie fortsetzen können, was sie in der Gemeinde erlebt haben. Für das erste steht in der Church of England das Konzept der Messy Churches.24 Damit sind neue gemeindliche Formate gemeint, bei denen die Pointe darin besteht, dass Eltern und Kinder in der Kirche gemeinsam etwas erleben und nicht die Kinder in einen Kindergottesdienst „abgeschoben“ werden. Sie singen zusammen, beten zusammen, erarbeiten sich eine biblische Geschichte zusammen, feiern und essen zusammen. Die Messy Churches sind das zahlenmäßig stärkste Format der „fresh expressions of church“.25 Und für das zweite steht das Konzept von „Orange“.26 „Orange“ verknüpft gelb (das Licht der Gemeinde) mit rot (der Liebe in der Familie) und sagt: Da ist das Ganze mehr als die Summe der Teile. „Orange“ folgt der Idee, das, was Familien am Sonntag in der Kirche erleben, in die Woche hinein zu verlängern, durch Anregungen, durch Texte, Ge23
Evangelische Kirche in Deutschland 2014, 64. Vgl. Lucy Moore 2006. 25 Vgl. die Studie „The Day of small things“ = http://www.churcharmy.org/Groups/ 244966/Church_Army/Church_Army/Our_work/Research/Fresh_expressions_of/ Fresh_expressions_of.aspx – aufgesucht am 10. Februar 2017. 26 Vgl. Reggie Joiner 2012. 24
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X. Gemeinde – attraktiv in komplexen Zeiten?
bete, Rituale und Lieder, die ein realistisches Pensum an häuslichem Glaubensleben vorschlagen.27 Der gemeinsame Nenner: Die Gemeinde sucht Attraktivität, indem sie der geistlichen Förderung von Familien Priorität zumisst. Da gehören gute, geschulte und motivierte Ehrenamtliche hin, da ist eine freundliche Ausstattung der Räume nötig. Das ist mit Taufgesprächen und Kindergarten-Elternabenden zu verknüpfen. Wenn Sie jetzt sagen: „Das machen wir doch schon!“, dann ist es fein. Dann sage ich: „Weiter so!“ Denn so wird Gemeinde anziehend. Schluss Schluss Führt Leiten ins Leiden? Manchmal ja, manchmal geht es durch mühsame Ebenen oder tiefe Täler. Aber Leiten kann auch Leidenschaft verstärken: Leidenschaft für das große Geheimnis der Gnade. Und dieses Geheimnis ist es wert, dass wir unser Bestes geben, damit Menschen in einer komplizierten Welt im Glauben an Jesus Christus festen Boden unter die Füße bekommen. Wie heißt es in der Abendmahlsliturgie: „Unser Vorrecht und unsere Freude“ ist es, Gott zu loben – und Menschen in dieses Geheimnis einzuführen. Das macht Gemeinde Jesu attraktiv. Literatur: Literatur Bedford-Strohm, Heinrich und Jung, Volker (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individualisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015 Burgsmüller, Alfred und Weth, Rudolf (Hg.): Die Barmer Theologische Erklärung. Einführung und Dokumentation. Neukirchen-Vluyn 1984 Church House Publishing: Mission-shaped Church. Church Planting and Fresh Expressions of Church in a Changing Context. London 2004 Domsgen, Michael: Kommentar: Die kirchliche Form der Kommunikation des Evangeliums. In: Heinrich Bedford-Strohm und Volker Jung (Hg.): Vernetzte Vielfalt. Kirche angesichts von Individua-
27
Vgl. http://www.orangeleben.ch/index.php/was-bedeutet-orange-leben – aufgesucht am 10. Februar 2017
Literatur
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lisierung und Säkularisierung. Die fünfte EKD-Erhebung über Kirchenmitgliedschaft. Gütersloh 2015, 171-175 Evangelische Kirche in Deutschland (Hg.): Engagement und Indifferenz. Kirchenmitgliedschaft als soziale Praxis. V. EKDErhebung über Kirchenmitgliedschaft. Hannover 2014 Harvey, Michael: Creating a Culture of Invitation in your Church. London 2015 Joiner, Reggie: Lebe orange. Gemeinde und Familie – gemeinsam stark. Asslar 2012 Keifert, Patrick: We are here now. A New Missional Era. Eagle 2006 Keller, Timothy: Center Church. Doing Balanced Gospel-Centered Ministry in Your City. Grand Rapids 2012 Kleinsorge, Katja: Religion. Wozu? Das Phänomen religiöser Indifferenz. In: Sebastian Murken (Hg.): Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des Unglaubens. Marburg 2008, 141153 Künkler, Tobias und Faix, Tobias: Zwischen Furcht und Freiheit. Das Dilemma der christlichen Erziehung. Witten 2017 Moore, Lucy: Messy Church. Fresh Ideas for Building a Christ-centred Community. Abingdon 2006 Moynagh, Michael und Harrold, Philip: Fresh Expressions of Church. Eine Einführung in Theorie und Praxis. Gießen 2016 Nicol, Martin: Weg im Geheimnis. Plädoyer für den evangelischen Gottesdienst. Göttingen 3. Aufl. 2011 Pompe, Hans-Hermann und Wolf, Michael (Hg.): Gottesdienst erleben: Der Back to Church Sunday in Deutschland. Dortmund 2. Aufl. 2017 (ZMiR werkzeug Bd. 18) Rosa, Hartmut: Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung. Berlin 3. Aufl. 2016 Schlegel, Thomas und Alex, Martin (Hg.): Leuchtfeuer oder Lichternetz – Missionarische Impulse für ländliche Räume. NeukirchenVluyn 2012 (BEG Praxis) Warren, Robert: Vitale Gemeinde. Ein Handbuch für die Gemeindeentwicklung. Neukirchen-Vluyn 2008 (BEG Praxis)
XI. Reformen für die gestresste Kirche1
Ein iPad hat ein hoch interessantes Innenleben. Dort lebt und wirkt Siri, die hilfreiche Stimme aus der Apple-Welt. Man kann sie alles Mögliche fragen, nach dem nächsten Zug, nach einer Telefonnummer, dem aktuellen Trainer beim Hamburger Sportverein – und einiges mehr. Man kann sie aber auch verwirren. „Siri, wer sind deine Eltern?“ – Antwort: „Es gibt nur Dich und mich!“ „Wo kommst du denn her?“ – „Antwort: „Das steht doch auf dem Karton. Ich wurde von Apple in Kalifornien entwickelt.“ Etwas tiefer: „Was ist der Sinn des Lebens?“ – „Antwort: „Alles spricht dafür, dass es Schokolade ist.“ „Nochmal ernster: Was ist denn wirklich der Sinn des Lebens?“ – Antwort: „Das kann ich Dir im Moment nicht beantworten. Wenn Du mir jedoch etwas Zeit gibst, schreibe ich ein sehr langes Theaterstück, in dem absolut nichts passiert.“ O. K., dann versuche ich es so: „Glaubst Du an Gott?“ Ich gebe zu, das habe ich drei Male gefragt, hier sind die Antworten: 1. „Das frage ich mich auch oft.“ 2. „Menschen haben Religion. Ich habe nur Silizium.“ 3. „Ich schlage vor, dass Du Dich mit spirituellen Fragen an jemand anders wendest. Wie wäre es mit einem menschlichen Wesen?“ Jetzt wird es ernst: „Wie gefällt dir Hamburg?“ – Antwort: „Das möchte ich lieber nicht sagen, Michael.“ Nur auf eine Frage habe ich keine halbwegs brauchbare oder zitierfähige Antwort bekommen: „Kann man die Kirche reformieren?“ Keine Antwort. Siri fragte nach, meinte, sie habe die Frage nicht verstanden, verwies mich auf die Webseite meiner Kirchengemeinde, Schluss. Siri ist ratlos, wenn man sie nach der Reform der Kirche fragt. Und ich gebe zu: Ich im Grunde auch. Das ist vielleicht nicht der klügste Einstieg zu einem Vortrag, in dem der Vortragende genau diese Frage beantworten soll. Aber genau diese Frage hat mir in der Vorbereitung 1
Leicht überarbeiteter und gekürzter unveröffentlichter Vortrag beim Studientag für Kandidatinnen und Kandidaten für den Gemeindekirchenrat in Hamburg am 24. September 2016.
1. Kopfschmerzen mit einer Frage
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Kopfschmerzen bereitet. Hat die Kirche Zukunft? Kann man sie reformieren? 1. Kopfschmerzen mit einer Frage 1. Kopfschmerzen mit einer Frage Die Frage nach der – möglichen, wünschenswerten oder notwendigen – Reform der Kirche ist nicht nur schwierig; sie ist – so gestellt – auch nicht zu beantworten: 1. Denken wir an alles, was in unseren Ländern unter dem Namen „Kirche“ läuft, also diese Gesamtheit des organisierten Christentums, und fragen dann, ob all das Zukunft habe, dann übernehmen wir uns. Ob es die Institutionen noch geben wird, also unsere Landeskirchen, den Religionsunterricht und die Kirchensteuer, Mitgliedschaften in Millionengröße, kirchliche Sendungen im öffentlichen Radio, theologische Fakultäten, aber auch die Diakonie im Dorf und die Pfarrerin im Pfarrhaus gleich neben der Kirche – das können wir annehmen oder bezweifeln, je nach Haltung auch hoffen oder fürchten. Darum mühen sich viele, die für die Zukunft der Kirche hart arbeiten, ihre Finanzen sichern, ihre Strukturen umbauen, ihren öffentlichen Auftritt verbessern, ihre Gemeindearbeit organisieren, ihren Nachwuchs ausbilden. Und dann kann man sagen: Wahrscheinlich wird alles etwas kleiner, etwas bescheidener sein, aber doch lebensfähig. Hoffentlich wird es diese altehrwürdige und doch der Gegenwart verpflichtete große Einrichtung auch in 30, 50 oder 100 Jahren noch geben. Hoffentlich können wir das Richtige tun, um all das zu reformieren. 2. Vielleicht ist aber die Frage noch aus einem anderen Grund schwierig. Könnte diese Frage nicht auch problematisch sein, wenn wir sie isoliert stellen und unsere ganze Aufmerksamkeit dem Umbau und der Erhaltung eines großen religiösen Konzerns widmeten? Wenn es uns um die Kirche um der Kirche willen ginge? Nach einem schönen Vergleich von Fritz Schwarz ist der kirchliche Konzern nie sein eigenes Thema. Er ist nichts als die Krippe, in der Menschen den Heiland suchen und finden können:2 „Die Volkskirche ist nur Krippe für Jesus. Die Gestalt der Krippe ist menschlichen und historischen Zufälligkeiten unterworfen und hat nur darin ihre Bedeutung, dass Gott sich ihrer bedient. Wenn Gott sich aber der Volkskirche als Krippe für Jesus bedient, dann können wir auch für sie dankbar sein.“ Die Krippe ist also kein Selbstzweck. 2
Fritz Schwarz 1980, 86.
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XI. Reformen für die gestresste Kirche
Wir müssten also fragen: Wird es in Zukunft in der Kirche, wie auch immer sie aussehen wird, das geben, wozu sie da ist? Wird es lebendigen Glauben an Jesus Christus geben? Wird es aufopferungsvolle, kluge, dauerhafte Liebe geben, und zwar unter denen, die dazu gehören, wie zu denen, die nicht dazu gehören? Wird im Dorf, in den Medien, in der Stadt, in den Schulen, in der Öffentlichkeit, in der Nachbarschaft etwas vom Evangelium laut, so dass Menschen getröstet, getroffen, verändert, erneuert, ertüchtigt werden? Wird die Schönheit der Gemeinde als Leib Christi wahrnehmbar sein? Ich sage es mit Bezug auf die großen Worte, die wir zuweilen mit dem Stichwort „Kirche“ verknüpfen: Wird das, was in der Kirche lebt, so sein, dass wir mit Bill Hybels sagen können „The local church is the hope of the world!“?3 Oder dass wir mit Lesslie Newbigin (vor allem mit Blick auf örtliche Gemeinden) sagen können: Kirche ist „sign and agent and firstfruit“ des Reiches Gottes? 4 Noch etwas genauer: Christliche Gemeinden „are to be a sign, pointing men to something that is beyond their present horizon, but can give guidance and hope now; an instrument (not the only one) that God can use for his work of healing, liberating, and blessing; and a firstfruit – a place where men and women can have a real taste of the joy and freedom God intends for us all.“5 Oder mit George Hunsberger, einem der Theologen aus dem Netzwerk „Gospel and our Culture“: „The church represents the reign of God.“?6 Oder ebenso schön mit Martin Luther (im Großen Katechismus): Der Heilige Geist hat „eine besondere Gemeinschaft in der Welt, die die Mutter ist, die einen jeglichen Christen zeugt und austrägt durch das Wort Gottes […], und er erleuchtet die Herzen und feuert sie an, dass sie es begreifen, aufnehmen, daran hängen und dabei bleiben.“7? Nicht, dass mit diesen Fragen völlig bedeutungslos würde, ob Kirche als Institution und Organisation morgen auch besteht, aber bestehen soll sie nur, damit in ihr all das entstehen, leben, gedeihen und wachsen kann, was diese großen Worte über die Kirche sagen. Diese Wesensaussagen über die Kirche steuern dann aber auch, was wir im Blick auf Institution und Organisation für wichtig oder unwichtig, für förderlich oder schädlich, für gute Reform und für schädlichen Umbau halten. Und diese Aussagen über die Kirche lenken unsere ganze Aufmerksamkeit auf ganz bestimmte Aspekte des Kircheseins, die uns in be3
Bill Hybels 2002, 27. Lesslie Newbigin 1989, 27. Vgl. zur Erläuterung auch Martin Reppenhagen 2011, 140-145. 5 Lesslie Newbigin 1994, 33. Vgl. zum Zitat auch Martin Reppenhagen 2011, 141. 6 George Hunsberger 1998, 100. 7 Amt der VELKD 2013, 574 aus Luthers Auslegung des dritten Glaubensartikels im Großen Katechismus (1529). 4
1. Kopfschmerzen mit einer Frage
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sonderer Weise ans Herz gelegt werden, also erinnert, bekräftigt, aufs Neue wichtiggemacht werden. Ich kann dasselbe auch noch einmal in einer anderen Sprache verdeutlichen. Es gibt einen berühmten TED-TALK des Columbia-Professors Simon Sinek8: „Start with why“. Sinek vertritt die These, dass große Ideen nicht beim „Was“ oder beim „Wie“ beginnen, sondern beim „Warum“. „Start with Why!“ Sie überzeugen Menschen nicht zuerst mit einem „Was“, sondern mit einem „Warum“. Sinek bietet berühmte Beispiele wie den Erfolg von Apple, den Gebrüdern Wright als Pionieren der Luftfahrt und Martin Luther King. Zu Letzterem haben wir vielleicht am ehesten Zugang. Martin Luther King, so Sinek, hat zu 250.000 Menschen in Washington gerufen: „I have a dream!“ Er hat nicht gerufen: „I have a plan!“ Anders gesagt: Er hat nicht zuerst von bestimmten Veränderungen, Forderungen, Handlungen geredet, er hat nicht ein „Was“ oder „Wie“ ins Zentrum gerückt, sondern ein „Warum“. Ich habe einen Traum, wie dieses Land aussehen könnte. Das nennt Sinek den „golden circle“. Es geht um so etwas wie eine Berufung, einen Sinn, eine Mission. Menschen suchen und akzeptieren nicht ein „Was“ oder „Wie“, wenn sie uns das „Warum“ nicht abkaufen. Darum ist es keine gute Idee, mit dem „Was“ zu beginnen und vielleicht zum „Warum“ durchzudringen. Sinek empfiehlt genau den umgekehrten Weg: Start with „Why“! Wir können also über die Zukunft der Kirche von außen nach innen nachdenken: Was alles nötig ist an Pfarrstellen, an Häusern, an Aktivitäten, und wie wir das alles bewerkstelligen können, um dann zu sagen: Ach ja, und übrigens, das ist alles auch furchtbar wichtig! Oder wir können von innen nach außen nachdenken: Jesus hat uns einen Traum vom Reich Gottes in Kopf und Herz gesetzt, und wir träumen von einer Gemeinde, die ein Zeichen des Reiches, ein Vorgeschmack des Himmels oder eine Agentin des neuen Lebens sein kann. Übrigens, wir hätten auch ein paar Dinge darüber zu sagen, wie das geht und was wir dazu brauchen. Ich halte das für mehr als für eine Wortspielerei. Viktor Frankl hat einmal gesagt: „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie.“9 Auch Widrigkeiten. Schwere Zeiten. Dunkle Täler. Wer ein Warum hat, erträgt fast jedes Wie. Und auf unsere Kirchen im westlichen Europa kommt so einiges zu. Dazu gleich mehr. Wie ertragen wir das? Wie werden wir im Blick auf die Zukunft der Kirche neu ermutigt, vielleicht sogar begeistert? Wir brauchen ein Warum. Auch für die 8 Vgl. https://de.wikipedia.org/wiki/Simon_Sinek – aufgesucht am 21. August 2015. Vgl. auch Sineks eigene Seite: https://www.startwithwhy.com – aufgesucht am 21. August 2015. 9 Vgl. https://de.wikiquote.org/wiki/Diskussion:Viktor_Frankl – aufgesucht am 21. August 2015.
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XI. Reformen für die gestresste Kirche
Kirche. Das wäre mit Sicherheit ein spannender Abend, an dem sich Gemeindekirchenräte zusammensetzen und miteinander fragen: Was ist eigentlich das „Warum“ unserer Kirchengemeinde? Warum gibt es sie? Warum soll es sie morgen geben? Warum wäre es sicherlich nicht besser, wenn es sie nicht mehr gäbe? Warum sollten wir darum dieses und jenes neu anpacken, reformieren, um diesem „Warum“ näher zu kommen? 2. Das Warum: Lebendiges, mündiges Christsein 2. Lebendiges, mündiges Christsein Darum müssen wir dieses „Warum“ noch einen Moment genauer betrachten. Das Charakteristische der christlichen Religion besteht schon für Friedrich Schleiermacher darin, dass in ihr alles „bezogen wird auf die in Jesus von Nazareth vollbrachte Erlösung.“10 Eines Tages kam Jesus auf seiner dreijährigen Wanderschaft durch Kapernaum am See Genezareth. Matthäus berichtet das so:11 „Als nun Jesus am Galiläischen Meer entlangging, sah er zwei Brüder, Simon, der Petrus genannt wird, und Andreas, seinen Bruder; die warfen ihre Netze ins Meer; denn sie waren Fischer. Und er sprach zu ihnen: Folgt mir nach; ich will euch zu Menschenfischern machen! Sogleich verließen sie ihre Netze und folgten ihm nach.“ Jesus holt die beiden direkt aus ihrer Arbeit, und er gibt ihnen ein starkes „Warum“ für ihr Leben.12 Er stellt ihr komplettes Dasein auf den Kopf. Und er verändert damit die ganze Welt. Folgt mir nach und widmet euer ganzes Leben dem einzigen „Warum“, das zählt: Liebt Gott von ganzem Herzen und liebt euren Nächsten wie euch selbst. Folgt mir nach, sagt Jesus, und ihr werdet von Grund auf heil, getragen von purer Gnade, erfasst von einer gewaltigen Vision, erfüllt von starker Hoffnung über den Tod hinaus. Ihr werdet die Hungrigen speisen, ihr werdet die Kranken heilen, ihr werdet die Einsamen lieben, ihr werdet den Übersehenen dienen, ihr werdet mit den Verachteten feiern, ihr werdet den Lauf der Geschichte verändern und Lebensgeschichten auf den Kopf stellen, immer eine nach der anderen. Ich sende euch aus, als Menschenfischer. Ihr werdet das nicht als Einzelgänger tun. Ich forme aus euch eine starke Gemeinschaft. Ich unterweise euch. Ich gebe euch Autorität. Ich arbeite an eurem Charakter. Ich zeige euch, wie ihr in jeder Lebenslage zuversichtlich beten könnt. Ich helfe euch, den Willen Gottes zu erkennen und ihn zu unterscheiden. Ihr werdet stau10
Friedrich Schleiermacher 1830, §11. Mt 4,18-20. 12 Diese Gedanken schließen sich an eine Auslegung von John Ortberg zum Text vom Vision Weekend 2015 in der Menlo Park Presbyterian Church an: „About the why“. Vgl. http://mppc.org/speakers-and-presenters/john-ortberg – aufgesucht am 21. August 2015. 11
2. Lebendiges, mündiges Christsein
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nen: ihr, die ihr geistlich arm seid, das Leid der Menschen mitfühlt, nach dem Frieden strebt, nach Gerechtigkeit hungert, für all das viel Widerstand erleidet, ihr seid zu beglückwünschen. Ihr werdet Repräsentanten des Gottesreiches. Danach strebt, nach nichts strebt mehr als danach. Der Vater im Himmel sorgt für den Rest. Eure Gemeinschaft ist die Hoffnung der Welt. Eure Gemeinschaft ist ein Zeichen und Vorgeschmack des Reiches. Ihr seid meine Agenten – mein Plan A, und ich habe keinen Plan B. Das ist euer „Warum“. Das ist das, was ich baue, und die dunkelsten Mächte werden es nicht zerstören können. Jesus sagt nicht: Folgt mir, und ihr seid gerettet. Er sagt nicht: Folgt mir, und es wird euch richtig gut gehen. Er sagt: Folgt mir, und ich werde euch einsetzen, ich brauche euch. Und sie tun es, die beiden, und kurz danach ihre Freunde Johannes und Jakobus. Und so wird der Staffelstab weitergereicht, durch die Zeiten hindurch, bis heute zu uns. Ihr sucht ein „Warum“ für euer Leben und für die Zukunft eurer Gemeinden und der Kirche? Hier ist es: Folgt mir nach, ich will euch zu Menschenfischern machen. Wann ist eine Kirche alt, dem Untergang geweiht und ohne Zukunft: Wenn sie ihr „Warum“ verliert. Nicht wenn sie kleiner, ärmer und älter wird, aber wenn sie ihr „Warum“ verliert. Wenn sie Jesus aus den Augen verliert und damit die Menschen, zu denen er unterwegs ist, dann wird sie alt und hat keine Zukunft. Wenn sie keine Menschen in der Nachfolge, also keine lebendigen, mündigen Christen mehr hervorbringt. Wenn sie mit sich selbst beschäftigt und um sich selbst besorgt ist, dann wird sie alt und hat keine Zukunft. Der Anglikanische Bischof Steven Croft hat es in einer kleinen Auslegung der Bergpredigt ganz ähnlich gesagt: In den tiefen und schmerzhaften Umbauprozessen in der „Church of England“ sieht er die Herausforderung, sich nicht daran zu orientieren, wie Kirche früher war oder welche Träume für ihre Zukunft wir haben könnten. Er sieht traditionelle wie neu gegründete Gemeinden in derselben Herausforderung, tiefer zu graben und nach unserem „Warum“ zu suchen. Und dann sagt er: „Letztendlich kann es auf die Frage ‚Wie soll Kirche werden?’ nur eine Antwort geben: ‚Mehr wie Jesus.’“13 Der Bischof leitet seine Kirche, indem er sogar das Missionarische als Höchstwert ablöst. „Ich bete dafür, dass wir uns […] zu einer Kirche entwickeln, die mehr ist als nur missionarisch. Missionarisch sein ist von entscheidender Bedeutung, und es ist wichtig, dass wir diese Lektion beherrschen. Aber sie trägt uns nicht weiter als bis hierher. Meine Hoffnung ist, dass wir unseren Kompass wiederfinden, uns in unseren Gemeinden vom Wesen Jesu formen lassen und ihm mehr und mehr ähnlich werden.“14 So sieht er eine Zukunft für seine Kirche: nicht nur 13 14
Steven Croft 2012, 22. Ibid., 23.
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XI. Reformen für die gestresste Kirche
die nächste Zeit zu überstehen, sondern „zu blühen, zu gedeihen und Frucht zu bringen.“15 Ich sehe hier den Kompass für jede Reform: Wie kommen die Dinge in eine rechte evangelische Ordnung? Wie finden wir unser „Warum“? Wie werden wir zukunftsfähig und zugleich nicht hoffnungslos unseren eigenen Bemühungen ausgeliefert? Wenn zuerst Jesus kommt, mit allem, was er durch Kreuz und Auferstehung für uns ist, mit der ganzen Vollmacht, die ihm übertragen ist, mit der Nachfolge, in die er uns gemeinsam stellt, und wenn es dann um seine Sendung in die Welt geht, und wenn das unser Kirchesein formt, vom kleinsten Hauskreis über unsere dörflichen und städtischen Gemeinden, bis hin zu den funktionalen Diensten und neuen Ausdrucksformen von Kirche. Erst Jesus Christus, dann unsere Sendung, dann die konkrete Gestalt gemeindlichen Lebens. Erst das „Warum“, dann das „Was“ und das „Wie“. „Ich bete dafür, […] dass wir unseren Kompass wieder finden.“ 3. „Wer ein Warum zu leben hat, erträgt fast jedes Wie“ 3. Das Warum und das Wie Das alles gilt in einer Zeit, die kirchlich ungemütlich zu werden verspricht. Wir erleben ja eine durchaus gestresste Kirche. Wir können nicht darauf setzen, dass alles so bleibt, wie es ist, und dass die Kirche im Sinne der Gesamtheit des Christlichen relativ unversehrt auch über die Mitte dieses Jahrhunderts hinaus bleibt, was ist, und behält, was sie hat. Und ich erinnere uns daran: Wir haben ein „Warum“, wir werden darum auch unter veränderten Bedingungen Kirche sein, wenn auch kleiner und ärmer und in vielerlei Hinsicht anders. 3.1 Schrumpfende Kirche – Ein Blick auf Mitgliedschaftszahlen in Hamburg Ganz oberflächlich betrachtet, ist es ja so: Kirche in Hamburg wird kleiner, älter und ärmer.16 In Hamburg gehörte 2011 jeder zweite zu keiner religiösen Vereinigung, und die protestantische Hansestadt hat nur noch ein starkes Drittel Protestanten. Etwas genauer zeigen dasselbe Schrumpfen die EKD-Statistiken: Im Jahr 2004 gab es 32,2 % Protestanten, 10,1 % Katholiken in Hamburg, d.h. gut 2/5 (42,3 %) der Menschen hier gehörten zu einer der beiden großen Kirchen. Im Jahr 2014 waren es noch 27,9 % Evangelische und 10,8 % Katholiken. Der Anteil der Mitglieder in den großen Kirchen liegt jetzt nur noch bei 15
Ibid. Vgl. die FOWID-Grafik auf Grund des ALLBUS – aufgesucht am 22. September 2016: http://fowid.de/fileadmin/datenarchiv/Religionszugehoerigkeit/Reli_ zugehoerigkeit_Bundeslaender_02_04_11.pdf.
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3. Das Warum und das Wie
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38,8 %. Vergleichen wir einmal das Jahr 2014 mit der Zeit unserer Urgroßeltern, also dem Jahr 1880. Da waren 92,5 % der Hamburger Protestanten und 2,7 % Katholiken. Lang, lang ist’s her! Allerdings ist Mitgliedschaft nur das eine. Was Menschen über sich und ihren Glauben sagen, ist eigentlich spannender. Und da möchte ich mit Ihnen mal auf eine neuere Schweizer Studie schauen: 3.2 Säkulares Driften – Die Schweizer Spiritualitäts-Studie Diese 2014 erschienene Studie erlaubt uns einen anderen Blick auf die religiöse Landschaft.17 Die Schweiz ist ziemlich repräsentativ für das westliche Europa. Was wir dort sehen, wird sich in Hamburg nicht völlig anders darstellen. Jörg Stolz und sein Team haben 2008 und 2009 1.200 Menschen befragt (mit einem Fragebogen, also „quantitativ“) und dann noch einmal mit 73 Personen in halboffenen Interviews gesprochen (also „qualitativ“). Sie beobachten massive Verschiebungen in der Art und Weise, wie Menschen in der Schweiz mit Religion und Kirche umgehen. Dabei haben sie ihre Ergebnisse so gruppiert, dass zum einen die Haltung gegenüber institutionalisierter Religion betrachtet wird (also sozusagen der „Kirchenfaktor“), zum anderen aber die Offenheit für und die Erfahrung mit alternativen spirituellen Anbietern. Und dabei sind vier große gesellschaftliche Gruppen sichtbar geworden, jeweils mit einigen Untergruppen. Spannend sind die Prozentzahlen und noch spannender die prognostizierte Weiterentwicklung: Es gibt zuerst die „Institutionellen“, also Menschen, die wir als kirchlich betrachten, sei es katholisch, sei es (im Schweizer Normalfall) reformiert. Sie glauben an einen persönlichen Gott, an das ewige Leben usw. Und sie beten, gehen relativ regelmäßig zum Gottesdienst. Eine kleine Untergruppe, hier die „Freikirchlichen“ genannt, lebt den Glauben noch intensiver, sie sind tatsächlich freikirchlich, aber auch evangelikal oder charismatisch ausgerichtet. Insgesamt zählen in der Schweiz 17,5 % zu den „Institutionellen“. Daneben gibt es die „Alternativen“, spirituelle Wanderer mit einem weiten Spektrum. Sie glauben häufig an Reinkarnation und suchen Anschluss an die spirituellen Energien, die es hier und dort gibt. Sie glauben an diverse Heilungsmethoden und halten die Natur insgesamt für göttlich. 13,4 % der Befragten gehören hierher, nur 2,9 % sind aber tief überzeugte Esoteriker mit einem fest gefügten esoterischen Weltbild. Die größte Gruppe bilden die „Distanzierten“. Das sind 57,4 % der Befragten. Sie glauben durchaus an etwas, üben auch unre17
Vgl. zum gesamten Abschnitt: Jörg Stolz, Judith Könemann, Malory Schneuwly Purdie, Thomas Englberger und Michael Krüggeler 2014.
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XI. Reformen für die gestresste Kirche
gelmäßig religiöse Praktiken aus, feiern die großen Feste und sehen noch eine gewisse Verbundenheit mit den traditionellen Kirchen. Es gibt etwas Höheres, Gebet könnte helfen, man sollte anständig sein – aber dieser Glaube ist eher eine „fuzzy fidelity“, eine sehr unscharfe, nebelhafte Gläubigkeit. Es kann sie übrigens in jede Richtung treiben. Aus Distanzierten können Alternative und Säkulare werden, aber auch (seltener) kirchlich intensiver Verbundene. Und dann gibt es noch die „Säkularen“. Dazu zählen 11,7 % der Stichprobe, eine Minderheit ist dezidiert, manchmal sogar leidenschaftlich atheistisch, eine etwas größere Gruppe eher indifferent, schlicht unreligiös. Hier lebt man ohne religiöse Überzeugungen und Praktiken. Man betet nicht, geht nicht zum Gottesdienst. Das alles ist in ihren Lebenswelten auch völlig normal und eigentlich keiner Rede mehr wert. In Ostdeutschland wäre diese Kohorte deutlich größer. Nimmt man übrigens nur die reformierten Befragten für sich, dann verschieben sich die Zahlen noch mehr in Richtung Distanz und Säkularität. Das gleiche gilt, wenn wir alle jüngeren Befragten von den älteren trennen. Man kann nun einen Trend herausarbeiten, den Stolz mit dem Begriff des „säkularen Driftens“ bezeichnet. Das heißt, die Entwicklung geht nicht in Richtung verstärkter oder erneuerter christlicher Orientierung und kirchlicher Bindung. Der Trend geht in Richtung zunehmender Säkularität. Und es sind nur schwache Bewegungen in die andere Richtung zu erkennen. Wenn man also sieht, wie es in der Schweiz 1950 aussah, dann 2012 und vermutlich, wenn alles so weitergeht wie bisher, 2050, dann entwickelt sich die Schweiz zu einem mehrheitlich säkularen Land. Auch die „Alternativen“ altern und generieren nicht mehr nennenswerten Nachwuchs. Also finden wir zwar keine vollständige Säkularisierung in der Schweiz, es gibt weiterhin starke, aber zahlenmäßig eher kleine christliche und kirchliche Kohorten. Nur „Volkskirche“ im Sinne einer kulturprägenden Kirche der Mehrheit sollte man das nicht mehr nennen. 3.3 Gerhard Wegners Mahnung: Indifferenz als Problem In Deutschland sähen die Ergebnisse bei einer ähnlichen Untersuchung sicher (bei gewissen quantitativen Verschiebungen hier und dort, etwa im Nord-Süd-Gefälle oder im Ost-West-Verhältnis) unter dem Strich ähnlich aus. Auch unsere Kirchenmitgliedschaftsuntersuchungen belegen beides: Es gibt höchst verschiedene Grade der Nähe und Distanz zu Kirche und Glauben unter den Kirchenmitgliedern. Und es gibt eine Abschwächung der kirchlichen Bindungskräfte, ein Nachlassen der Verbundenheit im Generationenverlauf, eine starke Gruppe von Mitgliedern, die durchaus über den Austritt aus der kirchlichen Gemeinschaft nachdenken, und eine sehr lockere Bindung bei vielen, die zwar
3. Das Warum und das Wie
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nicht austreten, aber auch nicht intensiv partizipieren. Das säkulare Driften äußert sich nicht zuletzt in Indifferenz gegenüber dem Glauben als weit verbreiteter Haltung in der Bevölkerung. Viele teilen ihn nicht, bestreiten ihn aber auch nicht – er spielt einfach in ihrer Lebenswelt kaum eine Rolle.18 Und an dieser Stelle möchte ich aufgreifen, was Gerhard Wegner geschrieben hat: Er sieht in der Indifferenz der Kirchenmitglieder das Grundproblem der Evangelischen Kirche. Indifferenz ist so etwas wie Gleichgültigkeit, die sich weder positiv regt noch negativ erregt. Gerhard Wegner sieht aber genau hier dringenden Handlungsbedarf: „Es muss darum gehen, die grassierende Indifferenz der Kirchenmitglieder und jener, die es werden sollen, gegenüber dem, was in der Kirche geschieht, zu durchbrechen. Diese Indifferenz ist das Hauptproblem.“19 So etwas wie „religiöse Erneuerung“20 wäre wohl die Lösung. Auf keinen Fall reicht für Wegner eine defensive Strategie, die die Menschen einfach in Ruhe lassen will, in der Hoffnung, immerhin das „belonging without believing“ zu stabilisieren: Hauptsache, sie gehen uns nicht auch noch als Mitglieder verloren!21 Mit ihrem Markenkern, mit dem, was christlichen Glauben auszeichnet, gilt es auf die Menschen zuzugehen. „Die Leute wissen doch gar nicht, was Ihnen entgeht!“22 Oder ähnlich deutlich: „Die Leute können nicht wissen, was sie wollen könnten, wenn sie die Angebote der Kirche gar nicht kennen, weil sie sie nicht nutzen.“23 Ich möchte gerne das Fazit von Gerhard Wegner hier zitieren, weil ich in letzter Zeit kaum einen Text zur Zukunft der Kirche mit mehr Zustimmung und Bewegung gelesen habe: „Die Kirche bindet nicht am besten Mitglieder, indem sie ihren Mitgliedern hinterherläuft und sich bemüht, deren Erwartungen zu befriedigen, schon gar nicht den Distanzierten. […] Es kommt darauf an, Indifferenzen charmant zu durchbrechen und Nachfrage nach Kirche und Religion zu wecken! Auf keinen Fall sollten Mitglieder in ihrer Distanz bestätigt werden. Sehr viel eher ginge es darum, sie sozusagen mitzureißen und schlicht zu begeistern.“24 Auch hier gilt demnach: „Start with why!“ Im Grunde genommen zeigt uns die Statistik nur, was immer schon der Fall war: Viele gehörten lange äußerlich dazu, aber waren nicht innerlich gewonnen. Sie treibt es jetzt nach draußen. Wir sollten darum nicht von oben nach unten rechnen: „Früher gehörten sie uns alle, und jetzt 18
Vgl. zur Indifferenz: Katja Kleinsorge 2008, 141-153; Eberhard Tiefensee 2011, 79-101. 19 Gerhard Wegner 2014, 17. 20 Ibid., 13. 21 Vgl. Ibid., 33-40. 22 Ibid., 34f. 23 Ibid., 33. 24 Ibid., 41.
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werden wir immer weniger.“ Wir sollten von unten nach oben rechnen: „Jeder, der neu gewonnen wird, ist tatsächlich einer mehr!“ Wir brauchen ein starkes „Warum“, um mit dieser Situation richtig umgehen zu können und um auch als kleinere und ältere Kirche wieder aufzubrechen und Jesus in eine neue Zeit folgen zu können. 4. Drei Aspekte, wie die gestresste Kirche ihren Kompass wieder entdeckt 4. Drei Aspekte 4.1 Jesus nachfolgen: Gottesdienst und Gebet Jesus hat die Jünger immer wieder versammelt, ihnen Ruhepausen verordnet, mit ihnen geredet, ihre Sichtweisen korrigiert und ihre Mission erneuert. Er hat ihnen beigebracht, wie sie beten können: „Vater unser im Himmel…“ Er hat sie in die Stille geführt, und er hat ihnen vorgelebt, wie man für seine Seele sorgt, in der Wüste und auf Bergen, im Hören auf Gott, im Gebet. Er hat aber auch mit ihnen gefeiert, gegessen und getrunken. John Finney gebraucht im Blick auf die gesunde Entwicklung von Gemeinden und Gemeinschaften ein Bild. Einmal hätte er fast ein altes Haus gekauft. Es sah von außen sehr gut aus, bis er das Heizungssystem entdeckte, einen alten, rostigen Boiler, der mit Kohle betrieben wurde. Kleinlaut sagte die Besitzerin: Er tut es nicht wirklich gut. Finney übersetzt: „Auch die Kirche hat einen Boiler, und der Raum, in dem er sich befindet, ist nicht leicht zu finden, doch seine Wirkung lässt sich im ganzen Haus spüren. Dieser Boiler ist das geistliche Leben der Kirche in Christus – wenn dieses nicht gut funktioniert, leidet die ganze Kirche. Ohne seine Wärme ist die ganze Kirche kalt, abweisend und ziellos. Wenn Menschen sie von außen betrachten, gewinnen sie vielleicht auch den Eindruck, hier wird ihren geistlichen Bedürfnissen nicht begegnet, und sie wenden sich enttäuscht ab. Für die Kirche in Europa wird die Außentemperatur frostiger – umso mehr müssen wir sicherstellen, dass der Boiler gut funktioniert.“25 In der Regel des hl. Benedikt heißt es: Dem Gottesdienst ist nichts vorzuziehen.26 Nichts ist vorzuziehen. Dem Gebet. Dem Hören. Dem Feiern. Dem Austausch. Der Mahlgemeinschaft. Der Anbetung. Dem Trost. Der Buße. Der Fürbitte für die Welt. Dem Segen. Auch in unserem pastoralen und presbyterialen Dienst: Nichts ist dem vorzuziehen. Dabei geht es nicht um alte oder neue liturgische Formen und Lieder. Es geht aber darum, dass erkennbare liebevolle Sorgfalt, ein wacher Blick für die Menschen, eine spürbare Erwartung der Nähe Gottes unsere Feiern durchdringen kann. 25 26
John Finney 2011, 137. Salzburger Äbtekonferenz 1990, RB, 43,3.
4. Drei Aspekte
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Die Kirche der Zukunft wird eine gottesdienstliche, eine hörende und betende Kirche sein. Beim Leadership Summit in Chicago 2015 legte der Südstaaten-Pastor Albert Tate die Geschichte von der Speisung der 5000 aus.27 Er konzentrierte sich in seinem Vortrag auf den Jungen mit den zwei Broten und den fünf Fischen. Er schilderte, wie dieser Junge sein Pausenbrot morgens vorbereitet und eingepackt hat. Und dann geht er zu dieser Versammlung. Und plötzlich steht er im Mittelpunkt. Jesus will diese vielen Menschen speisen. Aber es ist nicht genug zu essen da. Nur dieser Junge mit dem Pausenbrot. Und Jesus lässt sich von ihm das Pausenbrot geben, und dann tritt dieser Junge beiseite. Und Jesus teilt aus, dass alle satt werden und reichlich Reste bleiben. Und der Junge sieht zu, wie Jesus nimmt und weiterreicht, nimmt und weiterreicht, nimmt und weiterreicht. Und er kommt aus dem Staunen nicht heraus. Albert Tate sagte in Chicago: Das ist unsere Aufgabe. Es ist eigentlich völlig ungenügend, was wir haben. Aber wir geben es Jesus. Und dann – ein wichtiges Detail: – treten wir beiseite. Wir kontrollieren nicht. Unser Pausenbrot zur Verfügung stellen, dann beiseite treten und sehen, was Jesus macht. Im Gottesdienst und im Gebet ordnen sich die Dinge wieder. Unsere Rolle wird nachjustiert. Der auferstandene Herr macht etwas aus unseren lächerlichen Pausenbroten. Wir sind weder überflüssig noch in der Pflicht, Wunder zu vollbringen. An beides erinnert uns der Gottesdienst, wenn er uns an das „Warum“ erinnert und wenn er uns Jesus vor Augen malt und uns unseren Platz wieder zuweist. 4.2 Jesus nachfolgen: Lebendiges, mündiges Christsein fördern Es klingt fast banal, ist es aber nicht: Als Jesus am See Andreas und Simon berief, da war eine tiefe Überzeugung in Jesus zu einer Entscheidung geworden: Ich mache das hier nicht allein. Ich mache das mit einem Team. Ich bilde ein Team. Wenn ich das tue, werde ich viel Zeit investieren, um dieses Team zu formen. Ich werde alles Nötige tun, damit sie wachsen können. Das Problem vieler Kirchentheorien besteht darin, dass sie kein inneres Verhältnis zu einer tiefen, persönlichen, reflektierten und den Alltag durchdringenden Jesus-Beziehung haben. Ohne die wird es aber keine erneuerten Kirchengemeinden und keine lebendigen „fresh expressions of church“ geben. Unsere Frage muss nicht nur lauten: Wie finden Erwachsene zum Glauben? Sie muss dann auch lauten: Wie werden Glaubende im Glauben erwachsen? Ich sehe hier Defizite auf allen Seiten. Die „liberale“ Theologie ist mit dem „milden Luthertum“ zufrieden, das das Leben der Kirchenmitglieder nur an den Rändern berührt. Die „missionari27
Vgl. Joh 6,5-13.
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schen“ Kräfte haben alle Hände voll zu tun, Kurse zum Glauben und Ähnliches anzubieten. Sie investieren viel in den Weg zum Glauben, aber weit weniger intentional in das Wachsen im Glauben. Und da entsteht dann eine Art Boomerang-Effekt, denn unsere missionarischen Bemühungen leben nicht nur von guten Veranstaltungen, sondern vor allem von mündigen, im Glauben erwachsenen Christenmenschen. Sie sind weit eher als wir Pfarrerinnen und Pfarrer „dort draußen“, von Jesus beauftragt als Menschenfischer. Dazu brauchen sie aber Motivation, Sprachfähigkeit, unverstellte Zuneigung zu anderen Menschen, Geschick und Mut. Eine interessante kirchliche Strategie im Blick auf diese Herausforderung habe ich in einer lutherischen Kirchengemeinde in South Barrington, Illinois kennen gelernt.28 Die Gemeinde ist alles andere als eine Mega-Church wie die benachbarte Willow Creek Community Church. Sie haben aber starke Werte wie Gastfreundschaft, Gabenorientierung, Teilen der Ressourcen, verschiedene liturgische Formate, ein hoher Stellenwert des Gebets und so weiter. Was sie sich aber vor allem vorgenommen haben, ist aber eine durchdachte Begleitung der Menschen auf ihrer spirituellen Reise. Sie sind auf diese Spur gekommen, als sie sahen: Da kommen Menschen zehn Jahre und länger zu uns, und im Grunde verändert sich nichts bei ihnen. Ohne einer allzu optimistischen Fortschrittsidee zu verfallen, sagen sie: Es beginnt damit, dass Menschen Jesus begegnen („Meeting Jesus“). Danach fangen sie an, Jesus zu folgen („Following Jesus“). Ihre Beziehung zu Jesus wird enger, intimer, konkreter, lebensverändernd („Keeping close to Jesus“). Und immer mehr werden sie von Jesus geformt und wachsen in die Art des Liebens hinein, die sie bei ihm erfahren haben („Loving like Jesus“). Sie werden eben „mehr wie Jesus“ (Steven Croft). Die Gemeinde will keineswegs einzelne Menschen beurteilen oder gar in Klassen einteilen. Aber sie fragt die Christen in South Barrington: „Wo siehst du dich selbst gerade?“ Sie weiß auch, dass es Rückschritte gibt und keine spirituelle Vollkommenheit im irdischen Leben. Aber für jedes Stadium hat die Lutheran Church of Atonement etwas in petto: Anregungen für das tägliche Bibellesen und Beten und kurze Kurse zum Wachstum im Glauben, z. B. über das Gebet oder über Geld oder über das Dienen, häufig kurze selbst produzierte Video-Clips mit Berichten, etwas Lehre und Predigt und Anregungen für das Gespräch in der kleinen Gruppe, die dieses Video zusammen betrachtet. Ein wesentlicher Aspekt bei diesem Thema berührt auch die Frage, wie wir das Verhältnis von Pfarrpersonen und Gemeinden nachjustieren, anders gesagt: wie entschieden wir uns von der Pfarr- und Hauptamtlichenkirche entfernen. 28
Vgl. http://www.churchofatonement.org – aufgesucht am 21. August 2015.
4. Drei Aspekte
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Es kommt mir so vor, als würden wir in den kirchlichen Debatten vorwiegend von den Pfarrerinnen und Pfarrern her denken und von diesem Ausgangspunkt ausgehend die kirchliche Arbeit umstrukturieren. Wenn wir z. B. darüber nachdenken, ob Gemeinden selbstständig bleiben oder fusioniert werden, dann ist häufig die Zahl der verfügbaren und bezahlbaren Pfarrpersonen das Nadelöhr, durch das diese Entscheidung hindurch muss. Es scheint uns immer noch undenkbar, dass es auch anders geht: mit mündigen Mitarbeitern vor Ort und einer Pfarrerin in der Region zur Unterstützung der Ehrenamtlichen. Aber auch da, wo es noch den Pfarrer vor Ort gibt, gilt: Wenn es uns wirklich um Gottesdienst und Gebet geht, dann brauchen wir eine Konzentration der Pfarrerinnen und Pfarrer auf diese Aufgabe, für die sie ausgebildet und ordiniert wurden. Im Übrigen muss es unser Ehrgeiz werden, dass möglich viele Christenmenschen in Gemeinde und Gesellschaft dem Ruf in die Nachfolge folgen können, indem sie Gaben einbringen, Verantwortung übernehmen, bis hin zur Leitung. Dann aber muss es unser Ehrgeiz sein, sie dazu zuzurüsten, nach Kräften zu ermutigen und auf ihrem Weg zu begleiten. Liz Wiseman hat in den USA Unternehmen auf ihre Führungskultur hin untersucht und dabei grob zwei gegensätzliche Kulturen wahrgenommen: Multiplier und Diminisher. 29 Multiplier sind „servant leaders“.30 Sie wirken geradezu wie Magneten auf begabte Leute. Sie tun alles, damit diese begabten Leute wachsen können und ihre Gaben einsetzen. Sie fordern sie heraus, ihre Komfortzone zu überschreiten. Sie schaffen einen starken Team-Spirit. Und wenn etwas gelingt, sitzen sie gerne im Hintergrund, während der Mitarbeiter gefeiert wird. Es ist nicht schwer, sich im Gegensatz dazu vorzustellen, was ein Diminisher tut, ein Minderer. Das Gegenteil: ängstlich kontrollieren, kleinste Dinge selber regeln, peinlich genau alles vorschreiben, allenfalls Aufgaben delegieren, alles besser wissen, besser können. Vielleicht hilft uns das grobe Bild, uns zu fragen: Welche Art von Führungskraft bin ich in meiner Gemeinde – und welche will ich sein? 4.3 Jesus nachfolgen: eine missionarische Wanderung Der nächste Schritt für eine Gemeinde, die Jesus folgen möchte, besteht nicht darin, jetzt bestimmte Veranstaltungen in ihr Programm aufzunehmen, die das Label „missionarisch“ tragen. Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich habe gar nichts gegen Veranstaltungen, und Gemeinden werden auf diesem Weg einiges veranstalten. Ich glaube aber, dass für uns heute wichtiger ist, eine Art „missionarische Grammatik“ zu entwickeln, also einen Prozess des Verstehens und Entdeckens. 29 30
Vgl. Liz Wiseman und Greg McKeown 2010. Vgl. Malte Detje 2017.
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XI. Reformen für die gestresste Kirche
Wir können natürlich so vorgehen, dass wir z. B. einen sehr gut gemachten Gottesdienst in alternativer Form anbieten, bewerben, die Christen ermuntern, ihre Freunde mitzubringen. Aller Erfahrung nach ist das zwar anspruchsvoll und auf Dauer auch anstrengend, aber es klappt relativ gut. Wir erreichen damit vor allem Menschen, bei denen wir noch an irgendetwas anknüpfen können, also in der Stolz-Studie die nicht allzu Distanzierten, die kirchlich Etablierten, ein paar von den Alternativen, die eigentlich lieber zur Kirche gingen usw. Das ist schon etwas. Ich sage es deutlich: Es sollte Gemeinden geben, die genau das tun! Aber: Wir erreichen damit nicht wirklich Distanzierte, gründlich Säkulare, überzeugte Alternative.31 Für sie ist der Sprung zu groß; sie geraten häufig gar nicht in den Blick der Gemeinden und der Christen, und diese wiederum stehen für sie nicht „auf der Tagesordnung“. Darum könnte es sein, dass eine andere Strategie sinnvoller wäre. Das ist hier mit der „missionarischen Wanderung“ gemeint:32 1. Zuhören und hinschauen: Es geht darum, den Blick nach außen und oben zu richten. Nach außen bedeutet: Wir fragen nicht, wie unsere Gemeinde erfolgreich überlebt. Wir fragen: Was würde eigentlich in unserem Dorf, unserer Stadt fehlen, wenn es uns nicht gäbe? Was ist das überhaupt für ein Viertel, ein Kiez, ein Milieu, ein Kontext, eine Nachbarschaft? Wer lebt hier, und wie geht es den Menschen hier? Zugleich schauen wir in die Bibel und fragen betend: Herr, wozu hast du uns hierher gestellt, gerade jetzt hierher? Was ist unsere Mission an diesem Ort? In einer Gemeinde in Sheffield hat man beides verbunden und hat einen betenden Spaziergang durch den Gemeindebezirk gemacht und alles genau angeschaut, immer auch mit der Frage: Herr, was siehst du hier? 2. Dienen und fördern: Vielleicht merken wir dann, dass wir genau hier – unter Umständen und recht häufig am besten mit anderen zusammen – etwas tun können. Einen Spielplatz sanieren. Einen Besuchsdienst im Altenheim beginnen. Eine Schularbeitenhilfe starten. Einen Kurs zum Abnehmen anbieten: „Lebe leichter“. Ein Erzählcafé für Trauernde öffnen. Eine Eingabe an die Kommune richten wegen einer Verkehrsberuhigung. Einen Fahrdienst in die nächste Stadt gründen. Eine private Musikschule für Kinder. Was auch immer. Nicht nur für andere, sondern mit anderen tun wir etwas für das Gemeinwesen. Wir haben am IEEG ge31
Vgl. Michael Moynagh 2012, 207: Dieses Modell „is unlikely to attract many people who are outside its members’ networks and have difficulty in identifying with the congregation’s culture. The model also seems to be less effective in reaching people with little or no Christian experience for whom the leap into church is too big.” 32 Besonders entfaltet wird diese Wanderung als „Journey“ von Michael Moynagh. Vgl. Ibid., 208-221.
4. Drei Aspekte
209
staunt, als wir Dutzende von innovativen missionarischen Projekten in peripheren ländlichen Räumen angeschaut haben: Sie nahmen fast alle ihren Ausgangspunkt in einer diakonischen Initiative.33 3. Gemeinschaft pflegen: So erwächst allmählich Vertrauen und Gemeinschaft. Was für lokale Kirchengemeinden selbstverständlich ist, ist für „fresh expressions“ überlebenswichtig: Diejenigen, die Jesus hier nachfolgen, müssen da leben, wo die Menschen leben, zu denen sie sich gesandt wissen. Wir teilen das Leben, die „anderen“ sind nicht unser Projekt. Wir feiern, lachen, weinen, spielen zusammen, wir sehen uns beim ALDI und auf dem Spielplatz. Wir leiden zusammen mit unserem Fußballclub und leihen uns gegenseitig die Bohrmaschine. 4. Zu lebendigem, mündigem Christsein ermuntern: Weil der Glaube zu unserem Leben gehört und wir das Leben mit Menschen teilen, erzählen wir auch vom Glauben. Wenn jemand durch schwere Zeiten geht, sagen wir ihm, dass wir für ihn beten. Wir laden ihn ein zum Gottesdienst, den wir nicht für ihn anders feiern als sonst, aber den wir immer so feiern, dass der wenig oder gar nicht Geübte kommen kann, ohne unnötig befremdet zu sein. Wir haben eine starke Sehnsucht, dass die Menschen, die wir lieben, Vertrauen fassen zu Jesus, dem wir folgen. Aber wir brauchen keinen falschen Eifer, und wir verbieten uns jede Ungeduld. Wir geben Jesus unser Pausenbrot, und dann treten wir beiseite. Er arbeitet ja in den Seelen unserer Freunde. Und wir haben Orte, an denen man erkunden kann, wie das Leben im Glauben aussieht. Wir reden darüber, und wir haben Kurse, in denen wir gemeinsam den Glauben tiefer erforschen. 5. Gemeinde im Kontext (be)gründen: Irgendwann merken wir, dass sich etwas Neues ergeben hat: eine originelle und kontextuelle Weise, genau hier an diesem Ort, Kirche zu sein. Gottesdienst feiern, Gemeinschaft leben, den Menschen dienen. Es ist keine Weltneuheit, wir tun kaum etwas, das es nicht auch anderenorts gibt, aber es passt hierher, es fühlt sich richtig an, „eingeboren“ und „neu geboren“. Unsere Räume, unser Umgang mit Gästen, unsere Spielregeln, unsere Treffen, unsere Dienste, unsere Leitung – es ist hier geboren, an diesem Ort, von Gott geschenkt.
33
Vgl. Thomas Schlegel, Jörg Zehelein, Claudia Heidig, Andreas Turetschek, Stefanie Schwenkenbecher und Heike Breitenstein 2016, 171-344.
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XI. Reformen für die gestresste Kirche
Literatur: Literatur Amt der VELKD (Hg.): Unser Glaube. Die Bekenntnisschriften der evangelisch-lutherischen Kirche. Ausgabe für die Gemeinde. Gütersloh 6., völlig neu bearbeitete Aufl. 2013 Croft, Steven: Format Jesus. Unterwegs zu einer neuen Kirche. Neukirchen-Vluyn 2012 (BEG Praxis) Detje, Malte: Servant Leadership: Führen und Leiten in der Kirchengemeinde im 21. Jahrhundert. Göttingen 2017 (BEG Bd. 23) Finney, John: To Germany with Love. Die Evangelische Kirche in Deutschland aus der Sicht eines Anglikaners. Neukirchen-Vluyn 2011 (BEG Praxis) Hunsberger, George: Missional Vocation. Called and Sent to Represent the Reign of God. In: Darrell Guder (Hg.): Missional Church. A Vision for the Sending of the Church in North America. Grand Rapids 1998, 77-109 Hybels, Bill: Courageous Leadership. Grand Rapids, MI 2002 Kleinsorge, Katja: Religion. Wozu? Das Phänomen religiöser Indifferenz. In: Sebastian Murken (Hg.): Ohne Gott leben. Religionspsychologische Aspekte des Unglaubens. Marburg 2008, 141153 Moynagh, Michael: Church for every context. An Introduction to Theology and Practice. London 2012 Newbigin, Lesslie: The Gospel in a Pluralist Society. Grand Rapids 1989 (deutsch: Das Evangelium in einer pluralistischen Gesellschaft. Neukirchen-Vluyn 2017 [BEG Praxis]) –: A Word in Season: Perspectives on Christian World Missions. Grand Rapids 1994 Reppenhagen, Martin: Auf dem Weg zu einer missionalen Kirche. Diskussion um eine ‚Missional Church‘ in den USA. Neukirchen-Vluyn 2011 (BEG Bd. 17) Salzburger Äbtekonferenz (Hg.): Die Regel des Heiligen Benedikt. Beuron 4. Aufl. 1990 Schlegel, Thomas, Zehelein, Jörg, Heidig, Claudia, Turetschek, Andreas, Schwenkenbecher, Stefanie und Breitenstein, Heike: Landaufwärts – Innovative Beispiele missionarischer Praxis in peripheren, ländlichen Räumen – Die Greifswalder Studie. In: Kirchenamt der EKD (Hg.): Freiraum und Innovationsdruck. Der Beitrag ländlicher Kirchenentwicklung in „peripheren Räumen“
Literatur
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zur Zukunft der evangelischen Kirche. Leipzig 2016 (Kirche im Aufbruch Bd. 12), 171-344 Schleiermacher, Friedrich Daniel Ernst: Der christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dargestellt. Berlin 2. Aufl. 1830 Schwarz, Fritz: Überschaubare Gemeinde. Grundlegendes – ein persönliches Wort an Leute in der Kirche. Gladbeck 2. Aufl. 1980 Stolz, Jörg, Könemann, Judith, Purdie, Malory Schneuwly, Englberger, Thomas und Krüggeler, Michael: Religion und Spiritualität in der Ich-Gesellschaft. Vier Gestalten des (Un-) Glaubens. Zürich 2014 (Beiträge zur Pastoralsoziologie Bd. 16) Tiefensee, Eberhard: Religiöse Indifferenz als interdisziplinäre Herausforderung. In: Gerd Pickel und Kornelia Sammet (Hg.): Religion und Religiosität im vereinigten Deutschland. Zwanzig Jahre nach dem Umbruch. Wiesbaden 2011, 79-101 Wegner, Gerhard: Religiöse Kommunikation und Kirchenbindung. Ende des liberalen Paradigmas? Leipzig 2014 Wiseman, Liz und McKeown, Greg: Multipliers. How the Best Leaders Make Everyone Smarter. New York 2010
XII. „Wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein“ (J.W. von Goethe) Veränderung als christliche Tugend1
Zur Einstimmung Zur Einstimmung Es gibt Erinnerungen, die für alle unter 40 kaum nachvollziehbar sein dürften. Als ich meine Examensarbeit schrieb, tat ich das auf einer mechanischen Schreibmaschine. Meine Doktorarbeit schrieb ich auf einem Gerät, das demgegenüber eine revolutionäre Neuerung darstellte: einer elektrischen Schreibmaschine. Bei beiden Typen von Schreibmaschine gab es immer ein Problem: den sogenannten „Tippfehler“. Wenn man sich also vertippte, und ich vertippte mich oft, dann gab es nur eine Rettung: „tipp-ex“, einen merkwürdigen kleinen Streifen mit einer weißen Substanz, die den Fehler mehr oder weniger bedeckte. Den Brief brachte man zur Post, auf die Antwort wartete man geduldig. Ähnlich war es mit dem Geld. Man zahlte bar. Als 1989 unser Auto nach einem Unfall verkauft werden sollte, drückte mir der Händler Bargeld in die Hand und ich schlich etwas besorgt mit ein paar Tausend D-Mark (ja, D-Mark) durch Münster. Chic war es, mit sogenannten Euroschecks zu bezahlen. Und um eine Überweisung zu machen, ging man zur Bank. So war das Leben damals. Heute arbeiten wir mit Laptops, schreiben E-mails, kaufen im Netz fast alles ein, verschrotten unsere CDs, weil wir alles bei Spotify finden, kommunizieren per WhatsApp, erwarten Antworten im Minutentakt, zahlen mit der Kreditkarte oder auch mit dem Smartphone und überlegen, ob die Zeit des Bargelds nicht vorüber sein sollte. In Schweden experimentiert man bereits mit einem Chip. Der wird unter die Haut gepflanzt, beim Zahlen hält man nur noch die Hand über ein Lesegerät, und schon ist der Cappuccino bezahlt.2 Die Welt ändert sich in einem rasanten Tempo und reißt uns mit, ob wir es wollen oder nicht. Allerdings ist nicht jeder Wandel positiv und jede Veränderung erfreulich. Veränderung bedeutet auch Verlust des Vertrauten. Ich bin gezwungen, Altes zu verabschieden, mich durch ein Niemandsland des Unvertrauten durchzuarbeiten und Neues zu lernen. Die Menschen im 1
Dieser unveröffentlichte Vortrag wurde beim Kongress der Evangelischen Kirche von Westfalen „ProViele“ am 27. Februar 2016 gehalten und für die Drucklegung leicht überarbeitet. 2 http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/chips-unter-der-haut-bio-hacking-projekt-inschweden-13411476.html – aufgesucht am 24. Februar 2016.
1. Was/wer sich nicht verändert!
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Osten der Republik haben den 9. November 1989 gefeiert, aber auch nach dem 3. Oktober 1990 unendlich viel verabschiedet und neu lernen müssen. Sie haben auch erkennen müssen, dass die Veränderung auch Verluste mit sich brachte, neben dem großen Gewinn der Freiheit. Es gibt Veränderungen, die wir kaum überblicken können, weil sie alles Dagewesene übertreffen und alles Gewohnte in Frage stellen. Einige Tausend Asylbewerber pro Jahr hat dieses Land kaum registriert, aber dann waren es Hunderttausende, eine neue Form der Völkerwanderung, und wir taumelten zwischen beeindruckender Hilfsbereitschaft und beklommener Sorge vor Überforderung. Und es gibt Veränderungen, auf die wir gut verzichten können. Eine Ehe geht auseinander. Eine Krankheit raubt mir die Kräfte. Meine geliebte Arbeitsstelle wird mir genommen. Ein Kind entfernt sich innerlich von mir. Freunde gehen mir verloren. Es ist, als ob der Blitz einschlägt – und nichts ist mehr, wie es war. Dabei dachten wir eben noch: „So geht es für immer weiter.“ Beim Willow-Creek-Leitungskongress 2016 sollten die Besucher ihre Handy-Lampen leuchten lassen, wenn sie in der letzten Zeit schwere Verluste erlitten hatten oder traumatische Veränderungen. Und es war sehr berührend, wie viele Lampen da angingen. Veränderung an sich ist weder gut noch böse. Sie passiert einfach. Manches begrüßen wir, anderes überstehen wir, vieles lernen wir, und manches erleiden wir. Veränderung passiert. Manche sind von Natur aus, von ihrer seelischen Grundausstattung her eher „Veränderer“, andere eher „Bewahrer“. Veränderung geschieht, ob gut oder böse, ob erstritten oder erlitten, ob ersehnt oder befürchtet. Das alles wusste auch Goethe schon, dessen Bonmot diesem Vortrag den Titel gab: „Man sieht die Blumen welken und die Blätter fallen, aber man sieht auch Früchte reifen und neue Knospen keimen. Das Leben gehört dem Lebendigen an, und wer lebt, muss auf Wechsel gefasst sein.“3 Es ist also relativ sinnlos, der Veränderung aus dem Weg gehen zu wollen. Wie können wir lernen, mit Veränderung umzugehen und in Veränderungen zu wachsen? 1. Was/wer sich nicht verändert! 1. Was/wer sich nicht verändert! Zuerst soll von dem die Rede sein, der sich nicht verändert. Das ist die Grundlage für alles Weitere. Wie kann ich Wandel gestalten, in meinem persönlichen Leben und in meiner Gemeinde? Ich brauche dazu etwas, das sich nicht wandelt. 3 Johann Wolfgang von Goethe: Wilhelm Meisters Wanderjahre, 1821; erweiterte Form 1829. 1. Buch, 2. Kap. Fundort: http://www.aphorismen.de/zitat/684 – aufgesucht am 24. Februar 2016.
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XII. Veränderung als christliche Tugend
Aus vielen biblischen Episoden hören wir: Gott verändert sich nicht. Er ist der, der er war, ist und sein wird. Beim Propheten Maleachi etwa heißt es: „Ich der Herr wandle mich nicht.“4 Im Jakobusbrief heißt es: „Alle gute Gabe und alle vollkommene Gabe kommt von oben herab, von dem Vater des Lichts, bei dem keine Veränderung ist noch Wechsel des Lichts und der Finsternis.“5 Wir müssen etwas genauer hinschauen, was das bedeutet und was es nicht bedeutet. Gott ändert sich nicht. Das bedeutet: Sein Charakter, sein Wesen ändert sich nicht. Er ist nicht wie wir: emotional instabil und launisch. Seine Liebe ist stetig und beständig. Egal, wie unser Tag war – wenn wir am nächsten Morgen aufwachen, ist seine Zuneigung zu uns so frisch wie am ersten Tag. Von Jesus heißt es darum im Hebräerbrief: Er ist derselbe, „gestern, heute und derselbe auch in Ewigkeit“. 6 Die Dinge, von denen ich hoffe, dass sie bleiben, ändern sich. Die Dinge, von denen ich hoffe, dass sie sich ändern, bleiben. Aber mitten in alledem ist Christus der Fixstern, der sich nicht ändert, sondern verlässlich für mich ist, Tag für Tag. Es ist gut, sich das an Hand unseres Taufversprechens in Erinnerung zu rufen: Es gilt, was auch immer passiert ist. Ich kann mich verirren, ich kann aus dem Glauben zwischenzeitlich aussteigen, ich kann aus der Kirche austreten. Ich kann aber nicht aus der Taufe austreten, weil Gottes Zusage unverbrüchlich gilt. Wie oft scheitere ich, und wie oft bleibe ich hinter dem zurück, was ich sein und tun sollte! Und wenn ich dann aufschaue, höre ich: Ich bin immer noch für Dich und für Dich da. Gottes Macht ändert sich nicht. Wir mögen schwächer werden. Uns mögen die Kräfte versagen. Wir steigen auf und müssen bergab. Seine Macht ist unverwüstlich. Mächtige kommen und gehen, er bleibt. Und er hat alle Mittel, um das zu Wege zu bringen, was er sich mit uns vorgenommen hat. Mögen wir das gerne hören, so ist das Nächste vielleicht unangenehmer: Gottes Zorn gegen die Sünde ändert sich nicht. Das ist zunächst ernüchternd. Gott kühlt an dieser Stelle nicht ab. Kinder können ihre Eltern allmählich erschöpfen und herunterhandeln. Gott ist nicht zu Verhandlungen bereit. Und das ist gute Nachricht. Gott weigert sich, menschliche Gier hinzunehmen – und was sie den Armen antut. Gott weigert sich, menschliche Ichsucht hinzunehmen – und was sie den Schwächeren antut. Gott schließt keinen Frieden mit all den kleinen und großen Götzen – wenn er sieht, was sie uns antun. 4
Mal 3,6. Jak 1,17. 6 Hebr 13,8. 5
2. Ich muss nicht so bleiben, wie ich bin
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Gottes Vergebung ändert sich nicht. Auch das. Wenn ich zu ihm komme, dann zögert er nicht und spricht mich frei. Tag für Tag. Wenn ich wieder gestolpert und gestürzt bin, hilft er mir auf die Beine. Am Kreuz wartet er auf mich und hält mir die Hand hin. Und Gottes Mission hört nicht auf. Er hört nicht auf zu segnen. Und er hört nicht auf, zum Glauben zu rufen. Und er hört nicht auf, zu heilen und wieder in Ordnung zu bringen. Und das ist ein wichtiges Detail. Gottes unveränderliches Wesen bedeutet nämlich keineswegs, dass alles so bleiben soll, nach dem Motto: Er ändert sich nicht, also soll sich auch sonst nichts ändern. Genau umgekehrt wird ein Schuh daraus: Er ändert sich nicht in seinem Entschluss, alles zu ändern, alles zu heilen, alle nach Hause zu rufen und alles zu erneuern. In seiner Unveränderlichkeit liegt die Veränderung beschlossen. Nur in aller Veränderung ist er der verlässliche Fels, der Halt, die Kraft, der Stern, dem wir folgen, die Vergebung, wenn wir versagen, die Erneuerung unserer Berufung. Dass Gott sich nicht ändert, bedeutet also nicht, dass alles beim Alten bleiben wird oder soll. Aber es bedeutet, dass wir durch alle diese anstrengenden Veränderungsprozesse nicht alleine gehen müssen. Aber dazu braucht es eine innere Bereitschaft zu einer grundlegenden geistlichen Übung: 2. Ich muss nicht so bleiben, wie ich bin 2. Ich muss nicht so bleiben, wie ich bin Das ist nun die spannende Konsequenz aus der Beständigkeit der Liebe Gottes: Unser Verhältnis zu Veränderungen kann sich deutlich entspannen. Bei allen erlittenen und zugemuteten Veränderungen haben wir einen festen Anker: In allem, was sich ändert, ändert sich nicht, dass Gott uns liebt und uns treu ist und durchhilft. Und es kommt zugleich eine neue Dynamik in unser Leben: Ich bin Gott willkommen, so wie ich bin, ich darf täglich kommen, wie ich bin. Und dann muss ich nicht so bleiben, wie ich bin. Veränderung wird zur geistlichen Herausforderung. Sie folgt dem Evangelium und bedingt nicht das Evangelium. Das Evangelium ist ja nicht guter Rat, sondern gute Nachricht:7 Ich muss und ich kann nichts tun, um Gottes Gnade zu erwerben oder zu behalten. Ich ändere mich nicht darum, um bei Gott Zutritt zu bekommen. Ich ändere mich, weil über mein Leben entschieden ist und der Zutritt zu Gott offen steht und offen bleibt. Genau so argumentiert Paulus im Römerbrief: „Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger 7
Vgl. Timothy Keller 2012, 29.
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XII. Veränderung als christliche Tugend
Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene.“8 Hier geht es um die innere Kraft zur Veränderung; im nächsten Kapitel geht es dann um das äußere Handwerk der Veränderung. Das Grundlegende: Paulus spricht hier auf Grund der Barmherzigkeit Gottes. Das ist sein Ansatz. Ich könnte auch sagen: Hier stehen die ersten elf Kapitel des Römerbriefs Pate. Alles, was Paulus gesagt hat, über uns, unsere fatale Ausgangslage und unsere Rettung durch Jesus Christus, steht jetzt im Hintergrund. Und dann setzt Paulus neu ein: Wenn Ihr das Evangelium verstanden habt, wenn es Euer Herz und Euren Kopf erreicht hat, dann werdet Ihr so und nicht anders weitermachen, dann werdet Ihr genau das tun, was ich jetzt sage. Das Erste: Ihr werdet Euch selbst Gott als ein lebendiges Opfer schenken. Da scheint es schmerzhaft zu werden. Nicht um zu, sondern weil. Nicht um Gott zu erweichen, sondern weil er sich so barmherzig und großzügig zeigt. Darum kann mein Leben ihm nur ganz gehören, 100 %, nicht 10 % religiöse Pflicht und nicht 80 % respektable Frömmigkeit, sondern 100 % Hingabe. Und das ist die dauerhafte Veränderungsaufgabe Nr. 1. Ich vertraue mich ihm an. Gerade das, was ich ihm eben noch nicht überlassen habe. Paulus hat dafür einen paradoxen Begriff: Er spricht von einem lebendigen Opfer. Das ist paradox, denn das Wesen des Opfers ist es, nicht lebendig zu sein. Das Wesen des Opfers ist es, tot zu sein. Ein lebendiges Opfer wäre ein lebendiges Getötetes. Opfer sind blutig. Blutige Opfer brachte man, um Schuld zu sühnen. Die Schuld geht nicht einfach weg; sie wird mit dem Leben bezahlt. Und Jesus hat ein blutiges Opfer gebracht, an unserer Stelle und zu unseren Gunsten. Seither ist Schluss mit dem Opfer. Es braucht keines mehr und gibt keines mehr. Was meint Paulus dann hier, wenn er nicht das Opfer zur Versöhnung meint? Es geht offenbar um ein Opfer aus Dankbarkeit, um Hingabe des Lebens aus Freude über den, der alles für uns tat. Aber dieses Opfer ist lebendig. In einer alten Predigt beschreibt der Prediger den Unterschied zwischen einem blutigen und einem lebendigen Opfer: Das lebendige Opfer krabbelt immer wieder vom Altar herunter. Will sagen: Das ist nie zu Ende. Täglich neu geht es darum, sich Gott anzuvertrauen, das ist eine tägliche Veränderung, eine tägliche Buße, wie es Luther nannte. Bis zum letzten Atemzug bleibt das die große tägliche Veränderung: Ich vertraue mich ihm an und stelle mich ihm zur Verfügung. Ich opfere meinen Eigensinn, die fatale Neigung, mein Leben ohne ihn zu leben, meine fatale Neigung zum Hochmut, meine gefährliche Neigung, gute Dinge, die zum Vorletzten gehören, zu besten Din8
Röm 12,1f.
2. Ich muss nicht so bleiben, wie ich bin
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gen zu machen, die das Letzte sein sollen, sodass sich mein Herz an sie heftet. Täglich neu vertraue ich mich ihm an. Und dann passiert etwas Zweites: Mein Denken verändert sich. Die gute Nachricht ist: Auch Christen denken. Es ist nicht so, dass die Frömmigkeit mit der Dummheit verlobt wäre. Sonst müsste es heißen: Ich denke – also bin ich – hier falsch (M. Clausen).9 Wer sich Gott anvertraut, denkt, er liest hoffentlich die Zeitung. Er macht sich schlau. Er ist mit den Fragen unserer Zeit vertraut. Er denkt. Aber sein Denken bekommt einen neuen Bezugsrahmen. Es sind nicht alternative Fakten, die der Christ denkt. Aber er hat einen anderen Blick auf alle Fakten. Die Erneuerung des Sinnes, also des Denkens führt dazu, kritisch zu sein: „Stellt Euch nicht der Welt gleich.“ Das veränderte Denken ist eine Erneuerung: Es kommt ein frischer Wind in unser Denken. Und die Erneuerung des Denkens führt zu einer prüfenden Frage: Was ist denn aus Gottes Sicht wahr, gut und schön? C.S. Lewis hat einmal gesagt, dass wir, wenn wir in Jesus Christus das Licht der Welt erblicken, nicht nur Christus als die Sonne erkennen, sondern dass wir fortan alles im Licht dieser Sonne betrachten.10 Das ist das Neue, darin ändert sich nun allmählich in unserem Leben alles Denken, weil wir alles im Licht Christi betrachten. Wir teilen das Wissen mit allen anderen Menschen, aber unser Blick auf dieses Wissen erfährt manchmal, durchaus nicht immer, eine besondere Brechung: Wir hören die Stimme Jesu zu den Dingen. Wir hören, wie er möchte, dass wir z. B. mit Flüchtlingen umgehen. Wir hören, wie er möchte, dass wir unser Geld einsetzen. Wir hören, wie er uns nicht brutal antreibt, sondern Ruhe gönnt. Wir hören, welche Werte er in unsere Beziehungen einzeichnet, und werden darum in gute Beziehungen investieren. Wir hören, wie er sich um Kranke kümmert und doch Gesundheit nicht zum Wichtigsten erhebt. Unser Denken schlägt manchmal, nicht immer, eine ganz bestimmte Richtung ein, und es kann sein, dass wir dann sagen: Jetzt muss unser Leben dieser neuen Richtung folgen. Jetzt werde ich diese oder jene Änderung vornehmen. Ich muss ja nicht so bleiben, wie ich bin. Ich kann jetzt eins nach dem anderen anpacken. Änderung als Abenteuer. Änderung als allmähliches Heilwerden. Änderung als allmähliche Umgestaltung, auf dass wir mehr wie Jesus werden, in sein Bild umgestaltet.11 Das ist eine vielleicht etwas ungewohnte Richtung, in die ich das Thema damit bewege, aber ich bin davon überzeugt, dass hier für uns und unsere Gemeinden ein Abenteuer bereitliegt: die Umgestaltung unseres Lebens. Wir sind noch nicht fertig, wir werden auch erst fertig, wenn unser Leben vollendet wird, aber bis dahin ist der christliche Glaube 9
Vgl. Matthias Clausen 2011. Das Zitat findet sich bei Alister McGrath 2014, 268f. 11 Vgl. Röm 8,29. 10
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XII. Veränderung als christliche Tugend
Einladung zum Abenteuer: Wenn er mir mein Herz abgerungen hat, dann will ich mich ihm anvertrauen, täglich, will hören, was er zu sagen hat, will denken, fragen, kritisch prüfen, wie mein Leben und unser Zusammenleben aussehen könnte, wenn er die Regie übernimmt. Und dann beginnt eine Veränderung zum Guten. 3. Der Reiter, der Elefant und der Weg 3. Der Reiter, der Elefant und der Weg Zugleich ist jede Veränderung auch ein Handwerk. Jetzt geht es um Arbeit. Wie funktioniert Veränderung (jetzt: eine erwünschte Veränderung, eine Veränderung als ein Weg vom Schlechteren zum Besseren)? Wenn man so fragt, dann gibt es intuitiv eine erste Reaktion: Veränderung ist schwierig. Sie erregt Widerstand. Es gibt viele Hindernisse. Aus der Vielzahl von Gründen, die es dafür gibt, soll hier einer betrachtet werden. Und dieser eine Grund hängt mit der Frage zusammen, ob wir an der richtigen Tür anklopfen, wenn wir eine Veränderung anstreben. Ein treffendes Bild für die hier anzustellenden Überlegungen stammt von dem amerikanischen Psychologen Jonathan Haidt:12 Eine Veränderung durchzusetzen ist dasselbe wie einen Elefanten zu reiten. Wenn man einen Elefanten reiten will, muss man immer wissen, wo man ansetzen muss: beim Reiter, beim Elefanten oder beim Weg, auf dem der Elefant läuft. Der Reiter ist unser Verstand und unser Wille. Der Elefant steht für unsere Gefühle und Motive. Und der Weg steht für die Umstände, die Situation, die Rahmenbedingungen. Jonathan Haidt sagt nun: Wenn ich etwas erfolgreich verändern will, muss ich dem Reiter die Richtung zeigen, den Elefanten motivieren und den Weg ebnen. Anders gesagt: Ich scheitere oft, wenn ich dem Verstand zu viel zutraue, die Rahmenbedingungen unterschätze oder meine Motivation nicht nähre. Und man kann sich leicht vorstellen, wie schwer es ist, wenn der 70 Kilo schwere Reiter und der sechs Tonnen schwere Elefant sich uneins sind. Ein Beispiel: Sie haben beschlossen, ein Morgenmensch zu werden und früh aufzustehen. Der Kopf ist überzeugt: Das ist eine gute Entscheidung. Ich kann viel ruhiger in den Tag starten, wenn ich früh dran bin und in Ruhe frühstücke und entspannt zur Arbeit gehe. Das sagt der Reiter am Abend beim Schlafengehen. Aber der Elefant wacht dann, vom Wecker aus dem Schlaf gerissen auf, und der Elefant möchte sich lieber noch einmal umdrehen.13 Es ist nicht schwer zu raten, wer gewinnt. Es ist darum entscheidend, den Elefanten auf seine Seite zu ziehen, denn der Reiter ermüdet schnell und gibt nach. 12 13
Vgl. Jonathan Haidt 2006. Vgl. Chip Heath und Dan Heath 2011, 13f.
3. Der Reiter, der Elefant und der Weg
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Das können Sie nun auf persönliche Veränderungen ebenso beziehen wie auf gemeindliche Veränderungsprozesse. Sie brauchen immer alle drei: den Reiter, den Elefanten und den Weg. Wie man an jeder der drei Stellen etwas für Veränderung tun kann, soll jetzt mit einem sportlichen Beispiel illustriert werden. Beginnen wir mit dem Reiter, unserem Verstand. Was der Reiter braucht, ist zum einen ein klares Zielfoto und zum anderen ein Weg, wie er zu diesem Ziel kommt. Eine Lehrerin sagte ihren Schülern am Anfang des Schuljahres: „Am Ende des Schuljahres seid Ihr Drittklässler“.14 Das ist das Zielfoto.15 Die Kinder dachten sofort an die Größeren auf dem Schulhof, die so viel cooler und smarter sind. Und das war nicht nur für den Reiter eine gute Vorgabe, sondern auch für den Elefanten ein Ansporn. So wollen wir werden, und wir haben eine Vorstellung davon, was dafür nötig ist. Das Ziel liegt ein bisschen außerhalb der Komfortzone, die Kids wissen, dass sie sich strecken müssen, aber zugleich ist es ein Ziel, das andere auch schon erreicht haben, es ist nicht unmöglich. Der Reiter braucht solche Ziele. Was ist mein Ziel für dieses Jahr? Wo sehe ich mich in Bezug auf dieses oder jenes am Ende dieses Jahres? Damit Veränderung geschieht, muss ich diese Frage beantworten können, also ein Foto von mir haben, in x Monaten, mit dieser konkreten und attraktiven Veränderung. Ich sehe mich, wie ich zehn Kilometer am Stück gelaufen bin und glücklich unter die Dusche gehe. Oder: Ich sehe mich, wie ich täglich am frühen Abend Zeit mit meinen Kindern verbringe. Dass Ähnliches für unsere Gemeinden gilt, wird gleich noch deutlich werden. Übrigens ist es gut, wenn wir immer nur wenige solcher Ziele haben, und wenn wir sie schriftlich festhalten und möglichst oft anschauen. Wenn wir unser Zielfoto haben, braucht der Reiter auch klare Schritte auf dem Weg auf dieses Ziel zu.16 Zu viele Optionen verwirren den Reiter. Es gibt da das berühmte Marmeladenexperiment.17 Man hat in einem Supermarkt an einem Tag sechs Sorten Marmelade angeboten, am nächsten Tag aber 24 Sorten. Wie haben die Kunden reagiert? Sie haben verwirrt reagiert. Am Ende hatten an dem Tag mit sechs Sorten die Kunden zehnmal mehr Marmelade gekauft als an dem Tag mit 24 Sorten. Zu viel Auswahl überfordert uns. Für unseren Weg zum Ziel bedeutet das: Wir brauchen eine klare Veränderungsstrategie, einen Plan, wie wir unser Ziel erreichen wollen. Ein wunderschönes Zielfoto wird nichts verändern ohne klare Schritte 14
Vgl. Ibid., 84-86. Ibid., 87. 16 Vgl. Ibid., 58-83. 17 Vgl. http://www.zeit.de/wissen/2012-05/freiheit-psychologie-kast/seite-2 – aufgesucht am 25. Februar 2016. 15
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XII. Veränderung als christliche Tugend
auf dem Weg zum Ziel. Das sind zum Beispiel Gewohnheiten mit Handlungsauslösern. Beim Lauftraining hilft das. Der Plan sieht so aus: „Wenn ich am Freitag von der Vorlesung komme, gehe ich zuerst und sofort auf meine Laufrunde in den Wald.“ Das kostet dann manchmal Überwindung, aber es hilft. Nach dem Motto: Wenn ich erst einmal auf dem Sofa sitze oder an den Schreibtisch gegangen bin, wird wieder nichts daraus. Jetzt habe ich einen klaren Handlungsplan. Der Auslöser ist die Vorlesung, die findet sowieso statt. Daran knüpfe ich das Laufen. Und daraus wird eine Gewohnheit. Und Gewohnheiten sind verhaltensmäßige Autopiloten. Irgendwann geht es wie von selbst. Und ich komme meinem Zielfoto näher. Ich sage aber auch nicht: Ich könnte auch am Freitagnachmittag oder am Samstagmittag laufen. Ich sage: Wenn ich am Freitag von der Vorlesung komme … Aber wie gesagt: Der Reiter mit seinen 70 Kilos hat ein enormes Problem, wenn er den Elefanten nicht überzeugt, unsere Emotionen mit ihren sechs Tonnen Lebensgewicht. Wir denken ja gerne so von uns: Wir denken nach, haben eine Einsicht, und dann ändern wir unser Verhalten. Häufiger ist da ein Wunsch in uns, und der Wunsch steuert unseren Willen und unsere Taten, und hinterher findet der Verstand gute Gründe, warum es genau so sein musste.18 Also müssen wir den Elefanten auf unsere Seite bringen. Man hat das mit Kindern erlebt, die an Krebs erkrankten und deren aktive Mitarbeit in der Therapie entscheidend für die Heilungschancen ist. Über den Verstand funktionierte es nicht. Aber dann hat man ein Videospiel „Re-Mission“ erfunden, bei dem kleine Roboter durch den Körper eines Menschen rasen und mit ihren Laserpistolen feindliche Zellen abschießen. Die Kinder, die dieses Spiel begeistert annahmen, veränderten daraufhin auch ihr Verhalten und waren zugänglicher für ihre Therapie.19 Sie erkannten: Wir sind Kämpfer gegen böse Zellen, und wir können selbst etwas tun. Eine Weise, dem Elefanten auf die Sprünge zu helfen, besteht darin, die Zwischenziele, die man sich auf dem Weg zum Zielfoto setzt, überschaubar zu halten und jeden Etappensieg zu feiern. Ich muss heute noch nicht zehn Kilometer laufen können, das ist ja erst das Zielfoto für das Ende des Jahres. Aber ich kann vielleicht heute schon sechs Kilometer schaffen, wenn ich mit Gehen anfange, dann einen Kilometer laufe, wieder gehe, einen Kilometer laufe, wieder gehe und den letzten Kilometer laufe. Und dann feiere ich zu Hause mit einer riesigen Apfelsaftschorle. Und in einem Monat laufe ich die vier Kilometer durch und in drei Monaten sind es sechs. Ich setze mir Zwischenziele und feiere, wenn ich sie erreicht habe. 18 19
Vgl. Ibid., 118. Vgl. Ibid., 120-122.
3. Der Reiter, der Elefant und der Weg
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Eines noch, was für uns als Einzelne wie für uns als Gemeinden ganz wichtig ist. Bringen Sie dem Elefanten bei, dass Rückschläge dazugehören. Bringen Sie ihm bei, dass es O. K. ist, wenn es heute schiefgeht, und dass es noch besser ist, es morgen erneut zu versuchen. Es gibt bei allen Änderungen, persönlichen wie gemeindlichen, eine vorhersehbare Kurve. Wir starten mit Hoffnung: Jetzt wird alles besser. Wir laufen motiviert los. Aber dann kommt das Tal der Einsicht: Es ist schwieriger, als wir dachten. Es gibt tatsächlich Widerstände. Es geht zwei Schritte voran und einen zurück. Kritiker weisen uns auf ernsthafte Schwachpunkte hin. Aber jetzt wissen wir, dass das dazugehört. Wir geben nicht auf. Wir behalten das Zielbild vor Augen. Vielleicht justieren wir unseren Plan etwas nach. Aber wir machen weiter. Und am Ende der Kurve wartet auch wieder Zuversicht: Es kann gelingen.20 Und am Ende geht es drittens darum, dem Elefanten und seinem Reiter den Weg zu bereiten. Hier geht es darum, einen großen Irrtum zu verabschieden: den Irrtum, wir seien immer selbst an allem Schuld. Man nennt das eine falsche Attribution, eine unfaire Zuweisung.21 Wir weisen dann uns oder jemand anderem die Schuld zu, obwohl es die ungünstigen und widrigen Umstände waren, die zu den Fehlern führten. Will man Veränderung, dann muss man auch die Umstände so verändern, dass Menschen sich ändern können. In einem Krankenhaus kam es immer wieder zu Fehlern bei der Medikamentenausteilung. Und man machte die Krankenschwestern dafür verantwortlich. Es stellte sich aber heraus, dass es für die Krankenschwestern nahezu unmöglich war, sich in der Zeit der Medikamentenvergabe konzentriert ihrer Aufgabe zu widmen. Erst als man dafür sorgte, dass sie ungestört bei der Vorbereitung der Medikamentenausteilung blieben, ging die Fehlerquote drastisch zurück.22 Manchmal reichen kleine Umstellungen in unserem Lebensumfeld, um dem Reiter wie dem Elefanten den Weg zu ebnen. Für mein Laufbeispiel kann das bedeuten: Ich bin zwar willens und motiviert, aber ich habe keine vernünftigen Schuhe, ich müsste erst einmal einen erfahrenen Läufer bitten, mich zu beraten, damit ich nicht alles falsch mache. Ich brauche vielleicht einen Freund, der stur am Samstagmorgen um 8 Uhr vor der Tür steht und mich zum Laufen abholt. Ich lege abends die Laufsachen schon bereit, damit ich morgens nur noch hineinschlüpfen muss. Ich bereite meiner guten Absicht, mich zu verändern, den Weg. Ich bin mir sicher, Sie können das übersetzen: auf die Idee, fünf Kilos abzunehmen, auf den Wunsch, mit Ihrem Partner wieder mehr Gemeinsames zu erleben, auf das Zielfoto, am Ende des Jahres ein fröhliches Familienfoto aufnehmen zu können, auf die gute Absicht, ein re20
Vgl. Ibid., 186. Vgl. Ibid., 196. 22 Vgl. Ibid., 204-208. 21
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gelmäßiges geistliches Leben zu führen. Nur nehmen Sie sich bitte nicht alle Veränderungen gleichzeitig vor. 4. Wie Gemeinden sich ändern 4. Wie Gemeinden sich ändern Was bedeutet das alles für unsere Gemeinden, in denen wir mitarbeiten? 4.1 Womit Wandel beginnt Der englische Theologe Phil Potter hat ein Buch über Veränderung geschrieben. Und darin zeigt er, dass im Grunde auch für die Gemeinde der Weg ganz ähnlich ist wie für uns als Einzelne. Egal, ob die Veränderung uns aufgenötigt wird oder von uns ersehnt ist, es kommt darauf an: Gott ist verlässlich, und aller Wandel beginnt mit unserer Hingabe an Gott, und dann ist es auch ein Handwerk.23 Phil Potter beginnt sein Buch über „The Challenge of Change“ mit einer Betrachtung über das menschliche Herz. „The heart of the human problem is the problem of the human heart.“24 Er schildert bestimmte liturgische Änderungen und Bauprojekte, die er in der Gemeinde vornehmen wollte. Und er stellt fest: Ohne eine Veränderung des Klimas in der Gemeinde wird es auch keine Veränderung der Gemeinde geben. „The renewal of buildings, services, groups and programmes is always preceded by a renewal of the heart.“25 Darum begann er nicht mit den Veränderungen in Strategie und Struktur, sondern „worked on these issues of heart, restoring relationships, addressing personal needs and working through unfulfilled expectations.“26 Potter nennt eine Reihe von Schritten, die zu dieser Erneuerung des Herzens gehören: New honesty (Neue Ehrlichkeit): Hier geht es um eine offene Bestandsaufnahme über den Zustand, in dem sich die Gemeinde befindet. Erreichen wir noch etwas? Nutzen wir unsere Ressourcen bestmöglich? Tragen wir etwas bei zum Aufbau des Leibes Christi? Zur Evangelisierung der Menschen? Ist das, was wir tun, Gottes bester Plan für uns?27 New humility (Neue Demut): eine neue Bescheidenheit angesichts unserer Schwäche. Im Angesicht Gottes wird Jesaja nicht stolz und selbstbewusst, sondern demütig und offen für das, was Gott geben kann.28 23
Vgl. zum Folgenden Phil Potter 2009. Ibid., 13. 25 Ibid., 15. 26 Ibid., 14. 27 Vgl. Ibid., 15-19. 28 Vgl. Ibid., 19-23. 24
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New hunger (Neue Sehnsucht): eine neue Sehnsucht danach, Gottes Kraft als wirksam zu erleben.29 New kind of hurt („Es darf weh tun!“): die Bereitschaft, mit allem, was uns lieb und teuer ist, zu sterben, wenn das nötig ist, um der Gottesmission zu folgen. Das ist ein Opfer. Ich finde diesen Hinweis besonders wichtig. Potter erklärt den Unterschied zwischen Opfer und Kollekte mit einer alten Geschichte: Es ist die Geschichte vom Huhn und vom Schwein, die an einem Restaurant vorbeikommen, wo „ham and eggs“ (Schinken mit Eiern) angepriesen werden. Da sagt das Schwein zum Huhn: „Für dich ist das eine Kollekte, für mich ein Opfer.“ Oft geht es aber darum, etwas zu opfern, was teuer ist. In einer landeskirchlichen Gemeinschaft in Westfalen hatte die Nachkriegsgeneration unter großen Opfern das Gemeinschaftshaus errichtet. Aber nun war es zu klein, zu eng und zu unmodern, und die Jüngeren wollten neu beginnen in einer Lagerhalle. Was würden die Alten tun? Eine von ihnen, bald 90 Jahre alt, sagte: „Verkauft das alte Haus! Jetzt ist eine neue Zeit.“ Das ist „sacrifice“, Opfer, nicht „offering“ (Kollekte).30 New harmony (Neue Harmonie): Neue Harmonie bedeutet bei Potter die Klärung von Streit und Zerwürfnissen in der Gemeinde, die jede Veränderung lähmen würden.31 New hope: Neue Hoffnung ist das Resultat dieses Prozesses – und damit stehen wir erst an der Startlinie zum Change Management.32 4.2 Das Mission Audit: Veränderung braucht eine Bestandsaufnahme Das EKD-Zentrum „Mission in der Region“ hat dazu ein ausgezeichnetes kleines methodisches Werkzeug vorgelegt: das Mission Audit.33 Mit einem Audit (von: audire, lateinisch: hören) fragen wir: „Entspricht das, was wir tun, leben, glauben und verkündigen, unserem Auftrag?“34 Das Audit geht an einigen ganz einfachen Fragen entlang: Sie diskutieren erstens miteinander die Frage: Wozu sind wir da? Was ist eigentlich unsere Mission? Könnten wir den Auftrag Gottes für unsere spezielle Gemeinde in wenigen Worten konkret benennen? Oder erleben wir Gott gerade irgendwo auf besondere Weise am Werk? Was ist zweitens unsere Rolle hier am Ort? Wir fragen jetzt mal nicht nach dem Ergehen der Gemeinde, sondern von außen: Was 29
Vgl. Ibid., 23-25. Vgl. Ibid., 25-27. 31 Vgl. Ibid., 28f. 32 Vgl. Ibid., 29-31. 33 Vgl. zum Folgenden durchgängig: Zentrum „Mission in der Region“ 2015. 34 Ibid., 3. 30
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würde hier fehlen, wenn es unsere Gemeinde nicht gäbe? Sehr hilfreich finde ich auch die Frage, für wen wir tatsächlich da sind, für ein paar wenige treue Anhänger oder für viele Menschen, die hier leben? Nun kann man sich da ja furchtbar über sich selbst täuschen. Also fragen wir drittens die Menschen selbst, die Anwohner, einige Verantwortliche in der Kommune oder in Vereinen. Was würde wohl der Bürgermeister antworten, wenn wir ihn fragen: Was könnte unsere Gemeinde für Sie tun? Viertens schauen wir mal auf unsere Beziehungen. Menschen kommen neu zum Glauben, wenn sie gute Beziehungen zu überzeugenden Christen haben. Zu wem haben wir gute Beziehungen, der noch nicht vom Evangelium berührt ist? Für wen beten wir? Was tun wir, um diese Menschen in Kontakt mit der Gemeinde zu bringen? Fünftens schauen wir noch einmal nach außen und betrachten genau die Lebensumstände der Menschen. Wer wohnt hier? Wo gibt es Sorgen? Um wen kümmert sich niemand? Wo gibt es auch Stärken, wo warten nur Menschen, dass man sie bittet mitzuhelfen? Sechstens fragen wir mal über den Tellerrand der Kirchengemeinde hinaus. Wer ist denn noch in unserer Region christlich unterwegs? Könnten wir nicht manches mit anderen zusammen machen? Oder könnten wir nicht manches auch lassen, weil es andere besser machen? Wie kommen wir dazu, mit anderen Gemeinden ein Bündnis zu schmieden: Gemeinsam unterwegs in Gottes Mission für unsere Region? Und dann dürften wir klarer sehen, wenn wir diese sechs Überlegungen zusammenfassen. Wir können Gott danken für das, was schon gut läuft. Und wir können ihn auf dieser Basis fragen: Herr, wo sollen wir uns ändern? Und welche Schritte sind dann nötig?
4.3 Veränderungshandwerk in Organisationen Stellen wir uns vor: In unserer Gemeinde ist diese Bilanz ein bisschen ernüchternd ausgefallen. Die Verantwortlichen stellen fest: Unsere Umgebung hat sich völlig verändert, aber wir haben uns nicht verändert. Die Menschen kommen nicht mehr von selbst zu uns, die Abstände sind viel größer geworden. Unsere Ideen, wie wir Menschen auf das Evangelium aufmerksam machen können, haben früher gute Wirkungen gezeitigt, aber heute klappt das eigentlich nicht mehr. Die Fragen der Menschen sind andere, unsere Antworten sind dieselben geblieben. Unsere Strategien sind veraltet, unsere Strukturen passen nicht. Wir müssen uns ändern. Nun bleiben die, die zu dieser Einsicht kamen, dabei nicht stehen. Sie haben sogar gute Ideen: Wir müssen uns stärker öffnen. Unsere Kreise
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sind zu sehr mit sich selbst beschäftigt. Wir müssen mehr Mitarbeiter gewinnen. Wir brauchen einen neuen Zugang zu den sozial schlechter gestellten Menschen in den Hochhäusern. Wir sollten den alten Kurs zum Glauben durch etwas Neues ersetzen. Unser alternativer Gottesdienst hat sich eigentlich überlebt. Die Einsicht ist da, und es gibt neue Ideen. Und trotzdem tut sich nichts. Die Änderung greift nicht. Die Gemeinde bewegt sich nicht. Woran liegt das? Eine erste Erklärung hat damit zu tun, dass auch Gemeinden nicht immer große Freunde von Veränderung sind. Everett Rogers hat gezeigt, dass Menschen in allen menschlichen Gemeinschaften sehr verschieden auf Veränderungen reagieren. Manche preschen mit guten Ideen voran, andere sind schnell begeistert, eine dritte Gruppe ist willig anzupacken. Aber ein Drittel der Menschen ist eher zögerlich und schaut erst einmal zu, ob sich das Neue bewährt. Und einige bremsen eher, haben Vorbehalte, sorgen sich, weil das Alte vertraut ist, das Neue aber riskant und unsicher.35 Hinter dieser Einsicht steckt keine Wertung. Das Verhalten jeder Veränderung gegenüber hat auch mit den tiefen Strukturen unseres Charakters zu tun. Manche lieben Veränderung, sie sind in diesem Sinne geradezu „neu-gierig“, andere halten treu am Bewährten fest. Das können sie selbst bei sich auch nicht von heute auf morgen ändern. Und wenn es gut geht, bleiben alle beieinander und fördern so etwas wie einen behutsamen Wandel, der bewahrt, was bewahrenswert ist, und verändert, was sich ändern muss. Ein nüchterner Hinweis bleibt uns nicht erspart: Trotz allem drohen nämlich an den extremen Rändern die großen Konflikte: Ungeduldige Neuerer, denen die Gemeinde nie schnell genug ist, aber auch hartnäckige Bewahrer, die noch in zehn Jahren der kleinsten Veränderung widerstehen werden. Die Ersteren zu bremsen, auf die Letzteren nicht zu lange einzugehen, kostet für Leiter immer viel Kraft. Es ist aber „alternativlos“. Diese Konflikte sind letztlich unvermeidbar. Beim Veränderungshandwerk oder Change Management fragt man nun: Wie kann man in Organisationen nötige Veränderungen geschickt einleiten, kompetent begleiten und erfolgreich abschließen? Das ist ein Handwerk. Und es geht nicht ohne Gebet. Es ist beides: Handwerk und Gebet. Und bei diesem Handwerk passieren häufig bestimmte Pannen. John Kotter hat sich auf die Pannen beim Verändern konzentriert. Es sind in der Regel acht, eng aufeinander bezogene Fehlerquellen im Handwerk guter Führungsarbeit.36 Es ist eine Kette von Fehlern, und dabei hängt 35 36
Vgl. Everett Rogers 2003. Vgl. zum Folgenden John P. Kotter 1996.
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einer am anderen. Es reicht, wenn schon der erste Fehler begangen wird, dann wird der gesamte Rest schwierig. Stellen wir uns also vor, einige wichtige Mitarbeiter, darunter eine Pfarrerin und ein Presbyter, spüren, dass sich die Gemeinde fast nur noch mit sich selbst beschäftigt. Die Welt um uns herum ist kaum noch im Blick. Weder die Sorge um die Armen noch der Wunsch, dass Menschen neu zum Glauben finden, sind wichtige Themen. Sie möchten das ändern. Sie möchten im Neubaugebiet einen Laden mieten und dort Angebote für Kinder machen. Sie hoffen, dort auch Erwachsene zu erreichen, und denken schon an einen Kurs zum Glauben in diesem Ladenlokal. Aber die Gemeinde ist nicht überzeugt: Es finden sich kaum Freiwillige. Die Hochaktiven verweisen auf ihre Überlastung. Das Presbyterium findet die Idee zu teuer. Der Bibelkreis findet, wir sollten lieber wieder eine klassische Evangelisationswoche durchführen. Einer der Pfarrer findet, dass erst der Umbau des Gemeindehauses dran ist. Tun wir einen Moment lang so, als sei die Idee dieser kleinen Gruppe innovativer Christen dennoch die richtige. Warum scheitern sie? Was sollten sie denn tun? 1. Es gibt kein Empfinden für die Dringlichkeit von Veränderungen. Die Mehrheit in der Gemeinde ist eigentlich ganz zufrieden damit, wie alles läuft. Schließlich geben sich ja alle viel Mühe. Und es kommen doch immer noch Menschen, denen es bei uns gut gefällt. Die englischen Bischöfe sagen uns Deutschen manchmal: Ihr habt immer noch zu viel Geld, Euch geht es noch zu gut. 2. Wichtige Schlüsselpersonen der Gemeinde sind nicht mit an Deck. Es gibt keine starke Crew von Menschen, die als fähig und vertrauenswürdig gelten und sich hinter das neue Projekt stellen. Menschen, die auf Grund ihrer Stellung oder ihres Ansehens zu den „Säulen“ der Gemeinde gehören, wurden nicht eingebunden. Es wurde zu wenig kommuniziert, und nun ist das Team, das den Wandel ins Auge fasst, einfach zu schwach. Manchmal wundern sich Leiter in der Gemeinde, warum alles so schwer ist; ihre Ideen sind doch gut. Sie haben das doch gerade beim Willow Creek Kongress gelernt oder in der Weiterbildung im Pastoralkolleg. Aber sie haben nicht genug kommuniziert und sich selbst Opposition geschaffen, indem sie Schlüsselpersonen aus dem Presbyterium nicht einbezogen haben. In so komplexen sozialen Gebilden wie Gemeinden muss das aber scheitern. Es braucht viele, die mithelfen. Und gerade die mit Einfluss und Amt sollte man dann nicht gegen sich haben. Es ist besser, manche Kritiker mit an Bord zu nehmen, als sich gegen sie abzustrampeln. Fürchten Kritiker z. B., dass bei der neuen Orientierung nach außen manche drinnen nicht mehr genug Beachtung finden, so ist es doch besser, sie achten als Teil des Teams darauf, dass das nicht passiert, als wenn sie von außen misstrauisch zuschauen. Insge-
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samt bedeutet das: Der entscheidende Schritt ist der Schritt vom Ich zum Wir. Solisten sind bei Veränderungen von komplexen sozialen Gebilden wie Gemeinden völlig überfordert. Als Christen sollten wir das wissen: Der Leib braucht das abgestimmte Miteinander der vielen. Der einsame Mund, der immerzu sagt, wo es lang geht, hat allenfalls noch den ebenso einsamen Zeigefinger auf seiner Seite, der dauernd mahnend in der Luft steht. Der Weg muss vom Ich zum Wir führen, d.h. wir brauchen starke Teams, und alle Zeit, die wir dafür investieren, ist gut investierte Zeit. 3. Man hat einfach die Bedeutung einer klaren und attraktiven Vision unterschätzt. Die Ziele werden eher als „dröge“ Notwendigkeiten verkauft. Das verlockt niemanden dazu, Opfer zu bringen und auch über Durststrecken hinwegzukommen. Der Reiter hat vielleicht Einsicht, aber der Elefant verspürt keine Neigung, sich anzuschließen. Wer Neues dadurch befördern will, dass er nur noch meckert und der Gemeinde zeigt, wie unzureichend sie ist, wird nichts gewinnen. Eine Vision könnte ganz anders motivieren, z. B. die Vision von einem veränderten Stadtviertel, von Kindern und Jugendlichen, die das Leben mutig in Angriff nehmen und denen der Glaube das Herz stark macht usw. Woher kommt eine Vision? Ich halte das für einen eminent geistlichen Prozess. Wir nehmen uns Zeit, hören gemeinsam auf Gottes Verheißungen in der Bibel. Vielleicht gehen wir einmal betend durch unseren Stadtteil oder unser Dorf und fragen: Herr, was bricht dein Herz an diesem Ort? Wo willst du etwas Neues? Betend und denkend fragen wir: Was ist deine Verheißung für uns hier? Und dann malen wir unser gemeinsames Hoffnungsbild. Was kann hier bei uns möglich sein, wenn wir uns auf den Weg machen und wenn Gott seine Verheißungen erfüllt? 4. Manche versäumen es, diese Vision auch regelmäßig, d.h. wieder und wieder verständlich und klar zu vermitteln. Also: Sie haben eine Vision. Aber Sie versäumen es, Debatten und Entscheidungen im Tagesgeschäft immer wieder auf die große Vision zurück zu beziehen. Es ist ein massiver Irrtum, dass die Vision doch jedem klar sein muss und allen immer vor Augen steht. Man muss sie sichtbar machen, man muss sie immer wieder erzählen, und man muss selbst vorleben, worum es geht. 5. Aber auch wenn die Dringlichkeit jedem vor Augen steht, eine starke Koalition vorangeht, eine starke Vision allen immer wieder phantasievoll vor Augen gemalt wird – es kann dennoch alles schief gehen. Schuld daran können Hindernisse in der Struktur sein, die nicht aus dem Weg geräumt werden: unzureichende Ausstattungen, viel zu viel Bürokratie, endlose Sitzungen usw. Reiter und Elefant sind sich einig, aber der Weg ist einfach zu steinig.
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6. Aber selbst wenn jeder weiß, dass sich etwas ändern muss, und hofft, dass sich alles in Richtung einer leuchtenden Vision verändert, und eine Crew von glaubwürdigen Menschen immer wieder die Richtung weist und obendrein alles Nötige organisiert wird – es kann immer noch Probleme geben. Die ganze Sache verliert nämlich an Schwung, wenn es nie erste Erfolge zu feiern gibt. Es wird auf Dauer sehr mühsam, wenn nie Meilensteine auf dem Weg erreicht werden und nie allen für den Einsatz bis hierher gedankt wird, sodass sie wieder motiviert werden, weil sie sehen können: Es geht voran – und zwar in die richtige Richtung. Ein Laden ist gemietet, er ist neu angestrichen, nächste Woche kommen die ersten Kinder zur neuen Schularbeitenhilfe, ein Jugendlicher hat den Schulabschluss geschafft, vier Erwachsene haben am ersten Kurs zum Glauben teilgenommen – und all das feiern wir. 7. Andererseits kann man auch zu früh erklären, dass die Schlacht geschlagen ist und der Sieg errungen wurde. Tiefgreifende Veränderungen brauchen oft Zeit. Wenn also die kleinen Siege zu ausgiebig gefeiert werden, lässt der Eifer nach. Es war ja eine harte Zeit – und jetzt müssen wir einfach einmal etwas langsamer machen! Die verfrühte Siegesfeier nimmt allem den Schwung. 8. Aber auch wenn das Timing gut gelingt und die Menschen die Dringlichkeit empfinden und zugleich der Vision folgen, ihrem Führungspersonal vertrauen und gut ausgerüstet werden, schon ein wenig feiern, dann aber die nächste Runde des langen Laufs in Angriff nehmen … Auch dann kann alles noch scheitern, wenn das Neue nicht in die Kultur der Gemeinde fest eingepflanzt wird, sodass jeder dauerhaft weiß: Bei uns wird das so und so gemacht. Das sind unsere wichtigsten Werte: Wir sind für andere da. Wir sind gastfreundlich. Und noch wichtiger: Wir müssen da sein, wo die Menschen jetzt gerade sind, und schauen, was Gott da, bei ihnen, vorhat. John Kotter zeigt, wie diese acht Probleme ineinander greifen. Und er ist überzeugt, dass an genau diesen Hindernissen viele Veränderungsprozesse scheitern. Es ist eine Führungsaufgabe der geistlichen Leitung, den ganzen Weg im Blick zu haben: vom ersten Empfinden der Dringlichkeit einer Veränderung bis zur Verankerung des Neuen in der Gemeindekultur. Veränderung geschieht, mal gewollt, mal ungewollt. Alles Lebendige unterliegt dem Wandel. Gott ist der eine feste Fels, der verlässlich ist, auch wenn wir durch Veränderungen hindurchgehen müssen bzw. wollen. Und dann gibt es den christlichen Zweitakt: Bete und Arbeite.
Literatur
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Literatur: Literatur Clausen, Matthias: Ich denke, also bin ich hier falsch? Glauben für Auf- und Abgeklärte. Asslar 2011 Haidt, Jonathan: The Happiness Hypothesis: Finding Modern Truth in Ancient Wisdom. New York 2006 Heath, Chip und Heath, Dan: Switch. Veränderungen wagen und dadurch gewinnen. Frankfurt/M. 2011 Keller, Timothy: Center Church. Doing Balanced Gospel-Centered Ministry in Your City. Grand Rapids 2012 Kotter, John P.: Leading Change. Boston 1996 McGrath, Alister: C.S. Lewis. Prophetischer Denker. Exzentrisches Genie. Gießen 2014 Potter, Phil: The Challenge of Change. A Guide to Shaping Change and Changing the Shape of Church. Abingdon 2009 Zentrum „Mission in der Region“ (Hg.): Gut & Gerne. Ein Audit für Mission in Gemeinde und Region. Dortmund 2015 Rogers, Everett: Diffusion of Innovations. New York 5. Aufl. 2003