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German Pages 676 [567] Year 1971
S A M I A AL A Z H A R I A ARABISCHE
JAHN
VOLKSMÄRCHEN
VOLKSMÄRCHEN EINE INTERNATIONALE
REIHE
Herausgegeben vom Zentralinstitut f ü r Geschichte Wissenschaftsbereich K u l t u r g e s c h i c h t e / V o l k s k u n d e a n der Deutschen A k a d e m i e der Wissenschaften z u B e i l i n
durch Julian Kr^y^anojvsky,
Warschau
Cyula Qrtutay, Budapest Erna Pomorans^en>a, Moskau Gisela Burde-Scbneidewind, mitbegründet von Wolf gang Stcinitz Redaktion Friedmar
Geißler
Berlin
ARABISCHE VOLKSMÄRCHEN
Herausgegeben von SAMIA AL AZHARIA JAHN
AKADEMIE-VERLAG • BERLIN 1970
Übersetzung von Samia AI A^baria Jahn Fachbearbeitung Friedmar Ceißler unter Mitarbeit von Keiner Koppe
Erschienen im Akademie-Verlag GmbH, 108 Berlin, Leipziger Straße 2—4 Copyright 1970 by Akademie-Verlag GmbH Lektor: Eberhard Kerkow Lizenznummer: 202 . 100/169/70 Herstellung: IV/2/14 VEB Weikdruck, 445 Gräfenhainlchen • 3352 Bestellnummer: 2121/5 . ES 8 B . 14 G
VORWORT
D i e in diesem Band enthaltenen Volksmärchen und anderen Erzählungen sind mündlich überliefert und stammen aus Tunesien, Libyen, der Vereinigten Arabischen Republik, dem Sudan, Jordanien, dem Libanon und aus dem Irak. Arabische Sammler zeichneten sie während der letzten zehn bis fünfzehn Jahre auf und veröffentlichten auch einen Teil der Texte. D i e erste Ausgabe arabischer Volksmärchen in der Originalspr^iche sah ich im Herbst 1963 in Bagdad! Obwohl es mich anfänglich einige Mühe kostete, die Inhalte zu verstehen, fand ich so viel Gefallen am Studium dieser Märchen, d a ß ich bei weiteren Orientreisen keine Gelegenheit versäumte, andere Sammlungen aufzuspüren und mit Arabern in Verbindung zu treten, die sich f ü r Volksdichtung interessierten. Bei Vorarbeiten zur Herausgabe einiger dieser Märchen in der Weltsprache I D O (Esperanto reformita) - sie sind 1965 unter dem Titel „Araba Rakonti" in Schweden erschienen - suchte ich den dänischen Märchenforscher Bengt Hölbek auf. D a n k seiner ermunternden Worte und seiner Bemühungen, mich mit Frau D r . Burde-Schneidewind vom Institut für deutsche Volkskunde der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin bekannt zu machen, ist das vorliegende Buch zustande gekommen. Zwar war die Volkserzählforschung für mich Neuland, doch mit der dem N a t u r wissenschaftler eigenen Freude am Experimentieren setzte ich mich an die Arbeit. W o meine arabischen Sprachkenntnisse und mein Wissen um die Lebens- und Denkweise im islamischen Orient nicht ausreichten, fand ich tatkräftige Unterstützung bei meinem Mann, D r . A h m a d Ibrahim N a guib, und bei arabischen Freunden.
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Die arabischen Märchen führen den europäischen Leser in eine Umwelt, die sich in mannigfacher Weise von seiner eigenen unterscheidet. Und da die Bände dieser Reihe nicht nur für Wissenschaftler bestimmt sind, hat der vorliegende Band mehrere Lesehilfen erhalten, die zu einem besseren Verstehen beitragen sollen. Im Textteil sind die arabischen Namen und Begriffe in vereinfachter Schreibung wiedergegeben, damit jeder Leser die ungewohnten Wörter annäherungsweise aussprechen kann (so steht z. B. „dsch" f ü r g , „sch" für s, „ch" f ü r h ) . Neben den Fußnoten erläutert das Worterklärungsverzeichnis die häufiger auftauchenden Namen, Bezeichnungen, Redewendungen, fremden Begriffe wie auch Maße, Münzen und Gewichte. Die entsprechenden Stichwörter sind im Textteil allerdings nicht besonders gekennzeichnet. - Bei der Angabe der Herkunftsländer der Märchen haben wir die Namen verwendet, die zur Zeit der Textaufzeichnungen bzw. -Sammlungen gebräuchlich waren. ^ Die Anmerkungen zu den einzelnen Texten sind vorzugsweise für den Erzählforscher gedacht, der sie um so mehr begrüßen wird, da für die arabischen Märchen weder ein Typen- noch ein Motivindex vorliegt. Wenn ich bisher auch nur einen kleinen Teil der Sammlungen zu sichten vermochte, die von Orientalisten oder von arabischer Seite zusammengetragen wurden, so habe ich mich doch bemüht, in möglichst gleichmäßigem Umfang Material aus allen Teilen der arabischen Welt zu berücksichtigen und manchmal auch nach Varianten in Nachbarländern zu suchen. Außerdem sind in die Typen- und Motivanalysen mehrfach Hinweise auf literarische Bearbeitungen eingefügt worden. Es ist mir ein inneres Bedürfnis, an dieser Stelle allen, die mich in den verschiedenen Phasen meiner Arbeit unterstützt haben, meine Anerkennung auszusprechen. Für die Überlassung von arabischem Textmaterial und für die Genehmigung zu seiner Auswertung gilt mein aufrichtiger Dank den Unterrichtsministerien in Amman, Bagdad und Khartum, den Ministerien für Kultur in Kairo und Tripolis, den Zentren für Volkskunst in Kairo und Tunis sowie den Professoren Abdalhamid Junus und Murad Kamil
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von der Universität Kairo und Herrn Prof. Ernst Bannerth vom Institut Dominicain d'Études Orientales in Kairo. D e n folgenden Sammlern, die ich entweder persönlich oder brieflich kennengelernt habe, sage ich herzlichen D a n k für ihre Einwilligung zur Übersetzung der Texte und für die Beantwortung spezieller Fragen: Abdallah Muhammad Ahmad A w a d (Sudan), Karam al-Bustani (Libanon), Umar Utman Chidr (VAR), Faiz Ali al-Ghul (Jordanien), Safwat Kamal (VAR), Muhammad al-Marzuqi (Tunesien), Ahmad as-Sufi (Irak) und Prof. Abdallah at-Taijib (Sudan). Für die Klärung schwieriger sprachlicher und inhaltlicher Fragen bin ich auch dem derzeitigen jordanischen Kulturattaché in Bonn, Herrn Hikmat Lubbada, dem sudanesischen Kulturattaché in Paris, Herrn Haschim Utman, sowie dem Sekretär der Gesellschaft für Kunst und Kultur in Mosul, Herrn Abdalhamid Chidr at-Takriti, zu großem D a n k verpflichtet. D i e grundlegenden Untersuchungen über Varianten zu den ausgewählten Texten sowie das Studium folkloristischer Literatur über die verschiedenen arabischen Länder führte ich mit Hilfe des reichen Bücherschatzes der Königlichen Bibliothek in Kopenhagen durch. Besonderen D a n k schulde ich für die stete, unermüdliche Hilfsbereitschaft den Mitarbeitern des Lesesaals und der Abteilung zum Austausch mit ausländischen Bibliotheken, durch deren Vermittlung ich weitere Veröffentlichungen aus deutschen, englischen, französischen, österreichischen und schwedischen Bibliotheken erhielt. Mein aufrichtiger D a n k gilt ferner Herrn S. Heimann von der judaistischen Abteilung der Königlichen Bibliothek für die Deutung einiger Märchen in hebräischer Sprache sowie Herrn Prof. Gunnar Svane vom Slawistischen Institut der Universität Ärhus (Dänemark) für Erklärungen zu einem Text in albanischer Sprache. Herrn Prof. R. B. Serjeant (z. Z. Institute of Oriental Studies, Cambridge), unter dessen Beaufsichtigung die Doktorarbeit von Herrn Isa Massou (University of London) zustande gekommen ist, danke ich für die Erlaubnis, auf verschiedene folkloristische Daten Bezug zu nehmen, und der Universität in London für die Möglichkeit, die Abhandlung durchzuarbeiten.
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Hier in Kairo möchte ich den Bibliotheken )der Amerikanischen Universität und des Französischen Instituts meinen Dank sagen. Von den Folkloristen habe ich Herrn Mag. Bengt Holbek (Kopenhagen) für sein Interesse an den Anfängen der Arbeit sowie Herrn Prof. P. N. Boratav (Paris) und Herrn Dr. Hannjost Lixfeld (Göttingen) für einige wertvolle Auskünfte zu danken. .' Um den Kreis der getreuen Helfer abzurunden, möchte ich mit ganz besonderer Dankbarkeit meinen Mann erwähnen, der stets bereit war, zur Lösung meiner mannigfachen Fragen beizutragen, und der selbst persönliche Opfer nicht gescheut hat, damit ich dieses Buch zu Ende bringen konnte. Mit warmem Dank wende ich mich an Frau Dr. BurdeSchneidewind sowie Herrn Dr. Friedmar Geißler und Herrn Reiner Koppe von der Deutschen Akademie der Wissenschaften zu Berlin, die sich sehr um die Redaktion dieses Bandes bemüht haben. Herr Koppe hat ferner die Transkription der arabischen Namen, Titel und Wörter besorgt. Die größte Bürde der Redaktionsarbeiten lag auf Herrn Dr. Geißler, zumal er es in mir nicht mit einem Fachwissenschaftler zu tun hatte. Seiner Genauigkeit, reichen Erfahrung und kritischen Stellungnahme hat dieser Band sowohl im Aufbau als auch in inhaltlichen Feinheiten viel zu verdanken. Bei allen an mich gerichteten wissenschaftlichen Anforderungen erhöhten sein stetes persönliches Verständnis und sein Ansporn die Freude an der gemeinsamen Arbeit, i Zum Schluß, aber nicht zuletzt, möchte ich auch den Herausgebern der Reihe und dem Akademie-Verlag, insbesondere Herrn Eberhard Kerkow, meinen verbindlichsten Dank ausdrücken. Kairo, im Juni 1969 Samia AI Azharia Jahn
V O M SANDFLUGHUHN, DER G A Z E L L E UND DEM ESEL
Es geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. Jeder, der gesündigt hat, soll es bereuen und Allah um Vergebung bitten. Man erzählt sich, daß sich eine Gazelle, ein Sandflughuhn und ein Esel in der Wüste trafen, und nachdem sie sich miteinander bekannt gemacht hatten, fing jeder von ihnen an über die Ungerechtigkeit des Menschen und seine Grausamkeit gegenüber den Tieren und ihrer Gattung im besonderen zu klagen. Das Sandflughuhn sagte: „Jedesmal, wenn er mich sieht, jagt er hinter mir her, schlachtet mich und ißt mich und hat kein Erbarmen mit meinen Jungen." Da sprach die Gazelle: „Und bei mir genügt es ihm nicht, mein Fleisch zu essen, sondern er zieht mir noch das Fell ab und macht einen Teppich daraus." 1 Der Esel sagte: „Er läßt mich vom Morgen bis zum Abend arbeiten, bis meine Kraft erschöpft ist. Dann bindet er mich an und legt eine Handvoll Gras und Stroh vor mich hin. Davon wirst du nicht fett, noch kannst du den Hunger stillen. Ich nehme vom Menschen nur schmerzhafte Schläge hin, und manchmal sticht er mich sogar mit der Packnadel. Dann rinnt das Blut an mir herunter, und ich muß geduldig diese Ungerechtigkeit ertragen. W a s ist das für ein Leben, das wir mit den Menschen führen?" Nach langen Erörterungen und eingehender Betrachtung ihrer Lage, nach Weinen und Wehklagen kamen sie zu dem Schluß, daß es für sie von nun an kein Zusammenleben 1
Zusammengenähte, gegerbte Gazellenhäute dienten als Schlafunterlage.
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mehr mit den Söhnen der Menschen gäbe und d a ß sie einen Zufluchtsort finden müßten, der weit weg liege, wo sie die H a n d des Menschen nicht mehr erreiche, damit sie in Sicherheit leben könnten, bis der Zerstörer aller Freuden, der Unerbittliche, der alle Gemeinschaften auseinanderreißt, zu ihnen käme. i So beschlossen sie, sich einen abgelegenen Ort auszusuchen und dort gemeinsam Ackerbau zu treiben und das Feld zu bestellen, 'um zu fressen, wonach sie verlangten. D a s Sandflughuhn sollte in die D ö r f e r fliegen, Weizen- und Gerstenkörner von den Dreschtennen aufpicken und sie auf ihren Acker bringen, damit er besät werde. D i e Gazelle erhielt die Aufgabe, die Körner zu säen, weil sie so schnell sei und viel umherspringe. Der Esel übernahm das Pflügen des Ackers, was ja auch früher schon seine Arbeit war. Nachdem sie das vereinbart und einen Vertrag darüber abgeschlossen hatten, gingen sie an den auserkorenen Ort und suchten sich ein Stück unbestelltes Land; das dreißig Tagereisen von menschlichen Bewohnern entfernt lag. D a n n begann der letzte, der Esel, den Acker zu pflügen und aufzulockern. D a s Sandflughuhn flog\nach den D ö r fern, Landstädtchen und Feldern, um die Samenkörner zu bringen, und die Gazelle begann zu säen. Sie beendeten ihre Arbeit innerhalb eines Monats. Darauf fielen reichlich Regenschauer auf ihr bestelltes Feld. Die Saat ging auf, wuchs empor, und das Korn setzte Ähren an. Die drei Gefährten versammelten sich täglich zum abendlichen Geplauder und Gespräch auf dem Feld, bis es spät wurde. D a n n brachen sie alle auf. D a s Sandflughuhn zog sich in sein Nest zurück, die Gazelle ging in ihren Unterschlupf und der Esel in seine 'Ruhestätte. Eines Tages gab der Esel vor, krank zu sein, legte sich auf die E r d e und drehte sich vor Schmerzen von einer Seite auf die andere. Nachdem das Sandflughuhn und die Gazelle das Feld .verlassen hatten, richtete er sich auf, stellte sich auf die Beine und lief in das Feld hinein und begann das Getreide zu verschlingen. E r drang vom Kopfende aus ein und kam am Kopfende heraus und ließ nichts übrig. Danach kehrte er an seinen alten Platz zurück, legte sich
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schlafen, wie es seine Gewohnheit war, und fing an zu schnarchen. Als der Morgen anbrach, kehrten die Gazelle und das Sandflughuhn wie üblich auf das Feld zurück und entdeckten, daß von dem Getreide nichts mehr übrig war, keine einzige Ähre war zurückgelassen. Das Erstaunen bemächtigte sich ihrer. Da gingen sie zum Esel, weckten ihn und erzählten ihm alles, was geschehen war. Er sagte: „Ach, ich bin krank und kann mich nicht von der Stelle rühren. Ich weiß nicht, was sich zugetragen hat, seitdem ihr mich gestern verlassen habt." Sie zankten und stritten sich, und jeder begann den anderen zu verdächtigen. Schließlich kamen sie überein, einen Schwur im Namen Allahs vor dem Zemzem-Brunnen abzulegen, daß sie das Getreide nicht gefressen hätten. Dann machten sie sich schnellen Schrittes auf den Weg. Der erste, der an dem Brunnen anlangte, um den Schwur zu tun, war das Sandflughuhn. Nachdem es Allah um Vergebung der Sünden gebeten hatte, die es begangen hatte und die es noch begehen sollte, sprach es mit schwacher Stimme: „Qat, qat, ich bin der kleine Wüstenvogel. 1 Qat, qat, hab' nicht das bißchen Korn gefressen. Qat, qat, o du Zemzem-Brunnen, Qat, qat, wenn ich es gefressen hätt', Qat, qat, so laß mich untertauchen Und nie wieder hoch kommen!" So sprach es, sprang von der einen Seite in den Brunnen und kam auf der anderen wieder heraus. Nach ihm langte die Gazelle am Brunnen an und bat Allah um Vergebung der Sünden, die sie begangen hatte und die sie noch begehen sollte. Danach sprach sie mit sanfter Stimme: 1
D i e Silbe am Anfang der Reimformeln ist jeweils vom Namen d e j Tieres abgeleitet. D e s Reimes wegen ist im Original von Korn, Reis und Gerste die Rede. Außerdem nennen sich die Tiere mit Verkleinerungsformen, um den angeblichen JDiebstahl möglichst gering erscheinen zu lassen.
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„Gaz, gaz, ich bin die Gazelle. Gaz, gaz, hab' nicht das bißchen Reis gefressen. Gaz, gaz, o du Zemzem-Brunnen, Gaz, gaz, wenn ich ihn gefressen hätt', Gaz, gaz, so laß mich untertauchen Und nie wieder hoch kommen!" Dann sprang sie von einer Richtung in den Brunnen, tauchte unter und lief in der anderen Richtung wieder heraus. Danach kam der Esel an den Brunnenrand, betete und bat Allah um Vergebung der Sünden, die er begangen hatte und die er noch begehen sollte, und sprach mit rauher Stimme: „Ham, ham, ich bin der Esel. Ham, ham, die Gerste hab' ich nicht gefressen. Ham, ham, o du Zemzem-Brunnen, Ham, ham, wenn ich sie gefressen hätt', Ham, ham, so laß mich untertauchen Und nie wieder hoch kommen!" So sprach er und sprang mit einem gewaltigen Satz in den Brunnen. Aber er sank auf den Grund und starb den Tod des Ertrinkens. Wir sind bei euch gewesen und müssen nun zurückkehren. Wenn wir eine Last Rosinen hätten, würden wir sie unter die Zuhörer verteilen.
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2 DER ZEUGE, DER BEIM STROH SCHWOR
M a n erzählt sich, d a ß zu alten Zeiten eine arme, alte Frau einen kleinen Schafbock und einen H u n d besaß. D e r H u n d pflegte das Schaf mitzunehmen und mit ihm auf die Felder hinauszugehen, um es frische Kräuter weiden zu lassen. Eines Tages, als sie auf d e m Feld waren, verspürte der H u n d plötzlich Hunger u n d sprach zu seinem G e f ä h r t e n , dem Schaf: „Bleib hier, ich gehe fort, um mir Brotkrumen zu suchen!" D e r H u n d ging davon und suchte etwas zu fressen, u n d das Schaf blieb zurück und äste eine Weile. D a erspähte es ein Fuchs von weitem. E r k a m näher zu ihm heran und schaute dabei vorsichtig nach allen Seiten, um sicher zu sein, d a ß es allein war. D a n n schlich er so nahe an das Schaf heran, bis er ihm gegenüberstand. E r redete wütend auf das Schaf ein, denn er heckte in seiner Seele eine böse T a t aus: „Wie kannst du dir erlauben, du Einfaltspinsel, hierherzukommen und das L a n d meiner V ä t e r und meiner G r o ß v ä t e r zu betreten, ohne d a ß du von mir die Erlaubnis dazu h a s t ? " U n d er begann zu bellen und es so lange anzuschreien, bis er dem armen Schaf den Kopf verwirrt hatte. Als sich der Sturm schließlich legte, sprach das Schaf mit ängstlicher Stimme: „ W e n n dies das L a n d deiner Väter und deiner G r o ß väter sein soll, wo hast du einen Zeugen d a f ü r ? " D a sprach der Fuchs zu i h m : „ W a r t e eine Minute, bis ich dir meinen Zeugen bringe." So sprach er und verließ es. E s dauerte nicht lange, bis er einem Wolf auf d e m Wege begegnete. E r ging auf ihn zu und sprach zu i h m : 13
„Möge Allah deinen Morgen segnen, Abu Sirhan, willst du nicht mitkommen, um für mich zu zeugen?" D a wollte der Wolf wissen, wofür. Der Fuchs erzählte es ihm und sprach: „Ich werde das Fleisch des jungen Schafbockes mit dir teilen, drum komm mit mir. Ich brauche nur einen Vorwand, denn er hat ja doch kein Gehirn." Dem Wolf gefiel das sehr gut, und er ging mit ihm an die Stelle zurück, an der sich das Schaf befand. Inzwischen hatte der Hund so viel zu fressen gefunden, daß er rülpste und sein Futter ihm wieder hochkam. D a kehrte er zu dem Schaf zurück und traf es betrübt und mit gebrochenem Herzen an. Er fragte es nach der Ursache, und es teilte ihm die Geschichte mit und sagte, daß der Fuchs weggegangen sei, um seinen Zeugen zu bringen. Der Hund war klug und listig. Er erkannte, welche Bewandtnis es mit der Geschichte hatte, und wußte, was der Fuchs wollte. Daher sprach er zu dem Schaf: „Mache dir keine Sorgen! Überlaß es mir, den Rechtsfall zu behandeln. Die Welt ist friedlich, 1 und solange du mit mir zusammenbist, gibt es keinen Anlaß zu Widerspruch. Ich will mich ins Stroh hocken, und du brauchst nichts anderes zu tun, als das Stroh über mir anzuhäufen, damit man nichts von mir sieht. Wenn der Fuchs, der Brotschlucker 2 , und sein angeblicher Zeuge kommen, werde ich sie die Sterne des späten Vormittags 3 sehen lassen! Von dir begehre ich nichts anderes, als daß du sie zu diesem Strohhaufen bringst und von dem Zeugen forderst, bei dem Stroh zu schwören, bevor er seine Zeugenaussage vorbringt, denn während ihres Schwörens will ich herauskommen und sie in Stücke reißen." So sprach er und stieg in den Graben hinunter, und das Schaf streute Stroh über ihn, bis es ihn genügend bedeckt hatte, daß er nicht: zu sehen war. 1 2 3
Wir Der Die lich
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haben alle dasselbe Recht hierzusein. Versager. Bekanntes Scheltwort in Mosul. listige Überrumpelung erscheint dem Hund genauso unglaubwie Sterne am hellen T a g .
Unterdessen erschienen von weitem der Fuchs und der Wolf und kamen näher heran. Als sie das Stück Land erreicht hatten, das sie ihres Erachtens als rechtmäßig forderten, sprach der Wolf: „Ich bezeuge, daß dieses Land der rechtmäßige Besitz des Fuchses ist, den er von seinen Vätern und seinen Großvätern ererbt hat, und daß niemand einen Anspruch darauf hat." Als sich der Fuchs zufällig umwandte, sah er einen Strohhaufen. Da sagte er sich: „Dieser Strohhaufen war das erste Mal nicht hier. Gewiß ist das eine Falle. Ich und mein Zeuge müssen uns daher in acht nehmen", und dabei wandte er sich an seinen Zeugen und sprach zu ihm: „O mein Bruder 1 , mache mir keine Vorwürfe! Du hast dich geirrt, genauso wie ich, denn dies ist nicht mein Land. Ich habe einen Fehler begangen. Drum komm mit mir, laß uns für den Kummer, den wir unserem verehrten Bruder, dem Schaf, bereitet haben, um Entschuldigung bitten." Der Wolf wunderte sich über diesen plötzlichen Sinneswandel seines Vetters, und da er dumm war, meinte er, daß dies ein Teil der List sei und daß er an seinem Zeugnis festhalten müsse. Daher begann er zu widersprechen: „Aber dies ist dein Land. Ich weiß es besser, denn ich bin älter an Jahren als du." Da sprach das Schaf zum Wolf: „Wenn du bezeugst, daß dies hier das Land des Fuchses ist, so schwöre mir beim Stroh, dann werde ich deiner Rede Glauben schenken." Dabei blieb dem Fuchs kein Zweifel mehr, daß das Schaf und der Hund ihn in die Falle gelockt hatten, und er machte sich daran, den Wolf fortzuziehen, doch der Wolf war ein Dummkopf und blieb wie angewurzelt stehen. Er beharrte auf seinem Zeugnis und sagte: „Natürlich bin ich bereit, beim Stroh und beim Herrn des Strohs 2 zu schwören. Das ist keine Sünde für mich." 1
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Vertrauliche Anrede Gleichgestellter bzw. Gleichaltriger. Jüngere Männer werden als Sohn angeredet, ältere als Onkel oder Großvater. Gleiches gilt für Frauen (Schwester, Tochter, Tante, Großmutter). Mit „Herr" ist an einen Geist oder Götzen im Stroh gedacht.
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Den Fuchs packte der Schrecken. E r versuchte den Wolf fortzuzerren und schrie ihn verzweifelt an: „Mein Bruder, ich habe mich geirrt! Dieses Land ist nicht mein Land. Ich, der das Recht dazu hätte, habe von meinem Recht abgelassen. Was geht es dich an? Ich brauche dein Zeugnis nicht. Ich mag keine lügenhafte Aussage anhören, wahrlich, sie würde mir Fluch bringen. Komm, mein Bruder! Wenn du jedoch auf dem Eid bestehst, den mir meine Religion verbietet, werde ich fortlaufen und das Feld verlassen, damit ich ihn nicht anzuhören brauche . . . Verbleib in Allahs Frieden!" So sprach der Fuchs und beeilte sich wegzukommen, denn er wußte, welch schlimmes Geschick seinen Gefährten, den Wolf, erwartete. Der Wolf jedoch hatte seine Zähne gewetzt und leckte sich die Lippen, als er auf das Stroh zuging, um den Eid zu schwören und sich danach auf den jungen Schafbock zu stürzen. Kaum hatte er aber seine Pfote nach .dem Strohhaufen ausgestreckt und gesagt: „Bei dem Recht dieses Strohs . . .", als der Hund zu ihm heraussprang und ihn in Stücke riß. Wenn ich eine Last getrockneter Datteln hätte, würde ich dir die Hälfte geben, und die andere ,wäre mein, doch die Dattelkerne wollte ich dem Fuchs in die Augen werfen. Wir sind bei euch gewesen und müssen nun zurückkehren.
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DAS
KÄFERFRÄULEIN
Es geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. Zu alten Zeiten lebte ein Käferfräulein in einem kleinen Haus, das sich für sie schickte. Eines Tages, als sie den Hof des Hauses fegte, fand sie einen Para. Dann entdeckte sie einen zweiten Para, als sie den Korridor fegte. Einen weiteren fand sie beim Fegen ihres Zimmers und einen vierten, als sie die Küche fegte, bis sie nach und nach eine kleine Summe Paramünzen zusammenbekommen hatte. Sie versteckte sie für Zeiten, da sie gebraucht werden könnten. Eines Tages nahm sie diese kleine Summe Paramünzen und ging zum Laden des Parfümhändlers. Dort kaufte sie sich rote Schminke, weißen Puder und Kühl, um die Augen schwarz zu umranden. Dann ging sie in ihr Haus zurück und schminkte sich die Wangen rot, färbte ihre Augenbrauen mit Kühl, puderte ihr Gesicht, band sich einen kleinen Tuchfetzen als Schleier um den Kopf und setzte sich auf die Schwelle des Hauses. Da kam der Grünkramhändler an ihr vorüber und sagte zu ihr: „O Fräulein Käfer, ich sehe, du hast dich ins Haustor gesetzt, als ob du einen Mann haben möchtest." Das Käferfräulein antwortete ihm: „Ja." Er sagte lachend zu ihr: „Willst du mich haben?" Sie sagte: „Und was willst du für mich tun?" Er sagte zu ihr: „Ich will dich auf ein Tablett legen und verkaufen." Da wurde das Käferfräulein wütend und antwortete ihm: „Deine Mutter ist ein Käferweib, wahrlich, sie ist ein Käferweib. Die Maultierstute mag ihr einen Fußtritt geben. 2
Arabische Volksmärchen
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Ich bin weiß und rein, und meine Wangen haben karmesinrote Farbe. Ich verbiete dir, mich anzuschauen." D a verließ sie der Grünkramhändler und ging nach Hause. Danach kam der K a d i vorbei. Er ritt auf einem weißen Maultier und war auf dem Weg zum Gericht. Als er sie so dasitzen sah, sprach er zu ihr: „ O Fräulein Käfer, ich sehe, du hast dich ins Haustor gesetzt, als ob du einen Mann haben möchtest." Sie sagte: „Ja." E r sprach scherzend zu ihr: „Willst du mich haben?" Sie sagte: „Und was willst du für mich tun?" Er sprach zu ihr: „Ich will dich so lange mit dem Schwanz meines Eselfohlens breitdrücken, bis du tot bist." D a ergriff sie Zorn, und sie antwortete ihm: „Deine Mutter ist ein Käferweib, wahrlich, sie ist ein Käferweib. Die Maultierstute mag ihr einen Fußtritt geben. Ich bin weiß und rein, und meine Wangen haben karmesinrote Farbe. Ich verbiete dir, mich anzuschauen." E r verließ sie und ging laut lachend seines Weges. Nach einiger Zeit kam der Parfümhändler an ihr vorüber und trug seinen Sack mit Waren auf der Schulter. Er starrte sie an, wie sie dort saß, und wollte sie zum Erröten bringen und sprach zu ihr: „ O Fräulein Käfer, ich sehe, du hast dich ins Haustor gesetzt, als ob du einen Mann haben möchtest." Sie sagte: „Ja." Und er sprach: „Willst du mich haben?" Sie antwortete ihm: „Wieviel Geld kannst du mir bieten, damit ich dich nehme, und was willst du für mich tun?" Er sagte: „Ich bin ein Parfümhändler. Ich werde dich in den Sack stecken und verkaufen." 18
Sie erzürnte über seine Antwort und sprach zu ihm: „Deine Mutter ist ein Käferweib, wahrlich, sie ist ein Käferweib. Die Maultierstute mag ihr einen Fußtritt geben. Ich bin weiß und rein, und meine Wangen haben karmesinrote Farbe. Ich verbiete dir, mich anzuschauen." E r verließ sie und ging seiner Wege. Sie blieb sitzen wie zuvor, bis eine große Ratte an ihr vorüberkam. D e r Rattenmann blieb stehen und sprach würdevoll zu dem Käferfräulein : „ O Fräulein Käfer, ich sehe, du hast dich ins Haustor gesetzt, als ob du einen Mann haben möchtest." Sie sagte zu ihm: „Ja." E r sprach zu ihr: „Willst du mich haben?" D a sagte sie: „Und was willst du für mich tun?" E r antwortete: „Ich will dich zu meiner Frau machen und dich ernähren und dir Honig vom Hause des Sultans bringen." D a nahm das Käferfräulein seinen Antrag an. D e r Rattenmann setzte den Ehekontrakt auf, und die beiden lebten zusammen. Dann begann er für sie Fett und Honig, Walnüsse und Mandeln, Pistazienfrüchte, Haselnüsse und Feigen aus den Läden der Händler zu stehlen und zu ihr zu bringen, und sie lebte ein herrliches Leben in Hülle und Fülle. Eines Tages ging der Rattenmann zum Schloß des Sultans, drang in das Vorratshaus ein und kletterte auf einen kleinen irdenen Topf, der Honig enthielt. E r hatte einen Fingerhut aus einer Walnuß und einen Fingerhut aus einer Haselnuß in der Hand, die beide gefüllt werden sollten, doch seine Füße glitten aus. E r fiel in den irdenen Topf, erstickte und starb. Nach einigen Tagen kam die Dienerin herein und wollte etwas Honig mitnehmen, aber als sie in den Topf hineinblickte, begann sie vor Schrecken um Hilfe zu rufen: „Edle Herrin, edle Herrin! Groß ist er, sieh, so groß" und sie gab das M a ß mit ihren Händen an. „Sein Kopf ist 2*
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wie eine Dabija, seine Augen sind wie zwei Masria, und er starrt mich an." Dann kam der Diener herein und untersuchte den Topf und fand, daß der Rattenmann im Honig verendet war. Sie trugen den irdenen Topf hinaus und warfen ihn auf die Landstraße. E r zerbrach. Der Honig floß heraus, und der Rattenmann wurde in den Staub geschleudert. Frau Käfer hatte auf ihren Gatten bis zum Abend gewartet, aber er kam nicht, und sie verließ mit ihren Kindern das Haus und suchte ihn. D i e Zeit verging. Endlich kam sie auf die Straße vor dem Schloß des Sultans und entdeckte ihren Gatten, den Rattenmann, erstickt am Wege liegend, und sein Leichnam war mit Staub bedeckt. D a kehrte sie mit ihren Kindern in ihr Haus zurück und begann zu klagen und zu weinen und sich ins Angesicht zu schlagen, und sie rief wehklagend: „Den Grünkramhändler habe ich abgewiesen, den Parfümhändler habe ich abgewiesen, und den Kadi über alle Kadis habe ich abgewiesen und mich an eine Ratte gehängt." Und ihre Kinder entgegneten ihr weinend: „Welch ein Unterschied, welch ein Unterschied, welch ein Unterschied!" Sie weinte und rief: „Den Grünkrämhändler habe ich abgewiesen, den Parfümhändler habe ich abgewiesen, den Kadi über alle Kadis habe ich abgewiesen, und den Rattenmann geheiratet", und ihre Kinder, die Waisen, wiederholten : „Welch ein Unterschied, welch ein Unterschied, welch ein Unterschied!" Wir sind bei euch gewesen und müssen nun zurückkehren. Wenn wir eine Last Rosinen hätten, würden wir sie unter die Zuhörer verteilen.
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DAS
MISSGESCHICK
EINES
ESELS
E i n Dorfbewohner besaß ein kleines Gut. Auf jenem Gut lebten ein Esel, den der Müßiggang unverschämt gemacht hatte, und ein K a m e l , das die G e d u l d verloren hatte, auf dem kleinen G u t zu bleiben, weil es nur selten von dort wegkam. D a s Leben auf dem G u t war eintönig und unerträglich. D e r Esel und das K a m e l hatten einander jedoch gute Kameradschaft versprochen, und sie begannen ihre Unzufriedenheit mit Witzen, Spaßmachen, dem Erzählen von Geschichten und Märchen und der Unterhaltung über allerhand seltsame Dinge zu zerstreuen. D a s K a m e l sprach: „Wahrlich, das Seltsamste, was ich in meinem Leben gesehen habe, ist die Wüste. Sie ist ein Gelände von großer Ausdehnung, ein E n d e ist vom anderen weit entfernt. Sie hat viel Sand, keinen Regen, wenig Pflanzen, und ihre Bewohner leben in Zelten aus Ziegenhaaren." D e r Esel sprach: „In dem, was du beschreibst, liegt durchaus nichts Merkwürdiges, verglichen mit dem, was die Menschen Meer nennen. D a s Seltsamste von allen Merkwürdigkeiten findet sich in diesem wunderbaren Etwas, und wahrlich, wenn es dir vom Schicksal beschieden wäre, die Pracht des Meeres zu erblicken, würdest du erfahren, daß dein Freund, der Esel, in allem recht hat, was er dir kundgetan hat, und in aller Weisheit, die er äußert." „ U n d was ist das M e e r ? " fragte das K a m e l mit etwas D e mut. „ D a s Meer ist wie die Wüste", sprach der Esel. „ E s gleicht ihr an Ausdehnung, denn ein E n d e ist vom anderen weit entfernt, und in der Verschiedenheit der Geschöpfe, die in ihm leben. E s ähnelt ihr auch, weil es aus kleinsten Teilchen zu-
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sammengesetzt ist, doch die kleinsten Teilchen des Meeres bestehen aus Wassertropfen, die sich auf seiner Oberfläche ansammeln, während die kleinsten Teilchen der Wüste aus dem vielen Sand bestehen, der von den Winden verbreitet wird und das Angesicht der Erde mit seiner staubgrauen Farbe bedeckt. Dazu kommt das Seltsamste am Meer, mein Bruder, seine dauernde Bewegung. Seine Wasser werden niemals müde und schlummern nicht, sondern drängen sich in unablässiger Folge von Bewegungen vorwärts und versuchen das trockene Land zu erreichen, doch sie müssen sich von ihm ohne Erfolg zurückziehen." „Meinst du alles, was du sagst?" fragte das Kamel ein wenig erstaunt. „Ich meine jeden Buchstaben davon", kam die Antwort. „Schwörst du darauf?" „Es ist nicht notwendig zu schwören, mein Bruder", sprach der Esel. „Komm, laß uns ans Meer gehen und es aus der Nähe betrachten, denn es ist nicht weit von hier. Wir können es nach einer Wanderung von einer halben Tagereise erreichen. Das ist keine Schwierigkeit für uns, denn wir werden die Unachtsamkeit des Gutsbesitzers ausnutzen. Die Flucht von seinem Gut ist leicht." Die beiden Freunde erlangten, was sie sich wünschten. Sie nutzten die Unachtsamkeit des Gutsbesitzers aus und flohen von seiner Tür. Sie zoeen auf der Landstraße entlang in Richtung Norden, nach Tripolis, wo das Meer ist, das sich in dauernder Bewegung befindet und niemals müde wird und nicht schlummert. Der Weg, der vor den beiden Freunden lag, war schön und machte sie froh. Grüne Weide umrahmte ihn, und er war von ausgedehnten Bauernwirtschaften gesäumt, auf denen es das köstlichste und wohlriechendste Gras und Grünfutter gab, Dinge, die das Kamel und den Esel für eine Weile zum Stehenbleiben bewogen, damit sie kosteten, was die Erde in so reichem Maße an frischem Salat und verschiedensten Kräutern hervorgebracht hatte. Sobald etwas Futter in den Magen der beiden Freunde gelangt war, vergaßen sie das Meer und daß sie den Weg fort22
setzen mußten, wenn sie es sehen wollten. Erinnert man sich auf einem köstlichen Weideplatz an das Meer mit seinem salzigen Wasser? Denkt man an die Wellen des Meeres und an sein dumpfes Tosen, wo sich ein Bächlein befindet, dessen klares Wasser aus einer Öffnung der Erde quillt und das ein lustiges Geräusch hervorruft? Die beiden Freunde frohlockten über dieses Glück, das ihnen beschieden war, ohne daß sie es zu suchen oder sich anzustrengen brauchten. Wasser floß in ihrer Nähe, und Futter gab es in reichem Maße. D a überwältigte den Esel der Wunsch, sein Entzücken in Worten auszudrücken. Er sprach deshalb zum K a m e l : „Ich wünschte zu iahen, mein Bruder K a m e l ! " „Tue es nicht!" sprach das Kamel, „ich fürchte, daß uns die Bewohner dieser Gegend hören und festhalten." „Aber ich möchte iahen." „Ich sage dir, tue es nicht!" „Ich fühle eine Glückseligkeit in meinem Herzen und vermag meine wahren Gefühle nicht zu bezwingen. Ich sage dir, ich möchte iahen." „Höre, mein Bruder, dein Iahen klingt abscheulich, und man hört es nah und fern. Die Leute hier werden uns hören, und wahrscheinlich wird uns auch der Gutsbesitzer von weitem hören und zu uns kommen. Ich zweifle nicht daran, daß er uns vermißt hat und uns nun überall sucht. Drum verzichte auf die Torheit, laß vom Iahen ab und sei auf unsere Sicherheit bedacht." „Ich kann nicht", sprach der Esel. „Ich kann n i c h t . . . Ich kann meine Gefühle nicht bezwingen . . . I-a, I-a, I-a . . . Ich kann n i c h t . . . I-a, I-a." D a geschah, was das geduldige Kamel befürchtet hatte, denn der Gutsbesitzer war in diesem Augenblick gerade den Spuren des Kamels und des Esels bis in die Nähe ihres Aufenthaltsortes gefolgt. D a hörte er das Iahen des Esels, und der Esel verriet durch seine unverkennbare Stimme seine Dummheit. Der Gutsbesitzer kam auf den Esel und das Kamel zu und hielt sie fest. D a s Kamel wußte, daß ein Fluchtversuch nutzlos war, deshalb ließ es sich einstweilen gefügig von dem Gutsbesitzer in einer Weise leiten, die ihm Vertrauen zu dem
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Kamel einflößte. D e r Esel jedoch empörte sich und war wütend, schlug aus und iahte. E r stampfte mit seinen Beinen auf die Erde, war widerspenstig und wollte sich nicht von der Stelle rühren. Als der Mann sah, wie sich der Esel aufführte, suchte er nach Hilfe, und diese bot sich ihm augenblicklich in einem Strick, mit dem er die Beine des Esels zusammenband. Dann ließ er das Kamel niederknien, legte den Esel auf seinen Rükken und sprach dabei: „Wer der Güte nicht gehorcht, gehorcht dem Stock des Pharao." Das Kamel ging mit seiner schweren Last, und der Esel zappelte ängstlich herum, iahte und versuchte sich mit allen möglichen Mitteln von seinen Fesseln zu befreien. Als der Esel endlich ermattete und einsah, daß es nutzlos war, so weiterzumachen, beschloß er, sich ruhig zu verhalten. E r ließ es Sache des Kamels sein, ihn zu befördern, und tat, als ob er ihm mit der Erlaubnis, ihn weiter zu tragen, eine Gunst erweise. Armes Kamel, wenn die Last, die es trug, eine schwere Ladung von reinem Gold gewesen wäre, würde das leichter gewesen sein. So aber trug es einen Esel, und der Esel, den es trug, hatte sich zuvor geweigert, auf seinen gutgemeinten Rat zu hören, und damit verursacht, daß das Kamel in Gefangenschaft fiel. Armes Kamel, o tausendfach armes K a m e l ! Der Esel saß mit verschränkten Beinen auf seinem Rücken und saß da leichten Herzens. E r wurde getragen und verwöhnt. Seine Beine stolperten nicht über die Kieselsteine, und der Stock des Treibers konnte ihm nicht zu nahe kommen und weh tun. Unterdessen mußte das Kamel, dem eine schwere Last aufgebürdet war, traben. Mit geschwächter Kraft und gebrochenen Weichen lief es dahin, zur Arbeit gezwungen, verächtlich gemacht und unter Befehl gestellt. Armes, o tausendfach armes Kamel . . . Wie konnte dies alles dem mächtigen und stolzen Herrn der Wüste, trotz seiner kräftigen Gestalt und und seines gewaltigen Körpers, widerfahren? Wie konnte das diesem Herrn geschehen? Wie konnte er einen erbärmlichen Esel tragen und gezwungen sein, mit ihm zu traben? -24
Der Ärger erfüllte das Herz des Kamels, und die Welt wurde schwarz vor seinen Augen, als es anfing darüber nachzudenken. Da empörte sich seine Seele, es sträubte sich, schäumte vor Wut und wurde rasend. Dann begann es zu rennen, sich aufzurichten und sich kleiner zu machen und seine Schritte bald länger, bald kürzer zu setzen, so daß der Esel, der mit verschränkten Beinen auf seinem Rücken saß, bis aufs Blut gereizt wurde. „Bleib stehen . . . Bleib stehen . . .", schrie der Esel. „Du sollst stehenbleiben . . . Ich befehle dir stehenzubleiben . . . Ich befehle dir . . . " Die Worte „Ich befehle dir" trafen eine empfindliche Seite in dem erzürnten Kamel, und eine Woge der Wut überkam es und veranlaßte es, seine Schritte zu beschleunigen und abwechselnd zu rennen und stehenzubleiben. Schließlich sprach es bei sich: „Es geschieht dir recht, mein Freund, daß du lernst, wie man einmal befehlen muß, etwas zu tun, und das andere Mal befehlen muß, es nicht zu tun, und wie du dich in der Not zu bezwingen hast." Die Stimme des Esels bebte laut und furchtsam und war voller Schrecken über diese gereizte Stimmung, die er zuvor bei seinem Freund, dem Kamel, nicht gekannt hatte. „Bleib stehen, bleib stehen", schrie der Esel. „Es tut mir leid . . . Ich möchte rennen", war die Antwort. „Bleib stehen! . . . Weißt du denn nicht, daß du mich auf die Erde werfen wirst, wenn du dein Rennen beschleunigst?" rief der Esel. „Ich kann mich nicht bezwingen, und dein schweres Gewicht tut meinem Rücken weh." „Höre, versuche deine Gefühle zu bezwingen, mein Bruder, versuche es, denn mein Leben hängt davon ab." „Fürchte dich nicht, denn ich renne mit Leichtigkeit und springe mit Anmut." „Ich bitte dich, ich bitte dich, ich bitte dich!" „Ich kann es nicht. Ich kann mich nicht bezwingen." So sprach das Kamel und fuhr mit seinem spöttischen Spiel fort, während die Angst des Esels immer stärker wurde und er anfing einmal um Gnade zu flehen und das nächste 25
Mal zu drohen. Er wurde geschüttelt und versuchte sich an etwas festzuhalten, was ihn davor bewahren konnte, auf die Erde zu fallen. In einem Augenblick der größten Angst beschloß der Esel, sich selbst vom Rücken des Kamels fallen zu lassen, da er lieber auf der Erde Ruhe haben als auf dem Rücken des Kamels gerüttelt werden wollte. Außerdem fand er das Stehenbleiben auf der trockenen Erde besser als den Tanz in der Luft auf dem erhöhten Höcker. Jedoch der Esel - bei aller Achtung vor seinen Ansichten urteilte falsch. Er fiel auf die Erde, schimpfend, ärgerlich murrend und mit Schmerzen von einer Verstauchung seines Beines, und er verspürte eine Angst, die ihn fast umbrachte. Das Kamel hatte nicht beabsichtigt, seinem Gefährten Schaden zuzufügen, sondern es wollte ihn nur necken und ihm seine Dummheit beweisen und an das Übel gemahnen, das dem widerfährt, der die Regeln der Selbstbeherrschung nicht befolgt. Doch es geschah, was sich nicht vorausberechnen ließ. Der Esel war auf die Erde gefallen, und der Gutsbesitzer kniete neben ihm und versuchte seine Schmerzen zu lindern und überlegte sich, wie er ihn zum Gut zurückbringen konnte. Was das Kamel anbelangt, so begann es darüber nachzudenken, was es tun sollte. Sollte es neben den beiden stehenbleiben und mit ihnen nach dem kleinen Gut gehen, oder sollte es die Gelegenheit zur Flucht benutzen, während sie beschäftigt waren, und seinen Weg nach dem Meer fortsetzen? Das Kamel dachte nach und fand eine gute Lösung. Es kam auf den Esel zu, sprach ihn an und sagte zu ihm: „Ich bin fest überzeugt, daß sich unser Herr deiner annimmt, daher habe ich den Wunsch, die Reise forteusetzen." „Wohin . . .?" „Hast du es vergessen, ich möchte die Reise an das Meer fortsetzen." „Willst du mich allein lassen und ohne mich gehen?" „Du bist nicht allein, denn der Gutsbesitzer wird sich deiner annehmen." „Der Gutsbesitzer! Meinst du, ich wünsche seine Gesellschaft?"
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„Warum nicht, er ist so freundlich zu dir . . „Aber ich möchte mit dir die Reise ans Meer antreten. Höre, warte auf mich, bis ich wiederhergestellt bin, dann werde ich mit dir gehen." „Die jüngsten Vorfälle haben mich über die Gefahr belehrt, in Begleitung eines Freundes zu reisen, der nicht weiß, wie er sich zu bezwingen hat." Der Esel war über die Rede des Kamels verdrossen und biß sich in die Unterlippe, um seinen Zorn zu unterdrücken, und er mühte sich, nicht zu zeigen, welcher Kummer an seiner Seele nagte. Dann sprach er: „Willst du nicht zurückkehren, um mit mir auf dem Gut zu leben?" „Das werde ich tun", sprach das Kamel, „wenn ich mit dem Betrachten des Meeres fertig bin, des Meeres, das in der Nähe von Tripolis liegt und sich in dauernder Bewegung befindet und niemals müde wird und nicht schlummert." So sprach das Kamel und ging seiner Wege, ohne daß es der Gutsbesitzer beachtete. Der Esel aber beobachtete, wie sich das Kamel entfernte, und ein bitterer Schmerz war in seiner Seele, den die Erkenntnis hervorrief, d a ß ihn sein Mangel an Selbstbeherrschung der Gnade des Gutsbesitzers preisgegeben und an der vergnüglichen Reise nach dem großen Meer gehindert hatte. W i e schlimm kann ein Mißgeschick sein, das durch Mangel an Selbstbeherrschung verursacht ist und dessen Opfer ein Esel ist.
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DER TROMMLER
U N D DIE SCHLANGE
Es war einmal ein armer Mann, ein Oberägypter. Von Beruf war er Trommler, er besaß eine Darabukka. Er ging täglich aus, um sich Bewegung zu verschaffen. Als er einmal so dahinging, sah er plötzlich einen Kreis von Steinen und darin ein Loch. Da hielt er inne und schlug seine Trommel, und aus dem Loch kam eine Schlange. Er erschrak über sie, doch sie sprach zu ihm: „Erschrick nicht, schlage deine Trommel eine Stunde lang, und danach werde ich dir deinen Lohn geben." Da schlug er sie eine Stunde lang, und am Ende reichte ihm die Schlange eine Pfundmünze aus Gold und sagte: „Stelle dich täglich zur gleichen Zeit ein und widme mir eine Stunde, dann erhältst du täglich ein Pfund von mir." Darauf begann er täglich hinzugehen, und er erhielt das Pfund, bis ihn Allah reich werden ließ und er einer von den Vermögenden wurde. Da beschloß er, den Hedschas zu besuchen und das Grab des Propheten, auf dem der Friede ruhe. Er hatte einen einzigen Sohn. Da sprach er zu seiner Frau: „Das Geld ist für euch, und wenn ich zurückkehre, ist es für uns alle, und wenn nicht, dann ist es für euch beide", und er reiste ab. In ihrer Geldgier wurmte es seine Frau, wenn sie nicht täglich ein Pfund erhielt. Sie sprach daher zu ihrem Sohn: „Nimm die Trommel deines Vaters und gehe an jene Stelle", und nannte ihm die Kennzeichen der Stelle, an der sich die Schlange aufhielt. Dann sagte sie zu ihm: „Dein Vatei^ist an diesen Ort gegangen, schlage auch du deine Trommel, und eine Schlange wird herauskommen und eine Stunde lang tanzen. Danach wird sie dir das Pfund geben, wie sie es deinem Vater gegeben hat." Der Junge ging, erreichte den Ort und schlug seine Trommel. Da kam die Schlange heraus und sprach zu ihm: „Wer bist du?" 28
E r sprach: „Ich bin der Sohn von demjenigen, der sich jeden Tag bei dir eingestellt hat." Sie sprach zu ihm: „Tue, was dein Vater getan hatl", und er tat es, und am Ende gab sie ihm, was sie seinem Vater gegeben hatte. Der Junge kam einen Tag nach dem anderen wieder, doch eines Tages führte er Böses im Schilde. Ihn überkam die Habgier, und er sprach: „Dort ist die Pforte zu einem Schatz. Warum soll ich warten, um jeden Tag etwas davon zu erhalten. Es ist das beste, wenn ich sie töte, und danach bekomme ich den gan2en Schatz." Nachdem sie getanzt und ihm das Pfund gegeben hatte und hineinkriechen wollte, hieb er auf sie ein und schlug ihr den Schwanz ab. Die Schlange aber starb nicht vom Abschlagen des Schwanzes, sondern kroch auf den Jungen zu und zerteilte ihn in zwei Hälften, und der Junge starb. Als der Vater aus dem Hedschas heimkehrte, fragte er seine Frau nach seinem Sohn, und sie erzählte, daß sie ihm den Weg und den Ort beschrieben, an'den er gegangen sei, und ihm berichtet habe, wofür die Schlange seinem Vater das Pfund gab. Der Junge sei hinausgezogen und eine Reihe von Tagen hingegangen, doch eines Tages nicht zurückgekehrt. D a ging der Mann an den Ort, wo die Schlange wohnte, und er fand die zerfallenen Knochen seines Sohnes und in ihrer Nähe die Trommel. E r nahm die Trommel und schlug sie, und die Schlange kam heraus und beglückwünschte ihn zu seiner Rückkehr. Danach sprach sie zu ihm: „ O mein Lieber, du hast nichts getan, was mir Leid zufügte, doch dein Sohn, er hat es getan. Und die Zeit wird kommen, daß du deines Sohnes gedenkst, und ich werde mich an das Abschlagen meines Schwanzes erinnern. Du wirst nicht den Tod deines Sohnes vergessen, und ich werde nicht das Abschlagen meines Schwanzes vergessen, deshalb ist es das beste, wenn du nach Hause gehst und nicht wiederkehrst."
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LULI, ACH L I E B E LULI!
Mohammed und seine Schwester Fatima leibten ein glückliches Leben mit ihren Eltern. Eines Tages aber starb ihre Mutter, und sie beweinten sie mit heißen Tränen. Nach einem Monat heiratete ihr Vater eine andere Frau und sagte zu ihr: „Sei gut zu meinem Sohn und zu meiner Tochter, denn sie sind Waisen!" Die Frau antwortete: „So sei es!" Die Frau pflegte täglich einen großen Topf voll Essen zu kochen. Sie gab ihrem Mann das gute Fleisch, und er freute sich darüber. Dann aß sie von dem übriggebliebenen Fleisch und warf den Rest weg. Für Mohammed und seine Schwester machte sie Balila. Sie weinten und weinten, und Fatima sprach eines Tages zu ihrem Bruder: „Wir müssen aus diesem Hause fliehen." Der Bruder sagte zu ihr: „Warum, sollen wir fliehen und das Haus dieser fremden Frau überlassen? Warum sollen wir uns nicht bei unserem Vater beklagen?" Sie sprach zu ihm: „Ach, unser Vater hört auf ihre Worte, denn sie gibt ihm Fleisch, aber uns gibt sie Balila." Da weinte Mohammed, und Fatima weinte auch. Die Frau wurde schwanger und gebar einen Knaben. Der Tag der Namensgebung 1 kam heran. Da sprach die Frau zu Mohammed: „Geh hinaus in die Wildnis und bringe mir Brennholz", und Fatima befahl sie, ihr beim Mahlen der Durra und dem Backen der Brotfladen zu helfen. Mohammed zog ins Gehölz. 1
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Am 7. Tage nach der Geburt.
Unterdessen schlachtete sein Vater zwei S c h a f e 1 und befahl den Dienerinnen, mit dem Kochen zu beginnen. Fatima mahlte den ganzen Tag Durra, ihr Bruder schaffte Brennholz heran, und die Dienerinnen brieten das Hammelfleisch und bereiteten die gewürzten Soßen. Fatima war die ganze Zeit mit dem Mahlen der Durra beschäftigt und wußte nichts vom Fleisch. Ihr Bruder brachte ein Bündel Brennholz und kehrte wieder zum Gehölz zurück, um ein anderes zu holen. Als sich alle satt gegessen-hatten, befahl die Frau den Dienerinnen, das übriggebliebene Fleisch zu bringen. D a n n versteckte sie es in fünf großen Schüsseln und sprach zu der ältesten Dienerin: „Nimm diesen Kochtopf und fülle ihn mit Akazienschoten und Steinen und überdecke sie mit der Schafhaut und setze den Topf aufs Feuer." Nachdem die Dienerin das getan hatte, sprach die Frau zu ihr: . „Geh zu Fatima und hole die restlichen Brotfladen von ihr!" D i e Dienerin ging und brachte Fatimas Kisra. Darauf versteckte sie die Frau unter zwei großen Tabaqdeckeln. Als Fatima und ihr Bruder mit ihren Arbeiten fertig waren, wollten sie essen, doch sie fanden weder Fleisch noch Brot, denn das Fleisch war versteckt und die Kisra ebenfalls. D a sprach die Frau ihres Vaters zu ihnen: „Die Gäste haben sich satt gegessen, und die Dienerinnen haben die Brotfladen aufgegessen. Nun ist in diesem Topf Fleisch, wartet, bis es gar gekocht ist." Mohammed und seine Schwester warteten, und der Hunger brannte in ihren Leibern, aber als sie den Topf aufdeckten, fanden sie Akazienschoten und Steine darin. Sie weinten und weinten, denn nun wußten sie, daß die Frau ihres Vaters sie töten wollte und d a ß ihr Vater nicht nach ihnen fragte. 1
Für einen Sohn schlachtet man gewöhnlich zwei Schafe oder Ziegen, für eine Tochter nur eines (ursprüngliche Opferung; bei Unterlassung muß der Vater fürchten, daß ihn der Sohn am Tage des Jüngsten Gerichts nicht verteidigt).
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Sie flohen in derselben Nacht, aber sie wußten nicht, wohin sie sich wenden sollten. Am Morgen waren sie draußen in der Wildnis. Sie setzten sich in den Schatten eines Baumes, und der Hunger brannte in ihnen. Schließlich faßte Mohammed Mut und beschloß, einen Ast vom Baume abzubrechen und auf die Jagd zu ziehen. Da sah er einen Hasen und schlug ihn mit dem Ast nieder, tötete ihn und kam damit zu seiner Schwester zurück. Es ging gerade ein Hirte vorüber, der einen Feuerstein bei sich hatte. Er lieh ihnen seinen Stein, und sie entfachten damit ein Feuer und kochten sich ein Mahl von dem Fleisch des Hasen. Am folgenden Morgen errichtete Mohammed eine Hütte für seine Schwester, und er jagte wieder einen Hasen. Mohammed wurde so tüchtig im Jagen, daß er jeden zweiten oder dritten Tag einen Hasen oder eine Gazelle erlegte. Seine Schwester kochte und briet, was er erbeutete, und schnitt aus dem Rest des Fleisches kleine Streifen, die sie als Vorrat zum Trocknen am Baum aufhängte. Eines Tages erwachte Fatima am Morgen und fand, daß alle Fleischstücke, die sie auf den Baum gehängt hatte, verschwunden waren. Ihr Bruder kehrte spät am Tage zurück und zog eine Gazelle hinter sich her. Da erzählte sie ihm, was geschehen war, und er wunderte sich sehr darüber. Dann schlachtete er die Gazelle, und seine Schwester bereitete ihm ein Mahl davon und hängte den Rest nach ihrer Gewohnheit an den Baum. Doch am Morgen fand sie nichts mehr davon. Da sprach Mohammed: „Ich werde bestimmt herausfinden, wer diese Fleischstücke frißt." Er brachte ein Netz über dem Baum an und hängte daneben viel Fleisch auf. Als er am nächsten Morgen erwachte, fand er, daß ein prächtiger Falke in sein Netz geraten war, und wußte nun, daß dieser Falke jeden Tag gekommen war und seine Fleischstücke gefressen hatte. Er nahm den Falken aus dem Netz, hielt ihn fest und rief seine Schwester: „Fatina, Fatina, beeile dich, gib mir das Messer, damit ich diesen Falken schlachte!" D a sagte der Falke zu ihm: 32
„Töte mich noch nicht! Laß mich erst ein oder zwei Worte mit dir sprechen!" Mohammed sagte zu ihm: „Sprich! Ein, zwei Worte sind dir gewährt." Da erhob der Falke seinen Kopf und fing an zu rufen: „Luli, ach liebe Luli, Tochter des mächtigen Falken, Tochter der sieben Sila! Dein Vater ist gefangen, o Luli 1" Mohammed sprach zu ihm: „Wer ist diese Luli?" Der Falke sagte: „Die Luli ist meine Tochter." Mohammed sprach: „Aber was geht mich deine Tochter an? Beeile dich, Patina, gib mir das Messer!" Da sprach der Falke: „Gewähre mir ein Wort oder zwei 1" Mohammed sagte zu ihm: „Sprich!" Der Falke sagte: „Luli, ach liebe Luli, Tochter des mächtigen Falken, Tochter der sieben Sila! Dein Vater ist gefangen, o Luli! Bringe die Ziegen herunter!" Danach tauchten östlich und westlich vom Baum prächtige Ziegen auf, und andere kamen nördlich und "südlich von ihm herunter, als wenn sich ein Regen herabsenkte. Und Mohammed hörte die Stimme der Luli. Sie sagte: „Ich brachte sie herunter, ich brachte sie herunter, o Väterchen. Er ist ein schlauer Junge, o Väterchen." Dann sagte der Falke zu Mohammed: „Laß mich los!" Doch Mohammed schrie: 3
Arabische Volksmärchen
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„Fatina, beeile dich, gib mir das Messer!" Da rief der Falke: „Luli, ach liebe Luli, Tochter des mächtigen Falken, Tochter der sieben Sila 1 Bringe die Schafe herunter, o Lulil" Luli kam mit den Schafen und sprach: „Ich brachte sie herunter, ich brachte sie herunter, o Väterchen. Er ist ein schlauer Junge, o Väterchen." Dann sagte der Falke zu Mohammed: „Nun ist es genug, laß mich los!" Doch Mohammed rief: „F;ätina, beeile dich, gib mir das Messer!" Der Falke rief: „Luli, ach liebe Luli, Tochter des mächtigen Falken, Tochter der sieben Sila! Bringe die Kühe und Kamele herunter, o Luli!" Luli brachte alles herbei und sprach: „Ich brachte sie herunter, ich brachte sie herunter, o Väterchen. Er ist ein schlauer Junge, o Väterchen." Darauf sagte der Falke zu Mohammed: „Laß mich los!" Doch Mohammed rief: „Fatina, beeile dich, gib mir das Messer!" Da rief der Falke: „Luli, ach liebe Luli, Tochter des mächtigen Falken, Tochter der sieben Sila! Schaffe Gold und Brot herbei, o Luli, Komm mit Silber und Linnen, o Luli!" 1 1 Brot: hier auch „Essen"; Linnen: „Stofie" im allgemeinen.
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Danach sagte Luli: „Ich brachte es herunter, ich brachte es herunter, o Väterchen. E r ist ein schlauer Junge, o Väterchen." Doch Mohammed weigerte sich wiederum, den Falken los2ulassen, und rief seiner Schwester zu, sich zu beeilen und ihm das Messer zu geben. Darauf rief der Falke: „Luli, ach liebe Luli, Tochter des mächtigen Falken, Tochter der sieben Silal Bringe die Diener und Sklaven, o Luli!" Und Luli sagte: „Ich brachte sie herunter, ich brachte sie herunter, o Väterchen. E r ist ein schlauer Junge, o Väterchen." Aber Mohammed weigerte sich noch immer, den Falken loszulassen, und rief seiner Schwester zu, sich zu beeilen und ihm das Messer zu geben. D a rief der Falke: „Luli, ach liebe Luli, Tochter des mächtigen Falken, Tochter der sieben Silal . Komme selbst, o Luli!" Darauf entgegnete Luli: „Ich bin gekommen, ich bin gekommen, o Väterchen. E r ist ein schlauer Junge, o Väterchen." Sie war mit Silber und Gold geschmückt, und Mohammed hörte, wie sie herunterschwebte - kasch-kasch, kasch, kaschkasch-sch . . . - , und er schaute hinauf, um sie zu sehen. Doch während er nach ihr hinblickte, lockerte sich seine Hand, die den Falken festhielt, und der Falke entfloh und flog davon. 3
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Luli kehrte in ihr Reich zurück, doch Mohammed war reich geworden. D a kam ein mächtiger Sultan vorüber und heiratete seine Schwester. E r selbst wurde auch so mächtig wie ein Sultan und heiratete eine vornehme Prinzessin. Sie genossen alle ein glückliches Leben, bis der Zerstörer aller Genüsse kam, der Unerbittliche, der alle Freuden tilgt.
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HADIDAN UND D I E
DAMIJA
E s geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. Jeder, der gesündigt hat, soll es bereuen und Allah um Vergebung bitten. Man erzählt sich, daß zu alten Zeiten drei Brüder lebten, der erste hieß Hadidan, der mittlere Kasiban, und der jüngste wurde Nachilan genannt. 1 Das Haus von Hadidan war aus Eisen gebaut, das Haus von Kasiban aus Schilfrohr, und Nachilans Haus bestand aus Kleie. Diese drei Häuser waren außerhalb der Mauern der Stadt errichtet worden, und jedes von ihnen stand in einer einsamen, öden Wildnis, und keiner bewachte die Häuser außer dem Mut ihrer Bewohner. Wenn die Tore der Stadtmauer geschlossen wurden, blieben sie allein bis zum Morgen. An einem kalten und finsteren Wintertag kam die Damija aus ihrem Versteck, um Nahrung für sich und ihre Kinder zu suchen. D a erblickte sie von weitem Nachilans Haus. Sie klopfte an die Tür, und Nachilan fragte: „Wer hat bei mir angeklopft, und was wünscht e r ? " D a antwortete ihm die Damija mit ihrer entsetzlichen, rauhen Stimme: „Ich bin die Damija, öffne mir die T ü r ! " „Geh fort von mir, ich will nichts mit dir zu tun haben!" Nun wurde die Damija schrecklich wütend und blies einen einzigen heftigen Atemstoß gegen Nachilans Haus. D i e Wände zerbarsten, und es fiel zusammen, denn es war aus Kleie gebaut, und sie ergriff seinen Besitzer Nachilan, zerhackte ihn in viele kleine Stücke und fraß ihn auf. Danach ging die Damija vor Kasibans Tür und klopfte an. Kasiban fragte: 1
Die Namen beziehen sich auf das Baumaterial der Häuser.
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„Wer hat bei mir angeklopft, und was wünscht er zu dieser Tageszeit?" D i e Damija antwortete mit ihrer furchteinflößenden, rauhen Stimme: „Ich bin die Damija, öffne mir die T ü r ! " E r sprach zu ihr: „Geh fort von mir, ich will nichts mit dir zu tun haben!" Doch als er sie auf diese Weise forttreiben wollte, erzürnte die Damija über ihn und hatte nichts anderes zu tun, als dem Haus einen Fußtritt zu versetzen, der es in einem Zuge hinwegfegte, denn es war aus Schilfrohr gebaut. Sie ergriff seinen Besitzer, zerhackte ihn in viele kleine Stücke und fraß ihn auf. Dann wandte sie sich dem Hause von Hadidan zu, klopfte an die Tür und sagte: „Hadidan, Hadidan, öffne mir die T ü r l " E r aber antwortete ihr nicht, und sie fing an ihn mit Verwünschungen zu überschütten und ihn auf entsetzliche Dinge und Vernichtung vorzubereiten, und schließlich drohte sie ihm den Tod an. D a sprach Hadidan zu ihr: „Mache, was du willst, mein Haus ist aus Eisen gebaut. Was kannst du mir anhaben?" Nun versuchte die Damija mit Gewalt in das Haus zu dringen und die Tür aufzubrechen, aber sie vermochte es nicht. Darauf begann sie ihm freundlich zuzureden, die Tür zu öffnen, aber er ging nicht darauf ein, und sie machte sich daran, die Tür mit Gezisch aufzubrechen. Sie strengte alle ihre Kräfte an, bis ihr Gewand zerrissen war und Blut von ihr herunterfloß. D a ließ sie von Hadidans Haus ab und ging zu einem Flickschuster, um sich ihre Wunden nähen zu lassen. Dann kehrte sie in ihre Behausung zurück und klagte über ihre Schmerzen. Sie blieb dort eine Woche lang und ging nicht aus, bis ihre Wunden geheilt waren und sie von Hunger gequält wurde. Dann ging sie davon, um Hadidan zu suchen und ihn zu fangen, um ihren Rachedurst zu stillen» Hadidan hatte einen Ausflug nach dem fruchtbaren Ufer des Tigris unternommen, und sie bemerkte es, als sie dem Geruch seiner Fußspuren
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folgte. Sie überraschte ihn dort, und er sah sie von weitem und fürchtete für sein Leben, denn es gab dort kein eisernes Haus, das ihn vor diesem großen Unheil bewahren konnte. E r wußte nichts anderes zu tun, als sich eine große, rote Wassermelone auszusuchen, ihr Inneres auszuhöhlen und sich mit ihren beiden Hälften zu bedecken. E r konnte sich aber nicht schnell genug vor ihren Blicken verbergen, denn seine beiden Ohren ragten aus der Wassermelone heraus. D a kam die Damija auf die rote Wassermelone zu und begann an ihr zu rütteln und sprach: „Schirtran, birtran . . A Das scheinen Hadidans Ohren 2u a
sein. Dann zerschlug sie die Wassermelone, zog ihn hervor und fesselte ihn mit Stricken und Eisen und band ihn an ihrem Körper fest. So zwang sie ihn, mit nach ihrer Behausung zu kommen, und versprach sich und ihren Kindern eine gute Mahlzeit von ihm. Bei ihrer Ankunft befahl sie ihrer Tochter, den Tanur zu heizen, und sagte: „Ich will fortgehen, um mir einen meiner Zähne scharf zu wetzen, damit ich Hadidan besser fressen kann." Sie verließ ihr Haus, und ihre Tochter begann den Tanur anzuheizen. Als sie damit beschäftigt war, erhob sich Hadidan und trat hinter sie, nachdem er selbst die Stricke aufgebunden hatte, und stieß sie in den Tanur hinein. D a verbrannte sie und starb. Dann machte er sich auf den Weg nach Hause, bevor die Damija zurückgekommen war. E r verschloß seine Tür und stieg auf das flache Dach hinauf. Nachdem die Damija ihren Zahn scharf gemacht hatte, kehrte sie in ihre Behausung zurück, und als sie den Geruch von gebratenem Fleisch wahrnahm, glaubte sie, ihre Tochter habe Hadidan in den Tanur gesteckt und er sei nun gebraten. Sie trat an den Tanur heran und nahm ein Stück Fleisch von ihrer Tochter heraus und fraß es, dann nahm sie ein zweites und noch eines, bis sie satt war. Daraufhin begann sie ihre Tochter zu suchen, damit sie den Rest fressen sollte, aber sie fand sie nicht. D a bemerkte sie die angesengten Kleider 1
Ohne Bedeutung, als „Sprache" der Damija aufzufassen.
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ihrer Tochter, und nun war sie sicher, daß Hadidan sie in den Tanur gestoßen hatte und daß sie nichts anderes als das Fleisch ihrer Tochter gefressen hatte. Sie zerriß ihre Kleider und begann sich ins Gesicht zu schlagen und das Haar auszuraufen. Dann verließ sie ihre Behausung und wandte sich dem Hause von Hadidan zu. Als sie das Haus erreichte, sah Hadidan sie herankommen, denn er war auf das flache Dach gestiegen, und tat, als ob er sie erwartet hätte. Er sagte zu ihr: „Schirnat, b i r n a t . . A Sie hat ihre Tochter gefressen, Schirnat, birnat . . . Mach, was du willst, Geh an die Pforte des Palastes! Gib es nun auf, Denn mein Haus ist von Eisen, Wie willst du mir da schaden?" So fuhr er fort, sie zu verhöhnen und auszulachen und seinen Spott mit ihr zu treiben, und so gewaltig war sie davon erregt, daß sie zerplatzte und auf der Stelle starb. Wir sind bei euch gewesen und müssen nun zurückkehren. Wenn unser Haus in der Nähe wäre, würden wir euch eine Last Rosinen bringen. 1
Halbverstandene und verhöhnte Rede der Damija.
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THURAIJA, DIE TOCHTER DES GHULS, UND DIE SCHWARZE HÜNDIN
In einer Stadt lebte eine Frau, die keine Kinder hatte. Sie hatte viele Gelübde in der Hoffnung abgelegt, daß Allah ihren Wunsch erfüllen möge, daß sie ein Kind gebäre, das ihre Augen entzücken werde. Schließlich gelobte sie eines Tages in grenzenloser Sehnsucht nach Kindern, wenn ihr Allah ein Mädchen beschere, wolle sie es mit jeglichem Partner verheiraten, selbst wenn er ein schwarzer Hund sei. Ihr Wunsch wurde erfüllt. Allah segnete sie mit einer schönen Tochter, die sie Thuraija, das heißt Siebengestirn, nannte. Sie erzog sie mit viel Zärtlichkeit und bereitete ihr ein sorgenfreies Leben. Als sie groß genug geworden war, kam sie in die Schule, um zu lernen, was die anderen Mädchen der Stadt lernten. So ging das Mädchen jeden Morgen zur Schule und nahm ihr Essen für die Mittagszeit mit, und dann kehrte sie am Abend heim. Eines Tages, als Thuraija auf dem Heimweg war, begegnete ihr ein schwarzer Hund, und sie erschrak über ihn. Er redete sie an und sagte: „Fürchte dich nicht, aber sage deiner Mutter, sie soll ihr Gelübde erfüllen. Wenn sie es nicht tut, wird dich ein schwerer Schicksalsschlag treffen, der deinem Leben ein Ende setzt." Thuraijas Angst war so groß, daß sie nicht verstand, was der Hund zu ihr sagte. Sie rannte eilends davon, bis sie ganz außer Atem das Haus erreichte. Sie beschloß, ihrer Mutter nicht zu sagen, was ihr auf dem Wege widerfahren war, sondern die Sache zu verheimlichen. Sie aß ihre Abendmahlzeit und ging schlafen, doch sie dachte immer noch an den schwarzen Hund. Am nächsten Morgen stand Thuraija auf, zog ihre Kleider an, nahm ihr Mittagsmahl mit und ging in ihre Schule. Da begegnete ihr plötzlich der schwarze Hund und sprach: 41
„Warum hast du deiner Mutter nicht gesagt, daß sie ihr Gelübde halten soll?" Sie antwortete ihm: „Ich habe es vergessen." Da gab er ihr einen Stein und sagte zu ihr: „Stecke ihn in die Tasche deines Kleides, damit du dich mit seiner Hilfe an das erinnerst, was ich dir aufgetragen habe." Thuraija kehrte am Abend von der Schule zurück, zeigte ihrer Mutter den Stein und erzählte ihr, was der schwarze Hund gesagt hatte. D a wurde der Mutter weh ums Herz, und sie sprach zu ihr: „Wenn du ihm morgen begegnen solltest, so sage zu ihm: Meine Mutter wird darüber nachdenken. Aber fürchte dich nicht, ich werde auf sein Verderben sinnen." Der schwarze Hund ließ der Mutter aber keine Zeit, ihn zu verderben. Kaum sah er, wie das Mädchen zur Schule ging, als er zwischen ihre Beine schlüpfte, sie auf den Rücken hob und mit ihr davonflog. Er flog so lange, bis er sich auf einer hohen Burg niederließ, die zwischen dem Himmel und der Erde hing. Als er herunterkam, legte er das Gewand des Hundes a b 1 und wurde plötzlich zu einem riesigen Ghul von drohendem Aussehen. Thuraija schrie vor Entsetzen laut auf und begann zu weinen. Als der Ghul sah, wie sie sich fürchtete, sprach er zu ihr: „Deine Mutter ist an allem schuld, doch fürchte dich nicht!" Dann faßte er sie mit seinen beiden starken Händen und steckte sie in sein Qamis und ließ sie von sich hinuntergleiten. Darauf sagte er: „Nun sollst du meine Tochter sein, und wir werden zusammen in dieser Burg in Freude und Sorglosigkeit leben." Danach öffnete er ihr die Zimmer der Burg. Sie waren mit allen erdenklichen wertvollen Dingen ausgestattet, und es gab alle Speisen und Getränke, die gebraucht werden. 1
Für Gestaltwandel sagen die Araber oft „ein anderes Gewand anlegen".
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Thuraija hielt ihre Tränen zurück, doch trotz aller Annehmlichkeiten war sie nicht froh in der Abgeschiedenheit dieser Burg, fern von ihrer Mutter, ihrem Vater und ihrer Sippe. D e r riesige Ghul flog jeden Tag fort und ließ sie allein mit einer schwarzen Hündin. Wenn er am Abend zurückkehrte, rief er ihr hoch aus den Lüften zu: „Thuraija, Thuraija, Tochter des Ghuls, Löse dein langes, langes Haar, Bereite Trank und Speise geschwind Für deinen müden, durstigen, hungrigen Vater, D e r wiederkehret von der Ghule L a n d ! " Dann brachte sie ihm zu trinken und zu essen. E r a ß und legte sich auf sein Bett, und sie saß an seinem Kopf und lauste ihn, bis er einschlief, dann aß sie ebenfalls und ging schlafen. So verliefen ihre Tage. Thuraijas Mutter und Vater waren in die Schule gegangen und hatten nach ihr gefragt, als sie sahen, daß sie am Abend jenes Tages nicht heimkehrte. Man sagte ihnen, daß das Mädchen nach Hause gegangen sei, als die Unterrichtsstunden beendet waren. D a kehrten sie zurück und beweinten ihre Tochter. Zu ihrem Glück entsann sich die Mutter, was ihr die Tochter von dem schwarzen Hund erzählt hatte, und sie war überzeugt, daß dieser Hund aus dem Geschlecht der Dschinnen stammte. E r hatte Thuraija ohne Zweifel fortgetragen und war mit ihr verschwunden. Nichts mehr vermochte die Eltern zu trösten oder ihnen Ablenkung von ihrer Traurigkeit zu verschaffen. Thuraija hatte einen Vetter, einen starken Jüngling voller Energie und Tatkraft. E r sprach zu seinem Onkel: „Ich will fortziehen und sie suchen, und du sollst mich nicht wiedersehen, ohne daß ich mit ihr zurückkehre." D e r Onkel gab ihm einen Beutel voll Geld und sprach zu ihm: „Wenn es Allahs Wille ist, daß du mit ihr zurückkommst, soll sie deine Braut werden." D e r Jüngling stieg auf sein Pferd und begab sich ohne bestimmtes Ziel nach der Wüste und dem öden, wasserlosen
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Land. E r setzte seinen Weg bei Nacht und bei T a g e 1 fort, und jedesmal, wenn er in ein Dorf oder in eine Stadt kam, erzählte er seine Geschichte, um damit vielleicht seiner Base auf die Spur zu kommen. Allmählich gab er jegliche Hoffnung auf, etwas von ihr zu erfahren. Eines Tages erreichte er eine öde Gegend und sah dort eine hohe Burg. E r stieg vom Rücken seines Pferdes und setzte sich in seinen Schatten, um auszuruhen. Danach stand er auf, um nach der Burg zu schauen und vielleicht ein Tor zu entdekken, an dem er anklopfen konnte, um ihre Bewohner zu bitten, ihn bis zum kommenden Morgen zu beherbergen. Als er herumging, erblickte er einen Balkon, auf dem ein junges Mädchen stand. E r starrte sie an und rief ihr zu: „Ach Mädchen, willst du einem fremden Reisenden bis morgen Gastfreundschaft gewähren?" Als die Jungfrau seine Stimme hörte, blickte sie ihn aufmerksam an. D a erkannte er, daß sie die Tochter seines Onkels war, und sie erkannte ihn als ihren Vetter. Sie freuten sich beide über alle Maßen. Darauf brachte sie ein Seil und ließ es zu ihm hinunter, denn sie wollte nicht das Burgtor öff•nen, aus Furcht, daß die schwarze Hündin sie beobachtete. E r kletterte zu ihr hinauf, dann führte sie ihn in eines der Zimmer und brachte ihm zu essen. E r aß, dann gab sie ihm zu trinken, und er trank. Sie erzählte'ihm von ihren Erlebnissen, und sie beschlossen, am folgenden Tage zu fliehen, sobald der Ghul ins Land der Ghule gezogen war. Thuraijas Vetter hatte sein Pferd unter der Burg an einer geschützten Stelle angebunden, an der es nicht zu sehen war. Eines aber ängstigte sie: Was würde der Riese tun, wenn er zurückkehrte und Thuraija nicht mehr in der Burg sah? Gewiß würde er sie dann verfolgen. Wie sollte sie sich vor ihm retten? Thuraija wußte, daß sich die Seele des Ghuls irgendwo in der Burg befand, er hatte ihr jedoch nicht gezeigt, wo sie war. Daher nahm sie sich vor, in dieser Nacht Zärtlichkeit vorzutäuschen und ihn nach dem Versteck seiner Seele zu befragen, und er würde ihr sicher die Stelle zeigen. 1
D a im alten Orient die Zeit nach dem Mond gerechnet wurde, steht auch im heutigen Sprachgebrauch noch die Nacht vor dem Tag.
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Als die Zeit zur Rückkehr des Ghuls nahte, führte Thuraija den Vetter in ein anderes Zimmer, um ihn vor der schwarzen Hündin zu verstecken, und schloß ab. Damit ging sie in das Gemach, in dem gie ihren Vater, den Ghul, zu erwarten pflegte. Als der Zeitpunkt seiner Rückkehr gekommen war, überzog sich der Himmel mit schwärzen Wolken, und es blitzte und donnerte und dröhnte in den Dachrinnen. Plötzlich schaute der riesige Ghul aus den Lüften herab und rief: „Thuraija, Thuraija, Tochter des Ghuls, Löse dein langes, langes Haar, Bereite Trank und Speise geschwind Für deinen müden, durstigen, hungrigen Vater, Der wiederkehret von der Ghule L a n d ! " Thuraija stan|d gegen ihre Gewohnheit auf und begrüßte ihn mit lächelnder Miene und brachte die allerköstlichsten und bestgewürzten Speisen und Getränke. Während er aß und trank, stand er plötzlich auf und beschnüffelte sie, dann rief er ihr zu: „ D u riechst nach einem Menschen." Sie lachte und antwortete ihm: „ D e r Mensch befindet sich unter deinem Mahlzahn, Und das Schwert schlägt deinen Kopf a b ! 1 Von woher soll ein Mensch zu mir kommen, wenn du mich in diesem Schloß am Himmel aufgehängt hast?" Er war mit ihrer Antwort zufrieden und glaubte, er habe sich getäuscht. Als er sein Abendessen beendet hatte, erhob er sich, um zu Bett zu gehen. D a setzte sich Thuraija ihm zu Häupten und begann ihn zu lausen, und sie unterhielt sich mit ihm, bis sie sah, daß er ihr sein ganzes Vertrauen schenkte. Dann sprach sie zu ihm: „ D u hast mir erzählt, daß sich deine Seele in dieser Burg befindet, aber du hast mir nicht die Stelle gezeigt, damit ich 1
Reimformel. D e r Ghul hat einen solchen Geschmack noch im M u n d e ; das Schwert ist eine im Scherz versteckte Andeutung von Thuraijas Plänen.
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sie mit Blumen schmücken kann und sie umhege, als sei sie meine eigene Seele." Das Streicheln ihrer sanften Hand über seinen Kopf hatte ihn berauscht, und er wußte nicht mehr, was er sagte. Er wies ihr einen Schrank in der Wand und sprach zu ihr: „Meine Seele ist dort drin und steckt in einem kleinen Büchschen." Da erhob sie sich und brachte schöne Blumen und schmückte den Schrank. Er betrachtete sie in glücklicher Zufriedenheit, und danach schlief er ein. Am Morgen wachte er aus seinem Schlaf auf, und nachdem er die Morgenmahlzeit eingenommen hatte, stampfte er mit seinen Füßen auf die Erde und erhob sich zum Fluge durch die Lüfte, wohin er zu fliegen pflegte. Als Thuraija sah, daß er vor ihren Augen verschwunden war, eilte sie in das Zimmer, in dem sie ihren Vetter versteckt hatte, und ließ ihn heraus und sprach zu ihm: „Laß uns aufbrechen und fliehen!" Dann ging sie zu dem Schrank, in dem sich die Seele des Ghuls befand, und öffnete ihn. Sie fand darin das Büchschen, das von drei Glasflaschen umgeben war, einer Flasche mit Wasser, einer Flasche mit Feuer und einer Flasche mit Dornen. Sie nahm sie alle mit. Danach packte sie einen Reisesack mit allem, was sie und ihr Vetter an Wegzehrung brauchten. Als die schwarze Hündin sah, daß Thuraija mit einem fremden Jüngling davonging, fing sie an zu bellen, aber Thuraija wandte sich nicht nach ihr um, sondern verschloß das Burgtor hinter sich und ging mit ihrem Vetter zu der Stelle, an der er sein Pferd festgebunden hatte. Er stieg auf, und sie setzte sich hinter ihn, hängte den Vorratssack vor ihn und behielt das Büchschen und die Flaschen bei sich. Dann stürmten sie im Galopp davon. Der Ghul kehrte am Abend zurück und rief Thuraija nach seiner Gewohnheit, doch niemand antwortete ihm. Plötzlich kam die Hündin auf ihn zu und weinte und erzählte ihm, was Thuraija getan hatte. Es war, als ob ihn ein unbestimmtes Gefühl überkam, daß er seine Seele verlieren werde. Er eilte zum Schrank und fand ihn leer. Das Büchschen mit seiner Seele und die Flaschen waren nicht mehr da. Sein Zorn raste,
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und er beschloß, Thuraija zu verfolgen und ihr seine Seele wegzunehmen und sich an ihr und dem Jüngling, der bei ihr war, zu rächen. Nun wußte er, daß er sich nicht geirrt hatte, als er an ihr den Geruch eines Menschen wahrnahm. Danach nahm der Ghul die Hündin und flog fort, um Thuraija zu verfolgen. Er wußte, daß sie sich in einer öden Wüste befand. Da kam er herunter, um sie festzuhalten. Thuraija aber ließ das Fläschchen mit Wasser aus ihrer Hand fallen. Es zerbrach, und das verzauberte Wasser, das darin war, floß heraus, überschwemmte das Land und hinderte den Ghul, an sie heranzukommen. Der schrie die Hündin a n : „Schlucke das Wasser, ich werde es auch aufschlucken!" Kaum hatten sie es aufgeschluckt, als der Boden trocknete. Thuraija hatte sich inzwischen entfernt, doch er verfolgte sie, und als sie sah, daß sich der Ghul näherte, warf sie die Flasche mit Feuer herunter, und alles, was darin war, entzündete sich, und das Land brannte lichterloh. Da rief der Ghul der Hündin zu: „Entleere, was du in deinem Bauch hast, ich werde ebenfalls das Wasser aus meinem Bauch entleeren!" Danach spien sie es aus und löschten das Feuer. Nun zog Thuraija den Kork aus dem Fläschchen mit den Dornen heraus und ließ es auf der Erde zerbrechen, und die Dornen breiteten sich überall aus. Der Ghul und die Hündin jedoch rodeten das Dorngestrüpp, bis nichts mehr davon übrigblieb. Nun b.ekam Thuraija Angst, daß er sie einholen würde, daher öffnete sie das Büchschen und fand einen kleinen Vogel darin. Sie nahm ihn und drückte ihn auf den Hals. Im selben Augenblick stieß der Ghul einen furchtbaren Schrei hervor und drang auf Thuraija ein und wollte ihr seine Seele aus der Hand reißen. Thuraija aber war schneller als er, ergriff den Kopf des Vogels und zerrte so ungestüm an ihm, bis er abgerissen war. Da schrie der Ghul so entsetzlich um Hilfe, daß die ganze Gegend erdröhnte. Dann sank er tot nieder. Als Thuraija sah, daß er gestorben war, wurde es ihr leicht ums Herz, und sie drängte ihren Vetter zur schleunigen Rückkehr in ihr Heimatland. Er stimmte zu und führte die Tochter seines Onkels als Braut heim, wie es ihm ihr Vater ver-
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sprochen hatte. Die Hündin aber blieb bei der Leiche des Ghuls stehen und weinte. Und nun kommt die Rede auf die schwarze Hündin, um zu erzählen, wer diese Hündin war und was mit ihr geschah. Als der riesige Ghul gestorben war, sah die Hündin, daß sie in dieser öden Wüste allein gelassen war. Nachdem die Dunkelheit sie in ihren Schutz genommen hatte, lief sie davon, um nach einer Unterkunft zu suchen, und gelangte schließlich zu einer ärmlichen Hütte. Sie trat ein, und darin war eine alte Frau. Die Hündin sank neben der alten Frau in die Knie. Die Alte war freundlich zu ihr, brachte ihr etwas zu essen und fütterte sie. Dann breitete sie eine Matte neben ihrem Bett aus, und die Hündin schlief darauf. Am nächsten Morgen gab ihr die Alte abermals zu essen, und die Hündin sann darauf, die Güte ihrer Herrin zu ver^ gelten. Nicht weit vom Häuschen der Alten befand sich ein Garten voller Fruchtbäume, der dem Sohne des Königs gehörte. Dorthin ging die Hündin und erblickte die verschiedensten Früchte. Sie trug einen Korb in ihrer Schnauze, den füllte sie mit Pflaumen und Äpfeln. Als sie heimkehren wollte, bemerkte sie im Garten einen Teich. Sie verspürte Lust, sich zu baden, und zog ihre Hundekleider aus, und plötzlich wurde sie zu einer Jungfrau von bezaubernder Schönheit. Sie trug an jedem ihrer Finger einen wertvollen Ring. Sie zog die Ringe ab und legte sie neben ihre Kleider. Danach scieg sie in den Teich und badete und kehrte dann zu ihren Ringen zurück und steckte sie wieder an. Darauf legte sie das Hundegewand an, lief zu der Alten und überbrachte ihr den Korb mit den Früchten. Die Alte freute sich über die Hündin und holte ihr etwas zu essen. Sie fraß und legte sich auf ihre Matte. Am Abend kam der Sohn des Königs, um sich in seinem Garten zu ergehen, und fand unter den Pflaumenbäumen und den Apfelbäumen einige Pflaumen und Äpfel, die auf die Erde geworfen waren. Als er die Bäume näher betrachtete, entdeckte er abgebrochene Zweige. Er wußte, der Dieb würde wieder in seinen Garten zurückkommen. Daher beschloß er, am nächsten Morgen in der Frühe hinzugehen und sich im Garten zu verstecken, um zu sehen, wer der Dieb war.
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Am Morgen des folgenden Tages kam er frühzeitig und hielt von einem geschützten Versteck Ausschau. Es dauerte nicht lange, bis er eine schwarze Hündin erblickte, die einen Korb zwischen den Zähnen trug. Da sagte er: „Das ist der Korb, und nun wird bestimmt der Dieb kommen." Sein Erstaunen wuchs, als er sah, wie die Hündin auf die Bäume kletterte, die Früchte abpflückte undi in den Korb legte. Erst wollte er sie dabei überraschen, doch dann beschloß er, ein wenig zu warten. Vielleicht würde jemand anderes kommen und ihr den Korb abnehmen. Das Erstaunen des Königssohnes wurde aber noch größer, als er sah, wie die Hündin zum Teiche ging, ihre Hundekleider und ihre Ringe ablegte und ein junges Mädchen zum Vorschein kam, das über alle Maßen schön war. Ein inniges Gefühl ergriff seine Seele, und er empfand Liebe zu ihr und wünschte sie zu heiraten. Er wollte sie jedoch nicht erschrekken, solange sie nackt war. Deshalb schlich er sich heimlich in die Nähe ihrer Ringe, streckte ein Schilfrohr aus und zog damit einen ihrer Ringe zu sich heran. Dann kehrte er in sein Versteck zurück. Als das Mädchen mit dem Baden fertig war, stieg sie aus dem Teich heraus und steckte ihre Ringe an. Da bemerkte sie, daß ein Ring fehlte. Sie begann danach zu suchen, aber konnte ihn nicht finden. Da fing sie an zu weinen, spreizte ihre Finger aus, zählte ihre Ringe und sprach: „Der hat einen, der hat einen...", bis sie zu dem Finger kam, der keinen Ring hatte. Dann sagte sie: „Der hat keinen." Als sie die Hoffnung aufgegeben hatte, ihren Fingerring wiederzufinden, zog sie ihr Hundegewand an und kehrte traurig in das Haus der Alten zurück. Der Königssohn nahm den Ring der Hundejungfrau mit und ging zu seiner Mutter und sprach zu ihr: „Ach Mutter, ich möchte die Jungfrau heiraten, der dieser Ring gehört. Suche sie mir unter den Mädchen der Stadt, denn ich habe sie sehr bewundert und liebgewonnen." Da nahm seine Mutter den Ring und zog damit umher. Jedesmal, wenn sie ein schönes Mädchen sah, nahm sie den 4
Arabische Volksmärchen
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Ring heraus und zeigte ihn ihr und fragte: „Gehört er dir?" und bekam zur Antwort: „Aber nein!" So ging es, bis sie die ärmliche Hütte der alten Frau erreicht hatte. D i e Königin wußte, daß es dort keine Mädchen gab, denn sie war immer vorbeigekommen, um der Alten Wohltaten zu erweisen. D i e Müdigkeit hatte sie jedoch übermannt, und sie verlangte danach, ein wenig auszuruhen. D i e Alte hieß die Königin freudig willkommen und lud sie ein, sich auf ihr Bett zu setzen, und brachte ihr ein Glas kaltes Wasser. D i e Königin trank es dankend. Danach erkundigte sich die Alte nach dem Grund ihres Umherziehens, und sie erzählte ihr von der Sache. Die Hündin hatte die Unterhaltung mit angehört und ihren Hals gereckt, und als die Königin den Ring herausnahm, um ihn der Alten zu zeigen, stürzte die Hündin hinzu, nahm ihn schnell weg und steckte ihn in ihr Maul. Die Königin hatte beobachtet, was die Hündin tat, und wunderte sich sehr darüber. Dann stand sie auf und ging eilends zu ihrem Sohn und erzählte ihm davon. E r freute sich und sprach zu seiner Mutter: „Das ist das Mädchen, das ich haben möchte. Sie hält sich versteckt in den Kleidern einer Hündin. Bringe sie augenblicklich zu m i r ! " D i e Königin ging zum Haus der Alten zurück und bat sie um die Hündin, denn ihr Sohn wolle sie gern haben. D i e Alte schlug nicht ab, ihre Bitte zu erfüllen. So nahm die Königin die Hündin mit und ging mit ihr auf das Schloß ihres Sohnes. Sie brachte sie zu ihm, und der Königssohn richtete schöne Gemächer für sie her. Dann befahl er, ihr das beste Essen zu geben. Jedesmal, wenn der Königssohn bei der Hündin eintrat, bat er sie flehentlich, ihre Hundekleider abzulegen, doch sie antwortete ihm nur mit einem Knurren und erfüllte seine Bitte nicht. E s geschah, daß einer der Vettern des Königssohnes heiratete und eine Ballnacht veranstaltete, zu der er sowohl den Sohn seines Onkels und die Königin, die Frau seines Onkels, als auch alle Mädchen, Männer und Frauen der Stadt einlud.
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Als das abendliche Fest seinen Höhepunkt erreicht hatte, sahen sie eine Jungfrau hereinkommen, die mit dem Licht ihrer Schönheit alles überstrahlte. Sie trug herrlichen Schmuck und kostbare Kleider. Sie wunderten sich sehr, denn niemand wußte, wer sie war. Der Sohn des Königs aber erkannte sie. Als er sah, daß sie mitten unter den Tanzenden war und bewunderungswürdig tanzte, eilte er heimlich in sein Schloß und betrat die Gemächer, die er für die Hündin eingerichtet hatte. E r erblickte ihre Hundekleider auf dem Bett, nahm sie an sich und steckte sie in Brand. Während des Tanzes nahm das Mädchen den Geruch von verbrannter Wolle wahr. Ihre Augen suchten die Anwesenden ab, aber konnten den Sohn des Königs nicht entdecken. D a wußte sie, daß er sich vom Feste weggeschlichen und ihre Kleider verbrannt hatte. Sie verließ den Ball und ging eilends zum Schloß. Als sie in ihre Gemächer trat, fand sie den Königssohn, der zuschaute, wie ihre Kleider verbrannten. Sie kam näher und sah, daß von ihren Kleidern nichts weiter als ein kleines Stückchen übriggeblieben war. Sie zog es fort und drückte es an ihre Stirn. D a verwandelte es sich in ein Stück reines Gold. Dann wandte sie sich an den Königssohn und sprach: „Wenn du mir diese Kleider gelassen hättest, würde ich dich bis zu deinem Sohnessohn reich gemacht haben, denn ich hätte nach der Burg meines Vater, des riesigen Ghuls, zurückkehren können, um alles mitzubringen, was es dort an Kostbarkeiten und Edelsteinen gibt." Der Königssohn antwortete ihr: „Ich kümmere mich nicht um den Reichtum und um das Geld, nur du allein bedeutest etwas für mich." Darauf fragte er sie: „Willst du meine Gemahlin werden?" Sie stimmte zu. Dann feierte er eine große Hochzeit, an der alle Verwandten und alle Bewohner der Stadt teilnahmen. Sie betrachteten voller Bewunderung die Braut, die zuvor eine schwarze Hündin gewesen und nun plötzlich zum schönsten Mädehen geworden war, das sie jemals gesehen hatten. Die Braut vergaß die Alte nicht, die ihr Gastfreundschaft erwiesen hatte, als sie noch eine schwarze Hündin war. Sie 4*
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lud sie ein, ins Schloß zu kommen, nahm sie bei sich auf und erwies ihr Ehrerbietung. Der Königssohn hatte einen Vetter, der ihn beneidete und glaubte, daß jede schwarze Hündin eine schöne Dschinnjungfrau sei. Er begann nach schwarzen Hündinnen Ausschau zu halten, bis er eine bösartige entdeckte, doch er nahm keine Rücksicht darauf, sondern führte sie auf sein Schloß und brachte sie in eins der Zimmer. Darauf wollte er sich mit ihr verloben und sagte: „Ziehe deine Hundekleider aus! Ich will dich heiraten, und wir werden ein angenehmes Leben zusammen haben." Doch ihre Antwort war ein Bellen. Schließlich packte er sie an, um sie zu zwingen, ihre Kleider auszuziehen, aber sie zerkratzte sein Gesicht mit ihren Krallen. Dann packte sie ihn am Hals mit ihren Zähnen und biß ihn so fürchterlich, daß sie seine Kehle durchbiß und er leblos niedersank. Im Schloß hatte man das Bellen der Hündin und die Hilferufe des Jünglings gehört, doch als die Leute hereinkamen, war er schon tot. Sie wollten die Hündin fangen, doch sie kläffte sie bösartig an, und sie vermochten sich ihr nicht zu nähern. D a trieben sie die Hündin zum Tor hinaus. Sie floh, und niemand wußte wohin. So starb dieser Jüngling als Opfer seines Neides und seiner Dummheit.
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RIN, ACH RINI
Buschin war ein mächtiger Sultan, doch kein Sultan ist allmächtig außer dem Herrn der Welten. E r hatte zwei Töchter, von denen die ältere Rin und die jüngere Fatima hieß. Rin war über alle Maßen schön, deshalb schwor Buschin, sie nur dem tüchtigsten Mann zur Frau zu geben. Einmal fand er eine Laus und befahl seinen Dienern, sie zu mästen und mit Fett zu füttern. Sie mästeten und fütterten sie so lange, bis sie die Größe eines Schafbocks erreicht hatte. D a n n befahl der Sultan Buschin, die Laus zu schlachten und ihr das Fell abzuziehen. Ihr Fleisch warf man den Raubvögeln zum Fraß vor, und sie verschlangen es, ihre Haut aber wurde auf Buschins Befehl gegerbt. Daraufhin ließ er Nahas damit beziehen, eine große Kesselpauke aus Kupferblech, die man für Feste und Bekanntmachungen benutzte. Eines Tages sagte Buschin zu seinen Sklaven: „Ihr Sklaven, rührt den Nahas!" D a kamen die Leute herbei und sagten: „Aus welchem Grunde wird der Nahas geschlagen, o Herr?" Buschin sprach: „Ihr werdet alle schon von der Schönheit meiner Tochter Rin und ihrer Schwester Fatima gehört haben." D i e Leute antworteten: „Wir haben alle davon gehört." Buschin sagte: „Nun möchte ich Rin verheiraten, aber ich mache zur Bedingung, d a ß sie nur der tüchtigste Mann zur Frau erhält." D i e Leute sprachen: „Aber, o Sultan, woran willst du den tüchtigsten Mann erkennen?" D a sagte Buschin:
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„Ihr habt alle den Klang dieses Nahas gehört. Wer mir sagen kann, woraus das Fell der Pauke gefertigt ist, dem gebe ich Rin." Die Leute sagten: „Das ist eine Kleinigkeit." Buschin sprach: „Doch hört weiter! Wenn jemand den Versuch unternimmt und es nicht weiß, werde ich ihm den Kopf abschlagen lassen." Nach drei Tagen kam ein anmutiger Prinz und sagte zum Sultan, daß er seine Tochter Rin zur Frau begehre. D a fragte er ihn nach dem Fell des Nahas. Der Prinz antwortete, es sei Ochsenleder oder die Haut eines Pferdes oder eines Esels, und der Sultan befahl, ihm den Kopf abzuhauen. Mehrere Prinzen kamen zu Buschin, doch er ließ einen nach dem anderen enthaupten. D a verging den Werbern die Lust, und niemand sprach mehr bei Buschin vor, und so blieben Rin und Fatima unverheiratet. Im Lande lebte jedoch in einem Ort, der Wadi Marin hieß und ein Aufenthaltsort der Zauberer war, ein hinterlistiger Zauberer. E r hörte die Neuigkeiten über den Nahas und über Rin und kam und trieb sich am Nil herum. Die Dienerinnen von König Buschin gingen jeden Abend dorthin zum Wasserholen, und eine von ihnen lachte und sprach zur anderen: „Ach Sitt Nafal, nun sind die Prinzen nicht mehr so dumm." Sitt Nafal sagte: „Bei Allah, sie waren wirklich große Dummköpfe. Konnten sie nicht wissen, daß dieser Nahas mit dem Fell einer Laus überzogen ist?" Danach gingen die Dienerinnen wieder heim. Am nächsten Morgen nahm der Zauberer eine schöne Gestalt an, wusch sich sorgfältig und stellte sich bei Sultan Buschin ein und sprach zu ihm: „Ich bin gekommen, um Rin zu heiraten." D a sagte Buschin: „Ich warne dich, o Mann! Ich gewähre dir drei Antworten, doch wenn du beim dritten Male nicht weißt, woher das Fell des Nahas stammt, wird dir der Kopf abgehauen."
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Der Zauberer sagte: „Mein König, um Rin zu erwerben, will ich gern mein Blut hingeben." Buschin entgegnete: „Wohlan, sprich!" Der Zauberer sagte: „Kuhhaut." Da schrie der König: „Völlig falsch!" Nun sagte der Zauberer: „Haut einer Laus." Der König sprach: „Du hast richtig geantwortet. Ihr Sklaven, rührt den Nahas!" Darauf heiratete der Zauberer Rin und blieb ein ganzes Jahr bei König Buschin. Als das Jahr zu Ende ging, bat er heimziehen zu dürfen, doch König Buschin sagte zu ihm: „Es wäre besser, wenn du bei uns bliebest und nach mir König würdest." Der Zauberer aber antwortete: „Ich bin der einzige Sohn meines Vaters. Wenn das nicht der Fall wäre, würde ich gern bei dir bleiben." Schließlich willigte Buschin in seine Abreise ein. Daraufhin nahm der Zauberer vom König Urlaub, um zu seiner Sippe zu reisen und eine Gruppe von Verwandten zu holen, die ihn auf der Heimfahrt begleiten sollten. Er war einen Monat lang auf der Reise, aber in Wirklichkeit zog er nicht weit fort. Er tat nichts anderes, als nach dem Nil zu gehen und unterzutauchen. Dann rief er die anderen Zauberer zusammen. Sie wuschen sich sorgfältig, nahmen eine schöne Gestalt an und fanden sich bei Buschin ein. Als der Tag der Abreise herankam, bestand Fatima darauf, mit ihrer Schwester Rin zu ziehen, und der König willigte ein. Sie brachen alle auf und wurden von einem Geleit mit Nahas, kleinen Trommeln und Oboen begleitet. Als das Geleit drei Tage mit ihnen zurückgelegt hatte, nahm es Abschied und kehrte zurück. . Der Zauberer und seine Gefährten setzten mit Rin und Fatima die Reise fort. Nach Tagen und Wochen kamen sie
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an einem großen Baum voller Lotusfrüchte vorüber, die wie Äpfel aussahen. Rin bekam Appetit auf die Früchte und bat ihren Mann, den Zauberer: „Ich möchte gern diese Lotusfrüchte haben, gib mir eine oder zwei davon!" Der Zauberer grinste und lachte und brachte unter seiner Galabi ja einen langen Schwanz zum Vorschein, wickelte ihn um einen Ast, schüttelte den Baum und ließ die Früchte hinunterfallen. Fatima wurde ohnmächtig vor Schreck, aber Rin fand es sehr lustig. Sie lachte und sagte zum Zauberer: „Mein Gemahl, du bist der vollkommenste Ehemann, denn du besitzt einen Schwanz. Ich habe nie zuvor einen Mann mit einem Schwanz gesehen." Dann goß der Zauberer einen Krug Wasser über Fatima, und sie erlangte wieder das Bewußtsein. Als sie zu sich kam, sagte Rin zu ihr: „Mein Gemahl ist schöner als alle Männer. Er hat einen langen Schwanz." Fatima aber weinte und sprach: „Ich glaube, dein Mann ist ein Zauberer von Wadi Marin." Rin lachte und sagte zu ihr: „Du bist ein ängstliches Mädchen, Fatima." Sie zogen weiter, einen Tag nach dem anderen und eine ganze Woche lang. Endlich tauchte vor ihnen eine große Sajalakazie auf. Da sagte Rin zum Zauberer: „Was ist das für ein Baum?" Der Zauberer antwortete: „Dieser Baum ist von Wadi Marin." Fatima begann zu weinen, als sie hörte, daß der Zauberer sagte „ein Baum von Wadi Marin", und unter Tränen dichtete sie eine Strophe: „Rin . . . ach Rin, Dieser Baum ist von Wadi Marin. Deine Mutter und dein Vater mögen weinen! Heut' nacht wird man dich fressen." Als sie nahe an den Baum herankamen, sah Rin schönes Harz an seiner Rinde und bekam Appetit darauf. Sie sagte deshalb zum Zauberer:
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„Ich möchte Kauharz von diesem Baum haben." Da zog der Zauberer seinen langen Zahn heraus, der an Länge einem Schwert gleichkam, und verschaffte sich damit das Harz. Fatima wurde von heftiger Angst ergriffen und sprach: „Rin . . . ach Rin, Dieser Baum ist von Wadi Marin. Deine Mutter und dein Vater mögen weinen! Heut' nacht wird man dich fressen." Als sie das Dorf Wadi Marin erreichten, gab es dort keine Häuser, aber viele Bäume. Rin war schwanger und sagte zu ihrem Mann: „Baue mir ein Haus, in dem ich wohnen kann!" Der Zauberer grinste darüber und antwortete ihr: „Ach Rin, unsere Häuser sind im Nil. Wenn du ein Haus haben willst, dann komm hinein mit mir." Rin war bisher ihrem Gatten, dem Zauberer, ergeben gewesen und war mit ihm zufrieden, doch nun fing sie an sich zu fürchten und erzählte Fatima, was ihr der Zauberer geantwortet hatte. Fatima sagte zu ihr: „Rin, meine Schwester, das beste ist, wir laufen davon." Sie antwortete: „Ja, es ist das beste." Doch der Hund des Zauberers stand in ihrer Nähe und hatte das Gespräch mit angehört und sprang eilends nach dem Strom, rief den Zauberer und sagte zu ihm: „Du Zauberer über alle Zauberer, deine Frau sprach mit ihrer Schwester und sagte, daß sie zu ihrem Vater fliehen wolle. Jallah, jallah, wir müssen ihr folgen!" Der Zauberer kam aus dem Nil heraus, nahm menschliche Gestalt an und eilte zu Rin. Er fand sie bei ihrer Schwester Fatima und sprach zu ihr: „Rin, koche mir ein Bamiagericht!" Rin sagte: „Ich habe kein Brennholz." Der Zauberer blickte Fatima mit einem durchdringenden Blick an und sagte zu ihr:
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„Steh auf und hole Reisig!" Fatima hatte Angst und ging eilends davon, um Reisig zu sammeln. Sobald sie fortgegangen war, ergriff der Zauberer Rin und lief mit ihr nach dem Nil, doch sie sagte zu ihm: „Mein Gemahl, ich bin schwanger, und du willst mich töten." Da hatte der Zauberer Mitleid mit ihr. Er rief eine Hebamme von den Zauberweibern herzu. Sie stand Rin bei der Entbindung bei, und Rin gebar einen Sohn. Als Fatima zurückkam und sah, daß Rin ein Kind geboren hatte, freute sie sich sehr und blieb bei Rin, um sie zu pflegen, bis sie sich vom Wochenbett erheben konnte. Der Zauberer hatte einen sehr heimtückischen Bruder. Der kam zu ihm und sprach: „Die beiden Mädchen sind lange genug hier gewesen. Nun ist es an der Zeit, daß wir sie fressen." Der Zauberer antwortete seinem Bruder: „Sei geduldig und warte ein wenig, bis der Knabe groß und stark wird." Aber der andere Zauberer ärgerte sich über seinen Bruder und schlug ihn und kratzte ihm ein Auge aus. Dann ging er fort und fand Rin allein dasitzen. Er packte sie am Hals, drehte ihr den Hals um und trank ihr Blut. Dann fraß er ihr Fleisch und warf ihre Knochen den Hunden vor. Sein Bruder, der Gemahl von Rin, erhob sich nach einiger Zeit von dem Schlag und sah, daß er Rin aufgefressen hatte. Da wurde er über alle Maßen wütend und stürzte sich auf den Bruder, doch der andere Zauberer war sehr stark. Er schlug mit den Fäusten auf seinen Bruder ein, schwang sich rittlings auf ihn und brach ihm den Hals. Daraufhin saugte er sein Blut aus, fraß sein Fleisch, warf die Knochen fort und kehrte nach dem Nil zurück, um zu baden. Als Fatima zurückkam und entdeckte, daß ihre Schwester aufgefressen war und der Mann ihrer Schwester, trug sie das Kind fort und rannte, so schnell sie konnte. Der Zauberer kam aus dem Strom heraus und wartete auf Fatima, um sie zu fressen. Er blieb sitzen, aber sie kam nicht. Dann suchte er überall nach ihr, und als er ihre Spuren erblickte, erkannte er, daß sie geflohen war. Er begann den Spuren zu
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folgen, denn er meinte, daß er sie nach kurzer Zeit finden werde und genauso fressen könne wie ihre Schwester und deren Gemahl. Fatima lief und lief. Unterwegs wurde der Knabe hungrig und schrie. E r tat ihr sehr leid, denn inzwischen war es Nacht geworden. Plötzlich sah sie Licht und meinte, daß sie in der Nähe eines Dorfes sein müsse. Sie ging auf das Dorf zu und fand an seinem Rande ein Haus, in dem eine Frau mit einem kleinen Jungen war. Fatima warf sich vor ihr nieder und sprach: „O meine Tante, ich bin hungrig und durstig, und mein Söhnchen ist auch hungrig und durstig. Hast du ein wenig dünne Suppe für uns? Unser Herr möge es dir vergelten 1" D a sagte die Frau zu ihr: „Komm herein, du Tochter meiner Schwester!" Fatima kam zu ihr mit dem Sohn ihrer Schwester. D i e Frau gab ihr zu essen, und dann wollte sie auch dem Knaben zu essen geben, aber Fatima sagte: „Dieser Knabe ist noch nicht entwöhnt worden." D i e Frau hatte Milch in ihren Brüsten und gab dem Jungen ihre Brust, aber er biß so kräftig hinein, als ob er sie auffressen wollte, und die Frau rief um Hilfe. D a erkannte Fatima, daß der Junge ein Zauberer wie sein Vater war. Sie schlug ihn, und er beruhigte sich und saugte. Nach einigen Monaten wurde der Sohn des Zauberers groß, und der Sohn der Frau des Hauses wurde auch groß. Eines Tages spielten die beiden Knaben, und nachdem sie sich gestritten hatten, ergriff der Sohn von Rin den Sohn der Frau des Hauses, drehte ihm den Hals um, saugte sein Blut aus, fraß sein Fleisch und warf seinen Kopf in die Räuchergrube. In der Nacht saß der Knabe neben Fatima und sagte zu ihr: „Ich habe ihn gefressen, ich habe ihn gefressen. Den Sohn der Leute habe ich gefressen Und seinen Kopf in die Grube geworfen!" D a sprach Fatima: „Was denn?"
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Der Sohn des Zauberers rief: „Ich habe ihn gefressen, ich habe ihn gefressen. Den Sohn der Leute habe ich gefressen Und seinen Kopf in die Grube geworfen!" Als er diese Worte wiederholte, sagte die Frau des Hauses: „Ihr Leute, wo ist mein Junge?" Sie ging hinaus, um ihn zu suchen, aber sie fand ihn nicht. Als sie wieder ins Haus trat, hörte sie den Sohn des Zauberers sagen: „Den Sohn der Leute habe ich gefressen Und seinen Kopf in die Grube geworfen!" Da eilte sie hinaus zur Räuchergrube, fand dort den Kopf ihres Sohnes und schrie: „Weh mir! Bist du ein Zauberweib?" Fatima erschrak und erzählte der Frau ihre Geschichte. Dann kehrte der Herr des Hauses heim und ergriff den Sohn des Zauberers, schlachtete ihn, verbrannte ihn und warf seine Asche in den Wind. Nach zwei Tagen kam der Bruder des Zauberers. Er sah gut aus und war schön gekleidet. Er erkannte, wohin Fatimas Spuren führten, und ging hinein zur Frau des Hauses und sprach zu ihr: „Ich habe eine Frau, die mir weggelaufen ist. Ihr Name ist Fatima. Hast du sie gesehen?" Fatima war gerade außerhalb des Hauses. Als sie den Zauberer erblickte, rannte sie zum Herrn des Hauses und erzählte ihm davon. Er kam mit einer Gruppe von Männern, und sie packten den Zauberer, schlachteten ihn, verbrannten ihn und warfen seine Asche in den Wind. Fatima aber kehrte zu ihrem Vater Buschin zurück, und er verheiratete sie mit einem Prinzen, und sie lebte in Wohlstand und Glück.
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ERWACHE, DU SCHLÄFER!
' Man erzählt sich von einem Mädchen namens Dschafila, die eine Waise war. Ihr Vater hatte sie ihrer Großmutter anvertraut, die sie sehr streng behütete. Sie verbot ihr, mit den Mädchen des Dorfes auszugehen, und pflegte sie zu verstekken, damit niemand sie sehen sollte. Das Mädchen hatte einen Vetter mit Namen Dschäfil, der sie sehr liebte. Er ging auf eine lange Reise, um Vermögen zu erwerben, damit er sie heiraten konnte. Als er das Geld zusammen hatte, schloß er den Ehevertrag ab, und ihre Familie bestimmte, daß der Tag des Einzugs der Braut in sein Haus in drei Monaten sein sollte. Im Dorf gab es sechs Mädchen. Sie hatten Dschafila schon immer sehr beneidet und hatten sich darüber geärgert, daß sie nie mit ihnen irgendwohin ging. Darum sprachen sie untereinander : „Eines Tages wird Dschafila sicher mit uns ausgehen, und dann werden wir ihr unbedingt einen Streich spielen." Darauf gingen die sechs Mädchen zur Großmutter der Dschafila und baten sie: „Großmütterchen, laß Dschafila mit uns zum Holzsammeln gehen I Sie ist bisher noch nie mit uns gegangen, und nun soll sie heiraten, und nach der Hochzeit ist sie eine Frau, und. wir können uns niemals ihrer Gesellschaft erfreuen. Ach Großmütterchen, hast du jemals erlebt, daß jemand einem Mädchen verbietet, mit den übrigen Mädchen des Dorfes zum Holzsammeln zu gehen?" Die Großmutter schwieg eine Weile, dann sagte sie zu ihnen: „Ihr Mädchen, die Entscheidung liegt nicht bei mir, sondern bei ihrem Bruder." Da gingen die Mädchen zum Bruder, und er sprach zu ihnen: 61
„Die Entscheidung liegt nicht bei mir, sondern bei ihrem Vater." Da gingen die Mädchen zum Vater, und er sprach: „Die Entscheidung liegt nicht bei mir, sondern bei ihrem Onkel." Da gingen die Mädchen zum Onkel, und er sprach: „Die Entscheidung liegt nicht bei mir, sondern bei ihrem Großvater." Da gingen die Mädchen zum Großvater, und er sprach: „Die Entscheidung liegt bei mir, aber ich will euch ein Ardabb Sesam, ein Ardabb Bohnen und ein Ardabb Weizen auf den Boden streuen. Wenn ihr alles richtig auflesen könnt, lasse ich Dschafila mit euch ziehen. Wenn ihr die Körner jedoch nicht wieder einsammeln könnt, darf sie nicht mit euch gehen." Dann streute der Großvater je ein Ardabb Sesam, Weizen und Bohnen aus. Die Mädchen machten sich emsig an die Arbeit, lasen die Körner aus, hoben sie auf und füllten sie wieder in die Vorratssäcke. Als der Großvater sah, was sie getan hatten, sprach er zu ihnen: „Ihr seid ordentliche Mädchen. Dschafila, geh mit ihnen 1" So zog Dschafila mit den Mädchen in den Wald hinaus. Sie verbrachten den größten Teil des Tages mit Reisiglesen, und als sie damit fertig waren, machten sie sich auf den Heimweg. Unterwegs kamen sie an einer hohen Dattelpalme vorbei, die schwer mit reifen und unreifen Datteln behangen war. D a sprach eines der Mädchen: „Seht, wie schön die Früchte sind, doch leider kann ich nicht hinaufsteigen." Eine andere sagte: „Schaut, wie köstlich die reifen Datteln sind, doch leider kann ich nicht hinaufsteigen." Daraufhin riefen die dritte und die vierte und danach die fünfte und die sechste etwas Ähnliches. Schließlich sagte Dschafila: „Ich kann hinaufsteigen." Sie kletterte an der Dattelpalme hinauf und fing an die reifen Früchte hinunterzuwerfen, und jedes der Mädchen füllte seinen ledernen Proviantsack. Sie steckten aber die guten, 62
reifen Datteln in ihre eigenen Ledersäcke, und die schlechten, unreifen Datteln füllten sie in Dschafilas Sack. Dschafila stieg herab, und sie luden sich die schweren Ledersäcke auf. Beim Weiterziehen kamen sie an einem Brunnen vorbei. Da sprach die eine von ihnen: „Verflucht sei der Vater des Mädchens, das nicht seinen Armreif in diesen Brunnen wirftl" Jede von ihnen hatte bereits vorher ihren Armreif versteckt, und statt dessen banden sie Steine in ihre Taschentücher und warfen sie hinunter. Als Dschafila sah, was ihre Gefährtinnen taten, nahm sie ihren Armreif und warf ihn in den Brunnen. Unterwegs kamen sie an einem Baume vorbei. Es war inzwischen Nachmittag geworden. Da sprach eines der Mädchen: „Verflucht sei der Vater des Mädchens, das sich nicht hinsetzt und seine Datteln ißt!" Sie setzten sich nieder. Jede von ihnen öffnete ihren Ledersack. Alle außer Dschafila hatten gute Datteln. Nun verstand Dschafila, daß sie betrogen worden war. Sie erzürnte, verbarg aber ihren Zorn. Dann sprach eines der Mädchen: „Verflucht sei der Vater des Mädchens, das nicht seinen Armreif umbindet!" Darauf legten alle Mädchen ihre Armreife an, die sie zuvor versteckt hatten. Als Dschafila das sah, hätten sich ihre Augen beinahe mit Tränen gefüllt, aber sie blieb gefaßt und sprach zu den Mädchen: „Ihr habt es darauf abgesehen, mir ein Leid anzutun. Ich bin für euch auf die Dattelpalme gestiegen, und ihr habt mich mit schlechten Früchten betrogen. Nun habt ihr eure Armreife nicht hinuntergeworfen und mich allein meinen Armreif hinunterwerfen lassen." Eines der Mädchen sprach zu ihr: „Wir sind arm. Du hast einen Bruder, der dir einen anderen Armreif schenken kann, und schöne Datteln gibt es genug im Hause deiner Großmutter." Dschafila antwortete: 63
„Ich will nicht länger mit euch gehen. Nehmt mein Brennholz und bringt es entweder heim oder werft es auf den Weg. Ich aber will mich aufmachen, um nach meinem Armreif zu suchen." Die Mädchen lachten, und Dschafila ging den Weg zurück. Dann trugen die Mädchen das Brennholz fort, und eines von ihnen sprach: „Nun kehrt sie zum Brunnen zurück, doch es ist der Brunnen eines Ghuls, und er wird sie bestimmt fressen oder an sich reißen. Wir wollen ihr Brennholz mit zu ihrer Großmutter nehmen und ihr sagen: Deine Tochter 1 hat der Schakal gefressen." Darauf gingen sie ihres Weges. Dschafila kehrte zu der Dattelpalme zurück und füllte sich ihren Proviantsack mit guten Datteln. Danach lief sie zurück nach dem Brunnen und sah, daß er tief war. Sie setzte sich in seiner Nähe nieder und weinte vor Kummer. Die Sonne ging gerade unter, und ein roter Wind blies, da sprach Dschafila: „Allah stehe mir bei und bewahre mich vor dir, o Wind!" Der Wind sprach: „Allah bewahre dich vor dem, was hinter mir kommt!" Dann eilte der Wind vorbei. Dschafila saß da und weinte. Da blies ein blauer Wind, und sie sprach: „Allah stehe mir bei und bewahre mich vor dir, o Wind!" Der Wind sprach zu ihr: „Allah bewahre dich vor dem, was hinter mir kommt!" Der Wind eilte vorbei, und Dschafila saß da und weinte. Auf einmal blies ein weißer Wind, und Dschafila rief: „Allah stehe mir bei und bewahre mich vor dir, o Wind I" Der Wind sagte: „Allah bewahre dich vor dem, was hinter mir kommt!" Der Wind eilte vorbei, und Dschafila saß da und weinte. Da erschien ein Baum und schüttelte sich, sik-sik-sik. Dschafila rief: „Allah stehe mir bei und bewahre mich vor dir, o Baum!" Der Baum sprach: „Allah bewahre dich vor dem, was sich in mir befindet!" 1
Im Sinne von „Pflegetochter".
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Darauf kam aus dem Inneren des Baumes ein abscheulicher Ghul hervor. Als er Dschafila erblickte, wurde er von ihrer Schönheit geblendet und sprach zu ihr: „Wer bist d u ? " Sie sprach: „Ich bin Dschafila, friß mich nicht, o Väterchen G h u l ! " Sie erzählte dem Ghul, aus welchem Grunde sie zum Brunnen gekommen war, und sie zitterte dabei. Der Ghul empfand Zuneigung zu ihr und hatte so viel Mitleid mit ihr, wie ein Ghul Mitleid haben kann. D a n n sagte er zu ihr: „Stopfe mir meine Nasenlöcher mit Lehm zu, und ich will dir deinen Armreif bringen." Sie verstopfte ihm die Nasenlöcher mit Lehm. E r tauchte in den Brunnen, brachte Dschafilas Armreif heraus und reichte ihn ihr. D a n n sprach er: „Ich habe dich diesmal verschont, aber ich muß ein anderes Mal kommen und dich mitnehmen. Nun, wo wohnt deine Familie?" Dschafila sagte: „Meine Familie wohnt in der Nähe." E r sprach: „Wie kann ich den Ort erkennen, an dem deine Familie wohnt?" Darauf dachte der Ghul ein wenig nach, brach einen Ast von dem Baum und sagte: „Stecke diesen Ast auf dein Haus, damit ich deine Wohnung erkenne!" .Danach lief Dschafila zu ihrer Familie und fand die M ä d chen bei ihrer Großmutter, wie sie weinten und gerade zu ihr sagten: „Bei Allah, Großmütterchen, der L ö w e 1 hat sie weggeschnappt." Dschafila schalt die Mädchen aus und erzählte ihrer Großmutter die Wahrheit. Die drei Monate gingen vorüber, und die Woche des Einzuges der Braut in ihr neues Heim brach an. Dschafila saß da, und eine Frau kämmte sie, um sie zur Hochzeit fertigzumachen. 1
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Der Erzähler hat vergessen, daß er von einem Schakal sprach. Arabische Volksmärchen
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Ihr Vetter war in ein Nachbardorf gegangen, urti Gäste einzuladen. D a kam der Ghul in Gestalt eines schönen Jünglings. E r trug prächtige Kleider und ritt auf einem Pferd, das die Augen des Beschauers mit Bewunderung erfüllte, so schön war es. E r hielt vor Dschafilas Haus an und rief dessen Bewohnern zu: „Seid gegrüßt! H a b t ihr Wasser?" D i e alte Großmutter sagte zu einem der Mädchen: „Steh auf, Fatima, und gib ihm Wasser!" Fatima erhob sich, füllte die Kürbisschale und reichte sie dem Ghul, doch er schüttete das Wasser aus und sprach: „Habt ihr nichts Besseres als das?" D a sagte die Großmutter: „Steh auf, Mariam, und gib ihm Wasser!" Mariam erhob sich und füllte die Kürbisschale, doch der Ghul schüttete sie aus und sagte: „Habt ihr nichts Besseres als das?" D a sagte die Großmutter: „Steh auf, al-Ghit, und gib ihm Wasser!" Al-Ghit erhob sich, füllte die Kürbisschale, doch der Ghul schüttete sie aus und sagte: „Habt ihr nichts Besseres als das?" D a sagte die Großmutter: „Steh auf, Nafisa, und gib ihm Wasser!" Nafisa erhob sich und reichte es dem Ghul, doch er warf die Kürbisschale auf die E r d e und sprach: „Habt ihr nichts Besseres als das?" D a sprach die Großmutter: „Steh auf, ar-Ruqal, und gib diesem Mann Wasser!" Ar-Ruqal erhob sich und reichte dem Ghul die Kürbisschale, doch er schüttete sie aus und sprach: „Habt ihr nichts Besseres als das?" D a sprach die Großmutter: „Steh auf, ad-Dakari, und gib diesem Mann Wasser!" Ad-Dakari erhob sich und reichte dem Ghul die Kürbisschale, doch er schüttete sie aus und sagte: „Habt ihr nichts Besseres als das?" D a sprach die Großmutter:
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„Steh auf, Dschafila, und reiche diesem Mann Wasser. Es scheint, als ob er dich sehen w i l l ! " Dschafila erhob sich und reichte dem Ghul die Kürbisschale, doch flugs ergriff sie der Ghul, flog mit ihr auf seinem Pferd davon und entschwand den Blicken. Die Leute wurden sehr traurig darüber. Die Großmutter, der Bruder, der Vater, der Onkel und der Großvater dachten nach und sprachen untereinander: „Was sollen wir zu Dschafilas Vetter sagen, wenn er zurückkehrt?" Die sechs Mädchen aber freuten sich, daß der Ghul Dschafila weggeholt hatte, denn sie war die Schönste von allen. Schließlich nahm Dschafilas Vater ein Schaf, schlachtete es, begrub es und stellte einen Grabstein auf das Grab. Als Dschafil von der Reise zurückkam, sagte Dschafilas Vater zu ihm: „Dschafila ist gestorben", und er zeigte ihm ihre Grabstätte. Wochen und Monate gingen dahin. Dschafil glaubte, daß Dschafila tot sei. Als er jedoch eines Tages am Dorfausgang vorbeikam, während gerade die Sonne unterging, sah er, wie die Knaben Harraina spielten. Einer von ihnen sagte zu den anderen: „Die Erwählte sei jetzt das Grab des Schafbocks!" 1 Dschafil war verwundert. Er trat auf die Knaben zu und wollte sie nach dem Grund fragen, doch sie rannten davon. Da ging er in einen Laden, kaufte Datteln und streute sie aus. Nun kamen sie alle herbei. Dschafil fragte, und die Jungen erzählten ihm, was Dschafila am Tage, bevor sie ihren Einzug halten sollte, widerfahren war. Dschafil wurde sehr betrübt und ging zum Basir und bat, ihm das Abbild einer Gazelle anzufertigen. Der Basir malte eine Gazelle von auserlesener Schönheit. Dann gurtete Dschafil sein Schwert um, bestieg sein Pferd, nahm die gemalte Gazelle mit und reiste im Lande umher. Jedesmal, wenn er in einer Ortschaft haltmachte, sagte er zu den Leuten: 1
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Anspielung auf die geraubte Dschafila, die den Knaben als Vorbild der „Braut" diente.
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„Habt ihr ein Wild gesehen, das schöner als die Gazelle da ist, die ich erbeutet habe?" Aber sie sagten stets: „Nein." Eines Tages kam er bei einer alten Frau vorüber und fragte: „Hast du ein Wild gesehen, das schöner als die Gazelle da ist, die ich erbeutet habe?" Die Alte antwortete: „Ja, das Wild bei dem Ghul." Dschafil fragte sie: „Was sagst du, liebe Alte? Beachtenswert ist deine Rede Und einem Krug gleicht deine Nase." 1 „Das Wild, das sich der Ghul gefangen hat, ist besser als deines." Er sprach zu ihr: „Wie ist seine Gestalt?" Die Alte antwortete: „Deine Jagdbeute ist nur ein Bild, aber die Gazelle des Ghuls lebt, und sie heißt Dschafila." Als Dschafil den Namen Dschafila hörte, wäre er nahezu vor Freuden geflogen. Er erzählte der Alten seine ganze Geschichte. Darauf sprach sie zu ihm: „Ich will dir helfen. Nimm diesen Dorn eines Lotusbaumes, diesen Dorn einer Akazie, diesen Stein und diesen Tonklumpen. Hüte sie gut! Dann gehe in die Behausung des Ghuls, die hier in der Nähe liegt, doch wenn er wach ist, halte dich fern von der Behausung!" Er sagte zu ihr: „Wie soll ich wissen, ob er wach ist?" Sie sprach: „Solange du den Rauch seines Feuers siehst, ist er wach, sitzt in seiner Behausung und frißt, und wenn er schläft, 1
Mit solchen Reimformeln werden in sudanesischen Märchen alte Frauen und Unholdinnen angeredet. Wörtlich „Mutter der beachtenswerten Rede und Mutter der Nase, die wie ein Krug ist" (Mutter im Sinne von Eigentümerin).
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hörst du ihn schnarchen. Das Wachsein des Ghuls währt eine Ewigkeit, und sein Schlaf dauert eines Monats Zeit. Wenn du ihn schlafend antriffst, mußt du Dschafila, sobald du ihr begegnest, das Haar und die Nägel abschneiden, damit sie wieder zu dem wird, was sie zuvor gewesen ist, denn sie hat die Gestalt einer Sila angenommen. Dann hole alles, was sich im Haus des Ghuls befindet, heraus und verbrenne es, aber laß nichts übrig und komm dem Ghul nicht zu nahel Laß nichts im Haus des Ghuls zurückbleiben!" Dschafil zog zur Behausung des Ghuls und hörte sein Schnarchen von weitem, wie wenn der Donner grollt. Er fürchtete sich sehr, doch gleichzeitig freute er sich. Er hatte Angst vor dem Getöse, aber er freute sich, weil er wußte, daß der Ghul schlief. Er fand, daß er sich zum Schlaf auf Dschafilas Haar wie auf ein Kissen gelegt hatte. Dschafil schnitt Dschafilas Haar ab, und darauf schnitt er ihr auch die Nägel ab. Sie lachte und erkannte ihn und lächelte ihm zu. Darauf holten sie alles aus dem Haus des Ghuls heraus, um es zu verbrennen, doch sie vergaßen einen kleinen Specht, und sie vergaßen den Hund des Ghuls. Alles, was sie herausgebracht hatten, verbrannten sie, dann ließ Dschafil die Tochter seines Onkels hinter sich aufsteigen und spornte das Pferd an. Der Ghul hatte von alledem nichts gemerkt, aber der kleine Specht flog in die Höhe, ließ sich auf seiner Stirn nieder und fing an zu rufen: „Erwache, du Schläfer, die Herrin des Hauses ist entführt worden!" Aber der Ghul schnarchte, chrrr - c h r r r - , und das Pferd galoppierte mit Dschafil und Dschafila. Der kleine Specht flog nochmals in die Höhe und rief: „Erwache, du Schläfer, die Herrin des Hauses ist entführt worden!" Und der Hund bellte: „Hau, hau, hau, die Herrin des Hauses ist entführt worden!" Das Pferd galoppierte weiter. Dschafil wandte sich nach Dschafila um und fragte sie:
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„Siehst du den Ghul?" Sie sagte: „Nein, ich sehe ihn nicht" Der Specht flog hoch in die Luft, stieß dann auf die Spitze eines der riesigen Zähne des Ghuls nieder und schrie: „Erwache, du Schläfer, die Herrin des Hauses ist entführt worden!" Darauf kam der Hund, biß den Ghul ins Ohr und bellte: „Hau, hau, hau, die Herrin des Hauses ist entführt worden!" Da erwachte der Ghul aus seinem Schlummer und sah, daß Dschafila weggeholt worden war. Er trieb den Hund zur Eile an, rannte fort und folgte den Spuren des Pferdes. Der Ghul stürmte los wie der Wind, und Dschafils Pferd galoppierte, galopp, galopp, galopp, galopp. Da wandte sich Dschafil nach Dschafila um und fragte: „Siehst du den Ghul?" Sie sagte zu ihm: „Ich sehe den Ghul wie einen Geier und den Hund an seiner Seite wie einen Star." Das Pferd galoppierte, galopp, galopp, galopp. D a sprach Dschafil zu Dschafila: „Siehst du etwas?" Sie sagte: „Ich sehe den Ghul wie ein Eselfohlen und seinen Hund wie eine Ratte." Das Pferd galoppierte, galopp, galopp, galopp. D a sprach Dschafil zu Dschafila: „Siehst du etwas?" Sie sagte zu ihm: „Ich sehe den Ghul dicht hinter uns." Darauf warf Dschafil den Dorn des Lotusbaumes hinunter, und auf einmal versperrte ein Wald von Lotusbäumen den Weg hinter ihm. Der Ghul säh den dichten Wald und wurde sehr böse. Er stürzte sich darauf und hieb auf den Wald ein, und sein Hund riß die Bäume beiseite. Der Ghul fuhr fort die Bäume abzuschlagen, und der Hund zerrte sie beiseite. Unterdessen galoppierte das Pferd, und Dschafila sagte zu Dschafil: „Ich kann nichts sehen." 70
Nach einiger Zeit hatte der Ghul den ganzen Wald niedergeschlagen und sein Hund die Bäume herausgerissen, dann setzten sie die Verfolgung fort, und Dschafila sagte zu Dschafil: „Ich sehe den Ghul, ganz verschwommen, ganz verschwommen." Da schlug Dschafil auf sein Pferd ein, und es flog dahin, galopp, galopp, galopp. Dann fragte er Dschafila: „Wie sieht der Ghul nun aus?" Sie sprach: „Ich sehe ihn wie einen Geier und den Hund an seiner Seite wie einen Star." Nach einer Weile sagte sie: „Ich sehe ihn wie ein Eselfohlen und seinen Hund wie eine Ratte." Kurz darauf sagte sie: „Der Ghul nähert sich." Und nach einer Minute rief sie: „Der Ghul, o Dschafil, hilf mir, hilf mir!" Darauf warf Dschafil den Dorn der Akazie hinunter, und ein Wald von Akazien versperrte den Weg. Der Ghul machte sich daran, den Wald abzuschlagen, und der Hund riß die Bäume beiseite, der Ghul schlug nieder, und der Hund riß beiseite. Nach einiger Zeit war er mit dem Akazienwald fertig. D a sagte Dschafila: „Ich sehe den Ghul, ganz verschwommen, ganz verschwommen." Dschafil schlug das Pferd mit der Peitsche, und es stob dahin. Darauf sagte Dschafila: „Ich sehe den Ghul wie einen Geier und den Hund an seiner Seite wie einen Star." Das Pferd begann zu galoppieren, galopp, galopp, galopp, galopp, galopp. Dann fragte Dschafil: „Wie siehst du den Ghul?" Sie sagte: „Er ist wie ein Geier und der Hund an seiner Seite wie ein Star." Dschafil frohlockte in seiner Seele, denn er erkannte, daß 71
der Ghul müde wurde. Nach einer Weile sagte Dschafil zu Dschafila: „Wie siehst du den G h u l ? " Sie sagte: „Er ist wie ein Eselfohlen, und der Hund an seiner Seite ist wie eine Ratte." Das Pferd rannte, galopp, galopp, galopp, und Dschafil sagte zu Dschafila: „Wie siehst du den Ghul?" Sie sprach: „Er ist wie ein Eselfohlen und der Hund an seiner Seite wie eine Ratte." Nach einer Weile fragte er sie wieder, und sie sagte: „Der Ghul nähert sich." Kurz darauf sagte sie: „Hilf mir, hilf mir, der Ghul holt mich ein!" D a schrie der G h u l : „Der Ghul kommt zu dir, Dschafila! E r ist hinter dir, hinter dir, Dschafila!" Seine Stimme rollte wie der Donner. Dschafila fürchtete sich sehr und rief: „Hilf mir, hilf mir vor dem Ghul!" Darauf warf Dschafil den Stein hinunter, und der W e g war von riesigen Mauern versperrt. D e r Ghul machte sich daran, sie niederzureißen. Sein Hund riß sie ebenfalls nieder. E r riß nieder, und sein Hund riß nieder, während das Pferd lief, galopp, galopp, galopp. Nach einer langen Zeit hatten der Ghul und sein Hund die Mauern abgebrochen. Dschafil fragte Dschafila: „Siehst du etwas?" Sie sagte: „Nein." D a s Pferd lief, galopp, galopp, galopp. Sie wandte sich um und sah nichts. Nach einer Weile wandte sie sich wieder um und sah nichts. Als sie sich abermals umwandte, sagte sie zu Dschafil: „Ich sehe den Ghul, ganz verschwommen, ganz verschwommen."
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Nach einer Weile schaute sie nach und sah den Ghul wie einen Geier und seinen Hund wie einen Star. Als sie wieder zurückblickte, fragte Dschafil sie, und sie sagte zu ihm: „Ich sehe den Ghul wie ein Eselfohlen und seinen Hund wie eine Ratte." Nun erkannte Dschafil, daß sich der Ghul diesmal so gewaltig anstrengte wie bisher noch nicht. Nach einer Weile rief Dschafila: „Der Ghul ist da, hilf mir, hilf mir!" Und der Ghul schrie: „Ich bin hinter dir, Dschafila! Der Ghul kommt zu dir, Dschafila!" Dschafila hatte große Angst, doch Dschafil warf den Tonklumpen hinunter. Da wurde das ganze Land plötzlich zu einem weiten Meer, ohne Anfang und ohne Ende. Der Ghul fing an zu trinken, und sein Hund trank. E r trank, und sein Hund trank, und sie tranken und tranken. Schließlich hatte sich sein Hund vollgetrunken, und sein Leib zerbarst, tak trak. Der Ghul trank weiter. Er trank und trank. Unterdessen erreichte Dschafil mit Dschafila das Dorf. Im Dorf begegnete ihm die alte Frau, die er bei der Behausung des Ghuls getroffen hatte. Sie sprach zu ihm: „Ich sehe, du hast die Jagdbeute mitgenommen, aber wo ist nun der Ghul?" Er erzählte ihr, was sich zugetragen hatte, und sie sagte zu ihm: „Das Meer dort kann der Ghul nicht austrinken. Er wird zerbersten wie sein Hund, nur ist seine Widerstandskraft etwas größer als die des Hundes." Während sich die Alte noch mit Dschafil unterhielt, hörten sie einen gräßlichen Knall, bab, bab, dak-bak. Da sagte sie zu ihm: „Nun ist der Ghul zerplatzt wie sein Hund." Danach lebte Dschafil ein glückliches Leben mit Dschafila. Die sechs Mädchen aber waren über alle Maßen erzürnt über Dschafilas Rettung.
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DER ZITRONENBAUM, DER WIEDER FRISCH WURDE UND ZU NEUEM LEBEN ERWACHTE
Hasan war der Sohn eines Königs, der über mehrere Städte herrschte, ein guter und mutiger Jüngling. Er hatte eine Schwester, die er sehr liebte. Sie lebten unter der Obhut ihres Vaters, des Königs, ein zufriedenes Leben. Als der Vater starb, wollte Hasan sein Nachfolger werden, doch ein Verwandter entriß ihm die Macht mit Gewalt, da ihn eine starke Partei unterstützte. Hasan sah keinen anderen Ausweg, als die Stadt zu verlassen und dahin zu ziehen, wohin Allahs Wille seine Schritte lenkte. Er rief seine Schwester zu sich und sprach zu ihr: „Wir können nicht länger in dieser Stadt bleiben, drum laß uns zusammen irgendwo hinziehen, wo wir ein Haus für uns finden, in dem wir uns niederlassen können." Die Schwester folgte seiner Bitte, und Hasan setzte sich auf ein Pferd, das ihm geblieben war, und ließ seine Schwester hinter sich aufsteigen. Dann ritten sie ohne bestimmtes Ziel nach der Wüste. Hasan hatte eine Base, die ihn liebte. Als er die Stadt verließ, zog sie ebenfalls davon, denn sie vermochte nicht in der Nähe des Mannes zu leben, der sich anstelle ihres Vetters mit Gewalt zum König gemacht hatte. Sie zog in eine Hütte in einem großen W a l d und kaufte Schafe, denen Lämmchen geboren wurden. Dann nährte sie sich von Schafsmilch, und wenn sie Fleisch brauchte, schlachtete sie eines der Lämmchen. Unterdessen hatte Hasans Weg ihn in die Wüste geführt. Dort erblickte er eine große Burg. Diese Burg war der Wohnsitz von vierzig Negern, die die Wege belagerten und die Vorüberziehenden ausraubten. Das große Tor der Burg war schwer und massiv, und es stand darauf geschrieben: „Vierzig öffnen es, und vierzig schließen es." Hasan war sehr stark. Er stemmte seine Schultern gegen das Tor. Seine Schwester schrie vor Angst, doch er kümmerte
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sich nicht um ihr Geschrei, sondern stieß das große T o r mit seinen Schultern zur Seite, und es öffnete sich. Seine Schwester fürchtete sich hineinzugehen, denn vielleicht war dort jemand, der sie und ihren Bruder töten würde, aber Hasan beruhigte sie, ging mit ihr hinein und versteckte sie an einer geschützten Stelle. Hasan wußte, daß ihm die Besitzer der Burg feindlich gesinnt waren, und er glaubte auch, daß sie Räuber waren, die die Wege unsicher machen und sich dann in die Burg zurückziehen. Daher öffnete er das große Tor zur Hälfte und versteckte sich dahinter in der Nähe eines tiefen Brunnens, in dem kein Wasser mehr war. E s dauerte nicht lange, bis die vierzig Schwarzen kamen. Als sie das große Tor der Burg offen sahen, fürchteten sie sich und blieben stehen und hatten es nicht eilig hineinzukommen. Schließlich faßten aber einige von ihnen doch Mut und begannen einer nach dem anderen durch die Öffnung des großen Tores zu schlüpfen. Jedesmal jedoch, wenn einer von ihnen hindurchkam, packte ihn Hasan am Hals, damit er nicht um Hilfe rufen sollte, und versetzte ihm einen Stoß mit seinem Dolch. Dann warf er ihn in den Brunnen und fuhr damit fort, bis er alle auf dieselbe Weise getötet hatte. D a nach holte er seine Schwester aus ihrem Versteck hervor und sprach zu ihr: „Nun gshört uns die Burg mit allem, was darinnen ist." Hasan und seine Schwester ließen sich in der Burg nieder. In ihrem Hof stand ein Zitronenbaum. Hasan mochte ihn gern, begoß ihn mit "Wasser und pflegte ihn liebevoll. Tagsüber ließ er seine Schwester in der Burg zurück und ging auf die Jagd, nachdem er das große Tor verschlossen hatte. Dann brachte er seiner Schwester heim, was er erjagt hatte, und sie bereitete ihm das Essen davon. Jedesmal, wenn Hasan die Burg verließ und auf die Jagd zog, begann der Zitronenbaum zu welken, doch wenn die Zeit seiner Rückkehr herankam, wurde er wieder frisch und erwachte zu neuem Leben. Es war, als sei er ein Wesen, das menschliche Gefühle der Liebe besaß und empfand, was geschehen sollte, bevor es geschehen war. Hasans Schwester hatte das beobachtet. D a s Verwelken zeigte sich jedesmal, wenn sich ihr Bruder entfernte. Wenn sie aber sah, daß der Zitronenbaum wieder frisch wurde und
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zu neuem Leben erwachte, wußte sie, daß er gekommen war. Dann stieg sie von ihrem Zimmer in den Hof hinab, um ihn zu empfangen und ihm die Jagdbeute abzunehmen. Eines Tages, als Hasan in einem der Wälder jagte, stürzte ein heftiger Regen vom Himmel herunter, und er schlüpfte zwischen die Bäume, um eine Zuflucht zu suchen. Da erblickte er eine Hütte und eilte auf sie zu. W i e groß war sein Erstaunen, als er beim Eintreten seine Base darin sah. Er fragte sie, warum sie sich in diesem W a l d e niedergelassen hatte, und er bedrängte sie, mit ihm in die Burg zu ziehen, doch sie lehnte ab. Sie war nämlich zauberkundig und hatte mit Hilfe der Magie herausgefunden, daß ihr Verbleiben in der Hütte nützlicher für ihren Vetter und für sie selbst sei. Sie nahm ihm das Versprechen ab, seiner Schwester nichts von ihr zu erzählen. Aber jedesmal, wenn er auf die Jagd ging, kam er bei ihr vorüber, bis es für sein Pferd zur Gewohnheit geworden war, nach ihrer Hütte zu traben und mit seinem Herrn von selbst dorthin zu gehen. Eines Tages, als Hasan auf die Jagd gezogen war, saß seine Schwester am Fenster. Ihr Blick war auf die Wüste gerichtet. Als sie so dasaß, hörte sie ein Stöhnen unter ihrem Fenster und schaute nach, woher es kam. Da erblickte sie einen verwundeten Neger. Der Verwundete bemerkte sie und bat sie inständig, ihn zu sich hinaufzuziehen und seine Wunden zu behandeln. Sie fürchtete sich vor ihrem Bruder, doch der Schwarze versprach, die Burg zu verlassen, sobald er verbunden worden sei. Darauf zog sie ihn mit einem Seil zu sich hinauf und behandelte seine Wunden mit heilenden Mitteln, bis die Blutung gestillt war. Ihre Einsamkeit in jener Burg und ihre Abgeschiedenheit von den Menschen hatten in ihr Sehnsucht nach Gesellschaft mit einem Mann geweckt, gleichgültig, wer es auch sein möge. So kam es, daß sie Liebe zu ihm empfand, nachdem sie seine Wunden behandelt hatte. Der Schwarze verabredete mit ihr, jeden Tag zu kommen, sobald ihr Bruder auf die Jagd gezogen ist, und zu scheiden, sobald der Zitronenbaum wieder frisch wird und zu neuem Leben erwacht. Der Schwarze blieb eine Zeitlang in dieser Weise bei ihr, bis er es satt bekam. Eines Tages sprach er zu seiner Geliebten:
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„Dieser Zustand ist nicht angenehm für uns. Wir müssen deinen Bruder loswerden, damit wir den ganzen Tag lang Zusammensein können." Sie antwortete ihm: „Wie können wir ihn loswerden? Wie du weißt, hat er ungeheure K r a f t und ist sehr mutig." E r sprach zu ihr: „Die Sache ist leicht. Bring Stroh herbei und koche es in Wasser aus, dann wasche dein Gesicht damit, und es wird g e l b 1 davon werden. Danach lege dich ins Bett und tu, als ob du schläfst. Wenn er kommt und dich in diesem Zustand sieht, wird sein Herz bekümmert sein, denn er liebt dich, und er wird dich fragen: Was ist mit dir los? D a n n antworte ihm, d a ß du krank bist und d a ß ein Maghrebiner unten an der Burg vorübergegangen sei. D u hast zu ihm hinausgeschaut, und er habe dir deinen Zustand erklärt und gesagt, d a ß du von nichts anderem gesund werden könntest als vom Wasser des Lebens aus dem Lande der Ghule, das man dir bringen sollte, damit du deinen Körper damit wäschst. Auch sollte man dir die Granatäpfel des Lebens herbeischaffen, damit du ihren Saft trinkst. Es besteht kein Zweifel, d a ß dein Bruder ausziehen wird, um dir diese Heilmittel zu bringen, und dabei fressen ihn die Ghule, und wir sind ihn los." Sie tat, was ihr der Schwarze gesagt hatte. Als ihr Bruder sah, wie bleich und krank sie war, hatte er Angst um sie, band seinen Proviantsack auf sein Pferd und begab sich auf die Reise ins Land der Ghule. Auf dem Wege ging er bei seiner Base vorbei und erzählte ihr die Neuigkeiten von seiner Schwester, doch sie lachte und sprach zu ihm: „Deine Schwester ist nicht krank, sondern sie ist verliebt." Hasan aber glaubte ihr nicht, denn er hatte keinen außer seiner Schwester in die einsame Burg gebracht. Sie versuchte nicht, ihn zu ihrer Meinung zu bekehren, sondern stand auf, brachte zwei kleine Lämmchen und schlachtete sie, hackte sie in Stücke und packte sie in seine Satteltasche. Danach sprach sie zu ihm: 1
Bei den Arabern sind „bleich" und „gelb" gleichbedeutend.
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„Wenn du am Wadi der Ghule angekommen bist, geh erst hinein, wenn du siehst, daß die Ghule hervorstehende Augen haben, denn das ist der Beweis dafür, daß sie schlafen. Dann geh hinein und nimm, soviel wie du willst, vom Wasser des Lebens und von den Granatäpfeln. Dann geh fort. Wenn sie aufwachen und dir zurufen: Hasan, komm und nimm auch das noch, antworte ihnen nicht. Wirf ihnen nur die Fleischstücke hin, ohne dich nach ihnen umzuschauen, und tritt den Rückweg an." Hasan tat, was ihm seine Base geraten hatte, füllte einen Ledersack mit dem Wasser des Lebens und pflückte einige von den Granatäpfeln des Lebens. Dann ging er zurück. Auf seinem Heimweg kehrte er wieder bei seiner Base ein. Sie hatte seine Rückkehr schon erwartet. E r aß mit ihr die Nachtmahlzeit und schlief bei ihr, aber sie stand auf, als er schlief, und versteckte das Wasser des Lebens und goß an seiner Stelle gewöhnliches Wasser in den Sack. Dann tauschte sie die Granatäpfel des Lebens gegen gewöhnliche Granatäpfel aus. Als er am kommenden Morgen erwachte, nahm er Abschied von seiner Base und ritt zu seiner Burg. Der Zitronenbaum fühlte sein Herannahen und wurde wieder frisch und erwachte zu neuem Leben. D a erfuhren seine Schwester und der Schwarze, daß er zurückgekehrt war. Sie tat, als ob sie im Bett schliefe, und versteckte den Schwarzen. Als Hasan kam, rieb er den Körper seiner Schwester mit dem Wasser ein, das ihm die Base in den Ledersack gefüllt hatte, und er gab seiner Schwester vom Saft der Granatäpfel zu trinken. Sie wurde gesund, und das Leben nahm wiedef seinen normalen Verlauf. Dann pflegte er wie zuvor jeden Tag auf die Jagd zu ziehen. D e r entlaufene Sklave jedoch bedrängte die Schwester, einen Weg zu finden, um Hasan zu beseitigen. Schließlich begehrte der Schwarze von ihr, daß sie Hasan fragen solle, was das Geheimnis seiner Stärke sei. D a bat sie ihren Bruder, sich mit ihr im Spiel mit Pfeil und Bogen zu messen, doch möge er es ihr „leicht machen". E r ging darauf ein, und sie besiegte ihn und fesselte ihn mit Seilen. E r aber streckte seine Muskeln und zersprengte sie. Darauf fragte sie ihn nach dem Geheimnis seiner Stärke, und
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er zeigte ihr sieben H a a r e auf seinem Kopf, in denen all seine Stärke steckte. Sie verließ ihn, bis er in einen tiefen Schlaf gesunken war, dann zog sie ihm heimlich die sieben H a a r e heraus, und als er am folgenden Tage von der Jagd zurückkam, m a ß sie sich wieder, mit ihm im Bogenschießen, und er machte es ihr leicht. Sie besiegte ihn und band ihn mit Seilen. E r spannte seine Muskeln, doch er konnte sie nicht zersprengen. D a wußte er, d a ß ihn seine Schwester hintergangen hatte, und er sprach zu ihr: „ D u hast es getan, Verräterin 1" Sie antwortete ihm nicht, sondern rief den Schwarzen, und der stach ihn mit seinem Dolch nieder und tötete ihn. D a n n trug sie ihn auf den Rücken seines Pferdes. D a s Pferd trabte mit ihm davon, und der Zitronenbaum verwelkte. D a s Pferd lief mit seiner blutigen Last und trabte seiner Gewohnheit nach zur Hütte von Hasans Base. Als sie es sah, wußte sie schon, d a ß er in diesem Zustand zu ihr kommen würde. Sie nahm ihn vom Rücken des Pferdes herunter, wusch seine Wunde mit dem Wasser des Lebens und preßte den Saft aus den Granatäpfeln und gab ihm von dem Saft zu trinken. D a kam er wieder zu sich, und das Leben kehrte in ihn zurück. E r öffnete die Augen und erblickte seine Base neben sich. Sie sprach zu ihm: „Siehst du nicht, d a ß ich recht hatte, als ich dir sagte, deine Schwester sei verliebt?" E r schwieg und beschloß, sich an seiner Schwester und ihrem Geliebten, dem Schwarzen, zu rächen. Als er wieder vollständig hergestellt war, nahm er eine Satteltasche und füllte sie in der benachbarten Stadt mit allem, was die Frauen brauchen: Kämmen, Pudern und anderem. D a n n ging er bis unter die Burg. E r hatte sich verkleidet und sein Aussehen so verändert, d a ß er nicht wiederzuerkennen war. Der Zitronenbaum jedoch spürte seine Rückkehr und wurde wieder frisch und erwachte zu neuem Leben. Hasans Schwester sah es. Sie fühlte einen Stich" in ihrem Herzen und bekam Angst. D a n n teilte sie dem Schwarzen ihre Befürchtungen mit, doch er lachte sie aus und antwortete ihr:
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„Wie kann er kommen, nachdem seine Knochen zu Kühl geworden sind?" Hasan begann unterdessen zu rufen und zählte die Waren auf, die er mit sich führte. Seine Schwester brauchte viele Sachen. Daher sagte sie zu dem Schwarzen, daß er den Händler auffordern solle hereinzukommen, damit sie ihm abkaufen konnte, was sie brauchte. Der Schwarze rief ihm zu, und Hasan trat ein und breitete vor der Schwester aus, was er bei sich hatte. Während sie betrachtete, was er vor sie hingelegt hatte, schaute er nach seinem Bogen, der an der Wand hing. Sie bemerkte, wie er nach dem Bdgen sah, und sprach zu ihm: „Was hast du?" Er sagte zu ihr: „Wem gehören dieser Bogen und der Köcher mit den Pfeilen, der daneben hängt?" Sie antwortete ihm: „Mögen die Augen dessen, dem sie gehörten, begraben sein! 1 Er starb." Darauf ging er auf die Wand zu, nahm den Bogen und den Köcher, legte einen Pfeil auf den Bogen und traf damit den Sklaven mitten ins Herz. Er sank tot um. Da schrie seine Schwester: „Mein Bruder Hasan!" Er aber sagte zu ihr: „Nun weißt du, daß ich dein Bruder bin." Dann traf er sie mit einem Pfeil, und sie fiel neben dem Sklaven nieder und spie ihre Seele mit ihrem Blute aus. Danach ritt er auf seinem Pferd davon, ging zu seiner Base und brachte sie auf die Burg. Er heiratete sie und lebte mit ihr in Seligkeit und Freuden. 1
Fluch über einen tödlich gehaßten Menschen.
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SITT WARD
In einer der großen Städte herrschte ein König, der hatte drei schöne Töchter. Die Jüngste hieß Ward, die Rose, und war die Schönste und am teuersten für jedermanns Herz. D i e Königin, ihre Mutter, starb, als sie noch klein waren. Ihr Vater gab ihnen eine gute Erziehung, und sie gehörten zu den besten und rechtschaffensten Mädchen. Ward jedoch übertraf die beiden anderen mit ihrer Sanftmut, Güte, Bescheidenheit und Demut, so daß die Beamten des K ö nigs, sein Gefolge und die Bevölkerung des Königreiches hofften, sie möge nach ihrem Vater die Herrschaft übernehmen. Ihr Vater hatte eine Vorliebe für Pferde von edler Rasse, und wenn immer es an irgendeinem Ort ein edles Pferd gab, dann bot er, um es zu erlangen, seinem Besitzer großzügig so viel Geld, wie dieser haben wollte. D a er die Reitkunst sehr schätzte, unterrichtete er auch seine Töchter darin. Sie ritten auf den Pferden, ließen sie tanzen und übten sich auf ihren Rücken in verschiedenen Reiterspielen. Eines Tages kamen in die Stadt dieses Königs Beduinen. Sie hatten arabische Pferde bei sich, die sie verkaufen wollten. Der König hörte von ihnen und ließ sie zu sich kommen und ihre Pferde vorführen. E r bewunderte unter ihnen ein blauschwarzes Füllen von schöner Gestalt und vollendetem Körperbau. • D a fragte er den Besitzer dieses Pferdes nach seiner Herkunft und Abstammung, doch dieser entschuldigte sich, daß er weder die Herkunft noch die Abstammung kenne, denn es sei nicht bei ihm geboren worden. E r habe gesehen, wie es eines Tages zusammen mit seinen Pferden auf der Weide graste, und es dann bei sich behalten. E r habe gewartet, daß jemand komme und nach ihm frage, doch als es niemand be6
Arabische Volksmärchen
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gehrte, reihte er es unter seine Füllen ein und bot es zum Verkauf an. D e r König pflegte kein Füllen oder Pferd zu kaufen, ohne dessen Herkunft und Abstammung zu kennen, doch dieses Füllen entzückte seine Augen und sein Herz durch die Schönheit seines Aussehens und durch sein feuriges Wesen. D a wich er von seiner Gewohnheit ab und kaufte es. Der König ließ diesem Füllen das beste Futter geben und ihm einen besonderen Stall in der Nähe seines Schlosses errichten. Er fütterte es mit Honig und Zucker und verwöhnte es sehr. Wenn er auf seine Parade ausziehen wollte oder wenn er seine Soldaten anführte, ritt er nur auf ihm. Es galoppierte ungestüm und wurde zum Gespräch in der ganzen Stadt. Eines Tages baten die Töchter des Königs ihren Vater, dieses Füllen, von dem die ganze Stadt sprach, aus der N ä h e betrachten zu dürfen. D a führte er sie in seinen Stall und zeigte es ihnen. Sie bewunderten es, und jede von ihnen begann mit ihren Händen seine Brust und seinen Kopf zu streicheln. Es sträubte sich, von irgendwelchen Händen außer denen Wards berührt zu werden. Diese Hände aber beleckte es und sank vor derjenigen, der sie gehörten, in die Knie und blickte sie mit Güte und Zuneigung an. D i e Prinzessinnen verabschiedeten sich von dem Füllen und gingen in ihre Schloßgemächer. Am nächsten Tage begab sich der König in den Stall des Füllens und sah, wie es sich teilnahmslos abwandte, als ob es krank sei. D a fragte er den Leibpferdeburschen, was mit dem Pferd sei, und der antwortete, d a ß das Füllen seit gestern, nachdem die Prinzessinnen fortgegangen waren, das Futter nicht mehr angerührt habe. Seitdem befinde es sich in dem Zustand, in dem es der König antreffe. Der König machte sich Sorgen um sein Füllen und wunderte sich über die Ursache. D a bat er seinen Wesir, die Sache zu untersuchen. Der Wesir war weitblickend und scharfsinnig, daher fragte er den König: „Wer von den Bewohnern der Stadt hat das Füllen gestern besucht?" Der König antwortete: „Niemand außer meinen Töchtern hat es besucht." Der Wesir sprach:
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„Wisse, o mein Herr, daß ein Tier Gefühle der Liebe und der Abneigung so wie die Menschen verspürt, und es wird von Traurigkeit befallen, wenn derjenige fort ist, den es liebt, ähnlich wie ein Mensch davon befallen wird, wenn derjenige nicht da ist, für den er Liebe empfindet. Gestern haben die Prinzessinnen das Füllen besucht, es hat Zutrauen zu einer von ihnen gefaßt, und die Trennung von ihr ist ihm schwer geworden. Veranlasse daher, daß jede von ihnen allein zu ihm kommt, und wir werden erfahren, zu welcher es Zuneigung gefaßt hat." Der König hielt diesen Vorschlag für gut und rief seine Töchter herbei, daß sie das Füllen besuchten. Da trat die Älteste ein und winkte mit ihrem Tuch, doch das Füllen blieb gleichgültig und wandte sich nicht nach ihr um, und sie ging hinaus und verzog ärgerlich ihre Lippen. Danach trat die Mittlere ein und beganp sein Antlitz mit ihrer Hand zu streicheln, seine Stirn mit ihrem Tuch abzutrocknen und es freundlich anzureden, doch sein Benehmen war genauso wie bei ihrer großen Schwester. D a verließ sie es und ging erzürnt hinaus. Daraufhin trat Ward ein, und kaum hatte sie ihm mit ihrem Tuch zugewinkt und es angeredet, als es wieder auflebte, sich umwandte und freudig wieherte. Dann sank es vor ihr in die Knie und beleckte ihre Hände. \ Der König sah, welche Zuneigung das Füllen zu seiner Tochter Ward besaß. Da bat er sie, in seiner Nähe zu bleiben, und sie weigerte sich nicht. Es freute sie sehr, daß dieses Füllen, von dem alle Leute entzückt waren, sie liebte und ihr gehorchte. Ward blieb bei dem Füllen einige Tage, in deren Verlauf sich sein Zustand veränderte. Sein feuriges Wesen und sein gutes Aussehen kehrten zurück, und als sie sah, daß seine Zutraulichkeit ihr gegenüber von Tag zu Ta& zunahm, bat sie ihren Vater um Erlaubnis, die Möbel ihres Zimmers in seinen Stall hinüberbringen und bei ihm schlafen zu dürfen. Ihr Vater gewährte ihr, worum, sie gebeten hatte. Ward brachte ihre ganze Zimmereinrichtung in den Stall des Füllens, stellte darin den Garderobeschrank für ihre Kleider auf und rückte ihr Bett in die Nähe der Futterkrippe, und es fraß mit gutem Appetit. 6*
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Der König kam jeden Morgen und fragte seine Tochter W a r d , um die er besorgt war, ob sie das Füllen gestört oder belästigt habe. Sie antwortete stets, d a ß es sie nicht im geringsten gestört habe, denn wenn sie in ihrem Bett schlief, ließ es sich in der Nähe des Bettes auf der Erde nieder und schlief, und es erwachte nicht aus seinem Schlaf, bevor sie erwachte und es bei seinem Namen rief. Sie hatte es „ W a r d a n " genannt, wobei sie den Namen von ihrem eigenen genommen hatte. Eines Nachts, als W a r d im Halbschlaf dahindämmerte, merkte sie, d a ß jemand in ihrer Nähe stand. D a öffnete sie erschrocken ihre Augen und erblickte einen schönen Jüngling von hoher Gestalt. Sie w a r bestürzt. W a r d bekam Angst, öffnete ihren Mund und wollte um Hilfe rufen, doch er sprach zu ihr: „Fürchte dich nicht, W a r d , ich bin das Füllen. Fürchte dich nicht!" W a r d betrachtete den Jüngling und fragte ihn verwundert: „Du bist das Füllen?" Er antwortete ihr: „ J a , ich bin das Füllen. Ich bin Maimun, der Sohn eines Königs der Dschinnen auf den Inseln W a q - W a q . Ich hielt mich in Verkleidung in der Stadt deines Vaters auf und ging an eurem Garten vorüber und sah dich darin zusammen mit deinen Schwestern. D a fühlte sich mein Herz zu dir hingezogen. Ich erfuhr, d a ß dein Vater eine Vorliebe für schöne Pferde hat. Deshalb verwandelte ich mich in ein Füllen und ging unter die Füllen des Pferdehändlers, und der kam mit mir und seinen Pferden zu deinem Vater. Er kaufte mich, und auf diese Weise wurde es mir leicht, in deine Nähe zu gelangen. Von nun an werde ich in Gestalt eines Füllens in deiner Nähe bleiben, bis es mir möglich ist, dich zu heiraten, denn ich bin durch einen Talisman gebunden, der ins H a a r einer meiner vierzig Basen geflochten ist. 1 Dieses Talismans kann ich mich jedoch nicht bemächtigen, um von der Verpflichtung frei zu werden, d a ich nicht weiß, welche es ist, ii 1
Wahrscheinlich geknotete Haarsträhnen, über denen eine Zauberformel gesprochen wurde.
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deren Haar er geflochten ist, und sie selbst weiß es auch nicht. Doch verschweige, was du über mich erfahren hast, und offenbare niemandem das Geheimnis, denn wenn du jemandem von meiner Geschichte erzählst, werde ich mich vor dir verbergen, und du wirst mich niemals wiedersehen." Ward verschwieg, wie es um Maimun stand, und jede Nacht, nachdem alle im Schloß und in der Stadt schliefen, verwandelte er sich in einen Jüngling und saß bei Ward. Sie unterhielten sich die halbe Nacht, dann ließ er sie schlafen und kehrte in das Gewand eines Füllens zurück und schlief neben ihrem Bett. Die Tage vergingen, unterdessen erklärte einer der Nachbarkönige Wards Vater den Krieg und marschierte mit seinen Truppen heran und belagerte die Stadt. Die Soldaten von Wards Vater öffneten jeden Morgen die Stadttore und machten einen Ausfall gegen die Soldaten ihres Feindes. Sie erschlugen viele, doch sie konnten sie nicht dazu bringen, von der Stadt abzuziehen, denn die anderen waren ihnen an Zahl überlegen. Da kehrten sie nach der Stadt zurück, verschlossen ihre Tore und schössen von den Mauern Pfeile auf sie herab. Ward erzählte Maimun von der Belagerung ihrer Stadt. D a beruhigte er sie und sprach zu ihr: „Fürchte dich nicht! Morgen werde ich mit den Soldaten deines Vaters auf den Kampfplatz hinuntergehen. Ich werde ein blaues Gewand tragen und auf einem blauen Pferd reiten, darum steige auf die Stadtmauer und sieh mir zu, wie ich kämpfe. Hüte dich aber, jemandem von mir zu erzählen, wenn du hörst, daß die Leute nach mir fragen!" W a r d versprach ihm, sein Geheimnis zu bewahren, und am folgenden Morgen stieg sie mit ihren beiden Schwestern auf die Stadtmauer, um nach dem Kampfplatz hinunterzuschauen. Sie sahen, wie ein blauer Ritter auf das Heer der Feinde losstürmte und eine große Zahl von ihnen tötete. Das sahen alle Frauen und Männer, die auf den Mauern waren, und sie fingen an nach ihm zu fragen, doch W a r d schwieg, als ob sie ihn nicht kennen würde. Die beiden Schwestern Wards waren verlobt, und ihre Verlobten befanden sich auch auf dem Schlachtfeld. D a begann jede von ihnen auf ihren Verlobten
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zu zeigen und mit seiner Tapferkeit und Unerschrockenheit zu prahlen, doch Ward schwieg und sprach kein einziges Wort. Der Tag neigte sich seinem Ende zu, und die Truppen kehrten nach der Stadt zurück. Sie hatten den ganzen T a g über die Feinde außerhalb der Mauern erschlagen, ermutigt durch die Vorstöße des blauen Ritters, der mit Gewalt auf das Heer der Feinde losgestürmt war. Ward kehrte in den Stall des Füllens zurück und fand es darin. Als ihr Vater zu ihr kam, um das Füllen zu sehen, fing er an ihr von dem blauen Ritter zu erzählen und wie er wünschte, ihn kennenzulernen, um ihn zu belohnen, doch Ward verriet ihr Geheimnis nicht. Nachdem der König fortgegangen war, verwandelte sich Maimun wieder zu einem schönen Jüngling, und Ward dankte ihm und lobte seine Tapferkeit. D a sprach er zu ihr: „Morgen werde ich in einem roten Gewand auf einem roten Pferd erscheinen, darum sieh meinen Taten zu, doch hüte dich, meinen Namen zu erwähnen!" Am zweiten Tag erschlug der rote Ritter genauso ungestüm die Feinde, wie es der blaue Ritter am ersten Tage getan hatte. Ward konnte sich beherrschen und ihr Geheimnis hüten, trotz der Anspielungen und Scherze ihrer beiden Schwestern, die zu ihr sagten, daß morgen ihr Verlobter, das Füllen, auf dem Kampfplatz erscheinen und die Feinde vernichten werde. Äm Abend, als sie in den Stall zurückkehrte, sah sie, daß Maimun auf sie gewartet hatte, und er sprach zu ihr: „Morgen werde ich ein weißes Gewand anziehen und auf einem weißen Pferd reiten. Das wird dann der letzte Tag sein, an dem ich die Heere eurer Feinde schlagen werde." Am Morgen des dritten Tages stieg Ward auf die Stadtmauer, ihr Vater und ihre beiden Schwestern waren schon vor ihr dorthin gegangen. Viele Leute, Frauen und Männer, hatten sich versammelt, um dem gewaltigen Ansturm des unbekannten Ritters zuzusehen, der jeden Tag in ein anderes G e wand als am Vortage gekleidet war und auf einem Pferd von anderer Farbe ritt. D i e Truppen der Stadt zogen auf den Kampfplatz hinaus, und der Ritter, auf den sie gewartet hatten, zog auch hinaus.
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Diesmal kam er in einem weißen Gewand und auf einem weißen Pferd. Der weiße Ritter griff das feindliche Heer mit furchtbarer Gewalt an, zersprengte es und jagte ihm solchen Schrecken ein, daß es die Flucht ergriff und alle Kriegsausrüstung und Vorräte zurückließ. Ward hörte, wie sich ihrte beiden Schwestern mit ihren Verlobten brüsteten und ihnen die Besiegung des Feindes zuschrieben. Da wandte sie ihr Gesicht von ihnen, damit ihrer Zunge nicht ein Wort entschlüpfe, das sie später zu bereuen habe. Ihre Schwestern bemerkten es und kamen auf sie zu, um sich über sie lustig zu machen, und die Älteste sagte: „Wo ist dein Verlobter, Ward, haben wir ihn nicht auf dem Schlachtfeld gesehen?" Da entgegnete die Mittlere: „Laß es genug sein mit dem Spott! Weißt du denn nicht, daß ihr Verlobter in seinem Stall ist?" Da wurde Ward so von Zorn erfüllt, daß sie nicht länger ertragen konnte zu schweigen, und sie schrie ihnen entgegen: „Genug! Ja, wahrlich, mein Verlobter ist das Füllen! Doch wer ist das Füllen anders als dieser unbekannte Ritter, der die Feinde geschlagen hat, nicht eure Verlobten! Ja, er ist mein Verlobter, Maimun, der Sohn des Königs von den Inseln. Waq-waq." Da waren ihre beiden Schwestern sprachlos vor Staunen, doch sie selbst hatte kaum diese Rede beendet, als sie sich vor Reue auf die Lippen biß und ihr bewußt wurde, daß sie Maimun verlieren werde. Sie eilte nach dem Stall und war wie von Sinnen und bebte vor Herzklopfen. Sie fand das weiße Pferd, auf dem Maimun geritten war, an Stelle des Füllens, in dessen Gestalt er sich verwandelt hatte, und sie wurde von tiefer Traurigkeit ergriffen, weinte und verweigerte Essen und Trinken. Ihre beiden Schwestern bereuten, was sie getan hatten, und sie kamen täglich mit ihrem Vater, um sie aufzuheitern und es ihr leichter zu machen, aber sie ließ sich nicht beruhigen. Verzweifelt harrte sie einige Zeit vergeblich auf die Rückkehr Maimuns, bis sie die Trennung von ihm nicht mehr ertragen konnte und fortzuziehen beschloß, um ihn in der bekannten und unbekannten Welt zu suchen.
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D a ging sie zu ihrem Vater und bat ihn um Erlaubnis für die Reise. Obwohl dem Vater die Trennung von ihr unerträglich war, überwand er sich und gab ihr die Erlaubnis, denn vielleicht könnte es ihr die Reise leichter machen, Maimun zu finden, oder vielleicht würde sie sich beruhigen und vergessen, was sie betroffen hatte. Ward sattelte das weiße Pferd, das Maimun zurückgelassen hatte, und band ihm eine Satteltasche voll Gold auf den Rükken. Dann legte sie ihr Qamis an, gürtete sich mit ihrem Schwert und hängte ihren Bogen und Köcher mit ihren Pfeilen über die Schulter und zog davon. Sie begann alle Teile der Welt zu durchqueren, die bewohnten wie die verödeten, und jedesmal, wenn sie irgendeinen Ort erreichte, fragte sie nach den Inseln Waq-waq und wie sie dorthin gelangen könne, doch niemand vermochte sie ihr zu zeigen noch den Weg zu beschreiben. Da wurde sie des Umherstreifens müde, und die Ermattung übermannte sie. Sie hatte eine schöne, einsame Gegend erreicht, die nicht weit vom bewohnten Land lag. Diese Abgeschiedenheit gefiel ihr so gut, daß sie in ihr ein Schloß bauen und darin alle vorüberziehenden Wanderer und die von Horizont zu Horizont Streifenden empfangen und jeden von ihnen auffordern wollte, die Geschichte seiner Reise zu erzählen. Vielleicht könnte sie dabei erfahren, wo Maimuns Land liegt. Sie kaufte Land und ließ in der benachbarten Stadt bekanntgeben, daß sie so schnell wie möglich ein Schloß gebaut haben wolle, und jeder, der sich zur Arbeit fähig halte, solle zu ihr kommen. Kaum hatte Ward diese Bekanntmachung erlassen, als sich bei ihr viele Leute einfanden, Baumeister, Maurer, Stuckarbeiter, Besitzer von Steinbrüchen, Schmiede, Tischler und andre mehr, die man zum Bauen braucht. Sie errichteten ihr in fünf Tagen ein prächtiges Schloß mit einundfünfzig Zimmern, und neben jedem Zimmer befand sich ein Bad. Dann umgaben sie das Schloß mit Blumen- und Obstgärten, in denen verschiedene Arten von Bäumen und die schönsten Blumen wuchsen. Durch die Gärten legten sie Gräben zur Bewässerung, und es war ein ungewöhnliches Meisterwerk in einer solchen öden Gegend. Dann stattete sie das Schloß mit
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den schönsten und teuersten Möbeln aus und ließ viele Diener und Sekretäre kommen und an seine Pforten schreiben: „Jeden, der mit einer neuen Geschichte zu mir kommt, will ich reich machen." Die Söhne der Landstraße 1 sowie die von Horizont zu Horizont Streifenden kamen zu ihr, und jeder von ihnen erzählte, was er erlebt hatte oder wußte, und sie belohnte ihn reichlich, doch sie fand nicht die Geschichte, nach der sie sich sehnte. In einem der Nachbardörfer lebte eine arme, alte Frau mit ihrem Enkel, den sie großgezogen hatte, da er ein Waisenkind war. Sie hing sehr an ihm, denn er war die einzige Stütze, auf die sie sich in ihren alten Tagen verlassen konnte. Dieser Junge hörte von dem Begehren der Sitt Ward, da sich die Kunde von ihr nach allen Richtungen verbreitet hatte und die Leute anfingen sie nur mit dem Beinamen „die Sitt" zu benennen. D a bat er seine Großmutter, mit ihm zur Sitt zu ziehen. Vielleicht konnte er ihr etwas erzählen, das ihr gefiel, und sie würde ihn mit Geld belohnen, mit dessen Hilfe er sich Arbeit beschaffen und von deren Früchten sie leben konnten. D i e Alte machte sich von ihrem Dorf auf und begab sich mit ihrem Enkel auf die Reise zum Schloß der Sitt. Die Alte und ihr Enkel hatten noch nicht die Hälfte des Weges zurückgelegt, als sich der Himmel mit schwarzen Wolken überzog, Blitze zuckten und der Donner rollte, dann stürzte ein heftiger Regen nieder. Die Alte fürchtete sich, und ihr Enkel fürchtete sich ebenfalls vor dem schweren Gewittet und daß der Regen sie durchnäßte. D a gingen sie geradewegs in einen Garten, in dem ein großer, alter Baum mit einer Höhlung wie ein kleines Zimmer stand. Sie gingen in den alten, ausgehöhlten Baum hinein und suchten darin Schutz vor dem Regen. Sie waren noch nicht lange dort, als der Regen aufhörte, die Wolken sich zerteilten und die Sonne schien und ein Wind blies und die Erde trocknete. D a beschloß die Alte, mit ihrem Enkel aus dem alten, ausgehöhlten Baum herauszugehen und den Weg fortzusetzen, doch 1
Wanderade Händler und Handwerker.
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plötzlich sahen sie, wie sich die Erde an einer Stelle in ihrer Nähe zerteilte. Da blieben sie vor Staunen in ihrem Versteck. Die Erde spaltete sich, und ein großer Teich stieg empor, dessen Wasser klar hervorquoll. Dann stiegen aus dem Inneren der Erde zweiundvierzig schwarze Sklaven, zwei von ihnen trugen einen großen Stuhl, der mit Edelsteinen besetzt war, und auch jeder von den anderen trug einen schönen Stuhl. Darauf stellten die zwei Sklaven den großen Stuhl in die Mitte, und die anderen stellten ihre Stühle daneben um den Teich herum. Danach kamen viele Sklaven und Mägde heraus und trugen Tafelgeschirre und viele Arten von Gerichten und Getränken, Zuckerwerk und Früchten. Sie stellten die Geschirre, das Essen und die Getränke am Rande des Teiches auf und blieben stehen und warteten. Plötzlich erschienen am Horizont weiße Tauben und schwebten über dem Teich, dann ließen sie sich in ihn hineinfallen, wuschen sich, und an ihrer Stelle stiegen aus dem Teich vierzig Jungfrauen. Jede von ihnen sagte zum Mond: „Verschwinde, damit ich mich an deinen Platz setze!" Dann setzten sie sich auf die vierzig Stühle und ließen den großen Stuhl leer. Die Jungfrauen saßen auf den Stühlen und warteten. Der Hunger hatte sie überkommen, doch nicht eine einzige von ihnen vermochte etwas zu essen, denn jedesmal, wenn eine ihre Hand nach dem Essen ausstreckte, schlug ihre Nachbarin sie auf die Hand und sprach zu ihr: „Halte deine Hände still, bis dein Herr kommt!" Es war noch keine Stunde verflossen, als ein großer Vogel von goldener Farbe erschien und über dem Teich schwebte. Dann ließ er sich hineinfallen, und ein schöner Jüngling kam daraus hervor, doch auf seinem Antlitz waren Anzeichen von Trauer und Gram, und er setzte sich nieder und aß und trank zusammen mit seinen Gefährtinnen. Nachdem sie Zuckerwerk und Früchte gegessen hatten, stürzten sich die Jungfrauen in den Teich, und weiße Tauben kamen daraus hervor. Dann schlugen sie die Flügel und erhoben sich in die Luft. Der Jüngling blieb noch eine Weile sitzen, dann nahm er einen Apfel und teilte ihn in vier Teile. Er warf einen Teil davon nach Osten und sprach:
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„Der ist für den Osten 1 ." Einen Teil warf er nach Westen und sprach: „Der ist für den Westen", und einen Teil aß er, und einen Teil warf er in den Teich und sprach: „Der ist für das Mädchen, das mein Herz verbrannt hat." Dann stampfte er mit seinem Fuß auf die Erde, und sie spaltete sich, und der Teich versank, und die Sklaven, Mägde und Geschirre versanken in ihrem Inneren, und die Öffnung in der Erde schloß sich, und ihre Oberfläche wurde, wie sie gewesen war, als wäre nichts mit ihr geschehen. D e r Junge erlebte dies alles mit, und seine Sinne waren ganz gefangen davon, dann sprach er zu seiner Großmutter: „Eine Geschichte wie diese hat die Sitt Ward nie gehört, und sie wird uns um ihretwillen reichlich beschenken." Danach zogen der Junge und seine Großmutter zum Schloß der Sitt Ward. Sie hatten damit gerechnet, vor Sonnenuntergang einzutreffen, doch was ihnen auf dem Wege an seltsamen Dingen begegnete, hielt sie so auf, daß sie ankamen, nachdem es dunkle Nacht geworden war. D a fragten sie nach der Sitt Ward, und man sagte ihnen, daß sie in ihrem Bett liege, doch sie begehrten sie sofort zu sehen, da sie ihr eine wunderbare Geschichte zu überbringen hätten. Obwohl sich Sitt Ward über ihre Aufdringlichkeit ärgerte, da sie in ihrem Bett war, bewirkten die Worte, daß die beiden ihr eine wunderbare Geschichte brächten, daß sie ihre Meinung änderte und befahl, sie eintreten zu lassen. D a kamen sie herein und fanden, daß Sitt Ward unter sieben Bettdecken schlief, denn der Kummer und die Traurigkeit hatten sie krank gemacht, und die Kälte begann sie anzugreifen. Der Junge und die Großmutter setzten sich neben Sitt Wards Bett, und der Junge fing an, ihr die Geschehnisse zu erzählen, deren Zeugen er und seine Großmutter auf ihrem Wege wurden, und welche Reden er dabei hörte. Sitt Ward hob jedesmal, wenn er im Erzählen der Geschichte fortfuhr, eine Bettdecke weg, und er war noch nicht am E n d e ange1
Der Osten ist bevorzugt als Richtung des Sonnenaufgangs und der Qiblah (d. h. nach Mekka).
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langt, als sie alle sieben Bettdecken von sich getan hatte und aufrecht in ihrem Bett saß. Sitt Ward erkannte am Verlauf der Geschichte, daß jener Jüngling Maimun war und daß die vierzig Jungfrauen seine Basen waren, bei deren einer sich der Talisman im Haar befand. Sie befahl ihren Dienern, den Jungen und seine Großmutter in neue Gewänder zu kleiden und ihnen zu essen und zu trinken zu geben und mit ihnen am Morgen zurückzukehren. Der Morgen brach an, und der Junge trat mit seiner Großmutter bei Sitt Ward ein, und sie bat den Jungen um die Wiederholung seiner Geschichte. Da wiederholte er sie, ohne sie zu verkürzen oder zu verlängern, und Sitt Ward glaubte an ihre Echtheit und befahl, dem Jungen und seiner Großmutter eine reichliche Menge Geld zu geben. Dann begehrte sie den Ort zu sehen, an dem die beiden Zeugen dieser erstaunlichen Geschehnisse geworden waren, und sie kamen ihrer Bitte nach. Da zog Sitt Ward ein Beduinenhemd an, stieg auf ihr Pferd und zog mit dem Jungen und seiner Großmutter, bis sie den Ort erreichten, an dem sich die Erde gespalten hatte und wo jene seltsamen Erscheinungen aus ihrem Inneren gekommen waren. Darauf nahm sie von ihnen Abschied, nachdem sie sie zum zweiten Male belohnt hatte, sandte ihr Pferd weg und setzte sich in den alten, hohlen Baum und wartete auf Maimun. Sitt Ward blieb sechs Tage lang an diesem Ort und wartete, doch sie wartete vergeblich, und am siebenten Tage hatte sie es satt, in dem hohlen Baum zu sitzen, und stieg heraus, um spazierenzugehen. Sie hatte sich noch nicht weit von ihrem Platz entfernt, als sie sah, daß sich der Himmel mit einem Gewand von schwarzen Wolken bekleidete. Die Blitze zuckten, und der Donner rollte. Danach begann der Regen in großen Mengen herunterzustürzen. D a kehrte sie geschwind zu dem alten, hohlen Baum zurück und suchte Schutz darin. Der Regen hörte nach einer Weile auf, die Wolken zerteilten sich vor dem Antlitz des Himmels, und die Sonne schien. Danach blies ein Wind und trocknete das Antlitz der Erde. 92
Ward sah diese Anzeichen und war sicher, daß sie sehen werde, was der Junge und seine Großmutter gesehen hatten. Daher versteckte sie sich in dem hohlen Baum und wartete, und Ihr Herz schlug heftig. Plötzlich zerteilte sich die Erde, und aus ihrem Inneren stiegen zweiundvierzig schwarze Sklaven herauf. Zwei von ihnen trugen einen großen Stuhl, der mit Elfenbein und Juwelen besetzt war, und auch jeder von den vierzig anderen trug einen schönen Stuhl, und sie stellten sie alle neben den großen Stuhl um den Teich herum. Nach kurzer Zeit kamen die vielen Sklaven und Mägde heraus und trugen Tafelgeschirr und verschiedene Arten von Gerichten und Getränken, Zuckerwerk und Früchten. Dann stellten sie an den Ufern des Teiches einen schönen, prachtvollen Tisch auf und blieben stehen und warteten. Plötzlich erschienen am Horizont vierzig weiße Tauben, schwebten einige M a l e über dem Teich und tauchten dann in ihm unter, und an ihrer Stelle stiegen aus dem Teich vierzig Jungfrauen. Jede von ihnen sagte zum Mond: „Verschwinde, damit ich mich an deinen Platz setze!" Die vierzig Jungfrauen setzten sich um den Teich auf die Stühle neben dem großen Stuhl, und sie waren hungrig, doch sie konnten nichts essen, denn jedesmal, wenn eine ihre Hand nach dem Essen ausstreckte, schlug ihre Nachbarin sie auf die Hand und sprach zu ihr: „Halte deine Hände still, bis dein Herr kommt!" Es war nicht viel Zeit vergangen, als ein großer Vogel von goldener Farbe erschien und über dem Teich schwebte. Danach tauchte er in ihm unter, und ein Jüngling von den schönsten Jünglingen stieg heraus. Da schaute Ward nach diesem Jüngling und erkannte Maimun, doch sie ging nicht zu ihm hinaus, sondern hielt sich versteckt. Sie wartete in dem alten, hohlen Baum, bis das Fest beendet war, denn sie wollte sich nicht vor den Jungfrauen und den Sklaven und Mägden sehen lassen. Sie wußte, daß Maimun über ihre Tat ergrimmt war und ihr grollte, und wollte deshalb verborgen bleiben. Das Fest ging zu Ende, und die Jungfrauen stürzten sich in den Teich, und weiße Tauben kamen hervor, dann schlugen sie ihre Flügel und flogen zum fernen Horizont. Maimun
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blieb noch eine Weile sitzen, darauf nahm er eine Birne, zerschnitt sie in vier Teile und warf einen Teil nach Osten, einen Teil nach Westen, aß einen Teil und warf den vierten Teil in den Teich und sprach: „Der ist für das Mädchen, das mein Herz verbrannt hat." Ward wollte zu ihm stürzen und sagen: Ich bin es! Gib mir meinen Teil von deiner Birne . . . , doch sie fürchtete sich und zögerte. Maimun stampfte mit seinem Fuß auf die Erde, da teilte sie sich, und der Teich sank hinein und die Sklaven und Mägde und das Geschirr und was vom Essen und Trinken übriggeblieben war, und Maimun stieg nach ihnen in die Erdspalte hinunter. D a beeilte sich Ward und stieg hinter ihm hinein, bevor sich die Erde schloß, und sie folgte seinen Schritten. Maimun war noch nicht bis ans Licht dort unten gelangt, ehe er merkte, daß jemand hinter ihm herging, und er wandte sich um und sah ein abgemagertes Beduinenmädchen. E r erkannte nicht, daß es Ward war, denn die Traurigkeit und der Gram hatten sie verändert und ausgezehrt, und ihr Beduinengewand verkleidete sie. D a fragte er sie, was sie wolle. Sie sprach: „Ich bin ein junges Mädchen, das allein auf der Welt ist. Ich ging in der Nähe des Ortes vorbei, an dem das Fest abgehalten wurde, und sah zu, was geschah. Als sich die Erde teilte, stieg ich hinein und folgte dir, denn vielleicht möchte es dir behagen, daß ich als Dienerin bei dir lebe." Maimun hatte Mitleid mit ihr und nahm sie mit sich auf sein Schloß und sagte zu seiner Mutter, daß er ihr eine menschliche Dienerin bringe, weil sie ihm leid tue und er Mitgefühl für sie habe. Seine Mutter hatte nichts einzuwenden und reihte sie unter die Diener ein. Maimun befahl den Dienern, sie gut zu behandeln, ihr beizustehen und sie vor seiner Mutter zu beschützen, denn seine Mutter war ein Ghulweib, das Menschen frißt. Ward widmete sich in Maimuns Schloß mit größtem Eifer ihrem Dienst, und sie war frohgemut, denn sie sah Maimun täglich, und es war, als ob durch seine Nähe der Gram und die Traurigkeit von ihr gingen und sie ihre Gesundheit wie-
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dererlangte. Ihre Schönheit und ihre Lebhaftigkeit kehrten zurück. D a fürchtete sie, daß Maimun sie erkennen werde, nachdem sie ihr früheres Aussehen zurückerhalten hatte. Sie begann ihn zu meiden, und wenn er sie zu sich rief, band sie einen Schleier vor ihr Gesicht, und er nahm nichts an ihr wahr. Maimuns Mutter sah W a r d in ihrer Gesundheit, Lebhaftigkeit und Schönheit, und sie reizte ihre Begierde. D a r u m befahl sie den Dienern, ihr Ward zu bringen, doch die Diener wußten, was sie so sehnlich von ihr wünschte, und sie eilten zu ihrem Herrn Maimun und benachrichtigten ihn. D a trug er ihnen a u f : „Sagt dem Mädchen, sie solle zu meiner Mutter gehen. Sie muß sich jedoch dreimal vor ihr retten und entfliehen, denn das dritte Mal ist unwiderruflich, 1 und wenn sie zu ihr sagt: .Steige hinauf auf das Wandpolster und bringe mir ein Sieb!', dann soll sie nicht hinaufsteigen, weil meine Mutter sie verfolgen und fressen will. Wenn meine Mutter auf das W a n d polster steigt, muß das Mädchen wissen, d a ß sie hinaufsteigt, um ihre Zähne zu schärfen, und sie muß vor ihr fliehen. Alles, was sie ihr befiehlt, wird ein Vorwand sein, um sich auf sie stürzen zu können, wenn sie ihr ins Garn gegangen ist, und sie zu fressen. Doch wenn sie dreimal flieht, wird sie vor ihr gerettet sein." W a r d tat, was ihr die Diener aus Maimuns Mund zu tun auftrugen. Maimuns Mutter hatte draimal ihre Bitte wiederholt, doch jedesmal war Ward vor ihr geflohen, und sie war gerettet. D a n n dachte Maimuns Mutter nicht länger daran, sie zu fressen, sondern begann sie wie ihre Tochter zu betrachten. Maimun war, seitdem er sich von W a r d getrennt hatte, von quälendem Kummer befallen worden, der ihn am Schlafen hinderte. Daher kochte ihm seine Mutter jede Nacht eine Tasse Kaffee und tat ein Schlafmittel hinein. Eines Nachts war Maimuns Mutter krank und konnte die Tasse Kaffee nicht kochen. D a beauftragte sie W a r d damit und zeigte ihr das Schlafmittel, von dem sie etwas in den Kaffee tun sollte. W a r d kochte die Tasse Kaffee, tat das 1
Nach dem dritten Male ist sie gerettet.
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Schlafmittel hinein und ging verschleiert zu Maimun und reichte ihm die Tasse. Als er sie trinken wollte, zog sich W a r d zurück. D a beobachtete er an ihrem Gang und an ihrer Gestalt etwas, was ihm verdächtig erschien. Maimun beobachtete das und beschloß, sich schlafend zu stellen, denn vielleicht würde er das Geheimnis dieser Dienerin entdecken und den Grund, weshalb sie mit ihm in sein Land kam. E r schüttete daher die Kaifeetasse unter seinem Bett aus, stellte sie auf das Tablett in seiner Nähe und ließ sich auf sein Kissen sinken, so d a ß es aussah, als ob er schliefe. Ward aber ging in ihr Zimmer, doch bevor sie sich auf ihr Bett sinken ließ, kam ihr in den Sinn, in Maimuns Zimmer zurückzukehren, um zu sehen, ob er schliefe. D a schlüpfte sie vorsichtig in sein Zimmer und sah, d a ß er schlief und schnarchte, und sie blieb neben ihm stehen, schaute nach ihm und redete ihn an, indem sie sagte: „Maimun, ich bin W a r d . Wenn du wüßtest, welcher Schmerz und G r a m mich nach der Trennung von dir befiel! Wenn du doch Mitleid mit mir haben könntest und meine Schuld vergessen w ü r d e s t ! . . . Ich wählte das Los, als Dienerin in deiner Nähe zu leben, und werde mich dir aus Furcht vor deinem Zorn nicht von selbst zu erkennen g e b e n . . . Ich weiß, d a ß ich dir durch meinen Wankelmut und meine Schwatzhaftigkeit Schmerzen verursacht-habe, aber ich bereue mein Handeln, und da eine lange Zeit seitdem verflossen ist, vergib mir!" So sprach W a r d , und die Tränen rannen ihr die Wangen herunter. D a konnte sich Maimun nicht länger beherrschen, das Weinen zurückzuhalten. Ward merkte, wie er weinte, und rief: „Warst du nicht eingeschlafen, Maimun?" Maimun öffnete seine Augen und antwortete ihr: „Ach nein, ich habe nicht geschlafen. Ich schüttete die Tasse Kaffee unter meinem Bett aus, denn ich beobachtete an dir etwas, was mir verdächtig erschien, und stellte mich schlafend, und meine Vermutungen bestätigten sich." D a sagte sie: „Vergib mir, Maimun, was ich dir angetan habe, vergib mir!" E r sagte zu ihr:
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„Warum hast du mein Geheimnis offenbart, nachdem du mir versprochen hattest, es zu hüten?" Sie antwortete: „Ich wurde von einem Sturm des Hochmuts erfaßt, als ich hörte, wie meine beiden Schwestern mit der Tapferkeit ihrer Verlobten prahlten und mir vorwarfen, daß das Füllen mein Verlobter ist. Da vermochte ich mich nicht zu beherrschen." Er sprach: „Hast du die Folgen deines Hochmuts gesehen, W a r d ? Wenn du mein Geheimnis nicht offenbart hättest, mußten wir nicht so viel Traurigkeit und Schmerzen ertragen. Es macht nichts, und was geschehen ist, ist geschehen, und ich vergebe dir, was mir von dir widerfuhr. Ich vergebe dir, denn meine Liebe zu dir ist noch dieselbe. Jene Feste, die ich aller sieben Tage in der Einöde für mich und meine Basen abgehalten habe, waren nichts anderes als ein Mittel, um eine Nachricht von dir zu erhalten oder eine Nachricht von mir an dich gelangen zu lassen, und Allah hat Wirklichkeit werden lassen, worum ich ihn flehentlich gebeten habe. Du weißt ohne Zweifel, daß meine Mutter gegen meinen Willen eine Braut für mich unter meinen vierzig Basen ausgewählt hat, und die Hochzeitsfeier soll am kommenden Donnerstag stattfinden. Alle meine Basen werden zum Hochzeitsfest erscheinen, und unter ihnen wird sich auch diejenige befinden, in deren Haar der Talisman gebunden ist, von dem ich dir berichtet habe. Du wirst die Braut in der Brautnacht sehen, und wenn du sie siehst, dann stecke ihr Haar in Brand. Gehe auf sie zu und tue, als ob du sie beglückwünschen und küssen willst, doch bringe die Kerze nahe an ihr Haar heran, wenn du auf sie zugehst, und stecke es an und stecke auch das Haar von allen meinen Basen in Brand, dann wird der Talisman verbrennen, und wir werden von ihm befreit sein." Der Donnerstag war ein großer Tag auf den Inseln Waqwaq, denn die Festlichkeiten wurden an ihm abgehalten. Alle Städte hatten geschmückt, und die Musikanten spielten auf ihren Instrumenten, die Sänger sangen, und die Frauen tanzten und stießen Freudentriller aus. Alle Inseln und besonders die Hauptstadt des Königreichs waren dem frohen Feste und freudiger Glückseligkeif hingegeben. 7
Arabische Volksmärchen
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Maimuns Basen hatten sich im Saal des Schlosses versammelt, waren frohgemut und voller Freude. Da trat die Braut herein und wiegte sich in ihrem weißen Gewand, und alle eilten auf sie zu und küßten und beglückwünschten sie. Sie drehten sich um sie herum und schwatzten und lachten laut. Da schlüpfte Ward mit einer brennenden Kerze heimlich zwischen ihnen hindurch und ging auf die Braut zu und küßte und beglückwünschte sie und brachte die Kerze nahe an ihr Haar, und es ging in Flammen auf. Das Haar der Braut ging in Flammen auf, und das Haar von allen Mädchen ging in Flammen auf. Da fingen sie an zu schreien, und es herrschte Schrecken. Die Diener rannten, um das Feuer zu löschen, jedoch erst nachdem es alle Haare vertilgt hatte. Ward sah dies und floh heimlich zu Maimun und berichtete ihm. Da freute er sich und sprach zu ihr: „Fürchte dich nicht, wir sind von dem Talisman befreit!" Danach versteckte er sie in seinem Zimmer, denn sie suchten sie, um sie zur Strafe für ihre Tat zu töten. Dann rief er den Verwalter seines Schlosses, auf den er sich verlassen konnte, und befahl ihm, Bendsch in das Essen aller Schloßbewohner zu tun, um sie einzuschläfern und schlafen zu lassen, damit er mit Ward reisen konnte, ohne daß sie etwas davon merkten. Der Verwalter tat, was ihm Maimun befohlen hatte. Als sie alle im Schlosse schliefen, schrieb Maimun auf ein Blatt Papier an seine Mutter und steckte die Mitteilung unter ihr Kissen. Er sagte ihr darin, daß er die Menschenjungfrau heiraten werde, da er sie liebe, und sie sei keine andere als eine Königstochter, die um seinetwillen auf die Inseln Waq-waq kam. Er werde nun mit ihr in das Königreich ihres Vaters gehen, und sie solle nicht nach ihm suchen, denn sie werde nicht erfahren, wo er künftig lebe. Dann legte er das Gewand des goldenen Vogels an und trug Ward auf seinem Rücken, nahm Abschied von seinem Land und flog nach Wards Land, bis er sich im Garten ihres Vaters niederließ. Der König saß zu dieser Stunde auf seiner Terrasse, von der er den Garten überblicken konnte, und hörte das Rascheln 98
der Bäume. Da schaute er hin und bemerkte einen großen Vogel, der sich in seinem Garten niedergelassen hatte, und auf seinem Rücken war eine Jungfrau. Er konnte sie erst nicht deutlich erkennen, bis er wußte, daß sie seine Tochter Ward war. Dann ging er voller Freude in den Garten hinunter und eilte auf Ward zu, und sie warf sich in seine Arme und umarmte! ihn, und er umarmte sie. Dann wandte sich der König um, damit er den Vogel sehen konnte, der sie getragen hatte, doch plötzlich sah er an seiner Stelle einen schönen Jüngling, und er schaute Ward fragend an, und sie sprach zu ihm : „Das ist er, das ist Maimun, mein Vater! Das ist er, das Füllen, das bei dir war. Das ist er, der blaue, der rote und der weiße Ritter, der das Heer deiner Feinde vernichtet hat. Das ist er, mein Verlobter, der sich vor mir verborgen gehalten hat, denn ich habe sein Geheimnis offenbart, bevor es an der Zeit war. Ich verließ keinen Ort, ohne nach ihm gesucht zu haben, bis mich Allah auf den rechten Weg zu ihm führte, und ich komme mit ihm zu dir, damit du mit deinem Segen unsere Heirat vollziehst." Da freute sich der König über alle Maßen über Maimun und küßte ihn zwischen die Augen und sagte zu ihm: „Du bist nun für mich gleich einem eigenen Sohn, und das ist meine Tochter Ward, deine Gemahlin! Möge Allah eure Ehe segnen, und mein Königreich ist dein Königreich, lebe darin in Frieden mit deiner Gemahlin!"
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ACHDAR AZAZ IM GLAS
Fatima war eine Halbwaise von großer Schönheit. Ihr Vater liebte sie über alle Maßen, aber die neue Frau ihres Vaters und ihre beiden Stiefschwestern haßten sie sehr und wünschten ihr den Tod. Fatimas Vater war ein Kaufmann, der gern auf Reisen ging; Jedesmal wenn er sich zu einer Reise entschloß, fragte er alle seine Töchter, was er ihnen mitbringen sollte. Und immer sagte eine wie die andere zu ihm: „Ich möchte dies, ich möchte jenes." Fatima aber pflegte zu sagen: „Ich wünsche dir, daß du heil und sicher dahinziehst und mit reichem Gewinn zurückkehrst, und ich bewundere deinen großen Turban wenn du inmitten der Leute bist." Ihr Vater freute sich immer wieder über ihre Rede und wunderte sich, daß seine Tochter nichts von ihm begehrte, ganz anders als seine Frau und seine Stieftöchter. Jedesmal wenn er von der Reise zurückkehrte, schickte er mit einer alten Dienerin die Geschenke an seine Frau und deren Töchter. Seiner Tochter Fatima überbrachte er jedoch selbst die Geschenke, und die Gaben, die er ihr verehrte, waren viel schöner, kostbarer und gediegener als alle Geschenke, die er den anderen mitbrachte. Die Stiefmutter und ihre Töchter wußten das. Sie waren sehr aufgebracht darüber und sprachen untereinander: „Unser Vater zieht Fatima vor." So beschlossen sie, die enge Verbundenheit zwischen Fatima und ihrem Vater zu stören, und gingen eines Tages zu Fatima und fragten: „Warum sagst du nicht: .Bring mir dies und bring mir jenes mit', wenn unser Vater auf Reisen ziehen will?" 1
Ein großer Turban, der viel Stoff erfordert, ist ein Zeichen von Würde und Wohlstand.
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Sie sprach: „Nein, niemals! Ich will nichts von ihm haben. Er gibt mir reichlich. Ich sage nur zu ihm: ,Ziehe in Frieden dahin und kehre mit reichem Gewinn zurück, und ich bewundere deinen großen Turban, wenn du inmitten der Leute bist.'" Darauf sprachen sie zu ihr: „Du bist ein einfältiges Mädchen. Dein Vater will, daß du damit aufhörst. Er ist nicht zufrieden, denn er möchte, daß du zu ihm sagst: ,Bring mir dies und bring mir jenes.'" Sie antwortete: „Aber er gibt mir doch alles!" Die Schwestern entgegneten: „Diesmal soll er dir Achdar Azaz im Glas bringen." Sie sprach: „Ich weiß nichts von Achdar Azaz im Glas, was ist das?" Darauf sagten sie: „Wenn dich Vater wirklich liebt, wird er es dir mitbringen. Sag das nächste Mal zu ihm: ,Ich wünsche mir Achdar Azaz im Glas.'" Als der Zeitpunkt der Abreise gekommen war, erschien der Vater bei Fatima und fragte sie wie gewöhnlich. D a sagte sie zu ihm: „Ich wünsche mir Achdar Azaz im Glas." Der Vater war sehr erstaunt und sagte bei sich: Meine Tochter hat mich vor dem heutigen Tag niemals um etwas gebeten. Wenn sie nun etwas haben will, muß ich es ihr unbedingt verschaffen. Der Vater nahm Abschied von ihr und begab sich auf die Reise. Er wandte sich von einem Händler zum anderen: „Hast du Achdar Azaz im Glas?" Doch jeder Kaufmann, den er fragte, antwortete ihm: „Nein, ich habe nichts davon gehört und nichts davon gesehen." Da sprach der Mann: „Ich muß meiner Tochter unbedingt, unbedingt Achdar Azaz im Glas verschaffen." Er reiste und reiste immer weiter und fragte überall: „Gibt es bei euch Achdar Azaz im Glas?" Aber allerorten sagten die Leute zu ihm:
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„Wir haben nichts davon gehört und nichts davon gesehen." Nach einer langen Reise und nach großer Anstrengung erreichte der Mann ein fernes Land. Er sagte vor sich hin: „Dies ist die erste Sache, um die mich meine Tochter gebeten hat, doch sie mutet mir damit all diese Beschwerlichkeiten zu!" Er war sehr erschöpft und setzte sich unter einen Baum. Da kam eine alte Frau vorbei und sagte: „Friede sei mit dir, mein Sohn! Was hat dich hierher geführt?" Er antwortete: „Bei Allah, Großmütterchen, ich habe eine Tochter, die ich sehr lieb habe. Sie hat mir gesagt, daß sie Achdar Azaz im Glas haben möchte, und nun muß ich es ihr mitbringen." Die Alte seufzte und sprach: „Was für ein Unheil, was für ein Unheil! Mein Sohn, wer dir diesen Rat gab, hat dich nicht wohl beraten." Er sagte zu ihr: „Warum?" Sie antwortete: „O mein Sohn, Achdar Azaz im Glas ist nicht etwas, was man auf dem Markt finden kann. Es ist in Wirklichkeit ein Emir, und seine Mütter sind sieben Sila. Wenn du ihn noch sehen möchtest, gehe bei Nacht, denn wenn seine Mütter wach sind, werden sie dich fressen, sobald sie deinen Geruch wahrnehmen. Wenn du hörst, daß sie schnarchen, weißt du, daß sie wach sind. Hörst du nichts, weißt du, daß sie schlafen. Verstecke dich gut und bestreiche deine Haut mit Kuhmist!" Der Mann fürchtete sich sehr und fragte sich: „Warum hat mich meine Tochter in all diese Schwierigkeiten gebracht?" Da er nichts mehr vernahm, zog er weiter. Er rieb seine Haut mit Kuhmist ein und gelangte um Mitternacht ins Haus von Achdar Azaz. Er grüßte ihn, und Achdar Azaz fragte ihn: „Was hat dich hierher geführt, du Mann? Wenn dich meine Mütter sehen, werden sie dich in Stücke reißen." "Da erwiderte der Mann: „Ich habe eine schöne Tochter, die ich sehr lieb habe, und sie sagte zu mir:,Bring mir Achdar Azaz im Glas.' Nie zuvor 102
hat sie mich um etwas gebeten. Ich erkundigte mich bei den Kaufleuten nach Achdar Azaz, aber es war ihnen noch nie begegnet, und schließlich wiesen mich die Leute zu dir." Der Emir sagte zu ihm: „Achdar Azaz ist ein Mann. Das bin ich, aber ich werde nicht mit dir gehen." Der Mann war bestürzt, und in seinem Inneren begann er seiner Tochter zu zürnen. Dann befahl ihm Achdar Azaz: „Nimm das!" Er reichte ihm ein Bündel und fuhr fort: „Gib dies deiner Tochter. Wenn sie schön ist, will ich sie kennenlernen und heiraten und dir viel Geld geben. Wenn sie jedoch häßlich sein sollte, werde ich dich zu mir zurückholen und fesseln, und meine Sklaven werden dich Wasser aus Scherben einer Tonflasche trinken lassen. 1 Selbst wenn es dir gelänge, weit wegzulaufen, wird dein Kopf stets unter diesen meinen Füßen in meiner Macht bleiben, und wenn meine Mütter dich riechen, werden sie dich in Stücke reißen. Doch nun steige auf Derwisch 1" Achdar Azaz klatschte in die Hände, und ein prächtiger Hengst mit Namen Derwisch erschien. Der Mann bestieg das Pferd, und Achdar Azaz befahl ihm: „Schließe deine Augen!" Der Mann schloß seine Augen, und als er sie wieder öffnete, befand er sich bei seiner Familie. Er war sehr wütend auf seine Tochter Fatima und ging deshalb nicht selbst zu ihr, sondern nahm das Bündel und gab es seiner alten Dienerin. Die Dienerin nahm es an sich, doch als sie auf dem Wege zu Fatima war, sprach sie: „Mein Herr pflegt Fatima die Geschenke stets selbst zu überreichen, warum schickt er mich heute nacht? Ich will doch einmal das Bündel öffnen, um nachzusehen, was darin ist" Sie wickelte das Bündel auf und fand einen Spiegel darin, in den schaute sie hinein. Aber es war ein Zauberspiegel, und so befand sie sich augenblicks vor Achdar Azaz. Dieser wurde wütend und rief: 1
Ausdruck äußerster Demütigung und Verachtung.
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„Der Mann hat mich betrogen. Er bietet mir dieses abstoßende Weib an, sagte mir aber: .Meine Tochter ist schön.' " Achdar Azaz rief Derwisch und trug ihm auf, den Mann herzubringen. Im selben Augenblick erschien das Pferd mit ihm. Achdar Azaz blickte ihn an und sprach: „Du hast mich betrogen. Hast du nicht gesagt, daß deine Tochter schön ist?" Der Mann antwortete: „Ja." Da ließ Achdar Azaz die Dienerin kommen und fragte den Mann: „Ist die da schön?" und wollte sich auf den Mann stürzen, doch der sagte zu ihm: „Langsam, langsam, o Achdar Azaz! Diese da ist nicht meine Tochter. Komm mit mir und sieh meine Tochter! Wenn du findest, daß sie häßlich ist, so töte mich augenblicklich und warte nicht auf irgendwelche Entschuldigungen." Achdar Azaz dachte ein wenig nach. Darauf rief er Derwisch, und in einem Augenzwinkern befanden sich beide am Ziel. Als Achdar Azaz Fatima erblickte, sah er, daß ihr Vater die Wahrheit gesprochen hatte, denn Fatima gefiel ihm sehr gut. D a schenkte er dem Mann eine goldene Kette, und dieser freute sich. Achdar Azaz ergötzte sich über alle Maßen an Fatimas Schönheit und begann ihr jeden Morgen auf seinem Bett ein Stück reines Gold zurückzulassen. Eine von Fatimas Schwestern kam jedoch täglich am Morgen, um das Haus zu säubern und das Bett von Achdar Azaz herzurichten, und sie fand jedesmal das Stück Gold und brachte es ihrer Mutter. Eines Tages fragte Achdar Azaz Fatima: „Wer macht immer mein Bett?" Sie sagte: „Meine Schwestern." D a sprach er zu ihr: „Von nun an soll kein anderer als du das Bett machen." Als sie das Bett herrichtete, fand sie ein Stück reines Gold und eine Kette von Silber darin und erkannte, warum er ihr gesagt hatte, sie solle das Bett selbst in Ordnung bringen, und gleichzeitig ersah sie daraus, daß Achdar Azaz sie liebte. Als ihre Schwestern kamen, entdeckten sie, daß Fatima das 104
Bett gemacht und das Gold an sich genommen hatte. Sie iiefen wieder zu ihrer Mutter und sagten:„Ach Mutter, sie ist sehr schlau. Sie hat das Bett allein gemacht und das Gold an sich genommen." D a wurden die Mutter und die Mädchen sehr böse auf Fatima, und die Mutter sagte zu den Töchtern: „Das liegt allein an uns. Wir haben sie zu Achdar Azaz geführt, weil wir hofften, daß sie sich dadurch den Haß ihres Vaters zuzöge, aber nun ist für sie daraus eine Quelle des Reichtums und des Glücks geworden. Wir müssen unbedingt einen Weg finden, um Achdar Azaz zu töten." Eines Tages gingen die Mutter und ihre Töchter zu Fatima, und die Mutter sprach zu ihr: „Ach Fatima, meine Tochter, kann dein Mann eigentlich wie wir krank werden und sterben, und hat er eine Familie und Mütter?" Fatima war bestürzt über diese Frage, und als Achdar Azaz kam, fragte sie ihn. Er sagte zu ihr: „O Fatima, o meine Geliebte, wer dich beraten hat, hat dich nicht wohl beraten. Meine Mütter sind sieben Sila.Wenn sie dich sehen sollten, werden sie dich fressen. Ich selbst bin jedoch kein Zauberer. Unsere Krankheiten und unser Tod können allerdings sehr leicht über uns kommen. Es genügt, wenn einer Glas zerschlägt und zu kleinen Splittern zertrümmert. Streut er die Scherben auf unser Bett, dann müssen wir sterben." Fatimas Schwestern hatten hinter dem Haus gesessen und alles gehört, was Achdar Azaz zu ihr sagte. Am frühen Morgen kamen sie, machten das Bett und streuten Glassplitter hinein. Fatima war gerade hinausgegangen, um das Feuer anzuzünden. Als Achdar Azaz kam, setzte er sich auf die Glassplitter und verspürte einen heftigen Schmerz. Er schrie mit lauter Stimme um Hilfe, so daß Fatima erschrocken zu ihm hineinging. Er schaute sie an und sprach: „Du hast mir ein Leid angetan, ohne daß ich dir zuvor etwas zugefügt hatte. D u hast mir Glassplitter ins Bett gesteckt, o Fatima, du willst mich töten." Er schloß die Augen, denn er hatte Schmerzen. D a erschien der Derwisch und trug ihn in Augenblicksschnelle zu seinen Müttern, den Sila.
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Fatima aber verstand, daß ihr die Schwestern einen bösen Streich gespielt hatten, und sie sprach: „Wenn ich hierbleibe, werden mich diese Schwestern bestimmt umbringen." Deshalb zog sie Männerkleidung an und ging davon. Unterdessen war Achdar Azaz bei seiner Familie angelangt. E r war schwerkrank und am Rande des Todes. Seine sieben Mütter kamen herbei, und jede von ihnen rief einen Arzt, doch die Ärzte vermochten nichts auszurichten. Achdar Azaz stammelte während seiner Krankheit immer wieder im Fieberrausch : „Fatima hat mich getötet, ich muß sie unbedingt umbringen." Darauf sagten seine Mütter zu ihm: „Wir wollen hingehen und sie töten." Doch er sprach: „Nein, sobald es mir besser geht, werde ich sie selbst töten." Inzwischen zog Fatima von einem Ort zum anderen und erkundigte sich nach Achdar Azaz ähnlich wie ihr Vater, der überall gefragt hatte, als sie ihn bat, ihr Achdar Azaz im Glas mitzubringen. Sie wurde müde von der langen Reise, und ihre Füße schwollen an. Eines Tages, als sie sehr erschöpft war, setzte sie sich unter einen Baum. D a kam ein Vogel und setzte sich auf den Baum. Danach erschien ein anderer Vogel und ließ sich gegenüber auf einem anderen Zweig nieder. Der erste Vogel sprach: „Achdar im Glas, Achdar im Glas." D e r zweite sagte: „Krank, krank, krank." D e r erste sprach: „Was ist das Heilmittel für ihn ? Was ist das Heilmittel für ihn?" Darauf sagte der zweite: „Meine Leber und deine Leber." Dann wiederholten beide: „Meine Leber und deine Leber, meine Leber und deine Leber." Fatima warf Steine nach beiden Vögeln. Sie fielen von der Höhe des Baumes herunter, und sie schlachtete sie, nahm
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ihnen ihre Leber heraus, trocknete diese und steckte sie in ein Kästchen. Danach brach sie von neuem zur Reise auf,und nach einiger Zeit traf sie die Alte, die ihr Vater am Anfang unserer Geschichte gesehen hatte. Fatima sagte zu der Alten: „Salam, Großmütterchen, kennst du den Ort, an dem sich Achdar Azaz befindet?" Die Alte entgegnete Fatima: „O mein Sohn," - Fatima hatte sich ja als Mann verkleidet - „wer dich beraten hat, hat dich nicht wohl beraten 1" Fatima fragte: „Warum, Großmütterchen?" Die Alte antwortete: „Er ist im Augenblick krank und dem Tode sehr nahe. Seine Mütter, die sieben Sila, weilen an seiner Seite. Würdest du jetzt in Gestalt eines Fakirs zu ihnen gehen und ihnen sagen, daß du ihn gesund machen kannst, werden sie dir Gold und Silber geben. Sie werden jedoch an deiner Seite sitzen, solange du ihm Heilmittel gibst. Gelingt es dir nicht, ihn zu heilen, werden sie dich fressen. Darum, mein Sohn, ist es besser, wenn du umkehrst. Es ist wohlbekannt, daß ein Sohn der Sila todkrank werden kann und besonders dieser hier. Ich bin sicher, daß ihn diese Krankheit jetzt töten wird." Fatima fragte: „Warum meinst du das, Großmütterchen?" Die Alte antwortete: „Diesen Achdar Azaz, so sagte man seit seiner Geburt, werde zersplittertes Glas töten. Das einzige Mittel, das ihn zu heilen vermag, sei die Leber von Abu Najir und Abu Najira." Fatima sprach: „Wer sind Abu Najir und Abu Najira?" Die Alte entgegnete: „Abu Najir und Abu Najira sind Vögel der Dschinnen. Ihr Vogelbauer wird nur einmal aller hundert Jahre geöffnet, und beim Öffnen des Käfigs stürzen sich Schlangen der Dschinnen auf die Vögel und lassen nur zwei davon übrig. Diese fliegen einen einzigen Tag davon und kehren dann zu 107
ihrem Vogelbauer zurück, um es bis zum nächsten Male mit neuen Vögeln zu bevölkern. Darum, mein Sohn, ist es besser, wenn du umkehrst." Fatima sagte: „Ich werde nicht zurückkehren. Ich habe nämlich ein Zaubermittel bei mir, das mir erlaubt, ihn zu heilen. Wo ist nun der Weg zu ihm?" Die Alte versuchte Fatima zur Umkehr zu bewegen, doch Fatima ließ sich nicht umstimmen. Am Ende zeigte ihr die Alte den Weg zu Achdar Azaz. Fatima zog sich wie ein Fakir an und ging zur Wohnstätte von Achdar Azaz. Dort traf sie die sieben Sila. Eine von ihnen sagte: „Hast du ein Heilmittel, hast du ein Heilmittel, o Fakki?" Dann sagte die zweite: „Wir geben dir Gold, wir geben dir Silber, o Fakki!" Die vierte 1 sprach: „Wir geben dir Diamanten, wir geben dir Diamanten, o Fakki!" Die fünfte sagte: „Wir geben dir Juwelen, wir geben dir Juwelen, o Fakki!" Die sechste sagte: „Wir geben dir Schlösser, wir geben dir Schlösser, o Fakki!" Darauf sagte die siebente: „Doch wenn du ihn nicht zu heilen vermagst, werden wir dich fressen!" Da sagte Fatima: „Ich bin der tüchtigste Fakir, Schaden kann ich bringen, und Nutzen kann ich bringen. Hört, ihr Sila, wenn die Krankheiten eures Sohnes stärker sind als ich, dann tötet mich! Aber ich behandle ihn nicht für Gold, Silber, Diamanten und Juwelen!" Die Sila sprachen: „Was möchtest du haben, du Fakki?" Fatima antwortete: 1
Beim Erzählen ist die dritte Sila vergessen worden.
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„Schwört nun und sagt zu mir: Wenn es unserem Sohn wieder gut geht, werden wir dir nur geben, was du wünschst." Das schworen ihr die Sila. Fatima ging zu Achdar Azaz hinein und sah, daß er so dünn wie ein-Faden geworden war. E r war dem Tode nahe. Sie räusperte sich und sagte zu ihm: „Ich werde dich heilen. Was willst du mir geben, wenn du gesund wirst?" Darauf sagten die Sila zu Fatima: „ E r ist stumm und taub und kann nur sehen. Alles, was wir dir zugesagt haben, wird er ebenfalls halten." Fatima blickte die Sila an und sprach: „Hm, hm! Nun j a ! Ich bin der Fakir Ta, Ta, T a . Sahab, sahab, sahab, sahab, 1 Achdar Azaz, stehe auf und sei gesund!" Darauf zog sie das Kästchen hervor und sagte zu den Sila: „Ich möchte ö l und Salz haben." Die Sila brachten ihr Ö l und Salz, und Fatima streute ein wenig von der Leber der beiden Vögel auf Achdar Azaz. Dann rieb sie seine Haut mit Ö l und Salz ein, und die Glassplitter begannen aus der Haut herauszufliegen. Am dritten Tage schaute Achdar Azaz seine Mütter an und sagte zu ihnen: „Bringt mir Taubensuppe!" D i e Mütter freuten sich, daß Achdar Azaz wieder sprechen konnte. Fatima war sicher, daß sie das richtige Heilmittel besaß und daß die beiden Vögel, die sie gesehen hatte, Abu Najir und Abu Najira waren. Sie rieb die Haut von Achdar Azaz mit dem Rest des Heilmittels ein. Dann sagte sie zu den Sila, sie sollten ihr heißes Wasser bringen. Als sie ihr das heiße Wasser gebracht hatten, wusch sie seine Haut, und es flogen so viele Glassplitter heraus, bis das ganze Haus damit angefüllt war. 1
Magische Beschwörungsformel in Reimprosa, „hm" und „ T a " ohne Bedeutung, „sahab" an „zurückziehen" und „Wolken" anklingend. Die Krankheit soll sich verflüchtigen und verschwinden.
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Am siebenten Tage richtete sich Achdar Azaz auf und verließ das Bett, und nach einem Monat sah er wieder vollkommen gesund aus. Da brachten die Sila Fatima Gold, Silber und Juwelen, doch Fatima sprach: „All dies möchte ich nicht haben." Darauf sagte Achdar Azaz zu ihr: „Aber mein Herr, was wünschst du? Du sollst es bestimmt erhalten und außerdem noch mehr, denn du hast mich gesund gemacht." Fatima sprach: „Ich habe nur einen einzigen Wunsch an dich. Willst du ihn erfüllen?" Achdar Azaz antwortete: „Ja." Da sagte sie zu ihm: „Wenn eine Person, die dein Gegner ist, zu dir sagt: ,Bei dem Fakir, der dich geheilt hat!', so gelobe mir, daß du diese Person weder anrühren noch ihr ein Leid zufügen wirst, selbst wenn sie nach Allahs Willen deine Mütter getötet hätte." Achdar Azaz gab ihr sein Ehrenwort darauf. Danach sagte Fatima zu den Sila: „Gebt mir das Amulett von Achdar Azaz, das ihm angelegt wurde, als er ein Säugling war, und das Schwert, das er von seinem Vater erhielt. Sonst habe ich keinen anderen Wunsch." Als sie das Schwert von Achdar Azaz und das Amulett an sich genommen hatte, sprach sie zu den Sila: „Gewährt mir noch zwei Dingel" Die Sila sagten: „Was denn?" Sie sprach: „Zum ersten, freßt keine Menschen mehr!" Die Sila legten einen Schwur vor ihr ab, daß sie nicht länger Menschen fressen wollten, und danach gingen sie hin und brachen ihre Eckzähne heraus. Darauf sagte Fatima: „Und zum zweiten möchte ich zu meiner Familie kommen." Augenblicklich befand sie sich bei ihrer Familie. D a säuberte sie das Haus und hängte an seiner Vorderseite das 110
Schwert von Achdar Azaz' Vater auf, das Amulett von Achdar Azaz hängte sie innen auf. Als Achdar Azaz spürte, daß er wiederhergestellt war, sprach er zu seinen Müttern: „Ich werde zu ihr gehen und sie umbringen", denn er war im tiefsten Herzen davon überzeugt, daß Fatima ihn hatte umbringen wollen. Sie sagten zu ihm: „Bleibe bei uns! Wir haben Angst, daß dir wieder etwas zustößt." Er aber wies sie zurück, nahm sich ein Schwert mit scharfer Schneide, bestieg Derwisch, und in Blitzesschnelle war er vor Fatimas Haus. Als er das Schwert erblickte, das er dem Fakir geschenkt hatte, der ihn geheilt hatte, begann er sich zu wundern. Fatima trat ihm entgegen, doch er grüßte sie kühl. Dann schaute er auf die Wand und sah das Amulett. Er staunte noch mehr und sprach vor sich hin: „Das ist eine merkwürdige Sache. Ist etwa der Fakir, der mich geheilt hat, hierhergekommen?" Dann fuhr er im Selbstgespräch fort: „Das ist jedoch kein Grund zu zögern. Es bleibt dabei, daß ich sie töten werde." Er nahm nun sein Schwert aus der Scheide, und gerade als er es herauszog und Fatima erstechen wollte, rief sie ihm zu: „Bei dem Fakir, der dich gesund gemacht hat, töte mich nicht!" Achdar Azaz war höchst erstaunt und sagte: „Hat der Fakir, der mich geheilt hat, Unterkunft bei dir begehrt und dir erzählt, was er für mich getan hat, und dir das Schwert und das Amulett gegeben?" Fatima antwortete: „Ich bin der Fakir, der dich gesund gemacht hat, o Achdar Azaz." Achdar Azaz sprach: „Du, die mich töten wollte?" Da erzählte ihm Fatima die Geschichte der Wahrheit gemäß. Achdar Azaz wunderte sich sehr und war beglückt über Fatima. Dann rief er Derwisch, und dieser erschien augenblicklich. Er befahl ihm, Fatimas Schwestern und die Frau ihres Vaters zu Staub zu zermalmen. Und das tat Derwisch.
III
Fatimas Vater war gerade abwesend. Als er heimkehrte, fand er Achdar Azaz bei seiner Tochter. Sie erzählte ihm von Anfang bis Ende, was sich zugetragen hatte. Der Vater freute sich über die Rettung seiner Tochter Fatima und wurde nicht böse, als er erfuhr, was Achdar Azaz mit seiner Frau und ihren niederträchtigen Töchtern gemacht hatte. Dann heiratete er eine sehr gute Frau und zeugte mit ihr gute Töchter und gute Söhne. Achdar Azaz lebte sehr glücklich mit Fatima, und sie waren alle froh und zufrieden, bis der Zerstörer aller Genüsse kam, der Unerbittliche, der alle Freuden tilgt.
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E I N E BÖSE REICHE UND E I N E TUGENDHAFTE ARME E s waren in einer Stadt zwei Schwestern. D i e eine von ihnen hieß Zarifa, das heißt die Anmutige. Sie hatte einen zänkischen Charakter und sagte nichts, ohne Schimpfwörte und Schmähungen dabei zu gebrauchen. Die Folge war, daß niemand sie leiden mochte und sich alle Leute von ihr zurückzogen. Sie war jedoch reich, denn einer hatte sich von ihrer Schönheit betören lassen und sie geheiratet, ohne ihren Charakter zu kennen. Er war ein reicher Mann. Aber Allah strafte sie, indem er ihr keine Kinder schenkte, die ihr Leben mit Freude erfüllen konnten. D i e zweite Schwester, mit Namen Latifa, das heißt die Freundliche, war nicht so schön wie ihre Schwester, doch sie besaß einen guten Charakter, der so freundlich wie ihr N a m e war, ein empfindsames Herz und Gefühle der Zärtlichkeit. Sie fürchtete Allah und betete ihn in aufrichtiger Ergebenheit an, und deshalb wollte Allah sie einer Prüfung unterziehen, denn Allah, der Erhabene, prüft diejenigen, die ihn fürchten. E r sandte ihr einen Lastenträger mit Namen Haris, das heißt der Hüter. Der heiratete sie. Sie lebte mit ihm ein Dasein der Armut und Dürftigkeit. Sie wusch die Kleider für einige Familien, und er arbeitete mit Lastentragen, um den Lebensunterhalt für die acht Kinder zu verdienen, die ihnen Allah geschenkt hatte. Sie waren der Frühling und die Wonne ihres ärmlichen Hauses. D a s Weihnachstfest kam heran, und Latifa sah, wie ihre Nachbarfamilie den Kindern Kleider zum Feste kaufte und wie sie sich darüber freuten. Sie selbst war wegen ihrer Armut nicht imstande, ihren Kindern neue Kleider zu kaufen oder ihnen gutes Essen zu bringen, daher wollte sie zu ihrer Schwester Zarifa gehen und deren Haus vor dem Fest saubermachen. Vielleicht würde Zarifa dann Mitleid mit ihr haben und ihr etwas Geld geben. So zog sie ihre ärmlichen Kleider 8
Arabische Volksmärchen
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an und ging zum Hause ihrer Schwester. Diese empfing sie mit finsterem Gesicht und sprach: „Hier hast du das Haus vor dir 1" Da begann Latifa den Hof, die Zimmer, die Küche und alle Teile des Hauses sauberzumachen, bis sie nicht mehr die kleinste Spur von Staub und Schmutz darin gelassen hatte. Als sie am Abend mit ihrer Arbeit fertig war und vor ihrer Schwester stand, bat sie diese, ihr um der Kinder willen etwas zu geben, doch Zarifa verzog ihren Mund zu einem höhnischen Grinsen, gab ihr ein paar trockene Brotkrumen und jagte sie fort. Latifa ging traurig und mit gebrochenem Herzen davon. Als sie auf dem Heimweg dahinschritt, kam sie an einem schönen, vornehmen Haus vorbei. Sie blieb stehen, um es näher zu betrachten. Dann sprach sie: „Ich werde an das Tor dieses Hauses klopfen, vielleicht werden mir die Leute, die hier wohnen, ein Almosen geben." Sie näherte sich dem großen Tor und klopfte an. Da öffnete ihr ein Diener mit überhängender Oberlippe und versteckter Unterlippe. 1 Sie begrüßte ihn und sagte: „Möge Allah deinen Abend glücklich machen und dich deiner Familie erhalten! Gewähre mir ein Almosen, wenn es dir behagt!" Er lächelte ihr zu und wies ihr eine zweite Tür und sprach zu ihr: „Klopfe an dieser Tür an!" Sie ging hin und klopfte an. Zwei weiße Mäuse öffneten ihr. Sie begrüßte die beiden und sprach: „Möge Allah meinen beiden Schwestern einen glücklichen Abend schenken! Gewährt mir ein Almosen, wenn es euch behagt!" Da zeigten sie ihr eine dritte Tür und sagten zu ihr: „Klopfe an dieser Tür an!" Sie ging hin und klopfte an. Da öffneten ihr vier weiße Mäuse. Sie trat ein und erblickte Sessel, die mit weißer Seide bezogen waren, und darauf saßen viele Mäuse. 1
Umschreibung für wulstige Lippen. Andeutung, daß der Tothüter, wie in reichen Häusern früher häufig, ein „Schwarzer" ist.
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Sie begrüßte sie und war höflich zu ihnen. D a gaben sie ihr einen beschriebenen Zettel und sagten: „Gehe in die Küche, dort wird man dir geben, was du wünschst." Latifa ging zur Küche und gab dem Diener, der ihr das Tor geöffnet hatte, den Zettel. E r ließ sie nähertreten und brachte ihr zwei Säcke, der eine war mit Speisen verschiedener Art gefüllt, und in dem anderen war Gold. Dann trug er die Säcke zu einem Lastwagen vor dem Tor des vornehmen Hauses. Latifa ging zu den Mäusen zurück und dankte ihnen für ihre Wohltat. D a sprachen sie zu ihr: \ „Wenn alles aufgebraucht ist, was du mitgenommen hast, komme zu uns zurück, damit wir dir mehr geben." Dann trat sie aus dem Hause heraus und fuhr mit dem Diener im Wagen zu ihrem Haus. Als sie angelangt waren, bat sie den Diener, hereinzukommen und ihr Gast zu sein. E r freute sich über sie, lehnte aber ab hereinzukommen und sprach zu ihr: „Schäme dich nicht, zu uns zurückzukehren, wenn du irgend etwas .brauchst." Und damit ging er davon. Latifa trat in ihr Haus. Haris schlief, doch die Kinder stürzten auf sie zu, und sie gab ihnen den Sack mit dem Essen. D a weckten sie ihren Vater und machten sich daran, die köstlichen Speisen, die im Sack waren, zu essen. Danach öffnete sie den zweiten Sack, aus dem sich ein Strom von Goldmünzen ergoß. Sie nahm heraus, was sie brauchte, um Kleider für ihre Kinder, ihren Mann und für sich zu kaufen, und ging noch in derselben Nacht zum Basar und kaufte schöne Kleider zum Feste ein. D a legte Haris zum ersten Mal in seinem Leben eine Krawatte an und lernte, wie sie zü binden war. A m nächsten Tage meinte Latifa, daß ihr ärmliches Haus nicht länger für sie geeignet sei, und sie bat ihren Mann, sich mit ihnen in einem Hotel niederzulassen, bis er ein passendes Haus für sie gekauft und es mit der schönsten Einrichtung ausgestattet habe. Sie gingen in ein großes Hotel und stiegen dort ab. Haris ließ in den Zeitungen bekanntmachen, daß er ein Haus kaufen wolle, und sie zeigten ihm eine prächtige 8*
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Villa, die von einem herrlichen Garten umgeben war, in dem es viele Arten von Bäumen und Blumen gab. Er kaufte das Haus und stattete es ganz in grüner Seide aus. Dann ließ er Diener zur Bedienung kommen, eine Köchin, die ihnen das Essen zubereitete, und eine Lehrerin, die die Kinder unterrichtete. Zwar fingen sie an das Leben der Reichen zu leben, doch die Ehrfurcht vor Allah - Preis sei ihm, dem Erhabenen - erfüllte ihre Herzen wie zuvor. Die Neuigkeiten über den Reichtum von Haris verbreiteten sich, und die Leute erzählten sich von einem Lastenträger, den Allah mit seiner Gnade gesegnet hatte. Die Neuigkeiten erreichten auch Zarifa, aber es kam ihr nicht in den Sinn, daß dieser reich gewordene Lastenträger der Mann ihrer Schwester war. Die Tage vergingen, und das Osterfest kam heran. D a sah Zarifa, wie die Kinder der Stadt voller Freude runde Brotkuchen und Mandelgebäck aßen und Eier aufschlugen, und es wurde ihr schwer, daß sie keine Kinder besaß, die sich über das Fest freuen konnten. Die Kinder ihrer Schwester kamen ihr auf einmal in den Sinn. Sie fühlte etwas wie zärtliche Zuneigung ihnen gegenüber und sagte: „Ich will zu ihnen gehen und ihnen etwas Geld geben, damit sie sich davon kaufen können, was sie zu diesem hohen Feste brauchen." Sie zog ihre schönsten Kleider an und ging zum Hause ihrer Schwester, doch als sie dort anlangte, erstaunte sie, denn sie fand es leer. Niemand war darin. Da klopfte sie bei den Nachbarn an die Tür und fragte nach ihrer Schwester. Diese antworteten ihr, daß sie reich geworden sei, und zeigten ihr den Weg zu ihrer Villa. Sie ging hin und sah eine schöne Villa, die von einem Garten voller Bäume und Blumen umgeben war. Sie näherte sich dem Tor und klopfte an. Da öffnete ihr ein schwarzer Diener in eleganten Kleidern und fragte, was sie wünsche. Sie antwortete ihm: „Ich möchte die Herrin des Hauses sehen." D a ließ er sie stehen, um zu hören, ob ihr Besuch angenehm sei. Er rief die Herrin der Villa mit einem Telefon an, und sie war einverstanden. Da ließ er sie nähertreten. Latifa empfing ihre Schwester und war in ein leichtes Hausgewand
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gekleidet, das schöner war als Zarifas Kleider. Diese erstaunte und sprach zu ihr: „Beim Blut, ich wünschte, ich wäre weit weg von hierl Du trägst ein solches Hausgewand?" Danach nahm sie Latifa mit und ging mit ihr in das prächtige, große Gebäude hinein und ließ sie auf einem behag1 lichen, weichen Sessel sitzen. Plötzlich kam Haris herein. Zarifa hatte ihn früher gesehen, doch sein Aussehen hatte sich verändert. Ein schöner, junger Mann in eleganten Kleidern war aus ihm geworden. Jetzt trug er feine Schuhe, nachdem er zuvor zerrissene Stiefel angehabt hatte. Darauf erschienen die Kinder in einem großen Auto zusammen mit ihrer Lehrerin. Sie traten ein und begrüßten ihre Tante. Da zwinkerte Latifa der Lehrerin zu, und sie begann die Kinder auf französisch anzureden, und sie antworteten ihr in gleicher Weise. Danach führte Latifa ihre Schwester herum und ließ sie das Schlafzimmer mit all seiner Ausstattung sehen und das Speisezimmer mit allem Tafelgeschirr. Zarifa war verwundert und fragte sie: „Woher stammt das alles?" Latifa antwortete ihr: „Wenn du eine solche Unterstützung erhalten willst, wie ich sie erhalten habe, so gehe zum Tor des Hauses Soundso, klopfe an und mache es so wie ich." Zarifa verließ die Villa ihrer Schwester. Der Neid fraß an ihrem Herzen, und sie wünschte: „Ich will auch so reich wie meine Schwester werden und mir eine Villa bauen, die ihrer Villa gleicht, und sie so einrichten, wie sie diese eingerichtet hat." Zarifa langte an dem Tor an, das ihr die Schwester bezeichnet hatte, und sie klopfte an. Da öffnete ihr der schwarze Diener, doch als sie seine dicken Lippen sah, zog sie verächtlich ihre Lippen zusammen, lachte ihn höhnisch an und sprach: „Ich möchte ein Almosen haben." Der Diener erzürnte über sie, doch er unterdrückte seinen Ärger und wies sie nach der zweiten Tür. Sie klopfte an, und 117
die beiden weißen Mäuse öffneten ihr. Sie lachte sie höhnisch an und sprach zu ihnen: „Wenn ich gewußt hätte, daß ihr mir die Türe öffnen werdet, hätte ich meine Katze mitgebracht, damit sie sich einen Festschmaus von euch macht. Gebt mir Almosen!" Die beiden Mäuse waren von ihrer Rede beleidigt, doch sie schwiegen und zeigten ihr die dritte Tür. Da öffneten ihr die vier Mäuse. Sie brach in ein schallendes, spöttisches Gelächter aus und sprach: „Mäuse auf Sesseln von weißer Seide haben uns gerade noch gefehlt!" Dann forderte sie von ihnen ein Almosen. Sie gaben ihr einen Zettel und sagten ihr, daß sie in die Küche gehen solle. Sie nahm den Zettel und warf ihnen einen Blick voller Geringschätzung und Abscheu zu. Dann ging sie zur Küche. Dort empfing sie der Diener. Sie begrüßte ihn mit Schimpfworten, aber er antwortete ihr nicht das geringste, sondern trat in das Vorzimmer und füllte ihr einen Sack mit Schlangen und Skorpionen, händigte ihn ihr aus und sprach zu ihr: „Nimm diesen Sack und öffne ihn nicht, bevor du in deinem Hause bist und nachdem du alle Fenster und Türen geschlossen hast." Sie trug ihn fort und befühlte ihn und meinte, die Schlangen seien Ketten von Edelsteinen und die Skorpione Siegelringe. Als sie ihr Haus erreicht hatte, schloß sie die Türen und die Fenster und öffnete den Sack. Da krochen die Schlangen und die Skorpione heraus und bedeckten ihren Körper mit schmerzhaften Bissen. Sie schrie vor Schrecken und Schmerz und rief um Hilfe, doch niemand hörte ihre Stimme, und sie starb einen grausigen Tod. Als ihr Mann vom Basar zurückkam, klopfte er an das Tor, aber niemand öffnete ihm. Da wurde sein Herz bekümmert, und er rief den Scheich des Quartiers und die Männer der Polizei. Sie kamen und halfen ihm, das Tor aufzubrechen. Da stürzten sich die Schlangen und Skorpione auf sie, und sie gingen mit Spazierstöcken und allen Holzstöcken, die ihnen in die Hände kamen, auf sie los, bis sie alle getötet hatten. Dann drangen sie in das Haus ein und fanden Zarifa
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tot. Ihr Körper war von dem Gift, das in ihn eingedrungen war, stark angeschwollen. Sie wickelten sie in ein Leinentuch, beteten für sie und bestatteten sie. Ihr Mann jedoch wußte nicht, woher diese Schlangen und Skorpione gekommen waren, und er ahnte nicht, daß Zarifa in die Villa der Mäuse gegangen war. D a s war das Geschick der tugendhaften und freundlichen Frau, die Allah fürchtete, und das Geschick der bösen Frau mit dem grausamen Wesen.
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NADSCHD UND FANA
In längstvergangenen, alten Zeiten lebte ein Bruder zusammen mit seiner Schwester. Sie wuchsen als Waisenkinder auf, die einander sehr zugeneigt waren und sich lieb hatten. Fana, die Schwester, war so schön mit ihrem runden Gesicht, den vollen Wangen, der weinfarbenen Haut und mit ihren Augen, did von dichten Wimpern schwarz eingerahmt waren, daß einem der Atem stockte, wenn man sie betrachtete. Ihr Bruder betete sie an, zumal lie niemanden außer ihm auf der Welt besaß. Doch es geschah, daß sich Nadschd eine Frau nahm, die aller Schönheit entbehrte und die keinen Gefallen daran fand, wenn er die Anmut seiner Schwester besang. Sie wurde allmählich eifersüchtig und machte die seltsamsten Anstalten, um der Liebe ihres Mannes zu der Schwester ein Ende zu bereiten. Nadschd aber hörte nicht auf ihr lügenhaftes Geschwätz. D a suchte das böse Weib Zuflucht in der Zauberei. Eines Tages kochte sie eine Asida und tat in Fanas Teller heimlich zwei verzauberte Taubeneier. Fana bekam die beiden Eier in ihren Magen, als sie die Asida hinunterschluckte, und nach einigen Tagen zeigten sich seltsame Beschwerden bei ihr. Sie konnte weder den Schatten noch die Sonne ertragen. Wenn sie sich in der Sonne befand, verlangte sie dringend nach dem Schatten, und wenn sie im Schatten war, zitterte sie vor Kälte. So pflegt es den schwangeren Frauen in Nubien zu gehen. Nadschds Frau lachte spöttisch über Fanas Beschwerden und hinterbrachte ihrem Mann gehässig, wie es mit seiner Schwester stand. Nadschd war bestürzt. Konnte er seiner Frau glauben, oder mußte er sie abweisen? Die Sache ließ sich jedoch nicht lange verheimlichen. Fana litt an Erbrechen und hatte dauernd Kopfweh. D a wurde Nadschds Herz von 120
Gram und Traurigkeit befallen. Er sah ein, daß seine Schwester schwanger war, aber wie konnte so etwas geschehen? Das war es, was er nicht wußte. Er beschloß, sich Gewißheit zu verschaffen, und bat Fana, zu ihm zu kommen, damit er ihr das Haar kämme, wie er es seit ihrer Kindheit zu tun pflegte. Während sie bei ihm in der angenehmen Sonne weilte, stand sie plötzlich auf und schrie wegen der Hitze. Da ging der Bruder mit ihr in den Schatten einer alten Dumpalme, dort klagte sie wegen der Kälte. Nadschd war aufgebracht. Er wollte sie in Stücke reißen, aber seine Frau kam gerade dazu. Da rief Nadschd seinen ältesten Sklaven, der ein guter Mensch war, und bat ihn, Fana in die Berge zu bringen und sie zu töten. Danach sollte er einen ausgehöhlten Fruchtkern der Dumpalme mit ihrem Blut füllen und ihm ihren Ringfinger bringen, damit er sich von ihrem Tod überzeugen und ihre Schande reinwaschen konnte. Der alte Sklave brachte Fana hinaus nach den Bergen. Dort weinte er ihretwegen und gestand, daß er an ihre Unschuld glaube und daß das, worunter sie leide, nichts anderes als das Werk von Nadschds böser Frau sei. Er erzählte Fana auch, daß ihr Vater ihm in seinen letzten Augenblicken aufgetragen habe, sie zu beschützen. Nach alledem habe er nicht die Kraft, sie zu töten. Er begehrte nur ein. kleines Opfer von ihr. Sie sollte ihm ihren Ringfinger überlassen. Fana ergab sich in ihr Schicksal. Sie hielt ihm den Ringfinger hin, und der alte Sklave schnitt ihn weinend ab. Dann zog er in die Berge, erjagte eine Gazelle, füllte den Fruchtkern der Dumpalme mit ihrem Blut und steckte Fanas Finger hinein. Darauf ließ er das Mädchen in der Wüste und kehrte zu Nadschd, seinem Herrn, zurück. Unterdessen weinte Fana so lange, bis sich alle wilden Tiere der Wüste um sie herum versammelten und mit ihr weinten. Sie erzählte ihnen ihre Erlebnisse mit ihrem Bruder und seiner bösen Frau. Da beschlossen die wilden Tiere, ihr zu dienen. Sie errichteten ihr ein goldenes Schloß und statteten es mit allen Bequemlichkeiten aus. Es war ein Schloß, von dem weder ein Emir noch ein König träumen konnte. Fana verbrachte eine glückliche Zeit darin und hatte 121
über nichts zu klagen außer über die Beschwerden, die nicht nachließen. Eines Tages, als sie im Garten ihres Schlosses saß, nahm sie einen durchdringenden Geruch wahr und mußte niesen. Auf einmal flogen zwei Täubchen aus ihren Nasenlöchern. Fana geriet in Verwirrung, aber sie eilte hinter den beiden kleinen Vögeln her und drückte sie an ihre Brust. Dann wunderte sie sich, daß die üblen Beschwerden von ihr gewichen waren. Sie wandte sich den Täubchen zu, und während sie sie küßte, weinte sie. Fana hegte und pflegte die beiden Täubchen, bis sie groß geworden waren-und fliegen gelernt hatten. Eines Tages erzählte sie ihnen ihre Geschichte in allen Einzelheiten. Da beschlossen die beiden Vögel, die Wahrheit über ihren Onkel Nadschd zu erforschen. Nachdem sie ihr angedroht hatten, sie für immer allein zu lassen, beschrieb ihnen Fana ihr Dorf und das Haus ihres Bruders Nadschd. Die beiden Vögel flogen, ohne auszuruhen, bis sie sich auf dem Hof von Nadschds Haus niederließen. Es war Erntezeit, und der Hof war mit Weizen angefüllt. Die beiden Tauben begannen den Weizen aufzuwühlen und in alle Ecken des Hofes zu verstreuen. Nadschds Frau erblickte die Vögel, schimpfte auf sie und wollte sie wegjagen. Da schrien sie sie an: „Unser Onkel ist Nadschd!" Die Frau war sprachlos. Sie dachte eine Weile nach, bis sie der Wahrheit auf die Spur kam. Dann fühlte sie ein Entsetzen und fürchtete, daß ihre tückische Tat enthüllt würde. Sie versuchte nochmals, die Tauben wegzujagen, aber ohne Erfolg. Darauf wollte sie die Vögel töten, aber auch das gelang ihr nicht. Das Streiten und Schimpfen mit Nadschds Frau hielt weiter an. Eines Tages war Nadschd gerade im Hause und hörte ihnen länger zu. Sein Name wurde von den beiden Vögeln oft wiederholt, in Begleitung des Namens seiner Schwester und der Verwünschungen, die sie über seine Frau ausstießen. Nadschd beschloß, das Geheimnis aufzudecken. Er ging auf den Hof, sattelte sein graues Pferd, ritt davon und gab den beiden Vögeln ein Zeichen. Da begleiteten sie
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ihn, ließen sich auf seine Schulter nieder und küßten ihn mit ihren Schnäbeln. Dann flogen sie vor ihm her und zeigten ihm den Weg. Nadschd ritt eine lange Strecke hinter ihnen her. Am Ende hielt er vor dem goldenen Schloß an, und die wilden Tiere und Vögel warteten ihm auf. Dann flogen die beiden Tauben zu Fana und brachten ihr die frohe Botschaft von Nadschds Ankunft. Fana jauchzte und weinte, doch sie verhielt sich abwartend. Einstweilen befahl sie, daß der Bruder inr Gastzimmer empfangen werde. Dann machte sie sich geschäftig ans Werk, ihm das Essen herzurichten. Sie schlachtete geschwind ein Mutterschaf und entfernte Herz, Leber, Gallenblase, Gehirn und die Augen. Danach bereitete sie den Rest des Schafes und sandte ihrem Bruder den Braten. Nadschd fragte sich gerade, wann er seine Schwester sehen werde, als ihm das Mahl gebracht wurde. Er setzte sich nieder und aß schweigend. Wie überraschte es ihn jedoch, als er entdeckte, daß das Schaf weder Herz noch Leber, Gallenblase, Gehirn oder Augen besaß. D a wußte er, daß ihm seine Schwester damit etwas symbolisch sagen wollte, aber er konnte es nicht verstehen und wartete darauf, eine Erklärung von ihr zu erhalten. Die Sehnsucht, ihr wieder zu begegnen, brachte ihn nahezu um, und die Reue stürmte auf ihn ein. Er hatte Fana verstoßen, ja sogar versucht sie zu töten, ohne in Erfahrung zu bringen, ob sich ein Geheimnis hinter jenen häßlichen Behauptungen verbarg. Endlich kam Fana und strahlte vor Schönheit noch mehr als zuvor. Ihr Bruder drückte sie an seine Brust, und sie weinten zusammen eine lange Zeit. Danach setzte sich Nadschd nieder und befragte sie nach ihrem gegenwärtigen Leben, und er sagte ihr, wie er zutiefst danach verlange, daß sie ihm das Rätsel mit dem Schaf erkläre. Fana erzählte ihrem Bruder alles, was sie erlebt hatte, seit sie der Alte in die Berge brachte, bis sie nun ihren Bruder wiedersah. Nadschd wurde alles klar, und er erkannte das Werk seiner verfluchten Frau. Danach fragte er die Schwester nach dem Geheimnis des Mutterschafs. Sie schaute ihn vorwurfsvoll an und sprach zu ihm: 123
„Hast du Herz, Leber, Gallenblase, Gehirn und zwei Augen besessen, als du beschlossen hast, mich zu töten?" Danach fuhr sie fort: „Wer diese Organe besitzt, ist ein weises Geschöpf und tut nicht dem Menschen, den er am meisten liebt, ein Leid an, ohne den Grund dafür zu kennen." Nadschd weinte und bat sie um Verzeihung und fragte sie, ob sie mit ihm zurückkehren wolle. D a gab Fana dem Schloß ein. Zeichen und sprach zu ihm: „Fliege mit uns, du liebes Schloß, heim in unser D o r f ! " Und geschwind flog das Schloß mit allem, was darinnen war, in Richtung auf das Dorf zu und ließ dabei liebliche Töne erklingen, wie sie die verzauberten Schlösser hervorzubringen pflegen, die in Mondnächten über den Himmel schweben. Als sich das Schloß dem Dorf näherte, in dem Nadschd wohnte, hörte die Frau den Ton des herannahenden Schlosses. D a wußte sie, daß ihr Mann mit seiner Schwester kam und daß er sich an ihr rächen würde. Darum bat sie die Erde um die Gunst, sie zu verschlucken. D i e Erde begann die böse Frau zu verschlucken. Unterdessen war Nadschd herangekommen und suchte sie. Endlich sah er, wie sie langsam, langsam im Inneren der Erde verschwand, aber er erreichte sie noch, ehe sie ihm entschwunden war, und hieb ihr mit einem flinken Schlag den Kopf an der Oberfläche des Erdbodens ab. Danach lebten Nadschd und Fana in Glückseligkeit. Ein jeder heiratete einen guten Menschen, und sie lebten zusammen in Frieden und Eintracht.
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ARDIB, SASU, NIMRA! Mohammed asch-Schatir wohnte mit seiner Schwester Fatima in einer einsamen Gegend, weit weg von den Menschen. Er ging am frühen Morgen, ehe die Hühner erwachten, auf die Jagd und brachte zur Mittagszeit heim, was er erjagt hatte, und dann aßen er und seine Schwester Fatima ihr Mittagsmahl davon. Nach dem Essen ging er wieder jagen und kehrte bei Einbruch der Nacht zurück, und sie aßen ihre Abendmahlzeit. Dann zog er nochmals auf die Jagd und kam vor Tagesanbruch heim, und danach schlief er ein wenig. So ging es tagein, tagaus. Wenn er nachts zum Essen kam, pflegte er sich vor das Tor des Hauses zu stellen, in dem seine Schwester Fatima lebte, und zu sagen: „Fatina, o Fatina, Öffne das Tor Für Mohammed, des Stammes Arbab! Er bringt dir zu essen am Mittag, Und zum Abend versorgt er dich auch, Doch dann muß er wieder ziehen Und läßt dich allein in der Nacht." In der Nähe des Ortes, an dem Mohammed und seine Schwester lebten, hauste ein häßlicher, böser Ghul. Er trachtete danach, entweder Mohammed oder seine Schwester Fatima aufzufressen. Er hatte gehört, was Mohammed am Tore zu seiner Schwester Fatima zu sagen pflegte. D a begann er jeden Tag zur Abendmahlzeit an das Tor zu klopfen und mit seiner abscheulichen, rauhen Stimme zu sagen: „Futina 1, o Futina, Öffne das Tor 1
Der Name Fatima in der groben Redeweise des Ghuls.
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Für Mohammed, des Stammes Arbab! Er bringt dir zu essen am Mittag, Und zum Abend versorgt er dich auch, Doch dann muß er wieder ziehen Und läßt dich allein in der Nacht." Als Fatima seine widerliche Stimme hörte, schrie sie hinter dem T o r : „Mach, daß du wegkommst, Denn deine Stimme Ist wie die Stimme eines Esels, Doch die Stimme Mohammeds, meines Bruders, Klingt hell und rein wie Messingglöckchen." D a ging der Ghul davon und war wütend und voller Zorn. Am folgenden Tage kam er zurück und schrie vor dem Tor: „Futina, o Futina, Öffne das Tor Für Mohammed, des Stammes Arbab! Er bringt dir zu essen am Mittag, Und zum Abend versorgt er dich auch, Doch dann muß er wieder ziehen Und läßt dich allein in der Nacht." Fatima antwortete: „Mach, daß du wegkommst, Denn deine Stimme Ist wie die Stimme eines Esels, Doch die Stimme Mohammeds, meines Bruders, Klingt hell und rein wie Messingglöckchen." Als der Ghul verstanden hatte, daß ihm Fatima das Tor nicht öffnen würde, solange er eine heisere, widerliche Stimme hatte, ging er zum Schmied und sprach zu ihm: „Ham, ham, du Schmied, Ham, ham, du Schmied, Hämmerst du mir nicht meine Stimme zurecht, Dann wehe dir, da werd' ich dich fressen." 126
Der Schmied sprach zum Ghul: „Ich will dir deine Stimme hämmern, aber hüte dich, wenn dir Käfer oder Echsen begegnen, dann darfst du sie nicht fressen!" Der Schmied hämmerte die Stimme des Ghuls, bis ihr Klang so hell und rein war wie der Klang von Messingglöckchen. Dann ging der Ghul davon und versteckte sich in der Nähe von Fatimas Haus. Während er auf der Lauer lag, spazierte ein großer Mistkäfer vorbei. Er gefiel ihm sehr gut, und sein Geifer begann zu rinnen. Da vermochte sich der Ghul nicht länger zu beherrschen und packte den Käfer und zermalmte ihn zwischen seinen Zähnen. Sobald es Nacht geworden war, ging der Ghul an das Haus der Fatima und sprach: „Futina, o Futina, Öffne das Tor Für Mohammed, des Stammes Arbab! Er bringt dir zu essen am Mittag, Und zum Abend versorgt er dich auch, Doch dann muß er wieder ziehen Und läßt dich allein in der Nacht." Da erkannte Fatima, daß er der Ghul war, und sprach zu ihm: „Mach, daß du wegkommst, Denn deine Stimme Ist wie die Stimme eines Esels, Doch die Stimme Mohammeds, meines Bruders, Klingt hell und rein wie Messingglöckchen." Der Ghul wurde sehr böse und ging am Morgen zum Schmied und sagte zu ihm: „Du hast mich betrogen, nun bin ich gekommen, um dich zu fressen." Da sagte der Schmied zu ihm: „Ich habe dich nicht betrogen. Es kann nicht anders sein, du hast einen Käfer oder irgendeine Eidechse gefressen." Der Ghul .fing an zu lachen, denn er wußte, daß der Schmied die Wahrheit sagte. Dann hämmerte der Schmied 127
von neuem die Stimme des Ghuls und warnte ihn, Insekten oder Echsen zu fressen. Der Ghul ging davon und versteckte sich in der Nähe von Fatimas Haus. Während er auf der Lauer lag, sah er eine große Eidechse. Da begann sein Geifer zu rinnen, und er fraß sie auf. Dabei wurde seine Stimme wieder genauso rauh wie zuvor. Als er zum Hause der Fatima ging, erkannte sie, daß er der Ghul war, und öffnete ihm das Tor nicht. Der Ghul war furchtbar zornig und ging am folgenden Morgen zum Schmied. Der Schmied warf ihm vor, daß er eine Eidechse gefressen hatte, und sprach zu ihm: „Ich werde dir deine Stimme nicht mehr hämmern, wenn du jeden Tag hingehst und Insekten oder Echsen frißt." Da schrie der Ghul dem Schmied ins Angesicht: „Hämmere meine Stimme, oder ich werde dich auffressen!" Der Schmied bekam Angst und hämmerte nochmals die Stimme des Ghuls. Dann wanderte der Ghul den ganzen Tag in der Wüste umher und sah weder Insekten noch Echsen. Als die Nacht anbrach, versteckte er sich in der Nähe von Fatimas Haus. Da kam ein großer Mistkäfer an ihm vorüber, und seinetwegen begann sein Geifer zu rinnen, aber er streckte seine Hand nach ihm aus, um ihn zu töten, denn diesmal dachte er daran, was mit seiner Stimme geschehen würde, und er zertrat ihn •obendrein mit seinem Fuß und verscharrte ihn in der Erde. Danach kam eine große Eidechse vorüber, und sein Geifer rann voller Begierde, aber er erinnerte sich an den Rat des Schmiedes und ging ihr weit aus dem Wege, damit seine Augen die Eidechse nicht länger sehen sollten. Um Mitternacht stand er vor dem Hause der Fatima, klopfte an und sprach mit angenehmer Stimme: „Fatina, o Fatina, ö f f n e das Tor Für Mohammed, des Stammes Arbab! Er bringt dir zu essen am Mittag, Und zum Abend versorgt er dich auch, Doch dann muß er wieder ziehen Und läßt dich allein in der Nacht."
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Fatima zweifelte nicht daran, daß es ihr Bruder war, und öffnete das Tor. Er stürzte auf den Eingang zu, ergriff ihre Hand und sprach zu ihr: „Ich bin der Ghul mit glockenreiner Stimme, Möchte fressen dich oder den Bruder dein." Da weinte Fatima und sprach zu ihm: „Oh, Onkel Ghul mit glockenreiner Stimme, Friß doch Mohammed, meinen Bruder I" Dann sagte sie zu ihm: „Verstecke dich in dem irdenen Trinkwasserkübel, und sobald Mohammed kommt, stürze dich auf ihn und friß ihn!" Der Ghul versteckte sich im Trinkwasserkübel. Dann kam Mohammed heim und klopfte an das Tor: „Fatina, o Fatina, Öffne das Tor Für Mohammed, des Stammes Arbab I Er bringt dir zu essen am Mittag, Und zum Abend versorgt er dich auch, Doch dann muß er wieder ziehen Und läßt dich allein in der Nacht." Als sie ihm das Tor geöffnet hatte, sprach er zu ihr: „Ich bin wahrlich sehr durstig", und sie zeigte nach dem Trinkwasserkübel. Da nahm er eine Kürbisschale und wollte trinken, doch der Ghul hielt ihn fest und sprach zu ihm: „Ham, du, ich bin gekommen, dich zu fressen!" Mohammed sah, daß der Ghul ungeheure Kraft besaß und zu fürchten war. Deshalb sprach er zu ihm: „Laß mich ein Wort oder zwei sprechen!" Der Ghul war damit einverstanden, doch er umklammerte Mohammeds Arm mit solcher Gewalt, daß Mohammed weinte und mit lauter Stimme schrie: „Ardib, Sasu, Nimra, Heute nacht soll euer Herr gefressen werden!" Ardib, Sasu und Nimra, das heißt Tamarinde, Porzellanscherbe und Tigerin, waren die Hunde, mit denen er jagte, doch sie antworteten ihm nicht. D a rief er nochmals: 9 Arabische Volksmärchen
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„Ardib, Sasu, Nimra, Zersprengt die Ketten, Heute nacht soll euer Herr gefressen werden!" Aber die Hunde antworteten ihm nicht. D a rief er zum dritten Male: „Ardib, Sasu, Nimra, Zersprengt die sieben Ketten, Heute nacht soll euer Herr gefressen werden!" Kaum hatte er seine Rede beendet, als die Hunde kamen und vor dem Hause „hau, hau, hau, hau" bellten. Dann kamen sie herein und bellten und brüllten. Jeder dieser Hunde glich an Größe einer Kuh. Mohammed sprach zu ihnen: „Macht euch über den Ghul her und laßt von ihm nichts weiter übrig als eine Sehne zum Saitenspiel!" Gleich stürzten sich die Hunde auf den Ghul und fraßen ihn auf und ließen nichts weiter übrig als eine Sehne zum Saitenspiel. Dann sagte Mohammed zu den Hunden: „Macht euch über Fatima her und laßt von ihr nichts weiter übrig als eine Sehne zum Saitenspiel!" Die Hunde fraßen Fatima und ließen von ihr nichts weiter übrig als eine Sehne zum Saitenspiel. Da kam ein Geier und spähte umher, und Mohammed sprach zu den Hunden: „Macht euch über den Geier her und laßt von ihm nichts weiter übrig als eine Sehne zum Saitenspiel!" Mohammed hob die drei Sehnen auf und zog sie auf eine Rabab, und er spielte jeden Morgen und jeden Abend auf ihr. Und die Sehne des Ghuls sprach: „Ein schrecklicher Tod hat mich hierher gebracht, Wollt' lieber schlürfen die Madida", und die Sehne der Fatima sprach: „O Mohammed, was hast du getan, Hast du mir nicht befohlen, das Haus zu hüten?", 130
und die Sehne des Geiers sagte: „Ich kam, umherzuschauen und mich zu vergnügen, Doch den Kopf rissen sie mir ab, wie könnt' ich wissen, was ich tat." Mohammed lebte zusammen mit seinen Hunden, bis der Zerstörer aller Vergnügen kam, der Unerbittliche, der alle Freuden tilgt.
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D I E TOCHTER D E R
FALKEN
Alle Leute waren sich über die Ehefrau eines Fellachen einig, d a ß sie unfruchtbar sei und niemals gebären werde, und ein Gerücht sagte, d a ß ihr Mann eine neue Ehe eingehen wolle, denn er verspürte unwiderstehliches Verlangen nach einem Kind, das seinen Namen tragen sollte. Obwohl sich die Frau abgemüht hatte, den Zauberkundigen und Priestern hinterherzulaufen, und Allah sie trotz ihrer heißen Gebete noch nicht mit einem Kind gesegnet hatte, verzweifelte sie doch nie. Als sie von einem erfahrenen Zauberer hörte, der in den Bergen wohnte, ging sie zu ihm und klagte ihm ihre Kinderlosigkeit. Sie flehte ihn an, ihr zu einer Schwangerschaft zu verhelfen. Der Magier ermutigte sie und gab ihr eine Handvoll Zaubermehl. E r forderte sie auf, eine Asida davon zu kochen und ihre H ä l f t e in ein ausgeräuchertes G e f ä ß 1 zu gießen und die Hälfte für ihren Mann im Kochtopf zu lassen. D a n n würde sie bestimmt schwanger werden. Die Frau kehrte zurück und wäre beinahe vor Freuden geflogen. Sie beeilte sich, die Asida zuzubereiten, und goß ihre H ä l f t e in eine saubere, ausgeräucherte Schüssel, so wie es der Magier vorgeschrieben hatte, und die H ä l f t e für ihren Mann ließ sie im Kochtopf zurück. Während sie die Asida abkühlen ließ, schlief sie ein und träumte von dem Kind aber sie begnügte sich nicht damit, nur zu träumen, sondern dachte auch an die Gerüchte über ihren Mann. Es würde nicht lange währen und die Sache würde sich so gestalten, wie der Zauberer geschworen hatte, und es würde dann nicht schlimm, wenn sie öffentlich erzählte, sie sei schwanger. 1
Schüsseln und Kaffeetassen wurden nach dem Abwaschen ausgeräuchert, um ihnen angenehmen Duft zu verleihen.
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Daher beschloß sie, sich zu beeilen, um die frohe Botschaft ihrer Familie zu überbringen. Sie ging gleich daran, sich zu schmücken und ihre prächtigsten Kleider anzulegen, um ihren Angehörigen im Vaterhaus die Geschichte von der Wahrsagung des Magiers zu erzählen. Während sie sich zum Ausgehen fertigmachte, kam ihr Mann vom Feld. Er war müde und hungrig. Er fragte nicht, wohin sie wollte, sondern schaute sie nur verdrießlich an und ging ins Innere des Hauses. Als sie fortging, sagte sie ihm, seine Asida sei im Topf, aber sie erzählte ihm weder von der Wahrsagung des Magiers noch von der verzauberten Asida. Als der Mann in die Küche trat, fand er die saubere und ausgeräucherte Schüssel und daneben den schmutzigen Kochtopf mit dem Rest der Asida. Da fragte er sich: „So eine niederträchtige Frau, wünscht sie vielleicht, daß ich meine Asida aus dem schmutzigen Kochtopf esse, und die saubere und ausgeräucherte Schüssel behält sie für sich? Verflucht möge sie sein!" Darauf verschlang er geschwind die Asida aus der Schüssel, die ausdrücklich für seine Frau bestimmt war. Als die Frau zurückkehrte und sah, was ihr Mann getan hatte, schlug sie sich auf die Wangen und berichtete ihm von dem Zaubermehl und der Vorschrift des Zauberers. Er war für einige Augenblicke starr vor Schrecken und überlegte: Was sollte das bedeuten? Was sagte diese verrückte Frau? Dann zog er gleichgültig die Schultern hoch und ging seiner Wege. Die Tage gingen dahin. Unterdessen begann sich die Weissagung des Zauberers zu verwirklichen. Der Mann fühlte, daß sich etwas in seinen Eingeweiden regte. Er war schwanger, und sein Leib schwoll an. Er litt nahezu dauernd unter Schwindelgefühl und dem Bedürfnis, sich zu erbrechen. Der Schrecken überwältigte ihn. Die Leute fingen an mit Fingern nach ihm zu zeigen. Seine Frau war schadenfroh über seinen Kummer und verfluchte ihn. Sie stellte ihn als dumm hin und meinte, daß er alles, was über ihn kam, verdient habe. Der Mann bat sie flehentlich, ihn in Schutz zu nehmen, doch vergebens. Er konnte nicht mehr aus dem Hause gehen. Sein Leib schwoll auf erschrek133
kende Weise an, und der Zeitpunkt der Niederkunft näherte sich. Als der Mann die Wehen fühlte, ging er zu seiner Frau, und sie riet ihm, in die Berge zu fliehen. Vielleicht würde er jemanden finden, der ihm half. Der Mann floh in die Berge mit dem Schmerz der ganzen Welt in seinem Inneren. D i e Geburtswehen nahmen zu. D a flehte er die wilden Tiere um Beistand an. E r beschwor den Schakal', ihm zu helfen, doch dieser lachte spöttisch über seine Schmerzen. Dann beschwor er die Hyänen und die Füchse und ließ kein zahmes Tier oder Raubtier an sich vorüberziehen, ohne zu wehklagen und es flehentlich um Hilfe zu bitten, ihn aus seiner Schande zu befreien. Am Ende hatte der König der Falken Mitleid und erklärte sich bereit, dem Mann zu helfen, doch unter der Bedingung, daß er das neugeborene Kind zu sich nehme, wenn es ein Mädchen sei, und es ihm lasse, wenn es ein Junge sei. D e r Mann war einverstanden, denn es war dort nicht der Ort zu feilschen. Dann machte sich der König der Falken daran, dem Mann zu helfen, bis er das Kind zur Welt brachte. D i e Qualen des Mannes dauerten an, als er sah, wie sich der König der Falken herabließ, um sein neugeborenes Kind wegzutragen, und er erkannte daraus, daß es ein Mädchen war. Der Mann bat den König der Falken flehentlich, ihm zu erlauben, sein neugeborenes Töchterchen zu sehen wenigstens für einen Augenblick - , dann könne er mit ihr davonfliegen. D e r König der Falken jedoch kümmerte sich nicht um die inständigen Bitten des Mannes. E r trug das kleine Mädchcn fort und flog mit ihr nach einem entfernten Wald. "Dort baute er ihr ein Schloß auf dem Wipfel eines hohen Baumes und machte ihr das Königreich der Vögel Untertan. D i e Tage gingen dahin. Das kleine Mädchen wuchs heran und wurde zu einer Jungfrau, schön wie der Vollmond, mit weinfarbenem Gesicht und schwarzen schöngeschnittenen Augen. Sie wußte es nicht anders, als daß der König der Falken ihr Vater war. Der Falke fühlte, daß er alt wurde und das Alter ihn gebrechlich werden ließ, darum erzählte er ihr die Geschichte
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ihrer Geburt. D i e Kleine jedoch kümmerte sich um nichts. Sie war unbeschwert glücklich über ihr Leben auf dem Wipfel des Baumes. Jeden Tag zur Zeit des Sonnenuntergangs pflegte sie den Falken zu erwarten, und wenn er dann zurückgekehrt war, erzählte er ihr, was sich den Tag über zugetragen und welche Schwierigkeiten er zu meistern und welche Freuden er erlebt hatte. Einmal blieb der König der Falken drei Tage lang aus, und das Mädchen wurde unruhig deswegen. Schließlich kam die Krähe zu ihr mit der Unheilsbotschaft: Ihr geliebter Falke war gestorben, ihr geistiger Vater war gestorben. D i e Tochter der Falken weinte, sie weinte lange. Dann kletterte sie auf die höchste Spitze des Baumes und hielt nach Karawanen von Kaufleuten Ausschau. Wenn sie vorüberzogen, sang sie mit trauriger Stimme: „Habt ihr nicht meinen Vater gesehen, O Männer der Karawane? Mein Vater ist von brauner Farbe, O Männer der Karawane. Mein Vater ist von hohem Wuchs, O Männer der K a r a w a n e . . U n d so setzte sie ihren traurigen Gesang fort und beschrieb den Vater, der sie geboren hatte, und verkündete klagend den Tod ihres geliebten Falken. D a geschah es, d a ß die Sklaven des benachbarten Landgutes vorbeikamen, um die Schafe des Emirs zu hüten, und kaum hatten sie die engelschöne Stimme der Tochter der Falken gehört, als sie nach dem Felsen schauten. Der Anblick ihrer zauberhaften Schönheit machte sie so betroffen, d a ß sie vor Verwunderung ihre Schafe vergaßen. D a kam der Schakal und tötete sie. D i e Tochter der Falken hatte die Sklaven bemerkt und beobachtete, was sich mit ihnen und mit ihren Schafen zutrug, und sie befürchtete, d a ß sie dem Emir von ihr erzählen würden, darum flehte sie Allah an, die Männer stumm werden zu lassen. Als die Sklaven zu dem Emir zurückkehrten, waren sie taubstumm, und der Emir vermißte seine Schafe. E r stellte 135
fest, daß sie täglich abnahmen, und wenn er die Sklaven, die den Auftrag hatten, die Schafe zu hüten, danach fragte, fand er, daß sie taubstumm geworden waren. D a riet ihm der Sklavenälteste, er solle seinen Reichtum nicht auf diese Weise einbüßen. E s sei seine Pflicht, selbst hinzugehen, um zu erkunden, welch geheime Bewandtnis es mit dem seltsamen Geschick habe, das seinen Sklaven und seinen Schafen widerfuhr. Der Emir zog hinaus und folgte seinen Hirten, bis sie zum Wald kamen. Dort hörte er eine engelschöne Stimme singen. E s war die Tochter der Falken, die ihr trauriges Lied immer wieder sang. Der Emir blieb eine Zeitlang in Schweigen versunken und lauschte verblüfft. Endlich hob er seine Augen in die Richtung, aus der die Stimme kam, und sah die Sonne zur Zeit der Abenddämmerung, 1 er sah die ergreifende Schönheit der Tochter der Falken. D a s Blut raste in seinen Adern, und ihn überströmten gewaltige Wogen, die aus der Tiefe seines Wesens hervordrangen. Er fühlte, wie sich seine ganze Liebe ihr entgegenstreckte, und bat sie herunterzusteigen. Sie fragte ihn: „Warum?" E r sprach: „Um dich zu meiner Frau zu machen." Doch die Tochter der Falken weigerte sich. Der Emir war schön und anziehend, sein Gesicht war braun, und er hatte edle Züge, die von einem guten Herzen zeugten, aber die Tochter der Falken weigerte sich. Der Emir fuhr fort sie inständig zu bitten, aber obwohl ihr Verlangen, mit ihm zusammenzukommen, stark war, hatte sie Angst. D a beschloß der Emir, seine Zuflucht bei einer listigen Alten zu suchen. Er erzählte ihr die Geschichte von der Sonne, die auf dem Wipfel des schattenspendenden Baumes wohne, und sagte ihr, daß er diese Sonne, die so sorgenvolle Melodien sang, innig liebgewonnen habe. D a s alte Weib lächelte und beruhigte ihn. 1
Anspielung auf das schöne Mädchen. Der Vergleich von Sonne und Schönheit ist im Arabischen sonst nicht üblich.
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Am Morgen des folgenden Tages forderte sie ihn auf, ein Mutterschaf herbeizuschaffen und sich an einer bestimmten Stelle im Walde zu verstecken, um Zeuge von dem zu werden, was geschehen sollte. Die Tochter der Falken sah der Alten zu, wie sie das Mutterschaf schlachten wollte und es am Schwanz anpackte. Da schrie sie ihr zu: „Nicht so, meine Tante!" Die Alte fragte sie: „Wie willst du es machen, meine Tochter?" Darauf hielt sie das Schaf an den Beinen fest und versuchte es zu schlachten, aber die Tochter der Falken rief: „Nein, meine Tante, vom Hals aus!" Die Alte wandte das Mutterschaf von der einen Seite auf die andere und quälte es dabei. Schließlich bat sie die Tochter der Falken, herunterzukommen und ihr beim Schlachten zu helfen, denn ihre kleinen Enkelkinder seien hungrig. Anfangs weigerte sich die Tochter der Falken, doch bald gab sie den Bitten nach und kam von ihrem Baum herab. Sogleich erschien der Emir, zog sie an seine Brust und hielt sie fest. Die Tochter der Falken weinte und setzte sich zur Wehr und verfluchte das niederträchtige alte Weib, aber der Emir beruhigte sie und schwor, daß er sie heiraten werde. Er sagte ihr, daß sie die Königin seines Herzens und Emirats werden solle. Da beruhigte sich die Tochter der Falken in seinen Armen, und der Emir nahm sie mit auf sein Schloß. Dort baute er ihr ein Obergeschoß und stattete es mit der prächtigsten Einrichtung aus. Gleichzeitig hinderte er jedermann, sie zu besuchen, selbst seine Mutter. Danach heiratete er die Tochter der Falken, und sie verbrachte eine glückliche Zeit, in der sie von der Fürsorge und Liebe ihres Gatten umgeben war. Da geschah es, daß der Emir eine weite Reise unternahm. Er vertraute seiner Mutter die Obhut über seine schöne Frau an. Die Tochter der Falken war schwanger von dem Emir. Nach der Abreise des Sohnes wollte die Mutter des Emirs diese Frau sehen, die das Herz ihres Sohnes gefangengenommen hatte. Sie stieg zu ihr hinauf und war überrascht, als sie 137
sah, wie schön die Tochter der Falken war. D a schlich sich haßerfüllte Eifersucht in ihr Herz. Sie versuchte ihre böse Absicht zu erreichen, indem sie erst freundlich mit ihr tat und zu vergessen schien, daß die junge Frau ihre Nebenbuhlerin war, die ihr die Liebe ihres einzigen Sohnes entrissen hatte. Sie hielt das aber nicht lange durch. Von Tag zu Tag steigerte sich ihr glühender Haß gegen die schöne Frau ihres Sohnes, und der Haß und die Mißgunst nahmen noch zu, als sie erfuhr, daß die junge Frau ein Kind erwartete. In einem Augenblick des Wahnsinns rief sie einen ihrer Sklaven und befahl ihm, die Tochter der Falken mitzunehmen und in den Bergen umzubringen. Der Sklave nahm die Tochter der Falken. Sie bat ihn mehrere Male flehentlich, sie nicht zu töten, und erzählte ihm ihre Geschichte und beschrieb ihre Leiden. Der Sklave war nahe daran, ihren Bitten nachzugeben, doch er hatte Angst, daß ihn die Mutter des Emirs bestrafen werde. Darum stieß er die Tochter der Falken in einen tiefen Brunnen hinein und kehrte eilends zurück. Unterdessen wurde die Tochter der Falken im Inneren des Brunnens von guten Engeln aufgefangen. Sie bereiteten ihr ein Bett aus Gold, auf dem sie behaglich liegen konnte. Dann bedeckten sie die Brunnenöffnung mit einem Weinstock, der unablässig grünte und blühte. Weitere Tage gingen dahin, und es näherte sich der Zeitpunkt für die Rückkehr des Emirs. D i e Mutter des Emirs begann vor Angst zu zittern. Sie wußte, daß ihr der Emir niemals vergeben und daß er sie nach seiner Frau fragen werde und wissen wolle, was sie mit ihr getan hatte. Sie lebte in ständiger Angst und Unruhe, bis ihr ein Einfall kam, den sie geschwind in die Tat umsetzte. Sie berief alle Diener und Sklaven und sagte ihnen, daß jedem der T o d sicher sei, der sich über das, was geschehen werde, wundere oder erstaunt tue, und sie verlangte, daß sie dem Emir nichts erzählten. Als die Ankunft des Emirs nahe bevorstand, bereitete sich die Mutter zum Empfang vor, legte Schmuck an und versuchte vergebens, die Runzeln aus ihrem Gesicht zu entfernen. Dann nahm sie ihre Wohnung in dem leerstehenden Teil des Schlosses, der für die Tochter der Falken bestimmt war.
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Der Emir kam mit vor Sehnsucht gebrochenem Herzen zu seiner Gattin. Er eilte gleich zu ihr, fand aber eine alte Frau vor, die ihr Gesicht und ihren Körper nahezu vollständig verhüllt hatte. Er fragte sie, wer sie sei, und sie sagte zu ihm, sie sei seine Frau, die Tochter der Falken. Darauf fragte er sie: „Warum bist du so alt geworden?" Sie antwortete: „Aus Traurigkeit über dich." Dann sagte er: „Und warum sind deine Augen erblichen und machen dein Gesicht häßlich und entstellt?" Sie sagte: „Vom vielen Weinen über dich und von der quälenden Unruhe über deine Abwesenheit." Der Emir war überwältigt von Traurigkeit über das, was seiner Gattin zugestoßen war. Als er sie nach seiner Mutter fragte, erzählte sie ihm, daß sie gestorben sei. So fing der Emir an mit seiner Mutter Umgang zu haben, als ob sie seine Gemahlin sei. Er war ratlos, wenn er sich von ihr zurückzöge, weil sie so häßlich geworden war, wäre das undankbar gewesen. Er liebte seine Frau noch immer,'und in seiner Vorstellung lebte ihr strahlendes Bild, das Bild der purpurnen Sonne. So vergingen weitere Tage, und die Mutter erwartete ein Kind von ihrem Sohn. Der Emir, wußte jedoch nicht, daß die Frau, mit der er zusammen lebte wie mit seiner Gattin, seine Mutter war. Eines Tages kam sie zu ihm und erzählte ihm, sie sei schwanger. Da freute sich der Emir. Er ließ die Stadt mit Schmuck behängen, denn seine Frau war schwanger. Nach einigen Tagen bat die Mutter um Weintrauben, aber es war nicht die Zeit, zu der die Trauben reif sind. Es herrschte noch immer Winter, und die Weinstöcke waren kahl. Da schickte der Emir seine Diener aus und trug ihnen auf, nach Weintrauben zu suchen. Er befahl ihnen, von jeglichem Weinstock, an dem sie vorüberkämen, Trauben zu erbitten. Die Sklaven gingen davon, bis sie zu dem Weinstock gelangten, der die Öffnung des Brunnens überdeckte, in dem die Tochter der Falken mit ihrem kleinen Sohn lebte, den sie 139
dort unten geboren hatte. Einer der Sklaven begann zu singen: „Weintrauben, o Weintrauben, Mohammed, der Emir, begehrt Weintrauben!" Da drang eine traurige, engelschöne Stimme aus der Tiefe des Brunnens: „Meine Mutter wartete sehnlich auf mich, Mein Vater hat mich geboren, Und Mohammed, der Sohn des Sultans, Nahm mich zur Frau, Doch er hat mich im Stich gelassen." Der Sklave verhielt sich still. Er wußte, daß es die Stimme der Gattin des Emirs war. Bevor er sich jedoch von der Stelle rührte, um zum Emir zurückzukehren, bat die Tochter der Falken die Engel, ihn stumm werden zu lassen, und sie schnitten die Zunge des Sklaven ab. Als er zum Emir zurückkehrte und mit ihm reden wollte, konnte er kein Wort aussprechen. Darauf schickte der Emir einen anderen Sklaven aus. Er zog fort, bis er zu demselben Weinstock kam. Da blieb er stehen und fragte den Weinstock, ob er ein paar Weintrauben für die Frau des Emirs bekommen könne, denn sie habe Appetit darauf. Da drang die Stimme der Tochter der Falken zu ihm empor, und es geschah mit ihm, was mit seinem Kameraden geschahen war. Das wiederholte sich, bis der Emir beinahe vor Wut barst. Darauf riet ihm einer der Diener, selbst hinzugehen, um das Geheimnis zu erkunden, was sich mit seinen Sklaven zutrug. Der Emir zog fort und stand schließlich vor dem immerblühenden Weinstock. Er pries ihn mit schönen Worten und bat Allah, ihn in aller Ewigkeit blühen zu lassen. Danach sagte er, daß er der Emir sei und seine geliebte, teure Frau Weintrauben begehrt habe. Da drang die klare Stimme seiner Frau zu ihm empor. Sie sang voller Traurigkeit und Schmerz und erzählte die Geschichte ihrer Geburt, ihre Geschichte mit dem Emir, der sie geliebt hatte, und ihre Geschichte mit der Mutter des Emirs.
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Der Emir wurde nahezu wahnsinnig. E r weinte und wehklagte um sie und bat sie, ihm alles zu erzählen und ihn wissen zu lassen, wer die Frau sei, mit der er zusammen lebe. Die Tochter der Falken gab ihm über alles Auskunft. D a weinte der Emir und schluchzte wie ein Kind, das weder aus noch ein weiß. E r bat sie, zu ihm heraufzusteigen und mit ihm zurückzukehren und diese verfluchte Frau, die seine Mutter war, zu töten. Sie aber sagte mit trauriger Stimme, daß sie es gern getan hätte, zumindest, damit er seinen Sohn sehen könne. Nun war der Emir noch mehr von Sinnen. Sie hatte im Brunnen ein Kind geboren . . . und die Tochter der Falken antwortete mit „ J a " . E r fragte sie wiederum, ob sie nicht imstande sei, zu ihm emporzusteigen, doch sie erklärte ihm, daß die Sache nicht in ihrer Hand liege, sondern in der Hand der guten Engel, die ihr geholfen hatten. Der Emir bat die Engel flehentlich. Sie antworteten ihm, daß sie die Rückkehr seiner Gattin nicht verweigern würden, aber sie stellten zwei Bedingungen: E r müsse zuerst heimgehen und sich an seiner Mutter rächen, dann solle er ein zweites Mal zum Brunnen kommen. Dann habe er seine Liebe zu der reinen, unschuldigen Tochter der Falken zu beweisen. Der Emir fragte, wie er seine Liebe beweisen könne, und die Engel antworteten, er solle in den Brunnen herabsteigen und das Haar seiner Frau Haar für Haar zählen. Nur wenn er sich dabei die größte Mühe gegeben habe, hätte er seine Liebe zu ihr bewiesen und sei würdig für sie und ihr Kind. Der Emir schwor, daß er dies tun werde, und sandte Grüße an seine Gattin. Darauf eilte er in das Schloß und ließ vier ausgehungerte Rosse vorführen. Dann band er seine Mutter an Händen und Füßen fest, jedes Ende an ein Roß, und schlug mit der Peitsche auf die Rücken der Pferde, damit sie nach den vier Richtungen der Welt auseinanderstoben und diese verfluchte Frau, die mit ihrem Sohn Umgang gehabt hatte, in Stücke rissen. Dann kehrte der Emir an den Brunnen zurück, begab sich hinunter zu seiner Frau und zählte ihr Haar, ein Haar nach dem anderen. Als er fertig war, stieg er mit ihr und ihrem Sohn hinauf, um mit ihnen zusammen zu leben . . . und es war ein Leben in Glück und Frieden. 141
18 DIE DREI SCHWESTERN
In einem Dorf wohnte eine Frau, die hatte drei Töchter. Zwei davon waren verheiratet, ohne daß die Mutter damit zufrieden war. Sie grollte ihnen und kümmerte sich nicht mehr um sie. Die dritte und jüngste war noch ledig und lebte bei ihrer Mutter. Diese Frau war reich, sie hatte alles, was sie brauchte, denn sie besaß ein Zauberfell. Jedesmal, wenn sie Geld benötigte, rief sie das Fell an und sprach: „O Fell, laß Perlen und Korallen für mich herunterfallen!" Dann streute es Perlen und Korallen für sie aus. Sie verkaufte sie, und von dem Geld, das sie dafür erhielt, lebte sie mit ihrer Tochter. Die Frau wurde eines Tages krank und fühlte ihr Ende nahen. D i rief sie ihre Tochter zu sich, gab ihr das Fell, verriet ihr sein Geheimnis und ermahnte sie, das Fell jeden Tag an der Quelle zu waschen und zu bürsten. Die Frau starb, und ihre Tochter blieb allein. Sie kam getreulich dem Gebot der Mutter nach, trug das Fell tagtäglich zur Quelle, wusch und bürstete es, und dann ging sie wieder nach Hause. Wenn sie etwas brauchte, rief sie es an und sprach: „O Fell, laß Perlen und Korallen für mich herunterfallen!", und es streute Perlen und Korallen für sie aus. Sie aß nicht mehr, als sie zum Leben brauchte, und trachtete nicht danach, reich zu werden, denn sie war ein bescheidenes Mädchen, das nicht mehr wünschte, als zum Dasein notwendig war. Eines Tages, als sie an der Quelle war, kam eine alte Frau vorüber, die sich auf Zauberei verstand. Sie sah das Fell, und da sie sein Geheimnis erkannt hatte, begehrte sie es zu besitzen. Sie ging auf das Mädchen zu und fing ein freundliches Gespräch an. Danach erkundigte sie sich nach den Verhält142
nissen des Mädchens, und es erzählte ihr, daß es weder Vater noch Mutter habe. Da sprach die Alte: „Komm mit mir in mein Haus. Du sollst meine Tochter werden und bei mir wohnen!" Sie redete ihr gut zu, und das Mädchen war gutherzig und willigte ein. Sie ging mit ihr und lebte mit ihr zusammen. Eines Tages sah die Alte, wie das Mädchen das Fell anrief, und sie befürchtete, es möge dem Mädchen in den Sinn kommen, sie zu verlassen und mit dem Fell davonzuziehen. Damit werde ihr aber verlorengehen, worauf sie es vor allem abgesehen hatte. So verzauberte sie das Fell in einen Baumschößling und sprach zu dem Mädchen: „Pflanze ihn im Garten 1" Das Mädchen hatte Angst, nahm den Schößling und pflanzte ihn im Garten. Kaum war eine Woche vergangen, als er groß geworden war und sich zu einem Baum entwickelt hatte. Das Mädchen saß stets bei ihm und weinte und begoß ihn mit den Tränen ihrer Augen, dann rief sie ihn an und sagte: „Lieber Baum, wer hat dich gepflanzt?" Und der Baum antwortete: „Deine Hände." Darauf sagte sie: „Wer hat dich begossen?" Und der Baum antwortete: „Deine Tränen." Dann sprach sie zu ihm: „Laß Perlen und Korallen für mich herunterfallen!" Dann streute er für sie Perlen und Korallen aus. Die Alte machte sich keinen Kummer darüber, denn nun war sie sicher, daß der Baum an seiner Stelle blieb und nicht herausgerissen werden konnte, und solange das Mädchen fortfuhr, ihn anzurufen, war ihr Wohlstand gesichert. Eines Tages ging das Mädchen zum Basar und sah ein Paar Kabkab, die ihr gut gefielen. Sie kaufte sie und besetzte sie mit Perlen und Korallen. Jedesmal, wenn sie zur Quelle ging, um den irdenen Krug mit Wasser zu füllen, trug sie die Kabkab an ihren Füßen. 143
D a geschah es, daß der Regen einige Tage lang vom Himmel herunterstürzte. E s regnete so viel, daß der Boden davon aufgeweicht wurde und die Beine bis an die Knöchel in den Schlamm einsanken. Als das Mädchen hinging, um den Wasserkrug zu füllen, versanken ihre Füße im aufgeweichten Boden, und ein Kabkab blieb darin stecken, doch den anderen konnte sie herausziehen. So kehrte das Mädchen nur mit einem Schuh zurück und erzählte der Alten davon. Diese antwortete ihr: „Du kannst dir tausend Kabkab leisten, wir haben genug Perlen und Korallen." Der Sohn des Königs war gerade zur Jagd ausgezogen. Auf einmal stieß der Huf seines Pferdes an etwas Hartes. D e r Königssohn schaute näher hin und sah einen einzelnen Kabkab aus dem Schlamm hervorragen. E r stieg von seinem Pferd herunter, nahm ihn mit und reinigte ihn. Dann ging et damit zu seiner Mutter, zeigte ihn ihr und sprach: „Ich möchte die Besitzerin dieses Kabkab zur Braut haben." D a nahm seine Mutter den einzelnen Schuh, und er gab ihr einige Soldaten mit und befahl ihnen, im Dorf umherzuziehen, um zu sehen, wem er gehörte und ob seine Besitzerin den zweiten Kabkab besaß. D i e Soldaten zogen im Dorf von Haus zu Haus und fragten, wem der Kabkab gehörte. Schließlich kamen sie zum Haus der Alten, bei der das Mädchen wohnte. Sie sahen, daß sie eine schöne Jungfrau war, und brachten sie zum' Sohn des Königs. E r liebte sie gleich und wollte sie heiraten, doch seine Mutter weigerte sich, ihre Zustimmung zu geben, denn sie sah,in ihr ein Mädchen von niedriger Herkunft. Das Mädchen führte nun den Königssohn zum Garten der Alten und zeigte ihm den Baum. Dann rief sie ihn in seiner Gegenwart an. E r freute sich sehr und kehrte zu seiner Mutter zurück, um ihr davon zu erzählen.. E r sprach zu ihr: „Wahrlich, dieses Mädchen ist reich, aber sie ist bescheiden und mag keinen Prunk, sie zieht es vor, arm zu Jieben, denn die Armen stehen Allah näher als die Reichen." D a war die Königin mit ihr einverstanden und ließ sie die Gemahlin ihres Sohnes werden.
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' Die beiden Schwestern des Mädchens erfuhren, daß ihre jüngste Schwester die Frau des Königssohnes geworden war. Die eine hatte einen Diener geheiratet und die andere einen Fruchtverkäufer. Sie verließen ihre Ehemänner und begaben sich zu ihrer Schwester, um sich bei ihr niederzulassen. Diese hieß sie willkommen und richtete ihnen ein schönes Zimmer ein, und dann lebten sie ein behagliches Leben, aber der Neid kam über sie. Eine von ihnen sah ihrer Schwester, der Gemahlin des Königs, so ähnlich, daß man die beiden nur mit Schwierigkeit auseinanderhalten konnte, wenn man sie betrachtete. Daher beschlossen sie, die Frau des Königssohns ins Verderben zu stürzen, und statt dessen sollte die Schwester, die ihr ähnelte, ihren Platz einnehmen, denn es war schwer für den Königssohn, ihren Gemahl, die beiden Schwestern auseinanderzuhalten. Auf diese Weise konnte die andere Herrin des Palastes werden. Eines Morgens beabsichtigte die Frau des Königssohns ins Bad zu gehen. Ihre beiden Schwestern baten, sie begleiten zu dürfen. Die Frau des Königssohns nahm ihre Dienste an und betraute sie damit, ihr zu helfen, wenn sie sich, mit warmem Wasser waschen wollte. Das lehnten sie nicht ab und zogen zusammen mit ihr fort. Als die Frau des Königssohns ihr Bad nahm, machten sich die Schwestern daran, ihr Haar zu kämmen. Eine von ihnen hatte kleine, verzauberte Nadeln bei sich und steckte sie ihr in den Kopf. Da verwandelte sie sich in eine Taube und flog davon. Ihre Schwester aber, die ihr ähnlich sah, zog ihre Kleider an und ging mit der anderen Schwester zum Schloß zurück. Als der Königssohn am Nachmittag in sein Schloß zurückkehrte, sah er, daß ihn seine Frau erwartete, so wie sie es stets zu tun pflegte, aber sie war allein. Er fand einiges an ihr verändert. Sie kannte weder den Schlüssel, der zu seinem Zimmer gehörte, noch wußte sie, in welchem Schrank er seine Kleider verwahrte. Da sah er sie forschend an, aber sie lachte und sagte zu ihm: „Hast du vergessen, wie deine Frau aussieht?" Er antwortete ihr: „Aber nein, das habe ich nicht vergessen. Wo ist deine zweite Schwester?" 10
Arabische Volksmärchen
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Sie sprach: „Sie ging nach der Stadt." D a überkamen ihn Zweifel an ihrer Rede, und er. sagte zu ihr: „Ich weiß, wie ich erfahren kann, was wirklich los ist." Danach führte er sie zu dem Baum im Garten der Alten und sprach zu ihr: „Rufe den Baum a n ! " D a blieb ihr nichts anderes übrig, als seinem Wunsch nachzukommen. Sie rief dem Baum zu: „Lieber Baum, wer hat dich aufgezogen?" Der Baum antwortete ihr: „Mögen deine Hände zerschmettert werden!" Darauf sagte sie zu ihm: „Wer hat dich begossen?" E r antwortete ihr: „Mögen deine Augen herausfallen!" Danach sagte sie zu ihm: „ L a ß Perlen und Korallen für mich herunterfallen!" Doch er ließ Eselsmist auf sie fallen. Als der Königssohn das sah, sprach er zu ihr: „ D u bist nicht meine Frau. Ich werde dich gefangenhalten, bis du gestehst, was wirklich geschah." Inzwischen flog die Taube um das Schloß herum und kam in die Küche des Königssohns herein und rief dem Koch zu: „Füttere deine Lehrerin denn sie ist hungrig!" E r versuchte sie zu fangen, doch dabei vernachlässigte er das Essen und ließ es anbrennen. Als er es zum Königssohn trug, wurde dieser wütend und erkundigte sich, wie so etwas geschehen konnte. Darauf erzählte ihm der Koch von der Taube, und der Königssohn fragte ihn: „Wo hält sie sich a u f ? " Er zeigte ihm die Stelle, an der sie sich niedergelassen hatte, und nannte ihm die Stunde, zu der sie zu kommen pflegte. Der Königssohn ging in die Küche, um auf sie zu warten. Plötzlich erschien die Taube und rief dem Koch zu: 1
D i e Frau des Prinzen hatte ihm ihre Kochkünste beigebracht.
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„Füttere deine Lehrerin! Sie ist hungrig." Da eilte der Königssohn auf sie zu und erhaschte sie. Während er mit seiner Hand über ihren Kopf strich, fühlten seine Finger etwas Metallenes. Er schaute näher hin und sah in ihrem Kopf kleine Nadeln. Er begann eine nach der anderen herauszuziehen, und jedesmal, wenn er eine Nadel entfernte, wurde die Taube größer. Als er die letzte Nadel herausgezogen hatte, kehrte sie in ihr menschliches Gewand zurück, und er erkannte in ihr seine Gemahlin. Er bat sie, von ihren Erlebnissen zu erzählen, und sie berichtete, was ihr die beiden Schwestern angetan hatten. D a brachte er seine Frau ins Schloß und nahm ihre beiden Schwestern fest und fragte seine Frau: „Was wünschst du, das ich mit ihnen machen soll?" Sie antwortete ihm: „Lasse die Hunde und die Pferde zehn Tage lang hungern, dann binde die beiden an die Schwänze der Pferde und laß sie frei und schicke die Hunde hinterher, damit sie sich um ihr Fleisch reißen." Er tat, was seine Frau gewünscht hatte. Die Frau des Königssohns kehrte auf ihren alten. Platz zurück und lebte mit ihrem Mann in glücklicher Zufriedenheit. Bisweilen kam die Alte und besuchte sie, brachte ihr Geschenke und gab ihr, was sie an Perlen und Korallen brauchte, um ein angenehmes Leben führen zu können.
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D I E REICHE ARME
In einem der libanesischen Dörfer wuchs eine Jungfrau auf, die Rida genannt wurde. Sie hatte ihre Eltern verloren, als sie noch ein kleines Mädchen war, und sie hatte auch keine nahen Verwandten, die sie zu sich nehmen, die Verantwortung für sie tragen und sie erziehen konnten. Da empfand ihre Patin Amana Mitleid mit ihr und trug sie in ihr Haus am Ende des Dorfes und gab ihr eine rechtschaffene Erziehung. Amana war eine alte Witwe in ärmlichen Verhältnissen, die von ihrer Spindel, ihrem Weberschiffchen und ihrer Nadel lebte. Sie pflanzte die Liebe zur Arbeit in Ridas Seele, und Rida wuchs zur Jungfrau heran, geziert mit allen Tugenden, die ihre Patin zierten: einem freundlichen Wesen, Frömmigkeit, Sauberkeit und Geschick zum Spinnen, Weben und Nähen. Als Rida fünfzehn Jahre alt geworden war, hatte Amana die Jahre der Gebrechen des Alters erreicht, und sie fühlte, daß ihre Tage gezählt waren und daß sich ihr Tod näherte. D a rief sie Rida zu sich, ließ sie neben sich sitzen und sprach zu ihr: „Ach Kind, ich bin heute am Rande meines Grabes, und du wirst nach meinem Tode allein bleiben. Fahre fort, in Ehrfurcht vor Gott zu leben, und er wird dich nicht im Stich lassen. Darum vertraue auf ihn, daß er deine Schritte nach der rechten Richtung geleiten wird, und er wird dich in deinem Leben mit Erfolg segnen. Hiermit überlasse ich dir nun dieses Haus, damit du darin wohnen kannst, und meine Nadel, mein Weberschiffchen und meine Spindel, damit du mit ihnen den Unterhalt für deine Tage verdienen kannst." Es dauerte nur einige Tage, und dann schied Amana aus dem Leben. Rida beweinte sie mit bitteren Tränen und lebte danach abgeschieden in ihrem Haus. Sie arbeitete ohne Unter148
brechung, und das Gedenken an ihre Patin ermutigte sie, und der Segen, den jene ihr vor ihrem Tode gegeben hatte, beschützte sie. So verdiente sie nicht nur für sich allein den Unterhalt von ihrer Arbeit, sondern sie vermochte auch noch den Armen zu helfen und den Bedürftigen Almosen zu geben. Während jener Tage verließ Ban, der Sohn eines Emirs vom Libanon, das Haus seines Vaters und streifte auf seinem Pferd im Lande seines Vaters umher, um sich eine Jungfrau als Lebensgefährtin zu suchen. Er hatte erklärt, daß er kein Mädchen wünsche, das reich an Geld sei, sondern eins, das reich an Tugenden, aber arm an Geld sei. Daher machte er sich auf, von einem Dorf zum anderen zu ziehen. Jedesmal, wenn er durch ein Dorf ritt, kamen dessen junge Mädchen heraus und stellten sich ihm in den Weg, indem sie in ihrem Putz einherstolzierten und darauf warteten, daß er eine von ihnen lange und aufmerksam mit seinen Augen betrachtenwerde. Er schaute zwar nach ihnen, setzte aber seine Fahrt fort und schenkte ihnen keine Beachtung, bis ihn sein Pferd in Ridas Dorf führte. D a traf er zufällig einen ehrwürdigen, alten Mann auf seinem Weg, und er fragte ihn: „Gibt es in eurem Dorf ein armes, reiches Mädchen?" Der Alte verstand, was der Emir Ban sagen wollte, und wies ihn nach Ridas Haus am Ende des Dorfes, und er ging dorthin. Das reichste Mädchen des Dorfes hatte von seiner Ankunft erfahren, und sie kam heraus auf den Weg in ihren schönsten Kleidern und ihrem wertvollsten Schmuck und wartete auf sein Vorbeikommen. Als sie ihn sah, näherte sie sich ihm, trat auf ihn zu und grüßte ihn. Er wandte sich nach ihr um, aber sprach nicht mit ihr, jedoch erwiderte er ihren Gruß und setzte seinen Weg fort. Schließlich, gelangte er vor Ridas Haus. Aber er sah sie nicht außerhalb des Hauses, sondern schaute durchs Fenster und sah sie, da die Strahlen der Sonne ihr Zimmer erfüllten, beim Spinnen sitzen und sich durch nichts von ihrer Arbeit ablenken lassen. Rida merkte, daß er an ihrem Fenster stand, und ihr Gesicht rötete sich vor Scham, und sie senkte die Augen und fuhr mit dem Spinnen fort.
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Der Emir sah, daß sie sich nicht nach ihm umwandte, und er bewunderte das an ihr, doch er zögerte, sie anzusprechen, denn er fürchtete, daß ihr sein Handeln nicht gefallen werde oder daß sie ihn abweisen könne. Daher wandte er den Kopf seines Pferdes und ritt in der Richtung zurück, aus der er gekommen war, und dachte nach, was er tun-sollte, um sie für sich zu gewinnen. Rida 'spürte, daß er fortgegangen war, und ihr Herz schlug für ihn. Sie erhob sich und ging ans Fenster, öffnete die Scheiben und blickte ihm nach, bis er aus ihren Augen verschwunden war. Dann fragte sie sich: W e r mag er sein? Danach kehrte sie zu ihrer Spindel zurück, spann und sang ein altes Lied, das sie von ihrer Patin gehört hatte: „O meine Spindel, geh, oh meine Spindel, Und kehre mit dem Geliebten zu meinem Haus zurück!" D a entfloh plötzlich die Spindel aus ihren Händen und sprang vom Fenster herunter. Rida eilte hinzu, um nach ihr zu sehen, doch die Spindel lief inmitten der Felder auf dem Wege, auf dem der Emir Ban geritten war. Sie zog einen Faden von schimmerndem Gold hinter sich her, und als sie sich entfernte ufid aus Ridas Augen verschwand, kehrte diese zu ihrem Weberschiffchen zurück und webte. D i e Spindel aber verfolgte den Emir weiter, bis sie ihn einholte, und dort endete ihr Faden. Als sie der junge Emir sah, wunderte er sich und rief: „Was sehe ich? Ist mir eine Spindel gefolgt und will sie, daß ich zurückkehre, und wird sie mir den Rückweg zeigen?" Danach wandte er den Kopf seines Pferdes um und folgte dem goldenen Faden, den die Spindel um sein Bein geschlungen hatte, und sie ging vor ihm her. Rida hatte sich zu ihrem Weberschiffchen gesetzt und webte mit ihm und fuhr fort mit ihrem Singen: „O Weberschiffchen, webe ihm Einen Weg von Blumen und Ähren 1" D a entfloh das Weberschiffchen aus ihrer Hand, glitt durch das Fenster, lief davon und webte um das Haus einen
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schönen Teppich. Nie zuvor hatte jemand seinesgleichen gesehen. In ihm wuchsen Ähren, und weiße Lilien und Rosen blühten, als hätten sie einen Mund von Gold. Zwischen ihre Blätter und Stengel mengten sich Gazellen, und Wildkühe steckten ihre Köpfe zwischen den grünen Pflanzen hervor, und auf den Zweigen der Bäume saßen Nachtigallen und kleine Vögel von verschiedensten Farben, nichts fehlte ihnen, außer daß ihnen eine Stimme versagt war, um die schönsten Melodien zu zwitschern. Rida sah, daß das Weberschiffchen aus ihrer Hand gerutscht war, und sie fühlte in ihrem Inneren, daß jener Jüngling zu ihr zurückkehren werde. Darum nahm sie die Nadel in die Hand und sang: „O meine Nadel, er kommt, darum beeile dich, Statte das Haus mit Samt und Seide aus!" Und die Nadel entschlüpfte ihren Fingerspitzen und sprang eilends davon, und plötzlich waren der Tisch, die Stühle und das Bett alle mit grünem Samt überzogen, und an den Fenstern hingen Vorhänge von glitzernd weißer Seide. Kaum hatte die Nadel ihre Arbeit beendet und das Weberschiffchen mit seinem Weben aufgehört, als die Spindel anlangte und hinter ihr der Emir auf seinem Pferd. D a stieg der Emir ab und trat ein und sah Rida noch immer in ihren einfachen Kleidern, die sie trug, als sie arbeitete, und er kam auf sie zu, ergriff ihre Hände und sprach zu ihr: „Du bist die reiche Arme, nach der ich gesucht habe." Danach nahm er sie auf sein Pferd und zog mit ihr zum Hause seines Vaters.
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TAMRA
Der Scheich eines Beduinenstammes hatte eine sehr schöne Tochter. Sie besaß ein gutes Herz, einen lauteren Willen und kannte weder Ränkespiel noch Bosheit, weder Lüge noch Hinterlist. Ihr Name war Tamra, das heißt Dattel. Tamra wuchs heran, während die Tage dahingingen, und die Güte ihres Wesens und ihre Schönheit nahmen zu. Als sie sechzehn Jahre alt geworden war, entwickelte sie sich zu einer Jungfrau mit weichen, schwellenden Formen und großen, weitgeöffneten Augen. Sie besaß ein Übermaß an Sanftmut und Lieblichkeit und überströmende Empfindsamkeit. Ihr Schatten war leicht, 1 sie war rein in ihrem Inneren, und ihre äußere Erscheinung war jeglichen Lobes wert. Jeder, der sie sah, liebte sie. Tamra lebte mit ihrer Familie von der Viehzucht, der Nutzung-des Bodens, der Ausbeute seiner Schätze und dem Verkauf der überschüssigen Produkte. Eines Jahres trug ihr Land keine Frucht. Der Anbau verringerte sich, und die Euter wurden trocken. Das Vieh darbte, während die Hunde zunahmen und sich immer fetter fraßen. Das Leben des Stammes wurde sehr schwei, und sie versuchten, einen Ort ausfindig zu machen, an dem sie leben konnten, bis ihr Land wieder fruchtbar war und reichliche Weide für das Vieh gab. Als die Kundschafter mit guten Nachrichten zurückkehrten, beschloß der Stamm, nach dem neuen Land überzusiedeln, das ihnen Nahrung für ihre Kinder und Frauen sowie Wasser und Futter für ihre Tiere sicherte. So begab sich der gesamte Stamm auf die Wanderung. Sie verbrachten den ganzen Tag auf der Reise. Die Dämmerung brach herein, als sie sich in einer öden, verlassenen Ebene befanden. Dort schlugen sie ihr Lager auf und legten sich schlafen. 1
Niemand wurde durch ihre Gegenwart belästigt.
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Am Morgen standen die Leute des Stammes auf und bereiteten sich zur Weiterreise vor. Tamra ging, um ihre Notdurft zu verrichten. Dabei entfernte sie sich bis hinter einen Hügel, doch als sie zurückkehrte, entdeckte sie, daß der Stamm fortgezogen war. D a wurde sie traurig, schlug sich ins Gesicht und weinte. Als dann ihre Bestürzung wich, sagte sie im Selbstgespräch: „Sie werden mich bestimmt vermissen und zurückkehren, um mich mitzunehmen, oder sie werden jemanden schicken, der mich zu ihnen bringt Deshalb ist es das beste, was ich tun kann, an dem Ort zu bleiben, an dem ich mich befinde." Sie blieb bis zum Mittag an diesem Ort, doch keiner kam, sie zu holen oder nach ihr zu suchen. Weder ein Mensch noch ein Tier kamen bei ihr vorüber. Sie fühlte sich einsam und verlassen und weinte und verspürte Hunger. Schließlich erhob sie sich und ging fort, um sich etwas zu esseq zu suchen. D a s Herumlaufen ermüdete sie, und gefunden hatte sie nichts. Dann sah sie einen alten, knorrigen Baum, und sie setzte sich daneben und begann ohne Unterlaß zu weinen, aber bald ließen der knurrende Magen und die Müdigkeit sie einschlafen. D a weckte sie eine Stimme, und eine Hand schüttelte sie, damit sie aufwachte. Sie stand freudig auf, denn sie glaubte, daß es jemand von ihrer Familie war, der sie holen wollte. Doch da sah sie einen Holzfäller vor sich, der ein Bündel Brennholz trug. E r stellte das Bündel ab, ging auf sie zu und fragte sie: „Wie ist deine Geschichte?" Sie erzählte ihm in Kürze ihre Erlebnisse. Der Holzfäller sah auf die verführerische Erscheinung von überraschender Schönheit und vollem Liebreiz, wie sie mit süßer, wohlklingender Stimme sprach. E r meinte, sie sei eine schöne Huri, die es ausnützte, als Ridwan nicht achtgab, um aus dem Paradies zu entfliehen, und Allah habe sie nun nach seinem weisen Ratschluß, den er nicht ergründen konnte, ihm in den Weg gestellt. So sagte er zu ihr: „Komm mit mir! Ich habe keine Familie, und niemand lebt mit mir zusammen. Komm mit, laß uns zusammen leben
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und uns einander in den Mühen und Schwierigkeiten des Lebens beistehen und uns von dem nähren, was uns Allah zuteilt." Sie sprach zu ihm: „Wie soll ich mit dir gehen, wenn du keine Familie hast und niemand mit dir zusammen lebt, wie du sagst?" Er sagte zu ihr: „Ich will dich nach dem von Allah verordneten Gesetz und nach der Überlieferung seines Propheten heiraten." Da sprach sie zu ihm: „Wenn die Sache so steht, stimme ich zu. Wo ist dein Haus?" Er sprach: „Mein Haus ist nicht weit entfernt, aber es ist eine Übertreibung, wenn wir es Haus nennen, denn es ist kein Haus im üblichen Sinn, sondern eine Höhle, die von den Kräften der Natur aus dem Felsen gehauen wurde. Sie ist nicht weit von unserem Dorf entfernt." Sie sprach zu ihm: „Das macht nichts mit dem Haus. Es wird eine Wohnstätte des Glückes für dich und mich werden, Inschallah. Wie ist dein Name?" Er sprach: „Mein Name ist Salim", das heißt der Makellose. Darauf ging Tamra mit Salim in sein Haus, und er .heiratete sie, wie es das Gesetz vorschreibt, und sie wurde seine Frau vor Allah und den Menschen. Tamra lebte mit Salim zusammen. Es war ein Leben der Armut und Dürftigkeit. Eine Nacht bekamen sie zu essen, die andere verbrachten sie hungrig, doch trotz dieses harten Lebens war Tamra stets zufrieden. Ihr Angesicht strahlte von einem Übermaß an Glück. Sie begehrte nichts und beklagte sich nicht. Wenn ihr Mann nach Hause kam, empfing sie ihn mit einem Willkommensgruß und Lächeln, nahm ihm die Axt ab, mit der er das Holz gefällt hatte, und die Stricke, mit denen er das Brennholz zusammenband. Sie nahm in Empfang, was er an Essen mitgebracht hatte, bereitete es geschwind zu und trug ihm ein schmackhaftes Mahl auf. In der Zwischenzeit brachte sie ihm sauberes Wasser, damit er seine 154
Hände und sein Gesicht waschen konnte. Sie selbst nahm ihre Abendmahlzeit nicht ein, bevor er genügend bekommen hatte und satt war, und wenn es wenig Essen gab und nichts für sie übrigblieb, verbrachte sie die Nacht hungrig, zufrieden und in ihr Schicksal ergeben. Ihr Ehemann Salim bewunderte ihre Geduld, die Güte ihres Herzens, die Lauterkeit ihres Wandels, ihr reines Gewissen, das süße Lächeln und ihren steten Frohsinn, als ob sie das beste Leben und die glücklichsten Verhältnisse hätte. Drei Monate waren vergangen, seitdem Salim Tamra getroffen hatte und sie als glückliche Eheleute in ihrer Felsenwohnung im Berge lebten. Ihr Leben nahm den gleichen Verlauf, wie wir ihn vorher beschrieben haben, bis ein Tag kam, an dem Salim auf dem Heimweg ein schweres Bündel trug und unter der Bürde seiner großen Last einen Fehltritt tat und stürzte. Das Bündel löste sich, und alles, was die Stricke zusammengehalten hatten, fiel auseinander. Er machte sich daran, das Holz wieder aufzulesen und zusammenzubinden, und dabei schrie, schimpfte und fluchte er. Er verspürte Müdigkeit und Schwäche und wünschte, daß jemand vorbeikäme, um ihm beim Aufbündeln zu helfen, da ihn eine entsetzliche Ermattung befallen hatte. Es war nicht seine Gewohnheit, jemanden um Hilfe zu bitten, aber die übermäßige Anstrengung ließ ihn diesen Wunsch gutheißen. Plötzlich wandte er sich um und sah, daß ein Mann in seiner Nähe mit seltsamen Blicken nach ihm schaute. Es mengten sich in ihnen Verstellung mit Grausamkeit, Herausforderung mit Mitleid und Schadenfreude mit Verführung. Salim fühlte, wie ihn die Furcht vor diesem Mann befiel, und er betrachtete ihn aufmerksam. Er erkannte an seiner krummen Nase, seinen tückischen Augen und hinterlistigen Blicken, daß er ein Maghrebi, ein Zauberer, war. Da fragte Salim: „Was willst du?" Der Maghrebi antwortete ihm: „Ich bin gekommen, um dich von dieser Müdigkeit zu befreien und dir die Plackerei auf immer in weite Ferne zu schaffen." Salim sprach: „Wie?" 155
Der Maghrebi sprach: „Ich bezahle dir hundert Dinar, damit ich in dein Haus eintreten kann." Salim sprach: „Was dann?" Der Maghrebi sagte: „Wahrlich, hundert Golddinar kannst du mit deiner mühseligen Arbeit nicht in zehn Jahren zusammenbringen." Salim sprach: „Das ist richtig. Aber was soll geschehen, nachdem du ins Haus getreten bist? Wie lange willst du darin bleiben?" Der Maghrebi sagte: „Ich sehe mich darin um, und wenn es mir gefällt, kaufe ich es dir für zweihundert Dinar ab." Salim sprach: „Was dann?" Der Maghrebi sprach: „Genügt dir das nicht?" Salim sagte: „Deine Schurkerei erlaubt dir wahrhaftig nicht, dreihundert Dinar für etwas zu bezahlen, was nicht dreihundert Dinar wert ist. Es sei denn, etwas Schlechtes wird damit bezweckt, oder der Vorteil, den du einem anderen großzügig gewährst, kommt als Gewinn auf dich zurück." Der Maghrebi sprach: „Ich möchte deine Frau für tausend Dinar kaufen, und das ist eine Summe, die du in deinem ganzen Leben nicht zusammentragen kannst, selbst wenn du hundert Jahre lang lebtest." Da sprach Salim, den ein gewaltiger Zorn gepackt hatte: „Soll die Frau wie ein Möbelstück verkauft werden? Wie erniedrigst du dich, du Schurke!" Der Maghrebi sagte: „Du hast sie auf dem Wege getroffen und für die Verheiratung mit ihr kein Geld ausgegeben. Ich dagegen biete dir eine riesige Summe an." Salim unterdrückte seine Wut. Er wollte die wahre Absicht des Maghrebi erfahren, daher sprach er: „Was willst du mit ihr tun?" 156
Der Maghrebi sprach: „Ich bin frei zu tun, was ich mag, nachdem ich die W a r e gekauft habe. Ich kann sie zum Beispiel abschlachten." Salim, dessen Nase rot geworden war und der vor Wut entbrannte, sagte: „Verschwinde, ehe ich durch eine gute Tat näher zu Allah komme und die Luft von deinem stinkenden Atem reinige!" Der Maghrebi sprach: „Hör zu, Salim 1" Salim sprach: „Wie kommt es, daß du meinen Namen kennst?" Der Maghrebi sagte: „Das ist nicht wichtig. Hör zu, Salim, du sollst tausend und dreihundert Dinar bekommen. Denke darüber nach!" Salim sprach: „Geh hinweg, bevor meine Geduld erschöpft ist und ich einen Schlag von dieser Axt auf dein Haupt fallen lasse." Der Maghrebi sprach: „Sei gescheit und handle weise und entschlossen. In deinem Haus befindet sich ein Schatz, der nicht gehoben werden kann, ohne daß ich deine Frau schlachte und ihr Blut auf den glatten Felsen darin fließt. Wenn ich sie getötet und den Schatz herausgebracht habe, gebe ich dir weitere tausend Dinar, und du kannst eine für dreißig Dinar heiraten, die besser ist als sie." Er hatte seine Rede ndch nicht beendet, als sich Salim mit der Axt auf ihn stürzte und sie auf seinen Hals richtete. Da machte der Maghrebi eine Bewegung mit der Hand, zeigte nach Salim und sprach: „Bleibe so, wie du bist, auf der Stelle stehen!" Salim erstarrte auf der Stelle, und seine Hand mit der Axt war erhoben, als ob er ein Standbild sei, das sich nicht regen kann. Dann ließ ihn der Maghrebi, so wie er war, in der Glut der Sonne stehen und ging beiseite. Darauf setzte er sich unter einen Baum und genoß den Schatten, holte seine Wegzehrung hervor und begann zu essen und zu trinken und über Salims Zustand zu lachen. Als er damit fertig war und ungefähr eine Stunde geschlummert hatte, wandte er sich nach Salim um und sprach zu ihm:
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„Wenn du nicht auf meine Bedingung eingehen willst, werde ich weggehen und dich auf immer, so wie du bist, hierlassen, damit du vor Hunger, Durst und Müdigkeit stirbst, und niemand vermag dich zu retten. Wenn du jedoch meine Bedingung annimmst, werde ich dich jetzt gehen lassen und in Freiheit setzen." Salim war fest überzeugt, daß dieser Maghrebi ein mächtiger Zauberer war, böse, gemein und hinterlistig. Er sah sich gezwungen, auf seine Bedingung einzugehen oder zu tun, als ob er sie annähme, und wollte Allah seine Sache anheimstellen, ihn von diesem unbarmherzigen Zauberer zu erlösen. Daher sprach er zu ihm: „Befreie mich aus dieser Lage, und ich tue, was du willst. Von meiner Frau will ich aber nicht ablassen, selbst wenn du mir alle Schätze der Erde gäbest, denn ich besitze weder Witz noch Fähigkeit, deinem Ränkespiel zu begegnen, und habe keine Macht, deinem Zauber zu widerstehen." D a sagte der Maghrebi: „ E s freut mich, daß dein Verstand die Herrschaft über deine Erwägungen erlangt hat und daß du dich zuerst um dich selbst und deine Zukunft kümmerst. Nun werde ich dich aus dieser Lage befreien, in die du dich durch deine verwerfliche Einstellung und deine böse Tat verwickelt hast, aber ich warne dich, dich zu ändern oder deine Meinung zu wechseln. Wenn du dich nämlich änderst, die Meinung wechselst oder den Versuch machst, dich von deinem Versprechen loszusagen, werde ich dich in einen Affen verwandeln." Danach machte der Maghrebi drei seltsame Bewegungen mit seiner Hand und sprach: „Bei der Wahrheit des Schubasch Schamhurisch, werde wieder, wie du warst!" D a regte sich Salim und wurde wieder, wie er war, und dieser Maghrebi offenbarte sich ihm in furchterregender Stärke und drohte ihm mit seiner gewaltigen Macht. Dann reichte ihm der Maghrebi einen einzigen Dinar und sprach zu ihm: „Morgen am Mittag komme ich, um deine Frau zu schlachten." 158
Der Maghrebi ging davon, und Salim schaute ihm nach. Es dauerte nur einige Augenblicke, bis er ihm aus den Augen entschwand. Dann machte sich Salim auf, um nach Hause zu gehen. Er hatte ein Gefühl, als ob der Dinar seine Hand verbrenne, und warf ihn weit von sich. Danach ging er zurück und hob ihn wieder auf. Er schleppte seine Beine vorwärts und dachte über das Unheil nach, das ihn getroffen hatte. Tamra empfing ihn nach ihrer Gewohnheit mit einem lächelnden Willkommen, nahm ihm seine Axt und seine Stricke ab und reichte ihm das Wasser zum Waschen, doch er war bekümmert. Dann trug sie ihm das Essen auf, aber er aß nicht. Da fing sie an mit ihm zu tändeln und ihn zu liebkosen und versuchte herauszufinden, was mit ihm geschehen war, und bemühte sich, die Angst und den Kummer, die ihn bedrückten, zu vertreiben. Wenn sie gewußt hätte, was in seiner Seele vor sich ging! Er betrachtete sie lange und sah, daß sie ein über alle Maßen bezauberndes, schönes Mädchen war mit freundlicher, reiner Seele, frei von Selbsterniedrigung, doch voll standhafter Unterwürfigkeit. Sie kannte weder Hochmut noch Ungeduld, war freundlich im Gespräch und unterhaltend in nächtlichen Plauderstunden, geschickt in Handfertigkeiten, weise und ernst, wahrlich, sie kam allen Schätzen der Erde gleich. Salim ging fort, um einen Spaziergang zu machen, und dachte über einen Ausweg nach, wie er diesen Maghrebi loswerden konnte. Seine Wanderung zog sich in die Länge, bis ein großer Teil der Nacht verflossen war. Dann kehrte er um und ging zurück zu seinem Haus. Da erschien ihm der Maghrebi und sprach zu ihm: „Was macht dich so unruhig, Salim? Du denkst dir einen Weg aus, wie du mich loswerden und töten kannst, doch das ist unmöglich! War es dir nicht genug, was du am heutigen Tage gesehen hast? Bist du nicht von dem, was geschah, gewarnt worden? Ändere deine Gedanken, und wenn du es nicht tust, schlachte ich dich genauso wie sie und nehme mir den Schatz allein." Salim bekam einen furchtbaren Schreck. Er kehrte zu seinem Haus zurück, wandte sich mehrmals um und bat Allah um Schutz vor diesem verfluchten Satan. 159
Als er in sein Haus trat, schlief Tamra. In ihren Zügen lag ein Ausdruck des Friedens. Sie hatte lange auf ihn gewartet, doch die Schläfrigkeit hatte sie überwältigt. Als er hereinkam, wachte sie nicht auf. E r ließ sie schlafen und hielt sich wach, bis der Morgen dämmerte. Dann stahl er sich heimlich hinaus, während sie noch schlief, und begab sich in die Stadt. Dort kaufte er Fleisch, Gemüse, Früchte und zwei Hühner für einen halben Dinar, und ein halber Dinar war ihm noch geblieben. D a sagte er: „Sie hat drei Monate lang mit mir zugebracht und wacht über mein Wohlbefinden und versucht, mich glücklich zu machen. Ich aber habe nichts gefunden, womit ich sie beglücken könnte. Dies ist der letzte Tag ihres Lebens. Darum soll sie kochen und essen und sich dem Genuß hingeben, den die Welt bietet." E r trug heim, was er gekauft hatte, und ging damit zu Tamra. Sie empfing ihn mit einem Willkommensgruß und sprach zu ihm: „Mein Herz war bekümmert über deine Abwesenheit." Als sie die Speisen von ihm entgegennahm, sagte sie: „Was ist das? Hast du jemanden eingeladen? Ich werde alles herrichten, was du deinem Gast schuldig bist." D a erstickten ihn nahezu die Tränen, und er sprach zu ihr: „Ich habe keinen Gast. Der Anlaß dazu ist nur, daß ich einen Dinar gefunden habe. Ich kaufte diese Sachen, damit wir zusammen zu Mittag essen und uns sättigen, selbst wenn es nur einmal in unserem Leben ist. Ich habe heute auch nicht die Absicht, zur Arbeit zu gehen, sondern will in deiner Nähe bleiben." Tamra sprach zu ihm: .Allah möge dein Herz trösten und Erbarmen mit dir haben! Ich bete zu ihm, dir einen Weg zu besserem Verdienst zu ebnen und dich reich zu machen. Möge dir beschieden sein, einen Schatz zu finden und leichten Herzens und reichgesegnet in Wohlstand zu l e b e n . . . " Salim vermochte den Rest ihrer Worte nicht mit anzuhören und besonders, nachdem sie für ihn erbat, daß er einen Schatz finden möge. D i e Tränen stürzten aus seinen Augen, und er wandte sich ab. Dann ging er hinaus vor das Haus, setzte
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sich neben einen Felsen und weinte bitterlich. Sein Schmerz vermehrte sich noch, weil er mit ansehen sollte, wie sie getötet und gleich einem Schaf geschlachtet würde, während er sich vor diesem niederträchtigen Maghrebi nicht zu schützen vermochte, der ihr Blut aussaugen wollte, um den Schat2 zu erlangen. Tamra aber war ahnungslos und unbekümmert, dachte nur an die Dienste, die sie ihrem Ehemann zu erweisen hatte, und schenkte ihm ihr ganzes Vertrauen. E r weinte weiter. D i e Traurigkeit hatte seinen Verstand überwältigt und verstopfte jegliches Schlupfloch für ein vernünftiges Nachdenken. Tamra jedoch wusch die Früchte und setzte das Fleisch und die beiden Hühner auf Feuer, um sie geschwind gar zu kochen. Dann sagte sie im Selbstgespräch: „Salim ist bestimmt hungrig. E r hat nichts zur Nacht gegessen und am Morgen nicht gefrühstückt, deshalb will ich mich beeilen, ihm das Mittagessen herzurichten." Sie machte sich schnell daran, die Auberginen zu schälen,' doch das Messer w a r scharf, rutschte von der Schale einer Frucht ab, drang in ihren Handteller und ihre Finger und fügte ihr eine tiefe Wunde zu. Reichlich Blut schoß daraus hervor. Sie schüttelte ihre Hand wegen des heftigen Schmerzes, dabei spritzte das Blut auf den glatten Felsen in der Höhle, und sie hörte ein entsetzliches Gedonner. D a sah sie, wie in den Boden des harten Felsens eine Öffnung so groß wie ein breites Fenster gesprengt war, und G o l d in kleinen und großen Stücken quoll daraus hervor. D i e verschiedensten G e fühle durchdrangen sie. E s war eine Mischung von Verwirrung, Furcht und Freude. Sie lief geschwind hinaus, um ihren Mann zu rufen, doch seine Ohren blieben taub für ihr Rufen. A l s sie bei ihm angelangt war, sah sie, daß er heftig weinte und von entsetzlichem Schmerz befallen war. D a empfand sie Mitleid mit ihm und fragte besorgt: „Warum weinst d u ? " E r sprach zu ihr: „ E s ist nichts." Doch sie fuhr fort, ihm freundlich zuzureden und ihn zu bedrängen, bis er ihr gestand, was sein Herz bedrückte. E r erzählte ihr sein Geheimnis und verbarg nichts von seiner Beil
Arabische Volksmärchen
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gegnung mit dem Maghrebi bis zu jener Stunde. Darauf wurde sein Weinen noch heftiger. Sie sprach zu ihm: „Steh auf,-sei nicht traurig! Wahrlich, Allah ist mit uns. Der Schatz hat sich geöffnet, und er gehört uns, und der Maghrebi wird nichts davon erhalten. Er steht uns zu, und wir haben ein Recht darauf und werden uns dem Maghrebi gegenüber verteidigen, selbst wenn es so weit kommen sollte, daß ein so nichtswürdiger Kerl dabei getötet wird." Salim erhob sich mit ihr, und sie begaben sich in das Haus und sahen, daß immer noch Gold aus dem Felsen herausquoll und nahezu die ganze Höhle anfüllte. Salim staunte, als er dies sah. Er war verwundert über Allahs Gnade gegenüber dieser guten Frau. Er glaubte fest daran, daß Allah sie zu solchem Segen auserwählt hatte und ihr wegen ihres überaus guten Wesens, ihrer reinen Seele und lauteren Absichten seine Hilfe angedeihen ließ und ihnen ein reichliches Auskommen bescherte. D a sprach Salim: „Aber was sollen wir tun, wenn der Maghrebi kommt?" Tamra sagte: „Gib ihm seinen Dinar wieder und lasse ihn dahin zurückkehren, wo er hergekommen ist." Er sprach zu ihr: „Das wird er bestimmt nicht annehmen, denn er ist hinterlistig und außerordentlich schlau, und es ist schwer, mit ihm fertig zu werden. Daher wird er nicht mit weniger als der Hälfte des Schatzes zufrieden sein." D a sagte Tamra: „Der Schatz ist unser Schatz, und wir werden ihm nichts davon auszahlen. Wir sollten ihm verwehren, uns unser Recht mit Gewalt zu entreißen, und wenn es darum geht, uns unser Recht zu nehmen, lasse mich mit dir zusammenstehn, um ihn zu töten. Wahrlich, wenn dir durch seinen Widerstand der Mut sinkt, werde ich ihn allein töten. Wisse, daß mich der Maghrebi ohne deine Unterstützung nicht töten kann, denn wenn er das vermocht hätte, wäre er schon vor dem heutigen Tag erschienen und hätte mich in deiner Abwesenheit getötet." Salim erkannte, daß sie recht hatte, und seine Entschlossen162
heit erstarkte. Während sie dieses Gespräch führten, kam der Maghrebi, klopfte an die Tür und sprach zu Salim: „Öffne mir die T ü r l " Salim sagte: „Kehre dahin zurück, woher du gekommen bist, die Sache ist zu E n d e . " Der Maghrebi sprach: „ ö f f n e ! Wenn du es nicht tust, bekommst du den Lohn für deinen Eigensinn." Salim sagte: „Ich habe dir gesagt, kehre um! Wenn du jedoch darauf bestehst, werden wir dir Widerstand leisten." Der Maghrebi sprach: „Öffne, Salim! Wenn du. es nicht tust, werde ich die Tür aushängen und mit Gewalt zu dir kommen und dich und deine Frau zur Strafe für deinen Eigensinn und Widerspruch abschlachten." Tamra sprach: „ E s scheint, daß die Zeit, die für dein Leben bemessen ist, ihrem Ende zugeht. Versuche es und komme herein, dann wirst du jetzt deinem Tod entgegengehen." Daraufhin holte sie das Messer und stellte sich etwas entfernt rechts von der Tür auf. Ihre Worte erregten den männlichen Stolz in Salims Seele und füllten sein Herz mit Tapferkeit. E r war entschlossen zum Widerstand und nahm seine scharfe Axt und stellte sich an die linke Seite der Tür, um sich zur Verteidigung seiner Frau, seiner selbst und ihres Eigentums zu rüsten. Nach einer Weile wurde der Maghrebi mit der Tür fertig und hob sie aus den Angeln. D a zog das Glitzern des Goldes seinen Blick an. E r stand eine Weile verdutzt da, dann beschloß er, alles für sich zu nehmen. Als sein Auge auf Tamra fiel und auf das Messer in ihrer Hand, stürzte er sich auf sie, in seiner Hand ein scharfes Messer. Sie hob ihre Hand mit dem Messer, um es ihm ins Herz zu stoßen, während er seinen Rücken Salim zuwandte. Dieser erhob seine Hand mit der Axt, um einen vernichtenden Schlag auf den Rücken des Maghrebi zu richten. Der Maghrebi aber sank tot zur Erde, bevor ihm einer von ihnen einen Schlag versetzt hatte. 11»
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Auf einmal erschien der Diener das Schatzes 1 und sprach: „Ich habe den Maghrebi mit einem gewaltigen Schlag auf den Kopf getötet. Davon stand sein Herz still, und seine Nerven und sein Gehirn wurden zerstört." Danach wandte er sich an Salim und sagte: „Wenn du gehandelt hättest, wie der Maghrebi verlangte, und du ihm weder Widerstand geleistet noch dich und deine Frau verteidigt hättest und wenn du seinen verruchten Absichten, deine Frau abzuschlachten, gehorcht hättest, wäre dir nichts übriggeblieben, als ihm Folge zu leisten. Die Beherztheit deiner Frau hat dich jedoch errettet." Danach nahm der Diener des Schatzes den Maghrebi und wirbelte ihn mit einem Stoß seiner Hand hinter die Berge der Wüste. Dann kehrte er zurück und verschwand in der Höhlung des Felsens, aus welcher der Schatz stammte, und sie würde wieder, wie sie gewesen war. Salim ließ sich nun ein schönes, geräumiges Haus in der Stadt bauen und übernahm eine große Niederlage zum Verkauf von Brennholz und lebte glücklich mit seiner Frau. Nachdem sieben Monate seit diesen Ereignissen verflossen waren und Salim mit seiner Frau in ihr neues Haus übergesiedelt war, gebar Tamra einen Sohn. Sie nannte ihn Ghanim nach ihrem Vater. Als Ghanim neun Monate alt war, hätschelte ihn seine Mutter und rief dazu „Ghanim, Ghanim". Einmal blieben dabei drei Jünglinge und ein Scheich von gut fünfzig Jahren stehen. Der Name des Scheichs war auch Ghanim, und er hob seinen Kopf und betrachtete aufmerksam die Frau, die seinen Namen gerufen hatte. Als er sah, daß sie Ähnlichkeit mit seiner Tochter hatte, starrte er längere Zeit nach ihr und blieb unter dem Balkon stehen. Tamra war auf die Gruppe Leute aufmerksam geworden, die stehengeblieben waren, nach ihr sahen und miteinander flüsterten, und schaute nach ihnen. Plötzlich erkannte sie ihren Vater und ihre Brüder. Da rief sie mit lauter Stimme: „Salim! Salim! Mein Vater und meine Brüder sind hier! Geh hinunter und lade sie ein!" 1
Zu einem Schatz gehört meist auch ein dienstbarer Geist.
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Nun war der Scheich Ghanim sicher, daß er seiner Tochter gegenüberstand, und seine Söhne wußten, daß sie ihre Schwester war. Sie stiegen zu ihr hinauf und begrüßten sie, wie man einen teuren Angehörigen nach langer Trennung begrüßt. Dann erzählte sie ihnen ihre Neuigkeiten von Anfang bis Ende, und sie priesen Allah, daß er sie beschützt und bewahrt hatte. Der Vater und die Brüder berichteten danach, daß man Tamra nicht vor dem späten Nachmittag vermißt hatte, und da hatten sie schon eine weite Entfernung zurückgelegt. Sie sandten zwei Leute aus, um Tamra zu suchen, doch diese kehrten am folgenden Tage zurück und teilten mit, daß sie sie nicht finden konnten. Seit dieser Zeit hatten ,sie stets nach ihr gesucht. Der Scheich Ghanim freute sich über seinen Enkel und den Namen, den er erhalten hatte. Dann zog er fort und holte Tamras Mutter vom Beduinenlager in der Wüste. Sie blieben einen Monat bei Salim und Tamra. Danach kehrten sie zu ihrem Stamm zurück. Salim und Tamra lebten in Glück und Beständigkeit und zeugten Knaben und Mädchen.
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FATIMA AS-SAMHA
Fatima as-Samha sammelte mit sechs anderen Mädchen Brennholz, und der Einbruch der Nacht überraschte sie. Da sahen sie von weitem zwei Feuer, ein großes und ein kleines, und alle sprachen wie aus einem Munde: „Laßt uns an das große Feuer gehen!" Sie liefen und liefen. Als sie das große Feuer erreicht hatten, fanden sie dort eine Sila. Sie hatte einen Baum herausgerissen, um das Feuer damit zu unterhalten. Die Mädchen sagten zu ihr: „Salam, liebes Großmütterchen, Beachtenswert ist deine Rede, Und einem Krug gleicht deine Nase." Da lachte sie, fletschte ihre häßlichen Zähne und sprach: „Seid willkommen! Unser Herr hat euch hierhergebracht, möge er auch eure Kinder und Kindeskinder herbringen." Darauf mahlte sie Knochen und machte davon einen Teig und buk daraus harte Kisra. Danach holte sie eine große Kürbisschale aus ihrer Behausung und stellte sich abseits. Dann ergriff sie ihre rechte Brust und sprach: „Hej, hej, meine rote Ziegel" Da floß gelbe Milch aus ihrer Brust. Dann ergriff sie die andere Brust und sagte: „Hej, hej, meine blaue Ziege!" Aus ihrer anderen Brust floß rote Milch. Danach rief sie: „Hej, hej, meine schwarzweiß gestreifte Ziege!" Da floß grüne Milch von der ersten Brust. Danach schrie sie: „Hej, hej, meine fette Ziege!" Da floß blaue Milch aus ihrer zweiten Brust. Darauf kam sie mit der gefüllten Kürbisschale, schüttete diese Milch auf die Knochenkisra und riet die Mädchen und sagte zu ihnen: 166
„Ihr Mädchen, eßt!" Die Mädchen wußten, daß die Kisra von Knochen waren und die farbige Milch aus den Brüsten der Sila stammte. Sie fürchteten sich sehr, und jede tat, als würde sie das Essen genießen, grub aber ein Loch unter ihren Füßen und vergrub dort die Bissen. Eins der Mädchen war sehr jung. Sie hieß Mariam. Sie aß einen Mundvoll. Da kniffen sie die anderen Mädchen und sagten zu ihr: „Warum ißt du nicht? Mögest du Blut essen!" 1 Mariam sagte mit Flüsterstimme: „Liebe Alte, sieh die Mädchen! Sie wollen mich hindern, etwas zu essen." Dann aß Mariam, bis sie satt war, und sagte: „Großmütterchen, gib mir Wasser!" Die anderen Mädchen sagten ebenfalls: „Großmütterchen, wir möchten Wasser haben." Die Sila sprach: „Ich werde euch Wasser vom Nil bringen, aber wie soll ich wissen, daß ihr nicht von diesem Ort weglauft?" Da sagte Fatima as-Samha: „Liebe Alte, nimm dieses Seil! Binde jede von uns mit einem Ende an einem Baumstamm fest und ziehe das Seil hinter dir her bis zum Nil. Sollten wir wegrennen, merkst du es, sobald du daran ziehst." Die Sila lachte und sagte: „Das ist ein schöner Einfall." Dann band sie ein Mädchen nach dem anderen mit dem einen Ende des Seils am Baum fest, ergriff das andere und sprach: „Ich werde dieses Ende des Seiles hinter mir herziehen, und wenn eine von euch ausreißt, merke ich es." Darauf sagten die Mädchen: „Ach Großmütterchen, wir können aus nichts anderem als einem Wassertrog aus ungebranntem Lehm, einem'vertrockneten Kürbis oder einem Netz trinken." 1
Sie verfluchen Mariam wegen ihrer Unbeherrschtheit. Der Genuß von Blut ist im Islam verboten.
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Sie wollten ihr damit das Wasserholen unmöglich machen. Mariam aber sagte: „Ich möchte aus einer irdenen Flasche trinken." D a nahm die Sila einen Trog von ungebranntem Lehm, einen vertrockneten Kürbis, ein Netz und eine irdene Flasche und ging an den Nil, um Wasser zu holen. Als sie sich entfernt hatte, halfen die Mädchen einander und lösten das Seil. Dann sagte Fatima as-Samha: „Kommt, laßt uns fortlaufen!" Danach band sie das Seil am Baum fest, damit die Alte nichts merken sollte. Mariam aber war vom Essen der Knochen und vom Trinken der roten und grünen Milch so schwach geworden, daß es ihr schwerfiel, sich zu bewegen, und sie sagte zu ihren Gefährtinnen: „Wenn die liebe Alte nach einiger Zeit kommt, werde ich ihr sagen, daß ihr weggelaufen seid." Fatima und ihre fünf Begleiterinnen rannten davon. Unterdessen hielt die Sila den Trog ins Wasser, doch er zerbröckelte. D a kaufte sie einen neuen, doch der neue Trog zerbröckelte ebenfalls. Danach hielt sie das Netz ins Wasser, aber es wollte nicht untertauchen. Nun bekam sie es satt und war verzweifelt. Sie fürchtete, daß Fatima mit ihren Begleiterinnen geflohen sein könnte. Als sie am Strick zog und feststellte, daß er straff gespannt war, sagte sie: „Die Mädchen sind noch da." Danach bekam sie es wieder satt und sagte vor Verzweiflung: „Ich will nach der Ansiedlung zurückgehen und sehen, ob die Mädchen dort sind." Als sie zurückkam und Mariam allein vorfand, sagte sie zu ihr: „Wo sind deine Gefährtinnen?" Mariam sagte: „Sie sind davongelaufen, Großmütterchen." D i e Sila sprach zu ihr: „Sieh nach, ob das Feuer lodert und Hitze entwickelt" Mariam fragte: „Aber wo ist der Besen?" D a lachte die Sila und sprach:
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„Der Besen, du Erbärmliche, was ist er anderes als deine Hände?" Mariam fragte: „Und womit soll das Backblech gestrichen werden?" D i e Sila sprach: „Streiche es mit deinem eigenen F e t t ! " Mariam fragte: „Wo ist der Durrateig zum Backen der K i s r a ? " D a sagte die Sila: „Der Durrateig, das bist d u ! " Mariam schaute sie erschrocken an, doch die Sila sagte: „Setze dich aufs Backblech!" Mariam legte ihre Beine aufs Backblech. Dann rief sie: „Großmütterchen, es hat mich gebrannt, es hat mich gebrannt!" D i e Sila fletschte ihre Zähne, lachte und sprach: „Hej, hej, hat es dich gebrannt? Dann setze dich nur richtig würdevoll darauf." Damit packte sie Mariam, setzte sie aufs Backblech, ließ sie braten und fraß sie. Als sie damit fertig war, sagte sie: „Nun will ich mich auf den Weg machen, damit ich Fatima as-Samha und ihre Begleiterinnen einhole." Dann stellte sie sich vors Haus und sprach über Fatima asSamha und ihre Gefährtinnen eine Verwünschung aus: „Inschallah, ihr Mädchen von Fatima as-Samha I Trauer und Wehklagen mögt ihr begegnen, Dann weint und weint, Bis ich euch einhole!" Fatima und ihre Begleiterinnen trafen Leute, die trauerten und wehklagten. Sie weinten und weinten mit ihnen, schlugen sich ins Gesicht und warfen Staub auf ihre Häupter. Auf einmal erblickte Fatima as-Samha von, weitem eine Staubwolke, die von der Sila herrührte. D a sagte sie zu ihren Begleiterinnen : „Kommt, laßt uns fortlaufen!" Sie rannten geschwind davon, und die-Sila fand sie nicht mehr. Darauf blieb sie stehen und sprach wieder eine Verwünschung aus:
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„Inschallah, ihr Mädchen von Fatima as-Samha! Mögt ihr einer hohen, fruchttragenden Dattelpalme begegnen, Dann steigt hinauf und pflückt die Datteln, Bis ich euch einhole!" Da fanden die Mädchen eine hohe Dattelpalme. Sie stiegen hinauf und begannen die Datteln zu pflücken und zu essen. Auf einmal sah Fatima as-Samha von weitem die Staubwolke der Sila und rief: „Kommt, laßt uns weglaufen I" Die Sila kam heran und fand sie nicht mehr. Darauf rief sie: „Inschallah, ihr Mädchen von Fatima as-Samha 1 Mögt ihr jener Hochzeitsfeier begegnen, Dann tanzt und vergnügt euch, Bis ich euch einhole!" Sie kamen zu einem großen Hochzeitsfest, traten ins Zelt ein und begannen zu tanzen und zu singen, erfreuten sich und unterhielten sich. Schließlich stand ein Mädchen auf und sprach: „Ich habe Angst vor der Staubwolke der Sila." Darauf sagte Fatima as-Samha zu ihnen: „Kommt, laßt uns weglaufen!" Die Mutter des Bräutigams aber sagte: „Wartet, bis das Hochzeitsessen aufgetragen wird!" Als Fatima as-Samha und ihre Gefährtinnen ablehnten, steckte die Mutter des Bräutigams jedem der Mädchen Fleisch in einen Rockzipfel. Dann verließen sie das Hochzeitsfest und rannten, so schnell sie konnten, davon, und die Sila fand sie nicht mehr. Da rief sie: „Inschallah, o Fatima as-Samha! Möge dich ein Dorn verletzen, den nur meine Dornenzange und ein Haar meines Kopfes entfernen können! Dann sollen deine Begleiterinnen eine nach der anderen versuchen ihn herauszuziehen, Bis ich euch einhole!"
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Danach wurde Fatima as-Samha von einem Dorn gestochen, der sich nicht herausziehen ließ. Jede ihrer Begleiterinnen nahm ihre Dornenzange und versuchte den Dorn zu entfernen, aber es gelang ihr nicht. Auf einmal erschien die Staubwolke der Sila in der Ferne. Fatima as-Samhas Gefährtinnen konnten den Dorn noch immer nicht herausziehen. Nun erschien die Staubwolke am Horizont, und sie wußten, daß es der Staub war, den die Sila aufwirbelte, und sie bekamen entsetzliche Angst und fingen an zu weinen. Fatima as-Samha sagte zu ihnen: „Warum weint ihr, ihr Mädchen?" Die Mädchen sagten: „Dort ist die Staubwolke der Sila. Nun wird sie kommen und uns fressen." Fatima as-Samha sprach: „Hebt mich auf eure Hände!" Die Gefährtinnen trugen sie und rannten mit ihr davon, und die Sila konnte sie nicht einholen. Darauf schrie die Alte, so laut sie konnte: „Inschallah, ihr Mädchen von Fatima as-Samha 1 Mögt ihr am Nil ein Krokodil treffen, Dann fürchtet euch, und neben dem Stein bleibet stehen, Bis ich euch einhole I" Ein großer Strom breitete sich vor Fatima as-Samha und ihren Begleiterinnen aus, und am Ufer tauchte ein riesiges Krokodil auf. Fatima as-Samha sagte: „O Väterchen Krokodil, Setze uns über! Du sollst als Lohn Ein Wildbret von uns haben." Dann sagte Fatima zu den Mädchen: „Während das Krokodil euch übersetzt, soll jede von euch zu ihm sagen: ,Dein Wildbret kommt hinterher', und wenn das Krokodil seine Schnauze nach einer von euch ausstreckt, dann gebt ihm von dem Fleisch, das wir von der Hochzeit übrig haben." 171
Das Krokodil setzte ein Mädchen nach dem anderen über. Jedesmal, wenn es seine Schnauze nach einer der Gefährtinnen ausstreckte, gab sie ihm Fleisch, und am anderen Ufer angelangt, sprach sie zu ihm: „Dein Wildbret kommt hinterher." Auf diese Weise brachte das Krokodil alle Mädchen hinüber, bis es zur sechsten kam. Als sich das sechste Mädchen mitten auf dem Nil befand, langte die Sila am Ufer an und schrie: „Ihr Mädchen von Fatima as-Samha, sagt dem Krokodil, es soll mich übersetzen, damit ich Fatima den Dorn herausziehe, den nichts anderes als meine Dornenzange und ein Haar von meinem Kopf entfernen kann." Fatima as-Samha hörte das Geschrei der Sila. Als das Krokodil das sechste Mädchen ans Ufer brachte, sagte Fatima as-Samha zu ihm: „Dein Wildbret ist hinter uns, Väterchen Krokodil. Geh nun und bring uns die liebe Großmutter!" Das Krokodil schwamm hinüber und trug die Sila auf seinem Rücken, doch jedesmal, wenn es seinen Kiefer nach ihr kehrte, versetzte sie ihm einen Schlag auf den Rücken. Ihr Stock war ein Quirl, mit dem sie ihr Essen zu rühren pflegte. Davon wurde das Krokodil wütend. Als es in der Mitte des Stromes angekommen war, riefen Fatima as-Samha und ihre Gefährtinnen: „Väterchen Krokodil, nun hast du dein Wildbret bei diri Wenn du sie getötet hast, bring uns ihre Dornenzange und ein Haar von ihrem Kopf!" Das Krokodil wandte sich nach der Sila um, und als sie es^ wieder mit dem Stock schlug, versetzte es ihr einen Hieb mit seinem Schwanz und zerschmetterte ihr den Hals. D a schrien die Mädchen: „Väterchen Krokodil, dein Wildbret ist hinter uns!" Das Krokodil hob ihnen die Sila an ihrem zertrümmerten Kopf empor, danach tauchte es unter und kam wieder an die Oberfläche, und die Mädchen riefen ihm zu: „O Väterchen Krokodil, nun ist es hinter uns, dein Wildbret ist hinter uns!" Das Krokodil öffnete seinen Rachen und ließ sie sehen, daß es die Sila vollständig verschlungen hatte. Darauf riefen ihm die Mädchen zu: 172
„Väterchen Krokodil, bring uns die Dornenzange und das Haar vom Kopf!" Nach einiger Zeit riefen die Mädchen nochmals: „Väterchen Krokodil, bring uns die Dornenzange und das Haar vom Kopf!" Da warf ihnen das Krokodil die Dornenzange der Sila und das Haar von ihrem Kopf zu. Ein Mädchen fing sie auf und entfernte damit den Dorn aus Fatima as-Samhas Fuß. Dann rannten die Mädchen davon und beeilten sich, um vom Nil und von dem Krokodil wegzukommen. Auf dem Wege sah Fatima as-Samha einen alten Mann. Der Alte sagte zu ihr: „Komm her, lause mir mein Haar!" Fatima as-Samha sprach zu dem Alten: „Gut, altes Väterchen, dessen Rede zu beachten ist." Dann setzte sie sich nieder und lauste ihn. Nach einiger Zeit sagte sie zu ihm: „Du altes Väterchen, wie läßt sich die Haut der alten Leute abziehen?" Der Alte sagte zu ihr: „Meine Tochter, möge dich Allah davor bewahren, so etwas zu tun. Was ist der Grund für deine Frage?" Da sagte Fatima as-Samha zu ihm: „Ach Väterchen, es ist nichts, ich wollte es nur wissen." Darauf sagte der Alte zu ihr: „Hole dir einen Dorn des Kattarbaumes und stecke ihn mitten auf das Kopfgewölbe." Fatima as-Samha sprach bei sich: Ich bin ein schönes Mädchen. Nun sehe ich die Haut dieses Alten. Sie kann mich bestimmt vor den Leuten verbergen. Sie wartete, bis der Alte eingeschlafen war, dann kam sie mit einem Dorn des Kattarbaumes, stach ihn auf seinen Scheitel und zog ihm die ganze Haut ab, als ob es die Schale einer Zitrone wäre. Dann legte Fatima as-Samha die Haut an und bekam sofort das Aussehen eines alten Mannes. Darauf sagte sie zu den Mädchen: „Jallah, wir wollen uns dort in der Höhle verstecken." In ihrer Nähe befand sich eine weiträumige Höhle, in die sie hineingingen. 173
Am Eingang der Höhle wuchs grünes Gras. D a kam ein Kamel vom Sohn des Emirs und weidete vor der Höhle, doch eines der Mädchen jagte es weg, warf einen Stein nach ihm und sagte: „Weg mit dir, du Kamel! Wagst du es, einen Weideplatz vor der Öffnung einer Höhle abzugrasen, und in der Höhle sind fünf Mädchen, und ihre Herrin ist Fatima as-Samha? Sieh, was für ein unverschämtes K a m e l ! " D a s Kamel rannte weit weg. Der Sohn des Emirs sah es und trieb es zurück. So kam das Kamel wieder zur Höhle, doch eines der Mädchen warf einen Stein nach ihm und rief: „Weg mit dir, du Kamel! Du grast auf einem Weideplatz an einer Höhle,.und in der Höhle sind fünf Mädchen, und ihre Herrin ist Fatima as-Samha." D a s Kamel rannte weg, dsnn es wurde mit Steinen beworfen. Als der Sohn des Emirs dessen gewahr wurde, wußte er, daß in der Höhle Menschen waren. Er nahm seinen Speer mit, stellte sich vor den Eingang der Höhle, hielt den Speer stoßbereit nach dem Inneren gerichtet und rief mit laut vernehmbarer Stimme: „Ihr Insassen der Höhle, die Obrigkeit ist zu euch gekommen!" Sofort erschien das erste Mädchen, da zückte der Sohn des Emirs seinen Speer von neuem und wiederholte seine Worte, und die zweite und die dritte kamen, dann die vierte und die fünfte. D a sagte der Sohn des Emirs nochmals: „Ihr Insassen der Höhle, die Obrigkeit ist zu euch gekommen!" D a erschien Fatima as-Samha in Gestalt eines alten Mannes. Als Fatima as-Samha und ihre fünf Begleiterinnen die Höhle verlassen hatten, sprach der Sohn des Emirs: „Mein alter Onkel, deine Töchter dort sollen bei meinen Schwestern bleiben, und du bleibst bei mir. D u mußt nur eine Arbeit haben. Laß mich sehen, können wir dich Kamele hüten lassen?" Fatima as-Samha sagte: „Nein, nein, mein Sohn! Die Kamele sind groß und ähneln Riesen, ich aber bin alt und elendig schwach. Vor den K a melen fürchte ich mich." 174
Darauf sagte der Sohn des Emirs zu ihr: „Können wir dich Esel hüten lassen?" Sie sprach: „Nein, nein, mein Sohn! Die Esel werden nach mir ausschlagen und mich treten." Dann sagte der Sohn des Emirs zu ihr: „Können wir dich Hühner hüten lassen?" Sie sprach: „Nein, nein, die Hühner werden mich mit ihren Schnäbeln hacken." Dann sagte der Sohn des Emirs zu ihr: „Können wir dich die Tauben hüten lassen?" 1 Da sagte sie: „Gut, ich werde die Tauben hüten." Dann zog Fatima as-Samha aus, sobald der Morgen anbrach, um die Tauben zu hüten. Der Aufenthaltsort der Tauben lag neben einem schönen Teich. An einer schattigen Stelle in der Nähe des Teiches befand sich ein großer, glatter Stein. Der Sohn des Emirs sandte einen taubstummen Sklaven mit ihr. Der Sklave setzte sich ans Ufer des Teiches. Als Fatima as-Samha sah, daß sie allein war und sich niemand außer dem Sklaven an diesem Ort befand, legte sie die Haut des alten Mannes ab, mit der sie bedeckt war. Unter der Haut kamen ihre Schönheit und ihr Schmuck zum Vorschein. Sie nahm ihren Schmuck ab, schwamm und stieg aus dem Wasser, um sich abzutrocknen. Da bemerkte sie, wie der Sklave voll Bewunderung ihren Körper anstarrte. Sie ging auf ihn zu, gab ihm - kaf - eine Ohrfeige und sagte, als sie zuschlug: „Was hast du zu starren, du Taubstummer? Mögest du blind werden, du Taubstummer!" - kaf„Sie ist schön, nicht wahr, du Taubstummer?" -kaf„Wie der Weizen 1 , du Taubstummer." - kaf 1
Weizen (Farbe und Form der Ähren), Straußenfeder und Taubenbeine (Leichtigkeit und Anmut) sind Symbole der Frauenschönheit.
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Danach streifte sie die Haut des alten Mannes über, kleidete sich in dessen Kleider und ging davon. Als sie beim Sohn des Emirs anlangten, zeigte der Sklave mit der Hand nach seiner Brust, seinen Ohren und seinem Kopf und sagte: „Uum, Uun, Uuh." Der Sohn des Emirs sagte zu Fatima as-Samha: „Was bedeutet die Rede dieses Sklaven?" Sie sagte zu ihm: „Der Sklave sagt: Ich habe Schmerzen hier und Schmerzen da, drum behandelt mich mit dem Brenneisen." Sie riefen den Basir, und der Basir behandelte den Sklaven mit dem glühenden Eisennagel auf der Brust und dem Bauch, 1 und der Sklave starb auf der Stelle. Am folgenden Tage ging Fatima zum Hüten, und ein anderer taubstummer Sklave zog mit ihr hinaus und sah ihre Schönheit. Er starrte sie an, und sie gab ihm eine Ohrfeige und sagte zu ihm, was sie zu dem ersten Sklaven gesagt hatte. Danach ging der Sklave zum Sohn des Emirs und sprach: „Uum, Uun, Uuh." Der Sohn des Emirs fragte Fatima as-Samha. Sie sagte: „Ich weiß nicht, mein Sohn, vielleicht sagt dieser Sklave: Ich habe Schmerzen, ich habe Schmerzen. Laß mich mit dem Brenneisen behandeln." Der Basir kam und behandelte den Sklaven mit dem glühenden Eisennagel auf der Brust und dem Bauch, und der Sklave starb auf der Stelle. Am folgenden Tage zog Fatima as-Samha hinaus, um zu hüten, und ein dritter taubstummer Sklave ging mit ihr. D a sagte der Sohn des Emirs: „Ich muß unbedingt selbst hingehen und mit eigenen Augen nachsehen." Er wanderte auf einem weiten Umweg hin und versteckte sich in einem Baum über dem großen Stein, der sich neben dem Teich befand. D a kam Fatima as-Samha, zog ihre Kleider aus, legte die Haut ab, nahm ihren Schmuck und ihre Fingerringe ab und 1
Noch heute angewandte Methode, die Beziehungen zur chinesischen Akupunktur und Moxibustion hat
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legte sie alle auf den großen Stein. Dann stieg sie in den Teich hinein und tauchte unter. Als sie herauskam, bemerkte sie, wie der Sklave nach ihr s t a r r t e . . . da gab sie ihm eine Ohrfeige, schlug ihn nochmals und sagte dabei: „Was hast du zu starren, du Taubstummer?" -kaf„Mögest du blind werden, du Taubstummerl" -kaf„Sie ist schön, nicht wahr, du Taubstummer?" - kaf „Wie der Weizen, du Taubstummer, Und eine Straußenfeder, du Taubstummer, Mit Beinen wie die Tauben, du Taubstummer." Unterdessen streckte der Sohn des Emirs seinen Stock aus und holte einen ihrer zehn Fingerringe. Fatima as-Samha kam, um ihre Kleider anzuziehen. Als sie sich ankleidete, vermißte sie den Ring. Da ging sie zu dem Sklaven, streckte ihre Hand vor ihm aus und sagte, indem sie auf die Stelle zeigte, wo die Ringe zu sitzen pflegen: „Hier ist einer, da ist einer, da ist einer, aber dort, wo ist er hin?" Sie ging mehrmals zum Stein und kehrte zum Sklaven zurück, streckte ihre Finger hin und zeigte auf die Stelle, an der die Ringe saßen: „Hier ist einer, da ist einer, aber dort, wo ist er hin?" Als sie dem Sklaven immer mehr Ohrfeigen gab, schaute der Sohn des Emirs oben von seinem Versteck auf ihn, streckte den Stock aus und warf den Ring hinunter. Fatima as-Samha kam, fand den Ring, steckte ihn an und legte darauf die Haut des alten Mannes an. Dann ging sie mit dem Sklaven nach dem Haus zurück. Der Sklave sagte zum Sohn des Emirs „Uum, Uun, Uuh" und fing an auf seine Brust und seinen Bauch zu zeigen. Der Sohn des Emirs fragte Fatima as-Samha: • „Was sagt dieser Sklave?" Sie sprach: „Ich weiß nicht, mein Sohn, laß ihn mit dem Brenneisen behandeln." 12
Aiabische Volksmärchen
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Der Sohn des Emirs sagte: „Ich will selbst hingehen und den Basir rufen." Dann ging er fort. Nach einer Weile kehrte er zurück und sagte zu ihr: „Der Basir hat einen Fieberanfall, er wird den Sklaven morgen behandeln." Danach sagte der Sohn des Emirs zu Fatima: „Mein alter Onkel, laß uns Sidscha spielen, und wer seinen Mitspieler besiegt, soll ihm die Haut aufritzen." Fatima as-Samha, die sehr geschickt im Sidscha-Spiel war, sagte: „Möge Allah einen gläubigen Muslim daran hindern, seine Macht an einem anderen Gläubigen auszuüben, mein Sohn! Es ist besser, wir spielen ohne eine Abmachung." Der Sohn des Emirs bestand jedoch auf seiner Bedingung, und schließlich war Fatima einverstanden. Sie besiegte ihn im ersten Spiel und sagte dann zum Sohn des Emirs: „Ich verschone dich." Dann besiegte sie ihn zum zweiten Mal und sagte zum Sohn des Emirs: „Ich verschone dich." Sie besiegte ihn siebenmal, und jedesmal sagte sie zu ihm: „Ich verschone dich." Das achte Mal besiegte sie der Sohn des Emirs, und sie sprach zu ihm: „Verschone mich!" Er aber ritzte ihre Haut, und dabei wurde offenbar, wie. sie wirklich aussah. Danach sagte sie zu ihm: „Bewahre mein Geheimnis, du Sohn meines Onkels." 1 Er sagte zu ihr: „Ich werde es bewahren." Danach sandte der Sohn des Emirs nach ihrer Familie. Als sie kamen, heiratete er Fatima, und sie lebten beide ein glückliches Leben. Was die anderen Mädchen anbelangt, so kamen ihre Familien ebenfalls, und jede von ihnen wurde mit einem Freunde vom Sohn des Emirs verheiratet. 1
Sie läßt erkennen, daß sie keine Einwände gegen eine Heirat hat.
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DAS GEHEIMNIS DES
VOGELMAGENS
Qasim war ein Holzfäller mit einem guten Herzen, der von seiner Hände Arbeit und von dem lebte, was er mit seiner Axt abschlug. Was er aber für das Brennholz erhielt, das er sammelte und verkaufte, reichte nicht zum täglichen Unterhalt für ihn, seine Frau und seinen Sohn Raijan, der ein Alter von fünfzehn Jahren erreicht hatte. Als Qasim einmal mit gesenkten Augen auf dem Heimweg war und über seinen Kummer nachdachte und grübelte, wovon er leben sollte, sah er ein Rebhuhn 1 von seltsamer Gestalt und gewaltiger Größe. E r griff danach und fand unter ihm zwei große Eier. E r war verwundert über ihre Größe, ihre seltsame Farbe und die dicken Schalen und hoffte sie für einen Vierteldinar verkaufen zu können. Vom Erlös wollte er etwas kaufen, was seine Frau und seinen Jungen erfreuen würde. Q a s i m machte vor seinem Hause halt und sperrte das Rebhuhn in einen großen Käfig. Dann fertigte er ihm etwas, was wie ein Ei aussah, und nahm die zwei Eier weg, um sie zu verkaufen. D a begegnete er einem Juden. Als der die Eier sah, war er sehr erstaunt und begehrte sie zu kaufen. E r bot einen Preis von zwei Dinar. Qasim glaubte, der J u d e wolle sich über ihn lustig machen, und sprach: „Möge Allah die Pforten des Gewinnes a u f t u n ! " 2 Der Jude sagte voller E i f e r : „Fünf D i n a r ! " Qasim wußte, daß der Jude sehr geschäftstüchtig war und meinte, was er sagte. Nun begriff er, daß die Eier eine Selten1 2
Rebhühner werden als Hühner der Dschinnen angesehen. Traditionelle Redeweise beim Handel (wenn der Preis dem Käufer oder Verkäufer nicht zusagt), mit der sich jeder Partner zurückziehen kann; meist folgen neue Verhandlungen, bis zur Einigung.
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heit waren und Wert besaßen. Nach langem Feilschen war er einverstanden, dem Juden die beiden Eier für zwanzig Dinar zu überlassen. Qasim nahm das Geld sofort an sich. Dann ging er am Basar vorbei und kaufte die besten E ß waren und verschiedene Sorten von Früchten und Süßigkeiten für seine Familie. An den folgenden Tagen legte das Rebhuhn täglich ein E i , bis es bei dreißig aufhörte. E r verkaufte sie alle an den Juden und erhielt dafür einen Preis von dreihundert Dinar. Als das Rebhuhn mit dem Legen aufgehört hatte, wollte der Jude die günstige Gelegenheit nutzen und Qasim überreden, ihm das Rebhuhn zu verkaufen. E r bot einen hohen Preis, aber Qasim weigerte sich zu verkaufen. Nachdem zwei Monate vergangen waren, beschloß Qasim, nach dem Hedschas zu reisen, um dem heiligen Gebot der Pilgerfahrt nachzukommen. E r ermahnte seine Frau, das Rebhuhn wohl zu hüten und es niemand anderem zu überlassen oder zu verkaufen, gleichgültig wie hoch der Prsis auch sein möge. Dann begab er sich auf d ; e Reise und wiederholte nochmals seinen ausdrücklichen Wunsch. Als eine Woche nach Qasims Abreise vergangen war, erschien der Jude und fing an, mit der Frau über den Verkauf des Rebhuhns zu handeln. Das erste Mal verkaufte sie es nicht. Darauf sprach der Jude: „Ich bezahle einen Preis von tausend Dinar dafür, und dir persönlich gebe ich noch zweitausend." Sie glaubte nicht recht gehört zu haben und meinte, er wolle mit ihr scherzen, aber er sagte: „Ich werde dir dreitausend Dinar geben." D a sprach sie: „Bringe das G e l d ! " E r brachte es und zahlte es ihr aus, und sie reichte ihm das Rebhuhn. E r schlachtete es, dann sagte er: „Mache es für mich sauber, doch wirf nichts davon weg. Wenn etwas fehlt, werde ich den Leib desjenigen aufschlitzen, der davon gegessen hat, um es wieder aus ihm herauszuholen." Dann geschah es, daß Raijan, ihr Sohn, hereinkam. E r fand die Mutter beim Ausnehmen des Rebhuhns und bat sie,
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ihm etwas davon zu geben, aber sie verweigerte es. Da nahm er schnell den Vogelmagen weg, aß ihn, aber ohne ihn richtig zu kauen, und verschluckte ihn. Die Mutter stand auf und schrie ihm laut ins Gesicht: „Fliehe von diesem Ort, denn der Jude hat mir versichert, daß er jedem, der etwas von dem Rebhuhn ißt, den Bauch aufschlitzen will!" Darauf erhob sich der Junge, bestieg 'das Pferd seines Vaters und entfloh. Der Jude kam, um das Rebhuhn in Empfang zu nehmen, doch er fand den Magen nicht dabei. Er fragte danach, und die Frau sprach: „Mein Sohn hat ihn hinter meinem Rücken entwendet." Da sagte der Jude: „Bringe ihn her, damit ich ihm den Bauch aufschlitzen und den Vogelmagen herausholen kann. Ich habe dir diese Tausende von Dinar dafür bezahlt." Sie sagte: „Er ist auf das Pferd seines Vaters gestiegen und entflohen." Darauf setzte sich der Jude aufs Pferd und verfolgte Raijan. Überall, wo er rastete, ob bei einem Nomadenstamm oder in einer Stadt, fragte er nach ihm und nannte seine Kennzeichen, doch die Leute sagten zu ihm: „Er ist hier gewesen und ist wieder abgereist." Endlich erreichte er ihn nach einem Monat in einer öden Gegend und sprach zu ihm: „Komm her, damit ich dir den Bauch aufschneide und den Vogelmagen herausnehme! Ich habe Tausende von Dinar dafür bezahlt." Raijan antwortete: „Willst du mich töten wegen eines Rebhuhnmagens? Geh davon, du solltest keine Mutter haben!" 1 Der Jude aber zog ein scharfes Messer hervor, stürzte sich auf Raijan und wollte ihm den Bauch aufschlitzen. D a nahm ihn Raijan in seine Hände, hob ihn hoch, als ob er einen Apfel heben würde, warf ihn auf die Erde und machte ihm 1
Fluch im Sinne von: Du hast den Tod deiner Mutter verdient.
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den Garaus. Raijan wunderte sich über seine Stärke, die er zum ersten Male bemerkte. In seinem Körper hatten sich übernatürliche Kräfte entwickelt. Er freute sich sehr über das, was geschehen war. Dann setzte er seine Reise.fort, bis er nach drei Monaten die Stadt Mosul erreichte. Dort sah er viele Totenschädel am Tor der Burg des Wali hängen. Als er sich danach erkundigte, erzählten ihm die Leute, daß der Wali eine Tochter habe, die sehr erfahren im Ringkampf sei und gewaltige Körperkräfte besitze. Sie wollte keinen anderen heiraten als denjenigen, der sie im Ringkampf besiege. Wenn er sie jedoch nicht besiege, werde er getötet und sein Kopf am Burgtor aufgehängt. Vierzig der stärksten Männer der Welt waren zu ihr gekommen, doch sie hatte sie alle besiegt. Diese Totenschädel legten Zeugnis davon ab. Raij an ging zum Wali und bat ihn, sich mit seiner Tochter nach ihren Bedingungen im Ringkampf messen zu dürfen. Der Wali betrachtete ihn und sah einen bartlosen Jüngling unter sechzehn Jahren, doch von hohem Wuchs mit breiten, kräftigen Schulterblättern, und was zwischen den Schultern war, lag weit voneinander entfernt. Der Wali meinte, Raij an werde getötet werden, und riet ihm ab. Er ließ ihn wissen, wie kühn und erfahren seine Tochter im Ringkampf sei, doch Raijan bedrängte ihn und bestand auf seinem Vorsatz. Da sprach der Wali: „Laßt uns einen besonderen Vertrag über diese Angelegenheit unterzeichnen!" Raijan bestätigte den Vertrag und der Wali ebenfalls. Dann trat das Mädchen, zum Ringkampf gekleidet, vor ihren Vater und die vornehmen Bewohner der Stadt. Der Kampf wogte eine Stunde lang hin und her. Danach warf Raijan sie zu Boden, doch sie erhob sich mit eleganter Bewegung und kam wieder auf die Füße. Da begann der Ringkampf von neuem, und Raijan warf sie noch einige Male zu Boden, doch jedesmal stand sie mit Leichtigkeit, Geschick und Eleganz wieder auf. Sie vermochte ihn jedoch nicht ein einziges Mal zu Boden zu werfen. Als der Ringkampf zwei Stunden angedauert hatte, erlahmten die Kräfte des Mädchens allmählich. Da befahl der Wali, den Ringkampf abzubrechen und ihn am folgenden Tage von neuem zu beginnen. 182
D e r Wali nahm Raijan als Gast in sein Haus auf. Dann versammelte er die Gelehrten und die Ärzte bei sich und sprach zu ihnen: „Niemand vermochte meiner Tochter Widerstand zu leisten, deshalb muß in diesem Jungen ein Geheimnis stecken, das schuld daran ist, daß ihn meine Tochter nicht besiegen konnte. Hätte der Ringkampf länger gedauert, würde er sie besiegt haben. Ich habe ihn zur Nacht als Gast aufgenommen, damit ihr ihn betäubt und untersucht und dieses Geheimnis für mich entdeckt." Sie taten, wie ihnen geheißen war, konnten aber nichts finden. Ein scharfsinniger Arzt jedoch bemerkte etwas Seltsames, was einer Anschwellung am oberen Teil des Magens glich und bei den Menschen gewöhnlicherweise nicht vorkommt. D a sprach er: „Laßt es uns herausnehmen!" Sie führten eine leichte Operation durch und entfernter» dabei den Vogelmagen. Der Wali staunte sehr und verwahrte ihn bei sich. Bei Tagesanbruch stand Raijan auf und verspürte ein G e fühl der Schwere und Mattigkeit. E r fühlte nicht länger di^ Kraft in sich, die er zuvor besessen hatte, und tastete nach der Stelle, an der sich der Vogelmagen befunden hatte, doch er konnte ihn nicht mehr fühlen. D a fürchtete er für sein Leben und floh von der Burg. Als er zwei Tage lang umhergestreift war, stieß er auf drei Diebe, die einen Zauberer am Wege überfallen und getötet hatten. Nun stritten sie über die Verteilung der Beute. Als, sie Raijan sahen, sprachen sie untereinander: „Laßt diesen Burschen über die Verteilung zwischen uns entscheiden, und wir wollen mit seiner Weisheit einverstanden sein." Dies trugen sie ihm vor, und er nahm an. Dann sprach er zu ihnen: „Was sind es für Güter, über die ihr euch nicht einigen könnt?" Sie sagten: „Wir haben einen Teppich. Wenn man mit einem Stock auf ihn schlägt, fliegt er am Himmel und bringt die Men-
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sehen augenblicklich dahin, wo sie gern sein möchten, selbst wenn es bis zu den äußersten Enden der bewohnten Erde wäre. Dann haben wir ein Eßtischchen. Wenn es aufgestellt wird, füllt es sich mit den verschiedensten Speisen, um die man es bittet, und schließlich haben wir ein Tamburin, das Gold herniederfallen läßt, wenn man es rüttelt." D a sprach Raijan: „Bringt den Teppich und breitet ihn aus, damit ich sein Ausmaß sehe!" Sie taten es, danach sagte er: „Legt den Stock darauf und stellt das Tischchen und das Tamburin darauf 1" D i e Diebe taten es, und Raijan sagte zu ihnen: „Ich werde nun mit meiner äußersten Kraft einen Stein wegschleudern. Derjenige, der ihn zuerst erreicht, hat das Recht, sich von diesen drei Dingen auszusuchen, was er wünscht." Sie waren damit einverstanden. Darauf nahm er einen Stein und warf ihn weit fort, und die Diebe liefen um die Wette nach ihm, während Raijan mit dem Stock auf den Teppich klopfte und sprach: „Trage mich nach dem Gebirge Q a f ! " E r schloß seine Augen, und nach kurzer Zeit befand er sich im Gebirge Qaf. Dort klappte er das Tischchen auf und begehrte Essen und Früchte, und es füllte sich damit. E r aß und wurde satt, Allah sei gepriesen. Dann rüttelte er das Tamburin, und plötzlich ließ es Gold herabfallen. E r versteckte es bei sich, dann setzte er sich auf den Teppich und sprach: „Trage mich in die Nähe der Burg des W a l i ! " E r ging zum Wali hinein und sprach zu ihm: „Ich bin zurückgekommen, um den Ringkampf mit dem Mädchen fortzusetzen, wenn sie es gestattet." Die Jungfrau kam hinunter, um mit ihm zu kämpfen, denn sie war sicher, daß sie ihn diesmal besiegen würde. E r breitete den Teppich aus und sprach: „Laß uns auf diesem Teppich kämpfen!" Der Wali war einverstanden und sie ebenfalls. Als sie sich daraufgestellt hatte, klopfte er mit dem Stock auf den Teppich und sprach:
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„Trage uns nach dem Gebirge Q a f ! " Der Wali und die Bewohner der Stadt schauten ihm mit Erstaunen und Schrecken nach. Als sich der Teppich mit ihnen niedergelassen hatte, sagte er: „Was soll ich nun mit dir tun?" Sie sprach: „Ich verlasse mich auf deinen Edelmut. Wenn du mich zu meinem Vater zurückbringst, wird er dir dsn Vogelmagen wiedergeben, und ich werde dich heiraten, so daß wir nicht an diesem öden Ort vor Hunger sterben." Er sagte: „Begehre, was du willst, ich werde es dir bringen." Dann schlug er das Tischchen auf. Sie sagte ihre Wünsche, und das Tischchen füllte sich mit den Gerichten, die sie sich gewünscht hatte. Dann rüttelte er das Tamburin für sie, und es ließ Gold herabfallen. Sie sprach zu ihm: „Laß uns aufstehen und ein wenig herumwandern, vielleicht finden wir einen Ort, an dem wir die Nacht verbringen können." Er freute sich über ihren Gehorsam und ihre Unterwürfigkeit und stieg vor ihr vom Teppich herunter. Als er richtig auf dem Erdboden stand, klopfte sie mit dem Stock auf den Teppich und sprach: „Laß mich die Burg meines Vaters erreichen!" Sie gelangte an die rechte Stelle, doch Raijan blieb einsam im Gebirge Qaf zurück. Er begann herumzuwandern. Nach drei Tagen fand er zwei Dattelpalmen, die eine von ihnen trug gelbe Datteln, die andere rote. Er aß eine gelbe Dattel, und in weniger als einer Stunde war ihm ein Horn gewachsen, das an den Wipfel des Baumes anstieß. Da aß er den Kern einer vertrockneten roten Dattel von dem zweiten Palmenbaum. Das Horn schmolz zusammen, und Raijan wurde wieder genauso, wie er zuvor gewesen war. Dann nahm er sich eine Portion von den gelben Datteln und eine Portion von den roten Datteln und machte sich auf den Weg nach der Burg des Wali. Es dauerte ein ganzes Jahr, bis er sie erreichte. Er begegnete Gefahren und Elend
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und wäre mehrere Male dem Untergang preisgegeben gewesen, wenn Allah ihn nicht errettet hätte. Dann stellte er sich unter die Burg und rief: „Reife Datteln außer der Zeit!" Die Tochter des Wali kaufte ihm acht Datteln ab, aß sie, und daraufhin wuchsen ihr acht Hörner, die bis zum Dach des Hauses hinaufreichten. Niemand konnte sie davon befreien. Um ihretwillen versammelten sich die Gelehrten und die Ärzte. Der W a l i war sehr bekümmert, als seine Tochter von dieser Krankheit befallen wurde. Er schrieb einen Erlaß, daß er seine Tochter mit demjenigen verheiraten wolle, der sie von der Krankheit befreien würde. Er versicherte, sein Versprechen persönlich zu erfüllen und getreulich zu halten, was er in dem Erlaß bekanntgegeben habe. Als Raijan davon erfuhr, erschien er in feinen Kleidern. Er war jetzt ein Jüngling von vollkommener männlicher Schönheit. Die schweren Prüfungen hatten ihn reif werden lassen, und durch die Ereignisse war sein Wesen geglättet. Nun hatte er sich von den schweren Schlägen erholt, die auf ihn niedergefallen waren. Er trat mit sicheren Schritten und festem Entschluß näher und reichte der Tochter des Wali eine zerstoßene, getrocknete rote Dattel in einer Kapsel. Sie schluckte die Kapsel, und eines von ihren Hörnern schmolz ein. Da freute sich ihr Vater über alle Maßen, und die Frauen stießen den Freudentriller aus, vor Freude und Entzücken über die gute Nachricht. Am folgenden Tage reichte Raijan der Tochter des W a l i eine zweite Kapsel, und wieder schmolz ein Horn ein. Am dritten Tage nahm er eine Kapsel heraus, ließ sie zu Boden fallen und zertrat sie mit einem Fuß. Da schrie sie auf, und auch ihr Vater schrie. Raijan sagte: „Es gibt niemanden auf der Welt außer mir, der sie von dem Übel befreien kann. Ich habe jetzt dreimal Geduld mit euch gehabt. Zum ersten Male hätte ich ihre Stärke überwunden, wenn der Ringkampf nicht verschoben worden wäre. Dann seid ihr feindselig mir gegenüber gewesen und habt mir den Vogelmagen herausgenommen. Zum dritten Male habt ihr meinen Teppich, mein Tischchen und mein Tamburin weggenommen."
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D a riefen das Mädchen und ihr Vater gleichzeitig: „Bist du es?" E r sprach: „ J a , aber ich werde sie nicht von dem Übel befreien, ehe ihr mir nicht alles 2urückgebt, was ihr mir weggenommen habt." D a sagte das Mädchen: „ D u hast mich überwunden Nund am Dach meines Kopfes gefesselt, 1 doch bei Allah, ich habe mich in dich verliebt und möchte dich heiraten. Keinen anderen Mann als dich will ich heiraten. Mein Vater, gib ihm zurück, was wir ihm weggenommen haben!" Dann gaben sie ihm alles zurück, was sie ihm genommen hatten, und Raijan sprach: „Ich habe eine weitere Bedingung. Sie besteht darin, daß du mit mir in mein Heimatland ziehen sollst." Sie sprach: „ J a , ich will mit dir ziehen, und wenn du es wünschst, selbst bis zum entferntesten Ende der bewohnten Erde." D a gab er ihr sechs Kapseln, und an einem einzigen Tage schmolzen alle ihre Hörner hinweg. Dann schrieben sie für ihn den Heiratskontrakt mit ihr und veranstalteten ein großartiges Hochzeitsfest, das eine Woche dauerte. Danach bestiegen sie beide den Windteppich, und er flog sie nach Raijans Heimatort. Sein Vater, seine Mutter und alle Bewohner dieses Ortes freuten sich über ihn, nachdem sie ihn schon aufgegeben hatten. Darauf wiederholten sie die. Hochzeitsfeierlichkeiten und die angenehmen Nächte. 1
Anspielung auf die Hörner.
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MEIN ONKEL, DER BRUDER MEINES VATERS
Ein tugendhafter Mann ging auf Reisen, um sich zur Wallfahrt nach Mekka zu begeben. E r ließ seinen Sohn Mohammed und seine Tochter Fatima bei seinem Bruder. Seine Wallfahrt zog sich in die Lange, und der Herbst kam, und die Leute begannen auf ihren Feldern mit der Aussaat. Mohammed und seine Schwester gingen mit ihrem Onkel hinaus, um zu säen. D i e Saat wuchs heran, und die Ähren erschienen. D i e Körner in den Ähren der Durrahirse füllten sich mit milchigem Saft, dann entwickelten sich die Spelzen, und schließlich reiften die Körner aus. D a befahl der Onkel Mohammed und seiner Schwester, das Getreide vor den Vögeln zu bewachen. E r baute jedem von ihnen eine Hahaja und sprach zu ihnen: „Laßt nicht zu, daß die Vögel die Körner wegpicken!" Der Onkel war sehr niederträchtig. E r zählte täglich die Ähren, um sich zu vergewissern, daß der Junge und seine Schwester nichts davon gegessen hatten. Eines Tages war der Junge hungrig und sprach zu seiner Schwester: „Ach Fatima, laß uns "ein oder zwei Ähren abschneiden und essen!" D a sprach Fatima zu ihm: „Mein Bruder, selbst wenn wir nur eine einzige Ähre ab-1 schneiden, wird es unser Onkel merken, denn er zählt die Ähren nach und weiß, wie viele es sind." Am Ende übermannte Mohammed der Hunger doch, und er schnitt eine einzige Ähre ab, röstete sie und aß und gab seiner Schwester davon. Dann machte er für die Überbleibsel ein kleines Loch und vergrub sie in die Erde. D a kam der Onkel, schaute umher und zählte die Ähren ab, und als er sah, daß eine Ähre abgeschnitten war, fragte er Mohammed: „Junge, hast du die Ähre abgeschnitten?" 188
Und Mohammed sprach: „Nein, mein Onkel, der Star hat die Ähre gefressen." Der Onkel schwieg, dann sagte er zu dem Knaben : „Dein Haar ist sehr lang geworden. Gib mir dein Messer, damit ich es dir schere." Der Junge holte sein Barbiermesser hervor, und sein Onkel wusch ihm den Kopf und wetzte das Messer. Dann fing er an, ihm das Haar zu scheren, und der Knabe lehnte seinen Kopf an den Onkel. Da sprach der Onkel zu Mohammed: „Lehne deinen Kopf weiter zurück!" Als der Knabe seinen Kopf weiter zurückgebeugt hatte, sprach der Onkel: „Du hast eine Ähre abgeschnitten.. Jetzt schneide ich dir den Hals durch, damit du nicht länger Ähren abschneidest." Damit schnitt der Onkel den Kopf des Jungen ab. Fatima stand in der Nähe, und als sie sah, was geschehen war, schrie sie um Hilfe. Der Onkel hörte sie und lief hinter ihr her. Sie lief ihm davon, und er rannte schnell hinter ihr her, doch als er sie fast eingeholt hatte, rief sie: „O Erde, nimm mich auf!" Da ward sie vom Erdboden verschluckt, und ihr Onkel stand in der Nähe dieser Stelle. Dann kam eine Karawane von Kaufleuten vorbei, und obgleich Fatima unter der Erde steckte, konnte sie die Karawane sehen und sprach zum Erdboden : „O Erde, laß mich durch!" Darauf kam sie aus der Erde heraus, stellte sich vor die Karawane und sprach: „Salam, Salam, O Männer der Karawane. Lang blieb mein Vater aus, O Männer der Karawane. Laut stöhnt sein Kamel, O Männer der Karawane. Und seine Peitsche knallt, O Männer der Karawane. Von Seide ist sein Turban, O Männer der Karawane.
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Habt ihr ihn nicht gesehn, O Männer der Karawane?" Als sie das gesagt hatte, kam ihr Onkel und sprach zu den Männern der Karawane: „Dieses nichtsnutzige Mädchen ist mir davongelaufen. Haltet sie nun fest!" Die Männer der Karawane wollten das Mädchen festhalten, doch sie rannte und rannte, und ihr Onkel lief hinter ihr her. Als sie ermattet war, rief sie: „O Erde, nimm mich auf!" , Dann ward sie vom Erdboden verschluckt. Ihr Onkel stand in der Nähe, um ihr aufzulauern. Er wachte und wachte eine lange Zeit, und am Ende verzweifelte er und sprach vor sich hin: „Ich werde zum Dorf zurückkehren", aber im selben Augenblick kam eine Karawane von Reisenden vorbei. Da trat das Mädchen heraus und ging dem Karawanenführer entgegen. Sie begann zu weinen und weinte und weinte und sprach: „Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, O Männer der Karawane, Tötete Mohammed, den Bruder mein, O Männer' der Karawane, Um einer Ähre willen, O Männer der Karawane. Doch die Ähre, O Männer der Karawane, Fraß der Star, O Männer der Karawane, Und flog davon und fiel in sieben Meere O Männer der Karawane." Da sagten die Reisenden von der Karawane: „Was ist mit dir, Mädchen, hast du einen Wunsch?", und sie sprach: „Lang blieb mein Vater aus, O Männer der Karawane. 1
Sieben Meere bedeutet „weit, weit weg".
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Von Seide ist sein Turban, O Männer der Karawane. Laut stöhnt sein Kamel, O Männer der Karawane. Und seine Peitsche knallt, O Männer der Karawane. Ist mein Vater unter euch, O Männer der Karawane?" D a kam der Onkel zum Karawanenführer: „Beeile dich und halte dieses Mädchen fest, das ganz von Sinnen ist. Eine Betrügerin ist sie und mir davongelaufen. Glaubt ihr nicht ein einziges Wort!" Der Karawanenführer wollte das Mädchen packen, doch sie rannte und rannte, und ihr Onkel lief hinter ihr her. Als er nahe an sie herangekommen war, rief sie: „ O Erde, nimm mich a u f ! " Dann ward sie vom Erdboden verschluckt, und der Onkel stand in der Nähe, und er blieb lange stehen. E r wurde des Wartens überdrüssig und verzweifelte, schließlich sprach er: „Ich werde zum Dorf zurückkehren." Doch da wirbelte Staub von einer Karawane von Kaufleuten auf. Als sie ganz nahe herangekommen war, drängte sich Fatima aus der Erde und stellte sich vor den Karawanenführer und sagte: „Um des Propheten willen, O Männer der Karawane. Im Namen Tahas, der Fatima Vater, O Männer der Karawane. War mein Vater unter euch, O Männer der Karawane?" D a sprach der Anführer zu ihr: „Wer ist dein Vater, kleines Mädchen? Wir sind mehr als hundert an der Zahl." Sie sprach: „Lang blieb mein Vater aus, O Männer der Karawane. 191
Abu Fadil 1 ist sein Name, O Männer der Karawane. Von Seide ist sein Turban, O Männer der Karawane. Laut stöhnt sein Kamel, O Männer der Karawane. Und seine Peitsche knallt, O Männer der Karawane. Gebrochen ist seines Feindes Macht, O Männer der Karawane. Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, O Männer der Karawane, Tötete Mohammed, den Bruder mein, O Männer der Karawane, Um einer Ähre willen. O Männer der Karawane. Doch die Ähre, O Männer der Karawane, Fraß der Star, O Männer der Karawane, Und flog davon und fiel in sieben Meere, O Männer der Karawane." Da sagte der Karawanenführer zu ihr: „Dein Vater, kleines Mädchen, Ist in der folgenden Karawane. Komm daher zur Abendzeit!" Als der Onkel diese Worte hörte, kam er und sagte zum Karawanen f ührer: „Halte dieses Mädchen fest!" Sie fürchtete sich und sprach zur Erde: „Nimm mich auf!" Und die Erde verschluckte sie. Dann zog die Karawane vorüber. Der Onkel blieb stehen und wartete an dieser Stelle, bis er fast verzweifelte. 1
„Vater (Besitzer) der Vortrefflichkeit". Andeutung, daß er ein tapferer, von seinen Feinden gefürchteter Mann war.
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Doch kaum war die Sonne untergegangen, als die zweite Karawane erschien. Da stellte sich das Mädchen davor und sprach: „Mein Onkel, der Bruder meines Vaters, O Männer der Karawane, Tötete Mohammed, den Bruder mein, O Männer der Karawane, Unreiner Ähre willen, O Männer der Karawane." Da hörte sie ihr Vater und erkannte sie und kam aus der Mitte der Karawane auf seinem laut stöhnenden Kamel. Als der Onkel ihn sah, begann er davonzulaufen und rannte immer weiter. Da lief der Vater hinter ihm her, und als er nahe herangekommen war, sprach der Onkel: „O Erde, nimm mich auf!" Doch die Erde weigerte sich, ihn zu verschlucken, statt dessen packte ihn der Vater von Fatima und Mohammed und tötete ihn und verbrannte ihn und streute seine Asche in die Winde.'
13 Arabische Volksmärchen
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GUTES TUN
Ein Kaufmann hatte drei Söhne. Er wollte sie auf die Probe stellen, um zu erfahren, welcher von ihnen rechtschaffen und welcher lasterhaft war. Darum beauftragte er ihre Mutter, den Ältesten einmal nicht zur Schule gehen zu lassen und ihm fünfhundert Goldstücke zu geben, damit er sie verwende, wie er wolle. Der Junge nahm die Goldstücke von ihr entgegen und ging, um sie für sein Vergnügen auszugeben. Den Rest verlor er im Glücksspiel. Darauf kehrte er nach Sonnenuntergang weinend und seiner Kleider beraubt heim. Er erzählte seiner Mutter, daß er sein Geld durchgebracht und die Kleider beim Glücksspiel verpfändet habe. Sie beruhigte ihn und berichtete seinem Vater darüber. Nach einigen Tagen beauftragte er sie, den mittleren Sohn auf die Probe zu stellen. Die Mutter befreite ihn von der Schule und händigte ihm den gleichen Betrag aus, aber der Junge folgte dem gleichen Weg wie sein Bruder. Nach einigen weiteren Tagen beauftragte der Vater die Mutter, den dritten und jüngsten Sohn auf die Probe zu stellen. Sie befreite ihn von der Schule und übergab ihm das Geld. Er ging damit fort und überlegte, was er beginnen sollte, denn 6eine Mutter hatte ihn nachdrücklich dazu angehalten, das Geld auf irgendeine Art auszugeben. Er lief im ganzen Ort umher, doch nichts schien ihm wert, sein Geld dafür hinzugeben. Als der Junge in die Nähe des Friedhofs gelangte, kam ein Leichenzug vorüber, an dem viele Leute teilnahmen. Auf einmal hielt ihn ein Jude auf, klammerte sich an die Bahre und begann zu schreien: „Ich lasse ihn nicht begraben, bis er mir fünfhundert Golddinar bezahlt. Das ist seine Schuld, und hier habe ich seine Unterschrift dafür. Ich werde den Leichenzug nicht aus meiner Hand entschlüpfen lassen, bevor ich meinen rechtmäßigen Anspruch bekommen habe."
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Die Leute wunderten sich und versuchten, dem Juden zu bedeuten, daß er kein Recht habe, die Leiche eines Verstorbenen wegen einer Schuld aufzuhalten, aber es nützte nichts. D a versuchten einige durch energisches Auftreten und Gewalt mit dem Juden fertig zu werden, doch sie richteten nichts aus. Andere dachten daran, die Obrigkeit davon in Kenntnis zu setzen. Dadurch würde das Begräbnis jedoch um beträchtliche Zeit hinausgeschoben, abgesehen von dem Skandal, denn der Tote war ein geachteter Mann und besaß einen guten Ruf. D a kam dem Sohn des Kaufmanns ein Gedanke. E r ging auf den Juden zu und fragte ihn: „Wieviel begehrst du von diesem Toten?" E r antwortete: „Fünfhundert Golddinar." D a sagte der Junge: „Nimm dein Geld und lasse die Bahre ihren Weg gehen!" E r zahlte ihm, was er von seiner Mutter erhalten hatte, und ging nach Hause, um seiner Mutter zu erzählen, wie er das Geld ausgegeben habe, um einen Leichnam aus den Klauen eines unbarmherzigen Menschen loszukaufen. Der Junge wußte nicht, ob es eine gute Tat war, aber er hatte nichts anderes gefunden, was ihm wert schien, das Geld dafür auszugeben. Die Mutter berichtete seinem Vater davon, und dieser rief den Jungen und lobte sein Handeln, denn Gutes tun ist nicht vergebens, selbst wenn es die Toten betrifft. Als dieser Sohn herangewachsen war und das Mannesalter erreicht hatte, vertraute ihm sein Vater zwei Läden seines Handelsunternehmens an, und der Jüngling führte ein rechtschaffenes Leben. Eines Tages erbat er von seinem Vater die Einwilligung 2ur Pilgerfahrt. Der Vater erlaubte es unter der Bedingung, daß er sich einen Mann aussuche, der ihn bediene und beschütze. Außerdem solle er den Mann, den er wähle, zu ihm bringen, damit er ihn vor der Reise prüfe. Der Sohn kam mit einem Maghrebiner. Der Vater nahm ihn drei Tage lang zur Probe auf, danach sagte er zu seinem Sohn, daß der Mann nicht zuverlässig sei. Darauf brachte der Jüngling einen zwei1S*
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ten, dritten und so fort, doch der Vater schickte einen nach dem anderen weg. Schließlich stellte sich ein Mann in Gestalt eines Maghrebiners mit schrecklichem Aussehen und häßlichem Gesicht bei dem Sohn vor. Alles an ihm flößte Abscheu ein. E r erklärte, daß er mit ihm auf die Wallfahrt ziehen wolle. Der junge Mann dachte eine Weile nach, dann begleitete er den Fremden zu seinem Vater, der ihn für einige Tage bei sich behielt. Danach drückte der Vater seine Zufriedenheit mit ihm aus und erlaubte seinem Sohn, daß der Mann ihn auf der Pilgerfahrt begleite. Der Jüngling beugte sich dieser Anordnung aus Gehorsam. Die beiden begaben sich auf die Reise, nachdem der Vater dem Maghrebiner eingeschärft hatte, auf seinen Sohn wie auf seine Augen achtzugeben, und ihm dafür Belohnung versprochen hatte. Der Maghrebiner war ein sehr guter Diener, kameradschaftlich und freundlich, so daß der Jüngling seinen Begleiter liebgewann, all seine Hoffnung auf ihn setzte und ihm sein ganzes Vertrauen schenkte. Eines Tages gelangte das Schiff, das sie befördert hatte, in den Hafen, von dem sie über Land Weiterreisen mußten. D a hörten sie, wie der Ausrufer auf dem Schiff den Reisenden bekanntgab: „Ihr Leute, wenn ihr an Land geht, werdet ihr zwei Wege finden. Wer dem rechten Weg folgt, dem wird Erfolg beschieden sein, wer dem linken folgt, der ist verloren." Sie gingen an Land, und als sich die Wege teilten, folgte der zum Beschützer bestimmte Maghrebiner dem linken. Der Jüngling verbot es ihm, aber der Maghrebiner bestand auf seiner Wahl und forderte mit Nachdruck, daß der Jüngling ihm folgen und nicht widersprechen solle. D a gehorchte er widerwillig und zog mit ihm diesen Weg, doch er fürchtete sich. Schließlich erreichten sie eine Stadt, auf deren Mauer Menschenköpfe gesteckt waren. Sie gingen hinein, und der Maghrebiner fragte einen Händler, dem er als erstem begegnete, welche geheime Bewandtnis es mit diesen Köpfen habe. Der Händler aber antwortete ihm: „Der Preis für Brot ist soundso viel, der Preis für Öl be196
trägt soundso viel, für Käse soundso viel, und Feinmehl gibt es für soundso viel. Was willst du haben?" Darauf wandte sich der Maghrebiner an einen Grünwarenhändler. Er fragte ihn, doch die Antwort lautete: „Der Preis für Pfefferschoten beträgt soundso viel, für Tomaten soundso viel und für Kartoffeln soundso viel. Was willst du denn haben?" D a erkannte der Maghrebiner, daß es zwecklos war zu fragen und er Geduld und Weisheit anwenden mußte, um dieses Geheimnis zu erfahren. Er mietete ein schönes Haus und wohnte darin mit seinem Gefährten. Dann suchte er sich in der Nähe einen Schuhmacher aus, setzte sich zu ihm in den Laden und freundete sich mit ihm an. Am ersten Tage ließ er, als er heimging, fünfhundert Dinar auf seinem Platz liegen. Als ihm der Schuhmacher am nächsten Tage die Dinar zurückgab, schenkte er sie ihm und ließ am zweiten Tage den gleichen Betrag liegen. Als der Schuhmacher ihn darauf aufmerksam machte, wollte er sie nicht zurücknehmen, und so machte es der Maghrebiner auch am dritten Tage. D a erzählte der Schuhmacher seiner Frau davon, und sie sagte zu ihm: „Der Mann will dich nach etwas Geheimem fragen, drum lade ihn zum Mittagessen ein." Er erfüllte die Bitte seiner Frau und fragte den Maghrebiner beim Mittagsmahl, was er mit diesen Geldgeschenken wünsche. Darauf erkundigte sich der Maghrebiner bei ihm nach dem Geheimnis der Köpfe, die auf die Mauer gesteckt waren. Der Schuhmacher antwortete: „Die stammen alle von den Freiern der Tochter des Sultans. Jeder Freier, der kam, mußte eine schwere Aufgabe lösen, und wenn er das nicht vermochte, wurde ihm der Kopf abgeschlagen." Der Maghrebiner verabschiedete sich und kehrte zu dem Jüngling zurück und teilte ihm mit, daß er selbst zum Sultan gehen wolle, um für ihn den Heiratskontrakt mit seiner Tochter abzuschließen. Am frühen Morgen zog der Maghrebiner seine besten Kleider an und ging zur Gerichtsversammlung des Sultans. Dieser fragte ihn:
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„Bist du vielleicht ein Kläger?" Der Maghrebiner sagte: „Nein, ich bin zu dir gekommen, um zu freien." Der Sultan fragte: „Vielleicht hast du einen Rechtsfall?" Der Maghrebiner entgegnete: „Nein, ich bin gekommen, um zu freien 1" Der Sultan sagte: „Ich bin bereit, dir Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn dir Unrecht geschehen ist." Der Maghrebiner sagte: „O mein Herr, ich bin gekommen, um das wohlgeborene und von edlen Ahnen stammende Mädchen, die Tochter meines Herrn, des Sultans, zu freien." Der Sultan antwortete: „Siehst du nicht die Köpfe, die auf die Mauer gesteckt sind?" Der Maghrebirer sprach: „Ja, ich habe sie gesehen, aber ich gehe auf alle Bedingungen ein, die Ihr stellt." Der Sultan sagte: „Ich habe dich gewarnt - Baraqesch hat sich auch selbst ins Unglück gestürzt. Die erste Aufgabe ist, daß du meine Tochter triffst und sie Gefallen an dir hat und ich darüber VQn ihr unterrichtet werde." Der Maghrebiner ging zu dem Jüngling zurück und berichtete ihm von der Bedingung. Dann schrieb er zwei Zeilen auf seine Stirn und warnte ihn, sie abzuwischen. Er erklärte ihm, daß er ihn ins Schloß der Jungfrau bringen werde. Dort vermöge er bei ihr einzutreten, ohne daß ihn jemand außer ihr sehen könne. Dann müsse er ständig in ihrer Nähe sein und zu ihr sprechen, bis sie Vertrauen zu ihm fasse. Wenn sie entfliehe, solle er sie verfolgen, und wenn sie nach irgendeinem Ort gehe, solle er auch hingehen und aufs Bettende steigen, wenn sie aufs Bett steige, und sie liebkosen und so fort. Der Jüngling trat ins Schloß ein und erkannte die Jungfrau unter ihren Sklavinnen. Auf einmal rief sie ihren Sklavinnen zu: 198
„ D a ist ein fremder Mann, der zu uns hereingekommen ist. Wer hat ihm das Tor geöffnet?" Die eine schaute die andere an und lächelte, aber die Jungfrau schrie sie an: „Warum schweigt ihr? Seht ihr nicht den Jüngling, der an me'ner Seite steht?" D a s Erstaunen der Sklavinnen wuchs. D a verlangte die Jungfrau nach ihrer Mutter und erzählte ihr, daß ein Jüngling gekommen sei, der in ihrer Nähe stehe und lächele. Ihre Mutter rief „Bismillah" und bat um Schutz vor dem verfluchten Satan. 1 Dann versicherte sie dem Mädchen, daß weder ein Mann noch eine Frau anwesend sei. Die Jungfrau wurde wütend. Die Neuigkeiten gelangten zu den Wachen, die alle Ecken durchsuchten, und sie kamen auch zu ihreim Vater. Dieser fürchtete, seine Tochter sei wahnsinnig geworden. Die Traurigkeit tötete die Umherstehenden nahezu, als sie, hörten, wie das Mädchen sagte: „Hier ist er an meiner Seite. Seht, er lächelt. E r geht von einer Stelle zur anderen, wenn ich irgendwo hingehe, und er verfolgt mich wie mein Schatten. Seht, er sitzt auf meinem Stuhl und gibt mir zu verstehen, ich solle schweigen. Er folgt mir an den Tisch, streckt seine Hand nach dem Essen aus und ißt mit mir." Aber ach, niemand wollte ihr Glauben schenken. D a schickte ihr Vater Boten aus, um alle Weisen und Zauberer zusammenzurufen. E r stellte ihnen große Reichtümer in Aussicht, wenn sie seine Tochter von ihrem Wahnsinn befreien könnten. Sie vermochten nichts auszurichten bis auf einen alten Scheich, der dem Sultan zuflüsterte, daß er imstande sei, den Mann zu entlarven, den seine Tochter sah und den die anderen nicht sahen. E r stellte jedoch als Bedingung, daß man ihm ein segelfertiges Schiff bereithalten solle, mit dem er in weite Fernen entfliehen könne, sobald der Mann entdeckt sei. Wenn er nämlich dableibe, werde er von demjenigen, der über den Talisman verfügt, vernichtet. 1
Böse Geister verlieren ihre Macht bei Nennung Allahs. Durch Verfluchen des Satans wird die Wirkung verstärkt.
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Sie gaben ihm das Schiff, und die Wachen hatten bereitzustehen, um den Jüngling zu fangen. Der Beschwörer erschien, setzte sich in ein kleines, schmales Zimmer, und man stellte ein Kohlenbecken vor ihm auf. Dann schloß er die Tür, sprach seine Beschwörungsformeln und legte Räucherwerk auf das Kohlenbecken, bis der Jüngling dort, wo er sich befand, zu schwitzen anfing. D a verschwand die Schrift auf seiner Stirn, und sein Körper wurde für die Leute sichtbar. Da schrien die Sklavinnen auf, und die Wachen kamen und nahmen den Jüngling fest. Der Beschwörer nahm nun seinen Lohn, bestieg das Schiff und zog die Segel auf, um zu entfliehen. Sie brachten den Jüngling zum Sultan. Dieser befahl, ihn auf ein Kamel zu setzen und durch alle Straßen der Stadt zu führen. Sein Begleiter, der Maghrebiner, war gerade im Laden eines Barbiers, der ihm den Bart stutzte. Als er den Tumult hörte, ging er hinaus und hielt mit den Leuten Ausschau. Auf einmal sah er seinen Schützling auf dem Kamel und erkannte, daß jemand seine magischen Zeichen auflösen und ihn hatte sichtbar machen können. Da murmelte er einige Worte, und plötzlich zog die Kamelin allein einher, und von ihrem Reiter fand sich keine Spur. Sie suchten überall nach ihm, doch sie vermochten nirgends eine Spur von ihm zu entdecken. Dann rief der Maghrebiner dem Barbier zu, er solle ihn fertig rasieren. Der tat es, und danach begab sich der Maghrebiner in sein Haus, wo er den Jüngling vorfand. Er fragte ihn, und der Jüngling erzählte ihm, was geschehen war. Der Maghrebiner sprach: „In Zukunft wirst du nie wieder zu ihr gehen, sondern sie ist es, die zu dir kommen wird." Als die Nacht kam, setzte er sich nieder und murmelte seine Beschwörungen, und kaum war die Tochter des Sultans zu Bett gegangen, als sie sich im Hause des Jünglings wiederfand. Er hieß sie freudig willkommen und stellte ihr seinen Begleiter, den Maghrebiner, vor, wobei er so tat, als ob dieser sein Vater sei. Sie plauderten zusammen, aßen und tranken, und die Prinzessin schlief auf einem besonderen Bett. Als sie jedoch 200
am Margen erwachte, befand sie sich in ihrem Schloß und in ihrem eigenen Bett. D a ging sie zu ihrem Vater und erzählte ihm, was sie gesehen hatte und wie sie die Nacht über ins Haus des Jünglings übergesiedelt war. Der Vater belehrte sie, was sie das kommende Mal zu tun habe, und forderte sie auf, etwas rote Farbe mitzunehmen und am Haus ein Zeichen anzubringen, ohne daß der Jüngling und sein Vater etwas merkten. Sie befolgte seinen Wunsch, nahm die Farbe mit, und sobald sie ins Haus des Jünglings gelangte, bat sie die beiden, ihr die Lage des Hauses und seine Räume zu zeigen. Der Jüngling erfüllte ihre Bitte, und ohne daß er es merkte, benetzte sie ihre Hand mit der Farbe, streckte sie zum Fenster hinaus und preßte sie auf die Außenwand und machte so einen Abdruck ihrer Hand in roter Farbe. Dann wusch sie ihre Hand und unterhielt sich zur Nacht mit den beiden wie sonst. Am frühen Morgen öffnete der Maghrebiner die Fenster und erblickte jenes Zeichen. E r verstand, welch geheime Bewandtnis es damit hatte, murmelte seine Beschwörungen, und plötzlich trugen sämtliche Häuser und selbst das Schloß des Sultans dieses Zeichen unter ihren Fenstern. Am Morgen berichtete die Jungfrau ihrem Vater, und er sandte seine Diener aus, um nach dem Haus zu suchen, das dieses Zeichen trug, und seine Bewohner festzunehmen. Sie kehrten aber zurück und teilten ihm mit, daß sämtliche Häuser und unter ihnen auch das Schloß dieses Zeichen trugen. Der Maghrebiner erklärte seinem Schützling, daß er die Jungfrau von diesem Tage an nicht mehr zu Hause treffen solle, sondern er werde ihm ein B a d bauen. E r selbst wolle sich um die Öfen kümmern, während der Jüngiing das Eintrittsgeld einnehmen solle. Zwischen Abend und spätem Vormittag wurde das B a d fertig, ohne daß die Bewohner der Stadt merkten, wie das B a d gebaut wurde. E s war ein Bad, wie sie seinesgleichen an Schönheit des Baues, Pracht der Einrichtung und billigem Preis nie zuvor gesehen hatten. Die Leute kamen von überallher, und die Kunde vom Ruhm des Bades gelangte auch zum Sultan und zu seinem Wesir. 201
Da beauftragte der Sultan seinen Wesir, in das Bad zu gehen und ihm davon zu berichten. Der Wesir begab sich dorthin, und sofort wurde ihm das ganze Bad überlassen. Die Badediener halfen ihm, seine Kleider abzulegen, und führten ihn nach dem Inneren, wo er eine solche Massage erhielt, wie er sie bisher nicht gekannt hatte. Als er sich angekleidet hatte und bezahlen wollte, weigerte sich der Jüngling, etwas dafür zu nehmen, und sagte: „Es ist der schönste Lohn, wenn Ihr, verehrter Wesir, meinen Vater treffen wollt, damit er Euch willkommen heißt und Euch für den Besuch seines Bades danken kann." Darauf führte man den Wesir in den Heizraum. Er fand aber keinen Heizraum vor, sondern ein äußerst großes, wunderbares Gebäude mit Räumen, wie er nie schönere gesehen hatte, und einer Einrichtung, wie es keine bessere gab. Der Greis bereitete ihm einen wunderschönen Empfang, und der Wesir erkannte in ihm den Maghrebiner, der um die Tochter des Sultans gefreit hatte. Der Greis bat den Wesir, ihm die Ehre zu geben und sich dort auf das Ruhebett zu setzen. Dann brachte er ihm etwas Zitronensaft. In seinem ganzen Leben hatte er nichts Köstlicheres genossen. Der Maghrebiner unterhielt sich lange mit dem Wesir, bis der einschlief. Da befand sich der Wesir auf einmal in einer einsamen, öden Gegend und weidete Schafe. Er war in schmutzige Lumpen gekleidet, hatte nackte Füße und einen hungrigen Magen. Die mühsame Arbeit brachte ihn nahezu um, doch drei Jahre lang mußte er alle Arten von Elend und Entbehrung ausstehen. Am Ende kehrte er mit den Schafen nach einer ärmlichen Hütte zurück. Da kam seine ergraute Frau heraus und schrie ihm ins Gesicht: „Du Hundesohn läßt mich und meine Kinder verhungern! Drei Jahre lang hast du dich nicht blicken lassen!" Dann versetzte sie ihm einen schmerzhaften Schlag ins Gesicht, und er ging an den Rand eines Wadi, setzte sich dort nieder und weinte, bis er einschlief. Als er aufwachte, befand er sich auf dem Ruhebett des Bades, und der Greis war noch immer an seiner Seite. Der Wesir lächelte und dankte und lobte Allah, daß alles nur ein Traum war, was er gesehen hatte. Darauf entschuldigte er 202
sich bei dem Greis, daß er eingeschlafen war, da es sich auf dem Bett so behaglich ruhte, und nahm Abschied. Der Wesir erzählte dem Sultan von allem Schönen im Bade, doch er erwähnte nichts von seinem Traum. Danach ging der Sultan in eigener Person in jenes Bad und wurde mit äußerster Höflichkeit empfangen, und sie behandelten ihn genauso, wie sie den Wesir behandelt hatten. Der Greis empfing ihn im Heizraum, und der Sultan legte sich aufs Ruhebett wie sein Vorgänger und schlief ein und sah sich selbst in einer öden Gegend. Er hatte eine Herde Kühe zu hüten und mußte alle Arten von Qualen, harter Arbeit und Entbehrungen ertragen. Es kam ihm vor, als ob ihm beim Hüten der Kühe eine Zeitspanne von drei Jahren verging. Am Ende dieser Zeit kehrte er mit seiner Herde nach seinem Haus zurück, das ihm als eine ärmliche Hütte erschien, ,in der seine ergraute Frau wohnte. Sie empfing ihn mit ratender Wut, denn er hatte sie und ihre Kinder drei Jahre lang hungern lassen. Dann versetzte sie ihm einen schmerzhaften Schlag ins Gesicht, und er ging nach dem W a d i , setzte sich nieder und weinte, überwältigt von seinem Leid und seinem Unglück, bis er einschlief. Als der Sultan erwachte, befand er sich auf dem Ruhebett des Bades. Da stand er auf, entschuldigte sich bei dem Greis und nahm Abschied, nachdem ihm der Greis zuvor Genesung, Gesundheit und Wohlbefinden gewünscht hatte. Der Sultan traf den Wesir und fragte ihn, was er im Traum erlebt hatte. Daraufhin erzählte jeder dem andern, was er gesehen hatte, und sie unterhielten sich über diesen zauberkundigen Greis vom Maghreb, der die Macht besaß, sie im Schlaf zu quälen und in Schaf- und Kuhhirten zu verwandeln. Sie sahen ein, daß derjenige, der so etwas zustande brachte, die Macht besaß, sie mit noch viel erniedrigenderen und schrecklicheren Erlebnissen zu peinigen. Daher riet der Wesir dem Sultan, den Maghrebiner mit seiner Tochter zu verheiraten, um die er gefreit hatte. Der Sultan sandte nach dem Maghrebiner und ließ ihn zu sich rufen. Er folgte der Einladung, und der Sultan teilte ihm mit, daß er seine Tochter, um die er angehalten hatte, ohne Bedingung heiraten könne. Darauf erklärte ihm der Maghre203
biner, daß er für seinen Sohn gefreit habe. Dann schlössen sie den Heiratskontrakt ab, und die Jungfrau kam mit dem Hochzeitsgeleit zu ihrem Mann. Der Sultan schlug seinem Schwiegersohn vor, bei ihm zu wohnen, doch der Greis lehnte ab und sagte, daß er in das Land seiner Väter und Großväter zurückkehren wolle. Er reiste mit dem Brautpaar nach dem Heimatland des Jünglings, bis sie die Stadt erreichten. Als sie in der Nähe des Friedhofs vorüberkamen, nahm der Greis von dem Jüngling Abschied und forderte ihn auf, mit seiner Frau in das Haus seines Vaters zu gehen. W a s ihn selbst betreffe, so habe er getan, was seine Pflicht war, und er werde ihn von nun an nicht wiedersehen. Der Jüngling versuchte ihn umzustimmen, mit ihm zu ziehen, doch der Greis lehnte ab und ging in den Friedhof hinein. Der Jüngling bemühte sich nochmals, seine Hartnäckigkeit zu überwinden, doch da sah er, wie der Alte in eines von den Gräbern stieg. Er rannte hinter ihm her und fand, daß er sich ins Grab hingestreckt hatte. Er starrte ihn an. D a sagte der Greis: „Es scheint, daß du mich nicht kennst, darum muß ich dir jetzt die Wahrheit erklären. Ich bin jener Tote, dessen Bahre, wie du, mein Junge, eines Tages vor langer Zeit gesehen hast, ein Jude aufhielt und von dem er verlangte, daß er seine Schuld bezahle. Dann kamst du dazu und hast ihm fünfhundert Golddinar ausgezahlt. Allah hat mich zum Leben erweckt und für eine gewisse Zeitspanne zu dir gesandt, damit ich dir deine gute Tat vergelten sollte, und - Preis sei Allah - ich habe meine Pflicht dir gegenüber erfüllt. Das Entgelt für eine gute Tat geht nie verloren, selbst wenn sie die Toten betraf. Und nun, lebe wohl! Diese Erde möge sich mit dem vereinigen, was in ihr liegt." Darauf schloß sich das Grab über ihm und wurde wieder so, als ob es ein altes Grab gewesen sei, an dem alle Spuren des längst vergangenen Begräbnisses ausgelöscht waren. Der Jüngling kehrte danach traurig zu seinen Eltern zurück. Sie aber freuten sich über ihn und seine Frau und veranstalteten für ihn von neuem ein Hochzeitsfest und Feierlichkeiten. 204
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DIE SILA, IHR SÖHNCHEN UND DIE BEIDEN WEBERINNEN
Es war zu alten Zeiten eine sehr arme Familie, die nichts von den Gütern der Welt besaß. Der Vater war Holzfäller und pflegte in Wüste und Wildnis zu ziehen, um Dornengestrüpp zu schlagen. E r verkaufte es, um für die wenigen Dirham etwas Essen zu erstehen, womit er Frau und Tochter besser ernähren konnte, als wenn sie betteln gingen. Der tückische Wandel der Zeit kann jedoch nicht lange schlafen. Es dauerte nicht lange, bis selbst dieser unbedeutende Segen zu viel für die notleidenden Leute geworden war und die Zeit ihnen neue Schmerzen und Bisse zufügte. Die Hand des Todes raubte den Gatten, den Holzfäller, und ließ Mutter und Tochter ohne Familienoberhaupt und Versorger zurück. D a saßen die beiden einander gegenüber wie Eulen, die über ihr Unglück klagen. Während sie so dasaßen, kam eine Sila zu ihnen. Ihr Kopf schlug an die Decke, und ihr schwarzes Gesicht ließ einen vor Furcht sterben. Das Haar war wirr und dicht und hing ihr auf die Schultern herab. Auf ihren Armen trug sie ein kleines Kind und sprach zu den beiden Frauen: „Nehmt diesen Säugling und paßt auf ihn auf, damit ich meiner Arbeit nachgehen kann. Wenn ich zurückkehre und ihn weinen sehe, werde ich euch auf die schrecklichste Weise umbringen, ist er aber still, wenn ich komme, werde ich euch bis zu euren Kindeskindern reich machen - jedoch den Reichtum verleiht Allah." So sprach sie, ließ den Säugling zurück und entschwand ihren Blicken. Nach einiger Zeit kam sie wieder und fand, daß ihr Söhnchen still war. D a blieb sie ihrem Versprechen treu und gab der Frau feine gekämmte Wolle zum Spinnen und sagte: „Diese Wolle ist für euch. Spinnt davon und verkauft den gesponnenen Wollfaden. Sie wird nicht aufhören und nicht 205
zu Ende gehen, aber nehmt euch in acht, etwas von dem zu tragen, was ihr gesponnen habt." Mutter und Tochter taten, was ihnen die Sila gesagt hatte, und fingen an die Wolle zu spinnen und Kleidsr zu weben und sie zu verkaufen, und der Reichtum ergoß sich über ihre Hände. Sie wurden wohlhabend und lobpriesen Allah und dankten ihm für den großen Segen. Eines Tages sprach die Mutter zu ihrer Tochter: „Laß uns einmal Kleider für uns selbst aus der gesponnenen Wolle machen und sehen, was geschieht." Sobald sie jedoch den gesponnenen Faden verwebten und Kleider davon schneiderten, ging die Wolle zu Ende. Wir sind bei euch gev/esen und müssen nun zurückkehren. Wenn unser Haus in der Nähe wäre, würden wir euch eine Last getrocknete Datteln und eine £ast Rosinen bringen.
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DAS UNERSÄTTLICHE
AUGE
Eines Jahres kam ein Mann in unsere Stadt, der die Zauberkunst beherrschte. Er trug einen kleinen Eimer, einen Satl, von dem er behauptete, daß nichts ikn zu füllen vermöge. Er setzte eine Belohnung von hundert Dinar für denjenigen aus, der das Eimerchen füllen könnte. Die Leute lachten über ihn und glaubten, er wolle sie zum Narren halten oder sei verrückt. Dabei blieb es mehrece Tage, wenn er in den Basaren umherstreifte, um jemanden zu finden, der auf sein Anerbieten einging. Als sich nichts änderte, wollte sich einer von den klugen Händlern über ihn lustig machen und sprach: „Ich will deine Wette annehmen. Wie lauten deine Bedingungen?" Da sprach der Zauberer: „Wenn du mir diesen kleinen Eimer füllst, bezahle ich dir hundert Dinar. Wenn du aber nicht imstande bist, ihn zu füllen, geht verloren, was du hineingetan hast, und du mußt mir zehn Dinar bezahlen." Damit erklärte sich der Händler einverstanden, und er nahm einen Sack voll Zucker und entleerte ihn in das Eimerchen, doch es war nicht gefüllt. Dann nahm er einen zweiten und einen dritten, aber der kleine Eimer war noch immer nicht voll. Der Händler war verwundert. Dann nahm er einen Sack voll Reis und schüttete ihn obendrauf und danach einen zweiten und einen dritten, bis es zehn geworden waren, doch der kleine Eimer war nicht gefüllt worden. So bezahlte der Händler zehn Dinar und hörte auf. Die Leute waren sehr erstaunt über diesen Ausgang. Der Händler hatte einen Nachbarn, einen Getreidekaufmann. Als. dieser von der Geschichte hörte, verwarf er sie und weigerte sich, sie zu glauben. Als der Zauberer bei dem Getreidehändler vorüberkam, rief der ihn zu sich, um mit ihm die Wette
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abzuschließen. Danach nahm er einen Sack Weizen und leerte ihn aus. Doch selbst mit zwanzig Säcken war das Eimerchen nicht voll geworden. Da wollte der Getreidehändler nicht weitermachen und bezahlte dem Zauberer zehn Dinar. Die Bestürzung und das Erstaunen der Leute wuchsen. Danach wurde die Geschichte zu einem Mann getragen, der sie auch nicht glauben wollte. Er sprach: „Bringt ihn morgen her zu mirl Ich werde ihm den kleinen Eimer füllen, selbst wenn er die Größe eines Eisenbahnzuges hätte." Sie sagten zu ihm: „Es ist nur ein gewöhnlicher Satl." Er sagte: „Das ist leicht." Der Zauberer stellte sich zum rechten Zeitpunkt für die verabredete Wette ein. Der Händler hatte einen großen Vorrat an Stroh, der ausreichte, einige zehn Wagen mit Stroh zu beladen. Er fing an das Stroh auszuschütten, doch das Eimerchen füllte sich nicht. Der Mann wunderte sich sehr und sagte wütend: „Ich werde ihn bestimmt noch füllen." Als er jedoch die Hälfte seiner Vorräte in den kleinen Eimer geschüttet hatte, hörte er auf und wußte, daß er ihn nicht füllen konnte. Danach pflegte der Zauberer täglich durch die Basarviertel zu wandern und zwei oder drei Kaufleute in die Falle zu lokken. Einmal kam er am Laden eines Tuchhändlers vorbei, und der Tuchhändler war bereit, die Wette anzunehmen. Er entleerte die Hälfte seiner Vorräte an Wolle, Baumwolle und Seide in den kleinen Eimer, doch der wurde nicht voll, und nachdem die Verluste des Händlers so groß geworden waren, bezahlte er obendrein noch zehn Dinar. So ging es eine Anzahl von Tagen. Viele Waren verschwanden auf Grund der Wette, den kleinen Eimer zu füllen. Die Leute der Stadt fürchteten den Bankrott der Einwohner durch die Hand des Zauberers. Daher beklagten sie sich beim Wali, doch er glaubte es nicht. Der Wali schloß ebenfalls die Wette ab und schüttete alle Güter seines Hauses hinein, seine Möbel und das gesamte 208
Hausgerät, doch das Eimerchen wurde nicht voll. Da ergriff die Leute Furcht und Schrecken vor dem Zauberer und dem Eimerchen, das er bei sich hatte, und der Wali bezahlte ihm zehn Dinar. Danach kam es einem unter den Leuten in den Sinn, sein Glück mit sowenig wie möglich Verlust zu versuchen. Er brachte zehn Wasserträger herbei, die aus einem nahegelegenen Brunnen Wasser schöpften und es dann in den kleinen Eimer entleerten. Das währte zwei Stunden lang ohne Unterbrechung oder Ermüdung. Schließlich bekamen die Leute die Anstrengung satt, ohne daß der kleine Eimer gefüllt war. Da bezahlte der Mann zehn Dinar. Eine riesige Volksmenge hatte sich versammelt. Unter ihr war ein Scheich vom Lande, der sich durch Entschlußkraft, Scharfsinn und Klugheit auszeichnete. Er hatte dagestanden und dieser letzten Probe aus der Nähe zugesehen. Er war von seinem Dorfe gekommen, um seinen Weizen in der Stadt zu verkaufen. Es waren tausend Tonnen Weizen. Der Scheich vom Lande sprach: „Ich bin in Allahs weiter Welt herumgekommen, bin in Tihama und in Nadschd gewesen, ich habe Beduinen und ansässige Bewohner getroffen und verkehrte freundschaftlich mit Arabern und Persern 1 , doch niemals habe ich etwas so Seltsames gesehen." Dann wandte er sich an den Zauberer und sprach: „Ich will mit dir wetten, aber unter einer Bedingung, an die du nicht gewöhnt' bist. Wie groß ist dein Gewinn in dieser Stadt?" Der Zauberer sagte: „Fünftausend Dinar." Der Scheich vom Lande sprach: „Der Preis für meinen Weizen ist fünfzigtausend Dinar. Ich will mit dir wetten und dir die gesamte Summe bezahlen, wenn ich nicht imstande bin, den Satl zu füllen, doch wenn ich ihn fülle, bezahlst du mir fünfundzwanzigtausend Dinar." Da sagte der Zauberer: 1
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Perser wird auch für im Osten benachbarte Völker angewendet, die nur wenig oder gar nicht arabisch sprechen. Arabische Volksmärchen
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„Abgemacht." Der Scheieh vom Lande sprach: „Ich möchte die Sache vom Wali bestätigt haben. Laß uns deshalb einen Vertrag aufsetzen, den er bezeugt." Der Zauberer antwortete: „Abgemacht." Dann schrieben sie einen Vertrag, und der Wali bestätigte ihn. Der Scheich vom Lande sagte: „Meine Ware besteht aus tausend Tonnen Weizen und befindet sich im Lager des Händlers Soundso. Hier ist der Schlüssel dazu, den ich dem Wali übergebe. Wenn ich die Wette verliere, bitte ich den Herrn Wali, dir den Schlüsscl zu geben und dir die Waren zu überlassen." Der Zauberer sagte: „ D a s ist gut." Daraufhin sagte der Scheich vom Lande: „Händige dem Herrn Wali fünfundzwanzigtausend Dinar aus!" D a nahm der Zauberer fünfundzwänzigtausend Dinar in Gold aus seinem Geldbeutel, wog sie und übergab sie dem Wali. Der Scheich bat, das Gold prüfen zu dürfen, und fand es in Ordnung. Die Leute hatten alles miterlebt und standen aufgeregt da wegen der großen Summe, die verwettet werden sollte, und des seltsamen Angebots. Zuvor war es die Gewohnheit des Zauberers, zehnmal soviel zu bieten, als derjenige zu bezahlen hatte, der mit ihm wetten wollte, doch dieser Scheich wollte mehr bezahlen als der Zauberer. Bei den Leuten bestand kein Zweifel, daß der Scheich vom Lande die Wette verlieren und daß er nicht mehr Glück haben würde als diejenigen, die vor ihm gewettet und verloren hatten. Die Entschlossenheit dieses Scheichs erregte jedoch ihre Neugier, und sie blieben stehen, um dem Wettstreit zu folgen. Der Scheich vom Lande nahm einen halben Dinar aus seiner Tasche und forderte einen der Anwesenden auf, ihm einen halben Sack Zucker, Reis, Weizen oder Kichererbsen zu bringen, und sprach: „ E s macht nichts, von welcher Sorte er ist, nur bringe mir einen halben Sack voll."
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Dann trat der Scheich hervor, stellte sich in die Mitte und forderte die Leute auf, den Zuschauerkreis größer zu machen. Danach nahm er das Eimerchen von dem Zauberer, betrachtete es eine Weile aufmerksam und drehte es mit den Händen nach allen Seiten. Dabei neigte er den kleinen Eimer ein wenig nach dem Boden und strich mit der Hand über das Innere des Eimerchens. Danach ergriff er es wieder mit beiden Händen. Unterdessen trat der Mann hinzu und brachte einen halben Sack Zucker. Der Scheich bat ihn, den Zucker in den kleinen Eimer zu entleeren, und er tat es. D a s Eimerchen füllte sich, und als der Mann die Hälfte des Sackes ausgeschüttet hatte, ergoß sich der Zucker auf den Boden. D a riefen einige der Anwesenden: „Allahu akbar!" Im selben Augenblick hörte man ein Geräusch von etwas, was auf die Erde fällt, und als sich die Leute umsahen, war der Zauberer plötzlich tot umgesunken. Der Scheich stand hochaufgerichtet, wie betäubt vom Siege in einer Haltung, die ihn schön und würdevoll wie eine Gottheit der Sagen erscheinen ließ. Die Leute betrachteten ihn mit größter Bewunderung und waren verblüfft über den Ausgang der Wette. Dann ging der Scheich vom Lande zum Wali und sprach: „Der Zauber und der Zauberer sind dahin. D i e Leute werden sehen, daß die Güter, die sie verloren haben, wieder in ihre Häuser zurückkommen, denn der Zauberer betrügt die Stadt nicht länger." Dann begehrte er vom Wali seinen Schlüssel und den Betrag von fünfundzwanzigtausend Dinaren. Der Scheich nahm sie, wog fünftausend Dinar ab, gab sie dem Wali und sagte: „ D a s ist die Summe, welche die Bewohner der Stadt verloren haben. Ich bitte dich, dafür zu sorgen, daß mit ihnen abgerechnet wird und daß das Geld wieder an seine Eigentümer gelangt. Und diese fünftausend Dinar sollst du unter die Armen verteilen lassen." Den Rest steckte er in die Satteltaschen zu beiden Seiten seines Reittiers und wollte sich in Bewegung setzen, doch der Wali hielt ihn zurück und sprach zu ihm: 14*
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„Enthülle mir das Geheimnis des Vorgefallenen. In dieses Eimerchen wurde ein ganzes Lager Stroh geschüttet, und es füllte sich nicht. Man schüttete einen großen Vorrat Körner hinein, aber es füllte sich nicht. Dann verschwanden die Möbel meines reichen Hauses und das gesamte Hausgerät darin, doch es füllte sich nicht. Schließlich wurde eine große Menge Wasser hineingeschüttet, aber es füllte sich nicht. Wie konntest du den kleinen Eimer mit etwas füllen, was sein Ausmaß nicht übertraf, und warst deiner Sache so sicher, daß du deinen ganzen Besitz aufs Spiel gesetzt hast?" Der Scheich vom Lande sprach: „Ich habe mich nicht blind einer Gefahr ausgesetzt, denn ich war sicher, daß ich den kleinen Eimer füllen konnte. Als ich zusah, wie sie das Wasser in das Eimerchen schütteten, ging ich näher heran und sah auf dem Boden ein in verkleinertem Maßstab gefertigtes menschliches Auge. Kein Auge vermochte es zu erblicken, wenn es nicht das Eimerchen eingehend betrachtete und musterte. Ich betrachtete, musterte und beobachtete es und wußte, daß das Auge eines Adamssohnes unersättlich ist und sich mit nichts anderem als dem Staub füllen läßt. Als ich den kleinen Eimer vom Zauberer holte, wandte ich ihn hin und her und kehrte ihn nach dem Boden, dann nahm ich blitzschnell eine Handvoll Staub und füllte damit das menschliche Auge auf dem Boden des kleinen Eimers, und seitdem bestand kein Unterschied mehr zwischen ihm und irgendeinem anderen Satl." Der Scheich hielt ein wenig inne, dann reinigte er den kleinen Eimer von dem Zucker, der sich darin befand, und zeigte den Leuten das kleine Auge auf seinem Boden. Sie wunderten sich darüber im gleichen Maße wie über die gewaltige Beobachtungsgabe dieses Mannes vom Lande, seine große Umsicht, seinen scharfsinnigen Verstand, sein ausgezeichnetes Hirn und die Beweise für seine gesunde Vernunft und Weisheit. Ferner bewunderten sie die Güte, die seine Anordnungen auszeichnete, die weise durchdacht waren, sowie seinen durchdringenden Blick. Dann nahmen sie Abschied und wiederholten: „Das Auge eines Adamssohnes kann mit nichts anderem gefüllt werden als dem Staub." 212
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MASUD, WIRBLE HERUM I
Man erzählt sich, daß es zu alten Zeiten einen Holzfäller gab, der mit seiner Frau und seiner Tochter in einem kleinen Haus in der Nähe des Waldes lebte. Dieser Holzfäller pflegte vor Anbruch der Morgendämmerung aufzustehen und mit seiner Axt in den Wald zu ziehen, um - ku, ku, ku, tak, tak, tak - das Brennholz abzuhacken und abzubrechen. Im Walde lebte ein frommer Mann, ganz in seine Andacht ergeben. Er erhob sich vom Schlaf, ehe die Morgendämmerung anbrach, um das Gebet zu verrichten und Allah zu lobpreisen. Das Abbrechen der Äste und das Ku-ku-Geräusch des Holzfällers störten ihn dabei sehr. Als der Holzfäller einmal an ihm vorüberging, als es noch Nacht war, um mit dem Hacken zu beginnen, sagte er zu ihm: „Du Mann, warum machst du dauernd ku, ku, ku, ku?" Der Holzfäller sprach: „Mein Herr, ich bin arm und besitze nichts außer dieser Axt." Der fromme Mann sagte: „Gut, mein Sohn, nimm diese Trinkschale. Wenn du etwas brauchst, dann, mein Sohn, sprich zu ihr: Trinkschale, schöpfe auf!" Darauf ging der Holzfäller mit der Schale heim. Ehe er in sein Haus und zu seiner Frau und seiner Tochter kam, wünschte er: „Ich muß herausfinden, was der fromme Mann mit seiner Rede meint." Er setzte sich auf die Erde und sprach: „Trinkschale, schöpfe auf!" Da füllte sich die Schale geschwind mit Asida, gewürzter Soße, Kisra und Fleisch. Der Holzfäller freute sich über alle Maßen und aß, bis er satt war. Dann trat er in sein Haus und sprach zu seiner Frau: „Nun habe ich dir das Glück gebracht. Du brauchst nichts .215
anderes zu tun, als zu dieser Schale zu sagen: Trinkschale, schöpfe auf!" Die Frau sprach zu der Schale: „Trinkschale, schöpfe auf!" Da füllte sie sich mit Asida, gewürzter Soße, Kisra und Fleisch. Die Frau aß, ihre Tochter und ihr Sohn aßen eben falls und freuten sich riesig. Die Zeit verging, und sie lebten glücklich dahin. Eines Tages sprach der Holzfäller zu seiner Frau: „Frau, diese Trinkschale ist schmutzig geworden. Ich will sie nehmen und mit ihr an den Nil gehen, um sie zu säubern." „Sei vorsichtig, Mann! Es ist besser, wenn du sie läßt, wie sie ist." Aber der Holzfäller bestand darauf. Als er am Nil ankam, fand er dort die Knechte des Sultans. Sie hatten des Sultans Pferde bei sich, um sie zu waschen. Da sprachen sie: „Komm, hilf uns, du sollst auch Lohn für deine Mühe erhalten." Er sagte zu ihnen: „Wieviel?" Sie sprachen zu ihm : „Fünf Qirsch." Da sagte er: „Nein." Sie sagten: „Zehn Qirsch." Er sprach: „Nein." Sie sagten: „Zwanzig Qirsch." Er sagte: „Gut." Dann zog er seine zerlumpten Kleider aus, ging zum Nil und sagte zu ihnen: „Behaltet meine Trinkschale bei euch, nur hütet euch, ,Trinkschale, schöpfe auf!' zu ihr zu sagen." Als der Holzfäller jedoch in den Nil hineingegangen war, sagten die Knechte des Sultans: „Trinkschale, schöpfe auf!" 214
D a füllte sich die Schale mit Asida, gewürzter Soße, Kisra und Fleisch, und sie freuten sich und aßen. Als der Holzfäller mit seiner Arbeit fertig war und sie nach der Trinkschale fragte, sagten sie zu ihm: „Was für eine Trinkschale?" Dann hieben sie mit kräftigen Schlägen auf ihn ein und gaben ihm keinen Lohn für das Waschen der Pferde. Der Mann kehrte in seiner erbärmlichen Verfassung zu seiner Frau zurück, die zu ihm sprach: „Habe ich dir nicht zuvor gesagt, es wäre besser, die Trinkschale zu lassen, wie sie w a r ? " Vor Anbruch der Morgendämmerung ging dann der Holzfäller wieder mit seiner Axt in den Wald und fing an zu hacken - ku, ku, ku, ku. D a kam der fromnje Mann und sprach zu ihm: „Was ist dir widerfahren?" Er erzählte ihm die Geschichte, und der fromme Mann tröstete ihn und sagte zu ihm: „ D a s macht nichts. Nimm diese Sinija und sage zu ihr: Sinija, stelle verschiedene Speisen zusammen!" Der Holzfäller nahm das Tablett und konnte nicht erst warten, in sein Haus zu gelangen, sondern sagte auf dem Wege zu der Sinija: „Sinija, stelle verschiedene Speisen zusammen!" D a füllte sich die Sinija mit einem Feinbrot, Kisra, Mahschi, Bumbar, Lammbrust, K o f t a und allerlei anderen Speisen. Außerdem waren Konafa, Kaffee und Tee dabei. Der Holzfäller freute sich und aß, bis er satt war, denn er war sehr hungrig. Dann wanderte er zu seiner Familie und sagte zu ihnen: „Ihr braucht nur zu sagen: Sinija, stelle verschiedene Speisen zusammen!" Sie sagten: „Sinija, stelle verschiedene Speisen zusammen!" D a füllte sich die Sinija mit einem Feinbrot, Kisra, Bumbar, Kofta, Wassermelone, Mahschi und allerlei schönen Speisen. Darunter befanden sich auch Konafa, Tee und Kaffee. Sie aßen, bis sie in heitere Stimmung gekommen waren. Der kleine Junge aß so lange, bis er nahezu platzte. Dann verbrachten sie mehr als zwei Monate in dieser Weise. 215
Eines Tages sprach der Holzfäller zu seiner Frau: „Ich möchte an den Nil gehen, um die Sinija zu säubern." Sie sagte: „Sei vorsichtig, Mann, damit es mit der Sinija nicht genauso geht wie mit der Trinkschale!" Doch er war von sich sehr eingenommen, setzte seinen Willen durch und zog an den Nil. Am Fluß fand er die Knechte des Sultans mit den Pferden des Sultans. Als sie sahen, daß er die Sinija in der Hand hatte, sprachen sie untereinander: „Hinter dieser Sinija steckt bestimmt ein Geheimnis wie hinter der Trinkschale. Es ist das beste, wenn wir sie ihm wegnehmen." Danach sagten sie zu ihm: „Komm, hilf uns, du sollst auch Lohn für deine Mühe erhalten." Er sagte zu ihnen: „Wieviel?" Sie sprachen: „Zwei Rial." Er sagte: „Nein." Sie sagten: „Drei Rial." Er sprach: „Nein." Sie sagten: „Fünf Rial." Er sprach: „Nein." Als sie bis zu einem Pfund geboten hatten, erklärte er sich einverstanden, ihnen die Pferde zu waschen. Dann zog er seine Kleider aus, stellte die Sinija in ihre Nähe und sagte zu ihnen: „Gebt auf diese Sinija acht! Nur hütet euch, zu ihr zu sagen: Sinija, stelle verschiedene Speisen zusammen!" Sobald sie jedoch sahen, daß er in den Nil hineingegangen war, sagten sie: „Sinija, stelle verschiedene Speisen zusammen!" Da füllte sich die Sinija mit dünnen weißen Brotfladen und
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runden Brotlaiben. Andere waren vierkantig, weiß und von köstlichem Geschmack. Sie füllte sich auch mit Lammbrust, Fleisch, Mahschi und Salat von Auberginen, Tomaten, Gurken und Saubohnen. An Suppen gab es alles, von Linsensuppe bis zur Taubensuppe. Auf der Sinija standen auch ein flacher irdener Topf mit gebratenem Fisch und ein anderer mit Kartoffeln sowie verschiedene Arten von Wassermelonen, Mahschi, Bumbar und mit Fleisch gefüllte Pasteten. Danach gab es Baqlawa, Konafa, kalte Getränke aus getrockneten Aprikosen, Weintrauben und Pflaumen, in Zuckerwasser aufgelöst, als auch Kaffee, Tee und Zigaretten, denn die Knechte des Sultans rauchten Zigaretten. Jedesmal, wenn die Sinija leer wurde, sagten sie zu ihr: „Sinija, stelle verschiedene Speisen zusammen!" Und sie füllte sich von neuem. Als der Holzfäller mit dem Waschen der Pferde fertig war und kam, um seine Sinija mitzunehmen, sagten sie zu ihm: „Was für eine Sinija, du törichter Mann?" Darauf kehrte er in trauriger Stimmung zu seiner Frau zurück, und diese sagte zu ihm: „Ich kenne dich. Wenn unser Herr dir etwas beschert, kannst du dich nicht zähmen und mußt damit prahlen. Nun geh zu deinem Brennholz und zu deiner Axt zurück!" Der Holzfäller zog vor Anbruch der Morgendämmerung in den W a l d und fing an zu hacken - ku, ku, ku. Der fromme Mann hörte ihn und sprach zu ihm: „Was ist mit der Sinija geschehen?" Er erzählte ihm die Geschichte. Der fromme Mann blickte zur Erde und dachte lange nach, dann sagte er: „Ich sage dir, nimm diesen Stock!" Der Holzfäller sprach zu ihm: „Was soll ich zu ihm sagen?" „Masud, wirble herum!" Der Holzfäller freute sich, nahm den Stock und konnte nicht erst abwarten, bis er zu Hause war, sondern sprach schon auf dem Wege zu dem Stock: „Masud, wirble herum!" Da flog der Stock in die Luft und fiel mitten auf seinen Schädel herunter, dann flog er wieder und fiel auf seiue 217
Schultern und versetzte ihm kräftige und schwere Schläge. Der Holzfäller rannte davon, aber der Stock rannte hinter ihm her und schlug ihn einmal auf den Kopf, dann auf den Rücken, einmal auf den Bauch und ein anderes Mal auf die Beine. Als er sich schließlich auf den Rücken legte, schlug er ihm auf die Fußsohlen wie bei der Umm Saad Allah. D a fing der Holzfäller an zu schreien: „ O Masud, laß ab von mir! Laß ab von mir! Laß ab von mir!" Masud sprach zu ihm: „Sage zu mir: Masud, beruhige dich!" Dann hörte er mit den Schlägen auf. Der Holzfäller nahm den Stock in die Hand, wanderte nach Hause und sagte zu seiner Frau: „Hüte dich, zu ihm ,Masud, wirble herum!' zu sagen." Die Frau wartete, bis der Holzfäller hinausgegangen war, dann sagte sie: „Masud, wirble herum!" D a wirbelte der Stock in der Luft herum, dann fiel er - bab, bab - auf ihren Kopf, und sie schrie: „Geh weg! Geh weg!" Aber Masud hörte nicht auf, sondern verstärkte die Gewalt seiner Schläge und fing an, auch das Mädchen und den Jungen zu schlagen. Nun schrien sie alle: „Au, au! Hilf uns! Hilf uns! Geh weg! Geh weg!" D a trat der Holzfäller ein und fand sie in dieser Verfassung. Dann sagte er: „Masud, beruhige dich!" Der Stock hörte auf zu schlagen. Darauf sagte der Holzfäller: „Was meint der fromme Mann damit, daß er mir diesen bösartigen Stock gibt?" Seine Frau sprach zu ihm: „Der Gedanke des frommen Mannes ist gut. Nimm den Stock und geh an den N i l ! Vielleicht wird uns unser Herr die Trinkschale und die Sinija zurückgeben." Der Holzfäller wanderte mit dem Stock an den Nil und traf die Knechte des Sultans. Als sie den Stock in seiner Hand sahen, sprachen sie untereinander: 218
„Hinter dem Stock steckt ein Geheimnis. E s ist das beste, wenn wir ihm den Stock wegnehmen, so wie wir ihm die Trinkschale und die Sinija weggenommen haben." Danach hießen sie ihn willkommen und sagten: „Komm, hilf uns, du sollst auch Lohn bekommen." E r sagte: „Wieviel?" Nach vielem Hin- und Herreden einigte er sich mit ihnen auf zwei Pfund. Dann zog er seine Kleider aus, ging zum Nil und sprach zu ihnen: „Gebt auf diesen Stock acht, nur hütet euch, zu ihm ,Masud, wirble herum!' zu sagen." Sobald der Holzfäller jedoch in den Nil hineingsgangen war, sagten sie zu dem Stock: „Masud, wirble herum!" D a flog Masud in die Luft und verwandelte sich in zwanzig Stöcke, und am Ende eines jeden waren ein Bämbusstock und ein Peitschenriemen aus Flußpferdhaut. Dann begannen die Stöcke die Knechte des Sultans mit kräftigen Schlägen zu peitschen. Danach gingen sie daran, die Pferde des Sultans zu schlagen. Diese rannten davon und ergriffen die Flucht, doch Masud kam hinter ihnen her. D a s dritte Mal trieb Masud die Knechte des Sultans mit seinen Schlägen in den Nil. Schließlich sagte der Älteste der Knechte stöhnend vor Schmerz: „Bei Allah, bringe diese Stöcke zum Aufhören!" Der Holzfäller sagte: „Wollt ihr mir die Sinija und die Trinkschale geben?" Er sagte: „Jawohl, wir geben sie dir, du Mann." D a sagte der Holzfäller: „Masud, beruhige dich!" Darauf ergriff er Masud mit seiner Hand und sagte zu dem alten Knecht: „Nun gebt mir die Trinkschale und die Sinija zurück, wenn nicht, befehle ich Masud, euch zu schlagen." Sie hatten die Trinkschale und die Sinija mitgebracht, um nach dem Waschen der Pferde zu essen. Nun gaben sie sie dem Holzfäller zurück. E r sprach zu der Trinkschale: „Trink219
schale, schöpfe auf!", und 2ur Sinija sagte er: „Sinija, stelle verschiedene Speisen zusammen I" Dann rief er die Knechte des Sultans: „Eßt nun, damit ihr die Schläge vergeßt und daran denkt, daß Masud bei mir ist!" Sie aßen und tranken und freuten sich, dann reinigten sie die Schale und die Sinija, und der Holzfäller nahm sie mit nach Hause. Seine Frau, sein Sohn und seine Tochter bekamen zu essen und wurden froh. Von nun an führten sie ein angenehmes Leben, denn Masud war bei ihnen und behütete sie, bis sie reich wurden. Dann heiratete der Sohn des Sultans die Tochter des Holzfällers, und seine Tochter heiratete den Sohn des Holzfällers, und sie lebten in Glück und Wonne, bis der Zerstörer aller Genüsse, der Unerbittliche, der alle Freuden tilgt, zu ihnen kam.
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DIE FETIRAKUCHEN
Es geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. Ein Mann besaß Reichtum und Ansehen, wurde aber sein Lebtag nicht mit mehr Kindern als einem einzigen Sohn gesegnet. Das Alter des Mannes war fortgeschritten, und er fühlte, daß der Tod ihm nahte. Da rief er seinen Sohn zu sich, um den letzten Abschied von ihm zu nehmen. Der Sohn setzte sich zu seinem Vater, und der Vater begann ihm seinen letzten Willen kundzutun und sprach: „Höre, mein Sohn, ich will dir etwas Besseres zurücklassen als diesen Reichtum und das Ansehen." Da kam der Sohn näher an seinen Vater heran, und der Vater fuhr fort und sagte: „Es ist etwas, was diesen großen Reichtum übertrifft, und es wird bestehenbleiben, wenn andere Dinge dahinschwinden, und es wird dir eine Hilfe sein in den kommenden Tagen." Der Jüngling begann sich über das zu freuen, was ihm in Aussicht gestellt war, und er vergaß seine Traurigkeit über den Zustand des Vaters. Er starrte ihn an, als ob er ihn ermahnen wolle, sich mit dem Gespräch zu beeilen. Da sagte der Vater: „Wenn ich gestorben bin, mein Sohn, sollst du jede Woche am Freitag Fetirakuchen aus dem besten Getreide, welches das Land hervorbringt, mit Milch und geschmolzener Butter zubereiten, dann trage sie an das Ufer des Nils und wirf sie dort hinein . . . " Darauf schloß der Vater seine Augen, und die Seele entfloh unter seinen Händen. Der Sohn dachte an den letzten Willen des Vaters und vernachlässigte nicht, was ihm aufgetragen war. Es kam kein Freitag, ohne daß er hinaus an das Ufer des Nils ging und Fetirakuchen bei sich trug, deren Teig aus dem besten Getreide, das das Land hervorgebracht hatte, 221
mit Milch und geschmolzener Butter bereitet war, und er •warf sie ins Wasser. Danach ging er seinen Weg zurück, und er wußte keinen anderen Grund dafür, als d a ß es der letzte Wille seines Vaters war, den er zu ehren hatte, und er hatte ihm dafür bleibenden Wohlstand und reichlichen Nutzen versprochen. D i e Tage und die Jahre vergingen, und der Sohn hörte nicht mit seiner Gewohnheit auf, bis ihn eine Notlage dazu zwang. E r war niedergeschlagen und dachte nicht daran, sein Geld anzulegen, und die Lage wurde noch schlimmer, und er verlor alles, was er besaß, und wurde einer der Armen, obwohl er zuvor zu den Reichen gezählt hatte. D a kam der Freitag heran, und er war traurig, d a ß es nichts mehr gab, womit er die Fetirakuchen bereiten konnte, um den letzten Willen seines dahingegangenen Vaters auszuführen. E r lief bekümmert und betrübt hinaus an das Nilufer und hielt an einem schattenspendenden Baum in seinem Gang inne. Der Kummer hatte ihn ausgezehrt, und er setzte sich unter den Baum, um sich in seinem Schatten auszuruhen. E r versank in tiefe Gedanken, und sein Blick haftete auf dem Wasser. Während er so verharrte, zerteilte sich plötzlich das Wasser, und ein Dschinn in Gestalt eines Mannes kam auf den Sohn zu und grüßte ihn. E r fragte ihn nach seinem Befinden und nach dem Grund seiner Traurigkeit und Erschöpfung. D e r Sohn war freundlich zu ihm und erzählte ihm seine Geschichte und alles, was ihm widerfahren war. D a blickte ihn der Dschinn mit einem aufmunternden und lächelnden Gesicht an und sprach: „Dann bist du der Freund, der mich im Gefängnis mit Essen versorgt hat, nachdem mir mein Vater, der König der Dschinnen, zürnte und mich dort hineinbrachte und mir alles versagte. Ich fand alles, was du mir hineingeworfen hast, und aß etwas davon und hob das andere auf, um mich damit die Wochentage bis zum folgenden Freitag zu nähren. Ich wartete wie auf heißen Kohlen, um zu dir herauskommen zu können, dich zu treffen und dir für das zu danken, was du für mich getan hast. Kaum hatte mein Vater mir verziehen und vergeben, als ich eilends durch das Wasser stieß, um diesen Men-
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sehen zu sehen, der seinem Bruder, dem Dschinn, so viel Gutes getan hatte, ihn für sein Handeln zu belohnen und ihm die gute Tat doppelt zu vergelten. Darum beeile dich, du Mensch, und steige mit mir hinunter in das Innere des Wassers. Dort wartet mein Vater sehnsüchtig darauf, dich zu sehen, nachdem ihm von dir erzählt wurde; dein Handeln erfreute ihn." Der Menschenjüngling lehnte furchtsam ab, ins Wasser zu tauchen, doch der Dschinn ließ ihm keine Zeit und zog ihn zu sich und befahl ihm, seine Augen zu schließen. Es war nur ein Untertauchen, bis er sich in Gegenwart eines Königs von großer Würde befand, des Königs der Dschinnen. Der Dschinnsohn führte ihn zu ihm, und der König kam auf den Jüngling zu und bat ihn, sich zu überlegen, was er sich von ihm wünschte und was er von ihm erhoffte. Der Mensch dachte ein wenig nach, dann sprach er: „Nichts begehre ich mehr, als die Sprache der Tiere zu beherrschen und alle ihre Zungen zu verstehen. Das ist mein Wunsch, o König der Dschinnen." Der König zuckte mit den Schultern und sprach: „Es gibt nichts Einfacheres als das, wonach du gefragt hast, und nichts Leichteres als das, worum du gebeten hast." Dann ließ er sich einen beschriebenen Bogen bringen und steckte ihn in einen gefüllten Becher. Darauf befahl er dem Menschen zu trinken, was sich im Becher befand. Er zögerte, doch dann gehorchte er, und danach sprach der König: „Von nun an, du Menschensohn, beherrschst du die Sprache der Tiere und der Vögel. Hüte dich aber, auch nur einem Menschen zu offenbaren, welche Kenntnis du nun besitzt, sonst wird dich der Tod ereilen, und du wirst zur selben Stunde sterben." Dann befahl der König einer Schar von Dschinnen, ihn an die Oberfläche der Erde zu bringen, wo er gewesen war, und ihn dort zu lassen. Im Verlauf eines Augenzwinkerns befand sich der Jüngling im Schatten des Baumes, so wie zuvor, und ein Sperlingspärchen hatte sich auf dem Baume niedergelassen, und er hörte ihnen zu. Plötzlich sagte der eine zum anderen: „Wenn dieser Mensch hier an dieser Stelle einen Schafbock schlachtete, würde sich ein großer Schatz vor ihm auftun." 223
E r begann vor Freuden fast zu fliegen, als er verstand, was der Vogel sagte, aber er dachte über das nach, was er gehört hatte, und setzte sich und fragte sich: O b wohl dieser Sperling die Wahrheit gesprochen hat, oder hat er gelogen, denn es geschieht mit den Zungen der Vögel, was mit den Zungen der Menschen geschieht. E r wollte das auf alle Fälle erproben. D a ging er zu einem Freund und bat ihn um einen Schafbock, und kaum hatte er ihn erhalten, eilte er an die angegebene Stelle. Als er ihn geschlachtet hatte, spaltete sich der Erdboden unter seinen Füßen, und ein großer Schatz erschien, lauter Gold und Edelsteine. Was er sah, beraubte ihn fast seiner Sinne, und er meinte, er sei im Traume und nicht im wachen Zustand. Doch schnell kehrte sein Verstand zurück, und er griff nach einem kleinen Teil des Schatzes, ging auf den Markt und kaufte sich zwei Esel. Der eine war weiß, und der andere war schwarz. Dann zog er mit ihnen dorthin, wo der Schatz lag, und fing an tagein, tagaus den Schatz in sein Haus zu tragen. Als er die Esel am letzten Tage mit jenen Kostbarkeiten belud, sprach plötzlich der schwarze Esel zu dem weißen E s e l : „Wenn ich dann für meine Rückkehr beladen bin, werde ich an der Polizeistation vorbeigehen, und dort will ich mich auf den Boden werfen, und dabei wird meine Ladung verstreut werden, und die Polizei wird das Geheimnis unseres Herrn entdecken, ihn festnehmen und zum Gericht führen, und damit werde ich von dieser Plackerei befreit." D a antwortete ihm der weiße E s e l : „So etwas würde ich niemals tun, denn ich erfuhr von meinem Herrn nichts als Freundlichkeit und Zärtlichkeit, und ich will ihm das Gute mit nichts anderem belohnen als dem Guten." D e r Jüngling hörte ihre Worte und dachte über die Folgen der Sache nach und steckte heimlich schwere Steine in die Last des schwarzen Esels und hielt für den weißen die Kostbarkeiten zurück. Dann gingen die beiden Esel ihren Weg, bis sie vor der Polizeistation anlangten. D a stolperte der schwarze Esel und warf herunter, was auf ihm war, doch sein Herr drohte ihm
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mit der Peitsche und gab ihm die Last zurück, und er zog seufzend weiter und war außer Atem, als er zu Hause anlangte. Der Jüngling setzte sich nieder, um auszuruhen, nachdem er seinem Diener befohlen hatte, dem weißen Esel Heu und gutes Futter zu geben . . . , und er belauschte die beiden Esel. Plötzlich machte der weiße Esel dem schwarzen Vorwürfe und sprach zu ihm: „Was hast du mit deiner Arglist gewonnen? Hast du irgend etwas anderes als Verdruß, Schaden und schlechtes Heu dabei bekommen?", und der schwarze Esel war geschlagen und gab keine Antwort. Als einmal der Jüngling dasaß und sich seine Frau in seiner Nähe aufhielt, führten ein Hahn und eine Henne flüsternd ein vertrauliches Gespräch, das den Jüngling in Erstaunen versetzte und zum Lachen brachte. D a wandte sich seine Frau zu ihm und fragte ihn nach dem Grund seines Lachens, doch er antwortete nicht. Da wurde sie furchtbar wütend und warf ihm vor, daß er nicht bei Sinnen sei. Dann erinnerte sie ihn daran, wie unsinnig sein Handeln in den Tagen gewesen war, als er Fetirakuchen zubereitete und sie in den Nil warf, wodurch er in Armut g e r i e t . . . Der Jüngling war bekümmert, die Wahrheit verraten zu müssen, doch plötzlich hörte er, wie der Hahn zur Henne sagte: „Der Jüngling beginnt sich in Schwierigkeiten zu verwikkeln und will das Geheimnis offenbaren, das für sich zu behalten er dem König der Ds'chinnen versprach, und ein furchtbares Unglück wird ihn heimsuchen, wenn er es tut." Da entschied sich der Jüngling, das Geheimnis zu wahren, und die Frau entbrannte noch mehr vor Zorn. Der Jüngling aber hörte, wie der Hahn sagte: „Es ist besser für den Jüngling, seiner Frau die Scheidung auszusprechen, denn sie ist eine Last geworden, die sich nicht mehr ertragen läßt, und sie wird ihn ins Unglück und Verderben ziehen. Und wahrlich, er besitzt großen Reichtum, der es ihm ermöglicht, sie gegen eine Bessere auszutauschen." 1 1
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Im Ehevertrag wird eine Summe festgesetzt, die der Frau im Falle einer Scheidung ausbezahlt werden muß. Arabische Volksmärchen
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Darauf ging der Jüngling zu seiner Frau und gab ihr viel Geld als Entschädigung, und dann suchte er den Kadi auf, um die Scheidung zu vollziehen. Eines Abends lief der Jüngling am Stall vorbei und sah, daß der Knecht eine große Ladung Heu vor den Ochsen legte. Dann trat er etwas näher und hörtet wie der schwarze Esel zum Ochsen sagte: „Hüte dich, von diesem Heu zu fressen! Wenn du es tust, wird man dich morgen die Sakije ziehen lassen. Du wirst dich den ganzen Tag abmühen müssen, daher ist es besser für dich, wenn du dich krank stellst und das Fressen verweigerst, dann wird man dich von der Arbeit befreien, und du bleibst, wo du bist, in Ruhe und Behaglichkeit." Der Ochse folgte dem Rat des schwarzen Esels und fraß nichts von dem Heu. Da fiel der Esel allein über das ganze Heu her, fraß es und ließ nichts davon übrig. , Am Morgen trat der Herr herein und sah, daß der Ochse auf seinem Platz lag. Da ließ er den schwarzen Esel holen und spannte ihn statt des Ochsen an die Sakije und ließ ihn den ganzen Tag lang die Sakije herumdrehen. Als der schwarze Esel am Abend zurückkehrte, begegnete ihm der weiße Esel und sprach zu ihm: „Was war der Lohn für deinen guten Rat? Er hat dir von Anfang nur Schlimmes und Unheil eingebracht." Da erwiderte ihm der schwarze Esel: „Und du, wie bist du für deine Gutmütigkeit belohnt worden?" Da sagte der weiße Esel: „Es genügt mir, wenn ich mit jedem gut auskomme." Der Jüngling stand hinter ihnen und hörte ihre Unterhaltung. Der Knecht brachte dem Ochsen am zweiten Tage Heu, doch der schwarze Esel stürzte wieder auf ihn zu und sprach: „Hüte dich, auch heute etwas von dem Heu zu fressen! Ich habe gehört, wie unser Herr sagte: Wenn der Ochse frißt und anfängt sich zu erholen, werde ich morgen den Schlächter kommen lassen, damit er ihn kauft und ihn schlachtet. Darum bleibe dabei, dich krank zu stellen, denn das ist deine Rettung vom T o d e . . . "
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Der Ochse hörte auf den Rat des Esels und ließ dem schwarzen Esel das Heu und fraß selbst nichts davon. Am Morgen kam der Jüngling in den Stall, und er hatte gehört, was der Esel dem Ochsen geraten hatte. Da befahl er, den Ochsen an die Sakije zu spannen, denn vielleicht würde die Arbeit seinen Appetit zum Essen wiederherstellen. Außerdem befahl er, den schwarzen Esel an einen Herrn zu verkaufen, der für seine Knauserei und seinen Geiz bekannt war. Während der Ochse anfing fett zu werden und zu Kräften zu kommen, wurde der Esel mager und schwach als Lohn für seine Hinterlist und seinen Undank. Der Jüngling aber lebte glücklich in seinem Leben und hörte von den Tieren und Vögeln, was nützlich und zu seinem Besten war und womit er Unheil abwenden konnte, und er vergaß nicht, was der König der Dschinnen von ihm gefordert hatte, und plauderte nichts aus und hielt das Geheimnis verborgen.
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ABUL HASAN UND SITT AL-HUSN
E s geschah, ja viel ist geschehen, verehrte Herrschaften, doch keine Rede ist süß und erquickend, wenn wir nicht des Propheten gedenken, auf dem der Friede ruhel E s lebte ein Mann namens Abul Hasan zusammen mit seiner Mutter, die Sitt al-Husn hieß. E r besaß fünfzehn Feddan L a n d in seiner Ortschaft. E r erwies ständig Wohltaten und war sogar in den Nachbardörfern berühmt für seine Gastfreundschaft. E r freute sich über jeden Gast, der sich bei ihm einfand. Eines Tages wollte es sein Geschick, daß er geprüft werde. D i e Prüfung, die diesem freigebigen Mann auferlegt wurde, bestand darin, daß ihm L a n d und G e l d genommen wurden, bis ihm nur noch sechs Q i r a t von seinen fünfzehn Feddan verblieben. E r wurde arm und besaß nichts mehr außer einer K u h und einer Eselin, die ihn nach jedem Ort trug, an den er gern kommen wollte. Abul Hasan hatte nun zwischen zwei Möglichkeiten zu wählen. Die erste war, daß er in seinem Hause wohnen blieb und die Gäste wie bisher empfing. Aber wie sollte er das tun, wenn er nichts hatte, womit er die G ä s t e bewirten konnte, die zu ihm kamen? D a war es besser, den Heimatort zu verlassen, denn er fürchtete, daß die Leute des Dorfes durch Fremde und Nachbarn von seiner L a g e erfahren könnten und sich freuten, daß er arm geworden war. So beschloß er, aus seinem D o r f e auszuwandern, und ging es seiner Mutter sagen: „Ich möchte dir etwas sagen." D i e Mutter sagte zu ihm: „Sprich, mein S o h n ! " E r sprach: „Ich will dich für einige Zeit in das Haus deines Vaters, zu deinen Brüdern schicken, denn ich will irgendwo hinziehen und werde eine Zeitlang fern von dir sein." 228
Da sprach seine Mutter: „Ich kann diese Rede nicht gutheißen. Wenn du irgendwohin gehen willst, nimm mich mit! Ich kann nicht ertragen, daß du weit fort von mir bist." Er versuchte sie zu überreden, in das Haus ihres Vaters zu gehen, aber sie ließ sich nicht dazu bewegen. Nun sagte er: „Ich will das Dorf aus Furcht vor der Schadenfreude der Leute in der Dunkelheit der Nacht verlassen. W a s meinst du dazu?" Sie sagte: „Ich lasse dich nicht einen einzigen Schritt von mir gehen und werde bei dir sein." Danach beschlossen sie, in derselben Nacht fortzuziehen, luden auf den Esel, was sie brauchten, zogen die Kuh hinterher und verließen das Dorf, ohne daß jemand etwas davon merkte. Sie wanderten, bis sie ein Licht vor sich auf dem Wege sahen, und ehe sie das Licht erreicht hatten, erblickten sie ein Dorf. Abul Hasan sagte zu seiner Mutter: „Wir sind hier außerhalb des Dorfes, aber dennoch in seiner Nähe." Seine Mutter war einverstanden. Sie errichteten an dieser Stelle ihr Zelt, und Abul Hasan blieb mit seiner Mutter sitzen, bis der Morgen anbrach. Nach einer Weile kam ein Mann bei ihnen vorüber und grüßte sie mit dem Salam. Abul Hasan erwiderte den Salam und sprach: „Bitte, sei willkommen!" Der Mann antwortete: „Es ist Allahs Wille, daß ich deiner Gastfreundschaft begegne." Darauf rief Abul Hasan: „Macht Kaffee!" Der Kaffee wurde ihnen beiden gebracht. Nachdem sie Kaffee getrunken hatten, ging Abul Hasan zu seiner Mutter hinein und sprach zu ihr: „Was sollen wir mit meinem Gast tun? Ein freigebiger Mann wie ich kann niemals geizig sein." Sie sprach: „Mein Sohn, nimm die Kuh, geh mit ihr hinaus und 229
schlachte sie vor seinen Augen, wie du es bei jedem Gast zu tun pflegst." 1 E r war damit zufrieden, tat, was seine Mutter gesagt hatte, und bereitete das Mahl vor dem Gast. Nach dem Essen fingen sie an sich miteinander zu unterhalten. Abul Hasan sprach: „Willkommen, du Scheich der Araber, und wie ist dein Name?" Der Mann antwortete: „Sei mir willkommen, mein N a m e ist Mohammed der Maghrebiner. Wir haben eine lange Zeit miteinander verbracht, aber du hast mich nach nichts gefragt." Abul Hasan sagte: „ D a s ist meine Art, ich pflege meinen Gast nicht zu befragen, bevor ich ihn satt gemacht habe." D a entgegnete der Maghrebiner: „So sind die Leute vom guten, alten Schlag, Abul Hasan. Wie ist der Name der alten Sitt?" Abul Hasan sagte: „Ihr Name ist Sitt al-Husn." Darauf sagte der Maghrebiner: „Allah will dir wohl. Sei mir willkommen! Höre zu, Abul Hasan, ich möchte, daß du mit mir nach einem bestimmten Ort gehst. Ich lasse eine Summe Geldes für die Hadscha zurück, bis du wiederkommst." Abul Hasan sprach: „Ich will ihr die Sache vortragen", und er tat das. Als sie zum ersten Mal davon sprachen, war die Geldsumme hundert Pfund, doch Sitt al-Husn lehnte alles ab, damit sich ihr Sohn nicht einen einzigen Schritt von ihr entfernen sollte. Der Maghrebiner steigerte das Angebot bis auf dreihundert Pfund. Sitt al-Husn aber verweigerte noch immef ihre Zustimmung, doch Abul Hasan sprach: „Nimm das Geld und gib aus, was du zum Leben brauchst! Wenn du sterben solltest, hast du das Geld für das Totenlinnen und ein würdiges Begräbnis bei dir. Ich brauche nichts von dem G e l d . " 1
Dieser alten Sitte wird nur dann nicht entsprochen, wenn der Gastgeber in Not ist und nicht 2eigen will, daß er sein letztes Tier schlachten muß.
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Er ließ es ihr zurück, obwohl sie es nicht haben wollte. Dann zog er zusammen mit dem Maghrebiner fort, bis sie an die Höhenzüge des Niltals kamen. Da sprach Mohammed der Maghrebiner: „Abul Hasan, nun werde ich Räucherwerk abbrennen und einige Beschwörungsformeln dazu hersagen. Wenn sich dann die Erde auftut, mußt du ins Innere der Berge hineingehen. Dabei wirst du zwei Frauen und zwei Männer finden. Die Frauen werden tanzen und die beiden Männer auf der Trommel und der Flöte spielen, doch sieh nicht nach ihnen, sondern gehe weiter ins Innere hinein. Danach wirst du vier Personen finden, die ihnen ähnlich sind, doch schaue nicht nach ihnen. Dann wirst du ein Zimmer vor dir sehen, und wenn du in das Zimmer hineingehst, wirst du dort ein Fenster finden. Im Fenster stehen zwei brennende Kerzen, und dazwischen ist eine Tonflasche mit Wasser. Lösche die beiden Kerzen, dann nimm die irdene Flasche und die zwei Kerzen mit und gehe hinaus. Auch beim Hinausgehen schaue dich nicht um, wie ich dir gesagt h a b e . . . und nimm dich in achtl" Abul Hasan sprach: „Ja." Dann begann der Mann Räucherwerk abzubrennen und Worte herzusagen, und die Erde tat sich auf, wie er gesagt hatte. Abul Hasan ging hinein und fand alles so, wie es ihm der Maghrebiner beschrieben hatte. Abul Hasan wanderte in den Berg hinein, ohne sich umzuschauen, bis er das Zimmer erreicht hatte. Dann nahm er die zwei Kerzen und die Toriflasche, doch während er beim Hinausgehen war, wunderte er sich, wie wohl die vier Personen aussahen, und schaute zu ihnen hinüber. Plötzlich schloß sich die Erde über ihm. Der Maghrebiner begann zu weinen und sagte: „O Allmacht Allahs, ich habe meine ganze Hoffnung auf diesen Mann gesetzt, doch der Mann, der eben noch bei mir war, wird nicht wieder zu mir zurückkehren." Dann bat er Allah, diesem Mann mit Gutem zu vergelten, und ging traurig davon. Dies zur Geschichte des Maghrebiners. Abul Hasan aber hatte seinen Sinn auf Allah gerichtet, dem allein Ruhm und Ehre sei, und sprach: 231
„ O Herr, du bist allwissend, und nichts ist dir verborgen. Ich bitte dich inständig, o Herr, daß du mich vom Inneren der Erde zum Ausgang gelangen läßt, damit ich wieder die frische Luft atmen kann, wie ich es zuvor tat." Allah erhörte seine Worte, und durch die Macht des Schöpfers tat sich der Boden auf. Abul Hasan kam aus dem Leib der Erde auf ihren Rücken, wo er vorher gewesen war, aber nun hatte er die beiden Kerzen und die Tonflasche bei sich. Er lobte Allah für seine Güte und seine Macht und kehrte nach dem Zelt zurück. Dort fand er seine. Mutter, die gerade die Abwesenheit ihres Sohnes beweinte. Als sie ihn sah, sprach sie zu ihm: „Preis sei Allah, daß er dich in seinen Schutz genommen hat, mein Sohn!" Abul Hasan sagte: „Allah hat dich vor Unheil bewahrt." Dann begann er ihr von allem, was sich zugetragen hatte, zu erzählen, aber er erwähnte nichts von den Dingen, die er mitgebracht hatte. Eines Tages vergaß Abul Hasan, Öl für die Lampe mitzubringen. Da entsann er sich, daß er zwei Kerzen bei sich hatte. Er holte die eine hervor und zündete sie an, doch sobald die Kerze das Zelt erleuchtete, erblickte er die vier Personen, die er zuvor gesehen hatte. Jede von ihnen hatte einen Beutel voll Geld bei sich. Nachdem sie ihren Tanz vollführt hatten, ließen sie den Reichtum zurück und gingen ihrer Wege. Da freute sich Abul Hasan, und am Morgen lief er ins Dorf. Dort traf er den Ausrufer, der gerade rief: „Land zu verpachten, hundert Feddan, und darin ein prächtiges Haus! Wer dies besehen will, zögere nicht, den Scheich Soundso zu treffen." Abul Hasan hörte diese Rede. Dann ging er zu dem verantwortlichen Mann, und sie einigten sich über die Kaufsumme. Danach ging Abul Hasan zurück, holte das Geld, schrieb den Kaufkontrakt, und der Mann erhielt die Bezahlung für das Land. Abul Hasan nahm es darauf in Besitz und baute an, was ihm behagte. 232
Eines Tages erschien der Mann vom Maghreb, um sich zu vergewissern, wie es der Sitt al-Husn ging, doch er fand das Zelt nicht mehr an seinem früheren Platz. Er fragte einen Bewohner des Dorfes, und dessen Antwort lautete: „Allah möge uns bescheren, was er ihnen gab. Abul Hasan hat ein Landeigentum und ein prächtiges Haus bekommen." Der Maghrebiner fragte ihn nach dem Ort, an dem das Landeigentum lag, und wunderte sich sehr, diese Neuigkeiten zu hören. Der Mann beschrieb ihm, wo sich das Serail befand, und er ging dorthin und bat um eine Zusammenkunft mit Abul Hasan. Als Abul Hasan Von seiner Anwesenheit erfuhr, ging er zu ihm und hieß ihn willkommen, und der Maghrebiner wunderte sich über alles, was er zu sehen bekam. Abul Hasan erzählte ihm von allem, was ihm widerfahren war, und erwähnte die Geschichte mit der Kerze. Danach erhob er sich, holte die zweite Kerze, reichte sie ihm und sagte: „Das ist dein Recht, mein Bruder." Der Maghrebiner nahm sie und verließ Abul Hasan nach fünfzehn Tagen Besuch. Einige Tage später hörte Abul Hasan, daß die Tochter des Königs der Stadt ein Augenleiden habe. Der König hatte erklärt, daß derjenige, welcher seine Tochter heile, vom König begehren könne, was er wolle. Der König wolle ihm alles erfüllen, was er sich wünsche. Allen Ärzten und Astrologen war es jedoch nicht gelungen, die Tochter des Königs zu heilen. Da sprach Abul Hasan: „Ich will hingehen und die Tonflasche mitnehmen." Er wußte zwar nicht, was sich in ihrem Inneren befand, aber er sagte sich: „Ich will hingehen, sei es auch nur, um die Tochter des Königs zu sehen." Als er am Schloß des Königs angelangt war, sagte er zu den Wächtern: „Wenn es Allah gefällt, will ich die Tochter des Königs heilen." Da ließen sie ihn zu ihr kommen. Viele Ärzte standen um die Königstochter herum. Sie behaupteten alle, daß es keine Hoffnung gebe, sie zu heilen, aber als Abul Hasan auf eine 233
Eingebung von Allah hin etwas Wasser aus der Tonflasche nahm und einige Tropfen davon auf ihre Augen brachte, konnte sie plötzlich sehen wie zuvor. Abul Hasan kannte das Geheimnis dieses Wassers nicht. D a untersuchten die Ärzte dieses Wasser und fanden, daß es das Wasser des Lebens war. Wenn irgendein Kranker damit behandelt wird, gesundet er von all seinen Krankheiten, wenn es Allah gewährt. Als der König sah, daß seine Tochter geheilt worden war, sprach er zu Abul Hasan: „Äußere deinen Wunsch, welch ein Mensch du auch sein magst." D a sagte Abul Hasan: „Das Wort von Königen wird nicht zurückgenommen." Der König antwortete ihm: „Es ist richtig, es wird nicht zurückgenommen." Darauf sprach Abul Hasan: „Ich möchte um die Hand deiner Tochter bitten, die krank gewesen ist." Der König war einverstanden, und Abul Hasan heiratete die Tochter des Königs, und sie lebten in beständigem Glück und Gedeihen, und somit bestätigte sich: Der Freigebige wird nie gedemütigt.
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DER ESEL DES GROSSMÜTTERCHENS
CHADIDSCHA
Das Großmütterchen Chadidscha ging am späten Nachmittag aus, um sich einer Gruppe von alten Frauen anzuschließen, die in das Dorf al-Fedida gehen wollten. Dieses Dorf al-Fedida lag zwei Meilen vom Heimatdorf der alten Chadidscha und ihrer Gefährtinnen entfernt. Der Nachmittag war fast zu Ende, und es fehlten nur noch einige Minuten bis zum Sonnenuntergang. Chadidscha beschleunigte ihre Schritte und folgte den Frauen. Schließlich dauerte es nur noch einen Augenblick, ehe die Sonne unterging. Als sie eine Meile gewandert waren, wurde Chadidscha müde und sprach zu ihren Gefährtinnen: „Lauft weiter, lauft weiter, ich werde euch folgen!" Ihre Gefährtinnen sagten: „Wir wollen stehenbleiben und auf dich warten." Chadidscha rief: „Lauft nicht so schnell, meine Glieder sind von der nächtlichen Wanderung in diesem sandigen Gelände müde geworden." Großmütterchen Chadidscha setzte sich nieder und wartete, bis sie nicht länger die Stimmen ihrer Gefährtinnen hörte. Sie glaubte nicht mehr, daß sie sie noch einholen könnte. Dann begann sie Schritt für Schritt weiterzuwandern. Da fand sie einen großen Oscherstrauch, brach einen Ast davon ab und stützte sich darauf, doch kaum hatte sie das getan, als eine Herde von weißen Eseln vor ihr auftauchte. Sie nahm sich einen Esel und ritt auf ihm. Er flog mit ihr wie der Wind dahin, bis sie die Frauen erreichte. Dann überholte sie die Frauen, und sie gewann vor den Frauen einen so großen Vorsprung, daß sie nicht länger ihre Stimmen vernehmen konnte. Doch plötzlich blieb der Esel stehen, und rührte sich nicht mehr von der Stelle. Da fing sie an ihn mit dem Stock 235
zu schlagen, doch er blieb stehen. Bald näherten sich die Stimmen der Frauen. „O Chadidscha, dein Esel ist müde geworden, steige ab und laufe mit uns!" „Nein, meine Schwestern, geht weiter, ich werde euch folgen!" Sie gingen an ihr vorüber, bis ihre Stimmen verhallten. Da setzte sich der Esel plötzlich in Bewegung, und sie holte ihre Gefährtinnen ein und sprach zu ihnen: „Seht, habe ich euch nicht gesagt, daß ich euch folgen werde?" Dann überholte sie ihre Gefährtinnen, bis ihre Stimmen nicht mehr zu hören waren, und der Esel blieb zum zweiten Male stehen und rührte sich nicht von der Stelle. Da versetzte sie ihm einen kräftigen Schlag. Ihre Gefährtinnen kamen an ihr vorüber und sprachen zu ihr: „Chadidscha, sieh, das Dorf ist nahe. Ach Schwester, steige herunter von diesem störrischen Esel 1" Doch Chadidscha sagte: „Meine Schwestern, habe ich euch nicht gesagt, daß meine Glieder nicht ertragen können, bei Nacht zu wandern? Es ist besser für mich, wenn ich diesen Esel habe. Es widerstrebt ihm, euch zu folgen, bevor ihr nahe an das Dorf herangekommen seid." Aber der Esel weigerte sich und wollte sich nicht regen. Schließlich nahm sie ihn am Ohr und biß ihn ordentlich hinein, bis er blökte: „Ham, ham, him, ha, heja . . . " Und sie biß ihn zum zweiten Male, doch er blökte noch viel lauter. Dann erhob er ein Vorderbein und streckte es Großmütterchen Chadidscha entgegen. Ein großer Dorn saß darin. Gleichzeitig fletschte er grinsend seine Mahlzähne und sprach in deutlichem Arabisch zu der alten Chadidscha: „Ach Großmütterchen, ziehe mir in Allahs Namen diesen Dorn heraus." D a erschrak die Alte über die Rede des Esels und sprach den Thronvers, und damit verschwand der Esel aus ihren Augen, denn er war eine satanische Erscheinung gewesen. 236
31 VON EINER
SÄULE ZUR
ANDEREN
Ein tyrannischer König ärgerte sich über einen rechtschaffenen Scheich, der die Angewohnheit hatte, ihm die Worte der Wahrheit ins Gesicht zu sagen, und dem König furchtlos vorhielt, was er über sein Handeln dachte. Wenn der König einem seiner Untergebenen zürnte, forderte er ihn auf, sich irgendeine Art Essen auszusuchen, von dem er leben konnte, und danach befahl er, ihn ins Gefängnis zu werfen. Dann ließ er ihm das Essen bringen, das er sich gewählt hatte; aber kein Mensch verträgt eine einzige Speise auf längere Zeit. Bald ekelt ihn das Essen an, er siecht dahin, und Schwäche und Überdruß zehren so lange an ihm, bis er stirbt. Als sich der König über den rechtschaffenen Scheich erzürnte, forderte er ihn auf, sich eine einzige Speise auszusuchen, von der er leben konnte. Der Scheich wußte, daß Allah die Kinder Israel mit einer einzigen Speise auf die Probe gestellt hatte und sie darauf versagt hatten. 1 Er wählte deshalb Hammelköpfe, da diese mehrere Sorten Fleisch von verschiedenem Geschmack enthalten. Das Eßbare der Zunge schmeckt anders als das Eßbare der Augen und wieder anders als das Fleisch der Stirn. Damit läßt sich der Überdruß vermeiden, zu dem eine einzige Art Essen führt. So kam der Scheich ins Gefängnis und lebte von Hammelköpfen. Die Jahre gingen dahin. Der König setzte seine Unterdrückung fort, und der Scheich hielt geduldig in seinem Gefängnis aus. Plötzlich besann sich der König auf den eingesperrten Scheich. Er wunderte sich, wie dieser Scheich immer noch am Leben sein konnte, während diejenigen, die 1
A l s Moses sie durch die Sinai-Wüste führte, beklagten sie sich, daß Allah ihnen nur Manna und Schwärme von Wachteln bescherte, und verlangten alle Früchte, die die Erde hervorbringt (Koran 2, 5 7 - 6 1 ; Bibel, 2. Moses 16).
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vor ihm im Gefängnis waren, eine einzige Speise nicht ertragen konnten und nach einigen Monaten starben. Dieser Scheich aber lebte jahrelang. D a packte den König die Wut. E r ließ den Kerkermeister zu sich kommen, der mit seiner Bewachung betraut war, und fragte ihn nach dem Zustand des Scheichs. D e r Kerkermeister sagte, daß er bei guter Gesundheit sei und seine gesamte Zeit mit Beten, Andachtsübungen und der Rezitation des Koran zubringe. D e r König sprach: „Bittet er dich nicht um irgend etwas, oder sagt er etwas zu dir?" D e r Kerkermeister sprach: „Ach nein, er hat all die verflossenen Jahre im Gefängnis zugebracht, ohne daß ich ihn ein einziges Wort äußern hörte. Gestern aber hat er mich gebeten, sein Bett aus der Nähe der einen Säule, neben der er gesessen hatte, nach der anderen Säule zu rücken." D a schrie der König laut auf und rief voller W u t : „Das Wird niemals geschehen! Nimm dieses Lammfell und bringe es ihm!" Der Kerkermeister trug das Lammfell fort, ging zu dem Scheich und sprach: „Dieses Lammfell hat dir der König geschickt." D a lächelte der rechtschaffene Scheich still und friedvoll. Dann nahm er einen Nagel, der neben ihm lag, und sprach zum Kerkermeister: „Ich habe das Geschenk des Königs angenommen, doch ich bitte dich, zu ihm zu gehen und ihm diesen Nagel zu überbringen." D e r Kerkermeister gewährte ihm die Bitte und trug den Nagel zum König, doch kaum hatte ihn der König erhalten, als ihn auf der Stelle eine Schwäche überkam. Sein Gesicht hatte einen Ausdruck sprachlosen Entsetzens angenommen, dann rief er mit dem Röcheln eines Sterbenden: „Setzt den Scheich in Freiheit, der zu Unrecht eingekerkert worden ist!" D a erkundigte sich das Gefolge des Königs nach dem Geheimnis der plötzlichen Veränderung, die mit ihm vorgegangen war. E r sprach:
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„Dieser Scheich, hat mich mit einer eindringlichen Mahnung belehrt und mir die Wirklichkeit des Lebens gezeigt. Er hat den Kerkermeister gebeten, ihm das Bett von einer Säule zur anderen zu rücken. Damit wies er auf das Sprichwort: Von einer Säule zur anderen 1 setzt Allah die Befreiung ins Werk. Dann sandte ich ihm durch den Kerkermeister ein Lammfell und meinte damit: Selbst wenn dein Alter so viele Jahre zählte, wie dieses Fell Haare hat, wirst du nicht das Gefängnis verlassen. Seine Antwort darauf war, daß er mir einen Nagel schickte, mit dem er mir sagte: Willst du einen Nagel in das Himmelsgewölbe treiben, um seine Bewegung aufzuhalten? Du hast einen Schwur getan, daß die Zeit stillestehen soll, doch niemand vermag die Bewegung des Himmelsgewölbes aufzuhalten, wie stark und mächtig er auch immer sein mag." 1
D a s bedeutet auch: von Stufe zu Stufe.
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DER HADSCH
MAHMUD
Die Härte und die Beschränkungen des Fastens waren zu Ende, und die Leute wandten sich den Freuden und der Fülle des Bairamfestes zu. Damit begannen gleichzeitig die Monate der Pilgerfahrt 1 und der Vorbereitung auf den Besuch von Allahs geheiligtem Haus. Mahmud beschloß, die Pilgerfahrt zu unternehmen. Er war ein junger Mann, in allem erfahren, was die Welt bot, kannte die guten und die schlechten Seiten des Daseins und hatte das Süße und das Bittere zu kosten bekommen. Er war auf der Rennbahn der Laster mitgelaufen und hatte alles erlangt, was ein Mann in seinen Jahren erreichen kann, außer einer Frau. In seiner Kindheit hatte er einen alten Mann zum Nachbarn gehabt, dessen Tochter wie ein Weidenzweig war und wie der Duft, der vom Basilikum ausströmt. Sie vereinte Anmut mit gewandtem Ausdruck und Liebreiz mit Frohsinn 2 . Mahmud begann sie zu umwerben und ihr verliebte Worte und Blicke zuzuwerfen, doch sie wies ihn freundlich ab und wich ihm standhaft aus. Er erzürnte über ihren Stolz und mißverstand ihre Zurückhaltung und ihren Wunsch, keusch zu bleiben, und stürzte eines Tages auf sie zu und entriß ihr mit Gewalt einen Kuß. Sie versetzte ihm eine schallende Ohrfeige, daß ihm die Funken aus den Augen stoben. Dann sagte sie, von Tränen überwältigt: „Wenn auch mein Vater so schwach ist, daß du vor ihm sicher sein kannst, und ich keine Brüder habe, die mich verteidigen, so wird mir doch Allah Genüge tun, und vor ihm mußt du dich am meisten hüten und fürchten." 4
2
Die drei auf den Fastenmonat folgenden Monate. Die Riten der Pilgerfahrt finden zu Beginn des dritten Monats statt, die vorausgehenden Monate sind für die Reise bestimmt. Wörtlich: leichtes Blut; gemeint ist ein frohes und leichtes Hinweggehen über Not und Schwierigkeiten.
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Die Ohrfeige versetzte Mahmud in Wut, und er wollte sie schlagen und züchtigen, doch als er ihre letzten Worte hörte, wurden seine Hände schlaff und sein Herz demütig. Er schaute schweigend zu Boden, dann lief er auf seinen Fersen 1 nach Hause zurück. Als der Freitag kam, stand er auf, wusch sich und ging zur Moschee und verrichtete das Freitagsgebet seit zehn Jahren zum ersten Male wieder. Ja, früher war er mit seinem Vater zur Moschee gegangen, denn sein Vater gehörte als alter Mann zu den frommen Gläubigen. Als dann aber sein Vater starb, fuhr Mahmud noch einige Monate in dieser Frömmigkeit fort, doch danach ging er seinen Vergnügungen und Lastern nach und betete keinen einzigen Raka mehr, bis eben der denkwürdige Freitag kam. Nach jenem Tag, der nun fünfzehn Jahre zurücklag, kehrte er wieder auf den rechten Weg zurück. Er legte sich jede Nacht Rechenschaft ab, was seine Hände für Schaden angerichtet hatten, schrieb es auf und versuchte es eins zu eins in Ordnung zu bringen. Jeden Tag öffnete er zu regelmäßigen Zeiten seinen Laden, kaufte und verkaufte, gab Geld für sich aus, aber legte auch Geld beiseite, um damit den Bedürftigen und Notleidenden Gutes zu tun, wie es Allahs Gebot ist. Als er sich entschloß, auf die Wallfahrt zu gehen, hatte er dafür eine Summe von fünfzig Dinar zusammengespart. Er wollte jedoch zu Allah und seinem heiligen Haus mit lauterem Herzen pilgern und rein von jedem Schandfleck sein. Er wusch hinweg, was es zwischen ihm und den Leuten gab, legte sich Rechenschaft ab und versuchte jedem Erstattung zu geben, der bei ihm ein Recht darauf hatte, auch wenn es nur unbedeutend und gering war. Er bat jeden um Vergebung, dem er aus Unverstand oder Unaufmerksamkeit etwas Schlechtes zugefügt hatte, und verbrachte damit eine Zeit, die keineswegs kurz war. Dann glaubte er, alle Anstrengungen gemacht und ins reine gebracht zu haben, was es zwischen ihm und den Leuten gab. Das hatte ihn große Mühe und zugleich auch zehn Dinar an Erstattung gekostet, die er 1
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Er lief geschwind hinweg. Arabische Volksmärchen
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seinen Leuten gegeben hatte. So waren ihm vierzig Dinar geblieben, und er meinte, sie würden für die Ausgaben zur Pilgerfahrt genügen. D a entsann er sich seiner Nachbarin, des jungen Mädchens, das ihn vor fünfzehn Jahren abgewiesen hatte und deren Worte die Ursache für seine Rückkehr zu Allah und seine Reue gewesen waren. E r beschloß, zu dem Mädchen zu gehen und sie um Vergebung zu bitten. E r suchte, wo er meinte, sie finden zu können, doch er konnte sie nicht aufspüren. D a fragte er nach ihr, aber die Nachrichten von ihr waren blind für ihn, 1 doch er verzweifelte nicht. Darauf erfuhr er, daß sie seit zwölf Jahren verheiratet war und in einer nahen Stadt wohnte. Dennoch setzte er vorsichtig seine Erkundigungen fort und verbarg dabei seine Absicht, bis er ihr Haus kannte und erfuhr, daß ihr Mann vor einem Jahre gestorben war. E r beschloß, sie zu besuchen und um Vergebung zu bitten, denn außer ihr war niemand mehr übrig, den er um Verzeihung und Vergebung bitten mußte. Wenn sie ihm vergeben hatte, wollte er mit beruhigtem Herzen und erleichterten Gedanken die Pilgerfahrt antreten. E r machte sich auf, nachdem sich die Stille der Nacht herabgesenkt hatte, in der alle Menschen ihr Lager aufsuchen. Verstohlen ging er zu ihrem Haus und klopfte an die Tür. Sie fragte, wer angeklopft habe, und er sagte ihr seinen Namen, beruhigte sie und ließ sie wissen, zu welchem Zweck er gekommen sei. Dann bat er sie, ihm zu öffnen, und blieb an der Tür stehen. Sein Blick fiel zufällig in das Zimmer, in dem sie wohnte, und er erschrak, da es leer war bis auf eine Strohmatte, deren Rand unter einem Haufen sichtbar wurde. Auf diesem Haufen lagen einige zerlumpte Bettdecken, und von darunter drang ein leises Stöhnen und schmerzliches Weinen hervor. E r fragte sie danach, und sie sagte: „Das sind meine sechs verwaisten Kinder. Sie liegen nahe aneinander gedrängt, und jedes wärmt die Geschwister, die neben ihm liegen, denn der Kanun ist bitter kalt, und sie weinen vor Hunger. Seit zwei Tagen haben sie kein anderes 1
E r konnte nichts in Erfahrung bringen.
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Essen zu kosten bekommen als ein paar Schnitten von einem Laib Brot, den uns unsere Nachbarin gestern abend schickte. Wie kann ein Laib Brot zwei Tage lang für sie reichen?" Dabei glänzten Tränen in ihren Augen. Er hörte ihre Stimme, während sie weinte, und wußte, daß sie selbst gewiß nichts von jenem Brotlaib gegessen hatte. Da sagte er mit gerührter und von Tränen erstickter Stimme: „Ich hätte niemals damit gerechnet, daß es so weit mit dir gekommen wäre." Sie sprach: „Allah weiß, wieviel wir seit dem Tode meines Mannes erlitten haben. E r war freigebig und nicht zurückhaltend im Geldausgeben, aber er hatte keine anderen Einnahmen als die von seiner täglichen Arbeit. Das reichte für unseren Bedarf aus und gewährleistete uns ein behagliches Leben, aber konnte uns niemals Ersparnisse sichern. Als er starb, suchte ich nach Arbeit, es mochte irgendeine Arbeit sein, sogar als Waschfrau in den Häusern anderer Leute, die mit Brotkrumen und übriggebliebenem Essen für ihre Kinder zufrieden ist. Manchmal war ich mit Erfolg gesegnet, doch in den meisten Fällen wurde das Dasein eng vor meinem Angesicht. Ich half mir mit dem Verkauf von Möbeln und Hausgerät, bis nichts mehr übrig war, was wir verkaufen konnten, und das Leben so wurde, wie du es siehst. Es ist mir nichts geblieben, das ich bis jetzt nicht verkauft habe, außer meiner Keuschheit, und ich weiß nicht, wie lange ich sie noch bewahren kann." Mahmud begann laut zu weinen. Dann ging er schnell aus dem Haus, ohne darauf zu achten, wo er hintrat, und begab sich geradewegs zum Haus seines Nachbarn, der Esel vermietete. Er weckte ihn aus seinem Schlaf und sagte: „Steh auf und komm mit mir und hole deine beiden Esel!" Er machte sich mit ihm auf, und sie gingen zu seinem Laden, aus dem er Mehl, Samn, Reis, Dibs, Brot, Halwa, Öl, Oliven, Seife, Zwiebeln, Kartoffeln, Kohlen und Erdöl heraustrug. Dann sagte er zu dem Nachbarn: „Laß uns eilen, damit wir die Stadt Soundso vor der Morgendämmerung erreichen." Der Eseltreiber spornte seine beiden Esel an und erreichte das Haus der Witwe, bevor die Sonne aufging. Mahmud 16*
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klopfte bei der Frau an die Tür. Sie öffnete ihm, und er lud die Lasten von den beiden Eseln ab, dann sagte er: „Mache einstweilen davon Gebrauch!" Danach bezahlte er dem Eseltreiber einen Dinar und ließ ihn schwören, dieses Geheimnis zu bewahren, solange Mahmud am Leben war. Während des Tages kaufte Mahmud Kleider für die Kinder, drei Matratzen, einen Teppich und Bettücher. Außerdem sandte er ihr ein Qintar Weizen, einen Sack Reis und einen Kanister voll Ö l und sagte zu ihr: „Gestatte mir, dein Bruder in Allah zu sein, und bei Allah, ich will keine Mühe sparen, um für diese Waisenkinder zu sorgen, solange ich lebe. Allah möge mir dazu verhelfen! Ich begehre nichts weiter, als Allah wohlgefällig zu sein und seinen Segen zu erhalten. Vielleicht könnte dies eine Wiedergutmachung für das Leid sein, das ich dir zugefügt habe, und du könntest mir vergeben!" Sie dankte ihm und wünschte ihm Erfolg, Wohlergehen und Allahs Segen. Mahmud stellte nun eine Rechnung an, und siehe da, er hatte bei dieser T a t fünfunddreißig Dinar ausgegeben. Es blieben ihm nicht mehr als fünf Dinar. Sie reichten nicht aus für die Kosten seiner Wallfahrt, ja nicht einmal für die halbe Hinfahrt. Doch er war nicht traurig darüber, sondern sagte: „Wenn mir die Wallfahrt in diesem Jahre bestimmt gewesen wäre, hätte sie gewiß stattgefunden." D i e Pilgerkarawanen reisten von der al-Aksa-Moschee in Jerusalem, deren Bezirk Allah gesegnet hat, nach der Heiligen Moschee in Mekka, die Allah zum Treffpunkt der Menschen und zu einer Stätte der sicheren Zuflucht gemacht hat. Als die Pilger ihren Versammlungsplatz außerhalb Mekkas erreicht hatten, traten sie in den Weihezustand ein und riefen „Labbaika" 1 . Sie umschritten die Kaaba, machten den Schnellen Lauf zwischen Safa und Marwa, standen auf dem Berge Arafat, liefen eilig hinunter nach Muzdalifa, warfen Kieselsteine gegen den Satan, ließen sich das Haar schneiden und schlachteten die Tiere. Danach führten sie die Abschieds1
„Hier bin ich", „ich bin bereit". Über Riten und Namen s. Nachwort
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umschreitung der Kaaba aus und beendeten die Riten der Wallfahrt an ihrem Versammlungsplatz. Dann traten sie den Rückweg an und kehrten wieder in ihr Land heim. Mahmud hatte, wie es alle Leute taten, die Nachrichten von den Pilgern immerfort verfolgt. Als sich die Mekkapilger ihren Heimstätten näherten, sandten sie Boten voraus, um anzukündigen, daß sie wohlbehalten rückkehrten. Da begannen die Leute Schmuck anzulegen und Fackeln anzuzünden. In die Abendunterhaltung der Familien der Pilger mischten sich frohe Lieder, die besonders für diese Gelegenheit bestimmt sind und Tahannin heißen. Drei Tage nach der Ankunft der Boten erschienen die Karawanen der Mekkapilger. Die Freudenfeste brachen an. Es wurde geschlachtet, und man teilte Essen an die Armen aus und an die Gratulanten, die sich einstellten, um die Pilger zu begrüßen und zu umarmen. Sie beglückwünschten sie mit den Worten: „Frommer Hadsch, Sünder, der Vergebung erlangte, In Dankbarkeit hast du den Schnellen Lauf getan, Und das Geschäft hat nie Verlust erlitten. 1 Bitte Allah um unsertwillen!" Der Hadsch pflegte dann als Antwort zu sagen: „Allah möge euch und uns vergeben!" Als sich die Schar der Gratulanten im Haus des Hadsch Raschid versammelt hatte, fragte er sie: „Ist der Hadsch Mahmud zurückgekehrt?" Da antworteten sie alle: „Mahmud ist gar nicht zur Wallfahrt ausgezogen. Wegen einer Sache, die wir nicht kennen, hat er die Pilgerfahrt aufgegeben." Raschid sagte: „Seltsam, ich habe ihn gesehen, wie er die Kaaba Umschrift, und sah, wie er am Lauf zwischen den Hügeln Safa und Marwa teilnahm, und darauf habe ich ihn gesehen, als wir in Eile vom Berg Arafat hinunterzogen. Ich habe ihn 1
Gewißheit, daß Allah die Pilgerfahrt nicht unbelohnt läßt. 245
dreimal gesehen, und es ist nicht möglich, daß mich meine Augen dreimal belogen haben." Die Leute widersprachen ihm, und er geriet in größte Bestürzung und Verwunderung und war maßlos erstaunt. Darauf fragten sie ihn: „Hast du etwas zu ihm gesagt, oder sprach er dich an?" Der Hadsch Raschid antwortete: „Nein, ich war jedesmal einige Meter von ihm entfernt." Unter den Leuten, die dem Gespräch zuhörten, befand sich ein frommer Mann. Danach zogen die Leute zum Haus des Hadsch Sal im, und jener fromme Mann ging mit ihnen. Als sie sich niedergelassen hatten und zur Ruhe gekommen waren, fragte der Hadsch Salim: „Ist der Hadsch Mahmud zurückgekehrt?" Sie sagten: „Mahmud ist gar nicht zur Wallfahrt ausgezogen. Wegen einer Sache, die wir nicht kennen, hat er die Pilgerfahrt aufgegeben." Der Hadsch Salim sagte: „Eure Rede ist sehr merkwürdig! Ich habe ihn auf dem Berg der Gnade, dem Berg Arafat, gesehen. Ich sah, wie er in Mina Kieselsteine geworfen hat, und ich sah ihn ebenfalls bei unserer Rückkehr nach Mekka bei der Abschiedsumschreitung der Kaaba." Die Leute schauten einander an. Dann zogen alle Gratulanten zum Haus des Hadsch Ibrahim, und der fromme Mann befand sich wieder bei ihnen. Als sie die Begrüßung beendet und sich niedergelassen hatten und der Hadsch Ibrahim ihnen Datteln angeboten hatte, fragte er: „Ist der Hadsch Mahmud zurückgekehrt, denn ich habe ihn auf unserer Rückreise nicht gesehen?" Die Leute sagten: „Mahmud ist gar nicht zur Wallfahrt gegangen." Der Hadsch Ibrahim sprach: „Seltsam, was ihr da sagt. Ich folgte ihm auf der Wanderung zwischen Muzdalifa und Mina, und meine Hand ruhte eine Stunde lang auf seiner Schulter. Als er meine Schwäche /bemerkte, trug er meine Habseligkeiten." 246
Da sprach der fromme alte Mann: „Hast du etwas zu ihm gesagt?" Er antwortete: „Ja, ich habe ihn mehrmals angesprochen." Der alte Mann fragte: „Hat er mit dir gesprochen?" Der Hadsch Ibrahim sagte: „Nein, er war nur darin vertieft, ,Allahu akbar' zu rufen." Darauf sagte der fromme Gottesdiener: „Es ist wahr, was du gesehen und erzählt hast, und es ist wahr, was deine Brüder unter den Mekkapilgern gesehen haben. In gleicher Weise haben die Leute mit ihrer Behauptung recht, daß Mahmud nicht zur Wallfahrt ausgezogen ist." Dann ergänzte der fromme Gottesdiener seine Rede, indem er sagte: „Wenn sich Mahmud entschließt, eine Sache zu tun, die gut ist, so führt er sie aus. Er hatte vor, auf Pilgerfahrt zu gehen, und sein Entschluß war ernst, aber vielleicht hat er sein dazu gespartes Geld für eine fromme Tat ausgegeben, die er den Leuten gegenüber geheimhält. Daher sandte Allah einen Engel vom Aussehen Mahmuds, der an seiner Statt die Pilgerfahrt unternahm." Die Leute begannen zu rufen: „Preis sei Allah! Was mag es sein, wofür Mahmud das Geld ausgegeben hat, das für seine Wallfahrt bestimmt war?" Der Eseltreiber war anwesend und sprach: „Ich weiß es." Da erhob sich plötzlich eine Stimme, die ihn anschrie: „Schweige, mögest du keine Mutter haben!" Und siehe da, die Leute erblickten Mahmud an der Tür. Er war erschienen, um den Hadsch Ibrahim zu begrüßen.
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EIN ZUTRAULICHER AFFE IST BESSER ALS EINE GAZELLE, DIE DAVONLÄUFT
Zwei arme Männer wohnten zusammen in einem Zimmer an der Straßenseite. D e r Beruf des einen w a r das öffentliche Ausrufen, und der andere w a r ein Wasserträger. Jeder von ihnen verbrachte seinen T a g mit mühevoller Arbeit, kehrte d a n n m ü d e und erschöpft zur W o h n u n g zurück und brachte mit, was ihm das Geschick als Essen zubemessen hatte. Eines Tages langte ein dritter Armer bei ihnen an und bat um ihre Gastfreundschaft. Sie hießen ihn willkommen, und als er im L a u f e der N a c h t erfuhr, wie sie unter der schweren Arbeit zu leiden hatten, schlug er ihnen vor, das Essen f ü r ¿ie zuzubereiten, ihre Kleider zu waschen und alle Hausarbeit als Entgelt f ü r sein Essen zu verrichten. D i e beiden waren damit einverstanden. D a n n kehrten sie täglich von der Arbeit zurück und f a n d e n eine fertige Mahlzeit vor, und sie aßen und tranken den Tee, den er ihnen vorsetzte. D a n a c h vergnügten sie sich zur N a c h t mit G e p l a u d e r und lösten sich im Haschischrauchen ab, bis ihre Sinne schwanden. Eines Nachts ging der Sultan mit seinem Wesir aus. Beide waren verkleidet und wollten sehen, was in der Stadt vorging. D a b e i blieben sie vor dem geschlossenen Zimmer der drei Gefährten stehen. Sie beobachteten sie heimlich und hörten zu, was die Bewohner dieser Stätte sprachen. Zufällig vernahmen sie, wie der Wasserträger sagte: „Wenn doch der Sultan die G ü t e hätte, mir ein geschwindes Reitpferd zu geben, das eine Strecke von zehn Tagen in einem einzigen läuft, sowie Kleider von Seide und eine ganze Last voll G o l d , und wenn er mich doch mit seiner Tochter verheiraten w ü r d e ! " D e r Ausrufer sagte: „Was mich anbelangt, so wünschte ich mir nur, er gäbe mir d a s Pferd, die Kleider und das G o l d . " D a r a u f sprach der Arbeitslose:
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„Ich dagegen sage: Wahrlich, es ist Allah, der die Gaben beschert, wem es Allah nicht gibt, dem vermag es kein Mensch zu geben." Nachdem der Sultan diese Worte gehört hatte, kehrte er auf sein Schloß zurück und befahl, jene drei Gefährten vorzuführen. Sie wurden zu ihm geführt, und die Angst brachte sie nahezu um. Der Sultan forderte jeden auf, seine Wünsche zu wiederholen, die er in der vergangenen Nacht geäußert hatte. D a wiederholte der Wasserträger, was er gesagt hatte, und der Sultan befahl, daß ihm alles gegeben werde, was er sich wünschte. Darauf schloß er den Heiratskontrakt für seine Tochter mit ihm ab und ordnete an, daß sie augenblicklich mit ihm davongehen sollte, ferner befahl er, daß der Ausrufer alles erhielt, was er sich gewünscht hatte. Den Arbeitslosen jedoch, der sagte, daß es Allah sei, der Gaben des Segens beschere, befahl er zu fesseln und auf den Hof zu werfen. Seine beiden Gefährten zogen davon. Jeder von ihnen saß auf seinem Pferd und hatte das Gold bei sich. D e r Wasserträger führte außerdem seine Gemahlin, die Prinzessin, mit sich. D i e beiden wandten sich noch einmal nach ihrem gefesselten Gefährten um und verspotteten ihn, dann schlugen sie den Weg ein, der in die Umgebung der Stadt führte. Danach befahl der Sultan, jenem unglücklichen Mann die Fesseln abzunehmen und ihn vom Schloßhof zu jagen, denn er hatte nichts vom Sultan begehrt, vielmehr nur um Allahs Segen gebeten. Nun befand er sich in einer schweren Lage, er besaß nichts und würde ohne Zweifel vor Hunger sterben. Darum beschloß er, seinen zwei Gefährten zu folgen, vielleicht könnte er sein Essen von ihnen bekommen. D i e beiden Reiter und die Prinzessin waren an einen entfernten Ort gelangt und verspürten Durst. Als sie ein nahegelegenes Schloß entdeckten, wollten sie dort um Wasser bitten. Vielleicht fänden sie Wasser darin. So klopften sie ans Tor, und ein schwarzer Diener kam heraus. Der Wasserträger bat um Wasser, und der Diener ging davon, um den Herrn des Schlosses zu fragen. Dieser befahl, den Wasserträger hereinzuführen. Als er vor den Schloßherrn trat, sah er, daß dieser ein schöner Greis mit schneeweißem Bart war,
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der in einem Zimmer saß, das mit den teuersten Möbeln ausgestattet war. Auf seinen Knien saß ein Affe, und vor ihm stand eine Tafel mit allen Arten von Speisen und erfrischenden Getränken. Neben ihm befand sich ein Sklavenmädchen mit strahlendreiner Haut und von einer auserlesenen Schönheit. Da sprach der Greis zu dem Ankömmling: „Was ist das irdische Leben?" Der Wasserträger antwortete: „Du fragst mich nach dem Leben und lebst dabei in solchen Verhältnissen! Der Sultan hat sich nicht in Kleider wie du gekleidet, noch besaß er ein solches Sklavenmädchen, und man kochte ihm nicht solche Speisen, die es auf deiner Tafel gibt." Der Greis sprach: „Dann ist dies das Leben nach deiner Ansicht?" Der Wasserträger sagte: „Ja!" Da blies der Greis ins Angesicht des Wasserträgers und verwandelte ihn in ein Standbild aus Stein. Darauf schickte die Tochter des Sultans den Freund ihres Mannes hinein, um nach ihm zu suchen und ihr einen Trunk Wasser zu holen. Der Ausrufer bat um Wasser, und der Diener erkundigte sich bei seinem Herrn. Der befahl, ihn hereinkommen zu lassen, und richtete die gleiche Frage an ihn, die er an seinen Gefährten gerichtet hatte, und der Ausrufer gab ihm die gleiche Antwort. Da blies ihm der Greis ins Angesicht und verwandelte ihn in ein Standbild wie seinen Gefährten. Unterdessen langte der Arbeitslose, der dritte der Gefährten, der den Spuren der anderen gefolgt war, an diesem Orte an und fand die Tochter des Sultans allein mit den beiden Pferden. Sie erzählte ihm, daß die zwei Männer im Inneren des Schlosses verschwunden waren. Da forderte er sie auf, ein wenig zu warten, und begehrte Einlaß. Der Diener fragte seinen Herrn um Erlaubnis, und dieser befahl, den Arbeitslosen eintreten zu lassen. Als er vor dem Greis stand und sah, was seine beiden Gefährten gesehen hatten, richtete der Greis die übliche Frage an ihn: „Was ist das irdische Leben?"
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Der Arbeitslose sagte: „Das Leben ist: Zu essen, was es gibt, Kleider zu tragen, die beschützen, Ein zutraulicher Affe und nicht Eine Gazelle, die davonläuft." 1 Der Greis bat lächelnd um Wiederholung dieser Worte der Weisheit, und der Arbeitslose sagte sie noch einmal. Dann sprach der Greis: „Wegen ihrer Ansichten habe ich viele Menschen verurteilt und in erstarrte Steinbilder verwandelt, denn jeder erzählte mir, daß ich besitze, was der Sultan nicht besitzt. Das Leben macht für sie nur das aus, was es bei den Sultanen gibt, und sie sehen nicht die anderen Gesichter, die das Leben besitzt. So ist mir eine große Zahl von Jahren an diesem Ort dahingegangen, und ich habe auf den gewartet, für den diese göttlichen Gaben, die du hier siehst, bestimmt sind, bis du gekommen bist, und ich erkannte, daß du ihr rechtmäßiger Besitzer bist. Darum nimm, was dir Allah beschieden hat, auf den du immer vertraut und bei dem du stets Zuflucht gesucht hast. Diese reichen Gaben fallen dem zu, der seine Zuflucht bei Allah sucht. Alle, die vor dir zu mir kamen, suchten ihre Zuflucht beim Sultan, Wesir oder beim Geld, und damit gehe ich meiner Wege." D a ging der Greis hinaus, nahm das Sklavenmädchen, den Affen und den Diener mit und überließ dem Mann den umfangreichen Besitz. Der Arbeitslose ließ dann die Tochter des Sultans hereinkommen und erzählte ihr, was ihm widerfahren war, und sagte ihr, sie solle als Gast bei ihm bleiben, bis er sie zu ihrem Vater zurückbringen würde. Sie bat ihn jedoch, bei ihm bleiben zu dürfen, bis ihr Vater den Wunsch verspürte, selbst nach ihr zu suchen, denn er verheiratete sie mit einem Menschen, den er nicht kannte, nur um eines Wortes willen, das er gesagt hatte. Dies könnte sie nicht dazu bewegen, zu ihm zurückzukehren. Sofort ließ der Reiche eine Dienerin und i 1
Der Affe verkörpert das Häßliche, die Gazelle das Schöne.
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einen alten Diener ins Schloß kommen, um der Tochter des Sultans auf2uwarten. E r selbst führte einen lobenswerten und dankbaren Lebenswandel. Der Sultan bereute, daß er seine Tochter mit einem unbekannten Mann verheiratet hatte, und nun wollte er sie suchen. E r sowie sein Wesir verkleideten sich und machten sich auf, in den Städten und Dörfern nachzuforschen, bis sie das Schicksal zu jenem Schloß führte. Sein Besitzer saß davor mit seinen Freunden. E r erkannte den Sultan und den Wesir, aber sie erkannten ihn nicht. E r hieß die beiden willkommen und nahm sie als Gäste bei sich auf. Dann befahl er, ihnen allerlei gute und wohlschmeckende Speisen herzurichten, und führte sie ins Badehaus, das gegenüber den Standbildern des Wasserträgers und des Ausrufers lag. Dann brachte er ihnen saubere Kleider zum Wechseln und entschuldigte sich bei dem König und dem Wesir, daß es bei ihm Brauch sei, die Gäste vor dem Essen baden zu lassen. Die beiden Männer fürchteten, daß dies verdächtig sei, aber als sie nach dem Waschen ins Eßzimmer hinaustraten, fanden sie eine prachtvolle Tafel mit den köstlichsten Gerichten. Danach kam der Tee. Dann bat der Herr des Hauses seine Gäste, zur abendlichen Unterhaltung Geschichten und Märchen zu erzählen, doch sie erklärten ihm, daß sie keine wüßten. E r fragte sie daher, ob er ihnen ein wunderbares Märchen erzählen dürfe, und sie bejahten es. Darauf begann er ihnen seine Geschichte mit seinen beiden Gefährten, dem Wasserträger und dem Ausrufer, vom Anfang ihrer Bekanntschaft zu erzählen. E r berichtete, daß sie zum Sultan gerufen wurden und dieser seinen Gefährteri gab, was sie sich gewünscht hatten, während er ihn wegjagte, weil er seine Bitte an Allah richtete und vom Sultan nichts begehrte. Als der Herr des Hauses am Ende dieser Geschichte angelangt war, erzählte er, was seine Gefährten erlebten und was ihm an Segen widerfuhr und wie er die Sultanstochter in seinen Schutz nahm, weil sie sich weigerte, zu ihrem Vater zurückzukehren, bevor er selbst nach ihr suchte, und wie ihr Vater mit seinem Wesir kam und sie nach ihr suchten. Der Sultan wunderte sich über die Sache, aber der Herr
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des Schlosses erklärte ihm, daß er ihn schon bei seiner Ankunft erkannt habe und daß sich seine Tochter im Schloß befinde. Darauf befahl er ihr zu erscheinen. Sie begrüßte den Vater und machte ihm Vorwürfe, sie mit einem unbekannten Mann verheiratet zujiaben. D a bat der Sultan den Herrn des Schlosses, seine Tochter zur Frau zu nehmen. Der wünschte aber, daß er sie mit zu ihrer Familie zurücknehme, bis er selbst zu ihr komme, um ihre Hand anhalte und ihr den erforderlichen Brautpreis und Armbänder überreiche. So geschah es. Darauf baute er der Prinzessin ein Schloß in der Stadt und heiratete sie. Die Leute wurden Zeugen der Festlichkeiten, und jeder, der anwesend war, bekam seinen Anteil an allem Guten, was es dabei gab.
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DIE BARMHERZIGKEIT DES HERRN DER WELTEN
E s war eine alte Frau von mehr als siebzig Jahren. Sie war im D o r f bei den Leuten bekannt wegen ihres dunkelblauen Kleides und ihres Korbes mit dem Strickhenkel, von dem sie sich nie trennte, und wegen des Stockes, auf den sie sich stützte, denn ihr Rücken war vom Alter und von den vielen Jahren krumm geworden. D e r Stock leistete ihr gute Dienste, um Zweige von den Bäumen des Waldes abzuschlagen und zu Brennholz zu zerkleinern, das sie dann in ihrem Haus verbrannte. D i e Alte hatte eine Reihe von Jahren allein gelebt, nachdem sie den letzten ihrer Söhne begraben hatte. Dann war sie dabeigeblieben, in den Wald zu gehen, Brennholz und lange Bambusstöcke zu sammeln und wilde Muluchija und andere Kräuter zu pflücken, um sie zu Ende des Tages in ihrem einzigen, irdenen Kochtopf zu kochen. D i e Kisra buk sie von Durramehl, mit dem die Nachbarsfrau sie unterstützte, auf dem Brotblech, unter dem sich immer erst nach einigen Monaten eine größere Menge Asche anhäufte. Dann pflegte die Alte einen eisernen Haken zu nehmen und damit die Asche herauszuholen, die das Anzünden des Feuers unter dem Brotblech erschwerte. E s verging eine lange Zeit, ehe die Alte Schwierigkeiten bei der Unterhaltung des Feuers hatte, wenn sie die Kisra buk. Eines Tages jedoch kam der Augenblick wieder, in dem sie merkte, daß das Feuer nicht mehr so brannte, wie sie es wünschte. D a nahm sie den Eisenhaken und begann die angehäufte Asche wegzuschieben. Auf einmal fühlte sie mit dem Haken etwas Hartes, als ob es ein Stein von der Größe einer Faust wäre. D i e Alte wunderte sich über diesen schweren Klumpen und schob ihn vorsichtig zur Seite, bis sie ihn von seinem Platz wegziehen und herausnehmen konnte. Sie ließ ihn abkühlen und fuhr fort die Kisra zu backen.
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Nachdem sie damit fertig war, wandte sie sich um und nahm den glänzenden Klumpen in ihre Hand und betrachtete ihn aufmerksam, doch sie zweifelte an dem, was sie sah, und dachte, daß ihre Augen vielleicht sehr schwach wären und die Dunkelheit der Küche die Ursache dafür sei. Sie nahm daher den Klumpen, trug ihn hinaus ans Licht der Sonne und wollte sich vergewissern, aus welchem Material er bestand. Da erkannte sie, daß er ein großes, schweres Stück reines Gold von der Größe einer Faust war. Nun verstand sie, daß er aus den kleinen Goldteilchen entstanden war, die sich mit Sand vermischt im Inneren der Bambusstöcke befunden hatten, die sie während der letzten Zeit im Walde gesammelt hatte. Als sie sicher war, daß sie reines Gold in den Händen hielt, erhob sie ihre Stimme und sagte: „Das ist die Barmherzigkeit des Herrn der Welten." Dann machte sich die Alte daran, ihren Klumpen zu zerschlagen, und ging zu einem ehrlichen Goldschmied in ihrem Dorf und verkaufte ein Stück davon. Damit verbesserte sich ihre Lage, und sie lebte glücklich, bis sie sich aufs Totenbett legte. Dann vermachte sie den Rest des Reichtums ihrer Freundin, der Nachbarin, die ihr in den Tagen der Not und des Elends etwas geschenkt und sie in den Tagen ihrer letzten Krankheit gepflegt hatte.
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ER WAR IN VERLEGENHEIT UND ERWIES I H N E N GASTFREUNDSCHAFT VON IHREM E I G E N E N BESITZ
Al-Lingib wad Abu Schawarib war einer der berühmtesten Volksdichter von al-Butana. Er war ein vertrauter Freund der meisten Beduinenscheiche und besonders des Scheichs der Araber Ibrahim wad Abu Sin. Daher pflegte dieser Scheich der Araber oft nach ihm zu senden und ihn zu bitten, daß er sich bei ihm einstelle und seine Zusammenkünfte mit den Stammesgenossen mit Freude und Frohsinn erfülle und ihn mit seinen Reimsängen preise, die dann von den Arabern weitergetragen wurden. Dann besangen die Karawanenfahrer den Scheich der Araber mit diesen Reimen, und man lauschte überall den neuesten Berichten über seine Gastfreundschaft, seine Tapferkeit und sein edles Handeln gegenüber den Stämmen nah und fern. Dieser al-Lingib hielt nicht damit zurück, dem Scheich der Araber Lob zu spenden, denn der war freigebig und geizte ihm gegenüber mit nichts. Jedesmal, wenn der Dichter fortzog und an die Heimreise zu seiner Familie und seinen Kindern dachte, gab ihm der Scheich der Araber die schönsten Geschenke. Eines Jahres blieb der Regen aus. Überall in al-Butana herrschten Unfruchtbarkeit und Dürre. Die Leute wurden verdrossen und klagten über die schlechte Lage, denn sie waren am Verhungern, und ihr Vieh verendete zusammen mit ihnen. Da dachte al-Lingib daran, den Scheich der Araber wieder einmal zu besuchen, doch seine Scham hielt ihn lange davon zurück. Beim vorigen Besuch war er mit viel Geld und Gaben zurückgekehrt, aber er hatte alles durch seinen Leichtsinn eingebüßt, bevor er zu seinen Kindern kam. Dieser Reichtum hätte ihnen nun in den Tagen der Dürre und Regenlosigkeit geholfen. Der Sohn von Abu Schawarib dachte über einen Vorwand nach, unter dem er nochmals zum Scheich der Araber gehen
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konnte, aber er fand keinen triftigen Grund. Er grübelte immer weiter darüber nach, als einmal zu Mitternacht - die Stimmen des Dorfes waren bereits verstummt - das Bellen der Hunde anzeigte, daß sich Reiter auf dem Wege näherten. Kurz darauf stiegen Gäste bei ihm ab. Er hieß sie freundlich willkommen und half ihnen, ihre Sachen von den Rükken der Kamele herunterzunehmen. Dann lud er sie ein, ins Haus zu treten. Darauf ging er zu seiner Frau hinein und sah, daß sie bekümmert und bestürmt war und nicht wußte, wie sie diesen Leuten Gastfreundschaft erweisen sollte, da sie doch nichts in ihrem Haus hatte. Der Sohn von Abu Schawarib aber wußte genau, was er seiner Ehre schuldig war, und ließ die Frau zu ihrem Bruder gehen und sagen: Schlachte ein Kamel der Gäste außerhalb ihrer Augenweite, und ihr Mann werde die Verantwortung für alles übernehmen, was danach geschehen sollte. Der Bruder der Frau kam und schlachtete das Kamel und brachte den Gästen das Essen. Sie aßen und wurden satt und legten sich schlafen. Am Morgen frühstückten sie vom Fleisch des Kamels und tranken Kaffee. Dann beschlossen sie weiterzureisen, doch sie vermißten ihr Kamel. Al-Lingib erklärte entschuldigend, daß er das Kamel geschlachtet habe, da sie bei ihm in einer schweren Stunde einkehrten und es ihn sehr bedrückte, sie nicht bewirten zu können und von der Türe weisen zu müssen, nachdem sie in sein Haus gekommen waren und seine Gastfreundschaft erwarteten. Er versprach, ihnen bald ein ähnliches Kamel zurückzugeben, Inschallah. Der Besitzer des Kamels war jedoch wütend. Sein Bruder stachelte ihn auf und riet ihm, mit al-Lingib zur Gerichtsversammlung des Scheichs der Araber zu ziehen, damit er über diesen Fall richten sollte, welcher der erste seiner Art war. So sah sich al-Lingib gezwungen, mit seinen Gästen aufzubrechen. Einer von ihnen ging hinter ihm her. Sie zogen zum Scheich der Araber, und als sie anlangten, klagten sie den Dichter an. Nachdem der Scheich der Araber die Geschichte gehört hatte, wandte er sich an al-Lingib und befragte ihn über die 17
Arabische Volksmärchen
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Sache. Der Dichter leugnete nicht, was geschehen war, und bestätigte die Wahrheit der Erzählung, doch er wies es von sich, daß er in böser Absicht gehandelt habe. Danach begann er den Scheich der Araber mit den folgenden unsterblichen Doppelversen zu preisen: „In Unterwürfigkeit kam ich zu dir, mein Freund, Ohne den noch keiner meiner Wünsche Erfüllung fand. Ibrahim, Stärke meines Geistes, Du mein Schild und Schwert, Geheimer Schatz für meine Kostbarkeiten, Du Vorrat meines Herbstes, meines Sommers, O Schleier du, der meinen Zustand hält verborgen Im Angesicht von meinem Nachbarn, meinen Frauen, meinem Gast. Kommt und sehet seine Großmut, Seinen Charakter, der niemals Unbehag erzeugt. Er gleicht dem Mann, der Knochen richtet Nach schwerem Bruch, wenn sie zu kurz und ausgerenkt. Freundlich ist er dem Nachbarn' gegenüber, Und sein Wesen zieht den Fremden an, Den Unerfahrenen geleitet er auf seinem Weg, Und dem Einfältigen hilft er, der vorüberzieht. Er prahlt nicht über edle Taten, Noch kommt der Geiz ihm in den Sinn. Und was er sagt, ist niemals seiner Phantasie entsprungen, Und kein Gerede noch Gerücht wird von ihm angehört. Zur Gabe ist seine Hand stets offen, Geziemend seiner Würdigkeit. Lächelnd und mit herzhaftem Lachen Empfängt er jeden an seiner Tür. Er wird nicht fett und träge, Der reglosen, geschwollnen Leiche gleich,
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Denn jeden neuen Morgen Nimmt seine Großmut zu. Er gleicht dem Proviant des Reisenden Wie auch dem Maß, mit dem der Nachbar Körner mißt. 1 Er stammt aus al-Dukhams Geschlecht, Und kein anderer Stamm könnte seitdem seinesgleichen gebären." Was blieb dem großmütigen Scheich der Araber anderes übrig, als den Anklägern ein gutes Kamel als Ersatz für das Kamel zu geben, das sein Dichter geschlachtet hatte. Und er reichte al-Lingib eine Summe Geldes und schenkte ihm ein Kamel, damit er in Ehren zu seiner Familie zurückkehren konnte. 1
D. h., er ist, wie diese beiden Dinge, unentbehrlich.
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36 D E R EMIR
BÄSCHIR
UND DER E N T F L O H E N E
MAMELUKE
Es war eine strenge Winternacht in den Bergen des Libanon. Die Kälte war grimmig, der Wind blies stürmisch, und der Schnee fiel auf die Berge und Niederungen wie zerzupfte Baumwolle und kleidete sie in ein weißes Gewand, das jene pechschwarze Finsternis erleuchtete. Die Mönche eines Klosters hatten sich in einem Raum im Kreis um die Feuerstelle niedergelassen und ein prasselndes Feuer entfacht und fingen an sich verschiedene Geschichten vom Emir Baschir zu erzählen, die von seinem Ansehen und seiner Tapferkeit handelten und wie er Sicherheit und Ruhe im Libanon gestiftet hatte. Als sie so beieinandersaßen und die dritte Stunde 1 nahezu herangekommen war, hörten sie plötzlich ein Klopfen am äußeren Tor. Sie lauschten und fragten sich: „Wer wird das wohl sein, der in dieser Nacht anklopft?" Da sagte der Prior: „Vielleicht ist es der Emir Baschir, der unsere Erzählungen hinter der Mauer belauscht hat." So sprach er, denn die Einwohner des Libanon besaßen eine gewaltige und ehrfürchtige Scheu vor dem Emir und stellten sich vor, daß er überall gegenwärtig sei, da sie wußten, daß ihm nichts verborgen blieb, was sich im Libanon zutrug. D a erhob sich der Klosterdiener und ging hinaus, um nachzusehen, wer angeklopft hatte. Als er das Tor öffnete, sah er eine Frau mit ihrem Sohn und einem Negersklaven in ihrer Begleitung. Er ließ sie in die Vorhalle eintreten und ging, um dem Prior von ihnen zu berichten. Der Prior stand auf und kam, 1
Die Nachtstunden zählte man früher von Sonnenuntergang an, d. h., es war zwischen 7 und 8 Uhr.
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um sie zu sehen. E r bat die Frau, ihm ihr Anliegen vorzutragen. Sie sprach zu ihm: „Ich bin die Frau von Ibrahim Pascha, einem der Anführer der Mameluken in Ägypten, und das ist mein Sohn Ali und sein Diener Masruq. Ich hatte noch einen anderen Sohn, der jünger war als dieser hier, doch die Wellen im Hafen von Haifa rissen ihn hinweg, und seitdem habe ich keine Spur mehr von ihm gesehen und auch keine Nachricht von ihm erhalten." Der Prior fragte sie: „Was ist der Grund, daß du Ägypten verlassen hast und nach dem Libanon gekommen bist?" Darauf erzählte sie ihm, was der Statthalter von Ägypten, Mohammed Ali Pascha, getan hatte, daß er die Mameluken nämlich ¿u einem Bankett in die Zitadelle von Kairo einlud und dann meuchlerisch ermorden ließ. Ihrem Mann war es gelungen zu fliehen. Dann sandte er ihr eine Nachricht, daß sie ihn im Libanon treffen solle, denn er wolle beim Emir Baschir Schutz suchen. Sie begab sich heimlich an Bord eines Segelschiffes, das nach Haifa ging, und ihre Söhne und dieser Sklave begleiteten sie. Als sie in den Hafen gelängten und an Land gehen wollten, tosten die Meereswogen und bäumten sich hoch auf, und sie rissen ihren Sohn Hasan aus dem kleinen Boot, das sie vom Schiff ans Land beförderte. So blieb ihr nur der erstgeborene Sohn Ali. Danach schloß sie sich in Haifa einer Karawane an, die nach dem Libanon ging, und nun war sie an diesem Abend dort angelangt. Sie konnte jedoch nicht zu Emir Baschir gelangen, denn in der Dunkelheit hatte sie sich verlaufen, sie wußte nicht, wo sie sich befand, bis sie einem Mann begegnete, der ihr vorschlug, sie in seinem Haus aufzunehmen. Sie zog aber vor, in einem Kloster Zuflucht zu suchen, da sie wußte, daß man in libanesischen Klöstern freundlich zu Menschen ist, die in Not geraten, und ihnen Schutz gewährt. Daraufhin zeigte ihr der Mann den Weg zu diesem Kloster. Der Prior hieß sie willkommen und beauftragte den Diener, sie in das Gästehaus zu führen und ihr ein Feuer anzuzünden, damit sie sich mit ihrem Sohn und ihrem Sklaven wärmen konnte, und ihnen Essen zu bringen, denn sie waren sehr hungrig. 261
Als es Morgen wurde, sandte der Prior einen Boten an den Emir Baschir, der einen Brief bei sich trug, in dem ihm der Prior die Angelegenheit der Frau mitteilte. D e r Emir nahm sich ihrer an, denn er pflegte niemandem seinen Schutz zu verweigern, wer immer ihn darum bat. E r sandte mit dem Boten des Klosters einen seiner Diener und ein Maultier, um die Frau und ihren Sohn nach Baitaddin zu bringen. D e r Emir sandte dem Prior des Klosters die Antwort, d a ß der Emir Ibrahim noch nicht eingetroffen sei und d a ß er nichts von ihm wisse. D a wurde die Frau über alle Maßen traurig und befürchtete, ihr Gatte sei getötet worden. Danach bestieg sie mit ihrem Sohn das Maultier und ritt fort. Der Diener des Emirs führte sie, und ihr Sklave folgte ihr. Als sie nach Baitaddin gelangte und das Schloß des Emirs betreten hatte, hieß er sie freundlich willkommen und ließ sie in einem Zimmer im Haremsgebäude wohnen. D a n n sagte er ihr, d a ß ihr Sohn sein Sohn sein werde. 1 Den Sklaven brachte er zu seinen Sklaven. Einige Jahre gingen dahin, in denen der Mameluke AH heranwuchs. E r war stolz, der Adoptivsohn des Emirs Baschir zu sein, und der Emir liebte ihn wegen der Anzeichen von Klugheit und Tapferkeit, die er an ihm wahrnahm. Auch die Prinzen, die Söhne des Emirs Baschir, hatten ihn lieb und besonders der Emir Amin. Zwischen ihm und dem entflohenen Mameluken war eine innige Zuneigung entstanden. D a geschah es, d a ß Abdallah Pascha, der Wali von Akka, ein Freund des Emirs Baschir, von seinem Amt abgesetzt wurde und an seiner Stelle der Wali von Damaskus, Derwisch Pascha, ernannt wurde, der ein Feind des Emirs Baschir war. Der neue Wali vereinbarte mit Mustafa Pascha, dem Wali von Aleppo, den Emir Abbas Ahmed al-Schahabi anstelle von Emir Baschir zum Herrscher über den Libanon zu erheben. Darauf sah sich der Emir gezwungen, nach Ägypten zu reisen. E r nahm seine beiden Söhne Chalil und Amin sowie 1
Die bei den Arabern sehr ernst genommene Fürsorge für vaterlose Kinder bedingt weder, daß das Kind formell Mitglied dieser Familie wird, noch die Pflicht der Mutter zu einer neuen Ehe.
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ein großes Gefolge mit. Den erstgeborenen Sohn Qasim ließ er in seinem Haus, und die Frauen ließ er ebenfalls in einigen Häusern in Dair al-Qamar zurück. Der Emir Amin wählte seinen Freund Ali als Begleiter. Alis Mutter bat jedoch den Emir Baschir inständig, ihren Sohn in Ägypten zu beschützen, denn sie hatte Angst um ihn, daß ihn dort jemand erkennen und meuchlerisch ermorden könne. Der Emir Baschir versprach es ihr und sagte zu ihr: „Wer mit dem Emir Baschir zusammen ist, dem wagt niemand ein Leid anzutun." Der Emir Baschir langte mit seinem Gefolge in Ägypten an. Man bereitete ihm einen königlichen Empfang, und er wurde als Gast beim Statthalter aufgenommen. Täglich traf er mit ihm zusammen, und sie berieten, wie sie sich dem osmanischen Staate gegenüber verhalten sollten. Eines Tages kam es Ali in den Sinn, auf die Jagd zu gehen. Der Emir Amin begleitete ihn nicht, denn er war verpflichtet, in der Nähe seines Vaters zu bleiben. Als Ali im Jagdgebiet umherstreifte, erblickten ihn drei Wegelagerer. Sie lauerten ihm auf und wollten ihn ausplündern, und einer von ihnen schoß einen Pfeil auf ihn ab und traf ihn ins Bein, so d a ß Ali von seinem Pferd fiel und bewußtlos wurde. Da raubten sie ihm, was er bei sich trug, nahmen sein Pferd und ließen ihn auf dem Erdboden liegen. Zu seinem Glück kam ein Jüngling dort vorbei, der vom Angesicht des Rechtes geflohen war. Er sah Ali, hatte Mitleid mit ihm und brachte ihn zu der Höhle, in der er sich zu verstecken pflegte, und verband seine Wunden. Als jener Tag zu Ende ging, ohne daß Ali zurückkehrte, machte sich der Emir Amin Sorgen um ihn und bekam Angst, daß ihm etwas Schlimmes zugestoßen sei. Kaum war die Morgendämmerung des folgenden Tages angebrochen, als er Soldaten mitnahm und auszog, um Ali zu suchen. Nach vielen Mühen gelang es ihnen, den Weg zur Höhle zu finden, in die ihn der Jüngling gebracht hatte. Als sie eintraten, um Ali mitzunehmen, vermutete der Jüngling, daß die Soldaten ihn festnehmen wollten. Er ergriff seine kleine Pistole und wollte sie auf sie abfeuern, doch der Emir Amin hielt ihn davon zurück und gab ihm zu verstehen, daß sie nur die Ab-
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sieht hatten, den jungen Mann mitzunehmen, der bei ihm war. Ali beruhigte sie und berichtete, daß er verwundet wurde, sich jedoch nun wohl befinde. Der Emir Amin freute sich darüber und wollte den fremden Jüngling mit einem Geldgeschenk belohnen, doch der weigerte sich, etwas anzunehmen. Danach trugen sie Ali auf ein Maultier und zogen mit ihm nach Kairo. Es vergingen nicht viele Tage, bis Ali wiederhergestellt war. Dann sandte ihn der Emir Baschir zu seiner Mutter in den Libanon. Als er ankam, war die Mutter aus Angst um ihn krank geworden, doch sobald sie ihn erblickte, beruhigte sie sich und lebte wieder auf. Der Emir Baschir blieb in Ägypten, bis sich der Statthalter von Ägypten für Abdallah Pascha einsetzte und die Hohe Pforte ihn begnadigte und wieder zum Wali über Akka machte. Darauf nahm der Emir Baschir vom Statthalter Ägyptens Abschied und ging zurück in den Libanon, um seine Regierungsgeschäfte wieder aufzunehmen. Einige Zeit nach seiner Ankunft erhoben sich die Einwohner von Nablus gegen Abdallah Pascha und verweigerten ihm den Gehorsam. Abdallah Pascha begehrte Hilfe vom Emir Baschir, und der Emir rückte mit seinen Soldaten aus, um die Rebellen zu bestrafen. Ali befand sich in der Vorhut, denn «r war tapfer und liebte den Kampf. Eines Nachts ging Ali allein aus und machte die Runde um die Festung Sanur. Da überfielen ihn Soldaten aus einem Hinterhalt, umzingelten ihn und brachten ihn zur Festung. Als sie erfuhren, daß er der Adoptivsohn des Emirs Baschir war, beschlossen sie, ihn am folgenden Morgen zu erhängen, um den Emir herauszufordern. Sie steckten ihn in ein Zimmer und gaben ihm einen der Ihren als Wächter. Kaum hatte jedoch der Wächter Ali gesehen, da fühlte er sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen, als ob er ihn irgendwoher kenne. Er trat auf ihn zu, tröstete ihn und versprach, ihm den Weg zur Flucht vor Tagesanbruch zu ebnen. Dann ersann er eine List, wie er fliehen konnte und wie er sich selbst vor der Rache seiner Gefährten zu retten vermochte. Ali aber glaubte ihm nicht und meinte, er wolle sich nur über ihn lustig machen. 264
Der Wächter meinte es jedoch ehrlich mit seinem Ver. sprechen. Bevor die Morgendämmerung anbrach, kam er zu Ali, löste seine Fesseln und führte ihn an eine unbewachte Stelle der Festungsmauer. Dann band er ihm ein Seil um und ließ ihn hinter der Mauer hinunter, und Ali entfloh im Schutze der Dunkelheit. Es dauerte nicht lange, bis der Emir Baschir die Aufständischen besiegte. Darauf unterwarfen sie sich Abdallah Pascha, ihre Festung wurde geschleift, und der Emir kehrte als siegreicher Herrscher zurück. Als die Soldaten des Emirs ihre Zelte abrissen, sah Ali einen alten Mann in einem Zelt, das seinem eigenen gegenüberlag. Er trat auf ihn zu und fragte ihn, wer er sei, denn er fühlte sich ihm zugetan. Da bemerkte der alte Mann, daß der Jüngling ein Gewand anhatte, das seinem eigenen glich, denn Ali pflegte einige Kleider seines Vaters zu tragen, die seine Mutter aus Ägypten mitgebracht hatte. Das Herz des Alten schlug ihm stürmisch entgegen, und er fragte ihn, wer er sei. Ali erzählte ihm seine Geschichte. Im Futter des Mantels, den Ali trug, steckten einige Papiere, die sein Vater darin versteckt hatte. Nun streckte dieser alte Mann seine Hand nach dem Mantelfutter aus und fand die Papiere und erkannte daran, daß Ali sein Sohn war. Er stürzte auf ihn zu, umarmte ihn und rief: „Mein Sohn, mein Sohn!" Alis Freude über seinen Vater war nicht geringer als die Freude seines Vaters über ihn. Dann erzählte er ihm von der liebevollen Fürsorge, die der Emir Baschir ihm und seiner Mutter angedeihen ließ und wie freundlich er zu ihnen war und daß sich seine Mutter noch immer im Lande des Emirs befinde. Er erzählte ihm auch vom Verlust seines Bruders Hasan, und Ibrahim Pascha beweinte seinen verlorenen Sohn, doch er tröstete sich, daß er seinen anderen Sohn und seine Frau wiedergefunden hatte und es ihnen gut gingAli führte seinen Vater zum Emir Baschir. Der Emir freute sich mit ihm und fragte ihn, wo er die Jahre seit seiner Errettung und der Flucht aus Ägypten verbracht habe. Ibrahim Pascha erzählte ihm, daß er nach Nablus kam und sich dort 265
verborgen hielt, denn dies war eine Stadt, von der niemand annahm, daß er sie anstelle des Libanon wählen würde. Er befürchtete nämlich, daß ihn einer von seinen Feinden verfolgen und ermorden würde. Er hatte sich in Nablus ein Haus gekauft und wußte nicht, wo seine Frau und seine beiden Söhne lebten. Nun kannte er die Liebenswürdigkeit und die Großmut des Emirs, deshalb bat er ihn um Erlaubnis, seine Frau und seinen Sohn nach Nablus kommen zu lassen, damit sie zusammen leben konnten. Der Emir gewährte seinen Wunsch. Ali zog mit den Soldaten des Emirs nach Baitaddin, begab sich zu seiner Mutter und erzählte ihr, daß er seinen Vater gefunden habe. Danach nahmen sie beide von dem Emir Abschied und dankten ihm für seine Gastfreundschaft und Güte, und Ali verabschiedete sich von seinem Freund, dem Emir Amin, und versprach, ihn so oft wie möglich zu besuchen. Dann reiste er mit seiner Mutter und seinem Sklaven nach Nablus. Ali hatte das Alter erreicht, in dem man heiraten muß. Sein Vater und seine Mutter bedrängten ihn, denn nach dem Verschwinden seines Bruders war er der einzige Sohn. Sein Vater wünschte nicht, daß sein Geschlecht erlösche. Ali aber wollte den Wunsch seines Vater nicht eher erfüllen, bis er eine Jungfrau gefunden hatte, die ihm zusagte. In einer Mondnacht, als Ali von einer abendlichen Plauderstunde bei einem seiner Freunde kam, hörte er in der Straße, in der seiner Familie Haus lag, wie eine liebliche Stimme eine Melodie summte. Er wandte sich nach der Stimme um und sah in einem Fenster ein junges Mädchen. Die Strahlen des Mondes überfluteten ihr Gesicht und ließen seine Schönheit erglänzen. Er blieb stehen und schaute nach ihr, benommen von der Schönheit ihres Angesichts und der Schönheit ihrer Stimme. Sie hatte ihn beobachtet, errötete beschämt und kehrte von dem Fenster in das Zimmer zurück. Darauf begab sich Ali in sein Haus und erzählte seiner Mutter von ihr. Sie antwortete ihm, daß sie sich am Morgen nach dem Mädchen erkundigen werde, um zu erfahren, wer sie sei. Dann wollte sie sich bemühen, sie für ihn als Braut zu gewinnen.
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Ali hatte sich in diese Jungfrau verliebt und empfand in seiner Seele eine Glut, die ihn versengte, so sehnlich wünschte er, sie zu sehen und in ihrer Nähe zu sein. Daher ging er in der folgenden Nacht zur gleichen Stunde aus, zu der er sie erblickt hatte, um. sie vielleicht wiedersehen zu können. Doch da bemerkte er, wie ein junger Mann in ihr Haus ging. Die Eifersucht machte ihn wahnsinnig. Er war überzeugt, daß dieser junge Mann ein Nebenbuhler war, der auch um ihre Hand anhielt, und das vermochte er nicht zu ertragen, denn er wünschte, sie solle ihm gehören. Da beschloß er, den Nebenbuhler zu ermorden, und lauerte ihm auf. Es verging keine Stunde, bis der junge Mann aus dem Hause des jungen Mädchens trat. Ali sprang auf ihn zu und wollte ihn töten, doch als er ihm ins Gesicht starrte, erkannte er den jungen Soldaten, der ihn vom Tode errettet hatte, und anstatt ihn zu töten, drückte er ihn an seine Brust und küßte ihn. Dann erzählte er ihm von seinem Vorhaben und sagte zu ihm: „Ich lasse dir die Jungfrau. Verheirate du dich mit ihr. Ich werde mich bemühen, eine andere zu finden." Der edelmütige junge Mann war mit diesem Opfer jedoch nicht einverstanden. Er gab Ali zur Antwort: „Das Mädchen gehört keinem anderen als dir." Dann schwor er einen feierlichen Eid, daß er von ihr ablassen und sie nie wieder besuchen wolle. Sie gingen ein Stück weiter und unterhielten sich. Als Ali in der Nähe seines Hauses anlangte, lud er den jungen Soldaten ein, mit ihm hereinzukommen. Er trat ein, und sie setzten sich nieder. Da kam es Ali in den Sinn, den jungen Mann zu fragen, wie sein Name sei und aus welchem Lande er stamme. Er antwortete ihm: „Mein Name ist Hasan. Was meine Herkunft anbelangt, so kann ich mich nur darauf besinnen, daß ich der Sohn von Ibrahim Pascha bin, einem Anführer der Mameluken. Meine Mutter floh auf einem Schiff mit mir und meinem Bruder. Als das Schiff nach Haifa kam, fiel ich ins Meer. Einer der Fischer rettete mich und erzog mich, und bis jetzt weiß ich nicht, was meinem Vater, meiner Mutter und meinem Bruder widerfahren ist."
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Sobald Ali gehört hatte, daß er der Sohn von Ibrahim Pascha, einem Anführer der Mameluken, sei, wußte er, daß dieser junge Mann sein Bruder war. Hasan hatte seine G e schichte noch nicht beendet, als Ali nahezu von Tränen erstickt wurde und laut rief: „Mein geliebter Bruder! Ich bin Ali, dein Bruder, und dein Vater und deine Mutter sind ebenfalls hier." Ibrahim Pascha und seine Frau hörten Alis Aufschrei, und als sie herauskamen, sahen sie ihren vermißten Sohn vor sich. E s war eine Stunde ergreifender Freude, in die sich Wehklagen, Tränen und bittere Erinnerungen mischten. Einige Zeit darauf heiratete Ali das junge Mädchen, und die ganze Familie lebte zusammen, umhegt von glücklicher Zufriedenheit.
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KÖNIG KARAKUSCH UND DER JÄGER
Es geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. Jeder, der gesündigt hat, sage: Ich bereue und bitte Allah um Vergebung. Es war in alten Zeiten ein König mit Namen Karakusch. Sein Ruf hatte sich über alle Länder verbreitet. Er war bekannt für seine furchtbare Grausamkeit und seine bedenkenlose Mißachtung der Menschenleben, denn er ließ den Unschuldigen anstatt des Verbrechers ergreifen. Karakusch herrschte mit unbeschränkter Verfügungsgewalt und kümmerte sich weder um das Gewohnheitsrecht noch um Religion oder Moral. Eines Tages war in seinem Königreich ein Weber dabei, am Straßenrand sein Garn anzuscheren. Da ging ein Mann vorüber. Dessen Fuß glitt aus, und da fiel das Weberschiffchen des Webers herunter und zerstörte durch Schicksalsfügung und Verhängnis das Auge des Mannes. Der Geschädigte begab sich darauf zu König Karakusch und erhob Anklage. Er begehrte von ihm, den Weber nach den Grundsätzen des Scharia-Rechtes, also mit „Auge um Auge", zu bestrafen, und verlangte, das Auge des Webers herauszureißen. Der König Karakusch befahl, den Weber herbeizuschaffen. Da nahmen ihn die Leibwächter fest, fesselten ihn mit eisernen Ketten und brachten ihn zum König. Darauf fragte der König den Kläger: „Was ist dein Anliegen, und was willst du haben?" Der Kläger antwortete: „Ich ging auf der Straße entlang, o erhabener Herr, da glitt mein Fuß aus, und ich fiel auf die Erde, und die Spule vom Weberschiffchen des Webers drang in mein Auge und stach es aus. Nun verlange ich, daß ei; in Übereinstimmung mit der erhabenen Scharia mit dem Gleichen bestraft und daß sein Auge herausgerissen wird."
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Der König Karakusch fragte den Weber: „Was sagst du dazu?" Der Weber antwortete: „Möge Allah das Leben unseres Herrn Königs verlängern! Wahrlich, ich trage keine Schuld, daß dieser Mann sein Auge eingebüßt hat. Es geschah durch Schicksal und Verhängnis, daß er auf die Spule meines Weberschiffchens fiel, und es ist nicht meine Schuld, daß er darauf gefallen ist." Der König Karakusch entbrannte vor Zorn und schrie den Weber an: „Möge die Spanne deines Lebens abbrechen! Du sagst, du seist unschuldig, wo doch dein Weberschiffchen sein Auge ausgestochen hat! Ihr Wächter, reißt ihm sein Auge heraus, denn Auge um Auge und Zahn um Zahn!" Da rannen die Tränen in Strömen über die Wangen des Webers, und er flehte den König Karakusch an: „Mein Herr, ich bin ein armer Mann und arbeite Nacht und Tag, um- meinen Lebensunterhalt und den Lebensunterhalt für meine Kinder zu verdienen. Ich brauche beide Augen, um zu sehen, wie das Weberschiffchen nach rechts und nach links geht. Es gibt jedoch Leute, die sich mit einem Auge begnügen können, wie zum Beispiel der Jäger, der nicht mehr als ein Auge braucht." Da erteilte der König Karakusch den Befehl, ihn freizusetzen und den Jäger festzunehmen. Die Polizisten brachen auf und suchten, bis sie ihn gefunden hatten. Dann legten sie ihn in Eisen und schleppten ihn vor Karakusch. Der Jäger war bestürzt und konnte seinen Augen kaum trauen. Als sie ihn vor den König brachten, fragte er: „Mein Herr, was habe ich getan, daß du mich mit eisernen Ketten fesseln und auf diese Weise hierherbringen läßt?" Der König Karakusch antwortete: „Ein Auge dieses Mannes ist durch die Spule vom Weberschiffchen des Webers ausgestochen worden, und da der Weber für seine Spule verantwortlich ist, haben wir befohlen, ihm ein Auge herauszureißen. Der Weber benötigt aber seine beiden Augen. D a du dagegen nicht mehr als ein Auge brauchst, haben wir dich an Stelle des Webers festgenommen und werden dir nun dein Auge herausreißen."
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Der Jäger merkte, daß man diesem törichten König nicht mit Vernunft oder Verstand beikommen konnte, und beschloß, zu einer List zu greifen, so wie es der Weber getan hatte. Er sprach: „Mein Herr, es nützt dir nichts, mein Auge auszustechen, dagegen würde es dir Nutzen bringen, wenn es erhalten bliebe. Wahrlich, ich will dich die Sprachen der Vögel lehren. Du sollst ihre Sprachen kennenlernen und sie ansprechen, wie du zu den Adamssöhnen sprichst." Der König Karakusch hieß seine Rede gut und sagte zu ihm: „Hab keine Furcht! Du wirst mir die Sprache der Vögel beibringen, und ich werde dir vergeben." So sprach er. Dann jagte er den Kläger davon, schickte den Weber weg und nahm den Jäger mit auf sein Schloß und gewährte ihm Gastfreundschaft. Dort blieb der Jäger und genoß ein angenehmes und behagliches Leben, während der König vergaß, daß er vorhanden war, und sich mit anderen Dingen beschäftigte. Nachdem mehr als drei Monate vergangen waren, erinnerte sich Karakusch an den Jäger, der ihn die Sprachen der Vögel lehren wollte. Er sandte nach ihm und erkundigte sich nach seinem Versprechen, ihn zu unterrichten. Der Jäger antwortete darauf: „O mein Herr, um diese Sprachen zu erlernen, muß man auf die Jagd gehen und mit den Vögeln leben, sich wie sie in die Höhe schwingen und niederlassen, davonfliegen und zurückkehren." Darauf sagte der König zu ihm: „Du hast ein wahres Wort gesprochen. Laß uns hinausziehen, um zu jagen!" Das Jagdgefolge des Königs brach auf, doch kaum hatten sie sich ein wenig von der Stadt entfernt, als am Himmel schwarze Wolken aufzogen, die sich am Firmament ausbreiteten, und ein heftiger Regen stürzte hernieder und überschwemmte das Land. Der König und seine Begleiter wären beinahe ertrunken, und sie flüchteten in eine Höhle. An beiden Seiten der Höhle befanden sich kleine Hügel. Auf jedem dieser Hügel kreischte eine Eule. Da fragte der König den Jäger, was sie sagten, und der Jäger antwortete:
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„Die Eule, die auf dem Hügel zur Linken steht, will ihren Sohn mit der Tochter der Eule auf dem Hügel zur Rechten verheiraten. Diese antwortete ihr entgegenkommend und begehrte von der Mutter des Jungen eine Ruine, in der sie mit ihren Kindern wohnen könne. Die erste Eule gab darauf zur Antwort: Ich will dir zehn Ruinen geben, wenn die Urteilskraft unseres königlichen Herrn, des Emirs Karakusch, im gleichen Verhältnis an Gerechtigkeit und Weisheit zunimmt." Da erboste der König furchtbar über die Antwort des Jägers und verurteilte ihn zum Tode. Der Jäger wurde ins Gefängnis gebracht, bis der König zurückkehrte und Vorbereitungen traf, das Todesurteil an ihm zu vollstrecken. Dann errichtete man den Galgen für ihn. Als der Jäger dasaß und auf die Vollstreckung des Urteils wartete, kam plötzlich ein Bote von seiner Schwiegermutter zu ihm und berichtete so, als ob sie es mit ihrer eigenen Zunge gesagt hätte, daß der Wasserträger seit drei Tagen kein Wasser in ihr Haus gebracht habe, und sie ihn bitte, einen anderen Wasserträger hinzuschicken. Am festgesetzten Tage führte man den Jäger gefesselt zum Galgen, um ihm seine Seele aus dem Körper herauszupressen. Der König Karakusch erschien selbst, um die Vollstreckung des Urteils zu sehen. Als der Jäger auf der Plattform stand und auf das letzte Zeichen wartete, sah er plötzlich unter den Zuschauern ein Mädchen von außerordentlicher Anmut und Schönheit. Trotz seiner Lage wurde er ihretwegen ganz verwirrt. Auf einmal stieß er ein schallendes, lautes Gelächter aus. Alle hörten es, und das Lachen drang auch zu den Ohren des Königs Karakusch. Da befahl er, den Jäger vom Galgen herunterzuholen und zu ihm zu bringen. Als er sich in Hörweite des Königs befand, sagte dieser zu ihm: „Ich gewähre dir Gnade, wenn du mir erzählst, aus welchem Grunde du gelacht hast, obwohl du dich in den letzten Augenblicken deines Lebens befindest." Der Jäger gab zur Antwort: „Ich habe aus drei Gründen gelacht: wegen deines Verstandes, des Verstandes meiner Schwiegermutter und wegen meines eigenen Verstandes. Was den ersten Grund anbelangt, so hast du den Weber dazu verurteilt, daß ihm ein Auge 272
herausgerissen werden soll, bloß weil die Webspule durch Zufall in das Auge eines Vorübergehenden gedrungen war. Dann mußte ich auch lachen, weil du befohlen hast, mir ein Auge herauszureißen, da ich nicht mehr als eines benötige, nicht aber wegen dieses Vergehens. D e r zweite Grund war meine Schwiegermutter. Obwohl ich die letzten Stunden meines Lebens verbrachte, sandte sie einen Boten zu mir und teilte mir mit, daß die Wasserversorgung des Hauses nicht mehr klappte, und sie verlangte von mir, ihr einen anderen Wasserträger zu schicken. Der dritte Grund ist, daß die Liebe zu einem Zeitpunkt über mich kam, zu dem ich beabsichtigt hatte, vor meinen Herrn Allah zu treten. Welcher von den drei Gründen ist verständlicher als die anderen?" D a brach der König Karakusch in schallendes Gelächter aus und befahl, den Jäger fortzujagen, und der Jäger lief davon und konnte nicht recht glauben, wie ihm geschah. So sah die Gerechtigkeit aus, die im Königreich des Karakusch geübt und gepflegt wurde!
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Arabische Volksmärchen
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ALLAH GTRT I H N E N
E i n K ö n i g hatte eine einzige Tochter, die schön von Angesicht war. Sie hieß Dschumana, das bedeutet Perle. O b wohl sie weder geizig war noch einen schlechten Charakter besaß, verabscheute sie es, den Armen Almosen zu geben, während ihr Vater ihnen sehr gern etwas gab. J a sie befahl sogar ihren Dienerinnen, alle-Armen wegzujagen, die vor dem T o r der B u r g standen. Wenn ihr Vater ihr Vorhaltungen darüber machte, pflegte sie ihm zu antworten: „ E s ist nicht unsere Sache, den Armen Almosen zu geben, denn Allah gibt ihnen." Eines T a g e s sah der Vater, wie sie einen Armen von zerlumptem Aussehen und hinfälligem Körper wegtrieb. D a erzürnte er über sie und sprach zu ihr: „ D u hörst nicht auf, den Armen Almosen vorzuenthalten, daher will ich dich mit einem Armen verheiraten, damit du in Dürftigkeit lebst und spürst, daß die Armen H i l f e verdienen, zumal wenn sie zu schwach zur Arbeit sind oder keine Arbeit finden." D a s sagte er ihr, dann trat er hinaus auf den Balkon des Schlosses, üm die Vorübergehenden zu betrachten. D a sah er einen armen Jüngling unter dem Balkon vorbeigehen, dessen Alter einundzwanzig Jahre nicht überschritt. E r befahl einem seiner Diener, ihn herbeizubringen, und der Diener eilte zu diesem Jüngling und sprach zu ihm: „Gehorche dem König, er läßt dich r u f e n ! " D e r Jüngling hatte Angst und zuckte vor Schreck zusammen, doch der Diener beruhigte ihn und ging mit ihm zum König. D e r K ö n i g beschwichtigte seine Furcht: „Ich habe dich rufen lassen, um dich mit meiner einzigen Tochter Dschumana zu verheiraten; wenn du dich aber weigerst, werde ich dir den K o p f abhauen lassen."
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Und so tat der Jüngling, was der König wünschte, und nahm die Prinzessin Dschumana zu sich in seine ärmliche Hütte, doch er behandelte sie als Schwester und nicht als Gemahlin. Dieser Jüngling hieß Chalil. Er war ein junger Mann von gutem Charakter, aber in Armut geraten. Er hatte sich viele Mühe gegeben, um Arbeit zu finden, gleich welcher Art, damit er verdienen konnte, was er zum Lebensunterhalt brauchte, aber es war ihm nicht gelungen. Dschumana sah, daß er starke Muskeln besaß und als Träger arbeiten konnte. Da zog sie den Siegelring von ihrem Finger, gab ihn dem Jüngling und sprach: „Verkaufe ihn und kaufe ein Seil und einen Korb und wähle den Trägerberuf, denn Allah sagt: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen." Chalil tat, was Dschumana ihm geraten hatte, kaufte Seil und Körbe und fing an als Träger zu arbeiten. Er verdiente damit den Unterhalt für sich und seine Schwester Dschumana und führte ein tugendhaftes Leben, ohne von jemandem abhängig zu sein. Eines Tages kam ein Mann, für den er Lasten getragen hatte, und sprach zu ihm: „Chalil, ich habe dich wegen deiner Treue und Zuverlässigkeit ins Herz geschlossen. Heute will ich nun mit einer Karawane nach Bagdad ziehen, und ich möchte dich mitnehmen. Vielleicht kann ich dir damit eine Möglichkeit verschaffen, genügend Reichtum zu erwerben, so daß du deine Arbeit als Träger aufgeben kannst." Chalil dankte ihm für seine gütige Fürsorge und sprach zu ihm: „Ich möchte meine Schwester fragen, ob sie mit meiner Reise einverstanden ist. Wenn sie zustimmt, gehe ich mit dir." Als er Dschumana um Rat fragte, sagte sie zu ihm: „Ziehe dahin, und Allah möge dich segnen, doch sende mir immer Briefe, die mich Neuigkeiten von dir wissen lassen." Chalil begleitete also die Karawane. Der Mann hatte ihm ein Kamel und eine Summe Geldes zum Handeltreiben gegeben. Sie zogen dahin und durchquerten Wüsten und Einöden. 18»
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D a brauchten sie einmal Wasser, um selbst zu trinken und die Kamele und Esel saufen zu lassen, und fragten den Karawanenführer, ob es Brunnen an ihrem Wege gebe. E r antwortete ihnen, daß sie sich in der Nähe eines Brunnens befänden, der voll Wasser sei, doch in diesem Brunnen wohne ein Dschinn. D a wagte niemand hinunterzusteigen, um Wasser zu schöpfen, aus Furcht, von dem Dschinn getötet zu werden. D i e Reisenden begannen sich zu fragen: „Was ist zu tun? Wir werden vor Durst zugrunde gehen. W e r von uns setzt sich der Gefahr aus, die Wasserschläuche zu füllen?" D a antwortete Chalil: „Ich werde in den Brunnen hinuntersteigen, mag geschehen, was Allah will." D a n n nahm er einen Schöpfeimer und stieg die Stufen hinunter, bis er sich über dem Wasserspiegel befand, und begann den Eimer zu füllen. Seine Gefährten zogen ihn hinauf und füllten ihre Wasserschläuche mit Wasser. Während er dabei war, erschien plötzlich ein Dschinn, der sich ihm in einer schreckeneinflößenden Gestalt zeigte. Chalil faßte sich ein Herz und fürchtete sich nicht, denn er war tapfer und hatte seine Sache Allah anvertraut. Der Dschinn sprach zu ihm: „Was liebst du mehr, schwarz oder w e i ß ? " 1 Chalil antwortete ihm: „Ich liebe meinen Freund, selbst wenn er ein schwarzer Sklave w ä r e . " 2 Den Dschinn wunderte diese Rede, und er gab ihm zwei Granatäpfel. Chalil nahm sie und steckte sie in seinen Gürtel, und nachdem die Leute der Karawane genügend Wasser erhalten hatten, stieg er hinauf. Sie wunderten sich, wie er dem Tode entronnen war. 1
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Schwarz ist die Farbe der unheilbringenden, gefürchteten Dämonen, weiß die der guten und wohltätigen. Beide können allein oder ge gemeinsam Brunnen bewohnen. D i e Antwort zielt auf ein Sprichwort, daß aufrichtige Liebe alle äußeren Mängel und Unterschiede überwinde (vgl. S. 332). Der Freund kann auch eine Geliebte sein. Chalil drückt aus, daß er den Dschinn weder fürchtet noch verachtet.
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Als sie weiterzogen, trafen sie eine Karawane, die nach ihrer Heimatstadt zurückkehrte. Chalil beschrieb einem der Männer die Richtung, in der seine Hütte lag, gab ihm die beiden Granatäpfel, nachdem er sie in ein Tuch gewickelt hatte, und bat ihn, sie seiner Schwester Dschumana zu über' bringen. Das versprach ihm der Mann. Als diese Karawane Chalils Stadt erreicht hatte, forschte der Mann, der die anvertraute Gabe bei sich trug, nach der Hütte, in der Dschumana lebte. Er fand sie und überreichte ihr das Bündel mit den beiden Granatäpfeln. Als Dschumana sie jedoch näher betrachtete, erkannte sie, daß es zwei der schönsten und kostbarsten großen Perlen waren. Dschumana begab sich sofort zu einem Juwelenhändler und verkaufte die eine Perle für eine große Summe Geld. Dann kaufte sie Land nahe beim Schloß ihres Vaters, stellte viele Arbeiter an und befahl ihnen, ihr so schnell wie möglich ein Schloß aufzubauen. Sie bauten das Schloß, und Dschumana stattete es in schönster Weise aus und hing den zweiten Granatapfel an seinem Dache auf. Da geschah es, daß ihr Vater, der König, eines Nachts in einem Zimmer schlief, von dem aus er das neue Schloß sehen konnte. Als er am Morgen erwachte, fand er, daß die Sonne in seinem Zimmer verdunkelt war, obwohl früher die Strahlen der Sonne den ganzen Morgen lang hineinschienen. Er schaute zum Fenster hinaus und entdeckte ein prachtvolles Schloß neben seinem eigenen Schloß, das ihm vorher nicht bekannt war. Er rief einen seiner Diener und befahl ihm, hinüberzugehen und zu sehen, wer der Besitzer dieses Schlosses sei. Dann sollte er ihm ausrichten, der König wolle zu Besuch kommen und sich das Schloß ansehen. Der Diener ging hin und fand, daß der Besitzer des Schlosses eine Frau war, doch er erkannte in ihr nicht die Prinzessin Dschumana, die Tochter des Königs. Er richtete ihr aus, was der König beabsichtigte, und sie antwortete ihm: „Sage dem König, daß mein Mann abwesend ist. Er befindet sich auf einer Reise. Wenn er zurückkehrt, werden wir den König gemeinsam mit allen Ehren empfangen und willkommen heißen."
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Der Diener überbrachte dem König ihre Antwort, und er war damit zufrieden. Chalil kehrte mit der Karawane von Bagdad zurück, nachdem ihn Allah mit einigem Vermögen gesegnet hatte. Als die Karawane den Brunnen erreichte, an dem sie auf dem Hinwege vorübergekommen war, baten die Reisenden Chalil, ihnen daraus Wasser zu schöpfen. Er erfüllte ihren Wunsch und stieg in den Brunnen hinunter. Plötzlich erschien ihm wieder der Dschinn und richtete die gleiche Frage an ihn, die er ihm das erste Mal gestellt hatte: „Was liebst du mehr, schwarz oder weiß?" Chalil antwortete: „Ich liebe meinen Freund, selbst wenn er ein schwarzer Sklave wäre." Da gab ihm der Dschinn drei Granatäpfel, und Chalil stieg aus dem Brunnen herauf, und die Leute der Karawane waren verblüfft, daß er auch diesmal unversehrt zurückkehrte. Dann setzten sie ihren Weg fort. Als die Karawane die Stadt erreicht hatte, nahm Chalil seinen Besitz an Waren und Gelcf und gab dem Eigentümer das Kamel mit Dank zurück. Darauf ging er zu seiner Hütte mit dem Entschluß, mit seiner Schwester Dschumana in ein schönes Haus überzusiedeln, doch er fand seine Hütte leer und ausgeräumt, und von Dschumana sah er keine Spur. Er begann in den Straßen und Gassen umherzulaufen, um vielleicht auf das Haus zu stoßen, in das Dschumana gezogen war. Dschumana aber hatte unterdessen ihren Dienern folgendes aufgetragen: „Wenn ihr einem Jüngling mit Namen Chalil begegnet, der hochgewachsen ist, blondes Haar h a t 1 und nicht älter als zweiundzwanzig Jahre ist, sollt ihr ihn herbeibringen." So geschah es, daß Chalil an dem neuen Schloß vorbeiging. Er blieb stehen und schaute es an, denn er hatte nicht in Erinnerung, daß dort ein Schloß war. Da erblickten ihn die Diener Dschumanas und bemerkten die Kennzeichen an ihm, die ihnen ihre Herrin genannt hatte. Sie fragten ihn nach 1
Im syrisch-palästinensischen Gebiet sind blonde Araber keine Seltenheit.
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seinem Namen, und als sie erfuhren, daß er Chalil hieß, wußten sie, daß er der Gesuchte war, und führten ihn zu ihrer Herrin. Die freute sich sehr, und Chalil staunte, als er sie in diesem prächtigen Schloß sah und in den kostbaren Kleidern, die sie trug. Dschumana befahl den Dienern, ihn ins Bad zu führen und ihm danach ein schönes Gewand anzulegen, und sie taten es. Als er zu ihr zurückkehrte, sprach sie zu ihm: „Nun nenne mich nicht länger Schwester, sondern nenne mich deine Gemahlin!" Dschumana berichtete ihm von den Granatäpfeln, die in Wirklichkeit zwei große Perlen von hohem Wert waren. Dann vollzogen sie die rechtmäßige Heirat. Darauf zeigte sie ihm die eine Perle, die sie am Dach aufgehängt hatte. Chalils Herz flog fast vor Freude. Er nahm aus seinem Mantel die drei Granatäpfel, die ihm der Dschinn beim zweiten Male gegeben hatte, und erzählte ihr, wo er diese Granatäpfel erhalten hatte. Da freute sich Dschumana über alle Maßen und sprach zu ihm: „Nun sind wir reicher geworden als mein Vater, der König." Danach rief sie einen ihrer Diener und schickte ihn zu ihrem Vater und lud ihn zum Besuch des Schlosses ein, denn nun sei ihr Mann von seiner Reise heimgekehrt. Dann bereitete sie ein üppiges Festessen, zog ihre schönsten Kleider an und setzte eine herrliche Krone auf ihr Haupt, damit es ihrem Vater schwerfallen sollte, sie zu erkennen. Der König kam mit seinem Wesir, und Dschumana bereitete ihnen einen schönen Empfang. Er ging im Schloß umher und sah, was es an Schönheit und Pracht enthielt. Dann ließ sie ihn ins Speisezimmer treten und reichte ihm alle Gerichte, die er besonders gern hatte. Dschumana hatte sie so zubereitet, wie sie es immer in seinem Schloß zu tun pflegte. Als er sie kostete, bemerkte er in ihnen Dschumanas Aroma. Da wandte er sich an seinen Wesir und sprach zu ihm: „Es verblüfft mich, daß die Stimme dieser Frau der Stimme Dschumanas ähnelt und daß dieses Essen von der Art ist, wie es Dschumana anzurichten pflegte." Dann wandte er sich an Dschumana und erzählte ihr, was er dem Wesir über sie gesagt hatte. Als Dschumana sah, wie 279
verwirrt er darüber war, nahm sie die Krone von ihrem Haupt und löste ihr Haar, wie sie es im Schloß ihres Vaters getan hatte, dann sprach sie zu ihm: „Wen siehst du vor dir, mein Vater? Bin ich ich nicht deine Tochter Dschumana?" Da zog sie der König an seine Brust und umarmte sie, und die Tränen der Freude stürzten aus seinen Augen. Dann stellte sie ihm ihren Mann vor und erzählte dem König von der Geschichte seiner Reise und die Geschichte mit dem Dschinn und den fünf Granatäpfeln, die große Perlen waren. Darauf reichte sie ihm eine davon und sprach: „Ach Vater, habe ich dir nicht gesagt, daß es Allah ist, der gibt?" Ihr Vater schwieg, denn er stimmte ihren Worten zu.
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39 DER UNVERHEIRATETE KÖNIG
Man erzählt sich, daß ein König seine Tage dahinlebte ohne geheiratet zu haben und daß er dessen überdrüssig geworden war. Eines Tages saß er bei seinem Wesir und beklagte sich über diesen Zustand. Der Wesir entfernte sich aus seiner Gegenwart, um für den König nach dem Gegenstand des langgehegten Wunsches zu suchen. Er hielt sich dabei vor Augen, daß die Braut, wie es der König ausbedungen hatte, eine Schönheit unter den Töchtern des Landes und elf J a h r e 1 alt sein müsse. Der Wesir hielt eine vertrauliche Zwiesprache mit seiner Frau, entdeckte ihr den Wunsch des Königs und betraute sie mit der Suche nach dem, was der König wünschte, denn die Frauen haben auf diesem Gebiet die meiste Erfahrung und Kenntnis. Die Frau des Wesirs machte sich ernstlich daran, hier und dott Nachforschungen anzustellen und sich um die Angelegenheit des Königs zu bemühen. Sie fand die Bedingungen aber nur bei drei Mädchen erfüllt: Die erste war die Tochter eines Schneiders, die zweite die eines Schmieds und die dritte die eines Juweliers. Der Wesir berichtete dem König, was seine Frau über die drei Mädchen erfahren hatte. Dann eilte er im Auftrage des Königs zum Schneider und teilte ihm des Königs Wunsch mit. Geschwind jedoch schlich sich die Angst ins Herz des Schneiders. Er fürchtete das Schlimmste für seine Tochter. Daher sagte er zum Wesir: „Es ist wahrlich eine große Ehre, aber ich fürchte sehr, daß der Wahnsinn, der in ihr steckt, hervorbricht, sobald sie in die Gegenwart des Königs kommt, und daß sie bei ihm Reden und Handeln vergißt." 1
In wärmeren Ländern tritt die Geschlechtsreife früh ein. 281
D e r Wesir kehrte mit dem, was er gehört hatte, zum König zurück, doch dieser ließ ihm keine Zeit, sondern sandte ihn zur Tochter des Schmieds. Der Wesir erzählte dem Schmied, was der Schneider geantwortet hatte, indem er sagte: „Aus einem gewissen Grund ging der Schneider nicht auf den Wunsch des Königs ein, trotz des Reichtums und der Vorteile, die damit verbunden sind." Der Schmied aber antwortete nur: „Meiner Tochter droht der Tod, wenn sie einen Ibriq sieht. Gibt es ein entsetzlicheres Hindernis?" D a begab sich der Wesir eilends zum Juwelier und bat ihn um die H a n d seiner Tochter, doch das Gerücht über die Unterhandlungen des Königs mit der Tochter des Schneiders und der des Schmieds hatte sich schon in allen Teilen der Stadt verbreitet und warnte den Juwelier, etwas zu tun, was seiner Tochter zum Schaden gereichen würde. E r sprach daher zum Wesir, als der zu ihm k a m : „Weißt du, d a ß es für meine Tochter unheilvoll ist, einen silbernen Ring zu sehen oder zu tragen, und d a ß ihr davon der Tod droht? Wenn sie annimmt, habe ich Angst, d a ß ihr das, was ich für sie befürchte, den Untergang bringt." D e r König erfuhr, was der Juwelier gesagt hatte, und wurde traurig und bekümmert, aber er meinte, d a ß es mit der Sache eine Bewandtnis habe und die drei Mädchen nicht im entferntesten in solchen Gefahren schwebten. Der König begann mit dem Wesir die Meinungen auszutauschen, und dann kamen sie zu dem Entschluß, d a ß der König als Frau verkleidet die Gemahlin des Wesirs nach der Stadt begleiten sollte. Vielleicht würde er das Geheimnis selbst herausfinden können. So ging der König in Begleitung der Wesirsfrau zum Juwelier. Die Frau des Wesirs stellte den König bei der Frau des Juweliers als ihre Schwester vor. Die Tochter des Juweliers war anwesend und klirrte mit ihren Beinspangen. Der König sah die Beinspangen und bat die Juweliersfrau, ihm zu gestatten, sie näher zu betrachten, da er sie sehr bewundere. E r wolle sie gern borgen, um ein Paar von ähnlicher Form für „seine Tochter" anfertigen zu lassen. D a n n erhob sich der König, zog die Beinspangen ab und ging damit fort, und die Wesirsfrau begleitete ihn. 282
In der folgenden Nacht war der König mit seiner Begleiterin im Hause des Schmieds. Die Frau des Wesirs stellte den König, der in Frauengewänder gekleidet war, als ihre Schwester vor und bemerkte, daß sie gern die Tochter des Hauses sehen möchte. Als sie sich einstellte, bat der König um ein Waschbecken und einen Ibriq und sagte entschuldigend, er wolle sich die Hände waschen. Kaum hatte er den Ibriq gesehen, da gab er vor, ihn sehr schön zu finden. Er äußerte den Wunsch, ihn als Geschenk zu erhalten, und bot als Gegengabe etwas Besseres an. Dann ging er mit seiner Begleiterin davon, und sie nahmen den Ibriq mit. In der dritten Nacht waren der König und seine Begleiterin im Hause des Schneiders. Die Schneidersfrau fragte die Frau des Wesirs nach ihrer Begleiterin. Sie stellte sie ihr als ihre Schwester vor, für die der Schneider die drei Kleider genäht hatte. Da hieß sie die Schneidersfrau willkommen und lobte den Kleiderstoff. Dann erzählte sie ihr, daß sich ihre Tochter die Stoffreste zu Kleidern für ihre Puppen geholt und daran ihren Spaß habe, denn sie sei immer noch ein wenig närrisch. Der König bestand darauf, sie inmitten ihrer Puppen zu sehen, und bat das Mädchen, ihm eines von ihren Puppenkleidern zu schenken. Sie gab es ihm, und er nahm es und verabschiedete sich mit seiner Begleiterin. Darauf sandte der König den Polizeiobersten aus und ließ die drei Väter kommen. Als sie vor dem König erschienen waren, begann er ihre Behauptungen eine nach der anderen zu widerlegen. Er zeigte dem Juwelier die Beinspangen, und dieser gestand, daß er sie angefertigt habe. Da sprach der König zu ihm: „Wie stimmt das mit dem überein, was du zuvor gesagt hast, daß deiner Tochter der Tod droht, wenn sie einen silbernen Ring sieht?" Der Juwelier erklärte dem König, daß er für seine Tochter den plötzlichen Wechsel der Umgebung gefürchtet habe und sie nicht für den Palast des Königs tauge. Der König schickte ihn weg, und er ging mit seiner Tochter hinaus. Dann wurden der Schmied und seine Tochter hereingerufen. Der König zeigte ihm den Ibriq und erinnerte ihn an 283
seine Behauptungen, doch der Schmied gab ihm die gleiche Antwort wie der Juwelier und ging danach mit seiner Tochter hinaus. Schließlich wurde der Schneider hereingerufen. Der König sagte zu ihm: „Wie kann jemand, der geistesgestört ist, sich ein solches Gewand ausdenken?" und holte eines der Kleider hervor, die seine Tochter für ihre Puppen genäht hatte. Während sich da der Schneide^ Sorgen machte, was er sagen sollte, schrie seine Tochter dem König ins Gesicht: „Du hast mich überlistet, dir eines von meinen Puppenkleidern zu schenken, weil du Frauenkleidung angelegt hattest. Komm nun und gib mir, was du mir versprochen hast!" Da lachte der König und verstand, daß sie etwas einfältig war. Dann ließ sich der König von seinen Rechtsgelehrten beraten, und sie gaben ihre gesetzliche Anerkennung im Sinne der Religion zur Bestrafung derjenigen, die ein übles Gerücht über den König verbreitet hatten. Außerdem rieten sie dem König, die Ehe mit der Tochter des Schneiders zu vollziehen, mit dem Mädchen, das man für töricht hielt. Der König heiratete sie, und sie gebar ihm Knaben und Mädchen.
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DU BERBERSKLAVE!
Ein junger König war Junggeselle und dachte nicht ans Heiraten, obgleich ihn seine Mutter, die Königin, immer dazu drängte. Er wehrte sich mit Ausflüchten, doch seine Mutter wußte, daß sie erfunden waren. Sie schwieg aber und wartete, er möge ein Mädchen entdecken, das ihn so beeindruckte, daß er es heiraten würde. Dieser junge König war ein leidenschaftlicher Jäger und pflegte aus seinem Königreich in die Gebiete der Nachbarkönige zu ziehen, um dort zu jagen, denn er unterhielt gute Beziehungen zu ihnen. Eines Tages jagte er in der Nähe der Hauptstadt eines Nachbarkönigs. Er verspürte heftigen Durst und ging zu einer Quelle, an der er eine Gruppe junger Mädchen sah. Als sie ihn erblickten, flohen sie. Dabei bemerkte er unter ihnen eine Jungfrau von wundersamer Schönheit. Er fragte einen Hirten, der gerade dort war, nach ihr. Dieser gab ihm zur Antwort, daß sie die Tochter des Königs der Stadt sei. Der junge König beschloß, zu seiner Mutter zurückzukehren und sie zum Vater dieses Mädchens zu schicken, damit sie für ihn um ihre Hand anhalte und sie danach zu ihm bringe, damit sie seine Frau sei. Nachdem er getrunken und seinen Durst gestillt hatte, ergriff er die Zügel seines Pferdes und kehrte mit seinem Gefolge in die Stadt zurück. Dann ging er zu seiner Mutter und sprach zu ihr: „Mutter, ich habe mich zur Heirat entschlossen." Seine Mutter wurde sehr froh darüber. Die Freude erhellte ihr Angesicht, als sie zu ihm sagte: „Darauf habe ich gewartet, mein Sohn. Doch wer ist die Glückliche, die deine Augen entzückte? Ist sie eine unter den Töchtern der Brüder deines Vaters oder eine der Töchter
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deinet Mutterbrüder, denn alle deine Basen sind schön und wohlerzogen?" E r antwortete ihr: „Ach nein, Mutter, sie ist weder eine von diesen noch von jenen, sondern sie ist die Tochter des Königs, dessen Ländereien unserem Land benachbart sind." Darauf berichtete er ihr, wie er das Mädchen zu Gesicht bekommen hatte. D a sprach seine Mutter: „Was wünschst du von mir, mein Sohn? Was soll ich für dich tun?" E r sagte zu ihr: „Ziehe mit einem großen Gefolge hin und nimm Geschenke mit, die der Schönheit der Jungfrau und ihrem Rang geziemen, und kehre mit ihr zurück." Seine Mutter sandte am nächsten Tage einen Boten zum König, dem Vater des jungen Mädchens, um ihren Besuch anzukündigen. Dann stellte sie ein Gefolge aus den vornehmsten Frauen der Stadt und den Männern des Palastes zusammen, nahm wertvolle Geschenke, Kostbarkeiten und Edelsteine mit, bestieg ihre Kamelsänfte und zog davon. Kaum war sie an der Grenze des Reichs angelangt, in dem der Vater des jungen Mädchens regierte, als sie eine Schar der angesehensten Frauen und Männer der Stadt erblickte, die sie erwarteten und ihr ein Willkommen boten, das ihrem Rang geziemte. Dann zogen sie mit ihr zum Schloß des K ö nigs. Der hieß die fremde Königin willkommen und ließ sie in einem schönen Schloß wohnen. Als die für die Gastfreundschaft übliche Zeitspanne vergangen war, traf sie die Gemahlin des Königs und teilte ihr den Anlaß ihres Besuches mit. Diese unterrichtete ihren Gemahl davon, und er freute sich über diesen jungen angesehenen Schwiegersohn und wollte seine Tochter befragen. Als er sich mit ihr unterhielt, erfuhr er, daß sie der Heirat mit diesem König zustimmte. Dann bereitete sich die K ö nigstochter zur Abreise vor und zog in Gesellschaft der Mutter ihres Bräutigams davon. Als die Braut die Stadt ihres Verlobten erreichte, empfingen sie alle Bewohner der Stadt, Frauen und Männer. Unter ihnen befanden sich auch seine Basen von Vaters-
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und Mutterseite. D i e Frauen führten die Braut in die Gemächer, die im Königsschloß für sie eingerichtet worden waren. Als sich die Prinzessin ausgeruht hatte, wollte der König zu ihr hineingehen, um sie zu sehen und willkommen zu heißen. D a stellten sich ihm die Töchter seiner Vaters- und Mutterbrüder in den Weg, und eine jede verzog ihre Lippen vor Neid und aus Eifersucht auf jene fremde Prinzessin. D i e eine sagte zu ihm: „Sie ist häßlich", dann sagte die andere: „Ihre Augen sind klein, und ihre Nase ist breit." Und eine andere sagte: „Ihre Beine sind plump und behaart, und sie ist klein und g a r s t i g " . . . So verblendeten sie sein Herz, bis er davon überzeugt war, d a ß er sich hatte täuschen und trügen lassen und d a ß diese Prinzessin nicht das Mädchen ist das er an der Quelle bewundert hatte. Darauf kehrte der König in sein Zimmer zurück, rief seine Mutter zu sich und sagte ihr, d a ß er die Braut verabscheue, denn sie sei häßlich und nicht das Mädchen, das er gesehen habe. Seine Mutter versuchte ihn davon zu überzeugen, d a ß sie dieselbe sei und d a ß er sie selbst anschauen solle. D i e Worte der Basen hatten ihn aber derartig beeinflußt und sein ganzes Herz erfüllt, d a ß er sich weigerte, mit der Braut zusammenzutreffen. Danach nahm er einen seiner Sklaven und ging in ein Haus außerhalb der Stadt, das ihm gehörte. Dorthin zog er sich zurück und kam nicht mehr ins Schloß. Seine Mutter fühlte, d a ß diese Worte des Neides und der Eifersucht die Ursache waren, d a ß er seine Meinung änderte und die fremde Prinzessin verschmähte. So beriet sie sich deswegen mit der Braut. D i e Braut sprach zu ihr: „Ich weiß, wie ich ihn dazu bringe, zu mir zurückzukehren und wieder ins Schloß zu kommen." Am folgenden Tage zog sie ein Kleid von rosenroter Farbe an, ritt auf einem Pferd davon und erkundigte sich nach dem Haus, in das ihr Bräutigam gezogen war. D a n n wandte sie sich dorthin. Als sie näherkam, sah sie ein schönes Haus, das in einem Garten voller Blumen und Früchte stand. Es hatte ein verschlossenes, eisernes Tor. Sie klopfte ans Tor, und der Sklave öffnete ihr. Als er sie sah, 287
verwirrte ihn ihre Schönheit. Er verneigte sich vor ihr und sprach: „Meine Herrin, tritt ein! Gehe in deinen Blumengarten, alles, was darinnen ist, ist süßer als Zucker." Da antwortete sie ihm: „Du Berbersklave 1 , willst du ein Mittelsmann sein?" Der König war nicht in dem Landschloß, sondern gerade auf die Jagd gezogen. Die Prinzessin ging hinein und sprach zu dem Sklaven: „Hast du eine Rose von der Farbe meines Kleides?" Er antwortete ihr: „Bitte, gehe im Garten umher!" Sie machte die Runde, bis sie zu einem Rosenbusch von der Farbe ihres Kleides kam. Dann pflückte sie eine Blüte ab und heftete sie mit der Nadel an ihre Brust. Danach knickte sie die Zweige des Rosenbusches ab und ging zu ihrer Schwiegermutter zurück und erzählte ihr, was sie getan hatte. Diese sprach zu ihr: „Gehe morgen wieder hin und tue das gleiche, was du heute getan hast." Der König kehrte von der Jagd zurück und trat in seinen Garten. Da sah er, daß die Zweige des Rosenbusches abgebrochen waren. Er befragte seinen Sklaven. Dieser wußte nicht, was er ihm sagen sollte, und sagte nur: „Ein heftiger Wind blies und hat sie abgeknickt." Der König war von dieser Antwort nicht überzeugt, doch er tat, als ob er damit zufrieden wäre. Am folgenden Tage, als er sich wieder auf die Jagd begeben hatte, kam die Braut in einem weißen Kleide. Sie klopfte ans Tor, und der Sklave öffnete ihr. Dann trat sie ein und ging im Garten umher, bis sie zu einem weißen Rosenbusch gelangte. Da pflückte sie eine Rose ab, steckte sie in ihren Gürtel, zerbrach danach die Zweige und ging davon. Der König kam am Abend und sah, daß die Zweige des weißen Rosenbusches abgebrochen waren. Er fragte 1
Als „Berber" bezeichnen die Araber benachbarte Völkerschaften mit ihnen unverständlicher Sprache. Im nordägyptischen Sprachgebrauch sind damit vorwiegend Nubier gemeint.
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den Sklaven, wer heute diesen Busch abgeknickt hätte. Er sagte: „Ein stürmischer Wind." Doch der König entgegnete: „Es ist seltsam, daß der Wind nur in meinem Garten bläst!" D a bekam der Sklave Angst und sah ein, daß es besser war, dem König die Sache mit dem jungen Mädchen zu erzählen, und er beschrieb ihm ihre bezaubernde Schönheit. Der König fragte ihn: „Ist es wahr, was du sagst?" Er antwortete: „Ja, o König der Zeiten." Darauf sprach der König: „In diesem Falle will ich morgen auf sie warten, um zu sehen, wer sie ist und was sie vorhat." Am dritten Tage kam die Braut auf ihrem Pferde angeritten und war in ein veilchenblaues Gewand gekleidet. Der Sklave öffnete ihr das Gartentor, sie trat ein und sah, daß der König sie erwartete, doch sie tat, als kenne sie ihn nicht. Er aber erkannte sie nicht wieder, denn er hatte sie nicht länger als einen Augenblick an der Quelle gesehen. Nun bemerkte er ihre Schönheit. Er hatte in seinem ganzen Leben noch nicht ihresgleichen gesehen. Da hieß er sie willkommen und schritt mit ihr durch den Garten. Er hatte sie noch nicht gefragt, wer sie war, als sie zu einer Stelle kamen, an der die Veilchen blühten. Da schaute sie den König an und sprach zu ihm: „Weißt du, was das Veilchen spricht?" Er antwortete: „Nein." Sie sagte: „Es spricht: Ich bin das Blaue, Meine Wurzel ist klein, Und mein §tengel gleicht einem Seidenfaden, Doch mein Duft zählt zu den Prinzen im Reich der Düfte. 19
Arabische Volksmärchen
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D u aber, o Rose, O du schläfrige und verwelkte, Wäre doch in deinem Kopf Verstand, Den dir die Frauen verdreht haben." E r verstand nicht, was sie mit dieser Rede beabsichtigte. Dann schritten sie weiter, bis sie zu einem Lindenbaum kamen. Dort blieb sie stehen und redete ihn an und sagte: „Deine Zweige erstrecken sich über unsere Wand, Ich fürchte, sie abzuschneiden, Denn deine Familie flößte dir Angst ein, Und die Töchter von deines Vaters Brüdern Beherrschen dich. O meine kleinen Hände, O Unvermögen, zu dir hinaufzureichen." D e r König verstand auch diesmal nicht, was sie meinte. Dann schritten sie weiter, bis sie zu einer dichten Rebenhecke kamen. D a fragte sie ihn: „Was ist das?" E r sprach zu ihr: „Weintrauben, willst du davon essen?" E r trat näher heran, um ihr eine Traube zu pflücken, aber sie ließ ihn stehen, denn sie wollte mit ihren eigenen Händen pflücken. So kletterte sie hinauf nach einer Traube und pflückte sie. Während sie hinunterstieg, verletzte sie sich absichtlich am Stamm des Weinstocks und erhielt eine Schramme am Knöchel, dabei schrie sie: „Au, komm schnell!" E r eilte zu ihr und hob sie herunter auf den Erdboden, dann zog er das königliche Kopftuch von seinem Hals, riß ein Stück davon ab und band es um die Wunde. Sie ließ ihm jedoch keine Zeit, sich mit ihr zu unterhalten und sie auszufragen, wer sie war, sondern ritt auf ihrem Pferd davon zu ihrer Schwiegermutter und erzählte ihr, was geschehen war. D a freute sich die Schwiegermutter und sprach zu ihr: „Er wird sicher morgen zur Stadt kommen, denn du hast sein Herz gerührt, und er möchte gern wissen, wer du bist.
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Ohne Zweifel wird er auch im Schloß vorbeikommen, um mich zu sehen. Wenn er mich dann um etwas bittet, werde ich es ihm nicht geben, sondern dich rufen, damit du es ihm bringst." Der König aber begann über das Mädchen nachzudenken, sobald sie davongegangen war. Er hatte sie bewundert und liebgewonnen und wollte zu gern wissen, wer sie war. Am folgenden Tage bestieg er sein Pferd und ritt in die Stadt. Vielleicht konnte er dort etwas über sie erfahren. Als er zufällig in der Nähe seines Schlosses vorbeikam, ging er hinein, um seine Mutter zu sehen. Sie machte ihm Vorhaltungen, daß er aufgehört habe, sie zu besuchen. Da sprach er zu ihr: „Dies geschah nur, weil ich die Braut nicht sehen will, die du mir gebracht hast. Aber es ist nicht dein Fehler, meine Mutter, sondern meiner." Während sie sich unterhielten, wurde er durstig und begehrte von seiner Mutter ein Glas Wasser. D a rief die Mutter: „O Braut, bringe ein Glas Wasser für deinen Bräutigam!" Er aber schrie: „Ach nein, ach nein, ich möchte sie nicht sehen und nichts trinken, was von ihrer Hand kommt." Die Braut war jedoch unterdessen mit einem Glas Wasser hereingekommen. Er bedeckte seine Augen, um sie nicht sehen zu müssen, und sprach zu ihr: „Ich will nichts trinken, was von deiner Hand kommt, denn ich liebe dich nicht!" Sie antwortete ihm: „So mögen dich die Pusteln der Blattern l i e b e n ! 1 Hast du nicht das königliche Kopftuch zerrissen, um mich damit zu verbinden?" Er hob die Hand von seinen Augen und schaute nach ihrem Bein. D a sah er, daß es mit einem Stück von seinem königlichen Kopftuch verbunden war, und rief: „Bist du es?" 1
Neckerei unter Liebenden.
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Sie antwortete ihm lächelnd mit einem Kopfnicken: „Wahrlich, sie ist es." Da freute er sich über alle Maßen, kehrte zu ihr zurück und feierte ein herrliches Hochzeitsfest. Gegen seine Basen von seiten des Vaters und der Mutter verhielt er sich nunmehr zurückhaltender. Er lud sie nicht länger ein und lebte mit seiner Braut in Seligkeit und Wonne.
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AN-NITU UND AL-LAiB
An-Nitu war ein häßliches Mädchen. Ihr Vater war sehr reich und wollte sie verheiraten, aber es gab weder einen Jüngling noch einen angesehenen alten Mann, der sie heiraten mochte, weil sie so abscheulich aussah. D a sagte der Vater von an-Nitu zu seinem Sklaven: „Wie sollen wir an-Nitu verheiraten?" D e r Sklave sagte zu ihm: „Wenn ich ihr einen Bräutigam bringe, wie willst du es mir vergelten?" Sein Herr versprach, ihm viel Geld zu geben und ihn freizulassen. Darauf ging der Sklave weit weg in einen Akazienwald, der zwei Tagereisen von dem Dorf entfernt lag. Dort begann er Holz zu schlagen und dessen Rinde abzuschälen. Eines Tages zog an dem Sklaven eine Karawane von Kaufleuten vorüber, in der sich Mohammed asch-Schatir und sein Sklave Bischara befanden. Der Sklave lud die Karawanenreisenden ein abzusteigen, gab ihnen Wasser und schlachtete für sie. D a fragten sie ihn, warum er Holz schlage. E r lachte und sagte: „Meiner Herrin zuliebe. Das Holz ist zum Beräuchern der Haut und die Rinde zum Flechten der Zöpfe." Sie wunderten sich über so viel Holz und Rinde. Dann zogen sie wieder ihres Weges. Ein Jahr lang \varen sie unterwegs. Danach kehrten sie auf demselben Wege zurück und trafen den Sklaven'so, wie sie ihn verlassen hatten. E r schlug Holz und schälte Rinde ab. Der Sklave bat sie eindringlich zu rasten, und so stiegen sie ab, und er gab ihnen Wasser, schlachtete für sie und erwies ihnen Gastfreundschaft. D a sagte Mohammed asch-Schatir zu ihm: „Du hast vor einem Jahr Holz geschlagen. Ist die Menge des Holzes, das du geschlagen hast, und der Rinde, die du seit dem vergangenen Jahr abgeschält hast, nun vollständig?"
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Der Sklave sagte: „Ja, alles ist vollständig." Dabei lachte der Sklave, sah Mohammed asch-Schatir an und sagte zu ihm: „Ehtschuldige, entschuldige, leider kann ich das Holz und die Rinde nicht verkaufen. Dieses Holz und die Rinde sind meiner Herrin, an-Nitu, nicht einmal genug zum Beräuchern und zum Flechten ihres Haares." Mohammed asch-Schatir sprach zu ihm: „Deine Herrin, an-Nitu, muß sehr verschwenderisch sein." Der Sklave antwortete: „Ihr Haar, mein Herr, ist so dicht wie dieser ganze Wald." Darauf fragte ihn Mohammed asch-Schatir: „Ist deine Herrin eine Braut?" Der Sklave sagte: „Nein, mein Herr, sie ist bisher noch keine Braut." Da sagte Mohammed asch-Schatir bei sich: „Ich muß unbedingt um an-Nitu freien, denn nach der Rede dieses'Sklaven zu urteilen, ist sie sehr schön." So begab sich Mohammed asch-Schatir zum Vater von anNitu und sprach zu ihm: „Gib mir an-Nitu zur Braut!" Der Vater von an-Nitu traute seinen Ohren nicht, und er wurde von Freude überwältigt. Dann sagte der Sklave zu Mohammed asch-Schatir: „Bringe ein Qintar Gold, dann wird dir mein Herr an-Nitu geben." Mohammed asch-Schatir brachte ein Qintar Gold. Der Vater von an-Nitu nahm das Qintar und ließ seinen Sklaven frei. Als Mohammed asch-Schatir einmal am Nilufer entlangging, hörte er, wie sich zwei Frauen beim Wasserholen unterhielten. Die eine sagte zur anderen: „O du, wenn wir nur das gleiche Glück hätten wie anNitu!" Die zweite sagte: „Ist es richtig, daß man sie verheiratet?" Darauf sagte die erste: „Es war eine Brautwerbung voller Freude, o Mutter. Es 294
ist einer zu ihr gekommen, der blind war, 1 und hat ihrem Vater ein Qintar Gold gegeben." D a sagte die zweite: „Bei Allah, das ist ein Glück, meine Schwester!" Mohammed asch-Schatir wunderte sich, d a ß die Frau sagte: „Es ist einer zu ihr gekommen, der blind war." E r rief daraufhin seinen Sklaven und sagte zu ihm: „Bischara, gehe zum Haus der Braut, gebrauche eine List und sieh dir für mich diese an-Nitu an, damit ich weiß, wie ihre Gestalt ist." Bischara ging zur Familie der Braut. E r gab vor, sehr durstig zu sein, und bat um einen Krug Wasser. An-Nitu saß gerade vor der Frau, die ihr das H a a r zurechtmachte. Bischara betrachtete sie genau, bis er sich ihr Äußeres fest eingeprägt hatte. Danach kehrte er zu seinem Herrn, Mohammed asch-Schatir, zurück. Mohammed asch-Schatir fragte ihn: „Wie ist das Gesicht von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie deine Pfeife, wenn sie ausgeraucht ist." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie sind die Augen von an-Nitu?" Bischara antwortete: • „Wie bei deiner Katze, wenn du sie wegjagst." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist der Mund von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie das Speiseleder, das du ausgeschüttelt hast." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist das Haar von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie das Fell deiner Katze, wenn sie naß geworden ist." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie sind die Arme von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie der Schaft deiner Spindel aussieht, so dürr und steif." 1
E m unwissender Fremder. „Blind" ist hier kein Vorwurf, denn traditionsgemäß darf der Mann die Braut vor der Hochzeit nicht sehen.
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Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie sind die Brüste von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie dein trockenes Brot, wenn es geröstet wird, so flach und eingefallen." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist der Bauch von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie deine ausgetragenen Schuhe, die du im Hause weggeworfen hast." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist der Rücken von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie dein Bogen, wenn du ihn spannst." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist das Hinterteil von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie die Trommel, die du schlägst." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie sind die Beine von an-Nitu?" Bischara antwortete: „Wie beim Jungen des Falken, auf das du stößt und das dir entflieht." 1 Mohammed asch-Schatir fragte: „Was kann mich vor an-Nitu bewahren?" Bischara antwortete: „Dein Reitkamel, wenn du es antreibst, und wenn du dein Geld dem Vater der Braut zurückläßt." So sattelte Mohammed asch-Schatir sein Kamel und ließ sein Geld zurück. Er reiste mit Bischara die ganze Nacht über, und am Morgen langten sie in einem Land an, das ihnen unbekannt war. Dann zogen sie tagein, tagaus weiter und waren einen ganzen Monat auf der Reise. Schließlich stiegen sie in einer Ortschaft ab. Eines Nachts ging Mohammed asch-Schatir durchs Dorf und traf auf einige Jungen, die Tab spielten. Jeder von ihnen warf einen Tab und rief: 1
Sie ähneln dünnen Stelzen.
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„Ich bin der Bruder von al-Laib." Mohammed asch-Schatir fragte sie nach al-Laib und warum sie „Ich i bin der Bruder von al-Laib" sagten. Da sprachen sie zu ihm: „Diese al-Laib ist das schönste Mädchen im Lande." Darauf ging Mohammed asch-Schatir zum Vater von alLaib und sagte zu ihm: „Gib mir deine Tochter zur Braut!" Der Vater von al-Laib sagte: „Bringe das Geld! Ein Qintar Gold." Mohammed asch-Schatir erschien mit einem großen Koffer, in dem sich ein Qintar Gold befand. D a war der Vater von al-Laib mit der Heirat einverstanden. Während Mohammed asch-Schatir einmal am Nilufer entlangging, hörte er, wie sich zwei Frauen unterhielten. Die eine sagte zur anderen: „Wenn wir nur das gleiche Glück hätten wie al-Laib. Ein Fremder ist zu ihr gekommen und hat für sie ein Qintar Gold bezahlt." Da sagte die andere: „Möge uns Allah ähnliches bescheren, meine Schwester!" Darauf rief Mohammed asch-Schatir seinen Sklaven Bischara und sprach zu ihm: „Gebrauche eine List und sieh dir für mich al-Laib an!" Bischara begab sich zur Familie der Braut. Er bat sie um Wasser, betrachtete die Braut und kehrte danach zu seinem Herrn zurück. Da fragte ihn Mohammed asch-Schatir: „Wie ist das Gesicht von al-Laib, o Bischara?" Bischara antwortete: „So rund wie der Mond nach zweimal sieben Tagen." 1 Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist die Nase von al-Laib, o Bischara?" Bischara antwortete: „Wie das goldene Kumkum, das die Christen haben." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist der Hals von al-Laib, o Bischara?" Bischara antwortete: 1
Also wie der Vollmond.
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„Wie ein goldener Becher auf einem Krug." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist der Rücken von al-Laib, o Bischara?" Bischara antwortete: „Wie die Kurve zwischen Daumen und Zeigefinger, wenn sie ausgestreckt sind." 1 Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie sind die Arme von al-Laib, o Bischara?" Bischara antwortete: „Wie die Reitgerte für das Kamel, so schlank und biegsam." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist der Bauch von al-Laib, o Bischara?" Bischara antwortete: „Wie eine indische Taqa bei den Kaufleute.i." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist das Hinterteil von al-Laib?" Bischara antwortete: „Wie beim Jungen der Gazelle, das sich zum Schlaf hingestreckt hat." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie ist das Haar von al-Laib, o Bischara?" Bischara antwortete: „Schwarz, weich und nicht kurz." Mohammed asch-Schatir fragte: „Wie sind die Beine von al-Laib, o Bischara?" Bischara antwortete: „Wie Taubenbeine auf den Steinen." Mohammed asch-Schatir freute sich sehr, als er diese Beschreibung hörte, und sagte zu Bischara: „Wenn deine Beschreibung richtig ist, werde ich dich freilassen und dir die H ä l f t e meines Vermögens geben." Als er Bischaras Beschreibung bestätigt fand, ließ er ihn frei und gab ihm die Hälfte seines Vermögens. D a n n lebte er glücklich mit al-Laib, bis der Zerstörer aller Vergnügen kam, der Unerbittliche, der alle Freuden tilgt. 1
D. h., sie bilden eine schöne Krümmung.
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. V O N D E N S I E E E N S Ö H N E N UND D E N SIEBEN
TÖCHTERN
E s geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. Zwei Brüder waren leibliche Geschwister. 1 Allah segnete sie mit Wohlstand und breitete seinen Schatten über ihnen aus. D e r erste besaß sieben Söhne, die das mannbare Alter erreicht hatten, während Allah dem zweiten sieben Töchter beschert hatte. E r war immer traurig darüber, und es schmerzte ihn. Seine Qual vergrößerte sich noch, weil der Vater der Söhne täglich ins Haus des Vaters der Töchter kam und zu ihm sagte: „Allah möge dir einen guten Morgen bescheren, du Vater der Töchter!" D i e Zeit verging. D i e Söhne und die Töchter wuchsen heran. D i e Burschen waren alle zu Männern und die Mädchen zu Frauen herangereift. D a ließ sich der Vater der Söhne von den jungen Männern in seinen Handelsgeschäften und bei Einnahmen und Ausgaben helfen. Sein Gewinn vermehrte sich, und seine Geschäfte blühten. E r war angesehen bei den Leuten, und sie betrachteten ihn mit Ehrfurcht, da er eine so große Anzahl von männlichen Nachkommen hatte. Demgegenüber mußte sich der andere Bruder unablässig mühen, und dennoch bestand seine Abendmahlzeit nur aus M a l v e n 2 . Seine Bürde nahm zu, denn er hatte niemanden, der ihm half. Keiner hörte auf seine Worte, und keiner behandelte ihn mit Ehrfurcht. D e r Vater der Söhne trachtete nach Vermehrung des Reichtums. Daher verschaffte er jedem seiner Söhne ein Anfangskapital und schickte sie fort, jenseits der Meere Handel zu treiben und größeren Gewinn zu erzielen. 1 2
Hier: Beide Söhne vom selben Elternpaar. Malven sind sprichwörtlich das einfachste und billigste Essen.
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Eines Tages kam die jüngste Tochter des Vaters der Töchter zu ihrem Vater und sagte: „Mein Vater, warum muß ich sehen, daß du traurig und niedergeschlagen bist?" Seine Antwort war ein tiefer Seufzer, der sich seiner Brust entrang. Dann sagte er: „Ich habe Angst um euch, meine Töchter. Ich bin im fortgeschrittenen Alter und zu Jahren gekommen und fürchte, daß mein Ende nahe ist. Dann werdet ihr ohne Versorger zurückbleiben, denn Allah hat uns bis jetzt nicht mit einem Sohn gesegnet." D a unterbrach ihn die Tochter, die nämlich die klügste und schönste unter ihnen war, und sprach: „Sei nicht traurig, mein Vater, daß Allah dich nicht mit männlichen Nachkommen gesegnet hat, sondern wisse, daß sich die Frauen nicht vor der Arbeit scheuen. Handelsgeschäfte und Beschäftigungen, die Gewinn bringen, sind nicht Männern vorbehalten, sondern die Frau kann ebenfalls einen Anteil an nützlichen Beschäftigungen haben. Wenn du es erlaubst und mir etwas von deinem Geld gibst, will ich damit Handel treiben, und vielleicht wird uns Allah mit dem segnen, was dein Augapfel i s t . . A und dich deine Seufzer nach männlichen Nachkommen vergessen läßt." Sie hörte nicht auf, ihn zu umschmeicheln und zu überreden, ihr die Erlaubnis dazu zu erteilen, bis sie ihn überwunden hatte und er am Ende einverstanden war, ihr ein Anfangskapital für den Handel außer Landes zu geben. Dies sollte eine Beruhigung für seine Seele sein und eine Erleichterung der Schmerzen, die er ihretwegen verspürte. Gerade als sie sich eingerichtet und ihre Vorbereitungen getroffen hatte, da erhielten sie unerwartet Nachrichten über die Söhne ihres Onkels. Ihr Handel war plötzlich ins Stocken geraten. Schwere Rückschläge hatten sie betroffen, ihre Schiffe waren untergegangen, und außerdem erlitten sie überall Verluste, der eine wegen seiner schlechten Geschäftsführung, ein anderer wegen seiner Maßlosigkeit, wieder ein anderer we1
Was dir am teuersten ist, d. h. ein Kind, das im Geschäft hilft.
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gen seines übertriebenen Geizes und so fort, bis sie alle kein Geld mehr in den Händen hatten. Als das Unheil auf ihre K ö p f e herabfiel, schämten sie sich, mit einer H a n d hinten und einer H a n d vorn 1 zu ihrem Vater zurückzukehren, und versuchten eine Beschäftigung zu finden, die sie vor Hunger und Nacktheit bewahrte. Jeder von ihnen fand eine Arbeit bei einem Handwerksmeister, und sie begannen als Gehilfen zu arbeiten. Die Tochter aber reiste ab, sobald sie den glückverheißenden Vogel gesehen hatte, 2 und die E r d e hob sie nach oben und brachte sie wieder hinunter. 3 Ihre Handelsgeschäfte gingen ausgezeichnet und waren beständig von Gewinn begleitet. Sie hatte sich als Mann angezogen, um sich die Arbeit zu erleichtern, und wirkte klug und erfahren. Ihr Reichtum vermehrte sich, und sie gehörte bald zu den großen K a u f leuten. Darauf beschloß sie, sich in dem Land niederzulassen, in dem die vom Unglück heimgesuchten sieben Söhne ihres Onkels lebten. D o r t eröffnete sie einen Laden, und die großen und vornehmen Leute pflegten zu ihr zu kommen und einzukaufen, was es darin an kostbaren Dingen gab. Die Kunde gelangte auch zum Sohn des Königs. E r sattelte geschwind sein Kamel und begab sich in ihren Laden, um sich anzusehen, was er enthielt. Dort fühlte sich der Prinz von dem Mädchen angezogen. Sein Herz wandte sich ihr in Liebe zu, ohne zu wissen, d a ß sie ein Mädchen war. E r fragte sie nach ihrem Namen, ihrer Herkunft und allen Einzelheiten über sie, und sie antwortete ihm. Darauf bat er sie nochmals, ihm ihren N a m e n zu nennen. Sie sprach: „Mein N a m e ist Ali an-Nasir." Als sie der Königssohn verließ, hatten ihn ihr Wesen und ihr gutes Benehmen ganz gefangengenommen. E r wiederholte danach seinen Besuch in ihrem Laden, und schließlich lud er sie ein, ihn im Schlosse zu besuchen. Sie nahm seine 1 2 3
Mit leeren Händen. Sobald ihr die Gelegenheit günstig erschien. Alter poetischer Ausdruck für weite Reisen durch die Wüste.
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Einladung mit lebhafter Freude an, denn die Liebe hatte auch von ihrem Herzen Besitz ergriffen. Im Schloß hieß er sie bei ihrer Ankunft herzlich willkommen, erwies ihr die beste Gastfreundschaft und bat sie, sein ständiger Gefährte und Freund zu werden. Daraufhin ging sie zu jeder Zeit bei ihm aus und ein und nahm ihr Essen mit ihm allein an einem Tisch ein. Sie trennten sich nur beim Schlafengehen. Er förderte ihre Handelsgeschäfte und tat alles, worum sie ihn bat. Gold und Reichtum flössen unablässig und in großer Menge in ihre Hände, und sie sandte den Überschuß an ihren Vater. Dieser lobte Allah und dankte ihm für diesen Wohlstand, mit dem er ihn so reichlich bedacht hatte, und er hörte nicht auf, seiner Familie, den Verwandten und besonders seinem Bruder gegenüber immer wieder zu sagen: „Meine Tochter ist besser als tausend Söhne." Unterdessen war der Königssohn wegen des Jünglings, seines Freundes, in Verwirrung geraten, denn er zeigte ihm gegenüber stets Scheu, und seine Liebe war mit Zögern verbunden. Eines Tages, als er mit seiner Mutter, der Königin, allein war, sagte er zu ihr: „O Mutter, ich beobachte meinen Freund, Ali an-Nasir, mit Verwunderung. Ich habe einiges bemerkt, das mich bezweifeln läßt, daß er ein Mann ist, zum Beispiel seine schlanke (jestalt, seine hochstehende Brust, seine sanfte Stimme, die Schönheit seines Angesichts und seine Schamhaftigkeit. Ach, wie wünschte ich, daß dieser Freund ein Mädchen ist, damit ich es von ganzem Herzen lieben könnte. Vermagst du mir einen guten Rat zu geben, wie ich mich von all diesen Zweifeln befreie?" Da sagte seine Mutter nach reiflichem Überlegen zu ihm: „Ich kann deine Gefühle verstehen. Wenn deine Vermutungen zutreffen, so rate ich dir, spiele fürs erste mit deinem Freund Schach. Wenn du ihn besiegst, so ist er höchstwahrscheinlich ein Mädchen, denn die Frauen sind im Spiel nicht erfahren und haben gewöhnlich keine Ausdauer. Berichte mir hinterher von dem Ergebnis!" Der Königssohn tat, was sie ihn geheißen hatte, und spielte mit dem Mädchen eine Partie Schach, doch sie besiegte ihn. 302
Darauf ging er zu seiner Mutter und erzählte ihr den Stand der Dinge, und dabei war er sehr bestürzt. D i e Mutter sprach: „ D a n n mußt du also dieses tun: Bringe ihn in die Schatzkammer des Schlosses, in der sich die alten Kunstwerke befinden, und zeige ihm Frauenschmuck, Festtrachten, Ketten, Armreife, Armbänder, Ohrringe, Sandalen und Brokatstoffe. Danach zeige ihm Kriegsgeräte wie Rüstungen, Brustplatten, eiserne Helme, Schwerter, Speere und Schilde und beobachte ganz genau, wofür er mehr Neigung hat, für Frauensachen oder für Kriegsausrüstungen." Der Königssohn tat, was ihm seine Mutter geraten hatte. E r brachte seinen Freund Ali an-Nasir zu dem Haus, in dem die altertümlichen Sachen aufbewahrt wurden, und ließ ihn das Kostbarste sehen, was es darin an Schmuck und Frauentrachten gab. Danach zeigte er ihm Kriegsgeräte, Waffen und Kleidung für Männer und Krieger. Ali besah sich die Männersachen und warf keinen Blick auf das, was besonders für Frauen bestimmt war. Der Königssohn bewunderte, wie genau sein Gast beobachtete und wie gut er sich benahm. D a n n eilte er zu seiner Mutter und überbrachte ihr die Neuigkeiten dieser letzten Prüfung, doch er war offenbar enttäuscht und bat sie um einen anderen Ratschlag. Sie sprach: „Lade ihn heute nacht zu dir nach Hause ein und beauftrage den Gärtner, jedem von euch einen Strauß frischer Blumen auf das Bett zu legen. Wenn du entdeckst, d a ß sein Strauß am Morgen welk geworden ist, dann ist er vielleicht ein Mädchen, wie du vermutest." D e r König tat, was ihm seine Mutter geraten hatte. E r lud Ali ein, bei ihm zu übernachten. Dieser nahm mit Freuden an und kam zu ihm. Um Mitternacht erwachte das Madchen und fand auf jedem ihrer Betten einen Blumenstrauß. Sie dachte darüber nach und sprach vor sich hin: „Damit hat es bestimmt eine geheime Bewandtnis." Sie holte Wasser und sprenkelte es auf den Strauß, der auf seinem Bett lag. D a n n trug sie ihren Strauß fort und legte ihn auf das Bett des Königssohns und brachte seinen Strauß hinüber auf ihr Bett und schlief weiter, als ob sie die Sache nichts angehe. 303
Am Morgen untersuchte der Königssohn die beiden Sträuße und fand, daß derjenige, der auf seinem Bett lag, verwelkt war, während ihr Strauß seine Herrlichkeit bewahrt hatte. Seine Verwirrung hierüber wuchs, und er eilte zu seiner Mutter, um ihr vom Ausgang der dritten Prüfung zu berichten. Unterdessen hatte das junge Mädchen bei ihrer außerordentlichen Klugheit wahrgenommen, daß sich der Königssohn bemühte herauszufinden, wer sie wirklich sei. D a sie befürchtete, daß ihr Geheimnis bekannt werden könnte, beschloß sie, in ihr Land zurückzukehren. Sie hatte genug G e winn erzielt, um heimziehen zu können, denn das Geld, das Gold und die Edelsteine reichten für sie und für ihre Familie bis zu deren Kindeskindern. Daher bat sie ihren Freund, den Königssohn, um Erlaubnis für die Abreise. E r wußte keinen Ausweg, als ihr die Reise zu erlauben, aber seine Seele wurde von großer Traurigkeit ergriffen. Danach begann das Mädchen ihre Waren zusammenzupacken. D e r Königssohn wandte sich wieder an seine Mutter. Sein Herz war dabei schwer vor Kummer. E r erzählte ihr, daß sein Freund Ali beschlossen habe abzureisen und das Land auf immer verlassen wolle. Das Herz des Jünglings war betrübt, und in seinen Augen standen Tränen. Dann fragte er seine Mutter, was er tun solle, um den Zweifel durch Gewißheit zu ersetzen und die Wahrheit über diesen Freund zu erfahren. D a sprach sie zu ihm: „Zur Aufklärung bleibt dir nur noch ein Weg übrig. E r besteht darin, deinen Freund anläßlich seiner Abreise ins Bad einzuladen. Dabei wird dir alles offenbar werden, und vielleicht schwinden die Besorgnisse aus deinem Inneren." Der Jüngling handelte nach dem Vorschlag seiner Mutter und lud seinen Freund Ali einige Tage vor seiner Abreise ins Bad ein. E r hatte erwartet, eine Entschuldigung zur Antwort zu erhalten, doch zu seinem Erstaunen erfuhr er, daß seine Einladung angenommen wurde. Dann legten sie einen Zeitpunkt dafür fest. Aber das Mädchen ging bereits vor der vereinbarten Zeit hin, nahm ein Bad, kam heraus und rief darauf den Bademeister. Dann schrieb sie etwas auf ein Blatt Papier, reichte es ihm und sprach:
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„Wenn der Emir Mahmud kommt und nach mir fragt, teile ihm mit, was geschah, und händige ihm dieses Schreiben aus!" So sprach sie und ging davon. Zur verabredeten Zeit kam der junge Emir in das Bad. Man sagte ihm, daß sein Gast geglaubt habe, er sei zu spät gekommen, und deshalb vor ihm gebadet habe, und d~r Bademeister übergab ihm den Brief. Der Emir öffnete ihn und fand folgendes darin: „Ich kam mit einer Absicht und ging zurück mit einer Absicht, aber der Emir Mahmud erfuhr nichts über mich." D e r Emir Mahmud schlug die Hände zusammen vor Unmut. E r hatte aus dieser einzigen Zeile entnommen, was er nicht in mehrfachen Zusammenkünften zu verstehen vermochte noch mit mehreren Prüfungen lösen konnte. Kummervolle Gedanken bewegten ihn, und eine Liebe, die ihn nahezu tötete, überkam ihn. E r knirschte vor Gram und Reue mit den Zähnen, weil er ihr die Erlaubnis zur Reise gegeben hatte. Darauf sandte er einen Boten aus, aber man sagte ihm, daß das Schiff mit dem jungen Mädchen vor Stunden absegelte und es nutzlos sei, ihr zu folgen. D a nahm er den Brief in die Hand, und von Kummer überwältigt, begab er sich zurück zu seiner Mutter, um ihr die Wahrheit zu erzählen. Das Mädchen aber setzte seine Reise fort. Sie hatte eine schwere Last an Handelsgütern und Reichtümern, und jedesmal, wenn sie in einer Stadt Aufenthalt nahm, wetteiferten die Leute miteinander, um sie zu sehen und ihre schweren Ladungen an kostbaren Gütern zu betrachten. So ging es, bis sie schließlich in der Stadt haltmachte, in der einer ihrer Vettern lebte. Als sie eines Tages durch die Stadt spazierte, sah sie den Sohn ihres Onkels als Gehilfen in einer Garküche. Darauf begab sie sich in diese Speisewirtschaft und bestellte ein verschwenderisches Mittagessen, das in ihr nahegelegenes Quartier gebracht werden sollte. Es dauerte nicht lange, bis sie sah, wie der Vetter mit der Sinija auf dem Kopf herbeikam. Sie forderte ihn auf näherzutreten, und er begann sie zu bedienen. Dann fing sie an, ihn nach seinem Namen und seinem Herkommen zu fragen, 20
Arabische Volksmärchen
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er aber erkannte sie nicht. E r erzählte ihr, daß er der Sohn eines Kaufmanns sei und selbst ein Kaufmann in dieser Stadt gewesen war, daß er jedoch von Verlusten heimgesucht wurde und mit der Zeit immer mehr Rückschläge erlitten habe, bis er schließlich Gehilfe in einer Garküche wurde. Sie tat, als ob ihr seine Geschichte sehr naheginge und sich ihr Herz vor Mitleid für ihn regte. Darauf fragte sie ihn: „Was würdest du dazu sagen, wenn ich dir Waren gäbe und dir G e l d verschaffte, damit du erfolgreich und wohlhabend an deinen Geburtsort zurückkehren kannst und wieder so reich bist wie zuvor?" D a wußte er nicht, was er darauf antworten sollte, denn die Überraschung machte ihn stumm. A l s er jedoch sah, welche glänzende Stellung und welchen Reichtum sie besaß, w a r er sicher, daß sie sich nicht über ihn lustig machte. D a fiel er vor ihr auf die Knie, küßte ihre Füße und sprach dabei: „ O mein Herr, ich habe seit langem aufgehört, meinem V a ter Nachricht zu geben, und er weiß jetzt nicht, ob ich lebe oder tot bin. Ich sandte ihm kein Lebenszeichen, weil ich mich schämte und es mich bedrückte, daß ich sein G e l d verschwendet hatte. D u , mein Herr, bringst mich 2jum Leben zurück!" Nachdem sie in ihrem Inneren einen Entschluß erwogen hatte, sprach sie zu ihm: „Mein Wort gilt, und ich nehme es nicht zurück. Und da ich ein wohlhabender Kaufmann bin, der einen ungeheuren Reichtum besitzt, werde ich dir zur Rückkehr zu deinem V a ter verhelfen, doch ich möchte dir als Entgelt für all dies auf deinem rechten A r m mit dem Eisen ein Siegel einbrennen." D e r Diener wunderte sich über dieses seltsame Ansinnen, doch es blieb ihm nichts weiter übrig, als anzunehmen und zu tun, was sie begehrte. Darauf versah sie ihn mit genügend G e l d und verließ ihn. E r reiste zu ihrem gemeinsamen G e burtsort, während sie ihren Weg fortsetzte. Kehren wir zum E m i r Mahmud zurück! E r wurde von brennender Sehnsucht verzehrt und konnte sich nicht mehr gedulden. E r begann abzumagern, und seine K r ä f t e schwanden. D i e Trennung setzte ihm in solchem Ausmaß zu, daß sein Vater genau >vie er sein baldiges Ableben befürchtete. D a schlugen ihm die Minister vor, dem Emir ein großes G e 306
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folge zu geben, damit er im Lande umherziehen und so vielleicht seine Geliebte aufspüren könne. Der Emir war damit einverstanden und brach auf zu einer Rundreise durch das Land, forschte und untersuchte und erhielt Auskünfte über den Kaufmann Ali an-Nasir. Die Tage vergingen. Das junge Mädchen zog weiter von einer Stadt zur anderen. Eines Tages beschloß sie wieder einmal, ihren Aufenthalt in einem anderen Ort zu nehmen. Als sie durch eine der Straßen ging, bemerkte sie zufällig den Laden eines Schneiders und sah darin ihren zweiten Vetter bei der Arbeit. Sie ging in den Laden und erkundigte sich über ihn. D a erfuhr sie, daß er als Gehilfe für einen so niedrigen Lohn arbeitete, daß er sich kaum vor dem Verhungern bewahren konnte. Sie bestellte bei dem Schneider Kleidung und gab ihm den Auftrag, sie in ihr Quartier zu senden. Dafür stellte sie ihm Freigebigkeit und Großzügigkeit in Aussicht. E s dauerte keinen Tag oder nur einige wenige Tage, bis der Sohn ihres Onkels als Diener des Schneiders kam und ihr den Anzug lieferte. D a machte sie mit ihm, was sie zuvor mit seinem Bruder getan hatte. Sie gab ihm das Geld, nachdem sie ihm ein Siegel auf seinen Arm eingebrannt hatte. Der Zufall wollte es, daß sie ihre übrigen Vettern nahezu auf die gleiche Weise entdeckte. Sie befreite sie alle aus ihrer verzweifelten Lage, stattete sie mit Gütern aus und schickte sie zu ihrer Familie. D i e Vettern sandten nun lange Briefe an ihren Vater, teilten ihm mit, daß ihr Handel wieder aufgeblüht war, und kündigten ihm ihre baldige Ankunft an. D a wurde der Vater froh. E r war ganz berauscht vor Freuden. Bei der Rückkehr der Söhne begab sich die halbe Einwohnerschaft der Stadt hinaus nach dem Hafen, um sie mit Tüchern und Freudentrillern zu empfangen. Feste wurden angeordnet, und Dekorationen wurden aufgestellt, sobald die guten Nachrichten von ihnen angekommen waren. Das Mädchen jedoch rechnete, nachdem sie ihr Werk vollendet hatte, ihren Gewinn aus und zog die Schulden ein, die ihr die Leute zu zahlen hatten. 20*
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Sie traf in ihres Vaters Stadt zur Zeit des Sonnenuntergangs ein, ohne jemanden über ihre Ankunft zu benachrichtigen. Als sie die Stadt betrat, hielt sie einen bescheidenen Einzug, so daß niemand ihre Heimkehr bemerkte. Dennoch verbreitete sich die Kunde von dem, was sie an Geld, Kostbarkeiten und Perlen mitgebracht hatte, überall in der Stadt und drang auch in benachbarte Länder. Ihre Vettern jedoch wußten nach wie vor nicht, daß der Spender ihres Wohlstandes ihre Base war. Sie kannten aber den Umfang des Reichtums, mit dem sie gekommen war, und in ihrer Seele regte sich die Geldgier. Jeder von ihnen wollte das Mädchen und sein Geld gewinnen, und sie fielen alle über sie her, um den Heiratskontrakt mit ihr abzuschließen. Einer nach dem anderen ging zum Onkel und begehrte sie für sich, doch die Antwort des Vaters lautete stets gleich: „Ich werde sie um ihre Meinung fragen. Sie hat das Recht, unter euch zu wählen." Wenn er zurückkam, brachte er folgende Antwort mit: „Meine Tochter sagt: ,Es ziemt sich nicht für die Base, d a ß sie sich stolz und hochmütig gegenüber den Söhnen ihres Onkels verhält, denn sie haben ein Recht auf sie vor dem Fremden.' Sie wünscht sich aber einen freien Mann und nicht einen, der mit dem Brandmal der Sklaverei gezeichnet ist. Darum sagte sie: ,Er soll mir seinen rechten Arm zeigen. Finde ich darauf kein Siegel, werde ich ihn heiraten.'" So verfuhr sie mit jedem, und da sich die Vettern schämten, ihre Arme sehen zu lassen, kehrten sie um. Da wunderten sich die Familie und die Verwandten über das Verhalten der Brüder. Am Ende verbreitete sich die Geschichte, und die Leute bestanden darauf, daß das Mädchen ihnen erzählen solle, was sie mit dieser Forderung bezwecke und wie sie wissen könne, daß die Söhne ihres Onkels alle Sklaven und keine Freien seien. Schließlich konnte sie nichts anderes tun, als die ganze Geschichte zu gestehen, und sagte: „Weil ich es war, die sie gekauft und die Brandmale auf ihren Armen angebracht hat. Darauf schenkte ich ihnen die Freiheit, stattete sie mit Reichtum aus, und damit kehrten sie in ihr Land zurück."
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Vom Abend bis zum Vormittag wurde die Geschichte im ganzen Land bekannt und von einer Karawane zur anderen getragen. Die führenden Männer im Volke machten bei ihren Zusammenkünften Witze darüber, daß ein Mädchen, als Mann verkleidet, Erfolg hatte, wo Männer versagten. Sie lachten über die Demütigung, die sie ihren Vettern zugefügt hatte, und wie sie sich damit an ihrem Onkel, dem Vater der Söhne rächte, weil er immer schadenfroh über das Unglück seines Bruders gewesen war. Die Neuigkeiten gelangten auch zum Emir Mahmud, der auf der Suche nach ihr war. Er beschleunigte seine Reise zu ihr. Als er dort anlangte, bat er ihren Vater um ihre Hand, und dieser zögerte nicht, die Liebenden miteinander zu verheiraten. So wurde der Vater der Töchter der Schwiegervater von Königen und war den Wesiren ebenbürtig. Wir sind bei euch gewesen und müssen zurückkehren.
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43 GUTES WÄHRT NICHT EWIG, BÖSES WÄHRT NICHT EWIG
Eine Witwe hatte drei Töchter. Sie war arm und konnte sich kein anderes Essen von ihrem Verdienst erlauben als ein wenig Brot und Oliven. Über ein solches Dasein murrten ihre Töchter, und sie wollten wenigstens einmal eine gute Mahlzeit essen. Die Mutter versprach, ihre Wünsche zu erfüllen, ging zu einem Wollgarnhändler und bot ihm ihre Hilfe an, wie es in alten Zeiten üblich war. Er gab ihr Wolle, die sie reinigen, zupfen und spinnen sollte. Sie nahm sie und ging davon. Auf ihrem Wege kam sie an einem Laden vorbei, in dem ein junger Mann war. Sie hatte niemals jemanden gesehen, der ihm an Schönheit und Anmut ähnelte. Sie blieb vor seinem Laden stehen und schaute ihn an, und er schaute nach ihr, doch keiner von ihnen sprach den anderen an. Die Alte wünschte von Herzen, daß dieser junge Mann der Ehemann einer ihrer Töchter wäre. Der Sonnenuntergang kam, und die Läden wurden geschlossen. Da mußte die Alte nach Hause zurückkehren, aber sie hatte nichts anderes bei sich als die Wolle und etwas Brot und Oliven. Sie fand ihre Töchter bei einer Klagezeremonie. Sie weinten und wehklagten wegen des Ausbleibens ihrer Mutter, denn sie glaubten, ihr sei ein Unglück zugestoßen. Nun freuten sie sich und fragten sie nach der Ursache ihrer Verspätung. Die Mutter erzählte ihnen von dem jungen Mann. Darauf bat die Älteste, ihn mit ihr zu verheiraten. Die Alte versprach ihr Bestes. Mutter und Töchter plauderten in dieser Nacht und beendeten dabei ihre Arbeit. Am Morgen brachte die Mutter die gesponnene Wolle zu ihrem Arbeitgeber. Er gab ihr den Lohn und neue Wolle. Auf dem Rückweg ging sie wieder an jenem Laden vorbei und fand den Jüngling. Die Alte blieb stehen und schaute ihn an, und er schaute sie an, bis der Tag seine Mitte erreichte. Dann sprach der junge Mann zuerst und sagte: 310
„Was ist mit dir los, daß du mich seit zwei Tagen anschaust? Sehe ich jemandem ähnlich, und versuchst du mich kennenzulernen, oder hast du mich zuvor gesehen?" Die Alte sprach: „Ich kenne dich nicht, mein Sohn, doch ich bewundere deine Schönheit und wünschte, daß du das glückliche Schicksal einer meiner Töchter wärest." „Hast du Töchter?" „Natürlich." „In diesem Falle werde ich eine von ihnen heiraten, wenn du mit meiner Bedingung einverstanden bist, die bei uns geheiligter Brauch ist." „Wie ist diese Bedingung?" „Sie ist, daß der Bräutigam die Braut allein von ihrem Haus abholt, ohne daß sie jemand begleitet, und erst am dritten Tage ist es möglich, daß ihre Angehörigen sie besuchen." „Das macht nichts. Wahrlich, der Löwe frißt die Löwin nicht." Darauf nahm der junge Mann ein Kopftuch aus seinem Laden, breitete es auf dem Tisch aus und schüttete ein M a ß voll Golddinar darauf und reichte es der Alten als Brautpreis für ihre Tochter und sprach: „Heute ist Montag. D u hast eine Frist bis zum Donnerstag. Ich will die Braut am Abend ungefähr zur Zeit des Nachtgebetes fertig vorfinden, damit sie in mein Haus übersiedelt, und der Bedingung gemäß kannst du sie am dritten Tage besuchen." D i e Mutter erreichte ihr Haus, legte die Wolle und das Gold hin und begann vor Freude über die Verheiratung ihrer Tochter den Freudentriller auszustoßen. D a kamen die Nachbarn und freuten sich mit ihr und halfen, die Wolle fertigzuspinnen und vorzubereiten, was für ihre älteste Tochter notwendig war. Am Donnerstag nach dem Nachtgebet hielt ein geschlossener Wagen vor der Türe. Ihm entstieg der junge Mann, um seine Braut in Empfang zu nehmen, und sie brachten sie zu ihm heraus und hoben sie auf den Wagen. Als sie auf dem Wege waren, band ihr der junge Mann mit einer schwarzen Binde die Augen zu.
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D e r Wagen fuhr lange, bis er vor einem stattlichen Haus hielt. D a ließ der junge Mann die Braut absteigen und zog die Binde von ihren Augen und ließ sie durch das erste Tor treten. Darauf verschloß er es, führte sie durch das zweite und dritte Tor und verschloß sie ebenfalls. Dann befand sie sich im Hof des Hauses und sah eine Gruppe von Männern um eine große umgestülpte Suppenschüssel aus Holz versammelt. In einem riesigen Kessel, der auf drei Steinen stand, wurde gekocht, und daneben war ein Sack voll Brot. Der junge Mann hieß das Mädchen in seinem Haus willkommen, nahm ihr Schleiertuch ab und ließ sie sich hinsetzen. Dann stellte er ihr eine Schüssel mit Kuskus hin, auf welcher der Kopf eines Adamssohnes lag. Kaum hatte ihn die Braut erblickt, als sie aufschrie und ohnmächtig wurde. D a nahm er sie und warf sie in ein Zimmer, das mit verwesten menschlichen Leichen angefüllt war, und verschloß- die eiserne Tür hinter ihr. Als sie aus ihrer Ohnmacht erwachte und sich in einem solchen Zimmer sah, erschrak sie und schrie und weinte, und am Ende brach ihr Herz, und sie x starb dort den Märtyrertod. Der junge Mann jedoch aß mit seiner Bande das Abendessen, und am folgenden Tage ging er in seinen Laden und öffnete ihn. D a kam seine Schwiegermutter vorbei. E r hieß sie willkommen und beruhigte sie über ihre Tochter, dann erwähnte er, daß sein ältester Bruder wegen der Heirat zornig geworden sei, weil er selbst noch ledig war. Deshalb bat er die Schwiegermutter, ihre zweite Tochter unter denselben Bedingungen wie die erste mit seinem Bruder zu verheiraten. D a freute sich die Alte und brachte ihrer Tochter die gute Nachricht. Nach zwei Tagen erschien der junge Mann bei Einbruch der Nacht und gab vor, daß sich der Bräutigam im Wagen befinde, und nahm das zweite Mädchen mit. E r tat mit ihr, was er mit ihrer Schwester getan hatte. Sie sah, was ihre Schwester gesehen hatte, und er bot ihr das gleiche Abendessen an, und am Ende wurde sie in das Zimmer der Toten geworfen. Am folgenden Tage öffnete' der junge Mann seinen Laden und traf seine Schwiegermutter. Diesmal gab er vor, daß
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sein jüngster Bruder erzürnt sei, weil er ohne Gattin gelassen wurde, und er wünsche ihn mit ihrer dritten Tochter zu verheiraten. Die Alte freute sich darüber und bereitete das Mädchen für ihn vor. Der junge Mann kam mit demselben Wagen und tat, als ob er selbst der Bräutigam, der jüngste Bruder, sei, und nahm die jüngste Tochter mit, die jedoch über ein gutes Maß an Verstand verfügte und keinen Wunsch nach dieser Verheiratung hegte. Das Betragen des jungen Mannes war ihr verdächtig erschienen, und sie erklärte dies ihrer Mutter. Sie willigte indessen ein, mit ihm zu ziehen, um etwas über den Aufenthalt ihrer Schwestern zu erfahren. Sie war entschlossen, ihretwegen Rache zu nehmen, wenn er ihnen ein Leid angetan hätte, und sie lehnte auch ab, etwas Neues anzuziehen und den Brautschmuck anzulegen. In der Mitte des Weges wollte er ihre Augen verbinden, doch sie weigerte sich und sagte: „Warum verbindest du mir die Augen? Meine Mutter hat mich nur wegen deiner Schönheit mit dir verheiratet. Verlasse dich darauf, daß ich nach keinem anderen als nach dir schauen werde." E r schwieg, jedoch ohne überzeugt zu sein, bis sie an dem Haus anlangten, und ließ sie durch die drei Tore eintreten und schloß jedes sorgfältig. Doch wenn die Braut durch ein Tor trat, pries sie jedesmal das Haus, seine Pracht, seine Ausdehnung, seine Schönheit und seine festverschlossenen Tore. Als sie die Bande im Hofe des Hauses sitzen sah, kam sie ihnen mit dem Gutenabendgruß zuvor, und sie erwiderten ihn ihr aufs beste und waren erstaunt. D a blickte sie nach dem Kessel, der zum Kochen aufgestellt war, und sprach: „Es scheint, als ob ihr Fleisch kocht. Habt ihr mir einen Anteil davon zugedacht?" „Ach nein, Sitt, wir waren nicht von deiner Ankunft unterrichtet." Sie entgegnete: „Dann müßt ihr mir, wenn das Fleisch fertig ist, einen Anteil zurechtmachen, indem jeder von euch etwas von seiner Portion zurückläßt, bis ich ein gleichgroßes Stück habe wie
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ihr, und von morgen an sollt ihr mir stets einen Anteil von euch zugestehen." Darauf flüsterten alle Anwesenden einander zu: „ D i e ist ja ein richtiges Teufelsmädchen! Die ist nicht wie die anderen." Dann ließ sie der junge Mann ins Haus hineinkommen und reichte ihr die Schüssel, auf der das Menschenhaupt lag, doch sie war weder erschrocken noch beeindruckt und streckte ihre Hand danach aus, als ob sie davon essen wollte. D a lächelte der junge Mann, ergriff ihre Hand und sprach zu ihr: „ D u bist meine wahre Gattin. D u bist es, nach der ich seit langer Zeit gesucht habe." Dann gestand er ihr, daß er ein Räuber sei und daß die Leute, die sich im Hof befänden, seine Gesellen seien. Ihre Antwort auf sein Geständnis lautete: „ D a s Stehlen ist Männersache, denn der Mann wird für nichts Schlechtes beschimpft, die Frau dagegen wird für jede schlechte Tat, die sie begeht, beschimpft." E r schlug ihr danach vor, das Fleisch für die Bande ihrem Wunsche gemäß zu verteilen. Sie teilte es den anderen zu und nahm von jeder Portion ein Stück für sich, bis sie ihren Anteil hatte, dann sprach sie: „Wahrlich, das Betteln ist gut, wenn es keine Schande über den Bettler bringt. Jedenfalls habe ich jetzt auf diese Weise meine Portion bekommen." Die Bande aß zu Abend, und das Mädchen aß mit ihrem Mann das Abendessen, dann gingen sie zu Bett und schliefen bis zum Morgen. Am Morgen suchte sie mit ihren Augen alles ab, um vielleicht Spuren von ihren Schwestern zu finden, jedoch ohne Erfolg. Der Mann ging am Morgen fort und gab ihr, was sie zum Mittag- und zum Abendessen brauchte, und erzählte ihr, daß er am folgenden Tage verreisen werde. Darauf sprach sie zu ihm: „Verbleibe im Schutze Allahs und lasse mir zurück, was ich brauche, und gehe hin, wo du hingehen willst!" Der junge Mann ging fort, und das Mädchen suchte alles mit ihren Augen ab. Doch sie fand kein Mittel, womit sie 314
durch die drei verschlossenen Tore oder die verschlossenen eisernen Fenster hinauskommen konnte. Nach langem Suchen gelang es ihr, einen Schlüsselring zu entdecken, und plötzlich konnte sie alle Zimmer des Hauses öffnen bis auf eines, das eine eiserne Tür hatte. Sie blieb verschlossen. D a s Mädchen versuchte es mit allen Schlüsseln, bis sie einen Schlüssel fand, mit dem sie öffnen konnte. Sie war bestürzt, in diesem Zimmer die Körper der Toten aufgehäuft zu sehen, und unter ihnen waren alte und neue. Der Verwesungsgestank erstickte den Atem. D a erkannte sie ihre beiden Schwestern an ihren Kleidern. Die Älteste war gestorben, und die Mittlere lag in ihren letzten Zügen. Die Jüngste versuchte ihr zu helfen, doch sie starb ihr unter den Händen, und sie ließ sie bei ihrer Schwester, aber schwor, an diesem grauenhaften Verbrecher Rache zu üben. Am folgenden Tage reiste ihr Mann für einige Zeit fort, und sie versuchte, einen Ausweg aus ihrem Gefängnis zu finden, aber es gelang ihr nicht. Am dritten Tage kehrte ihr Mann mit seiner .Bande in der Nacht zurück. Als sie die Tore öffneten, tat sie, als ob sie schliefe, und sah, wie die Bande hereinkam und die Männer eine große eiserne Truhe trugen. Sie öffneten sie, und ein schöner Jüngling kam daraus hervor. D a s Mädchen erfuhr, daß er der Sohn des Sultans und die Truhe eine Truhe mit Schätzen des Sultans war. Sie sah, wie die Räuber dem Jüngling die übliche Schüssel mit dem Essen anboten und der Jüngling über den Anblick des Menschenhauptes erschrak und wie ihr Mann befahl, ihn in das Zimmer der Toten zu werfen. Dann ließen sie sich nieder, um die Schätze unter sich zu verteilen. Plötzlich schrie das Mädchen sie an: „Ich hörte, daß ihr die Schätze verteilt, und ihr vergeßt, mir einen Anteil zu geben, obwohl ich die Herrin des Hauses und seine Hüterin bin." Die Räuber entschuldigten sich bei ihr, machten ihr einen Anteil zurecht und gingen schlafen. Am Morgen, als die Räuber fort waren, eilte sie zum Zimmer der Toten. Als sie es öffnete, fand sie den Jüngling in seinen letzten Zügen. D a verlor sie keine Zeit, ihm zu helfen, bis er sich von seiner Schwäche erholte. Dann gab sie ihm zu
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essen, doch als die Zeit der Rückkehr der Bande nahte, stopfte sie mit Öl getränkte Watte in die Ohren des Jünglings, und in seine Nase tat sie Watte, die mit etwas parfümiertem Wasser angefeuchtet war, um den Verwesungsgestank von ihm ab2uhalten. Darauf brachte sie ihn wieder in das Zimmer zurück. Und so pflegte sie ihn täglich herauszuholen und für ihn zu sorgen und ihn zur Zeit der Rückkehr der Räuberbande wieder in das Zimmer zu bringen. D e r Sultanssohn hatte ihr erzählt, daß er sich in der Schatzkammer im Schlosse seines Vaters aufgehalten hatte. D i e Bewohner des Schlosses waren mit der Feier des Einzuges seiner Braut beschäftigt, als die Räuberbande kam und ihn mit der Schatztruhe wegholte. Einige Tage später gingen ihr Mann und seine Bande für fünfzehn Tage auf die Reise, nach dem zu urteilen, was sie zu ihrem Bedarf an Lebensmitteln zurückließen, und die Räuber verschlossen die Tore hinter sich. D a holte sie den Jüngling heraus und dachte sich mit ihm eine List aus, um fortzukommen. D a s Mädchen wußte, daß ihr Haus neben einer Mühle lag. Daher begann sie an die Trennwand zu klopfen, die zwischen ihrem Haus und der Mühle lag, bis der Müller auf sie aufmerksam wurde und mit ihr zu sprechen vermochte und jeder den anderen hören konnte. Sie beschwor sein Mitgefühl und seine Menschlichkeit, daß er sie aus der Gefangenschaft der Verbrecherbande befreie. Sie kamen überein, daß der Mann unter der Wand zu ihrem Hause ein Loch in die E r d e graben und sie mit dem Sohn des Sultans herausholen sollte und daß sie danach alles wieder in den Zustand versetzten, in dem es zuvor gewesen war. D a s wurde ausgeführt, und die Gefangenen kamen heraus. D a s Mädchen gab dem Müller einen Beutel voll G e l d , und dann brachten sie die E r d e an ihren Platz zurück. D a s M ä d chen hatte vom Hause der Räuber ein Messer und eine Zange mitgenommen. D a s Messer diente zum Abschneiden von Kräutern, wenn sie hungrig wären, und die Zange zum Entfernen von Dornen, die ihre Beine auf dem Wege verletzen könnten.
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Der Jüngling und das Mädchen eilten, so schnell sie nur konnten, davon. Plötzlich erblickten sie auf ihrer Straße eine große Schar Leute. Die beiden Fliehenden fanden eine Höhle und versteckten sich darin, doch am Eingang der Höhle ließen sich jene Leute nieder, die -auf sie zugekommen waren, und siehe da, es war ihr Mann mit seiner Bande, die gerade ihre neuen Reichtümer verteilten. Einer der Räuber bemerkte frische menschliche Fußspuren und meldete das dem Anführer, indem er sagte: „ E s sind Fußspuren, die vom Hause unserer Bande kommen!" Darauf ließen die Räuber das Geld zurück und gingen den Fußspuren nach, um herauszufinden, woher sie kamen und wem sie gehörten. Unterdessen benutzten die beiden Flüchtlinge die Gelegen- heit und kamen aus der Höhle heraus uneLnahmen mit, was sie dort an Geld vorfanden. Dann machten sie sich eilends auf den Weg nach der Stadt. Die Räuber erreichten inzwischen das Haus, doch sie fanden es leer, und die Tore waren wie üblich verschlossen. Als die Bande aber zur Höhle zurückkehrte, vermißten sie ihre Schätze, die sie dort zurückgelassen hatten. Statt dessen entdeckten sie in der Höhle das Messer und die Dornenzange und erkannten sie wieder. D a befahl der Anführer den Räubern, nach Hause zu gehen. Er jedoch schwor, den Spuren seiner Frau zu folgen, um sie und den Sohn des Sultans zu töten oder, wenn das nicht gelänge, lieber selbst zu sterben. So verfolgte er die Spuren. D a s junge Mädchen und ihr Gefährte langten am Stadttor an, als es schon für die Nacht geschlossen war. Der Jüngling rief den Wächter, ihm zu öffnen, doch dieser erkannte ihn nicht. Als sich der Sultanssohn zu erkennen gab, glaubte er ihm nicht. Schließlich schwor er, daß er der Sohn des Sultans sei und daß sein Vater ihn reich machen werde, wenn er ihm öffne. D a öffnete der Wächter das Tor unter der Bedingung, daß sie die Nacht bis zum Morgen in seinem Haus verbrächten. Am Morgen schämte sich der Sohn des Sultans, in einem solchen Zustand in das Schloß seines Vaters zu gehen. Daher 317
sandte er einen Boten zum Schloß und unterrichtete seine Familie über seine Ankunft und bat, sie sollten ihm zwei Burnusse zum Anziehen schicken und Kleider für das Mädchen, das mit ihm zusammen war, damit er in das Schloß zurückkehren konnte. Als die Nachricht aber zum Sultan gelangte, befahl der, dem Überbringer der guten Botschaft den Kopf abzuschlagen, denn er glaubte, daß er ein Lügner sei und mit dieser List zu Geld kommen wolle. Der Befehl des Sultans wurde ausgeführt. Darauf sandte der Sohn einen zweiten Boten, und es geschah mit ihm, was mit seinem Gefährten geschehet war. Dann sandte er einen dritten, doch als der Sultan wieder befahl, ihm den Kopf abzuschlagen, sagte der Armselige: „Warum tötet ihr mich, bevor ihr euch nicht selbst von der Wahrheit überzeugt? Geht hin und sucht den Ort, an dem sich euer Sohn aufhält. Wenn ihr ihn findet, dann belohnt mich, und wenn ich ein Lügner gewesen bin, dann tötet mich." Die Sultanin billigte seine Meinung und bat ihren Mann, zuerst nach der Wahrheit zu forschen. • Darauf ging der Sultan an den Ort, an dem sich sein Sohn aufhielt, und nahm wunschgemäß die zwei Burnusse mit. Der Sultan fand seinen Sohn und das Mädchen in seiner Begleitung. D a bedeckte er die beiden mit den Burnussen und befahl, sie zum Schloß tragen zu lassen, und er ließ dem Überbringer der guten Nachricht eine Belohnung und den Familien der Getöteten eine Abfindung geben. Er freute sich über seinen Sohn, der ihm erzählte, was ihm widerfahren war und was das Mädchen um seinetwillen getan hatte. Der Sultan wollte Freudenfeiern anordnen, doch das Mädchen bat ihn zu warten, denn es gäbe keine Freude für sie selbst noch für sie alle, wenn der Anführer der Räuberbande nicht getötet sei. Sie wußte, daß er sich keine Ruhe gönnen werde, bis er sie gefunden habe, um sich an ihr und dem Sohn des Sultans zu rächen. Sie bat daher, daß das Land in Trauer verbleiben solle, wie es zuvor gewesen sei, mit schwarz angestrichenen Wänden. Keinerlei Freude solle es in dem Land geben, als ob der Sohn des Sultans immer noch verschwunden sei. Außerdem
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bat das Mädchen um besondere Gemächer für den Sohn des Sultans, die unter Bewachung stehen sollten, und um besondere Gemächer für sich selbst. Man sollte ihr dorthin zwei kleine Löwenkinder bringen, die sie bei sich aufziehen wollte. Die Diener richteten alles her., worum sie gebeten hatte, und dann begann sie zu warten. Was ihre arme Mutter betrifft, die wir seit langem unerwähnt ließen, so war sie beunruhigt über die Trennung von ihren Töchtern und die Ungewißheit über ihr Geschick. Sie wartete darauf, daß ihr Schwiegersohn wieder seinen Laden öffnen würde. Als er ihn eines Tages aufmachte, kam sie zu ihm und fragte nach ihren Töchtern und begehrte sie zu sehen, wie er versprochen hatte. Der Jüngling forderte sie auf, in seinen Laden einzutreten und zu warten, bis er mit seiner Arbeit fertig sei, und dann mit ihm zu ihren Töchtern zu gehen. Nachdem der T a g seine Mitte erreicht hatte und die Leute weniger wurden, die durch den Basar streiften und Waren besahen, schloß er die Tür zum Eingang des Ladens, erwürgte die Alte und schlug sie tot. Dann steckte er sie in einen Sack, trug sie weit weg von der Stadt und warf sie in die öde Wüste. Die Fluchtspuren des jungen Mädchens brachten den Anführer der Räuberbande zur Stadt des Sultans. Darin eröffnete er ein schönes, sauberes Kaffeehaus. Als der Sultan am Freitag auf seinem Weg zur Moschee war, kam er dort vorüber und bewunderte das Kaffeehaus. Er stieg ab, um sich auszuruhen, und bestaunte die Schönheit des Kaffeehauswirtes und fragte ihn nach seinen Umständen. Dieser erwähnte, daß er sein Land verließ und zur Arbeit in die Stadt kam, weil seiner Frau jedesmal das Kind starb, sobald sie es geboren hatte. D a sie nun seit einiger Zeit wieder schwanger war, hatte er sich in die Stadt des Sultans begeben, um beim Tode seines Kindes nicht anwesend zu sein, weil ihm davon das Herz brechen würde. Der Sultan empfand Zuneigung für den Kaffeehauswirt und befahl, daß ihm Essen und Trinken von seinem Schloß gebracht und seine Kleider dort gewaschen werden sollten. Der Befehl wurde ausgeführt. 319
Nach ungefähr einem Monat kam der Kaffeehauswirt in das Schloß und bat um Audienz beim Sultan. E r gab vor, daß er Abschied nehmen wolle, denn er habe erfahren, daß seine Frau ein Kind gebar, das am Leben geblieben sei, und daß sie seine Ankunft erwarte. E r wollte jedoch den Sultan um Rat bitten, ob er das Kaffeehaus schließen oder einen Stellvertreter darin lassen solle. Der Sultan riet ihm, einen zuverlässigen Stellvertreter darin zu lassen. E r freute sich mit dem Kaffeehauswirt über das Kind, das am Leben geblieben war, und verabschiedete sich von ihm. Darauf kehrte der Verbrecher nach Hause zurück. Einige Zeit später ließ er eine Gruppe von Frauen kommen, gab ihnen die notwendigen Zutaten und befahl ihnen, einen großen Kessel mit süßem Sesambrei zu kochen und Weizenkuchen, Süßspeisen aus Datteln, Mandelgebäck und Fetirakuchen zuzubereiten. D i e fertigen Speisen ließ er in große Gefäße füllen und trug sie auf ein Schiff. Dann kehrte er zum Sultan zurück und lieferte diese Geschenke im Schloß ab. Viel davon verteilte er an die Soldaten und Diener. Als der Sultan zurückkehrte und davon erfuhr, ließ er den Mann rufen und erhob ihm Vorwürfe, daß er sich solche Ausgaben aufgebürdet habe, die er nicht zu tragen vermöge, und er schenkte ihm ein wertvolles Stück Gold. Der Kaffeehauswirt dankte ihm, bat aber um eine weitere Gunst. Sie bestand darin, daß ihm der Sultan einen Gefallen erweisen und befehlen sollte, daß für einen Tag sämtliche Kaffeehäuser in der Stadt geschlossen würden, damit alle Bewohner kämen, um den Kaffee kostenlos in seinem Kaffeehaus zu trinken. Der Sultan versuchte, ihn wieder zu Verstand zu bringen, indem er ihm die große Einbuße vor Augen führte, doch der Kaffeehauswirt bestand auf der Erfüllung seiner Bitte und behauptete, daß dies nur wenig sei in Anbetracht seiner großen Freude über den Sohn. D a ging der Sultan auf seinen Wunsch ein und unterstützte ihn mit einem Geldbetrag. An einem festgesetzten Tage blieben die Kaffeehäuser geschlossen, und die Leute kamen in Gruppen und einzeln in das einzige geöffnete Kaffeehaus, um kostenlos zu trinken, was sie wünschten. Sie fanden verschiedene Getränke vor, doch alle waren mit einem langsam wirkenden Betäubungsmittel
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vermischt. Die Getränke kamen auch in das Schloß des Sultans. E r selbst trank davon und seine Familie, seine Soldaten und seine Diener. Unsere Freundin, das junge Mädchen, stellte jedoch den ihr angebotenen Kaffee zur Seite und kostete nichts davon, denn sie hegte Zweifel an der Aufrichtigkeit dieses Kaffeehauswirtes. Kaum hatte der Tag seine Mitte erreicht, als die Bewohner der Stadt und besonders die Bewohner des Sultansschlosses in tiefen Schlummer fielen. Sofort schlich der verbrecherische Kaffeehauswirt in das Schloß und trat ein, ohne daß ihn jemand daran hinderte, doch er vergaß das Sprichwort, welches sagt: O du, der in das Haus des Sultans tritt, Steh fest auf deinen Füßen! Der junge Mann begab sich von Zimmer zu Zimmer, um nach seiner doppelten Beute zu suchen, bis er zu den Gemächern des Sultanssohnes gelangte. Als er sah, daß dieser schlief, ließ er ihn liegen, um das Mädchen zu suchen. Als er in ihre Gemächer trat und sie da sitzen fand, sprach er zu ihr: „Siehst du wohl, du kannst mir doch nicht entfliehen I" Sie sagte: „Ich bin nicht von dir geflohen. E s war der Sohn des Sultans, der mich herausgeholt und hierhergebracht hat, als ich betäubt war und nichts davon merkte." „Wenn es so steht, willst du mit mir ziehen?" „Warum nicht, bin ich nicht deine Gattin?" D a nahm sie ihr Schleiertuch und ging hinter ihm her, nachdem sie jedoch einige Schritte gegangen war, sagte sie zu ihm: „Warte, ich habe vergessen, den Schmuck mitzunehmen, den du mir geschenkt hast." E r sagte: „Ach, laß ihn, du hast keinen Mangel daran." „Nein, den möchte ich ihnen nicht überlassen . . . übrigens, hast du meine Mutter nicht einmal gesehen?" Der Mann entgegnete: „Ich werde dir von ihr berichten, wenn wir zu Hause sind." Sie sagte: 21
Arabische Volksmärchen
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„Aber ich wünsche, d a ß du mir jetzt Nachricht gibst." E r sprach: „Ach, sie ist zu mir gekommen, als ich in zorniger Stimmung war, und da habe ich sie getötet." D a s Mädchen antwortete: „Du hast mich von ihr befreit." D a n n setzte sie sich aufs Bett und fuhr zum Schein in ihrer Unterhaltung fort, in Wirklichkeit aber rief sie die beiden Löwen und sprach daher: „Gutes währt nicht ewig - Böses währt nicht ewig!" 4 D a hörten die beiden Löwen, die unter dem Bett lagen, ihre Namen und kamen hervor, stürzten sich auf den Verbrecher, töteten ihn, zerrissen seinen Körper und verschlangen ihn. Darauf stieß das Mädchen den Freudentriller aus und weckte alle Schläfer im Schloß. Sie umringten sie, und der Sultan fragte sie nach der Geschichte. Sie sprach: „Der Kaffeehauswirt, der euch Gastfreundschaft erwiesen hat, war mein verhaßtester Feind. E r war der Anführer der Räuberbande, die dich bestohlen und deinen Sohn geraubt hat. E r war es, der euch einschläferte, um mir und deinem Sohn den Garaus zu machen. Doch ich habe seine List entdeckt und ihn getötet und damit euch und mich selbst von ihm befreit!" D a freute sich der Sultan über alle Maßen und forderte sie auf, um etwas zu bitten, was sie von ihm wünsche. Sie begehrte, d a ß die Stadt drei Wochen lang geschlossen werde. Während der ersten Woche sollten die Leute ihre Häuser weiß tünchen und malen, in der zweiten sollten sie sich schmücken und ihre Kleider aufputzen, und in der dritten sollten sie Freudenfeste und Feiern abhalten. Das Essen und Trinken sollten sie während dieser Zeit vom Schloß bekommen, aus Freude über die Rückkehr des Sultanssohns. Der Sultan führte ihren Wunsch aus, und auf diese Weise erfuhren die Leute, d a ß Gutes nicht ewig währt und auch Böses nicht ewig währt. 1
Die beiden Löwen hießen „Gutes" und „Böses".
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WEH DEM, DER NICHT D E N R A T DER ÄLTEREN BEFOLGT
Es war da ein Mann, der hatte einen Sohn und zwei Töchter, und als sich der Tod bei ihm einstellte, tat er seinem Sohn den letzten Willen kund, indem er sagte: „Ich wünsche von dir, mein Sohn, daß du erstens deine beiden Schwestern nicht mit einem Armen verheiratest, der reich geworden ist, sondern mit einem Reichen, der arm geworden ist. Das Sprichwort sagt nämlich : Nimm àie aus der Hand des Gesättigten, wenn er hungrig ist, doch nimm sie nicht aus der Hand des Hungrigen, wenn er satt i s t . . . Und zweitens, freunde dich nicht mit einem Polizisten an und brich nicht die freundschaftlichen Beziehungen mit dem Freund deines Vaters ab. Drittens, heirate deine Base und heirate keine Frau von fremder Herkunft." 1 Als der Vater starb, beschloß der Sohn, das Gegenteil vom letzten Willen seines Vaters zu tun, um die Ratschläge zu erproben. Er heiratete daher die Tochter seines Onkels und eine Frau von fremder Herkunft und machte einen Polizisten zu seinem Freund und verheiratete eine seiner Schwestern mit einem Reichen, der arm geworden war, und die zweite mit einem Armen, der reich geworden war. Er begann damit, daß er seinen Freund, den Polizisten, und seine zwei Gemahlinnen auf die Probe stellte. Er zog seinen Freund ins Vertrauen und pflegte sich zu ihm zu setzen und ihm seine Geheimnisse zu erzählen. Er lud ihn in sein Haus ein und erwies ihm Gastfreundschaft und ging mit ihm zu seinem Arbeitsplatz im Hause des Sultans. 1
Der Mohammedaner darf bis zu vier Frauen haben. D i e Ehe zwischen Vetter und Base ist sehr häufig. Als „fremde Frau" kommt in Frage, wer sich zum Islam bekennt, aber auch eine Christin oder Jüdin, da beide Religionen monotheistisch sind und „heilige Bücher" (Bibel, Thora) haben (Koran 5, 5).
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Dieser Sultan hatte eine Gazelle, die ihm sehr teuer war, und einen grimmigen Hund, dem niemand zu nahe kommen konnte. D a beschloß unser Freund, täglich mit dem Polizisten zum Haus des Sultans zu gehen. E r trug immer ein Stück Fleisch bei sich, und als er sich dem grimmigen Hunde näherte, warf er es ihm zu, ohne daß es jemand beachtete, bis sich der Hund freute, wenn er ihn sah. Als er von der Freundschaft des Hundes überzeugt war, hatte er es auf die Gazelle des Sultans abgesehen. E r raubte sie und versteckte sie an einem sicheren Ort. Danach befahl er einem Jäger, ihm eine Gazelle zu bringen. Als ihm der J ä ger die Gazelle brachte, ging er damit in sein Haus und erzählte seinen beiden Frauen, daß es die Gazelle des Sultans sei, die er gestohlen habe, und daß er sich vor den Folgen fürchte. Dann teilte er das Fleisch in zwei Hälften und gab seinen beiden Frauen je eine Hälfte zusammen mit einer Wassermelone. E r befahl seiner Base, das Mittagessen, und der Frau von fremder Herkunft, das Abendessen für ihn und seinen Freund, den Polizisten, zuzubereiten. Inzwischen suchten die Diener des Sultans überall nach der Gazelle. E r kam mit dem Polizisten zum Mittagessen, und sie aßen zusammen das Fleisch der Gazelle. Dann bat er seine Frau, die Wassermelone zu bringen, und sie brachte sie, doch er sagte zu ihr, daß sie klein sei und sie solle sie gegen eine andere austauschen. D a ging sie und brachte sie wieder zurück. E r bat mehrere Male um eine andere Melone, doch seine Base nahm sie und brachte sie wieder zurück, denn sie hatte keine andere von der gleichen Sorte, aber sagte nichts vor dem Gast, um ihren Mann nicht bloßzustellen. Nun wurde ihr Mann wütend und schlug sie und aß mit seinem Freund, was da war. Auch zum Abendessen stellte sich sein Freund ein, um nochmals mit ihm vom Fleisch der Gazelle zu essen. Danach bat er seine Frau von fremder Herkunft um eine Wassermelone, und sie brachte sie, doch er sagte, daß sie klein sei und sie solle sie austauschen. D a wurde sie wütend und sprach zu ihm: „Wo hast du deinen Verstand? E s ist die einzige Wassermelone, die du mir gegeben hast."
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D e r Ehemann stellte' sich zornig und drohte, sie zu schlagen, doch sie schrie ihm ins Gesicht: „Was ist mit dir los? Bist du wahnsinnig geworden? Oder ist deine Furcht vor dem Sultan, dem du die Gazelle gestohlen hast, und daß du einen Polizisten mitgebracht hast, um ihm ihr Fleisch vorzusetzen, der Anlaß, der dich von Sinnen gebracht hat?" D e r Polizist hörte dieses Gezeter mit an, und nach dem Abendessen ging er davon und erklärte dem Wesir, daß er den Dieb der Gazelle entdeckt habe. D e r Sultan erfuhr von der Sache und befahl, unseren Freund mitzunehmen und ihn dem grimmigen Hund vorzuwerfen. Sie warfen ihn tatsächlich dem Hunde vor, doch als die Wächter am Morgen nachsahen, fanden sie ihn auf der Mastaba sitzen, auf die sich der Hund zu legen pflegte, und der Hund schlief gehorsam und ergeben unter seinen Füßen. D a benachrichtigten sie den Sultan, und er entbrannte vor Wut und war betrübt über seinen Hund, der anfing ungehorsam zu werden und seiner Pflicht nicht nachkam, die Verbrecher zu fressen. Der Sultan befahl nun, den Dieb zu töten. Als sie jedoch den Befehl des Sultans ausführen wollten, bat der D i e b um eine Unterredung mit dem Sultan in einer wichtigen Angelegenheit, und er gewährte sie ihm. D a erzählte unser Freund dem Sultan die Wahrheit. E r berichtete, wie er sich mit dem Hunde anfreundete, und er ließ ihn wissen, daß die Gazelle an einem sicheren Ort noch am Leben sei. E r habe dies nur getan, um die Richtigkeit der Ratschläge seines Vaters zu erproben, um sie von denjenigen zu unterscheiden, die etwa nicht richtig seien. Schließlich habe er seinem Freund Vertrauen geschenkt und seinen Beteuerungen geglaubt, aber der Polizist habe weder eine Beteuerung noch einen schriftlichen Eid ernst genommen. D a befahl der Sultan seine Ehescheidung und warf den Polizisten dem Hunde vor. Als unser Freund sein Haus erreichte, erklärte er seiner Ehefrau von fremder Herkunft die Scheidung und begnügte sich mit seiner Base. Dann erprobte er die übrigen Teile des letzten Willens seines Vaters und besuchte zuerst seine Schwestern.
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E r zog zerlumpte Kleider an, füllte sich aber seine T a schen mit Geld und begab sich zuerst zur Ehefrau des Armen, der reich geworden war. E r fand den Mann seiner Schwester auf einem Stuhl sitzen und Befehle und Verbote erteilen, und um ihn herum standen Arbeiter und Diener. E r beschimpfte diesen und fluchte über jenen und verdammte den einen zu Prügeln und den anderen zu einer Geldstrafe oder zog ihm den Lohn ab und andere Dinge mehr. E r empfing unseren Freund mit Kälte, und Mißfallen über seine zerlumpte Kleidung, und er fertigte ihn geschwind ab und schickte ihn zu seiner Schwester ins Haus. Dort fand er, daß seine Schwester alles entbehren mußte, von der notwendigen Einrichtung für das Haus bis zu den notwendigen Kleidern. Sie bereitete ihm ein Lager aus einem Stück alten Sack, auf dem er schlief, und sein Kissen waren seine Arme, und seine Bettdecke war sein Burnus. E r erzählte seiner Schwester, daß er den Reichtum seines Vaters aufgebraucht habe und daß ihm nichts mehr davon übriggeblieben sei. Als ihr Mann in der Nacht kam, tadelte sie ihn, weil sie für den Besuch ihres Bruders nichts hatte, was sie ihm als Bett und Decke und als Abendessen anbieten konnte, und er kam arm und bedürftig zu ihr. D a antwortete ihr Mann, daß er keine Verantwortung für ihn trage. E r hätte den Reichtum seines Vaters hüten müssen, und er selbst habe'nichts, womit er ihm helfen könne, außer einer ausgemergelten Ziege, die er in seinem Haus habe. E r befahl seiner Frau, die Ziege ihrem Bruder'am Morgen zu geben. Der Bruder hörte das, doch er stellte sich schlafend. Am Morgen bot ihm sein Schwager die ausgemergelte Ziege an, doch er dankte ihm und sagte, daß er zu seiner zweiten Schwester gehen wolle und daß er die Ziege auf dem Rückweg mitnehmen werde. Bei seiner Ankunft freute sich sein anderer Schwager über alle Maßen und setzte ihm ein gutes Abendessen für zwei Rial vor, seinen Lohn für einen Tag, und als er in der Nacht mit seiner Frau allein war, unterhielten sie sich über die Notlage ihres Bruders. D a sagte der Mann: 326
„Dein Bruder kam zu uns, und ich bin in solcher Lage, die nicht ermöglicht, ihm zu helfen. Das ist nicht, wie es sein sollte, aber ich muß unbedingt Hilfe für ihn schaffen. Ich habe darüber nachgedacht und hoffe auf deine Zustimmung. Es ist so, daß der Jude, in dessen Schlächterei ich arbeite, den Leuten gegen Verpfändung ihrer Söhne Geld bietet. Ich habe mich daher entschlossen, ihm unseren ältesten Sohn als Sicherheit anzuvertrauen, damit ich eine Summe Geldes erhalte, die ich deinem Bruder übergeben kann, um ihm zu helfen." Der Bruder hörte das, doch er stellte sich schlafend. Und der Schwager ermahnte seine Frau, nicht zu weinen, bevor ihr Bruder abgereist sei. Dann nahm der Mann seinen Jungen und verpfändete ihn bei dem Juden, kam mit der Pfandsumme und lud seinen Schwager ein, sich ein wenig neben ihn zu setzen. Bald darauf entschuldigte er sich, daß er zu seiner Arbeit zurückkehren müsse, doch er bat ihn, mit zu dem Juden zu gehen, um sich die Schlächterei anzuschauen, und nahm ihn mit. Da sah er das Fleisch von zwei Kühen und von zwei Schilfen aufgehängt, und die Köpfe der beiden Kühe waren auf die Schwelle des Ladens gelegt, und der Jude stand da. Unser Freund terat auf den Juden zu und legte seine Hand auf dessen Hals, und die Handwerksgenossen 1 standen dabei. Dann fragte er den Juden: „Wieviel kostet dieser Kopf?" „Zehn Rial." „Ich gebe dir zwanzig Rial." „Merkwürdig, die Leute pflegen fünf oder vier zu sagen, wenn ich zu ihnen sage zehn, doch du sagst zwanzig." „Wenn du ihn für zwanzig verkaufen willst, dann nimm den Preis, oder du behältst deinen Kopf und ich meine Dirham." „Gib die zwanzig her!" Und er reichte sie ihm, und der Jude steckte sie sorgfältig in seine Tasche. Dann sprach unser Freund zu ihm: „Gib den Kopf her!" „Nimm ihn, er ist vor d i r ! " 1
Im Markt- oder Basarviertel befanden sich die meisten Läden für eine bestimmte W a r e nebeneinander.
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„Ich habe nicht den Kopf der Kuh gekauft, sondern ich habe deinen Kopf gekauft, und zum Zeichen-dafür habe ich dir den Preis vorgeschlagen, als meine Hand deinen Hals hielt, und deine Handwerksgenossen sind Zeugen." „Ich habe meinen Kopf verkauft?" „Ja, du hast ihn verkauft. Wenn ich mit meiner Hand nach dem Kopf der Kuh gezeigt hätte, wärest du im Recht zu widersprechen, doch meine Hand lag auf deinem Hals, und daher ist es das beste, mir das Gekaufte zu übergeben." Da entstand ein Streif zwischen ihnen, der sie zum Kadi brachte. Dieser verlangte einen Beweis von dem Käufer, und der führte die Zeugen zu ihm, die sich bei dem Laden befunden hatten. Nach langem Hin und Her sprach er ihm den Kopf des Juden zu, oder jener sollte ihn mit dem Laden und mit allem, was er besaß, entgelten. Da willigte der Jude ein und übergab unserem Freund den Laden und was drinnen war an Maschinen und Geräten, und dieser übergab ihn umgehend dem Mann seiner Schwester. Außerdem erlegte er dem Juden die Bedingung auf, alle verpfändeten Knaben freizugeben, und er gab sie ihren Familien zurück, und unter ihnen war auch der Sohn seiner Schwester. Dann befahl unser Freund dem Mann seiner Schwester, den Laden und was darinnen war zu verkaufen und seine Sachen zusammenzupacken und ihm in seinen Wohnort zu folgen, denn seines Bleibens würde dort nach der Verfeindung mit dem Juden nicht länger sein. Er sagte ihm auch die Wahrheit, daß er sich noch immer des Reichtums seines Vaters erfreue und 'daß er wünsche, daß seine Schwester bei ihm lebe. Auf dem Rückwege kehrte er bei der ersten Schwester ein, der Frau des jüngst zu Wohlstand gelangten Mannes, und ließ sie wählen, in ihrer Lage zu verbleiben oder sich von ihrem Mann zu trennen und zu ihrem Bruder zurückzukehren, und sie wählte die Trennung. Da traf er ihren hochmütigen Mann und verlangte von ihm die sofortige eheliche Trennung von seiner Schwester. Er ließ ihn noch wissen, daß er nicht notleidend war, sondern in zerlumpten Kleidern kam, um seinen Schwager auf die Probe zu stellen, und daß der Zustand seiner Schwester beschämend ist. Als der Ehemann sich weigerte, die Scheidung auszusprechen, drohte der Bruder, ihn 328
vor den Leuten bloßzustellen und ihnen seine Taten und die Verhältnisse innerhalb und außerhalb seines Hauses aufzudekken. So zwang er ihn, seiner Schwester die Scheidung zu gewähren und die Kinder der Mutter zu überlassen. Nach einer kurzen Ruhezeit in seinem Haus und nachdem ihm seine zweite Schwester mit ihrem Mann gefolgt war, wollte unser Freund die letzte Probe anstellen. Er brachte einen Schafbock und schlachtete ihn, legte das Tier in ein leerstehendes Haus und bedeckte es mit einem Sack. Dann befahl er seiner Frau, das Abendessen für einen Gast zuzubereiten, und ging zu einem seiner Freunde und tat, als ob er bekümmert sei und Angst und Sorgen habe. D a fragte ihn der Freund: „Was ist mit dir los, o Freund?" „Ach, mein Bruder, wir haben lange Zeit miteinander gelebt, und die Bande wahrer Bruderschaft haben uns verknüpft. E s ist etwas über mich gekommen, das Allah vorherbestimmt hat, und ich suche Zuflucht bei dir, mir in meiner Schwierigkeit zu helfen." „Was hast du getan?" „Ich habe einen Mann ermordet und will mich seines Leichnams entledigen." „Was? Du hast ein Verbrechen begangen und wünschst von mir, daß ich an der bösen Tat teilnehme und dir helfe, sie zu verheimlichen? Nein, mein Bruder, alles, womit ich dir als Freund helfen kann, ist, daß ich die Obrigkeit von deinem Verbrechen nicht benachrichtige. Ich hoffe, daß du nicht wieder kommst, und damit sind wir geschiedene Leute!" D a ging unser Freund zu dem Freund seines Vaters, einem angesehenen alten Mann. Er klopfte an sein Tor, und der alte Mann öffnete ihm und hieß ihn willkommen und fragte ihn, wie es ihm gehe, als er sah, daß er verstört war. D a sprach er zu ihm: „Ein Unheil ist auf mich herabgekommen, und ich suche meine Zuflucht bei dir, denn du bist der Freund meines Vaters, und ich erweise dir Ehrerbietung an seiner Stelle." „Was hast du getan?" „Ich habe einen Mann getötet und möchte mich seines Leichnams entledigen, bevor das Gericht mich verdächtigt." 329
„Das ist etwas, was Allah bestimmt hat, und es gibt keine Macht und keine Stärke außer bei Allah, und wenn es Allah anders gewollt hätte, hättest du es nicht getan. Unter allen Umständen werde ich nach Sonnenuntergang zu dir kommen, damit wir darüber nachdenken, wie man sich des Toten entledigen kann." Und nach Sonnenuntergang rief der alte Mann seine vier Söhne und ließ jeden von ihnen auf einem Maultier reiten, auf dem ein leerer Ledersack war, und er selbst nahm ein Messer und ein Fleischbeil mit. Sie gingen allesamt zum Haus unseres Freundes, und er empfing sie mit Freuden und Willkommensgrüßen und lud sie zum Abendessen ein. Der alte Mann bewunderte, wie dieser Mann das Abendessen genoß, obwohl er ein Verbrecher war und der Beweis für sein Verbrechen sich noch immer in seiner Nähe befand. Nach dem Abendessen begab sich der Hausherr mit dem Freund seines Vaters zu dem Haus, in dem der tote Körper lag, und der alte Mann erzählte von dem Plan, den er zur Beseitigung der Spuren des Verbrechens ausgedacht hatte: E r wollte die Leiche in vier Teile zerstückeln und jeden Teil in einen Ledersack stecken, und damit sollte jeder seiner vier Söhne an einen entfernten Ort gehen, um dort einen Teil zu begraben. D a lachte der Herr des Hauses und hob die Decke von dem Toten, und plötzlich war da ein Schafbock, und er sprach: „Vergib mir, o mein Vater, daß ich dich belogen habe!" Und er erzählte ihm vom letzten Willen seines Vaters und wie er beschloß, das Gegenteil von dem zu tun, was der Vater gewollt hatte, um ihn auf die Probe zu stellen, und wie er zur Wahrheit gelangte. Nun pries er Allah, daß die Ratschläge seines Vaters richtig und aus Erfahrung und gesundem Urteil hervorgegangen waren. E r dankte dem alten Mann für seine Opferbereitschaft und sein Anerbieten, ihm mit seinen Söhnen zu helfen, und er befahl, den Schafbock in vier Teile zu teilen, und bat jeden der Söhne, ein Stück mit nach Hause zu nehmen. Und so machte unser Freund seine Erfahrungen und verstand die Richtigkeit des Sprichwortes, das lautet: Weh dem, der nicht den Rat der Älteren befolgt.
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DIE DREI SPRICHWÖRTER
Es war einmal ein Fellache, der an irdischem Gut nichts weiter als ein Feddan Ackerland besaß. Er hatte gehört, daß Kairo eine Stadt voller herrlicher Dinge sei. Dort gab es Straßenbahnen und wer weiß nicht was. Er überlegte, und schließlich kam er auf den Gedanken, nach Kairo zu gehen. Aber womit sollte er nach Kairo gehen? Da verkaufte er den Feddan Acker, den er besaß, für dreihundert Pfund. Sobald er in Kairo ausstieg, kam ein Kairiner auf ihn zu und wollte ihm die dreihundert Pfund auf irgendeine Weise abnehmen. Er sagte zu ihm, daß er Wörter verkaufe. Der Fellache fragte: „Was für Wörter?" Der Kairiner sagte: „Ich verkaufe Sprichwörter." Der Fellache sprach: „Handle mit mir! Wie verkaufst du sie?" Der andere sagte: „Das Sprichwort für hundert Pfund." Da sagte er zu ihm: „Nimm hundert Pfund!" Der Mann nahm ihm die hundert Pfund ab und sprach zu ihm: „Wer dir vertraut, den sollst du nie betrügen, selbst wenn du ein Betrüger wärest." Der Fellache rief: „Schon gut, aber das Sprichwort habe ich bereits früher gehört. Was ist denn das für ein Geschäft?" Am nächsten Tage traf der Mann ihn wieder und sagte zu dem Fellachen, daß er Sprichwörter verkaufe. Der Fellache rief: „Keine Wörter oder etwas Ähnliches! Mach, daß du wegkommst, mein Bruder!" 331
Der Mann beharrte jedoch: „Dieses Sprichwort wird dir von Nutzen sein." Die Worte drangen in das Gehirn des Fellachen, während der Mann zu ihm sagte: „Gib hundert Pfund her!" E r gab ihm hundert Pfund, darauf sagte der Mann zu ihm: „Liebe deinen Geliebten, selbst wenn es ein Bär w ä r e l " 1 Der Fellache sagte: „Bei Allah, das habe ich bereits früher gehört." E r wurde sehr wütend und schrie: „ D a s kenne ich schon!" Ein drittes Mal traf der Fellache den Mann an einer anderen Stelle. Diesmal zog er ihm die letzten hundert Pfund aus der Tasche. Der Fellache forderte ihn auf, etwas zu sagen. D a sagte er: „ D i e Stunde des fröhlichen Genusses ist unersetzlich." Nun hatte der Mann ihm die dreihundert Pfund abgenommen, und der Fellache hatte nichts mehr bei sich. E r wußte nicht, was er tun, wie er sein Leben fristen und wo er hingehen sollte. D a kam er zu jemandem, der genauso gut war wie du. 2 E r blieb bei ihm stehen und sprach: „Bei Allah, ich möchte mein Dasein fristen. All mein Geld, das ich bei mir hatte, ist aufgebraucht." Der Mann fragte ihn: „Verstehst du dich auf die Arbeit eines Torhüters?" Der Fellache antwortete: „ J a , ich will als Torhüter arbeiten." „Gut, ich gebe dir drei Pfund, wenn du bei mir als Torhüter bleibst und mein Haus hütest." D a stand er dort und richtete die Aufträge seines H a r m aus. D i e Ehefrau des Hausbesitzers sah, daß der Junge vor Gesundheit strotzte und ein kräftiger Bauernbursche war, daher mochte sie ihn gern. Eines Tages kam sie und rief ihm zu: 1
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Altes Sprichwort: Zuneigung zu einem Menschen soll nicht von äußeren Mängeln beeinflußt sein. D e r Erzähler wendet sich damit an die Zuhörer.
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„He du da, ich wünsche, daß du zu mir heraufkommst." Er stieg die Treppe hinauf und ging zu ihr. Da verhängte sie1 den Richterspruch des Teufels über ihn und begehrte, daß er ihr beiwohne. Er aber sagte zu ihr: „Nein, meine Herrin." Sie fragte ihn: „Warum?" Er sprach zu ihr: „Das habe ich für hundert Pfund gekauft: ,Wer dir vertraut, den sollst du nie betrügen, selbst wenn du ein Betrüger wärest.' Wie kann mir der Besitzer des Hauses sein Haus anvertrauen und ich betrüge ihn? Nein, meine Herrin." Da sann sie darauf, ihm irgendwie etwas anzutun, selbst eine falsche Beschuldigung auszusprechen, weil sie nicht erreichen konnte, was sie von ihm begehrt hatte. Als ihr Mann kam, sagte sie zu ihm, daß der Torhüter wenig Anstand besitze, und schilderte ihm sein Benehmen und verleumdete ihn. Der Mann stand auf und fragte sie: „Was nun?" Sie sprach: „Wir haben eine Mühle, und diese Mühle ist geschlossen. Wir müssen ihn dorthin schicken, wo ein Sklave und eine Sklavin hausen, die bei Nacht erscheinen." Sie schickten ihn hin, schlössen die Tür hinter ihm und nahmen an, am Morgen werde er tot sein. In der Nacht tauchte der Sklave auf. Er hatte eine sehr Schöne und eine sehr Häßliche bei sich und fragte den Wächter: „Höre, du Torhüter, welche ist besser, diese oder jene?" Der Bursche begann an den Spruch zu denken, der hundert Pfund wert war, und sprach: „Liebe deinen Geliebtan, selbst wenn es ein Bär wäre!" Der Sklave sagte: „Gut, ich lasse ab von dir." So geschah nichts, bis es Morgen wurde und die Frau den Burschen unversehrt antraf. Da sagte sie bei sich: „Ich muß ihn in eine noch schlimmere Lage hineinstoßen." Danach sagte sie zu ihrem Mann: „Mein Herrl" 333
E r antwortete: „Ja." Sie fuhr fort: „Der Bursche da ist ein schlechter Kerl und besitzt wenig Anstand. Am heutigen Tage hat er sogar dieses und jenes getan." D a fragte er: „Was nun?" Sie sprach: „ E r muß zu den Leuten gehen, die die Bewässerungspumpe auf dem Feld bedienen. Sie haben eine Pumpe, die mit Dampf aus Kohlen arbeitet - ich meine, die Pumpe arbeitet mit Dampf, und der Dampf wird aus Holz und Kohlen erzeugt. L a ß den Meister wissen, er werde zusammen mit dem Essen eine Nachricht erhalten, und den Überbringer der Botschaft solle er in den Ofen werfen." D e r Mann ging hin, und der Werkmeister sagte zu ihm: „Zu Diensten." Der Mann sagte: „Wirf den ersten Boten, der nach Sonnenuntergang zu dir kommt, in den O f e n ! " Der Meister antwortete: „Zu Diensten, ich werde tun, was du forderst, mein Herr." Dann sagte der Mann noch: „Bitte, hier sind fünf Pfund", und gab ihm die fünf Pfund: Unterdessen bereitete die Frau Salate zu. Der Mann fragte,ob sie alles fertig habe. Sie bejahte und tat noch dieses und jenes. Darauf erschien der Torhüter und erklärte, daß ihm ihr Mann etwas aufgetragen habe, und unsere Freundin reichte ihm das Essen und sprach: „Nimm dieses Abendessen!" E s bestand aus Fleisch, Zuckerwerk und was weiß ich für Sachen, die es im Hause gab. Dann fuhr sie fort: „Trage das Essen zu den Maschinisten, damit sie etwas zum Abend haben, und sage ihnen, daß die Pumpe die ganze Nacht hindurch arbeiten muß. Wenn du das ausgerichtet hast, komme gleich zurück." D e r Fellache antwortete: „Zu Diensten."
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E r nahm das Essen, um es den Arbeitern zu bringen, aber auf dem Wege begegnete er einer Gruppe von Männern mit Flöte, Tamburin und Darabukka. Sie sangen, waren fröhlich und vergnügten sich sehr. Der Bursche wurde von der frohen Stimmung mitgerissen und sagte': „Das hast du für hundert Pfund gekauft: ,Die Stunde des fröhlichen Genusses ist unersetzlich.' Darum setze dich nieder und bringe eine Stunde oder zwei bei ihnen zu. Danach kannst du weitergehen und das Essen h ntragsn. Ich bezweifle, ob sie gerade jetzt auf dieses Essen warten, zu dieser Zeit haben sie sicher selbst ihr Essen." D i e Zeit ging ihm dahin, und die Welt um ihn versank, bis der Morgen anbrach. Am Morgen stand die Frau freudig auf, nahm Zuckerwerk, Bakschisch und ich weiß nicht was mit, u,m zu sehen, was aus dem Hundesohn geworden war. Sie ging, bis sie den Werkmeister traf. E r sagte zu ihr: „Willkommen, guten Morge.i!" Dann fuhr er fort: „Bitte, meine Herrin!" Sobald sie jedoch zu der Pumpe hineinlief, öffnete er die Ofentür, stieß sie in die Maschine und schloß den Ofen wieder. In der Zwischenzeit kam der Herr des Hauses, um zu sehen, wie es mit dem Burschen stand. Auf einmal erschien unser Freund, und der Herr rief: „Bei Allah, wo kommst du her?" E r antwortete: „Ich komme diesen Weg dort." Der Herr fragte: „Wie...?" Der Bursche antwortete: „Ich komme aus dieser Richtung." D a rief der Herr erstaunt: „Allah!" Danach begab er sich zu den Maschinisten und fragte sie: „Was habt ihr getan?" D e r Werkmeister antwortete: „Wir taten unsere Pflicht, mein Herr." E r fragte nochmals:
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„Was habt ihr getan?" Sie sagten: „Die Herrin kam sehr zeitig am Morgen, und wir haben sie in den Ofen geworfen." Der Mann ging nach Hause und sagte zu dem Fellachen: „Komm, mein Junge, und erzähle mir genau, was geschehen ist - alles, was sich zugetragen hat. Ich möchte es bis in alle Einzelheiten wissen und schwöre dir dreimal bei Allah, dem Erhabenen, daß ich dir vergeben werde, wenn du eine Sünde begangen hast - nur sage mir genau, was geschehen ist." Darauf erzählte er ihm die ganze Geschichte - von dem Feddan und den dreihundert Pfund - von der Herrin - was ihm bei dem Sklaven widerfuhr - und von dem Vergnügen, dem er begegnete - alles sagte er genau. Sobald der Bursche seinem Herrn alles von Anfang bis Ende berichtet hatte, sagte dieser zu ihm: „Hör zu, du braver Junge!" Der Bursche sagte: „Ja." Der Herr fuhr fort: „Ich muß dich belohnen, du sollst in Zukunft Vollmacht erhalten, meine Geschäfte zu erledigen, und es ist meine Pflicht, dich zu verheiraten, bevor ich selbst heirate." So erging es dem Burschen, der die Forderung der Treue und Ehrlichkeit gemäß dem Sprichwort: ,Wer dir vertraut, den sollst du nie betrügen, selbst wenn du ein Betrüger wärest!' gehalten und sich nach allen drei Sprichwörtern gerichtet hatte, die er mit seinem Geld gekauft hatte - und was man kauft, das muß man gut bewahren! Er war glücklich verheiratet, teilte den Wohlstand und die Freuden des Mannes und lebte auf immer mit ihm zusammen.
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WOMIT BELOHNTE MICH AZ-ZAIN SAHIB?
In alten Zeiten waren zwei Brüder Sultane, die sich im Regieren täglich abwechselten. Der eine hatte Söhne, der andere jedoch war nicht mit einem Sohn gesegnet und machte sich Gedanken, weil die Söhne seines Bruders den Thron erben würden, während er keinen Nachkommen hatte. Eines Tages kam er wütend zu seiner Frau und setzte ihr eine Frist von einem Jahre. Wenn sie schwanger werde, so sei es gut, wenn nicht, wolle er sie im Haus der Witwen unterbringen und eine andere heiraten. Die Frau bat eine Alte um Rat, die ihr zu einer Absprache mit der Frau des Chamma riet. Wenn sie schwanger werde, solle diese ihr das Kind überlassen, ohne daß ihr Ehemann davon erfahre. Die Frau des Chamma war damit zufrieden, denn ihr Kind sollte ein glückliches Leben führen, und wenn es ein Knabe wäre, würde er eines Tages Sultan werden. Die Frau des Chamma wurde schwanger, und nachdem zwei Monate ihrer Schwangerschaft verflossen waren, gab die Gattin des Sultans bekannt, daß sie schwanger sei, und verhielt sich wie eine Schwangere. Der Sultan wäre vor Freuden beinahe geflogen, als er diese frohe Nachricht hörte. Es bereitete der Frau des Sultans jedoch Schwierigkeiten, den Leib dicker werden zu lassen, und sie machte die Alte darauf aufmerksam. Die riet ihr, den ganzen folgenden Tag über zu lachen und zu spielen, sich aber um Mitternacht plötzlich krank zu stellen und nach der Alten zu verlangen. Die Frau des Sultans ging ins Bad, wusch sich und verbrachte ihren Tag in vollkommener Glückseligkeit, doch um Mitternacht schrie sie vor Schmerzen im Rücken und im Leib. Ihr Mann wollte einen Arzt für sie kommen lassen, doch sie bat um die Anwesenheit ihrer alten Vertrauten, denn sie sei eine Hebamme und verstehe sich auf die Frauenkrankheiten. Er erfüllte ihren Wunsch, und die Alte kam und untersuchte 22
Arabische Volksmärchen
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die Kranke. Danach erklärte die Alte, daß seine Frau dicht vor einer Fehlgeburt stehe. Der Sultan, der auf den Sohn wartete, war wie von Sinnen, doch die Alte nahm ihm seine schreckliche Angst, denn es sei möglich, die Fehlgeburt zu vermeiden, wenn die Schwangere in ein Bett für sich allein gebracht werde. Sie dürfe sich nicht rühren und es nicht verlassen, bevor sie ihr Kind geboren habe. Die Alte erbot sich freiwillig, bei ihr zu bleiben. Der Sultan war überlistet und entdeckte das Geheimnis nicht, denn der Leib seiner Frau blieb unter der Bettdecke verborgen, bis die Schwangerschaft vorüber war. Als die Frau des Chamma die Wehen fühlte, ließ die Alte sie heimlich in ein besonderes Zimmer legen, und niemand sah sie. Währenddessen gab sie bekannt, daß bei der Frau des Sultans die Geburt begonnen habe. Die Frau des Chamma gebar einen Jungen. Er wurde von ihr fortgetragen und zur Frau des Sultans gebracht, die Freudenfeste aus Anlaß seiner Geburt ankündigen ließ. Unterdessen stahl sich die Frau des Chamma heimlich in ihr Haus. Der Sultan nannte das Kind az-Zain Sahib. Nach zwei Tagen ließ man kundtun, daß es der Mutter an Milch mangele. Der Sultan suchte nach einer Amme, und gleich wurde ihm die Frau des Chamma empfohlen, die vor zwei Tagen mit einem totgeborenen Mädchen niedergekommen sei. So übergab er ihr den kleinen Jungen, und sie lebte mit ihm in Wohlstand und Seligkeit. Der kleine Junge folgte dem Weg von Sultanssöhnen und lernte, was diese lernen müssen. Als sein Alter fünfzehn Jahre überschritten hatte, starb sein Vater, und der Junge bereitete sich vor, den Thron zu erben und sich mit seinem Onkel im Regieren abzuwechseln. Der Onkel jedoch wollte nichts von diesem neuen Sultan wissen und wünschte ihn loszuwerden. Er entschuldigte sich deshalb bei dessen Mutter. Der Knabe sei jung, er müsse reisen, reifer werden und mit den Menschen Umgang haben, bevor er auf dem Thron sitze. So wurde die Frau wegen der Jugend ihres Sohnes gezwungen, sich dem Onkel zu fügen. Dieser schickte az-Zain Sahib auf ein Handelsschiff, das er mit vielen Handelsgütern beladen hatte, die in fremden Ländern verkauft werden sollten. 338
Das Schiff bereiste Meere und ferne Küsten, aber mitten auf der Fahrt wurde es geplündert. Die Seeräuber nahmen alles, was darin war, und raubten az-Zain Sahib aus und ließen ihn allein und ausgestoßen in einem fremden Land zurück. Da er über nichts verfügte, um sein bloßes Auskommen zu bestreiten, war er gezwungen, seine Hand vor den Leuten auszustrecken, um sein Leben fristen zu können. Eines Tages stand er am Hause eines Romäers und begehrte ein Almosen. D a kam die Tochter des Romäers zu ihm heraus, eine Jungfrau von blendender Schönheit. Sie wunderte sich über az-Zain Sahibs Jugend und Schönheit und sagte zu ihrem Vater: „Es ist nicht möglich, daß ein solcher Jüngling ein Bettler ist. Sein Aussehen deutet darauf hin, daß er in Wohlstand aufgewachsen ist." Sie bat den Vater, ihm zu erlauben, daß er bei ihnen bleibe und mit ihnen arbeite und lebe. Der Vater erfüllte ihre Bitte, und sie brachte den Jüngling in einer sehr guten Wohnung unter und überschüttete ihn mit allen erdenklichen Annehmlichkeiten. Eines Tages stieg sie mit ihm auf das flache Dach und nahm ein Instrument heraus, das sie an ihre Augen hielt. Als er sie danach fragte, antwortete sie ihm, daß es ein indisches Fernglas sei, das den Augen die weiten Entfernungen näher bringe, und mit seiner Hilfe könne man Dinge sehen, die man am meisten zu sehen wünsche. Er begehrte es auszuprobieren und legte es an seine Augen. Da sah er das Schloß seines Vaters und sein Heimatland und fing an zu weinen. Sie fragte ihn nach dem Grund seines Weinens, und er erzählte ihr, was er gesehen hatte, und berichtete die Wahrheit über sich. Daraufhin ging sie zu ihrem Vater und teilte ihm mit, daß ihr erstes Urteil über den Jüngling richtig war, denn er sei der Sohn des Sultans Soundso und der Erbe des väterlichen Thrones, aber die Seeräuber hätten ihm mit Gewalt sein Schiff und seinen ganzen Besitz entrissen. Der Romäer beschloß, dem Jüngling zu ersetzen, was er verloren hatte. Er schenkte ihm ein Schiff, das mit Handelsgütern, seltenen Dingen und Reichtum beladen war, und hoffte, eine helfende Hand von jenem jungen Sultan zu bekommen, 22»
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wenn er sie vielleicht eines Tages benötigte. D e r Romäer fuhr mit ihm, bis er sein Heimatland erreicht hatte, und kehrte dann zu seiner Familie zurück. Az-Zain Sahib bestieg den Thron seines Vaters und wechselte sich mit seinem Onkel im Regieren ab. Nach einigen Jahren griff eine Bande von Wegelagerern das Haus des Romäers an. Sie töteten seine Tochter, verbrannten sein Haus und plünderten alles, was er besaß, und ihm war nichts mehr übriggeblieben. D a dachte er daran, zu seinem Freund, dem Sultan, zu ziehen, um bei ihm den Rest seiner Jahre zu verbringen. E r ging tatsächlich zu seinem Freund und bat um eine Zusammenkunft. Es wurde ihm gestattet, obwohl az-Zain Sahib den Romäer vergessen hatte. E r erkannte ihn nicht und empfing ihn mit finsterem Blick und fragte ihn, was er wolle. D e r Romäer erzürnte und antwortete, daß er Arbeit haben wolle. Az-Zain Sahib befahl, ihm ein Stück verwildertes Land anzuweisen, das seit vielen Jahren nicht bearbeitet worden war. D e r Romäer mühte sich ab und arbeitete lange Zeit, bis er es zur Bepflanzung hergerichtet hatte. D a n n pflanzte er auf Begehren des Sultans zarte Schößlinge verschiedener Sorten an, doch außerdem pfropfte er eine Apfelsorte mit einem Oleandersteckling. Als die Früchte erschienen, ähnelten sie der Form nach den Äpfeln, aber im Geschmack dem Oleander. D a sandte er drei Körbe von diesen Früchten ins Haus des Sultans. Dieser schickte einen Korb davon an seinen Onkel. Nach dem Mittagsmahl nahm sein Onkel einen Apfel und stellte fest, d a ß er bitter war. E r probierte einen andern und fand dasselbe. Darauf ließ er seinen Neffen kommen und fragte ihn, woher die Äpfel stammten. Az-Zain Sahib erklärte, d a ß sie der Romäer, der ein Stück Land erhalten hatte, gesandt habe. , D a sprach et zu ihm: „Der Romäer hat dich betrogen. E r hat die Äpfel mit Oleander gepfropft", und befahl ihn vor sich. Der Romäer stellte sich ein, und der Sultan, der Onkel, fragte ihn nach den Äpfeln. E r sprach: 340
„Wahrlich, ihre Farbe ist die Farbe der Äpfel, doch ihr Geschmack ist der' Geschmack des Oleanders. Genauso ist der Sohn deines Bruders, az-Zain Sahib, der mich so erniedrigend belohnt hat." Dann erzählte ihm der Romäer seine Erlebnisse mit azZain Sahib, und als sich der Onkel über ein solches Handeln wunderte, entschuldigte sich az-Zain Sahib damit, daß der Romäer zwar in seinem Lande ein geachteter Mann war, doch daß er ihn hier nur mit dem belohnen werde, was er verdient habe, wenn er Muslim werde. Da wurde der Onkel wütend, und er befahl, umgehend az-Zain Sahib zu töten. Seine Mutter ließ er im Haus der Witwen unterbringen. Dem Romäer aber schenkte er das beste Stück Land, das er besaß, als Eigentum.
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DER SOHN DES SULTANS
Es wird erzählt, daß in einem Land ein Sultan lebte, doch kein Sultan ist allmächtig außer dem Herrn der Welten. Er besaß einen Sohn, so schön wie der Vollmond. Sein Name war Abdassalam, das heißt Diener des Friedens. Der Sultan wurde krank. Allah waltete nach seinem weisen Ratschluß, und Abdassalam wurde eine Waise. Seine Mutter war eine kluge Frau und sprach zu ihm: „Mein Sohn, dein Vater war ein Sultan, deshalb mußt du auch ein Sultan werden. Nun hast du auf die Gefährten achtzugeben. Die meisten Menschen wollen wegen deines Reichtums mit dir Freundschaft schließen und weil du König werden wirst, doch nur wenige von ihnen wollen um deiner selbst willen deine Freunde sein." Da sprach Abdassalam zu seiner Mutter: „Aber was soll ich tun?" Sie sagte zu ihm: „Koche drei Eier und lade jeden, mit dem du Freundschaft geschlossen hast, zum Frühstück ein, und es ist am besten, wenn du den Tag nicht vorher festsetzt. Dann biete die drei Eier an. Wenn dein Gast eines davon ißt und dir zwei übrigläßt, ziehe dich von ihm zurück und mache ihn nicht zu deinem Freund, denn er ist verlogen und heuchlerisch und will dir vorgaukeln, daß er dich mehr liebt als sich selbst. Wenn er zwei Eier ißt und eines für dich übrigläßt, ziehe dich ebenfalls von ihm zurück und mache ihn nicht zu deinem Freund, denn er hat keine guten Sitten und denkt nur an sich selbst. Wähle nur denjenigen zum Freund, der mit dir teilt!" Abdassalam nahm sich das erstemal den Sohn des Wesirs als Gefährten und hatte viel Freude an ihm. Eines Tages lud er ihn ein, mit ihm zu frühstücken, und brachte die drei Eier, wie es ihm seine Mutter geraten hatte. Er schälte ein Ei, der Sohn des Wesirs schälte auch ein Ei und aß es, und das dritte 342
Ei blieb zurück. Da sprach der Sohn des Sultans zum Sohn des Wesirs: „Iß dieses E i ! " Der Sohn des Wesirs aber wollte es nicht essen. So verzehrte der Sohn des Sultans das Ei, doch danach behielt er den Sohn des Wesirs nicht länger als Freund. Dann wählte er den Sohn des Kadi zu seinem Gefährten und lud ihn zum Frühstück ein und reichte ihm die drei gekochten Eier. Der Sohn des Kadi aß sie alle, und dies war das Ende ihrer Freundschaft. Darauf machte Abdassalam den Sohn des Vorstehers der Kaufmannsgilde zu seinem Gefährten und reichte ihm die drei Eier. Dieser betrachtete sie und sprach: „Was ist das für ein Frühstück?" und weigerte sich zu essen. Daraus entnahm der Sohn des Sultans, daß dieser Gefährte anmaßend war und daß ihn das angenehme Leben verwöhnt hatte, und er zog sich von seiner Gesellschaft zurück. Danach fand der Sohn des Sultans einen Jungen in zerlumpten Kleidern und fragte ihn, wer er sei. Der sprach zu ihm: „Ich bin der Sohn eines Holzfällers und tauge nicht dazu, dein Gefährte zu sein, du Sohn des Sultans." Abdassalam bestand jedoch darauf, daß der Sohn des Holzfällers sein Kamerad wurde. Dann zog er täglich mit ihm zur Jagd und lernte vom Sohn des Holzfällers, wie man einen Stock 1 zu gebrauchen hat und wie man damit schädliche Tiere, wie Schlangen, tötet und die Feinde damit schlägt. Abdassalam kehrte seitdem täglich mit schmutzigen Kleidern zu seiner Mutter zurück. Manchmal hatte er eine Schramme am Kopf und manchmal einen Dorn im Fuß, aber Abdassalam hatte den Sohn des Holzfällers lieb, denn er lernte so viele Dinge von ihm. Der Sohn des Holzfällers nahm Abdassalam auch mit in seine Hütte. Dort aß er eingebrockte Brotstücken in einer mit Salz und spanischem Pfeffer gewürzten Soße sowie ein paar geröstete Durraähren. 1
Wird aus dem harten Holz des Sellambaumes (in den Wadis vorkommende Akazienart) geschnitten und durch häufiges Bestreichen mit Fett noch schwerer und solider gemacht.
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Eines Tages lud Abdassalam den $ohn des Holzfällers in sein Haus ein und setzte ihm die drei gekochten Eier vor. D a schälte der Sohn des Holzfällers die drei Eier, dann nahm er sein Messer heraus und teilte das eine Ei in zwei Hälften und sprach zum Sohn des Sultans: „Ich nehme einundeinhalbes Ei, und du nimmst einundeinhalbes Ei." Abdassalam freute sich sehr darüber und erzählte seiner Mutter, was der Sohn des Holzfällers getan hatte. Sie sprach zu ihm: „Das ist der beste Freund, bleibe bei ihm!" Von diesem Tage an wurde der Sohn des Holzfällers der vertraute Freund des Sultanssohnes. Als der Sohn des Sultans groß geworden war und Sultan wurde, machte er den Sohn des Holzfällers zu seinem Wesir, und sie lebten ein glückliches Leben, bis der Zerstörer aller Genüsse kam, der Unerbittliche, der alle Freuden tilgt.
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DIE F R A U DES MULLA N A S R E D D I N
Es geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. Jeder, der gesündigt hat, soll es bereuen und Allah um Vergebung bitten. Zu alten Zeiten lebte ein Mann mit Namen Mulla Nasreddin. Er hatte sich in jungen Jahren mit einer Frau verheiratet, die arbeitete und d'.ente und für die Leute Wäsche wusch, wofür sie Lohn erhielt. Wenn sie nach Hause kam, pflegte sie ihrem Mann, Mulla Nasreddin, das Geld zu geben, das sie verdient hatte, oder die Geschenke, die sie erhalten hatte. Der Mulla war ein Nichtstuer, der sich auf den sieben Rückenwirbeln ausruhte, während sich seine Frau abmühte und schuftete wie im Sprichwort: Abu Kalasch müht sich ab, Abu Dschisma ißt. 1 In seinem ganzen Leben hatte er weder etwas verkauft noch eingekauft und nicht einen einzigen Fils verdient. Er verbrachte seine Zeit nur im Kaffeehaus und an Orten, wo man sich vergnügt. Dort freundete er sich durch seine launigen Anekdoten, seinen Spott, seine Scherze und Späße mit dsn Leuten an und erzählte ihnen seine Schwänke. So verbrachte er vierzig Jahre seines Ehelebens. Seine arme Frau aber arbeitete Tag und Nacht, Sommer und Winter, bis ihre Kraft erlahmte und sie glaubte nicht mehr arbeiten zu können. Eines Tages beschloß sie, ihren Mann auf eine Weise loszuwerden, die ihm ganz unerwartet kommen mußte. Sie sagte zu ihm: „Ach Mulla, ich habe es satt mit dir und kann dich nicht mehr ansehen. Darum wähle dir eine von diesen drei Möglichkeiten : Entweder sprichst du mir die Scheidung aus, oder 1
Der Besitzer billiger Tuchschuhe (wie sie die Bauern tragen) plagt sich ab, während der Besitzer der Stiefel ißt.
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ich lasse mich von dir scheiden, oder du suchst dir Arbeit, um mich und dich selbst zu ernähren. Nun, was sagst du dazu?" Als Mulla Nasreddin die Rede seiner Frau hörte, wurde sein Gesicht gelb, und die Farbe wich von ihm. Er verharrte mit gesenktem Blick eine Stunde in Schweigen und dachte nach. Schließlich sagte er zu ihr mit milder und betrübter Stimme: „Meine geliebte Gattin, Allah möge mir nicht das schwere Geschick aufzwingen, dir die Scheidung aussprechen zu müssen. Du bist die Pupille meines Auges und die Gefährtin meines langen Lebens, wie könnte ich dich da im Stich lassen? W a s die Arbeit anbelangt, so suche mir zuliebe und zu Ehren eine Beschäftigung, die meinem Ansehen bei den Leuten und meinem Stand entspricht, und bei meinem Kopf und meinen Augen werde ich bereit sein, dir zu dienen." Die Frau sagte nach kurzem Nachdenken: „Ich habe bereits eine sehr gute Arbeit für dich ausfindig gemacht. Du kannst dabei verdienen, was für mich und für dich ausreicht, und sie erfordert nicht viel Anstrengung deinerseits." Der Mulla freute sich darüber und pries Allah, daß er ihn mit einer solchen klugen und umsichtigen Gattin gesegnet hatte. Die Arbeit, die sie für ihn ausgewählt hatte, bestand darin, daß er als Hausierer in den Dörfern umherziehen und für seine Waren Korn und Gerste eintauschen sollte. Da diese Arbeit ein Anfangskapital erforderte, unterstützte ihn die arme, vom Glück nicht begünstigte Frau mit etwas Geld, das sie für die Tage der Not gespart hatte. Es war eine Summe von vier Madschidi. Dann ging sie zum Eselmarkt und kaufte ihm von Dschaluka einen Esel, der auf einem Auge blind war. Mit dem Rest des Geldes kaufte sie Glasperlen, Alaun, Nadeln, Zwirn und Kauharz. Darauf ging sie zum Basar, in dem man Abajas näht, und kaufte ihm eine Satteltasche. Sie steckte die Hausiererwaren hinein und übergab sie ihrem Mann, dem Mulla, mit den Worten: „Steh auf, das ist die Arbeit, die ich dir gebracht habe! Du wirst daran genügend für deinen Unterhalt verdienen." Danach erklärte sie ihm die Preise der Waren und lehrte ihn, wie man tauscht, verkauft und einkauft, bis er Zutrauen
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zur Arbeit hatte. Dann übergab sie ihm die Zügel des Esels , upd ließ ihn allein. Mulla Nasreddin versuchte den Esel zu führen, doch der gehorchte ihm nicht. Er war störrisch und ging nicht einen einzigen Schritt. Da setzte sich der Mulla nieder und überlegte, wie er diesen einäugigen Esel zum Gehen bewegen konnte, und schließlich fiel ihm etwas ein. Er öffnete die Satteltasche und nahm eine große Nadel heraus und stach damit den armen Esel. Dieser sprang vor heftigem Schmerz in die Höhe und bäumte sich auf. Die Zügel entglitten der Hand des Mulla, und der Esel rannte so schnell davon, daß der Mulla ihn nicht fangen konnte und ihm nichts anderes übrigblieb, als ein wenig nachzudenken. Dann sagte er bei sich: „Wenn der Esel durch den Stich imstande ist, so schnell zu rennen, dann ist es sicher, daß ich auch rennen werde, wenn ich bei mir tue, was ich bei ihm getan habe." So sprach er und versetzte sich einen heftigen Stich mit der großen Nadel. Im selben Augenblick schrie der Mulla, sprang auf und rannte flink wie ein Straußenmännchen, brüllte dabei und rief um Hilfe. Seine Frau hatte ihm aus der Ferne zugesehen und rief ihn an: „ M u l l a . . . M u l l a . . . M u l l a . . . , was ist dir geschehen?" Er rannte immer weiter und rief zurück: „O du Verfluchte, Tochter des Verfluchten, 1 sprich nicht zu mir, ehe du mich verstehen kannst 1 Los, nun komm und hole mich ein!" 1
Tochter des Satans.
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UMM KATRINA ODER DIE KLUGE EHEFRAU
Saijid Bi^chara w a r ein gutherziger Mann, aufrecht in seiner Lebensweise, doch einfältig, arm an guten G e d a n k e n und willensschwach, u n d er neigte zum Faulenzen. E r hatte eine kluge Frau, die ihn zur Arbeit drängte und zur Tätigkeit anspornte. Als das G e l d , das sie in den H ä n d e n hatten, zur Neige ging, v e r k a u f t e die Frau ihren Schmuck und k a u f t e einen Esel. D a n n sagte sie zu ihrem M a n n : „ N i m m diesen Esel und ziehe in die Stadt und arbeite dort, vielleicht w i r d dir Allah einen Ausweg offenbaren, der uns das Dasein erleichtert." Bischara hatte viele E i n w ä n d e , doch die Frau f u h r f o r t ihn zu bedrängen und ihm zu beweisen, wie gut der V o r schlag w a r , bis er ihn annahm. D a n n ritt er auf d e m Esel u n d w a n d t e sich nach der Stadt. D e r A b e n d brach herein, als Bischara auf dem W e g e zur Stadt w a r . E r wollte unterwegs schlafen, aber er fürchtete, d a ß die D i e b e den Esel stehlen würden, und sprach: „Wenn ich ihn an meiner H a n d festbinde und ein D i e b kommt, wird er ihn losmachen, ohne d a ß ich erwache, und die Sache ist genauso, wenn ich ihn am Bein festbinde." Schließlich kam er auf den G e d a n k e n , ihn an seinem Bart festzubinden. Sein Bart war lang und dicht, und er w a r stolz auf ihn. E r blieb dabei, an die D i e b e zu denken, bis ihn der Schlaf nach Mitternacht übermannte. E s w a r Vollmond, und ein D i e b ging vorbei und sah den M a n n und den Esel. Als er näherkam, erkannte er, d a ß der Esel am B a r t des Mannes festgebunden war. D a sagte e r : „Wenn er an seiner H a n d oder an seinem Bein festgebunden wäre, w ü r d e ich ihn entschuldigen und von ihm ablassen, doch er hat ihn an seinem Bart festgebunden. D a s ist ein seltsamer Einfall, da m u ß ich ihn den Esel einbüßen lassen."
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Der Dieb zog aus seinem Gürtel einen Dolch, der an beiden Schneiden geschärft war, und ging auf Bischaras Bart zu. Dann rasierte er ihm den Bart ab, wie es ein erfahrener Bartscherer zu tun pflegt, und zog mit dem Esel davon. Bischara erwachte von der Wärme der strahlenden Sonne, aber er fand den Esel nicht mehr, und als er sich mit der Hand über den Bart strich, war sein Kinn glatt, und er glich einem bartlosen Jüngling. Da sagte er im Selbstgespräch: „Wer bin ich? Bin ich Bischara? Wenn ich Bischara wäre, hätte ich meinen Bart und den Esel bei mir." Er wiederholte diese Worte mehrmals, dann kehrte er in sein Dorf zurück und ging zu seiner Frau hinein. Da sprach sie: „Was ist los, Bischara?" Er sprach: „Schweige, fremde Frau! Ich bin nicht Bischara. Wenn ich Bischara wäre, hätte ich meinen Bart und den Esel bei mir." Die kluge Ehefrau vermutete, was geschehen war, und erriet, wie es ihm ergangen war. Daher sprach sie ihm gut zu, um seine Seele zu stärken und ihm die Selbstachtung zurückzugeben : „Aber du bist doch Bischara, und das ist dein Haus, und ich bin dein Weib. Du wirst bald einen Bart bekommen, der weit besser ist als der erste. Und um den Esel brauchst du dir ke : ne Sorgen zu machen. Er hat sich von dir losgerissen." Sie behielt ihn so lange im Schutze des Hauses, bis sein Bart gewachsen und lang geworden war und er wieder genauso aussah wie zuvor. Im Dorfe bahnte sich etwas an, was alle in Bewegung setzte. Der Geistliche hatte Geld gesammelt und beschlossen, eine Kirche zu bauen. Alle Männer des Dorfes erhielten Arbeit, und ihre Lage verbesserte sich. Da versuchte Bischaras Frau ihren Ehemann zu überzeugen, daß er arbeiten gehen sollte, doch er widersprach ihr und wies sie ab und gab vor, daß der Priester nicht wünsche, daß er für ihn arbeite. Da begleitete sie ihn zum Priester und bat ihn um Arbeit für ihren Mann, und er gab ihm Arbeit. Nachdem zwei Wochen vergangen waren, zahlte er ihm für seine Arbeit hundert Fils je Tag aus. Bischara ging 349
wütend mit dem Geld nach Hause und sprach zu seiner Frau: „Ich habe meine ganze Kraft bei der Arbeit aufgewendet, und er bezahlt mir hundert Fils am Tage. Ich will nicht mehr arbeiten." Sie sprach: „Das ist der übliche Lohn für die Arbeit, aber wenn du fleißig bist, wird er deinen Lohn erhöhen." Sie redete so lange auf ihn ein, bis er zu seiner Arbeit zurückkehrte. Danach ging die Frau zum Priester und bat ihn, den Lohn ihres Mannes zu erhöhen, weil damit sein Arbeitseifer vermehrt werde. Der Priester war ein Mann, der Erbarmen hatte und ein gutes Herz besaß, daher erhöhte er Bischaras Lohn auf einhundertfünfzig Fils am Tage. Als ein Monat vergangen war, gebar Bischaras Frau ein schönes Mädchen, das sie Katrina nannte, und Bischara wurde zu Abu Katrina. Die Leute hatten die Gewohnheit, ihn mit diesem Namen zu benennen, und bald rief ihn niemand mehr anders als mit diesem Beinamen. Abu Katrina arbeitete sechs Monate in der Kirche, doch er haßte die Arbeit und wurde ihrer überdrüssig. Da sprach er zu seiner Frau: „Ach, Umm Katrina, früher brachte ich es nicht fertig, auch nur sechs Tage lang zu arbeiten, und nun habe ich sechs Monate lang gearbeitet. Ich fühle, daß der Tod besser ist als dieses Leben voller Arbeit, und darum habe ich beschlossen, zu sterben und mich von der Arbeit auszuruhen." Umm Katrina sagte: „Wenn du stirbst, wer soll dann deine Tochter Katrina aufziehen? Sie ist wirklich ein hübsches kleines Mädchen. Schau!" Er sprach: „Ich mag nicht hinsehen, und mir ist es gleichgültig, wer sie aufziehen wird. Heirate einen anderen Mann, der die Arbeit liebt, er wird sie aufziehen." Sie sprach: „Ich will keinen anderen als dich haben''.;; und das ist deine Tochter, und wenn du sie nicht großziehst, kein anderer außer dir wird es tun." Er sprach: 350
„Ich habe keine Lust mehr, mich darum zu kümmern, denn ich bin entschlossen zu sterben, da ich das Leben hasse, in dem die Menschen nicht ohne Arbeit sein können." Sie sprach: „Aber ein Leben ohne Arbeit hat keinen Sinn. D a s Leben fordert es so." E r sprach: „Aus diesem G r u n d e hasse ich das Leben und habe mich, entschlossen zu sterben." Sie sprach: „Und wie willst du sterben?" E r sprach: „Es ist ausgezeichnet, d a ß du zuerst fragst. Hör zu! Koche mir einen großen Topf Linsen. Wenn ich sie alle gegessen habe, kann mein Magen sie nicht verdauen. Die Linsen bleiben im Magen, und meine D ä r m e werden sie nicht hinausbefördern. D a s wird mich töten, und auf diese Weise sterbe ich." Sie sprach: „Das ist ein grauenhafter Tod, wähle dir einen anderen l" E r sprach: „Ich will nicht anders sterben als auf diese Weise." E r ließ nicht ab, sie zu bedrängen, bis sie ihm einen Topf Linsen kochte, die er vollständig aufaß. Als er ungefähr eine Stunde nach Sonnenuntergang damit fertig war, sagte er zu ihr: „Komm und gehe mit mir zur Ruhestätte der Toten!" D a begleitete sie ihn, und er ging in eine G r u f t hinein, um darin zu sterben. Einige Zeit vor Eintritt der Morgendämmerung begab sich Umm Katrina zu ihrer Nachbarin und sagte: „Abu Katrina ist gestorben." D i e Nachbarin sagte: „Wie ist er gestorben, und wann ist er gestorben?" D a sagte Umm Katrina: „Senke deine Stimme . . . ! " U n d dann erklärte sie ihr, was in der vergangenen Nacht geschehen war, und sie legten sich einen Plan zurecht. Danach gingen Umm Katrina und ihre Nachbarin sofort zum Friedhof und setzten sich auf die Gruft, als gerade die Morgendämmerung hereinbrach. D a rief die Nachbarin mit leiser, jedoch hörbarer Stimme:
„Ihr Toten, ihr Toten, die Mauern der Hölle sind eingestürzt. Erhebt euch und baut die Mauern der Hölle auf!" Und Umm Katrina antwortete ihr mit leiser, jedoch ebenfalls hörbarer Stimme: „Wir sind alle gestorben und verwest, keiner unter uns ist frisch außer Abu Katrina." So sprach sie und kehrte mit ihrer Nachbarin zurück, und sie kamen nach Hause, ehe die Sonne aufging, und jede ging in ihr Haus. Zehn Minuten nach Umm Katrina trat Abu Katrina ins Haus. Da tat seine Frau, als ob sie seine Rückkehr nicht begreifen konnte, und fragte: „Warum bist du zurückgekommen?" Abu Katrina sagte: „Wenn das Leben nur Arbeit ist und das Jenseits ebenfalls, so ist die Arbeit im Leben wahrlich leichter, als die Mauern der Hölle zu bauen." Da sprach Umm Katrina: „Gibt es denn im Jenseits Arbeit?" Abu Katrina sagte: „Ja, im Jenseits gibt es sehr harte Arbeit, und ich weiß, was du nicht weißt." Da sprach Umm Katrina: „Darum geh zum Priester, vielleicht nimmt er dich wieder zur Arbeit." Abu Katrina sagte: „Ich will nicht hingehen, um bei einem solchen Priester zu arbeiten, wahrlich, ich hasse ihn und hasse die Arbeit bei ihm." Umm Katrina sprach: „Aber du hast bestimmt dein ganzes Leben lang zu arbeiten, und im Jenseits gibt es auch Arbeit." Abu Katrina sagte: „Ich will als Schnitter arbeiten. Ich habe zusammen mit meinem Vater gemäht - möge Allah sich seiner erbarmen - , und ich verstehe mich auf die Erntearbeit." Da nahm er eine Sichel und ging davon, um sich Arbeit zu suchen. Bis zum Mittag hatte er noch niemanden gefunden, für 352
den er arbeiten konnte. Als er gerade heimkehren wollte, fand er ein großes Feld, auf dem die Saat herangereift war, und entdeckte auf einem Stein eine Eidechse. Er fragte sie: „Ist das dein Feld, Abu Soleiman?" Und die Eidechse nickte mit dem Kopf. Da sprach Abu Katrina: „Soll ich es für dich mähen?" Und die Eidechse nickte mit dem Kopf. Da fing Abu Katrina an zu feilschen und sagte: „Bezahle mir zwei Pfund für einen halben Tag und vier Pfund für den ganzen Tag!" Und die Eidechse nickte mit dem Kopf. Dann fing Abu Katrina an zu mähen, und jedesmal, wenn er ein Bündel Ähren abgemäht hatte, band er es zusammen und schaute nach der Eidechse, als ob er wissen wollte, wie sie mit seiner Arbeit zufrieden war. Als er sah, daß die Eidechse mit ihrem Kopf nickte, vermehrte sich sein Arbeitseifer, und so ging es fort, bis sich der Sonnenuntergang näherte. Dann hörte er auf und sprach zu der Eidechse: „Gib mir meinen Lohn, Abu Soleiman!" Und die Eidechse nickte mit dem Kopf. Als Abu Katrina näher an die Eidechse herankam, um seinen Lohn einzustekken, entfloh die Eidechse. Er folgte ihr, doch sie schlüpfte in einen Steinhaufen. Da sprach Abu Katrina: „Bei Allah, ich werde nicht zulassen, daß du mein Recht abstreitest und meine Anstrengung und meinen Schweiß verleugnest." Er machte sich daran, den Haufen zu durchsuchen. Nach einer Stunde hatte er die Steine weggeräumt, und plötzlich kam eine enge Höhlung zum Vorschein, und darin stand ein riesiger Topf, der mit Gold in Barren und Münzen angefüllt war. D a sprach er: „Bei Allah, ich will dich nicht betrügen, Abu Soleiman, und mir nicht mehr nehmen, als mir zusteht." Dann kehrte Abu Katrina mit zwei Goldpfunden zurück und ging zu seiner Frau. Da sprach Umm Katrina: „Woher hast du das bekommen?" Er sagte: 26
Arabische Volksmärchen
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„Das ist mein Lohn für einen halben Tag. Ist das nicht besser als meine Arbeit bei dem Priester?" Sie sagte: „Natürlich, aber wer ist es, der dir zwei Goldpfunde für einen halben Tag gibt?" Abu Katrina antwortete: „Es ist Abu Soleiman. E r ist reich. Morgen werde ich vier Goldpfunde erhalten, und, bei Allah, ich betrüge ihn nicht und nehme nicht mehr, als mir zusteht und wofür ich mich abgemüht habe." D a sprach sie: „Wer ist es, der dir vier Goldpfunde am Tage gibt? Das ist ein sehr hoher Lohn, ein Arbeiter kann zwei Monate lang arbeiten und erhält nicht einmal einen solchen Betrag." E r /antwortete : „Ich habe dir gesagt, daß er sehr reich ist und einen riesigen Topf voll Gold besitzt, jedoch ich betrüge ihn nicht." • Umm Katrina gelang es nicht, von ihrem Mann mehr über Abu Soleiman zu erfahren. Am Morgen sprach er zu ihr: „Bereite mir mein Mittagessen, ich will heute den ganzen Tag lang arbeiten, um dir vier Goldpfunde zu bringen." Sie machte ihm das Essen zurecht, und er ging zu seiner Arbeit. Umm Katrina aber vertraute ihre Tochter Katrina der Nachbarin an und folgte ihrem Mann, um ihn zu beobachten und ihm zuzusehen, von wo aus er sie nicht sehen konnte. Sie beobachtete, wie er zum Feld kam und rief: „Abu Soleiman! Abu Soleiman!" Doch niemand antwortete. Seine Frau belauschte ihn und wunderte sich. Dann hörte sie ihn sagen : „Ich will für dich mähen, Abu Soleiman, und werde mir meinen Lohn von deinem Reichtum nehmen. Sei versichert, bei Allah, ich werde dich nicht betrügen und nehme mir nicht mehr, als mir zusteht." Dann fing er an zu mähen. Seine Frau beobachtete ihn und wünschte, sein Geheimnis zu erfahren und Abu Soleiman zu sehen. Sie versuchte den Sinn seiner Rede zu verstehen, doch es war ihr nicht vergönnt. Die Waage des Tages neigte sich nach Westen, doch Abu Soleiman erschien nicht. D a hörte
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Abu Katrina mit der Arbeit auf und setzte sich nieder, um sein Mittagessen zu verzehren. Als er damit fertig war, kehrte er zur Arbeit zurück. Am Nachmittag hörte ihn die Frau sagen: „Willkommen, Abu Soleiman! Wie geht es dir?" D a strengte sie Augen und Ohren an, doch sie konnte niemanden sehen und keine Stimme vernehmen, die ihm auf seinen Gruß und seine Frage antwortete, doch ihr Mann fuhr fort zu sprechen: „Wie hat dir gestern meine Ehrlichkeit gefallen? Hast du sie bewundert?" D i e Frau wunderte sich, mit wem sich ihr Mann unterhielt. Sie wandte sich nach allen Richtungen um, konnte jedoch niemanden außer ihrem Ehemann erblicken. Dann hörte sie, wie ihr Mann sagte: „Bist du mit meiner heutigen Arbeit zufrieden? Wahrlich, ich habe mich nicht nach dem Mittagessen ausgeruht und daher eine große Menge gemäht." Umm Katrina war nahe daran, an sich selbst irre zu werden, und starrte in die Richtung, in die ihr Mann schaute, wenn er sich unterhielt. Als sie ihn aufmerksam betrachtete, erkannte sie, daß sein Blick auf einen Stein gerichtet war, auf dem eine Eidechse saß. Dann hörte sie ihn sagen: „Es ist genug, was ich heute getan habe, und nun habe ich mir vier Goldpfunde verdient, nicht wahr, Abu Soleiman?" D a sprach Umm Katrina: „Nun habe ich alles verstanden, haha, nun hab' ich dich entdeckt, Abu Soleiman!" Und ihre Gewißheit nahm zu, als ihr Mann in seiner Rede fortfuhr: „Ich weiß, daß du gut bist, Abu Soleiman, und ich weiß, daß du sehr reich bist, doch bei Allah, ich bin ehrlich und betrüge dich nicht und nehme mir nicht mehr, als mir zusteht." Dann legte Abu Katrina die Arbeit nieder und ging zu der kleinen Höhle hin. Seine Frau rannte vor ihm nach Hause, ohne daß er etwas von ihrem Tun wußte, und als er kam, überreichte er ihr vier Goldpfunde. D a sprach sie zu ihm: 23»
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„Möge Allah deinen Leib bei bester Gesundheit erhalten! Ich habe niemals jemanden gesehen, der großzügiger ist als dein Freund Abu Soleiman." E r sprach: „Wenn ich wollte, könnte ich mehr nehmen, denn er wäre nicht stark genug, mich daran zu hindern, doch ich bin ein ehrlicher Mann und nehme nicht mehr, als mir zusteht und was unserer Abmachung entspricht." Sie setzte ihm das Abendessen vor, er aß, und nach kurzer Zeit schlief er ein. Am Morgen stand Abu Katrina auf und ging zu seiner Arbeit. Umm Katrina jedoch ging zum Markt des Dorfes und kaufte einen Esel. Dann kaufte sie Tiermagen, Innereien und Markknochen, 1 die sie danach säuberte, kochte und versteckte. Beim Sonnenuntergang kehrte Abu Katrina zurück und gab ihr vier Goldpfunde. Sie nahm sie ihm ab und sprach: „Möge Allah deinen Leib bei bester Gesundheit erhalten!" Dann setzte sie ihm zum Abendessen ein wenig Sauermilch und einen Salat vor, der mit vielen Zwiebeln zubereitet war. Sie hielt ihn lange wach, bis ihn der Schlaf vor Müdigkeit und wegen der Zwiebeln übermannte. Dann stand sie auf und schlich sich heimlich davon, nahm den Esel und lud ihm eine Satteltasche auf. Sie ging zur Höhle und entleerte den Goldtopf in die beiden Öffnungen der Satteltasche und füllte sie damit. Vor Mitternacht kehrte sie zurück und versteckte das Gold. Dann holte sie den Kessel mit Tiermagen, Innereien und Markknochen hervor und schüttete alles, was darin war, auf dem Hof des Hauses aus und schlich darauf in ihr Bett. Danach weckte sie Abu Katrina und sprach zu ihm: „Steh auf, Abu Katrina, steh a u f ! " Abu Katrina wachte ärgerlich auf und sagte: „Schlafe, was willst du?" Sie sagte: „Hörst du denn nicht, wie der Regen herunterstürzt? Steh auf und sieh!" E r entgegnete: 1
Im Originaltext ist nur von Köpfen und Beinen die Rede.
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„Ach, du träumst. Wir sind im Sommer zur Zeit der Ernte. Wie soll es da regnen?" Sie sprach: „Hörst du es nicht? Es ist ein sonderbarer Regen. Ich hörte es regnen, als wenn Steine herunterfielen. Steh auf und sieh nach!" Er sprach: „Laß mich schlafen, du kannst aufstehen und nachsehen." Sie sprach: „Wie kann ich in dieser Nacht das Tor allein öffnen? Steh auf, Mann! Vielleicht war es kein Regen, sondern Männer, die uns überfallen wollen. Steh auf, hast du kein männliches Ehrgefühl? Du fürchtest dich doch vor nichtsI" D a sagte Abu Katrina: „Ich habe nichts gehört, aber ich werde aufstehen." Er stand auf, öffnete das Tor und schaute hinaus, doch plötzlich waren da Tiermagen, Innereien und Markknochen. Abu Katrina sprach: „Du hast recht, Umm Katrina. Es hat Tiermagen, Innereien und Markknochen geregnet. Es tut mir leid, daß ich dir Unrecht getan habe." Sie sagte: „Wir haben etwas zu essen bekommen. Es ist eine Gabe des Segens, die uns Allah gesandt hat." Da hob Abu Katrina auf, was auf dem Hof lag, und Umm Katrina wusch es. Dann machte sie sich daran, das Essen zu wärmen, und sie verzehrten es zusammen. Als Abu Katrina am Morgen zur Arbeit gehen wollte, sagte Umm Katrina: „Katrina ist krank, und ich bin auch krank und möchte deshalb nach Jerusalem gehen, um sie behandeln zu lassen und selbst vom Arzt behandelt zu werden. Laßt uns die Kirche des Heiligen Grabes besuchen und das Grab der Jungfrau und Allah für alles danken, was er dir gewährt hat." Sie redete ihm so lange gut zu, bis er einwilligte, und nachdem ein Tag vergangen war, bis sie Jerusalem erreichten, und sie dort drei Tage lang geblieben waren, wollte Abu Katrina zurückkehren. Da sprach Umm Katrina: 357
„Wie können wir zurückkehren, ohne die Geburtskirche in Bethlehem besucht zu haben, wir kommen doch nicht jeden Tag nach Jerusalem." Sie blieb dabei, ihn zu bedrängen, bis er sie zum Besuch der Geburtskirche begleitete. Danach überredete sie ihn, die Kirche des Chidr zu besuchen, und sie kamen nach zwei Tagen nach Jerusalem zurück und blieben dort noch einen Tag. Dann kehrten sie in ihr Dorf zurück. Am Morgen beabsichtigte Abu Katrina fortzugehen, um für Abu Soleiman zu mähen, da sagte Umm Katrina: „Du bist zehn Tage lang auf der Reise gewesen, ruhe dich heute und morgen aus und gehe übermorgen." Abu Katrina gehorchte. Einen Tag später ging Abu Katrina hinaus und fand, daß das Feld gemäht und das meiste fortgeschafft war. Er war betrübt und wollte traurig zu seinem Freund Abu Soleiman zurückkehren. Als er sich nach der Höhle wandte, um ihm Vorwürfe zu machen, daß er die Arbeit einem anderen gegeben habe, und um sich bei ihm zu entschuldigen, daß er einige Tage ausblieb, da fand er den Goldtopf leer. Jetzt wurde ihm klar, daß dies das Werk seiner Frau war und daß sie mit ihm nach Jerusalem gezogen war, nachdem sie Abu Soleiman bestohlen hatte. Wütend und traurig kehrte Abu Katrina zu seiner Frau zurück und sprach zu ihr, sobald er sie sah: „Warum hast du meinen Freund Abu Soleiman bestohlen?" Sie sprach: „Ich kenne ihn nicht, deinen Freund Abu Soleiman. Du hast dich geweigert, mir von ihm zu erzählen. Ich kenne weder seinen Aufenthaltsort noch ihn selbst, wie kann ich ihn da bestohlen haben?" Er rief: „Nein, aber du hast es getan! Ich werde dich bei der Polizei anklagen." Er fuhr fort zu schreien, dann lief er zur Polizei und brachte eine Anklage gegen seine Ehefrau vor, daß sie seinen Freund Abu Soleiman bestohlen habe. Daraufhin wurde die Frau zur Polizei gerufen, und der Polizist fragte sie: „Hast du den Freund deines Mannes, Abu Soleiman, bestohlen?"
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Die Frau sprach: „Ach, mein Herr, mein Mann wird manchmal von Wahnsinnsanfällen heimgesucht, und es scheint, als ob er jetzt einen neuen Anfall durchmacht." Der Polizist sagte: „Antworte mir auf die Frage! Hast du den Freund deines Mannes, Abu Soleiman, bestohlen?" Sie sprach: „Ich kenne keinen Freund meines Mannes mit dem Namen Abu Soleiman." Der Polizist sprach: „Aber er sagt so." Die Frau sprach: „Laß dir diesen Freund beschreiben!" Und der Polizist fragte den Mann: „Wie ist dein Freund? Beschreibe ihn, ist er lang oder kurz, •weiß oder schwarz, dick oder dürr?" Der Mann sagte: „Er ist kein Mensch." D a sprach der Polizist verwundert: „Was ist er denn sonst?" Der Mann sagte: „Er ist eine Eidechse." Der Polizist lachte und sprach: „Ist dein Freund, den deine Frau bestohlen hat, eine Eidechse?" Der Mann sagte: Ja." Der Polizist fragte: „Wann ist das geschehen?" Der Mann sagte: „Vor fünfzehn Tagen." Der Polizist sagte: „Kannst du dich auf etwas besinnen, was sich in jener Nacht zugetragen hat?" Der Mann sprach: „Es regnete Tiermagen, Innereien und Markknochen." D a sagte der Polizist lachend: „Waren sie roh oder gekocht?" 359
Der Mann sprach: „Gekocht, ich habe davon gegessen." Der Polizist sagte: „Gut, gut, geh nun heim, wir werden den Fall untersuchen!" Dann wandte er sich an die Frau und sprach : „Allah möge dii helfen, ihn bald wieder zu sich kommen zu lassen."
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ATIJA
Paßt a u f ! Paßt a u f ! Es geschah, ja viel ist geschehen. In Libyen lebte ein Mann mit Namen Atija . . . Mein N a m e ist Atija. Ich bin ein reicher Kaufmann, dem Allah einen Uberfluß an Wohlstand verlieh und den er mit guten Gaben segnete, die sein Leben mit Freude erfüllten, und dem er alle Schwierigkeiten leicht machte. Ich habe eine gute Frau - möge ihr Allah ein langes Leben bescheren! - , sie überschüttet mich mit Liebenswürdigkeit und sorgt mit liebevoller Hingabe für meine Kinder. Sie verschönert mein Haus durch ihren guten Geschmack, doch leider ist sie töricht und hat mir manchen Verdruß verursacht und mich dazu gebracht, mein Haus zu verlassen und ziellos umherzuziehen, d a ich nicht wußte, was ich tun sollte. Diese traurigen Ereignisse sind eine lange Geschichte, an die ich mit etwas Beschämung zurückdenke. Eines Tages saß ich in meinem Laden und betrachtete die Leute, w i e sie von den Waren kauften, die ihnen meine Gehilfen herbeischafften, und ich dankte meinem Herrn für seinen Segen und beschloß, auf den Dank eine gute Tat folgen zu lassen. Daher bestimmte ich eine Summe meines Vermögens zum Besten der Bedürftigen unter den Bewohnern meiner Stadt. Ich packte gleich einige überschüssige W a r e n zusammen und brachte sie in mein Haus, um sie dort aufzubewahren, bis der Fastenmonat, der gesegnete Monat R a m a d a n , herankam. Diese Spenden für W i t w e n und Waisen sollten ein Ausdruck meines Dankes an A l l a h sein, der mich mit seinen unendlichen Wohltaten umhüllt hatte. Von d a an w a r ich eifrig bemüht, weitere Sachen zusammenzutragen. Dann nahm ich sie mit nach Hause und verlangte von meiner Frau, darauf aufzupassen und sie für R a madan bereitzuhalten. 361
Meine Frau war gehorsam. Alle Sachen, die ich zu ihr heimtrug, verwahrte sie an einem sicheren Ort und wachte darüber, daß sie unversehrt blieben. Als sie jedoch bemerkte, wie die Sachen, die ich ihr brachte, immer mehr zunahmen, bekam sie es allmählich satt. Sie stieß viele Uifs aus und sprach: „Wer sagt, daß eine Frau aushalten soll, alle diese Sachen für Ramadan in ihrem Haus aufzubewahren?" Dann fügte sie hinzu: „Was habe ich mit Ramadan und den Sachen für Ramadan zu schaffen?" Ich war über die Redeweise meiner Gattin verwundert, zumal ich wußte, was man über ihre Frömmigkeit und ihren guten Charakter wissen konnte und welchen Gefallen sie daran fand, den Leuten Gutes zu tun. Aber jedesmal, w^nn ich versuchte, sie von der Abwegigkeit ihrer Rede zu überzeugen, machte sie mir in heftigem Zorn Vorhaltungen und sprach: „Es reicht schon, was wir bei uns haben . . . es reicht, daß wir auf unsere Sachen achtgeben. Es ist schon genug für uns, Mann! Es ist genug, was wir haben 1" Als ich eines Tages von meiner Arbeit zurückkehrte, mußte ich feststellen, daß sämtliche Sachen, die ich zusammengespart hatte, dahin gegangen waren, von wo es keine Rückkehr gibt. Meine Frau rief: ( „Freue dich, Atijal Ramadan 1 kam, und ich habe ihm alles mitgegeben." Ich war wie von Sinnen, als ich die Worte meiner Frau hörte, vor allem als sie sagte: „Ramadan kam . . ." Wer war dieser Ramadan, und wieso hatte ihm meine Frau die Sachen gegeben, ohne mich zu fragen? Meine Frau sagte in größter Einfalt: „Ach, was ist bloß mit dir los, Atija, wie machst du die Sache verwickelt. Ramadan kam, holte die Sachen, und fertig-" Als ich meine Frau bat, mir zu erklären, was geschehen war, antwortete sie unbekümmert: 1
Vom Fastenmonat abgeleiteter Personenname.
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„Ich hörte, wie eine Frau einen Mann mit dem Namen Ramadan rief. D a öffnete ich das Tor und rief den Mann, der Ramadan hieß, herein und ließ einen Schauer von Flüchen' auf ihn herabregnen. Ich sagte zu ihm: .Wenn du Anstand besitzt und dich als ordentlicher Mann benehmen willst, dann nimmst du schleunigst und ohne Zögern deine Sachen mit.' Darauf ließ ich noch folgen: ,Wahrlich, mein Haus ist kein Lagerhaus zum Aufbewahren deiner Lebensmittel, und mein Mann ist kein Diener, der die Sachen wegtransportiert und deinen Befehlen gehorcht.' Doch was meinst du, dieser Mann versuchte sich zu drücken!" Dann fuhr meine Frau in ihrer Erzählung fort: „Hör nur zu, Atija, der Mann versuchte mir aus dem Wege zu gehen und brachte Entschuldigungen vor. Er sagte, daß er nichts von der Sache wisse und dich nicht kenne. Dann kam er mit vielen dummen Ausflüchten, die ich mir nicht anhören konnte, sondern ich befahl ihm kurzerhand, einen Wägen zu bringen und alles wegzuschaffen und dies schleunigst zu tun. Wenn nicht, kündigte ich ihm an, werde ich Krach schlagen und die Nachbarn um Beistand gegen ihn bitten, und so gab der Mann unter meinen Drohungen nach. Er brachte einen Wagen, auf dem er sämtliche Sachen wegschaffte, ohne etwas davon übrigzulassen. Ich hörte, wie er einige Worte stammelte, wobei ich den Spruch ,Allah sorgt für euren Unterhalt aus Quellen, die euch unbekannt sind' heraushörte." Ich schwebte zwischen Lachen und Weinen, als ich meiner Frau antwortete. Ich mußte über das seltsame Mißverständnis, das stattgefunden hatte, lachen, und ich mußte weinen, da mich mein Verlust an Reichtum schmerzte. So sagte ich: „Es ist genug, dul Ich habe die Sachen zusammengespart, damit sie unter Witwen und Waisen verteilt werden, wenn der gesegnete Monat Ramadan kommt, aber ich habe sie nicht dazu gespart, damit sie irgendeinem Vorbeikommenden mit Namen Ramadan übergeben werden." Meine Frau schaute mich mit einem Blick an, als ob sie schwachsinnig wäre, und sprach: „Meinst du wirklich, was du sagst?" Ich sagte: „Freilich, wie sollte ich etwas anderes meinen?"
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Da fing sie an zu jammern: „Was für ein Verlust für unsere mühsame Arbeit . . . was für ein schwerer Schlag für unser Vermögen . . . was für ein Kummer . . . was für ein Unheil!" Sie schluchzte, weinte und wehklagte, schlug sich auf die Wangen und zerriß ihre Kleider. Unsere Kinder machten es ihr nach und begannen einen Höllenlärm, wie ich ihn nie zuvor gehört hatte. Der Jammer erregte mich, und die Sache war mir so zuwider, daß ich sagte: „Bei Allah, du Frau, ich will nichts mehr mit dir und mit deinen Taten zu tun haben. Ich will ziellos umherwandern und nach Abenteuern suchen. Wenn ich unter den Leuten jemanden finde, der genauso töricht ist wie du, werde ich zu dir zurückkehren, wenn nicht, so ist Allahs Erde weit offen für denjenigen, dem es auf seinem eigenen Boden zu eng geworden ist." So sagte ich und verließ mein Haus, ohne daß mich .noch irgendwelche Bande daran fesselten. Bei meinem Umherirren gelangte ich an ein Dorf. Ich lief schnell zwischen den Häusern hindurch, denn ich hoffte noch vor Sonnenuntergang das Dorf durchquert zu haben. Auf einmal wäre ich beinahe mit einer Frau zusammengestoßen. Die Frau schrie mir ins Gesicht: „Wohin gehst du, Mann? Warum hast du es so eilig?" Ich sägte: „In die Hölle!" Sie fra'gte: „Und woher kommst du?" Ich antwortete: „Aus der Hölle!" Sie sprach: „Hast du meinen Vater dort gesehen?" Ich blieb fragend bei der Frau stehen, schaute sie an und sagte: „Fragst du mich nach deinem Vater?" Sie antwortete: „Ja, der Name meines Vaters ist Dunqul und der Name meiner Mutter Raggaba. Ich bitte dich, erzähle mir, wie es ihnen geht. Zanken sie sich, wie sie es zu tun pflegten, oder
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leben sie in Frieden und Eintracht? Haben sie eine Arbeit zu verrichten? Brauchen sie etwas? Sind sie vollständig gesund? Haben sie . . . sind sie . . . ?" Ich verlor die Geduld bei den Fragen und sagte - doch ich weiß nicht, warum ich so sagte daß ihre Mutter bei reichen Leuten diene und ihr Vater als Feger arbeite. Kaum hatte die Frau meine Rede gehört, als sie mich festhielt und mich inständig bat, so liebenswürdig zu sein und etwas Geld und Kleider für ihre Eltern mitzunehmen. Ich hatte kein Verlangen danach, etwas mitzunehmen, denn es erschien mir als Diebstahl, von einer solchen Frau Geld anzunehmen. Als die Frau jedoch mein Zögern wahrnahm, bemühte sie sich, so freundlich wie nur möglich zu mir zu sein, und sagte: „Ich bitte dich, du Wohltäter, schlage es mir nicht ab!" So sprach sie, lief eilig in ihr Haus hinein und kehrte mit Kleidern und mit einem Beutel zurück, in den sie etwas Geld steckte. Dann ließ sie den Beutel in meine Hände fallen 1 und sagte: „Bei deinem Herrn, tue meinen Eltern, kein Leid an, indem du dich weigerst, das mitzunehmen. Ich bitte dich, richte ihnen ^meine Grüße aus und sage ihnen, daß ich dich gern zu dem Ort begleiten würde, an dem sie wohnen, wenn ich nicht Angst vor dem Anblick des Feuers hätte." Ich dankte meinem Herrn tausendmal, daß sich diese Frau vor dem Anblick des Feuers fürchtete, denn sonst hätte sie sich an mich geklammert und mich gebeten, sie zu ihren Eltern zu b r i n g e n . . . während ich ziellos umherstreifte, um den Toren zu entfliehen! Ich trug notgedrungen den Beutel mit dem Geld und die Kleider, die mir die Frau übergeben hatte, und lief aus dem Dorf hinaus, ohne mich nach jemandem umzuwenden, denn ich fürchtete, einem anderen Toren zu begegnen, der mich in eine schwierige Lage brächte, aus der ich nicht herauskommen könnte. Erst als ich das Dorf durchquert hatte und draußen angelangt war, atmete ich beglückt auf und setzte mich in den 1
Sie warf den Beutel vor ihn hin, eine Geste, die zur Ausführung des Begehrens zwingt.
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Schatten eines Baumes, um auszuruhen und über mein Erlebnis nachzudenken. Nach einigen Augenblicken sah ich plötzlich, wie ein Reiter auf mich zukam und mir mit der Hand winkte, als ob er etwas von mir wünsche. Ich griff eilig nach dem Beutel und versteckte ihn sicherheitshalber und wartete, bis der Mann vor mir stand. E r stürzte auf mich zu und sagte: „Hast du einen Mann gesehen, der einen Beutel mit Geld und einige Kleider bei sich trug?" Ich war nahe daran, ihm zu gestehen: „Ja, ich bin dieser Mann, und ich habe es satt, mich mit diesem Beutel und diesen Kleidern abzumühen, und bin bereit, dir beides zu übergeben." Doch der Mann ließ mir keinen Augenblick Zeit, um die Sache zu erklären, sondern überhäufte mich mit Worten und sagte: „Meine Frau hat einen Beutel von meinem Geld einem Mann mitgegeben, der vorgibt, zu den Bewohnern der Hölle zu gehören. Ich will nach diesem Mann suchen und ihn die verschiedensten Sorten der Züchtigung schmecken lassen, ja, ich will diesen Mann zum Gespött der Leute machen, und ich werde dies mit ihm tun . . . und jenes werde ich t u n . . . ! " Angesichts der Drohungen des Mannes gab ich es auf, etwas über die Angelegenheit mit dem Beutel und den Kleidern zu gestehen, und bemühte mich, sie zu vertuschen, indem ich sagte: „Ich sah, wie ein Mann zu diesem Abhang lief, der zum Bett des Wadi hinunterführt, und versuchte nach der anderen Seite hinüberzuwaten." D e r Mann dankte mir und bat mich, sein Pferd bis zu seiner Wiederkehr festzuhalten. Dann nahm er die Oberkleidung, zog sie aus und steckte sie in die Satteltasche des Pferdes. Ich sagte: „Höre, mein Bruder, vertraue mir nicht dein Pferd an, denn du kannst dich mit der Rückkehr von der Verfolgung des Mannes verspäten und zwingst mich dann, auf dich zu warten. Ich möchte jedoch nicht lange an diesem öden, menschenleeren Ort bleiben." D e r Mann antwortete:
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„Sei still und warte ein wenig auf mich! Ich werde in weniger als einer halben Stunde zu dir zurückkehren." Er sprach diese Worte und stürmte dem Abhang zu. Inzwischen beobachtete ich, wie der Mann zum Wadi hinunterrannte, durch das Wasser watete, das sich darin befand, und zur anderen Seite hinüberging. Es verstrich eine Stunde nach der anderen, und ich wartete. Der Horizont verschönte sich mit den leuchtenden Farben des Sonnenuntergangs, und die Sonne ging eilends hinter den Feldern unter. Dann kam die Nacht, und alles war in Schweigen gehüllt. Ich blieb allein und wartete und wartete. Aber war es weise, weiter zu warten? War es weise, allein zu bleiben, ohne Waffen, mit denen man sich verteidigen konnte, und ohne Freund, der die Furcht zerstreute? v Schließlich raffte ich mich auf, den Ort zu verlassen, aber was sollte ich mit dem Pferd beginnen? Sollte ich es an einem solchen abgeschiedenen Ort lassen und der rohen Gewalt der grausamen, wilden Tiere preisgeben, oder sollte ich es eine leichte Beute für die Diebe der Nacht werden lassen? Das durfte ich nicht, jedoch was sollte ich dann tun? Da stieg ich auf das Pferd und sprach: „Nimm das Pferd, Atija, und behüte es vor Schaden, vielleicht triffst du eines Tages seinen Besitzer und kannst es ihm zurückgeben." So zog ich meines Weges und trug den Beutel mit den Dirham und die Kleider bei mir, sowohl die Kleider jener Frau als auch die Kleider, die der Mann in die Satteltasche gesteckt hatte. So zog ich dahin, schwerbeladen mit dem Reichtum von anderen, und reiste auf ihrem Pferd . . . ich, der Mann, der nie seine Hand nach dem Besitz eines anderen ausgestreckt hätte und der in seinem ganzen Leben nie einem Menschen Schaden zugefügt hatte. Ich begann über all dies nachzudenken. Meine Lippen öffneten sich zu einem breiten Lächeln, als ich mir vorstellte, was geschehen werde, wenn der Mann von der Verfolgung des Diebes, der den Beutel mitgepommen hatte, zurückkehrt und seiner Frau gegenübertritt. Dann wird er sicher zu seiner Frau sagen: „Freue dich, meine Teure! Ich habe den Mann getroffen, der die Sachen für deine Eltern mitgenommen hat, und als i
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ich von ihm erfuhr, daß sie mehr Kleider gebrauchen könnten und ein Pferd von guter Rasse, das ihnen bei der Verrichtung ihrer Arbeit hilft, gab ich ihnen, was ich bei mir hatte, nach deinem Belieben, das mir so teuer ist." Ich lächelte über diese Gedanken, die mir gerade in den Sinn kamen, und sagte bei mir: O Allah, halte mich fern von weiteren Toren! Mir genügt, was ich gesehen habe! Danach folgte-jedoch ein Ereignis auf das andere in seltsamer Weise. Ich kam in eine übervölkerte Stadt und ging zum Basar, um mir anzusehen, was dort ausgestellt war. Als ich gerade damit beschäftigt war, wurde meine Aufmerksamkeit auf eine Gruppe von Leuten gelenkt, die auf einem der offenen Plätze des Basars standen. Ich lief mit denen, die zu dieser Stelle gingen, und bahnte meinen Weg durch die Ansammlung, bis ich in die Mitte des Platzes gelangte. Ich lauschte gespannt. Plötzlich sagte eine barsche Stimme: „Haut ihm die Hand ab, haut sie ab und fürchtet euch nicht! Solch ein gefräßiger kleiner Junge wie dieser braucht nicht zu leben!" Darauf sagten andere: „Haram! Das dürft ihr nicht tun! Schlagt den Krug in Stücke und holt die Hand des Kindes heraus, schlagt den Krug in Stücke! Mit Geld und nicht mit Kindern!" Dann machte der Mann, dem die barsche Stimme gehörte, den Leuten, die sich inzwischen angesammelt hatten, Vorwürfe und sagte: „Niemand von euch soll sich wagen, meinen1 Krug in Stücke zu schlagen. Er ist mQin Reichtum, er ist ein altes Erbstück von meinen Vorvätern, und ich liebe ihn mehr als alles andere, was ich besitze. Haut dem kleinen Jungen die Hand ab! Es ist seine Schuld, daß er seine Hand in meinen Krug gesteckt hat. Haut die Hand des kleinen Jungen ab und tut meinem Krug nichts zuleide, sonst werde ich vom selben Augenblick an euer Feind sein." Ich sah dem kleinen Jungen zu, wie er versuchte, seine Hand aus dem Hals des großen Kruges zu ziehen, aber er vermochte es nicht. Ich sah, wie er weinte und wie ihn seine Mutter beruhigte, während einige seiner Brüder über das Unglück jammerten, das ihm zugestoßen war.
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„Haut sie ab, haut seine Hand a b ! " schrien die einen. „Haram . . . Haram, hütet euch, so etwas zu tun!" riefen die anderen. „Mit Geld und nicht mit Kindern!" jammerten die Frauen. „Mit Kindern und nicht mit G e l d ! " schrie der Eigentümer des Kruges. Nunmehr begriff ich, daß ich bei einem Volk war, unter dem es viele Toren gab. Dann ging ich auf den kleinen Jungen zu, redete begütigend auf ihn ein und fragte: „Hast du in deiner Hand etwas, was gut schmeckt, mein Sohn?" Das Kind sagte: „Ja, ich habe eine Handvoll Walnüsse." Ich sagte: „Magst du Walnüsse gern?" „Ich habe sie sehr gern", kam die Antwort. Ich fragte: „Willst du, daß ich dir so viele davon gebe, daß du deine Taschen vollstopfen kannst und noch mehr mit nach Hause nimmst und dort i ß t ? " D e r kleine Junge nickte mit dem Kopf, daß er mit dem Angebot einverstanden war. Darauf sagte ich zu ihm: „Dann laß fallen, was du in deiner Hand hast, und komm mit mir, damit ich dir gebe, was ich dir versprochen habe." Das Kind sagte: „Ich glaube dir nicht. Wenn ich das, was ich in meiner Hand habe, fallen lasse, wirst du mir nichts anderes geben. Nein, ich werde die Walnüsse nicht aus meiner Hand lassen, sondern meine Hand zusammen mit den Nüssen herausziehen." So sprach er und begann zu ziehen und versuchte die Hand, die die Nüsse umklammert hielt, herauszubekommen. Unterdessen holte ich meinen Geldbeutel heraus und zeigte dem kleinen Jungen, was ich an Silber darin hatte, und sagte: „Bewahre das, bis ich mein Versprechen eingelöst habe!" Das Kind schenkte mir Vertrauen, ließ die Walnüsse aus seiner Hand fallen und .zog darauf die Hand mit Leichtigkeit heraus, um meinen Geldbeutel zu nehmen. Danach sagte es: „Bringe nun, was du mir versprochen hast!" 24
Atabische Volksmärchen
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Kaum hatte der kleine Junge seine Hand aus dem Krug herausgezogen, als sich ein Jubel erhob und die Leute den Platz mit Freudenrufen erfüllten, während die Mutter ihr Kind an ihre Brust zog und küßte. Der Vater dagegen überschüttete mich mit Dankesworten und begleitete mich und seinen Sohn zu einem Laden und bezahlte an meiner Stelle die Walnüsse, mit denen der Verkäufer die Taschen seines Sohnes vollstopfte. Während wir gerade damit beschäftigt w a ren, erschien der Besitzer des Kruges, küßte meine Hand, ergriff sie und schüttelte sie vor Bewunderung über das Werk, das ich vollbracht hatte, und aus Dankbarkeit darüber, daß sein Krug erhalten blieb. Er sprach: „Hab Dank, Bruder, du hast uns einen Beweis vom Umfang deiner Kenntnis und vom Überfluß deines Scharfsinns gegeben. Du hast die schwierige Frage auf die beste Weise gelöst und sowohl ,die Kinder' als auch ,das Geld' erhalten. Dafür hast du verdient, als einer der Unsrigen unter uns zu wohnen." Ich dankte dem Mann für seine Liebenswürdigkeit und setzte schnell meinen Weg fort und strengte mich bis zum äußersten an, so geschwind wie nur möglich von diesem Ort wegzukommen. Warum sollte ich das auch nicht tun, da ich doch ziellos umherirrte, um dem Verdruß über die Toren zu entfliehen. Ich war noch nicht weit gegangen, als ich etwas Seltsames gewahrte. Ich sah, wie Leute um eine Wasserlache herumsaßen und ihre Beine vor sich ausgestreckt hatten. Jeder von ihnen zeigte auf die Beine des anderen und sagte: „Vielleicht sind dies meine Beine, vielleicht jene . . . oder diese da . . . oder vielleicht jene d o r t . . . " Ich blieb stehen, betrachtete das Schauspiel und lachte über das, was ich sah. Die Leute hörten mich und riefen: „Was fällt dir ein, über uns zu lachen? Es stünde dir besser an, über unseren Zustand zu weinen! Unsere Beine haben sich vermengt, und keiner von uns findet seine Beine unter den Beinen der anderen heraus. Sieh uns an! . . . Unsere Schuhe ähneln einander, und unsere Beine ähneln einander. Hätten wir die Zukunft vorausberechnen können, würden wir uns nicht um diese Wasserlache gesetzt haben, und so
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etwas wie das Vertauschen der Beine hätte nicht stattgefunden." Ich sagte - und gab vor, ernst zu sein: „Tatsächlich, eure Lage ist schwierig. Es wäre besser für euch gewesen, wenn ihr vorher an die Möglichkeit gedacht hättet, d a ß sich die Beine vermengen könnten." Meine Rede fiel wie ein Donnerkeil auf diese Einfaltspinsel herab. Ihre Augen füllten sich mit Tränen, und ihre Gesichter wurden düster. D e r bittere Schmerz zerschmolz ihnen nahezu die Seele. D a bettelte einer der Anwesenden: „ O du, hilf unsl Wir werden dir d a f ü r geben, was du wünschst." Ich ergriff meinen Stock, trat auf einen der Männer zu und schlug ihn auf ein Bein. D a sprang er auf und stand wie vom Schreck geschlagen auf seinen beiden Füßen. Ich sagte zu ihm: „Schau auf deine Beine, hüte sie und nimm dich in acht, ihnen jemals wieder zu erlauben verlorenzugehen, und ich rate dir, diesen Ort zu verlassen und der Sicherheit deiner Beine wegen sofort nach Hause zu gehen." Danach wandte ich mich dem nächsten zu und verabreichte ihm einen Schlag mit meinem Stockende, so wie ich es mit dem ersten getan hatte. E r sprang auf seine Füße und betrachtete sie mit Freuden. Darauf sagte er: „Tatsächlich, niemand außer dem Eigentümer kennt seine Beine." Ich wiederholte das Verfahren bei allen Anwesenden, bis ich bei dem letzten anlangte, der auf seine Beine kam, ehe ich ihn mit meinem Stock schlug. E r sprach zu mir: „ H a b Dank, mein Bruder, daß du mich errettet hast, indem du die zudringlichen Beine der anderen von meinen Beinen entfernt hast. In Anerkennung deiner guten Tat möchte ich mich im Unterschied zu meinen Brüdern dankbar zeigen und dich in mein Haus einladen und dir meine Gastfreundschaft erweisen. Außerdem biete ich dir, was du dir wünschst, von dem, was ich habe." Ich antwortete: „ H a b D a n k für deine Liebenswürdigkeit. Es war mir der schönste Lohn, als ich sah, wie ihr einer nach dem anderen 24*
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aufgestanden seid und wie jeder seine Beine wiedergefunden hat, auf ihnen stand und dann frohgemut nach Hause gehen konnte. Das war der beste Lohn in meinem ganzen Leben." Mit diesen Worten wandte ich mich ab, um besonders diesen Ort zu meiden, da ich gestraft war, ziellos umherzuirren, auf der Flucht vor dem Verdruß über die Toren. Als ich nach einem Nachtquartier suchte, drang der Klang von Trommelschlag an mein Ohr. Ich ging in die Richtung, aus der der Lärm kam, und erblickte plötzlich das Hochzeitsgeleit einer Braut. Der Festzug bewegte sich vorwärts, und ich freute mich mit den Leuten. Warum sollte ich das nicht tun, denn die Melodien der Hochzeitslieder füllt|_die Leere, und der Sinn der Worte erhöhte noch die Freude daran und vertrieb einem Trauer und Schmerzen. Wie gesagt, der Festzug mit der Braut, den Musikanten, den Sängern, den Familienangehörigen und den Freunden schritt dahin. Sie zogen weiter, bis sie einen Torbogen erreichten. Dort ließ die Braut ihre Kamelin anhalten und weigerte sich, den Kopf einzuziehen, um unter diesem Torbogen hindurchzureiten. Sie sagte zu den Angehörigen, die um sie herumstanden: „Was für eine Demütigung, mein Volk! Wollt ihr, daß eure Braut ihren Kopf beugt? Wo ist euer Eifer, meine Sippschaft, wo ist euer Stolz?" Die Familie der Braut sagte: „Bei der Ehre unserer Väter, wahrlich, unsere Braut ist im Recht, nicht ihren Kopf zu beugen, denn das Beugen des Hauptes ist ein Zeichen der Unterwürfigkeit. Unsere Braut jedoch wird nicht gedemütigt und herabgewürdigt zu ihrem Ehemann ziehen." Der Streit nahm zu, und das Wortgemenge zwischen den beiden Parteien wurde immer heftiger. Die Angehörigen des Bräutigams riefen: „Was tut es der Braut für Schaden, wenn sie den Kopf beugt?" Darauf kreischten die Angehörigen der Braut: „Nein, das darf sie nicht tun!" Unterdessen rieten einige Anwesende, den Torbogen niederzureißen und so die Ursache der Meinungsverschiedenheiten aus dem Wege zu räumen. 372
D a überraschte ich mich dabei, wie ich auf die Leute zuging, um sie anzusprechen, denn ich war entsetzt zu sehen, wie sie sich über eine so bedeutungslose Sache stritten. Ich sagte: „Wer von euch trägt die Verantwortung für die Braut?" Ein ehrwürdiger Greis trat hervor und antwortete: „Ich." Ich sagte: „Haltet ihr ein Hochzeitsgeleit der Braut auf dem Rücken eines Kamels ab, wo es euch doch möglich ist, daß ihr sie das Geleit auf dem Rücken eines Pferdes abhalten laßt, das von der edelsten Rasse ist, die es in den Ländern der Araber gibt?" Der Mann fragte: „Wo sollen wir ein solches arabisches Rassepferd herbekommen?" Ich sagte: „Das ist mein Pferd; ich leihe es euch aus, zumal ich erfahren habe, aus welch edlem Geschlecht und aus was für einer guten Familie eure Braut stammt." Der Greis freute sich über meine Rede, wandte sich seinem Volk zu und sprach: „Laßt die Kamelin niederknien und die Braut auf den Rücken dieses Pferdes steigen 1" Das taten sie, und der Festzug setzte sich wieder in Bewegung, und ich ging am Ende und beobachtete, wie die Braut stolz und geziert dasaß und erhobenen Hauptes und selbstgefällig unter dem Torbogen hindurchritt. Als der Festzug seinen Weg beendet hatte, erhielt ich mein Pferd zurück und beschloß meine Reise fortzusetzen. Dies war jedoch unmöglich, ohne daß sich erst die jungen Männer der Familie um mich drängten, mich auf ihren Schultern trugen und um mich her frohe Lieder anstimmten. Die übrigen Anwesenden bestanden darauf, daß ich an einem nächtlichen Zusammensein mit ihnen im Hause eines der Ihren teilnehmen sollte. Ich versuchte mich loszureißen, doch ich hatte keinen Erfolg und war gezwungen, bis zum Morgen bei ihnen zu sitzen, dem Singen, dem Spiel der Rohrflöten und dem vielen Gerede der Dummköpfe zuzuhören.
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D a s hatte ich zu tun . . . ich, der ziellos umherwanderte, um dem Verdruß mit den erbärmlichen Einfaltspinseln aus dem Wege zu gehen. Als ich gerade daran dachte, d a ß es nun notwendig sei, wieder in mein Eähd zurückzukehren, erblickte ich einen Mann, der angerannt kam. D e r Mann grüßte mich und gab mir ein Zeichen, das ich so verstand: Folge dem Mann, Atija, vielleicht rennt er, um ein Feuer zu löschen oder um einem Ertrinkenden das Leben- zu retten! Vielleicht flieht er vor einem wilden Tier oder bringt sich vor Wegelagerern in Sicherheit. 1 Ich rannte eine lange Strecke hinter dem Mann her. D a nach schlössen sich uns noch drei Männer an. Ich dachte mir: Vielleicht haben sie einen Grund, sich anzuschließen. D a r u m renne weiter, Atija, vielleicht entrinnst du auf diese Weise der Gefahr oder unterstützt eine preiswürdige Hilfeleistung! Ich rannte und rannte. Meine Beine wurden schwach, der Schweiß lief mir von der Stirne, und ich begann vor allzu großer Anstrengung zu keuchen. Dennoch rannte ich weiter und rannte und rannte. Bei einer Wegbiegung sah ich, d a ß sich uns noch vier Männer angeschlossen hatten. Ich dachte: Vielleicht wissen sie, d a ß es gefährlich ist, wenn sie nicht am Rennen teilnehmen. Deshalb rannte ich mit ihnen und hörte nicht auf, sonst hätte ich mich vielleicht einer Gefahr ausgesetzt. So beteiligte ich mich weiter an dem gemeinsamen Rennen. Ich rannte und spürte die Ermattung in allen Muskeln meines Körpers, aber ich rannte und blieb nicht stehen. Wir kamen an Läden von Kaufleuten vorbei, deren Besitzer ihre Türen schlössen und uns folgten. Wir rannten weiter bis hinaus auf die weiten Felder. D o r t ließen die Fellachen ihre Pflugscharen stehen und schlössen sich uns an. So wuchs unsere Zahl immer mehr an, ohne d a ß wir es merkten. Dieser schloß sich uns an, jener folgte uns aus einiger Entfernung, und wir rannten und rannten und rannten. Endlich packte ich einen, der in meiner N ä h e lief, und fragte: „Warum rennst d u ? " E r sagte:
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„Ich weiß es nicht." Ich hielt einen zweiten fest und stellte ihm dieselbe Frage. E r sagte: „Sie rennen, deshalb renne ich." Ich rannte mit aller Kraft, bis ich den ersten Läufer erreichte, und fragte ihn: „Warum rennst du?" Er^ sagte: „Ich trainiere meine Muskeln." Ich entgegnete: „Aber ich habe keinen Bedarf, meine Muskeln zu trainieren!" Er sagte: „Warum bist du mir dann gefolgt?" Ja, warum war ich dem Mann gefolgt? Und warum folgten ihm die übrigen? Er war gerannt, und wir waren hinterhergerannt. Wenn wir keine Toren gewesen wären, hätten wir so etwas nicht getan. So kehrte ich auf demselben Weg, den ich gekommen war, wieder nach Hause zurück. Meine Kinder empfingen mich mit Jubelgeschrei, und meine Frau stieß den Freudentriller aus und berichtete: „Ich habe mich entschlossen, die überschüssigen Waren, die wir im Hause entbehren können, zu sammeln, und habe sie aufbewahrt, damit sie im Monat Ramadan, der sich bald mit seinem Segen nähert, an Witwen und Waisen verteilt werden." Ich sagte zu ihr: „O meine Teure, ich bin durchaus bereit, dir zu helfen." Dann fügte ich hinzu - und meinte jedes Wort, das ich sagte: „Meine Liebste, ich möchte dir versichern, daß dein Ehemann, Atija, in keiner Weise minderwertiger ist als du, selbst wenn es gilt, Torheiten zu vollführen." So sprach ich und erzählte ihr, wie ich an einem sinnlosen Wettlauf teilgenommen hatte. Meine Frau brach in schallendes Gelächter aus, dann sagte sie: „Ach, wie konnte dir so etwas geschehen, dir, der ziellos umherstreifte, um dem Verdruß über die Toren zu entfliehen." 375
51 VON DEN SIEBEN GESCHIEDENEN FRAUEN
Es geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. Wie ihr wißt, hatte Mosul eine Mauer, die um die ganze Stadt herumging, und in dieser Mauer befanden sich Tore, die am Abend verschlossen und am Morgen wieder geöffnet wurden. An jedem Tor war ein Posten mit Wächtern, die das Tor hüteten. Sie beaufsichtigten den Eingang und den Ausgang, und sie waren es, die die Tore öffneten und schlössen. Damit führten sie aus, was der Pascha befohlen hatte. An dem Tage, da sich unsere Geschichte zutrug, erschien eine von den Frauen der Stadt, als es noch Nacht war. Sie hatte ein Bündel auf ihrem Kopf, denn sie wollte ihre Kleider am Flußufer waschen. Als sie am Bab asch-Schatt anlangte, sah sie, daß das Tor noch verschlossen war, denn sie war vor dem Zeitpunkt angekommen, an dem es geöffnet wurde. Da breitete sie ein Tuch auf den Erdboden aus, setzte sich nieder, legte ihr Bündel neben sich und wartete darauf, daß ihr die Gnadenpforte 1 geöffnet werde. Als sie so wartete, erschien eine zweite Frau, setzte sich nieder und wartete genauso wie sie. Danach kamen eine dritte und eine^ierte, bis die Zahl der Frauen, die sich nahe beieinander versammelt hatten, ganze sieben betrug. Doch ihr müßt wissen, daß die Weiber die Soldaten des Teufels sind und nicht eine einzige Minute stillschweigen können. Binnen kurzem begann das Geschwätz, mit dem sie ihre Wartezeit zu verkürzen suchten, und da sie einen natürlichen Hang zur Neugier hatten, fragte eine von ihnen eine andere: „Weh dir, Unselige, hast du keine Angst, daß dir die Zeit enteilt und du zu spät nach Hause kommst und dein Mann 1
Anspielung auf die Pforte des Paradieses.
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in Zorn gerät, weil du ihm nicht das Frühstück bringst, oder daß er sich vom Schlaf erhebt und etwas braucht und du nicht da bist?" Da antwortete die Angeredete: „Asche komme auf dein Haupt! Pah, woher soll ich einen Mann haben? Mein Ehemann hat mir die Scheidung erklärt und mich weggejagt." Die zweite schrie erstaunt: „O weh, Unheil ist uns widerfahren! Uns ist übel mitgespielt worden, ich bin auch auf schnöde Weise geschieden." Die sieben Frauen entdeckten schnell, daß sie alle geschieden waren und sich durch Zufall hier versammelt hatten. D a es noch nicht an der Zeit war, daß das Tor geöffnet wurde, begann jede den anderen ihren Kummer zu klagen und das Geheimnis des Scheidungsgrundes zu lüften. Dabei wälzten sie alle Schuld auf die Männer und bedachten auch den Torhüter mit einer Ladung von Flüchen und- Verwünschungen. Die erste sprach: „Bei Allah, mein Mann hat mir unrecht getan. Soll er unglücklich werden, soll sich Allah von ihm abwenden und ihn zum Krüppel machen! Er fastete und betete und hielt streng die fünf Gebete ein, und aus diesem Grunde hat er mir die Scheidung erklärt. An Wintertagen pflegte ich vor Anbruch der Morgendämmerung von meinem Lager aufzustehen und ihm das Wasser warm zu machen, damit er seine rituelle Waschung vornehmen konnte, und damit habe ich ihn verwöhnt und mich für ihn aufgeopfert. An einem unseligen Morgen erhob ich mich aus meinem Schlaf, um ihm das Wasser zu wärmen, aber ich fand kein Stück Brennholz. Ich hielt nach rechts und links Ausschau, fand aber nichts weiter, das zur Feuerung dienen konnte, als den unteren Rand seines Überwurfs. Ich schnitt ihn ab, steckte ihn unter den Topf und wärmte so das Wasser. Darauf ging ich zu meinem Mann und weckte ihn zum Gebet. Der Tag war gerade ein Freitag, und als die Zeit zum- Mittagsgebet herankam, gedachte er zur Moschee zu gehen und bat mich, ihm seine Sachen zu bringen. Ich brachte ihm das 377
Obergewand und den Turban und hatte Angst, daß er mich um den Mantel bitten würde. Da schrie er mich an: ,He du, wo ist der Überwurf?' Ich wurde verlegen, zögerte und wußte nicht, was ich tun sollte. Als er mich zum zweiten Male anschrie, blieb mir nichts weiter übrig, als ihm zu erzählen, was ich getan hatte. Da wurde er rasend vor Zorn, schwor die Scheidung und jagte mich aus seinem Haus. Das ist der Lohn für meine Gefälligkeit." Die anderen Frauen drückten ihr in jeder Weise ihr Bedauern über dieses Mißgeschick aus und kreischten aus tiefstem Herzen: „Vertrau dem Sieb das Wasser an, Aber traue nicht dem Mann! Mögen sie ihm den Kopf abhauen Und den Kopf des Torhüters ebenfalls!" Nachdem sie ihr alle ihr Mitgefühl gezeigt, geseufzt, gejammert und geweint hatten, trösteten sie die Arme wegen der schlechten Behandlung und ihrer erbärmlichen Lage. Dann erhob die zweite ihre Stimme, um ihre Geschichte zu erzählen. Die Tränen strömten ihr aus den Augen, als sie sagte: „Eines Tages war in Mosul ausgelassenes Hammelfett teuer geworden. Es verursachte meinem Mann - mag Allah ihn schützen - große Ausgaben, da er die Speisen gern mit Hammelfett zubereitet haben wollte. Daher sagte ich zu ihm: ,Laß uns Geld sparen I Wir können uns einen Fettschwanz von einem Schafbock besorgen und ihn ausbraten und davon Fett erhalten. Das ist sparsamer und billiger.' Er ging zum Basar und kaufte einen ausgezeichneten Fettschwanz von einem Schafbock. Als ich ihn mit der Hand befühlte, merkte ich, daß er weich und schön wie Straußenfedern war. Da sprach ich bei mir: Ich werde davon Fett auslassen, und außerdem werde ich davon ein Kissen für meinen Mann machen, damit ich in seinen Augen noch besser werde. Da mein Mann tagelang keinen ruhigen Schlaf finden konnte, weil sein Kissen zu hart war, stopfte ich es mit dem Fettschwanz und nähte es zu, und er schlief darauf ruhig.
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Nach einigen Tagen sah ich, als er schlief, wie eine M a d e aus dem Kissen herauskam und auf das Gesicht meines Mannes 2ukroch, da sprach ich bei mir: Pfui, was für. eine schlimme Sache! E r ist der Vater der Kinder. E r hat endlich Ruhe gefunden. Soll er nun aufstehen und die M a d e aus dem Wege räumen? Dann wird ein Unheil geschehen. V o r Angst wußte ich nicht, was ich tun sollte, und in dieser Verfassung ergriff ich seinen Schuh, schlug damit auf die M a d e und tötete sie. N u n konnte sie keinen Schaden mehr anrichten. A l s mein Mann aufstand, fand er die tote M a d e auf dem Kissen und fragte mich danach, und ich erzählte ihm die G e schichte. D a wurde er entsetzlich wütend und schwor, daß ich sein Haus nie wieder betreten sollte. Und so erklärte mir dieser Mann die Scheidung, dem ich nichts anderes als einen angenehmen Schlaf gewünscht hatte und dem ich ein Kissen zurechtmachte, auf dem es sich angenehm schlafen ließ, und dem ich die M a d e totschlug. D a s ist der Lohn für solche Wohltaten! D a s ist die Treue der Männer!" D a drückten sie ihr alle ihr Bedauern über dieses Mißgeschick aus und schrien einstimmig: „Vertrau dem Sieb das Wasser an, A b e r traue nicht dem Mann! Mögen sie ihm den K o p f abhauen Und den Kopf des Torhüters ebenfalls!" Nachdem sie ihren Zorn besänftigt und ihr Worte des Trostes gesagt hatten, hielt sie ihre Tränen zurück und setzte sich nieder. Dann hob die dritte an, seufzte und sagte mit tränenerstickter Stimme: „Was ich erfahren habe, ist keiner von meinen Leidensgenossinnen geschehen, es ist noch nie dagewesen. Eines Tages kaufte mein Mann zwei Ratl Rosinen und sagte zu mir: .Presse sie zu E s s i g ! ' Ich wußte nicht, wie man Rosinen preßt, und ging zu meiner Nachbarin und befragte sie darüber. Sie sagte zu mir: 379
,Lege sie in ein Tongefäß, wie etwa einen großen Krug zum Aufbewahren von Fett, und fülle Wasser hinein. Dann stelle das Ganze in die Sonne, und nach einigen Tagen wirst du Essig haben.' Ich wollte es so machen, aber weil ich kein Tongefäß im Haus hatte, bekam ich Angst, daß mich mein Mann schlagen würde, wenn ich seinen Auftrag nicht ausführte. Daher aß ich alle Rosinen auf, trank danach einen Krug Wasser und setzte mich auf das Dach des Hauses in die Sonne. Auf meinen Kopf legte ich einen alten Lappen und auf den Lappen einen Stein. So setzte ich mich hin und wartete, daß die Rosinen zu Essig werden sollten.' Ich harrte geduldig in diesem Zustand aus, um die Bitte meines Mannes zu erfüllen. Die Sonne brannte mir auf dem Kopf und machte meine Augen nahezu blind. Stundenlang fuhr ich damit fort, bis mein Mann kam und nach mir rief. Ich konnte ihm nicht antworten, aus Furcht, daß mir der Stein vom Kopfe fallen und der Essig verderben könnte. Mein Mann rief so lange nach mir, bis seine Stimme heiser wurde. Danach stieg er aufs Dach und erblickte mich in diesem Zustand. Er glaubte, ich sei irre geworden. Da erklärte ich ihm, warum ich dasaß, und sagte, daß ich nicht aufstehen könne, um seine Wünsche zu erfüllen. Er wurde wütend, aber ich weiß nicht weshalb. Er beschimpfte mich wie einen Übeltäter und sagte: .Erbärmliche, die ihr Gesicht besudelt hat, habe ich dir gesagt, daß du die Rosinen essen und Wasser trinken sollst? Wie kann mir Allah in dir ein solches Unheil senden und mich so schlagen?' Darauf sprach er mir für meine Gefälligkeit die dreifache Scheidung aus." Die anderen Frauen waren betrübt und traurig über die Ärmste und vergossen reichlich Tränen über ihr Mißgeschick und die Art, wie ihr Mann ihre Treue und Hingebung belohnte. Dann riefen sie einstimmig: „Vertrau dem Sieb das Wasser an, Aber traue nicht dem Mann! Mögen sie ihm den Kopf abhauen Und den Kopf des Torhüters ebenfalls!" 380
Dann kam die vierte Frau und begann ihre Geschichte zu erzählen. „Ich war - möge Allah euch vor ähnlichem bewahren die Frau eines Kaufmanns. Als die Zeit dahinging und Allah mich nicht mit einem Sohn segnete, wuchs meine Angst, daß mir mein Mann eine Nebenfrau auf den Kopf schicken oder daß er mich vor die Türe setzen werde. Ich klagte daher meiner Nachbarin meinen Kummer. Sie sprach: ,Geh und besuche den Scheich Abdalqadir al-Gilani in Bagdad. E r wird dir auf deine Bitte hin einen Sohn geben.' Ich war verwundert und fragte sie: ,Wie soll ich nach Bagdad gehen, wenn ich den Weg nicht weiß?' D a sagte sie zu mir: ,Fahre mit einem Kelek, dann wirst du dich nicht verirren, bis du nach Bagdad kommst.' Ich stand auf und ging in unser Haus. D e r Hinterhof war groß - Allah sei es gedankt. D a verstopfte ich den Abfluß und machte mich daran, Wasser mit einem Eimer aus dem Brunnen zu holen und es auf den Hof zu schütten, bis es auf eine Höhe von einigen Handbreit angestiegen war. Dann holte ich einen großen Backtrog aus Holz, stellte ihn ins Wasser und setzte mich hinein und schwamm damit auf dem Wasser und rief: ,Ich bitte dich flehentlich, o Scheich Abdalqadir, ich bitte dich flehentlich, o Scheich Abdalqadir, gib mir einen Sohn, der mein Augapfel sein soll!' Als mein Mann hereinkam und mich in diesem Zustand sah und erfuhr, was ich mit der Überschwemmung bezweckte, schlug er mich vor Wut und sprach: ,Tochter des Verfluchten, willst du mein Haus zugrunde richten?' Vergebens versuchte ich ihn davon zu überzeugen, daß ich dabei war, nach Bagdad zu gehen, um für ihn am Grabe des Scheichs Abdalqadir einen Sohn zu erbitten. E r erklärte die Scheidung und schickte mich aus seinem Haus. Allah möge ihm das Haus nicht lassen! Inschallah, möge ihn dieser Fluch treffen 1"
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So sprach diese Frau und wischte sich dia Tränen ab. Die anderen vermochten nichts weiter zu tun, als schweren Herzens zu rufen: „Vertrau dem Sieb das Wasser an, Aber traue nicht dem Mann! Mögen sie ihm den Kopf abhauen Und den Kopf des Torhüters ebenfalls!" Nun kam die Reihe an die fünfte. Sie sah so niedergeschlagen aus, als ob die Traurigkeit ihres Herzens größer als bei ihnen allen sei, und die Frauen dachten deshalb, daß ihr Mißgeschick schwerer als ihr eigenes wäre. Da forderten sie sie auf, und nach kurzem Sträuben fing sie an, ihre Geschichte folgendermaßen zu erzählen: „Mein Mann war ein Seifen- und Hennahändler. Er lebte enthaltsam und diente Allah. Die Leute liebten ihn wegen seiner Rechtschaffenheit. Er wollte - nachdem er mich geheiratet hatte - die zweite Hälfte seiner religiösen Verpflichtungen erfüllen und zog fort, um dem Gebot der Wallfahrt nach Mekka nachzukommen. Seine Rückkehr verspätete sich, und ich erwartete ihn mit größter Ungeduld, bis ich nahe daran war, die Hoffnung aufzugeben. Da trafen Nachrichten über seine baldige Ankunft ein, und ich überlegte, wie ich ihn empfangen sollte, und dachte daran, daß seine Bekannten und engsten Freunde kommen würden, um ihm ihre Segenswünsche und Gratulationen zu überbringen. Was sollte ich tun? Ich dachte lange nach, dann fand ich, daß der Boden unseres Grundstückes nicht gepflastert war. Mein Mann jedoch war wohlhabend und geachtet und von den Leuten verehrt. Ich malte mir aus, welche Scham er empfinden würde, wenn die Besucher das Haus in dieser Beschaffenheit sähen, und ich befürchtete, daß die Leute über den holprigen Boden stolpern würden. Da nun mein Mann viel Seife hatte, legte ich die Seife reihenweise ein Stück neben das andere auf den Boden. Als der Boden glänzte und leuchtete, ging ich Henna holen. Als ich sie herbeigebracht hatte, machte ich zwei schöne große Haufen davon und stellte sie zu beiden Seiten des Tores auf, damit sie meinen Mann bei seiner Rückkehr empfingen 382
und ihm zujubelten. Wollt ihr, daß ich mehr getan hätte? Gibt es einen großartigeren Willkommensgruß für den Ehemann?" Da antworteten ihr die Frauen einstimmig: „Nein, beim Propheten, es gibt nichts Großartigeres." Sie sprach: „Aber der Himmel sandte in der Nacht vor seinem Kommen Regen. Die Seife zerfloß, und die Henna zerlief, aber ich wußte es nicht. Am Morgen hielt der Hadsch Einzug in sein Haus, und die Leute waren vor und hinter ihm und riefen: ,Es gibt keinen Gott außer Allah!' ' Und sie küßten den Saum seiner Abaja. Als er zum Tor hereintrat, glitt sein Fuß auf der Seife aus, und er fiel auf den Rücken und brach sich die Rippen. Als er wieder zu sich kam, vergaß er Freundlichkeit, Brot und Salz, 1 erklärte mir die Scheidung und machte mich zum Gespött. Allah möge ihm die Pforte des Gewinnes nicht öffnen I Inschallah, möge ihn dieser Fluch treffen, solange er lebt!" Die Leidensgenossinnen taten, so gut sie konnten, ihren Schmerz über das rußschwarze Unglück ihrer Schwester kund und riefen einstimmig und mit zunehmenden Verwünschungen gegen den Torhüter der Stadtmauer: „Mögen sie ihm den Kopf abhauen Und den Kopf des Torhüters, der auf dem Kopf steht! 2 O meine Mutter! Vertrau dem Sieb das Wasser an, Aber traue nicht dem Mann!" Dann kam die sechste mit ihrer Geschichte an die Reihe. Sie begann mit einer Einleitung und sagte: „Pfui, schämt euch! Worum es bei mir ging, das ist noch nie dagewesen, und alles, von dem bei euch die Rede war, ist nur ein Salat, eine Vorspeise zu dem, was ich erlebt habe. Mein Mann war ein Kaufmann, der mit Seidentaqa han1 2
Umschreibung für das gemeinsame Leben. Er hat sein Gleichgewicht verloren, d. h., er ist nicht, w a s wir von ihm Erwarten. ,
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delte. Er pflegte die meisten Tage des Jahres nach Damaskus zu reisen, um Seidenstoff zu kaufen. Als er einmal auf Reisen war, sandte er mir zwei Ladungen bunter Seidentaqa, die bis aufs äußerste gestärkt waren. Als ich sie aufrollen wollte, konnte ich es nicht,, denn sie waren so steif. P a sagte ich bei mir: Schämen sich die Leute nicht, sie von dort nach hier zu senden, ohne sie zu waschen? Dann machte ich mich daran, die Stoffbahnen in einen Waschtrog aus Messing zu legen, und wusch sie mit aller Sorgfalt und allem Eifer, bis sich die Stärke herauslöste. Ich hörte aber nicht auf, als sie von der Stärke befreit waren, sondern bearbeitete sie mit dem Waschdengel, damit sich die Farbe herauslösen sollte, bis sie alle weiß wurden. Darauf breitete ich sie auf der Mauer aus und ließ sie in der Sonne trocknen. Die Tage vergingen. Schließlich kam mein Mann von der Reise zurück. Er schaute sich um, und als er die Taqa erblickte, sagte er zu mir: ,Was hast du mit den Stoffbahnen gemacht?' D a ich damit rechnete, daß er mir ein Geschenk geben werde, sagte ich stolz: ,Pah, beherrscht deine Hand etwas Besseres als eine Frau wie mich? Ich habe drei Tage und Nächte damit zugebracht, die Taqa zu waschen, bis mein Rücken krumm und lahm war, trotzdem hörte ich nicht auf, bis ich sie so weiß wie Schnee bekommen hatte.' Zu meinem Verwundern und' Erstaunen bemerkte ich, wie sich das Gesicht meines Mannes erst rötete, dann gelb und grün wurde und sein Bart erzitterte, bis ich glaubte, daß er sterben werde. Doch am Ende schrie er mich an: .Erbärmliche, die ihr Gesicht besudelt hat! Verflucht sei der Tag, an dem ich dich gesehen habe! Du hast mein Haus zugrunde gerichtet und zerstört!' Dann stürzte er auf mich zu und schlug mich so heftig auf die Schultern und Hüften, bis sechzig Seelen aus meiner Seele hervorkamen. 1 Darauf'schrie er mich an: 1
D. h., als ob ihr Prügel für 60 Frauen zuteil wurden.
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,Packe deine Sachen und ziehe ins Haus deines Vaters! Du bist dreimal geschieden!'" Die Frauen schmerzte ihr Unglück, und einige vergossen Tränen. Dann schloß eine von ihnen die Rede der sechsten mit folgenden Worten a b : „Was soll man verlangen? Morgen wird uns Allah mit Söhnen aus rechtmäßiger E h e segnen, die unsere Fähigkeiten erkennen und uns unser Recht geben." Danach riefen sie einstimmig: „Vertrau dem Sieb das Wasser an, Aber traue nicht dem Mann! Mögen sie ihm den Kopf abhauen Und den Kopf des Torhüters ebenfalls!" Unterdessen saß der Torhüter in einiger Entfernung, hörte ihnen schweigend zu und schüttelte lächelnd seinen Kopf. Dann wandten sich die Frauen nach der siebenten um. Sie saß da'und hatte ihr Gesicht in ihrem Wäschebündel versteckt und schien mit ihren Gedanken anderswo zu sein. D a sprach eine von ihnen sie an: „Du Frau, was ist mit dir los? Erzähle uns, was du erlebt hast!" Sie antwortete: „Ich habe bis jetzt gewartet, um herauszufinden, ob es eine Geschichte gibt, die meiner ähnelt, aber eine solche gibt es nicht." Während das Erstaunen der übrigen Frauen zunahm, riefen sie ihr aufmunternd zu: „Bei deinem Schicksal, gib uns deine Geschichte zum besten, bevor der Torhüter - dem Allah den Kopf abhauen möge - das B a b asch-Schatt öffnet und wir auseinandergehen." D a räusperte sich die siebente und fing an die folgende Geschichte zu erzählen: „Ich hatte einen Mann, der einem Pascha glich, ob er stand oder saß, stets war er stattlich. E r tat alles, um mich zufriedenzustellen, und ich tat ihm jeden Gefallen. Ich liebte ihn, und er liebte mich. Ich machte mich anziehend und hübsch 25
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für ihn und kochte ihm die schmackhaftesten Speisen - du ißt deine Finger mit. Eines Tages kam es mir in den Sinn, Padscha zu kochen, und ich bat ihn um einen Schafsmagen von guter Qualität und um Schafsfüße. E r kaufte es, und ich versprach ihm ein köstliches Essen. Dann setzte ich mich an den Abfluß und reinigte den Magen von dem Unrat. Danach legte ich ihn in einen Topf und kochte ihn und erneuerte so oft das Wasser, bis der Magen weiß wie Linnen geworden war. Während ich ihn mit langkörnigem Reis füllte, entsann ich mich plötzlich, daß der Überwurf meines Mannes ein Loch hatte, aber ich besaß keinen Flicken, mit dem ich ihn ausbessern konnte. D a sagte ich bei mir: Nichts eignet sich besser als dieser Magen! Dann machte ich mich daran, ein Stück herauszuschneiden und den Überwurf damit so schön wie möglich zu flicken. Mein Mann kam am Abend und fragte mich nach dem G e richt. Ich gab ihm zu essen, was ich gekocht hatte, und er ließ mich so viel Lob genießen, bis sich mein Kopf drehte. Am folgenden Tage - es war ein Freitag - bat er mich um seinen Überwurf. E r zog ihn an und ging damit zur Moschee. Dann kehrte er zurück, und ein Hund kam hinter meinem Mann her und steckte den Kopf zwischen meines Mannes Beine. Ich sprach zu ihm: ,Was ist geschehen, Mann? Ich sehe, daß ein Hund hinter dir her ist.' E r antwortete: ,Ich auch, aber ich weiß nicht warum. Seit Stunden ist er hinter mir hergelaufen, seitdem ich in die Moschee ging und als ich auf dem Rückweg war.' In meiner Harmlosigkeit und Einfalt erzählte ich meinem Mann die Geschichte und ließ ihn verstehen, daß der Hund dem Stück Magen nachgelaufen war, das ich als Flicken in seinen Überwurf gesetzt hatte. D a stürzte er sich auf mich und demütigte mich auf die schlimmste Weise. Möge Allah seiner Arbeit keinen Erfolg verleihen! E r jagte mich aus dem Hause. Gibt es eine unter euch, die von einem solchen Mißgeschick wie ich betroffen wurde?" Die anderen Frauen antworteten wie mit einer Zunge:
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„Nein, bei Allah, dem Erhabenen! Vertrau dem Sieb das Wasser an, Aber traue nicht dem Mann! Mögen sie ihm den Kopf abhauen Und den Kopf ;des Torhüters ebenfalls!" Der Torhüter saß während der ganzen Zeit da und hörte diesen Geschichten zu und den Schimpfworten, die aus dem Munde der Frauen auf ihn herabregneten. Er rührte sich nicht und blieb schweigsam, bis gleichzeitig mit dem Ende der letzten Geschichte der Zeitpunkt zum Öffnen des Tores herangekommen war. Dann ging er auf die Weiber zu und sagte zu ihnen: „Schert euch weg! Möge Allah euch verhüllen! 1 Bei dieser Unwissenheit und Dummheit konnte nichts anderes geschehen. Ihr macht solche Sachen mit euren Männern und wollt nicht, daß sie euch die Scheidung erklären? Und obendrein verflucht ihr sie und verflucht mich siebenmal und wünscht, daß mir der Kopf abgehauen werde, obwohl ich euch nichts getan habe. Bei Allah, wenn ich etwas zu sagen hätte, so würde ich euch die Zungen abschneiden. Geht eurer Wege! Möge Allah euch verhüllen!" 1
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D . h. in eurem beschämenden Zustand.
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VOM HASCHISCHRAUCHER KAIJAR UND DEM MAKLER MOSCHE
Man erzählt sich, daß in Mosul ein Mann mit Namen K a i j a r lebte. E r pflegte seit seinen jungen Jahren Haschisch zu rauchen und war danach nicht mehr imstande, auf diesen Genuß zu verzichten. Seine Nerven wurden zerrüttet, und er büßte seinen Arbeitseifer und seinen Mut ein und begann-sich vor den Ausgeburten seiner Phantasie zu fürchten. D i e Halluzinationen täuschten seine Sinne so sehr, daß er glaubte das Meer zu sehen, wenn er nur einen Tropfen Wasser erblickte, und wenn er das Ticktack einer Uhr hörte, hielt er es für Donnergrollen. Eines Tages ging er in sein Stammquartier im Basar der Drogenhändler, um sich zu kaufen, was ihm zu kaufen vorherbestimmt war. E r suchte nämlich nach der stärksten Sorte Haschisch, um davon die erwünschten Nervenkitzel zu erhalten, und ging von einem Händler zum anderen und sagte: „ H a b t ihr einen starken Haschisch?" D a empfingen sie ihn mit Gelächter und spöttischen Bemerkungen, und während er suchte und fragte, rief ihn der jüdische Drogenhändler Mosche zu sich und teilte ihm mit, daß er das Gewünschte habe: „Ich habe eine Haschischsorte, wie noch keine ähnliche bisher erschaffen wurde. Überzeuge dich selbst 1 Wenn du sie einmal bei mir gekauft hast, wirst du mein ständiger K u n d e werden. Wenn du diesen Haschisch in dich einsaugst, wirst du dir wie der König über die Könige der ganzen E r d e vorkommen. Ich habe ihn eigens für die Leute, die so einen edlen Charakter wie du haben, von China bestellt. Ein Dirham davon kostet einen Madschidi." Auf Kaijars Angesicht erschien ein Ausdruck der freudigen Erwartung und Neugierde, und er sprach: „Madschidi, Madschidi! D a s macht nichts, wenn nur die Sorte hochwertig ist, und in diesem Falle werde ich dir dank-
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bar sein und dir mehr Kunden bringen. Darum stelle mich nur zufrieden! Allah möge dich segnen!" Mosche antwortete ihm: „Im Namen des Propheten Moses 1 und im Namen Allahs, der den Haschisch erschaffen hat, werde ich dir ein Stück davon geben. So etwas hast du in deinem ganzen Leben noch nicht geschmeckt, und es wird auf immer in deinem Backenzahn bleiben." So sprach er und reichte ihm ein Dirham von dem Haschisch. Unser Freund Kaijar nahm ihn und lief eilends damit nach Hause. Die ganze Welt war ihm kaum weit genug für seine Freude. Zu seinem Glück fand er das Haus leer, denn seine Frau war mit den Kleinen ausgegangen, um das Haus ihrer Familie zu besuchen. Die Luft war rein für Kaijar. Er ging in sein Zimmer und holte seine Nargileh hervor, füllte sie und steckte den Haschisch hinein. Dann zündete er sie an und setzte sich nieder, um einen Zug nach dem anderen zu nehmen. Der Rausch durchdrang seinen ganzen Körper. Er fühlte sich vor Entzücken beschwingt und sang: „Meine Nargileh, o du Perle, Mit blauglänzenden Steinchen, eingelegt in Silber! Zum Gelübde regst du an. Schlachten will ich dem Chidr so viele Male, 2 W i e meine Nargileh mir in die Hände kommt." Phantastische Bilder gaukelten ihm vor, von weiß nach schwarz und umgekehrt. Der Haschisch machte ihn vollständig benommen. So malte er sich aus, daß seine Kinder und seine Frau am Abend zurückkommen würden und nichts zu essen hätten. Daher lief er nach Fleisch und schnitt es in Stücke und holte Wasser und füllte damit einen Kochtopf. Danach legte er das Fleisch gesalzen hinein, trug den Topf in die Küche und las Brennholz zusammen. Darauf holte er Feuerstein und Zunder und versuchte das Feuer zu entfachen. Da sich aber seine Hände nicht richtig bewegen konnten, 1 2
Moses genießt als Votläufer Mohammeds im Islam hohe Achtung. Er verspricht ein Weihgeschenk (Schaf oder Ziege) für die Armen.
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weil sie von einem Gefühl der Taubheit befallen waren, fiel ihm das Feuermachen schwer. Er meinte: „Es scheint, daß nur die Frauen dazu geschaffen sind, nach Dingen zu sehen, die das Essen angehen." Die Verwirrung der Sinne übermannte ihn immer mehr, und er wußte nicht, was er tun sollte. Als er anfing darüber nachzudenken, hatten seine Sinnesstörungen ihre äußerste Grenze erreicht, und er sprach: „Wenn ich das Feuer anzünden will, bin ich gezwungen, Frauenkleidung anzulegen." Diese Vorstellung sagte ihm zu. Er rannte nach der Kleidertruhe seiner Frau und holte ein Kleid, die Abaja und andere Kleidungsstücke für Frauen heraus. Um den Aufputz zu vervollständigen, brachte er auf seinem Gesicht rote Schminke an, malte Striche über die Augenbrauen und färbte die Lider mit Kühl und tat noch anderes mehr. Dann kam er zurück und versuchte das Feuer anzuzünden, doch auch nun war er nicht in der Lage dazu, obwohl er Frauenkleidung angelegt hatte. In diesem Zustand flammte bei ihm Haß gegen den Drogenhändler Mosche auf, weil Mosche ihm einen Haschisch gegeben hatte, der ihn nicht in eine Frau verwandeln konnte, obwohl er die Sandelholztruhe geöffnet und alles herausgeholt hatte, was seine Frau an Kleidungsstücken besaß, und obwohl er die Abaja angelegt hatte. In seiner Verblendung glaubte er, daß es jetzt seine Pflicht sei, dem Drogenhändler wegen des schlechten Haschisch Vorwürfe zu machen. Er stand auf, vergaß sich selbst, seine Kleidung und sein angemaltes Gesicht und machte sich auf den Weg zu Herrn Mosche, blieb vor seinem Laden stehen und schrie ihn an: „Verdammter Speichelleckerl Du hast mir einen Haschisch gegeben, der nicht einmal eine Frau aus mir machen kann, während er mich nach deinen Anpreisungen zum König aller Könige machen sollte. Gib mir mein Geld zurück, bei Allah, sonst werde ich dein Haus zu einem Gefängnis machen." 1 Mosche betrachtete das rotgeschminkte Gesicht unseres Freundes mit den bemalten Augenbrauen und begann erst 1
Er will ihm keine Ruhe gönnen, ihm das Leben schwermachen.
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verhalten und dann aus vollem Halse zu lachen. Da versammelten sich die Leute um ihn herum. Um Ärgernis zu vermeiden und die Leute, die sich angesammelt hatten, loszuwerden, wollte er ihn schnell abtun und sprach zu ihm: „Du hast recht, mein Bruder, du hast dein Recht von mir auf vierundzwanzig Qirat zu beanspruchen. Hier ist dein Geld! Allah möge dich verhüllen." Was die verdutzten Leute anbelangt, so wuchs ihr Erstaunen, als sie hörten, wie Mosche, nachdem Kaijar fortgegangen war, sagte: „Ich bitte euch, ich bitte euch Händler und Kunden des Basars, geht hin und schaut ihn an! Konnte der Haschisch mehr für ihn tun? Er hat ihn dazu gebracht, die Kleider seiner Frau anzuziehen."
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DIE VIERZIG TAGE DES FASTENMONATS RAMADAN
Dschuha pflegte täglich einen Kieselstein in einen Tonkrug zu werfen, wenn er im Ramadan fastete. Seine Tochter sah ihn einmal dabei und warf danach zwei Handvoll Kieselsteine in den Krug, denn sie glaubte dem Vater damit zu helfen. Eines Tages fragten ihn die Nachbarn: „Wieviel ist noch übrig vom Ramadan?" Dschuha sprach: „Mir ist nicht bekannt, wieviel noch übrig ist, ich weiß jedoch, wie viele Tage des Monats vergangen sind." Danach zählte er die Kieselsteine und kam zu mehr als hundertundzwanzig. Da sprach er bei sich: Wenn ich ihnen diese Zahl nenne, werden sie mich auslachen, deshalb will ich sie lieber auf vierzig herabsetzen. Dann ging er zu den Nachbarn hinaus und sprach: „Ungefähr vierzig Tage sind vom1 Monat Ramadan vergangen." Sie lachten über ihn. Er aber lachte mit ihnen und sagte: „Wahrlich, es ist ein langer Monat für die Fastenden, aber was solltet ihr tun, wenn ich euch die richtige Zahl mitgeteilt hätte?"
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DU BEZAHLST ALLAH NICHT DIE FÄLLIGE SCHULD UND WILLST NOCH LEIHEN
Dschuha saß da und verkaufte seine Oliven, und eine Frau feilschte mit ihm und meinte, daß der Preis, den er für die Oliven verlange, zu hoch sei. Sie sagte zu ihm: „Wenn du sie mir zu dem Preis verkaufen willst, den ich dir genannt habe, und mir Kredit gibst, so wisse, daß mein Mann Soundso ben Soundso ist." Darauf reichte ihr Dschuha eine Olive, damit sie koste und die Güte der Sorte und seinen Anspruch auf den Preis anerkenne, doch die Frau entschuldigte sich damit, daß sie gerade faste, denn im R a m a d a n des vergangenen Jahres sei sie krank gewesen und habe das Fasten gebrochen. 1 Dschuha sagte: „ N u n ist es Schluß mit dem Hin- und Hergerede, dem Feilschen und Verschieben. D u meinst wohl, wenn du Allah deine Schulden erst ein Jahr später bezahlst, so wirst du mir die Schulden bis zum Jüngsten T a g e nicht zurückzahlen?" 1
Der im Ramadan Erkrankte soll versäumte Fastentage so bald wie möglich nachholen. Hier steht der Ramadan schon wieder nahe bevor, so ist die Ausrede der Frau noch unglaubhafter.
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DER UNERLÄSSLICHE PREIS
Dschuha litt auf seinem Weg an Durst, aber in der Wüste war er vom Wasser abgeschnitten. D a kam ein Beduine vorbei, der einen Wasserschlauch bei sich trug, Dschuha bat, ihm den Wasserschlauch zu verkaufen, doch der Beduine verlangte mindestens fünf Dirham. Dschuha kaufte ihn ab. D a n n setzte er sich nieder und aß d a s fette Essen, das er bei sich hatte. Der Beduine bat, ihm Gastfreundschaft zu erweisen, und Dschuha gab ihm genügend Essen, um ihn satt und durstig zu machen. Darauf fragte der Beduine, ob er einen Schluck aus dem WasserSchlauch haben könne, doch Dschuha verlangte dafür mindestens fünf Dirham. U n d so kaufte der Beduine den einen Schluck für den Preis des ganzen Wasserschlauchs.
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DER HADSCH MASUD
Der Hadsch Masud wohnte mit seiner Frau seit drei Jahren im Dorf Zanuba. Er nahm in jeder Weise am Leben der Handwerker, Arbeiter und übrigen Dorfbewohner teil und war bekannt für seine Frömmigkeit und Ehrlichkeit, seine Wahrheitsliebe und seinen Fleiß. Der Hadsch Masud beschloß, nach dem Hedschas zu reisen, um die Pilgerfahrt zum zweiten Male zu machen, und seine Frau mitzunehmen. Er besaß viel Eisen, das er zu seiner Arbeit brauchte, und befürchtete, daß ihn die Diebe bestehlen würden, wenn er das Eisen in seinem Haus ohne Aufsicht zurückließe, denn die meisten Leute in Zanuba waren von auswärts. Einige fällten Bäume oder sägten das Holz, einige bauten Segelboote, und andere waren Schmiede. Im Dorf gab es auch einige Kaufleute. Der Hadsch Masud dachte daran, sein Eisen dem größten Kaufmann zur Verwahrung anzuvertrauen. Er ging zu ihm und sagte: „Ibrahim w a d Ali, o mein Bruder, ich habe beschlossen, in einigen Tagen auf die Wallfahrt nach Mekka zu gehen, wenn es Allah zuläßt. Ich besitze Eisen, das ein Gewicht von zwanzig Qintar hat, und möchte, daß du es gegen Bezahlung oder ohne Kosten zur Aufbewahrung in dein Lager einstellst. Wenn ich gesund und unversehrt zurückkehre, werde ich das Eisen in mein Haus zurückholen. Wenn Allah jedoch bestimmt hat, daß ich sterbe, dann verkaufe du das Eisen und teile den Erlös um meiner Seele willen als Almosen unter die Armen aus - aber warte erst ein Jahr!" Ibrahim wad Ali war erfreut und dankte dem Hadsch Masud, daß er an ihn gedacht und ihm sein Vertrauen geschenkt hatte. Am folgenden Tage brachte der Hadsch Masud das Eisen in Ibrahims Lager, und nach einigen Tagen verabschiedete er 395
sich von seinen Freunden, unter denen auch Ibrahim war, und fuhr mit seiner Frau auf dem Weißen Nil nach Berber und von dort nach Suakin. E r war zusammen mit einigen anderen Mekkapilgern vom Dorf Zanuba, von Kawa. Duim und Qiteina. Nachdem er zum Heiligtum Allahs in Mekka gepilgert war, begab er sich nach der von Allahs Segen erleuchteten Stadt Medina, in der sich das Grab des Propheten befindet der Segen Allahs und sein Friede sei auf ihm! Dann machte er sich mit den Mekkapilgern auf die Heimfahrt, aber er verspätete sich in Dschidda, weil seine Frau krank wurde. -So kehrten alle Pilger außer ihm in ihr Heimatland zurück. Als es seiner Frau wieder besser ging, fuhr er nach Suakin und wohnte dort eine Zeit von zweiundeinhalb Monaten bei Verwandten. D e r Kaufmann Ibrahim wad Ali jedoch erkundigte sich nach dem Hadsch Masud, sobald die Mekkapilger eintrafen, doch er erhielt keine sichere Auskunft und glaubte schließlich, daß er gestorben sei. Der Hadsch Masud hatte sich wegen der Krankheit seiner Frau und des Besuches bei seinen Verwandten um vier Monate verspätet, während die Reise in jener Zeit etwa einen Monat dauerte. Ibrahim erwog, das Eisen heimlich zu verkaufen, und sprach darüber mit einigen Schmieden und Händlern, doch bevor er den Verkauf abschloß, erschien der Hadsch Masud und hielt Einzug in seinem Haus. D a kamen die meisten seiner Freunde und sprachen ihm ihre Segenswünsche zur Pilgerfahrt aus, aber Ibrahim wad Ali kam nicht. D e r Hadsch Masud machte sich Gedanken, warum Ibrahim ausblieb und ihn nicht begrüßte, und er hatte viele Vermutungen. - Denkt zusammen mit Masud nach, bevor ihr den Rest der Geschichte vernehmt! Sieben Tage nach seiner Rückkehr ging er zu Ibrahim, begrüßte ihn, und das folgende Gespräch entspann sich zwischen ihnen. Masud sagte: „Wie geht es dir, Ibrahim, und wie geht es deinen Kindern?"
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Ibrahim antwortete: „Gepriesen sei Allah, es geht ihnen allen gut, und sie sind bei bester Gesundheit." Masud sprach: „Ich bin von der Pilgerfahrt zurückgekommen und bin schon sieben Tage da. Alle Leute haben mich besucht außer dir." Ibrahim entgegnete: „Ich war von allem unterrichtet, was du mir eben gesagt hast, aber ich schämte mich sehr vor dir." Masud sagte: „Was ist los? Worüber schämst du dich vor mir?" Ibrahim sprach: „Schweige, Hadsch Masud! Die Geschichte ist seltsam und die Scham groß." Masud sagte: „Bei Allah, erzähle mir von der Sache! Berichte genau, was sich zugetragen hat." Ibrahim antwortete: „Höre von dem merkwürdigen Mißgeschick. Ich habe dein ganzes Eisen ins Lager gebracht und es mit einem großen Vorhängeschloß abgeschlossen und nicht mehr geöffnet. Als du dich eine lange Zeit verspätet hattest und ich das Lager öffnete, fand ich von dem Eisen nichts weiter als ein kleines Häufchen. Es ist nicht viel." Masud fragte: „Haben es die Diebe gestohlen?" Ibrahim antwortete: „Nein, keinesfalls, keinesfalls! Wie sollten es die Diebe stehlen, wenn ich da bin? Die Mäuse haben es von Anfang bis zu Ende gefressen. Im selben Lager haben die Mäuse früher schon einmal das Eisen eines Mannes gefressen^ der genauso gut war wie du." Da wurde Masud nachdenklich. Er dachte lange nach und meinte am Ende, die Zeit sei zu schade, um auf eine solche Rede zu antworten, die so sinnlos war. Daher sagte er: „Ach Ibrahim, alles liegt in Allahs Hand. Möge uns Allah einen Ersatz bescheren und dich vor den Missetaten der Mäuse bewahren." 397
Ibrahim antwortete: „Bei Allah, dieser Verlust tut mir furchtbar leid." Masud sagte: „Ibrahim, mein Bruder, hätte ich gewußt, daß dich dieser Verlust betrüben würde, ich wäre nicht zu dir gekommen. E s war Eisen und weder Silber noch Gold oder eine wertvolle Ware oder gar das Leben. Also, leb w o h l ! " Damit ging er fort und war zur Rache in einer Form entschlossen, die Ibrahims Angesicht schwärzen sollte. E r wollte ihn beschämen und sich sein Eisen auf eine Art zurückverschaffen, die noch merkwürdiger war als das Eisenfressen der Mäuse. Als Masud eines Tages in der Nähe von Ibrahims Haus vorüberkam, sah er einen kleinen Jungen, den Sohn Ibrahims. E r war in ein rotes Qamis gekleidet. D a sich niemand auf dem Wege befand, trug Masud den Jungen fort und nahm ihn mit nach Hause. Dann schärfte er seiner Frau ein, dem Kind zu essen und zu trinken zu geben und es nie weinen zu lassen und dieses bedeutsame Geheimnis verborgen zu halten. Am Mittag fragte Ibrahim nach seinem Sohn und fand ihn nicht. E r suchte ihn bei den Nachbarn und der Familie, aber er fand ihn nicht. Darauf gingen die Mutter des Kindes und ihre Schwester hinaus und suchten am Ufer des Nils und weinten, während sich der Vater mit seinen Freunden aufs Pferd setzte und in die Wälder und Wadis ritt, um den Jungen vielleicht dort zu finden. Einige von ihnen suchten an den Brunnen, aber sie kehrten alle ohne Erfolg zurück. D a wurde Ibrahim traurig und mit ihm seine Frau und die gesamte Familie. Dann ließ er die Fakire rufen, damit sie Allah um die Wiedervereinigung mit seinem Sohn bitten sollten, wie es bei den Leuten zu jener Zeit üblich war. Ibrahims Haus glich bald einem Trauerhaus mit vielen Leuten, denn er war der größte Kaufmann von Zanuba. Einige Bewohner des Dorfes hatten von dieser Neuigkeit gehört. Darauf kamen sie herbei, um Ibrahim ihre Teilnahme an dem Unglück auszudrücken, das seinem Sohn widerfahren war. Nach vier Tagen zogen alle Leute am Abend, nachdem sie mit ihrer Arbeit aufgehört hatten, zu Ibrahims Haus.
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Sie hatten sich zu einem Freundschaftsbesuch versammelt, um ihm Trost zu spenden, weil er seinen Sohn verloren und keinerlei Nachricht von ihm hatte. Während sich die Leute, die von entfernten kleinen Ansiedlungen und Dörfern gekommen waren, mit den Bewohnern von Zanuba versammelt hatten, erschien der Hadsch Masud., Er hinkte und trug einen Stock, auf den er sich stützte, um seinen Fuß hatte er einen Verband gewickelt. Nachdem Masud alle Anwesenden begrüßt hatte, fragte ihn Ibrahim: „Ich glaubte, du hättest die Geschichte von meinem Sohn nicht gehört." Masud antwortete: „Ich habe erst heute davon gehört. Wenn ich sie früher gehört hätte, wäre ich niemals so spät gekommen, obwohl ich große Schmerzen hatte, denn ein Nagel verletzte mich am Fuß, wie du siehst. Es wäre deine Pflicht gewesen, mir davon zu erzählen. W a s ist geschehen?" Ibrahim sprach: „Vor vier Tagen ging mein kleiner Sohn at-Tahir - das heißt der Unschuldige - hinaus, um mit den Nachbarskindern zu spielen, wie er es jeden Morgen tat. Als ich jedoch zur Zeit des Mittagessens nach ihm fragte, konnte ich ihn nicht finden. W i r haben in ganz Zanuba nach ihm gesucht und öffentliche Ausrufer angestellt, die nach allen Richtungen ausgezogen sind, dann haben wir die Brunnen, die Wege und die Flußufer von Osten nach Westen durchsucht - aber ohne Erfolg." Masud tat, als ob er betrübt sei, und sagte: „Ibrahim, mein Bruder, ich bitte dich, beschreibe mir den kleinen Jungen und die Stunde, zu der er das Haus verließ, und die Kleider, die er trug." Da verstummte die Unterhaltung der Anwesenden, denn sie glaubten, daß sich etwas hinter diesen Fragen verberge. Ibrahim antwortete: „At-Tahir, mein Sohn - möge Allah uns wieder mit ihm vereinen - , war klein, von brauner Hautfarbe und durchschnittlichem Körperbau. Seine Galabija war von rotem Batist, und die Zeit des Verschwindens war der späte Vormittag." 399
Masud sagte mit lauter Stimme: „O Allah, ich kann mich entsinnen! Ich kann mich entsinnen, daß der Junge, den du beschreibst, weder im Strom ertrunken ist noch von den Tieren gefressen wurde noch in einen Brunnen fiel oder von einem Menschen geraubt wurde oder sich im Walde verlaufen hat." D i e Anwesenden wunderten sich über diese frohen Nachrichten, obwohl sie rätselhaft und dunkel klangen. Einer von den Leuten sagte: „Und wo ist er, wenn du die Wahrheit sprichst?" Masud sprach: „Vor einer Zeitspanne von vier Tagen kehrte ich vom Zimmerplatz in mein Haus zurück. Es war zur selben Stunde, als ich mich an dem Nagel verletzte. Sowie ich zu dem östlich von Ibrahims Haus stehenden Baum kam, erblickte ich einen kleinen Jungen, auf den die Beschreibung paßt, die mir Ibrahim gegeben hat. Ich war an ihn herangekommen - auf eine Entfernung von etwa fünfzehn Schritt als ich plötzlich einen lauten Flügelschlag verspürte und ein riesiger Falke über meinem Kopf schwebte. In meinem ganzen Leben hatte ich nicht seinesgleichen gesehen. Als ich meinen Kopf hochhob, erblickte ich eine Anzahl von großen Falken, die aus der Ferne kamen und krächzten. Auf einmal ließ sich einer von -ihnen zu dem Jungen hinunter, packte ihn so schnell wie ein Blick und flog mit ihm davon, während ich ihm verdutzt nachschaute, bis er meinen Augen entschwand. Ich habe mich gescheut, den Leuten etwas von dieser Geschichte zu ercählen, denn sie würden sie mir nicht glauben, zumal ich ein Mann bin, der ängstlich darauf bedacht ist, daß ihn die Leute nicht einer Lüge zeihen." D i e meisten Anwesenden riefen: „Nein, nein, nein! Diese Rede ist sinnlos. Wir werden sie ihm nie glauben. D u Mann, du solltest deine Worte abwägen!" Masud entgegnete: „Und wollt ihr mir glauben, wenn ich euch sage, daß die Mäuse in eurem Lande das Eisen fressen?" Die meisten Anwesenden riefen: „Das ist noch merkwürdiger, als daß die Falken kleine Kinder wegtragen."
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Masud sprach: „Was mich betrifft, so habe ich keinerlei Zweifel, daß es in einem Lande, dessen Mäuse Eisen fressen, zu viel sei, wenn seine Falken kleine Kinder wegtragen." D a sagte Ibrahim: „Ihr Brüder, selbst wenn ihr der Rede des Hadsch Masud keinen Glauben schenkt, ich glaube ihm." Dabei verstand einer der Klugen unter den Versammelten, daß der Wortwechsel zwischen Masud und Ibrahim ein Geheimnis verborgen hielt und daß der Aufenthaltsort des verlorenen Knaben damit entdeckt worden war. Er zweif e l t e nicht daran, zumal er wußte, daß Ibrahim und Masud zwei gescheite und listige Männer waren. Darum stand er auf und sagte: „Ihr Versammelten, Ibrahim hat seinen Sohn gefunden, und ich beschwöre euch dreimal, wie beim Aussprechen der Scheidung: Steht auf und fragt nicht nach dem Grund! Wir rufen Allah an, dir beizustehen, o Ibrahim, und Preis sei Allah für den Schutz und die unversehrte Rückkehr! Nun mußt du ein Fest veranstalten!" Darauf gingen die Leute davon. Ibrahim und Masud blieben allein zurück. Dann sagte Ibrahim: „Ich habe eine Absicht dabei gehabt, als ich dir sagte, daß die Mäuse das Eisen gefressen hätten. Ich beabsichtigte, dich auf die Probe zu stellen." Masud sprach: „Ich habe ebenfalls beabsichtigt, dich auf die Probe zu stellen." Ibrahim sprach: „Das Eisen ist jetzt vorhanden, und es fehlt nichts davon." Masud entgegnete: „Dein Sohn ist jetzt vorhanden, und ihm ist nichts geschehen." Darauf sprach Ibrahim: „Bei Allah, du bist der klügste Mann, den ich in meinem Leben gesehen habe. Erhebe dich und gehe mit mir, um dein Eisen in Empfang zu nehmen." Der Hadsch Masud ging hin und erhielt sein gesamtes Eisen. Dann übergab er den Jungen seinem Vater und sagte: 26
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„Unsere alten Vorväter sagten: Wenn man sich sein Recht nimmt, soll man es lieber ohne Übereilung tun. Das sind weise Worte, o Ibrahim, mein Bruder." Ibrahim antwortete: „Es ist wahr. Ich möchte dich nur um eines bitten, daß du dieses Geheimnis hütest, damit niemand etwas davon erfährt." Masud antwortete: „Ich bin bereit, bei meinen Augen und bei meinem Kopf!" Dann sagte Ibrahim: „Außerdem hoffe ich, daß du zu dem großen Festessen kommst, das ich morgen in meinem Hause abhalten will." Masud sagte: , „Gut, ich werde kommen und der ganzen Gesellschaft zu verstehen geben, daß wir uns bei dieser Angelegenheit nur gegenseitig auf die Probe gestellt haben, damit sie das Geheimnis nicht herausbekommen." Ibrahim sprach: „Schön, das ist das beste. Lebt wohl!" Masud sagte: „Allah möge dich beschützen!" So erhielt der Hadsch Masud sein ganzes Eisen zurück und obendrein ein auserlesenes Festessen.
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DER WETTSTREIT ZWISCHEN DEN GEIZHÄLSEN
E s geschah, was geschehen sollte. Alles hängt von Allah ab. E s lebte zu alten Zeiten ein Mann mit Namen Imran. E r war von mittlerem Wuchs, hatte ein rundes Gesicht und einen ungepflegten B a r t . E r wurde berühmt unter den Bewohnern seines D o r f e s wegen seines großen Geizes und der Knauserei gegen sich selbst. M a n wendete auf ihn das Sprichwort von den zugehaltenen Händen an. 1 Nach und nach kam sein N a m e auf alle Lippen und Zungen. In den Ortschaften nah und fern kannten ihn die Leute. D a s Gewicht seiner Schuhe betrug fünf U q q a wegen der vielen Flicken, mit denen sie ausgebessert waren, und der Nägel, die sich in ihnen angesammelt hatten, bis die Schuhe schwerer waren als die von Abulqasim at-Tamburi, und die Leute ersetzten Abulqasim im Sprichwort durch Imran. W e gen der vielen Flicken und Riester konnte man die ursprüngliche F a r b e der Schuhe nicht mehr erkennen. Im gleichen Zustand wie die Schuhe befand sich sein Mantel, der mit Hunderten von Flicken aller Art und Form ausgebessert war, kleinen und großen, roten und grünen, blauen, gelben und so f o r t . . . Von seinem Turban ließ sich das gleiche sagen. E r war so speckig und schmutzig, d a ß ihn die Leute nicht als Turban, sondern als Kochtopf betrachteten. E r ähnelte einem Rattennest für die junge Brut. Imran wollte den Sieg im Wettstreit der Geizhälse erringen, und sein Wunsch war, d a ß ihn kein einziger in dieser Tugend überträfe. D a h e r fing er an, noch mehr zu knausern. D i e göttliche Vorherbestimmung aber wollte nicht, daß unser Freund mit diesem preiswürdigen Betragen allein bleiben sollte. In einem der Nachbardörfer erschien ein Rivale. 1
Bildhafter Ausdruck für den Geiz.
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Als Imran davon hörte, regte er sich furchtbar auf, wechselte die Farbe, und die Welt wurde schwarz in seinen Augen. Dann sprach er bei sich: Asche möge auf sein Haupt kommen! Wenn sein Geiz größer ist als meiner, bei Allah, so will ich hingehen und ihn besuchen, um zu sehen, was an der Sache ist. Der Entschluß war zwar leicht, aber die Hauptsache ist die Ausführung, und wie schwer ist es, etwas zu tun, statt nur davon zu reden. E r begann über das Beförderungsmittel nachzudenken, das ihn zu seinem Rivalen bringen sollte, und über die Wegzehrung auf seiner Reise. D i e erste Schwierigkeit war bald behoben, indem er sich entschloß, zu Fuß zu gehen, und zwar barfuß, ohne seine Schuhe. Die waren zerschlissen und konnten ihn nicht länger vor den vielen Dornen schützen, die es auf dem Wege gab. Und als Wegzehrung wählte er zehn Brote, die von Schrot gebacken waren, sowie drei Zwiebeln. Dann dachte er daran, daß ihm die Füße bluten würden, wenn er barfuß wanderte, und welche Schmerzen er dabei erlitte. Dies würde ihn mehr kosten, als ein Paar neue Schuhe anzuschaffen, und er beschloß den Kauf neuer Schuhe, doch kam dabei seine Seele vor Gram und Qual nahezu aus dem Körper heraus. Unser Freund Imran nahm seine Wegzehrung und seine Habseligkeiten und hängte sie über die Schulter, dann begab er sich auf die Reise. E r lief zuerst barfuß und ging mit sich selbst zu R a t e : „Auf der ersten Strecke des Weges werde ich so lange barfuß gehen, bis es mir unmöglich wird oder meine Füße bluten." In diesem Fall beschloß er, die Schuhe anzuziehen. Nachdem er ein Stück des Weges zurückgelegt hatte, verspürte er Hunger. D e r Leib zwickte ihp, und seine Därme rieben gegeneinander wie Mühlsteine. D a blieb er stehen und fragte sich selber um R a t : „Soll ich jetzt essen oder den Hunger noch länger ertragen? Schließlich entschied er, daß die rechte Zeit zum Essen noch nicht herangekommen sei, und beschloß, noch eine wei-
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tere Strecke der Reise zurückzulegen. So wanderte er weiter und preßte mit der Hand seine Därme zusammen. Dann begannen seine Füße von den vielen Dornen zu schmerzen, die sich hineingebohrt hatten. Er blieb ein Weilchen stehen, betrachtete seine Füße und schaute dann auf seine Schuhe. Es tat ihm leid um die Schuhe. So steckte er sie zurück in seinen Reisesack und ging wieder weiter. Er lief ein wenig, doch sein Hunger nahm zu. Da sagte er: „Jetzt muß ich etwas essen." Er setzte sich nieder, öffnete seinen Reisesack und holte Brot und Zwiebeln heraus, aber es dauerte nicht lange, bis er sie an ihren Platz zurücklegte, das Essen auf eine andere Zeit verschob und sich wieder auf den Weg begab. Wir wollen es nicht zu lang für euch machen - möge euch Allah Respekt verschaffen! Imran legte den ganzen Weg zurück, wobei er mal seinen Leib mit der Aussicht auf Brot und Zwiebeln lockte und ein andermal den Füßen versprach, die Schuhe anzuziehen, doch er tat nichts dergleichen. Seine Hand berührte weder Essen noch Schuhe, bis er das Dorf seines Rivalen erreichte. Sein Konkurrent hieß Awad, und sobald Imran das Dorf betrat, fragte er nach seinem Rivalen, und die Dorfbewohner wiesen ihm den Weg. Als er an das Haus kam, bemerkte er, daß es rissige und zerfallene Wände hatte und daß das Dach ebenfalls Risse zeigte. Das Haus sah so aus, wie es Awad sein Vater und sein Großvater hinterlassen hatten. Dies machte in seinen Augen nichts aus. Ohne zu zögern, trat er sogleich ein und begrüßte ihn. Awad kam ihm entgegen. Er war von hohem Wuchs wie ein Riese, und sein Bart reichte ihm bis auf die Brust, denn er hatte ihn nicht stutzen lassen, seit er zu sprießen begonnen hatte. Seine Kleider waren so fadenscheinig und zerschlissen, daß er nicht mehr die Mühe auf sich nahm, sie wie sein Gefährte Imran zu flicken, so daß die Kleider von Imran im Vergleich zu seinen wie neu aussahen. Awad lief barfuß. Seine Füße hatten so harte Schwielen bekommen, daß sie wie Schuhe geworden waren. Beim Gehen spürte er nicht, daß er barfuß lief, und die Dornen konnten nicht in seine Füße eindringen. 405
Imran sagte zu Awad: „Mein Bruder, ich bin ein Wanderer und vom Laufen und von der weiten Reise müde, drum möchte ich gern dein Gast sein. Erweise mir diese Wohltat und gewähre mir nur für diese Nacht Quartier unter deinem Dach - Allah wird den Lohn für die Mildtätigen nicht verlorengehen lassen 1" Awad konnte nichts anderes tun, als ihn willkommen zu heißen, nachdem er einen Blick auf den Reisesack geworfen hatte, den Imran bei sich trug. Er sehnte sich nämlich nach all dem leckeren Essen und war überzeugt, es sei eine schmackhafte Wegzehrung darin, wie er sie sein Leben lang nicht zu schmecken bekommen hatte. Dann führte er ihn ins Haus hinein, nahm ihm den Reisesack ab, holte heraus, was sich darin befand, und breitete den Sack auf dem Erdboden aus, damit Imran darauf sitzen konnte. Dann schaute Awad nach, was in dem Bündel war. Er fand das schwarze Brot, die drei Zwiebeln und die neuen Schuhe. D a lief ihm das Wasser im Munde zusammen, und als er einsah, daß er diesen Leckerbissen nicht nahekommen konnte, wenn er nicht selbst etwas zum Essen beitrüge, bat er seinen Gast um Erlaubnis, ihm eine Mahlzeit vorsetzen zu dürfen, und ging hinaus. Dann blieb er stehen und fing an sich Gedanken zu machen, was für ein Essen er zubereiten sollte. Jede Art kostete Geld. Awad grübelte und grübelte und begann schließlich sein böses Geschick zu verfluchen, das ihm solch einen widerwärtigen Gast zugeführt hatte, und mit brennendem Herzen und in furchtbarer Wut rief er aus: „Mag er sich die Knie verrenken, und dann möge sein Gesicht besudelt werden! Habe ich vielleicht Zeit, Gäste zu bewirten?" Da er keinen Ausweg fand, stand er auf, zog aus Rachsucht Imrans Schuhe an und ging davon. Als er zum Krämer kam, fragte er ihn: „Hast du gesalzenen Samn?" Der Krämer antwortete ihm: „Ich habe sehr guten Samn, der genauso wie Öl aussieht." Awad jedoch kannte weder das Aussehen von Samn noch das von Öl, denn er hatte beides nicht ein einziges Mal in
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seinem Leben zu kosten bekommen. Daher fragte er den Händler nachdenklich: „Was ist billiger, Ö l oder Samn?" D a antwortete dieser: „Das Öl ist billiger." Nun sprach er bei sich: „ D a werden wir also Ö l kaufen!" Darauf ging er weiter zu einem anderen Krämer, denn et sagte sich: Wenn das Ö l nicht besser wäre als Samn, würde der Krämer die Qualität des Samn nicht mit Ö l beschreiben. So fuhr er fort ein Fünftel mit einem Sechstel malzunehmen, 1 bis er am Laden des zweiten Krämers anlangte. E r sagte zu ihm: „Hast du gutes Ö l ? " D e r Krämer antwortete ihm: „Ich habe Öl, das in Farbe und Aussehen so rein wie Wasser ist." Awad erging es plötzlich wie jemandem, der eine große Schwierigkeit gemeistert hat, und auf seinem Gesicht erschien ein Ausdruck der Zufriedenheit. Dann sagte er zu dem Händler: „Ich danke dir, und möge Allah dich behüten!" Darauf eilte er nach Hause, füllte seinen Kochtopf mit Wasser und zündete Feuer darunter an. Danach brachte er die drei Zwiebeln von Imran, schnitt sie in Stücke und legte sie ins Wasser. Dann schaffte er die Brote herbei, schnitt sie ebenfalls in Stücke und warf sie in das kochende Wasser, und als sie gargekocht waren, goß er das Essen in eine Schüssel und rief dann seinen Gast zur Abendmahlzeit. Als Imran sah, was die Schüssel enthielt, verstand er alles. D e r Appetit verging ihm, und er blieb schweigsam aus Widerwillen und gab vor, daß ihm übel sei. Awad aber kümmerte sich nicht darum, was Imran dabei empfand. Für ihn war dieser Tag des Zusammentreffens wie ein Festtag. Und da verbarg er seinen Kopf in der großen, tiefen Schüssel, die Hände hoben sich, die Hände senkten sich, bis von dem Essen nichts mehr zu sehen war. 1
E t ging von falschen Voraussetzungen aus.
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Imran entschuldigte sich und ging vor Wut kochend zu seinem Reisesack, steckte seine Schuhe hinein, die zu tragen er sich selbst nicht erlaubt hatte, die aber dieser Schurke mit abgeschnittenen Ohren angehabt hatte, während seine Zwiebeln, die ihm so teuer gewesen waren und die er nicht gegessen hatte, diesem Hund zuteil geworden waren und er seine Brote nur bei sich getragen hatte, damit sie eine leichte Beute für ihn wurden. Imrans Seele ging vor Wut in Flammen auf, und er beschloß, sich auf beispiellose Weise zu rächen. Dann machte er sich auf den Rückweg heim in sein Dorf, auf seinem Bart kauend und vor Wut schäumend. Der Ärger fraß ihn nahezu auf. Während er aber auf dem Wege über die Sache nachgrübelte, wurde er allmählich ruhiger, und der Zorn fiel von ihm ab. Dann fing er an über das Erlebnis zu lachen, und er lachte so lange, bis er wieder in seinem Dorf eintraf. Die Dorfbewohner kamen heraus, um ihn zu begrüßen, denn sie hatten die Neuigkeit von seiner Reise erfahren. Da fragten sie ihn, was er hinter sich habe, und er antwortete lachend: „Nichts als Gutes habe ich hinter mir.- Er aß meine Wegzehrung, zog meine Schuhe an und breitete mir dafür meinen Reisesack als Nachtlager aus. Meine Augen mußten zusehen, und mein Herz war betrübt, aber sagen konnte ich nichts. Bei Allah, er hat mir mit Geschick und Überlegenheit die Meisterschaft im Geiz entrissen. Möge ihn Allah mit diesem Meistertitel glücklich mathen und ihm mit dem vergelten, was er verdient I"
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EIN BEDUINE IN DER STADT
Ein Beduine kam in die Stadt und sah darin merkwürdige Dinge. Was kann einen Beduinen mehr verwundern als die asphaltierten Straßen, auf denen der Verkehr dahinströmt, dazu die großen, hohen Gebäude, denen der Wind nichts anhaben kann, und die Lampen, die an den Straßenecken aufgehängt sind und den Fußgängern nachts Licht spenden. Was kann einen Beduinen mehr erstaunen lassen, als daß Menschen sich zusammenpferchen wie Hammel und einer dicht neben dem anderen wohnt und daß die Menschen sich hier nicht schlafen legen, wenn die Sonne untergeht, und nicht aufstehen, wenn sie aufgeht. Wenn sie sich hinsetzen, sitzen sie auf Stühlen, und wenn sie essen, nehmen sie Löffel und Gabeln zu Hilfe. Der Beduine ging in die Stadt hinein und begab sich auf einen ihrer Basare. Dann ging er von einem Laden zum anderen, bis er staunend vor dem Laden von Abu Miftah stehenblieb, dem der größte Laden im Basarviertel der Stadt gehörte. Der Beduine blieb vor dem Laden von Abu Miftah stehen und betrachtete, was dort an herrlichen Dingen ausgestellt war. Kleider von buntem Stoff - wie sie Fatuma, seine Tochter, liebte - , Schuhe von Brokat, für deren Herstellung Tripolis berühmt ist und die man den Besuchern der Stadt verkauft. Ach, Umm Mohammed, seine Frau, liebte so etwas. Dort gab es auch Säcke mit Reis, Zucker und Linsen, ja so etwas liebte der Beduine selbst - , und Dolche mit eingelegten Steinen, die Edelsteinen ähnelten, oh, Mohammed, sein Sohn, mochte so etwas gern. D a waren auch Gürtel mit besonderen Taschen, in die man viele Patronen stecken konnte wahrlich, so etwas gefällt jedem Beduinen! Schließlich bemerkte der Beduine einen Sattel von wunderbarer Qualität, und seinem Mund entfuhr ein staunendes „oje". Der Inhaber 409
des Ladens meinte, der Beduine habe etwas gesagt, und stürzte auf ihn zu und fragte: „Was willst du kaufen?" Der Beduine schüttelte den Kopf zum Zeichen der Ablehnung. Danach ging er an eine andere Stelle im Inneren des Ladens und meinte damit von diesem Mann, der ihn belästigte, wegzukommen. Doch der Inhaber des Ladens, Abu Miftah, folgte dem Beduinen, als er weiterging, und richtete nochmals die Frage an ihn: „Was willst du kaufen?" Der Beduine staunte über die Aufdringlichkeit von Abu Miftah und herrschte ihn an: „Mach, daß du von hier wegkommst! Warum verfolgst du mich auf diese Weise?" Abu Miftah merkte, daß der Beduine neu in der Stadt war, und ließ ihn gewähren und nach Herzenslust im Laden umherspazieren und begann über die grenzenlose Einfalt nachzudenken, die manchen Beduinen eigen ist, wenn sie in die Stadt kommen. Der Beduine hatte nun reichlich Zeit mit dem Anschauen der ausgestellten Waren verbracht, und Abu Miftah folgte ihm mit seinen Blicken, bis er die Geduld verlor. Dann ging er abermals auf ihn zu und erkundigte sich zum dritten Male: „Willst du etwas kaufen, Beduine?" D a wandte sich der Beduine nach Abu Miftah um und starrte ihn mit finsteren Blicken an, dann sagte er zu ihm: „Schäme dich, du Mann! Warum belästigst du mich auf diese Weise? Geh deiner Wege und laß mich allein!" „Wie soll ich das tun", sagte Abu Miftah, „wo ich doch der Herr des Ladens bin?" „Du? Du bist der Herr dieses Ladens?" fragte der Beduine und brach darauf in schallendes Gelächter aus. „Meinst du, daß dieser große Laden dir gehört? Nein, das ist unmöglich. Ein einziger Mann besitzt nicht alle diese Dinge." Danach ließ Abu Miftah den Beduinen in Ruhe und lachte insgeheim, weil der Beduine meinte, er habe zu viele Waren. Sobald sich der Beduine von Abu Miftah losgemacht hatte, fing er wieder an umherzugehen und sich damit zu vergnügen, alles anzuschauen. Er betrachtete alle Sorten der aus-
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gelegten Waren und wanderte von einer Abteilung zur anderen, bis er an einer Stelle stehenblieb, an der eine Guffa voller Früchte stand. Einer der Kunden hatte sie in einem benachbarten Laden gekauft und im Laden von Abu Miftah zur Aufbewahrung abgestellt. Der Beduine stellte sich neben die Tasche und untersuchte eingehend, was sie enthielt. Er nahm in die Hand, was ihm fremd erschien, wandte es hin und her in seinen Händen und befühlte es. Dann rieb er es zwischen den Fingern, roch daran und legte es wieder an seinen Platz in der Tasche. Abu Miftah sah zu und wurde rasend vor Zorn über das, was sich der Beduine erlaubte. Er konnte sich nicht länger beherrschen und wollte gerade dem Beduinen Vorhaltungen machen und ihn aus dem Laden werfen, als ihm ein Gedanke kam. Dieser gefiel ihm, und sogleich dachte er an seine Ausführung. Warum sollte er dem Beduinen nicht einen Streich spielen? Warum sollte er nicht Ränke schmieden, auf die der Beduine in seiner Einfalt hereinfallen würde? Wahrlich, Abu Miftah war ein verschlagener Geselle und verstand sich auf Listen und wußte, wie er Einfaltspinsel solcher Art ausnutzen konnte, indem er ihnen eine billige Ware für einen Überpreis verkaufte und damit Reichtum zu seinem Reichtum hinzufügte. Abu Miftah fühlte sich wie berauscht, wenn er an das geplante Abenteuer dachte. Er eilte auf den Beduinen zu und lud ihn ein, sein Haus zu besuchen, und gab ihm zu verstehen, daß er ihn aus Freundschaft eingeladen habe. Er wollte ihn gern wissen lassen, daß Abu Miftah als Stadtbewohner einem Gast gegenüber nicht weniger großzügig sei als die Leute der Wüste, die mit dem Gast ihren Tagesproviant teilen. Der Beduine fiel auf die List von Abu Miftah herein und wartete auf ihn bis zum festgesetzten Zeitpunkt und ging mit ihm in sein Haus. Er trat ein, und sein Gastgeber ebenfalls. Der Beduine bewunderte die prächtigen Möbel, die Teppiche von der besten Sorte, die in Misurata gewebt wird, und die Spieltische, die mit Elfenbein eingelegt waren. Auch die anderen Ziergegenstände warea von erlesener Schönheit. Der Beduine staunte über all das Schöne, was er sah, und betrachtete es mit Bedacht und Sorgfalt. 411
Inzwischen hatte sich Abu Miftah eilends zu seiner Frau begeben und ihr mitgeteilt, daß er das Essen mit Hilfe eines Seiles geschickt haben wolle, das er zwischen den Fenstern des Empfangszimmers und der Küche aufspannen werde. Sie sollte ihm die Speisen geben, die er begehre, und in eine Guffa legen, die an dem Seil befestigt war. Ferner trug Abu Miftah seiner Frau auf, ihm nichts zu schicken, ohne daß er darum auf folgende Weise gebeten hatte: Bringe die Sinijas, o Seil! Bringe den Kuskus, o Seil! Bringe das Brot, o Seil! Bringe die Früchte, o Seil! usw. Die Frau lachte über den Einfall ihres Mannes und glaubte, er wolle sich mit dieser Vorrichtung die Mühe sparen, das Essen selbst zu dem Gast hineinzutragen. Sie beeilte sich, das Mahl herzurichten, und wartete dann auf das verabredete Zeichen. Unterdessen holte Abu Miftah ein langes Seil herbei und ging damit ins Empfangszimmer und spannte es von einem Ende des Zimmers zum anderen. Er tat dies vor den Blicken des Beduinen und band es in seiner Gegenwart auch gut fest. Danach setzte er sich heiter zu seinem Gast und begann eingehend von den Sehenswürdigkeiten zu reden, die es in der Stadt gab. Als sich der Hunger bei beiden einstellte, rüttelte Abu Miftah an dem Seil und sprach: „Bringe die Sinijas, o Seil 1" Als die Sinijas in der am Seil befestigten Guffa hereingeschickt wurden, nahm sie Abu Miftah aus der Tasche heraus und ließ diese leer zurückgehen, dann sprach er: „Bringe den Kuskus, o Seil!" Als der Kuskus kam, machte Abu Miftah es wie zuvor und befahl dann: „Bringe das Brot, o Seil! Bringe die Früchte, o Seil! Bringe das Zuckerwerk, o Seil!" All dies geschah, und die Augen des Beduinen betrachteten Abu Miftah mit äußerstem Erstaunen und fielen nahezu aus ihren Augenhöhlen heraus vor lauter Verwunderung über das, was er zu sehen bekam. Als die ganze Mahlzeit fertig aufgetragen war, forderte Abu Miftah den Beduinen auf: 412
„Bitte, mein Bruder, laß dir dieses bescheidene Essen' schmecken!" Der Beduine sagte: „Nein, bei der Barmherzigkeit meiner Vorväter, ich werde nichts von deinem Essen kosten, bevor du mir nicht einen Wunsch gewährst, den von dir zu erbitten ich mich gezwungen fühle." Abu Miftah sagte: „Begehre, was du willst, mein Bruder, bloß entschuldige mich, wenn ich dieses Seil davon ausnehme." Der Beduine sprach: „Ich wünsche aber nur dieses Seil!" „Ich bitte dich, mache es mir nicht schwer, mein Bruder", sagte Abu Miftah und tat, als mache er Ausflüchte: „Die Leute wollten mir für dieses Seil schon viel Geld zahlen, aber ich weigerte mich, es ihnen zu verkaufen." Der Beduine sagte: „Aber ich kaufe es dir mit Geld ab." So sprach er und holte einen Geldbeutel hervor und entleerte ihn auf dem Teppich vor Abu Miftah. Einige Goldstücke, vermischt mit Silberstücken, kamen aus dem Beutel hervor. Als Abu Miftah die Goldstücke sah, hätte er beinahe seine Hand ausgestreckt, um sie zu nehmen, doch er beherrschte sich und entschuldigte sich zum zweiten Male, daß er das Seil nicht verkaufen wolle. Da die Hartnäckigkeit von Abu Miftah nicht zu erschüttern war, griff der Beduine zu einem anderen Mittel, um das Seil zu erlangen. Er weigerte sich nämlich zu essen, stand auf, wandte sich zur Tür und tat, als sei er wütend: „Bei der Wahrheit, ich werde dein Essen nicht kosten, und zwischen mir und deinem Haus soll es kein Brot und Salz geben, wenn du mir diesen Wunsch verweigerst!" „Beruhige dich, beruhige dich und sei nicht wütend, mein Bruder!" sagte Abu Miftah und hielt den Beduinen fest, um ihn am Verlassen des Zimmers zu hindern. „Soll ein Seil wie dieses ein Mißverständnis zwischen uns verursachen? Nein, mein Bruder, ich lasse nicht zu, daß so etwas geschieht. Nimm das Seil, und möge es dir Segen bringen 1"
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Abu Miftah sprach diese Worte und streckte seine Hand nach den Goldstücken aus und raffte sie mit blitzartiger Geschwindigkeit vom Teppich auf, damit der Beduine seine Absicht nicht etwa noch änderte. Die Miene des Beduinen glättete sich, als er das Seil erhielt. Er wickelte es-zusammen, dann setzte er sich nieder, aß Abu Miftahs Mahl und sättigte sich daran. Darauf dankte er ihm für die Güte seiner Gastfreundschaft und überließ seine Beine dem Wind auf dem kürzesten Weg, der an seinen Aufenthaltsort in der Wüste führte. In der Wüste zeigte der Beduine seiner Familie und seinen Bekannten das Seil. Dann spannte er es vor ihnen an beiden Enden seines Zeltes auf und ließ sie hören, wie er von dem Seil begehrte, ihm Essen zu bringen. Er bat und bedrängte es mit Bitten, rüttelte das Seil und zog es straff. Er flehte es um Mitleid an, dann schrie er es an und gab ihm Befehle, doch das Seil brachte ihm nichts und gehorchte nicht. Der Beduine wunderte sich darüber und wiederholte seine Versuche, aber das Seil blieb ein Seil, nicht mehr und nicht weniger, ein Seil, das seinem Wunsch nicht entgegenkam und den Hunger nicht zufriedenstellte. D a begriff der Beduine, daß Abu Miftah ihn betrogen hatte, doch er zeigte sich vor seiner Familie beherrscht und ließ sich nicht merken, daß er ¡sich eingestand, durch List betrogen worden zu sein. Statt dessen shgte er ihnen zur Entschuldigung: „Es scheint, daß dieses Seil von Heimweh befallen wurde, weil es weit von der Stadt entfernt ist. Ich will nochmals zu ihm reden, wenn es sich daran gewöhnt hat, unter uns zu leben." Die Tage vergingen, und der Beduine dachte über die Sache mit dem Seil nach. Was sollte er damit beginnen? Sollte er es in vier Teile schneiden und einen davon zum Festbinden der Esel an die Kamele benutzen oder zum Erklettern der Dattelpalmen? Oder sollte er einen Eimer daran befestigen und damit aus der Regenwasserzisterne, die sich im nahegelegenen Wadi befand, das Wasser heraufholen? Sollte er dies tun, oder sollte er das Seil aufheben und sorg414
fältig hüten und es hin und wieder einmal betrachten, um sich daran zu erinnern, daß er von nun an niemandem mehr erlauben werde, ihn zu überlisten und zu betrügen? In der Nähe dieses Ortes zog ein Mann vorbei, der zu den wohlhabendsten Karawanenhändlern gehörte. Er hielt vor einem Zelt an und bat dessen Bewohner um Seil zum Verstärken der Verschnürung, mit der er die Handelslasten auf den Rücken der Kamele befestigt hatte. Die Seile für diese Lasten waren wegen des vielen Hin- und Herschütteins, der starken Beanspruchung und des andauernden Marsches durch die Wüste aufgedröselt. Als die Beduinen hörten, was der Kaufmann wünschte, führten sie ihn zum Zelt des Beduinen, der das Seil besaß, und sagten zu dem Kaufmann: „Wir wissen, daß der Beduine, der in diesem Zelt wohnt, ein Seil besitzt. Er brachte es vor einiger Zeit aus der Stadt m i t Wir wissen aber nicht, ob der Beduine das Seil verkaufen will oder nicht, denn er glaubt offenbar, daß es mit diesem Seil eine besondere Bewandtnis hat, die es vor anderen Seilen auszeichnet." Und so blieb der Kaufmann am Eingang zum Zelt des Beduinen stehen und bat ihn um das Seil. Als er merkte, daß sich der Beduine weigerte, das Seil zu verkaufen, verlockte er ihn mit reichlichen Gaben und beschämte ihn mit rührenden Worten, bis er sich erweichen ließ und dem Mann einen Teil des Seiles abschnitt und verkaufte. Den Rest hob er für sich selbst auf. Die Umstände wollten es, daß nach wenigen Tagen ein anderer Kaufmann in dieser Gegend vorüberzog, der ebenfalls Seil brauchte, um sein Handelsgut besser befestigen zu können. Die Lagerbewohner führten ihn zu demselben Beduinen, und der Kaufmann handelte ihm nach vielem Hin und Her einen Teil des übriggebliebenen Seiles ab. ' Auf diese Weise waren die Kaufleute über das Zelt des Beduinen unterrichtet, und einer führte nun den anderen zu ihm, wenn sie Seil benötigten, um die Lasten ihrer Kamele nach einer langen Reise durch die südliche Wüste erneut abzustützen. 415
Dies veranlaßte den Beduinen, mehr Seil zu kaufen. E r schaffte es aus den benachbarten Städten heran, um es nochmals mit einem erlaubten Gewinn an die Karawanenhändler zu verkaufen. Als sich immer mehr Seil bei ihm anhäufte, knüpfte der Beduine Seile zum Zeitvertreib und fertigte schöne Teller daraus an, die den Wüstenbewohnern gefielen. Sie kauften sie ihm zu angemessenen Preisen ab und benutzten sie auf mannigfache Weise. Als der Beduine sah, wie sein Handwerk aufblühte, errichtete er allein dafür ein kleines Zelt, das er zum Verkauf der aus Seil geknüpften Teller bestimmte, und gab ihm als ein günstiges Vorzeichen den Namen „der Laden", nach dem Laden von Abu Miftah, den er in der Stadt gesehen hatte. Allah segnete das Werk des Beduinen. E r lehrte die Bewohner seines Haushaltes sein Handwerk, damit sie ihm helfen konnten. Ferner kaufte er für sich und seine Familie ein neues Zelt, breitete darin einen prächtigen Teppich aus, fügte einige Kissen hinzu und verschönerte das Innere des Zeltes mit allen Möbeln und Gefäßen, die zu erwerben ihm nicht schwerfiel. Nach und nach bildeten sich um das Zelt des Beduinen wegen seines eleganten Aussehens und seiner einzigartigen Einrichtung sogar Sprichwörter. Abu Miftah aber beschloß eines Tages, eine Reise durch die Wüste zu unternehmen, um bei den Bewohnern des Südens seltene Kostbarkeiten einzusammeln. Er schloß sich auf der Reise einer Anzahl von Kaufleuten an, war aber bedacht, sich nicht allzuweit von ihnen zu entfernen, da er die Wüstenwege und die Grundregeln der Wüstenreise nicht kannte. D a geschah es, daß ein heftiger Sturm wehte, der alle Reisegefährten voneinander trennte, so daß jeder seinen Weg selbst suchen mußte. Abu Miftah irrte vom Reiseweg ab, und als sich der Sturm gelegt hatte, befand sich Abu Miftah in einem Meer von Sand, in dem er nichts anderes als seine eigenen Fußspuren sah. E r wußte nicht, wo er sich in dieser öden, ihm unbekannten Welt befand. Abu Miftah begriff, daß er mitten in der Wüste von seinem Weg abgekommen war, und Furcht überfiel ihn. E r lief 416
ziellos weitet und rief dabei, doch keiner hörte ihn. Er sah eine Luftspiegelung in der Ferne und glaubte, es sei Wirklichkeit. Er rannte auf sie zu, doch er mußte erkennen, daß er nichts als Wüste erblickte. Während er sich in diesen beängstigenden Umständen befand, sprangen plötzlich Knaben um ihn herum, die hinter einem Sandhügel hervorgekommen waren und lachten. Sie umringten Abu Miftah, nahmen ihn zum Zelt ihres Vaters mit und ließen ihn darin niedersitzen. Dann liefen sie zu ihrem Vater, damit er sich diesen Städter anschaue, der nicht wußte, wie er seinen Weg in der Wüste finden sollte! Abu Miftah saß im Zelt und begann die prächtige Ausstattung zu betrachten. Er befühlte die herrlichen Teppiche, die auf die Erde gebreitet waren, und lehnte sich an die Kissen, die das Zelt zierten. Dann bewunderte er die Schönheit, die sich in jedem Stück des Messinggeschirrs offenbarte, das zu beiden Seiten des Zeltes aufgestellt war. Er sah auch den herrlich gearbeiteten Mörser für die Kaffeebohnen seinesgleichen besaßen nur die Emire. Ob er sich vielleicht im Zelt eines Emirs befand? Während sich Abu Miftah das Zelt und was es darin gab eingehend anschaute, beobachteten ihn die Augen des Beduinen von hinten durch einen Schlitz des Zeltes. Die Augen des Beduinen betrachteten Abu Miftah, und sie lachten über die Spuren der Ermattung, die sich deutlich bei ihm abzeichneten. Auch vergnügten sie sich über die belustigenden Umstände, unter denen Abu Miftah in die Hände des Beduinen gefallen war. Unbewaffnet und der Helfer und Diener beraubt, war er in seine Hände gefallen. Weißt du, was einem Beduinen mit dem Mann anzustellen zukommt, der ihn betrogen und angeführt hatte, indem er ihm ein gewöhnliches Seil verkaufte, in dem kein Wert steckt? Der Beduine verschleierte sich. Dann trat er ins Zelt, ging auf Abu Miftah zu, indem er ihn willkommen hieß und nach seinem Befinden fragte, seinen Handelsgeschäften und seinem Heim mit den kostbaren Dingen, die er darin aufgestellt hatte. Abu Miftah wunderte sich sehr über die Fragen des Beduinen, doch er wagte nicht, ihn nach dem tatsächlichen Sach27 Arabische VoUcemiichen
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verhalt zu fragen, denn er wußte, daß er sein Haus kaum für Fremde geöffnet hatte, ohne sie nicht irgendeinem hinterlistigen Streich auszusetzen. Der verschleierte Beduine befahl, seinem geehrten Gast das Essen zu bringen. Es wurde in Gefäßen hereingebracht, die mit großer Sorgfalt gearbeitet waren, und auf einen Teller aus Seilen gestellt, die in gefälliger Form aneinandergefügt waren. Als Abu Miftah dem Beduinen seine Bewunderung über das Ausmaß an Reichtum ausdrückte, das er hier erblickte, entgegnete ihm der verschleierte Beduine: „Wir Wüstenbewohner wissen, wie es mit dem Reichtum steht. Der Preis meines großen Zeltes hier übersteigt den Preis deines kleinen Hauses, und die prächtigen Teppiche, die du siehst, kommen der Hälfte der Waren gleich, die in deinem Geschäft ausgelegt sind. Was die Messingsachen und die übrigen Gefäße anbelangt, die hier vor dir stehen, so stellen sie trotz ihrer geringen Anzahl das Beste dar, was meine Augen gesehen haben, wenn ich in verschiedenen Ländern umherreiste." Ein Geruch von wohlschmeckendem Essen erfüllte das ganze Zelt. Da zeigte der Beduine auf das Essen und sagte zu Abu Miftah: „Bitte, Abu Miftah, dies entspricht zwar nicht deiner Würde, doch mache mir die Freude, daß ich dir zu Diensten stehen kann." „Abu Miftah . . Mit diesen Worten redete der Beduine Abu Miftah an. Wie war es möglich, daß er den Beinamen des Kaufmanns kannte, und wie war es möglich, daß er über das Vorhandensein eines Geschäftes Bescheid wußte, das ihm gehörte, und eines Hauses, in dem es eine Anzahl von wertvollen Dingen gab? „Abu Miftah 1" Abu Miftah dachte darüber nach, warum ihn der Beduine so gerufen hatte. Ein Zittern durchfuhr seinen Körper und beängstigte ihn. Das Essen blieb ihm in der Kehle stecken, doch er begann es hinunterzuwürgen, um seinen Gastgeber nicht seine Furcht sehen zu lassen. Kannst du es voraussehen, ob.dieser Beduine vielleicht eines der Opfer seiner Heimtücke war, und wenn es sich so verhielt, 418
würde er nicht versuchen, sich zu rächen? Wenn er sich rächen sollte, was würde er wohl mit Abu Miftah beginnen? Endlich, als er Abu Miftah den Kaffee reichte, nahm der Beduine den Schleier herunter und schaute Abu Miftah mit einem Blick an, der ihn den Geist aufgeben ließ. Er schrie um Hilfe, wandte sich dem Ausgang des Zeltes zu und wollte fliehen. Er hatte nun begriffen, daß sein Gastgeber jener einfältige Beduine war, den er betrogen hatte und dem er ein wertloses Seil für alles Gold, was er bei sich trug, verkauft hatte. Der Beduine bat Abu Miftah stehenzubleiben und beruhigte sein Gemüt mit den Worten: „Was ist das für eine Angst, die du an den Tag legst, wenn du dich im Haus deines Bruders befindest? Was bist du so beunruhigt, wo du doch der Anlaß meines Glückes und des Glückes aller meiner Familienmitglieder geworden bist?" So sprach er und ließ Abu Miftah niedersitzen. Dann erzählte er ihm die Geschichte mit dem Seil und wie es seinen Reichtum verursacht habe. Abu Miftah aber entschuldigte sich, daß er ihm davonlaufen wollte, und verweilte als Gast bei dem Beduinen und übernachtete bei ihm drei Tage lang. Während dieser Tage schämte er sich immer mehr über das, was er getan hatte. Er wünschte', daß die Erde Mitleid mit ihm haben und sich öffnen möge, um ihn zu verschlingen, damit er von der Demütigung befreit werde, die er angesichts der Gastfreundschaft und Güte des Beduinen verspürte. Am Ende der drei Tage nahm der Beduine Abu Miftah mit und brachte ihn auf den Karawanenweg, damit er leichter dem rechten Wege folgen und in seine Stadt gelangen konnte. Als sich die beiden Männer die Hände schüttelten, um voneinander Abschied zu nehmen, sagte Abu Miftah zu dem Beduinen: „Wenn du noch mehr von diesen Tellern herstellst und sie in meinen Laden schickst, werde ich sie dir zu lohnenden Preisen verkaufen, und wahrlich, ich verspreche dir, dich in keiner Weise zu hintergehen." Der Beduine dankte Abu Miftah, dann sagte er zum Abschied : „Ich möchte dir zu bedenken geben, o Abu Miftah, daß wir Menschen der Wüste von den Lichtern der Stadt ge27*
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blendet werden, und ihre Auslagen nehmen unser ganzes Herz gefangen. Wegen unserer Einfalt erscheinen wir den Bewohnern der Stadt als unbedeutend. Wir besitzen aber trotzdem angeborenen Scharfsinn, der uns ermöglicht, die Schwierigkeiten des Daseins zu meistern. Es mag dir Beweis genug sein, wenn du siehst, daß ein Seil, das jeglichen Werts entbehrte, in der Hand eines Beduinen die Grundlage zur Versorgung seiner Familie und zu seinem Wohlstand bildete."
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NACHWORT Wie ein Sturm brachen im 7. J h . unserer Zeitrechnung aus der Arabischen Halbinsel die Reiterscharen der Araber in die benachbarten Länder ein, zerschlugen die Heere der Byzantiner in Syrien und der Perser in Mesopotamien und erreichten im Verlaufe eines Jahrhunderts die Grenzen Chinas in Mittelasien und den Indus im Osten. Nach der Besetzung der Kornkammer Ägypten durchzogen sie Nordafrika, brachen den erbittertenWiderstand der einheimischen Berberstämme und setzten dann im Bündnis mit ihnen nach Europa über. Gemeinsam machten sie sich in kurzer Zeit den größten Teil der Iberischen Halbinsel Untertan und wagten sich über die Pyrenäen hinaus bis weit nach Südfrankreich. Die letzten Ausläufer dieser kraftvollen Bewegung wurden dann 732 zwischen Poitiers und Tours von den Franken Karl Martells aufgehalten und zurückgedrängt. Innerhalb von rund hundert Jahren war so mit militärischer Gewalt ein weites Territorium unter arabischislamische Herrschaft gebracht worden. Das persische Sassanidenreich war hinweggefegt, Byzanz hatte seine vorderasiatischen und afrikanischen Provinzen verloren, in Spanien war das bereits morsche Westgotenreich unter den Schlägen von Arabern und Berbern zusammengebrochen. Heftige Machtkämpfe innerhalb der arabischen Aristokratie führten bald zur Errichtung von Kalifendynastien. 661—749 herrschten von Damaskus aus die Omaijaden. Sie wurden abgelöst durch die Abbasiden, die — zuletzt nur noch nominell — bis 1258 in Bagdad regierten. Das eroberte Gebiet war jedoch zu ausgedehnt und in seiner Entwicklung zu heterogen, als daß es auf die Dauer zentral verwaltet werden konnte. Zuerst traten an der Peripherie des Kalifats, in Spanien und Nordafrika, selbständige Herrscher auf. Nach und nach bröckelten immer größere Teile vom Herrschaftsgebiet des Bagdader Kalifen ab, und eine Vielzahl kleinerer und größerer Staaten entstand. 423
Von Osten her war inzwischen eine neue Welle von Eroberern über die arabisch-islamischen L ä n d e r hereingebrochen. Aus Zentralasien d r a n g e n T u r k s t ä m m e n a c h Westen vor. Gestützt auf ihre militärische Schlagkraft, rissen sie in Vorderasien bald die Macht an sich. I n diese W i r r e n griffen im 11. J h . die europäischen F e u d a l s t a a t e n ein. Einige J a h r z e h n t e lang regierten in Syrien u n d P a lästina in kleinen H e r r s c h a f t e n die Kreuzritter. U n t e r d e m A n s t u r m der A r m e e n des klugen kurdischen H e e r f ü h r e r s Saladin m u ß t e n sie jedoch ihre H a u p t p o s i t i o n e n aufgeben. A n f a n g des 12. J h . drangen d a n n die Mongolen in verheerenden Kriegszügen in den I r a n u n d in Vorderasien ein u n d schoben sich n a c h Westen vor, bis sie in Syrien von den ägyptischen Mameluken zum Stillstand gebracht wurden. Diese Mameluken, eigentlich Sklavenkrieger aus dem K a u k a s u s , k o n n t e n f ü r einige J a h r h u n d e r t e (1250 bis 1517) ein starkes Reich in Ä g y p t e n errichten. I m 16. J h . wurde jedoch a u c h ihr Gebiet m i t Gewalt zu einer der zahlreichen Provinzen des türkischen Osmanenstaates gemacht. F ü r die Araber begannen d a m i t J a h r h u n d e r t e der K n e c h t s c h a f t u n d U n t e r d r ü c k u n g , deren L a s t e n noch unerträglicher wurden, als im 19. J h . die europäischen Kolonialmächte die arabischen L ä n d e r u n t e r ihr J o c h p r e ß t e n . E r s t n a c h d e m Zweiten Weltkrieg k o n n t e n sich die arabischen Völker allmählich in h e l d e n h a f t e m K a m p f von der französischen u n d britischen Kolonialherrschaft befreien u n d den Weg der nationalen Unabhängigkeit beschreiten. Die hier in aller K ü r z e dargestellten Ereignisse trugen in über einem J a h r t a u s e n d dazu bei, daß sich eine arabische N a t i o n herausbildete, die vor allem durch ihre einheitliche Literatursprache u n d die gemeinsame historische u n d kulturelle E n t w i c k l u n g gekennzeichnet wird. Sie n i m m t h e u t e das Gebiet von Marokko i m Westen bis z u m I r a k im Osten ein. Doch leben m i t ihr gemeinsam die Angehörigen anderer Völkerschaften, in N o r d a f r i k a die Berber, in Ä g y p t e n die K o p t e n u n d im I r a k die K u r d e n . I h r e Geschichte ist jedoch u n t r e n n b a r m i t den Geschioken der A r a b e r v e r b u n d e n . Als die Araber im 7. J h . ihr Weltreich begründeten, s t a n d e n sie in ihrer E n t w i c k l u n g auf der Schwelle zur Klassengesellschaft. Noch waren sie in der Mehrzahl in
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Stämme und Sippen aufgeteilt und lebten in den Steppen von der Viehzucht. Die Kamelnomaden, die Beduinen, bildeten auch den Kern und die Masse der arabischen Eroberungsheere. Nur ein Teil von ihnen wurde im Laufe der Zeit seßhaft und betätigte sich in anderen Bereichen der Wirtschaft. So lebten in den arabischen Ländern neben den Ackerbauern und Stadtbewohnern in den Randgebieten des Kulturlandes immer Nomaden, die die jeweiligen Staaten nur schwer unter ihrer Kontrolle halten konnten und die zu einer beträchtlichen Gefahr wurden, wenn sie in die fruchtbaren Ländereien einfielen. Diese Beduinen spielten jedoch eine Rolle als Viehzüchter, eie lieferten den Karawanen Tiere und bewaffneten Schutz, ihre Pferde waren ein begehrter Luxus der Reichen. Die arabischen Eroberungen wurden von Vertretern der Gentilaristokratie geführt. Nach der Unterwerfung gewaltiger Gebiete verwandelten sie sich zunehmend von Eigentümern großer Viehherden und Karawanenhändlern zu Grundbesitzern, die auf ihren Gütern die einheimischen Bauern ausbeuteten. Erst allmählich wurden die besetzten Gebiete arabisiert. In manchen geschah das aber nur oberflächlich und vorübergehend wie im Iran und in Spanien. Die arabische Sprache, die zur semitischen Sprachfamilie gehört, wurde zum offiziellen Kommunikations- und Ausdrucksmittel und setzte sich nach und nach auch bei den unterworfenen Völkern durch, die sich im Laufe der Zeit den Eroberern assimilierten. Von besonderer Bedeutung war dabei die Verbreitung des Islam, unter dessen Banner die Araber aus der Halbinsel gekommen waren und der nun andere Religionen, wie z. B . das Christentum, ablöste. Zur vorherrschenden Produktionsweise in den arabischen Ländern entwickelte sich seit den Eroberungen immer stärker der Feudalismus, der erst seit der Mitte des 19. J h . an Boden gegenüber dem Kapitalismus verlor. Der Feudalismus in den arabischen Ländern unterschied sich auf Grund der andersartigen Voraussetzungen in einigen wesentlichen Aspekten von dem europäischen. So waren die Bauern nicht Leibeigene, sondern lebten in ihren Dorfgemeinschaften als formell freie Personen, die jedoch durch Pacht und Steuern von den Grundbesitzern und dem Staat abhängig waren und meist auch ihre Scholle nicht verlassen durften. Während zuerst Lehen aus dem Staats425
land nur in geringem Ausmaße vergeben wurden, erhielten später in den politischen Wirren die Führer von Söldnerheeren ganze Provinzen, um von deren Steuern ihre Truppen zu besolden. Dabei brachte der Unterschied zwischen dem Steueraufkommen der Bevölkerung und den Ausgaben des Heerführers für den Sold dem Pächter gewaltige Summen für seine eigene Tasche; die entsprechenden Provinzen gerieten aber häufig an den Rand des Ruins. Die Grundbesitzer lebten als Pachtherren auf den Dörfern, wenn sie nicht reich genug waren, um sich in den Städten und deren Umgebung prachtvolle Häuser und Schlösser zu errichten. Das Land war also nicht, wie in Europa, von vielen festen und unzugänglichen Burgen überzogen. Im Gegensatz zu Europa verloren im Nahen Osten und in Nordafrika auch die Städte als wichtige Zentren des Handels und des Handwerks, der Verwaltung und der Kultur niemals ihre Bedeutung. Andererseits konnten sie aber auch nicht die relative Selbständigkeit ihrer europäischen Schwestern gewinnen und damit einen kraftvollen Aufschwung des Bürgertums fördern. In den Städten blühten seit Jahrhunderten verschiedene Handwerkszweige, unter denen besonders das Textilgewerbe und das Schmiedehandwerk 2u x erwähnen sind. In Berufsgenossenschaften vereint, arbeiteten die Handwerker in ihren Straßen vor ihren offenen Läden, in denen die Produkte ihres Fleißes malerisch zur Schau gestellt wurden. Auf dem Suk, dem Markt, wogte das Getriebe eifrigen Handelns. Die Bauern kamen aus den Dörfern der Umgebung mit ihren Feldfrüchten und Tieren, die Handwerker tätigten ihre Geschäfte vor ihren Arbeitsstätten. Auch die Kaufleute wickelten hier ihren Handel ab, brachten Luxuswaren aus fernen Ländern zum Verkauf, verdienten aber auch an Kreditgeschäften mit Andersgläubigen. Dieses Treiben wurde — bis weit ins 19. J h . hinein — noch vermehrt durch Gaukler, die gewagte Kunststücke vorführten, durch Erzähler, die von unglaublichen Dingen zu berichten wußten. Zum Bild dieses Lebens gehörten auch die Allerärmsten, Bettler und Krüppel, die auf Almosen hofften oder sich durch kleine Diebereien vor dem Hungertod zu retten suchten. Die Reicheren besaßen für Arbeiten im Hause und in den Werkstätten auch Sklaven, die aus fernen Ländern zum Verkauf gebracht wurden. Sie genossen jedoch häufig eine
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größere Freizügigkeit, als sie meist auf Grund der antiken Verhältnisse in R o m u n d Griechenland den Sklaven zugebilligt wurde. Sie k o n n t e n selbst zu großem Ansehen u n d höchster Macht gelangen, wie Beispiele aus der mittelalterlichen Geschichte zeigen. Kennzeichen einer jeden arabischen u n d islamischen S t a d t waren u n d sind noch h e u t e die schlanken T ü r m e der Minarette, von denen mehrmals täglich z u m Gebet gerufen wurde. I n den Moscheen, den Versammlungsorten der Gläubigen, konzentrierte sich a u c h ein großer Teil des kulturellen Lebens. I n ihnen k a m m a n nicht n u r zus a m m e n , u m gemeinsam d a s Gebet zu verrichten u n d freitags die Predigt zu hören, sondern auch, u m im Schatten der meist liebevoll u n d prächtig a u s g e s t a t t e t e n Bauwerke über die verschiedensten Dinge zu diskutieren oder auch die Bibliotheken der Moscheen — S t i f t u n g e n reicher Mohammedaner — zu benutzen. Neben den Moscheen befanden sich auch Schulen u n d in den großen S t ä d t e n Universitäten, die Pflanzs t ä t t e n der arabisch-islamischen Gelehrsamkeit waren. Z u m deutlichsten Ausdruck der arabischen K u l t u r wurde die islamische Religion, die nach u n d nach die meisten Völker von N o r d a f r i k a bis Mittelasien u n d selbst in Ostasien a n n a h m e n . Der Islam, der A n f a n g des 7. J h . in den S t ä d t e n Mekka u n d Medina in Westarabien e n t s t a n d e n war u n d von d a aus m i t den arabischen E r o b e r u n g e n seinen Siegeszug a n g e t r e t e n h a t t e , wuchs allmählich zu einem komplizierten ideologischen System heran, d a s alle Lebensbereiche der arabischen Welt d u r c h d r a n g , worauf s p ä t e r noch eingegangen wird. Neben d e m I s l a m hielten sich in den arabischen L ä n d e r n a b e r auch andere Religionen. I n Syrien u n d Ä g y p t e n b e w a h r t e n die Christen ihre Bräuche u n d waren offiziell v o m muslimischen S t a a t geschützt. I n den S t ä d t e n , die seit alters a n den internationalen Handelsstraßen lagen, b e s t a n d e n auch Gemeinden von J u d e n , die sich m i t H a n d e l u n d H a n d w e r k beschäftigten. M o h a m m e d a n e r , Christen u n d J u d e n f ü h r t e n ein Leben voller gegenseitiger K o n t a k t e u n d Achtung, wenn auch die herrschenden Schichten Ausschreitungen gegen Andersgläubige in m a n c h e n Zeiten erlaubten u n d förderten, u m den Unwillen der Bevölkerung von sich abzulenken. Die islamische Religion b e s t i m m t e in breitem Maße die verschiedensten Bereiche der K u l t u r . Die Moscheen
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wurden zu typisohen Denkmälern der arabisch-islamischen Kunst, die sich duroh ihre Vorliebe für das Ornamentale auszeichnet. In der Literatur waren Sprache und Stil des Koran das nachzueifernde Vorbild. Unter Beteiligung von Angehörigen verschiedener Völker und unter Ausnutzung alter Traditionen entstand so im Mittelalter das prächtige Gebäude der arabisch-islamischen Kultur, die als notwendiges Bindeglied voller eigener Schönheit zwischen dem antiken Erbe und der Kultur der Neuzeit steht, auf deren vielfältige Erzeugnisse heute die Araber in den Ländern des Nahen Ostens und Nordafrikas mit Recht voller Stolz blicken.
Das arabische
Volksmärchen
I n Anbetracht der heute noch bedeutenden regionalen Unterschiede im politischen, sozialen und kulturellen Gefüge mag man sich fragen, ob es berechtigt ist, die mündlichen Traditionen der einzelnen arabischen Länder gemeinsam zu behandeln. Einige ältere Veröffentlichungen von Erzählungen aus Ländern des Maghreb (Basset Afrique) oder Ägypten (Artin Pacha Cont. ined.) beschränken z. B. die Bezeichnung „arabische Märchen" auf eine Untergruppe der „semitischen Märchen". Die dafür angegebenen Märchentypen haben größtenteils Varianten in literarischen Bearbeitungen: Anekdoten aus der Adabliteratur oder Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht und verwandten Sammlungen. Ein Blick in die Anmerkungen zu unseren Texten bestätigt, daß Volksmärchen, deren Gesamtverlauf oder Einzelepisoden auf literarische Vorlagen zurückgehen, in nahezu allen arabischen Ländern verbreitet sind. Andererseits wird der bisher als „Berbermärchen" definierte Märchentyp vom listigen Burschen, der einem Ghulweib übel mitspielt (Nr. 7), nicht nur im Maghreb, sondern auch in Palästina und im Irak erzählt. Der zweite Teil von Nr. 8, der von einer Jungfrau in Hundegestalt handelt, scheint ebenfalls bei den Berbern eine große Rolle zu spielen, läßt sich aber auch im Libanon nachweisen. Umgekehrt ist das Märchen vom Käferfräulein (Nr. 3), dessen wohlbewahrte Reimprosa auf Bodenständigkeit im irakisch-persischen Raum deutet, 428
a u c h im Maghreb anzutreffen u n d von d o r t wahrscheinlich in die europäischen Mittelmeerländer gelangt. Diese Beispiele zeigen, wie Erzähl g u t , das auf nichtarabische Bevölkerungselemente zurückgehen mag, auch in weit e n t f e r n t e n Teilen der arabischen Welt b e k a n n t werden k a n n u n d d u r c h Verschmelzung m i t lokalen Traditionen assimiliert wird. Neben der gemeinsamen arabischen Sprache gibt es verschiedene F a k t o r e n , die in der Vergangenheit die Ausbreitung von Märchenstoffen weit über Stammes- u n d Landesgrenzen gefördert h a b e n . Die W ü s t e n N o r d a f r i k a s u n d Vorderasiens bildeten ähnlich wie die Meere kein Hindernis, in Handelsbeziehungen zu anderen L ä n d e r n zu t r e t e n . N i c h t selten f ü h r t e ein K a u f m a n n die Tochter oder Schwester eines Geschäftsfreundes als B r a u t heim, u n d m i t ihr folgten Diener, Sklaven oder ältere Familienangehörige. Waren die H ä n d l e r m o n a t e l a n g auf Reisen u n d besaßen sie gen ü g e n d Vermögen, d a n n h a t t e n sie o f t a u c h in anderen Gegenden, in die sie ihre Geschäfte f ü h r t e n , eine zweite oder d r i t t e F r a u , mit deren Familie sie längere Zeit zus a m m e n lebten. D e n Handelskarawanen schlössen sich häufig talaba u n d Gelehrte an, die ihre Kenntnisse durch Studien in b e r ü h m t e n Moscheenschulen außerhalb ihres H e i m a t l a n d e s erweitern wollten. Zu den ständigen Begleitern der H a n d e l s k a r a w a n e n gehörten Sklaven. Daneben reisten seit der Verkündigung des I s l a m jedes J a h r große Scharen von Pilgern aus allen Teilen der arabischen Welt n a c h Mekka, u n d vor der E r f i n d u n g der modernen Verkehrsmittel w u r d e n solche W a l l f a h r t e n von vielen zu F u ß zurückgelegt u n d k o n n t e n nahezu ein J a h r dauern. W ä h r e n d religiöse u n d erbauliche Erzählungen wohl größtenteils m i t den Pilgerkarawanen u n d durch den Austausch von Schülern u n d Gelehrten verbreitet worden sind, wurden Zaubermärchen u n d Schwänke wahrscheinlich vorzugsweise m i t d e n H a n d e l s k a r a w a n e n weitergetragen. Dabei h a b e n Sklaven u n d Sklavinnen keine unwesentliche Rolle gespielt, zumal wenn sie m e h r f a c h ihren H e r r n u n d A u f e n t h a l t s o r t wechselten, denn als Begleiter auf langen Reisen, als Helfer im H a u s h a l t , als A m m e n u n d B e t r e u e r von F r a u e n u n d K i n d e r n wurden sie o f t aufgefordert, Geschichten zu erzählen.
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Erzähler und Erzählgelegenheiten Bei den arabischen Völkern werden Märchen nicht nur im Heim, vor Berufs- und Altersgenossen oder bei Zusammenkünften vorgetragen, sondern auch gegenwärtig noch von öffentlichen oder Berufserzählern dargeboten. Durch Film, Rundfunk und Fernsehen wurde der Berufserzähler jedoch in den Hintergrund gedrängt. Moderne Großstädte wie Kairo kennen ihn schon seit 40 Jahren nicht mehr, während er z. B. in Marrakesch im südlichen Marokko noch, vor zehn Jahren seine traditionelle Rolle im Volksleben auf dem berühmten Platz Gämi' al-fanä' in der Nähe der Kutubija-Moschee behauptete. Selbst im Heim ist das Interesse an der Bewahrung mündlicher Traditionen stark zurückgegangen. Das Privileg des Erzählens in der Familie haben heute Großmütter und Mütter. Früher spielte auch die Dienerschaft eine große Rolle. Sklaven und Sklavinnen, die Märchen erzählen konnten, standen meistens höher im Kurs als solche, die nur zu gröberer Arbeit taugten, denn die Kenntnis von Erzählungen wurde seit den ersten Jahrhunderten des Islam zu den zehn Fertigkeiten gerechnet, die zur Bildung notwendig waren (BP IV S. 366). Nach wie vor aber sind im nördlichen Gebiet der arabischen Welt die Winterabende und die Nächte im Ramadan sowie die Vorabende von Hochzeiten und Beschneidungsfesten die beliebtesten Gelegenheiten für die heranwachsende Jugend zum Rätselraten und Märchenerzählen. I m Sudan mit seinen größeren Temperaturunterschieden zwischen Tag und Nacht werden nächtliche Unterhaltungen aych in den mondhellen Sommernächten des Alltags abgehalten. Der sudanesische Sammler al-IJatim (Einleitung zum Baum des Elixiers) beschreibt sehr eindrucksvoll, mit welcher Ungeduld er auf einen solchen Abend wartete und wie innig er sein „Großmütterchen" (vgl. Titel von Nr. 30) im Nachbarhaus liebte. Sie hatte jedesmal eine Fleischsuppe mit eingebrockten Brotresten für die hungrigen Knaben zurechtgemacht. Sobald sich alle im Nachbarhaus versammelt hatten, begannen sie im Chor Lobpreisungen auf Allah herzusagen und sich — wie es in gewissen sufistischen Sekten üblich ist — rhythmisch hin- und herzubewegen und nach hinten zu wenden; ihr Eifer mehrte sich, je länger sie auf das ersehnte Essen und die Geschichten 430
w a r t e n m u ß t e n . Manchmal werden beim Märchenerzählen a u c h F e t i r a k u c h e n oder kleine Leckereien verteilt (vgl. die Schlußformeln zu den Volksmärchen aus Mosul, S. 439). I n f r ü h e r e n J a h r h u n d e r t e n t r u g e n maddahün (Sing. maddäh, Lobredner, -dichter) in den H ä u s e r n der Reichen von Kairo, D a m a s k u s oder B a g d a d während der N ä c h t e des F a s t e n m o n a t s Geschichten von den P r o p h e t e n u n d erbauliche Erzählungen von f r o m m e n u n d gottesfürchtigen L e u t e n vor. Die maddahün waren nicht n u r wegen ihrer d r a m a t i s c h e n Rezitation u n d ihres geschickten Verstellens der S t i m m e b e r ü h m t , sondern n i c h t zuletzt auch wegen ihrer Mimik u n d Gestik. An ihre Stelle t r a t e n wandernde Derwische u n d F a k i r e sowie Erzähler aus d e m H a n d w e r k e r s t a n d , die ebenfalls vorzugsweise im R a m a d a n in die H ä u s e r geladen wurden u n d f ü r Gaben religiöse u n d weltliche Märchen erzählten. Z u den Berufserzählern im H e i m gehörten auch alte F r a u e n , die gelegentlich die F r a u e n q u a r t i e r e wohlhabender Familien aufsuchten, u m beim Baden, K ä m m e n oder Auflegen von H e n n a zu helfen oder u m n a c h geeigneten B r ä u t e n zu schauen, deren H e i r a t sie vermitteln k o n n t e n . Legey (s. ihre Einleitung) n a h m in Marrakesch Geschichten von solchen Haremserzählerinnen auf, die stellenweise grobsinnliche Einschläge zeigen, die andere arabische V a r i a n t e n nicht kennen. D a s männliche Gegenstück zu diesen F r a u e n bildete der Kaffeehauserzähler (näqil, d. h. Überlieferer), zu dessen n u r f ü r Männer b e s t i m m t e m Repertoire a u c h deftige Geschichten gehörten. I n ihren Erzählungen n a h m e n sie o f t auf Vorbilder in Tausendundeiner Nacht Bezug, von denen etliche den sittlichen Verfall im B a g d a d der abbasidischen Kalifen (749—1258) widerspiegeln. Erfolgreiche V e r f ü h r u n g e n u n d betrogene E h e m ä n n e r stellten dabei ein H a u p t t h e m a dar. Märchenerzähler auf öffentlichen Plätzen im Z e n t r u m der S t ä d t e u n d Dörfer oder vor der S t a d t m a u e r sind stets Männer. Nicht selten haben sie Musikinstrumente wie einen R a b a b , ein T a m b u r i n oder eine D a r a b u k k a bei sich, m i t denen sie inhaltliche H ö h e p u n k t e hervorheben. Einige t r a g e n n u r moralisierende u n d religiöse Geschichten vor, andere rezitieren a u c h b e r ü h m t e alte Stammes- u n d Heldengeschichten-wie z. B. die Erzählungen von den Banl Hiläl (vgl. A n m . zu N r . 36), u n d eine weitere Gruppe erzählt 431
Zauborroärchen und Schwanke. Manche ziehen mit Taschenspielern, Akrobaten lind Schaukeln umher und nutzen jede Gelegenheit allgemeiner Volksbelustigung. Bei den nomadisierenden Arabern werden Volksmärchen sowohl in der Familie als auch auf Wüstenreisen und im Gastzelt der Stammesscheiche erzählt. Den beliebtesten Stoff bilden Erzählungen von Stammesfehden, erfolgreichen Plünderungszügen und dem harterkämpften Gewinn mutiger und schöner Scheichtöchter. Ritterlichkeit, Keuschheit und reine Liebe bis zum Tode zeichnen die meisten dieser Erzählungen aus. Auf die Wiedergabe der Volksmärchen haben nicht nur die Abstammimg des Erzählers und die Erzählsituation, sondern vor\allem auch seine soziale Stellung Einfluß. Ein arabischer Analphabet, der des öfteren schriftlich überlieferten Erzählstoff gehört hat, mag ihn teilweise memorieren, aber Stil und Inhalt seiner Erzählung baut mehr auf mündlichen Traditionen auf, die in seine eigene Wirklichkeit und Vorstellungswelt hineinpassen. Die Fellachen stehen den meisten Erzählungen aus Tausendundeiner Nacht vollständig fremd gegenüber, weil sie im städtischen Milieu spielen (Padwick S. 426). Nur einige erbauliche Erzählungen von frommen Leuten und volkstümliche Schatzgräbermärehen (vgl. Anm. zu Nr. 29) finden sich in ihrem Geschichtenschatz als Varianten. Die Unterschiede zwischen Stadt und Land wirken sich auch auf die Einzeldarstellung gewisser Märchenhelden aus. Während z. B . das vom Sohn einer Beduinenfrau geschilderte südarabische Ajschenputtel eine schlichte Fischerstochter ist, die beim Beschneidungsfest des Sultanssohns ihren Fußring verliert (Müller I S. 117 Nr. E), oder unser libanesisches Aschenputtel mit ihrem Kabkab (qabqäb) im Schlamm steckenbleibt (Nr. 18), verliert ihre Kairiner Schwester einen Diamantreif auf einem Hoffest (Artin Pacha Cont. ined. S. 63 Nr. 2). In einem anderen Märchen aus Kairo hat ein Pferd einen Trog voll Rosenwasser und eine Krippe voll Mandeln, und ein Mädchen, das wie Sitt Ward (Nr. 12) im Hause ihrer Schwiegermutter dienen muß, bekommt zur Arbeit ein Perlenwischtuch (Littmann Märchen u. Schwänke S. 61 Nr. 8). Zur Charakterisierung der bisher aufgezeichneten arabischen Volksmärchen genügt es aber nicht, die Rolle der 432
Erzähler zu untersuchen, sehr wichtig sind auch die Sammler und die von ihnen geübte Aufzeichnungstechnik. Die meisten arabischen Volksmärchen wurden im Dienste der Dialektforschung aufgenommen. Mehreren unserer Sammler lag jedoch weniger an einer sprachlich als an einer inhaltlich korrekten Wiedergabe, die ohne Schwierigkeiten auch in den arabischen Bruderländern verstanden wird. Einige Märchen sind in ausgesprochen künstlerischliterarischem Stil aufgezeichnet worden. Der Erzählforscher wird nicht immer mit der Aufzeichnungstechnik zufrieden sein, denn nur ein Teil des vorliegenden Materials enthält genaue Angaben über die Persönlichkeit des Erzählers und die Aufnahme, und Bandeinspielungen liegen nur bei einigen Märchen aus der VAR vor (Anm. zu Nr. 29, 45, Var. zu Nr. 14, 33). So bleibt die Frage offen, ob wissenschaftlich nicht geschulte Sammler die Diktate unverändert wiedergeben oder ob sie statt dessen die Märchen als Nacherzählung aufschreiben, bei der sich persönliche Überarbeitungen nicht ausschließen lassen. Trotz der angedeuteten Schwächen haben die Erzählungen unseres Bandes den Vorzug, daß sie von Arabern für Araber niedergeschrieben wurden. Ihr Inhalt und Stil verkörpern wirklichkeitsnahe und lebendige Volkstraditionen. Wenn ein Sammler stellenweise seinen persönlichen Stil zur Geltung kommen lassen sollte, so ist dies immer noch „arabische Redigierung". Solange es in arabischen Ländern keine umfangreichen nationalen Archive für Erzählforschung gibt, die allen modernen wissenschaftlichen Anforderungen gerecht werden, sind diese ersten, bescheidenen Veröffentlichungen ohne Zweifel typischer und wertvoller als manche älteren Sammlungen, die von Orientalisten aufgezeichnet wurden, denn — abgesehen von sprachlichen und inhaltlichen Mißverständnissen — man muß damit rechnen, daß Märchen in Gegenwart eines Fremden nicht immer in der gleichen Weise vorgetragen werden wie vor einem rein arabischen Publikum. Hinzu kommt, daß bezahlte Erzähler um des Geldes willen leicht in Versuchung geraten können, Stoffwahl und Ausdrucks weise dem vermeintlichen Geschmack des Auftraggebers anzupassen. Von den Sammlern, aus deren Material Erzählungen für unseren Band ausgewählt wurden, arbeiten die meisten im Unterrichtswesen, teils als Volks- und Mittelschullehrer
28 Arabische Volksmärchen
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(Ahmad as-Süfi, Henriette Saksak Farräg, 'Umar 'Utmän Hidr) oder als Schulinspektoren ('Abdallah Muhammad Ahmad 'Awad, Fä'iz 'Ali al-Gül), teils als Universitätsprofessoren mit den Fächern Arabische Literatur bzw. Semitische Sprachen ('Abdallah at-Taijib, Ernst Bannerth, Muräd Kämil). Emil 'Äzir Wahba, Muhammad al-Marzüqi und Safwat Kamäl haben Volksmärchen für Volkskunstzentren eingesammelt. Muhammad Fahmi 'Abdallatif war ein Mitarbeiter von Prof. 'Abdalhamid Jünus, dem Herausgeber der Zeitschrift für Volkskunst und Volkskunde (Al-Funün as-sa'bija) in der VAR. Zu den christlichen Sammlern gehören Emil 'Äzir Wahba, Ernst Bannerth, Henriette Saksak Farräg, K a r a m al-Bustäni und Muräd Kämil. In der Sammlung von Muräd Kämil zeigen sich auffallende Ähnlichkeiten zum Material, das Frobenius (Kordofan) in deutscher und Artin Pacha (Cont. Soud.) in französischer Sprache veröffentlicht haben. Einen Teil der letztgenannten Sammlung referiert Artin Pacha zu Texten, die einige Jahre früher in der Zeitschrift einer englischen Missionsgesellschaft publiziert wurden. Die gedruckt bzw. als Wachsmatrizenabzüge veröffentlichten Sammlungen von 'Abdalläh Muhammad Ahmad 'Awad, 'Abdallah at-Taijib, Ahmad as-Süfi, Muhammad al-Marzüqi und Muhammad Nur Saijid Ahmad sind mit Unterstützung der Kultus- oder Unterrichtsministerien der entsprechenden Länder erschienen. Wandlung der Erzählstoffe durch historische und religiöse Faktoren Die meisten Erzählungen unserer Sammlung wurden während des letzten Jahrzehntes aufgezeichnet. Von ihnen gibt es verschiedentlich Varianten, die bereits im vergangenen Jahrhundert oder um die Jahrhundertwende erschienen. So lassen sich Beobachtungen über den Einfluß der gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Umwälzungen auf die Gestaltung der Stoffe anstellen. Aus Märchen Nr. 14 erkennt man beispielsweise, daß die Wunschträume der unbemittelten libanesischen Stadtbevölkerung neuerdings in Villa, Auto, Telefon, Kleidern nach der letzten Mode und französisch sprechenden Kindermädchen gipfeln und den unwirklichen Glanz von Heiraten mit Prinzen, Schatzkästen mit Gold und Edel434
steinen und einer großen Dienerschaft verdrängt haben. Die arabischen Tischlein-deck-dich-Varianten (vgl. Anm. zu Nr. 27) zeigen, daß ein gesättigter Magen auch bei einem armen Araber von altersher als wertvollste Gabe gilt. Der Holzfäller der neuzeitlichen sudanesischen Variante dagegen begehrt nach seiner ersten Bekanntschaft mit einem sorgloseren Dasein von dem zweiten magischen Essenspender nun nicht mehr eine einfache Alltagskost oder Mehl zum Brotbacken (vgl. Varianten), sondern auserlesene Gerichte, die sich selbst reiche Leute nur bei festlichen Gelegenheiten leisten. Ferner bittet er heutzutage auch um Zigaretten. Dem Judentum als einer monotheistischen Religion zollt der Islam Achtimg, und besonders im Maghreb waren jüdische Ehefrauen in muslimischen Familien keine Seltenheit. In marokkanischen Volksmärchen begegnen Juden mehrfach als kluge und listige Wesire und geschickte Handwerker, die schwierige Probleme zu lösen vermögen. Die Juden hatten sich nach der Zerschlagung ihres Staates durch die Römer in die Diaspora zerstreut. Dabei breiteten sie sich als erfahrene Händler und Handwerker entlang den internationalen Straßen aus. So drangen sie auch in die Arabische Halbinsel vor. In den Oasen Westarabiens und in Südarabien fand der jüdische Glaube in den Jahrhunderten vor dem Islam weite Verbreitung. Allerdings waren seine Träger meist völlig assimiliert, im Gegensatz zu den traditionsbewußten jüdischen Gemeinden im sonstigen Orient. Der Islam ließ sowohl Juden als auch Christen weitgehenden Rechtsschutz angedeihen und erlaubte auch eine gewisse Autonomie unter ihren eigenen religiösen Führern. Als „Leute der Schrift", d. h. als Besitzer einer schriftlichen Offenbarung gleich den Mohammedanern, waren sie im Unterschied zu den „Heiden", deren Bekehrung erforderlich war, rechtlich gesichert. Der Islam verschleiert keineswegs seine engen Beziehungen zu Judentum und Christentum, wie auch die vielen in den Koran übernommenen Gedanken zeigen. Mohammed fühlte sich stets als Fortsetzer der jüdischen Propheten (Moses) und des christlichen Propheten Jesus, als „das Siegel der Propheten". E r betrachtete Judentum und Christentum als Vorstufen zur eigenen Religion. Dennoch entstand gleichzeitig im Islam eine starke Polemik gegen Judentum und Christen28*
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tum, aber immer unter Beachtung der obigen Regeln. Die Feindschaft zwischen Christen und Juden war in religiöser Hinsicht meist viel intensiver. Die Juden bildeten in der islamischen Zeit einen Großteil der Kaufleute. So hatten beispielsweise in Ä g y p t e n jüdische Familien den gesamten Fernhandel mit Indien in ihrer Hand. D a der K o r a n den K a u f l e u t e n den Wucher ausdrücklich verbot, waren die Juden es auch, die ohno Bedenken Kredite geben konnten, und zwar gegen die im Mittelalter üblichen sehr hohen Wucherzinsen. Das zog häufig die Verschuldung der Kreditnehmer nach sich. So gelangten jüdische Wucherer zu beträchtlichem Reichtum, besaßen große Handelslager und auch Grundeigentum. Die Haltung gegenüber den Juden war in den verschiedenen arabischen Ländern unterschiedlich. Die finanzielle Macht sicherte den Juden häufig weitreichenden Einfluß. Bei Verfolgungen, die es auch in der arabischen Geschichte gegeben hat, ließen die Herrschenden dem Volk freie Hand, um es von den wirklichen Ursachen seines Elends auf ein relativ schwaches Objekt abzulenken. Dabei ist außerdem zu berücksichtigen, daß die Juden im Gegensatz zu den Christen meist nur in kleinen Kolonien lebten und in ihren Berufen beschränkt waren, während es im gesamten Vorderen Orient auch christliche Bauern, Handwerker, Händler, Wissenschaftler und Künstler gab, zu denen der Muslim meist sehr gute Beziehungen unterhielt. Das äußerte sich beispielsweise in Syrien darin, daß die Mohammedaner eifrig das christliche Osterfest mitfeierten, während umgekehrt die Christen auch an den ausgesprochen muslimischen Festen teilnahmen. Später — in der Epoche des Kolonialismus — k a m außerdem für die Christen noch der Schutz hinzu, der ihnen von den europäischen Großmächten gewährt wurde. B e i ChristenVerfolgungen mußte man also mit einem Eingreifen der europäischen Staaten rechnen, die in den orientalischen Christen wertvolle Stützpunkte für ihre eigene Expansion in Nahost und Nordafrika sahen. U m diese vielfältigen und vielschichtigen kulturhistorischen F a k t e n und Zusammenhänge muß der Leser wissen, wenn er in unseren Märchentexten auf gewisse 3tereotype Charakterisierungen von Angehörigen sines anderen Volkes als dem des jo^eiiigen Erzählers, eines Muslim, Juden oder Christen, stößt. 436
Form und Stil der Erzählungen Ein großer Teil unserer Erzählungen beginnt mit E i n l e i t u n g s f o r m e l n , deren verbreitetste kän mä kän bzw. variiert kän ja mä kän lautet (Nr. 1, 3, 7, 28, 29, 37, 42, 48, 50, 51, 57). So einfach diese Formel aussieht, so unterschiedlich ist sie doch gedeutet worden. Manche Orientalisten haben sie mit „Es war, und es war auch nicht" (Syrien: Prym-Socin Kurd. I S. 18 Nr. 4, I r a k : Stevens S. 20 Nr. 6, Campbell Market place S. 161) oder mit „Es war, wie es nicht war" (Marokko: Legey Einleitung) übersetzt. „Es war einmal, und es war auch nicht" leitet auch persische, türkische (Boratav) und albanische (Lambertz S. 90) Volksmärchen ein. I m Arabischen ist das Wort mä nicht nur eine Negation, sondern bedeutet auch „was". Daraus ergibt sich die Übersetzung „Es war, was war" oder „Es geschah, es geschah auch nicht." Dieser zweite Sinn (so ßstrup Buhl S. 262) scheint dem heutigen arabischen Sprachgefühl ferner zu liegen, wie auch Beratungen mit arabischen Folkloristen zeigten. Ich habe deshalb die Formel mit „Es geschah, was geschehen sollte" wiedergegeben. Einige arabische Erzähler schicken ihren Märchen außer einer kurzen Einleitungsformel eine „Vorhalle" (dihllz) voraus, deren Inhalt meistens nichts mit dem Märchen zu tun hat. Die von Littmann Märchen u. Schwänke aufgezeichneten Vorhallen aus Kairo sind von den türkischen Tekerleme (vgl. Boratav S. 320) beeinflußt. Typisch arabische Vorhallen enthalten vorwiegend religiöse und moralisierende Betrachtungen (vgl. Ostrup Cont. S. 8) wie die folgende aus dem Maghreb: Erzähler: „Es geschah, was geschehen sollte." Zuhörer: „Möge dich Allah Gutes hören lassen!" Erzähler: „Allah war überall gegenwärtig. / Unser Zelt ist von Seide, eures von Leinen, / Doch das Zelt der Feinde ist ein Versammlungsplatz / Der Wüstenratten und der Mäuse" (el-Azouza Chacal S. 55). Eine andere Vorhalle lautet: „Es war einmal — Gott ist an jedem Orte und lässt kein Land und keine Wohnstätten aus — es war einmal — Basilicum und Lilien sind im Schosse des Propheten, über ihm sei Heil und Frieden — es war einmal — unter allen Grossmüttern war ein Weib, Gott erbarme sich ihrer nicht, wenn sie stirbt; wenn sie 437
d u r c h das Oehr einer Packnadel hindurchgeht, klagt sie, wie eng es doch f ü r sie sei, u n d wenn sie durch das Oehr einer Nähnadel hindurchgeht, klagt sie, wie weit es doch f ü r sie sei. Alles möge ihr N o t h bereiten in dieser u n d in jener Welt, u n s aber möge Allah Heil bereiten in dieser u n d in jener W e l t ! " (Socin Marokko S. 159 Nr. 1) F o r m e l n stehen auch in arabischen Märchen nicht n u r a m Anfang, sondern o f t auch a m Schluß. Bei Sammlungen von Volksmärchen, die nicht u n t e r wissenschaftlicher Leitung vorgenommen wurden, m u ß m a n d a m i t rechnen, d a ß m a n c h e Sammler etwaige S c h l u ß f o r m e l n auslassen, weil sie darin ein zwar geläufiges, aber belangloses Anhängsel sehen. I n unserem B a n d e enden 90 Prozent der Erzählungen m i t einem „inneren Schluß" (Petsch S. 5), meist einem „ n a c k t e n Schluß". Der aktuelle Konflikt ist bis zu seiner Lösung beschrieben, die Guten erhalten ihre Belohnung, die Bösen ihre Strafe, oder m a n c h m a l ist der Ausgang a u c h tragisch (z. B. N r . 5). U n t e r den „ f o r t f ü h r e n d e n Schlüssen" finden wir bei mehreren sudanesischen T e x t e n (Nr. 6, 13, 16, 27, 41, 47) eine Formulierung, die auch Tausendundeine Nacht verwendet u n d die einem persönlichen Geschmack im Erzählerkreis von 'Abdallah atTaijib entspricht. Die Helden leben nach ihren Abenteuern u n d Schwierigkeiten glücklich u n d zufrieden, bis sie v o m Tode ü b e r m a n n t werden, der poetisch umschrieben ist. I n unseren anderen T e x t e n mit dem gleichen Schlußtyp wird von zukünftiger glücklicher E h e u n d Kindersegen berichtet. Zu den Märchen m i t innerem Schluß gehören a u c h solche, bei denen eine allgemeingültige Lehre aus dem E r z ä h l t e n gezogen wird (Petschs „zusammenfassender Schluß"), o f t mit einem b e k a n n t e n Sprichwort (Nr. 26, 29, 43, 44). „Äußere Schlüsse" erscheinen in unseren T e x t e n nicht, wohl aber in Varianten. Bei manchen Märchen sind mehrere T y p e n äußerer Schlußformeln aneinandergereiht, andere weisen n u r einen einzigen auf. Schlußformeln, die das E n d e des Märchens a n z e i g t (Gruppe 4 bei Petsch), kommen meistens als Reimformeln vor. I n Ägypten, P a l ä s t i n a u n d Syrien lauten die Schlüsse häufig: „Tuta, t u t a ! Zu E n d e ist die H a d ü t a " (Dialektform f ü r „Geschichte"). L i t t m a n n Märchen h a t diese Formel zu „Daus, daus — die Geschichte ist a u s ! " verdeutscht. —
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In Malta sagen die Erzähler : „Tambo, Tambo ! / Die Geschichte hat ihren Schluss, — / und jedermann schwimmt auf dem Fluss" (Stumme Malta S. 64 Nr. 20) oder „Tombi, Tombi! Die Geschichte ist aus". An diese Formel können sich noch Wörter ohne Sinn schließen, ähnlich den Tekerleme der Einleitungsformeln. So stellen die Wörter „Tombi, tombi" bzw. „Tori, tombi" oder „Tomba, tomba" nach Ilg I I S. 114 eine lautmalerische Beschreibung des Klanges der angerissenen Gitarren- und Mandolinensaiten dar. Wenn das Märchen abgeschlossen ist, soll die Musik einsetzen. Mehrfach schließen die arabischen Märehen ganz schlicht mit „Sie (die Geschichte) kam zu Ende, und sie schloß und wurde fertig" (Südarabien: Müller-Hein S. 9 Nr. 9) oder „Die Geschichte ist fertig" (Marokko: Beispiele bei Socin-Stumme). Daneben stehen Schlüsse, die auf verschiedene Weise ausdrücken, daß die Erzählung vor dem inneren Auge der Zuhörer vorübergeglitten ist: „So ist denn unsere Geschichte im Strome dahingeflossen" (Stumme Tunis S. 93 Nr. 6), „Geflogen ist ihr Staub" (Schmidt-Kahle I S. 47 Nr. 22) oder „Unsere Geschichte ist in den Wald hineingegangen" (el-Azouza Sorcière S. 359). In Palästina schließen Märchen häufig mit „Geflogen ist der Vogel" (Schmidt-Kahle, Stephan Stories). Die „persönlichen Schlüsse", bei denen sich der Erzähler an die Zuhörer wendet, zeigen regionale Unterschiede. Im Libanon und in Palästina findet man mehrfach: „Meine Geschichte habe ich erzählt, / An deinen Busen habe ich sie gelegt" (Stephan Stories S. 171 Anm. 5, SchmidtKahle I S. 135 Nr. 40, Barthélémy sowie Huxley S. 288 Nr. 116). Im Irak entschuldigt sich der Erzähler, daß er keine Rosinen oder andere Leckereien an die Zuhörer austeilen konnte. Stevens gibt als Abschluß zu Märchen Nr. 5 S. 14 eine Reimformel an, die unserer Nr. 7 (Mosul) entspricht. Der gleiche persönliche Schluß kommt in Nr. 1, 2, 3 und 25 bei Ahmad as-Süfl vor. Stevens S. 74 Nr. 13 führt noch an: „Diese Geschichte / Ist halb erlogen. / Wenn ihr näher wäret / Würde ich euch einen Teller voll Rqsinen (bzw. Kichererbsen) geben." In der VAR bringt der Erzähler in Schlußformeln eine ähnliche Entschuldigung vor: „Ich bin bei ihnen gewesen 439
und kam. / Wenn mein F e z (bzw. Turban oder Tasche im Burnus) nicht ein Loch gehabt hätte, / Würde ich euch etwas mitgebracht h a b e n " (persönliche Mitteilung von Ägyptern). Dieses T h e m a klingt in einer Vorhalle aus Kairo an, die L i t t m a n n veröffentlicht hat (Märchen u. Schwanke S. 23): „Da t r a f ich eine Maid, die war klug und schön von Angesicht / Und kochte von Reis und Milch und Zucker ein Gericht. / Wäre meine Mütze weit genug gemacht, / So h ä t t e ich euch etwas davon mitgebracht." E i n e Schlußformel, die auch türkische Volksmärchen kennen (z. B . B o r a t a v S. 115 Nr. 13, S. 195 Nr. 24, S. 201 Nr. 25, S. 251 Nr. 30), l a u t e t : „Drei Äpfel sind aus dem Paradies herausgekommen, einer für mich, einer für denjenigen, der diese Rezitation wiederholt, und den d r i t t e n . . . werden wir in ldeinen Stücken unter uns verteilen" (Algerien: Desparmet Maures S. 370 Nr. 17, ähnlich I r a k : Stevens S. 58 Nr. 12). I m I r a k (Stevens) ist noch hinzugefügt : „Und die Schale für den Sultan . . . " , eine Redewendung, die an die Formulierung der Schlußformel von Nr. 2 unserer Sammlung erinnert. I n Volksmärchen aus Marokko behauptet der Erzähler, daß er selbst an einem abschließenden F e s t , wie z. B . einer Hochzeit, teilgenommen h a t : „Dabei habe ich etwas Honig und B u t t e r zu essen bekommen, / Dann habe ich sie verlassen und bin hierher gekommen" (Stumme Schluh S. 77 Nr. 3, ähnlich Stumme Silha S. 396 Nr. 2). I n Hadramaut will der Erzähler ebenfalls dabei gewesen sein und berichtet von seinen letzten Eindrücken z. B . : „Als ich das Haus verließ, schlug sie ihn immer noch" oder „Als ich ihn verließ, war er noch beim Frühstück, aber er hat mich nicht eingeladen, daran teilzunehmen" (Phillot-Azoo S. 401 Nr. 1, S. 402 Nr. 2). Eine weitere Gruppe von Schlüssen arabischer Volksmärchen, die historisch wahrscheinlich die älteste ist, stellen Formeln religiösen Inhalts dar, die ein Gegenstück zu den Einleitungsformeln mit dem gleichen Thema bilden. I n einem algerischen T e x t aus islamischer Tradition lautet der Schluß: „Das ist, was wir gehört und vorgetragen haben. Darum, ihr (Brüder), die ihr den Propheten liebt, wünscht ihm Allahs Frieden und Segen" (Desparmet Maures S. 370 Nr. 17). I n einem Beleg aus judäo-arabischer Tradition heißt es: „Haben wir die Wahrheit gesagt, der Wahrheitssprecher ist Allah, haben wir gelogen,
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bitten wir Allah um Verzeihung. Und ihr, ihr Zuhörer, Allah grüße euch, euer Abend sei glücklich . . ." (Ausgang wie Tekerleme. Goitein Jemen S. 19). Bei christlichen Bauern in Palästina sagten die Erzähler: „Und Gott gebe, daß alle, die fern sind, wohlbehalten und beutebeladen heimkehren!" oder „Gottes Name sei um uns und beschütze uns!" (Schmidt-Kahle I S. 233 Nr. 55, I S. 241 Nr. 59). Religiöse Schlußformeln sind jedoch nicht etwa nur auf die Märchen beschränkt. So wie der Muslim jedes Tun mit der Anrufung Allahs zu beginnen pflegt, so beendet er es auch mit der Dankesformel an Allah. In dieser Weise beginnen und enden bis in die neueste Zeit hinein auch die Bücher, ja selbst sogar Reden. Wie in den Einleitungs- und Schlußformeln der arabischen Volksmärchen, so begegnet auch im Verlaufe der eigentlichen Erzählung sehr häufig die g e b u n d e n e R e d e . E s kann sich dabei um Reime, Reimprosa oder Reimformeln handeln, die auf die Vorlagen zurückgehen' oder persönliche Ausschmückungen des jeweiligen Erzählers sind. Vielen Arabern fällt es nämlich erstaunlich leicht, zu improvisieren und ihre Rede in Verse zu kleiden, zumal sie durch das Erlernen von Koransuren seit ihrer Kindheit eine große Fertigkeit entwickelt haben, die gebundene Rede im Gedächtnis zu behalten. Die von Ahmad as-Süfi aufgezeichneten Reime in der irakischen Erzählung vom Käferfräulein (Nr. 3) zeigen große Ähnlichkeit mit transkribierten arabischen Versen einer Variante, die Stevens (S. 40 Nr. 10) ebenfalls im Irak hörte. Die Übersetzungen weichen jedoch manchmal von der Deutung ab, die ich von Ahmad as-Süfi erhalten habe. Ähnliche Reime kommen auch bei den in den Anmerkungen zu Nr. 3 angegebenen persischen Varianten vor. — Die Geständnisse der Tiere am Zemzem-Brunnen (Nr. 1) scheinen im Irak ebenfalls althergebrachte Reime darzustellen. Auch in dem judäo-arabischen Beleg aus Bagdad (Agasi S. 14 Nr. 2) wenden die Tiere in ihren Reimformeln die Verkleinerungsform für sich selbst und das Futter an, das sie gestohlen haben sollen. Einen großen Reichtum an Reimprosa weisen die von 'Abdallah at-Taijib aufgezeichneten sudanesischen Märchen auf. Bestimmte Reime, wie die Begrüßungsformel für alte Weiber und Männer, kommen mehrfach in diesen Märchen vor (Nr. 10,21). In anderen Texten werden Doppel 441
zeiler oder volksliedartige Strophen mehrmals in der gleichen oder in etwas abgewandelter Form wiederholt und bewirken damit eine dramatische Steigerung (Nr. 6, 23). Leider sind die von Frobenius gesammelten Volks•märchen aus Kordofan im nördlichen Sudan als freie Nacherzählungen niedergeschrieben und geben daher wenig Aufschluß über den eigentlichen Erzählstil. Auch im Süden der Arabischen Halbinsel haben sich viele Märchenreime erhalten, die in den Veröffentlichungen der österreichischen südarabischen Expedition (Hein, Jahn, Müller, Rhodokanakis) erfaßt wurden. Gleiches gilt für. die Erzählungen der jemenitischen Juden, soweit diese in ihrer eigentlichen Muttersprache, dem Arabischen, vortrugen (Noy Jefet Schwili, Jason Yemen-Israel). I n den Märchen unserer Sammlung erscheinen oft b i l d l i c h e A u s d r ü c k e , die in Verbindung mit einem bestimmten Motiv auftreten. In der palästinensischen Variante von Sitt Ward (Nr. 12), die bei den Bauern von Blr Zet aufgezeichnet wurde (Schmidt-Kahle I S. 183 Nr. 47), heißt es z. B. ähnlich wie im Libanon von der sehnsuchtskranken Frau des Geistergatten: „Unter ihr waren sieben Matratzen, über ihr sieben Decken." Von Frauen, die so schön sind, daß sie es mit dem Monde aufnehmen können, sagt man in Palästina (Schmidt-Kahle I S. 53 Nr. 25): „Da war eine Schöne, die dem Monde sagen würde: ,Mach dich weg, damit ich an deiner Stelle als Wächter sitze.'" Einen entsprechenden Topos verwenden auch unser libanesisches Märchen von Sitt Ward (Nr. 12) und judäo-arabische Volkserzählungen (vgl. Jason Yemen-Israel). Andere poetische Ausdrücke in den Volksmärchen können aus Tausendundeiner Nacht entlehnt sein. I m Märchen von Tag al-Mulük und der Prinzessin D u n j ä (Littmann V S. 9) wird ein schöner Jüngling gepriesen: „Hat vielleicht Ridwän, der Hüter des Paradieses, das Tor des Himmelsgartens außer acht gelassen, so daß dieser Jüngling von dorten herabgekommen ist?" Ähnlich wird in Tamra (Nr. 20) von einer schönen Jungfrau .gesprochen. Die phantasievolle Besehreibung der einzelnen Teile des weiblichen Körpers in an-Nitu und alLaib (Nr. 41) erinnert an den Stil der Liebeslieder. Um das Lob der Schönheit zu steigern, steht die groteske Darstellung der häßlichen Braut gegenüber. I n einem Märchen aus Algerien (Desparmet Maures S. 308 Nr. 15) lautet der
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Schönheitspreis auf eine liebliche Jungfrau: „Ihre Augenbrauen sind wie ein Nun (der arabische Buchstabe n), von der Hand eines Kalligraphen geschrieben, ihr Mund gleicht dem Ring unseres Herrn Salomo (des Propheten!), ihre Brüste sind wie Äpfel in einem Frucht garten" usw. (vgl. S. 459). So bildhaft wie der Preis der Schönheit und auch der Tugend vorgebracht wird, so wort- und bilderreich können auch die Schimpfworte und Flüche klingen. Neben alltäglichen Redewendungen wie „Hundesohn", „Tochter des Satans", „Asche komme auf dein H a u p t ! " finden wir Wendungen, die der Erzähler selbst erfunden hat oder die bereits zur Tradition geworden sind. Als ein Mädchen in einem irakischen Märchen (Campbell Market place S. 17) verdächtigt wird, eine Dirne zu sein, sagt sie zum Kalifen: „Deine Mutter ist eine Dirne!" Dies entspricht den Worten des erzürnten Käferfräuleins (Nr. 3): „Deine Mutter ist ein Käferweib!" Eine Variante zu dem gehässigen Wunsch des Geizhalses Awad (Nr. 57), der seinen Nebenbuhler nie im Leben wiedersehen will, lautet in einem Kabylenvolksmärchen: „Du sollst elend werden! Deine Knie sollen werden wie abgeschlagen, so daß du nicht gehen und nicht kriechen kannst" (Frobenius Kabylen I I I S. 119 Nr. 30). Arabische Märchenerzähler streuen in ihre Erzählungen gern bekannte S p r i c h w ö r t e r ein, die verschiedene Funktionen erfüllen sollen. Entweder sind sie Weisheitsregeln und bilden ein Motto oder eine Schlußfolgerung (z.B. Nr. 26, 29, 31, 33 usw.), oder sie dienen zur Ausschmückung und Kennzeichnung einzelner Personen und Handlungen. Es liegt nahe anzunehmen, daß Sprichwörter der ersten Kategorie zur Ausformung einer Erzählung angeregt haben, während Sprichwörter, die auf bestimmte Personen oder Handlungen gemünzt wurden, o f t nur verstanden werden können, wenn man die Anekdoten kennt, die ihnen zugrunde liegen (z. B. Baraqesch Nr. 24). " I n den Volksmärchen ist die Kenntnis und richtige Anwendung eines Weisheitsspruchs oftmals von ausschlaggebender Bedeutung für den Helden. Eine solche Wertschätzimg hat alte Traditionen. I n den bei Mohammedanern, Juden und Christen noch heute sehr beliebten
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Versionen des Märchens v o m weisen Achiqar (Haiqar) — er war angeblich der Wesir des Assyrerkönigs Sanherib (705—680) — s t e h t die M a h n u n g : „Gedenke meiner W o r t e wie einer Gottesrede" (Meißner Achiqar). Achiqar h a t t e als Lehrer von Lebensregeln schon Vorgänger bei den Ägyptern des Alten Reiches. Die erste Sammlung von Weisheitssprüchen wird I m h o t e p , dem E r b a u e r der Stufenpyramide von Saqqara u n d gleichzeitigen R a t g e b e r u n d Arzt von König Djoser (3. Dynastie, 2778—2723), zugeschrieben, ist aber nicht auf u n s gekommen. Die a m besten bewahrte Sammlung s t a m m t vom Wesir P t a h h o t e p , der in der 5. Dynastie (2563-2423) lebte. Einige Sprichwörter, die in unseren Texten eine wesentliche Rolle spielen, bewahren die Lehren, die Achiqar seinem Neffen g a b : „Mein Sohn, des Menschen Auge ist wie ein Wasserquell u n d wird nicht s a t t a m Besitz, bis er voll E r d e i s t " (Meißner Achiqar S. 8). Dieses W o r t eri n n e r t a n das Märchen v o m unersättlichen Auge (Nr. 26) u n d lebt noch h e u t e u n t e r den Ägyptern weiter: „ E r s t der S t a u b füllt das Auge des Menschen" (Burckhardt S. 294 N r . 666), „Nichts füllt des Menschen Auge als die E r d e " ( L i t t m a n n Märchen u . Schwänko Abschluß z u S. 93 Nr. 17). Die kluge Einschätzung der W e r t e des irdischen D a seins in N r . 33 (Tunesien) geht auf ein Sprichwort zurück, das leicht abgewandelt in der V A R u m l ä u f t : „Ein Affe, der einverstanden ist, u n d nicht-eine Gazelle, die entflieht" (Ahmad Taimür S. 402 N r . 2235). Achiqars weiser R a t l a u t e t e : „Mein Sohn, schaffe dir einen kräftigen Stier u n d einen starkhufigen Esel an, nicht aber einen Sklaven, der gern ausreißt, u n d eine diebische Sklavin, d a sie dir alle deine H a b e verderben" (Meißner Achiqar S. 6). Die drei Sinnsprüche in Nr. 45 wurden schon vor 100 J a h r e n mit denselben W o r t e n aufgezeichnet. Die E r m a h n u n g , das Vertrauen nicht zu mißbrauchen (1. Sinnspruch), findet sich z. B . in einer Sammlung aus dem I r a k (Socin Sprichwörter S. 8 Nr. 110) sowie in einer Sammlung aus Syrien u n d dem Libanon (Burton Syria S. 287 Nr. 146). I n dem zweiten Sinnspruch, auf den auch in N r . 38 Bezug genommen wird, stehen verschiedene Bezeichnungen f ü r den als abstoßend angesehenen Liebespartner, nämlich schwarzer Sklave (Syrien, L i b a n o n : B u r t o n Syria S. 285 N r . 131, I r a k : Socin Sprichwörter S. 7 Nr. 105), Affe
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( Ä g y p t e n : B u r c k h a r d t S. 90 N r . 227), nubischer Sklave bzw. B ä r ( V A R : A h m a d T a i m ü r S. 190 Nr. 1023, 1024). U n t e r d e n Sprichwörtern, die zur poetischen Auss c h m ü c k u n g dienen, ist der Vergleich m i t den Schuhen u n d den Eigenschaften sowie der sozialen Stellung ihrer Träger offenbar eine lokal begrenzte Vorstellung f ü r den I r a k (Nr. 48). Socin notierte 1878 in der Gegend zwischen Mosul u n d Märdin, die er als „ S ü d k u r d i s t a n " kennzeichnete, ein Sprichwort m i t gleichem arabischem Wortlaut, das er wiedergab als „Der m i t den groben Sandalen (der K u r d e ) m ü h t sich ab, u n d der m i t den Stiefeln (der Agha) genießt" (Socin Sprichwörter S. 1 N r . 11). F ü r die in den N r . 28, 32 u n d 53 (1, 2, 3) e n t h a l t e n e Moral ließen sich schließlich drei weitere, nicht in den T e x t e n selbst vorkommende Sprichwörter a n f ü h r e n : (1) Erweise W o h l t a t e n (wörtl.: t u e Gutes), u n d wenn d u sie ins Meer wirfst (VAR: A h m a d T a i m ü r S. 31 N r . 163); (2) Die Fürsorge f ü r die K i n d e r ist besser als Pilgerfahrt u n d heiliger Krieg (Marokko: Fischer S. 205 Nr. 3) u n d (3) N a c h diesen Kichererbsen (zu urteilen) gibt es kein F e s t (Syrien: J e w e t t S. 54 N r . 65 - vgl. A n m . zu N r . 53). Die W e l t der arabischen Volksmärehen Die arabischen Märchen f ü h r e n d e n europäischen Leser i n eine Welt, die sich mannigfach von seiner eigenen unterscheidet. Nachstehend wird versucht, das f ü r den E u r o p ä e r inhaltlich F r e m d a r t i g e u n d das Charakteristische der vorliegenden Märchen näher zu e r l ä u t e r n . Die meisten Erzählungen unseres B a n d e s spielen auf arabischem Boden, der jedoch topographisch große U n t e r schiede aufweist. Die öden W ü s t e n l a n d s c h a f t e n Libyens u n d die wilde Steppe des I r a k t a u c h e n auf, die üppigen subtropischen Wälder des Niltals im nördlichen Sudan erscheinen, aber auch die ländlich idyllischen Niederungen J o r d a n i e n s u n d des Libanon sowie die libanesischen Berge, in denen es im Winter bitter k a l t ist. Der L a n d s c h a f t s c h a r a k t e r ü b t u. a. wesentlichen E i n fluß auf die Volksphantasie aus. So wird das Vorhandensein oder Fehlen von W a s s e r in vielen Teilen der arabischen Welt zur Lebensfrage. Daher hält m a n im trockenen, von der Sonne versengten Palästina nahezu jeden B r u n n e n f ü r ein Mysterium u n d einen Wohnsitz von Dschinnen. Die
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Fellachen des Nildeltas, die immer reichen Wasserzugang haben, kennen dagegen eine solche Vorstellung nicht. Sie fürchten sich statt dessen vor einem häßlichen Geisterweib (Ginni al-bahr: Dschinnfrau des Nils), das an den Bewässerungskanälen sitzen soll und sie heimlich in die Tiefe zieht, wenn sie beim Baden nicht aufpassen (Padwick S. 432). Die Quell- und Brunnengeister Palästinas treten in Tier- oder Menschengestalt auf. Bei den Tieren handelt es sich meist um Schafe, die weiß und schwarz sein können. Bei den Geistern in Menschengestalt unterscheidet man ebenfalls weiße und schwarze oder „Freie" und „Sklaven". I n Brunnen, die periodisch einen niedrigeren Wasserstand haben, hausen nach dem Volksglauben zwei verschiedene Geister, die sich ständig bekämpfen, der schwarze gilt als menschenfeindlich und böse, er geizt mit dem Wasser und will den Durstigen keine Erquickung gönnen (Canaan Springs S. 161). Es mag daher kein Zufall sein, daß unsere Nr. 38 in Palästina und seinen Nachbarländern am stärksten verbreitet ist und daß in den dortigen Varianten auch auf eine „schwarze Sklavin" angespielt wird (vgl. Anm. zu Nr. 38). Für den Muslim ist das Wasser des Zemzem-Brunnens das heiligste der Welt und stellt das kostbarste Geschenk dar, das ein Mekkapilger heimbringen kann. Man glaubt, daß der Brunnen unterirdische Verbindung mit den Wassern Jerusalems habe, die im Bezirk der Felsenmoschee hervorquellen. Am zehnten Tag des Monats Muharram soll sich das Wasser des Zemzem-Brunnens sogar mit dem in den Brunnen aller islamischen Länder vermischen, damit jeder Muslim davon trinken und seines Segens teilhaftig werden kann (Canaan Water S. 64). I n Märchen Nr. 1 sind zwei Vorstellungen aus verschiedenen Kulturkreisen und Zeitaltern miteinander verwoben. Während dem Wasser des Zemzem-Brunnens zwar magische, heilkräftige und lebensverlängernde Wirkungen zugeschrieben werden, spielt es im Volksglauben keine Rolle als Medium für ein O r d a l . Demgegenüber ist der Glaube an die rechtsprechende Macht des Wassers schon in Mesopotamien bezeugt. Die Wasserprobe, die in Nr. 1 den Streit entschied, ist auch außerhalb der arabischen Welt und des Orients wohlbekannt als Mittel der Wahrheitsfindung bzw. Bestrafung. Es fand ebenfalls als Test für ein der Untreue bezichtigtes Weib Anwendung. War 446
sie schuldig, brachte ihr das Wasser den Tod (4. Moses 5, Gaster S. 147 Nr. 385). Auf der Insel Soqotra (Südarabien) kannte man noch ein Wasserordal für der Hexerei verdächtigte Frauen. Die Angeschuldigte wurde mit einem Mühlstein am Rücken ins Meer geworfen, und ein Mann mit einem Messer tauchte gleichzeitig mit ihr unter. Sank sie auf den Grund, war sie keine Hexe und wurde gerettet, vermochte sie jedoch ans Ufer zu schwimmen, war ihre Schuld bewiesen uiid ihr Tod sicher (Müller I I S. 70 Nr. 9, vgl. auch Hexenprobe von Kufa zur Zeit des Kalifen Walid I. [705-715]: Wellhausen S. 160). I n den arabischen Wüsten tritt an Stelle der Wasserordale das — auch in der nichtarabischen Welt geübte — Gottesurteil mit Feuer. Ein Stück glühendes Eisen (Südarabien: Rhodokanakis S. 36 Nr. 8), glühende Kohle (syrisch-arabische Wüste: Basset Cont. 16g. R T P 7 [1892] S. 284) oder ein glühender Kaffeelöffel (Palästina: SchmidtKahle I S. 17 Nr. 10) werden dem Angeklagten auf die Zunge gelegt. Wer die Wahrheit gesprochen hat, dem geschieht nichts, die Zunge schwillt nicht einmal an. I n einer anderen Feuerprobe muß der Verdächtigte über hohes Feuer springen (Arabien: Landberg S. 133, Rhodokanakis S. 42 Nr. 11). Die Wüstenberge am Rande des westlichen Niltals, in dem die Pharaonen die Totenstädte anlegten, und die Höhlenfelsen in der Nähe des Toten Meeres wurden zu Schauplätzen arabischer S c h a t z g r ä b e r m ä r c h e n (Nr. 20, 29). Obwohl das bekannteste arabische Schatzgräbermärchen, Aladdin und die Wunderlampe, in China spielen soll und der Erzähler ein Syrer war, haben die Literarhistoriker diese Erzählung schon früh als ägyptisches Volksmärchen angesehen (Chauvin V S. 55). Auch von archäologischer Seite ist der Stoff analysiert und als Beschreibung eines mißglückten Grabraubes in der ägyptischen Wüste dargestellt worden^ bei dem den Räubern nichts weiter als die alte Öllampe eines früheren Grabräubers oder eines frommen Asketen in die Hände fiel (Long). Unsere sudanesische Erzählung vom armen Mütterchen, das auf wunderbare Weise einen Goldklumpen findet (Nr. 34), ist ebenfalls an einen bestimmten geographischen Schauplatz gebunden. I m heutigen nördlichen Sudan lag einst das Land Kusch mit den Goldminen der Phara447
onen, die vor allem im Neuen Reich (1562—1085) • ausgebeutet wurden. Noch heute sieht man in der Wüste zu beiden Seiten des Nils zwischen dem zweiten und vierten K a t a r a k t Anhäufungen von weißem Quarz, die von diesen Minen stammen. Die Wüsten der arabischen Länder sind menschenfeindliche Zonen, die die Volksphantasie mit gefürchteten G e i s t e r w e s e n bevölkert. Als Vorbild für die Vorstellung von Ghulen haben Naturerscheinungen wie riesige Windhosen, plötzliche Gewitter und Sandstürme (Nr. 8, 10), gefährliche Raubtiere (vgl. Nr. 7, 16) und Götterstatuen in Tempelruinen der Vorzeit gedient. I n einem Märchen aus Karnak in Oberägypten (Legrain S. 106 Nr. 3) wird eine Statue der löwenköpfigen Göttin Sechmet als menschenfressendes Ghulweib beschrieben, das tagsüber als lebloses Steinbild erscheint. Nur in zwei Märchen entfernen wir uns gelegentlich aus der eigentlichen arabischen Welt und gelangen in weite, phantasieumsponnene Fernen, zum Gebirge Qaf (Nr. 22) und auf die Waqwaq-Inseln (Nr. 12). Auch nach den alten arabischen Geographen war die Erde eine kreisrunde Scheibe. Die bewohnte Welt lag in der Mitte und rings darum unbekannte, öde Gegenden, die sog. Terra incognita, in die manche Märchenhelden eindringen und wo sie auf Dschinnen und Ghule stoß,en. Jenseits eines unbefahrbaren Gewässers, das die ganze Landscheibe umschloß, befand sich das smaragdgrüne Gebirgsmassiv des Gebirges Qaf. Neben Dschinnen sollten dort auch Engel leben (Lane Egypter I I S. 32, E I I I S. 658). Die Identität der WaqwaqInseln ist noch immer umstritten. Schon die frühen arabischen Geographen erwähnen zwei verschiedene WaqwaqInseln, von denen die eine Madagaskar und die andere Sumatra entsprechen soll. I n Ländern, in denen das heiße Klima eine üppige Vermehrung von Insekten begünstigt, spielt Ungeziefer auch im Erzählgut eine Rolle. Vom F l o h haben sich Araber, Syrer, Hebräer und Griechen seit alters merkwürdige Geschichten erzählt (Littmann Floh). I n Tatisendundeiner Nacht (Littmann I I S. 287) sind Floh und Maus gute Freunde und listen durch geschickte Zusammenarbeit einem Kaufmann Geldstücke ab, während in unserer Erzählung aus Mosul Mistkäfer und R a t t e treulich zusammenhalten (Nr.3).
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Der M i s t k ä f e r (hunfusä') verkörpert im arabischen Volksmärchen u n d Sprichwort ein doppeldeutiges Wesen, das bald als I n s e k t , bald als Mensch a u f g e f a ß t wird. I m Sprichwort ist die hunfusä' o f t eine Mutter, die in ihren häßlichen K i n d e r n das Schönste sieht, was sie sich vorstellen k a n n : „Jeder Mistkäfer ist in den Augen seiner M u t t e r (so schön wie) eine Gazelle" (Marokko: Fischer S. 220 N r . 33, Algerien: Scelles-Millie S. 286, ähnlich Ä g y p t e n : B u r c k h a r d t S. 24 Nr. 60), „Die hunfusä' sah ihre Tochter a n der W a n d u n d rief a u s : ,Oh, zwei Perlen auf eine Schnur g e r e i h t ' " (Palästina: S t e p h a n Folklore S. 100 N r . 896-898, ähnlich Algerien: Scelles-Millie S. 286). Der Standesstolz der hunfusä' k o m m t a u c h in einem anderen Sprichwort zum A u s d r u c k : „Sie k a m e n , des Paschas Pferde zu beschlagen, da streckte der Mistk ä f e r ( B u r c k h a r d t : „Roßkäfer") seine Beine aus (um beschlagen zu werden)" (Ägypten: B u r c k h a r d t S. 72 N r . 183, I r a k : persönliche Mitteilung von A h m a d as-Süfi). I n maltesischen Volksmärchen spielt die hunfusä' die Rolle eines Aschenputtels ( z . B . Ilg I S. 1 N r . 1). I m dortigen Dialekt, der starken arabischen Einschlag h a t , heißt sie „Tschiklemfusa" u n d wird als winziges, kugelrundes, schwarzes Geschöpf von halb tier-, halb m e n s c h e n h a f t e r N a t u r beschrieben. S t u m m e h a t ihr den P h a n t a s i e n a m e n „Runzelschmutzchen" gegeben (vgl. Ilg I I S. 104, 117). Die Vorstellung von der L a u s , die zur Schafbocksgröße gemästet wird (Nr. 9), h a t Parallelen in altorientalischen Erzählungen von Riesenflöhen, die die Größe von Fröschen u n d Schildkröten, j a selbst von mehr als zwölf E l e f a n t e n erreichen k o n n t e n u n d mächtige Reittiere darstellten (vgl. L i t t m a n n F l o h S. 32). An Reptilien erscheinen im vorliegenden B a n d Eidechse, Krokodil u n d Schlange. Die Araber glaubten, d a ß die E i d e c h s e n , zumal Dornschwanzeidechsen (dabb), verwandelte Menschen wären — wie m a n an ihren menschenähnlichen H ä n d e n erkenne (van Vloten S. 59) —, die zu den K i n d e r n Israels gehörten u n d sich gegen Allah versündigt h ä t t e n . I n einer Anekdote, die A b ü 1-Farrag alI s f a h ä n l (Irak, 10. J h . ) aufzeichnete, heißt es von einer jüdischen Geisterfrau, daß sie a m Lagerplatz einer Karawane erst als Eidechse u n d später als altes Weib erschien (Weisweiler I I S. 210 N r . 78). Bei den Beduinen der Arabischen Halbinsel wird die Dornschwanzeidechse Abü 29
Arabische Volksmärchen
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H a m i d g e n a n n t , u n d m a n e r z ä h l t sich, sie sei e i n s t der Scheich des Wildes ' gewesen oder ein M a n n , der d a s S c h m i e d e h a n d w e r k b e t r i e b (Hess S. 83). I n P a l ä s t i n a g l a u b t m a n , die E i d e c h s e sei ein v e r w a n d e l t e r Holzfäller (gewöhnliche Eidechse, hirdaun). D a sie ihr K ö p f c h e n h ä u f i g zu s c h ü t t e l n pflegt, t r e i b e n die K i n d e r gern Scherze m i t i h r u n d f o r d e r n sie in einem L i e d c h e n a u f , f ü r i h r e n V a t e r u n d i h r e M u t t e r , die i m Ofen (der Hölle) s c h m a c h t e n , z u b e t e n ( S t e p h a n S u p e r s t i t i o n S. 90 A n m . 1). Die m e n s c h e n ä h n l i c h e n Merkmale u n d die K o p f b e w e g u n g e n vera n l a ß t e n o f f e n b a r d e n einfältigen A b u K a t r i n a >-(Nr. 49),. d e r E i d e c h s e einen A r b e i t s k o n t r a k t vorzuschlagen. D a s K r o k o d i l e r s c h e i n t in u n s e r e r S a m m l u n g n u r i n L ä n d e r n , die a m Nil liegen. I m P a p y r u s W e s t c a r s t e h t , d a ß A b a - A n e r , ein h o h e r ä g y p t i s c h e r R e g i e r u n g s b e a m t e r der 3. D y n a s t i e (2778—2723), v o n der L i e b s c h a f t seinor F r a u m i t e i n e m Soldaten des K ö n i g s e r f u h r . E r ließ sich ein K r o k o d i l a u s W a c h s b r i n g e n u n d s p r a c h einige Z a u b e r w o r t e d a r ü b e r . Sobald der n i c h t s a h n e n d e L i e b h a b e r zu e i n e m B a d in d e n Nil stieg, warf ein D i e n e r d a s Krokodil h i n t e r i h m ins W a s s e r . E s v e r w a n d e l t e sich augenblicklich in ein lebendiges K r o k o d i l , d a s auf B e f e h l seines Meisters d e n Ü b e l t ä t e r sieben Tage l a n g u n t e r Wasser hielt. D a r a u f b r a c h t e es i h n a n die Oberfläche u n d zeigte i h n d e m K ö n i g , u n d a m E n d e erhielt d a s K r o k o d i l d e n B e f e h l , sein O p f e r zu verschlingen (Budge Magic S. 67). Die Vorstellung des K r o k o d i l s als eines Tieres, d a s m a n sich Untert a n m a c h e n u n d m i t dessen H i l f e m a n seine F e i n d e bes t r a f e n u n d v e r n i c h t e n k a n n , s c h i m m e r t a u c h in Fatinia as-Samha (Nr. 21) d u r c h . Sayce S. 198 e r w ä h n t e f e r n e r , d a ß es n a c h d e m Volksglauben in O b e r ä g y p t e n i m Nil v e r z a u b e r t e menschliche K r o k o d i l e gäbe, die u n t e r d e m W a s s e r leben. D i e S c h l a n g e n sind n a c h a r a b i s c h e r Vorstellung sowohl g u t - als a u c h bösartig. W e i ß e oder weißliche Schlangen (haija) b e w a c h e n H ä u s e r , K i r c h e n , Moscheen, Gräber f r o m m e r Leute u n d verborgene Schätze. Man erzählt sich viele Geschichten, wie sie den Ort, d e n sie b e h ü t e n , gegen F e i n d e verteidigen (Massou S. 4), u n d findet in P a l ä s t i n a in d e n G r ä b e r n der Weli m a n c h m a l a u c h W a n d malereien, die eine haija darstellen (Canaan Saints S. 11). B e i d e n Fellachen des Nildeltas wird wie i m europäischen E r z ä h l g u t — eine Schlange i m H a u s e als günstiges O m e n
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b e t r a c h t e t . W e n n es der Schlangenfamilie g u t g e h t , wird es auch den L e u t e n im H a u s e nicht schlecht gehen. Bezeichnenderweise n e n n t m a n diese Schlangen „Bewohner des H a u s e s " (säkin al-bait — Padwick S. 439). — Schwarze Schlangen ('arbad) dagegen gelten als giftig u n d gefährlich. Menschenfeindliche D ä m o n e n n e h m e n gern ihre Gestalt a n . I n unserer N r . 5 ist offenbar an eine gutartige Schlange gedacht, w ä h r e n d die judäo-arabischen V a r i a n t e n eher von dämonischen Schlangen handeln (vgl. Anna, zu Nr. 5.) An Vögeln gibt es in unserem B a n d vor allem H a h n , Sandflughuhn u n d Falke. Der H a h n , der den tiersprachenkundigen Mann vor Unheil bewahrt (Nr. 28), gilt im Volksglauben als ein glückbringender Vogel. D u r c h sein K r ä h e n verscheucht er die Dämonen. Man meint f e m e r , er sei ein auserwähltes Tier, da er f ü n f m a l täglich zu b e s t i m m t e n Zeiten k r ä h t , als sei er der Muezzin (Gebetsrufer) der Tiere (Canaan Aberglaube S. 56). I n arabischen Tierm ä r c h e n v o m T y p T T V 2 I I I b e h a u p t e t der H a h n wie in der Türkei, ein Muezzin zu sein. — D a s Sandflughuhn (Nr. 1) ist ein Landschaftsvogel, der a m R a n d e der W ü s t e v o m Maghreb bis z u m I r a k lebt. — U n t e r dem Sammelbegriff F a l k e (?aqr) verbergen sich im arabischen Sprachgebrauch oftmals auch falkenartige Raubvögel wie Milane, H a b i c h t e u n d Geier. D a h e r wurde saqr in unseren ägyptischen u n d sudanesischen Märchen allgemein mit „ F a l k e " übersetzt. Zweifellos t r a g s n die vielen bildlichen Darstellungen des göttlichen Horusfalken (s. S. 475) an altägyptischen Tempeln u n d Gräbern dazu bei, d a ß dem F a l k e n im Volksglauben besondere Macht über die Himmelsgeister zugeschrieben wird (Nr. 6, 17). Die Rolle des mythischen Vogels, der ein Findelkind in seinem Nest aufzieht, v e r t r i t t in der persischen Königsgeschichte von Zäl (Firdausi, 10. J h . ) der Riesenvogel Simurg. I n Nr. 6 stiehlt der Falke als gieriger Raubvogel die Fleischvorräte armer K i n d e r . Artin P a c h a (Cont. Soud. A n m . zu S. 46 N r . 16) weist darauf hin, d a ß der Falke a m Weißen Nil als „böser Vogel" berüchtigt ist, u n d glaubt darin eine Reminiszenz a n die Invasion der alten Ägypter zu sehen. An Säugetieren begegnen in den arabischen Volksm ä r c h e n Tiere der Wildnis u n d H a u s t i e r e . F u c h s , W o l f u n d S c h a k a l t r e t e n in Tiermärchen in v e r w a n d t e n Rollen auf, wie die Anmerkungen zu Nr. 2 zeigen. Meistens übertreffen jedoch F u c h s u n d Schakal den Wolf a n Scharf29«
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sinn, List u n d Verlogenheit. Allerdings unterscheiden die Erzähler die drei Tiere zoologisch nicht immer ganz eindeutig, so d a ß ihre Charakteristika m a n c h m a l verwischt oder vertauscht sind. I n den Märchen der Berber herrscht der Schakal vor (el-Azouza Chacal S. 55). I n Tierfabeln aus dem Sudan, die Marno aufzeichnete, erscheint ein Tier m i t d e m Beinamen A b u 1-Husain, das d e m Sammler bald als Fuchs, bald als Schakal beschrieben wurde. Derselbe Beiname ist auch in anderen arabischen Ländern (VAR, Saudi-Arabien) b e k a n n t , wird aber vorwiegend dem F u c h s zugelegt u n d bedeutet Vater (Besitzer) der F e s t u n g , d. h. des „Baus". I n einer Erzählung aus Südarabien (Rhodokanakis S. 42 Nr. 11) wird ein schlauer F u c h s Abu N u w ä s genannt (Abü Nuwäs, der listenreiche Dichter u n d Berater des Kalifen H ä r ü n ar-RaSld [786—809], ist eine b e r ü h m t e Persönlichkeit aus Tausendundeiner Nacht). A m A n f a n g des Märchens t r i t t der F u c h s als Tier auf, aber im Verlaufe der H a n d l u n g (u. a. A T 1530) übern i m m t er Rollen, die in verwandten arabischen Volksmärchen ausschließlich von listigen Menschen besetzt sind. Der E s e l gehört teils zu den wilden Tieren, teils zu den Haustieren. Wie schon aus den Anmerkungen zu N r . 30 hervorgeht, ist die F u r c h t vor dämonischen Eseln arabisches Gemeingut. Bei den Beduinen im I n n e r e n der Arabischen Halbinsel erzählt m a n sich von einem Ungeheuer n a m e n s Si'lija, das in den Bergen h a u s t u n d auf der einen Seite wie eine junge F r a u aussieht, auf der änderen wie ein Esel. E s f r i ß t den ängstlichen einsamen Wanderer, aber a n den Furchtlosen w a g t es sich nicht heran (Hess S. 4). I n F e s (Marokko) erzählt m a n sich von einem ähnlichen weiblichen Geisterwesen, das bei N a c h t als Mauleselin erscheint. Mit ihrem Gold lockt sie die Leute a n u n d s t ö ß t sie zu Boden, sobald sie sich ihr nähern, es sei denn, ihr Opfer h a t ein Buch m i t Koranversen oder eiserne Waffen wie Messer oder Dolch bei sich (s. S. 466, W e s t e r m a r k I S. 406). Die Stimme des Esels ist den Arabern v e r h a ß t , sie wird im K o r a n als die abscheulichste bezeichnet (Sure 31, 19). Auch bei den Wüstenbewohnern heißt es im Sprichwort: „Der Teufel öffnet den Mund des Esels u n d m a c h t ihn schreien" sowie „Allah h a ß t seinen Schrei" (Arabien: Hess S. 62). I n Marokko gilt Eselmilch sogar als ein magisches Mittel, mit dem m a n eine schöne Singstimme bei F r a u e n oder Koranlesern verderben k a n n (Westermark I I 452
S. 288). E s ist daher verständlich, daß sich der Volkshumor über den Gesang des eingebildeten Esels lustig macht (Nr. 4). H u n d e werden sehr unterschiedlich betrachtet. Hohes Ansehen genoß schon im alten Orient der Jagdhund. I m babylonisch-assyrischen Kulturkreis war er der Begleiter von Göttern, und die zu magischen Zwecken verwandten Terrakottastatuetten von Hunden stellen größtenteils Jagddoggen dar (Meißner Hunde S. 176). Auf altägyptischen Stelen des Mittleren Reiches (2040-1730) (z. B. Antef II.) sieht man mit dem Schakal verwandte Windhunde als Jagd- und Kampfgenossen. Hunde dieser Rasse spielen heute noch unter dem Namen salüqi bei den Berbern des Maghreb eine große Rolle und treten in Tiermärchen als kluge und hilfsbereite Freunde auf (Varianten zu Nr. 2). I m Märchen Ardib, Sasu, Nimra! (Nr. 16) wird getreuen Jagdhunden übernatürliche Größe und Stärke zugeschrieben. — I m Islam gilt der Hund als unreines Tier. I n den Prophetenworten heißt es: „Engel betreten kein Haus, in dem sich ein Hund, ein Bild (Götzenbild) oder eine Statue befindet" (Muslim VI S. 155) sowie „Wenn ein Hund aus einem Gefäß getrunken hat, muß es siebenmal gewaschen werden, die erste Reinigung soll mit Erde erfolgen" (Muslim I S. 161). Von progressiv religiöser Seite vertritt man gegenwärtig die Meinung, daß die Warnung des Propheten auf verwilderte und zugelaufene Hunde bezogen sei, die schon zu seiner Zeit als Überträger der Tollwut gefürchtet waren. Die Bezeichnung „Hund" ist in viele arabische Schimpfwörter eingegangen wie z. B. „Hundesohn", „Sohn von sechzig Hunden" usw. Schwarze Hunde galten bereits bei den vorislamischen Arabern als dämonisch. Man meinte, daß sich Dschinnen unter ihrer Hayt verbergen (van Vloten), wie es in Nr. 8 erzählt wird. I m Volksmund erhalten die Tiere oft Beinamen, die ihre Eigenschaften kennzeichnen, aber auch auf andere Tiere angewandt werden. I n Nr. 2 erscheint z. B. Abü Sirhän, d. h. der „Vater des Wolfs". Ein ähnlicher unspezifischer Beiname ist Abü Sulaimän oder Umm Sulaimän, womit ein kluges, manchmal auch listiges männliches oder weibliches Tier gemeint ist, das „so weise wie Salomo" sein soll. Abu Katrina (Nr. 49) gibt diesen Namen der Eidechse, in Tausendundeiner Nacht gilt er für die Elster (Burton Suppl. N i g h t s I V S. 202). I n Palästina ist Abü
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Sulaimän ein Beiname f ü r den Fuchs (Hanauer S. 275) u n d in Marokko in der Dialektform B ü Slimän f ü r den Schakal (Laoust S. 3 Nr. 1). Von den in unseren Märchen vorkommenden Pflanzen verdienen der G r a n a t a p f e l b a u m und. der Oscherstrauch besondere E r w ä h n u n g . I n der assyrisch-babylonischen Mythologie war der G r a n a t a p f e l b a u m d e m Fruclitbarkeitsgott T a m m u z geheiligt. I n Ägypten ist er erst seit d e m Neuen Reich (1562—1085) b e k a n n t , er gelangte wahrscheinlich aus Palästina a n den Nil. I m Grab von Tut-ench- a m u n (1333—1325) wurde ein kunstvoll gefertigter silberner Granatapfel gefunden, der im damaligen Ägypten weit wertvoller als ein goldener war. Der Nachbildung von Granatäpfeln zu Schmuck- u n d Dekorationszwecken liegt vielleicht die Vorstellung von den wunderbaren Granatäpfeln des Brunnengeistes (Nr. 38) oder den Gran a t e n in der Schatzhöhle des bedrängten Dschinns (Varia n t e zu N r . 38) zugrunde. Granatäpfel zählen bei den Arabern zu den F r ü c h t e n des Paradieses. E s ist Brauch, ihren S a f t kleinen K i n d e r n zu trinken zu geben, da er „die Herzen mit Glauben an Allah e r f ü l l t " (Canaan P l a n t lore S. 161) u n d wiederbeleben soll (vgl. Nr. 11). — Der O s c h e r s t r a u c h ('usar, Calotropis proccra) k o m m t im Sudan als baumartiger Strauch vor. Der Stock, den sich die alte Chadidscha (s. Anm. zu Nr. 30) von diesem Strauch abgebrochen h a t , ist als Ursache f ü r das plötzliche E r scheinen eines satanischen Esels aufzufassen (persönliche Mitteilung des Sammlers). N a c h dem Volksglauben liefern einige B ä u m e bzw. Sträucher besonders wertvolle Stöcke. Weil Mohammed einen M a n d e l s t a b h a t t e , sind Stöcke von den Zweigen des wilden Mandelbaumes sehr beliebt. Die Stäbe der S t a m m e s f ü r s t e n im alten Israel waren wahrscheinlich ebenfalls Mandelstäbe, da die Zweige dieses Baumes gerade wachsen u n d gerade Stäbe als gut u n d heilbringend gelten (Gustaf Dalman, Arbeit und Sitte in Palästina I V [Gütersloh 1935] S. 2, S. 21, vgl. I [Gütersloh 1928] S. 84, S. 256). I n Marokko werden Stöcke vom Lorbeerbaum besonders geschätzt, wenn die Männer zum Gebet oder zu. einer religiösen Versammlung gehen, denn sobald ein solcher Stock die E r d e b e r ü h r t , vermag er die Augen irgendeines Teufels auszustechen (Green Tangier S. 455 Nr. 4).
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I n arabischen V a r i a n t e n von A T 563 (vgl. A n m . zu Nr. 27) leben Reste eines B a u m k u l t e s weiter. Die Völker des a l t e n Orients hielten verschiedene B ä u m e als den G ö t t e r n heilig: die Palme der Göttin I s t a r , die Eiche d e m G o t t Baal, den G r a n a t a p f e l b a u m dem Gott T a m m u z , die Sykomore der Göttin H a t h o r usw. Mit dem Glauben a n d e n einzigen Gott wurden die heiligen B ä u m e zu Wohns t ä t t e n der Dschinnen. Hebräische u n d arabische Legenden erzählen, wie die Dschinnen die Leute durch Geldspenden davon a b z u h a l t e n suchten, ihre B ä u m e umzuschlagen. W e n n ein f r o m m e r Mann, empört über den Götzendienst, einen solchen B a u m abschlug, f a n d er einen Schatz d a r u n t e r verborgen (Gaster S. 114 Nr. 307, S. 152 N r . 395). Al-QazwinI (gest. 1283) berichtete eine ähnliche Episode, in der ein f r o m m e r J u d e gebeten wurde, einen B a u m zu schonen. Der p a u m g e i s t war jedoch in diesem Fall kein Dschinn, sondern „Iblis", d. h. der Teufel (Basset Cont. leg. R T P 13 [1898] S. 222 Nr. 64). Wie aus den Anmerkungen zu Nr. 27 hervorgeht, k a n n a n die Stelle eines B a u m dschinns, der einem armen Mann W u n d e r g a b e n schenkt, w e n n er seinen B a u m schont, auch ein f r o m m e r Mann t r e t e n . Dies erweckt Assoziationen mit den B ä u m e n der Weligräber. I n der N ä h e solcher Gräber steht o f t ein B a u m oder sogar ein kleiner H a i n , der heilig gehalten wird, d a m a n glaubt, d a ß er vom Geist des Verstorbenen bewohnt u n d bewacht wird (Canaan Aberglaube S. 9, vgl. a u c h Canaan Plant-lore S. 151). Die Übergänge zwischen älteren u n d neueren Erscheinungsformen eines B a u m k u l t e s scheinen jedoch fließend zu sein. W e s t e r m a r k (I S. 66) stieß in Marokko auf einige einsam stehende A r g a n b ä u m e u n d Terebinthen, die im Volksglauben eine Rolle spielen u n d a m Grab eines Weli wachsen sollten, obwohl keine Spuren von einem solchen Grab zu entdecken waren. An einem dieser A r g a n b ä u m e hingen Opfergaben f ü r Erntesegen. E s scheint d a h e r kein Zufall zu sein, d a ß wir auch in einer m a r o k k a nischen Variante zu Masud, wirble herum! (Nr. 27) v o m Geist eines Arganbaumes hören (Socin-Stumme S. 89 N r . 3). D a s F a m i l i e n l e b e n n i m m t auch im Alltag der Araber einen wesentlichen P l a t z ein, u n d K i n d e r b e t r a c h t e t e m a n besonders in der Feudalepoche als notwendige Ar-
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b e i t s k r a f t der unteren Schichten u n d somit als einen großen „Segen". W e n n daher eine F r a u mehrere Monate nach der Verheiratung vergeblich auf die Schwangerschaft gewartet h a t t e , begann sie auf verschiedene Weise u m die Verwirklichung ihres größten Wunsches zu kämpfen. I h r e Anstrengungen steigerten sich, je länger ihre E h e u n f r u c h t b a r blieb, d e n n zur Sehnsucht nach einem K i n d gesellte sich die F u r c h t vor Scheidung oder die Abneigung gegenüber einer N e b e n f r a u , mit der sie ihren Mann zu teilen h a b e n würde (vgl. N r . 46, 51). Die F r a u fleht auch i m Märchen Allah u m Hilfe an u n d legt Gelübde ab. F ü r den Muslim ist die „Nacht des Schicksals" (lailat al-qadr, die N a c h t des 27. Tages im R a m a d a n , in der Mohammed die erste Offenb a r u n g des K o r a n h a t t e ) ein besonders beliebter Zeitp u n k t . I m Volksglauben meint m a n , d a ß Allah in dieser N a c h t Änderungen in seinen Vorausbestimmungen des Schicksals vornehmen könne. Bei den christlichen A r a b e r n im Libanon h a t die N a c h t des Epiphaniasfestes eine ähnliche Bedeutung. Die noch heute üblichen Gelübde der kinderlosen F r a u , die sie neben Allah auch einem Heiligen wie H i d r (Chidr, s. S. 466 f.) geloben mag, bestehen je n a c h ihrer sozialen Lage in Versprechen, eine gewisse Zeit zu fasten, Almosen zu verteilen, ein Tier f ü r die Armen zu schlachten, das Grab eines Weli zu besuchen oder einer Moschee Gaben zu spenden. Die W a l l f a h r t kinderloser F r a u e n zur Grabmoschee von 'Abdalqädir al-Criläni in B a g d a d , auf die im Schwank von den sieben geschiedenen F r a u e n (Nr. 51) angespielt wird, entspricht noch heute lebendigen irakischen Volkstraditionen. Manche versprechen auch, d a ß sich das erflehte K i n d später religiösen Aufgaben widmen soll. I n Märchen aus d e m Maghreb (Desparmet, Legey) ist m e h r f a c h von solchen Gelübden in der lailat al-qadr die Rede, jedoch handelt es sich meist u m gedankenlos ausgesprochene Beteuerungen u n d Versprechen, die schwerwiegende Folgen auf das Aussehen des K i n d e s (Winzigkeit, halbtierische Gestalt) oder a u f s e i n zukünftiges Leben nach sich ziehen. Wie ein Dschinn in Gestalt eines schwarzen H u n d e s sein R e c h t auf ein Mädchen forderte, d a s i h m die Mutter leichtsinnig versprach, ist in N r . 8 erzählt. Zu den ersten sicheren Schwangerschaftsanzeichen gehört der plötzliche Appetit auf gewisse F r ü c h t e , meistens W e i n t r a u b e n , Zitronen, Granatäpfel u n d Rettiche, oder auf Gerichte, die die F r a u n u r selten zu essen b e k o m m t
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u n d vielleicht gerade bei den N a c h b a r n riecht. W a s eine schwangere F r a u wünscht, soll m a n ihr gewähren u n d bringen. Begehrt sie F r ü c h t e außerhalb der J a h r e s z e i t ( H 1023.3, vgl. N r . 17) u n d k a n n ihre Begierde nicht gestillt werden, wird ihr K i n d m i t Muttermalen geboren, deren Gestalt a n die F o r m der ersehnten F r ü c h t e erinnert. D a kleinfleckige Male häufig a u f t r e t e n , schreibt m a n sie d e m A p p e t i t der Schwangeren auf W e i n t r a u b e n z u (Ägypten: Blackraan Fellahin S. 62, P a l ä s t i n a : G r a n q v i s t S. 38). E i n späteres Schwangerschaftszeichen ist die Rastlosigkeit der F r a u . Aus der Sonne flieht sie in den S c h a t t e n u n d vom Schatten in die Sonne, wie es F a n a t u t (Nr. 15, so auch Schmidt-Kahle I S. 167 N r . 45). I s t das K i n d geboren, soll möglichst a m siebenten Tage n a c h der Geburt das F e s t d e r N a m e n s g e b u n g begangen werden (vgl. N r . 6). Hierzu lassen sich die Männer o f t von einem Scheich Suren vortragen, oder m a n lädt einen Derwisch, einen F a k i r ein, der f ü r das K i n d betet u n d H y m n e n singt. Die F r a u e n dagegen b e m ü h e n sich, M u t t e r u n d K i n d vor d e m bösen Blick zu schützen. Noch heute werden in der V A R f ü r dieses F e s t rot u n d grün bemalte irdene Wasserflaschen v e r k a u f t , die m i t vier Kerzenhaltern f ü r Wachskerzen versehen sind. F ü r K n a b e n w ä h l t m a n eine Wasserflasche von länglicher F o r m (ibriq), die als ein Phallossymbol aufzufassen ist, f ü r Mädchen eine gewöhnliche Tonflaehe (qulla). I n der N a c h t vor d e m F e s t wird eine solche Wasserflasche a n das K o p f e n d e des K i n d e s gestellt, u n d a m nächsten Morgen wäscht m a n d a s K i n d m i t dem Wasser, d a m i t sein Leben beschützt werde. (Zur Vorstellung von der Keilkräftigen Wirkung des Wassers a u s einer b e s t i m m t e n qulla vgl. N r . 29 S. 231.) D a s Neugeborene schläft o f t schon in der N a c h t vor der Namensgebung in einem großen Körnersieb, in d e m es a m folgenden Tage d u r c h d a s H a u s getragen wird, sobald es die H e b a m m e ordentlich durchgeschüttelt h a t . Eine Prozession von F r a u e n begleitet das K i n d , streut Salz u n d K ö r n e r auf den Boden, versprengt m a n c h m a l a u c h Wasser a u s der qulla, u n d in das schrille Geräusch eines heftig gestoßenen Metallmörsers mischen sich ekstatische religiöse Ausrufe u n d Segenswünsche f ü r den P r o p h e t e n , die einem alten heidnischen Brauch religiöse Rechtfertigung geben sollen ( Ä g y p t e n : Lane Society S. 187, B l a c k m a n Fellahin S. 77, S u d a n : 'Abdallah at-Taijib S N R 36).
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Über den N a m e n haben sich meist die Familien des Vaters und der Mutter seit der Geburt des Kindes beraten. I h m messen auch die Araber große Bedeutung zu. Viele erstgeborene Knaben erhalten den Namen Muhammad (Gepriesener), nicht minder beliebt sind Beinamen des Propheten wie Ahmad (Löblicher), Mustafa (Erwählter) oder Kombinationen von c Abd (im religiösen Sinne: Gottesdiener) mit Beinamen Allahs. Nach landläufiger Meinung, die in Vorstellungen des alten Orients wurzelt und dem Glauben an die göttliche Vorausbestimmung des Geschicks im Sinne des Islam entgegensteht, ist der Name nicht nur ein gutes Omen, sondern hat eine Bedeutung, die seinem Träger einen bestimmten Stempel aufdrückt. Durch geschickte Wahl eines Namens, der „geschlechtslos" ist — jedoch vorwiegend Mädchen gegeben wird —, glaubt man einen neugeborenen Knaben vor schädlichen göttlichen und dämonischen Einflüssen bewahren zu können. Eine solche Namensgebung empfiehlt sich, wenn eine Mutter bisher alle Kinder verloren hat. Kränkelt ein Kind in seinen ersten Jahren oder entwickelt es sich nicht in gewünschter Weise, meint man ebenfalls, daß es von dem Tage, an dem man ihm einen neuen Namen gibt, ein anderer Mensch wird. In mehreren unserer Erzählungen wie auch in deren Varianten sind die Namen der handelnden Personen bewußt gewählt. Damit kennt der aufmerksame Zuhörer schon von Anfang an den Charakter der Helden und kann sich ausmalen, wie sie sich in gewissen Situationen verhalten werden (so u. a. Nr. 7, 14, 19, 29, 41, 48). Obwohl im täglichen Leben nicht jeder Muhammad die Achtung seiner Umwelt verdient, wird ein guter Muslim nie ein Märchen erzählen, in dem ein Muhammad nicht ein mutiger, edler und vorbildlicher Mensch ist, meistens trägt er schon den Beinamen as-Sätir (Kluger, Geschickter) (Nr. 16, 41). I n wohlhabenden Familien war es schon zu Zeiten des Propheten Sitte, das Kleinkind einige Jahre einer Amme, oft einer Beduinenfrau aus der Wüste, zu überlassen. I n az-Zain Sahib (Nr. 46) wählt der Sultan eine robuste Landarbeiterfrau. Die Eltern achteten streng darauf, daß die F r a u tugendhaft und gottesfürchtig war, denn nach altem Volksglauben besitzt Frauenmilch magische Kräfte (vgl. Nr. 21) und kann die Seele eines Kindes vergiften, wenn sie rituell unreine Nahrung darstellt. I m Islam gelten 458
Kinder, die a n der gleichen B r u s t gesäugt werden, als Geschwister, d a h e r darf ein Mann seine Milchschwester genausowenig heiraten wie seine leibliche Schwester (Sure 4, 23). D a B r u s t e r n ä h r u n g weithin bevorzugt wird, haben noch h e u t e manche Kinder mehrere „Mütter", aber wohl k a u m sieben wie im Märchen (vgl.Anm. zu N r . 6 u n d S. 4G7f.). Von den mit B r a u t w a h l u n d Eheschließung verbundenen Bräuchen berichten mehrere Texte.. N a c h alter Stammessitte der nomadisierenden Araber, die sich gegen F r e m d e abzuschließen u n d den Familienbesitz ungeteilt zu bew a h r e n suchten, galt die B a s e n h e i r a t als üblichste F o r m der E h e . Ohne E i n v e r s t ä n d n i s des Vetters war die W a h l eines anderen B r ä u t i g a m s meistens unmöglich. Bei den s e ß h a f t e n Arabern u n d zumal der Stadtbevölkerung h a t die Basenheirat zwar s t a r k nachgelassen, gilt aber noch häufig als die beste Garantie f ü r eine stabile E h e . E n t sprechend dieser alten Überlieferung wird die F r a u auch n a c h der Verheiratung von ihrem E h e m a n n noch o f t mit „Base" angeredet. I n den meisten Märchen stehen Vetter u n d Base als ideale P a r t n e r da (Nr. 8, 10, 11, 44), aber es k o m m t auch K r i t i k a n dieser alten Gesellschaftseinr i c h t u n g vor (z. B. N r . 40, 42). Soziologisch aufschlußreich über dieses Problem sind einige Volksmärchen aus P a lästina, die Crowfoot sammelte. Auf die J u n g f r ä u l i c h k e i t der B r a u t legen die Araber noch immer großen W e r t . Die F u r c h t vor „ S c h a n d e " , besonders bei Beduinen u n d Fellachen, n a h m nicht selten F o r m e n a n , wie sie Nadschd und Fana (Nr. 15) schildert. Selbst k r a n k h a f t e Schwellungen des Leibes kosteten mitu n t e r unschuldige Mädchen oder F r a u e n das Leben (Massou S. 165). Nicht jede F r a u ergibt sich d a n n schweigend u n d apathisch in ihr schweres Los, u n d B a s t a r d e oder untergeschobene K i n d e r werden zum Ausweg aus der Verzweiflung (vgl. Nr. 46). Bei der W a h l des E h e p a r t n e r s s t e h t die S c h ö n h e i t häufig im Vordergrund. I n N r . 43 läßt sich eine Witwe von der Schönheit eines verbrecherischen Jünglings blenden u n d gibt i h m eine Tochter nach der anderen. D a s Motiv, Aufschlüsse über die schönsten Mädchen des Ortes durch Belauschen der K n a b e n beim Spiel zu erh a l t e n (Nr. 10, 41), ist kein geschicktes K u n s t m i t t e l der sudanesischen Erzähler, sondern wurzelt in alten Volkst r a d i t i o n e n . N a c h Berbersitte feuern sich die jungen
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K a b y l e n des Maghreb b e i m W e t t s t r e i t oder K a m p f ebenfalls m i t d e m Ausruf von Mädchennamen an (Frobenius K a b y l e n I S. 135). Auch das wiederholte Erscheinen der verstoßenen B r a u t in Kleidern verschiedener F a r b e (Nr. 40) geht auf alte Hochzeitsbräuche zurück. I n der Cyrenaika wechselt die wohlhabende B r a u t a m Hochzeitstag noch h e u t e mehrmals ihre Kleider. Zuerst erscheint sie in hellen Pastellf a r b e n (gelb, blau, rotviolett) u n d schließlich in weiß. Die wöchentlichen T o t e n o p f e r , auf die das Märchen von d e n F e t i r a k u c h e n (Nr. 28) anspielt, gehen auf altägyptische Bräuche zurück, die aus Grabmalereien b e k a n n t sind (Blackman Fellahin S. 298). I n einigen Teilen Oberägyptena ziehen die Dorfbewohner jeden Donnerstag oder F r e i t a g mit Verwandten u n d F r e u n d e n zu den Gräbern ihrer Angehörigen in der W ü s t e u n d lassen sich d o r t v o n F a k i r e n Suren vortragen. Sie bringen f ü r die Armen große K ö r b e voller Brotringe u n d F e t i r a k u c h e n mit u n d verweilen mehrere S t u n d e n (Blackman Fellahin S. 117). I n Kairo werden nach d e m Begräbnis neben F e t i r a k u c h e n a u c h D a t t e l n u n d andere F r ü c h t e a n Friedhofswächter u n d A r m e ausgeteilt. An jedem k o m m e n d e n F r e i t a g bis zu d e m Freitag, der auf den 40. Tag n a c h dem Begräbnis folgt, verteilen die F r a u e n beim Besuch des Grabes ähnliche Spenden a n die Armen (vgl. auch Lane E g y p t e r I I I S. 161). Dieser B r a u c h soll die „kleineren S ü n d e n " sühnen, d e n n jeder Arme, der gespeist worden ist, wird f ü r die Seele des Verstorbenen beten. Totenopfer, die f ü r Vögel, Fische oder Ameisen b e s t i m m t sind, stellen eine alte t ü r kische Sitte dar (Sartori S. 63. Am Feste der Gräber zerbröckelt der A l t t ü r k e viele Brotlaibe u n d w i r f t sie den Fischen ins Wasser, vgl. V a r i a n t e n zu N r . 28). Eines der wichtigsten gesellschaftlichen Gestaltungselemente der arabischen Volkstraditionen bildet der I s l a m . I s l a m b e d e u t e t H i n g a b e . W e r bereit ist, sich dem göttlichen Willen zu unterwerfen, ist ein Muslim. Diese H a l t u n g d r ü c k t sich deutlich im R i t u a l der Gebete aus, die öffentlich u n d in Gemeinschaft verrichtet werden u n d bei denen sich alle Gläubigen in gleichzeitigen, r h y t h mischen Bewegungen niederwerfen u n d m i t der Stirn d e n B o d e n berühren. An Freitagen findet das Mittagsgebet in vielen großen S t ä d t e n auf Straßen u n d Plätzen s t a t t , weil der R a u m in den Moscheen nicht ausreicht. Die f ü n f
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täglichen Gebete an den übrigen Wochentagen h a l t e n nicht alle Muslim streng ein, aber das F a s t e n im Monat R a m a d a n wird sehr ernst genommen. Der R a m a d a n wurde zum heiligsten Monat des J a h r e s , weil Mohammed in diesem Monat seine erste Offenbarung h a t t e . D a das islamische J a h r ein Mondjahr ist u n d der R a m a d a n demzufolge in jede Jahreszeit, also a u c h in den heißesten Sommer fallen k a n n , bedeuten die Forderungen, von Morgengrauen bis Sonnenuntergang weder zu essen noch zu trinken, oftmals eine sehr h a r t e P r ü f u n g . Die im R a m a d a n geborenen K n a b e n erhalten in islamischen L ä n d e r n nicht selten den N a m e n R a m a d a n ( H a r t m a n n N a m e n 321). Die Verwechslung des Männer- m i t dem Monatsn a m e n ließ ein berühmtes Schwankmotiv entstehen (Nr. 50). D a s Auszählen des F a s t e n m o n a t s mit Kieselsteinen, d a s den unerfahrenen Dschuha (Guhä) in Verlegenheit b r a c h t e (Nr. 53), h a t nicht ein Märchenerzähler erfunden, sondern es entspricht einer Sitte, die mit dem Zählen der Gebete a m Rosenkranz v e r w a n d t ist. E s wird berichtet, d a ß Mohammed eines Tages F r a u e n t r a f , die mit Kieselsteinen auszählten, wie o f t sie die W o r t e „Gepriesen sei A l l a h l " wiederholten, u n d er warf ihnen ihre Torheit vor. D i e P i l g e r f a h r t n a c h Mekka, n a c h der sich jeder f r o m m e Muslim sehnt u n d auf die er sich vorbereitet, sobald er das Reisegeld beisammen h a t , gehört zu den fünf Grundpfeilern des Islam (vgl. N r . 5, 23, 32, 51, 56). Gleichzeitig ist es seine Pflicht, hinreichend f ü r den U n t e r h a l t der Familie während seiner Abwesenheit zu sorgen (Nr. 5, 32). Die R i t e n des hagg (Hadsch, Wallfahrt) finden im 12. Monat des islamischen J a h r e s s t a t t . Die zwei vorausgehenden Monate Sauwäl u n d D ü l - q a ' d a heißen a u c h Monate der Pilgerfahrt, doch sind sie zur Reise u n d Vorbereitung bestimmt. Pilger aus demselben L a n d pflegen sich in vorgeschriebenen Stationen außerhalb Mekkas zu versammeln, um, ehe sie die heilige S t a d t betreten, in den Z u s t a n d der Weihe einzutreten, der sie körperlich u n d geistig auf ihre religiösen Pflichten vorbereiten soll. Die R i t e n beginnen a m 7. Tage des Monats m i t d e m siebenmaligen Umschreiten der K a a b a (Ica'ba) u n d d e m Ber ü h r e n oder Küssen des schwarzen Steines. N a c h islamischer Auffassung wurde das Heiligtum in Mekka von A b r a h a m , dem ersten großen P r o p h e t e n u n d Verkünder der monotheistischen Religion,, errichtet (Sure 125). 461
Der nächste R i t u s ist der siebenmalige „Schnelle L a u f " zwischen Safä u n d Marwa a m 8. Tage, am 9. (Tage besteigen die Pilger den Berg ' A r a f a t u n d r u f e n dabei im Chor Labbaika! sowie Allähu akbar! u n d beten. Bei Sonnenuntergang ziehen sie eilig hinunter n a c h Muzdalifa u n d verbringen dort die N a c h t vor dem Opferfest, das auf d e n zehnten Tag fällt. A m Vormittag des Opferfestes werfen die Pilger sieben Kieselsteine gegen aufrecht stehende Steine a m Berg, u m d a m i t wie einst der P r o p h e t I b r a h i m (Abraham) den Satan zu vertreiben. D a n a c h werden i m Tale von Minä Schafe, Ziegen u n d Kamele geschlachtet. Dieses Fest wird gleichzeitig in allen islamischen L ä n d e r n als E r i n n e r u n g a n A b r a h a m s Bereitwilligkeit, seinen einzigen Sohn Ismael als Opfer darzubringen, gefeiert (die biblische Erzählung bezieht sich auf den zweiten Sohn A b r a h a m s , Isaak). N a e h d e m Opfer in Minä kehren die Pilger nochmals zur Umschreitung der K a a b a u n d zu Gebeten n a c h Mekka zurück. Anschließend reisen die meisten weiter nach Medina, u m die Grabmoschee des P r o p h e t e n Mohammed zu besuchen. Den traditionellen Abschluß der Pilgerfahrt zu den heiligen S t ä t t e n im Hedschas bildet ein Besuch der al-Aqsä-Moschee in Jerusalem. Auf die H e i m k e h r der Pilger w a r t e n die Familie u n d die F r e u n d e m i t großer - Spannung, u n d sie bereiten einen festlichen E m p f a n g vor (Nr. 32, 51, 56). I n ägyptischen D ö r f e r n u n d in den Armenvierteln der S t ä d t e findet m a n häufig a m H a u s e eines hagg (Pilger) Malereien, in denen er dieses wichtige Ereignis seines Lebens schildert oder v o n einem Volkskünstler darstellen läßt. Neben stilisierten Bildern der K a a b a sieht m a n meist das Beförderungsmittel, m i t dem er reiste. Manchmal sind auch wilde Tiere abgebildet, die a n die Gefahren der Reise erinnern sollen. F r ü h e r erlagen viele Pilger den Strapazen der W ü s t e n reise, S t ü r m e n auf dem R o t e n Meer, ansteckenden K r a n k heiten u n d der Gluthitze Arabiens. Auch h e u t e noch ist die Pilgerfahrt nicht frei von Mühe u n d Gefahr. F ü r die nomadisierenden Beduinen ist das Gebot der G a s t f r e u n d s c h a f t von großer Bedeutung. Sie glaubten, d a ß das Essen, welches ein Fremder bei ihrem S t a m m verzehrte, 3 J / 3 Tage lang in seinem Magen verbliebe. W ä h r e n d dieser Zeit s t a n d er u n t e r dem Schutze des Stammes u n d d u r f t e weder beraubt noch getötet werden ( L i t t m a n n Monist). Die Erzählung von einem Araber, der
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lieber das K a m e l seiner Gäste sohlachten ließ, als d i e G a s t f r e u n d s c h a f t zu verletzen (Nr. 35), erscheint weniger unverständlich, wenn m a n d a m i t eine Sitte palästinensischer N o m a d e n s t ä m m e vergleicht. Bei den Beduinen von Beersheba u n d Gaza herrschte der Brauch, d a ß ein Mann, der-einen u n e r w a r t e t e n Gast erhielt u n d selbst kein Schaf z u m Schlachten h a t t e , zum nächsten Schafhirten ging, u m sich ein Schaf f ü r den Gast zu n e h m e n . W e n n der H i r t hörte, daß das Tier f ü r „den Gast Allahs" b e s t i m m t war, d u r f t e er während der nächsten f ü n f z e h n Tage den Preis d a f ü r nicht abfordern (el-Barghüthi S. 195). Die S t e l l u n g d e r F r a u im Islam ist in christlichen L ä n d e r n o f t mißverstanden worden. W u r d e n im vorislamischen Arabien neugeborene Mädchen n i c h t selten g e t ö t e t , so fordert der Koran, die Kinder beiderlei Geschlechts m i t gleicher F r e u d e zu begrüßen. J e d o c h galten Söhne als Mehrer des Besitzes, Viehzucht- u n d Handeltreibende weiterhin wichtiger als Töchter. Arabische Sprichwörter b e h a u p t e n wie schon die vieler alter Völker: „Häuser voller Töchter sind ruinierte H ä u s e r " , „Mädchen sind B ü r d e n " , „Der Tod von Mädchen ist ein Segen" (Canaan W o m a n S. .174). Diese Einstellung zeigt sich auch im Märchen von den sieben Söhnen u n d den sieben Töchtern (Nr. 42). Andererseits n a h m e n die F r a u e n der arabischen S t ä m m e nach alter Beduinensitte a n den ersten Fehden des Islam teil, feuerten die Männer durch ihre schrillen Triller u n d leidenschaftlichen W o r t e z u m K a m p f a n u n d b r a c h t e n den Verwundeten Hilfe u n d Linderung. Moh a m m e d , obwohl selbst ein Analphabet, hegte großes Interesse f ü r Bildung u n d legte seinen F r a u e n nahe, Lesen u n d Schreiben zu lernen. I n der Blütezeit des Islam, vor allem im spanischen K a l i f a t , gab es nicht wenige gelehrte F r a u e n . Mit dem einsetzenden gesellschaftlichen Verfall tinter den Abbasiden (749—1258) wurden die Koranauslegungen spitzfindiger u n d e n t f e r n t e n sich immer m e h r vom ursprünglichen Islam u n d zogen u. a. n a c h sich, d a ß die F r a u e n z . T . b i s heute verschleiert gehen u n d abgeschieden leben m u ß t e n . Die Verschleierung der Mädchen u n d F r a u e n fordert der K o r a n nicht, in Sure 33, 59 heißt es allerdings, d a ß die Töchter u n d Weiber der Gläubigen einen Teil ihrer Überwürfe senken sollen, d a ß m a n sie erkenne, doch n i c h t kränke. E r s t m i t der nationalen Befreiungsbewegung in der arabischen Welt öffneten sich
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d e n islamischen F r a u e n alle Möglichkeiten, Seite a n Seite m i t den Männern die Entwicklung ihrer Länder zu fördern, aber der Schleier beispielsweise verschwindet dennoch erst allmählich. Der Islam erlaubt die M e h r e h e . E i n Muslim darf gleichzeitig bis zu vier F r a u e n haben, aber es wird ihm nahegelegt, allen gleichermaßen als G a t t e u n d Versorger gerecht zu werden (Sure 4, 129). Die Polygamie m u ß jedoch in erster Linie als wirtschaftlich begründet b e t r a c h t e t werden. D a s d r ü c k t sich gerade auch in d e m Prophetengebot aus, d a ß der Mann alle seine F r a u e n gleich behandeln solle, eine Bedingung, die einen gewissen Wohlstand voraussetzt. F ü r die Bauern bildete die F r a u eine Arbeitshilfe, während die sexuelle Seite dabei eine ganz untergeordnete Rolle spielte. Die sagenhaften Ausschreitungen d e r H a r e m s waren immer auf wenige A u s n a h m e n bes c h r ä n k t . I n den sog. Mittelschichten d ü r f t e die erlaubte Vierzahl a n F r a u e n nie richtig ausgeschöpft worden sein. Bei der heutigen arabischen Stadtbevölkerung herrscht bereits die Einehe vor, auf dem Lande hingegen ist die Mehrehe noch verbreitet. N a c h islamischem R e c h t m u ß t e d e r B r ä u t i g a m einen K o n t r a k t m i t dem gesetzlichen Vertreter der B r a u t abschließen u n d einen Brautpreis e n t r i c h t e n (Nr. 43), der eine materielle Sicherung der F r a u f ü r den Fall gewährleisten soll, d a ß ihre E h e aufgelöst oder d a ß sie Witwe wird. Der E h e m a n n h a t nicht das R e c h t , den persönlichen Besitz der F r a u anzurühren oder sich in ihre Geld- oder Handelsgeschäfte zu mischen, soweit sie ihn nicht dazu a u f f o r d e r t . E i n H a d i t h sagt, d a ß von allen Dingen, die den Menschen e r l a u b t sind, Allah die E h e s c h e i d u n g a m meisten h a ß t . W e n n es jedoch zu einer Scheidung k o m m t , d a n n soll die T r e n n u n g in Freundlichkeit u n d Verständnis vor sich gehen (Sure 2, 226—232). Die Scheidung wird unwiderruflich, wenn der E h e m a n n die Scheidungsformel dreimal ausgesprochen h a t (Nr. 51). E r m u ß d a n n der F r a u den R e s t des vertraglich festgesetzten Brautpreises ausbezahlen, wenn er ihn nicht schon vorher voll entrichtet h a t . Auch der F r a u s t e h t das R e c h t zur Scheidimg zu. Auf Grund der erlaubten Mehrehe gilt der B r u d e r als natürlicher Beschützer der Schwester (Nr. 11) u n d spielt o f t bei Eheschließung u n d Scheidimg eine größere Rolle als der Vater.
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Wie unsere Märchen zeigen, spielen G e i s t e r g l a u b e u n d Z a u b e r w e s e n eine gewichtige Rolle. Der Islam ist zwar ein strenger Monotheismus, doch ist er auf der Grundlage sehr verschiedener religiöser Anschauungen entstanden und m u ß t e notgedrungen Zugeständnisse machen. So werden im K o r a n neben den Menschen die Geister erwähnt, die dann bei den unteren Volksschichten eine so große Rolle spielten. Das hängt wiederum mit dem jeweiligen Entwicklungsstand der arabischen Völker zusammen und ist zum Teil den Verhältnissen im mittelalterlichen Europa vergleichbar. Götter des alten Orients und der Antike leben als hilfreiche Geister u n d verhaßte Dämonen weiter. Die Leute von Mosul schüchtern noch heutzutage ihre Kinder mit Ungeheuern wie der Damija (Nr. 7) und der Sila (Nr. 25) ein. Irakische Volkskundler (al-Alouchi S. 137) erblicken in diesen blutdürstigen Geisterweibern eine Reminiszenz an babylonische Dämonen. Auch die heißen und kalten Wüstenwinde wurden schon bei den Babyloniern Dämonen zugeschrieben (Worrell), die Araber bringen sie mit riesigen, o f t fliegenden Ghulen in Verbindung (Nr. 8, 10). I n der koptischen Sprache heißen sie Maris, was im Arabischen auch außerhalb Ägyptens zu Marid geworden ist ( m ä r i d : widerspenstig, rebellisch, böser Geist). Menschenfeindliche Ghule oder Dschinnen gehören zur Welt der Finsternis, und ihre F a r b e ist meist schwarz. Manche von ihnen besitzen die Fähigkeit, sich in schwarze Tiere, gelegentlich auch in schwarze Sklaven zu verwandeln (vgl. Anm. zu Nr. 27, 38, 45). Wer ihre Hilfe a n r u f t , m u ß ihnen Schlachtopfer an schwarzem Vieh oder Geflügel bringen. Die im Zoroastrismus u n d noch stärker im Manichäismus ausgeprägte Lehre und Gegenüberstellung von Weiß u n d Schwarz, Licht und Finsternis, Gut u n d Böse begegnet auch in der Bibel und im Koran (Canaan Light S. 24). Am Tage des Jüngsten Gerichtes wird Allah das Angesicht der Sünder schwarz werden lassen, u n d wenn ein Muslim einen Mitmenschen verflucht, wünscht er ihm oftmals, daß Allah sein Angesicht augenblicklich schwärzen möge. I n Marokko glaubte man, daß gewisse Negersklavinnen ihre H a u t ablegen können u n d dann ein B a d nehmen (Quedenfeldt S. 676). Diese Vorstellung h a t sich auch in maghrebinischen Volksmärchen 30
Arabische Volksmärchen
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von schönen Jungfrauen niedergeschlagen, die sieh zeitweilig unter der H a u t einer Negersklavin verbergen (vgl. Anm. zu 8, 21). Neben religiösen Formeln gilt Eisen als wirksamster Schutz gegen Ghule und heimtückische Dschinnen, wie aus Nr. 7 sowie Varianten zu Nr. 30 hervorgeht. Man erzählt sich, daß Salomos berühmter Ring zwei Siegel besaß, dessen eisernes ihm die bösen Geister unterwarf. Noch heute tragen viele Araber Stahlringe oder mit Stahl verarbeitete Goldringe, um sich vor bösen Mächten zu schützen (s. S. 452), und oft pflegen sie auch eine eiserne Waffe in der Nähe des Bettes aufzuhängen (für Marokko vgl. Westermark I S. 305). — Die Fellachen Oberägyptens, unter denen es prozentual mehr koptische Christen als bei der Landbevölkerung des Nildeltas gibt, bezeichnen gute und hilfreiche Geister auch als „Engel" (vgl. Nr. 17). Sie können zwar als Schutzgeister auftreten,. ähneln aber nicht den himmlischen Wesen des Christentums. Bei den Nubiern haben sie meistens unterirdische Behausungen (persönliche Mitteilung des Sammlers), manche wohnen im Nil. Man fleht sie um Hilfe an, wenn Kinder schwach und krank sind, und wirft ihnen Datteln und Brotkuchen in den Fluß (Blackman Fellahin S. 222). Eine Variante des Geisterglaubens lebt in den W e l i k u l t e n fort. Die Gräber islamischer Heiliger mit den in ihrer Nähe befindlichen Quellen oder Bäumen sind oft an die Stelle der Grottenheiligtümer der Naturgottheiten getreten (s.S. 455f.). Von den islamischen Heiligen, die nach dem Volksglauben magische Kräfte besitzen und zu deren Gräbern oder Gedächtnisstätten Wallfahrten unternommen werden, begegnen in unseren Texten Chidr (Nr. 49) und Abdalqadir al-Gilani (Nr. 51). Hidr (Chidr, s. S. 557) wird zu den Propheten gerechnet, ist aber nicht namentlich im Koran erwähnt. Religionsgeschichtlich geht er auf den babylonischen Tammuz, den griechischen Adonis und den Koch Alexanders des Großen zurück (der Koch begleitete Alexander auf der F a h r t zum Lebensquell, wurde aber nach der Heimkehr in einen Seedämon verwandelt, weil et Alexander betrog und heimlich Unsterblichkeitswasser mitnahm, s. Friedländer). Hidr sorgte u. a. dafür, daß der wundertätige Stein im St. Georgskloster bei Betdschala (s. Nr. 49), der alle Kranken, die ihn berühren, wieder gesund machen 466
soll, in Palästina verblieb, als ihn ein russischer Zar abgekauft h a t t e u n d in J a f f a einschiffen lassen wollte (Canaan Aberglaube S. 89). D e n Geisteskranken im St. Georgskloster b r a c h t e n Angehörige aller drei Religionen B r o t , Käse oder Kleider m i t , wenn sie ein Gelübde an H i d r abgelegt h a t t e n . 'Abdalqädir al-öiläni ist eine historische Persönlichkeit (s. S. 555). Schon zu Lebzeiten schrieb i h m der Volksmund W u n d e r t a t e n zu. E r war ein ungewöhnlich mutiger u n d aufrechter Mann, der f ü r die R e c h t e des einfachen Volkes e i n t r a t u n d scheinheilige Frömmelei, routinemäßiges B e t e n u n d F a s t e n verabscheute, wenn ihnen n i c h t entsprechende T a t e n folgten. E r e r m a h n t e die Leute, a n s t a t t glänzende Vorbereitungen f ü r den hagg zu treffen, lieber erst a n einen hungernden N a c h b a r n zu denken (vgl. Nr. 32). 'Abdalqädir al-öllänis größtes „Mirakel" bestand darin, d a ß er im moralisch gesunkenen B a g d a d der Abbasidenherrschaft weder K a d i noch Kalif oder hohe Staatsb e a m t e m i t seiner h a r t e n K r i t i k verschonte u n d sie zur R ü c k k e h r zu den ursprünglichen Lehren des K o r a n auff o r d e r t e (Abdul Ali). Von d e n Z a h l e n messen die Araber so wie a u c h die E u r o p ä e r in B r a u c h t u m u n d Erzählgut der Drei eine besondere B e d e u t u n g zu. Gewichtig sind des weiteren vor allem die Sieben u n d die Vierzig. Die Sieben spielte schon bei den Sumerern u n d Babyloniern eine große Rolle, die wahrscheinlich auf der Messung der Mondphasen b e r u h t e . Bei den Babyloniern galt sieben als Ausdruck höchster Kraftsteigerung. Der Held Gilgamesch t r u g den Beinamen der „Siebenstarke", u n d wenn sich ein Recke richtig zum K a m p f e r ü s t e n wollte, m u ß t e er sieben H e m d e n anlegen (Hehn S. 16). I n unserer libanesischen Variante des Märchens von der treulosen Schwester (Mutter) steckt die übernatürliche Stärke des Helden in sieben Kopfh a a r e n (Nr. 11). D a die Sieben Gesamtheit u n d Vollkommenheit verkörpert (vgl. auch die sieben Mädchen bzw. F r a u e n in N r . 10, 21, 43, 51), erscheinen im babylonischen P a n t h e o n auch Götter u n d D ä m o n e n in der Siebenzahl. I n nachexilischen jüdischen Schriften u n d im Parsismus gibt es sieben „Engelfürsten" (Kohut S. 3). Zwei der sieben „ D ä m o n e n f ü r s t e n " der Woche leben im arabischen Volksglauben v o m Maghreb bis Palästina fort, u n d zwar Maimun (Nr. 12) u n d Schamhurisch (Nr. 20). Maimün wird in Marokko als „Dschinnheiliger" angesehen 30*
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(Westermark I S. 328), da sein N a m e „Glücksbringer" b e d e u t e t . I n Palästina dagegen gilt er als der D ä m o n , der den Sonnabend regiert. Dementsprechend finden in Sitt Ward (Nr. 12) die Feste des Dschinnenfürsten Maimün alle sieben Tage s t a t t . Samhüris regiert in Palästina den Donnerstag (Canaan Dämonenglaube S. 40), in den Atlasbergen von Marokko gilt er als Sultan der Dschinnen, u n d m a n opfert i h m jedes J a h r schwarzes Vieh (Westerm a r k I S. 283)'. Die H e r k u n f t seines N a m e n s liegt im dunkeln. D a es sich nicht u m einen arabischen N a m e n handelt, h a t m a n n a c h Vorbildern in der parsischen u n d gnostischen Geisterweit gesucht. Weil Samhüris jedoch auch im jüdisch-orientalischen Zauberwesen eine Rolle spielt (vgl. N r . 20), wies Walker in einer Veröffentlichung über ägyptische Volksmedizin (S. 38, so auch H a n s A. Winkler, Siegel und Charaktere in der mohammedanischen Zauberei, i n : Studien zur Geschichte und Kultur des islamischen Orients [Straßburg] 7 [1930], S. 142) auf die Ähnlichkeit zwischen Samhüris u n d dem hebräischen Sem hammeföräs, d. h. dem unaussprechlichen N a m e n Gottes (vgl. S. 472) hin. — Die „sieben Geistermütter" der nordsudanesischen Märchen (Nr. 6, 13) s t a m m e n wahrscheinlich aus altägyptischen Mythen. Hier d r a n g die Vorstellung der „sieben H a t h o r e n " erst spät ein u n d geht wohl auf babylonische Einflüsse zurück. H a t h o r wurde als „Herrin des Westens", G ö t t i n der Liebe u n d ähnlich wie Isis auch als M u t t e r aller Götter u n d Göttinnen angebetet (s. auch S. 475). Die Ägypter stellten eine Liste der sieben bedeut e n d s t e n Göttinnen zusammen, die u n t e r d e m N a m e n H a t h o r in Theben, Heliopolis, Aphroditopolis, der Halbinsel Sinai, Momemphis, Herakleopolis u n d Keset verehrt wurden (Mercer S. 205). Außerdem gab es einen Lokalkult der sieben H a t h o r e n in Dendera (Oberägypten), bei dem die sieben Göttinnen als junge Mädchen m i t Geierköpfen u n d einer Sonnenscheibe zwischen den K u h h ö r n e r n dargestellt wurden (Budge F e t i s h S. 227). Die Zahl 40 k o m m t ebenfalls schon als Z a h l e n a t t r i b u t babylonischer Gottheiten vor, zumal des Wassergottes. Roscher n a h m an, d a ß das mit der 40tägigen Unsichtbar keit der Plejaden, die die Regen- u n d Winterzeit einleitet, zusammenhängen könne. Bei Mandäern u n d J u d e n ging die Zahl 40 auch in rituelle Vorschriften ein. Die Periode der Unreinheit der Wöchnerin beträgt 40 Tage, ebenso468
lange dauern F a s t e n , Strafen u n d auch T r a u e r . Ähnliche Vorschriften gibt es im Islam. Wohl aus diesem Grunde setzt der einfäjtige Guhä in N r . 53 den F a s t e n m o n a t k u r z e r h a n d auf 40 Tage a n . Ähnlich wie in den Märehen von Ali B a b a oder H a s a n von Basra aus Tausendundeiner Nacht ist a u c h in den Märchen von 40 R ä u b e r n (Nr. 11) oder 40 T a u b e n j u n g f r a u e n (Nr. 12) die Rede. Weitere Beispiele f ü r die Zahl 40 in arabischen Märchen h a t Roscher zusammengestellt. 40 b e d e u t e t — ähnlich wie 1000 oder 1001 — j a auch ganz allgemein „sehr viele". Die F u r c h t vor d e m b ö s e n B l i c k , d. h. d e m Neid u n d d e m Fluch der feindlich gesinnten Geister oder ihnen dienenden Menschen, ist bei den Arabern bis zum heutigen Tage sehr verbreitet. Sie beherrscht nicht n u r die Landbevölkerung, sondern auch einen großen Teil der modernen Großstädter. Z u m Schutz vor dem bösen Blick pflegt m a n verschiedenartige A m u l e t t e zu tragen u n d zeremonielles Ausräuchern vorzunehmen. Deshalb gehören Glasperlen, Alaun u n d Mastix zur Ausrüstung eines Hausierers, der über die Dörfer zieht (Nr. 48). Blauen Perlen wird besondere S c h u t z k r a f t zugeschrieben. Sie finden nicht n u r i n H a l s k e t t e n , Finger- u n d Ohrringen Verwendung, sondern werden von m a n c h e n schwangeren F r a u e n a u c h auf d e m Leib getragen, u m ihre ungeborenen Kinder vor Unheil zu bewahren. Auch ins H a a r , an die Mützen kleiner K i n d e r oder a n die Stirn des besten Viehs werden m i t u n t e r blaue Perlen geheftet. O f t hängen sie a n den Metallschatullen der mit Koranversen beschriebenen Amulette. Zuweilen werden solche Perlen ins Wasser gelegt, u n d m a n t r i n k t d a v o n bei m a n c h e n K r a n k h e i t e n oder reibt sich m i t F e t t e n ein, die mit einer derartigen Perle in B e r ü h r u n g waren. — Alaun soll ebenfalls vor dem bösen Blick schützen. Deshalb l e g t m a n auf d e m L a n d e Alaunstückchen auf Türschwellen oder auf Tore. — Auch Mastix soll vor dem bösen Blick bewahren. E r ist ein aromatisches Sekret gewisser Pistazienarten (hauptsächlich Pistacia lenticus) u n d wird m i t zum Beräuchern von Geschirr u n d Trinkflaschen b e n u t z t (Nr. 17). Ähnlichen Zwecken dient in Ä g y p t e n b a h ü r , eine andere A r t von Räucherwerk, die vor den großen Moscheen u n d im Drogenbasar in verschiedenen D ü f t e n u n d F a r b e n v e r k a u f t wird. Die wichtigsten Bestandteile sind Sandel- oder Aloeholz, Koriander, K u p f e r v i t r i o l u n d Glimmer. B a h ü r gehört zur unerläß-
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liehen Ausrüstung der Schatzgräber (Nr. 29). I m H e i m b r e n n t m a n b a h ü r wegen des angenehmen D u f t e s ab, aber a u c h in Verbindung m i t alten Zauberpraktiken, wenn z. B. j e m a n d eine schwere K r a n k h e i t überstanden h a t , von einer langen Reise zurückgekehrt ist oder in ein neues H e i m übersiedelt. Der Schutz vor d e m bösen Blick wird d u r c h siebenmaliges Umschreiten oder Überspringen des Räucherbeckens e r h ö h t . — F ü r das wirksamste A m u l e t t gegen den bösen Blick — im Arabischen als „das A u g e " bezeichnet — h ä l t der Volksglaube Nachbildungen von Augen (Marokko: Westermark I S. 459, P a l ä s t i n a : Canaan Aberglaube S. 60). I n Palästina, a u s d e m unser Märchen N r . 26 s t a m m t , waren die in H e b r o n gefertigten Glasaugen sehr verbreitet. Sie bestanden a u s einer kleinen Scheibe von blauem, b r a u n e m oder grünem Glas m i t einem schwarzen P u n k t in der Mitte, der von einem weißen u n d einem gelben Kreis umgeben war. E i n e eigentümliche V e r k n ü p f u n g v o m Glauben an m a g i s c h e G e i s t e r g a b e n m i t dem Segen Allahs zeigt sich in der von Marokko bis zum I r a k verbreiteten Vorstellung, d a ß sich Getreide, Honig oder Wolle durch einen „Göttlichen Segen" (baraka) nicht erschöpfen, sondern immer wieder erneuern (Westermark I S. 220). I n Marokko erzählt m a n von einer F r a u , die eines Tages allein zu H a u s e war u n d einen goldenen F a d e n im Fenster erblickte. Sie k o n n t e ihn so lange aufwickeln, bis j e m a n d a n die T ü r klopfte u n d bis sie fragte, wer E i n t r i t t begehre. H ä t t e sie geschwiegen, wäre der magische Segen von längerer Dauer gewesen. I n unserem irakischen Märchen von der hilfreichen Sila (Nr. 25) s t a m m t das Spinnvlies, das nicht zu E n d e geht, von einem anderweitig gefürchteten Geisterweib, aber der Erzähler f ü g t ausdrücklich h i n z u : „Jedoch den R e i c h t u m verleiht Allah." Eine weitere gemeinarabische Tradition ist auch das S c h l a c h t o p f e r beim H e b e n eines Schatzes (Nr. 20, 28, Marokko: W e s t e r m a r k I S. 359, Algerien: Desparmet I I S. 157, L i b y e n : P a n e t t a S. 128). Gewöhnlich m u ß schwarzes Hornvieh oder schwarzes Geflügel geschlachtet werden, u m die schatzhütenden Dschinnen freundlich zu s t i m m e n oder weil mit d e m Schatz ein schwarzfarbiges Tier vergraben wurde, das seitdem als unsichtbarer W ä c h t e r den Schatz h ü t e t (Desparmet s. o.). Ähnliche Tieropfer sind i n Palästina beim B a u eines neuen Hauses (Massou S. 428)
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oder beim Betreten einer Höhle üblich, wenn H i r t e n dort vorübergehend unterschlüpfen wollen (Spoer Powers S. 66). Bei diesen Schlachtopfern k o m m t es darauf an, d a ß reichlich Blut vergossen wird, denn das B l u t stellt das eigentliche Mittel der magischen W i r k u n g dar. I n den Überlieferungen des Maghreb m e i n t m a n , d a ß sich verborgene Schätze a u c h heben lassen, wenn s t a t t eines Tieres ein Mensch getötet wird, der eine sog. Glückslinie besitzt, die schnurgerade über seine Handfläche verläuft (Westermark I S. 359, Desparmet I I S. 157). I n Marokko genügt es, einen derart gezeichneten Menschen so zu verwunden, d a ß sein Blut die Stelle b e r ü h r t , u n t e r der d a s Geld vergraben wurde. Auf ähnliche Weise geschieht d a s a u c h im jordanischen Volksmärchen (Nr. 20). Trotz des Verbots durch die heiligen Schriften wird a u c h bei den semitischen Völkern k r ä f t i g u n d reichlich geschimpft u n d geflucht. F l ü c h e dienen nicht n u r als D r o h u n g , sondern m a n glaubt a u c h a n ihre magische Gewalt, wenn sie im N a m e n der Gottheit ausgesprochen worden sind (Canaan Curse S. 236). Sobald ein Araber eine Verwünschung leidenschaftlich ausstößt, h e b t er seine Arme zum H i m m e l empor u n d begehrt eindringlich, d a ß sein F e i n d nach Allahs Willen von Unheil befallen werde. I n Palästina entblößen die F r a u e n m a n c h m a l sogar die B r u s t u n d r u f e n : „O Allah, ich erbitte bei meiner r e c h t e n B r u s t u n d erbitte v o m H e r r n der Welten . . ." (Massou S. 158), u m die Wirksamkeit ihrer Flüche zu erhöhen. Selbst böse Geisterweiber wie die Sila in Fatima as-Samha (Nr. 21) können n a c h d e m Volksglauben einen erfolgreichen Zauber ausüben, wenn sie ihre Verwünschung in Allahs N a m e n aussprechen. Magische K r a f t wird a u c h der S c h r i f t nachgesagt. E i n Sprichwort aus dem I r a k l a u t e t : „Die Schrift auf der Stirn wird nicht ausgelöscht" (Weißbach N r . 85), d. h., j e d e m Menschen ist sein unentrinnbares Geschick auf die Stirn geschrieben. Demgegenüber t r a u t e m a n maghrebinischen Zauberern die Fähigkeit zu, einen Menschen u n s i c h t b a r m a c h e n zu können, n a c h d e m sie geheime Schriftzeichen auf seiner Stirn angebracht h a t t e n . Diese Schriftzeichen ließen sich aber leicht wieder abwischen, u n d d a m i t wurde der Zauber aufgehoben (Anm. zu N r . 24). I n einer j üdisch-orientalischen Volkserzählung ( J e m e n : Goitein Sheba S. 81, P a l ä s t i n a : H a n a u e r S. 99) dienen die Schrift-
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zeichen a u f der S t i r n n i c h t z u m U n s i c h t b a r m a c h e n , s o n d e r n zur A u f e r w e c k u n g eines T o t e n , der u n g e r e c h t e r weise wegen Mordes a n g e k l a g t w o r d e n w a r . I n u n s e r e m M ä r c h e n N r . 24 w i r d n i c h t s N ä h e r e s ü b e r die A r t der Schriftzeichen e r w ä h n t , die bei d e n J u d e n a u s k a b b a listischen Zeichen u n d d e m T e t r a g r a m m f ü r d e n N a m e n Gottes bestehen. I n der a l t ä g y p t i s c h e n Magie k a m es auf die A n r u f u n g des r i c h t i g e n G o t t e s n a m e n s z u m r i c h t i g e n Z e i t p u n k t a n . I n der S c h ö p f u n g s m y t h e des P a p y r u s Nesi-Amsu s p r i c h t d e r „große G o t t " seinen eigenen N a m e n als ein W o r t der (magischen) Gewalt aus, u m sich selbst z u e n t f a l t e n ( B u d g e Magic S. 161). D e r Glaube a n die A l l m a c h t des G o t t e s n a m e n s ist in hellenistischer Zeit v o n d e n J u d e n A l e x a n d r i a s u n d P a l ä s t i n a s ü b e r n o m m e n w o r d e n . Als sem hammeföräs gelangte der hebräische G o t t e s n a m e a u f Moses' S t a b u n d Salomos b e r ü h m t e n Siegelring u n d w u r d e z u m g e f ü r c h t e t e n Z a u b e r m i t t e l . Z w a r g a l t die Auss p r a c h e des v i e r b u c h s t a b i g e n G o t t e s n a m e n s „ J H W H " bei d e n gläubigen J u d e n als T o d s ü n d e u n d w a r n u r d e m H o h e n p r i e s t e r v o r b e h a l t e n , a b e r die j ü d i s c h e n Z a u b e r e r s c h e u t e n d a v o r n i c h t z u r ü c k (Blau S. 119). N a c h der V o l k s m e i n u n g v e r m o c h t e n sie m i t Hilfe des Sern T o t e wiederzuerwecken oder Menschen, die sich i h n e n widers e t z t e n , in ihrer augenblicklichen B e w e g u n g zu l ä h m e n , so d a ß sie sich n i c h t v o n der Stelle r ü h r e n k o n n t e n (vgl. A n m . zu N r . 20). Als H o c h s c h u l e der K a b b a l a , d e r j ü d i s c h e n Geheimlehre, galt seit d e m 13. J h . der M a g h r e b . E i n altsemitisches E r b e der A r a b e r ist d a s W a h r s a g e n a u s d e m V o g e l f l u g . I n allem, w a s m a n a n Vögeln beo b a c h t e n k a n n (Auf- u n d Niederflug, Geschrei, F e d e r r u p f e n , Niederlassen a n der r e c h t e n oder der linken Seite), e r b l i c k t e n die präislamischen A r a b e r Vorzeichen (Wellh a u s e n S. 203). Obwohl der I s l a m die a l t e n Z a u b e r p r a k t i k e n v e r u r t e i l t , ließen sie sich bis h e u t e n i c h t gänzlich a u s r o t t e n . B e v o r m a n auf Reisen ging, s t u d i e r t e m a n die Vogelomina (Nr. 42), u n d ähnlich wie i m e u r o p ä i s c h e n A b e r g l a u b e n gilt d a s E r s c h e i n e n eines R a b e n oder einer K r ä h e bis h e u t e als U n g l ü c k s b o t s c h a f t (Nr. 17). „Sein R a b e fliegt a u f " ist i m A r a b i s c h e n g l e i c h b e d e u t e n d m i t „er s t i r b t " . A u s d e m a l t e n Orient s t a m m t wahrscheinlich a u c h die Vorstellung, d a ß W a s s e r , a u f gewisse Schriftzeichen ge-
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gössen, magische Wirkung erhält. Die magischen Trinkschalen der Araber heißen S c h r e c k e n s b e c h e r u n d sind z. B. in der V A R noch in vielen.älteren H a u s h a l t e n v o r h a n d e n . Wie der N a m e andeutet, stellen diese Trinkschalen ein Universalmittel gegen Schreck dar, gleichgültig, ob er durch Fieberanfälle, Schlangen- oder Skorpionbisse, Wehen oder Bisse eines tollwütigen H u n d e s verursacht ist. I n Palästina erzählt m a n sich, d a ß die guten Dschinnen beim Baden eine runde Metallschale m i t magischen Schriftzeichen b e n u t z t e n . Eines Tages vergaßen, sie das Gefäß a n einer Quelle. E i n Menschenkind, das zufällig vorbeikam, n a h m es mit u n d entdeckte seine wunderb a r e n Eigenschaften. Seitdem sind viele Nachbildungen dieser Schale hergestellt worden (Canaan F e a r Cup S. 130). Die H e i l k r a f t des Schreckensbechers soll auf dem T e x t der „heiligen Suren" beruhen, die darauf eingraviert sind. Am häufigsten sieht m a n den Thronvers (vgl. Nr. 30). O f t sind auch noch magische Einzelbuchstaben aus d e m arabischen Alphabet, aus Thora oder Evangelium sowie geometrische Figuren u n d astrologische Symbole darin angebracht. Sobald Wasser d a m i t in B e r ü h r u n g k o m m t , erhält die Schale ihre W u n d e r k r a f t (Canaan F e a r Cup S. 129, Spoer Bowls S. 237, 256). Daneben k e n n t m a n auch Talismane, die getrunken werden, indem auf Holz, Porzellan oder Papier angebrachte Schrift in rituell reinem Wasser aufgelöst wird (Canaan Aberglaube S. 115). — W e r Wasser t r i n k t , das m i t magischen Schriftzeichen in B e r ü h r u n g war, erwirbt Wissen (Nr. 28). An das Motiv v o m geschwinden Erlernen der Tiersprachen erinnert auch eine Episode in einem irakischen Volksmärchen: E i n Jüngling, der sieben Tage lang magisches Wasser getrunken h a t , vermag alle geheimen Schriftzeichen in den Zauberbüchern zu entziffern u n d k a n n die Bücher lesen, als seien sie in Arabisch abgefaßt. Der wirksame T r u n k soll jedoch aus dem Wasser bestehen, mit dem sich der Zauberer seine H ä n d e wäscht (Campbell Town S. 83). Andererseits besprengt ein jüdischer Zauberer in Tausendundeiner Nacht den unwillkommenen Freier seiner Tochter m i t Wasser aus einem Becher m i t eingravierten kabbalistischen Zeichen u n d verwandelt ihn d a d u r c h in einen H u n d (Burton Nights V I I S. 202). Wie eine Schwangerschaft künstlich hervorgerufen werden k a n n , zeigen die ägyptischen Märchen Nadschd
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und Fana (Nr. 15) sowie Die Tochter der Falken (Nr. 17). I n Nr. 17 klingt d a n n gar das Schwankmotiv von der Schwängerung eines Mannes an. Die Vorstellung, d a ß der Genuß gewisser F r ü c h t e oder Tiere F r u c h t b a r k e i t erzeugt, läßt sich auf der ganzen Welt nachweisen. Die m e h r f a c h auch in arabischen Volksmärchen angewendete Probe, das Geschlecht einer Person mit frischen Blumen festzustellen (sie welken bei Anwesenheit eines Mädchens oder einer F r a u , s. N r . 42), entspringt der Vorstellung, daß die F r a u — zumal während der Menstruation — unrein u n d gefährlich sei. Die B e h a n d l u n g m i t d e m B r e n n e i s e n , wie sie F a t i m a a s - S a m h a zur B e s t r a f u n g der t a u b s t u m m e n Sklaven vorschlägt, u m ihr Geheimnis zu wahren (Nr. 21), k e n n t die Volksmedizin aller arabischen L ä n d e r (z. B. Algerien: Hilton-Simpson S. 51, Ä g y p t e n : Blackman Fellahin S. 211, Arabien: Hess S. 148, P a l ä s t i n a : Klein S. 65). Als I n s t r u m e n t e dienen Nägel, der Ladestock eines Gewehres oder besonders geformte Brenneisen (Abbildungen bei Hilton-Simpson). Neben der medizinisch begründeten Atzung bestimmter Hautbezirke zur Bek ä m p f u n g innerer Schmerzen versucht m a n das Brennen a u c h zur Heilung von Kopfschmerzen, R h e u m a t i s m u s , Melancholie u n d verschiedensten Infektionskrankheiten u n d richtet dabei nicht selten Schaden an. Der f r o m m e Basir (baslr) pflegt aber vor jedem Eingriff zu sagen: „Allahs H a n d (befindet sich) vor meiner H a n d . " I n der Blütezeit der arabischen Medizin im 11. J h . erlangten die von geschickten Chirurgen ausgeführten „feurigen Oper a t i o n e n " der Araber große B e r ü h m t h e i t . Die meisten Historiker meinen, daß die kaustische Chirurgie ein griechisches E r b e sei (Finckenstein S. 263). Wahrscheinlicher ist jedoch, d a ß der o f t in diesem Zusammenhang zitierte griechische Arzt Paul von Ägina bei seinem langjährigen A u f e n t h a l t in Alexandria die kaustischen Met h o d e n der nordafrikanischen N o m a d e n kennengelernt h a t , die schon Herodot I V K a p . 187 erwähnte. Ferner l ä ß t sich eine Beeinflussung der arabischen Volksmedizin durch fernöstliche Heilpraktiken — über die regelmäßig b e n u t z t e n Handelswege wie die Seidenstraße u n d über See — nicht ausschließen, denn in China wurde schon vor 3000 J a h r e n ein Buch über A k u p u n k t u r oder Behandlung mit „Wundern a d e l n " sowie B r e n n e n mit Moxa v e r f a ß t (Sang S. 9). 474
Über die H e r k u n f t arabischer Märchenstoffe Wie die Kulturgeschichte der arabischen Länder, so sind auch die H e r k u n f t u n d die Vorbilder der arabischen Volksmärchen differenziert u n d komplex zugleich. I n einem Teil der Zaubermärchen können wir z. B. arabisierte M y t h e n aus dem alten Orient oder der Antike erkennen. A n pharaonische Göttersagen erinnern Züge im Märchen Die Tochter der Falken (Nr. 17). Der N a m e der G ö t t i n H a t h o r bedeutet „ H a u s des H o r u s " , d. h. des Sonnengottes in Falkengestalt. Man glaubte, daß die Göttin im heiligen S o n n e n b a u m wohne. J e d e n Morgen flog der Falke (Verkörperung der aufgehenden Sonne) davon u n d k e h r t e a m A b e n d zu ihr zurück. Als Herrin des Sonnenuntergangs u n d der Unterwelt war H a t h o r jedoch zeitweilig von der E r d e verschwunden u n d weilte im Totenreich (Budge Fetish S. 228). D a s Motiv von der Sonnenfrau im Sonnenbaum, das im europäischen E r z ä h l g u t in den lettischen Sonnenm y t h e n anklingt, h a t M a n n h a r d t (S. 235) näher untersucht. Bezeichnenderweise wird die Schönheit der Tochter der Falken in unserem Märchen mit der Sonne u n d nicht wie sonst im Arabischen m i t dem Mond verglichen. Das a u c h in arabischen L ä n d e r n weit verbreitete Märchen v o m übernatürlich starken Helden, der durch den V e r r a t der Schwester, Mutter oder G a t t i n seiner Stärke b e r a u b t u n d getötet wird (Nr. 11), erinnert a n die biblische E r z ä h l u n g von Samson u n d Delila u n d ihre altsemitischen u n d griechischen Parallelen (Samsun, Nisos). Auf die Suche n a c h dem Wiederbelebungs- bzw. Unsterblichkeitsmittel zogen schon der griechische Herakles bzw. der assyrisch-babylonische Gilgamesch. — Der B a u m , der den physischen Zustand des Helden anzeigt (Nr. 11), erscheint bereits im altägyptischen Zweibrüdermärchen (Zeder). I n einer Blüte dieses Baumes lag B a t a s Herz oder „externe Seele". Als sein treuloses Weib das Geheimnis offenbarte u n d die Soldaten des Königs, der sie zur F r a u begehrte, den B a u m fällten, m u ß t e B a t a sterben. Die W a n d e r u n g e n dieser altorientalischen Erzählung u n d ihr F o r t l e b e n in arabischen Volksmärchen (Variante aus dem Maghreb) behandelt Liungman, Sagan om Bata och Anubis och den orientalisk-europeiska undersagans ursprung, Djursholm 1946.
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E i n e alte griechische F o r m unserer N r . 12 liegt in der E r zählung von Amor u n d Psyche vor (vgl. Swahn s. S. 509). E i n e n wesentlichen Beitrag zu den arabischen Zauberm ä r c h e n h a b e n auch die Prophetengeschichten geliefert. U n t e r ihnen spielen die Salomolegenden, die sich im gesamten islamischen Orient großer Beliebtheit erfreuen, die bedeutendste Rolle (arabisch: B P I V S. 374, persisch u n d türkisch: H a m m e r I S. 147). E i n Teil geht auf T e x t e in Talmud, Bibel u n d K o r a n zurück. Andere k o m m e n n u r in Volksmärchen vor, u n d der N a m e Salomos ist m i t m a n c h e n Erzählstoffen n u r in Verbindung gebracht worden, u m ihnen besonderes Gewicht zu verleihen. I n den Volksmärchen unseres Bandes erscheinen einige Motive, die auf Salomolegenden aus dem K o r a n zurückgehen oder Salomo später zugeschrieben worden sind. Zwei h a n d e l n von Ameisen (vgl. A n m . zu N r . 10 u n d 28). I n Sure 21, 81 wird erwähnt, d a ß Salomo von Allah die Fähigkeit erhielt, dem Winde zu befehlen, ihn nach anderen L ä n d e r n zu bringen. I m Volksmärchen u n t e r n i m m t er seine Reise auf einem grünen Seidenteppich, der vom Ostwind getragen wird u n d f ü r seinen gesamten H o f s t a a t ausreicht ( H a m m e r I S. 154,Massou S. 334 Nr. 24 u n d 25), oder auf einem geflügelten Teppich, auf dem er u n t e r F ü h r u n g eines greisen Adlers n a c h fernen R u i n e n s t ä t t e n fliegt, deren Bewohner der Rache der Schlangen zum Opfer-fielen (Massou S. 299 N r . 3, S. 313 Nr. 13). - Salomo soll auch einen Zauberspiegel besessen haben, m i t dem er alle Vorgänge in der Welt beobachten k o n n t e (EI I V S. 520). I n unserem Märchen Nr. 46 schaut az-Zain Sahib mit einem ähnlichen I n s t r u m e n t nach seiner H e i m a t jenseits des Mittelmeeres. — E i n e P r o b e von der ungewöhnlichen Weisheit Salomos bieten die Varianten der ausgeklügelten Feststellung des Geschlechts (Anm. zu Nr. 42). Neben Mythen u n d Legenden aus den verschiedenen bodenständigen vorislamischen Religionen ü b t e n auch persische u n d indische Vorbilder großen Einfluß auf die Zaubermärchen der arabischen L ä n d e r aus. Märchenforscher wie Benfey u n d Cosquin v e r t r a t e n die Ansieht, d a ß m i t der Ausbreitung des Islam eine F l u t indischer Erzählungen n a c h dem Mittleren Osten u n d E u r o p a d r a n g u n d I n d i e n daher als H e i m a t der Märchen anzusehen ist. Diese Theorie erwies sich jedoch im Laufe der Zeit als u n h a l t b a r , d e n n manche Märchentypen